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Das Sprachverständnis des Paulus im Rahmen des antiken Sprachdiskurses

0423
2018
978-3-7720-5643-7
978-3-7720-8643-4
A. Francke Verlag 
Nadine Treu

Der Intellekt des Apostels Paulus wurde in der Forschung lange auf eine pharisäische Bildung reduziert. Die Arbeit zeigt am Thema "Sprache", dass auf das intellektuelle Profil des Paulus eine neue Sicht zu werfen ist: Sie untersucht, inwiefern Paulus im antiken sprachphilosophischen Diskurs positioniert werden kann und inwiefern ihm auch eine (sprach-)philosophische Bildung zugeschrieben werden darf. Dazu wird die älteste Quelle des Christentums analysiert, das 14. Kapitel des 1. Korintherbriefes. Zuvor führt die Arbeit pointiert in die zentralen sprachphilosophischen Fragestellungen der Antike ein und stellt das Sprachverständnis des frühjüdischen Autors Philon von Alexandria dar. Der abschließende Vergleich zwischen den antiken, frühjüdischen Sprachvorstellungen und Paulus präzisiert die Einordnung des paulinischen Sprachverständnisses in den antik-philosophischen Sprachdiskurs.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-7720-8643-4 www.francke.de Der Intellekt des Apostels Paulus wurde in der Forschung lange auf eine pharisäische Bildung reduziert. Die Arbeit zeigt am Thema „Sprache“, dass auf das intellektuelle Profil des Paulus eine neue Sicht zu werfen ist: Sie untersucht, inwiefern Paulus im antiken sprachphilosophischen Diskurs positioniert werden kann und inwiefern ihm auch eine (sprach-)philosophische Bildung zugeschrieben werden darf. Dazu wird die älteste Quelle des Christentums analysiert, das 14. Kapitel des 1. Korintherbriefes. Zuvor führt die Arbeit pointiert in die zentralen sprachphilosophischen Fragestellungen der Antike ein und stellt das Sprachverständnis des frühjüdischen Autors Philon von Alexandria dar. Der abschließende Vergleich zwischen den antiken, frühjüdischen Sprachvorstellungen und Paulus präzisiert die Einordnung des paulinischen Sprachverständnisses in den antik-philosophischen Sprachdiskurs. 26 Herausgegeben von Eve-Marie Becker, Kathy Ehrensperger, Jens Herzer, Friedrich W. Horn, Oda Wischmeyer und Hanna Zapp Das Sprachverständnis des Paulus Nadine Treu 26 Das Sprachverständnis des Paulus im Rahmen des antiken Sprachdiskurses Nadine Treu 26 <?page no="1"?> Das Sprachverständnis des Paulus im Rahmen des antiken Sprachdiskurses <?page no="2"?> Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie Band 26 • 2018 Herausgegeben von Eve-Marie Becker, Kathy Ehrensperger, Jens Herzer, Friedrich W. Horn, Oda Wischmeyer und Hanna Zapp <?page no="3"?> Nadine Treu Das Sprachverständnis des Paulus im Rahmen des antiken Sprachdiskurses <?page no="4"?> © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISSN 1865-2666 ISBN 978-3-7720- 5 643- 7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> Meinen Eltern <?page no="7"?> I. 13 1. 13 2. 20 3. 24 II. 33 1. 33 2. 34 3. 35 4. 40 5. 54 6. 63 7. 73 III. 76 1. 76 2. 77 3. 80 3.1 80 3.2 81 3.3 95 3.4 98 Inhalt Einführung in die Themenstellung, den Stand der Forschung und die Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung in die Themenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der antiken Sprachphilosophie über Philon zu Paulus: Begründung der Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa: Eine Einführung in die zentralen Fragestellungen und Autoren der antiken Sprachphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die magisch-mythische Sprachauffassung und die Anfänge sprachphilosophischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vorsokratiker Heraklit und Parmenides . . . . . . . . . . . . . . . Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stoa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung der zentralen Fragestellungen . . . . . . . . . . Das Sprachverständnis Philons von Alexandria unter besonderer Berücksichtigung des Traktats De confusione linguarum . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung in die Forschungsliteratur zum philonischen Sprachverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse von De confusione linguarum § 9-15 . . . . . . . . . . . . . De confusione linguarum im Gesamtwerk Philons . . . Das Thema ‚Sprache‘ in De confusione linguarum . . . . Übersetzung von De confusione linguarum § 9-15 . . . Nachzeichnung der Argumentation von De confusione linguarum § 9-15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="8"?> 4. 99 4.1 100 4.2 109 4.3 118 4.4 130 4.5 141 4.6 148 4.7 152 4.8 160 4.9 165 4.10 168 5. 172 IV. 179 1. 179 2. 183 2.1 183 2.2 185 2.3 192 2.4 199 3. 210 3.1 210 3.2 229 3.2.1 230 Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung und Ursache der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen für die Wirksamkeit der Sprache . . . Der Zusammenhang von Sprache und Erkennen . . . . . Sprache als Namensgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache als Kommunikationsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache als Kennzeichen einer Gemeinschaft und eines Sicherheitsgefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache als Bindeglied zwischen menschlichem Denken und Handeln und die daraus resultierenden Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zusammenhang von Sprache, Gott und Mensch und die Rolle der prophetischen Rede . . . . . . . . . . . . . . Die Grenzen der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung der Funktionen von Sprache und Darstellung der daraus resultierenden Aufgaben und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das philonische Sprachverständnis im Rahmen der antiken Sprachphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse von 1 Kor 14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersetzung von 1 Kor 14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontextanalyse und Gliederung von 1 Kor 14 . . . . . . . . Grammatisch-argumentative Analyse von 1 Kor 14 . . . Die Äußerungen des Paulus in ihrem thematischen Zusammenhang: Die Charismenlehre . . . . . . . . . . . . . . Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen, Wirkungen und Ziele sowie Grenzen der Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung und Ursache der Sprachgaben: Die Wirkung des πνεῦμα . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verständlichkeit als Voraussetzung für die Wirksamkeit der Sprachgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Unverständlichkeit der Glossolalie . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 3.2.2 258 3.2.3 292 3.2.4 300 3.3 305 3.3.1 305 3.3.2 336 3.3.3 341 3.3.4 357 3.3.5 362 3.4 375 3.5 381 V. 384 1. 384 2. 391 3. 401 4. 406 VI. 413 1. 413 2. 415 3. 417 443 Das Zentrum des paulinischen Sprachverständnisses: 1 Kor 14,7-11 und die Verständlichkeit einer sprachlichen Äußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begründung der Verständlichkeit einer sprachlichen Äußerung: 1 Kor 14,14-19 und die Beteiligung des νοῦς Das Verständnis des sprachlichen Zeichens . . . . . . . . . . Funktionen, Wirkungen und Ziel verständlichen Sprechens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sprachgabe der Prophetie und ihre Funktionen in 1 Kor 14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehre als Vermittlung religiösen Wissens . . . . . . . . . . . Erkenntnis als Inhalt verständlichen Sprechens . . . . . . Die Kommunikationsfunktion der Sprachgaben . . . . . . Die οἰκοδομή der Gemeinde als Ziel der Sprachgaben . Die Grenzen der Sprachgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung der Merkmale, Funktionen und Ziele des paulinischen Sprachverständnisses . . . . . . . . Das paulinische Sprachverständnis im Vergleich: Kontexte und Erträge . Das paulinische Sprachverständnis im Rahmen des antiken Sprachdiskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das philonische und das paulinische Sprachverständnis . . . . Das paulinische Sprachverständnis als eigene Stimme im gesamtantiken Sprachdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Ertrag des paulinischen Sprachverständnisses für das intellektuelle Profil des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen und Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Inhalt <?page no="10"?> Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2016 als Dissertation der Friedrich-Ale‐ xander-Universität Erlangen-Nürnberg angenommen und für die Drucklegung leicht überarbeitet. Eine solche Arbeit kann nicht ohne Unterstützung erfolgen. Deshalb möchte ich mich bei den Personen bedanken, die mich in der Entste‐ hungszeit der Dissertation in irgendeiner Weise begleitet und unterstützt haben: Prof. Dr. Dr. h. c Oda Wischmeyer, herzlichen Dank für das Angebot zur Promo‐ tion, für die fachliche Unterstützung und für jede nette Unterhaltung über Philon, Paulus, Reisen, Kindererziehung u. Ä. Ich hoffe, wir führen diese Ge‐ spräche auch in Zukunft fort. Prof. Dr. Lukas Bormann, danke für die Erstellung des Zweitgutachtens der Ar‐ beit und für die langjährige Begleitung vom Grundstudium in Bayreuth an bis hin zur Promotion in Erlangen. Dr. Maximilian Paynter, danke für die viele gemeinsame Zeit, die wir zusammen in unserem Zimmer in der Bibliothek verbracht und gearbeit haben; danke aber auch für die gemeinsamen Kaffeepausen und die fachlichen Unterhaltungen. Dr. Daniel Wanke, danke für das Korrekturlesen der Arbeit und für das Mut‐ machen in allen Lebenssituationen. Nina Irrgang, M. A., danke für das Korrekturlesen der Arbeit, stundenlanges Tüfteln über Philotexten und die langjährige Freundschaft. Vom Narr Francke Attempo Verlag danke ich Isabel Johe und Vanessa Weihgold für die unkomplizierte Zusammenarbeit. Den Herausgebern von NET danke ich herzlich für die Aufnahme in die vorlie‐ gende Reihe. Für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung bin ich der Evang.-luth. Kirche in Bayern, der Vereinigten Evang.-luth. Kirche Deutschlands und der Ilse und Dr. Alexander Mayer-Stiftung zu Dank verpflichtet. Jana Kraus, Pia Neidhardt und Daniela Wallner, euch gilt ein ganz besonderer Dank für eure Freundschaft, in der ihr immer viel Geduld mit mir und meinen Fragen und Problemen beweist. <?page no="11"?> Ganz herzlich bedanken möchte ich mich bei meiner Familie, meinen Eltern Rosemarie und Gerhard Wedel, meiner Schwester Nicole Wedel und meinem Ehemann Tobias Treu für die Unterstützung in jeder denkbaren Lebenslage. Schön, dass wir eine solche enge Bindung haben und dass ihr immer für mich da seid. Altenthann, Juni 2017 Nadine Treu Vorwort 11 <?page no="13"?> 1 Georg W. Bertram: Sprachphilosophie zur Einführung, Hamburg 2011,11. 2 Vgl. Jochem Hennigfeld: Geschichte der Sprachphilosophie. Antike und Mittelalter, Berlin, New York, 1994, 2 und Bertram, Sprachphilosophie, 18. I. Einführung in die Themenstellung, den Stand der Forschung und die Vorgehensweise 1. Einführung in die Themenstellung Eine Welt ohne Sprache wäre (…) eine sehr arme Welt. Aber vermutlich mehr noch: Es wäre eine Welt, in der es vieles, was uns in unserer Lebensform als wesentlich gilt, nicht gäbe. Eine menschliche Lebensform ohne Sprache ist wohl keine menschliche Lebensform. 1 Was Georg W. Bertram in seiner Einführung in die Sprachphilosophie schreibt, gilt im 21. Jahrhundert ebenso wie für die Autoren der gesamten Antike und für Paulus im ersten nachchristlichen Jahrhundert. Nicht nur die Tatsache, dass Sprache zum Wesen des Menschen gehört, ist festzuhalten, sondern auch, dass es seit der Antike einen intensiven Diskurs über Sprache und ihr Wesen gibt; dieser stellt - die Stoa ausgenommen - allerdings keinen eigenständigen Bereich der Philosophie dar, sondern ist eingebettet in den der Ontologie, der Meta‐ physik oder der Erkenntnislehre. 2 Auch für Paulus spielt die Sprache eine große Rolle; sie ist das Handwerkszeug, mit dem er arbeitet - ungeachtet dessen, dass er in 2 Kor 11,6 als unkundig in der Rede angefeindet wird. Sie ermöglicht es ihm, in Form von mündlicher Kommunikation, das Evangelium weiterzugeben, und dient ihm in schriftlicher Form dazu, mit seinen Gemeinden in Kontakt zu bleiben. Diese praktische Sprachtätigkeit des Paulus liegt nicht im Interesse der Untersuchung, sie kann und soll nicht in Bezug zu der aktiven Sprachtätigkeit der antiken Philosophen oder Philons gesetzt werden, obgleich auch Philon ge‐ lehrt und Vorträge gehalten hat. Es soll auch nicht erarbeitet werden, was Inhalte des paulinischen Sprechens und der paulinischen Verkündigung sind und wie die praktische Verwendung von Sprache durch Paulus aussieht. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob Paulus, wenn er selbst in derart hohem Maß mit Sprache konfrontiert ist, sich auch auf einer theoretischen Ebene mit Sprache auseinan‐ dersetzt, ob er Fragen des antiken Sprachdiskurses aufgreift, und ob er als eigene Stimme in diesem Diskurs positioniert werden kann. Im Allgemeinen ist das für die paulinischen Briefe nicht der Fall. Paulus reflektiert Sprache auf theoreti‐ <?page no="14"?> 3 Vgl. hierzu die Übersicht unter dem Lemma ‚Wort’ in: TBLNT II (2000), 1918-1961, an der sich die folgende Aufstellung orientiert. scher Ebene kaum, obwohl er fortwährend mit Sprache zu tun hat. Eine Aus‐ nahme scheint 1 Kor 14 zu sein: Im Rahmen der Charismenlehre in 1 Kor 12-14 verwendet Paulus besonders konzentriert Vokabular aus dem Bereich ‚Sprache’. Das zeigt die folgende Übersicht, ohne dass dabei eine vollständige Untersu‐ chung des lexikalisch-semantischen Paradigmas erfolgen kann und soll. 3 I. Einführung in Themenstellung, Stand der Forschung und Vorgehensweise 14 <?page no="15"?> Lexem Vorkommen bei Paulus Vorkommen in 1 Kor Vorkommen in 1 Kor 12-14 Semantik Auswertung λαλέω 53 34 28 reden, sagen, sprechen Das Lexem verzeichnet in 1 Kor 12-14 ein überdurchschnittlich gehäuftes Vorkommen und weist bereits darauf hin, dass es sich hier um eine zentrale Begrifflichkeit handelt. λέγω 114 33 10 sagen, äußern, nennen, sprechen Knapp ⅓ der Textstellen des 1 Kor finden sich in den Kapiteln 12-14, dennoch übernimmt das Lexem für die sprachtheoretischen Aussagen keine Funktion; als zentrale Begriffe hierfür werden sich λαλέω, γλῶσσα und φωνή herausstellen. λόγος 48 17 6 Wort, Rede, Ausspruch, Gegenstand, Erzählung bezeichnet häufig die geformte Sprache (λόγος τοῦ σταυροῦ, λόγος σοφίας) Das Lexem wird, gemessen an seinem Gesamtvorkommen, in 1 Kor 12-14 sehr viel seltener gebraucht als z.B. γλῶσσα; für das paulinische Sprachverständnis erweist es sich ebenso wie das Verb nicht als zentrales Lexem. In der antiken Sprachphilosophie und bei Philon hingegen nimmt es eine zentrale Stellung ein. In 1 Kor 12-14 wird das Lexem folgendermaßen verwendet: in 1 Kor 12,8 als Bezeichnung für das Charisma der Weisheit und der Erkenntnis (λόγος σοφίας und λόγος γνώσεως) in 1 Kor 14,9 als verständliches Wort (ἔυσημος λόγος) 1. Einführung in die Themenstellung 15 <?page no="16"?> in 1 Kor 14,19 in der Gegenüberstellung ‚fünf Wort im Verstand sprechen’ und ‚unzählige Worte in Zungen’ (θέλω πέντε λόγους τῷ νοΐ μου λαλῆσαι (…) ἢ μυρίους λόγους ἐν γλώσσῃ) in 1 Kor 14,36 als Wort Gottes (λόγος τοῦ θεοῦ) γλῶσσα 24 21 21 Zunge, Sprache, Lexem zur Beschreibung einer speziellen Form der sprachlichen Äußerung Das Lexem zeichnet sich bereits dem Vorkommen nach als zentraler Begriff für 1 Kor 12-14 aus. φωνή φωνέω 6 0 4 4 Stimme, Sprache, Laut, Ton, Melodie rufen, einen Laut geben, einen Ton hervorbringen Das Lexem zeichnet sich bereits dem Vorkommen nach als zentraler Begriff für 1 Kor 12-14 aus. προφητεία προφητεύω προφήτης 7 11 10 5 11 6 5 9 6 Prophetie prophezeien, prophetisch reden Prophet In Röm 12,6 steht das Lexem ebenfalls im Zusammenhang mit den Charismen. Das verstärkte Vorkommen dieses Wortfeldes in 1 Kor 12-14 zeigt bereits, dass das Charisma der Prophetie für diese Texte eine zentrale Rolle einnimmt. I. Einführung in Themenstellung, Stand der Forschung und Vorgehensweise 16 <?page no="17"?> ἑρμηνεύω bzw. διερμηνεύω ἑρμηνεία διερμηνευτής 4 2 1 4 2 1 4 2 1 übersetzen, auslegen, deuten Übersetzung, Deutung Übersetzer, Ausleger Alle Belege dieses Stammes finden sich in 1 Kor 12-14. διδαχή 4 2 2 Lehre Die Hälfte der Belege findet sich in 1 Kor 14. ἑτερόγλωσσος 1 1 1 andere Sprachen στόμα 8 0 Mund, Rede, Befehl ῥῆμα 5 0 Wort, Ausspruch, Satz, Verb, Sache, Angelegenheit παρρησία παρρησιάζομαι 4 1 0 0 in Offenheit bzw. Öffentlichkeit reden, Freimut offen, öffentlich, frei heraus reden ἐξηγέομαι διηγέομαι διήγησις 0 0 0 erklären, berichten, bekanntmachen, darstellen erzählen, beschreiben Bericht, Erzählung 1. Einführung in die Themenstellung 17 <?page no="18"?> Die Übersicht zeigt, dass Paulus zwar nicht alle Lexeme des Wortfelds ‚Sprache’ verwendet, dass die Lexeme dieses Wortfelds in 1 Kor 12-14 insgesamt aber gehäuft vorkommen. Das gilt v. a. für γλῶσσα, λαλέω, διδαχή, φωνή, ἑρμηνεύω / διερμηνεύω, ἑρμηνεία und διερμηνευτής. Die vier zuletzt genannten Lexeme werden ausschließlich in diesen drei Kapiteln verwendet. Die Lexeme γλῶσσα, λαλέω und φωνή sind auch in weiteren Paulusbriefen belegt, treten in 1 Kor 12-14 aber konzentriert auf. Besonders verdichtet ist das Vokabular aus dem sprachlichen Bereich in 1 Kor 14,6-12. Bereits im ersten Vers wird durch die Wendungen γλώσσαις λαλεῖν, λαλεῖν ἐν ἀποκαλύψει / ἐν γνώσει / ἐν προφητείᾳ / ἐν διδαχῇ der Fokus auf die sprachlichen Äußerungen gerichtet. In 1 Kor 14,7-11 finden sich alle Belege des Lexems φωνή für 1 Kor; von beson‐ derem Interesse ist 1 Kor 14,10 f und die Formulierung δύναμις τῆς φωνῆς. Auch das Lexem λαλέω verzeichnet ¼ seines Vorkommens im 1. Korintherbrief in den genannten Versen. Das Lexem λόγος kommt vergleichsweise selten vor, was zeigt, dass 1 Kor 14 nicht vorrangig geformte Sprache thematisiert und dass nicht der Inhalt einer sprachlichen Äußerung, wie etwa der λόγος τοῦ σταυροῦ, im Vordergrund steht. 1 Kor 14 beschäftigt sich in erster Linie mit den ‚formalen’ Aspekten von Sprache, mit deren Funktion, Wirkung und Ziel. Diese Ansicht wird dadurch unterstützt, dass Ausdrücke wie beispielsweise εὐαγγέλιον und κήρυγμα fehlen. Paulus stellt Überlegungen an, die auf die Funktionen und Wirkungen einer sprachlichen Äußerung gerichtet sind und deren ethische Relevanz betonen. Die Begriffe, die zur Umschreibung der Charismen der Prophetie und der Glossolalie dienen, setzt Paulus in 1 Kor 12-14 besonders häufig ein. Das weist die prophetische und glossalische Rede als die beiden Sprachgaben aus, die für die Erarbeitung des paulinischen Sprachverständnisses von besonderer Bedeu‐ tung sind. Insgesamt gibt die konzentrierte Verwendung der Lexeme in 1 Kor 14, v. a. in 1 Kor 14,6-12, die dem Wortfeld Sprache zuzurechnen sind, Anlass, das Kapitel unter diesem Aspekt zu untersuchen. Die genannte Texteinheit ist die älteste Quelle des Christentums für ein eigenes Sprachverständnis und liefert damit zugleich den historischen und sachlichen Ausgangspunkt für den Umgang des frühen Christentums mit Sprache. Daraus ergibt sich die exegetische Fragestellung der Arbeit: Welche Sicht hat Paulus auf das Thema ‚Sprache’? Die Steuerungsfragen können durch die Exegese von 1 Kor 12-14 und durch die Beschäftigung mit der Entwicklung der Sprachphilosophie differenzierter gestellt werden: Wie ist die Entstehung von Sprache zu denken? Wie funktioniert Sprache? Welche Relationen zwischen Wort und Sache können ausgemacht werden? Welche Funktionen, Aufgaben und Ziele hat Sprache? Wo werden Grenzen von Sprache deutlich? Paulus thematisiert diese Fragen zum I. Einführung in Themenstellung, Stand der Forschung und Vorgehensweise 18 <?page no="19"?> 4 Vgl. Ulrich Dierse: Art. Sprachphilosophie, in: HWP 9 (1995), 1514. 5 Bertram, Sprachphilosophie, 13. 6 Peter Kunzmann / Franz-Peter Burkard / Franz Wiedmann (Hg.): DTV-Atlas Philoso‐ phie, München 11 2003, 13. 7 Vgl. Willi Oelmüller / Ruth Dölle-Oelmüller / Volker Steenblock: Diskurs: Sprache, Pa‐ derborn, München, Wien u. a. 1991 (Philosophische Arbeitsbücher 8; UTB 1615), 10.60. 8 Stephan Meier-Oeser: Art. Sprachtheorie (Sprachphilosophie, Zeichentheorie), in: DNP 12 / 2 (2003), 1122. Thema Sprache wie andere Themen situationsbezogen bzw. praktisch, indem er von einer konkreten Problemstellung in der Gemeinde ausgeht. Er behandelt das Thema Sprache nicht als Gegenstand einer eigenen thematischen Untersu‐ chung, sondern äußert sich im Rahmen der Charismenlehre über den Nutzen solcher Gaben, die als Wort- oder Sprachgaben bestimmt werden können. Das führt ihn zu theoretischen Überlegungen, die Thema der Untersuchung sind. Um sie richtig verstehen und einordnen zu können, ist die Kenntnis des histo‐ rischen Kontexts von Bedeutung; erst vor diesem Hintergrund können die Spe‐ zifika des paulinischen Sprachverständnisses als solche bestimmt werden und erst im Anschluss daran kann folgender Frage nachgegangen werden: Wie ist die paulinische Sprachauffassung im historischen Kontext positioniert? Der antike Diskurs über Sprache wird als Sprachphilosophie bezeichnet. Der Terminus hat sich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts etabliert. 4 Allgemein kann Sprachphilosophie definiert werden als „die Aufgabe, den Begriff der Sprache aufzudecken, also grundlegende Fragen in Bezug auf Sprache zu be‐ antworten.“ 5 Diese Fragen betreffen „die Entstehung, Entwicklung, Bedeutung und Funktion von Sprache“ 6 . Dabei ist anzumerken, dass es nicht die eine Sprachphilosophie gibt, sondern eine große Anzahl an Fragestellungen, die un‐ terschiedlich bearbeitet und beantwortet werden. 7 Gelegentlich werden Sprach‐ philosophie und Sprachtheorie synonym verwendet. Erstere kann sinnvoll so definiert werden, dass sie die „phonetischen, syntaktischen, semantischen und pragmatischen Aspekte der Sprache als ihren genuinen Gegenstand“ 8 im Blick hat. Auf theoretischer Ebene hat wohl erst die Stoa all diese Aspekte betrachtet. Zuvor wird Sprache im Zusammenhang mit verschiedenen philosophischen Teildisziplinen behandelt. Die Autoren haben jeweils Teilbereiche, die zu einer Sprachtheorie gehören, im Blick, decken aber nicht alle Aspekte ab. Die Sprach‐ philosophie ist außerdem von der Sprachethik abzugrenzen. Sie ist nicht Teil der antiken Sprachphilosophien, wird aber einen Teil des philonischen Sprach‐ verständnisses kennzeichnen. Von einer paulinischen Sprachphilosophie kann nicht gesprochen werden, da Paulus sich nicht im Rahmen philosophischer Überlegungen mit Sprache be‐ schäftigt; stattdessen wird sowohl für Paulus als auch für Philon der Begriff des 1. Einführung in die Themenstellung 19 <?page no="20"?> 9 S. hierzu Walter Bauer: Zur Einführung in das Wörterbuch zum Neuen Testament, Göttingen 1967, dazu die Besprechung: v. Georg Strecker: Walter Bauers Wörterbuch zum Neuen Testament in neuer Auflage, in: ThLZ 116 (1991), 81-92 sowie James W. Voelz: The language of the New Testament, in: ANRW II 12.2 (1984), 893-977. 10 Vgl. Wolfgang Schenk: Art. Sprache / Sprachwissenschaft / Sprachphilosophie. IV. Neues Testament, in: TRE 31 (2000), 752-760. 11 Vgl. Wolfgang Fenske: Die Argumentation des Paulus in ethischen Herausforderungen, Göttingen 2004 und Stephen E. Toulmin: Der Gebrauch von Argumenten, Weinheim 2 1996. 12 Vgl. zur Rhetorik bei Paulus allgemein: David E. Aune: Art. Paul und Art. Pauline Let‐ ters, in: The Westminster Dictionary of New Testament and Early Christian Rhetoric, hg. v. ders., Louisville, London 2003, 342-344 bzw. 344-346, vgl. speziell zur Rhetorik in 1 Kor David E. Aune: Art. Corinthians, in: The Westminster Dictionary of New Testa‐ ment and Early Christian Rhetoric, hg. v. ders., Louisville, London 2003, 113-115, Johan S. Vos: Die Kunst der Argumentation bei Paulus. Studien zur antiken Rhetorik, Tübingen 2002 (WUNT 149), Burton L. Mack: Rhetoric and the New Testament, Min‐ neapolis 1990, Elisabeth Schüssler Fiorenza: Das Buch der Offenbarung, Stuttgart 1994 und Carl J. Classen: Rhetorical criticism of the New Testament (WUNT 128), Tübingen 2000. 13 Vgl. James Barr: Biblische Semantik. Theologische und linguistische Methode in der Bibelwissenschaft, München 1965, Benjamin Z. Kedar: Biblische Semantik, Stuttgart 1990 und Ingrid R. Kitzberger: Der Bau der Gemeinde. Das paulinische Wortfeld οἰκοδομή/ (ἐπ)οικοδομεῖν, Würzburg 1986 (FzB 53). 14 Vgl. Christoph G. Gersdorf: Beiträge zur Sprach-Charakteristik der Schriftsteller des Neuen Testaments, Leipzig 1816 Gersdorf geht jedoch nur in geringem Maß auf die Briefe ein; er widmet sich v. a. den Evangelien. Sprachverständnisses gebraucht. Dieser kann und wird sowohl sprachphiloso‐ phische und bei Philon auch sprachethische Aspekte in sich vereinen, lässt aber dennoch Raum für die paulinischen und philonischen Spezifika, weil er nicht den bereits vorhandenen Definitionen der Sprachphilosophie unterliegt. 2. Stand der Forschung Die Forschungsbereiche bezüglich der Sprache des Neuen Testaments beziehen sich auf das konkrete Sprachsystem (langue), also das hellenistische Griechisch im ersten nachchristlichen Jahrhundert, 9 und auf die realisierten Texte (pa‐ role). 10 Das hellenistische Griechisch als Sprachsystem ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Für den zweiten Bereich, der parole, lassen sich haupt‐ sächlich Analysen zu den Argumentationsstrukturen biblischer Texte, 11 zu Rhe‐ torik, 12 Semantik 13 und Stil 14 finden. Das Sprachverständnis des Paulus hat in der ntl. Forschung bisher keine ei‐ gene thematische Bearbeitung gefunden, so dass die Arbeit keine bereits vor‐ I. Einführung in Themenstellung, Stand der Forschung und Vorgehensweise 20 <?page no="21"?> 15 Vgl. Christiane Tietz: Art. Sprache. IV. Fundamentaltheologisch, in: RGG 4 7 (2004), 1614, Schenk, Sprache, 754 und Jörg Barthel: Art. Sprache, in: CBL 2 (2003), 1261. 16 Vgl. Gerhard Dautzenberg: Urchristliche Prophetie. Ihre Erforschung, ihre Vorausset‐ zungen im Judentum und ihre Struktur im ersten Korintherbrief, Stuttgart, Berlin 1975, 122-304, Gerhard Dautzenberg: Prophetie bei Paulus, in: JBTh 14 (1999), 55-70, Wayne A. Grudem: The Gift of Prophecy in the New Testament and Today, Lanham, London 1988 und Karl Olav Sandnes: Paul - One ofe the Prophets? A Contribution to the Apostle’s Self-Understanding, Tübingen 1991 (WUNT II 43). 17 Vgl. Friedrich W. Horn: Das Angeld des Geistes. Studien zur paulinischen Pneumato‐ logie, Göttingen 1992, 160-301. 18 Vgl. Joseph Wobbe: Der Charis-Gedanke bei Paulus. Ein Beitrag zur ntl Theologie, Münster 1932 (NTA 13,3) und Ulrich Brockhaus: Charisma und Amt. Die paulinische Charismenlehre auf dem Hintergrund der frühchristlichen Gemeindefunktionen, Wup‐ pertal 1975, 128-192. 19 So beispielsweise bei Dieter Zeller: Der erste Brief an die Korinther übersetzt und erklärt von Dieter Zeller. 1. Auflage dieser Auslegung, Göttingen 2010 (KEK 5), 433-437 bzw. 449-453, Wolfgang Schrage: Der erste Brief an die Korinther. 3. Teilband. 1Kor 11,17-14,40, Neukirchen-Vluyn 1999 (EKK VII / 3), 153 f bzw. 158-161, Andreas Linde‐ mann: Der Erste Korintherbrief, Tübingen 2000 (HNT 9), 297-299 oder Christian Wolff: Der erste Brief des Paulus an die Korinther, Leipzig 2 2000 (ThHK 7), 292.294 f. 20 Vgl. Martina Böhm: 1 Kor 11,2-6. Beobachtungen zur paulinischen Schriftrezeption und Schriftargumentation im 1. Korintherbrief, in: ZNW 97 (2006), 207-234 und Klaus M. Bull: Den Schwachen im Glauben nehmt an! Zur paulinischen Argumentation in Röm 14,1-15,6(13), in: Bekenntnis und Erinnerung, hg. v. ders. u. Eckart Reinmuth, Münster 2004, 215-234. liegenden Forschungsdiskurse weiterführen kann, sondern ihre Fragestellung selbst anhand der Textanalysen erarbeiten muss. In Fachlexika wird in den Ar‐ tikeln zur Sprache regelmäßig auf die Ausgangskapitel dieser Arbeit hinge‐ wiesen; 15 dies hat im Wesentlichen aber keine Arbeiten zur Sprachthematik nach sich gezogen. Die Kommentarliteratur beschäftigt sich ausführlich mit 1 Kor 14. Dabei gilt für die gesamte Forschungsliteratur, dass sie das Kapitel haupt‐ sächlich unter ‚nichtsprachlichen’ Aspekten behandelt: Sie thematisiert die ur‐ christliche Prophetie, 16 die paulinische Vorstellung des Geistes 17 sowie das Ver‐ ständnis und die Entwicklung der Charismenlehre. 18 Für die beiden zentralen Charismen, die Prophetie und die Glossolalie, finden sich in der Kommentarli‐ teratur häufig Exkurse, die zeigen, dass hier ein erhöhter Erklärungsbedarf be‐ steht. 19 Das Thema Sprache wird also lediglich in Bezug auf die Sprachgaben der Zungenrede und der Prophetie behandelt, die Frage nach einem Sprachver‐ ständnis des Paulus oder einer Beziehung zum antiken sprachphilosophischen Denken ist nicht gestellt worden. Dasselbe gilt für die umfangreichen Untersu‐ chungen, die sich vor allem mit Argumentationsanalysen 20 und der rhetorischen 2. Stand der Forschung 21 <?page no="22"?> 21 Vgl. R. Dean Anderson: Ancient Rhetorical Theory and Paul, Kampen 1996, Carl J. Classen: Paulus und die antike Rhetorik, in: ZWN 82 (1991), 1-33, Gerhard Sellin: Ästhetische Aspekte der Sprache in den Briefen des Paulus, in: Paulus und Johannes. Exegetische Studien zur paulinischen und johanneischen Theologie und Literatur, hg. v. Dieter Sänger und Ulrich Mell, Tübingen 2009 (WUNT 198), 411-426 und Ste‐ phen J. Patterson: A rhetorical gem in a rhetorical treasure: the origin and significance of 1 Corinthians 13: 4-7, in: BTB 39 (2009), 87-94. 22 Zeller, Korinther, 426. 23 Hans Conzelmann: Der erste Brief an die Korinther. 2., überarbeite und ergänzte Auflage dieser Auslegung, Göttingen 12 1981 (KEK 5), 287. 24 Hans-Josef Klauck: 1. Korintherbrief, Würzburg 1984 (NEB 7), 99. 25 Wolfgang Schenk: Die Aufgaben der Exegese und die Mittel der Linguistik, in: ThLZ 98 (1973), 881-894. 26 Schenk, Aufgaben, 885. 27 Schenk, Sprache, 754. Analyse 21 beschäftigen und in denen 1 Kor 12-14 untersucht wird. Diese Mo‐ nographien verorten sich im Kontext der Rhetorikforschung und setzen sich nicht mit dem paulinischen Sprachverständnis auseinander. Gerade die Sätze, in denen Paulus seine Überlegungen zur Sprache präzisiert, 1 Kor 14,6-12, werden in der Forschung vernachlässigt und verkürzt behandelt: Die Beispiele von den undeutlichen Musikinstrumenten und dem verblasenen Signal zum Kampf (…) sind ohne weiteres in sich einsichtig. 22 V. 7-11 bringen eine Reihe von Beispielen (…) für Verständlichkeit und Unverständ‐ lichkeit: Melodie (7), Signal (8), mit Anwendung (9); dann Sprache (Verstehen) (10 f) mit Anwendung. 23 Die Beispiele sind ohne weiteres verständlich. 24 Die Verse sind aber weder nur als Beispiele zu verstehen noch ohne weitere Ausführungen verständlich. Sie führen vielmehr in das Zentrum des paulini‐ schen Zeichenverständnisses, was einzig Wolfgang Schenk in seinem Aufsatz „Die Aufgabe der Exegese und die Mittel der Linguistik“ 25 wahrgenommen hat. Sein Beitrag ist von der frühen Begeisterung für die neue Disziplin der Linguistik getragen, die vor allem in den Arbeiten von Güttgemanns zum Ausdruck kam. Schenk zeigt, ausgehend von James Barr, die Notwendigkeit der Linguistik für die Exegese auf. Er kommt in diesem Zusammenhang auf 1 Kor 14,7-11 zu sprechen. Schenk sieht in diesem Text „die Berechtigung einer linguistisch be‐ stimmten Arbeitsweise für Verkündigung und Exegese“ 26 . Er bezeichnet 1 Kor 14,6-12 als das „linguistische Manifest des Paulus“ 27 und benennt die linguisti‐ schen Aspekte, die diese Verse kennzeichnen: Das paulinische Zeichenver‐ ständnis. Da Schenk mit seinem Aufsatz das Interesse verfolgt, die Notwendig‐ keit der Linguistik für die Exegese aufzuzeigen, dient ihm 1 Kor 14 als I. Einführung in Themenstellung, Stand der Forschung und Vorgehensweise 22 <?page no="23"?> 28 Vgl. Schenk, Aufgaben, 886. 29 Hans-Joseph Klauck: Mit Engelszungen? Vom Charisma der verständlichen Rede in 1 Kor 14, in: ZThK 97 (2000), 276-299. 30 Klauck, Engelszungen, 277. 31 Klauch, Engelszungen, 284. 32 Klauck, Engelszungen, 287. 33 Vgl. Klauck, Engelszungen, 287-290. 34 Vgl. Antje Hellwig: Untersuchungen zur Theorie der Rhetorik bei Platon und Aristo‐ teles, Göttingen 1973, Michael Erler: Platon. Die Philosophie der Antike, Basel 2007(Grundriss der Geschichte der Philosophie. Antike 2 / 2), bes. 498-506 (Rhetorik) u. 719 ff (Bibliographie) und Manfred Fuhrmann: Die antike Rhetorik, Zürich 3 1990. neutestamentliche Begründung hierfür. Er stellt fest, dass es zwei Seiten des Zeichens gibt, 28 fragt aber nicht nach den Aspekten, die ein paulinisches Sprach‐ verständnis konkret kennzeichnen. Wann und warum die Inhaltsseite eines Zeichens verständlich ist, ist ebenso wenig Thema wie 1 Kor 14,10; diesen Vers lässt Schenk in seinem Aufsatz unbeachtet. Aber gerade er wird einen ent‐ scheidenden Aspekt des paulinischen Zeichenverständnisses liefern. Schenk versucht auch keine Einordnung seines Ergebnisses in den antiken sprachphi‐ losophischen Diskurs. Hier setzt die vorliegende Untersuchung an. Darüber hi‐ naus soll das paulinische Sprachverständnis nicht ausschließlich unter dem As‐ pekt des sprachlichen Zeichens untersucht werden, sondern unter allen oben genannten Leitfragen. Einen wichtigen Beitrag leistet auch der Aufsatz „Mit Engelszungen? Vom Charisma der verständlichen Rede in 1 Kor 14“ 29 von Hans-Joseph Klauck. Er verfolgt das Ziel, „den eigenartigen Gegensatz (…) zwischen Geist (πνεῦμα) und Vernunft (νοῦς) (…) etwas besser zu verstehen“ 30 , und beschreibt zunächst die Glossolalie. Anschließend nimmt er „einen zielgerichteten Durchgang durch 1 Kor 14“ vor, dessen „Schwerpunkt er bei V. 14-19“ 31 setzt. Auch Klauck be‐ schäftigt sich also im Wesentlichen nicht mit 1 Kor 14,6-12, stellt aber für 1 Kor 14,10 f fest, dass diese Verse „den Ansatz einer Sprachtheorie [enthalten], wenn es [das Gleichnis in 1 Kor 14,10 f, Anm.] die Übermittlung von Sinn und Bedeu‐ tung als Aufgabe der Sprache hinstellt“ 32 . Weitere Ausführungen einer solchen Sprachtheorie folgen nicht. Klauck versteht die Verse als Gleichnis, bei dem es um Kommunikation in Fremdsprachen geht; auch hierzu folgt eine kritische Auseinandersetzung. Hilfreich ist der Aufsatz v. a. für das Verständnis und die Rolle des Verstandes. 33 Das Sprachverständnis des Paulus wurde also in der Fachliteratur bisher nur unzureichend berücksichtigt. Für die antike Sprachphilosophie und das frühjü‐ dische Sprachverständnis verhält es sich anders. Die Forschung zur grie‐ chisch-römischen Sprache liefert zahlreiche Arbeiten zur Rhetorik, 34 aber auch 2. Stand der Forschung 23 <?page no="24"?> 35 Vgl. Erler, Platon, bes. 473-480 (Sprachphilosophie) und 586 ff (ausführliche Bibliogra‐ phie), Tilman Borsche: Art. Sprache. I. Antike, in: HWP 9 (1995), 1437-1454, Peter Schmitter (Hg.): Geschichte der Sprachtheorie, 2. Sprachtheorien der abendländischen Antike, Tübingen 1991, Tilman Borsche (Hg.): Klassiker der Sprachphilosophie von Platon bis Noam Chomsky, München 1996 und Josef Derbolav: Platons Sprachphiloso‐ phie im Kratylos und in den späten Schriften, Darmstadt 1972. 36 Klaus Otte: Das Sprachverständnis bei Philo von Alexandrien, Tübingen 1968 (BGBE 7). Die Arbeit bewegt sich im Rahmen der antiken Logostheorie und verfolgt vorwie‐ gend hermeneutische Fragestellungen. 37 Gertraut Kweta: Sprache, Erkennen und Schweigen in der Gedankenwelt des Philo von Alexandrien, Frankfurt a. M. 1996 (EHS 20 / 403). 38 Ernst Troeltsch: Historische und dogmatische Methode in der Theologie, in: Zur reli‐ giösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik. Neudruck der 2. Auflage 1922, hg. v. ders., Aalen 2 1962 (= Gesammelte Schriften von Ernst Troeltsch II), 738. 39 Udo Schnelle: Das frühe Christentum und die Bildung, in: NTS 61 (2015), 135. eine Vielzahl von Arbeiten, die sich mit der antiken Sprachphilosophie beschäf‐ tigen, 35 so dass für diese Thematik auf eine breite Grundlage zurückgegriffen werden kann. Auch für den Vergleich mit dem frühjüdischen Autor Philon von Alexandria liegen mit den Untersuchungen von Klaus Otte 36 und Gertraut Kweta 37 zwei Monographien zum Thema vor. Beide werden, ebenso wie weitere Aufsätze, zu Beginn des Philonkapitels vorgestellt. 3. Von der antiken Sprachphilosophie über Philon zu Paulus: Begründung der Vorgehensweise Das erste Kapitel beschäftigt sich mit dem Beginn und der Entwicklung sprach‐ philosophischer Fragestellungen. Es ist erforderlich, weil „die Verflechtung des Christentums in die allgemeine Geschichte“ zu berücksichtigen ist und weil „die Aufgabe seiner Erforschung und Wertung nur von dem großen Zusammenhang der Gesamtgeschichte“ 38 her in Angriff genommen werden kann, wie Ernst Troeltsch in seinem epochalen Aufsatz über die Methoden der Theologie for‐ muliert hat. Was für den gesamtgeschichtlichen Zusammenhang und das Chris‐ tentum allgemein gilt, trifft auch für Paulus und für einzelne thematische As‐ pekte, wie den der Sprache, zu. Weil sich die Theologie und die Philosophie gegenseitig beeinflusst haben, stellt sich mit Schnelle die Frage, „ob einzelne ntl. Autoren wie Paulus und Johannes gezielt an philosophisch-religiösen Diskursen teilnahmen“ und ob „sie bewusst Schlüsselbegriffe der antiken Philosophie in ihre Argumentation [integrierten], um so gezielt Anschlussfähigkeit herzu‐ stellen“ 39 . In diesen Fragen geht es nicht um I. Einführung in Themenstellung, Stand der Forschung und Vorgehensweise 24 <?page no="25"?> 40 Schnelle, Bildung, 135. 41 Troeltsch, Methode, 736. 42 Vgl. auch Troeltsch, Methode, 731 f. 43 Troeltsch, Methode, 736. 44 Troeltsch, Methode, 737. passive Vorgänge wie traditionsbzw. religionsgeschichtliche Beeinflussungen, son‐ dern [um] aktive Prozesse: die Übernahme philosophischer Begriffe und Ideen, die Integration philosophischer Themen in die eigene Argumentation, die Teilnahme an umfassenden philosophisch-theologischen Diskursen. 40 Die Auseinandersetzung mit den theoretischen Überlegungen zur Sprache, die sich in der antiken Umwelt entwickelt haben und im ersten nachchristlichen Jahrhundert vorhanden sind, liefert also die Voraussetzung dafür, das Spezifi‐ sche des paulinischen Sprachverständnisses herausstellen zu können. Nur wenn man die antiken sprachphilosophischen Begriffe und Ideen berücksichtigt, kann aufgezeigt werden, wo Paulus an bereits erarbeitete Sprachvorstellungen an‐ knüpft, welche Fragestellungen er nicht aufgreift oder wo er eigene, neue Po‐ sitionen formuliert. Damit diese Einordnung erfolgen kann, ist es notwendig, die Entwicklung der antiken Sprachphilosophie mit ihren wichtigsten Frage- und Problemstellungen darzulegen. Ernst Troeltsch fasst dies unter dem Krite‐ rium der Kritik zusammen: Die ntl. Texte unterliegen vorerst der „historischen Kritik“, weil „jede Einzeltatsache unsicher“ 41 ist. 42 Damit Aussagen an Wahr‐ scheinlichkeit gewinnen, muss „die Erklärung und Darstellung vom Gesamtzu‐ sammenhang ausgehen“, denn „nur vom Gesamtzusammenhang aus kann ein Urteil über das Christentum gewonnen werden“ 43 . Dieser Gesamtzusammen‐ hang, von dem aus sich das paulinische Sprachverständnis erhellen lässt, ist zum einen die antike Sprachphilosophie, zum anderen das frühjüdische Sprachver‐ ständnis Philons. Weil „[j]eder Moment und jedes Gebilde der Geschichte (…) nur im Zusammenhang mit anderen und schließlich mit dem Ganzen gedacht werden kann“ 44 , ist es unerlässlich, zu versuchen, dieses Ganze auch für einen bestimmten Themenkomplex zu erfassen. Indem die zentralen Entwicklungen und Fragestellungen der antiken Sprachphilosophie aufgezeigt werden, wird versucht, den allgemeinen Rahmen für die Auseinandersetzung mit Sprache zu erschließen, obgleich dies nie vollständig geschehen kann. Das paulinische Sprachverständnis soll also nicht isoliert betrachtet werden, sondern im Kontext der wichtigsten sprachphilosophischen Fragestellungen der Antike. Zugleich ist es dabei notwendig, sich auf die zentralen Autoren und Entwicklungen zu be‐ 3. Begründung der Vorgehensweise 25 <?page no="26"?> 45 Vgl. Troeltsch, Methode, 740. Indem dies versucht wird, wird betont, dass christliche Themen, Positionen oder Entwicklungen in einem Gesamtzusammenhang stehen. Dies trifft auf die von Troeltsch als ‚dogmatische’ Methode charakterisiert nicht zu. Sie stellt er der historischen, religionsgeschichtlichen Methode gegenüber (vgl. dazu auch S. 744). Letztere erfüllt die Kriterien der Kritik, der Analogie und der Korrelation. 46 Zum historischen Verstehen in Bezug auf ntl. Texte s. Oda Wischmeyer: Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch, Tübingen 2004 (NET 8), 48-59. 47 Vgl. Troeltsch, Methode, 732. 48 Troeltsch, Methode, 733. 49 Troeltsch, Methode, 733. schränken. 45 Neben der Kritik führt Troeltsch zwei weitere Kriterien an, die zum historischen Verstehen beitragen: 46 Analogie und Korrelation. Durch Analogien können die Wahrscheinlichkeiten einzelner Aussagen erhöht werden; indem nach Analogien gesucht wird, wird die Kritik bzw. der Unsicherheitsfaktor his‐ torischen Verstehens ernst genommen und der Versuch unternommen, den Faktor der Unwahrscheinlichkeit zu verringern. 47 Für die vorliegende Untersu‐ chung ist nach Analogien in zwei Richtungen zu fragen: Zum einen nach Ana‐ logien in philosophischen, profangriechischen Texten, die sich theoretisch mit dem Thema Sprache auseinandersetzen, zum anderen in den Texten Philons, die Analogien für den jüdisch-hellenistischen Kontext ermöglichen; beide sind nach thematischen und begrifflichen Analogien zum paulinischen Sprachverständnis zu befragen, um dieses besser verstehen und einordnen zu können. Damit einher geht die dritte von Troeltsch geforderte Kategorie, die Korrelation: Es gibt keine „Erscheinungen des geistesgeschichtlichen Lebens, wo keine Veränderung an einem Punkte eintreten kann ohne vorausgegangene und folgende Aenderung an einem anderen, so daß alles Geschehen in einem beständigen korrelativen Zusammenhange steht“ 48 . Das heißt nicht, dass nichts Neues entstehen kann, sondern allein, dass geschichtliche, philosophische, kulturelle und religiöse Ereignisse dort, wo neue Gedankengänge entwickelt werden, zum besseren Verständnis dieser beitragen können, weil sie der „Wechselwirkung aller Er‐ scheinungen des geistesgeschichtlichen Lebens“ 49 unterliegen. Vor dem Hinter‐ grund der profangriechischen sprachphilosophischen Entwicklungen und Fra‐ gestellungen kann eine Einordnung des paulinischen Sprachverständnisses in den antik-philosophischen Sprachdiskurs vorgenommen werden. Der Vergleich mit Philon präzisiert diese Einordnung, indem der kulturelle und religiöse Rahmen mit dem hellenistischen Judentum exakter abgegrenzt werden kann. Dieser Rahmen stellt die erste von zwei wesentlichen Gemeinsamkeiten zwi‐ schen Philon und Paulus dar, die die Grundlage dafür bilden, weshalb gerade philonische Texte als zusätzlicher und vergleichender Bezugsrahmen gewählt wurden. Wenn also abschließend das paulinische Sprachverständnis mit dem I. Einführung in Themenstellung, Stand der Forschung und Vorgehensweise 26 <?page no="27"?> 50 Die gesammelten Beiträge finden sich in Roland Deines und Karl-Wilhelm Niebuhr (Hg.): Philo und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen. I. Internatio‐ nales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum. 1.-4. Mai 2003, Eisenach / Jena, Tübingen 2004 (WUNT 172), s. bes. Larry W. Hurtado: Does Philo Help Explain Early Christianity? , in: Philo und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen. I. Internationales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum. 1.-4. Mai 2003, Eise‐ nach / Jena, hg. v. Roland Deines und Karl-Wilhelm Niebuhr, Tübingen 2004 (WUNT 172), 75-77. 51 Vgl. Roland Deines und Karl-Wilhelm Niebuhr: Philo und das Neue Testament - Das Neue Testament und Philo. Wechselseitige Wahrnehmungen, in: Philo und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen. I. Internationales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum. 1.-4. Mai 2003, Eisenach / Jena, hg. v. ders. Tübingen 2004 (WUNT 172), 4 und George W. E. Nickelsburg: Philo among Greeks, Jews and Chris‐ tians, in: Philo und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen. I. Internati‐ onales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum. 1.-4. Mai 2003, Eisenach / Jena, hg. v. Roland Deines und Karl-Wilhelm Niebuhr, Tübingen 2004 (WUNT 172), 69. 52 Vgl. Nicklesburg, Philo, 69. 53 Deines / Niebuhr, Philo, 5. 54 Vgl. Oda Wischmeyer: Kosmos und Kosmologie bei Paulus, in: Weltkonstruktionen. Religiöse Weltdeutung zwischen Chaos und Kosmos vom Alten Orient bis zum Islam, hg. v. Peter Gemeinhardt und Annette Zgoll, Tübingen 2010, 88. 55 Vgl. Deines / Niebuhr, Philo, 10 f. philonischen verglichen werden soll, ist es unumgänglich, das Verhältnis der beiden Autoren und ihrer Texte zu reflektieren. Der Versuch einer solchen Standortbestimmung wurde 2003 auf dem I. Internationalen Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum in Eisenach und Jena unternommen. 50 Philon selbst kannte die Jesusbewegung mit großer Sicherheit nicht. Ob die ntl. Schriftsteller Philon bewusst wahrgenommen haben, kann nicht abschlie‐ ßend geklärt werden, bleibt aber unwahrscheinlich. 51 Einzig die Möglichkeit, dass der Jude Apollos philonische Ideen und Konzepte in Korinth verbreitet hat, erscheint möglich. 52 In der aktuellen Forschung wird Philon eigenständig und unabhängig von den ntl. Schriften behandelt. Das wirkt der Philoninterpretation der Alten Kirche entgegen, die die Schriften „als Kronzeugen für die eigene, christliche Theologie heranzog und (…) zur Erklärung des Alten und Neuen Testaments gebrauchte“ 53 . Die Untersuchung zu Philon und Paulus soll nicht im Sinn eines Abhängigkeitsverhältnisses oder eines Ableitungsmodells vorge‐ nommen werden - das gilt auch in Bezug auf die zeitgenössische Philoso‐ phie 54 -, sondern von zwei Seiten Bedeutung erlangen und einer wechselseitigen Erhellung dienen: Die Ergebnisse der Philonuntersuchungen können dazu bei‐ tragen, die ntl. Texte besser zu verstehen und ihren kulturellen und religiösen Rahmen aufzuzeigen, gleichzeitig sollen von den ntl. Schriften Impulse für das Verständnis der Texte des Diaspora-Judentums ausgehen. 55 3. Begründung der Vorgehensweise 27 <?page no="28"?> 56 Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 6 1984, 369. 57 Dies bringt zum einen die allegorische Interpretation mit sich, weiterhin der von Philon häufig hergestellte Bezug zur Ethik. 58 Vgl. Gregory E. Sterling: The Place of Philo of Alexandria in the Study of Christian Origins, in: Philo und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen. I. Inter‐ nationales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum. 1.-4. Mai 2003, Eise‐ nach / Jena, hg. v. Roland Deines und Karl-Wilhelm Niebuhr, Tübingen 2004 (WUNT 172), 51. 59 Vgl. Hurtado, Philo, 92. 60 Vgl. Dieter Zeller: Charis bei Philon und Paulus, Stuttgart 1990 (SBS 142), 11. 61 Hierbei ist anzumerken, dass die Rekonstruktion des Lesepublikums kontrovers disku‐ tiert wird. S. dazu Kap. III, 3.1. Philon und Paulus teilen zwei Gemeinsamkeiten: Die erste liegt, wie bereits angesprochen, im hellenistischen Judentum als kulturell-religiösem Kontext. Philon, eine knappe Generation vor Paulus geboren, lebte wie der Apostel selbst in der antiken Welt des ersten nachchristlichen Jahrhunderts; Philon ist ein Autor, „den wir als Persönlichkeit fassen können“, und deshalb schlussfolgert Pohlenz richtig, wenn er schreibt, dass darin „seine geistesgeschichtliche Be‐ deutung“ 56 liegt. Philon und Paulus stammen aus dem Diasporajudentum. Dies liefert ihre kleinste gemeinsame Schnittmenge. Zudem wird auch für Paulus vermutet, dass er von der hellenistischen Philosophie beeinflusst ist. Wie weit diese aufgegriffen, bearbeitet, neu gedacht oder gar nicht bedacht wird, kann der Vergleich zeigen. Dabei liegt in der Tatsache, dass uns eine Vielzahl der philonischen Schriften erhalten ist, ihre besondere Relevanz. Die philonische Argumentation umfasst in der Regel mehrere Bereiche und Ebenen; 57 so wird in den Texten ein breites Spektrum von jüdisch-hellenistischem Gedankengut sichtbar, das auch als geistiger Horizont für die Texte des frühen Christentums gilt. 58 Die größere Textbasis bei Philon erlaubt es, mehrere Faktoren zu berück‐ sichtigen, als es für das Corpus Paulinum überhaupt möglich ist. Das wird sich auch bei der Erarbeitung der Sprachverständnisse zeigen. Die Verwendung ge‐ meinsamen Gedankenguts ist auf eine indirekte Linie zurückzuführen, da beide im gleichen geistigen Milieu verortet werden können; 59 dennoch ist keine di‐ rekte Linie zwischen paulinischen und philonischen Texten herzustellen, ebenso wie eine literarische Abhängigkeit abzulehnen ist. 60 Auch die Ziele, derentwegen die jeweiligen Texte verfasst wurden, sind unterschiedlicher Art. Philon schreibt apologetische Schriften, um das Judentum nach außen zu verteidigen und zu repräsentieren. Die allegorischen Traktate, zu dem auch Conf zu zählen ist, sind primär für ein ausgewähltes, gebildetes jüdisches Publikum verfasst, 61 nicht als Briefe, sondern gezielt als literarische Texte. Paulus hingegen schreibt Briefe an die von ihm gegründeten christlichen Gemeinden. Er ist in erster Linie Missi‐ I. Einführung in Themenstellung, Stand der Forschung und Vorgehensweise 28 <?page no="29"?> 62 Vgl. Zeller, Charis, 10 f. 63 Vgl. Jonathan D. Worthington: Creation in Paul and Philo. The Beginning and Before, Tübingen 2011 (WUNT II 317), 13 f. 64 Vgl. David T. Runia: Naming and Knowing: Themes in Philonic Theology with spezial Reference to the De mutatione nominum, in: Knowledge of God in the Graeco-Roman World, hg. v. Roelof van den Broek, Tjitze Baarda u. a., Leiden, New York 1988, 72 f. Vgl. auch Gregory E. Sterling: Art. Philo, in: EDEJ (2010), 1063-1070 und Maren R. Niehoff: Art. Philo, Allegorical Commentary, in: EDEJ (2010), 1070 ff. 65 Oda Wischmeyer: Kanon und Hermeneutik in Zeiten der Dekonstruktion. Was die neutestamentliche Wissenschaft gegenwärtig hermeneutisch leisten kann, in: Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Ein Handbuch, hg. v. Eve-Marie Becker und Stefan Scholz, Berlin, Boston 2012, 632, i.O. z.T. kursiv. 66 Vgl. Florian Wilk: Schriftbezüge im Werk des Paulus, in: Paulus Handbuch, hg. v. Fried‐ rich W. Horn, Tübingen 2013, 480, zu expliziten Schriftbezügen und ihren unterschied‐ lichen Darstellungs- und Verwendungsformen bei Paulus s. 482-484; eine detaillierte Auflistung aller Schriftbezüge, Schriftparaphrasen und der Anspielungen auf die Schrift findet sich bei Florian Wilk: „Die Schriften“ bei Paulus und Markus, in: Paul and Mark. Comparative Essays Part I. Two Authors at the Beginnings of Christianity, hg. v. Oda Wischmeyer, David C. Sim und Ian J. Elmer, Berlin, Boston 2014 (BZNW 198), 216 ff. onar, in diesem Zusammenhang aber argumentiert er auch theologisch und be‐ gründet seine Argumentationen mit Rückgriff auf die atl. Schriften. 62 Im Bezug auf die Schrift liegt ihre zweite Gemeinsamkeit. 63 Für Philon zeigt sich dies besonders in den allegorischen Schriften, aber auch darüber hinaus ist die Schrift für Philon Hauptbezugstext. Runia hat vermutlich nicht Unrecht, wenn er sagt, dass Philon sich selbst in erster Linie als Kommentator gesehen hat und sich durch diesen Blick ein wesentlicher Zugang zu den philonischen Texten eröffnet. 64 Auch in der Untersuchung zum Sprachverständnis wird sich deutlich zeigen, dass Philon in der Tradition der Schrifterklärung steht; so stellt beispielsweise der Genesistext über den Turmbau zu Babel den Rahmen für den Traktat Conf. Das philosophische Interesse Philons ist damit nicht abzuwerten, aber es erlangt nicht dieselbe Autorität wie die Schrift; Philon benutzt die Phi‐ losophie dazu, die atl. Schriften zu erklären. Auch das frühe Christentum war „weder eine ‚schriftlose’ oder gar illiterate Gruppierung“, auch sie „hatten die Schrift, die sie reichlich benutzten und als interpretierende - und neu interpre‐ tierte - Grundlage ihrer eigenen Religion verwendeten“ 65 . Dies gilt auch für Paulus: Er zitiert aus verschiedensten Teilen der Schrift, 66 greift z. B. in 1 Kor 14,21 auf Jesaja zurück. In 1 Kor wird aber noch an weiteren Textstellen er‐ sichtlich, dass Paulus davon ausgeht, dass die Gemeinde mit den Inhalten der Schrift vertraut ist. Er spielt in 1 Kor auf Aspekte der Schöpfungs- oder Exo‐ duserzählung, auf Regeln und Verbote der Tora oder auf allgemeine jüdische 3. Begründung der Vorgehensweise 29 <?page no="30"?> 67 Vgl. 1 Kor 8,6; 10,1-10; 11,12 und 15,44 f (Schöpfungs- oder Exoduserzählung), 1 Kor 5,1.7 f (Regeln oder Verbote aus der Tora), 1 Kor 15,3 f.27 (christologische Interpretati‐ onen) und 1 Kor 3,13; 7,18 (jüdisches Gedankengut und jüdische Praktiken), vgl. dazu Christopher D. Stanley: Arguing with Scripture. The Rhetoric of Quotations in the Let‐ ters of Paul, New York, London 2004, 76 f. 68 Vgl. Stanley, Arguing, 77 f.96. 69 Wischmeyer, Kanon, 653. i.O. z.T. kursiv. 70 Vgl. Wilk, Schriftbezüge, 482.484 und Stanley, Arguing, 172. 71 Vgl. Wilk, Die Schriften bei Paulus und Markus, 207. 72 Dabei handelt es sich nach Stanley, Arguing, 78 um diese Textstellen: 1 Kor 2,16; 5,13; 10,26; 15,32.33. Zur Problematisierung der Kriterien für implizite Schriftzitate s. Wilk, Schriftbezüge, 485 f. 73 Vgl. Worthington, Creation, 13 und Richard B. Hays: Echoes of Scripture in the Letter of Paul, New Haven, London 1989, 10. 74 Vgl. Wischmeyer, Kanon, 642. Zur Bedeutung der Schrift bei Paulus s.a. Worthington, Creation, 13 f, zum Forschungsüberblick s. Hays, Scripture, 5-9 und Wilk, Schriftbe‐ züge, 481 f. Weiterführend s. Dietrich-Alex Koch: Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. Untersuchungen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus, Tü‐ bingen 1986 (BHTh 69) und Wilk, Die Schriften bei Paulus und Markus, bes. 207-211. Praktiken oder jüdisches Gedankengut an, ohne sie näher zu erklären. 67 Für eine große Anzahl an direkten oder indirekten Zitaten gilt aber, dass sie, auch ohne dass die atl. Kontexte offengelegt werden, verständlich sind. 68 Paulus unter‐ mauert seine eigene Argumentation durch Schriftzitate; dabei hat die Schrift nicht nur „als - hoch geschätztes - Gesetz des Mose“ Autorität, „sondern als Prophezeiung des Kommens Jesu“ 69 . Paulus verleiht auch seinen eigenen Texten Autorität, indem er der Schrift eine solche zuspricht und sie in seinen Briefen zitiert. 70 Paulus greift die Schrift auch auf, ohne sie als Zitat kenntlich zu machen, oder er modifiziert den Wortlaut; 71 dann sind die Zitate als solche für die Ko‐ rinther - sofern sie die Originalstellen nicht dezidiert kannten - nicht erkennt‐ lich. 72 Wie Paulus die Schrift interpretiert und einsetzt, gibt also nicht nur Aus‐ kunft über sein Schriftverständnis, sondern auch über sein eigenes Denken. 73 Indem Paulus lediglich aus jüdischen Schriften und nicht aus der Profangräzität zitiert, wird die Bedeutung ersterer für Paulus deutlich. 74 Mit dem jüdischen Hintergrund und dem Bezug auf die Schrift weisen Philon und Paulus zwei Gemeinsamkeiten auf, die die profangriechischen Autoren nicht bieten können. Es ergibt sich daraus nicht nur der Nutzen, dass die phi‐ lonischen und paulinischen Texte in ihren Besonderheiten näher erklärt werden können, sondern sogar eine Notwendigkeit, I. Einführung in Themenstellung, Stand der Forschung und Vorgehensweise 30 <?page no="31"?> 75 Die Begriffe „Frühjudentum“ und „frühes Judentum“ sind in der deutschsprachigen Li‐ teratur gängig und beziehen sich auf den Zeitraum von ca. 300 v. Chr. bis 136 n. Chr. Der englische Ausdruck „ancient Judaism“ ist vergleichbar. 76 Deines / Niebuhr, Philo, 10. [d]enn erst wenn auch das Neue Testament als eine in großen Teilen jüdische Schrif‐ tensammlung selbstverständlicher Teil der Beschäftigung mit dem Frühjudentum 75 ist, kann von der Überwindung der alten, religiös bedingten Gegensätze in der Erfor‐ schung dieser sensiblen Zeitepoche um die Zeitenwende gesprochen werden. 76 Die Perspektive auf das Thema ‚Sprache’ ist also insgesamt eine historische. Die historisch-kritische Exegese stellt den methodischen Rahmen der Arbeit dar; sie wird v. a. durch die historische Linguistik in Form der linguistischen Semantik unterstützt. So liegt ein Schwerpunkt dieser Arbeit auf der semantischen Ana‐ lyse verschiedener Lexeme, die in 1 Kor 14 vorkommen (u. a. χάρισμα, πνεῦμα, νοῦς, δύναμις, προφητεία, γλῶσσα, φωνή, σημεῖον, διδαχή oder οἰκοδομή). Diese Analyse kann dazu beitragen, das paulinische Sprachverständnis als ei‐ genständigen Beitrag zu charakterisieren, ebenso aber mit den antiken Begriffen und Fragestellungen zu vergleichen. Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Analyse der Struktur der Texte, um zu sehen, wie Paulus bei der argu‐ mentativen Entfaltung seines Sprachverständnisses vorgeht. Leitendes Ziel dieser Untersuchung ist es, das paulinische Verständnis von Sprache anhand von 1 Kor 14 herauszuarbeiten. Dieses entwickelt sich seiner‐ seits im Rahmen des antiken Sprachdiskurses, der in besonderer Deutlichkeit von der griechischen Philosophie einerseits und frühjüdischen Positionen an‐ dererseits abgebildet wird. Ein zweites Ziel ist es daher, das paulinische Ver‐ ständnis als qualifizierten Beitrag im frühkaiserzeitlichen Diskurs über Sprache zu werten und in diesem Diskurs als eigene Stimme zu positionieren. Die Bedeutung der Untersuchung für die neutestamentliche Wissenschaft liegt damit zu allererst im Bereich der Paulusforschung. Das christliche Ver‐ ständnis von Sprache wird an seinem Beginn erfasst, indem das erste schriftliche Zeugnis, 1 Kor 14, thematisch untersucht wird. Das Sprachverständnis des Paulus wird sich als eine wichtige Komponente seiner Geisttheologie erweisen. Die Einbeziehung der antiken Sprachphilosophie schafft dabei einen ebenso weiten wie genauen Interpretationsrahmen, der die Herausarbeitung der Schwerpunkte und Eigenarten des paulinischen Umgangs mit dem Thema Sprache und seine historische und sachliche Kontextualisierung ermöglicht. Daraus ergibt sich die Gliederung der Arbeit: Sie führt zunächst in die wich‐ tigen sprachphilosophischen Fragestellungen der Antike ein und untersucht nachfolgend das Sprachverständnis Philons. Im Anschluss daran wird das pau‐ 3. Begründung der Vorgehensweise 31 <?page no="32"?> linische Sprachverständnis erarbeitet. In einem letzten Teil erfolgt der Vergleich zwischen Paulus und der antiken Sprachphilosophie bzw. Philon, der in das ab‐ schließende Resümee mündet. Dieses zeigt die positiven und negativen Analo‐ gien zwischen Paulus und den profangriechischen und den frühjüdischen Texten auf und positioniert das paulinische Sprachverständnis im antiken Sprachdiskurs. Abschließend wird thematisiert, inwiefern die Ergebnisse einen Beitrag zum intellektuellen Profil des Paulus liefern können. I. Einführung in Themenstellung, Stand der Forschung und Vorgehensweise 32 <?page no="33"?> 1 Einschlägige Einführungen in die Sprachphilosophie sind: Tilman Borsche (Hg.): Klas‐ siker der Sprachphilosophie von Platon bis Noam Chomsky, München 1996, Edmund Braun: Der Paradigmenwechsel in der Sprachphilosophie. Studien und Texte, Darm‐ stadt 1996, Eugenio Coseriu: Die Geschichte der Sprachphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Eine Übersicht. Teil I: Von der Antike bis Leibniz. Teil II: Von Leibniz bis Rousseau. Autorisierte Nachschrift von Gunter Narr und Rudolf Windisch, Tübingen 2 1975 und Eugenio Coseriu: Die Geschichte der Sprachphilosophie von den Anfängen bis Rousseau. Neu bearbeitete und erweiterte Auflage von Jörn Albrecht, Tübingen 2003 (UTB 2266). Soweit nicht anders vermerkt, beziehen sich die folgenden Angaben zu Coseriu auf die Ausgabe von 2003. II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa: Eine Einführung in die zentralen Fragestellungen und Autoren der antiken Sprachphilosophie 1. Vorbemerkungen Das folgende Kapitel gibt eine Einführung in die sprachphilosophische Ent‐ wicklung von ihren Anfängen bis zur Stoa und liefert damit einen Überblick über repräsentative Stationen der antiken Sprachphilosophie. 1 Die Darstellung erfolgt in einem zeitgeschichtlichen Ablauf anhand der Autoren. Dabei werden die leitenden Fragestellungen der antiken Sprachphilosophie und ihre Vertreter benannt. Berücksichtigt werden Heraklit, Parmenides, Platon, Aristoteles und die Stoa. Erst vor diesem Hintergrund kann das philonische und paulinische Sprachverständnis untersucht und das jeweilige Spezifikum ausgemacht werden; ebenso ist es erst im Anschluss daran möglich, beide Autoren im Rahmen der antiken Sprachverständnisse zu verorten. Die Darstellung liefert themenzentrierte Einzelinterpretationen, d. h. die je‐ weiligen zentralen sprachphilosophischen Termini und die Hauptthematik zu Sprache werden vorgestellt und um das Verhältnis von ‚Name’ und ‚Sache’ zentriert, das einen Schlüssel zum Verständnis der griechischen Sprachphiloso‐ phie darstellt. Zudem werden hierdurch Grundlinien der Sprachauffassungen von Philon und Paulus erschlossen. Auf eine literarhistorische Einordnung, Nennung und Charakterisierung der literarischen Gattungen sowie eine zeit‐ geschichtliche Einordnung, Motiv- und Problemgeschichte der einzelnen <?page no="34"?> 2 Zu ‚mythischen’ Sprachauffassungen s. die Aufsätze von Wolfgang Schenk: Altisraeli‐ sche Sprachauffassungen in der Hebräischen Bibel, in: Sprachtheorien der abendländ‐ ischen Antike, hg. v. Peter Schmitter, Tübingen 1991 (Geschichte der Sprachtheorie 2), 3-25 und Wolf-Lüder Liebermann: Sprachauffassungen im frühgriechischen Epos und in der griechischen Mythologie, in: Sprachtheorien der abendländischen Antike, hg. v. Peter Schmitter, Tübingen 1991 (Geschichte der Sprachtheorie 2), 26-53. 3 Vgl. Oelmüller / Dölle-Oelmüller / Steenblock, Diskurs Sprache, 12 und Liebermann, Sprachauffassungen, 29. 4 Vgl. Hom. Od. 8,487 ff und Liebermann, Sprachauffassungen, 34 f. 5 Kraus, Manfred: Name und Sache. Ein Problem im frühgriechischen Denken, Ams‐ terdam 1987 (Studien zur antiken Philosophie 14), 19. 6 Kraus, Name, 19, i.O. z.T. kursiv. 7 Vgl. Kraus, Name, 20.24. Kraus belegt dies durch den Sprachgebrauch von ὄνομα und ὀνομάζειν bei Homer und Hesiod (vgl. Kraus, Name 25-30). 8 Oelmüller / Dölle-Oelmüller / Steenblock, Diskurs Sprache, 16. Schriften der behandelten Autoren muss in diesem Zusammenhang verzichtet werden. 2. Die magisch-mythische Sprachauffassung und die Anfänge sprachphilosophischen Denkens Eine Vorstufe der Sprachphilosophie stellt die mythisch-magische Sprachauf‐ fassung dar. 2 Ihr Merkmal ist, dass das Wort / der Name und die Sache / Wirk‐ lichkeit als Einheit gedacht wird. Das ist v. a. im frühgriechischen Epos bei Homer und Hesiod zu finden. 3 So zeigt Homer in der Odyssee, dass Sprache Wirklichkeit abbilden kann, wenn er einen guten Sänger dahingehend be‐ schreibt, dass dieser so erzählen kann, als sei man selbst dabei gewesen. 4 „Weil der Mythos durch Sprache Wirklichkeit setzt, kann diese Wirklichkeit mit der Sprache noch gar nicht in Konflikt geraten, kann der Name die Sache noch völlig beherrschen.“ 5 Es wird also noch nicht das Verhältnis von Name und Sache re‐ flektiert, weil „der Name die Sache nicht bezeichnet, sondern ist“ 6 . Nennen und Existieren werden gleichgesetzt. 7 Im 7. Jh. v. Chr. beginnt in der griechischspra‐ chigen Welt ein Umdenken: Die griechischen Philosophen setzen sich kritisch mit dem Mythos auseinander, weil sie „die überlieferten religiösen Riten und Göttervorstellungen [als] unwahr und unsittlich“ 8 empfinden. Die Welt des Menschen ist nicht mehr die des Mythos, sondern die, die durch die Sinne er‐ fahren wird. Das mythische Denken wird somit vom logischen abgelöst. Diese Auffassung hat nicht nur auf das Verständnis der Weltwirklichkeit Auswir‐ kungen, sondern auch auf das der Sprache: Sie erhält die Aufgabe, die mit den Sinnen wahrgenommene Wirklichkeit zu beschreiben. Die veränderte Wirk‐ II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa 34 <?page no="35"?> 9 Vgl. Kraus, Name, 42-45. 10 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 13, Oelmüller / Dölle-Oelmüller / Steenblock, Dis‐ kurs Sprache, 9. 12. 16 und Kraus, Name, 16. 11 Vgl. Borsche, Sprachphilosophie, 8. 12 Vgl. Braun, Sprachphilosophie, 6 f. 13 Einführend zu Heraklit s. Gerhard Baudy und Theodor Heinze: Art. Herakleitos, in: DNP 5 (1998), 382-385, s. bes. B. Sprache, 383 und Christof Rapp: Vorsokratiker, Mün‐ chen 1997, 56-82. Weitere bzw. ältere Beiträge zur Sprache bei Heraklit liegen von Bruno Snell: Die Sprache Heraklits, in: Hermes 61 (1926), 353-381 und Donatella Di Cesare: Heraklit und die Sprache, in: Sprachphilosophie in Antike und Mittelalter. Bo‐ chumer Kolloquium, 2.-4. Juni 1982, hg. v. Burkhard Mojsisch, Amsterdam 1986, 1-16 vor. 14 Vgl. Kraus, Name, 133. 15 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 4. lichkeitsauffassung bedingt, dass Name und Objekt nicht mehr identifiziert, aber als unmittelbar aufeinander bezogene Relationen verstanden werden. 9 Die Re‐ flexion über Sprache und über das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit beginnt also dort, wo Sprache ihre Selbstverständlichkeit verliert und Mythen angezweifelt werden. 10 Die griechische Philosophie kennt anfangs kein Wort für Sprache, dennoch entwickelt sich eine intensive Auseinandersetzung mit verschiedenen As‐ pekten, die Teil einer Sprache sind. 11 Im λόγος findet sich ein Begriff, der die Trennung dieser Einheit von Wort / Name und Sache / Wirklichkeit ermöglicht und damit auch die Unterscheidung zwischen Vernunft bzw. Denken und Sprache. In der Vernunft liegt eine Einheit von Wort und Sache vor, in der Sprache auf Grund der Verschiedenheit der Namen eine Vielfalt. Durch die Er‐ kenntnis von Letzterem entsteht gegenüber dem mythischen Denken ein neuer Ansatz: Namen können als veränderbare Zeichen nicht die wahre Wirklichkeit enthalten. Dies führte zu einer Abwertung der Sprache als erkenntnisermögli‐ chendem Medium. Als solches gilt nun die Vernunft. 12 3. Die Vorsokratiker Heraklit und Parmenides In den Fragmenten Heraklits (ca. 550-480 v. Chr.) finden sich erstmals sprach‐ philosophische Fragestellungen. 13 Eine Sprachphilosophie im eigentlichen Sinn kann nicht rekonstruiert werden, aber sprachphilosophisches Denken, das sich von der mythischen Sprachauffassung abwendet, beginnt. 14 Im Zentrum des sprachphilosophischen Denkens Heraklits stehen zwei Aspekte: Erstens der aufgekommene λόγος-Begriff und sein Bezug zur Sprache, zweitens die Frage, wie zuverlässig ein Name die Wirklichkeit wiedergibt. 15 Mit dem λόγος-Begriff 3. Die Vorsokratiker Heraklit und Parmenides 35 <?page no="36"?> 16 Vgl. Elisabeth Leiss: Sprachphilosophie, Berlin, New York 2009, 21. 17 Hennigfeld, Sprachphilosophie, 8. 18 Leiss, Sprachphilosophie, 21. Zum engen Zusammenhang zwischen Denken und Sprache s. Martin Thurner: Der Ursprung des Denkens bei Heraklit, Stuttgart, Berlin, Köln 2001 (Ursprünge des Philosophierens 1), 205-233. 19 Hennigfeld, Sprachphilosophie, 12. Vgl. a. Thurner, Ursprung, 228 f. 20 Vgl. Thurner, Ursprung, 212. 21 Kraus, Name, 104. So auch Hennigfeld, Sprachphilosophie, 5 f. 22 Kraus, Name, 104. 23 Vgl. Kraus, Name, 10-109. 24 Kraus, Name, 108. umfasst Heraklit sowohl den Bereich der Sprache als auch den des Denkens und der Wirklichkeit; 16 er ist ein „Titel für den Gesamtbezug von Sein, Denken, Sprechen und Handeln“ 17 . Für Heraklit ist der λόγος „ein Ordnungsprinzip, das die Wirklichkeit strukturiert und analog dazu das Denken und die Sprache“ 18 . Zwischen Wirklichkeit und Sprache besteht also keine Identifikation, sondern eine Analogie. Wird der λόγος in der Heraklit-Forschung unterschiedlich in‐ terpretiert, so ist auf jeden Fall der enge Bezug zwischen λόγος und Sprache zu betonen: „Die Frage nach dem Wesen der Sprache (Sprachphilosophie) ist in ihrem historischen Beginn gekoppelt an die Frage nach der Wahrheit des Seins (Ontologie).“ 19 Diese Wahrheit versucht Heraklit durch den λόγος zu fassen. Deshalb kann für Heraklit nichts gesagt werden, was nicht ist. 20 Die Wahrheit alles Seienden hat ihren Grund im λόγος. Dieser hat sowohl eine objektive als auch eine subjektive Seite, d. h. er bezieht sich sowohl auf die ‚echte’ Wirklich‐ keit, auf das „objektive Weltgesetz“, als auch auf die vom Menschen wahrge‐ nommene Wirklichkeit, die „subjektive Rede des Philosophen“ 21 . „Für die Rede über diese Wirklichkeit bedeutet dies aber, daß sie, wenn sie wahr sein will, nach ebendemselben Verhältnis strukturiert sein muß wie die Wirklichkeit selbst“ 22 . Zwischen Wirklichkeit und Sprache besteht also ein enger Zusammenhang. Die Wirklichkeit kann den Menschen durch die Sprache erschlossen werden, weil der λόγος nach Fragment B1 gehört werden kann. Die Struktur der Wirklichkeit zeigt sich in Gegensätzen. Das gilt also analog auch für die Sprache und den Zusammenhang von Name und Ding; dies wird im Bogenfragment deutlich: 23 τῶι οὖν τόξωι ὄνομα βίος, ἔργον δὲ θάνατος. (Heraklit, Fragm. B48, DK I, 161) Des Bogens Name also ist Leben (…), sein Werk aber Tod. (Heraklit, Fragm. B48, DK I, 161) Heraklit zeigt einerseits, dass ein Bogen zwei antithetische Aspekte in sich ver‐ eint: „[Z]zum einen die todbringende Wirkung, zum anderen seinen Namen, der ‚Leben’ bedeutet.“ 24 Andererseits expliziert Heraklit einen weiteren Gegensatz: II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa 36 <?page no="37"?> 25 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 9 f und Kraus, Name, 108. 26 Vgl. Kraus, Name, 108 f.133. 27 Vgl. Heraklit, Fragm. B19: ἀπίστους εἶναι τινας ἐπιστύφων Ἡ∙ φησιν; ἀκοῦsαι οὐκ ἐπιστάμενοι οὐδ΄ εἰπεῖν, Text nach: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann Diels. Bd. I, hg. v. Walther Kranz, Berlin 7 1954, 155. Vgl. dazu Hennigfeld, Sprachphilosophie, 5 f. 28 Vgl. Braun, Sprachphilosophie, 7 und Kraus, Name, 133. 29 Vgl. Laurenz Lersch: Die Sprachphilosophie der Alten. Dargestellt am Streite über Ana‐ logie und Anomalie der Sprache, Bonn 1838 (Nachdruck Hildesheim, New York 1971), 11 f. 30 Vgl. Donatella Di Cesare: Heraklit und die Sprache, in: Sprachphilosophie in Antike und Mittelalter. Bochumer Kolloquium, 2.-4. Juni 1982, hg. v. Burkhard Mojsisch, Ams‐ terdam 1986, 1-16. 31 Vgl. Leiss, Sprachphilosophie, 22. 32 Vgl. Plat. Krat. 383a-b. 33 Vgl. Felix Heinimann: Nomos und Physis, Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts, Darmstadt 5 1987, 56. 34 Vgl. Coseriu, Geschichte, 28 und Kraus, Name, 109. Das Lexem βιός wird in der epischen Literatur für Bogen verwendet; βίος heißt aber auch Leben. Ein Name kann also zwei Dinge bezeichnen und nimmt damit nicht zwingend auf das Bezug, was er aussagt. 25 Damit zeichnet sich bei Heraklit bereits ein Problembewusstsein dafür ab, dass Sprache trügerisch sein kann, weil im Namen, d. h. in der Benennung, keine Eindeutigkeit besteht. 26 Die meisten Menschen bleiben im Bereich der Meinungen und des Scheins (δόξα), weil sie sich weder auf das rechte Reden noch auf das rechte Hören verstehen. 27 Sie verstehen den λόγος nicht und begnügen sich mit dem Schein, statt sich der Wahrheit zu nähern. Nichtsdestotrotz bleibt Heraklit im Wesentlichen der ar‐ chaischen Auffassung, dass Name und Objekt unmittelbar miteinander korre‐ lieren, treu. 28 In der Forschung gibt es unterschiedliche Meinungen darüber, woher die Sprache nach Heraklit ihre Legitimation erhält. Es wurde versucht, ihn einer Position im φύσει-θέσει / νόμῳ-Streit eindeutig zuzuordnen. Demnach beruht die Richtigkeit der Namen einmal auf einer natürlichen Zuordnung von Wort und Sache (φύσει), einmal auf einer vom Menschen gesetzten (θέσει). Lersch 29 , Di Cesare 30 und Leiss 31 vertreten die Ansicht, dass die heraklitischen Fragmente mit der φύσει-These einhergehen. Grund für diese Annahme liefert auch der Kratylosdialog Platons, in welchem Kratylos, ein Schüler Heraklits, die These von der natürlichen Sprachentstehung vertritt. 32 Heraklit kann aber keiner der beiden Positionen explizit zugeordnet werden, 33 weil er die Differenzierung, ob die Richtigkeit von Namen als φύσει oder θέσει zu bestimmen ist, noch nicht in der Form im Blick hat, wie sie sich im weiteren Verlauf des sprachphilosophi‐ schen Denkens entwickelt. 34 3. Die Vorsokratiker Heraklit und Parmenides 37 <?page no="38"?> 35 Einführend zu Parmenides s. István Bodnár: Art. Parmenides, in: DNP 9 (2000), 337-341 und Manfred Kraus: Parmenides, in: Frühgriechische Philosophie, hg. v. Hellmut Flashar, Dieter Bremer und Georg Rechenbauer, Basel 2013 (= Grundriss der Geschichte der Philosophie. Antike 1 / 2), 441-530. 36 Parmenides, Fragm. B2,7 f, DK I, 231. 37 Vgl. Kraus, Name, 63. 38 Parmenides, Fragm. B 8,35, DK I, 238. 39 Vgl. Braun, Sprachphilosophie, 7 f. 40 Vgl. Kraus, Name, 65 f. 41 Vgl. Parmenides, Fragm. B8,39 und B8,53, DK I, 238 f. 42 Klaus Held: Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Eine phänomenologische Besinnung, Berlin, New York 1980, 549. Vgl. auch Hennigfeld, Sprachphilosophie, 22 und Braun, Sprachphilosophie, 8. 43 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 21 f. Als Gegenspieler zu Heraklit wird häufig Parmenides (ca. 540-470 v. Chr.) ge‐ nannt. 35 Dies ist vor allem der Fall, wenn man Heraklit der φύσει-Theorie zu‐ ordnet. Beide Denker weisen jedoch mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auf und sind fest im Denken der archaischen Logik verwurzelt. Parmenides nimmt einen untrennbaren Zusammenhang von Denken, Sprechen und Sein an, wonach das Nichtseiende weder gedacht noch gesagt werden kann, „οὔτε γὰρ ἂν γνοίης τό γε μὴ ἐὸν - οὐ γὰρ ἀνυστόν - οὔτε φράσαις“ 36 (denn weder er‐ kennen könntest du das Nichtseiende - das ist ja unausführbar - noch ausspre‐ chen). Er ist der erste, der das Sein mit einem Namen versieht und es als τὸ ὄν bezeichnet. 37 Das τὸ ὄν ist der Ort des Denkens. Im Denken ist das Sein bereits ‚als Gesagtes’ vorhanden: „οὐ γὰρ ἄνευ τοῦ ἐόντος, ἐν ὧι πεφατισμένον ἐστιν, εὑρήσεις τὸ νοεῖν“ 38 (denn nicht ohne das Seiende, in dem es als Ausgespro‐ chenes ist, kannst du das Denken antreffen). Das Gesagte impliziert für Parme‐ nides Wirklichkeit, weil er eine Wesenszusammengehörigkeit von Denken und Wahrheit annimmt, auf die sich der Mensch einlässt, wenn er spricht. 39 Für Par‐ menides besteht in der Tradition des archaischen Denkens ein unanzweifelbarer Zusammenhang zwischen Wort und Sache. 40 Dieser entsteht durch Überein‐ kunft; 41 dennoch versteht Parmenides die Namen nicht als willkürliche Setzung; die Namen stammen zwar vom Menschen, sind aber dennoch keine „revidier‐ bare Konvention, wohl aber etwas, was überhaupt zu Lasten des Menschen geht, im Unterschied zu dem, was jeglichem menschlichen Tun vorgegeben ist“ 42 . Auch hier tritt die Unterscheidung zwischen φύσει und θέσει nicht derart deut‐ lich hervor, wie dies in der Folgezeit der Fall ist. Es kann für Parmenides kein Gegensatz zwischen den beiden Theorien ausgemacht werden, da er die Theorie, dass die richtige Zuordnung von Wort und Sache aus einem natürlichen Zu‐ sammenhang resultiert, nicht einmal aufgreift. 43 II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa 38 <?page no="39"?> 44 Vgl. Kraus, Name, 82 f 45 Vgl. Parmenides, Fragm. B1,28-30, DK I, 230. 46 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 17.19 f. 47 Vgl. Kraus, Name, 87 f. 48 Vgl. Kraus, Name, 93 f. 49 Vgl. Kraus, Name, 54. 50 Coseriu, Geschichte, 1975, 30. 51 Vgl. Coseriu, Geschichte, 33 f. Dem engen Zusammenhang von Name und Sache steht der Doxa-Teil des parmenidischen Lehrgedichts gegenüber. 44 Der philosophischen Erkenntnis der Wahrheit sind auch bei Parmenides die Meinungen entgegengesetzt. 45 Er warnt, ebenso wie Heraklit, davor, sich von den gesprochenen Worten täuschen zu lassen. Da die Namen auf einer Festsetzung beruhen, kommt in ihnen δόξα zum Tragen. In der δόξα ist das Werden manifestiert, dem Parmenides einen großen Stellenwert beimisst. Alle Sterblichen nehmen dieses Werden wahr, beispiels‐ weise wenn der Tag zur Nacht wird. Der Mensch aber macht einen Fehler bei der Benennung von Phänomenen des Werdens: Er hätte nicht zwischen Tag und Nacht unterscheiden und zwei Namen ausmachen dürfen, sondern nur einen, weil es sich um das eine, um τὸ ὄν, handelt. Die Menschen haben aber nicht Sein und Nichtsein - welches sowieso unmöglich zu denken und zu sprechen ist 46 - unterschieden, sondern zwischen Licht und Nacht, deshalb entsteht δόξα, wäh‐ rend sich in der ἀλήθεια die tatsächliche Unterscheidung zwischen Sein (ὄν) und Nichtsein (μὴ ἐόν) widerspiegelt. 47 Indem also der Einheit des Seins als dem Objekt der Erkenntnis eine Vielfalt von Namen entgegenstellt wird, entsteht δόξα 48 . Heraklit und Parmenides thematisieren Sprache als Wort, d. h. die eben behan‐ delte Frage nach dem Verhältnis von Wort und Gegenstand. Die Beziehung zwi‐ schen einzelnen Wörtern als Satz ist dagegen noch nicht Gegenstand des ar‐ chaischen Denkens. 49 Hauptsächlich thematisieren Heraklit und Parmenides jedoch Sprache im Allgemeinen, d. h. „als eine Form des Universums, die dieselbe Struktur wie die übrigen Formen des Universums (…) aufweist (…) oder nicht aufweist“ 50 . Ein Bewusstsein für diese unterschiedlichen Fragestellungen tritt erst in platonischer Zeit ein. 51 Zusammenfassung: Im Mittelpunkt der Sprachphilosophie von Heraklit und Parmenides steht der λόγος-Begriff. Der von Heraklit und Parmenides angenommene Zusammen‐ hang von Wirklichkeit / Sein, Denken und Sprache bestimmt die weiteren sprachphilosophischen Überlegungen. Er durchbricht das magisch-mythische Einheitsdenken von Wort und Sache, indem durch die Einführung des 3. Die Vorsokratiker Heraklit und Parmenides 39 <?page no="40"?> 52 Vgl. Erler, Platon, 473 und s. dazu auch Michael Erler: Art. Platonismus, in: RAC XXVII (2016), 837-890; 905-955. 53 Vgl. Manfred Kraus: Platon, in: Klassiker der Sprachphilosophie. Von Platon bis Noam Chomsky, hg. v. Tilman Borsche, München 1996, 19. 54 Erler, Platon, 473. 55 Vgl. Josef Derbolav: Platons Sprachphilosophie im Kratylos und in den späteren Schriften, Darmstadt 1972, 20. 56 Vgl. Plat. Phaid. 89d-e. 57 Vgl. Plat. Soph. 260a. λόγος-Begriffs Sprache mit Denken und Vernunft verbunden und in Bezug zu‐ einander gesetzt wird. Zwischen Sprache und Wirklichkeit besteht für diese Philosophen ein unmittelbarer Zusammenhang. So ergibt sich für Heraklit und Parmenides zwar keine Einheit von Name und Sache, aber ein unmittelbarer Bezug beider Komponenten. Allerdings weist Heraklit bereits darauf hin, dass der Bezug von Name und Objekt auseinanderfallen kann; auch Parmenides weist auf trügerische Namen hin, die nicht die Einheit des Seins wiedergeben. Ob die Sprache ihre Begründung φύσει oder θέσει erhält, lässt sich bei Heraklit nicht abschließend klären, für Parmenides ist letzteres anzunehmen. Insgesamt werden bei Heraklit und Parmenides sprachphilosophische Überlegungen an‐ gestoßen, die im weiteren Verlauf der Philosophiegeschichte eine wichtige Rolle spielen und ausführlich diskutiert werden. 4. Platon Es ist fraglich, ob bei Platon (428 / 427-348 / 347 v. Chr.) bereits von Sprachphi‐ losophie als einer eigenen philosophischen Disziplin gesprochen werden kann. Sprache ist aber ein wichtiges Thema in den Dialogen Platons: Der platonische Sokrates und dessen Dialogpartner diskutieren über den Ursprung, die Funktion und die Legitimation von Sprache sowie über das Wesen des Zeichens und über das Verhältnis von Denken, Sprechen und Sein. 52 Die Auseinandersetzung mit diesen sprachphilosophischen Aufgaben bringt das Hauptanliegen Platons mit sich, die Ermittlung und Vermittlung von Erkenntnis. 53 Die Thematisierung von Sprache hat bei Platon eine grundlegende Bedeutung, die darüber stattfindenden Reflexionen können als „Leitfaden seines Philosophierens“ 54 angesehen werden, 55 da Platon einen direkten Bezug zwischen einem Missverhältnis zur Sprache und einem Missverhalten zur Wahrheit und zu den Mitmenschen her‐ stellt. 56 Ohne Sprache ist Philosophie für Platon undenkbar. 57 Im Folgenden werden anhand ausgewählter Schriften die wichtigsten sprach‐ philosophischen Fragstellungen und Ansichten Platons dargestellt: (1) Im Kra‐ II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa 40 <?page no="41"?> 58 Der Untertitel lautet: ἢ περὶ ὀνομάτων ὀρθότητος (Von der Richtigkeit der Benen‐ nungen). Eine ausführliche Bibliographie zu Kratylos findet sich bei Erler, Platon, 586-589. 59 Borsche, Sprache, 1438. 60 Immer wieder wurde versucht, die Dialogpartner mit historischen Personen in Verbin‐ dung zu bringen. Es ist jedoch wahrscheinlicher, dass Platon verschiedene Auffas‐ sungen bündelte und in den Gesprächspartnern zum Ausdruck bringt. Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 27. 61 Vgl. Timothy M. Baxter: The Cratylus. Plato’s critique of naming, Leiden 1992, 41 f und 184. Zu dieser Frage allgemein s. Erler, Platon, 111. 62 Vgl. Kraus, Platon, 20. Zur ausführlicheren Entwicklung der φύσει-θέσει-These siehe Coseriu, Geschichte, 41 f und Eugenio Coseriu: Der Physei-Thesei-Streit. Sechs Beiträge zur Geschichte der Sprachphilosophie, hg. v. Reinhard Meisterfeld, Tübingen 2004. 63 Vgl. Erler, Platon, 474. 64 Kraus, Platon, 18. tylosdialog wird das Verhältnis von Name und Ding diskutiert. (2) Im Theaitetos und Sophistes wird der Zusammenhang von Sprache und Erkenntnis erörtert. Ebenso wird Sprache als Satz thematisiert. (3) Im Phaidros und dem Siebten Brief ist eine Sprachskepsis auszumachen, zugleich tritt das λόγος-Verständnis Pla‐ tons hervor. (4) Abschließend wird ein kurzer Blick auf die Rezeption der pla‐ tonischen Fragestellungen geworfen. (1) Die wichtigste Auseinandersetzung Platons mit sprachphilosophischen Fragen findet sich im Kratylos 58 , „dem ersten zusammenhängend überlieferten sprachphilosophischen Text der griechischen Literatur“ 59 . Es handelt sich um ein Streitgespräch zwischen Kratylos und Hermogenes 60 um die Richtigkeit von Namen, in das Sokrates verwickelt wird. Was das eigentliche Thema des Dialogs ist, ist in der Forschung umstritten. Es werden der Ursprung der Sprache, die kommunikative und wissensvermittelnde Funktion der Sprache oder die Ety‐ mologien als zentraler Inhalt herausgestellt. 61 Um den Dialog richtig einordnen zu können, ist vorab in Erinnerung zu rufen, dass ὄνομα im Griechischen nicht nur Eigennamen bezeichnet, sondern allgemein ein Wort. 62 Die Einheit von Wort und Sache, die im mythisch-magischen Denken vorliegt, wird im Kratylos durch einen Bezug zwischen Wort und Sache ersetzt. 63 Ange‐ stoßen durch die Annahme der Naturphilosophen und Atomisten, dass Sprache keinen „Bezug zur physikalischen Wirklichkeit“ 64 besitze, wurde die direkte Be‐ ziehung von Wort und Gegenstand in Frage gestellt. Das Problem diskutiert Platon im Krat. Verstärkt wurden die Zweifel an einer naturgegebenen Bezie‐ hung von Wort und Sache durch die Rhetorik der Sophisten, die versuchten, ihre Ziele durch die Uneindeutigkeit von sprachlichen Äußerungen voranzubringen. Dem strebt Platon entgegen, wobei sich bei dem Versuch seiner Problemlösung immer eine enge Verbindung zu seiner Gesamtphilosophie (Erkenntnistheorie, 4. Platon 41 <?page no="42"?> 65 Vgl. Erler, Platon, 474. 66 Texte und Übersetzung jeweils nach: Platon. Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Bearbeitet von Heinz Hofmann, Dietrich Kurz, Klaus Schöpsdau, Peter Stau‐ dacher und Klaus Widdra. Griechischer Text von Louis Bodin, Émile Chambry, Alfred Croiset, Maurice Croiset, Auguste Diès, Louis Méridier, Édouard des Places, Albert Ri‐ vaud, Léon Robin und Joseph Souilhé. Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleier‐ macher (Bd. 1-7) und Klaus Schöpsdau (Bd. 8), hg. v. Gunther Eigler, Darmstadt 4 2005. Verwiesen sei auch auf die moderne deutsche Übersetzung mit Kommentierung „Platon Werke. Übersetzung und Kommentar“, die von Ernst Heitsch, Carl W. Müller und Kurt Sier herausgegeben wird. Geplant ist eine Platonausgabe in 38 Bänden, von denen be‐ reits 17 fertig gestellt sind. Von den drei hier thematisierten Werken liegt für Theaitetos und Kratylos noch keine Ausgabe vor. Für Phaidros wird die Übersetzung dieser Reihe verwendet. Ontologie,…) zeigt. 65 Im Dialog selbst entfalten Kratylos und Hermogenes ihre Positionen bezüglich der Richtigkeit von Namen. Kratylos vertritt die These, dass es für alle Dinge von Natur aus richtige Namen gibt: 66 Κρατύλος φησὶν ὅδε, ὦ Σώκρατες, ὀνόματος ὀρθότητα εἶναι ἑκάστῳ τῶν ὄντων φύσει πεφυκυῖαν, καὶ οὐ τοῦτο εἶναι ὄνομα ὃ ἄν τινες συνθέμενοι καλεῖν καλῶσι, τῆς αὑτῶν φωνῆς μόριον ἐπιφθεγγόμενοι, ἀλλὰ ὀρθότητά τινα τῶν ὀνομάτων πεφυκέναι καὶ Ἕλλησι καὶ βαρβάροις τὴν αὐτὴν ἅπασιν. (Krat. 383a-b) Kratylos hier, o Sokrates, behauptet, jegliches Ding habe seine von Natur ihm zu‐ kommende richtige Benennung, und nicht das sei ein Name, wie einige unter sich ausgemacht haben etwas zu nennen, indem sie es mit einem Teil ihrer besonderen Sprache anrufen; sondern es gebe eine natürliche Richtigkeit der Wörter, für Hellenen und Barbaren insgesamt die nämliche. (Krat. 383a-b) Hermogenes stellt sich gegen diese Ansicht und spricht sich dafür aus, dass alle Namen in Übereinkunft getroffen werden und hierdurch ihre Richtigkeit er‐ halten: καὶ μὴν ἔγωγε, ὦ Σώκρατες, πολλάκις δὴ καὶ τούτῳ διαλεχθεὶς καὶ ἄλλοις πολλοῖς, οὐ δύναμαι πεισθῆναι ὡς ἄλλη τις ὀρθότης ὀνόματος ἢ συνθήκη καὶ ὁμολογία. (…) οὐ γὰρ φύσει ἑκάστῳ πεφυκέναι ὄνομα οὐδὲν οὐδενί, ἀλλὰ νόμῳ καὶ ἔθει τῶν ἐθισάντων τε καὶ καλούντων. (Krat. 384c-d) Ich meinesteils, Sokrates, habe schon oft mit diesem und vielen anderen darüber ge‐ sprochen und kann mich nicht überzeugen, daß es eine andere Richtigkeit der Worte gibt, als die sich auf Vertrag und Übereinkunft gründet. (…) Kein Name eines Dinges gehört ihm von Natur, sondern durch Anordnung und Gewohnheit derer, welche die Wörter zur Gewohnheit machen und gebrauchen. (Krat. 384c-d) II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa 42 <?page no="43"?> 67 Kraus, Platon, 20. 68 Vgl. Plat. Krat. 429b-d. 69 Vgl. Plat. Krat. 385d. 70 Sokrates erörtert wie folgt, dass es sowohl richtige wie auch falsche Namen geben muss: Wahr sprechen und falsch sprechen ist möglich, deshalb muss es sowohl einen richtigen als auch einen falschen λόγος geben. Beim wahren λόγος sind selbst die kleinsten Teile wahr, die Wörter. Da es einen falschen λόγος gibt, müssen auch falsche Wörter exis‐ tieren. Vgl. Plat. Krat. 385 f und Hennigfeld, Sprachphilosophie, 29. 71 Vgl. Plat. Krat. 388b-c. 72 Vgl. Plat. Krat. 389a und 390d. Durch menschliche Vereinbarung (συνθήκῃ) werden also Namen gebildet. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Hinweis, dass das im Krat. diskutierte Problem nicht historisch, sondern systematisch zu verstehen ist: Es geht nicht darum, zu erörtern, ob Namen von Natur aus oder durch menschliche Überein‐ kunft entstanden sind, sondern darum, „ob der Namengeber bei seinem Geschäft völlig willkürlich verfahren konnte oder sich an einer naturgegebenen Richtig‐ keit zu orientieren hatte“ 67 . Von Sokrates schließlich werden beide Thesen zugespitzt und kritisiert. Aus dieser verschärften Darstellung der Theorien ergibt sich, dass es ausschließlich richtige Namen geben kann. Die zugespitzte Position, die Sokrates Kratylos ab‐ ringt, besteht darin, dass es für alle Dinge nur einen richtigen Namen geben kann, weil lediglich der Begriff, der einen Gegenstand bezeichnet, als Name gewertet werden kann. Alle anderen Lautgebilde sind nichtsaussagend. 68 Die These des Hermogenes wird verschärft, indem dieser sich zur Äußerung ver‐ leiten lässt, dass jeder Mensch für sich selbst Namen festlegen kann, die dadurch ihre Richtigkeit erlangen. 69 Beide Thesen erweisen sich deshalb als unzureichend, weil eine Theorie ge‐ sucht wird, nach der es sowohl richtige als auch falsche Namen geben kann. 70 Deshalb wohl lässt Platon Sokrates beide Theorien ad absurdum führen. Er ver‐ gleicht die radikalisierte Position des Hermogenes mit handwerklichem Tun wie Weben oder Bohren. Wenn von solchen Tätigkeiten ein ordentliches Ergebnis erwartet wird, können sie nicht willkürlich ausgeführt werden, sondern müssen ihrer Sache gemäß angegangen werden. Dies gilt analog für die ὀνόματα. Soll Sprache sachgerecht sein, müssen auch die Gegenstände, mit denen Sprache arbeitet - analog zu Weberladen oder Bohrern - sachgerecht sein: Die Wörter. Das Wort wird von Sokrates deshalb als belehrendes / informierendes und we‐ sensunterscheidendes Werkzeug (ὄργανον) bestimmt. 71 Es erfordert vom νομοθέτης / ὀνοματουργός eine besondere Fähigkeit, ein solches entstehen zu lassen, die nur sehr selten vorkommt. 72 Indem das Wort als Werkzeug bestimmt wird, stellt Platon erstmals den Aspekt der Pragmatik von Sprache heraus. Der 4. Platon 43 <?page no="44"?> 73 Vgl. Manfred Kraus: Platon und das semiotische Dreieck, in: Poetica 22 (1990), 279. 74 Vgl. Plat. Krat. 391c-421c sowie die Interpretationen des Etymologienteils bei Derbolav, Sprachphilosophie, 228 ff und Konrad Gaiser: Name und Sache in Platons ‚Kratylos’, Heidelberg 1974 (AWH.PH 3), 45-49. 75 Vgl. Plat. Krat. 422e-424a. 76 Vgl. Plat. Krat. 432b-d. 77 Vgl. Plat. Krat. 434e-435c. 78 Vgl. Kraus, Platon, 24 und Erler, Platon, 112. Dialog läuft darauf hinaus, dass nur eine Verbindung beider Theorien sinnvoll ist, weil sowohl die Kommunikation als auch der Seinsbezug zu den wichtigsten Funktionen der Sprache gehören. 73 Sokrates analysiert Namen im Folgenden etymologisch und gelangt zu dem Ergebnis, dass es Wörter gibt, die nicht weiter analysiert werden können, z. B. unzusammengesetzte Wörter (= die ersten Wörter, Stammwörter). 74 Man gelangt zu einer neuen Analogie, wenn man nicht der vereinfachten Annahme folgen will, dass dies barbarische oder besonders alte Wörter sind: Stumme können sich durch Gestik und Mimik mitteilen, indem sie Dinge nachahmen; dementsprechend muss auch eine Nachahmung von Dingen durch die Stimme und den Mund möglich sein. Entscheidend für diese Nachahmungsprozesse ist, das echte Sein / Wesen der Dinge abzubilden und nicht nur Äußerlichkeiten nachzuahmen. 75 Der Bezug zwischen Sein und Sprache wird deutlich herausgestellt. Gegen Ende des Dialogs, wenn Kratylos im Gespräch mit Sokrates zugeben muss, dass eine vollkommene Nachahmung eines Gegenstandes unmöglich ist, da der Gegenstand sonst doppelt vorhanden sein müsste und keine Nachahmung mehr darstellt, wird deutlich, dass eine Verbindung der Theorien von Kratylos und Hermogenes notwendig ist. 76 Kra‐ tylos muss eingestehen, dass es bessere und schlechtere Namen geben muss, weil Nachahmung selbst besser oder schlechter sein kann. Von dieser Einsicht ausgehend, wird die Notwendigkeit der Verbindung beider Modelle sichtbar, da Kommunikation durch Sprache, wenn es unterschiedlich ‚gut’ gebildete Namen gibt, nicht vollkommen ohne Vereinbarung möglich ist. 77 Beide Theorien bieten für Platon eine unzureichende Erklärung, da sie allein jeweils nur eine der beiden Funktionen von Sprache konkret in den Blick nehmen und die andere vernachläs‐ sigen: Die These des Hermogenes eignet sich, um den kommunikativen Aspekt der Sprache zu erklären, ermöglicht aber keinen Bezug zwischen Name und Sache; die These des Kratylos rückt diesen Zusammenhang in den Mittelpunkt, vernachlässigt dabei aber die kommunikative Funktion. 78 Eine Möglichkeit der Vermittlung zwi‐ II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa 44 <?page no="45"?> 79 Inwieweit die Ideenlehre im Krat. verankert ist, ist umstritten. Es finden sich Ansätze, die zeigen, dass alle Dinge in Bewegung gesehen werden, aber auch solche, die zeigen, dass von unveränderbaren Dingen ausgegangen werden muss. Im Krat. selbst wird die Ideenlehre in Krat. 439c als Traum eingeführt. Insgesamt ist die Ideenlehre im Krat. noch nicht vollständig entfaltet und erkennbar, dennoch muss sie hinter der Argumen‐ tation gedacht werden. Vgl. Baxter, Cratylus, 43 f. 80 Vgl. Plat. Krat. 389a-390a. 81 Vgl. Coseriu, Geschichte, 45.61. 82 Vgl. Coseriu, Geschichte, 58 f, im Gegensatz zu Kraus, Platon, 25, der eine Unterschei‐ dung zwischen „innerer Form“ und „äußerer Lautgestalt“ annimmt. 83 Vgl. Kraus, Platon, 21, Derbolav, Sprachphilosophie, 114. schen beiden Theorien entsteht durch die Ideenlehre Platons. 79 Wörter sind demnach Abbilder der Ideen, nicht die Dinge selbst. Das Wort hat einen Bezug zum echten Sein und zur Wahrheit, weil Ideen nach Platon das eigentlich Seiende sind. Der Namensgeber hat bei der Bildung der Namen also zunächst die Idee vor Augen. 80 Mit der Lehre von den Ideen entsteht ein dreiteiliges Modell von Wort, Sache und Idee. Platon hat stets das Verhältnis von ὄνομα als Lautgestalt und dem Gegenstand (πρᾶγμα) im Blick. 81 Der Bildner der Namen gibt die Idee in der konkreten Lautgestalt wieder. Eine Unterscheidung zwischen Lautgestalt und Zeicheninhalt, wie sie bei Aristoteles deutlich hervortreten wird, ist für Platon nicht anzunehmen. Auch wenn er gelegentlich den Inhalt des sprachli‐ chen Zeichens mitbedenkt, zeigt sich kein Bewusstsein für diese Unterschei‐ dung. 82 Platon greift in seinen sprachphilosophischen Überlegungen das Modell auf, das bei Heraklit im Mittelpunkt steht, indem er sich der Sprache im Allgemeinen zuwendet. Im Kratylos wird bezüglich der Sprache vorrangig auf der Ebene der einzelnen Wörter argumentiert, auf welcher das Verhältnis von Wort und Ge‐ genstand reflektiert wird. Platon lässt Sokrates neben der Wortebene auch immer wieder auf der Satzebene diskutieren. Es kann letztlich nicht geklärt werden, ob Platon den Satz im Kratylos noch als bloße Aneinanderreihung von Wörtern versteht (akkumulatives Satzmodell) versteht oder ob er, wie es sich anschließend für Tht. und Soph. zeigen wird, bereits von einem weiter entwi‐ ckelten Modell ausgeht, das dem Satz einen Wahr- oder Falschheitsgehalt zu‐ rechnet. 83 Auch die Frage nach der Entstehung und Legitimation der Sprache wird im Krat. aufgeworfen: Σωκράτης: Τίνα οὖν τρόπον φῶμεν αὐτοὺς εἰδότας θέσθαι ἢ νομοθέτας εἶναι, πρὶν καὶ ὁτιοῦν ὄνομα κεῖσθαί τε καὶ ἐκείνους εἰδέναι, εἴπερ μὴ ἔστι τὰ πράγματα μαθεῖν ἀλλ᾽ ἢ ἐκ τῶν ὀνομάτων; 4. Platon 45 <?page no="46"?> 84 Vgl. die jeweiligen Kapitel zur Entstehung bei Philon (Kap. III, 4.1) und Paulus (Kap. IV, 3.1). 85 Der Untertitel lautet: ἢ περὶ ἐπιστήμης (Über das Wissen). 86 Vgl. Plat. Tht. 203a-d. 87 Vgl. Kraus, Platon, S, 27. Κρατύλος: Οἶμαι μὲν ἐγὼ τὸν ἀληθέστατον λόγον περὶ τούτων εἶναι, ὦ Σώκρατες, μείζω τινὰ δύναμιν εἶναι ἢ ἀνθρωπείαν τὴν θεμένην τὰ πρῶτα ὀνόματα τοῖς πράγμασιν, ὥστε ἀναγκαῖον εἶναι αὐτὰ ὀρθῶς ἔχειν. (Krat. 438b-c) Sokrates: Auf welche Weise also konnten wohl jene nach Erkenntnis Wörter festsetzen oder wortbildende Gesetzgeber sein, ehe überhaupt noch irgendeine Benennung vor‐ handen und ihnen bekannt war, wenn es nicht möglich ist, zur Erkenntnis der Dinge anders zu gelangen als durch die Wörter? Kratylos: Ich bin daher der Meinung, Sokrates, die wichtigste Erklärung hierüber werde sein, daß es eine größere als menschliche Kraft gewesen, welche den Dingen die ersten Namen beigelegt, und daß sie eben deshalb notwendig richtig sind. (Krat. 438b-c) Die größere Macht wird von Kratylos nicht weiter erläutert. Bei Philon und Paulus findet sich diese näher bestimmt. 84 (2) Theaitetos behandelt die Frage, was Wissen (ἐπιστήμη) ist. 85 Gegen Ende des Dialogs wird die These aufgestellt, dass Wissen wahre Meinung sei, die mit einer Erklärung (λόγος) verbunden ist: ἔφη δὲ τὴν μὲν μετὰ λόγου ἀληθῆ δόξαν ἐπιστήμην εἶναι, τὴν δὲ ἄλογον ἐκτος ἐπιστήμης· καὶ ὧν μὲν μή ἐστι λόγος, οὐκ ἐπιστητὰ εἶναι, οὑτωσὶ καὶ ὀνομάζων, ἃ δ᾽ ἔχει, ἐπιστητά. (Tht. 201c-d) Er sagte nämlich, die mit ihrer Erklärung verbundene richtige Vorstellung wäre Er‐ kenntnis, die unerklärbare dagegen läge außerhalb der Erkenntnis. Und wovon es keine Erklärung gebe, das sei auch nicht erkennbar, und so benannte er dies auch, wovon es aber eine gebe, das sei erkennbar. (Tht. 201c-d) Daran schließt sich eine Bestimmung des λόγος-Begriffs an. Erklärbar, und damit auch erkennbar, ist nur etwas Zusammengesetztes. So sind beispielsweise die ersten beiden Buchstaben des Namens ‚Sokrates’, also ‚s’ und ‚o’ nur nennbar, nicht erklärbar. Die erste Silbe ‚So’ hingegen ist erklärbar, nämlich als die beiden Einzelbuchstaben. 86 In der Verknüpfung von Buchstaben als Namen und in der Verbindung von mehreren Namen liegt die Erklärbarkeit der Sprache. Platon ist damit bei der Auffassung von der Sprache als Satz angekommen. 87 Von Sokrates schließlich wird die Ansicht, dass der Mensch ein Wissen von zusammenge‐ setzten Dingen erwerben kann, als nicht haltbar ausgewiesen. Er selbst bietet II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa 46 <?page no="47"?> 88 Vgl. die Wiederaufnahme bei Plat. Soph. 262a. 89 Vgl. Plat. Tht. 206c-210d. 90 Der Untertitel lautet: ἢ περὶ τοῦ ὄντος (Über das Seiende). 91 Diesem Ergebnis voraus geht eine Diskussion darüber, ob es falsches Reden gibt und ob solches, wie Parmenides dies postuliert hat, mit Nichtsagen einhergeht. Um diese Fragen zu lösen, ermittelt Platon fünf Gattungen (das Seiende, die Ruhe, die Bewegung, das Selbige und das Verschiedene). Das Nichtseiende ist das Verschiedene, „das Anteil an allen anderen Gattungen hat und sich wiederum selbst mit allen anderen verbindet, sogar mit dem Seienden“ (Kraus, Platon, 28). Platon gelangt durch die Frage, ob sich das Nichtseiende auch mit der δόξα verbindet auf das oben dargestellte Satzmodell der Sprache. Vgl. Plat. Soph. 260b-c. 92 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 62. drei Möglichkeiten für die Begriffsbestimmung von λόγος: Erstens ist der λόγος eine Äußerung von etwas Gedachtem. Diese Äußerung wird durch die Stimme und mit Hilfe der Wörter ermöglicht. In diesem Zusammenhang führt Platon erstmals die Unterscheidung von ὀνόματα (Substantiven) und ῥήματα (Verben) ein. 88 Zweitens kann unter dem Lexem ein Ganzes verstanden werden, das aus einzelnen Teilen besteht, und drittens bestimmt Sokrates den λόγος als Angabe eines Merkmals, durch das sich das zu Erklärende von allen anderen unter‐ scheiden lässt. Keine der Definitionen kann den λόγος zufriedenstellend erläu‐ tern, weshalb der Tht. noch keine Begriffsbestimmung zulässt. 89 Dies ermöglicht Platon erst im Soph., 90 wonach eine sinnvolle Rede entsteht, indem Wörter mit‐ einander verknüpft werden. 91 Der Verbindung einzelner Wörter geht eine Verbindung der Ideen voraus. 92 Auch der Satz wird als eine solche Verknüpfung angesehen und zwar nicht allein als eine Verknüpfung von ὀνόματα, wie dies für den Tht. gilt, sondern von ὀνόματα und ῥήματα. Der Fokus liegt auf der Verbindung beider Wortklassen, da die Aneinanderfügung von Wörtern derselben Wortart keinen Sinn ergibt: Ξένος: Οὐκοῦν ἐξ ὀνομάτων μὲν μόνων συνεχῶς λεγομένων οὐκ ἔστι ποτὲ λόγος, οὐδ᾽ αὖ ῥημάτων χωρὶς ὀνομάτων λεχθέντων. (…) Θεαίτητος: Πῶς; Ξένος: Οἷον «βαδίζει» «τρέχει» «καθεύδει», καὶ τἆλλα ὅσα πράξεις σημαίνει ῥήματα, κἂν πάντα τις ἐφεξῆς αὔτ᾽ εἴπῃ, λόγον οὐδέν τι μᾶλλον ἀπεργάζεται. Θεαίτητος: Πῶς γάρ; Ξένος: Οὐκοῦν καὶ πάλιν ὅταν λέγηται «λέων» «ἔλαφος» «ἵππος», ὅσα τε ὀνόματα τῶν τὰς πράξεις αὖ πραττόντων ὠνομάσθη, καὶ κατὰ ταύτην δὴ τὴν συνέχειαν οὐδείς πω συνέστη λόγος· οὐδεμίαν γὰρ οὔτε οὕτως οὔτ᾽ ἐκείνως πρᾶξιν οὐδ᾽ ἀπραξίαν οὐδὲ οὐσίαν ὄντος οὐδὲ μὴ ὄντος δηλοῖ τὰ φωνηθέντα, πρὶν ἄν τις τοῖς ὀνόμασι τὰ ῥήματα κεράσῃ. Τότε δ᾽ ἥρμοσέν τε καὶ λόγος ἐγένετο εὐθὺς ἡ πρώτη συμπλοκή, σχεδὸν τῶν λόγων ὁ πρῶτός τε καὶ σμικρότατος. (Soph. 262a-c) 4. Platon 47 <?page no="48"?> 93 Vgl. Plat. Soph. 263a-c. 94 Plat. Soph. 263a. 95 Plat. Soph. 263a. 96 Vgl. Kraus, Platon, 29. 97 Vgl. Borsche, Sprache, 1441 f und Eugenio Coseriu: Die sprachphilosophische Thematik bei Platon, in: Der Physei-Thesei-Streit. Sechs Beiträge zur Geschichte der Sprachphi‐ losophie, hg. v. Reinhard Meisterfeld, Tübingen 2004, 50 f. 98 Vgl. Coseriu, Geschichte, 64. Fremder: Und nicht wahr aus Hauptwörtern allein, hintereinander ausgesprochen, entsteht niemals eine Rede oder ein Satz, und ebensowenig auch aus Zeitwörtern, die ohne Hauptwörter ausgesprochen werden? (…) Theaitetos: Wieso? Fremder: Wie etwa geht, läuft, schläft, und so auch die andern Zeitwörter, welche Handlungen andeuten, und wenn man sie auch alle hintereinander hersagte, brächte man doch keine Rede zustande. Theaitetos: Wie sollte man auch! Fremder: Und ebenso wiederum, wenn gesagt wird, Löwe, Hirsch, Pferd und mit was für Benennungen sonst was Handlungen verrichtet, pflegt benannt zu werden, auch aus der Folge kann sich nie eine Rede bilden. Denn weder auf diese noch auf jene Weise kann das Ausgesprochene weder eine Handlung noch eine Nichthandlung noch ein Wesen eines Seienden oder Nichtseienden darstellen, bis jemand mit den Haupt‐ wörtern die Zeitwörter vermischt. Dann aber fügen sie sich, und gleich ihre erste Verknüpfung wird eine Rede oder ein Satz, wohl der erste und kleinste von allen. (Soph. 262a-c) So erfährt der λόγος als Satz bei Platon eine Definition. Hinzu kommen die Bestimmungen, dass der λόγος sich auf etwas Seiendes beziehen muss und Wahrheit enthält, die durch die Verbindung der einzelnen Ideen garantiert sein muss. 93 So enthält der Satz „Θεαίτητος (…) πέτεται“ 94 keine Wahrheit, weil die Idee des Fliegens mit dem Menschen Theaitetos nicht kompatibel ist, im Ge‐ gensatz zur Aussage „Θεαίτητος κάθηται“ 95 . Damit liefert Platon eine Wesens‐ bestimmung des λόγος und ein Kriterium, um die Wahrheit eines Satzes zu überprüfen. 96 Wahrheit wird jetzt als Eigenschaft des λόγος bestimmt, nicht mehr als die des Namens. Wahrheit und Falschheit der Sprache wird nicht mehr mit den einzelnen Wörtern gleichgesetzt, sondern mit dem Satz bzw. der Satz‐ aussage. 97 Mit der Erkenntnis, dass durch eine sprachliche Äußerung überhaupt etwas Falsches ausgesagt werden kann, ist das sprachphilosophische Denken der Vorsokratiker, die dies bestritten haben, überwunden. 98 Nach deren Ansicht müssen Namen zwar nicht die ‚echte’ Wirklichkeit wiedergeben, sie geben aber II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa 48 <?page no="49"?> 99 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 66 und Plat. Soph 263e. 100 Vgl. auch Plat. Tht. 189e-190a. Während für Platon aus der stimmlich geäußerten Sprache Erkenntnisse gewonnen werden können, die uns Aufschluss über das Denken geben, geht Aristoteles den umgekehrten Weg: Er stellt fest, dass wir durch die Erfor‐ schung des Denkens Aufschluss über sprachliche Äußerungen erhalten (Herm. 16a 9-16). Vgl. Weidemann: Aristoteles. Peri Hermeneias. Übersetzt und erläutert von Her‐ mann Weidemann, Berlin 2 2002 (Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 1, Teil II), 149. 101 Der Untertitel lautet: ἢ περὶ καλοῦ (Über das Schöne). Zur Datierung des Phaidros s. Ernst Heitsch: Platon. Phaidros, Göttingen 2 1997, 231 ff. Heute wird der Dialog in der Regel am Ende der Gruppe von Politeia, Parmenides und Theaitetos verortet. Vgl. Heitsch, Platon, 233 und Leonard Brandwood: The chronology of Plato’s dialogues, Cambridge 1990, 251. 102 Übersetzung hier nach: Platon. Phaidros. Übersetzung und Kommentar, hg. v. Ernst Heitsch, Göttingen 2 1997. mindestens die subjektive Wirklichkeit wieder, keine dezidiert falsche, wie dies im platonischen Denken möglich ist. Im Tht. und im Soph. wird die Verbindung von Denken und Sprechen be‐ tont. 99 Beide Komponenten können nicht voneinander getrennt werden, weil sie ihrem Wesen nach zusammengehören, denn das Denken ist der innere Dialog der Seele mit sich selbst. 100 (3) Im Phaidros 101 wird eine Sprachskepsis ersichtlich. Vor allem gegen Sprache in schriftlicher Form erhebt der platonische Sokrates erhebliche Zweifel: Δεινὸν γάρ που, ὦ Φαῖδρε, τοῦτ᾽ ἔχει γραφή, καὶ ὡς ἀληθῶς ὅμοιον ζωγραφίᾳ. Καὶ γὰρ τὰ ἐκείνης ἔκγονα ἕστηκε μὲν ὡς ζῶντα· ἐὰν δ᾽ ἀνέρῃ τι, σεμνῶς πάνυ σιγᾷ. Ταὐτὸν δὲ καὶ οἱ λόγοι· δόξαις μὲν ἂν ὥς τι φρονοῦντας αὐτοὺς λέγειν· ἐὰν δέ τι ἔρῃ τῶν λεγομένων βουλόμενος μαθεῖν, ἕν τι σημαίνει μόνον ταὐτὸν ἀεί. Ὅταν δὲ ἅπαξ γραφῇ, κυλινδεῖται μὲν πανταχοῦ πᾶς λόγος ὁμοίως παρὰ τοῖς ἐπαΐουσιν, ὡς δ᾽ αὕτως παρ᾽ οἷς οὐδὲν προσήκει, καὶ οὐκ ἐπίσταται λέγειν οἷς δεῖ γε καὶ μή. (Phaidr. 275d-e) Denn das, Phaidros, ist offenbar das Ärgerliche bei der Schrift und macht sie in der Tat vergleichbar der Malerei: Auch die Erzeugnisse der Malerei nämlich stehen da, als wären sie lebendig; fragst du sie aber etwas, so schweigen sie in aller Majestät. Und genauso ist es mit den geschriebenen Texten: Du könntest meinen, sie sprechen, als hätten sie Verstand; fragst du aber nach etwas von dem, was sie sagen, weil du es verstehen willst, so erzählt der Text immer nur ein und dasselbe. Und ist er erst einmal geschrieben, treibt jeder Text sich überall herum und zwar in gleicher Weise bei denen, die ihn verstehen, wie bei denen, für die er nicht paßt, und er weiß nicht, zu wem er reden soll und zu wem nicht. (Phaidr. 275d-e) 102 4. Platon 49 <?page no="50"?> 103 Plat. Phaidr. 276d. 104 Vgl. Heitsch, Platon, 190 und auch Plat. Phaidr. 276b-278b. 105 Vgl. Erler, Platon, 474. 106 Plat. Tht. 189e und Soph. 263e. 107 Die Echtheit des Siebten Briefes wurde und wird heftig diskutiert. Vgl. hierzu Erler, Platon, 314 f und die angegebene Literatur. Es lassen sich Argumente für und gegen die Authentizität des Briefes finden. Ungeachtet dessen, ob sich solche finden und werten lassen, ist der Brief „als wertvolles Zeugnis eines hervorragend informierten und kun‐ digen Philosophen aus Platons Umfeld zu sehen“ (Erler, Platon, 315). 108 Vgl. hierzu Coseriu, Platon, 47 f. 109 Vgl. Plat. epist. 7, 324a-344c. 110 Vgl. Plat. epist. 7, 342d-343a und Kraus, Name, 201 f. 111 Vgl. Plat. epist. 7, 324e-343a. Es sollten deshalb nur Überlegungen schriftlich aufgezeichnet werden, wenn sie der eigenen Erinnerung als „ὑπόμνημα“ 103 dienen. Als Kommunikations- und Informationsmittel kann lediglich der mündliche Dialog ernst genommen werden. 104 Während Platon im Kratylos die Ansicht kritisiert, dass man Er‐ kenntnis allein durch Wörter gewinnen kann, richtet sich seine Skepsis im Phaidr. auch auf eine mögliche Erkenntnisvermittlung durch geschriebene Sprache. 105 Noch höher gewertet als der Dialog wird das Denken (νοεῖν), das Platon als „λόγον ὃν αὐτὴ πρὸς αὑτὴν ἡ ψυχή διεξέρχεται περὶ ὧν ἂν σκοπῇ“ 106 (eine Rede, welche die Seele bei sich selbst durchgeht über dasjenige, was sie erforschen will) versteht. Der Siebte Brief 107 formuliert die Kritik gegenüber der Sprache noch expliziter, indem Platon ein fünfstufiges Erkenntnismodell erläutert. Die ersten drei Stufen der Erkenntnis einer Sache sind für Platon ὄνομα (Name), λόγος (Erklärung) und εἴδωλον (Abbild). Die vierte Stufe ist ἐπιστήμη (Wissen), also die Erkenntnis an sich; 108 unter der fünften Stufe ist der Gegenstand der Erkenntnis, also die ἰδέα (Idee) zu verstehen. Die einzige Möglichkeit, zur Erkenntnis zu gelangen, ist der Durchgang durch die ersten Stufen, da dies bei weisen Menschen zu einer plötzlichen Erkenntnis der Idee des Gegenstandes führen kann. Wer in einem Gespräch jedoch auf die Idee verweist, der wird sich nach Platons Ansicht lä‐ cherlich machen, weil die unfähigen Menschen solches nicht verstehen. 109 Sie werden nicht durch den Durchgang der ersten Erkenntnisstufen an Einsicht gewinnen, auch nicht durch die Hilfe von sprachlichen Mitteln, denn die Idee kann nicht in Worten (und keinesfalls in der Schrift) erfasst werden. 110 Damit ist die Sprachskepsis Platons nicht mehr nur auf die schriftliche Sprache bezogen, sondern richtet sich auch auf gesprochene Worte. Auch sie werden als Mittel, um zur Erkenntnis zu verhelfen, in Frage gestellt, da das Wort nicht geeignet ist, um das Sein einer Sache hervorzubringen. 111 Platon spricht der Sprache trotz seiner Kritik aber nicht jeglichen Nutzen ab. Er ist gewillt, Möglichkeiten zu II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa 50 <?page no="51"?> 112 Vgl. Plat. epist. 7, 341c bzw. 344a-b bzw. 343d-344b. 113 Vgl. Plat. Phaid. 85d. 114 Vgl. Erler, Platon, 474 f. 115 Vgl. Plat. Phaid. 96c und 99d-e. 116 Vgl. Plat. Phaid. 88e-89c. 117 Vgl. Plat.Soph. 263e. 118 Vgl. Erler, Platon, 475 f. 119 Vgl. Braun, Sprachphilosophie, 9. 120 Vgl. Plat. Soph. 243a. 121 Vgl. Plat. Men. 75d. benennen, wie die Defizite bezüglich der Erkenntnis durch Sprache behoben werden können: So nennt er beispielsweise ein dauerhaftes Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler, eine enge Beziehung des Rezipienten mit der behandelten Sache oder Frage-Antwort-Spiele, die zu gegenseitiger Widerlegung führen können. 112 Der λόγος dient bei Platon als sicheres Erkenntnismittel, nicht die mündliche oder schriftliche Sprache; 113 deshalb spielt er in den platonischen Dialogen eine bedeutende Rolle. 114 Er ermöglicht es den Menschen weiterhin, Gegenstände nicht direkt betrachten zu müssen, sondern das Wesen der Dinge im λόγος erblicken zu können. 115 Es wurde bereits im Soph. deutlich, dass der λόγος einen Wahrheitsanspruch besitzt. Aus diesem Grund kommt ihm bei der philosophischen Wahrheitssuche eine zentrale Rolle zu, und von daher versteht sich der Philosoph als Freund des λόγος. 116 In ihm ist der Zusammenhang von Sprachen und Denken verankert, den Platon als wechselseitig zu vollziehenden Prozess sieht, der zur Erkenntnis führt. 117 Um diese und um die Kommunikation darüber geht es dem platonischen Sokrates, nicht um den Sieg in einem Ge‐ spräch. Der λόγος ermöglicht es Menschen, ihr Wissen freizusetzen und mit‐ zuteilen. Dies alles wird nicht im Monolog, sondern vorrangig im Dialog er‐ reicht; deshalb ist der mündliche Dialog für den platonischen Sokrates das ausschlagende Mittel, um zur Erkenntnis zu gelangen. 118 Die Dialogpartner er‐ innern (ἀνάμνησις) sich während eines Dialogs gegenseitig an ihr ‚Ideenwis‐ sen’. 119 Gleichzeitig ist darauf zu achten, dass die Gesprächspartner mit Begriffen arbeiten, die sie verstehen. 120 Übereinstimmung ist also als wichtiger Bestandteil des λόγος zu werten. 121 (4) Die Fragestellungen und Problemaufrisse, die Platon in seinen Dialogen bietet, haben das sprachphilosophische Denken der Folgezeit maßgeblich be‐ einflusst. Die Theorien der natürlichen und konventionellen Entstehung von Sprache werden in hellenistischer Zeit unter den Begriffen der Analogie und der Anomalie wieder aufgegriffen. Die Anomalisten sehen den Zusammenhang von Bezeichnendem und Bezeichnetem, der bei Platon nicht im Blick ist, als natur‐ gegeben an, während die Analogisten die Ansicht vertreten, dass dieser Zu‐ 4. Platon 51 <?page no="52"?> 122 Vgl. Kedar, Biblische Semantik, 35. 123 Vgl. Kraus, Platon, 31. Arbitrarität heißt, dass die Verbindung von der Lautgestalt der Wörter und dem bezeichneten Gegenstand beliebig ist. Vgl. Theodor Lewandowski: Art. Arbitrarität des sprachlichen Zeichens, in: Linguistisches Wörterbuch. Bd. 1, hg. v. ders., Heidelberg, Wiesbaden 6 1994 (UTB 1518), 82 f. 124 Vgl. Erler, Platon, 480. 125 Vgl. Kraus, Platon, 31 f und Erler, Platon, 480. 126 Vgl. Eugenio Coseriu: Die Sprache zwischen φύσει und θέσει, in: Der Physei-Thesei-Streit. Sechs Beiträge zur Geschichte der Sprachphilosophie, hg. v. Rein‐ hard Meisterfeld, Tübingen 2004, 100. sammenhang auf Konventionen beruht. 122 In der mittelalterlichen Scholastik wird die Diskussion erneut aufgegriffen. Erst Ferdinand de Saussure schafft mit der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens ein neues Paradigma. 123 Das Interesse an den Etymologien des Krat. blieb kontinuierlich erhalten. Die Etymologien werden von der Stoa an bis ins 19. Jh. hinein thematisiert und bearbeitet. 124 Für die weitere sprachphilosophische / sprachwissenschaftliche Arbeit ist auch das von Platon angelegte Semiotikmodell bedeutend. Die Unterscheidung zwischen Referenz und Bedeutung eines Wortes greift beispielsweise Gottlob Frege auf, die Differenzierung zwischen äußerer Lautgestalt und innerer Wortform spie‐ gelt sich in den Theorien von Ferdinand de Saussure und Noam Chomsky wieder, die Vorstellung von der Sprache als Werkzeug findet sich im Organo‐ nmodell Karl Bühlers. Das im Soph. entwickelte Satzmodell Platons wird die Grundlage der entstehenden Grammatiken. Es wird erstmals von Augustin auf‐ gegriffen und weiterentwickelt. 125 Zusammenfassung: Platon überwindet das Denken, dass zwischen Wort und Sache eine Einheit besteht, wie Heraklit dies annahm. Für Platon bildet das Wort nicht mehr direkt den Gegenstand ab. Der Bezug zwischen Wort und Sache wird durch die neu eingeführte Komponente der Idee hergestellt. Die Namen sind demnach keine Abbilder der realen Dinge, sondern der Ideen. Dadurch entsteht das dreiteilige Modell von Wort, Sache und Idee. Die Ideenlehre wird in Krat. angedeutet, ist dort aber noch nicht vollständig entfaltet. Im Krat. setzt sich Platon intensiv mit der Verhältnisbestimmung von Wort und Sache und der Frage auseinander, ob die Sprache ihre Legitimation von Natur aus (φύσει) oder durch Konven‐ tion / Übereinkunft (ὁμολογία / συνθήκῃ) erhalten hat. Dabei ist in vorplatoni‐ scher Zeit und bei Platon selbst noch nicht von dem Gegensatz φύσει-θέσει die Rede, der φύσει-These werden die eben genannten Termini gegenüber gestellt. 126 II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa 52 <?page no="53"?> 127 Kraus beispielsweise plädiert dafür, dass Platon eine Verbindung beider Theorien an‐ strebt. Damit dieses Denken möglich ist, muss abgenommen werden, dass Platon bereit zwischen Lautgestalt und Zeicheninhalt unterscheidet. Vgl. Kraus, Platon, 25 f. Dies wiederum bestreitet Coseriu, Geschichte, 45. 128 Vgl. Braun, Sprachphilosophie, 9 f und 14. 129 Vgl. Plat. Phaid. 85d. 130 Vgl. Plat. Soph. 254c. 131 Erler, Platon, 475. Eine eindeutige Position kann für Platon nicht ausgemacht werden. 127 Dies spielt insofern keine Rolle, als der Dialog - auch ohne zu einer Entscheidung für oder gegen eine Theorie zu kommen - wichtige Einblicke in das sprachphilosophi‐ sche Denken und die zentrale Fragestellungen gibt. Sprache erfährt aber eine Abwertung, weil die Erkenntnis dem Bereich der Logik zugeordnet wird, und auch die Erkenntnisfunktion wird ihr abgespro‐ chen. 128 Die ἰδέα wird zum Gegenstand der Erkenntnis. Die Sprache selbst kann erst einen Bezug zur Erkenntnis gewinnen, wenn in ihr eine Idee zum Ausdruck gebracht wird. Als direktes Erkenntnismittel aber fungiert bei Platon der λόγος. 129 Für den λόγος selbst wird ein enger Zusammenhang von Denken und Sprechen angenommen, der in einem Prozess zur Erkenntnis führen kann. Die These des Parmenides, dass es Nichtseiendes nicht geben kann, wird widerlegt, weil der λόγος Seiendes mit Nichtseiendem verbinden kann; auch ein falscher Aussagegehalt einer sprachlichen Äußerung wird nun als möglich angesehen. 130 Die Ansicht Heraklits, dass eine Notwendigkeit besteht, nach der alles in Be‐ wegung ist, wird entkräftet; wenn dem so wäre, könnte aufgrund von wech‐ selnden Wortbedeutungen keine Kommunikation erfolgen. Weil dies aber der Fall ist, muss es „Fixpunkte“ 131 geben. Als einen solchen bestimmt Platon den λόγος. Während der Fokus im Krat. auf dem Verhältnis von Wort und Sache liegt, verändert Platon im Tht. und Soph. den Blickwinkel. Sprache wird nicht mehr nur als Wort wahrgenommen, sondern auch auf Satzebene thematisiert. Der λόγος wird im Soph. als Satz bestimmt, der durch die Verbindung einzelner Ideen Wahrheit hervorbringen kann. Es wird also nicht mehr einzelnen Wörtern ein Wahrheitsgehalt zugesprochen, sondern Sätzen. Als Neuerung Platons gegen‐ über Heraklit und Parmenides ist zu sehen, dass Wörter auch einen falschen Aussagegehalt haben können. 4. Platon 53 <?page no="54"?> 132 Die Schrift wurde lange Zeit als Spätschrift angesehen, wird in der Forschung heute fast einstimmig zu den frühen aristotelischen Schriften gerechnet. Vgl. Hellmut Flashar: Aristoteles, in: Ältere Akademie. Aristoteles-Peripatos, hg. v. ders., Basel, Stuttgart 1983 (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Antike 3), 237. Sie wird abgekürzt mit Herm. 133 Vgl. Coseriu, Geschichte, 72. 134 Die griechischen Texte sind folgender Ausgabe entnommen: Aristotelis Opera. Ex Re‐ censione Immanuelis Bekkeri. Edidit Academia Regia Borussica. Editio Altera Quam Curavit Olof Gigon. Bd. I, Berlin 1960. Die deutsche Übersetzung folgt Hermann Wei‐ demann: Aristoteles. Peri Hermeneias. Übersetzt und erläutert von Hermann Weide‐ mann, Berlin 2 2002 (Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 1, Teil II). 5. Aristoteles Auch Aristoteles (384-322 v. Chr.) hat kein dezidiert sprachphilosophisches Werk verfasst. Er beschäftigt sich dennoch v. a. in der Schrift Περὶ ἑρμηνείας / De interpretatione 132 mit Sprache, so dass anhand dieses Traktats die sprachphilo‐ sophischen Gedankengänge von Aristoteles herausgearbeitet werden können. Verschiedene Aspekte sind in den Blick zu nehmen: (1) Aristoteles bestimmt das sprachliche Zeichen als σύμβολον. Es ist zu erläutern, wie dies zu verstehen ist und was der Ausdruck παθήματα τῆς ψυχῆς bedeutet. (2) Im Anschluss daran kann nach dem aristotelischen Verständnis von ὄνομα und nach der Wendung κατὰ συνθήκην gefragt werden. In beiden Themenkomplexen wird der Stand‐ punkt des Aristoteles bezüglich der φύσει-θέσει-Theorie aufgegriffen. (3) Wei‐ terhin wird das aristotelische λόγος-Verständnis dargestellt, von welchem aus‐ gehend sich der Fokus auf den Wahrheits- und Falschheitsgehalt von Sätzen richtet. (4) Zuletzt rückt Aristoteles als Realist in den Blick. (1) Aristoteles interessiert sich für verschiedene sprachliche Relationen, die im Lauf der Untersuchung thematisiert werden. Mit einer Relation beschäftigt er sich allerdings nicht, und das ist diejenige, die die Sprachphilosophie bis dahin bestimmt hat, nämlich das Verhältnis von Laut und Gegenstand. Aristoteles stellt eine neue Frage: Er fragt nicht mehr, warum es Namen gibt und ob eine Entsprechung von Wort und Sache vorliegt, sondern wozu es Namen gibt und worin ihre Funktion für den Menschen besteht. Es reicht Aristoteles nicht aus, einen Namen als solchen zu bestimmen, indem man annimmt, dass Laute etwas ausdrücken, das von den Menschen interpretiert werden kann. 133 Aristoteles schreibt dem Wort zu Beginn von Herm. daher eine Symbolfunktion zu: 134 Ἔςι μὲν οὖν τὰ ἐν τῇ φωνῇ τῶν ἐν τῇ ψυχῇ παθημάτων σύμβολα, καὶ τὰ γραφόμενα τῶν ἐν τῇ φωνῇ. καὶ ὥσπερ οὐδὲ γράμματα πᾶσι τὰ αὐτά, οὐδὲ φωναὶ αἱ αὐταί. ὧν μέντοι ταῦτα σημεῖα πρώτως, ταὐτὰ πᾶσι παθήματα τῆς ψυχῆς, καὶ ὧν ταῦτα ὁμοιώματα, πράγματα ἤδη ταὐτά. (Herm. 16a 3-8) II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa 54 <?page no="55"?> 135 Für die Übersetzung von φωνή kann Laut, im Verständnis von ‚Phonem’, angeführt werden oder ‚Wörter’. Weidemann, Aristoteles, 140 spricht sich dafür aus, den Ausdruck φωνή „hier in dem weitesten Sinne zu verstehen“ und sagt, dass er „auf die Wörter einer Sprache ebenso angewandt wird wie auf die elementaren Laute, aus denen sie die Wörter einer Sprache zusammensetzen“. Aristoteles bezieht sich hier eindeutig auf Sprache. 136 Hennigfeld, Sprachphilosophie, 73. Zum Bedeutungsunterschied zwischen σύμβολον wird durch das σημεῖον vgl. auch Reinhard Brandt: Die Aristotelische Urteilslehre. Un‐ tersuchungen zur „Hermeneutik“, Marburg 1965, 33 f und Hermann Weidemann: An‐ sätze zu einer semantischen Theorie bei Aristoteles, in: Zeitschrift für Semiotik 4 (1982), 241-257. 137 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 84. Nun sind die (sprachlichen) Äußerungen unserer Stimme ein Symbol [σύμβολον] für das, was (beim Sprechen) unserer Seele widerfährt, und das, was wir schriftlich äu‐ ßern, (ist wiederum ein Symbol) für die (sprachlichen) Äußerungen unserer Stimme. | Und wie die Buchstaben nicht bei allen (Menschen) dieselben sind, so sind auch die stimmlichen Laute nicht (bei allen) dieselben]. 135 Die seelischen Widerfahrnisse [παθήματα τῆς ψυχῆς] aber, für welche dieses (Gesprochene und Geschriebene) an erster Stelle ein Zeichen [σημεῖον] ist, sind bei allen (Menschen) dieselben; und über‐ dies sind auch schon die Dinge, von denen diese (seelischen Widerfahrnisse) Abbil‐ dungen sind, (für alle) dieselben. (Herm. 16a 3-8) Stimmliche Äußerungen werden von Aristoteles als σύμβολον bezeichnet. Der Begriff muss dabei von der Semantik des Verbs her verstanden werden. Συμβάλλειν heißt zusammenwerfen; so werden in einem Symbol zwei Sachen zusammengeführt. Bezüglich der vorliegenden Thematik ist dies das gespro‐ chene Wort, das mit den παθήματα τῆς ψυχῆς zusammengebracht wird. Das σύμβολον wird durch das σημεῖον näher erklärt. Das Zeichen macht auf eine zusätzliche Komponente aufmerksam, die nicht im Zeichen selbst enthalten ist. Von seiner Semantik her kann auch σύμβολον Zeichen bedeuten. Vor diesem Hintergrund kommt Hennigfeld zu der Feststellung: „Aristoteles faßt das Wort als ein Zeichen (sýmbolon), über das man sich so geeinigt hat, daß man dadurch jemandem etwas anzeigen, ihn auf etwas verweisen kann (semaínein)“ 136 . Die Symbolfunktion der Sprache steht bei Aristoteles im Vordergrund, nicht etwa der Bezug der Sprache zum Denken. Es liegt im aristotelischen Fokus, sich der Wörter und ihrer Symbolfunktion zu bedienen, um Dinge zu verdeutlichen. Die menschliche Sprache als soziales Phänomen wird damit besonders betont und der Sprache als Kommunikationsfunktion wird Bedeutung verliehen. 137 Der angeführte Text aus Herm. wirft eine weitere Frage auf, die in das Zentrum des aristotelischen Sprachverständnisses führt: Wenn stimmliche Äu‐ ßerungen ein Symbol für die παθήματα τῆς ψυχῆς sind, was ist dann unter 5. Aristoteles 55 <?page no="56"?> 138 Vgl. Coseriu, Geschichte, 74 spricht von Affektionen, Andreas Graeser: Aristoteles, in: Klassiker der Sprachphilosophie. Von Platon bis Noam Chomsky, hg. v. Tilman Borsche, München 1996, 36 von Widerfahrnissen. 139 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 74. 140 Weidemann, Aristoteles, 138. 141 Hennigfeld, Sprachphilosophie, 74. 142 Diesen Gedankengang verdeutlicht die Stoa (s. Kap. II, 6) und später auch Philon (s. Kap. III, 4.2) mit den Begriffen des λόγος προφορικός und λόγος ἐνδιάθετος. 143 Vgl. Coseriu, Geschichte, 74. 144 Vgl. Aristot. Herm. 16a 6. 145 Vgl. Peter Prechtl: Sprachphilosophie. Lehrbuch Philosophie, Stuttgart, Weimar 1999, 9. 146 Vgl. Aristot. Psych. 416b 33, 424a 1. 147 Die (Wieder-)Entdeckung der Inhalts- und Ausdrucksseite im 20. Jh. wird auf Ferdinand de Saussure und sein Werk Cours de linguistique générale von 1917 zurückgeführt. Zur deutschen Ausgabe s. Ferdinand De Saussure: Cours de linguistique générale. Zwei‐ sprachige Ausgabe französisch-deutsch, mit einer Einleitung, Anmerkungen und Kom‐ mentar, hg. v.n Peter Wunderli, Tübingen 2013. diesen zu verstehen? Hennigfeld spricht sich dafür aus, παθήματα als Eindrücke anzunehmen, 138 die die Seele von außen aufnimmt und anschließend in einer stimmlichen Äußerung zugänglich macht. 139 Weidemann fügt dem hinzu, dass „unter den fraglichen Dingen nicht nur Dinge im engeren Sinne dieses Wortes zu verstehen sind (…), sondern in Entsprechung zu diesen verschiedenartigen Gedanken verschiedene Arten von Dingen in einem weiteren Sinne dieses Wortes“ 140 . Besonders wichtig erscheint dabei, dass die παθήματα „einen Bezug zu den Dingen haben und nicht subjektiv willkürlich sind“ 141 . Aristoteles jeden‐ falls sieht das im sprachlichen Ausdruck Gesagte bereits als Vorstellung im Geist vorhanden. 142 Aristoteles weist erstmals in der Geschichte der Sprachphilosophie direkt die Unterscheidung zwischen Ausdrucks- und Inhaltsseite des sprachlichen Zei‐ chens auf, indem er zwischen φωνή und παθήματα τῆς ψυχῆς differenziert, zwischen beiden aber trotzdem einen Bezug herstellt, indem die Stimme die Erlebnisse der Seele zum Ausdruck bringt. 143 Der Laut verweist also auf die παθήματα τῆς ψυχῆς. Diese sind allen Menschen gleich und haben als Abbilder der Dinge einen Bezug zu den Dingen selbst. 144 Mit Hilfe der Wahrnehmung wird von den Dingen ein Bild erzeugt, das über ein sprachliches Zeichen aus‐ gedrückt wird. 145 Wie ein Wachsabdruck, den man von einem Ring nimmt, dessen Abbild zeigt, aber nicht das Objekt selbst enthält, so ist das Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Gegenstand zu erklären. 146 Aristoteles wird zum Begründer des sog. semiotischen Dreiecks, das v. a. für die Sprachwissenschaft des 20. Jh. bedeutend wird, indem er das sprachliche Zeichen (ὄνομα) in Signi‐ fikant / Ausdruck (φωνή) und Signifikat / Inhalt (πάθημα) unterteilt. 147 Er be‐ II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa 56 <?page no="57"?> 148 Vgl. Coseriu, Geschichte, 71 f. 149 Vgl. Leiss, Sprachphilosophie, 22. 150 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 83, begründet dies mit der Analogie von Schrift bzw. Wort und Wort bzw. seelischem Widerfahrnis. 151 Vgl. Coseriu, Geschichte, 1975, 74-76. trachtet nicht die Relation zwischen φωνή und Sache (in der Grafik gestrichelt markiert), sondern zum einen diejenige zwischen φωνή und πάθημα, zum an‐ deren diejenige zwischen Gegenstand und ὄνομα (bestehend aus Laut und In‐ halt / Bedeutung). 148 Die folgende Grafik kann diese Verhältnisse verdeutlichen: Das Verständnis des sprachlichen Zeichens bei Aristoteles Wenn Aristoteles annähme, dass zwischen Laut und Gegenstand kein direkter Bezug besteht, wäre auch der φύσει-θέσει-Streit beigelegt. In der Forschung wird dies kontrovers diskutiert. Leiss stellt dar, dass Aristoteles ein Anhänger der φύσει-These ist. Sie verweist jedoch darauf, dass er in der Forschung häufig der These zugeordnet wurde, nach der die Sprache durch Konvention ihre Le‐ gitimation erhält. 149 Nach Hennigfeld zeigt sich bei Aristoteles eine Tendenz zur θέσει-These, auch wenn sie in keiner Schrift explizit ausgesprochen wird. 150 Coseriu bestreitet auch das, da Aristoteles nicht Wort und Ding in ein kausales Verhältnis bringt, indem ein Name ein Ding abbildet, sondern die Namen bilden die παθήματα τῆς ψυχῆς ab. 151 Es wird noch deutlich werden, dass Aristoteles 5. Aristoteles 57 <?page no="58"?> 152 Vgl. Leiss, Sprachphilosophie, 29. Ὀνόματα haben zwar Bedeutung, jedoch keinen Bezug zur Zeit, im Gegensatz zu den ῥήματα. Vgl. Graeser, Aristoteles, 38. Die ὀνόματα können nicht in die Kategorien der Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft einge‐ ordnet werden oder diese selbst zum Ausdruck bringen. Wörter wie ἄνθρωπος oder τραγέλαφος (Bockhirsch) sind zeitlos. Um zeitliche Verbindungen zu verdeutlichen, ist das ῥῆμα notwendig. Das ῥῆμα ermöglicht eine Auskunft über Zeitangaben. Im engsten Sinn trifft das ῥῆμα eine Aussage über die Gegenwart. Es kann aber durch weitere Verbformen auch auf die Vergangenheit und die Zukunft bezogen werden. Durch das ῥῆμα wird eine Aussage über das im ὄνομα enthaltene Subjekt getroffen. So wie die einzelnen Teile von ὄνομα keine Bedeutung haben, gilt dies auch für die ῥηματα. Isoliert betrachtet hat es keinen Wahrheitswert. Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 85-87. 153 Vgl. Coseriu, Geschichte, 72 f. nicht auf die Beantwortung dieser Streitfrage abzielt, sondern bereits die Fra‐ gestellung in ihrer Ausgangsform reguliert. (2) Was bereits anklang, nämlich dass Aristoteles gegenüber den Vorsokrati‐ kern und Platon ein anderes Verständnis von ὄνομα hat, muss weiter ausgeführt werden: Ὄνομα μὲν οὖν ἐςὶ φωνὴ σημαντικὴ κατὰ συνθήκην (…). τὸ δὲ κατὰ συνθήκην, ὅτι φύσει τῶν ὀνομάτων οὐδέν ἐςιν, ἀλλ’ ὅταν γένηται σύμβολον, ἐπεὶ δηλοῦσί γέ τι καὶ οἱ ἀγράμματοι ψόφοι, οἷον θηρίων, ὧν οὐδέν ἐςιν ὄνομα. (Herm. 16a 19 und 26-29) Ein Nennwort [ὄνομα] ist nun eine gemäß einer Übereinkunft etwas bedeutende stimmliche Äußerung (…). Die Bestimmung ‚gemäß einer Übereinkunft’ (füge ich deshalb hinzu), weil von den Nennwörtern keines von Natur aus (ein Nennwort) ist, sondern (ein jedes) erst dann, wenn es zu einem Symbol geworden ist; denn auch solche nicht buchstabierbaren Laute wie beispielsweise die Laute der wilden Tiere geben ja etwas kund, ohne daß einer von ihnen (deshalb schon) ein Nennwort wäre. (Herm. 16a 19 und 26-29) Die Bedeutung eines Lautes wird zum wesentlichen Merkmal des aristotelischen ὄνομα. Ὀνόματα repräsentieren Gegenstände, sind aber nicht mit dem Ding identisch. Aristoteles versteht unter Bedeutung diese Repräsentation der Ge‐ genstände im Wort. 152 Er benutzt die Wendung κατὰ συνθήκην, um den Begriff ὄνομα weiter zu erklären. Diese erinnert an bereits bekannte Begriffe (συνθήκῃ / νόμῳ) und es entsteht der Eindruck, dass hier erneut die Streitfrage, ob die Namen ihre Legitimation von Natur aus oder durch Übereinkunft erhalten haben, angesprochen wird, wenn Aristoteles φύσει und κατὰ συνθήκην gegen‐ überstellt. 153 Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass Aristoteles Vokabular benutzt, das auch Platon im Krat. verwendet, um die These des Hermogenes darzustellen, dass die Richtigkeit der Namen nicht von Natur aus besteht, son‐ II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa 58 <?page no="59"?> 154 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 79 f. 155 Vgl. Ingemar Düring: Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, Hei‐ delberg 2 2005, 66 und Lersch, Sprachphilosophie, 37. 156 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 80, Coseriu, Geschichte, 72 f und Eugenio Coseriu: L’arbitraire du signe. Zur Spätgeschichte eines aristotelischen Begriffes, in: Der Physei-Thesei-Streit. Sechs Beiträge zur Geschichte der Sprachphilosophie, hg. v. Rein‐ hard Meisterfeld, Tübingen 2004, 8. 157 Coseriu, Geschichte, 73. 158 Vgl. Coseriu, Geschichte, 75 f und Coseriu, Sprache, 104 f. 159 Coseriu, Geschichte, 78. 160 Vgl. Graeser, Aristoteles, 36. 161 Vgl. Coseriu, Geschichte, 78 und Hennigfeld, Sprachphilosophie, 80. 162 Coseriu, Geschichte, 78. dern auf Übereinkunft beruht. 154 Deshalb wurde häufig aus dieser Textpassage abgeleitet, dass Aristoteles sich für die Legitimation der Sprache durch Kon‐ vention ausspricht. 155 Tatsächlich befasst sich Aristoteles hier aber weder mit der Frage nach dem Ursprung der Sprache oder der Richtigkeit der Namen noch will er den bekannten Gegensatz zwischen φύσει und θέσει aufnehmen. Das zeigt sich zum einen daran, dass Aristoteles den φύσει-Begriff in einem anderen Verständnis verwendet, als dies im herkömmlichen Streit der Fall war. 156 Er spricht nämlich in diesem Zusammenhang nicht von der φύσις der Dinge, son‐ dern von der φύσις der Laute: „Aristoteles will sagen, daß kein Laut allein ‚seiner Natur nach’ ein Name ist, von der Natur der Dinge redet er nicht.“ 157 Zum an‐ deren steht φύσει keiner der traditionellen Begriffe wie νόμῳ, ὁμολογίᾳ, συνθήκῃ oder θέσει gegenüber. Aristoteles verwendet mit κατὰ συνθήκην eine neue Formulierung, die auch etwas Neues zum Ausdruck bringen will. Die Wendung bestimmt das Verhältnis zwischen dem gesamten sprachlichen Zei‐ chen (Ausdrucks- und Inhaltsseite) und dem Gegenstand als κατὰ συνθήκην und kann mit ‚gemäß einer Übereinkunft’ wiedergegeben werden. 158 Die Formulie‐ rung ist nach Coseriu im Sinn von „nach alter Gewohnheit“ 159 zu verstehen. Es zeigt, dass aus einem sprachlichen Laut ein Wort mit Bedeutung wird. Wörter haben also nicht συνθήκῃ (durch Übereinkunft), sondern κατὰ συνθήκην (gemäß Übereinkunft) eine Symbolfunktion. Im Gegensatz zu den tierischen Lauten kommt den Wörtern der Menschen nicht von Natur aus eine Bedeutung zu. 160 Über ihre Symbolfunktion und ihre Bedeutung herrscht dennoch seit langer Zeit Klarheit. 161 So kann das aristotelische κατὰ συνθήκην verdeutlichen, dass die Dinge „aufgrund der historischen Überlieferung ihre Namen haben“ 162 . Die oben zitierte Stelle aus Herm. erklärt auch den Unterschied zwischen artikulierten und unartikulierten Lauten. Artikulierte Laute haben nach Aris‐ toteles Bedeutung, im Gegensatz zu unartikulierten Lauten. Als solche sind Tierlaute oder menschliche Laute, die unmittelbar etwas offenbaren, wie bei‐ 5. Aristoteles 59 <?page no="60"?> 163 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 80. 164 Vgl. Aristot. pol. I 2,1253a 7 ff. 165 Vgl. Graeser, Aristoteles, 36. 166 Vgl. Coseriu, Geschichte, 71. 167 Coseriu, Geschichte, 81. Vgl. auch Aristot. Herm. 16a 17 ff. spielsweise Schmerz, zu verstehen. Solche Laute erhalten ihre Begründung von Natur aus (φύσει). 163 Aristoteles stellt heraus, dass auch Tiere durch die Stimme artikulierte Laute produzieren, dadurch wird deutlich, dass Laute keine dem Menschen anhaftende Eigenheit sind. Der Unterschied zu den tierischen Lauten liegt darin, dass Tiere sich ausschließlich auf einer affektiven Ebene verstän‐ digen, die Menschen hingegen artikulieren Inhalte des λόγος. 164 Deshalb sind Laute auf der affektiven Ebene nicht als ὀνόματα zu bezeichnen, da sie unmit‐ telbar etwas zum Ausdruck bringen und nicht wie die Symbole erst durch die παθήματα τῆς ψυχῆς auf die Dinge verweisen. 165 (3) Es findet sich neben den Relationen zwischen φωνή und πάθημα sowie den beiden Seiten des sprachlichen Zeichens und dem Gegenstand bei Aristo‐ teles eine dritte Relation. Sie besteht zwischen Subjekt, das das sprachliche Zei‐ chen und den Gegenstand beinhaltet, und Prädikat. 166 Die beiden zuerst ge‐ nannten Verhältnisse haben gemeinsam, dass sie nach aristotelischer Ansicht nicht auf die Kategorien ‚wahr’ oder ‚falsch’ hin beurteilt werden können. Dieser Sachverhalt ist es jedoch, worauf die dritte Verhältnisbestimmung abzielt. Ihr liegt die Annahme zu Grunde, dass der λόγος im Allgemeinen wie folgt be‐ stimmt ist: Λόγος δέ ἐςι φωνὴ σημαντικὴ κατὰ συνθήκην, ἧς τῶν μερῶν τι σημαντικόν ἐις κεχωρισμένον, ὡς φάσις, ἀλλ’ οὐχ ὡς κατάφασις ἢ ἀπόφασις. (Herm. 16b 26-28) Ein Wortgefüge [Der Logos, Anm.] ist eine etwas bedeutende stimmliche Äußerung, von deren Teilen (mindestens) einer eigenständig etwas bedeutet, und zwar als ein Ausdruck, der etwas sagt, nicht als einer, der etwas aussagt. (Herm. 16b 26-28) Auch wenn jede Rede σημαντικός ist, kann nicht zugleich über ihren Wahrheits- oder Falschheitsgehalt geurteilt werden. Einzelne Wörter können, wie dies auch bei Platon deutlich wurde, nicht als wahr oder falsch bestimmt werden. Sie sagen nichts über die Existenz dieses Dinges aus. Der Mensch kann von Dingen spre‐ chen, die nur gedacht vorhanden sind, aber nicht wirklich existieren, wie bei‐ spielsweise der τραγέλαφος (Bockhirsch). Dasselbe gilt auch für Wörter wie ἄνθρωπος, die wir für real halten. Auch über ihre Existenz kann erst geurteilt werden, wenn sie in „einem bejahenden oder verneinenden Aussagesatz (κατάφασις ἢ ἀπόφασις) erscheinen“ 167 . Folglich können erst Sätze in die Ka‐ II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa 60 <?page no="61"?> 168 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 85 f. 169 Vgl. Coseriu, Geschichte, 72. 170 Vgl. Karlheinz Hülser: Stoa, in: Klassiker der Sprachphilosophie. Von Platon bis Noam Chomsky, hg. v. Tilman Borsche, München 1996, 53. 171 Vgl. Aristoteles, Herm. 17a 10 f. 172 Vgl. Coseriu, Geschichte, 81. 173 Vgl. Aristot. Herm. 17a 1-4. 174 Coseriu, Geschichte, 85, i. O. teilweise kursiv gedruckt. 175 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 90 ff. 176 Vgl. Prechtl, Sprachphilosophie, 8. tegorien ἀληθές oder ψεῦδος eingeordnet werden, das verdeutlicht die dritte Relation. Es sind Sätze gemeint, die ein ῥῆμα beinhalten, durch welches eine Aussage über das im ὄνομα enthaltene Subjekt getroffen wird 168 . Erst Sätze können auf ihre Richtigkeit hin untersucht werden, weil Wörter nicht auf die Dinge bezogen sind. Sie sind lediglich Zeichen, Symbol, für die Dinge. 169 Darin lieg der Unterschied zu Platon. Eine Neuerung im Vergleich zu Platon ist, dass das ῥῆμα Bedeutung für die Satzwertigkeit erhält. 170 Dabei muss bedacht werden, dass auch ῥήματα allein keinen Aussagegehalt besitzen. 171 Erst in der Verbindung von Subjekt, ver‐ standen als Gesamtheit des sprachlichen Zeichens, und Prädikat entsteht ein Satz, der auf einen Wahrheits- oder Falschheitsgehalt hin befragt werden kann. 172 Solche Sätze bezeichnet Aristoteles als λόγος ἀποφαντικός. Diesen präzisiert er im fünften Kapitel von Herm. Er bezeichnet die Sätze als ἀποφαντικός, die eine bejahende / behauptende (κατάφασις) oder verneinende (ἀπόφασις) Aussage über ein Subjekt treffen. 173 Dadurch wird der wahre Aus‐ sagehalt ans Licht gebracht bzw. „das im Subjekt latent Vorhandene patent“ 174 gemacht. Als solche Sätze, deren Wahrheits- oder Falschheitsgehalt ermittelt werden kann, bestimmt Aristoteles die Aussage- und Urteilssätze. 175 Teile von Aussagesätzen, Wunsch-, Frage- oder Befehlssätze hingegen sind davon zu un‐ terscheiden. Für sie kann keine Feststellung über einen wahren oder falschen Aussagegehalt getroffen werden, weil sie als einzelne sprachliche Ausdrücke keine Vorstellungen repräsentieren, die als wahr oder falsch beurteilt werden können. Mit der These, dass es Sätze gibt, für die keine Aussage über ihre Wahr‐ heit oder Falschheit getätigt werden kann, wird die Ansicht abgelehnt, Sprache impliziere grundsätzlich Wahrheit oder bringe sie zum Ausdruck. 176 (4) Aristoteles wird in der Forschungsliteratur als Realist bezeichnet. Ab‐ schließend ist zu fragen, was dies für seine Sprachphilosophie und das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit austrägt. Leiss ordnet Aristoteles dem reflek‐ tierten Realismus und den nichtsäkularisierten Erkenntnistheorien zu. Damit wird das aristotelische Denken in einen Gegensatz zu dem der Anti-Realisten 5. Aristoteles 61 <?page no="62"?> 177 Vgl. Leiss, Sprachphilosophie, 19 f. 178 Dies bezeichnet Graeser, Aristoteles, 37 als erkenntnistheoretischen Realismus. 179 Vgl. Leiss, Sprachphilosophie, 22 f und Graeser, Aristoteles, 37. 180 Vgl. Bertram, Sprachphilosophie, 49. 181 Vgl. Aristot. Herm. 19a 32. Dies bezeichnet Bertram, Sprachphilosophie, 49 als seman‐ tischen Realismus. 182 Vgl. Bertram, Sprachphilosophie, 49. 183 Vgl. Leiss, Sprachphilosophie, 30. 184 Vgl. Aristot. Psych. II 8.431b26-432b1. 185 Graeser, Aristoteles, 37. 186 Vgl. Graeser, Aristoteles, 37 und Aristot. Psych. II 12,424a17 ff. gestellt, das die Welt nur innerhalb des menschlichen Denkens existieren lässt. 177 Der reflektierte Realismus unterscheidet sich vom naiven darin, dass die Welt nicht nur so wahrgenommen und erkannt wird, wie sie ist, 178 sondern dass eine Strukturähnlichkeit zwischen Denken, Sprechen und Wirklichkeit ange‐ nommen wird, da in allen drei Komponenten derselbe λόγος wirkt. 179 Durch diesen Zusammenhang wird ersichtlich, dass auch die Sprache die Weltwirk‐ lichkeit so repräsentieren kann, wie sie ist, 180 denn Sätze sind in derselben Weise wahr wie die Dinge. 181 Sprache bildet Wirklichkeit ab und zwar dezidiert in einem Abbildverhältnis. Der Mensch kann die Welt über die Abbilder er‐ kennen. 182 Auch die Veränderung der Wirklichkeit kann durch die Sprache ab‐ gebildet werden, weil der Satz es erlaubt, die Relation zwischen Subjekt und Verb zu verändern. 183 Damit vertritt Aristoteles eine strukturelle Identität von Denken und Wirklichkeit. Die Seele bzw. den Geist versteht Aristoteles als Ort der gedachten Formen. 184 Der Geist erfährt „eine Erkenntnis der realen Struktur der Dinge“ 185 , indem er die gedachten Formen aufnimmt, ohne zugleich die Ma‐ terie dieser Objekte selbst wahrzunehmen. 186 Zusammenfassung: Aristoteles versteht sprachliche Äußerungen als σύμβολον. Sie sind Symbole für die Erleidnisse der Seele. Damit wird die wichtigste sprachphilosophische Neuerung eingeleitet, die der Unterscheidung des sprachlichen Zeichens in In‐ halts- und Ausdrucksseite, πάθημα und φωνή. Durch sie gerät auch die Frage, worin sich die Richtigkeit der Namen begründet, aus dem aristotelischen Fokus. Aristoteles versucht nicht mehr, eine Ähnlichkeit zwischen Objekt und Aus‐ drucksseite des sprachlichen Zeichens herzustellen, sondern beschäftigt sich zum einen mit dem Verhältnis von Inhalts- und Ausdrucksseite und zum anderen mit dem Verhältnis von der Gesamtheit des sprachlichen Zeichens und dem Objekt. Damit wird der Streit zwischen der φύσει- und der θέσει-Theorie bei‐ gelegt, weil er mit der Unterscheidung des sprachlichen Zeichens in die Inhalts- und Ausdrucksseite bereits eine Korrektur in der Streitfrage erfährt. Aristoteles II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa 62 <?page no="63"?> 187 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 102. 188 Braun, Sprachphilosophie, 11. 189 Die Lehre der Stoiker ist nur in geringen Teilen und fragmentarisch überliefert. Die erhaltenen Fragmente sind gut editiert. Folgende Ausgaben werden verwendet: Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker. Neue Sammlung der Texte mit deutscher Über‐ setzung und Kommentaren. Bd. 1-4, hg. v. Karlheinz Hülser, Stuttgart 1987-1988 und Stoicorum veterum fragmenta. Bd. 1-3, hg. v. Johannes v. Arnim, Stuttgart 1964 (Nach‐ druck der Ausgabe von 1903); zur Übersetzung siehe: Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare. Übersetzt von Karlheinz Hülser, hg. v. Anthony A. Long und David N. Sedley, Stuttgart, Weimar 2000. wird mit der Unterscheidung von Inhalts- und Ausdrucksseite eines sprachli‐ chen Zeichens zum Begründer des semiotischen Dreiecks. Mit der Feststellung, dass Laute σημαντικός sind, führt Aristoteles zugleich weiteres sprachphilosophisches Vokabular ein, das erhalten bleiben wird. Die Bedeutung wird zum wesentlichen Merkmal der ὀνόματα und meint die Reprä‐ sentation der Gegenstände im Wort. Ihre Bedeutung und Legitimation erhalten menschliche Laute κατὰ συνθήκην, sie liegt nicht in der Natur der menschlichen Sprache, sondern ist aus der historischen Überlieferung übernommen. Auch jeder λόγος hat Bedeutung, ist aber nicht zugleich ἀποφαντικός (erhellend). Das Interesse des Aristoteles gilt der Frage, ob und wann der λόγος als wahr oder falsch bestimmt werden kann. Ein Wahrheits- oder Falschheitsgehalt kann letzt‐ lich nur Sätzen zugesprochen werden, die aus ὀνόματα und ῥήματα bestehen. Aristoteles nennt solche Sätze λόγος ἀποφαντικός. So wird die Tendenz, die sich bei Platon abzeichnet, dass nicht einzelne Wörter, sondern erst Sätze als ἀληθές oder ψεῦδος bestimmt werden können, verstärkt. Sein, Sprechen und Denken gehören für Aristoteles eng zusammen. Das Sein der Dinge wird durch den λόγος offenbart. Die drei Komponenten sind nicht identisch, aber sie weisen eine Strukturähnlichkeit auf. Die größte Bedeutung kommt dabei dem λόγος ἀποφαντικός für die seinserschließende Funktion zu. 187 Die Sprache wird insgesamt aber abgewertet, denn ihr wird „keine erkenntnis‐ konstitutive, welterschließende und wahrheitsrelevante Rolle [mehr] zugespro‐ chen“ 188 . 6. Die Stoa Die Überlegungen zur Sprachphilosophie der Stoa sind in folgende Einzel‐ schritte zu unterteilen: 189 (1) Die Entwicklung der Sprachphilosophie zum zent‐ ralen Gegenstand der Philosophie und die zentralen Inhalte der stoischen Sprachphilosophie. (2) Die Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens, die 6. Die Stoa 63 <?page no="64"?> 190 Die Stoa existiert bis in das 2. Jh. n. Chr. Für den Vergleich mit Philon und Paulus kann selbstverständlich nur die Lehre zum Vergleich herangezogen werden, die sich in der alten und mittleren Stoa entwickelt hat. Die zentralen Inhalte der stoischen Sprachphi‐ losophie sind, wie sich im Folgenden zeigen wird, bereits in der alten und mittleren Stoa entfaltet, hauptsächlich bei Zenon, Chrysipp und Antipater. 191 Max Pohlenz: Die Begründung der abendländischen Sprachlehre durch die Stoa, in: Kleine Schriften, hg. v. Heinrich Dörrie, Hildesheim 1965, 45. 192 Vgl. Pohlenz, Begründung, 45. 193 Vgl. Hülser, Stoa, 52. Hennigfeld hingegen stimmt der These von Pohlenz zu. Vgl. Hen‐ nigfeld, Sprachphilosophie, 106. 194 S. hierzu David Sedley: Diodorus Cronus and Hellenistic Philosophy, in: Proceedings of the Cambridge Philological Society 203, NS 23 (1977), 74-120. 195 Siehe hierzu Hülser, Stoa, 53, Theodor Ebert: Dialektiker und frühe Stoiker bei Sextus Empiricus. Untersuchungen zur Entstehung der Aussagenlogik, Göttingen 1991, 83-107 und 187-94. 196 Vgl. Diog. Laert. VII,39 f (SVF II,37 und II,41). φωνή, und (3) die Behandlung der Inhaltsseite des sprachlichen Zeichens, das λέκτον. (1) Der Beginn der Stoa ist um 300 v. Chr. anzusetzen. 190 Die Stoiker, deren Schule von Zenon aus Kition begründet wurde, haben die Sprachphilosophie zum Hauptgegenstand der Philosophie gemacht. Während in der vorangegan‐ genen Entwicklung, vom Krat. Platons abgesehen, keine dezidiert sprachphilo‐ sophischen Werke entstanden sind, widmen sich die Stoiker der Sprache als eigenem philosophischem Gegenstand. Nach Pohlenz entsteht die Notwendig‐ keit, sich mit Sprache zu beschäftigen, dort, „wo man Anlaß hatte, die eigene Sprache an einer anderen zu messen, sei es an einer älteren Sprachstufe des eigenen Volkes, in der die heiligen Schriften abgefaßt waren, sei es an der Sprache eines anderen Volkes“ 191 . Pohlenz zufolge war eine Mehrheit der Stoiker gezwungen, ihre Gedanken in einer von ihrer semitischen Muttersprache ab‐ weichenden Sprache, dem Griechischen, zu formulieren. Er sieht in den Unter‐ schieden dieser beiden Sprachen, mit denen sich viele Stoiker auseinanderge‐ setzt haben, einen Grund, weshalb in der Stoa eine dezidierte Sprachphilosophie entstanden ist. 192 Hülser widerspricht dieser These, da die große Nachwirkung der stoischen Sprachphilosophie damit nicht ausreichend erklärt werden kann. Weiterhin ist mindestens von Zenon bekannt, dass er Hellenist sein wollte und dass er seine semitische Muttersprache vernachlässigte. 193 Angeregt zu sprach‐ philosophischem Denken wurden die Stoiker vielmehr durch die dialektische Schule um Diodoros Kronos (ca. 350-284 v. Chr.), 194 die sich mit derartigen Fragen bereits beschäftigte und die Sprache als Bestandteil der Logik etabliert hatte. 195 Neben Ethik und Physik ist die Logik der dritte Teilbereich der Philo‐ sophie. 196 Sie selbst wird in Dialektik und Rhetorik unterteilt. Gelegentlich wird II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa 64 <?page no="65"?> 197 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 107. 198 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 105. 199 Vgl. Diog. Laert. VII,134 (SVF I,85), Übersetzung bei Long / Sedley, 44B. 200 Pohlenz geht davon aus, dass diese Begriffe erst im 2. Jh. entstehen, so dass die Unter‐ scheidung für die alte Stoa noch nicht angenommen werden kann. Vgl. Pohlenz, Be‐ gründung, 197. Dagegen spricht, dass Philon die Begriffe bereits als solche gebraucht. 201 Vgl. Hülser, Stoa, 55. 202 Vgl. Diog. Laert. VII,46 (SVF II,130). 203 Vgl. Pohlenz, Begründung, 48. 204 Vgl. Hülser, Stoa, 54. 205 Vgl. Diocles, ap. Diogenes Laertios VII,62 (FDS 63). als weiterer Sektor die Erkenntnistheorie angeführt, die stark mit der Dialektik verbunden ist. 197 Das zentrale Element der stoischen Sprachphilosophie bleibt der seit Heraklit im Fokus stehende λόγος-Begriff. 198 Der λόγος ist in der stoischen Lehre sowohl auf Gott als auch auf den Menschen bezogen. Er wird zum einen als der Urgrund alles Seienden bestimmt. 199 Zum anderen gibt der λόγος-Begriff Auskunft über das Wesen der Menschen, das mit den Begriffen des λόγος ἐνδιάθετος und des λόγος προφορικός beschrieben werden kann. 200 Λόγος ἐνδιάθετος bezeichnet den gedachten Gehalt, die innere Rede; λόγος προφορικός bezeichnet die stimmliche Äußerung. 201 So werden das Denken und das Sprechen als Wesens‐ merkmale des menschlichen λόγος bestimmt. Die beiden Bereiche sind eng mit‐ einander verbunden. 202 Der λόγος ist als allumfassendes Prinzip für die stoische Philosophie von großer Bedeutung. Da die stimmliche Äußerung unmittelbar aus dem λόγος hervorgeht, ist der gesprochenen Sprache gegenüber der schrift‐ lichen Sprache der Vorzug einzuräumen, da letztere lediglich ein Symbol für die stimmliche Äußerung ist. Dieses Verhältnis hatte sich bei Platon bereits abge‐ zeichnet. Die Stoiker verstehen unter λόγος sowohl einzelne Wörter als auch die Verbindung von ὀνόματα und ῥήματα sowie ganze Satzeinheiten. 203 Neben dem λόγος-Begriff ist eine weitere wichtige Voraussetzung für die sprachphilosophische Entwicklung, dass auch die Stoiker zwischen der Inhaltsuns Ausdrucksseite eines sprachlichen Zeichens unterscheiden. Sie differen‐ zieren zwischen dem Bezeichneten / Signifikat / Inhalt, dem Bezeichn‐ enden / Signifikant / Ausdruck eines sprachlichen Zeichens und dem Objekt, übernehmen also folglich das von Aristoteles herausgearbeitete dreiteilige se‐ miotische Modell. 204 In diese beiden Teilbereiche des sprachlichen Zeichens glie‐ dert Chrysipp die stoische Dialektik. Das wird durch die beiden Schrifttitel be‐ reits deutlich: Περὶ σημεινόντον (Über das Bezeichnende) beschäftigt sich mit der Stimme, also mit dem Zeichen, Περὶ σημεινομένον (Über das Bezeichnete) mit dem Gesagten und der Bedeutung. 205 Beide Teilbereiche des sprachlichen 6. Die Stoa 65 <?page no="66"?> 206 Vgl. Hülser, Stoa, 55. 207 Vgl. Diog. Laert. VII,55 (SVF II,140), Übersetzung bei Long / Sedley, 33H. Vgl. auch Hülser, Stoa, 54 und Wolfram Ax: Laut, Stimme und Sprache. Studien zu drei Grund‐ begriffen der antiken Sprachtheorie, Göttingen 1986 (Hypomnemata 84), 83. 208 Vgl. Hülser, Stoa, 55. Zeichens wurden nun differenzierter betrachtet. So konnten gezielt einzelne Aspekte der Sprache herausgegriffen, untersucht und systematisiert werden. Für die Zusammenführung dieser Teilsystematisierungen und eine Vereinheit‐ lichung ist Diogenes von Babylon (240-150 v. Chr.) verantwortlich. 206 Im Fol‐ genden werden die beiden von Chrysipp vorgelegten Teile der Dialektik behan‐ delt. Am Anfang steht die Auseinandersetzung mit dem Bezeichnendem. (2) Die Stimme, die φωνή, verstehen die Stoiker als das Bezeichnende, die Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens. Sie wird für körperlich und damit für seiend erklärt. 207 Daneben wird die Ausdrucksseite des sprachlichen Zei‐ chens wie folgt bestimmt: φωνή ἐστιν ἀὴρ πεπληγὼς αἰσθητὸς ἀκοῇ, τὸ ὅσον ἐφ’ ἑαυτῷ ἔστιν. (Dositheus, Ars gramm. p. 381; FDS 500) „Die Stimme (der Laut) ist erschütterte Luft, die, soweit es an ihr liegt, mit dem Gehör wahrnehmbar ist“ (Dositheus, Ars gramm. p. 381; FDS 500) Die φωνή wird als Schall durch das Sinnesorgan des Ohres wahrgenommen. Zur eigentlichen Stimme wird diese Luft bzw. der Schall, wenn ein Lebewesen da‐ durch einen Laut erzeugt. Um die menschlichen Laute von den tierischen un‐ terscheiden zu können, führt die Stoa die Differenzierung zwischen artikulierten und unartikulierten Lauten weiter, die bereits bei Aristoteles angedeutet wurde: πᾶσα φωνὴ ἢ ἔναρθρός ἐστιν ἢ ἄναρθρος. ἔναρθρός ἐστιν ἣ γράμμασιν καταληφθῆναι δύναται∙ ἄναρθρος ἐστιν ἥτις γράφεσθαι οὐ δύναται. (Dositheus, Ars gramm. p. 381; FDS 500) Jede Stimme (jeder Laut) ist entweder artikuliert oder konfus. Die artikulierte Stimme ist diejenige, welche in Buchstaben festgehalten werden kann; die konfuse ist dieje‐ nige, welche man nicht aufschreiben kann. (Dositheus, Ars gramm. p. 381; FDS 500) Sind Laute ἄναρθρος (unartikuliert), so handelt es sich um ἦχος (bloße Laute). 208 Dagegen ist φωνή ἔναρθρος (der artikulierte Laut) an den λόγος gebunden. Menschliche Sprache kann nicht nur auf ihr körperliches Phänomen reduziert werden. Das Denken, der λόγος ἐνδιάθετος, ist eng mit der sprachlichen Äu‐ ßerung verbunden. Dies wurde bei der Thematisierung des stoischen λόγος-Verständnisses bereits deutlich und kann durch Chrysipp noch einmal in II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa 66 <?page no="67"?> 209 Stob., Florilegiae I 3,55 (FDS 515). 210 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 109. 211 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 109. 212 Vgl. Orig., Kels. I,24 (FDS 643) und vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 109. 213 Hennigfeld, Sprachphilosophie, 110. 214 Vgl. Galen in Hippocr. de humoribus lib. I, XVI p. 204 K. (SVF II,144) und Hennigfeld, Sprachphilosophie, 109 f. 215 Vgl. Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 6 1984, 84. 216 Pohlenz, Geschichte, 40. Erinnerung gerufen werden, der feststellt „τὴν διάνοιαν εἶναι λόγου πηγήν“ 209 (der Verstand sei die Quelle der Rede). 210 Wenn die Stoa die menschlichen sprachlichen Äußerungen eng an den λόγος koppelt, wirft das die Frage auf, welche Position die Stoa im φύσει-θέσει-Streit einnimmt. Die stoische Position diesbezüglich wird in Auseinandersetzung mit den Theorien der Skeptiker und der Epikureer entwickelt. Die Skeptiker sind der Ansicht, dass die Zuordnung von Ding und Wort θέσει vonstattengeht 211 , die Epikureer plädieren vorerst für die reine φύσει-These. 212 Letztere waren, wie alle Vertreter der natürlichen Sprachentstehung, mit der Frage konfrontiert, warum unterschiedliche Sprachen entstehen konnten. Epikur begründet dies mit der Unterschiedlichkeit von „geographischen und ethnischen Gegeben‐ heiten“ 213 , die sich in den sinnlichen Wahrnehmungen und letztlich in der Zu‐ ordnung von Objekt und Wort niederschlagen. Dinge jedoch, die schwierig zu bezeichnen waren, wurden von weisen Menschen bezeichnet, um Klarheit zu schaffen und Mehrdeutigkeiten zu vermeiden. Mit diesem Zusatz vereint Epikur beide Theorien. Damit ist für die Stoa aber noch kein gangbarer Weg begründet; weil die Epikureer nicht zwischen tierischen und menschlichen Lauten unter‐ scheiden, findet deren These für die Stoa eine Grenze. So wie die tierischen Laute sind nach epikureischer Ansicht auch die ersten Laute der Menschen ent‐ standen: durch eine natürliche Erregung wie etwa Husten oder Seufzen. 214 Das widerspricht dem stoischen Verständnis, zwischen Mensch und Tier eine scharfe Grenze zu ziehen. 215 Wie oben bereits deutlich wurde, ist die menschliche Sprache - im Gegensatz zu den tierischen Lauten - explizit an den λόγος ge‐ bunden, weil eine menschliche Stimme im stoischen Verständnis nur dort vor‐ liegt, „wo die Stimme vom Denken ausgeht und die Artikulation dazu dient, die Gliederung der Gedanken zum Ausdruck zu bringen und die verschiedenen Dinge auf Grund einer bestimmten Erkenntnis zu bezeichnen.“ 216 Die Stoa kann somit wenigstens zu einem Teil der epikureischen These folgen, nämlich darin, dass die Zuordnung von Wort und Ding auch durch den Menschen veranlasst 6. Die Stoa 67 <?page no="68"?> 217 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 111. 218 Vgl. Pohlenz, Geschichte, 41. 219 Vgl. auch Orig. Kels. I,24 (FDS 643). 220 Hülser, Stoa, 57. 221 Vgl. Hülser, Stoa, 57. 222 Vgl. die Beispiele von Diog. Laert., Stob. etc. in FDS 650-680. 223 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 113. 224 Vgl. Scholia in Dion. Thr. p. 484,3-7 (FDS 523A), s. allg: FDS 519-527 und Aristot. poet. 20,1456b 25-31. 225 Vgl. Hülser, Stoa, 56. 226 Vgl. Diocles ap. Diogenes Laertios VII,56 (FDS 536) und vgl. Hülser, Stoa, 56. 227 Vgl. Diocles ap. Diogenes Laertios VII,57 (SVF II,147; FDS 536). 228 Bei Antipater wurde die sechste Wortgruppe zuerst μεσότης genannt, erst später hat sich der Begriff ἐπίρρημα durchgesetzt. Vgl. Simpl. in Arist. Kat. 98 f (SVF II,173). 229 Vgl. Diocles ap. Diogenes Laertios VII,56 (FDS 536), Scholia in Dion., Thr. p. 356,7 f (FDS 542). 230 Vgl. bsp. Scholia in Dion., Thr. p. 356,1-4 (FDS 541), Diocles ap. Diogenes Laertios VII, 57 f (FDS 536) oder Dion. Hal. ant., De Demosthenis dictione 48 p. 232 f (FDS 537). wurde. 217 Insgesamt geht die Stoa einen Mittelweg: Die Wörter gelten als vom Menschen gesetzt. Die namengebenden Menschen orientierten sich jedoch an der φύσις der Dinge. 218 Die ersten Wörter haben ihre Bedeutung also nach stoischer Ansicht nicht durch Konvention erhalten, sondern von Natur aus, indem die Objekte nachgeahmt wurden. 219 Diese Nachahmung bezieht sich einerseits auf die Ähn‐ lichkeit zwischen Objekt und Wort, wie dies für Onomatopoetika der Fall ist; andererseits auf eine Ähnlichkeit zwischen der Eigenschaft des Objekts und des „psychischen Eindrucks, der bei der Rezeption der dieses Ding bezeichnenden Laute entsteht“ 220 . Dies trifft für Etymologien zu, 221 weshalb sich bei den Stoikern für diese ein besonderes Interesse entwickelt. 222 Neben dem Ursprung und der allgemeinen Beschreibung des Wesens sprach‐ licher Laute befasst sich der Lehrbereich ‚Περὶ σημεινόντον’ mit dem Aufbau der Sprache. 223 Auf der Ebene der λέξις (Artikuliertheit) können verschiedene Bereiche ausgemacht werden: Als die kleinsten zerlegbaren Einheiten gelten die Phoneme, die die Stoiker in den 24 Buchstaben gegeben sahen. 224 Auf diese folgen die Silben als Laute, die in verschiedene Segmente eingeteilt werden können, aber keine Bedeutung besitzen. Wörter, Sätze und Texte sind die darauf folgenden größeren Einheiten, die Bedeutung haben. 225 Die Rede an sich lässt sich nach der stoischen Lehre in verschiedene Wortarten gliedern: Substantiv (ὄνομα), Verb (ῥῆμα), Artikel (ἄρθρον) und Konjunktion (σύνδεσμος) sind die vier Wortarten, die die Stoa aus der vorangegangenen Sprachphilosophie über‐ nommen hat. 226 Chrysipp unterteilt die Substantive in ὄνομα (Eigenname) und προσηγορία (Appellativ) 227 , Antipater fügt das ἐπίρρημα (Adverb) 228 hinzu. 229 Diese Wortarten werden als die einzelnen Elemente (στοιχεία 230 ) der Rede II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa 68 <?page no="69"?> 231 Vgl. Diocles ap. Diogenes Laertios VII,59 f (FDS 594). 232 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 114. 233 Umberto Eco: Semiotik und die Philosophie der Sprache. Übersetzung von Christiane Trabant-Rommel und Jürgen Trabant, München 1985 (Supplemente 4), 53. (λόγος) angesehen. Die Rede selbst sollte nach stoischer Ansicht folgende Merk‐ male aufweisen: Ἑλληνισμός (gutes Griechisch), σαφήνεια (Deutlichkeit), συντομία (Kürze), πρέπον (Angemessenheit) und κατασκευή (ausgefeilte Ge‐ staltung). 231 (3) Das zweite Teilgebiet der stoischen Sprachphilosophie (‚Περὶ σημεινομένον’) beschäftigt sich mit dem, was wir heute die Inhaltsseite des sprachlichen Zeichens bzw. das Bezeichnete nennen. Hinter dieser Thematik steht die Frage, wie der Bezug zwischen Wort und Objekt zu denken ist. Die Stoiker knüpfen diesbezüglich an die Sichtweise von Aristoteles an, der den Bezug zwischen Wort und Ding durch die παθήματα τῆς ψυχῆς vermittelt sieht. Die Stoiker sind bemüht, die aristotelische Ansicht zu differenzieren und näher zu bestimmen. Sie benutzen hierzu den Begriff λέκτον, der das Bezeichnete cha‐ rakterisiert: 232 σημεινόμενον δὲ αὐτὸ τὸ πρᾶγμα τὸ ὑπ’ αὐτῆς δηλούμενον καὶ οὗ ἡμεῖς μὲν ἀντιλαμβανόμεθα τῇ ἡμετέρᾳ παρυφισταμένου διανοίᾳ, οἱ δὲ βάρβαροι οὐκ ἐπαΐουσι καίπερ τῆς φωνῆς ἀκούοντες∙ (…) ἓν δὲ ἀσώματον, ὥσπερ τὸ σημαινόμενον πρᾶγμα, καὶ λεκτόν (…). (S. Emp., Adv. Math. VIII,12; FDS 67) Die Bedeutung [das Bezeichnete] ist eben die Sache, auf die durch den Laut hinge‐ wiesen wird und die wir begreifen, da sie in Abhängigkeit von unserem Denken exis‐ tiert, die aber fremdsprachige Leute nicht verstehen, so sehr sie auch den Laut hören; (…) eines [von Bezeichnetem, Bezeichnendem und dem Objekt selbst] hingegen ist unkörperlich, nämlich die bezeichnete Sache, und zwar ein Lekton (…). (S. Emp., Adv. Math. VIII,12; FDS 67) Das Bezeichnete definieren die Stoiker als unkörperlich, im Gegensatz zum ei‐ gentlichen Objekt und dem Bezeichnendem. Umberto Eco fasst prägnant zu‐ sammen, wie das λέκτον im stoischen Sinn zu fassen ist: Bei den Stoikern ist der Inhalt keine Empfindung der Seele, kein geistiges Bild, keine Wahrnehmung, kein Gedanke oder keine Idee mehr, wie er es bei ihren Vorgängern war. Er ist weder eine Idee im platonischen Sinne, denn die Stoiker haben eine mate‐ rialistische Metaphysik, noch eine Idee im psychologischen Sinne, da selbst in diesem Fall der Inhalt ein Körper wäre, eine physische Tatsache, eine Veränderung der Seele (die ebenfalls ein Körper ist), ein Siegel, das dem Geist aufgedrückt wird. Stattdessen schlagen die Stoiker vor, daß der Inhalt etwas Unkörperliches sei. 233 6. Die Stoa 69 <?page no="70"?> 234 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 115. 235 Analog dazu ist es auch nicht mit dem Objekt gleichzusetzen, da das Objekt existieren kann, ohne dass es gedacht oder sprachlich geäußert wird. Vgl. Hennigfeld, Sprachphi‐ losophie, 115. Vergleiche auch die Ausführungen von Gottlob Frege: Über Sinn und Bedeutung, in: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, hg. v. Günther Patzig, Göttingen 5 1980, 43: „Von der Bedeutung und dem Sinn eines Zeichens ist die mit ihm verknüpfte Vorstellung zu unterscheiden.“ 236 Hennigfeld, Sprachphilosophie, 116. 237 Vgl. Ammonium, In Arist. De interpr. p. 17,20-28 (FDS 702). 238 Das stoische λέκτον entspricht dem, was Frege Sinn nennt. Vgl. Frege, Sinn, 44. Zum Vergleich der stoischen Sprachphilosophie mit den Überlegungen Freges siehe auch Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, Darmstadt 2 1995, 71-76. Zum Vergleich der stoischen Lehre mit Frege siehe auch: Günther Bien: Art. Lekton, in: HWP 5 (1980), 230. Das λέκτον ist an den λόγος gekoppelt und zwar an den λόγος in seinem zwei‐ fachen Verständnis; d. h. unter λέκτον ist die Vorstellung zu sehen, die vom Denken erfasst wird und die zugleich an die sprachlichen Äußerung gebunden ist. 234 Der Aspekt der Vorstellung wird in der stoischen Lehre durch die Kom‐ ponente der φαντασία verdeutlicht: λεκτὸν δὲ ὑπάρχειν φασὶ τὸ κατὰ λογικὴν φαντασίαν ὑφιστάμενον· λογικὴν δὲ εἶναι φαντασίαν καθ’ ἣν τὸ φαντασθὲν ἔστι λόγῳ παραστῆσαι. (S. Emp., Adv. Math. VIII, 70; SVF II,187) Sie (die Stoiker) sagen, daß ein ›Sagbares‹ (Lekton) dasjenige ist, was in Übereinstim‐ mung mit einer vernünftigen Vorstellung subsistiert; und eine vernünftige Vorstellung ist diejenige, in der es möglich ist, den Inhalt der Vorstellung sprachlich zu präsen‐ tieren. (S. Emp., Adv. Math. VIII,70; Long / Sedley, 33C) Mit der φαντασία wird ein Element eingeführt, das den Unterschied zur aris‐ totelischen Sprachphilosophie zeigt und deutlich macht, dass das λέκτον aus einer rationalen Vorstellung entspringt. Eine solche liegt dann vor, wenn die φαντασία in einer sprachlichen Äußerung wiedergegeben werden kann bzw. wird. Das λέκτον ist dabei nicht mit der Vorstellung gleichzusetzen, da diese auch entstehen kann, ohne dass es zu einer sprachlichen Äußerung kommt. 235 „Das lektón ‚existiert’ gleichsam zwischen dem Gedanken (…) und der Sache selbst.“ 236 Deshalb ist es mit ‚Gesagtem’ oder ‚Sagbarem’ zu übersetzen. Es ist als Mittlerelement zwischen dem Objekt und dem Gedanken zu sehen und dabei nicht an eine bestimmte Lautgestalt gebunden, aber an die Sprache im Allge‐ meinen. 237 Mit dem Begriff λέκτον bringen die Stoiker das zum Ausdruck, was wir heute mit dem Terminus Bedeutung bezeichnen. 238 An dieser Stelle sei an‐ II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa 70 <?page no="71"?> 239 Vgl. S. Emp., Adv. Math. VIII,133 und Diocles ap. Diogenes Laertios VII,55-57 (FDS 476). 240 Hülser, Stoa, 58. 241 Vgl. Diocles ap. Diogenes Laertios VII,63 (FDS 696). 242 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 122. 243 Vgl. den historischen Abriss der Problematik und die Darstellung der unterschiedlichen Positionen bei Hennigfeld, Sprachphilosophie, 117-119. 244 Auch Pohlenz spricht sich für die Position Ecos aus: „Das Verdienst, die systematische Sprachlehre für das Abendland begründet zu haben, gebührt der Stoa.“ (Pohlenz, Be‐ gründung, 78). 245 Eco, Semiotik, 53. 246 Vgl. Hennigfeld, Sprachphilosophie, 119. gemerkt, dass es auch nach stoischer Lehre Laute gibt, die keine Bedeutung haben. Laute können also σημαντικός sein oder nicht. Ist letzteres der Fall, so handelt es sich um unsinnige Wörter wie beispielsweise βλίτυρι. 239 Unvollständige λεκτά sind die Bezeichnung für die Flexionslehre, hierzu ge‐ hören Subjekt und Verb. Ein vollständiges λέκτον liegt vor, wenn „abgerundete Sinneinheiten“ 240 vorhanden sind, wie dies für Aussagesätze, Entscheidungs‐ fragen oder Aufforderungen der Fall ist. 241 Auch wenn die Stoiker den verschie‐ denen Satzarten großes Interesse beimessen, liegt ihr Fokus doch auf dem Aus‐ sagesatz. 242 Der Begriff λέκτον, seine exakte Bestimmung und seine Bedeutung für die stoische und die nachfolgende Sprachphilosophie ist umstritten. Die verschie‐ denen Interpretationsmöglichkeiten und Gewichtungen des Begriffs können an dieser Stelle nicht im Einzelnen wiedergegeben werden. 243 Im Wesentlichen sind für die Wirkung der stoischen Sprachphilosophie und das Verständnis des Be‐ griffs λέκτον in der Forschung zwei Positionen auszumachen, die anhand von Umberto Eco und Klaus Oehler gezeigt werden können. 244 Eco spricht sich dafür aus, dass die stoische Sprachphilosophie eine bedeutende Rolle für die modernen sprachwissenschaftlichen Theorien hat: Sie [die Stoiker] scheinen die Triade [des sprachlichen Zeichens] zu reproduzieren, die Platon und Aristoteles vorschlugen, aber sie überarbeiteten sie mit einer theore‐ tischen Feinheit, die vielen von denen fehlt, die ein solches semantisches Dreieck heutzutage wiederentdeckt haben. (…) Die Stoiker [gehen] viel weiter als ihre Vor‐ gänger und entdecken die provisorische und labile Natur der Zeichenfunktion (der‐ selbe Inhalt kann mit einem Ausdruck aus einer anderen Sprache ein Wort bilden). 245 Problematisch an dieser Sichtweise ist, dass in den stoischen Fragmenten das gefunden werden kann, was man in ihnen zu finden gewillt ist. 246 Oehler vertritt die zweite Position und schätzt die Wirkung der stoischen Lehre für die moderne 6. Die Stoa 71 <?page no="72"?> 247 Klaus Oehler: Ein Mensch zeugt einen Menschen. Über den Missbrauch der Sprach‐ analyse in der Aristotelesforschung, Frankfurt a. M. 1963, 25 f 248 Henningfeld, 120. Sprachwissenschaft als gering ein. Seiner Einsicht nach zeigt die Sprachphilo‐ sophie der Stoa gegenüber der platonischen und aristotelischen keinen wesent‐ lichen Unterschied: Dasselbe Schema findet sich schon bei Platon und Aristoteles. Es ist die ontologische Dreiteilung von πρᾶγμα (εἶδος), νόημα und ὄνομα. Das stoische λέκτον ist also gleich‐ bedeutend mit dem νόημα (…). [D]as sind drei Elemente in der stoischen Logik, die auch schon bei Platon und Aristoteles begrifflich fixiert sind. Es kann also auch nicht die Rede davon sein, daß diese Betrachtungsweise (…) bei Aristoteles ‚vorbereitet’ wird: [S]ie ist bei Platon und Aristoteles schon längst da (…). 247 Unter Umständen kann man mit Hennigfeld schlussfolgern: Es liegt nahe, die Wahrheit in der Mitte zu suchen: Die Stoiker antizipieren zwar nicht moderne Sprach- und Satztheorien; sie gehen jedoch über Aristoteles (und Platon) hinaus, was sich zumindest an der Terminologie belegen läßt. Damit ist allerdings nicht viel gewonnen. 248 Nicht viel gewonnen deshalb, weil das Verständnis des λέκτον für die Stoa letzt‐ lich nur unbefriedigend bestimmt werden kann. Die eindeutigen Aussagen über λέκτον müssen begrenzt bleiben, weil der Begriff innerhalb der Stoa vielfältig verwendet wird. Zusammenfassung: Die Stoa macht die Sprachphilosophie zum zentralen Untersuchungsgegen‐ stand der Philosophie. Wichtigster Ansatzpunkt ist die von Aristoteles vorge‐ nommene Unterscheidung des sprachlichen Zeichens in eine Ausdrucks- und Inhaltsseite. Sie wird von der Stoa aufgenommen und konkretisiert. Die φωνή als Ausdrucksseite wird zum Bezeichnenden, wenn mit ihrer Hilfe ein Laut er‐ zeugt wird. Die Laute können unartikuliert oder artikuliert sein und werden für körperlich erklärt. Die artikulierten Laute sind die Laute des Menschen, die eng an den λόγος gebunden sind. Neben der Bestimmung des Wesens der Sprache gehört der Aufbau der Sprache zu der Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens. Hier folgen die Stoiker den ihnen bereits bekannten Einteilungen in Buchstaben, Silben, Wörter, Sätze und Texte. Was die Wortarten betrifft, so fügt Antipater von Tarsos (200-129 v. Chr.) das Adverb hinzu, Chrysipp (276-204 v. Chr.) teilt das Substantiv in Eigennamen und Appellative. II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa 72 <?page no="73"?> 249 Bien, Lekton, 230. 250 Vgl. Bien, Lekton, 229 f. 251 Hennigfeld, Sprachphilosophie, 124. 252 Vgl. Long / Sedley, 19A-K. Während bei Aristoteles drei Komponenten der Sprache unterschieden werden, die Dinge (πρᾶγμα), die Eindrücke in der Seele hinterlassen (παθήματα τῆς ψυχῆς) und das Wort (ὄνομα), kommt bei den Stoikern das λέκτον als viertes Element hinzu. Die aristotelischen παθήματα τῆς ψυχῆς zerfallen in eine „‚psy‐ chische’ und eine ‚ideelle’ Komponente“ 249 . Das λέκτον zeigt uns das reale Ding an, wenn wir das im Lautbild dargestellte Objekt gleichzeitig denken. Damit wird aber auch deutlich, dass es unkörperlich sein muss, im Gegensatz zur Stimme und dem Objekt selbst. 250 Der Laut weist auf das λέκτον hin, welches wir jedoch erst verstehen können, wenn in unserem Denken (λόγος) der Bezug zum konkreten Objekt hergestellt wird. Das λέκτον ist folglich eng an den λόγος gebunden. Es existiert zwischen dem Gedanken und der Sache, ist aber anders als die platonische Idee direkt an die sprachliche Äußerung gekoppelt. Durch die Trennung von Ausdrucksseite und Bedeutung und die differenzierte Aus‐ gestaltung letzterer erfährt die Sprache eine Abwertung. Da eine stimmliche Äußerung nicht mehr direkt auf das Objekt verweist, sondern auf das abstrakte λέκτον, zerfallen „die einheitlichen Leistungen der Sprache (…), wenn den Be‐ deutungen ein eigener ontologischer Status zugesprochen wird“ 251 . Die Stoa entwickelt ihre Position bezüglich der φύσει-θέσει-Theorien in Aus‐ einandersetzung mit den Skeptikern und den Epikureern. Im Gegensatz zur stoischen Sprachphilosophie hat die der Epikureer für die weitere sprachwis‐ senschaftliche Entwicklung nur eine geringe Bedeutung. 252 Die Stoa nimmt in der Diskussion letztlich eine Mittelposition ein: Die Wörter gelten als vom Menschen gesetzt; die namengebenden Menschen orientieren sich bei der Set‐ zung jedoch an der φύσις der Dinge und zwar in Form der Nachahmung. 7. Zusammenfassung der zentralen Fragestellungen 1. Die Entwicklung, die in der Sprachphilosophie vonstattengeht, betrifft die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Erscheinungsformen von Sprache, mit der ein sich wandelndes λόγος-Verständnis einhergeht. Bei den Vorsokratikern wird Sprache (λόγος) auf einer allgemeinen Ebene behandelt. Dies hat sich deutlich bei Heraklit gezeigt, der eine Analogie zwischen den Strukturen der Sprache, des Denkens und der Weltwirk‐ lichkeit annimmt. Sprache wird also als eine allgemeine „Erscheinungs‐ 7. Zusammenfassung der zentralen Fragestellungen 73 <?page no="74"?> 253 Coseriu, Geschichte, 33. form des Universums“ 253 gesehen. Sprache hat einen Wahrheitscharakter, wenn zwischen den drei Komponenten eine Analogie vorliegt; wird diese Analogie bezweifelt, verliert Sprache ihren Wert als Erkenntnismittel. Für Heraklit und Parmenides ist dies noch nicht anzunehmen, bei Platon zeigt sich eine Sensibilität für das Problem, was dazu führt, dass die Sprache als Mittel der Erkenntnis hinterfragt wird. Neben einer allgemeinen Ebene, auf der Sprache thematisiert wird, ent‐ wickelt sich v. a. bei Platon das Modell von der Sprache als Satz: Nicht mehr einzelnen Wörtern wird ein Wahrheitsgehalt zugeschrieben, son‐ dern Sätzen. Besteht zwischen dem ausgesagten Satz und dem tatsächli‐ chen Sachverhalt eine Analogie, so kann der Satz als ἀληθές bestimmt werden; liegt diese nicht vor, so ist die Aussage ψεῦδος. Heraklit hat die Kategorie der Wahrheit oder Falschheit von Sätzen noch nicht im Blick. Aristoteles fokussiert sich auf diese Erscheinungsform der Sprache und widmet sich weniger der Sprache im Allgemeinen und der Sprache als Wort. Er schreibt nur den Sätzen einen Wahrheits- oder Falschheitsgehalt zu. Wird die Sprache hauptsächlich auf Wortebene behandelt, so wird the‐ matisiert, ob ein Wort das Objekt, das es bezeichnet, wiedergibt bzw. ihm entspricht. 2. Die zuletzt genannte Erscheinungsform der Sprache wird zu einer Ange‐ legenheit, die die antike Sprachphilosophie fortwährend beschäftigt. Die Diskussion beinhaltet zum einen die Frage, ob das Verhältnis zwischen Wort und Sache als natürlich oder nicht-natürlich zu bestimmen ist. Die unterschiedlichen Ansichten werden im sog. φύσει-θέσει-Streit ausge‐ tragen, den Coseriu in drei Phasen unterteilt, die in der vorangegangenen Bearbeitung bereits erläutert wurden und lediglich noch einmal kurz zu‐ sammengefasst werden sollen. In einer ersten Phase, die die vorplatoni‐ sche Zeit beschreibt, wird der noch nicht immer als solcher wahrgenom‐ mene oder benannte Gegensatz mit den Begriffen φύσει-νόμῳ / ὁμολογίᾳ ausgedrückt. Platon spricht von συνθήκῃ. In diesem Stadium geht es um die Frage nach der Richtigkeit der Namen: Ist der Zusammenhang von Wort und Gegenstand als natürlich zu bestimmen, so dass es keine andere Möglichkeit gibt, das Ding zu bezeichnen? Die Antwort auf die Frage fällt einmal positiv aus, indem das Verhältnis von Wort und Gegenstand als natürlich bestimmt wird, einmal negativ, indem es als ‚durch Gesetz oder Übereinkunft vermittelt’ angesehen wird. Platon setzt neue Akzente, II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa 74 <?page no="75"?> 254 Vgl. Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, hg. v. Charles Bally und Albert Sechehaye unter Mitwirkung von Albert Riedlinger. Übersetzt von Herman Lommel. Mit einem Nachwort von Peter Ernst, Berlin, New York 3 2001, 77 ff. Einen Überblick über die weitere Entwicklung der Sprachphilosophie liefert Tilman Borsche (Hg.): Klassiker der Sprachphilosophie. Von Platon bis Noam Chomsky, München 1996. indem er, um das Verhältnis zwischen Wort und Sache zu bestimmen, die Idee einführt. Die nächste Phase, maßgeblich von Aristoteles geprägt, ar‐ beitet mit den Begriffen φύσει und κατὰ συνθήκην. Sie verschiebt die Fragestellung dahingehend, dass nicht mehr nach der Verhältnisbestim‐ mung von Lautgestalt und Gegenstand gefragt wird, sondern nach dem Verhältnis von der Gesamtheit des sprachlichen Zeichens und der Sache. Dies wird erst durch die von Aristoteles eingeführte Unterscheidung des sprachlichen Zeichens in die Ausdrucks- und Inhaltsseite möglich. Die eigentliche Streifrage gerät mit Aristoteles aus dem Blickfeld. In nach‐ aristotelischer Zeit wird dem φύσει-Begriff der θέσει-Begriff gegenüber gestellt. Auch hier wandelt sich die Fragestellung. Es geht nicht mehr allein um die Richtigkeit der Namen, sondern auch um die Entstehung der verschiedenen Sprachen. Die Vertreter der θέσει-These begründen ihre Theorie damit, dass dieselben Dinge in unterschiedlichen Sprachen andere Namen erhalten haben. Neben der Frage, wodurch die Zuordnung von Wort und Sache ihre Le‐ gitimation erhält, wird diskutiert, wie dieser Bezug zwischen Wort und Objekt zu denken ist. Die Vorsokratiker denken eine Einheit von Name und Sache, ein Bezug wird nicht reflektiert. Platon nimmt einen Bezug beider Komponenten an und schaltet zwischen diese die Idee. Aristoteles gliedert den Namen in Ausdrucks- und Inhaltsseite und setzt erst den gesamtsprachlichen Ausdruck in Verbindung zum Objekt. Für die weitere Entwicklung der Sprachphilosophie ist von besonderer Bedeu‐ tung: (1) Der λόγος-Begriff, der die Möglichkeit eröffnet, zwischen Sprache und Vernunft / Denken zu unterscheiden; damit entsteht das Bewusstsein, dass Zei‐ chen veränderlich sind und Sprache deshalb nicht der Wirklichkeit entspricht, wie dies anfänglich von Parmenides und Heraklit angenommen wird; (2) der Werkzeugcharakter der Sprache, den Platon herausstellt und den Karl Bühler in seinem Organonmodell aufgreift; (3) die Unterscheidung des sprachlichen Zei‐ chens in eine Ausdrucks- und Inhaltsseite, die Aristoteles gezielt herausarbeitet und die Ferdinand de Saussure mit den Begriffen des Signifikats und Signifi‐ kanten aufnimmt. 254 7. Zusammenfassung der zentralen Fragestellungen 75 <?page no="76"?> 1 Als Primärquelle für einen ersten Überblick zu Philon s. Eusebius von Caesarea: Kir‐ chengschichte. Übersetzung von Philipp Haeuser, durchgesehen von Hans A. Gärtner, hg. v. Heinrich Kraft, Darmstadt 5 2006, Zweites Buch, Kapitel 5 und 16-18. Als Einfüh‐ rung s.a. Sterling, Art. Philo, 1063-1070. 2 Die philonischen Schriften werden abgekürzt nach der Ausgabe von Leopold Cohn: Philo von Alexandria. Die Werke in deutscher Übersetzung. Band VII. Mit einem Sach‐ weiser zu Philo, hg. v. Leopold Cohn, Isaak Heinemann, Maximilian Adler u. a., Berlin 2 1964, 385. Zitate werden jeweils zuerst in ihrem griechischen Text angeführt. Dieser richtet sich nach folgender Edition: Philonis Alexandrini opera quae supersunt, hg. v. Leopold Cohn, Paul Wendland und Siegfried Reiter. Bd. I-VI, Berlin 1896-1915. Im An‐ schluss daran findet sich die deutsche Übersetzung. Soweit nicht anders gekenn‐ zeichnet, sind die Zitate der deutschen Übersetzung von Cohn entnommen. Der wich‐ tigste Bezugstext Conf § 9-14 ist eine eigene Übersetzung. III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria unter besonderer Berücksichtigung des Traktats De confusione linguarum 1. Vorbemerkungen Das Kapitel beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Schrift De confusione linguarum, in der Philon Fragen des Sprachverständnisses behandelt. Nach einer kurzen Einführung in die Forschungsliteratur zum philonischen Sprachver‐ ständnis erfolgt eine kritische Analyse von De confusione linguarum § 9-13. Sie beinhaltet eine Einordnung in das Gesamtwerk Philons, die Darstellung, warum Philon sich in diesem Traktat zur Auseinandersetzung mit dem Thema Sprache gezwungen sieht, eine Übersetzung der angegebenen Verse sowie eine Nach‐ zeichnung der Argumentation. Daran schließt sich die Untersuchung des phi‐ lonischen Sprachverständnisses an, die weitere Traktate heranzieht und fol‐ gende Leitfragen analysiert: Wie ist die Entstehung von Sprache zu denken? Wie funktioniert Sprache, welche Relationen zwischen Wort und Sache können ausgemacht werden? Welche Funktionen, Aufgaben und Ziele hat Sprache? Wo werden Grenzen von Sprache deutlich? Der vorliegende Teil der Arbeit kon‐ zentriert sich auf das philonische Sprachverständnis. Dabei muss weitgehend auf Fragen nach der Person Philons, seiner Herkunft, der Entstehung, Katego‐ risierung und Echtheit der Schriften, der allegorischen Auslegungsmethode, etc. verzichtet werden. 1 Am Ende der Ausführungen wird das philonische Sprach‐ verständnis im Rahmen der antiken Sprachphilosophie positioniert. 2 <?page no="77"?> 3 Klaus Otte: Das Sprachverständnis bei Philo von Alexandrien, Tübingen 1968 (BGBE 7), 1. 4 Vgl. Otte, Sprachverständnis, 2. 5 Vgl. Otte, Sprachverständnis, 45-77 (Sprachtheorie), 77-90 (Anthropologie), 90-104 (Kosmologie), 105-142 (Erkenntnistheorie und Logologie). 6 Vgl. Gertraut Kweta: Sprache, Erkennen und Schweigen in der Gedankenwelt des Philo von Alexandrien, Frankfurt a. M. 1996 (EHS 20 / 403), 54. 7 Vgl. Kweta, Sprache, 141-161. 2. Einführung in die Forschungsliteratur zum philonischen Sprachverständnis Für Philon liegen zur Sprache wenige Aufsätze und Monographien vor. Zunächst werden die beiden Monographien von Klaus Otte und Gertraut Kweta vorge‐ stellt, anschließend werden die kleineren Beiträge in chronologischer Reihen‐ folge behandelt. Ziel Klaus Ottes ist es, „unter Anwendung eines Analogieschlusses zwischen den Zeitgenossen Philo und Paulus das Sprachverständnis des letzteren zu ermitteln und auf diesem Wege zum Verständnis der Hermeneutik des Paulus beizu‐ tragen“ 3 . Der angestrebte (problematische) Analogieschluss wird nicht unter‐ nommen; Otte thematisiert, wie letztlich auch der Titel nahe legt, nur die Sprachauffassung Philons. In einem ersten ausführlichen Kapitel behandelt Otte den Zusammenhang von Sprachauffassung und Weltverständnis. Er betont, dass das philonische Sprachverständnis in einem Zusammenhang mit der Auslegung des Seins steht. 4 Im Anschluss an die Darstellung dieses Zusammenhangs stellt Otte die Sprachtheorie, die Anthropologie und die Kosmologie Philons dar. In den Analysen will er die Abhängigkeit von der Erkenntnistheorie Philons zeigen, welche im dritten Kapitel zusammen mit der Logologie als Grundlage der Hermeneutik dargestellt wird. 5 Den Traktat De confusione linguarum bezieht Otte in seine Arbeit nicht mit ein. Insgesamt ist die Arbeit, wie Kweta richtig feststellt, sprachhermeneutisch überzogen. 6 Dies wird dem Denken Philons nicht gerecht. Dennoch arbeitet Otte wichtige Aspekte des philonischen Sprachverständnisses heraus und zeigt den Zusammenhang von Sprache zur Logoslehre und zur Erkenntnistheorie auf. Gertraut Kweta widmet sich in ihrer äußerst komplexen Untersuchung nicht nur dem Phänomen der Sprache im engeren Sinne, sondern benutzt das Thema, wie Otte, als Schlüssel für eine Darstellung der philonischen Kosmologie, Anthro‐ pologie, Theologie sowie der Erkenntnislehre. Dem Thema der Sprache im en‐ geren Sinne sind lediglich Paragraph 3 und 4 im dritten Kapitel („Ursprung und Aufgabe der Sprache und die darein verschlungenen Probleme“) gewidmet. 7 Ein 2. Einführung in die Forschungsliteratur zum philonischen Sprachverständnis 77 <?page no="78"?> 8 Vgl. Kweta, Sprache, 43-83 (Logosproblematik), 85-105 (Kosmologie), 105-109 (Anth‐ ropologie), 223-278 (Erkenntnistheorie), 279-322 (Wissensproblematik), 323-362 (Lichtkonzept), 363-397 (Gottesproblematik). 9 David Winston: Aspects of Philo’s Linguistic Theory, in: SPhA III (1991), 109-125. 10 Vgl. Winston, Aspects, 109-117.122 f. 11 Vgl. Winston, Aspects, 119, insbesondere Fußnote 28. 12 Maren R. Niehoff: What is in a Name? Philo’s Mystical Philosophy of Language, in: JSQ 2 (1995), 220-252. 13 Vgl. Niehoff, Name, 227-234. 14 Vgl. Niehoff, Name, 234-243. 15 Vgl. Niehoff, Name, 243-250. wichtiges Verdienst von Kwetas Arbeit liegt darin, dass sie einige klassische Probleme der antiken Sprachphilosophie, nämlich vor allem die Frage nach dem Ursprung der Sprache und die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit (Abbildproblematik), darstellt. Die Auseinandersetzung mit dieser Arbeit ist von besonderem Interesse, weil Kweta sich umfassend mit den ein‐ zelnen Teilen der philonischen Philosophie befasst und diese Aspekte in die Erarbeitung des Sprachverständnisses einbezieht. 8 Kwetas Ansatz ist theore‐ tisch / sprachphilosophisch, weniger textbezogen. Auffallend ist, dass sie nur in geringem Umfang auf den Traktat Conf eingeht, von welchem ausgehend das philonische Sprachverständnis hier erarbeitet werden soll. David Winston beschäftigt sich in seinem Aufsatz „Aspects of Philo’s Linguistic Theory “ 9 mit der philonischen Theorie von der Entstehung der Sprache. Dabei liegt sein Fokus auf der Entstehung der Namen. Ausführlich behandelt er Adam und Mose in ihrer Funktion als Namengeber, 10 worauf noch näher einzugehen sein wird, u. a. weil Winston im Zuge dieser Ausführungen auf die Perikope der Sprachverwirrung und auf die philonische Auslegung in Conf zu sprechen kommt 11 . Maren R. Niehoff betrachtet in ihrem Aufsatz „What is in a Name? Philo’s Mys‐ tical Philosophy of Language“ 12 den mystischen Aspekt der Sprache bei Philon und geht folgender Fragestellung Philons nach: Wie kann ein Name tatsächlich die Substanz einer Idee oder eines Dinges wiedergeben? Sie untersucht dazu drei Allegorien, derer sich Philon bedient und die er auf den Schnittpunkt zwischen Name und Idee prüft: Die Allegorie des Wassers, 13 des Lichts 14 und der Dich‐ tung, 15 die Philon nutzt, um die Beziehung zwischen Sprache und Idee zu ver‐ deutlichen. Sie versucht herauszustellen, in welchem Verhältnis für Philon ein Name und die Substanz der Dinge stehen; im Weitesten soll dadurch auch das Verhältnis von Gott als Quelle der Sprache und der stimmlichen Äußerung des Menschen im konkreten Wort bestimmt werden. Hierfür übernimmt der III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 78 <?page no="79"?> 16 Vgl. Niehoff, Name, 221-226. 17 Niehoff, Name, 251. 18 Vgl. Niehoff, Name, 251 19 David Robertson: Word and Meaning in Ancient Alexandria. Theories of Language from Philo to Plotinus, Aldershot 2008. 20 Vgl. Robertson, Word, 10-14 (λόγος) und 14-20 (νοῦς). menschliche Geist eine Mittlerfunktion, indem er bestimmte Vorstellungen und Erkenntnisse in Worte fasst. Niehoff widmet sich in einem einführenden Teil den Kennzeichen der göttlichen und menschlichen Sprache und setzt sich, ähn‐ lich wie Winston, ausführlich mit der Entstehung und Bedeutung der Namen auseinander. 16 Abschließend fasst Niehoff ihre Ergebnisse prägnant zusammen: „Being a Divine emanation, language structures the universe and contains the essence of all things.” 17 Sprache ermöglicht von daher immer einen konkreten Bezug zu Gott und der Welt, ebenso wie einen Einblick in beide Bereiche. Sprache steht deshalb im Zusammenhang mit der Erkenntnis des Menschen. 18 David Robertson widmet sich in seiner Monographie „Word and Meaning in An‐ cient Alexandria. Theories of Language from Philo to Plotinus” 19 Sprachtheorien zwischen 50 v. Chr. und 300 n. Chr., die einen Bezug zu Alexandria haben. Er sieht die Notwendigkeit, die antike Philosophie stärker in Bezug zu den Kir‐ chenvätern zu setzen. Robertson stellt das Sprachverständnis von Philon, Cle‐ mens, Origenes und Plotin dar. Er verweist des Öfteren auf Kweta, die Mono‐ graphie Ottes bleibt unberücksichtigt. Es geht Robertson nicht um die Fragen nach Ursprung und Funktion von Sprache. Er untersucht das Verhältnis von sinnlich wahrnehmbarer Wirklichkeit und mit dem Verstand wahrzunehmender Wirklichkeit. Anschließend setzt er sich mit dem philonischen Verständnis von λόγος und νοῦς auseinander. 20 Damit liegen zum philonischen Sprachverständnis Untersuchungen vor, die un‐ terschiedliche Schwerpunkte setzen: Sprache als Seiendes, Namen, Entstehung oder Erkenntnis. In der folgenden Untersuchung können die jeweiligen Schwer‐ punkte der bereits vorhandenen wissenschaftlichen Literatur eingebracht werden; es soll nun versucht werden, das Sprachverständnis Philons anhand der Leitfragen eigenständig zu bearbeiten, systematisiert darzustellen und Philon im Rahmen der antiken Sprachphilosophie zu positionieren. 2. Einführung in die Forschungsliteratur zum philonischen Sprachverständnis 79 <?page no="80"?> 21 Eine Übersicht über die Werke Philons findet sich bei Eusebius, Kapitel 16-18 (s. Fuß‐ note 1). Eine kurze Charakterisitik aller philonischen Traktate liefert Jenny Morris: The Jewish Philosopher Philo, in: The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B. C. - A. D. 135), hg. v. Emil Schürer, Geza Vermes, Fergues Millar u. a., Edinburgh 1987 (III,2), 826-870. 22 Vgl. Sterling, Art. Philo, 1065-1068. Das Verhältnis von Fragen und Antworten zu Ge‐ nesis und Exodus und dem allegorischen Kommentar ist umstritten. Vgl. hierzu: Niehoff, Art. Philo, 1071. 23 Sterling, Art. Philo, 1068. 24 Niehoff, Art. Philo, 1071. So auch Zeller, Charis, 10 f. 25 Vgl. Niehoff, Art. Philo, 1070-1072. Bereits Edmund Stein: Die allegorische Exegese des Philo von Alexandreia, Gießen 1929 (BZAW 51), 29 stellt fest, dass die Allegorie bei Philon nie Selbstzweck ist, sondern dass eine religiös-ethische Dimension vorherr‐ schend ist. Gleichzeitig spricht sich Philon dagegen aus, dass die Heilige Schrift als Lehrbuch der Naturwissenschaft zu sehen ist, was beispielweise der Auffassung der Physiker entspricht. 3. Analyse von De confusione linguarum § 9 - 15 3.1 De confusione linguarum im Gesamtwerk Philons Das Sprachverständnis Philons wird ausgehend von dem Traktat Conf erar‐ beitet. Vorab ist der Traktat in das Gesamtwerk Philons einzuordnen. 21 Dieses gliedert sich in exegetische Kommentare, philosophische und apologetische Schriften. Conf ist Teil der Kommentare, die ihrerseits in drei Kategorien ein‐ geteilt werden: In ‚Fragen und Antworten zu Genesis und Exodus’ (beinhaltet nur in Armenisch überlieferte Schriften), ‚Erklärungen des Gesetzes’ und in den allegorischen Kommentar, zu dem Conf zu zählen ist. 22 Sterling nimmt an, dass die Kommentarreihe für „advanced students in Philo’s school or other Jewish exegetes“ 23 geschrieben wurde. Maren R. Niehoff differenziert zwischen der Le‐ serschaft von ‚Fragen und Antworten zu Genesis und Exodus’ und dem allego‐ rischen Kommentar: „[W]hile the Allegorical Commentary addresses specia‐ lized and highly educated readers, the Question and Answers aims at more primary education, perhaps of young students in the Jewish community.“ 24 Die prägnantesten und bedeutendsten Schriften des allegorischen Kommentars sind die drei Bücher Legum allegoriae. In ihnen wird das Vorgehen Philons, biblische Verse nach und nach in den Blick zu nehmen, einzelne Probleme und Fragestel‐ lungen herauszuarbeiten und allegorisch auszulegen, besonders deutlich. Ge‐ kennzeichnet ist das methodische Vorgehen durch Fragen und Antworten. Die Fragen ergeben sich aus der Versexegese, die Antworten bewegen sich auf der allegorischen, häufig auch ethischen Ebene. 25 Die Bedeutung des allegorischen Kommentars lässt sich mit Niehoff folgendermaßen formulieren: „(…) it consti‐ III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 80 <?page no="81"?> 26 Niehoff, Art. Philo, 1070. 27 Vgl. Peter Habermehl: Philon von Alexandria, in: Metzler Philosophen Lexikon. Von den Vorsokratikern bis zu den Neuen Philosophen. Dritte, aktualisierte und erweiterte Ausgabe, hg. v. Bernd Lutz, Stuttgart, Weimar 2003, 547. 28 Giuseppe Veltri: Art. Philo, in: RGG 4 6 (2008), 1287. 29 Vgl. Veltri, Art. Philo, 1287 f. tutes the first extant systematic inquiry into the book of Genesis, providing an in-depth analysis of each verse in light of its allegorical dimension as well as scholarly questions on the literal meaning.“ 26 Die Besonderheit des philonischen Denkens liegt darin, dass erstmals der Versuch unternommen wird, mit Hilfe der Philosophie die Texte des Alten Tes‐ taments zu erklären. 27 3.2 Das Thema ‚Sprache‘ in De confusione linguarum Der Titel des Traktats De confusione linguarum/ Περὶ συγχύσεως διαλέκτων legt nahe, dass das leitende Thema dieser Ausführungen die Sprache sei. Der Leser muss aber feststellen, dass es Philon in seiner Auslegung von Gen 11,1-9 nicht in erster Linie um Sprache geht, sondern dass er eine allegorische, im Wesent‐ lichen ethische Interpretation des atl. Textes vornimmt. Mit Hilfe der allegori‐ schen Methode gelingt es Philon, „Ungereimtheiten in der Bibel“ und „offen‐ sichtliche Anthropomorphismen ›richtig‹ erklären zu können“ 28 . Der übergeordnete thematische Zusammenhang, indem Philon seine Exegesen be‐ treibt, findet sich also in der ethischen Erklärung von Anthropomorphismen in der Gottesdarstellung. Philon liefert eine moralische Umwertung dieser Anth‐ ropomorphismen, wie dies auch in der alexandrinischen Homerexegese erfolgte. Sein Ziel ist es, Anthropomorphismen also solche herauszustellen und in einem ethischen Sinn zu erläutern, so dass dadurch jegliches negative Bild von Gott ausgeräumt wird. 29 Gott wird also nach der Interpretation Philons in Gen 11 nicht vorgeworfen, dass er Unfrieden stifte, etwa indem er die Sprachgemein‐ schaft der Menschen zerstöre; Gott haften vielmehr überhaupt keine negativen Aspekte an. Dies aufzuzeigen ist Philons übergeordnete Absicht, wenn er Gen 11 interpretiert; zugleich stellt er aber explizit heraus, dass der zentrale The‐ menkomplex für ihn nicht die Sprache ist. Wie er dies dem Leser vermittelt, wird im Folgenden aufgezeigt. In Conf § 183, am Ende seiner Ausführungen, beschreibt Philon seine Vorge‐ hensweise: Er will anhand von Ähnlichkeiten verschiedener Begriffe den Ter‐ minus σύγχυσις erklären, um anschließend aufzuzeigen, dass er sich nicht auf das Thema Sprache bezieht. Philon sucht nach Begriffen, mit denen sich der 3. Analyse von De confusione linguarum § 9 - 15 81 <?page no="82"?> 30 Vgl. Alex.Aphr., De mixtione 216,14 (SVF II,473). Eine Zusammenfassung der stoischen Lehre von den Verbindungsarten findet sich auch bei Lorenzo Scornaienchi: Sarx und Soma bei Paulus. Der Mensch zwischen Destruktivität und Konstruktivität, Göttingen 2008 (NTOA / StUNT 67), 190 f. 31 Vgl. Conf § 185. Ausdruck σύγχυσις vergleichen lässt, um seine eigentliche Bedeutung erfassen zu können. Mit den physikalischen Begriffen μίξις und κρᾶσις findet er die ge‐ suchten Ähnlichkeiten. Damit greift Philon auf die Lehre der Stoa von den un‐ terschiedlichen Verbindungsarten zurück. 30 Unter μίξις ist eine Mengung zu verstehen, die sich durch Conf § 185 als „σωμάτων διαφερόντων ἐστὶν οὐκ ἐν κόσμῳ παράθεσις“ (ein Nebeneinandersetzen verschiedener Körper ohne Ord‐ nung) näher beschreiben lässt. Sie bezieht sich lediglich auf trockene Dinge. Philon illustriert dies mit dem Bild, bei dem Menschen einen Haufen machen, indem sie verschiedene Nahrungsmittel wie Gerste, Weizen oder Kichererbsen neben- oder aufeinanderlegen. 31 Die κρᾶσις hingegen bezeichnet eine Mischung flüssiger Dinge. Sie ist nach Conf § 185 nicht als Mengung zu verstehen, „ἀλλὰ τῶν ἀνομοίων μερῶν εἰς ἄλληλα εἰσδυομένων δι’ ὅλων ἀντιπαρέκτασις, ἔτι δυναμένων ἐπιτεχνήσει τινὶ διακρίνεσθαι τῶν ποιοτήτων“ (sondern als ein Ineinanderwirkenlassen ungleicher Teile, die einander vollständig durch‐ dringen, jedoch so, dass die Qualitäten noch durch künstliches Verfahren ge‐ sondert werden können). So verhält es sich bei der Mischung von Wein und Wasser. Beide Flüssigkeiten durchdringen einander, können aber durch be‐ stimmte Prozesse wieder getrennt werden. In der Tatsache, dass die Trennung der einzelnen Elemente möglich ist, sieht Philon den Unterschied zur σύγχυσις. Für sie erscheint es unmöglich, die einzelnen Bestandteile erneut aufzulösen, sie verlieren während des Vorganges ihre ursprüngliche Qualität und bilden eine neue: σύγχυσις δέ ἐστι φθορὰ τῶν ἐξ ἀρχῆς ποιοτήτων πᾶσι τοῖς μέρεσιν ἀντιπαρεκτεινομένων εἰς διαφερούσης μιᾶς γένεσιν (…). συντεθείσης δὲ ἀμήχανον ἔτι τὰς ἐξ ὧν συνετέθη διακριθῆναι δυνάμεις, ἀλλ’ ἑκάστη μὲν αὐτῶν ἠφάνισται, πασῶν δ’ ἡ φθορὰ μίαν ἐξαίρετον ἄλλην ἐγέννησε δύναμιν. (Conf § 187) Die Synchesis (Zusammengießung) dagegen ist eine Auflösung der ursprünglichen Qualitäten durch Ineinanderwirken aller Teile zur Entstehung einer (von jenen) ver‐ schiedenen (Qualität) (…). Ist sie einmal zusammengesetzt, so können die Qualitäten, aus denen sie zusammengesetzt wurde, unmöglich gesondert werden; vielmehr ist eine jede einzelne verschwunden, und die Auflösung aller erzeugte eine andere, vor‐ zügliche Kraft. (Conf § 187) III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 82 <?page no="83"?> 32 Vgl. Conf § 188. 33 Vgl. Conf § 16. 34 Vgl. Wischmeyer, Kanon, 656. 35 Conf § 189. Nachdem Philon σύγχυσις weitgehend physikalisch erläutert hat, bezieht er seine Argumentation auf die Ethik. Mit der Zusammengießung droht Gott den unfrommen Gedanken an, sie zu vernichten. 32 Mit der Gesamtheit der un‐ frommen Gedanken dürften jene Missetaten gemeint sein, die Philon ab Conf § 15 als „κακῶν ἀμυθήτων καὶ μεγάλων συμφωνίαν“ (Symphonie der unsäglich großen und vielen Verbrechen) bezeichnet. Jedes schlechte Verhalten, wie Ruhmlosigkeit, Armut, Schwäche der Seele, Melancholie, hohes Alter oder der Verlust des Verstandes soll ausgerottet werden. 33 Darüber hinaus soll auch das zerstört werden, was aus den einzelnen Gedanken entsteht und was sich gegen die guten Tugenden richtet. Hierbei ist auf Conf § 22 und die Erläuterung des schwersten Übels Bezug zu nehmen: „βαρύτατον γὰρ κακῶν καὶ σχεδὸν ἀνίατον μόνον ἡ πάντων τῶν ψυχῆς μερῶν πρὸς τὸ ἁμαρτάνειν συνεργία“ (δenn das schwerste Übel und beinahe das einzig unheilbare ist die Überein‐ stimmung sämtlicher Teile der Seele zum Freveln). Es wird auch ersichtlich, dass Philon die ethische Interpretation der Sprachverwirrung durch den gesamten Traktat hinweg aufrechterhält. So kommt er in Conf § 188 noch einmal auf den Beginn seiner Ausführungen bezüglich der Tugenden und Laster aus Conf § 15-22 zurück. Im Folgenden (Conf § 189 f) bezieht Philon zu Gen 11,7 „συγχέωμεν ἐκεῖ αὐτῶν τὴν γλῶτταν, ἵνα μὴ ἀκούσωσιν ἕκαστος τὴν φωνὴν τοῦ πλησίον“ (wir wollen daselbst ihre Sprache verwirren, damit sie nicht verstehen einer die Sprache des anderen) Stellung. Er interpretiert den Vers unmittelbar auf der ethischen Ebene und reiht sich damit in den frühkaiserzeitlichen Diskurs ein, der eine ethische Komponente für wichtige Texte für unabdingbar hält. 34 Philon leitet dies durch „ὅπερ ἴσον ἐστὶ τούτῳ“ 35 ein. Unter der Sprachverwirrung ver‐ steht er Folgendes: κωφὸν ἕκαστον ἐργασώμεθα τῶν κακίας μερῶν, ὡς μήτε ἰδίαν ἀφιὲν <φωνὴν> μήτε συνηχοῦν ἑτέρῳ βλάβης αἴτιον γίνηται. (Conf § 189) [W]ir wollen sämtliche Teile der Schlechtigkeit stumm machen, damit sie weder durch das Hervorbringen der eigenen (Stimme), noch durch das Zusammentönen mit an‐ deren Schaden verursache[n]. (Conf § 189) Im Verlauf der Argumentation geht Philon auf seine Gegner ein, die in der Pe‐ rikope lediglich den wörtlichen Sinn sehen. Er fordert sie auf, neben dem Lite‐ ralsinn auch die allegorische Interpretation in den Blick zu nehmen, und stellt 3. Analyse von De confusione linguarum § 9 - 15 83 <?page no="84"?> 36 Vgl. Conf § 190 f und Maren R. Niehoff: Jewish Exegesis and Homeric Scholarship in Alexandria, Cambridge 2011, 135. heraus, dass mit dem Genesistext gerade nicht die Trennung in griechische und barbarische Sprachen gemeint sein kann. 36 Grund hierfür ist, dass die Trennung in unterschiedliche Sprachen mit einem treffenderen Wort als dem der σύγχυσις hätte beschrieben werden können: ταῦτα μὲν ἡμεῖς, οἱ δὲ τοῖς ἐμφανέσι καὶ προχείροις μόνον ἐπακολουθοῦντες οἴονται νυνὶ γένεσιν. διαλέκτων Ἑλληνικῶν τε καὶ βαρβάων ὑπογράφεσθαι∙ οὓς οὐκ ἂν αἰτιασάμενος - ἴσως γὰρ ἀληθεῖ καὶ αὐτοὶ χρῶνται λόγῳ - παρακαλέσαιμ' ἂν μὴ ἐπὶ τούτων στῆναι, μετελθεῖν δὲ ἐπὶ τὰς τροπικὰς ἀποδόσεις, νομίσαντας τὰ μὲν ῥητà τῶν χρησμῶν σκιάς τινας ὡσανεὶ σωμάτων εἶναι, τὰς δ' ἐμφαινομένας δυνάμεις τὰ ὑφεστῶτα ἀληθείᾳ πράγματα. δίδωσι μέντοι πρòς τοῦτ' ἀφορμὰς τò εἶδος τοῖς μὴ τυφλοῖς διάνοιαν ὁ νομοθέτης αὐτός, ὥσπερ ἀμέλει καὶ ἐφ' ὧν νῦν ἐστιν ὁ λόγος· τὸ γὰρ γινόμενον σύγχυσιν προσεῖπε. καίτοι γε εἰ διαλέκτων γένεσιν αὐτὸ μόνον ἐδήλου, κἂν ὄνομα εὐθυβολώτερον ἐπεφήμισεν ἀντὶ συγχύσεως διάκρισιν· οὐ γὰρ συγχεῖται τὰ τεμνόμενα, διακρίνεται δ’ ἔμπαλιν, καὶ ἔστιν οὐ μόνον ἐναντίον ὄνομα ὀνόματι, ἀλλ’ ἔργον ἔργῳ. σύγχυσις μὲν γάρ, ὡς ἔφην, ἐστὶ φθορὰ τῶν ἁπλῶν δυνάμεων εἰς συμπεφορημένης μιᾶς γένεσιν, διάκρισις δὲ ἑνὸς εἰς πλείω τομή, καθάπερ ἐπὶ γένους καὶ τῶν κατ’ αὐτὸ εἰδῶν ἔχειν συντέτευχεν. ὥστε εἰ μίαν οὖσαν φωνὴν ἐκέλευσε τέμνειν ὁ σοφὸς εἰς πλειόνων διαλέκτων τμήματα, προσεχεστέροις ἂν καὶ κυριωτέροις ἐχρήσατο τοῖς ὀνόμασι, τομὴν ἢ διανέμησιν ἢ διάκρισιν ἤ τι ὁμοιότροπον εἰπών, οὐ τὸ μαχόμενον αὐτοῖς, σύγχυσιν. ἀλλ’ ἔστιν ἡ σπουδὴ διαλῦσαι τὸ κακίας στῖφος (…). (Conf § 190-193) Die aber nur das Äußere und Obenaufliegende verfolgen, glauben, daß hiermit die Entstehung der griechischen und barbarischen Sprachen beschrieben sei. Ohne ihnen Vorwürfe zu machen, - vielleicht ist auch ihre Meinung richtig - möchte ich sie auffordern, nicht dabei stehen zu bleiben, sondern zu der figür‐ lichen Auslegung überzugehen in der Überzeugung, daß der Wortlaut der Got‐ tessprüche dem Schatten der Körper gleicht, die (durch den Wortlaut) veran‐ schaulichten Bedeutungen aber den tatsächlich vorhandenen Gegenständen. Die Veranlassung zu dieser Art (der Auslegung) gibt wohl den am Geiste nicht Geblendeten der Gesetzgeber selbst, wie offenbar auch bei der hier bespro‐ chenen Erzählung. Denn das Ereignis nannte er Synchesis, obwohl er es doch, hätte er nur die Entstehung der Sprachen darstellen wollen, mit einem treffenderen Ausdruck als Sonderung statt als Synchesis (Zusammengießung) bezeichnet hätte. Denn was geschieden wird, wird nicht zusammengegossen; im Gegenteil, es wird gesondert; der Gegensatz liegt nicht III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 84 <?page no="85"?> 37 Unter einem Lexem versteht man nach Theodor Lewandowski: Art. Lexem, in: Lingu‐ istisches Wörterbuch. Bd. 2, hg. v. ders., Heidelberg, Wiesbaden 6 1994 (UTB 1518), 659 ein „Element des Wortschatzes, das aus einem oder mehreren freien Morphemen (…) bestehen kann (…) [und] das eine relativ selbstständige lexikalische Bedeutung hat“. Ein Lexem kann „auf der semantischen Ebene interpretiert werden“ (Lewandowski, Art. Lexem, 659) und eignet sich daher als Terminus für die semantische Analyse. ‚Wort’ erweist sich als unzureichender Terminus, da eine Differenzierung bezüglich morpho‐ logischer, orthographischer oder syntaktischer Kriterien vorgenommen werden muss, um mit diesem Terminus arbeiten zu können. Die Kriterien eignen sich nicht, um die semantische Komponente zu fassen. Vgl. dazu Christine Römer: Art. Wort. Textlingu‐ istisch, in: LBH, hg. v. Oda Wischmeyer, Berlin 2009, 670 f, Karin Pittner: Art. Wort, in: Metzler Lexikon Sprache, hg. v. Helmut Glück, Stuttgart 4 2010, 768 und Theodor Le‐ wandowski: Art. Wort, in: Linguistisches Wörterbuch. Bd. 3, hg. v. ders., Heidelberg, Wiesbaden 6 1994 (UTB 1518), 1247-1249. nur in den Bezeichnungen, sondern auch in der Sache. Denn Synchysis ist, wie gesagt, die Auflösung der einfachen Kräfte zum Zwecke der Entstehung einer zusammenge‐ setzten, Sonderung aber ist die Scheidung des Einen in ein Vieles, wie es sich mit der Gattung und ihren Arten verhält. Hätte somit der Allweise die Scheidung der einen Sprache in mehrere Mundarten geboten, würde er einen näherkommenden, richtig‐ eren Namen gebraucht haben, von einer Scheidung, Teilung, Sonderung oder derar‐ tigem sprechend, nicht von der Synchysis, die jenen entgegengesetzt ist. Vielmehr ist sein Streben darauf gerichtet, die Schar der Untugend(en) aufzulösen (…). (Conf § 190-193) Das Grund, warum für Philon das Thema der Perikope der Sprachverwirrung nicht die Sprache selbst sein kann, sondern warum es sich hier eindeutig um Tugenden und Laster handeln muss, ist ein semantischer: Σύγχυσις ist nämlich nicht in erster Linie als Verwirrung, sondern als Zusammengießung zu ver‐ stehen. In ersterem Verständnis gebraucht Philon das Lexem 37 bis Conf § 138. Dabei ist zu bedenken, dass Philon zwar von Verwirrung spricht, in seiner Ar‐ gumentation jedoch darauf abzielt, dass es sich gerade nicht um die Verwirrung der Sprachen handelt, sondern im Wesentlichen um die Abschaffung der Laster. Ab Conf § 183 stellt er das Lexem in der Bedeutung ‚Verwirrung‘ in Frage und zeigt durch seine Argumentation, dass es ungeeignet ist, die Auflösung der menschlichen Sprachgemeinschaft zu beschreiben. Anschließend wird σύγχυσις neu definiert und im Verständnis von Zusammengießung verwendet, was der Semantik des Verbs συγχέω und seiner wörtlichen Bedeutung (σύν: zusammen / mit und χύσις: das Gießen / Ausgießen / Aufschütten) näher‐ 3. Analyse von De confusione linguarum § 9 - 15 85 <?page no="86"?> 86 III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria kommt. 38 Diese semantische Komponente unterstützt Philon dadurch, dass er σύγχυσις in den Zusammenhang mit μίξις und κρᾶσις stellt. Das Lexem ist nach der philonischen Argumentation nicht geeignet, die Entstehung ver schiedener Sprachen zu beschreiben. Dafür hätte es Philons Ansicht nach treffendere Begriffe, beispielsweise τομή (Teilung / Schneiden), διανέμησις (Zutei lung / Austeilung) oder διάκρισις (Trennung) gegeben. Auf der physikalischen Ebene kann es sich nicht um eine Verwirrung handeln, sondern muss eine ähnliche Bedeutung haben wie Mengung und Mischung. 39 Philon führt also in Conf § 183-195 neben ‚Verwirrung’ die weitere semantische Komponente des Lexems, ‚Zusammengießen‘, ein. Die Bedeutung entspricht nicht der der LXX . Hier kommt das Lexem neben Gen 11,9 noch an drei Stellen in 1 Sam (5,6.11; 14,20) vor und wird ausschließlich in der Bedeutung ‚Verderben / Ver wirrung / Schrecken’ verwendet, nicht in der physikalischen und ursprüng lichen Bedeutung der Zusammengießung. Philon greift hier vielmehr auf die stoische Lehre von den unterschiedlichen Verbindungsarten zurück. 40 Bei den Stoikern wird σύγχυσις in physikalischem Zusammenhang gebraucht und ver standen. 41 Philon selbst verwendet σύγχυσις 38mal in 14 unterschiedlichen Traktaten, wovon sich 16 Belege in Conf finden. Er benutzt das Lexem in un terschiedlichen Zusammenhängen und Bedeutungen, so dass keine einheitli - 38 Vgl. Langenscheidts Grosswörterbuch Griechisch. Teil I. Griechisch-Deutsch. Unter Berücksichtigung der Etymologie von Prof. Dr. Hermann Menge, Berlin 21 1970, 645 und Handwörterbuch der griechischen Sprache. Begründet von Franz Passow. Neu bearbei tet und zeitgemäss umgestaltet von Dr. Val. Chr. Fr. Rost, Dr. Fr. Palm, Dr. O. Kreussler, Prof. K. Keil, Dir. Ferd. Peter und Dr. G. E. Benseler. Zweiter Band, Zweite Abtheilung, Leipzig 1857, 1605. 39 So auch Cohn, vgl. Conf, Übersetzung Cohn, 147, Fußnote 6. Gerade die Ähnlichkeit der Begriffe betont Philon besonders, vgl. Conf § 183 f. 40 Vgl. Alex.Aphr., De mixtione 216,14-218,6 (SVF II,473), Übersetzung bei Long / Sedley, 48C. 41 Vgl. SVF IV,136 und Hermann Diels: Doxographi Graeci. Collegit Recensuit Prolegomenis Indicibusque Instruxit, Berlin 1879, 818. Die hier angeführten Stellen zur σύγχυσις bestätigen den physikalischen Gebrauch. <?page no="87"?> 3. Analyse von De confusione linguarum § 9 - 15 87 che Semantik vorliegt. 42 Am häufigsten wird es in ethischen Argumentationen gebraucht. 43 Die unterschiedliche Verwendung des Lexems bei Philon zeigt, dass hier keine Begriffsbildung stattgefunden hat. 44 Ein Begriff besteht aus 42 Σύγχυσις impliziert bei Philon häufig eine Komponente des Nicht-Geordnetseins, die sich auf unterschiedliche Bereiche erstrecken kann: In SpecLeg I § 329 beispielsweise wird σύγχυσις als Synonym für ἀταξία gebraucht, um die Falschheit eines Gedanken ganges zum Ausdruck zu bringen. Aet steht am deutlichsten in Verbindung zur Verwendung von σύγχυσις in Conf: In Aet § 6.79 ist das Lexem auf die Veränderung und Zerstörung der Welt bezogen. Die διαίρεσις (Trennung), die „ἀναίρεσις τῆς ἐπεχούσης ποιότητος“ (Beseitigung der do minierenden Qualitäten) und die σύγχυσις. Damit die Argumentation schlüssig ist, kann σύγχυσις hier, wie Philon dies auch in Conf zum Ausdruck bringt, keinesfalls als Trennung verstanden werden, weil sonst kein Unterschied zur διαίρεσις bestände. Vielmehr ist unter σύγχυσις zu verstehen, dass die einzelnen Bestandteile vermengt werden und eine neue Masse bilden. Auch von Plant § 3 her kann die Argumentation in Conf untermauert werden: Hier wird beschrieben, dass der Weltbildner die an sich ungeordnete, wirre Masse von der Unordnung zur Ordnung, vom Wirrsal zur Klärung führte. Wenn Philon die σύγχυσις als Gegensatz zur διάκρισις versteht, wird dadurch auch seine Argumentation in Conf untermauert. Denn was als Gegenpol zu ‚Trennung’ gesetzt ist, kann unmöglich selbst als Trennung zu verstehen sein. Dies harmoniert mit der Auffassung Philons, dass es in Gen 11,1-9 nicht um die Trennung der Ursprache gehen kann, sondern dass σύγχυσις für diese Aktion eine unzutreffende Bezeichnung ist, die von Beginn an auf einen an deren Sinn hinweist. 43 Philon gebraucht das Lexem σύγχυσις häufig im Zusammenhang mit ethischen Über legungen. Es eignet sich nicht nur dafür, theoretische Sachverhalte bzw. physikalische Vorgänge wie in Conf § 187 und in Aet § 6.79 zu beschreiben, sondern auch dazu, eine falsche Lebensordnung aufzuzeigen: In VitMos II § 277 liegt der Bezug zur Ethik darin, dass Menschen, in diesem Fall die Tempelwärter, zum Umsturz einer Lebensordnung aufrufen; in SpecLeg I § 120 wird eine Richtlinie dafür gegeben, wer Opfergaben zu sich nehmen darf. Es wird ein Kriterium aufgestellt, das allgemein gehalten ist: Diejenigen, die für den Empfang passend sind, dürfen Opfergaben genießen. Wenn dem nicht so ist, würde die Ordnung von der σύγχυσις verdrängt werden; nach Praem § 76 entsteht eine σύγχυσις, weil die Lebensordnung, in diesem Fall im Heiligtum, durcheinander gerät und sich die Menschen nicht mehr an die bestehenden Gesetze halten; auch in Praem § 143 ist die σύγχυσις (der Sinnesorgane) eine Folge der falschen Lebensord nung, die denen auferlegt wird, die nach Praem § 148 Gott gegenüber falsche Wege eingeschlagen haben; nach Mut § 148-150 führen Untugenden zur σύγχυσις, die all die erstrebenswerten Aspekte, die die Tugenden mit sich bringen, nicht aufzuweisen hat. Ziel dieser Darstellungen ist das Aufzeigen des Nutzens der Tugenden und die falsche Lebensordnung, die zu einer σύγχυσις führt. 44 Zur Entwicklung der Begriffsgeschichte s. Hans U. Gumbrecht: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, München 2006, 7-36. Gumbrecht zeichnet die Ent stehung der Begriffsgeschichte anhand verschiedener Wörterbücher (u. a. des Histori schen Wörterbuchs der Philosophie, des Wörterbuchs der Ästhetischen Grundbegriffe, des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft) nach. <?page no="88"?> 88 III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria „Wissenseinheiten“ 45 , die „komplexe Sachverhalte bündeln“ 46 ; er gibt logische Ordnungen und Beziehungen wieder und ist klar und eindeutig. 47 Dies trifft für die σύγχυσις bei Philon nicht zu. Das Lexem umfasst mehrere Sachverhalte, die sich auf unterschiedliche Themenbereiche (Mensch, Welt, Städte, Tugen den, Krieg, Gedanken, physikalische Vorgänge) beziehen, so dass mit σύγχυσις keine logische Ordnung wiedergegeben wird. Sie bündelt keine unabdingbar zusammenhängenden Phänomene und sie wird keinesfalls klar und eindeutig gebraucht. 48 Entscheidend ist, dass Philon in seiner Argumentation in Conf § 183 ff zu vermitteln versucht, dass σύγχυσις in der Bedeutung ‚Zusammengie ßung‘ insoweit als Begriff fungiert, um zu verdeutlichen, dass die Sprache nicht das eigentliche Thema ist; tatsächlich definiert Philon σύγχυσις dort, wo eine solche Festlegung seine Argumentation stützen kann, in einer entsprechenden Art. Wenn Philon in Conf § 187 σύγχυσις als „φθορὰ τῶν ἐξ ἀρχῆς ποιοτήτων πᾶσι τοῖς μέρεσιν ἀντιπαρεκτεινομένων εἰς διαφερούσης μιᾶς γένεσιν“ (Auf lösung der ursprünglichen Qualitäten durch ein Ineinanderwirken aller Teile zur Entstehung einer von jenen verschiedenen Qualität) beschreibt, definiert er σύγχυσις ad hoc als Begriff, weil dies für seine Argumentation zielführend ist. 49 Im Fall von Conf will Philon zeigen, dass es sich bei der σύγχυσις nicht um eine Verwirrung handeln kann und in Gen 11 ‚Sprache’ nicht das eigentliche Thema sein kann. Da Philon selbst in lediglich zwei seiner Schriften - in Conf und in Aet - von der physikalischen Bedeutung von σύγχυσις ausgeht, wird deutlich, dass diese Begründung konstruiert ist; hier zeigt sich nicht die übliche philonische Semantik, sondern die stoische Fassung. 45 Theodor Lewandowski: Art. Begriff, in: Linguistisches Wörterbuch. Bd. 1, hg. v. ders., Heidelberg, Wiesbaden 6 1994 (UTB 1518), 165. 46 Wischmeyer, Hermeneutik, 139. 47 Vgl. Lewandowski, Art. Begriff, 168. 48 Zu den unterschiedlichen Arten der Begriffsbildung vgl. Theodor Lewandowski: Art. Begriffsbildung, in: Linguistisches Wörterbuch. Bd. 1, hg. v. ders., Heidelberg, Wiesbaden 6 1994 (UTB 1518), 169. 49 Diese Vorgehensweise stellt auch Kweta bei Philon fest: „[S]o ergibt sich (…), daß Philo jeweils Vers für Vers über biblischen Texten reflektiert und dabei je und je auf bestimmte Themen stößt - wobei er über mögliche logisch-begriffliche oder etymologische Inbe zugsetzung bestimmte Philosopheme als Interpretamente für biblische Aussagen und Begriffe einsetzt -, daß Reflexionen zu bestimmten Themen oft über sein ganzes Werk verstreut sind. So kommt es zu Nuancenverschiebungen (…), ja bis zu widersprüchli chen Aussagen.“ (Kweta, Sprache, 32). <?page no="89"?> 3. Analyse von De confusione linguarum § 9 - 15 89 Indem Philon in Conf Laster und Tugenden als das eigentliche Thema des Pentateuchtextes herausgestellt, ordnet er die Sprache der Ethik nach. Dies zeigt sich auch zu Beginn des Traktats. Die philosophische Interpretation, von der Philon in Conf § 1 spricht, konkretisiert sich in einer ethischen: „σκεπτέον δὲ ἑξῆς οὐ παρέργως, ἃ περὶ τῆς τῶν διαλέκτων συγχύσεως φιλοσοφεῖ“ (es soll nunmehr sorgfältig erörtert werden, was er [der Gesetzgeber] durch die Erzählung von der Sprachverwirrung philosophisch zum Ausdruck bringen will). Grund für diese Argumentation Philons ist der Ausgangspunkt des jüdischen Denkens, dass Gott niemals unethisch handelt. Da es sich in Gen 11,1-9 aller dings um ein Strafhandeln Gottes und somit um ein unethisches Verhalten Gottes handeln müsste, kann nach Philon im Zentrum des Genesistextes nicht die Verwirrung / Trennung der menschlichen Sprache stehen. Aus diesem Denken heraus vertritt Philon die Ansicht, dass Sprache figural als Tugenden und Laster zu verstehen ist. 50 In Conf finden wir ein Beispiel für einen rationa listisch-theologischen Erklärungsversuch. Philon begründet also anhand zweier Aspekte seine ethische Auslegung des Textes und stellt dar, dass Sprache keinesfalls das eigentliche Themas des Ge nesistextes sein kann. Zum einen erfolgt dies durch die Analyse des Lexems σύγχυσις, das er in Conf als unzutreffend für die Trennung der menschlichen Sprachgemeinschaft bestimmt. Zum anderen durch die Aussage, die Argumen tation philosophisch angehen zu wollen. Er argumentiert also semantisch und philosophisch. Da Philon offensichtlich nicht daran interessiert ist, den atl. Text in Bezug auf das Thema ‚Sprache’ auszulegen, stellt sich die Frage, warum dieser Traktat dennoch herangezogen werden kann und soll, um das philonische Sprachver ständnis darzustellen. Grund hierfür ist, dass Philon in Conf § 9-13 Aussagen über Sprache trifft, obwohl er diese im weiteren Verlauf nicht zum zentralen Thema seiner Auslegung macht. Die genannten Paragraphen können als eine Vorabinformation vor der eigentlichen allegorischen Auslegung angesehen werden. Sie zeigen die Auseinandersetzung mit den Gegnern, die die Perikope des Turmbaus zu Babel unmittelbar auf Sprache beziehen. Deshalb sieht er sich aufgefordert, sich mit dieser, ihm vordergründig nicht zusagenden, Interpreta tion wenigstens in einigen Paragraphen auseinanderzusetzen und deutlich zu machen, dass dies für ihn nicht der zentrale Aspekt des Textes ist. 50 Vgl. Conf § 1. 3. 15.190. <?page no="90"?> 90 III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria Die Gegner Philons sind also der Grund, weshalb er sich in Conf § 9-13 über Sprache äußert, indem er ihre Argumentation anführt. 51 Deshalb soll diese Personengruppe ausführlich in den Blick genommen werden. Für ihre Charakteri sierung besonders aufschlussreich sind Conf § 2-3: οἱ μὲν δυσχεραίνοντες τῇ πατρίῳ πολιτείᾳ, ψόγον καὶ κατηγορίαν αἰεὶ τῶν νόμων μελετῶντες, τούτοις καὶ τοῖς παραπλησίοις ὡς ἂν ἐπιβάθραις τῆς ἀθεότητος αὐτῶν, οἱ δυσσεβεῖς, χρῶνται φάσκοντες· ἔτι νῦν σεμνηγορεῖτε περὶ τῶν διατεταγμένων ὡς τοὺς ἀληθείας κανόνας αὐτῆς περιεχόντων; ἰδοὺ γὰρ αἱ ἱεραὶ λεγόμεναι βίβλοι παρ’ ὑμῖν καὶ μύθους περιέχουσιν, ἐφ’ οἷς εἰώθατε γελᾶν, ὅταν ἄλλων διεξιόντων ἀκούητε. καίτοι τί δεῖ τοὺς πολλαχόθι τῆς νομοθεσίας ἐσπαρμένους ἀναλέγεσθαι ὥσπερ σχολὴν ἄγοντας καὶ ἐνευκαιροῦντας διαβολαῖς, ἀλλ’ οὐ μόνον τῶν ἐν χερσὶ καὶ παρὰ πόδας ὑπομιμνῄσκειν; (Conf § 2-3) Diejenigen, die Unwillen gegen die väterliche Verfassung bekunden und unablässig Tadel und Klage gegen die Gesetze im Munde führen, finden - die Verworfenen - in dieser Stelle, wie in anderen ähnlichen, einen Anlass zu ihrem gottlosen Treiben, indem sie sagen: Wollt ihr noch jetzt mit Ehrfurcht von den Satzungen sprechen, als hätten sie zur Richtschnur die Wahrheit selbst? Seht, die von euch als heilig bezeichneten Bücher enthalten Fabeln, über dergleichen ihr euch lustig zu machen pflegt, wenn ihr sie von anderen hört. Jedoch wozu - wie im müßigen Suchen nach verleumderischen Einwänden - Fabeln sammeln, die an verschiedenen Stellen der Gesetzgebung zerstreut sind, und nicht vielmehr nur das erwähnen, was man gleich zur Hand hat? (Conf § 2-3) In Conf § 2 werden die Gegner Philons als „οἱ μὲν δυσχεραίνοντες τῇ πατρίῳ πολιτείᾳ“ bezeichnet. Folglich können die Adressaten, gegen die sich diese Ausführungen richten, ebenfalls als Juden bestimmt werden; genauer als sol che, die die väterliche Verfassung, also die jüdische Überlieferung, in Frage stellen. Was aber lässt sich darüber hinaus über diesen Personenkreis aus sagen? Alexandria war das Zentrum der Homerforschung. Gebildete Juden hatten somit nicht nur Zugang zu den homerischen Epen, sondern versuch ten auch, das Verhältnis von homerischen und mosaischen Texten zu be stimmen. Für die Gegner Philons in Conf kann dieses Verhältnis als kritisch ausgemacht werden. Beiden Werken schreiben sie eine Bedeutung zu, wobei 51 Vgl. auch Winston, Aspects, 120. <?page no="91"?> 3. Analyse von De confusione linguarum § 9 - 15 91 dem mosaischen Text wohl ein höherer Stellenwert einzuräumen ist. 52 Der zuletzt genannte Aspekt zeigt erneut auf, dass es sich bei den Exegeten um jüdische Personen handeln muss. Den Griechen, die sich vor dem Kontakt mit dem Christentum nicht mit der Heiligen Schrift an sich, sondern vielmehr mit Bräuchen und Geschichte des Judentums auseinandergesetzt haben, kann wohl kaum eine Höherschätzung dieser Texte gegenüber den homerischen zugesprochen werden. 53 Von Conf § 2-3 aus lassen sich auf der einen Seite die Gegner Philons cha rakterisieren, auf der anderen Seite kann auch dargestellt werden, wie die jüdischen Gelehrten Philon einordnen: „Während er sie der Irreligiosität und der Verachtung der väterlichen Gebräuche beschuldigt, sehen sie ihn als einen Heuchler an, der die frappierende Ähnlichkeit zwischen Bibel und Epos ver drängt“ 54 . Die Gegner hingegen rühmen sich damit, dass sie ähnliche Passagen sowohl in Moseals auch in Homertexten wahrnehmen und zwischen mythischen und wahren Elementen in beiden Schriften differenzieren können. 55 Als Beispiel für eine Parallele zum Turmbau von Babel dient die Erzählung Homers von den Aloaden. 56 Hier versuchen die Söhne des Aloeus drei Hügel aufeinanderzutürmen, um den Himmel zu erreichen. Für ihr verwegenes Vor gehen wurden sie von Apollo getötet. 57 So wird in Conf § 3 deutlich, dass die jü dischen Apostaten davon ausgehen, dass die Heilige Schrift Fabeln bzw. Mythen 52 Vgl. Maren R. Niehoff: Philons Beitrag zur Kanonisierung der griechischen Bibel, in: Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Eve-Marie Becker und Stefan Scholz, Berlin, New York 2011, 332. Peder Borgen: Philo of Alexandria. An Exeget for his Time, Leiden, New York, u. a. 1997 (NT.S 86), 147 nimmt für Conf § 2 allerdings „persons from outside of Judaism“ an. 53 Vgl. Maren R. Niehoff: Jüdische Bibelexegese im Spiegel alexandrinischer Homerfor schung, in: BN 148 (2011), 23 und Niehoff, Jewish Exegesis, 80. Im gesamten Kapitel 2 „Critical Homeric Scholarship in the Fragments of Philo’s Anonymous Colleagues“ (75-129) thematisiert Niehoff ausführlich die Personengruppen, mit welchen sich Phi lon auseinandersetzt. So lassen sich für diese Gruppen Personen mit Kenntnissen in der Homerwissenschaft Alexandrias ausmachen (vgl. Conf § 2 f), aber auch solche, die im „Aristotelian milieu“ (95) verortet werden können. 54 Niehoff, Kanonisierung, 332 und Niehoff, Bibelexegese, 23 f. 55 Vgl. Niehoff, Kanonisierung, 332, Niehoff, Jewish Exegesis, 78. 82. 86 und Niehoff, Bibelexegese, 24.26 f. Hier zeigt Niehoff zugleich auf, dass die Gegner Philons sich in der Homerdiskussion Alexandriens verorten können. 56 Vgl. Hom. Od. XI, 314-315. In Conf § 6 ff wird deutlich, dass die Gegner Philons weitere sog. Fabeln kennen. Vgl. hierzu Niehoff, Jewish Exegesis, 87 ff. 57 Vgl. Conf § 4-5. In diesem Zusammenhang lässt Philo auch seine kosmologischen An sichten einfließen. <?page no="92"?> 92 III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria enthält. Für Philon hingegen ist die Schrift die Richtschnur der Wahrheit, 58 die keine mythischen Elemente enthalten kann. Es geht Philon dabei zwar um den ‚kritischen’ Wortlaut, nie aber um den Literalsinn. Wortlaut und Allegorese gehören für ihn zusammen. Für den Hörerkreis bzw. für die Adressaten der philonischen Überlegun gen ist also ein jüdisches Publikum anzunehmen. Diese legen im Gegensatz zu Philon ein kritisches Toraverständnis zu Grunde und besitzen die Fähig keit, Literatur, die aus unterschiedlichen Kulturen stammt, zueinander in Beziehung zu setzen. 59 Mit seinen Überlegungen in Conf § 2-3 wendet sich Philon gegen diesen Personenkreis, der die jüdische Überlieferung in Frage stellt und der durch den Vergleich der Mosesbücher mit homerischen Epen zu der Feststellung gelangt, dass beide Texte mythologische Elemente enthalten. Für Philon sind gerade literarische Mängel, die nicht den allgemeinen Stil kriterien unterliegen, ein Hinweis auf die göttliche Wahrheit der Texte. 60 Dass Philon diese Aspekte in seinen Ausführungen aufgreift, zeigt, dass Sprache in Alexandria ein zentrales Diskussionsthema war und dass unterschiedliche Positionen bezüglich des Verständnisses und des Umgangs mit Sprache vor lagen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Philon die vorherrschenden Ansichten aufgreift, thematisiert, gleichzeitig aber seine ei gene Position abgrenzt und sie zu begründen versucht. Philon setzt sich mit den Methoden seiner Gegner auseinander, was im Gegensatz dazu für den Verfasser des Aristeasbriefes nicht zutrifft, der allein auf die Gültigkeit der biblischen Texte verweist. 61 58 Vgl. Conf § 2 und Niehoff, Jewish Exegesis, 79. Vgl. zur Frage, welche Stellung Philon selbst hatte, ob er ein Synagogenlehrer war oder ob man aus den philonischen Schriften auf einen jüdischen Lehrbetrieb schließen kann Thomas Schmeller: Schulen im Neuen Testament? Zur Stellung des Urchristentums in der Bildungswelt seiner Zeit. Mit einem Beitrag von Christian Cebulj zur johanneischen Schule, Freiburg, Basel u. a. 2001 ( HBS 30), 43 f, der zu dem Ergebnis kommt, das beides für Philon nicht nachweisbar ist. 59 Vgl. Niehoff, Kanonisierung, 332. 60 Vgl. Niehoff, Kanonisierung, 331.334 f; vgl. Adam Kamesar: Philo and the Literary Quality of the Bible: A theoretical Aspect of the Problem, in: JJS 46 (1995), 55-68; dies stellt zugleich einen wichtigen Ausgangspunkt für die Überlegungen des Origenes dar, der diesen Gedanken Philos aufgreift; vgl. hierzu: Bernhard Neuschäfer: Origenes als Philo loge, Basel 1987 ( SBA ). 61 Vgl. Niehoff, Bibelexegese, 27. <?page no="93"?> 3. Analyse von De confusione linguarum § 9 - 15 93 Eine weitere Thematisierung der Hörerschaft findet sich in § 142-144: 62 τίς γὰρ τά γ’ οὕτως ἐμφανῆ καὶ περίοπτα καὶ τῶν λίαν ἐξεστηκότων ἀγνοεῖ; ἀλλὰ μὴ τὸ πρόχειρον τοῦτο καὶ κατημαξευμένον ἐν τοῖς ἱερωτάτοις χρησμοῖς ἀναγεγράφθαι <νομίσῃς>, ἀλλ’ ὅπερ ἀποκεκρυμμένον ἰχνηλατεῖται διὰ τῶν ἐμφανῶν ὀνομάτων. τί οὖν ἐστι τοῦτο; (Conf § 142-144) Wer weiß denn nicht, auch von den ganz Verblödeten, was so klar und augenscheinlich ist? Du darfst aber nicht (annehmen), daß in den heiligen Gottessprüchen diese ober flächliche und triviale (Lehre) aufgezeichnet sei, vielmehr (ist es) der verborgene Sinn, auf welchen die deutlichen Worte hinweisen. Was also ist damit gemeint? (Conf § 142-144) Hier begegnet eine Anspielung auf die Personen, die in dem Text nicht den tieferen Sinn sehen, der Philons Ansicht nach entschlüsselt werden muss. Den verborgenen Sinn will Philon durch seine allegorische Auslegung aufzeigen, was er mit dem Fragesatz in Conf § 144 einleitet. Der Text liefert eine ähnliche hermeneutische Reflexion wie Mk 4,10-13. Auch in Mk zeigt sich die Vorstel lung, dass ein Text, in diesem Fall das Gleichnis vom Sämann, nicht allein auf der wörtlichen Ebene verstanden werden kann. Sie reicht nicht aus, um den vollständigen Sinn zu erkennen. Hierfür ist die Auslegung in Mk 4,15 ff notwen dig, ebenso wie es für Philon neben dem leichtsinnigen (πρόχειρος) und dem trivialen (κατημαξευμένος) Sinn noch einen verborgenen (ἀποκεκρυμμένως) geben muss. Abschließend ist festzuhalten, dass Philon anhand zweier Aspekte seine ethische Auslegung des Textes begründet und somit darstellt, dass Sprache keinesfalls das eigentliche Themas des Genesistextes sein kann. Zum einen erfolgt dies durch die Analyse des Begriffs der σύγχυσις, den er in Conf als für die Trennung der menschlichen Sprachgemeinschaft unzutreffend bestimmt. Zum anderen bekräftigt Philon das durch die Aussage, die Argumentation phi losophisch angehen zu wollen. Der Traktat Conf eignet sich dennoch dafür, das philonische Sprachverständnis zu charakterisieren, weil Philon in Auseinander setzung mit seinen Kritikern eine schriftliche Reaktion auf die Sprachvorstel lungen seiner Zeit gibt. Damit liegt die Antwort auf die eingangs gestellte Frage, warum sich Philon in Conf über Sprache äußert, also in der Tatsache, dass Philon sich gegenüber seinen Gegnern zur Auseinandersetzung und zur eigenen Positionierung angeregt sieht. 62 Vgl. Niehoff, Jewish Exegesis, 117 f. <?page no="94"?> 94 III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria In Conf beschäftigt sich Philon hauptsächlich mit der allegorischen Aus legung der Perikope vom Turmbau zu Babel. Da Philon in Conf § 9-13 Aus sagen über Sprache tätigt, soll diese Texteinheit Gegenstand einer ausführlichen Analyse sein. Der Traktat in seiner Ganzheit ist dagegen nicht Bestandteil der Analyse. Die allegorische Interpretation des Genesistextes kann für die Herausarbeitung des philonische Sprachverständnisses weitgehend außer Acht gelassen werden. Die Analyse beginnt mit einer eigenen Übersetzung der angegebenen Verse, der eine inhaltliche Zusammenfassung folgt. Die Nachzeichnung der Argumen tation mündet in die Darstellung des Sprachverständnisses. 3.3 Übersetzung von De confusione linguarum § 9 - 15 (9) ὁ δ’ ἐγγυτέρω τἀληθοῦς προσάγων τὸν λόγον τὰ ἄλογα τῶν λογικῶν διέζευξεν, ὡς ἀνθρώποις μόνοις μαρτυρῆσαι τὸ ὁμόφωνον. ἔστι δέ, ὥς γέ φασι, καὶ τοῦτο μυθῶδες. καὶ μὴν τήν γε φωνῆς εἰς μυρίας διαλέκτων ἰδέας τομήν, ἣν καλεῖ γλώττης σύγχυσιν, ἐπὶ θεραπείᾳ λέγουσιν ἁμαρτημάτων συμβῆναι, ὡς μηκέτ’ ἀλλήλων ἀκροώμενοι κοινῇ συναδικῶσιν, ἀλλὰ τρόπον τινὰ [ἄλλοι] ἀλλήλοις κεκωφωμένοι *** κατὰ συμπράξεις ἐγχειρῶσι τοῖς αὐτοῖς. (10) τὸ δὲ οὐκ ἐπ’ ὠφελείᾳ φαίνεται συμβῆναι· καὶ γὰρ αὖθις οὐδὲν ἧττον κατὰ ἔθνη διῳκισμένων καὶ μὴ μιᾷ διαλέκτῳ χρωμένων γῆ καὶ θάλαττα πολλάκις ἀμυθήτων κακῶν ἐπληρώθη. οὐ γὰρ αἱ φωναί, ἀλλὰ αἱ ὁμότροποι τῆς ψυχῆς πρὸς τὸ ἁμαρτάνειν ζηλώσεις τοῦ συναδικεῖν αἴτιαι· (11) καὶ γὰρ οἱ ἐκτετμημένοι γλῶτταν νεύμασι καὶ βλέμμασι καὶ ταῖς ἄλλαις τοῦ σώματος σχέσεσι καὶ κινήσεσιν οὐχ ἧττον τῆς διὰ λόγων προφορᾶς ἃ ἂν θελήσωσιν ὑποσημαίνουσι· χωρὶς τοῦ καὶ ἔθνος ἓν πολλάκις οὐχ ὁμόφωνον μόνον ἀλλὰ καὶ ὁμόνομον καὶ ὁμοδίαιτον τοσοῦτον ἐπιβῆναι κακίας, ὥστε τοῖς ἀνθρώπων ἁπάντων ἁμαρτήμασιν ἰσοστάσια δύνασθαι πλημμελεῖν· (12) ἀπειρίᾳ τε διαλέκτων μυρίοι πρὸς τῶν ἐπιτιθεμένων οὐ προϊδόμενοι τὸ μέλλον προκατελήφθησαν, ὡς ἔμπαλιν ἐπιστήμῃ τοὺς ἐπικρεμασθέντας ἴσχυσαν φόβους τε καὶ κινδύνους ἀπώσασθαι· ὥστε λυσιτελὲς μᾶλλον ἢ βλαβερὸν εἶναι τὴν ἐν διαλέκτοις κοινωνίαν, ἐπεὶ καὶ μέχρι νῦν οἱ καθ’ ἑκάστην χώραν, καὶ μάλιστα τῶν αὐτοχθόνων, δι’ οὐδὲν οὕτως ὡς διὰ τὸ ὁμόγλωσσον ἀπαθεῖς κακῶν διατελοῦσι. <?page no="95"?> 3. Analyse von De confusione linguarum § 9 - 15 95 (13) κἂν εἰ μέντοι τις ἀνὴρ πλείους ἀναμάθοι διαλέκτους, εὐδόκιμος εὐθὺς παρὰ τοῖς ἐπισταμένοις ἐστὶν ὡς ἤδη φίλιος ὤν, οὐ βραχὺ γνώρισμα κοινωνίας ἐπιφερόμενος τὴν ἐν τοῖς ὀνόμασι | συνήθειαν, ἀφ’ ἧς τὸ ἀδεὲς εἰς τὸ μηδὲν ἀνήκεστον παθεῖν ἔοικε πεπορίσθαι. τί οὖν ὡς κακῶν αἴτιον τὸ ὁμόγλωττον ἐξ ἀνθρώπων ἠφάνιζε, δέον ὡς ὠφελιμώτατον ἱδρῦσθαι; (14) τοὺς δὴ ταῦτα συντιθέντας καὶ κακοτεχνοῦντας ἰδίᾳ μὲν διελέγξουσιν οἱ τὰς προχείρους ἀποδόσεις τῶν ἀεὶ ζητουμένων ἐκ τῆς φανερᾶς τῶν νόμων γραφῆς ἀφιλονείκως <ταμιευόμενοι>, οὐκ ἀντισοφιζόμενοί ποθεν, ἀλλ' ἑπόμενοι τῷ τῆς ἀκολουθίας εἱρμῷ προσπταίειν οὐκ ἐῶντι, ἀλλὰ κἄν, εἴ τινα ἐμποδὼν εἴη, ῥᾳδίως ἀναστέλλοντι, ὅπως αἱ τῶν λόγων διέξοδοι γίνωνται ἄπταιστοι. (15) φαμὲν τοίνυν ἐκ τοῦ “τὴν γῆν εἶναι πᾶσαν χεῖλος ἓν καὶ φωνὴν μίαν” κακῶν ἀμυθήτων καὶ μεγάλων συμφωνίαν δηλοῦσθαι, ὅσα τε πόλεις πόλεσι καὶ ἔθνεσιν ἔθνη καὶ χώραις χῶραι ἀντεπιφέρουσι, καὶ ὅσα μὴ μόνον εἰς ἑαυτοὺς ἀλλὰ καὶ εἰς τὸ θεῖον ἀσεβοῦσιν ἄνθρωποι· καίτοι ταῦτα πληθῶν ἐστιν ἀδικήματα. σκεπτόμεθα δ' ἡμεῖς καὶ ἐφ' ἑνὸς ἀνδρὸς τὸ ἀδιεξήγητον τῶν κακῶν πλῆθος, καὶ μάλισθ' ὅταν τὴν ἀνάρμοστον καὶ ἐκμελῆ καὶ ἄμουσον ἴσχῃ συμφωνίαν. (9) Er [Der Gesetzgeber] aber brachte die Rede näher an die Wahrheit und un terschied die sprachlosen / vernunftlosen Wesen von den sprachbegabten / ver nunftbegabten Wesen, so dass er allein den Menschen die Gleichsprachigkeit zuschrieb. Es ist aber, wie sie [die Kritiker] es jedenfalls sagen, auch diese Annahme sa genhaft / märchenhaft. Und gewiss sagt man / heißt es [allgemeine Auffassung], dass die Auflösung der Sprache in unzählige Arten von Mundarten / Dialekten, die man Verwirrung der Sprache nennt, zur Heilung / Abschaffung der Missetaten einen Beitrag leistet, damit sie [die Menschen] nicht mehr genau aufeinander hören und dann ge meinsam Unrecht tun, sondern dass sie gewissermaßen taub füreinander sind und daher nicht mehr durch gemeinsames Handeln die gleichen Dinge in An griff nehmen. (10) Das aber scheint nicht zum Nutzen geschehen zu sein. Denn obwohl (die Menschen) nun nach Volksstämmen getrennt siedelten und nicht eine einzige Sprache benutzen, wurden Erde und Meer wiederum oft mit unsäglichen Übeln angefüllt. Denn nicht die Sprachen, sondern die gleichartigen Neigungen der Seele zu sündigem Tun sind die Ursachen für das gemeinsame Unrechttun. <?page no="96"?> 96 III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria (11) Denn auch die, denen man die Zunge herausgeschnitten hat, deuten durch Nicken, Blicke und andere Haltungen und Bewegungen des Körpers an, was sie wollen, genauso wie andere durch den Ausdruck der Sprache. Abgesehen davon begehe oft sogar ein einziges Volk, das nicht nur eine (gemeinsame) Sprache hat, sondern auch gleiches Recht und gleiche Lebensweise hat, ein so großes Maß an Übeln, dass es Fehler begehen kann, die den Fehlern aller (anderen) Menschen gleichwertig sind. (12) Unzählige Menschen wurden durch die Unkenntnis der Sprachen vernichtet, weil sie das Zukünftige / den Plan ihrer Angreifer nicht vorhersehen konnten, während sie umgekehrt durch die Kenntnis (der Sprachen) die dro henden Schrecken und Gefahren abwehren konnten. Deshalb sei die Gemeinschaft der Sprachen eher nützlich als schädlich, da ja auch bis jetzt die Bewohner des Landes, besonders unter den Einheimischen, durch nichts so sehr wie durch die gemeinsame Sprache unversehrt bleiben von Übeln. (13) Und wenn freilich irgendein Mann mehrere Sprachen erlernen würde, ist er alsbald bei denen, die diese Sprache beherrschen, akzeptiert, als wäre er schon ein Freund, und als ein nicht geringes Kennzeichen der Gemeinschaft bringt er Vertrautheit mit den Begriffen / der Ausdrucksweise mit, durch die er sich Sicherheit davor verschafft zu haben scheint, dass er eine schlimme Erfahrung macht. Warum also ließ er [Gott] die Gleichsprachigkeit unter den Menschen als Ur sache der Übel verschwinden, obwohl es nötig gewesen wäre, sie als etwas sehr Nützliches zu stärken? (14) Diejenigen also, die diese Kritikpunkte aufschreiben und auf schlechte Weise vertreten, werden von denjenigen auf ihre besondere Weise widerlegt werden, die die naheliegenden Erklärungen der jeweils aufgeworfenen Fragen aus dem offenkundigen Wortlaut der Schrift ohne Streit in schlichter Weise <zu geben pflegen>; dabei argumentieren sie nicht auf künstliche Weise mit irgend einem Einfall dagegen, sondern lassen sich von der folgerichtigen Verknüpfung (der Erzählung) leiten, die keinen Anstoß erlaubt, sondern auch, wenn etwas schwierig sein sollte, es leicht wieder richtigstellen könnte, damit die Worte durchgängig so lauten, dass sie keinen Anstoß erregen können. <?page no="97"?> 3. Analyse von De confusione linguarum § 9 - 15 97 (15) Wir behaupten nun also, dass mit den Worten „die ganze Erde sei ein Mund und eine Sprache“ das Zusammenspiel / Zusammenklingen sowohl aller unsäglichen, großen Übeltaten gemeint ist, die Staaten gegen Staaten, Völker gegen Völker und Länder gegen Länder begehen, als auch all der Sünden, die die Menschen nicht nur sich selbst antun, sondern auch gegen das Göttliche richten. Dies sind nun indessen die Unrechtstaten der Massen. Wir untersuchen aber auch bei einem Einzelnen die unnennbare Fülle der Übel, besonders wenn er von dem unharmonischen, misstönenden und unmusischen ‚Zusammen klingen‘ befallen ist. 3.4 Nachzeichnung der Argumentation von De confusione linguarum § 9 - 15 Im Folgenden wird die Argumentation Philons, in der er sich mit der Kritik der jüdischen Apostaten auseinandersetzt, dargestellt: § 9 Philon stellt heraus, dass der Gesetzgeber zwischen sprach-/ vernunftbegabten und sprach-/ vernunftlosen Wesen unterschieden hat. Folglich: Eine gemeinsame Sprache können nur die Wesen haben, die sprach- und vernunftbegabt sind; das sind nach All II § 14 f allein die Menschen. Die Gegner Philons lehnen diese Ansicht ab und bezeichnen es als μυθῶδες, dass es eine Gleichsprachigkeit der Menschen gegeben hat. Sie rechnen den Text des Turmbaus zu Babel zu den mythischen, unwahren Texten. Darstellung der allgemeinen Auffassung bezüglich des Genesistextes: Die Kritiker sagen: Über den Text „Turmbau zu Babel“ sagt man doch, dass die Auflösung der gemeinsamen Sprache in Einzelsprachen dazu beitragen sollte, schlechte Taten zu verhindern, weil Sprache so nicht mehr als Medium, sich über Schlechtes auszutauschen, fungieren kann. § 10 Referat Philons über die Ansichten der Gegner. Sie sind folgender Ansicht: Der Text kann ja keine Wahrheit enthalten, weil der Plan, mit der Sprach verwirrung die menschlichen Übel zu beseitigen, gescheitert ist, weil es diese auch nach der Sprachverwirrung noch gibt. Grund hierfür ist die Tatsache, dass die Ursache der schlechten menschlichen Taten nicht die Sprache ist, sondern die gleichen seelischen Neigungen zum Bösen. <?page no="98"?> 98 III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria § 11 Fortführung der Begründung, dass nicht die Sprache Ursache der Übel ist, weil neben der Sprache auch durch Gestik und Mimik Schlechtes zum Ausdruck gebracht werden kann. Ein weiterer Grund ist, dass ein Volk nicht nur durch eine gemeinsame Spra che, sondern ebenso durch Konventionen in Recht- und Lebensanschauungen gekennzeichnet ist und dass auch dadurch Übel entstehen können. § 12 Aufzeigen des Nutzens von Sprache: Gemeinsame Verständigung ermöglicht Schutz vor Gefahren, z. B. bei Angriffen von Eindringlingen. Feststellung, dass die gemeinsame Sprache nach Ansicht der Kritiker mehr nützliche Aspekte hatte als schädliche. § 13 Erneute Darstellung positiver Funktionen von Sprache: Sprache schafft Ge meinschaft und Zusammengehörigkeit; wer die gleiche Sprache spricht, wird als Freund angesehen; Sprache vermittelt ein Gefühl der Sicherheit. Zusammenfassender Vorwurf der Gegner: Warum hat Gott die Sprachgemein schaft aufgelöst, wenn sie doch all diese positiven Funktionen zu verzeichnen hatte? § 14 f Philons Ansicht nach ist die wörtliche Lesart, die Unstimmigkeiten aus dem Weg geht, die einfache Lösung. Sie kann von der Lesart, die diesen Schwierig keiten nicht aus dem Weg geht, leicht widerlegt werden. Eine solche Argu mentation sieht Philon in der allegorischen Interpretation gegeben. Mit dieser beginnt er in § 15. In Conf § 10-13 beschäftigt Philon sich mit der Ansicht seiner Gegner. Er macht zwar deutlich, dass es ihm bei seiner Auslegung des Textes nicht vor rangig um Sprache geht, stellt aber dennoch sehr ausführlich die Argumente der jüdischen Kritiker dar. Die Paragraphen zeigen Philons große argumen tative Fähigkeit: Es gelingt ihm, seinen Lesern essentielle Funktionen von Sprache ‚nebenbei‘ mitzuteilen. Er stellt sie nicht in den Vordergrund seiner Analyse des Genesistextes, wiederholt aber mehrfach die Ansicht der Gegner, dass eine gemeinsame Sprache aller Menschen mehr nützliche als schädliche Aspekte hat. Philon widerspricht dem nicht. Vielmehr macht er seinem Pu blikum deutlich: ‚Natürlich hat Sprache all diese positiven Funktionen. Das bestreitet niemand. Es ist aber nicht notwendig, das alles anzuführen, um zu zeigen, dass es sich bei dem Text um einen märchenhaften Text handelt. Es geht nämlich in diesem Text überhaupt nicht um Sprache, sondern…‘ Philon kritisiert die Ansicht seiner Gegner, die Erzählung vom Turmbau zu Babel als märchenhaften und unwahren Texten zu verstehen, nicht aber ihre Argumente bezüglich der Funktionen von Sprache. Das wird sich v. a. dadurch zeigen, dass Philon die zentralen Aspekte von Sprache, die er hier in der Argumentation <?page no="99"?> 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 99 der Gegner erstmals und zusammenfassend benennt, in Conf und in anderen Traktaten immer wieder aufgreift und so bestätigt. Deshalb sind in die Unter suchung im weiteren Verlauf zahlreiche weitere Paragraphen als Belegstellen herangezogen. 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon Philon nennt zu Beginn seines Traktats wichtige Funktionen von Sprache. Dies gibt Anlass genug, zu untersuchen, welche positiven Eigenschaften von Sprache Philon an dieser Stelle explizit wiedergibt und seinem Publikum mitteilt. Dabei kann zwischen Funktionen und den sich daraus ergebenden Aufgaben und Zie len der Sprache nicht klar unterschieden werden, weil die einzelnen Elemente einander bedingen. So resultieren aus den Funktionen der Sprache Aufgaben für die Menschen. 4.1 Entstehung und Ursache der Sprache Es finden sich in Conf nur wenige Aussagen über die Entstehung der Sprache. Philons Interpretation stützt sich auf Gen 11,8 f. Die Zerstreuung der Sprach gemeinschaft durch Gott beinhaltet keine explizite Aussage darüber, dass Gott die Sprache per se auch erschaffen hat. Erst in Conf § 123 und Conf § 126 f gibt Philon Auskunft über die Ursache der Gedanken und der Sinnlichkeit und kommt in diesem Zusammenhang auch auf die Sprache und das Sprachorgan zu sprechen: τῶν δ’ ἀνοσίων ἕκαστος διάνοιαν μὲν ἡγεῖται χαρίζεσθαι ἑαυτῷ τάς τε καταλήψεις καὶ διανοήσεις, ὀφθαλμοὺς δὲ τὸ βλέπειν καὶ ἀκούειν ὦτα καὶ μυκτῆρας ὀσφραίνεσθαι, καὶ τὰς ἄλλας αἰσθήσεις τὰ οἰκεῖα ἑαυταῖς, ἔτι μέντοι καὶ τὰ φωνῆς ὄργανα τὸ λέγειν. (…) τούτων δὲ τί | ἂν γένοιτο ἐπιληπτότερον ἢ μᾶλλον ὑπὸ τῆς ἀληθείας ἐλεγχόμενον; (…) καὶ μὴν σφαλλομένων γε τῶν καθ’ ἡμᾶς αὐτοὺς περί τε νοῦν καὶ αἴσθησιν κριτηρίων ἀνάγκη τἀκόλουθον ὁμολογεῖν, ὅτι ὁ θεὸς τῷ μὲν τὰς ἐννοίας, τῇ δὲ τὰς ἀντιλήψεις ἐπομβρεῖ, καὶ ἔστιν οὐ τῶν καθ’ ἡμᾶς μερῶν χάρις τὰ γινόμενα, ἀλλὰ τοῦ δι’ ὃν καὶ ἡμεῖς γεγόναμεν δωρεαὶ πᾶσαι. (Conf § 123.126.127) Ein jeder Gottlose glaubt nämlich, daß sein eigener Geist ihm die Vorstellungen und Gedanken gewähre; die Augen aber das Sehen, die Ohren das Hören, die Na senlöcher das Riechen, sowie die anderen Sinneswerkzeuge, was ihnen zukommt, sodann das Sprachorgan, das Sprechen; (…) Gibt es aber etwas, was größeren Tadel verdient oder von der Wahrheit stärker widerlegt wird? (…) Und da eben die Er - <?page no="100"?> 100 III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria kenntnismittel des Geistes wie der Sinnlichkeit, soweit es auf uns selbst ankommt, versagen, muß man folgerichtig zugeben, daß Gott jenem die Gedanken und dieser die Vorstellungen zuströmen läßt, und daß das Gewordene kein Geschenk unserer Organe, sondern daß alles eine Gabe dessen sei, durch den auch wir erschaffen sind. (Conf § 123.126.127) Auch in Conf § 40 und Conf § 137 verweist Philon auf die Schöpferkraft Gottes, indem er von Gott als demjenigen spricht, dem allein das Wort unterliegt und die Kraft Gottes als solche bezeichnet, durch die alles gegründet und geordnet wurde. Nach den wenigen Aussagen in Conf ist anzunehmen, dass die Sprache und das Sprachorgan auf Gott zurückzuführen sind. Auch Som I § 103 bestätigt diese Ansicht, indem die Sprache (λόγος) als die schönste Gabe (δώρημα κάλλιστον), die Gott dem Menschen gegeben hat, bezeichnet wird. Zieht man weitere phi lonische Traktate heran, ergibt sich ein differenzierteres Bild, so dass in den philonischen Schriften zwei unterschiedliche Aspekte über den Ursprung der Sprache ausgemacht werden können: (1) Das Sprachvermögen als ein Geschenk Gottes, das dem Menschen anvertraut wurde und (2) Sprache als Schöpfung des Menschen. (1) Neben den Paragraphen in Conf und Som I wird Gott in Sacr § 97, Her § 106 f und Her § 302 als Geber der Sprache dargestellt: 63 μὴ δόντος γὰρ οὐχ ἕξεις, ἐπεὶ πάντα αὐτοῦ κτήματα, καὶ τὰ ἐκτὸς καὶ τὸ σῶμα καὶ ἡ αἴσθησις καὶ ὁ λόγος καὶ ὁ νοῦς καὶ αἱ πάντων ἐνέργειαι καὶ οὐ σὺ μόνος ἀλλὰ καὶ ὅδε ὁ κόσμος· (…). (Sacr § 97) Wenn er nämlich nicht gab, so wirst du nicht besitzen, da alles sein Eigentum ist, so wohl das Aeußere als auch der Körper und die Sinnlichkeit und die Sprache und der Geist und deren aller Kräfte, und nicht nur du allein, sondern auch diese Welt. (Sacr § 97-98) Anders formuliert liefert Philon in Her die gleiche Auffassung: παρακατέθετο δέ σοι αὐτῷ ψυχήν, λόγον, αἴσθησιν ὁ ζῳοπλάστης (…). (Her § 106) Anvertraut hat dir der Bildner alles Lebenden die Seele, die Sprache, die Sinne (…). (Her § 106) 63 So auch in Sir 17,6: „διαβούλιον καὶ γλῶσσαν καὶ ὀφθαλμούς, ὦτα καὶ καρδίαν ἔδωκεν διανοεῖσθαι αὐτοῖς“ (Er gab ihnen Verstand und Zunge / Sprache und Augen und Ohren und ein Herz zum Denken). <?page no="101"?> 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 101 Weil Gott dem Menschen die Sprache von Geburt an gab, 64 ist und bleibt sie Gottes Eigentum. Auch wo die φύσις als Ursprung der Sprache genannt wird, ist hinter ihr Gott zu denken. 65 Diese Ansicht bringt nach Kweta eine Abhängigkeit des Menschen von Gott mit sich. 66 Gott kann die Sprachfähigkeit einschränken, indem er die Zunge eines Menschen lähmt, seine Gedanken oder die gemein same Sprache der Menschen verwirrt. 67 Eine mythische Entstehung der Sprache beschreibt Philon in Plant. Sie stellt Gott nach einem Gespräch mit einem Propheten ebenfalls als Schöpfer der Spra che heraus, dem ewiges Lob zukommen soll: τὸν σύμπαντα κόσμον ὁ ποιητὴς ἐτελεσφόρησεν, ἑνὸς τῶν ὑποφητῶν ἐπύθετο, εἴ τι ποθεῖ μὴ γενόμενον τῶν ὅσα κατὰ γῆς καὶ καθ’ ὕδατος ἢ ὅσα κατὰ τὴν μετάρσιον ἀέρος ἢ τὴν ἐσχάτην τοῦ παντὸς φύσιν οὐρανοῦ γέγονεν. ὁ δὲ ἀπεκρίνατο τέλεια μὲν καὶ πλήρη πὰντα διὰ πάντων εἶναι, ἓν δὲ μόνον ζητεῖν, τὸν ἐπαινέτην αὐτῶν λόγον, (…). ἀκούσαντα δὲ τὸν πατέρα τοῦ παντὸς τὸ λεχθὲν ἐπαινέσαι, καὶ οὐκ εἰς μακρὰν τὸ πάμμουσον καὶ ὑμνῳδὸν ἀναφανῆναι γένος (…). τὸ εὐχάριστον, τοῦτο ἀεὶ καὶ πανταχοῦ μελετῶμεν διὰ φωνῆς καὶ διὰ γραμμάτων ἀστείων καὶ μηδὲποτε ἐπιλείπωμεν μήτε λόγους ἐγκωμιαστικοὺς μήτε ποιήματα συντιθέντες, ἵνα καὶ ἐμμελῶς καὶ χωρὶς μέλους καὶ καθ’ ἑκατέραν φωνῆς ἰδέαν, ᾗ τὸ λέγειν καὶ τὸ ᾄδειν ἀποκεκλήρωται, ὅ τε κοσμοποιὸς καὶ ὁ κόσμος γεραίρηται, ‚ὁ μέν’, ὡς ἔφη τις | ‚ἄριστος τῶν αἰτίων, ὁ δὲ τελειότατος τῶν γεγονότων’. (Plant § 127-129.131) Als der Schöpfer den ganzen Kosmos zur Vollendung gebracht hatte, da fragte er einen seiner Propheten, ob er etwas vermisse, das nicht entstanden sei - unter allen Wesen auf der Erde, im Wasser, in Lufthöhen oder im ganzen Himmelsraum am äu ßersten Rande der Schöpfung. Und dieser antwortete: alles sei vollkommen lückenlos; nur eins vermisse er: das Wort, das das Loblied aller verkünde (…) Als der Allvater dieses hörte, habe er den Ausspruch gelobt, und nach kurzer Zeit sei das kund- und sangesfreudige Geschlecht erschienen. (…) So wollen wir uns ihr [der Dankbarkeit] immer und überall widmen, durch das gesprochene Wort und durch gute Schriften, und auch nie versäumen, Lobreden und Loblieder zu verfassen, auf daß mit und ohne Sangesweise und durch die beiden Betätigungen der Stimme, der das Reden und das Singen gewährt ist, der Weltschöpfer und die Welt geehrt werde, jener, wie man gesagt hat, der beste der Urheber, diese das vollkommenste der gewordenen Wesen. (Plant § 127-129.131; i. O. z. T. gesperrt) 64 Vgl. Sacr § 73. 65 Vgl. Sacr § 98: „μυρία γὰρ ἡμῖν ἡ φύσις ἐπιβάλλοντα.“ (Denn die Natur hat uns unzählig viel geschenkt.), vgl. Her § 302: „τὸ δὲ μέγιστον ἀγαθὸν ἀνθρώπῳ δωρηθὲν ὑπὸ φύσεως, τὸν λόγον“ (die Sprache aber, das wertvollste Gut, das dem Menschen von Natur ge schenkt wurde). 66 Vgl. Kweta, Sprache, 130. 67 Vgl. Conf § 8 f. <?page no="102"?> 102 III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria Auch in der griechisch-römischen Literatur findet sich ein Mythos zur Ent stehung der Sprache. Er steht bei Hesiod im Zusammenhang mit dem Pandora mythos: Nach dem Willen von Zeus soll Pandora wie ein menschliches Wesen erscheinen. Es müssen ihr zwei wesentliche Attribute beigegeben werden, da mit dies möglich erscheint: Die menschliche Stimme und Stärke. 68 Die Stimme wird hier - wie der λὸγος - als wesentliches Kennzeichen der Menschen be stimmt. (2) Die zweite Möglichkeit für die Entstehung der Sprache, die sich aus den philonischen Schriften ergibt, ist, die Sprache als Schöpfung des Menschen zu sehen. Für Philon ist dies unabdingbar, da die Sprache vom Menschen gebraucht wird. Er stellt in seinen Traktaten drei verschiedene Theorien über den Ur sprung der Sprache durch den Menschen dar. Sie werden nicht zueinander in Bezug gesetzt und problematisiert, sondern stehen weitgehend unreflektiert nebeneinander. 69 Die erste ‚Theorie’ spricht die Schöpfung der Sprache und der Namen Adam zu, dem ersten und weisesten Menschen: ἐκεῖνος δ’ ὁ πρῶτος ἄνθρωπος ὁ γηγενής, ὁ παντὸς τοῦ γένους ἡμῶν ἀρχηγέτης, ἑκάτερον ἄριστος ψυχήν τε καὶ σῶμα γεγενῆσθαί μοι δοκεῖ καὶ μακρῷ τινι τοὺς ἔπειτα διενεγκεῖν κατὰ τὰς ἐν ἀμφοτέροις ὑπερβολάς. (Op § 136) Jener erste Mensch aber, der erdgeborene, der Stammvater unseres ganzen Ge schlechts, war, wie mir scheint, der vorzüglichste Mensch, sowohl hinsichtlich der Seele als des Körpers, und übertraf die Nachkommen in hohem Grade durch ausser ordentliche (sic! ) Vorzüge beider Teile seines Wesens. (Op § 136) Seine Sprache ist mit der Wirklichkeit der Dinge konform, d. h. Ding und Name entsprechen einander. So ist auch die Einheitlichkeit und Wahrheit der ada mitischen Sprache garantiert, weil die Natur in ihm noch ihre volle Kraft besaß und Adam sich noch in sehr großer Nähe zum Ursprung (ἀρχή) und damit der Wahrheit befand. 70 Mit der Ansicht, dass der λόγος der ersten Menschen völlig rein und ungetrübt war, steht Philon in stoischer Tradition. In der Nähe des göttlichen Ursprungs waren die Menschen deshalb zu reiner Erkenntnis 68 Vgl. Hes. erg., 60 f. Hier verwendet Hesiod αὐδή poetisch für φωνή: Ἥφαιστον δ' ἐκέλευσε περικλυὸν ὅττι τάχιστα γαῖαν ὕδει φύρειν, ἐν δ' ἀνθρώπου θέμεν αὐδὴν καὶ σθένος (Ohne Verzug dann hieß er den herrlichen Künstler Hephaistos Erde mit Wasser vermengen, mit menschlicher Stimme und Stärke). Gr. Text nach Hesiod: Carmina. Ac cedit certamen quod dicitur Homeri et Hesiodo, hg. v. Alois Rzach, Stuttgart 3 1967. Dt. Text nach Hesiod. Sämtliche Gedichte. Theogonie. Erga. Frauenkataloge, hg. v. Walter Marg, Zürich, Stuttgart 1970 (Die Bibliothek der Alten Welt. Griechische Reihe), 310. S. weiter Hes., Werke und Tage, 80 f: Hermes schenkt Pandora die φωνή. 69 Vgl. Kweta, Sprache, 131. 70 Vgl. Op § 148-150, All II § 14 f und Quaest Gen I § 20. <?page no="103"?> 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 103 und damit zu kompetenter Namensgebung befähigt. 71 Auch nach Winston sieht Philon Adam „as the source of all lingustic expression for the entire human race“ 72 . Während Winston und Kweta es bei diesen allgemeinen Feststellungen, die Adam als weisen und ersten Menschen charakterisieren, belassen, entfaltet Otte eine sehr ausführliche Adamstheorie, auf die im Kapitel zur Sprache als Namensgebung näher eingegangen wird. 73 Die zweite ‚Theorie’ hat die Schöpfung der Sprache durch weise Männer zum Gegenstand. Sie wird nur an wenigen Stellen thematisiert 74 und steht in keinem Widerspruch zur Schöpfung der Sprache durch Adam, weil Philon hier sekundäre Sprachschöpfungen beschreibt. 75 Neben Adam gelten auch Abraham und Mose als weise Männer, die der Sprachschöpfung mächtig sind. 76 Isaak bei spielsweise erkennt die Leistung seines Vaters an, ist aber selbst nicht an der Schöpfung der Sprache beteiligt. 77 Die dritte ‚Theorie’ schließlich geht von einer natürlichen, spontanen Sprachentstehung aus. Philon kommt in Mut § 261 im Rahmen der Geburt Isaaks (‚Lachen’) auf die Idee, dass Sprache in dynamischen Vorgängen durch Sinneswahrnehmungen und Gemütsempfindungen entsteht, an denen alle teil haben: 78 (…) καὶ καλέσεις τὸ ὄνομα τοῦ υἱοῦ τὸ πάθος, ὅπερ ἂν ἐπ’ αὐτῷ πάθῃς, πείσῃ δὲ πάντως χαράν· ὥστε καὶ τὸ σύμβολον αὐτῆς ὄνομα θήσεις, γέλωτα. καθάπερ λύπη καὶ φόβος ἰδίας ἀναφθέγξεις ἔχουσιν, ἃς ἂν τὸ βιασάμενον καὶ κρατῆσαν ὀνοματοποιήσῃ πάθος, οὕτως εὐβουλίαι καὶ εὐφροσύναι φυσικαῖς ἐκφωνήσεσιν ἀναγκάζουσι χρῆσθαι, ὧν οὐκ ἂν εὕροι τις κυριωτέρας καὶ εὐθυβολωτέρας κλήσεις, κἂν τυγχάνῃ περὶ τὰς κλήσεις σοφός. (Mut § 261 f) (…) und du wirst den Sohn nach der Empfindung nennen, die du über ihn hast; du wirst aber in jeder Weise Freude empfinden, sodaß du auch ihr Sinnbild als Name festsetzen wirst, Lachen. Denn wie Seelenschmerz und Furcht eigene Ausrufe haben, die der zwingende und herrschende Affekt schallnachahmend formt, so nötigen Wohl beratenheit und Glückstimmung zu natürlichen Schallausbrüchen, im Vergleich zu 71 Vgl. Pohlenz, Geschichte, 42.154 ff. 72 Winston, Aspects, 117. 73 Vgl. Otte, Sprachverständnis, 46-55. 74 Vgl. Op § 127, Decal § 23 und Quaest Gen IV § 194. 75 Vgl. Kweta, Sprache, 137. 76 Die weisen Menschen spielen auch bereits in der Stoa eine große Rolle. Vgl. hierzu Max Pohlenz: Stoa und Stoiker. Die Gründer. Panaitios. Poseidonios, Zürich, Stuttgart 1950, XVI . 77 Vgl. Winston, Aspects, 117. 78 Vgl. auch Kweta, Sprache, 137 f. <?page no="104"?> 104 III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria welchen niemand eigentlichere und treffendere Namen finden kann, und wäre er auch ein Weiser hinsichtlich der Namengebung. (Mut § 261 f) Sprache muss also in diesem Fall nicht auf bestimmte Personen zurückgeführt werden. Mit Hilfe dieser Theorie, die Philon nicht mit der adamitischen Theorie der Sprachentstehung konfrontiert, können nur begrenzte Aussagen über die Wirklichkeit getroffen werden. Die Sprache hat in diesen Kontexten stärker einen spontanen und emotionalen Charakter. 79 Im Zusammenhang mit der Entstehung der Sprache stellt sich auch die Frage, ob Philon von einer bestimmten Ursprache, als welche in der Regel das Hebräische angenommen wird, ausgeht und ob bei ihm ein Bewusstsein für unterschied liche Sprachen vorliegt. Der Enkel Jesus Sirachs als Übersetzer beispielsweise beweist im Prolog des gleichnamigen Buches ein klares Bewusstsein für die Unterscheidung der hebräischen und griechischen Sprache: 80 Παρακέκλησθε οὖν μετ’ εὐνοίας καὶ προσοχῆς τὴν ἀνάγνωσιν ποιεῖσθαι καὶ συγγνώμην ἔχειν ἐφ’ οἷς ἂν δοκῶμεν τῶν κατὰ τὴν ἑρμηνείαν πεφιλοπονημένων τισὶν τῶν λέξεων ἀδυναμεῖν∙ οὐ γὰρ ἰσοδυναμεῖ αὐτὰ ἐν ἑαυτοῖς Ἑβραїστὶ λεγόμενα καὶ ὅταν μεταχθῇ εἰς ἑτέραν γλῶσσαν. (SirProl 15-22) 81 Lasst euch also ermahnen, mit Wohlwollen und Aufmerksamkeit die Lektüre zu betrei ben und Nachsicht zu haben in den (Fällen), bei denen wir versagt zu haben scheinen, obwohl wir uns gemäß der Übersetzungskunst um (bestimmte) Redewendungen für einige (Leser) emsig bemüht haben. Denn dasselbe ist in sich nicht gleichbedeutend 82 , wenn es in Hebräisch gesagt ist und wenn es in eine andere Sprache übertragen wird. (SirProl 15-22) 83 79 Vgl. Kweta, Sprache, 138. 80 Der Sirach-Prolog benennt die Übersetzung des in hebräischer Sprache verfassten Buches Jesus Sirach explizit. Vgl. zur Einführung Elitzur Avraham Bar-Asher: Art. He brew, in: EDEJ (2010), 714, Otto Kaiser: Weisheit für das Leben. Das Buch Jesus Sirach. Übersetzt und eingeleitet, Stuttgart 2005, 123-156 (bes. 129) und Georg Sauer: Jesus Sirach / Ben Sira. Übersetzt und erklärt von Georg Sauer, Göttingen 2000 (ATD Apokryphen 1), 39. 81 Text nach: Septuagtina. Id est Vetus Testamentum graece iuxta LXX interpretes edidit Alfred Rahlfs. Editio altera quam recognovit et emendavit Robert Hanhart. Duo volumi na in uno, Stuttgart 2006. 82 Das Lexem ἰσοδυναμεῖ kann auch mit der Bedeutung „wirken anders“ übersetzt wer den. 83 Übersetzung nach Septuaginta Deutsch: Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung in Zusammenarbeit mit Eberhard Bons, Kai Brodersen, Helmut Engel, Heinz-Josef Fabry, Siegfried Kreuzer, Wolfgang Orth, Martin Rösel, Helmut Utzschnei der, Dieter Vieweger und Nikolaus Walter, hg. v. Wolfgang Kraus und Martin Karrer, Stuttgart 2 2010). <?page no="105"?> 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 105 Im Aristeasbrief, der dem Thema der Übersetzung der Tora ins Griechische gewidmet ist, tritt das Profil der hebräischen Sprache dagegen nicht so deut lich hervor. Hier finden sich für die Thematisierung der hebräischen Sprache Wendungen wie „γεγράφθαι (…) ἐν (…) ἑβραїκοῖς γράμμασιν“ 84 (in hebräischen Buchstaben aufgeschrieben) oder eine Aussage über Männer, „οἵτινες οὐ μόνον τὴν τῶν Ἰουδαїκῶν γραμμάτων ἕξιν περιεποίησαν αὐτοῖς, αλλὰ καὶ τῆς τῶν Ἑλληνικῶν ἐφρόντισαν οὐ παρέργως κατασκευῆς“ 85 (die nicht nur die jüdische Sprache beherrschten, sondern auch eifrig die griechische studiert hatten). Der Verfasser des Aristeasbriefes kann nicht klar zwischen Sprache und Schrift un terscheiden. Ebenso verwendet er keine kohärente Terminologie für das Hebräi sche. Deutlich wird dies auch, als Demetrios die Notwendigkeit der Übersetzung der jüdischen Schriften erläutert: 86 ἑρμηνείας προσδεῖται· χαρακτῆρσι γὰρ ἰδίοις κατὰ τὴν Ἰουδαίαν χρῶνται, καθάπερ Αἰγύπτιοι τῇ τῶν γραμμάτων θέσει, καθὸ καὶ φωνὴν ἰδίαν ἔχουσιν. ὑπολαμβάνονται Συριακῇ χρῆσθαι· τὸ δ’ οὐκ ἔστιν, ἀλλ’ ἕτερος τρόπος. (Arist § 11) Sie bedürfen einer Übersetzung. Eigene Buchstaben nämlich gebrauchen die Leute in Judäa, wie die Ägypter in der Anordnung [von rechts nach links], und dement sprechend haben sie auch eine eigene Sprache. Gewöhnlich nimmt man an, dass sie die syrische Sprache benutzen; das ist aber nicht so, sondern es ist eine andere Art. (Arist § 11) Diese Feststellung findet sich zu einem späteren Zeitpunkt erneut: τοῦ νόμου τῶν Ἰουδαίων βιβλία (…) ἀπολείπει· τυγχάνει γὰρ Ἑβραїκοῖς γράμμασι καὶ φωνῇ λεγόμενα (…). (Arist § 30) Die Bücher des Gesetzes der Juden fehlen (…); sie sind nämlich in hebräischen Buch staben und hebräischer Sprache verfasst (…). (Arist § 30) 84 Arist § 3. Text nach: Lettre D’Aristée A Philocrate. Introduction, Texte Critique, Traduc tion Et Notes, Index Complet des Mots Grecs, hg. v. André Pelletier, Paris 2007. Über setzung nach: Kai Brodersen: Aristeas. Der König und die Bibel. Griechisch / Deutsch, Stuttgart 2008 (Reclam 18 576). 85 Arist § 121. 86 Vgl. dazu VitMos II § 31 ff. <?page no="106"?> 106 III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria Der Verfasser als griechischsprachiger Alexandriner weist kein Bewusstsein und keine ausgereifte Vorstellung für die hebräische Sprache auf und dürfte selbst kein Hebräisch verstanden haben. 87 Wie verhält sich Philon zur hebräi schen Sprache? Den Terminus Εβραїστί, wie ihn der Sirachenkel gebraucht, verwendet Philon nicht. 88 Am häufigsten findet sich Ἑβραῖος 89 bei ihm in Kombination mit Formen von καλέω 90 , seltener mit λέγω 91 , προσαγορεύω 92 oder ὀνομάζω 93 . Aus diesen resultieren die Übersetzungen im Verständnis von ‚die Hebräer nennen etwas …’, oder ‚wie die Hebräer sagen’. Neben den Verbindun gen mit Verben, findet sich auch die Wendung „ὃς Ἑβραίων γλώττῃ καλεῖται“ 94 (was in der Sprache der Hebräer … heißt). In Decal § 159 ergänzt Philon die Sprache der Hebräer attributiv durch das Adjektiv πάτριος. 95 Das Hebräische erhält den Charakter der alten, ersten Sprache, wenn es als väterliche Sprache bezeichnet wird. Auffällig ist, dass Philon diese Wendung häufig als Gegensatz zur griechischen Bezeichnung einer Sache gestaltet: 96 ὃς Ἑβραίων μὲν γλώττῃ Σεναάρ, Ἑλλήων δὲ ἐκτιναγμὸς καλεῖται. (Conf § 68) Der [Ort, an dem die Tugend nicht mehr wohnt,] heißt in der Sprache der Hebräer Senaar, der Hellenen aber Erschütterung. (Conf § 68) Bei Philon zeigt sich also durchaus ein Bewusstsein für die Unterscheidung zwischen hebräischer und griechischer Sprache. Die hebräische Sprache wird als väterliche Sprache der Hebräer bestimmt. Das Hebräische wird nicht kon kret als Ursprache tituliert; es ist aber anzunehmen, dass Philon es also solche versteht, da er sich durchweg bemüht, hebräische Etymologien in seine Argu mentationen einzubauen und so auf das Hebräische zu verweisen: 87 Der Verfasser war sehr wahrscheinlich griechischsprachiger Jude. Vgl. die Überlegun gen zur Autorschaft des Aristeasbriefes von Moses Hadas: Aristeas to Philocrates (Let ter of Aristeas), New York 1973, 6. 88 Vgl. das Fehlen in The Philo Index. A Complete Greek Word Index to the Writings of Philo of Alexandria. Lemmatised & Computer-Generated, hg. v. Peder Borgen, Kåre Fuglseth u. a., Trondheim 1997 (Unitrel Studieserie 25), 92. Auch die folgen Angaben dieser Art beziehen sich auf den Philo Index von Borgen. 89 Ἑβραїκός kommt bei Philon nur in VitMos I § 16.240.285 vor und ist nie auf die Sprache bezogen. Ἑβραῖος κτλ verwendet Philon 60mal. 90 Vgl. Migr § 13, Congr § 37.42, Abr § 27.28, Jos § 28, SpecLeg II § 86, Som II § 250 und Conf § 130. 91 Vgl. Conf § 129 und Mut § 71. 92 Vgl. Congr § 40. 93 Vgl. Som I § 58. 94 In dieser Verwendung vgl. Abr § 27, Sobr § 45 und Conf § 68. 95 Vgl. SpecLeg II § 41.145 und Decal § 159. 96 So auch in Abr § 17, Jos § 28 und Congr § 37. <?page no="107"?> 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 107 ἡ δὲ θεοῦ πόλις ὑπὸ Ἑβραίων Ἱερουσαλὴμ καλεῖται, ἧς μεταληφθὲν τοὔνομα ὅρασίς ἐστιν εἰρήνης. (Som II § 250) Die Stadt Gottes aber wird von den Hebräern Jerusalem genannt, ein Name, der über setzt ‚Gesicht des Friedens’ heißt. (Som II § 250) Philon versteht ירוׁשלם‏ ‎ ( Jerusalem) als Zusammensetzung von יראה‏ ‎ (er wird sehen) und ׁשלום‏ ‎ (Friede). Er stellt damit eine falsche Etymologie vor. Dies ge schieht auch in In Sobr § 45, wo Philon Kanaan von נוע‏ ‎ (schwanken) ableitet, welches aber keinesfalls ‚Bewegung’ heißen kann. Selbiges gilt für Abr § 57: προσονομάζεται γὰρ Ἑβραίων γλώττῃ τὸ ἔθνος Ἰσραήλ, ὅπερ ἑρμηνευθέν ἐστιν ‚ὁρῶν θεόν’. (Abr § 57) Denn in der Sprache der Hebräer wird das Volk ‚Israel’ genannt, was ‚Gott sehend’ bedeutet. (Abr § 57) Auch hier findet sich eine „sonderbar[e] Etymologie“ 97 . Philon erklärt יׁשראל‏ ‎ (Israel) durch אל‏ ‎ (Gott), ראה‏ ‎ (sehen) und איׁש‏ ‎ (Mensch). Bei Philon finden sich also Verweise sowohl auf die griechische als auch auf die hebräische Sprache. Letztere wird häufig thematisiert, wenn Philon zeigen will, wie ein bestimmtes Wort in der hebräischen Sprache lautet. Dazu ver wendet er eine Reihe von Etymologien, von denen eine große Anzahl fehler haft ist. 98 Es kann also bezweifelt werden, dass Philon des Hebräischen mächtig war. 99 Dafür spricht einmal, dass Philon inhaltliche oder textkritische Unstim migkeiten im griechischen Text wahrnimmt, diese jedoch niemals anhand des hebräischen Textes zu lösen vermag, 100 weiterhin, dass Philon häufig nicht zwi schen Hebräisch und Chaldäisch unterscheidet. In VitMos II § 25-44 gibt Philon einen Bericht von der Übersetzung der jüdischen Schriften ins Griechische, der inhaltlich mit dem Aristeasbrief einhergeht. Philon spricht jedoch durchweg davon, das Chaldäische sei in die griechische Sprache übertragen worden. 101 Vom Griechischen hat Philon dagegen eine klare Vorstellung. Er verfasst seine Schriften in dieser Sprache und kennt das dazugehörige Sprachsystem. 102 Für 97 Cohn, Werke, Bd. 1, 108. 98 Vgl. beispielhaft Sobr § 45, Abr § 57ll III § 24, All I § 29 und Som II § 250. Das ist der ge samten griechischen und lateinischen Antike selbstverständlich. Vgl. dazu Renzo Tosi und Theodor Heinze: Art. Etymologica, in: DNP 4 (1998), 198-200. 99 Belege dafür, dass Philon des Hebräischen vermutlich nicht mächtig war s. Stein, Exe gese, 20-24. Philon erkennt nicht, dass er eine Etymologie zunichte macht, indem er ein einziges hebräisches Wort weglässt. 100 Vgl. hierzu den Hinweis von Niehoff, Bibelexegese, 21.28. 101 Vgl. ebenso Abr § 8.12, Praem § 14.31 und VitMos I § 5. 102 Vgl. hierzu die Darstellung der Wortarten in Conf 147-150, Agr § 136, Migr § 48. 49. 79, Her § 282, Som I § 229, All I § 10 und All III § 120. <?page no="108"?> 108 III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria das Hebräische gilt dies nicht und so muss angenommen werden, dass Philon keine klare sprachwissenschaftliche Vorstellung vom Hebräischen hatte. 103 . Er versucht aber auf die hebräische Sprache zurückzugreifen, um seine Auslegun gen zu untermauern. Das Verhältnis von hebräischer und griechischer Sprache wird nicht eigens thematisiert. Wie sind die unterschiedlichen Aussagen zur Entstehung der Sprache zu wer ten? Philon selbst stellt keine Beziehung der drei unterschiedlichen Sprach schöpfungstheorien durch den Menschen her. Will man den Widerspruch zwischen der Schöpfung der Sprache durch Adam und den weisen Männern auflösen, muss man davon ausgehen, dass Philon „an einen grundlegenden Akt der Sprachschöpfung gedacht hat, bei welchem jedoch durchaus der Weg zu einer weiteren Ausgestaltung der Sprache offenbleibt“ 104 . Demnach handelt es sich bei der adamitischen Sprachschöpfung um den primären Schöpfungsakt, bei den weisen Männern um einen sekundären, der auf den Prinzipien des ers teren aufbaut. 105 Der allgemeine ‚Widerspruch’ zwischen der Sprachschöpfung durch Gott oder den Menschen ist gewichtiger. Er ist nach Kweta so aufzulösen, dass Gott das Sprach vermögen schafft, die Sprache an sich jedoch ein Werk des Menschen ist. 106 Otte setzt sich mit dieser Problematik intensiver auseinander. Er kommt letztlich zu einem ähnlichen Ergebnis, nämlich dass die Schöpfung der Spra che als Werk des Menschen anzusehen ist, die dennoch von Gott verursacht wird. 107 Gott selbst kann nicht der Schöpfer der Sprache sein. Die Sprache muss in der „geschöpflichen Welt“ 108 entstanden sein, weil Gott nach Op § 149 nichts Schlechtes zugesprochen werden kann. 109 Die Sprache aber kann ihren Bezug zum Sein und damit zum Göttlichen verlieren und schlecht werden. 110 Gott ist dennoch die Ursache der Sprache, weil er Adam und mit ihm die Fähigkeit zur Sprachschöpfung geschaffen hat. 111 Gott hat im Menschen die Voraussetzung für die Erschaffung der Sprache gelegt. Sprache ist für Otte „analog zur Welt - 103 Vgl. auch Stein, Exegese, 50. 104 Kweta, Sprache, 131 f. 105 Vgl. Kweta, Sprache, 131 f. 106 Vgl. Kweta, Sprache, 131. 107 Vgl. Otte, Sprachverständnis, 153. 108 Otte, Sprachverständnis, 61. 109 Vgl. auch Fug § 70. Philon spricht sich für eine ethische Interpretation des Genesistextes aus, weil die Sprache einen Bezug zur Schlechtigkeit hat, Gott aber kein unethisches Handeln zugeschrieben werden kann. S. a. Conf § 1. 3. 15.190. 110 Vgl. Otte, Sprachverständnis, 60 f und die philonische Argumentation in Conf § 9 f. 111 Vgl. Op § 149 und Otte, Sprachverständnis, 60 ff. <?page no="109"?> 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 109 schöpfung ein Akt der Seinsauslegung“ 112 . So wie Gott den Menschen schafft, schafft dieser die Sprache. Kweta schreibt die Schaffung des Sprachvermögens Gott zu; Otte sieht mit der Schaffung des Menschen durch Gott ebenfalls die generelle Voraussetzung der menschlichen Sprachschöpfung gegeben. Auch Winston stellt in seinem Auf satz heraus, dass sowohl Adam als auch Gott Sprachschöpfer sind. Gott benennt Adam und die kosmischen Dinge, Adam ist für die Begriffe zuständig, die die Menschen gebrauchen. Von unterschiedlichen (begrifflichen) Nuancen abgesehen, arbeiten sowohl Otte, Kweta als auch Winston für die philonische Theorie der Sprachentstehung heraus, dass Sprache an sich als Werk des Menschen anzusehen ist, das in Gott seine ‚Erstursache’ hat. 4.2 Voraussetzungen für die Wirksamkeit der Sprache Es können bei Philon drei Kriterien als Voraussetzung dafür ausgemacht wer den, dass Sprache ihre Wirkung entfaltet: Die Deutlichkeit der Äußerung, die menschliche Umwelt und die Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Ungeachtet dessen, in welchem Bereich Sprache zum Einsatz kommt, ist ihre Deutlichkeit als wichtigstes Prinzip zu werten: ἀσάφεια δὲ βαθὺ σκότος ἐν λόγῳ, κλέπταις δὲ συνεργὸν τὸ σκότος. οὗ χάριν Μωυσῆς τὸν ἀρχιερέα δηλώσει καὶ ἀληθείᾳ διακεκόσμηκεν (Exod. 28,26), ἀρίδηλον ἀξιῶν εἶναι καὶ ἀληθῆ τὸν τοῦ σπουδαίου λόγον. (Her § 302-303) Undeutlichkeit aber ist die tiefe Finsternis in der Rede, und Finsternis ist den Dieben eine Helferin. Deshalb hat Moses den Hohenpriester mit ‚Klarheit und Wahrheit’ geschmückt, denn er verlangt, daß die Sprache des Weisen ganz klar und wahr sei. (Her § 302-303) Sprache muss eindeutig und klar sein. 113 Die Klarheit kann sich direkt auf die Aussprache beziehen, mehr aber auf das im Wort Gesagte. Es muss eindeutig, klar und verständlich sein, damit sich in ihm das Sein offenbart. Nur wenn das echte Sein in der Sprache greifbar wird, kann eine wahre und richtige Kom munikation erfolgen. Die Klarheit impliziert also Verständlichkeit. Paulus wird diesen Aspekt noch stärker betonen als Philon. Der Apostel erläutert die Wich tigkeit einer verständlichen sprachlichen Äußerung durch den Vergleich mit 112 Otte, Sprachverständnis, 153. 113 Vgl. auch Det § 131. <?page no="110"?> 110 III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria Musikinstrumenten. 114 Auch Philon zieht den musikalischen Bereich heran, um die Verständlichkeit einer Aussage zu betonen: 115 πατέρα μουσικῆς καὶ τῶν κατὰ μουσικὴν πάντων ὀργάνων τὸν γεγωνὸν λόγον προσφυέστατα καλεῖ· (…) ὅσα γοῦν αὐλοὶ καὶ λύραι καὶ τὰ παραπλήσια μελῳδοῦσι, τῆς ἀηδόνων ἢ κύκνων μουσικῆς τοσοῦτον ἀπολείπεται, ὅσον ἀπεικόνισμα καὶ μίμημα ἀρχετύπου παραδείγματος, φθαρτὸν εἶδος ἀφθάρτου γένους. τὴν μὲν γὰρ ἀνθρώπων μουσικὴν οὐδενὶ τῶν ἄλλων συγκρίνειν ἄξιον ἔχουσαν γέρας ἐξαίρετον, ᾧ τετίμηται, τὴν ἔναρθρον σαφήνειαν. (Post § 103.105) Den Vater der Musik und der aller Musikinstrumente nennt er ganz der Sache ent sprechend das ausgesprochene Wort. (…) Was nun, Flöten, Leiern und dergleichen an Klängen hervorbringen, bleibt so weit hinter dem Gesang von Nachtigallen oder Schwänen zurück wie ein Abbild oder eine Nachahmung hinter dem originalen Urbild, wie eine vergängliche Gestalt hinter der unvergänglichen Gattung. Denn den Gesang von Menschen mit dem irgendwelcher anderer Wesen zu vergleichen, ist ungehörig, da er einen besonderen Vorzug hat, dessen er gewürdigt wurde: die artikulierte Ver ständlichkeit. (Post § 103.105) Die Verständlichkeit bzw. die Klarheit einer Aussage wird als charakteristisches Merkmal der menschlichen Sprache bestimmt, die sich v. a. im Gesang zeigt. Folglich können sämtliche Funktionen der Sprache ihren Zweck nur erfüllen, wenn die Eindeutigkeit der Sprache als unabdingbare Voraussetzung gegeben ist. Auch die Umwelt der Sprachschöpfer bzw. die Weltwirklichkeit, in der Sprache entsteht, muss bestimmte Voraussetzungen erfüllen, damit eindeutige Sprache entstehen kann. Dies verdeutlicht Kweta 116 ebenso wie Otte: Die Qualität der jeweiligen Umwelt, des Menschen und der Sprache bemisst sich aus ihrer Nähe zum Sein. (…) Nur eine seinsgemäße Umwelt und Tradition stellt den Menschen in der Weise unter die Wirksamkeit des Seins, dass ihm das nötige Vor verständnis zueignet, welches zum vollen Verständnis der Sprache führt. Sprache, Mensch und Umwelt stehen in einem vom Seim bestimmten Korrelationsverhält nis (…). 117 114 S. Kap. IV, 3.2.2. 115 Vgl. Anthony C. Thiselton: The ‚Interpretation’ of Tongues: A new suggestion in the light of Greek usage in Philo and Josephus, in: JThS 30 (1979), 20. Darüber hinaus ist bei Philon häufig von der Leier als dem vorzüglichsten aller Instrumente die Rede Vgl. z. B. Op § 126, All I § 14. Auf Musikinstrumente kommt Philon weiterhin zu sprechen, wenn er Aussagen über die Seele trifft. Er vergleicht beispielsweise die Leier mit der Seele und stellt dann einen Bezug zur Ethik der. Vgl. Ebr § 116 und Imm § 24. 116 Vgl. Kweta, Sprache, 159 f.185. 117 Otte, Sprachverständnis, 12. <?page no="111"?> 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 111 Eine solch ideale Umwelt findet sich nach Philon, neben der ursprünglichen Situation bei Adam 118 , bei den Therapeuten, 119 den Essenern 120 und den Septuagintaübersetzern. 121 Sie ist gekennzeichnet durch einen idealen Wohnort außer halb von Städten, losgelöst von Familienverbänden und befindet sich mitten in der Natur. 122 Das Leben der Menschen ist von Askese, geistlichen Übungen und von einem auf Gott ausgerichteten Alltag geprägt. 123 Es gibt auch eine Umgebung, die nicht für die Schaffung einer Idealsprache geeignet ist, weil sie der Situation Adams sowie der Therapeuten und Essener nicht mehr entspricht. 124 Dabei ist unklar, ob „die Umwelt selbst ihre Eindeutig keit verloren hat oder ob der Mensch in seinem Abfall aus der adamitischen Situation solche Verdunklung der Dinge erwirkt hat“ 125 . Kweta sieht in Op, dem Text, den Otte als Beleg für diese Überlegungen heranzieht, kein erkenntnis theoretisch-hermeneutisches Konzept Philons, sondern ein moralisches. Es geht nicht darum, dass der Mensch diese Situation bewirkt hat, sondern darum, dass er anhand der negativen Situation, die sich ihm darbietet, Adam und die ur sprüngliche vollkommene Ordnung wieder herstellen will. Nach Kweta ver kennt Otte, dass nicht die gesamte Welt in einem Chaos versunken ist und Philon keineswegs gezwungen war, eine solche Grundsituation anzunehmen. 126 Festzuhalten ist, dass für die Entstehung einer Sprache, die die Wirklichkeit abbilden will, eine besondere Umwelt förderlich ist, da Sprache nur dann das echte Sein abbilden kann. Ist diese ideale Basis verloren gegangen, muss die Grundsituation wieder hergestellt werden, wenn Sprache wirklich verstanden werden will. 127 Neben der Umwelt, in der Sprache entsteht, ist auch der Faktor ‚Mensch’ zu berücksichtigen und deshalb ist ein Blick auf die Vorstellung des philo nischen Menschenbildes zu werfen. 128 Philon präsentiert in seinen Schriften unterschiedliche Vorstellungen vom Menschen. Diese sind heterogen und werden nicht in ein übergeordnetes System gebracht. Wesentliches Kenn zeichen ist nach Det § 52.103.139, Sacr § 105 und Imm § 111 ist aber dennoch, 118 Otte, Sprachverständnis, 59 bezeichnet die ideale Sprachstiftungssituation bei Adam als hermeneutische Grundsituation. 119 Thematisiert in VitCont. 120 Thematisiert in Prob. 121 Thematisiert in VitMos II . 122 Vgl. VitCont § 18-20 und Prob § 76 123 Vgl. VitCont § 24-28 und Prob § 77-87. 124 Vgl. Kweta, Sprache, 113. 125 Otte, Sprachverständnis, 93, vgl. auch Kweta, Sprache, 160. 126 Vgl. Kweta, Sprache, 112 f. 127 Vgl. Otte, Sprachverständnis, 49, 59. 128 Vgl. Kweta, Sprache, 110. <?page no="112"?> 112 III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria dass der Mensch als zusammengesetztes Wesen (σύγκριμα) verstanden wird. Wie diese Zusammensetzung aussieht, wird in den philonischen Schriften un terschiedlich ausgeführt. 129 Einer Reihe philonischer Traktate zufolge besteht der Mensch aus σῶμα und ψυχή. 130 Letztere lässt sich in die alogischen und logischen Teile gliedern. 131 Die alogischen Teile bezeichnen die αἴσθησις, die logischen den νοῦς. 132 Sprache nimmt vom Selbstverständnis des Sprechenden her ihren Ausgangs punkt. Wenn Adam als der weiseste Mensch eine gültige Sprache schafft, müs sen seine Wesenszüge als ideale Voraussetzungen für die Sprachstiftung durch den Menschen gesehen werden. Wesentliches Charakteristikum Adams ist seine volle Erkenntniskraft: 133 129 Vgl. Otte, Sprachverständnis, 78 f, Erwin R. Goodenough: Light, By Light. The Mystic Gospel of Hellenistic Judaism, Amsterdam 1969, 372 und Mareike V. Blischke: Die Eschatologie in der Sapientia Salomonis, Tübingen 2007 (FAT II 26), 209-211). Zur In konsequenz bezüglich einzelner Teile der Seele und der Rangordnung der Sinne s. Max Freudenthal: Die Erkenntnislehre Philos von Alexandria, Berlin 1891 (Berliner Studien für klassische Philologie und Archäologie 13,1), 42-50, besonders 45-49. 130 Vgl. Op § 69.134.135, Fug § 55 und Det § 86. Weitere Möglichkeiten sind im Folgenden dargestellt: Nach Sacr § 49 setzt sich der Mensch aus Leib (σῶμα), Wahrnehmung / Sinnen (αἴσθησις), Magen (γαστήρ), Emp findung / Freude / Genusssucht / Wollust (ἡδονή), Leidenschaft / Begierde (πάθη) und Zunge / Sprache (γλῶσσα) zusammen. Gelegentlich findet sich auch die Unterscheidung in (1) ἕξις, verstanden als Kraft, die den Dingen ihr Zentrum und ihr Wesen gibt. (2) φύσις, die Stufe, die die organischen Beziehungen zum Ausdruck bringt. (3) ψυχή, die den Tieren und Menschen zu Eigen ist und die beiden vorangehenden Stufen vereinigt. Sie ist gekennzeichnet durch Wahr nehmung, Vorstellungskraft und Eifer und Begierde. (4) νοῦς ist das trennende Moment zwischen Mensch und Tier und damit der Unterschied von der dritten zur vierten Ebe ne. Vgl. Imm § 35 ff, All II § 22 ff. Weitere Möglichkeiten s. z.B. bei Op § 134 und All I § 89. Hier stellt Philon vier Arten des menschlichen Seins heraus. 131 Vgl. SpecLeg I § 133. Diese Unterteilung ist bei Philon die wichtigste Charakterisierung der Seele. Sie weist nach Dillon sowohl platonische also auch stoische Traditionen auf und enthält eigene philonische Nuancen. Dadurch kann ein Bezug zum Mittelplatonis mus hergestellt werden. Vgl. John M. Dillon: The Middle Platonists. A Study of Plato nism 80 B. C. to A. D. 220, London 1977, 175. 132 Vgl. All II § 6, Congr § 26, All III § 49 f, Det § 168, Her § 232. Auf diese Unterscheidung wird in der laufenden Untersuchung Bezug genommen. 133 Vgl. Op § 150. Zur weiteren Charakteristik Adams s. Op § 140-144. Zum Vergleich Adam-Christus siehe Berndt Schaller: Adam und Christus bei Paulus. Oder: Über Brauch und Fehlbrauch von Philo in der neutestamentlichen Forschung, in: Philo und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen. I. Internationales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum. 1.-4. Mai 2003, Eisenach / Jena, hg. v. Roland Deines und Karl-Wilhelm Niebuhr, Tübingen 2004 (WUNT 172), 143-153. <?page no="113"?> 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 113 ἀκράτου γὰρ ἔτι τῆς λογικῆς φύσεως ὑπαρχούσης ἐν ψυχῇ καὶ μηδενὸς ἀρρωστήματος ἢ νοσήματος ἢ πάθους παρεισεληλυθότος, τὰς φαντασίας τῶν σωμάτων καὶ πραγμάτων ἀκραιφνεστάτας λαμβάνων (…). (Op § 150) Denn da die Denkkraft der Seele noch ungetrübt war und noch keine Schwäche oder Krankheit oder Leidenschaft eingedrungen war, so nahm er die Vorstellungen von den Körpern und Gegenständen in voller Reinheit in sich auf (…). (Op § 150) Denk- und Erkenntnisfähigkeit sind bedeutende Voraussetzungen für das Schaffen und Verstehen von Sprache. Um die besten Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Sprache ihre Wirksamkeit entfalten kann, ist zu fragen, welche Bereiche des Menschen auf die Sprache Einfluss haben. Den alogischen Teilen der Seele, genauer der αἴσθησις, 134 ordnet Philon die Sprache mit ihren physio logisch-physikalischen Elementen, der Stimme und dem Ton, zu. 135 Die folgende Grafik verdeutlicht das: 134 Zur αἴσθησις zählen nach All I § 11u.a. auch die Sinne und das Zeugungsvermögen. Die Entstehung der Sinnlichkeit in der Welt geschieht für Philon durch Eva. Mit ihr beginnt der Verfall der Wirklichkeit. Vgl. die Interpretation von Gen 2,18 in All II § 1. 135 Vgl. All II § 6, Congr § 26, All III § 49 f und All I § 11. <?page no="114"?> 114 III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria Die Vorstellung des Menschen nach Philon Mensch σῶμα ψυχή alogische Teile der Seele logischer Teil der Seele αἴσθησις λόγος Logos als innerer Logos (λόγος ἐνδιάθετος) bezeichnet als νοῦς oder διάνοια das Denkvermögen des Menschen und nicht verbal Geformtes (Gehalt der Sprache) Sinne Zeugungsvermögen Sprache als äußerer Logos (λόγος προφορικός) bezeichnet das physiologischphysikalische Sprachphänomen (Stimmwerkzeug, Laut) Der äußere Logos besitzt die Fähigkeit, einen noetischen Gehalt in einer stimmlichen Äußerung präsent zu machen. Somit ist der äußere Logos ἑρμηνεύς des νοῦς. <?page no="115"?> 136 Vgl. Quaest Gen IV § 96. Die Unterscheidung ist nach mehrheitlicher Meinung in der Forschung auf die Stoiker zurückzuführen, vgl. Eduard Zeller: Erläuterungen einiger theologischer Gegenstände aus der Lehre und dem Sprachgebrauch der späteren grie‐ chischen Philosophen, in: Theologische Jahrbücher 11 (1852) IV, 239-304, Hans Leise‐ gang: Art. Logos, in: PRE 13.I (1926), 1035-1081 und Goodenough, Light, 103. Pohlenz, Begründung, 79 stellt fest, dass die Unterscheidung in der alten Stoa noch nicht zu finden ist, jedoch aus ihren Voraussetzungen entwickelt werden konnte. Philon selbst erwähnt zu keinem Zeitpunkt eine bestimmte Schule, auf die er die Unterscheidung zurückführt. Er verwendet sie als allgemeines Bildunsgut. S. auch den vollständigen Anhang, der die beiden Logoi thematisiert, bei Pohlenz, Begründung, 79-86. 137 Zudem teilt er die beiden Logoi Moses und Aaron zu. Ersterer steht für den λόγος ἐνδιάθετος, Zweiterer für den λόγος προφορικός. Vgl. Migr § 76-81, Mut § 208, Det § 38-40 und Adam Kamesar: The Logos Endiathetos and the Logos Prophorikos in Alle‐ gorical Interpretation: Philo and the D-Scholia to the Iliad, in: GRBS 44 (2004), 164. Kamesar schreibt, mit Verweis auf Her § 4, die Ausbildung des λόγος προφορικός dem „master of rhetoric“ zu und die des λόγος ἐνδιάθετος dem „teacher of philosophy“ (171) und bezieht die beiden Logoi auf zwei Bereiche der Erziehung, die Rhetorik und die Philosophie (vgl. 180.). 138 Vgl. Som I § 102-112 und die Interpretation bei Kweta, Sprache, 45 ff, All II § 6, Congr § 26, All III § 49 f, Det § 168, Her § 232. Vgl. Eduard Zeller: Die Philosophie der Griechen. Eine Untersuchung über Charakter, Gang und Hauptmomente ihrer Entwicklung. Dritter Theil: Die nacharistotelische Philosophie. Zweite Hälfte, Tübingen 1865, 446 f. 139 Das Verständnis von νοῦς als Terminus für die göttliche Vernunft tritt bei Philon, wie auch in der mittleren Stoa, zurück und wird zur Bezeichnung für die menschliche Ver‐ nunft. Vgl. Edmund Turowski: Die Widerspiegelung des stoischen Systems bei Philon von Alexandreia, Borna, Leipzig 1927, 13. 140 Philon verwendet häufig die Wendung ὁ κατὰ διάνοιαν λόγος, um den λόγος ἐνδιάθετος zu erklären. Vgl. Abr § 129, Her § 4 Migr § 71. 141 Vgl. Kweta, Sprache, 56. 142 Vgl. Migr § 78 und Kweta, Sprache, 60 f. 143 Vgl. Quaest Gen IV § 96, Her § 14 ff und Det § 92 sowie Kweta, Sprache, 61-65. Der λόγος gliedert sich nach Philon in einen äußeren (λόγος προφορικός) und einen inneren (λόγος ἐνδιάθετος) Logos. 136 Die philonische Besonderheit liegt darin, dass er die beiden Logoi unterschiedlichen Teilbereichen der Seele zu‐ ordnet. 137 Der λόγος ἐνδιάθετος bezeichnet das menschliche Denkvermögen und ist unabdingbar dem logischen Teil der Seele zugeordnet. 138 Begrifflich kann λόγος im Verständnis der geistigen Potenz entweder mit νοῦς 139 oder διάνοια 140 wiedergegeben werden. 141 In ihm sind nicht verbal geformte Gedanken bein‐ haltet. 142 Es geht Philon hier um artikulierte Vorgänge, die zwar noch nichts mit verbaler Sprache zu tun haben, die aber dennoch geformt sind in bestimmten Gedanken und Vorstellungen. 143 Es existiert für Philon im νοῦς „ein Innehaben von Gedanken unabhängig vom Medium der Sprache als Formungsphä‐ 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 115 <?page no="116"?> 144 Kweta, Sprache, 62. Vgl. Det § 38: Hier identifiziert Philon Mose mit dem νοῦς, obwohl er ihn als ἄλογος bestimmt. Ohne Logos heißt für Philon, dass Mose sich bewusst nicht des Stimmorgans bedient, weil er allein durch das Denkvermögen die Weisheit auf‐ nehmen kann. 145 Vgl. dazu bereits Kap. II, 6. 146 Vgl. Mut § 69. 147 Vgl. Mut § 69. 148 Vgl. Det § 126. 149 Vgl. All II § 6, Congr § 26, All III § 49 f und All I § 11. 150 Kweta, Sprache, 402. 151 Kweta, Sprache, 403. 152 Vgl. auch Som II § 262: Das Ausströmen von Wasser wird in Analogie zum Ausströmen der Wörter durch die Lippen gesetzt. Dadurch entsteht eine generelle Ausdrucksmög‐ lichkeit des Menschen. 153 Vgl. Sacr § 6 f und Kamesar, Logos, 168 f. 154 Dies verdeutlicht Philon ebenso anhand der Lichtmetapher in Det § 128. Zum Zusam‐ menhang zwischen Sprache und Licht siehe Niehoff, Name, 2345-243. nomen“ 144 . Im λόγος ἐνδιάθετος verbirgt sich der Gehalt der Sprache, der Aus‐ druck in einem sprachlichen Zeichen erfolgt im λόγος προφορικός. Mit dieser Trennung von Denken und Sprache steht Philon in stoischer Tradition. 145 Unter dem äußeren Logos ist das physiologisch-physikalische Sprachphä‐ nomen zu verstehen. Es wird als ἦχος 146 (Ton), φωνητήριον 147 (Stimmwerk‐ zeug / Stimmorgan) beschrieben und als Bruder der διάνοια bezeichnet 148 . Es ist dem alogischen Teil der Seele zuzurechnen. 149 Allein „durch die Indienstnahme durch den inneren λόγος und νοῦς wird sie zu einem Teil des ganzen λόγος des Menschen“ 150 . Damit steht Philon in nachplatonischer und nacharistotelischer Tradition, weil er Sprache nicht als Phänomen charakterisiert, das den ganzen Menschen angeht; sie ist lediglich ein Teil, welcher Medium für die Vermittlung von Inhalten ist, für welche, wenn es sich um körperhaft Konkretes handelt, die unmittelbare Anschauung als überlegen gilt, und welche, wenn es sich um Geistiges handelt, dem Menschen unmittelbarer und eigent‐ licher auf andere Weise zugänglich sind: im reinen Denken, einem bildhaft und ge‐ stalthaft schauenden Denken in der Erfassung der Begriffe, einem intuitiv-visuellen Erfassen (…), in Identifikationsphänomenen (…), schließlich in Inspirationserleb‐ nissen. 151 Der Gehalt der Sprache wird in der stimmlichen Äußerung präsent gemacht. 152 Analog dazu wird der λόγος προφορικός durch das Hören wahrgenommen. 153 Der νοῦς bedient sich des alogischen Teils, der Sinne, im Speziellen der Sprache, und setzt diese für sich ein: 154 III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 116 <?page no="117"?> 155 Die hier genannte Dolmetschertätigkeit ist selbstverständlich nicht verstanden als Übersetzungstätigkeit zwischen verschiedenen Sprachen, sondern als Funktion, die Gedanken in einer verständichen sprachlichen Mitteilung zu äußern. 156 Kweta, Sprache, 70. 157 Vgl. Det § 127.129.140, Migr § 78. 79. 81 und All I § 74 (in unterschiedlichen grammati‐ schen Realisierungen). 158 Vgl. Kamesar, Logos, 163. Indem Philon die Stimme dem geistigen Logos unterordnet, steht Philon in stoischer Tradition. Vgl. Robertson, Word, 11, 24-28. 159 Kweta, Sprache, 70. 160 Vgl. Kweta, Sprache, 70.74. 161 Vgl. Dieter Zeller: Philonische Logos-Theologie im Hintergrund des Konflikts von 1Kor 1-4, in: Philo und das Neue Testament - Das Neue Testament und Philo. Wechselseitige Wahrnehmungen, in: Philo und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen. I. Internationales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum. 1.-4. Mai 2003, Eise‐ nach / Jena, hg. v. Roland Deines und Karl-Wilhelm Niebuhr, Tübingen 2004 (WUNT 172), 162. τὰ γὰρ ἐν αὐτῷ ταμιευόμενα μὴ δυνάμενος ὁ νοῦς ἀπαγγεῖλαι τῷ πλησίον ἑρμηνεῖ χρῆται λόγῳ πρὸς τὴν ὧν πέπονθε δήλωσιν. (Migr § 78) Da nämlich der Nus die Gedanken, die er faßt, nicht allein mitteilen kann, so bedient er sich des ihm nahe stehenden Dolmetschers 155 , der Rede, um das zu übermitteln, was auf ihn gewirkt hat. (Migr § 78). Kweta folgert richtig, wenn sie den äußeren Logos als Möglichkeit bestimmt, „einen noetischen Gehalt präsent zu machen“ 156 . Er fungiert also in einer sprach‐ lichen Äußerung als Umsetzung des νοῦς, weshalb Philon vom λόγος προφορικός als ἑρμηνεύς des νοῦς sprechen kann. 157 Es liegt nahe, dass es zwi‐ schen der stimmlichen Äußerung und dem Gehalt eine enge Verbindung geben muss. 158 Wenn im äußeren Logos ein Gehalt präsent gemacht wird, so bleibt dieser doch eine autonome Größe. Lediglich im Augenblick der Präsentwerdung fungieren die beiden Logoi als „Zweieinheit“ 159 , im Grunde aber bleiben sie ei‐ genständige Größen. 160 Philon verwendet den Logosbegriff in einem weiten Spektrum, in dem die einzelnen Bereiche nicht immer exakt voneinander un‐ terschieden werden können. Es umfasst die Vorstellung vom göttlichen Logos bis hin zum menschlichen Logos, der vom ὀρθὸς λόγος geprägt wird. 161 Die beschriebenen Tätigkeiten des νοῦς und des λόγος προφορικός als Sprache sind die idealen anthropologischen Voraussetzungen. Sie sind Grund‐ lage der Erkenntnis. Die Fragen, wie Erkenntnis bei Philon zu denken ist und welcher Zusammenhang zwischen Sprache und Erkenntnis besteht, sind Ge‐ genstand der folgenden Ausführungen, die zugleich die Darstellung der Funk‐ tionen von Sprache bei Philon einleiten. 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 117 <?page no="118"?> 162 Vgl. Kweta, Sprache, 231. 163 Vgl. Det § 86-91. 164 Es wird nicht immer in Bezug auf das menschliche Erkennen gebraucht, sondern auch von der Erkenntnis Gottes ist die Rede (vgl. z. B. Imm § 42: Gott hat Erkenntnis von allem, was er geschaffen hat). Es verweist damit stärker auf einen - meist nicht ange‐ führten - Inhalt und verdeutlicht nicht den Erkenntnisvorgang und kann z. B. in der Bedeutung von Meinung verwendet werden (vgl. Her § 91). Es kann aber auch in der Bedeutung ‚Urteil, Richterspruch, richterliches Erkennen’ gebraucht werden (vgl. VitMos II § 218 und SpecLeg IV § 63 f.70.189) oder die Erkenntnis eines Gegenstandes mit den Augen beschreiben (vgl. Decal § 147.149) 165 Kweta, Sprache, 231. 166 Vgl. Her § 126. Dies entspricht dem Prinzip, dass Gleiches nur durch Gleiches erkannt werden kann. Es findet sich bereits in der Stoa und in den hermetischen Texten und wird in Bezug auf die Gotteserkenntnis angewandt. Vgl. Bertil E. Gärtner: The Pauline and Johannine Idea of ‘To Know God’ against the Hellenistic Background. The Greek Philosophical Principle ‘Like by Like’ in Paul and John, in: NTS 14 (1968), 210-212. Auch Paulus greift dieses Prinzip in 1 Kor 2,13 auf. Vgl hierzu Kap. IV, 3.3.3. 4.3 Der Zusammenhang von Sprache und Erkennen Bei der Darstellung des philonischen Menschenbildes wurde bereits deutlich, dass der νοῦς die Möglichkeit besitzt, die in ihm geformte Materie durch den λόγος προφορικός in einer stimmlichen Äußerung präsent zu machen. Es stellt sich in Bezug auf die Erkenntnis die Frage, woher der νοῦς die Gedanken und den Gehalt der Sprache, also all das nicht verbal Geformte, das durch den Laut‐ bestand der Sprache zum Ausdruck gebracht wird, aufnimmt bzw. erhält. Auf diesem Weg sind zwei Arten der Erkenntnis zu unterscheiden, (1) die noetische und (2) die aisthetische. 162 (3) Im Anschluss an die Darstellung beider Erkennt‐ nisformen sind ihre Unterschiede und ihre Beziehung zu beleuchten. Dabei wird auf zwei besondere Erkenntnissituationen einzugehen sein, auf die philosophi‐ sche Betrachtung und den Traum. (4) In einem letzten Punkt wird der Zusam‐ menhang von Erkennen und Wahrheit aufgegriffen. Voraussetzung für beide Formen ist, dass der Mensch die Fähigkeit zur Er‐ kenntnis besitzt. Diese ist für Philon im νοῦς gegeben, in dem er den Ort der Erkenntnis sieht. 163 Der νοῦς ist nach Op § 69-71 und Det § 168 der Führer im Menschen. Deshalb ist das Lexem νοῦς für das Verständnis von Erkenntnis bei Philon von größerer Bedeutung als das der γνῶσις. Dies zeigt auch das Vor‐ kommen: Das Lexem γνῶσις findet sich nur 15mal und zeigt keine semantische Kontinuität; 164 die Lexeme νοῦς / νοός zeigen knapp 700 Belege. (1) Die noetische Erkenntnis meint „ein Begreifen der Dinge in ihrem inneren Wesen“ 165 und folgt der Annahme, dass die göttliche Erkenntnis der Ursprung bzw. die Grundlage der menschlichen Erkenntnis ist. 166 Die Erkenntnis wird dem III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 118 <?page no="119"?> 167 In Bezug auf die Gotteserkenntnis bezeichnet Gärtner, Idea, 214 diese Form gegenüber der zweiten, im Folgenden dargestellten Erkenntnis, als den höheren Weg. 168 Vgl. All III § 96, Conf § 97, Fug § 101 und Som I § 239. Der Logos kann auch als Sohn Gottes bezeichnet werden (Fug § 109), er kann auch für die himmlische Weisheit stehen (Migr § 28, Som I § 217). Vgl. auch Burton L. Mack: Logos und Sophia. Untersuchungen zur Weisheitstheologie im hellenistischen Judentum, Göttingen 1973 (StUNT 10), 170 f. 169 Damit befindet sich der Mensch auf dem Weg zur Gottesebenbildlichkeit, die aber ein weit entferntes Ziel und nur theoretisch möglich ist, vgl. Stefanie Lorenzen: Das pau‐ linische Eikon-Konzept. Semantische Analyse zur Sapientia Salomonis, zu Philo und den Paulusbriefen, Tübingen 2008 (WUNT 250), 69. 170 Vgl. Gärtner, Idea, 214. 171 Der göttliche Logos erscheint bei Philon als vermittelnde Kraft zwischen Gott und dem Menschen bzw. der stofflichen Welt. Dies stellt einen Unterschied zum Verständnis des göttlichen Logos in der Stoa dar. Hier wird der göttliche Logos mit dem Urwesen gleichgesetzt, nicht als direktes Abbild gesehen. Vgl. Diogenes Laertios VII,134 (SVF I,85) und Diogenes Laertios VII,139 (SVF II,300). 172 Diese Vorstellung findet sich bereits in der Stoa. Vgl. Diogenes Laertios VII,46 (SVF II, 53) und Sextus Empiricus, Math. VII,242 (SVF II,65), Übersetzung bei Long / Sedley, 40C. 173 Vgl. Migr § 78 ff und Kweta, Sprache, 226. 174 Vgl. Migr § 79. 175 Vgl. All I § 61.100, Mut § 30.212, Agr § 16 und Imm § 43. Menschen nach Sacr § 64 von Gott gegeben. 167 Dies geschieht über den göttlichen Logos, der das direkte Abbild Gottes ist 168 und der den Menschen über den νοῦς zur Erkenntnis führen kann. 169 Anstelle des göttlichen Logos kann auch πνεῦμα stehen. 170 Entscheidend ist, dass der göttliche Logos auf den menschlichen νοῦς wirkt und diesem so Erkenntnis vermittelt. 171 Kweta bezeichnet diesen Vorgang als Prinzip der Prägung, 172 d. h., etwas wird in einer anderen Erscheinung zum Ausdruck gebracht. 173 Wie der νοῦς den Gehalt der Sprache in einem anderen Medium, nämlich der stimmlichen Äußerung wiedergibt, 174 so wird die göttliche Erkenntnis im direkten Abbild des göttlichen Logos dem menschlichen νοῦς als ‚Gedachtes’ zugeführt: ἄνευ γὰρ τοῦ ὑποβολέως οὐ φθέγξεται ὁ λόγος, ὑποβολεὺς δὲ λόγου νοῦς, ὡς νοῦ θεός. (Migr § 81) Denn ohne einen Eingeber wird die Rede nicht sprechen; Eingeber der Rede aber ist der Nus, wie Gott selbst hinwiederum der Eingeber des Nus ist. (Migr § 81) Möglich ist die Prägung des νοῦς, weil Philon ihn weich wie Wachs denkt. 175 Man kann von ‚echter Erkenntnis‘ sprechen, weil die göttliche Erkenntnis über diesen Vorgang Grundlage der menschlichen Erkenntnis ist. Sie kann nur statt‐ finden, wenn der göttliche Logos als Vermittler fungiert und die göttliche Er‐ 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 119 <?page no="120"?> 176 Vgl. Kweta, Sprache, 58. Sprache bedarf der Offenbarung, vgl. SpecLeg IV § 69. 177 Vgl. Det § 68.127. 178 Vgl. Migr § 78-80. 179 Vgl. Quaest Gen IV § 85.90. 180 Vgl. Som I § 58-60.212. 181 Vgl. auch Gärtner, Idea, 214. 182 Vgl. Gig § 60 f. 183 Vgl. Imm § 139. 184 Vgl. Gig § 62 f. 185 Vgl. Mut § 24 ff. Zur Funktion des Moses bei Philon siehe: Francesca Calabi: The Lang‐ uage and the Law of God: Interpretation and Politics in Philo of Alexandria, Atlanta 1998 (South Florida Studies in the History of Judaism 188). S. bes. Calabi, Language, 3-13: Sie untersucht Mose unter verschiedenen Gesichtspunkten: Mose als Interpret, Übersetzer und Vermittler des göttlichen Wortes. Als besonders stellt sie heraus, dass sich Mose, im Gegensatz zu ägyptischen Zauberern o. Ä., in einer Harmonie mit der göttlichen Ordnung befindet. Mose erhält das göttliche Wort, aktualisiert es in mensch‐ licher Sprache und lässt dieser Taten folgen. kenntnis an den νοῦς weitergibt. Die noetische Erkenntniskette ist folgender‐ maßen zu verstehen: Göttlicher λόγος → menschlicher νοῦς → stimmliche Äußerung Durch Sprache kann ein bestimmter, durch den göttlichen Logos vermittelter Inhalt geäußert werden. 176 Sprache wird so zur Umsetzung des νοῦς 177 und ist damit abhängig von ihm 178 . Deshalb bezeichnet Philon den λόγος προφορικός als Diener des νοῦς. 179 Wenn Erkenntnis nach diesem Modell funktioniert, kann eine Kommunikation über das Erkannte erfolgen, die wahr und klar ist, weil sie ihren Ausgangspunkt im göttlichen Logos findet und sich mit dem νοῦς den menschlichen Teil zu Nutzen macht, der zu den logischen Teilen der Seele zählt. So kann über die Sinnlichkeit eine unverfälschte Erkenntnis (der Wirklichkeit) wiedergegeben werden. Wem ist eine solche Erkenntnis möglich? Kommt sie nur bestimmten oder allen Menschen zu? Nur die Menschen, deren νοῦς vom göttlichen Logos ge‐ prägt ist, können zu echter Erkenntnis gelangen. Das sind nach philonischer Ansicht nicht alle Menschen. Eine erste Grenze der noetischen Erkenntnis liegt in der eigenen Erkenntnis. Wenn der Mensch sich nicht selbst erkennt, kann er nicht am κόσμος νοητός teilhaben. 180 Ein zweiter Grund, weshalb nicht die ge‐ samte Menschheit zu noetischer Erkenntnis befähigt ist, liegt darin, dass der göttliche Logos nicht a priori Teil des menschlichen Logos ist: 181 Es gibt Men‐ schen, die Philon als ἄνθρωποι θεοῦ bezeichnet: Unter ihnen subsumiert er die Priester und Propheten 182 , die Schauenden 183 , Abraham 184 und Mose 185 sowie die III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 120 <?page no="121"?> 186 Vgl. Op § 134 ff und All I § 89 ff. 187 Zeller, Logos-Theologie, 157. 188 Vgl. Conf § 41. 189 Vgl. hierzu die Auseinandersetzung zwischen Zeller und Sellin, ob der ἄνθρωπος θεοῦ mit dem göttlichen Logos identifiziert ist oder nicht. Gerhard Sellin: Einflüsse philonischer Logos-Theologie in Korinth. Weisheit und Apostelparteien (1 Kor 1-4), in: Philo und das Neue Testament - Das Neue Testament und Philo. Wechselseitige Wahr‐ nehmungen. I. Internationales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum. 1.-4. Mai 2003, Eisenach / Jena, hg. v. Roland Deines und Karl-Wilhelm Niebuhr, Tü‐ bingen 2004 (WUNT 172), 168-170 spricht sich dafür aus. Zeller, Logos-Theologie, 159 f bestreitet das. Er sieht v. a. in Conf § 62 keinen Bezug zum Logos. Auch für Conf § 41 sind die Menschen nicht als Logos zu bestimmen, sondern in Analogie des Gene‐ siszitats als die Söhne des Logos. 190 Vgl. Gärtner, Idea, 214. 191 Vgl. Christoph Markschies: Die Gnosis, München 3 2010 (bsr 2173), 12. Wer zu den er‐ kennenden Menschen zählt hingegen wird unterschiedlich bestimmt. Bei Platon sind es die Philosophen, die in seinem Sinn Philosophie betreiben, die Myterienkulte wie‐ derum verstehen ihre Mitglieder als Personen mit einer besonderen Erkenntnis, weil sie in Geheimnisse eingeweiht sind. 192 Kweta, Sprache, 231. 193 In Bezug auf die Gotteserkenntnis entspricht dies dem Vorgang, den Gärtner, Idea, 214 als unteren oder indirekten Weg der Erkenntnis bezeichnet. Menschen, welche er in seinen anthropologischen Ausführungen als himmli‐ sche Menschen 186 beschreibt. Der ἄνθρωπος θεοῦ ist durch eine „existentielle Zugehörigkeit zu Gott“ 187 gekennzeichnet. 188 Ihnen gesteht Philon echte Er‐ kenntnis zu, weil der göttliche Logos auf den menschlichen νοῦς einwirkt. Strittig ist, ob er mit ihm eine Identität eingeht. 189 Echte Erkenntnis, die zur Gotteserkenntnis führen kann, hat ihren ‚Ausgangpunkt’ bei Gott, nicht im Menschen. Sie geht immer vom göttlichen λόγος oder vom göttlichen πνεῦμα aus. 190 Echte Erkenntnis jedenfalls steht in direktem Zusammenhang mit der philo‐ nischen Dekadenztheorie des Menschen. Philon vertritt eindeutig Abstufungen der menschlichen Existenz, die mit Abstufungen in der Erkenntnis zusammen‐ fallen. Die Traktate zeigen, dass der Fokus Philons auf den weisen Menschen liegt. Die Ansicht, dass echte Erkenntnis nur einem Teil der Menschen zukommt, trifft nicht nur für Philon zu, sondern für alle paganen und jüdischen Erkennt‐ nistheorien. 191 Auch bei Heraklit konnte bereits festgestellt werden, dass sich nicht alle Menschen auf das richtige Hören und Sprechen verstehen und deshalb nicht zur Einsicht der ‚objektiven Welt’ gelangen. (2) Die zweite Art der Erkenntnis ist die aisthetische, die Kweta als „ein Auf‐ nehmen der unmittelbaren äußeren Erscheinung der Dinge als Vorstellung“ 192 bezeichnet. 193 Sie beschreibt Philon in Op § 166: 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 121 <?page no="122"?> 194 Kweta, Sprache, 234. 195 Vgl. Imm § 43, Det § 68 und All I § 61. 196 Vgl. Sextus Empiricus, Adv. Math. VIII,70 (SVF II,187); Übersetzung bei Long / Sedley, 33C. 197 Dieser Prozess ist es, der von Philon als φαντασία bezeichnet wird, vgl. Conf § 106 und Her § 108.119. (…) μαστροπεύουσι δ’ αὐτῇ καὶ προξενοῦσι τὸν ἐρῶντα αἰσθήσεις, ἃς δελεάσασα ῥᾳδίως ὑπηγάγετο τὸν νοῦν, ᾧ τὰ φανέντα ἐκτὸς εἴσω κομίζουσαι διαγγέλλουσι καὶ ἐπιδείκνυνται, τοὺς τύπους ἑκάστων ἐνσφραγιζόμεναι καὶ τὸ ὅμοιον ἐνεργαζόμεναι πάθος· κηρῷ γὰρ ἐοικὼς δέχεται τὰς διὰ τῶν αἰσθήσεων φαντασίας, αἷς τὰ σώματα καταλαμβάνει δι’ αὑτοῦ μὴ δυνάμενος, καθάπερ εἶπον ἤδη. (Op § 166) (…) ihm [dem νοῦς] führen die Sinne die äusseren (sic! ) Erscheinungen zu, sie melden sie an und zeigen sie, sie prägen ihm die Formen aller Dinge ein und erzeugen in ihm die entsprechende Empfindung; denn wie Wachs nimmt er die durch die Sinne ver‐ mittelten Vorstellungen in sich auf, durch die er die Körper erfasst, da er es, wie ich schon sagte, durch sich selbst nicht vermag. (Op § 166) An dieser Stelle rückt auch der Begriff der φαντασία in den Blick. Sie ist die „bildhafte Repräsentation der realen Körperwelt im νοῦς“ 194 . Die sinnlichen Wahrnehmungen tragen dem νοῦς Erscheinungen (φανέντα) zu; dadurch ent‐ stehen Abdrücke (τύπους), die der νοῦς in sich aufnimmt, speichert und gege‐ benenfalls in einer sprachlichen Äußerung wieder zum Ausdruck bringt. 195 Diese Vorstellung findet sich bereits in der Stoa. 196 Der Abdruck ist als Nachbildung des Wahrnehmungsgegenstandes in seiner körperhaften Natur zu verstehen und letztlich wieder unter dem Prinzip der Prägung zu subsumieren. Im Unter‐ schied zur noetischen Erkenntnis erfolgt die Prägung jedoch von der anderen Seite. Der νοῦς wird nicht von einem göttlichen Logos geprägt und erst im letzten Schritt - durch die Wiedergabe des Erkannten in einer stimmlichen Äu‐ ßerung - zur Sinnlichkeit in Beziehung gesetzt. Im Gegenteil: Der νοῦς erhält zu Beginn des Erkenntnisprozesses eine Prägung durch die Sinne, die zu einem Abdruck im νοῦς führen, 197 der wiederum durch die Stimme in einem sinnlich wahrnehmbaren Medium präsent gemacht werden kann. Daher lässt sich die aisthetische Erkenntniskette wie folgt skizzieren: Sinnl. Wahrnehmung → νοῦς → Abdruck → stimml. Äußerung Erfolgt Erkenntnis des Menschen auf diese Art, so entsteht eine verfälschte Er‐ kenntnis, weil sie ihren Ursprung in der αἴσθησις hat. Die Sinne können trü‐ gerisch sein und damit die Wahrnehmung der Wirklichkeit sowie die Erkenntnis III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 122 <?page no="123"?> 198 Vgl. Imm § 53 und Fug § 69 f. 199 Das widersprach dem Verständnis der hellenistischen Zeit, zu der es Konsens war, dass die Erkenntnis über die Welt nur über die Sinne erfolgen konnte. Im Gegensatz zu dem Verständnis der Epikureer stellt die Stoa unter Zenon heraus, dass beim Menschen zur Erkenntnis durch die Sinne dennoch der λόγος hinzutreten muss, weil er Wesens‐ merkmal des Menschen ist. Vgl. Pohlenz, Geschichte, 54 ff. 200 Die Sinnlichkeit wird von Philon mit der Allegorie des Wassers erklärt. Wie ein Bach oder Fluss strömt die Sinnlichkeit heran. Das Wasser ist, wie die Sinnlichkeit, unbe‐ ständig und verleitet so den Menschen. Unter dem ‚Fluss in Ägypten’ subsumiert Philon alles Schlechte und bezeichnet ihn als Quelle der Laster und Leidenschaften. Vgl. Conf § 30 f.70, außerdem Som II § 109.258.278 und Mut § 214. 201 Vgl. Som I § 60. Hier arbeitet Philon mit dem Lexem der γνῶσις. und die Kommunikation in einem negativen Sinn beeinflussen. Deshalb soll die sinnliche Wahrnehmung dem νοῦς untergeordnet sein. 198 (3) Der Unterschied zwischen beiden Formen der Erkenntnis liegt zum einen im Erkenntnisvorgang, zum anderen im Ergebnis der Erkenntnis. Letzteres ist für die weiteren Auswirkungen der Sprache von besonderer Bedeutung, weil anhand der Erkenntnis Namensbildungen erfolgen und zudem über die so er‐ fahrene Wirklichkeit Kommunikation stattfindet. Die noetische Erkenntnis ist der Idealfall, 199 wie er sich bei Adam, den Weisen, dem ersten und himmlischen Menschen findet, weil sie die bereits beschriebenen Voraussetzungen erfüllen und die Prägung ihres νοῦς durch den göttlichen Logos erfolgen kann. Sie er‐ möglicht echte Erkenntnis. Die aisthetische Erkenntnis findet sich dort, wo diese Voraussetzungen nicht erfüllt werden und wo die Sinne die Funktion des νοῦς einschränken. 200 Deshalb kann Philon Abraham als denjenigen beschreiben, der die aisthetische Erkenntnis überwunden hat und, nachdem er sich selbst erkannt hatte, zur größeren Art der Erkenntnis fortgeschritten ist, indem er sich von sich selbst und dem Irdischen abgewandt hat und so zur Erkenntnis Gottes gelangt ist. 201 Bezüglich der Sinne findet sich bei Philon eine unterschiedliche Wertung. Sind die Sinne auf der einen Seite trügerisch und verfälschen jegliche Wahr‐ nehmung, so sind sie auf der anderen Seite notwendig, da sonst auch die richtige Erkenntnis, die aus der göttlichen Erkenntnis stammt, nicht wiedergegeben werden kann. Dieser Dualismus ist für Philon charakteristisch und zieht sich vom Makrokosmos der Welt in den Mikrokosmos des Menschen hinein. Kweta spricht vom Prinzip der δυάς. Für das Verständnis dieses Prinzips ist ein kurzer Einblick in die philonische Kosmologie notwendig. Für Philon gibt es einen ge‐ dachten Kosmos (κόσμος νοητός) und den wahrnehmbaren Kosmos (κόσμος 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 123 <?page no="124"?> 202 S. dazu Op § 16 f und Mack, Logos, 113: Beide Teile verhalten sich zueinander wie „das Urbild zum Abbild, das Siegel zum Geprägten oder das Wahrhafte zu seiner Nachah‐ mung“. Damit knüpft Philon an die Urbild-Abbild-Vorstellung Platons an. Vgl. dazu auch Wischmeyer, Kosmos, 94. 203 Vgl. VitMos II § 127. 204 Zu den Voraussetzungen der Sprache und der Vorstellung des Menschen nach Philon s. Kap. III, 4.2. 205 Vgl. All II § 69 f. 206 Vgl. die allegorische Deutung von Gen 2,21 in All II § 19 ff: Die αἴσθησις ist im Schlaf des νοῦς erschaffen, weil sie verschwindet, wenn der Verstand in Aktion tritt. αἰσθητός). 202 Der Mensch kann ersteren nur von seinem Standpunkt aus, dem κόσμος αἰσθητός, erkennen. Das Denken in Form eines Makrokosmos wirkt sich auch auf den Mikrokosmos ‚Mensch’ aus; denn es gibt eine Parallelität der Logosstruktur der Welt mit der Logosstruktur des Menschen. 203 Da die beiden Logoi unterschiedlichen Seelenteilen zugeordnet wurden, 204 befindet sich der Mensch in einer Ambivalenz von νοῦς und αἴσθησις und damit auch in der bereits angesprochenen Ambivalenz innerhalb der Sinnlichkeit. Bezeichnend für Philon ist, dass er solche nicht miteinander zu vereinbarenden Aussagen oder Widersprüche unproblematisiert nebeneinander stehen lassen kann. Dies wurde auch zu Beginn der Ausführungen im Hinblick auf die verschiedenen Theorien zur Entstehung der Sprache und die unterschiedlichen anthropologi‐ schen Ansätze deutlich. Auch die Sinne sind ambivalent zu verstehen. Sie können Diener des Ver‐ standes sein, wenn sie vom νοῦς ausgehend eingesetzt werden. Sie können die Arbeit des νοῦς und echte Erkenntnis aber auch verhindern, wenn sie sich ver‐ selbstständigen, so dass der νοῦς nicht mehr als Führer als im Menschen fungiert und sie von außen an ihn herantreten. Dann entsteht aisthetische Erkenntnis. Der νοῦς muss jedoch uneingeschränkt in der Lage sein, den göttlichen Logos aufzunehmen. Solches wäre der Fall, wenn die αἴσθησις nicht die Oberhand über den νοῦς gewinnt; 205 Für die Erkenntnis der Sprache ist also eine uneinge‐ schränkte Arbeit des νοῦς vonnöten, weil die αἴσθησις Erkenntnis verhindern kann. 206 Philon stellt in einem weiteren Exkurs in den Bereich der Musik dar, dass der νοῦς eine wichtige Stellung für die echte Erkenntnis einnimmt und damit die Voraussetzung der Klarheit erfüllt. Er vergleicht den Vorgang, wenn ein Ge‐ danke (νοήμα) versprachlicht wird, mit dem Stimmen und Spielen eines Musik‐ instruments: καθάπερ γὰρ ὄργανον ἀμούσῳ μὲν παραδοθὲν ἀνάρμοστον, μουσικῷ δὲ κατὰ τὴν ἐν αὐτῷ τέχνην εὐάρμοστον γίνεται, τὸν αὐτὸν τρόπον καὶ ὁ λόγος ὑπὸ μὲν φαύλου νοῦ III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 124 <?page no="125"?> 207 Vgl. auch Thiselton, Tongues, 20 f. 208 Vgl. den hier beschriebenen und allegorisch gedeuteten Weg: Der Mensch soll den Weg Abrahams nachahmen, indem er aus Chaldäa auszieht, so den Glauben an die Gestirne anstelle von Gott aufgibt, sich in Haran aufhält und dort den eigenen Körper erfährt und dabei sein geistiges Kapital entdeckt und schließlich die Unabhängigkeit des νοῦς erfährt. 209 Vgl. All I § 37 und § 42. Die Funktion von Pneuma und göttlichem Logos kann häufig gleichgesetzt werden; in Fug § 134 bezeichnet Philon den νοῦς sogar begrifflich als πνεῦμα. κινούμενος ἀνάρμοστος, ὑπὸ δὲ σπουδαίου πάνυ ἐμμελὴς εὑρίσκεται. λύρα γε μὴν ἢ εἴ τι τῶν ὁμοίων, εἰ μὴ πληχθείη πρός τινος, ἠρεμεῖ· λόγος τε αὖ |μὴ πληχθεὶς ὑφ’ ἡγεμονικοῦ κατὰ τἀναγκαῖον ἡσυχίαν ἄγει. (Post § 107 f) Denn wie ein Musikinstrument, das einem unmusikalischen Menschen anvertraut wurde, findet man die von einem schlechten Geiste angeregte Rede unstimmig, die von einem strebsamen gehaltene durchaus wohlklingend. Eine Leier jedoch oder ein ähnliches Instrument schweigt, wenn es nicht von jemand angeschlagen wurde; die Rede ihrerseits bleibt, wenn sie nicht von der leitenden Vernunft angeregt wurde, notwendig stumm. (Post § 107 f) Mit einem Instrument verhält es sich wie mit dem gesprochenen Wort: 207 Es klingt falsch, wenn es nicht richtig gestimmt werden konnte und wird keinen Ton geben, wenn es von niemandem gespielt wird. Auch eine sprachliche Äu‐ ßerung ist unstimmig, unverständlich und gibt eine falsche Erkenntnis und Wirklichkeit wieder, wenn sie nicht die notwendigen Voraussetzungen erhält; eine solche ist in der Beteiligung des νοῦς auszumachen, der in den Gedanken die ‚echte’ Wirklichkeit fasst bzw. fassen soll und damit eine wahrheitsgemäße und der Wirklichkeit entsprechende Aussage ermöglicht. Beide Arten der Erkenntnis führen also zu einem unterschiedlichen ‚Er‐ kenntnisniveau’. Es bleibt die Frage, ob es eine Möglichkeit gibt, die Kraft der Sinne so zu beherrschen, dass sie nicht die Oberhand über den νοῦς gewinnen und dass der νοῦς unabhängig von den Sinnen agieren kann. Dass der νοῦς von den alogischen Teilen der Seele unabhängig sein kann, stellt Philon in Fug § 91 f und Migr § 190 heraus. 208 Nur wenn der νοῦς in dieser Losgelöstheit steht, ist dem Menschen reine Erkenntnis und eine reine Gottesbeziehung möglich. Die Kraft, die der νοῦς hierfür benötigt, erhält er durch das göttliche Pneuma. 209 Eine erste Antwort auf die gestellte Frage liefert Philon in Migr: ὅταν γὰρ ἔκ τινος τῶν κατὰ φιλοσοφίαν κατασχεθεὶς θεωρημάτων ἀχθῇ πρὸς αὐτοῦ, τῷ μὲν ἕπειται, τῶν δ’ ἄλλων ὅσα κατὰ τὸν σωματικὸν ὄγκον ἀμνημονεῖ δήπου. κἄν ἐμποδίζωσιν αἱ αἰσθήσεις πρὸς τὴν ἀκριβῆ θέαν τοῦ νοητοῦ, μέλει τοῖς φιλοθεάμοσι καθαρεῖν αὐτῶν τὴν ἐπίθεσιν. τἀς τε γὰρ ὄψεις καταμύουσι καὶ τὰ ὦτα 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 125 <?page no="126"?> 210 Hans Willms: ΕΙΚΩΝ. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zum Platonismus. I. Teil: Philon von Alexandreia. Mit einer Einleitung über Platon und die Zwischenzeit, Münster 1935, in: Philo of Alexandria: Fours Studies, New York, London 1987 (Greek and Roman philosophy 28), 106. 211 Vgl. Willms, ΕΙΚΩΝ, 106 ff. ἐπιφράττουσι καὶ τὰς τῶν ἄλλων <αἰσθήσεων> ἐπέχουσιν ὁρμὰς καὶ ἐν ἐρημίᾳ καὶ σκότῳ διατρίβειν ἀξιοῦσιν, ὡς μὴ πρός τινος αἰσθητοῦ τὸ ψυχῆς ὄμμα, ᾧ νοητὰ βλέπειν ἔδωκεν ὁ θεός, ἐπισκιασθῇ. (Migr § 191) Wenn nämlich jemand von einer philosophischen Betrachtung gefesselt und ange‐ zogen wird, so folgt er ihr und denkt sicherlich nicht an irgendetwas, was zur Masse des Körpers Bezug hat; und wenn die sinnlichen Wahrnehmungen die genaue Be‐ trachtung des Geistigen stören, so ist es die Art derer, die solche Betrachtungen lieben, diesen Angriff abzuwehren; sie schließen nämlich die Augen, verstopfen die Ohren, halten die Wirkungen aller übrigen Sinne von sich fern und lieben es, in Dunkelheit und Einsamkeit zu verweilen, damit nicht das Auge der Seele, das nach göttlichem Willen das geistig Wahrnehmbare schauen kann, durch irgendetwas sinnlich Wahr‐ nehmbares verdunkelt werde. (Migr § 191) Die Arbeit des νοῦς kann beginnen, wenn alles ausgeblendet wird, was einen Bezug zur Sinnlichkeit des Menschen hat. So sollen die Sinnesorgane ausge‐ schaltet werden, indem die Augen zugemacht und die Ohren verschlossen werden und indem ein Ort aufgesucht wird, der dunkel und einsam ist. Die genannten Aspekte beschreibt Philon im Zusammenhang mit einer philosophi‐ schen Betrachtung (κατὰ φιλοσοφίαν θεωρήματα). Es handelt sich also auch hier nicht um eine Möglichkeit, zu echter Erkenntnis zu gelangen, die jedem Menschen zu jeder Zeit offen steht, vielmehr ist eine asketische Anstrengung nötig. Der νοῦς ist offen für die Prägung durch den göttlichen Logos, wenn der Mensch es schafft, sich von allem Sinnlichen zu befreien. Sie selbst ist eine „Gnade des Pneuma“ 210 , auf die der Mensch angewiesen ist. 211 Philon beschreibt als zweite Situation, in der es dem νοῦς gelingt, sich von den Sinnen zu lösen, den Traum: (…) ἀναχωρήσας γὰρ ὁ νοῦς καὶ τῶν αἰσθήσεων καὶ τῶν ἄλλων ὅσα κατὰ τὸ σῶμα ὑπεξελθὼν ἑαυτῷ προσομιλεῖν ἄρχεται, (…) καὶ ἀπορρυψάμενος πάνθ’ ὅσα ἐκ τῶν κατὰ τὰς αἰσθήσεις φαντασιῶν ἀπεμάξατο τὰς περὶ τῶν μελλόντων ἀψειδεστάτος διὰ τῶν όνείρων μαντείας ἐνθουσιᾷ -, τοτὲ δὲ κἀν ταῖς ἐγρηγόρσεσιν. (Migr § 190) (…) denn dann geht gewissermaßen der Nus fort, trennt sich von den Wahrnehmungen und allem übrigen, was zum Körper gehört, und beginnt, mit sich selbst zu ver‐ kehren (…); wenn er sich dann gereinigt hat von allem, was er von den Sinnenvor‐ III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 126 <?page no="127"?> 212 Vgl. Migr § 190. 213 Vgl. Jehoshua Amir: Die hellenistische Gestalt des Judentums bei Philon von Alexand‐ rien, Neukirchen-Vluyn 1983 (FJCD 5), 118 bemerkt, dass die Methode der Allegorie selbst nicht an die Masse gerichtet ist, sondern an ein ausgewähltes, intellektuelles Publikum. stellungen sich eingeprägt, kündet er in Verzückung untrüglichste Traumweisungen über die zukünftigen Geschehnisse - mitunter auch in wachem Zustande. (Migr § 190) Die Eigenständigkeit des νοῦς und die Loslösung von der Sinnlichkeit kann der Mensch in der philosophischen Betrachtung und im Traum erlangen. In beiden Situationen erfolgt eine Konzentration auf das Bewusstsein und eine Abschir‐ mung von äußeren Ablenkungen, wie sie bereits bei den Therapeuten und Es‐ senern als ideale Umwelt beschrieben wurde. Beides mündet in mantische Er‐ lebnisse, die einmal im Schlafzustand, einmal im Wachsein erfahren werden. 212 Im κόσμος αἰσθητός, in dem sich die Menschen befinden, können die Sinne nur schwer ausgeschaltet werden. Deshalb scheint es für Philon so gut wie unmög‐ lich, dass Menschen, die nicht zu den Weisen zu zählen sind, die Unabhängigkeit des νοῦς erreichen und zu echter Erkenntnis gelangen, denn Träume an sich können trügerisch sein und der δόξα gleichen. Die Kompetenz, sich durch Kon‐ zentration von den Einflüssen der Sinnlichkeit zu befreien und dadurch den Unterschied zur Traumekstase herbeizuführen, spricht Philon den Weisen zu. So zeigt sich erneut die starke Fokussierung der philonischen Ausführungen auf die intellektuelle Oberschicht. 213 Das allgemeine Volk hat Philon in seinem Denken nur bedingt im Blick; seine Argumentation zeigt, dass es Menschen gibt, die nicht zu echter Erkenntnis befähigt sind, auf die Auswirkungen geht Philon nicht näher ein. Für die Weisen hingegen entwickelt er ein philosophisches Konzept, für welches er Rahmenbedingungen aufzeigt und mit der philosophi‐ schen Betrachtung und dem Traum Möglichkeiten bietet, die Erkenntnis zu steigern. (4) Von der Beschreibung der Losgelöstheit des νοῦς kommt Philon zum Zu‐ sammenhang von Erkenntnis und Wahrheit. In Migr § 190 beschreibt er, dass der νοῦς, wenn er sich von allem Somatischen und Sinnlichen befreit hat, in einem Spiegel die ἀλήθεια sieht. Wenn der νοῦς sich zusätzlich von den Ab‐ drücken, die ihm die Sinne eingeprägt haben, befreit, erhält er Einblicke in die 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 127 <?page no="128"?> 214 Wie diese Erkenntnis vonstattengeht, entfaltet Kweta, Sprache, 244-246. Sie kann ers‐ tens über die Leber erfolgen, welche in Anlehnung an Plat. Tim. 71b-72a der Sitz der Sehergabe ist, die während des Schlafes zu arbeiten beginnt. Auslöser hierfür ist die Geisteskraft, die ihre Gedanken in den Bereich der Leber hinabsendet. Dieser Vorgang, der echte Erkenntnis ermöglicht, kann bei Philon auch im Kopf und in der Brust statt‐ finden, je nachdem, ob die gemachte Erfahrung rationaler oder emotionaler Art ist. Vgl. hierzu Det § 85 und SpecLeg IV § 69. Die Erkenntnis kann zweitens durch einen Refle‐ xionsvorgang erfolgen, der als ein intuitiver, nicht als rationaler zu verstehen ist. Die Reflexion erfolgt durch eine Spiegelung der Gedanken / Erfahrungen im Innenraum des Menschen. Kweta sieht in diesem Vorgang eine „Vorstufe zu einem enthusiastisch-pro‐ phetischen Geschehen“ (Kweta, Sprache, 245). 215 Vgl. auch Det § 38-40: Wörter können genutzt werden, um Wahrheit zum Ausdruck zu bringen. 216 Vgl. Kweta, Sprache, 161. Die enge Verbindung von Erkennen und Wahrheit zeigt sich auch bei den Stoikern: Wer etwas erkennt, der besitzt die Vorstellung, dem zuzustimmen oder nicht. Der Weise nimmt keine Äußerung vor, wenn er zu dem im νοῦς Wahrge‐ nommenen keine Zustimmung geben kann. Vgl. Cicero, Ac. post. I,41 (SVF I,60). 217 Vgl. Kweta, Sprache, 164, Her § 70 f und Imm § 61. Zukunft. 214 Der κόσμος νοητός, den der Mensch in der Unabhängigkeit des νοῦς von allem Sinnlichen erfassen kann, fungiert als Pforte zur ἀλήθεια: τοῦτο δὲ τὸ δεικνύμενον καὶ ὁρατόν, ὁ αἰσθητὸς οὑτοσὶ κόσμος, οὐδὲν ἄρα ἄλλο ἐστὶν ἢ οἶκος θεοῦ (…), μιᾶς τῶν τοῦ ὄντος δυνάμεων, καθ’ ἣν ἀγαθὸς ἦν. τὸν δὲ κόσμον οἶκον ὠνόμασε καὶ πύλην τοῦ πρὸς ἀλήθειαν οὐρανοῦ (…) προσεῖτε. (Som I § 185 f) Das aber, was ihm [dem Menschen] gezeigt wird und was sichtbar ist, diese unsere sinnlich wahrnehmbare Welt, ist also ‚nichts anderes als das Haus Gottes’ (Gen 28,16), nämlich das Haus einer der Kräfte des Seienden, durch die er gut ist. Die Welt aber nannte er ein Haus und eine Pforte des wahren Himmels (Gen 28,16). (Som I § 185 f) Im Bild des Spiegels und der Pforte verdeutlicht Philon den Zusammenhang von Erkenntnis und Wahrheit. 215 Ἀλήθεια umfasst die drei Modi Wahrheit, Wirk‐ lichkeit und Richtigkeit; sie treten in Kombination auf; wenn ein Modus vorliegt, sind die beiden anderen enthalten. 216 Kweta formuliert drei Aspekte, die den Wahrheitsbegriff bei Philon kennzeichnen: Erstens einen materiellen Aspekt, der zum einen die geistig gedachte Wirklichkeit (= κόσμος νοητός und Wirk‐ lichkeit Gottes), zum anderen die in unserem Bewusstsein tatsächlich vorhan‐ dene Wirklichkeit (= κόσμος αἰσθητός und der Mensch) bezeichnet. 217 Selbst‐ verständlich kann auch über die vom Menschen in der sinnlichen Welt wahrgenommene Wirklichkeit Kommunikation erfolgen. Sie hat lediglich eine andere Qualität als die Kommunikation, die über den νοῦς am göttlichen Logos oder dem κόσμος νοητός partizipiert, denn indem der Mensch ein Abbild für III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 128 <?page no="129"?> 218 Vgl. Willms, ΕΙΚΩΝ, 99. 219 Kweta, Sprache, 165. Dies macht Philon deutlich in Post § 52, Op § 78, Mut § 167.213, SpecLeg II § 23 und Det § 10. 220 Vgl. VitMos II § 265 und Praem § 25. 221 Vgl. Ebr § 6. 222 Vgl. Kweta, Sprache, 166. 223 Vgl. Post § 85-88, Som II § 302, All I § 74 und VitMos II § 130. 224 Dies zeigt sich auch bei den Stoikern. Der Weise wird niemals etwas sagen, das er nicht erkannt hat, und damit auch nichts Falsches sagen, sondern der Wahrheit verhaftet bleiben. Vgl. Stob., Ecl. II 111,18-112,8 (SVF III,548). sein Urbild annimmt, liegt Ersteres außerhalb der ἀλήθεια. 218 Zweitens hat ἀλήθεια einen existentiellen Aspekt, denn sie „erstreckt sich auf alle Akte, in denen die menschliche Existenz sich konstituiert und realisiert“ 219 , demnach auch auf die Sprache. Gott stellt mit dem πνεῦμα eine Hilfe bereit, weil es dem Menschen Schwierigkeiten bereitet, die ἀλήθεια in all diesen Bereichen zu finden. 220 Als dritten Punkt formuliert Kweta einen formalen Aspekt der ἀλήθεια, der sich aus dem existentiellen ergibt; damit ist allgemein die Beurtei‐ lung von Sachverhalten gemeint. Nach Philon bezeichnet ἀλήθεια die Fähigkeit, zwischen ἀρετή und κακία zu unterscheiden. 221 Der Mensch, in dem sich die ἀλήθεια manifestiert hat, wird der Wahrheit gemäß urteilen. 222 Die Verbindung der beiden Aspekte resultiert aus dem philonischen Menschenbild, nämlich dass der Mensch die gesamte Welt in der ihm möglichen Dimension widerspiegeln soll, so dass eine Einheit von Denken (διάνοια), Reden (λόγος) und Handeln (ἔργον) vorliegt; nur so können gute menschliche Taten erzielt werden. 223 So wird bereits hier der Zusammenhang zwischen Mensch, Wahrheit und Sprache deutlich. 224 Wenn in der durch die Losgelöstheit des νοῦς erreichten Erkenntnis Wahrheit und Wirklichkeit impliziert sind, kann beides in einer sprachlichen Äußerung ausgedrückt werden. Sprache ermöglicht also den Ausdruck von Erkanntem, von Wahrheit und Wirklichkeit und befähigt zur Kommunikation über diese Aspekte. Die positive Funktion von Sprache liegt darin, dass sie Wahrheit zum Ausdruck bringen kann. Demgegenüber steht Sprache, die als δόξα und ψεῦδος bezeichnet werden kann und die einen negativen Charakter beschreibt. Diesem wird im Kapitel zu den Grenzen der Sprache nachgegangen. Zusammenfassung: Das Verhältnis zwischen Sprache und Erkennen findet im νοῦς seinen Mit‐ telpunkt. Je nachdem, von welcher ‚Seite’ er seine Prägung erfährt, entsteht echte oder verfälschte Erkenntnis. Diese hat Auswirkungen auf die wahrge‐ nommene Wirklichkeit und auf die Kommunikation, so dass ein höheres Er‐ 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 129 <?page no="130"?> 225 Zusätzlich pointiert wird diese Ansicht durch den λόγος ὀρθός. Er bezeichnet die Fä‐ higkeit des inneren Logos, zu unterscheiden, ob ein Gehalt wahr oder falsch ist. Seinen Besitz spricht Philon ebenfalls nur den Weisen zu. Vgl. Op § 143. 226 Kweta, Sprache, 220. kenntnisniveau zu einem höheren Sprachniveau führen muss. Festzuhalten ist, dass es echte Erkenntnis, die zu wahrer Kommunikation und richtigem Ver‐ ständnis der Wirklichkeit führt, gibt. Sie findet sich bei Adam und den Weisen und ist unter bestimmten Voraussetzungen erreichbar. Dazu zählt entweder eine besondere Nähe zum ursprünglichen Sein, wie dies für Adam der Fall ist, oder die unter den Voraussetzungen und auch in diesem Kapitel bereits genannten Aspekte der idealen Umwelt und der idealen Anthropologie, in der der νοῦς die Oberhand über die Sinne hat. Auch in der philosophischen Betrachtung und im Traum können ideale Erkenntnisvoraussetzungen geschaffen werden. Er‐ kenntnis aus diesen Situationen kommt verstärkt den Weisen, da hierfür eine besondere Konzentration und das Abschirmen der Sinne notwendig ist. 225 Die Menschen, die nicht auf solch ideale Voraussetzungen treffen, erfahren vorerst eine verfälschte Erkenntnis und Wirklichkeit. Selbstverständlich ist auch da‐ rüber Kommunikation möglich. Entscheidend ist, dass Philon sich in seinen Ausführungen auf die noetische Erkenntnis und im Zuge der Dekadenztheorie des Menschen auf die Weisen konzentriert. Dies hat sich in ähnlicher Weise bereits bei Heraklit gezeigt, der der Mehrheit der Menschen abspricht, den λόγος als ‚objektive’ Wirklichkeit zu erfassen. Aus den in diesem Kapitel gewonnenen Einsichten ist für die folgenden Über‐ legungen der Grundsatz mitzunehmen, dass Sprache die Wiedergabe von im νοῦς Erkanntem ermöglicht und dass die Art der Erkenntnis von bestimmten Voraussetzungen abhängig ist; Erkenntnis bzw. der νοῦς ist der Sprache dabei immer vorgeordnet. „Vor der Sprache liegen also Ersterfahrungen anderer Art.“ 226 Wenn die Voraussetzungen gegeben sind, ermöglicht Sprache im Zuge des Erkannten Kommunikation über Wahrheit und Wirklichkeit und impliziert dadurch Richtigkeit. Deshalb ist die Möglichkeit, durch Sprache Erkanntes wie‐ dergeben zu können, als erste Funktion von Sprache festzuhalten. 4.4 Sprache als Namensgebung In Conf § 116 beginnt die philonische Auslegung von Gen 11,4. Philon kritisiert, dass sich die Menschen einen Namen machen wollen, indem sie ihre Schlecht‐ igkeiten in aller Welt publik machen. Es steht die Frage im Raum, was die Men‐ schen angesichts ihrer Missetaten für einen Namen erwarten: III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 130 <?page no="131"?> 227 All II § 15. 228 Vgl. All I § 91 f und Winston, Aspects, 122 f. 229 Winston, Aspects, 118. 230 Vgl. Op § 149 f. ὀνόματος οὖν ποίου γλίχεσθε; ἢ τοῦ τοῖς πραττομένοις οἰκειοτάτου; ἆρ’ οὖν ἕν ἐστι μόνον; γένει μὲν ἴσως ἕν, μυρία δὲ τοῖς εἴδεσιν. (Conf § 117) Welchen Namen begehrt ihr also? Etwa den, der eueren Taten entspricht? Gibt es denn einen? Dem Begriffe nach ist es vielleicht nur einer, aber unzählig sind die Arten. (Conf § 117) Als zusammenfassender Begriff für die Taten kann nur κακία gefunden werden. Unter ihm vereinen sich all die begangenen Taten, die Philon in Conf § 117 anführt, wie beispielsweise Mord, Ehebruch oder Lüge. Für Philon haben Namen eine große Bedeutung, das zeigt sich insbesondere bei seiner Auseinanderset‐ zung mit Sprache: „Μὴ γὰρ ὄντων ὀνομάτων, οὐδ’ ἂν διάλεκτος ἦν“ 227 (denn ohne Namen gäbe es auch keine Sprache). Verschiedenen Fragen ist nachzu‐ gehen: (1) Wer schafft Namen? (2) Was ist ein Name nach philonischem Ver‐ ständnis und (welche) Relationen von sprachlichem Zeichen und Objekt greift Philon auf ? (3) Was sagt der Name über das Verhältnis zur Wirklichkeit aus? (1) Philon thematisiert ausführlich die Entstehung der Namen. Sie hängt mit der Entstehung der Sprache im Allgemeinen zusammen: Sowohl Gott als auch die Menschen sind zur Namensgebung befähigt. Dem biblischen Schöpfungsbe‐ richt zufolge ist Gott der Benenner der kosmischen Größen wie Himmel und Erde oder Licht und Finsternis und der Zeitangaben wie Tag und Nacht. Auch Adam wird von Gott benannt, er kann sich nicht selbst benennen. 228 Alles an‐ dere, folgert Philon, muss durch den ersten und weisesten Menschen benannt worden sein. Winston beschreibt die Leistung Adams nach Philon folgender‐ maßen: „Inventing names that were the best possible imitations of the essences of all things, he thus established the paradigmatic human language.“ 229 Dies ist auch im Blick auf die Frage, ob Sprache φύσει oder θέσει ihre Legitimation erhält, interessant. Philon kann keiner der beiden Theorien zugeordnet werden. Er verbindet die Ansicht, dass Sprache in ihrer ersten Schöpfungssituation von Adam gesetzt wurde, mit der Vorstellung, dass dieser Setzung ein natürliches Verhältnis von Ding und Wort, das seine Ursache in Gott hat, vorausgegangen sei. Es besteht also ein natürlicher Zusammenhang zwischen Sache und Name, der erstmalig von Adam in den treffenden Namen zum Ausdruck gebracht wurde. 230 (2) Der Akt der Namensgebung selbst ist ein Erkenntnisprozess. Die Aus‐ gangssituation ist durch Nichtwissen gekennzeichnet, die sich durch das Er‐ 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 131 <?page no="132"?> 231 Vgl. Op § 149 f und Niehoff, Name, 223. 232 S. dazu die Ausführungen unten zu Cher § 56. 233 Vgl. All II § 15 und Kweta, Sprache, 132.149. 234 Vgl. auch Agr § 1. fassen des Objekts ändert und im konkreten Namen manifestiert. 231 Wie aber versteht Philon Namen bzw. mit welchen Relationen, die aus dem Überblick der Sprachphilosophie bekannt sind, beschäftigt sich Philon? Philon differenziert für ὄνομα nicht zwischen Ausdrucks- und Inhaltsseite, wie sich das bei Aristo‐ teles abgezeichnet hat. Er beschäftigt sich in platonischer Tradition mit der Re‐ lation von Laut und Objekt, für die er auch die platonischen Begriffe ὄνομα und πρᾶγμα verwendet. 232 Philon kann ὄνομα als σύμβολον bestimmen, ohne dieses Verhältnis näher zu definieren oder aus dieser Aussage eine Relation zu entwi‐ ckeln, wie das für Aristoteles der Fall ist. 233 Philon thematisiert das Verhältnis von ὄνομα und πρᾶγμα in zweifacher Hinsicht, die von der Art des Erkennens abhängig ist: Es gibt zum einen Namen, deren Laut nicht mit der Sache identisch ist. Auf sie kommt Philon nur selten zu sprechen, da der Fokus der Texte auf den weisen Menschen liegt. In Cher beschreibt Philon diese Art wie folgt: ὁ μὲν ἄλλος ἅπας ἀνθρώπων ὅμιλος ὀνόματα τίθεται πράγμασι διαφέροντα τῶν πραγμάτων, ὥσθ΄ ἕτερα μὲν εἶναι τὰ τυγχάνοντα, ἑτέρας δὲ κλήσεις τὰς ἐπ΄ αὐτοῖς. (Cher § 56) Die grosse (sic! ) Masse der Menschen gibt gewöhnlich den Dingen Namen, die von den Dingen verschieden sind, so dass die wirklichen Dinge etwas Anderes sind als was ihre Benennungen besagen. (Cher § 56) Daran wird ersichtlich, dass es Namen gibt, die im Wort keine Identität mit der Sache herstellen. 234 Philon kennt also eine Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Wort und Objekt zu bestimmen, das keine der ‚Idealbedingungen’ erfüllt und auf aisthetische Erkenntnis zurückgeht. Auf sie geht Philon nicht näher ein. Nach der Feststellung fährt er sogleich mit der mosaischen Namensgebung fort, die er als kompetent beschreibt. Auswirkungen falscher Namensschöpfung, wie etwa Kommunikation über eine verfälscht wahrgenommene Wirklichkeit, re‐ flektiert Philon nicht. Als Beispiel für eine Namensbildung, in der im Wort keine Identität mit der Sache vorliegt, können falsche Etymologien angenommen werden oder Begriffe, die mehrdeutig sind. Als Beispiel führt Philon den Begriff κυνός (Hund) an, der das Tier, ein Gestirn am Himmel oder die Philosophen der III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 132 <?page no="133"?> 235 Vgl. Plant § 150 f und Giuseppe Veltri: Libraries, Translations and ‚Canonic’ Texts. The Septuagint, Aquila and Ben Sira in the Jewish and Christian Tradition, Leiden, Boston 2006 (JSJ 109 Suppl), 299. 236 Vgl. Kap. II, 3. 237 Vgl. Op § 149 f. 238 Vgl. auch Kweta, Sprache, 144 und Otte, Sprachverständnis, 46. 239 Vgl. Otte, Sprachverständnis, 47 ff. Zur Tendenz, Adam als den ‚ersten Weisen‘ zu ver‐ stehen s. John R. Levison: Portraits of Adam in Early Judaism. From Sirach to Baruch (JSP Supplements), Sheffield 1988. 240 Vgl. All II § 15. kynischen Schule bezeichnen kann. 235 Diese Uneindeutigkeit steht in der Nähe zum heraklitischen Bogenfragment. 236 Weit häufiger thematisiert Philon die Namensgebung, die eine Identität von Wort und Sache hervorbringt: (…) δὲ αἱ τῶν ὀνομάτων θέσεις ἐνάργειαι πραγμάτων εἰσὶν ἐμφαντικώταται, ὡς αὐτὸ τὸ πρᾶγμα ἐξ ἀνάγκης εὐθὺς εἶναι τοὔνομα καὶ<τοὔνομα καὶ>καθ΄ οὗ τίθεται διαφέρειν μηδέν. (Cher § 56) (…) die Namengebungen [sind] ganz klare Bezeichnungen der Dinge, so dass das Ding selbst notwendig zugleich der Name ist und der Name in keiner Weise verschieden ist von dem Gegenstand, für den er gesetzt ist. (Cher § 56) Der Laut kann also die φύσις der Dinge (πρᾶγμα) wiedergeben; daran wird der Zusammenhang zur Erkenntnis deutlich: Wenn der νοῦς in Unabhängigkeit von den Sinnen die φύσις der Dinge erkennt, kann diese in einer stimmlichen Äu‐ ßerung wiedergegeben werden. Die Voraussetzung für diese Art der Namens‐ bildung ist eine Nähe zum ursprünglichen Sein, wie sie für Adam der Fall war. 237 Unter dieser Voraussetzung kann er die Objekte dank seiner ungetrübten Sinne der Wirklichkeit gemäß erfassen und dementsprechend benennen. 238 Otte sieht darin, dass Philon die Begriffe auf einen einzigen Menschen zurückführt, die Einheitlichkeit und Eindeutigkeit der Begriffe gewährleistet. Philon argumen‐ tiert zwar in Anlehnung an die griechischen Philosophen, die die Sprache dem weisesten Menschen zuschreiben, bezieht dies aber gleichzeitig auf Adam, so dass dieser als der Weiseste unter den Erdgeborenen gelten muss. Somit ist Adam zeitlich, aber auch prinzipiell der maßgebliche Sprachschöpfer. 239 Damit ist die Grundlage für die Identität von Wort und Sache gelegt. 240 Auch Quaest Gen I zeigt, dass Adam seiner Aufgabe in außergewöhnlich gutem Maß nachkam, so dass sich die Tiere in ihren Namen wieder erkennen: Wir müssen jedoch ebenfalls annehmen, daß die Namensgebung so exakt war, daß, sobald er (Adam) den Namen gab und das Lebewesen ihn hörte, es ergriffen war wie 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 133 <?page no="134"?> 241 Der Text von Quaest Gen I liegt nicht in Griechisch, sondern nur in Armenisch vor, weshalb nur die deutsche Übersetzung angeführt ist. Übersetzung nach Kweta, Sprache, 143. 242 Vgl. Cher § 56 und All I § 91. 243 Vgl. Op § 25 und All II § 4. 244 Vgl. Op § 139-141. bei dem Phänomen eines ausgesprochenen vertrauten und verwandten Namens. (Quaest Gen I § 20) 241 Die adamitische Namensgebung ist ebenso kompetent wie die des Moses, den Philon zu den weisen Männern rechnet. 242 Philon macht damit deutlich, dass das Sein durch Sprache erschlossen werden kann. Das steht erneut in der Nähe zum heraklitischen Denken; Heraklit aber nimmt nicht an, dass das Sein durch Sprache vollständig erschlossen werden kann, also dass eine Einheit von Name und Objekt möglich ist. Diese Einheit liegt der mythischen Sprachauffassung zu Grunde. Aber auch dieser gegenüber hebt Philon sich natürlich grundlegend ab, indem er die Erkenntnis durch den νοῦς und die sprachliche Äußerung durch den λόγος προφορικός reflektiert. Das ist im magisch-mythischen Denken nicht der Fall. Man kann daher sagen: Philon nimmt die Einheit von Wort und Objekt auf einem philosophischen, reflektierten Niveau an, nur aber für die Namens‐ gebung von Adam und den Weisen. Es wurde deutlich, dass Philon in einer Reihe von Texten eine Einheit von Wort und Sache denkt und dass dementsprechende Namen auf noetischer Er‐ kenntnis oder einer ursprünglichen Nähe zum Sein beruhen. Es gibt in den phi‐ lonischen Texten einen weiteren Aspekt, der diese Einheit begründet; er liegt in der Tatsache, dass Sprache, wie alle anderen Bereiche, im Urbild-Abbild-Prinzip verankert ist. Adam steht als Abbild des Urbildes noch in großer Nähe zum ursprünglichen Sein und ist deshalb zu kompetenter Namensbildung befähigt: Er schafft anhand der Urbilder die Namen. 243 Alle anderen Menschen aber sind nicht Abbilder des göttlichen Logos, sondern Abbilder Adams und bleiben als Nachahmungen hinter dem Urbild zurück, so dass die nachadamitischen Ge‐ schöpfe vom göttlichen Logos entfernt sind. 244 Dies führt Philon zu folgender Forderung: πρώτη δὲ τῶν εἰσαγομένων ἀρετὴ τὸ διδάσκαλον ὡς ἔνεστι τέλειον ἀτελεῖς μιμεῖσθαι γλίχεσθαι. (Sacr § 65) Die erste Pflicht der Anfänger [der Menschen, Anm.] aber ist es, dem Lehrer [Gott, Anm., ergibt sich aus § 64] nachzustreben, soweit es möglich ist, dass Unvollkommene einen Vollkommenen nachahmen. (Sacr § 65) Auch Virt verdeutlicht das: III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 134 <?page no="135"?> 245 Vgl. Som I § 128. 246 Migr § 48. 247 Vgl. Niehoff, Name, 221.224. 248 Vgl. dazu generell Migr § 47-52. 249 Vgl. Migr § 47 und All II§ 1 ff bzw. Her § 236. 250 Vgl. Niehoff, Name, 221. 251 Niehoff, Name, 226. ἄλλως τε καὶ μάθημα ἀναδιδάσκει τῇ λογικῇ φύσει πρεπωδέστατον, μιμεῖσθαι θεὸν καθ’ ὅσον οἷόν τε, μηδὲν παραλιπόντα τῶν εἰς τὴν ἐνδεχομένην ἐξομοίωσιν. (Virt § 168) Ausserdem (sic! ) gibt er [Gott, Anm.] die der vernünftigen Natur (des Menschen) völlig angemessene Lehre, Gott soviel wie möglich nachzuahmen und nichts ausser (sic! ) Acht zu lassen, um diese Aehnlichkeit (sic! ) zu erreichen, soweit sie erreichbar ist. (Virt § 168) Philon fordert eine Nachahmung Gottes in allen Bereichen, das gilt auch für die Sprache. Die göttliche Sprache ist dadurch gekennzeichnet, dass sie keine Gram‐ matik besitzt, einen unkörperlichen Charakter hat 245 und im Gegensatz zur menschlichen Sprache nicht durch Hören, sondern „τῷ τῆς ψυχῆς ὄμματι“ 246 (mit dem seelischen Auge) wahrgenommen wird. 247 Das steht im Gegensatz zur menschlichen Sprache, die sich durch grammatische Phänomene auszeichnet und durch Hören erkannt wird. 248 Die göttliche Sprache hat den Charakter der Vollkommenheit und liefert eine Deckung von Wort und Sache, weil Philon Gott immer einheitlich denkt. 249 Die Richtigkeit der Namen, die in der göttlichen Sprache garantiert ist, kann deshalb durch die Nachahmung der göttlichen Sprache aufrechterhalten bzw. wiederhergestellt werden. 250 Die göttliche Sprache ist nicht gemacht, sondern „seems to have preexisted with God Himself, thus entirely pertaining to the realm of the eternal, unchanging, most real and most true“ 251 . Konsequenterweise heißt das, dass die göttliche Sprache im κόσμος νοητός vorhanden ist, der durch den νοῦς erkannt werden kann. Eine längere Passage aus Som II verdeutlicht, dass der Mensch Zugang zum göttli‐ 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 135 <?page no="136"?> 252 Philon stellt dies anhand der Analogie des Wassers dar; er hat zwei unterschiedliche Vorstellungen von Wasser. Er unterscheidet reines Wasser, das aufbewahrt werden kann, und Wasserströme, die etwa als Regenguss vom Himmel kommen oder in einem Bach, Fluss oder Meer fließen. Letztere symbolisieren für Philon das Heranströmen der Sinnlichkeit. Diese Wasser sind, wie die Sinnlichkeit, unbeständig und verleiten den Menschen beispielsweise zu Völlerei oder Leidenschaft. Neben der Sinnlichkeit versteht Philon Wasser auch als Symbol für Sprache. Diese ist gekennzeichnet durch Zweifel, Unbeständigkeit, eine haltlose Seele bzw und Unwissenheit. Das Bild vom Wasser hat an dieser Stelle eine negative Konnotation. In Som II § 262 gewinnt es eine positive Bedeutung. Hier wird das Ausströmen des Wassers in Analogie zum Ausströmen der Wörter durch die Lippen gebraucht; es entsteht die Ausdrucksmöglichkeit der Men‐ schen. Der positive Gebrauch des Wassermotivs wird auch in Det § 38-40 deutlich, wenn Wörter genutzt werden, um Wahrheit zum Ausdruck zu bringen. Eine solche von Gott geleitete Sprache hat einen weniger starken Bezug zur Sinnlichkeit als die oben negativ beschriebene Sprache. Vgl. Niehoff, Name, 227 f. chen λόγος hat, und damit zur noetischen Erkenntnis und zur Nachahmung der göttlichen Sprache befähigt ist: 252 κάτεισι δὲ ὥσπερ ἀπὸ πηγῆς τῆς σοφίας ποταμοῦ τρόπον ὁ θεῖος λόγος, ἵνα ἄρδῃ καὶ ποτίζῃ τὰ ὀλύμπια καὶ οὐράνια φιλαρέτων ψυχῶν βλαστήματα καὶ φυτά, ὡσανεὶ παράδεισον. (…) τοῦτον τὸν λόγον εἰκάσας ποταμῷ τις τῶν ἑταίρων Μωυσέως ἐν ὕμνοις εἶπεν· ‚ὁ ποταμὸς τοῦ θεοῦ ἐπληρώθη ὑδάτων’ (Psalm 64,10). καί<τοι> τινὰ τῶν ἐπὶ γῆς ῥεόντων ἄλογον κυριολογεῖσθαι· ἀλλ’, ὡς ἔοικε, πλήρη τοῦ σοφίας νάματος τὸν θεῖον λόγον διασυνίστησι, μηδὲν ἔρημον καὶ κενὸν ἑαυτοῦ μέρος ἔχονατι, <μᾶλλον> δέ, ὡς εἶπέ τις, ὅλον δι’ ὅλων ἀναχεόμενον καὶ αἰρόμενον εἰς ὕψος διὰ τὴν συνεχῆ καὶ ἐπάλληλον τῆς ἀεννάου πηγῆς ἐκείνης φοράν. (…) τῷ γὰρ ὄντι τοῦ θείου λόγου ῥύμη *** καὶ συνεχῶς μεθ’ ὁρμῆς ἐν τάξει φερομένη πάντα δὶα πάντων ἀναχεῖ τε καὶ εὐφραίνει. (Som II § 242.245.247) III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 136 <?page no="137"?> 253 Seinem dualistischen Weltbild gemäß unterscheidet auch Philon zwei Arten der Weis‐ heit, eine himmlische und eine irdische Weisheit. Letztere nimmt in den philonischen Schriften einen geringeren Stellenwert ein und wird hauptsächlich verwendet, um den Gegensatz zur himmlischen Weisheit darzustellen. Vgl. Mack, Logos, 115-118. Die himmlische Weisheit ist nach Her § 127 Eigentum Gottes und dem Menschen nach Migr § 40 f nicht zugänglich. Begrifflich spricht Philon auf drei verschiedene Arten von Weisheit: 1. Weisheit als Raum (Migr § 28-30, Fug § 50-52 Som I § 208 f). Die Weisheit wird als Weg verstanden (Imm § 143). Der Führer auf diesem Weg kann der Logos sein (Imm § 180-183), dieser selbst kann wiederum mit Gott identifiziert werden (Migr § 173 f). Der Logos kann auch an die Stelle der Weisheit treten und übernimmt dann ihre Funk‐ tion. Vgl. Mack, Logos, 133-141.146.153 f. 2. Weisheit als Quelle (s. o. und Som II § 270), wobei die Quelle der Weisheit Gott ist (Post § 69, Det § 82) und mit dem Logos identifiziert sein kann (All I § 64), weshalb auch der Logos aus der Quelle der Weisheit fließen kann (s. o. Som I § 242). Vgl. Mack, Logos, 171-176. 3. Weisheit in metaphorischem Bezug zu einer sexuellen Komponente, Bezeichnung als Mutter (Ebr § 30-32, Det § 54) oder Gattin (Cher § 49). Sie kann in dieser Funktion den Aufstieg des Logos beschreiben, der dann an die Stelle der himmlischen Weisheit tritt. Hier übernimmt der Logos in etwa die Funktion der verborgenen Weisheit. Vgl. Mack, Logos, 155-166.170. Die Trennung zwischen verborgener und naher Weisheit, die für das jüdische Denken charakteristisch ist, wird bei Philon aufgehoben, indem er Weisheit / Heil von der irdi‐ schen Welt abkoppelt. Der Logos aber kann als Vermittler zwischen den irdischen Men‐ schen und der himmlischen Weisheit fungieren. Ziel aller Weisheit ist die ἐπιστήμη θεοῦ (vgl. Imm § 143). Es kommt aber von der Weisheit 253 wie aus einer Quelle der göttliche Logos einem Flusse gleich herab, auf daß er befeuchte und tränke die olympischen und himmlischen Keime und Gewächse tugendliebender Seelen wie einen Garten. Diesen Logos verglich einer der Anhänger des Moses mit einem Flusse und sprach in den Psalmen: ‚Der Fluß Gottes wurde erfüllt mit Wasser’ (Psalm 64,10). Nun ist es doch unsinnig, dies von einem auf unserer Erde fließenden Flusse in buchstäblichem Sinne zu sagen, sondern, wie es scheint, spricht er deutlich von dem göttlichen Logos voll vom Naß der Weis‐ heit, der keinen Teil frei und leer von sich läßt, ja mehr noch, wie man sagen könnte, ganz und gar sich ergießt und zur Höhe gehoben wird durch den dauernden und ununterbrochenen Zustrom jener ewig fließenden Quelle. Tatsächlich überströmt und erfreut der Strom des göttlichen Logos, der ununterbrochen und dauernd mit Wucht in Ordnung dahingetragen wird, alles durch und durch. (Som II § 242.245.247) Der göttliche Logos überflutet und nährt die menschliche Seele; d. h., der menschliche λόγος agiert nicht unabhängig, sondern ist abhängig von Gott und kann nur durch ihn zu wirklicher Erkenntnis und richtiger Namensbildung ge‐ langen. Die in der göttlichen Sprache vorliegende Einheit von Idee und Name soll in die Seele des Menschen eindringen und den menschlichen λόγος er‐ 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 137 <?page no="138"?> 254 Vgl. Niehoff, Name, 230 f.241.250. 255 Vgl. Gärtner, Idea, 214. 256 Das ist später ausführlich zu zeigen, s. Kap. IV, 3.2.3. 257 Vgl. Post § 127-129. Diese vier Tugenden gehen auf die vier paradiesischen Flüsse zu‐ rück. Interessant ist an dieser Stelle, dass auch Ben Sira die Flüsse allegorisch interpre‐ tiert. Ben Sira sieht in ihnen nicht die vier oben genannten Tugenden, sondern die Weisheit, die aus der Tora herausfließt. Seiner Vorstellung nach kommt die Weisheit aus der himmlischen Sphäre und steigt zum Berg Zion auf der Erde hinab. Demnach entspricht dem Fluss des göttlichen Wortes in die paradiesischen Flüsse der Abstieg der Weisheit zum Berg Zion. Vgl. hierzu Sir 24,2-15 und Sir 24,23-27. nähren. 254 Es wird deutlich, dass Sprache für Philon seinen Ausgangspunkt bei Gott hat und dass es für die Weisen möglich ist, über den göttlichen Logos eine Einheit von Wort und Sache zu erlangen, wie sie sich in der göttlichen Sprache findet. Damit knüpft Philon im Wesentlichen an die noetische Erkenntnis an; all die Aspekte - Nähe zum ursprünglichen Sein, Traum oder philosophische Betrachtung -, die in noetische Erkenntnis münden, können also die Einheit von Name und Sache ermöglichen, wie sie in der göttlichen Sprache vorliegt, weil der göttliche Logos dabei den menschlichen νοῦς prägt. Daher können diese Aspekte als Form der Nachahmung verstanden werden, wodurch der Zusam‐ menhang von Nachahmung der göttlichen Sprache und Art des Erkennens er‐ sichtlich wird. Der göttliche Logos kann begrifflich auch mit dem Lexem πνεῦμα wiederge‐ geben werden und von daher ist nach der Rolle des göttlichen Geistes bei Paulus und Philon zu fragen. 255 Paulus bestimmt die Sprachgaben als vom göttlichen Geist gewirkt; das göttliche πνεῦμα befruchtet das menschliche πνεῦμα oder den göttlichen νοῦς und erwirkt dementsprechend eine unverständliche oder ver‐ ständliche Äußerung. 256 Philon geht einen Schritt weiter als Paulus. Der göttliche Logos wirkt bei Philon die ‚echte’ Sprache, für die eine Einheit von Wort und Objekt vorliegt; eine Entsprechung von göttlicher und menschlicher Sprache finden wir bei Paulus nicht. Philon geht aber noch weiter: In der menschlichen Sprache kann nicht nur diese Einheit übernommen werden, es wird zugleich die vollkommene göttliche Moral im Menschen fruchtbar gemacht. So folgert Philon, dass die vier Tugenden Weisheit, Mut, Mäßigkeit und Gerechtigkeit auf diese Art und Weise im Menschen ‚angebracht’ werden. 257 (3) Liegt einem Namen noetische Erkenntnis bzw. die enge Verbindung von göttlicher und menschlicher Sprache zu Grunde, bringt die Einheit zwischen Wort und Objekt auch Wahrheit und Wirklichkeit mit sich. Da der Name das Wesen eines Objekts hervorbringt, erhält der Mensch über ihn einen Bezug zur Realität; damit sind Namen „Träger der Sprache und des Wirklichkeitsverständ‐ III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 138 <?page no="139"?> 258 Kweta, Sprache, 150. 259 Vgl. Kweta, Sprache, 149 f. 260 Vgl. Det § 71-73, Agr § 136 und Migr § 171. 261 Vgl. Kweta, Sprache, 134, Otte, Sprachverständnis, 48 und Niehoff, Name, 232. 262 Übersetzung nach Kweta, Sprache, 144. nisses“ 258 . Durch Sprache kann die Weltwirklichkeit erkannt werden und es kann Kommunikation darüber erfolgen, wenn Sprache eindeutig ist. 259 Eine Voraus‐ setzung dafür ist, dass der Mensch das Wort als solches annimmt. Die Identität von Wort und Sache wird nicht immer erkannt oder zugelassen. Dies ist bei den Sophisten der Fall. Wenn sie das Wort als solches annehmen würden, könnte der in der sprachlichen Äußerung manifestierte Gehalt zutage treten. Die So‐ phisten aber leben in einem Widerspruch von Denken / Erkennen und Sprechen und entwickeln doppeldeutige Wörter, die die richtige Identität von Wort und Sache nicht zulassen. 260 Auch über diese Wirklichkeit kann Kommunikation stattfinden; ebenso wie über die Wirklichkeit, wie sie der Mensch vom κόσμος αἰσθητός aus wahrnimmt. Sie manifestiert sich in Namen, in denen keine Ein‐ heit von Ding und Wort vorliegt, und bringt eine verfälschte Wirklichkeit zum Ausdruck. Für seine Argumentation stützt Philon sich im Wesentlichen auf die Sachentsprechung der Sprache, die in der adamitischen Sprache ihren Aus‐ gangspunkt findet. 261 Philon kann damit zwei verschiedene Entwicklungen ver‐ einen: Noetische Erkenntnis ermöglicht Namensbildung, in der eine Einheit von Name und Sache vorliegt. Diese Namen geben die Wirklichkeit wieder. Aisthe‐ tische Erkenntnis liefert diese Einheit nicht, sondern einen verfälschten Bezug zwischen Name und Objekt, weil unter Beteiligung der Sinne eine verfälschte, nicht die objektive Wirklichkeit wahrgenommen und wiedergegeben werden kann. Damit steht Philon in der Tradition Heraklits, der zwar eine enge Ver‐ bindung von Wort und Sache denkt, der aber diesen Bezug bereits problemati‐ siert. Die Tatsache, dass Philon den Zusammenhang zwischen Weltwirklichkeit und Sprache überhaupt reflektiert, kann anhand von Quaest Gen IV noch ex‐ pliziert werden und zeigt, dass er im philosophischen Denken verhaftet ist: Da sein (Isaaks) Vater (die Brunnen) benannt hatte, war er selbst zufrieden mit den Namen, die ursprünglich gegeben waren, denn er wußte, daß, wenn er die Namen ändern würde, er gleichzeitig die Dinge ändern würde. (Quaest Gen IV § 194) 262 Es findet eine Veränderung der Weltwirklichkeit statt, wenn ein Objekt umbe‐ nannt wird, weil in den Namen, auf denen der philonische Fokus liegt, die φύσις der Dinge erkannt werden kann; d. h. nicht, dass die Sache an sich verändert wird, sondern dass eine Uminterpretation der anfänglichen Realität stattfindet, 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 139 <?page no="140"?> 263 Vgl. Kweta, Sprache, 144. 264 Vgl. dazu auch Agr § 1. weil ein anderer Name nicht dasselbe Objekt bezeichnen kann. 263 Es läge dann keine Einheit, sondern eine Vielfalt zwischen Name und Objekt vor, wie sie auch Heraklit im Bogenfragment thematisiert. 264 Zusammenfassung: Die Entstehung und Beschaffenheit von Namen ist für die philonische Be‐ schäftigung mit Sprache zentral. Sowohl Gott als auch die Menschen schaffen Namen. Für die menschliche Sprache legt Adam den Grundstein. Er ist dazu befähigt, Dingen Namen zu geben, die das Wesen der Sache offenbaren. Philon stellt einen Zusammenhang zwischen der in der antiken Sprachphilosophie dis‐ kutierten Entstehung der Sprache durch ‚θέσις’ oder ‚φύσις’ her. Er geht von einem natürlichen Zusammenhang der Namen und Dinge aus, der seinen Grund in Gott hat, und sieht diesen durch Adam erstmals gesetzt. Die göttliche und die adamitische Sprache zeichnen sich durch die Einheit von Wort und Sache aus. Die Qualität der Namensgebung hängt von der Weisheit der Menschen ab. Diese ist gekoppelt an die Fähigkeit zur echten Erkenntnis und damit an die Nähe zum Sein, zu Gott und zu göttlicher Erkenntnis, zur Rolle der Sinne und ihrer be‐ wussten Zurückweisung, so dass die Arbeit des νοῦς zu uneingeschränkter Er‐ kenntnis führen kann. Philon bezieht sich auf die adamitische und mosaische Namensgebung sowie auf die Fähigkeiten der Essener und Therapeuten. Damit wird erneut der philonische Fokus auf die philosophische Auseinandersetzung mit Sprache deutlich, die jedoch einen eindeutig theologischen Bezug aufweist. Die Menschen, denen noetische Erkenntnis zukommt und die so die göttliche Sprache nachahmen, sind zu kompetenter Namensbildung befähigt. Sie bringen in Namen Wirklichkeit zum Ausdruck. Das Verhältnis von Name und Ob‐ jekt / Wirklichkeit wird demnach reflektiert, nicht aber das sprachliche Zeichen an sich und dessen unterschiedliche Komponenten. Indem Philon die Relation von Name als Laut und Sache bestimmt und v. a. indem er den λόγος, verstanden als Denken und als Äußerung, in seine Ausführungen einbaut, zeigt er, dass er im philosophischen Denken verhaftet ist. Indem er eine Einheit von Name und Sache denkt, ist eine Nähe zum mythischen Denken auszumachen. Das allge‐ meine Reflektieren über das Verhältnis von Name und Objekt besteht seit He‐ raklit. Philon ist nicht vollständig in einer mythischen Sprachauffassung zu verorten, sondern zeigt Facetten mehrerer sprachphilosophischer Entwick‐ lungen auf: Die Betonung des λόγος-Begriffs und die Ansicht, dass es möglich ist, dass die Einheit zwischen Name und Sache gestört werden kann, rückt ihn in die Nähe des heraklitischen Sprachverständnisses. Indem er das Verhältnis III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 140 <?page no="141"?> 265 All II § 15. 266 Vgl. Hans Saner: Art. Kommunikation, in: HWP 4 (1976), 893. 267 Vgl. hierzu ausführlich Reinhold Reck: Kommunikation und Gemeindeaufbau. Eine Studie zu Entstehung, Leben und Wachstum paulinischer Gemeinden in den Kommu‐ nikationsstrukturen der Antike, Stuttgart 1991 (SBB 22). 268 Vgl. Pohlenz, Geschichte, 40 f. zwischen Laut und Sache eingehend reflektiert - unabhängig davon, wie er dieses charakterisiert - wird deutlich, dass er sich mit der Relation beschäftigt, die für Platon typisch ist. Philon benutzt hierzu die platonischen Termini ὄνομα und πρᾶγμα. Eine Unterscheidung zwischen Laut- und Inhaltsseite, wie Aris‐ toteles sie benennt, weist Philon nicht auf. Deutlich wurde auch, dass Philon zwei Sprachen kennt und dass Adam hebräisch sprach. Philon reflektiert aber nirgendwo das Problem, das für die ὄνομα-Lehre daraus entstehen muss. Seine Etymologien, die häufig auf hebräische Lexeme zurückgehen, sind von vornhe‐ rein Gegenstand seiner philosophischen Betrachtung. Sonst müsste er durch‐ gehend die griechischen Lexeme kritisieren und die hebräischen bevorzugen. Sprachlich scheint Philon nie über Hebräisch bzw. das Verhältnis von Hebräisch und Griechisch nachgedacht zu haben. 4.5 Sprache als Kommunikationsmittel Philon sieht Adam als den Urheber der Kommunikation an. Er muss der „ἀρχὴ τοῦ διαλέγεσθαι“ 265 (Grund der mündlichen Verständigung) sein, da er die Namen geschaffen hat, die für eine gemeinsame Verständigung notwendig sind. Der in Adam gelegte Grundstein der Kommunikation ist für alle Zeiten vor‐ handen. Ausgehend von Conf § 9-13 können verschiedene Komponenten der Kommunikationsfunktion von Sprache sichtbar werden. Vorab einige Bemerkungen zum Kommunikationsbegriff: Der Begriff stellt die latinisierte Form der griechischen Lexeme ἀνακοίνωσις bzw. κοινωνία dar und umfasst die Bedeutungen von Verkehr, Gemeinschaft, Austausch oder Mit‐ teilung. Bereits in der antiken Rhetorik handelt es sich um einen Terminus tech‐ nicus. 266 Der antike Kommunikationsbegriff ist umfassend. Unter Kommunika‐ tion werden Reisen und Handelsgeschäfte, Bank- und Briefverkehr, aber auch Schulen, Mysterienkulte, Vereine und Synagogen subsumiert. 267 Die Theorie von der Sprache als Kommunikationsmittel ist in der Stoa verankert. Die Stoiker sehen Sprache als Erzeugnis des λόγος, der durch die Wörter ein Verständi‐ gungsmittel schafft, das für das Zusammenleben von Menschen erforderlich und nützlich ist. 268 Lewandowski definiert Kommunikation auf der Basis der gegen‐ wärtigen Linguistik analog als „[z]wischenmenschliche Verständigung, refle‐ 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 141 <?page no="142"?> 269 Theodor Lewandowski: Art. Kommunikation, in: Linguistisches Wörterbuch Bd. 2, hg. v. ders., Heidelberg, Wiesbaden 6 1994 (UTB 1518), 551. 270 Bertram, Sprachphilosophie, 10 macht deutlich, dass sich Menschen durch Mimik und Gestik hauptsächlich über die Gegenwart verständigen können, dass für Geschehnisse in der Vergangenheit oder das Formulieren von Plänen für die Zukunft aber die Sprache vonnöten ist. 271 Vgl. All II § 42 f: Der νοῦς ist als Grund zu sehen, weshalb alle Zeiten zu berücksichtigen sind. Er besitzt die Fähigkeit, eine Beziehung zur Gegenwart, zur Vergangenheit und zur Zukunft herzustellen. 272 Die ἡδονή zählt Philon zu den alogischen Teilen der Seele. Sie hat nach All III § 116 ihren Sitz in der Brust und im Bauch. Ihre Wirkung entfaltet sie nach Migr § 60 jedoch in der Seele. xives sprachliches Handeln, intentionales Mitteilen von Zeichen“ 269 . Im Fol‐ genden wird untersucht, wie diese Verständigung zwischen Menschen für Philon aussieht und welche Auswirkungen und Ziele sie haben kann. In Conf § 9 beginnt Philon mit der Beschreibung einer ‚negativen’ Kommu‐ nikationsfunktion von Sprache: Kommunikation unter Menschen kann zu schlechten Taten führen. Deshalb wurde - so versteht man doch im Allgemeinen den Text „Turmbau zu Babel“ - die Sprachgemeinschaft aufgelöst. Ab Conf § 10 wird diese ‚negative‘ Funktion widerlegt. Das gelingt Philon, indem er den Standpunkt der Gegner ausführlich darstellt: Nicht Sprache führt zu Übeln, son‐ dern die schlechten Neigungen der Seele. Die These wird damit begründet, dass ja nicht nur durch Sprache Schlechtes entstehen kann, sondern auch durch Mimik und Gestik. 270 Philon geht im weiteren Verlauf der Argumentation nicht auf diese Formen der Verständigung ein, sondern konzentriert sich auf die Sprache. Wer sich der Sprache bedient, kann seinen Willen kundtun. Somit kann Sprache als Mittel zur Meinungsäußerung verwendet werden. Die Willensbe‐ kundung eines Einzelnen kann in ein Gespräch münden, wenn eine weitere Person auf die Aussage der ersten reagiert. Sprache ermöglicht die Äußerung von Meinungen und damit eine Kommunikationssituation, an welcher ver‐ schiedene Gesprächspartner teilnehmen können. In den Gesprächen können Menschen in einen Austausch über gemeinsam Erlebtes treten. Gesprächsge‐ genstand können gemeinsame Handlungen und Erfahrungen der Vergangenheit und der Gegenwart sowie Erwartungen oder Pläne der Zukunft sein. 271 Es ent‐ steht dadurch die Möglichkeit, anderen Personen etwas über die eigene Per‐ sönlichkeit, vergangene oder gegenwärtige Stimmungen und Erlebnisse mitzu‐ teilen, indem man diesen Erlebnissen durch Sprache Ausdruck verleiht. Philon beschreibt in Conf § 7 die Fabel von der Gleichsprachigkeit der Tiere, die der Erzählung des Turmbaus zu Babel ähneln soll. Die Tiere verständigen sich über ἡδονή 272 und ἀηδία. Dies gilt analog für die Menschen. Indem sie Freude, aber III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 142 <?page no="143"?> 273 Zum Begriff Emotion und zur Entwicklung der Emotionsforschung s. Klaus Herding und Bernhard Stumpfhaus (Hg.): Pathos. Affekt. Gefühl. Die Emotionen in den Künsten, Berlin, New York 2004, Ingrid Craemer-Ruegenberg (Hg.): Pathos. Affekt. Gefühl. Phi‐ losophische Beiträge, Freiburg, München 1981 und Eva-Maria Engelen: Gefühle, Stutt‐ gart 2007. 274 Engelen unterscheidet zwischen Gefühl und Emotion. Gefühle beschreibt sie als lang anhaltende Zustände, „die nicht die ganze Zeit über von einem Erregungspotential be‐ gleitet sind, sondern nur gelegentlich durch ein solches ins Bewusstsein gelangen“. Unter Emotion versteht Engelen „unmittelbare Reaktionen auf Erlebnisse oder Situa‐ tionen“ (Engelen, Gefühle, 8). 275 Vgl. Kweta, Sprache, 50. Sie spricht vom λογός als Voraussetzung für Realitätsbewälti‐ gung. 276 Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Iden‐ tität in frühen Hochkulturen, München 3 2000, 52. 277 Assmann, Gedächtnis, 50. 278 Vgl. Assmann, Gedächtnis, 56. 279 Assmann, Gedächtnis, 56. 280 Otte, Sprachverständnis, 156. 281 Vgl. Otte, Sprachverständnis, 30 und VitCont § 80 ff. auch Unangenehmes miteinander teilen, bringen sie durch Sprache Emoti‐ onen 273 zum Ausdruck. 274 Sprache schafft also eine Kommunikationssituation, die einen Austausch über Erlebtes, auch über Emotionen, ermöglicht. 275 Wenn sich eine bestimmte Personengruppe über gemeinsam Erlebtes verständigt, erlangt sie Kenntnisse und Erfahrungen, die sie verbindet und über die sie in ihrem weiteren Zusammenleben verfügen kann. Jan Assmann unterscheidet zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis. Im sog. kulturellen Gedächtnis werden Erinnerungen gespeichert, die nicht der faktisch stattgefundenen Ge‐ schichte entsprechen, sondern hauptsächlich Mythen beinhalten und häufig einen religiösen und sakralen Charakter haben. 276 Das kommunikative Ge‐ dächtnis „umfaßt Erinnerungen, die sich auf die rezente Vergangenheit be‐ ziehen. Es sind Erinnerungen, die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt.“ 277 Dies geschieht hauptsächlich in alltäglichen Kommunikationssituationen und in einem informelleren Rahmen als es für die Tradition der Inhalte des kultur‐ ellen Gedächtnisses der Fall ist. 278 Das kommunikative Gedächtnis ermöglicht Aussagen über die Vergangenheit, insbesondere „Geschichtserfahrungen im Rahmen indiv[idueller] Biographien“ 279 . „Otte spricht davon, dass die Sprache (…) die Seinsauslegung der Väter zur Geltung [bringt]“ 280 . Dies erklärt Philon anhand der Therapeuten und Essener. Sprache ist für die Essener das Element, das sie mit ihren Vätern und deren Tradition verbindet und zugleich dasjenige, das sie zum heutigen Verstehen führt. 281 Die Therapeuten werden durch ihre Gesetze zur Erkenntnis des (Gottes-)Seins geführt. Diese Erkenntnis bedingt ihre Lebensführung, die Philon als ideale Gemeinschaft bezeichnet. Die 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 143 <?page no="144"?> 282 Vgl. Otte, Sprachverständnis, 29 f. 283 Auch im Kratylosdialog Platons ist Sprache ein Instrument, das Wissen über die Welt erschließt, speichert und weitergeben kann. Vgl. dazu Leiss, Sprachphilosophie, 45. 284 Lewandowski, Art. Kommunikation, 551. 285 Kweta, Sprache, 181. 286 Vgl. Kweta, Sprache, 182. 287 Otte setzt voraus, dass die Sprache aus der Begegnung entsteht. Adam kommt nach Op § 148 die Ehre zu, seine Untertanen anzusprechen, um ihnen sogleich Namen zu ver‐ leihen. In dieser Anrede entsteht nach Otte, Sprachverständnis, 54 eine Begegnungssi‐ tuation, die in eine Kommunikationssituation mündet, wenn der Angeredete darauf reagiert (vgl. All III § 18). Von daher schreibt Otte der Sprache von Anfang an eine Kommunikationsfunktion zu. 288 Vgl. Otte, Sprachverständnis, 139. Essener hingegen werden von den Gesetzen zur idealen Gemeinschaft geleitet und erlangen auf diese Weise Gotteserkenntnis. Die beiden Wege unterscheiden sich nur in geringen Nuancen, letztlich wird hier mit dem Prinzip des herme‐ neutischen Zirkels gearbeitet. Das Gesetz führt in der Gegenwart zur idealen Lebensgemeinschaft, die Lebensgemeinschaft wiederum zum richtigen Geset‐ zesverständnis und dieses zu einer richtigen Wirklichkeitsauffassung. 282 So hat Kommunikation die Funktion, eine Verbindungslinie zur Vergangenheit herzu‐ stellen und Traditionen älterer Generationen zu bewahren und weiterzugeben. 283 Lewandowski bezeichnet diesen Aspekt der Kommunikationsfunktion als „Übertragung und Verarbeitung von Information“ 284 . In der Weitergabe von be‐ stimmten Informationen wird die Relevanz der Kommunikation über Vergan‐ genes für die Gegenwart aufgezeigt. Es entsteht ein gemeinsamer Wissenfundus, an dem durch ständige Kommunikation ‚weitergebaut’ werden muss, damit er für das Zusammenleben fruchtbar gemacht werden kann. Kweta betont gerade die Weiterentwicklung, die durch Kommunikation entsteht: [D]as Verständnis von Sprache [kann] sich wandeln, weil sich das Verständnis der Dinge wandeln kann, so daß ursprünglich in der Sprache Bewahrtes dem Bewußtsein nicht mehr gegenwärtig ist und das Bewußtsein eine veränderte, modifizierte Auf‐ fassung des ursprünglich in der Sprache Bewahrten mit der Sprache verbindet und mit ihr gegenwärtig machen will. 285 Eine solche Veränderung ergibt sich immer durch den Menschen, indem er sich in sprachlichen Äußerungen artikuliert. 286 Otte spricht bezüglich dieser Funk‐ tion der Sprache von der Verständigung über das Sein. 287 Sprache wird zum Ausleger des Seins, 288 indem sich Menschen in einen Austausch über all das, was Teil ihres Lebens ist, begeben. Sprache nimmt dabei die Stellung eines ἑρμηνεύς ein: Sie trägt zum Verstehen des Seins bei und ist so im Sprachmodus Heideggers III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 144 <?page no="145"?> 289 Otte, Sprachverständnis, 52. 290 Vgl. Kweta, Sprache, 50. 291 Vgl. auch SpecLeg I § 343. 292 Vgl. hierzu die im Folgenden behandelte Funktion der Sprache. 293 Vgl. auch Som I § 103. 294 Vgl. Som I § 102 ff und Otte, Sprachverständnis, 75 f, der den Gedankengang aus Som I weiterführt. Da im Wort das echte Sein enthalten ist, können die Sophisten in ihren Argumentationen überführt werden, wenn sie das Wort als solches akzeptieren. „Lichtung des Seins“ 289 . Die Kommunikationsfunktion der Sprache besteht somit nicht nur in einem Austausch, der eine bloße Verarbeitung von Erlebtem mit sich bringt, sondern ermöglicht Realitätsbewältigung, 290 eröffnet einen neuen Zu‐ gang zur eigenen Persönlichkeit, zum Verstehen der Welt und bereitet letztlich auch den Weg zur Gotteserfahrung. Die Kommunikation zwischen Menschen hat weitere Wirkungen. Zum einen bewirkt die Verständigung zwischen Personen Trost: ὅς γε, κἂν σφαλῇ πείρας ἐν οἷς διανοεῖται ἢ ἔργῳ ἐπεξέρχεται, [ἢ] ἐπὶ τὸ τρίτον ἀφικνεῖται βοήθημα, παρηγορίαν. φάρμακον γὰρ ὡς τραυμάτων, καὶ ψυχῆς παθῶν ὁ λόγος ἐστὶ σωτήριον (…). (Som I § 112) Denn wenn sie [die Sprache] bei dem Unternehmen scheitert, das sie beabsichtigt oder durch die Tat ausführt, kommt sie auf das dritte Hilfsmittel: den Trost. Denn wie eine Arznei für Wunden, so ist die Sprache ein Heilmittel für Leiden der Seele (…). (Som I § 112) Sprache wird so zum Heilmittel für seelisches Leiden. 291 Mit der παρηγορία bringt die Kommunikation eine weitere Funktion mit sich, die den Austausch von ge‐ meinsam Erlebten zugleich zu einem Verarbeitungsprozess macht. Zum anderen wird in Conf § 12 ein praktischer Aspekt der Kommunikation deutlich, die Abwehr von Gefahren durch frühzeitige Verständigung. Dieser Aspekt steht in engem Zusammenhang mit der Sprache als Element, das eine Gemeinschaft konstituiert. 292 Es wird betont, dass die Menschen durch nichts so sehr vor Übeln geschützt werden als durch die gemeinsame Sprache. 293 Ist man der Sprache der Fremden nicht mächtig, kann es zu Angriffen kommen, die nicht abgewehrt werden können; die Kenntnis der Sprache hingegen ermöglicht die Abwehr solcher Vorhaben, da man die angreifenden Personen verstehen und darauf reagieren kann, indem man sich gegenseitig verständigt und Maß‐ nahmen zur Abwehr ergreift. Sprache wird hier beschrieben als Kommunikati‐ onsmittel zur Vermeidung schlechter Taten. Nach Som I kann Sprache ihre Funktion außerdem als Verteidigungsmittel in verbalen Auseinandersetzungen erfüllen, beispielsweise in Streitgesprächen mit den Sophisten. 294 Philon be‐ zeichnet die Sprache in Som I § 103 als Verteidigungswaffe (ὅπλον ἀμυντήριον), 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 145 <?page no="146"?> 295 Vgl. Otte, Sprachverständnis, 75. 296 Hierfür ist erneut auf die Tatsache hinzuweisen, dass Sprache Wirklichkeit nur wahr‐ heitsgemäß abbilden kann, wenn die Wirklichkeit richtig erkannt wird. Selbstverständ‐ lich kann auch über verfälschte Wirklichkeit Kommunikation erfolgen. Philon bleibt in seiner Argumentation jedoch der philosophischen Ebene verhaftet und thematisiert mögliche Auswirkungen einer solchen Verständigung nicht. 297 Vgl. Conf § 83-101 und Christian Noack: Haben oder Empfangen. Antithetische Cha‐ rakterisierungen von Torheit und Weisheit bei Philo und Paulus. In: Philo und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen. I. Internationales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum. 1.-4. Mai 2003, Eisenach / Jena, hg. v. ders. Tübingen 2004 (WUNT 172), 295 f. die gegen Aufrührer eingesetzt werden kann. Da das Wort seinsgemäß und echt ist, kann es nur in einer Art und Weise verstanden werden. Auch die Sophisten werden die Echtheit des Wortes und das dahinter verborgene Sein erkennen, wenn sie es als solches annehmen. 295 An dieser Stelle ist besonders auf die Vo‐ raussetzung der Eindeutigkeit der Sprache hinzuweisen. Sie gilt letztlich für die gesamte Kommunikationsfunktion; nur wenn Sprache eindeutig und klar ist, kann eine wahre und sinnvolle Kommunikation stattfinden. 296 Das Wort der Sophisten kann mit den Ziegeln zum Bau der Stadt Babel verglichen werden. Durch das Feuer werden die Ziegel hart, dementsprechend stabilisieren sich die Untugenden in der Sprache. So wie der Ziegel hart und damit der Turm gebaut wird, entstehen auch die schlechten Tugenden. Die Turmbauer tragen dazu bei, die Gerechtigkeit und die Tugend zu verderben. Es besteht aber trotzdem Hoff‐ nung: 297 τὸ δ’ ὁμόφωνον καὶ ὁμόγλωττον οὐκ ἐν τοῖς ὀνόμασι καὶ ῥήμασι μᾶλλον ἢ ἐν τῇ τῶν ἀδίκων πράξεων κοινωνίᾳ βουλόμενος ὁ φαῦλος ἐπιδείξασθαι πόλιν ἄρχεται καὶ πύργον (…) κακίᾳ κατασκευάζειν, καὶ τοὺς θιασώτας πάντας παρακαλεῖ τοῦ ἔργου μετασχεῖν τὴν ἁρμόττουσαν προευτρεπισαμένους ὕλην· ‚ἴτε’ γάρ φησι ‚πλινθεύσωμεν πλίνθους καὶ ὀπτήσωμεν αὐτὰς πυρί’ (Gen. 11,3), ἴσον τῷ νῦν ἐστιν ἡμῖν συμπεφορημένα καὶ συγκεχυμένα τὰ πάντα τῆς ψυχῆς, ὡς ἐναργῆ τύπον μηδένα μηδενὸς εἴδους προφαίνεσθαι. ἐπεὶ δὲ (…) ἡ ἄσφαλτος εἰς πηλὸν μετέβαλεν, οὐκ ἀθυμητέον· ἐλπὶς γάρ, ἐλπὶς τὰ βέβαια τῆς κακίας ἐρείσματα κράτει θεοῦ διακοπῆναι. (Conf § 83 f.104) Da aber der Schlechte will, daß die Gleichsprachigkeit und Gleichzüngigkeit nicht sowohl in den Namen und Worten als in der Gemeinsamkeit der rechtswidrigen Handlungen zutage trete, fängt er an, eine Stadt und einen Turm (…) der Schlechtigkeit zu errichten und ruft zur Beteiligung am Werke sämtliche Genossen herbei, die das entsprechende Material wohl vorbereiten sollen. ‚Wohlan’, - heißt es nämlich -‚ wir wollen Ziegel machen und sie im Feuer brennen’ (1 Mos. 11,3); das besagt soviel als: jetzt sind sämtliche Teile unserer Seele durcheinander gewürfelt und geschüttet, sodaß III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 146 <?page no="147"?> 298 Dies wurde bereits mehrfach deutlich, vgl. v. a. die semantische Analyse zur σύγχυσις (Kap. III, 3.2), in der Philon bewusst vom Literalsinn abweicht und einen ethischen Kontext konstruiert. 299 Wischmeyer, Kanon, 656. 300 Wischmeyer, Kanon, 655. 301 Vgl. Wischmeyer, Kanon, 657. kein einziger Zug irgendwelche Form klar hervortritt. Da aber (…) das Harz in Lehm sich verwandelt, darf man nicht den Mut verlieren: denn die Hoffnung, (ja) Hoffnung (ist alsdann vorhanden), daß die starken Festungen der Schlechtigkeit durch Gottes Macht zerstört werden. (Conf § 83 f.104) Philon zieht eine Verbindung von der Sprache als Kommunikationsmittel zur Ethik. Er stellt die in der LXX kanonisierten Texte nicht ausschließlich in ihrem Literalsinn dar. 298 Hinzukommen muss nach Philon ein ethischer Sinn. Damit wird nochmals deutlich, dass Philon im Diskurs der frühen Kaiserzeit zu ver‐ orten ist, in dem Texte einen Beitrag zur Ethik leisten sollen. Der philonische Umgang mit den Texten der LXX ist „klassische Kanonhermeneutik in dem Sinn, dass sie ihre kanonischen Texte für die leitenden Paradigmen ihrer jeweiligen Gegenwart aussagekräftig macht“ 299 . Die Schrift, die Philon in seinen Traktaten im Blick hat und die er in seinen Kommentaren den Menschen aktualisieren will, ist die LXX . Sie enthält, wie andere kanonisierte Texte, „überzeitliche Sinn‐ potentiale, die mit Hilfe hermeneutischer Regelwerke für jede Gegenwart neu erschlossen werden können“ 300 . Dazu trägt Philon mit seiner allegorischen Aus‐ legung der LXX bei, indem er den Menschen überzeitliche Normen kommuni‐ ziert und auf einer ethischen Ebene für die Gegenwart aktualisiert. 301 Neben dem auf den Menschen bezogenen Kommunikationsakt findet sich bei Philon eine Art der Kommunikation, die auf Gott ausgerichtet ist. Sie wird im Kapitel zu Sprache und Gott untersucht. Zusammenfassung: In Conf § 9-13 können nahezu alle Funktionen von Sprache im Bereich der Kommunikation verortet werden. Die Kommunikationsfunktion der Sprache impliziert verschiedene Komponenten: Kommunikation entsteht in individu‐ eller Meinungsäußerung, aber auch in Gesprächssituationen mit mehreren Ge‐ sprächspartnern, in denen ein Austausch über Erlebtes und über Emotionen erfolgen kann. Dieser kann in einen Verarbeitungsprozess münden. Ein weiterer Aspekt, der durch die Kommunikation der Menschen entsteht, ist der Trost. Hier fungiert Sprache als Heilmittel für seelisches Leiden. Kommunikation ermög‐ licht ferner die Weitergabe von Tradition und schlägt damit eine Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart und wirkt in die Zukunft hinein, dabei ist v. a. der 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 147 <?page no="148"?> 302 Lewandowski, Art. Kommunikation, 551. Fokus, den Philon auf die Ethik richtet, von Bedeutung. Die Verständigung über Erkenntnisse älterer Generationen trägt zum Verstehen der Welt bei. Sprache als Kommunikation, verstanden als zwischenmenschliche Verständigung in all ihren Facetten und Auswirkungen, ist Funktion und Aufgabe zugleich. 4.6 Sprache als Kennzeichen einer Gemeinschaft und eines Sicherheitsgefühls Die Kommunikationsfunktion der Sprache ist eng verbunden mit der Funktion der Sprache als Ausdruck und Merkmal einer Gemeinschaft, denn Sprache als Kommunikation ist eine „besondere und zugleich fundamentale Form sozialer Interaktion“ 302 . Ein Zusammengehörigkeitsgefühl kann dadurch entstehen, dass eine bestimmte Anzahl von Menschen die gleiche Sprache spricht. Eine ge‐ meinsame Sprache fungiert als Element, das eine Gesellschaft bzw. Kultur kon‐ stituiert. Philon greift das nicht nur in Conf § 10 ff auf, wenn er die Argumen‐ tation seiner Gegner nachzeichnet, sondern verdeutlicht es erneut in Conf § 150: ‚ἰδοὺ γένος ἓν καὶ χεῖλος ἓν πάντων’ (Gen. 11,5), ἴσον τῷ ἰδοὺ μία οἰκειότης καὶ συγγένεια, καὶ πάλιν ἁρμονία καὶ συμφωνία ἡ αὐτὴ πάντων ὁμοῦ (…). (Conf § 150) ‚Siehe, ein Volk ist es, und eine Sprache haben sie alle’ (1. Mos. 11,5), was soviel heißt als: eine Sippengemeinschaft, sowie eine harmonische Übereinstimmung bilden sie allesamt (…). (Conf § 150) Sprache wird als Gemeinschaft begründendes Element beschrieben. Das Er‐ lernen einer fremden Sprache führt dazu, dass Menschen sich in einem (neuen) Personen-/ Kulturkreis zugehörig fühlen; ist eine Person mit den Begriffen einer bestimmten Sprache vertraut, entsteht dadurch ein Merkmal der κοινωνία. Das Lexem steht nur selten im Zusammenhang mit Sprache. Philon gebraucht es auch, um die Beziehung zwischen Gott und dem Glaubenden zum Ausdruck zu bringen. Das zeigt sich in VitMos I: οὐχὶ καὶ μείζονος τῆς πρὸς τὸν πατέρα τῶν ὅλων καὶ ποιητὴν κοινωνίας ἀπέλαυσε προσρήσεως τῆς αὐτῆς ἀξιωθείς; ὠνομάσθη γὰρ ὅλου τοῦ ἔθνους θεὸς καὶ βασιλεύς. (VitMos I § 158) Genoss er nicht die erhabene Gemeinschaft mit dem Vater und Schöpfer des Alls und wurde er nicht dergleichen Benennung gewürdigt? Er wurde ja des ganzen Volkes Gott und König genannt. (VitMos I § 158) III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 148 <?page no="149"?> 303 Vgl. Friedrich Hauck: Art. κοινός, κοινωνός, κοινωνέω, κοινωνία, συγκοινωνός, συγκοινωνέω, κοινωνικός, κοινόω, in: ThWNT III (1938), 800-803. 304 Vgl. SpecLeg I § 131.221. 305 Vgl. Epiktetos, Diss I 9,5 und II 19,27 (Text s. Epiktetos: Dissertationes ab Arriano di‐ gestae, hg. v. Heinrich Schenkl, Leipzig 2 1916). 306 Vgl. Prob § 84 f. 307 Vgl. Hauck, Art. κοινός, 791-796 zur Entwicklung vom gesamten Landbesitz des Stammes zum Privateigentum und die damit verbundenen Probleme. 308 Vgl. Plat. polit. III 416d-e, polit. IV 421.424a.451 f.464. 309 Vgl. Prob § 75-91. 310 Vgl. VitCont § 24. Diese Verwendung widerspricht dem Sprachgebrauch der LXX . Mit der Wort‐ gruppe κοινωνwird dort hauptsächlich das hebräische רבח (binden) wieder‐ gegeben. Es bezieht sich auf das Verhältnis von Einzelpersonen (und gelegent‐ lich Götzen), nie auf das zwischen Mensch und Gott. Der Mensch wird als דבע (Diener) gedacht, was ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Gott und dem Glaubenden widerspiegelt. Es entspricht dem griechischen Denken, wenn Philon durch κοινωνία ein nahes Verhältnis des Menschen zu Gott zum Aus‐ druck bringt. 303 Besonders deutlich wird diese Form der Gemeinschaft in kulti‐ schen Handlungen wie beispielsweise dem Opfermahl. 304 In der Stoa wird κοινωνία im Gegensatz zur LXX als Bezeichnung für die Beziehung des Men‐ schen zu Gott verwendet. Weiterhin dient das Lexem dazu, das Verhältnis zwi‐ schen Menschen zu charakterisieren. 305 Auch Philon gebraucht diese Verwen‐ dung des Lexems, insbesondere für die Lebensform der Essener, die er als κοινωνία bezeichnet. 306 Die zweite Bedeutung der Wortgruppe κοινωνzeigt vor allem das Interesse der Griechen: Das Individuum wird als solches wahrge‐ nommen, ist jedoch primär auf die Gemeinschaft und deren Wohl ausgerichtet. Thematisiert werden in diesem Zusammenhang häufig Besitzverhältnisse. 307 Platon spricht sich für eine Lebensform aus, in der es keinen Privatbesitz gibt. 308 Tatsächlich bleibt diese Forderung eine Theorie, die kaum in die Praxis umge‐ setzt wird. Eine Ausnahme bilden die Pythagoreer und die Essener, deren aske‐ tisches Leben einen vollkommenen Verzicht auf Privateigentum voraussetzt. Dies ist nur ein Grund, weshalb Philon die Gemeinschaft der Essener außeror‐ dentlich lobt. 309 Auch bei den Therapeuten kann eine besondere Hochschätzung der κοινωνία festgestellt werden. 310 Philon verwendet κοινωνία hauptsächlich in letzterem Verständnis, zur Thematisierung der Beziehung zwischen Men‐ 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 149 <?page no="150"?> 311 Κοινωνία bezogen auf die Gemeinschaft zwischen Menschen vgl. Conf § 48, Conf § 193.194.195 (Beseitigung der Gemeinschaft der Menschen), Op § 152 (Adam und Eva), Decal § 14, Cher § 110, Ebr § 48.78, Som II § 83, Fug § 35, All I § 8, SpecLeg II § 167, Virt § 51, Prob § 84, Mut § 104; κοινωνία bezogen auf den Körper vgl. Op § 138, Fug § 55, Abr § 74; κοινωνία in Bezug auf Gott vgl. VitMos I § 158 bzw. κοινωνία des menschlichen und göttlichen Logos vgl. Abr § 41, κοινωνία als Tugend vgl. Sacr § 27 und Virt § 84. 312 Vgl. auch Conf § 193.194.195. Hier ist von der Sprachgemeinschaft, insbesondere von ihrer Beseitigung die Rede. schen. 311 Er beschreibt sie im Zusammenhang mit der Abhandlung der Men‐ schenliebe am Beispiel des Lebens Moses: τὴν δ’ εὐσεβείας συγγενεστάτην καὶ ἀδελφὴν καὶ δίδυμον ὄντως ἑξῆς ἐπισκεπτέον φιλανθρωπίαν, ἧς ἐρασθεὶς ὡς οὐκ οἶδ’ εἴ τις ἕτερος ὁ προφήτης τῶν νόμων - ὁδὸν γὰρ οἷα λεωφόρον ἄγουσαν ἐφ’ ὁσιότητα ταύτην ἠπίστατο - τοὺς ὑπ’ αὐτὸν ἅπαντας ἤλειφε καὶ συνεκρότει πρὸς κοινωνίαν, παράδειγμα καλὸν ὥσπερ γραφὴν ἀρχέτυπον στηλιτεύσας τὸν ἴδιον βίον. (Virt § 51) Der Frömmigkeit ganz nahe verwandt und geradezu Zwillingsschwester von ihr ist die Menschenliebe, die wir nunmehr betrachten müssen. Diese schätzte der prophe‐ tische Gesetzgeber wie kaum ein anderer, denn er wusste, dass sie wie ein gebahnter Weg zur Frömmigkeit führt; deshalb sucht er alle seine Untergebenen zur Betätigung des Gemeinsinns anzuleiten und zu ermuntern und schilderte als herrliches Beispiel wie ein Mustergemälde sein eigenes Leben. (Virt § 51) Philon bestimmt die κοινωνία als erstrebenswert und setzt sie in direkten Zu‐ sammenhang mit der φιλανθρωπία. Der gestärkte Sinn für die Gemeinschaft führt dazu, sich dem Nächsten gegenüber angemessen zu verhalten. Philon be‐ schreibt die κοινωνία demnach als anzustrebende Komponente des menschli‐ chen Lebens, die im Zusammenhang mit der Menschenliebe Frömmigkeit her‐ vorbringen und stärken kann. Wenn das Bewusstsein, in einer Gemeinschaft zu leben, dazu führt, dass unter den Menschen, die sich als Teil dieser κοινωνία verstehen, die Nächstenliebe und die Frömmigkeit zunehmen, erscheint es sinn‐ voll, alles, was diese κοινωνία konstituiert, zu fördern. Conf ist der einzige Traktat, in dem sich eine Verbindung von κοινωνία und Sprache finden lässt. 312 Nur in Conf § 13 wird Sprache als „οὐ βραχὺ γνώρισμα κοινωνίας“ beschrieben. Eine gemeinsame Sprache kann offensichtlich Kennzeichen einer solchen κοινωνία sein, wie sie eben geschildert wurde. Der Sprache wird an dieser Stelle eine besonders wichtige Funktion zugeschrieben, wenn sie ein Merkmal dafür ist, dass sich Menschen als Teil einer festen Gemeinschaft fühlen, über welche eine Verbesserung des menschlichen Zusammenlebens erwirkt werden kann. Die Qualität des Miteinanderlebens kann erhöht werden, indem ein Bewusstsein III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 150 <?page no="151"?> 313 Vgl. auch Sacr § 27. 314 Vgl. VitMos I § 158. 315 Communicatio ist, wie oben bereits aufgezeigt wurde, die latinisierte Form des Lexems κοινωνία. Von daher zeigt sich auch für diese Funktion der Sprache ein deutlicher Bezug zur Kommunikationsfunktion. 316 Vgl. All III § 127 und Kweta, Sprache, 186 ff sowie ihre Analyse zu All III § 118 ff. 317 Vgl. Kweta, Sprache, 189 f. 318 Vgl. All III § 124 ff. für das Allgemeinwohl entsteht und indem das Verständnis, Teil eines Ganzen zu sein, gefördert wird. Auch die κοινωνία bestimmt Philon in Virt § 84 neben Milde, Güte oder Großherzigkeit als Tugend und zählt sie zu den schönsten Dingen, die der Mensch besitzt. Κοινωνία ist demnach kein Lexem, das eine beliebige Gemeinschaft be‐ zeichnet; es erhält einmal durch seine Charakterisierung als Tugend, 313 die es anzustreben gilt, besonderen Nachdruck. Weiterhin kann es eine besonders starke Verbundenheit betonen, was sich u. a. an der Verwendung des Lexems für die Gottesbeziehung des Menschen zeigt. 314 Erfasst man das Lexem κοινωνία in seinem semantischen Spektrum, so wird deutlich, dass Philon der Gemeinschaft einen sehr hohen Stellenwert zuschreibt. Sprache ist Kennzeichen einer solchen Gemeinschaft und kann dazu beitragen, dass unter den Menschen über die ge‐ meinsame Sprache ein Zusammengehörigkeitsgefühl hervorgerufen wird, das sich letztlich auf die Verbesserung des Zusammenlebens auswirkt bzw. aus‐ wirken soll. 315 Diese kann auch dadurch entstehen, dass der λόγος nach All III § 140 selbst Inhaber der Tugenden der Wahrheit und der Weisheit ist. Kommt der λόγος als λόγος προφορικός zum Ausdruck, gehen diese Tugenden auf die Sprache über. 316 Die beiden Tugenden wiederum wirken ordnend auf das Gemüt (θυμός), das wie die Sprache an sich zu den alogischen Teilen der Seele gehört. Dadurch gewinnen auch die alogischen Teile an Ordnung und wirken so auf den Menschen in seiner Gesamtheit. 317 Sprache hat demnach eine ordnende Funktion für den Menschen. Hiermit kann eine äußerst positive Funktion der Sprache for‐ muliert werden, die Philon gleichzeitig mit einer Einschränkung versieht: Nur in den Augenblicken, in denen sich Menschen Gott zuwenden, wird der Logos diese ordnende Funktion auf das Gemüt ausüben. 318 Innerhalb der κοινωνία, die mindestens durch eine gemeinsame Sprache kon‐ stituiert ist, kann neben dem Zusammengehörigkeitsgefühl und der Wertschät‐ zung, dass eine Person die Sprache einer andern Sippe gelernt hat, das Gefühl von Sicherheit entstehen. Philon gibt das in Conf § 13 mit dem Ausdruck „ἀφ’ ἧς τὸ ἀδεὲς εἰς τὸ μηδὲν ἀνήκεστον παθεῖν ἔοικε πεπορίσθαι“ wieder. Allein die 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 151 <?page no="152"?> gemeinsame Sprache hat die Kraft, eine Personengruppe so stark zu machen, dass sie sich in einer Umgebung geborgen fühlt. Eine vertraute Umgebung schafft Sicherheit. Diese entsteht in einer Sprachgemeinschaft, weil man sich über die vom Einzelnen wahrgenommene Wirklichkeit verständigen und so in einen ständigen Austausch treten kann. Dadurch, dass Sprache den Austausch innerhalb einer Gruppe, die die gleiche Sprache spricht, ermöglicht, verbinden sich die Kommunikationsfunktion und die Funktion der Sprache, ein Zusam‐ mengehörigkeitsgefühl hervorzurufen. Dies scheint nach Philon unabhängig davon zu sein, ob es sich bei der Sprache um die Muttersprache oder um einen Zweitspracherwerb handelt. 4.7 Sprache als Bindeglied zwischen menschlichem Denken und Handeln und die daraus resultierenden Aufgaben Der Zusammenhang zwischen den gedachten Gehalten im νοῦς und der stimm‐ lichen Äußerung über den λόγος προφορικός wurde in den vorangehenden Ausführungen deutlich. Er soll im Folgenden anhand von Conf vertieft werden. Dabei findet die konkrete Handlung als weitere Komponente Einzug in die Ar‐ gumentation. (1) Zuerst ist der Zusammenhang der Komponenten Denken, Sprechen und Handeln in den Blick zu nehmen. (2) Anschließend ist der Frage nachzugehen, wie schlechte Handlungen angesichts dieses Zusammenhangs vermieden werden können. (3) Als letzter Aspekt werden die Aufgaben kon‐ kretisiert, die sich aus der Tatsache, dass die Sprache als Bindeglied zwischen Denken und Handeln fungiert, ergeben. (1) In Conf § 9 wird Sprache zuerst als Mittel dargestellt, mit dessen Hilfe die Menschen schlechte Taten anrichten. Von den Gegnern wird in Conf § 10 wi‐ derlegt, dass Sprache der Auslöser für diese Handlung ist. In Conf § 34 greift Philon den Zusammenhang zwischen Sprache und Handlung erneut auf und macht damit deutlich, dass er seinen Kritikern in dieser Hinsicht zustimmt: λόγῳ δὲ καὶ οἱ μισάρετοι καὶ φιλοπαθεῖς συμμάχῳ χρῶνται πρὸς τὴν τῶν ἀδοκίμων δογμάτων εἰσήγησιν καὶ πάλιν οἱ σπουδαῖοι πρός τε τὴν τούτων ἀναίρεσιν καὶ πρὸς τὸ τῶν ἀμεινόνων καὶ ἀψευδῶς ἀγαθῶν κράτος ἀνανταγώνιστον. (Conf § 34) Die Rede [λόγος] aber gebrauchen einerseits solche, die die Tugend hassen und die Affekte lieben, um schändliche Absichten vorzutragen, sowie andererseits die Guten, um diese zu bekämpfen und die besseren und wahrhaft guten (Ansichten) unan‐ fechtbar zu bekräftigen. (Conf § 34) In den Gedanken, die im νοῦς geformt sind, entwickeln sich Pläne und Ziele, die in einer sprachlichen Äußerung zum Ausdruck gebracht werden können. Diese III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 152 <?page no="153"?> 319 Vgl. Conf § 10. 320 Vgl. Conf § 34. 321 Vgl. auch Aristot., Herm. 16a 10 f: ἔσι δ’, ὥσπερ ἐν τῇ ψυχῇ ὁτὲ μὲν νόημα ἄνευ τοῦ ἀληυεύειν ἢ ψεύδεσθαι, ὁτὲ δὲ ἤδη ᾧ ἀνάγκη τοῦτων ὑπάρχειν θάτεραν, οὕτω καὶ ἐν τῇ φωνῇ. Wie sich aber in unserer Seele bald ein Gedanke befindet, ohne daß es ihm zukäme, wahr oder falsch zu sein, aber auch einer, dem notwendigerweise eines von beiden zukommt, so äußern wir auch mit der Stimme (teils sprachliche Ausdrücke der einen und teils solche der anderen Art). 322 Freudenthal, Erkenntnislehre, 7-10 bezieht nicht erst die sprachliche Äußerung, son‐ dern bereits den Akt der Erkenntnis auf die Ethik. Äußerung hat eine doppelte Funktion. Sie kann zwar nach Conf § 9 nicht der Auslöser für schlechte Taten sein, nach Conf § 34 jedoch dazu beitragen, schlechte Absichten zu kommunizieren. Die Ursache für die Schlechtigkeit der Menschen liegt also nicht in der Sprache, sondern in der Seele; 319 Sprache aber fungiert als Mittel, das zur Umsetzung der schlechten Taten beitragen und an‐ regen kann, indem sie die im νοῦς entstandenen Gehalte in einer stimmlichen Äußerung anderen Menschen zugänglich macht. So kann darüber Kommuni‐ kation erfolgen. Der Kommunikationspartner kann diese schlechten Absichten durch seine Sinne aufnehmen. Auf der anderen Seite kann Sprache von den Menschen eingesetzt werden, die Gutes im Sinn haben und Ersterem entgegen‐ wirken wollen. 320 Conf § 12 verdeutlicht beide Ebenen des Zusammenhangs von Sprache und Handlung: Sprache fungiert als Initiator für gute Taten, da sie bei der Verständigung über drohende Gefahren hilft, vorausschauend Maßnahmen zu ergreifen. Aber auch schlechte Taten können im Denken ihren Ursprung nehmen, in der Sprache einen Ausdruck erhalten und schließlich zur konkreten Handlung werden. 321 Im Zug dieser Argumentation wird die bei Philon häufig zu beobachtende ethische Ebene deutlich. So wirkt Sprache auf der einen Seite als Initiator für Missetaten der Menschen; auf der anderen Seite hat Sprache die Funk‐ tion, den Menschen zu guten Werken anzuregen. Es zeichnet sich also ein Zu‐ sammenhang zwischen sprachlicher Äußerung und einer daraus resultierenden ethischen Handlung ab. 322 Diesen verdeutlicht Philon in Mut: σχεδὸν τοίνυν καὶ τὰ ἁμαρτήματα καὶ τὰ κατορθώματα συμβέβηκεν ἐν τρισὶν ἐξετάζεσθαι, διανοίᾳ, λόγοις, πράξεσιν· (…) ἐκ γὰρ εὐβουλίας καὶ εὐλογίας καὶ εὐπραξίας τὴν ἀνθρωπίνην εὐδαιμονίαν συνίστασθαι, ὥσπερ καὶ τὴν κακοδαιμονίαν ἐκ τῶν ἐναντίων. ἐν γὰρ τοῖς αὐτοῖς τό τε κατορθοῦν καὶ ἁμαρτάνειν χωρίοις ἐστί, καρδίᾳ, στόματι, χειρί· καὶ γὰρ βουλεύονταί τινες εὐγνωμονέστατα καὶ λέγουσιν ἄριστα καὶ πράττουσι | τὰ πρακτέα. (Mut § 236-238) Es steht eben so, daß auch Verfehlung und Richtigkeit in drei Formen auftreten: Ge‐ danken, Worten, Taten; (…) denn aus guter Entschließung, Rede, Tat würde sich die 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 153 <?page no="154"?> 323 Zu VitMos II § 130 s. unten Kap. III, 4.7 (3). 324 Otte, Sprachverständnis, 141. 325 Vgl. Otte, Sprachverständnis, 141 f. Deshalb schreibt Otte, Sprachverständnis, 74 die in Som I § 104 erwähnte Besserung des Menschen durch die Sprache nur dem echten Wort zu. 326 Die Tatsache, dass sprachliche Äußerungen zugleich Handlungen sind, wurde von John L. Austin und später von John R. Searle im Zuge der Sprechakttheorie herausge‐ stellt. Vgl. hierzu: John L. Austin: How to do things with words. The William James lectures delivered at Harvard University in 1955, Oxford, London, 2009 und John R. Searle: Speech acts. An essay in the philosophy of language, Cambridge 1970. 327 Vgl. Alfons Weische: Art. Rhetorik, Redekunst, in: HWP 8 (1992), 1014-1025. menschliche Glückseligkeit ergeben, wie auch die Unseligkeit aus dem Gegenteil. An denselben Stellen nämlich liegt das Richtig-sich-Verhalten und das das Sichverfehlen, an Herz, Mund, Hand; denn es gibt solche, die überlegteste Beschlüsse fassen, ausge‐ zeichnet reden und vollziehen, was zu vollziehen ist. (Mut § 236-238) Die Argumentation in Mut verortet die Sprache zwischen Denken und Handeln. Sie zeigt den Zusammenhang der drei Komponenten auf, indem die Kette von Denken, Sprechen und Handeln als Ergebnis die εὐδαιμονία bzw. κακοδαιμονία hervorbringen kann. Es wurde bereits deutlich, dass Philon einen Zusammenhang zwischen den gedachten Gehalten, der stimmlichen Manifestierung und den Taten annimmt. Nicht eingegangen wurde auf die Frage, warum Philon der Sprache die Kraft zuschreibt, Handlungen hervorzubringen. Der Grund dafür ist, dass dieser Zu‐ sammenhang in den philonischen Texten nicht hinterfragt wird. Otte versucht, eine Erklärung für die Zusammengehörigkeit von Wort und Handlung zu lie‐ fern, indem er VitMos II § 130 323 entsprechend interpretiert: Er geht davon aus, dass VitMos II § 130 nicht wörtlich und ‚oberflächlich’ zu verstehen ist. Philon hat nach Otte nicht im Sinn, dass einem Wort tatsächlich eine Handlung folgen soll; das Wort setzt von sich aus eine Handlung in Gang, „weil es dazu die Kraft hat“ 324 . Damit wäre umgekehrt die Handlung ein Beweis dafür, dass die Sprache echt ist. 325 Warum das Wort die Kraft besitzt, eine Handlung zu bewirken, er‐ läutert letztlich auch Otte nicht. Dies wäre jedoch der entscheidende Aspekt, um den Zusammenhang offen zu legen. Es lassen sich in den philonischen Trak‐ taten keine Gründe dafür finden, weil die Fragestellung nicht im Fokus Philons liegt. Er geht im Rahmen des antiken Denkens von der Tatsache aus, dass der Mensch durch Sprache handelt. 326 Nach einer Ursache wird nicht gefragt. Wie das menschliche Handeln durch Sprache bestmöglich geschehen kann, welche Ziele mit welcher Art der Argumentation verfolgt werden können, lehrt die Rhetorik. 327 Von daher ist der Zusammenhang von Sprache und Handlung nicht ‚rückwärts’ gerichtet, indem nach einem Grund für selbigen gefragt wird, son‐ III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 154 <?page no="155"?> 328 Vgl. Mut § 243. 329 Mut § 251, vgl. auch Mut § 242. dern ‚vorwärtsgerichtet’ auf die Möglichkeiten und Auswirkungen von sprach‐ lichen Handlungen. (2) Die Ursache für Handlungen liegt im Denken, da das im νοῦς Erkannte in der Sprache geäußert wird und dieser Äußerung Taten folgen. Bereits im νοῦς kann also eine Grundlage für gutes oder schlechtes Tun gelegt werden. Es wäre demnach das Beste, Missetaten zu vermeiden, indem man sie nicht denkt. Kann dies nicht gewährleistet werden, sollten die schlechten Gedanken zumindest nicht ausgesprochen werden: τὸ μὲν οὖν ἄριστον τῆς καθάρσεως καὶ τελεώτατον τοῦτ’ ἐστί, μηδ’ ἐνθυμεῖσθαί τι τῶν ἀτόπων (…)· τὸ δὲ δεύτερον, λόγοις μὴ διαμαρτάνειν ψευδόμενον ἢ ψευδορκοῦντα ἢ ἀπατῶντα ἢ σοφιζόμενον ἢ συκοφαντοῦντα ἢ συνόλως στόμα καὶ γλῶτταν ἐπ’ ὀλέθρῳ τινῶν ἀνιέντα, οἷς χαλινὸν ἦν ἄμεινον περιθεῖναι καὶ δεσμὸν ἄρρηκτον. διὰ τί δὲ τὸ λέγειν τοῦ νοεῖν τὰ μὴ προσήκοντα βαρύτερον ἁμάρτημα, ῥᾷον ἰδεῖν. ἐνθυμεῖται μέν τις οὐ παρ’ ἑαυτὸν ἔστιν ὅτε, ἀλλ’ ἀβουλῶν· ὧν γὰρ οὐ θέλει λαμβάνειν ἐννοίας ἀναγκάζεται, τῶν δ’ ἀκουσίων οὐδὲν ὑπαίτιον. λέγει δέ τις ἑκών (…). (Mut § 240-242) Die beste und vollkommenste Reinigung nun liegt darin, auch nicht auszudenken, was ungehörig ist (…); das zweite, sich nicht mit Worten zu verfehlen, wie es geschieht, wenn einer lügt oder falsch schwört oder betrügt oder intrigiert oder falsch anklagt oder überhaupt Mund und Zunge zum Verderben eines Menschen loslässt, über die er besser Zügel und unzerbrechliche Fessel gelegt hätte. Warum aber Ungehöriges zu reden ein schwererer Fehler ist als es zu denken, ist recht leicht zu ersehen. Es denkt manchmal einer nicht von sich aus, sondern wider Willen (denn der Zwang kommt über ihn, Gedanken zu fassen, die er nicht will; das Unfreiwillige aber ist nicht der Anklage unterworfen), es redet aber jeder freiwillig (…). (Mut § 241-242) Es liegt nach Philon in der eigenen Verantwortung, was der Mensch durch Sprache zum Ausdruck bringt. Auf das, was sich im νοῦς manifestiert, hat der Mensch keinen unmittelbaren Einfluss. Deshalb wird das Denken nicht beur‐ teilt, für ihre Aussagen aber werden die Menschen zur Verantwortung gezogen; d. h., ob ein Mensch seine Gedanken sprachlich formuliert, liegt in seiner eigenen Entscheidung. 328 Wer nicht unter Kontrolle hat, was er sagt, dem empfiehlt Philon das Schweigen, „πάντων γὰρ ἀλεξίκακον τῶν διὰ φωνῆς ἁμαρτανομένων, (…) ἡσυχία, ᾗ παντί τῳ ῥᾴδιον χρῆσθαι“ 329 (denn ein Heilmittel für alle Verfehlungen durch die Stimme ist (…) die Stille, die ein jeder leicht wahren kann). So wird auch dem Schweigen eine erhebliche Bedeutung zuge‐ 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 155 <?page no="156"?> 330 Kweta beschäftigt sich ausführlich mit der Problematik des Schweigens. Vgl. Kweta, Sprache, 24 f.400-417.436 f. Sie benutzt den Begriff anfangs als allgemeinen Gegenpol zum Sprechen und versteht „Schweigen als Nicht-Reden“ (Kweta, Sprache, 24). Sprache und Schweigen sind ihrer Ansicht nach Komplementärbegriffe, die jeweils in Abgren‐ zung zueinander beschrieben werden müssen. Deshalb versucht sie die Grenzen beider Bereiche im philonischen Denken auszumachen, um von ihnen aus beide Begriffe de‐ finieren zu können. 331 Vgl. Conf § 37. 332 Das Lexem συνείδησις findet sich bei Philon selten, vgl. Det § 146. Häufiger arbeitet er mit dem Lexem ἔλεγχος, im Sinn der Prüfung, vgl. Op § 128 (der Ort des Gewissens wird in der Seele bestimmt) und Imm § 135 (der Logos als Gewissen). Vgl. auch Zeller, Logos-Theologie, 159. Durch den göttlichen λόγος kann das menschliche Gewissen wieder gereinigt werden (vgl. Det § 146). Dem könnte Paulus nicht zustimmen. Für ihn besteht ein Unterschied zwischen dem Gericht Gottes und dem menschlichen Gewissen. Die συνείδησις hat keinen göttlichen Bezug wie bei Philon. Vgl. Günther Bornkamm: Art. Gesetz und Natur (Röm 2 14 - 16 ), in: Studien zu Antike und Urchristentum. Gesam‐ melte Aufsätze Band II, hg. v. ders., München 1959 (BEvTh 28), 116. 333 Vgl. Det § 23. 334 Vgl. Mut § 238 f und Mut § 245. sprochen, nämlich schädliche Taten zu vermeiden. 330 Charakteristisch für Philon sind dualistische Konzepte. Dies gilt auch in Bezug auf das Schweigen, welches neben dem in Mut beschriebenem positiven Aspekt gegenteilige Züge aufweisen kann. 331 Führt auch das Schweigen nicht zu dem gewünschten Erfolg oder neigt eine der drei Komponenten zu Verfehlungen, sind alle der Reinigung zu unter‐ ziehen, so dass schlechte Taten vermieden werden können. Als Beurteilungsin‐ stanz hierfür dient das Gewissen, 332 das dem Menschen die eigenen Verfeh‐ lungen bewusst macht und das die Kraft besitzt, die Zunge anzuhalten. 333 Als Möglichkeit der Reinigung nennt Philon für jede Komponente ein eigenes Opfer. Für das Denken, das am Einfachsten von der Schlechtigkeit durchzogen werden und wo das Schlechte am Schwierigsten zu beseitigen ist, schlägt er das Opfer eines Schafes vor. 334 Schlechte Taten sind nach Mut § 245 durch die Gabe von Weizenmehl zu sühnen und die sprachliche Äußerung mit der Opferung eines Taubenpärchens. Das begründet Philon wie folgt: δίδυμος δὲ ὁ λόγος, ὁ μὲν ἀληθής, ὁ δὲ ψευδής· οὗ μοι δοκεῖ χάριν ζεύγει τρυγόνων ἢ περιστερῶν ἐξομοιωθῆναι. (Mut § 248) Zweifach ist die Rede, die eine wahr, die anderen falsch; deshalb scheint sie mit einem Turtel- oder Taubenpaar gleichgesetzt zu sein. (Mut § 248) Am sinnvollsten ist es aber, bereits das Denken zu bereinigen, um schlechte Handlungen zu vermeiden. (3) Sprache hat die Kraft, den Menschen zu Handlungen zu bewegen. Philon beendet seine Argumentation nicht mit der Feststellung dieser Tatsache. Er prä‐ III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 156 <?page no="157"?> 335 Vgl. auch 1 Kor 1,4-9: Paulus dankt Gott als dem Urheber alles Guten. Gott ist es, der die Gnade schenkt, der reicht macht, etc. Das Empfangene bringt Paulus im Dank gemäß 1 Kor 1,31 (wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn) vor den Geber. Die Erkenntnis, dass den Menschen alles von Gott geschenkt worden ist, erhalten wir durch den Geist Gottes (vgl. 1 Kor 2,12). Danken und rühmen bei Paulus ist nur auf der Basis des Evan‐ geliums möglich. Vgl. Noack, Haben oder Empfangen, 298 f.304. 336 Vgl. Her § 106. zisiert den Zusammenhang von Sprache und Handlung in VitMos II und leitet aus ihm eine Forderung ab: λόγου δὲ οὐδὲν ὄφελος τὰ καλὰ καὶ σπουδαῖα σεμνηγροῦντος ᾧ μὴ πρόσεστιν οἰκείων ἀκολουθία πράξεων· (…) τὸν λόγον οὐ δικαιώσας | ἔργων ἀπεζεῦχθαι. (VitMos II § 130) Aber das gesprochene Wort ist von keinem Nutzen, trotz aller Verherrlichung des Schönen und Edlen, wenn nicht entsprechende Handlungen sich zu ihm gesellen. (…) Denn er [Mose] hielt es für unrecht, wenn das Wort von den Werken getrennt ist. (VitMos II § 130) Das richtige Verhalten liegt in der Deckung von Wort und Tat. Philon argumentiert, dass das Wort allein nutzlos ist, ihm müssen entsprechende Handlungen folgen. Nur dann entfaltet Sprache ihr eigentliches Potential. Dieses Potential ist vom ὁ ζῳοπλάστης gegeben und soll deshalb nach seinem Willen gestaltet werden: παρακατέθετο δέ σοι αὐτῷ ψυχήν, λόγον, αἴσθησιν ὁ ζῳοπλάστης (…). ταῦτα δ’ οἱ μὲν εὐθὺς ὑπὸ φιλαυτίας ἐνοσφίσαντο, οἱ δὲ ἐταμιεύσαντο πρὸς καιριωτάτην ἀπόδοσιν. (…) τῶν δὲ τὴν πίστιν ἱερὰν καὶ ἄσυλον ὄντως διαφυλαττόντων ὀλίγος ἐστὶν ἀριθμός. οὗτοι ταῦτα τὰ τρία ἀνατεθείκασι θεῷ, ψυχήν, αἴσθησιν, λόγον· ἔλαβον γὰρ οὐχ ἑαυτοῖς, ἀλλ’ ἐκείνῳ πάντα ταῦτα, ὥστε εἰκότως ὡμολόγησαν κατ’ αὐτὸν εἶναι τὰς ἑκάστων ἐνεργείας, τοῦ νοῦ τὰς διανοήσεις, τοῦ λόγου τὰς ἑρμηνείας (…). (Her § 106.108) Anvertraut aber hat dir der Bildner alles Lebenden die Seele, die Sprache, die Sinne (…). Diese unterschlagen manche sofort (nach Empfang) aus Selbstliebe, andere verwalten sie zu pünktlichster Ablieferung. (…) Gering ist die Zahl derer, die das Anvertraute als heilig und unverletzlich in Wahrheit hüten. Diese haben die drei Dinge: Seele, Sinne und Sprache Gott geweiht, denn sie ‚nahmen’ sie insgesamt nicht ‚für sich’ sondern ‚für ihn’ in Empfang, so daß sie ohne weiteres zugestehen, daß deren Wirkungen: die Gedanken des Geistes, die Äußerungen der Sprache (…) nach seinem Willen erfolgen. (Her § 106.108) 335 Der Mensch hat Sprache als ein Gut Gottes zu hüten und so einzusetzen, dass der göttliche Wille sichtbar wird. 336 Vollzieht man den Gedankengang weiter 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 157 <?page no="158"?> 337 Vgl. Congr § 99. 338 In der mittleren Stoa sollte der Mensch aus der Betrachtung des Kosmos zur allgemeinen Dankbarkeit gelangen, vgl. hierzu Zeller, Charis, 117. 339 Vgl. Congr § 96.100 f und vgl. Pohlenz, Geschichte, 400 ff: Dem griechischen Denken zufolge liegt aller Anfang und alles Ende in der Natur. Das ändert sich mit der Verbrei‐ tung des christlichen Gedankenguts. Es braucht keine weiteren Erklärungen für die Erschaffung der Welt, als dass Gott sie aus dem Nichts erschaffen hat. Ebenso gilt nicht mehr die eigene Vernunft als das Instrument, das dem Menschen sagt, was gut oder böse ist, sondern Gott gilt als der Geber bestimmter Regeln. Ziel des menschlichen Lebens ist es demnach nicht, ein „naturgemäßes Leben im Einklang mit dem Logos“ (Pohlenz, Geschichte, 401) zu führen, sondern nach dem Willen Gottes zu leben. Freilich ist dies nicht erst ein christlichen Ziel, sondern bereits in der jüdischen Ethik als solches herausgearbeitet. 340 Vgl. auch Som II § 268. 341 Vgl. Post § 86-88. 342 Vgl. auch Her § 74. und fragt, was es heißt, dass eine sprachliche Äußerung dem Wille Gottes er‐ folgen soll, so gelangt man erneut auf eine Handlungsebene, die Philon in Congr § 96-99 beschreibt: Der Mensch ist in Bezug auf die Sprache zur Zahlung des Zehnten an Gott verpflichtet. 337 Konkret ist darunter das Danken 338 für das Sprachvermögen zu verstehen und der Auftrag, die erhaltenen Fähigkeiten am Willen Gottes zu prüfen und angemessen zu realisieren. 339 Mithilfe der Sprache soll der Mensch Gott loben und preisen. 340 Dies werden diejenigen tun, die er‐ kennen, dass ihnen die Sprache durch Gott verliehen wurde. Denn dazu dient die Sprache, ἵν’ ἀχαλίνῳ στόματι ἐγκωμίοις καὶ ὕμνοις καὶ εὐδαιμονισμοῖς γεραίρῃ τὸν τῶν ὅλων πατέρα, τὰς πρὸς ἑρμηνείαν ἁπάσας ἀρετὰς εἰς ἓν τοῦτο μόνον ἔργον συγκροτῶν καὶ ἐπιδεικνύμενος (…). (Her § 110) damit sie mit ungehemmtem Munde durch Loblieder, Preisgesänge und Segens‐ sprüche den Allvater ehre und nur zu dieser Tätigkeit allein ihre ganze Ausdrucksfä‐ higkeit anstrenge und zeige (…). (Her § 110) Damit ist erneut die Verbindung zur Erkenntnis hergestellt. Nur wer das echte Wort erkennt und als solches annimmt, kann diese Funktionen von Sprache wahrnehmen und versuchen, sie zu erfüllen. Für die Sophisten gilt das nicht; sie verpassen es, durch Sprache das Gute zum Ausdruck zu bringen. 341 Philon jedoch schreibt gerade der Sprache die Funktion und Aufgabe zu, das Gute fördern zu können und zu müssen: 342 βίος γὰρ ἐμπρεπὴς κόσμῳ τῷ πατρὶ καὶ ποιητῇ συνεχῶς καὶ ἀδιαστάτως εὐχαριστεῖν (…). (Her § 200) III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 158 <?page no="159"?> 343 Noack, Haben oder Empfangen, 294. 344 Vgl. Michael Mach: Art. Philo von Alexandria, in: TRE 26 (1996), 525. Denn die Welt hat die geziemende Lebensaufgabe, ihren Vater und Schöpfer fortwäh‐ rend und unaufhörlich Dank abzustatten (…). (Her § 200) Der Grund dafür ist, dass die Erkenntnis der Gottesverehrung (γνῶσις εὐσεβείας) nach Abr § 168 ein wahres und sicheres Gut ist. So ergeben sich aus der Sprache, verstanden als Bindeglied zwischen Denken und Handeln, konkrete Aufgaben für den Menschen: Dank für die Sprache, Gotteslob und die allgemeine Aufforderung, sprachliche Äußerungen am Willen Gottes zu prüfen und danach auszurichten: „Wahres Sein haben die Menschen bei Philo nur, wenn sie sich mit Körper, Sinnen, Sprache und Denken Gott ganz hingeben und im Gotteslob existieren.“ 343 Dies verweist auf die Korrelation von (Sprach-)Philosophie und Religion, die für Philon bedeutend wird und formuliert bereits ein Ziel von Sprache. 344 Zusammenfassung: Es besteht ein Zusammenhang zwischen Denken, Sprechen und Handeln. Sprache nimmt eine Mittlerposition zwischen den beiden anderen Kompo‐ nenten ein. Sie ist nicht der Auslöser einer Handlung, fungiert aber als Mittel, sich über Gedachtes zu verständigen. Ein Einklang der drei Aspekte ist das Ziel. Damit es zu einer entsprechenden Handlung kommt, muss dieser eine sprach‐ liche Äußerung vorausgehen. Dieser wiederum ist das Denken vorgeordnet. Finden sich bereits im λόγος ἐνδιάθετος schlechte Gedanken, können sie in einem Wort geäußert werden und in einer Handlung umgesetzt werden. Da das Denken nicht primär unter dem Einfluss des Menschen steht, ist es von Bedeu‐ tung, vor allem den sprachlichen Ausdruck zu kontrollieren, so dass dieser auf eine gute menschliche Tat abzielt. Ist dies nicht der Fall und werden im νοῦς schlechte Gedanken geformt, können die Menschen zu Missetaten verleitet werden, wenn der Gehalt im Laut zum Ausdruck kommt. Kann der Mensch nicht kontrollieren, ob er in einer Äußerung seine schlechten Absichten formulieren wird, ist es besser zu schweigen. Die Funktion der Sprache, zu Handlungen zu führen, impliziert weitere Aspekte. Da Philon die Sprache als Gut Gottes ver‐ steht und sie dem Willen Gottes nach eingesetzt werden soll, ergeben sich daraus die Aufgaben und die Ziele des Dankes und des Gotteslobes. Hier geht Philons philosophisch-ethische Analyse in religiöse Überlegungen über. 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 159 <?page no="160"?> 345 Damit steht Philon ganz in hellenistischer, nicht in atl. Tradition. Vgl. Rudolf Bultmann: Art. γινώσκω, γνῶσις, ἐπιγινώσκω, ἐπίγνωσις, in: ThWNT I (1933), 697.702. 346 Vgl. Som I § 62. 4.8 Der Zusammenhang von Sprache, Gott und Mensch und die Rolle der prophetischen Rede An diesem Punkt kommt explizit die Theologie ins Spiel. In der zuletzt ge‐ nannten Funktion wurde Gott bereits in die Überlegungen zur Sprache einbe‐ zogen. Im Folgenden ist nun zu fragen, ob es einen Bezug zwischen Gotteser‐ kenntnis bzw. Gotteserfahrung und Sprache gibt und wenn dies zu bejahen ist, in welcher Form ein solcher bestehen kann. Zu Beginn der Untersuchung ist bereits deutlich geworden, dass Gott als Schöpfer der Sprache gedacht werden kann und dass auf diese Weise eine Beziehung zwischen Gott, Sprache und Mensch aufgebaut wird. Hier geht es vielmehr um die Frage, ob aus der Tatsache, dass Gott dem Menschen die Möglichkeit zur sprachlichen Äußerung gegeben hat, ein Nutzen für die Beziehung zwischen Gott und Mensch gezogen werden kann. Nach Conf § 148 stellt Philon nicht Hören als Mittel der Gotteserkenntnis in den Vordergrund, sondern das Sehen. 345 Aber auch durch Schauen kann der Mensch Gott nach philonischer Konzeption nie vollständig erkennen. Philon verdeutlicht dies in Som I anhand der Vorstellung dreier Orte. Unter dem ersten Ort ist ein Raum zu verstehen, der vom Körper ausgefüllt wird. Der zweite Ort ist der göttliche Logos, der dritte Gott selbst. 346 Letzterer ist für den Menschen nicht erreichbar: ὁ δὴ ξεναγηθεὶς ὑπὸ σοφίας εἰς τὸν πρότερον ἀφικνεῖται τόπον, εὑράμενος τῆς ἀρεσκείας κεφαλὴν καὶ τέλος τὸν θεῖον λόγον, ἐν ᾧ γενόμενος οὐ φθάνει πρὸς τὸν κατὰ τὸ εἶναι θεὸν ἐλθεῖν, ἀλλ’ αὐτὸν ὁρᾷ μακρόθεν· μᾶλλον δὲ οὐδὲ πόρρωθεν αὐτὸν ἐκεῖνον θεωρεῖν ἱκανός ἐστιν, ἀλλὰ τὸ μακρὰν τὸν θεὸν εἶναι πάσης γενέσεως αὐτὸ μόνον ὁρᾷ καὶ τὸ πορρωτάτω τὴν κατάληψιν αὐτοῦ πάσης ἀνθρωπίνης διανοίας διῳκίσθαι. (Som I § 66) Wer nämlich, von der Weisheit geleitet, an den ersten Ort [den Gott Abraham nannte und den er erreichen sollte; nicht der von Philon als erster Ort ausgewiesene, Anm.] kommt, findet als Gipfel und Ende seines Strebens den göttlichen Logos; ist er bei ihm angekommen, so kann er nicht bis zu dem vordringen, der seinem Wesen nach Gott ist, sondern er sieht ihn von ferne; besser gesagt: er ist nicht einmal imstande, ihn selbst von ferne zu schauen, sondern er sieht nur, daß Gott fern von der ganzen Schöpfung ist und daß seine Erkenntnis ferne, jeder Menschenvernunft entzogen ist. (Som I § 66) III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 160 <?page no="161"?> 347 Vgl. Som I § 67. 348 Vgl. Fug § 73. 349 Vgl. Som I § 231, Spec I § 32, Praem § 39.44, Willms, 104 und Bultmann, Art. γινώσκω, 702. 350 Vgl. Imm § 143. 351 Vgl. Peter Habermehl: Art. Philon, in: Metzler Philosophen Lexikon. Dreihundert bio‐ graphisch-werkgeschichtliche Porträts von den Vorsokratikern bis zu den Neuen Phi‐ losophen, Stuttgart 1989, 608. 352 Vgl. Migr § 40-42. 353 Habermehl, Art. Philon, Metzler Philosophen Lexikon 1989, 609. 354 Vgl. Habermehl: Art. Philon, Metzler Philosophen Lexikon 1989, 608-610. 355 Niehoff, Name, 238. 356 Vgl. Niehoff, Name, 238 f. 357 Vgl. Niehoff, Name, 241 und Decal § 46 f. 358 Niehoff, Name, 241. Gott bleibt für Philon unsagbar und unerkennbar. 347 Erkennbar ist allein der göttliche λόγος, Gott als Seiender bleibt transzendent. 348 Die Existenz Gottes kann erkannt werden, nicht aber sein Wesen. 349 Es geht vielmehr um das Wissen, dass der eine Gott existiert, weshalb Gotteserkenntnis begrifflich auch nicht mit γνῶσις wiedergegeben wird, sondern mit ἐπιστήμη θεοῦ. 350 Philon wird zum Wegbereiter der von Plotin explizit formulierten negativen Theologie. 351 Ein Wissen über Gott, das über ein Wissen seiner Existenz hinausgeht, wird von Philon negiert. 352 Wenn Philon positive Aussagen über Gott trifft, entstammen diese der Heiligen Schrift und sind somit göttliche Offenbarung. Nur sie kann die Distanz zwischen „transzendentem Gott und immanenter Welt“ 353 überbrü‐ cken. 354 Die menschliche Seele kann Gott nicht schauen, „because the intensity of His light is said to be too strong and thus dazzling” 355 . Ausnahmen davon sind nur gelegentlich möglich. Auch wenn die Seele Gott in der Regel nicht Schauen kann, so kann sie doch seine Nähe spüren und aufnehmen. 356 Eine Erfahrung Gottes ist möglich, seine Erkenntnis nicht. Es heißt aber nicht, dass kein Bezug zur Sprache besteht, wenn die Gotteserfahrung in der Schau verortet wird. Das Wort, das in einer göttlichen Offenbarung durch die Sprachwerkzeuge des Men‐ schen vermittelt wird, nimmt bei Philon in gewissem Maß die Rolle der Augen ein. 357 So sieht er im Wort ein ‚Sehorgan’, „which can radiate light and uncover ethereal mysteries” 358 . Ein Beispiel für das Schauen der göttlichen Stimme findet sich in Decal § 46 f, wenn Philon den Empfang der zehn Gebote durch Mose beschreibt. Eine göttliche Offenbarung kann also ‚geschaut’ werden, indem der Wille Gottes durch das menschliche Wort zu Tage gebracht wird. So findet eine von Gott ausgehende Kommunikation mit dem Menschen statt. Diese offenbart den Willen Gottes und lässt den Menschen den göttlichen λόγος erkennen. 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 161 <?page no="162"?> 359 Vgl. VitMos II § 2.6.187. 360 Vgl. Kweta, Sprache, 396 f. 361 Vgl. Her § 259.266 und Sellin, Logos-Theologie, 171. 362 Sellin, Logos-Theologie, 171. 363 Vgl. kritisch dazu: Christopher Forbes: Prophecy and Inspired Speech in Early Christi‐ anity and its Hellenistic Environment, Tübingen 1995 (WUNT II 75), 143-146. Forbes bezeichnet Philons Ansichten als eigenwillig, weil sich dieser ausschließlich auf die Wirkungen des Geistes konzentriert, anstatt die sichtbaren Merkmale wie etwa Schreien oder Tanzen in den Blick zu nehmen. 364 Zeller, Korinther, 428 übersetzt ἄγνοια mit Nicht-Wissen. Dass der Prophet nicht weiß, was er spricht, garantiert, dass in der sprachlichen Äußerung nicht der Prophet selbst, sondern Gott spricht. Eine Möglichkeit der göttlichen Offenbarung ist die prophetische Rede. Den Begriff der Prophetie verwendet Philon am häufigsten zur Charakterisierung Moses, dem er die Prophetengabe zuschreibt. 359 Propheten gelten als Weise und das Milieu, in dem sie sich befinden, ist wahr und nahe an der Ursprungssitua‐ tion. Dasselbe gilt auch für ihre Sprache. Der Geist des Propheten kann dann Dinge erfassen, die dem νοῦς an sich unzugänglich sind und bringt dadurch Wirklichkeit und Wahrheit in einen sprachlichen Ausdruck. 360 Der Prophet wird als Sprecher verstanden, der nichts Eigenes aussagt, sondern Fremdes, das ein anderer, der göttliche Geist, in ihm spricht. 361 „Der Mensch ist dann ein Werk‐ zeug des göttlichen Geistes“ 362 , weil während der prophetischen Rede der gött‐ liche Geist in den Menschen einzieht, sein eigenes Denken schwindet und er in eine Art Bewusstlosigkeit gerät: 363 προφήτης μὲν γὰρ οὐδὲν ἴδιον ἀποφαίνεται τὸ παράπαν, ἀλλ’ ἔστιν ἑρμηνεὺς ὑποβάλλοντος ἑτέρου πάνθ’ ὅσα προφέρεται, καθ’ ὅν χρόνον ἐνθουσιᾷ γεγονὼς ἐν ἀγνοίᾳ, μετανισταμένου μὲν τοῦ λογισμοῦ καὶ παρακεχωρηκότος τὴν τῆς ψυχῆς ἀκρόπολιν, ἐπιπεφοιτηκότος δὲ καὶ ἐνῳκηκότος τοῦ θείου πνεύματος καὶ πᾶσαν τῆς φωνῆς ὀργανοποιΐαν κρούοντός τε καὶ ἐνηχοῦντος εἰς ἐναργῆ δήλωσιν ὧν προθεσπίζει. (SpecLeg IV § 49) Denn der Prophet verkündet überhaupt nichts Eigenes, er ist vielmehr nur der Spre‐ cher [ἑμρηνεύς], dem ein anderer alles in den Mund legt, was er vorbringt; wenn er begeistert wird, gerät er in Bewusstlosigkeit [Nicht-Wissen 364 ], da das Denken schwindet und die Burg der Seele verlassen hat, der göttliche Geist aber eingezogen ist und seine Wohnung darin aufgeschlagen hat; und dieser bringt ihm den ganzen Stimmapparat zum Schallen und Tönen, sodass er deutlich zum Ausdruck bringt, was jener ihm vorsagt. (SpecLeg IV § 49) III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 162 <?page no="163"?> 365 Auch in den paulinischen Briefen finden sich Zusammenhänge von Offenbarung und Ekstase. Allerdings handelt es sich hierbei um Visionen, die ihren Niederschlag nicht zwingend in einer Äußerung finden müssen. Vgl. beispielsweise die Offenbarung an Paulus in 2 Kor 12,1-4; 5,13, aber auch Apg 10,10; 11,5 und 22,17. Dass Offenbarungen in besonderen Zuständen empfangen werden, ist auch bereits für die frühe Prophetie des AT bezeugt. Vgl. 1 Sam 10,5.9-12; 19,20-25, Num 11,25-27 und Zeller, Korinther, 451. 366 Vgl. Her § 259. 367 Vgl. Praem § 55 f. 368 Vgl. VitMos II § 187. 369 Vgl. SpecLeg I § 65. 370 Vgl. Mut § 203: Philon spricht hier vom gotterfüllten Prophetentum. Tatsächlich versteht Philon Prophetie als eine Form der Ekstase, von welcher er insgesamt vier Kategorien kennt: 365 ἔκστασις ἡ μέν ἐστι λύττα μανιώδης παράνοιαν ἐμποιοῦσα κατὰ γῆρας ἢ μελαγχολίαν ἤ τινα ὁμοιότροπον ἄλλην αἰτίαν, ἡ δὲ σφοδρὰ κατάπληξις ἐπὶ τοῖς ἐξαπιναίως καὶ ἀπροσδοκήτως | συμβαίνειν εἰωθόσιν, ἡ δὲ ἠρεμία διανοίας, εἰ δὴ πέφυκέ ποτε ἡσυχάζειν, ἡ δὲ πασῶν ἀρίστη ἔνθεος κατοκωχή τε καὶ μανία, ᾗ τὸ προφητικὸν γένος χρῆται. (Her § 249) Ekstase ist erstens eine unsinnige Wut, die zur Narrheit führt, sei es infolge des Alters oder aus Trübsinn oder aus einem anderen ähnlichen Grunde; zweitens heftige Be‐ stürzung über plötzliche und unerwartete Ereignisse; drittens die Stille des Geistes, wenn er sich eben der Ruhe hingibt; die vierte und allerbeste aber ist die gottvolle Ergriffenheit und Begeisterung, die den Propheten eignet. (Her § 249) Es zeigt sich ein enger Bezug von Prophetie und Ekstase. Für die genannte Fra‐ gestellung sind die drei zuerst genannten Phänomene der Ekstase nicht zu be‐ rücksichtigen, auch innerhalb der Prophetie sind nur solche Aussagen ertrag‐ reich, die in einer sprachlichen Äußerung ausgedrückt werden. Welcher Zusammenhang lässt sich zwischen einer prophetischen Äußerung, Gott und Sprache herausstellen? Die prophetische Kraft spricht Philon allen Weisen zu. 366 Mit ihr geht echte Erkenntnis einher. Da Gott nicht fehlt und durch den Men‐ schen spricht, sind die Worte des Propheten wahr, 367 denn die Prophetie wird als göttliche Offenbarung charakterisiert. 368 Prophetie ist für Philon eine gött‐ liche Inspiration, mit Hilfe derer der Mensch in Ekstase versetzt wird und die den Willen Gottes verkündet. 369 Mit der Prophetie, verstanden als gottgewirkte sprachliche Äußerung des Menschen, 370 beschreibt Philon eine von Gott aus‐ gehende Kommunikation mit den Menschen, die in selbigen einen Mittler findet. Philon spricht vom Propheten als ἑρμηνεύς. Das Lexem ἑρμηνεύς bzw. die Le‐ xeme ἑρμηνεύω / ἑρημνεία können unterschiedlich verstanden werden. Sie 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 163 <?page no="164"?> 371 Vgl. SpecLeg IV § 49 und Praem § 55. Vgl. Calabi, Language, 21 f. Sie stellt die unter‐ schiedlichen Bedeutungen von ἑρμηνεύς, ἑμρηνεύω und ἑρμηνεία bei Philon dar. 372 Vgl. hierzu auch die Inspirationsvorstellung bei Plat. Tim 32,71e-72a: Dem Menschen wird die Kraft für Seherei und Wahrsagerei von Gott eingegeben, wenn er schläft oder in Ekstase ist, so dass die Vernunft ausgeschaltet ist. Wenn die Vernunft getrübt oder ausgeschaltet ist, weitet sich also der Raum für Eingebungen durch den göttlichen Geist, wie dies auch bei Philon der Fall ist. Vgl. hierzu auch Her § 264-266 und Lorenzen, Eikon-Konzept, 113 f. 373 Gegen Calabi, Language, 21, die den Propheten als ‚interpreter’ beschreibt. werden meist mit ‚übersetzen / Übersetzer’ oder ‚interpretieren / Interpret’ wie‐ dergegeben. 371 Letzteres trifft für die Charakterisierung des Propheten nicht zu. Der Prophet interpretiert die göttlichen Worte bei Philon nicht, weil er nach Her § 259, Praem § 55 f, SpecLeg I § 65 und SpecLeg IV § 48 f nichts Eigenes spricht, sondern das, was ihm von Gott eingegeben ist. 372 Die Tätigkeit als ἑρμηνεύς ist so zu verstehen, dass der Prophet die ihm von Gott eingegebenen Worte direkt wiedergibt. 373 Auch für die Form der prophetischen Mitteilung kennt Philon mehrere Mög‐ lichkeiten: τῶν λογίων τὰ μὲν ἐκ προσώπου τοῦ θεοῦ λέγεται δι’ ἑρμηνέως τοῦ θείου προφήτου, τὰ δ’ ἐκ πεύσεως καὶ ἀποκρίσεως ἐθεσπίσθη, τὰ δ’ ἐκ προσώπου Μωυσέως ἐπιθειάσαντος καὶ ἐξ αὑτοῦ κατασχεθέντος. τὰ μὲν οὖν πρῶτα ὅλα δι’ ὅλων ἀρετῶν θείων δείγματά ἐστι, τῆς τε | ἵλεω καὶ εὐεργέτιδος, δι’ ὧν ἅπαντας μὲν ἀνθρώπους πρὸς καλοκἀγαθίαν ἀλείφει (…). τὰ δὲ δεύτερα μῖξιν ἔχει καὶ κοινωνίαν, πυνθανομένου μὲν τοῦ προφήτου περὶ ὧν ἐπεζήτει, ἀποκρινομένου δὲ τοῦ θεοῦ καὶ διδάσκοντος· τὰ δὲ τρίτα ἀνατίθεται τῷ νομοθέτῃ (…). (VitMos II § 188-190) Die Gottesworte wurden teils von Gott selbst durch Vermittlung des göttlichen Pro‐ pheten verkündet, teils in Form von Frage und Antwort als Gottes Wille offenbart, teils von Moses selbst im Zustande innerer Begeisterung und Verzückung ausgespro‐ chen. Die der ersten Art sind ganz und gar Offenbarungen der göttlichen Eigen‐ schaften, nämlich seiner Gnade und seines Wohlwollens, durch die er alle Menschen zu tugendhaftem Leben anleitet (…). Die zweite Art setzt einen innigen Verkehr vo‐ raus, da der Prophet über das, was er wissen will, anfragt und die Gottheit ihm ant‐ wortet und ihn belehrt. Die dritte Art ist dem Gesetzgeber vorbehalten (…). (VitMos II § 188-190) Prophetie kann in unterschiedlichen Realisierungen Kommunikationsmittel zwischen Mensch und Gott sein. In der ersten dargestellten Form geht die Kom‐ munikation von Gott aus. Die zweite findet ihren Anfang in der Fragestellung des Propheten. Der Inhalt ist immer eine Offenbarung des göttlichen Willens. Er wird vom Menschen in einen sprachlichen Ausdruck gebracht. Der Prophet III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 164 <?page no="165"?> 374 Vgl. Her § 259: „ἐπεὶ καὶ μόνος ὄργανον θεοῦ ἐστιν, κρουόμενον καὶ πληττόμενον ἀοράτως ὑπ’ ἀυτου“ (weil er allein ein tönendes Instrument Gottes ist, das von ihm unsichtbar berührt und angeschlagen wird) und Zeller, Korinther, 408. 375 Vgl. Borgen, Index, γλῶσσα 70 und λαλέω 185. 376 Vgl. Conf § 12. 377 Vgl. Som I § 106. fungiert dabei als Instrument Gottes, das von diesem angestoßen wird. 374 Daher kann die prophetische Rede als wichtiges Mittel zur Erforschung des Gottes‐ willens gesehen werden. Da sich aus der Sprache bereits die Aufgabe ergeben hat, den Willen des Schöpfers zu erfüllen, bietet die Prophetie eine Möglichkeit, diesen zu erkennen. Den Empfang der Offenbarung beschreibt Philon als eine Art Ekstase. Hier zeigt sich erneut, dass für Philon Prophetie und Ekstase in einem Zusammenhang stehen. Dieser spielt für Philon insgesamt eine geringere Rolle als für Paulus. Die Sprachgabe der Glossolalie thematisiert Philon in seinen Schriften nicht. Das Lexem γλῶσσα kommt in Verbindung mit λαλέω in der Semantik ‚in Zungen sprechen’ nicht vor. 375 Zusammenfassung: In der prophetischen Rede findet eine Gottesoffenbarung statt. Daher besteht in der Prophetie die Möglichkeit, den Willen Gottes zu hören, zu ‚schauen’ und zu erkennen. Philon versteht Prophetie als eine Form der Ekstase. In der pro‐ phetischen Rede spricht der Mensch Worte, die ihm von Gott eingegeben sind. Der Mensch kann so einmal den göttlichen λόγος erfahren, auf der anderen Seite entsteht so eine Kommunikation zwischen Gott und Menschen, die den Got‐ teswillen offenbart. Damit ist die Kommunikation zwischen Gott und den Mensch beschrieben, die über den Propheten erfolgt. 4.9 Die Grenzen der Sprache Eine erste Grenze der Sprache liegt in dieser selbst. Wo Sprache nicht als Kom‐ munikationsbasis fungiert, kann sie ihre Funktionen nicht erfüllen. Vorausset‐ zung für die Verständigung durch Sprache ist das Vorhandensein einer gemein‐ samen Sprache. Diesen Aspekt der gegnerischen Argumentation betont Philon auch in Conf § 12: Sprache kann ihre Funktionen nur entfalten, wenn eine Sprachgemeinschaft besteht und dadurch eine Grundlage für die gemeinsame Verständigung geschaffen ist. Dann können diejenigen, die über eine gemein‐ same Sprache verfügen, Schaden abwehren. 376 Ist dies nicht der Fall, liegt hier die Grenze der Wirksamkeit von Sprache. Dasselbe gilt, wenn die Menschen eine Sprache zwar beherrschen, sie zu nutzen aber verweigern. 377 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 165 <?page no="166"?> 378 Vgl. SpecLeg I § 28.53 und Mut § 236-250. 379 Vgl. Abr § 123, Decal § 151. 380 Vgl. Ebr § 70, Conf § 129, Her § 305.308 und Congr § 18 381 Vgl. Kweta, Sprache, 200 f. 382 Vgl. Post § 88 f. 383 Die Aufzählung beinhaltet die Aspekte aus Mut § 240. 384 Vgl. Abr § 123. 385 Vgl. Kweta, Sprache, 170. 386 Vgl. Kweta, Sprache, 172. 387 Vgl. Conf § 39, Her § 302, All III § 231 und Migr § 76 f. 388 Migr § 76. Bei der Untersuchung hat sich gezeigt, dass Philon Sprache nicht nur unter positiven Aspekten verortet. Ebenso wie die Vorstellung des Menschen, die Kosmologie, die Erkenntnistheorie, etc. lässt sich auch Sprache nur in einer Du‐ alität fassen. Sie ist zwischen positiven und negativen Aspekten zu bestimmen, nach Her § 132 zwischen ἀλήθεια und ψεῦδος. Letzteres markiert eine zweite Grenze der Sprache. Sie liegt dort, wo sich Sprache, im Zuge der Verselbststän‐ digung der αἴσθησις, unabhängig macht. Dann kommt es zu einer ‚neuen’ Art von Sprache, die Philon mit ψεῦδος, 378 δόξα 379 und πιθανότης 380 beschreibt und die er mit der Sophistik in Verbindung bringt. 381 Ψεῦδος bezeichnet eine generell falsche Lebenseinstellung, die mit schuldhaftem Verhalten einhergeht und sich beispielsweise bei den Sophisten zeigt. 382 In Mut § 236-250 subsumiert Philon folgenden Aspekte unter ψεῦδος: Lügen (ψεύδομαι), ψευδορκέω (falsch schwören), ἀπατάω (betrügen / täuschen), in sophistischer Weise verfahren (σοφίζω), συκοφαντέω (falsch anklagen / verleumden) 383 . Δόξα verwendet Philon als konträres Konzept zur ἀλήθεια. 384 Δόξα erhält einen negativen An‐ schein, weil ihre Basis die αἴσθησις ist. Dies hat zur Folge, dass eine falsch wahrgenommene Wirklichkeit artikuliert wird. 385 Πιθανότης steht ebenfalls in Verbindung mit αἴσθησις und meint bei Philon meist ein Überreden / Über‐ zeugen auf falscher Basis. 386 Somit ist vor allem der Bezug zur Sophistik ge‐ geben, 387 weil die Sophisten „οἷς αἱ μυθικαὶ πιθανότητες πρὸ τῆς τῶν ἀληθῶν ἐναργείας τετίμηνται“ 388 (den Lügenschein der Fabeln höher schätzen als die klare Erkenntnis der Wahrheit). Sie entfernen sich damit von jeglicher Form der zuverlässigen Erkenntnis und tragen dazu bei, dass die Kommunikation über Wirklichkeit verfälscht wird. So entsteht die Gefahr, dass Sprache bewusst ihrer Funktionen beraubt wird. Die drei genannten Aspekte haben einen Bezug zur αἴσθησις. Somit ist festzuhalten, dass die Grenze echter Sprache dort zu finden ist, wo die αἴσθησις die Oberhand über den νοῦς gewinnt. Dann kann kein Erkenntnisprozess erfolgen, der Wahrheit und Wirklichkeit zum Ausdruck bringt. So findet auch in den Namen keine Deckung von Wort und Sache statt, III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 166 <?page no="167"?> 389 Kweta, Sprache, 184. 390 Philon arbeitet nur dreimal mit Formen von σιγάω, in Prob § 101, Som II § 265 und Her § 14. Er nutzt stattdessen weit häufiger ἡσυχάξω oder ἡσυχία. Vgl. Borgen, Index, 152. 391 Vgl. Kweta, Sprache, 129 und Mut § 251. 392 Vgl. Conf § 37. 393 Vgl. Otte, Sprachverständnis, 63, Op § 141-151 und Cher § 9. Zu den verschiedenen Aspekten des Schweigens in der Antike siehe Horst S. und Ingrid G. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch, Tübingen, Basel 1995, 96-102. und es erfolgt Kommunikation über eine verfälschte Wirklichkeit. Es ist not‐ wendig, dass die stimmliche Äußerung mit ihrem sprachlichen Gehalt in die „richtige hermeneutische Deckung“ 389 gebracht wird. Damit ist auf die anfangs beschriebenen Voraussetzungen zurückzukommen: Sprache kann dann ihre Wirksamkeit entfalten und ihre genannten Funktion erfüllen, wenn sie klar und deutlich ist; das impliziert einen noetischen Erkenntnisvorgang und die daraus resultierende Namensbildung. Eine weitere Grenze der Sprache markiert das Schweigen. 390 Es erlangt Be‐ deutung, wenn Sprache unklar wird und durch Nichtreden Schaden vermieden werden kann. 391 Schweigen soll zum Einsatz kommen, wenn durch Sprache die Aspekte entstehen, die bereits unter ψεῦδος aufgeführt wurden. Ihnen ist das Schweigen vorzuziehen. Auch Schweigen beleuchtet Philon von einer positiven und negativen Seite. Ersteres wird verstanden als sittliche Scheu vor Personen, die das, was gesagt werden soll, für den richtigen Zeitpunkt aufbewahren. Ne‐ gatives Schweigen wird als ein unfreiwilliges Schweigen verstanden. 392 Die Geschichte der Sprache bedeutet für Philon gleichzeitig Sprachverfall, weil mit der Schaffung Evas die Sinnlichkeit entstand, die eine Uneindeutigkeit der hermeneutischen Grundsituation mit sich bringt. Deshalb sind Sprach‐ schöpfungen, die nicht durch Adam oder durch seine Person Beauftragte ent‐ standen sind bzw. die nicht unter den notwendigen Voraussetzungen zustande kamen, uneindeutig. Sophistische Reden oder Mythen z. B. sind leeres Gerede, unklar und heilungsbedürftig, weil sie die Seele schädigen. 393 Die Eindeutigkeit der Sprache wurde als wichtige Voraussetzung für die Wirksamkeit genannt. Uneindeutigkeit, wie dies bei der Homonymie der Fall ist, hebt demzufolge die mögliche, positive Wirkung der Sprache auf. Homo‐ nymie bedeutet, dass ein Name mehrere, unterschiedliche Dinge fasst. Als Bei‐ spiel wurde oben bereits die Semantik von κυνός (Hund) genannt. Ein Wort kann demnach verschiedene Objekte bezeichnen, was Philons Ansicht nach nicht das Resultat echter Erkenntnis sein kann, da keine Einheit von Wort und Sache vorliegt. Das positive Gegenstück hierzu ist die Synonymie. Sie hat verschiedene Namen für etwas, das einen gemeinsamen Vergleichspunkt hat. So bezeichnen die Begriffe ἰός (Pfeil), ὀïστος (Pfeil / Speer) und βελός (Geschoss) jeweils den 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 167 <?page no="168"?> 394 Vgl. Plant § 152. 395 Vgl. Otte, Sprachverständnis, 67. vom Bogen geschossenen Gegenstand. 394 Es entsteht also keine Unklarheit der Sprache, sondern eine sehr differenzierte Sprache, die Klarheit schafft. 395 Eine solche liegt nach Ansicht Philons bei nur bei den Essenern, Therapeuten und den Weisen vor. Vor allem die Sophisten brechen aus der richtigen Beziehung von Wort, Sache und Wirklichkeit aus. Zusammenfassung: Die Grenzen der Sprache sind auf unterschiedlichen Ebenen zu betrachten. Eine generelle Grenze liegt dort, wo die Kenntnis einer Sprache endet. Eine weitere Grenze ist als Grenze der echten Sprache zu bestimmen, die bereits in der Erkenntnis eine Schranke findet. Sie thematisiert Philon auf einer rein phi‐ losophischen Ebene, mögliche Auswirkungen in der Praxis reflektiert er nicht. Eine dritte Grenze der Sprache muss für die Momente gezogen werden, wenn Schweigen eine bedeutendere Funktion übernehmen kann als Sprechen. Ein letzter wichtiger Aspekt, der die Wirksamkeit der Sprache beeinträchtigt, ist die Uneindeutigkeit von Wörtern, die es deshalb zu vermeiden gilt. 4.10 Zusammenfassung der Funktionen von Sprache und Darstellung der daraus resultierenden Aufgaben und Ziele Abschließend erfolgt eine Zusammenfassung der Funktionen von Sprache bei Philon. Daran anschließend wird untersucht, ob sich aus den Funktionen der Sprache übergeordnete Ziele sowie konkrete Aufgaben für den Menschen for‐ mulieren lassen. Die Untersuchung des philonischen Sprachverständnisses hat folgende Funk‐ tionen der Sprache herausgestellt: 1. Sprache ermöglicht es, Erkenntnis auszudrücken und anderen Menschen zugänglich zu machen. Das im νοῦς Erkannte kann durch den λόγος προφορικός versprachlicht werden. Dies bildet die Grundlage für alle weiteren Funktionen. 2. Sprache kann Wahrheit und Wirklichkeit zugänglich machen, weil in Namen eine Identität von Wort und Sache vorliegt und das Wesen eines Objekts manifestiert werden kann. 3. Sprache befähigt zur menschlichen Kommunikation. Dadurch entsteht die Möglichkeit der Meinungsäußerung und des Austauschs über Erfah‐ rungen und Erlebnisse, was als Realitätsbewältigung fungieren kann. III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 168 <?page no="169"?> Sprache wirkt auf das Gemüt (θυμός), was sich ordnend auf den Menschen auswirkt. Durch Kommunikationssituationen entsteht soziale Interak‐ tion, die zum Bewusstsein einer (Sprach-)Gemeinschaft führen kann. Kommunikation ermöglicht die Weitergabe dessen, was ältere Generati‐ onen bereits erkannt haben. Sprache schafft so eine Verständigung über die Vergangenheit, aber auch über die Gegenwart und die Zukunft. Sprache dient nicht nur der Kommunikation über Wissen und Traditi‐ onen, sondern befähigt auch zur Artikulation von Emotionen. Durch die zwischenmenschliche Kommunikation können Gefahren abgewendet werden. Kommunikation kann als Heilmittel für seelisches Leiden ver‐ standen werden, weil Menschen sich durch sprachliche Äußerungen ge‐ genseitig Trost zusprechen. 4. Der Mensch begibt sich in Kommunikationssituationen und setzt sich so mit sich selbst, seinen Mitmenschen und dem Weltgeschehen ausei‐ nander. Er gewinnt neue Zugänge zu allen drei Komponenten und bereitet so auch den Weg zur Gotteserfahrung vor. In der prophetischen Rede liegt eine weitere Facette der Kommunikationsfunktion der Sprache. Der Got‐ teswille offenbart sich dem Propheten, der diesen in einen sprachlichen Ausdruck bringt und seinen Mitmenschen zugänglich macht. 5. Sprache konstituiert eine Gemeinschaft und vermittelt ein Gemein‐ schaftsgefühl. Durch die κοινωνία, die aufgrund einer gemeinsamen Sprache erfahren wird, entstehen das Bewusstsein und der Sinn für eine Gemeinschaft. Diese gilt es nach Philon auszubauen, so dass Nächsten‐ liebe und Frömmigkeit ausgebildet und gestärkt werden können. So soll die Tugendhaftigkeit der Menschen und ihr Zusammenleben verbessert werden. 6. Eine sprachliche Äußerung kann / soll eine Tathandlung bedingen. Sprache erfüllt ihren Zweck nur, wenn ihr entsprechende Handlungen folgen. Philons Argumentation nach sollen nur positive Taten erfolgen, möglichen negativen Handlungen soll bereits durch rechtes Denken, spä‐ testens aber durch rechte Äußerungen vorgebeugt werden. 7. In der Sprache und den daran anschließenden Handlungen soll der Wille des Schöpfers sichtbar werden. Diese Forderung resultiert auch aus der Annahme, dass Sprache von Gott gegeben ist. Der Wille Gottes besteht im Dank (für das Sprachvermögen), im Gotteslob und in der Aufgabe, ständig zu prüfen, ob die eigene sprachliche Äußerung und Tat dem Schöpferwillen entspricht. Damit hat die Sprache auch eine reflexive Funktion, nämlich den Willen Gottes zu erforschen und sich den Wir‐ kungen und Funktionen der Sprache und den daraus resultierenden Mög‐ 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 169 <?page no="170"?> 396 Som I § 104. 397 Aus Somn I § 103 ist λόγος hier sinngemäß zu ergänzen. lichkeiten des menschlichen Handelns bewusst zu werden. Eine Mög‐ lichkeit, den Gotteswillen zu erfahren, findet sich in der prophetischen Rede. Die Funktionen legten teilweise bereits Aufgaben offen, die die Menschen durch Sprache erfüllen können und sollen: 1. Eine erste Aufgabe ist das Hervorbringen von positiven Tathandlungen, die aus dem Denken und der sprachlichen Äußerung resultieren können; damit verbunden ist gleichzeitig die Vermeidung von negativen Taten. Vor allem die in der Sprache intendierte Handlung, aber auch das durch Sprache vermittelte Bewusstsein für eine Gemeinschaft, fordert zur Ver‐ besserung des menschlichen Zusammenlebens auf. Sprache hat das Ziel und die Aufgabe, den Menschen zur Besserung zu verhelfen: „Ὁ γὰρ βελτιῶν ἕκαστον καὶ πάντα ἄγων ἐπὶ τὸ κρεῖττον οὗτός ἐστιν“ 396 ([D]enn was einen jeden bessert und alles zum Besseren hinführt, ist das Wort / die Rede 397 ). Eine Besserung des Einzelnen geht mit der Besserung der κοινωνία einher und dient damit dem Gemeinwohl. Aufgabe und Ziel der Sprache ist es daher, eine Verbesserung der eigenen Tugend sowie eine Verbesserung des gemeinschaftlichen Handelns zu erreichen; sie mündet letztlich also in ethische Überlegungen. 2. Eine zweite Aufgabe ist die Erforschung des Schöpferwillens, der Dank des Menschen an Gott und das Gotteslob. Gedanken und Worte sollen auf Gott allein gerichtet werden: (…) ἀλλ’ ἑκάτερον, νοῦν καὶ λόγον, μακρὰν τῶν ἄλλων διαζεύξας ἐπίστρεψον πρὸς τὸν πατέρα καὶ ποιητὴν τῶν ὅλων, ἵνα καὶ φρονῇς περὶ μοναρχίας τὰ ἄριστα καὶ κάλλιστα καὶ λέγῇς τὰ πρέποντα καὶ λυσιτελέστατα σαυτῷ τε καὶ τοῖς ἀκουσομένοις. (SpecLeg II § 256) (…) sondern beide, Gedanken und Reden, sollst du von den anderen weit entfernt halten und sie allein auf den Vater und Schöpfer aller Dinge lenken, auf dass du über seine Alleinherrschaft die besten und schönsten Gedanken hegest und so über sie redest, wie es für dich und deine Zuhörer angemessen und von höchstem Nutzen ist. (SpecLeg II § 256) Philon verankert das Gotteslob schöpfungstheologisch. Der Weise erkennt bei Philon, dass alles, was er empfangen hat, eine Gabe seines Schöpfers ist; damit erkennt er auch sich selbst als Geschöpf an, das dem Schöpfer im Gotteslob für III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 170 <?page no="171"?> 398 Noack, Haben oder Empfangen, 294. 399 Friedrich Ueberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Erster Teil. Die Philo‐ sophie des Altertums, hg. v. Karl Praechter, Basel, Stuttgart 1957, 577. Die Verähnlichung findet ihren Höhepunkt in der Ekstase. 400 Som II § 100. 401 Vgl. Lorenzen, Eikon-Konzept, 69. die Gnade und für seine Gaben Dank aussprechen kann. Somit steht die gesamte Existenz des Menschen in diesem Dienst: Im Vollzug dieses Gotteslobes verliert das Erkennen seine egozentrische sich selbst setzende Identität und gibt Gottes Realität völligen Raum. Identität, also bleibendes Sein, gibt es für Philo nur in der Existenzweise der Hingabe der von Gott gewährten Geschöpflichkeit zurück an Gott. Wahres Sein haben die Menschen bei Philo nur, wenn sie sich mit Körper, Sinnen, Sprache und Denken Gott ganz hingeben und im Gotteslob existieren. 398 Friedrich Ueberweg formuliert dies anhand von Op § 50.144 als Lebensaufgabe des Menschen bei Philon und spricht von dem Ziel einer „möglichste[n] Ver‐ ähnlichung mit Gott“ 399 . Die menschliche Seele hat folgenden Auftrag: σπούδαζε οὖν, ὦ ψυχή, θεοῦ οἶκος γενέσθαι, ἱερὸν ἅγιον, ἐνδιαίτημα κάλλιστον. (Som I § 149) Eile darum, meine Seele, Gottes Haus zu werden, ein heiliges Heiligtum, der schönste Aufenthalt. (Som I § 149) Die Seele soll also bestreben, eine Wohnstätte für Gott zu werden und den Willen Gottes zu erforschen. Die Aufgabe der Menschen ist es daher, Gottesdienst zu halten, das Wort Gottes zu vernehmen und zu danken, „καὶ γάρ ἐστι τὸ δουλεύειν θεῷ πάντων ἄριστον, ὅσα ἐν γενέσει τετίμηται“ 400 (ist doch der Got‐ tesdienst von allem, was in der Welt in Ehren steht, das beste). Die Sprache kann zu diesem Gesamtziel des Menschen einen Beitrag leisten, indem sie Erkanntes, Wahres und Wirkliches in einem sprachlichen Ausdruck greifbar macht und an andere Menschen weitergibt. So kann versucht werden, die κοινωνία zu ver‐ bessern und dem Willen Gottes gerecht zu werden. Eng mit dieser Aufgabe verbunden ist die Verwirklichung der Gotteseben‐ bildlichkeit. Sie ist für Philon ein Ideal, das der Mensch durch seine Schöpfung in sich trägt. Der Mensch kann durch seine Vernunft den göttlichen Logos (=kosmisches Ebenbild Gottes) mindestens teilweise erkennen; so „ist er auf dem Weg zu Verwirklichung seiner potentiellen Gottesebenbildlichkeit“ 401 . Die Aufgaben, die mit Hilfe von sprachlichen Äußerungen erreicht werden können, intendieren bereits die Ziele der Sprache. So kann zwischen den Funk‐ 4. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon 171 <?page no="172"?> 402 Vgl. Conf § 31 und Virt § 126, hier wird der Glaube als die sicherste Tugend bezeichnet. 403 Mit den beiden Bereichen ‚Mensch’ und ‚Gott’, sind für das philonische Sprachver‐ ständnis zwei Wirkbereiche auszumachen, wie sie auch im ntl. Doppelgebot der Liebe zu finden sind. tionen, Aufgaben und Zielen der Sprache bei Philon keine klare Trennlinie ge‐ zogen werden. Zwei unterschiedliche Ziel- und Wirkbereiche der Sprache können dennoch ausgemacht werden: Zum einen den auf den Menschen bezo‐ genen, weitgehend ethischen Bereich. In diesem zeichnen sich die Forderung Philons nach einer der Äußerung entsprechenden Handlung ab sowie die Be‐ tonung der kommunikativen Rolle der Sprache in all seinen erwähnten Facetten als Hauptaspekte ab. Anhand von Conf § 9-13 wird deutlich, dass sich aus der Kommunikationsfunktion der Sprache ein übergeordneter Nutzen ergibt. Alle Einzelaspekte, die sich unter der Funktion vereinen lassen, wirken auf ein ge‐ ordnetes, sicheres, friedliches Zusammenleben hin: Indem der Austausch über kollektive Erlebnisse die Gemeinschaft stärkt, Gespräche über Erlebtes einen Verarbeitungsprozess ermöglichen, Kommunikation dazu dient, ein tieferes Verständnis von Mensch und Welt zu erhalten und Streit sowie Angriffe von Feinden zu verhindern, dient Sprache dazu, sich positiv auf das System auszu‐ wirken. So wirkt sich Sprache ordnend auf das Zusammenleben der Menschen aus, indem ein Gefühl der Sicherheit und der Zusammengehörigkeit entsteht. Der Glaube trägt nach Philon dazu bei, solch eine gute seelische Verfassung zu bewahren. 402 Das stellt die Verbindung zum zweiten Wirk- und Zielbereich der Sprache dar. Sie wirkt auf einer Ebene, die auf Gott bezogen ist: 403 Gottesdienst, Dank und Lobpreis des Schöpfers sind für Philon zentrale Lebensaufgaben des Menschen. Sprache leistet einen wesentlichen Beitrag, sie zu erfüllen. 5. Das philonische Sprachverständnis im Rahmen der antiken Sprachphilosophie Das folgende Kapitel verortet das Sprachverständnis Philons im Rahmen der antiken Sprachphilosophien. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Philon und dem antiken Sprachdiskurs können in sieben Punkten ausgemacht werden: 1. Zentrale Begriffe: Gemeinsam ist Philon mit den im Kapitel zur Entwick‐ lung der Sprachphilosophie dargestellten Autoren, dass der λόγος-Begriff eine zentrale Rolle einnimmt. Philon übernimmt die seit Heraklit be‐ kannte Ansicht, dass der λόγος die Komponenten des Sprechens und III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 172 <?page no="173"?> 404 Coseriu, Geschichte, 33. Denkens umfasst, die in enger Weise miteinander verbunden sind. Erst vom λόγος ausgehend können weitere sprachphilosophische Überle‐ gungen getätigt werden; so ist die Erkenntnis eng an den λόγος gebunden, wie sich dies auch bei Platon zeigte; das Denken ist im λόγος ἐνδιάθετος verwurzelt und die sprachliche Äußerung kommt im λόγος προφορικός zum Tragen. Am Nächsten steht Philon damit dem stoischen λόγος-Verständnis; zum einen verwendet er dieselben Begrifflichkeiten; zum anderen bezieht er den Begriff ebenso wie die Stoa sowohl auf Gott als auch auf den Menschen. Neben dem λόγος-Begriff übernimmt Philon auch das Lexem δόξα in der sprachphilosophischen Bedeutung. Nach dieser bezeichnet es die Meinung und den Schein, also eine ‚falsche’ Äu‐ ßerung, weil sie unter Beteiligung der Sinne zustande kommt und deshalb eine verfälschte Wirklichkeit zeigt. 2. Die Ebenen, auf denen Sprache thematisiert wird: Im Kapitel zur Ent‐ wicklung der Sprachphilosophie hat sich gezeigt, dass es verschiedene Schwerpunkte bezüglich der Thematisierung von Sprache gibt. Wie kann Philon im Hinblick auf die unterschiedlichen Erscheinungsformen der Sprache positioniert werden? Es wurden die drei Kategorien ‚Sprache im Allgemeinen’, ‚Sprache als Wort’ und ‚Sprache als Satz’ ausgemacht. Philon thematisiert Sprache im Allgemeinen: Er sieht in ihr eine „Erschei‐ nungsform des Universums“ 404 , so dass Sprache über Wirklichkeit Aus‐ kunft geben kann. Dabei zeigt sich, wie grundlegend Philon in dem reli‐ giösen Kontext des Judentums eingebettet ist, denn er geht über die Aussage, dass Sprache eine von vielen Erscheinungsformen des Univer‐ sums ist, hinaus. Er verortet die Sprache dezidiert theologisch, indem er sie als von Gott und Adam geschaffen bezeichnet. Sprache als Satz be‐ handelt Philon nicht. Sprache (λόγος) kann Wahrheit enthalten. Der Wahrheits- oder Falschheitsgehalt wird nicht in Sätzen oder bestimmten Satzarten erkennbar, sondern ist an der Art der Erkenntnis auszumachen, die sich nach Philon in einzelnen Wörtern zeigt. Philon thematisiert Sprache als Wort. Auf dieser Ebene wird das Verhältnis von Laut und Ob‐ jekt behandelt, das unten aufgegriffen ist. 3. Der φύσει-θέσει-Streit: Auf ihn geht Philon nicht direkt ein. Er benutzt auch nicht das dafür typische Vokabular (θέσει, νόμῳ, συνθήκη, κατὰ συνθήκην). Von φύσις spricht Philon; wenn davon die Rede ist, dass die Zuordnung von Wort und Objekt von Natur aus geschehen ist, so ist hinter der φύσις in jedem Fall Gott zu denken. Sprache erhält nach phi‐ 5. Das philonische Sprachverständnis im Rahmen der antiken Sprachphilosophie 173 <?page no="174"?> 405 Hennigfeld, Eikon-Konzept, 51 f. 406 Vgl. Agr § 136, Migr § 48. 49. 79, Her § 282, Som I § 229, All I § 10, All III § 120 und Congr § 147 ff. Die von Antipater eingeführte weitere Wortart des Adverbs greift Philon nicht auf, vgl. das Fehlen von ἐπίρρημα in Borgen, Index, 130. lonischer Auffassung ihre Legitimation durch den Menschen, hauptsäch‐ lich durch Adam. Hinter ihr aber ist Gott zu denken, der nach Sacr § 97 den menschlichen Körper, alle Kräfte und den gesamten Kosmos ge‐ schaffen hat, auch die Sprache. Philon stellt damit zwar eine ähnliche Verbindung beider Theorien her wie die Stoiker; im Gegensatz zu ihnen, die annehmen, dass die Wörter vom Menschen gesetzt sind, aber davon ausgehen, dass die ersten Wörter von Natur aus entstanden sind, indem Adam anhand der Urbilder die Namen gebildet hat, vertritt Philon aber die Auffassung, dass Adam die ersten Wörter gesetzt hat. 4. Namensschöpfer: Platon fragt nach der generellen Kraft, die Sprache er‐ möglicht, nicht nach der historischen Ursache. Diese generelle Urkraft schreibt Philon Gott zu. Bei ihm wird in einem gewissen Grad auch die historische Ursache bestimmt, wenn Adam als der erste Mensch ausge‐ wiesen wird. Diese Neuerungen bestimmen das philonische Sprachver‐ ständnis. Nach Krat. 389a und 390d ist nicht jeder Mensch mit der Fähig‐ keit ausgestattet, Namen zu schaffen. Dies geht mit Philon einher, der dem Namenschöpfer besondere Qualitäten abverlangt, die bereits zur Sprache kamen. Bei Platon bleibt die Kraft, die Namen gibt, weitgehend unbe‐ stimmt. Bereits die Bezeichnungen in den platonischen Schriften sind unterschiedlich. So ist einmal vom νομοθέτης die Rede, ein anderes Mal vom ὀνοματουργός. Weiterhin ist nicht klar, ob es sich um eine Person oder um mehrere handelt. 405 Philon konkretisiert diese Aspekte, indem er die Namensgebung an die Person Adams (und gelegentlich an die der Weisen) bindet. 5. Etymologien: Hier liegt wie in der Stoa ein großer Schwerpunkt Philons. Sie erweisen sich für Philon als besonders wichtig, weil sie Allegorese auf der Basis einer sehr genauen Textlektüre ermöglichen. 6. Struktur der Sprache: Während Philon in dem Interesse an Etymologien mit Platon und der Stoa einhergeht, zeigt er im Vergleich zu den Stoikern kein großes Interesse am Sprachsystem und am Aufbau der Sprache. Er kennt die Einteilung der Wörter in ὄνομα (Substantive), ῥῆμα (Verb), ἄρθρον (Artikel) und σύνδεσμος (Konjunktionen) sowie verschiedene Satzarten. 406 Die Beschäftigung mit den unterschiedlichen Wort- und Satzarten geht jedoch kaum über ein Nennen hinaus. In Congr § 147-150, der ausführlichsten Stelle, die Philon diesbezüglich aufzuweisen hat, be‐ III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 174 <?page no="175"?> nennt er die verschiedenen Wort- und Satzarten sowie Imperativ und Optativ und stellt die Gliederung der Buchstaben (στοιχεῖον) in Vokale, Halbvokale und Konsonanten dar. Philon erklärt in diesem Kontext die Aufgabe der Grammatiker. Weitere Reflexionen darüber stellt er nicht an. 7. Das sprachliche Zeichen, Erkenntnis und Wirklichkeit: Philon behandelt Sprache als Wort und zwar die Relation zwischen Laut und Objekt. Dies entspricht der Relation, die auch Platon thematisiert. Philon arbeitet dies‐ bezüglich auch mit den platonischen Begriffen ὄνομα und πρᾶγμα. Das Verhältnis von ὄνομα und πρᾶγμα kann Philon auf zweifache Weise be‐ schreiben: Liegt der Namensbildung noetische Erkenntnis zu Grunde, d. h., wenn die Erkenntnis vom göttlichen λόγος ihren Ausgangspunkt nimmt und auf den menschlichen νοῦς wirkt, so bringt der Name eine Einheit zum Objekt mit sich. Diese liegt auch in der göttlichen Sprache vor, weshalb der Name die objektive Wirklichkeit wiedergibt. An dieser Stelle sei angemerkt, dass es gegenüber der antiken Sprachphilosophie eine philonische Besonderheit ist, Merkmale einer göttlichen Sprache zu benennen. Seine Vorstellung von einer Einheit von Wort und Objekt steht in der Nähe der mythischen Sprachauffassung. Dies gilt allerdings nur für das ‚Endprodukt’ des Namens. Die vorangegangenen Reflexionen, v. a. bezüglich der Erkenntnis, stehen weitgehend in stoischer Tradition. Lie‐ fert ein Name die Einheit zum Objekt, so gibt er die objektive Wirklichkeit wieder. Gegenteiliges gilt für die Namen, die auf Grund aisthetischer Er‐ kenntnis gebildet werden. Namensgebung und Erkenntnis stehen also dezidiert in Verbindung. Die philonischen Texte konzentrieren sich auf Namensbildung durch Adam und die Weisen und thematisieren nur selten Namensbildungen, in denen keine Einheit von Wort und Gegenstand vorliegt. Philon zeigt aber, dass er die Problematik kennt, wenn er diese anspricht, und weist ein Problembewusstsein für den Zusammenhang zwischen Name und Sache auf. Das Denken einer Einheit von Name und Gegenstand steht in der Nähe des mythischen, aber auch heraklitischen Denkens. Heraklit unterscheidet zwi‐ schen der ‚echten’ Wirklichkeit und einer vom Menschen durch die Sinne sub‐ jektiv wahrgenommenen Wirklichkeit und sieht in der Sprache eine Möglich‐ keit, das Sein wiederzugeben, wenn auch bei Heraklit die Wirklichkeit durch Sprache nie vollständig erschlossen werden kann. Philon hingegen nimmt an, dass es unter bestimmten Bedingungen möglich ist, eine Einheit von Laut und Objekt zu erreichen und die objektive Wirklichkeit zu erfassen. Das rückt ihn zwar in die Nähe des mythischen Denkens, stellt ihn aber keineswegs auf diese Ebene, da er die Einheit von Objekt und Laut reflektiert, indem er die Erkennt‐ 5. Das philonische Sprachverständnis im Rahmen der antiken Sprachphilosophie 175 <?page no="176"?> 407 So auch Kweta, Sprache, 425. 408 Vgl. Kweta, Sprache, 424 f, sie kommt zu dem gleichen Ergebnis. 409 Niehoff, Jewish Exegesis, 151 stellt als Resümee ihres Kapitels „The inversion of Ho‐ meric scholarship by Philo - Literal exegesis in the Allegorical Commentary“ (133-151) heraus, dass Philon mit der Homerwissenschaft samt ihrem aristotelischen Hintergrund in Alexandria vertraut war, dennoch mit der allegorischen Auslegungsmethode eigene Akzente setzt, indem er platonische Motive aufgreift und sie mit der aristotelischen Wissenschaft in Verbindung bringt. nisprozesse und die Unterscheidung zwischen Denken und sprachlicher Äuße‐ rung thematisiert. Philon stellt also durchaus fest, dass diese Einheit - sogar bei der Mehrheit der Namensbildungen - nicht vorliegt, und greift damit dieses seit Heraklit bestehende Problembewusstsein auf. Er beschäftigt sich jedoch nicht mit dem sprachlichen Zeichen, wie das für die aristotelische und stoische Sprachphilosophie gilt, weshalb man bei Philon von Sprache als Zeichen nicht sprechen kann. 407 Philon fragt nicht, ob ὄνομα aus mehreren Komponenten be‐ steht bzw. wie diese zu bestimmen wären. Für das sprachliche Zeichen an sich, etwa die Unterscheidung zwischen Inhalts- und Ausdrucksseite, interessiert sich Philon nicht, sondern allein für die Relation Wort-Objekt. Auch auf weitere As‐ pekte des sprachlichen Zeichens wie den platonischen ὄργανον-Charakter der Sprache, die aristotelischen παθήματα τῆς ψυχῆς oder das stoische λέκτον geht Philon nicht ein. Er greift sprachphilosophisches Gedankengut und das zuge‐ hörige Vokabular also nur bedingt auf. 408 Philon gelangt bei der Arbeit an den biblischen Texten zu eigenen Interpretationen von Namen, Sprache und dem Verhältnis zur Wirklichkeit. Dabei bringt er die eben aufgezeigten, bereits be‐ kannten Gedankengänge der Sprachphilosophie in unterschiedlichem Maß ein. Für Philon und seine Suche nach der Wahrheit der biblischen Texte ist es uner‐ heblich, ob bzw. dass er dabei hinter bisherige Überlegungen z.T. weit zurück‐ tritt. Es lässt sich also keine einheitliche Linie von der antiken Sprachphilosophie zu Philon und dem frühen Judentum ziehen. Philon nimmt im antiken Sprachdis‐ kurs eine eigene Stellung ein. Er ist mit zentralen Fragestellungen der antiken Sprachphilosophie vertraut; er greift sie in unterschiedlichem Maß auf, bleibt aber in wesentlichen Aspekten, v. a. was die Relationen des sprachlichen Zei‐ chens betrifft, hinter den bereits vorhandenen sprachphilosophischen Überle‐ gungen zurück. 409 Das ist im Vergleich zu den anfangs behandelten Philosophen damit zu begründen, dass Philon mit einem anderen Ziel auf das Thema Sprache trifft. Er thematisiert Sprache nicht in erster Linie, indem er sich mit verschie‐ denen sprachphilosophischen Positionen auseinandersetzt, wie dies beispiels‐ weise für den Kratylosdialog gilt. Philon kommt vielmehr im Zusammenhang III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 176 <?page no="177"?> 410 Angaben zu Parmenides fehlen vollständig; Ἡρακλείτειος kommt einmal in All III § 7 vor. Hier wird auf die heraklitische Ansicht, dass alles fließt, verwiesen. Ἡράκλειτος findet sich an fünf Stellen (All I § 108, Her § 214, Aet § 111, Prov II § 76, Quaest Gen II § 5). Ein Bezug zu sprachphilosophischen Fragen findet sich nicht. Πλάτων verzeichnet elf Belege. Mit sieben Belegen ist auch hier die Schrift Aet Haupt‐ referenztext. Lediglich in Op § 119 und in Prob § 13 kann ein Bezug zur Sprache aus‐ gemacht werden: In den Mund gelangen vergängliche Nahrungsmittel, herauskommen die vernünftigen Reden als unsterbliche Gesetze der unsterblichen Seele, durch die das vernünftige Leben geleitet wird. Ἀριστοτέλης kommt bei Philon ausschließlich in Aet vor (an vier Stellen in Aet § 10. 12. 16.18). Ein Bezug zu seinen sprachphilosophischen Überlegungen fehlt. Ζήνων ist ebenfalls nur in einer Schrift zu finden, in Prob § 53.57.106 (in Prob § 107 ist von dem Vorsokratiker Zenon von Elea die Rede). Auf die Sprachphilosophie Zenons und dessen Bedeutung für die Stoa geht Philon nicht ein. Χρύσιππος findet sich nur in Aet § 48. 90. 94; wiederum findet sich kein Bezug zur Sprache. Auch auf die Stoa an sich wird nur zweimal, in Aet § 8.89 verwiesen. Die Belege zeigen, dass Philon heraklitische, platonische, aristotelische und stoische Lehren gekannt hat. Er bezieht sich in seinen sprachphilosophischen Überlegungen jedoch nicht explizit auf antike Autoren, so dass festezustellen ist, dass Philon sprach‐ philosophisches Wissen weniger als schulbzw. personengebundenes Gut als als All‐ gemeingut verwendet. 411 Vgl. etwa die Bestimmung der einzelnen Teile der Seele oder die Tugendlehre, vgl. hierzu Pohlenz, Geschichte, 367-378. mit seiner Auslegung der atl. Schriften auf Sprache zu sprechen. Er grenzt sich nicht explizit gegen bestimmte sprachphilosophische Vorstellungen ab und po‐ sitioniert sich nicht eigens auf diesem Feld. 410 Im Gegensatz zum Verfasser des Aristeasbriefes, der sich im philosophischen Diskurs Alexandrias positionieren und sein Wissen dokumentieren will, zeigt sich dieses Bedürfnis bei Philon nicht. Sein vorrangiges Augenmerk ist auf die Auslegung des AT gerichtet, die häufig einen ethischen Fokus hat, auf die Kommunikationsfunktion von Sprache aus‐ gerichtet ist und dabei v. a. an der Erkenntnis, Namensbildung und Qualität der Sprache der Weisen interessiert ist. Auf die Sprachphilosophie und deren Fragen geht Philon dann ein, wenn es seiner Argumentation dienlich ist. Philon greift sprachphilosophisches Denken auf, ist aber nicht selbstständig thematisch auf diesem Feld tätig. Er setzt sich mit dem Wesen und den Funktionen von Sprache auseinander, nicht jedoch in dem Maß, wie wir es bei Platon, Aristoteles und der Stoa gesehen haben. Philon steht in vielen Aspekten in stoischer Tradi‐ tion. 411 Er benennt die unterschiedlichen Wortarten, problematisiert oder dis‐ kutiert sie aber nicht; der wesentliche Unterschied besteht darin, dass er Sprache nicht zum Hauptgegenstand seiner Überlegungen macht, sondern seine Philo‐ sophie aus den religiösen Traditionen des Judentums heraus betreibt. Die Aus‐ legung der atl. Texte erfolgt mit Hilfe der (Sprach-)Philosophie, immer jedoch 5. Das philonische Sprachverständnis im Rahmen der antiken Sprachphilosophie 177 <?page no="178"?> 412 Vgl. Pohlenz, Geschichte, 378. vor dem Hintergrund des frühjüdischen Glaubens: Seine Überlegungen sind ge‐ prägt von der Erkenntnis, dass Gott die Allmacht ist, auf deren Existenz sich das menschliche Dasein gründet und auf dessen Heil der Mensch hoffen darf. 412 In diesem Rahmen bewegt sich auch sein Sprachverständnis. Seine produktive und innovative Leistung liegt nicht in sprachphilosophischen Überlegungen, son‐ dern in der Kommentierung des ‚Gesetzes’ auf der Höhe zeitgenössischer grie‐ chischer Sprachverständnisse. Er ist in erster Linie Exeget, nicht Sprachphilo‐ soph. III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria 178 <?page no="179"?> 1 Vgl. zu den Einleitungsfragen Oda Wischmeyer: 1. Korintherbrief, in: Paulus. Leben - Umwelt - Werk - Briefe. 2., überarbeitete und erweitere Auflage, hg. v. ders., Tübingen, Basel 2 2012 (UTB 2767), 178-200 und Udo Schnelle,: Einleitung ins Neue Testament. 5., durchgesehene Auflage, Göttingen 5 2005 (UTB 1830), 73-93. 2 Auf die Diskussion zur Einheitlichkeit des 1 Kor kann hier nicht dezidiert eingegangen werden. Wortfeldanalysen, argumentative, rhetorische und kommunikative Analysen machen die Einheitlichkeit des Briefes wahrscheinlich. Eine Übersicht über die Tei‐ lungshypothesen liefert Gerhard Sellin: Hauptprobleme des Ersten Korintherbriefes, in: ANWR II 25.4 (1987), 2965-2968. Sie können die Entstehung der Endgestalt nicht plau‐ sibel begründen. Es liegt „weder sachlich noch technisch-entstehungsbezogen“ (Wi‐ schmeyer, 1. Korintherbrief, 191) nahe, die Einheitlichkeit anzuzweifeln. Zur Begrün‐ dung s. Schnelle, Einleitung, 80-83.91-93, Hans D. Betz / Margaret M. Mitchell: Art. Corinthians, First Epistle to the, in: ABD I (1992), 1141-1143 und Margaret M. Mitchell: Art. Korintherbriefe, in: RGG 4 4 (2001), 1689 f, die bereits seit ihrer Dissertation 1991 für die Einheitlichkeit des 1 Kor plädiert. Dafür auch Lindemann, Korintherbrief, 5 f, Schnelle, Einleitung, 91-93, Wolfgang Schrage: Der erste Brief an die Korinther. 1. Teil‐ band. 1Kor 1,1-6,11, Neukirchen-Vluyn 1991 (EKK VII / 1), 70 f und Wolff, Korinther, 7 f aus. 3 Vgl. 1 Kor 16,5-8. IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 1. Vorbemerkungen Die Äußerungen des Paulus zum Thema Sprache scheinen gegenüber dem Reichtum der Überlegungen Philons kärglich und ungenügend. Sie beschränken sich auf die Kapitel 12-14 des 1. Korintherbriefes. 1 Deshalb ist zunächst ein kurzer Blick auf den Aufbau, die Themen und die Adressaten des Briefes zu werfen, um die Aussagen zu Sprache in diesem Rahmen verorten zu können: Der Brief ist Teil der Korrespondenz zwischen Paulus und der von ihm ge‐ gründeten Gemeinde. Zu dieser zählt ein weiterer, in 1 Kor 5,9 erwähnter Brief des Paulus an die Korinther; immer wieder wurde angenommen, dass er in der jetzigen Form des 1 Kor enthalten ist. 2 Die Gemeinde selbst verfasste einen Brief an Paulus, auf den er in 1 Kor 7,1 Bezug nimmt. Im Jahr 55 n. Chr. schreibt Paulus während eines Aufenthalts in Ephesus an die Gemeinde in Korinth. 3 Er folgt dabei dem üblichen Aufbau der paulinischen Briefe, der sich aus folgenden Ele‐ menten zusammensetzt: Briefeingang, bestehend aus Proömium (1,1-3) und Präskript (1,4-9), das als Dank gestaltet ist und bereits auf die Gnadengaben <?page no="180"?> 4 Vgl. Wischmeyer, 1. Korintherbrief, 181, Schnelle, Einleitung, 51-60 und zum Brief in der Antike allgemein Hans-Joseph Klauck: Die antike Briefliteratur und das Neue Tes‐ tament. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Paderborn, München, Wien u. a. 1998 (UTB 2022). 5 Nach Betz / Mitchell, Corinthians, 1145. Zur Kritik s. Zeller, Korinther, 51 f. 6 Vgl. Betz / Mitchell, Corinthians, 1143. S. zu den rhetorischen Genera auch Klauck, Briefliteratur, 170 f. 7 Vgl. Wolff, Korinther, 10 f weist folgende Themen bzw. Kapitel als solche aus, die Paulus auf Grund des Briefes der Korinther aufgreift: Ehe in 1 Kor 7, das Essen des Götzenop‐ ferfleisches in 1 Kor 8, Glossolalie und Prophetie in 1 Kor 12-14 und die Frage nach der Kollekte in 1 Kor 16. 8 Vgl. Schrage, Korinther 1, 32. 9 Vgl. Zeller, Korinther, 37. 10 Vgl. Schrage, Korinther 1, 32. Bezug nimmt; Briefcorpus (1,10-15,58) und Briefschluss, bestehend aus der Schlussparänese (16,1-18), den sich anschließenden Grüßen (16,19-20) und dem Eschatokoll (16,21-24). 4 Die rhetorische Gliederung des Briefes stellen Betz und Mitchell wie folgt dar: Nach dem Briefeingang (1,1-3) folgt das exordium (1,4-9; Einführung), die narratio (1,10-17; Aufzeigen des Sachverhalts), die ar‐ gumentatio (1,18-15,57; argumentative Entfaltung), die peroratio (15,58; präg‐ nanter Abschluss) und der Briefschluss (16,1-24). 5 Sie ordnen den Brief dem genus deliberativum zu und charakterisieren ihn damit als beratendes Schreiben. 6 Als Anlass des Briefes dürfen Anfragen aus der Gemeinde ange‐ nommen werden. Sie wurden Paulus teilweise persönlich mitgeteilt, so be‐ richten die Leute der Chloe nach 1 Kor 1,11 von Streitigkeiten in der Gemeinde, andererseits erwähnt Paulus in 1 Kor 7,1 einen Brief, den er von den Korinthern erhalten hat. 7 Die korinthische Gemeinde bestand sowohl aus Heidenals auch aus Juden‐ christen: Die Berufenen nach 1 Kor 1,24 sind Juden wie Griechen; nach 1 Kor 12,13 werden sowohl Juden wie Griechen zu einem Leib getauft. Paulus spricht die Gemeinde mehrfach auf ihre heidnische Vergangenheit an: In 1 Kor 6,9-11 wird die Götzenverehrung beschrieben und in 1 Kor 12,2 erinnert Paulus die Gemeinde daran, dass sie sich zu den Götzen bzw. Göttern hat hinziehen lassen. 8 Auch das Einsammeln der Kollekte, das Paulus in 1 Kor 16,1-4 erwähnt, weist darauf hin, dass ehemalige Heiden der Gemeinde angehörten, da dies vor‐ rangig eine Pflicht und Aufgabe der heidenchristlichen Gemeinden war. 9 Da Paulus ebenso von einem beschnittenen Berufenen spricht, sind Judenchristen für die korinthische Gemeinde anzunehmen. 10 Auch der soziale Status der Ge‐ meindeglieder dürfte gemischt gewesen sein. Von 1 Kor 1,26 her ist nicht in erster Linie an weise und angesehene Personen zu denken; dennoch werden mit Titus Justus, dem Synagogenvorsteher Krispus oder Chloe auch höherstehende Personen genannt. Auch aus diesen sozialen Unterschieden heraus kann das IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 180 <?page no="181"?> 11 Vgl. Sellin, Hauptprobleme, 2997 f und Zeller, Korinther, 37-39. S. auch Bruce W. Winter: Philo and Paul among the Sophists. Alexandrian and Corinthian Res‐ ponses to a Julio-Claudian Movement, Cambridge 2 2002 (MSSNTS 98), 172-195. Er thematisiert die Herausbildung der unterschiedlichen Gruppierungen in Zusammen‐ hang mit der paulinischen Kritik an den Traditionen der Sophisten. 12 Umstritten ist, ob die Christusparteiung eine eigene Gruppe darstellt oder ob es sich hierbei um eine Parole (Helmut Merklein: Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 1-4, Gütersloh, Würzburg 1992 (ÖTK 7 / 1), 146 f) handelt, die die anderen Parteien ver‐ wendeten, oder um eine Glosse (Ulrich Wilckens: Weisheit und Torheit, Tübingen 1959 (BHTh 26), 17). Zur Forschungsgeschichte s. Zeller, Korinther, 40-45. 13 Vgl. Gerhard Sellin: Das „Geheimnis“ der Weisheit und das Rätsel der „Christuspartei“ (zu 1 Kor 1-4), in: ZNW 73 (1982), 75-79. Er spricht sich dafür aus, dass 1 Kor 1-4 gezielt an die Apollospartei gerichtet ist. Dagegen s. Wolff, Korinther, 9 f. Zur Kritik an Sellin s. Zeller, Philonische Logos-Theologie, 155-164. 14 Für eine Verbindung von Kephasanhängern und besonderer Wertschätzung der Glos‐ solalie Thorleif Boman: Die Jesus-Überlieferung im Lichte der neuen Volkskunde, Göt‐ tingen 1967, 187 f, für die Paulusanhänger Helmut Merklein / Marlies Gielen: Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2-16,24, Gütersloh 2005 (ÖTK 7 / 3), 109. 15 Vgl. 1 Kor 3,5-9; 4,6; 16,12 und dazu Wolff, Korinther, 9. Dabei wird versucht, zugleich soziale Unterschiede auszumachen, so dass Merklein z. B. die Apollospartei im Gegen‐ satz zur Paulusgruppe als die sozial höher gestellten Personen versteht. Vgl. Mer‐ klein / Gielen, Korinther, 109. 16 Vgl. Zeller, Korinther, 43.382. Zustandekommen von unterschiedlichen Gruppierungen erklärt werden, mit denen die Gemeinde in Korinth nach 1 Kor 1,12 zu kämpfen hat. 11 Als solche werden die Paulus-, die Apollos-, die Kephas- und die Christusanhänger ge‐ nannt. 12 Es wurde gelegentlich der Versuch unternommen, diesen Gruppen eine Überbetonung der Weisheitsrede oder der Glossolalie zuzuschreiben. Ersteres wird mit den Apollosanhängern assoziiert, 13 Zweiteres mit den Kephas- oder Paulusleuten. 14 Eine solche Zuordnung ist umstritten, zumal gerade von Apollos in 1 Kor Positives berichtet wird. 15 Weiterhin ist die Gruppe, die die Weisheits‐ rede in besonderem Maß betont, nicht mit den Gemeindegliedern, die die Glos‐ solalie außerordentlich hervorheben, zu identifizieren. Die Weisheitsrede wird in 1 Kor 1-3 eher negativ gesehen, in 1 Kor 12-14 wird sie nur in der Charis‐ menliste in 1 Kor 12,8 erwähnt, nicht aber kritisch diskutiert, sondern als ver‐ ständliche Sprachgabe positiv konnotiert. Es kann für die korinthische Ge‐ meinde lediglich eine besondere Wertschätzung des glossolalischen Sprechens festgestellt werden, sie kann aber nicht einer der Gruppierungen, die Paulus in 1 Kor 1,12 nennt, zugeordnet werden. 16 Dass die Korinther bzw. ein Teil der korinthischen Gemeinde die Glossolalie als Geistesgabe den anderen Charismen gegenüber höher gestellt haben, ergibt sich aus 1 Kor 14 und wird noch explizit thematisiert werden. Eine andere Möglichkeit, weshalb Paulus die Korinther über die Charismen belehrt, ist, dass sie die Gaben nivelliert haben und Paulus 1. Vorbemerkungen 181 <?page no="182"?> 17 Vgl. Sellin, Hauptprobleme, 3008 f und Wolff, Korinther, 11. 18 Zu den Missständen in der Gemeinde s. ausführlich Sellin, Hautprobleme, 3001-3011. 19 Lindemann, Korintherbrief, 26. 20 Lindemann, Korintherbrief, 27. 21 Vgl. Wischmeyer, 1. Korintherbrief, 189. ihre Verschiedenheit, ihre unterschiedlichen Funktionen und ihre Rangfolge herausstellen will. Dagegen spricht aber die Anordnung der Charismenlisten, die keine feste Rangfolge aufweist, und die Tatsache, dass Paulus von Beginn an, in 1 Kor 12,4 ff, die Gemeinsamkeit der Charismen als Gaben des einen Geistes betont. Nicht ein ‚besonders pneumatisches’ Charisma oder unvers‐ tändliches Sprechen ist Ausweis des Glaubens, sondern nach 1 Kor 12,3 das Be‐ kenntnis zu Jesus als dem Herrn. Alle Christen also sind Geistbegabte, das stellt Paulus zu Beginn der Charismenthematik heraus; damit wird deutlich, dass er einer Tendenz entgegenwirkt, nach der einzelne Christen ihre Begabung als besonders geistgewirkt verstehen. Paulus tritt dem entgegen, wenn er in 1 Kor 12 zwar unterschiedliche Funktionen innerhalb des Leibes nennt, für alle aber denselben Ursprung ausmacht. Wahrscheinlich ist also, dass die Wertigkeit oder der Rang der Charismen in Korinth dahingehend umstritten war, dass bestimmte Charismen von einigen Gemeindegliedern als wertvoller und ‚geistlicher’ an‐ gesehen wurden. Sellin geht davon aus, dass Paulus von diesem Problem durch den Brief der Korinther erfahren hat, die Thematik deshalb in 1 Kor 14 aufgreift und betont, dass die Geistesgaben alle zum Ziel der Erbauung der Gemeinde eingesetzt werden sollen. 17 Zu Verunsicherungen und Streitigkeiten in der Ge‐ meinde führten darüber hinaus Unzucht und kultische Prostitution (1 Kor 5-6), das Essen von Götzenopferfleisch (1 Kor 8.10) sowie die Gestaltung der Her‐ renmahlsfeier (1 Kor 11). 18 In 1 Kor 1,1 f findet sich eine ausführliche Adressatengabe. Sie nennt zuerst die Gemeinde Gottes in Korinth, anschließend alle Heiligen und erfährt damit nach Lindemann „eine ganz ungewöhnliche Erweiterung“ 19 und ist „etwas über‐ laden“ 20 . Bereits dieser weit gefasste Kreis von Adressaten weist darauf hin, dass der Brief nicht nur aktuelle und gemeindespezifische Probleme thematisiert, sondern darüber hinaus allgemeine Aussagen formuliert, die für alle Christen von Interesse sind. 21 Solche finden sich in 1 Kor 14. Um das zeigen zu können, ist zunächst die Übersetzung des Kapitels, seine Einordnung in den Kontext und die Nachzeichnung der Argumentation notwendig. Von dieser Grundlage aus‐ gehend wird der spezifische Fokus, den Paulus auf Sprache legt - in Form der Charismen -, näher untersucht. Erst im Anschluss daran kann die eigentliche Untersuchung des Sprachverständnisses bei Paulus beginnen. Sie umfasst fol‐ gende Aspekte: Die Entstehung der Sprachgaben, die Voraussetzung für die IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 182 <?page no="183"?> 22 Zum griechischen Text s. Das Neue Testament, Griechisch und Deutsch (27. Auflage des Novum Testamentum Graece in der Nachfolge von Eberhard und Erwin Nestle), hg. v. Kurt Aland / Barbara Aland, Stuttgart 27 1998. Zentrale Stellen aus 1 Kor 14 sind im Verlauf der Untersuchung in ihrem griechischen Wortlaut wiedergegeben. 23 Ganz wörtlich: Da ihr Eiferer seid nach Geistern. Unter πνεῦμα sind hier die Geistes‐ gaben zu verstehen. Vgl. auch Conzelmann, Korinther, 288. Wirksamkeit der sprachlichen Äußerungen und ihre Funktionen, die Wirkung und das Ziel der Sprachgaben sowie mögliche Grenzen von Sprache. Zunächst erfolgt die Übersetzung von 1 Kor 14. 2. Analyse von 1 Kor 14 2.1 Übersetzung von 1 Kor 14 22 (1) Trachtet nach der Liebe, strebt aber nach den Geistesgaben, vor allem danach, dass ihr prophetisch redet. (2) Denn wer in Zungen spricht, spricht nicht für / zu Menschen, sondern für / zu Gott; denn niemand versteht (ihn), im Geist aber spricht er Geheimnisvolles. (3) Wer aber prophetisch redet, spricht Menschen Erbauung und Ermahnung und Trost zu. (4) Wer in Zungen redet, erbaut sich selbst; wer aber prophetisch redet, erbaut die Gemeinde. (5) Ich will, dass ihr alle in Zungen sprecht, mehr aber, dass ihr prophetisch redet; derjenige aber, der prophetisch redet, ist größer als derjenige, der in Zungen spricht, es sei denn, er übersetzt, damit die Gemeinde Erbauung erfährt. (6) Nun aber, Brüder, wenn ich zu euch komme und in Zungen spreche, was werde ich euch nützen, wenn ich nicht zu euch sprechen werde in Offenbarung oder in Erkenntnis oder in Prophetie oder (in) Lehre? (7) Gleichermaßen die unbelebten (Dinge), die eine Melodie geben, sei es ein Aulos oder sei es eine Leier, wenn sie keinen Unter‐ schied bezüglich der Töne machen, wie wird das auf dem Aulos Gespielte oder das auf der Leier Gespielte erkannt werden? (8) Denn auch wenn eine Trompete einen undeutlichen Ton gibt, wer wird sich zur Schlacht bereitmachen? (9) Ebenso auch ihr, wenn ihr durch die Zungen kein deutliches Wort gebt, wie wird das Gesprochene erkannt werden? Denn ihr werdet in den Wind reden. (10) Es gibt wer weiß wie viele Arten von Lauten in (der) Welt und nichts (ist) stumm. (11) Wenn ich nun (aber) die Bedeutung des Lautes / der Sprache nicht kenne, werde ich für den Sprechenden ein unverständlich Sprechender sein und der Sprechende für mich ein unverständlich Sprechender. (12) Ebenso auch ihr, da ihr strebt nach den Geistesgaben, 23 strebt nach der Erbauung der Gemeinde, damit ihr reicher werdet. (13) Deshalb: Der in Zungen Sprechende bete, dass er 2. Analyse von 1 Kor 14 183 <?page no="184"?> (diese) übersetzen kann. (14) (Denn) wenn ich in Zungen bete, betet mein Geist, mein Verstand aber ist unfruchtbar / untätig. (15) Was ist nun? Ich werde mit dem Geist beten, ich werde aber auch mit dem Verstand beten; ich werde mit dem Geist lobsingen, ich werde auch mit dem Verstand lobsingen. (16) Denn wenn du im Geist Dank sagst, wie kann der, der den Platz des Unkundigen einnimmt, das Amen zu deinem Dankgebet sagen? Da er nicht weiß, was du sagst; (17) denn du sagst zwar schön Dank, aber der andere wird nicht erbaut. (18) Ich danke Gott, ich spreche mehr als ihr alle in Zungen; (19) aber in der Gemeinde will ich (lieber) fünf Worte mit meinem Verstand sprechen, damit ich auch andere unterweise, als unzählige Worte in Zungen. (20) Brüder, seid dem Denken nach keine Kinder, sondern seid Kind(er) in Bezug auf die Boshaftigkeit, dem Denken nach aber seid erwachsen. (21) Im Gesetz steht geschrieben: Durch (Menschen), die eine fremde Sprache sprechen, und durch Lippen anderer werde ich zu diesem Volk sprechen und auch so werden sie nicht auf mich hören, spricht der Herr. (22) Daher sind die Zungenreden ein Zeichen nicht in Bezug auf die Glaubenden, sondern in Bezug auf die Ungläubigen, die Prophetie aber nicht in Bezug auf die Ungläubigen, sondern in Bezug auf die Glaubenden. (23) Wenn nun die ganze Gemeinde zusammenkommt und alle sprechen in Zungen, es kommen aber Ungläubige oder Unkundige hinein, werden sie nicht sagen, dass ihr verrückt seid? (24) Wenn aber alle prophetisch sprechen, es kommt aber irgendein Ungläubiger oder Unkundiger hinein, wird er von allen überführt, von allen wird er beurteilt, (25) das Verborgene seines Herzens wird offenbar und so wird er auf das Angesicht fallen, Gott anbeten und bekennen: Wahrlich, Gott ist in eurer Mitte. (26) Was ergibt sich nun daraus, Brüder? Wenn ihr zusammen‐ kommt, hat jeder einen Psalm, hat eine Lehre, hat eine Offenbarung, hat Zun‐ genreden, hat eine Übersetzung; alles soll zur Erbauung geschehen. (27) Wenn irgendeiner in Zungen spricht, dann zwei oder höchstens drei und der Reihe nach und einer soll übersetzen; (28) wenn es aber keinen Übersetzer gibt, soll er schweigen in (der) Gemeinde, für sich aber und für Gott sprechen. (29) Pro‐ pheten aber sollen zwei oder drei sprechen, die andern aber sollen beurteilen; (30) wenn aber einem anderen, der sitzt, (etwas) offenbar wird, soll der erste schweigen. (31) Denn ihr könnt einer nach dem anderen alle prophetisch reden, damit alle lernen und alle ermahnt werden. (32) Und (die) Geister (der) Pro‐ pheten sind (den) Propheten untertan, (33) denn Gott ist nicht ein Gott der Un‐ ordnung, sondern des Friedens. Wie in allen Gemeinden der Heiligen. (34) Die Frauen in den Gemeindeversammlungen sollen schweigen; denn es ist ihnen nicht erlaubt zu sprechen, sondern sie sollen sich unterordnen, so wie auch das Gesetz (es) sagt. (35) Wenn sie aber lernen wollen, sollen sie im Haus ihre eigenen Männer fragen; denn es ist unanständig für eine Frau, in der Gemeindever‐ IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 184 <?page no="185"?> 24 Vgl. auch Wischmeyer, 1. Korintherbrief, 180. 25 Vgl. Wischmeyer, Weg, 27. 26 Ob es sich dabei um eine temporale oder schlussfolgernde Partikel handelt, ist später zu erörtern. sammlung zu sprechen. (36) Oder ist das Wort Gottes von euch ausgegangen, oder ist es allein zu euch gelangt? (37) Wenn irgendeiner meint, ein Prophet oder ein Pneumatiker zu sein, muss er anerkennen, dass das, was ich euch schreibe, ein Gebot des Herrn ist. (38) Wenn aber irgendeiner (das) nicht anerkennt, so wird er (auch) nicht anerkannt. (39) Deshalb, (meine) Brüder, strebt nach dem prophetischen Reden und verhindert nicht das glossolalische Sprechen. (40) Alles aber muss anständig und in Ordnung geschehen. 2.2 Kontextanalyse und Gliederung von 1 Kor 14 Das Kapitel ist die Grundlage für die Darstellung des paulinischen Sprachvers‐ tändnisses. Zunächst ist der Kontext näher zu bestimmen. Die Thematik der Geistesgaben wird im Proömium des Briefes in 1 Kor 1,4-9 bereits angekündigt. Kapitel 14 selbst ist Teil der Ausführungen über die Geistesgaben, die die Ka‐ pitel 12-14 umfassen. Mit 1 Kor 12,1 beginnt ein neuer Briefabschnitt, der durch die in 1 Kor häufig verwendete Eröffnungsformel περὶ δὲ (τῶν πνευματικῶν) eingeleitet wird. Neben den Charismen werden durch περὶ δέ die Themen Ehe und Ehelosigkeit (7,1), unverheiratete Frauen (7,25), Essen von heidnischen Op‐ fern (8,1) und Opferfleisch (8,4, hier: περὶ τῆς) sowie die Kollekte für Jerusalem (16,1) und die Reise des Apollos nach Korinth (16,12) eröffnet. 24 Mit der Wendung ἀδελφοί οὐ θέλω ὑμᾶς ἀγνοεῖν in 1 Kor 12,1 erfolgt anschließend eine direkte Anrede der korinthischen Gemeinde und die Mitteilung, dass Paulus diese nun über die Geistesgaben informieren will. Die belehrende Absicht wird in 1 Kor 12,2 durch οἴδατε weiter bestärkt. 25 Beim Übergang von Kapitel 13 zu 14 erfolgt keine erneute Anrede. Eine solche findet sich jedoch bereits in 1 Kor 12,27 durch ὑμεῖς δέ, durch welche Paulus die Korinther erneut in der 2. Pers. Pl. anspricht und eine auf die Gemeinde bezogene Zusammenfassung des σῶμα-Abschnitts liefert. Dies wird in 1 Kor 12,31a fortgeführt, wobei es sich hier um ein allge‐ meines Fazit handelt, das nicht ausschließlich auf die Leibthematik bezogen ist. 1 Kor 12,31b ist als Einleitung für 1 Kor 13 zu lesen, da Paulus, ähnlich wie in 1 Kor 12,1, mit ὑμῖν δείκνυμι die Gemeinde direkt anspricht und einen lehrhaften Ton anschlägt. Das 13. Kapitel wird mit den Partikeln νυνὶ δέ 26 abgeschlossen. Mit den Aufforderungen διώκετε und ζηλοῦτε in 1 Kor 14,1 wird ein neuer Ab‐ 2. Analyse von 1 Kor 14 185 <?page no="186"?> 27 Die Form lässt auch eine indikativische Übersetzung zu. Dafür plädiert Wolff, Korinther, 308. Für die Imperativform spricht, dass Paulus eher die Rangliste der Korinther be‐ züglich der Charismen aufnimmt und sie in 12,31a mahnend gegen die Höherschätzung der Glossolalie einsetzt. Damit einher geht die Verwendung von ζηλόω in 1 Kor 14,1.39. So beispielsweise Schrage, Korinther 3, 240, Zeller, Korinther, 404, Conzelmann, Ko‐ rinther, 263 und Brockhaus, 176. Wie der Imperativ an sich zu verstehen ist, ist ebenfalls umstritten. Neben ‚eifert / strebt’ ist auch eine Übersetzung in der Bedeutung einer be‐ kräftigenden Erlaubnis ‚strebt / eifert ruhig nach…’ denkbar. So Wischmeyer, Weg, 30. Dafür spricht sich auch Merklein aus. Vgl. Merklein / Gielen, Korinther, 144. Sung Bok Choi: Geist und christliche Existenz. Das Glossolalieverständnis des Paulus im Ersten Korintherbrief (1 Kor 14), Neukirchen-Vluyn 2007 (WMANT 115), 49.56 f.69 f liest die Indikativform und versteht sie als Ironie, weil er davon ausgeht, dass die Glossolalie die Gemeinde nicht erbaut, sondern zerstört. 28 Vgl. Schrage, Korinther 3, 112.442 f. 29 Vgl. Wolfgang Schrage: Der erste Brief an die Korinther. 2. Teilband. 1Kor 6,12-11,16, Neukirchen-Vluyn 1995 (EKK VII / 2), 487 und Merklein / Gielen, Korinther, 21.106 (s. auch Inhaltsverzeichnis). 30 Vgl. Merklein / Gielen, Korinther, 21.106. 31 Vgl. Wolff, Korinther, 243. S. dazu auch Lindemann, Korintherbrief, 237 und An‐ thony C. Thiselton: The First Epistle to the Corinthians. A commentary on the Greek text, Grand Rapids, Michigan 2000 (NIGTC), 799 und 900. Er benennt die Kapitel 11-14 folgendermaßen: Freedom, Status, Reciprocity, and Respect for the Other in the Orde‐ ring of Public Worship and in Attitudes toward „Spiritual Gifts“. 32 Vgl. Zeller, Korinther, 381. schnitt eröffnet, 27 der durch διώκετε τὴν ἀγάπην inhaltlich an 1 Kor 13 anknüpft. In 1 Kor 14,26 findet sich mit ἀδελφοί eine erneute Anrede. 28 Zudem lässt sich in 1 Kor 14,40 ein Abschluss ausmachen, der durch ὥστε, ἀδελφοί [μου], ζηλοῦτε τὸ προφητεύειν eingeleitet wird, und der für die korinthischen Hörer das Fazit der drei vorangegangenen Kapitel formuliert. 1 Kor 15,1 markiert mit γνωρίζω einen neuen Briefabschnitt. Nicht nur formal, sondern auch inhaltlich beginnt mit der Auferstehung der Toten eine neue Thematik; die Ausführungen über die Charismen sind abgeschlossen. Es ist umstritten, ob 1 Kor 12-14 mit Kapitel 11 zusammen zu lesen ist. Neuere Kommentare bejahen dies und benennen als übergreifendes Thema Gottes‐ dienstfragen, 29 Fragen nach der gemeindlichen Identität 30 oder Probleme bei der gottesdienstlichen Feier in Korinth. 31 Inhaltlich ist aber zu beachten, dass es in 1 Kor 12 und 13 nicht dezidiert um Fragen und / oder Probleme im Gottesdienst geht. Wie Zeller richtig herausstellt, ist zuerst in einem allgemeinen Sinn von Geistesgaben die Rede und man darf annehmen, dass χαρίσματα ἰαμάτων (1 Kor 12,9. 28. 30) und ἀντίλημψις (1 Kor 12,28) auch unabhängig vom Gottesdienst stattgefunden haben. Erst in 1 Kor 14 werden die Gaben konkret auf die gottes‐ dienstliche Feier bezogen. 32 Auch formal kann für 1 Kor 11 ein Abschluss aus‐ gemacht werden. Mit ὥστε, ἀδελφοί μου findet sich in 1 Kor 11,33 dieselbe ab‐ IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 186 <?page no="187"?> 33 Vgl. Zeller, Korinther, 381 und Conzelmann, Korinther, 248. 34 Wischmeyer, Weg, 30. 35 Vgl. Schrage, Korinther 3, 113. 36 Vgl. Wischmeyer, Weg, 29 f. 37 Vgl. Schrage, Korinther 3, 113. schließende Formulierung wie in 1 Kor 14,37. Die Wendung τὰ δὲ λοιπὰ ὡς ἂν ἔλθω διατάξομαι liefert den Hinweis darauf, dass der nun behandelte Themen‐ komplex beendet ist. Mindestens die Kapitel 12-14 des 1 Kor sind also als Einheit zu lesen. 33 Sie lassen sich sowohl formal als auch inhaltlich als geschlossener Themenkomplex behandeln: Paulus liefert Informationen über die Geistesgaben und ihre Funk‐ tion in der Gemeinde. In 1 Kor 12 erfolgt die Grundlegung mit der zentralen Aussage, dass die Charismen Gaben Gottes und zum Nutzen aller gegeben sind. Die ersten drei Verse verdeutlichen das Kriterium für die Unterscheidung des christlichen und heidnischen Pneumatikertums. Die Verse 4-11 formulieren eine „trinitarisch-theologische“ 34 Grundlage der Charismenlehre, die die Her‐ kunft der Charismen aus dem einen Geist proklamiert, gleichzeitig aber dessen Einheit betont und in 1 Kor 12,7 ihren Nutzen aufzeigt. Mit 1 Kor 12,12-26 veranschaulicht Paulus die Thematik anhand der Leibmetapher, die in 1 Kor 12,27-31a auf die christliche Gemeinde mit ihren unterschiedlichen Charismen übertragen wird. 35 In Kapitel 13 liegt der Fokus auf der ἀγάπη. Sie stellt den Bezug der Charismen zur Eschatologie und zur Soteriologie her und wird als ὑπερβολὴ ὁδός charakterisiert. 36 1 Kor 14 behandelt ausführlich die Charismen der Prophetie und der Glossolalie und stellt in diesem Zusammenhang das Kri‐ terium der Oikodome heraus. In 1 Kor 14,26-40 wird die gottesdienstliche Praxis der Gaben Thema. 37 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie 1 Kor 14,34 f zu positio‐ nieren ist. Die Verse werden häufig - auch mit 1 Kor 14,33b und 1 Kor 14,36 2. Analyse von 1 Kor 14 187 <?page no="188"?> 38 So Schrage, Korinther 3, 481-492, Conzelmann, Korinther, 298 f (sieht den Beginn der Interpolation in 14,33b und den Abschluss in 1 Kor 14,36), Merklein / Gielen, Korinther, 216, Gordon D.Fee: The First Epistle to the Corinthians, Grand Rapids, Michigan 1987 (NICNT), 669-708, Sellin, Hauptprobleme, 2984 f, Peter Lampe: Art. Erster Korinther‐ brief, in: Paulus Handbuch, hg. v. Friedrich W. Horn, Tübingen 2013, 172 f, Philip B. Payne: Fuldensis, Sigla für Variants in Vaticanus and 1 Cor 14.34-5, in: NTS 41 (1995), 261 f (nur 1 Kor 14,34 f), Lindemann, Korintherbrief, 319-321 (1 Kor 14,33b-35), Franz-Josef Ortkemper: Paulus - ein Frauenfeind? , in: Neutestamentliche Exegese im 21. Jahrhundert. Grenzüberschreitungen. Für Joachim Gnilka, hg. v. Thomas Schmeller, Freiburg i. Breisgau 2008, 125-130, Dautzenberg, Urchristliche Prophetie, 257-263. Vgl. auch Gerhard Dautzenberg: Zur Stellung der Frauen in den paulinischen Ge‐ meinden, in: Die Frau im Urchristentum, hg. v. ders., Helmut Merklein und Karlheinz Müller, Freiburg, Basel 1983, 196 ff. Hier bietet er eine Reihe von Vergleichstexten, die zeigen, dass die Schweigegebote an griechisch-römische Ordnungsvorstellungen an‐ knüpfen. . Ihre Geltung wird aber im Zug der Emanzipation der Frauen von der helle‐ nistischen Zeit an bestritten. Gegen die Ansicht Dautzenbergs, dass das Schweigegebot von jüdischen Praktiken ab‐ geleitet werden kann, richtet sich Marlene Crüsemann: Unrettbar frauenfeindlich: Der Kampf um das Wort von Frauen in 1 Kor 14, (33b) 34-35 im Spiegel antijudaistischer Elemente der Auslegung, in: Von der Wurzel getragen. Christlich-feministische Exegese in Auseinandersetzung mit Antijudaismus, hg. v. Luise Schottroff und Marie-Theres Wacker, Leiden, New York 1996 (=Bibl.-Interpr.S 17), 213. 39 Gegen eine Interpolation: Zeller, Korinther, 443-446, Martin Hasitschka: „Die Frauen in den Gemeinden sollen schweigen“. 1 Kor 14,33b-36 - Anweisung des Paulus zur rechten Ordnung im Gottesdienst, in: SNTU 22 (1997), 47-56, Elisabeth Schüssler Fio‐ renza: Zu ihrem Gedächtnis… Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Christine Schaumberger, München, Mainz 1988, 287 ff unterscheidet zwischen heiligen, unver‐ heirateten Frauen und Ehefrauen und ordnet diese den beiden kontroversen Stellen 1 Kor 11,2-16 und 1 Kor 14,34.35 zu, wobei Letztere schweigen sollen. Antoi‐ nette C. Wire: The Corinthian Women Prophets. A Reconstruction through Paul’s Rhe‐ toric, Minneapolis 1990, 149-152 versucht die Historizität des westlichen Textes zu belegen, indem sie eine frühe Interpolation in einer einzigen Kopie zwar für unwahr‐ scheinlich hält, dagegen aber die Abhängigkeit aller westlichen Zeugen, von einer ein‐ zigen griechischen Schrift annimmt, die 1 Kor 14,34 f aus Versehen ausgelassen und am Ende nachgetragen hat. 40 Vgl. Wolff, Korinther, 341-345. 41 Vgl. Merklein / Gielen, Korinther, 213-219. 42 Vgl. Thiselton, Epistle, 1146-1161. zusammen - als Interpolation gelesen. 38 Diese Annahme wird aber auch be‐ stritten. 39 Es können hier nicht alle dafür- und dagegensprechenden Gründe genannt und abgewogen werden. Einen guten Überblick über die Diskussion bieten Wolff, 40 Merklein / Gielen 41 und Thiselton. 42 Insgesamt ist es auch von der Beantwortung der Einleitungsfragen abhängig, als wie wahrscheinlich Glossen in 1 Kor angenommen werden, da für eine Glosse immer auch ein Glossator IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 188 <?page no="189"?> 43 S. dazu Fußnote 2 dieses Kapitels und Wischmeyer, 1. Korintherbrief, 190 f. 44 Nach Schrage, Korinther 3, 481 ff. 45 Vgl. Schrage, Korinther 3, 482. 46 Vgl. Schrage, Korinther 3, 482 f. vorausgesetzt und bestimmt werden muss. Wenn man davon ausginge, dass 1 Kor aus verschiedenen Briefen zusammengesetzt sei, würde dies Glossen ins‐ gesamt wahrscheinlicher machen. In dieser Arbeit wird aber die Einheitlichkeit von 1 Kor vorausgesetzt. 43 Die vorliegende Untersuchung schließt sich der These an, 1 Kor 14,34 f sei als frühe Interpolation zu werten; dies kann anhand von fünf Gründen, die Schrage in dieser Form anführt, wahrscheinlich gemacht werden: 44 1. Textkritik: Anhand der handschriftlichen Überlieferung können 1 Kor 14,34 f als Randbemerkung gelesen werden, die an unterschiedlichen Stellen in den Text integriert wurde. So werden die beiden Verse in D, F, G, der ursprünglichen Lesart der Minuskel 88, a, b, vg mss sowie Ambrosi‐ aster und Sedulius Scotus hinter 1 Kor 14,40 gestellt. Aus textkritischer Sicht kann 1 Kor 14,34 f als frühe Randglosse gewertet werden, die an unterschiedlichen Stellen eingefügt wurde, weil die Stichworte, die Paulus im Kontext liefert (Schweigen, Unterordnung) dazu führten, dass weitere Mahnungen mit σιγᾶν und ὑποτάσσεσθαι eingefügt wurden. 45 2. Literarkritik: 1 Kor 14,34 unterbricht den Gedankengang des Textes. Mit ἐν πάσαις ταῖς ἐκκλησίαις in 1 Kor 14,33 und ἐν ταῖς ἐκκλησίαις zu Be‐ ginn von 1 Kor 14,34 werden zwei fast identische Wendungen nebenge‐ ordnet. Problematisch ist auch der Anschluss von 1 Kor 14,35 an 1 Kor 14,36. Letzterer schließt logisch an 1 Kor 14,33b an, weil Paulus in einer rhetorischen Frage von 1 Kor 14,26-33 ausgehend verdeutlicht, dass nicht nur einem Menschen in der Gemeinde das prophetische Wort zuge‐ kommen ist, sondern mehreren; diese sollen sich der Reihe nach äu‐ ßern. 46 3. Oikodome als inhaltlicher Schwerpunkt, nicht die Differenzierung zwi‐ schen den Geschlechtern: Paulus geht es um die Erbauung der Gemeinde und er stellt deutlich heraus, dass diese durch verständliches Reden er‐ reicht werden kann. 1 Kor 14,34 f kann nicht in diesem Zusammenhang verortet werden, weil der vorherrschende Aspekt der beiden Verse in keinem Fall die Verständlichkeit ist. Thematisch geht es nicht, wie bei der prophetischen Rede, um ein zeitlich bedingtes Schweigen, immer dann, wenn ein anderer Prophet eine Offenbarung empfängt, sondern um das Schweigen des weiblichen Geschlechts in der Gemeindeversammlung. 2. Analyse von 1 Kor 14 189 <?page no="190"?> 47 Vgl. Schrage, Korinther 3, 483 f. 48 Vgl. Schrage, Korinther 3, 484 und Payne, Fuldensis, 247. 49 Vgl. Schrage, Korinther 3, 485 f. 50 Vgl. Philipp Bachmann: Der erste Brief des Paulus an die Korinther, Leipzig 4 1936 (KNT VII), 425, Adolf Schlatter: Paulus, der Bote Jesu. Eine Deutung seiner Briefe an die Korinther, Stuttgart 4 1969, 389 f und Schüssler Fiorenza, Gedächtnis, 288 f. Das lässt sich auch nicht in einen schlüssigen Bezug zu 1 Kor 12,1 setzten, wonach allen Menschen Geistesgaben zukommen. Es wird dabei an keiner Stelle eine Unterscheidung zwischen Männern und Frauen und deren geschlechtsspezifischen Funktionen vorgenommen. 47 4. Unpaulinische Wendungen: Die Zitationsformel καθὼς καὶ ὁ νόμος λέγει zeigt zwar Anlehnung an andere paulinische Formulierungen wie καθὼς γέγραπτει, ist bei Paulus so aber einmalig. Besonders hervorzu‐ heben ist, dass Paulus an allen anderen Stellen, in denen er sich auf das Gesetz beruft, ein atl. Zitat anführt; die Möglichkeit ist hier nicht gegeben, weil sich kein Beleg für ein Redeverbot der Frauen finden lässt. Das Lexem ἐπερωτάω kommt neben dem Beleg in 1 Kor lediglich im Jesajazitat in Röm 10,20 vor; ἐπιτρέπω findet sich darüber hinaus ausschließlich in 1 Kor 16,7, hier als positiver Begriff für die göttliche Zuwendung. 48 5. Die Abhandlung über die Haartracht der Frau in 1 Kor 11,2-16: Er spricht in 1 Kor 11 jedoch von προφητεύειν und προσεύχεσθαι, ohne zwischen dem prophetischen Reden und Beten der beiden Geschlechter zu unter‐ scheiden. 49 Vielfach ist der Versuch unternommen worden, das Sprechen der Frau in 11,5 nur auf eine bestimmte Art des Redens zu beziehen oder nur Ehefrauen zuzugestehen. 50 Eine solche Zuordnung findet keine Text‐ belege. Die Belehrung über die richtige Haartracht der Frau im Gottes‐ dienst erscheint auch zu ausführlich, wenn Paulus die Frauen im Gottes‐ dienst nicht zu Wort kommen lassen will. Anhand der verschiedenen Aspekte wird deutlich, dass es sich hier um (min‐ destens) zwei strittige Verse handelt. Auch wenn in keiner Handschrift die Aus‐ lassung dieser Verse bezeugt wird, liegt die Vermutung nahe, dass es sich hier um eine frühe Interpolation handelt. Die weitere Untersuchung wird zeigen, dass Paulus die verständliche Kommunikation zwischen den Gemeindegliedern fördern will, weil er darin einen elementaren Nutzen für die gesamte Gemeinde sieht. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Sprachgaben nur von Män‐ nern eingesetzt werden sollen; verständliches Sprechen ist eine für die gesamte Gemeinde bereichernde Gabe, die von allen, die sie besitzen, zu diesem Ziel eingesetzt werden soll. Zudem ist aus 1 Kor 7,12-16 und 1 Kor 14,23 f ersichtlich, dass auch Frauen mit ungläubigen Männern (und umgekehrt) zur Gemeinde IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 190 <?page no="191"?> 51 Vgl. Wischmeyer, 1. Korintherbrief, 191. 52 So z. B. Weiß, Korintherbrief, 311, detaillierte Aufstellung s. bei Wolff, Korinther, 310. 53 Zur genaueren Analyse der einzelnen Übergänge vgl. Wischmeyer, Weg, 31-38. 54 Vgl. Schrage, Korinther 3, 113, der die Liebe als Kriterium bestimmt und Wischmeyer, Weg, 28, die sie als Kriterium und als Grenze ausweist. gehören bzw. dass Außenstehende an der gottesdienstlichen Versammlung teil‐ nehmen können. Für diese Frauen ist es nahezu unmöglich, sich in einem häus‐ lichen Lehrgespräch von ihren Männern unterweisen zu lassen. Deshalb wird 1 Kor 14,34 f als Interpolation verstanden und für die Erarbeitung des Sprach‐ verständnisses nicht berücksichtigt. Für den Verfasser dieser Verse ist eine Nähe zu 1 Tim anzunehmen. 51 Abzulehnen ist die These, dass 1 Kor 13 eine Interpolation ist. 52 Formal da‐ gegen sprechen die Übergänge zwischen 1 Kor 12 und 13 sowie 13 und 14, die nicht als nachträgliche Angleichungen zu werten sind, sondern durch Anreden, zusammenfassende Partikeln u. a. bewusst konzipiert sind. 53 Auch inhaltlich hat das Kapitel seinen Platz in der Charismenlehre, indem die ἀγάπη als Kriterium, aber auch als Grenze der Charismen dargestellt wird. 54 Für die drei Kapitel kann als gleiches übergeordnetes Thema die Charismenlehre bestimmt werden. In‐ nerhalb des Themenkomplexes finden sich unterschiedliche Schwerpunktset‐ zungen: 12,1 - 30: Die verschiedenen Gnadengaben 12,1-3 Grundsätzliche Orientierung auf den Geist Gottes hin; Kennzeichen für das Wirken dieses Geistes ist das Bekenntnis zu Jesus als Herrn 12,4-11 Theologische Grundlegung der Charismenlehre: Herkunft der ver‐ schiedenen Gaben aus dem einen Geist; Verdeutlichung der Einheit aller Gaben; Betonung der Ausstattung aller Christen mit Charismen; Bestimmung des Nutzens 12,12-26 Veranschaulichung der theoretischen Grundlegung durch die Fabel vom Leib und ihrer Anwendung auf den Leib Christi 12,27-31a Anwendung der Leibmetapher auf die christlichen Charismen und erneute Auflistung unterschiedlicher Charismen 12,31b-13,13: Das Charisma der Liebe 13,1-3 Agape als Kriterium für die Charismen 13,4-7 Darstellung des Wesens der Agape 2. Analyse von 1 Kor 14 191 <?page no="192"?> 55 Vgl. Merklein / Gielen, Korinther, 170. 56 Vgl. Schrage, Korinther 3, 380. 12,31b-13,13: Das Charisma der Liebe 13,8-13 Vergänglichkeit als die Grenze der Charismen und die Unvergäng‐ lichkeit der Agape 14,1 - 25: Glossolalie und Prophetie unter dem übergeordneten Ziel der Erbauung der Ge‐ meinde 1-5 Unterscheidung zwischen Prophetie und Glossolalie sowie zwischen Erbauung der Gemeinde und Selbsterbauung; Begründung der Vor‐ teile der Prophetie 6-19 Thematisierung der Unverständlichkeit bzw. Verständlichkeit der beiden Sprachgaben samt Begründung 20-25 Missionarische Wirkung der Prophetie 14,26-40 Praktische Anweisungen für Gottesdienst 2.3 Grammatisch-argumentative Analyse von 1 Kor 14 In 1 Kor 14,1-5 beginnt Paulus mit der Gegenüberstellung der Sprachgaben der Prophetie und der Glossolalie, die das gesamte Kapitel bestimmen wird. 1 Kor 14,1 enthält zwei Imperative. Der ersten Imperativform, διώκετε, wird als Ak‐ kusativobjekt die Liebe zugeordnet. Sie verweist damit zurück auf 1 Kor 13 und stellt einen verbindenden Abschluss her; 55 der zweite Imperativ, ζηλοῦτε, gibt das Thema für 1 Kor 14 an: Die Korinther sollen nach den Geistesgaben streben. Es ist, wie auch in 1 Kor 12,1, von τὰ πνευματικά, nicht von τὰ χαρίσματα die Rede. Paulus stellt damit zu Beginn des 14. Kapitels einen Rückbezug zu 1 Kor 12,1 her. 56 Nimmt man an, dass τὰ πνευματικά der von den Korinthern ge‐ brauchte Terminus ist, greift Paulus an dieser Stelle wohl gezielt darauf zurück, um anschließend zeigen zu können, welche Charismen seiner Ansicht nach im Zentrum des Strebens stehen sollen. Paulus präzisiert dies mit dem durch μᾶλλον δέ eingeleiteten ἵνα-Satz: Der Fokus liegt nicht auf einem wahllosen Streben nach allen Geistesgaben und insbesondere nicht auf dem Streben nach der Glossolalie, sondern auf dem Streben nach der prophetischen Rede. In 1 Kor 14,2 liefert Paulus für seine Aufforderung, nach der Prophetie zu streben, eine Begründung, die mit γάρ eingeleitet wird, und sich nicht auf die Prophetie, son‐ dern auf die Glossolalie bezieht. Mit der durch οὐκ und ἀλλά konstruierten Gegenüberstellung und den zugehörigen Dativobjekten ἀνθρώποις und θεῷ IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 192 <?page no="193"?> 57 Dass den Stellenwert bezüglich der Erbauung die Reihenfolge der Charismenliste in 1 Kor 12,28 angibt, wie Grudem, Prophecy, 56 f dies sieht, wird die Arbeit nicht bestä‐ tigen. S. hierzu Kap. IV, 3.3.5. 58 Vgl. Schrage, Korinther 3, 380. 59 Wischmeyer, 1. Korintherbrief, 182. 60 Zur Situation der Gemeinde in Korinth s. auch Wischmeyer, 1. Korintherbrief, 189 f. wird deutlich: Nicht zu Menschen, sondern zu Gott spricht der Glossolale. 1 Kor 14,2b stellt eine Begründung für 1 Kor 14,2a dar, die erneut durch γάρ eingeleitet wird. In Analogie zu 1 Kor 14,2a kommt Paulus in 1 Kor 14,3 auf denjenigen, der prophetisch redet, zu sprechen. Ohne eine negative Formulierung, etwa in dem Sinn ‚Wer aber prophetisch redet, spricht nicht zu Gott, sondern…’ einzubauen, führt Paulus ἀνθρώποις als Dativobjekt zu λαλέω an. Wer prophetisch redet, wendet sich mit seinem Sprechen also an Menschen. Daran schließt sich eine Reihung dreier Substantive an, die mit dem Konnektor καί arbeitet und die sich nur hier in den Schriften des Neuen Testaments findet. Sie gibt die Wirkung der prophetischen Rede an. 1 Kor 14,4 besteht aus zwei analog gestalteten Sätzen, die als Verb jeweils οἰκοδομέω führen und einmal auf den Glossolalen, einmal auf den Propheten bezogen sind. Das Objekt ihrer Erbauung unterscheidet sich, der Glossolale erbaut sich selbst, der prophetisch Sprechende erbaut die Ge‐ meinde. 57 In 1 Kor 14,5 findet sich erneut die Aufforderung, prophetisch zu sprechen. Sie ist in der 1. Pers. Sg. Präs. verfasst und gewinnt durch das Verb θέλω einen auffordernden Charakter, wie dies in 1 Kor 14,1 durch die Imperative zum Ausdruck gebracht wird. Die Vorrangstellung der Prophetie verdeutlicht Paulus durch einen mit μείζων eingeleiteten Vergleich. Er erfährt durch den Konzessivsatz ἐκτὸς εἰ μὴ διερμηνεύῃ sogleich eine Einschränkung. 58 Diese wird mit einem Ziel, der Erbauung der Gemeinde, kombiniert, das durch die Kon‐ junktion ἵνα eingeleitet wird. In dem ersten Abschnitt 1 Kor 14,1-5 wird die in 1 Kor 12 begonnene The‐ matisierung der Charismen auf zwei Gaben zugespitzt: Auf die Glossolalie und die Prophetie. Zugleich benennt und begründet Paulus die wichtigsten Merk‐ male, aber auch die wesentlichen Unterschiede der beiden Charismen: Die Pro‐ phetie erbaut die Gemeinde, die Glossolalie dient der Selbsterbauung. Erstere ist eine Rede an den Menschen, Zweitere eine Rede zu Gott. Die Prophetie dient der Erbauung der Gemeinde, weil sie die größere Gabe ist. Deshalb soll die Ge‐ meinde nach prophetischer Rede streben. Diese Verse zeigen eine situative Ver‐ engung: Es ist davon auszugehen, dass in der korinthischen Gemeinde neben Tendenzen zur Spaltung eine „pneumatische Selbstüberschätzung“ 59 vorlag. 60 Auf diese nimmt Paulus hier Bezug. Der gegenwärtige Zustand der Gemeinde liefert ihm einen Grund für die ausführliche Beschäftigung mit den Charismen 2. Analyse von 1 Kor 14 193 <?page no="194"?> 61 So Conzelmann, Korinther, 286, Zeller, Korinther, 425 und Lindemann, Korintherbrief, 301. 62 Als Eventualis wird ein Bedingungssatz bezeichnet, der im ἐάν-Satz mit Konj. Aorist oder Präsens und im Hauptsatz mit Indikativ Futur oder Imperativ gebildet wird; er bringt zum Ausdruck, dass die im Bedingungssatz gestellte Annahme in der Zukunft tatsächlich eintreten kann. Vgl. § 97: Konditionalsätze, in: ΕΛΛΑΣ. HELLAS. Gram‐ matik. Verfasst von Jörg Eyrainer, Rüdiger Hobohm, Friedrich Maier und Bernhard Pabst unter Mitarbeit von Manfred Bissinger und Stephan Brenner, hg. v. Friedrich Maier, Bamberg 2 1997, 193. 63 Vgl. Schrage, Korinther 3, 380. 64 Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 301, er nennt beide Möglichkeiten, spricht sich für Letztere aus. 65 Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 302. und die Pointierung der Glossolalie und der Prophetie. Damit ist deutlich eine Entwicklung in der paulnischen Argumentation zu sehen, die in der konkreten Gemeinde ihren Ausgangspunkt nimmt, die dann aber, um das eigentliche Thema zu durchdringen, in allgemeine Ausführungen mündet. 1 Kor 14,6 markiert mit νῦν δέ und der Anrede ἀδελφοί einen Neueinschnitt. Die Partikel νῦν ist dabei logisch, nicht zeitlich zu verstehen. 61 Mit derselben Anrede hat Paulus bereits den gesamten Themenkomplex in 1 Kor 12,1 eröffnet. Der Anrede folgt ein als Eventualis konstruierter Fragesatz. 62 Paulus leitet damit den Abschnitt 1 Kor 14,6-19 ein, in welchem er die Unverständlichkeit der Glossolalie bzw. die Verständlichkeit der Prophetie aufzeigt. Die Formulierung ἐάν ἔλθω πρὸς ὑμᾶς in der 1. Pers. Sg. kann auf die Reisepläne nach Korinth hinweisen, die Paulus in 1 Kor 16,5 f benennt; 63 wahrscheinlicher ist aber, dass Paulus die Formulierung als Stilmittel bewusst wählt, um der Argumentation durch den persönlichen Ton Nachdruck zu verleihen. 64 Dass Paulus möglicher‐ weise die Gemeinde besucht, wird durch die Partizipkonstruktion γλώσσαις λαλῶν näher charakterisiert; damit ist die Voraussetzung für die anschließende rhetorische Frage bestimmt: Was wird er nützen, wenn er zu ihnen kommt und in Zungen spricht? Die Antwort auf die rhetorische Frage lautet: Nichts. Be‐ grifflich wird der Nutzen wie in 1 Kor 13,3 mit dem Verb ὠφελέω wiedergegeben, steht aber auch in der gleichen Semantik wie συμφέρον in 1 Kor 12,7. 65 Aus 1 Kor 14,6 wird deutlich, dass es Sprachgaben gibt, die einen Nutzen für die Gemeinde haben, und solche, die keinen haben. Die nützlichen Charismen sind die Offen‐ barungs- und Erkenntnisrede, die Prophetie und die Lehre. Sie werden in der Apodosis genannt, sind mit ἤ verbunden und stehen der nutzlosen Glossolalie gegenüber. Der in 1 Kor 14,1-5 begonnene Gegensatz zwischen der glossolali‐ schen und der prophetischen Rede wird in 1 Kor 14,6 also noch einmal expliziert, indem weitere Sprachgaben an die Seite der Prophetie gestellt werden. Paulus zeigt damit, dass die Glossolalie eine Gabe ist, die einen Sonderstatus einnimmt, IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 194 <?page no="195"?> 66 Vgl. Weiß, Korintherbrief, 325, Merklein / Gielen, Korinther, 178 und Schrage, Korinther 3, 394. 67 S. dazu Kap. IV, 3.2.2. 68 Das Lexem wird von der Papyrushandschrift 46, dem Kodex Vaticanus, dem Kodex Augiensis, dem Kodex Boernerianus, der Majuskel 0234, den Minuskeln 1739 und 1881 und wenigen, einzelnen altlateinischen Handschriften, der sahidischen Überlieferung und Ambrosiaster ausgelassen. Geführt wird das Lexem vom Kodex Sinaiticus, dem Kodex Alexandrinus, der Ergänzung einer Handschrift des Kodex Claromontanus, dem Kodex Athous Laurensis, der Majuskel 048, dem Mehrheitstext, der altlateinischen Vul‐ gata, der gesamten syrischen Überlieferung und der bohairischen Überlieferung. weil sie nicht in einem Zug mit den restlichen Sprachgaben genannt werden kann. Er spricht ihr einen Nutzen ab, den er den anderen Charismen zuspricht, und wertet die Glossolalie damit ab. Der Nutzen bzw. der Nicht-Nutzen liegt in der Verständlichkeit bzw. der Unverständlichkeit einer sprachlichen Äußerung. Diese These entfaltet Paulus vergleichend und begründend in 1 Kor 14,7-19. Zunächst zeigt Paulus in 1 Kor 14,7 f anhand von Vergleichen aus dem Bereich der Musik, dass die Glossolalie die Sprachgabe ist, die den Gemeindegliedern unverständlich ist. Dasselbe bringt 1 Kor 14,9 zum Ausdruck; hier spricht Paulus die Gemeindeglieder direkt an. Für 1 Kor 14,10 wird in der Regel angenommen, dass es sich um ein weiteres Beispiel oder einen weiteren Vergleich handelt, der nicht mehr den Bereich der Musik aufgreift, sondern die unterschiedliche An‐ zahl von Sprachen in der Welt. 66 Dies wird nach ausführlicher Untersuchung der Semantik zu verneinen sein. 67 1 Kor 14,10 f wird sich als zentrale theoretische Aussage über Sprache ausweisen, die einer ausführlichen Untersuchung, v. a. hinsichtlich der Semantik, bedarf. In 1 Kor 14,12 wendet sich Paulus mit οὕτως καὶ ὑμεις nach den theoretischen Äußerungen wieder der Gemeinde zu. Er weist durch den Imperativ von ζητέω zurück auf 1 Kor 14,1 - an dieser Stelle wird der Imperativ von ζηλόω gebildet - und nimmt erneut das Motiv des Strebens auf. Dieses wird durch die Präpositi‐ onalangabe πρὸς τὴν οἰκοδομὴν τῆς ἐκκλησίας konkretisiert. Die Korinther sollen nach den Charismen streben, die der Erbauung der Gemeinde dienen. Die Glossolalie wird durch diese Aussage abgewertet, weil für sie bereits gezeigt wurde, dass sie diesem Ziel nicht gerecht werden kann, sondern dass die pro‐ phetische Rede diesen Zweck erfüllt. Der Abschnitt 1 Kor 14,13-19 ist von dem Bestreben bestimmt, den be‐ grenzten Nutzen der Glossolalie aufzuzeigen und damit den Unterschied zwi‐ schen Prophetie und Glossolalie weiter zu vertiefen und v. a. zu begründen. Die Beziehung zwischen 1 Kor 14,13 und 1 Kor 14,14 kann auf verschiedene Weise interpretiert werden, u. a. weil das γάρ in 1 Kor 14,14 textkritisch unsicher ist. 68 Versteht man die Partikel als ursprünglich, so können die Verse 1 Kor 14,14-19 2. Analyse von 1 Kor 14 195 <?page no="196"?> 69 So z. B. Lindemann, Korintherbrief, 304. Conzelmann, Korinther, 289 nimmt 1 Kor 14,13-19 als Erläuterung für 1 Kor 14,12 an. 70 Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 304. 71 Vgl. Friedrich Blass / Albert Debrunner: Grammatik des neutestamentlichen Griechisch. Bearbeitet von Friedrich Rehkopf. 14., völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage, Göttingen 1976, § 451,5. als Erläuterung für 1 Kor 14,13 verstanden werden, weil somit ein direkter An‐ schluss an den vorangegangenen Vers zu erwarten ist. 69 Die Auslassung von γάρ, die die kürzere Lesart darstellt, kann damit erklärt werden, dass 1 Kor 14,14-19 einen neuen thematischen Fokus darstellt und nicht allein auf 1 Kor 14,13 zu beziehen ist. 70 1 Kor 14,13 erhält durch die Partikel διό einen schluss‐ folgernden Charakter, indem Paulus zeigt, dass die Glossolalie nur durch ein zusätzliches Charisma, die ἑρμηνεία, einen Nutzen gewinnt. 71 Mit 1 Kor 14,14 beginnt ein kürzere thematische Texteinheit, indem Paulus erläutert, warum das glossolalische Sprechen nutzlos ist. 1 Kor 14,14-19 muss deshalb nicht allein als Begründung für 1 Kor 14,13 gelesen werden, sondern weist eine eigene inhalt‐ liche Thematik auf. Mit dem Fragesatz τί οὖν ἐστιν; verbindet Paulus 1 Kor 14,14 mit dem folgenden Vers und markiert, dass er ab 1 Kor 14,15 eine andere Rich‐ tung der Ausführung einschlägt: Die folgenden Verse sind nicht allein auf die Übersetzung der Glossolalie fokussiert, sondern zeigen, warum das glossolali‐ sche Sprechen unverständlich ist und warum die Prophetie eine verständliche Sprachgabe ist. Der Grund dafür ist, dass die Glossolalie nach 1 Kor 14,14-16 eine Sprechweise ist, bei dem der menschliche Geist beteiligt ist, die Prophetie ist nach 1 Kor 14,15.19 ein Sprechen mit dem Verstand. Wenn Paulus in 1 Kor 14,18 seinen Dank dafür bekundet, glossolalisch sprechen zu können, stellt er im folgenden Vers durch ein starkes ἀλλά unmittelbar heraus, dass die Zun‐ genrede gegenüber den durch den im νοῦς gesprochenen Worten eine geringere Bedeutung einnimmt. Die Prophetie ist die größere Gabe, weil der Verstand am prophetischen Sprechen beteiligt ist. Paulus nimmt in diesen Versen eine Dif‐ ferenzierung über das Sprechen im Geist und im Verstand vor, auf die noch ausführlich einzugehen ist. Festzuhalten ist, dass Paulus beide Sprachgaben in 1 Kor 14,1-12 / 13 anhand ihrer Verständlichkeit bzw. Unverständlichkeit und ihrer Wirkung charakterisiert und in 1 Kor 14-17 die Begründung dafür liefert. Paulus kommt in 1 Kor 14,19 zu einem Zwischenergebnis in der Argumen‐ tation, das sich mit 1 Kor 14,5 deckt: Es ist nützlicher, fünf Worte so zu artiku‐ lieren, dass sie den Gemeindegliedern verständlich sind, als unzählige Worte unverständlich zu äußern, weil dann die Gemeinde nicht erbaut werden kann. Weil das aber Ziel der Charismen ist, ist es notwendig, sprachliche Äußerungen verständlich zu vollziehen. Paulus zeigt dies in unterschiedlichen Vergleichen IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 196 <?page no="197"?> 72 Vgl. Merklein / Gielen, Korinther, 199. 73 Vgl. Schrage, Korinther 3, 446. und Anwendungen auf die Glossolalie sowie in den theoretischen Aussagen in 1 Kor 14,10 f. Für die thematisierten Verse besonders auffällig ist die große An‐ zahl an rhetorischen Fragen und die häufige Verwendung von Konditional‐ sätzen, die hauptsächlich als Eventualis formuliert und deshalb mit ἐὰν einge‐ leitet sind, was deutlich macht, dass Paulus hier im Stil der Diatribe formuliert. In 1 Kor 14,20-25 wird die Unterscheidung zwischen Glossolalie und Pro‐ phetie aufrechterhalten und unter einem bestimmten Gesichtspunkt, der Wir‐ kung auf Außenstehende, konkretisiert. Mit der direkten Anrede an die Korin‐ ther durch ἀδελφοί leitet Paulus den neuen Abschnitt ein, stellt aber durch die erneute Erwähnung und Betonung des Verstandes einen Rückbezug zu den vo‐ rangegangenen Versen her. 1 Kor 14,21 beginnt mit der Zitationsformel ἐν νόμῳ, der ein Zitat aus Jes 28 folgt, und liefert damit die Grundlage für die nachstehende Argumentation; die damit verbundene Problematik kann erst später in den Blick genommen werden. In 1 Kor 14,22 wird durch ὥστε eine Folgerung aus dem Zitat eingeführt und die Zungenrede als ein σημεῖον τοῖς ἀπίστοις, die Prophetie als ein σημεῖον τοῖς πιστεύουσιν bestimmt. Beide Aus‐ sagen sind chiastisch angeordnet. Damit sollen die unterschiedlichen Wir‐ kungen von Prophetie und Glossolalie pointiert werden: 1 Kor 14,23 greift 1 Kor 14,22a auf und verdeutlicht die Wirkung der Glossolalie. 1 Kor 14,24 f bezieht sich analog dazu auf 1 Kor 14,22c und zeigt diejenige der Prophetie: Sie wirkt im Gegensatz zur glossolalischen Rede missionarisch auf Außenstehende. Damit wird der Vorrang der Prophetie ein weiteres Mal begründet. 1 Kor 14,26 markiert durch die Anrede ἀδελφοί zwar einen Neueinschnitt in der Argumentation, schließt durch die Frage τί οὖν ἐστιν; aber auch an die vo‐ rangegangenen Ausführungen an und stellt noch einmal das Ziel aller Cha‐ rismen heraus: Die Erbauung der Gemeinde. Im letzten Teil von 1 Kor 14 erteilt Paulus der Gemeinde praktische Anweisungen über die Ordnung in der gottes‐ dienstlichen Versammlung. Auch hier wird der Gegensatz zwischen Glossolalie und Prophetie aufrechterhalten. 72 Die folgenden Ausführungen benennen für beide Sprachgaben Regelungen, die dazu beitragen, das Ziel zu erreichen. 73 In 1 Kor 14,27 f werden diese für die Glossolalie angeführt, in 1 Kor 14,29 ff für die Prophetie. Die Regeln sind jeweils im Imperativ formuliert. Die Begründung dafür, warum es notwendig ist, den Gottesdienst geordnet zu gestalten, erfolgt in 1 Kor 14,31: Weil alle lernen und Zuspruch erfahren sollen. Die Glossolalie wird diesem Ziel nicht gerecht und ist damit für die gottesdienstliche Versamm‐ lung wertlos. All die Regeln, die Paulus nennt, unterliegen dem Aspekt der Ord‐ 2. Analyse von 1 Kor 14 197 <?page no="198"?> 74 Zur Frage, ob mit κύριος Gott oder Christus gemeint ist, s. Lindemann, Korintherbrief, 321 f. 1 Kor 14,37 ist nach zwei Seiten hin zu beleuchten: Entweder stellt Paulus das von ihm Geschriebene hier geszidiert als Kyrioswort dar, um seine Autorität zu unter‐ mauern, oder er spielt tatsächlich auf ein Herrenwort oder eine alt. Aussage an. nung im Ablauf der gottesdienstlichen Versammlung, das wird in 1 Kor 14,33.40 ersichtlich. Die beiden rhetorischen Fragen in 1 Kor 14,36, eingeleitet mit ἤ, zeigen, dass alle Gemeinden den gleichen Status haben. Diese Ansicht wird in 1 Kor 14,37 weiter verdeutlicht. Hier verleiht Paulus seiner gesamten Argu‐ mentation Nachdruck, indem er darauf verweist, dass das Gesagte ein Gebot des Herrn ist. 74 1 Kor 14,38 beschreibt mit dem Verb ἀγνοέω die Folgerung dessen, was geschieht, wenn die korinthische Gemeinde diese Gebot des Herrn nicht anerkennt: Sie wird auch selbst nicht anerkannt. Ἀγνοέω bildet einen Rahmen um die Charismenlehre, es leitet in 1 Kor 12,1 die Thematisierung dieser ein und bereitet in 1 Kor 14,38 ihren Abschluss vor. In 1 Kor 14,39 schließt Paulus, mit ὥστε eingeleitet, den Gedankengang des Kapitels ab. Zum vierten Mal spricht Paulus die Korinther direkt als ἀδελφοί an. Die Schlussfolgerung, nach dem prophetischen Reden zu streben und dabei das glossolalische Sprechen nicht zu verhindern, fasst die Überlegungen des Kapitels präzise zusammen, ohne dabei noch einmal auf den Nutzen der Glossolalie ohne ihre Übersetzung einzugehen. 1 Kor 14,40 schließlich nimmt das πάντα aus 1 Kor 14,26 auf und bildet so eine Klammer um die Ausführungen bezüglich der gottesdienstlichen Ordnung, deren Zweck die Erbauung der Gemeinde ist. Das 14. Kapitel des 1 Kor zeigt, dass und warum verständliches Sprechen in der gottesdienstlichen Versammlung nützlich ist. Es trägt im Gegensatz zum un‐ verständlichen Sprechen in der glossolalischen Rede zur Erbauung der Ge‐ meinde bei und hat eine missionarische Wirkung auf Außenstehende. Deshalb kommt der Prophetie eine größere Bedeutung zu. Für die Erarbeitung des Sprachverständnisses ist 1 Kor 14,6-12 der zentrale Text, weil Paulus hier einen Neueinschnitt markiert, der konzentriert das Vokabular der Sprachcharismen aufgreift und in dem er mit besonderen sprachlichen Mitteln - wie die Verse explizit zu verstehen sind, muss weiter unten geklärt werden - sein Verständnis von Sprache herausstellt. Die Verse 1 Kor 14,26-40 nehmen eine weniger ge‐ wichtige Rolle ein, weil sie sich mit der praktischen Handhabung der Gaben beschäftigen. Die grundsätzlichen Überlegungen zu Sprache hat Paulus hier nicht mehr im Blick. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen der Basis der Argumentation, die theoretische Überlegungen notwendig macht, und der Text‐ pragmatik, für die die Gemeinde im Vordergrund steht. IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 198 <?page no="199"?> 75 Vgl. Horn, Angeld, 160. Mit folgenden Textstellen wird der pneumatische Enthusiasmus (zum Begriff s. Horn, Angeld, 219-221) begründet: 1 Kor 1,1-18-3,4; 10,1-13; 12,13; 14,37 und 15,29. Sie können hier nicht im Einzelnen exegesiert werden. Siehe hierzu die sehr ausführliche Darlegung bei Horn, Angeld, 162-301. 76 Vgl. Horn, Angeld, 221. 77 Horn, Angeld, 160. Vgl. Lampe, Korintherbrief, 174 f. 78 Vgl. Horn, Angeld, 182. 79 Vgl. Horn, Angeld, 202. 2.4 Die Äußerungen des Paulus in ihrem thematischen Zusammenhang: Die Charismenlehre Die Auseinandersetzung mit dem Thema Sprache findet sich in 1 Kor 14. Sie gehört damit thematisch zur Charismenlehre in 1 Kor 12-14, in der Paulus die Korinther über die Geistesgaben und ihre Funktion für die Gemeinde belehrt. Aber auch der Gesamtzusammenhang darf nicht unterschlagen werden: Die paulinischen Äußerungen sind Teil eines Briefes an die Gemeinde in Korinth. Es ist kein Zufall, dass Paulus die Überlegungen zu den (Sprach)Charismen in einem Brief an die Gemeinde erläutert, als deren Merkmal immer wieder der pneumatische Enthusiasmus genannt wird. 75 Gekennzeichnet ist dieser u. a. durch eine besondere Hochschätzung der Glossolalie und die Annahme, dass die Seele aus dem Leib heraus- und in die himmlische Welt eintritt. 76 Dies geht einher mit der Vorstellung der ‚realized eschatology‘, bei der der Geist nicht mehr als Kraft verstanden wird, die endzeitlich wirkt, sondern als eine Kraft, die eine „gegenwärtige[…] Partizipation an der himmlischen Pneumasphäre (…) er‐ möglicht“ 77 . Mindestens in einem Teil der korinthischen Gemeinde erfuhr die Glossolalie diese besondere Hochbzw. Überschätzung und man erhob nach 1 Kor 3,1 den Anspruch, πνευματικός zu sein. 78 Es ist davon auszugehen, dass die pneumatischen Enthusiasten einen so großen Einfluss hatten bzw. dass die Glossolalie im Gottesdienst einen enorm großen Raum einnahm, so dass Paulus es für notwendig hielt, hierzu Stellung zu nehmen. 79 Für die vorliegende Unter‐ suchung ist es nicht zentral, den Teil der Gemeinde möglichst genau charakte‐ risieren zu können, der die Glossolalie besonders hochschätzt und der von einer „realized eschatology“ ausgeht. Herauszustellen ist vielmehr, dass Paulus seine Ansichten zu Sprache - ähnlich wie Philon - erklärt, indem er auf bestimmte Ansichten, die in der Gemeinde vorliegen, regiert. Er sieht sich durch Anfragen, Probleme oder Streitigkeiten in Korinth veranlasst, sein Verständnis von Sprache in Kürze darzulegen. Genauer untersucht werden soll deshalb der kon‐ krete thematische Zusammenhang, in dem Paulus sich über die Sprache äußert: die Charismen. Um zu verstehen, welchen Fokus Paulus damit auf das Thema Sprache legt, werden das Lexem χάρισμα und die Charismen im Allgemeinen 2. Analyse von 1 Kor 14 199 <?page no="200"?> 80 Das Verb wird bei Paulus in der Grundbedeutung ‚schenken’ verwendet. Vgl. Hans Conzelmann: Art. χάρις. Neues Testament, in: ThWNT IX (1973), 386. 81 Vgl. Blass / Debrunner, Grammatik, 87 und Hans Conzelmann: Art. χάρισμα, in: ThWNT IX (1973), 393. 82 Vgl. Conzelmann, Art. χάρισμα, 393. 83 Vgl. Conzelmann, Art. χάρισμα, 393 und James D. G. Dunn: Jesus and the Spirit. A Study of the Religious and Charismatic Experience of Jesus and the First Christians as Re‐ flected in the New Testament, London 1975, 205 f. Die Lesart wird zwar durch den Kodex Sinaiticus bezeugt, der in Sir jedoch eine Anzahl an graphischen und phonetischen Fehlern aufweist. 84 Vgl. Schrage, Korinther 3, 138. 85 Vgl. Phil., All III § 78 (zweimal), vgl. Schrage, Korinther 3, 138. Kritisch dagegen Zeller, Charis, 185. untersucht. Davon ausgehend können gezielt die theoretischen Überlegungen und die Sprachgaben der Glossolalie und der Prophetie in den Blick genommen werden. Der 1. Korintherbrief stellt als Schreiben den allgemeinen Rahmen, in dem Paulus theoretische Aussagen über die Sprache macht. Die Charismenlehre in 1 Kor 12-14 bildet hier den engeren Rahmen. Es ist deshalb das Lexem χάρισμα hinsichtlich seiner Wortbildung, seines Vorkommens und seiner Bedeutung für 1 Kor 12-14 zu untersuchen. Χάρισμα ist Verbalsubstantiv zum Verb χαρίζομαι. 80 Im Koinegriechischen, wie auch im Ionischen, ist die Bildung eines Verbalsubstantivs auf -μα beliebt und bezeichnet ein Ergebnis. 81 Als Weiterbildung des Verbs erhält χάρισμα einen passiven Sinn, weshalb die Übersetzung mit Gnadengabe treffend erscheint. Im griechischsprachigen Judentum findet sich das Lexem als Übersetzung für das hebräische דסח (Gnade). In der LXX steht es einmal in Ps 30,22 des Kodex Theta und zweimal bei Sir. 82 Für beide Textstellen ist die Überlieferung unsicher, 83 so dass Schrage vom Fehlen des Lexems im AT spricht. 84 Bei Philon finden sich zwei Belege für χάρισμα. Auch sie können als sekundäre Ergänzungen be‐ trachtet werden. 85 So kann aus der LXX und dem griechischsprachigen Ju‐ dentum die Bedeutung von χάρισμα nicht erschlossen werden. Für die vorpau‐ linische Zeit lässt sich das Lexem nicht zuverlässig belegen. Es wird erst im 2. Jh. n. Chr. bei Alkiphron und in Papyrusschriften aus dem 4. Jh. n. Chr. bezeugt. Da nicht anzunehmen ist, dass für Alkiphron eine Abhängigkeit von der paulini‐ schen Sprache vorliegt, ist nicht davon auszugehen, dass Paulus das Lexem selbst gebildet hat. So bleibt am wahrscheinlichsten, dass das Lexem im Koinegriechi‐ schen als profaner Ausdruck entstanden ist, zumal es bei Alkiphron als Synonym für δώρημα gebraucht wird. Möglicherweise war Paulus der profane Gebrauch in der Bedeutung von Geschenk geläufig und er selbst hat es in den religiösen IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 200 <?page no="201"?> 86 Vgl. Brockhaus, Charisma, 128 f und Otto Michel: Gnadengabe und Amt, in: DTh 9 (1942), 135. 87 Vgl. Brockhaus, Charisma, 129 und Dunn, Jesus, 205 f. Zur Diskussion um das Verhältnis von Amt und Geist, das die frühe Kirchengeschichte thematisiert, s. Brockhaus, Cha‐ risma, 7-127. Er liefert einen Forschungsüberblick und stellt die frühen Amtsansätze bei Paulus vor. 88 Vgl. Conzelmann, Art. χάρισμα, 394 und den Überblick über die bei Paulus verzeich‐ neten Stellen bei Friedrich W. Horn: Art. Die Gabe des Geistes, in: Paulus Handbuch, hg. v. ders., Tübingen 2013, 420. 89 Χαρίσματα (ntr. Pl. von χάρισμα) verwendet Paulus dort, wo auch der Plural von χάρις stehen könnte. Dieser gehört jedoch nicht zum gängigen paulinischen Sprachgebrauch. Vgl. Gillis P. Wetter: Charis. Ein Beitrag zur Geschichte des ältesten Christentums, Leipzig 1913 (Neutestamentliche Untersuchungen zum NT 5), 27. 90 Vgl. Dunn, Jesus, 208. 91 Vgl. Ernst Käsemann: An die Römer, Tübingen 1973 (HNT 8a), 16. 92 Vgl. Eduard Lohse: Der Brief an die Römer. Übersetzt und erklärt von Eduard Lohse, Göttingen 2003 (KEK 4), 73. 93 Vgl. Ulrich Wilckens: Der Brief an die Römer. 1. Teilband. Röm 1-5, Zürich, Einsiedeln u. a. 1978 (EKK VI / 1), 79. 94 Robert Jewett: Romans. A Commentary, Minneapolis 2007 (Hermeneia), 124. Sprachgebrauch eingeführt. 86 Weil sowohl die LXX als auch die weiteren Belege außerhalb des NT wenig ertragreich sind bzw. weil sich das Lexem für die vor‐ paulinische Zeit insgesamt nicht sicher belegen lässt, ist der Kontext für die Bedeutung entscheidend. Im NT findet sich das Lexem außerhalb der Paulus‐ briefe nur in 1 Petr 4,10 sowie in den Pastoralbriefen in 1 Tim 4,14 und 2 Tim 1,6, allesamt Stellen, die von der paulinischen Theologie beeinflusst sein können. 87 Die Evangelien verzeichnen keinen Beleg. Paulus verwendet das Sub‐ stantiv sechsmal in Röm, siebenmal in 1 Kor, davon fünfmal in Kapitel 12, und in 2 Kor 1,11. Es ist jeweils bereits im Proömium der Briefe belegt. 88 Außerhalb von 1 Kor 12-14 findet sich χάρισμα bzw. χαρίσματα 89 an acht Stellen. In dem als Dank gestalteten Proömium in Röm 1,11 ist vom χάρισμα πνευματικός, der geistlichen Gnadengabe, die Rede, die Paulus der Gemeinde in Rom mitteilen will, wenn er kommt. Paulus verdeutlicht dadurch die Abhän‐ gigkeit der Gemeinde in Rom von Geist und Gabe. 90 Im Blick auf 1 Kor 12 ver‐ wundert die nähere Bestimmung von χάρισμα durch πνευματικός, da alle Cha‐ rismen vom Geist gewirkt sind. 91 Nach Lohse wird durch das Adjektiv πνευματικός der göttliche Charakter der Gabe unterstrichen, 92 Wilckens sieht darin einen Hinweis, dass Paulus sich als Pneumatiker vorstellen will. 93 Auch Jewett folgt dieser Ansicht: „Paul obviously felt the need to communicate as a charismatic with charismatics“ 94 . Stimmt man dem zu, so kann plausibel ge‐ macht werden, dass über die Betonung der Gabe als χάρισμα πνευματικὸν mit dem Geist ein verbindendes Element zwischen den Christen in Rom und Paulus 2. Analyse von 1 Kor 14 201 <?page no="202"?> 95 Vgl. Jewett, Romans, 124. 96 Ὥστε mit Infinitiv bezeichnet eine tatsächliche Folge. Vgl. 2 Kor 3,7 und Schrage, Ko‐ rinther 1, 119. 97 Zum Vergleich zwischen Adam und Christus s. Oda Wischmeyer: Römerbrief, in: Paulus. Leben - Umwelt - Werk - Briefe. 2., überarbeitete und erweitere Auflage, hg. v. ders., Tübingen, Basel 2 2012 (UTB 2767), 303 f. Ausführlicher s. Egon Branden‐ burger: Adam und Christus. Exegetisch-religionsgeschichtliche Untersuchungen zu Röm 5,12-21 (1. Kor. 15), Neukirchen-Vluyn 1962 (WMANT 7). 98 Vgl. auch die Ausführungen zu Alkiphron oben und Brockhaus, 128 sowie δώρημα bei Phil., Somn I § 103. 99 Vgl. Käsemann, Römer, 130.144. 100 Lohse, Römer, 180. 101 Vgl. Wilckens, Römer 1, 322. 102 Jewett, Romans, 380. 103 Vgl. Jewett, Romans, 380. selbst ausgemacht werden kann. Die Gabe an sich wird nicht weiter konkreti‐ siert. 95 Sie wird mit der finalen Wendung εἰς τὸ στηριχθῆναι ὑμᾶς (damit ihr gestärkt werdet / um euch zu stärken) erweitert; dies führt aber nicht zu einer näheren Bestimmung der geistlichen Gnadengabe, sondern gibt Auskunft über ihren Zweck, die Stärkung der Gemeinde in Rom, und erinnert an das Ziel der Erbauung der Gemeinde, das in 1 Kor 14 für alle Charismen angegeben wird. Eine ähnliche Bedeutung kann auch für χάρισμα im Proömium des 1 Kor ausgemacht werden. In 1 Kor 1,7 zeigt sich die Vielzahl an χαρίσματα als Folge 96 der Evangeliumsverkündigung. Zweimal begegnet das Lexem im Rahmen der Adam-Christus-Typologie. 97 Bei der Ermitt-lung der Bedeutung von χάρισμα in Röm 5,15 f eröffnen sich unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten. Das Lexem steht hier in engem Zusammenhang mit χάρις und δωρεά / δώρημα. 98 Käsemann übersetzt χάρισμα mit Gnadenwerk und begründet dies damit, dass χάρις die Macht ist, die als Wirkung die Gabe (χάρισμα) hervorbringt. 99 Lohse, Wilckens und Jewett spre‐ chen sich in ihrer Übersetzung für Gnadengabe aus. Lohse betont dabei, dass χάρισμα an dieser Textstelle keine „vom Geist gewirkte Gnadengabe“ ausweist, sondern auf „den göttlichen Gnadenerweis im Christusgeschehen“ 100 abzielt. Auch Wilckens versteht χάρισμα als Widerfahrnis und als eine Gabe, die durch die Gnade Gottes gegeben wird. 101 Für Jewett zeigt sich in jeglicher ntl. Ver‐ wendung von χάρισμα „the stamp of its charismatic enthusiasm“ 102 . Auch bei der Übersetzung mit grace-gift ist dieser Aspekt, der v. a. in Röm 1,11 und Röm 12 deutlich wird, nicht zu verdrängen. Zuzustimmen ist Jewett darin, dass zwi‐ schen ‚gift of salvation’ und ‚charismatic gift’ nicht getrennt werden kann. 103 So kann χάρισμα in Röm 5,15 als das Ergebnis verstanden werden, das durch die Aktion und Tat der χάρις τοῦ θεοῦ hervorgerufen wird. Diese Gnade ermöglicht IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 202 <?page no="203"?> 104 Vgl. Lohse, Römer, 180. 105 Vgl. Heinz Schürmann: Die geistlichen Gnadengaben in den paulinischen Gemeinden, Leipzig 2 1970 (Die Botschaft Gottes, II. Neutestamentliche Reihe 18), 28 sieht nicht nur πνευματικά und χαρίσματα als synonym verwendete Lexeme, sondern zählt auch διακονία und ἐνέργημα aus 1 Kor 12,5-6 dazu. Unter den vier Lexemen sieht er jeweils synonyme Ausdrücke für die Gnadengaben. Ebenso Ferdinand Hahn: Theologie des Neuen Testament Band II. Die Einheit des Neuen Testaments. Thematische Darstellung, Tübingen 2002, 597 f. Dafür besteht keine Notwendigkeit, weil ἐνέργημα in der Cha‐ rismenliste in 1 Kor 12,10 als eigenes Charisma geführt wird. 106 Anders Zeller, Korinther, 390, der sich dafür ausspricht, dass ‚χαρίσματα’ der korin‐ thischen Gemeinde als Terminus bekannt war. 107 Vgl. Schrage, Korinther 3, 137, Käsemann, Römer, 318, Merklein / Gielen, Korinther, 121. Dunn, Jesus, 202 weist besonders auf die Erfahrbarkeit der χάρις hin. das χάρισμα, das nicht selbst Tat ist, sondern als das Ergebnis gesehen werden muss, das dem Menschen durch die göttliche Gnade widerfährt. Durch die Ak‐ tion der χάρις wird den Menschen das in der Gnade in Jesus Christus geschenkte Heil zugänglich. Zwischen χάρις und χάρισμα besteht also eine enge Verbin‐ dung. Gnadengabe, verstanden als das aus der χάρις τοῦ θεοῦ hervorgegangene bzw. das durch diese Gnade bewirkte Resultat, erscheint hier als treffende Über‐ setzung. Dabei wird die Gabe nicht wie in Röm 1,11 als χάρισμα πνευματικὸν charakterisiert oder in 1 Kor 12 als Gabe bestimmt, die durch den Geist gegeben ist. 104 In 1 Kor 12-14 verwendet Paulus χάρισμα fünfmal. Es steht im Genitiv (χαρισμάτων) sowie im Nominativ oder Akkusativ (jeweils χαρίσματα) Neutrum Plural. Alle Textstellen stammen aus Kapitel 12: In 1 Kor 12,9, 12,28 und 12,30 kommt es in der Genitivkonstruktion χαρίσματα ἰαμάτων als Be‐ zeichnung einer speziellen Gnadengabe vor. Die beiden weiteren Stellen finden sich zu Beginn (12,4) und am Ende (12,31) des Kapitels. Die Gaben, die Paulus in 1 Kor 12-14 thematisiert, werden nicht ausschließ‐ lich mit dem Lexem χάρισμα bezeichnet, sondern in 1 Kor 12,1 und 14,1 mit πνευματικά. 105 Ob Ersterer ein Begriff aus der korinthischen Gemeinde ist, den Paulus zugunsten seiner eigenen Begrifflichkeit aufgibt, kann nicht eindeutig beantwortet werden, 106 ebenso nicht, ob er diesen Wechsel bewusst vornimmt. Vieles deutet darauf hin, denn durch den neu verwendeten Begriff lässt sich gerade die Beziehung der Gaben zur göttlichen χάρις deutlicher herausstellen und der Gabencharakter stärker betonen. 107 Von Paulus wird χάρισμα häufig zusammen mit χάρις und πνεῦμα gebraucht, auch in Röm 5,15 wird der Zu‐ sammenhang ersichtlich. In der LXX ist χάρις ein häufig gebrauchter Ausdruck, der sowohl in der profanen Bedeutung von Anmut und Liebreiz gebraucht wird, 2. Analyse von 1 Kor 14 203 <?page no="204"?> 108 Vgl. Wobbe, Charis-Gedanke, 7, der damit Wetter, Charis, 13 widerlegt, der die Behaup‐ tung aufgestellt hat, dass das Lexem dem Judentum fremd ist. 109 Wobbe, Charis-Gedanke, 13. 110 Wobbe, Charis-Gedanke, 81. 111 Vgl. 1 Thess 3,9, Röm 5,20 f und Apg 13,48. Ähnlich auch Zeller, Charis, 157 f. 112 Vgl. Wobbe, Charis-Gedanke, 14 f. 113 Vgl. Zeller, Charis, 155.169. 114 Vgl. Wobbe, Charis-Gedanke, 18 f. 115 Vgl. dazu ausführlich Wobbe, Charis-Gedanke, 40-75. 116 Conzelmann, Art. χάρισμα, 393. Gegen Brockhaus, 129.140, der den Bezug zwischen χάρισμα und χάρις bestreitet. 117 Vgl. Schrage, Korinther 3, 137, Johannes Weiß: Der erste Korintherbrief, Göttingen 1977 (KEK 5), 298 und Brockhaus, Charisma, 139. Ein Gebet für die Charismen schließt dies nicht aus. Vgl. beispielsweise 1 Kor 14,13. 118 Vgl. Wobbe, Charis-Gedanke, 81 f, Zeller, Charis, 192-196 und Conzelmann, Art. χάρις, 381-390. wie auch in der religiösen von Huld und Güte. 108 Bei Paulus zeigen sich im We‐ sentlichen zwei Verwendungen des Lexems, zum einen „Charis als Güte und Gnadengeschenk Gottes“ 109 , zum anderen „Charis als Dank“ 110 . Χάρις im erst‐ eren Verständnis kann anhand von vier Merkmalen charakterisiert werden: Freude, weil die χάρις ein Geschenk Gottes ist und als Ausdruck seiner Güte bei den Menschen Freude und Dank erweckt; 111 Unverdientheit, weil niemand einen Anspruch auf die Güte Gottes erheben kann; 112 Notwendigkeit, weil der Mensch als Sünder auf die Gnade Gottes angewiesen ist; 113 Übernatürlichkeit, weil χάρις nicht per se zur ‚Ausstattung’ des Menschen gehört, im Gegensatz zur Vorstel‐ lung Philons, der χάρις als eine natürliche, körperliche wie geistige Ausstattung des Menschen versteht. 114 Die χάρις ist eine Gabe Gottes an die Menschen. In dieser Bedeutung kann χάρις einmal die Zusammenfassung der Heilsgnaden sein, die den Menschen bei der Rechtfertigung zukommen, sie kann aber auch einzelne Heilsgnaden bezeichnen, wie beispielsweise den Glauben, die Heilig‐ keit, Almosen oder besondere Gnadengaben wie die in 1 Kor 12-14 angeführten Charismen. 115 Mit dem Lexem χάρισμα können stärker als mit πνευματικά die eben ausge‐ führten Facetten der χάρις integriert werden. Dies wird besonders deutlich, wenn Conzelmann für die Erklärung des Lexems χάρισμα das der χάρις benutzt und die Charismen als „das Ergebnis der als Aktion verstandenen χάρις“ 116 beschreibt. Von der Semantik von χάρις ausgehend, wird dem Missverständnis vorgebeugt oder entgegengetreten, dass die Menschen über die Charismen selbst bestimmen können. 117 Die Charismen sind, ebenso wie die χάρις, von Gott nicht um ihrer selbst willen gegeben, auf den Dank an Gott und auf die Erbauung der Gemeinde ausgerichtet. 118 Sie sind keine Selbstverständlichkeit, aber für die IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 204 <?page no="205"?> 119 Vgl. Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, hg. v. Kurt Aland und Barbara Aland, Berlin, New York 6 1988, 367. 120 Vgl. Schrage, Korinther 3, 136, zur Epipher vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der lite‐ rarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 3. Auflage 1990. Mit einem Vorwort von Arnold Arens, Stuttgart 1990, 320: Eine Epipher ist eine absatzmä‐ ßige Wiederholung des Schlusses eines Kolons oder eines Kommas. 121 Vgl. aber die Nebeneinanderstellung der Charismenlisten in 1 Kor und Röm bei Weiß, Korintherbrief, 299-302. Erbauung der Gemeinde notwendig. Von den Aspekten, die das Lexem der χάρις kennzeichnen, ist v. a. der der ‚Übernatürlichkeit’ für die Charismen von Be‐ deutung. Dies zeigt die erste Textstelle innerhalb der Ausführungen zur Cha‐ rismenlehre, in der Paulus χάρισμα verwendet: (4) Διαιρέσεις δὲ χαρισμάτων εἰσίν, τὸ δὲ αὐτὸ πνεῦμα∙ (5) καὶ διαιρέσεις διακονιῶν εἰσιν, καὶ ὁ αὐτὸς κύριος: (6) καὶ διαιρέσεις ἐνεργημάτων εἰσίν, ὁ δὲ αὐτὸς θεός ὁ ἐνεργῶν τὰ πάντα ἐν πᾶσιν. (1 Kor 12,4-6) (4) Es gibt aber Zuteilungen von Gnadengaben, aber (es ist) derselbe Geist; (5) und es gibt Zuteilungen von Diensten und (es ist) derselbe Herr; (6) und es gibt Zuteilungen von Kraftwirkungen, (es ist) aber derselbe Gott, der alles in allen wirkt. (1 Kor 12,4-6) Διαιρέσεις kann mit ‚Zuteilungen’ oder ‚Unterschiede / Verschiedenheit’ über‐ setzt werden. Für die Übersetzung von διαιρέσεις mit Zuteilungen spricht, dass in V. 11 mit dem Verb διαιρεῖν der gleiche Wortstamm wie in V. 4 vorliegt und mit ‚zuteilt’ zu übersetzen ist. 119 Es ist damit ersichtlich, dass die Charismen dem Geist zugeordnet sind, während die Dienstleistungen dem Herrn und die Kräfte Gott zugeschrieben werden. Das Lexem χάρισμα ist dabei als Genitivergänzung zu διαιρέσεις gebraucht, das im gesamten NT nur in 1 Kor 12 vorkommt. Die Verse sind parallel aufgebaut und erinnern an eine Epipher 120 , wodurch der Text stilistisch rhythmisiert wird. Zwischen den einzelnen Termini ist nicht stark zu differenzieren, sondern anzunehmen, dass die Begriffe Gleiches oder zumindest Ähnliches unter einer anderen Perspektive verdeutlichen. Die unten themati‐ sierten Charismenkataloge zeigen, dass die Listen keine Vollständigkeit bean‐ spruchen. 121 So handelt es sich auch hier um Beispiele, die Paulus herausgreift, um ihren göttlichen Ursprung zu markieren. Deshalb kann Paulus χάρισμα, auch wenn dieses Lexem als Oberbegriff für alle Gaben fungieren kann, neben διακονία und ἐνέργημα verwenden und wie diese als Funktion, Aufgabe und Begabung der Gemeinde verstehen. Der zweite Beleg für χάρισμα findet sich in 1 Kor 12,31a: ζηλοῦτε δὲ τὰ χαρίσματα τὰ μείζονα. (Ihr aber sollt nach den größeren Gnadengaben streben.) 2. Analyse von 1 Kor 14 205 <?page no="206"?> 122 Vgl. die Verwendung weiterer Komparativformen in 12,23 (ἀτιμότερα) und 12,23.24 (περισσοτέραν). Der Komparativ kann auch als Superlativ verstanden werden. Vgl. Thiselton, Epistle, 1025 f. 123 Vgl. Joop F. M. Smit: „Two Puzzles: 1 Cor 12: 31 ans 13: 13: Rhetorical Solution“, in: NTS 39 (1993), 247. 124 So auch Zeller, Korinther, 404 und Schrage, Korinther 3, 240. 125 Vgl. Schrage, Korinther 3, 240. 126 Schrage, Korinther 3, 137 f verweist darauf, dass dieser Zusammenhang trotz der Ab‐ leitung des Substantivs vom Verb nicht vernachlässigt werden darf. 127 Eine weitere, ebenfalls treffende Definition liefert Wolff, Korinther, 288: „χάρισμα ist die aus Gottes Gnade, wie sie sich in Jesus Christus umfassend realisierte, kommende Gabe, durch die sich das eschatologische Heilswerk Gottes am und durch den einzelnen Christen in dieser Welt auswirkt.“ Er ist verbunden mit dem Komparativ von μέγας (μείζονα). 122 Auch hier ist ein‐ deutig mit Gnadengabe zu übersetzen, weil Paulus an die in 1 Kor 12,28 f auf‐ gezählten Gaben anschließt. 1 Kor 12,31a darf nicht so verstanden werden, dass Paulus eine Abstufung der genannten Charismen vornimmt. Der Fokus liegt auf dem als Imperativ zu verstehenden ζηλοῦτε, wie dies auch für 1 Kor 14,1 und 1 Kor 14,39 gilt. 123 Er kann auf 1 Kor 12,28 rückbezogen werden. 124 Paulus ver‐ deutlicht damit, dass nicht nur oder besonders die von den Korinthern betonte Glossolalie Wertschätzung verdient, sondern alle Charismen. Die Aufzählung gibt also keine von Paulus aufgestellte Charismenrangliste wieder; sie dient vielmehr dazu, diejenige der Korinther aufzulösen. Gleichzeitig ist auch zu 1 Kor 14 ein Bezug herzustellen, so dass das Streben vor dem Hintergrund der οἰκοδομή geschehen soll. 125 Jedenfalls bezieht sich das Lexem χάρισμα aus 1 Kor 12,31a auf die in 1 Kor 12,28-30 genannten Gaben. Sie sind demnach als die Funktionen und Begabungen von Christen zu verstehen, die nach 1 Kor 12,4-6 durch πνεῦμα, κύριος und θεός gewirkt werden, nach denen die Christen aber auch selbst streben sollen. Die wichtigen Aspekte, der pneumatische Ursprung der Charismen, der Bezug zum Heilsgeschehen in Jesus Christus und die Funk‐ tion der οἰκοδομή sind angeklungen. Sie werden Gegenstand weiterer ausführ‐ licherer Untersuchungen sein. Es hat sich gezeigt, dass χάρισμα in 1 Kor 12,4 und 12,31 in derselben Semantik verwendet wird. Sie liegt auch für Röm 12,6 vor. Χάρισμα fungiert hier ebenso als Zusammenfassung verschiedener Tätigkeiten in der Gemeinde, deren Auf‐ listung in Röm 12,7 f fortgeführt wird. Ein wichtiger Aspekt, der hier zur Geltung kommt, ist, dass Gabe und Geber nicht voneinander getrennt werden können. 126 Die Gnadengabe ist untrennbar an die von Gott gegebene χάρις gebunden, so dass erneut die enge Verbindung von χάρις und χάρισμα sichtbar wird. So können die Charismen für 1 Kor 12-14 wie folgt bestimmt werden: 127 IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 206 <?page no="207"?> 128 Schürmann, Gnadengaben, 242. 129 Vgl. Brockhaus, Charisma, 139-142. 130 Vgl. Lohse, Korintherbrief, 341 und Schrage, Korinther 3, 162 f. Es handelt sich um solche Erscheinungen, die nach Ursprung und Erscheinungsweise alle ›pneumatisch‹ sind, in denen sich gemeinsam die allmächtige ›Wirkkraft‹ Gottes auswirkt, die alle beim Aufbau der Gemeinden ›dienen‹ und die insgesamt große ›Gnadengeschenke‹ Gottes sind. 128 Diese Bedeutung von χάρισμα als Gnadengabe Gottes ist in den von der pauli‐ nischen Theologie abhängigen Schriften übernommen worden. Das trifft nicht für die anderen Aspekte zu, die etwa in der Semantik von χάρις enthalten sind, Freude oder Dank, oder die, die in den weiteren Textstellen aufgezeigt wurden, wie die Bezeichnung der Gnadengaben an Israel, der starke Bezug zur Recht‐ fertigung oder χάρισμα verstanden als die Gabe des ewigen Lebens. 129 Χάρισμα als bestimmte Funktion bzw. Begabung von Christen in der Gemeinde stellt die Semantik dar, die begriffsbildend wird und z. B. in 1 Petr 4,10 f aufgenommen wird. Es wurde deutlich, dass Paulus unter dem Lexem χάρισμα in 1 Kor 12-14 Begabungen der Gemeindeglieder versteht. Welche Gaben darunter im Einzelnen zu nennen sind, führt Paulus an zwei Stellen in 1 Kor 12 aus, in 1 Kor 12,9a-10a und in 1 Kor 12,28-30. Dass die einzelnen Charismenlisten unter‐ schiedlich gestaltet sind, zeigt die zwanglose Art der Aufzählung. Es gibt kein festes Corpus der Charismen. Neben 1 Kor 12 greift lediglich Röm 12 die Gna‐ dengaben auf. Röm 12,3-8 stellt aber im Vergleich zu 1 Kor eine verkürzte Ar‐ gumentation dar. Das Charisma der Glossolalie fehlt z. B. vollständig. Ein Grund hierfür kann sein, dass Paulus in Röm 12 nicht auf eine konkrete Anfrage rea‐ giert, wie dies für 1 Kor anzunehmen ist. Die Charakterisierung der einzelnen Gaben gestaltet sich teilweise schwierig, weil Paulus den Fokus seiner Argu‐ mentation nie darauf legt, die Charismen zu erklären und präzisieren, da sie den Korinthern bekannt waren. Es handelt sich nicht um Phänomene, die explizit voneinander abgegrenzt werden können. Im Zentrum der paulinischen Argu‐ mentation stehen nicht inhaltliche Erläuterung der einzelnen Charismen, son‐ dern ihre Funktion und Wirkung. Deshalb geben die in den Listen in 1 Kor 12,8 ff und 12,28 fff sowie in Röm 12,6 ff angeführten Charismen keine vollstän‐ dige Auskunft über die tatsächliche Anzahl der im Urchristentum vorhandenen Geistes-/ Gnadengaben. 130 Sie beschreiben ebenso keine Ämter, mit denen kon‐ krete Personen beauftragt waren, sondern stellen die verschiedensten Aufgaben dar, die in der christlichen Gemeinde vorhanden waren, oder verweisen auf Be‐ gabungen von Personen, die durch ihr Charisma zur Erbauung der Gemeinde 2. Analyse von 1 Kor 14 207 <?page no="208"?> 131 Vgl. Lohse, Korintherbrief, 343. 132 Gegen Brockhaus, Charisma, 129.140, der χάρισμα als Synonym für δώρημα versteht und χάρισμα deshalb mit Geschenk oder Gabe, nicht aber mit Gnadengabe übersetzt. Auch Norbert Baumert: Charisma - Taufe - Geisttaufe. Band 1: Entflechtung einer se‐ mantischen Verwirrung, Würzburg 2001, 31-75.297 postuliert für alle paulinischen Textstellen, an denen das Lexem χάρισμα steht, die Übersetzung ‚Geschenk’: „Charisma ist bei Paulus kein Fachausdruck für bestimmte vom Geist gegebene Befähigungen zum Aufbau der Kirche, sondern ist an allen Stellen mit ‚Geschenk’ richtig und hinreichend übersetzt, und zwar in dem objektiven Sinn eines bestimmten Inhalts (z. B. eine Pro‐ phetie, nicht ‚Prophetengabe’).“ (297) Dass dem nicht zugestimmt werden kann, ergibt sich aus der obigen Untersuchung der paulinischen Textstellen. 133 So aber Käsemann, Römer, 318, der sich explizit dafür ausspricht, dass χάρισμα erstmals von Paulus technisch gebraucht wird. 134 Zum Begriff s. auch die Ausführungen zu Philon in Kap. III, 3.2. 135 Vgl. Wischmeyer, Hermeneutik, 139 und Lewandowski, Art. Begriff, 165.168. beitragen konnten. Es lag kein starres System von Charismen vor, was auch die freie und wechselnde Verwendung von Personenbezeichnungen und Partizip‐ konstruktionen zeigt. 131 Ebenso unterscheiden sich die Gliederungsmerkmale der Aufzählungen (πρῶτον, δεύτερον und τρίτον; ἑτέρῳ, ἄλλῳ δὲ; ᾧ μὲν, ἄλλῳ δὲ), und die Listen können in verschiedenen Satzkonstruktionen, als Frage- oder Aussagesätze, angeführt werden. Die Charismen sind also als Ordnungskate‐ gorien zu verstehen, die verschiedene Begabungen unter unterschiedlichen As‐ pekten - funktional, gemeindeleitend, caritativ, intellektuell-religiös oder kom‐ munikativ - beschreiben. Deutlicher abgegrenzt werden in 1 Kor 14 einzig die Glossolalie und in Ansätzen die Prophetie, weil sie charakterisiert und ausführ‐ licher beschrieben werden. Dabei steht der funktionale Aspekt in 1 Kor 14 im Vordergrund: Paulus beschreibt verschiedene sprachliche Äußerungen, denen er bestimmte Funktionen zu- oder abspricht. In den Paulusbriefen ist χάρισμα am besten mit Gnadengabe, nicht Gnade oder Gnadenwerk zu übersetzen. 132 Es ist deutlich geworden, dass 1 Kor 12 den Weg zur Begriffsbildung vorgibt. Von einer bereits vollständig abgeschlossenen Be‐ griffsbildung ist anhand der zu differenzierenden Semantik der weiteren Pau‐ lusstellen nicht auszugehen. 133 In 1 Kor 12 und Röm 12 gebraucht Paulus das Lexem einheitlich und hier zeigt sich bereits die Bildung eines Begriffs: 134 Paulus fasst in ihm das Thema der Funktionen und Begabungen, die in der christlichen Gemeinde vorliegen können, zusammen. Somit werden mehrere Sachverhalte (die unterschiedliche Aufgaben und Begabungen), die sich auf ein Thema (Ge‐ meinde) beziehen, gebündelt und in eine logische Ordnung (χάρισμα) ge‐ bracht. 135 Es werden unter dem Lexem Tätigkeiten und Aufgaben verstanden, die den Glaubenden durch Gott bzw. durch den Geist zuteil werden und die sie IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 208 <?page no="209"?> 136 Vgl. Brockhaus, Charisma, 141. 137 Christian Frevel / Oda Wischmeyer: Menschsein. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments, Würzburg 2003 (NEB 11), 105. zur Erbauung der Gemeinde einsetzen sollen. Innerhalb von 1 Kor 12-14 liegt damit eine kohärente Bedeutung vor. Das geht einher mit der Kontextanalyse, die ergeben hat, dass die Kapitel 1 Kor 12-14 formal und inhaltlich eine Einheit bilden. So kann in 1 Kor 12-14 und Röm 12 von den Ansätzen eines technischen Wortgebrauchs gesprochen werden, 136 nicht aber von einer vollständig abge‐ schlossenen Begriffsbildung; dazu fehlt in den meisten Textstellen, etwa in Röm 11,29 und 1 Kor 7,7, der Bezug zur Gemeinde und zur Erbauung dieser, die Paulus in 1 Kor 12-14 besonders stark betont. Was ist ausgesagt, wenn Paulus die Sprachgaben unter die Charismen sub‐ sumiert? Er bestimmt Sprache bzw. die in 1 Kor 14 ausgewiesenen sprachlichen Äußerungen der Glossolalie und der Prophetie als Gnadengaben. Es handelt sich dabei also um Tätigkeiten und Begabungen, mit denen der Mensch nicht per se ausgestattet ist, sondern um solche, die von Gott bzw. dem Geist gewirkt sind. Daraus wird ersichtlich, dass Paulus hier ausschließlich religiöse Sprache im Blick hat; v. a. wenn Paulus das Lexem selbst in den religiösen Sprachgebrauch eingeführt hat und die Sprachgaben als Charismen ausweist, zeigt dies den spe‐ zifisch paulinischen Fokus auf Sprache. Die paulinischen Ausführungen zu Sprache befinden sich damit nicht in einem ‚luftleeren Raum’, sondern sind ge‐ zielt in einem abgesteckten Rahmen verortet: Sie sind als Gabe des Geistes bzw. Gottes bestimmt, deren Funktionen und Wirkungen Paulus klar beschreibt und mit der Erbauung der Gemeinde ein Ziel für diese ausweist. Damit ist der Fokus, unter dem Paulus sich in 1 Kor 14 mit Sprache auseinandersetzt, bestimmt. Für Paulus ist der Mensch immer „Mensch vor Gott“ 137 . So sind alle Eigenschaften, die der Mensch hat, Gnadengaben Gottes - auch die Fähigkeit, auf eine be‐ stimmte Art und Weise, sei es durch Glossolalie oder durch prophetische Rede - zu kommunizieren. Der erste Aspekt, der die Charismen als solche näher kenn‐ zeichnet, ist die eben genannte, geistgewirkte Ursache. Sie ist als erstes näher zu untersuchen. 2. Analyse von 1 Kor 14 209 <?page no="210"?> 138 Zu Adam s. einführend: Jacob Jervell: Imago Dei. Gen 1,26 f. im Spätjudentum, in der Gnosis und in den paulinischen Briefen, Göttingen 1960 (FRLANT 76), Hermann Lich‐ tenberger: Das Ich Adams und das Ich der Menschheit: Studien zum Menschenbild in Römer 7, Tübingen 2004 (WUNT 164) und James D. G. Dunn: Art. Adam (Person). III. New Testament, in: EBR 1 (2009), 306-311. 139 Vgl. hierzu die Kapitel Entstehung der Sprache (Kap. III, 4.1) und Namensgebung (Kap. III, 4.4) bei Philon. 3. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen, Wirkungen und Ziele sowie Grenzen der Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 3.1 Entstehung und Ursache der Sprachgaben: Die Wirkung des πνεῦμα Paulus sieht die Ursache der Sprachgaben im Geist Gottes. Prophetie und Glos‐ solalie werden nicht nur als χάρισμα, als Gabe bestimmt, sondern als ein solches, das vom πνεῦμα gewirkt ist. Bei Paulus finden sich allerdings keine konkreten Aussagen über die Entstehung des Sprachvermögens. Es darf aber angenommen werden, dass Paulus das Sprachvermögen und die Sprachwerkzeuge als dem Menschen von seiner Schöpfung her zugehörig versteht. Die Befähigung des Menschen zur sprachlichen Äußerung ist für Paulus von Adam her zu denken. 138 Die Schöpfungserzählung und die Benennung der Tiere durch Adam sind Paulus aus der LXX vertraut. 139 So kann und muss die allgemeine Sprachbegabung des Menschen zum kulturellen Wissen gezählt werden, das Paulus besitzt, das aber für ihn keinen Anknüpfungspunkt für das Sprachverständnis darstellt. Ersicht‐ lich wird dies in 1 Kor 15,22.45 und in Röm 5,14. Der Begriff πνεῦμα ist für die Kapitel 12 und 14 des 1 Kor eine zentrale Größe und wird deshalb explizit untersucht: (1) Er ist vor dem Hintergrund der unter‐ schiedlichen Aspekte des paulinischen πνεῦμα-Verständnisses zu verstehen. (2) Für 1 Kor 12-14 zeichnet sich das πνεῦμα als Geber der Gnadengaben aus, das in einem bestimmten Verhältnis zu Christus und Gott steht und (3) dessen Bezug zur Ethik herausgestellt werden muss. (4) Abschließend steht die Rolle des Men‐ schen für die Gabe der Charismen im Blick und (5) das πνεῦμα als anthropolo‐ gische Größe. (1) In den Kapiteln 12 und 14 des 1 Kor kommen Wörter des Stammes πνευμgehäuft vor. Das Substantiv πνεῦμα ist mit 19 Belegen am häufigsten gebraucht. Es findet sich zwölfmal in Kapitel 12, hier nur in 1 Kor 12,3-13; in 12,14-31 gibt es keinen Beleg, auch nicht in Kapitel 13. In Kapitel 14 wird πνεῦμα siebenmal verwendet. Weiterhin findet sich in 1 Kor 12,1 die Wendung περὶ δὲ IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 210 <?page no="211"?> 140 Vgl. Jörg Frey: Vom Windbrausen zum Geist Christi und zur trinitarischen Person. Sta‐ tionen einer Geschichte des Heiligen Geistes im Neuen Testament, in: JBTh 24 (2009), 123 f, v. a. Fußnote 7 und Olaf Moe: Glaube und Vernunft im Neuen Testament, in: ZSTh 11 (1934), 367. 141 Frey, Windbrausen, 124. So auch Michael Wolter: Paulus. Ein Grundriss seiner Theo‐ logie, Neukirchen-Vluyn 2011, 152. 142 Vgl. Hermann Kleinknecht: Art. πνεῦμα, πνευματικός, πνέω, ἐμπνέω, πνοή, ἐκπνέω, θεόπνευστος. A. πνεῦμα im Griechischen, in: ThWNT VI (1959), 333-336 und 341-350. 143 Vgl. Joh 3,8; 20,22; 2 Thess 2,8 und Hebr 1,7. 144 Vgl. Michael Wolter: Der heilige Geist bei Paulus, in: JBTh 24 (2009), 94 und Wolter, Paulus, 153. 145 Vgl. Wolter, Paulus, 153 und z. B. 1 Sam 10,6. τῶν πνευματικῶν, in 1 Kor 14,1 die neutrale Form τὰ πνευματικά und in 1 Kor 14,37 die Personenbezeichnung πνευματικός. Damit verzeichnen die Kapitel 12 und 14 von den 55 Belegen in 1 Kor, in denen entweder eine Form des Substan‐ tivs oder eine Realisierung von πνευματικός vorkommt, mit 22 Belegen 40 % des Gesamtvorkommens. Besonders häufig findet sich der Wortstamm darüber hi‐ naus in 1 Kor 2 mit zwölf Belegen. Von allen Paulusbriefen kommt πνεῦμin 1 Kor am häufigsten vor, gefolgt von Röm mit 37 Belegstellen. Der πνεῦμα-Be‐ griff ist demnach für die zu untersuchenden Kapitel die zentrale Größe. Das Urchristentum war mit pneumatischen / charismatischen Begabungen vertraut und von ihrem Einsatz im gemeindlichen und gottesdienstlichen Leben stark geprägt. 140 So musste Paulus seinen Lesern nicht explizit erklären, „was es mit dem Geist auf sich hat“ 141 , ebenso wie er die einzelnen Charismen nicht definieren musste. Der πνεῦμα-Begriff ist bereits im Profangriechischen belegt und zwar in den Bedeutungen Wind, Atem, Leben, Seele oder im übertragenen Sinn auch Geist, der zwischenmenschliche Beziehungen konstituiert oder der den Menschen von Gott her zukommt. Πνεῦμα wird auch in Poesie und Mantik gebraucht, in Letzterer als Grund für ekstatisches Sprechen. 142 Die atl. Vorstel‐ lung von חור im Sinn von Wind, Atem und Hauch begegnet in einigen ntl. Aussagen, 143 ist aber für das paulinische Verständnis von πνεῦμα nicht rele‐ vant. 144 Das Verständnis des Geistes Gottes als einer Kraft, durch welche Gott an und in den Menschen wirkt, indem er seinen Geist auf sie überträgt, wird hingegen aus den atl. Schriften übernommen. 145 Zentral ist die Vorstellung, dass der Geist sich als Wirkmacht im Reden der Propheten zeigt. Auf die unter‐ schiedlichen Bedeutungen von πνεῦμα im AT , im Judentum allgemein sowie in 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 211 <?page no="212"?> 146 S. hierzu Hans Walter Wolff: Anthropologie des Alten Testaments. Mit zwei Anhängen neu herausgegeben von Bernd Janowski, Gütersloh 2010, 64-74 und Kleinknecht, Art. πνεῦμα, 333-357, Friedrich Baumgärtel: Art. πνεῦμα, πνευματικός, πνέω, ἐμπνέω, πνοή, ἐκπνέω, θεόπνευστος. B. Geist im AT, in: ThWNT VI (1959), 357-366, Friedrich Baum‐ gärtel / Werner Bieder / Erik Sjöberg: Art. πνεῦμα, πνευματικός, πνέω, ἐμπνέω, πνοή, ἐκπνέω, θεόπνευστος. C. Geist im Judentum, in: ThWNT VI (1959), 366-387 und Horn, Angeld, 25-60. 147 Zur Forschungsgeschichte der paulinischen Pneumatologie s. Horn, Angeld, 49-54. 148 Vgl. Horn, Angeld, Kapitel II: Das Werden der paulinischen Pneumatologie, 119. 149 Fraglich ist, ob man aus der kurzen Schrift des 1 Thess eine eigene Frühphase in der Entwicklung bestimmen kann. Zur Kritik daran s. Samuel Vollenweider: Horn, Friedrich Wilhelm. Das Angeld des Geistes. Studien zur paulinischen Pneumatologie, in: ThLZ 120 (1995), 149 und Thomas Söding: Horn, Friedrich Wilhelm. Das Angeld des Geistes. Studien zur paulinischen Pneumatologie, in: ThRv 95 (1999), 120. 150 Vgl. Horn, Angeld, 131 und 1 Thess 1,5.6; 4,8; 5,19.23. 151 Vgl. Horn, Angeld, 60. 152 Vgl. Horn, Angeld, 160. 153 Vgl. Horn, Angeld, 175. Zu Taufe und Geist bei Paulus s. auch Udo Schnelle: Art. Taufe als Teilhabe an Christus, in: Paulus Handbuch, hg. v. Friedrich W. Horn, Tübingen 2013, 334 f. den restlichen ntl. Schriften kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden; 146 zu fragen ist vielmehr, welche Vorstellung Paulus und die urchristlichen Ge‐ meinden vom πνεῦμα hatten, wie sich dieses Verständnis entwickelt hat und wie es zu charakterisieren ist. 147 Horn unterscheidet verschiedene Aspekte der pau‐ linische Pneumatologie, die er drei Entwicklungsphasen zuordnet. 148 Ob es sich dabei um aufeinander aufbauende Etappen der Entwicklung handelt, ist um‐ stritten. 149 Unabhängig davon lassen sich folgende wichtige Schwerpunkte der paulinischen Pneumatologie herausstellen: 1 Thess zeichnet ein homogenes Bild des Geistverständnisses: πνεῦμα ist Geist Gottes, der in der Gemeinde gegen‐ wärtig ist und diese zu endzeitlichem Handeln befähigt. Er ermöglicht die Ver‐ kündigung des Christusgeschehens, die Lebensführung unter dieser neuen Per‐ spektive und befähigt zur Prophetie. 150 Das Geistverständnis in 1 Thess ist funktional, der Geist ist Ursache für eine Handlung und / oder Aussage. 151 Anders verhält es sich in 1 Kor: Ein Teil der korinthischen Gemeinde vertritt die Auf‐ fassung, dass der Geist als Substanz im Hier und Jetzt zur Teilhabe an der himm‐ lischen Sphäre verhilft. Dieses Verständnis stellt den Geist nach Horn in einen bewussten Gegensatz zur fleischlichen Sphäre: 152 Das πνεῦμα wird als neue Substanz verstanden, die in der Taufe sakramental übereignet wird und den Getauften in den Wirkbereich des Auferstandenen versetzt. 153 Auch durch die praktizierte Glossolalie der korinthischen Gemeindemitglieder wird diese Vor‐ stellung von der Gegenwart des πνεῦμα deutlich. Horn kommt zu dem Schluss, dass sich bei Paulus sowohl funktionale als auch substanzhafte πνεῦμα-Vorstel‐ IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 212 <?page no="213"?> 154 Vgl. Horn, Angeld, 160, 49-54, hauptsächlich die Zusammenfassung, 428-431. Anders Wolter, Geist, 100 f: Wo bei Paulus substanzhafte Züge des Geistes zum Ausdruck kommen, da spricht Paulus metaphorisch (vgl. Röm 8,9.11; 1 Kor 3,16; Röm 5,5; Gal 4,6). Er denkt den Geist höchstens in der Form substanzhaft, dass das πνεῦμα aus einer solchen besteht, welche dem Menschen aber nicht in seiner Vorstellung zugänglich ist. Vgl. kritisch gegenüber dem substanzhaften πνεῦμα-Verständnis auch Dale B. Martin: The Corinthian Body, New Haven, London 1995, 12.15, der sich grundsätzlich gegen eine Differenzierung zwischen substanzhaftem und immateriellem πνεῦμα in der An‐ tike ausspricht und Volker Rabens: Geistes-Geschichte. Die Rede vom Geist im Horizont der griechisch-römischen und jüdisch-hellenistischen Literatur, in: ZNT 25 (2009), 52. 155 Vgl. Troels Engberg-Pedersen: The Material Spirit: Cosmology and Ethics in Paul, in: NTS 55 (2009), 186. Dabei ist anzumerken, dass auch die Stoa nicht nur ein substanz‐ haftes πνεῦμα kennt: „(…) the Stoic pneuma is also a cognitive entity. It is what gives the human beings a share in rationality and reason (logos and nous).” (Engberg-Pe‐ dersen, Spirit, 186, i. O. teilweise kursiv). 156 Vgl. Engberg-Pedersen, Spirit, 186. Häufig wird die These vertreten, dass die stoische Idee vom materiellen πνεῦμα auch von Philon aufgegriffen wird. Vgl. hierzu Hans Lei‐ segang: Der Heilige Geist. Das Wesen und Werden der mystisch-intuitiven Erkenntnis in der Philosophie und Religion der Griechen. Erster Band. Erster Teil. Die vorchristli‐ chen Anschauungen und Lehren vom Pneuma und der mystisch-intuitiven Erkenntnis, Darmstadt 1967, 23 ff. Rabens, Geistes-Geschichte, 50 zufolge, trifft dies nicht zu und für Philon muss ein immaterielles Geistverständnis angenommen werden. 157 Vgl. Gal., De Hippocr. et Plat. plac. V,3.8 (SVF II,841; FDS 278). 158 Vgl. S. Emp., Adv. Math. VIII,263 (SVF II,363) und Nemes., De nat. hom. 78,7-79,2 (teilweise SVF I,518); Übersetzungen bei Long / Sedley, 45B-C). lungen finden lassen; die unterschiedlichen Aussagen müssen nebeneinander stehen bleiben, denn sie zeigen das Werden der paulinischen Pneumatologie sowie unterschiedliche Ziele und Argumentationen und können deshalb nicht geglättet werden. Eine Verbindung beider Ansichten findet sich in 2 Kor 1,22 und 2 Kor 5,5 in der Vorstellung vom πνεῦμα als ἀρραβών (Angeld); sie ver‐ deutlicht, dass das πνεῦμα den Glaubenden und Getauften tatsächlich zuteil wurde, dass aber nicht von einer bereits stattfindenden Teilhabe an der himm‐ lischen Welt die Rede sein kann, sondern dass das πνεῦμα bis zum Eschaton eine funktionale Größe bleibt, die das Leben in der Gemeinde reguliert. 154 Eng‐ berg-Pedersen hingegen stellt die substanzhafte Vorstellung des πνεῦμα bei Paulus in den Vordergrund und führt sie auf ein ausgereiftes kosmologisches Konzept und die Stoa zurück. 155 Wenn der Geist bei Paulus von der Stoa her zu verstehen ist, ist er als etwas Materielles und Fassbares zu denken, 156 denn die Stoiker verstehen das πνεῦμα, das ‚fünfte Element’, als eine Mischung aus Feuer und Luft. 157 Weil das πνεῦμα als Wirkprinzip Gottes gilt und weil nach stoischer Vorstellung auf einen Körper nur ein Körper wirken kann, muss das πνεῦμα körperlich, substanzhaft gedacht werden. 158 Sehen kann man das πνεῦμα nach stoischer Vorstellung nicht; seine Materie kann jedoch alles in der Welt durch‐ 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 213 <?page no="214"?> 159 Vgl. Diog. Laert. VII,138 f (SVF II,634). 160 Vgl. Wolter, Paulus, 160. Vgl. hierzu Nemesius, De nat. hom. 70,6-71,4 (SVF II,451; FDS 843). 161 Vgl. die Tauferzählungen in den Evangelien: Mk 1,9-11, Mt 3,13-17 und Lk 3,21 f; vgl. auch 2 Kor 1,21 f. 162 Vgl. Schrage, Korinther 3, 218. 163 Vgl. auch Gal 3,27. Hier in Verbindung mit dem Motiv des Anziehens Jesu Christi. Die Betonung der Taufe auf Jesus Christus zeigt sich in 1 Kor 1,13 f. Gleichzeitig wendet sich Paulus gegen verschiedene Parteiungen und den Autoritätenkult. Vgl. Zeller, Ko‐ rinther, 93 und Wolter, Paulus, 136 f, der für Gal 3,27 f und 1 Kor 12,13 v. a. „die gemein‐ schaftsstiftende Funktion der Taufe als Initiation“ (136) betont. 164 Vgl. Friedrich W. Horn: Kyrios und Pneuma bei Paulus, in: Paulinische Christologie. Exegetische Beiträge. Hans Hübner zum 70. Geburtstag, hg. v. Udo Schnelle, Thomas Söding u. a., Göttingen 2000, 74. 165 Hahn weist zudem darauf hin, dass das Taufgeschehen im Aorist steht, vom Glauben jedoch im Präsens gesprochen wird. Vgl. Ferdinand Hahn: Taufe und Rechtfertigung. Ein Beitrag zur paulinischen Theologie in ihrer Vor- und Nachgeschichte, in: Studien zum Neuen Testament. Band II. Bekenntnisbildung und Theologie in urchristlicher Zeit, hg. v. Jörg Frey und Juliane Schlegel, Tübingen 2006 (WUNT 192), 267. 166 Vgl. Zeller, Korinther, 398, Schrage, Korinther 3, 217 und Horn, Angeld, 174. 167 Vgl. 1 Kor 6,11; 10,4; 12,13; 2 Kor 1,21; Röm 8,14 sowie Gal 2,20; 4,19; Röm 8,9.11. 168 Udo Schnelle: Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007 (UTB 2917), 246. dringen. 159 1 Kor 12,13 geht mit dieser Vorstellung einher. So erhält der Mensch den Geist einmal von außen, indem er mit dem πνεῦμα getauft wurde, aber auch von innen, indem der Geist durch Trinken aufgenommen wird. 160 1 Kor 12,13 legt nahe, die Taufe als Zeitpunkt der Geistverleihung anzunehmen. Geistver‐ leihung und Taufe werden v. a. in den Evangelien zueinander in Beziehung ge‐ setzt; 161 der Geist geht im Taufgeschehen auf den Menschen über, aber auch die Taufe selbst ist geistgewirkt. 162 1 Kor 12,13 ist auf den vorangehenden Vers be‐ zogen und verdeutlicht, dass in der Taufe zudem die Eingliederung in den einen Leib Christi 163 geschieht. 164 Umstritten ist, ob es sich bei 1 Kor 12,13c um eine Anspielung auf das Herrenmahl handelt oder um einen Rückbezug auf die Taufe. Für Ersteres wäre lediglich ein Bezug zur Kelchhandlung, kein Bezug zur Brot‐ handlung vorhanden. Zudem bringt die Aoristform ἐποτίσθημεν einen einma‐ ligen Akt zum Ausdruck. 165 Daher ist eher ein Bezug zum Taufgeschehen und zur Geistverleihung anzunehmen. 166 Nach 1 Kor 12,13 ist der Getaufte und Glau‐ bende in den Leib Christi aufgenommen und damit in den Wirkbereich des Ky‐ rios versetzt: 167 „So wie der Glaubende im Geist Christus eingegliedert ist, so wohnt Christus in ihm als πνεῦμα“ 168 . In 1 Kor sind demnach funktionales und substanzhaftes Geistverständnis verschränkt: Das πνεῦμα wird als Funktion verstanden, indem die Gabe als Kraft zur Erbauung der Gemeinde bestimmt wird. Da Geistübermittlung und Taufe zusammengebracht werden, ist die Gabe IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 214 <?page no="215"?> 169 Vgl. Horn, Angeld, 429 f. 170 Wolter spricht sich dafür aus, „nur mit allergrößter Zurückhaltung davon zu sprechen, dass für das paulinische Christentum der Geist durch die Taufe »vermittelt« wurde“ (Wolter, Geist, 99), zeigt aber auch, dass alle, die getauft wurden, im Geistbesitz waren (vgl. Wolter, Geist, 99). 171 Vgl. Ferdinand Hahn: Das biblische Verständnis des Heiligen Geistes. Soteriologische Funktion und „Personalität“ des Heiligen Geistes, in: Studien zum Neuen Testament. Band II. Bekenntnisbildung und Theologie in urchristlicher Zeit, hg. v. Jörg Frey und Juliane Schlegel, Tübingen 2006 (WUNT 192), 69 f. 172 Das Lexem ἀκοή bezeichnet sowohl die Fähigkeit des Hörens als auch das Gehörte. François Vouga: An die Galater, Tübingen 1998 (HNT 10), 67 plädiert für Letzteres, i.S. von „die Verkündigung als Weitergabe des Gehörten“. Vgl. auch 1 Thess 1,5 und Jürgen Becker: Geisterfahrung und Christologie - Ein Vergleich zwischen Paulus und Jo‐ hannes, in: Antikes Judentum und Frühes Christentum. Festschrift für Hartmut Stege‐ mann zum 65. Geburtstag, hg. v. Bernd Kollmann, Wolfgang Reinbold u. a., Berlin, New York 1999 (BZNW 97), 432. 173 Vgl. Klaus Berger: Art. Geist / Heiliger Geist / Geistesgaben, in: TRE 12 (1984), 185. 174 Vgl. Gal 5,16 ff und Schnelle, Theologie, 246. 175 Vgl. Wolter, Geist, 105 f und 1 Thess 4,7. in einem sakramentalen Verständnis auch substanzhaft zu denken. 169 Dennoch ist die Geistverleihung bei Paulus nicht allein auf das Taufgeschehen zu be‐ ziehen. 170 Eine Gleichsetzung bzw. Verschränkung von Taufe und Geistverlei‐ hung ist für diesen Zeitpunkt noch nicht anzunehmen. 171 Vielmehr bewirkt das Evangelium bei denjenigen, die es zu ihrem Glaubensinhalt machen, den Geist‐ besitz. Nur von der Annahme der Botschaft des Christusgeschehens her ist Christsein überhaupt denkbar. So kann Paulus in Gal 3,2 davon sprechen, dass der Geist „ἐξ ἀκοῆς πίστεως“ (aus dem Hören / der Predigt des Glaubens) emp‐ fangen wird. 172 Die Übereignung des Geistes ist also nicht, wie 1 Kor 12,13 denken lässt, einseitig an die Taufe gebunden. 173 Mit dem Geistbesitz erhält der Mensch zugleich Anteil am Heil, er befindet sich im Wirkbereich des Geistes, nicht mehr im Machtbereich des Fleisches. 174 Das Heil ist hier nicht als escha‐ tologisch-endgültiges Heil zu verstehen, es wird den Menschen, die im Geist‐ besitz sind, bereits jetzt zuteil. 175 In 2 Kor 1,22 sowie in 2 Kor 5,5 ist vom ἀρραβὼν 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 215 <?page no="216"?> 176 Ἀρραβών ist vom Hebräischen ןוברע entlehnt und entstammt dem Bereich der antiken Rechtssprache. Es wird in der Bedeutung von Unterpfand verwendet. Diese Semantik wird im griechisch-hellenistischen Sprachraum übernommen. Vgl. Kurt Erlemann: Der Geist als ἀρραβών (2Kor 5,5) im Kontext der paulinischen Eschatologie, in: ZNW 83 (1992), 203 f. Er stellt verschiedene semantische Aspekte heraus, betont aber, dass das Element der Sicherheit immer enthalten ist. Die Anzahlung dient als Gewissheit, bei der endgültigen Durchführung des Vertrags den ausstehenden Betrag zu erhalten (S. 206-208). Im Gegensatz zu ἀρραβών spricht Paulus in Röm 8,23 von ἀπαρχή (Erstlingsgabe). Dieser Begriff stammt aus dem kultischen, nicht juristischen Bereich. Vgl. zu weiteren Unterschieden auch Erlemann, Geist, 221. 177 Vgl. Wolter, Geist, 107 und Erlemann, Geist, 219 f. 178 Friedrich W. Horn: Wandel im Geist. Zur pneumatologischen Begründung der Ethik bei Paulus, in: KuD 38 (1992), 163. 179 Vgl. Horn, Wandel, 164 und Hahn, Taufe, 269. 180 Vgl. dazu auch die Grafik in Kap. IV, 3.2.4, die zeigt, dass das πνεῦμα den gesamten sprachlichen Ausdruck wirkt. τοῦ πνεύματος (Angeld, Anzahlung), 176 das von Gott in die Herzen der Men‐ schen gegeben ist, die Rede. Derjenige, der eine Anzahlung gibt, verspricht, dass er die Restsumme vollständig erbringen wird. Daher ist das πνεῦμα nicht etwas anderes als das Heil. Es ist ein Teil des vollkommenen Heils, das Gott den Men‐ schen durch seinen Geist gewährt. 177 Mit der Geistbegabung werden die Glaub‐ enden in den „Stand der Gerechtigkeit, Heiligkeit und Erlösung“ 178 versetzt. Die Paränese in 1 Thess 4,1-8 zeigt, dass dieser Stand nicht immer mit dem tatsäch‐ lichen Leben und Handeln einhergeht. Aus der Heiligkeit ergibt sich also wie‐ derum ein Wunsch bzw. eine Forderung, dem Willen Gottes nachzukommen und ständig im Glauben lebendig zu bleiben. 179 Nimmt man also an, dass die Charismen als Gabe des πνεῦμα einen materi‐ ehaften Charakter besitzen, so wird in 1 Kor 12-14 dennoch deutlich, dass allein mit dem ‚Innehaben’ dieser Substanz nicht zugleich seine Wirkung entfaltet ist. Das πνεῦμα ist die Erstursache der Sprachgaben, durch das weitere Abläufe in Gang gebracht werden müssen, damit ihr eigentlicher Wert zur Geltung kommt. Dies geschieht, indem das durch das πνεῦμα Gewirkte als λόγος zum Ausdruck gebracht wird. Der λόγος gewinnt gewissermaßen als das πνεῦμα an Bedeutung. Mit ihm ist die Möglichkeit gegeben, das πνεῦμα-Gewirkte in einer sprachlichen Äußerung zum Ausdruck zu bringen. 180 Je nachdem, ob der νοῦς als weitere Komponente in diesem Ablauf tätig ist oder nicht, entsteht ein verständlicher (Prophetie, etc.) oder unverständlicher (Glossolalie) λόγος. Die Funktion und Wirkung der Charismen kommt demnach nicht allein dem πνεῦμα zu, sie haben in ihm ihre Ursache, die aber weiter entfaltet werden und wirken will; dies ist auch nicht mit der sprachlichen Äußerung abgeschlossen, sondern realisiert sich IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 216 <?page no="217"?> 181 Vgl. auch Engberg-Pedersen, Spirit, 189. Er stellt dies v. a. für 1 Kor 2 heraus und ordnet 1 Kor 15 dem substanzhaften Verständnis zu. 182 S. Kap. IV, 3.2.3. 183 Vgl. Horn, Angeld, 302 ff und 313 ff. 184 Vgl. 2 Kor 3 und Horn, Angeld, 316. 185 Vgl. Gal 3,10-14; 5,13-8 und Horn, Angeld, 355 ff. 186 Horn, Angeld, 379. 187 Vgl. Phil 3,3 und Horn, Angeld, 379. in der Ausrichtung auf die οἰκοδομή, in der ἀγάπη und in der Verständlichkeit des sprachlichen Ausdrucks. So kann für 1 Kor 12-14 zwar ein substanzhaftes πνεῦμα-Verständnis ausgemacht werden; diese Substanz allerdings muss ver‐ ständlich geäußert werden, so dass sich ihre Funktion entfalten kann und ein kognitiver / rationaler Aspekt des πνεῦμα zum Tragen kommt. 181 Hierfür spielt der Begriff des νοῦς eine zentrale Rolle, der später ausführlicher thematisiert wird. 182 Weitere Aspekte des paulinischen πνεῦμα-Verständnisses können anhand des 2 Kor, des Gal und des Phil ausgemacht werden. In 2 Kor ist Paulus genötigt, sein Apostolat zu verteidigen. Er kommt dem nach, indem er seine Tätigkeit als Dienst des Geistes beschreibt, während sich seine Gegner durch Empfehlungs‐ schreiben zu qualifizieren versuchen. 183 Den Gegensatz πνεῦμα-γράμμα spitzt Paulus zu: Das πνεῦμα schafft Leben und weist sich als Merkmal des Neuen Bundes aus, γράμμα tötet. 184 In Gal fordert Paulus nachdrücklich, das Handeln auf den Geist auszurichten, der zwar in der Taufe bereits empfangen wurde, der aber seine ethische Qualifikation im Tun und Lassen der Gemeindeglieder findet, welches auf das Liebesgebot ausgerichtet bleibt, so dass der Mensch nicht mehr unter dem mosaischen Gesetz steht, sondern im Liebesgebot eine Zusam‐ menfassung des νόμος erhält. 185 In Phil lehnt Paulus mit Nachdruck die Be‐ schneidungsforderung ab und begründet dies damit, dass die Gemeinde die „endzeitliche Beschneidung“ 186 mit der Geistbegabung bereits erfahren hat; ein Vollzug der fleischlichen stellt die Wirkung des Geistes in Frage. 187 (2) In 1 Kor 12 und 14 erscheint das πνεῦμα als der Geber und die Ursache der Geistesgaben. Die Schlüsselverse hierzu sind 1 Kor 12,1-11. In 1 Kor 12,8 f werden alle genannten Gaben auf den Geist zurückgeführt. Paulus stellt dies mit den Wendungen „διὰ τοῦ πνεύματος δίδοτα“ (durch den Geist gegeben), „κατὰ τὸ αὐτὸ πνεῦμα“ (durch denselben Geist / gemäß desselben Geistes), „ἐν τῷ αὐτῷ πνεύματι“ (in demselben Geist) und „ἐν τῷ ἑνὶ πνεύματι“ (in dem einen Geist) 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 217 <?page no="218"?> 188 Für die Geistverleihung sind bei Paulus zwei Wendungen zu unterscheiden, die unter‐ schiedliche Schwerpunktsetzungen zum Ausdruck bringen: Einmal wird der Gaben‐ charakter betont, indem ausgesagt wird, dass Gott den Geist gegeben hat (Röm 5,5, 2 Kor 1,22; 5,5 und Thess 4,8). Andererseits wird der Mensch als derjenige, der den Geist empfängt, stärker betont (Röm 8,15, 2 Kor 11,4; Gal 3,2.14 und 1 Kor 2,12). Vgl. Wolter, Geist, 93 und Samuel Vollenweider: Der Geist Gottes als Selbst der Glaubenden. Über‐ legungen zu einem ontologischen Problem in der paulinischen Anthropologie, in: ZThK 93 (1996), 175 f. 189 Vgl. Eduard Schweizer: Der Brief an die Kolosser, Neukirchen-Vluyn 1980 (EKK XII), 432 und Zeller, Korinther, 391. Diese Reihung liefert u. a. den Ausgangspunkt für spätere trinitarische Überlegungen. 190 Johan S. Vos: Das Rätsel von I Kor 12: 1-3, in: NT 35 (1993), 260. 191 Vos, Rätsel, 260. 192 Vgl. Schrage, Korinther 3, 136, zur Epipher vgl. Lausberg, Handbuch, 320. heraus. 188 In 1 Kor 12,11 erfolgt eine Zusammenfassung der vorangegangenen Verse, die die Charismen allesamt als geistgewirkt herausstellt. All die in 1 Kor 12,8-10 genannten Gaben sind in ‚πάντα’ zusammengefasst und werden in 1 Kor 12,7 als ἡ φανέρωσις τοῦ πνεύματος bestimmt. Wird in 1 Kor 12,4.7-9.11 konsequent das πνεῦμα als Geber der Gaben be‐ stimmt, so legen zwei Stellen in 1 Kor 12 und 14 nahe, den Ursprung der Cha‐ rismen über das πνεῦμα im Zusammenhang mit Gott und Christus zu sehen: In 1 Kor 12,28 heißt es: Καὶ οὓς μὲν ἔθετο ὁ θεὸς ἐν τῇ ἐκκλησίᾳ πρῶτον ἀποστόλους, δεύτερον προφήτας, τρίτον διδασκάλους, ἔπειτα δυνάμεις, ἔπειτα χαρίσματα ἰαμάτων, ἀντιλήμψεις, κυβερνήσεις, γένη γλωσσῶν. (1 Kor 12,28) Und die einen hat Gott eingesetzt in der Gemeinde, erstens als Apostel, zweitens als Propheten, drittens als Lehrer, dann Wunderkräfte, dann Gnadengaben der Heilkräfte, Hilfeleistungen, Leitungstätigkeiten, Arten der Zungenreden. (1 Kor 12,28) Die hier angeführten Gaben entsprechen zu einem großen Teil der Charismen‐ liste in 1 Kor 12,8-10. Sie werden nicht als pneumagewirkt bezeichnet, sondern auf Gott zurückgeführt. Paulus kann also neben dem Geist auch Gott als deren Ursache nennen. In 1 Kor 12,5 f kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Neben dem Geist sind so‐ wohl der Herr als auch Gott Ursprung der Gaben. 189 Man kann 1 Kor 12,4-6 als „synonymen Parallelismus“ 190 bezeichnen, indem dreimal mit unterschiedlichen Worten gesagt wird, dass die Gnadengaben „ein und derselben göttlichen Quelle entspringen“ 191 . Der parallele Aufbau der Verse erinnert an eine Epipher 192 : IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 218 <?page no="219"?> 193 S. auch Kap. IV, 2.4. 194 Vgl. Schrage, Korinther 3, 141 f. 195 Vgl. Zeller, Korinther, 391 und Schrage, Korinther 3, 142.147 f.162 f. 196 Vgl. Wolter, Paulus, 164-166. 197 Vgl. Panim Kim: Heilsgegenwart bei Paulus. Eine religionsgeschichtlich-theologische Untersuchung zu Sündenvergebung und Geistgabe in den Qumrantexten sowie bei Jo‐ hannes dem Täufer, Jesus und Paulus, Göttingen 1996, 180. Er bezeichnet das Wirken des Geistes bei Paulus als erneuten Anfang der Wirktätigkeit des Geistes, da er von einer geistlosen Zeit im Judentum nach der Tempelzerstörung ausgeht. In der Forschung ist aber umstritten, ob die christliche Pneumatologie nur vor dem Hintergrund der An‐ sicht, dass der Geist erloschen ist, verstanden werden kann. Ebenso findet sich in der jüdischen Literatur die Vorstellung vom wiederkehrenden Geist. Vgl. hierzu Horn, An‐ geld, 26-40. 198 Vgl. Schnelle, Theologie, 244 f und Wolter, Geist, 103 f. 199 Vgl. Vos, Rätsel, 260. 200 Vgl. auch 1 Kor 6,19, 1 Thess 4,8, Gal 4,6 und Röm 5,5. Διαιρέσεις δὲ χαρισμάτων εἰσίν, τὸ δὲ αὐτὸ πνεῦμα∙ καὶ διαιρέσεις διακονιῶν εἰσιν, καὶ ὁ αὐτὸς κύριος: καὶ διαιρέσεις ἐνεργημάτων εἰσίν, ὁ δὲ αὐτὸς θεός ὁ ἐνεργῶν τὰ πάντα ἐν πᾶσιν. (1 Kor 12,4-6) Es gibt aber Zuteilungen von Gnadengaben, aber (es ist) derselbe Geist; und es gibt Zuteilungen von Diensten und (es ist) derselbe Herr; und es gibt Zuteilungen von Kraftwirkungen, (es ist) aber derselbe Gott, der alles in allen wirkt. (1 Kor 12,4-6) In 1 Kor 12,4 werden die Zuteilungen der χαρίσματα auf πνεῦμα bezogen, die Zuteilungen der διακονία in 1 Kor 12,5 auf κύριος und die Zuteilungen der ἐνέργημα in 1 Kor 12,6 auf θεός. 193 Schrage sieht in der Anordnung der göttlichen Trias eine Steigerung, die vom Geist über Christus zu Gott führt. Christus selbst ist im Geist präsent und Gott Vater hat sich in Jesus als Mensch offenbart. Den‐ noch sollte nicht versucht werden, die neun Glieder der in 1 Kor 12,8-10 fol‐ genden Charismenliste den drei Elementen der göttlichen Trias zuzuordnen. 194 Der Fokus liegt nicht auf den Substantiven, die mit διαιρέσεις kombiniert sind, sondern darauf, dass alle Geistesgaben auf die göttliche Trias zurückgeführt werden können und müssen. 195 Als entscheidender Aspekt der paulinischen Pneumatologie ist herauszustellen, dass das πνεῦμα von der Auferweckung Jesu Christi durch Gott zu denken und zu verstehen ist. 196 Für Paulus beginnt das Wirken des Geistes mit dem Auferstehungs- und Erhöhungsgeschehen. 197 Dies zeigt sich einmal darin, dass die Pneumatologie bei Paulus eng mit der Theo- und Christologie vernetzt ist, 198 auf der anderen Seite betont er die Einheit in oder trotz der Vielfalt. 199 Der Ursprung des Geistes liegt nach 1 Kor 2,12 bei Gott: „ἡμεῖς δὲ οὐ τὸ πνεῦμα τοῦ κόσμου ἐλάβομεν ἀλλὰ τὸ πνεῦμα τὸ ἐκ τοῦ θεοῦ“ (wir haben aber nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist aus Gott). 200 So wird die Wirklichkeit Gottes in der irdischen Welt zu einer „Geist‐ 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 219 <?page no="220"?> 201 Schnelle, Theologie, 245. 202 2 Kor 3,17. Strittig ist, ob an dieser Stelle von einer Identität gesprochen werden kann. Dafür: Ingo Hermann: Kyrios und Pneuma. Studien zur Christologie der paulinischen Hauptbriefe, München 1961 (StANT II), 48-52.57. Dagegen: Horn, Kyrios, 66 f: 2 Kor 3,17 hat die Funktion, die Wirkmöglichkeit des Erhöhten zu beschreiben. Dazu wird der Kyriosbegriff pneumatisch entfaltet. Es geht Paulus nicht um eine wesensmäßige Iden‐ tität von Kyrios und Pneuma, sondern um das Wirken des Geistes, das vom auferstan‐ denen und erhöhten Christus her gedacht werden muss, ohne dabei eine Identität an‐ zunehmen. So auch Wolter, Geist, 110 f. 203 Vgl. auch 1 Kor 15,45 sowie Schnelle, Theologie, 245. 204 Vgl. zu 2 Kor 3,6-17 auch Thomas Schmeller: Der zweite Brief an die Korinther. Teilband 1. 2Kor 1,1-7,4, Neukirchen-Vluyn 2010 (EKK VIII / 1), 193, 219-224. 205 Vgl. Röm 8,9, 1 Kor 15,44 f und Wolter, Geist, 105. 206 Ersteres z. B. in 1 Thess 4,8, 1 Kor 2,11.14; 3,16; 12,3, Röm 8,9. 11. 14; 15,19 und Phil 3,3; Zweiteres in Röm 8,9, 2 Kor 3,17 (hier κύριος τὸ πνεῦμα) und Gal 4,6 (hier πνεῦμα τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ). 207 Vgl. Wolter, Geist, 108 und 2 Kor 4,4.6. Dennoch kann nicht davon die Rede sein, dass Gott und Christus gleichgesetzt werden. So ist immer Gott derjenige, der den Geist verleiht. Vgl. Frey, Windbrausen, 139. 208 So auch Frey, Windbrausen, 141. Auch für die χάρις ist sowohl Gott, Jesus Christus und der Geist als Ursprung herauszustellen (z. B. Röm 11,36 und 2 Kor 8,9 bzw. Röm 1,7 und 1 Kor 1,3). wirklichkeit“ 201 . Nach Röm 1,4 wirkt der Geist die Auferstehung und Erhöhung. Vom Zeitpunkt der Auferstehung an ist das πνεῦμα die neue Wirkmacht Jesu Christi auf Erden, denn „ὁ δὲ κύριος τὸ πνεῦμά ἐστιν“ 202 (der Herr aber ist der Geist) und wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit, so fährt Paulus in 2 Kor 3,17 fort. 203 Der erhöhte Kyrios ist nicht denkbar ohne das an ihn gebundene πνεῦμα. Um welche Art von πνεῦμα es sich handelt und zu welcher Freiheit es beruft, kann es erst deutlich gemacht werden, wenn man den Verweis von Paulus in 2 Kor 3,16 auf Ex 34,34 und damit auf Mose zur Kenntnis nimmt. In 2 Kor 3,6.17 interpretiert Paulus Ex 34,34 und zeigt, dass die an Jesu Christi Glaub‐ enden keine Diener des Buchstabens sind, sondern Diener des Geistes. 204 Damit ist auch die Freiheit vom Amt des Mose verbunden. Röm 8,9-11 führt die Aus‐ sagen zum Geist fort. Es werden zwei Wirkrichtungen des Geistes sichtbar: Die erste liegt in der Vergangenheit und meint das geistgewirkte Auferstehungsge‐ schehen. Die zweite ist von der Auferstehung Christi auf die Zukunft ausge‐ richtet und gibt Glaubenden Anteil daran. 205 Auffallend ist, dass Paulus in Röm 8,9 gleichermaßen von πνεῦμα θεοῦ und von πνεῦμα Χριστοῦ sprechen kann. 206 Zwischen beiden ist nicht zu trennen, denn im πνεῦμα θεοῦ ist der auferstandene und erhöhte Christus in den Glaubenden und Getauften präsent. 207 So sind auch die Charismen zugleich als Wirkungen Gottes und des Auferstandenen und Er‐ höhten zu verstehen. 208 Das πνεῦμα selbst hat, wie folglich auch die Charismen, IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 220 <?page no="221"?> 209 Vgl. 1 Kor 2,12; 6,19 und Röm 8,9. 210 Vgl. Schrage, Korinther 3, 142, aber auch Zeller, Korinther, 391. 211 Die Wendung τὰ πάντα ἐν πᾶσιν kann neutral oder personal übersetzt werden. Da ἐνεργεῖν ἐν an weiteren Paulusstellen (Phil 2,13 und Gal 3,5) einen Personenbezug auf‐ weist, ist für die Übersetzung die personale Form zu wählen. Vgl. Zeller, Korinther, 391 und Schrage, Korinther 3, 136. 212 Ἰησοῦς ist Subjekt, κύριος ist Prädikat, nicht umgekehrt. Vgl. Schrage, Korinther 3, 124 und Zeller, Korinther, 387. Umgekehrt sieht dies Philipp Vielhauer: Geschichte der ur‐ christlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter, Berlin, New York 1975, 23. 213 Vgl. Wolter, Geist, 119, Schrage, Korinther 3, 125, Wolff, Korinther, 284, Vos, Rätsel, 259 und Traugott Holtz: Das Kennzeichen des Geistes (1 Kor. XII. 1-3), in: NTS 18 (1972), 365. 214 Vgl. Schrage, Korinther 3, 124. seinen Ursprung in Gott und in Christus. 209 Paulus erlebt Gott, Kyrios und Geist im Glauben als eng aufeinander bezogene Wirklichkeiten, versteht sie aber nicht als ausgebildete Trinität. 210 Er greift gegebene theologische Begrifflichkeiten auf, nimmt jedoch keine systematische Zuordnung und Theoriebildung vor, sondern bezieht sie auf konkrete Gegebenheiten. Theologie entsteht dort, wo Paulus sich erklären muss, wie etwa in Bezug auf das Gesetz und die Auferste‐ hung. Den Korinthern muss Paulus nicht etwa erklären, dass es den Geist gibt, er kann hier eine Zuordnung von bekannten ‚Größen’ Geist, Christus, Gott und den Charismen vornehmen, ohne die einzelnen Komponenten näher erklären zu müssen. Auch in 1 Kor 12,6 „ὁ δὲ αὐτὸς θεός ὁ ἐνεργῶν τὰ πάντα ἐν πᾶσιν“ 211 (aber derselbe Gott wirkt alles in allem) wurde deutlich, dass der Geist sowohl auf Gott als auch auf den Kyrios bezogen ist. Hier beschreibt Paulus das Wirken Gottes in ähnlicher Weise wie das Wirken des Geistes in 1 Kor 12,11. Auch aus 1 Kor 12,3 ist ersichtlich, dass das πνεῦμα in engem Zusammenhang mit dem Christusgeschehen steht: Alle, die sich zu Jesus Christus bekennen, sind Geistbegabte, weil das Bekenntnis „κύριος Ἰησοῦς“ 212 ein Ausdruck des Geist‐ besitzes ist; nicht nur die Gemeindeglieder, die glossolalisch sprechen, sind geistbegabt. 213 In dem Bekenntnis zu Jesus als Herr kann der Geistbesitz der Glaubenden ausgemacht werden. Dies kann festgehalten werden, auch wenn zugegeben werden muss, dass der Fokus dieses Verses nicht primär darauf liegt, bei denjenigen, die das Bekenntnis κύριος Ἰησοῦς sprechen, den Geistbesitz nachweisen zu können, sondern vielmehr darauf gerichtet ist, zu zeigen, dass der Geist dann und dort wirkt, wo sich Menschen zu Jesus als Herrn be‐ kennen. 214 Von besonderer Bedeutung ist, dass das Medium, durch welches das 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 221 <?page no="222"?> 215 Vgl. Ulrich Wilckens: Theologie des Neuen Testaments. Band I: Geschichte der ur‐ christlichen Theologie. Teilband 3: Die Briefe des Urchristentums: Paulus und seine Schüler, Theologen aus dem Bereich judenchristlicher Heidenmission, Neukir‐ chen-Vluyn 2005, 95. 216 Strittig ist ebenfalls, ob es sich um eine ad hoc gebildete Formulierung handelt oder um einen Rückgriff auf eine tatsächlich stattgefundene Verfluchung Jesu. August Strobel: Der erste Brief an die Korinther, Zürich 1989 (ZBK.NT 6.1), 185 z. B. sieht in der Ver‐ fluchung Jesu einen tatsächlich stattgefunden Ausruf, der seinen Platz in heidnischen Feiern hatte; zum Kyriosbekenntnis kam es in einer Gegenbewegung hierzu. Auch Dunn, Jesus, 234 hält diese Möglichkeit für wahrscheinlich. Dass der Ausspruch als Akklamationsruf in gottesdienstlichen Feiern der Heidenchristen seinen Sitz im Leben hatte, befürwortet Werner Kramer: Christos Kyrios Gottessohn. Untersuchungen zu Gebrauch und Bedeutung der christologischen Bezeichnungen bei Paulus und den vor‐ paulinischen Gemeinden (AThANT 44), Zürich, Stuttgart 1963, 61-66. Dagegen wendet sich Vos, Rätsel, 255: Sollte es tatsächlich zu einem solchen Ausspruch in der Gemeinde gekommen sein, kann nicht erklärt werden, warum Paulus nicht näher darauf eingeht, wie dies für sonstige Anliegen aus der Gemeinde der Fall ist. 217 Vgl. Vgl. 2 Makk 2,13; 9,16 und Phil., Migr § 98 bzw. Lev 27,28 f; Dtn 7,26 und Sach 14,11. Vgl. Johannes Behm: Art. ἀνα-, προσανατίθημι, ἀνάθεμα, -θημα, κατάθεμα, ἀνα-, καταθεματίζω, in: ThWNT I (1933), 356 und Schrage, Korinther 3, 123. 218 Vgl. Schrage, Korinther 3, 123. 219 Vgl. Weiß, Korintherbrief, 295. 220 Vgl. Vos, Rätsel, 257. 221 Vgl. Schrage, Korinther 3, 123 und Ferdinand Hahn: Theologie des Neuen Testaments. Band II. Die Einheit des Neuen Testaments. Thematische Darstellung, Tübingen 2002, 263 f. πνεῦμα das Bekenntnis ermöglicht, die Sprache ist. 215 Dem Bekenntnis voran‐ gestellt ist der Ausspruch ‚ἀνάθεμα Ἰησοῦς’. 216 Er wird so an keiner anderen ntl. Stelle verwendet. In der LXX wird ἀνάθεμα häufig für das ἀνάθημα des klassi‐ schen Griechisch gebraucht. Es bezeichnet ‚das im Tempel Aufgestellte’, wie beispielsweise Weihegeschenke und Menschen, die dem Zorn Gottes ausgelie‐ fert oder einem Fluch verfallen sind. 217 Im NT wird es insgesamt siebenmal ver‐ wendet, je einmal in Lk, Apg und Röm, zweimal in 1 Kor und Gal. Bei Paulus begegnet es ausschließlich in einer negativen Bedeutung und steht in 1 Kor 16,22 und Gal 1,8.9 im Zusammenhang mit Fluchformeln bzw. in Röm 9,3 im Zusam‐ menhang mit der hypothetischen Verfluchung seiner eigenen Person. Stilistisch liegt an dieser Stelle ein Chiasmus vor, der jeweils mit dem Subjekt οὐδείς ein‐ geleitet wird. Allerdings wird dieser nicht vollständig durchgehalten, da der zweite Teilsatz das Bekenntnis nicht an das Ende stellt, sondern mit dem Kon‐ ditionalsatz „εἰ μὴ ἐν πνεύματι ἁγίῳ“ schließt. 218 Deshalb kann auch von einem parallelismus membrorum chiasticus 219 oder einem synthetischen Paralle‐ lismus 220 gesprochen werden. Zwischen den Wendungen „ἐν πνεύματι θεοῦ“ und „ἐν πνεύματι ἁγίῳ“ ist dabei kein Unterschied zu machen. 221 Schwierigkeiten IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 222 <?page no="223"?> 222 Vgl. Zeller, Korinther, 387 und Dieter Zeller: Offene Fragen zum urchristlichen ‚Reden im Geist’, in: Beiträge zur urchristlichen Theologiegeschichte, hg. v. Wolfgang Kraus, Berlin, New York 2009 (BZNW 163), 234 f. 223 So Brockhaus, Charisma, 158, Bachmann, Korinther, 375 f, Wolff, Korinther, 286 und Karl Maly: 1 Kor 12,1-3. Eine Regel zur Unterscheidung der Geister? , in: BZ.NF 10 (1966), 86. 224 Brockhaus, Charisma, 157. 225 Vgl. Brockhaus, Charisma, 157. 226 Vgl. Vos, Rätsel, 263. 227 So auch Weiß, Korintherbrief, 294-296 und Conzelmann, Korinther, 250 f. beinhaltet die Verhältnisbestimmung von 1 Kor 12,2 und 1 Kor 12,3. Mehrere Möglichkeiten werden diskutiert. So kann das Verhältnis als Begründung, als Kontrast oder als Analogie bestimmt werden. Zeller fasst 1 Kor 12,3 als Begrün‐ dung für 1 Kor 12,2 auf. Der Glaube an Jesus Christus zeige sich im Bekenntnis zum κύριος. Weil die Menschen die heidnischen Götzen anbeten, könnten sie dieses Bekenntnis zu Jesus nicht sprechen, es sei denn, der Heilige Geist entfalte seine Wirkung in ihnen. Begründet sieht er diese Annahme in der Partikel δίο. 222 Stellt man die beiden Verse hingegen in einen Kontrast, 223 etwa „im Sinne des traditionell-paränetischen Schemas Einst-Jetzt“ 224 , kann der Inhalt sinngemäß so verstanden werden: Früher haben sich die Menschen zu den stummen Götzen treiben lassen, jetzt werden die Menschen, die sich zu Jesus als dem Herrn be‐ kennen, vom Geist Gottes geführt. 225 Begründet wird der Kontrast zusätzlich durch die entgegengesetzten Worte ἄφωνος und λαλεῖν / λέγειν bzw. auf ἄγω / ἀπάγω und ἐν πνεύματι λαλεῖν. So wird stärker die Freiheit des Redens im Geist gegenüber dem Stummsein in der Welt der Götzen betont. 226 Es liegt auf der Hand, dass Paulus die Korinther in 1 Kor 12,2 an ihre heidnische Ver‐ gangenheit erinnert, dass es ihm aber allein darum geht, ist zu bezweifeln. Damit kann weder erklärt werden, weshalb Paulus die Anspielung auf die heidnischen Götzen pointiert an den Anfang stellt, im weiteren Verlauf jedoch nicht darauf eingeht, noch rundet die Partikel διό die Argumentation ab. Sollte Paulus mit 1 Kor 12,2 also lediglich eine Erinnerung an die Vergangenheit der Korinther zum Ausdruck bringen wollen, kann der Anschluss durch den direkten Kon‐ nektor διό im Sinn einer Schlussfolgerung nicht erklärt werden. Eine Analogie lässt eine solche Folgerung jedoch zu und begründet, warum diese an den An‐ fang der Ausführungen gestellt wird, denn in 1 Kor 12,3 wird - mit Hilfe der Erklärung aus 1 Kor 12,2 - die Grundlage für die weitere Argumentation gelegt: Die Geistwirkung erweist sich am Bekenntnis zu Jesus als dem κύριος. So wie die Heiden zu den stummen Götzen hingetrieben werden, so treibt der Geist Gottes Glaubende zu dem Bekenntnis des Herrn. Das Verhältnis der beiden Verse ist also als Analogie, nicht als Gegensatz zu bestimmen. 227 Wer Jesus als den 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 223 <?page no="224"?> 228 Vgl. Schrage, Korinther 3, 119-124. 229 Vgl. Gärtner, Idea, 221. 230 Vgl. Thiselton, Epistle, 914. 231 Das Lexem ἄφωνος ist trotz der textkritischen Anmerkung, nach der F G (a b Ambst) und Pel ἄμορφα lesen, als ursprünglich anzusehen. In seiner genuinen Bedeutung meint ἄφωνος ‚sprachlos / stimmlos / stumm’. Es kann die Unfähigkeit eines Kindes zu Sprechen bezeichnen (vgl. Sapph. 118c) oder die die falsche Aussprache eines Wortes (Philostr. VA 6,36); ἄφωνα wird als Bezeichnung für Konsonanten verwendet (Plat. Krat. 393e). Vgl. Liddell / Scott, Lexicon, 295. 232 Im AT nur in Jes 53,7 und auf ein Lamm bezogen. Das Jesajazitat wird aufgegriffen in Apg 8,32. Sonst findet sich ἄφωνος in 2 Petr 2,16. Ach hier wird ein Tier als stumm bezeichnet. 233 Wolff, Korinther, 283 mit Verweis auf Ps 115,5.7, Bar 6,8 und Hab 2,18. Herrn anerkennt, der hat den Geist Gottes und ist Träger der Geistesgaben. Deutlich werden soll dabei, dass nicht ekstatische Phänomene - wie sie bei‐ spielsweise von den Dionysos- oder Bacchuskulten her zu denken sind - Aus‐ weis des Heiligen Geistes sind, sondern der Inhalt, das Bekenntnis zu Jesus als κύριος, das nur durch den Geist gesprochen werden kann. 228 Hier findet sich möglicherweise eine Anspielung auf das Prinzip, das Gleiches nur durch Glei‐ ches erkannt werden kann, wie es Paulus in 1 Kor 2,13 gebraucht. 229 Nur wer den Geist Gottes hat, der kann sich auch zum Herrn der Herrlichkeit bekennen. Der letzte Versteil in 1 Kor 12,3 ist also von 1 Kor 2 her zu verstehen. Es wird erneut ersichtlich, dass das πνεῦμα Ursache der Gaben und des Bekenntnisses ist, dass darüber hinaus die sprachliche Äußerung des Menschen an Bedeutung gewinnt, weil erst durch sie ein Inhalt verständlich und zugänglich gemacht werden kann. Das πνεῦμα wirkt nach paulinischer Ansicht nicht allein die Glos‐ solalie, wie dies möglicherweise die Korinther annahmen, sondern alle Cha‐ rismen. 230 Inwieweit in 1 Kor 12,2 f dem Bekenntnis als Sprachvorgang eine besondere Be‐ deutung zukommt, ist von der Interpretation des Lexems ἄφωνος abhängig. 231 Das attributiv gebrauchte Adjektiv findet sich in den Paulusbriefen lediglich in 1 Kor 12,2 und 14,10. 232 Besonderes Gewicht erhält die Sprachthematik dann, wenn der Gegensatz, der bei dem oben dargestellten Verständnis der Verse als Kontrast bereits genannt wurde, auch in den Begriffen ἄφωνος und λαλεῖν / λεγεῖν aufscheint. So versteht Wolff das Adjektiv als Anknüpfung an „alttestamentlich-jüdische Heidenpolemik“ 233 und sieht in der Sprachlosigkeit der heidnischen Götter eine Machtlosigkeit, die die Götzen als stumm kenn‐ zeichnet, d. h. sie werden als unfähig verstanden, auf die Gebete und Bitten der Menschen zu antworten; deshalb sind sie machtlos und können am Leben der Menschen nicht helfend mitwirken. Dem steht der Gott Israels gegenüber, der IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 224 <?page no="225"?> 234 Vgl. Wolff, Korinther, 283. 235 Vgl. Thiselton, Epistle, 913 f. Dass Paulus den Gegensatz zwischen lebendigem Gott und toten oder stummen Götzen nicht kennt, soll nicht bestritten werden. So ist in Gal 4,9 von den schwachen und armen Elementen / Mächten die Rede; in 1 Thess 1,9 wird von den Thessalonichern gesagt, dass sie sich von den Götzen zum lebendigen und wahren Gott hin gewandt haben. Allein der Fokus liegt in 1 Kor 12,2 f nicht auf diesem Aspekt. 236 Vgl. Röm 10,9, und Schrage, Korinther 3, 124 f. Auch Hahn, Theologie II, 601 und Wolter, Paulus, 178 betonen diesen Zusammenhang. 237 Vgl. 1 Kor 1,18; 2,4 f und Wolter, Geist, 95. nach Ps 50,3 nicht schweigt. 234 Sollte diese Gegenüberstellung auch für 1 Kor 12,2 f zutreffen, müssten die schweigenden Götzen also in (gegensätzlicher) Pa‐ rallelität zum redenden Gott bzw. dem redenden Kyrios gesehen werden. Ein Kontrast zwischen dem Adjektiv ἄφωνος, das gezielt den εἴδωλα zugeordnet ist, und den Verben λαλεῖν und λεγεῖν, die sich auf die Menschen beziehen, ist je‐ doch nicht anzunehmen. Inhaltlich müsste den stummen Götzen der redende Gott entsprechen. In 1 Kor 12,3 ist jedoch nicht von Gott, der zu den Menschen spricht, die Rede, sondern von den Menschen, die durch das πνεῦμα das Be‐ kenntnis zu Jesus als dem Herrn sprechen. So wird nicht zwingend ein expliziter Gegensatz zwischen den stummen Götzen und den im Geist Gottes sprechenden Glaubenden bzw. dem sprechenden Gott / Christus hergestellt. Allenfalls kann eine Analogie zwischen beiden Komponenten ausgemacht werden, die Paulus in seiner Argumentation nicht weiter verfolgt. Der paulinische Fokus ist darauf gerichtet, zu verdeutlichen, dass der Geist Gottes die Äußerung des Bekennt‐ nisses zu Jesus als κύριος ermöglicht. 235 Dennoch ist auch hier nicht bei der sprachlichen Artikulation des Bekenntnisses zu Jesus als κύριος stehen zu bleiben: Da jeder Mensch imstande ist, ‚κύριος Ἰησοῦς’ zu sagen, kann dies nicht als reines Lippenbekenntnis verstanden werden. Es wird erst ersichtlich, dass das Bekenntnis geistgewirkt ist, wenn es öffentlich bekannt und in entsprech‐ enden Worten und Taten des Menschen offensichtlich wird. 236 Damit weist das Kyriosbekenntnis auf die paulinische Ethik hin und steht gleichzeitig in Zu‐ sammenhang mit dem bereits Besprochenen: Das πνεῦμα allein kann die Wir‐ kung und Funktion der Charismen nicht erfüllen, hierfür muss der Mensch in Erscheinung treten und das durch den Geist Gewirkte in einer verständlichen sprachlichen Äußerung umsetzen sowie sein Wirken an der οἰκοδομή aus‐ richten. (3) Der Geist fungiert nicht allein als Ursprung der Charismen, sondern ist sowohl eine Gabe als auch eine Kraft und Macht, die im und durch den Menschen wirkt und ihn zum Glauben führt. 237 Die paulinische Pneumatologie hat dem‐ nach einen direkten Bezug zur Ethik: Mit der Kraft des Geistes sind die Men‐ schen zu einem neuen Handeln befähigt, indem der Geist von Tod, Sünde und 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 225 <?page no="226"?> 238 Vgl. Röm 8,2; Gal 4,21 ff, 2 Kor 3,17 und Schnelle, Theologie, 246 f. 239 Vgl. Rabens, Geistes-Geschichte, 49, der aber auch hinzufügt, dass das substanzhafte πνεῦμα für die Stoiker v. a. in ihrer Physik eine Rolle spielte und nur in geringerem Maß in der Ethik. 240 Vgl. 1 Kor 13,1-3 und Schrage, Korinther 3, 248. 241 Horn, Wandel, 149. Horn spricht sich dafür aus und wendet sich damit v. a. gegen den Ansatz Hermann Gunkels, der jeglichen Bezug von Pneuma und Ethik vor Paulus ver‐ neint und in der jüdischen Literatur keine Voraussetzungen für einen solchen sieht. Vgl. hierzu Hermann Gunkel: Die Wirkungen des heiligen Geistes nach der populären An‐ schauung der apostolischen Zeit und der Lehre des Apostels Paulus. Eine biblisch-the‐ ologische Studie, Göttingen 3 1909, 8 ff. 242 Vgl. Horn, Wandel, 150 f. 243 Vgl. Horn, Wandel, 169 f und Oda Wischmeyer: Das Gebot der Nächstenliebe bei Paulus. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung, in: BZ 30 (1986), 185. 244 Vgl. Horn, Wandel, 170. S. auch Kap. IV, 3.3.3. Gesetz befreit. 238 Dies geht einher mit dem stoischen, substanzhaften πνεῦμα-Verständnis, auf Grund dessen dem πνεῦμα eine Macht / Kraft zuge‐ sprochen wird, die in der Welt gestaltend wirkt. 239 Das πνεῦμα ist dabei die Ur‐ sache der neuen Lebenswirklichkeit. Das wird in 1 Kor 12-14 deutlich, wenn die Charismen als geistgewirkt beschrieben werden. Für die Sprachgaben werden jedoch auch eine Norm und ein Ziel angegeben, nach denen der Mensch dieses neue Leben gestalten soll: Die ἀγάπη und die οἰκοδομή. In Gal 5,22 wird die Liebe als καρπὸς τοῦ πνεύματος (Frucht des Geistes) bestimmt. Auch deshalb erfüllen die Charismen ihre Funktion erst, wenn sie mit Liebe eingesetzt werden. 240 Als ‚Vermittler’ zwischen der Ursache der Sprachgaben, die im πνεῦμα liegt, und der daraus resultieren Handlung bzw. der Ausrichtung dieser Handlung an der ἀγάπη und der οἰκοδομή steht der verständliche sprachliche Ausdruck, der λόγος. Er ermöglicht die Entfaltung der Funktionen und Wir‐ kungen der Sprachgaben. Kann deshalb von einer „pneumatologischen Begrün‐ dung der Ethik bei Paulus“ 241 gesprochen werden? Horn bejaht dies und stellt treffend dar, dass es dabei nicht um die Vielzahl einzelner Anweisungen für die Lebensführung der Glaubenden geht, sondern um eine allgemeine Ausrichtung des Menschen. 242 Diese liegt in der Liebe, v. a. in der Nächstenliebe (1 Thess 4,8), welche neben dem Bekenntnis Zeichen und Ausdruck der Geistbegabung ist. So sieht Paulus die Liebe nicht mehr als Bestandteil des νόμος, sondern teilt sie dem πνεῦμα als der neuen Lebenswirklichkeit zu. 243 Die Liebe wird also durch das πνεῦμα vermittelt, es gießt - mit Röm 5,5 gesprochen - die Liebe in die Herzen der Menschen. Das Spezifische der pneumatologischen Ethik des Paulus ist nicht die generelle Zuordnung der beiden Komponenten ‚Pneuma‘ und ‚Ethik‘, son‐ dern die Ausrichtung des Geistwirkens auf die (Nächsten-)Liebe. 244 Für sie ist IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 226 <?page no="227"?> 245 Vgl. Zeller, Korinther, 404, Schrage, Korinther 3, 241 und auch 1 Kor 14,13 f. 246 Vgl. die sonstige Verwendung von ζηλόω in den ntl. Schriften. So kann von einem Sich-Ereifern für Gott die Rede sein (vgl. Lk 6,15; Apg 1,13), weiterhin von der Einstel‐ lung und dem Handeln der Juden bezüglich der Evangeliumsverkündigung (vgl. Apg 5,17; 13,45; 17,5; Röm 10,2; Gal 1,14; Phil 3,6) und von dem persönlichen Enthusiasmus und Einsatz für die Gemeinde (vgl. 2 Kor 11,2). Vgl. hierzu Albrecht Stumpff: Art. ζῆλος, ζηλόω, ζηλωτής, παραζηλόω, in: ThWNT II (1935), 889 f. 247 Für den griechischen Sprachgebrauch ist dies die häufigste Semantik von ζῆλος und ζηλόω. Vgl. Stumpff, 879.890; so auch Philon; es findet sich jedoch kein Bezug des Verbs zur Sprachthematik. 248 Vgl. Schrage, Korinther 3, 239 und Stumpff, Art. ζῆλος, 890. 249 Vgl. Schrage, Korinther 3, 241. aber nicht allein das πνεῦμα verantwortlich, sondern vielmehr der verständliche sprachliche Ausdruck, der durch den νοῦς hervorgebracht wird. (4) Der in 1 Kor 12,31 und 14,1.39 verwendete Imperativ ζηλοῦτε stellt heraus, dass der Mensch im Charismengeschehen eine aktive Rolle einnehmen kann. Der Ursprung oder ‚Startschuss’ ist nicht allein im πνεῦμα oder in Gott zu ver‐ orten. Auch der Mensch selbst kann danach streben, mit einer Gnadengabe aus‐ gestattet zu werden. 245 Unter ζηλόω ist in 1 Kor 12 und 14 ein Streben und Eifern zu verstehen, das auf die Liebe ausgerichtet ist. 246 Das Verb wird in einen ethi‐ schen Zusammenhang gestellt und in der Semantik ‚nach etwas mit Begeiste‐ rung streben / sich für etwas ereifern können’ gebraucht. 247 Dem Verb wird in 1 Kor 12,31 als Akkusativobjekt τὰ χαρίσματα beigeordnet. Ziel des menschli‐ chen Strebens sind also die Gnadengaben, die in 1 Kor 14,6.12 genannt und auf die οἰκοδομή der Gemeinde ausgerichtet sind. Es ist nicht allein die Bitte um eine Gabe im Gebet gemeint, sondern darüber hinaus der verantwortungsvolle Umgang mit der erhaltenen Gabe. Sie soll am Willen Gottes ausgerichtet werden und ihren Zweck, die οἰκοδομή der Gemeinde, erfüllen. Wichtig ist dabei die affektive Komponente; es geht um ein Streben mit Begeisterung. 248 Indem der Mensch nach den Gnadengaben strebt, wird herausgestellt, dass er die Kraft und die Gnade Gottes anerkennt, diese Gaben zu wirken. Beide Komponenten können dabei nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern sind aufei‐ nander bezogen. 249 Der Mensch verhält sich also im Charismengeschehen nicht rein passiv. Er kann um die Sprachgaben und deren angemessenes Einsetzen bitten. Die Mitwirkung des Menschen spielt für die Entfaltung der Wirkung der Sprachcharismen eine wichtige Rolle. Erst dadurch, dass das Geistgewirkte mit Hilfe der Sprachwerkzeuge in eine sprachliche Äußerung gebracht wird, kann das eigentliche Ziel der Sprachgaben erreicht werden. So sind die Sprachgaben - ähnlich wie bei Philon - sowohl auf Gott als auch auf den Menschen bezogen. Paulus äußert sich jedoch nur in eingeschränktem Maß über die Möglichkeiten 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 227 <?page no="228"?> 250 Der menschlichen Geist ist auch in 1 Kor 5,4; 16,18, 2 Kor 2,13; 7,13 und Röm 1,9; 8,16 gemeint. Vgl. Udo Schnelle: Neutestamentliche Anthropologie. Jesus - Paulus - Jo‐ hannes, Neukirchen-Vluyn 1991 (BThSt 18), 54 f. 251 Rudolf Bultmann: Theologie des Neuen Testaments. 9. Auflage, durchgesehen und er‐ gänzt von Otto Merk, Tübingen 1984 (Neue theologische Grundrisse), 208. 252 Vgl. Wolter, Paulus, 174, Fußnote. 253 Vgl. Röm 8,5-11 und Schnelle, Anthropologie, 54 f.56.59. der menschlichen Mitwirkung. Von einer Schöpfung der Sprache bzw. der Namen ist nicht die Rede. Die Sprachgaben können zwar von Gott erbeten werden, der Geber der Sprachcharismen aber bleibt bei Paulus allein Gott, der durch das πνεῦμα wirkt. (5) Die bisherigen Überlegungen haben das πνεῦμα stets als göttlichen Geist in den Blick genommen. Aus 1 Kor 14,14 wird ersichtlich, dass das πνεῦμα nicht nur den göttlichen Geist bezeichnen kann, sondern auch eine anthropologische Größe. 250 Wenn Bultmann das πνεῦμα in 1 Kor 14,14 f als „das dem Menschen geschenkte göttliche πνεῦμα“ 251 versteht, steht dagegen der Befund aus 1 Kor 12, dass allen mit einem Charisma begabten Personen das göttliche πνεῦμα zuteil wurde. Wenn „πνεῦμά μου“ in 1 Kor 14,14 als das göttliche πνεῦμα verstanden wird, so wäre allein das glossolalische Reden mit diesem ‚ausgestattet’; dass das göttliche πνεῦμα jedoch ein Spezifikum des Glossolalen ist, muss von 1 Kor 12,11 her abgelehnt werden. Wenn Paulus das glossolalische Beten im Geist in 1 Kor 14,14 vom Beten mit dem Verstand unterscheidet, müsste mit Bultmann ange‐ nommen werden, dass Letzteres, das Sprechen mit Verstand, das zur verständ‐ lichen prophetischen Rede führt, keinen Bezug zum göttlichen πνεῦμα hat, weil dieses das Kennzeichen des Betens des Geistes wäre. Demgegenüber ist das πνεῦμα in 1 Kor 14,14 f, das durch das Personalpronomen ‚μου’ ergänzt wird, als menschliches πνεῦμα zu verstehen, welches mit dem himmlischen πνεῦμα in Verbindung tritt, gewissermaßen von diesem ergriffen wird. 252 Das anthropolo‐ gische πνεῦμα steht dabei nicht in Gegensatz zum πνεῦμα Gottes. Es wird viel‐ mehr durch dieses befruchtet. 253 Hierzu finden sich im Kapitel zur Glossolalie weitere Ausführungen. Zusammenfassung: Πνεῦμα ist eine zentrale Begrifflichkeit in der Charismenlehre und stellt ein wesentliches Kennzeichen der Sprachgaben heraus: Diese sind - mit engem Bezug zu Jesus Christus und Gott - geistgewirkt. So kann das πνεῦμα als Ursache der Charismen bestimmt werden. Πνεῦμα ist aber nicht als theoretische Größe zu verstehen, sondern als Kraft aufzufassen, der ein Moment der Realität, Ver‐ bindlichkeit und Erfahrbarkeit zukommt, was auch in Gal 3,1-5 deutlich wird. Der Geistbesitz ist weiterhin nicht allein von der Taufhandlung her zu denken, IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 228 <?page no="229"?> obgleich sich in 1 Kor 12,13 ein Bezug hierzu findet. Das πνεῦμα wirkt mit der Annahme und dem Glauben an das Christusgeschehen. Der Geist ist bei Paulus eng an Jesus Christus gebunden und von Kreuzigung, Auferstehung und Erhö‐ hung her zu denken und zu verstehen. Daraus wird ersichtlich, dass die Ursache der Charismen nicht ausschließlich im πνεῦμα zu suchen ist. Gott ist derjenige, der Auferstehung und Erhöhung durch den Geist wirkt. Mit dem Vollzug dieses Geschehens wird das πνεῦμα zur neuen Wirkungsweise Jesu Christi. Das πνεῦμα ist also eine erfahrbare und diversifizierte Form des Wirkens Gottes und des Kyrios in den Gemeinden. Daher sind Gott, Jesus Christus und πνεῦμα auf das engste miteinander verbunden. Gleichzeitig wird dem Menschen zugesprochen, sich selbst um Sprachgaben zu bemühen, danach zu streben und sie von Gott zu erbitten. Mit dem Zuteilwerden der Gaben einher geht deren ethische Ausrichtung, die mit dem Begriff der οἰκοδομή konkretisiert wird. Hieran zeigt sich, dass das πνεῦμα für 1 Kor 12-14 die Grundlage der Sprachcharismen ist. Damit sind die Glossolalie und die Prophetie als geistgewirkte Gaben charakterisiert. Die Tat‐ sache, dass sprachliche Äußerungen geistgewirkte Gnadengaben sein können, hat die Grundlagen des paulinischen Sprachverständnisses erweitert. Vor diesem Hin‐ tergrund können nun die spezifischen theoretischen Überlegungen zur Sprache analysiert werden. Deren wesentliches Kennzeichen ist es, die der Verständ‐ lichkeit einer Aussage zu betonen. Diese Voraussetzung wird im Folgenden an‐ hand der in 1 Kor 14 vorrangig thematisierten Sprachgaben, der Glossolalie und der Prophetie, aufgezeigt. 3.2 Verständlichkeit als Voraussetzung für die Wirksamkeit der Sprachgaben Paulus stellt in zwei Schritten heraus, dass die Verständlichkeit einer sprachli‐ chen Äußerung von größter Bedeutung ist: Erstens in negativer Hinsicht, indem er in 1 Kor 14,6-12 aufzeigt, dass unverständliche Sprache wertlos ist. Dieser Komplex ist auf die Glossolalie bezogen. Zweitens in positiver Hinsicht, indem er in 1 Kor 14,14-19 den Nutzen der verständlichen Sprache betont. Dieser Komplex wird am Beispiel der prophetischen Rede verdeutlicht. In dieser Rei‐ henfolge soll die wichtigste Voraussetzung für sprachliche Äußerungen, die sich zugleich als wesentliches Kennzeichen des paulinischen Sprachverständnisses erweisen wird, erarbeitet werden. 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 229 <?page no="230"?> 254 Ersteres in 1 Kor 12,30; 13,1; 14,2.4.5. 6. 13.18.19(λαλεῖν ist aus dem ersten Teilsatz zu ergänzen).23. 27. 39, Zweiteres in 1 Kor 12,10.28. 255 Für Ersteres Zeller, Korinther, 434 f. Ähnlich zu verstehen ist TestHiob 49,2; 52,7. Hier ist davon die Rede, dass bestimmte Gruppen von Engeln in ihrer eigenen Sprache (διάλεκτος) reden. 256 Vgl. Schrage, Korinther 3, 160 f. 257 So in 1 Kor 13,8; 14,22. In 1 Kor 14,9 ist das Lexem durch den Artikel determiniert, weshalb bestritten wird, dass es sich dabei um die Glossolalie handelt. Vgl. Wolff, Ko‐ rinther, 331 und Lindemann, Korintherbrief, 303. Dagegen beziehen das Lexem Schrage, Korinther 3, 394 und Conzelmann, Korinther, 287 auf die Glossolalie. 3.2.1 Die Unverständlichkeit der Glossolalie Paulus thematisiert die Unverständlichkeit einer sprachlichen Äußerungen in 1 Kor 14,6-12. Die argumentative Analyse hat bereits gezeigt, dass Paulus an dieser Stelle einen Neueinsatz markiert. Er stellt das Zungenreden den vier Charismen der Offenbarung, der Erkenntnis, der Prophetie und der Lehre ge‐ genüber. Mit der rhetorischen Frage in 1 Kor 14,6, die ihr Zentrum in dem Teil‐ satz τί ὑμᾶς ὠφελήσω hat, gibt Paulus den neuen Fokus der Argumentation vor: Es gibt sprachliche Äußerungen, die nützlich sind, und es gibt solche, die keinen Nutzen haben. Paulus hat bereits in 1 Kor 14,3-5 deutlich gemacht, dass der Nutzen in der Erbauung der Gemeinde besteht. Die Sprachgabe, die dem nicht nützt, ist die Glossolalie. Bevor anhand der Vergleiche in 1 Kor 14,6-12 gezeigt werden kann, wie Paulus sprachlich und argumentativ die Unverständlichkeit der Glossolalie verdeutlicht, ist die Glossolalie als Charisma zu charakterisieren. Zuerst wird (1) die bei Paulus und im NT verwendete Terminologie in den Blick genommen und nach möglichen ntl. Parallelen gefragt, anschließend wird (2) das Charisma der Glossolalie als Sprachgabe charakterisiert und abschließend (3) werden Einzelfragen diskutiert: Kann der Glossolale seine eigene Rede ver‐ stehen? Wie ist das Charisma der ἑρμηνεία zu bestimmen? Was kann über die Inhalte der Glossolalie ausgesagt werden? (1) Das Charisma der Zungenrede wird mit den Wendungen λαλεῖν γλώσσῃ / γλώσσαις oder γένη γλωσσῶν beschrieben. 254 Der Ausdruck γένη γλωσσῶν kann mit ‚Arten von Sprachen’ oder ‚Arten der Zungen(rede)’ über‐ setzt werden. 255 Jeweils einmal, in 1 Kor 14,26, wird γλῶσσα in der Verbindung mit ἔχειν gebraucht, in 1 Kor 14,14 mit προσεύχεσθαι. Auch unter den Wen‐ dungen τῷ πνεύματι ψάλλειν / εὐλογείν / εὐχαριστεῖν in 1 Kor 14,15 f ist die Gabe der Glossolalie zu verstehen. 256 Das Substantiv γλῶσσα kann aber auch ohne zusätzliche Termini für die Zungenrede gebraucht werden. 257 Der in 1 Kor 13,1 gebrauchte Ausdruck γλῶσσαι τῶν ἀνθρώπων καὶ τῶν ἀγγέλων ist in Bezug auf die Glossolalie gesondert zu untersuchen. Die unterschiedlichen Be‐ IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 230 <?page no="231"?> 258 Vgl. bereits Eddison Mosiman: Das Zungenreden geschichtlich und psychologisch in‐ terpretiert, Tübingen 1911, 9, Klauck, Engelszungen, 284 und Gerhard Dautzenberg: Art. Glossolalie, in: RAC XI (1981), 227. 259 Z. B. in Mk 7,33, Lk 1,64 und 16,24. Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 297. 260 Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 299 und Christian Wolff: Art. Zungenrede, in: TRE 36 (2004), 754. Die Angabe zu Röm 14 muss hier 14,11 lauten, nicht 14,1. 261 S. Kap. IV, 3.2.2. (2). 262 Vgl. Behm, Art. γλῶσσα, 719 und z. B. Phil., Conf § 36 und Op § 159. 263 Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 297. 264 Vgl. Schrage, Korinther 3, 160. 265 So bei Mosiman, Zungenreden, 9, Schrage, Korinther 3, 160, Anm. 259 und Weiß, Ko‐ rintherbrief, 335 f. 266 S. hierzu den Überblick bei Mosiman, Zungenreden, 21-25. zeichnungen, insbesondere aber die Formulierung γένη γλωσσῶν, sind als Hin‐ weis auf die Vielschichtigkeit der Glossolalie zu werten. In 1 Kor 14,14-16 werden beispielsweise mehrere Formen der glossolalischen Rede genannt. In den paulinischen Worten wird deutlich, dass es nicht die Glossolalie gibt, son‐ dern dass unterschiedliche Ausprägungen oder Intensitäten denkbar sind. 258 Das Lexem γλῶσσα hat verschiedene Bedeutungen: In seiner zentralen Be‐ deutung heißt γλῶσσα Zunge und wird auch im NT , v. a. in den Evangelien in diesem Verständnis gebraucht. 259 Bei Paulus findet sich das Lexem in dieser Se‐ mantik nur in Zitaten in Röm 3,13; 14,11 und Phil 2,11. 260 Ob es sich auch in 1 Kor 14,9 bei ἡ γλῶσσα um das menschliche Organ handelt oder um eine Bezeich‐ nung für die Glossolalie, ist später zu klären. 261 Auch Philon verwendet das Lexem als Organ des Sprechens und auch des Schmeckens. 262 Es kann darüber hinaus als pars pro toto die menschliche Sprachfähigkeit bzw. die Sprache im All‐ gemeinen bezeichnen. In dieser Bedeutung kommt es bereits in der Ilias bei Homer und in den Memorabilien Xenophons vor, bei Philon in Conf § 9 und im NT in Apg 2,11, Jak 3,5 und Offb 14,6. 263 In Röm 14,11 gebraucht Paulus γλῶσσα im Zitat von Jes 45,23 als Bezeichnung für den ganzen Menschen. Für die Über‐ setzung ist also der Kontext von entscheidender Bedeutung. Wie die bei Paulus am häufigsten gebrauchte Formulierung λαλεῖν γλώσσῃ / γλώσσαις zustande kam und wie sie zum terminus technicus wurde, kann nur unzureichend aufgeklärt werden. In der LXX und im Profangriechi‐ schen finden sich keine nennenswerten begrifflichen Parallelen. 264 In der For‐ schung werden drei Ansichten diskutiert, die die Ableitung des paulinischen Ausdrucks zu erklären versuchen: 265 Die erste Position geht davon aus, dass die Bezeichnung auf γλῶσσα zurückgeht, womit ein Sprechen gemeint ist, das ohne Zutun des Menschen geschieht und bei dem sich die Zunge selbstständig be‐ wegt. 266 Der Plural λαλεῖν γλώσσαις kann damit allerdings nicht erklärt 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 231 <?page no="232"?> 267 Vgl. zur Kritik z. B. Weiß, Korintherbrief. 336 und Johannes Behm: Art. γλῶσσα, ἑτερόγλωσσος, in: ThWNT I (1933), 725. 268 Mosiman, Zungenreden, 25. 269 So Weiß, Korintherbrief, 337 f und Behm, Art. γλῶσσα, 725. 270 Bauer / Aland, Wörterbuch, 324, Mosiman, Zungenreden, 133 und Behm, Art. γλῶσσα, 720.725. Dazu: Aristot. poet. 1457 b und Rhet. 1410 b. 271 Vgl. Aristot. poet. 21p, 1457b und poet. 22, 1458a; Plut. Is 61 (II 375e); Diod., IV 66,6. Beispiele nach Behm, Art. γλῶσσα, 720 und Klauck, Engelszungen, 287. 272 Vgl. zur Kritik z. B. Dautzenberg, Art. Glossolalie, 231 und Forbes, Prophecy, 60 f. 273 Vgl. Georg Goetz: Art. Glossographie, in: RE 7 (1912), 1433. 274 Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 298, Horn, Angeld, 207, Mosiman, Zungenreden, 9, Choi, Geist, 23. werden. 267 Ebenso einleuchtend ist die Anmerkung Mosimans, dass „jedes Reden ein Reden der Zunge [ist]; es ist also im Grunde genommen überflüssig, das überhaupt hervorzuheben“ 268 . Eine zweite Ansicht besteht darin, das Lexem γλῶσσα in der Bedeutung Sprache zu verstehen und zwar als eine besondere Sprache, etwa als himmlische oder neue Sprache, wie dies 1 Kor 13 bzw. der sekundäre Mk-Schluss nahe legt. 269 Einer dritten Möglichkeit zufolge ist das Lexem γλῶσσα als grammatischer Begriff in der Bedeutung „veralteter, fremd‐ artiger, unverständlicher, geheimnisvoller Ausdruck“ 270 zu fassen. Beispiele hierfür finden sich bei Aristoteles, Plutarch oder Diodorus Siculus. 271 Kritisiert wird diese Ansicht mit dem Argument, dass Paulus für die ‚hohe’ Sprache der Glossolalie, die mit den Sprachen der Engel assoziiert wird, keinen Ausdruck der Grammatik verwendet. 272 Dagegen ist anzuführen, dass keine Notwendig‐ keit besteht - dies gilt es untenstehend zu zeigen -, die Glossolalie als himmli‐ sche Sprache oder als Sprache der Engel zu verstehen. Weiterhin greift Paulus gerade den Charakter der Unverständlichkeit einer Äußerung, den der veraltete Ausdruck impliziert, auf. So erlangt v. a. die letzte Möglichkeit besonderes Ge‐ wicht für die weiterführende Semantik. Aus dem griechischen Lexem entwickelt sich der latinisierte Begriff der Glosse. Sie ergänzt erklärungsbedürftige Wörter oder Texte. 273 Paulus selbst gibt keine Auskunft darüber, wie und warum der Ausdruck bzw. die Verbindung von γλῶσσα und λαλεῖν zustande gekommen ist. Bezeichnend ist aber, dass die Terminologie den Korinthern bekannt gewesen sein muss, da Paulus weder das Phänomen noch die Wortwahl erklärt. 274 Ein technischer Ge‐ brauch der Terminologie lässt sich aber sowohl für die Profangräzität als auch für die LXX nicht ausmachen. Im Profangriechischen findet sich λαλεῖν γλώσσαις lediglich zweimal und zwar in der Rekonstruktion des Imanthes-Asc‐ IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 232 <?page no="233"?> 275 Vgl. Roy A. Harrisville: Speaking in Tongues. A Lexicographical Study, in: CBQ 38 (1976), 39.41 und PapOxy XI,229 (Text: The Oxyrhynchus Papyri Part XI, hg. v. B. Gren‐ fell und A. Hunt, London 1915, 229). 276 Vgl. Horn, Angeld, 207 und Ps 36,30; 38,4; 108,2 LXX, Hiob 33,2, Jes 19,18; 28,11; 32,4, Jer 9,4. Das Lexem wird in der LXX sowohl in negativem als auch in positivem Verständnis gebraucht. Die Zunge wird einmal für die Beschreibung der Ursache falschen Redens und als Bezeichnung für das Mittel, Falsches auszusprechen, gebraucht (Sir 5,13; 26,6; 28,18. 17. 14; Jer 9,2-7; 18,18 und Jes 59,3). Vgl. Behm, Art. γλῶσσα, 720 f. Andererseits wird das Lexem v. a. in den Psalmen positiv verwendet (Ps 44,2; Ps 70,24; Ps 50,16 LXX), indem die Zunge über die Gerechtigkeit Gottes reden kann. 277 Dennoch nimmt Horn, Angeld, 207 an, dass das Zitat dazu beigetragen hat, die Begriff‐ lichkeit in der von Paulus in 1 Kor 14 verwendetet Weise zu fixieren. 278 Dautzenberg, Glossolalie, 235.239 f bezieht auch 1 Thess 5,19 und Röm 8,26 auf die Glossolalie. Letzteres auch Gerd Theißen: Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Ur‐ christentums, Gütersloh 2007 197, der in Röm 8,26 eine „Uminterpretation der Zun‐ genrede als Seufzer der Kreatur“ sieht. V.a. gegen Röm 8,26 werden Einwände erhoben, v. a. weil ἀλάλητος nicht unverständlich (so Dautzenberg, Prophetie, 239), sondern un‐ aussprechlich / unsagbar heißt; damit sei keine Parallele zur Unverständlichkeit der Glossolalie gegeben. Vgl. Wolff, Art. Zungenrede, 756, Lindemann, Korintherbrief, 298 und Horn, Angeld, 202. 279 Vgl. Wilhelm Pratscher: Art. Glossolalie (Zungenrede). II. Neues Testament, in: RGG 4 3 (2000), 1014. 280 Vgl. Dautzenberg, Paulus, 61, Zeller, Fragen, 243 und Forbes, Prophecy, 172 f. Gegen Horn, Angeld, 201.291. 281 Vgl. Zeller, Korinther, 437, Dautzenberg, Glossolalie, 241 f, Choi, Geist, 32 f und Wolff, Art. Zungenrede, 758. lepius-Hymnus. 275 Die LXX weist zwar die Verbindung beider Lexeme achtmal auf, lässt aber ebenso keinen technischen Wortgebrauch erkennen. 276 Am nächsten steht die Textstelle, die Paulus in 1 Kor 14,21 aufgreift, Jes 28,11. Aber auch hier bietet die LXX mit dem Ausdruck ἑτερογλώσσαις keine echte Paral‐ lele. 277 Im NT findet sich die Terminologie ebenso nur an wenigen Stellen. Au‐ ßerhalb der Charismenlehre in 1 Kor 12-14 kommt sie nur in der Apg (2,4; 10,46; 19,6) und im sekundären Mk-Schluss in Mk 16,17 vor. 278 Auch die Charismenliste in Röm verzeichnet die Glossolalie nicht. Ein Grund dafür kann sein, dass es in Rom keine Überbetonung dieses Charismas gab, so dass Paulus es nicht für not‐ wendig erachtet hat, die Glossolalie zu thematisieren. 279 Deshalb muss nicht zu‐ gleich angenommen werden, dass das Charisma der Glossolalie ausschließlich auf die Gemeinde in Korinth begrenzt war. 280 Ob die weiteren Textbelege von γλῶσσα mit der Gabe der Zungenrede in Verbindung stehen, ist ebenfalls fraglich. Für die Mk-Stelle ist der Bericht der Apg als Voraussetzung anzunehmen. 281 Hier findet sich die Formulierung γλώσσαις λαλήσουσιν καιναῖς (in neuen Zungen werden sie reden); durch das 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 233 <?page no="234"?> 282 Vgl. Pratscher, Art. Glossolalie, 1014. 283 Vgl. Horn, Angeld, 203. 284 Vgl. Schrage, Korinther 3, 159, Anm. 249. Ähnlich auch bei Behm, Art. γλῶσσα, 724, Wilhelm Pratscher: Zum Phänomen der Glossolalie, in: Gott ohne Eigenschaften? , hg. v. Susanne Heine und Erich Heintel, Wien 1982, 121 und Horn, Angeld, 203. 285 Auch in SirProl 1,22 findet sich die Verbindung von ἕτερος und γλῶσσα. 286 Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 298 und Choi, Geist, 27. 287 Vgl. Zeller, Korinther, 434. Adjektiv καινός erhält die Stelle einen eschatologischen Charakter. 282 Es bleibt also die Frage, welches Phänomen die Apg beschreibt. In der Forschung wird die Ansicht vertreten, dass es sich in Apg 2,1-13 um eine religionsgeschichtliche Parallele zu 1 Kor 14 und der Glossolalie handelt. Zu 1 Kor 14 werden folgende Analogien genannt: Die Sprechenden sind nach Apg 2,4; 10,44 f und 19,6 vom Heiligen Geist erfüllt. Alle drei Textbelege der Apg weisen diese Gemeinsamkeit auf. Das lässt darauf schließen, dass Lk den Zu‐ sammenhang von Geistverleihung und Zungenrede inhaltlich und begrifflich aus der Überlieferung übernommen hat. 283 Weiterhin sind die Anwesenden nach Apg 2,12 ratlos (διαπορέω) und verstehen nicht, was vor sich geht; dies hat nach Apg 2,13 zur Folge, dass sie annehmen, dass die Sprechenden betrunken seien (γλεῦκος μεμεστωμένοι ἐισίν) und dass ab Apg 2,14 eine Erklärung / Deutung durch Petrus erfolgt. 284 In der Apg eine religionsgeschichtliche Parallele anzu‐ nehmen, wird aber auch bestritten: Gegen den zuletzt genannten Aspekt ist einzuwenden, dass Petrus das gesamte Geschehen erklärt, nicht explizit die ge‐ sprochenen Worte. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die Menschen nach dem Bericht der Apg das λαλεῖν ἑτέραις γλώσσαις in ihren jeweiligen Sprachen verstehen. 285 Es handelt sich also nicht um unverständliche Äuße‐ rungen, sondern um verständliche, die jeweils in unterschiedlichen Sprachen getätigt werden. 286 Darin liegt das Ziel der Apostel: Sie sollen das Evangelium in der ganzen Welt, also an Menschen, die fremde Sprachen sprechen, verkün‐ digen. In der Apg verstehen jeweils einzelne Personengruppen das, was gespro‐ chen wird; in der paulinischen Argumentation versteht das Gesprochene nie‐ mand von den Gemeindegliedern, weshalb eine ‚Übersetzung’ notwendig ist. In der Apg hingegen ist nicht davon die Rede, dass eine solche benötigt wird. 287 Dies bringt die Formulierung ἑτέραις γλώσσαις zum Ausdruck; es handelt sich um andere, unterschiedliche, fremde Sprachen, nicht um unverständliche. Die abschließende Reaktion der Anwesenden in Apg 2,13, die Menschen, die spre‐ chen, seien voll süßen Weins, passt eher zur Schilderung der Glossolalie als zu der des Fremdsprachenwunders. Deshalb wird in der Forschung angenommen, dass der Bericht auf eine Vorlage zurückgeht, die eine glossolalische Äußerung beschrieben hat, von welcher der Verfasser der Apg aber selbst keine klare Vor‐ IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 234 <?page no="235"?> 288 Vgl. Rudolf Pesch: Die Apostelgeschichte. 1. Teilband. Apg 1-12, Zürich, Einsiedeln, Köln 1986 (EKK V), 100 f.107 und Lindemann, Korintherbrief, 298. 289 Vgl. Wolff, Art. Zungenrede, 757, Pesch, Apostelgeschichte, 99 und Dautzenberg, Art. Glossolalie, 240 f. Erstmals grenzt sich Mosiman, Zungenreden, 128-130 davon ab, 1 Kor 14 von der Apg her zu interpretieren. 290 Vgl. Pratscher, Art. Glossolalie, 1014, Pesch, Apostelgeschichte, 100 und Jacob Jervell: Die Apostelgeschichte, Göttingen 1998 (KEK 3), 136. Vielmehr ist anzunehmen, dass der Bericht der Apg durch weitere Traditionen erklärt werden kann, z. B. durch die rabbinische Auslegung des Sinaigeschehens, bei dem die Stimme Gottes in 70 unter‐ schiedliche Stimmen geteilt wurde, ebenso wie die Tora in 70 Sprachen lesbar wurde. Vgl. Otto Betz: Zungenreden und süßer Wein, in: Jesus. Der Herr der Kirche. Aufsätze zur biblischen Theologie II, hg. v. ders., Tübingen 1990 (WUNT 52), 62 f und Wolff, Art. Zungenrede, 757. 291 Vgl. Horn, Angeld, 106 und Schrage, Korinther 3, 159. 292 Vgl. Horn, Angeld, 204. Auch die altkirchliche Literatur bestätigt diese Ansicht. Sie vernachlässigt das Phänomen häufig ( Justin) oder beschreibt es in Anlehnung an 1 Kor 2.12-14 (Tertullian, Irenäus). Vgl. Dautzenberg, Art. Glossolalie, 242-244. 293 Vgl. Pratscher, Phänomen, 122. 294 Vgl. Zeller, Korinther, 437. stellung hatte. 288 Der Evangelist selbst oder die lk Tradition hat glossolalische Rede in ein Fremdsprachenwunder umgestaltet, so dass die Verkündigung des Evangeliums in Apg 2,5-11 als ein vom Heiligen Geist gewirktes Geschehen verstanden werden kann. 289 Die Ansicht, dass das in der Apg beschriebene Spra‐ chenwunder erst sekundär an die Glossolalie angeglichen wurde, ist abzulehnen, weil Apg 2,5-13 in Spannung zum ersten Teil der Pfingsterzählung steht und weil Lk gerade den sprachlichen Aspekt betont und somit keine Notwendigkeit gegeben ist, den Bezug zu diesem Sprachphänomen auszugrenzen. 290 Ungeachtet dessen, dass die Parallelen von 1 Kor 14 und der Apg ernst genommen werden müssen, darf die Verschiedensprachigkeit, die in der Apg thematisiert wird, nicht auf 1 Kor 14 übertragen werden. 291 Es handelt sich in 1 Kor 14 nicht um eine Gabe, die unterschiedliche kulturelle Sprachen dieser Zeit thematisiert, sondern um eine religiöse Sondersprache. Dies gilt es untenstehend zu zeigen. Die Unterschiede, die sich zu dem in 1 Kor 14 beschriebenen Phänomen λαλεῖν γλώσσῃ / γλώσσαις und der Apg ergeben, legen nahe, dass der Verfasser der Apg zwar den Zusammenhang von Geistverleihung und Glossolalie kennt und für die frühen christlichen Gemeinden annimmt, dass er selbst aber kein klares Profil der Zungenrede besitzt und dieses Charisma im Bericht über die Geistausgießung deshalb nicht schildert. 292 Darauf deutet auch die Verwendung des Lexems in Apg 10,46 und 19,6 hin. Beide Male wird das Reden in Zungen mit einer verständlichen Äußerung verbunden, einmal mit dem Gotteslob, einmal mit der Prophetie. 293 Beide Charismen werden hier miteinander ver‐ mischt bzw. nicht klar voneinander unterschieden. 294 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 235 <?page no="236"?> 295 Vgl. auch Choi, Geist, 47. 296 So Forbes, Prophecy, 72-74 und Pesch, Apostelgeschichte, 101. 297 Klauck, Engelszungen, 283. 298 Schrage, Korinther 3, 161, der diese Position ebenfalls verneint. 299 Vgl. PGrM I 146 f (αχα αχαχα χαχ χαρχαρα χαχ) oder PGrM II 4 (αλλαλαλα αλλαλαλα σανταλαλα ταλαλα). Text nach Preisendanz, Papyri Graecae Magicae. Selbstverständ‐ lich sind diese Lautreihen nicht sinnlos. Sie entfalten ihre Kraft während des Vortrags in der Gemeinschaft und auch hinter ihrer Bildung verbergen sich Regeln und Systeme, die gelegentlich begründet werden (vgl. PGrM IV 1210). Sie sind aber nicht inhaltlich gefüllt und stellen keine eigene Sprache dar. Vgl. hierzu Hans-Joseph Klauck: Von Kas‐ sandra bis zur Gnosis. Zum Umfeld der frühchristlichen Glossolalie, in: ThQ 179 (1999), 300 f.304 f. 300 Vgl. Zeller, Korinther, 434 und der vorsichtige Hinweis von Schrage, Korinther 3, 394. Dagegen Klauck, Engelszungen, 283. Ähnlich auch Theißen, Aspekte, 32 f. Eine sehr differenzierte Möglichkeit, die glossolalischen Äußerungen einzuteilen, bietet Vern S. Poythress: The Nature of Corinthian Glossolalia: Possible Options, in: The Westminster Theological Journal 40 (1977), 132 f. Er stellt aber fest, dass man die pau‐ linischen Aussagen diesen Klassifizierungen nur schwer zuordnen kann und dass weder Paulus noch die Korinther ein Interesse und eine exakte Vorstellung von linguistischen Kategorien hatten (Vgl. Poythress, Nature, 134). 301 Vgl. Klauck, Engelszungen, 283. 302 Theißen, Erleben, 200. Neben der LXX und der profangriechischen Literatur bieten also auch die ntl. Texte keine echten begrifflichen Parallelen für die von Paulus in 1 Kor 14 dar‐ gestellte Glossolalie. 295 Es ist nicht davon auszugehen, dass die in der Apg ver‐ wendete Begrifflichkeit den ursprünglichen Ausdruck darstellt und der von Paulus verwendete Terminus eine verkürzte Form der Wendungen λαλεῖν ἑτέραις γλώσσαις oder λαλεῖν γλώσσαις καιναῖς ist; 296 außerdem weichen die ntl. Stellen nicht nur begrifflich von den paulinischen Wendungen ab, Mk 16,17 ist um καινός erweitert, Apg 2,4 um ἕτερος, sondern auch phänomenologisch. (2) Wie ist also das Charisma der Glossolalie zu verstehen? Es existieren zwei kontrastierende Ansichten, nach denen es sich um „pseudolinguistische Äuße‐ rungen“ handeln kann, die „keine semantischen Inhalte verbinden kann“ 297 , oder um ein inhaltlich gefülltes Sprechen, das den Charakter einer Sprache hat. Es kann sich bei der Glossolalie nicht um ein ‚Wirrwar’ von Lauten handeln, das einem „bloße[n] Lallen und Stammeln mit inhaltlicher Unbestimmtheit“ 298 gleichkommt, wie es sich beispielsweise in den Zauberpapyri findet, 299 weil Paulus die Glossolalie nach 1 Kor 14,19 dezidiert als Worte (λόγος) beschreibt. 300 Warum die Glossolalie pseudolinguistische Äußerungen sein sollen, bleibt bei Klauck offen. 301 Theißen, der die Glossolalie ebenfalls als „Sprache ohne Se‐ mantik und Grammatik“ versteht, die mit „den Lallmonologen kleiner Kinder“ 302 vergleichbar sind, begründet dies mit 1 Kor 13,11 und 1 Kor 14,20. Die Verse IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 236 <?page no="237"?> 303 Vgl. Poythress, Nature, 134. 304 Klauck, Engelszungen, 287, zwar mit Verweis auf Aristot. poet. 22, 1458a25-31, der γλῶσσα zweimal als veralteten Terminus mit dem Lexem βαρβαρισμός beschreibt, nicht aber das Phänomen der Zungenrede. 305 Gegen Pratscher, Phänomen, 129 f, der aus 1 Kor 14,21 schließt, dass es sich bei der Glossolalie um göttliche Rede an den Menschen handelt. Später jedoch fügt auch Prat‐ scher den Aspekt, dass es sich bei der glossolalischen Rede um ein Sprechen des Men‐ schen an Gott handelt, hinzu. Vgl. Pratscher, Phänomen, 131. 306 Vgl. Poythress, Nature, 133 und Gerald Hovenden: Speaking in Tongues. The New Tes‐ tament Evidence in Context, London, New York 2002 ( Journal of Pentecostal Theology Suppl 22), 124. 307 Vgl. Conzelmann, Korinther, 285 und Schrage, Korinther 3, 161. 308 Vgl. Merklein / Gielen, Korinther, 172. treffen aber eine allgemeine Aussage und beziehen sich keineswegs auf einen konkreten Inhalt oder auf die Grammatik. Wir wissen nicht, ob Paulus in einer Offenbarung Kenntnis über die Struktur einer glossolalischen oder himmlischen Sprache erlangte; er verfolgt jedenfalls kein Interesse, die Sprache nach linguistischen Kategorien zu beschreiben oder zu erklären. 303 Er beschreibt das glossolalische Sprechen nur an einer Stelle, in 1 Kor 14,19 als Worte, an keiner Stelle jedoch als Silben, Geschrei, Stammeln oder Lallen. Auch das in 1 Kor 14,11 genannte Substantiv βάρβαρος liefert keinen Hinweis darauf, dass das glossolalische Reden „als undeutliches Ge‐ stammel, als Murmeln in den eigenen Bart (»Rhabarberrhabarber«)“ 304 zu cha‐ rakterisieren ist. Es dient dazu, die inhaltliche Unverständlichkeit der Glossolalie für andere Personen zu markieren, 1 Kor 14,11 gibt keine Auskunft über ihr Wesen. Deshalb muss die Aussage in 1 Kor 14,19, die die Glossolalie als Worte beschreibt, ernst genommen werden. Die Glossolalie ist als sprachliche Äuße‐ rung des Menschen zu verstehen. 305 Sie ist inhaltlich nicht unbestimmt, sondern transportiert einen sprachlichen Gehalt. 306 Da sie nach 1 Kor 14,5 durch das Charisma der ‚Übersetzung’ in verständliche Worte, die einen bestimmten Inhalt präsentieren, gebracht werden kann, muss den Worten auch zuvor ein Inhalt eigen sein. Dann muss der Glossolalie der Status einer Sprache zugesprochen werden, weil sie bereits aus Worten besteht. 307 Die in der glossolalischen Äuße‐ rung gesprochenen Worte werden in einer für den Zuhörer nicht verstehbaren Sprache geäußert, was aber eben keineswegs heißt, dass sie inhaltlich unbe‐ stimmt sind. 308 Dass γλῶσσα als sinnvolle Sprache zu verstehen ist, legt auch der Gebrauch in Mk und in der Apg nahe. Da davon auszugehen ist, dass dem Bericht der Apg 2 die Schilderung einer Glossolalie zu Grunde liegt, muss das glossolalische Sprechen als Sprache verstanden worden sein, das nahe legt, den Bericht zu einem Xenolaliewunder zu verändern. Unter der Glossolalie ist zwar eine unverständliche sprachliche Äußerung zu verstehen, das wird das folgende 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 237 <?page no="238"?> 309 Vgl. Merklein / Gielen, Korinther, 129, Zeller, Korinther, 434. 310 In der Funktion des Lobens wird γλῶσσα auch in Sir 51,22 LXX verwendet. Vgl. Horn, Angeld, 214 f. 311 Zeller, Korinther, 434. Vgl. auch Klauck, Kassandra, 293. 312 Klauck, Engelszungen, 279. 313 Ersteres vertritt Pratscher, Phänomen, 130 f; Zweiteres Vincenzo Scippa: La glossolalia ne Nuovo Testamento. Ricerca esegetica secondo il metodo storico-critico e anali‐ tico-strutturale, Neapel 1982 (BTNap), 219 f, zitiert nach Klauck, Engelszungen, 277, Anm. 7; eine Verbindung des Ausdrucks mit der Glossolalie nehmen an: Dautzenberg, Prophetie, 236 f, Horn, Angeld, 211-214, Mosiman, Zungenreden, 47, Schrage, Korin‐ ther 3, 284, Wolff, Korinther, 313 f; kritisch gegen einen Zusammenhang von Glossolalie und der Sprachen der Engel Eckhard J. Schnabel: Urchristliche Glossolalie. Thesen, 1998 (JETh 12), 77-99 und Forbes, Prophecy, 61-65, der Glossolalie bei Paulus in Anlehnung an die Apg auf die Fremdsprachen bezieht. 314 Zur ausführlichen Kritik s. auch Thiselton, Tongues, 17.27-31. So aber Forbes, Prophecy, 61-65. Kapitel zeigen, sie ist aber in jedem Fall eine sprachliche Äußerung. 309 Dafür spricht auch, dass die Glossolalie nach 1 Kor 14,14-16 in unterschiedlichen sprachlichen Formen erfolgen kann: εὐχαριστέω (Dank / Danken), προσεύχομαι (Gebet / Beten), ψάλλω (Gesang / Singen). 310 Wenn es sich nicht um eine Sprache handelt, kann auch nicht zwischen verschiedenen Formen (und Inhalten) einer sprachlichen Äußerung unterschieden werden. Die Glossolalie dient nach 1 Kor 14,2 der Kommunikation mit Gott. Es bedarf einer dafür geeigneten Sprache, wenn der Glossolale „zu dem spricht, der sich nicht in herkömmliche mensch‐ liche Worte fassen lässt“ 311 . Die Glossolalie hat sich mit dem aufkommenden Bewusstsein, in der neuen Zeit zu leben, in der die Verheißungen Gottes erfüllt wurden, entfaltet, weil man angesichts dieser neuen Zeit auch nach angemes‐ senen Sprachformen suchte, die „den Dank für seine großen Taten in angemes‐ sener Weise zum Ausdruck bringen konnten“ und nach solchen, „die eine direkte Kommunikation mit dem himmlischen Bereich, mit Gott und seinen Mächten“ 312 ermöglichen. Diese besondere Sprachform gilt es nun näher zu charakterisieren. Dazu kann 1 Kor 13,1 herangezogen werden. Hier schreibt Paulus von den γλῶσσαι τῶν ἀνθρώπων καὶ τῶν ἀγγέλων. Handelt es sich bei den ‚Sprachen der Menschen’ um die Prophetie, bei den ‚Sprachen der Engel’ um die Glosso‐ lalie? Sind beide Phrasen auf die Glossolalie zu beziehen? Ist keine der Angaben mit der Glossolalie zu assoziieren? Ist doch die Verbindung zur Apg und den Fremdsprachen stärker zu betonen? 313 Letzteres ist abzulehnen, das wurde oben bereits deutlich. 314 In 1 Kor 14 sollen die Menschen eine Sprache sprechen, die zur Erbauung der Gemeinde dient, keine Sprache, die fremdsprachigen Men‐ schen verständlich ist. Weiterhin lässt sich keine Erklärung dafür finden, warum sich der Glossolale in der persönlichen Kommunikation mit Gott einer Fremd‐ IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 238 <?page no="239"?> 315 So Eckhard J. Schnabel: Der erste Brief des Paulus an die Korinther, Witten, Giessen 2 2010 (HTA), 786, 797 f. Dagegen Horn, Angeld, 208, Thiselton, Corinthians, 1100 und Wolff, Art. Zungenrede, 755. Das heißt nicht, dass Gott nicht jede Sprache versteht. Es geht allein um die Frage, warum der Sprecher sich einer Fremdsprache bedienen sollte. Wenn für die Kommunikation mit Gott eine besondere Sprache verwendet werden kann / soll, liegt es nicht nahe, eine Fremdsprache anzunehmen. 316 Vgl. Poythress, Nature, 132. 317 Lukian., Alexandros 13 (Text: Ulrich Victor: Lukian von Samosata: Alexandros oder der Lügenprophet, Leiden, New York, Berlin 1997 (RGRW 132), 90-92) beschreibt bei‐ spielsweise, dass Alexander unverständliche Worte wiedergibt, die wie Hebräisch oder Phönizisch klingen, und damit die Menschen erschreckt, weil sie nur die Namen Apollo und Asklepios verstehen können. Victor, Lukian, 142 bestimmt dieses Phänomen für das Christentum als Glossolalie. sprache bedienen sollte. 315 Zudem ist ein spezielles geistgewirktes Charisma notwendig, um die Glossolalie verständlich zu machen; damit kann kaum die kognitive Fähigkeit gemeint sein, eine Fremdsprache zu erlernen. 316 Nicht von der Hand gewiesen werden soll dennoch die Tatsache, dass fremdsprachige Ausdrücke in die glossolalische Rede eingeflossen sein können und dass daher zumindest der Eindruck entstehen konnte, dass der Glossolale eine fremde Sprache spricht. 317 Ein Bezug zur Glossolalie ist für 1 Kor 13,1 anzunehmen, auch wenn Paulus begrifflich nicht von einem Reden in Zungen spricht. Er schließt in 1 Kor 12,29 damit, verschiedene Charismen, auch das der prophetischen und glossolalischen Rede zu nennen, und fordert auf, nach den größeren Gaben zu streben. Zunächst nennt Paulus aber kein größeres Charisma, sondern bleibt thematisch bei den bereits bekannten Charismen und spricht von den Sprachen der Menschen und Engel und der Prophetie: (1) Ἐὰν ταῖς γλώσσαις τῶν ἀνθρώπων λαλῶ καὶ τῶν ἀγγέλων, ἀγάπην δὲ μὴ ἔχω, γέγονα χαλκὸς ἠχῶν ἢ κύμβαλον ἀλαλάζον. (2) καὶ ἐὰν ἔχω προφητείαν καὶ εἰδῶ τὰ μυστήρια πάντα καὶ πᾶσαν τὴν γνῶσιν, καὶ ἐὰν ἔχω πᾶσαν τὴν πίστιν ὥστε ὄρη μεθιστάναι, ἀγάπην δὲ μὴ ἔχω, οὐθέν εἰμι. (1 Kor 13,1 f) (1) Wenn ich mit den Zungen der Menschen und der Engeln spreche, Liebe aber nicht habe, bin ich ein tönendes Erz oder eine klingende Zimbel. (2) Und wenn ich die Prophetengabe habe und alle Geheimnisse kenne und alle Erkenntnis und wenn ich allen Glaube habe, um Berge zu versetzen, aber Liebe nicht habe, bin ich nichts. (1 Kor 13,1 f) In 1 Kor 13,1 ff knüpft Paulus an die vorangehende Argumentation an und leitet anhand der zuvor erwähnten Charismen zur Thematik der Liebe über, indem er beide Aspekte miteinander verknüpft. Die Charismen stehen jeweils in einem positiven Konditionalsatz und werden mit (καὶ) ἐάν eingeleitet. Die Liebe an 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 239 <?page no="240"?> 318 So auch Dautzenberg, Prophetie, 236 f, Horn, Angeld, 211-214 und Mosiman, Zungen‐ reden, 47. 319 Vgl. ausführlich Kap. IV, 3.2.2. sich wird erst ab 1 Kor 13,4 eigenes Thema, steht hier jeweils im negativen Konditionalsatz. Da Paulus die Gabe der Prophetie in 1 Kor 13,2 aufgreift und sich die Gegenüberstellung dieser zur Glossolalie bereits in 1 Kor 12,10.28-30 abgezeichnet hat und das gesamte 14. Kapitel bestimmen wird, kann auch an dieser Stelle davon ausgegangen werden, dass Paulus beide Sprachgaben auf‐ greift. 318 Verstärkt wird die Annahme durch die klimaktische Tendenz von 1 Kor 13,1-3. Die Verse zeigen eine Steigerung, die in 1 Kor 13,3 ihren Höhepunkt erreicht: Selbst wenn ich all mein Hab und Gut weggebe und meinen Leib hin‐ gebe, dies aber ohne Liebe tue, bin ich nichts. Die vorangegangene Aufzählung soll anhand möglichst vieler Charismen zeigen, dass sie ohne Liebe nichts wert sind. 1 Kor 13,8 bestärkt diese Annahme: Paulus greift verschiedene Charismen auf, die Prophetie, die Erkenntnisrede und - terminologisch durch γλῶσσα ausgedrückt - die Glossolalie. Damit werden erneut die in 1 Kor 13,1 genannten Charismen aufgenommen und es wird auf ihren bruchstückhafter Charakter verwiesen. Ein weiterer Hinweis darauf, dass es sich hier um die glossolalische Rede handelt, die Paulus thematisiert, ist der Vergleich mit den Musikinstru‐ menten. Diese bringt er auch in 1 Kor 14,7 f erneut ein, um die Glossolalie bzw. ihre Wirkung zu erklären. Die Veranschaulichung durch Musikinstrumente ist ein Spezifikum, das Paulus auf die Glossolalie anwendet. 319 1 Kor 13,1 ist also auf die Glossolalie zu beziehen, weil somit ein sinnvoller Anschluss von 1 Kor 12 an 1 Kor 13 erklärt werden kann, weil die Gegenüber‐ stellung von Prophetie und Glossolalie der wesentliche Gegensatz ist, der die Kapitel 12-14 des 1 Kor durchzieht, weil sie für die Vergleiche mit den Musik‐ instrumenten prädestiniert ist und weil auch in 1 Kor 13,8 die Glossolalie erneut aufgegriffen wird. Es bleibt aber dennoch die Frage, ob sich beide Ausdrücke auf die Glossolalie beziehen oder ob nur die Sprache der Engel die Glossolalie be‐ schreibt, während unter der Sprache der Menschen die Prophetie zu verstehen ist. Da das Charisma der Prophetie in 1 Kor 13,2 f ausführlich bedacht wird und das Lexem γλῶσσα sonst nicht für die prophetische Rede steht, ist unter dem vollständigen Ausdruck das Charisma der Glossolalie anzunehmen. Auch die Tatsache, dass die beiden Genitive mit den Konnektor καί verbunden sind und nicht durch ἤ o. Ä. getrennt werden, spricht dafür, den gesamten Ausdruck als Einheit aufzufassen und auf die Glossolalie zu beziehen. Die Rede von den γλῶσσαι τῶν ἀγγέλων ist als besonderer Stil, als poetische Sprache, zu ver‐ stehen, der sich in den Rahmen von 1 Kor 13 passend einfügt; der Ausdruck bezieht sich nicht auf die Engelssprachen, obgleich nicht bestritten werden soll, IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 240 <?page no="241"?> 320 Als Engelssprachen versteht die Glossolalie Dautzenberg, Prophetie, 161. 321 So aber Horn, Angeld, 211 f, Dautzenberg, Art. Glossolalie, 238 und Theißen, Aspekte, 289 ff. 322 Samuel Vollenweider: Viele Welten und ein Geist. Überlegungen zum theologischen Umgang mit dem neuzeitlichen Pluralismus im Blick auf den 1. Korintherbrief, in: Plu‐ ralismus und Identität, hg. v. Joachim Mehlhausen, Gütersloh 1995 (VWGTh 8), 371 zielt auf denselben Aspekt ab; er spricht zwar nicht von einer religiösen Sondersprache, aber davon, dass Glossolale sich „in einer Sonderwelt“ bewegt. 323 Vgl. Zeller, Korinther, 435. Es werden auch Datierungen in das 2. Jh. n. Chr. vorge‐ nommen, aber auch dann kann, wie Klauck, Engelszungen, 281 richtig darlegt, der Text ältere Traditionen enthalten. Als Parallele nicht heranzuziehen wäre der Text, wenn es sich bei den Passagen um nachträgliche christliche Einfügungen handeln würde. Diesen Überlegungen ist allerdings nicht zuzustimmen. Vgl. Das Testament Hiobs, eingeleitet und übersetzt von Bernd Schaller, Gütersloh 1979 (JSHRZ III,3), 305-312, hier auch die Behandlung sämtlicher Einleitungsfragen zu TestHiob auf (s. 303-321). 324 Vgl. TestHiob 46,1-9 bzw. TestHiob 48,1-3. 325 Vgl. TestHiob 51,3 f. dass es diese gibt. 320 Die Glossolalie demonstriert aber nicht das Wirken himm‐ lischer Wesen im Gottesdienst und verweist nicht auf eine bereits jetzt verwir‐ klichte Himmelssprache, die u. U. auch die eschatologische Gemeinschaft mit Gott vorwegnimmt. 321 Sie ist eine Sprache, die von Menschen gesprochen wird; präzisiert: Sie ist als religiöse Sondersprache zu verstehen, weil sie nach 1 Kor 14,2 auf die Kommunikation mit Gott ausgerichtet ist. 322 Wenn sie darüber hi‐ naus einen Nutzen für die Gemeinde haben soll, muss sie in eine für alle ver‐ ständliche Sprache übersetzt werden. Als religionsgeschichtliche Parallele zur Glossolalie wird in der Literatur häufig TestHiob 46-52 genannt. Es handelt sich um einen Text des hellenisti‐ schen Judentums, der im ersten nachchristlichen Jahrhundert entstandenen ist. 323 Hiob verteilt sein Hab und Gut an seine Kinder. Die drei Töchter erhalten jeweils einen Gürtel aus der Schatzkammer. Eine Tochter Hiobs erfährt eine Verwandlung ihres Herzens, als sie den Gürtel anlegt, so dass sie in der Sprache der Engel (τῇ ἀγγελικῇ φωνῇ) Gott zu loben beginnt. 324 Die zweite Tochter spricht die Sprache der Archonten und die dritte die der Cherubim. Im Anschluss an das Sprechen in den anderen / fremden Sprachen, legen sich die Töchter ihre Reden gegenseitig aus. Weil dies von einem Bruder Hiobs vernommen wird, der es aufschreibt, wird gesagt, dass das von der ersten Tochter dargebrachte Got‐ teslob - obgleich es in der Engelssprache stattgefunden hat - nachgelesen werden kann. 325 Das Lexem ὑποσημειοῦσθαι in TestHiob 51,3 muss eine ‚Um‐ formung oder Übersetzung’ in die menschliche Sprache bezeichnen, damit die Engelsprache den beiden anderen Töchtern verständlich gemacht und das Ganze aufgeschrieben werden konnte; darin wird eine Parallele zum 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 241 <?page no="242"?> 326 Vgl. Dautzenberg, Prophetie, 233 f, Dautzenberg, Art. Glossolalie, 234 und Klauck, En‐ gelszungen, 281. Bestritten von Forbes, Prophecy, 185. Er weist darauf hin, dass zwar σημειοῦσθαι in der Bedeutung ‚etwas deuten oder interpretieren’ verwendet wird, dass die Zusammensetzung ὑποσημειοῦσθαι jedoch in der Semantik ‚aufzeichnen’ und ‚un‐ terzeichnen’ gebraucht ist. So wird in TestHiob dann ausgesagt, dass das Gotteslob der Töchter aufgezeichnet wurde, nicht dass es übersetzt wurde. Einzuwenden ist, dass das in Engelssprache Gesprochene aber eine Art ‚Umformung’ erfahren haben muss, wenn es in menschlicher Sprache aufgezeichnet wurde. 327 Hier preisen die oberen δυνάμεις eines Entrückten Gott mit ihrer φώνη. Vgl. Richard Reitzenstein: Poimandres. Studien zur Griechisch-Ägyptischen und Frühchristlichen Literatur, Darmstadt 1966, 55 f. 328 Hier gelten bestimmte Stimmen, die voces mysticae, als Worte aus der himmlischen Welt. Vgl. ausführlich Klauck, Kassandra, 298-305. Kritik an der religionsgeschichtli‐ chen Parallele der Zauberpapyri bei Forbes, Prophecy, 153 f. 329 Hier findet sich eine Reihe von Textstellen, an denen die Menschen in die Kommuni‐ kation mit den Engeln, v. a. dem Erzengel Michael, treten. Vgl. ApkMos 13 f.22. 27. 29.33.37 f.43 (Text bei Paul Riessler: Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel, Augsburg 1928, 138-155). 330 Zur ausführlicheren Untersuchung s. Weiß, Korintherbrief, 336-339 und Wolff, Art. Zungenrede, 759-761. 331 Lindemann, Korintherbrief, 298 beispielsweise bestreitet, dass hier eine religionsge‐ schichtliche Parallele vorliegt, u. a. weil die drei Töchter Hiobs zwar in der Sprache der Engel (48,3: τῇ ἀγγελικῇ διαλέκτῳ; 50,1: ἐν τῇ διαλέκτῳ τῶν ἐν ὕψει) reden, aber nicht kommuniziert wird, dass das Reden unverständlich bleibt. 332 So von Horn, Angeld, 209 und dazu Hom. Il I,403; 14,291. διερμηνεύειν der Glossolalie in 1 Kor 14 gesehen. 326 Das TestHiob und weitere Texte wie Poimandres, 327 die Zauberpapyri 328 und die ApkMos 329 zeigen, dass Menschen in einer bestimmten Sprache in die Kommunikation mit Gott bzw. der himmlischen Welt treten. 330 Damit kann Folgendes gezeigt werden: Es be‐ steht die Möglichkeit, das Lexem γλῶσσα als Sprache zu verstehen; es gibt Sprachen, die anderen Menschen unverständlich sind, die ihnen aber in einem zweiten Schritt verständlich gemacht werden können. Von TestHiob ausgehend ist aber nicht anzunehmen, dass es sich bei dem von Paulus beschriebenen Cha‐ risma um Engelssprachen handelt. 331 Dies wurde bereits von 1 Kor 13 her deut‐ lich und dies wird es auch von 1 Kor 14 her: Hier werden zwei Sprachgaben behandelt, die von Menschen in der Gemeinde gesprochen werden. Ein Bezug zu den Sprachen der Engel findet sich hier nicht. Auch die Orakelsprüche der Pythia werden häufig als religionsgeschichtliche Parallele geführt. 332 Allerdings sind hier Zweifel angebracht, da Pythia in eks‐ tatischen Zuständen zwar göttliche Mitteilungen empfängt, möglicherweise auch in einer himmlischen Sprache; sie gibt sie aber nicht in einer unverständ‐ lichen Sprache wieder. Die Aussagen der Pythia müssen zwar gedeutet, nicht aber in eine Sprache der kulturellen Zeit ‚übersetzt’ werden, denn Pythia spricht IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 242 <?page no="243"?> 333 Vgl. Zeller, Korinther, 436, Zeller, Fragen, 239 und Hovenden, Speaking, 23. Kritisch Forbes, Prophecy, 107-119.136-138. 334 Vgl. Schrage, Korinther 3, 158 f, Zeller, Korinther, 436 und Horn, Angeld, 209. Im NT wird das Lexem ἔκστασις gebraucht, um Reaktionen auf Wunder zu beschreiben (Mk 5,42; 16,8 und Lk 5,26). Zum Vergleich der Glossolalie und dem Phänomen der durch eine stimmliche Äußerung ausgedrückten Ekstase, s. Watson E. Mills: Early Ecstatic Utterances and Glossolalia, in: Perspectives in Religious Studies 24 (1997); er zeigt, dass es in der gr.-röm. Kultur und Religion eine stimmliche artikulierte Ekstase gab (33). Auch für das AT (Num 11,24-29, 2 Kön 2,3-6, 1 Sam 10,5 f) belegt er das und weist auf die Verbindung von Ekstase und Prophetie hin (34 f). Damit kann Mills zwar zeigen, dass für die paulinische Zeit ekstatische Phänomene bekannt und gängig waren (39), die oben aufgezeigten Unterschiede, v. a. dass die Pythia Griechisch spricht, bleiben aber bestehen. Kritisch zu profangriechischen Parallelen auch Hovenden, Speaking, 6-30. 335 Vgl. Dautzenberg, Art. Glossolalie, 241. 336 Vgl. Dautzenberg, Art. Glossolalie, 243. 337 Gegen Mosiman, Zungenreden, 43.50. 338 Vgl. Dautzenberg, Art. Glossolalie, 242.244 f. Griechisch. Durch Hinweise auf Orakeltätigkeiten kann also lediglich erklärt werden, dass eine Sprachform eine Interpretation benötigt, nicht aber, dass sie einer Übersetzung bedarf. 333 Zwischen Orakelwesen, Ekstase und Glossolalie lässt sich als gemeinsamer Hintergrund die Idee annehmen, dass für die Kom‐ munikation mit Gott eine besondere Sprache benötigt wird, die durch eine be‐ sondere Wirkung des Geistes gekennzeichnet ist und für die der Fokus nicht auf der Vernunft liegt. 334 Stärker als die profangriechischen Texte ist die frühjüdi‐ sche Literatur in Bezug zur Glossolalie zu setzen, obgleich sich auch hier Un‐ terschiede ausmachen lassen. Das bei Paulus beschriebene Charisma findet in seiner Eigenart keine echten Parallelen. Auch die Nachgeschichte zeigt, dass es sich um ein zeitgeschichtliches Phänomen handelt: In Kol 3,16 ist von der Auf‐ forderung, geistliche Lieder zu singen (ᾠδαῖς πνευματικαῖς) die Rede, das sich möglicherweise auf die Glossolalie bezieht; 335 direkt erwähnt wird die Glosso‐ lalie in den deuteropaulinischen Briefen und den Pastoralbriefen nicht. Irenäus und Tertullian erwähnen die Glossolalie, ohne sie näher zu beschreiben oder gar auf eine gegenwärtige Ausübung Bezug zu nehmen. Sie geben im Wesentlichen die paulinischen Texte wieder. Im frühen Christentum fehlt nicht nur der Begriff, sondern auch die phänomenologische Beschreibung der Glossolalie. 336 Lediglich im Montanismus finden sich Nachwirkungen. So wird von Montanus gesagt, dass er stammelt und seltsame Dinge spricht. Eine Kontinuität der Glossolalie bis zum Montanismus ist allerdings nicht anzunehmen. 337 Auch die Kirchenväter beschreiben die Glossolalie anhand der paulinischen Texte und Apg 2, eine ei‐ gene Kenntnis ist nicht ersichtlich. 338 Die Glossolalie wird also kommentiert, 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 243 <?page no="244"?> 339 Heute findet sich dagegen v. a. in Pfingstkreisen ein Wiederaufleben einer Form der Glossolalie. 340 Vgl. Zur Diskussion v. a. Theißen, Aspekte, 293-303, der untersucht, ob die Glossolalie schichtspezifische und geschlechtspezifische Merkmal aufweist und zu dem Ergebnis kommt, dass Glossolalie von allen Gruppen betrieben werden kann (302), aber auch Thiselton, Tongues, 34, der dagegen annimmt, dass die Glossolalie von unteren sozialen Schichten betrieben wurde. 341 Vgl. die Arbeiten von Hans Rust: Das Zungenreden. Eine Studie zur kritischen Religi‐ onspsychologie, München 1924 (Grenzfragen des Nerven und Seelenlebens 118), 25-43, der zuerst eine Typologie des Zungenredens vornimmt und sie in ein sprachgleiches, ein sprachähnliches, ein stammelndes Zungenreden und in ein automatisches Dichten und Singen einteilt, Mosiman, Zungenreden, 86 ff und Theißen, Aspekte, 269-340. Zur Diskussion und Literatur, teilweise kommentiert, auch Klauck, Engelszungen, 283. 342 Mosiman, Zungenreden, 102. 343 Mosiman, Zungenreden, 125, vgl. auch 124. 344 Theißen, Aspekte, 291. 345 Theißen, Aspekte, 304. 346 Theißen, Aspekte, 320-340. 347 Theißen, Erleben, 197. nicht aber aus aktuellen Anlässen heraus beschrieben. 339 Sie ist als zeitgeschicht‐ liches, begrenztes Phänomen zu verstehen, dessen Charakteristik aus 1 Kor 14 gewonnen werden muss. Zur Kennzeichnung der Glossolalie werden immer wieder auch soziologische und psychologische Aspekte untersucht; so wird einerseits die These vertreten, dass es sich bei den Glossolalen um Personen unterer Schichten handelt, bei‐ spielsweise um Sklaven; andererseits wird die Ansicht vertreten, dass die Glos‐ solalen einer höheren sozialen Schicht angehörten; beides ist umstritten und kann und soll an dieser Stelle nicht vertieft werden. 340 Psychologisch sind die Untersuchungen ebenso vielfältig: 341 Mosiman untersucht die Glossolalie unter psychoanalytischen Kategorien und versteht sie als „Loslösung des unbewußten von dem bewußten Ich“ 342 , als ein „unverständliches ekstatisches Reden (…), das als eine Folgeerscheinung der unterbewußten Tätigkeit auftrat“ 343 . Theißen ana‐ lysiert die Glossolalie im Hinblick auf lerntheoretische, psychodynamische und kognitive Aspekte und fasst sie „als sozial gelerntes Verhalten“ 344 , als „Sprache des Unbewußten“ 345 und als Vorgang, der einer Deutung bedarf. 346 Die Glosso‐ lalie kann sich nach Theißen durch vier „religionspsychologische Merkmale“ auszeichnen: „durch einen veränderten Bewusstseinszustand, eine soziale Grup‐ penbindung, Aufwertung der individuellen Gottesbeziehung und Regression auf frühkindliche Entwicklungsstadien“ 347 . Pratscher definiert die Glossolalie in Anlehnung an tiefenpsychologische Phänomene als eine „primärprozeßhafte Umsetzung hochgradiger, religiös bedingter psychischer Energien in sprach‐ IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 244 <?page no="245"?> 348 Pratscher, Phänomen, 128 f. 349 Vgl. die Ausführungen bei Mosiman, Zungenreden, 86-114, die sich nicht auf antike Beispiele beziehen, mit denen Mosiman jedoch zeigen will, dass es für das Phänomen des Zungenredens psychologische Gründe gibt (99) und dass die Zungenrede ihren „Ursprung im Unterbewußten“ (116) hat. Er stellt das Phänomen der Glossolalie in Zu‐ sammenhang mit Fieberanfällen, Epilepsie oder Wahnsinn (101) und hält fest, „daß ge‐ wisse abnorme pathologische Bedingungen besonders begünstigend“ (100) sind, so etwa ein Zustand der Hypnose (101 ff). 350 So Conzelmann, Korinther, 285. 351 So Zeller, Korinther, 343. 352 Vgl. Poythress, Nature, 131. 353 Vgl. Plat. apol. 22b-c und Theißen, Aspekte, 283. 354 Vgl. Phil., SpecLeg I § 65, VitMosI § 274, vgl. auch Josephus, Ant IV,119. 355 Vgl. Plat. Ion 534b-d. ähnliche phonetische Äußerungen“ 348 . Die Ausführungen reichen von der Funk‐ tion des glossolalischen Sprechens als psychische Reinigung dahin, in ihr ein krankhaftes, abnormales psychisches Verhalten zu sehen. 349 Auch die psycho‐ logischen Aspekte können und sollen in diesem Zusammenhang nicht näher verfolgt werden. Sie liefern im Wesentlichen Erklärungen für die Ursache der Glossolalie und nennen mögliche Bewusstseinszustände des Glossolalen. Dies liegt nicht im Zentrum dieser Untersuchung. Paulus selbst nennt als Ursache den Geist und befasst sich nicht mit psychologischen Kategorien der Glossolalie. (3) Neben der Frage, ob es sich bei der Glossolalie um eine sprachlich sinnvolle Äußerung handelt, werden in der Forschungsliteratur drei weitere Fragen dis‐ kutiert: Ist dem Glossolalen sein eigenes Sprechen verständlich? Wie ist das Charisma der ἑρμηνεία zu verstehen? Was kann über die Inhalte der Glossolalie ausgesagt werden? Zur ersten Frage: Versteht der Glossolale sein Sprechen? Es stehen drei Mög‐ lichkeiten zur Diskussion: 1. Der Glossolale kann verstehen, was er sagt. 350 2. Sein Sprechen ist ihm selbst unverständlich. 351 3. Er kann seine Rede selbst nur verstehen, wenn er zusätzlich das Charisma der ἑρμηνεία besitzt. 352 Alle drei Ansichten können auf ntl. Textbasis nur schwer begründet werden. Es wird versucht, über den Vergleich von den Glossolalen und den Wahrsagern und Orakeldeutern bei Platon, die nicht wissen, was sie sagen, eine Aussage zu über die Glossolalie zu treffen. 353 Auch Philon schreibt, dass derjenige, der von Gott ergriffen und begeistert ist, nicht versteht, was er sagt, weil Gott oder die Engel durch ihn sprechen. 354 Die Aussagen Platons und Philons können allerdings nicht unmittelbar auf die Glossolalie bezogen werden, weil nach diesen Texten Gott durch den Menschen spricht. 355 Die Glossolalie ist gerade durch die Kom‐ munikationsrichtung Mensch-Gott gekennzeichnet: Der Glossolale spricht nach 1 Kor 14,2 nicht für den Menschen, sondern für Gott; nicht Gott spricht durch 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 245 <?page no="246"?> 356 Die direkte Übertragung des platonischen Inspirationsmodell, das Philon dahingehend radikalisiert hat, dass der göttliche Geist den menschlichen Verstand verdrängt, und die auch Zeller, Fragen, 236 vornimmt, ist dahingehend problematisch, dass für Paulus nicht deutlich gemacht werden kann, dass der νοῦς aus dem Menschen auszieht. Zur Beant‐ wortung der Frage kann allein das Lexem ἀκαρπός herangezogen werden, womit nur ausgesagt wird, dass der Verstand untätig ist bzw. keine Frucht bringt, nicht, dass er auf Grund des göttlichen Geistes aus dem Menschen weichen muss. 357 Vgl. Theißen, Aspekte, 331. 358 S. genauer Kap. IV, 3.3.1. 359 Vgl. Moe, Glaube, 363. ihn. Dies wird durch den Dativ zum Ausdruck gebracht. Im Blick auf die ver‐ schiedenen Sprachformen kann auch ‚zu Gott’ übersetzt werden: Der Glossolale betet nach 1 Kor 14,14-16 zu Gott, er preist ihn und dankt ihm. Deshalb kann die Inspirationsvorstellung Platons nicht auf Paulus übertragen werden. 356 Es ist nicht Gott, der durch den Glossolalen spricht, sondern es ist die Wirkung des göttlichen Geistes, der der menschlichen Sprachlosigkeit Abhilfe schafft. 357 Er wirkt, dass der Glossolale durch seinen, den menschlichen Geist, spricht. Dies wird in 1 Kor 14,14 besonders deutlich: Wenn der Mensch in Zungen spricht, redet sein Geist, nicht sein Verstand, aber auch nicht Gott, sondern der Mensch mit dem menschlichen Geist. Die Kommunikationsrichtung bei Platon / Philon und Paulus unterscheidet sich, deswegen kann von Platon und Philon ausgehend nicht schlussgefolgert werden, dass der Glossolale nicht versteht, was er sagt. Als Grund, warum das trotzdem der Fall sein kann, wäre vielmehr zu nennen, dass der νοῦς unproduktiv ist und die zentrale Komponente der glossolalischen Rede das menschliche πνεῦμα ist. 358 Im Kapitel zur Pneumatologie wurde bereits darauf hingewiesen, dass das πνεῦμα bei Paulus auch eine anthropologische Größe darstellt. Diese Vorstellung ist zentral für die Glossolalie. Sie wird in 1 Kor 14,15 als ein Beten τῷ πνεύματι beschrieben. Das πνεῦμα, das an dieser Stelle betet, weist Paulus in 1 Kor 14,14 als πνεῦμά μου aus. Damit wird deutlich, dass das göttliche und das menschliche πνεῦμα zwei voneinander zu unterscheidende Größen sind. Das göttliche πνεῦμα ist Ursache der Sprachgaben. Das mensch‐ liche πνεῦμα ist eine anthropologische Komponente, die mit dem himmlischen πνεῦμα in Verbindung treten kann. 359 Wenn also die Verbindung von göttlichem und menschlichem Geist zustande kommt, ist der Mensch in der Lage, in einer besonderen Sprache in die Kommunikation mit Gott zu treten. Kennzeichnend für diese Art der Kommunikation ist, dass sie - mindestens für Außenstehende - nicht verständlich ist; sie trägt nicht zur οἰκοδομή der Gemeinde bei, sondern dient allein der Selbsterbauung des Glossolalen. Indem Gott es dem Menschen ermöglicht, ihn in einer den Engeln ähnlichen Sprache zu preisen, erbaut sich der Glossolale nach 1 Kor 14,4 selbst. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 246 <?page no="247"?> 360 Es muss erneut darauf aufmerksam gemacht werden, dass es sich dezidiert um einen Vergleich mit Fremdsprachen handelt und dass dieser nicht dazu führen darf, dass die Glossolalie selbst als Fremdsprache verstanden wird. Vgl. Schrage, Korinther 3, 395 f und Conzelmann, Korinther, 288. 361 Vgl. Offb 14,6-13, ApkMos 13 f.22. 27. 29.33.37 f.43. Gott dabei verhindern will, dass der Mensch seinen eigenen Dank und Gesang versteht. Vielmehr deutet 1 Kor 14,16 f darauf hin, dass das Gotteslob und das Dankgebet in glossolalischer Sprache dem Sprechenden selbst verständlich ist, weil Paulus in 1 Kor 14,16 f sinngemäß schreibt: ‚Du machst deine Sache gut, wenn du deinen Dank und dein Lob in einem glossolalischen Gebet vor Gott bringst; du bereicherst damit dich selbst und deine Beziehung zu Gott, aber dabei bleibt es auch; den anderen nützt du nichts, weil sie nicht verstehen können, was du sagst.’ Das impliziert, dass derjenige, der spricht selbst aber versteht, was er sagt. Diese Ansicht wird sich später bestätigen, wenn das Verständnis des sprachlichen Zeichens erklärt werden kann. Es lassen sich aber bereits jetzt zwei weitere Gründe dafür anführen: Die erste Begründung liegt in 1 Kor 14,11: 360 Wenn zwei Personen, die eine andere Sprache sprechen und der jeweils anderen Sprache nicht mächtig sind, in ein Kommunikationsverhältnis treten, wird keine fruchtbare Kommunikation zustande kommen, weil sie sich gegenseitig nicht verstehen. Das Gesprochene ist für den jeweils anderen unverständlich. Der Sprechende selbst aber versteht, was er sagt; für ihn hat das Gesprochene Inhalt und Bedeutung, für den anderen nicht. So ist den im Gottesdienst anwesenden Personen das, was der Glossolale spricht, unverständlich, ihm selbst aber nicht, er artikuliert ja einen Gebetswunsch oder einen Dank und richtet diesen an Gott. Von 1 Kor 14,11 her kann also plausibel gemacht werden, dass dem Glossolalen sein Sprechen verständlich ist. Die zweite Begründung liegt in einer Analogie zu apokalyptischen Texten und dem TestHiob. Letzteres liefert zwar keine reli‐ gionsgeschichtliche Parallele für die Glossolalie, zeigt aber, dass die erste Tochter Hiobs ist in der Lage ist, sich in der Sprache der Engel, also in einer besonderen Art religiöser Sprache, zu artikulieren und dies anschließend ihren Schwestern mitzuteilen. Sie versteht also, was sie sagt. Auch in der apokalypti‐ schen Literatur finden sich zahlreiche Belege dafür, dass ein Visionär oder eine andere auserwählte Person, eine religiöse Sondersprache verstehen. 361 Die religiöse Sondersprache ist dem, der sie spricht, verständlich. Das heißt nicht, dass er dies unmittelbar in verständliche Wort fassen kann, weil dafür der νοῦς beteiligt sein muss, wohl aber, dass er einen ‚inneren Eindruck’ von dem hat, was er sagt. Wir dürfen davon ausgehen, dass dieser in der Verbindung vom göttlichem und menschlichem πνεῦμα entsteht, die als gegenseitige Befruch‐ tung zu verstehen ist. Sie nimmt im göttlichen Geist ihren Anfang, weil die 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 247 <?page no="248"?> 362 Theißen, Aspekte, 304. Theißen geht davon aus, der Glossolale seine Äußerung meistens nicht versteht, dass er aber nach der Idealvorstellung des Paulus das, was er im Unter‐ bewusstsein spricht, begreift. 363 Vgl. Poythress, Nature, 131. 364 B und D* lesen ἑρμηνευτής. 365 Als Interpretation bzw. Auslegung versteht bsp. Mosiman, Zungenreden, 12 das Cha‐ risma. Auch Wolff, Zungenrede, 755 spricht von „Sinnerschließung“. Begabung, Dank und Lob in glossolalische Rede zu fassen, vom göttlichen Geist gewirkt ist. Ähnlich argumentiert auch Theißen, der die Glossolalie als „be‐ wußtseinsfähige Sprache“ 362 beschreibt. Er geht zwar davon aus, dass der Glos‐ solale nicht zwingend verstehen muss, was er sagt, dass die Art der Sprache diese Möglichkeit aber zulässt. Die Tatsache, dass der Glossolale sein Sprechen verstehen kann, ist dabei nicht in Zusammenhang mit dem Charisma der ἑρμηνεία zu stellen. 363 Hierbei handelt es sich um einen weiterführenden Schritt, ein eigenes Charisma, das die Erbauung, die der Glossolale selbst bereits emp‐ fangen hat, auch der Gemeinde zuteil werden lässt. Die glossolalische Rede an sich ist eine zwischen Gott und Glossolalen in sich geschlossene Kommunika‐ tion. Damit ist das Charisma der ἑρμηνεία angesprochen: Wie ist dieses Charisma, das eng an die Glossolalie gekoppelt ist, zu verstehen? Es wird auf drei ver‐ schiedene Arten bezeichnet: Zweimal mit dem Substantiv ἑρμηνεία, in 1 Kor 12,10 und in 1 Kor 14,26; einmal mit der Personenbezeichnung διερμηνευτής, 364 in 1 Kor 14,28 und viermal mit dem Verb διερμηνεύω, in 1 Kor 12,30 und in 1 Kor 14,5. 13. 27. Die Personenbezeichnung ist Hapaxlegomenon im NT und hat auch in der LXX keinen Beleg zu verzeichnen, das Substantiv ἑρμηνεία findet sich außerhalb der Charismenlehre nur in SirProl 20 und in Sir 47,17, das Verb in Apg 9,36, Lk 24,27 und in 2 Makk 1,36. Es gibt also nur wenige Vergleichsstellen. In diesen Textstellen findet sich die Semantik ‚interpretieren / auslegen’ sowie ‚in eine andere Sprache übersetzen’. Auffällig ist, dass die Tätigkeit in den kanoni‐ schen Schriften außerhalb der Paulusstellen nie durch eine Personenbezeich‐ nung ausgedrückt wird. Für das Verständnis der ἑρμηνεία in 1 Kor 12-14 gibt es in der Forschung unterschiedliche Ansichten: Eine erste Ansicht, nach der unter dem Charisma der ἑρμηνεία die inhaltliche Erschließung / Interpretation der glossolalischen Rede verstanden wird, ist abzulehnen, weil oben gezeigt werden konnte, dass es sich bei der Glossolalie um eine Rede handelt, die bereits inhaltlich gefüllt ist: Ihr Inhalt ist Lobpreis, Dank u. a. 365 Die glossolalische Rede muss nicht in erster Linie inhaltlich, sondern sprachlich verständlich gemacht werden, damit sie zur Erbauung der Gemeinde dient. Als Interpretation kann das Charisma der IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 248 <?page no="249"?> 366 Vgl. Thiselton, Tongues, 16.18. Auch Calabi, Language, 28 f stellt ‚translation into words’ als eine Semantik von ἑρμηνεία bei Philon dar. 367 Philon benutzt Lexeme dieses Wortstammes sehr häufig. Die Verteilung sieht im Ein‐ zelnen wie folgt aus: ἑρμηνεία (30mal), ἑρμήνευμα (einmal), ἑρμηνεύς (38mal), ἑρμηνεύω (153mal), διερμηνεύω (18mal), διερμηνευτέον (zweimal) und διερμήνευσις (zweimal). Vgl. Thiselton, Tongues, 18. 368 Vgl. Thiselton, Tongues, 18, der 127 von 225 Belegen in dieser Bedeutung versteht. 369 Vgl. Thiselton, Tongues, 18.20-23, u. auch Phil., All I § 74, Cher § 105, Det § 39. 40. 68.129 und Abr § 35.72. 370 Vgl. Thiselton, Tongues, 18-20, u. auch Phil,. Migr § 81, Abr § 12, Conf § 53, Leg § 353 und Abr § 79, Op § 31, Sobr § 33, VitMosI § 286, VitMosII § 34, Her § 63 u. a. 371 Vgl. Josephus, Bell 5,182; 5,393, Ant. 6,230; 3,87 und Thiselton, Tongues, 24-27. Zur Kritik an Thiselton s. Forbes, Prophecy, 65-72, z. B. Phil., Sobr § 33, VitMosII § 34, Her § 63. Darauf reagiert Thiselton in 1 Corinthians, 975 ff, er stellt dar, dass er die Bedeu‐ tung ‚to put into words’ für ἑρμηνεύω nicht ausschließlich annehmen will, aber für 1 Kor 12-14 gegeben sieht. Kritik an Thiselton auch bei Hovenden, Speaking, 115-124. 372 Thiselton, Tongues, 24. ἑρμηνεία nur verstanden werden, wenn man davon ausgeht, dass es sich bei der glossolalischen Rede nicht um eine sprachliche Äußerung mit einem semanti‐ schen Gehalt handelt. Es wurde bereits gezeigt, dass Gegenteiliges anzunehmen ist. Eine zweite Möglichkeit, das Charisma zu verstehen, liefert Thiselton: Er bezeichnet das Charisma als einen Vorgang, den er mit dem Ausdruck ‚put into words’ beschreibt. 366 Thiselton begründet diese Semantik mit Textstellen von Philon und Josephus, die die Lexeme ἑρμηνεύω bzw. διερμηνεύω in dieser Se‐ mantik verwenden. 367 Er sieht das Verb ἑρμηνεύω für über die Hälfte der Belege in der Semantik ‚übersetzen’ gebraucht. 368 Über 60 Textstellen beziehen sich aber auf das Hervorbringen von Äußerungen in verständlicher Sprache. 369 V.a. die Lexeme mit dem Präfix διά werden für Äußerungen in verständlicher Sprache genutzt; nur die wenigsten Textstellen können mit ‚interpretieren’ oder ‚über‐ setzen’ wiedergegeben werden. Ist dies der Fall, dann ist das Thiseltons Ansicht nach eindeutig zu erkennen, z. B., wenn es in VitMos II § 31 heißt, dass das Gesetz in die griechische Sprache übersetzt wird. 370 Thiselton zeigt durch den Gebrauch des Lexems bei Josephus und in der profangriechischen Literatur, dass die Ver‐ wendung von ἑρμηνεύω in der Bedeutung ‚to put into words’ keine philonische Besonderheit ist. 371 Die Kritik an Thiselton bezieht sich nicht auf die Tatsache, dass das Lexem ἑρμηνεύω in der Semantik ‚to put into words’ gebraucht wird, sondern in seinem Glossolalieverständnis. Er versteht die Glossolalie als „pre-cognitive experience“ 372 und den Vorgang, den er mit ‚to put into words’ bezeichnet, dementsprechend nicht so, dass eine bereits sprachliche Äußerung in eine verständliche Äußerung gebracht wird, sondern dahingehend, dass dieser die Lücke zwischen „pre-cognitive experience and linguistic articula‐ 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 249 <?page no="250"?> 373 Thiselton, Tongues, 24. 374 Vgl. Zeller, Korinther, 434. Gegen Thiselton, 1 Corinthians, 1098 f. 375 Thiselton, Tongues, 30. 376 Vgl. Thiselton, Tongues, 17. 377 Vgl. Zeller, Korinther, 434. 378 Merklein / Gielen, Korinther, 130. 379 Wolff, Art. Zungenrede, 755. tion“ 373 schließt. Wenn man aber davon ausgeht - und diese Ansicht wurde oben plausibilisiert -, dass es sich bei der Glossolalie bereits um eine sprachliche Äu‐ ßerung handelt, dann muss sie nicht erst zu einer solchen werden, sondern sie muss zu einer für alle verständlichen Äußerung werden. 374 Das heißt: Der grund‐ sätzlichen Ansicht Thiseltons, dass die Glossolalie in dem Charisma der ἑρμηνεία in verständliche Worte gefasst wird, kann zugestimmt werden. Der Voraussetzung aber, dass sie von einer nicht-linguistischen Äußerung erst in eine sprachliche Äußerung überführt werden muss, nicht. Die Glossolalie ist keine Äußerung eines „inarticulate man who comes from a non-literate back‐ ground“ 375 ; das zeigt 1 Kor 14,18, wenn Paulus selbst davon spricht, dass er der prophetischen und der glossolalischen Rede fähig ist. Das Charisma der ἑρμηνεία ist also in einer dritten Interpretation seiner Se‐ mantik als ‚Übersetzung’ zu verstehen. Vom Charisma der ἑρμηνεία als Über‐ setzungstätigkeit zu sprechen, ist leicht mit der Assoziation verbunden, dass es sich bei der Glossolalie um eine Fremdsprache handelt, die in eine andere menschliche Sprache übersetzt werden muss. 376 Es ist aber nicht die rationale Aufgabe gemeint, etwas, das in einer menschlichen Sprache gesagt wurde, in eine andere Sprache der kulturellen Zeit zu übertragen. Fremde Sprachen werden durchaus auch bei Paulus thematisiert, in 1 Kor 14,11; hier aber nicht als Erklärung für die Glossolalie, sondern um zu verdeutlichen, dass das glos‐ solalische Sprechen nicht per se verständlich ist, sondern erst verständlich ge‐ macht werden muss. 377 Die Glossolalie ist also keine Fremdsprache; sie ist eine religiöse Sondersprache, die für die Kommunikation mit Gott bestimmt ist. Es besteht gar nicht die Möglichkeit, sie in eine andere menschliche Sprache zu übersetzen, weil es sich nicht um eine fremde menschliche Sprache handelt, sondern um eine religiöse Sondersprache. Wenn man den Terminus der Über‐ setzung gebraucht, muss er in dem Sinn verstanden werden, dass es sich um eine „Überführung (…) von einer unverständlichen in eine verständliche Sprache“ 378 handelt. Darauf liegt der Fokus der Argumentation. Das Charisma bezeichnet also keine Übersetzung im eigentlichen Sinn, aber auch keine „Sin‐ nerschließung“ 379 , wie es das erste Verständnis nahegelegt hat. Der Sinn ist be‐ reits vorhanden, er muss lediglich in eine sprachliche Äußerung gebracht IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 250 <?page no="251"?> 380 Vgl. Phil. SpecLeg I § 65, SpecLeg IV § 48 f, Praem § 55 f und Calabi, Language, 21 f. 381 Vgl. Betz, Zungenreden, 56. 382 Horn, Angeld, 203. 383 So also Merklein / Gielen, Korinther, 130, Hovenden, Speaking, 123 und Horn, Angeld, 203. Klauck, Engelszungen, 297 ist fast geneigt vom „Charisma der Hermeneutik“ zu sprechen. Auch er versteht das Charisma als Übersetzung. 384 Vgl. Choi, Geist, 152. 385 Dafür, dass es sich um die gleiche Person handeln kann Thiselton, 1 Corinthians, 988. werden, die den anderen Gemeindegliedern verständlich ist. Das geht mit der Bedeutung des Lexems ἑρμηνεύς einher, die für Philon dargestellt wurde. Al‐ lerdings bezieht Philon die Tätigkeit auf den Propheten, ebenso unterscheidet sich die Kommunikationsrichtung: Der ἑρμηνεύς bei Philon übersetzt die gött‐ liche Rede, die er empfängt, für die Menschen; 380 der διερμηνευτής bei Paulus übersetzt die Rede des Glossolalen, die einen Dank, ein Lob, ein Gebet zu Gott darstellt, den Gemeindegliedern. Auch Jes 28,10 ff legt für 1 Kor 14 das Verständnis nahe, dass ein bereits vor‐ handener Sinn in eine verständliche Äußerung umgeformt werden muss. Die jüdischen Exegeten haben das dort genannte ‚zawlazaw‘ nicht als sinnentleertes Stammeln und Lallen verstanden, sondern als sinnvolles, aber verkürztes Spre‐ chen, das erst in die vollständige menschliche Sprache übersetzt werden muss. 381 Es handelt sich um „ein von der gewöhnlichen Sprachform abweichendes Reden, (…) welches, um verstanden zu werden, eines Hermeneuten be‐ darf (…).“ 382 Dieser ist imstande, unter Beteiligung des νοῦς die religiöse Son‐ dersprache in eine den Gemeindegliedern verständliche und damit erbauende sprachliche Äußerung zu überführen. So ist das Charisma ἑρμηνεία γλωσσῶν die geistgewirkte Übersetzung einer ebenfalls vom Geist gewirkten religiösen Sondersprache in verständliche menschliche Worte. Begrifflich sind die vor‐ handenen Termini leicht missverständlich. Mit der Bezeichnung ‚Übersetzung der Glossolalie’ lässt sich arbeiten, wenn man sie im oben genannten Verständnis definiert. 383 Nur wenn die Glossolalie mit diesem Charisma ‚erweitert’ wird, kann ihr ein Nutzen zugesprochen werden, der über die Selbsterbauung des Glossolalen hinausgeht. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Glossolalie ihren eigentlichen Wert, die Besonderheit der Kommunikation des Einzelnen mit Gott in einer religiösen Sondersprache, verliert, wenn sie übersetzt wird. Deshalb kann die Forderung nach der Übersetzung als Versuch verstanden werden, die Glossolalie im Gottesdienst einzudämmen. 384 An die Frage nach dem Verständnis des Charismas schließen sich weitere Fragen an, etwa, ob es sich bei dem ‚Übersetzer’ um die gleiche Person handeln kann bzw. muss wie bei dem Glossolalen. 385 Die Möglichkeit, dass der Glossolale seine Rede selbst in verständliche Worte fasst, lässt sich zweifach begründen. 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 251 <?page no="252"?> 386 So aber Hans Weder: Die Gabe der ἑρμηνεία, in: Einblicke in das Evangelium exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik; gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1980-1991, hg. v. ders.. Göttingen 1992, 32.34. 387 So Weiß, Korintherbrief, 340 und Thiselton, Tongues, 33. 388 So Dautzenberg, Art. Glossolalie, 228, Theißen, Aspekte, 305 und Mosiman, Zungen‐ reden, 12. 389 Vgl. Karl Maly: Mündige Gemeinde. Untersuchungen zur pastoralen Führung des Apos‐ tels Paulus im 1. Korintherbrief, Stuttgart 1967 (Stuttgarter Biblische Monographien 2), 217. Er weist aber auch auf das Problem hin, dass das Phänomen, dass ein anderer versteht, was der Glossolale redet, psychologisch schwer zu erklären ist und dass dies „ein enges seelisches Verhältnis zwischen Ausleger und Glossolalen voraussetzt“ (217). 390 Mosiman, Zungenreden, 114. 391 Vgl. ApkZeph 13, vgl. auch Zeller, Korinther, 435. Aus 1 Kor 14,6. 15. 19 wird deutlich, dass eine Person mit mehreren Charismen ausgestattet sein kann, so also vermutlich auch mit dem der Glossolalie und dem der ἑρμηνεία. Dabei ist nicht anzunehmen, dass das Charisma der ἑρμηνεία mit der Prophetie deckungsgleich ist, da Paulus in den Aufzählungen beide Cha‐ rismen getrennt voneinander anführt. 386 Es ist aber nicht auszuschließen, dass es zu Überschneidungen kommt. Weiterhin ist für das Verb in 1 Kor 14,28 das gleiche Subjekt anzunehmen. 387 Der Glossolale kann also zugleich derjenige sein, der das Gesprochene in verständliche Worte übersetzt, was nicht aus‐ schließt, dass diese Tätigkeit nicht auch von anderen Personen wahrgenommen werden kann. 388 Maly bestreitet, dass der Übersetzer und der Glossolale ein und dieselbe Person sein können, weil er davon ausgeht, dass es nicht die Regel ist, dass eine Person mit mehreren Charismen ausgestattet ist. 389 Über die Häufigkeit gibt 1 Kor 14 keine Auskunft; es wird allein deutlich, dass die Möglichkeit be‐ steht, dass eine Person mehrere Charismen in sich vereint. Ebenso gibt es keine Hinweise darauf, dass die Gabe der ἑρμηνεία seltener verliehen wird als die der Glossolalie, etwa weil Erstere eines „besonderen psychischen Zustandes bedarf “, in dem „das Unterbewusstsein (…) dann wohl die Auslegung durch Verbal- oder Gehörhalluzinationen der Ausdrücke, oder durch unmittelbare Eingebung“ 390 gibt. Für die Übersetzung der glossolalischen Rede werden bei Paulus keine be‐ sonderen Voraussetzungen genannt, wie etwa ein bestimmter psychischer Zu‐ stand oder das Anlegen eines Engelsgewandes. 391 Die einzige Voraussetzung für die Ausübung des Charismas ist, dass eine Person vom göttlichen Geist mit dem Charisma begabt wird. Immer wieder wird die Frage gestellt, ob es für verschiedene Glossolalen, die im Gottesdienst sprechen, einen einzigen Übersetzer gibt oder ob es für jeden IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 252 <?page no="253"?> 392 Vgl. zur Fragestellung Maly, Gemeinde, 216, der sich dezidiert für einen Übersetzer ausspricht. 393 Vgl. Wolf, Zungenreden, 755. 394 So Merklein / Gielen, Korinther, 153, Dautzenberg, Prophetie, 152-159.234-238, Karl O. Sandnes: Paul - One of the Prophets? A Contribution to the Apostle’s Self-Un‐ derstanding, Tübingen 1991 (WUNT II 43), 94. 395 Vgl. ausführlich Dautzenberg, Prophetie, 236 f. Als Parallelen führt er z. B. an: 1 QM 10,10-16, Weish 7,17-21, Phil. VitCont § 26. 396 Vgl. bereits die Kritik in der Annahme, dass es sich bei der Glossolalie um ein ekstati‐ sches Sprechen handelt bei Forbes, Prophecy, 55 f und Hovenden, Speaking, 150 f. 397 Lindemann, Korintherbrief, 297. So auch Zeller, Korinther, 424 und Wischmeyer, Weg, 57. Glossolalen einen eigenen gibt. Von 1 Kor 14,27 ist durch εἶς verstärkt an eine Person zu denken, dies zwingt aber zu keiner Ausschließlichkeit. 392 Zuletzt ist nach dem Inhalt der Glossolalie zu fragen. Da Paulus verschiedene Sprachformen nennt, in denen glossolalisches Sprechen stattfinden kann, können unterschiedliche Inhalte angenommen werden, etwa nach 1 Kor 14,2,14-17.28 Lob und Dank, prinzipiell vermutlich alle Gebetsinhalte. 393 Auf Grund von 1 Kor 14,2 werden auch μυστήρια als Inhalte der Glossolalie ge‐ nannt. 394 Dautzenberg beispielsweise arbeitet heraus, dass μυστήρια in der jü‐ dischen Literatur Inhalte eines ekstatischen Sprechens sein können, und zeigt vor diesem Hintergrund Parallelen zu 1 Kor 14,2 auf. 395 Das ist allerdings um‐ stritten. 396 Die zweite Möglichkeit, die v. a. in den neueren Kommentaren ver‐ treten wird, versteht μυστήρια in 1 Kor 14,2 als geheimnisvolles Sprechen, als das, „was eben niemand zu verstehen vermag“ 397 . Dafür spricht, dass die μυστήρια inhaltlich vollkommen unbestimmt bleiben. Hinzu kommt, dass Paulus die inhaltliche Konkretion der Sprachgaben nicht in den Blick nimmt. Paulus müsste auch für die Prophetie einen Inhalt benennen, wenn er in 1 Kor 14,2 über die Glossolalie eine inhaltliche Aussage trifft, die ein wesentliches Merkmal in der Gegenüberstellung wäre. Er unterlässt dies aber, weil er keine Ausführung über verschiedene Inhalte, die in einer sprachlichen Äußerung zum Ausdruck gebracht werden können, vornimmt, sondern eine solche über die Verständlichkeit bzw. die Unverständlichkeit einer Aussage, die Kommunikati‐ onsrichtung und die Wirkung der beiden Gaben. Das zeigt die Gegenüberstel‐ lung von 1 Kor 14,2 und 1 Kor 14,3: 1 Kor 14,2 1 Kor 14,3 Angabe des Sprechers ὁ λαλῶν γλώσσῃ ὁ προφητεύων 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 253 <?page no="254"?> 398 Vgl. Günther Bornkamm: Art. μυστήριον, μυέω, in: ThWNT IV (1942), 816 f. 399 Zum Verständnis des Lexems im nichtchristlichen Sprachgebrauch s. Bornkamm, Art. μυστήριον, 810-823. Für das Lexem ist eine enge Verbindung zum kultischen und re‐ ligiösen Bereich auszumachen. Erst von diesem ausgehend hat sich ein profaner Sprach‐ gebrauch, etwa in der Bedeutung eines privaten Geheimnisses, entwickelt. Eine „völlige Profanisierung“ (817) hingegen erfolgte nicht, so dass für μυστηρίον der Fokus auf dem Religiösen erhalten geblieben ist. 400 In Röm 11,25; 16,25; 1 Kor 2,1(textkritisch unsicher; a 2 B D F G Ψ 33.1739.1881 b vg sy h sa lesen μαρτύριον).7; 4,1; 13,2; 14,2; 15,51 und 2 Thess 2,7. Im Plural nur in 1 Kor 4,1; 13,2 und 14,2. 401 Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kap. IV, 3.3.3. 402 Hierzu siehe auch Helmut Krämer: Art. μυστήριον, in: EWNT II (1981), 1102 und Schrage, Korinther 3, 227. Angabe des Kommunikationspartners οὐκ ἀνθρώποις λαλεῖ ἀλλὰ θεῷ ἄνθρωποι Angabe der Wirkung des Gesprochenen auf die Menschen οὐδεὶς γὰρ ἀκούει, πνεύματι δὲ λαλεῖ μυστήρια λαλεῖ οἰκοδομή καὶ παράκλησις καὶ παραμυθία Die Wendung οὐδεὶς γὰρ ἀκούει beschreibt die Wirkung, die die Glossolalie auf Menschen hat: Sie wird nicht verstanden. Damit ist bereits das entscheidende Moment der glossolalischen Rede genannt. Der Ausdruck πνεύματι δὲ λαλεῖ μυστήρια stellt einen Nachsatz dar, der einen begründenden Charakter erhält: Niemand versteht den Glossolalen, weil das Sprechen im Geist Geheimnisse beinhaltet bzw. weil es in geheimnisvoller Art und Weise geschieht, die für die Anwesenden unverständlich ist. Das Lexem ist dem Wortfeld der Mysterien‐ sprache zuzuordnen, die sich auch 1 Kor 1; 2 zeigt; es kann in 1 Kor 14,2 v. a. formal verstanden werden und stellt somit eine weitere Ausdrucksmöglichkeit dar, um die Unverständlichkeit der Glossolalie zu beschreiben. Eine Parallele für diesen Gebrauch findet sich am ehesten in den Zaubertexten. Hier wird das Lexem μυστηρίον verwendet, um eine rätselhafte, unverständliche Mysterien‐ schrift zu bezeichnen. 398 Von 1 Kor 14,2 aus ist allerdings nicht auf die allgemeine Verwendung des Lexem bei Paulus zu schließen. 399 Er gebraucht das Lexem μυστηρίον insgesamt neunmal; 400 es erhält dabei unterschiedliche Konkreti‐ onen: Es wird teilweise inhaltlich näher bestimmt, wie beispielsweise innerhalb der Ausführungen zum Wort vom Kreuz in 1 Kor 2,1: 401 Paulus bestimmt die Botschaft, die er verkünden will, als μυστήριον τοῦ θεοῦ und konkretisiert diese im Folgeabschnitt als Jesus Christus, den Gekreuzigten. Er vertieft dies in 1 Kor 2,6-16 und bestimmt die Botschaft in 1 Kor 2,7 als θεοῦ σοφίαν ἐν μυστηρίῳ τὴν ἀποκεκρυμμένην (Weisheit Gottes, die verborgen ist in einem Geheimnis). 402 Sie IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 254 <?page no="255"?> 403 Vgl. 1 Kor 2,7-10. Ähnlich auch Kol 1,26 f. Der Fokus liegt hier stärker auf der bereits erfahrenen Christusbotschaft, die die Gemeinde konstituiert als auf der Verkündigung der Kreuzesbotschaft, die erst zum Glauben führen soll. Vgl. Ferdinand Hahn: Der Be‐ griff »mysterion« im Neuen Testament, in: Die Weite des Mysteriums. Christliche Identität im Dialog. Für Horst Bürkle, hg. v. Klaus Krämer u. Ansgar Paus, Freiburg, Basel u. a. 2000, 58-61. 404 Vgl. Hahn, Begriff, 57-59. 405 So Thomas Söding: Das Geheimnis Gottes im Kreuz Jesu. Die paulinische Christologie im Spannungsfeld von Mythos und Kerygma nach dem Ersten Korintherbrief, in: Das Wort vom Kreuz. Studien zur paulinischen Theologie, hg. v. ders., Tübingen 1997 (WUNT 93), 73: „Daß Gottes ganze Wahrheit im Gekreuzigten besteht: eben dies ist das Geheimnis Gottes (…).“ 406 Vgl. auch die Analogie zu 1 Thess 4,13-17 und 1 Kor 15,51 und dazu Wolff, Korinther, 414, Merklein / Gielen, Korinther, 410-419 und Zeller, Korinther, 520 f. Von daher sind hier apokalyptische Geheimnisse anzunehmen. So Bornkamm, Art. μυστήριον, 829, Wischmeyer, Weg, 57 und Ulrich Wilckens: Der Brief an die Römer. 2. Teilband. Röm 6-11, Zürich, Einsiedeln u. a. 1980 (EKK VI / 2), 253 f. Gegen Käsemann, Römer, 299, der das Heilsgeschehen als Inhalt sieht. 407 Vgl. Merklein / Gielen, Korinther, 381 und Schrage, Korinther 3, 371 f. ist von Gott vorherbestimmt und durch den Geist offenbart, bleibt aber dennoch verborgen. 403 Das Christusgeschehen als wesentlicher Inhalt der paulinischen Verkündigung bleibt ein μυστήριον, das offenbar wurde, aber nur von denen erkannt werden kann, denen durch den Geist der Glaube geschenkt wird. 404 Der Inhalt kann also konkretisiert werden, nicht aber als apokalyptische Geheim‐ nisse, sondern als die Weisheit Gottes, die Jesus Christus als den Gekreuzigten beinhaltet. 405 Ein apokalyptischer Inhalt kann für 1 Kor 15,51 und Röm 11,25 ausgemacht werden: 406 In 1 Kor handelt sich um die Tatsache, dass bei der Pa‐ rusie nicht alle entschlafen, aber alle verwandelt werden. Der Fokus richtet sich also nicht nur auf die zum Zeitpunkt der Parusie bereits verstorbenen, sondern auch auf die noch Lebenden. 407 In Röm 11,25 besteht das μυστήριον, das Paulus den Brüdern nicht vorenthalten will, darin, dass es für Israel eine Zeit der Ver‐ stockung gibt, so dass das Handeln Gottes in Christus nicht erkannt werden kann. Er stellt aber auch heraus, dass es eine Zeit geben wird, in der ganz Israel zum Heil gelangt und Christus anerkennen wird. Andererseits erfährt das Lexem durch den Bezug auf Hörer oder Sprecher eine exaktere Charakterisierung, so in 1 Kor 4,1, wo Paulus οἰκονόμος μυστηρίων θεοῦ (Verwalter der Geheimnisse Gottes) genannt wird. Inhaltlich völlig unbestimmt bleibt das Lexem in 1 Kor 13,2. Hier werden Charismen als menschliche Höchstformen formuliert, was v. a. am bergeversetzenden Glauben deutlich wird. Sogar diese ‚religiösen Spit‐ zenwerte’ sind aber ohne Liebe nichtig. Paulus gebraucht die Charismen hier um zu zeigen, dass auch die höchsten Gaben ohne die Liebe wertlos sind. Ob es sich dabei um vier einzelne Charismen handelt oder ob die Geheimnisse und die 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 255 <?page no="256"?> 408 Wischmeyer, Weg, 55. Dagegen Wolff, Korinther, 315, er fasst die Erkenntnis in 1 Kor 13,2 als „Fähigkeit, die Einblicke in die göttlichen Geheimnisse für das christliche Ver‐ halten auszuwerten“. 409 Gegen Wolff, Korinther, 315, der davon ausgeht, dass μυστήριον aus dem Sprachge‐ brauch der Korinther stammt und Paulus hier dem apokalyptischen Sprachgebrauch folgt, weshalb als Inhalt der apokalyptische göttliche Ratschluss anzusehen ist. 410 Vgl. Dautzenberg, Prophetie, 235.152 f, auch Wolff, Korinther, 315. Diese Ansicht wird sich nicht bestätigen. Dagegen auch Zeller, Korinther, 424, der nicht an die apokalyp‐ tischen Geheimnisse als Inhalt der Prophetie denkt, sondern an das, was dem Menschen „in seiner Bedeutung“ (424) unbekannt ist und / oder bleibt. Er spricht sich mit der Be‐ gründung, dass an den uns bekannten Stellen die apokalyptischen Geheimnisse in ver‐ ständlicher Sprache mitgeteilt werden, gegen die Annahme aus, dass es sich bei den Geheimnissen um die apokalyptischen handelt. Es sei vielmehr anzunehmen, dass es sich um ein Reden handelt, von welchem die Bedeutung nicht erfasst werden kann. Das Gesagte bleibt unverständlich. Damit bestimmt Zeller die μυστήρια formal und nicht inhaltlich. Dem ist zuzustimmen. 411 So aber Dautzenberg, Prophetie, 152 f.235. 412 Vgl. Wischmeyer, Weg, 57. Erkenntnis auf die Prophetie bezogen werden können, ist zweitrangig. Die Gaben in 1 Kor 13,2a sind auf ein ‚Wissen’ bezogen, das sie in unterschiedlichen Formen empfangen haben und mitteilen. In 1 Kor 13,2b wird diesen der Glaube nachgeordnet. 1 Kor 13,3 nennt praktische Gaben. Sie alle werden durch die Liebe relativiert. Für die Argumentation von Bedeutung ist, dass möglichst viele Gaben genannt werden, die ohne Liebe alle für wertlos erklärt werden können. Es kommt wie in 1 Kor 14,6 auf eine Gegenüberstellung an. Inhaltlich kann das Charisma der μυστήρια nicht näher bestimmt werden. Die μυστήρια in 1 Kor 13,2 werden nur durch das Zahladjektiv πᾶς näher charakterisiert. Paulus spricht hier in einem „allgemeinsten Sinn von μυστήρια“ 408 . Dies wird durch die Pluralform unterstützt, die sich lediglich in 1 Kor 4,1; 13,2 und 14,2 findet. Sie verdeutlicht ebenso wie das nachgestellte Adjektiv, dass die Inhalte der μυστήρια mannigfaltig sind und sich nicht auf ein konkretes μυστηρίον be‐ ziehen bzw. in Bezug auf die prophetische Rede nicht reduziert werden sollen und können. 409 Sie ausschließlich als apokalyptische Geheimnisse aufzufassen, kann dem Text nicht entnommen werden. 410 Paulus gebraucht das Lexem μυστηρίον also nicht einheitlich. Es lassen sich als Inhalt für die paulinischen Belegstellen von μυστηρίον nicht ausschließlich apokalyptische Geheimnisse annehmen. Eine Reduktion darauf wird der inhalt‐ lichen Bestimmung nicht gerecht, 411 auch weil es apokalyptische Aussagen gibt, in denen der Begriff des μυστηρίον vollständig fehlen kann. 412 Sie subsumieren apokalyptische und eschatologische Aspekte ebenso wie die Heilsgeschichte und das Christusgeschehen. Es gibt paulinische Texte, die das Geheimnis Gottes thematisieren und nach denen „Gott das, was bisher in seinem Ratschluss ver‐ IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 256 <?page no="257"?> 413 Hahn, Begriff, 57. 414 Vgl. Hahn, Begriff, 62, nimmt gerade für diese nicht das Heilsgeheimnis an. borgen war, jetzt offenbart“ 413 . Aber nicht all die Belege müssen bzw. können dahingehend verstanden werden. So bleiben gerade die Belege in 1 Kor 13,2 und 1 Kor 14,2 inhaltlich unbestimmt. 414 Dadurch wird aber der spezifische Fokus der Argumentation sichtbar: Im Zentrum der paulinischen Ausführungen steht der ‚Modus’, nicht der Inhalt. Thematisiert werden die Unverständlichkeit der Glossolalie und die Verständlichkeit der Prophetie. Der Vorrang der Prophetie gründet sich nicht auf ihre Botschaft, sondern vielmehr auf ihre Verständlich‐ keit, auf die Art und Weise der Mitteilung, auf den Kommunikationspartner und auf die Wirkung des Gesprochenen. Zusammenfassung: Die Glossolalie ist eine sprachliche Äußerung, weil sie durch Wörter zum Ausdruck gebracht wird und weil sie in unterschiedlichen Sprachformen arti‐ kuliert werden kann. Damit ist ausgeschlossen, dass es sich um ein sinnent‐ leertes Gestammel oder Lallen handelt. Eine glossolalische Äußerung wird vom Menschen getätigt und ist vom göttlichen πνεῦμα gewirkt. Sie ist eine Äußerung, die durch die Verbindung von göttlichem und menschlichem πνεῦμα zustande kommt. Ihre Funktion liegt in der Kommunikation mit Gott. Für die anwesenden Gemeindeglieder ist sie unverständlich, weil der νοῦς nicht beteiligt ist. Es han‐ delt sich insgesamt um eine religiöse Sondersprache, für die sich keine termino‐ logischen und phänomenologischen Parallelen finden lassen, die das Charisma in dem Verständnis thematisieren, wie Paulus es bietet. Das Charisma der ἑρμηνεία gewinnt an Bedeutung, wenn die Funktion der Glossolalie, die Kommunikation mit Gott und die daraus resultierende Selbst‐ erbauung des Glossolalen, erweitert werden soll. Es ist als Tätigkeit zu ver‐ stehen, bei der die religiöse Sondersprache, die für die Gemeindeglieder unver‐ ständlich ist, in eine für alle verständliche sprachliche Äußerung gebracht wird. Dann erst kann das Gesprochene, das Gebet, der Dank und der Gesang, auch für die Gemeinde fruchtbar gemacht werden. Mit diesen Sprachformen können mögliche Inhalte der Glossolalie angegeben werden. Aus den μυστήρια in 1 Kor 14,2 hingegen können keine Inhalte erschlossen werden. Das zeigt deutlich den Fokus der paulinischen Argumentation, der nicht auf den Inhalten der Sprach‐ gaben, sondern auf ihrer Verständlichkeit und der daraus resultierenden Wir‐ kung, der Erbauung der Gemeinde, liegt. 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 257 <?page no="258"?> 415 S. dazu die Thematisierung in der Kommentarliteratur wie sie in der Einführung in den Forschungsstand wiedergegeben wurde sowie Maly, Gemeinde, 201 f und Klauck, En‐ gelszungen, 286 f. 416 S. Ralph Shallis: Zungenreden aus biblischer Sicht, Wuppertal 1986, 93. 3.2.2 Das Zentrum des paulinischen Sprachverständnisses: 1 Kor 14,7 - 11 und die Verständlichkeit einer sprachlichen Äußerung Für die Glossolalie ist weder die Verständlichkeit noch die Erbauung gegeben. Auf die in 1 Kor 14,6 gestellte Frage muss die Antwort lauten: Nichts. Paulus zeigt durch die Argumentation in 1 Kor 14,7-11, dass die Glossolalie keine ver‐ ständliche Sprachgabe ist und dass sie die gewünschte Wirkung der Charismen nicht erreicht. Die Verse werden in der Literatur bisher nur knapp behandelt, 415 was durchaus bemängelt wurde, 416 weil gerade diese Verse zeigen, wie Paulus sich dem Thema Sprache nähert. Sie zeigen, welches Vokabular er benutzt, um die Aspekte, die für ihn im Zentrum seiner Auseinandersetzung mit Sprache stehen, prägnant herauszustellen. Die Vergleiche sind nicht ohne weiteres einsichtig. Im Folgenden gilt es deshalb, das tertium comparationis zu bestimmen, Ab‐ grenzungen vorzunehmen und 1 Kor 14,10 f neu zu verorten. Der Abschnitt ist gekennzeichnet durch (1) selten verwendetes Vokabular, das zu einem Großteil aus dem Bereich der Musik stammt und zunächst zu untersuchen ist. Anschlie‐ ßend ist (2) die Argumentation für 1 Kor 14,7-12 aufzuzeigen, die ins Zentrum des paulinischen Sprachverständnisses führt. Die zentralen Verse werden zu‐ nächst in ihrem griechischen Wortlaut zitiert: (7) ὅμως τὰ ἄψυχα φωνὴν διδόντα, εἴτε αὐλὸς εἴτε κιθάρα, ἐὰν διαστολὴν τοῖς φθόγγοις μὴ δῷ, πῶς γνωσθήσεται τὸ αὐλούμενον ἢ τὸ κιθαριζόμενον; (8) καὶ γὰρ ἐὰν ἄδηλον σάλπιγξ φωνὴν δῷ, τίς παρασκευάσεται εἰς πόλεμον; (9) οὕτως καὶ ὑμεῖς διὰ τῆς γλώσσης ἐὰν μὴ εὔσημον λόγον δῶτε, πῶς γνωσθήσεται τὸ λαλούμενον; ἔσεσθε γὰρ εἰς ἀέρα λαλοῦντες. (10) τοσαῦτα εἰ τύχοι γένη φωνῶν εἰσιν ἐν κόσμῳ καὶ οὐδὲν ἄφωνον· (11) ἐὰν οὖν μὴ εἰδῶ τὴν δύναμιν τῆς φωνῆς, ἔσομαι τῷ λαλοῦντι βάρβαρος καὶ ὁ λαλῶν ἐν ἐμοὶ βάρβαρος. (1 Kor 14,7-11) (1) Bei dem Vokabular, das Paulus in 1 Kor 14,7-11 verwendet, handelt es sich erstens weitgehend um selten gebrauchte Lexeme, unter ihnen eine Reihe von Hapaxlegomena bei Paulus bzw. im gesamten NT . Zweitens stammt das Voka‐ bular im Wesentlichen aus dem Bereich der Musik, den Paulus auf die Sprache IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 258 <?page no="259"?> 417 Eine gute Einführung in die im AT und NT verwendeten Instrumente liefert Joachim Braun: Biblische Musikinstrumente, in: MGG 1 (1994), 1503-1537. Ein umfassendes Werk zur Musik (Instrumente, Gesang und Tanz) im alten Israel bietet Alfred Sendrey: Music in Ancient Israel, New York 1969, mit systematischer Auflistung der atl., ntl., rabbinischen u. apokryphen Textstellen, in denen Musikinstrumente erwähnt werden. Demokr. Fragm. 68B,15c-26a, liefert eine mögliche Begründung, weshalb der Bereich der Musik und der der Sprache in Verbindung gebracht werden. Er stellt dar, dass die gesamte Struktur der Sprache ihm das Verständnis für die Musik erschließt, da die Sprache, wie die Musik auf die einfachsten Elemente zurückgeführt werden kann. Die Sprache erschließt Demokrit darüber hinaus das Verständnis für die Welt, da auch diese „aus nicht weiter zerlegbaren Urbestandteilen entstanden ist“ (Pohlenz, Begründung, 42) so wie die Sprache diese kleinsten Einheiten in den Buchstaben findet. Vgl. Pohlenz, Begründung, 42. 418 Darüber hinaus in 1 Kor 12,10.28, 2 Kor 11,26, Gal 1,14 und Phil 3,5. 419 Vgl. Braun, Musikinstrumente, 1503. Hier findet sich eine gute Einführung in die For‐ schungsgeschichte zu den biblischen Instrumenten und eine Charakterisierung dieser (1503-1533). bezieht. 417 Folgende Lexeme sind bei Paulus Hapaxlegomena: ἄψυχος, αὐλός, κιθάρα, αὐλέω, κιθαρίζω, ἄδηλος, πόλεμος, εὔσημος. Zweimal verwendet Paulus die Lexeme φθόγγος, ἄφωνος, dreimal διαστολή, σάλπιγξ, παρασκευάζω, ἀήρ, τυγχάνω und βάρβαρος. Das Lexem φωνή findet sich bei Paulus sechsmal, davon 4 Belege in 1 Kor 14,7-11 und jeweils ein Beleg in Gal 4,20 und 1 Thess 4,16; auch das Lexem γένος verwendet er sechsmal. 418 Zur Musik in den biblischen Texten werden einige allgemeine Anmerkungen vo‐ rangestellt, bevor das Vokabular dieses Abschnitts im Einzelnen untersucht wird. Die im Alten und Neuen Testament thematisierten Musikinstrumente wurden in der Forschung lange als jüdische (Musik-)Instrumente bezeichnet, heute spricht man von biblischen Musikinstrumenten. Die Bezeichnung ist mehrdeutig: Unter den biblischen Musikinstrumenten können die Instrumente verstanden werden, die in den Texten erwähnt sind; der Begriff kann zugleich Auskunft über die Instrumente geben, die zu biblischer Zeit verwendet wurden und mit historischen Ereignissen und geographischen Orten in Verbindung ge‐ bracht werden. 419 Bei Paulus werden die Instrumente in einem allgemeinen Kontext gebraucht. Es werden keine historischen Ereignisse genannt, die mit einem Instrument in Verbindung stehen, wie dies für die atl. Texte häufig gilt. So wird die Trompete in 1 Makk 3,54 f als Signalinstrument in den Makkabäer‐ kämpfen ausgewiesen. Paulus verweist nicht auf ein historisches Ereignis, was aber nicht verwundert, da er die Instrumente in einem Vergleich verwendet. Er will keine Aussage über die Instrumente treffen, sondern über die Glossolalie. 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 259 <?page no="260"?> 420 Vgl. Ps 7,18; 9,2; 61,9; 66,2.4; 68,5.26 LXX. 421 Vgl. Ps 8,12; 26,6; 29,5; 70,22; 104,2 LXX. 422 Vgl. Lev 25,9 und Hans Seidel: Art. Musik und Religion. I. Altes und Neues Testament, in: TRE 23 (1994), 442. 423 Vgl. Neh 12,31.37 f, Sir 47,1-9 und Seidel, Art. Musik TRE, 443 f. 424 1 Makk 3,54 f und 2 Makk 15,25 bzw. Sir 32,1-13; 40,18-27 und 1 Makk 3,45; 9,39. Vgl. Hans Seidel: Art. Musik. III. Altisrael, in: DNP 8 (2000), 519. 425 Vgl. Seidel, Art. Musik DNP, 520. 426 Seidel, Art. Musik DNP, 520. 427 Vgl. Seidel, Art. Musik DNP, 520. 428 S. Braun, Musikinstrumente, 1533 und die dort genannten Beispiele. Paulus setzt voraus, dass die Korinther die Musikinstrumente und ihre Funkti‐ onen kennen; dass dies berechtigt ist, wird sich noch zeigen. Musiziert wird nach atl. Literatur für JHWH und um seinen Namen zu preisen. 420 Vor der Zerstörung des Tempels ist dies die Aufgabe von Berufsmu‐ sikern gewesen. 421 Sie wurden nach der Zerstörung ins Exil deportiert, wo Kult‐ musik nur theoretisch möglich war. Eine Ausnahme war das Signalgeben durch das Horn etwa zu Festtagen. 422 Auskunft über Kultmusik liefert wieder das chro‐ nistische Geschichtswerk. Hier kann David als derjenige ausgemacht werden, der Kultmusik initiiert und organisiert. 423 Seit nachexilischer Zeit kann zwischen Musik im und außerhalb des Kultes deutlich unterschieden werden. Außerhalb des Kultes gewinnt die Trompete verstärkt als Signalinstrument an Bedeutung, z. B. in den Makkabäerkämpfen, in der Volkmusik der Aulos. 424 Auch im grie‐ chischsprachigen Raum nahm Musik eine zentrale Stellung in vielen Lebensbe‐ reichen ein, bei Festen und Militärangelegenheiten, in der Erziehung und im Kult. 425 Musik war bis zur klassischen Zeit ein umfassender Begriff für „Poesie, Gesang, Instrumentalspiel und Gesang“ 426 , in hellenistischer Zeit bezeichnete er v. a. die Musikpraxis und Musik auf theoretischer Ebene, etwa die Lehre von Metrik und Prosodie. 427 Das NT nennt im Vergleich zum AT nur wenige Instrumente, vier an der Zahl: αὐλός, κιθάρα, σάλπιγξ und κύμβαλον, sowie einmal, in Lk 15,25, συμφωνίας als Sammelbezeichnung für das Spielen von Instrumenten. Insgesamt verwendet das NT 29mal eines der vier Musikinstrumente bzw. die dazugehörige Berufs‐ bezeichnung, wobei sich davon zwölf Textstellen in der Offb finden. Auf Grund der geringen Erwähnungen wird das NT in den meisten Untersuchungen der Musikwissenschaften nicht bedacht. 428 Es bleibt schwierig, die Instrumente exakt zu bestimmen, weil angenommen werden muss, dass sich ihre Bau- und Spielart sowie ihre Funktionen immer wieder verändert haben und dass die Lexeme stärker Instrumentenkategorien IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 260 <?page no="261"?> 429 Vgl. Seidel, Art. Musik TRE, 445. 430 Vgl. August F. Pfeiffer: Die Musik der alten Hebräer, Erlangen 1779, 59 f und Braun, Musikinstrumente, 1512. Eine abweichende Einteilung wäre z. B. die Unterscheidung zwischen Instrumenten, die für die Kirchenmusik geeignet sind und solche, die das nicht sind oder weitere Unterteilungen der drei o. g. Gruppen. 431 Das Bild ist entnommen aus Frieder Zaminer: Art. Musikinstrumente. V. Griechenland, in: DNP 8 (2000), 546. 432 In 1 Sam 10,5, 1 Kön 1,40, Jes 5,12; 30,29, Jer 48,36 (zweimal); die LXX übersetzt bis auf 1 Kön 1,40 mit αὐλός. 433 Vgl. Braun, Musikinstrumente, 1513, Curt Sachs: Real-Lexikon der Musikinstrumente. Zugleich ein Polyglossar für das gesamte Instrumentengebiet. Mit 200 Abbildungen, Hildesheim, New York 3 1979, 23 und Sendrey, Music, 313; richtig auch Merklein / Gielen, Korinther, 177. Mit ‚Flöte’ übersetzen Conzelmann, Korinther, 283, Zeller, Korinther, 423, Weiß, Korinther, 423, auch Carl v. Jan: Art. Aulos 4, in: PRE II (1896), 2416. 434 Vgl. Sendrey, Music, 310. 435 Vgl. Wolfgang Boetticher: Art. Aulos, in: MGG 1 (1994), 1040 und Braun, Musikinstru‐ mente, 1513. 436 Vgl. Braun, Musikinstrumente, 1513. 437 Vgl. Boetticher, Art. Aulos MGG, 1039, Seidel, Art. Musik DNP, 519, Max Wegner: Das Musikleben der Griechen, Berlin 1949, 89-102 und Wolfgang Boetticher: Art. Aulos, in: KP I (1964), 757. 438 Vgl. Braun, Musikinstrumente, 1514. oder -familien beschreiben. 429 Die Instrumente, die Paulus in 1 Kor 14 themati‐ siert, werden hinsichtlich ihrer Merkmale, Funktionen und ihres Bekannt‐ heitsgrades näher bestimmt. Der von August Friedrich Pfeiffer angestoßenen Dreiteilung in Blas-, Saiten- und Schlaginstrumente wird dabei in der Forschung bis heute weitgehend gefolgt. 430 Folgende Lexeme kennzeichnen die paulinische Argumentation: 1 Kor 14,7: αὐλός 431 Das Lexem αὐλός steht für das hebräische לילה , das im AT sechsmal ver‐ wendet wird. 432 Während die meisten Übersetzungen αὐλός mit Flöte wieder‐ geben, ist die Musikwissenschaft nach Untersuchungen der LXX , der Vulgata (übersetzt tibis) und der Talmudliteratur zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich um eine Pfeife handelt, etwa im Stil einer (Doppel-)Oboe. 433 Der Begriff kann aber auch als Sammelbezeichnung für Blasinstrumente fungieren. 434 Material‐ technisch bestand der Aulos aus Kupfer, Bronze, Erz, Schilfrohr oder Knochen. 435 Eine große Anzahl an Funden in Jerusalem und Sebaste lässt vermuten, dass in hellenistisch-römischer Zeit dort Werkstätten angesiedelt waren. 436 Der Aulos wurde sowohl im kultischen Bereich, bei Beerdigungen und Opfern gespielt als auch bei weltlichen Anlässen zu Hochzeiten, Festessen, Trinkgelagen oder zum (Waffen-)Tanz. 437 Er war vielseitig einsetzbar, sowohl zur Klageals auch zu Freudenanlässen, 438 und entwickelte sich auch in Griechenland etwa ab dem 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 261 <?page no="262"?> 439 Vgl. Boetticher, Art. Aulos MGG, 1039 und Zaminer, Art. Musikinstrumente, 547 f. 440 Vgl. Wegner, Musikleben, 52-55 und dort die detaillierte Beschreibung. 441 Vgl. Wegner, Musikleben, 103 f und Zaminer, Art. Musikinstrumente, 548. 442 Vgl. Frieder Zaminer: Art. Musik. IV. Griechenland, in: DNP 8 (2000), 521. Die Begrün‐ dung erfolgt anhand von Pind., 12. pythisches Siegerlied. 443 Vgl. Aristot. pol. 8,1341b. 444 Vgl. Braun, Musikinstrumente, 1534. 445 Vgl. Eric M. Meyers / Ehud Netzer / Carol L. Meyer: Sepphoris, Winona Lake 1992, 46. 48. 56 446 Vgl. v. Jan, Art. Aulos, 2416 und Boetticher, Art. Aulos KP, 755. 447 Vgl. Sachs, Real-Lexicon, 433 und v. Jan, Art. Aulos, 2416. 7. Jh. v. Chr. zum bedeutendsten Blasinstrument; 439 er wurde hauptsächlich als Doppelaulos gespielt, wie es auch das Bild zeigt. 440 In Sparta, Theben, bei den Pythagoreern und in Athen war es Teil der Erziehung, den Aulos spielen zu lernen. 441 In der griechischen Mythologie werden mehrere Ursprünge für den Aulos benannt: Die Erfindung des Aulos und der Salpinx wird Athene zuge‐ schrieben, aber auch dem Phryger Hyagnis oder Apollon selbst. 442 Athene wird auch dafür herangezogen, um den Gebrauch des vorherrschenden Instruments wieder einzudämmen, indem sie der Legende nach den Aulos weggeworfen hat, weil durch das Spiel ihr Gesicht entstellt wurde. 443 Im NT wird der Aulos zur Totenklage (Mt 9,23) und zur Hochzeit (Mt 11,17, begrifflich durch das Verb αὐλέω ausgedrückt) gespielt. Die vielfältigen Ein‐ satzmöglichkeiten sind also auch in ntl. Zeit bekannt. 444 Für das NT sind Mono- oder Doppelaulen anzunehmen, wie sie beispielsweise auf dem Dionysos-Mo‐ saik in Sepphoris bezeugt werden. 445 Interessant ist, dass in diesem Zusammenhang das Lexem γλῶσσα be‐ gegnet. 446 Das Mundstück des Instruments wurde und wird bis heute dement‐ sprechend bezeichnet. 447 So fragt beispielsweise der Flötenspieler Harmonides IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 262 <?page no="263"?> 448 Vgl. zum deutschen Text: Lucian’s Werke. Bd. 5. Übersetzt v. August Pauly, Stuttgart 1928 (Griechische Prosaiker in neuen Übersetzungen 10), 613; zum griechischen Text: Luciani Samosatensis Opera. Vol. I. hg. v. Karl Jacobitz, Leipzig 1896. 449 Die Bilder sind entnommen aus Zaminer, Art. Musikinstrumente, 545.542. 450 Vgl. Braun, Musikinstrumente, 1506.1516. 451 Vgl. Friedrich Ellermeier: Beiträge zur Frühgeschichte altorientalischer Saiteninstru‐ mente, in: Archäologie und Altes Testament. Festschrift für Kurt Galling, hg. v. Arnulf Kuschke und Ernst Kutsch, Tübingen 1970, 77 f. 452 Vgl. Bo Lawergren: Art. Leiern. II: Stierleiern in Mesopotamien, Elam, Syrien und am Persischen Golf. Übersetzt von Guido Heldt, in: MGG 5 (1996), 1012. 453 Vgl. Braun, Musikinstrumente, 1517 und die Abb. 1509 f, die die Veränderung der Leier zeigt. 454 So Sachs, Real-Lexicon, 1940, 106 f und Bo Lawergren: Art. Leiern. III. Flachbodenleiern in Mesopotamien, Syrien, Anatolien, der Levante, Zypern und Ägypten. Übersetzt von Guido Heldt, in: MGG 8 (1996), 1017.1014. 455 Vgl. Braun, Musikinstrumente, 1517. seinen Lehrer, wie er denn nun ein berühmter Musiker werden könne, nachdem er bereits gelernt habe, wie man den Aulos stimmt und wie man das Mundstück (γλῶσσαι oder γλωσσίδες) richtig bläst. 448 Ob Paulus dabei an eine Verbindung zum Reden in Zungen gedacht hat, lässt sich nicht feststellen, er selbst verweist nicht auf einen Zusammenhang. Der Vergleich wäre auch dahingehend passend: Wenn das Mundstück falsch geblasen wird, entsteht ein undeutlicher Ton. Das kann somit ein Hinderungsgrund dafür sein, dass das Gespielte erkannt werden kann. 1 Kor 14,7: κιθάρα 449 Das griechische Lexem steht für das hebräische רונכ , das im AT 42mal ver‐ wendet wird. Es ist in der LXX 20mal mit κιθάρα übersetzt, 18mal mit κινύρα, fünfmal mit πσαλτήριον und einmal mit ὄργανον. 450 Für dieses Instrument finden sich von den drei bei Paulus erwähnten Instrumenten die ältesten Text‐ belege. Bereits im 18. Jh. v. Chr. wird die Kithara in einem Brief aus dem Mari-Ar‐ chiv erwähnt. 451 Die ältesten archäologischen Funde stammen aus dem Königs‐ friedhof in Ur und werden in die Mitte des zweiten Jahrtausends v. Chr. datiert. 452 Bei der κιθάρα handelt es sich im Gegensatz zum Aulos um ein Sai‐ teninstrument, die Leier, deren Formen sich im Lauf der Zeit stark verändert haben, wodurch auch die unterschiedlichen Übersetzungen zu erklären sind. 453 Für die atl. Verwendung des Begriffs ist im Allgemeinen eine flache Leier an‐ zunehmen, die aus einem einzigen Holzstück gefertigt wurde, kein Oberbegriff für die Leier an sich. 454 Archäologische Funde bestätigen, dass es sich überhaupt um eine Leier handelt, da im altisraelischen und altpalästinensischen Raume keine anderen Saiteninstrumente gefunden wurden; 455 deshalb ist auch nicht 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 263 <?page no="264"?> 456 Vgl. Sendrey, Music, 278. 457 Vgl. Josephus, Ant VII 12,3; Bab. Talmud c Arakhin 13,2. Nach Braun, Musikinstrumente, 1517. 458 Vgl. Braun, Musikinstrumente, 1517 f. 459 Vgl. z. B. Gen 31,27, Hi 30,31, 2 Sam 6,5 und Jes 23,16 und Braun, Musikinstrumente, 1516. 460 Vgl. Hom. Od. 11, 262 ff und Eur. Fragm. 480. Dazu Marianne Bröcker: Art. Leiern. VII. 4 Die Bedeutung der Leiern in der griechisch-römischen Antike, in: MGG 8 (1996), 1034, Zaminer, Art. Musikinstrumente, 543 f. 461 Nach Strobel, Korinther, 216 und Wegner, Musikleben, 18 f, hier s.a. Abb 32a. Harfe zu übersetzen. 456 Angaben zur Saitenanzahl der Leier schwanken und finden sich in den biblischen Texten nicht. Josephus kennt eine Leier mit zehn, der babylonische Talmud eine mit sieben Saiten. 457 Als Holzart nennt 2 Chr 2,7; 9,11 und 1 Kön 10,11 f das Almuggimholz, das bisher nicht näher bestimmt werden konnte, und aus dem Libanon nach Israel importiert wurde. 458 Die Leier weist die vielfältigsten Funktion auf: Sie wurde bei weltlichen Festen gespielt, bei der Trauer und zum Gotteslob, beim Transport der Bundeslade, sie beschreibt die Tätigkeit professioneller Musiker, wird aber auch als Instrument der Huren bezeichnet. 459 Sie ist auch in Griechenland seit archaischer Zeit verbreitet und beliebt. Das zeigt sich u. a. daran, dass Mythen mit ihrer Erfindung überliefert wurden: Als Erfinder gelten Apollos oder Hermes, aber auch Amphion, der Sohn des Zeus. 460 Die Leier wird v. a. für Apollon zum Erkennungszeichen. Einer Sage nach hat er sich als Zitherspieler mit Marsyas, einem Aulosspieler, einen musi‐ kalischen Wettkampf geliefert. Bei diesem schien sich Marsyas mit dem klang‐ gewaltigeren Aulos zuerst gegen die sanften Töne der κιθάρα durchzusetzen. Am Ende gewinnt dennoch Apollon, der den Tönen der κιθάρα seinen Gesang hinzufügte. 461 IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 264 <?page no="265"?> 462 Das Bild ist entnommen aus Zaminer, Art. Musikinstrumente, 546. 463 Z. B. 2 Kön 11,14, Neh 12,35.41 und 1 Chr 13,8; 15,24.28, vgl. Braun, Musikinstrumente, 1514. 464 Vgl. Jos 6,4-6 und Seidel, Art. Musik TRE, 441. 465 So Seidel, Art. Musik TRE, 441. Dagegen Braun, Musikinstrumente, 1515.1523 und Ger‐ hard Friedrich: Art. σάλπιγξ, σαλπίζω, σαλπιστής, in: ThWNT VII (1964), 76. 466 Vgl. 2 Kön 12,14; Num 10,2; 1 Chr 15,25; Num 10,2; 2 Chr 23,13; Esr 3,10. Nach Braun, Musikinstrumente, 1514. 467 Vgl. Seidel, DNP, Musik, 542. 468 Vgl. Zaminer, Art. Musikinstrumente, 549. 1 Kor 14,8: σάλπιγξ 462 Das Lexem σάλπιγξ steht für das Hebräische הרצצח , das im AT 31mal ge‐ braucht wird 463 . Die LXX verwendet σάλπιγξ auch als Übersetzung für לבויה ןרק (Widderhorn) bzw. ׁרפוש (Horn). 464 Das Horn ist allerdings vom Instrument der Salpinx zu unterscheiden, auch wenn auf Grund der LXX häufig ange‐ nommen wird, dass es sich bei den beiden Instrumenten um dasselbe handelt. 465 Beide Instrumente übernehmen aber ähnliche Funktionen und sind vielseitig einsetzbar: Sie werden im Tempel geblasen, bei Gemeindeversammlungen, beim Transport der Bundeslade, im Krieg, bei der Inthronisation zum König oder zur Grundsteinlegung des Tempels. 466 Zwischen dem fünften und dritten Jh. v. Chr. ersetzt die Trompete das Horn als Signalinstrument im Kult. 467 Die Salpinx ist als Trompete zu bestimmen, die aus Metall gefertigt wurde und deren Herstellung im AT , in Num 10,2, beschrieben wird. Nach Josephus JA III 12,6 ist sie eine Elle lang und besteht aus einem schmalen Rohr und einer grö‐ ßeren runden Endung. Vasen und literarische Berichte, z. B. Hom. Il 18,219, zeigen, dass die Salpinx auch in Griechenland ein verbreitetes Instrument war. 468 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 265 <?page no="266"?> 469 Vgl. Wegner, Musikleben, 18. 470 Vgl. Phil., SpecLeg II § 190, Josephus, Bell 3,86, Pol. 12 4,2 f und Friedrich, Art. σάλπιγξ, 73 f. 471 Friedrich, Art. σάλπιγξ, 82. 472 Text nach: Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer. Bd. I, hg. v. Johann Maier, München, Basel 1995 (UTB 1916), 136 f; zum hebräischen Text s. The Dead Sea Scrolls. Hebrew, Aramaic, and Greek Texts with English Translation. Volume 2. Damascus Do‐ cument, War Scroll, and Related Documents, hg. v. James H. Charlesworth, Tübingen 1991, S. 112. 473 So auch Wolff, Korinther, 330, Klauck, Korintherbrief, 100 und Merklein / Gielen, Ko‐ rinther, 178. In der Mythologie gilt Athene als ihre Erfinderin. 469 Auch im griechischen Raum dient sie als Signalinstrument für den Krieg, wird auch verwendet, um Herden einzutreiben, um den Beginn einer Gerichtsversammlung zu markieren oder um Trauerzüge zu begleiten. Besonders hervorzuheben ist ihre Funktion als Sig‐ nalinstrument im Krieg, sowohl in der profangriechischen wie auch in der jü‐ dischen Literatur. 470 Für die unterschiedlichen Funktionen des Instruments sind bestimmte Töne festgelegt: Lange, kurze, anhaltende oder schmetternde Töne. Der Text der Kriegsrolle aus Qumran zeigt, dass verschiedene Funktionen durch unterschiedliche Töne markiert wurden: 471 (5) (…) Die Priester blasen Lärm - einen ruhigen und anhaltenden Ton zur Formierung der Schlachtordnung, (6) und die Marschkolonnen verteilen sich zu ihren Schlacht‐ formationen, ein jeder auf seinen Posten. Wenn sie zu drei Formationen dastehen, (7) blasen die Priester für sie ein zweites Mal Lärm - einen ruhigen und anhaltenden Ton - zum Vorrücken, bis sie herankommen (8) an die Front des Feindes und sie ihre Hand nach den Kriegswaffen ausstrecken. Die Priester blasen mit den sechs Trom‐ peten (9) der Durchbohrten einen scharfen, schmetternden Ton - zur Leitung des Kampfes. Und die Leviten und die ganze Hörner-Mannschaft blasen (10) einstimmig einen großen Kriegslärm, um das Herz des Feindes zerfließen zu lassen. Mit dem Schall des Kriegslärmes fliegen (11) die Kampfwurflanzen hinaus, um Durchbohrte zu fällen. Den Schall der Hörner lässt man verhallen, doch auf den Tr(omp)eten sollen (12) die Priester (weiter) blasen, einen scharfen, schmetternden Ton, zur Leitung des Kampfes, bis sie zur Front (13) des Feindes sieben Male hingeworfen haben. Danach stoßen die Priester für sie in die Trompeten zur Rückkehr, (14) eine ruhigen, langgezogenen an‐ haltenden Ton. (1 QM VIII,5-14) 472 Als Angriffssignal ist die Salpinx auch in 1 Kor 14,8 zu verstehen. 473 Das wird durch den Nachsatz τίς παρασκευάσεται εἰς πόλεμον; besonders deutlich. Die Salpinx ist das einzige Instrument, das im NT häufiger erwähnt wird, insgesamt elfmal; das Verb verzeichnet zusätzlich zwölf Textbelege und wird v. a. in apo‐ IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 266 <?page no="267"?> 474 Vgl. Braun, Musikinstrumente, 1534. 475 Im Gegensatz zu 1 Kor 13,1. Hier werden zwei Instrumente verwendet, κύμβαλον und χαλκός. Ersteres ist ein Idiophon; es handelt sich meist um zwei Becken, die aufeinander geschlagen werden. Vgl. Zaminer, Art. Musikinstrumente, 550. Zweiteres ein gongar‐ tiges Instrument, über das wenig bekannt ist. Vgl. Wischmeyer, Weg, 43 f. Paulus kriti‐ siert auch hier das glossolalische Sprechen, aber mit weniger ‚aussagekräftigen’ In‐ strumenten. Sie haben keinen Zeichencharakter und sie werden nicht in Bezug zur Verständlichkeit gesetzt. 476 Vgl. Braun, Musikinstrumente, 1512 f. 477 Vgl. Strobel, Korinther, 216. 478 Merklein / Gielen, Korinther, 177. kalyptischen und eschatologischen Kontexten gebraucht. Diese Funktion ist be‐ reits im AT angelegt, in Ex 20,19 oder in Jes 58,1, wird im NT aber verstärkt, indem in 1 Kor 15,52 und 1 Thess 4,16 von Trompeten im Zusammenhang mit der Auferstehung der Toten bzw. dem letzten Gericht die Rede ist. 474 Paulus verwendet in 1 Kor 14 Instrumente, die an den unterschiedlichsten Orten mit verschiedenen Rahmenbedingungen in vielfältigen Funktionen eingesetzt wurden. 475 Damit besteht eine realistische Chance, dass die Gemeindeglieder seinen Vergleich, der unten ausführlicher besprochen wird, verstehen. Paulus verwendet Instrumente, die sowohl im Kult als auch außerhalb des Kultes ein‐ gesetzt werden, und nicht etwa Instrumente, die auf eine bestimmte Funktion festgelegt sind. Das wäre beispielsweise für םישׁורב יצע , ein Instrument aus Zypressenbaumholz, und für Tonrasseln ( םיענענמ ) der Fall. Beide Instrumente werden in 2 Sam 6,5 erwähnt und zu kultischen Anlässen eingesetzt, nicht aber zu weltlichen. 476 Die Salpinx diente zur Eröffnung der isthmischen Spiele in Ko‐ rinth und auch der αὐλός und die κιθάρα spielten bei den isthmischen Spielen eine Rolle. Deshalb ist davon auszugehen, dass die Gemeinde in Korinth mit den Instrumenten vertraut war. 477 Auch die bereits erwähnte Sage von Apollon und Marsyas dürfte bekannt gewesen sein, da in Korinth ein mächtiger Apollon‐ tempel stand. Der Verweis auf die Mythen oder den Gebrauch der Instrumente bei den isthmischen Spielen ist zwar für den konkreten Vergleichspunkt, auf den Paulus abzielt, nur von „peripherer Bedeutung“ 478 , zeigt aber, dass den Korin‐ thern die Instrumente aus weltlichen und kultischen Kontexten bekannt waren. Paulus legt den Grundstock für das Verstehen seines Vergleichs, wenn er in seiner Argumentation Instrumente verwendet, die seiner Gemeinde bekannt waren. Auch die weiteren, wichtigen Lexeme der Argumentation von 1 Kor 14,6-12 sind genauer zu untersuchen: 1 Kor 14,7. 8. 10.11: φωνή 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 267 <?page no="268"?> 479 Das zeigt die ausführliche Untersuchung von Ax für Demokrit (62.65), Platon (65), und Aristoteles (74); im Gegensatz dazu bezeichnen Diogenes und Anaxagoras das Objekt des Hörens als ψόφος (75). Erst Aristoteles trennt zwischen ψόφος (Schall) und φωνή (Stimme). Vgl. Ax, Laut, 74. 480 Vgl. dazu die Übersicht bei Ax, Laut, 75. 481 Vgl. dazu Kap. II, 6. 482 Vgl. Ax, 267 f. 483 S. dazu unten und Ax, Laut, 108.112.268. 484 Vgl. Ax, Laut, 76. 485 Ax, Laut, 119. 486 Vgl. Ax, Laut, 59.119-121.137. Φωνή bezieht Aristoteles nicht ausschließlich auf die menschliche Stimme. Vgl. dazu auch Kap. II, 5 (3). 487 Vgl. dazu Kap. II, 6 (2). 488 Walter Radl: Art. φωνή, in: EWNT 3 (1983), 1069. Das Lexem φωνή bringt zum Ausdruck, dass etwas gehört werden kann; 479 das zeigt sich v. a. an der Verbindung mit den Lexemen ἀκοή und ἀκούω, 480 die sich auch im NT 41mal findet. Es wird unterschiedlich bewertet, ob es sich bei dem Gehörten um etwas Körperliches handelt oder nicht. Pythagoras, Platon und Aristoteles verstehen φωνή als unkörperlich, die Stoa hat eine körperliche Auffassung. 481 Wolfram Ax zeigt in seiner Untersuchung, dass das Lexem in der Antike in dem Bedeutungsspektrum Laut, Stimme und Sprache verwendet wird: Die Vorsokratiker verwenden das Lexem für alles, was gehört werden kann, also sowohl für Laute im Allgemeinen als auch für die menschliche Stimme; erst mit Protagoras wird die Bedeutung von φωνή für Sprache vorangebracht. 482 Bei Platon findet sich das Lexem in den unterschiedlichen Facetten seines seman‐ tischen Spektrums: Als Stimme, als Musikton, als Laut bzw. Ton allgemein, als Sprache oder Dialekt. 483 Im Zuge der unterschiedlichen Bedeutungen für φωνή kam es zu Verwirrungen; nicht nur φωνή selbst wurde in unterschiedlicher Se‐ mantik gebraucht, auch die Unterscheidung zwischen den Lexemen φωνή, ψόφος und ἦχος bereitete Schwierigkeiten. 484 Erst Aristoteles setzt sich mit der Semantik des Lexems differenzierter auseinander, indem er zwischen Laut, Stimme und Sprache unterscheidet: Ψόφος bezeichnet „Geräusche verschieden‐ ster Art“ 485 , unter φωνή versteht Aristoteles die Stimme, die von bestimmten Organen von einem Lebewesen erzeugt wird, und διάλεκτος verwendet er in der Regel - neben λόγος - für Sprache. 486 Die Stoa differenziert noch genauer, indem sie φωνή als Schall versteht, der erst durch einen vom Menschen er‐ zeugten Laut zur Stimme wird, das wurde in der Einführung bereits deutlich. 487 Für Paulus ergibt sich ein differenziertes Bild: In 1 Kor 14,7 f ist φωνή auf die Musikinstrumente bezogen. Dabei wird φωνή als eine „geordnete Abfolge der Töne“ 488 verstanden, die eine Melodie, einen bestimmten Rhythmus oder ein IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 268 <?page no="269"?> 489 Vgl. Betz: Art. φωνή, φωνέω, συμφωνέω, σύμφωνος, συμφωνία, συμφώνησις, in: ThWNT IX (1973), 286, Anm. 67 und Schrage, Korinther 3, 393. 490 Zur starken Trennung s. Radl, Art. φωνή, 1069. 491 Vgl. Archytas: Fragm. B47,1 (DK I, 435) und Ax, Laut, 86.88 f. 492 S. Plat. Prot. 347d: φωνή τῶν ἀυλῶν. Auch in der Bedeutung ‚Ton’, nicht aber unbedingt auf Musikinstrumente bezogen, beispielsweise in Prot 315b; 322a oder Tim 67b, hier ist in einem allgemeinen Verständnis von Ton mit Bezug auf die Sinnesorgane die Rede. Vgl. zur Bedeutung ‚Musikton’ bei Platon auch Ax, Laut, 103. 493 Vgl. 2 Sam 15,10, Neh 4,14 und 1 Kön 1,41 führen nicht σάλπιγξ, sondern κερατίνη. 494 In 1 Chr 15,28 und 2 Sam 15,10 als Klang, der während des Transports der Bundeslade geblasen wird. Signal erkennen lassen. 489 Φθόγγος hingegen bezeichnet in der Regel den Ein‐ zelton. Die Trennung ist allerdings nicht absolut zu setzen, so kann auch φωνή lediglich den Ton eines Instrumentes bezeichnen, das werden die unten ge‐ nannten Belege der LXX zeigen, wo nicht immer ein Signalton oder eine Melodie im Blick ist. 490 Im Proömium der musiktheoretischen Abhandlung Archytas’ von Tarent findet sich φωνή ebenfalls in der Bedeutung Musikton. Er bestimmt im Rahmen der Beschreibung von Tondifferenzen Musiktöne als φωναί, so bei‐ spielsweise den Ton des κάλαμος. 491 Auch Platon bezeichnet in rep. III 397a die Melodie von σάλπιγξ, αὐλός, σῦριγξ und ὄργανον als φωνή. 492 In der LXX sind folgende Textstellen zu finden, in denen φωνή im Zusammenhang mit Musik‐ instrumenten verwendet wird und die Bedeutung Ton, Melodie oder Signal hat: In Ex 28,35 und Sir 45,9 bezeichnet φωνή den Ton eines Glöckchens (κώδων), das Aaron sich umhängen soll und dessen Klang zu hören sein soll, wenn er das Heiligtum betritt. In Lev 25,9, Jos 6,20, 2 Sam 15,10 und 1 Kön 1,41, Neh 4,14 493 , 3 Esr 5,63, Sir 50,16, Jer 6,17, Ez 33,4.5 bezeichnet φωνή direkt das Signal der Salpinx. In dieser Semantik ist φωνή in 1 Kor 14,8 zu verstehen, das wird durch den zweiten Satzteil deutlich markiert. Für die Bedeutung Ton bzw. Signalton lassen sich also sowohl in der profangriechischen wie auch in der atl. Literatur Textbelege finden. Als Schall, Ton oder Melodie in einem allgemeineren Ver‐ ständnis steht φωνή in 1 Chr 15,28 (als der des σωφερ) und in 2 Sam 6,15, Ps 46,6 LXX , Ps 97,6 LXX , PsSal 8,1, Am 2,2, Jes 18,3, Jer 4,19.21; 42,14 sowie im NT in Hebr 12,19 (als der der σάλπιγξ), in Jes 24,8 (als der der κιθάρα), in Ps 97,5, Hi 21,12, Ez 26,13; 33,32 (als der des ψαλμός bzw. ψαλτήριον), in Am 6,5 (allgemein als Ton des ὄργανον), in Dan 3,5 (als Klang der σάλπιγξ, σύριξ, κιθάρα, σαμβύκη, ψαλτήριον und der συμφωνία παντὸς γένους μουσικῶν, ähnlich Dan 3,7.10), und in Offb 18,22 (als Melodie des αὐλητής und des σαλπιστής). 494 Häufig ist mit φωνή nicht ein einzelner Ton, sondern eine Folge von Tönen bezeichnet, die eine Melodie markiert. In 2 Chr 5,13 und in 1 Makk 9,41 ist das Lexem zwar in musikalischem Rahmen gebraucht, wird aber mit einer Person 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 269 <?page no="270"?> 495 S. Kap. IV, 3.2.2. (2). 496 S. Men 764d, Tim 67b, Thaet 156c oder Prot 356c. Vgl. dazu Ax, Laut, 107. 497 Dies gilt sowohl für biblische Texte (z. B. Ex 9,23.29, Hi 28,26, Joh 3,8, Offb 6,1, Mt 2,18) als auch für die profangriechische Literatur (Hom. Od 10,239, Plat. Phil. 17b). Vgl. Radl, Art. φωνή, 1068 und Betz, Art. φωνή, 272.274. In den Papyri wird das Lexem aus‐ schließlich als Äußerung der menschlichen Stimme verstanden. Vgl. Peter Arzt-Grabner / Ruth E. Kritzer / Amphilochios Papathomas / Franz Winter: 1. Korinther. Mit zwei Beiträgen von Michael Ernst, unter Mitarbeit von Günther Schwab und And‐ reas Bammer, Göttingen 2006 (PKNT 2), 448. 498 Vgl. z. B. Plat. Lach. 192a.b, Prot. 310b, 315a und Phaidr. 259d. Vgl. dazu Ax, Laut, 104 f. 499 Vgl. Radl, Art. φωνή, 1068 f. in Verbindung gebracht: Es steht für die Melodie oder die Lieder, die Musiker (ὁ μυσικός) zur Totenklage erzeugen. In dem Verständnis als geordnete Abfolge von Tönen, die ein Musikstück bzw. eine Melodie erkennen lassen, ist das Lexem in 1 Kor 14,7 verwendet. In diesem Vers unterscheidet Paulus klar zwischen Melodie und Einzelton und bringt dies durch die verschiedenen Lexeme φωνή und φθόγγος zum Ausdruck. Für 1 Kor 14,10 ist Laut die treffendste Übersetzung. Das kann erst weiter unten gezeigt werden. 495 In der allgemeinen Bedeutung Laut findet sich das Lexem sowohl bei Platon, häufig wenn φωνή als Objekt zu ἀκοή steht, 496 als auch in der LXX , für die sich die verschiedensten Bereiche des Hörens ausmachen lassen: Naturlaute (Wind, Donner, Wasser), menschliche Laute (Wehgeschrei, von Menschen erzeugter Lärm) oder Laute, die von Gegenständen erzeugt werden (Mühlstein). 497 Seltener bedeutet das Lexem im NT Sprache. Dies geht mit der Entwicklung bei Aristoteles einher, der für Sprache nicht mehr φωνή gebraucht, sondern λόγος oder διάλεκτος. Bei Platon hingegen ist auch diese Semantik, φωνή als Sprache der Menschen, zu finden. 498 Während das Lexem in der LXX am häu‐ figsten die Stimme eines Sprechenden bezeichnet, v. a. in der Wendung „ἡ φωνὴ κυρίου“, 499 ist es bei Paulus nur in Gal 4,20 und in 1 Thess 4,16 in Bezug auf die menschliche Stimme gebraucht. Im NT findet sich diese Semantik darüber hi‐ naus nur noch in 2 Petr 2,16. Hier ist von einem stummen Lasttier die Rede, das mit menschlicher Sprache spricht. In 1 Kor 14,11 kann φωνή als Sprache, aber auch als Laut verstanden werden; dazu ist auf die weitere Argumentation zu verweisen. Die paulinische Verwendung von φωνή ist nicht einheitlich. Sie weist ein viel‐ fältiges semantisches Spektrum auf, das von Laut (allgemein) über Ton (eines Musikinstrumentes) bis hin zur Bezeichnung für die menschliche Sprache reicht. Damit findet sich bei Paulus der platonische Sprachgebrauch von φωνή. Auch Platon gebraucht das Lexem in der Vielzahl dieser Bedeutungen, auch in solchen, IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 270 <?page no="271"?> 500 So in Krat 409e, Kritias 113a (als Bezeichnung für die griechische Sprache) oder Thaet. 163b (als Bezeichnung für die Sprache der Barbaren). Vgl. dazu Ax, Laut, 105. 501 Vgl. Ax, Laut, 76. 502 Vgl. Liddell / Scott, Lexicon, 1929. 503 Vgl. Zaminer, Art. Musik, 527. 504 Vgl. Manfred Oeming: Das Buch der Psalmen. Psalm 1-41, Stuttgart 2000 (NSK.AT 13), 134. 505 So Friedrich Baethgen: Die Psalmen, Göttingen 1897 (HK II / 2), 55. 506 Frank-Lothar Hossfeld / Erich Zenger: Die Psalmen I. Psalm 1-50, Würzburg 1993 (NEB 29), 132. 507 Ersteres vertritt Baethgen, Psalmen, 55, der übersetzt: Nicht eine Botschaft und nicht Worte, deren Schall unhörbar wäre. Seiner Ansicht nach kann der Lobpreis als Laut von jeder Person wahrgenommen werden. Zweiteres Hans-Joachim Kraus: Psalmen. 1. Teil‐ band. Psalmen 1-59. 5., grundlegend überarbeitete und veränderte Auflage, Neukir‐ chen-Vluyn 5 1978 (BK XV / 1), 301 f, Arthur Weiser: Die Psalmen. Erster Teil: Psalm 1-60, Göttingen 1950 (ATD 14), 125 und Hossfeld / Zenger, Psalmen, 132. Kraus, Psalmen, 297 beispielsweise übersetzt: Ohne Worte und ohne Rede - mit nicht ver‐ nehmbarer Stimme. Dass V. 4 „die Randbemerkung eines weisen Mannes“ sei, „der auf nicht allzu scharf‐ sinnige Leser rechnete“ (Bernhard Duhm: Die Psalmen, Tübingen 2 1992, 81), wird heute abgelehnt. Vgl. Kraus, Psalmen, 301. die Paulus nicht aufgreift. So findet sich φωνή bei Platon auch in der Bedeutung ‚Dialekt, national definierte Sprache’. 500 Erst Aristoteles führt die oben ge‐ nannten Unterscheidungen ein, die die Stoa weiter expliziert und φωνή v. a. für Sprache nicht mehr gebraucht. 501 Paulus verwendet dasselbe semantische Spektrum wie Platon und zwar ebenfalls ohne explizite Definitionen der unter‐ schiedlichen Bedeutungen zu geben. In 1 Kor 14,7 ist φωνή mit Melodie zu über‐ setzen, in 1 Kor 14,8 mit Ton und in 1 Kor 14,10 mit Laut. 1 Kor 14,7: φθόγγος Das Lexem φθόγγος kann sowohl den Ton / Schall der Stimme, sei es die menschliche, göttliche oder die personifizierte Stimme von Naturelementen, bezeichnen, wird aber auch als Ton eines Musikinstrumentes gebraucht: 502 In dem ersten Verständnis gebraucht Paulus das Lexem in Röm 10,18. Platon ver‐ wendet φθόγγος als Ton eines Instrumentes in rep. III 400a und Nom VII 812d. Das Lexem ist ebenso wie διάστημα (Intervall) ein zentraler Begriff in der grie‐ chischen Musiktheorie. 503 In der LXX findet es sich in Ps 18,5 LXX und in Weis 19,18. In Ps 18 LXX findet sich ein personifizierter Lobpreis der Schöpfung. 504 Der Himmel erzählt von der Herrlichkeit Gottes. 505 Strittig ist die Übersetzung und Interpretation von Ps 18,4 LXX . Er wird einmal dahingehend übersetzt, dass der Lobpreis der Schöpfung als Laut vernehmbar ist, andererseits wird davon ausgegangen, dass die Kenntnisse und der Lobpreis der Schöpfung ohne hörbare Worte stattfinden und nur „dem Erkennen zugänglich“ 506 gemacht wird. 507 Un‐ 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 271 <?page no="272"?> 508 So Duhm, Psalmen, 80. 509 So Kraus, Psalmen, 301 f, Weiser, Psalmen, 125 und Hossfeld / Zenger, Psalmen, 132. Die hebräischen Verneinungen ןיא und ילב in Ps 19,4 legen nahe, dass hier nicht von einer sprachlichen Äußerung auszugehen ist; ebenso verneint die LXX mit οὐκ, οὐδέ und οὐχί. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die LXX in V. 5 eine Änderung vornimmt. Sie übersetzt das Lexem וק (Linie / Messschnur) mit φθόγγος, so dass sich die Übersetzung „ihr Schall geht über die ganze Erde hinaus“ ergibt. Aber auch dann ist vom personifi‐ zierten Sprechen der Schöpfung die Rede; zu einer Interpretation in die Richtung eines glossolalischen Sprechens trägt dies nicht bei. 510 Bezüglich der Grammatik unterscheidet Philon Vokale (α,ε,η,ι,ο,υ,ω) und Halbvokale (λ,μ,ω,π,σ). Die Vokale ergänzen die Halbvokale und machen sie dadurch zu Tönen (φθόγγος). Vgl. Phil., Op § 126. abhängig von der Übersetzung wird deutlich, dass es sich nicht um eine Art „Glossolalie lebendiger Gotteswerke“ 508 handelt, weil an keiner Stelle gesagt wird, dass es sich um unverständliche Worte handelt; das aber wäre Kennzei‐ chen einer glossolalischen Äußerung. Die Mehrheit der Exegeten liest daher, dass der Lobpreis der Schöpfung ohne Reden und ohne Worte, mit unhörbarer Stimme erfolgt und nicht hörbar, sondern erfahrbar und lautlos zu vernehmen ist. 509 Damit ist erst Recht kein Bezug zum glossolalischen Sprechen herzustellen, denn die Glossolalie kann gehört werden, sie hat lediglich den Makel der Un‐ verständlichkeit. Φθόγγος ist in Ps 18 LXX also als Ton oder Schall der perso‐ nifizierten Schöpfung zu verstehen. In der frühjüdischen Literatur findet sich das Lexem ebenfalls in der Bedeu‐ tung Ton. So ist in Weis 19,18 von den Elementen die Rede, deren Veränderung mit den Tönen der Harfe (ψαλτήριον) verglichen wird. Auch Philon kann das Lexem als Ton auf die menschliche Stimme beziehen. In Op § 118 ff thematisiert Philon die Zahl sieben, indem er beispielsweise für die inneren und die äußeren Teile des Körpers jeweils sieben Merkmale findet oder für den Kopf sieben Teile (zwei Augen, zwei Nasenlöcher, zwei Ohren, ein Mund) ausmachen kann. Auch für die menschliche Stimme unterscheidet Philon sieben verschiedene Arten von Tönen: συμβέβηκε μέντοι καὶ τὰς τῆς φωνῆς μεταβολὰς ἁπάσας ἑπτὰ εἶναι, τὴν ὀξεῖαν, τὴν βαρεῖαν, τὴν περισπωμένην, καὶ τέταρτον δασὺν φθόγγον καὶ ψιλὸν πέμπτον καὶ μακρὸν ἕκτον καὶ βραχὺν ἕβδομον. (Op § 121) Auch die Wandlungen der Stimme sind im Ganzen sieben: der hohe, der tiefe, der gedehnte Ton, viertens der rauhe (gehauchte), fünftens der dünne, sechstens der lange und siebtens der kurze Ton. (Op § 121) Die Bedeutung der Siebenzahl bezieht er nicht nur auf den Menschen, sondern auch auf die Musik und die Grammatik. 510 Von der Leier behauptet er: IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 272 <?page no="273"?> 511 So allein Betz, Art. φωνή, 286, Anm. 76 und Schrage, Korinther 3, 393, Anm. 96. 512 Vgl. Liddell / Scott, Lexicon, 412 f. 513 Vgl. z. B. Ex 8,19. 514 Vgl. Wolfgang Raible: Zur Entwicklung von Alphabet-Schriftsystemen. Is fecit cui pro‐ dest, Heidelberg 1991 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissen‐ schaften, phil.-hist. Klasse, Jg. 1991, Bericht 1), 6.12 f. Er zeigt dies für Dion. Thrax. 515 Vgl. Phil., VitMos II § 158, Mut § 252, Agr § 13.129, SpecLeg I § 100 und SpecLeg IV § 108. λύρα μὲν γὰρ ἡ ἑπτάχορδος ἀναλογοῦσα τῇ τῶν πλανήτων χορείᾳ τὰς ἐλλογίμους ἁρμονίας ἀποτελεῖ, σχεδόν τι τῆς κατὰ μουσικὴν ὀργανοποιίας ἁπάσης | ἡγεμονὶς οὖσα. (Op § 126) Denn die siebensaitige Lyra, die dem Chor der Planeten entspricht, bringt vorzügliche Harmonien hervor und nimmt unter allen Musikinstrumenten nahezu den ersten Rang ein. (Op § 126) Auf die Musik bezogen verwendet Philon das Lexem φθόγγος in Cher § 110, Imm § 24 und Plant § 167. Hier ist φθόγγος auf die (unterschiedlichen) Töne der λύρα oder in Ebr § 116, Conf § 55, Congr § 144, Mut § 87 und Sacr § 74 auf ver‐ schiedene Instrumente oder auf Musik(instrumente) im Allgemeinen bezogen. Auch Paulus gebraucht das das Lexem φθόγγος in dieser Semantik in 1 Kor 14,7. Damit wird im Gegensatz zur φωνή der einzelne Ton markiert, keine zu‐ sammenhängende Abfolge von Tönen, die als Melodie zu verstehen ist. 511 1 Kor 14,7: διαστολή Das Lexem διαστολή wird selten gebraucht, besitzt jedoch ein großes se‐ mantisches Spektrum. 512 Die LXX verwendet es, um den Unterschied zwischen Personen oder Völkern zu benennen. 513 In Num 19,2 hat es die Bedeutung Ord‐ nung / Abschnitt des Gesetzes, in Num 30,7 Eid / Ausspruch und 1 Makk 8,7 be‐ zeichnet es den Teil eines Gebietes. Im Profangriechischen ist διαστολή ein Be‐ griff der Grammatik und wird als Trennungs-Satzzeichen, also als Komma, bestimmt. 514 Philon verwendet das Lexem in allen Textstellen in der Semantik Unterschied. 515 Bei Paulus steht das Lexem neben 1 Kor 14,7 zweimal, in Röm 3,22; 10,12. Beide zuletzt genannten Textstellen sind mit Unterschied zu über‐ setzen und auf Personen bezogen. 1 Kor 14,7 stellt die einzige ntl. Textstelle dar, die διαστολή in musikalischem Zusammenhang gebraucht. In der LXX , bei Philon und Josephus sowie im NT finden sich keine Textstellen, die διαστολή in diesen Zusammenhang setzen. Für den Ausdruck διαστολή τοῖς φθόγγοις können keine weiteren Textstellen zur Erklärung herangezogen werden. Es muss also für Paulus separat gefragt werden, worin der Unterschied in den Tönen besteht. Zwischen beiden Sub‐ 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 273 <?page no="274"?> 516 Vgl. Blass / Debrunner, Grammatik, § 197. 517 Auf diese Unterscheidung bezieht sich Karl H. Rengstorf, Art. στέλλω, διαστέλλω, διαστολή, ἐπιστέλλω, ἐπιστολή, καταστέλλω, καταστολή, συστέλλω, ὑποστέλλω, ὑποστολή, in: ThWNT VII (1964), 593. 518 Schenk, Aufgaben, 886. 519 Vgl. Merklein / Gielen, Korinther, 177. 520 So auch Wolff, Korinther, 330 und Merklein / Gielen, Korinther, 177 f. stantiven ist ein Dativ der Beziehung anzunehmen. 516 Bei der Erklärung ist am letzten Satzteil in 1 Kor 14,7 anzusetzen: πῶς γνωσθήσεται τὸ αὐλούμενον ἢ τὸ κιθαριζόμενον; . Was soll erkannt werden? Die Betonung liegt nicht auf Aulos und Kithara, d. h. es geht nicht darum, anhand der auf dem Aulos und der auf der Leier gespielten Töne die beiden Instrumente unterscheiden zu können. Jeder einzelne Ton, unabhängig von seiner Tonhöhe oder -länge, 517 kann ent‐ weder dem Blas- oder dem Saiteninstrument zugeordnet werden. Der Fokus liegt also nicht auf den beiden unterschiedlichen Instrumenten und 1 Kor 14,7 be‐ schreibt nicht die „Signaldifferenz von geblasenen und gezupften Instru‐ menten“ 518 . Eine Möglichkeit, von einem Unterschied der Töne zu sprechen, kann sich darauf beziehen, dass verschiedene Töne gespielt werden, die der Hörer unterscheiden kann, es sich aber um Einzeltöne handelt, die keine Ge‐ samtkomposition im Blick haben; dann bezieht sich der Unterschied der ein‐ zelnen Töne auf ihre Höhe und Länge. Einzelne Töne unterscheiden zu können, ist höchstens im Rahmen eines Musikunterrichts sinnvoll, hat aber darüber hi‐ naus keinen musikalischen Nutzen. Ein Musikstück ist auf eine Gesamtkompo‐ sition mit Rhythmus und Melodie angelegt, auf eine harmonische Abfolge vieler Töne, nicht auf Einzeltöne. 519 Das Hauptaugenmerk liegt auf dem Ergebnis und dem Gesamteindruck des Gespielten. Es muss erkannt werden, was gespielt wird, nicht dass einzelne Töne gespielt werden. Dazu ist auf die oben genannten, verschiedenen Funktionen zu verweisen. Anhand des Gespielten muss erfasst werden, zu welcher Funktion oder welchen Anlass das Instrument gespielt wird. Soll es zur Freude und zum Tanz angesichts eines Hochzeitsfestes auffordern oder soll es angesichts eines Todesfalls auf eine Trauerfeier einstimmen? Un‐ terstützt das Gespielte den feierlichen Transport der Bundeslade oder stimmt es auf den Lobpreis ein? Die unterschiedlichen Funktionen der Instrumente können nicht ausgemacht werden, wenn nur einzelne, zwar voneinander zu unterscheidende Töne gespielt werden, die aber keine Melodie erkennen lassen, weil sie ohne Intervalle und ohne Rhythmus gespielt werden. 520 Damit ist bereits gezeigt, dass der paulinische Fokus in 1 Kor 14,7 auf der Verständlichkeit des Gespielten liegt, so wie es in der Argumentation insgesamt um die Verständ‐ lichkeit des Sprechens geht; es ist abzulehnen, dass es sich bei den Unterschieden IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 274 <?page no="275"?> 521 Vgl. so Schenk, Aufgaben, 886, der zwar darauf hinweist, dass der Fokus des Abschnitts auf der Semantik liegt; der in 1 Kor 14,7 aber die Zeichenstruktur von Charles W. Morris: Zeichen, Sprache und Verhalten. Mit einer Einführung von Karl-Otto Apel, Frankfurt a. Main, Berlin, Wien 1981, explizit die syntaktische Relation, wiederfinden will. 522 Morris, Zeichen, 324. 523 So Merklein / Gielen, Korinther, 177 f, Schrage, Korinther 3, 393 und Weiß, Korinther‐ brief, 324. 524 Unter einem Intervall versteht man den „Höhenunterschied zwischen zwei entweder nacheinander oder gleichzeitig erklingenden Tönen“ (Martin Ruhnke: Art. Intervall, in: MGG 4 (1996), 1069). in den Tönen um die Unterscheidung der beiden Instrumente bzw. um die syn‐ taktische Relation handelt, weil Paulus auf die Verständlichkeit einer Rede ab‐ zielt, d. h. den Zusammenhang der Laute zur Bedeutung des Gesagten bzw. Ge‐ spielten betont. Es geht nicht darum, dass in 1 Kor 14,7 einzelne Zeichen miteinander verglichen werden können und daran ihre Unterschiedlichkeit festgestellt werden kann. 521 Die Syntaktik, nach Morris verstanden als „Unter‐ suchung der formalen Relation der Zeichen zueinander“ 522 , steht nicht im Fokus der Argumentation. Die Wendung διαστολή τοῖς φθόγγοις ist so zu verstehen, dass sich die Töne zwar unterscheiden sollen, mit dieser Feststellung allein aber ist noch nichts gewonnen; sie müssen sich so unterscheiden, dass für das Ge‐ spielte eine Melodie auszumachen ist. Das ist der entscheidende Aspekt. 1 Kor 14,7 ist daher folgendermaßen zu verstehen: Auf den unbelebten Instrumenten, dem Aulos und der Leier, kann eine Melodie oder ein Rhythmus (φωνή) gespielt werden; wenn aber die Instrumente keinen Unterschied in den Tönen (φθόγγος) hervorbringen, kann diese Melodie nicht erkannt werden. 523 Wenn die Melodie nicht erkannt wird, kann das Gespielte seine Funktion nicht erfüllen. Das musiktechnische Vokabular darf bei Paulus nicht in seinem engsten Ver‐ ständnis aufgefasst werden. Paulus hat keine Intervalle im Blick, 524 wie sie etwa Pythagoras berechnete. Sein Fokus ist auf den Gesamteindruck, auf das Ge‐ samtverständnis eines Musikstückes gerichtet. Nur wenn die Melodie erkennbar ist, kann die Intention des Gespielten erfasst werden. Das verdeutlicht der letzte Satzteil in 1 Kor 14,7. Wenn kein Unterschied in den Tönen besteht, können die Musikinstrumente keine Melodie hervorbringen. Sie ist es aber, die erkannt werden soll. 1 Kor 14,8: ἄδηλος Die beiden Lexeme, deren Semantik zuletzt bestimmt werden soll, stammen nicht aus dem musikalischen Vokabular. Das Lexem ἄδηλος hat ein weites se‐ 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 275 <?page no="276"?> 525 Vgl. Liddell / Scott, Lexicon, 21. 526 Vgl. Plat. Paidr. 232e und Phil., All III § 47, Sacr § 91, und Virt § 124. In dieser Semantik ist auch das Adverb ἀδήλως in 1 Kor 9,26 zu verstehen. 527 Vgl. Phil., Op § 69. 528 Vgl. Hes. Op. 6, Phil., Abr § 86, VitMos I § 280. 529 Vgl. Phil., Congr § 138. 530 Vgl. SVF II,89. 531 Vgl. Ps 50,8 LXX, Lk 11,44, Phil., Op § 43, Det § 1, SpecLeg I § 200 und Sextus Empiricus, Adv. Math. VII,275 (SVF II,233); hier direkt als Gegensatz zu φαινόμενον verwendet. 532 Soweit diese Bestimmung nach Thesaurus, Bd. 2, 642 f möglich ist. 533 Vgl. Rengstorf, Art. σημεῖον, 200. 534 Vgl. Liddell / Scott, Lexicon, 732. mantisches Spektrum: 525 Es kann ungewiss, 526 unsichtbar, 527 unbekannt, 528 un‐ bestimmt, 529 nicht beweisbar 530 oder verborgen 531 bedeuten. Letzteres findet sich auch in der einzigen ntl. Textstelle neben 1 Kor 14,8, in Lk 11,44. In der von Paulus gebrauchten Semantik und auf Musikinstrumente bezogen, findet es sich weder in der LXX noch im NT , der profangriechischen Literatur oder bei Philon. 532 Die philonischen Textbelege sind dennoch hilfreich. In Migr § 70 ist das Adjektiv auf die Gedanken bezogen, auch sie sind ἄδηλος. Wenn die Ge‐ danken unklar sind, so muss nach Philon auch die daraus resultierende Rede undeutlich bleiben. Auch in Her § 303 wird die Möglichkeit dargestellt, dass Sprache ἄδηλος und ψευδής sein kann. Auf Grund der philonischen Verwen‐ dung des Lexems wird ersichtlich, dass ἄδηλος zwar nicht im musikalischen Zusammenhang verwendet wird und keine undeutlichen Töne bezeichnet, dass es aber auf die Sprache bezogen werden kann. Paulus kombiniert in 1 Kor 14,8 demnach Vokabular aus dem musikalischen und sprachlichen Bereich. Dadurch wird ersichtlich, dass er sein eigentliches Anliegen, die Sprache, nicht aus den Augen verliert. 1 Kor 14,9: εὔσημος Das Lexem ist ein Kompositum von σῆμα, das in der Profangräzität in der‐ selben Semantik verwendet wurde wie σημεῖον. Εὔσημος ist eines der zahlrei‐ chen Hapaxlegomena dieses Abschnitts und beschreibt demnach ein ‚gutes Zei‐ chen‘. 533 Seine Semantik reicht von deutlich, leicht erkennbar bis zu erkennbares Zeichen. 534 In 1 Kor 14,9 bringt Paulus zum Ausdruck: Wer glossolalisch redet, gibt kein erkennbares, deutliches Zeichen. Dieses Zeichen bezieht sich auf etwas Hörbares, auf die menschliche Stimme. In diesem Verständnis weist es bereits auf 1 Kor 14,22 f und die Ausführungen über das σημεῖόν τοῖς πιστεύουσιν hin. Das Lexem erhält durch die Verneinung (μή) dieselbe Bedeutung wie ἄσημος in 1 Kor 14,8: ‚nicht deutlich’. Stärker als für εὔσημος finden sich für ἄσημος Pa‐ rallelen, in denen von undeutlichen Worten / Lauten die Rede ist. Das Lexem IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 276 <?page no="277"?> 535 Vgl. Weiß, Korintherbrief, 325 mit Verweis auf Plut. mor VII,564b und Lucian, Alex. 13 „ὁ φωνάς τινας ἀσήμος φθεγγόμενος“. Zu Philon s. Rengstorf, Art. σημεῖον, 266 und Phil., VitMos II § 164. 536 Zu den verschiedenen Mythen bezüglich der Musikinstrumente s. ausführlich Wegner, Musikleben, 11-28. steht auch bei Plutarch, Lucian und Philon in sprachlichem Zusammenhang. 535 Deshalb liegt Weiß nicht falsch, wenn er schreibt, dass Paulus in 1 Kor 14,8 das Lexem εὔσημος als ἄσημος versteht. Letztlich erzielt Paulus durch die Vernei‐ nung aber dieselbe Semantik. Paulus stellt mit dem Ausdruck μὴ εὔσημος den Mangel einer sprachlichen Äußerungen fest: die Unverständlichkeit; oder positiv formuliert: Paulus stellt hier sein spezifisches Interesse am sprachlichen Ausdruck heraus: die Verständlichkeit. Das Vokabular in 1 Kor 14,9 stammt nicht mehr aus dem Bereich der Musik. Damit wird deutlich, dass diese Vergleichsebene abge‐ schlossen ist. Paulus argumentiert erneut auf der sprachlichen Ebene. Zusammenfassung: Das Vokabular, das Paulus in 1 Kor 14,7 f benutzt, stammt zu einen großem Teil aus dem Bereich der Musik. Was die Instrumente betrifft, so werden sie sowohl in der profangriechischen als auch in der atl. und frühjüdischen Literatur bei Philon in der Bedeutung verwendet, die auch Paulus gebraucht. Die Lexeme φωνή und φθόγγος gehören ebenfalls zum musiktechnischen Vokabular. Das Lexem διαστολή wird weder im Profangriechischen noch in der frühjüdischen Literatur in den musikalischen Zusammenhang gestellt und auf φθόγγος be‐ zogen. Auch die Lexeme ἄδηλος und εὔσημος gehören nicht mehr zum musi‐ kalischen Vokabular. Das zeigt, dass Paulus keine Abhandlung über die Theorie der Musik verfasst; er benutzt fachspezifisches musiktechnisches Vokabular, kombiniert dies aber mit Lexemen, die in anderen Texten, die Musik themati‐ sieren, nicht vorkommen. Sein Anliegen ist es nicht, über Musikinstrumente, Tonhöhen, Intervalle oder Funktionen und Mythen bestimmter Instrumente zu informieren; 536 er schreibt diese Verse im Kontext der Ausführungen zur Pro‐ phetie und Glossolalie und gibt über den Nutzen Letzterer Auskunft. Die Argu‐ mentation und Intention, die Paulus mit dem Exkurs in die Musik und den an‐ schließenden Versen verfolgt, ist im Folgenden nachzuzeichnen. (2) In 1 Kor 14,6 leitet Paulus die gesamte Thematik des Nutzens der sprachlichen Äußerungen ein: Wenn ausschließlich in glossolalischer Rede gesprochen wird, hat das Gesprochene - im Gegensatz zum Sprechen in Offenbarung, Erkenntnis und Prophetie - für die Erbauung der Gemeinde keinen Nutzen. Warum das der Fall ist, wird in 1 Kor 14,7 f anhand der Vergleiche mit αὐλός und κιθάρα, die 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 277 <?page no="278"?> 537 In 1 Kor 14,7 ist ὅμως in der Bedeutung von ὁμῶς zu lesen und zeigt einen Vergleich an. Vgl. Blass / Debrunner, Grammatik, § 450,2 und Bauer / Aland, Wörterbuch, 1154 f. So auch Lindemann, Korintherbrief, 302 und Schrage, Korinther 3, 380. Gegen Klauck, Engelszungen, 286, der für 1 Kor 14,6-12 zwei Gleichnisse annimmt, wobei das erste aus zwei Bildern, dem Aulos und der Kithara auf der einen und der Salpinx auf der anderen Seite, besteht; auch gegen Theißen, Aspekte, 273, der ebenso von Bildern spricht und das erste Bild von Aulos und Kithara auf die Deutlichkeit des Gesprochenen bezieht, das zweite Bild von der Trompete auf ihre Wirkung. 538 So auch Merklein / Gielen, Korinther, 177 f. 539 Vgl. auch Klauck, Engelszungen, 286, Weiß, Korintherbrief, 324, Zeller, Korinther, 426. 540 Damit gegen Schenk, Aufgaben, 886, der von vier Beispielen spricht. jeweils mit εἴτε eingeführt werden, deutlich. 537 Es verhält sich mit der Glossolalie wie mit den Musikinstrumenten. Bei Letzteren besteht das Ziel nicht darin, ein‐ zelne Töne ausmachen zu können, sondern das Gesamtwerk, die Melodie eines Musikstückes zu erkennen. Wenn das nicht der Fall ist, kann die Gesamtkom‐ position, die Aussage eines Musikstückes, nicht erkannt werden. 538 Für die Glos‐ solalie heißt das, dass das Ziel nicht darin liegen kann, einzelne Laute oder Silben ausmachen zu können, sondern die sprachliche Äußerung als solche zu erfassen und ihre Aussage, ihren Inhalt zu verstehen. Es genügt für den Zuhörenden nicht, zu erkennen, dass es sich um einzelne Wörter handelt; Ziel ist es, das, was durch diese Wörter transportiert wird, zu verstehen. Dies ist ihm nur möglich, wenn eine sprachliche Äußerung verständlich (εὔσημος) wiedergegeben wird. Das tertium comparationis liegt also in der Verständlichkeit. 539 Es handelt sich bei den Versen dezidiert um Vergleiche, weil ein tertium comparationis bestimmt werden kann, nicht um Beispiele. 540 Wenn die sprachliche Äußerung als solche unverständlich ist, wie ein Musikstück unverständlich ist, wenn die Melodie nicht erkennbar ist, hat sie keinen Nutzen. Nur wenn sie inhaltlich verständlich ist, dient sie der Erbauung der Gemeinde. Noch deutlicher stellt dies 1 Kor 14,8 heraus: Für den ebenfalls als Frage formulierten Konditionalsatz, der mit καὶ γάρ einen direkten Anschluss an den vorangehenden Vers herstellt, wird als Vergleichsinstrument die σάλπιγξ herangezogen. Dass Paulus hier auf die Trompete als Signalinstrument Bezug nimmt, geht aus dem Nachsatz τίς παρασκευάσεται εἰς πόλεμον; hervor. Das Signal soll dazu auffordern, sich für die Schlacht bereitzumachen, wofür nach der Kriegsrolle aus Qumran ein ru‐ higer und anhaltender Ton vorgesehen ist. Wenn dieser undeutlich (ἄδηλος) erklingt, kann er als solcher nicht identifiziert werden und das Geblasene ver‐ fehlt seine Wirkung. Das gilt auch noch in unserer Zeit: Wer den Signalton eines Notarztwagens kennt, wird wissen, dass er mit seinem Auto beispielsweise eine Rettungsgasse bilden soll. Damit wird natürlich der Zusammenhang von Se‐ mantik und Pragmatik herausgestellt; der Fokus liegt aber auf der Semantik und IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 278 <?page no="279"?> 541 Vgl. Schenk, Aufgaben, 886, der hier den zweiten Aspekt des morrisschen Zeichenmo‐ dells, die Pragmatik, herausgestellt sieht (vgl. dazu Morris, Zeichen, 324). Dieser Aspekt ist in 1 Kor 14,8 vorhanden, im Vordergrund steht aber die Wichtigkeit einer verständ‐ lichen Aussage. 542 Vgl. οὕτως καί auch in 1 Kor 2,11; 9,14; 12,12; 15,42. Als Anwendung auf die Glossolalie lesen 1 Kor 14,9 Lietzmann, Korintherbrief, 71, Weiß, Korintherbrief, 325, Conzelmann, Korinther, 276, Schrage, Korinther 3, 394, Schenk, Aufgaben, 886 und Raymond F.Col‐ lins: First Corinthians, Collegeville 1999 (Sacra Pagina Series 7), 499. 543 So Wolff, Korinther, 330 f und Lindemann, Korintherbrief, 303, Schenk, Aufgaben, 886 und Choi, Geist, 80. Merklein / Gielen, Korinther, 178 und Zeller, Korinther, 426 gehen einen Mittelweg, indem sie das Lexem eigentlich als Sprachorgan verstehen, aber den sachlichen Bezug zur Glossolalie gegeben sehen. darauf, zu zeigen, dass ein unverständliches Zeichen keine Wirkung erzielt: 541 Bleibt der musikalische Ausdruck unverständlich, kann er seiner Funktion nicht gerecht werden und verfehlt sein Ziel. So verhält es sich auch mit der Glossolalie: Wenn die glossolalische Rede unverständlich ist, wenn ihr Inhalt nicht ver‐ standen wird, resultiert aus dem sprachlichen Ausdruck keine Wirkung und das Gesprochene dient nicht der Erbauung der Gemeinde, sondern lediglich der Selbsterbauung. So wird analog zum Signalton der Trompete niemand auf das Gesprochene reagieren und der Zuhörende kann nach 1 Kor 14,16 nicht einmal aufrichtig ‚Amen’ sagen, weil ihm das glossolalische Gebet unverständlich ist. In 1 Kor 14,9 schließlich erfolgt durch einen erneuten Konditionalsatz die Anwendung auf die Glossolalie; sie wird mit οὕτως καὶ ὑμεῖς eingeleitet, wie auch in 1 Kor 14,12 und in Gal 4,3. 542 Damit wird nun wieder direkt die Gemeinde in Korinth angesprochen. Auch diese Übertragung forciert Paulus mit Hilfe einer (vorerst letzten) rhetorischen Frage. Mit πῶς γνωσθήσεται formuliert Paulus parallel zu 1 Kor 14,7 und knüpft damit an den Beginn der Vergleiche mit den Musikinstrumenten an. Das zu Erkennende bezieht sich jetzt nicht mehr auf die Musik, sondern auf die Glossolalie, das zeigt das substantivierte Partizip τὸ λαλούμενον. In der Literatur wird z.T. bestritten, dass 1 Kor 14,9 eine Anwen‐ dung auf die Glossolalie darstellt, weil das Lexem γλῶσσα an dieser Textstelle durch den Artikel determiniert ist, während es sonst undeterminiert verwendet wird. Deshalb verstehen einige Exegeten unter dem Lexem nicht die Glossolalie, sondern das menschliche Sprachorgan. 543 Die Determination durch den Artikel sollte jedoch nicht überbewertet werden. So wurde bereits deutlich, dass die Glossolalie durch eine große Anzahl unterschiedlicher Termini ausgedrückt werden kann. Gewichtiger ist das Gegenargument, dass 1 Kor 14,9 durch οὕτως καὶ ὑμεῖς einen Vergleich einleitet, da auch in 1 Kor 14,12 diese Wendung benutzt wird, um den Vergleich abzuschließen. Gegen das Verständnis von γλῶσσα als Sprachorgan spricht weiterhin, dass jegliches Sprechen mit der Zunge geschieht 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 279 <?page no="280"?> 544 In diesem Verständnis Schenk, Aufgaben, 885 f. 545 Bachmann, Korinther, 413. 546 Dies schließt Schrage, Korinther 3, 393 zu Recht aus. 547 Braun, Musikinstrumente, 1535. und der Ausdruck ‚mit der Zunge sprechen’ überflüssig wirkt. 544 Deshalb ist auch 1 Kor 14,9 als Ausführung des Vergleichs, der auf der Musikebene be‐ gonnen wurde, zu lesen. Als tertium comparationis für diesen Vergleich wurde die Verständlichkeit bestimmt. Darüber hinaus sind keine Erwägungen sinnvoll, wie etwa die An‐ sicht, dass die Person, die die Instrumente spielt, mit der Person des Glossolalen zu vergleichen ist: Wie es aus dem Instrument nicht von selbst tönt, sondern deshalb, weil es jemand bläst, so ist es nicht der Glossolale selbst, der spricht, sondern es „tönt“ 545 aus ihm. Es wurde oben bereits ausführlich gezeigt, dass es sich bei der Glossolalie um eine Sprache handelt, die vom Menschen ausgeübt wird. Es handelt sich bei 1 Kor 14,8 auch nicht um eine Stellungnahme zum Krieg. 546 Die Thematisierung der Musikinstrumente dient auch nicht dazu, die Korinther mit verschiedenen Instrumenten und ihren Funktionen vertraut zu machen. Paulus geht davon aus, dass ihnen dies bereits bekannt ist. Die pauli‐ nische Intention besteht nicht darin, eine musiktheoretische Erläuterung vor‐ zunehmen und sich in der antiken ‚Musikwissenschaft’ zu positionieren. Paulus verwendet die Musikinstrumente, um zu zeigen, dass die Glossolalie ein un‐ verständliches Sprechen ist; darüber hinausführende Funktionen sind nicht Ziel der Argumentation. Braun geht über den Fokus von 1 Kor 14 hinaus, wenn er schreibt: Dieser wiederholte Hinweis auf die Klarheit der Musikaufführung, der hier mit der Verständlichkeit des gesprochenen Wortes verglichen ist, indiziert eine neue Qualität der Musikpraxis und scheint einer Konkretisierung der Musikbedeutung zuzustreben. In gewissem Maße kann man hier die Anfänge der modernen westlichen Musikä‐ sthetik und Aufführungspraxis sehen. 547 Es wird in 1 Kor 14 nicht die Verständlichkeit oder Klarheit einer musikalischen Darbietung mit der Sprache verglichen, sondern umgekehrt: Der Bereich der Sprache steht im Zentrum der Argumentation und die Musik liefert Paulus ‚nur’ die Vergleichsebene für die Unverständlichkeit der Glossolalie. Das gesamte 14. Kapitel thematisiert die beiden Sprachgaben und greift gezielt, in wenigen Versen, musikalisches Vokabular auf, das von Anfang an auf einen Vergleich ausgerichtet ist. Die Instrumente dienen Paulus nicht - wie dies im AT etwa der Fall ist - dazu, die musikalische Realität im Gottesdienst oder anderen Feiern zu beschreiben. Paulus führt die Musikinstrumente auf theoretischer, vergleich‐ IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 280 <?page no="281"?> 548 Vgl. hierzu v. a. August Otto: Die Sprichwörter und die sprichwörtlichen Redensarten der Römer. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1890, Hildesheim 1964, 364: Lukretius IV 931: „fac ne ventis verba profundam“ (sorge dafür, dass ich nicht in den Wind spreche). Bei Philon findet sich die Wendung als solche nicht; er greift einmal das Verb ἀερομυθέω in Migr § 138 auf und einmal das Adjektiv ἀερόμυθος in dem Lasterkatalog in Sacr § 32. Beides trägt für die bei Paulus gebrauchte Wendung nichts aus. 549 Vgl. Wolff, Korinther, 207. 550 So Zeller, Korinther, 426. 551 Vgl. Merklein / Gielen, Korinther, 178, Schrage, Korinther 3, 394, Weiß, Korintherbrief, 325; für Gleichnis Klauck Engelszungen, 287; nicht ausdrücklich als solcher bezeichnet, aber als solcher interpretiert bei Conzelmann, Korinther, 288, Wolff, Korinther, 331, Zeller, Korinther, 426 und Lindemann, Korintherbrief, 303. 552 Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 303, Schrage, Korinther 3, 394 f, Choi, Geist, 80 und Wolff, Korinther, 331. ender Ebene an. Den Vergleich schließt Paulus in 1 Kor 14,9 mit der Feststellung ἔσεσθε γὰρ εἰς ἀέρα λαλοῦντες. Hierbei handelt es sich um eine sprichwor‐ tähnliche Wendung, die auch in der römischen Literatur zu finden ist. 548 Paulus verknüpft εἰς ἀέρα mit ἄδηλος bzw. ἀδήλως auch in 1 Kor 9,26 im Bild eines Boxkampfes und beschreibt an dieser Stelle ebenso einen ziellosen Vorgang. Ihm ist es, gestärkt durch den in 1 Kor 9,25 beschriebenen Verzicht, möglich, sein Ziel zu erreichen. Er kann so agieren, dass seine Faust nicht in die Luft schlägt, also keinen vergeblichen Kampf führt. 549 Diese Vergeblichkeit und Nutzlosigkeit thematisiert Paulus in 1 Kor 14,9 mit dem Ausdruck εἰς ἀέρα λαλοῦντες; er bezeichnet damit nicht das an Gott gerichtete Sprechen, das nur so aussieht, als ob es in die Luft geredet wird. 550 Hier sind kaum die Kommunikationspartner im Blick. Vielmehr handelt es sich um ein Zwischenresümee über die auf die Glossolalie angewandten Vergleiche, mit dem Paulus prägnant zusammenfasst, dass unverständliches Reden keinen Nutzen hat. Darauf liegt in 1 Kor 14,7-9 der Fokus, nicht auf Gott als Kommunikationspartner. Das glossolalische Spre‐ chen ist vergeblich, weil es nicht der Erbauung der Gemeinde dient. Nachdem Paulus mit 1 Kor 14,9 eine Anwendung auf die Glossolalie vorge‐ nommen hat, ist zu fragen, wie er mit der Argumentation fortfährt. 1 Kor 14,10 wird in der Regel als weiterer Vergleich, als weiteres Beispiel, als Gleichnis oder weitere Analogie gelesen. 551 Allerdings fehlen Partikeln oder Wendungen wie οὕτως καὶ ὑμεῖς, die einen erneuten Vergleich oder Neueinsatz markieren. Darum ist zu prüfen, ob es sich tatsächlich um einen Vergleich handeln kann und muss. Dies wiederum hängt entscheidend von dem Verständnis des Lexems φωνή in 1 Kor 14,10 ab. Der Begriff hat, wie oben deutlich wurde, ein reiches semantisches Spektrum. Die Forschungsliteratur versteht φωνή in 1 Kor 14,10 als Sprache. 552 Als Thema dieses Verses ergibt sich demnach die „Fülle verschie‐ 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 281 <?page no="282"?> 553 Wolff, Korinther, 331. 554 Vgl. Wolff, Korinther, 331. 555 Vgl. Zeller, Korinther, 427; so bereits D. Hans Lietzmann: An die Korinther I·II. Erklärt von D. Hans Lietzmann, ergänzt von Werner Georg Kümmel. Fünfte, durch einen Lite‐ raturbeitrag erweiterte Auflage, Tübingen 5 1969 (HNT 9), 71. 556 Schenk, Aufgaben, 886. 557 Otto Bauernfeind: Art. τυγχάνω, ἐντυγχάνω, ὑπερεντυγχάνω, ἔνευξις, in: ThWNT VIII (1969), 242. Vgl. weiter Bauer / Aland, Wörterbuch, 1653, Schrage, Korinther 3, 394 und Merklein / Gielen, Korinther, 164. dener Sprachen in der Welt“ 553 . Entsprechend wird auch 1 Kor 14,10b interpre‐ tiert: Die Verständigung unter den Menschen geschieht durch Sprache, es ist nichts ohne Sprache, d. h., jedes Volk hat seine eigene Sprache. Wolff will das Lexem γένος in der Semantik ‚Volk’ ergänzen, um diese Ansicht zu unterstrei‐ chen. 554 Auch Zeller schließt die Möglichkeit, den Nachsatz zu ergänzen, nicht aus. Er plädiert allerdings gegen γένος und für ἔθνος. 555 Schenk geht in seinem Aufsatz mit keinen Wort auf 1 Kor 14,10 ein, übersetzt aber „und kein Volk ist sprachlos“ 556 ; welches Lexem er im Griechischen dafür annimmt, bleibt unklar. Es besteht allerdings überhaupt keine Notwendigkeit, οὐδὲν ἄφωνον zu erwei‐ tern und damit zwingend in den Kontext der fremden Sprachen in der Welt einzuordnen, wenn man die Lexeme φωνή und ἄφωνος nicht auf die Semantik ‚Sprache’ bzw. ‚sprachlos’ einschränkt. Dass für φωνή in 1 Kor 14 keine ein‐ heitliche Semantik auszumachen ist, wurde bereits deutlich: Paulus gebraucht das Lexem in 1 Kor 14,7 in der Semantik ‚Melodie’ und in 1 Kor 14,8 in der Bedeutung ‚(Signal)Ton’. In 1 Kor 14,10 wird verschiedentlich dargestellt, dass nicht das Verständnis von φωνή als Sprache thematisiert werde, sondern dass eine Vielfalt an ‚lautlichen’ Aspekten gemeint sei bzw. dass φωνή in einer all‐ gemeinen Bedeutung zu verstehen sei: Erstens bringt das Adjektiv τοσοῦτος zum Ausdruck, dass es sich um eine sehr große Menge an ‚φωνή’ handelt. Zwei‐ tens wird durch εἰ τύχοι ergänzt, so dass der gesamte Ausdruck treffend mit ‚es gibt, wer weiß wie viele‘ übersetzt werden kann und eine unbestimmte Menge angegeben wird, so dass „eine exakte Angabe nur aufs Geratewohl gegeben werden könnte“ 557 . Unter dem Lexem können in 1 Kor 14,10 also verschiedene lautliche Aspekte subsumiert werden; aber es geht um das Lautphänomen an sich. Drittens wird in den restlichen Textbelegen von φωνή in 1 Kor 14 jeweils ein Bezug zu Substantiven hergestellt, die anzeigen, um welche ‚Art’, um wel‐ ches Verständnis von φωνή es sich handelt: In 1 Kor 14,7 geben die leblosen Dinge (τὰ ἄψυχα), konkretisiert als Aulos und Kithara, eine Melodie von sich, ebenso in 1 Kor 14,8, wo der Laut der Salpinx thematisiert wird. In 1 Kor 14,11 ist φωνή direkt auf das Lexem δύναμις bezogen, im zweiten Satzteil wird aber deutlich, dass von einer Person (βάρβαρος) die Rede ist, so dass die Vergleichs‐ IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 282 <?page no="283"?> 558 Vgl. dazu auch unten Kp. IV, 3.2.2. 559 Gegen Schenk, Aufgaben, 886, der „Sprache umfassend als fōne“ versteht, während er „die semantische Komponente fein differenzierend mit dynamis tēs fōnēs bezeichnet“. Merklein vermerkt in seiner Übersetzung zwar, dass φωνή wörtlich ‚Laute’ meint, ent‐ scheidet sich aber letztlich für Sprache. Vgl. Merklein / Gielen, Korinther, 179. 560 Zeller nimmt die Möglichkeit, dass sich φωνή auf „jede artikulierte Äußerung“ (Zeller, Korinther, 426) beziehen kann, zur Kenntnis, entscheidet sich aber für 1 Kor 14,10 explizit dagegen, weil er im Blick auf 1 Kor 14,11 einen anthropologischen Schwerpunkt annimmt. Ähnlich argumentiert auch Schrage, Korinther 3, 395: Es ist nicht an die „Stimmen aller Lebewesen“ zu denken, weil im Blick auf 1 Kor 14,11 nur an verständ‐ liche Sprachen zu denken ist. Dieser Interpretation liegt die Annahme zu Grunde, dass φωνή in 1 Kor 14,10 als Sprache verstanden werden muss. Dass dem nicht so ist, wurde oben bereits deutlich. 561 Das Personalpronomen von αὐτός (in der Form αὐτῶν) führt die zweite Hand des Kodex Sinaiticus, die zweite Hand des Kodex Bezae Cantabrigiensis, der Kodex Athous Lau‐ rensis, der Mehrheitstext, einzelne altateinische Handschriften sowie Einzelhand‐ schriften der Vulgata und die gesamte syrische Überlieferung. ebene hier verlassen wird und Argumentation sich wieder der menschliche Sprache zuwendet. 558 In 1 Kor 14,10 aber wird das Lexem weder auf Instrumente noch auf Personen bezogen, es steht als Genitiv zu γένος. Die Verbindung von φωνή und γένος und die beiden zuerst genannten Aspekte zeigen an, dass die Argumentation in 1 Kor 14,10 nicht auf eine Art von φωνή, etwa Sprachen oder Melodien, abzielt, sondern dass es sich um verschiedene Arten von Lauten han‐ deln kann. 559 Ähnlich verhält es sich bei der Verwendung von γένος in der Wendung γένη γλωσσῶν; auch hier weist das Lexem γένη auf die Vielschich‐ tigkeit des Phänomens der Glossolalie hin. Φωνή ist in einem allgemeinen, um‐ fassenden Sinn zu verstehen und beschreibt in 1 Kor 14,10 das ‚lautliche’ Phänomen an sich: Von diesen lautlichen Phänomenen gibt es, wer weiß wie viele Arten in der Welt: Laute sind überall vorhanden und können wahrgenommen werden, sei es als musikalischer oder menschlicher Ausdruck. Geht man für φωνή in 1 Kor 14,10 von einem allgemeinen Verständnis aus, dann kann auch ἄφωνος sinnvoll in den Vers integriert werden, ohne die oben genannten Ergänzungen vornehmen zu müssen: Nichts in der Welt ist ohne Laut; alles, was gehört werden kann, sei es durch Musikinstrumente oder menschliche Stimmen, sind Laute. 560 Die textkritische Einfügung des Personalpronomens αὐτός im Genitiv Plural verdeutlicht dies: Nichts von ihnen, von den Lauten, ist ohne φωνή, d. h., von allem, was wir hören, vernehmen wir den Lautbestand. 561 1 Kor 14,10b ist also weder zu ergänzen, noch einzuengen, wie Weiß dies versucht: Er versteht φωνή in 1 Kor 14,10 als Sprache und will den sprachlichen Aspekt, der die Verse 1 Kor 14,7 ff kennzeichnet, nämlich dass es verschiedene Sprachen gibt, die unver‐ ständlich sind, auch im zweiten Satzteil finden; er stellt selbst aber fest, dass 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 283 <?page no="284"?> 562 Vgl. Weiß, Korinther, 326. 563 Vgl. Schenk, Aufgaben, 886. Obwohl auch Schenk darauf aufmerksam macht, dass sich bei Paulus eine Unterscheidung von Ausdrucks- und Inhaltsseite eines Zeichens findet, beschäftigt er sich mit 1 Kor 14,10 in keinster Weise. 564 Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 303. 565 Bachmann, 415. Vgl. auch Blass / Debrunner, Grammatik, § 451,1. ἄφωνος die Semantik ‚unverständlich’ nicht liefert. 562 Das Lexem wird auch sonst nicht auf Sprache bezogen. Im Gegenteil: Es dient in 1 Kor 12,2 zur Be‐ schreibung der Götzenbilder (εἴδωλα). In dieser allgemeinen Semantik von ἄφωνος kann auch der Bezug zu 1 Kor 12,2 hergestellt werden. Die Götzenbilder bringen keine Laute hervor. Die Funktion und das Verständnis von 1 Kor 14,10 sind daher neu zu be‐ stimmen: Von einem Vergleich, der zeigt, dass es viele verschiedene Sprachen in der Welt gibt, ist Abstand zu nehmen. Es handelt sich in 1 Kor 14,10 um eine prägnante theoretische Aussage, nach welcher überall in der Welt Laute vorhanden sind. Darunter sind selbstverständlich auch stimmliche Laute zu subsumieren; φωνή ist in 1 Kor 14,10 aber nicht auf diese Semantik einzuengen, sie bezeichnet an dieser Stelle die Lautseite eines Zeichens im Allgemeinen, nicht die Sprache in einem umfassenden Verständnis. 563 Erst von 1 Kor 14,11 her wird ein Bezug zur Sprache hergestellt und das Zeichenverständnis verdeutlicht. 1 Kor 14,10 hat einen übergreifenden Gehalt, ist nicht konkret oder allein auf die Charis‐ menlehre oder korinthische Gemeinde bezogen und gewinnt damit einen the‐ oretischen Charakter. Der Zusammenhang zwischen der allgemeinen sprach‐ theoretischen Aussage und den Sprachgaben liegt darin, dass die Lautseite ein Teil des sprachlichen Zeichens ist, der zu einer Äußerung ‚gebraucht’ wird, die im Rahmen eines Sprachcharismas erfolgen kann. Dies wird aber erst aus 1 Kor 14,11 ersichtlich: Nachdem Paulus in 1 Kor 14,10 grundgelegt hat, dass überall in der Welt Laute zu vernehmen sind, bestimmt er in 1 Kor 14,11 präzise ihren eigentlichen Wert: Die δύναμις. Das entscheidende Moment dessen, was wir hören können, ist aber nicht der lautliche Ausdruck, sondern die δύναμις; erst dann wird das Gesprochene εὔσημος. Eingeleitet wird der Konditionalsatz mit ἐὰν οὖν. Er ist wie 1 Kor 14,6 erneut in der 1. Pers. Sg. formuliert, hier aber eindeutig generisch zu verstehen. 564 Das Lexem οὖν - im klassischen Griechisch als δὲ οὖν gebraucht - markiert im argumentativen Zusammenhang den Wechsel von einer allgemein gehaltenen Aussage hin zu einem „konkreten, die Fortführung der angefangenen Beweisführung ermöglichenden Tatsache und von da zu dem eigentlich angestrebten Gedanken“ 565 . Dies trifft auch für Paulus zu. Ob der konkrete Gedanke, nämlich der Bezug auf die Sprache, bereits in 1 Kor 14,11a oder erst in 1 Kor 14,11b aufgegriffen wird, kann nicht exakt ausgemacht IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 284 <?page no="285"?> 566 Vgl. Ax, Laut, 55. 567 Vgl. erneut Schrage, Korinther 3, 395 f und Conzelmann, Korinther, 288: Es handelt sich um einen Vergleich, nicht um die Tatsache, dass die Glossolalie selbst eine Fremdsprache ist. 568 Vgl. Bauer / Aland, Wörterbuch, 267. 569 Anika Strobach: Plutarch und die Sprachen. Ein Beitrag zur Fremdsprachenproblematik in der Antike, Stuttgart 1997 (Palingenesia 64), 47. werden. Das hängt davon ab, in welcher Semantik man das Lexem φωνή in 1 Kor 14,11 versteht: Nimmt man in der Protasis φωνή als ‚Laut’ an, so heißt 1 Kor 14,11 sinngemäß: Wenn ich nun die Bedeutung der Laute nicht kenne, versteht mich der Sprechende nicht und umgekehrt; ein Bezug zur Sprache liegt dann erst für die Apodosis vor. Dies ist denkbar, v. a., weil unten aufgezeigt werden kann, dass auch Musiktöne als vox articulata verstanden werden können. Ver‐ steht man φωνή bereits in 1 Kor 14,11a als Sprache, so ist für den kompletten Vers schon der eigentliche Gedanke zu erkennen, nämlich dass die Bedeutung für den sprachlichen Ausdruck der zentrale Wert ist. Beide Möglichkeiten sind denkbar, weil Paulus das Lexem in beiden Bedeutungen gebraucht. Wichtig ist, dass Paulus hier die beiden Lexeme nebeneinander stellt, die die zwei Seiten des sprachlichen Zeichens beschreiben. Jetzt geht es Paulus nicht mehr darum, ge‐ nerell zu vermitteln, dass es Laute gibt und dass es notwendig ist, die Melodie, die Bedeutung des Gesagten zu erfassen, sondern er präzisiert dies; dabei sei angemerkt, dass Paulus in Bezug auf die Musikinstrumente nicht direkt von δύναμις spricht. Allein von der vorangegangenen Argumentation wird ersicht‐ lich, dass es auch hier ‚mehr’ zu erfassen gibt als die reinen Laute, nämlich ihre Melodie. Das darf zwar verwundern, nicht aber abschrecken. Die musikalischen Laute werden noch in der römischen Grammatik unterschiedlich bewertet: Sie können zu den „vox confusa inanimalum“ gezählt werden und gelten dann als ‚sonstiger Laut’ (Probus) oder sie werden wie auch die Sprache zu den „vox articulata“ 566 gerechnet (Marius Victorinus). Die Musikinstrumente als Vergleich heranzuziehen, ist also problemlos möglich. In 1 Kor 14,11b aber fokussiert Paulus durch den Vergleich mit den fremden Sprachen seinen Gedankengang wieder auf die Unverständlichkeit menschlicher Sprache und auf die Bedeutung des Gesprochenen; 567 das wird spätestens in der Apodosis markiert, indem von der Kommunikation zwischen Personen die Rede ist. Die Kommunikations‐ partner werden mit dem Partizip ὁ λαλῶν und dem Prädikatsnominativ βάρβαρος bezeichnet. Der Barbar ist eine Person, die sich fremdartig, für das Gesprächsgegenüber unverständlich, äußert. 568 Das Lexem ist ein Schallwort, das „durch die Nachahmung und Reduplikation unverständlich erscheinender Laute entstanden“ 569 ist. Ausgehend von der Grundbedeutung ‚ein unverständ‐ 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 285 <?page no="286"?> 570 Vgl. Hans Windisch: Art. βάρβαρος, in: ThWNT I (1933), 545 f. Vgl. hierzu auch die Belege aus den Papyri bei Arzt-Grabner, Korinther, 452 ff und Strobach, Plutarch, 47, die Plutarch-Belege. 571 Vgl. Windisch, Art. βάρβαρος, 549. 572 So auch Schenk, Aufgaben, 886. 573 Auch in 1 Kor 14,23 wird mit οὖν das zuvor Gesagte konkretisiert, indem es auf die Gemeinde bezogen wird; vgl. bei Paulus ebenso in Röm 8,26, darüber hinaus im NT in Mt 5,22 f; 6,22; 24,26 und 2 Tim 2,20. 574 Vgl. z. B. Aristot. metaph VIII 8,1049 b 24 und Plat. rep. V 477c-d. Dazu Walter Grund‐ mann: Art. δύναμαι, δυνατός, δυνατέω, ἀδύνατος, ἀδυνατέω, δύναμις, δυνάστης, δυναμόω, ἐνδυναμόω, in: ThWNT II (1935), 287 und Bauer / Aland, Wörterbuch, 418. Im NT z. B. in 2 Kor 8,3 und Mt 25,15 in dieser Bedeutung. 575 Vgl. beispielsweise zu δύναμις als Kraft des Heiligen Geistes 1 Kor 2,4 und 2 Ti 1,7. 576 Vgl. 1 Kor 1,18.24; 2,5; 6,14, 2 Kor 6,7; 13,4, Apg 1,8; 3,12, Mt 22,29; Mk 12,24. Speziell als Wunderkraft in Mt 14,2, Mk 6,14. Vgl. auch Bauer / Aland, Wörterbuch, 418 f und Otto Schmitz: Der Begriff ΔΥΝΑΜΙΣ bei Paulus. Ein Beitrag zum Wesen urchristlicher Be‐ griffsbildung, Tübingen 1927, 140. 577 Vgl. Röm 8,38 und 1 Kor 15,24, aber auch Plat. Krat. 438c. lich Sprechender’ entwickelte sich der Begriff zu einem geographisch-ethni‐ schen Verständnis, der verwendet wird, um den Gegensatz von Griechen (Ἕλληνες) und Nichtgriechen (βάρβαρος) zu beschreiben. 570 Paulus markiert, dass auch der Grieche dem Anderssprechenden ein unverständlich Sprechender sein kann, indem er die Substantive zweimal aufgreift. 571 1 Kor 14,10 f zeigt, dass ein Gespräch zwischen Menschen, die unterschiedliche Sprachen sprechen, keine Kommunikationsbasis hat. Interessant ist dabei, dass Paulus nicht auf die Funktion von Mimik und Gestik eingeht, wie dies bei Philon geschieht. Die Funktion von 1 Kor 14,11 liegt darin, dass Paulus neben der Lautseite die zweite, zentrale Seite eines Zeichens benennt: Die δύναμις, die Inhaltsseite. Sie ist der eigentliche Wert einer sprachlichen Äußerung. 572 Mit dem Lexem δύναμις präzisiert Paulus den Gedankengang, dass sprach‐ liche Äußerungen verständlich (εὔσημος) sein sollen, und formuliert den Kern‐ punkt seiner theoretischen Überlegungen zur Sprache. 573 Die theoretische Aus‐ sage, dass überall in der Welt Laute sind, wird nun anhand der Sprache konkretisiert und auf ihren wesentlichen Aspekt, die δύναμις, konzentriert. Dieses Lexem gehört nicht zum selten gebrauchten Vokabular, das 1 Kor 14,6-12 kennzeichnet. Es verzeichnet im NT 120 Textbelege und weist ein großes se‐ mantisches Spektrum auf. Seine Grundbedeutung ist ‚Vermögen, Fähigkeit’. 574 Das Lexem wird im NT in dieser Semantik verwendet, zudem aber in einer Reihe weiterer Bedeutungen: Kraft 575 , Macht, v. a. als Wunderkraft, Krafterweis und Wundertat, wie beispielsweise als Bezeichnung eines eigenen Charismas in 1 Kor 12,28 f; 576 individuelle Kraft oder Macht oder als Kraft eines überirdischen Wesens. 577 Bei Aristoteles und häufig auch bei Philon findet sich δύναμις in der IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 286 <?page no="287"?> 578 Vgl. Aristoteles und Phil. z. B. Agr § 95.157, Det § 3, Sacr § 45, Agr § 63, Mut § 33 u. a. 579 Vgl. zu den unterschiedlichen Aspekten des Begriffs die Untersuchungen von Grund‐ mann, 286-318, der in seinem Artikel ausführlich den Kraft-Begriff darstellt, aber auf die Bedeutung von δύναμις in Bezug zur Sprache nicht eingeht. Zur δύναμις als Begriff in der Kreuzestheologie s. Helge K. Nielson: Paulus’ Verwendung des Begriffs Δύναμις. Eine Replik zur Kreuzestheologie, in: Die Paulinische Literatur und Theologie. Anlässlich der 50. jährigen Gründungs-Feier der Universität von Aarhus, hg. v. Sigfred Pedersen, Göttingen 1980 (=Teologiske Studier 7), 137-158. Schmitz untersucht die Verwendung des Begriffs bei Paulus umfassender, thematisiert vorrangig aber die reli‐ giöse Verwendung und religionsgeschichtliche Parallelen. 580 Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 303. 581 Darüber hinaus s. Dion. Hal. ant. 1,86. Weitere Bsp. bei Liddell / Scott, Lexicon, 452 und Bauer / Aland, Wörterbuch, 418. 582 Bei Platon findet sich aber auch die religiöse Bedeutung ‚Kraft’, z. B. in Krat. 397c und 438c, wobei anzumerken ist, dass die religiöse Verwendung bei Platon zurücktritt. Vgl. Schmitz, Begriff, 153. In der Semantik ‚Bedeutung’ bzw. ‚Gehalt’ versteht und belegt das Lexem anhand von Krat. 384b auch Schenk, Aufgaben, 887 und ordnet es im paulini‐ schen Kontext damit der Inhaltsseite des sprachlichen Zeichens zu. Verbindung mit ψυχή, um die Seelenkräfte zu beschreiben. 578 Die vielfältigen Bedeutungen und zahlreichen Textstellen zu δύναμις können an dieser Stelle nicht untersucht werden. 579 Es ist vielmehr zu fragen, ob die Semantik ‚Bedeu‐ tung’ gerechtfertigt und erklärt werden kann. Bei Paulus weist von den 36 Textstellen nur 1 Kor 14,11 diese Semantik auf. Auch die ntl. Textstellen ge‐ brauchen δύναμις nicht als ‚Bedeutung’. 580 In der profangriechischen Literatur hingegen findet sich diese Semantik. Das soll exemplarisch an vier Beispielen gezeigt werden: 581 Platon verwendet δύναμις im Krat. in der Semantik ‚Bedeutung’. 582 Er stellt durch den sprechenden Sokrates dar, dass Lexeme, die sich in ihrer Lautung vollkommenen unterscheiden, dennoch dieselbe Bedeutung haben können: καὶ ἄλλα πολλά ἐστιν ἃ οὐδὲν ἀλλ’ ἢ βασιλέα σημαίνει∙ καὶ ἄλλα γε αὖ στρατηγόν, οἷον «Ἆγις» καὶ «Πολέμαρχος» καὶ «Εὐπόλεμος». Καὶ ἰατρικά γε ἕτερα, «Ἰατροκλῇς» καὶ «Ἀκεσίμβροτος»∙ καὶ ἕτερα ἂν ἴσως συχνὰ εὕροιμεν ταῖς μὲν συλλαβαῖς καὶ τοῖς γράμμασι διαφωνοῦντα, τῇ δὲ δυνάμει ταὐτὸν φθεγγόμενα. (Krat. 394b) Und so gibt es noch viele andere Benennungen, die alle einen König anzeigen, und wiederum andere einen Heerführer wie ‚Agis’ (Führer), ‚Polemarchos’ (Kriegesherr), ‚Eupolemos’ (Gutkrieg). Andere sind ärztlich wie ‚Iatrokles’ (Helfrich) und ‚Akesim‐ brotos’ (Heilmann), und so könnten wir noch mehrere finden, die in Buchstaben und Silben ganz ungleich klingen, der Bedeutung nach aber dasselbe aussprechen. (Krat. 394c) 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 287 <?page no="288"?> 583 Text nach: Polybius. The Histories. With an English Translation by W. R. Paton. Vol. V, London, Cambridge, 1960 (The Loeb Classical Library 160), 224.226. 584 Übersetzung nach: Polybios Geschichte. Gesamtausgabe in zwei Bänden. Zweiter Band, hg. v. Hans Drexler, Zürich, Stuttgart 1963 (Die Bibliothek der Alten Welt. Griechische Reihe ), 1001. 585 Weitere Textstellen, die δύναμις in der Semantik ‚Bedeutung’ verwenden sind: Phil., Conf § 190, SpecLeg II § 24.224, Migr § 202, Sobr § 26, Ebr § 15.30, Somn II § 1, Plant § 78. In All III § 115 wird es in der Bedeutung ‚Wirksamkeit’ verwendet. In Ios wird das Lexem δύναμις mit λόγος kombiniert und erlangt damit die Bedeutung ‚Wirkung der Rede / Kraft der Rede’. Polybios beschreibt in seiner ΙΣΤΟΡΙΑΙ im 20. Buch, dass die Aetoler die Be‐ deutung eines Ausdrucks der Römer nicht kennen und sich deshalb ins Ver‐ derben stürzen: οἱ δ’ Αἰτωλοὶ καὶ πλείω λόγον ποιησάμενοι περὶ τῶν ὑποπιπτόντων ἔκριναν ἐπιτρέπειν τὰ ὅλα Μανίῳ, δόντες αὑτοὺς εἰς τὴν Ῥωμαίων πίστιν, οὐκ εἰδότες τίνα δύναμιν ἔχει τοῦτο, τῷ δὲ τῆς πίστεως ὀνόματι πλανηθέντες, ὡς ἂν διὰ τοῦτο τελειοτέρου σφίσιν ἐλέους ὑπάρξοντος. παρὰ <δὲ> Ῥωμαίοις ἰσοδυναμεῖ τό τ’ εἰς τὴν πίστιν αὑτὸν ἐγχειρίσαι καὶ τὸ τὴν ἐπιτροπὴν δοῦναι περὶ αὑτοῦ τῷ κρατοῦντι. (Pol. 20,9,10-12) 583 Nachdem die Aetoler noch einmal eine längere Rede über die Sachlage gehalten hatten, verstanden sie sich am Ende dazu, alles der Entscheidung des Manius zu über‐ lassen und sich in die fides (pistis) der Römer zu geben. Aber sie wußten nicht, was das bedeutet, ließen sich durch das Wort pistis täuschen und glaubten auf diese Weise ein vollständigeres Mitleid zu finden. Bei den Römern aber bedeutet «sich in die fides jemandes geben» soviel wie: dem Sieger die freie Entscheidung überlassen, zu tun mit einem, was er will, sich ihm auf Gnade und Ungnade ergeben. (Pol. 20,9,10-12) 584 Auch Philon gebraucht das Lexem δύναμις in der für 1 Kor 14 vorgeschlagenen Semantik. 585 In Abr erklärt Philon die Bedeutung des Namens Abrahams: (…) οἳ τὸν μὲν ἄνδρα συμβολικῶς ἔφασκον σπουδαῖον εἶναι νοῦν ἐκ τῆς περὶ τοὔνομα ἑρμηνευθείσης δυνάμεως τεκμαιρόμενοι τρόπον ἀστεῖον ἐν ψυχῇ (…). (Abr § 99) (…) sie [naturkundige Männer] sagen, dass der Mann (Abraham) sinnbildlich den weisen Geist bezeichne, indem sie aus der durch die Uebersetzung gewonnenen Be‐ deutung des Namens auf die gute Sinnesart in der Seele schliessen [sic! ] (…). (Abr § 99) In SpecLeg II wird besonders deutlich, dass es das Ziel ist, die Bedeutung einer gesamten sprachlichen Äußerung zu erfassen und nicht einzelne Worte zu ver‐ stehen: IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 288 <?page no="289"?> 586 Text nach: Iustini Martyris. Dialogus cum Tryphone, hg. v. Miroslav Marcovich, Berlin, New York 1997 (PTS 47), 285. 587 Theodor Lewandowski: Art. Bedeutung, in: Linguistisches Wörterbuch. Bd. 1, hg. v. ders., Heidelberg, Wiesbaden 6 1994 (UTB 1518), 135. Lewandowski unterteilt diese Definition in fünf differenziertere Begriffsauffassungen (vgl. 136). 588 Weil Paulus das Erfassen des Gehalts nicht für Wort-, Satz-, und Textebene reflektiert, ist es nicht notwendig, hier begriffliche Unterscheidungen einzuführen, etwa zwischen Bedeutung, das die einzelnen Teile eines Gesamtzusammenhangs (Wörter, Sätze) be‐ zeichnet und Sinn, der die Bedeutung eines gesamten Textes benennt. Vgl. Coseriu, Platon, 37. τὸν αὐτὸν δὴ τρόπον καὶ ὁ νόμος διὰ πατέρα καλέσας ἀδελφὸν πατρὸς ἐπὶ μετουσίαν κλήρου πολὺ πρότερον πατέρα καλεῖ, φωνῇ μὲν οὔ, διὰ τὰ λεχθέντα, γνωριμωτέρᾳ δὲ φωνῆς δυνάμει τρανούσῃ τὸ βούλημα τοῦ νομοθέτου. (SpecLeg II § 132) Ebenso setzt auch das Gesetz, das des Vaters wegen den Oheim zum Erben beruft, noch vor diesem den Vater zum Erben ein, zwar nicht ausdrücklich, aus dem er‐ wähnten Grunde, wohl aber durch den Sinn [bzw. die Bedeutung] der Worte, der die Absicht des Gesetzgebers noch deutlicher erkennen lässt. (SpecLeg II § 132) Wie auch bei Paulus so wird für Philon sichtbar, dass es wichtig ist, den gesamten sprachlichen Ausdruck zu erfassen. Anhand dieser Beispiele kann gezeigt werden, dass die Semantik ‚Bedeutung’ für δύναμις bereits in vorpaulinischer Zeit bekannt war. Dieser Sprachgebrauch wird auch in nachpaulinischer Zeit weitergeführt, beispielsweise bei Justin im Dialog mit dem Juden Tryphon: Ἐβουλόμην, λέγω, παρ’ ὑμῶν μαθεῖν, ὦ ἄνδρες, τίς ἡ δύναμις τοῦ Ἰσραὴλ ὀνόματος. (Iust. Mart. dial. 125,1) 586 „Ich möchte, sage ich, von euch erfahren, Männer, wie die Bedeutung des Namens Israel ist.“ (Iust. Mart. dial. 125,1). Was aber ist das Charakteristische dieser Semantik von δύναμις? Paulus stellt mit der Rede von der δύναμις τῆς φωνῆς den Fokus seiner Argumentation heraus und macht deutlich, wann eine sinnvolle, nützliche sprachliche Äußerung vorliegt: Wenn der Zuhörer nicht nur einzelne Laute oder Worte als solche ausmachen kann, sondern wenn er das Gesagte in seiner Bedeutung erfassen kann und wenn das Gesprochene für den Zuhörer verständlich - εὔσημος - ist. Ein Grund, warum Paulus nicht das Lexem ἄσημος, sondern εὔσημος verwendet, könnte also auch darin liegen, dass er das Gute - die Bedeutung - einer Äußerung besonders betonen will. Bedeutung wird definiert als „die soziale Konvention, kraft derer Formen Zeichen für etwas sind“ 587 . Paulus hat dabei nicht nur die Bedeutung eines einzelnen Wortes im Blick, sondern sowohl das Erfassen des Gehalts ein‐ zelner Wörter als auch den Gesamtzusammenhang des Gesprochenen. 588 Er be‐ 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 289 <?page no="290"?> 589 Schenk, Aufgaben, 887. 590 Die Wirkung der sprachlichen Äußerung wird v. a. bei Gorg. Fragm. B11,14 hervorge‐ hoben. S. hierzu v. a. Kap. IV, 3.3.5. Den Aspekt bedenkt bereits Strobel, Korinther, 217, er spricht von der „innere(n) Kraft der Sprache“, die er aber allein in ihrer Verständlichkeit gegeben sieht, nicht in den aus der sprachlichen Äußerung resultierenden Handlungs‐ möglichkeiten. 591 Vgl. Weiß, Korintherbrief, 327 und Wolff, Korinther, 331. 592 Dieser Aspekt wird auch in 1 Kor 1,18 ff sichtbar, wenn die δύναμις in Zusammenhang mit dem λόγος τοῦ σταυροῦ gesetzt wird. Beide Begriffe ergänzen sich in ihrer Not‐ wendigkeit. In 1 Kor 4,19 werden Wort und Kraft in ein gegensätzliches Verhältnis ge‐ bracht und die Kraft gegenüber dem Wort betont. Vgl. Schmitz, Begriff, 144. tont damit die Inhaltsseite eines Zeichens und befindet sich, wie auch in 1 Kor 14,10, auf einer theoretischen Ebene der Argumentation; 1 Kor 14,11 steht aber bereits in Verbindung zur Sprache und beschreibt damit das paulinischen Ver‐ ständnis des sprachlichen Zeichens, das erst nach der Untersuchung zur Ver‐ ständlichkeit einer Äußerung im Ganzen dargestellt werden kann. Anfangs wurde erwähnt, dass Paulus das Lexem δύναμις häufig verwendet, dezidiert aber nur in 1 Kor 14 die Inhaltsseite des sprachlichen Zeichens be‐ schreibt. Schenk weist darauf hin, dass es auch in 1 Kor 1,18 und in Röm 1,16, also in Textstellen, „an denen Paulus das Lexem dynamis im Zusammenhang mit lokutionären Termini (…) verwendet“ 589 , den Inhalt in den Vordergrund rückt und nicht den pragmatischen Aspekt der Kraft und der Wirkung. Das Lexem δύναμις impliziert neben dem inhaltlichen Aspekt des sprachlichen Aus‐ drucks aber eben auch den der Kraft und verkörpert so einen dynamischen, performativen Charakter. Dieser ist auch für die Semantik ‚Bedeutung’ nicht auszugrenzen; die Aspekte der Kraft, der Wirkung und des Potentials sind in diesen zu integrieren. Es geht nicht um eine rein kognitive Fähigkeit, die Be‐ deutung des Gesagten zu erfassen, das wird in 1 Kor 14,12 sichtbar. Paulus zeigt mit der Wendung οὕτως καὶ ὑμεῖς, dass er die theoretische Ebene verlässt, sich an die Gemeinde wendet und den Fokus auf die Sprache noch einmal expliziert: Die Korinther sollen sich - wo sie doch bereits deutlich erkennbar nach den Charismen streben -, um die Gaben bemühen, die der Erbauung der Gemeinde dienen. 590 Deshalb stellt Paulus οἰκοδομή τῆς ἐκκλησίας pointiert an den An‐ fang. 591 Eine verständliche sprachliche Äußerung erlangt durch die kognitive Tä‐ tigkeit, die das rationale Erfassen des Inhalts ermöglicht, nicht ihre vollständige Wirkung und ihr eigentliches Ziel, sondern erst die Entfaltung des im sprachlichen Ausdruck angelegten Potentials. 592 Für die religiöse, in der gottesdienstlichen Versammlung gebrauchte Sprache, liegt dieses Potential in der Erbauung der Gemeinde. Sie betont Paulus in 1 Kor 14,12 noch einmal und sie impliziert so‐ IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 290 <?page no="291"?> 593 Vgl. dazu erneut ausführlich Kap. IV, 3.3.5. wohl ein Glaubenswissen als auch daraus resultierende Handlungen. 593 Der zentrale Aspekt der Sprache ist bei Paulus nicht allein darin zu finden, dass eine sprachliche Äußerung verständlich ist, sondern in der Ausrichtung auf ein kon‐ kretes Ziel. Das kommt in der Übersetzung ‚Bedeutung’ nur bedingt zum Aus‐ druck; in der Semantik ist aber auch das Potential enthalten, das sich aus dem Erfassen der Bedeutung einer sprachlichen Äußerung ergibt. Damit zeigt sich, dass die Verständlichkeit die zentrale Voraussetzung für jegliche Wirkung ist, die aus einer sprachlichen Äußerung resultieren kann. Zusammenfassung: Das Thema von 1 Kor 14,6-12 ist die Verständlichkeit der Sprache bzw. die Unverständlichkeit der Glossolalie. Paulus verdeutlicht dies in 1 Kor 14,7 f mit musikalischem Vokabular, das er für Vergleiche verwendet, aber mit Lexemen aus dem Wortfeld Sprache kombiniert. Das eigentliche Thema, die Sprache, ver‐ liert er nicht aus dem Blick. Er stellt keine musiktheoretischen Überlegungen an, sondern gebraucht das musikalische Vokabular ausschließlich als Stilmittel. Paulus stellt pointiert heraus, dass das Gesagte verständlich sein muss, weil nur dann der Inhalt des Gesprochenen erfasst werden kann. Wenn eine Person die Bedeutung einer Sprache nicht erfassen kann, ist es unmöglich, den Kommuni‐ kationspartner und den von ihm geäußerten Inhalt zu verstehen. Wer eine sprachliche Äußerung nicht versteht, kann weder sprachlich noch handelnd auf diese reagieren. Eine unverständliche Aussage ist nutzlos, weil von ihr keine Wirkung ausgehen wird. Das von Paulus formulierte Ziel der Charismen, die Erbauung der Gemeinde, kann damit nicht erreicht werden. Unverständliches Sprechen (μὴ εὔσημος λόγος), wie es in der glossolalischen Rede geschieht, ist vollkommen nutzlos, es ist ein Reden, das bei dem Gegenüber nicht auf frucht‐ baren Boden fällt. Deshalb verfolgt Paulus das Ziel, die Notwendigkeit einer verständlichen (εὔσημος) sprachlichen Äußerung herauszustellen: 1 Kor 14,10 f stellen damit eine - vielleicht die - theoretische Aussage des Paulus über Sprache dar: Laute können überall wahrgenommen werden. Das Entscheidende aber ist, ihre Bedeutung zu verstehen. Die δύναμις selbst beinhaltet zwei Komponenten, das rationale Erfassen der Bedeutung des Gesprochenen und die daraus resultie‐ rende Wirkung, die mit dem ihr zugewiesenen Ziel verbunden ist. Damit sind wir im Zentrum des paulinischen Sprachverständnisses angelangt. Die Ver‐ ständlichkeit einer Aussage ist die unabdingbare Voraussetzung für die Wirkung und das Ziel einer sprachlichen Äußerung, das Paulus in der Erbauung der Ge‐ meinde bestimmt; sie ist überhaupt für jegliche Entfaltung des sprachlichen Po‐ tentials notwendig. 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 291 <?page no="292"?> 594 Bei den fünf Worten kann es sich nach Strobel, Korinther, 219 z. B. um Ἰησοῦς Χριστὸς ὁ κύριός μου handeln. Das Zentrum der Gegenüberstellung πέντε-μύριοι liegt in der Wertigkeit der glossolalischen und prophetischen Aussagen, nicht in der Länge der Aussagen. So aber Theißen, Erleben, 196, der daraus auch schließt, dass die Glossolalie länger dauert und deshalb auch auf drei Redebeiträge begrenzt werden sollte. 3.2.3 Begründung der Verständlichkeit einer sprachlichen Äußerung: 1 Kor 14,14 - 19 und die Beteiligung des νοῦς In 1 Kor 14,6-12 wurde deutlich, dass die Glossolalie unverständlich ist, wie Paulus dies sprachlich und argumentativ zeigt, und dass in der Verständlichkeit und im Erfassen der Bedeutung einer sprachlichen Äußerung der wesentliche Fokus des paulinischen Sprachverständnisses liegt; warum dies der Fall ist, kann im Zusammenhang von 1 Kor 14,14-19 aufgezeigt werden. Hierfür ist zunächst der griechische Text anzuführen: (14) ἐὰν [γὰρ] προσεύχωμαι γλώσσῃ, τὸ πνεῦμά μου προσεύχεται, ὁ δὲ νοῦς μου ἄκαρπός ἐστιν. (15) τί οὖν ἐστιν; προσεύξομαι τῷ πνεύματι, προσεύξομαι δὲ καὶ τῷ νοΐ· ψαλῶ τῷ πνεύματι, ψαλῶ δὲ καὶ τῷ νοΐ. (16) ἐπεὶ ἐὰν εὐλογῇς [ἐν] πνεύματι, ὁ ἀναπληρῶν τὸν τόπον τοῦ ἰδιώτου πῶς ἐρεῖ τὸ ἀμὴν ἐπὶ τῇ σῇ εὐχαριστίᾳ; ἐπειδὴ τί λέγεις οὐκ οἶδεν· (17) σὺ μὲν γὰρ καλῶς εὐχαριστεῖς ἀλλ’ ὁ ἕτερος οὐκ οἰκοδομεῖται. (18) Εὐχαριστῶ τῷ θεῷ, πάντων ὑμῶν μᾶλλον γλώσσαις λαλῶ· (19) ἀλλ’ ἐν ἐκκλησίᾳ θέλω πέντε λόγους τῷ νοΐ μου λαλῆσαι, ἵνα καὶ ἄλλους κατηχήσω, ἢ μυρίους λόγους ἐν γλώσσῃ. Paulus stellt dar, dass es das Beten, Singen und Danken mit dem Geist gibt, dass es dieses aber auch mit dem νοῦς gibt - und das hat größere Bedeutung. Paulus führt damit seine Forderung aus 1 Kor 14,5, derzufolge die Korinther nach der Prophetie streben sollen, fort. Er stellt deutlich heraus, dass es nützlicher ist, mit dem νοῦς zu sprechen, und begründet dies auf zweifache Weise: In 1 Kor 14,14.16 f erfolgt die negative Begründung: Auf eine unverständliche Rede, die mit dem Geist gesprochen wird, kann niemand das Amen nach einem Dankgebet sagen und die Gemeindeglieder werden nicht erbaut. 1 Kor 14,18 f liefert die positive Begründung: Obwohl Paulus selbst mehr glossolalisch spricht als die Korinther, will er nach 1 Kor 14,19 lieber fünf Worte mit dem Verstand sprechen als zehntausend Worte in Zungen, weil nur das Sprechen mit dem νοῦς für die Gemeinde nützlich ist. 594 Es gibt also zwei Arten sprachlicher Äußerungen, (1) diejenigen, die durch das πνεύμά μου gekennzeichnet sind und (2) diejenigen, IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 292 <?page no="293"?> 595 Dabei soll nicht bestritten werden, dass Paulus die Möglichkeit, dass die Menschen den Geist auch wieder verlieren, in Betracht zieht; so z. B., wenn er in Gal 3,3 schreibt, dass er die Gefahr sieht, dass die Galater das, was sie im Geist begonnen haben, im Fleisch vollenden könnten. die unter Beteiligung des νοῦς erfolgen. Wie also ist dieser Unterschied zu ver‐ stehen und welche Auswirkung hat er? (1) Das πνεῦμα, das an der Glossolalie beteiligt ist, kann nicht der göttliche, bereits eschatologisch verwirklichte Geist sein. Dies wurde in den Überlegungen zum Geist am Beginn der Untersuchung bereits deutlich. Es darf aber ange‐ nommen werden, dass einige Korinther dieser Meinung waren, weil damit eine Überbetonung der Glossolalie begründet werden kann. Der Gedankengang wird folgendermaßen entfaltet: In 1 Kor 14,14 zeigt Paulus in der Ich-Form, die hier als Stilmittel verwendet wird und nicht das autobiographische Ich meint, Fol‐ gendes: Wenn ich glossolalisch spreche, dann spricht mein Geist. Es ist denkbar, dass Paulus hier die Ansicht der Korinther aufgreift und spiegelt. Er ‚predigt’ gewissermaßen, indem er das ‚Ich’ pragmatisch verwendet und in die Rolle der geistorientierten Korinther schlüpft und sie sofort mit der Problematik der auf‐ genommenen Position konfrontiert. Sie gehen davon aus, dass ihr πνεῦμα spricht, während sie Glossolalie betreiben, und die Gabe deshalb besonderen Wert verdient. Es spricht nicht ihr Verstand, er ist unbeteiligt und nebensächlich, weil es ihnen verliehen ist, mit dem Geist zu sprechen. Paulus greift diese Po‐ sition auf, hält in 1 Kor 14,15 aber dagegen: τί οὖν ἐστιν; Damit stoppt Paulus den Gedankengang. Die lutherische Übersetzung „Wie soll es denn nun sein? “ trifft den Kern der Argumentation. So wie es einige Korinther praktizieren, so soll es nicht sein. Die Glossolalie ist nicht als Gabe zu verstehen, in der der eschatologische Geist bereits verwirklicht ist und die den Glossolalen Anteil am Eschaton ermöglicht. Auch sie hat, wie die anderen Sprachgaben, bruchstück‐ haften Charakter. Darauf ist im Kapitel zu den Grenzen der Sprachgaben näher einzugehen. Die Glossolalie ist weiterhin nicht die alleinige Gabe, die der gött‐ liche Geist wirkt. Von 1 Kor 12 her ist klar, dass alle Charismen geistgewirkt sind. Sowohl der Prophet als auch der Glossolale sind im Besitz des göttlichen Geistes. 595 Indem Paulus dem Substantiv πνεῦμα die Genitivform des Personal‐ pronomens ἐγώ zuteilt, zeigt er an, dass es sich hier nicht um den göttlichen Geist handelt, sondern um den menschlichen Geist, der vom göttlichen Geist 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 293 <?page no="294"?> 596 Vgl. Kap. IV, 3.1. So Merklein / Gielen, Korinther, 181.184. Ähnlich auch Schrage, Ko‐ rinther 3, 397 f, der zwar feststellt, dass das πνεῦμά μου schwierig zu interpretieren bleibt, dass der menschliche Geist jedoch, analog zu Röm 8,15 und Gal 4,6 „das eigent‐ liche Subjekt des Betens“ (398) ist. Anders Wolff, Korinther, 332, πνεῦμά μου „bezeichnet das göttliche Pneuma in seiner individuellen Wirksamkeit“, Weder, Gabe, 33 und Daut‐ zenberg, Prophetie, 234. Er unterscheidet zwischen dem „Antrieb des von Gott gege‐ benen pneuma ohne Einbeziehung des Verstandes“ und der Rede, die auch „aus der Kraft des pneuma“ (234, i. O. z. T. kursiv) gewirkt ist, aber den νοῦς miteinbezieht. 597 Vgl. Zeller, Korinther, 428. Anders Merklein / Gielen, Korinther, 186. Merklein spricht davon, dass Paulus es vermeidet, das Sprechen τῷ νοΐ zu präzisieren. 598 In neueren Arbeiten zur Anthropologie bei Paulus findet der νοῦς nur geringe oder keine Berücksichtigung. Ersteres bei Schnelle, Anthropologie, 123-125 und Frevel / Wischmeyer, Menschsein, 95, Zweiteres bei Eckart Reinmuth: Anthropologie im Neuen Testament, Tübingen, Basel 2006. Zum forschungsgeschichtlichen Überblick von Baur bis Stacey siehe Robert Jewett: Paul’s Anthropological Terms. A Study of their Use in Conflict Settings, Leiden, Brill 1971 (AGJU 10), 358-367. Zur vielfältigen Be‐ deutung von νοῦς (Sinn, Gesinnung, Einsicht, Erfindungsgabe, Verstand, Denkver‐ mögen, Gedanke, Entschluss, Bedeutung) in der griechischen Literatur s. Johannes Behm: Art. νοῦς, in: ThWNT IV (1942), 951 f. ergriffen wird. 596 An dieser Stelle kann nicht allein der göttliche Geist gemeint sein, der die Glossolalie wirkt, denn dieser wirkt auch in der prophetischen Rede. In der Glossolalie spricht der Glossolale mit menschlichem Geist, der vom gött‐ lichen Geist begabt und ins Gebet genommen wird. Der göttliche Geist bedient sich gewissermaßen des menschlichen Geistes und bewirkt so die religiöse Son‐ dersprache, die ‚private’ Kommunikation zwischen Gott und Glossolalem, für die nur der jeweils Einzelne empfänglich ist. Sie dient ausschließlich der Er‐ bauung des Sprechenden, nicht der der Gemeinde und hat damit kein Kommu‐ nikationspotenial für die Gemeinde. Um Letzteres zu gewährleisten, gibt es das Sprechen unter Beteiligung des νοῦς, das in 1 Kor 14,15 dem Sprechen im Geist gegenüber gestellt wird. (2) Der νοῦς erweist sich damit nach 1 Kor 14,16.19 als entscheidende Kom‐ ponente für die Verständlichkeit einer sprachlichen Aussage. Das nützliche Sprechen kann sich nach 1 Kor 14,15 f als Singen, Beten und Danksagen voll‐ ziehen. Letztlich ist jegliches Sprechen, abgesehen von der Glossolalie, als Spre‐ chen τῷ νοΐ zu verstehen, weil diese Sprachgaben der Erbauung der Gemeinde dienen; das gilt auch für die Prophetie. 597 Weil nur die Sprachcharismen, die den Hörenden einen Inhalt verständlich vermitteln, zur Erbauung der Gemeinde beitragen, muss für sie eine Beteiligung des νοῦς angenommen werden. Wie also ist der νοῦς, bei Paulus zu verstehen? 598 Es handelt sich bei dem Lexem um anthropologisches Vokabular, das die Ausführungen zu den Charismen generell IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 294 <?page no="295"?> 599 Vgl. die Verwendung von ἀγάπη, πίστις, ἐλπίς, σώμα und πνεῦμα bei Frevel / Wi‐ schmeyer, Menschsein, 94. 600 Es liegt näher, von der paulinischen Vorstellung des Menschen zu sprechen als von einer dezidierten Anthropologie, da der Apostel nicht - wie die antike Philosophie - in all‐ gemein danach fragt, was das Menschsein konstituiert, sondern seine Aussagen über den Menschen vor dem Hintergrund des Christusgeschehens und des Heils tätigt. Erst in diesem Zusammenhang tätigt Paulus indirekt Aussagen über den Menschen. Vgl. hierzu Frevel / Wischmeyer, Menschsein, 89. 601 Vgl. Phil., Op § 69-71 und Det § 168. 602 Z. B. in Röm 1,28; 11,34; 12,2; 14,5, 1 Kor 1,10; 14,14. 15. 19 und 2 Thess 2,2. 603 Das rationale Verstehen meint νοῦς auch in Phil 4,7. Vgl. auch Schnelle, Anthropologie, 124. 604 Im Hebräischen findet sich für νοῦς der Begriff חור . Für Paulus ist deshalb aber keine eine Gleichsetzung von νοῦς und πνεῦμα anzunehmen. S. hierzu, Wolff, Korinther, 62, Fußnote. 605 Vgl. Günther Bornkamm: Glaube und Vernunft bei Paulus, in: Studien zu Antike und Urchristentum. Gesammelte Aufsätze Band II, hg. v. ders., München 1959 (BEvTh 28), 121, Schnelle, Anthropologie, 124 und Richard Reitzenstein: Die hellenistischen Mys‐ terienreligionen nach ihren Grundgedanken und Wirkungen. Fotomechanischer Nach‐ druck der dritten Auflage von 1927, Darmstadt 1956, 338 setzen πνεῦμα und νοῦς gleich. Dagegen Walter D. Stacey: The Pauline view of man. In Relation to its Judaic and Hel‐ lenistic Background, London, New York 1956, 203 f und Wendell L. Willis: The “Mind of Christ” in 1 Corinthians 2,26, in: Bibl 70 (1989), 118 f. 606 Wolff, Korinther, 62. 607 Vgl. Willis, Mind, 121 und Wolff, Korinther, 62. 608 Vgl. 1 Kor 1,10, Röm 1,28 und 12,2 und Bornkamm, Glaube, 121 f. 609 Vgl. Schnelle, Theologie, 292 und Willis, Mind, 118. stark prägt. 599 Allerdings nimmt es bei Paulus für die Vorstellung vom Men‐ schen 600 nicht den Stellenwert ein, wie er für Philon ausgemacht werden konnte, der den νοῦς als ἡγεμών im Menschen versteht. 601 Das Substantiv findet sich bei Paulus 15mal 602 und bezeichnet nicht immer das rationale menschliche Ver‐ mögen, wie es für 1 Kor 14 anzunehmen ist. 603 In Röm 11,34 und 1 Kor 2,16 ist νοῦς - mit Verweis auf Jes 40,13 604 - auf κύριος bzw. Χριστός bezogen und wird als Wille / Vernunft Gottes verstanden oder mit dem πνεῦμα Gottes gleichge‐ setzt. 605 Der νοῦς kann also in Beziehung mit dem göttlichen Willen bzw. dem „planende[n] Denken Gottes“ 606 gestellt werden. Wer an Christus glaubt, der ist vom νοῦς Christi geprägt, er lebt, denkt und agiert in seiner Perspektive. 607 Andererseits ist der νοῦς auf den Menschen bezogen und meint die Überzeugung von etwas, z. B. in Röm 14,5, oder die Gesinnung bzw. den Willen. 608 Es ist auch der menschliche νοῦς, der nach Röm 12,2 die Erkenntnis des Gotteswillens er‐ möglicht. Mit der Erneuerung des Verstandes wird die Möglichkeit gegeben, zu prüfen, worin der Gotteswille besteht. 609 Schnelle betont mit Rückgriff auf Röm 1,19, dass der Mensch für diese Erneuerung auf Gott angewiesen ist; möglich 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 295 <?page no="296"?> 610 Vgl. Schnelle, Anthropologie, 124 f. Diesen Aspekt betont Schnelle gegenüber Born‐ kamm, bei dem er diese Überlegung vernachlässigt sieht. 611 Bornkamm, Glaube, 121. 612 Ähnlich auch Walter Gutbrod: Die paulinische Anthropologie, Stuttgart 1934, 53 f, der den νοῦς als Instanz sieht, die den Willen Gottes vernimmt. 613 Vgl. Kap. III, 4.3. 614 Vgl. Bornkamm, Glaube, 127 f. 615 Das bestätigt auch Jewett, Anthropological Terms, 450 in seiner Zusammenfassung: „For the most part of the opinion advanced by Bornkamm and Moe - that νοῦς was used typically in anti-enthusiastic settings - has been confirmed.” Als Belege führt er 1 Kor 1,10; 2,16; 15,19 und die oben bereits thematisierte Stelle 14,14 an. Nicht bestätigt sieht er dieses Verständnis von νοῦς für den Römerbrief. 616 Vgl. Stacey, View, 198 und Jewett, Anthropological Terms, 450. wird dies, weil Gott sich den Menschen offenbart hat. Damit nimmt Gott „die Vernunft des Menschen in seinen Dienst und führt sie damit ihrer eigentlichen Bestimmung zu“ 610 . Diese liegt im Tun des Guten und Vollkommenen. So kann Bornkamm den νοῦς als „Gottes Werk und Willen vernehmende und verste‐ hende Vernunft“ 611 bezeichnen. 612 Damit erinnert die Funktion des νοῦς an die noetische Erkenntnis bei Philon. Beide trennen jedoch wesentliche Unter‐ schiede: Philon behält die Erkenntnis des Willens und der Werke Gottes allein denjenigen vor, die noetische Erkenntnis erlangen; das sind hauptsächlich die weisen Menschen. 613 Paulus hingegen spricht nicht davon, dass das Prüfen des Gotteswillens nur einem ausgewählten Personenkreis innerhalb der christlichen Gemeinde zugänglich ist. Die Funktion des νοῦς ist für Paulus allerdings nicht, wie dies für die hellenistisch-jüdische Literatur gilt, durchweg positiv zu ver‐ stehen. So zeigen die Ausführungen in Röm 1 und 2 sowie in 7,23.25, dass der Mensch durch den νοῦς den Willen Gottes erkennen kann; deutlich wird aber auch, dass der Mensch, trotz der Erkennbarkeit des Gotteswillens, Sünder ist und bleibt. 614 In 1 Kor 14 ist der νοῦς das rationale Moment im Menschen, das für den Zuhörer die Verständlichkeit einer Aussage bewirkt. Er markiert den Unter‐ schied zwischen den verständlichen Sprachgaben und der Glossolalie: Die Be‐ teiligung des νοῦς kennzeichnet die prophetische Rede, nicht die Verbindung von göttlichem und menschlichem Geist. Bezüglicher der Glossolalie ist nicht vom νοῦς die Rede: 615 Paulus stellt v. a. in 1 Kor 14,15 das Sprechen im Geist und das Sprechen im Verstand gegenüber; es handelt sich also um gegensätzliche Sprechweisen, so dass davon auszugehen ist, dass der Verstand für die glossolali‐ schen Äußerungen keine Rolle spielt, für die anderen Sprachgaben aber den we‐ sentlichen Aspekt darstellt. Die Arbeit Walter D. Staceys zeigt, dass Paulus νοῦς dann gebraucht, wenn das rationale Moment besonders betont werden soll; 616 für die Glossolalie gilt dies nicht. Dennoch ist nicht anzunehmen, dass der νοῦς IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 296 <?page no="297"?> 617 S. oben Kap. IV, 3.2.1 und Kap. IV, 3.2.3 So ist auf jeden Fall anzunehmen, dass auch der Glossolale die anthropologische Komponente νοῦς besitzt, weil er sonst seine Rede nicht auslegen könnte. 618 Vgl. auch Jewett, Anthropological Terms, 379. 619 Vgl. Zeller, Korinther, 428, Wolff, Korinther, 332 und Schrage, Korinther 3, 398 f. Mer‐ klein / Gielen, Korinther, 181 sieht dies nur als Folge des Nichtverstehens der eigenen Rede. 620 Vgl. auch Liddell / Scott, Lexicon, 47, der für ἄκαρπος auch ‚barren’ (unproduktiv) an‐ führt und Friedrich Hauck: Art. καρπός, ἄκαρπος, καρποφορέω, in: ThWNT III (1938), 619, der den νοῦς für das glossolalische Sprechen als untätig beschreibt. So auch Wolff, Korinther, 332 und Klauck, Engelszungen, 287. 621 So auch Schnelle, Theologie, 292: „Der Christ bekommt eine neue Urteilskraft und Ur‐ teilsfähigkeit, die ihn in die Lage versetzt, zu prüfen, was Gottes Wille ist. Aus sich heraus kann sich die Vernunft nicht erneuern, sie ist vielmehr auf das Eingreifen Gottes angewiesen, der sie in seinen Dienst nimmt und ihrer eigentlichen Bestimmung zu‐ führt.“ 622 Für das πνεῦμα als Wirkkraft des νοῦς Schnelle, Anthropologie, 124 f und Moe, Glaube, 382 ff.390 f, der herausstellt, dass das πνεῦμα den νοῦς nicht verdrängen will, sondern dass es versucht, den νοῦς zu durchdringen. 623 Vgl. auch Schrage, Korinther 3, 398. 624 Ähnlich Schnelle, Theologie, 291, der vom νοῦς als „kritischer Instanz gegenüber der unkontrollierten und unverständlichen Zungenrede“ spricht. bei der glossolalischen Rede nicht vorhanden ist, 617 sondern vielmehr, dass er unproduktiv ist. 618 Das Lexem ἄκαρπος kann in 1 Kor 14,14 nicht nur so ver‐ standen werden, dass der νοῦς keine Frucht bringt, d. h. dass die glossolalische Rede nicht zur Erbauung der Gemeinde beiträgt, 619 sondern auch dahingehend, dass der νοῦς nicht beteiligt, d. h. unproduktiv ist. 620 Bei der prophetischen Rede hingegen ist der νοῦς aktiv beteiligt. Wenn bei der Glossolalie das πνεῦμα als anthropologische Größe mit dem himmlischen πνεῦμα in Verbindung tritt, ist anzunehmen, dass auch der menschliche νοῦς vom göttlichen πνεῦμα angeregt und befruchtet wird. Dazu allerdings äußert sich Paulus konkret nicht. Für Röm 12,2 wurde deutlich, dass der Mensch seinen νοῦς nicht selbst erneuern kann, sondern auf die Hilfe Gottes angewiesen ist. 621 Dass das göttliche πνεῦμα hierbei eine Rolle spielt, liegt v. a. von der Stoa her nahe; Paulus führt die Argumentation diesbezüglich aber nicht weiter aus. 622 Zentral ist, dass der νοῦς die anthropo‐ logische Komponente ist, die die verständlich artikulierte Äußerung ermöglicht, so dass der sprachliche Ausdruck von den Hörenden erfasst werden kann. 623 Damit sind wir von einer anderen Seite erneut ins Zentrum des paulinischen Sprachverständnisses gelangt: Der νοῦς ist die Instanz, die es ermöglicht, dass nicht nur die Ausdrucksseite, sondern auch die δύναμις des sprachlichen Zei‐ chens erfasst werden kann. 624 Sie befähigt zur zwischenmenschlichen Kommu‐ nikation und zur Erbauung der Gemeinde. 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 297 <?page no="298"?> 625 Vgl. Phil., SpecLeg IV § 49, Her § 264-266, Lorenzen, Eikon-Konzept, 113 f und die Aus‐ führungen zu Philon. 626 Vgl. Terrance Callan: Prophecy and Ecstacy in Graeco-Roman Religion and in 1 Corin‐ thians, in: NT 27 (1985), 139 f. 627 Vgl. Philo., SpecLeg IV § 49, Her § 264-266 und die Ausführungen zu Philon in Kap. III, 4.8. 628 Vgl. hierzu auch Kap. IV, 3.1. Gleichzeitig ist anzumerken, dass es sich zwischen dem göttlichem πνεῦμα und menschlichem νοῦς, entgegengesetzt zur Stoa, um zwei von einander zu unterscheidende Komponenten handelt, das göttliche πνεῦμα und den menschlichen νοῦς. Beide dürfen bei Paulus nicht identifiziert werden. Die generelle Unterscheidung zwischen πνεῦμα und νοῦς für Paulus hat Ferdinand C. Baur angeregt. Vgl. Ferdinand C. Baur: Vorlesungen über Neutestamentliche Theologie. hg. v. Ferd. Fried. Baur. Neue Ausgabe. Mit einer Einleitung von D. Otto Pfleiderer. Erster Teil, Gotha 1892 (Bibliothek theologischer Klassiker 45), 182 f. 629 Klauck, Engelszungen, 289. An dieser Stelle ist ein Unterschied zu Philon sichtbar, der πνεῦμα und νοῦς ebenfalls an verschiedenen Textstellen verbindet. Philon spricht davon, dass sich der νοῦς im Zustand der Ekstase entfernt, wenn der göttliche Geist einzieht und wiederkommt, wenn dieser fortgeht. 625 In zwei Punkten unterscheidet sich Paulus von Philon: Prophetische Rede wird nicht in einem Zustand der Ekstase ausgeübt und göttliches πνεῦμα und menschlicher νοῦς werden nicht gegenei‐ nander ausgespielt. Ersteres zeigt Terrance Calan in einem Aufsatz, indem er ekstatisches Sprechen und den Begriff προφητής für den Sprachgebrauch im Profangriechischen, im AT und im NT untersucht und zu dem Ergebnis kommt, dass Paulus Prophetie nicht als einen Trancezustand versteht, in dem der Spre‐ chende sein Bewusstsein verliert. 626 Zweiteres wird daran ersichtlich, dass es sich in 1 Kor 14,14 nicht, wie dies gerade für den frühjüdischen Autor und die Prophetie gilt, 627 um das göttliche πνεῦμα handelt, das den νοῦς vertreibt, son‐ dern um das vom göttlichen Geist befruchtete menschliche πνεῦμα. Paulus spielt beide Komponenten also nicht gegeneinander aus, 628 sondern sieht eine gegen‐ seitige Befruchtung. Auch Klauck stellt fest, dass Paulus von der Inspirations‐ vorstellung Philons, nach der der menschliche νοῦς weicht, wenn der göttliche Geist einzieht, abweicht, und moniert, dass Paulus sich doch an der philonischen Vorstellung hätte freuen können, weil „die Ausschaltung des Verstandes mehr Raum für die pneumatische Eingebung schafft“, stattdessen „beklagt er die Un‐ tätigkeit des Verstandes bei der reinen Glossolalie“ 629 . Paulus hingegen kann sich an diesem Modell weder freuen noch es annehmen, weil seiner Vorstellung nach die Glaubenden, also sowohl der Prophet als auch der Glossolale, mit dem gött‐ lichen Geist begabt sind. Die Ausschaltung des νοῦς bringt also für Paulus keinen Mehrwert an pneumatischer Eingebung, weil der göttliche Geist sowohl die Glossolalie als auch die Prophetie wirkt, sondern verhindert ein entschei‐ IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 298 <?page no="299"?> 630 Obwohl Klauck, Engelszungen, 287 f zuvor selbst darauf hinweist, dass es sich in 1 Kor 14,4 um den anthropologischen Geist handeln muss, greift er diesen Gedanken nach der Darstellung der platonischen und philonischen Inspirationsvorstellungen nicht mehr auf und bezieht sich dann auf den Gegensatz zwischen göttlichem Geist und menschlichen Verstand, den Paulus aber in 1 Kor 14,4 gerade nicht aufnimmt. 631 So auch Grudem, Prophecy, 123 und Klauck, Engelszungen, 287 das πνεῦμά μου als anthropologische Größe versteht, sich aber zurecht dagegen ausspricht, dass in der Charismenlehre immer diese gemeint ist. Der Argumentation, dass die Glossolalie in 1 Kor 14,14 als Aktivität des menschlichen Geistes zu verstehen ist, der „vom Geist Gottes ergriffen und in Bewegung gesetzt wird“ stimmt er zu. 632 Vgl. Gerd Theißen: Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, Göttingen 1983 (FRLANT 131), 330. 633 Grudem, Prophecy, 184 f.201 hingegen stellt als besonderes Kennzeichen der Prophetie im Gegensatz zu den anderen „speech activities“ (184) heraus, dass sie aus göttlicher Offenbarung resultiert. dendes Moment, nämlich die Verständlichkeit der Aussage. Paulus weicht also in einem ausschlaggebenden Punkt von Philon und auch Platon ab: Er nimmt den Gegensatz zwischen menschlichem Verstand und göttlichem Geist nicht auf, sondern zeigt, dass der göttliche Geist sowohl den menschlichen Verstand als auch den menschlichen Geist befruchten kann und sieht darin, dass der mensch‐ liche νοῦς unbeteiligt ist, keinen Mehrwert, sondern einen Mangel. 630 Zusammenfassung: Mit Hilfe des νοῦς als rationaler anthropologischer Komponente kann eine, in einer Sprache der kulturellen Zeit, verständliche sprachliche Äußerung er‐ folgen, weil durch seine Beteiligung dem Zuhörenden nicht nur die lautliche, sondern auch die inhaltliche Seite des sprachlichen Ausdrucks zugänglich ge‐ macht werden kann. Ist der νοῦς nicht beteiligt, so bleibt eine sprachliche Äu‐ ßerung unverständlich, wie dies für die Glossolalie gilt. In 1 Kor 14,14-19 wird also deutlich: Das glossolalische Sprechen geschieht also mit/ durch den mensch‐ lichen Geist, das vom göttlichen πνεῦμα ergriffen und angesprochen wird; das pro‐ phetische Reden und die anderen Sprachgaben erfolgen hingegen mit/ durch den Verstand; 631 beides ist vom göttlichen πνεῦμα gewirkt, so dass zwischen diesem und dem νοῦς kein Gegensatz deutlich werden soll, sondern eine Verbindung und ge‐ genseitige Befruchtung. 632 Besonderes Kennzeichen der Prophetie ist ihre Ver‐ ständlichkeit und die daraus resultierende Möglichkeit der Erbauung der Ge‐ meinde. 633 Darauf gründet sich ihre Vorrangstellung gegenüber der Glossolalie. Damit wird deutlich, dass nicht die Glossolalie, wie Gunkel dies herausstellt, die charakteristischste Wirkung des Geistes ist, sondern dass die Wirkungen des Geistes, die verständlich sind und die der Erbauung der Gemeinde dienen, die 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 299 <?page no="300"?> 634 Vgl. Gunkel, Wirkungen, 20. größeren sind. 634 Beides trifft auf die prophetische Rede zu und deshalb wird sie in 1 Kor 14,5 als die größere Gabe ausgewiesen. 3.2.4 Das Verständnis des sprachlichen Zeichens Die beiden Komponenten des sprachlichen Zeichens, die Ausdrucksseite (φωνή) und die Inhaltsseite (δύναμις), wurden bereits erwähnt. Es gilt nun, das Verständnis des sprachlichen Zeichens bei Paulus zusammenhängend zu er‐ klären. Folgende Grafik veranschaulicht das paulinische Zeichenverständnis: IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 300 <?page no="301"?> 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 301 <?page no="302"?> 635 Zu den Begriffen ‚Bezeichnendes’ und ‚Bezeichnetes’ s. de Saussure, Grundfragen, 78 f. 136 f. 636 Vgl. de Saussure, Grundfragen, 134. Die Wirkursache, die hinter dem (religiösen) sprachlichen Ausdruck steht, ist das göttliche πνεῦμα; das stellt Paulus in 1 Kor 12 heraus. Für das sprachliche Zeichen benennt Paulus zwei Komponenten, φωνή und δύναμις, und orientiert sich damit an der aristotelischen Unterscheidung zwischen Ausdrucks- und In‐ haltsseite des sprachlichen Zeichens, die die Stoa übernimmt. (1) Die Ausdrucksseite / den Laut / das Bezeichnende 635 nennt Paulus φωνή (a). Paulus folgt damit der aristotelischen Bezeichnung. Das Lexem beschreibt also nicht nur Laute im Allgemeinen, sondern von 1 Kor 14,11 her auch die Aus‐ drucksseite des sprachlichen Zeichens; keineswegs aber bezeichnet φωνή um‐ fassend bzw. nur die Sprache. Der Ausdruck des sprachlichen Zeichens, sein Laut, ist nach 1 Kor 14,10 überall auf der Welt vorhanden und vernehmbar; dabei bezieht sich Paulus nicht auf das geschriebene sprachliche Zeichen, sondern ausschließlich auf Hörbares. Er beschreibt das Bezeichnende nicht näher, etwa wie die Beziehung zwischen Lautgestalt und Objekt zustande kam (φύσει oder θέσει) oder dass die Laute durch einen Luftstrom erzeugt werden. Der Laut weist auf das Bezeichnete hin: Töne eines Musikinstrumente auf eine Melodie / ein Musikstück, stimmliche Äußerungen auf den Inhalt des Gesprochenen. Von 1 Kor 14,10 her könnte der Eindruck entstehen, dass Paulus die Ausdrucksseite besonders betont; er sagt aber lediglich, dass sie überall vorhanden ist, nicht dass sie einen besonderen Wert innehat. Den eigentlichen Wert des sprachlichen Zeichens benennt Paulus in 1 Kor 14,11: die δύναμις (b). Sie stellt die Inhaltsseite des sprachlichen Zeichens / die Be‐ deutung / das Bezeichnete dar. Paulus konkretisiert die δύναμις nicht näher, son‐ dern betont v. a., dass sie das entscheidende Moment des sprachlichen Zeichens ist. Erst durch sie wird der sprachliche Ausdruck nützlich, weil die Laute einen Inhalt transportieren und diesen zugänglich machen. Paulus sagt nicht, etwa wie Aristoteles, dass die Laute auf bestimmte Erleidnisse der Seele verweisen, die in allen Menschen gleich sind; dennoch ist die Inhaltsseite eines sprachlichen Zeichens nach paulinischer Vorstellung immer vorhanden, weil oben bereits gezeigt werden konnte, dass die glossolalische Rede dem Sprechenden selbst verständlich ist; die Inhaltsseite kann lediglich von den Zuhörenden nicht immer erfasst werden. De Saussure wird später erklären, dass Denken und der lautliche Ausdruck wie die beiden Seiten eines Papierblatts untrennbar miteinander ver‐ bunden sind. 636 Das gilt auch bereits für die beiden Seiten des sprachlichen Zei‐ chens bei Paulus; auch sie bilden eine unzertrennbare Einheit. Zentral ist für Paulus nicht, wie die Inhaltsseite erklärt werden kann, sondern dass sie in einer IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 302 <?page no="303"?> Äußerung von den Hörenden erfasst werden kann und wann bzw. warum dies der Fall ist. Der entscheidende Aspekt im paulinischen Zeichenverständnis ist, dass er das Verhältnis von Ausdrucks- und Inhaltsseite auf zwei verschiedene Arten beschreibt: (3) Das doppelte Verhältnis von Ausdrucks- und Inhaltsseite: 1. Der verständliche gesamtsprachliche Ausdruck (die Relation a-b 1, blau) Auch wenn die Inhaltsseite immer vorhanden und untrennbar mit der Aus‐ drucksseite verbunden ist, so ist sie den Hörenden nach paulinischem Ver‐ ständnis nicht immer zugänglich und kann von ihnen nicht immer erfasst werden. Dies ist nur möglich, wenn der νοῦς beteiligt ist. Der νοῦς befähigt den Menschen dazu, verständlich zu formulieren. Durch seine Beteiligung entsteht ein gesamtsprachliches Zeichen (a-b 1), das den Hörenden verständlich ist und ihnen so die Bedeutung des Gesagten erschließt. Deshalb trägt es zur οίκοδομή der Gemeinde bei und vermittelt Trost und einen ermahnenden Zuspruch. In der Grafik richtet sich die Klammer, die den sprachlichen Ausdruck unter der Beteiligung des νοῦς kennzeichnet, deshalb nach außen. Von ihm geht eine Wirkung aus, direkt in die Gemeinde hinein. Die Relation a-b 1 beschreibt die Sprachgaben, die durch ein Sprechen τῷ νοΐ gekennzeichnet sind, d. h. diejenigen, bei denen der νοῦς beteiligt ist: Die Prophetie, die Lehre, die Offenbarungsrede, das Wort der Weisheit und der Erkenntnis. Erst der gesamtsprachliche Ausdruck, der ver‐ ständlich geäußert wird, hat einen Nutzen; deshalb kann die Klammer hin zur verständlichen sprachlichen Äußerung größer ausfallen als die zur Glossolalie. Es zeigt sich erneut, dass der Fokus bei Paulus auf der Verständlichkeit einer Äußerung liegt. 2. Der unverständliche gesamtsprachliche Ausdruck (die Relation a-b 2, rot) Die zweite Relation zeigt einen sprachlichen Ausdruck, der entsteht, ohne dass der νοῦς beteiligt ist. Dann kann die Inhaltsseite den Hörenden nicht zugänglich gemacht werden, weil eine unverständliche Äußerung entsteht. Dies ist nach 1 Kor 14,14 ff der Fall, wenn nicht der νοῦς, sondern das vom göttlichen Geist befruchtete anthropologische πνεῦμα an der sprachlichen Äußerung beteiligt ist. Die δύναμις kann von den Hörenden folglich nicht erfasst werden. Unter Beteiligung des anthropologischen πνεῦμα entsteht ein gesamtsprachliches Zeichen (a-b 2), das nur dem Sprechenden, nicht aber den Hörenden die Bedeutung der Laute erschließt. Dies ist für die Glossolalie der Fall. Das heißt nicht, dass die Inhalts‐ seite nicht vorhanden ist, denn der Glossolale erbaut ja sich selbst; für ihn ist das Gesprochene kein ‚in-den-Wind-Reden’, sondern hat Bedeutung. Paulus spricht der Glossolalie die δύναμις nicht ab. Im Gegenteil, in 1 Kor 14,11 sagt 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 303 <?page no="304"?> 637 Vgl. dazu auch Kap. IV, 3.2.1. 638 Das gilt bereits für Gorgias, vgl. dazu Ax, Laut, 95 f.267. Paulus nicht, dass ein sprachlicher Ausdruck keine Bedeutung hat, sondern nur, dass es möglich ist, die δύναμις nicht zu kennen (οἶδα). 637 Wenn aber die Inhalts‐ seite des sprachlichen Zeichens von den Hörenden nicht erfasst werden kann, trägt der sprachliche Ausdruck nicht zur Erbauung der Gemeinde bei. Eine sprachliche Äußerung, die über die Selbsterbauung des Sprechenden hinaus eine Funktion haben soll, muss dem Hörenden die Bedeutung der Laute zugänglich machen und deshalb unter Beteiligung des νοῦς erfolgen. Ist dies nicht gegeben, so hat der sprachliche Ausdruck nur eine ‚inner-personale’ Funktion, die zwar für die Kommunikation des Einzelnen mit Gott ertragreich sein kann, aber keine Wir‐ kung nach außen in die Gemeinde hat. In der Grafik richtet sich die Klammer, die den sprachlichen Ausdruck unter Beteiligung des anthropologischen πνεῦμα kennzeichnet, deshalb nach innen. Paulus beschreibt also die Relation zwischen Ausdrucks- und Inhaltsseite, legt aber im Vergleich zu Aristoteles einen völlig anderen Fokus: Er konkretisiert nicht das Bezeichnete, sondern beschreibt die Wirkung des gesamtsprachlichen Ausdrucks auf die Hörenden, seine Funktion bzw. seinen Makel. Das gesamt‐ sprachliche Zeichen kann Paulus als λόγος bezeichnen, unabhängig davon, ob es verständlich oder unverständlich geäußert wird: Für die verständlichen Sprachgaben verwendet Paulus λόγος in 1 Kor 12,8, um die Erkenntnis- und Weisheitsrede zu beschreiben; in 1 Kor 14,9 bezeichnet er die Glossolalie als εὔσημος λόγος. 1 Kor 14,19 zeigt schließlich in einem Vers, dass sowohl für die Glossolalie als auch für das verständliche Sprechen das Lexem λόγος gebraucht werden kann: Paulus will lieber πέντε λόγους τῷ νοΐ sprechen als μυρίους λόγους ἐν γλώσσῃ. Λόγος bezeichnet also immer das Sprechen, das einen Inhalt transportiert. 638 (4) Das Verhältnis des sprachlichen Zeichens (a-b) zum Objekt (c) thematisiert Paulus nicht auf der Ebene, wie dies für die antiken Autoren ausgemacht werden konnte. In der antiken Sprachphilosophie ist es eine wichtige Frage, wie sich das sprachliche Zeichen zum Objekt verhält. Platon bedenkt das sprachliche Zeichen noch nicht mit seinen beiden Seiten, interessiert sich aber für das Ver‐ hältnis von Laut und Objekt. Bei Paulus wiederum zeigen sich zwei Seiten des sprachlichen Zeichens, er reflektiert aber das Verhältnis von Laut und Objekt im Zusammenhang von 1 Kor 14,6-12 nicht. Für ‚einfache’ Erkenntnisinhalte thematisiert Paulus das nicht, weshalb die Linie unterbrochen gezeichnet ist; Paulus interessiert sich nicht für die Frage, wie beispielsweise die Erkenntnis von ‚Haus’ als Objekt im sprachlichen Ausdruck zu denken ist, etwa als Reprä‐ IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 304 <?page no="305"?> sentation des Objekts im sprachlichen Ausdruck, als Abbild oder als Identifika‐ tion. Einzig bezüglich der Gotteserkenntnis äußert sich Paulus zum ‚Objekt’; dieses kann in der irdischen Welt nur bruchstückhaft erfasst werden. Erst im Eschaton ist eine sich in der Liebe erfüllende Erkenntnis von Angesicht zu An‐ gesicht möglich. Eine sprachlich vermittelte Erkenntnis, wie sie in der prophe‐ tischen Rede oder in der Erkenntnisrede zu denken ist, verliert dann ihre Not‐ wendigkeit. Das wird erst von den Kapiteln zur Erkenntnis und den Grenzen der Sprachgaben her verständlich gemacht werden können. Die Grafik zeigt daher, wie das sprachliche Zeichen in der irdischen Wirklichkeit zu denken ist, immer unter dem Vorbehalt, dass die gesamte Existenz der Glaubenden unter dem eschatologischen Vorbehalt steht. In der eschatologischen Wirklichkeit spielen die Sprachgaben keine Rolle; sie werden vergehen. Dies zeigt der Kreis, der um das sprachliche Zeichen gezogen ist. 3.3 Funktionen, Wirkungen und Ziel verständlichen Sprechens Nachdem bestimmt werden konnte, wodurch ein nützliches Sprachcharisma für Paulus gekennzeichnet ist, nämlich durch eine verständliche sprachliche Äuße‐ rung, die unter Beteiligung des νοῦς zustande kommt, bleiben folgende Fragen: Was kann durch verständliche Sprache erreicht werden? Welche Funktionen ergeben sich daraus für die Sprache? Welches Ziel kann mit sprachlichen Äu‐ ßerungen verfolgt werden? Im Folgenden sollen daher die Funktionen, Wir‐ kungen und Ziele dargestellt werden, die sich aus verständlicher Rede ergeben und die Paulus in 1 Kor 14 aufgreift. 3.3.1 Die Sprachgabe der Prophetie und ihre Funktionen in 1 Kor 14 Das Charisma der Prophetie und das der διακρίσεις πνευμάτων müssen cha‐ rakterisiert werden, bevor die Funktionen der Prophetie dargestellt werden können. 3.3.1.1 Die Sprachgabe der Prophetie und die διακρίσεις πνευμάτων Zunächst sind (1) einige allgemeine Aspekte des prophetischen Sprechens, wie beispielsweise der Unterschied zwischen atl. und ntl. Prophetie, aufzugreifen. (2) Anschließend ist das Verhältnis zwischen Prophetie und Offenbarung zu 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 305 <?page no="306"?> 639 Vgl. Gerhard Dautzenberg: Prophetie bei Paulus, in: JBTh 14 (1999), 57. 640 S. hierzu auch die Übersicht zum Wortfeld ‚Sprechen’ in Kap I. 641 Deshalb beziehen sich die wichtigen Untersuchungen zur urchristlichen Prophetie auf diese Texte. Besonders hervorzuheben sind: Dautzenberg, Urchristliche Prophetie, bes. 122-300, Forbes, bes. 251-278, Maly, Gemeinde, bes. 186-228 und Grudem, Prophecy, bes. 54-74, 115-14 und 181-230. 642 So in Apg 11,27 f; 21,10 und Zeller, Korinther, 450. 643 Bereits die Ignatiusbriefe lassen erkennen, dass es keine Gemeindepropheten mehr gibt. Vgl. Heinz Kraft: Die altkirchliche Prophetie und die Entstehung des Montanismus, in: ThZ 11 (1955), 267. Zum Ende der urchristlichen Prophetien und den Gründen s. Daut‐ zenberg, Prophetie, 36-40. 644 Vgl. Greeven, Propheten, 9. 645 Vgl. Dautzenberg, Paulus, 57 und Horst D. Preuß: Art. Offenbarung II, in: TRE 25 (1995), 118. Zu weiteren Unterschieden von urchristl. und atl., jüdischer und apokalyptischer Prophetie s. Dautzenberg, Prophetie, 29-26. 646 Vgl. Jes 61,1, Sach 4,6 und in Joel 3,1 und Dautzenberg, Paulus, 58. untersuchen. (3) Als letztes wird das Charisma der διακρίσεις πνευμάτων cha‐ rakterisiert. (1) Die Prophetie wird im ersten Charismenkatalog in 1 Kor 12,10 genannt und als Gabe ausgewiesen. Bestätigt wird dies in 1 Kor 12,28.29, wo zweimal von der Person des Propheten die Rede ist und in Röm 12,6, wo erneut von der προφητεία gesprochen wird. Prophetie ist den ersten Christen also bekannt. 639 Sowohl das Substantiv προφητεία als auch das Verb προφητεύω und die Perso‐ nenbezeichnung προφήτης begegnen in 1 Kor häufig. 640 Das Substantiv steht, abgesehen von 1 Thess 5,20, immer in Zusammenhang mit den Charismen. Diesen Sachverhalt zeigt auch das Vorkommen des Verbs προφητεύω, das sich ausschließlich in 1 Kor findet. 1 Kor 12-14 bietet damit eine hervorragende Grundlage für die Erarbeitung des Prophetieverständnis bei Paulus und in den urchristlichen Gemeinden. 641 Bei den Propheten, über die Paulus in 1 Kor 12-14 spricht, handelt es sich nicht um Wanderpropheten, die von einer Ausgangsge‐ meinde in weiteren Gemeinden prophetisch sprechen, 642 sondern um Gemein‐ depropheten, also um solche, die einer Gemeinde zugehörig sind und dort wirken; 643 so vergleicht Paulus das Umherziehen in 1 Kor 9,5 mit dem Leben anderer Apostel, nicht mit dem der Propheten. 644 Darin besteht ein wesentlicher Unterschied zur atl. Prophetie, die an das gesamte Bundesvolk oder dessen Ein‐ richtungen gerichtet war. Sie war nicht auf einzelne Gemeinden beschränkt. 645 Da die prophetische Rede als Charisma bestimmt wird, kann von ihr grund‐ sätzlich ausgesagt werden, dass sie nach 1 Kor 12,11 durch das πνεῦμα gewirkt bzw. nach 1 Kor 12,28 von Gott eingesetzt ist. Prophetie bei Paulus steht damit in der Tradition der nachexilischen Prophetie und versteht die prophetische Rede als eine Wirkung des göttlichen Geistes. 646 Von den paulinischen Aussagen IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 306 <?page no="307"?> 647 Vgl. Zeller, Korinther, 450. 648 So geht David E. Aune: Prophecy in Early Christianity and the Ancient Mediterranean World, Grand Rapids, Michigan 1983, 199 davon aus, dass in 1 Kor 14,1. 5. 24.31 nur die angesprochen sind, deren Begabung die prophetische Rede ist. 649 Der LXX-Text in Num 11,29 lautet: „καὶ τίς δῴη πάντα τὸν λαὸν κυρίου προφήτας, ὅταν δῷ κύριος τὸ πνεῦμα αὐτοῦ ἐπ᾽ αὐτούς.“ (Mögen doch alle im Volk des Herrn Propheten sein, so dass der Herr seinen Geist auf sie lege). 650 Auch bei Philon fehlt das Substantiv gänzlich. 651 Nicht ein Teil der οἱ ἄλλοι aus 1 Kor 14,29, wie beispielsweise Merklein / Gielen, Ko‐ rinther, 209 dies andenkt, aber auch zu dem Schluss kommt, dass es sich hier um einen anderen Propheten handelt. 652 Vgl. Wolff, Korinther, 340, der auch davon ausgeht, dass die Offenbarung in themati‐ schem Zusammenhang mit der vorangehenden steht. Letzteres ebenso Schrage, Korin‐ ther 3, 452. Lindemann, Korintherbrief, 314 nimmt an, dass der Sprechende zu einem sinnvollen Abschluss kommen darf. 653 So Schrage, Korinther 3, 452 und Gerhard Friedrich: Art. προφήτης, προφῆτις, προφητεύω, προφητεία, προφητικός, ψευδοπροφήτης. D. Propheten und Prophezeien im Neuen Testament, in: ThWNT VI (1959), 854 f. Dass nur der zweite Prophet auf Grund einer Offenbarung spricht, kann nicht angenommen werden. in 1 Kor 14,1. 5. 24.31 her wird der Eindruck erweckt, dass alle Gemeindeglieder prophetisch reden sollen. 647 Dennoch wird aus 1 Kor 12,11 ersichtlich, dass der Geist in jedem Glaubenden eine Gabe wirkt, dass er aber nicht in allen dieselbe wirken muss. Das zeigt auch die Gestaltung der Charismenliste in 1 Kor 12,7-10 durch die Formulierungen ᾧ μὲν / ἑτέρῳ - ἄλλῳ δὲ. 648 Dass alle Menschen pro‐ phetisch sprechen, mag eine Zielvorstellung sein, die in Num 11,29 angelegt ist; 649 dieser Wunsch kommt möglicherweise auch bei Paulus in 1 Kor 14 zum Ausdruck; es kann aber nicht angenommen werden, dass alle Menschen mit der Gabe der Prophetie ausgestattet sind. (2) Ein wesentliches Merkmal der Prophetie ist, dass sie auf einer Offenbarung beruht. Paulus verwendet das Lexem ἀποκάλυψις in den drei Kapiteln 1 Kor 12-14 einmal in 1 Kor 14,6 und einmal in 1 Kor 14,26. Hinzu kommt der Ge‐ brauch des Verbs in 1 Kor 14,30. In den Charismenlisten in 1 Kor 12 und in Röm 12 wird ἀποκάλυψις als Charisma nicht geführt. 650 Den Grundstein für einen Zusammenhang zwischen Prophetie und Offenbarung legt 1 Kor 14,29 f. Für den ersten Teilsatz von 1 Kor 14,30 müssen als Subjekt die προφῆται aus dem Vorsatz angenommen werden. 651 Wenn einem Propheten, der sitzt - das impliziert, dass derjenige, der aktuell spricht, steht - etwas offenbar wird, soll er dieses äußern dürfen. Es wird nicht gesagt, wie schnell der gerade Sprechende seine Rede un‐ terbrechen soll. Ein zu großer zeitlicher Abstand ist allerdings nicht anzu‐ nehmen. 652 Der Fokus liegt darauf, dass jeder, der eine Offenbarung empfängt, diese der Gemeinde mitteilen darf; damit ist ausgesagt, dass die prophetische Rede auf einer Offenbarung beruht. 653 Im gesamten NT findet sich kein Hinweis 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 307 <?page no="308"?> 654 So Grudem, Prophecy, 69 richtig. 655 Vgl. Sandnes, Paul, 98 und Papyri Graece Magica III,335-355. 656 Vgl. zum Offenbarungsempfang im AT Gerhard von Rad: Theologie des Alten Testa‐ ments. Band II. Die Theologie der prophetischen Überlieferung Israels, München 1960, 62-82. 657 Vgl. hierzu Grudem, Prophecy, 11-20 und von Rad, Theologie II, 93.100 f, dazu z. B. Dtn 18,18. 658 Vgl. 1 Kön 20,13, Amos 1,3 Gen 22,2, Ex 3,17, 1 Sam 2,30 oder Jes 45,5 und vgl. von Rad, Theologie II, 100. 659 Vgl. Grudem, Prophecy, 69 und David E. Aune: Prophet / Prophetin / Prophetie. III. Neues Testament, in: RGG 4 6 (2003), 1702. Damit steht das Prophetieverständnis in 1 Kor dem der nicht-biblischen jüdischen Literatur näher als dem der atl. Vgl. z. B. 1 Makk 14,41 und Grudem, Prophecy, 21-33. 660 Vgl. Grudem, Prohecy, 70.112. Das atl. Verständnis von Prophetie, nachdem das pro‐ phetische Wort unmittelbare göttliche Autorität besitzt, findet sich im NT ebenfalls: Mt 10,19-21, Eph 2,20; 3,5, Apg 13,2. Vgl. die ausführliche Untersuchung der ntl. Prophe‐ tiestellen, die die beiden Verständnisformen herausstellt, bei Grudem, Prophecy, 74-113, bes. die Zusammenfassung 110.112 f. darauf, dass prophetische Rede ohne Offenbarung möglich ist. Wäre dies der Fall, wäre das Charisma in die Nähe der διδαχή zu rücken. 654 Der Zusammen‐ hang von Prophetie und Offenbarung findet sich sowohl im allgemeinen antiken Verständnis von Prophetie 655 als auch im AT : 656 Der Prophet gibt exakt die in der Offenbarung empfangenen göttlichen Worte wieder oder Gott selbst spricht durch den Propheten. 657 Letzteres zeigen die häufigen Formulierungen aus der Gottesperspektive und die Rede vom Wort Jahwes. 658 Offenbarung und Pro‐ phetie stehen nach atl. Verständnis in direktem Zusammenhang. Für das Pro‐ phetieverständnis in 1 Kor liegt ein verändertes Denken vor: Der Zusammen‐ hang von Offenbarung und Prophetie wird ‚entzerrt’. Das prophetische Reden wird als Sprechen τῷ νοΐ bestimmt. Es kann sich nicht um ein direktes göttliches Sprechen handeln, weil das prophetische Reden als ein menschliches, mit dem Verstand gesprochenes Reden bestimmt ist. Es ist kein direktes, vom göttlichen πνεῦμα gesprochenes, sondern ein vom göttlichen πνεῦμα gewirktes, aber durch den menschlichen νοῦς vermitteltes Wort, das im menschlichen Wort seinen sprachlichen Ausdruck findet. Der wesentliche Unterschied zwischen dem atl. Prophetieverständnis und dem des 1 Kor liegt darin, dass die Propheten den Offenbarungsinhalt in einem eigenen Wort zum Ausdruck bringen. Ungeachtet dessen kommt der prophetischen Rede durch den Ursprung der Offenbarung eine göttliche Autorität zu. Das direkt ausgesprochene Wort aber unterliegt dieser nicht. 659 Das zeigen auch weitere ntl. Belege. So kann für Phil 3,15 nicht angenommen werden, dass immer dann, wenn die Glaubenden von ihrer Of‐ fenbarung erzählen, ein göttliches Wort vorliegt. Gleiches gilt für 1 Thess 5,19-21, Röm 1,18, Mt 11,27, Apg 19,6; 21,4 und Eph 1,17. 660 Erst die Tatsache, IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 308 <?page no="309"?> 661 So Grudem, Prophecy, 67 und 9. 662 Dautzenberg, Paulus, 60. 663 Vgl. Dautzenberg, Paulus, 59. 664 Forbes, Prophecy, 228 hat natürlich Recht, wenn er jegliche prophetische Rede als spontane Offenbarung qualifiziert, im Unterschied zur Lehre, die auf einer zurücklie‐ genden, evtl. schriftlich fixierten Offenbarung oder auf mündlich weitergegebenen Of‐ fenbarungsberichten beruht. 665 Vgl. auch Gernot Wießner: Art. Offenbarung I, in: TRE 25 (1995), 109, der die zwei Bereiche als „heilsnotwendiges religiöses Wissen“ und „Vermittlung heilsnotwendigen religiösen Wissens“ (109, i. O. kursiv) beschreibt. dass der Prophet nicht direkt göttliches Wort verkündet, sondern einen Offen‐ barungsinhalt in eigene, durch den νοῦς verständliche Worte fasst, macht eine Beurteilung der prophetischen Rede notwendig und sinnvoll. 661 Zwischen dem Charisma der Prophetie und dem der Offenbarung ist schwer zu differenzieren. Προφητεία und προφητεύω können die Prophetie in einem engeren Sinn bezeichnen, d. h., der Offenbarungsinhalt wurde „meditiert, bear‐ beitet [und] interpretiert“ 662 , ehe er der Gemeindeversammlung mitgeteilt wird. Offenbarung und prophetische Rede befinden sich dann in einem größeren zeit‐ lichen Abstand zueinander. Die Tatsache, dass während einer gottesdienstlichen Versammlung mehrere Propheten nacheinander zu Wort kommen sollen, legt nahe, dass nicht nur zu diesem Zeitpunkt Offenbarungen erfolgen. Wenn meh‐ rere Propheten hintereinander sprechen sollen, kann nicht angenommen werden, dass den Propheten in dieser Reihenfolge spontan Offenbarungen zuteil werden. So ist anzunehmen, dass den Propheten bereits zu einem vorigen Zeit‐ punkt Offenbarungen zugekommen sind. Dies gilt für 1 Kor 14,1.3-5. 24. 31.39. Als Bezeichnung für eine zweite Form der prophetischen Rede wird das Lexem ἀποκάλυψις bzw. ἀποκαλύπτω verwendet. Es beschreibt ein spontanes / spon‐ taneres prophetisches Sprechen, wie es in 1 Kor 14,30 vorkommt. Hier hat der Prophet nur einen sehr kurzen zeitlichen Abstand zwischen dem Empfang der Offenbarung und der Äußerung. 663 Es wird erneut deutlich, dass die Charismen kein starres System darstellen, sondern dass es zwischen einzelnen Charismen fließende Übergänge gibt. So kann das Lexem ἀποκάλυψις v. a. in 1 Kor 14,26 als Synonym für die prophetische Rede verstanden werden, da die προφητεία nicht eigens genannt wird. Beide Charismen zeichnet ihr Offenbarungsursprung und -inhalt aus. Allein die Zeitspanne zwischen Offenbarungsempfang und -mitteilung kann sich unterscheiden. 664 Mit 1 Kor 14,30 wird der Ursprung der Prophetie angegeben, zugleich aber auch deren Inhalt. 665 Ungeachtet dessen, dass das Lexem in 1 Kor 14,6 nicht als 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 309 <?page no="310"?> 666 Wolff, Korinther, 339 und Conzelmann, Korinther, 286 nehmen dies an. Zeller, Korin‐ ther, 440 hingegen merkt vorsichtig an, dass dies der Fall sein könnte. M. E. kann diese Annahme keine Bestätigung finden. Vgl. hierzu die Argumentation oben. Inhalt der Prophetie zu fassen ist 666 und ἀποκάλυψις in 1 Kor 14 als spezielle Bezeichnung für die prophetische Rede fungiert, transportiert die Offenbarung, die dem Propheten zuteil wird, einen Inhalt. Paulus gibt in 1 Kor 14 keinen Inhalt der prophetischen Rede oder der Offenbarungsrede an. Deshalb muss gefragt werden, was über 1 Kor 14 hinaus über die Inhalte der ἀποκάλυψις bei Paulus IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 310 <?page no="311"?> 667 Ein forschungsgeschichtlicher Überblick ist kaum möglich. Als wichtige Stationen in der Forschungsgeschichte sind zu nennen: Rudolf Bultmann: Der Begriff der Offenbarung im Neues Testament, in: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze. Dritter Band. Vierte unveränderte Auflage, Tübingen 4 1993, 1-34. Bultmann versteht Offenbarung als ein Geschehen, das den Tod überwindet und das „nicht innerhalb des menschlichen Lebens, sondern von außen hinein“ (15, i.O. z.T. kursiv) wirkt. Zentrale Aspekte für Bultmann sind, dass Christus selbst offenbart wurde und in der Verkündigung durch das Wort und dem Glauben offenbart wird (21). Dabei ist nicht an eine Vermittlung von Wissen zu denken, sondern immer an ein Ge‐ schehen, das nicht einfach in Worten mitgeteilt wird und so wirkt, sondern unmittelbar mit dem Wort verbunden ist, es „gehört selbst zu ihr [der Offenbarung]“ (21). Die Of‐ fenbarung, bei Bultmann mit der Predigt gleichgesetzt, ist immer gegenwärtige „An‐ rede“ (22, vgl. auch 30 f). Der Mensch lernt durch die Offenbarung sich selbst verstehen (vgl. 31 f) und kann erst so den Nächsten als solchen erkennen und erst vor diesem Hintergrund an ihm Handeln (30). Deshalb fasst Bultmann Offenbarung nicht als „über‐ natürliche Wissensvermittlung“ (31), sondern als ein Wissen, das als Geschehen immer neu erfahren wird (vgl. 30 f). Kritisiert wurde dieser Ansatz u. a. von Ulrich Wilckens: Das Offenbarungsverständnis in der Geschichte des Urchristentums, in: Offenbarung als Geschichte. In Verbindung mit R. Rendtorff, U. Wilckens, T. Rendtdorff. Fünfte Auflage, mit einem Nachwort, hg. v. Wolfhart Pannenberg, Göttingen 5 1982 (KuD.B 1), 42-90. Wilckens bezeichnet die Of‐ fenbarung als „volle Selbstenthüllung Gottes“ (43), das im Christusgeschehen zu fassen ist (vgl. 68 f). Mit dieser Selbstenthüllung Gottes beginnt die neue Zeit (87). Offenba‐ rungsgeschehen, die damit verbundene Interpretation von Geschichte und der Bezug zur Eschatologie kennzeichnen diesen Ansatz. Offenbarung findet nicht im Wort statt, sondern wird in den Taten Gottes in der Geschichte erfasst (87-90). Zur Kritik vgl. Lührmann, Offenbarungsverständnis, 155. Dagegen auch Paul Althaus: Offenbarung als Geschichte und Glaube, in TLZ 87 (1962), 321-330. Die göttliche Offenbarung durch die Geschichte kann nicht von jedem, der Augen hat, wirklich gesehen bzw. erkannt werden, sondern nur von den Glaubenden. So auch Rudolf Schnackenburg: Zum Offenbarungsgedanken in der Bibel, in: BZ.NF 7 (1963), 2-22, der sowohl dem Offenbarungswort, das bei Wilckens vernachlässigt wird, erneut Relevanz zuspricht (vgl. 3 f) als auch den Zusammenhang von Offenbarung und Glaube besonders betont (vgl. 13-17). Kritik hierzu kommt von Günther Bornkamm: Die Offenbarung des Zornes Gottes. Röm 1-3, in: Das Ende des Gesetzes. Paulusstudien. Gesammelte Aufsätze Band I, hg. v. ders., München 1963 (BEvTh 16), 10: Der Glaube darf nie als Voraussetzung oder Bedingung für die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes gesehen werden. 668 Vgl. Albrecht Oepke: Art. καλύπτω, κάλυμμα, ἀνακαλύπτω, κατακαλύπτω, ἀποκαλύπτω, ἀποκάλυψις, in: ThWNT III (1950), 586. gesagt werden kann: 667 Oepke versteht ἀποκάλυψις als Aufhebung von etwas Verborgenem, d. h. Gott wird bzw. macht sich zugänglich. 668 Diese Vorstellung weist er als Besonderheit der atl. und ntl. Schriften aus, weil eine Offenba‐ rungstat in der religiösen Welt des Hellenismus nicht erkennbar ist. Im Orakel‐ wesen wird angenommen, dass Gott Hinweise für ein bestimmtes Verhalten oder für bestimmte Entscheidungen gibt, die dann jedoch vom Menschen ent‐ 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 311 <?page no="312"?> 669 Lührmann, Offenbarungsverständnis, 158. 670 Vgl. Horst Balz: Art. Offenbarung IV, in: TRE 12 (1995), 138 und Hans D. Betz: Der Galaterbrief. Ein Kommentar zum Brief des Apostels Paulus an die Gemeinden in Ga‐ latien. Aus dem Amerikanischen übersetzt und für die deutsche Ausgabe redaktionell bearbeitet von Sibylle Ann, München 1988 (Hermeneia), 137. 671 Vgl. Betz, Galaterbrief, 130 und Balz, Art. Offenbarung, 138. 672 Vgl. Gal 3,27 und Balz, Art. Offenbarung, 138. 673 Balz, Art. Offenbarung, 139. schlüsselt werden müssen; es handelt sich keinesfalls um die Vorstellung, dass Gott sich selbst erschließt. Lührmann stellt deutlich heraus, dass das paulinische Offenbarungsverständnis nicht im ursprünglichen Sinn von ἀποκάλυψις, ‚etwas Verborgenes Enthüllen’, verstanden werden darf: Offenbarung ist für Paulus jeweils ein unmittelbares Handeln Gottes am Menschen, das keine Reflexion über eine diesem Handeln vorausliegende Verborgenheit zu‐ läßt. (…) Die Zeit vor der Offenbarung ist nicht durch die Verborgenheit gekenn‐ zeichnet, sondern durch das Gesetz und die Sünde. (…) Paulus denkt in seinem Of‐ fenbarungsverständnis nicht von den Dingen her, die offenbart werden - und also vorher verborgen gewesen wären -, sondern von dem Menschen unter Gesetz und Sünde, den das Offenbarungshandeln Gottes jeweils betrifft. 669 Die zentrale paulinische Stelle, die das Offenbarungshandeln Gottes zum Aus‐ druck bringt, ist Gal 1,11 ff. Paulus beschreibt hier seine Berufung zum Apostel als ἀποκάλυψις Ἰησοῦ Χριστοῦ. Sie führt zum Wendepunkt in seinem Leben: Paulus beendet seine Verfolgungstätigkeit, um das Evangelium zu verkün‐ digen. 670 Diese Offenbarung ist nach dem Bericht von Apg 9 als Erscheinung zu verstehen. Auch wenn sie in Gal 1,12 nicht explizit als solche ausgewiesen wird, kann dies auch von 1 Kor 9,1 und 1 Kor 15,8 angenommen werden und wird durch das Verb ὁράω zum Ausdruck gebracht. Offenbarungsinhalt ist Jesus Christus. Die Erscheinung Jesu Christi ist identisch mit dem Evangelium, das Paulus verkündet. 671 Er verkündigt den von ihm geschauten Christus nach Gal 2,20, 2 Kor 13,3 und Röm 1,1 mit all seiner Kraft und Identität als den Gekreu‐ zigten und Auferstandenen. Mit dieser Offenbarung lebt Paulus als einer, der Christus angezogen hat, und wird so durch das Offenbarungshandeln Gottes vom Verfolger der an Christus Glaubenden zum Verkündiger desselben. 672 Vor diesem Hintergrund spielt das Evangelium für das paulinische Offenbarungs‐ verständnis die entscheidende Rolle, „denn durch das Evangelium konfrontiert Gott auch außerhalb der Berufungsoffenbarung des Apostels Menschen mit dem für sie gestorbenen und von Gott auferweckten Christus“ 673 . In dieser Aufgabe steht Paulus im Anschluss an seine Offenbarung. IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 312 <?page no="313"?> 674 Vgl. Balz, Art. Offenbarung, 139 und Bornkamm, Offenbarung, 10. 675 Vgl. Bornkamm, Offenbarung, 11 f. Das Endgericht wird nach Röm 2,5 erst noch er‐ wartet. Folglich kann nicht allein an ein zukünftiges Geschehen gedacht sein. Auch ein Abschluss der Epoche des Gotteszornes durch das Christusgeschehen kann mit Röm 3,24 f nicht angenommen werden. Die Verbindung von Gerechtigkeit und Zorn Gottes in Röm 1,17 und Röm 1,18 heißt, „daß erst jetzt im Zeichen des Evangeliums die verlo‐ rene Welt in das Licht des ἔσχατον gerückt ist, auf das die bisherige Geschichte trotz der ἀνοχή Gottes (3,26) freilich immer schon verborgen ausgerichtet war“ (31). 676 Vgl. Balz, Art. Offenbarung, 139 und Bornkamm, Offenbarung, 32 f. 677 Vgl. 1 Kor 4,5, 2 Kor 5,10, Röm 2,5; 3,21. Vgl. hierzu auch Bornkamm, Offenbarung, 10. 678 Vgl. 1 Kor 2,10-16 und Balz, Art. Offenbarung, 139 f. 679 Balz, Art. Offenbarung, 140. 680 Balz, Art. Offenbarung, 138. 681 Balz, Art. Offenbarung, 138. 682 Vgl. Balz, Art. Offenbarung, 138. In das semantische Spektrum der Offenbarungsterminologie gehört die Of‐ fenbarung des Zorns Gottes in Röm 1-3. Neben der Offenbarung der Gerech‐ tigkeit Gottes fungiert in Röm 1,18 ff der göttliche Zorn als Inhalt der ἀποκάλυψις. 674 Er ist als gegenwärtig präsent zu denken, 675 weil die Menschen nach Röm 1,21 trotz des Wissens um Gott in Gottlosigkeit leben. Erst vor diesem Hintergrund können die Bedeutung des Heilsgeschehens, das den Menschen vom Zorn Gottes befreit, und die Unverdientheit der Glaubensgerechtigkeit er‐ fasst werden. 676 Als letzter Aspekt der ἀποκάλυψις bei Paulus muss die eschatologische Di‐ mension berücksichtigt werden. Das umfassende Heil, das durch die Evangeli‐ umsbotschaft verkündet wird, wird den Glaubenden erst in der Parusie voll‐ ständig zuteil. 677 Ἀποκάλυψις bezeichnet ein Geschehen, das nicht durch den menschlichen Verstand oder die menschliche Weisheit erschlossen werden kann, sondern allein durch das Handeln Gottes gewirkt wird. So hat jede Of‐ fenbarung, die keine Christusoffenbarung ist, etwas Vorläufiges. 678 Das gilt auch für die Prophetie, die nach 1 Kor 13 zum Bruchstückhaften gerechnet werden muss. Das durch sie verkündigte Heil wird erst mit der Parusie vollendet. „Of‐ fenbarung im eigentlichen Sinn ist für Paulus ausschließlich Heilsoffenbarung Gottes (…).“ 679 So kann für die prophetische Rede als Inhalt also auch die Ver‐ kündigung des Heilsgeschehens angenommen werden. Die paulinischen Offenbarungsaussagen „beziehen sich auf Christus und das Christusgeschehen, die Verkündigung (bzw. den Verkündiger) des Evangeliums und dadurch gewirkten Glauben sowie auf das Parusiegeschehen (…)“ 680 . Of‐ fenbarung ist v. a. in Gal 1,11 ff als „Gottes Erschließungshandeln“ 681 zu ver‐ stehen, das einen Inhalt zugänglich macht, der mit menschlicher Einsicht und Weisheit allein nicht erschlossen werden kann. 682 Der gekreuzigte und aufer‐ 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 313 <?page no="314"?> 683 Balz, Art. Offenbarung, 139. Kursiv bereits i. O. 684 Vgl. Röm 1,17, Bornkamm, Offenbarung, 9 und Balz, Art. Offenbarung, 139. 685 Vgl. Balz, Art. Offenbarung, 139. Vgl. auch Bultmann, Begriff 19 f. 686 Vgl. Wießner, Art. Offenbarung, 115. 687 Wießner, Art. Offenbarung, 110. 688 Vgl. Gott als Ursprung Mt 11,25, Gal 1,16, Phil 3,5, Christus als Ursprung Mt 11,27, Gal 1,12, Geist als Ursprung 1 Kor 2,10, Eph 3,5, als Geschehen vgl. z. B. 1 Kor 1,7, Röm 2,5; 8,9. S. dazu Grudem, Prophecy, 119.117. 689 Vgl. 1 Thess 4,15. Dies zeigt sich im AT in der Botenformel, die sich im NT z. B. in Apg 21,11 in der Form τάδε λέγει τὸ πνεῦμαν ἅγιον (das spricht der Heilige Geist) findet sowie in Offb 2,1. 8. 12.18; 3,1. 7. 14 in der Wendung τάδε λέγει, der sich eine Umschrei‐ bung für Jesus Christus anschließt. Vgl. Zeller, Korinther, 450 f. 690 In 2 Kor 12,1 führt Paulus ὀπτασία (Hapaxlegomenon bei Paulus) und ἀποκάλυψις (hier einmalig in der Pluralform) getrennt an. In 2 Kor 12,7 spricht Paulus nur noch von der Offenbarung, was eine synonyme Verwendung beider Lexeme nahe legt. Vgl. Gräßer, Korinhter 2, 181. 691 Vgl. Zeller, Korinther, 451 und Grudem, Prophecy, 136. Das AT kennt als Offenba‐ rungsmittel göttliche Engel (Gen 16,7 ff, Ex 3,2.4), die Herrlichkeit Gottes selbst ( Jes 6,3), den Geist Gottes (2 Sam 23,2), den Traum (Gen 28,10-19, Dan 2; 4; 7), das Losorakel ( Jos 7,14-19), das Schauen (1 Sam 1,22) und das Hören (Gen 22,2, Ex 3,17, 1 Sam 2,30). S. hierzu Dautzenberg, Prophetie, Kap. 1, 3 und 4. standene Christus wird für Paulus zum Inhalt seiner Verkündigung. Weil es um den dauerhaften „Heils- und Rettungswillen des einen Gottes geht“ 683 und weil durch die Verkündigung desselben die Glaubensgerechtigkeit offenbar wird, ist es notwendig, dass Paulus zu dieser berufen wurde. 684 So besteht auch weiterhin die Notwendigkeit der Verkündigung, etwa durch die prophetische Rede, ohne dass Paulus dabei selbst zum Urheber einer Offenbarung wird. 685 Die Propheten jedoch fungieren als Offenbarungsempfänger und Offenbarungsmittler. 686 Zwei weitere Aspekte sind von Interesse: Wie ist der Ursprung der Offenba‐ rung zu denken und wie deren Vermittlung? Als Urheber der Offenbarung wirkt nicht nur für das Christentum ein „nicht-menschliche[s] religiöse[s] Gegen‐ über“ 687 , wodurch die geäußerte Offenbarung an Legitimität gewinnt. In den ntl. Texten wird der Ursprung der Offenbarung entweder auf Gott, Christus, den Geist oder ein besonderes Geschehen zurückgeführt. 688 Wird Gott nicht explizit als derjenige, der die Offenbarung gewährt, genannt, so werden die propheti‐ schen Äußerungen als Worte des Herrn bezeichnet. 689 Die ntl. Schriften kennen verschiedene Mittel religiöser Offenbarung: Auditionen (2 Kor 12,4, Offb 14,13) und Erscheinungen (1 Kor 9,1; 15,8, beide Male mit ὁράω ausgedrückt, 2 Kor 12,1 690 ). Offenbarungen können sich also in Visionen, inneren Eingebungen oder Auditionen vollziehen. 691 Es kann keinesfalls sichergestellt werden, dass es sich bei der Offenbarung an den Propheten selbst um einen sprachlichen Akt handelt. Die Offenbarung des Paulus ist sich als ein visuelles Erlebnis vorzustellen. Für IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 314 <?page no="315"?> 692 Vgl. Balz, Art. Offenbarung, 132 mit Verweis auf die Homilien der Pseudoclementinen 17.19.4, die versuchen, den Widerspruch aufzulösen, damit aber zeigen, dass dieser Wi‐ derspruch konstruiert ist und im antiken Denken so nicht existiert. Friedrich, Art. προφήτης, 852 nimmt z. B. an, dass der Prophet den Offenbarungsinhalt durch das Wort empfängt und durch dieses verkündigt. Dass beide Formen in den prophetischen Be‐ rufungsberichten vorkommen zeigt Rudolf Kilian: Die prophetischen Berufungsbe‐ richte, in: Studien zu alttestamentlichen Texten und Situationen, hg. v. Wolfgang Werner und Jürgen Werlitz (SBAB 28), 56-63. 693 Ein Beispiel für eine Offenbarung, die nicht zur Mitteilung bestimmt sind, findet sich in Mt 11,25.27, Röm 1,17 f oder Phil 3,15 und in 2 Kor 12,1-6. Hier handelt es sich um ekstatische Offenbarungserfahrungen, die im Gegensatz zu 1 Kor 14,6. 26. 30 nicht auf eine öffentliche Äußerung angelegt sind. Vgl. Zeller, Korinther, 451 und Balz, Art. Of‐ fenbarung, 141. 694 Vgl. Forbes, Prophecy, 220 und Oepke, Art. καλύπτω, 587, der zeigt, dass Offenbarung nicht nur einen Inhalt impliziert, sondern auch die Mitteilung desselben. 695 So auch Oepke, Art. καλύπτω, 587 und Grudem, Prophecy, 179. die Verkündigung des Evangeliums hingegen erwarten wir einen verbalen Auf‐ trag, ebenso wie für die prophetische Rede. Es ist ein Problem der Leser der heutigen Zeit, hinter einer prophetischen sprachlichen Äußerung eine sprach‐ liche Offenbarung zu denken. In der Antike kann aus einer visionären Offen‐ barung durchaus eine verbale Äußerung resultieren; so ist für die prophetische Rede keine notwendige Trennung zwischen einem visuellen Empfang der Of‐ fenbarung und einer sprachlichen Äußerung anzunehmen. 692 Da die Prophetie als Geistesgabe bestimmt ist, die durch das πνεῦμα gewirkt ist, ist als Mittler der Offenbarung der göttliche Geist anzunehmen. Das Offen‐ barungsmittel wird aber in diesem Zusammenhang nicht konkret bestimmt und thematisiert, weil die prophetische Rede durch die verständliche Äußerung eines Offenbarungsinhaltes konstituiert wird, unabhängig davon, in welcher Form dieser empfangen wurde. Die Offenbarung ist wesentliches Kennzeichen der Sprachgabe der Prophetie. Liegt einer Rede keine Offenbarung zu Grunde, so kann es sich nicht um eine prophetische Rede handeln, sondern verweist etwa auf den Bereich der διδαχή. Durch welches Mittel dem Propheten der Offenbarungsinhalt zuteil wird, spielt dabei keine Rolle. Die prophetische Rede wird erst zu einer solchen, wenn der Offenbarungsinhalt in eine sprachliche Äußerung gefasst wird. 693 Das gilt auch für das Charisma der ἀποκάλυψις. Sie ist in 1 Kor 14 nicht auf das Wissen einer Einzelperson, sondern auf eine Mitteilung angelegt, weil Paulus vom λαλεῖν ἐν ἀποκαλύψει ausgeht. 694 Bestandteil einer Offenbarung ist nicht nur ihr Inhalt, sondern die Mitteilung desselben, die Weitergabe an die Ge‐ meinde und die Ausrichtung des Handelns auf die οἰκοδομή. 695 Auch im AT erschließt Gott sich in einer Offenbarung einer Einzelperson, einer bestimmten 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 315 <?page no="316"?> 696 Preuß, Art. Offenbarung, 127. 697 Vgl. Preuß, Art. Offenbarung, 118.127. 698 Dies stellt Bärbel Beinhauer-Köhler auch für das religionswissenschaftliche Verständnis heraus: Art. Prophet / Prophetin / Prophetie. I. Religionswissenschaftlich, in: RGG 4 6 (2003), 1693: „Prophetie ist eine Sonderform der Offenbarung“. 699 Vgl. Wayne A. Grudem: A response to Gerhard Dautzenberg on 1 Cor. 12.10, in: BZ 22 (1978), 257-259 sieht den Zusammenhang von Prophetie und διακρίσεις πνευμάτων für 1 Kor 12,10 nicht gegeben. 700 Vgl. Grudem, Prophecy, 58 ff. Gruppe oder dem gesamten Volk nie zum „Selbstzweck“ 696 , sondern immer in Bezug auf die Menschen. 697 Offenbarungen zielen also auf ein Gegenüber. Das gilt auch für die prophetische Rede. Der Offenbarungsinhalt soll der Gemeinde zugänglich gemacht werden, damit alle am Heilswissen teilhaben und so der οἰκοδομή der Gemeinde dienen. Dies muss nach 1 Kor 14 als unabdingbares Ziel für alle Charismen gelten. Es wurde v. a. mit Gal 1,11 ff deutlich, dass das Lexem ἀποκάλυψις nicht immer in Zusammenhang mit der Prophetie steht. Wer eine Offenbarung erhält, ist nicht zugleich ein Prophet. Es gibt Offenbarung ohne Prophetie, aber es gibt keine prophetische Rede ohne Offenbarung. 698 In 1 Kor 14 fungiert das Lexem ἀποκάλυψις als Bezeichnung für die prophetische Rede, für die ein kurzer zeit‐ licher Abstand zwischen Offenbarungsempfang und prophetischem Sprechen vorliegt. Die prophetische Rede im engeren Sinn findet statt, wenn der Prophet nach dem Offenbarungsempfang den Inhalt interpretiert und in der Gemeinde‐ versammlung in seine eigenen Worte fasst. Paulus widmet sich in seiner Aus‐ führung in 1 Kor 14 nicht der Frage nach dem Offenbarungsurheber und dem Offenbarungsmittel. Damit zeigt sich erneut der Fokus, den Paulus in 1 Kor 14 setzt: Im Mittelpunkt steht, dass die prophetische Rede als verständliche Rede mitgeteilt wird. Die Tatsache, dass es sich bei der Prophetie um verständlich mitgeteilte menschliche Worte handelt, macht die Beurteilung der Rede not‐ wendig. Sie ist im Folgenden Thema. (3) Von 1 Kor 14,29 her kann angenommen werden, dass zwischen der Sprach‐ gabe der Prophetie und ihrer Beurteilung ein direkter Zusammenhang be‐ steht. 699 In 1 Kor 14,29 wird das Verb διακρίνω auf die prophetische Rede be‐ zogen. Grudem stellt die Frage, ob die Beurteilung der prophetischen Rede in 1 Kor 14,29 mit dem Charisma der διακρίσεις πνευμάτων aus 1 Kor 12,10 gleich‐ zusetzen ist. 700 Es ist strittig, ob das Charisma der Beurteilung / Unterscheidung der Geister auf die Prophetie zu beziehen ist. Sicher ist jedoch, dass die διακρίσεις πνευμάτων ein Charisma ist. Sie wird ausdrücklich in die Liste der IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 316 <?page no="317"?> 701 Dagegen Aune, Prophecy, 219 f, der die διακρίσεις πνευμάτων als einen rein rationalen Vorgang sieht, nicht aber als Geistesgabe. 702 So Grudem, Response, 257. 703 Das Substantiv in Röm 12,6, 1 Kor 12,10; 13,2.8 und 14,6.22, das Verb in 1 Kor 13,9; 14,1.3.4. 5. 24.31.39. 704 Vgl. Grudem, Response, 258. 705 Ein ähnlicher Zusammenhang findet sich in 1 Joh 4,1. Hier wird jedoch auf verschiedene Geister angespielt, etwa einen göttlichen und einen dämonischen Geist. Solches ist für Paulus nicht anzunehmen. Vgl. Zeller, Korinther, 393. 706 So auch Gerhard Dautzenberg: Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund der διάκρισις πνευμάτων (1 Kor 12,10), in: BZ 15 (1971), 103. Lindemann, Korintherbrief, 267 sieht zwar keine zwingende Parallelität im Gesamtaufbau des Verses, bezieht die διακρίσεις πνευμάτων dennoch auf die Prophetie. Charismen in 1 Kor 12,10 eingereiht. 701 Dass es sich hier um eine Korrelation zwischen Substantiv und Verb handelt, ist kein Grund, zwischen beiden Versen keinen Zusammenhang anzunehmen. 702 Paulus spricht bei dem Charisma der Prophetie ebenso abwechselnd von Substantiv oder Verb, ohne damit einen Be‐ deutungsunterschied zum Ausdruck zum bringen. 703 Auch bezüglich dessen, was beurteilt werden soll, muss für beide Verse kein Unterschied angenommen werden. Grudem nimmt einen solchen aber bezüglich der Objekte an. Dem Verb διακρίνω in 1 Kor 14,29 ist allerdings kein Objekt zugeteilt. Als solches könnten die Inhalte der prophetischen Rede verstanden werden, die Propheten selbst oder aber im Blick auf 1 Kor 12,10 die ‚Legitimation’ der Rede, d. h. die ‚Geister’. Letzteres ist in 1 Kor 12,10 explizit als Gegenstand der Beurteilung zu sehen. Grudem nennt als weiteren Grund, weshalb er den Zusammenhang beider Verse ablehnt, dass es sich um unterschiedliche Personengruppen handelt, die mit der Beurteilung beauftragt sind. 704 In 1 Kor 12,10 handle es sich um eine begrenzte Anzahl an Personen, die mit diesem Charisma ausgestattet sind, während in 1 Kor 14,29 οἱ ἄλλοι die Beurteilung vornehmen. Dieser Aspekt ist unten ge‐ nauer in den Blick zu nehmen. Für einen Zusammenhang beider Charismen spricht die syntaktische Nähe von προφητεία und διακρίσεις πνευμάτων in 1 Kor 12,10. Da die Glossolalie und die ἑρμηνεία γλωσσῶν unabdingbar aufeinander zu beziehen sind, kann dies auch für die Prophetie und das ihr nachgeordnete Charisma der διακρίσεις πνευμάτων angenommen werden. 705 Es ist kein Grund erkennbar, weshalb Paulus zwischen Prophetie, Glossolalie und dem Charisma der Übersetzung eine Gabe einbaut, die nicht in diesem Zusammenhang zu verstehen ist. Zwar sind die Charismenkataloge nie in einem fest vorgegebenen Schema angeführt, den‐ noch kann die Korrelation zwischen Prophetie und διακρίσεις πνευμάτων sowie zwischen Glossolalie und ἑρμηνεία γλωσσῶν nicht geleugnet werden. 706 Ver‐ stärkt wird die Annahme durch 1 Kor 14,29: Hier wird das Verb διακρίνω direkt 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 317 <?page no="318"?> 707 Ein Zusammenhang beider Charismen wird angenommen von Schrage, Korinther 3, 159, Zeller, Korinther, 393, Wolff, Korinther, 293 und Ulrich B. Müller: Prophetie und Predigt im Neuen Testament. Formgeschichtliche Untersuchungen zur urchristlichen Prophetie, Gütersloh 1975 (StNT 10), 28. 708 Vgl. Dautzenberg, Hintergrund, 103 f. S.s. Wolff, Korinther, 292 f, der sich zwar gegen das Verständnis der διάκρισις als Deutung ausspricht, aber dennoch eine inhaltliche Beurteilung der prophetischen Worte annimmt. 709 Vgl. Müller, Prophetie, 27. Ähnlich auch Aune, Prophecy, 220 f und Wolff, Korinther, 293, der darauf hinweist, dass im gesamten NT nicht davon die Rede ist, dass die pro‐ phetische Rede von einer weiteren Person gedeutet wird. 710 Vgl. Grudem, Response, 259-265. Vgl. auch Bauer / Aland, Wörterbuch, 370 f. 711 Vgl. Zeller, Korinther, 393. Gegen Dautzenberg, Prophetie, 123-137 und Dautzenberg, Paulus, 66-68, der davon ausgeht, dass auch für die Prophetie eine Auslegung bzw. Deutung notwendig war. 712 Er ist nicht zu verstehen als ‚Geister’, so dass hier ein Charisma eingeführt wird, das zwischen einem göttlichen und dämonischen Geist zu unterscheiden hätte. Vgl. hierzu Zeller, Korinther, 393. Es geht nicht um die generelle Beurteilung von verschiedenen Geistern wie etwa in 1 Joh 4, sondern um die Beurteilung der Geistesgaben, hier im speziellen der Prophetie. Der Plural ist auch kein Hinweis darauf, dass es, wenn zwei oder drei Propheten gesprochen haben, zu einem Vergleich kam und beurteilt wurde, welche Äußerung in größerer Übereinstimmung „mit den Grundaussagen des christli‐ chen Glaubens“ (Wolff, Korinther, 293) steht. auf das prophetische Sprechen bezogen. 707 So ist anzunehmen, dass sich die διακρίσεις πνευμάτων auf die Prophetie bezieht. Wenn also das in 1 Kor 12,10 genannte Charisma in Verbindung mit der Pro‐ phetie steht, ist zu fragen, wie dieses Charisma zu verstehen ist und wer es ausübt. Dautzenberg versteht 1 Kor 14,29 dahingehend, dass bestimmte Per‐ sonen mit der Deutung der prophetischen Rede beauftragt sind. 708 Es ist jedoch wahrscheinlicher, dass es sich bei der διακρίσεις πνευμάτων um eine Beurtei‐ lung als um eine Deutung der Prophetie handelt. Dafür spricht die Semantik des Verbs διακρίνω ebenso wie die des Substantives διάκρισις: In 1 Kor 6,5; 11,29.31 und Röm 14,1 wird διάκρισις in der Bedeutung ‚etwas Beurteilen’ gebraucht. 709 Grudem hat nachgewiesen, dass beide Lexeme sowohl in der jüdischen als auch in der frühchristlichen Literatur nicht für die Deutung einer prophetischen Rede gebraucht werden. 710 Wenn διακρίνω und διάκρισις in der Semantik ‚beurteilen’ zu verstehen sind, ist zu fragen, was Gegenstand dieser Beurteilung ist. Es geht nicht darum, die Person des Propheten bezüglich seiner Lebensweise o. Ä. zu beurteilen, sondern um die Beurteilung der ‚Legitimation’, mit der der Prophet spricht; also um die Unterscheidung von wahrer und falscher Prophetie, haupt‐ sächlich jedoch um die Beurteilung der Inhalte der prophetischen Rede; 711 darauf weist auch der Plural πνευμάτων hin. Er ist analog zu 1 Kor 14,12 als Geistes‐ gaben zu verstehen. 712 Die Beurteilung der Geistesgaben muss nicht auf die der IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 318 <?page no="319"?> 713 Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 267 f. 714 So auch Merklein / Gielen, Korinther, 128. 715 Vgl. Carsten Claußen: Die Frage nach der »Unterscheidung der Geister« - Überle‐ gungen auf dem Weg zu verantwortlichen Entscheidungen, in: ZNT 4 (2001) 8, 25 716 So in Jer 6,13; 34,9; 35,1. Vgl. Oepke, Art. καλύπτω, 577. 717 Die Kriterien nach Oepke, Art. καλύπτω, 577 f. 718 Vgl. Claußen, Frage, 26. 719 Vgl. hierzu auch Grudem, Prophecy, 63 f. Prophetie eingeschränkt werden; so nimmt Lindemann an, dass auch die vorige Gabe der ἐνεργήματα δυνάμεων einer solchen Beurteilung unterliegen kann. 713 Die syntaktische Stellung in 1 Kor 12,10 legt allerdings nahe, διάκρισις in ge‐ sonderter Weise auf die Prophetie zu beziehen. 714 Das Charisma der Beurteilung der Prophetie findet sich nicht erst bei Paulus, es kommt der Sache nach bereits im AT vor, auch wenn hier kein äquivalenter Begriff für diese Tätigkeit vorliegt. 715 Die LXX gebraucht ψευδοπροφήτης, wäh‐ rend im Hebräischen kein Wort für falsche Propheten existiert. 716 Auch im AT wurden die Propheten auf ihr echtes Prophetentum hin geprüft. Kriterien hierfür waren: Unabhängigkeit (Am 7,14); Empfang der Offenbarung durch das Wort, nicht durch einen Traum ( Jer 23,28), wobei sich auch im AT mehrere Offenbarungsmethoden verbinden können und die alleinige Offenbarung im Wort die ideale Offenbarung ist, wie sie nur Mose empfing (Ex 33,11); Erfüllung bzw. Nichterfüllung der prophetischen Rede (1 Sam 3,19; 1 Kön 8,56; Jer 28,9); der Inhalt, der sich für die echten Propheten größtenteils als Unheilsbotschaft ausweist (Mich 3,5; 1 Kön 23,5) 717 sowie die Lebensführung des Propheten selbst (Ez 13,19; Jes 28,7; Mich 3,11). 718 Von den Maßstäben der atl. Prophetie führt Paulus in 1 Kor 14 keines an. Für 1 Kor kann das Kyriosbekenntnis in 1 Kor 12,3 als Maßstab gelten. Wer sich zu Jesus als dem Herrn bekennt, der weist sich als mit dem Geist Gottes begabt aus und ist zu wahrer prophetischer Rede befähigt. Nimmt man das Kyriosbekenntnis als Kriterium für die Beurteilung der Pro‐ phetie an, handelt es sich einmal um eine formale Beurteilung, die den Propheten als ‚echten’ Propheten ausweist. Dieser Aspekt liegt von der atl. Prophetie her nahe. Es muss aber doch gefragt werden, ob die Feststellung eines wahren oder falschen Propheten auch für Paulus im Zentrum steht. Die Propheten der pau‐ linischen Gemeinden waren keine Wanderpropheten, sondern in der Gemeinde ansässig. Daher ist nicht anzunehmen, dass die bereits bekannten Propheten nach jeder Rede erneut auf ihr wahres Prophetentum geprüft wurden. 719 Eine solche formale Beurteilung ist verstärkt für neue oder nicht zur Gemeinde geh‐ örende Personen denkbar. Sie kann also eine Seite des διακρινεῖν kennzeichnen. Eine zweite ist inhaltlich zu fassen und kann in Röm 12,6 ein Kriterium finden: Wer mit der Sprachgabe der Prophetie ausgestattet ist, der soll nach Röm 12,6 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 319 <?page no="320"?> 720 Vgl. Wolff, Korinther, 293, Schrage, Korinther 3, 156 f, der auch den doppelten Aspekt einer ‚formalen’ und ‚inhaltlichen’ Beurteilung sieht, ebenso wie Zeller, Korinther, 441 beide Kriterien anführt. 721 Vgl. auch 1 Thess 5,19-21. Für ‚beurteilen’ steht nicht διακρίνω, sondern δοκιμάζω. Semantisch ist zwischen beiden Verben an den genannten Stellen kein Unterschied anzunehmen. 722 Vgl. Schrage, Korinther 3, 156. 723 Vgl. Dtn 18,15-22, 1 Sam 3,19 f; 8,7, Jes 30,12. Siehe dazu auch Grudem, Prophecy, 15-20. 724 So Grudem, Prophecy, 67 und 9. Auch Maly, Gemeinde, 245 kommt zu dem Schluss, dass der Prophet das Wort „eigenverantwortlich gebraucht“ (245) und seine Rede deshalb beurteilt werden muss. Auf die Rolle des νοῦς geht Maly nicht ein. κατὰ τὴν ἀναλογίαν τῆς πιστέως (nach der Entsprechung des Glaubens) reden. 720 So besteht für die Gemeindeglieder, die mit der Beurteilung der Pro‐ phetie beauftragt sind, die Aufgabe, die prophetische Rede auch inhaltlich zu prüfen, 721 ebenso wie Paulus die Gemeinde selbst dazu auffordert, dies mit seiner eigenen Rede zu tun. Grund hierfür ist, dass auch Propheten - ungeachtet ihrer Geistbegabung - Menschen sind, die sich irren und bei der Interpretation des Offenbarungsinhaltes fehlen können. 722 Die sprachliche Äußerung kann einmal in der Person des Propheten fehlbar sein, sie kann aber auch von den Gemein‐ degliedern falsch verstanden werden. Dabei ist erneut auf den Unterschied zur atl. Prophetie hinzuweisen: Nach atl. Verständnis spricht der Prophet göttliche Worte, ohne diese vorher zu interpretieren oder zu bearbeiten. 723 Für die Pro‐ pheten, die Paulus hier im Blick hat, darf angenommen werden, dass ihre Gabe von einer göttlichen Autorität getragen wird, nicht aber, dass das aktuell Aus‐ gesprochene tatsächlich Gottes Wort ist; es ist menschliches Wort, das eine Of‐ fenbarung als Grundlage hat. Deshalb ist es legitim und hilfreich, die propheti‐ sche Rede zu beurteilen. 724 Eine Beurteilung des Gesprochenen stellt folglich keine Abwertung der Prophetie dar, etwa in dem Sinn, dass die prophetische Rede ein unsicheres Charisma wäre, das erst einer Interpretation bedarf oder zusätzlicher Prüfung unterzogen werden muss, sondern im Gegenteil: Dass die Prophetie zusätzlich von einem verständlichen Charisma ‚unter die Lupe ge‐ nommen wird’, sichert, dass der Ertrag, den die Gemeinde aus der gottesdienst‐ lichen Versammlung erhält, dem Glauben und dem Willen Gottes entspricht. Die Wahrscheinlichkeit, dass die prophetische Rede der οἰκοδομή der Gemeinde dient, kann dadurch erhöht werden. Dem Ziel ist auch das Charisma der διακρίσεις πνευμάτων verpflichtet und deshalb ist sie als positives Charisma aufzufassen, das die Prophetie unterstützt. Es bleibt die Frage, wer mit der Beurteilung des prophetischen Sprechens beauftragt ist. Grudem nimmt für 1 Kor 12,10 und 1 Kor 14,29 unterschiedliche IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 320 <?page no="321"?> 725 Vgl. oben und Grudem, Response, 258. 726 So Aune, Prophecy, 221 und Conzelmann, Korinther, 298, auch Merklein / Gielen, Ko‐ rinther neigen zu dieser Auffassung. Merklein nimmt sogar die Möglichkeit an, dass es sich hier um eine „innerprophetische“ (129) Aufgabe handelt. 727 Vgl. Grudem, Prophecy, 60-62. Schrage, Korinther 3, 156 führt beide Möglichkeiten an. Grudem, Response, 269 spricht sich für diejenigen aus, die keine Propheten sind. Dass die Propheten diese Aufgabe übernehmen, kann nur angenommen, wenn es sich um eine Deutung ihrer Rede handeln würde, nicht wenn es um eine Beurteilung geht, wie auch Grudem dies annimmt. 728 Vgl. Claußen, Frage, 29. Grudem, Prophecy, 61 f.64.66 nimmt an, dass jeder für sich die prophetische Rede prüft und dass u. a. der σοφός aus 1 Kor 6,5 eine ausgesprochene Beurteilung vornimmt. Vgl. auch Zeller, Korinther, 441. 729 So auch Wolff, Korinther, 340 und Dautzenberg, Prophetie, 285 f. 730 Die Pluralform ist als die ursprüngliche Lesart zu werten, so auch Nestle / Aland 27. Auflage. Das Lexem διάκρισις lesen a C D* F G P 0201.33.1175 pc latt sy P sa und Cl. Die Singularform kann als Angleichung an die Gabe der Prophetie, die ebenfalls im Singular verfasst ist, verstanden werden. Personengruppen an. 725 Die Geistesgaben werden grundsätzlich allen Glaub‐ enden zuteil; so ist auch das Charisma der διακρίσεις πνευμάτων eine Gabe, die potentiell allen Gemeindegliedern zukommen kann. In 1 Kor 14,29 ist von den οἱ ἄλλοι die Rede, die die Beurteilung ausführen sollen. Fraglich ist, ob es sich dabei um die übrigen Propheten handelt 726 oder ob mit der Beurteilung der pro‐ phetischen Rede alle anwesenden Gemeindeglieder beauftragt sind. 727 Grund‐ sätzlich wird man wohl davon ausgehen dürfen, dass alle Gemeindeglieder zum kritischen und reflektierten Umgang mit der prophetischen Äußerung aufge‐ rufen sind. Praktisch werden wohl kaum alle die Rede beurteilt haben, es er‐ scheint auch nicht durchführbar, wenn alle Gemeindeglieder im Gottesdienst dieser Aufgabe nachkommen. 728 Es wird sich mindestens in 1 Kor 12,10 um einen bestimmten Personenkreis gehandelt haben, der mit diesem Charisma beauf‐ tragt war. Es liegt letztlich nahe, diesen unter den οἱ ἄλλοι zu verstehen. 729 Es ist keinesfalls davon auszugehen, dass die Beurteilung der Rede jeder Einzelne für sich selbst vornimmt. Es ist, auch des Plurals διακρίσεις wegen, von meh‐ reren ausgesprochenen Beurteilungen auszugehen. 730 3.3.1.2 Prophetische Rede als ermahnender Zuspruch und Trost Paulus verweist in 1 Kor 14,3 f auf eine Vorrangstellung der Prophetie. Während der Glossolale nur sich selbst erbaut, erbaut der Prophet die Gemeinde, indem er dem Menschen οἰκοδομή, παράκλησις und παραμυθία zuspricht. 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 321 <?page no="322"?> 731 Vgl. Philipp Vielhauer: Oikodome. „Das Bild vom Bau in der christlichen Literatur vom Neuen Testament bis Clemens Alexandrinus“, in: Aufsätze zum Neuen Testament. Bd. 2, hg. Günter Klein, München 1979 (ThB 65), 87 (ThB 65) und Ingrid R. Kitzberger: Der Bau der Gemeinde. Das paulinische Wortfeld οἰκοδομή/ (ἐπ)οικοδομεῖν, Würzburg 1986 (FzB 53), 105. 732 Vgl. Thomas W. Gillespie: The First Theologians: A Study in Early Christian Prophecy, Grand Rapids, Michigan 1994, 144, Conzelmann, Korinther, 286, und Lindemann, Ko‐ rintherbrief, 299, der von einem fast synoynmen Gebrauch spricht, der παράκλησις aber eher Ermahnung, der παραμυθία eher Trost zuordnet. 733 Verstanden als Inhalt von Maly, Gemeinde, 182.199, als Funktion oder Wirkung von Lindemann, Korintherbrief 299, Dautzenberg, Prophetie, 230 f und Grudem, Prophecy, 183. 734 Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 299. Die Beziehung der drei Substantive wird unterschiedlich gesehen: Einerseits wird die οἰκοδομή als Oberbegriff geführt, 731 andererseits werden die drei Le‐ xeme als Synonyme gelesen. 732 Als Oberbegriff wird οἰκοδομή verstanden, weil sie das einzige Substantiv ist, das in der folgenden Argumentation aufgegriffen wird und so die beiden anderen Aspekte impliziert mit fortführen kann. Sprach‐ lich legt die Aneinanderreihung durch καί dies nicht nahe. In der Forschung wird nicht nur über ihre Verhältnisbestimmung diskutiert, sondern auch da‐ rüber, ob die Lexeme den Inhalt der Prophetie oder ihre Funktion bezeichnen. 733 Da die οἰκοδομή in 1 Kor 14,12.26 auf alle Charismen bezogen wird, fällt es schwer, sie in 1 Kor 14,3 als Inhalt der prophetischen Rede zu fassen. Zudem wird παράκλησις in der Charismenliste in Röm 12,8 als eigene Gabe genannt; dies ist für 1 Kor 14 nicht der Fall, woran zum wiederholten Mal ersichtlich wird, dass die Listen flexibel sind und die Charismen kein starres System bilden. Worum aber geht es Paulus zu Beginn des 14. Kapitels? Die Intention der Ar‐ gumentation liegt darin, den Vorrang der Prophetie gegenüber der Glossolalie herauszustellen. 734 Dieser liegt in der Verständlichkeit der Aussage. Das unvers‐ tändliche Sprechen hat keine Funktion für die Gemeinde. Das verständliche Sprechen hingegen erbaut diese. Aber noch mehr: Es erbaut die Gemeinde nicht nur, es ermahnt, ermuntert und tröstet sie. Die Reihung der drei Lexeme in 1 Kor 14,3 verstärkt die Bedeutung und Funktion der Prophetie und mindert die der Glossolalie, weil sie weder die Gemeinde erbaut noch ermahnt und tröstet; damit sind παράκλησις und παραμυθία als Wirkung und Ziele der prophetischen Rede zu verstehen, nicht als ihr Inhalt. Paulus hat den ‚großen’ Fokus der Argumen‐ tation, die Vorrangstellung der Prophetie, im Blick. Er bestärkt sie, indem er ihr neben der Erbauung auch παράκλησις und παραμυθία zuspricht. Das Lexem παραμυθία kommt im NT nur in 1 Kor 14,3 und in Phil 2,1 vor, das Verb in 1 Thess 2,12; 5,14 und in Joh 11,19.31. Auch in der LXX zählen Verb und Substantiv zu den selten gebrauchten Lexemen und IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 322 <?page no="323"?> 735 Das Verb kommt nur einmal vor, in 2 Makk 15,9, das Substantiv in Esr 8,13 und Weish 19,12. Vgl. Gustav Stählin: Art. παραμυθέομαι, παραμυθία, παραμύθιον, in: THWNT V (1954), 818. 736 Vgl. Georg Braumann: Art. παραμυθέομαι, in: TBLNT I (1997), 383. z. B. bei Plat. Phaed. 83a und Stählin, Art. παραμυθέομαι, 815 f. 737 Vgl. Braumann, Art. παραμυθέομαι, 383, vgl. z. B. Hom. Il 9,417 und Plat. Phaed. 70b. 738 Stählin, Art. παραμυθέομαι, 817. 739 Vgl. 1 Thess 2,12; 5,14; 1 Kor 14,3, Phil 2,1 und Stählin, Art. παραμυθέομαι, 819. 740 Zur Verzahnung beider Aspekte im NT vgl. 1 Thess 5,11, Phil, 2,1, Kol 2,2; 4,8 und Stählin, Art. παραμυθέομαι, 819. 741 Vgl. Stählin, Art. παραμυθέομαι, 819. 742 Vgl. Schmitz, Otto: Art. παρακαλέω, παράκλησις. E. παρακαλέω und παράκλησις im Neuen Testament, in: ThWNT V (1954), 795 f. 743 Vgl. 2 Kor 7,6.13, Phlm 1,7, 1 Thess 3,7 und Schmitz, Art. παρακαλέω E, 795 f. werden immer in der Semantik ‚Trost / trösten’ gebraucht. 735 Die ursprüngliche Semantik des Verbs ist ‚zu jemandem hinsprechen, ihn freundlich anspre‐ chen’. 736 Die Bedeutung entwickelt bei Homer und Platon hin zu ‚jemanden freundlich ermahnen und trösten’. 737 Beide Bedeutungslinien gehen ineinander über, weil „das Trösten in der Mahnung, das Erlittene getrost und gleichmütig zu tragen“ 738 erfolgen kann. Die Doppelung von mahnendem und tröstendem Charakter wird auch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass Paulus das Sub‐ stantiv παραμυθία und das Verb παραμυθέομαι immer in Verbindung mit παράκλησις bzw. παρακαλέω gebraucht. 739 Mahnen und Trösten gehören für Paulus zusammen, aber in einem anderen Verhältnis als in der Profangräzität. Trösten beschränkt sich dort hauptsächlich auf moralische Fingerzeige, wäh‐ rend man in den ntl. Schriften eine enge Verzahnung beider Tätigkeiten erkennt: Mahnung wird zum Trost und umgekehrt. 740 Paulus verwendet παραμυθία bzw. παραμυθέομαι nie als Trost, der direkt von Gott ausgeht, und im Gegensatz zu παρακαλέω immer ein irdisches Geschehen darstellt; das gilt auch für 1 Kor 14,3, wonach der Trost durch das Wort des Propheten an die Gemeindeglieder ergeht. 741 Das schließt nicht aus, dass Gott der eigentliche Tröster ist; das zeigt Paulus v. a. in 2 Kor 1, wenn er vom θεὸς πάσης παρακλήσεως (Gott allen Trostes) spricht. 742 In 1 Kor 14 wird nur die tröstende Funktion des Wortes the‐ matisiert, obgleich sich Trösten darin nicht erschöpft; Trost kann auch aus einer Handlung bestehen, etwa der Ankunft einer Person oder tätiger Liebe. 743 Das Lexem παράκλησις wird häufiger gebraucht als παραμυθία. Es kommt in den Paulusbriefen 18mal vor, u. a. elfmal in 2 Kor und als Charisma in Röm 12,8. Auch das Verb παρακαλέω ist mit 40 Textbelegen um ein Vielfaches häu‐ figer verwendet als παραμυθέομαι. Die Grundbedeutung ist ‚herbeirufen’, die aber durch die Bedeutungen ‚bitten, ermahnen und auffordern’ ergänzt wird. In der profangriechischen Literatur kommen beide Lexeme nur selten in der Se‐ 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 323 <?page no="324"?> 744 Vgl. z. B. Jes 40,1, Georg Braumann: Art. παρακαλέω, in: TBLNT I (1997), 381 f und Otto Schmitz, Art. παρακαλέω, παράκλησις. A. Zum griechischen Sprachgebrauch. B. παρακαλέω und παράκλησις im griechischen Sprachgebrauch, in: ThWNT V (1954), 772-776. 745 Vgl. 1 Makk 5,53, 2 Makk 2,3; 6,12; 8,16, 3 Makk 3,8 und Schmitz, Art. παρακαλέω A, 776. 746 Vgl. Schmitz, Art. παρακαλέω E, 791 f. 747 Vgl. Röm 15,4 und Schmitz, Art. παρακαλέω E, 795. 748 Schmitz, Art. παρακαλέω E, 792, i. O. nicht kursiv. 749 Vgl. Maly, Gemeinde, 246. 750 Vgl. hierzu Lk 3,18; Apg 11,23; 14,22; 15,32. Vgl. hierzu Müller, Prophetie, 37 f. 751 Ähnlich auch Roland Gebauer: Charisma und Gemeindeaufbau. Zur oikodomischen Relevanz der paulinischen Charismenlehre, in: Kirche und Volk Gottes. Festschrift für Jürgen Roloff zum 70. Geburtstag, hg. v. Martin Karrer, Wolfgang Kraus und Otto Merk, Neukirchen-Vluyn 2000, 135 und Walter Rebell: Zum neuen Leben berufen. Kommu‐ nikative Gemeindepraxis im frühen Christentum, München 1990, 115. mantik ‚trösten / Trost’ vor; für die LXX hingegen ist dieser Sprachgebrauch bestimmend. Trösten wird hier als wesentliche Aufgabe der Propheten darge‐ stellt. 744 In der Bedeutung ‚ermahnen / Ermahnung’ kommen die Lexeme v. a. in den Makkabäerbüchern vor. Es handelt sich dabei nicht um ein Trösten, sondern um ein ermahnendes und ermunterndes Zusprechen. 745 Im NT finden sich alle bisher genannten Bedeutungen. Sie lassen sich in drei Sinnlinien bündeln: In den synoptischen Evangelien bezeichnet v. a. das Verb παρακαλέω das Bitten um Hilfe, indem sich Personen mit ihren Anliegen an Jesus wenden. 746 Vom Trost ist sowohl bei Mt und Lk als auch in den paulinischen Briefen die Rede, 747 hauptsächlich aber meint παρακαλέω bzw. παράκλησις „den ermahnenden Zu‐ spruch durch das in der Kraft des Heiligen Geistes verkündigte Wort“ 748 . Der in der Offenbarung erfahrene Zuspruch, aber auch der damit verbundene An‐ spruch Gottes, kann in der prophetischen Rede den Gemeindegliedern kommu‐ niziert werden. 749 Der ermahnende Zuspruch will dazu anleiten, das Leben immer wieder am Evangelium auszurichten. Er hat damit zugleich eine ethische Funktion. Diese wird sich auch für die οἰκοδομή zeigen. Die Ermahnung ist eine Funktion und Wirkung der Prophetie, die auch über 1 Kor 14 hinaus im Ur‐ christentum nachgewiesen werden kann. 750 Paulus legt Wert darauf, die vielfältigen Wirkungsweisen der Prophetie dar‐ zustellen. Deshalb sind die beiden Lexeme nicht als Synonyme in ihrer ‚kleinsten gemeinsamen Semantik’ zu verstehen, sondern in ihrem weitesten semanti‐ schen Spektrum. Eine Übersetzung mit Ermahnung statt Ermunterung für παράκλησις kann dies besser zum Ausdruck bringen, weil der Aspekt der Er‐ munterung in beiden Bedeutungen enthalten ist, einmal als tröstender, einmal als mahnender Zuspruch. 751 Παραμυθία ist deshalb mit Trost zu übersetzen, IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 324 <?page no="325"?> 752 So Conzelmann, Korinther, 283, Schrage, Korinther 3, 375, Merklein / Gielen, Korinther, 164.17. Dagegen übersetzen Zeller, Korinther, 422.424 und Thiselton, Epistle, 1081 Er‐ munterung. 753 Vgl. Ernst Käsemann: Der Ruf zur Vernunft. 1. Korinther 14,14-20.29-33, in: Kirchliche Konflikte. Band 1, hg. v. ders., Göttingen 1982, 118. 754 Vgl. Karl O. Sandnes: Prophecy - A Sign für Believers (1 Cor 14,20-25), in: Biblica 77 (1996). Dagegen Joop F. M. Smit: Tongues and Prophecy: Deciphering 1 Cor 14,22, in: Biblica 75 (1994), 185 ff. παράκλησις mit Ermahnung. 752 Damit hat Paulus zu Beginn des 14. Kapitels nicht nur die Verständlichkeit der Prophetie betont, sondern bereits in einem weiteren Schritt die Wirkung der prophetischen Rede gegenüber der glossola‐ lischen herausgestellt: Die prophetische Rede hat die Kraft, zu ermahnen, zu ermuntern und zu trösten, indem sie den in der Offenbarung empfangenen In‐ halt der Gemeinde zugänglich macht. 753 3.3.1.3 Prophetische Rede als σημεῖον τοῖς πιστεύουσιν und ihre missionarische Wirkung auf Außenstehende In 1 Kor 14,20-25 führt Paulus eine Funktion der prophetischen Rede an, die ihr gegenüber der Glossolalie eine vorrangige Stellung verschafft: (20) Ἀδελφοί, μὴ παιδία γίνεσθε ταῖς φρεσὶν ἀλλὰ τῇ κακίᾳ νηπιάζετε, ταῖς δὲ φρεσὶν τέλειοι γίνεσθε. (21) ἐν τῷ νόμῳ γέγραπται ὅτι ἐν ἑτερογλώσσοις καὶ ἐν χείλεσιν* ἑτέρων λαλήσω τῷ λαῷ τούτῳ* καὶ οὐδ’* οὕτως εἰσακούσονταί* μου, λέγει κύριος. (22) ὥστε αἱ γλῶσσαι εἰς σημεῖόν εἰσιν οὐ τοῖς πιστεύουσιν ἀλλὰ τοῖς ἀπίστοις, ἡ δὲ προφητεία οὐ τοῖς ἀπίστοις ἀλλὰ τοῖς πιστεύουσιν. (23) Ἐὰν οὖν συνέλθῃ ἡ ἐκκλησία ὅλη ἐπὶ τὸ αὐτὸ καὶ πάντες λαλῶσιν γλώσσαις, εἰσέλθωσιν δὲ ἰδιῶται ἢ ἄπιστοι, οὐκ ἐροῦσιν ὅτι μαίνεσθε; (24) ἐὰν δὲ πάντες προφητεύωσιν, εἰσέλθῃ δέ τις ἄπιστος ἢ ἰδιώτης, ἐλέγχεται ὑπὸ πάντων, ἀνακρίνεται ὑπὸ πάντων, (25) τὰ κρυπτὰ τῆς καρδίας αὐτοῦ φανερὰ γίνεται, καὶ οὕτως πεσὼν ἐπὶ πρόσωπον προσκυνήσει τῷ θεῷ ἀπαγγέλλων ὅτι ὄντως* ὁ θεὸς ἐν ὑμῖν ἐστιν.* Die Prophetie fungiert als σημεῖον τοῖς πιστεύουσιν. Paulus knüpft damit be‐ grifflich an 1 Kor 14,8 und das Lexem εὔσημος an. Σημεῖον ist in 1 Kor 14,22 als logisches Subjekt für 1 Kor 22b zu ergänzen, 754 so dass die προφητεία als σημεῖον für die Glaubenden gesehen werden kann. Welche Bedeutung liegt in dem Lexem σημεῖον und was bringt Paulus zum Ausdruck, wenn er die Prophetie als Zeichen für die Glaubenden bestimmt? 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 325 <?page no="326"?> 755 Vgl. Karl H. Rengstorf: Art. σημεῖον, σημαίνω, σημειόω, ἄσημος, ἐπίσημος, εὔσημος, σύσσημον, in: ThWNT VII (1961), 200 ff. In der griechischen Literatur bsp. Hom. Il. 2,353. Im AT auch Ps 86,17; 74,9 und Num 14,22. 756 Vgl. Rengstorf, Art. σημεῖον, 207.209. 757 In Röm 4,11; 15,19, 1 Kor 1,22; 14,22, 2 Kor 12,12(zweimal) und 2 Thess 2,9; 3,17. 758 Rengstorf, Art. σημεῖον, 258. 759 Die Verknüpfung von Zeichen und Wundern ist bereits im AT vorgebildet (vgl. hierzu Rengstorf, Art. σημεῖον, 215 und 219 f), findet sich auch in 2 Thess 2,9 und Röm 15,19. Vgl. zu 2 Kor 12,12 und dem Ausdruck „σημεῖα τοῦ ἀποστόλου“ ausführlich Erich Gräßer: Der zweite Brief an die Korinther. Kapitel 8,1-13,13, Gütersloh 2005 (ÖTK 8 / 2), 220-223. 760 Dass die prophetische Rede als Zeichen oder Zeichenhandlung verstanden wird, ist bereits alttestamentlich. Vgl. von Rad, Theologie II, 108-111. In der griechischen Literatur und im AT wird σημεῖον vorrangig auf das Sehen bezogen. 755 So fungiert die Beschneidung in Gen 17,10 f als תוא des Bundes und wird in der LXX mit σημεῖον wiedergegeben. Σημεῖον steht auch mit dem hebräischen סנ in semantischer Nähe. Es fungiert ebenfalls als sichtbares Zei‐ chen, beispielsweise in Num 21,8 f: 756 שׂעיו השׁמ שׁחנ תשׁחנ והמשׂיו סנה־לע היהו ךשׁנ־םא שׁחנה שׁיא־תא טיבהו שׁחנ־לא תשׁחנה ׃יחו (Num 21,9) καὶ ἐποίησεν Μωυσῆς ὄφιν χαλκοῦν καὶ ἔστησεν αὐτὸν ἐπὶ σημείου, καὶ ἐγένετο ὅταν ἔδακνεν ὄφις ἄνθρωπον, καὶ ἐπέβλεψεν ἐπὶ τὸν ὄφιν τὸν χαλκοῦν καὶ ἔζη. (Num 21,9) Und Mose machte eine Schlange aus Bronze und gab sie auf eine Stange und es ge‐ schah, wenn jemanden eine Schlange gebissen hatte und er schaute auf zu der ehernen Schlange, so blieb er am Leben. (Num 21,9) Die Schlange wird demjenigen, der gebissen wurde, zum Zeichen dafür, wohin er blicken muss, wenn er durch den Biss nicht sterben will. Paulus verwendet das Lexem σημεῖον achtmal. 757 Auch hier finden sich Be‐ lege, die auf ein sichtbares Zeichen verweisen. Das gilt für Röm 4,11, wo vom σημεῖον περιτομής gesprochen wird, für 2 Thess 3,17, da auch der eigenhändige Gruß des Apostels sichtbar ist, und für 2 Kor 12,12, wo von den σημεῖα τοῦ ἀποστόλου die Rede ist. Sie sind das „Sichtbare(…), was einen Apostel als sol‐ chen (…) erkennbar macht“ 758 , nachstehend als konkrete Zeichen, Wunder und Krafttaten bestimmt. 759 Anders verhält es sich in 1 Kor 14,22. Hier kann das σημεῖον nicht als etwas verstanden werden, das mit den Augen erfasst werden kann. Die Prophetie und die Glossolalie sind ein Zeichen, 760 sie unterscheiden sich jedoch nicht darin, was sehend von anderen Menschen wahrgenommen werden kann, sondern in der Verständlichkeit ihrer Rede. Wie Merklein richtig feststellt, geht es darum, „in welcher Beziehung bzw. aufgrund welcher Voraus‐ IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 326 <?page no="327"?> 761 Merklein / Gielen, Korinther, 190. 762 Vgl. Conzelmann, Korinther, 294 f. 763 Ein Bezug von σημεῖον und Hören findet sich im AT nur in Ex 4,8. Vgl. Rengstorf, Art. σημεῖον, 210. 764 Abzulehnen ist, dass es sich generell einmal um ein positives und einmal um ein nega‐ tives Zeichen handelt. Im AT gibt es Beispiele dafür; es ist aber unwahrscheinlich, für eines Phänomen, die Sprachcharismen, von einer unterschiedlichen Bewertung auszu‐ gehen. Vgl. hierzu Schrage, Korinther 3, 409. setzungen Glossolalie und Prophetie als Zeichen dienen“ 761 . Ihre Vorausset‐ zungen bzw. ihre Kennzeichen sind, das wurde bereits deutlich, die Unverständ‐ lichkeit bzw. die Verständlichkeit. So muss der verständliche oder unverständliche sprachliche Ausdruck als σημεῖον verstanden werden, wie dies auch Conzelmann richtig darstellt. 762 1 Kor 14,22 kann dann folgendermaßen paraphrasiert werden: Die unverständliche glossolalische Rede ist ein Zeichen τοῖς ἀπίστοις, die verständliche prophetische Rede aber ist ein Zeichen τοῖς πιστεύουσιν. Für σημεῖον in 1 Kor 14 muss demnach ein Bezug zum Hören ausgemacht werden, nicht zum Sehen, wie dies für das atl. Verständnis gilt. 763 Das hatte sich bereits für das Lexem εὔσημος in 1 Kor 14,9 gezeigt. Ähnliches gilt für die zweite Belegstelle von σημεῖον in 1 Kor: ἐπειδὴ καὶ Ἰουδαῖοι σημεῖα αἰτοῦσιν καὶ Ἕλληνες σοφίαν ζητοῦσιν, ἡμεῖς δὲ κηρύσσομεν Χριστὸν ἐσταυρωμένον, Ἰουδαίοις μὲν σκάνδαλον, ἔθνεσιν δὲ μωρίαν. (1 Kor 1,22 f) Und weil / während Juden Zeichen fordern und Griechen Weisheit suchen, verkünden wir aber Christus als Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis, den Heiden aber eine Torheit. (1 Kor 1,22 f) Die Juden fordern Zeichen, dem atl. Sprachgebrauch zufolge solche, die durch das Sehen erfasst werden können. Paulus aber liefert ihnen keine sichtbaren Zeichen, sondern predigt ihnen Christus. Ein Bezug zur Unverständlichkeit der Rede ist freilich nicht angelegt. Für beide Belege von σημεῖον in 1 Kor kann aber ein Bezug zum Hören ausgemacht werden, was gegenüber den restlichen Be‐ legstellen der Paulusbriefe für 1 Kor als Besonderheit auszuweisen ist. Als konstitutiver Faktor für das Verständnis von σημεῖον für 1 Kor 14,22 konnte die Verständlichkeit aufgezeigt werden. Wofür ist nun das verständliche prophetische Sprechen bzw. das unverständliche glossolalische Sprechen ein Zeichen? 764 Der Fokus der paulinischen Argumentation liegt nicht darauf, zu zeigen, für wen die Glossolalie bzw. die Prophetie ein Zeichen ist: 1 Kor 14,22 heißt also nicht, dass die Glossolalie dem Ungläubigen ein Zeichen ist bzw. dass 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 327 <?page no="328"?> 765 Weitere Möglichkeiten, σημεῖον in 1 Kor 14 zu interpretieren liefern Joop F. M. Smit und Stephan J. Chester: Joop F. M. Smit: Tongues and Prophecy: Deciphering 1 Cor 14,22, in: Biblica 75 (1994), 175-190 sieht 1 Kor 14,21-25 als eine Argumentation, deren Zentrum in 1 Kor 14,22 liegt. 1 Kor 14,20-15 stellt seiner Ansicht nach ein vollständiges Argument dar: 1 Kor 14,20 ist nach Smit die exhortatio, 1 Kor 14,21 das iudicium, 1 Kor 14,22 die propositio, 1 Kor 14,23-25 die exempla. (178 f) Smit sieht den Unterschied zwischen Prophetie und Glossolalie darin, dass die Glossolalie ein σημεῖον ist, dass die Prophetie auf das Verb ἐλέγχω zu beziehen und als „refutation“ zu werten ist. Ersteres lässt Interpretations‐ spielräume. So kann jemand, der glossolalisches Sprechen hört, dieses unterschiedlich interpretieren. Außenstehende können zum dem Ergebnis kommen, dass die Sprech‐ enden verrückt sind, weil es von ihnen v. a. auf heidnische μανία bezogen wird. Darin liegt der Unterschied zur Prophetie. Ihre Aussage ist eindeutig und bewirkt in den an‐ wesenden Außenstehenden, dass sie die Gemeindeglieder als Glaubende wahrnehmen können, durch welche Gott selbst wirkt. Deshalb kann sie auch auf Außenstehende eine positive Wirkung haben. (189 f) Smit legt den Fokus nicht auf σημεῖον, sondern über‐ setzt: „The tongues are proper not to the believers but to the unbelievers; the prophecy, however, is proper to the unbelievers but to the believers.“ (185). Vgl. Smit, Tongues, 184-190. Anders wiederum Stephan J. Chester: Divine Madness? Speaking in Tongues in 1 Co‐ rinthians 14.23, in: JSNT 27 (2005), 417-446. Er versteht σημεῖον als positives Zeichen und argumentiert gegen die Ansicht, dass die Glossolalie auf Außenstehende eine ab‐ schreckende Wirkung hat (419). „Uninterpreted tongues are a positive sign to the out‐ sider of divine activity among the Corinthian believers, but are inadequate from Paul’s perspective as they fail to communicate the gospel.” (417, s. auch 430) Er baut seine Argumentation auf dem Verb μαίνεσθαι auf (vgl. hierzu auch weiter unten) und versteht dies als Ausweis eines göttlichen - positiven verstandenen - Wahnsinns (430). Σημεῖον ist demnach ein Zeichen für die Ungläubigen, das ihnen die Anwesenheit des göttlichen Wirkens in den Glossolalen anzeigt. (430). Dass mit diesem Verständnis die Vorrang‐ stellung der Prophetie nicht abgelöst wird, stellt auch Chester, Madness, 446 heraus. die Prophetie dem Glaubenden ein Zeichen ist. 765 So müsste nach 1 Kor 14,22 die IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 328 <?page no="329"?> 766 Dies stellt auch Merklein explizit heraus. Vgl. Merklein / Gielen, Korinther, 188 ff. 767 So Zeller, Korinther, 423.431 und Schrage, Korinther 3, 376. Auch Haubeck / Siebenthal, Schlüssel zum NT, 90 schlagen den dativus commodi bzw. incommodi vor. 768 Vgl. Merklein / Gielen, Korinther, 189. Merklein zieht zusätzlich einen dativus causae in Betracht. Ähnlich Wolff, Korinther, 335 f. 769 Zu diesem Schluss kommt auch Sandnes, Prophecy, 1-15. Sandnes fragt danach, ‚wem’ das Sprechen ein Zeichen ist und versucht den Gegensatz zwischen 1 Kor 14,22b und 1 Kor 14,24 f, nachdem die Prophetie ein Zeichen für die Glaubenden ist, aber dennoch eine Wirkung auf Außenstehende zu verzeichnen hat, zu lösen. Nach Sandnes zeigt Paulus in 1 Kor 14,23-25 die Wirkung auf Außenstehende auf; die Wirkung der Pro‐ phetie auf Glaubende ist nicht Thema (14). Sandnes stellt fest, dass die Prophetie und die Glossolalie Zeichen sind, „that are interpreted differently by insiders and outsiders“ (S. 12). Die Glossolalie ist ein Zeichen für die Ungläubigen, die Prophetie ein Zeichen für die Glaubenden. Dass auch die Glossolalie ein Zeichen für die Glaubenden und die Prophetie ein solches für die Ungläubigen sein kann, will Sandnes nicht außer Frage stellen. Es geht Paulus aber nicht darum, eine Balance zu bieten, sondern: „his aim leads him to focus upon tongue-speaking vis-à-vis outsiders and prophecy in relation to in‐ siders“ (12). Glossolalie die Ungläubigen in ihren Bann ziehen, die prophetische Rede allein auf die Glaubenden wirken. Das muss vom Gesamttenor der Argumentation her ausgeschlossen werden. Kennzeichen der prophetischen Rede ist gerade ihre Verständlichkeit und die Tatsache, dass sie von allen Menschen wahrgenommen werden kann. 766 Dennoch ist es schwierig, die beiden Dative zu fassen. Die meisten Exegeten nehmen einen dativus commodi bzw. incommodi an, 767 Mer‐ klein verweist auf einen dativus relationis. 768 Dieser bringt besser zum Ausdruck, dass es nicht um die Frage geht, für wen die Sprachgaben ein Zeichen sind. Verständlicher wird der Fokus der Argumentation, wenn man 1 Kor 14,22 pa‐ raphrasiert: Diejenigen, die glossolalisch sprechen, wirken nicht wie gläubige, sondern eher wie ungläubige; die Prophetie liefert keine Hinweis darauf, dass die Personen, die hier sprechen, ungläubig sind, sondern vielmehr darauf, dass sie Glaubende sind. Dieses Verständnis wird die nachfolgende Argumentation bestätigen. 769 Nach 1 Kor 14,22 ist die Glossolalie ein σημεῖον τοῖς ἀπίστοις, die Prophetie ein solches τοῖς πιστεύουσιν. Paulus versucht das anhand des vorangestellten Zitats aus Jes 28,11 f zu verdeutlichen; indem er sich auf die Schrift bezieht, verleiht er der Argumentation Autorität und Nachdruck. Das wurde bereits zu Beginn der Arbeit gezeigt und als wesentliche Gemeinsamkeit zwischen Paulus und Philon ausgemacht. Das Zitat in 1 Kor 14 weicht sowohl vom hebräischen 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 329 <?page no="330"?> 770 Jes 28,11 nach dem masoretischen Text: יכ ; ינעלב ; הפשׂ ; ןושׁלבו ; תרחא ; רבדי ; םעה־לא ; הזה . Jes 28,11 nach dem Text der LXX: διὰ φαυλισμὸν χειλέων διὰ γλώσσης ἑτέρας, ὅτι λαλήσουσιν τῷ λαῷ τούτῳ. Insgesamt hat das von Paulus angeführte Zitat größere Übereinstimmungen mit dem hebräischen Text als mit dem der LXX. Vgl. zur Herkunft des Zitats Schrage, Korinther 3, 378-380, zu den Fehlern des Pauluszitats Dautzenberg, Prophetie, 243 f und Maly, Gemeinde, 206-211 und den Exkurs 229-236. 771 Vgl. Willem A. M. Beuken: Jesaja 28-39. Übersetzt und ausgelegt von Willem A. M. Beuken. Unter Mitwirkung und in Übersetzung aus dem Niederländischen von Andrea Spans, Freiburg, Basel u. a. 2010 (HThKAT), 68. 772 Sonst nur bei Aquila in Ps 113,1; Jes 33,19. Vgl. A Concordance to the Septuagint and the other Greek Versions of the Old Testament. Including the Apocryphal Books. By the late Edwin Hatch and Henry A. Redpath. Assisted by other Scholars. Volume I, London 1897, 559. 773 Vgl. dazu bereits Kap. III, 4.1 774 Schrage, Korinther 3, 406, i.O. z.T. kursiv. So auch Conzelmann, Korinther, 294. 775 Vgl. Lindemann, Korinterbrief, 308. 776 Vgl. Theißen, Aspekte, 84, Merklein / Gielen, Korinther, 188 und Bruce C. Johanson: Tongues, a Sign for Unbelievers? : A Structural and Exegetical Study of 1Corinthians XIV. 20-25, in: NTS 25 (1979), 191. Er baut seine Argumentation auf einer rhetorischen Analyse auf. Wolff, Korinther, 335 versteht 1 Kor 14,23 als praktische Folgerung aus 1 Kor 14,22; Lindemann, 309 sieht in 1 Kor 14,23-25 eine Konkretion von 1 Kor 14,22, die in Form von Beispielen angeführt ist. Text als auch vom Text der LXX ab. 770 Der hebräische Text ist in der 3. Pers. Sg. formuliert, die Paulus in die 1. Pers. Sg. umformt. 771 Das Lexem ἑτερόγλωσσος findet sich weder in der LXX noch in der frühchristlichen Literatur. 772 In Jes 28,11 steht γλῶσσα ἕτερος. Auch diese Wendung findet sich sonst nur in SirProl 1,22. Der Enkel Jesus Sirachs macht dem Leser den Unterschied zwischen der hebräischen Sprache und der γλῶσσα ἕτερος, dem Griechischen, bewusst. 773 Der Grund, weshalb sich Paulus auf diese Textstelle bezieht, liegt wohl darin, dass sich in Jes 28,11 die einzige atl. Textstelle findet, die γλῶσσα ἕτερος nennt. Bevor er das Zitat anführt, hat er gezeigt, dass die Sprachgaben durch Verständlichkeit an Bedeutung gewinnen. Das atl. Zitat soll verdeutlichen, dass dies auf die Glos‐ solalie vorerst nicht zutrifft. Paulus bezieht das glossolalische Sprechen auf den Ausdruck γλῶσσα ἕτερος. Diesen legt der atl. Text allerdings nicht nahe, zumal es hier um ein „Nicht-hören-Wollen“ geht, wie auch in Ez 6,6 f, während in 1 Kor 14 das „Nicht-hören-Können“ 774 im Vordergrund steht, weil die Glossolalie un‐ verständlich ist. Von Jes 28,12 greift Paulus also nur den Schluss auf, verändert aber auch hier das Imperfekt in eine Futurform und fügt das Personalpronomen μου ein. 775 Ein gemeinsamer Nenner liegt darin, dass eine Botschaft nicht gehört wird, unabhängig aus welchem Grund. In 1 Kor 14,22a zieht Paulus eine Schluss‐ folgerung aus dem atl. Zitat: 776 So wie die Menschen nicht auf die Rede Jesajas IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 330 <?page no="331"?> 777 Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 308 und Maly, Gemeinde, 209. Ähnlich auch Mer‐ klein / Gielen, Korinther, 188. 778 Vgl. Sandnes, Prophecy, 10. Ausführlicher s. François S. Malan: The Use of the Old Tes‐ tament in 1 Corinthians, in: Neot 14 (1981), 154-157 und Koch, Schrift, 63-66. Kriti‐ scher: Richard B. Hays: The Conversion of the Imagination: Scripture and Eschatology in 1 Corinthians, in: NTS 45 (1999), 391-394. 779 Vgl. Heinrich Schlier: Art. ἰδιώτης, in: ThWNT III (1938), 217, Zeller, Korinther, 432 und Merklein / Gielen, Korinther, 191. Zu weiterführenden Überlegungen und zu Lite‐ ratur s. Chester, Madness, 418 f. 780 Dies gilt auch für Schrage, Korinther 3, 411 und Conzelmann, Korinther, 295. 781 Vgl. Zeller, Korinther, 432 und Wolff, Korinther, 335. 782 Vgl. Merklein / Gielen, Korinther, 191. hörten, werden sie erst Recht nicht auf das glossolalische Sprechen hören. 777 Analog zur Schlussfolgerung aus dem atl. Zitat in 1 Kor 14,22a formuliert Paulus 1 Kor 14,22b und stellt den Bezug zur Prophetie her, der in Jes 28 nicht angelegt ist. 778 Mit 1 Kor 14,23 greift Paulus einen neuen Gedanken auf und legt den Fokus der Argumentation auf die Wirkung der Sprachgaben auf Außenstehende. Er verlässt den Gedankengang, der auf die Unverständlichkeit bzw. der Verständ‐ lichkeit der Sprachgaben zielt, und setzt einen neuen Fokus. Paulus thematisiert in 1 Kor 14,23 erneut zuerst die Glossolalie. Sie erweckt bei dem ἰδιώτης und dem ἄπιστος den Eindruck, dass die Menschen, die sich hier versammelt haben, μαίνεσθαι sind. Bevor geklärt wird, wie das Verb zu verstehen ist, muss kurz der Frage nachgegangen werden, welche Personen unter den ἰδιῶται und ἄπιστοι zu verstehen sind. Die ἰδιῶται können nicht als die der Glossolalie Unkundigen verstanden werden, wie dies für 1 Kor 14,16 gilt. 779 Schlier sieht die ἰδιῶται dadurch gekennzeichnet, dass sie die Glossolalie nicht verstehen, wie auch dadurch, dass sie keine Gemeindeglieder sind. Er nimmt also im Wesentlichen keinen Bedeutungsunterschied zwischen ἰδιῶται und ἄπιστοι an. 780 Zeller und Wolff sehen in ἤ einen trennenden Aspekt. Wolff versteht Erstere als des christlichen Glaubens Unkundige, Zweitere als solche, die zwar vom christlichen Glauben wissen, selbst aber keine Glaubenden sind. Dies setzt voraus, dass überhaupt Personen, die nicht glauben, an der gottes‐ dienstlichen Versammlung teilnehmen dürfen. 781 Wie Merklein richtig heraus‐ stellt, liegt der Fokus beider Begriffe auf der missionarischen Situation, die einmal stärker durch die Nichtzugehörigkeit zur Gemeinde gekennzeichnet sein kann, einmal stärker durch den Nichtglauben. 782 Als übergreifender Begriff, der beide Aspekte impliziert, wird im Folgenden von Außenstehenden gesprochen. Wie wirken die Glossolalen auf diese Außenstehenden? Μαίνεσθαι wird weitgehend negativ aufgefasst, verstanden nicht in der Bedeutung von ‚Ver‐ rücktsein’ als „göttliche Besessenheit“, sondern allgemein verstanden als eine 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 331 <?page no="332"?> 783 Wolff, Korinther, 336. 784 Vgl. Chester, Madness, 420.430.446. Auch Merklein / Gielen, Korinther, 192 kann dem negativen Verständnis von μαίνεσθαι zwar folgen, zieht aber ebenso eine positive Be‐ deutung „im Sinne der göttlichen Besessenheit“ (192) in Betracht, stellt als wesentlichen Aspekt für die Unterscheidung zwischen 1 Kor 14,23 und 1 Kor 14,24 die Verständlich‐ keit heraus. 785 So auch Schrage, Korinther 3, 410. 786 Vgl. Schrage, Korinther 3, 409 f. 787 Vgl. Klauck, Engelszungen, 293, Wolff, Korinther, 335, in Anlehnung daran auch Mer‐ klein / Gielen, Korinther, 190. „negative Einschätzung“ 783 gegenüber der versammelten Gemeinde und ihrem Tun. Chester hat aufgezeigt, dass auch eine positive Bedeutung von μαίνεσθαι angenommen werden kann, und zwar im Verständnis von ‚göttlicher Inspirier‐ theit’. Er versteht μαίνεσθαι als ‚Begeisterung und inspirierte Raserei’ und als Ausweis eines göttlichen - positiven verstandenen - Wahnsinns. Damit ge‐ winnt μαίνεσθαι eine neue Bedeutung, es ist dann positiv zu verstehen, weil die Glossolalie als Ausweis eines göttlichen Wahnsinns gilt; d. h., die Außenste‐ henden gelangen zu der Erkenntnis, dass die Glossolalen und ihre Rede göttlich inspiriert sind. Die Glossolalie fungiert demnach als Zeichen für die Ungläu‐ bigen, das diesen anzeigt, dass die Glossolalen göttlich inspiriert sind. Sie kann also ebenso Ausweis des Glaubens sein wie die Prophetie. Der wesentliche Un‐ terschied zum prophetischen Reden liegt darin, dass sich für die Glossolalie keine weiteren Funktionen ergeben. Das glossolalische Sprechen kann Außen‐ stehenden zwar erkenntlich machen, dass sie durch göttliche Inspiration ge‐ wirkt ist, sie kann aber nicht selbst zum Glauben führen, das müsste Paulus, sollte dem so sein, aufzeigen, wie er es für die Prophetie tut. Ungeachtet dessen, ob μαίνεσθαι positiv der negativ verstanden wird, hat die Glossolalie nicht die Funktion, Außenstehende zum Glauben zu führen, weil sie das Evangelium nicht verständlich mitteilt. Deshalb kommt auch Chester letztlich zu dem Ergebnis, dass die Prophetie die größere Gabe ist. 784 Der negativen Wertung des Verbs und damit der Glossolalie unterliegt aber allein die Form, nicht der Inhalt der christlichen Botschaft, zumal dieser in der glossolalischen Rede nicht erkannt werden kann. 785 Würden die Gemeinde‐ glieder und alle Gemeinden allein das glossolalische Sprechen bevorzugen und fördern und kein vernünftiges Sprechen an die Außenstehenden herantragen, hätten diese ein negatives Bild von den Glaubenden. 786 Ein solches kann nicht erwünscht sein, trägt nichts zum Ziel der οἰκοδομή bei und verhindert missio‐ narisches Wirken, weil die Unkundigen und Ungläubigen von dem Gespro‐ chenen nichts verstehen können. 787 Die Glossolalie hat auf Außenstehende also keine positive Wirkung und die Glaubenden werden nicht als solche erkannt. IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 332 <?page no="333"?> 788 Vgl. Sandnes, Prophecy, 14. 789 Vgl. auch Sandnes, Prophecy, 12. Dennoch muss festgehalten werden, dass die paulini‐ sche Argumentation wirr und in ihrer Aufeinanderbeziehung der einzelnen Verse un‐ deutlich bleibt. Schrage, Korinther 3, 406 spricht deshalb von einem verunglückten Ge‐ dankengang des Paulus; Zeller, Korinther, 431 stellt dar, dass Paulus eine Argumentation anführt, um „mit allen Mitteln“ (431) den Vorrang der Prophetie herausstellen will, die aber dadurch logische Brüche mit sich bringt. Angesichts dieses Befundes, würde man erwarten, dass zwischen 1 Kor 14,22 und 1 Kor 14,23 in der Exegese ein Bruch heraus‐ gearbeitet wird. Dem ist keinesfalls so, vgl. hierzu oben. 790 Eine solche These der Korinther nimmt John P. M. Sweet: A Sign for Unbelievers: Paul’s Attitude to Glossolalia, in: NTS 13 (1966 / 67), 241 an. 791 Vgl. Zeller, Korinther, 431. Er versteht 1 Kor 14,23 als „Illustration der These“ in 1 Kor 14,22 und als extremen, besonderen Fall. Damit kann 1 Kor 14,23 am Besten erklärt werden. Vgl. auch Sandnes, Paul, 94 f. Gleiches gilt für den Inhalt der christlichen Botschaft, der von den Menschen nicht erfasst wird. Die Glossolalie ist deshalb nach 1 Kor 14,22a ein Zeichen οὐ τοῖς πιστεύουσιν ἀλλὰ τοῖς ἀπίστοις (nicht für die Glaubenden, sondern für die Ungläubigen) und hat deswegen keine missionarische Funktion. Das muss als Kernaussage von 1 Kor 14,22a.23 gewertet werden. Die Glossolalie wird von Außenstehenden als Zeichen für Unglaubende gewertet, nicht als Zeichen für Glaubende, weil sie den Glauben der Anwesenden nicht erkennen lässt und damit keinen Einfluss auf Außenstehende nimmt. Damit wurde der Fokus von 1 Kor 14,23-25 ersichtlich: Es geht darum, wie die Glossolalie bzw. die Prophetie von den Außenstehenden wahrgenommen wird. 788 Die argumentative Einheit, in der es allein um Verständlichkeit bzw. Unverständlichkeit geht, ist mit 1 Kor 14,22 zwar abgeschlossen; wenn Paulus seine Ausführung mit 1 Kor 14,22 aber beenden würde, wäre die vollständige Funktion der Prophetie, die zusätzlich zu ihrer Wirkung auf die Gemeindeglieder auch eine Wirkung auf Außenstehende hat, noch nicht entfaltet. Paulus liefert hier einen neuen Fokus, der die Funktion und Wirkung des verständlichen Sprechens zeigt. Diese nennt er in 1 Kor 14,23-25 in einer Art Nachtrag zur ausführlichen Argumentation über die Ver‐ ständlichkeit der Prophetie und die Unverständlichkeit der Glossolalie, bevor er zu den konkreten Anweisungen für die gottesdienstliche Versammlung kommt. 789 Einer möglichen Ansicht der Korinther, dass die Glossolalie ein be‐ sonderer Ausweis des Glaubens ist, wirkt Paulus entgegen. 790 Es muss sich aber nicht um einen Bezug zu einer korinthischen These handeln. Denkbar ist auch, dass Paulus keinen tatsächlichen Fall anspricht, sondern dass er in 1 Kor 14,23-25 einen Sonderfall oder Extremfall beschreibt, der dazu dient, die Funk‐ tion der prophetischen Rede vollständig darzustellen und damit alle wesentli‐ chen Unterschiede zur glossolalischen Rede aufzunehmen. 791 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 333 <?page no="334"?> 792 Die Zuordnung von 1 Kor 14,22a zu 1 Kor 14,23 und 1 Kor 14,22b zu 1 Kor 14,24 f nehmen auch Conzelmann, Korinther, 295 und Schrage, Korinther 3, 406 an. 793 Dies stellen auch Dautzenberg, Prophetie, 249, Schrage, Korinther 3, 412 f und Wolff, Korinther, 336 heraus. Sandnes, Prophecy, 9 betont stärker den Zusammenhang zur Apokalyptik und verweist auf das Verb (ἀνα)κρίνω, das neben 1 Kor 14,24 auch in 1 Kor 4,5 steht und in welchem er ein Synonym für ἐλέγχω sieht. 794 Vgl. Friedrich Büchsel: Art. ἐλέγχω, ἔλεγξις, ἔλεγχος, ἐλεγμός, in: ThWNT II (1935), 471 und Dautzenberg, Prophetie, 248. Zeller, Korinther, 432 sieht diesen Aspekt in der Übersetzung mit „überführen“ am Besten zum Ausdruck gebracht. 795 Vgl. auch Lk 3,19 und Müller, Prophetie, 40. Vgl. zwar den uneinheitlichen Gebrauch von ἐλέγχω in der LXX, aber auch hier kommt es in der Bedeutung von ‚überführen’ vor: Hi 15,6, Spr 18,17, Jer 2,19. Vgl. Büchsel, Art. ἐλέγχω 470 f. S. auch die Parallele bei Epikt. Diss. III 23.29. 796 Merklein / Gielen, Korinther, 193. Ähnlich Schrage, Korinther 3, 412. Dagegen, Zeller, Korinther, 432. 797 Zum detaillierteren Verständnis von ἀνακρίνω s. Dautzenberg, Prophetie, 248-250. 798 Merklein / Gielen, Korinther, 193 f versteht darunter die Erkenntnis, dass „bisherige Re‐ ligiosität (…) verfehlt war“ (93) und bezieht diese zurück auf 1 Kor 12,2 und die Vereh‐ rung der stummen Götzen. 799 Schrage, Korinther 3, 413. Im Gegensatz zur Glossolalie wird nun die Wirkung der Prophetie begründet. Diese entfaltet Paulus ausführlicher, in 1 Kor 14,22b.24 f. 792 Die prophetische Rede ist ein σημεῖον nicht für die Ungläubigen, sondern für die Glaubenden. Dies zeigt sich in folgenden Aspekten: Der ἰδιώτης oder ἄπιστος wird zurecht‐ gewiesen / überführt. Das Lexem ἐλέγχω ist hier in der Semantik ‚zur Umkehr auffordern’ zu verstehen. 793 Indem der Außenstehende die prophetische Rede wahrnimmt und versteht, erkennt er seine Sünden und wird zur Umkehr ge‐ rufen. 794 Damit wird eine traditionelle Funktion der Prophetie in den Blick ge‐ nommen. 795 Es ist aber nicht davon auszugehen, dass die prophetisch sprech‐ enden Gemeindeglieder den Außenstehenden ‚in die Mangel nehmen’ und ihm offenkundig seine Sünden vorhalten. „Man wird also eher davon ausgehen müssen, dass dieses richtende Geschehen nicht der unmittelbare, primäre oder gar alleinige Zweck des Prophezeiens ist, sondern dessen Folge gewesen ist (…).“ 796 Der Wechsel ins Passiv unterstützt diese Ansicht. Nachdem Paulus in 1 Kor 14,24 dargestellt hat, dass die Prophetie es ermög‐ licht, den Menschen zu überführen und zu beurteilen, 797 führt er in 1 Kor 14,25 aus, was die prophetische Rede zu leisten vermag: Sie hat die Kraft, τὰ κρυπτὰ τῆς καρδίας (das Verborgene des Herzens) offenbar zu machen. 798 Dabei ist nicht an ein eschatologisches Offenbarwerden zu denken, wie es etwa 1 Kor 3,13 nahelegt, sondern an ein Offenbarwerden in der konkreten Situation, ohne „seine eschatologische Dimension zu verlieren“ 799 . Der ἰδιώτης und der ἄπιστος werden selbst zu Glaubenden. Sie können durch die prophetische Rede sowohl IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 334 <?page no="335"?> 800 Merklein / Gielen, Korinther, 193. 801 Vgl. auch Dautzenberg, Prophetie, 252, der die Proskynese ebenfalls als Ergebnis der Offenbarung herausstellt. Dies geht einher mit der atl. Vorstellung von der Bekehrung der Heiden. Vgl. z. B. Sach 8,23 und Jes 45,14. 802 Dies stellt Schrage, Korinther 3, 413 richtig heraus. Vgl. auch Merklein / Gielen, Korin‐ ther, 194. 803 So auch Sandnes, Prophecy, 12.14 und Josef Pfammatter: Die Kirche als Bau. Eine exe‐ getisch-theologische Studie zur Ekklesiologie der Paulusbriefe, Rom 1960 (AnGr 110), 54. die Wahrheit über ihr eigenes Ich erkennen als auch die Tatsache, dass ihre „bisherige Religiosität (durchaus einschließlich der damit verbundenen Taten) verfehlt war“ 800 . Auf Grund dieser - durch die prophetische Rede ermöglichte - Erkenntnis fallen sie auf ihr Angesicht, beten Gott an und bekennen: ὄντως ὁ θεὸς ἐν ὑμῖν ἐστιν (wahrlich, Gott ist in eurer Mitte). Die Offenbarung führt also zur Proskynese des Außenstehenden und zum Bekenntnis in 1 Kor 14,25. 801 Mit 1 Kor 14,24 f beschreibt Paulus die missionarische Wirkung der prophetischen Rede, nicht etwa den konkreten Ablauf einer Bekehrungssituation oder eine Anweisung, wie eine solche sich zu vollziehen hätte. 802 Die beiden zuletzt ge‐ nannten Aspekte fänden keine plausible Einordnung in die Gesamtargumenta‐ tion des Kapitels. Paulus beschreibt auch nicht die Funktion, die die prophetische Rede auf die Glaubenden hat. Dass sie eine Funktion für die Gemeinde hat, wurde in 1 Kor 14,3 deutlich und ist auch von der Argumentation des gesamten Kapitels, die den Vorrang der Prophetie immer wieder herausstellt, weil gerade sie zur οἰκοδομή der Gemeinde beiträgt, zwingend anzunehmen. Aber Paulus liegt in 1 Kor 14,22b.24 f daran, neben den bereits angeführten Aspekten, die die Prophetie als wichtiges Charisma für die Gemeinde kennzeichnen, ihre Wirkung auf Außenstehende zu zeigen. 803 Zusammenfassung: Die prophetische Rede hat als verständliches Sprechen im Gegensatz zur Glossolalie folgende Funktionen und Wirkungen: Sie ermahnt und tröstet die Gemeinde, indem sie den Zuspruch und den Anspruch Jesu Christi den Ge‐ meindegliedern verständlich mitteilt; sie erhält durch das Charisma der διακρίσεις πνευμάτων zusätzliche Qualität, weil das Gesprochene einer Beur‐ teilung unterzogen wird, und sie hat eine positive Wirkung auf Außenstehende. Sie fungiert als Zeichen dafür, dass Glaubende sprechen; sie kann verstanden werden und lässt den Glauben der Gemeindeglieder erkennen. Das führt dazu, dass der ἄπιστος und der ἰδιώτης selbst zu Glaubenden werden, weil die pro‐ phetische Rede die Kraft besitzt, in ihnen das Verborgene ihres Herzens offenbar 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 335 <?page no="336"?> 804 Vgl. auch Sandnes, Prophecy, 14 f. 805 Vgl. Schmeller, Schulen, 145 und Tor Vegge: Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus, Berlin, New York 2006 (BZNW 134), 508 f, der Paulus anhand von 1 Kor 1-3 deutlicher als Lehrer charakterisiert als Schmeller. 806 Vgl. Schmeller, Schulen, 150. Greeven, Propheten, 16 f versteht die Lehrer als „deutlich abgegrenzte Gruppe“ (16, i. O. teilweise gesperrt), weil es sich auf Grund der Bezeich‐ nung - die aber, wie oben dargestellt, nicht einheitlich ist - um einen bestimmbaren Personenkreis handelt und weil es keinen Hinweis darauf gibt, dass alle Gemeinde‐ glieder mit der Lehre beauftragt waren. Dass dem nicht so ist, liegt schon von daher nicht nahe, weil das Lehrcharisma ja nur ein Charisma von einer Vielzahl darstellt. Auch wenn nicht alle mit dem Lehrer beauftragt sind, muss es sich nicht bereits um ein aus‐ gebildetes Amt handeln. zu machen und Glaubenserkenntnis zu wirken, so dass sie Gott anbeten. Damit ist die missionarische Wirkung und Funktion der verständlichen prophetischen Rede herausgestellt. Paulus verdeutlicht die Bedeutung der Prophetie insgesamt, indem er den Korinthern dies aufzeigt, und begründet in einem weiteren Punkt ihre Vorrangstellung. 804 3.3.2 Lehre als Vermittlung religiösen Wissens Die Lehre wird als Charisma in 1 Kor 14,6.26 genannt. In 1 Kor 14,6 steht sie zusammen mit Prophetie, Erkenntnis und Offenbarung der Glossolalie gegen‐ über. Ihre Erwähnung in 1 Kor 14,6 macht zugleich deutlich, dass es sich bei diesem Charisma um eine verständliche Sprachgabe handelt, weil ihr ein Nutzen zugesprochen wird. Deshalb ist für die Lehre, wie auch für die Prophetie, die Beteiligung und Mitwirkung des νοῦς anzunehmen. Besonders die Verbindung von διδαχή und λαλέω in 1 Kor 14,6 weist die Lehre als Sprachcharisma aus. Die Personenbezeichnung διδάσκαλος findet sich in 1 Kor 12,28.29 und in Röm 2,20. Der Befund zeigt, dass Paulus christliche Lehrer kennt. Er selbst bezeichnet sich an keiner Stelle als solchen, beschreibt sich, sein Lehrziel und das Verhältnis zu seiner Gemeinde beispielsweise in 1 Thess 2,1-12 aber im Stil eines philoso‐ phischen Lehrers. 805 Paulus weiß um eine Lehrtätigkeit auch in den Gemeinden und versteht sie als Charisma. Die Bezeichnung, wie auch die damit verbundene Tätigkeit, unterlagen noch keiner festen Begrifflichkeit. So spricht Paulus ei‐ nerseits von διδάσκαλος, kann aber auch διδάσκων (Röm 12,7) oder κατηχούμενος (Gal 6,6) verwenden. 806 Lange wurde διδάσκαλος im Sinne eines Synagogenlehrers verstanden und nicht in Bezug zur griechischen Philosophie gestellt. Als Grund dafür wurde angeführt, dass bei griechischen Lehrern jeweils das Gebiet, in dem er tätig ist, angegeben wurde. Bei Paulus findet man eine IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 336 <?page no="337"?> 807 So Karl H. Rengstorf: Art. διδάσκω, διδάσκαλος, νομο-, καλο-, ψευδοδιδάσκαλος, διδασκαλία, ἑτεροδιδασκαλέω, διδαχή, διδακτός, διδακτικός, in: ThWNT II (1935), 160. 808 Vgl. Vegge, Schulwesen, 16. 809 Vgl. Schmeller, Schulen, 129. 810 Vgl. Schmeller, Schulen, 153 f. Zwischen Timotheus und Paulus kann anhand von 1 Kor 4,14-21 aber auch ein Schüler-Lehrer-Verhältnis ausgemacht werden. Vgl. Vegge, Schulwesen, 510. 811 Die Ansicht Rengstorfs, Art. διδάσκω, 160, dass die Lehrer keine Pneumatiker sein können, weil die Propheten solche sind und zwischen Lehrern und Propheten ein Un‐ terschied bestehen muss, kann nicht geteilt werden. 812 Vgl. Schmeller, Schulen, 35 f. Zum Überblick über die Schulen in Israel und im Frühju‐ dentum s. 33-45. Hans Conzelmann: Paulus und die Weisheit, in: Theologie als Schrift‐ auslegung. Aufsätze zum Neuen Testament, München 1974 (BEvTh 65), 179 will eine Schule des Paulus erkennen, in der „man ‚Weisheit’ methodisch betreibt“. Auch Peter Stuhlmacher: Zur hermeneutischen Bedeutung von 1Kor 2,6-16, in: Biblische Theologie und Evangelium. Gesammelte Aufsätze, hg. v. ders. Tübingen 2002, 154 und Theißen, Aspekte, 344 sehen, dass Paulus als Weisheitslehrer agierte. 813 Vgl. Hans Conzelmann: Die Schule des Paulus, in: Theologica Crucis - Signum Crucis. Festschrift für Erich Dinkler zum 70. Geburtstag, hg. v. Carl Andresen und Günter Klein, Tübingen 1979, 85-96. Conzelmann nimmt an, dass Eph, Kol, 2 Thess und Past nicht von Paulus selbst verfasst worden sind, sondern in einer Schule, die von Paulus ge‐ gründet und nach seinen Tod weitergeführt wurde. solche Angabe nicht. 807 Dem ist allerdings nicht so, wenn der Lehrgegenstand aus dem Kontext ersichtlich ist. 808 Damit kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich auch zu den griechischen Philosophieschulen eine Verbindung ziehen lässt. 809 Was lässt sich über den Lehrer bei Paulus sagen? Es ist nicht bekannt, wie man christlicher Lehrer wurde. Darüber, dass Paulus bestimmte Personen in den Gemeinden als Lehrer ausbildet, gibt es keine Auskunft. Möglicherweise verstand Paulus Timotheus, Silvanus und Titus als Lehrer. Er bezeichnet Erst‐ eren als συνεργός (Gehilfen), Silvanus als ἰσόψυχος (Gleichgesinnten) und Titus als κοινωνός (Partner). Sie übernahmen ähnliche Aufgaben und standen wie Paulus im Dienst des Herrn. 810 Die Lehrtätigkeit ist als Charisma ausgewiesen und muss nach 1 Kor 12,7.11 als vom göttlichen πνεῦμα und nach 1 Kor 12,28 als direkt von Gott eingesetzt verstanden werden. Die Lehrer sind also, wie alle, denen ein Charisma zuteil wurde, Pneumatiker. 811 In wie weit das paulinische Verständnis von διδάσκαλος und διδαχή mit griechisch-römischen oder jüdischen Schulen in Verbindung gebracht werden kann und ob es eine paulinische Schule gibt, wird unterschiedlich bewertet. 812 Die zuletzt genannte Überlegung wurde von Conzelmann angestoßen. 813 Zum antiken Schulwesen sind Parallelen, aber auch gewichtige Unterschiede auszu‐ machen. Methodisch ist das Philosophiestudium vom Stil der Diatribe geprägt. 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 337 <?page no="338"?> 814 Schmeller, Schulen, 85. 815 Vgl. Schmeller, Schulen, 85 f. 816 Vgl. Röm 1,18-2,11; 8,31-39; 11,1-24, 1 Kor 4,6-25; 15,29-29 und dazu Schmeller, Schulen, 100 f. 817 Vgl. 1 Kor 4,14-21, wenn Paulus sich als Vater der Gemeinde und diese als Kinder be‐ zeichnet und Schmeller, Schulen, 180. 818 Vgl. 1 Kor 4,14-17. Vgl. Schmeller, Schulen, 158-161. 819 Vgl. Schmeller, Schulen, 161 f und Vegge, Schulwesen, 508, der von einem „überdurch‐ schnittlichen Maß an Eigenständigkeit und Schöpferkraft“ spricht. 820 Vgl. Schmeller, Schulen, 162-165. 821 Zu Bildung des Paulus vgl. ausführlich Vegge, Schulwesen, 345-492 und Schmeller, Schulen, 98-101. 822 Vgl. Schmeller, Schulen, 180-182. Der Diatribenstil kann als „sehr lebendiger, stark rhetorisch geprägter Stil“ 814 charakterisiert werden, der viele Beispiele und Vergleiche verwendet. Dieser Stil, der nicht einer bestimmten Philosophieschule oder ausschließlich diesen zugeordnet werden kann, 815 findet sich auch in den paulinischen Texten. 816 Eine weitere Parallele ist, dass es in den Philosophieschulen eine Vorrangstellung der Lehrer gibt; eine solche ist auch für Paulus gegenüber anderen Mitarbeitern erkennbar. 817 An dieser Stelle ist aber bereits zu differenzieren: Das Corpus Pau‐ linum beinhaltet Texte, z. B. 1 Kor 3,5.15, in denen Paulus eine Autorität innehat, die der eines griechisch-römischen Schulgründers entspricht; es gibt aber auch Texte, die erkennen lassen, dass Christus als Gründer zu verstehen ist und Paulus als hervorragender Lehrer. 818 Ein wesentlicher Unterschied zu den Gründern der Philosophieschulen liegt darin, dass Jesus keine Schriften hinterlassen hat. Auch die paulinischen Briefe sind nicht als solche Texte zu sehen, sondern als Gele‐ genheitsschreiben. Für Paulus selbst hat die Jesustradition den Stellenwert der Lehre eines Schulgründers. Das zeigt sich daran, dass sie für ihn große Bedeu‐ tung hat, dass er sie aber auch interpretiert und neu darlegt. 819 In seinen Briefen greift Paulus jedoch häufiger die Schrift und die kerygmatischen und bekennt‐ nishaften Traditionen auf als die Jesustradition. Da er sich selbst nicht explizit als Lehrer, sondern als Apostel versteht, ordnet er diese Aufgabe, die Weitergabe der Jesustradition, möglicherweise auch den Lehrern zu. 820 Der Vergleich mit den griechisch-römischen Philosophieschulen hat auch Grenzen. Eine zu enge Verbindung kann nicht gezogen werden, weil für Paulus nicht nachgewiesen werden kann, dass er eine Philosophieschule besucht hat. 821 Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass Gott der eigentliche Lehrer ist, nicht der Mensch, und dass die Religion demzufolge einen größeren Stellenwert ein‐ nimmt als die Ethik. 822 Ein dritter Unterschied besteht darin, dass die Mitarbeiter der Philosophieschulen nicht umherziehen, um zwischen einzelnen Gruppen, die ihrer Schule zugehören, zu vermitteln, sondern einen festen Lehrort IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 338 <?page no="339"?> 823 Vgl. Vegge, Schulwesen, 47.332.511 und Schmeller, Schulen, 153 f. Epikur beispielsweise lehrte in Kolophon, Mytilene und Lampaskos, bevor er nach Athen kam. 824 Vgl. Schmeller, Schulen, 347.351. Vegge, Schulwesen, 511 f dagegen sieht in 1 Kor 4 und 2 Kor 10-13 einen „engeren Kreis um Paulus“ (511), zudem Timotheus zu zählen ist. Er begründet dies mit dem Wechsel zwischen der Ich- und der Wir-Form. Unter Letzterer versteht Vegge eine Gruppe, die sich an die Gemeinde wendet. Vegge, Schulwesen, 513.515 nimmt anhand von 2 Kor 10-13 eine Paulusschule in Ephesus an. 825 Vgl. Schmeller, Schulen, 27. Zur Verfasserschaft des Kol s. a. Lukas Bormann: Der Brief des Paulus an die Kolosser (ThHK 10 / I), Leipzig 2012, 6-9. 826 Vgl. 1 Kor 14,31 und zur Prophetie Kap. IV, 3.3.1.1. 827 Vgl. Maly, Gemeinde, 216 und Friedrich, Art. προφήτης, 856. 828 Vgl. Grudem, Prophecy, 142 f. 829 Vgl. Friedrich, Art. προφήτης, 856. 830 Schrage, Korinther 3, 235. Vgl. dazu Röm 6,17, Gal 1,12, Röm 15,4; 16,17 und 1 Kor 4,17 und Friedrich, Art. προφήτης, 856. 831 Vgl. Grudem, Prophecy, 143. 832 Gegen Joseph Fitzmeyer: First Corinthians, New Haven, London 2008 (The Anchor Yale Bible), 467, der Prophetie und Predigt gleichsetzen will. haben. 823 Von einer Schule des Paulus kann zu seinen Lebzeiten also nicht ge‐ sprochen werden. Die deutlichsten Ansätze für eine nachpaulinische Schule finden sich in Kol und in den Pastoralbriefen. 824 Begrifflich wurde von der pau‐ linischen Schule hauptsächlich gesprochen, um das Verhältnis der authenti‐ schen Paulusbriefe zu den deuteropaulinischen Schriften zu beschreiben. 825 Was kennzeichnet also die Lehre nach paulinischem Verständnis und was markiert den Unterschied zur Prophetie? Zwischen Prophetie und Lehre kann nicht immer deutlich unterschieden werden, da auch die Prophetie lehrhafte Züge beinhaltet. 826 Ein Unterschied der beiden Sprachgaben liegt darin, dass die Lehre nicht auf einer Offenbarung beruht. 827 Keine ntl. Textstelle weist auf einen Zusammenhang zwischen Offenbarung und mit menschlichen Worten vermit‐ telte Lehre hin. 828 Während die Prophetie ihre Legitimation durch den Offen‐ barungsempfang gewinnt, ist die Lehre stärker an die Schrift gebunden und erhält durch diese ihre Richtschnur und Legitimation. 829 So kann die Lehre all‐ gemein als die „Weitergabe und Durchdringung der Tradition, Auslegung und Aktualisierung der Schriften und Verantwortung für die Paränese“ 830 gefasst werden. Auch die Anweisungen des Apostels gehören zum Inhalt der Lehre, 831 während die Prophetie einen stärker emotionalen und durchdringenden Cha‐ rakter hat. Nach 1 Kor 14,26 hat die διδαχή ihren Platz im Gottesdienst. Deshalb kann sie u. a. auch als das verstanden werden, was wir heute als Predigt fassen. 832 Das legt auch Röm 2,21 nahe. Der zentrale Aspekt ist für die Lehre, dass sie verständlich mitgeteilt wird, weil nur dann die Gemeinde erbaut werden kann. Deshalb kommt der Lehre mit der Vermittlung und Interpretation von 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 339 <?page no="340"?> 833 Vgl. 1 Kor Röm 2,12; 16,17 und 1 Kor 4,17 und Wolff, Korinther, 307. 834 Lindemann, Korintherbrief, 313. 835 Wolff, Korinther, 339. 836 Vgl. Wolff, Korinther, 338 f und Merklein / Gielen, Korinther, 203. 837 Vgl. Ulrich Heckel: Paulus und die Charismatiker. Zur theologischen Einordnung der Geistesgaben in 1Kor 12-14, in: ThBeitr 23 (1992), 129. 838 Vgl. Epiktet, Diss. III 23.29. 839 Vgl. Schmeller, Schulen, 178 f. 840 Schrage, Korinther 3, 236. Glaubensinhalten für die Gemeinde eine wichtige Funktion zu. 833 Von beson‐ derer Bedeutung ist es, sich immer wieder an diese zu erinnern und das Handeln erneut an ihnen auszurichten: ἃ καὶ ἐμάθετε καὶ παρελάβετε καὶ ἠκούσατε καὶ εἴδετε ἐν ἐμοί, ταῦτα πράσσετε· καὶ ὁ θεὸς τῆς εἰρήνης ἔσται μεθ᾽ ὑμῶν. (Phil 4,9) Was ihr auch gelernt und empfangen und gehört und gesehen habt an mir, dieses tut. Und der Gott des Friedens wird mit euch sein. (Phil 4,9) Die διδαχή meint in 1 Kor 14,26 eine „(Lehr-)Aussage“ 834 , kein Lehramt. Sie ist „nichts Spontanes, sondern vom Geist ermöglichte Reflexion von Überliefe‐ rungen“ 835 . Ebenso ist auch der Psalm zu verstehen. Auch er ist eine verständ‐ liche Sprachgabe. Man wird ψαλμός in 1 Kor 14,26 so zu verstehen haben, dass ein Gemeindeglied einen selbst geschriebenen Psalm oder einen bereits be‐ kannten mitbringt und ihn in der Versammlung vorsingt, ähnlich wie Philon dies für die Therapeuten beschreibt. 836 Wenn die restlichen Gemeindeglieder in den Refrain einstimmen, wird mit Hilfe eines sprachlichen Elements ein Ge‐ meinschaftsgefühl erzeugt, wie sich dies auch für Philon gezeigt hat. 837 Interes‐ sant ist die Beobachtung, dass das Lernen der Gemeinde wichtiger ist als das des Einzelnen. Wenn etwa in den Philosophenschulen ein Lehrer seinen Schülern ihre Fehler vor Augen führte, 838 so üben in den paulinischen Gemeinden die Propheten gegenüber den Gemeindegliedern diese Funktion aus mit dem Ziel, dass dadurch die Gemeinde erbaut wird. 839 Im Gegensatz zur Prophetie kennzeichnet die Lehre stärker ein „transsitua‐ tiver Charakter“. 840 Sie ist weniger stark von einer bestimmten Situation ab‐ hängig und hat allgemeinere, übergreifendere Themen zum Inhalt als die Pro‐ phetie. Dies zeigt 1 Kor 4,17: διὰ τοῦτο ἔπεμψα ὑμῖν Τιμόθεον, ὅς ἐστίν μου τέκνον ἀγαπητὸν καὶ πιστὸν ἐν κυρίῳ, ὃς ὑμᾶς ἀναμνήσει τὰς ὁδούς μου τὰς ἐν Χριστῷ [Ἰησοῦ], καθὼς πανταχοῦ ἐν πάσῃ ἐκκλησίᾳ διδάσκω. (1 Kor 4,17) IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 340 <?page no="341"?> 841 Vgl. Schrage, Korinther 3, 236. 842 Vgl. 1 Kor 7,10; 9,14; 11,23 und 1 Thess 4,15. Vgl. Greeven, Propheten, 20. 843 Vgl. Bultmann, Begriff, 13. Deswegen habe ich Timotheus geschickt, der mein geliebtes und treues Kind im Herrn ist, der euch an meine Wege in Christus [ Jesus] erinnern wird, wie ich sie lehre überall in jeder Gemeinde. (1 Kor 4,17) Paulus hat allen Gemeinden dasselbe gelehrt. Die Lehre hat also einen Inhalt, der nicht nur für eine Gemeinde oder eine Situation bestimmt ist und auf einer konkreten Offenbarung beruht, sondern besitzt einen allgemeingültigen, dau‐ erhaften Charakter. 841 So ist für 1 Kor 14,37 anzunehmen, dass die Korinther gewusst haben, was unter dem ἐντολὴ κυρίου zu verstehen ist. Durch die Schrift und die Tradition gewinnt die Lehre über konkrete Situationen hinaus an Be‐ deutung. 842 Damit wird der Lehre im Gegensatz zur Prophetie auch nicht die Funktion zuzuschreiben sein, dass sie ein Wissen vermittelt, dass die Kraft hat, die Gegenwart Gottes zu fassen, wie dies für die prophetische Rede in 1 Kor 14,24 f beschrieben ist. 843 Die διδαχή vermittelt also stärker ein rationales Wissen, das die Anwesenheit Gottes nicht unmittelbar erfahren lässt. Zusammenfassung: Die διδαχή ist eine verständliche sprachliche Äußerung, die als Charisma ausgewiesen ist. Durch sie wird deutlich, dass durch verständliche Äußerungen ein bestimmter Lehrinhalt vermittelt werden kann. Als solcher ist v. a. die Schrift anzunehmen, aber auch kerygmatische und bekenntnishafte Traditionen sowie Anweisungen des Apostels. Auch die Lehre gewinnt ihre Funktion erst dadurch, dass sie verständlich artikuliert wird, so dass die Gemeindeglieder den Inhalt des Gesagten verstehen. Dann können die Gemeindeglieder ihr religiöses Wissen erweitern, sich wieder-erinnern und ihr Leben und Handeln neu daran ausrichten, so dass die Lehre zur Erbauung der Gemeinde beiträgt. Der wesent‐ liche Unterschied zur Prophetie liegt darin, dass die Lehre nicht auf einer Of‐ fenbarung beruht, einen übergreifenderen Charakter hat und nicht unmittelbar eine missionarische Funktion einnimmt. Ihre Wirkung zielt auf die Vermittlung von Glaubensinhalten in der Gemeinde. Damit erweist sie sich als nützliches Charisma, das der Erbauung der Gemeinde dient. 3.3.3 Erkenntnis als Inhalt verständlichen Sprechens Die Erkenntnis bzw. die Erkenntnisrede wird in 1 Kor 14,6 als nützliches Cha‐ risma ausgewiesen. Es dient auf Grund seiner Verständlichkeit ebenfalls der Erbauung der Gemeinde. (1) Zuerst ist zu klären, was Erkenntnis für Paulus 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 341 <?page no="342"?> 844 Vgl. Mk 5,29, Lk 8,46 (spüren), Mk 8,17; 12,12, Mt 26,10, 2 Kor 2,4 (merken), Lk 7,39, Mt 12,15, Gal 3,7 (erkennen), Mt 10,26, Phil 4,5 (kundtun), Mk 5,43, Lk 9,11, Phil 1,12; 2,19 (erfahren), Mt 24,50, Lk 2,43; 16,4, Joh 2,23 (wissen), Mt 25,24, Lk 16,15, Röm 2,18; 7,1 (kennen), Lk 18,34, 1 Kor 14,9 (verstehen). Bultmann nennt auch 1 Kor 14,7. Hier kann γινώσκω auch mit ‚erkennen‘ übersetzt werden. Vgl. Bultmann, Art. γινώσκω, 703, eine ähnliche Aufstellung bieten auch Ernst D.Schmitz / Klaus Haacker: Art. γινώσκω, in: TBLNT 1 (1997), 355. 845 Vgl. Bultmann, Art. γινώσκω, 697 f und die dort genannten Belege. 846 Vgl. Schmitz / Haacker, Art. γινώσκω, 354. 847 Vgl. Spr 24,26, Sir 1,19 und Bultmann, Art. γινώσκω, 699. 848 Vgl. Schmitz / Haacker, Art. γινώσκω, 354. 849 Vgl. Röm 2,18; 10,19, Gal 2,9 und Bultmann, Art. γινώνσκω, 705. heißt und wie der Bezug zu den Sprachgaben zu charakterisieren ist. (2) An‐ schließend kann der Zusammenhang von Erkennen und Liebe aufgegriffen werden, der zum einen die ethische Ausrichtung der Erkenntnis zeigt, zum an‐ deren den Wert der Erkenntnis mindert und die Liebe betont; hier ist der bruch‐ stückhafte Charakter der γνῶσις aufzuzeigen; (3) abschließend ist das paulini‐ sche Verständnis von γνῶσις kurz in Bezug zur Gnosisbewegung einzuordnen. (1) In welchem Zusammenhang stehen Erkenntnis und Sprachgaben? Das Substantiv γνῶσις und das Verb γινώσκω werden hauptsächlich außerhalb der Charismenlehre gebraucht und im NT in vielfältigen Kontexten und unter‐ schiedlichen Bedeutungen verwendet: Zum einen in einem alltäglichen Kontext; hier weist das Verb die Bedeutungen ‚spüren, merken, erkennen, kundtun, er‐ fahren, wissen, kennen oder verstehen’ auf. 844 Das Substantiv, das Paulus 19mal verwendet, führt im Wesentlichen die Linie des profangriechischen Sprachge‐ brauchs fort. Aber auch das atl. γνῶσις-Verständnis findet im ntl. seinen Nie‐ derschlag: In der LXX wird das Lexem verwendet, um die Schuld von Menschen zu bekennen und anzuerkennen und die Unschuld Gottes zu bezeugen, aber auch um das Handeln Gottes oder Gott selbst zu erkennen. 845 Darin liegt der wesent‐ liche Unterschied zum profangriechischen Gebrauch. Die atl. Texte sind nicht auf den theoretischen Erkenntnisvorgang fokussiert, sondern auf das konkrete Gegenüber bezogen und auf eine Beziehung angelegt. 846 Da die γνῶσις wie im AT als Besitz des Menschen, den er von Gott erhalten hat, verstanden wird, 847 bleibt Erkennen auf Gott ausgerichtet und auf sein Offenbarungshandeln ge‐ genüber den Menschen angewiesen. 848 Im NT werden v. a. die Einsicht in den Gotteswillen und die Aspekte der Anerkennung und der Dankbarkeit, bei Paulus aber auch ein skeptischer Charakter stärker betont. 849 Er verwendet das Sub‐ stantiv immer in religiöser Konnotation. Das Verb, das 43mal gebraucht wird, deckt ein größeres semantisches Spektrum ab, das zudem nicht ausschließlich religiös konnotiert ist. In 1 Kor 12,8 und 14,6 wird γνῶσις als Charisma be‐ IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 342 <?page no="343"?> 850 Vgl. Zeller, Korinther, 392, der die Zuordnung nicht inhaltlich, sondern als eine „Art Qualitätsbezeichnung“ versteht. 851 Vgl. Haacker, Klaus: Der Brief des Paulus an die Römer. 3. verbesserte und erweiterte Auflage, Leipzig 2006 (ThHK 6), 49. 852 Vgl. Hans Conzelmann: Grundriß der Theologie des Neuen Testaments. 4. Auflage, be‐ arbeitet von Andreas Lindemann, Tübingen 4 1987 (UTB 1446), 271 853 Vgl. Haacker, Art. γινώσκω, 53, Karl M.Woschitz,: Art. Erkenntnis (NT), in: Bibeltheo‐ logisches Wörterbuch. Vierte, völlig neu bearbeitete Auflage, herausgegeben in Ge‐ meinschaft mit Johannes Marböck und Karl M. Woschitz v. Johannes B. Bauer, Graz, Wien, Köln 4 1994, 138 f und Hahn, Theologie I, 228 f. 854 Vgl. Wilckens, Römer 1, 121. 855 Vgl. Wilckens, Römer 1, 147. 856 Vgl. Haacker, Römer, 73. stimmt. In 1 Kor 14,6 weist er es durch die Verbindung mit dem Verb λαλέω als solches aus und in 1 Kor 12,8 durch die Verbindung mit λόγος. Dass γνώσεως als Genitiv zu λόγος steht, kann erst einmal als formale Zuordnung verstanden werden, 850 die zeigt: Erkenntnis kann in Worte gefasst werden. Wenn γνῶσις also versprachlicht werden kann, ist zu fragen, was Paulus unter γνῶσις versteht und was in der Erkenntnisrede mitgeteilt werden kann. Eine erste Annäherung liefern Röm 1,18-32 und Röm 2,17-20. In Röm 1,18-3,20 stellt Paulus immer wieder die Sündhaftigkeit der Menschen heraus und thematisiert in diesem Zusammenhang die Erkenntnis Gottes; diese Aus‐ führungen schließt er in Röm 1,18 mit ὀργὴ θεοῦ als Gegenbegriff zu σωτηρία in Röm 1,16 an. 851 In Röm 1 wird die Möglichkeit, Gott durch die Schöpfung zu erkennen, vorgestellt. 852 Gotteserkenntnis wird hier in einem kosmolo‐ gisch-weisheitlichem Ansatz verortet. Dahinter verbirgt sich die Idee, dass alle Menschen Gott erkennen können, weil sie die Schöpfung sehen, auch die Heiden. Die richtige Antwort auf die Erkenntnis hätte darin gelegen, Gott zu danken, zu loben und ihn zu verherrlichen. Durch Sünde, für die Paulus in Röm 1,23-31 eine Reihe von Beispielen nennt, wurde das verhindert, was nach Röm 1,20 ἀναπολόγητος (unentschuldbar) ist. 853 In Röm 2,17-20 führt Paulus eine zweite Möglichkeit der Gotteserkenntnis an. Die Ausführungen sind Teil des Komplexes Röm 2,1-29, der die Sünde der Juden zum Thema hat. Röm 2,7 wird durch die Anrede im Stil der Diatribe ein‐ geleitet und ist von da an direkt an die Juden gerichtet, während Paulus Röm 2,1-16 allgemeiner gestaltet und vom Menschen an sich spricht, der anderen Sünde vorwirft, selbst aber ebenso sündigt. 854 Röm 2,17-20 sind von der εἰ-Kon‐ struktion in Röm 2,17 abhängig. In Röm 2,21 verändert sich die Konstruktion. Es stehen zwei Fragen, die anklagenden Charakter haben und sich bis Röm 2,23 fortsetzen. 855 Im Zentrum der Argumentation steht das Lexem νόμος. 856 Paulus bezieht sich auf die Möglichkeit zur Gotteserkenntnis der Juden. Sie können 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 343 <?page no="344"?> 857 Conzelmann liest diesen Text vor dem Hintergrund der frühjüdischen Weisheitsvor‐ stellungen: 1 Kor 2,6 ff bezieht er auf die Vorstellung von der verborgenen Weisheit. Sie findet sich auch in Hiob 28,1-11, in Sir 1,1-15, syrBar 3,9-4,4 und SapSal 9,13-18 und ist dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch versucht, die Weisheit zu erforschen, ohne dass sie ihm wirklich zuteil wird. Die Weisheit wird von Gott gefunden und an die Menschen verliehen. Sie kann nur von Weisen zugänglich gemacht und erkannt werden. Als solche bestimmt Conzelmann für 1 Kor 2,6 die Vollkommenen (vgl. Con‐ zelmann, Weisheit, 185). In 1 Kor 1,18 begegnet die Vorstellung von der entschwun‐ denen Weisheit, die sich auch in äthHen 42, syrBar 48,36 und 4 Esr 5,9 f findet. Die Weisheit, die in die Welt kam, wurde nicht angenommen und hat sich zurückgezogen; sie kommt zwar erneut und bietet sich an, allerdings nur einem auserwählten Kreis (vgl. Conzelmann, Weisheit, 182). Röm 10,6 ff formuliert Paulus in Anlehnung an die jüdische Vorstellung von der nahen Weisheit. Die Weisheit ist auf Erden unter den Menschen und spricht den Menschen selbst an, wurde von Gott erschaffen und deshalb auch als seine Gefährtin bezeichnet (vgl. Conzelmann, Weisheit, 188). Das paulinische Weis‐ heitsverständnis ist aber auch zur jüdisch-hellenistischen Weisheitsvorstellung bei Philon in Verbindung zu setzen (vgl. Sellin, Geheimnis, 79). Zur Beziehung zwischen Röm 1 und 1 Kor 1 vgl. Heinrich Schlier: Die Erkenntnis Gottes nach den Briefen des Apostels Paulus, in: Besinnung auf das Neue Testament. Exegetische Aufsätze und Vor‐ träge II, hg. v. ders., Freiburg, Basel u.a 1964, 319-339. Gott durch das Gesetz erkennen. Die Juden kennen das Gesetz und damit den Willen Gottes, aber auch sie versagen. Deshalb ist ihnen die Gotteserkenntnis verwehrt; damit wird zugleich der skeptische Blick von Paulus gegenüber der γνῶσις deutlich. Die beiden jüdischen Vorstellungen, Gott durch die Schöpfung und das Gesetz zu erkennen, führen nicht zu Erkenntnis. Eine neue Dimension des Erkennens zeigt Paulus in 1 Kor 1,18-2,16 auf. 857 Insbesondere der letzte Abschnitt, 1 Kor 2,6-16, ist dafür aufschlussreich. Die Argumentation ist Teil der Ausführungen von 1 Kor 1,10-4,21, in denen Paulus die Gemeinde zur Einheit ermahnt. In 1 Kor 1,17 macht Paulus den Korinthern deutlich, dass er von Christus gesandt wurde, um das Evangelium zu predigen. Das wird in 1 Kor 1,18-25 als das Wort vom Kreuz konkretisiert. Obwohl Paulus in Schwachheit zu den Korinthern kommt, erweist er sich als ihr geistiger Führer, der den göttlichen Heilsplan kennt, und der den Menschen die göttliche, nicht die menschliche Weisheit verkündet. Beide ‚Arten’ der Weisheit werden in 1 Kor 2,7 einander gegenübergestellt. Die göttliche Weisheit wird in 1 Kor 2,4 als in einem Geheimnis verborgen und von Gott vorherbestimmt näher charak‐ terisiert. An dieser Stelle arbeitet Paulus mit Mysterienvokabular, wie auch in 1 Kor 14,2. Das Mysterienvokabular macht deutlich, dass es Grenzen dessen gibt, was in der zwischenmenschlichen Kommunikation ausgesprochen werden kann bzw. soll. Geheimnisse gehören in einen religiösen Bereich, dem man mit Zu‐ rückhaltung begegnet. Dies zeigt die Tatsache, dass in den paulinischen Briefen auf knappen Raum ein Vokabular verwendet wird, das inhaltlich unbestimmt IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 344 <?page no="345"?> 858 Auch bei Horaz zeigt sich, dass nicht über alles gesprochen wird bzw. werden soll. Vgl. Horaz, Oden III 1,2: favete linguis (Schweigt andachtsvoll). 859 Sellin, Geheimnis, 84. 860 Vgl. Sellin, Geheimnis, 84. 861 Vgl. Jannes Reiling: Wisdom and Spirit. An Exegesis of 1 Corinthians 2,6-16, in: Text and Testimony. Essays on New Testament and Apocryphal Literature in Honour of A. F. J. Klijn, hg. v. Tjitze Baarda, A. Hilhorst u. a., Kampen 1988, 203. 862 Vgl. Weish 7,21-30; 9,13-18. 863 Vgl. auch Röm 8,27 und Reiling, Wisdom, 205 f sowie Bultmann, Theologie, 206. 864 Vgl. Markschies, Gnosis, 11 und Stuhlmacher, Bedeutung, 158. S. auch Phil. Abr § 39 f und Mut § 6.56 und Plat. Nom. IV 716c. Zum Verständnis und der Entwicklung des ὅμοιον ὁμοίῳ-Prinzips von der vorparmenidischen Philosophie bis zur Sophistik s. die Untersuchung von Carl W. Müller: Gleiches zu Gleichem. Ein Prinzip frühgriechischen Denkens, Wiesbaden 1965 (KPS 31). 865 Vgl. Hahn, Theologie II, 278. 866 Lindemann, Korintherbrief, 70. Vgl. auch Gärtner, Idea, 218. bleibt. 858 In 1 Kor 2,8 wird deutlich, dass die göttliche Weisheit von den Herr‐ schern dieses Zeitalters (ἄρχοντες τοῦ αἰῶνος) nicht erkannt wurde; denn: Wenn sie die Weisheit Gottes erkannt hätten, hätten sie Christus nicht gekreu‐ zigt. In der Kreuzigung des κύριος τῆς δόξης aber besteht der göttliche Heils‐ plan. Die Herrscher der Welt sind „in ihrer Unwissenheit zu Erfüllungsgehilfen des weisen Ratschlusses Gottes geworden“ 859 . Dadurch, dass sie die göttliche Weisheit nicht erkannt haben und mit ihrer menschlichen Weisheit auch nicht erkennen konnten, haben sie die Erkenntnis und das damit verbundene Heil ‚verpasst’, gleichzeitig aber den göttlichen Heilsplan erfüllt. 860 Auf die Weisheit als vorherbestimmtes Geheimnis geht Paulus nicht weiter ein. 861 Stattdessen wird ab 1 Kor 2,10 das πνεῦμα in die Argumentation eingebracht. Die Vorstel‐ lung, dass das πνεῦμα Erkenntnis wirkt, findet sich auch in der frühjüdischen Weisheitsliteratur. 862 1 Kor 2,10 enthält die für die weitere Argumentation we‐ sentlichen Aspekte: ‚Uns’, den Glaubenden, hat Gott die Weisheit, die die Herr‐ scher dieses Äons nicht erkannt haben, offenbart und zwar - eingeleitet mit der Präpositionalangabe δία - durch das πνεῦμα. Der Geist, der durch kein Attribut näher bestimmt wird, ist als der göttliche Geist zu verstehen, 863 weil die Glaub‐ enden nach 1 Kor 2,12 nicht den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott empfangen haben; auch dann erst wird die Analogie in 1 Kor 2,11 verständlich, bei der sich Paulus auf das antike Denkmuster bezieht, nachdem Gleiches nur durch Gleiches erkannt werden kann: 864 Der menschliche Geist kann allein den Menschen erforschen und zu menschlicher Weisheit gelangen; 865 der göttliche Geist aber kann nach 1 Kor 2,11 ff das erkennen, was ‚Gottes ist’, die göttliche Weisheit bzw. das Wort vom Kreuz; er ist „das Mittel, das dem Menschen das Erkennen (und Annehmen) des Gnadengeschenks ermöglicht“ 866 . Damit liegt in 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 345 <?page no="346"?> 867 Vgl. auch Schlier, Erkenntnis Gottes, 338. 868 Für diese Wendung ist kein gnostischer Hintergrund anzunehmen. Sie kann vielmehr von Dan 2,22, syrBar 14,8 f, äthHen 63,3, syrBar 14,9 und 1 QS 11,18 f her erklärt werden. Vgl. hierzu Schrage, Korinther 1, 257, Stuhlmacher, Bedeutung, 157 und Wolff, Korin‐ ther, 58. Dass das Bild von der Tiefe einer transzendenten Macht nicht allein in gnos‐ tischen Texten und jüdischen Texten ein beliebtes Sprachbild ist, zeigen zwei Belege in Papyri aus hellenistischer Zeit (PGM 6,978 und PGM 12,155-158). 869 Vgl. Horn, Angeld, 270. 870 Stuhlmacher, Bedeutung, 152 f. 871 Vgl. Stuhlmacher, Bedeutung, 151. 1 Kor 1,16-31 ist ein Beispiel für die Erwählung und Gründung der korinthischen Gemeinde. 872 Vgl. Stuhlmacher, Bedeutung, 152. Gegen Conzelmann, Weisheit, 184, der 1 Kor 2,6 ff nicht sinnvoll in den Kontext eingebettet sieht. der Offenbarung durch den Geist die wesentliche Erkenntnisvoraussetzung, aber auch ihre Grenze: 867 Was Gott durch seinen Geist nicht offenbart, bleibt den Menschen verborgen, weil der Mensch von sich aus nicht in der Lage ist, die Tiefen Gottes zu erforschen. 868 Schon von daher, dass das πνεῦμα Erkenntnis wirkt, ist der Zusammenhang zu den Charismen einleuchtend, da auch diese geistgewirkte Gaben sind. Paulus legt den Fokus auf das πνεῦμα als Grund und Mittel der Offenbarung, der die Erkenntnis des Wortes vom Kreuz und der gött‐ lichen Weisheit ermöglicht. 869 Es ist abzulehnen, dass es sich bei diesen beiden Begrifflichkeiten um unter‐ schiedliche Lehrinhalte handelt: 1 Kor 2,6-16 steht im Anschluss an die Aus‐ führungen zu 1 Kor 1,18-25, dem Wort vom Kreuz. In diesem Abschnitt wird das Evangelium als Wort vom Kreuz und Gottes Macht zur Rettung der Men‐ schen der Weisheit der Welt gegenübergestellt. Letzteres Denken findet mögli‐ cherweise in der korinthischen Gemeinde besonderen Anklang und versteht die christliche Lehre als ein Wissen, „mit dessen Hilfe sie meinten, sich aus eigener religiöser Kraft zu Gott emporschwingen und ihn preisen zu können“ 870 . Neben dem Kontext zeigt auch der ähnlich gestaltete Aufbau der Argumentation, dass 1 Kor 2,6-16 im Anschluss an die Argumentation in 1 Kor 1,18-25 steht: 1 Kor 1,18a wird durch 1 Kor 1,19-22 erklärt, 1 Kor 1,18b durch 1 Kor 1,23-25. 871 1 Kor 2,6b wird in 1 Kor 2,7-9 erläutert, 1 Kor 2,6a in 1 Kor 2,10-16. Die Argumenta‐ tion ist strukturiert aufgebaut, die Thematik wird zuerst benannt und anschlie‐ ßend ausgeführt. Im Unterschied zu 1 Kor 1 wird die Erläuterung in 1 Kor 2 chiastisch entfaltet. Die Stichworte σοφία, σταυροῦν, πνεῦμα, γινώσκω, εἰδέναι und μωρία werden erneut aufgegriffen, so dass auch die Wortwahl einen the‐ matischen Zusammenhang zwischen 1 Kor 1,18 ff und 1 Kor 2,6 ff erkennen lässt. 872 Nimmt man die Begriffe τέλειος, μυστήρια und δόξα, die in 1 Kor 2,6 ff vorkommen, hinzu, so zeigt sich, dass Paulus hier Mysterienvokabular ver‐ wendet. Das in 1 Kor 2,1 erwähnte Geheimnis Gottes wird in 1 Kor 2,2 als der IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 346 <?page no="347"?> 873 Stuhlmacher, Bedeutung, 152. So auch Willis, Mind, 116 f, Gärtner, Idea, 216.219, Hein‐ rich Schlier: Kerygma und Sophia. Zur neutestamentlichen Grundlegung des Dogmas, in: Die Zeit der Kirche. Exegetische Aufsätze und Vorträge, hg. v. ders., Freiburg 1956, 229, Reiling, Wisdom, 204.207.210, Richard A. Horsley: Gnosis in Corinth: I Corinthians 8. 1-6, in: NTS 27 (1980 / 81), 50 und Florian Voss: Das Wort vom Kreuz und die mensch‐ liche Vernunft: eine Untersuchung zur Soteriologie des 1. Korintherbriefes, Göttingen 2002 (FRLANT 199), 63. Anders: Weiß, Korintherbrief, 53, er denkt an „eine Weisheit, die etwa in der Art der Philosophie letzte Fragen und Untiefen des Daseins ergründet“. Theißen, Aspekte, 367, bezieht die Vollkommenen auf das τέλειοι in 1 Kor 13,10. Er unterscheidet zwischen der „Anfangspredigt“ (369), von der alle Christen ergriffen werden und einer Offenbarungsrede für die Vollkommenen bzw. die „Pneumatiker im vollen Sinn“ (369). Theißen geht davon aus, dass beide Glaubenden von der Kreuzes‐ botschaft ergriffen werden, nimmt auch keine Unterscheidung des Inhalts an, dieser sei im Kreuzeslogos bestimmt, aber er unterscheidet das Bewusstsein der Glaubenden. Nur der Vollkommene „durchschaut die unbewußten Zusammenhänge, in welche die Kreu‐ zespredigt hineinwirkt“ (381). 874 Bultmann, Theologie, 178.184 f, liest 1 Kor 2,6-16 in Bezug auf die Mysterienreligionen und nimmt an, dass in 1 Kor 2,8 gnostisches Gedankengut verarbeitet wurde. Über‐ nommen haben diese Ansicht Ernst Käsemann: Predigtmeditationen. 1. Korinther 2,6-16, in: Exegetische Versuche und Besinnungen. Erster Band, hg. v. ders., Göttingen 6 1979, 270.274 f, Conzelmann, Korinther, 77 ff und Kurt Niederwimmer: Erkennen und Lieben. Gedanken zum Verhältnis von Gnosis und Agape im ersten Korintherbrief, in: KuD 11 (1965), 76 ff. Bornkamm, Paulus, 171 folgt dieser Ansicht nicht, sondern stellt heraus, dass es Paulus allein um das Wort vom Kreuz als Inhalt seines Glaubens und seiner Verkündigung geht. Vor dem Hintergrund frühjüdischen Weisheitsdenkens in‐ terpretieren den Textabschnitt Ulrich Wilckens: Zu 1 Kor 2,6-16, in: Theologia Crucis - Signum Crucis. Festschrift für Erich Dinkler zum 70. Geburtstag, hg. v. Carl Andresen und Günter Klein, Tübingen 1979, 501-537, Stuhlmacher, Bedeutung, 149 und Wolff, Korinther, 52. gekreuzigte Christus expliziert. Damit ist der Inhalt des Wortes vom Kreuz aus 1 Kor 1,18 bestimmt. Den λόγος τοῦ σταυροῦ stellt Paulus in 1 Kor 2,5 der menschlichen Weisheit gegenüber. Nicht diese Weisheit soll nach 1 Kor 1,23 f; 2,7 gepredigt werden, sondern die Weisheit Gottes. Sie ist also kein Lehrinhalt, der vom Wort vom Kreuz zu unterscheidend ist, sondern: „Der im ‚Wort vom Kreuz’ verkündigte gekreuzigte (und auferstandene) Christus ist (…) die Weis‐ heit Gottes in Person, die alle wichtigen Aspekte des göttlichen Erlösungshan‐ delns in sich beschließt.“ 873 Die Ansicht, dass 1 Kor 2,6-16 als weiterführende Erklärung und als Interpretation von 1 Kor 1,18 ff zu bestimmen ist, hat sich nicht nur auf Grund des zusammenhängenden Kontextes, des gemeinsamen Vokabulars und des ähnlichen Aufbaus durchgesetzt, sondern auch, weil die Textstelle nicht mehr vor dem Hintergrund gnostischen Gedankengutes gelesen wird, sondern in Bezug auf frühjüdische Weisheitstraditionen. 874 2 Kor 4 verweist ebenfalls auf den ‚Erkenntnisinhalt’ Jesus Christus: In 2 Kor 4,4-6 wird mit Hilfe atl. Lichtterminologie aus Gen 1,3 und Jes 9,1 deutlich, dass 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 347 <?page no="348"?> 875 Vgl. Gräßer, Korinther 1, 155. 876 Vgl. Gräßer, Korinther 1, 101-105 und Schmeller, 2 Kor, 19. 877 Vgl. auch 1 Kor 1,17.23 f. Vgl. auch Niederwimmer, Erkennen, 81. 878 Vgl. Ulrich B. Müller: Der Brief des Paulus an die Philipper, Leipzig 2 2002 (ThHK 11 / I), 156. 879 Nikolaus Walter: Der Brief an die Philipper. Übersetzt und erklärt von Nikolaus Walter, in: Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon. Übersetzt und erklärt von Nikolaus Walter, Eckart Reinmuth und Peter Lampe, Göttingen 18 1998 (NTD 8 / 2), 80. 880 Vgl. Reiling, Wisdom, 206-208. 881 Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 74. Gott den Menschen die Erkenntnis seiner Herrlichkeit im Angesicht seines ge‐ kreuzigten, auferstandenen und erhöhten Sohnes gewährt; so wie Gott Licht aufleuchten lässt, so ermöglicht Gott, dass Paulus Christus erkennt. Durch die Verkündigung des Evangeliums kann der Mensch durch den Glauben das Abbild Gottes in Christus erkennen. 875 2 Kor 4,6 bildet damit eine erste Zusammenfas‐ sung über die paulinischen Ausführungen zu seinem Dienst und dessen Er‐ folg. 876 Phil 3,8-11 zeigt ebenfalls, dass Gotteserkenntnis für Paulus von der Er‐ kenntnis Jesu Christi her gedacht werden muss: 877 An die Stelle der Beschnei‐ dung und des Gesetzes tritt die Christusnachahmung, die sich in einer Lebens- und Sterbensgemeinschaft mit Christus vollzieht. 878 Mit der Erkenntnis Christi geht der Mensch „eine unauflösbare Lebensbeziehung“ 879 ein, in der er Anteil am Leben und Sterben Christi hat. In 1 Kor 2,14 f führt Paulus schließlich die Unterscheidung zwischen πνευματικός und ψυχικός ein und expliziert damit den Gegensatz zwischen Weisheit der Welt / Torheit / Geist des Menschen und Weisheit Gottes / Ret‐ tung / Geist Gottes ein weiteres Mal. Der ψυχικός ist derjenige, der nicht mit dem göttlichen Geist begabt ist. Deshalb kann er die Tiefen Gottes nicht erfor‐ schen und nicht erkennen. Paulus führt nicht noch einmal aus, was er in 1 Kor 1,21 angeführt hat, 1 Kor 2,14 ist aber in diesem Sinn zu verstehen: Das Wort vom Kreuz ist demjenigen, der den göttlichen Geist nicht hat, eine Torheit, kein Heil. 880 Auf dem pneumatisch begabten Menschen liegt der Fokus am Ende der Argumentation. Ihn charakterisiert Paulus in 1 Kor 2,15 f als denjenigen, der den νοῦς Χριστοῦ innehat. Der Vers beinhaltet ein Zitat aus Jes 40,13. Im hebräischen Text steht חור , das in der LXX in der Regel mit πνεῦμα wiedergegeben wird. Das Lexem νοῦς hingegen wird für בל oder בבל verwendet. 881 Man erwartet also, dass auch in 1 Kor 2,16 vom göttlichen πνεῦμα gesprochen wird, statt‐ dessen steht νοῦς Χριστοῦ. Dass Paulus am Ende des Verses gegenüber dem Zitat der LXX nicht κύριος sondern Χριστός anführt, ist mit der christologi‐ IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 348 <?page no="349"?> 882 Vgl. auch Stuhlmacher, Bedeutung, 159. 883 So Weiss, Korintherbrief, 68. Käsemann, Predigtmeditationen, 275 spricht zwar begriff‐ lich nicht von einer Identifikation; diese Denkweise wird aber ersichtlich, wenn er vom „Geist Christi“ spricht. 884 Vgl. Gärtner, Idea, 220 f, Conzelmann, Korinther, 94, Zeller, Korinther, 144 und Horn, Angeld, 273. 885 In diese Richtung Lindemann, Korintherbrief, 74, der zwar nicht vom menschlichen Verstand spricht, aber davon, dass „unser νοῦς von Christus her bestimmt und auf ihn bezogen ist“. 886 Stuhlmacher, Bedeutung, 156. 887 Ersteres vertritt in seiner Dissertation noch Wilckens, Weisheit 52-60. Zweiteres ver‐ tritt Robin S. Barbour: Wisdom and Cross in 1 Corinthians 1 and 2, in: Theologia Crucis - Signum Crucis. Festschrift für Erich Dinkler zum 70. Geburtstag, hg. v. Carl Andresen und Günter Klein, Tübingen 1979, 65 nimmt an, dass es sich bei den τέλειοι um eine bestimmte Gruppe von Glaubenden handelt, die in Gegensatz zu anderen Christen stehen. schen Ausrichtung der vorangegangenen Argumentation zu erklären. 882 Wie aber ist νοῦς zu verstehen? Eine Möglichkeit besteht darin, das göttliche πνεῦμα mit dem νοῦς Χριστοῦ zu identifizieren, 883 eine zweite unterscheidet begrifflich an dieser Textstelle nicht zwischen göttlichem πνεῦμα und νοῦς Χριστοῦ, ohne beide Komponenten deshalb miteinander zu identifizieren. 884 Ebenso kann nicht der menschliche Verstand gemeint sein, da dieser nur Menschliches, nicht aber Pneumatisches erkennen kann. 885 1 Kor 2,16 ist als Abschluss der Ausführungen über die göttliche Weisheit zu verstehen, in der Paulus mit einem Schriftzitat seiner Argumentation noch einmal Nachdruck verleiht und mit dem Genitiv Χριστοῦ die christologische Ausrichtung fixiert. Mit der „schroffe[n] Gegen‐ überstellung von Weisheit der Welt und der im Evangelium beschlossenen Weisheit Gottes“ 886 , ist also auch die Unterscheidung zwischen Glaubenden und Ungläubigen getroffen. Damit ist der wesentliche Unterschied zum jüdischen Weisheitsdenken aufgezeigt, bei dem innerhalb der Glaubenden zwischen den Weisen und den Toren unterschieden wird. Diese Unterscheidung nimmt Paulus nicht auf; auch nicht in 1 Kor 2,6, wenn Paulus von den οἱ τελείοι spricht, denen die göttliche Weisheit zuteil wird. Es stellt sich zwar die Frage, ob zwei ‚Klassen’ von Glaubenden angenommen werden müssen, etwa ‚vollkommene Glaubende’ und ‚normale, alltägliche Glaubende’, oder ob es unterschiedliche Reifegrade im Christsein oder eine Elite der Erkennenden gibt. 887 Letzteres trifft auf die pa‐ ganen und jüdischen Erkenntnistheorien zu und hat sich auch bei Philon he‐ rausgestellt. Für Paulus gilt das nicht; das Lexem τελείοι ist keine Bezeichnung für eine bestimmte Klasse, Elite, geistige Reife einer Person oder die Reife des Christseins, sondern eine Bezeichnung für alle Christen, ebenso wie Paulus die Glaubenden als πίστοι, ἐκλέκτοι oder ἀγαπέτοι bezeichnet. Im Gegensatz dazu 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 349 <?page no="350"?> 888 Vgl. Willis, Mind, 113.120 und Reiling, Wisdom, 209. 889 Vgl. Stuhlmacher, Bedeutung, 156. Zu den verschiedenen Möglichkeiten der Überset‐ zung von ἐν in 1 Kor 1,21 vgl. Schrage, Korinther 1, 179 f, Zeller, Korinther, 109 f und Conzelmann, Korinther, 64. 890 Vgl. Niederwimmer, Erkennen, 97. Ein weiterer Unterschied zwischen der paulinischen Erkenntnisvorstellung und der Gnosis liegt darin, dass das „Erkanntwerden von Gott (…) sich nicht im Akt der mystischen Versenkung [vollzieht], sondern im Akt des Glaubensgehorsams“ (Niederwimmer, Erkennen, 95). 891 Vgl. Mack, Logos, 176. 892 Vgl. Phil., Virt § 212-219. 893 Vgl. Voss, Wort, 64 und Schweizer, Kolosser, 58.62 f. 894 Vgl. Bultmann, Art. γινώσκω, 696. wird τέλειος / τελειόω in Röm 12,2 und Phil 3,12 als dynamisierende Kompo‐ nente verwendet, die durchaus Abstufungen erkennen lässt. 888 Paulus differen‐ ziert nicht innerhalb der Glaubenden, aber in 1 Kor 1,21 zwischen den Ungläu‐ bigen, die verloren gehen, und denen, die an das Wort vom Kreuz glauben und dadurch gerettet werden; 889 damit wird erneut ersichtlich, dass diese Erkenntnis im Zusammenhang mit Erlösung steht: Wer das Wort vom Kreuz erkennt und annimmt, der gelangt zum Heil. Der Ausgangspunkt für das Heil liegt in der gnädigen Zuwendung und Offenbarung Gottes; der Mensch leistet keinen ak‐ tiven Beitrag zur Erlösung, indem er von sich aus Gott erkennen könnte. 890 Nach philonischer Vorstellung verdrängt der Logos die Weisheit und übernimmt eine Heilsfunktion; 891 erst er ermöglicht den Weg zur Weisheit, die eine soteriologi‐ sche Funktion hat. 892 Bei Paulus hingegen führt das Kreuzesgeschehen zum Heil. 893 Zentral für das paulinische Erkenntnisverständnis ist also nicht die Got‐ teserkenntnis durch das Gesetz oder durch das Sehen der Schöpfung; Erkenntnis durch Schauen gewinnt in der griechischen Philosophie, aber auch in den deu‐ teropaulinischen Schriften, z. B. in Kol 1,15-18, an Bedeutung. Sie tritt in der paulinischen Charismenlehre aber zurück: 894 Stattdessen wird die Möglichkeit genannt, dass Erkenntnis versprachlicht wird. Die sprachliche Äußerung der Erkenntnis hat Paulus bereits in 1 Kor 2,13 durch λαλοῦμεν eingeleitet und in 1 Kor 2,13 fortgeführt. Die Erkenntnis des Heilshandelns Gottes in Christus kann also in einem sprachlichen Ausdruck wiedergegeben und von den Glaub‐ enden erfasst werden. Die Zuordnung von γνώσεως zu λόγος hat neben dem formalen Aspekt auch inhaltliche Relevanz: Das Charisma der Erkenntnisrede bietet für einen bestimmten Inhalt eine angemessene Form, indem sie den Er‐ kenntnisinhalt in einer verständlichen sprachlichen Äußerung präsentiert. So IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 350 <?page no="351"?> 895 Vgl. Robin S. Barbour: Wisdom and Cross in 1 Corinthians 1 and 2, in: Theologia Crucis - Signum Crucis. Festschrift für Erich Dinkler zum 70. Geburtstag, hg. v. Carl Andresen und Günter Klein, Tübingen 1979, 62. 896 Vgl. Wischmeyer, 1. Korintherbrief, 178.194. 897 Es muss sich in 1 Kor 8,1 nicht um ein Zitat der Korinther handeln, wie Wen‐ dell L. Willis: Idol Meat in Corinth. The Pauline Argument in 1 Corinthians 8 and 10, Chico 1985 (SBL.DS 68), 68-72 und Merklein, Korinther 2, 177 dies annehmen. Vgl. dazu auch Schrage, Korinther 2, 220 f, der in 1 Kor 8,1 ein Zitat annimmt, weil es formal 1 Kor 8,7 widerspricht. Wahrscheinlicher ist, dass Paulus hier kein eigentliches Zitat einleitet, sondern inhaltlich auf etwas den Korinthern Bekanntes zurückgreift, weil οἴδαμεν bei Paulus nie steht, um ein Zitat mit einer fremden Position einzuleiten. Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 190. 898 Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 190 und Schrage, Korinther 2, 229. 899 Vgl. Wolff, Korinther, 170, der von der „lieblosen Praktizierung der Erkenntnis“ spricht. Dass der Mensch, der glaubt, etwas erkannt zu haben, hat eigentlich gar nichts erkannt, ist zentraler Aspekt im philosophischen Denken der Antike. Vgl. Lindemann, Korin‐ therbrief, 190. kann die Zuordnung des Genitivs formal wie auch inhaltlich verstanden werden; eine scharfe Trennung ist nicht möglich. 895 (2) Deutlich wurde bis hierher: Es gibt Erkenntnis; das bestreitet Paulus nicht. Von 1 Kor 8 und 1 Kor 13 her wird aber ersichtlich, dass Paulus der γνῶσις skeptisch gegenüber steht. In 1 Kor 7,40 schließt Paulus die Thematisierung der gender-Fragen mit einer Belehrung ab und wendet sich nun der Thematik des Essens von Opferfleisch zu. 896 Mit 1 Kor 8,1-13 beginnt der neue Abschnitt über das Götzenopferfleisch, den Paulus erneut mit der Wendung περὶ δὲ τῶν εἰδωλοθύτων einleitet und in dem er γνῶσις und ἀγάπη gegenübergestellt; dieser Gegensatz wiederholt sich in 1 Kor 8,3. In 1 Kor 8,1 wird die Ansicht der Korinther wiedergegeben, die davon ausgehen, dass sie γνῶσις haben. 897 Dem stimmt Paulus generell zu, was durch die Formulierungen in der 1. Pers. Pl. deutlich wird. Im Nachsatz aber bringt Paulus seine Kritik zum Ausdruck: Er‐ kenntnis bläht auf; die Liebe aber baut auf. Die Erkenntnis richtet sich nur am einzelnen Menschen aus, während in der Liebe die Beziehung zu Gott und dem Nächsten Ausdruck findet. 898 Wenn also jemand meint, er habe erkannt, so hat er nach 1 Kor 8,2 f noch nicht erkannt, wie man erkennen soll. Das verdeutlicht Paulus in 1 Kor 8,3, ebenso wie in Gal 4,9: νῦν δὲ γνόντες θεόν, μᾶλλον δὲ γνωσθέντες ὑπὸ θεοῦ (nun aber habt ihr Gott erkannt, mehr aber, ihr seid von Gott erkannt worden). Das richtige Erkennen liegt nicht darin, dass der Mensch erkennt, sondern darin, dass der Mensch von Gott erkannt wurde. Das wird v. a. in 1 Kor 13,2 ersichtlich, wenn Paulus die Liebe in Zusammenhang mit den Charismen stellt. Im Zentrum von 1 Kor 8,1-13 steht nicht, dass Paulus zweifelt, dass die Korinther Erkenntnis haben, 899 sondern dass sie den richtigen Umgang 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 351 <?page no="352"?> 900 Vgl. Merklein, Korinther 2, 181. 901 Lindemann, Korintherbrief, 190. So auch Voss, Wort, 212, Sellin, Geheimnis, 88 f und Merklein, Korinther 2, 181, der als Thema „den falschen Gebrauch von Erkenntnis“ sieht. 902 Vgl. Wolff, Korinther, 170, Maly, Gemeinde, 104, Niederwimmer, Erkennen, 94 und Merklein, Korinther 2, 182. 903 Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 191. 904 Vgl. Wolff, Korinther, 170. damit pflegen und ihr Handeln daran ausrichten. Das zeigt zum einen, dass Erkenntnis eine ethische Ausrichtung mit sich bringt, indem nach 1 Kor 8,4-7 Erkenntnis zu Handlungen anleiten soll oder, wie in der hier genannten Stelle, Handlungen unterlassen soll. Zum anderen wird deutlich, dass γνῶσις im Vergleich zur ἀγάπη wertlos ist. 900 Erstere hat keinen Wert, wenn ihr „der Bezug zum Erkannten fehlt“ 901 ; diesen liefert erst das personale Erkennen von Angesicht zu Angesicht in eschatologischer Zeit. Dabei handelt es sich nicht mehr um γνῶσις im eigentlichen Sinn, sondern um ἀγάπη, denn die γνῶσις hat im Eschaton keinen Bestand. Der eigentlich Handelnde ist dabei Gott, der den Menschen erkennt und erwählt 902 ; diese Ansicht wird unterstützt, indem 1 Kor 8,1-3 im Passiv formuliert ist. 903 Der Aspekt des Erkanntwerdens ist auch in 1 Kor 13 Thema und wird im Kapitel zu den Grenzen der Sprachgaben erneut thematisiert. Es gilt: Weil Gott durch seine Gnade und Liebe den Menschen er‐ kennt und ihm die Erkenntnis seines Heilshandelns in Jesus Christus schenkt, kann die Antwort auf die Zuwendung Gottes zum Menschen nur die dankbare Liebe sein. 904 Deshalb kann dort, wo die Liebe fehlt, nicht davon die Rede sein, dass ‚richtig’ erkannt wurde. Der Zusammenhang von Erkenntnis und Liebe ist angesichts des bruch‐ stückhaften Charakters der γνῶσις noch genauer zu untersuchen. Die γνῶσις wird nach 1 Kor 13,8 f im Eschaton vergehen (καταργηθήσεται). Wenn Er‐ kenntnis vergeht, kann sie nicht mehr in einem sprachlichen Ausdruck geäußert werden. Im Eschaton gibt es ein anderes Erkennen, das nicht mehr durch Sprache vermittelt wird: (11) ὅτε ἤμην νήπιος, ἐλάλουν ὡς νήπιος, ἐφρόνουν ὡς νήπιος, ἐλογιζόμην ὡς νήπιος∙ ὅτε γέγονα ἀνήρ, κατήργηκα τὰ τοῦ νηπίου. (12) βλέπομεν γὰρ ἄρτι δι' ἐσόπτρου ἐν αἰνίγματι, τότε δὲ πρόσωπον πρὸς πρόσωπον∙ ἄρτι γινώσκω ἐκ μέρους, τότε δὲ ἐπιγνώσομαι καθὼς καὶ ἐπεγνώσθην. (1 Kor 13,11 f) (11) Als ich ein Kind war, sprach ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind, überlegte ich wie ein Kind; als ich ein Mann geworden war, habe ich die Dinge des Kindes vernichtet. (12) Denn wir sehen jetzt durch einen Spiegel in ein Rätsel, dann aber von Angesicht IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 352 <?page no="353"?> 905 Vgl. Wischmeyer, Weg, 131. Kritisch dazu Schrage, Korinther 3, 309 f. 906 Die Wendung kommt im NT nur an dieser Stelle vor; darüber hinaus findet sich aus‐ schließlich in der LXX, z. B. in Jes 52,8. Vgl dazu Wischmeyer, Weg, 136 f. 907 Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 291 f und Merklein / Gielen, Korinther, 160 f. 908 Vgl. Wischmeyer, Weg, 132 f.137 und Lindemann, Korintherbrief, 292. 909 Vgl. Zeller, Korinther, 418 und Bultmann, Art. γινώσκω, 706, auch Wischmeyer, Weg, 138 mit Verweis auf 2 Kor 1,13 und Röm 1,32, wo ebenfalls ein Bezug zur Gotteser‐ kenntnis vorliegt. 910 Vgl. Lindemann, Korintherbrief, 291 f und Merklein / Gielen, Korinther, 160 f. zu Angesicht; jetzt erkenne ich bruchstückhaft, dann aber werde ich erkennen, wie auch ich erkannt worden bin. (1 Kor 13,11 f) In 1 Kor 13,12 stellt Paulus in einem parallelismus membrorum im ersten Versteil den Gegensatz von Gegenwart und Zukunft auf metaphorischer Ebene dar: 905 Wir sehen jetzt durch einen Spiegel, dann aber πρόσωπον πρὸς πρόσωπον. 906 Wir sehen in ein Spiegelbild und sehen deshalb die eigentliche Sache nicht, sondern nur ein Bild, das einen unvollendeten Charakter hat. 907 Im zweiten Ver‐ steil wird der gleiche Gedankengang aufgegriffen, aber konkret auf das Er‐ kennen bezogen: Jetzt erkennen wir bruchstückhaft, erst im Eschaton werden wir vollständig erkennen, in dem Sinn, dass es sich dann um ein ‚anderes’ Er‐ kennen handelt, um das Erkennen von Angesicht zu Angesicht. Der Spiegel ermöglicht ein solches nicht, er vermittelt lediglich ein Bild, das zwar das Er‐ kenntnisobjekt richtig wiedergibt, das aber nicht mit dem Objekt identisch ist, das uns im Eschaton zugänglich wird. Die Gotteserkenntnis wird in 1 Kor 13 zwar nicht direkt erwähnt, möglicherweise weil der Modus des Erkennens im Vordergrund steht - es handelt sich im Eschaton nicht um ein verhülltes, son‐ dern ein unmittelbares Erkennen, das sich in der ἀγάπη zeigt, - sie ist aber impliziert. 908 Das legt auch das Verb ἐπιγινώσκω in 1 Kor 13,12bβ nahe, mit dem Aussagen von γινώσκω gesteigert werden können, und die vorangesetzte Prä‐ position ἐπί, die das Erkennen in eine personale Richtung angibt. 909 Diese Got‐ teserkenntnis unterliegt dem eschatologischen Vorbehalt. Dabei handelt es sich nicht mehr um ein irdisches Erkennen, sondern um ein Schauen von Angesicht zu Angesicht; die γνῶσις erfüllt sich in ἀγάπη. Paulus macht deutlich, dass die Charismen keine personale Gottesschau ermöglichen. Er wendet sich damit gegen diejenigen, die der Erkenntnis- und Weisheitsrede eine besondere Be‐ deutung beimessen und gegen die Glossolalen, die in ihrer Sprachgabe mögli‐ cherweise einen besonderen Ausweis des göttlichen Geistes sehen, der ihnen Gotteserkenntnis bereits jetzt ermöglicht. 910 Diese besondere Art der Gotteser‐ kenntnis, die sich in der Liebe realisiert, ist in der gegenwärtig Welt aber nicht möglich; in dem Nachsatz in 1 Kor 13,12 καθὼς καὶ ἐπεγνώσθην (wie auch ich 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 353 <?page no="354"?> 911 S. dazu auch Gal 4,9. Zu obigem vgl. Merklein / Gielen, Korinther, 161 und Wischmeyer, Weg, 140 f. Für das „zeitliche Prae“, das Erkennen des Menschen durch Gott, gibt es weder in den Evangelien noch in der profangriechischen Literatur Parallelen und des‐ halb kann dieser Gedankengang als „paulinisches Spezifikum“ (Wischmeyer, Weg, 140) ausgemacht werden. erkannt worden bin) aber liegt die Zusage, dass die Glaubenden in der Zukunft vollständig erkennen werden. Mit dem Aspekt, dass die Glaubenden von Gott erkannt worden sind, ist die Erwählung zusammen zu denken. Wer von Gott erkannt und erwählt wurde, dem gibt er die Zusage, dass er im Eschaton voll‐ ständig, von Angesicht zu Angesicht, erkennen kann. 911 Während diese Er‐ kenntnis unter dem eschatologischen Vorbehalt steht, muss und darf dennoch angenommen werden, dass in der irdischen Welt ‚richtige’ Erkenntnis möglich ist, weil der Glaube sonst keinen Inhalte und damit keine Grundlage hat. Ver‐ nichtet wird der Zustand des bruchstückhaften Erkennens, ebenso wie die sprachliche Mitteilung der γνῶσις. Der sprachliche Ausdruck und die damit vermittelte Erkenntnis hat in der irdischen Welt einen Wert; das zeigt sich daran, dass die Glaubenden ihr Leben und Handeln vor dem Hintergrund der religiös qualifizierten Erkenntnis an der Liebe ausrichten und dass dadurch die Gemein‐ schaft der Glaubenden erweitert und gestärkt wird. Paulus markiert aber deut‐ lich, dass diese Erkenntnis kritisch zu verstehen und begrenzt ist. Paulus reflektiert den Sachverhalt, ob in einem sprachlichen Zeichen das Ob‐ jekt erkannt werden kann, also nicht in der Art, wie dies für die antike Sprach‐ philosophie gilt. Er greift den Unterschied zwischen irdischer und eschatologi‐ scher Welt auf und thematisiert allein die ‚religiöse Erkenntnis’: Er stellt fest, dass in der irdischen Welt Erkenntnis möglich ist, dass der eigentliche Wert aber in der ἀγάπη liegt und alle irdische Erkenntnis deshalb bruchstückhaft ist. Damit reflektiert Paulus nicht das Verhältnis von gesamtsprachlichem Zeichen und dem Objekt in der irdischen Welt, sondern das Verhältnis zwischen Objekt im Eschaton und dem Objekt, das in der irdischen Welt in eine sprachliche Äuße‐ rung gefasst werden kann. Das ‚eigentliche’ Objekt kann erst im Eschaton er‐ kannt werden. Das wird auch in der oben angeführten Skizze zum paulinischen Zeichenverständnis ersichtlich. (3) Abschließend ist der Bezug zur Gnosisbewegung kurz aufzugreifen, weil immer wieder versucht wurde, 1 Kor vor dem Hintergrund gnostischen Gedan‐ IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 354 <?page no="355"?> 912 So Reitzenstein, Mysterienreligionen, 333-348, der Paulus selbst als Gnostiker be‐ stimmt. Ebenso Bultmann, Art. γινώσκω, 709, der eine Gruppe von Pneumatikern in Korinth angesiedelt sieht, die Paulus in seinem Sprachgebrauch beeinflusst haben und Walter Schmithals: Die Gnosis in Korinth. Eine Untersuchung zu den Korintherbriefen. Dritte, bearbeitete und ergänzte Auflage, Göttingen 3 1969 (FRLANT 66), 134 ff. Dass in Korinth höchstens Anfänge der Strömung, die später als Gnosis verstanden wird, nach‐ gezeichnet werden können, dass die Abschnitte des 1 Kor aber nicht von daher zu er‐ klären sind, stellt Robert McL. Wilson: How Gnostics were the Corinthians? , in: NTS 19 (1972 / 73) 74 heraus. Vgl. allg. Zeller, Korinther, zum Thema. 913 Vgl. Sellin, Geheimnis, 71, Markschies, Gnosis, 69 und Heininger, 98.102. 914 Vgl. Heininger, 97. 915 Markschies, Gnosis, 25 f. 916 Stuhlmacher, Bedeutung, 153, vgl. auch 158 und 1 Kor 1,30. kenguts zu erklären. 912 Von der korinthischen Korrespondenz aus, aber auch von den anderen Paulusbriefen her kann kein Bezug zu dem ausgemacht werden, was wir später als Gnosis oder gnostische Texte bezeichnen. Dafür fehlen als Vergleichspunkt gnostische Texte, die den Paulusbriefen vorausgehen oder zu‐ mindest zeitgleich mit ihnen entstanden sind. Ein strukturiertes System und eine Lehre, die klar umrissen werden kann, findet sich erst Ende des 1. bzw. Anfang des 2. Jh. n. Chr. 913 Der erste ntl. Beleg, der für eine greifbare Lehre einer Gnosis spricht, ist 1 Tim 6,20. 914 Markschies versteht unter Gnosis solche Bewegungen, die ihr besonderes Interesse an der vernünftigen Erfassung von Sachverhalten durch Einsicht (‚Erkenntnis’) in theologischen Systemen niederlegen, die in der Regel durch ein bestimmtes Ensemble von Ideen oder Motiven in den Texten gekennzeichnet sind: 1. Die Erfahrung eines vollkommenen jenseitigen, fernen ober‐ sten Gottes; 2. die unter anderem dadurch bedingte Einführung weiterer göttlicherer Figuren oder Aufspaltung der vorhandenen Figuren in solche, die dem Menschen näher sind als der ferne oberste Gott; 3. die Einschätzung von Welt und Materie als böser Schöpfung (…); 4. die Einführung eines eigenen Schöpfergottes oder Assis‐ tenten (…), 5. die Erklärung dieses Zustandes durch ein mythologisches Drama, in dem ein göttliches Element, das aus seiner Sphäre in eine böse Welt fällt, als göttlicher Funke in Menschen einer Klasse schlummert und daraus befreit werden kann; 6. eine Erkenntnis (…) über diesen Zustand, die aber nur durch eine jenseitige Erlösergestalt zu gewinnen ist (…); 7. die Erlösung durch die Erkenntnis des Menschen (…) und schließlich 8. eine unterschiedlich ausgeprägte Tendenz zum Dualismus, die sich im Gottesbegriff, in der Entgegensetzung von Geist und Materie und in der Anthropo‐ logie äußern kann. 915 Die Erkenntnis durch den Geist besteht nach 1 Kor 1,30 in der Weisheit, Ge‐ rechtigkeit, Heiligung und Erlösung, „die Christus nach dem Willen Gottes durch sein Kreuz erwirkt hat“ und ist als „schöpferische Erlösungstat“ 916 zu ver‐ 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 355 <?page no="356"?> 917 Vgl. Markschies, Gnosis, 26. 918 Vgl. Markschies, Gnosis, 78 und Bernhard Heininger: Die religiöse Umwelt des Paulus, in: Paulus. Leben - Umwelt - Werk - Briefe. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, hg. v. Oda Wischmeyer, Tübingen, Basel 2 2012 (UTB 2767), 100. 919 Vgl. Horn, Angeld, 265 f. 920 Zur Frage, ob in 1 Kor 1,20 mit der Weisheit der Welt nur Heiden oder auch Juden oder die gesamte Menschheit gemeint ist, vlg. Zeller, Korinther, 109, der nur die Heiden angesprochen sieht. Dagegen Wolff, Korinther, 38, der sich dezidiert dafür ausspricht, dass hier Heiden und Juden gemeint sind. 921 Schlier, Kerygma, 210. 922 Vgl. Schlier, Kerygma, 210 f. Mit γινώσκω ist in 1 Kor 1,21 nicht das vollständige, na‐ türliche Erkennen Gottes meint, sondern das Anerkennen Gottes (vgl. Schrage, Korin‐ ther 1, 178 f, Conzelmann, Korinther, 65 und Wolff, Korinther, 38) oder die Erkenntnis Gottes in der Schöpfung (vgl. auch Wolff, Korinther, 38). 923 Vgl. Niederwimmer, Erkennen, 76. stehen. Damit zeigt das paulinische Gnosisverständnis gerade einen Gegensatz zur Erlösungsvorstellung der gnostischen Texte. Markschies nennt als ein we‐ sentliches Kennzeichen für die Gnosis, dass der Mensch durch seine eigene Er‐ kenntnis zur Selbsterlösung gelangt. 917 Die Selbsterkenntnis des Menschen er‐ folgt durch eine jenseitige Erlöserfigur. Als solche können historische Personen, die gleichzeitig frühe Vertreter der Gnosis waren, verstanden werden, etwa Simon Magnus oder Meneander, aber auch mythische Figuren. 918 Mit dem Kreu‐ zesgeschehen ist Selbsterlösung unmöglich geworden, weil die menschliche Er‐ kenntnis und die Weisheit der Welt keine Kraft hat, den Menschen zu erlösen. 919 Gott hat nach 1 Kor 1,20 f die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht und sie als Mittel zur Erkenntnis außer Kraft gesetzt, indem er an die Stelle der menschli‐ chen Weisheit das Kerygma setzt. 920 Die menschliche Weisheit wurde dadurch abgewertet, „er [Gott] hat sie als Weg zur Erkenntnis ignoriert“ 921 , weil die Welt die Weisheit Gottes nach 1 Kor 1,21 und Röm 1,21 f nicht erkannte. 922 Dies ist allein durch die von Gott durch den Geist offenbarte Erkenntnis möglich, 923 nicht durch den Menschen. Hinzu kommt, dass Paulus der γνῶσις kritisch gegen‐ übersteht; er erkennt an, dass es γνῶσις gibt und dass sie im Charisma der Er‐ kenntnisrede sprachlichen Ausdruck findet. Er macht aber explizit deutlich, dass die γνῶσις im Vergleich zur Liebe, in welcher sie im Eschaton ihre Erfüllung findet, wertlos ist. Die Denkweise, durch eigene Erkenntnis etwas oder alles zur Erlösung beitragen zu können, kann bei den Korinthern durchaus vorhanden gewesen sein, allerdings eben nur als ‚Geisteshaltung’ und nicht als ausgefeiltes, theologisch-spekulatives System, wie es dann bei den Gnostikern des 2. Jahr‐ hunderts greifbar wird. Ansätze für diese Systeme lassen sich in der Geistes‐ haltung finden, die bei den paulinischen Gesprächspartnern ‚durchschimmert’. Die Tatsache, wie Paulus die Begriffe Weisheit und Erkenntnis behandelt, lässt IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 356 <?page no="357"?> 924 Schrage, Korinther 1, 179. eine solche Vermutung durchaus zu. Von Gnosis im von Markschies beschrie‐ benen Verständnis kann natürlich nicht die Rede sein. Zusammenfassung: Für Paulus lässt sich keine derart ausführliche Erkenntnislehre ausmachen wie bei Philon. Das zeigt sich daran, dass Paulus sich allein mit ‚religiöser’ Er‐ kenntnis beschäftigt. Er ist nicht „von erkenntnistheoretischen Problemen (…) bewegt“ 924 und entfaltet keine Theorie des Erkennens, wie wir sie bei Philon finden, der zwischen aisthetischen und noetischen Erkenntnisvorgängen un‐ terscheidet. Für Paulus sind als entscheidende Aspekte festzuhalten: Die Glaub‐ enden sind fähig zu erkennen. Sie können zu Erkenntnis gelangen und zwar durch das göttliche πνεῦμα; das Gesetz und die Schöpfung haben sich als Er‐ kenntnismittel als erfolglos erwiesen; Paulus hat ‚religiöse Erkenntnisinhalte’ im Blick, die er begrifflich mit dem Wort vom Kreuz oder der göttlichen Weisheit wiedergibt; diese Erkenntnis kann in Worte gefasst und den Gemeindegliedern zugänglich gemacht werden. Dennoch zeigt sich der γνῶσις gegenüber eine Skepsis und Kritik: Die Erkenntnis bläht auf und wird vergehen. Stattdessen wird die Liebe sich als bleibende Größe erweisen, in der sich die γνῶσις erfüllt; deshalb bestimmt er die γνῶσις für die irdische Welt als bruchstückhaft. Der entscheidende Aspekt ist nicht, dass der Mensch erkennt, sondern dass der Mensch von Gott erkannt ist. Deshalb kann die Antwort auf diese Gnade und Liebe Gottes nur die dankbare Liebe sein und darin bestehen, das irdische Leben und Handeln am Willen Gottes auszurichten; damit ist auch noch einmal auf die ethische Ausrichtung der γνῶσις hingewiesen. Im Vergleich zum Charisma der Lehre und der Prophetie ist herauszustellen: Erkenntnisrede und Lehre wirken nicht wie die Prophetie unmittelbar missio‐ narisch. Der Lehre geht Erkenntnis voraus, von daher besteht ein Zusammen‐ hang zwischen Lehre und Erkenntnisrede; beide sind als intellektuell-religiöse Charismen zu verstehen. Sie unterscheiden sich aber darin, dass die Erkennt‐ nisrede stärker einen soteriologischen Charakter impliziert, weil ihr zentraler Inhalt das Heilsgeschehen in Christus ist, den sie in einer verständlichen sprach‐ lichen Äußerung den Gemeindegliedern erschließt. 3.3.4 Die Kommunikationsfunktion der Sprachgaben Eine weitere Funktion, die sich unmittelbar aus der Unverständlichkeit bzw. der Verständlichkeit der Sprachgaben ergibt, ist die Kommunikationsfunktion der 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 357 <?page no="358"?> 925 Einführendes zur Kommunikation und zum Kommunikationsbegriff s. Kap. III, 4.5. 926 Wischmeyer, 1. Korintherbrief, 184. 927 Wischmeyer, 1. Korintherbrief, 185. 928 Vgl. 1 Kor 1,10; 5,1; 7,1; 8,1; 10,1.14; 11,1-3; 12,1; 14,1; 15,1 und Wischmeyer, 1. Korin‐ therbrief, 185. 929 Vgl. z. B. die Fabel zum Leib und den Gliedern in 1 Kor 12,14-26 oder das Bild aus dem Bereich der Bautätigkeit in 1 Kor 3,10-15, die autobiographischen Abschnitte in 1 Kor 1,14-17; 7,7; 9,1-27 u. a., der Bezug zur Tradition in 1 Kor 11,2.23b-25 und 15,3-5 sowie die bereits genannten Charismenkataloge in 1 Kor 12,8-10.28-30 und Lasterkataloge in 1 Kor 5,10 f; 6,9 f; 10,7-10. Dazu ausführlicher Wischmeyer, 1. Korintherbrief, 185-187. 930 Zu meta-kommunikativen Texten s.a. 1 Kor 2,6-9; 5,9-13; 10,19 und 12,31b. Vgl. Wi‐ schmeyer, 1. Korintherbrief, 187. 931 Wischmeyer, 1. Korintherbrief, 187. 932 Vgl. Wischmeyer, 1. Korintherbrief, 187 f. Sprachcharismen. 925 Dabei ist herauszustellen, dass Kommunikation nicht nur in 1 Kor 14 ein Thema ist, sondern dass der Brief im Allgemeinen ein in „hohem Maße kommunikatives Schreiben“ 926 ist, für das sich mehrere Kommunikati‐ onsebenen ausmachen lassen: Die erste Ebene umfasst die direkte Kommuni‐ kation von Paulus mit den Gemeindegliedern. Sie hat einen „paränetisch-di‐ daktischen“ 927 Fokus und wird im Text dadurch erkenntlich, dass Paulus die Gemeinde direkt anspricht oder ihre Aussagen oder den Brief, den er erhalten hat, aufgreift. 928 Die zweite Ebene der Kommunikation dient dazu, die Argu‐ mentation verständlich und anschaulich zu gestalten. Als solche Elemente gelten Bilder und Vergleiche, autobiographische Abschnitte, Zitate aus der Tra‐ dition sowie Tugend-, Laster, Peristasen- und die Charismenlisten. 929 Die dritte Ebene ist gekennzeichnet durch meta-kommunikative Textstellen, die das Thema Sprache bzw. Verständlichkeit und Kommunikation direkt aufgreifen. Sie thematisieren Sprache durch Sprache. Um eine solche Ebene handelt es sich in 1 Kor 14,20. 930 Die letzte Ebene kann als „meta-kommunikativer Über‐ schuss“ 931 bezeichnet werden. Sie umfasst die Texte, in denen eine Theologie erkennbar wird. Für 1 Kor handelt es sich um 1,18-25; 2,6-16; 13 und 15,35-49. 932 Über die genannten Ebenen hinaus stellt Paulus auf theoretischer Ebene in 1 Kor 14 zwei Kommunikationsformen heraus, die das Ergebnis des unverständlichen bzw. verständlichen Sprechens darstellen: (1) Die Glossolalie als Kommunika‐ tion des Menschen mit Gott und (2) die Prophetie, die Lehre und die Erkennt‐ nisrede als zwischenmenschliche Kommunikationsformen. Der Anfang des Kommunikationsprozesses liegt bei Gott, weil alle Gaben durch den göttlichen Geist gewirkt sind. So kann als Urheber der Kommunikation der Geist ausge‐ macht werden. IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 358 <?page no="359"?> 933 Klauck, Engelszungen, 295. Vgl. dazu auch Hans-Joseph Klauck: Gemeinde zwischen Haus und Stadt. Kirche bei Paulus, Freiburg, Basel, Wien 1992, 58 f und Zeller, Korinther, 424. 934 Schrage, Korinther 3, 399. 935 Merklein / Gielen, Korinther, 172. 936 Vollenweider, Welten, 372, i. O. z.T. kursiv. 937 Vgl. Klauck, Engelszungen, 295, Maly, Gemeinde, 246 und Dautzenberg, Paulus, 61. 938 Vgl. Zeller, Korinther, 434. (1) Die Glossolalie beschreibt die „vertikale Kommunikation zwischen dem Beter und Gott“ 933 , eine „Zwiesprache zwischen Gott und dem Einzelnen“ 934 . Ja, noch mehr, sie beschreibt nicht nur die Kommunikation zwischen dem Glosso‐ lalen und Gott, sondern darin liegt ihre spezifische Funktion. Das glossolalische Sprechen hat keinen Nutzen für die Gemeindeglieder, weil es für sie unver‐ ständlich bleibt; das wurde bereits ausführlich gezeigt. Der Glossolalie fehlt die „anthropologische Kommunikationsbasis“ 935 , um zur Erbauung der Gemeinde beitragen zu können. Diese liegt in der Verständlichkeit. Nur das Charisma der Übersetzung kann diesem Mangel Abhilfe schaffen; aber auf den gehäuften Ein‐ satz dieses Charismas zielt die paulinische Argumentation nicht. Deshalb ist es wohl zu hoch angesetzt, wenn Vollenweider schreibt: „Die Einheit stiftende Wirkung des Geistes in der Gemeinde vollzieht sich also konkret so, daß ge‐ sonderte Welten in Kommunikation miteinander treten (…)“, indem die Über‐ setzungsgabe „die gesonderten Welten der Zungenredner“ 936 aufbricht. Die Ge‐ meinde kann die glossolalische Rede nicht verstehen, damit dient diese Redeform nicht der Erbauung der Gemeinde. Sie hat in der gottesdienstlichen Versammlung keine Funktion; diese liegt nach Kor 14,28 in der privaten Kom‐ munikation mit Gott. 937 Für sich selbst kann der Glossolale in die Kommunika‐ tion mit Gott treten, im Gottesdienst aber hat nach 1 Kor 14,19 das verständliche Sprechen seinen Platz. Die Glossolalie wird innerhalb des abgesteckten Rah‐ mens, in dem Paulus argumentiert, dem religiösen Sprechen innerhalb der Ge‐ meinde bzw. des Gottesdienstes, noch einmal zugespitzt: Sie ist nicht nur reli‐ giöse Sprache wie die Prophetie, das Wort der Erkenntnis oder die Lehre, sondern eben eine religiöse Sondersprache, deren Funktion im Bereich der per‐ sönlichen Kommunikation mit Gott liegt. Die Glossolalie ist von ihrer Kommu‐ nikationsrichtung her Rede des Menschen zu Gott, nicht Rede Gottes an den Glaubenden. 938 Dies wird durch die glossolalischen Sprachformen deutlich, nach denen zu Gott gebetet, ihm gedankt wird und in denen er durch Gesang und Worte gelobt wird. Dieser Kommunikationsform spricht Paulus ihre Berechti‐ gung in Gottesdienst ab: Wenn niemand vorhanden ist, der sie übersetzt, soll sie nicht stattfinden, denn nach 1 Kor 14,26 soll alles zur Erbauung geschehen. In ihrer ‚Reinform’ trägt die Glossolalie nichts für das Anliegen, das Paulus der 3. Die Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 359 <?page no="360"?> 939 Paulus setzt die Bedeutung dieser Kommunikation nicht hoch an, da diese erst im Echaton zur Vollkommenheit gelangt. S. hierzu auch S. 282 ff (Grenzen der Sprach‐ gaben). 940 Reck, Kommunikation, 229. 941 Klauck, Engelszungen, 295. 942 Vgl. Kap. III, 4.6 und Bertram, Sprachphilosophie, 28. korinthischen Gemeinde in 1 Kor 14 ans Herz legt, die οἰκοδομή der Gemeinde, aus: Sie erbaut nur den Glossolalen, nicht die Gemeinde und ist hat daher ge‐ ringeren Wert, das wird in 1 Kor 14,4. 6. 17.19 ersichtlich. Paulus legt auf die Kommunikation zwischen Gott und Mensch einen neuen Fokus, indem er die Kommunikation zwischen Gott und Mensch als sprachli‐ chen Kommunikationsprozess beschreibt. In der religiösen Umwelt des Paulus findet diese v. a. im öffentlichen Kult durch Opfer statt. Auch wenn Paulus den Kommunikationsaspekt nicht intensiver thematisiert, weil der Unterschied zur Prophetie durch die Verständlichkeit bereits aufgezeigt ist, so zeigt er hier den‐ noch die Möglichkeiten der urchristlichen Kommunikation zwischen Mensch und Gott auf. 939 (2) Die Glossolalie wird „dem Anspruch der Kommunikabilität“ 940 , dem alles Sprechen in der Gemeinde unterliegen soll, nicht gerecht. Anders verhält es sich mit den verständlichen Sprachgaben: Sie beschreiben die „horizontale(…) Kom‐ munikation zwischen Gemeindemitgliedern“ 941 . In der Prophetie wendet sich eine Person durch menschliche Sprache an Menschen; das gilt für alle verständ‐ lichen Sprachgaben. Die Kommunikationspartner sind Personen, der Prophet, der Lehrer, etc. und die übrigen Gemeindeglieder. Damit sind Prophetie, Lehre und Erkenntnisrede als Form der zwischenmenschlichen Kommunikation aus‐ gewiesen. Von der alltäglichen zwischenmenschlichen Kommunikation unterscheidet sich die Prophetie durch die Rahmenbedingungen. Sie ist zum einen Bestandteil der gottesdienstlichen Versammlung. Der kommunikative Rahmen der prophe‐ tischen Rede ist also vorrangig die Gemeinschaft der Glaubenden. Paulus the‐ matisiert in 1 Kor 14 nicht die Kommunikation durch Briefe oder Informations‐ weitergabe durch Dritte, sondern die persönliche Kommunikation zwischen Propheten und Gemeindegliedern in der gottesdienstlichen Versammlung. Dies wird in 1 Kor 14,23.26 durch die Formulierungen ἐὰν οὖν συνέλθῃ ἡ ἐκκλησία ὅλη (wenn nun die ganze Gemeinde zusammenkommt) und ὅταν συνέρχησθε (wenn ihr zusammenkommt) ersichtlich. Der Zusammenhang von Gemein‐ schaft und Kommunikation wurde bereits bei Philon deutlich. 942 Paulus be‐ zeichnet mit κοινωνία sowohl das Anteilhaben der Glaubenden an Christus als IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 14 360 <?page no="361"?> 943 Vgl. 1 Kor 1,9 bzw. Gal 2,9 und Hauck, Art. κοινωνία, 804 f.807-809. 944 Vgl. auch Sandnes, Pophecy, 4. 945 Vgl. Reck, Kommunikation, 234. 946 Vgl. Schrage, Korinther 3, 449. 947 Vgl. zum Aspekt der Gemeins