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Eine exegetische Untersuchung zur Autorität der Schrift in ökumenischer Perspektive

0305
2018
978-3-7720-5648-2
978-3-7720-8648-9
A. Francke Verlag 
Paul Metzger

"Allein die Schrift!" Die Bibel als einzige Richtschnur der Kirche? Oder doch ein bischöfliches Lehramt, das die Bibel autoritativ auslegt? Wer hat die letzte Autorität in der Kirche? Wie kommt es zu normativen Entscheidungen? Die vorliegende Untersuchung beantwortet die Frage nach der Autorität in der Kirche, indem sie neutestamentliche Texte untersucht und so Bibelwissenschaft und Ökumene verbindet. Sie stellt die skizzierten Fragen an neutestamentliche Texte und zeigt deren Selbstverständnis auf. Welchen Autoritätsanspruch erheben die biblischen Texte für sich selbst? Was sagen sie über sich?

<?page no="1"?> Sie über sich <?page no="3"?> Paul Metzger Sie über sich Eine exegetische Untersuchung zur Autorität der Schrift in ökumenischer Perspektive <?page no="4"?> © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISBN 978-3-7720- 5648 - 2 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 9 I. 11 1. 11 1.1. 17 2. 19 2.1. 20 2.2. 22 2.3. 24 2.4. 26 3. 27 3.1. 29 3.2. 32 3.3. 34 II. 41 1. 41 1.1. 41 1.2. 45 1.3. 48 1.4. 52 2. 53 2.1. 54 2.2. 57 2.3. 63 3. 66 3.1. 66 3.2. 82 3.3. 101 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umstrittene Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Aufbau der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff „Autorität“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorität als Gewährleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorität als Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorität als Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Grundidee der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Konzentration: Neues Testament . . . . . . . . . . . . . Zweite Konzentration: Monolineare Kommunikation . Dritte Konzentration: Sie über sich! . . . . . . . . . . . . . . . . Die Autorität der Schrift in der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Autorität der Schrift in aktuellen Diskussionen . . . . . . . . Die Frage der Frauenordination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Frage der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Frage der Homosexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Autorität der Schrift in historischer Perspektive - Schlaglichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Initialereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Lehre von der Schriftautorität . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zusammenbruch des „Schriftprinzips“ . . . . . . . . . . Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive . . . . . Die evangelische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die römisch-katholische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . Die orthodoxe Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 3.4. 104 3.5. 112 4. 117 III. 122 1. 122 1.1. 123 1.2. 142 1.3. 145 2. 147 2.1. 148 2.2. 152 2.3. 163 2.4. 169 2.5. 173 3. 176 3.1. 178 3.2. 182 3.3. 189 3.4. 200 3.5. 203 3.6. 204 3.7. 208 3.8. 214 4. 215 4.1. 216 4.2. 218 IV. 221 1. 221 2. 224 2.1. 225 Die evangelikale Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Stand der ökumenischen Diskussion . . . . . . . . . . . . Ertrag: Leitfragen für die exegetischen Untersuchungen . . . . Die Autorität der neutestamentlichen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Autorität des Lukasevangeliums nach seinem Selbstzeugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erläuterungen zu Lk 1,1-4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Absicht des Lukasevangeliums nach Lk 1,1-4 . . . . Der Autoritätsanspruch des Lukasevangeliums nach Lk 1,1-4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Autorität des Johannesvangeliums nach seinem Selbstzeugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erläuterungen zu Joh 20,30-31 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Absicht von Joh 20,30-31 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Autoritätsanspruch von Joh 20,30-31 . . . . . . . . . . . Die Absicherung der Autorität durch Joh 21,24 . . . . . . Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Apk als prophetisches Offenbarungsbuch . . . . . . . Die Apk als Schrift des Propheten Johannes . . . . . . . . . Erläuterungen zu Apk 1,1-3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Absicht der Apk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Autorität des Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorität und Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Absicherung der Autorität in Apk 22,6-21 . . . . . . . Der Autoritätsanspruch der Apk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ertrag: Der Autoritätsanspruch der untersuchten Texte . . . . . Implizite Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Explizite Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Autorität der neutestamentlichen Texte und die Autorität der Schrift Die Erwartungen der Dogmatik an die Schrift . . . . . . . . . . . . . Strukturen der Autorität der Texte nach ihrem Selbstzeugnis Gemachte Autorität: Autorität als Gewährleistung . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 2.2. 226 2.3. 228 3. 231 4. 238 V. 241 1. 241 1.1. 241 1.2. 243 1.3. 246 2. 247 3. 248 4. 250 Vorläufige Autorität: Autorität als Vertragsautorität . . Autonome Autorität: Autorität als charismatische Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ökumenische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antike Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuzeitliche und moderne Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . 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Mir fiel bereits während meiner Einarbeitung in das Fachgebiet des Catholica-Re‐ ferenten auf, dass die Ergebnisse und Methoden der aktuellen Bibelwissenschaft zwar in jüngeren ökumenischen Dokumenten Beachtung erfahren, doch immer noch weder in dogmatischen Diskussionen noch in Stellungnahmen von Kir‐ chenleitungen verschiedener Konfessionen speziellen und vor allem wirksamen Niederschlag finden. Dies ist nicht nur um der Sache selbst willen bedauerlich, sondern vor allem deshalb, weil viele konfessionelle Auseinandersetzungen - seien es fundamen‐ taltheologische Weichenstellungen oder aktuelle ethische Sachfragen - einen Bezug zu biblischen Texten aufweisen. Die biblischen Texte werden im Kon‐ fliktfall aber oft lediglich als Argumente oder Belege angeführt, ohne deren Kontext genügend zu beachten. Die prinzipiell durchaus erkennbare Hoch‐ schätzung der Heiligen Schrift wird dann konterkariert durch das sorg- und bedenkenlose Zitieren vermeintlich passender Belegstellen. Die Warnung, dass ein Vers allein kein Argument in einer Diskussion darstellen kann, verhallt dabei oft ungehört. Die grundlegende Idee dieser Untersuchung ist deshalb, die Schrift um ihrer selbst willen zu Wort kommen zu lassen. Ich folge damit dem protestantischen Instinkt, der gerne fragt: „Was sagt die Schrift dazu? “ und frage nun: „Was sagt sie über sich? “ Sehr verdichtet lässt sich darauf mit der vorliegenden Untersu‐ chung antworten: Die biblischen Texte brauchen kein Lehramt, das über sie urteilt, aber sie brauchen ein Amt, das Garantie für sie übernimmt. Wenn es stimmt, dass sich die verschiedenen Konfessionen einander annä‐ hern, sofern sie Christus nahekommen und Christus in erster Linie in der Schrift zu finden ist, dann scheint meine Hoffnung berechtigt, dass ein gemeinsames Verständnis der Heiligen Schrift im Sinne des Selbstverständnisses der Schrift einen wesentlichen Beitrag zum ökumenischen Fortschritt darstellen könnte. Da die abendländische Kirche auch und gerade im Streit über die Autorität der Schrift für die Kirche zerbrochen ist, erscheint eine exegetische Beschäftigung mit diesem Thema aussichtsreich in Bezug auf eine konstruktive Annäherung. Die Idee der Untersuchung, ihre Methodik und ihr Fortgang wurden von vielen Gesprächen begleitet, und ich habe auf unterschiedliche Weise viel Un‐ terstützung erfahren. Der ehemalige Leiter des Konfessionskundlichen Instituts, <?page no="10"?> Dr. Walter Fleischmann-Bisten M. A., hat die Arbeit interessiert verfolgt, schließlich das Manuskript Korrektur gelesen und mit wertvollen Hinweisen versehen. PD Dr. Gisa Bauer war als kluge Gesprächspartnerin in nahezu jeder Phase der Arbeit nur eine Tür entfernt und immer bereit, zwei Zigaretten lang zu diskutieren. Mein Vater, Rektor i.R. Alfred Metzger, hat die einzelnen Kapitel und schließlich die ganze Arbeit Korrektur gelesen. Ebenso haben sich Pfarrer i.R. Wieland Schubing und das Ehepaar Dr. Jürgen und Dr. Gisela Stölting um das Manuskript verdient gemacht. Ihnen gebührt mein herzlicher Dank. Im universitären Kontext waren mir Prof. Dr. Friedrich W. Horn, Prof. Dr. Jörg Lauster und Prof. Dr. Michael Tilly wertvolle Gesprächspartner, wofür ich ihnen ebenfalls danke. Sehr zu danken habe ich der Evangelischen Kirche der Pfalz, die einen großen Teil der Druckkosten übernommen hat. Dies gilt ebenso für den Pfälzischen Bibelverein und den Evangelischen Bund Pfalz. Weiter danke ich Frau Isabel Johe, Elena Gastring und Vanessa Weihgold vom Francke-Verlag für die verlegerische Betreuung des Manuskripts. Zuletzt geht mein Dank an meine Frau und meine Kinder, die die Entstehung der Untersuchung mit großer Geduld und zuweilen freundlicher Irritation an‐ gesichts akademischer Dispute begleitet und mitgetragen haben. 10 Vorwort <?page no="11"?> I. Einleitung Sola Scriptura! Allein die Schrift! Diese Wendung bezeichnet einen Kernge‐ danken reformatorischer Theologie und ist bis heute Kennzeichen der evange‐ lischen Konfessionsfamilie. Allein die Schrift soll die maßgebliche Autorität sein. Aber: Wollte die Schrift allein sein? Kann sie das sein? Beansprucht sie ei‐ gentlich selbst die Autorität, das zu sein, was insbesondere die evangelische Theologie ihr zuweist? Diese Fragen umreißen die grundlegende Idee der vorliegenden Untersu‐ chung. Sie fragt nach der Autorität, die die Schrift für sich selbst in Anspruch nimmt, und vergleicht diese mit der Autorität, die der Schrift von Seiten der theologischen Theoriebildung zugemutet wird. Gleichzeitig versucht die Untersuchung, einem bekannten Grundsatz der ökumenischen Diskussion gerecht zu werden: Je näher die verschiedenen Kon‐ fessionen Christus kommen, desto näher finden sie auch zueinander. Da Christus unzweifelhaft in den biblischen Texten zu finden ist, da sich sein Antlitz auf ihnen spiegelt, kann das Bemühen um die Autorität der Schrift letztlich nur in einem ökumenischen Horizont geschehen. Es darf deshalb darauf gehofft werden, dass von dieser Untersuchung Impulse für die weitere ökumenische Diskussion ausgehen. 1. Umstrittene Autorität Wenn Autorität diskutiert wird, ist sie bereits beschädigt. Autorität lebt davon, fraglos akzeptiert und anerkannt zu werden. Autorität wird angerufen, bei Dis‐ kussionen ins Feld geführt und auf sie wird rekurriert. Autorität entscheidet am <?page no="12"?> 1 Vgl. Landmesser / Popkes, Einleitung, 9, die in Bezug auf biblische Texte feststellen: „In der Praxis der glaubenden Menschen und für das Handeln im Raum der Kirchen werden sie oft mit dem Anspruch besonderer Autorität und Verbindlichkeit eingesetzt und in Erinnerung gebracht. Die notwendige historische Betrachtung dieser heterogenen Texte macht es schwer, eine mit den biblischen Schriften gegebene Verbindlichkeit als selbstverständlich anzunehmen.“ 2 Vgl. Bauer / Hacke, Thema, 4. 3 Vgl. zu der einschränkenden Bemerkung Kinzig, Verbalinspiration, 75. Gerade im Hin‐ blick auf die weltweite Ökumene muss gesehen werden, dass die Schriftautorität als Verbalinspiration nicht ad acta gelegt ist. Im Gegenteil bezieht sich die Krise der Schrift‐ autorität in erster Linie nur „auf den europäischen Protestantismus, und selbst dort nur auf einen relativ eng begrenzten akademischen Bereich. Weitet man den Blick hingegen über die Universitäten hinaus, bezieht man den Katholizismus mit ein […], blickt man gar über die Grenzen Europas hinaus auf die Gegenden, auf die das abendländische Christentum weltweit ausgestrahlt hat, so sieht die Sache doch etwas anders aus.“ (Kinzig, Verbalinspiration, 75) Kinzig zeigt im Fortgang seiner Gedanken weiter, dass „die Verbalinspiration in der Hierarchie theologischer Sätze an die Spitze“ (93) rücken kann, dass sie „außerhalb Westeuropas nie an Attraktivität verloren“ (97) hat und sich heute noch „in evangelikalen und pentekostalen Kreisen […] größter Beliebtheit“ (101) erfreut. Sobald man sich in Erinnerung ruft, dass die evangelikalen und pentekostalen Bewegungen, die eigens zu differenzieren wären (vgl. dazu Kapitel II.3.4.), diejenigen Gruppen bilden, die innerhalb des Christentums die höchsten Zuwachsraten zu ver‐ zeichnen haben, und blickt man dann noch auf das orthodoxe Christentum, dessen Fragestellungen ganz anders gelagert sind (vgl. dazu Kapitel II.3.3.), dann lassen sich die gegenwärtigen, kontroversen Diskussionen um die Auslegung der Bibel in nahezu allen konfessionellen Weltbünden verstehen. Deshalb spricht Söding, Anspruch, 17, nicht ohne Anhalt von einem „weltweit grassierenden Fundamentalismus“, der es nötig macht, die Grenzen der biblischen Leistungsfähigkeit aufzuzeigen. In ökumenischer Perspektive ist das Thema dieser Untersuchung also höchst umstritten und von daher einer Behandlung wert. 4 Vgl. Kapitel II.2. Vgl. Luz, Hermeneutik, 99: „Heute hat sich faktisch das protestanti‐ sche ,Sola-Scriptura‘-Prinzip weitgehend aufgelöst.“ Vgl. aus römisch-katholischer Sicht Reiser, Autorität, 91, der grundsätzlicher im Hinblick auf die Autorität der Schrift an sich formuliert: Die „Heilige Schrift hat in der Moderne an Autorität stark eingebüßt. Das gilt nicht nur für die wissenschaftliche Exegese, sondern für die Kirche im Westen Europas allgemein. Faktisch wird sie nicht als Heilige Schrift behandelt, sondern wie ein Klassiker.“ Ende verbindlich. 1 Deshalb gibt Autorität Halt und Verlässlichkeit. Sobald sie in Frage gestellt wird, verliert sie ihre Funktion. 2 Die Autorität der Schrift ist seit der Aufklärung (zumindest im Einflussbe‐ reich europäischer Theologie 3 ) massiv in Frage gestellt worden. 4 Daraus ergibt sich die Frage, welche Funktion die Schrift im Rahmen der theologischen Ur‐ teilsbildung einnimmt bzw. inwiefern sie für die Urteilsbildung eine oder die 12 I. Einleitung <?page no="13"?> 5 Hinsichtlich der ethischen Urteilsbildung führt Zimmermann, Ethik, 295, vor, dass ge‐ genwärtig die Bibel auch als Quelle christlicher Ethik offensichtlich nicht hochgeschätzt wird: „Die Bibel hat als Maßstab für die gegenwärtige Ethik ausgedient.“ Allerdings ist direkt zu bemerken, dass die Bibel allenfalls - wie Zimmermann zeigt - anscheinend lediglich auf der Ebene des fachwissenschaftlichen Ethik-Diskurses keine Rolle mehr spielt, dass „die systematisch-theologische Ethik der Bibel keine Bedeutung mehr bei‐ zumessen scheint“ (Zimmermann, Ethik, 295), sie aber sehr wohl dort wichtig ist, wo mit biblischen Zitaten ethisch relevante Entscheidungen und daraus resultierende Ver‐ haltensvorschriften begründet werden. Vgl. Kapitel II.1. Zimmermann, Ethik, 296, stellt also zu Recht die Frage: „Hat die Bibel als ,norma normans‘, als Maßstab und Orientie‐ rung des Handelns also, 500 Jahre nach der Reformation ausgedient? “ Diese Frage lässt sich genauso für die theologische Theoriebildung stellen und führt direkt damit in das Interesse dieser Untersuchung hinein: Welche Rolle spielt die Bibel für die gegenwärtige theologische Theoriebildung in den verschiedenen Konfessionen? Und wie wird dies von der Bibel her begründet? 6 Petzold, Fundamentaltheologie, 433. Da Fundamentaltheologie u. a. auf die Explikation des in Christus begründeten „Glaubens im Horizont gegenwärtiger Daseinserfahrung und Wissenschaftsverantwortung“ (Petzold, Fundamentaltheologie, 433) zielt, muss die Frage nach der Autorität der Schrift dringend geklärt werden, da nur so die systema‐ tisch-theologische Besinnung auf den Glauben und dessen Positionen „angesichts der Herausforderungen äußerer Infragestellung und innerer Suche nach Vergewisserung“ (Petzold, Fundamentaltheologie, 433) geleistet werden kann. 7 Vgl. Petzold, Prinzip, 293. 8 Vgl. Mauz, Machtworte, 114, der seine Untersuchung ebenfalls an der „grundsätzlichen sensiblen Schnittstelle“ zwischen Exegese und Dogmatik verortet. entscheidende Autorität darstellt. 5 Durch diese Frage bewegt sich die Arbeit im Bereich der Fundamentaltheologie, die als wissenschaftliche „Selbstauslegung des Glaubens“ 6 verstanden wird. 7 Gleichzeitig ist damit das Feld der Konfessi‐ onskunde und der ökumenischen Theologie betreten, in dessen Kontext die Frage eingebettet wird. Die Antwort auf diese Frage wird allerdings in exegeti‐ scher Perspektive gesucht. So verbindet die Untersuchung verschiedene Arbeitsbereiche der Theologie miteinander, 8 um so einen neuen Impuls zur Fragestellung vor allem im Hinblick auf die ökumenische Diskussion und die Bedeutung der neutestamentlichen Wissenschaft für die Konfessionskunde zu finden. Damit folgt sie der sowohl von kirchenleitenden Personen wie auch ausgewiesenen Ökumenikern gewon‐ nenen Einsicht, dass sich die christlichen Konfessionen nur dann einander an‐ 13 1. Umstrittene Autorität <?page no="14"?> 9 Vgl. die Überzeugung des evangelischen Kirchenpräsidenten der Pfalz, Christian Schad, Leitfaden, 16: „Ökumenische Fortschritte wird es meines Erachtens nur geben, wenn die Kirchen zu ihren apostolischen Ursprüngen und das heißt: in die biblischen Texte zurückkehren, um von dort aus wieder mit jenem Anfang anzufangen, der als Grund der Kirche bezeugt wird, nämlich Jesus Christus. Ich möchte es geradezu als ökumeni‐ sche Regel formulieren: Eine substanzielle Annäherung zwischen den christlichen Kon‐ fessionen wird es nur im Rückgang in die Texte der Heiligen Schrift geben! “ Ihm stimmt aus römisch-katholischer Sicht der Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, Kurt Kardinal Koch, Exegese, 31, zu: „Auch die Überwindung dieser Spaltung und die Wiederherstellung der Einheit der Kirche können umgekehrt nur auf dem Weg einer gemeinsamen Lektüre und Interpretation der Hei‐ ligen Schrift möglich werden. Das gemeinsame Hören auf das in der Heiligen Schrift bezeugte Wort Gottes erweist sich als unabdingbar, um die Einheit im Glauben wie‐ derzufinden.“ 10 Thönissen, Zeitalter, 97. Er fährt fort: „Um den rechten Sinn der Heiligen Schrift in der Auslegung der kirchlichen Traditionen ging der theologische Streit im Abendland, die Wiedergewinnung der Autorität der Heiligen Schrift bildet heute die Basis für die öku‐ menische Verständigung.“ 11 Vgl. Joest, Fundamentaltheologie, 149. nähern können, wenn sie sich über die Bedeutung der Schrift im Klaren sind; 9 denn „ohne eine Verständigung über die Autorität der Heiligen Schrift sind weitere Schritte aufeinander zu nicht möglich.“ 10 Zu diesem Ziel möchte die Untersuchung einen Beitrag leisten. Die zentrale Idee, der sie sich verpflichtet weiß, wird dabei im Haupttitel ausgedrückt: Sie über sich! Diese Formulierung zeigt bereits die Herausforde‐ rung an, die durch die fundamentaltheologische bzw. konfessionskundliche Frage und die exegetisch zu suchende Antwort gegeben ist. Die Fundamentaltheologie bestimmt in ihrem Interessensbereich die Frage nach der Schrift als die nach der „Quelle der Theologie“ und muss sie deshalb auch als ein Problem des Kanons diskutieren. 11 Aus der „Bibel“ wird die (Heilige) 14 I. Einleitung <?page no="15"?> 12 Diese Untersuchung schließt sich hinsichtlich ihrer Begrifflichkeit an diesem Punkt an den verbreiteten Konsens der Forschung an. Prägnant bringt Heckel, Schrift, 45, diesen auf den Punkt: „Bei der ,Bibel‘ handelt es sich um einen literarischen Begriff, der zu‐ nächst für einzelne biblische Bücher verwendet und seit Chysostomus […] als umfas‐ sender Oberbegriff für die kanonisch gewordene Sammlung alt- und neutestamentli‐ cher Schriften gebraucht wird. Der Ausdruck ,Heilige Schrift‘ dagegen ist ein theologischer Begriff, der auf die Verwendung einer Schrift für die Lesung im Gottes‐ dienst hinweist, eine göttliche Autorität zum Ausdruck bringt und einen normativen Anspruch erhebt.“ (kursiv im Original) Vgl. zur Begrifflichkeit auch Schwöbel, Bibel, 1427: „,B[ibel]‘ ist ein lit[erarischer] Begriff, der die Sammlung der Texte des alt. und ntl. Kanons bezeichnet.“ Und Schwöbel, Bibel, 1428: „Die ,Schrift‘ ist kein lit[erarischer], sondern ein theol[ogischer] Begriff, der z. B. in der Beurteilung, ob eine Aussage ,schrift‐ gemäß‘ sei, normativ gebraucht wird.“ In diesem Sinn verwendet die vorliegende Un‐ tersuchung fortan den Terminus „Schrift“, der in der Regel gleichbedeutend mit „Heilige Schrift“ ist. Dass dabei auch schon der Begriff „Bibel“ einen Titel darstellt, zeigt Söding, Buch, 16-29, der die theologischen Implikationen verschiedener Begriffe aufzeigt. Vgl. auch Reiser, Autorität, 87. 13 Vgl. Lauster, Schriftauslegung, 195 14 Vgl. Bibelkommission, Inspiration, 84: „Unter den Büchern der christlichen Bibel kommt den Evangelien als schriftlichem Zeugnis vom Höhepunkt der göttlichen Offenbarung ein hervorragender Platz zu.“ 15 Joest, Fundamentaltheologie, 151 (kursiv im Original). 16 Vgl. Petzold, Prinzig, 293. 17 Die einzelnen Positionen der verschiedenen Konfessionen werden in Kapitel II.3. dar‐ gestellt. „Schrift“. 12 Die Fundamentaltheologie diskutiert folglich die Fragen, wie und warum die biblischen Texte als „Heilige Schrift“ anzusehen sind. Damit hängt die Frage zusammen, ob die Bibel als Ganze „Heilige Schrift“ darstellt oder ob es einen „Kanon im Kanon“ geben darf, der eine höhere Autorität besitzt als andere Schriften. Dieser Kernbestand kann historisch aufgefasst werden, etwa mit einer gewissen Nähe zu den Ereignissen, die in den Texten überliefert werden. 13 Er kann aber auch sachlich-theologisch begründet werden. So kann z. B. den Evangelien aufgrund ihres Inhalts eine höhere Dignität zugesprochen werden als den Briefen. 14 Schließlich muss die Fundamentaltheologie klären, ob „die kanonische Bedeutung als maßgebende Quelle der Begegnung mit der Of‐ fenbarung exklusiv nur für die biblischen Schriften zu behaupten“ 15 ist, sprich: Kann es noch andere Quellen der Offenbarung geben? 16 Diese Frage wiederum führt bereits in den ökumenischen Horizont der zu verfolgenden Fragestellung hinein. Denn dort geht es um die Frage, ob z. B. die Überlieferung der Kirche wesentlich zur Schrift hinzutreten kann und ob es eine Instanz geben muss oder darf, die die Schrift autoritativ und vielleicht infallibel auslegen darf. 17 15 1. Umstrittene Autorität <?page no="16"?> 18 Vgl. zu den Grundprinzipien der Exegese Luz, Hermeneutik, 136-138. 19 Landmesser, Wissenschaft, 185. Die Formulierung lässt ihrerseits erkennen, dass die Texte, die Gegenstand der exegetischen Aufmerksamkeit sind, zuvor als „unhinter‐ gehbar“ bestimmt sein müssen. Insofern hängt die Exegese in dieser Perspektive wie‐ derum von kirchlicher Setzung ab, konkret: von der Kanonizität der Texte. 20 Vgl. Landmesser / Klein, Einführung, 2. 21 Beide Zitate: Landmeser, Unity, 182. 22 Vgl. Koch, Exegese, 33: „Ohne die Kirche wäre die ,Heilige Schrift‘ letztlich nichts an‐ deres als eine historische Sammlung von Schriften, deren Entstehung sich durch ein ganzes Jahrtausend hindurchgezogen hat.“ Ihm stimmt Reiser, Autorität, 87, zu: „Mit der Autorität der Schrift hat der Exeget nicht als Exeget zu tun, sondern nur als Christ, der in einer kirchlichen Tradition steht, die dieses Buch, die Schrift genannt, als Auto‐ rität betrachtet.“ Dieser Punkt scheint ökumenisch anschlussfähig. Vgl. die ähnlichen Antworten auf die Frage: „Was ist die Bibel? “ von Karl Barth und Friedrich D. E. Schlei‐ ermacher in Kapitel II.2.2.1. 23 Vgl. zur ökumenischen Diskussion Kapitel II.3.5. In exegetischer Perspektive löst sich die „Heilige Schrift“ aus methodischen Gründen zunächst prinzipiell in die Vielzahl ihrer Texte auf. 18 Sie wird (wieder) zur „Bibel“. Der Exegese geht es folglich darum, „die für den christlichen Glauben unhintergehbaren Ausgangstexte in ihrem geschichtlichen Kontext für die ge‐ genwärtige theologische Theoriebildung und für die gegenwärtige kirchliche Praxis verständlich zu machen.“ 19 Erst von der Vielstimmigkeit her werden die übergeordneten Linien diskutiert und nach dem Zusammenhalt der Textsamm‐ lung gefragt. Dieser kann für die ganze Bibel in der gemeinsamen Bezeugung des Glaubens an Gott bestimmt werden 20 oder im Hinblick auf das Neue Testa‐ ment als „common focal point“, als „interpretative unity“ 21 bezeichnet werden, die darin besteht, dass die neutestamentlichen Texte eine christologische Aus‐ richtung aufweisen. Der Begriff „(Heilige) Schrift“ ist demnach exegetisch nur vorsichtig zu ver‐ wenden, da er das Ergebnis fundamentaltheologischer Überlegungen darstellt. Er setzt letztlich also eine Kirche voraus, die in den biblischen Texten ihre „Hei‐ lige Schrift“ erkennt. 22 Als Arbeitsbegriff ist er exegetisch deshalb kaum brauchbar. „Sie über sich“ drückt also nicht nur die zentrale Idee der Untersuchung aus, sondern zeigt zugleich die Problematik der Verbindung der verschiedenen Teil‐ disziplinen an. Der Untertitel präzisiert deshalb das Anliegen der Arbeit und gleichzeitig die exegetische Perspektive, die die Durchführung bestimmt. Die Untersuchung will mit Hilfe einzelner biblischer Texte die Autorität zur Sprache bringen, die diese Texte selbst für sich in Anspruch nehmen und sie so in die ökumenische Diskussion über sich einbringen. 23 Dies scheint im bisherigen Ver‐ 16 I. Einleitung <?page no="17"?> 24 Vgl. Mauz, Machtworte, 135, der beklagt: „Arbeiten von Exegetinnen und Exegeten zu finden, die sich den biblischen ,heiligen Texten‘ oder verwandter Schriftstellen zu‐ wenden, um von der Klärung bibelwissenschaftlicher Fragen abgesehen zugleich auch und ausdrücklich schrifttheologisch Position zu beziehen, ist nicht eben leicht.“ 25 Vgl. Söding, Anspruch, 14, der diese Frage in Bezug setzt zum generellen „Standing“ der Exegese innerhalb der Theologie. In dieser Hinsicht beklagt Kügler, Gegenwart, 11: „Theologinnen und Theologen anderer Disziplinen gehen auf exegetische Befunde ent‐ weder gar nicht ein oder sie präferien eine eigene Auslegung der Texte.“ Umgekehrt stellt Slenczka, Historizität, 14, fest: „Wenn es der Dogmatik um den gegenwärtigen Wahrheitsanspruch der biblischen Texte und der christlichen Tradition geht, dann ist ihr mit dem, was die gegenwärtige Exegese bietet, nicht immer geholfen.“ 26 Mauz, Machtworte, 116. 27 Vgl. Mauz, Machtworte, 114-115, dem es ebenfalls darum geht, „dem Verhältnis dog‐ matischer Fremdbeschreibungen der - einen - Schrift und den vielfältigen Selbstbe‐ schreibungen der Schriften in der Schrift nachzugehen.“ (kursiv im Original) 28 Vgl. Petzold, Prinzip, 295, der auf der Ebene der Lehre urteilt: Die „singuläre Autorität der Schrift - im causativen wie im normativen Sinne - ist auch zwischen den Konfes‐ sionen nicht umstritten.“ Dass dies in der Praxis - auch innerhalb einer Konfession - trotzdem zu ganz verschiedenen Ergebnissen führt, zeigt Kapitel II.1. 29 Vgl. Schwöbel, Bibel, 1427, der die normative Kraft der Schrift mit ihrem gottesdienst‐ lichen Gebrauch in Beziehung setzt. lauf der Diskussion nicht in ausreichendem Maß der Fall gewesen zu sein, 24 da die Frage nach der Autorität der „Schrift“ vor allem im fundamentaltheologi‐ schen oder ökumenischen Bereich geführt wurde, ohne dass dabei die Autorität der einzelnen biblischen „Schriften“ eigens beachtet wurde. 25 Es scheint folglich übersehen worden zu sein: „Auch die biblischen Texte selbst verhalten sich zur Frage ihrer Identität, und damit - mittelbar oder unmittelbar - auch Autorität, nicht indifferent.“ 26 Die Ergebnisse dieser Arbeit werden diese These bestätigen und zeigen, dass die Texte durchaus selbst gewisse Formen von Autorität auf‐ weisen. Die Autorität der „Schrift“ und die Autorität der (im vorliegenden Fall: neu‐ testamentlichen) „Schriften“ werden also in ein Verhältnis gesetzt 27 und zugleich gefragt, ob und welche Autorität sie gegenwärtig beanspruchen können. 1.1. Der Aufbau der Untersuchung Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Beobachtung, dass die verschiedenen Diskussionen zur Schriftautorität in verschiedenen Kirchen die Bibel lediglich als gemeinsamen Nenner zeigen. Konsens ist also, dass sie ein zentrales Thema der theologischen Theoriebildung und der kirchlichen Praxis darstellt. 28 Dabei steht vor allem ihre hervorgehobene Verwendung in gottesdienstlichen Voll‐ zügen außer Frage. 29 Im Rahmen der theologischen Theoriebildung ist dies 17 1. Umstrittene Autorität <?page no="18"?> 30 Vgl. Mauz, Machtworte, 4: „Die Bibel stellt für alle Konfessionen des Christentums eine grundlegende Referenz dar.“ 31 Vgl. Carson, Facets, 3-40, der die unterschiedlichen Diskussionsfelder der gegenwär‐ tigen Debatte um die Schriftautorität skizziert. 32 Harrisville / Sundberg, Bible, 11. Ähnlich kritisch äußert sich Reiser, Autorität, 87, der meint, „dass die Autorität der Schrift heute für den Großteil auch der kirchlichen Exe‐ gese, katholischer wie protestantischer, gar keine erkennbare Rolle mehr spielt.“ 33 Deutlicher als dies im Bereich der Dogmatik der Fall ist, lässt sich dies im Bereich der theologischen Ethik beobachten. Vgl. Zimmermann, Ethik, 295. 34 Vgl. zum Thema „Schriftautorität und Kirchenleitung“ Klaiber, Kirchenleitung, 92-96; Hein, Autorität, 97-100. 35 Vgl. Mauz, Machtworte, 115: „Die Frage nach der theologischen (um die klassische Wendung aufzunehmen) ,Autorität der Bibel‘ ist ohne Bezugnahme auf die Bibel selbst nicht zu beantworten.“ praktisch gesehen anders. Dass sie auch hier eine zentrale Rolle spielt, scheint deutlich, da sich alle christlichen Kirchen in irgendeiner Form auf die Bibel als Grundlage ihres eigenen Seins und Handelns berufen. 30 Wie sie diese Rolle spielt und welche Facetten dabei bedacht werden müssen, ist hingegen weit weniger bestimmt. 31 Grundsätzlich ist dabei eine „increasing tendency to shy away from confident use of the Bible as the principal source for theological judgement“ 32 festzustellen. 33 Trotz der unzureichenden Klarheit, wie in der Gegenwart konkret mit der Bibel umzugehen ist, werden in den Auseinandersetzungen um nahezu alle konkreten Probleme der christlichen Kirchen Bibelzitate als Argumente be‐ schworen oder komplexe biblische Auslegungen als Basis theologischer Argu‐ mentationsgänge verstanden. Dabei sind sowohl theoretische wie praktische Vorgehensweisen unterschiedlich, 34 doch steht im Zentrum der Gemeinsam‐ keiten zwischen den Konfessionen eben die Bibel selbst. Deshalb ist sie selbst dahingehend zu befragen, welche Rolle sie sich selbst zuschreibt. 35 In dem ersten Hauptteil werden in methodischer, historischer und ökumeni‐ scher Perspektive die Grundlagen für die exegetischen Untersuchungen gelegt. Eine kurze Erläuterung des methodischen Zugriffs der Arbeit eröffnet die Untersuchung. Zuerst werden die verschiedenen semantischen Potentiale des Begriffs „Autorität“ skizziert und dann die Grundidee der Arbeit vorgestellt. Danach wird anhand von drei Fragekomplexen vorgeführt, dass die Diskussion um die Autorität der Schrift kein Glasperlenspiel im theologischen Elfenbein‐ turm darstellt, sondern konkrete Auswirkungen auf die Wirklichkeit der per‐ sönlichen Lebensführung wie auch auf gesellschaftliche Fragen hat. Deshalb hat diese Untersuchung in der Konsequenz auch eine praktische Bedeutung. Als Belege werden die aktuellen Diskussionen um die Frauenordination, das christ‐ liche Familienbild und die Haltung zur Homosexualität vorgeführt. 18 I. Einleitung <?page no="19"?> 36 Vgl. Roloff, Autorität, 81, der für seine Zwecke den Begriff Autorität allein schon deshalb weit fassen will, weil dies „die diffuse Bedeutungsgeschichte“ nahelege. 37 Der Überblick folgt in wesentlichen Punkten den Ausführungen von Miethke, Autorität I, 17-32. Auf die Schwierigkeiten, den Begriff deutlich zu fassen, macht Geuss, Athen, 30, aufmerksam: „Die begriffsgeschichtliche Situation ist in Sachen ,auctoritas‘ beson‐ ders dunkel und verwickelt.“ Vgl. auch grundlegend Rea, Authority, 872-898. In einem eher historisch ausgerichteten Schritt fragt die Untersuchung so‐ dann, wie es zur Hochschätzung der Bibel vor allem in der evangelischen Kon‐ fessionsfamilie gekommen ist. So wird erklärt, warum das hier untersuchte Thema eigentlich einen solch wichtigen Rang für Theorie und Praxis einnimmt. Daran schließt sich als dritter Schritt ein Überblick über den aktuellen Stand der ökumenischen Diskussion an. Verschiedene konfessionelle Positionen werden skizziert und dabei die wesentlichen Unterschiede erläutert. Damit wird der Horizont abgeschritten, in dem die exegetischen Untersuchungen fruchtbar werden wollen. Im zweiten Hauptteil werden die Texte exegetisch untersucht, die für diese Untersuchung gewinnbringend sind. Es handelt sich dabei um die hier als „Me‐ tatexte“ bezeichneten Perikopen Lk 1,1-4; Joh 20,30-31 (mit Joh 21,24-25) und Apk 1,1-3 (mit Apk 22,6-20). Das Ergebnis bündelt die einzelnen Untersuchungen und setzt sie mit der gegenwärtigen Diskussion um die Autorität der Schrift in Beziehung. Diese Un‐ tersuchung erhofft sich davon, einen neuen Aspekt in diese Diskussion ein‐ bringen zu können. 2. Der Begriff „Autorität“ Da es im vorliegenden Zusammenhang nicht darum geht, die komplexe Be‐ griffsgeschichte von „Autorität“ breit auszuführen, 36 ist es sinnvoll, den Begriff „Autorität“ so auszudifferenzieren, dass er für die Untersuchung heuristisch sinnvoll erscheint. Deshalb soll er grob in drei Bedeutungen eingeteilt werden. 37 19 2. Der Begriff „Autorität“ <?page no="20"?> 38 Vgl. Geuss, Athen, 34, der die „auctoritas“ in Bezug zum „auctor“ setzt und diesen de‐ finiert als jemanden, „der die Macht und Befugnis besitzt,“ eine Handlung auszuüben. Ein Verkäufer kann in diesem Sinn ein „auctor“ sein, da er das Verkaufsgut in seiner Macht, seinem Besitz hat und es deshalb sowohl verkaufen darf als auch für seinen Wert garantieren kann. 39 Deshalb ist verständlich, dass auch die Diskussion der Schriftautorität immer an ihre Wahrheit angelehnt ist. Vgl. Rea, Authority, 872: „Discussions of the authority of Scrip‐ ture are commonly intertwined with discussions of the truthfulness of Scripture.“ 40 Wieacker, Recht, 12. 41 Miethke, Autorität I, 18. 42 Vgl. Veit, Autorität, 724. 43 Bauer / Hacke, Thema, 4. 2.1. Autorität als Gewährleistung Im Zivilrecht des antiken Roms bezeichnet der Begriff „auctoritas“ die Gewähr‐ leistung, die z. B. ein Verkäufer für seine Ware übernimmt. 38 Eine Person über‐ nimmt damit Verantwortung, entweder für eine andere Person, indem sie für deren Verlässlichkeit bürgt, oder für eine Sache, deren Qualität sie garantiert, oder für eine Aussage, deren Wahrheit sie bezeugt. 39 Autorität ist in diesem Sinn erstens immer an die Person gebunden, die sie garantiert, und zweitens abge‐ leitet von einer anderen Qualifikation der garantierenden Person. Die Autorität wird dabei durch eine besondere „Eigenschaft“ der Person erworben, die unter‐ schiedlich bestimmt sein kann: materieller Reichtum, Amtsvollmacht, Fach‐ wissen, soziale Stellung. Autorität ist demnach in diesem Sinn eine „Ansehens‐ macht“, eine „indirekte Macht“ 40 , die nicht direkt ausgeübt werden muss. Diese Form der Autorität bleibt konkret auf die sie aufweisende, nicht aber bereits notwendig auch ausübende Person bezogen, was zugleich bedeutet, „daß auc‐ toritas den Grund für ihren Gehorsamsanspruch in sich trägt, daß die Bestim‐ mungsgründe des durch auctoritas induzierten Handelns nicht erörtert zu werden brauchen.“ 41 In diesem Sinn ist die Anrufung von „Autoritäten“ ein Be‐ weisverfahren für die Richtigkeit einer Aussage 42 und funktioniert reibungslos nur „als eingespielte, etwaige Rückfragen neutralisierende Autorität.“ 43 Als Vorgriff auf die eigentliche Untersuchung kann vermutet werden, dass der christliche Vorstellungshorizont an dieses Verständnis der Autorität an‐ knüpft. Es dürfte klar sein, dass Gott (bzw. Jesus Christus) die eigentliche Au‐ torität darstellt (so z. B. deutlich in Apk 1,1-3). Im Blick auf das Neue Testament wird diese Autorität in Jesus Christus inkarniert. Die erste und eigentliche Au‐ torität des christlichen Glaubens hängt damit an der Person Christi. Sie kann als „charismatische“ Autorität bezeichnet werden, was der Autoritätsbestimmung Max Webers folgt. Dieser bestimmt den dritten Typ einer legitimen Herrschaft als den „charismatischen Charakter“. Er beruht „auf der außeralltäglichen Hin‐ 20 I. Einleitung <?page no="21"?> 44 Weber, Wirtschaft, 124. 45 Mit Geuss, Athen, 35, wäre Christus damit als „Ur-Auctor“ anzusehen, der „in der Ver‐ gangenheit die Initiative ergriffen, einen Prozess eingeleitet, einen Grundstein gelegt oder eine Institution gestiftet hat.“ Ihm kommen damit normative Befugnis, Ansehen und Einfluss in dem Bereich zu, den er selbst initiiert hat. 46 Miethke, Autorität I, 20. 47 Miethke, Autorität I, 20. gabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen.“ 44 Dieser Typ von Autorität steht also am Anfang der christlichen Überlieferungskette. Als cha‐ rismatische Person garantiert Christus selbst seine Botschaft. 45 Da Christus aber innerweltlich nach Tod und trotz Auferstehung nicht verrechenbar ist, sieht sich der christliche Glaube gezwungen, Instanzen zu benennen, in denen diese Au‐ torität greifbar ist. Ihre Aufgabe besteht primär in der Gewährleistung, dass die Botschaft Christi auch ohne ihn garantiert werden kann. Wichtigste Bezugs‐ punkte sind dabei die Texte, die von Christus erzählen und darin und dadurch seine Botschaft tradieren und deshalb letztlich im Begriff stehen, zu einem Kanon formiert zu werden, und die regula fidei, „die als principalis auctoritas bezeichnet werden kann“. 46 Welche Autorität die Texte präzise für sich formu‐ lieren, ist die grundlegende Frage dieser Untersuchung. Die inhaltliche Identität der christlichen Botschaft wird von Jesus, dem ei‐ gentlichen Inhaber der charismatischen Autorität, an die Apostel weitergegeben und durch diese wiederum der ganzen Kirche. Tertullian, der wesentlich zur Aufnahme des „auctoritas“-Begriffs in die kirchliche Sprache beigetragen hat, vermerkt dazu: „Wir haben die Apostel des Herrn zu Gewährsmännern [auc‐ tores], welche nicht einmal selbst nach ihrem Gutdünken etwas auswählten, um es einzuführen, sondern welche die von Christus empfangene Lehre den Nati‐ onen getreulich überlieferten.“ (praescr. 6,5) Die „auctoritas“ Jesu kann also vermittelt werden. Als „auctores“ fungieren dabei die Apostel, die die Gewähr dafür übernehmen sollen, den Inhalt der Bot‐ schaft Christi wahrheitsgemäß weiterzugeben. „Traditio und auctoritas rücken damit zusammen.“ 47 Damit ist in den frühen Auseinandersetzungen um den christlichen Glauben ein Kriterium eingeführt, das sich in der weiteren Kir‐ chengeschichte dauerhaft behaupten sollte: das Prinzip der apostolischen Suk‐ zession. Tertullian baut auf dieser Beweisführung das Vertrauen in den rechten Glauben seiner Kirche: „Gebt also die Ursprünge eurer Kirchen an, entrollt eine Reihenfolge eurer Bischöfe, die sich von Anfang an durch Abfolge so fortsetzt, daß der erste Bischof einen aus den Aposteln oder den apostolischen Männern, 21 2. Der Begriff „Autorität“ <?page no="22"?> 48 Vgl. dazu Kapitel IV.3. 49 Vgl. Geuss, Athen, 30. jedoch einen solchen, der bei den Aposteln ausharrte, zum Gewährsmann und Vorgänger hat. Denn das ist die Weise, wie die apostolischen Kirchen ihren Ur‐ sprung nachweisen.“ (praescr. 31,1) Das Problem der personellen Sukzession im apostolischen Amt stellt dem‐ nach eine Sicherung von Autorität dar. Es ist der Idee nach der Versuch, die Gewährleistung so weit wie möglich auszuziehen. Doch ist dies bereits zu Ter‐ tullians Zeiten historisch nicht nachweisbar und folglich für die Gegenwart in seiner Beweiskraft erst recht unannehmbar. Die apostolische Sukzession wird - je länger sie behauptet wird - zum Glaubenssatz und verliert ihre eigentliche Funktion. Jedes weitere Glied der Kette macht diese historisch gesehen schwä‐ cher. 48 Der ursprüngliche Sinn der Bewahrung christlicher Identität durch die apos‐ tolische Sukzession ist im Laufe der Überlieferung allerdings in den Sog des Begriffs „auctoritas“ geraten, der eine Ausweitung seiner Bedeutung erfahren hat. 2.2. Autorität als Macht Der zweite semantische Gehalt des Begriffs „auctoritas“ stellt eine Ausweitung des zivilrechtlichen Begriffsspektrums dar. In für die spätere Entwicklung, ins‐ besondere für den gegenwärtigen ökumenischen Dialog ungünstiger Weise nä‐ hert sich der Begriff im weiteren Verlauf seiner Verwendung dem Vorstellungs‐ horizont der „potestas“ an: Wer Autorität hat, also „Ansehensmacht“, darf auch faktisch Macht ausüben. 49 Ein sprechender Beleg für die Entwicklung des „auctoritas“-Begriffs ist das Selbstzeugnis des Kaisers Augustus in seinen „Res Gestae“. Nachdem er nach seinem Dafürhalten die „Flammen des Bürgerkrieges gelöscht“ und Rom wieder auf den richtigen, also seinen Weg gebracht hat, kommt er zu dem Ergebnis: „Post id tempus auctoritate omnibus praestiti, potestatis autem nihilo amplius habui quam ceteri qui mihi quoque in magistratu collegae fuerunt.“ („Seit dieser Zeit überragte ich alle übrigen an Autorität, an Amtsgewalt aber besaß ich nicht mehr als die anderen, die auch ich im Amt zu Kollegen hatte.“; Res Gestae 34) Zu erkennen ist daran, dass hier der Begriff „potestas“ in das Bedeutungs‐ spektrum von „auctoritas“ eingeht und somit die reine „Ansehensmacht“ aus‐ geweitet wird. Der Begriff „auctoritas“ wurde dadurch „mehr und mehr zur Be‐ zeichnung der allumfassenden Regierungsbefugnis des Kaisers und zum 22 I. Einleitung <?page no="23"?> 50 Meyer, Staat, 553 f. 51 Miethke, Autorität I, 21. 52 Miethke, Autorität I, 21. 53 Vgl. Miethke, Autorität I, 23. 54 Vgl. Miethke, Autorität I, 25. Rechtsgrund, auf dem seine Regierungsakte, Verfügungen und Entscheidungen auf allen Gebieten beruhten.“ 50 Jetzt kann derjenige, der über „auctoritas“ ver‐ fügt, diese auch direkt ausüben und anderen zur Verfügung stellen. So können Untergebene, Beamte, Diener, Boten in der Autorität des Kaisers auftreten und diese mittelbar ausüben. „Auctoritas“ ist deshalb kaum noch von „potestas“ zu unterscheiden. Deshalb ist es verständlich, dass die Aufgabe der Apostel als „auctores“ nun ebenfalls eine weitere „Eigenschaft“ bekommt. Weil sie diese wichtige Aufgabe haben, kommt ihnen auch Autorität im Sinne von Macht zu. Sie können die Botschaft übermitteln, weil sie das Vermögen und die Macht dazu haben. Dies hat unmittelbare Konsequenzen für das Verständnis der apostoli‐ schen Sukzession. Sobald der Bischof als Nachfolger der Apostel verstanden wird, deren Auto‐ rität er geerbt hat, ist er in der Lage und der Pflicht, sich nicht nur als Verkünder, sondern auch als Bewahrer des Evangeliums zu sehen. Der Bischof kann und muss deshalb nicht nur „die Authentizität der Tradition, den Wahrheitsanspruch der Botschaft garantieren“, 51 er kann daraus auch seinen eigenen Anspruch auf Führung der Kirche ableiten. Der Bischof tritt damit an die Stelle kaiserlicher Beamter, die ebenfalls eine abgeleitete Form der Autorität innehaben. Der immens wichtige Unterschied zu ihnen besteht aber darin, dass kein Kaiser über dem Bischof steht, sondern der allenfalls im Geist präsente Christus. „Somit zeigt die Bedeutungsgeschichte in der lateinischen Patristik durchaus eine deutliche Analogie zur Begriffsentwicklung in der kaiserzeitlichen Amts‐ sprache des (nichtchristlichen) Staates.“ 52 Dieser Aspekt der „auctoritas“ ist seitdem in der Kirchengeschichte immer präsent und oftmals problematisch. So kann man das Ringen um die Vorherr‐ schaft zwischen Kaiser und Papst (Investiturstreit) im weltlichen Bereich 53 ge‐ nauso dazu zählen wie die Frage nach der Macht innerhalb der Kirche, was sich im Mittelalter z. B. als Kampf zwischen Papst und Konzil ausdrückt, 54 aber auch viele weitere Konfliktfelder im Rahmen verschiedener Armutsbewegungen (z. B. der Waldenser) oder frühreformatorischer Bewegungen (z. B. der Hussiten) befeuert. Außerdem lässt sich die gesamte mittelalterliche Diskussion um das Verhältnis von „auctoritas“, „ratio“ und „experientia“, im Grunde also die auch heute noch relevante fundamentaltheologische Frage nach den Erkenntnis‐ 23 2. Der Begriff „Autorität“ <?page no="24"?> 55 Vgl. Miethke, Autorität I, 28. 56 Vgl. Miethke, Autorität I, 29. 57 Mau, Autorität II, 32. 58 Röttgers, Autorität, 730. 59 Vgl. Raatzsch, Autorität, 93. 60 Amelung, Autorität III, 37. 61 Vgl. Kapitel II.3.1.; IV.2. 62 Vgl. Röttgers, Autorität, 730-732. quellen der Offenbarung und des Wissens, in diesen Horizont einzeichnen. 55 Auch die bis heute schwelende problematische Bestimmung von theologischer Wissenschaft und kirchlichem Lehramt hängt mit dieser, spätestens seit dem Mittelalter virulenten Frage zusammen. 56 Ebenso lässt sich „das Geschehen der Reformation […] als ein weitreichender Autoritätenkonflikt verstehen, ausge‐ löst durch radikale Umwertungen innerhalb des traditionellen Autoritätenge‐ füges.“ 57 Letztlich lassen sich die heutigen Streitigkeiten um die Autorität der Schrift genau an diesem Punkt anschließen: Wenn die Schrift Autorität hat, wie übt sie dann ihre Gewalt aus? 2.3. Autorität als Vertrag Ein dritter Bedeutungsgehalt von Autorität hängt mit der „potestas“-Proble‐ matik zusammen. Dieser Bedeutungsgehalt macht im Zuge der Neuzeit auch die Autorität an sich verdächtig. Es bricht sich deutlich die neuzeitliche Skepsis Bahn, wenn Autorität als „abergläubisches Vertrauen auf Lehrer und Traditi‐ onen [verstanden wird], das sich nicht durch Vernunft oder Erfahrung legiti‐ mieren lässt.“ 58 Im Zuge der Aufklärung ist daher jede Autorität suspekt, die sich nicht durch die eigene Vernunft bewahrheiten lässt. Akzeptiert wird sie deshalb nur noch als „Gesellschaftsvertrag“. Nur im gegenseitigen Einverständnis - so das Ideal - lässt sich Autorität legitim ausüben. Nun ist verständlich, dass man sich Auto‐ rität erwerben und diese von anderen anerkannt oder gar verliehen werden muss. 59 Weithin anerkannt wird deshalb vor allem die fachliche Autorität, „die durch spezielles Wissen und erlernte Fähigkeiten geprägt ist.“ 60 Autorität wird also demjenigen zugestanden, der durch Kompetenz ausgewiesen wird. Hier scheint ein Autoritätsverständnis auf, das in der Diskussion um die Schriftau‐ torität eine besondere Rolle spielen wird. 61 Jegliche Autorität hat sich also erstens vor dem Forum der Vernunft und der Gesellschaft zu verantworten und muss zweitens gegenseitig anerkannt sein. 62 Autorität ist demnach davon abhängig, dass sie bejaht wird und muss deshalb von denjenigen akzeptiert und gewollt sein, über die Autorität ausgeübt wird. 24 I. Einleitung <?page no="25"?> 63 Vgl. Röttgers, Autorität, 732; Raatzsch, Autorität, 102, der eindrücklich darstellt, dass Autorität keine Eigenschaft, sondern eine Relation darstellt. 64 Vgl. zum Überblick Schroedter, Pädagogik; Masthoff, Erziehung. 65 Vgl. Raatzsch, Autorität, 107. 66 Nach Trelenberg, De Ordine, 274, wird hier „zum ersten Mal im augustinischen Schrifttum ausdrücklich und unmissverständlich auf eine festgesetzte Reihenfolge der Anwendung der beiden Lernprinzipien und damit auf einen in sich gegliederten, auf‐ einander aufbauenden und zeitlich gestuften Erkenntnisprozess verwiesen.“ 67 Vgl. Raatzsch, Autorität, 97, der aufzeigt, dass ein Autoritätsverhältnis zwischen Lehrer und Schüler notwendig den Beginn des Lehrens und Lernens kennzeichnet und dadurch am Ende des Lernprozesses die Autonomie des Schülers erst hervorbringt. 68 Bauer / Hacke, Thema, 4. So wird die Autorität eines Arztes aufgrund seiner fachlichen Qualifikation von denen anerkennt, die sich von ihm behandeln lassen. In dieser Beziehung wird Autorität zu einem „Relationsbegriff “. 63 Wenn dies im gesellschaftlichen Bereich akzeptiert ist, verwundert es nicht, dass der Autoritätsbegriff auch im engsten menschlichen Beziehungsbereich, der Familie, neu bestimmt werden muss. Dieser Prozess ist bis in die Gegenwart hinein nicht abgeschlossen und wird vor allem in der Pädagogik unter Stich‐ worten wie „antiautoritäre“ oder „autoritative Erziehung“ diskutiert. 64 Autorität wird aber sowohl in gesellschaftlicher wie persönlicher Hinsicht nun in einem kommunikativen Geschehen verortet. 65 Dies ist bereits bei Au‐ gustin im 4. Jh. n. Chr. zu beobachten, der die Notwendigkeit von Autorität im Vorgang des Lernens erkennt: „Zur Erkenntnis gelangen wir mit gleicher Not‐ wendigkeit auf einem doppelten Wege, nämlich auf dem der Autorität und dem der Vernunft. Der Zeit nach geht die Autorität vor, der Sache nach aber die Vernunft.“ (De Ord. 2,26) 66 Autorität hat demnach in erster Linie eine propädeutische Funktion. Es geht nicht um Gehorsam oder das Unterwerfen unter eine fremde Macht, sondern um das Vertrauen, das notwendig ist, um zu lernen und zu eigenständigen Po‐ sitionen zu kommen. Autorität ist demnach lediglich - aber notwendig - der Anfang des Lernens. 67 Sie ist die erste Stufe eines Prozesses, in dem sich die eigentliche Autorität erst aufbaut. Autorität ist also drittens ein relationaler Begriff. Er bedeutet, dass Autorität von einer Gruppe von Menschen verliehen und akzeptiert werden muss. Auto‐ rität wird demnach gemacht und dann bestätigt. Letztlich gilt dann: „Autorität bewährt oder blamiert sich in der Kommunikation.“ 68 25 2. Der Begriff „Autorität“ <?page no="26"?> 2.4. Ausblick Als letzter Punkt ist zu notieren: Der Begriff „Autorität“ kommt im Neuen Tes‐ tament nicht vor. Allerdings lassen sich Fragen aufzeigen, die damit zusam‐ menhängen und in den Bereich der späteren Kirchengeschichte ausstrahlen. Drei Fragen ragen dabei in ihrer Bedeutung heraus: Erstens: Wenn Autorität als Gewährleistung verstanden wird, dann ist zu fragen: Wer übernimmt die Gewähr dafür, dass Christus und seine Botschaft nicht verfälscht werden? Wenn Christus als Person die unhinterfragbare Auto‐ rität in der Kirche darstellt, wie lässt er sich erreichen? Wie kann Christus in der und für die Kirche zur Sprache kommen? Diese Frage dreht sich also um die Frage nach der Offenbarung und ihrer Vermittlung. Zweitens: Wenn Autorität im Sinne von Macht verstanden wird, dann ist zu fragen: Obwohl Christus die eigentliche Macht ausübt, muss sich die Kirche dazu verhalten, wie sie diese umsetzt. Sie muss sich fragen, ob und mit welcher Be‐ gründung es eine abgeleitete Form der Autorität gibt, die dazu berechtigt, im Namen Gottes Macht auszuüben. Schließlich muss sie diese Macht dann auch jemandem (Papst? ) oder einer Institution (Synode? ) zuweisen. Wenn mit der Autorität die Macht in der Kirche verbunden ist, wer darf sie ausüben? Drittens: Wenn Autorität im Sinne eines Vertrages verstanden wird, ist zu fragen: Wer (die Gläubigen? Christus? ) überträgt wem (Amtsträger? ) oder was (Schrift? ) Autorität und auf welcher Grundlage? Wie weit reicht diese Vertrags‐ autorität? Gibt es eine Kompetenz, die sie letztlich verstetigt und dem Vertrags‐ verhältnis enthebt? Konkret müsste gefragt werden, ob sich eine vorläufige Vertragsautorität zu einer anderen Form von Autorität wandeln lassen kann und unter welchen Be‐ dingungen. Bezogen auf die Diskussion zwischen evangelischer und rö‐ misch-katholischer Kirche müsste diese Alternative konkret so formuliert werden: Liegt es in der Kompetenz des Lehramtes, die Autorität zu garantieren oder kann (und muss) die Schrift selbst ihre Kompetenz erweisen? Diese drei Ebenen müssen unterschieden, können aber in der Praxis nicht klar getrennt werden, weil ihre Bedeutungen zusammenhängen und deshalb zuweilen - bewusst oder unbewusst - vermischt werden. Blickt man auf die Praxis der Kirchen, kann beispielsweise einer Person eine autoritative Stellung zugeordnet werden. Hat dieser Vorgang dann rein funktionale Gründe? Weil sie predigen soll? Dann wäre in erster Linie die erste Bedeutungsebene berührt. Oder gehört die autoritative Stellung als Amt zum Kirche-Sein zwingend dazu? Das tangiert die zweite Bedeutung von Autorität, weil damit das Amt an sich nicht nur eine Dienstfunktion, sondern auch eine Machtposition einnimmt. Die dritte Ebene wird berührt, wenn gefragt wird, wer das Amt verleihen darf. Ist 26 I. Einleitung <?page no="27"?> 69 Vgl. Hilberath, Zeit, 87-93. 70 Vgl. Söding, Anspruch, 14, der eine ähnliche Diagnose stellt. dies eine demokratische Wahl? Dann wäre der „Gesellschaftsvertrag“ gegeben. Ist sie dies nicht, wäre eher an Autorität als Machtausübung zu denken, die sich wiederum legitimieren müsste. Man kann diese verschiedenen Ebenen von Autorität also gut an der Frage nach dem Amt in der Kirche exemplifizieren. Nicht umsonst steht hier die apos‐ tolische Sukzession in ihrer Bedeutungsverschiebung von reiner inhaltlicher Nachfolge zur Nachfolge im machtvollen Amt im Blickpunkt. 69 Allerdings ver‐ weisen die Beispiele letztlich auf das Problem, auf welcher Grundlage die „Amts‐ frage“ beantwortet werden kann. Wenn auf die Schrift verwiesen werden soll, stellt sich auch diesbezüglich die Frage, welche Autorität der Schrift zukommt. Damit ist die vorliegende Untersuchung - wiederum im Vorgriff - an ihrer zentralen Fragestellung angelangt. Erheben die neutestamentlichen Texte selbst einen Anspruch auf Autorität? Und wenn ja: welchen? 3. Die Grundidee der Untersuchung In ethischer, historischer, konfessionskundlicher und ökumenischer Hinsicht ist die Frage nach der Schrift wesentlich. Genauer die Frage nach ihrer Stellung im Zusammenspiel theologischen Erkennens und Argumentierens: Welche Auto‐ rität hat die Schrift? Und wie ist diese Autorität in die Diskussion einzubringen? Die vorliegende Arbeit kann diese Fragen sowohl in ökumenischer als auch in fundamentaltheologischer Hinsicht nicht ausführlich behandeln oder gar be‐ antworten. Lediglich ein Mangel der bisherigen Diskussion über die Autorität der Schrift soll aus exegetischer Perspektive behoben werden. Es scheint näm‐ lich bei der Durchsicht der verschiedenen Diskussionsbeiträge zum Thema so, als ob zumeist aus dogmatischer Perspektive über die Schrift und ihre Autorität gehandelt wird, aber nicht aus der Sicht der Schrift selbst. 70 Auf einen Nenner gebracht: Es wird über die Schrift geredet, aber nicht ausgehend von ihrem ei‐ genen Anspruch. Die Diskussion wird nicht von ihren eigenen Aussagen über sich selbst her geführt. Dies soll im vorliegenden Zusammenhang behoben werden. Damit folgt die Untersuchung dem klassischen, vor allem im Protestantismus anzutreffenden Reflex, die Bibel in allen möglichen Zusammenhängen zu befragen. Nur über sich selbst wurde die Bibel bislang nicht eingehend und methodisch verant‐ 27 3. Die Grundidee der Untersuchung <?page no="28"?> 71 Eine ähnliche Frage verfolgt Horn, Paulus, 402, der im Hinblick auf Paulus fragt, ob dieser „kanonisch“ wirken wollte (und diese Frage unter der Bedingung bejaht, dass „kanonisch“ im Sinne von „normativ“ und nicht als Schriftensammlung zu verstehen ist: Horn, Paulus, 418). 72 Neben Horn, Paulus, 402, wendet sich auch Theißen, Texte, 431-439, einer dieser Un‐ tersuchung ähnlichen Fragestellung zu, wenn er „Kanonsignale“ in den Texten sucht. Die Frage unterscheidet sich allerdings darin, dass der Fokus dort auf der Kanonizität der Texte liegt, während es hier ergebnisoffener um den grundsätzlichen Anspruch der Texte auf Autorität geht. Es liegt in der Verwandtschaft der Frage begründet, dass seine Kriterien der Kanonizität auch in dieser Untersuchung zu benennen sind. (Theißen, Texte, 431, listet auf: Autorität durch Transzendenzbezug; Kultischer Gebrauch; Text‐ bestand; Zugehörigkeit zu einer Sammlung.) Denn die Akzeptanz einer Autorität des Textes führt letztlich unter Umständen zu seiner Kanonizität. Dieser Vorgang liegt dann aber außerhalb des Interesses dieser Untersuchung. Auch Söding, Anspruch, 18, verfolgt einen ähnlichen Ansatz wie diese Untersuchung. Er verfolgt das Ziel, „von biblischen Ausgangstexten her theologische Konzepte der Heiligen Schrift und ihrer Auslegung in der Bibel selbst zu rekonstruieren.“ Warum dies allerdings im Ergebnis zu den „bib‐ lischen Konzepten der Inspiration“ (Söding, Anspruch, 18) führen soll, bleibt unklar. 73 Von der Bildung eines Kanons im Sinne von Theißen, Religion, 341-342 („Ein Kanon besteht aus den normativen Texten, die geeignet sind, das Zeichensystem einer Religion immer wieder neu zu rekonstruieren und durch Auslegung bewohnbar zu machen.“ Im Original kursiv.), sind die neutestamentlichen Texte mehr oder minder weit entfernt. Dies ist ganz deutlich bei Paulus der Fall (vgl. Horn, Paulus, 401), weniger deutlich dann bereits bei der Apk. Siehe Kapitel III.3. Auf jeden Fall dürfte mit Theißen, Texte, 427, gelten: „Die Literaturgeschichte des Urchristentums spricht gegen alle Versuche, neu‐ testamentlichen Texten von Anfang an Kanonizität zuzusprechen.“ 74 Wichtig zu notieren ist an dieser Stelle, dass die historische Frage, warum genau diese Texte in den Kanon aufgenommen wurden und andere nicht, hier nicht eingehend dis‐ kutiert werden kann. Vgl. dazu den Ausblick der Untersuchung IV.4. wortet befragt. 71 Dies ist die Grundidee der Untersuchung, wenn sie die Frage stellt: Welche Autorität beansprucht die Schrift selbst für sich? 72 Um nicht Gefahr zu laufen, eine anachronistische Fragestellung an die Texte heranzutragen, kann im weiteren Verlauf der Untersuchung allerdings nicht mehr von „der Schrift“ die Rede sein, da dies die theologische Entscheidung bereits voraussetzt, dass „die“ Kirche „diese“ Texte der „Bibel“ als ihre „Schrift“ ansieht. Dies war aber zur Zeit der Abfassung der Texte nicht oder kaum im Bewusstsein ihrer Autoren. 73 Der Zusammenhang von Kirche und Schrift ist dementsprechend in der dogmatischen Diskussion zu beachten. Da im Fortgang der Untersuchung die Kirche als Leserin der Texte nicht weiter beachtet werden kann, sei es aus der methodischen Überzeugung der historisch-kritischen Methode heraus, sei es, weil von „der Kirche“ zum Zeit‐ punkt der Textentstehung in historischer Hinsicht noch nicht geredet werden sollte, müssen die biblischen Texte aus sich selbst heraus verstanden werden. 74 28 I. Einleitung <?page no="29"?> 75 Aus einer völlig anderen Perspektive wird diese Frage auch in der evangelikalen Be‐ wegung gestellt. Der Anspruch der „Chicago-Erklärungen“ sei es - so Herausgeber Schirrmacher, Offensive, 9 - „nur zusammen[zu]fassen, was die Bibel über sich selbst sagt“, dies allerdings nicht in einer historischen Perspektive (wie die vorliegende Un‐ tersuchung), sondern in einer „bibeltreuen“ Haltung. Vgl. zur evangelikalen Perspek‐ tive I.6.4. 76 Slenczka, Kirche, 83. 77 Zustimmend nimmt er Thesen von Rainer Albertz und Rolf Rendtorff auf, die einer „Religionsgeschichte Israels“ den Vorzug vor einer „Theologie des AT“ geben und sich damit - so Slenczka wohl zu Recht - gegen eine „christlich-theologische […] Verein‐ nahmung“ (Slenczka, Kirche, 104) des Alten Testaments wenden. 78 Slenczka, Kirche, 105. 79 Slenczka, Kirche, 106. 80 Slenczka, Kirche, 109. 81 Slenczka, Kirche, 111. Exegetisch korrekt ist daher zu formulieren: Welchen Autoritätsanspruch er‐ heben die biblischen Texte für sich selbst? 75 3.1. Erste Konzentration: Neues Testament Da die biblischen Texte zu umfangreich sind, um im Rahmen einer Untersu‐ chung vollständig in den Blick genommen werden zu können, sollen drei Kon‐ zentrationen helfen, einen sinnvollen ersten Zugang zum Thema zu finden. Erstens soll sich die Frage nur auf Texte des Neuen Testaments konzentrieren. Dies legt sich nahe, da sich die christliche Theologie in besonderer Weise dieser Textsammlung verdankt. Diese erste Einschränkung bedarf einer kurzen Be‐ gründung, da damit die Frage nach dem Stellenwert des Alten Testaments für die christliche Theoriebildung und dessen Verhältnis zum Neuen anklingt. Nachdrücklich wurde diese Frage in jüngster Zeit von Notger Slenczka auf‐ geworfen, der fragt „ob das Alte Testament eine normative Bedeutung für die christlichen Kirchen hat oder haben kann“. 76 Er nimmt im Gespräch mit der alttestamentlichen Wissenschaft 77 die unzweifelhaft historisch richtige These auf, wonach der alttestamentliche Kanon „den Ausdruck des Glaubens des nachexilischen Judentums“ 78 fixiert und bestimmt somit das Alte Testament als „den Ort […] einer religionsgeschichtlichen Voraussetzung des christlichen Glaubens“. 79 Slenczka plädiert aus Gründen der historischen und intellektu‐ ellen - aber letztlich auch theologischen - Redlichkeit für eine „Rückübereig‐ nung des AT an das Judentum“ 80 und steht dem „Recht zur Aneignung des Alten Testaments als christliche[m] Buch“ 81 äußerst skeptisch gegenüber. Ist das Alte Testament also nur „die Identität stiftende Urkunde einer anderen Religionsge‐ 29 3. Die Grundidee der Untersuchung <?page no="30"?> 82 Slenczka, Kirche, 118. 83 Slenczka, Kirche, 98. 84 Historisch differenzierter als es hier möglich ist, müsste in diesem Zusammenhang nach der komplexen Interdependenzgeschichte zwischen dem sich neu etablierenden Ju‐ dentum unter rabbinischer Führung nach der Zerstörung des 2. Tempels um 70 n. Chr. und des sich erstmalig formierenden Christentums mit den jeweiligen textuellen Grundlagen gefragt werden. Vgl. dazu die knappen Überlegungen bei Hartenstein, Be‐ deutung, 749; Schwienhorst-Schönberger, Rückkehr, 295. Sicher ist allerdings, dass beide Größen kaum so trennscharf zu fassen sind, wie dies zuweilen Slenczkas Rede von „dem“ Judentum und „dem“ Christentum suggeriert. Vgl. Liss, Sache, 42, die zeigt, dass die Debatte „ein Bild vom Judentum entwirft, das nicht mehr als eine Projektion ist, die mit dem Judentum in seinem Selbstverständnis nur eingeschränkt zu tun hat.“ 85 Vgl. Joest / von Lüpke, Dogmatik, 71, die darauf verweisen, dass der Glaube daran, „dass Jesus das Wort Gottes, die Selbstzusage des Gottes Israels in Person ist“, nicht aus dem Alten Testament abgeleitet werden kann, sondern auf das Zeugnis angewiesen ist, „das die Mitte des Neuen Testaments bildet: Die Botschaft von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi.“ 86 Hartenstein, Bedeutung, 742. meinschaft“? 82 Eine normative Funktion könne das Alte Testament daher im Rahmen der christlichen Theoriebildung bestenfalls dann erheben, wenn seine Aussagen „einen genuinen Ausdruck des christlich frommen Selbstbewussts‐ eins“ 83 darstellten. Zwei Perspektiven sind in dieser Fragestellung grundlegend zu unter‐ scheiden. Erstens muss in historischer Sicht anerkannt werden, dass das Alte Testament an sich kein Zeugnis für Jesus von Nazareth als Christus ablegen kann, weil seine Texte vor Christi Geburt geschrieben wurden. Historisch ist deshalb richtig, dass das Alte Testament Ausdruck des Glaubensbewusstseins des Antiken Judentums darstellt. 84 Dass die werdende und frühe Christenheit weitere Schriften dem Alten Testament in einem eigenen Kanonteil an die Seite stellt, zeigt historisch aber auch, dass die Notwendigkeit weiterer Texte gegeben war, um das Besondere des Glaubens an Jesus Christus auszusagen. Das Alte Testament genügt also nicht, um das genuin Neue, das sich in Christus ereignet, auszusagen. 85 In historischer Hinsicht gibt es keinen Zweifel daran, dass die jüdischen Texte „als Deutehorizont und Sprachwelt zum Ausdruck der eigenen neuen Erfahrungen“ 86 herangezogen wurden. Dadurch entledigten sich die frühen Christen der Notwendigkeit, tradierte Glaubensüberzeugungen (Mono‐ theismus, Schöpfung) eigens aufzuzeichnen. Die jüdische Vorstellungswelt, die in diesen Texten präsent ist, wird also von Anfang an als unverzichtbar für den christlichen Glauben akzeptiert und damit das Alte Testament - wenn auch im 30 I. Einleitung <?page no="31"?> 87 Darauf macht mit Nachdruck aus jüdischer Sicht Liss, Sache, 44, aufmerksam, wenn sie das rabbinische Judentum bereits durch die Verwendung der hebräischen Texte im Ge‐ gensatz zur christlichen Verwendung des LXX-Textes eigene Wege gehen sieht. 88 Vgl. exemplarisch Härle, Dogmatik, 126: „Die Gottesoffenbarung in Jesus Christus [wird] für den christlichen Glauben zur letztgültigen und damit normgebenden Offen‐ barung, und zwar auch im Blick auf seine Stellung zu dem Offenbarungszeugnis Israels.“ 89 Vgl. exemplarisch Weß, Neue, 420: AT und NT „können nicht in gleicher Weise und mit demselben Gewicht in den christlichen Kirchen Geltung haben.“ 90 Prägnant lässt sich mit Leonhardt, Lärm, 15, formulieren: „Wer die theologische Priorität des Neuen Testaments bestreitet, steht in der Gefahr, das Proprium des Christentums zu verfehlen.“ 91 Vgl. Joest / von Lüpke, Dogmatik, 69: „Der Christusglaube bleibt […] zurückgebunden an die tragende und nährende ,Wurzel‘ [Israel] (Röm 11,16-18), die ihn auch dann mit dem Volk Israel verbunden sein lässt, wenn dieses den Glauben an Jesus als den Christus nicht teilt.“ 92 Vgl. Joest / Lüpke, Dogmatik, 70: „Das neutestamentliche Christuszeugnis wird zum Kriterium, an dem sich die Wahrheit des alttestamentlichen Gotteszeugnisses ent‐ scheidet.“ Vergleich zum Judentum in unterschiedlichen Sprachen und Textkorpora 87 - zum unverzichtbaren Teil der entstehenden christlichen Bibel erklärt. Die zweite Perspektive, die mit dieser historisch gewachsenen Entscheidung verknüpft ist, fragt nach dem Verhältnis der beiden Textkorpora im Hinblick auf Normativität und Autorität von biblischen Texten im Verhältnis zueinander. Eine Leitlinie, die wohl als Grundkonsens evangelischer 88 und römisch-ka‐ tholischer 89 Theologie bezeichnet werden darf, besagt, dass das Alte Testament im Lichte des Christusgeschehens gelesen werden muss und nur in diesem Licht auch Christuszeugnis darstellt. 90 Das Neue Testament hingegen thematisiert das eigentliche Christusgeschehen, das wiederum Ausgangspunkt und Grundlage des spezifisch christlichen Glaubens darstellt. Das Alte Testament bildet damit den Horizont, in dem versucht wird, das Ereignis zu verstehen. Damit trägt es gleichzeitig maßgeblich zu dessen Verständnis bei und bildet es somit auch aus. 91 Insofern ist es sachgemäß, das Christusereignis, dessen Zeugnis in erster Linie das Neue Testament darstellt, als hermeneutischen Schlüssel zum Ver‐ ständnis des Alten Testaments als christlichem Zeugnis zu verstehen. 92 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist für die vorliegende Untersu‐ chung deutlich, dass der Ansatz der Autoritätsfrage zunächst im Neuen Testa‐ ment zu suchen ist. Von daher erst kann dann in einem möglichen zweiten Schritt über die Autorität des Alten Testaments für die christliche Theoriebil‐ dung nachgedacht werden. 31 3. Die Grundidee der Untersuchung <?page no="32"?> 93 Vgl. zum Brief ausführlich Klauck, Briefliteratur, 7, der „an eine - unvollständige und ergänzungsbedürftige - antike Definition“ erinnert, wonach ein Brief die „eine Hälfte eines Dialogs“ darstellt. 94 Gradl, Buch, 15. 95 Vgl. zu den paulinischen Briefen und deren Motivation durch Abwesenheit Becker, Form, 143. Vgl. auch Theißen, Entstehung, 95, der für Paulus annimmt, dass dieser „den Brief als Instrument der Gemeindeleitung entdeckt hat. Seine Briefe sind expandierte Privatbriefe.“ 96 Vgl. Gradl, Buch, 15, der im Blick auf Paulus und dessen Briefe festhält: „Der Brief ist ihm Mittel, die Distanz zwischen räumlich getrennten Kommunikationspartnern zu überbrücken und mit den Gemeinden in Kontakt zu bleiben.“ 97 Gradl, Buch, 15. 98 Vgl. Gradl, Buch, 136: „Die vom Autor dem Buch zugedachte Bedeutung beschränkt sich nicht auf eine einmalige Kommunikationssituation“ - ganz im Gegensatz zum Brief. 99 Dass die neutestamentlichen Briefe „zum Buch wider Willen“ (Gradl, Buch, 136) oder besser: zum Buch wider Wissen geworden sind, ist ihr Schicksal. Aber erst im „Bibel-Buch“ sind sie letztlich für die Zukunft bewahrt und ihrer ursprünglichen Kom‐ munikationssituation enthoben. 3.2. Zweite Konzentration: Monolineare Kommunikation Eine zweite Konzentration wird innerhalb des neutestamentlichen Kanons vor‐ genommen. Es bietet sich nicht an, die Frage der Schriftautorität in erster Linie im Hin‐ blick auf die Briefliteratur des Neuen Testaments zu stellen. Diese Einsicht ver‐ dankt sich zunächst einer formalen Abgrenzung hinsichtlich der Gattung. Briefe stellen eine andere Kommunikationsform als die Evangelien und die Offenba‐ rung des Johannes dar und setzen eine andere Kommunikationssituation vo‐ raus. 93 Während Briefe eine „dialogstiftende und kommunikationsstabilisie‐ rende Funktion“ 94 aufweisen und den abwesenden Dialogpartner ersetzen, 95 also ein Ersatz für die mündliche Rede darstellen, 96 sind Evangelien und Offenbarung eher als eine „lineare Kommunikationsform“ 97 aufzufassen. Das heißt nicht, dass Evangelien und Offenbarung keine kommunikative Funktion haben, sondern lediglich, dass ihre Kommunikationssituation eine andere ist. Sie richten sich nicht nur an die Adressaten, die bei der Abfassung des Briefs vor Augen stehen, sondern haben einen grundlegend weiteren Horizont. 98 Evangelien und Offenbarung sind bereits von Anfang darauf angelegt, als eigenständiges Werk, als Buch gelesen und gehört zu werden. 99 Um das zu er‐ reichen, brauchen sie eine andere Autorität als ein Brief. Denn Briefe funktio‐ nieren anders. Sie sind Teil einer beabsichtigten Kommunikationssituation, die entweder bereits vorher auf anderem Wege initialisiert wurde oder durch den ersten Brief begründet werden soll. „Die kommunikative Korrespondenzfunk‐ 32 I. Einleitung <?page no="33"?> 100 Gradl, Buch, 23. Vgl. Theißen, Texte, 428, der bezüglich Paulus feststellt: „Seine Briefe sind echte Korrespondenz und Gebrauchsbriefe. Das spricht gegen die Annahme, er habe sie geschrieben, um eine heilige Schrift für seine Gemeinden zu schaffen.“ Es ist also sorgfältig zu unterscheiden, zwischen dem normativen Anspruch eines Textes, den Paulus zweifellos erhebt (mit Horn, Paulus, 418) und dem Bewusstsein, einen heiligen Text zu formulieren. 101 Vgl. Schnelle, Korintherbrief, 321; Kelhoffer, Suffering, 140. 102 Horn, Paulus, 401. 103 Vgl. Horn, Paulus, 402-403: „Das kanonische Wirken des Paulus vollzieht sich daher, wie ich meine, nicht ausschließlich in einer Bindung der Person an die Sache, sondern auch in einer absichtlichen und bewussten Bindung der Sache an die Person.“ 104 Vgl. grundsätzlich zum Phänomen der Pseudepigraphie im Neuen Testament den Über‐ blick von Zimmermann, Unecht, 27-38. 105 Vgl. Becker, Form, 144, die darauf hinweist, dass Paulus sich in seinen Briefen als lite‐ rarische Person inszeniert. Diese literarische Person kann dann von den pseudepigra‐ phen paulinischen Schreiben übernommen werden. 106 Vgl. z. B. Broer, Einleitung, 659. 107 Siehe dazu III.3.3.2. tion macht den Brief zum Brief.“ 100 Seine Situation bedingt, dass sein Autor in Erscheinung tritt. Dies ist bei den anonym überlieferten Evangelien nicht der Fall. Damit der Brief gelesen wird, muss beim Leser der Wunsch nach der Lek‐ türe des Briefes geweckt werden. Dies erklärt, warum ein Brief eine gewisse Autorität für sich beanspruchen muss: damit der Leser ihn lesen will. Briefe, die darüber hinaus den Anspruch erheben, als autoritative Texte Anerkennung zu finden, sind deshalb direkt damit beschäftigt, auch die Autorität ihres Autors zu sichern, wobei der Autor dann wiederum die Autorität des Textes verbürgt. Ganz deutlich ist dies zu sehen, wenn z. B. Paulus in seinen Briefen die Legitimität seines Apostolats herausstellen muss (Gal 1,1; 2.Kor 10-12), um so Gehör für seine Texte zu schaffen. 101 In diesem Sinn erhebt Paulus „fraglos kanonische, d. h. Norm setzen wollende Autorität“ 102 und bindet damit die Sache des Evan‐ geliums auch an seine Person. 103 Bei den pseudepigraphen Briefen 104 des NT ist die Schaffung der Autorität des Autors durch Übernahme einer fremden Autorität ein wesentlicher Grundzug der angestrebten Kommunikation. 105 Gleiches gilt grundsätzlich für einen weiten Teil der apokalyptischen Literatur. 106 Eine Ausnahme stellt hierbei wahr‐ scheinlich die Offenbarung des Johannes dar, die wahrscheinlich wirklich von einem Menschen namens Johannes verfasst wurde. 107 Da sich die vorliegende Untersuchung vor allem aber für die Rolle der Schrift im Kontext der christlichen Theoriebildung und Lebensdeutung interessiert, sind eher Texte zu beachten, die einen narrativen Zusammenhang entfalten, in dem sich die Leser und Hörer selbst verstehen sollen. Die Evangelien und die 33 3. Die Grundidee der Untersuchung <?page no="34"?> 108 Niebuhr, Grundinformation, 21; Vgl. Labahn, Babylon, 322. 109 Vgl. Luz, Erzähltexte, 45, der zu den Erzähltexten gleichfalls Evangelien, Apostelge‐ schichte und Apokalypse zählt und in diesen „eine ganz besondere Bedeutung für eine ökumenische Hermeneutik“ erkennt. 110 Vgl. Theißen, Religion, 233, der im Hinblick auf die Evangelien davon spricht, dass sich „das Urchristentum eine eigene Grunderzählung“ schafft. Seiner Meinung nach haben die Evangelien deshalb von Anfang an einen „kanonischen Anspruch“: „Sie waren als autoritative Grundlage für die Lebensorientierung einer religiösen Gemeinschaft ge‐ schrieben.“ (Theißen, Religion, 233-234). Schröter, Historiograph, 241, spricht im Hin‐ blick auf das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte von der „Gründungsge‐ schichte des Christentums in zwei Teilen.“ 111 Man kann sie deshalb auch mit Mauz, Machtworte, 69, als „poetologisch“ bezeichnen: „Sie sind insofern ,poetologisch‘, weil sie Auskünfte über ihre Genese beinhalten.“ 112 Mauz, Machtworte, 51 (kursiv im Original). Apk „als Spezialfall der autobiographischen Erzählung“ 108 bieten sich daher an. 109 Sie bilden in dieser Hinsicht den Gründungsmythos des christlichen Selbst- und Weltverständnisses ab und begründen ihn damit. 110 Briefe setzen diesen Zusammenhang aber bereits voraus und argumentieren in dessen Horizont. Insbesondere die Evangelien und in abgestufter Weise auch die Offenbarung stellen ihren Lesern demnach einen Horizont vor Augen, in dem sie sich selbst verstehen sollen. Von daher entwerfen sie einen Verstehenszusammenhang, der die Grundlage christlicher Lebensdeutung herstellt. Dies entspricht dem Ziel‐ punkt dieser Arbeit, weshalb es neben den pragmatischen Erwägungen ge‐ rechtfertigt erscheint, die Briefliteratur für diese Untersuchung auszublenden. 3.3. Dritte Konzentration: Sie über sich! In dieser Arbeit sollen Texte untersucht werden, die sich mit sich selbst be‐ schäftigen. 111 Sie sollen Auskunft darüber geben, warum oder mit welchem Zweck sie geschrieben wurden. Sie stehen mit dem Korpus des Werkes in engem Kontakt, kommentieren es, weisen aus, warum es geschrieben wurde und wes‐ halb es verdient, Gehör zu finden. Entscheidend ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung dabei, dass sie sich „an der Selbstbeschreibung des Textes orientiert“. 112 Ein zu beobachtendes 34 I. Einleitung <?page no="35"?> 113 Mauz, Machtworte, 51 (kursiv im Original). Methodisch dem Vorgehen dieser Unter‐ suchung ähnlich untersucht Mauz, Machtworte, 53, Texte, die „Selbstdarstellungsmodi“ von „heiligen Texten“ und muss deshalb in erster Linie die „heiligenden Texte“ in den Blick nehmen. Es ist deshalb konsequent, dass er auch Apk 1,1-3 analysiert, da dieser Text sich selbst konsequent als heiligen Text ausweisen will. Methodisch ist das Vor‐ gehen also vergleichbar, die Zielsetzung ist allerdings anders gelenkt, da sie von der Heiligkeit der Texte bestimmt wird. Während also Mauz, Machtworte, 70-71, sich da‐ rauf konzentriert, Texte auf ihren Selbstanspruch zu untersuchen, die diese Texte zu heiligen Texten machen, also heiligende Texte sind, geht es im vorliegenden Fall darum zu fragen, was die Metatexte über den zugehörigen Text aussagen, ob sie ihn überhaupt als heilig erweisen wollen. 114 Vgl. Mauz, Machtworte, 64. 115 Vgl. Mauz, Machtworte, 65: „Die Autorität einer Offenbarung […] ist nur als Autori‐ tätsanspruch ins Spiel zu bringen.“ (kursiv im Original) und zu beschreibendes „Textoberflächenphänomen“ 113 steht damit im Fokus des Interesses. Fragen nach der Erlebnisechtheit von Offenbarungen werden folg‐ lich genauso außen vor gelassen wie solche nach der Historizität des Er‐ zählten. 114 Mit dieser Konzentration werden alle Aspekte ausgeblendet, die sich auf außersprachliche Wirklichkeit beziehen. Beschrieben werden soll nur der Anspruch der Texte auf Autorität, nicht aber ob dieser Anspruch bei den Ad‐ ressaten wirklich verfangen hat. 115 Gleichfalls werden die Behauptungen der Texte nicht auf ihren Wirklich‐ keitsbezug untersucht und damit wird kein Urteil darüber abgegeben, ob die Texte gerade im Hinblick auf Apk 1,1-3 „wirklich“ von Gott gegeben sind. An 35 3. Die Grundidee der Untersuchung <?page no="36"?> 116 Im Gegensatz zu Söding, Buch, 348, der die „wahre Selbsteinschätzung“ der biblischen Autoren als Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Schriftinspiration macht. Hier scheint die Gefahr groß zu sein, sich - so Söding, Buch, 348, selbst - „in fundamenta‐ listische Sackgassen“ zu verrennen. Ob man z.B die „Diskretion“ der biblischen Autoren, die ihnen „das Ausplaudern intimster Vorgänge zwischen Gott und ihnen“ (Söding, Buch, 369) verbiete, als Argument verwenden darf, um die Inspiration der Texte anzu‐ nehmen, scheint sehr fraglich. Dagegen ist inhaltlich zu sagen: Paulus redet ohne Scham von seinem Innenleben (z. B. Gal 2,20) und von seinen psychologischen Zuständen (2Kor 2,4; 12,2). Lukas breitet die intimen Vorgänge der Berufung des Paulus aus (Apg 9,4-5). Und schließlich speist der Seher Johannes seine ganze Gefühlslage in sein Werk ein (Apk 1,10.17; 4,2). So wird das Verhältnis zu Gott also geradezu integral in die Darstellung der Texte aufgenommen. Weiter ist zweifelhaft, ob die Unterscheidung zwischen einer ekstatischen Inspiration (wie Söding, Buch, 349, sie z. B. dem 4Esr attestiert) und einer nüchternen „Selbst-Dar‐ stellung der biblischen Autoren“ (Söding, Buch, 349) haltbar ist. Methodisch ist dagegen einzuwenden, dass Söding, Buch, 369, von einer von ihm ak‐ zeptierten „Inspirationserfahrung“ her argumentiert, nicht lediglich den Anspruch auf Inspiration konstatiert. Damit gerät man leicht in den Sog evangelikaler Positionen, die gleichfalls darauf insistieren, „nur“ den Texten vertrauen zu wollen (Vgl. Kapitel II.3.4.). Es ist deshalb kein Wunder, dass Mauz, Machtworte, 141, Söding vorwirft, sich „in einer Sackgasse eingerichtet [zu haben], die lehramtlich-fundamentalistisch genannt werden kann.“ Dieser Vorwurf ist angesichts der mehrfachen Bezugnahme Södings auf lehr‐ amtliche Aussagen (vor allem Dei Verbum: Söding, Buch, 367-375) nicht ganz von der Hand zu weisen. Darüber hinaus fällt die Ähnlichkeit dieses Ansatzes mit den Erwä‐ gungen der Päpstlichen Bibelkommission zur Inspiration der Schrift auf, die gleichfalls von einem starken Zutrauen in die biblischen Selbstaussagen geprägt ist (vgl. Ka‐ pitel II.3.2.2.) und sich genau in diesem Punkt mit evangelikalen Positionen trifft. Für die vorliegende Untersuchung gilt deshalb: Es ist allein der Anspruch der Texte zu untersuchen. Ob dieser zu Recht oder zu Unrecht besteht, ob er auf dem Hintergrund einer Erfahrung beruht oder nicht, spielt keine Rolle. Denn: „Die Frage nach der Wahr‐ heit der Ansprüche biblischer Texte, wirklich von Gott zu reden, kann [die Exegese] nicht entscheiden.“ (Luz, Hermeneutik, 138) 117 Vgl. Genette, Palimpseste, 9-18. 118 Genette, Paratexte, 192. diesem Punkt kann diese Untersuchung deshalb auch in keiner Weise metho‐ disch ansetzen. 116 3.3.1. Metatexte Gemäß den Bestimmungen von Gérard Genette können die Texte, die zu un‐ tersuchen sein werden, auch als Paratexte bestimmt werden. 117 Lk 1,1-4 müsste dann als Vorwort angesehen werden, das dazu dient, den Leser „durch einen typisch rhetorischen Überredungsapparat festzuhalten.“ 118 Joh 20,30-31 dürfte 36 I. Einleitung <?page no="37"?> 119 Vgl. Genette, Paratexte, 228. 120 Vgl. Genette, Paratexte, 82. 121 Vgl. Genette, Palimpseste, 11, der Titel oder Vorwort als Paratext bestimmt. 122 Vgl. Genette, Paratexte, 10. 123 Vgl. Genette, Palimpseste, 13, der den Kommentar als klassisches Beispiel eines Meta‐ textes ansieht. Allerdings können auch Paratexte nach Genette, Palimpseste, 11, Kom‐ mentare enthalten. So ist ersichtlich, dass sich Para- und Metatexte nicht immer trenn‐ scharf unterscheiden lassen. 124 Mauz, Machtworte, 79. Die Rechtschreibung des Satzes orientiert sich an Richtlinien, die in der Schweiz und in Liechtenstein zulässig sind. 125 Genette, Paratexte, 389. 126 Genette, Paratexte, 389. 127 Mauz, Machtworte, 79. als Nachwort anzusprechen sein 119 und Apk 1,1-3 wäre in seinem Sinn als the‐ matischer Titel der Apk zu bestimmen. 120 Die Untersuchung wird allerdings zeigen, dass die untersuchten Texte zwar wie Paratexte dem Werk beigeordnet (z. B. als Überschrift oder Vorwort 121 ) sind, oft also die Schwelle markieren, 122 die es zu übertreten gilt, um in das Werk hineinzugelangen (Lk 1,1-4; Joh 20,30-31) oder aus ihm herauszukommen ( Joh 20,30-31), dies aber immer so vornehmen, dass auf das jeweilige Werk in kom‐ mentierender Absicht Bezug genommen wird, was wiederum einem Metatext entspricht. 123 Gegen die Verwendung der Bezeichnung Paratext spricht im vor‐ liegenden Fall, dass die zu besprechenden Texte nicht wie bei anderen Litera‐ turwerken, die Genette vor allem zur Bestimmung seiner Kriterien heranzieht, deutlich als deren Rahmen abgegrenzt sind (eben deutlich als Titel oder Vor- und Nachwort), sondern bei den biblischen Texten „ins Kontinuum eines grös‐ seren Zusammenhangs eingelassen sind.“ 124 Außerdem trifft auf diese kanonisch gewordenen Texte nicht zu, was bei Pa‐ ratexten zu erwarten wäre. Im Gegensatz zum eigentlichen Text, der nach Ge‐ nette „unwandelbar und als solcher außerstande [ist], sich an die Veränderungen seines Publikums in Raum und Zeit anzupassen“, 125 leisten Paratexte genau das: „Der flexiblere, wendigere, immer überleitende, weil transitive Paratext ist ge‐ wissermaßen ein Instrument der Anpassung.“ 126 Deshalb kann und soll er sich in der Überlieferung des Werkes immer wieder wandeln, um dem Werk zu jeder Zeit dienlich sein zu können. Diese Flexibilität, die dafür sorgt, „dass der we‐ sentlich stabilere Haupttext mit dem diachronen Wandel Schritt hält“, 127 fehlt den biblischen Texten. Vielleicht ist im Zuge ihrer eigenen Kanonisierung ihr ursprünglich paratextueller Charakter, der aber vor allem für Apk 1,1-3 be‐ hauptet werden kann, verloren gegangen, sodass sie letztlich als Metatext an‐ 37 3. Die Grundidee der Untersuchung <?page no="38"?> 128 Vgl. Mauz, Machtworte, 53. 129 Vgl. den Sprachgebrauch von Bovon, Evangelium, 37; Aletti, Finales, 24; Lein‐ häupl-Wilke, Buch, 271; Hellholm, Visions, 127; Aune, Revelation III, 1201; Mauz, Machtworte, 263. 130 Exemplarisch Böttigheimer, Fundamentaltheologie, 138-143. 131 Vgl. Söding, Anspruch, 22-23: „Der (nachgeahmte) Petrussetzt wie der (nachgeahmte) Paulusbrief die Dignität der Heiligen Schrift voraus und ist wie er an der richtigen Auslegung interessiert.“ 132 Vgl. Käsemann, Römer, 369-370. 133 Weiser, Brief, 280. gesehen werden müssen. In jedem Fall geht es also um die metakommunikative Funktion der Texte. 128 Um nun drittens eine einheitliche und in der Exegese verbreitete Begrifflich‐ keit zu verwenden, 129 sollen die Texte, die die beschriebenen Voraussetzungen aufweisen, daher als „Metatexte“ bezeichnet werden, da es der Untersuchung darauf ankommt, die kommentierenden, also selbstexplikativen Aussagen zu beschreiben. 3.3.2. Selbstreferentialität Mit dieser Entscheidung geht eine weitere Konzentration einher, die sich aus inhaltlichen Gründen nahelegt. Die Leitfrage schließt Texte aus, die nicht er‐ kennbar über sich selbst nachdenken, sondern von anderen Texten sprechen. In diesem Fall sind solche Texte keine Metatexte im Sinne dieser Untersuchung, da sie nicht ihre eigene Genese offenlegen, ihre eigene Absicht beschreiben und keine Autorität für sich selbst erheben. Dies dürfte bei den „klassischen“ Stellen der Fall sein, die - meistens in dog‐ matischen Zusammenhängen - angeführt werden, wenn das Thema der Schrift‐ autorität berührt wird. 130 Röm 15,4; 2Tim 3,16 und 2Petr 1,20 werden demnach nicht nur deshalb von dieser Untersuchung ausgeschlossen, weil sie der Brief‐ literatur zugehörig sind, sondern auch weil sie nicht über sich selbst sprechen, sondern über die Texte ihrer „Heiligen Schrift“, also über historisch nur schwer exakt greifbare Varianten des Textcorpus, das man gewöhnlich „Altes Testa‐ ment“ nennt. 131 Röm 15,4 bezieht sich deutlich auf den zuvor zitierten Psalm 68,10 ( LXX ) und zeigt durch die Verwendung von προγράφω klar an, dass Paulus nicht an den eigenen Brief denkt. 132 2Tim 3,16 bezieht sich gleichfalls nicht auf den 2Tim, sondern trifft eine Aus‐ sage über „die heiligen Schriften Israels.“ 133 Dies gilt auch für 2Petr 1,20, wo es nicht darum geht, den eigenen Brief als „Schrift“ zu qualifizieren, sondern darum, die Auslegung der aus den vorlie‐ 38 I. Einleitung <?page no="39"?> 134 Vgl. Vögtle, Petrusbrief, 176. 135 Theißen, Texte, 442. In diesem Sinn kann er von Theißen, Texte, 442, auch als „ein Metatext zum entstehenden Neuen Testament“ bezeichnet werden. Er ist also Zeuge des Kanonisierungsprozesses des Neuen Testaments, aber dies gerade, indem er sich nicht auf sich selbst, sondern auf andere Texte bezieht. 136 Vgl. z. B. zur Frage des alttestamentlichen Schriftgebrauchs im Johannesevangelium: Cebulj, Johannesevangelium, 330-340; der Apk: Bauckham, Climax, 38-91; Hieke, Funktion, 274-289; des Paulus: Koch, Funktion, 169-179; Wilk, Schriftbezüge, 479-490; des Lukas: Rusam, Testament, 492-496. 137 Vgl. Horden, Paul, 135. 138 Vgl. Söding, Schrift, 343: „Es ist nicht eben häufig, daß die Evangelisten über ihr Un‐ ternehmen Auskunft geben und ausdrücklich das Ziel nennen, das sie mit ihrem Werk verfolgen.“ 139 Vgl. Bovon, Evangelium, 31, der die Ähnlichkeit der zu untersuchenden Texte heraus‐ stellt, da sie „auf der Ebene der Metasprache über ihre Werke nachdenken.“ Vgl. Zum‐ stein, Johannesevangelium, 34; Baum, Epilogue, 231. Ähnlich hebt Dormeyer, Litera‐ turgeschichte, 47-50, deren Besonderheit im Rahmen des Neuen Testaments hervor. Dieser Einschätzung folgen auch Wolter, Lukasevangelium, 64; Bauspieß, Geschichte, 180. genden „Schriften“ Israels entnommenen Prophetie als legitim zu erweisen. 134 Außerdem „bezieht er sich intentional auf andere neutestamentliche Briefe und (zumindest) ein Evangelium.“ 135 Alle drei Stellen beziehen sich also deutlich nicht auf sich selbst, sondern auf ihnen vorgegebene Texte und scheiden deshalb aus der Betrachtung dieser Un‐ tersuchung aus. Da die Leitfrage dieser Arbeit so konsequent wie möglich durchgehalten werden soll, müssen verwandte Themen ebenfalls ausgeklammert werden. Es geht also weiterhin auch nicht darum, wie die neutestamentlichen Autoren mit den Texten umgehen, die ihnen vorliegen und von ihnen als „Heilige Schrift“ anerkannt werden. Der „Schriftgebrauch“ der einzelnen Autoren ist hiermit nicht das Thema dieser Untersuchung. 136 Letztlich soll sich die Arbeit auch nicht damit beschäftigen, wie einzelne Texte oder Autoren der Bibel zu Autoritäten in verschiedenen geschichtlichen Zu‐ sammenhängen wurden. 137 Dieses Thema wäre eher wirkungsgeschichtlich ori‐ entiert. So bleiben lediglich drei Texte, 138 die einen Einstieg in die Frage ermöglichen, welche Autorität die neutestamentlichen Erzählwerke für sich selbst beanspru‐ chen: Lk 1,1-4; Joh 20,30-31 (21,24-25); Apk 1,1-3 (22,18-20). 139 Diese Texte sollen besprochen werden, weil sie jeweils angeben, warum sie geschrieben wurden. Sie geben damit den eigenen Anspruch explizit zu er‐ kennen und verweisen damit auf die Autorität, die der Text erheben will. Es scheint kein Zufall zu sein, dass die drei Texte in der selben Zeit, wahrscheinlich 39 3. Die Grundidee der Untersuchung <?page no="40"?> 140 Vgl. Witetschek, Zeitfenster, 147, der die Apk „in einem Zeitfenster an[setzt], das etwa gleichzeitig mit oder kurz nach dem lukanischen Doppelwerk“ endet. Dies dürfte auch für die Entstehung des Johannesevangeliums gelten. 141 Vgl. Theißen, Religion, 352. Erst im 2. Jahrhundert fließen dann die einzelnen Ström‐ ungen des frühen Christentums „im frühkatholischen Gemeindechristentum zusammen“ (Theißen, Religion, 354; kursiv im Original). gegen Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. entstanden sind, 140 in einer Zeit also, die auf dem Weg zur Ausbildung eines Kanons zu sein scheint. 141 40 I. Einleitung <?page no="41"?> 1 Vgl. dazu grundlegend den Beitrag von Heckel, Schrift, 37, der die Kirche „in der Span‐ nung zwischen dem Heiligen Geist und dem Zeitgeist“ stehen sieht. Es ist allerdings zu fragen, ob hier tatsächlich ein Gegensatz zu konstatieren ist. Kann der Heilige Geist nicht auch dem Zeitgeist entsprechen? Der Zeitgeist muss also nicht immer a priori als negativ angesehen werden. Darauf macht gerade im Kontext der Diskussion um das EKD-Familienpapier Tanner, Stellungnahme, 3, aufmerksam: „Der Verweis auf den ,Zeitgeist‘ in der Kritik an der Orientierungshilfe ist ein wohlfeiles ,Argument‘, aber wenig hilfreich. Dieser Verweis hat eine denunziatorische Komponente. Vom ,Zeitgeist‘ affiziert sein, sollen ja immer nur die ,anderen‘, deren Position einem nicht genehm ist. So einfach ist es nicht.“ 2 Nüssel / Sattler, Einführung, 50. II . Die Autorität der Schrift in der Diskussion Ökumenischer Konsens besteht darin, dass biblische Texte in gegenwärtigen kirchlichen Diskussionen eine Rolle spielen und auch in Publikationen von kir‐ chenleitenden Gremien 1 zum Tragen kommen sollen. Ihnen wird zugebilligt, Orientierung in den diskutierten Fragen zu bieten. Fraglich ist nur, wie dies konkret geschieht, wie also mit ihnen umgegangen wird. Dann zeigt sich trotz aller Konsenspapiere: „Die noch bestehenden Grenzen der Verständigung werden in den Dialogen vor allem dann spürbar, wenn kontroverse Einzelfragen unter Bezugnahme auf das biblische Zeugnis versuchsweise einander angenä‐ hert werden.“ 2 Solche Einzelfragen sind also der Praxistext jeglicher Konsens‐ gespräche. Die Diskussion um drei Einzelfragen wird nun skizziert. 1. Die Autorität der Schrift in aktuellen Diskussionen 1.1. Die Frage der Frauenordination Eine breite Phalanx von Kirchen lehnt die Ordination von Frauen zum geistli‐ chen Amt ab. Darunter sind die römisch-katholische Kirche, die orthodoxen und die altorientalischen Kirchen. Doch auch eine Reihe von Kirchen, die zum Lu‐ therischen Weltbund oder zur Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen zählen, gehören dazu, z. B. die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche, und andere wenige Freikirchen. Zwei typische Argumentationstypen, die im westlichen Christentum behei‐ matet sind, sollen hier aus der Breite der Diskussion herausgegriffen und vor‐ gestellt werden. <?page no="42"?> 3 Vgl. Kapitel II.3.2. 4 Johannes Paul II., Ordinatio, 2. 5 Johannes Paul II., Ordinatio, 2. 6 Johannes Paul II., Ordinatio, 1. Es handelt sich hierbei um ein Zitat von Paul VI. Spätestens seit dem 2. Vatikanischen Konzil hat sich die römisch-katholische Kirche den exegetischen Wissenschaften und Einsichten geöffnet. 3 Dies scheint allerdings nicht in alle Bereiche der Kirche hineingewirkt zu haben. Papst Johannes Paul II . legt 1994 die dazu bis heute gültige Lehre der rö‐ misch-katholischen Kirche in seinem Apostolischen Schreiben „Ordinatio Sa‐ cerdotalis“ dar und beruft sich dabei auf Christus selbst: „Christus erwählte die, die er wollte (vgl. Mk 3,13-14; Joh 6,70), und er tat das zusammen mit dem Vater ,durch den Heiligen Geist‘ (Apg 1,2), nachdem er die Nacht im Gebet ver‐ bracht hatte (vgl. Lk 6,12).“ 4 Die angeführten Bibelstellen dienen dem Papst als Belege, die lediglich das bestätigen, was zuvor bereits der Text sagt. Ohne Ein‐ ordnung in ihren Kontext sollen sie lediglich zuverlässige historische Informa‐ tionen liefern, auf denen dann die Praxis der Kirche beruht. Theologische Kon‐ zeptionen der einzelnen Texte werden dabei außer Acht gelassen. Die Vollmacht der Kirche, Frauen zu weihen oder nicht zu weihen, wird also auf Grundlage von durch die Bibel berichteten und unhinterfragten Tatsachen begründet, und damit der Anspruch formuliert, dass die Kirche „als feststehende Norm die Vor‐ gehensweise ihres Herrn bei der Erwählung der zwölf Männer“ 5 lediglich nach‐ ahmt und deshalb daran festhalten muss. Als weiteres Argument wird die von der Bibel berichtete Praxis der Apostel genannt. Ihr Vorbild, nur Männer in die eigene Nachfolge zu berufen, werde ebenfalls nachgeahmt. Gleichzeitig wird die Argumentation auf der anderen Seite dadurch gestützt, dass Maria, obwohl als Gottes- und Kirchenmutter aus‐ gezeichnet, eben keine Amtsvollmacht als Frau bekam. Die römisch-katholische Ablehnung der Frauenordination führt also letztlich drei Argumente ins Feld: „das in der Heiligen Schrift bezeugte Vorbild Christi, der nur Männer zu Aposteln wählte, die konstante Praxis der Kirche, die in der ausschließlichen Wahl von Männern Christus nachahmte, und ihr lebendiges Lehramt, das beharrlich daran festhält, daß der Ausschluß von Frauen vom Priesteramt in Übereinstimmung steht mit Gottes Plan für seine Kirche.“ 6 Praxis und Tradition der Kirche sind zwei Argumente, die letztlich auf biblischer Über‐ lieferung ruhen, die erstens in eklektischer Auswahl (Röm 16,7 findet keine Er‐ wähnung) und zweitens als Tatsachenbericht herangezogen wird. Dahinter soll die Autorität Christi selbst stehen, dessen durch die biblischen Texte sicher fest‐ zustellendes Tun als Gesetz der Kirche aufgefasst wird, wie es zuverlässig wie‐ derum in den Texten selbst überliefert ist. Die biblische Überlieferung wird als 42 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="43"?> 7 Johannes Paul II., Ordinatio, 4. Diese Formulierung ist innerhalb der römisch-katholi‐ schen Lehre schwierig, da sie in einem Dokument erfolgt, das in der römischen „Do‐ kumentenhierarchie“ relativ niedrig angesiedelt ist. Vgl. dazu Grote, Dokumenten‐ kunde, 13-15. Während also das Genus eines „Apostolischen Schreibens“ von minderer Verbindlichkeit ist, liest sich die Formulierung wie eine „ex cathedra“-Erklärung mit höchstem dogmatischem Rang. 8 Vgl. Stadelmann, Frau: „ Wo aber die Schrift spricht, da gilt es zunächst genau zu ver‐ stehen, was sie sagt. Dann, allerdings, ist unser Glaubensgehorsam gefordert, denn unser Widerspruch gegen das Sprechen der Schrift wäre Sünde.“ 9 Stadelmann, Schriftverständnis, 327. 10 Stadelmann, Schriftverständnis, 344. sicherer Beweis der Praxis Jesu aufgefasst und auf diesem vermeintlich sicheren Tun Jesu die ganze Lehre der Kirche in diesem Punkt begründet. Das Argument wird in seiner Konsequenz dann recht schlicht: Weil der Priester in Stellvertre‐ tung Christi handelt und Christus ein Mann war und nur Männer in seine „Amts-Nachfolge“ berufen hat, können keine Frauen Priester sein. Damit die Diskussionen in der römisch-katholischen Kirche - aus Sicht des Papstes - endlich verstummen, legt er mit diesem Schreiben definitiv fest: „Damit also jeder Zweifel bezüglich der bedeutenden Angelegenheit, die die göttliche Verfassung der Kirche selbst betrifft, beseitigt wird, erkläre ich kraft meines Amtes, die Brüder zu stärken (vgl. Lk 22,32), daß die Kirche keinerlei Vollmacht hat, Frauen die Priesterweihe zu spenden, und daß sich alle Gläubigen der Kirche endgültig an diese Entscheidung zu halten haben.“ 7 Historische „Tatsachen“, belegt durch biblische Zitate, werden also als Argu‐ mente in der Diskussion verwandt. Eine Einordnung in ihren sinngebenden Kontext unterbleibt. Von anderen Voraussetzungen - deshalb zum Teil - einfacher argumentieren die Gegner der Frauenordination, die zum reinen Gehorsam gegenüber der Schrift aufrufen. 8 Typisch für diesen Argumentationstyp ist die Diskussion der Problematik durch Helge Stadelmann, den ehemaligen Rektor der Freien The‐ ologischen Hochschule Gießen. Er erklärt die Frauenordination zu einem „Testfall für Bibeltreue“. 9 In einem Vortrag zum Thema fragt er: „Wo findet sich ein biblischer Hinweis dafür, daß Gott für seine neutestamentliche Gemeinde angeordnet hat, Frauen in den Lehr- und Leitungsdienst der Gemeinde zu berufen? “ 10 Mit zwei Zitaten wird die er‐ wartbare Antwort dann vorbereitet. Unter Verweis auf das wörtliche Ver‐ ständnis von 1.Kor 14 und 1.Tim 2,11-15 wird das Nein zur Frauenordination auf ein göttliches Verbot begründet: „Nicht etwa die besseren Fähigkeiten des Mannes sind der Grund; auch nicht eine vermeintlich größere Anfälligkeit der Frau für Verführung. Sondern der souveräne Wille Gottes, wie er sich in der 43 1. Die Autorität der Schrift in aktuellen Diskussionen <?page no="44"?> 11 Stadelmann, Schriftverständnis, 354. 12 Stadelmann, Schriftverständnis, 354. 13 Stadelmann, Schriftverständnis, 355. 14 Stadelmann, Schriftverständnis, 356. 15 Vgl. dazu ausführlich Metzger, Lagebericht, 121-122. schöpfungsmäßigen Zuordnung von Mann und Frau äußert; und Gottes freier Willensentschluß, den er hier nun als neutestamentliche Konsequenz aus der Tatsache des Hörens der ersten Frau auf den Versucher kundtut, das sind die Gründe für dieses göttliche Nein.“ 11 Stadelmann warnt davor, die Frauenordi‐ nation zuzulassen, da letztlich - schon bei Paulus selbst - drei Gründe ganz entschieden dagegen stehen: „Der erste Grund ist die übereinstimmende Praxis der Gemeinden […] Der zweite Grund ist, daß diese Verfügung dem entspricht, was schon in der alttestamentlichen Torah steht. […] Der dritte Grund ist - so Paulus - ganz einfach, daß es des Herrn Gebot ist, was ich euch schreibe. Wer aber das nicht anerkennt, wird von Gott nicht anerkannt‘ (Vv. 37b-38).“ 12 Alle drei Gründe beruhen darauf, biblische Zitate, hier eine Kombination von 1.Kor 14,33-38 mit 1.Kor 11,8-9 und der als „Schöpfungsordnung“ verstandenen Zuordnung von Mann und Frau aus Gen 2,20-24, wörtlich zu verstehen und darauf zu verzichten, sie in ihren soziokulturellen und theologischen Kontext einzubetten. Vor allem der dritte Grund, die Missachtung des göttlichen Gebotes, führt zu einer kaum verhohlenen Drohung: „Wenn heute nicht nur Landeskir‐ chen, sondern auch Freikirchen sich für die Berufung von Frauen als Pasto‐ rinnen entscheiden, entscheiden sie sich damit gegen Gottes Wort. Sie setzen damit zugleich Gottes Segen aufs Spiel. Denn wer dieses Wort Gottes zum öf‐ fentlichen Lehren der Frau nicht anerkennt, wird von Gott nicht anerkannt. (1.Kor 14,38) Ohne diese Anerkennung Gottes kann eine Gemeinde aber nicht leben! “ 13 Seine eigene, eingangs gestellte Frage beantwortet er also dezidiert positiv: „Angesichts der biblischen Evidenz spricht manches dafür, das Ja oder Nein zur Frauenordination heute zu Recht als einen Testfall für wirkliche und nicht nur vorgegebene Treue zur Schrift zu sehen.“ 14 Ähnlich argumentiert Janis Vanags, Erzbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche Lettlands ( LELB ), die auf ihrer Synode am 3. und 4. Juni 2016 mit einer Drei-Viertel-Mehrheit beschloss, die Frauenordination wieder abzuschaffen. 15 Was für den Lutherischen Weltbund zu einer echten Herausforderung hinsicht‐ lich der Mitgliedschaft dieser Kirche werden dürfte, ist für den vorliegenden Zusammenhang deshalb interessant, weil Vanags zur Begründung dieser Ent‐ scheidung auf 1.Kor 14,34-35 verweist, ohne tiefer gehende exegetische Ein‐ sichten zu berücksichtigen. Zudem wird ähnlich wie im römisch-katholischen 44 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="45"?> 16 Vgl. die Bewertung dieser Entscheidung von Schlarb, Frauenordination, 67, die die existentielle Bedeutung des Vorgangs gut illustriert und die tieferliegenden Motive auf‐ zeigt: „Dieses Ergebnis verdanken wir nicht nur den Exporten von Frauenordinations‐ gegnern oder Selbstfindungsproblemen in den Kirchen, sondern auch der erzkonser‐ vativen lutherischen Missouri Synode in den USA, die insbesondere nach 1989 in Osteuropa […] ihren Einfluss auf die dortigen lutherischen Kirchen ausgeweitet hat - eine gefährliche Einflussnahme, die mit viel Geld und Stipendien eine biblizistisch-fun‐ damentalistische Bibelhermeneutik und rückwärtsgewandte Kirchenpolitik durch‐ setzt.“ 17 Gut zugänglich unter: http: / / www.ekd.de/ familie/ 44736.html. Die Zitate werden unter Angabe des Abschnittes wiedergegeben. Kontext auf die Berufung der Zwölf Apostel, also ausschließlich Männer, ver‐ wiesen, die keine Frauen als Nachfolgerinnen haben dürften. 16 Achtet man bei dieser Entscheidung auf die kulturellen Faktoren Lettlands, wonach Liberalität gefährlich für die lutherische Identität sein soll, zeigt sich wieder, dass biblische Texte immer eklektisch als Argument eingesetzt und ge‐ rade dort gerne unkommentiert herangezogen werden, wo sie die eigene Absicht untermauern. Beide Beispiele aus ganz unterschiedlichen theologischen Kontexten zeigen, wie Zitate aus der Bibel in aktuelle Diskussionen umgesetzt werden, ohne dabei die Kontextualität der biblischen Texte zu beachten. In der Frage der Frauenordination zeigt sich weiter, dass neue Allianzen ge‐ schmiedet werden, die sich nicht an den klassischen Konfessionsgrenzen ori‐ entieren, sondern ethische Fragen in den Vordergrund rücken. Es gibt im Ein‐ zelfall dann keinen Dissens zwischen „evangelisch“ und „katholisch“, sondern eher zwischen „liberal“ und „konservativ.“ Weitere Einzelfragen lassen sich auf‐ zählen. 1.2. Die Frage der Familie Darf Familie in christlicher Perspektive mehr sein als Vater, Mutter, Kind? Und wie kann die Bibel bei der Beantwortung dieser Frage helfen? Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland ( EKD ), die 2013 veröffentlicht wurde, beschäftigt sich mit dieser Problematik. 17 Darin nimmt die EKD ernst, dass „angesichts gravierender gesellschaftlicher Veränderungen wie sinkender Geburtenraten, dem Wandel der Altersstruktur, veränderter Geschlechterverhältnisse, steigender Scheidungs- und Trennungs‐ raten, weltweiter Wanderungsprozesse, flexibler und mobiler Erwerbsarbeit sowie risikoreicher Arbeitsmarktstrukturen, mit denen sich Familien (je nach ihrem gesellschaftlichen Ort) derzeit auseinandersetzen müssen, […] traditio‐ 45 1. Die Autorität der Schrift in aktuellen Diskussionen <?page no="46"?> 18 EKD, Autonomie, 4. 19 EKD, Autonomie, 132. 20 EKD, Autonomie, 131. 21 EKD, Autonomie, 2. 22 Dokumentiert wurden die Reaktionen und die Beiträge des Symposiums in einem von der EKD herausgegebenen Sammelband. Die Beiträge des Symposiums sind auch unter http: / / www.ekd.de/ EKD-Texte/ orientierungshilfe-familie/ symposium.html einsehbar. 23 Vgl. http: / / www.evangelisch.de/ inhalte/ 92265/ 12-02-2014/ evangelische-kirchelaesst-arbeit-sexualethik-papier-ruhen. 24 EKD, Autonomie, 55. nelle Orientierungen ins Wanken“ 18 geraten. „Angesichts des tiefgreifenden so‐ zialen und kulturellen Wandels ist auch die Kirche aufgefordert, Familie neu zu denken und die neue Vielfalt von privaten Lebensformen unvoreingenommen anzuerkennen und zu unterstützen.“ 19 Deshalb plädiert die EKD dafür: „Alle fa‐ miliären Beziehungen, in denen sich Menschen in Freiheit und verlässlich an‐ einander binden, füreinander Verantwortung übernehmen und fürsorglich und respektvoll miteinander umgehen, müssen auf die Unterstützung der evangeli‐ schen Kirche bauen können.“ 20 Dies beinhaltet also nicht nur die klassische Klein- oder Großfamilie, sondern verschiedene Formen des Zusammenlebens: „Dabei hat unser Bild von Familie in den letzten Jahren eine Erweiterung er‐ fahren: Familie - das sind nach wie vor Eltern (ein Elternteil oder zwei) mit ihren leiblichen, Adoptiv- oder Pflegekindern, vielleicht erweitert um die Großeltern‐ generation. Familie, das sind aber auch die so genannten Patchwork-Familien, die durch Scheidung und Wiederverheiratung entstehen, das kinderlose Paar mit der hochaltrigen, pflegebedürftigen Mutter und das gleichgeschlechtliche Paar mit den Kindern aus einer ersten Beziehung.“ 21 Mit dieser Bestimmung - und vor allem der Frage nach der Homosexualität - hat die EKD ein Problemfeld eröffnet, das so viele Kritiker auf den Plan gerufen hat, dass die EKD sich verpflichtet fühlte, ein öffentliches Symposium durch‐ zuführen. 22 Gleichzeitig zeigte sie sich von den kritischen Reaktionen so beein‐ druckt, dass sie Arbeiten an einer Stellungnahme zur Sexualethik stoppte. 23 Ein Kristallisationspunkt der Diskussion bildete die Frage, ob die EKD mit ihrer Orientierungshilfe die Institution „Ehe“ auflösen wolle. Dies wird aus‐ drücklich in dem Text verneint: „Die Evangelische Kirche in Deutschland wür‐ digt die Rechtsform der Ehe als besondere Stütze und Hilfe: Sie schafft und si‐ chert dauerhaft und folgenhaft die durch ihren Öffentlichkeitscharakter dokumentierte wechselseitige Verantwortlichkeit und Verlässlichkeit, aber auch den Schutz des Schwächeren in der Partnerschaft.“ 24 Allerdings entspreche an‐ dererseits „ein Verständnis der bürgerlichen Ehe als ,göttliche[r] Stiftung‘ und 46 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="47"?> 25 EKD, Autonomie, 43. 26 Vgl. Härle, Dogmatik, 137. 27 EKD, Autonomie, 42. 28 Vgl. dazu den Beitrag von Klaus Tanner zum EKD-Symposium. Unaufgeregt stellt auf dem gleichen Symposium Friedrich W. Horn fest: „Es ist aber doch in keiner Weise not‐ wendig, die Ehe abzuwerten, um eine Offenheit für andere Lebensformen zu gewinnen.“ Beide Beiträge finden sich unter: http: / / www.ekd.de/ EKD-Texte/ orientierungshilfe-familie/ symposium.html. 29 Diener, Erklärung. 30 Gerber, Symposium. Dokumentiert unter: http: / / www.ekd.de/ EKD-Texte/ orientierungshilfe-familie/ symposium.html. der vorfindlichen Geschlechter-Hierarchie als Schöpfungsordnung […] weder der Breite biblischer Tradition noch dem befreienden Handeln Jesu, wie es die Evangelien zeigen.“ 25 Mit dieser Bestimmung ist nicht nur die Position zur Ehe dargelegt, sondern auch der Umgang mit der Bibel als autoritativem Text. Die Autorität der Schrift wird nicht dadurch anerkannt, dass aus dem Kontext ge‐ rissene Schriftzitate als Belege angeführt werden, sondern durch das Hören auf den „Grundton“ der Bibel: „Durch das biblische Zeugnis hindurch klingt als ,Grundton‘ vor allem der Ruf nach einem verlässlichen, liebevollen und ver‐ antwortlichen Miteinander, nach einer Treue, die der Treue Gottes entspricht.“ Gut protestantisch sucht die EKD damit das, „was Christum treibet“ 26 auf und versucht von daher ihre Konkretionen zu folgern. In methodischer Hinsicht heißt das: „Angesichts der Vielfalt biblischer Bilder und der historischen Be‐ dingtheit des familiären Zusammenlebens bleibt entscheidend, wie Kirche und Theologie die Bibel auslegen und welche Orientierung sie damit geben.“ 27 Im vorliegenden Zusammenhang soll keine Diskussion um die Ehe an sich geführt werden, 28 hier ist entscheidend, dass die EKD für sich sehr wohl in An‐ spruch nimmt, einen zeit- und schriftgemäßen Umgang mit der Schrift vorzu‐ legen. Dieser Einschätzung widerspricht der Präses des Evangelischen Gna‐ dauer Gemeinschaftsverbandes, Michael Diener, wenn er dem Text attestiert, die Bindung „an das Schriftzeugnis in seiner eigenen Klarheit und Priorisie‐ rung“ 29 aufgegeben zu haben. Dagegen wendet sich mit Vehemenz die Ham‐ burger Neutestamentlerin Christine Gerber in ihrem Beitrag zum bereits er‐ wähnten Symposion, die betont, dass eine bestimmte Position nicht dadurch schriftgemäß sei, wenn sie beständig biblische Zitate in ihren Gedankengang einbaut, „sondern durch die Orientierung an Liebe und Gerechtigkeit.“ 30 Im Rahmen dieser Debatte zeigt sich, dass sich sozialethische Entscheidungen christlicher Kirchen an der Bibel orientieren sollen, die Bibel als Autorität also geachtet wird, aber gleichfalls umso dringlicher, dass kein Konsens darin be‐ 47 1. Die Autorität der Schrift in aktuellen Diskussionen <?page no="48"?> 31 Vgl. Nüssel / Sattler, Einführung, 50. 32 EKD, Autonomie, 51. 33 Vgl. als Beispiel einer Entscheidung dieser Frage von kirchleitender Seite Hein, Auto‐ rität, 99-100. 34 Vgl. dazu Heckel, Schrift, 58-59. 35 Vgl. zum Überblick Porsch, Verstehensbedingungen, passim. Aus exegetischer Sicht widmet sich Herzer, Buchstabe, passim, dieser Diskussion intensiver als dies im vor‐ liegenden Rahmen notwendig ist. 36 Dass diese Einschätzung nicht nur auf den europäischen Kontext zutrifft, führt Herman, Liebe, passim, aus. steht, wie konkret mit den biblischen Texten in den einzelnen Argumentations‐ gängen umzugehen ist. 31 Gleichzeitig lässt sich die zuvor gemachte Beobachtung der neuen Allianzen wieder nachweisen: Evangelikale Positionen treffen sich mit denen der rö‐ misch-katholischen Kirche, während „liberale“ Katholiken sich hier gegen ihr eigenes Lehramt tolerant eingestellt zeigen. Die klassischen Konfessions‐ grenzen nehmen in ihrer Bedeutung für das alltägliche Leben hingegen weiter ab. 1.3. Die Frage der Homosexualität Ein anderer Kristallisationspunkt der Debatte um das Familienpapier der EKD ist die generelle Stellung christlicher Kirchen zur Homosexualität. Die EKD stellt in ihrer Orientierungshilfe hierzu fest, dass die Bibel vom „Grundton“ der Liebe her gelesen werden muss und kommt dann zu dem Er‐ gebnis: „Liest man die Bibel von dieser Grundüberzeugung her, dann sind gleichgeschlechtliche Partnerschaften, in denen sich Menschen zu einem ver‐ bindlichen und verantwortlichen Miteinander verpflichten, auch in theologi‐ scher Sicht als gleichwertig anzuerkennen.“ 32 Doch nicht nur homosexuelle Partnerschaften an sich stehen zur Debatte. Vielmehr geht es auch darum, ob Homosexualität generell akzeptiert wird oder nicht doch „geheilt“ werden sollte, ob solche Partnerschaften gesegnet werden dürfen (hier spielt dann wieder die Frage eines allgemein anerkannten Eheverständnisses eine Rolle), 33 ob Homo‐ sexuelle Ämter in der Kirche übernehmen dürfen (und wenn ja welche) und schließlich ob homosexuelle Geistliche heiraten und „im Pfarrhaus“ leben dürfen. 34 Alle Fragen, die mit Homosexualität zusammenhängen, werden ein‐ zeln diskutiert und in verschiedenen Konfessionen verschieden beantwortet. 35 Gerade die letzte Frage, die in sehr zugespitzter und spezieller Weise das Problem in den Blick nimmt, wurde in der jüngeren Vergangenheit äußerst kontrovers behandelt. 36 Damit scheint eine Frage beantwortet, die die EKD als „Leitfrage“ 48 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="49"?> 37 EKD, Spannung, Vorwort. 38 EKD, Spannung, 1.2. 39 EKD, Spannung, 1.2. 40 Zum Begriff „evangelikal“ vgl. Bauer, Bewegung, 28-34. 41 So Hans-Jürgen Peters in einem Kommentar zur Orientierungshilfe: Peters, Kommentar, 1.2. 42 Peters, Kommentar, 1.2. 43 Gerber, Symposium. 44 Vgl. Peters, Kommentar, 2.1. bereits 1994 einer Kommission stellte, die einen Text zum Thema Homosexua‐ lität erarbeiten sollte: „Was ist von der Einschätzung zu halten, an der Stellung zur Homosexualität entscheide sich die Bindung der evangelischen Kirche an die Heilige Schrift? “ 37 Die Autoren der EKD -Orientierungshilfe „Mit Spannungen leben“ aus dem Jahr 1996 nehmen diese Frage in ihren Beratungen mit und erkennen, dass hier eine Diskussion stattfinden muss. Vor allem „der Umgang mit den auf homose‐ xuelle Praxis bezogenen Aussagen der Bibel, und damit geht es um das ange‐ messene Schriftverständnis, ja um das ,sola scriptura‘“, 38 muss erörtert werden, also der Zusammenhang zwischen einer ethischen Frage, in der eine Entschei‐ dung getroffen werden muss, und der Autorität der Schrift für diese Entschei‐ dung. Allerdings warnt die EKD davor das Thema zu überschätzen: „Die christ‐ lichen Kirchen haben andere und noch wichtigere Aufgaben und Themen.“ 39 Das scheinen Theologen, die sich selbst dem „evangelikalen“ Lager zu‐ rechnen, 40 anders zu werten. Sie räumen dieser Frage sehr wohl eine direkte Verbindung zum status confessionis ein: „Nicht die Frage der Homosexualität ist der sog. ,status confessionis‘ […], sondern der Umgang mit der Heiligen Schrift.“ 41 Während die EKD also versucht, das Thema zu entdramatisieren, bleiben die Gegner der Homosexualität unversöhnlich und bereit zum Konflikt: „Die Stel‐ lung zur Bibel ist keine Randfrage, die mit hermeneutischen Vorüberlegungen entschärft werden könnte. An ihr entscheidet sich, ob Kirche Kirche ist oder nicht. Für Kirchen, die sich - wie die reformatorischen Kirchen - mit starkem Nachdruck (allein) an die Schrift gebunden haben, ist die Frage nach der Stellung zur Schrift insbesondere eine Frage, die den status confessionis betrifft.“ 42 Diese starken Worte - denen man in evangelischer Perspektive in der Tat nicht widersprechen kann - zielen aber nur auf einen ganz bestimmten Umgang mit den biblischen Texten. Ihnen geht es nicht darum, „Liebe und Gerechtig‐ keit“ 43 als zentralen Grundton der Bibel zu hören und von diesem aus andere Stellen zu bewerten, sondern dies wird direkt als Vergehen abgelehnt. 44 49 1. Die Autorität der Schrift in aktuellen Diskussionen <?page no="50"?> 45 EKD, Spannung, 2.1. 46 Peters, Kommentar, 2.1. 47 Peters, Kommentar, 2.1. 48 Peters, Kommentar, 2.3. 49 EKD, Spannung, 2.3. 50 EKD, Spannung, 2.3. 51 Vgl. Peters, Kommentar, 2.3. Während die EKD versucht, „die biblischen Texte an Jesus Christus (als der ,Mitte der Schrift‘) zu prüfen“ und dies „als sachgemäß“ 45 versteht, lehnen ihre Kritiker dies ab und sehen in diesem hermeneutischen Entscheid „ein Un‐ terscheidungsmerkmal, mit dessen Hilfe die Grenzen des Kanons festgelegt werden“, 46 nicht aber im Kanon selbst unterschieden werden kann. Daraus folgt: „Die abweisenden Aussagen der Schrift zur Homosexualität gehören zum Ge‐ setz, sind aber als solche nicht unwichtig, sondern gerade zur Geltung zu bringen.“ 47 Jegliche Relativierung der Homosexualität kann es deshalb angesichts des klaren Schriftzeugnisses nicht geben. Ob eine homosexuelle Beziehung in ge‐ genseitiger Liebe und Verantwortung geführt wird, spielt deshalb keine Rolle: „Wenn die Autoren sagen, daß es für eine homosexuelle Beziehung entscheidend ist, ob sie in Liebe zu Gott und Menschen gelebt wird, so ist demgegenüber darauf hinzuweisen, daß, wer Gott liebt, auch seine Gebote hält ( Jh 14,15.21; 15,10; I Jh 2,3f; 3,22-24; 5,2f).“ 48 Die Phalanx an neutestamentlichen Belegstellen zeigt den Umgang mit den biblischen Texten: Ohne ein Interesse an deren jeweiligem Kontext und beson‐ derer Situation werden sie als gleichbleibend gültige Wahrheit und Gesetz auf‐ gefasst. Diese Position repristiniert nur den Text, sie bemüht sich kaum um ein echtes Verstehen dessen, was er zu seiner Zeit und in seiner Situation zum Aus‐ druck bringen wollte. Während die EKD zu einer hermeneutisch differenzierten Position kommt, nämlich die Frage der Homosexualität „vom Gesamtzeugnis der Bibel her“ zu betrachten, und so festzuhalten, dass „für die Gestaltung einer homosexuellen (wie jeder anderen zwischenmenschlichen) Beziehung entscheidend ist, ob sie in Liebe zu Gott und Menschen gelebt wird,“ 49 sehen die Kritiker des Textes die beschriebene „Spannung zwischen dem biblischen Widerspruch gegen homo‐ sexuelle Praxis als solche und der Bejahung ihrer ethischen Gestaltung gemäß dem Willen Gottes“ 50 nicht gegeben, da sie „in den biblischen Texten selber nicht enthalten ist und deshalb auch nicht ,ausgehalten‘ werden muß.“ 51 Der differenzierten Position der EKD und ihres hermeneutisch verantwor‐ teten Umgangs mit der Bibel wird damit vorgeworfen, dass sie ein Verfahren 50 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="51"?> 52 Peters, Kommentar, Würdigung. 53 Dokumentiert unter: http: / / www.evangelisation.biz/ data/ file/ Stellungnahme %20-%20Evangelisaitonsteam.pdf. 54 Dokumentiert unter: http: / / www.bekenntnisinitiative.de/ images/ downloads/ stellungnahme_bekenntnis-initiative.pdf. Der ganze Gesprächsprozess, der sich um dieses Thema dreht, ist gut nachzuverfolgen unter: http: / / www.evlks.de/ publikationen/ texte/ 20337.html. benutzt (die historische Kritik), das „weitreichende Folgen haben könnte. Wenn sich diese Art zu denken und zu argumentieren durchsetzt, wird es in Zukunft möglich sein, auch in anderen Fragen, mit denen die Kirche konfrontiert ist, trotz eindeutiger Verbote und Weisungen in der Heiligen Schrift nach einer Möglichkeit zu suchen, verantwortlich mit dem umzugehen, was die Bibel als Sünde bezeichnet.“ 52 Während also die erwähnte Leitfrage aus dem Jahr 1994 nach dem Zusam‐ menhang von Schriftautorität und Umgang mit Homosexualität von den Au‐ toren der EKD entdramatisiert wird, stehen evangelikale Theologen in der Ge‐ fahr, die Frage in Richtung status confessionis zu verschärfen. Tatsächlich eingetreten ist dies 2013 in der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens. In einer „Stellungnahme zur Öffnung der Pfarrhäuser für homosexuell lebende Pfarrer“ 53 erklärte der Leiter des „Evangelisationsteams“, Lutz Scheuffler, einem selbst gegründeten „Missionswerk“ mit Vereinsstatus, den status confessionis, weil ein Kirchenleitungsbeschluss der Landeskirche in seelsorglich begründeten Ausnahmefällen gestattet hatte, dass homosexuelle Pfarrer mit ihren Partnern im Pfarrhaus leben dürfen. Scheuffler begründet seine Forderung Landesbi‐ schof, Kirchenleitung und Landessynode nicht mehr als geistliche Leitung der Landeskirche anzuerkennen und gleichzeitig eine Bekenntnissynode einzube‐ rufen, indem er auf das abweichende Schriftverständnis verweist. Er zitiert die „Sächsische Bekenntnis-Initiative“, die sich mit dem Gründungsmitglied „Evan‐ gelisationsteam“ als Reaktion auf den Kirchenleitungsbeschluss formierte: „Nach unserem Schriftverständnis ist praktizierte Homosexualität mit der Hei‐ ligen Schrift nicht vereinbar.“ 54 Ob damit wirklich der Kern des Protests getroffen ist oder andere Faktoren hier eine - vielleicht größere - Rolle spielen, braucht im vorliegenden Zusam‐ menhang nicht weiter zu interessieren. Wichtig ist aber zu sehen, dass die Au‐ torität der Schrift in bestimmten „Gebrauchsformen“ gegenwärtig für verschie‐ dene Kräfte in den verschiedenen Kirchen immer noch eine absolut zentrale Rolle im Argumentationszusammenhang spielt. 51 1. Die Autorität der Schrift in aktuellen Diskussionen <?page no="52"?> 55 Vgl. http: / / www.idea.de/ politik/ detail/ ehe-fuer-alle-was-wird-als-naechstesgefordert-101626.html. 56 Vgl. zu dieser These allgemein Metzger, Probleme, 1-2. Wiederum zeigt sich, dass ethische Streitpunkte die neuen Frontlinien der Diskussion darstellen, während die klassischen Konfessionsgrenzen eher zum theoretischen Problem geworden sind. Die am 30. Juni 2017 erfolgte Abstimmung des Deutschen Bundestages zur Frage einer „Ehe für alle“ macht dies sehr deutlich. Zwischen den Konfessionen verlaufen hierzu keine klaren Linien. Weder haben alle römisch-katholischen Christen mit „Nein“ gestimmt, wie dies „ihr“ Lehramt eigentlich vorschreibt, noch haben alle evangelischen Christen mit „Ja“ gestimmt, obwohl der Rat der EKD die Entscheidung begrüßt hat. 55 In beiden konfessionellen Lagern gibt es im Gegenteil Gegner und Befürworter, sodass diese Abstimmung wiederum ein Beleg für die zuvor formulierte These ist, 56 dass die klassischen Konfessions‐ grenzen - zumindest in Deutschland - in Auflösung begriffen sind und im Alltag für immer weniger Menschen eine signifikante Relevanz besitzen. 1.4. Fazit Die drei ausgeführten Beispiele zur Frage der Schriftautorität im Hinblick auf kirchliche Fragen der Gegenwart haben gezeigt, dass annähernd jede kontro‐ verse Diskussion an verschiedenen Punkten auf die biblischen Texte zurück‐ greift, um von dort Orientierung zu gewinnen. Dass dieser Rückgriff im Rahmen des Christentums legitim ist und dass er stattfindet, wird kaum diskutiert, wie er aber erfolgt, dafür umso heftiger. Vereinfacht beschrieben stehen sich dabei auf der einen Seite diejenigen ge‐ genüber, die Schriftzitate ohne hermeneutische Überlegung in die Diskussionen der Gegenwart einbringen und diese im Status einer unfehlbaren Autorität zum Argument erklären. Die Bibel ist für sie meist undifferenziert „Heilige Schrift“ oder „Wort Gottes“, das unmittelbar in der Gegenwart Anwendung finden kann und Gehorsam im Glauben verlangen darf. Biblische Zitate werden - durchaus nicht immer spannungsfrei - hier aneinandergereiht, miteinander kombiniert und als unmittelbar einsichtiges und schlagendes Argument aufgebaut. Dagegen stehen auf der anderen Seite diejenigen, die diese Unmittelbarkeit den Schriftzitaten nicht zuerkennen können, sondern oft komplexer argumen‐ tierend versuchen, der Bibel ihren „eigentlichen“, „wirklichen“ Sinn abzulau‐ schen. Mittels historischer Kritik und hermeneutischer Anstrengung soll das in die Gegenwart eingebracht werden, was der Text eingedenk seiner kontextu‐ ellen Bedingtheit eigentlich sagen wollte. 52 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="53"?> 57 Barth, Fragen, 55. 58 Vgl. grundsätzlich zu Barths Stellung zur Bibel Gibson, Speech, 266-291. 59 Schleiermacher, Reden, 121 f. Beide Positionen werden in der Praxis der Diskussion kaum in ihrer Reinheit bewahrt bleiben können, der unterschiedliche Zugang ist aber bemerkenswert. In der Betrachtung der unterschiedlichen Umgangsweisen mit biblischen Texten in aktuellen Diskussionen wird allerdings oft vergessen, dass der Konsens, nach dem die Bibel überhaupt etwas in diesen gegenwärtigen Diskussionen zu sagen hat, fundamental ist. Deshalb ist zunächst zu fragen: Woher kommt eigentlich die Rede von der Autorität der Schrift? Warum ist sie gerade im evangelischen Raum so wichtig und deshalb so heftig umstritten? 2. Die Autorität der Schrift in historischer Perspektive - Schlaglichter Was ist die Bibel? „Die literarischen Denkmäler einer vorderasiatischen Stammesreligion des Al‐ tertums und die einer Kulturreligion der hellenistischen Epoche, das ist die Bibel. Also ein menschliches Dokument wie ein anderes, das auf eine besondere Be‐ achtung und Betrachtung einen apriorischen dogmatischen Anspruch nicht machen kann.“ 57 So antwortet Karl Barth, der „Kirchenvater“ des 20. Jahrhun‐ derts. 58 Was ist die Heilige Schrift? „Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum der Religion, ein Denkmal, daß ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist; denn wenn er noch lebte und wirkte, wie würde er einen so großen Wert auf den toten Buchstaben legen, der nur ein schwacher Abdruck von ihm sein kann? “ 59 So antwortet Friedrich D. E. Schlei‐ ermacher, der „Kirchenvater“ des 19. Jahrhunderts. Obwohl Barth und Schleiermacher gewöhnlich als theologische Antipoden gesehen werden, scheinen sie bezüglich der Bibel bzw. der Heiligen Schrift die 53 2. Die Autorität der Schrift in historischer Perspektive - Schlaglichter <?page no="54"?> 60 Natürlich weisen beiden Theologen im Fortgang ihrer Überlegungen auf die Bedeutung der Bibel hin. Barth, Fragen, 55, will nur „diese offene Türe nun nicht immer wieder“ einrennen müssen und erklärt: „Es ist denn doch zu offenkundig, daß das vernünftige und fruchtbare Gespräch über die Bibel jenseits der Einsicht in ihren menschlichen, historisch-psychologischen Charakter anfängt.“ Schleiermacher, Glaube II, § 131, wiederum betont seinerseits, dass die neutestament‐ lichen Schriften „als Norm für die christliche Lehre zureichend“ seien. In Übereinstim‐ mung mit den Äußerungen aus den „Reden“ betont er aber, dass die eigentliche Funktion der Schrift ihre „ursprüngliche Wirksamkeit“ sei, wohingegen ihre kritische Funktion nur „ein Schatten“ (§ 131.2) der eigentlichen Bedeutung ihrer selbst sei. Die Texte sollen „nun auch für unsere religiöse Gedankenerzeugung der regelgebende Typus werden“ (§ 131.2). Damit wiederum greift Schleiermacher einen Gedanken auf, der bereits in der altprotestantischen Theologie (z. B. bei David Hollaz) begegnet: „Die hl. Schrift ist […] lebendig und kräftig, geistliche Wirkungen hervorzubringen.“ (Zitiert nach Hirsch, Hilfsbuch, 319.) 61 Einen informativen und aktuellen Überblick über Luthers Bibelauslegung liefert Beutel, Formierung, 154-163. Vgl. zu Luthers Schriftverständnis weiter: Brecht, Schriftver‐ ständnis, 9-29; Rothen, Klarheit, passim; Baur, Scriptura, 19-43. Vgl. auch Kolb, Bible, 89-114, der die Rolle der Bibel in den weiteren Horizont der Reformation einzeichnet. 62 Luther, Assertio, 85 (= WA 7, 99). Vgl. Luz, Hermeneutik, 105, der die Assertio Luthers ebenfalls als Grundlage seiner Ausführungen heranzieht und anhand ihrer „den Aus‐ gangspunkt“ des Schriftprinzips bespricht. Er sieht klar, dass es hier um mehr geht, „als um den Grundsatz, dass jeder Text und jeder Autor zunächst aus sich selbst zu deuten ist, und auch um mehr als um ein Abgrenzungsprinzip gegenüber der päpstlichen Kirche.“ (Luz, Hermeneutik, 107) 63 Luther, Assertio, 79 (= WA 7, 97). 64 Luther, Assertio, 81 (= WA 7, 97). Laut Beutel, Formierung, 156, lassen sich „Prinzip und Struktur von Luthers Denken nicht knapper“ zusammenfassen als mit diesem Zitat. Schneider-Flume, Grundkurs, 76 bringt dies in moderner dogmatischer Diktion auf den Punkt: „Die Schrift selbst bezeugt ihren Geist und bedarf deshalb keiner autoritativen Auslegung.“ gleiche Auffassung zu teilen. Auf den ersten Blick scheint die Bibel für beide im Hinblick auf die christliche Theoriebildung keine Autorität darzustellen. 60 2.1. Das Initialereignis Ganz anders klingt dies bei Martin Luther: 61 „Ich will […], dass allein die Schrift regiert [solam scripturam regnare] und diese nicht nach meinem eigenen Geist oder dem [Geist] irgendwelcher Menschen ausgelegt, sondern durch sich selbst und ihren eigenen Geist verstanden wird.“ 62 Luther fordert, „mit der Schrift als Richter ein Urteil [zu] fällen.“ 63 Dies gelingt, weil sie „durch sich selbst ganz gewiss ist, ganz leicht zugänglich, ganz verständlich, ihr eigener Ausleger [sui ipsius interpres], alles von allen prüfend, richtend und erleuchtend.“ 64 Die Bibel 54 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="55"?> 65 Luther, Assertio, 81. Vgl. Rothen, Klarheit 1, 42: „Die Schrift soll als einzige Anfang, Ende und Mitte der theologischen Studien bestimmen.“ Slenczka, Tod, 46, sieht dabei deutlich: „Die Voraussetzung dafür, dass die Schrift Norm und Richtschnur aller Aus‐ leger ist, liegt darin, dass sie selbst unabhängig von allen Auslegern ihren eigenen Sinn zur Geltung bringen kann.“ (kursiv im Original) 66 Vgl. Slenczka, Tod, 45, der zu Recht darauf hinweist, dass an diesem Punkt nicht die Stellung der Schrift an sich Gegenstand der „ökumenischen“ Kontroverse war, sondern die Anmaßung Luthers, den Sinn der Schrift besser erkannt zu haben „als die Väter der Kirche“. 67 BSLK 767,14-19: „Wir gleuben, leren und bekennen, Das die einige Regel und Richt‐ schnur, nach welcher zugleich alle Leren und Lerer gerichtet und geurteilet werden sollen, seind allein die Prophetischen und Apostolischen Schriften, altes und neues Testaments.“ 68 Vgl. Rahner, Gotteswort, 22, die präzisiert: „Nicht die Schrift als solche, sondern eben die ,claritas scriptura‘ ist das für Luther theologisch bedeutungsvolle und daher ent‐ scheidende Kriterium; das ,primum principium‘ aller Theologie.“ 69 Freilich ist die Beobachtung zutreffend, die Theodor Fontane in einem Brief im No‐ vember 1893 notiert: „An die Stelle bestimmter Dogmen, die Produkte der Kirche waren, hat Luther Dogmen gesetzt, die seiner persönlichen Bibelauslegung entsprachen.“ (Zi‐ tiert nach Beutel, Formierung, 163.) 70 Mauz, Machtworte, 127. 71 WA DB 7,384. 72 Vgl. WA 39 I,47,19ff: „Denn wenn die Gegner die Schrift gegen Christus ins Feld führen, führen wir Christus gegen die Schrift ins Feld.“ Vgl. Mauz, Machtworte, 127; Brecht, Schriftverständnis, 23: „Das Christuszeugnis, nicht eine davon abgelöste Inspiration, ist der Maßstab.“ wird durch diese Bestimmung ihrer selbst für Luther zum „ersten Prinzip“, 65 das über alle anderen Quellen der theologischen Erkenntnis richtet. 66 Die Konkordienformel formuliert dieses Programm dann grundsätzlich: „Wir glauben, lehren und bekennen, dass die einzige Regel und Richtschnur, nach der alle Lehren und Lehrer gleichermaßen eingeschätzt und beurteilt werden sollen, allein die prophetischen und apostolischen Schriften des Alten und Neuen Tes‐ taments sind.“ 67 Die Schrift wird zum Grundaxiom der Theologie. 68 Luther ersetzt damit in seiner kontroverstheologischen Situation das ordent‐ liche Lehramt der Kirche, das letztgültig der Papst als Garant der Einheit inne hat, durch die Autorität der für ihn „Heiligen Schrift“. 69 Ihre Autorität gründet für Luther auf ihrem Inhalt, der für ihn vor allem in der Lehre von der Recht‐ fertigung des Sünders allein aus Gnade besteht. „Das Rechtfertigungsevange‐ lium als Schriftmitte erlaubt es, sich zur Kritik abweichender theologischer Po‐ sitionen auf die Schrift zu berufen.“ 70 Als inhaltliche Mitte bestimmt Luther somit das, „was Christum treibet“, 71 kann somit - wenn nötig - Christus gegen die Schrift ins Feld führen. 72 55 2. Die Autorität der Schrift in historischer Perspektive - Schlaglichter <?page no="56"?> 73 Vgl. den knappen Überblick bei Slenczka, Tod, 59-63. 74 Zum Begriff des zirkulären Erkenntnisgewinns vgl. Härle, Kompetenz, 166, der im An‐ schluss an Schleiermacher „eine spiralförmige, vorantreibende Bewegung“ zwischen „Hervorragenden“ und „Masse“ als Methode des theologischen Erkenntnisgewinns in der evangelischen Kirche beschreibt. 75 Dass die Aufwertung der Bibel die benannte Leerstelle füllen soll, wird von einer ganzen Reihe von Theologen erkannt und kritisiert. Vgl. die Aufzählung bei Lauster, Entzau‐ berung, 78-79. Am schönsten bringt es wohl Troeltsch, Glaubenslehre, 12, auf den Punkt, wenn er die lutherische Orthodoxie im Vergleich zum Katholizismus beschreibt: „Die Bibel ist eben der lutherische Papst.“ 76 Diese historisch erklärbare Notwendigkeit Luthers führt dazu, dass die ihm nachfol‐ genden Theologen ein apologetisches Interesse im Hinblick auf das sola scriptura Prinzip entwickeln mussten. Die historisch unhaltbare Lehre der Verbalinspiration ist demnach auch daher zu erklären, dass dieses apologetische Bemühen darauf zielt, „ge‐ genüber der katholischen Kontroverstheologie das reformatorische sola scriptura zu behaupten und den Anspruch des katholischen Lehramtes […] auf Deutungshoheit über die Schriftexegese abzuwehren.“ (Kinzig, Verbalinspiration, 87) Deshalb ist die Be‐ obachtung überzeugend, dass die Verbalinspiration eigentlich die Autorität der Schrift sichern soll (Kinzig, Verbalinspiration, 103). 77 Wichtig ist hierbei zu bemerken, dass die Klarheit der Schrift „eine theologische Schlussfolgerung“ darstellt: „Sie ist Norm und Richtschnur, also muss sie klar sein und sich selbst auslegen.“ (Slenczka, Tod, 47) Die Klarheit der Schrift entspringt bei Luther also nicht der empirischen Beobachtung, sondern der prinzipiellen Setzung der Schrift als Axiom. Dass hier ein gewisser Zirkel vorliegt, ist deutlich: „Das protestantische Bibeldogma besagt, dass die biblischen Schriften das Dogma regulieren, de facto ist es aber das Dogma, das dies lehrt und damit selbst reguliert, welche Bedeutung die Bibel für das Dogma hat.“ (Lauster, Entzauberung, 71) Folgerichtig entwickelt in der Folge die altprotestantische Theologie Luthers „sola scriptura“ weiter, 73 da sie erkennt, dass durch die Absetzung des perso‐ nellen Lehramtes eine Leerstelle im Zirkel 74 des theologischen Erkenntnisge‐ winns zurückgeblieben ist. 75 Da Schrift und Tradition immer wieder in die je‐ weilige Gegenwart vermittelt werden müssen und da die Bedürfnisse einer Religionsgemeinschaft oft normative Entscheidungen in aktuellen Fragen er‐ fordern, ist es unabdingbar, dass eine Autorität gefunden wird, die in der Lage ist, solche Bestimmungen vorzunehmen. Will man aber - geschuldet der aktu‐ ellen Konfliktsituation - menschliche Autorität die Auslegung betreffend zu‐ rückdrängen, muss man dem Text selbst Autorität verleihen. 76 Diese Autorität kann er aber nur ausüben, wenn er - wie Luther deklariert - in sich selbst in allen potentiellen Fragen hinreichend deutlich ist. 77 56 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="57"?> 78 Hier ist vor allem an die Einzeichnung des „sola-scriptura“ in ein Beziehungsgeflecht mit den anderen lutherischen „Solismen“ zu denken wie auch an den hermeneutischen Schlüssel „was Christum treibet“: „Was Christum nicht leret, das ist nicht Apostolisch, wens gleich Petrus odder Paulus leret.“ (WA.DB 7,384) 79 Joest, Fundamentaltheologie, 155. Diese Weiterentwicklung wird von Schneider-Flume, Grundkurs, 80, treffend als „Immunisierungsstrategie“ bezeichnet. 80 Einen knappen, aber instruktiven Überblick gibt auch Joest, Fundamentaltheologie, 155-158. Vgl. Meijering, Scriptura, 44-53. 81 Zitiert nach Hirsch, Hilfsbuch, 310. 82 Zitiert nach Hirsch, Hilfsbuch, 310. 83 Zitiert nach Hirsch, Hilfsbuch, 314. 84 Kinzig, Verbalinspiration, 79. 85 Zitiert nach Hirsch, Hilfsbuch, 314. 86 Zitiert nach Hirsch, Hilfsbuch, 315. Dies wird bei Luther postuliert und durch eine Reihe von Zusatzannahmen 78 in der theoretischen und praktischen Durchführung gesichert, letztlich baut aber erst die altprotestantische Theologie den „sola scriptura“-Ruf Luthers „zum fundamentaltheologischen Grund- und Hauptartikel“ 79 aus: Der „Papst“ wird zu „Papier“, „sola scriptura“ wird zum „Schriftprinzip“. 2.2. Die Lehre von der Schriftautorität Dieses ausgeführte Lehrstück über die Heilige Schrift verdient eine genauere Betrachtung, da die historische Kritik sich mit diesen Überlegungen auseinan‐ dersetzen musste. 80 Der erste Grundsatz dieses Prinzips lautet: „Was die heilige Schrift lehrt, das ist unfehlbar gewiß.“ 81 (David Hollaz) Die Schrift ist, das Erste, „das selber nicht mehr anderswoher bewiesen oder abgeleitet wird.“ 82 (Georg Calixt) Der zweite Grundsatz betrifft die Inspiration der Schrift: „Der heilige Geist ist zugleich der Urheber (autor) wie der Ausleger (explicator) der Schrift“ (Mat‐ thias Flacius Illyricus). 83 Damit ist die Lehre von der Verbalinspiration in die altprotestantische Theologie aufgenommen, sie setzt sich „bei den orthodoxen Theologen des 17. Jahrhunderts nahezu flächendeckend durch.“ 84 Die „wirkende Ursache“ der Schrift ist Gott, die „weniger entscheidende wirkende Ursache der heiligen Schrift sind die heiligen Männer, welche durch Eingeben des heiligen Geistes die Hand ans Schreibrohr gelegt […] haben.“ 85 Diese Schreiber hingen „schlechthin von der Theopneustie oder göttlichen Eingebung [ab], durch die der heilige Geist ihnen das, was zu schreiben war, mitteilte und ihrem Geiste gleichsam in die Feder diktierte.“ 86 ( Johann Musäus) 57 2. Die Autorität der Schrift in historischer Perspektive - Schlaglichter <?page no="58"?> 87 Die Angabe dieser äußeren Kriterien zeigt bereits, dass die Lehre von der Verbalinspi‐ ration der Schrift ihren eigenen Vertretern hilfsbedürftig erschien. Vgl. Weber, Grund‐ lagen, 266: „[S]ie haben die absolute Besonderheit der Schrift mit ganz säkularen Ar‐ gumenten gestützt, indem sie das hohe Alter der Schrift, die Unversehrtheit ihrer Überlieferung usw. ins Feld führten, in der Meinung, damit ihrer These vom rein pneu‐ matischen Ursprung der Schrift eine Stütze geben zu können.“ Er beurteilt dieses Un‐ terfangen kritisch: „Gottes Wort kann daher nur durch Gottes Wort erkannt werden.“ (267) 88 Vgl. Kinzig, Verbalinspiration, 80. 89 Zitiert nach Hirsch, Hilfsbuch, 316. 90 Zitiert nach Hirsch, Hilfsbuch, 316. 91 Zitiert nach Hirsch, Hilfsbuch, 316. Um die Inspiration der Schrift abzusichern und sie vernünftig begründen zu können, werden Kriterien der Inspiration angegeben, und damit die Bedeutung der Schrift als Grundaxiom abgesichert. 87 Äußere Kriterien nach David Hollaz sind: 88 „a) das Alter der Schrift; b) das besondere Licht der heiligen Schreibhilfen, ihr Streben nach Erkenntnis und Wahrheit; c) der Glanz der Wunder, durch die die himmlische Lehre der Schrift bestätigt wird; d) das übereinstimmende Zeugnis der über den ganzen Erdkreis ausgebreiteten Kirche von der Göttlichkeit der heiligen Schrift; e) die Beständigkeit der Märtyrer; f) das Zeugnis der übrigen Völker für die in dem heiligen Buche enthaltene Lehre; g) die glückliche und schnelle Ausbreitung der christlichen Lehre über den ganzen Erdkreis und ihre wunderbare Erhaltung unter soviel Verfolgungen; h) die schweren Strafen, die den Verächtern und Verfolgern des göttlichen Wortes zuteil geworden sind.“ 89 Zu diesen äußeren Kriterien treten aber zur weiteren Bestätigung innere „An‐ zeichen, aus denen die Theopneustie der heiligen Schrift kund wird“. 90 Diese sind (wieder nach David Hollaz): a) „die Majestät Gottes, der sich selbst im heiligen Buche bezeugt; b) die Einfalt und der Ernst des biblischen Stils; c) die Erhabenheit der göttlichen Geheimnisse, welche die Schrift eröffnet; d) die Wahrheit aller biblischen Aussagen; e) die Heiligkeit der Gebote, die in den heiligen Schriften enthalten sind; f) die Genügsamkeit (sufficentia) der heiligen Schriften zu Seligkeit.“ 91 58 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="59"?> 92 Calvin, Institutio, I,7,4. 93 Weber, Grundlagen, 268. 94 Zitiert nach Hirsch, Hilfsbuch, 317. 95 Zitiert nach Hirsch, Hilfsbuch, 317. 96 Zitiert nach Hirsch, Hilfsbuch, 318. 97 Vgl. Joest, Fundamentaltheologie, 156. 98 Schmid, Dogmatik, 27-28. Die inneren Kriterien laufen letztlich auf die Selbstbeglaubigungskraft der bib‐ lischen Schriften hinaus. Dies ist bereits bei Johannes Calvin vorgezeichnet, der auf den Geist als die Beglaubigungsinstanz der Schrift hinweist: „Denn wie Gott selbst in seinem Wort der einzige vollgültige Zeuge von sich selbst ist, so wird auch dies Wort nicht eher im Menschenherzen Glauben finden, als bis es vom inneren Zeugnis des Heiligen Geistes versiegelt worden ist.“ 92 Das „testimonium spiritus sancti internum“ besagt demnach, dass der Geist im Menschen selbst beglaubigen muss, dass Gottes Wort wirklich Gottes Wort an das je eigene Individuum ist. Denn „nur im Vernehmen des Zeugnisses des Heiligen Geistes weiß ich, daß Gott in der Schrift zu mir redet; aber nur in der Schrift erfahre ich, was Gottes Rede an mich ist: Schriftevidenz und Geistes‐ zeugnis sind identisch.“ 93 Bei David Hollaz wird dieses Zeugnis als „übernatür‐ licher Akt“ 94 bestimmt. Es ist „der vornehmste und letzte Grund, den göttlichen Ursprung der heiligen Schrift zu erkennen und mit göttlichem Glauben zu glauben.“ 95 Dieses Argument unterstützt daher in kontroverstheologischer Sicht die Be‐ hauptung, dass die Schrift allein die Autorität tragen kann, die Luther ihr zu‐ gemutet hat. Die Autorität der Schrift ist deshalb die grundlegende Eigenschaft, die ihr in der altprotestantischen Theologie zugeschrieben wird. „Daraus ergibt sich, daß die Vollmacht der heiligen Schrift der Sache nach nicht von der Kirche abhängt, sondern von Gott allein.“ 96 ( Johann Musäus) Hier zeigt sich die Front‐ stellung des Schriftprinzips deutlich, da die Kirche schließlich im System der „Altgläubigen“ der Bezugsrahmen ist, in dem sich die Autorität der Schrift in Zusammenspiel mit Tradition und Lehramt entfaltet. Untergliedert wird diese Eigenschaft in „auctoritas causativa“ und „normativa“. 97 Die „auctoritas causa‐ tiva“ besagt, dass Gott selbst der Urheber der Schrift ist, bedeutet also die Ein‐ holung des zweiten Grundsatzes, wonach die Schrift vom Geist inspiriert ist, in die Eigenschaftslehre. Bereits diese grundlegende Eigenschaft wird wiederum nur durch das Zeugnis des Geistes bewiesen, „denn der einzige ganz stringente Beweis liegt darin, daß der heil. Geist sich an dem Herzen des einzelnen bezeugt und der einzelne so aus der Kraft und Macht, welche das Wort Gottes über ihn ausübt, von der Göttlichkeit desselben überzeugt wird.“ 98 59 2. Die Autorität der Schrift in historischer Perspektive - Schlaglichter <?page no="60"?> 99 Zitiert nach Hirsch, Hilfsbuch, 318. 100 Schmid, Dogmatik, 28. 101 Schmid, Dogmatik, 29. Dass hier eine gewisse Spannung vorliegt, weist Kinzig, Verba‐ linspiration, 88, nach. Eigentlich dürfte es bei der behaupteten Klarheit der Schrift keine Zweifelsfälle der Auslegung geben. Diese Zweifelsfälle an sich und „die Frage, wer in Zweifelsfällen über die rechte Schriftauslegung“ (Kinzig, Verbalinspiration, 88) ent‐ scheidet, bleiben sowohl in dem Gefüge der altprotestantischen Theologie wie in ge‐ genwärtigen Diskussionen ungelöste Fragen. 102 Schmid, Dogmatik, 41. 103 Schmid, Dogmatik, 41. 104 Schmid, Dogmatik, 37. Die zweite Eigenschaft der Schrift, die festgehalten wird, ist die „Wirksam‐ keit“: „Es ist aber die Wirkungsmacht der heiligen Schrift eine bestimmte über‐ natürliche Dynamis, oder aktive Kraft und Gewalt, von Gott selber ihr beigelegt, dazu, die Herzen der Menschen zu bekehren, wiederzugebären und zu er‐ neuern.“ 99 Die „auctoritas normativa“ steht in der gleichen Frontstellung, nimmt dagegen explizit die Einsicht der Konkordienformel auf, wonach die Schrift die einzige Instanz des Glaubens sein darf: „Danach müssen wir die heil. Schrift für die einzige Norm und Richtschnur unseres Leben erkennen, aus welcher allein auch alle Streitfragen über göttliche Dinge müssen erledigt werden, so dass es also in keinem Falle noch des Hinzukommens einer anderen Auktorität bedarf, durch welche dieselben entschieden werden.“ 100 Falls die Schrift auf den ersten Blick nicht hinreichend klar eine Streitfrage entscheiden kann und selbst der „Lehrstande“ der Kirche dies nicht vermag, so liegt dies nicht an der Schrift, sondern daran, „dass dieselbe nicht recht ausgelegt oder die rechte Auslegung nicht angenommen wird.“ 101 Die Klarheit der Schrift ist demnach bereits in der „auctoritas normativa“ enthalten, sodass diese als weitere Eigenschaft gelten kann. Genauer wird hier darauf verwiesen, dass „alles das, was zum Heil zu wissen nötig ist, klar und deutlich in ihr gesagt“ 102 sein soll. Die Deutlichkeit (perspicuitas) der Schrift muss dabei freilich so lange lediglich äußerlich und natürlich bleiben, „bis durch die Erleuchtung des heil. Geistes ein inneres Ver‐ ständnis und das Vermögen gewirkt wird, sich die in den heil. Schriften enthal‐ tenen Heilswahrheiten auch im Herzen zu eigen zu machen.“ 103 Dementsprechend ist klar, dass die Schrift in sich suffizient sein muss. Wenn sie in aller Deutlichkeit all das enthält, was zum Heil zu wissen nötig ist, dann folgt daraus, dass „wir nie Ursache haben, dasselbe anderswoher zu ergänzen, daher also alle Lehren, welche aus mündlicher Tradition wollen abgeleitet werden, zu verwerfen sind.“ 104 Weil deshalb die Schrift Gottes einziges Wort an uns ist, „folgt weiter, dass, wenn wir überhaupt den Weg kennen sollen, der zum 60 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="61"?> 105 Schmid, Dogmatik, 37. 106 Schmid, Dogmatik, 366. 107 Schmid, Dogmatik, 367. 108 Vgl. zur Gattung der „Theologia“ Stegmann, König, 100-185. Das Werk gilt „als eines der meistgebrauchten Dogmatikkompendien des Luthertums“ (Stegmann, König, 201). Vgl. dazu auch Mauz, Machtworte, 118-124. 109 Die „Theologia“ wird nach Angabe des Paragraphen und der Übersetzung von Steg‐ mann, König, passim, zitiert. 110 Vgl. Kinzig, Verbalinspiration, 82. Leben führt, er auch vollkommen in der heil. Schrift angegeben sein muss, und dies ist es, was mit der perfectio seu sufficientia ausgesagt werden soll.“ 105 Wenn in der Schrift aber der Heilsweg vollkommen dargelegt ist und keine andere Erkenntnisquelle herangezogen werden darf, wenn die Schrift die höchste Autorität hat und durch den Geist aufgerichtet wird, dann ist folge‐ richtig, dass der Geist die Schrift nicht nur um ihrer eigenen Autorität, Suffizienz und Normativität im Menschen als Wort Gottes erweist, sondern um im Men‐ schen zu dessen Heil zu wirken. Die Schrift kann deshalb als „medium salutis“ betrachtet werden, indem ihr die Kraft zugeschrieben wird, den Menschen in den Stand der Gnade zu erheben. Diese Kraft ist derart, „dass sie immer Erfolg hat, wo ihr nicht von seiten des Menschen Widerstand entgegengestellt wird.“ 106 Der Schrift kommt „efficacia“ zu, sodass sich sagen lässt: „Solch eine Kraft kommt dem Wort dadurch zu, dass der heil. Geist zu demselben hinzutritt, […] so dass die Kraft und die Wirksamkeit des Wortes mit der des heil. Geistes völlig identisch, eine wahrhaft göttliche ist.“ 107 Auf wenige Sätze konzentriert die wirkungsvolle und weit verbreitete „The‐ ologia positiva acroamatica“ von Johann Friedrich König die altprotestantische Schriftlehre. 108 Das „Erkenntnisprinzip der Theologie“ wird bei ihm als Lehre von der „Heiligen Schrift“ behandelt. 109 Deshalb gehört sie in die fundamental‐ theologische Grundlegung der Dogmatik. Nach König ist alles, was sie lehrt, „von Gott eingegeben und insoweit unfehlbar wahr“ (§ 79). 110 Dass überhaupt von der „Schrift“ gesprochen werden kann, wenn die biblischen Texte gemeint sind, ist berechtigt, „wegen des gottgeleiteten Tuns der dienenden Ursache, nämlich der äußerlichen Tätigkeit der Schreiber“ (§ 80). „Heilig“ ist sie aber vor allem, „wegen der Wirkursache“ (§ 81), also Gott selbst, „wegen des Gegen‐ stands, der heiligen Dinge, (3) wegen des Zwecks und der Wirkung, der Heili‐ gung und (4) wegen der nur ihr eigenen Besonderheit, durch die sie sich nicht nur von allen weltlichen, sondern auch von allen kirchlichen Schriften unter‐ scheidet“ (§ 81). Gott gibt dabei nicht nur „die Sachaussagen, sondern auch den Wortlaut der Schrift“ ein (§ 86). Gott schenkt den Menschen die Schrift, damit „wir ihn zu unserem Heil erkennen und seiner Würde entsprechend verehren“ 61 2. Die Autorität der Schrift in historischer Perspektive - Schlaglichter <?page no="62"?> 111 Vgl. Lauster, Schriftauslegung, 181, der von einem „fundamentaltheologischen Artikel von barocker Wucht“ spricht. Luz, Hermeneutik, 108, diagnostiziert: „Gegenüber Luther verschiebt sich das Gewicht vom verkündigten Wort auf den biblischen Text.“ 112 Diese Aufwertung und Umdeutung der Bibel zur dogmatischen Instanz ist folgerichtig, wenn die Bibel in die theologische Normenfindung mit höchster und alleiniger Autorität einbezogen wird. Es blieb der altprotestantischen Orthodoxie nach Luthers emphati‐ scher Destruktion einer kirchlichen Lehrgewalt im Grunde kaum ein anderer Weg als die Ausbildung des „protestantische[n] Bibeldogma[s]“ (Troeltsch, Soziallehren, 462), um die Bibel als den „Kern der Kirche“ (Troeltsch, Soziallehren, 462) zu behaupten. Das „Bibeldogma“ - so Troeltsch, Soziallehren, 463, treffend - ist „die Konsequenz des kirchlichen Autoritäts- und Organisationsbedürfnisses. Es ging nicht anders und konnte nicht anders gehen.“ 113 Die Bibel wird - so Troeltsch, Glaubenslehre, 12 - zum „lutherische[n] Papst“. Vgl. auch Wilkens, Kritik, 17. 114 Vgl. Bedford-Strohm, Bedeutung, 17, der von einer „Neujustierung des Verhältnisses von Kirche und Heiliger Schrift“ spricht. (§ 103). Für uns ist „der letzte Zweck“ der Schrift „das ewige Heil“ (§ 105), wäh‐ rend die „Unterweisung“ und die „Heiligung“ die beiden „vorläufigen“ Ab‐ sichten der Schrift sind (§ 106). So kommt König zur allgemeinen Definition: „Die Heilige Schrift ist das Wort Gottes, das aufgrund der unmittelbaren Ein‐ gebung des Heiligen Geistes durch die Propheten im Alten sowie durch die Evangelisten und Apostel im Neuen Testament schriftlich aufgezeichnet wurde, um den Menschen zu seinem Heil zu unterweisen“ (§ 107). Der Testimonium-Ge‐ danke wird bei König zu dem entscheidenden unfehlbaren Erkenntnisprinzip der Schrift: „Die unfehlbaren [Erkenntnisprinzipien], durch welche die Autorität der Schrift so unfehlbar erwiesen wird, daß sie mit göttlichem Glauben ange‐ nommen wird, sind (1) das Zeugnis, das die Schrift von sich selbst und von der ihr innewohnenden göttlichen Herkunft und Autorität darbietet, (2) das Wirken des Heiligen Geistes, durch das er in uns mittels der Schrift göttlichen Glauben wirkmächtig hervorbringt und besiegelt“ (§ 113). Die altprotestantische Orthodoxie errichtet um Luthers „sola scriptura“ also ein beeindruckendes und in sich logisch geschlossenes Gebäude der Schriftau‐ torität. 111 Die Bibel wird zur „Schrift“, sie gerinnt zu ihrem eigenen Dogma. 112 Die Schrift besitzt absolute Autorität und Normativität. Sie ist in sich suffizient, vollkommen und entfaltet mit Hilfe des Geistes im Grunde die gleiche Wir‐ kungskraft wie dieser selbst. Das „Papier“ hat den „Papst“ nicht nur ersetzt, es wurde zum „papiernen Papst“ 113 und in diesem Zug geradezu vergöttlicht. Die Autorität der Bibel als Prinzip von Theologie (und damit auch von Kirche 114 ) erfordert also gleichsam die Aufwertung der Bibel als „einer Art literarischer 62 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="63"?> 115 Troeltsch, Soziallehren, 463. Joest, Fundamentaltheologie, 155, weist zu Recht darauf hin, dass „die Lehre von der Schrift, gerade auch in ihren überspitzten Konsequenzen, aus der Nötigung durch die kontroverstheologische Situation“ verstanden werden muss. Vgl. zur kirchengeschichtlichen Situation Kinzig, Verbalinspiration, 87. Dies übersehen in der Gegenwart Positionen, die an der „Vergöttlichung“ der Schrift fest‐ halten wollen. Vor allem in evangelikal-fundamentalistischen Kreisen ist dies der Fall. Vgl. Kapitel II.3.4. 116 Thönissen, Zeitalter, 83. 117 Bauer / Hacke, Thema, 4. 118 Bauer / Hacke, Thema, 4. 119 Vgl. Bauer / Hacke, Thema, 4. Vgl. Horkheimer, Autorität, 362: „Das bürgerliche Denken beginnt als Kampf gegen die Autorität der Tradition und stellt ihr die Vernunft in jedem Individuum als legitime Quelle von Recht und Wahrheit entgegen.“ Inkarnation Gottes.“ 115 Diese Bewegung führt folgerichtig in historischer Per‐ spektive zur Entzweiung von „Altgläubigen“ und „Protestanten“: „Die Einheit der abendländischen Kirche bricht […] im Verständnis der Autorität der Schrift auseinander.“ 116 Literarische Denkmäler und Mausoleum auf der einen, absolute Autorität, Richterin, Königin und Heilsmittel auf der anderen Seite. Was ist zwischen Lu‐ ther, der Konkordienformel und der altprotestantischen Theologie auf der einen Seite und Theologen wie Schleiermacher und Barth auf der anderen Seite ge‐ schehen? 2.3. Der Zusammenbruch des „Schriftprinzips“ Luthers Ersetzung des Lehramtes durch die Schrift wird hinterfragt. Es liegt eine gewisse Tragik in der Erkenntnis, dass gerade die nachdrückliche Betonung und ausführliche Begründung der Schriftautorität durch die Orthodoxie bereits den Keim ihres Endes in sich trug, da jede „ausdrückliche Inanspruchnahme von Autorität stets ein gefährliches Manöver“ 117 darstellt. Denn die explizite Beto‐ nung der Autorität „irritiert die Routine“, 118 die zur ungestörten und oft unbe‐ merkten Ausübung von Autorität nötig ist. Im Regelfall lädt die Betonung von Autorität zu deren Überprüfung ein, was oft genug zum Nachteil der nun aus‐ drücklich geforderten, also nicht mehr fraglos akzeptierten Autorität ausfällt. 119 Diese allgemeine Erkenntnis schlägt durch die Aufklärung auf die Anerkennung der Schriftautorität durch und die einzelnen Argumente, die sie eigentlich ab‐ 63 2. Die Autorität der Schrift in historischer Perspektive - Schlaglichter <?page no="64"?> 120 Vgl. zur Aufklärung und ihrer Auswirkungen auf die theologische Diskussion um die Schrift grundsätzlich Rohls, Schrift, 417-579. Lauster, Prinzip, 19, sieht richtig: „Die Entstehung der Bibelkritik ist grundsätzlich einzuordnen in die Emanzipationsbewe‐ gung der Vernunft im Zeitalter der Aufklärung.“ Und weiter: „Vor dem Forum der Ver‐ nunft ließ sich die Autorität der Schrift nicht mehr aufrecht erhalten.“ (21) Dagegen wendet Wilkens, Kritik, 15, ein, dass es bereits vor der Aufklärung Spannungen zwi‐ schen Vernunft und Glauben gegeben habe und dass der eigentliche Grund die „Aus‐ wirkungen der Kirchenspaltung“ und demzufolge die Religionskriege zwischen den Kirchen gewesen seien, die die Vernunft als Lösung der konfessionellen Problematik angeführt hätten. Beide Erklärungen müssen allerdings nicht als einander ausschlie‐ ßende Alternativen angesehen werden, sondern erklären komplementär, warum der Glaube nach Vernunft suchte und sich nicht blind auf die Autorität der Kirche oder die der Schrift verlassen wollte. 121 Reiser, Prinzipien, 238. 122 Die Konsequenz, die das aufgeklärte Denken für das Schriftprinzip hat, beschreibt Pesch, Dogmatik, 100: „Was nun, wenn diese Tabus des sui interpres, der Selbstinter‐ pretation der Schrift und die Idee des Einklangs der Bibel mit sich selbst in ihren ver‐ schiedenen Schriften fallen? Dann erscheint die Bibel als ein religionsgeschichtlicher Text, vielfältig deutbar, widersprüchlich, oft auch moralisch anstößig, und inhaltlich nur in einem Glaubensentscheid zu bejahen. Aber warum gerade diesem Text glauben und sich ihm anvertrauen? Er muss dann notwendig in Konkurrenz zu anderen Welt- und Wirklichkeitsverständnissen geraten - und zu anderen ,heiligen Schriften‘. Dies geschieht in der Aufklärung.“ (Kursiv im Original) Damit formuliert Pesch die ent‐ scheidende Frage der Moderne: Warum gerade dieser Text? Was ist das Besondere, das „Heilige“ an ihm? 123 Leonhardt, Skeptizismus, 225. 124 Lauster, Prinzip, 1. sichern sollten, fallen dahin. Das Schriftprinzip wird durch die von der Schrift‐ autorität emanzipierte Vernunft der Aufklärung überprüft. 120 Die Aufklärung, zu deren Idealen „die Bevorzugung der menschlichen Ver‐ nunft als höchster Autorität, der Toleranz als höchster Tugend und des Glaubens an Fortschritt und Höherentwicklung in allen Bereichen als beste Philosophie, dazu die Skepsis gegen alles Geheimnisvolle und Übernatürliche“ 121 gehören, gebiert die historisch-kritische Methode und diese Methode hat Folgen für das Schriftprinzip, was zunächst aber nicht in seiner ganzen Tragweite gesehen wird. 122 So behauptet der Protestantismus deshalb „überwiegend die histo‐ risch-kritische Schriftauslegung als spezifisch neuzeitliche Gestalt des reforma‐ torischen Schriftprinzips“ 123 und kommt so allmählich zu der Erkenntnis, dass die Methode letztlich das Prinzip zerstört: „Es ist die Methode der historischen Kritik, die das altprotestantische Schriftprinzip auflöste.“ 124 Das historische Bewusstsein wendet sich mit der menschlichen Vernunft als Kriterium der Wahrheitsfindung den biblischen Texten zu. Exegese und Dog‐ 64 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="65"?> 125 Vgl. Sander, Autorität, 40: „Exegese wie Dogmatik sind Produkte der Moderne und stehen von Beginn an gegeneinander; es handelt sich um die Differenz zwischen Ver‐ nunft und Autorität.“ 126 Vgl. Roth, Verhältnis, 235: „Die historische Kritik zeigt, dass weder die Begründung der Autorität der Schrift durch ihre Verfasserschaft, noch durch ihr Alter, ihren Inhalt oder ihrer Wirkungsgeschichte, zu überzeugen vermag.“ 127 Vgl. die kurze Darstellung bei Wilkens, Kritik, 18-24, der allerdings in dieser Entwick‐ lung eine in seinen Augen zu verurteilende Tendenz zu einem für die Kirche und die Theologie schädlichen „grundsätzlichen Subjektivismus“ (24) sieht. 128 Vgl. Reiser, Geist, 70: „Die Geschichte zeigt, daß die Hl. Schrift weder sich selbst helfen kann noch von selbst ,spricht‘. Und sowenig wie ein anderes Buch legt sie sich selbst aus.“ So auch Slenczka, Historizität, 13: „Diese alten Texte sprechen nicht von sich aus, sondern nur dann, wenn sie einen Dialogpartner haben, der nicht nur wissen will, was die Texte in einer vergangenen Dialogsituation gesagt haben, sondern was sie je ihm oder ihr zu sagen haben.“ Diese Aussage muss im Rahmen der Exegese allerdings da‐ hingehend diskutiert werden, ob die Erhebung dessen, was die Texte „zu je mir“ sagen, nicht über die genuine Aufgabe der Exegese hinausgeht. 129 Lauster, Schriftauslegung, 182. 130 Vgl. Wilkens, Kritik, 11-12: „Historisch-kritische Exegese aber sieht die Bibel nicht als Heilige Schrift, sondern als Sammlung urchristlicher Schriften und diese als Produkte von Menschen aus der Vergangenheit der Anfänge des Christentums, die wiederum der antiken Welt des Vorderen Orients und des Hellenismus zugehören.“ 131 Mauz, Machtworte, 129. matik werden als eigenständige Disziplinen geboren. 125 Fragen kommen auf, die das Lehrgebäude der Orthodoxie zum Einsturz bringen. 126 Das beginnt mit grundlegenden Feststellungen, die die Text- und Kanonsentstehung be‐ schreiben, geht weiter mit der Frage, ob die Wunder Jesu und schließlich seine Auferstehung wirklich stattgefunden haben können, konfrontiert die Schöp‐ fungserzählungen der Genesis mit den aufkommenden Erkenntnissen der Na‐ turwissenschaften und führt schließlich zu dem Urteil, dass selbst die Institution „Kirche“ hinterfragt werden muss. 127 Die Emanzipation der Vernunft löst das Schriftprinzip auf, weil sie die ausgeführten Bestimmungen der altprotestanti‐ schen Orthodoxie erschüttert und letztlich widerlegt. Die „Heilige Schrift“ ist nicht in sich irrtumslos, klar und der Selbstauslegung genausowenig fähig wie jedes andere Buch. 128 Sowohl die Glaubwürdigkeit der Schrift nach menschli‐ chen (äußeren Vernunftkriterien) wie nach göttlichen (testimonium internum) Maßstäben wird „durch die moderne Bibel- und Religionskritik zum Einsturz gebracht.“ 129 Die „Schrift“ wird in historischer Perspektive zur „Bibel“ - je nach Standpunkt - befreit oder herabgestuft. Die historische Erforschung der Bibel kann ihren eigenen Prämissen nach in ihr keine Heilige Schrift an sich mehr erkennen. 130 „Die Exegese emanzipiert sich von der Dogmatik; historische For‐ schung und dogmatische Geltungsansprüche treten auseinander.“ 131 65 2. Die Autorität der Schrift in historischer Perspektive - Schlaglichter <?page no="66"?> 132 Reiser, Bibel, 42. 133 Deshalb bemerkt Sauter, Zugänge, 284, mit Recht, dass die Autorität der Schrift von Luther gegen die Autorität der Kirche ins Feld geführt wurde, gegenwärtig aber das Schriftprinzip eher dazu benutzt wird, sich selbst mit Worten der Schrift „Geltung zu verschaffen, ja durchsetzen zu wollen. […] Eine seltsame Ironie, und doch in fataler Weise folgerichtig! “ Es ist eben allenfalls von der Intention her als „paradox“ zu beur‐ teilen, dass „das reformatorische Schriftverständnis seine eigene Dekonstruktion mit ausgelöst zu haben“ (Luz, Grundlage, 321) scheint, denn folgt man der inneren Logik des Ansatzes, begründet der theologische Pluralismus des Kanons, der bei Luther durch seine Konzentration auf die Rechtfertigungslehre gehandhabt wurde, eher die Auflö‐ sung der Möglichkeit einer stringenten Bezugnahme auf die Bibel als Argumentations‐ grundlage. Bezieht man diese Erkenntnis auf die kirchliche Realität, gelangt man zu der berühmten Einsicht von Ernst Käsemann: „Der neutestamentliche Kanon begründet als solcher nicht die Einheit der Kirche. Er begründet als solcher, d. h. in seiner dem His‐ toriker zugänglichen Vorfindlichkeit dagegen die Vielzahl der Konfessionen.“ (Käse‐ mann, Kanon, 221) 134 Baur, Historizität, 38. 135 Pannenberg, Krise, 15. Vgl. allerdings Kinzig, Verbalinspiration, 104, der differenziert feststellt: „Die Krise der Schriftautorität vollzog sich nicht universal.“ 136 Ratzinger, Kommentar, 525. 137 Vgl. Lauster, Prinzip, 468: „Das letztlich entscheidende Problem in der Verhältnisbe‐ stimmung von Prinzip und Methode ist die Spannung zwischen der unverfügbaren Selbsterschließung Gottes durch die biblischen Schriften und dem durch einen metho‐ dischen Zugriff ermöglichten Verstehen der Texte.“ 138 Vgl. den Überblick bei Leonhardt, Skeptizismus, 233-277. Luthers emphatische Aufwertung der Schrift führt also „den Protestantismus in ein Dilemma“, 132 das bislang nicht gelöst werden kann. 133 „Der Geruch von Untergang ist in der Luft.“ 134 Die historische Methode hat eine „Grundlagenkrise heraufbeschworen“, 135 die letztlich „die reformatorische Idee von der Eindeu‐ tigkeit der Schrift selbst aufgehoben“ 136 hat. Methodisch gewendet stellt sich die Frage: Wie verhält sich die profane Erforschung und Erklärung der biblischen Texte zu dem Postulat der Texte als „Heiliger Schrift“? 137 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive 3.1. Die evangelische Perspektive Die moderne evangelische Dogmatik 138 scheint sich mit der Frage nach der Au‐ torität der Schrift ungleich schwerer zu tun als die römisch-katholische Theo‐ 66 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="67"?> 139 Vgl. Söding, Anspruch, 13, der die faktisch fehlende Bedeutung des sola scriptura-Prin‐ zips aufzeigt: „Denn auf evangelischer Seite ist zwar das sola scriptura das Formalprinzip der Reformation und, historisch betrachtet, ein produktiver Faktor der Kirchenreform; aber der Blick in die großen Werke Systematischer Theologie der Vergangenheit und in der Gegenwart lässt nicht unmittelbar erkennen, dass die hermeneutische Parole stilbildend gewirkt und gar zu einer epistemischen Schlüsselrolle der Exegese geführt hätte.“ (kursiv im Original) 140 Lauster, Schriftauslegung, 180. 141 Lauster, Schriftauslegung, 181. 142 EEK, 62. 143 EEK, 64. 144 EEK, 65. logie. 139 Dies ist verständlich, da in der evangelischen Tradition - wie gesehen im Gegensatz zur römisch-katholischen Position - durch die Aufklärung die beschriebene empfindliche Lücke im theologischen Erkenntniszirkel entstanden ist. Diese „fundamentaltheologische Dauerkrise“ 140 führt die evangelische Theo‐ logie in besonderer Weise zur Frage, „warum es die Schrift ist, die ausgelegt werden soll“ 141 und Autorität beanspruchen darf. Im Folgenden soll die evangelische Diskussion zu dieser Frage umrissen werden. Dabei wird zunächst ein kirchenamtliches Dokument vorgestellt, da‐ nach die Antwort im Kontext eines dogmatischen Lehrbuches wiedergegeben, das repräsentativ für die evangelische Glaubenslehre sein soll, und zuletzt die aktuelle Diskussion skizziert. 3.1.1. Der Katechismus der VELKD 2010 erschien die 8. Auflage des Evangelischen Erwachsenenkatechismus ( EEK ). Im ersten Kapitel, das dem Thema „Gott“ gewidmet ist, beschäftigt sich der EEK auf knapp 30 Seiten mit der Bibel. Nachdem das Entstehen der Bibel kurz dar‐ gestellt und dabei betont wurde, dass biblische Überlieferung „wesentlich münd‐ lich“ 142 sei, führt der EEK aus, wie die von ihm recht unvermittelt behauptete „Inspiration der Schrift“ zu verstehen sei: „Ein Mensch ist von der Gegenwart Gottes, wie sie sich in Jesus Christus zeigt, so ergriffen, dass sein Schreiben und Reden ganz davon bestimmt sind.“ 143 Welche Konsequenzen diese Bestimmung für das Alte Testament bzw. dessen Autoren hat, - sind diese auch von Christus ergriffen? - führt der EEK nicht aus. Vielmehr klärt er, dass die Bibel Wort Gottes sein kann, wenn sie dazu für den einzelnen Menschen wird. 144 Nach dieser recht knappen Besinnung auf die Bibel folgt ein Nachdenken über den Kanon, in dem exegetische Einsichten, z. B. die Zwei-Quellen-Theorie verarbeitet werden. Al‐ lerdings stellt der EEK fest, dass die kritische Erforschung der Bibel zwar eine wichtige, nämlich der Kirche dienende Funktion hat, dass sich aber die „Wahr‐ 67 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="68"?> 145 EEK, 72. 146 EEK, 72. 147 EEK, 651 (kursiv im Original). 148 Vgl. EEK, 651. 149 Vgl. allerdings die Kritik bei Leonhardt, Skeptizismus, 254. 150 Vgl. Härle, Dogmatik, 115. 151 Härle, Dogmatik, 115. heit der Bibel […] in ihrem Gebrauch“ 145 erschließt. Im Vergleich zur katholi‐ schen Diskussion, wo das Verhältnis von Schriftautorität und kirchlicher Aus‐ legungsvollmacht deutlich diskutiert wird, stellt der EEK sehr knapp fest, dass sich die Kirche als „Auslegungsgemeinschaft“ 146 versteht. Er bestimmt allerdings nicht näher, wer in dieser Gemeinschaft letztlich über die normative Auslegung der Bibel entscheidet. Selbst unter den Ausführungen zum Amtsverständnis findet sich diesbezüglich wenig. Allenfalls die Einlassungen zum Predigtamt könnten so verstanden werden, dass zumindest das Bischofsamt, das in luther‐ ischer Perspektive auch lediglich das „eine Amt der öffentlichen Wortverkün‐ digung und der Sakramentsverwaltung“ 147 ist, hier eine besondere Rolle spielen kann, da in diesem Amt die Leitung einer Kirche besonders zu Tage tritt. 148 Explizit geht der EEK aber auf das Thema der normativen Schriftauslegung und der dazu nötigen Autorität nicht ein. 3.1.2. Eine exemplarische Position der evangelischen Dogmatik: Wilfried Härle Profiliert und einflussreich (und über den EEK hinausgehend) dürfte im Rahmen der gegenwärtigen evangelischen Theoriebildung die Position Wilfried Härles sein, die anhand der Ausführungen in seiner „Dogmatik“ skizziert werden soll. 149 Härle hält dabei Einsichten der altprotestantischen Orthodoxie fest, wenn er der Bibel die auctoritas causativa und normativa zuweist. 150 Er stellt fest: „Die primäre Autorität der Bibel besteht also darin, daß sie Menschen so anspricht, daß sie in ihnen Glauben weckt.“ 151 Diese Bestimmung der Autorität fällt zu‐ sammen mit der „efficacia“-Eigenschaft der Schrift und wird letztlich durch das Zeugnis des Geistes beglaubigt. Indem sich die Schrift also selbst als Gottes Wort dem Menschen imponiert, kommt ihr auch eine normative Kraft zu. Diese Au‐ torität gewinnt die Schrift aber nur, wenn sie als Zeugnis der Offenbarung Gottes verstanden wird, einer Vergöttlichung der Schrift also gewehrt wird. Härle be‐ stimmt die Zuverlässigkeit der Schrift dabei nicht als vollkommene Irrtumslo‐ sigkeit, sondern bezieht sie auf die „Gesamtheit der Bibel“, in der „das Wirk‐ lichkeitsverständnis des christlichen Glaubens so enthalten [ist], daß es 68 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="69"?> 152 Härle, Dogmatik, 116. 153 Härle, Dogmatik, 117 (kursiv im Original). 154 Härle, Dogmatik, 118 (kursiv im Original). 155 Härle, Dogmatik, 119 (kursiv im Original). 156 Härle, Dogmatik, 139 (kursiv im Original). 157 Härle, Dogmatik, 121 (kursiv im Original). 158 Härle, Dogmatik, 122. vollständig […] aus ihr gewonnen werden kann.“ 152 Für Härle setzt die Begrün‐ dung der Bibelautorität drei Einsichten voraus: „Der Kanon der biblischen Schriften besitzt für den christlichen Glauben Autorität, und zwar sogar in zweifacher Hinsicht, nämlich als Glaubensgewißheit bewirkende und als die Lehre normierende Autorität. Zweitens: Die Autorität wird der Bibel nicht durch eine externe, übergeordnete Instanz beigelegt, sondern durch sie selbst bean‐ sprucht. Drittens: Durch ihre verursachende Autorität bringt die Bibel sich in ihrer normierenden Autorität zu Geltung.“ 153 Diese Autorität wird letztlich durch den Bezug zur grundlegenden Offenbarung Gottes in Christus gewonnen. Einmal durch Sicherung der Ursprungserinnerung: „Um der grundlegenden Be‐ deutung der Offenbarung willen sucht die Gemeinschaft der Glaubenden also die ursprünglichsten (ältesten und vermutlich authentischsten) Offenbarungs‐ zeugnisse zu sichern und erkennt ihnen um ihrer Nähe zum Offenbarungsereignis willen normative Autorität zu.“ 154 Dieser Bezug zur Offenbarung wird noch deutlicher, wenn Härle den Inhalt der Bibel als Begründung heranzieht: „Weil und sofern die Bibel die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus bezeugt, hat sie Autorität, ja partizipiert sie an der Autorität der Christusoffenbarung.“ 155 Als hermeneutischer Schlüssel zur Bibel kehrt hier das christologische Kriterium wieder, das Luther mit „was Christum treibet“ umrissen hat. Dies führt Härle aus, wenn er die kritische Funktion der Schrift im Anschluss an Luther bestimmt: „Weil die Schriftautorität aus der Christusoffenbarung abgeleitet ist, darum ist das, was Christus treibt, zugleich der kritische Maßstab, an dem sich die ein‐ zelnen Aussagen der Schrift und die einzelnen biblischen Schriften auf ihre Christusgemäßheit hin messen lassen müssen.“ 156 Dieses Kriterium wird von Härle auch dazu verwandt, der Inspirationslehre zu einem gewissen Recht zu verhelfen. In Abkehr der traditionellen Inspirationslehre versteht er unter „Re‐ alinspiration“ „die Wirkung der durch die Selbsterschließung Gottes (in Jesus Christus) erfolgenden und durch das Wirken des Heiligen Geistes beglaubigten Mitteilung des Offenbarungsgehaltes“. 157 Von der Wirkung des Geistes her sieht er „göttliche Inspiration“ überall dort geschehen, „wo Glaubensgewißheit ent‐ steht.“ 158 Inspiration wird damit nicht nur auf die biblischen Autoren einge‐ schränkt, sondern prinzipiell auf alle Glaubens- und Offenbarungsgeschehnisse 69 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="70"?> 159 Härle, Dogmatik, 122 (kursiv im Original). 160 Härle, Dogmatik, 134 (kursiv im Original). 161 Härle, Dogmatik, 135. 162 Härle, Dogmatik, 135. 163 Härle, Dogmatik, 136. 164 Härle, Dogmatik, 137 (kursiv im Original). 165 Härle, Dogmatik, 137 (kursiv im Original). 166 Härle, Dogmatik, 137. 167 Härle, Dogmatik, 137 (kursiv im Original). ausgedehnt. Inspiration ist also zu verstehen als „ein Akt […] der Indienstnahme menschlichen Fühlens, Denkens und Wollens durch und für die Bezeugung der Gottesoffenbarung. Alles - also auch die Worte - wird durch dieses Erschlie‐ ßungsgeschehen neu bestimmt, aber alles bleibt menschlich und deshalb mitbe‐ stimmt durch die […] Macht des Irrtums und des Bösen.“ 159 Mit diesem Ver‐ ständnis von Inspiration öffnet Härle die Inspirationslehre für ein modernes Verständnis, indem er sie auf die Wirkung der Gottesoffenbarung bezieht und so der Schrift einen Bezugspunkt nennt, von dem her sie ihre Autorität gewinnt. Damit trifft er zwar ihre traditionelle Zielsetzung, also die Absicherung der Au‐ torität, entkernt aber die eigentlichen Aussagen der altprotestantischen Ortho‐ doxie. Allein die Ausweitung des Inspirationsbegriffs verwischt ja, dass die bib‐ lischen Texte in einem besonderen Maß inspiriert sein sollen, von dem her sie ihre Bedeutung beziehen. Dies erkennt Härle an und fügt deshalb seinen Ausführungen das herme‐ neutische Prinzip an, das schon bei Luthers Schriftauslegung eine tragende Rolle spielte: „das, was Christum treibet“ im Gewand einer Bestimmung der „Mitte der Schrift“ als einer „Leitperspektive“ 160 der Schrift. Die „Tatsache der Kanon‐ bildung selbst“ 161 ist für Härle ein Beleg dafür, dass es so eine „Mitte“ geben muss, um die herum sich die Schriften angliedern, die den Kanon bilden. Diese kann aber weder durch „das Aufspüren eines Kernbestandes an übereinstimmenden Aussagen“ 162 noch von „einer von der Bibel zu unterscheidenden, externen Aus‐ legungsinstanz“ 163 bestimmt werden. Letztlich verteidigt und präzisiert Härle damit die Selbstregulierungskraft der Bibel hinsichtlich ihrer Auslegung, also das lutherische „sui ipsius interpres“, indem er Luthers Formel „was Christum treibet“ explizit übernimmt. Drei Vorzüge erkennt er darin: Erstens betone diese Formel, dass sich die Mitte der Schrift auf „einen Punkt“ 164 reduzieren lasse, da es „eine gemeinsame Aussageabsicht in der Bibel gibt“. 165 Zweitens könne dieser eine Punkt mit Christus identifiziert werden, da die „Mitte der Schrift in dieser Person“ 166 zu sehen sei. Und drittens sei letztlich die Mitte durch diese Formel als ein „lebendiges Geschehen“ 167 zu charakterisieren, das sich im Vollzug der Predigt und der Schriftauslegung selbst ins Recht setze. Dass Luther seine 70 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="71"?> 168 Härle, Dogmatik, 138. 169 Vgl. Härle, Dogmatik, 138. 170 Härle, Dogmatik, 139. 171 Vgl. Pannenberg, Krise, 15. 172 Bestes Beispiel ist die Behandlung des Themas - wie vorgeführt - im EEK. 173 Nach Lauster, Prinzip, 405, stellt Wagners Aufsatz „ein Kompendium neuprotestanti‐ scher Schriftkritik“ dar. 174 Vgl. Wagner, Teufel, 237. Formel inhaltlich mit der paulinischen Rechtfertigungslehre in seiner eigenen Interpretation füllt, widerspricht nach Härle nicht der Formel an sich, sondern zeigt lediglich, dass verschiedene Interpretamente dieser Formel möglich sind und diese deshalb „auslegungsbedürftig und -fähig“ 168 ist. Hier geht Härle sig‐ nifikant über Luthers Handhabung seiner eigenen Formel hinaus und wird des‐ halb notwendig unbestimmt, wenn es darum geht, die kritische Funktion der Schrift zu bestimmen, da ihm lediglich eine formale Mitte der Schrift geblieben ist. Diese formale Mitte besitzt nach seinen Ausführungen aber „eigentlich“ und „allein“ die normative Autorität, 169 mit der sowohl die Lehren der Kirche als auch die biblischen Texte selbst beurteilt werden sollen. Letztlich bleibt bei ihm die Autorität der Schrift notwendig angewiesen auf einen „hermeneutisch reflek‐ tierten und kontrollierten Auslegungsprozess der biblischen Schriften, der nicht durch dogmatische oder bekenntnismäßige Vorgaben präjudiziert werden darf.“ 170 Dieser beeindruckende Entwurf ist in sich logisch geschlossen und widmet sich nahezu allen Problemen des Schriftprinzips. Dass ein gewisser Zirkel des Verstehens nicht ausgeschlossen werden kann, liegt wohl in der Natur der Sache begründet. Dies scheint aber nicht befriedigend, sodass Stimmen im Rahmen der evangelischen Konfessionsfamilie deutlich andere Positionen als Härle ein‐ nehmen. Diese sollen ebenfalls kurz berücksichtigt werden. 3.1.3. Weitere Positionen der evangelischen Diskussion Die vielbeschworene „Krise des Schriftprinzips“ 171 führt dazu, dass es in der Ge‐ genwart zuweilen schwierig erscheint, das Thema der Schrift und ihrer Autorität für das christliche Leben und die theologische Theoriebildung überhaupt in den Blick zu bekommen. 172 3.1.3.1. Überblick Eine konsequente, wenn auch deutlich mit der Tradition brechende Position bezieht Falk Wagner, wenn er das Schriftprinzip ganz aufhebt. 173 Luthers Auto‐ ritätskonflikt um Schrift und Lehramt sieht Wagner als überholt an, da er ab‐ gelöst sei vom Konflikt zwischen Autorität und freier Vernunft an sich. 174 Er 71 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="72"?> 175 Wagner, Teufel, 239. 176 Vgl. Wagner, Teufel, 244. 177 Wagner, Teufel, 248. 178 Wagner, Teufel, 249. 179 Wagner, Teufel, 249. 180 Wagner, Teufel, 250. 181 Vgl. Lauster, Prinzip, 408. 182 Wagner, Teufel, 253. 183 Wagner, Teufel, 253. 184 Wagner, Teufel, 252. prüft, inwieweit die Schrift vor dem Forum der Vernunft eine gewisse Autorität beanspruchen könne und kommt zu dem Ergebnis: „Der mit dem Schriftprinzip verbundene Autoritätsanspruch läßt sich unter der Bedingung der ihrer Selb‐ ständigkeit und Selbstätigkeit bewußt gewordenen Vernunft nicht länger un‐ gebrochen aufrechterhalten.“ 175 Deshalb belege auch der faktische Gebrauch der Schrift im Blick auf dogmatische, ethische und sozialethische Themen, dass ihr keine normative Kraft mehr zugestanden werde. 176 Überhaupt beruhe die Au‐ torität auf einer falschen „Identifizierung des geschichtlichen Anfangs des Christentums mit seinem normativen Ursprung und Grund“ 177 , da die damit postulierte „Reinheit des Ursprungs […] auf einer Fiktion“ 178 beruhe. Deshalb könne die Bedeutung der Schrift auch nicht „durch die raumzeitliche Nähe zum geschichtlichen Auftreten Jesu von Nazareth begründet“ 179 werden. Denn das grundlegende Bekenntnis der Christenheit, nämlich dass dieser Jesus von Na‐ zareth der Christus sei, könne man „nicht auf das Zeugnis von Menschen be‐ gründen, die aufgrund ihrer raumzeitlichen Nähe zum Auftreten Jesu be‐ haupten, dieser sei der Christus.“ 180 Wie genau eine Lehre von der Schrift bei Wagner vorstellbar ist, bleibt offen. 181 Deutlich ist bei ihm nur, dass er die Schriften des Neuen Testaments - die kanonische Geltung des Alten Testaments kritisiert er - „nicht als Ursprung (geltender Grund) hypostasiert“ 182 sehen will, sondern dass bei ihm die „Sache des Christentums in ihrer Eigenbedeutung nur erfaßt werden kann durch einen Begriff der Sache selbst, nämlich durch die zunächst logisch-kategorialen Strukturen, von denen jeder Begriff der Sache immer schon implizit oder explizit Gebrauch macht.“ 183 Damit dreht er die Fra‐ gestellung der Lehre von der Schrift um: „Nicht die Bedeutung der Schrift für die systematische Theologie, sondern die Bedeutung der systematischen Theo‐ logie für die Schrift und ihre Auslegung steht zur Debatte.“ 184 Durch diese Ver‐ hältnisbestimmung ist die Schrift von der Systematik abhängig, die Autorität der Schrift für die theologische Theoriebildung somit aufgegeben. Während die Frage nach der Schriftautorität als Grundprinzip der Theologie in älteren Dogmatiken im Eingang der Darstellung zu finden ist, kann die Bibel 72 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="73"?> 185 Korsch, Grundriß, 195. 186 Korsch, Grundriß, 195 (Im Original kursiv). 187 Korsch, Grundriß, 266. 188 Sauter, Zugänge, 286. 189 Sauter, Zugänge, 285. 190 Sauter, Zugänge, 285. 191 Sauter, Zugänge, 289 (kursiv im Original). als „Bestand religiöser Schriften, in dem sich die konkrete Deutung Jesu im Zu‐ sammenhang seiner jüdischen Herkunftsgeschichte und seiner frühchristlichen Folgegeschichte findet,“ 185 aber auch in die Durchführung der Dogmatik einge‐ zeichnet werden. Für Dietrich Korsch beruht die „Maßgeblichkeit der Bibel“ 186 z. B. dann allein auf ihrer Konzentration auf Jesus Christus und seiner Deutung. Als „Wort Gottes“ ist die Bibel aber nur auf einer bestimmten Stufe der Kom‐ munikation des Evangeliums anzusehen, das sich auch in der Predigt vollzieht, und nur unter der Bedingung, dass Bibel nicht als „Aussagensammlung, sondern als Hörer und Leser erreichende Verkündigung wahrgenommen wird.“ 187 Eine erste Tendenz der modernen Dogmatik scheint es also zu sein, die Schriftlehre - im Gegensatz zur Position Härles - nicht eingehend zu diskutieren. Neben diesen beiden Positionen, die die Autorität der Schrift entweder still‐ schweigend zu übergehen oder sie ganz aufzugeben suchen, kann sie auch em‐ pathisch aufgewertet werden, ohne sie dabei eigens gründlich zu diskutieren. Diese Aufwertung findet statt, wenn die Schrift als „Letztberufungsinstanz der Christen auf Erden“ 188 angesehen wird. Dies setzt aber bei Gerhard Sauter vo‐ raus, dass „die Bibel in der begründeten Annahme zu lesen [ist], daß Gott hier eingreift, das Wort ergreift.“ 189 Die Autorität der Bibel beruht dabei auf einem zuvor anerkannten „theologischen Begründungszusammenhang“, 190 der letzt‐ lich ein Bekenntnis darstellt: „Wer Gottes Wort ,wählt‘, bekennt sich dazu, daß er hier in unvergleichlicher Weise angeredet wird.“ 191 Die Autorität der Schrift ist demnach abhängig von einem Bekenntnis und insofern durch die Annahme der Selbsterschließung Gottes im Bibelwort begründet, was wiederum der Sache nach dem Testimonium-Gedanken Calvins entspricht. Denn wie anders soll Gott das Wort ergreifen als durch den Geist? Überblickt man also die Diskussion um das Schriftprinzip in der evangeli‐ schen Theologie, scheint man als Fazit ziehen zu können: „Nicht wenige neuprotestantische Theologen haben sich daher geradezu mit Grauen von dieser Thematik abgewandt und auf die Entfaltung einer eigenständigen Schrift‐ lehre ganz verzichtet. Produktive Darstellungen eines neuprotestantischen Schrift‐ verständnisses, das die Einsichten aus dem Prozess der Entzauberung der biblischen Schriften aufnimmt und auf dieser Grundlage zu entfalten versucht, worin die Be‐ 73 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="74"?> 192 Lauster, Entzauberung, 73. 193 Slenczka, Tod, 50 (kursiv im Original). Eine Vorform des Textes stellt Slenczka, Schrift, dar. 194 Beide Zitate: Luther, Assertio, 79. 195 Slenczka, Tod, 55. 196 Vgl. Slenczka, Historizität, 36. 197 Slenczka, Tod, 56. Analog spricht auch Körtner, Leser, 111, davon, dass die biblischen Texte ein „medium salutis“ sind. deutung und die Funktion der Bibel für die christliche Religion liegt, sind bedauerli‐ cherweise Mangelware. […] Der Mangel an systematisch-theologischen Schriftlehren, welche den Veränderungen produktiv Rechnung tragen, die durch eine historisch-kri‐ tische Betrachtung und das Aufkommen des modernen Weltbildes hervorgerufen wurde, ist ein echtes Manko innerhalb der protestantischen Theologie. Durch diesen Mangel ist dem protestantischen Bibeldogma der Weg bereitet und damit die Bibel einem vormodernen Denken ausgeliefert. Zwischen dem historischen Verständnis der biblischen Schriften in den exegetischen Disziplinen und dem Bibeldogma klafft ein garstiger Graben.“ 192 Ganz so düster scheint die Lage allerdings nicht zu sein. Denn ein gewisser Konsens deutet sich in der Frage der Schriftautorität durchaus an. Offensichtlich wird dabei vor allem der Gedanke der Wirksamkeit der Schrift aufgegriffen. 3.1.3.2. Notger Slenczka So knüpft z. B. Notger Slenczka an Luther und den Gedanken der Selbsterschlie‐ ßung der Schrift an: Die „Schrift erschließt sich selbst, wenn ein Mensch sie befragt, bei ihr anklopft. Dann wird sie zum Ausleger ihrer selbst, dann setzt sie selbst ihren Sinn aus sich heraus und erweist sich demjenigen, der sie in der Hoffnung auf Antwort befragt, als keiner Auslegungsinstanz bedürftige Quelle von Verständnis und Erleuchtung; und so weist sie sich als Wort Gottes aus.“ 193 Es muss also „über den Schriften geschwitzt“ und diese müssen der Mühe „eines beharrlichen Studiums“ 194 unterzogen werden, damit sie sich erschließen. Er‐ schließt sich aber eine Stelle, dann wird sie zum Zugang für die ganze Bibel. Die Schrift ist also insofern klar, als „dass sie sich dem Menschen, der sie unter Anfechtung und Gebet unermüdlich meditiert, erschließt auf ein Zentrum hin, das sich im weiteren Lesen der Schrift als hermeneutischer Schlüssel für die ganze Schrift erweist.“ 195 Die Pointe dieser Position liegt aber nicht darin, dass die Schrift einen Informationsgehalt, etwa eine theologische Lehre oder ein Wissen über Gott, erschließt, sondern dass damit auch - und in erster Linie - eine existentielle Wirkung verbunden ist. 196 Der Text wird zum „Medium“ der Heilsvermittlung: „Der Text schafft Glaube.“ 197 Im Gegensatz zur römisch-ka‐ 74 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="75"?> 198 So die dogmatische Konstitution Lumen Gentium 1. 199 Slenczka, Tod, 63. 200 Slenczka, Tod, 56. 201 Slenczka, Tod, 56. 202 Vgl. vor allem die beiden Monographien „Prinzip“ und „Entzauberung“ sowie den Auf‐ satz „Schriftauslegung“. 203 Lauster, Prinzip, 441. 204 Vgl. Rothe, Dogmatik, 299: „Denn so viel steht jedenfalls geschichtlich fest, daß die Bibel das schriftliche Abbild der ursprünglichen Auffassung der göttlichen Offenbarung ist, und daß wir aus ihr mit Sicherheit ersehen, wie diese bei ihrem Eintritt in die Welt, im Moment ihres Geschichtlichwerdens, verstanden worden ist.“ Gerade für das Neue Tes‐ tament gilt demnach, dass es „wenigstens in seinen Hauptschriften, annäherungsweise das Lichtbild [ist], „welches der historische Christus selbst unmittelbar, d. h. ohne den Dazwischentritt einer deutenden menschlichen Reflexion, in das Bewußtsein seiner empfänglichen Umgebung reflectirt hat.“ (Rothe, Dogmatik 305-307; gesperrt im Ori‐ ginal) 205 Lauster, Prinzip, 445. 206 Lauster, Entzauberung, 53. 207 Lauster, Prinzip, 450. tholischen Theologie, die die Kirche „gleichsam“ als Sakrament ansieht, 198 kann deshalb die Schrift „als Sakrament der Selbstvermittlung Gottes“ 199 bezeichnet werden. Somit rekurriert Slenczka auf die „efficacia“-Vorstellung der altprotes‐ tantischen Theologie: „Die Schrift ist klar, weil sie ihr Zentrum wirksam er‐ schließt.“ 200 Aufgrund dieser Wirkung, die sich - sieht man vom methodisch bedeutsamen „Schwitzen“ über den Texten ab - ohne menschlicher Mithilfe vollzieht, ist „sie höchste und letzte Norm in der Kirche. Und weil sie so wirkt, hat sie normative Autorität, ist sie Wort Gottes.“ 201 3.1.3.3. Jörg Lauster Mit dem Hinweis auf die efficacia zeigt Slenczka die Bahn an, auf der sich weitere protestantische Theologen bewegen. Jörg Lauster, der sich intensiv mit der vor‐ liegenden Thematik beschäftigt hat, 202 geht z. B. davon aus, dass „die biblischen Texte den Einbruch von Transzendenz in die Lebenswirklichkeit von Menschen“ artikulieren, 203 und diese damit transportieren. In Aufnahme von Gedanken, die schon bei Richard Rothe anzutreffen sind, 204 bestimmt Lauster die Texte als Ausdrucksmedien der göttlichen Offenbarung bzw. als „Ausdrucksgestalten re‐ ligiöser Erfahrung“ 205 : „Aus einem historischen Ereignis heraus und an einer geschichtlichen Stifterpersönlichkeit entstehen unter Aufnahme vorhandener religiöser Wirklichkeitsdeutungen ‚innovative’ neue Perspektiven auf die Wirk‐ lichkeit.“ 206 Autorität gewinnt in seiner Konzeption die Schrift dadurch, dass sie als „Ausdrucksgestalt religiöser Erfahrung“ 207 in der Lage ist, eine „Wirkungs‐ 75 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="76"?> 208 Lauster, Prinzip, 447. 209 Vgl. zur Kritik Mauz, Machtworte, 145, der fragt, „wessen Erfahrung bzw. Erfahrungs‐ deutung mit dieser allgemeinen These eigentlich angesprochen ist.“ (kursiv im Original) 210 Lauster, Prinzip, 447. 211 Lauster, Prinzip, 451. 212 Vgl. Lauster, Schriftauslegung, 186: „Die Autorität der biblischen Schriften gründet in‐ nerhalb des Christentums auf der Gewissheit, dass die Texte für ihre Hörer und Leser göttliche Wirklichkeit erschließen.“ 213 Vgl. die ähnliche Bestimmung von Religion bei Theißen, Religion, 19 als ein „kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt.“ 214 Vgl. Lauster, Schriftauslegung, 188. 215 Lauster, Entzauberung, 79. 216 Lauster, Entzauberung, 89. Vgl. zur Begrifflichkeit Wrede, Aufgabe, 95. 217 Vgl. Herms, Schrift, 392: „Wer nach dem Wesen der Heiligen Schrift fragt, muß auf ihre Funktion, ihren Gebrauch verwiesen werden.“ 218 Lauster, Entzauberung, 75. 219 Lauster, Entzauberung, 77. kraft als eine Vermittlungsleistung“ 208 zu entfalten. 209 Ähnlich wie Slenczka be‐ stimmt Lauster die Schrift damit als wirksames „Medium religiöser Erfahrungs‐ vermittlung: “ 210 „Die Vermittlungskraft der biblischen Schriften besteht dann also darin, im Horizont der das Christentum prägenden Transzendenzerfah‐ rungen originäre Symbolisierungen und Ausdrucksformen bereit zu stellen, die es späteren Generationen ermöglicht, diese Deutungen in ihre lebensweltlichen Erfahrungen zu übersetzen und damit religiöse Erfahrung aufzubauen.“ 211 Die Berechtigung zur Normativität kann demnach aus der über die Jahrhun‐ derte bewiesenen Kraft der Texte gewonnen werden, Wirklichkeit gewinnbrin‐ gend zu erschließen. 212 Wenn Religion dann als „ein Welterleben [bestimmt wird], das sich durch eine Perspektive auszeichnet, die Menschen als Transzen‐ denz oder konkret als Gottesbegegnung deuten“, 213 besteht die Bedeutung der Bibel darin, die Gottesbegegnung zu ermöglichen, indem Deutungskategorien offeriert werden, mit denen der Mensch sein Leben in einer gelingenden Weise bewältigen kann. 214 Für Lauster stellt die Bibel also „ein Universum religiöser Gestimmtheiten“ 215 dar: „Die biblischen Schriften vergegenwärtigen und repräsentieren so erfah‐ rene Gottesbegegnung und zwar in einer Art, die ganz von der ‚Macht der reli‐ giösen Stimmung’ geprägt ist.“ 216 Die Autorität der Schrift erwächst also nicht aus ihrem Sein (als inspirierte Quelle) und nicht allein aus ihrem historischen Standort, vielmehr muss nach ihrer Funktion gefragt werden. 217 Weil die Bibel also als „ein literarisches Ausdrucksuniversum religiöser Erfahrung“ 218 anzu‐ sehen ist, das „das spezifische ‚Lebensgefühl‛ der ersten Christen“ 219 wieder‐ spiegelt und jede weitere theologische Lehrbildung somit „an einen originären 76 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="77"?> 220 Lauster, Entzauberung, 91 221 Lauster, Entzauberung, 51. 222 Lauster, Entzauberung, 50. 223 Lauster, Entzauberung, 51. Hier trifft sich Lauster mit den Überlegungen von Härle, Dogmatik, 188, der ebenfalls die Ursprungsnähe als Argument der Autorität festhält. 224 Lauster, Schriftauslegung, 195 (kursiv im Original). Erfahrungshintergrund“ 220 zurückgebunden werden muss, darf sie Autorität be‐ anspruchen. Obwohl also die Autorität deutlich an der Wirkungskraft hängt, verzichtet Lauster nicht auf eine historische Herleitung. Für ihn scheint wichtig, dass die Texte auch „historische Ereignisse“ 221 reflektieren, das „Sich-Erschließen Gottes in der Welt“. 222 Bei dieser Bedeutungsbestimmung scheint vor allem die Nähe zu den Geschehnissen, auf die die Schriften reagieren, entscheidend zu sein. Nach Lauster „spielen Zeitzeugen und Quellen, die möglichst nahe an dem Ereignis sind, eine große Rolle. Nach Ausbildung des neuzeitlichen historischen Be‐ wusstseins spielt das Argument der Ursprungsnähe tatsächlich auch eine wich‐ tige Rolle, wenn es darum geht, theologisch den religiösen Wert der biblischen Schriften zu erklären.“ 223 Es scheint, als ob Lauster hier eine historische Verge‐ wisserung der Autorität anstrebt, wenn er „das gute alte Argument der Ur‐ sprungsnähe“ 224 ins Feld führt: „Denn zum modernen Wahrheitsbewusstsein ge‐ hört es unausweichlich, den Texten einen historischen Bezugs- und Haftpunkt zuweisen zu können. Es gibt ein religiöses Erleben, das in den Texten seinen 77 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="78"?> 225 Lauster, Schriftauslegung, 194. Unklar bleibt allerdings, wie Lauster die Wertschätzung der Ursprungsnähe in Einklang bringt mit seiner Kritik an ihr als dem Versuch, den biblischen Texten „eine Glaubwürdigkeit nach menschlichen Maßstäben“ (Lauster, Schriftauslegung, 182) zu verleihen. Es scheint dieser Unklarheit geschuldet, dass Lauster das Argument lediglich im Hinblick auf das Neue Testament anführt (Lauster, Schriftauslegung, 195). Im Hinblick auf das Alte Testament wird dagegen sehr deutlich, dass so zentrale und wichtige Ereignisse wie der Exodus oder die Geschehnisse am Sinai historisch kaum zu greifen sind. Vgl. Mauz, Machtworte, 146, der im Bezug auf das Erfahrungsargument darauf aufmerksam macht, dass bei alttestamentlichen Texten „ein über lange Zeiträume tätiges Autoren- oder Redaktorenkollektiv“ am Werk ge‐ wesen sein dürfte. Auch Lausters Hinweis, dass es nicht um Augenzeugenschaft geht, sondern um das „Eingebundensein in Überlieferungskreise“ (Lauster, Schriftauslegung, 195), kann die fehlende Ursprungsnähe im Hinblick auf das Alte Testament nicht kom‐ pensieren, da er auch das „Eingebundensein“ in „Erfahrungen des Christusereignisses“ (Lauster, Schriftauslegung, 196) einzeichnet. Vielleicht deutet Lauster, Schriftauslegung, 201, einen Ausweg aus diesem Dilemma an, wenn er von der „Ursprungsnähe der Hei‐ ligkeitserfahrung“ spricht. Vielleicht hängen Erfahrung und Ereignis nicht unmittelbar zusammen? Dies würde zu seinem Hinweis passen, dass es „absurd“ sei, „jedem bibli‐ schen Text ein bestimmtes religiöses Erleben zuordnen zu wollen“ (Lauster, Prinzip, 445). Aus exegetischer Sicht müsste weiter auch gefragt werden, wie solche Texte be‐ handelt werden sollen, denen es nicht um die Wiedergabe von erlebten Transzendenz‐ einbrüchen geht, die diese sogar bewusst und gewollt nicht artikulieren wollen. Von daher scheint die Bestimmung, dass es den biblischen Texten um „eine spezifische Art der Wirklichkeitserfahrung [geht], die sie als den Einbruch und das Wirken einer der menschlichen Lebenswirklichkeit transzendenten Dimension beschreiben“ (Lauster, Entzauberung, 89) eventuell zu pauschal. 226 Lauster, Schriftauslegung, 186. 227 Lauster, Schriftauslegung, 193. 228 Lauster, Schriftauslegung, 202. 229 Lauster, Schriftauslegung, 202. Widerhall findet.“ 225 Gegen ein verkürztes Verständnis von historischer Wahr‐ heit, das nur das als wahr anerkennt, was sich auch so zugetragen hat, betont Lauster, dass viele biblische Texte, um ihre Aufgabe erfüllen zu können, eine „religiös notwendige Fiktionalität“ 226 an den Tag legen: „Fiktion ist ein Modus, Wirklichkeit semantisch aufzuladen, d. h. auf der Ebene der Narration einer be‐ sonderen Deutung zuzuführen.“ 227 Über diesen Gedanken kommt Lauster zu dem Schluss, dass die biblischen Texte keine „historischen Tatsachenwahrheiten weitertransportieren wollen, sondern Ausdruck von religiösen Gestimmtheiten und Lebensgefühlen sind.“ 228 Während Lauster also einerseits auf die Ursprungs‐ nähe der Texte zu den Ereignissen verweist und somit beantworten kann, warum gerade diese Texte für den christlichen Glauben unhintergehbar sind, geht es bei dieser Einsicht eher um die Aufgabe der Schriftauslegung. Ihr geht es darum, „das Deutungspotential der biblischen Texte aus ihrem Erfahrungs‐ zusammenhang plausibel zu machen.“ 229 Seiner Meinung nach entspricht diese 78 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="79"?> 230 Lauster, Schriftauslegung, 203. 231 Lauster, Schriftauslegung, 203. 232 Vgl. Rothe, Dogmatik, 299. 233 Roth, Verhältnis, 236 (kursiv im Original). 234 Roth, Verhältnis, 237. 235 Roth, Verhältnis, 237. 236 Roth, Verhältnis, 237 (kursiv im Original). 237 Vgl. Roth, Verhältnis, 236, der in dieser Hinsicht Lauster, Prinzip, dahingehend kritisiert, die „fundamentaltheologischen Fragestellungen“ zu wenig beachtet zu haben. Aufgabe „dem Wesen der Texte selbst“, da die Bibel „als Sammlung von Texten religiöser Sinnproduktion“ 230 anzusehen ist. Mit dieser Wendung bewegt sich Lauster auf der Linie der vorliegenden Untersuchung, da auch sie aus den Texten selbst erheben will, welche Autorität sie beanspruchen. Lauster beantwortet die Frage der Autorität aus seinen Überlegungen heraus: „Autorität kommt den biblischen Texten vielmehr deswegen zu, weil sie den Einbruch göttlicher Transzendenz mit all den Möglichkeiten verarbeiten, repräsentieren, darstellen und veranschaulichen, die ihnen als literarischen Texten zur Verfügung stehen.“ 231 Ähnlich wie Slenczka kommt Lauster damit letztlich dazu, die Auto‐ rität der Texte auf ihre Vermittlungsleistung zu gründen. Mit R. Rothe lässt sich formulieren: Indem die biblischen Texte den Eindruck der göttlichen Offenba‐ rung festhalten, bringen sie ihn gleichzeitig zum wirkungsvollen Ausdruck. 232 3.1.3.4. Michael Roth Diese Linie verfolgt auch Michael Roth, der die Bedeutung der Schrift in Ab‐ grenzung zur römisch-katholischen Linie entwickelt. Während römisch-katho‐ lisch der „Glaube auf Autorität gegründet und als Gehorsam begriffen“ 233 werde, verdanke sich evangelischerseits der Glaube „dem Erleben von Evidenz, dem Gefühl der Wahrheit“. 234 Roth bindet somit die Autorität der Schrift in das Ent‐ stehen von Gewissheit ein und verknüpft ihre Bedeutung mit der Frage nach Offenbarung: „Die Wirkung der Offenbarung besteht in der Schaffung von Evi‐ denz, sie erfüllt den Empfänger der Offenbarung mit Gewissheit.“ 235 Der Emp‐ fänger bekommt dabei keine Informationen über Gott und die Welt mitgeteilt, sondern die Offenbarung „versetzt den Menschen in eine neue Möglichkeit seines Selbstverständnisses, sie ermöglicht dem Menschen, sich neu zu ver‐ stehen.“ 236 Erst unter diesen Voraussetzungen ist die Frage der Schriftautorität sachgemäß zu beantworten, 237 weil daher klar ist, dass sie nur dann richtig ge‐ stellt ist, wenn sie lautet: „Welche Stellung hat die Schrift im christlichen Er‐ schließungsgeschehen? Anders formuliert: Welche Bedeutung der Schrift für die christliche Daseinsgewissheit ergibt sich aus der christlichen Daseinsge‐ 79 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="80"?> 238 Roth, Verhältnis, 238 (kursiv im Original). 239 Roth, Verhältnis, 241 (kursiv im Original). 240 Roth, Verhältnis, 241 (kursiv im Original). 241 Roth, Verhältnis, 243 (kursiv im Original). Roth sieht richtig, dass diese Zumutung ge‐ rade in „evangelikalen Kreisen Angst bereitet.“ So lamentiert man z. B. über das (an‐ geblich! ) fehlende Lehramt in der evangelischen Kirche, das dazu führe, dass „theolo‐ gische Grenzen zur Häresie nicht gezogen werden“ (Apel, Kirche, 78) können und dass deshalb „die selektive Textauswahl und die individuelle Interpretation und damit die Pluralisierung“ des Glaubens „die Bindung an die Bibel in Fragen des Glaubens und der Lebensführung“ zerstört habe (Apel, Kirche, 79). Deshalb müsse man fragen, ob das römisch-katholische Modell mit der unfehlbaren Autorität Roms „für den gläubigen Christen erträglicher ist als das theologisch schwankende Erscheinungsbild der pro‐ testantischen Kirchen, insbesondere der deutschen Landeskirchen.“ (Apel, Kirche, 74) Roth, Verhältnis, 243, konstatiert richtig, dass hier „eine Sehnsucht und Bewunderung für ein autoritatives Lehramt festzustellen ist.“ Diese Leerstelle kann aber die Schrift nicht füllen, im Gegenteil: „Die Schrift hingegen als eine unhinterfragbare Autorität zu behandeln, der sich jede Rede von Gott beugen muss, ist nicht schriftgemäß, weil es nicht der Schrift gemäß ist.“ (Roth, Verhältnis, 248; kursiv im Original.) Der Schrift gemäß ist es aber, so Roth, Verhältnis, 248, „die in der Schrift artikulierte Daseinsge‐ wissheit verstehen zu lernen, indem versucht wird, ihre erhellende Kraft für die menschliche Existenz zu erschließen.“ 242 Roth, Verhältnis, 244 (kursiv im Original). 243 Roth, Verhältnis, 244 (kursiv im Original). wissheit? “ 238 Da Offenbarung die Schaffung von Evidenz bedeutet, ist folge‐ richtig, dass die Bedeutung der Schrift für den Glaubenden darin liegt, „dass sie diejenige Daseinsgewissheit artikuliert, die dem Glaubenden durch das Wort der Verkündigung gewiss geworden ist.“ 239 Die in der Schrift also zur Sprache kom‐ mende Gewissheit wird zur eigenen Gewissheit des Glaubenden und deshalb hat die Schrift Bedeutung für ihn. „Und insofern die in ihr artikulierte Gewissheit zur Gewissheit des Glaubenden wird, erschließt sie sich ihm - wie das äußere Wort der Verkündigung - als Mittel, das Gott in Dienst nimmt, um sein Heil zu erschließen.“ 240 Ähnlich wie Slenczka bestimmt Roth damit die Schrift als me‐ dium salutis, das dem Menschen allerdings - im Gegensatz zur Kirche, die diese Funktion im römisch-katholischen System einnimmt - bleibend zumutet, „durch das eigene Verstehen und Denken diejenige Verifikation leisten zu müssen, derer die biblischen Schriften bedürfen.“ 241 Der „Geltungsgrund der Schrift“ liegt also für den Glaubenden darin, dass die in ihr „bezeugte Gewissheit den Glauben des Glaubenden wirkt.“ 242 Es geht also nicht um die Wirkungsge‐ schichte der Bibel, sondern „die Geltung der Schrift für den Glaubenden ist darin begründet, dass sie sich bei dem Glaubenden durchgesetzt hat bzw. sich ihm imponiert hat.“ 243 80 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="81"?> 244 Vgl. Roth, Verhältnis, 245. 245 Vgl. Slenczka, Schrift, 55. 246 Roth, Verhältnis, 244 (kursiv im Original). 247 An diesem Punkt müsste sich ökumenisch gut anschließen lassen, da dem Geist in rö‐ misch-katholischer Perspektive sogar zugetraut wird, die Infallibilität des Lehramts zu garantieren. Vgl. Ratzinger, Kommentar, 525. 248 Slenczka, Schrift, 74. 249 Slenczka, Schrift, 74. 250 Slenczka, Schrift, 74. 3.1.3.5. Fazit Härle, Slenczka, Lauster und Roth stimmen demnach cum grano salis darin überein, dass die Autorität der Schrift gegenwärtig vor allem über ihre Kraft im Erschließungsvorgang göttlicher Offenbarung bestimmt werden kann. Von den Kriterien der altprotestantischen Orthodoxie bleibt somit lediglich die efficacia bestehen. Die evangelische Position zeigt dabei, dass der Verweis auf Erschlie‐ ßungsvorgänge, auf Deutungsgeschehnisse oder auf Evidenzerfahrungen letzt‐ lich beim Gläubigen selbst, beim glaubenden Individuum zu verorten ist. Wenn der einzelne Mensch die Verifikation leisten muss, die in den Texten artikulierte Gewissheit selbst als seine eigene erkennen zu müssen, wenn er sich also „in‐ spiriert“ fühlt, 244 dann liegt es in seiner Verantwortung den Text als Wort Gottes zu deuten. Es scheint also in der Tat so, als entscheide der Mensch darüber, ob und wann die Bibel Wort Gottes ist. Dass hier sofort sowohl der Vorwurf der Beliebigkeit wie auch der der Hybris 245 im Raum stehen, ist leicht einsehbar. Allerdings übersehen beide Vorwürfe, dass die skizzierten Positionen sehr gut mit der Vorstellung des testimonium spiritus sancti internum verknüpfbar sind. Denn wenn „Glaubensgewissheit entsteht“, 246 ist dies ein Werk des Geistes, 247 also gerade nicht eine „individuelle Subjektivität“. 248 Gewissheit entsteht dort, wo der menschliche Geist „zugunsten des Geistes Gottes ausgetrieben“ 249 wurde. Deshalb ist hier keine menschliche Hybris am Werk, sondern der Text ist das „Medium des wirkenden Gottes“, 250 der das menschliche Verstehen erleuchtet. Diese an sich nachvollziehbare Einzeichnung der Schriftautorität in den exe‐ getischen Prozess lässt weiterhin die Leerstelle offen, die seit der Ersetzung der päpstlichen Lehrautorität durch die Selbstauslegungskraft der Schrift im Rahmen protestantischer Lehre von der Schrift zu beobachten ist. Dort, wo die römisch-katholische Lehre im besten Fall immerhin eine Notinstanz der Letzt‐ auslegung bewahrt hat, muss sich die evangelische Tradition in der Tat auf die Selbstevidenz der Schrift in ihrem Diskussionsprozess innerhalb der Interpre‐ tationsgemeinschaft verlassen. Eine weitere Instanz der Bestätigung - abge‐ sehen vom Testimonium-Gedanken - kann die evangelische Kirche nicht an‐ 81 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="82"?> 251 Böttigheimer, Fundamentaltheologie, 119. 252 Böttigheimer, Fundamentaltheologie, 124. führen und auch nicht anerkennen. Dies bleibt ein gravierendes Problem im ökumenischen Kontext. 3.2. Die römisch-katholische Perspektive Die Frage nach der Bibel, ihrem Sein und ihrer Bedeutung, kann in der Mo‐ derne - wie gesehen - nicht mehr eindeutig beantwortet werden, sondern hängt entscheidend von ihrem jeweiligen Kontext ab. Ganz besonders gilt dies im Rahmen der konfessionellen Theoriebildung. Hier zeichnet sich der heute weithin vorhandene Umstand ab, dass die Bibel im Kontext der bibelwissen‐ schaftlichen Fächer zumindest zwischen evangelischer und römisch-katholi‐ scher Theologie kein Streitpunkt mehr ist. Lediglich die dogmatischen Grenz‐ ziehungen sind hier zuweilen noch spürbar. Diese verhindern allerdings in letzter Konsequenz unter anderem in ihren differenten Zuordnungen von Bibel und Kirche ein weiteres Vorankommen auf dem ökumenischen Weg. Es ist des‐ halb sinnvoll, im vorliegenden Rahmen knapp die Probleme zu skizzieren, die zwischen den Konfessionen diskutiert werden. Das Augenmerk liegt dabei vor allem auf dem römisch-katholischen und evangelikalen Bereich, da die Ortho‐ doxie die grundlegende Fragestellung dieser Arbeit nur schwer nachvollziehen kann. 3.2.1. Die römisch-katholische Position nach „Dei Verbum“ Im Rahmen der römisch-katholischen Theologie gilt der Grundsatz: „Das Wort Gottes ist der bleibende Ursprung von Christentum und Kirche.“ 251 Der Kirche kommt dabei die Aufgabe zu, dieses Wort zu überliefern und auszulegen. Als Orte, an denen das Wort Gottes anzutreffen ist, werden im Anschluss an Mel‐ chior Cano gegenwärtig als loci proprii die heilige Schrift, die mündliche Über‐ lieferung Christi und der Apostel, die gesamte Kirche, die Konzilien, die Päpste, die Kirchenväter und die Theologen genannt. Davon unterschieden werden als loci alieni zusätzlich die menschliche Vernunft, die Philosophen und die Ge‐ schichte der Menschheit zu diesen Orten gezählt. Insgesamt ist damit „ein in‐ teraktives Regelgefüge“ 252 entworfen, das zusammen das Wort Gottes bezeugt. Innerhalb dieses Gefüges kommt aber der Bibel eine besondere Rolle zu. 82 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="83"?> 253 Vgl. zum Überblick Segalla, Authority, 56-66; Böttigheimer, Bibel, 332-337; Schmidt, Wort, 18-49. 254 Böttigheimer, Bibel, 334. 255 Vgl. zur Entstehung der Konstitution ausführlich Theobald, Kirche, 323 ff. Zur Textge‐ schichte Hoping, Kommentar, 716 ff. Eine systematische Analyse aus evangelischer Sicht skizziert Lauster, Prinzip, 374-383. 256 Vgl. vor allem den Kommentar von Hoping, Kommentar, passim. Söding, Stellenwert, 429-436, bespricht grundlegend das Schriftverständnis des 2. Vatikanum. 257 Pesch, Konzil, 274. 258 Vgl. Hoping, Kommentar, 809, der das Kapitel als „Kompromisstext“ bezeichnet. Söding, Stellenwert, 431, beobachtet, dass der Text „große Zugeständnisse an die römische Schultheologie der Zeit [aufweist] und so starke Spannungen entstehen.“ 259 Vgl. Ratzinger, Kommentar, 516. Seit der Öffnung der römisch-katholischen Kirche für die historische Me‐ thode 253 ist „ein unbefangener Umgang mit der Heiligen Schrift möglich.“ 254 Grundgelegt ist dieses Verständnis in der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung (Dei Verbum; DV ) des 2. Vatikanischen Konzils. 255 Zwar kann auch diese nicht umfassend gewürdigt, 256 sondern nur auf die hier inte‐ ressierenden Passagen konzentriert besprochen werden, doch muss sie als Grundlage der katholischen Lehre wahrgenommen werden. Die Konstitution beschäftigt sich mit der Frage, „was die Funktion der Heiligen Schrift in der Kirche, was im Verhältnis zu ihr die Funktion des kirchlichen Lehramtes und was im Verhältnis zu beiden die Aufgabe der Theologie sei.“ 257 Im zweiten Kapitel „De Divinae revelationis transmissione“ bestimmt das Konzil die Aufgabe der Kirche mit der Weitergabe der Offenbarung. 258 Es blickt in die Kirchengeschichte zurück und sieht die Apostel durch Christus selbst damit beauftragt, seine Offenbarung weiterzugeben ( DV 7). Die Überlieferungs‐ tätigkeit der Apostel umfasst nicht nur die mündliche Predigt, sondern den ganzen Lebenszusammenhang der Apostel, also nicht nur das, was sie sagen, sondern auch, was sie tun. Damit sprengt das Konzil einen engen Begriff von dem, was überliefert wird, z. B. also die Lehre der Apostel, und erweitert das Überlieferungsgut. Dies hat für die Art der Überlieferung dementsprechend Folgen. 259 Denn diese ist demnach nicht nur wortgebunden, sondern umfasst die gesamte Lebensführung der Apostel, in der Folge also das ganze Leben der Kirche. Die Kirche in all ihren Lebensvollzügen wird demnach zur Trägerin der apostolischen Überlieferung ( DV 8). Dabei umfasst der Inhalt dessen, was sie überliefern, nicht nur das, was Christus ihnen durch Lehre und Leben offenbart 83 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="84"?> 260 Vgl. Ratzinger, Kommentar, 516, der betont, dass die „Führung des Parakleten … erin‐ nerndes Verstehen des Ungesagten im einst Gesagten [ist], das in die Tiefe eines Ge‐ schehens hinablotet, die mit den Begriffen praedicatio oralis … und dictare nicht aus‐ gemessen werden kann und deren Weitergabe daher auch nie bloß ein Prozeß der Tradierung von Worten ist.“ 261 Damit nimmt das Konzil Einsichten der exegetischen Forschung auf. Vgl. Hoping, Kommentar, 752. 262 In diese Richtung deuten auch die Vorarbeiten zum Konzilstext, bei denen es „immer wieder … [um das] Problem des Plus der Tradition gegenüber der Schrift“ (Ratzinger, Kommentar, 501) geht. 263 Pesch, Konzil, 284, meint in DV 8 einen „Sieg der Mehrheit in Richtung ‚Suffizienz‛ der Schrift“ zu finden. Dies ist nur dann möglich, wenn der Begriff der „praedicatio apos‐ tolica“, die sich in der Schrift findet, auch auf die Überlieferungen des nächsten Satzes zu beziehen ist, also auf das, was die Apostel überliefert haben. Es kann daher sein, dass die Überlieferung der Apostel nicht nur in der Schrift zu finden ist. Dies legt der Artikel ebenfalls nahe, wenn er auf Lehre, Leben und Kult der Kirche hinweist und somit an Artikel 7 anknüpft, wo von mündlicher Überlieferung, Beispielen und Einrichtungen der Apostel gesprochen wird. Insofern darf vermutet werden, dass auch in DV 8 kein „Sieg“ der Suffizienz gefunden werden kann. hat, sondern auch das, was sie durch den Heiligen Geist lernen. 260 Der Geist lässt schließlich einige Apostel und apostolische Männer die Schriften des späteren Neuen Testaments verfassen ( DV 7). 261 Abgesehen davon, dass das Konzil mit dieser Formulierung die historische Frage nach der tatsächlich apostolischen Verfasserschaft der neutestamentli‐ chen Schriften im Grunde umgeht, ist interessant, dass nicht die Schriften die Unversehrtheit der Offenbarung garantieren, sondern die Bischöfe. Ganz deut‐ lich sagt das Konzil, dass das Lehramt der Apostel, das sie den Bischöfen hin‐ terlassen, die sie wiederum selbst eingesetzt haben, letztlich der Garant dafür ist, dass die Kirche ihre Aufgabe erfüllen kann, nämlich die Offenbarung so weiterzugeben, dass sie auf ewig fortbestehen kann ( DV 7). Bemerkenswert ist aber gleichzeitig auch der nächste Satz, indem die Heilige Schrift der Überlie‐ ferung an die Seite gestellt wird. Da Konzilstexte sehr bewusst gestaltete Dokumente sind, darf man allerdings schon bemerken, dass die Tradition zuerst genannt wird ( DV 7). Dies legt den Gedanken nahe, dass in erster Linie die Tradition genannt werden muss, wenn es darum geht, die Offenbarung zu finden. 262 Dies ist logisch verständlich, wenn - wie gesehen - die Kirche durch den Beistand des Heiligen Geistes der Fülle der Wahrheit entgegenstrebt ( DV 8). Da dies ein über Jahrhunderte währ‐ ender Prozess ist, in dem die Schrift immer weiter unter dem Beistand des Geistes von den Amtsträgern ausgelegt werden muss, kann es nicht verwun‐ dern, dass die kirchliche Tradition im Vordergrund steht. 263 Einsichtig ist diese Vorordnung der Tradition vor allem durch den Hinweis, dass der Kanon selbst 84 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="85"?> 264 Auch wenn durch DV 21 die Schrift „faktisch … als Maßstab eingesetzt“ (Ratzinger, Kommentar, 524) sein sollte, lassen doch diese Ausführungen der Konstitution deutlich erkennen, dass die Schrift ohne die Tradition kein kritisches Gegenüber zur Kirche sein kann. „Die Frage nach der traditionskritischen Funktion der Schrift gegenüber der Kirche stellt DV nicht“ (Hoping, Kommentar, 809). 265 Interessant ist hier zu bemerken, dass hier nicht der Begriff „fons“ gebraucht wird. Da dem Konzil ein Entwurf der Konstitution mit dem Titel „De fontibus revelationis“ vorlag, darf man wohl vermuten, dass das Konzil diesen Begriff bewusst vermeidet, um das Problem der zwei Quellen von Offenbarung zu umgehen. Um diese Fragestellung neu zu fassen, entwickelt das Konzil den bereits beschriebenen spezifischen Offenba‐ rungsbegriff. Vgl. Ratzinger, Kommentar, 506.523. 266 Hoping, Kommentar, 760. 267 Ratzinger, Kommentar, 523. Zum Themenkomplex „Schrift und Tradition“ vgl. grund‐ legend Buckenmaier, Schrift. 268 Vgl. Hoping, Kommentar, 756. 269 Vgl. Pesch, Konzil, 272, der im Hinblick auf den ganzen Text davon spricht, dass die Konstitution „wohl der am meisten unausgeglichene Text des Konzils - bis hin zu nur mühsam verdeckten logischen Brüchen, ja Widersprüchen“ sei. ein Produkt der Überlieferung ist ( DV 8). 264 Daraus ergibt sich für das Verhältnis von Schrift und Tradition, dass sie zwar eng miteinander verbunden sind und demselben göttlichen Quell ( DV 9) 265 entspringen, aber trotzdem unterschieden werden müssen. Von daher ist wichtig zu notieren, dass das Konzil „nur eine einzige Quelle der Offenbarungswahrheit an[nimmt], das Evangelium, das allen Formen der Überlieferung vorausliegt und mit der Schrift als einem Traditions‐ zeugnis nicht einfach identisch ist.“ 266 Mit der Verhältnisbestimmung von Schrift und Tradition kommt das Konzil dann aber zum „eigentlichen Brennpunkt der Kämpfe“. 267 Die Schrift ist demnach Gottes Rede, die unter der Inspiration des Geistes verschriftlicht wurde. Die Überlieferung gibt Gottes Rede dann unversehrt weiter. Durch die Überlieferung wird das Wort Gottes demnach zunächst lediglich treu bewahrt. Die Weitergabe der Botschaft scheint dieser also zunächst nichts hinzuzufügen. Dies würde den bereits gemachten Ausführungen, wonach die Überlieferung einen dynami‐ schen Prozess darstellt, widersprechen. Doch fügt sich dieses Verständnis gut ein, wenn die weiteren Aufgaben der Überlieferung betrachtet werden. Durch das Erklären und Ausbreiten der Botschaft wird die Dynamik der Überlieferung wieder ausgesagt, insofern der Vorgang des Erklärens und Ausbreitens etwas zu Tage fördern kann, was bislang in der Tradition zwar vorhanden war, aber nicht zur Sprache gebracht wurde. Deshalb kennt zumindest die Überlieferung einen Fortschritt. 268 Von daher ist die folgende Konklusion, die das Konzil zieht, völlig richtig: „so ergibt sich, daß die Kirche ihre Gewißheit über alles Geoffen‐ barte nicht aus der Heiligen Schrift allein schöpft“ ( DV 9). Was wie ein Wider‐ spruch innerhalb der Konstitution anmutet, 269 kann sachlich ausgeglichen 85 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="86"?> 270 Dieser auf Paul VI. zurückgehende Satz dürfte der grundlegende Konfliktpunkt im ökumenischen Gespräch zwischen den reformatorischen Kirchen und der römisch-ka‐ tholischen sein. Inwiefern nämlich die Schrift als Gegenüber zur Kirche und ihrer Über‐ lieferung auftreten kann, wird nicht in den Blick genommen. Vgl. Ratzinger, Kom‐ mentar, 520; Hoping, Kommentar, 758. 271 Vgl. Wenzel, Geschichte, 147. 272 Vgl. Pesch, Konzil, 285: „Es gibt keine legitime Schriftauslegung unter Absehung von der Tradition.“ 273 Vgl. Ratzinger, Kommentar, 524, der hier das Problem im ökumenischen Dialog benennt, wonach „es beim protestantischen Sola scriptura weniger um die materiale Herkunft der einzelnen Glaubensaussagen geht als um das Problem der richterlichen Funktion der Schrift gegenüber der Kirche.“ 274 Vgl. zu diesem hermeneutischen Dreieck Kirchner, Wort, 22-39. 275 Vgl. Wenzel, Geschichte, 151. werden. Konform zu der Auffassung, wonach Gott mit der Kirche ständig im Gespräch bleibt ( DV 8), stellt das Konzil fest, dass entsprechend der Hochschät‐ zung der Überlieferung die Kirche ihre Gewissheit des Heils nicht allein aus der Schrift gewinnen kann. 270 Gerade weil die Überlieferung in ihrer Dynamik Ein‐ sichten gewinnt, die zwar mit den Heilswahrheiten der Schrift übereinstimmen sollen, aber nicht durch die Schrift allein gewonnen werden können, kann die Schrift nicht allein die Glaubensgrundlage der Kirche bilden. Nur gemeinsam bilden Schrift und Tradition die Grundlage, auf der die Kirche basiert ( DV 10). So wehrt die Konstitution zwar die Rede von den zwei Quellen der Offenbarung ab, 271 indem sie Schrift und Überlieferung eng aneinander bindet, doch hält sie fest, dass die Schrift allein nicht hinreichend ist. 272 Diese Verhältnisbestimmung wirft die Frage auf, wie und wer beurteilt, was innerhalb der Überlieferung als Glaubensgrundlage anzuerkennen ist. 273 Die Konstitution ist hier eindeutig: „Die Aufgabe aber, das geschriebene oder über‐ lieferte Wort Gottes authentisch auszulegen, ist allein dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut, dessen Vollmacht im Namen Jesu Christi ausgeübt wird.“ ( DV 10) Das Lehramt nimmt also eine Art „Notfunktion“ wahr und füllt die Lücke im theologischen Erkenntniszirkel, die im Rahmen der evangelischen Dogmatik offen bleibt: die Funktion der letzten richterlichen Instanz über die Schriftauslegung, die Luther der Schrift selbst zuweist. 274 Dabei ist die Einsicht entscheidend, dass das Wort Gottes ausgelegt werden muss - sowohl als Schrift als auch als Überlieferung. Die Überlieferung bildet also lediglich den Rahmen, in dem die Schrift zu verstehen ist. Sie bildet keine Instanz, die über die richtige Auslegung der Schrift entscheidet. Schrift und Tradition sind dementsprechend einander nicht über- oder untergeordnet, son‐ dern bilden gemeinsam das Depositum der Kirche. 275 86 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="87"?> 276 In diesem Sinn lässt sich dem Urteil Ratzingers, Kommentar, 524, zustimmen, wonach die Konstitution insgesamt durchaus „einen großen Schritt zueinander bedeutet.“ Thö‐ nissen, Zeitalter, 91, spricht hier von einer „Bindung des Lehramtes der Kirche an das Wort Gottes“, während Pesch, Konzil, 286, kritisch anfragt, ob „die immer schon un‐ terstellte ,prästabilierte Harmonie‘ zwischen Schrift, Tradition und Lehramt“ wirklich durch Dei Verbum in Hinsicht auf eine Unterordnung des Lehramts geklärt sei. Seiner Meinung nach ist „eine eventuell fällige Auseinandersetzung darum […] dem freien Spiel der Kräfte überlassen“ (Pesch, Konzil, 287) worden, sodass letztlich in der Praxis der Kirche deutlich werde: „Die Offenbarung, das depositum fidei […] ist allein dem kirchlichen Lehramt zur Erklärung anvertraut, allen voran dem Papst als dem Nach‐ folger Petri und Stellvertreter Christi“ (Pesch, Konzil, 288; kursiv im Original). 277 Vgl. Wenzel, Geschichte, 152: Das Lehramt „fügt der Offenbarung nichts Neues hinzu.“ 278 Müller, Dogmatik, 64. 279 Sicher ist damit mit Hoping, Kommentar, 764, „kein Interpretationsmonopol gemeint.“ Interpretieren darf im Grunde jeder. Aber verbindlich und normativ interpretieren, darf nur das Lehramt. Dabei führt Dei Verbum aus, dass das Lehramt dem Wort Gottes unterge‐ ordnet ist. Es steht nicht über ihm und auch nicht auf gleicher Stufe: „Das Lehramt steht also nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nur lehrt, was überliefert ist, da es ja dieses Wort Gottes nach göttlichem Auftrag und mit dem Beistand des Heiligen Geistes ehrfürchtig hört, heilig bewahrt und treu erklärt und all das, was es als von Gott geoffenbart zu glauben vorlegt, aus dieser einen Hinterlassenschaft des Glaubens schöpft.“ ( DV 10). Das Lehramt dient dem Wort Gottes. An dieser Stelle ist immerhin zu notieren, dass dies eine gewisse Selbstbescheidung des Lehramts darstellt. 276 Indem es ausdrücklich das Wort Gottes als übergeordnet anerkennt, versteht es seine eigene Rolle eher als Ordnungsinstanz, der keine eigene Offenbarungsqualität zu eigen ist, 277 sondern die sich lediglich dann aufgerufen weiß, wenn es innerhalb von Schrift und Offenbarung zu Unklarheiten kommt. Allerdings sollte die programmatische Bescheidenheit der Konstitution auch nicht überbewertet werden: „Denn die Schrift ist als Wort Gottes nicht einfach objektivistisch greifbar. Sie erweist sich als Wort Gottes allein in ihrer lebendigen Relation zum Glauben und zur Glau‐ bensgeschichte der Kirche, die die adäquate Hörerin und Zeugnis des Wortes ist.“ 278 Ohne die Kirche, hier verkörpert im Lehramt, scheint es die Schrift also als Wort Gottes gar nicht zu geben. Dem Lehramt kommt deshalb nicht nur die Aufgabe zu, das Wort Gottes verbindlich darzulegen, 279 sondern die Kirche lässt die Bibel erst zur Schrift werden, indem sie hört und auslegt. Zwar soll dabei das Lehramt nur das lehren, was überliefert ist, doch kommt ihm immerhin das zu, was bereits der Überlieferung ( DV 9) zugeschrieben wurde: ein dynamisches Element. Indem es hört, bewahrt und erklärt, kann das Lehramt Einsichten in die göttliche Wahrheit zur Sprache bringen, die in Schrift und Tradition vor‐ 87 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="88"?> 280 Vgl. Ratzinger, Kommentar, 527 der die Überlieferungstätigkeit des Lehramtes „nicht im Sinne einer Schutzhaft…[verstanden wissen will], sondern im Sinne der Treue, die fremde Herrschaft des Wortes Gottes gegen Modernismus und Traditionalismus glei‐ chermaßen verteidigt.“ 281 Angesichts dieser Machtfülle des Lehramtes weist Ratzinger, Kommentar, 525 darauf hin, dass „das Erschrecken vor den unheimlichen Möglichkeiten des Lehramtes auch nur durch ein Vertrauen auf den seine Kirche führenden Geist, durch dieses aber wirk‐ lich gebannt werden kann.“ 282 Vgl. Hoping, Kommentar, 813, der treffend bemerkt, dass „das Verhältnis von Schrift, Tradition und Lehramt bis heute der neuralgische Punkt des ökumenischen Gesprächs geblieben“ ist. 283 Vgl. Wenzel, Geschichte, 152, der diese Konstellation zu Recht „mindestens in ökume‐ nischer Hinsicht [als] debattenwürdig“ erkennt. Vgl. Hoping, Kommentar, 764: „Aller‐ dings überspielt der Konzilstext hier das schwierige, bis heute nicht ausreichend ge‐ klärte Verhältnis zwischen moderner Exegese, systematischer Theologie und kirchlichem Lehramt.“ handen waren, aber bislang nicht erkannt wurden. 280 Damit entscheidet das Lehramt letztverbindlich über die richtige Interpretation nicht nur der Schrift, sondern auch der Tradition, folglich über die Offenbarung selbst. Damit kommt dem dienenden Lehramt de facto eine ungeheure Machtfülle zu. 281 Das sich selbst bescheidende Lehramt ordnet sich demnach in das Wechselspiel zwischen Schrift und Tradition so ein, dass es unverzichtbar wird: 282 „Es zeigt sich also, daß die Heilige Überlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche gemäß dem überaus weisen Ratschluß Gottes so miteinander verknüpft und einander zugesellt sind, daß das eine nicht ohne die anderen besteht und alle zusammen, jedes auf seine Weise, durch das Tätigsein des einen Heiligen Geistes wirksam zum Heil der Seelen beitragen“ ( DV 10). Ohne Lehramt können dem‐ nach Schrift und Tradition das Wort Gottes nicht weitergeben, ohne es können diese zum Heil der Seelen nichts beitragen. 283 Als Fazit lässt sich festhalten, dass die Frage, wer über die Interpretation der Schrift entscheidet, durch das Konzil mit dem Verweis auf das Lehramt eindeutig beantwortet wurde. Die Schrift legt sich nicht selbst aus und wird auch nicht von der Tradition ausgelegt, sondern Schrift und Tradition bilden nur zu‐ sammen mit dem Lehramt das Fundament, auf dem die katholische Kirche ruht. Dabei kommt dem Lehramt die Aufgabe und das Recht zu, die Glaubens‐ wahrheiten der Kirche verbindlich darzulegen, die sich aus der durch den Hei‐ ligen Geist unterstützten Interpretation der Schrift und einem dynamischen Verständnis von Tradition erheben lassen. Die Interpretationshoheit über 88 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="89"?> 284 Vgl. Segalla, Authority, 68: „The logic behind claiming Church authority over Scriptural interpretation is that the Church is the custodian of Divine Revelation. Since Scripture is the Revelation attested in the Scripture, the Church has the power to determine in‐ fallibly the meaning of Scripture in matters of faith and moral.“ Abseits der Frage, ob dieses Urteil historisch wie systematisch zutreffend ist, liegt in dieser Zuordnung ein entscheidender ökumenischer Dissens, „da das Lehramt nach evangelischem Ver‐ ständnis keine institutionalisierte Lehrautorität hat, vermöge derer es verbindlich über die Schriftauslegung entscheiden dürfte“ (Roloff, Autorität, 99). 285 Zur allgemeinen Rezeption von Dei Verbum vgl. die gründliche Studie von Bucken‐ maier, Schrift, 282-496. 286 Zur Päpstlichen Bibelkommission und ihrer Verbindung zur Glaubenskongregation vgl. Ruppert, Interpretation, 9-14. Allgemein gilt das Urteil von Ruppert, Interpretation, 14-15, wonach die gegenwärtige Bibelkommission dazu berufen ist, „dem Lehramt, konkret der Glaubenskongregation, in Fragen der Bibel und der Schriftauslegung un‐ terstützend zur Seite zu stehen, damit dieses sein Lehr- und Wächteramt in stärker schriftbezogener und durch die Schrift gestützter Form ausüben kann.“ Obwohl streng genommen die Päpstliche Bibelkommission seit ihrer Neuordnung durch Papst Paul VI. als solche kein Organ des Lehramts darstellt (richtig also Haustein, Interpre‐ tation, 75), zeigt die Rezeption des Dokuments durch Papst Johannes Paul II., „daß man von einer Rezeption des Dokuments durch das ordentliche Lehramt sprechen kann“ (Ruppert, Interpretation, 59), weshalb es im vorliegenden Zusammenhang gerechtfer‐ tigt erscheint, das Dokument im Rahmen der lehramtlichen Entwicklung zu besprechen. So auch Klauck, Interpretation, 64, der das Zusammenspiel zwischen der Gelehrten‐ kommission und dem Lehramt begrüßt. 287 Entgegen der ansonsten üblichen (und auch in dieser Arbeit so gehandhabten) Zitation nach durchgezählten Abschnitten von lehramtlichen Texten wird IBK wegen des Fehlens der Abschnittszählung unter der Nennung von Seitenzahlen im Text zitiert. 288 Vgl. zur Würdigung von IBK Klauck, Interpretation, 62-90, und Kühschelm, Methode, 468-471. Aus evangelischer Sicht Lauster, Prinzip, 383-388. Schrift und Tradition und damit auch die Autorität in der Kirche sind letztlich dem Lehramt zugewiesen. 284 3.2.2. Die weitere lehramtliche Entwicklung Dei Verbum bildet den Rahmen für die weitere Lehrentwicklung der römischen Kirche. 285 Im vorliegenden Zusammenhang sind dabei vor allem zwei Texte der Päpstlichen Bibelkommission 286 interessant: Aus dem Jahr 1993 stammt das Do‐ kument „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ ( IBK ) 287 und 2014 erschien „Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift“ ( IWHS ). Beide Texte können und sollen im vorliegenden Rahmen nicht umfassend gewürdigt, sondern le‐ diglich auf die in Frage stehenden Probleme untersucht werden. 288 IBK weist der Exegese die Aufgabe zu, Orientierung für die Kirche zu leisten (29). Angesichts der langen Ablehnung der historischen Methode im Rahmen der katholischen Kirche erstaunt fast, wie eindrücklich festgehalten wird: „Die historisch-kritische Methode ist die unerläßliche Methode für die wissenschaft‐ 89 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="90"?> 289 Kühschelm, Methode, 469, weist darauf hin, dass die historisch-kritische Methode erst‐ mals „in einem kirchlichen Dokument explizit so benannt wird.“ Auch Klauck, Inter‐ pretation, 88, sieht den methodischen Hauptteil des Textes, „verbunden mit der scharfen Absage an jede Art von Fundamentalismus und dem energischen Festhalten an der historisch-kritischen Methode, als de[n] wichtigste[n]“ an. Inwieweit der Katechismus der römischen Kirche mit diesem Dokument kompatibel ist, stellt allerdings - so Klauck, Interpretation, 89 mit Recht - ein anderes Problem dar. 290 Vgl. Segalla, Authority, 67: „The church as a historical community and as the body of Christ in history is the bearer of the totality of the revelation through the history. As the bearer of this totality the church possesses and lives the life and active presence of Christ through his spirit. It is the only one that can interpret authentically the Scripture text, which transmits the same reality that the church lives, in the faith, from the be‐ ginning.“ liche Erforschung des Sinnes alter Texte.“ (30) 289 Der Text führt dann verschie‐ dene Zugänge zu den biblischen Texten vor und kommt zur Bewertung: „Zu‐ sammen mit anderen Methoden und Zugängen öffnet sie so dem modernen Leser den Zugang zum Verständnis der Bibeltexte, wie sie heute vorliegen.“ (36) Ein umfangreicher Methodenstrauß mit verschiedenen Blickwinkeln wird be‐ grüßt, um das Sinnpotential der Texte zu erheben. Interessant ist dabei, dass es laut der Bibelkommission eine „verwandtschaftliche“ Beziehung zwischen Aus‐ leger und Text geben muss, um den Textgehalt erheben zu können. Charakte‐ ristisch für die katholische Interpretation der Bibel sei eine innere „Verwandt‐ schaft“ als „eine Bedingung der Möglichkeit für alles exegetische Arbeiten.“ (75) Dieses familiäre Verhältnis stehe „in Kontinuität mit der Interpretationsdy‐ namik, die innerhalb der Bibel selbst zutage tritt und sich im Leben der Kirche fortsetzt“ (75). Eine skeptische Distanz zum Text ist der Interpretation deshalb nicht förderlich. Da sich zudem erkennen lasse, dass die biblischen Texte „in fortwährendem Dialog mit den Glaubensgemeinschaften“ stehen, aus denen sie hervorgegangen sind (81), müsse zwischen Gemeinschaft und Interpretation ein notwendiger Zusammenhang bestehen. Für die Gegenwart heißt dies, „daß die Auslegung der Heiligen Schrift innerhalb der Kirche stattfindet, in ihrer Plura‐ lität und ihrer Einheit, und in ihrer Glaubenstradition“ (81). 290 Hier setzt die Bibelkommission einen Analogieschluss an: „Die Glaubenstraditionen bildeten das lebendige Umfeld, in das sich die literarische Tätigkeit der Verfasser der Heiligen Schrift einfügen konnte. Hierzu gehörten auch das liturgische Leben und die äußere Tätigkeit der Gemeinschaften, ihre geistige Welt, ihre Kultur und ihr geschichtliches Schicksal. Die biblischen Verfasser nahmen an alledem teil. In ähnlicher Weise verlangt also die Auslegung der Heiligen Schrift die Teil‐ nahme der Exegeten am ganzen Leben und Glauben der Glaubensgemeinschaft ihrer Zeit“ (81). Die historische Beobachtung wird damit zu einem hermeneu‐ tischen Argument, das die Kirche in ihrer Gemeinschaft zur Auslegerin der 90 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="91"?> 291 So haben laut IBK 82f „viele Faktoren eine Rolle gespielt: die Gewißheit, daß Jesus - und die Apostel mit ihm - das Alte Testament als inspirierte Schrift anerkannt haben und daß das österliche Mysterium Jesu dessen Erfüllung darstellt; die Überzeugung, daß die Schriften des Neuen Testaments letztlich aus der apostolischen Verkündigung stammen (was nicht heißen will, daß sie alle von den Aposteln selbst verfaßt wurden); die Feststellung, daß sie mit der Regel des Glaubens übereinstimmten und in der christ‐ lichen Liturgie verwendet wurden; die Erfahrung schließlich, daß sie mit dem kirchli‐ chen Leben der Gemeinschaften im Einklang stehen und fähig sind, dieses Leben zur Entfaltung zu bringen.“ 292 Lauster, Prinzip, 387. Schrift erklärt. Dieser Schluss ist jedoch exegetisch nicht statthaft, da sonst die Verbindung zur Kirche eine Vorbedingung der Exegese darstellte. Die Exegese ist allerdings gerade als Ergebnis der Emanzipation der Vernunft von der Kirche offen für kirchlich nicht gebundene Ausleger. Eine Exegese, die nur innerhalb der Kirche verfolgt werden dürfte, kann deshalb ihr kritisches Potential der Kirche gegenüber nicht entfalten. Die Kirche ist weiterhin nicht nur die einzige legitime Auslegerin der Schrift, durch sie ist die Schrift als Kanon auch erst festgestellt worden: „Vom Heiligen Geist geleitet und im Licht der erhaltenen, lebendigen Überlieferung hat die Kirche die Schriften festgestellt, die als Heilige Schrift zu betrachten sind“ (82). Dieser durchaus kompliziert gedachte Prozess der Kanonisierung 291 durch die Kirche verleiht den Texten ihre einzigartige Dignität und Funktion: „Indem die Kirche den Kanon der Schriften feststellte, hat sie ihre eigene Identität deutlich erkannt und definiert, so daß die Heilige Schrift fortan wie ein Spiegel ist, in dem die Kirche ihre Identität immer wieder entdecken und durch die Jahrhun‐ derte hindurch die Art und Weise verifzieren kann, wie sie selbst fortwährend auf den Ruf des Evangeliums antwortet und wie sie sich ihrem Auftrag als dessen Übermittlerin entsprechend verhält (vgl. Dei Verbum, 7). Dies verleiht den ka‐ nonischen Schriften einen Heilswert und eine theologische Stellung, wodurch sie sich radikal von anderen alten Texten unterscheiden. Wenn diese zwar auch Licht auf die Anfänge des Glaubens werfen können, so können sie doch niemals die Autorität der heiligen Schriften beanspruchen, die als kanonisch und damit als für das Verständnis des christlichen Glaubens grundlegend erachtet werden“ ( IBK 83). Die Schrift wird demnach zum Maßstab der kirchlichen Identität und diese Funktion verleiht ihr ihre unüberbietbare Autorität. Damit wird „noch deutlicher als in den Konzilstexten die materielle Suffizienz und die normative Funktion der Schrift zum Ausdruck gebracht.“ 292 Die auch von IBK 80 erkannte Pluralität der Texte zeigt angesichts dieser Funktionsbestimmung allerdings die Schwierigkeit einer normativen Interpre‐ tation im Hinblick auf kirchliche Entscheidungen. Dieser Urteilsprozess ist zu‐ 91 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="92"?> 293 An diesen Punkt kann die ökumenische Verständigung anknüpfen, haben doch auch evangelischerseits alle Christen teil am Interpretationsprozess der Schrift. Der Gedanke wird deshalb in Kapitel IV.4. wiederaufgenommen. 294 Damit sind allerdings die Kriterien der historischen Methode gesprengt. So mit Recht Lauster, Prinzip, 388. 295 Der entscheidende Unterschied zwischen römisch-katholischer und evangelischer Theologie betrifft also nicht die Beteiligung des Geistes im Auslegungsprozess, sondern dessen genaue Verortung: Beglaubigt der Geist die individuelle Auslegung oder steht er letztgültig nur dem Lehramt dauerhaft und autoritativ bei? Dass der Geist die Aus‐ legung leiten muss, ist der Kirche von Anfang an bewusst: „Interpreting the Bible within the church has always been grounded in the conviction that through the biblical wri‐ tings God speaks to human beings and that any understanding of the Bible as God’s word in the church has to be guided by the Holy Spirit.“ (Niebuhr, Introduction, 1) 296 Vgl. Segalla, Authority, 67: Das Lehramt „has to defend the living tradition against er‐ roneous interpretations and to keep an eye on the integrity of the truth witnessed in the and by the Bible.“ In diesem Sinn kommt dem Lehramt also nur eine Funktion im interpretatorischen „Notfall“ zu. nächst dem ganzen Volk Gottes anvertraut, da sich die Gesamtheit der Gläubigen laut Lumen Gentium 12 nicht irren kann und so geleitet vom Heiligen Geist unverbrüchlich in der Wahrheit bleibt. IBK stellt deshalb fest: „So haben alle Glieder der Kirche eine Rolle bei der Interpretation der heiligen Schriften zu übernehmen“ (86). 293 Als Nachfolger der Apostel haben allerdings die Bischöfe „die ersten Zeugen und Garanten der lebendigen Tradition [zu sein], in deren Licht die heiligen Schriften in jeder Zeit interpretiert werden.“ (86) Ihnen stehen als Mitarbeiter die Priester zur Seite, die „als erste Aufgabe die Verkündigung des Wortes“ haben (87). Ortskirche und einzelne Christen werden im Hören der Verkündigung durch die Priester zu dem Ort, an dem der Heilige Geist die Herzen der Gläubigen entzündet (87). Damit ist deutlich, dass der Heilige Geist am Interpretationsprozess der Schrift beteiligt sein muss, soll diese wahrhaft ausgelegt werden. 294 Dieser Gedanke erinnert an den evangelischen Gedanken des Testimoniums, wird aber weiter ausgezogen. Er erfolgt hier nicht lediglich individuell, sondern setzt sich gleichsam „nach oben“ fort. Denn entscheidend ist letztlich, dass die Interpretation in der Kirche verbürgt wird durch das kirch‐ liche Lehramt, bei dem der Geist bleibend verortet ist. 295 Auch wenn Ortskirche und einzelne Gläubige in den Prozess der Urteilsbildung einbezogen werden, so ist doch klar, dass die Entscheidung über eine Interpretation letztlich vom Lehramt vollzogen wird: „So ist es in letzter Instanz also Sache des Lehramtes, die Echtheit der Interpretation zu garantieren und gegebenenfalls zu sagen, daß diese oder jene besondere Interpretation mit dem authentischen Evangelium unvereinbar ist“ (89). 296 92 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="93"?> 297 Vgl. Ruppert, Interpretation, 48, der diese Rückbindung ausdrücklich hervorhebt und wünscht, dass eine solche Bindung des Lehramts „an die Exegese intensiver praktiziert würde“. 298 Mit Lauster, Prinzip, 388. 299 Ruppert, Interpretation, 60. 300 Lauster, Prinzip, 388. 301 Dieses Fazit lässt sich leicht modifiziert auch aus evangelischer Sicht ziehen. Allerdings würde dann nicht die Inspiration den Grund der Annahme bilden, sondern die Wir‐ kungskraft. Soweit folgt die IBK der kirchlichen Lehre von Dei Verbum. Genauer legt IBK aber fest, wie diese Echtheit zu garantieren ist. Dem Lehramt kommt die „Auf‐ gabe innerhalb der koinônia des Leibes Christi“ zu, festzustellen, welche Inter‐ pretation normativ gelten soll. Dies stellt eine wichtige Weichenstellung dar, da so das Lehramt in die Kirche eingebunden wird. 297 Genauer legt IBK 89 fest, dass das Lehramt „zu diesem Zweck […] die Theologen, die Exegeten und andere Experten“ konsultieren soll, um die richtige Entscheidung zu finden. Das Lehramt erscheint in diesem Zusammenhang nicht von der Kirche losgelöst, sondern in den lebendigen Austausch eingebunden. Damit wird der Eindruck abgewehrt, den das 1. Vatikanische Konzil in der Konstitution „Pastor Aeternus“ 21 macht, wenn dort gesagt wird, dass der Papst eine Unfehlbarkeit in Glaubens- und Sittenfragen genießt, die „von sich aus, nicht erst infolge der Zustimmung der Kirche“ Bestand hat. Eine solche Loslösung des Lehramts von dem Dialogprozess in der Kirche kennt IBK nicht. Gerade dieser Gedanke ist ökumenisch wichtig und hält An‐ schluss an die moderne Diskussion um die Schriftautorität. 298 Deshalb gilt: „Das Dokument stellt einen Meilenstein auf dem über lange Zeit nicht konfliktfreien Weg des kirchlichen Lehramts mit der katholischen Exegese dar.“ 299 Deutlich ist aber auch, dass das fundamentaltheologische Problem, wie historische Methode und Autorität der Schrift zusammen gedacht werden können, nicht gelöst ist. Für IBK gilt deshalb: „Die Integration der historischen Kritik gelingt nur unter Hinzuziehung von Kategorien, die ihr selbst fremd sind.“ 300 Den Gedanken, dass die Kirche den Kanon feststellt und deshalb auch dessen autoritativer Ausleger ist, greift auch das zweite im vorliegenden Zusammen‐ hang interessante Dokument der Bibelkommission auf: „Die Bücher, die heute unsere Heilige Schrift ausmachen, bestätigen sich nicht selber als ,kanonisch‘. Ihre Autorität muss auf Grund ihrer Inspiration von der Gemeinschaft aner‐ kannt und angenommen werden, sei es die Synagoge oder die Kirche“ (60). 301 IWHS widmet sich der Frage, warum gerade diese Texte kanonisch sein sollen und betrachtet deshalb die Inspiration der einzelnen Schriften eingehend. 93 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="94"?> 302 Davor warnt IBK 75 ausdrücklich: „Jedes Vorverständnis hat jedoch auch seine Ge‐ fahren. Im Fall der katholischen Exegese besteht das Risiko darin, den biblischen Texten einen Sinn zu geben, den sie nicht ausdrücken, sondern Frucht einer späteren Entwick‐ lung der Tradition ist. Der Exeget muß sich vor dieser Gefahr hüten.“ Es geht also um die interessante Aufgabe, die antike Feststellung der Kirche näher zu begründen, also zu fragen, worin die Dignität der biblischen Texte gründet: „Unser Beitrag soll es sein, etwas besser die Natur der Inspiration zu klären, so wie es aus dem Zeugnis der biblischen Schriften selber hervorgeht“ (6). Dazu will die Kommission feststellen, „was die biblischen Schriften selber über ihre Herkunft von Gott sagen“ (3). Diese Formulierung kommt der Idee der vorliegenden Arbeit sehr nahe, da es ebenfalls darum geht, das „Selbstzeugnis“ (6) der Texte zu erheben. Allerdings wird dieses Vorgehen im Rahmen von IWHS durch dogmatische Vorgaben belastet, was die Durchführung zweifelhaft scheinen lässt. Offenbarung und Inspiration werden nämlich in eins gesetzt, sodass die biblischen Bücher daraufhin untersucht werden, was sie über „die Beziehung ihrer Verfasser zu Gott“ (6) erkennen lassen. Dies setzt ein - exege‐ tisch methodisch unhaltbares und deshalb unzulässiges - Vertrauen in die oft anonymen oder pseudepigraphen Autoren der biblischen Texte voraus. Denn es ist praktisch undurchführbar und auch methodisch abzulehnen, „die Beziehung ihrer Verfasser zu Gott“ (10) als Beleg ihrer Inspiration anzuführen. Wenn für Inspiration tatsächlich „die göttliche Mitteilung und die gläubige Aufnahme der Inhalte“ als „fundamental“ wichtig gesehen wird (51), dann lässt sich historisch Inspiration nicht greifen, da eine „besondere Beziehung zu Gott“ (52) intersub‐ jektiv nicht nachvollziehbar ist. Vor allem nicht durch das unkritische Vertrauen in die Angaben der biblischen Autoren. So zeigt der Durchgang durch IWHS den methodischen Mangel deshalb ge‐ rade in den historischen Urteilen, die oft wirken, als ob dogmatische Vorgaben der kirchlichen Tradition diese leiten würden. 302 Hier scheint vor allem Dei Verbum 12 entscheidend, wonach die Texte in dem Geist gelesen werden müssen, in dem sie geschrieben wurden (53). Es scheint, als ob IWHS diesen Grundsatz umdreht und das gegenwärtig fromme Lesen zum Maßstab histori‐ schen Urteilens macht. So kommt der Text oft zu dem Ergebnis, das er bereits voraussetzt, also der Inspiration der Texte. Die kirchliche Hochschätzung der Evangelien wird z. B. durch ihre „ein‐ schlussweise“ Mitteilung begründet, „dass ihr Text von Gott herkommt“ (23). Historisches Bewusstsein und Kritikfähigkeit scheinen hier in den Hintergrund zu treten: „Indem die Evangelien die besondere Formung der Zwölf berichten, zeigen sie die konkrete Art ihrer eigenen Herkunft von Jesus und von Gott“ (24). Inwieweit die historischen Zwölf mit den Evangelien in Verbindung gesetzt 94 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="95"?> werden können, wird nicht thematisiert. Es genügt, dass die Evangelien ihre Herkunft von Gott bezeugen, „indem sie Jesus und sein Offenbarungswerk dar‐ stellen“ (51). Die Bibelkommission erkennt göttliche Inspiration also bereits in der Behauptung von Offenbarung oder in der Wiedergabe einer Erzählung, die Offenbarung sein soll. Diese wird dann unmittelbar mit der Heilswahrheit der Überlieferung verbunden: „Die Evangelien gewähren also eine wahrhaftige Ver‐ bindung mit dem wirklichen Jesus.“ Sie sind nicht als Chronik der Geschehnisse um Jesus aufzufassen, sondern drücken „den theologischen Wert dieser Ereig‐ nisse“ (123) aus, woraus folgt, „dass die theologischen Aussagen über Jesus einen direkten und normativen Wert haben, während den rein historischen Elementen eine untergeordnete Funktion zukommt“ (123). Wie sich beide Ebenen präzise voneinander trennen lassen, ist für IWHS kein Thema. Wenn z. B. Lukas den Traditionszusammenhang benennt, in dem er steht (51), erkennt IWHS darin die ausdrückliche Beziehung des Lukas zu Jesus und so die Autorität von Offenbarung. Außerdem ist sein Zeugnis durch die „Wir-Ab‐ schnitte“ der Apg besonders glaubwürdig, da dadurch „auf die Beziehung des Verfassers zu Paulus und durch Paulus zu Jesus“ verwiesen werde (34). Weiter sei auf Grund der „klaren Eigenschaft des Inhalts der Apostelgeschichte“ deut‐ lich, dass auch „ihr Text von Jesus und von Gott“ herkommt (38). Deshalb sei der Text besonders glaubhaft und wahr. In der Schwebe bleibt die Feststellung, ob die Apostel als „Augenzeugen und Diener des Wortes“ (Lk 1,2) anzusehen sind, wie dies IWHS 84 nahe zu legen scheint. Besonders wichtig ist für IWHS das Johannesevangelium, da hier ein Au‐ genzeuge - der „Lieblingsjünger“ - ausdrücklich die Autorenschaft des Evan‐ geliums für sich beanspruche (32). Die Inspiration seines Textes sei deshalb „durch unmittelbare Erfahrung“ (32) mit Jesus gegeben. Die paulinischen Texte seien inspiriert, weil Paulus den göttlichen Ursprung seines Evangeliums (40) selbst bezeugt und weil die Göttlichkeit seiner Berufung „auch von den damaligen kirchlichen Autoritäten anerkannt“ (41) wurde. Ebenso bezeuge auch der Seher Johannes in Apk 1,1-3 selbst, dass seine Offen‐ barung von Gott kommt, sogar genau wie diese „von der Ebene Gottes zur kon‐ kreten Ebene eines Buches“ (45) herabkommt. Weil es so Offenbarung Gottes enthalte, gelte für den Text im Hinblick auf Apk 22,18-19: „Das fertige Buch hat die Vollständigkeit, die Gott eigen ist, ihr kann nichts hinzugefügt und nichts weggenommen werden“ (48). Zuweilen erscheint der Text disparat, wenn er z. B. unabhängig von historisch fragwürdigen Urteilen zu dem Schluss kommt, dass „die Evangelien selber Gottes Wort“ werden, indem sie es bezeugen (30). Hier wird Inspiration dann als Wirkung der Lektüre gesehen, die aber nicht weiter gesichert werden kann. 95 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="96"?> 303 Vgl. zur Problematik auch Söding, Anspruch, 14. 304 Pesch, Dogmatik, 1-369. 305 Pesch, Dogmatik, 6. 306 Pesch, Dogmatik, 45 (kursiv im Original). 307 Pesch, Dogmatik, 25 (kursiv im Original). Insgesamt versucht IWHS die Autorität der Texte durch den Rekurs auf deren Inspiration zu bestimmen, nimmt dabei aber in Kauf, dogmatische und histori‐ sche Ebenen zu oft zu vermischen und so exegetisch nicht befriedigend zu wirken. Die lehramtliche Position lässt sich damit dahingehend zusammen‐ fassen, dass das Lehramt letztlich die Autorität der Schrift zwar anerkannt, fak‐ tisch aber die letztgültige Entscheidung über deren Interpretation hat. 303 Dies führt wiederum zur Feststellung, dass seit dem 2. Vatikanum eine Selbstbeschei‐ dung des Lehramtes in seinem Verhältnis zur Schrift festzustellen ist, die Auto‐ rität der Schrift aber vom Lehramt faktisch ausgeübt und somit garantiert wird. Die Wahrheit der Schrift wird dadurch von der Kirche festgestellt. 3.2.3. Eine exemplarische Position der römisch-katholischen Dogmatik: Otto Hermann Pesch Da sich die römisch-katholische Theologie nicht in den Verlautbarungen des Lehramts erschöpft, soll als Beispiel für die Aufnahme der vorliegenden The‐ matik im Horizont römisch-katholischer Systematik der aktuelle und breit an‐ gelegte Diskussionsbeitrag Otto Hermann Peschs vorgestellt werden. Er widmet ihr und den zu ihr gehörenden Fragen den ersten und grundlegenden Traktat seiner Dogmatik, also der theologischen Prinzipienlehre. 304 Darin zeichnet er die Frage nach der Schrift in den größeren Rahmen einer wissenschaftstheoreti‐ schen Grundlegung der Dogmatik ein. Dies geschieht, indem er als Leitthema das „Wort Gottes“ durch seine exegetischen, theologiegeschichtlichen, logischen und sprachtheoretischen Verstehenskontexte verfolgt. Seine Grundfrage lautet dabei: „Wie und nach welchen Maßstäben erreicht das Wort Gottes auf dem Weg der Verkündigung der Kirche unser Ohr und Herz? “ 305 Dabei setzt er voraus, dass sich das Wort Gottes in Jesus Christus ereignet hat, was wiederum zu dem eigentlichen Problem des ganzen Traktates führt: „Wir stehen damit schon in aller Schärfe vor dem bis dahin unerhörten Problem der Gegenwart Christi als der räumlichen und zeitlichen Gegenwart eines vergangenen Ereignisses.“ 306 Deshalb muss er betonen, dass es sich mit Christus anders verhält als mit an‐ deren Persönlichkeiten der Geschichte. Daraus folgt wiederum: „Wenn es mit Jesus Christus anders sein soll, dann muss das Weitererzählen, die Erinnerung an ihn eine andere Qualität haben. Sie müssen ihn gegenwärtig machen.“ 307 Diese Forderung führt dann zu der Frage: „Wie ist das Wort der Weitererzählung - 96 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="97"?> 308 Pesch, Dogmatik 26 (kursiv im Original). 309 Pesch, Dogmatik, 52 (kursiv im Original). 310 Pesch, Dogmatik, 100 (kursiv im Original). 311 Pesch, Dogmatik, 101. 312 Pesch, Dogmatik, 223. 313 Pesch, Dogmatik, 227 (kursiv im Original). 314 Vgl. Pesch, Dogmatik, 176. 315 Vgl. Pesch, Dogmatik, 176. 316 Pesch, Dogmatik, 227. denn natürlich ist Verkündigung auch erinnernde Weitererzählung! - Wort Gottes? Wie verhält sich das geschriebene Wort der Bibel dazu? “ 308 Ein kurzer, aber dennoch für eine Dogmatik relativ umfangreicher Durch‐ gang durch das Alte und Neue Testament und der dortigen Verwendung von „Wort Gottes“ führt Pesch zu der allgemeinen Schlussfolgerung: „,Wort Gottes‘ ist das unabweisbare, sogar als Torheit erscheinende, aber verstehbare, durch die menschliche Predigt wirksam vermittelte Christusereignis als Versöhnungs- und Befreiungswort an den Menschen, das ein für alle Mal gilt.“ 309 Diese Definition muss sich aber unter den Bedingungen der Moderne bestä‐ tigen lassen. Da durch die Aufklärung und die „beginnende historische Bibel‐ kritik […] die unbefragte Autorität der Bibel“ 310 zerbrochen ist, sieht sich Pesch vor die Aufgabe gestellt, „buchstäblich vom Nullpunkt an Rechenschaft darüber abzulegen, warum und in welchem Sinne wir vom ,Worte Gottes‘ reden, und zwar mit dem Anspruch, damit Wahrheit zu sagen, die sich sogar in spezifischer Weise der wissenschaftlichen Überprüfung auszusetzen bereit ist.“ 311 Weil er diesen Anspruch erfüllen will, skizziert er im Anschluss die wissenschaftsthe‐ oretischen Aspekte der Frage nach dem „Wort Gottes“, also dessen „Bewährung“ unter den Bedingungen der Gegenwart, und diskutiert dabei auch die Definition von der „Wahrheit“ theologischer Aussagen. Für den vorliegenden Zusammenhang ist seine Bestimmung der Bibel als „Quelle und Norm der Dogmatik“ 312 entscheidend. Dabei stellt er gegen die tra‐ ditionelle und nicht mehr haltbare Identifizierung von Wort Gottes und Bibel klar: „Nicht die Bibel ist das Wort Gottes im linguistisch-literarischen Sinne, vielmehr transportiert und vermittelt sie es im Vorgang der Auslegung ihrer Botschaft und steht insofern sowohl der historisch-kritischen Untersuchung und sogar der immanenten Sachkritik offen.“ 313 Dass die Bibel aber an sich für den Theologen grundsätzlich unabdingbar bindend ist, wie das Gesetz für den Juristen, 314 so sein Vergleichspunkt, begründet Pesch durch die Bestimmung der Bibel als „Urkunde des Glaubens“ (Gerhard Ebeling), als „ursprüngliche Bot‐ schaft“ (Hans Küng), als „mitgehender Anfang“ (Diego Arenhoevel / Karl Rahner) 315 oder - in seinen eigenen Worten - als „Buch des Wortes Gottes“. 316 97 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="98"?> 317 Pesch, Dogmatik, 229(kursiv im Original). 318 Pesch, Dogmatik, 230 (kursiv im Original). Zum von Pesch so genannten „biblischen Fundamentalismus“ vgl. Pesch, Dogmatik, 235. 319 Vgl. allerdings die Begründung der Ablehnung der Frauenordination. Siehe Ka‐ pitel II.1.1. 320 Pesch, Dogmatik, 234. 321 Pesch, Dogmatik, 235. 322 Pesch, Dogmatik, 237. 323 Pesch, Dogmatik, 239 (kursiv im Original). 324 Vgl. Pesch, Dogmatik, 255-257. Als „ein durch und durch menschliches Buch, geschrieben in allen literarischen Formen der Zeit und der Region“ ist es deshalb „auch ein höchst fremdartiges Buch“, 317 das seinerseits interpretiert werden muss, weshalb - und dies ist ein deutliches Argument gegen biblizistische Argumentationen - „die Bibel nie als Arsenal von dicta probantia“ 318 missverstanden werden darf. 319 Die aus der menschlichen Verfasstheit der Bibel folgende notwendige Interpretation führt zu der Frage nach den Maßstäben derselben. Pesch hält dabei zunächst fest, dass die Bibel alles enthält, „was die Menschen zu Glaubenden macht, [aber …] nicht in allen Stücken mit dem gleichen Gewicht“. 320 Deshalb darf die Bibel „als Do‐ kument des Ringens von Menschen - Glaubenden und Mitchristen (! ) - um ihren Glauben“ 321 gelesen werden. Die Frage nach einem Interpretationsmaßstab be‐ antwortet Pesch mit dem Hinweis auf die Kurzformeln des biblischen Glaubens, die „Systematiker“ sich selbst herstellen sollen. „Wie ein ,Notebook‘ in der Ta‐ sche, eine ,Kurzformel‘, ein Summarium der biblischen Botschaft“ 322 empfiehlt er solche Kurzformeln bei sich zu haben. Wer beurteilt aber, ob eine solche Kurzformel richtig ist? So kommt Pesch auf die lehramtliche Verkündigung zu sprechen. Während die offizielle Lehrmeinung - wie gesehen - darauf besteht, dass die Bibel ohne die Kirche als Leserin (und mit ihr dem Lehramt als höchste und einzig ordentlich bevollmächtigte Interpretationsinstanz) die Schrift im Vollsinn als Autorität gar nicht existiert, erkennt Pesch den kritischen Punkt dieser Im‐ munisierungsstrategie der Kirche gegen die Schriftautorität und erklärt deut‐ lich: „Der Vorrang des biblischen vor allen anderen geschichtlichen Zeugnissen des Glaubens, der Vorrang des ,mitgehenden Anfangs‘, der die Bibel zur norma normans macht, gebietet festzustellen, dass die Bibel der konkreten Kirche in Leben und Lehre auch kritisch gegenübersteht.“ 323 Dies steht im Zusammenhang mit seiner generellen Skepsis, ob und wie es möglich ist, einen Lehrsatz irre‐ formabel auszusprechen, inwieweit das Lehramt also die Autorität wahrnehmen kann, letztinstanzlich über Fragen der Bibelauslegung - wie dies Dei Verbum 10 fordert - zu entscheiden. 324 Pesch fordert deshalb „ein mutiges Wort der 98 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="99"?> 325 Pesch, Dogmatik, 240. 326 Pesch, Dogmatik, 261 (kursiv im Original). 327 Pesch, Dogmatik, 243 (kursiv im Original). 328 Pesch, Dogmatik, 319. 329 Pesch, Dogmatik, 319. 330 Pesch, Dogmatik, 340 (kursiv im Original). 331 Pesch, Dogmatik, 227. 332 Pesch, Dogmatik, 339. 333 Pesch, Dogmatik, 320 (kursiv im Original). Kirche“, 325 um diese Selbstimmunisierung des Lehramtes gegen die Schrift ab‐ zuwehren und gleichzeitig eine gewisse Selbstbescheidung kirchlicher Lehre, die sich bewusst sein soll, nur dazu zu dienen, „konkretes christliches Leben in der Kirche […] zu orientieren.“ 326 Falls dies eingeräumt wird, bleibt zu fragen, wie die normative „Kontrollin‐ stanz“ der Schrift praktisch angewendet werden kann. Pesch rät dazu, weder Denkform noch Terminologie der Bibel ungeprüft zu übernehmen, und warnt davor, Begriffe in die kirchliche Lehre einzuführen (wie z. B. „Priester“), die sich ausdrücklich nicht in der Bibel finden. Außerdem ist vor „illegitimer Harmoni‐ sierung“ zu warnen und ausdrücklich auf die „inhaltliche Mitte der Schrift“ zu achten. 327 Diese „Mitte“ bestimmt Pesch als „Botschaft vom Glauben an Gott in Jesus Christus“, die ihrerseits nicht objektiv kodifizierbar ist und sozusagen als „,Mehrwert‘ eines Menschenwortes, das aus der Geschichte auf uns zukommt“ 328 verstanden werden muss. Genauer wird dieser „Mehrwert“ als „Einladung zum Glauben“ 329 aufgefasst, der immer wieder neu aus Bibel und Überlieferung er‐ hoben und ausgesagt werden muss. Pesch formuliert das, was das Wort Gottes für ihn sagt, so: „Es ,gibt‘ Gott als die Wirklichkeit mitten in unserem Leben.“ 330 Die biblische Botschaft, die für ihn die „biblische Software“ 331 des Theologen ausmacht, besagt auf einen Satz gebracht: „Das ewige Leben mit Gott wird ver‐ kündet als Treue Gottes zum Leben des Menschen in der Welt, das Gott für den Menschen gewollt hat und das sich im Medium der Sprache als menschliches Leben vollzieht.“ 332 „Wort Gottes“ ist also eine Kurzformel, die das komplexe Ineinander von menschlichem Zeugnis und dieser Befragung auf seine darin inne wohnende und dadurch überlieferte und gegenwärtig auszusagende Ein‐ ladung zum Glauben beschreibt. Gemeint ist also mit der Rede vom „Wort Gottes“ „das Zeugnis der Schrift und seiner Brechung in der Geschichte seiner überliefernden Auslegung, befragt auf das in ihrem menschlichen Wort Gott ent‐ sprechende Wort einst und seinen Wahrheitsansspruch heute.“ 333 Unverkennbar führt Pesch hier den Gedanken der Analogie ein, die ein Entsprechungsver‐ hältnis zwischen dem menschlichen Wort und der göttlichen Botschaft aufdeckt, 99 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="100"?> 334 Vgl. Pesch, Dogmatik, 322-333. 335 Pesch, Dogmatik, 333. 336 Pesch, Dogmatik, 246. 337 Pesch, Dogmatik, 247. 338 Pesch, Dogmatik, 245 (kursiv im Original). 339 Pesch, Dogmatik, 338 (kursiv im Original). das Pesch wiederum in verschiedenen Belangen im Anschluss vorführt. 334 Dieses differenzierte Verständnis des Begriffs „Wort Gottes“, als „Wort, das in Gestalt der biblisch-christlichen Überlieferung mit dem Anspruch auf uns zukommt, Wort Gottes hörbar zu machen“, 335 erlaubt also die unbefangene historische Ar‐ beit und gibt zugleich den Anspruch der dezidiert theologischen Forschung nicht auf. Indem die immer neu zu aktualisierende Sprachwerdung des göttli‐ chen Wortes im gegenwärtigen Menschenwort von Pesch als ihm wesensgemäß beschrieben und dementsprechend gefordert wird, gelingt ihm die inhaltliche Bestimmung des Begriffs „Wort Gottes“ derart, dass die historische Methode theologisch relevant wird. Ihre „einzig sachgemäße Perspektive“, wenn sie sich als Beitrag zur theologischen Auslegung des biblischen Textes verstehen will, ist es dann zu fragen: „Was wird hier zur Ermöglichung, Abgrenzung, Verteidi‐ gung und Tiefenschau des Glaubens gesagt? “ 336 Er kommt mit dieser Bestim‐ mung zu der bemerkenswerten These: „Auch und gerade wissenschaftlich will die Bibel als Einladung zum Glauben gelesen werden - und nicht nur als inte‐ ressantes religionsgeschichtliches Dokument.“ 337 Damit markiert er die Grenze der klassischen historischen Methode, deren Anwendung für ihn „als solche […] noch gar kein theologischer Beitrag“ 338 ist. Erst unter der zitierten Perspektive wird die historische Methode zur theologischen Arbeit im eigentlichen Sinn. Die Autorität der Schrift liegt für Pesch als Vertreter der katholischen Syste‐ matik also in ihrer grundlegenden Bedeutung als Grunddokument des christli‐ chen Glaubens, das das damalige Ringen um den Glauben und dessen Verkün‐ digung einerseits festschreibt, andererseits aber auch den Glauben der nachfolgenden Generationen bis heute immer wieder durch interpretierende Lektüre weckt. Ihre Autorität liegt darin, den inhaltlich skizzierten Begriff von Wort Gottes grundlegend zu füllen. Insofern ist ihre Autorität eine sachliche, keine formale, weil sie das „Grundwort Gottes“ überliefert: „Gott will den Men‐ schen.“ 339 Gegenüber der lehramtlichen Position, die sich eher traditionellen Fragen wie dem Verhältnis von Schrift und Tradition stellt, variiert Pesch die einzelnen Bezeugungsinstanzen des Glaubens, um zu einer gegenwärtig wirklich vertret‐ baren Autorität der Schrift zu gelangen, der er dann die unbestrittene Rolle der norma normans zuweist, die der Kirche und ihrem Lehramt durchaus kritisch 100 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="101"?> 340 Pesch, Dogmatik, 264 (kursiv im Original). 341 Vgl. Pesch, Dogmatik, 100. 342 Vgl. zu dieser Frage auch den Versuch einer Antwort von Cole, Why, 476, der die Frage lediglich mit dem hilflos wirkenden Hinweis auf die Theopneustie beantworten kann. 343 Vgl. zum Bild Felmy, Einführung, 1, der den russischen Theologen Pavel Florénskij und dessen Spott wiedergibt, wonach man Katholik oder Protestant mit Hilfe von Büchern im eigenen Arbeitszimmer werden kann. Orthodox könne man aber nur werden, indem man orthodox lebt, also mit der Kirche „mitschwimmt“. Zum allgemeinen Überblick über die Orthodoxie vgl. Thöle, Zugänge, passim. Selbstverständlich ist, dass „die“ or‐ thodoxe Perspektive im vorliegenden Rahmen nicht umfassend dargestellt werden kann, da die Orthodoxie trotz oft gegenteiliger Behauptungen in sich ebensowenig ho‐ mogen ist wie andere Konfessionen. 344 Vgl. Felmy, Einführung, 3. Vgl. auch Ivliev, Macht, 74, der „unsere Lebenspraxis“, die „Erfahrung der Kirche“ als „Kriterium der Wahrheit“ sieht. 345 Alfejev, Geheimnis, 16. Unter dieser Prämisse ist klar, dass die Bibel nicht die alleinige Quelle der christlichen Theologie sein kann, sondern lediglich „eine der wichtigsten“ (Nikolakopolous, Testament, 301). gegenübertreten kann. Tradition, Dogma und Bekenntnis können also der Schrift auf keinen Fall gleichwertig zur Seite treten (wie dies aber Dei Verbum 9 suggerieren kann), sondern dürfen lediglich „eine abgeleitete Normativität“ beanspruchen, „weil und sofern sie auf die ,entferntere‘, das heißt hier: auf die letzte Norm [verweisen], die Heilige Schrift.“ 340 Das beinhaltet, dass das Lehramt in einer solchen Konzeption wirklich dem Wort Gottes dient, es also darauf verzichtet, autoritativ und letztverbindlich Auslegungen der biblischen Texte vorzulegen. Damit gelingt Pesch eine zeitgemäße und anschlussfähige Lehre von der Schrift, bleibt aber bei der von ihm selbst aufgeworfenen Frage, warum gerade dieser Text Autorität verdient, 341 merkwürdig zurückhaltend. Sein Hinweis auf den bleibenden Ursprung oder mitgehenden Anfang scheint hier unbefriedi‐ gend. 342 3.3. Die orthodoxe Perspektive Orthodoxe Theologie ist kein Trockenschwimmen, 343 sie ist vielmehr eine Theo‐ logie der kirchlichen Erfahrung. 344 Im eucharistischen Gottesdienst findet die Orthodoxie ihre alles bestimmende Mitte: „Der orthodoxe Gottesdienst ist ge‐ rade deshalb so kostbar, weil er ein klares Kriterium der theologischen Wahrheit an die Hand gibt: vor allem muss sich die Theologie immer am Gottesdienst ausrichten und nicht etwa den Gottesdienst von irgendwelchen theologischen Prämissen her korrigieren wollen.“ 345 Da die biblischen Texte mitsamt ihrer 101 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="102"?> 346 Vgl. Nikolakopolous, Testament, 307, der darauf hinweist, dass es nicht um Wiederho‐ lung der Kirchenväter geht: „Vielmehr ist damit die Übereinstimmung des überlieferten Glaubens mit den patristischen Texten gemeint.“ Die Kirchenväter bilden damit eine Art „Bekenntniskanon“ der orthodoxen Kirche. Dass die Väter sich unterscheiden und widersprechen, was Luther zur Frage geführt hat, wer dann über den Sinn des Textes entscheiden soll, ist für die Orthodoxie kein Problem, da es nicht um „Auslegungsvor‐ schläge konkreter biblischen Stellen“ geht, sondern um den „Geist der Kirchenväter“ (Nikolakopolous, Testament, 307). Vgl. zur orthodoxen Auffassung, wer zu den „Kir‐ chenvätern“ gezählt werden darf und welche Rolle sie spielen sollen, Mihoc, Actuality, 5-11. 347 Vgl. Agourides, Church, 140. 348 Es ist weiter deutlich, dass der ganze Themenbereich der biblischen Hermeneutik in dieser Perspektive für die orthodoxe Theologie ein ganz anders gelagertes Problemfeld darstellt als für eine westliche Tradition. Vgl. Niebuhr, Schriftauslegung, 93, der auch auf andere Faktoren hinweist, warum insgesamt „das Gespräch zwischen Bibelwissen‐ schaftlern aus der orthodoxen und der westlichen Tradition nicht einfach ist.“ Auch die Herausgeber des Tagungsbandes „Auslegung der Bibel“ konstatieren, dass „das Ge‐ spräch zwischen den orthodoxen und den westlichen Bibelwissenschaftler / innen schwieriger ist als dasjenige zwischen katholischen und evangelischen Exeget / innen im Westen.“ (Dunn / Klein / Luz / Mihoc, Konvergenzen, 217) Dies liegt darin begründet, dass ein „gemeinsames ,neutrales‘ Wissenschaftsverständnis, nämlich dasjenige, das sich aus der Aufklärung entwickelt hat, [als] Grundlage für die gemeinsame Arbeit an der Bibel“ (Dunn / Klein / Luz / Mihoc, Konvergenzen 218) nicht vorhanden ist. Interes‐ sant ist dabei: Es gibt auf Seiten der orthodoxen Kirche offensichtlich kein Bedürfnis nach Aufklärung. Dort ist vielmehr bis heute fraglich, ob die „Aufklärung und die mit ihr eng verbundene historisch-kritische Exegese als Gegenüber zu theologischer Er‐ starrung und kirchlichen Herrschaftsansprüchen“ (Dunn / Klein / Luz / Mihoc, Konver‐ genzen, 218) wirklich erstrebenswert sei. 349 Oikonomos, Bibel, 44. 350 Oikonomos, Bibel, 45. Auslegung durch die Kirchenväter 346 in den Gottesdienst und seine liturgischen Texte eingegangen sind, 347 ist von diesem Ausgangspunkt her von Anfang an klar, dass die Frage nach der Autorität der Schrift nur durch den Hinweis auf die Autorität der Kirche beantwortet werden kann. 348 Die Kirche „bestimmt des‐ halb nicht nur die Echtheit der [biblischen] Bücher und den Umfang des Kanons, sondern sie ist gleichzeitig deren letzter und absoluter Interpret.“ 349 Weil aber die Kirche grundsätzlich jedem Menschen erlaubt, sich - auch wissenschaft‐ lich - mit der Bibel zu beschäftigen, muss und darf sie „aufgrund ihrer Autorität über die Richtigkeit und Wahrheit der Lehre“ 350 befinden: „Nach orthodoxem Glauben ist die Kirche vermöge des ihr innewohnenden Heiligen Geistes nicht nur die unfehlbare Bewahrerin, sondern auch die authentische Lehrerin, Rich‐ terin und Interpretin der göttlichen Offenbarung. Sie allein ist imstande zu be‐ urteilen, was göttliche Offenbarung ist und was nicht. Die dafür notwendige Autorität bezieht die Kirche aus der Tatsache, daß sie selbst eine göttliche Ein‐ 102 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="103"?> 351 Oikonomos, Bibel, 45. 352 Vgl. Felmy, Einführung, 21. Ausnahmen bilden Theologen, die der Auffassung sind, dass die grundlegenden Einsichten bereits durch die Kirchenväter gewonnen wurden und es deshalb ausreiche, diese zu wiederholen. Vgl. Oikonomos, Bibel, 53. Dagegen wendet sich dezidiert Karavidopoulus, Offenbarung, 163, der den patristischen Charakter der orthodoxen Exegese als „kreative Fortsetzung des Geistes der Väter“ (kursiv im Original) beschreibt. Für das Gros der orthodoxen Theologen dürfte aber zutreffen: „Der Bibeltext ist eine gewisse Realität, die wissenschaftlich ausgelegt werden darf und muss.“ (Ivliev, Macht, 73) Doch wird dabei immer betont: „Und gleichzeitig ist der Bibeltext selbst schon eine Auslegung einer gewissen Realität, die wir das ,Neue Leben im erhöhten Christus‘ nennen.“ (Ivliev, Macht, 73) In Analogie zur Zwei-Naturen-Lehre Christi wird der Untersuchungsgegenstand der Exegese damit bereits christologisch aufgeladen. Der Text ist somit eine „aufs höchste adäquate Widerspiegelung der reichen Erfahrung der neuen gottmenschlichen Realität.“ (Ivliev, Macht, 74) Eine profane Methode kann des‐ halb dem Text von Anfang an nicht angemessen sein. Der orthodoxe Ausleger muss also „einerseits das wertvolle Vermächtnis der Tradition [annehmen], andererseits aber auch die menschlichen Bemühungen der wissenschaftlichen Forschung“ (Karavido‐ poulus, Offenbarung, 167) beachten. 353 Oikonomos, Bibel, 55. 354 Vgl. Ivliev, Macht, 77, der die wissenschaftliche Kritik der Bibel als „Schreibstubener‐ zeugnis“ bezeichnet, das „nicht aus dem eucharistischen Leben der Kirche“ hervorging. 355 Crisp, Methods, 130. Vgl. Schwarz, Schrift, 122: „Für orthodoxe Christen ist die Heilige Schrift in der Kirche lebendig und nur in der Kirche verstehbar.“ Von daher ergibt sich: „Deshalb kann nach orthodoxer Lehre auch allein in der Kirche die Schrift mit Autorität ausgelegt werden.“ (Schwarz, Schrift, 124) 356 Nikolakopolous, Testament, 304. richtung ist. Das Kriterium für die Richtigkeit ihrer Entscheidungen ist somit die Kirche selbst.“ 351 In der Kirche darf dann zumeist eine gewisse Form der Bibelkritik stattfinden, 352 die allerdings „auf den wissenschaftlich-akademischen Bereich beschränkt [bleibt]. Ihre Ergebnisse sind für das Glaubensleben der Kirche irrelevant.“ 353 Eine historische Methode, die die Bibel als Gegenüber zur Kirche zur Sprache bringen will, durchaus auch in der Kirche um der Kirche willen, ist deshalb für die Orthodoxie schwer vorstellbar. 354 Eine von der Kirche unabhängige und nicht von ihr kontrollierte Bibelauslegung kann es nicht geben, denn: „The Bible is first and foremost the book of the Church, and so it is inconceivable that its study should be divorced from its Church context.“ 355 Deshalb ist für die Orthodoxie klar, dass „eines der grundlegenden Prinzipien und eine der unentbehrlichen Voraussetzungen der orthodoxen Herme‐ neutik […] ihr ekklesialer Rahmen“ 356 ist. Den historischen Abstand zwischen den biblischen Texten, den Arbeiten der Kirchenväter und der Gegenwart über‐ brückt die Kontinuität der Kirche und des Gottesdienstes, sodass der herme‐ 103 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="104"?> 357 Vgl. Crisp, Methods, 128, der die Kritik orthodoxer Theologen am „Westen“ skizziert. Neben der „artificial creation of a hermeneutical gap between the world of the original biblical text and the modern reader“ sind die Hauptvorwürfe die Absolutsetzung der Rationalität im Gefolge der Aufklärung „and the consequent exclusion of the possibility of direct knowledge or experience of the divine“. Reiser, Geist, 73, bejubelt die orthodoxe Kritik am hermeneutischen Graben: „Welch ein erlösendes Wort! “ 358 Reiser, Geist, 63. Dies könnte geschehen, „weil sie historisch-kritische Auslegung so gut wie gar nicht kennt“ und „weil sie, von Aufklärung unberührt, lebendige Tradition immer wieder mit steriler Konservierung verwechselt.“ (Reiser, Geist, 63) 359 Überhaupt scheint historisch-kritische Exegese „aufs Ganze gesehen auf den ortho‐ doxen Westen beschränkt“ zu sein, der aus der Sicht der Orthodoxie eine Art Diaspora‐ theologie entwickelt hat, während das historische Denken „im Osten selbst dagegen weder rezipiert noch grundsätzlich bestritten worden“ (Felmy, Einführung, 22) ist. 360 Vgl. Nikolakopolous, Testament, 303, der den Wissenschaftsbegriff der westlichen Exe‐ gese herleitet und kritisiert: „Alle wichtigen Faktoren, welche die Entfaltung der wis‐ senschaftlichen Theologie im Westen beeinflusst haben, wie z. B. die verschiedenen geistesgeschichtlichen Strömungen der Neuzeit (Humanismus, Renaissance, Reforma‐ tion, Aufklärung) und das Aufkommen der philologischen, historischen oder archäo‐ logischen Wissenschaft, haben zur Bildung jenes Wissenschaftsbegriffs beigetragen, der den menschlichen Errungenschaften die Oberhand gibt und dem Eingang des Gött‐ lichen in die reale Geschichte wenig Raum lässt.“ 361 Kirchner, Wort, 149. 362 Vgl. die Warnungen von Bauer, Bewegung, 72-73. neutische Abstand zwischen dem modernen Leser und den Texten als künstlich aufgerissen erscheint. 357 Insgesamt scheint bei allen notwendigen - und hier nicht im gebührenden Maß geleisteten - Differenzierungen der Eindruck unvermeidlich, wonach die orthodoxe Exegese darum kämpfen muss, nicht „von Dogmatik, Patristik und Spiritualität erdrückt“ 358 zu werden. 359 Die ökumenischen Gespräche zu Themen wie Bibelhermeneutik oder Schrift‐ autorität gestalten sich deshalb als mühsam. Die prinzipielle Einheit von Schrift und Tradition macht einen Dialog im Grunde unmöglich, weil die „westlichen“ Fragestellungen nicht akzeptiert werden. 360 „Der orthodox-altkirchliche Ent‐ wurf eines unangefochtenen Lebens in einer ungebrochenen Tradition stellt in seiner Geschlossenheit ein vorkritisches Modell dar, angesiedelt auf einer an‐ deren Ebene als eine durch das Feuer der Aufklärung gegangene Theologie mit ihrer ständigen Aufgabe einer historisch-kritischen Vergewisserung.“ 361 3.4. Die evangelikale Perspektive Die „eine“ evangelikale Perspektive auf die Frage nach der Autorität der Schrift kann nicht dargestellt werden, 362 da es keine „reine“ evangelikale Kirche oder Konfession gibt. Vielmehr ist von einer „evangelikalen Bewegung“ zu sprechen, 104 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="105"?> 363 Ausführlich dargestellt und begründet ist diese Bestimmung bei Bauer, Bewegung, passim. Sie kommt zu dem Schluss: „Angesichts des grundsätzlichen und identitätssta‐ bilisierenden Moments der Abgrenzung von Kirche, Theologie und pluralisierter Welt der evangelikalen Bewegung wird man schwerlich eine andere Feststellung treffen können als diejenige, dass die evangelikale Bewegung die ,neue soziale Bewegung‘ der evangelischen Kirche des 20. und 21. Jahrhunderts bildet.“ (Bauer, Bewegung, 435; kursiv im Originial) 364 Broer, Schriftverständnis, 415. 365 Zur evangelikalen Hinwendung zu ethischen bzw. sozialethischen Themen seit den 1970er Jahren vgl. Bauer, Bewegung, 593-603. 366 Broer, Schriftverständnis, 401, warnt deshalb zu Recht vor der Erwartung, einen ver‐ nünftigen Dialog über das Thema der Schriftautorität mit Vertretern einer ausgeprägt evangelikalen Haltung führen zu können, da diese zur „Selbstimmunisierung“ neigen und grundsätzlich der Überzeugung sind, dass das historische Bibelverständnis „vom Bösen ist.“ Hier drückt sich der Umstand aus, dass die evangelikale Bewegung in Deutschland „maßgeblich erst durch ein massives Unbehagen an der Theologie ent‐ stand.“ (Bauer, Bewegung, 66) Von daher ist klar, dass ein Dialog bereits durch die Ge‐ schichte der Bewegung erschwert ist. Deshalb können sich evangelikale Gruppen auch mit einem gewissen Stolz „bibeltreu“ nennen und sich gegen die „bibelkritische“ oder „modernistische“ Kirche abheben. Gleichfalls geht damit die Kritik an der „akademi‐ schen“ Theologie überhaupt einher, die sich durch die Akzeptanz der historischen Me‐ thode permanent gegen das Wort Gottes stellt und so „den entscheidenden Punkt über‐ schritten“ hat und sich deshalb „auf der schiefen Ebene“ (Stadelmann, Schriftverständnis, 74) befindet. Deshalb geht es „bergab“: „weiter oben zunächst eher gemächlich - weiter unten in rasender Fahrt.“ (Stadelmann, Schriftverständnis, 73) die in Analogie zu anderen neuen sozialen Gruppierungen des 20. Jahrhunderts aufzufassen und deren Identität vor allem im Protest gegen die verfasste Kirche zu sehen ist. 363 Das Schriftverständnis dieser Bewegung kann deshalb nur in groben Zügen beschrieben werden, sodass nicht das ganze Spektrum der evan‐ gelikalen Bewegung in den Blick kommen kann. Grundsätzlich ist wohl richtig, davon zu sprechen, dass sich evangelikales Schriftverständnis der subjektiv wahrgenommenen „Bedrohung des eigenen christlichen Selbstverständnisses durch die Modernisierungstendenzen“ 364 des 19. und 20. Jahrhunderts verdankt und ihm von daher ein mehr oder minder ausgeprägter Antimodernismus inhärent ist. Dieser drückt sich sowohl in ethi‐ schen Sachfragen 365 wie auch in der prinzipiellen Haltung zur Schriftautorität aus, die wiederum für den hermeneutischen Diskurs kaum offen ist. 366 Denn letztlich ist schon die Frage nach der Schriftautorität an sich kein Thema, über das lange nachgedacht werden sollte. Eindeutig besagen verschiedene „Be‐ kenntnistexte“ oder „Grundformeln“ der Bewegung, dass die Bibel als Wort Gottes die höchste Autorität darstellt, die allen Lebensbereichen eine unzwei‐ deutige Richtschnur liefert. Einschlägig sind die verschiedenen „Chicago-Er‐ 105 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="106"?> 367 Vgl. Schirrmacher, Offensive, passim. 368 Vgl. Bauer, Bewegung, 76. 369 Vgl. Bauer, Bewegung,78-82. 370 Chicago-Erklärung zur biblischen Irrtumslosigkeit, Art. I. 371 Chicago-Erklärung zur biblischen Irrtumslosigkeit, Art. II. 372 Chicago-Erklärung zur biblischen Irrtumslosigkeit; Zusammenfassende Erklärung 2. 373 Chicago-Erklärung zur biblischen Irrtumslosigkeit, Zusammenfassende Erklärung 4. 374 Chicago-Erklärung zur biblischen Irrtumslosigkeit, Art. IX. klärungen“ 367 , um die es allerdings in der deutschen evangelikalen Bewegung immer wieder Diskussionen gegeben hat, 368 oder die (verschiedenen Fassungen der) „Glaubensbasis der Evangelischen Allianz“. Die verschiedenen Textfas‐ sungen dieser „Bekenntnisgrundlagen“ zeigen zum einen die prinzipielle Plu‐ ralität der Trägergruppen der evangelikalen Bewegung sowie die Weiterent‐ wicklung der theologischen Auffassungen innerhalb dieser Gruppen. 369 Die Differenzierungen müssen allerdings im Rahmen dieser Untersuchung zu‐ gunsten einer aufzeigbaren Linie zurückgestellt werden. Ein wichtiger Kristal‐ lisationspunkt sind daher die drei Erklärungen des Rates für biblische Irrtums‐ losigkeit, die sich um die biblische Irrtumslosigkeit (von 1978), um biblische Hermeneutik (1982) und die Anwendung der Bibel (1986) drehen und zu denen sich viele evangelikale Theologen in verschiedener Weise verhalten. In dem klassischen Bekenntnisschema von „bekennen“ und „verwerfen“ legen die Erklärungen dar, dass die „Heilige Schrift als das autoritative Wort Gottes anzunehmen“ 370 und dass sie „die höchste schriftliche Norm“ 371 des Glau‐ bens ist. Die Schrift bedarf daher weder der Annahme durch Menschen noch deren Antwort noch einer anderen Instanz, die ihr Autorität verleiht. Deshalb gilt: „Die Heilige Schrift hat […] in allen Fragen, die sie anspricht, unfehlbare göttliche Autorität: Ihr muß als Gottes Unterweisung in allem geglaubt werden, was sie bekennt; ihr muß als Gottes Gebot gehorcht werden, in allem, was sie fordert; sie muß als Gottes Unterpfand in allem ergriffen werden, was sie ver‐ heißt.“ 372 Aus dieser totalen Unterwerfung unter die schriftliche Autorität erfolgt zwangsläufig, dass sie in sich irrtumslos sein muss, da andernfalls ihre Unter‐ weisungen, denen bedingungslos zu gehorchen sind, fehlerhaft sein könnten. Deshalb fährt die Erklärung fort: „Da die Schrift vollständig und wörtlich von Gott gegeben wurde, ist sie in allem, was sie lehrt, ohne Irrtum oder Fehler.“ 373 Diese Irrtums- und Fehlerlosigkeit wird dabei durch Gott selbst bestätigt, da dessen Inspiration „zwar keine Allwissenheit verlieh, aber wahre und zuverläs‐ sige Aussagen über alle Dinge, über welche die biblischen Autoren auf Gottes Veranlassung hin sprachen und schrieben, garantierte.“ 374 Deshalb bekennen die Autoren, „daß die Schrift in ihrer Gesamtheit irrtumslos und damit frei von 106 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="107"?> 375 Chicago-Erklärung zur biblischen Irrtumslosigkeit, Art. XII. 376 Chicago-Erklärung zur biblischen Irrtumslosigkeit, Art. XIII. Fehlern, Fälschungen oder Täuschungen ist.“ 375 Verworfen wird dagegen, dass dieser Satz von „Phänomenen wie dem Fehlen moderner technischer Präzision, Unregelmäßigkeiten der Grammatik oder der Orthographie, Beschreibung der Natur nach der Beobachtung, Berichte über Unwahrheiten, dem Gebrauch von Übertreibungen oder gerundeten Zahlen, thematischer Anordnung des Stoffes, unterschiedlicher Auswahl des Materials in Parallelberichten oder der Verwen‐ dung freier Zitate in Frage gestellt werde.“ 376 Jeder Versuch, die Irrtumslosigkeit 107 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="108"?> 377 Der Versuch Broers, Schriftverständnis, 405-410, die Irrtumslosigkeit der Schrift an‐ hand verschiedener Beispiele zu widerlegen, muss deshalb schon im Ansatz scheitern. Sein Fazit zu den Jesusreden bei den Synoptikern und im Johannesevangelium („Der historische Jesus kann nur entweder so wie der Jesus der Synoptiker gesprochen haben oder wie der Jesus des Johannesevangeliums, aber nicht auf beide Weisen! “; 407; im Original kursiv) fällt unter die Regel, dass die unterschiedliche Auswahl des überlie‐ ferten Materials die Irrtumslosigkeit nicht widerlegt. 378 In der deutschen evangelikalen Diskussion wird diese harte These zuweilen einge‐ schränkt. Hempelmann, Bibeltreu, 37, verweist darauf, dass die Bibel „kein System theo‐ logischer Theoriebildung“ sei und versteht deshalb die Unfehlbarkeit der Bibel lediglich teleologisch: „Gott und sein Wort ist [sic! ] unfehlbar, weil es uns unfehlbar den richtigen Weg zum ewigen Leben weist.“ (Hempelmann, Bibeltreu, 38) Sachliche Fehler können in dieser Perspektive nicht vorkommen, weil die Schrift eine „Wesensäußerung Gottes“ ist, die als solche „teil am Wesen Gottes und das heißt an seiner Wahrheit, Treue, Zu‐ verlässigkeit“ (Hempelmann, Bibeltreu, 39) hat. Ähnlich begründet Schirrmacher, Of‐ fensive, 47, der Herausgeber und Übersetzer der Chicago-Erklärungen, die Heiligkeit der Schrift durch ihr Wesen: „Die Schriften sind wesensmäßig heilig, weil sie von einem heiligen Gott kommen.“ Probleme sind also lediglich Fehler „für unser - immer be‐ schränktes - Bewusstsein“ (Hempelmann, Bibeltreu, 39). Es wäre demnach Gott „ein Kleines gewesen, die offenbaren Differenzen in den Angaben der zurückgekehrten Exi‐ lierten und ihrer Sippen nach Esra 2 bzw. Nehemia 7 zu eliminieren.“ (Hempelmann, Bibeltreu, 40) Dies hat er aber nicht gemacht, weil der Ausleger sich von der Bibel zeigen lassen soll, „was sie als Wahrheit und wie sie Wahrheit zu denken hat“ (Hempelmann, Bibeltreu, 40). Alles Anstößige zum Thema Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit der Schrift dient also nach Hempelmann, Bibeltreu, 41, dazu „als Skandal für unser Denken“ zu dienen. Die scheinbaren Fehler der Bibel gehören wesensmäßig „zu Gott wie das Kreuz zum Sohn Gottes“ (Hempelmann, Bibeltreu, 41). Die Bibel ist also vollkommen und „wo wir an ihr Anstoß nehmen, liegt das an uns und fällt das auf uns zurück.“ (Hempelmann, Bibeltreu, 43) Obwohl Hempelmann, Bibeltreu, 42, demnach festhält: „Bibelkritik ist theologisches und geistliches Harakiri.“, scheint er z. B. von Stadelmann, Schriftverständnis, 14, getroffen zu werden, der die „völlige Zuverlässigkeit und höchste Autorität“ gerade gegen diejenigen festhält, die diese Wahrheit einschränken wollen, „auf bestimmte Aussagen der Bibel, die unmittelbar unser Heil betreffen.“ (Stadelmann, Schriftverständnis, 15) Diese Kritik betrifft wahrscheinlich auch Schirrmacher, Offen‐ sive, 49, der ausdrücklich sagt, dass die Begriffe wie Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit „als Oberbegriffe der Schriftlehre ungeeignet“ sind. Bibelkritik muss deshalb laut Sta‐ delmann, Schriftverständnis, 77 „auch in ihrer gemäßigten Form“ abgelehnt werden, da sie „von vornherein die Bibel im Grundsatz“ relativiert und sich so mit ihrer „Sachkritik am biblischen Wort zugleich schuldhaft an dem sich offenbarenden Gott“ vergreift. der Schrift anhand der faktischen Fehler und Irrtümer zu widerlegen, 377 ist also ausgeschlossen. 378 Die Schrift erhält also göttliche Autorität und ist deshalb prinzipiell nicht kritisierbar: „Indem Christus und die Schrift sich gegenseitig ihre Autorität be‐ 108 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="109"?> 379 Chicago-Erklärung zur biblischen Irrtumslosigkeit, Kommentar, 27. Dies wird in der dritten Erklärung nochmals ausdrücklich bekräftigt und gefolgert, dass deshalb eine „treue Jüngerschaft“ alles annehmen wird, „was die Schrift lehrt, gleich, ob als Aussage oder als Befehl. Die gängige Vorstellung, daß man die Loyalität gegenüber Christus mit einem skeptischen oder selektiven Zugang zur Schrift verbinden kann, muß als eine verdrehte und nicht zu verteidigende Illusion abgetan werden. Die Autorität der Schrift und die Autorität Christi sind eins.“ (Chicago-Erklärung zur Anwendung der Bibel 1, 52) 380 Chicago-Erklärung zur biblischen Hermeneutik, Art. I. 381 Vgl. Stadelmann, Schriftverständnis, 13. 382 Chicago-Erklärung zur biblischen Hermeneutik, Art. XIV. 383 Broer, Schriftverständnis, 404 (kursiv im Original). 384 Chicago-Erklärung zur biblischen Hermeneutik, Art. XXII. 385 Chicago-Erklärung zur biblischen Hermeneutik, Art. XXIV. Zu fragen ist allerdings, wie die meisten „modernen“ Menschen, die die Ursprachen der Bibel nicht beherrschen, diese überhaupt lesen können, wenn „Bibelwissenschaftler“ diese nicht zuvor textkri‐ tisch aufbereitet und übersetzt haben. glaubigen, verschmelzen sie zu einer einzigen Quelle der Autorität.“ 379 Gott und Bibel werden damit fast gleichgesetzt: „Wir bekennen, dass die normative Au‐ torität der Heiligen Schrift die Autorität Gottes selbst ist und daß sie von Jesus Christus, dem Herrn der Kirche, bestätigt wird.“ 380 Die Bibel ist damit in Analogie zur Christologie verstanden, die Bibel ist Gotteswort im Menschenwort „so wie Jesus zugleich wahrer Gott und wahrer Mensch war.“ 381 Weil Gott aber keine falschen Behauptungen aufstellt, darf es in der Bibel keine Fälschungen oder erfundenen Geschichten geben: „Wir bekennen, daß die biblischen Berichte über Ereignisse, Reden und Aussprüche, auch wenn sie in einer Vielfalt von geeigneten literarischen Formen dargeboten werden, mit den geschichtlichen Tatsachen übereinstimmen.“ 382 Auf dieser Linie ist einsichtig, warum evangelikale Autoren beständig darauf pochen, dass die in der Bibel er‐ zählten Ereignisse sich auch wirklich so wie berichtet zugetragen haben: „Um der Zuverlässigkeit des göttlichen Wortes willen muss sich der Wahrheitsan‐ spruch der Bibel auf alle Aussagen beziehen, man darf nicht zwischen histori‐ schen Aussagen, die nicht bruta facta meinen, und Glaubenswahrheiten, die wei‐ terhin gültig sind, unterscheiden, ohne die Irrtumslosigkeit der Schrift zu gefährden.“ 383 Offensichtlich erscheint es den Unterzeichnern angesichts dieser weitreichenden Thesen notwendig extra zu betonen: „Wir bekennen, daß 1. Mose 1-11 ebenso ein Tatsachenbericht ist wie der Rest des Buches.“ 384 Dass mit diesen Überlegungen eine klare Frontstellung zur „akademischen“ Theologie aufgebaut ist, wird deutlich, wenn bekannt wird: „Wir bekennen, daß ein Mensch für das Verstehen der Schrift nicht von dem Urteil von Bibelwissen‐ schaftlern abhängig ist.“ 385 Aus der Bibel sind deshalb ohne weitere Vermittlung 109 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="110"?> 386 Chicago-Erklärung zur Anwendung der Bibel, Art. VII. 387 Vgl. Chicago-Erklärung zur Anwendung der Bibel, Art. VIII. 388 Vgl. Stadelmann, Schriftverständnis, 126-138. 389 Vgl. Stadelmann, Schriftverständnis, 128. 390 Stadelmann, Schriftverständnis, 130. (von Bibelwissenschaftlern) direkte Konsequenzen für die ethische Urteilsbil‐ dung und das allgemeine Handeln zu entnehmen. Diese sind in der dritten „Chi‐ cago-Erklärung zur Anwendung der Bibel“ ausdrücklich festgehalten und er‐ scheinen insgesamt wie ein konservatives Kompendium ethischer Anweisungen zur „Heiligkeit des Lebens“, zu „Ehe und Familie“, zu „sexuellen Verirrungen“ und andere Themenfelder. Auf diesem Feld zeigt sich nun, dass ein unbedingter Gehorsam gegenüber biblischen Aussagen offensichtlich nicht einfach zu machen ist. Diese in sich konsequent scheinende und vernunftmäßig absichtlich nicht einholbare Hal‐ tung, der Bibel in allen Dingen unbedingt Gehorsam leisten zu müssen, wird regelmäßig da unterlaufen, wo Ausnahmen zugelassen werden. So ist laut Art. V eine Abtreibung Mord, allerdings nicht, wenn das Leben der Mutter bedroht wird. Das Leben an sich ist zwar heilig, dies gilt aber nicht „im Fall der vom Staat ausgeführten Todesstrafe“ (Art. V). Auch ist eine Scheidung unter gewissen Umständen möglich, obwohl Gott sie eigentlich hasst und Jesus sie verboten hat. 386 Umgekehrt muss anscheinend auch nicht jedem Gebot unbedingt ganz konsequent gefolgt werden. So wird z. B. Lev 20,13 („Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so haben sie getan, was ein Gräuel ist, und sollen beide des Todes sterben.“) m.W. auch nicht von denjenigen angewandt, die an‐ sonsten aus der Bibel mit Art. VIII entnehmen, dass Homosexualität Sünde ist, die es generell zu heilen gilt. 387 Ein gewisser Eklektizismus lässt sich daher nicht von der Hand weisen. Scheinbar aufgelöst werden diese Widersprüche durch die Einteilung der biblischen Schriften in verschiedene Heilsepochen, in denen Gott jeweils andere Vorschriften anordnen kann. 388 Grundsätzlich müsse nämlich in diesem Heils‐ plan mit Kontinuitäten und Diskontinuitäten gerechnet werden. 389 Um die Wei‐ sungen Gottes verstehen zu können, muss man sich demnach zunächst selbst über den eigenen Standpunkt im Rahmen der Heilsgeschichte im Klaren sein. Denn Gott wirkt auch „Neueinsätze in der Heilsgeschichte. Es gibt ,Endstati‐ onen‘ für bestimmte heilsgeschichtliche Institutionen; und es finden sich neue Anweisungen Gottes, die alte Weisungen aufheben.“ 390 Deshalb sei die Zeit der Kirche z. B. nicht mehr betroffen von den Weisungen, die Gott in der Epoche des Alten Bundes gegeben hat. Es wäre allerdings ein Missverständnis, diese „Epo‐ 110 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="111"?> 391 Stadelmann, Schriftverständnis, 131. 392 Stadelmann, Schriftverständnis, 135. 393 Stadelmann, Schriftverständnis, 137. 394 Stadelmann, Schriftverständnis, 136. 395 Stadelmann, Schriftverständnis, 137. 396 So zu Recht Roth, Verhältnis, 238, der die „prinzipielle Ablehnung der Gründung des Glaubens auf Autorität“ (kursiv im Original) betont. 397 Stadelmann, Schriftverständnis, 72. chen der Heilsgeschichte“ 391 als einen Maßstab aufzufassen, mit dessen Hilfe durch die menschliche Vernunft zwischen göttlichem und menschlichem Wort unterschieden werden könne: „Nein, Gott selbst trifft für jede Epoche der Heils‐ geschichte die Entscheidung, was jeweils an Verheißung und Weisung für eine gegebene Zeit gilt.“ 392 Lediglich die Weisungen, die der Epoche entsprechen, in der man selbst lebt, lassen sich „im Gehorsam ,direkt‘ in den heutigen Kontext hinein“ 393 anwenden. Das Beispiel der unter Umständen erlaubten Ehescheidung widerspricht dieser Maßgabe allerdings, da es erstens in der Epoche der Kirche, die „vom ersten Kommen Jesu […] bis zu seiner Wiederkunft“ 394 reicht, zweitens laut Mt 19,6 „direkt“ von Jesus erteilt wurde. Weisungen, die in anderen Epochen ge‐ geben wurden, müssen „indirekt“, also „immer zunächst über das Neue Testa‐ ment und das, was neutestamentlich gesehen gilt“, 395 angewandt werden. Nur wenn sie sichtlich kontinuierlich gemeint sind, sollen sie gelten. In der Praxis zeigt sich also, dass die Anwendung der Bibel eine gewisse Inkongruenz zur (theoretischen) Hochschätzung der Heiligen Schrift zeigt. Die evangelikale Bewegung nimmt damit die Position der altprotestantischen Orthodoxie ein und verlässt so den Pietismus, der sich gegen die starre Um‐ klammerung der Orthodoxie wandte und der eine ihrer wesentlichen Wurzel darstellt. So übernimmt die Bewegung die ehemals „rationalistischen“ Positi‐ onen einer strengen Inspirationslehre, gegen die sich Teile ihrer pietistischen Vorläufer dezidiert gewandt haben. Gleichzeitig richtet sie die Bibel als unhin‐ terfragbare Autorität auf und verfehlt damit die Einsicht, dass der Glaube in evangelischer Sicht nicht auf Autorität fußen kann, sondern verkehrt wird in einen Glauben, der lediglich auf äußerem Gehorsam basiert. 396 Letztlich ist ein Dialog mit der evangelikalen Theologie schwierig, weil diese bewusst und voller Stolz - oft mit einem gewissen Gefühl der moralischen Überlegenheit - klar eine Grenze zieht: „Evangelikale Theologie knüpft nicht an den Grundentscheidungen historisch-kritischen Denkens an.“ 397 Weil diese Perspektive aber bewusst danach fragt, was die Bibel über sich selbst sagt, kann die vorliegende Untersuchung vielleicht trotzdem eine Brücke für den Dialog bauen. 111 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="112"?> 398 Einen Überblick über die verschiedenen Gespräche gibt Kirchner, Wort, 56-146; Nüssel / Sattler, Einführung, 45-50. 399 Dies zeigt bereits das Inhaltsverzeichnis von DwÜ 4. 400 Kirchner, Wort, 148. 401 Vgl. Lauster, Prinzip, 5: „Seiner Genese nach ist das protestantische Schriftprinzip eine kontroverstheologische Festlegung in der Frage nach den maßgeblichen Autoritäten des christlichen Glaubens.“ 402 Vgl. zum Überblick Kaufmann, Konfessionalisierung, passim; Kinzig, Verbalinspiration, 103. 403 Kirchner, Wort, 150. Vgl. Lauster, Prinzip, 363-368, der die katholische Diskussion um das Verhältnis von Schrift und Tradition vorführt. Aus katholischer Sicht gibt Böttig‐ heimer, Bibel, 193-258, einen Überblick. 404 Vgl. Thönissen, Zeitalter, 91. „Ursprung und Norm der Kirche und ihrer Lehre ist die Heilige Schrift.“ 405 Vgl. Kirchner, Wort, 148: „Die einzigartige Stellung der Heiligen Schrift als Offenba‐ rungsurkunde […] steht außer Frage.“ 3.5. Der Stand der ökumenischen Diskussion Die Frage der Bibelauslegung scheint in den ökumenischen Gesprächen der letzten Jahre hinter anderen Themen zurückzutreten. 398 Während das ausgeh‐ ende 20. Jh. von der Erarbeitung der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtferti‐ gungslehre“ geprägt war, haben sich die verschiedenen ökumenischen Ge‐ spräche auf unterschiedlichen Ebenen zuletzt mit den Konsequenzen der Erklärung (z. B. der Tauferklärung von Magdeburg) befasst und dabei vor allem Wert auf die Frage nach der Kirche gelegt. 399 Die Autorität der Schrift im Hinblick auf die Kirche ist dagegen wenig als eigenes Thema in Erscheinung getreten, es blieb eher „im Schatten der großen Sachthemen, wie z. B. Taufe, Eucharistie und Amt.“ 400 Deshalb lässt sich der Stand der Diskussion recht knapp skizzieren. Wie gesehen entspringt das Schriftprinzip und die damit verbundene Abset‐ zung der lehramtlichen Autorität zur Schriftauslegung letztlich der kontrovers‐ theologischen Situation Luthers im Zuge des Ketzerprozesses gegen ihn 401 bzw. der Frontstellung der altprotestantischen Orthodoxie gegen die sich reformie‐ rende, deshalb nun „römisch-katholische“ Kirche im Zeitalter des Konfessiona‐ lismus. 402 Im Grunde dreht sich der gegenwärtige Streit immer noch um die Sachfrage, wie die Auslegung der Schrift für die Kirche normativ erfolgen kann. Die „traditionelle Fragestellung nach dem Verhältnis von Schrift und Tradition [ist dagegen] nicht länger zu verfolgen.“ 403 Dass die Schrift als „norma normans non normata“ außer Frage steht, ist der römisch-katholischen Theologie voll bewusst 404 und ihrerseits bereits ein ökumenisch gewichtiges Ergebnis der bis‐ herigen Diskussion bzw. ein wichtiges Fundament der weitergehenden Ge‐ spräche. 405 „Sola Scriptura“ auf der einen und „Schrift und Tradition“ auf der anderen Seite sind folglich als „konfessionelle Akzente innerhalb des umfas‐ 112 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="113"?> 406 Böttigheimer, Bibel, 255. 407 Böttigheimer, Bibel, 255. 408 Vgl. zur Darstellung der Arbeitsergebnisse des Kreises Lauster, Prinzip, 388-400. Zur früheren Diskussion vgl. Wenz, Schriftprinzip, 304-316. 409 Vgl. zum Überblick über die verschiedenen Probleme der ökumenischen Diskussion zum Schriftprinzip Böttigheimer, Bibel, 286-310. 410 Böttigheimer, Bibel, 293. „Pastor Aeternus“ bildet in mehrfacher Hinsicht ein zentrales Problem des ökumenischen Dialogs, im vorliegenden Zusammenhang ist besonders gewichtig, dass „die katholische Position hinsichtlich der Authentizität und Unfehlbar‐ keit des kirchlichen Lehramtes von keiner anderen Konfessionskirche geteilt“ (Böttig‐ heimer, Bibel, 297) wird. Folglich konzentrieren sich die ökumenischen Bemühungen auf diesen Bereich. senden Überlieferungsgefüges“ 406 erkannt und bilden „keinen kirchentrenn‐ enden Dissens mehr.“ 407 Die schroffe Frontstellung zwischen evangelischer und römisch-katholischer Theologie ist also nicht mehr gegeben. Im Gegenteil haben sich viele Punkte gezeigt, in denen zumindest auf der Ebene der theologischen Diskussion - nicht unbedingt der lehramtlichen Rezeption - Konsens erzielt werden konnte. Einen Höhepunkt gegenseitiger Verständigung stellt sicherlich das abschließende Do‐ kument „Verbindliches Zeugnis III “ ( VZ III ) des „Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen“ von 1998 dar, 408 das sich wesentlich von Gedanken der IBK leiten lässt. Im vorliegenden Zusammenhang ist dabei interessant, wie VZ III die Frage der Autorität angeht. 409 Das grundlegende Problem ist in diesem Kontext die Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit durch das 1. Vatikanum, das auch auf katholischer Seite als Problem empfunden werden kann, da ein „solch zentralistisches und absolutistisches System […] sich freilich weder von der Schrift, noch von der Tradition der Kirche zwangsläufig nahe“ 410 legt. Dieses Problem versuchen die Dialoge anzugehen, indem sie den Sensus Fidelium stark in den Vordergrund spielen und die päpstliche Autorität von diesem abhängig machen wollen. Bereits IBK nimmt die Spur der Dogmatischen Konstitution Lumen Gentium 12 auf und bestimmt, dass alle Glieder der Kirche ihre Rolle beim Interpretati‐ onsprozess spielen müssen ( IBK 86). Der Gedanke, wonach alle Glieder der Kirche im Interpretationsprozess mit dem Heiligen Geist begabt werden, sagt aus, dass der Geist nicht nur das Lehramt exklusiv mit Erkenntnis erfüllt. Im Gegenteil: Weil alle Glieder mit dem Geist begabt sind, dürfe das Lehramt nur in der Gemeinschaft der Kirche und nur um den gemeinsamen Glauben „amt‐ lich“ auszudrücken, die Schrift verbindlich „in letzter Instanz“ interpretieren ( IBK 89). IBK öffnet den Entscheidungsprozess also bereits in einer fast demo‐ kratisch anmutenden Weise. 113 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="114"?> 411 Kursiv im Original. 412 Vgl. Böttigheimer, Bibel, 306. 413 Böttigheimer, Bibel, 307. 414 Diese „Lösung“ scheint weniger überzeugend als die Frage nach dem Wesen und dem Träger des Lehramts, da sie mit der Praxis der Dogmenentwicklung argumentiert, nicht aber eine Lösung auf theoretischer Ebene zeigt. Diese Vorgaben nimmt VZ III auf und differenziert zunächst den Begriff des „kirchlichen Lehramtes“ aus: So soll von einem „gegliederten Lehramt“ gespro‐ chen werden ( VZ III 231), in das auch Laien in verschiedener Form integriert werden können. Die ordinierten Amtsträger sind in dieses Lehramt einge‐ bunden und können „nur im Gefüge des gesamtes Volkes […] recht verstanden werden.“ ( VZ III 231) In der Ausübung ihres Lehramts seien die Bischöfe deshalb „auf den diachronen und synchronen Konsens der Kirche verwiesen“ ( VZ III 234), was zur Folge hat, dass auch der Papst auf diesen Konsens angewiesen ist. VZ III 235 will also die „irreformablen“ Lehrentscheidungen, die der Papst laut Pastor Aeternus treffen kann, lediglich „im juristischen Sinn“ verstehen. Es ginge lediglich darum, „jegliche Rechtsinstanz über dem Papst auszu‐ schließen.“ 411 Der Papst könne aber keine Interpretation als unfehlbar in Kraft setzen, „die nicht durch den Konsens der geistgeleiteten Gesamtkirche als wahr bezeugt wird.“ ( VZ III 235) Die historisch und gegenwärtig festzustellende „Dis‐ krepanz zwischen den richtigen Prinzipien und der konkreten Ausübung der kirchlichen Lehrverantwortung“ wird von VZ III 242 zugegeben, spricht aber nicht für die theoretisch mögliche Anerkennung der verschiedenen Positionen in einem differenzierten Konsens. Das zweite Problem, das mit „Pastor Aeternus“ im vorliegenden Zusammen‐ hang für die Ökumene gegeben ist, liegt in der Infallibilität der Interpretation. Die Frage nach der Autorität dessen oder derer, die eine normative Interpreta‐ tion vorlegen können, verschiebt sich dann auf die Autorität der Aussage. Aus evangelischer Sicht steht jede Lehrentscheidung unter einem „Verbindlichkeits‐ vorbehalt“ ( VZ III 229), es ist also prinzipiell möglich, Interpretationen unter dem Eindruck neuer Erkenntnisse zu revidieren. 412 Eine unfehlbare Aussage des Papstes im katholischen Kontext kann aber nicht einfach aufgehoben werden: „Kirchliche Lehrentscheidungen, die einen Anspruch auf Letztverbindlichkeit erheben, können keiner grundlegenden Veränderung unterzogen werden.“ 413 VZ III 238 geht dieses Problem an, indem Letztverbindlichkeit nicht gleich gesetzt werden soll mit „zeitlos oder unveränderlich“. Vielmehr seien auch die lehr‐ amtlich bereits getroffenen Aussagen historisch bedingt und deshalb immer wieder zu überprüfen. 414 114 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="115"?> 415 Vgl. Lauster, Prinzip, 398: „Der Ökumenische Arbeitskreis entfaltet damit ein ökume‐ nisches Schriftverständnis, das tatsächlich das Potential eines weitreichenden Kon‐ senses in sich trägt.“ 416 Problematisch im Bezug auf den Sensus Fidelium ist nicht nur die Frage, wie dieser praktisch erhoben werden kann, sondern auch die Tatsache, dass er „im Kirchenrecht bislang sehr ungenügend verankert“ (Böttigheimer, Bibel, 295) ist. 417 Lauster, Prinzip, 397. Beide skizzierten Probleme scheinen durch VZ III erfolgreich gelöst. Die Frage nach dem Träger der Autorität wird durch den Verweis auf den Konsens der Gesamtkirche auf katholischer Seite gelöst, indem die für die evangelische Seite nicht akzeptable, weil absolutistische Machtfülle des Papstes in Lehrfragen auf alle Gläubigen verteilt wird. Dies kommt dem allgemeinen Priestertum auf evangelischer Seite nahe. Weiter kann dieser Konsens mit dem Konsens der Synode auf evangelischer Seite verglichen werden, wobei hier noch zu klären wäre, „ob Synoden auch eine Verantwortung für Lehre zukommt“ ( VZ III 228), was de facto der Fall ist, aber nicht allgemein in jeder evangelischen Kirche verfassungsrechtlich niedergelegt ist. Auch das Problem der infalliblen Aussagen wird durch den Verweis auf die Praxis der katholischen Kirche gelöst. Deshalb lassen sich nach VZ III genug Parallelen zwischen dem evangelischen und katholischen Interpretationspro‐ zess finden, um einen Konsens erklären zu können. 415 Denn immerhin beruht in diesem Modell die Interpretation immer auf dem Konsens der Mehrheit, 416 er ist von diesem abhängig und wird lediglich von verschiedenen Institutionen (Sy‐ node, Papst) festgestellt. Die entscheidende Autorität zur normativen Interpre‐ tation läge dann bei der jeweiligen Interpretationsgemeinschaft. Der gemein‐ same Träger von Offenbarung und Interpretation wird im Heiligen Geist gesehen, der die einzelnen Gläubigen und dadurch auch die Kirche als Ganze „zum Zeugnis des Evangeliums begabt und ermächtigt.“ ( VZ III 248) Die letztlich entscheidende Autorität in der Kirche stellt damit der Geist dar, durch den auch „die Autorität der Heiligen Schrift als die für alle Zeiten maßgebliche schriftliche Gestalt der lebendigen apostolischen Überlieferung des Evangeliums in Ver‐ kündigung und Lehre der Kirche erkannt“ ( VZ III 248) wird. Somit rezipiert VZ III den Testimonium-Gedanken als entscheidendes Fundament der Schriftauto‐ rität und formuliert diesen reformatorischen Zugang auf eindrucksvolle Weise neu. Sollte dies von Seiten der katholischen Kirche lehramtlich rezipiert und in dieser Form bestätigt werden, „dann wäre offensichtlich auch jener letzten Bas‐ tion ökumenischer Kriegserklärungen ihr Schrecken genommen.“ 417 Dies steht allerdings seit 1998 noch aus. 115 3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive <?page no="116"?> 418 Böttigheimer, Fundamentaltheologie, 164. 419 Vgl. Böttigheimer, Bibel, 300: „Wie lässt sich die Autorität und Selbstdurchsetzungskraft der inspirierten Heiligen Schrift mit dem Anspruch des nicht-inspirierten kirchlichen Lehramtes auf Authentizität und Unfehlbarkeit vereinbaren? “ 420 Vgl. Müller, Dogmatik, 63. 421 Verbindliches Zeugnis I, 396. 422 Müller, Dogmatik, 64. 423 Müller, Dogmatik, 64. Müller belegt seine Bestimmung mit den Verweis auf DV 10: „Es zeigt sich also, daß die Heilige Überlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche gemäß dem überaus weisen Ratschluß Gottes so miteinander verknüpft und einander zugesellt sind, daß das eine nicht ohne die anderen besteht und alle zusammen, jedes auf seine Weise, durch das Tätigsein des einen Heiligen Geistes wirksam zum Heil der Seelen beitragen.“ Von daher gilt als Stand der Diskussion: „Die richtige Interpretation der Hl. Schrift [ist] ein ökumenisch bislang noch nicht gelöstes Problem, denn dieselben wissenschaftlichen Methoden führen zwar zu ähnlichen exegetischen Ergeb‐ nissen, die jedoch nicht selten in unterschiedliche, teils unvereinbare Positionen münden (…), was wiederum mit einem unterschiedlichen Vorverständnis bzw. einer unterschiedlichen Verhältnisbestimmung von historisch-kritischer und dogmatischer Interpretation zusammenhängt.“ 418 Insbesondere ist fraglich, ob die biblischen Texte eine kritische Funktion im Gegenüber zur Kirche ein‐ nehmen können, was in der orthodoxen Theologie undenkbar und derzeit auch im römisch-katholischen System wenig wahrscheinlich scheint. 419 Denn dort scheint trotz der Ausführungen von Dei Verbum immer noch klar zu sein, dass es der Auftrag der Kirche ist, „über den wahren Sinn und die Interpretation der Heiligen Schriften zu urteilen“ ( DH 1507) - so das Konzil von Trient. 420 Von daher bleibt trotz aller ökumenischer Annäherungen im Hinblick auf die autoritative Stellung der Schrift zu fragen, „ob auf der einen Seite eine kritische Funktion der buchstäblich auszulegenden Schrift auch im Verhältnis zu Lehr‐ aussagen des kirchlichen Lehramtes anerkannt oder aber bestritten wird und ob auf der anderen Seite eine Funktion des Verkündigungsamtes der Kirche für die Schriftauslegung bejaht oder verneint wird.“ 421 Gerade von römisch-katholi‐ scher Seite scheint die Schrift „die naturgemäß mit ihrem ,Resonanzraum‘, dem kirchlichen Leben, zusammenzudenken ist“, 422 so nicht mehr als kritische In‐ stanz der Kirche gegenübertreten zu können: „Die Bibel kann darum nicht wie eine von der Kirche losgelöste Autorität gesehen werden, die man von außen gegen die Kirche in Stellung bringen könnte.“ 423 Hier scheint doch noch ein Gegensatz zwischen römisch-katholischer und evangelischer Position greifbar zu sein, der auch durch die verschiedenen Lehr‐ gespräche nicht gänzlich überwunden ist. Letztlich geht es um die Frage, 116 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="117"?> 424 Thönissen, Zeitalter, 83. „welche Funktion der Kirche und ihrem mit der Lehrverkündigung beauftragten Amt bei der Auslegung der Schrift zukommt.“ 424 Es wäre deshalb wünschenswert, gemeinsam eine ökumenische Lehre von der Schrift und ihrer Bedeutung für die Kirche zu entwickeln, da so ein Ausweg aus den konfessionellen Sackgassen im Streit um die Kirche und ihre Ämter auf der Basis einer gemeinsamen Diskussionsgrundlage und -methode gefunden werden könnte. 4. Ertrag: Leitfragen für die exegetischen Untersuchungen Die Autorität der Schrift ist in verschiedenen Zusammenhängen gegenwärtig in der Diskussion. Die Auseinandersetzungen, die sich vor allem auf dem weiten Feld der Ethik abspielen, zeigen erstens, dass die Schrift keine allgemeine ge‐ sellschaftliche Geltung mehr beanspruchen kann, und zweitens, dass sie in den kirchlichen Kreisen, in denen sie noch Beachtung findet, zwar grundsätzlich als Autorität akzeptiert zu sein scheint, faktisch aber doch ganz anders gehandhabt wird. Nicht sie selbst steht dort in Frage, aber der Umgang mit ihr. Dies ist historisch bedingt und lässt sich von der Genese des Schriftprinzips her erklären. Aus der Konfliktsituation der Reformationszeit entsteht die Frage nach der letztgültigen Autorität in der Kirche und im Glauben. Da die Bibel ein Buch wie jedes andere ist, das gelesen und verstanden werden will, bleibt die entscheidende Frage, welchen Stellenwert es im Rahmen der theologischen und ethischen Theoriebildung einnehmen kann. Indem die lehramtliche Autorität als Letztinstanz von protestantischer Seite abgelehnt wird, entsteht im Zirkel des Verstehens eine Leerstelle. Dies ist im exegetischen Rahmen eigentlich un‐ problematisch, da hier das Sinnpotential der Texte als unendlich aufgefasst und dies auch gut ausgehalten werden kann, doch ist dies in Bezug auf die Praxis des Glaubens unbefriedigend. Gerade wenn die Bibel eine Rolle spielen soll - so der Konsens der christlichen Kirchen -, muss sie in die Diskussion um Konfliktfelder eingebracht werden. Ein unendliches Sinnpotential lässt hier keine Entscheidungspräferenzen er‐ kennen. Der infinite Zirkel des Verstehens muss zumindest für eine gewisse Zeit und unter einem gewissen Vorbehalt unterbrochen werden, indem eine Ent‐ scheidung gefällt wird. Indem nun das Lehramt in der Folge der reformatori‐ schen Theologie der letztgültigen Kompetenz zur Entscheidung enthoben und die Bibel nun als Schrift an dessen Stelle inthronisiert wurde, entsteht ein Va‐ 117 4. Ertrag: Leitfragen für die exegetischen Untersuchungen <?page no="118"?> kuum der normativen und autoritativen Auslegung, das ein Buch nicht füllen kann. Das führt dazu, dass die Bibel zur Heiligen Schrift stilisiert wurde, die auf fast übernatürliche Weise das leisten soll, was sonst kein normales Buch kann: die Selbstauslegung. Von daher ist die Entwicklung zum Schriftprinzip der Alt‐ protestantischen Orthodoxie absolut folgerichtig, doch führt sie die Autorität der Schrift letztlich an ihr Ende. Die Aufklärung führt die Schrift wieder zur Bibel zurück. Sie reißt das grund‐ sätzliche Problem auf, das gegenwärtig immer noch diskutiert wird. Wenn die Bibel erst zur Schrift gemacht werden muss, dann muss es auch jemanden geben, der dies tut. Hat derjenige dann nicht auch die Kompetenz zur autoritativen Auslegung? Und steht er dann damit nicht über der Schrift? Diese Frage führt in der Flucht des Gedankens genau in die ökumenische Diskussion der Gegen‐ wart. Dabei lassen sich verschiedene Konfliktlinien erkennen. Massiv stellt sich vor allem die Diskussion mit der evangelikalen Theologie dar, die sich den Einsichten der historischen Forschung weitgehend verweigert. Hier scheint ein Dialog kaum möglich, was deshalb dramatisch erscheint, weil sich der Einfluss evangelikalen Gedankenguts weltweit tendenziell zu vergrö‐ ßern scheint. Dies zeigt nicht nur die wachsende Zahl von neopentekostalen Gruppierungen, sondern auch der wachsende Einfluss von evangelikalem Ge‐ dankengut in den klassischen Konfessionsfamilien. Die Verweigerung des Dialogs führt beide Seiten letztlich in verhärtete Front‐ stellungen, die die Verständigung erheblich erschweren. An ethischen Konflikt‐ linien bricht diese misslungene Kommunikation gut sichtbar auf und verhindert gemeinsame Positionen. Diese haben verschiedene, oft kulturell bedingte Stand‐ punkte, lassen sich in der Tiefe aber oft auch mit einer unterschiedlichen Hal‐ tung zur Schriftautorität erklären. Als „liberal“, „fundamental“, „bibeltreu“ oder „konservativ“ etikettierte Positionen unterscheiden sich eben auch im Umgang mit der Bibel. Im Verbund mit nichttheologischen Faktoren tendiert der Dialog über strittige Themen deshalb in Richtung Konfrontation und letztlich Abbruch. Die vorgeführten Beispiele um die Frauenordination oder das christliche Fami‐ lienbild zeigen, wie verhärtet sich die Fronten oft gegenüberstehen und kaum noch Dialog möglich ist. Offensichtlich tendieren die verschiedenen Gruppen dann zum Rückzug auf das eigene Milieu. Die erste Aufgabe, die einer exegetischen Untersuchung zur Schriftautorität erwächst und im Rahmen der akademischen Theologie im Gefolge der Aufklä‐ rung ob der geringen Erfolgsaussichten oft nicht mehr angenommen wird, stellt 118 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="119"?> 425 Auch Luz / Söding / Vollenweider, Kommentar, 13, nennen als eine „Frontstellung“ der Exegese heute, dass „die Sogwirkung fundamentalistischer Bibellektüren markant zu‐ genommen“ hat. Ähnlich konstatiert Bedford-Strohm, Bedeutung, 26-27: „Die ,Grenz‐ verläufe‘ der Diskussionen scheinen sich zu verschieben - gewichtiger als die konfes‐ sionellen Differenzen oder Verwerfungen scheinen die Gräben zwischen den biblizistischen und den aufgeklärten Zugängen zu den Religionen zu werden.“ 426 Immerhin - so meinen Luz / Söding / Vollenweider, Kommentar, 14 - könne die Beto‐ nung der wirkungsgeschichtlich orientierten Exegese der orthodoxen Kirche dazu ver‐ helfen, „sich aus den engen Mauern eines neupatristischen Traditionalismus zu befreien und uralte orthodoxe Anliegen mit modernen wissenschaftlichen Konzepten zu ver‐ binden.“ Die Frage ist nur: Will die Orthodoxie das? sich also in Richtung der evangelikalen Theologie. 425 Hier gilt es zu fragen, ob die Schrift selbst sich wirklich als absolute Autorität sieht, die praktisch mit Christus selbst zusammenfällt. Obgleich die Erwartungen in diesem Gesprächs‐ prozess nicht zu hochgeschraubt werden sollten, kann hier im Vorgehen dieser Untersuchung ein Ansatzpunkt gesehen werden, da die evangelikale Theologie ja selbst bei der Schrift ansetzen und nur deren Stimme zulassen will. Von daher liegt ein gemeinsamer Ausgangspunkt vor, der in der Durchführung sich dann natürlich erheblich unterscheidet. Aber als gemeinsame Frage kann immerhin formuliert werden: Erhebt die Bibel den Anspruch Schrift zu sein? Erheben die Texte den Anspruch auf Autorität? Muss man der Schrift wirklich bedingungslos gehorchen? Fordert sie das? Kann man das überhaupt? Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die abendländische Kirche - nun abgesehen von den evangelikalen Spielarten - selbst in der konfessionellen Abgrenzung von evangelisch und römisch-katholisch einen engeren Zusam‐ menhalt aufweist als dies im Hinblick auf die Ostkirche zu verzeichnen ist. Die Frage der Schriftautorität, die im Westen heftig diskutiert wird, stellt sich für die orthodoxe Tradition - wie vorgeführt - gar nicht in solcher Schärfe. Auch lässt sich nicht der Wunsch erkennen, die Frage zum Diskussionsgegenstand zu erheben. Die Harmonie zwischen Schrift und kirchlicher Tradition steht hier im Vordergrund und eine historische Erforschung der Schrift ist demnach möglich, aber eigentlich nicht primärer Gegenstand des Interesses. Von daher lässt sich als Frage formulieren, ob die Schrift selbst in sich die Harmonie aufweist, die sie gemeinsam mit der Tradition von der Ostkirche zugewiesen bekommt. Vor‐ dringlich ist dies aber für die vorliegende Untersuchung nicht, da dies zu deutlich in den Raum der Patristik ausgreift. 426 So bleibt als Horizont dieser Arbeit, in dem die exegetische Untersuchung verankert ist, vor allem die Diskussion im evangelischen und römisch-katholi‐ schen Kontext. Hier zeigt sich ein erstaunliches Bild. 119 4. Ertrag: Leitfragen für die exegetischen Untersuchungen <?page no="120"?> 427 Luz / Söding / Vollenweider, Kommentar, 12. 428 Schmeller, Wir, 82. Weiter betont Schmeller, Wir, 82, richtig: „Das heißt natürlich nicht, dass der Umgang mit dem Text nicht mehr von unterschiedlichen Vorverständnissen geprägt würde. Aber diese Vorverständnisse sind innerhalb der jeweiligen Konfession mittlerweile so vielfältig, dass, soweit man in der Exegese überhaupt von ,Lagern‘ spre‐ chen kann, die Grenzen zwischen diesen Lagern jedenfalls nicht mit den Konfessions‐ grenzen zusammenfallen.“ Überhaupt scheinen solche Grenzen sich kaum noch an Konfessionen zu orientieren, sondern an ethischen Fragen. Siehe Kapitel II.1. 429 Luz / Söding / Vollenweider, Kommentar, 13. Auf der Ebene der akademischen Exegese ist ein großer wissenschaftlicher Konsens festzustellen. Eine große Frucht dieses Konsenses bildet das Kommen‐ tarwerk des „Evangelisch-Katholischen Kommentars“, das in der Wirkungsge‐ schichte des 2. Vatikanum gesehen werden muss. Hier gelingt in der Tat eine an der Sache orientierte „Verständigung über die Konfessionsgrenzen hinweg.“ 427 Evangelische und römisch-katholische Ausle‐ gung unterscheidet sich kaum noch hinsichtlich ihrer Konfession. „Bei exege‐ tischen Diskussionen ist heute kaum erkennbar, wer zu welcher Kirche ge‐ hört.“ 428 Im Rahmen der exegetischen Methodik wird diese Grenze prinzipiell aufgehoben. Doch ist auch analog zu den ethischen Diskussionen und deren nichttheologischen Komponenten zu bemerken: „Gerade im internationalen Austausch der Bibelforschenden fällt auf, dass die jeweilige kulturelle, regionale und akademische Sozialisierung viel stärkere Prägungen erzeugt als überkom‐ mene konfessionelle Gemarkungen.“ 429 Doch lassen sich Fortschritte nicht nur auf der pragmatischen Ebene zeigen. Auch theologische Lehrgespräche lassen einen Konsens aufscheinen, der alte kontroverstheologische Frontstellungen überwunden hat. Die Frontstellung von „Allein die Schrift“ gegen „Schrift und Tradition“ hat sich auch dogmatisch als konfessionelles Konfliktklischee erwiesen und die Schrift wird gemeinsam als „die höchste Richtschnur“ (Dei Verbum 21) des christlichen Glaubens angesehen. Harte dogmatische Setzungen - etwa die In‐ fallibilität des Papstes - können im theologischen Dialog abgefangen werden, ohne exegetisch voll geklärt sein zu müssen. So wird die päpstliche Gewalt in den Konsens der Gesamtkirche integriert und die faktische Diskrepanz zwischen lehramtlichen Verlautbarungen und lehramtlichen Handeln auf der einen Seite und der theologischen Diskussion auf der anderen Seite zugegeben. Hier bre‐ chen dann eher innerkonfessionelle Konflikte auf, die sich als Gegensatz zwi‐ schen lehramtlicher Autorität und akademischer Forschung bzw. als Konflikt innerhalb der theologischen Disziplinen bestimmen lassen. Es wirkt, als seien die theologischen Differenzen in Sachen Schriftautorität weitgehend geklärt und harrten nur noch der lehramtlichen Absegnung. 120 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion <?page no="121"?> 430 Bedford-Strohm, Bedeutung, 19. Die Zitate im Zitat aus dem Katechismus der Katholi‐ schen Kirche, Nr. 113, und aus Dei Verbum 12,3. 431 Vgl. Theobald, Amt, 119: „Die Frage nach dem ,Kirchlichen Amt‘, seiner Gestalt und Begründung gehört zu den Fragen, die ökumenisch nach wie vor strittig sind und eine substantielle Annäherung der römisch-katholischen Kirche und der Kirchen der Re‐ formation blockieren.“ Allein die Frage nach der Autorität in der Kirche bleibt offen, denn hier kehren die eingangs bereits skizzierten, grundlegenden kontroverstheologischen Set‐ zungen mit Macht zurück. Die Frage nach dem Stellenwert der Schrift als Prinzip der Theologie kommt neu zur Sprache: „Trotz aller Annäherungen im ökume‐ nischen Gespräch besteht weiterhin ein theoretischer Gegensatz zwischen einem Verständnis der Heiligen Schrift, die ,in der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche zu lesen ist‘ und damit ,letztlich dem Urteil der Kirche‘ unter‐ steht - und einem Verständnis, das in erster Linie zwischen dem göttlichen Wort und jeder menschlichen Interpretation dieses Wortes unterscheidet.“ 430 Auch die Amtsproblematik, die ja in viele konfessionelle Streitfelder hinein‐ spielt, zeigt sich hier. 431 Daraus ergeben sich konkrete Fragen, die konfessionell unterschiedlich beantwortet werden: Hat die Kirche als Lese- und Interpretati‐ onsgemeinschaft der Schrift eine Hoheit über ihre Deutung? Wenn die Kirche schon die Bibel zur Schrift erhebt, dann müsste sie diese doch eigentlich auch autoritativ auslegen dürfen. Und wenn dies zutrifft: Ist diese Hoheit in einem Amt konzentriert oder kommt sie einer Gemeinschaft zu? Damit verbinden sich weitere Fragen nach der Verbindlichkeit von Schrift und deren Auslegung. Kann es eine allgemein verbindliche, autoritative Ausle‐ gung der Schrift geben, vielleicht sogar eine infallible Interpretation? Diese Fragen werden nun im dritten Teil an die Texte selbst herangetragen. Sie stehen als Leitfragen im Hintergrund der exegetischen Untersuchungen. 121 4. Ertrag: Leitfragen für die exegetischen Untersuchungen <?page no="122"?> 1 Obligatorisch ist der Hinweis, dass der Konvention gefolgt wird, wenn der Name „Lukas“ zur Bezeichnung des Autors verwendet wird. Allerdings ist auch richtig: „Da Lukas kein Apostel war, kann der Name wirklich authentisch sein.“ (Pokorný / Heckel, Einleitung, 530) 2 Eine Auflistung der einzelnen Probleme findet sich z. B. bei Minear, Theo, 133, der fest‐ stellt: „Unfortunately the terms of the preface are highly ambiguous.“ 3 Besonders eindrücklich klagt Van Unnik, Once, 7, darüber, wie oft dieser Text unter‐ sucht wurde: „Has not everything that can be said been said by now? “ 4 Vgl. die ausführliche Besprechung bei Bauspieß, Geschichte, 173-247. 5 Vgl. Cadbury, Preface, 490: „The form of the preface should be considered in the light of contemporary Hellenistic literature.“ Ausführlich wird dies diskutiert bei Alexander, Preface. Baum, Historiografie, listet viele Vergleichstexte auf kurzem Raum auf und bietet deshalb einen nützlichen Überblick. 6 Vgl. Bovon, Evangelium, 42: „Im Prolog Lk 1,1-4 legt Lukas seine literarische, ge‐ schichtliche und theologische Absicht offen dar.“ III . Die Autorität der neutestamentlichen Schriften 1. Die Autorität des Lukasevangeliums nach seinem Selbstzeugnis Der erste Metatext, der auf seinen Autoritätsanspruch hin untersucht werden soll, ist die Eröffnung des Evangeliums nach Lukas. 1 Der Autor des Evangeliums gibt hier zu erkennen, warum er das Evangelium schreibt. Allerdings legt er seine Motivation nur sehr knapp dar, sodass der Text viele Einzelfragen nicht in der von vielen Forschern gewünschten Deutlichkeit beantwortet. 2 Der Eingang des Evangeliums ist aber trotzdem in verschiedener Hinsicht so einzigartig und aussagekräftig, dass er zum oft diskutierten Gegenstand von Untersuchungen geworden ist, 3 die sich entweder mit dem Geschichtsverständnis des Lukas be‐ schäftigen, 4 in ihm einen Bezugstext für die Frage der literarischen Beziehungen neutestamentlicher Texte zur antiken Literatur sehen 5 oder ihn als Ausgangs‐ punkt für die Frage nach der lukanischen Theologie begreifen. 6 Um die Frage zu klären, welche Autorität Lukas seinem Evangelium beimisst, müssen zunächst die seit langem diskutierten Einzelfragen behandelt werden, damit die hier auf‐ geworfene Thematik plausibel diskutiert werden kann. Im ersten Schritt wird der Text kommentierend erläutert, um die wesentli‐ chen Entscheidungen verständlich zu machen, auf denen - als zweitem Schritt - die Beantwortung der hier eigentlich interessierenden Frage beruht. Im Gegen‐ satz zu den anderen beiden Texten, die hier untersucht werden, stellen die Ein‐ <?page no="123"?> 7 So Conzelmann / Lindemann, Arbeitsbuch, 343. Auch Rusam, Lukasevangelium, 194-195, denkt an einen judenchristlichen Verfasser. 8 So Schnelle, Einleitung, 315. 9 Wolter, Lukasevangelium, 7. 10 So Wolter, Lukasevangelium, 10; Schnelle, Einleitung, 316. 11 Vgl. Pokorný / Heckel, Einleitung, 534. 12 Vgl. Bovon, Evangelium, 32; Conzelmann / Lindemann, Arbeitsbuch, 344; Schnelle, Ein‐ leitung, 316; Rusam, Lukasevangelium, 199. 13 Schnelle, Theologie, 432 (kursiv im Original). leitungsfragen keine Probleme, die bereits vor den Erläuterungen zum Text dar‐ gelegt werden müssen. Die Untersuchung lässt die Frage offen, ob der Verfasser des Lk „Diaspora-Jude“ 7 oder Heidenchrist 8 war und bleibt bei der Erkenntnis stehen: „Aufs Ganze gesehen kommen wir aber nicht um die Feststellung herum, dass es in Bezug auf die Person des Verfassers von LkEv und Apg mehr Fragen als Antworten gibt und dass frühere Gewissheiten inzwischen verloren ge‐ gangen sind.“ 9 Ob das Evangelium in Rom 10 , Griechenland oder Kleinasien 11 entstanden ist, kann im vorliegenden Zusammenhang gleichfalls offenbleiben. Mit dem Kon‐ sens der Forschung nimmt die Untersuchung lediglich an, dass das Lk um 90 n. Chr. verfasst wurde. 12 1.1. Erläuterungen zu Lk 1,1 - 4 Lukas „schreibt eine zweibändige Ursprungsgeschichte des Christentums.“ 13 Ihr grundlegender Eingang in Lk 1,1-4 steht nun im Vordergrund des Interesses. A1 Ἐπειδήπερ πολλοὶ ἐπεχείρησαν A2 ἀνατάξασθαι διήγησιν περὶ τῶν πεπληροφορημένων ἐν ἡμῖν πραγμάτων, A3 καθὼς παρέδοσαν ἡμῖν οἱ ἀπ’ ἀρχῆς αὐτόπται καὶ ὑπηρέται γενόμενοι τοῦ λόγου, B1 ἔδοξεν κἀμοὶ παρηκολουθηκότι ἄνωθεν πᾶσιν ἀκριβῶς B2 καθεξῆς σοι γράψαι, κράτιστε Θεόφιλε, B3 ἵνα ἐπιγνῷς περὶ ὧν κατηχήθης λόγων τὴν ἀσφάλειαν. 1 Da es nun schon viele unternommen haben, 123 1. Die Autorität des Lukasevangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="124"?> 14 Vgl. Baker, Luke, 51, der die Satzkonstruktion auch graphisch darstellt. 15 Vgl. zur grammatikalischen Beschreibung auch Baum, Historiografie, 33. 16 Vgl. Fitzmyer, Gospel, 288. 17 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 58. Van Unnik, Once, 9, bemerkt dazu allerdings, dass Lukas mit diesem „master-sentence“ nicht nur einen äußerst gelungenen Satz ge‐ schrieben, sondern dass er den späteren Lesern damit „a nightmare of exegetical puzzles“ hinterlassen habe. 18 Vgl. Reiser, Sprache, 201; Bovon, Evangelium, 32. 19 Alexander, Preface, 104. eine Darstellung der Ereignisse zu verfassen, die sich unter uns zugetragen haben, 2 wie sie uns die überliefert haben, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren, 3 beschloss auch ich, nachdem ich allem von Anfang an sorgfältig nachgegangen war, es für dich, hochgeehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben, 4 damit du dich von der Zuverlässigkeit der Worte überzeugen kannst, über die du unterrichtet worden bist. Die Periode gliedert sich in eine Protasis (A) und eine Apodosis (B). 14 Durch ἐπειδήπερ wird ein Nebensatz eröffnet, der in erster Linie einen kausalen wie einen temporalen Aspekt ausdrückt (A1). Er findet seine Ergänzung in einem mit Infinitiv (ἀνατάξασθαι) angeschlossenen zweiten Nebensatz (A2), der wie‐ derum durch einen dritten Nebensatz (καθὼς) erweitert wird. 15 Die Struktur zeigt eine dreigliedrige Parallelität zwischen den Teilen A und B. 16 Der Hauptsatz beginnt mit dem in der 3. Pers. Sg. Ind. Aor. Akt. verwendeten Verb δοκέω in Verbindung mit dem mit καὶ verschmolzenen ἐμοί (B1), wird zunächst durch ein Part. Perf. unterbrochen, um dann mit Infinitiv (γράψαι) weitergeführt in einem Finalsatz mit eingeschobenem Relativsatz zu enden. Die Periode gilt innerhalb des Neuen Testaments als rhetorisch und stilistisch gelungen gesetzter Satz, 17 manchmal sogar als das schönste Gefüge in diesem Rahmen. 18 Verglichen mit der sonstigen antiken Literatur wird allerdings Zu‐ rückhaltung geübt. Zuweilen scheint Lukas im Vergleich als Stilist kaum satis‐ faktionsfähig und seine „limitations as a writer of classical literary prose“ 19 werden betont, sodass er bewusst von der antiken Historiographie abgehoben 124 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="125"?> 20 Beide Zitate: Alexander, Preface, 105. 21 Baum, Historiografie, 54. 22 Ob im Prolog ein gescheiterter Versuch gesehen werden muss, Vorworte der klassischen Historiographie nachzubilden oder ob er eher der „scientific tradition“ zugeordnet werden muss, so Alexander, Preface, 105, kann hier außer Acht gelassen werden. Vgl. die Kritik bei Baum, Historiografie, 54. 23 Bauspieß, Geschichte, 180. 24 Einen breit angelegten Vergleich unternimmt Baum, Historiografie, passim. 25 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 58-59. 26 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 58. 27 Bauspieß, Geschichte, 181. 28 Eine exakte Zahl der „vielen“ zu ermitteln, ist von Lukas nicht intendiert und der his‐ torischen Forschung auch nicht möglich. Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 61. wird, deren „demands of periodic compositon“ er nicht beherrsche. Lukas scheine nicht einmal „fully in control of this formal style“. 20 Andererseits wird ihm sehr wohl attestiert, seinen Prolog „weitestgehend den Konventionen der antiken Historiografie“ 21 gemäß verfasst zu haben. Trotz diesen divergierenden Beurteilungen, deren Aussagekraft hier nicht Gegen‐ stand des Interesses sein soll, 22 stellt der Text zumindest den Versuch dar, sich über das, was im Fortgang des Evangeliums erzählt wird, eine gewisse Rechen‐ schaft abzulegen. Insofern belegt das Proömium, „dass der Verfasser seine eigene Perspektive ausdrücklich wahrnimmt und thematisiert.“ 23 Deutlich ist dabei, dass Lukas den Prolog durchaus parallel zu anderen Vor‐ worten verschiedener Werke der Antike bildet. 24 Gewisse Topoi sind deshalb zu beobachten, die das Verständnis des Satzes bedingen. 25 So sind die Verweise auf frühere Werke in einem Proömium genauso erwartbar wie der Einbezug von früheren Autoren und der Angabe der Autorenabsicht. Schon der Eingang scheint der antiken Konvention zu entsprechen, wenn durch den Kausalsatz begründet wird, warum der Inhalt des folgenden Textes Beachtung finden soll. Immerhin ist es die Aufgabe eines Proömiums, den Leser auf den Inhalt des Werkes neugierig zu machen 26 bzw. „dem Leser einen Ein‐ druck zu vermitteln, was ihn im Folgenden erwartet“. 27 Schon der Hinweis auf die Anzahl (πολλοὶ) derjenigen, die bereits vor ihm unternommen haben, über die geschilderten Ereignisse zu schreiben, 28 zeigt, dass der Gegenstand offen‐ sichtlich so bedeutend ist, dass ein weiteres Werk darüber gerechtfertigt scheint. Die Struktur des Textes zeigt dabei eine gewisse Parallelität zwischen den Gliedern A1 und B1, wenn die „Vielen“ mit dem „Ich“ des Autors und die jewei‐ ligen Unternehmungen analog gesetzt werden: So wie seine Vorgänger, so macht 125 1. Die Autorität des Lukasevangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="126"?> 29 Vgl. Bauspieß, Geschichte, 187. Vgl. auch Bovon, Evangelium, 34, der darauf auf‐ merksam macht, dass die „Vielen“ eher der literarischen Konvention entspringen als der Faktizität der lukanischen Realität. Wirklich „viele“ Vorgänger dürften Lukas kaum bekannt gewesen sein. 30 Entgegen dem Versuch von Hengel, Lukasprolog, 215, scheint es m. E. gleichermaßen aussichtlos, nach den „Vielen“ wie auch nach den „Augenzeugen“ zu fragen und diese exakt identifizieren zu wollen. 31 So z. B. Bovon, Evangelium, 35. 32 Vgl. Bovon, Evangelium, 34. 33 Kaum von der Hand zu weisen dürfte die Bemerkung von Bovon, Evangelium, 34, sein: „Wenn Lukas mit der Arbeit seiner Vorgänger einigermaßen zufrieden wäre, hätte er sich gewiß nicht die Mühe gemacht, ein neues Werk zu verfassen.“ 34 Vgl. Bovon, Evangelium, 30; Schnelle, Theologie, 433: Lukas „ist um Vollständigkeit, Genauigkeit und Solidität bemüht.“ sich auch Lukas daran, die Ereignisse aufzuschreiben. 29 Diese Struktur deutet darauf hin, dass Lukas sich nicht grundsätzlich von den Vorgängerwerken dis‐ tanziert. Durch die Erwähnung des ἐν ἡμῖν in A2 schließt er sich im Gegenteil mit früheren Autoren zusammen, 30 die damit die Voraussetzung des eigenen Werkes bilden. Zu fragen ist lediglich, ob Lukas daran denkt, durch seinen Text, die Vorgänger zu überbieten. 31 Hält man dies für möglich, könnte angesichts des im Lk erzählten Stoffes das Defizit vor allem in der Vernachlässigung des An‐ fangs liegen. Darauf kann das ἀπ’ἀρχῆς hindeuten. 32 Die Betonung, dass Lukas akribisch (ἀκριβῶς) vorgeht und seinen Stoff in eine besonders betonte Ordnung überführt (καθεξῆς), dürfte durchaus als Unterscheidungsmerkmal zu seinen Vorgängern angesehen werden, was wiederum die literarische Konvention be‐ fördert, nach der ein neues Werk in irgendeiner Form anders gefasst werden muss, um seine Daseinsberechtigung durch seinen Mehrwert zu belegen. 33 Dieser Wert liegt dann in dem Nutzen, den das Werk für seine Leser bringt. Vielleicht zielt Lukas darauf ab, die christliche Überlieferung durch seine Ver‐ schriftlichung auf eine neue qualitative Stufe zu bringen. 34 Allein die Existenz des Proömiums kann diese Vermutung stützen. Das Be‐ mühen um die Befolgung der antiken Konvention scheint die These zu unter‐ mauern, dass Lukas gegenüber dem in seinen Augen zwar authentischen, aber literarisch defizitären Überlieferungsstoff, der ihm vorlag, die Weiterentwick‐ lung zur dezidiert gewollten Literatur fördern wollte. Sein Text sollte deshalb wahrscheinlich nicht die Verlegenheit überbrücken, die mündliche Überliefe‐ rung zu unterstützen oder sie letztlich zu kompensieren, sondern seine Orien‐ tierung an der literarischen Konvention historiographischer und / oder natur‐ 126 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="127"?> 35 Diese Alternative muss im Zusammenhang der Untersuchung nicht diskutiert werden, vgl. aber immerhin den treffenden Hinweis von Wolter, Lukasevangelium, 60, nach dem die Erwähnung der „Ereignisse“ zeigt, dass die Leser sehr wohl „ein historiographisches Werk vor sich haben.“ Ausführlich diskutiert die Frage „historical or scientific“ Aune, Historic, passim. 36 Vgl. Byrskog, Story, 230, der betont: „it is surprising that the prologue contains no disqualification of other writers and their sources.“ 37 Vgl. Bauspieß, Geschichte, 187. 38 Dieses Verständnis ist bereits in der Alten Kirche vertreten worden. Vgl. Bauspieß, Ge‐ schichte, 189. 39 Vgl. Klein, Programm, 195, der die Verwendung der Verben „in malam partem“ als „Regel“ bei Lukas festhält. 40 Vgl. Bauspieß, Geschichte, 190. 41 Vgl. Radl, Evangelium, 27. 42 Vgl. Zahn, Einleitung II, 370, der betont, dass Lukas „die in seinem Vorwort sich wi‐ derspiegelnden Bedenken“ überwinden musste, um das eigene Werk anzugehen. 43 Vgl. Fitzmyer, Gospel, 292, der davon spricht, dass Lukas versucht, sein Evangelium „in his own better way“ zu verfassen, um den Ansprüchen seiner Gegenwart besser zu genügen als seine Vorgänger. wissenschaftlicher Werke 35 dient wohl dazu, die christliche Überlieferung durch eine exakte Weitergabe in schriftlicher Form zu sichern. Das wiederum muss nicht heißen, dass Lukas ausdrücklich seine Vorgänger kritisieren will. 36 Im Gegenteil scheint schon das καθὼς den Autor mit diesen zusammen zu schließen. 37 Das ἐπιχειρέω in A1 sollte deshalb nicht zwingend dahingehend verstanden werden, dass Lukas diesen zwar guten Willen, aber gleichzeitig auch ihr Scheitern attestiert, da sie lediglich versucht haben, die Geschehnisse richtig darzustellen, dies aber eben nicht erreicht haben. 38 Die Be‐ obachtung, dass das Verb bei Lukas immer dazu verwendet wird, eine geschei‐ terte Unternehmung zu beschreiben (Act 9,29; 19,13), 39 kann in diese Richtung deuten. Allerdings sind die Belege wohl zu wenige und zu deutlich von ihrem Kontext abhängig, um die Bedeutung des Verbs („etwas unternehmen“) ein‐ deutig bei jedem Vorkommen in eine negative Richtung zu lenken. 40 Bleibt man hingegen bei der Grundbedeutung, 41 ergibt sich, dass Lukas das Unternehmen seiner Vorgänger durchaus als legitim ansieht, vielleicht diese sogar als Berechtigung dafür heranzieht, selbst ein solches Werk zu schreiben. 42 Trotzdem ist es plausibel anzunehmen, dass er der Meinung ist, dass sie - zu‐ mindest seinen Ansprüchen - nicht insoweit genügen, 43 dass ein weiteres Werk 127 1. Die Autorität des Lukasevangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="128"?> 44 Dass Lukas mit der Erwähnung seiner Vorgänger eine „gemeinsame Traditionsgrund‐ lage“ benennen und einen „Zugang zu der gemeinsamen Tradition“ (so Bauspieß, Ge‐ schichte, 191) öffnen will, ist sicher richtig, doch scheinen diese Motive nicht allein hinreichend, um die Mühe eines weiteren Werkes zu erklären. Eine gemeinsame Tra‐ dition ist doch gerade dann gegeben, wenn man kein eigenständiges Werk der Tradition hinzufügt, sondern diese allenfalls kommentierend weiter überliefert. Die Eigenstän‐ digkeit des Evangeliums, das seinen Vorgängern gegenübertritt und diese verschweigt, weil er ihnen keine Aufmerksamkeit verschaffen will, (vgl. Eckey, Lukasevangelium 59), legt doch nahe, dass Lukas diesen gegenüber eine gewisse kritische Haltung ein‐ nimmt (mit Bovon, Evangelium, 34). Dass er sie „produktiv verarbeiten“ (Bauspieß, Geschichte, 191) wolle, zeigt doch nicht, dass er sie nicht kritisiert, sondern dass er sie in sein Werk integriert, also auf eine höhere Stufe hebt und sie dadurch in seinem Werk buchstäblich „aufhebt“. Vgl. Eckey, Lukasevangelium, 62. In jedem Fall ist sicher richtig: „Wer vorliegenden Werken ein eigenes an die Seite setzt, kann jene nicht in jeder Hin‐ sicht für unüberholbar halten.“ (Klein, Programm, 195.) Ähnlich sieht Theißen, Texte, 439, generell bei den Evangelien einen gewissen Exklusivitätsanspruch: Die Evangelien „wollen […] jedes für sich die einzige oder die maßgebende Darstellung der Geschichte und der Botschaft Jesu sein. Sofern andere Evangelien bekannt sind, werden sie subtil abgewertet: Der Autor des Lukasevangeliums schreibt selbstbewusst, viele andere hätten schon vor ihm versucht, eine Geschichte Jesu zu schreiben; aber seine Erzählung soll diese Versuche überbieten (Lk 1,1-4).“ 45 Bovon, Evangelium, 34. Vgl. auch Pokorný / Heckel, Einleitung, 482, die meinen, dass „Lukas seine Vorgänger mit kritischen Augen betrachtet haben“ muss. 46 Vgl. Schmithals, Evangelium, 18: „Lukas kritisiert die Arbeiten seiner Vorgänger, ohne die er gar nicht schreiben könnte, nicht, aber er hält sie im Blick auf seine Absichten nicht für ausreichend.“ 47 Alexander, Preface, 108. 48 Alexander, Preface, 109. unnötig wäre. 44 Deshalb wird man sicherlich Kritik konstatieren dürfen, wenn auch „diskret und zurückhaltend“. 45 Kritik an seinen und Anschluss an seine Vorgänger schließen sich also nicht aus. 46 Der Bedeutung der neuerlichen Unternehmung scheint Lukas auch sprach‐ lich Ausdruck verleihen zu wollen, indem er den Satz gravitätisch und würdevoll zu formulieren versucht, dabei im Ergebnis allerdings gerade dort das Gewicht des Satzes verstärkt, „where a more classical stylist might have preferred simp‐ licity“. 47 Das Streben nach einem beeindruckenden und förmlich klingenden li‐ terarischen Anfang zeigt direkt die Eröffnung mit ἐπειδήπερ, was lediglich eine Verstärkung des eigentlich eher gebräuchlichen ἐπειδή darstellt. 48 Der Versuch, den Eingang des Evangeliums gemäß der Bedeutung des er‐ zählten Inhalts auch sprachlich zu reflektieren, bedingt den weiteren Aufbau des Satzes. Die Verbindung des sich auf die πολλοὶ beziehenden Verbs ἐπιχειρέω mit der Infinitivergänzung ἀνατάξασθαι und dem als inhaltliche Ergänzung zu verstehenden Objekt διήγησις deutet ebenfalls in diese Richtung, mag wohl 128 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="129"?> 49 Alexander, Preface, 109, spricht von einem „sonorous effect“. 50 Alexander, Preface, 110. 51 Vgl. Bauspieß, Geschichte, 192; zum Begriff ausführlich Müller, Anspruch, passim. 52 Obwohl der Begriff der διήγησις kein terminus technicus der Historiographie sein muss, lässt sich zumindest in der Verbindung mit den erwähnten Ereignissen „eine gewisse Affinität der lk Formulierung zur Sprache hellenistischer Geschichtsschrei‐ bung“ (Wolter, Lukasevangelium, 62) beobachten. Vgl. Fitzmyer, Gospel, 292. 53 Vgl. Byrskog, Story, 231, der das Evangelium ansieht als „the outcome of the author’s reception of information from eyewitnesses and ministers of the word, of his active attempt to carefully ]…] familiarize himself with all that material and, finally, of his authorial creativity resulting in an orderly narrative.“ 54 Vgl. Bauspieß, Geschichte, 210. 55 Bauspieß, Geschichte, 193. Inwieweit Lukas damit „einen öffentlichen Anspruch“ (Bau‐ spieß, Geschichte, 193) artikuliert, bleibt abhängig von dem, was mit „öffentlich“ genau gemeint sein soll. Etwa eine Publikation für die heidnische Welt? Das scheint unwahr‐ scheinlich, da Lukas im Vorwort ja selbst das Vorwissen seiner Leser anspricht. Eine „Missionsschrift“ oder „schriftliche Selbstvorstellung“ dürfte das Evangelium nicht sein wollen. sogar auch einen gewissen onomapoetischen Effekt aufweisen. 49 Das zusam‐ mengesetzte Verb ἀνατάξασθαι verleiht dem Text weiter Gewicht, kann es doch „as a newly coined variant“ 50 des gebräuchlicheren συντάξασθαι angesehen werden, wodurch es darauf hinweist, dass der Erzählstoff nicht neu erfunden wurde, also keine Fiktion geschildert wird, sondern dass hier ein bewusster Bezug zu historischen Ereignissen gesucht werden soll. Die Ereignisse, um die es geht, werden deshalb auch bereits in A2, also im ersten durch das infinitve Verb eingeführten Nebensatz erwähnt. Bezeichnet werden diese mit dem an sich neutralen Begriff πρᾶγμα. Weil es sich um mehrere Ereignisse (πραγμάτων) handelt, die geschehen sind und aufgeschrieben werden wollen, müssen diese in eine sinnvolle Abfolge (διήγησις) gebracht werden. 51 Was Lukas also seinen Lesern vor Augen stellt, ist eine „narratio“, eine historische Erzählung, die als solche mit Lk 1,5 einsetzt. 52 Insofern schreibt Lukas Geschichte, wenn er die ihm überlieferten Erzählungen in einen konkreten Text setzt. 53 Die korrekte narrative Abfolge der Ereignisse dürfte ein wesentliches Mo‐ ment der Motivation des Textes darstellen, was auch die vielen Umstellungen gegenüber dem Erzählfaden des Markus im Evangelium selbst erklären kann. 54 Dabei lehnt er sich durchaus an hellenistische Geschichtsschreibung an „und signalisiert damit, dass er sein Werk im Horizont der gebildeten Welt ver‐ ortet.“ 55 Mittels des περὶ, das quasi Titel und Inhaltsangabe des Werkes anzeigt, gibt Lukas klar zu erkennen, welche Ereignisse er in den Blick nimmt. Es geht 129 1. Die Autorität des Lukasevangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="130"?> 56 Vgl. Bauspieß, Geschichte, 193. Ob es sinnvoll ist, Hypothesen darüber anzustellen, wie viele Quellen Lukas benutzte und welcher Art diese waren, kann im vorliegenden Zu‐ sammenhang außer Acht gelassen werden. Vgl. die Hinweise bei Bauspieß, Geschichte, 194. 57 Vgl. Bauspieß, Geschichte, 195-196. 58 Vgl. Alexander, Preface, 111. 59 Alexander, Preface, 113. 60 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 62. 61 Vgl. Bovon, Evangelium, 35. 62 Vgl. Alexander, Preface, 114, der daraus die Folgerung zieht, dass das Evangelium nicht für „,publication‘ on the open book-market“ bestimmt war. Diese Vermutung wird durch Lk 1,4 gestützt, da hier ein bereits unterwiesener christlicher Leser angesprochen wird. 63 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 62, unter Verweis auf BDR § 340. 64 Vgl. Eckey, Lukasevangelium, 59. 65 Vgl. Bovon, Evangelium, 35. ihm um die πραγμάτων, die sich um Jesus ereignet haben und die er in der Form des Markusevangeliums und weiterer Vorlagen kennt. 56 Die Tatsachen der Erzählung wiederum haben sich „unter uns“ zugetragen. Mit diesen A2 ergänzenden Aussagen sind Verständnisprobleme verbunden. 57 Zunächst scheint das Verb πληροφορέω in diesem Zusammenhang ungewöhn‐ lich, da es ähnlich wie ἀνατάξασθαι wahrscheinlich deshalb in dieser zusam‐ mengesetzten Form erscheint, um augenscheinlich aufgrund seiner bloßen Länge einen gravitätischen Eindruck zu erzeugen. 58 Allerdings ist damit die Frage nach seiner inhaltlichen Bedeutung nicht hinreichend geklärt. In Bezug auf die zu schildernden πραγμάτων kann vermutet werden, dass die Ereignisse durch das Verb selbst hervorgehoben werden sollen. Soll das „mysterious“ 59 Partizip Perfekt Passiv hier lediglich besagen, dass die Ereignisse, um die es geht, in der Gegenwart des Verfassers „abgeschlossen“ sind, 60 oder kann hier die in‐ haltliche Aussage intendiert sein, dass sich diese Ereignisse „erfüllt“ haben, 61 also ein Schema von Verheißung und Erfüllung im Hintergrund der Wortwahl steht? Grammatikalisch ist diese Frage nicht zu entscheiden, da insbesondere die zweite Annahme darauf angewiesen ist, dass beim Leser ein Vorwissen um dieses Schema vorausgesetzt werden kann, was wiederum in Bezug auf Lk 1,4 möglich sein kann, da dort ein bereits geschehener Unterricht erwähnt wird. 62 Immerhin deutet das Perfekt des Verbs auf die erste Alternative hin. 63 Das Passiv des Verbs könnte gleichzeitig in die Richtung der zweiten Möglichkeit deuten, wenn es als passivum divinum aufgefasst wird. 64 Im Horizont der inhaltlichen Ereignisse, die in bestimmter Weise die Erfüllung alttestamentlicher Erwar‐ tungen in der Person Jesu erzählen, kann also die zweite Variante insgesamt eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen, 65 ohne dabei aus den Augen zu verlieren, dass die Ereignisse um Jesus tatsächlich aus der Sicht des Lukas 130 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="131"?> 66 Mit Schürmann, Lukasevangelium, 5f; Vgl. Fitzmyer, Gospel, 292; Bauspieß, Geschichte, 196. 67 Vgl. Bauspieß, Geschichte, 197. 68 Vgl. Fitzmyer, Gospel, 289; Hengel, Lukasprolog, 203, der einen „Zeitraum von ca. 45-50 Jahren“ zwischen Lukas und den Augenzeugen annimmt. 69 Schürmann, Lukasevangelium, 8, spricht hier deshalb treffend von einem „eschatolo‐ gischen“ Wir. 70 Insofern charakterisiert Schürmann, Lukasevangelium, 8, die Verwendung des Prono‐ mens als „ekklesiologisches“ Wir. 71 Vgl. Bauspieß, Geschichte, 199, der erkennt, dass letztlich das Jesusgeschehen „die an‐ gesprochene Gruppe überhaupt erst begründet.“ (Kursiv im Original) abgeschlossen sind, nur deren Auswirkungen dauern bis in seine Zeit an. 66 Ob hier also ein heilsgeschichtliches Konzept gefunden werden muss oder ob le‐ diglich auf eine Geschichte zurückgeblickt wird, die vergangen ist, sollte deshalb nicht alternativ entschieden werden. Bei Lukas schwingt sicher beides mit. In der Geschichte, die er erzählt, ist erfüllt, was erwartet wurde, und es ist in dieser Zeitperiode auch gleichzeitig abgeschlossen. Die zweite, grammatikalisch nicht zu klärende Frage, ist die nach der Identität derer, unter denen sich die Ereignisse zugetragen haben. Die Wendung ἐν ἡμῖν stellt dabei lediglich klar, dass es zwischen dem Ich des Autors und der be‐ nannten Gruppe einen Zusammenhang gibt. Außerdem ist das Verhältnis zum zweiten ἡμῖν aus A3 zu klären. Handelt es sich um dieselbe Gruppe oder ist hier zu unterscheiden? 67 Betrachtet man diese Frage im Zusammenhang mit der Be‐ deutungsbestimmung des πληροφορέω, wird man daran denken dürfen, die Generationen zu unterscheiden, sie aber nicht zu trennen. Erst der Zusammen‐ hang mit A3 kann die Frage aber letztlich beantworten. Die Protasis wird in A3 durch καθὼς weiter ausgebaut und widmet sich nun den Vorgängern des Lukas. Abhängig von der Eröffnung des Satzes treten als Subjekt dieses Nebensatzes die αὐτόπται und ὑπηρέται auf, die den ἡμῖν die in A2 erwähnten πραγμάτων überliefern. So baut Lukas eine Verbindung auf zwi‐ schen den Ereignissen, über die er berichten will, und denen, die diese miterlebt haben. Gleichzeitig ordnet er sich selbst in die Gruppe ein, die die Ereignisse überliefert bekommen haben. Das ἡμῖν aus A3 setzt demnach eine Grenze zwi‐ schen den Augenzeugen und dem Autor, der zu denen gehört, die der nächsten Generation angehören. 68 Während in A2 die Gruppe gemeint ist, die Jesus selbst persönlich begegnet ist, unter denen sich die Ereignisse erfüllt haben, wodurch sie auch abgeschlossen sind, 69 dürfte in A3 deren Funktion als Träger der Über‐ lieferung bezeichnet werden. 70 Zu beiden Gruppen fühlt sich der Autor zuge‐ hörig, weil ihre Identität letztlich durch Jesus und die Überlieferung, die von ihm ausgeht, definiert ist. 71 Die Distanz, die Lukas historisch zu den Menschen 131 1. Die Autorität des Lukasevangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="132"?> 72 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 63. 73 Vgl. Bovon, Evangelium, 35. 74 Deshalb verweist Bovon, Evangelium, 43, zu Recht auf die Zuversicht, „daß die Kirche, die Augenzeugen und die Heilsereignisse als Einheit zusammengehören.“ 75 Deshalb ist zutreffend, dass Müller, Anspruch, 97, bemerkt: „Zusammenhangsbewusst‐ sein und die Vermittlung von Kontinuitätsbewusstsein … spielen insbesondere für das lukanische Doppelwerk eine zentrale Rolle.“ 76 Vgl. Hengel, Lukasprolog, 207, der den Hinweis auf die Augenzeugen als „erweiterten Erweis der Zuverlässigkeit“ erkennt. 77 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 63. hat, die Jesus erlebt haben, wird durch deren Erzählung, die wiederum weiter‐ getragen wird, so vollständig überbrückt, dass er sich in doppelter Weise in das „uns“ der Überlieferungsgemeinschaft einreihen kann. 72 Die Vergangenheit be‐ stimmt demnach die Gegenwart des Autors so, dass er sich und seine Leser als Teil einer Gemeinschaft versteht, deren Anfang in der Geschichte Jesu liegt. 73 Abstand und Distanz zwischen Lukas und seinen Lesern auf der einen Seite und Jesus und den Augenzeugen auf der anderen Seite sollen also die Gemeinschaft nicht trennen, die durch Jesus selbst begründet wurde. 74 Wenn sich also „unter uns die Ereignisse ereignet haben, die uns von denen überliefert wurden, die dabei waren“, dann wird damit explizit ausgesagt, dass selbst bei wechselnden Personen die Gruppe an sich durch die einmal erlebten, einmal überlieferten Ereignisse in ihrer Identität gleich bleibt. 75 Deshalb kann Lukas zweimal das ἡμῖν setzen, um die Kontinuität des Wesens der Gruppe auf‐ zuzeigen und gleichzeitig deutlich zu machen, was diese Kontinuität bestimmt. Lukas separiert sich selbst also nicht von den ἡμῖν, weder von den Augenzeugen, noch von seiner eigenen Überlieferungsgemeinschaft, sondern stellt sich be‐ wusst in diese Reihe und schöpft von daher seine Kenntnisse. So ist ausgesagt, dass er in der Konsequenz selbst Anteil an der Überlieferung der Augenzeugen hat, die durch ihre Überlieferung ihn in ihre eigene Funktion einbeziehen. Lukas selbst erhebt damit nicht den Anspruch, Augenzeuge gewesen zu sein, verleiht aber seinem Text durchaus deren Würde, da er ihre Überlieferung aufbe‐ reitet. 76 Problematisch ist der grammatikalische Bezug des γενόμενοι. Seine Stellung im Satz ist ungewöhnlich, da es die Genetivverbindung zwischen den ὑπηρέται und τοῦ λόγου stört. Soll die Stellung des Wortes anzeigen, dass zwischen den Augenzeugen der Geschehnisse um Jesus und denen zu unterscheiden ist, die später auch Diener seiner Botschaft geworden sind? 77 Historisch richtig dürfte an dieser Unterscheidung sein, dass nicht alle Augenzeugen auch wirklich nach dem Tode Jesu seine Anhänger geblieben sind. Doch diese sind ja generell damit aus dem Überlieferungszusammenhang ausgeschieden, den Lukas bereits etab‐ 132 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="133"?> 78 Vgl. Bauspieß, Geschichte, 201. 79 Wolter, Lukasevangelium, 63. 80 Vgl. Bauckham, Jesus, 123, der darauf hinweist, dass „these eyewitnesses became also ministers of the word only at a later stage.“ 81 Alexander, Preface, 119, bezeichnet sie ausdrücklich als „classical“. 82 Vgl. Bauckham, Jesus, 122, der von „a single group of people“ spricht. 83 Vgl. Bovon, Evangelium, 37; Schröter, Historiograph, 244. 84 Vgl. Schröter, Historiograph, 244: „Lukas läßt hier demnach anklingen, daß die Augen‐ zeugen der Geschichte Jesu später auch Zeugen für die Christusbotschaft wurden.“ So auch Hengel, Lukasprolog, 208. 85 Vgl. Bovon, Evangelium, 36, der zu Recht bemerkt, dass mit „Überlieferung“ keine dog‐ matischen Implikationen verbunden sind. Vgl. auch Eckey, Lukasevangelium, 60, der ebenfalls den technischen Sinn erkennt. 86 Vgl. Radl, Evangelium, 30; Bauspieß, Geschichte, 202. liert hat und sicherlich würde er sich selbst zu dieser Gruppe nicht in eine po‐ sitive Beziehung setzen wollen. Deshalb scheint diese Vermutung wenig über‐ zeugend. 78 Richtig daran ist allerdings, dass durch die Formulierung an sich „unterschiedliche Zeiträume“ 79 markiert werden, die als vor- und nachösterlich bezeichnet werden können. 80 Wenn die Beobachtung allerdings zutrifft, dass diese Stellung nur scheinbar ungewöhnlich ist, dann fallen die gemachten Vermutungen dahin. Ist diese Stel‐ lung häufiger anzutreffen, 81 dann darf kein Unterschied zwischen den Augen‐ zeugen und den Dienern gemacht werden. 82 Angezeigt ist dies weiterhin durch den gemeinsamen Artikel, der auf beide Gruppen zu beziehen ist. 83 Der gram‐ matikalischen Stellung widerspricht es also nicht, das γενόμενοι auf die beiden genannten Gruppen zu beziehen. Diese sind Augenzeugen und dann Diener des Wortes geworden, was relativ leicht einsehbar ist. 84 Möglich, aber nicht zwingend, ist die Vermutung, dass durch die Stellung des γενόμενοι ausgesagt werden soll, dass die Augenzeugen nur exakt aufgrund ihrer Augenzeugenschaft Diener geworden sind. Wichtig ist jedenfalls festzu‐ halten, dass diejenigen, die Jesus erlebt haben, jene sind, die seine Botschaft weitergetragen haben. Das παραδίδωμι ist demnach lediglich in einem techni‐ schen Sinn zu verstehen, wobei die mündliche Überlieferung der Zeugen in erster Linie gemeint sein wird. 85 Die Quellen des Lukas, die am Anfang der Überlieferungsgemeinschaft stehen, sind folglich doppelt legitimiert: durch ihre Augenzeugenschaft und ihre Funktion als Diener des Wortes. 86 Theologisch ist damit die wichtige Aussage getroffen, dass die Ereignisse, von denen erzählt wird, nicht in einer mytholo‐ gischen Vorzeit geschehen sind, sondern dass es sich bei der Geschichte Jesu um Geschehnisse handelt, die von identifizierbaren und bekannten Menschen be‐ 133 1. Die Autorität des Lukasevangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="134"?> 87 Vgl. Bauspieß, Geschichte, 202-203; Bauckham, Jesus, 119, demzufolge der Terminus „Augenzeuge“ auf „people who witnessed firsthand the events of Luke’s gospel story“ zu beziehen ist. 88 Vgl. Klein, Programm, 201. Die Verlässlichkeit der Überlieferung als Ziel der Nennung von Augenzeugen betont auch Van Unnik, Once, 14: „He who could claim to have been present at a certain event, was a generally accepted source of true information and he who received information from such a person, went safely.“ 89 Zu Recht kommentiert Bovon, Evangelium, 38, dass diese Annahme „allzu spitzfindig“ sein dürfte. 90 Dies vermuten Radl, Evangelium, 29, und Bauspieß, Geschichte, 204, unter Verweis auf Act 1,22; 10,37. Er bezeichnet die Taufe Jesu als „soteriologisch qualifizierten Anfang“ (kursiv im Original), sodass sich keine Spannung zum eigentlichen Anfang des Evan‐ geliums ergebe, das ja mit Geburts- und Kindheitsgeschichte einsetzt. Ob „von Anfang“ bei Lukas so präzise bestimmt werden kann und muss, scheint durch die Offenheit der Formulierung fraglich. 91 Generell ist die Warnung zu beachten, die „Extension … dieser beiden Bezeichnungen [Augenzeugen und Diener] nicht übergenau bestimmen zu wollen.“ (Wolter, Lukas‐ evangelium, 64) So auch Bauckham, Jesus, 121. 92 Vgl. Bauckham, Jesus, 117. Ihm folgt Zimmermann, Augenzeugenschaft, 231, der zeigt „dass in antiken Texten zwar von ,Augenzeugen‘ gesprochen wird, dass wir allerdings vorsichtig sein müssen, diese Redeweise mit unserem forensisch-historischen Konzept zu identifizieren.“ zeugt werden. 87 Durch deren Erleben der Ereignisse sind diese zu Dienern des Evangeliums geworden. Es gibt demnach einen klaren Anfang in Zeit und Raum, von dem her mit einer gewissen Verlässlichkeit die Überlieferung ihren Ur‐ sprung nahm. 88 Nicht ganz so klar scheint der Bezug des ἀπ’ἀρχῆς, das sich direkt an den Artikel anfügt, der beide Gruppen zusammenschließt. Soll hier dieser konkrete Anfang benannt werden? Ist historisch zu fragen, ob der Augenzeuge bereits der Geburt Jesu beigewohnt hat? Dann wären wohl nur die Eltern Jesu als Zeugen anzusprechen. 89 Oder soll die Taufe als Beginn des öffentlichen Wirkens genügen? 90 Dann würde sich der Personenkreis, der als Zeuge in Frage kommt, immerhin erheblich ausweiten. Diese Überlegungen zeigen, dass es kaum an‐ geraten scheint, hier historisch vorzugehen, da man sonst leicht in die Verle‐ genheit gerät, den Zeugenbegriff quantitativ zu fassen. 91 Der Vergleich mit der antiken Konvention von Vorworten anderer Werke legt ebenfalls nahe, hier nicht unbedingt einen exakten historischen Punkt im Blick zu haben, an dem die Ereignisse, von denen in A2 die Rede ist, begonnen haben. 92 Eher ist hier die Autorität im Blick, die sich bereits in der Überliefe‐ rungskette zeigte, die durch ἡμῖν angezeigt wird. Indem Lukas durch ἀπ’ἀρχῆς besonders die Zeugenschaft seiner Vorgänger betont, und indem er sich mit diesen verbindet, verleiht er diesen besondere Autorität, die er wiederum durch 134 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="135"?> 93 Vgl. Rusam, Lukasevangelium, 187. 94 Vgl. Zimmermann, Augenzeugenschaft, 232, der ausführt, dass der Wahrheitsanspruch des Dargestellten neben dem Bezug auf die Augenzeugen auch „an der Darstellungs‐ kunst und der Authentizität des Darstellers“ hängt. 95 Vgl. Burchard, Zeuge, 133, der betont, dass Zeugen „zur Erhebung der Wahrheit“ da sind, also „Garanten der Tatsächlichkeit“ (Burchard, Zeuge, 132) der frohen Botschaft darstellen. 96 Vgl. Bovon, Evangelium, 36: „Gesehen zu haben ist besser als gehört zu haben.“ 97 Ob diese Personen zu identifizieren sind, ob etwa die Apostel Jesu gemeint sind, was Act 1,22 nahe legen kann, wird diskutiert (vgl. Bauspieß, Geschichte, 205), kann aber im vorliegenden Zusammenhang außer Acht gelassen werden. 98 Vgl. Alexander, Preface, 124. 99 Vgl. Radl, Evangelium, 29. 100 Vgl. Bovon, Evangelium, 37. den Anschluss an sie für sich gewinnt. Durch ἀπ’ἀρχῆς steigert er diese Auto‐ rität weiter, indem er seine Zeugen als maßgebliche Instanz der Überlieferung qualifiziert. Indem sie von Anfang an dabei waren, verbürgen sie die authenti‐ sche Überlieferung, die wiederum auf das Evangelium übertragen wird. 93 Es geht also nicht in erster Linie um einen chronologisch zu fixierenden Punkt des An‐ fangs, sondern um die Qualität der Zeugen und ihrer Überlieferung, 94 letztlich um die Qualität des Evangeliums selbst. 95 Diese Linie wird auch durch die Verwendung des Begriffs αὐτόπται bestätigt. Auch dieser zielt nicht auf exakt feststellbare Umstände ab, sondern bringt statt Quantität die Qualität der Zeugen ins Spiel. 96 Lukas ist nicht daran interessiert zu betonen, wer wann an welchem Ort welche Ereignisse beobachtet hat, son‐ dern will die Verlässlichkeit der Überlieferung nochmals betonen, indem er sie personal verankert und gleichzeitig die Qualität dieser Personen unterstreicht. 97 Es geht also nicht in einem modernen Sinn darum, Augenzeugen ausfindig zu machen und deren Zeugenaussagen miteinander zu vergleichen, um einen his‐ torisch exakten Bericht liefern zu können. 98 Damit hängt die Frage nach der grundsätzlichen Feststellbarkeit der Identität der Augenzeugen zusammen. Unter Verweis auf Act 1,22 kann man definieren, dass sie Jesus selbst begleitet haben müssen. Eine weitere Identifizierung, etwa die Behauptung der exakten Identität mit den zwölf Aposteln, scheint nicht möglich. 99 Der Überlieferung wird nicht misstraut, da sie personal verbürgt ist. Dieje‐ nigen, die persönliche (positive) Erfahrungen mit Jesus gemacht haben oder an den Ereignissen um ihn direkt beteiligt waren, sind die, welche hinter der Über‐ lieferung stehen. Ihre Erfahrungen sind die Basis der narratio, die Lukas vor‐ stellt. Und aufgrund dieser Erfahrungen sind sie auch ὑπηρέται des Wortes ge‐ worden, wobei τοῦ λόγου speziell christlich konnotiert sein dürfte. 100 135 1. Die Autorität des Lukasevangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="136"?> 101 Alexander, Preface, 123. 102 Vgl. Bovon, Evangelium, 37, der auf die Nennung des Autors als „Novum in der ur‐ christlichen Evangelienschreibung“ aufmerksam macht. 103 Vgl. Radl, Evangelium, 31, der „eine Reihe von Maßgaben“ beobachtet, mit denen Lukas „sich, ohne es ausdrücklich zu sagen, von den Arbeiten seiner Vorgänger abhebt“ und so offensichtlich zu erkennen gibt, dass sein eigenes Werk deren Arbeiten überbietet. 104 Vgl. Bovon, Evangelium, 37, der hier die „Metasprache“ des Autors bemerkt. 105 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 64. 106 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 64, der diesen Vers „zu den am intensivsten erforschten Texten im lk Doppelwerk“ erklärt, „weil man in ihnen die historiographischen Grund‐ sätze und das geschichtstheologische Programm [des Lukas] auffinden zu können meinte.“ Die Augenzeugen sind demnach Diener der christlichen Botschaft und ver‐ bürgen deren Verlässlichkeit: „they have ,first-hand experience‘ of the facts they report.“ 101 Ihnen ist also die Aufgabe übertragen, das zu bezeugen und weiter‐ zutragen, was sie erlebt haben (vgl. Act 1,22; 10,39). Lukas selbst stellt sein Evangelium in exakt diese Aufgabe hinein, wenn er sich mit diesen durch ἡμῖν zusammenfügt. Sein Evangelium nimmt also in gewisser Weise an der Aufgabe teil, die die (mündliche oder schriftliche) Überlieferung der Augenzeugen hat: die Verkündigung des Evangeliums. In B1 folgt der Hauptsatz. Dem Duktus des gesamten Satzes entsprechend wird er bewusst so gestaltet, dass keine Umgangssprache assoziiert werden kann, sondern ein feierlicher Stil gewahrt bleibt. Der Autor erscheint in einem mit καί zusammengezogenen personalen Dativpronomen (ἐμοί) 102 und wendet sich an einen mit σοί, bezeichneten Leser, der mit dem folgenden Vokativ be‐ nannt wird. Die unpersönlich gebrauchte Wendung δοκεῖ μοί, findet ihre grammatikali‐ sche Fortführung im Infinitiv Aorist von γράφω (B2), wird aber unterbrochen durch die partizipiale Ergänzung des Partizip Perfekts von παρακολουθέω. Zu notieren ist die für den vorliegenden Zusammenhang besonders wichtige Beobachtung, dass hier ein Autor zu erkennen ist, der über sein Werk Rechen‐ schaft ablegt. Lukas gibt sein Urteil zu erkennen, dass er es für nötig erachtet, einen Text zu verfassen und mit diesem einen gewissen Anspruch zu erheben. 103 Damit ist das Motiv gegeben, warum dieser Text in dieser Untersuchung be‐ achtet werden muss. 104 Deutlich wird durch die Formulierung, dass Lukas sich wieder nicht von seinen Vorgängern absetzt, sondern sich mit diesen („auch mir“) zusammen‐ schließt. 105 Die komplexe Satzstellung führt dazu, dass die beigeordneten Ad‐ verbien (ἄνωθεν - ἀκριβῶς - καθεξῆς) nicht eindeutig zuzuordnen sind und der Vers deshalb intensiv erforscht wurde. 106 Die Wortstellung legt nahe, das 136 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="137"?> 107 Alexander, Preface, 128. Vgl. Fitzmyer, Gospel, 296, der verschiedene Bedeutungen dis‐ kutiert. 108 Vgl. Bovon, Evangelium, 38; Bauspieß, Geschichte, 212. 109 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 64. 110 Belege bei Alexander, Preface, 128. 111 Vgl. Fitzmyer, Gospel, 297; Radl, Evangelium, 32; Bauspieß, Geschichte, 213. 112 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 65. 113 Alexander, Preface, 130. 114 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 65. καθεξῆς zu γράψαι zu ziehen, was auch die Logik des Satzes gut zulässt. Wird diese Zuordnung akzeptiert, scheint es weniger wahrscheinlich auch das ἀκριβῶς dem Infinitiv zuzuweisen. Hier ist der Bezug zum Partizip wahrschein‐ licher, das allerdings dann zwei Adverbien an sich bindet. Mit dieser Zuweisung ist für eine genaue Bestimmung des Gemeinten aber noch nicht viel entschieden. Da das Verb παρακολουθέω „a range of literal and metaphorical uses“ 107 auf‐ weist, müssen die beiden Adverbien und das beigeordnete πᾶσιν in ihrem Ge‐ samtzusammenhang betrachtet werden. Eine Schwierigkeit stellt dabei das πᾶσιν dar, da es sowohl eine Maskulinwie Neutrum-Form sein kann. Setzt man die Maskulinform voraus, dann muss im Kontext nach jemandem gesucht werden, dem der Autor folgen kann. Hier würden sich die eben erwähnten Au‐ genzeugen und Diener anbieten. Allerdings kann der Autor diesen Menschen allein aus praktischen Gründen kaum wirklich körperlich „nachgelaufen“ sein, sodass hier in diesem Fall ein übertragener Sinn angenommen werden muss. 108 Der Autor würde sich dann als Nachfolger bezeichnen, der ihrer Überlieferung folgt. Diese Auffassung wäre aber besser zu verstehen, wenn πᾶσιν als Neut‐ rumform aufzufassen wäre. 109 Dann würde nämlich die geistige Überlieferung ihre personelle Konnotation von sich aus aufgeben. Da diese Auffassung durch Vergleiche mit anderen Vorworten der antiken Literatur gestützt wird, 110 legt es sich nahe, der neutralen Form den Vorzug zu geben. 111 Damit wird gleichzeitig der enge Sinn einer physischen Nachfolge unterlaufen und der Prozess des Nachfolgens ausgedehnt. Er kann dann sowohl das eigene Suchen nach Quellen der Überlieferung meinen wie auch das Übernehmen derselben. Dann wäre auch für πᾶσιν einsichtig, dass es nicht um jemanden geht, sondern um das Ganze der Überlieferung an sich. 112 Nimmt man diese umfassende Bedeutung an, so lassen sich auch die beiden Adverbien gut zuordnen. Analog zu ἀπ’ἀρχῆς kann das ἄνωθεν aufgefasst werden, das wiederum nicht als exakter Zeitpunkt zu verstehen ist, an dem die Ereignisse beginnen oder an denen der Autor ihnen folgt, sondern es geht darum, eine „complete and thorough knowledge“ 113 zu betonen. 114 137 1. Die Autorität des Lukasevangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="138"?> 115 Anders Klein, Programm, 206, der Lukas eine kritische Haltung zur Tradition attestiert, die er dadurch zu umgehen suche, indem er „zu den Ereignissen selbst vordringen“ wolle. Dass Lukas historisch zuverlässig berichten will, steht dabei nicht in Frage, al‐ lerdings bleibt in Kleins Perspektive schwer vorstellbar, wie Lukas sein Vordringen zu den Ereignissen erreicht haben soll, was Klein selbst bestätigt, wenn er vermerkt, dass Lukas „in keiner anderen Lage ist als seine Vorgänger.“ (Klein, Programm, 206) 116 Vgl. Bauspieß, Geschichte, 211. 117 Alexander, Preface, 134. 118 Vgl. Bovon, Evangelium, 38, der etwas schärfer formuliert, dass Lukas versuche, die „Überlieferungen historisch zu überprüfen und zu bewerten.“ Dass Lukas seine Über‐ lieferungen ordnet und wertet, ist sicher zutreffend. Damit geht auch zwangsläufig das Überprüfen einher, ob er die Erzählungen für wahr hält. Eine explizite Suche nach Au‐ genzeugen und sonstige Mittel der Faktenüberprüfung, lässt sich bei Lukas aber nicht nachweisen. Vgl. Bauspieß, Geschichte, 211. 119 Vgl. Bovon, Evangelium, 39. 120 Vgl. Bauspieß, Geschichte, 219. 121 Vgl. Alexander, Preface, 134: „Luke is ranging himself alongside his predecessors in verses 1-2, not setting himself against them.“ (Kursiv im Original) Dies wird weiter durch ἀκριβῶς unterstrichen. Damit ist speziell auf die un‐ bedingte Zuverlässigkeit des Erzählten verwiesen, das sich dadurch auszeichnet, dass der Erzählstoff akribisch aufgenommen wurde, nicht in dem modernen Sinn einer historisch-kritischen Untersuchung, 115 sondern eher verstanden als umfassende und zugleich bewertende Aufnahme der Überlieferung. 116 Lukas ist daher bestrebt, seine „fidelity and comprehension in transmission“ 117 zu be‐ tonen, ohne dabei eine personale Verbindungskette zu den Augenzeugen auf‐ zugeben. Das παρακολουθέω verweist also darauf, dass Lukas sich einerseits vollkommen an die Vorgaben hält, die ihm überliefert wurden (vgl. 1.Tim 4,6), andererseits aber auch durchaus eigene Vorarbeiten im Sinne der Beurteilung der vorliegenden Überlieferungen nicht ausschließt. 118 Die Überlieferung wiederum ist nun von Lukas καθεξῆς aufgeschrieben worden. Dieses Adverb betrifft nun die Darstellung der Überlieferung, also den Prozess, den sie durch ihre Verschriftlichung erfährt. 119 Der Autor nimmt damit für sich in Anspruch, das, was er durch die Überlieferung an Stoff zusammen‐ getragen hat, so in eine chronologisch korrekte und logisch sinnvolle Abfolge zu bringen, dass der Anspruch und die Funktion der Überlieferung gewahrt bleiben und sich in seiner eigenen Darstellung wiederfinden lassen. 120 Die Ord‐ nung der Darstellung unterstützt demnach die Aufgabe der Überlieferung. Damit ist bestätigt, dass Lukas sich gegenüber seiner Überlieferung nicht in dem Maße kritisch verhält, dass er sie selbst auf ihre historische Zuverlässigkeit überprüft haben will. 121 Eine leichte Kritik betrifft allerdings die Anordnung des Stoffes in den schriftlichen Darstellungen, die er eventuell kennt. Wahrschein‐ lich will er aber eher den Unterschied zwischen einer schriftlichen Darstellung 138 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="139"?> 122 Vgl. Alexander, Preface, 136. 123 Vgl. Bovon, Evangelium, 39. 124 Vgl. Bauspieß, Geschichte, 233: „Geschichtserzählung und Verkündigung sind bei [Lukas] unlöslich miteinander verbunden.“ 125 Wolter, Lukasevangelium, 66. 126 Auch die Folgerung von Zahn, Einleitung II, 382, wonach Theophilus ein „noch außer‐ halb der Gemeinde stehende[r], aber dem Christentum sich zuneigende[r] Heide[…]“ war, lässt sich nicht belegen. 127 Vgl. Alexander, Preface, 133. 128 Vgl. Pseudoklemens, Rekognitionen, 10,71,2 f. 129 Vgl. Bovon, Evangelium, 39. 130 Vgl. Fitzmyer, Gospel, 299: „There is no reason to doubt his existence as a real person.“ 131 So auch Radl, Evangelium, 33: „Es handelt sich um eine konkrete Persönlichkeit.“ und der mündlichen Überlieferung der Ereignisse um Jesus betonen und zeigen, dass die schriftliche Form einer grundsätzlicheren Ordnung folgen muss 122 und gleichzeitig sein Schreiben an sich rechtfertigen. 123 Dem Stoff an sich misstraut er nicht und will deshalb auch nicht betonen, dass durch sein Werk die Ge‐ schichte Jesu nun historisch zuverlässig erwiesen wird. Es geht ihm vielmehr um die Aufgabe der Ordnung in dem Sinne, dass das bereits bestehende Ver‐ trauen - dies setzt er in B3 voraus - in die Jesusüberlieferung weiter vertieft wird. Verkündigung steht demnach im Vordergrund, nicht historische Re‐ cherche. 124 Lukas „kündigt an, das historische Nacheinander der Ereignisse li‐ terarisch abbilden zu wollen.“ 125 Die letzte Schwierigkeit von B1 besteht in der Widmung des Werkes. Hier sind aber keine grammatikalischen Probleme zu notieren, sondern die Frage drängt sich auf, wer der angesprochene Theophilus ist. Die Anrede mit κράτιστος trägt zur Beantwortung seiner Identität kaum etwas bei, da damit lediglich eine Form der Höflichkeit gewahrt bleibt, die aber keine Schlüsse auf einen gesellschaftlichen Rang oder ähnliches zulässt. 126 Der Name selbst weist in das Milieu des hellenistischen Judentums, 127 was dazu geführt hat, unter Ver‐ weis auf Pseudo-Clemens 128 in Theophilus einen Repräsentanten der antiochen‐ ischen Christengemeinde zu sehen. Ob diese Identifizierung zutrifft, kann nicht zweifelsfrei geklärt werden. 129 Die Grundannahme, dass Theophilus eine reale Person war, die Lukas beim Schreiben des Evangeliums im Auge hatte, ist we‐ sentlich interessanter und wahrscheinlicher. 130 Dann wären auch die weiteren Aussagen über ihn in B3 als zuverlässig anzusehen. 131 Es besteht allerdings auch die Möglichkeit, den Namen Theophilus nicht als echten Eigennamen zu ver‐ stehen, sondern als sprechende Fiktion. Theophilus müsste in diesem Fall le‐ 139 1. Die Autorität des Lukasevangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="140"?> 132 Vgl. Klein, Programm, 213, der diese Lösung bevorzugt, aber betont, dass Theophilus letztlich „repräsentativ für die Wirkung des Werkes auf jeden Leser“ steht - ob als historische Person oder nicht. 133 Vgl. Alexander, Preface, 188. 134 Vgl. Bovon, Evangelium, 23. 135 Deshalb scheint es schwierig, die Widmung historisch über die Feststellung, dass The‐ ophilus eine bekannte Persönlichkeit war, hinaus weiter auszuwerten. Vgl. zur Diskus‐ sion verschiedene Fragen zu Theophilus Alexander, Preface, 188-200. Ob Theophilus z. B. der Patron oder ein Mäzen des Lukas war lässt sich ebenso wenig beantworten wie die Vermutung erhärten, die Widmung verpflichte Theophilus „zur Verbreitung des Buches“ (Dibelius, Reden, 127). Vorsichtig neigt auch Radl, Evangelium, 33, zu dieser These. Dagegen allerdings Wolter, Lukasevangelium, 67: „Es gibt weder ein positives Indiz für eine solche Annahme, noch lässt sie sich ausschließen.“ Auch Bovon, Evan‐ gelium, 39, stellt fest, dass „wir nichts von ihm“ wissen. 136 Vgl. Alexander, Preface, 187; Rusam, Lukasevangelium, 196. 137 Vgl. Hagene, Zeiten, 23, die das Evangelium zu Recht als „Mitteilungsgeschehen“ auf‐ fasst und es in der intendierten „Kommunikation zwischen einem Autor und seinem Adressaten“ verortet. Dabei spielt wie sie und im Anschluss auch Bauspieß, Geschichte, 214, betonen, keine Rolle, „ob es sich bei [Theophilus] um eine konkrete historische Person handelt oder nicht.“ 138 Vgl. Bauspieß, Geschichte, 214. So dürfte die Beurteilung von Rusam, Lukasevangelium, 196, zutreffen: „Lukas hat sich bei der Abfassung seines Evangeliums einen konkreten Menschen vorgestellt, der - unterrichtet in der Lehre (1,4) - bereits Christ ist, dessen Zutrauen zur christlichen Überlieferung aber angesichts des wachsenden zeitlichen Abstandes zum irdischen Jesus und möglicherweise gesellschaftlicher Gefährdungen und theologischer Irritationen neu gestärkt werden soll.“ diglich als Repräsentant der intendierten Leser aufgefasst werden. 132 Der Got‐ tesfreund stünde als stellvertretender Leser zur Verfügung, der deutlich macht, dass das Evangelium an sich als ein reales Mitteilungsgeschehen bestimmt werden soll, das sich zwischen schriftlicher Verkündigung und echtem Hören vollzieht. Beide Möglichkeiten sind grundsätzlich denkbar, doch scheint es auf‐ grund der vielfältigen Bezeugung realer Widmungen antiker Werke 133 einfacher zu sein, Theophilus als historische Person anzunehmen, 134 deren weitere Spuren im Zuge der Überlieferung lediglich nicht zu verfolgen sind. 135 Deutlich ist aber für die weitere Lektüre, dass Lukas keinen Text exklusiv für Theophilus schreiben wollte. Die Widmung darf nicht dazu führen, im Evangelium einen Privattext sehen zu wollen, da sie Teil der literarischen Konvention des Vor‐ wortes ist. 136 Theophilus ist dann in erster Linie als Funktionsträger in der Kom‐ munikationssituation des Evangeliums interessant. 137 In ihm lässt sich der vom Autor intendierte Leser erkennen. 138 B3 führt den Satz zu Ende. Mit der Konjunktion ἳνα wird der Finalsatz ein‐ geleitet, der im Leser die Erwartung nach der Auskunft weckt, warum der Text 140 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="141"?> 139 Vgl. Bovon, Evangelium, 40. 140 Vgl. Alexander, Preface, 137. 141 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 67; Bauspieß, Geschichte, 219. 142 Vgl. Bovon, Evangelium, 40. Fitzmyer, Gospel, 289, bezeichnet die Stellung als „the em‐ phatic position at the end of the periodic sentence.“ 143 Vgl. Alexander, Preface, 141, die diese Absicht durch den Vergleich mit paganen Autoren untermauert. 144 Bovon, Evangelium, 41. 145 Vgl. BDR § 294,5; Reiser, Sprache, 202. geschrieben wurde, den er lesen soll. 139 Dieser wird durch die 2.Pers.Sg.Konj.Aor.Akt. angesprochen. Der Autor lässt erkennen, dass der Leser - sei es Theophilus selbst, sei es Theophilus als (führender) Repräsentant einer Leserschaft, sei es Theophilus als literarische Fiktion - das sich entwi‐ ckelnde Christentum bereits kennt. 140 Die Absicht, die Lukas hier ausdrückt, scheint darin zu bestehen, den Leser bezüglich der Tatsachen, über die er in A2 bereits gesprochen hat, lediglich zu bestätigen. Dabei dürfte mit den λόγοι wegen des Plurals nicht das Evangelium an sich gemeint sein, wie zuweilen der Singular λόγος nahe legt (z. B. Mk 4,15; Lk 8,11), sondern eben der Rückverweis auf die πραγμάτα intendiert werden. 141 Diese Geschehnisse sollen durch den Bericht des Lukas ausdrücklich mit ἀσφάλεια versehen werden. Deshalb wählt Lukas diese ungewöhnlich gestreckte Satzstellung mit dem eingeschobenen Re‐ lativsatz, um der Zuverlässigkeit seines Textes ein besonderes Gewicht zu‐ kommen zu lassen. 142 Sicherlich ist diese Stellung kein Zufall, sondern setzt einen besonderen Akzent durch die Positionierung am Ende der ganzen Satzkon‐ struktion. Damit unterstreicht er weiter die Bedeutung seines eigenen Werkes, das die Zuverlässigkeit der Überlieferung durch die schriftliche Aufzeichnung gegenüber der mündlichen Tradierung betont. 143 Diese Beobachtung erklärt weiter, warum Lukas überhaupt einen weiteren Text der ursprünglich mündli‐ chen Überlieferung hinzufügt. Es geht ihm um die Festigung des Glaubens mit‐ tels der Erzählung. Die Wahrheit des Glaubens, von der Theophilus bereits weiß, soll durch sein Evangelium untermauert, aber nicht begründet werden. Die Ge‐ schichte Jesu ist demnach selbst Erkenntnisgrund des Glaubens. Lukas steht damit im Dienst der Glaubensverkündigung, wenn er diese Geschichte so auf‐ schreibt, dass sie Zuverlässigkeit beanspruchen kann. „Ein Leser wie Theophilus erhält daher konkrete historische Informationen, kann sich dabei aber zugleich den Inhalt des Glaubens zu eigen machen.“ 144 Der eingeschobene Relativsatz fügt sich stimmig in den Zusammenhang ein, da er der gesamten Konstruktion durch den Einschluss des Bezugsbegriffs (λόγων) in den Satz selbst (attractio relativi) 145 der Gravität des Satzes weiter Vorschub leistet. Einfacher wäre die Konstruktion περὶ τῶν λόγων οὓς 141 1. Die Autorität des Lukasevangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="142"?> 146 Vgl. Alexander, Preface, 139; Bauspieß, Geschichte, 215. 147 Vgl. Schürmann, Lukasevangelium, 15. 148 Vgl. Klein, Programm, 213; Fitzmyer, Gospel, 290. 149 Vgl. Radl, Evangelium, 34, der hier auf „kirchliche Unterweisung“ verweist. Vgl. Bau‐ spieß, Geschichte, 216-217. 150 Vgl. Bauspieß, Geschichte, 214. 151 Vgl. Bauspieß, Geschichte, 213: „Der Verfasser beansprucht, seinem Leser wirklich alles darzulegen, was zur Erkenntnis der ,Zuverlässigkeit‘ der christlichen Verkündigung notwendig ist.“ 152 Vgl. Bock, Luke, 64: „Luke’s purpose is that he wants Theophilus to realize something about the material.“ 153 Vgl. Bauspieß, Geschichte, 221. 154 Vgl. Schmithals, Evangelium, 18. 155 Du Plessis, Once, 271. κατηχήθης, wobei das semantische Potential nicht grundlegend verändert wird. 146 Theophilus ist also - wie schon gesehen - informiert über die Dinge, die Lukas ausbreiten will, soll aber genauer unterrichtet werden. Dem Verb κατηχέω kommt dabei wohl exakt diese Bedeutung zu, da es hier wohl kaum um ein reines Informieren gehen wird (wie dies z. B. in Act 21,21 sein dürfte), sondern in Anlehnung an Act 18,25; Röm 2,18; Gal 6,6 um den Versuch, ein tieferes Verständnis der Glaubensüberzeugung des Theophilus zu gewinnen. 147 Deshalb scheint es angebracht, hier durchaus den späteren Gebrauch des Wortes als Katechese 148 im Sinne der Unterweisung im Glauben als angemessenes Ver‐ ständnis des Begriffs einzutragen. 149 1.2. Die Absicht des Lukasevangeliums nach Lk 1,1 - 4 Lukas weist vor allem durch den Finalsatz seiner Periode aus, warum er das Evangelium schreibt und welche Absicht er damit verfolgt. Theophilus - und der mit ihm angesprochene Leser 150 - soll Sicherheit darüber erlangen, dass das, was er bereits weiß, worüber er bereits unterrichtet wurde, absolute Zuverläs‐ sigkeit beanspruchen kann. 151 Diese Absicht verrät vor allem die betonte Schlussstellung des ἀσφάλεια. 152 Diese Gewissheit im Glauben will Lukas da‐ durch beim Leser erreichen, indem er die Überlieferung schriftlich sichert und so einen Zugang zur Geschichte offen hält, der auf dem Wege der mündlichen Überlieferung zu verschwinden droht. Deshalb berichtet er von den Ereignissen, die seine Gemeinschaft begründen. 153 Es geht ihm dabei nicht um „Tatsachen‐ treue, sondern Zuverlässigkeit der Lehre“ 154 strebt er an. Die Geschichte, die er erzählt, zeigt dabei, dass und wie Gott in der Geschichte am Werk ist: „God acting in history“. 155 Deshalb ist die Geschichte bei Lukas wichtig und deshalb benennt er seine Quellen und zugleich den Überlieferungszusammenhang, in dem er 142 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="143"?> 156 Deshalb urteilt Van Unnik, Once, 12, klar: Lukas „wished to be a historian, of course according to the standards of his time.“ 157 In diese Richtung weist Cadbury, Preface, 510, wenn er vermutet, dass Lukas sein Werk deshalb Theophilus, einem „influential non-Christian“ widmet, mit der Absicht „of meeting incriminating reports or impressions by the presentation of exonerating facts.“ Auch Bovon, Evangelium, 23, betont eine ähnlich nach außen gerichtete Absicht des Evangeliums: Lukas „möchte die Wahrheit des Christentums beglaubigen und die Angst der Römer vor der christlichen Mission beschwichtigen.“ Die Frage ist nur, ob „die Römer“ das Evangelium auch gelesen haben. 158 Vgl. Bauspieß, Geschichte, 222. 159 Bauspieß, Geschichte, 215. 160 Van Unnik, Remarks, 14. 161 Schürmann, Lukasevangelium, 15. 162 Schürmann, Lukasevangelium, 14-15. 163 Vgl. Schmithals, Evangelium, 17; Bovon, Evangelium, 41: „Mit seiner Erzählung will Lukas sowohl überzeugen als auch bestätigen und verteidigen.“ steht. 156 Es geht ihm also weder um eine Apologie des christlichen Glaubens vor einem nicht-christlichen Forum, 157 noch um eine Werbeschrift für missionari‐ sche Zwecke, die mittels historischer Überzeugungsarbeit Menschen zum Glauben bringen soll. 158 Es ist deshalb nicht angeraten, das Evangelium als eine Werbeschrift zu verstehen, die einem unvorbereiteten Leser zur Verfügung ge‐ stellt wird. Die Darstellung des Evangeliums hat demnach auch keine „begrün‐ dende Funktion“, 159 sie soll nicht den Skeptiker überzeugen und ihn zum Glauben bringen. Primär ist das Ziel des Textes, den Glauben erzählerisch zu unterfüttern, den er bereits voraussetzt. Das im Folgenden erzählte Evangelium liefert also keine völlig unbekannten Informationen über den christlichen Glauben im Modus der Erzählung, sondern bestätigt das Vorwissen des Lesers bezüglich der Dinge, über die er schon unterrichtet ist (B3). Das lukanische Evangelium „gives certainty to that which is generally accepted and recognized.“ 160 Es liefert ge‐ wissermaßen einen „geistlichen Schriftbeweis“, 161 der die apostolische Überlie‐ ferung so zur Sprache bringt, dass „diese in ihrer Geistmächtigkeit unmittelbar sprechen und Glauben zeugen“ 162 kann. Das Evangelium verortet seine Leser viel eher im Rahmen der innergemeind‐ lichen Unterweisung und im gottesdienstlichen Geschehen. Es vertieft und be‐ stätigt das Wissen, das mündlich überliefert wurde, das eventuell in der gottes‐ dienstlichen Zusammenkunft und im gemeinschaftlichen Leben gesammelt werden konnte. Damit einher geht durch die Vermittlung von Glaubenswissen über Jesus, dass der Leser auch gegenüber eventuellen Anfragen oder Anfein‐ dungen der Umwelt auskunftsfähig ist und so seinen Glauben auch verteidigen kann. 163 143 1. Die Autorität des Lukasevangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="144"?> 164 Mit Müller, Anspruch, 124: „Das exemplarisch vermittelte Orientierungswissen hat im Sinne einer pragmatischen Geschichtsschreibung nachwachsende Generationen im Blick.“ 165 Vgl. Bauspieß, Geschichte, 217. 166 Bauspieß, Geschichte, 184. 167 Müller, Anspruch, 124. 168 Hagene, Zeiten, 68. Der Text transportiert damit die Geschichte Jesu in eine Zeit und in eine Umgebung, die nicht mehr zwingend personell mit den ursprünglichen Ereig‐ nissen verbunden ist. Er übernimmt - je länger je mehr - die Funktion der Au‐ genzeugen, auf die er sich beruft. Er tritt somit in deren Überlieferung ein und übernimmt deren Aufgabe. Der Text wird somit selbst zum Zeugen des Evan‐ geliums und tritt damit in die Kommunikationssituation ein, in der zuvor die Augenzeugen und Diener des Wortes gewirkt haben. 164 Dabei erhebt er aber nicht den Anspruch, wirklich eine Form von Glauben wirken zu können, sondern setzt eine vorhergehende Kontaktaufnahme bereits voraus. Theophilus - als implizierter Leser - ist keine Person, die den Text un‐ abhängig von jeder persönlichen Begegnung mit dem christlichen Glauben liest, sondern er findet sich eben in dem bestätigt, mit dem er bereits vorher auf ir‐ gendeine Art in Kontakt gekommen ist. Belegt wird dies durch die Verwendung von κατηχεῖν in Act 18,25, wenn dort Appollos als „unterrichtet“ bezeichnet wird. Wenn Priszilla und Aquila ihn noch genauer (ἀκριβέστερον; Act 18,26) unterrichten sollen, liegt ein ähnlich gela‐ gerter Fall vor. Offensichtlich kennt Lukas die Vorstellung, dass sich der Mensch auf einem „Glaubensweg“ befindet, auf dem er immer tiefer in den Glauben eingeführt werden kann. 165 Das Evangelium signalisiert damit von Anfang an, dass es „nur aus der Perspektive des Glaubens angemessen erzählt“ 166 und eben nur aus dieser Perspektive angemessen verstanden werden kann. Insofern ist deutlich, was das Evangelium leisten will. Seine historische Er‐ zählung steht „im Dienst religiöser sozialer Selbstaffirmation; man kann auch von identitätsstiftendem Erzählen sprechen und dadurch eine entsprechende Orientierungsfunktion betonen.“ 167 Insgesamt erhebt Lukas damit den An‐ spruch, „Wissensstiftung und Wissensvermittlung“ 168 in einer Erzählung zu leisten, also einerseits das zu liefern, an dem sich der Glaube mittels geeigneter Unterweisung entzünden kann, und andererseits das nötige Glaubenswissen zu vermitteln, ohne das christliche Existenz nicht gelingen kann. Somit füllt er die Leerstelle, die durch das allmähliche Abbrechen der mündlichen Überlieferung entsteht, und gründet den Glauben seiner Leser auf das Evangelium selbst. In diesem Sinn kann dann davon gesprochen werden, dass der Text das lebendige 144 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="145"?> 169 Vgl. Schürmann, Lukasevangelium, 9. 170 Vgl. Bauspieß, Geschichte, 184. 171 Nur unter dem Eindruck von Lk 24,13-35 kommt Bauspieß, Geschichte, 220-221, zu der Überzeugung, dass die Geschichte Jesu, die Lukas im Evangelium erzählt, „kein rein historisch einsehbares Geschehen ist.“ Nimmt man das Proömium für sich, scheint diese These dem Text zu viel zuzumuten. Wort der apostolischen Überlieferung effektiv bewahrt, dass also durch den Text die apostolische Botschaft in die Gegenwart der Leser hinein sprechen kann. 169 Zu beachten ist weiter die Verklammerung von Lk 1,4 mit dem Ende des Evangeliums, in der das Motiv des Erkennens in der Emmaus-Erzählung wie‐ deraufgenommen wird. „Das Verb ἐπιγινώσκεν ist ein lukanisches Vorzugswort und in 24,26.31 offensichtlich bewusst in Entsprechung zu Lk 1,4 gesetzt.“ 170 Der Leser wird also auf einen Erkenntnisprozess hingewiesen, der sich in Verbin‐ dung mit dem Text vollzieht. Die persönliche Begegnung der Emmaus-Jünger, die von Christus selbst die Augen geöffnet bekommen müssen, wird im Pro‐ ömium durch die bereits geschehene Kontaktaufnahme mit der christlichen Überlieferung ersetzt. Beide Male geht es aber um den Prozess des Erkennens, der sich jeweils im Zusammenspiel von (textueller) Überlieferung (im Proömium der Text des Evangeliums, in der Emmaus-Perikope der Text der „Abendmahls‐ feier“) und lebendiger Begegnung entfaltet. Der Text ist demnach ein Baustein im Prozess der Glaubensbildung. 171 1.3. Der Autoritätsanspruch des Lukasevangeliums nach Lk 1,1 - 4 Der Text beansprucht eine funktionale Autorität. Er sieht sich als Hilfsmittel auf dem Weg des Glaubens. Von daher kommt ihm eine Aufgabe zu. Diese Aufgabe besteht in der Bereitstellung von Glaubenswissen. Durch dieses wiederum kann der eigene Glauben stimuliert werden. Insofern beansprucht das Proömium für sich, den bereits bestehenden, vielleicht anfänglich zögernden Glauben unter‐ stützen zu können, indem es ihn durch die folgende Erzählung untermauert. Seine grundsätzliche Bedeutung besteht darin, das leisten zu können. In diesem Sinn kommt dem Lukasevangelium Autorität im Rahmen eines Prozesses zu. Begründet ist sie aber nicht als Qualität des Textes, die aufgrund von objektiven Kriterien anerkannt werden muss. Autorität erlangt der Text allein durch seinen Inhalt. In ihm liegt seine Autorität begründet. Sobald der Text seine Absichten erfolgreich zu vermitteln vermag, gewinnt er Autorität im Sinne von Wirkkraft. Die Autorität des Evangeliums ist demnach da zu ver‐ zeichnen, wo sie als Autorität Jesu die Kraft gewinnt, den Glauben zu vertiefen. 145 1. Die Autorität des Lukasevangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="146"?> Der Text hat folglich keine vorgängige Autorität an sich, sondern gewinnt sie durch die Erlebnisse seiner Leser mit ihm. Das Proömium zeigt dabei, dass das Evangelium zunächst Autorität voraus‐ setzt, die es auf zweifache Weise gewährt bekommt. Zunächst ist hier an den Unterricht des Theophilus zu denken. Dies bedeutet, dass derjenige, der das Evangelium liest, bereits im Glauben unterrichtet ist. Von daher kann das Evan‐ gelium an diesen Glauben anknüpfen und so einen Vorschuss an Autorität er‐ langen. Zum zweiten will der Text seine Autorität durch seinen Verweis auf seine Zeugen gewinnen. Die Würde der Zeugen, die durch ihren Umgang mit Jesus ausgezeichnet sind, soll auch dem Evangelium, als dem Bericht der Zeugen, zuerkannt werden. Hier liegt also ein klarer Fall des Autoritätsanrufs vor. Wieder geht es um eine vorauslaufende Zuschreibung von Autorität durch die Leser, die durch die Lektüre Bestätigung finden muss. In diesem Sinn fungiert das Evangelium als pädagogisches Medium, das per Evidenzerlebnis Autorität erwiesen sieht. Ohne ein personelles Element, das mit Autorität verbunden wird, kommt das Evangelium also nicht ganz aus. Der Ausgangspunkt der Autoritätskette ist demnach Jesus von Nazareth als Christus des Glaubens, der wiederum von Gott selbst bestätigt ist. Denn laut Lk 10,22 hat Gott Jesus alles übergeben, sodass sich Gott (analog zu Apk 1,1-3) als erstes Glied der Kette, als eigentlicher Offenbarer zu erkennen gibt. In dem Moment, in dem an Christus geglaubt wird, gewinnt das Evangelium als sein Zeuge eine gewisse, von ihm abgeleitete Autorität. Dem Text selbst kommt aber an sich, also ohne den Bezug zu Christus, ohne Evidenzerlebnis und daher ohne die Akzeptanz des behaupteten Bezugs durch seine Leser, keine Au‐ torität zu. Von daher kann dem Evangelium selbst allenfalls eine vermittelte Autorität zugewiesen werden. Die Schrift bleibt für Lukas ein Mittel zum Zweck. Sein Evangelium enthält das, was man wissen muss, um seinen Glauben zu be‐ gründen und auszusagen. Aber es ist kein Text, den man aus seinem Zusam‐ menhang zwischen Christus und den Glaubenden isolieren und dann für sich genommen zur Autorität erklären kann. Nur der Konsens zwischen den Lesern schenkt ihm Autorität für diese. Lukas erhebt also Anspruch auf Autorität, soweit sein Text als Medium des Glaubens dienlich ist. Die Autorität, die der Text infolgedessen dann für sich reklamieren kann, muss ihm aber im Nachhinein zugesprochen werden. Die Autorität des Textes wird von denen verliehen, bei denen seine Absicht ge‐ fruchtet hat. Sie haben die Zuverlässigkeit ihres Glaubens mit Hilfe des Evan‐ geliums bestätigt gesehen. 146 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="147"?> 172 Broer, Einleitung I, 197. 173 Vgl. Baum, Epilogue, 231; Brown, Purpose, 212; Beutler, Johannesevangelium, 531; Aletti, Finales, 24, der diese Verse als „non narrative“ bezeichnet und sie einer meta‐ diegetischen Ebene zuweist. Auch Leinhäupl-Wilke, Buch, 271, spricht von einem di‐ rekten „Austausch zwischen Autor und Leser“, der „auf metanarrativer Ebene“ statt‐ findet. 174 Der Tradition folgend wird mit „Johannes“ der Erzähler des Evangeliums bezeichnet. Gerade bei diesem Text ist es angesichts der Forschungslage zur Entstehung des Evan‐ geliums bereits umstritten, wem das Privileg zukommt, „Autor“ zu sein bzw. ob es überhaupt einen einzigen „Autor“ gibt oder ob nicht eine Gruppe von Autoren den Text verantwortet. Zum Überblick über die komplexe Diskussion und die vielfältigen Pro‐ bleme der Johannesexegese vgl. Schnelle, Einleitung, 550-593. In hermeneutischer Hinsicht wird zudem nicht nur gefragt, wer, sondern auch was ein Autor ist (vgl. Van‐ hoozer, Hermeneutics, 369). 175 Vgl. Söding, Schrift, 346: „In 20,30f blickt der Evangelist auf sein Gesamt-Werk zurück.“ 176 Hinsichtlich des Lieblingsjüngers wird nahezu alles diskutiert: „Not only his identity, but his very existence and historicity, is the subject of some dispute.“ (Vanhoozer, Her‐ meneutics, 366) Vgl. zum Überblick über die Diskussion Cebulj, Johannesevangelium, 301; Metzger, Lieblingsjünger, 256-264. Die Diskussion umfasst folgende Fragen: Ver‐ birgt sich hinter dem Lieblingsjünger eine reale Person (so z. B. Hengel, Frage; Theobald, Jünger) oder handelt es sich um eine fiktive Figur (so z. B. Dunderberg, Disciple; Thyen, Johannesevangelium; Kügler, Jünger)? Und falls es sich um eine reale Person handelt: Kann diese identifiziert werden? Verbirgt sich hier der Apostel Johannes (so Fenske, Lieblingsjünger) oder vielleicht ein Presbyter mit Namen Johannes (so Hengel, Frage)? 2. Die Autorität des Johannesvangeliums nach seinem Selbstzeugnis „Wir haben es beim vierten Evangelium mit einem Glaubenszeugnis zu tun, das große Autorität für sich beansprucht und diese Autorität auch schon abzusi‐ chern sucht.“ 172 Diese These legt nahe, das Johannesevangelium in die Betrach‐ tung der vorliegenden Untersuchung einzubeziehen. In der Tat findet sich in ihm der zweite Metatext, der im Neuen Testament in den Blick zu nehmen ist. 173 Im Gegensatz zum Lukasevangelium zeigt Johannes 174 seine Absicht aber nicht am Anfang seines Evangeliums an. Er blickt stattdessen am Ende seines Werkes darauf zurück. 175 Diese Bestimmung ist umstritten, da nach dem Text ein weiteres Kapitel folgt. Das Verhältnis zwischen diesem Kapitel und dem Rest des Evangeliums ist ein viel diskutiertes Thema, das im vorliegenden Zusammenhang gestreift, aber nicht intensiv diskutiert zu werden braucht. Dies gilt genauso für die mit Joh 21 verbundene Problematik der Genese des Evangeliums wie auch für die Inter‐ pretation des Lieblingsjüngers, 176 die wiederum damit zusammenhängt. Für die Frage der Absicht, die sich in Joh 20, ausdrückt und dem damit verbundenen 147 2. Die Autorität des Johannesvangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="148"?> 177 Mit Söding, Schrift, 351. 178 Bultmann, Kommentar, 542. Cebulj, Johannesevangelium, 270, bezeichnet diese An‐ nahme - wohl nicht ganz zu Recht - als „Konsens der Forschung“. 179 Kügler, Johannesevangelium, 218. 180 Wengst, Johannesevangelium I, 30. 181 Vehement setzt sich z.B. H. Thyen als „Wortführer“ (so Beutler, Johannesevangelium, 59) dafür ein, „Joh 21 gegen einen breiten Konsensus, wonach das Kapitel als ein se‐ kundärer Anhang von anderer Hand gilt, für einen ursprünglichen und unverzichtbaren Teil unseres Evangeliums“ (Thyen, Johannesevangelium, 4) zu halten. Diese Sichtweise vertritt auch Bauckham, Jesus, 363, der dafür plädiert, dass „the Gospel originally de‐ signed to end just as it does in the version we have and never existed without the claim about its authorship that 21: 24 makes.“ 182 Thyen, Johannesevangelium, 773. 183 Vgl. Wengst, Johannesevangelium I, 30. Autoritätsanspruch genügt eine kurze Rechenschaft über die getroffenen Ent‐ scheidungen. 2.1. Grundannahmen Joh 20,30f werden als Epilog des Evangeliums aufgefasst und dementsprechend interpretiert. 177 Für Joh 21 bedeutet dies: „Kap. 21 ist ein Nachtrag; denn mit 20,30f war das Ev[an]g[elium] abgeschlossen worden.“ 178 Entscheidend für diese Beurteilung ist vor allem der zweite Buchschluss in Joh 21,24 f. Dort meldet sich eine Gruppe zu Wort („wir wissen“ als „ein echter Plural, kein schriftstelleri‐ scher“ 179 ), die dem „Lieblingsjünger“ die Autorenschaft des Evangeliums zu‐ weist. Dessen Tod wird zudem in Joh 21,23 vorausgesetzt. Wenn weiter in Joh 21,25 ein „ich“ auftritt, das für die Gruppe spricht, so legt sich ungezwungen die Annahme nahe, dass diese Gruppe bzw. dieser Autor für Joh 21 verantwortlich ist und sich explizit von dem weiteren Text abheben will. „Nach dieser klaren Auskunft will also der Schluss von jemand anderem, der sich mit weiteren zu einem ,Wir‘ zusammenschließen kann, geschrieben sein als das übrige Evange‐ lium.“ 180 Dieses Argument lässt sich auch von denjenigen nur schwerlich ent‐ kräften, die in Joh 21,24f eine literarische Fiktion und im Lieblingsjünger eine rein literarische Gestalt ohne historischen Anhalt erkennen wollen. 181 Zwei Ar‐ gumente tragen im Wesentlichen deren Beweislast: Erstens wird die Überliefe‐ rung des Textes angeführt, denn „ein Johannesevangelium hat nach Ausweis seiner handschriftlichen Überlieferung ohne Joh 21 nie öffentlich existiert.“ 182 Dieses Argument hat zwei Schwachpunkte. Erstens ist die Zeit zwischen Ab‐ fassung des Evangeliums und dessen erster Bezeugung, die bekannt ist (Pa‐ pyrus 66 ), zu lang, um die Überlieferung des Textes in den ersten (ca. 100) Jahren wirklich lückenlos verfolgen zu können. 183 Zweitens deuten Hinweise im Werk 148 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="149"?> 184 Lattke, Joh 20,30f, 291. 185 Thyen, Johannesevangelium, 772. 186 Diese Beobachtung teilt z. B. Theobald, Evangelium, 71, zieht aber einen entgegenge‐ setzten Schluss daraus, wenn er alle Texte, in denen der Lieblingsjünger auftritt, der Redaktion des Evangeliums zuweist. 187 Thyen, Johannesevangelium, 773; Segovia, Farewell, 183. 188 Vgl. Metzger, Lieblingsjünger, 262. Bultmann, Evangelium, 543: „Denn die Fiktion, daß der Verf[asser] selbst sich hier als mit dem Lieblingsjünger identisch hinstellen und zugleich seinen eigenen Tod bescheinigen will, ist doch ganz unglaublich.“ 189 Tilly, „Lieblingsjünger“, 22, sieht hier zu Recht „das apologetische Bemühen der Ver‐ fasser von Joh 21,1-25“ am Werk. Vgl. auch Theobald, Jünger, 248; Roberts, John 20: 30-31, 410. 190 Theobald, Jünger, 246. 191 Vgl. Wengst, Johannesevangelium II, 326. Tertullians darauf hin, dass es „im frühen 3. Jahrhundert - vielleicht u. a. - eine ,Auflage‘ des Johannesevangeliums [gab], die mit Joh 20,30f als besie‐ gelndem Buchschluß endete.“ 184 Das zweite, offensichtlich gewichtigere Argument für die Einheitlichkeit des Evangeliums liegt in der Komposition der Texte, die den Lieblingsjünger er‐ wähnen. So wird betont, dass „alle Texte, die seit 13,23 einen der Jünger Jesu als denjenigen benennen, den Jesus liebte, oder auch nur auf seine Gegenwart an‐ spielen, […] ohne 21,20ff schlechthin rätselhaft [blieben] und […] ohne diese Klimax förmlich in der Luft“ 185 hingen. 186 Mit diesem Argument hängt die Ent‐ scheidung zusammen, den Lieblingsjünger als fiktionale Gestalt zu kenn‐ zeichnen, der lediglich dazu in die Erzählung eingeführt wird, um „ihn dem Leser am Ende seiner Lektüre als den ,idealen Autor‘ und Evangelisten zu präsen‐ tieren.“ 187 Die Schwierigkeit dieses Arguments liegt in der doppelten Hypothese, die damit verbunden ist. Erstens scheint es fraglich, warum der Tod einer fik‐ tiven Gestalt diskutiert werden muss ( Joh 21,23). 188 Es ist doch einsichtiger, eine historische Person hinter dem Lieblingsjünger zu vermuten, deren reales Ab‐ leben gewisse Schwierigkeiten für die Leser darstellte. 189 Zweitens ist zweifel‐ haft, ob die Komposition der Lieblingsjüngertexte wirklich auf seine Vorstellung als Autor hinausläuft. Sind die Texte nicht auch verständlich, wenn dieser be‐ sondere Jünger als Traditionsgarant des Evangeliums vorgestellt wird, dessen Tod nicht unbedingt erwartet werden konnte? Zutreffend ist doch wohl: „Der geliebte Jünger war demnach für die johanneische Gemeinde Legitimations- und Identifikationsfigur ineins.“ 190 Joh 21,24 scheint daher sinnvoller, wenn dadurch eine historische Person „zum Garanten des Johannesevangeliums als eines le‐ gitimen Zeugnisses“ 191 gemacht wird. Der Lieblingsjünger ist deshalb „nicht als 149 2. Die Autorität des Johannesvangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="150"?> 192 Zumstein, Johannesevangelium, 55. Diesem Urteil stimmt Tilly, „Lieblingsjünger“, 22, zu, wenn er davon spricht, dass der Lieblingsjünger „keine symbolische Idealgestalt bzw. rein fiktionale Erzählfigur“ darstellt. Vgl. auch Frey, Corpus, 80. 193 Tilly, „Lieblingsjünger“, 22. 194 Mehr als zu vermuten, dass hinter dem Lieblingsjünger „der Missionar [steht], mit dem der johanneische Kreis seine Ursprünge verband“ (Theobald, Evangelium, 91; kursiv im Original), scheint aber nicht angebracht. 195 Vgl. Resseguie, Disciple, 537. Ganz richtig resümiert er: Der Lieblingsjünger „sees the glory in the flesh and wants the reader to adopt this point of view.“ (549) 196 Tilly, „Lieblingsjünger“, 24. 197 Vgl. Theobald, Evangelium, 70, der erklärt: „Joh 21 mit seinem Petrus-Bild von gesamt‐ kirchlicher Relevanz stellt gewiss das späteste Stadium der Redaktion dar.“ (kursiv im Original) Ihm stimmt Zumstein, Johannesevangelium, 39, zu, der Joh 21 als „ein beson‐ ders schönes Beispiel der Endredaktion“ des Johannesevangeliums (kursiv im Original) erkennt. rein symbolische Gestalt ohne historischen Gehalt zu betrachten.“ 192 Damit wird gleichzeitig diese Person als idealer Autor vorgestellt und bietet zugleich dem Leser seine eigene Perspektive zur Übernahme an. Durch die gewollte Anony‐ mität dieses Jüngers gelingt es dem Evangelium, „Hörern und Lesern ein lite‐ rarisches Identifikationsangebot“ 193 zu machen. Die Beobachtung, die dazu führt, Joh 21 deshalb nicht als Nachtrag anzusehen, weil der Lieblingsjünger den idealen Autor darstellen soll, verfängt also nicht. Denn in der Tat lässt sich die Stilisierung des Lieblingsjüngers als Autor besser verstehen, wenn sie von einer Gruppe, die in ihm den realen Garanten ihrer Tradition sah, 194 vorgenommen wurde. Die Beobachtung, wonach „the Beloved Disciple represents the ideal point of view of the narrative, the ideological perspective that the narrator wants the reader to adopt“, 195 ist deshalb vollkommen einsichtig, stellt aber kein Ge‐ genargument gegen Joh 21 als Nachtragskapitel dar. Ohne den Lieblingsjünger eindeutig identifizieren zu können, lässt sich deshalb letztlich festhalten, „dass sich hinter dem symbolisch überhöhten ,Jünger, den Jesus liebt‘ eine herausra‐ gende Lehrergestalt innerhalb der johanneischen Gemeinde während der Pe‐ riode ihrer Entstehung verbirgt.“ 196 Beide Argumente können also nicht plausibel machen, dass Joh 21 kein Nach‐ tragskapitel ist. 197 Da das Kapitel wie eine Ergänzung der Ostergeschichte von Joh 20 wirkt und auch ansonsten merkwürdige erzählerische Volten schlägt (wieso erscheint Jesus nochmals, obwohl Joh 20,30f nahelegt, dass es keine Er‐ 150 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="151"?> 198 Vgl. Bultmann, Evangelium, 543; Söding, Schrift, 345; Zumstein, Erinnerung, 300, der zu Joh 20,29 bemerkt: „Dieser Makarismus hat die Funktion, die Zeit der Erscheinungen abzuschliessen und den für die nachösterliche, fortan offene Zeit massgebenden Grund‐ satz festzusetzen: zu glauben, ohne zu sehen. Unter diesem Gesichtspunkt scheint die Epiphanie in Kap. 21 deplatziert zu sein und dem argumentativen Duktus von Kap. 20 entgegenzulaufen.“ 199 Broer, Einleitung, 196. 200 Vgl. Theobald, Jünger, 250. 201 Zumstein, Erinnerung, 303. 202 Vgl. Wengst, Johannesevangelium I, 29. 203 Kügler, Johannesevangelium, 215. 204 Wengst, Johannesevangelium I, 29. Dem stimmt Zumstein, Johannesevangelium, 38, zu: „Sowohl die Textkritik als auch die Literarkritik zeigen, dass das Evangelium in seiner kanonischen Form kein einheitlicher Text, sondern das Ergebnis eines langen und komplexen Prozesses ist.“ 205 Wahrscheinlich ist ein „mehrschichtiges Modell“ (Theobald, Evangelium, 30) anzu‐ nehmen, wonach also mit der Existenz und Verarbeitung von Quellen genauso zu rechnen ist wie mit schubweisen, redaktionellen Überarbeitungen. Vgl. Zumstein, Jo‐ hannesevangelium, 39, der ebenfalls von der Existenz „mehrerer Redaktionen“ (kursiv im Original) ausgeht. Inwieweit überhaupt Licht in die Entstehung des Evangeliums gebracht werden kann, beurteilt Frey, Gemeinde, 8, skeptisch, da „die Möglichkeiten seine Entstehung im Detail zu rekonstruieren, […] angesichts der einheitlichen Sprache sehr beschränkt“ seien. scheinungen mehr geben wird? ), 198 lässt sich schließen, dass der Grundbestand des Evangeliums „von einem herausragenden Mitglied der johanneischen Ge‐ meinde verfaßt worden sein“ 199 dürfte, das zwar nicht mehr zu identifizieren ist, 200 aber trotzdem als Ausgangspunkt der Überlieferung angesehen werden kann. Joh 21 zeigt also in erster Linie, dass die Autoren dieses Kapitels den Ab‐ schluss des Evangeliums in Joh 20 nicht nur akzeptieren, sondern dadurch auch zum Ausdruck bringen, „dass sie den Text des Evangelisten als ein abgeschlos‐ senes Werk anerkennen, das sowohl für ihre Schule als auch für ihr kirchliches Umfeld Autorität beansprucht.“ 201 Weitere literarkritische Operationen sind mit dieser Entscheidung nicht not‐ wendig verbunden. 202 Dass „die Frage nach weiteren redaktionellen Textanteilen ernsthaft gestellt werden“ 203 muss, ist unbestritten, allerdings heißt das nicht, dass diese Frage auch positiv beantwortet werden muss. Im vorliegenden Zu‐ sammenhang genügt es daher festzuhalten: „Das Johannesevangelium ist gewiss nicht ein in einem Guss geschriebenes schriftstellerisches Werk. Es hat eine Vorgeschichte.“ 204 Diese Vorgeschichte kann aber für die vorliegende Untersu‐ chung offen gelassen werden. 205 Die Interpretation der Stelle begnügt sich daher mit der Feststellung, Joh 20,30f als den Epilog des ansonsten einheitlich ver‐ 151 2. Die Autorität des Johannesvangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="152"?> 206 Vgl. Brown, Gospel, 1057: „The air of finality in these two verses justifies their being called a conclusion despite the fact that in the present form of the Gospel a whole chapter follows.“ Vgl. Auch Wengst, Johannesevangelium I, 31. 207 Mit dem Konsens der Forschung. Vgl. Kügler, Johannesevangelium, 218. standenen Evangeliums anzusehen. 206 Am Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. wird es schließlich vorgelegen haben. 207 2.2. Erläuterungen zu Joh 20,30 - 31 Zunächst wird wieder in einem ersten Schritt der Text kommentierend erläutert, um dann die Frage beantworten zu können, welche Autorität das Johannes‐ evangelium sich selbst beimisst. 30 Πολλὰ μὲν οὖν καὶ ἄλλα σημεῖα ἐποίησεν ὁ Ἰησοῦς ἐνώπιον τῶν μαθητῶν αὐτοῦ, ἃ οὐκ ἔστιν γεγραμμένα ἐν τῷ βιβλίῳ τούτῳ· 31 ταῦτα δὲ γέγραπται ἵνα πιστεύητε ὅτι Ἰησοῦς ἐστιν ὁ χριστὸς ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ, καὶ ἵνα πιστεύοντες ζωὴν ἔχητε ἐν τῷ ὀνόματι αὐτοῦ. 30 Noch viele andere Zeichen hat Jesus vor seinen Jüngern getan, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. 31 Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus, der Sohn Gottes ist, und damit ihr als Glaubende das Leben habt in seinem Namen. Die beiden Verse schließen an die Geschichte an, in der Jesus dem zweifelnden Jünger Thomas erscheint. Mittels des Stichworts „glauben“ ( Joh 20,29) werden sie mit den vorhergehenden Erzählungen von der Auferstehung Jesu und den darauf folgenden Geschehnissen verbunden. Außerdem bündeln sie weitere Sinnlinien, die das Evangelium durchziehen. Wie bereits die Antwort Jesu in Joh 20,29 intendiert, lassen diese Sinnlinien sich vor allem um das Verhältnis von 152 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="153"?> 208 Vgl. Kammler, Zeichen, 204; Zumstein, Johannesevangelium, 34; Wengst, Johannes‐ evangelium II, 304. Generell gilt: „The Johannine literature attaches much importance to seeing.“ (Byrskog, Story, 235) 209 Vgl. Beutler, Johannesevangelium, 534: „Thomas steht für die Christen, die Jesus nicht mehr von Angesicht zu Angesicht schauen durften.“ 210 Vgl. zum Zusammenhang von Sehen und Glauben Zimmermann, Augenzeugenschaft, 237-241. 211 Thompson, John, 429. 212 Vgl. Labahn, Jesus, 189; Leinhäupl-Wilke, Buch, 303: „Daß Sehen und Glauben nicht als Kausalzusammenhang verifizierbar sind, weiß der Leser bereits aus den vorangehenden Episoden.“ 213 Vgl. Kammler, Zeichen, 196: „Denn ohne den Glauben bleibt das Wunder für den Wahr‐ nehmenden ein letztlich stummes Mirakel.“ 214 Vgl. zu Lazarus grundlegend Thompson, Lazarus, 460-472; Zimmermann, Lazarus-Pe‐ rikope, 165-166. „Glauben“ und „Sehen“ gruppieren. 208 Die Erzählung, die sich speziell um das Sehen des Thomas dreht, 209 hat ihre Parallelen, wenn Maria in Joh 20,18 den Herrn „sieht“ oder die Jünger in Joh 20,20 ihn „sehen“. Auch Thomas kann nur glauben, wenn er „sieht“ ( Joh 20,25). „Sehen“ und „Glauben“ werden damit in einen engen Zusammenhang gebracht. 210 Dies verweist auf Joh 12,37 zurück, sodass der Epilog „echoes the earlier summary that marked the end of Jesus’ public ministry of signs.“ 211 Somit wird konstatiert, dass Sehen nicht automatisch zum Glauben führt, denn die Menge dort glaubt nicht an Jesus, obwohl sie viele Zeichen seiner Identität gesehen hat. 212 Das Zeichen braucht also eine Deutung, weil es an sich vielschichtig bleibt. 213 Erzählerisch wird dies breit in der Episode von der Auf‐ erweckung des Lazarus ( Joh 11) dargestellt. 214 Lazarus wird auferweckt, damit die Menge, die um das Grab herumsteht, erkennt, dass Jesus von Gott gesandt wurde ( Joh 11,42). Das Wunder demonstriert die Identität Jesu. Dem Leser ist sie aber bereits zuvor bekannt. Bei Thomas wird die Identität Jesu und damit das Wunder seiner Auferstehung auch durch das Sehen Jesu bestätigt - natürlich nur als Siegel auf die zuvor gehörten Worte. Sehen und Glauben fallen aber bei den Lesern des Evangeliums auseinander. Da die Juden, die bei der Auferwe‐ ckung des Lazarus zugegen sind, Jesu Worte hören und das Wunder „sehen“ ( Joh 11,45), glauben sie an Jesus. Weil Thomas sieht und Jesus sogar anfassen kann, deshalb glaubt er. Für die Leser des Evangeliums sind beide Möglichkeiten 153 2. Die Autorität des Johannesvangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="154"?> 215 Vgl. Söding, Schrift, 368. Frey, Gemeinde, 8, erkennt die Abwesenheit Jesu als das „Kernproblem“ der Adressaten: „Nach Jesu Weggang ist alles anders, auch die Form der Nachfolge.“ 216 Vgl. Söding, Schrift, 368; Leinhäupl-Wilke, Buch, 304, der darauf hinweist, dass der Makarismus in Joh 20,29 bereits eine Gruppe anspricht. „die außerhalb der Jüngerver‐ sammlung zu suchen ist.“ 217 Vgl. Zimmermann, Lazarus-Perikope, 161, der zeigt, wie die Lazaruserzählung den Leser dazu zwingt, „sich immer tiefer in den Verstehensprozess hineinbegeben“ zu müssen. 218 Vgl. Roose, Schluss, 335: „Die johanneische Jesusgeschichte ist so geschrieben, dass die johanneische Gemeinde sich in ihr wiederfinden kann: Das Evangelium ist als ,two-level-drama‘ gestaltet.“ 219 Theobald, Evangelium, 45. 220 Vgl. Kammler, Zeichen, 205; Moloney, Text, 18: „The Gospel of John was written for people who believed, but did not see Jesus.“ 221 Vgl. Wengst, Johannesevangelium II, 303. 222 Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 772. aber weggebrochen. 215 In diese nachjesuanische Situation sprechen Joh 20,29-31 hinein. 216 Es ist damit offensichtlich, dass die jeweiligen Erzählungen (Lazarus- und Thomasperikope) an den Stellen aus sich selbst heraustreten und den Blick zum Leser wenden. 217 Es werden Figuren angeboten, die als Identifikationsangebote fungieren können. 218 So gewinnt der Text „Transparenz auf die Gegenwart“ 219 hin. In der Lazarusepisode wird Martha angesprochen und gefragt, ob sie daran glaubt, dass Jesus die Auferstehung in Person darstellt ( Joh 11,26). Obwohl sie die Worte Jesu - im Gegensatz zum Leser, der an dieser Stelle den Wissensvor‐ sprung hat, dass sich Jesus am Kreuz offenbaren wird - nicht in ihrer vollen Tragweite verstehen kann, legt sie ihr Bekenntnis zu ihm ab. Genauso ergeht es Thomas, der die Auferstehung Jesu bezweifelt und sich durch Jesus selbst über‐ zeugen lassen will. Auch er legt im Angesicht des Auferstandenen sein Be‐ kenntnis zu ihm ab. Beide Figuren, Martha und Thomas, dienen dem Leser also als Angebote, die eigenen Zweifel und Wünsche in sie einzutragen. Mit ihnen kann er sich überzeugen lassen. Mehrfach wird im Evangelium damit die Prob‐ lematik aufgeworfen, die im Epilog zu einer allgemein gültigen Aussage führt. Es geht um das Glauben in einer Zeit, in der das Sehen unmöglich geworden ist. 220 Angesichts dieser zahlreichen Linien, die sich durch das Evangelium ver‐ folgen lassen, scheint es angebracht, in Joh 20,30f einen Abschluss zu sehen. Die Sinnlinien werden hier zu einer allgemeinen Aussage verdichtet. Beide Verse sind also auf jeden Fall zum Finale des Evangeliums zu rechnen, unabhängig davon, ob man sie als ursprünglichen Schluss betrachtet 221 oder in ihnen den Auftakt des Epilogs erkennt. 222 154 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="155"?> 223 Vgl. Barrett, Evangelium, 544, der im Makarismus einen „Segen über jene [erkennt], die - anders als Thomas - [ Jesus] nicht gesehen, doch wie Thomas geglaubt haben.“ 224 Vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 769. 225 Vgl. Roose, Schluss, 336, die in der Klage von Martha und Maria ( Joh 11,21.32) eine Haltung gespiegelt sieht, „die bei den johanneischen Christen verbreitet war.“ Dass Jesus nicht mehr anwesend ist, dürfte demnach wohl ein Problem dargestellt haben, dem das Evangelium mit erzählerischen Mitteln begegnet. 226 Vgl. Wengst, Johannesevangelium II, 304; Segovia, Farewell, 174. 227 Vgl. Michaels, Gospel, 1022. 228 Vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 769: „Sicher ist, dass diese Verse aus argumenta‐ tiver Sicht ein Kommentar des impliziten Autors zu seinem gesamten Werk sind.“ 229 Vgl. Söding, Schrift, 351. 230 Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 773. 231 Vgl. Markl, Rahmen, 110; Zumstein, Erinnerung, 325. 232 Textkritisch scheint wahrscheinlich, dass „αὐτοῦ“ zum ursprünglichen Textbestand zu rechnen ist. Dafür sprechen wichtige Textzeugen (z. B. P 66 ) sowie die kontextuelle Be‐ obachtung, dass die Jünger in der vorhergehenden Erzählung direkt involviert sind. Zudem scheint die bestimmende Zuordnung der Jünger zu Jesus eher dem johannei‐ schen Sprachgebrauch zu entsprechen; vgl. Joh 1,37; 2,17; 4,8; 6,24. 60. 66 u. ö. 233 Vgl. Beutler, Johannesevangelium, 534. 234 Oft steht dabei im Hintergrund die Annahme einer Zeichenquelle im Sinne Bultmanns, Evangelium, 541. So z. B. bei Schulz, Evangelium, 248. Konkret hat das Beispiel des Thomas gezeigt, dass es leichter fällt zu glauben, wenn man Jesus sieht. Allerdings - so wird dem Leser eingeschärft -, ist der selig, der nicht sieht und doch glaubt. 223 Damit ist nicht nur der Leser angespro‐ chen, sondern auch seine Identität bekräftigt. Er gehört zu denen, auf die zutrifft, dass sie nicht mehr sehen können und dennoch glauben müssen. 224 Denn so weiß der Leser, dass ihm durch seine Nachzeitigkeit zu Jesus kein Nachteil ent‐ steht. 225 Mit μὲν οὖν leitet der Erzähler zu der allgemeinen Aussage über, die nun folgt. Der Erzähler tritt aus dem Fluss seiner Erzählung heraus und beendet diese mit einer direkten Anrede an die Leser 226 (ansonsten nur noch in Joh 19,35 227 ) und einem Kommentar, der das Ende markiert. 228 Er blickt damit summierend auf sein Buch zurück und legt darüber Rechenschaft ab, 229 warum er es geschrieben hat. 230 Deshalb ist dieser Text als Metatext zu bezeichnen, der auf sich selbst rekurriert. 231 Verstärkt durch das pleonastisch wirkende καὶ wird hier in feierlich wirkendem Ton in Anlehnung an Sir 43,27; 1.Makk 9,22 konstatiert, dass nicht alle Zeichen aufgeschrieben wurden, die Jesus vor seinen Jüngern 232 getan hat. Es kann dabei gefragt werden, was mit σημεῖα genau bezeichnet werden soll. 233 Dazu werden mehrere Vorschläge diskutiert: Ist hier an die Zeichen zu denken, die im Johannesevangelium explizit als solche bezeichnet werden, zu‐ letzt in Joh 12,37? 234 Oder sind konkret nur die beiden Wunder in Joh 9 und 11 155 2. Die Autorität des Johannesvangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="156"?> 235 So Roose, Schluss, 329: Joh 9 und 11 „bilden die primären Verweisstellen der Schluss‐ notiz, sekundär verweist sie auf alle Wunderberichte, tertiär auf das ganze Evangelium.“ 236 So Kammler, Zeichen, 201. Dieser These widerspricht z. B. Schneider, Evangelium, 325: „Es ist aber offensichtlich, daß der Evangelist den ganzen Inhalt seines Buches meint, den er unter den Begriff der σημεῖα subsumiert.“ 237 Vgl. Wengst, Johannesevangelium II, 305. 238 Vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 770: „Das Konzept des Zeichens hat dazu auch eine eminent hermeneutische Dimension. Es gilt, die im Evangelium erzählte Geschichte als ein Zeichen zu verstehen, das zum Erkennen der wahren Identität des joh[anneischen] Jesus und somit zum Glauben führt.“ 239 Thyen, Johannesevangelium, 774. 240 Schenke, Johannes, 381. 241 Vgl. Wilkens, Evangelium, 319: „Hier ist mit den ‚Zeichen‛ deutlich der gesamte Inhalt des Joh gemeint, einschließlich der Passions- und Ostergeschichte.“ Zustimmend Wengst, Johannesevangelium II, 305; Thyen, Johannesevangelium, 774; Beutler, Johan‐ nesevangelium, 532. 242 Söding, Schrift, 362. im Blick? 235 Oder soll sich der Begriff „ausschließlich auf die Selbsterweise des Auferstandenen vor seinen Jüngern“ beziehen? 236 Betrachtet man die aufgezeigten Sinnlinien innerhalb des Evangeliums, legt sich eine weitere Möglichkeit nahe. Der Begriff scheint erstens deshalb Ver‐ wendung zu finden, weil der negative Abschluss der Wirkungen Jesu vor der Welt ( Joh 12,37) damit kontrastiert wird. Dies wird durch die Betonung seiner gläubigen Schüler deutlich gegenüber der ungläubigen Menge gezeigt. Seine Schüler sind damit den Lesern parallel angeordnet. Sie glauben an ihn - auch aufgrund der Zeichen ( Joh 2,11) 237 - genauso wie die Leser dies tun sollen. Durch den engeren Kontext wird weiter deutlich, dass sich das Buch, das diese Zeichen enthält, dafür eignet, das Sehen der Zeichen durch das Lesen der Zei‐ chen zu ersetzen. 238 Vorbereitet ist damit auch das Anliegen des Evangelisten, wonach das Zeichen allein nicht den Glauben wirken kann. Weiter ist unwahr‐ scheinlich, dass der Leser nun aufgefordert werden soll, die Erzählung seit Joh 12,37 auszublenden, wenn er den Zeichenbegriff wahrnimmt. 239 Wenn der Text also als summierender Abschluss des Evangeliums erkannt wird, scheint plau‐ sibel, dass das „gesamte Wirken Jesu […] unter dem Begriff ,Zeichen‘ gefaßt“ 240 wird. Das Evangelium ist damit gleichsam als Ersatz der einzelnen Zeichen an‐ zusehen. Deshalb dürfte mit den Zeichen inhaltlich das gesamte Evangelium gemeint sein. 241 Sicherlich sollen damit also nicht nur die sieben Wundertaten Jesu gemeint sein, sondern es geht grundsätzlich „um jene Manifestationen des eschatologischen Offenbarungsgeschehens, die in wunderbarer Weise […] die Wirklichkeit des Geoffenbarten vermitteln.“ 242 156 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="157"?> 243 Vgl. Barrett, Evangelium, 550; Schenke, Johannes, 381: „Das Buch gibt nur eine Auswahl der Zeichen wieder. Doch diese Auswahl genügt.“ 244 Vgl. Söding, Schrift, 349, der die Konvention „antiker Rhetorik“ durchschimmern sieht. 245 Zumstein, Erinnerung, 32. Vgl. zu dieser Frage Baum, Epilogue, passim, der ausführlich den antiken Kontext des Epilogs vorführt. 246 Vgl. Thompson, John, 447: „Admittedly selective, the Gospel has focused on a few themes to the virtual neglect of many others and has underscored certain aspects of Jesus’ identity in order to foster and encourage faith in him.“ 247 Vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 771. 248 Vgl. Söding, Schrift, 352; Scholtissek, Beobachtungen, 221. 249 Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 774. Allerdings kann diese Beobachtung nicht das Gewicht tragen, das Thyen ihr beimisst, also die Einheitlichkeit von Joh 20,30f und Joh 21 zu erweisen. Vielmehr scheint die Redaktion dieses Spiel bewusst aufzunehmen und so die Texte miteinander zu verklammern. 250 Vgl. Beutler, Johannesevangelium, 532: „Das mündliche Zeugnis der Zwölf: „,Wir haben den Herrn gesehen‘ ist nun durch ein Buch ersetzt.“ 251 Vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 771. Der Satzbau zeigt dabei durch die Opposition von μέν - δέ, dass die Auswahl einem bestimmten Zweck dient. Offensichtlich meint Johannes, dass die aufge‐ zeichneten Worte genug seien, um sein Ziel zu erreichen 243 und zeigt deshalb an, dass er nur eine Auswahl getroffen hat, die den Strom der Überlieferung einengt. 244 Damit liefert er „klassische Motive, mit denen in der Antike ein lite‐ rarisches Œuvre abgeschlossen wurde.“ 245 Der Relativsatz betont diese Selektion durch seine negative Abgrenzung gegen weitere Erzählstoffe, die bewusst nicht aufgenommen sind. 246 Interessant und zuweilen wenig beachtet, ist die besondere Hervorhebung des „Buches“: „Es handelt sich hier um die einzige Verwendung des Begriffs im Neuen Testament und soll das Evangelium als literarisches Werk charakteri‐ sieren.“ 247 Zugleich ist bemerkenswert, dass der Terminus „βιβλίον“ durchaus Assoziationen bezüglich alttestamentarischer Schriften wecken kann. 248 An‐ scheinend formuliert der Evangelist damit bereits einen gewissen Anspruch, den sein Text erhebt. Dem korrespondiert das Spiel mit den Ausdrücken „ge‐ schrieben sind“ und „nicht geschrieben sind“, das durch den Schluss von Joh 21 gespiegelt wird. 249 „Schreiben“ und „Lesen“ wollen wohl das „Sehen“ ersetzen. 250 Deshalb ist auch die Verwendung des Passivpartizips (γεγραμμένα) folgerichtig, da damit die Vorzeitlichkeit des Schreibens (es ist geschrieben) genauso ange‐ zeigt wird wie der Aspekt, dass damit das gegenwärtige Lesen ermöglicht wird (damit es jetzt gelesen werden kann). 251 157 2. Die Autorität des Johannesvangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="158"?> 252 Vgl. Beutler, Johannesevangelium, 534. 253 Vgl. zum Umgang mit Prätexten im Johannesevangelium Frey, Mose, 204-205: „Die Schriftbenutzung durch Anspielungen und subtile Andeutungen im 4. Evangelium ist wesentlich breiter und tiefergehend, als die expliziten Zitate und punktuellen Bezug‐ nahmen vermuten lassen.“ 254 Vgl. Markl, Rahmen, 113; Scholtissek, Beobachtungen, 222: Das Schriftverständnis der deuteronomistischen Theologie „nimmt der Evangelist Johannes kongenial auf.“ 255 Vgl. Zumstein, Erinnerung, 40. 256 Zur Rezeption des Alten Testaments im Johannesevangelium vgl. Söding, Offenbarung, 388. 257 Vgl. Markl, Rahmen, 109. 258 Vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 771. 259 Söding, Schrift, 353. Vgl. Bauckham, Whom, 29: „Oral teaching could be passed on, but much less effectiveley than a book.“ 260 Vgl. Leinhäupl-Wilke, Buch 276: „Das (Auf-)Schreiben der erzählten Geschichte bietet für die johanneische Erzählgemeinschaft langfristig so etwas wie ein identitätssi‐ cherndes Faktum.“ In systematischer Perspektive weist Herms, Schrift, 405, darauf hin, dass die schriftliche Fixierung „sich just der Absicht verdankt, die kanonische Funktion des Osterkerygmas sicherzustellen.“ (kursiv im Original) 261 Vgl. Roose, Schluss, 330: „Die σημεῖα stehen bei Johannes in einem engen Zusammen‐ hang mit dem Glauben.“ Das Buch transportiert also die Geschichte Jesu in die Gegenwart der Leser 252 und spielt zugleich auf Wendungen im Deuteronomium an (Dtn 28,58.61), 253 die ausdrücklich verlangen, das Aufgezeichnete zu achten. 254 Weiter ist deshalb deutlich, warum das Johannesevangelium so ausdrücklich mit Begriffen und ironischen Wendungen spielen kann. 255 Als Buch erschließt es sich als ein zu lesendes Werk anders als ein rein und ausschließlich auf das Hören ausgerich‐ teter Text. Bewusst scheint damit das Werk darauf angelegt, die weiteren Texte, vor allem die Schriften des Alten Testaments, zu ergänzen. 256 Dies zeigt sich besonders im Spiel mit den Texten, die den Pentateuch rahmen. 257 Ausdrücklich verweist Johannes auf das Buch, das nun alles enthält, was nötig ist, um sein Anliegen zu erreichen. Das Evangelium wird zum Glaubensbuch und somit der Übergang von der mündlichen Erzählung zur Literatur bewusst angenommen und begonnen. 258 Indem Johannes bewusst ein βιβλίον schreibt, garantiert er die Verlässlichkeit seiner Überlieferung und „Schriftlichkeit garantiert Authentizität.“ 259 Offen‐ sichtlich blickt er also auf einen gewissen Zeitraum der Tradition zurück und bereitet eine längere Zeit des Glaubenslebens vor. Das Buch wird damit zum entscheidenden Medium, um die Glaubensbotschaft abzusichern. 260 Joh 20,30 hat demnach zwei Stoßrichtungen: Zum einen verweist Johannes darauf, dass der Glaube an Jesus auf weiteren Erzählungen fußen kann, da Jesus weitere Zeichen getan hat, die zum Glauben verhelfen können. 261 Allerdings 158 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="159"?> 262 Leinhäupl-Wilke, Buch, 278. 263 Vgl. Bauckham, John, 169. 264 Roberts, John 20: 30-31, 409. Vgl. Leinhäupl-Wilke, Buch, 276. 265 Vgl. zur Diskussion Schnackenburg, Johannesevangelium, 403 f. 266 Vgl. Carson, Purpose, 640; Brown, Purpose, 212. schränkt er andererseits zugleich faktisch deren Bedeutung ein, da er sie nicht überliefert. Die ausgelassenen Zeichen können demnach der Offenbarung Gottes in Jesus nichts mehr hinzufügen, was nicht schon in den aufgezeichneten Zeichen enthalten wäre. Das Evangelium unterscheidet also in seinem Textbe‐ stand zwischen den wichtigen Überlieferungen, die es in den Augen des Jo‐ hannes verdienen, weiter wahrgenommen und rezipiert zu werden, und denen, die dem potentiellen Vergessen anheimgegeben werden können. Das Evange‐ lium ist für das Heil des Menschen demnach suffizient. Weitere Überlieferungen werden nicht gebraucht. Dass Johannes überhaupt die ihm vorliegende Über‐ lieferung verschriftlicht, zeigt, dass er seinen Text als notwendig betrachtet, um sein Ziel zu erreichen. Um den Glauben richtig zu verstehen und damit zum Leben zu gelangen, muss der Leser deshalb aus der Sicht des Johannes nur eins tun: „Er muß das Buch lesen.“ 262 Andere Überlieferungen oder vielleicht sogar schriftliche Werke, die ihm eventuell bekannt sein könnten, scheinen ihm nicht zu genügen bzw. will er diese mit einer bestimmen Perspektive versehen. 263 Andersfalls fällt die Notwendigkeit seiner schriftlichen Aufzeichnung weg. Die Sorge um die nachfolgenden Generationen und deren Bedürfnis motiviert Jo‐ hannes dazu, die eigene Jesusüberlieferung schriftlich zu fixieren. Das bedeutet, dass Johannes sein eigenes Werk als keiner weiteren Ergänzung bedürftig hält und dass es zweitens für ihn notwendig scheint, um den Glauben seiner und folgender Leser zu stärken. Mit Joh 20,31 wendet sich der Blick von den Zeichen weg, die nicht ge‐ schrieben wurden, auf diejenigen, die geschrieben sind. Ταῦτα scheint dabei nicht nur auf die erzählten und ausdrücklich so bezeichneten „Zeichen“ zu ver‐ weisen, sondern „refers to the previous twenty chapters.“ 264 Zunächst muss eine wichtige textkritische Fragestellung in den Blick ge‐ nommen werden. 265 Lautet die ursprüngliche Lesart des Verses: „ἳνα πιστεύητε“ (also Konj. Präs.) oder „ἳνα πιστεύσητε“ (also Konj. Aor.)? 266 Liest man den Konj. Aor., dann könnte der Aorist einen ingressiven Aspekt anzeigen. Man müsste dann den Vers wohl so verstehen, dass der Leser durch die Lektüre des Evan‐ geliums zum Glauben kommen könne und würde paraphrasieren: „damit ihr 159 2. Die Autorität des Johannesvangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="160"?> 267 Zumstein, Johannesevangelium, 768. 268 So z. B. Carson, Purpose, 651, der das Evangelium als „primarily evangelistic“ ansieht. Dagegen wendet sich u. a. Brown, Purpose, 212. 269 Vgl. Riesenfeld, ἳνα-Sätzen, 217; Carson, Purpose, 640: „But in fact, whatever one con‐ cludes the outcome of the text-critical question to be, the meaning of the verse is not determined by the tense of this one verb.“ 270 Vgl. Riesenfeld, ἳνα-Sätzen, 220. 271 Mit Zumstein, Johannesevangelium, 770; Thyen, Johannesevangelium, 774; Beutler, Jo‐ hannesevangelium, 533. 272 Vgl. Carson, Observations, 697. 273 Vgl. Brown, Purpose, 215, der vor der strengen Alternativsetzung warnt: „I wonder if the ,evangelistic versus nurture‘ debate regarding the Fourth Gospel is not fundamen‐ tally wrong-headed.“ 274 Zumstein, Johannesevangelium, 770. Ähnlich beobachtet Roose, Schluss, 332, die Stra‐ tegie der Erzählung: Der Text „spielt mit dem Wechsel von Transparenz und fehlender Transparenz der erzählten Welt für die Situation der historischen Leser.“ hier und jetzt glaubt, damit ihr also zum Glauben kommt“. 267 Das ganze Evan‐ gelium wäre dann im Sinne eines Missionstraktates zu verstehen. 268 Die Textkritik allein kann hier kein zweifelfreies Urteil abgeben, da gewich‐ tige Textzeugen sowohl den Aorist (A, C, D) als auch das Präsens (P 66vid , א , B) lesen. 269 Vergleicht man aber zunächst die weiteren Satzkonstruktionen mit „ἳνα“, die sich im Corpus Johanneum finden (z. B. Joh 11,15; 14,29; 17,21), zeigt sich, dass die präsentische Lesart dem johanneischen Denken wohl näher kommt. 270 Es scheint deshalb insgesamt angeraten, nicht den Aorist, sondern das Präsens für ursprünglich zu halten. 271 Die präsentische Lesart kann dem‐ entsprechend als lectio difficilior angesehen werden. 272 Will man sich auf die Debatte einlassen, ob das Evangelium nicht in erster Linie trotzdem eine Missionsschrift sein will, 273 ist inhaltlich festzustellen, dass die konkreten Umstände, die dazu führen sollen, schwer vorstellbar sind. Sollte es als missionarischer Text etwa verteilt oder öffentlich vorgelesen werden? Letztlich spricht auch der Charakter des Evangeliums selbst dagegen, denn „die ganze argumentative Strategie des Evangeliums, insbesondere die Verwendung symbolischer Sprache und das Spiel mit Ironie und Missverständnis, [lassen] vermuten, dass die Adressaten des Evangeliums eher ,Insider‘ sind, also die Glaubenden der joh[anneischen] Gemeinden selbst, die dazu gerufen sind, ,besser zu glauben‘“. 274 Anders gewendet kann diese einzelne Stelle mit ihrer präsentischen Lesart auch nicht die Beweislast tragen, dass das Evangelium als Ganzes keine Missi‐ onsschrift ist, doch scheint es aus den genannten Gründen insgesamt plausibler, 160 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="161"?> 275 Schnackenburg, Johannesevangelium, 404; Riesenfeld, ἳνα-Sätzen, 220: „In diesem Zu‐ sammenhang lässt sich aber auch eindeutig feststellen, dass die charakteristische Aus‐ drucksweise in Joh 20,31 mit ihrem ἳνα-Satz ihren ,Sitz im Leben‘ innerhalb der Ge‐ meinde und eben nicht in der Mission gehabt hat. Die formale Analyse von Joh 20,31 spricht dafür, dass das Johannesevangelium keine Missionsschrift ist.“ 276 Thyen, Johannesevangelium, 775. 277 Thyen, Johannesevangelium, 775. 278 Elegant entledigt sich Bultmann, Evangelium, 541, der Frage, für wen das Evangelium primär geschrieben wurde: „Den Zweck seines Buches gibt er an (V. 31), indem er die Leser direkt anredet, es ist der: den Glauben zu wecken, daß Jesus der Messias, der Sohn Gottes ist. Im Sinne des E[van]gelisten ist es dabei gleichgültig, ob die etwaigen Leser schon ,Christen‘ sind oder noch nicht; denn der Glaube der „Christen“ ist ja für ihn nicht eine ein für allemal vorhandene Überzeugung, sondern muß ständig seiner selbst aufs neue sicher werden und muß deshalb stets das Wort neu hören.“ Laut Be‐ asley-Murray, John, 389, lassen sich die Alternativen nicht klar trennen: „The primary and the secondary purpose run close together.“ Für Söding, Schrift, 370, ist dagegen klar, dass Johannes „mit einer ganz erheblichen christologischen Vorbildung“ seiner Leser rechnet. 279 Vgl. Schnackenburg, Johannesevangelium, 404. 280 Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 775. 281 Vgl. Wengst, Johannesevangelium II, 306. 282 Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 775. den Sitz im Leben eines solchen Textes im „Gemeindeunterricht“ 275 zu sehen und die Adressaten eher als „eine von Zweifeln und Apostasie bedrohten Christen‐ heit“ 276 zu identifizieren. Diese Beobachtung ist für den vorliegenden Zusam‐ menhang wichtig, weil das Evangelium in erster Linie demnach „primär kei‐ nesfalls ein missionarischer Traktat“ 277 ist, sondern sich an solche Menschen richtet, die bereits in irgendeiner Form mit dem christlichen Glauben in Kontakt gekommen sind. 278 Wichtig ist, dass das Evangelium nicht Leser zum Glauben bringen will, die vom Christentum und von Jesus von Nazareth noch nichts gehört haben, sondern dass es um eine innerchristliche Vergewisserung geht. 279 Deshalb ist die Wortreihenfolge wahrscheinlich bewusst formuliert: Der Name „Jesus“ steht pointiert am Anfang und trägt als Subjekt des Satzes das Ge‐ wicht. 280 Analog zur Seligpreisung aus Joh 20,29 zeigt sich, dass eine christliche Leserschaft in ihrem Glauben an Jesus vergewissert werden soll. 281 Inhaltlich geht es um die Betonung der Identität Christi. Jesus als Subjekt des Satzes wird nochmals eindrücklich vorgestellt. 282 Der Vers wirkt dabei wie eine Ergebnissicherung des Evangeliums. Durch den Artikel wird das Prädikats‐ nomen hervorgehoben und klargestellt, dass Χριστός den Kulminationspunkt des Glaubensbekenntnisses und Zielpunkt des Evangelium darstellt. Was Martha in Joh 11,27 aussagt, ohne dabei die volle Tragweite ihres Bekenntnisses 161 2. Die Autorität des Johannesvangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="162"?> 283 Vgl. Roose, Schluss, 332, die treffend zeigt, dass das Bekenntnis der Martha in der er‐ zählten Welt für sie selbst nicht ganz deutlich, aber „dagegen hochgradig transparent für die johanneischen Christen“ ist. 284 Vgl. Beutler, Johannesevangelium, 533. 285 Vgl. Markl, Rahmen, 109. 286 Vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 771: „Diese pragmatische Ausrichtung zieht sich durch die gesamte joh[anneische] Erzählung.“ 287 Vgl. Söding, Schrift, 356. 288 Zumstein, Johannesevangelium, 771 289 Vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 771; Söding, Schrift, 357: „Inhaltlich und formal erweist sich Joh 20,31 als gezielte Aufnahme und Zusammenfassung dieser Be‐ kenntnis-Sätze aus dem Corpus des Evangeliums.“ 290 Zumstein, Johannesevangelium, 771. zu erfassen, wird nun in Richtung des Lesers ausgesprochen. 283 Am Ende des Evangeliums soll dieser das Wesen Jesu voll erfassen und so durch seinen Glauben an ihn das Leben gewinnen, wie es Martha noch nicht erahnen konnte. 284 Joh 20,31 gibt also zunächst das Ziel an, wozu das Evangelium geschrieben wurde: damit ihr glaubt und das Leben habt. Die beiden Finalsätze nehmen dabei bekannte Motive auf ( Joh 1,4. 7. 12.17). 285 Die Zielsetzung der ganzen Erzählung, die bereits mehrfach angeklungen ist ( Joh 1,12; 3,15; 4,14; 11,42; 17,2), wird hier direkt zum Zweck des ganzen Evangeliums gemacht. 286 Bislang ging es um das Wirken Jesu, das zum Glauben und zum Leben führen soll, jetzt geht diese Ziel‐ setzung auf das Buch über. Das Evangelium tritt in seiner Funktion an die Stelle Christi. Christus bleibt aber der bestimmende Inhalt des Glaubens. 287 Deshalb wird ausdrücklich betont, dass dieser Jesus, von dem das Evangelium erzählt hat, wirklich der Christus ist. Der Zielpunkt jüdischer Erwartungen hat sich in ihm personifiziert: „Diese Formulierung unterstreicht den Skandal der Menschwer‐ dung: Im Menschen Jesus gilt es, den Christus, den Sohn Gottes, zu er‐ kennen.“ 288 Die Formulierung mit πιστεύειν und ὃτι erinnert von daher nicht zufällig an ein Glaubensbekenntnis (vgl. Joh 6,69; 11,27; 16,30). 289 Die Identifizierung Jesu als Sohn Gottes durchzieht dabei das ganze Evangelium und setzt in Beziehung zum Christustitel einen besonderen Akzent. Ausgehend von der Fleischwerdung des Logos im Prolog ( Joh 1,1-18) über das Zeugnis Johannes des Täufers ( Joh 1,34) lassen sich weitere Belegstellen zeigen (Nathanael: 1,49; Jesus selbst: 10,36; 11,4; Martha: 11,27), die alle Jesus in besondere Weise mit der Hoheit aus‐ zeichnen, der Sohn Gottes zu sein. Die Verbindung von Sohn Gottes, Christus und dem Menschen Jesus von Nazareth bringt die johanneische Christologie am Ende auf den Punkt: „In der Person Jesu offenbart sich Gott selbst.“ 290 Damit sieht 162 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="163"?> 291 Vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 771 292 Söding, Schrift, 355. 293 Vgl. Schnackenburg, Johannesevangelium, 405; O‘Day, Revelation, 93. 294 Markl, Rahmen, 113. 295 Schulz, Evangelium, 248. 296 Zimmermann, Augenzeugenschaft, 245. sich die alttestamentarisch-jüdische Erwartung des Messias in Jesus auf der einen Seite erfüllt, auf der anderen kann Johannes den „Sohn Gottes“ zum Titel seiner metaphorischen Christologie erheben. 291 Mit der Identifizierung Jesu als Christus und Sohn Gottes nimmt Johannes also „jene beiden Würdenamen [auf], die sich in der urchristlichen Theologiegeschichte als die wohl elementarsten und zugleich signifikantesten herauskristallisiert haben.“ 292 Die Christologie wird im weiteren Satzverlauf mit der Soteriologie eng ver‐ bunden. 293 Der Glaube, dass Jesus der Christus ist, beinhaltet demnach die Zu‐ sage, das Leben in seinem Namen zu haben. Der Name fungiert pars pro toto als Heilsraum, als „Lebensraum“, 294 in den derjenige eintreten kann, der glaubt. Die parallele Satzstruktur mit ἳνα und den jeweiligen präsentischen Konjunktiven von πιστεύω und ἔχω zeigt die enge Parallelität und innere Zusammengehörig‐ keit beider Aussagen. Wer glaubt, ist dadurch gerettet. Damit ist die Angabe des Zwecks ein doppelter, wobei beide inhaltlich einander bedingen. Beide Ziele sind nicht voneinander zu isolieren. Der Glaube an Jesus als den Christus impliziert das (ewige) Leben. 2.3. Die Absicht von Joh 20,30 - 31 „Der Zweck des Evangelienbuches ist ein eindeutig dogmatischer.“ 295 In dieser Pauschalität sollte die Aussage nicht stehengelassen werden. Johannes verfasst sein Evangelium nicht, um dogmatische Satzwahrheiten einzuschärfen, sondern damit seine Leser glauben sollen, dass Jesus der Christus ist, und damit sie da‐ durch in seinem Namen das Leben finden. Die Jesuserzählung ist deshalb „re‐ zeptionsästhetische Christologie“, 296 die der Soteriologie die Hand reicht und so in existentiell bedeutender Weise auf das Leben der Leser einwirkt. Es geht also nicht um die reine Lehre, sondern um die Aneignung des durch die Offenbarung Gottes angebotenen Lebens im Glauben. Dessen ausdrückliche Betonung durch das ganze Evangelium macht deutlich, dass der Text wesentlich darum ge‐ schrieben wurde. Die Absichten, die durch Joh 20,30f deutlich werden, laufen auf die Stärkung der Leser im Glauben hinaus. Um diese sicherzustellen, verfasst Johannes sein Evangelium, fixiert und verbreitet also seine Botschaft als Text 163 2. Die Autorität des Johannesvangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="164"?> 297 Vgl. Söding, Schrift, 353: „Die Schriftlichkeit verbürgt nicht nur die Verbreitung, son‐ dern vor allem auch die Authentizität des Offenbarungs-Zeugnisses.“ 298 Vgl. Zumstein, Erinnerung, 37: „Das Evangelium bietet sich also als Weg an, die christ‐ liche Identität innerhalb veränderter Bedingungen zu rekontextualisieren.“ (kursiv im Original) Vgl. Thompson, John, 429. 299 Vgl. Kammler, Zeichen, 195. 300 Vgl. Theobald, Evangelium, 38: „Nicht das ,Zeichen‘ begründet und weckt Glauben, sondern umgekehrt erst der durch das Wort Jesu ermöglichte Glaube öffnet den Lesern die Augen dafür, das ,Zeichen‘ lesen zu können.“ 301 Vgl. Michaels, Gospel, 1022, der in Joh 20,29 die Einladung erkennt, „to claim the mantle of honor as ,those who did not see, and yet believed‘.“ 302 Es scheint daher zu streng geurteilt, wenn Kammler, Zeichen, 195, schreibt: „Die Kraft, den Glauben zu wecken und zu erhalten, hat nach dem Zeugnis des Johannesevange‐ liums allein und ausschließlich das Wort Jesu […]; der Christusglaube ist deshalb vom Evangelisten streng als fides ex auditu bestimmt und qualifiziert.“ (kursiv im Original) Vgl. Söding, Schrift, 362, der die „wechselseitige Zusammengehörigkeit von Worten und Taten Jesu herausarbeitet.“ Auch Schneider, Evangelium, 326, betont: „Für Johannes sind aber die Werke und die Worte Jesu eins.“ und traut ihm zu, den Glauben fördern zu können. 297 Das Evangelium gewinnt somit seine Bedeutung im Rahmen der christlichen Gemeinde. Es ist - wie die Erläuterungen gezeigt haben - schwerlich ein Text, der primär für missionari‐ sche Zwecke geschrieben wurde. Daher ist plausibler anzunehmen, dass der Text dazu gedacht ist, seine Leser in ihrem Glauben zu stärken bzw. diesen neu zu formulieren. 298 Es lassen sich aber noch weitere Anliegen von Joh 20,30f als wahrscheinlich zeigen. Vom Text und seinem unmittelbaren Kontext her ergibt sich zunächst die Frage nach dem Verhältnis des Glaubens an Jesus und dem Sehen seiner Zeichen. Deutlich ist dabei erstens, dass die Menschen durch das Wort Jesu zum Glauben kommen ( Joh 4,41) bzw. nicht zum Glauben kommen, weil sie es nicht hören können ( Joh 8,43). 299 Zweitens ist deutlich, dass die Zeichen Jesu allein nicht reichen, den Glauben zu wecken ( Joh 12,37). 300 Man kann also - drittens - auch zum Glauben kommen, wenn man keine Zeichen gesehen hat. Dies ist die Situation, in der sich die Leser des Evangeliums befinden und die durch Joh 20,29 ausdrücklich an- und seliggesprochen werden. 301 Viertens ist aber auch keine ausdrückliche Ablehnung der Zeichen als Weg zum Glauben zu bemerken, da einerseits ausdrücklich von den Zeichen gesprochen wird, die dazu aufge‐ schrieben werden, damit man glauben kann, und andererseits, weil das Evan‐ gelium sonst gar keine Zeichen erzählen müsste, wenn diese völlig nutzlos sein sollten. 302 Es geht also um ein Zusammenspiel von Zeichen, Wort und Überlie‐ 164 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="165"?> 303 Vgl. Söding, Schrift, 365. Nach Theobald, Evangelium, 186, liegt hier ein „Wesensgesetz des Glaubens“ vor, das er hier erzählerisch dargestellt sieht. Ihm stimmt auch Brown, Purpose, 215, zu, der den Glauben als „experience [bezeichnet], into which one grows, and never stops growing.“ 304 Vgl. Neyrey, Gospel, 330; Metzger, Feigenbaum, 260. 305 Vgl. Kammler, Evangelium, 197. 306 Vgl. Kammler, Evangelium, 196: „Allerdings - und darin liegt in der Tat die positive Funktion des Glaubens bezüglich des Wunders - ist der Glaube die notwendige Voraus‐ setzung für die Erkenntnis des christologischen und soteriologischen Gehalts des Wun‐ ders.“ (kursiv im Original) 307 Vgl. Thompson, John, 429: „The written Gospel serves to re-present Jesus’ signs, his ministery, and his person to its readers.“ 308 Kammler, Evangelium, 196. 309 Vgl. Brown, Purpose, 215, der das Anliegen des Evangeliums ebenfalls im Sinne einer Lehrerzählung begreift: „I suspect that John is interested in taking people at whatever place they may be, and leading them more deeply into the life of faith in Jesus Christ.“ 310 Broer, Einleitung I, 187. 311 Von daher dürfte Kammler, Zeichen, 196, wiederum zu streng urteilen, wenn er schreibt: „Verschiedene Stufen und Intensitätsgrade des Glaubens kennt der vierte Evangelist nicht.“ Wie lässt sich dann eine Genese des Glaubens überhaupt annehmen? Eher wahrscheinlich scheint das Urteil von Zumstein, Erinnerung, 38: „Die narrative Orga‐ nisation des Evangeliums zeugt von dessen Absicht, den Leser von einem elementaren Glauben zu einem nach joh[anneischen] Verständnis vertieften Glauben zu führen.“ Vgl. Brown, Gospel, 1060; Thompson, John, 430. ferung derselben, die eine Entwicklung im Glaubensprozess anstößt. 303 Erzäh‐ lerisch ist dieser Prozess deutlich schon in Joh 1,50 angekündigt. Dort wird Na‐ thanael, der aufrichtige Israelit, durch die Begegnung Jesu darauf verwiesen, die Tora richtig zu verstehen. 304 Genauso geht es dem Leser des Evangeliums, der durch den Glauben den Text erst richtig verstehen kann. 305 Der eigene Glaube erschließt damit das Zeichen 306 bzw. dessen Ersatz: den zu lesenden Text. Das Evangelium übernimmt also die Funktion des Zeichens, indem es das Zeichen erzählt. 307 Der Text wird damit zum Träger der Überlieferung. Das Zeichen er‐ gänzt den Glauben also nicht, dieser ist in der Tat ein „in sich suffizienter Heils‐ glauben“, 308 allerdings kommt ihm durch den Glauben und unter dessen Vo‐ raussetzung die Aufgabe zu, Inhalt einer theologischen Lehrerzählung zu sein. 309 Dies ist besonders deutlich in Joh 11, wenn die gesamte Erzählung darauf hi‐ nausläuft, das Wesen Jesu zu demonstrieren und der Leser „bei seiner Vorstel‐ lung von der eschatologischen Totenauferstehung abgeholt und zur Gegenwart der Auferstehung und des Lebens in Jesus bzw. im Glauben an ihn geführt [wird], so daß die Aussage Marthas über die zukünftige Totenauferstehung nur noch als unvollkommene und dem Jesusglauben kaum angemessene Äußerung er‐ scheinen muss.“ 310 Da man Martha einen anfänglichen Glauben, der sich als Vertrauen zu Jesus äußert, wohl kaum aberkennen kann, 311 zeigt sich die besagte 165 2. Die Autorität des Johannesvangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="166"?> 312 Vgl. Brown, Purpose, 215: Johannes „wants to deepen and to transform the reader’s understanding of ,Messiah‘.“ 313 Zumstein, Erinnerung, 32. 314 Vgl. Bauckham, Whom, 46, der in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam macht, dass alle Evangelisten „wrote for any and every church to which their Gospels might circulate.“ Unter dieser Perspektive ist deutlich, dass Johannes Christen von seiner In‐ terpretation der Jesus-Geschichte überzeugen und sie somit zum Leben führen will. 315 Vgl. Kammler, Evangelium, 205. 316 Interessant ist hierbei die Sicht von Bauckham, John, 169, der im Zuge seiner These, dass die Evangelien grundsätzlich für eine breite Leserschaft geschrieben worden sind, davon ausgeht, dass die Leser des Johannesevangeliums z. B. auch das Markusevange‐ lium kannten. Unter dieser Prämisse ist in der Tat leicht vorstellbar, dass die anderen Zeichen, die laut Joh 20,30 nicht aufgeschrieben wurden, im Markusevangelium ge‐ funden werden können. Johannes verstünde dann sein Evangelium zum Teil auch als Ergänzung und Leseanweisung für Markus. 317 Vgl. Zumstein, Erinnerung, 32, der darauf verweist, dass Joh 1-20 damit als einziges Buch verstanden werden müssen. 318 Vgl. Menken, Authority, 202. 319 Außerdem kann der Leser, der andere Evangelien kennt, dort weitere Zeichen „nach‐ lesen“. Vgl. Bauckham, John, 169. 320 Kammler, Evangelium, 205. Entwicklung im Glauben, die letztlich den Zeichen eine propädeutische und zugleich pädagogische Funktion zuweist. 312 „Die rhetorische Bewegung des Evangeliums - eine Bewegung, die bereits auf die joh[anneische] Strategie des Glaubens verweist - besteht darin, im Nazarener, dessen Menschsein als selbst‐ verständlich vorausgesetzt ist, den Gesandten Gottes zu entdecken.“ 313 Die Zei‐ chen, die in sich sowohl Taten als auch deren Deutungen durch Jesus tragen, werden erzählt, um den bereits vorhandenen Glauben der Leser zu vertiefen und zu bestärken. 314 Sie tragen also wesentlich zur Vermittlung des Glaubens an Jesus in der Zeit nach Jesus bei. 315 Da die Zeichen aber nicht dadurch wirkmächtiger werden, indem man sie vermehrt, ist verständlich, warum dem Erzähler nicht daran gelegen ist, mög‐ lichst viele Beispiele des wundertätigen Handelns Jesu aufzulisten. 316 Die Beto‐ nung des Buches ist daher sprechend: Das Evangelium ist als Buch das große Zeichen Jesu und ist sich daher selbst genug. 317 Weitere Erzählungen von an‐ deren Zeichen sind überflüssig, 318 weil ihre Funktion nicht an ihrer Zahl hängt. 319 Die exemplarisch erzählten Zeichen und die daran anschließenden Reden und Dialoge sind genug, um ihren Zweck zu erreichen. Es kommt dem Evangelisten also nicht auf die Zeichen an sich an, weitere „Berichte wären für seine Adressaten ohne jeden Nutzen“, 320 sondern auf deren Vermittlungsleistung in christologischer und soteriologischer Richtung. „Von [ Joh] 20,30 f. her ge‐ 166 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="167"?> 321 Kammler, Evangelium, 209. 322 Schenke, Johannes, 381. 323 Schenke, Johannes, 381. 324 Schenke, Johannes, 381. 325 Vgl. Moloney, Text, 345, der die Leser gegenüber den Zeitgenossen Jesu sogar „in a more privileged situation“ sieht, da sie durch das Evangelium „have been blessed with a book of Scripture.“ 326 Vgl. Zumstein, Erinnerung, 121, der im Prolog die „theologische Schwelle zum Evan‐ gelium“ erkennt. 327 Vgl. Theißen, Religion, 257; Leinhäupl-Wilke, Buch, 272, spricht hier von einem „Lese‐ vertrag“, der einen „Stiftungstext für das Wissen der Wir-Gruppe auf metareflexiver Ebene“ (275) darstellt. 328 Moloney, Gospel, 543, beschreibt die Lektüre des Evangeliums von Prolog zu Epilog treffend als „journey of faith“. 329 Vgl. Moloney, Text, 345. 330 Vgl. Kammler, Evangelium, 210. lesen, erzählten sie allesamt vom auferstandenen Christus.“ 321 Deshalb sind die‐ jenigen selig, die diese Zeichen gar nicht nötig haben und trotzdem glauben ( Joh 20,29). Es ist also fraglich, ob ein qualitativer Unterschied hinsichtlich der Glau‐ benserschließung zwischen denjenigen besteht, die Jesus erlebt haben, und denen, die ihn nur in Form der Erzählung kennen. Es scheint vielmehr gerade die Pointe des Evangeliums zu sein, darauf zu bestehen, dass in soteriologischer Hinsicht kein Unterschied zwischen den beiden Gruppen besteht, denn auch die „faktischen Zeichen haben den Glauben nicht erzwungen, der irdische Jesus ist auch abgelehnt und zurückgewiesen worden.“ 322 Im Gegenteil kommt es also vor allem auf den vorgängigen Glauben an. Erst „ihr gläubiges Sehen“ 323 eröffnet den Lesern die richtige Perspektive. Das „bloße Lesen des Buches“ 324 hat keine Heilswirkung, es hilft genauso wenig wie das Erleben Jesu ohne das Verständnis seiner Person. Deshalb gilt, dass es den Lesern des Evangeliums eigentlich leichter fällt, Jesus in seiner ganzen Person zu verstehen, weil sie bereits von Anfang wissen, um wen es sich handelt. 325 Der Prolog ist deshalb direkt mit dem Epilog zu verbinden. 326 Als Leseanweisung dient er dem ganzen Evangelium, 327 während der Epilog als Bündelung der Ergebnisse dient. 328 Der Erkenntnispro‐ zess, den die Zeitgenossen Jesu mitmachen mussten und dessen Ausgang offen war, bleibt den Lesern damit erspart. Allerdings bleiben sie auf deren Erlebnisse und deren Zeugnis angewiesen. 329 Aus diesen Erwägungen heraus erfüllen die beiden Verse Joh 20,30-31 eine ekklesiologische und eine hermeneutische Funk‐ tion. 330 Aus ekklesiologischer Sicht bleibt der christliche Glaube auf die Ereignisse um Jesus angewiesen, die aber nur im Evangelium überliefert werden. Der Text 167 2. Die Autorität des Johannesvangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="168"?> 331 Vgl. Becker, Autorität, 154. 332 Vgl. O‘Day, Revelation, 94: „The locus of revelation lies in the written narration of those things to which the reader of the Gospel is given access.“ 333 Vgl. Kammler, Evangelium, 210: „Das vierte Evangelium ist also im Lichte der österlichen Selbsterschließung Jesu verfaßt. Deshalb soll es der Leser von Ostern her lesen und zu verstehen suchen.“ (kursiv im Original) 334 Vgl. Markl, Rahmen, 110: „Die Referenz auf den eigenen Text […] und dessen doppelte Finalisierung […] weisen eine innere hermeneutische Perspektive ins Evangelium. Dieses soll auf Glaube und Leben hin gelesen werden.“ 335 Vielleicht geschieht dies sogar in bewusster Aufnahme anderer Zeugnisse, die in der Perspektive des Johannes gelesen werden sollen und sein Evangelium durch weitere Erzählstoffe ergänzen können. Vgl. Bauckham, John, 169f: „While the fourth evangelist surely meant to lead his readers further und deeper into the significance of Jesus and his story than Mark’s Gospel had done, henceforth to leave Mark aside and to read only his own Gospel. He did not aim to replace Mark, but to write a different kind of Gospel: one which, by selecting far fewer traditions, left space for the reflective interpretation that is the distinctive characteristics of the Fourth Gospel.“ 336 Vgl. Söding, Schrift, 360: „Nicht neutrale Berichterstattung über die vita Jesu ist sein Ziel, sondern die Arbeit an der Realisierung jenes Zieles, das Jesus selbst in seiner Sen‐ dung verfolgt hat: den Glauben an seine Person als Voraussetzung der Anteilhabe am ewigen Leben zu begründen.“ bildet also in dieser Perspektive die Basis der christlichen Identität. Es ist deshalb gut vorstellbar, „dass das Evangelium im Blick auf seinen gottesdienstlichen Gebrauch geschaffen wurde.“ 331 So wird Identität durch die Offenbarung Gottes im Evangelium bleibend konstituiert. Das Evangelium tritt durch seine Erzäh‐ lung der Jesus-Geschichte gleichsam an die Stelle Jesu, der nun nicht mehr erlebt werden kann. Der Text stellt insofern seinem Anspruch nach den Gründungs‐ mythos der christlichen Gemeinschaft dar. 332 In hermeneutischer Sicht erschließen die Verse die Bedeutung des Textes. 333 Es werden Erzählungen geboten, die dazu einladen, sich auf sie einzulassen. Nur so können sie ihre Aufgaben erfüllen, den Glauben zu vertiefen. 334 Dem Evan‐ gelium wird damit die eigene Bedeutung als Offenbarungsbuch zugewiesen. Es wird der Anspruch erhoben, den Leser zum wahren Glauben zu führen. 335 In hermeneutischer Sicht stellen die Verse also klar, dass sie keine Biographie Jesu sein wollen, auch kein historischer Bericht über die Ereignisse, sondern dass sie erzählen wollen, um den Leser in seinem Glauben zu bestärken. 336 Der Leser weiß damit, was er erwarten kann und welche Erwartungen sicher nicht erfüllt werden. Die skizzierten Absichten von Joh 20,30f zeigen also, dass der Glaube des Lesers den Zielpunkt der textuellen Bemühungen darstellt. Dies wird direkt ge‐ sagt und gleichzeitig darauf verwiesen, woher der Glaube kommt und wie er zu verstehen ist. Die Verse zeigen damit die hermeneutischen und pädagogischen 168 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="169"?> 337 Broer, Einleitung I, 197: „Wir haben es beim vierten Evangelium mit einem Glaubens‐ zeugnis zu tun, das große Autorität für sich beansprucht und diese Autorität auch schon abzusichern sucht.“ 338 Vgl. Menken, Authority, 194, der die Anspielungen auf Gen 1 in den Vordergrund stellt und Markl, Rahmen, 110, der die „sublime Referenz“ zu Dtn 34,10-12 aufzeigt. 339 Vgl. Menken, Authority, 195. 340 Vgl. Markl, Rahmen, 112, der weitere Bezugnahmen vorführt. 341 Vgl. Söding, Offenbarung, 395, unter Verweis auf Joh 5,46: „Mose ist vor allem Zeuge für Christus.“ 342 Vgl. Markl, Rahmen, 111. 343 Vgl. Söding, Offenbarung, 394, der die grundsätzliche Bedeutung der „Schrift“ für das Evangelium unterstreicht. Ihm stimmt Scholtissek, Beobachtungen, 213 ausdrücklich zu: „Das Joh[annes]Ev[angelium] setzt die kanonische Geltung und Authentizität der Schriften Israels durchgehend voraus.“ 344 Theißen, Religion, 264. Bemühungen an, die den Leser in seiner Glaubenswelt halten und beheimaten sollen. 2.4. Der Autoritätsanspruch von Joh 20,30 - 31 Um die Absichten des Evangeliums zu erreichen, braucht es eine gewisse Form der Autorität. Insofern ist die These, die am Beginn des Kapitels zitiert wird, 337 korrekt. Allerdings ist sie zu präzisieren: Das Evangelium beansprucht in Joh 20,30f Autorität, sichert diese aber erst durch Joh 21,24f ab. Zunächst zu Joh 20,30 f. Zieht man die Anspielungen der Texte, die das Evangelium rahmen, auf alt‐ testamentliche Texte in die Überlegungen ein, 338 kann davon gesprochen werden, dass hier eine mehrfache Autoritätsübernahme stattfindet. Erstens: Das Wort, das am Anfang der Schöpfung schon da war ( Joh 1,1), spielt auf Gen 1,1 an. Der Anfang des Evangeliums ahmt damit den Anfang des ersten Buches der Tora nach und beansprucht somit für sich ähnliche Autorität. 339 Die vielen Zei‐ chen, die Jesus getan hat, verweisen auf Mose, der dies nach Dtn 34,10-12 ebenfalls von sich behaupten kann. Somit ist aus der Sicht des Evangelisten in Jesus gegen Dtn 34,10-12 doch ein Prophet gekommen, wonach sich die An‐ kündigung von Dtn 18,15-22 erfüllt hat. 340 Damit geht die Autorität des Mose auf Jesus über, 341 diese wiederum von diesem dann auf das Evangelium. 342 Somit ist zunächst die Akzeptanz der Autorität des sich verfestigenden Alten Testa‐ ments zu beobachten. 343 Allerdings „wird es im Joh[annes]Ev[angelium] aus‐ schließlich zum Reservoir christologischer Verheißung.“ 344 Dies deutet eine zweite Autoritätsverschiebung an, die ausdrücklich in Joh 2,22 zu beobachten 169 2. Die Autorität des Johannesvangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="170"?> 345 Vgl. Labahn, Jesus, 187; Zumstein, Erinnerung, 325; Scholtissek, Beobachtungen, 216: „Schriftzitate und Herrenworte sind zwei herausragende Autoritätsinstanzen im Jo‐ hannesevangelium…“ Umstritten sind also nicht die Schriften selbst, „sondern ihre an‐ gemessene Auslegung.“ (Scholtissek, Beobachtungen, 218) Zur Autorität wird das Alte Testament also nur in einer bestimmten Auslegung. 346 Theißen, Religion, 264. 347 Vgl. Söding, Offenbarung, 395: „So intensiv die Schriftrezeption im Johannesevangelium und so positiv Jesus im Vierten Evangelium von den zentralen Institutionen des Juden‐ tums spricht, dem Gesetz und dem Tempel, so dominant ist die christologische Herme‐ neutik.“ 348 Vgl. Söding, Schrift, 352. 349 Scholtissek, Beobachtungen, 222. 350 Vgl. Labahn, Jesus, 194: „Wo das Gesetz ohne Zeugnisfunktion wahrgenommen wird, steht es in Antithese zu Gnade und Wahrheit, sonst in einer Klimax.“ 351 Vgl. Labahn, Jesus, 204: „Die Schriften und der gesandte Sohn stehen in einer qualifi‐ zierten und keineswegs gleich gelagerten Relation. Jesus ist der hermeneutische Schlüssel der Schrift.“ ist, wenn „die Schrift“ und „das Wort“ Jesu auf die gleiche Stufe gestellt werden. 345 So zeigt sich zunächst, dass die Schrift im Auftreten Jesu als erfüllt angesehen wird, diese aber wiederum Jesus nicht legitimiert, sondern die Wahr‐ heit der Schrift durch Jesu Auftreten im Nachhinein ins Recht gesetzt wird: „Jesus steht im JohEv über der Schrift. Sie kann ihm keine letztgültige Autorität geben, vielmehr legitimiert er die Schrift.“ 346 Die Worte Jesu, die im Evangelium aufgezeichnet sind, beanspruchen daher höhere Autorität als sie - laut Jo‐ hannes - dem Alten Testament zukommen. 347 Die Betonung des Buch-Charak‐ ters seines Textes wird nun verständlich: In der Tat beansprucht das Evangelium einen gleichen Rang wie die alttestamentarischen Schriften. 348 Durch die Of‐ fenbarung Gottes in Christus werden die Schriften des Alten Testaments ins rechte Licht gerückt und in ihrem Wahrheitsanspruch bestätigt. Das Evangelium stellt sich folglich „selbst in die Kontinuität und Autorität der Schrift bzw. Schriften Israels […] und [nimmt] eine ihnen gleichwertige Verlässlichkeit und Verbindlichkeit in Anspruch.“ 349 In den Schriften Israels ist aber Leben nicht zu finden, wenn Christus ignoriert wird ( Joh 5,39). 350 Deshalb verbleibt die eigent‐ liche Autorität bei Christus bzw. dem, der ihn gesandt hat (als stereotype Wen‐ dung: Joh 5,23.30; u. ö.). 351 Der Glaube an ihn bringt das verheißene Leben ( Joh 5,24). Drittens verschiebt sich die Autorität der charismatischen Gründergestalt Jesu auf das Evangelium. Dabei wird die Einheit von Christus und Gott so eng gezeichnet ( Joh 10,30), dass es für die Frage der eigentlichen Autorität des Textes 170 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="171"?> 352 Vgl. Labahn, Jesus, 188, der diesen Befund treffend damit erklärt, dass die Jesus-Figur „von der Anfänglichkeit des präexistenten Logos und seiner Leben und Licht spendenden Einheit mit dem Vater entworfen wird.“ (kursiv im Original) 353 Vgl. Leinhäupl-Wilke, Buch, 280: „Man kann dem Offenbarungsmittler nicht mehr per‐ sönlich begegnen. Die Beziehung zu ihm wird nun über das Buch vermittelt.“ 354 Zumstein, Erinnerung, 306. 355 Labahn, Jesus, 206 (im Original kursiv). 356 Vgl. Söding, Schrift, 369: „Die Glaubwürdigkeit des apostolischen Christuszeugnisses, das im Buch des Evangelisten seinen literarischen Niederschlag findet, ist also darin begründet, daß sich der auferstandene und erhöhte Jesus selbst durch den Geist den Jüngern als der inkarnierte und proexistente Gottessohn in Erinnerung bringt.“ 357 Vgl. O‘Day, Revelation, 94: „Revelation lies in the Gospel narrative and the world created by the words of that narrative.“ (im Original kursiv) 358 Vgl. Menken, Authority, 187: „The Spirit creates in the believers recollection and un‐ derstanding of what Jesus said.“ 359 Markl, Rahmen, 110. keinen Unterschied macht. 352 Da die Leser, die Jesus nicht mehr sehen können ( Joh 20,29), sowohl ihn als auch Gott nicht mehr direkt greifen können und ihnen leibhaftig von Angesicht zu Angesicht begegnen können, verschiebt sich die Frage der Autorität praktisch von dem eigentlichen Garanten des Glaubens weg. 353 Anders gewendet: Es ist unstrittig, dass Gott bzw. Christus die eigentli‐ chen Autoritäten darstellen, aber es ist zugleich ungenügend, dies im Hinblick auf den Text festzustellen, da dieser ja gerade um Autorität ersucht, um seine Absichten erreichen zu können. Die Autorität des Textes wiederum wird von Jesus abgeleitet. Der Text erhebt den Anspruch, so von ihm geredet zu haben, dass er in seiner Funktion ausreichend ist. Sobald er beim Leser sein Ziel erreicht, wenn er z. B. „auf Grund der Erzählung und deren Strategie die im Text vertre‐ tene ,hohe Christologie‘ übernimmt“ 354 , dann findet er dadurch seine Autorität bestätigt: das Evangelium erlangt charismatische Autorität. Für das Johannesevangelium gilt damit selbst, was Johannes gegenüber der „Schrift“ des Alten Testaments postuliert: Sie „kommt zu sich selbst, erhält ihre Autorität, wenn sie Jesu Autorität als Gottes Sohn und Gesandter zu erkennen gibt.“ 355 Die Autorität des Textes basiert also letztlich auf einem Evidenzerlebnis beim Leser. 356 Dieses Erlebnis lässt sich für Johannes dann als die eigentliche Offenbarung Gottes bezeichnen. 357 Dieses wiederum ist eingebunden in das Wirken des Geistes, der durch Joh 14,16f; 15,26; 16,13 verheißen wird. Joh 20,30f beansprucht deshalb die aufgerufene Autorität im Sinne einer funktional defi‐ nierten, die wiederum eingebunden ist in sein theologisches System. 358 Man kann daher von einer „Logik der Autorität“ 359 sprechen, die durch den Text‐ schluss dem Text und seinem Protagonisten ( Jesus) zugesprochen wird. Ver‐ mittelt durch den Geist liegt für die Leser im Evangelium das „concrete me‐ 171 2. Die Autorität des Johannesvangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="172"?> 360 Menken, Authority, 192. 361 Vgl. Menken, Authority, 193. 362 Vgl. Moloney, Text, 346: „But the storytelling is succesful only if the one rising from the story has become part of it, led more deeply into belief in Jesus and all that he made known about God.“ 363 Vgl. Menken, Authority, 193, der davon spricht, dass das Buch „the same impact on its readers [haben soll] as the protagonist of the book had on the people he addressed.“ Wie das Buch zuweilen keinen Erfolg haben kann, hat auch Jesus in der Erzählung nicht bei allen Menschen Glauben evozieren können. Wenn das Buch also sein Ziel nicht erreicht, spricht dies daher auch nicht prinzipiell gegen die Autorität, die es bean‐ sprucht. Ohne den Glauben an Jesus ist demnach auch das Evangelium für niemanden ein autoritativer Text. 364 Scholtissek, Beobachtungen, 223. 365 Leinhäupl-Wilke, Buch, 312. 366 Vgl. Leinhäupl-Wilke, Buch, 313: „Nicht das Buch an sich rettet also, sondern das Buch in seiner Funktion als Kommunikationsmittel macht rettendes Wissen evident.“ 367 Moloney, Text, 346. 368 Vgl. Beutler, Johannesevangelium, 556. dium“ 360 vor, durch das die Evidenz des Glaubens erzeugt werden kann. Es ersetzt die Worte Jesu, die nach Joh 5,24 auf das ewige Leben abzielen, durch die auf‐ geschriebenen Zeichen, die nach Joh 20,31 das gleiche Ziel verfolgen. 361 Erst durch die soteriologische Folge, die der Text als Zielsetzung verspricht, also Leben im Namen Jesu zu haben, kommt daher in den Blick, wie Autorität hier verstanden wird. Denn nur insoweit das Evangelium die Vergegenwärtigung Jesu beim Leser leistet, gewinnt es charismatische Autorität. 362 Wenn diese durch Lektüre des Evangeliums zur Erkenntnis gelangen, dass und wie Jesus von Na‐ zareth der Sohn Gottes ist, dann liegt in dieser Erkenntnis zugleich die Autorität des Textes. 363 Ihm wohnt dann die Fähigkeit inne, die Evidenz des Glaubens durch die Lektüre zu evozieren. Autorität entsteht daher durch Evidenz. Die Selbsterschließung der Offenbarung Gottes soll also durch den Text bewirkt werden. In diesem Sinn beansprucht der Evangelist mit seinem Text „eine neue, autoritative Instanz vorzulegen, die er selbst als ,Schrift‘ im emphatischen Sinn versteht.“ 364 Der Erfolg der Lektüre, also nicht zu sehen und doch zu glauben, „der allein über das Schreiben und Lesen des Buches“ 365 gelingt, erweist damit die Autorität des Textes. 366 Wer also im Glauben gestärkt wurde, erkennt dem‐ nach die Autorität des Textes an und bekennt: Er „has read or listened to Scrip‐ ture.“ 367 Joh 20,30f zeigen also ein enormes Vertrauen in die Kraft der Offenbarung Gottes und verzichten darauf, diese weiter abzusichern. Allerdings scheint diese Offenheit nur schwer erträglich, da die Fundamente zwar benannt sind, indem sie erzählt werden, doch zeigt der zweite Schluss des Evangeliums, 368 dass Au‐ torität gerne auch weiter gesichert wird. 172 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="173"?> 369 Vgl. Zumstein, Erinnerung, 297. Zur Diskussion der Frage, ob dieses „Wir“ auf die Exis‐ tenz einer johanneischen Schule hinweist, vgl. Cebulj, Johannesevangelium, 256-277. Dort auch eine Vielzahl von Erklärungsmöglichkeiten des hier verwendeten Plural. Ob es über das „Wir“ mehr zu wissen gibt, als dass damit wohl eine „Editorengruppe von Joh 21“ (Cebulj, Johannesevangelium, 272) zu identifizieren ist, insbesondere ob hier an eine johanneische Schule gedacht werden muss (so z. B. Hengel, Frage, 80), kann die vorliegende Untersuchung offenlassen. 370 Vgl. Menken, Authority, 187. Vgl. Tilly, „Lieblingsjünger“, 22: „In Joh 21,20-24 schließ‐ lich verbürgt die Gestalt des mittlerweile verstorbenen ,Lieblingsjüngers‘ die Autorität und Zuverlässigkeit des gesamten Johannesevangeliums.“ Söding, Schriftinspiration, 197, sieht zu Recht, dass hier eine „Autoritätslinie“ weiter ausgezogen wird, „indem der Lieblingsjünger als Autor des Johannesevangeliums hingestellt wird.“ So auch Cebulj, Johannesevangelium, 273: „Die Wir-Gruppe verweist auf den Lieblingsjünger als den Garanten der joh Offenbarungstradition.“ Vgl. auch Theißen, Entstehung, 263, der in Analogie zu einer ähnlichen Autoritätskette im Rahmen der Apk die Kette des Evan‐ geliums so formuliert: „Gott - Christus - Paraklet - Lieblingsjünger - Johannesevan‐ gelium“. 371 Vgl. Zumstein, Erinnerung, 301. Nicht überzeugend scheint Bauckham, Jesus, 379-380, der hinter dem „wir“ die gleichen Personen vermutet, die zuvor von sich in der dritten Person geschrieben haben sollen. 372 Cebulj, Johannesevangelium, 273. 373 Vgl. Bauckham, Testimony, 79: „John 21: 24 designates the beloved disciple the author of the Gospel.“ 374 Vgl. Beutler, Johannesevangelium, 556; Byrskog, Story, 237. 375 Vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 791. 2.5. Die Absicherung der Autorität durch Joh 21,24 Joh 20,30f erhebt eine funktionale Autorität, indem auf den Text und dessen Wirkkraft selbst vertraut wird. Die Redaktoren des Evangeliums 369 sichern die Autorität des Textes hingegen durch die personale Autorität des Autors weiter ab. 370 Das Demonstrativpronomen (οὗτος) bezieht sich klar auf den Lieblings‐ jünger, dessen Tod zuvor diskutiert wird. Ein auktoriales wir 371 (οἴδαμεν), „eine nicht näher identifizierbare „Wir-Gruppe“ 372 präsentiert in Joh 21,24 den Lieb‐ lingsjünger als Autor des Evangeliums. 373 Dieser hat diese Dinge, wobei wahr‐ scheinlich zumindest Joh 1-20 gemeint sein dürften, 374 geschrieben (γράψας) und sie liegen daher nun textlich vor. 375 Sein „Bezeugen“ wirkt allerdings blei‐ bend nach und ist deshalb präsentisch gefasst (μαρτυρῶν). Deshalb ist sein Tod ( Joh 21,23) kein Gegenargument gegen seine Glaubwürdigkeit und die seines Evangeliums. Mit diesem Vers ist allerdings keine Aussage über die Entstehung des Textes verbunden, die Redaktoren wollen damit „nicht behaupten, dass der Lieblings‐ jünger das Evangelium in seiner kanonischen Form geschrieben hätte, sondern dass sein Zeugnis dem Werk in seiner Endfassung zu Grunde liegt und dies somit 173 2. Die Autorität des Johannesvangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="174"?> 376 Zumstein, Johannesevangelium, 792. 377 Vgl. Byrskog, Story , 237, der auf die zweifache Bedeutung dieser Zuschreibung ver‐ weist: „The things that he has testified to and the things that he has been writing are one and the same…“ Diese doppelte Funktion verleiht dem Evangelium weitere Auto‐ rität. Vgl. Beutler, Johannesevangelium, 558: „Die Gleichsetzung des Geliebten Jüngers mit dem Verfasser des Vierten Evangeliums dient dem Ziel, diesem Evangelium eine unerschütterliche Autorität zu verleihen.“ 378 Vgl. Thompson, John, 445. 379 Menken, Authority, 188, der den Lieblingsjünger als den „most intimate disciple of Jesus“ begreift. 380 Zumstein, Erinnerung, 301. 381 Vgl. Cebulj, Johannesevangelium, 273, der erkennt, „daß die Figur des Lieblingsjüngers und die Wir-Gruppe als zwei autoritative Instanzen erscheinen, die sich gegenseitig ergänzen.“ 382 Vgl. Thompson, John, 446: „The beloved disciple’s proximity to Jesus qualifies him as the ideal witness: his witness is true; it can be trusted.“ 383 Theißen, Texte, 439. Damit geht eine gewisse Exklusivität des Joh einher, da es über‐ zeugt ist, „dass nur das Zeugnis des Lieblingsjüngers eine authentische Interpretation Jesu bietet.“ (Theißen, Texte, 439) 384 Vgl. Söding, Schriftinspiration, 197, der darauf hinweist, „daß der Evangelist sich mit seinem Werk die besonders qualifizierte Erinnerung des Lieblingsjüngers zu eigen macht.“ Auch Leinhäupl-Wilke, Buch, 310, sieht „durch den Lieblingsjünger die Ver‐ knüpfung der Jesusgeschichte mit der konkreten Geschichte der johanneischen Er‐ zählgemeinschaft“ gewährleistet. 385 Söding, Schriftinspiration, 197. unter seine Autorität gestellt ist.“ 376 Joh 21,24 identifiziert also den Autor mit einer Figur innerhalb der Erzählung und zeigt damit an, dass ein Augenzeuge Jesu das Evangelium verbürgt. 377 Darum wiederholt der Text die entscheidende Todesszene Jesu und stellt klar, dass der Tod Jesu bereits von ihrem Traditions‐ garanten bezeugt wird, der dem Ereignis selbst beigewohnt hat. 378 Auch dies geschieht, damit die Leser zum Glauben kommen ( Joh 19,35). Damit bekommt die Autorität Jesu einen von Jesus selbst ausgezeichneten Zeugen an die Seite gestellt, 379 der von den Redaktoren als „massgebliche Autorität anerkannt“ 380 und zugleich vorgestellt wird. Ihrerseits verbürgen sie wiederum mit ihrem Zeugnis dessen Wahrhaftigkeit. 381 Die Autorität Jesu geht auf den Lieblingsjünger über. 382 „So wie Jesus aus dem Schoß des Vaters kam ( Joh 1,18), so lag der Lieblingsjünger am Schoß Jesu ( Joh 13,23; vgl. 21,20).“ 383 Deshalb muss Autorität folglich im Sinne einer Gewährleistung verstanden werden, die durch den Zeugen verlängert und im Evangelium konstant verbürgt wird. 384 Damit geht das Nachtragskapitel „einen wichtigen Schritt“ 385 über den ursprünglichen Autoritätsanspruch des Evangeliums hinaus: Nicht mehr die Kraft des Textes allein verbürgt damit seine 174 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="175"?> 386 Vgl. Wengst, Johannesevangelium II, 326; Söding, Schrift, 344, der dem Evangelium „einen geradezu ,kanonischen‘ Anspruch [zuweist], der von den Herausgebern des Evangeliums unterstrichen (21,24f) und schließlich gesamtkirchlich ratifiziert worden ist.“ 387 Vgl. Leinhäupl-Wilke, Buch, 279: „Indem der Lieblingsjünger, der immer wieder als ide‐ aler Schüler auffällt […], mit seinem Zeugnis für die Wahrheit des Aufgeschriebenen bürgt, kommt dem vorliegenden Buch in seiner Gesamtheit auf Dauer höchste Autorität zu.“ 388 Vgl. Byrskog, Story, 238, der darauf hinweist, dass durch die ausgewiesene (Augen-)Zeu‐ genschaft des Lieblingsjüngers die ganze Erzählung eine „legitimating foundation“ er‐ hält. 389 Zumstein, Erinnerung, 298. In der Tat liegt angesichts dieser Autoritätsabsicherung die Hypothese nahe, die Endredaktion des Evangeliums einem „organisierten, theologisch geschlossenen Kreis [zuzuweisen], dessen Tätigkeit darin besteht, die Tradition in treuer Absicht gegenüber ihrem Begründer - dem Lieblingsjünger - zu überliefern, zu erklären und zu aktualisieren.“ (Zumstein, Erinnerung, 297) 390 Vgl. Zumstein, Erinnerung, 307, der dieses Anliegen als „Verkirchlichung des Evange‐ liums“ (kursiv im Original) bewertet. 391 Zimmermann, Augenzeugenschaft, 243. 392 Leinhäupl-Wilke, Buch, 312. 393 Vgl. Zumstein, Erinnerung, 315; Söding, Schriftinspiration, 197, für den Aufgrund von Joh 21,24f deutlich gemacht wird: „Das Evangelium ist ein inspiriertes Buch; als solches begründet es den Glauben und rückt in den Rang einer kanonischen Urkunde auf.“ 394 Beutler, Johannesevangelium, 558. Vgl. Theißen, Texte, 446: „Weil sich das Wort Gottes nach urchristlicher Überzeugung in der Geschichte ,inkarniert‘ hatte, konnte es in Bü‐ chern sekundär ,inskripturiert‘ werden.“ (kursiv im Original) Autorität, sondern auch ein benennbarer Zeuge. 386 Ähnlich wie Lk 1,1-4 Zeugen aufzählt, um deren Autorität für sein Evangelium zu übernehmen, will Joh 21,24 einen Garanten aufrufen, der das Evangelium beglaubigt. 387 Damit gibt die End‐ redaktion des Evangeliums sozusagen eine Garantie auf den Text und legitimiert seine Notwendigkeit. 388 Sie reiht sich zudem „in die ihr vorgegebene Traditi‐ onsfolge ein, indem sie die Interpretation weiterführt.“ 389 Joh 21,24 legt damit Wert darauf, eine die Offenbarung Jesu vermittelnde Instanz einzuführen, das Zeugnis des Lieblingsjüngers, die unabhängig vom konkreten Evidenzerlebnis des Lesers dazu fähig ist, den Gehalt der österlichen Botschaft abzusichern. 390 Die Zeugenschaft des Lieblingsjüngers wird damit zu einem „Element der lite‐ rarisch-hermeneutischen Komposition des vierten Evangeliums.“ 391 Das Buch des Lieblingsjüngers, das Evangelium, ist folglich die autoritative „Instanz der Vermittlung.“ 392 In diesem Sinn ist es korrekt davon zu sprechen, dass aus dem Evangelium nun ein Text entstanden ist, der zumindest auf dem Weg dazu ist, kanonisch zu werden: 393 „Das Wort ist Text geworden.“ 394 175 2. Die Autorität des Johannesvangeliums nach seinem Selbstzeugnis <?page no="176"?> 395 Huber / Hasitschka, Kanon, 608. Vgl. auch die Feststellung von Nicklas, Words, 309: „More than any other New Testament Text, this book wants to be understood als God’s and Christ’s word respectively.“ 396 Vgl. Hellholm, Visions, 127, der Apk 1,1-3 „on a meta-level, vis à vis the rest of the entire writing“ angesiedelt sieht und die Verse deshalb als „meta-narrative text“ (Hell‐ holm, Visions, 138) kennzeichnet. 397 Darum werden apokalyptische Texte in der Regel unter einem Pseudonym bekannt gemacht. Vgl. Broer, Einleitung, 659: Die apokalyptischen „Schriften sind in der Regel pseudonym, d. h. die Verfasser nennen nicht ihre Namen, sondern schreiben unter dem Namen eines der großen alten Männer und Autoritäten Israels und leihen sich deren Prestige.“ (kursiv im Original) So auch Lichtenberger, Apokalypse, 42: „Da aber angeb‐ lich der Geist der Prophetie seit Esra von Israel gewichen ist, können die Apokalyptiker nicht im eigenen Namen die Offenbarungsschriften abfassen, sondern leihen sich die Namen der Väter und Propheten der Vorzeit und früheren Zeit von Adam an bis zu den Propheten des Exils.“ 398 Vgl. Tilly, Apokalyptik, 9-12; Fletcher, Apocalypse, 116-118; Reiser, Sprache, 126; Con‐ zelmann / Lindemann, Arbeitsbuch, 391. 399 Vgl. zu den konstituierenden Merkmalen der Gattung „Apokalypse“ die häufig zitierte Formulierung von Collins, Morphology, 9: „Apocalypse is a genre of revelatory litera‐ ture with a narrative framework, in which a revelation is mediated by an otherworldly being to a human recipient, disclosing a transcendent reality which is both temporal, insofar as it envisages eschatological salvation, and spatial, insofar as it envisages ano‐ ther supernatural world“. Hinsichtlich dieser Bestimmung weist die Apk so viele Stil‐ merkmale einer Apokalypse auf, „as many as the most apocalyptic of apocalypses“ (Fletcher, Apocalypse, 133), dass es unmöglich ist, die Apk nicht als Apokalypse anzu‐ sehen. 3. Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis „Das letzte Buch der christlichen Bibel erhebt für sich einen Offenbarungsan‐ spruch, wie ihn in dieser Intensität sonst keine andere Schrift im Neuen Testa‐ ment, ja vielleicht in der gesamten Bibel kennt.“ 395 Trifft dies zu, ist es nur fol‐ gerichtig, wenn der dritte Metatext, der untersucht werden soll, in der Offenbarung des Johannes zu finden ist: Apk 1,1-3 (Apk 22,6-21). 396 Dass sich die Apk mit der Frage der Autorität beschäftigt ist nicht erstaunlich, da eine Apokalypse grundsätzlich ganz wesentlich von ihrer Autorität lebt. 397 Sie ist darauf angewiesen, dass ihre (alten und neuen) Offenbarungen bei ihren Adressaten Gehör finden. Deshalb ist sie von Anfang an auf die Herstellung von Autorität bedacht. Allerdings ist die Johannesoffenbarung keine typische Apokalypse. Die Fest‐ stellung, dass der Text, der einer ganzen Gattung (Apokalypse) und der damit zusammenhängenden Denkkonzeption (Apokalyptik) letztlich seinen Namen gegeben hat, 398 nicht völlig mit den Gattungsmerkmalen einer Apokalypse 399 und 176 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="177"?> 400 Vgl. Hahn, Apokalyptik, 3, der verschiedene Merkmale der Apokalyptik aufzählt und klar bemerkt: „Es geht bei der Apokalyptik nicht nur um ein literarisches Phänomen, sondern um ganz bestimmte Modelle bzw. Strukturen zur Erfassung der Wirklichkeit und des Offenbarungsgeschehens.“ 401 Tilly, Apokalyptik, 10. Allerdings ist trotz dieser Diskussion klar zu bemerken, „it is inescapable that the understanding of apocalyptic and apocalypse has grown out of a comparison of texts with Revelation.“ (Fletcher, Apocalypse, 119). Fletcher, Apocalypse, 133, erklärt diese scheinbar seltsame Diskussion mit dem treffenden Vergleich zur Ent‐ stehung der Gattung „Film Noir“ bzw. „Neo Noir“. 402 Fletcher, Apocalypse, 115. 403 Vgl. den ausführlichen Forschungsbericht von Tóth, Erträge, 2, der „eine höchst kom‐ plexe und kaum noch überschaubare Forschungslandschaft“ skizziert. Angesichts dieses unbestreitbaren Faktes ist es erforderlich, die vorliegende Untersuchung auf ihre zentrale Frage zu konzentrieren und Einleitungsfragen nur insoweit zu diskutieren, wie sie für diese Frage relevant sind. Vgl. zur Position dieser Untersuchung Metzger, Kate‐ chon, 154-157; grundlegend auch Schnelle, Einleitung, 557-577. Zur älteren Forschung vgl. Böcher, Forschung, 3850-3893. 404 Tóth, Erträge, 4. 405 Tóth, Erträge, 8. Zur neueren Diskussion vgl. Witetschek, Zeitfenster, 117-148. Vgl. z. B. Hahn, Apokalyptik, 126, der sehr sicher meint, dass die Apk „in der Zeit der domitia‐ nischen Verfolgung 95 / 96 n. Chr. entstanden sein“ muss. Da sich die Kritik an dieser Datierung vor allem an der Einordnung der Hinweise aus der Apk in die Geschichte Kleinasiens speist, (vgl. z. B. ausführlich Witulski, Kaiser, 143-345, und weitergeführt in Witulski, Hadrian, 106-112) also die Frage nach dem „Wirklichkeitsbezug“ (Witet‐ schek, Zeitfenster, 117) die entscheidende Rolle spielt, muss davor gewarnt werden, die Bildersprache der Apk unbedingt exakt auf eine nur bruchstückhaft zu erhebende, his‐ torische Situation auszuwerten, so zu Recht Tilly, Apokalyptik, 106; Witetschek, Zeit‐ fenster, 148: „Die Johannesapokalypse lebt zwar von Bildern, aber sie ist keine Allegorie, in der sich jedes Element des Textes mechanisch einem Phänomen der (historisch er‐ kennbaren) Realität zuordnen ließe.“ Ihm folgt auch Tóth, Erträge, 19. den typischen Denkbestimmungen der Apokalyptik 400 übereinstimmt, gehört zu den Kuriositäten der neutestamentlichen Wissenschaft. In der Tat ist es wirklich „umstritten, ob der Inhalt und die Funktion des letzten Buches der christlichen Bibel überhaupt dem entsprechen, was man heute gemeinhin unter dem litera‐ rischen Gattungsbegriff ,Apokalypse‘ versteht.“ 401 Es ist deshalb korrekt festzu‐ stellen: „one of the most vexatious features of modern apocalyptic scholarship [is] Revelation’s relationship with apocalyptic and apocalypse.“ 402 Bezüglich der Einleitungsfragen folgt diese Untersuchung trotzdem grund‐ sätzlich dem noch bestehenden Konsens der in den letzten Jahren neu aufge‐ blühten neutestamentlichen Forschung zur Apk. 403 Es wird deshalb vorausge‐ setzt, „dass der Verfasser der Johannesapokalypse weder mit dem Zebedaiden und Apostel Johannes noch mit dem Presbyter oder mit den Verfassern der sonstigen joh. Literatur identisch ist.“ 404 Außerdem wird hier der „immer noch mehrheitlich“ vertretenen, „klassischen Datierung auf die Zeit Domitians“ 405 177 3. Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="178"?> 406 Kümmel, Einleitung, 414. Ihm stimmt Böcher, Johannesapokalypse, 41, zu: „An der Ent‐ stehung in den letzten Jahres Domitians, also etwa 95 n. Chr., sollte nicht mehr gezwei‐ felt werden.“ Vgl. auch Karrer, Offenbarung, 53; Schnelle, Einleitung, 602; Lichtenberger, Apokalypse, 50. Insgesamt gibt es in der Tat „keinen zwingenden Grund der von Irenäus bezeugten Datierung der Johannesoffenbarung auf das Ende der Regierungszeit Domi‐ tians zu widersprechen (Bauer, Messiasreich, 382). 407 Vgl. Kapitel I.3.2. 408 Tilly, Apokalyptik, 50. 409 Broer, Einleitung, 664. 410 Broer, Einleitung, 664. gefolgt und angenommen: „Alle Wahrscheinlichkeit spricht daher dafür, daß die Apk in der Tat gegen Ende der Regierungszeit Domitians, also etwa 90-95, in Kleinasien geschrieben worden ist.“ 406 Zwei Fragen des umstrittenen Verhältnisses der Apk zur Apokalyptik müssen für diese Untersuchung jedoch geklärt werden. Erstens ist zu überlegen, ob die Apk wirklich eine Apokalypse ist, d. h. ob sie als Offenbarungsbuch konzipiert wurde oder ob sie sich eher als Brief versteht. Diese Entscheidung ist zwar be‐ reits vorweggenommen worden, 407 soll hier aber eingehend begründet werden. Es geht also darum nachzuweisen, dass die Apk zu Recht in dieser Untersuchung besprochen wird. Da die Untersuchung sich dem Autoritätsanspruch der Apk widmet, wird zweitens diskutiert, ob die Apk sich eine fremde Autorität leiht, also unter Pseu‐ donym schreibt, oder ob sie ihren wirklichen Verfasser nennt. In der Regel ge‐ hört es zu den Merkmalen einer Apokalypse, sich einer fremden Autorität zu bedienen, um auf eine „ideale Autorität für die Rückbindung des Inhalts an eine normative Vergangenheit“ 408 zu verweisen. Die Apk steht also von ihrer literarischen Gattung her bereits unter dem Ver‐ dacht, eine falsche Verfasserangabe zu machen. Die Autorität des Textes würde unter der Annahme der Pseudepigraphie also bereits zu einem wesentlichen Teil aus der Übernahme einer personell vorgegebenen Autorität bestehen. Beide Fragen müssen beantwortet werden, bevor Apk 1,1-3 näher erläutert werden können. 3.1. Die Apk als prophetisches Offenbarungsbuch Bereits unmittelbar nach dem Auftakt der Apk lesen sich Apk 1,4-8 wie ein „briefartiger Eingang“, 409 dem ein „brieflicher Schluß in 22,21“ 410 entspricht. Vor allem diese Verse mit ihrer Absender- und Adressatenangabe lassen also daran 178 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="179"?> 411 Wirkungsvoll vertreten z. B. von Karrer, Brief, 304, der als Ergebnis seiner Studie for‐ muliert: Die Apk „erfüllt, was das Medium ihrer Gestaltung angeht, die für die Kom‐ munikationsform des Briefes gültigen Kriterien in so hohem Maße, daß ihr brieflicher Selbstanspruch ihrer Gesamtinterpretation zugrundezulegen ist.“ 412 Vgl. zur Gattung „Brief “ grundlegend Reiser, Sprache, 116-125; Klauck, Briefliteratur, passim. 413 Vgl. Klauck, Briefliteratur, 263-264; Gradl, Buch, 18. 414 Aune, Revelation, lxxii. Vgl. Bauckham, Climax, 3. 415 Skeptisch auch Klauck, Briefliteratur, 264: „Ob man deswegen so weit gehen sollte, die ganze Offb gattungskritisch als Brief zu klassifizieren, scheint dennoch fraglich.“ 416 So z. B. Müller, Offenbarung, 28. Richtig sieht Labahn, Babylon, 319-320: „Durch ihren brieflichen Rahmen, der allerdings das Gesamtkorpus gattungsgeschichtlich nicht not‐ wendig dem literarischen Genus des Briefes zuordnet, zielt das Werk auf Kommunika‐ tion und vor allem auf unbedingte Akzeptanz durch seine Leser und Leserinnen.“ 417 Man kann hier vor allem an die Struktur der Sendschreiben denken, doch gilt hier, dass die „Einzelelemente“ dieser Texteabschnitte „mit dem bekannten Briefschema und seinen zahlreichen Motiven wenig zu tun“ (Klauck, Briefliteratur, 265) haben. Vgl. Gradl, Buch, 18, der richtig beobachtet, dass sich die „brieflichen Prägemerkmale der Schrift“ nur in den genannten, wenigen Passagen finden. 418 Gradl, Buch, 19. 419 Gradl, Buch, 19. denken, dass die Apk ein Brief sein könnte. 411 Immerhin sind auch verschiedene Elemente bekannter, vor allem bei Paulus zu sehender Briefformulare 412 zu finden: die superscriptio und die adscriptio in Apk 1,4, eine erweiterte salutatio mit Doxologie (Apk 1,4-6), sowie der Gebetsruf nach dem Kommen des Herrn in Apk 22,20 und schließlich der Segenswunsch in Apk 22,21, was beides an 1Kor 16,22-23; 1Thess 5,28; Phil 4,23 erinnert. 413 Es ist deshalb berechtigt, als erste Beobachtung zu konstatieren: „Revelation clearly has a formal epistolary fra‐ mework in 1: 4-5 and 22: 21 and contains separate proclamations, often la‐ beled ,letters‘, addressed to each of the seven churches of the Roman province Asia (Rev 2: 1-3: 22).“ 414 Ob diese Merkmale allerdings hinreichen, die ganze Apk ihrer Gattung nach als Brief aufzufassen 415 oder ob diese Rahmung dem Text nicht lediglich dazu verhelfen soll, in den Gemeinden problemlos vorgelesen werden zu können, 416 bleibt zu klären. Denn deutlich ist auch, dass weitere, direkte Formmerkmale eines Briefes nur dann zu entdecken sind, wenn man sie unter der These sucht, dass die ganze Apk ein Brief sein soll. 417 Nur so lassen sich z. B. die Sendschreiben der Apk als Belege für die Gattung Brief erbringen, wobei es deutlich ist, dass diese Textabschnitte „keine wirklichen Briefe [darstellen], sondern bereits Be‐ standteil der Visionswelt der Apokalypse und damit nach Form und Inhalt fin‐ gierte Kunstbriefe“ 418 sind, die „das kommunikative Potential der Briefform in das Buchmedium“ 419 einbringen. Dass die Apk durchgängig daran interessiert 179 3. Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="180"?> 420 Karrer, Brief, 304. 421 So mit Recht Eco, Nachschrift, 55. Vgl. Gradl, Buch, 57-58: „Eine kommunikative Funk‐ tion, Adressatenorientierung und Verankerung im Rezeptionskontext sind keine ex‐ klusiven Bestimmungs- oder Alleinstellungsmerkmale eines Briefs.“ Vgl. Müller, Buch, 297. 422 Vgl. Gradl, Buch, 25: „Für eine briefliche Klassifikation fehlen der Schrift die durch‐ gängig vorhandenen brieflichen Formelemente, die eine eindeutig kommunikativ dia‐ logische Ausrichtung gerade des apokalyptischen Hauptteils erkennen lassen.“ 423 Gradl, Buch, 37. 424 Karrer, Brief, 305. Vgl. zur Kritik Müller, Buch, 297. 425 Gradl, Buch, 57. 426 Vgl. Gradl, Buch, 53-57. ist, mit ihren Adressaten in Kontakt zu bleiben, also die Aufmerksamkeit ihrer Leser und Hörer zu behalten, zeigt zwar eine „implizite Kommunikations‐ struktur“ 420 , belegt aber doch nicht zwingend den Gesamtcharakter des Textes als Brief, da jeder Text mit seinen Adressaten eine innere Verbindung eingehen will, damit er schlicht weiter gelesen bzw. gehört wird. 421 Dieser Gedanke lässt sich also nicht zwingend für die Bestimmung der Gattung verwenden, 422 sodass die wenigen Belegstellen in der Apk selbst eine erhebliche Beweislast tragen müssen. Dies führt zu dem Zwischenergebnis: „Weder das Briefpräskript noch der Schlussgnadenwunsch allein sind wirklich aussagekräftige und zureichende Bestimmungsmerkmale für eine durchgängig briefliche Klassifikation der Schrift.“ 423 Gegen die Bestimmung der Apk als Brief ist zu verrechnen, dass sie sich „keiner antiken Briefgattung direkt zuordnen“ 424 lässt. Außerdem sprechen weiter „die fehlende Durchgängkeit brieflicher Formelemente, die nicht oder nur modifiziert vorhandenen brieftopischen Prägemerkmale, die keine klare Zuordnung zu einem Brieftypus erlauben, und der Umfang des Werkes“, 425 der für einen Brief eigentlich unvorstellbar groß wäre, 426 gegen die Bestimmung der Apk als Brief. Entweder verzichtet man deshalb darauf, die Apk überhaupt einer 180 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="181"?> 427 So im Grunde auch Karrer, Brief, 305, der vorschlägt, „auf eine einlinige, verengende Gattungsbezeichnung zu verzichten und [die Apk] nur allgemeiner als einen brieflichen Text der Offenbarungsliteratur zu charakterisieren.“ 428 So z. B. Paul, Source, 41, der einen „mix of three major genres - of epistle, prophecy and apocalyptic -“ erkennt. Auch Karrer, Offenbarung, 90, erkennt richtig eine eigene Form der Apk, wenn er sie als „brieflich gestaltetes Werk der Offenbarungsliteratur“ be‐ zeichnet. Fraglich ist dabei allerdings, wie so verschiedene Phänomene, literarische wie geistesgeschichtliche, in einen Gattungszusammenhang gefasst werden wollen. Über‐ zeugender ist die Bestimmung von Conzelmann / Lindemann, Arbeitsbuch, 392, die Apk als „Visionsbericht, der sich teilweise der Briefform bedient“, versteht. Vgl. zur weiteren Diskussion der Gattungsfrage Kowalski, Prophetie, 269-272. 429 So Gradl, Buch, 13: „Wie keine andere Schrift des Neuen Testaments betont die Johan‐ nesoffenbarung ihre mediale Form und präsentiert sich ihrem medialen Selbstver‐ ständnis nach als Buch.“ 430 Vgl. Theißen, Entstehung, 260-261; Müller, Buch, 298: „Nicht in erster Linie der Brief‐ charakter ist für die Offenbarung kennzeichnend, sondern ihr Schriftbzw. Buchcha‐ rakter, der den aktualisierenden Gebrauch der Schrift ermöglicht.“ 431 Vgl. Müller, Buch, 300-307. 432 Gradl, Buch, 14. So auch Müller, Buch, 298; Paulsen, Scriptura, 71. Mauz, Machtworte, 257, qualifiziert das Buch deshalb als „technisches Offenbarungsmedium zu Vermittlung der Botschaft“ (kursiv im Original) an die Adressaten des Johannes. 433 Labahn, Babylon, 322; Niebuhr, Grundinformation, 21. bekannten Gattung zuzuweisen 427 und sieht sie als Gemisch verschiedener Gat‐ tungen an 428 oder man setzt bei der Selbstbezeichnung des Textes an. 429 In Apk 1,11 bekommt der Seher den Befehl, das, was er sieht, in ein „Buch“ zu schreiben. 430 In Apk 22,7. 9. 10.18.19 betont er mehrmals, wie wichtig „dieses Buch“ ist. Dies korrespondiert mit dem Selbstbezug auf das eigene Buch in Joh 20,30-31, das den Inhalt so transportieren soll, dass der Leser oder Hörer zum Glauben findet. Erkennt man weiter, dass das Motiv „Buch“ durch die ganze Apk eine Rolle spielt, 431 das Buch mit den sieben Siegeln in Apk 5, das Buch des Engels in Apk 10,1-11 (mit Anklängen an Ez 2,8-3,3), das Buch des Lebens (Apk 17,8; 20,12.15; 21,27) und andere Bücher in Apk 20,12, wird deutlich: „Die bewusst gewählte und deutlich akzentuierte mediale Gestaltungs-, Sicherungs- und Überlieferungsform der Johannesoffenbarung ist das Buch.“ 432 Inhaltlich erzählt sie in ihrem Hauptteil, wie Johannes seine Offenbarungen empfangen hat und was ihm mitgeteilt wurde. Unter diesem Aspekt lässt sie sich also auch als „autobiographische Erzählung“ 433 verstehen. Sich selbst cha‐ rakterisiert die Apk außerdem mehrmals als Prophetie (Apk 1,3; 19,10; 181 3. Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="182"?> 434 Vgl. Schnelle, Einleitung, 597; Kowalski, Prophetie, 272-278. Roose, Zeugnis, 144, for‐ muliert zu Recht: „Der Seher charakterisiert seine Schrift als prophetische Botschaft.“ Schon Bousset, Offenbarung, 181, beobachtet: „Mit großer Energie wird der propheti‐ sche Charakter des Buches betont.“ Dies führt Roloff, Offenbarung, 213, dazu, die Apk als „das einzige umfassende literarische Zeugnis urchristlicher Prophetie innerhalb des Neuen Testaments“ zu werten. 435 Kowalski, Prophetie, 272-278, weist unter Nennung der Belegstellen als Merkmale der Prophetie auf: Prophetisches Vokabular, den typischen Schreibbefehl, Botenformel und Weckruf, Erkenntnisformel, Wortereignisformel, Makarismen, Visions- und Auditions‐ berichte, Heils- und Unheilsworte, Fremdvölkersprüche, Totenklage, Klageruf, Lei‐ chenlied, Zeichenhandlung, Berufungserzählung, Orakel. 436 Tilly, Apokalyptik, 108. Ihm stimmt Kowalski, Prophetie, 292, zu: „Die Offenbarung des Johannes ist in erster Linie eine prophetische Schrift.“ Vgl. auch Huber / Hasitschka, Kanon, 609. 437 Vgl. Satake, Gemeindeordnung, 70, der zeigt, dass der Seher „sein eigenes Buch“ als Prophetie versteht. 438 Vgl. z. B. Paul, Source, 41, der beide Elemente bereits in Apk 1,1-9 finden kann. 439 Gradl, Buch, 107. Vgl. auch Mazzaferri, Genre, 383, der Johannes aufgrund seiner viel‐ fachen Bezugnahmen auf die Propheten des Alten Testaments als einen „neo-classical“ Propheten bezeichnet. 440 Gradl, Buch, 104. Diese Untersuchung folgt dabei den Begründungen von Gradl, Buch, 104-146. Mit dieser Bezeichnung dürfte „die künstliche Grenze zwischen Prophetie und Apokalyptik (Kowalski, Prophetie, 293) eingerissen sein. Vgl. auch Aune, Revelation I, 12, der ebenfalls von einem „prophetic book“ spricht. 441 Praktisch gewendet kann man mit Bousset, Offenbarung, 183, sagen, dass die Apk als „heiliges prophetisches Vorlesungsbuch“ zu verstehen ist. 442 Vgl. Labahn, Babylon, 340, der diese Erzählung als subversiv kennzeichnet. 443 Vgl. Broer, Einleitung, 659. 22,7. 10. 18.19), 434 was durchaus berechtigt erscheint, da sich in ihr viele Merk‐ male prophetischer Literatur finden, 435 sodass sie „in erster Linie eine prophe‐ tische Schrift“ 436 sein dürfte. 437 Da aber unabweisbar apokalyptische Merkmale ebenfalls zu konstatieren sind, 438 die sich zu einer „gattungsrelevanten Ein‐ heit“ 439 verbinden, scheint es der vorliegenden Untersuchung sinnvoll, die Apk als „prophetisch-apokalyptisches Buch“ 440 anzusehen, 441 das die Erzählung einer Offenbarung enthält. 442 3.2. Die Apk als Schrift des Propheten Johannes Die Gattung „Apokalypse“ bestimmt die Pseudepigraphie eines Textes als ein wichtiges Definitionsmerkmal ihrer selbst. 443 Wenn die Apk also - wie in dieser Untersuchung angenommen - als Buch angesehen wird, das apokalyptische Stilmerkmale aufweist, steht bereits von daher der Verdacht im Raum, dass auch die Apk der Regel entsprechen und den richtigen Namen ihres Autors durch 182 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="183"?> 444 So z. B. Bauer, Messiasreich, 342. Zu Recht urteilt Dochhorn, Prophetie, 50, dass die Apk „immer wieder als Pseudepigraph bestimmt worden [ist], in der Regel verbunden mit dem Argument, daß auch die zeitgenössischen jüdischen Apokalypsen als Pseudepi‐ graphen konzipiert gewesen seien.“ Dazu bemerkt Holtz, Offenbarung, 7, kritisch: „Den Namen selbst für eine Fiktion zu halten, besteht keinerlei Anlaß, schon gar nicht unter Berufung auf ein hypothetisches Gattungsmerkmal für ,Apokalypsen‘.“ 445 Vgl. z. B. Frey, Erwägungen, 425-427; Bauer, Messiasreich, 342. 446 Frey, Erwägungen, 425. 447 Frey, Erwägungen, 425. 448 Frey, Erwägungen, 426. 449 Strecker, Theologie, 543. Dieses Stilmittel verhilft dem Verfasser der Apk zu der not‐ wendigen Autorität, denn er „hat nicht genügend eigene Autorität wie etwa die der Schriftpropheten, sondern muß sie sich von diesen Großen borgen.“ (Vielhauer / Stre‐ cker, Apokalypsen, 494) Vgl. dazu die Kritik bei Frey, Corpus, 124. 450 Vgl. Müller, Offenbarung, 68; Dochhorn, Prophetie, 51. Dies sieht auch Frey, Corpus, 119: „Apostolische Autorität erhebt ,Johannes‘ nicht.“ 451 So Strecker, Theologie, 543. eine akzeptierte Autorität ihrer intendierten Leserschaft ersetzt haben könnte. 444 Folgt man diesem Verdacht, 445 dann liegt es nahe, die Autorenbezeichnung „Jo‐ hannes“ aus Apk 1,4 als Verweis auf eine zuvor konstruierte „johanneische“ Tradition zu verstehen. Man kommt dann zu dem Ergebnis: „Die Apokalypse ist ein Pseudepigraphon und dem durch seine Wirksamkeit bekannten kleinasia‐ tischen Johannes in der redaktionellen Rahmung zuzuschreiben.“ 446 Die „brief‐ liche Form“ 447 der Apk ist dann weiter Teil einer „pseudepigraphischen Autor‐ fiktion“ 448 und als solche durchaus stilgemäß. Diese Annahme wird aber durch erhebliche Bedenken belastet. Wenn die Gattung „Apokalypse“ als Argument für die Pseudonymität der Apk dienen soll, dann fällt bereits der erste Unterschied auf. Klassisch gilt: „Der Apokalyptiker schreibt nicht unter eigenem Namen, sondern bleibt entweder anonym oder er benutzt den Namen eines Großen der Vergangenheit.“ 449 Die Apk bleibt aber weder anonym noch leiht sie sich die Autorität eines Helden der Vorzeit. 450 Entweder muss also der Name „Johannes“ einen Schulzusammenhang mit der anderen „johanneischen“ Literatur anzeigen, 451 wobei allerdings die üb‐ 183 3. Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="184"?> 452 So Bauer, Messiasreich, 343, der annimmt, dass die Pseudonymität „im Dienst einer sich gegen Paulus abgrenzenden Autorisierung des Werkes“ stünde und sie einen sichtbaren „Antipaulinismus“ (Bauer, Messiasreich, 379) vertrete. Dies setzt voraus, dass es eine „zweite, nicht-paulinische Personaltradition Kleinasiens“ (Bauer, Messiasreich, 379) überhaupt gab. Ihm folgt Frey, Corpus, 132. Der Vorteil dieser These ist, dass dann die „ganz andere Stimme“ (Frey, Corpus, 132) der Apk im Vergleich zu Evangelium und Briefen erklärt wäre. Der Nachteil ist, dass dann die Gegnerschaft zur paulinischen Tradition der kleinste gemeinsame Nenner der johanneischen Schule wäre. Ist dann noch zu erklären, warum die Apk recht rasch in den Sog der „echten“ johanneischen Theologie gekommen sein soll? 453 Gegenüber einer johanneischen Schule zeigt sich Cebulj, Johannesevangelium, 340, skeptisch und folgert, dass „die bis heute in einer Vielzahl von Variationen vertretene Hypothese, die ,joh Schule‘ sei eine Art Schriftgelehrten- und Theologenstand in der joh Gemeinde gewesen, der […] für die Schriftproduktion des Corpus Johanneum ver‐ antwortlich zeichnet, in dieser Form nicht haltbar ist.“ Ihm stimmt Schmeller, Schulen, 15, zu: „Wie die joh Schule - wenn sie denn überhaupt existierte - ausgesehen haben könnte, ist bisher nicht befriedigend geklärt.“ Vgl. zur Diskussion der bis heute offenen Fragen der Annahme eines johanneischen Kreises oder einer johanneischen Schule Schmeller, Schulen, 10-15. 454 Frey, Corpus, 71. 455 Frey, Erwägungen, 426. 456 Man muss hier konkret den Erwägungen Hengels, Frage, 75ff, folgen, der aufgrund einer von Euseb, Hist. Eccl. III 39,4 überlieferten Notiz des Papias folgert, dass der „Presbyter“ des 2. und 3. Johannesbriefes jener bei Papias erwähnte Johannes sei. 457 Frey, Erwägungen, 426. 458 Vgl. Becker, Autorität, 191, der entschieden feststellt: „Der Seher gehört nicht zum jo‐ hanneischen Kreis, ja es ist nicht sicher auszuschließen, ob er nicht von dessen Existenz eventuell gar nichts wusste.“ rigen vier „johanneischen“ Schriften den Namen „Johannes“ nicht nennen, oder es soll z. B. eine Front gegen die paulinische Tradition aufgebaut werden. 452 Um die „johanneische“ Literatur einem „Johannes“ zuweisen zu können und somit überhaupt erst ein „Schulhaupt Johannes“ zu finden, dessen Wirkung die Apk in irgendeiner Weise zugeordnet werden kann, muss postuliert werden, dass es überhaupt eine „Johannesschule“ bzw. einen „johanneischen Kreis“ gab, 453 der von dem „im ephesinischen Raum zu lokalisierenden Schulhaupt Jo‐ hannes - vermutlich dem bei Papias erwähnten ,Presbyter‘ -“ 454 so nachhaltig beeinflusst wurde, dass selbst ein anonymer Autor sich genötigt sah, dessen Autorität für sich zu reklamieren. Erschwert wird diese Hypothese durch den Fakt, dass erstens die Identität „dieser rätselhaften Gestalt des ,Alten‘“ 455 mühsam und unsicher rekonstruiert werden muss 456 und dass zweitens die Distanz des Sehers von seinem Schul‐ oberhaupt erklärt werden muss, die „angesichts der gravierenden theologischen Differenzen und Gegensätze zum 4. Evangelium und auch den Briefen“ 457 eher größer als kleiner gewesen sein dürfte. 458 Die Beweiskette nimmt also ihren 184 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="185"?> 459 Vgl. Frey, Corpus, 102, der die Beweiskette in einem Satz zusammenführt: „Die einzige Möglichkeit, die Briefe mit Gründen auf eine bekannte Person zurückzuführen, ist durch die bei Papias überlieferten Hinweise auf den Presbyteros Johannes gegeben, der offenbar als Traditionsträger und Lehrer in Kleinasien gewirkt hat und dessen Benen‐ nung als ,Presbyteros‘ nicht einfach ein gemeindliches Amt bezeichnet, sondern eben die autoritative Stellung eines einflussreichen, und bekannten frühchristlichen Lehrers, für den - nach der Anrede der Adressaten in den Briefen als τεκνία und παιδία auch physisch ein relativ hohes Alter anzunehmen ist, was dann wieder mit dem in Joh 21,22f referierten Ruf besonderer ,Langlebigkeit‘ verbunden werden kann.“ Wenn man mit Hengel, Frage, 321-325, dann noch vermutet, dass dieser Presbyter Johannes noch ein Augenzeuge Jesu war, dann gerät man leicht - wie Frey, Corpus, 103, selbst bemerkt - in die Gefahr, einen „Johannesroman“ zu schreiben. 460 Vgl. Frey, Corpus, 117-118: Durch die Hinzufügung der „inscriptiones werden die [ Jo‐ hannesbriefe und das Evangelium] von anonymen zu pseudepigraphischen Schriften, was in diesem Fall durch Namensgleichheit zwischen dem ,Alten‘ Johannes und dem Apostel Johannes begünstigt war.“ (kursiv im Original) 461 Vgl. Frey, Corpus, 120. 462 Frey, Corpus, 104. 463 So zweifelt auch Frey, Corpus, 104, nicht daran, sondern stellt fest: „Die Apokalypse stammt somit faktisch weder vom Apostel noch vom Presbyteros.“ Ausgangspunkt bei der Identifizierung des bei Papias (Euseb, Hist. Eccl. III 39,4) erwähnten Presbyters mit dem „Alten“ des 2 / 3Joh. Dann wird dieser Verfasser auch für den 1Joh angenommen und schließlich mit dem Joh verbunden. So kann der Lieblingsjünger des Joh letztlich historisch identifiziert werden. 459 Damit ist schließlich die Voraussetzung geschaffen, konkret eine Gestalt gefunden, die als Autorität bekannt war und deren Name durch den Seher benutzt werden konnte. Ein weiteres Argument für die Pseudonymität der Apk liegt in der altkirch‐ lichen Traditionsbildung begründet, die den Presbyter Johannes mit dem Apostel Johannes in eins setzt und so die Schriften des Presbyters dem Apostel zuweist. 460 Die relativ rasche Zuweisung der Apk von einem konkreten, aber ansonsten - uns! - unbekannten Propheten Johannes zu dem Apostel sei his‐ torisch unwahrscheinlich. 461 Dagegen ist einzuwenden: Die Traditionsbildung, vor allem „die inscriptiones der fünf ,johanneischen‘ Schriften“, 462 können wohl durchaus auf einen Jo‐ hannes verweisen, dem alle Schriften zugeordnet werden, doch hat dies - auch für Anhänger der Pseudonymität der Apk - keine Beweiskraft dafür, dass alle Schriften wirklich von einem Autor stammen. 463 Wenn hier also das Argument der inscriptiones nicht zählt, warum soll es dann als Argument der Pseudony‐ mität gelten? Dies heißt, dass die altkirchliche Zusammenstellung der johan‐ neischen Schriften kein Argument für die Pseudonymität der Apk sein kann und dass historisch sehr wohl verschiedene „Johannese“ als Lehrer, Prophet, Pres‐ byter etc. gewirkt haben können. Dass diese dann im Zeitrahmen von mehreren 185 3. Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="186"?> 464 Dochhorn, Prophetie, 46. 465 Alle Zitate: Frey, Corpus, 120. 466 Vgl. Lichtenberger, Apokalypse, 41; Theißen, Entstehung, 265. 467 Vgl. Brandenburger, Verborgenheit, 14, der bemerkt, dass das Pseudonym „nicht nur im Sinne äußerlicher Legitimation verstanden werden darf.“ 468 Vgl. dazu ausführlich Metzger, Esra, 274-285. 469 Vgl. Conzelmann / Lindemann, Arbeitsbuch, 392: „Aber dem Seher Johannes wird keine außerhalb der Apk liegende Autorität zugeschrieben - er erscheint weder als ,Presbyter‘ noch etwa als Garant der im Joh begegnenden Jesus-Überlieferung. So wird der Name authentisch sein, ohne daß wir Näheres über diesen Johannes sagen können.“ Jahrzehnten in der Überlieferung zu einer Figur der frühesten Christenheit ver‐ schmelzen, lässt sich plausibel durch das Interesse der frühen Christen an einer sicheren Überlieferung erklären, die ihren Anfang idealerweise in der Ge‐ schichte Jesu nimmt. Die vorhandenen Ähnlichkeiten zwischen den fünf als „johanneisch“ bezeichneten Texten lassen sich traditionsgeschichtlich erklären, „ohne daß eine besondere, durch Schulzugehörigkeit oder ähnlich bedingte Af‐ finität zwischen den Autoren ermittelt werden müßte.“ 464 Ein nächstes Argument lautet, dass der Name Johannes lediglich in den Rah‐ menstücken der Apk auftaucht und folgert daraus, dass die Namensnennung zur Beglaubigung der Vision und damit des ganzen Textinhaltes dient. Der Name stehe damit in Verbindung zum Inhalt und wolle Autorität für sich reklamieren. Die Nennung des Namens in Apk 1,9 also als „eine schlichte autobiographische Notiz“ zu verstehen, sei „naiv“, da der Visionsbericht dafür „allzu sehr stilisiert und konstruiert“ sei „und das Bild des ,Johannes‘ extrem blass und dürftig“ bleibe. 465 Diesem Gedanken ist zum einen zu entsprechen, da Apokalypsen in der Regel tatsächlich eher knapp ihren „Helden“ einführen. So kommt z. B. der wohl etwa zur gleichen Zeit entstandene 4Esr 466 auch damit aus, lediglich seinen Namen, den Ort seiner Wirksamkeit und das Jahr seines Auftretens zu nennen (4Esr 3,1). Dies entspricht also den Angaben, die die Apk zu dem Propheten Johannes macht. Allerdings ist doch zum anderen ein wesentlicher Unterschied zu be‐ merken. Der 4Esr setzt den von ihm gewählten Namen auf vielfältige Weise für seine Absichten ein. 467 So fungiert Esra im 4Esr als Hirte (4Esr 5,18), Lehrer (4Esr 14,47), Prophet (4. Esr 12,42) und als letzter Warner vor dem Ende (4Esr 14,10-12). 468 Die Autorität des Protagonisten wird also auf verschiedenen Ebenen für die inhaltliche Vermittlung der apokalyptischen Botschaft benutzt. Dies geschieht in der Apk aber überhaupt nicht. 469 Dass der „Apokalyptiker ge‐ rade nicht die Personalautorität des Presbyters oder die Ur-Zeugenschaft des 186 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="187"?> 470 Frey, Erwägungen, 428. 471 Frey, Erwägungen, 415. 472 Frey, Corpus, 121. 473 Bauer, Messiasreich, 342. 474 So sind z. B. 2 / 3Joh, also Werke der „johanneischen Schule“ nicht pseudonym. Au‐ ßerdem zählt Frey, Corpus, 121, selbst weitere Texte auf, wie die echten Ignatiusbriefe und weitere Schriften. 475 Dass der Herm mit der Apk durchaus berechtigt in Verbindung gebracht werden kann, zeigt Nicklas, Ägypten, 116. Er konstatiert anhand der altkirchlichen Literatur Ägyp‐ tens, dass sowohl Herm als auch Apk für ihre dortigen Leser eine Autorität darstellten. 476 Frey, Corpus, 121. 477 Vgl. Broer, Einleitung, 667: Die Annahme, „daß der Verfasser die Angabe des Jo‐ hannes-Namens als Pseudonym benutzt und sich damit völlig gattungsgemäß ver‐ hielt […], scheint demgegenüber weniger berechtigt.“ 478 Vgl. Frey, Corpus, 120. 479 Mit Karrer, Johannesoffenbarung, 49; Roose, Zeugnis, 158: „In der Offb läßt nun aber nichts darauf schließen, daß sich der Seher eines Pseudonyms bedient.“ 480 Vgl. Dochhorn, Prophetie, 46; Aune, Revelation I, 8: Der Name Johannes „appears to have been a relatively common Jewish name in the Hellenistic period.“ Lieblingsjüngers“ 470 benutzt, führt die These der Pseudonymität in der Tat in eine „bleibende Aporie“. 471 Weiter wird die Entstehungszeit der Apk als Argument angesehen, da sie in einer Zeit entsteht, die von einer christlichen Literatur gekennzeichnet ist, in der „überwiegend anonyme oder pseudonyme Schriften“ 472 entstehen. Die Apk wäre damit „die einzige orthonyme Apokalypse“ 473 in diesem Zeitraum. Dieser Gedanke ist erstens nicht zwingend, weil genug urchristliche Literatur aus dem Kontext der Apk existiert, die nicht pseudonym ist, 474 und weil zweitens die Regel immer Ausnahmen kennt. Wenn dann noch gesehen wird, dass der sog. Hirte des Hermas 475 eine „Parallele für eine orthonyme apokalyptische Schrift“ 476 darstellen kann, scheint das Argument recht gezwungen. Insgesamt betrachtet ist die These einer Pseudonymität der Apk also denkbar, aber nicht zwingend. 477 Vielleicht kommt man nicht umhin, sich den Vorwurf der Naivität einzuhandeln, 478 wenn die Überlegungen zu dieser Frage bei der offensichtlichen Namensnennung der Apk einsetzen und somit dem Zeugnis der Apk selbst der Vorzug vor dem Ansatz bei ihrer Gattung gegeben wird. Setzt man so an, deutet zunächst nichts auf ein Pseudonym hin. 479 Nach Apk 1,1.4 wurde die Schrift von einem gewissen „Johannes“ - einem zu seiner Zeit recht häufigen Namen 480 - geschrieben, der sich selbst als Knecht bezeichnet. In Apk 1,9 stellt er sich seinen Adressaten als „Bruder und Gefährte“ 187 3. Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="188"?> 481 Vgl. Dochhorn, Prophetie, 45, der zu Recht dazu bemerkt, dass der Aufenthalt auf Patmos nicht unbedingt als Verbannung des Johannes verstanden werden muss. Be‐ trachtet man die Angaben zum Aufenthalt des Johannes auf Patmos eingehend, kommt man mit Horn, Patmos, 158, zu dem Ergebnis, dass sich Johannes wahrscheinlich frei‐ willig „zeitweise auf diese Insel […] zurückgezogen hat.“ 482 Dochhorn, Prophetie, 46. 483 Vgl. auch Horn, Patmos, 158, der im Seher „ein Mitglied einer Gruppierung mit pro‐ phetischem Selbstverständnis und gewissem Leitungsanspruch auf die Gemeinden (Apk 22,9)“ vermutet. So auch Gradl, Buch, 464. Grundsätzlich gilt aber die Feststellung von Pesch, Auslegung, 21: „Johannes, über den wir nichts Genaueres erfahren und nichts Sicheres mehr feststellen können, ist den Gemeinden, die er anschreibt, offenbar als Diener des Wortes, als prophetischer Verkündiger bekannt; die Gemeinden in Klein‐ asien werden gewußt haben, wer zu ihnen sprach, wenn sie den Namen Johannes hörten.“ 484 Dochhorn, Prophetie, 46. So auch Müller, Offenbarung, 50; Broer, Einleitung, 667. 485 Mit Karrer, Offenbarung, 178. 486 Vgl. Conzelmann / Lindemann, Arbeitsbuch, 392; Dochhorn, Prophetie, 51: „Die Leser wußten, welcher Johannes ihnen da schrieb, und weswegen er sich auf Patmos aufhielt, wußten sie auch.“ So auch Frenschkowski, Vision, 26; Reiser, Sprache, 129, der damit auch die „briefliche Stilisierung“ des Textes erklärt. 487 So Frey, Erwägungen, 426. 488 Dochhorn, Prophetie, 46. 489 Vgl. Tóth, Erträge, 5. vor, der um des göttlichen Wortes willen auf Patmos weilte. 481 In Apk 22,8-9 stellt er sich erneut als derjenige vor, der den Inhalt der Apk geschaut hat, und wird als Bruder von Propheten angesprochen, was darauf hindeutet, dass „er einem prophetischen Zirkel angehört“ 482 haben kann. 483 Diese Angaben, die der Text selbst bereitstellt, sind „zu wenig für den in der Distanz forschenden His‐ toriker, genug anscheinend für die Adressaten, vermutlich, weil sie den Ver‐ fasser kannten.“ 484 Diese Annahme löst in der Tat viele Aporien der Pseudonymitätsthese. Der Verfasser braucht kein Pseudonym, keinen Helden der Vorzeit, dessen Autorität er sich leihen kann, weil er bei seinen Adressaten als Autorität bekannt ist. 485 Er kann deshalb unter eigenem Namen schreiben. 486 Gravierende theologische Un‐ terschiede zwischen der Apk und der übrigen johanneischen Literatur 487 zeigen, dass der Johannes der Apk keinen unmittelbaren, vielleicht sogar „schulischen“ Kontakt zu den anderen Texten hatte. Das Bild des Johannes in der Apk bleibt blass, weil er es nicht nötig hatte, es weiter für seine Absicht zu formen. Er ist auch nicht nur in den Rahmenstücken präsent, weil die ganze Apk „als Ich-Er‐ zählung gehalten“ 488 ist. Überblickt man also den Aufwand an Hypothesen, um die Pseudonymität der Apk festzuhalten, scheint es doch wesentlich einfacher - mit der Mehrheit der Exegeten 489 - anzunehmen: Die Apk „bedient sich nicht des Stilmittels der Pseu‐ 188 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="189"?> 490 Tilly, Apokalyptik, 107. 491 Tóth, Erträge, 5. So auch Theißen, Religion, 333; Schnelle, Einleitung, 600: „Autor der Offb ist ein judenchristlicher Wanderprophet, der lange Zeit in den ehemals paulinischen Gemeinden Kleinasiens wirkte und ihnen nun angesichts vielfacher Bedrängnisse eine Orientierung zu geben versucht.“ (kursiv im Original) 492 Broer, Einleitung, 668. 493 Vgl. Huber / Hasitschka, Kanon, 609, die davon sprechen, dass der Seher sich selbst als „einen inspirierten Propheten stilisiert.“ 494 Vgl. Lichtenberger, Apokalypse, 48: „Was man mit Sicherheit sagen kann, ist jedenfalls, dass der Verfasser der Apk ein den Gemeinden Kleinasiens wohlvertrauter Johannes ist, der sich seine Autorität nicht von irgendwoher leihen muss, sondern dem sie selbst‐ verständlich entgegengebracht wird.“ depigraphie, sondern ihr Verfasser nennt explizit seinen Namen.“ 490 Die vorlie‐ gende Untersuchung bleibt hinsichtlich dieser Frage also im Konsens der For‐ schung und sieht als Autor der Apk einen Propheten namens Johannes an, „der, wohl im Kreis einer Prophetengruppe, in Kleinasien als Wanderprophet wirkte“, 491 über den aber ansonsten „ebensowenig wie über die Autoren der üb‐ rigen johanneischen Schriften“ 492 bekannt ist. 493 Die vorliegende Untersuchung hält also fest: Die Apk ist ein prophetisch-apo‐ kalyptisches Buch und wurde von einem nicht weiter identifizierbaren Johannes geschrieben, der sich selbst wohl als Prophet verstand. 494 3.3. Erläuterungen zu Apk 1,1 - 3 1 Ἀποκάλυψις Ἰησοῦ Χριστοῦ ἣν ἔδωκεν αὐτῷ ὁ θεὸς δεῖξαι τοῖς δούλοις αὐτοῦ ἃ δεῖ γενέσθαι ἐν τάχει, καὶ ἐσήμανεν ἀποστείλας διὰ τοῦ ἀγγέλου αὐτοῦ τῷ δούλῳ αὐτοῦ Ἰωάννῃ, 2 ὃς ἐμαρτύρησεν τὸν λόγον τοῦ θεοῦ καὶ τὴν μαρτυρίαν Ἰησοῦ Χριστοῦ ὅσα εἶδεν. 3 Μακάριος ὁ ἀναγινώσκων καὶ οἱ ἀκούοντες τοὺς λόγους τῆς προφητείας καὶ τηροῦντες τὰ ἐν αὐτῇ γεγραμμένα, ὁ γὰρ καιρὸς ἐγγύς. 1 Offenbarung Jesu Christi, 189 3. Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="190"?> 495 Holtz, Offenbarung, 15. Er bezeichnet den Eingang treffend als „Summe des ganzen Buches“. 496 Karrer, Offenbarung, 184 (im Original kursiv). 497 Aune, Revelation I, 9, entnimmt den drei Versen „six separate elements: (1) a summary designation of the character of the work itself, […] (2) with a subjective genitive indi‐ cating its source, […]“ (3) and an indication of its ultimate origin, […] (4) a reference to the addressees, […] (5) a summary of the content of the revelation, […] (6) a statement of how the revelation was transmitted.“ Vgl. ähnlich Karrer, Brief, 86. die Gott ihm gab, um seinen Knechten zu zeigen, was geschehen muss in Kürze, und er machte sie durch Entsendung seines Engels seinem Knecht Johannes kund, 2 der das Wort Gottes und das Zeugnis Jesu Christi bezeugte, was er sah. 3 Selig ist, wer vorliest, und die, die die Worte der Prophetie hören und bewahren das in ihr Geschriebene; denn der Augenblick ist nahe. Der Eingang der Apk ist „dem Gesamtwerk in hervorgehobener Weise vorge‐ ordnet.“ 495 Es handelt sich um eine „Texteröffnung mit orientierenden Hinweisen zur Lektüre“ 496 des gesamten Werkes. Er besteht aus zwei Sätzen. 497 Im ersten Satz wird die Herkunft und die Übermittlung der Offenbarung Christi beschrieben, im zweiten der Zweck ihrer Offenbarung und der Grund, warum sie erfolgte. Der erste Satz beginnt mit der bewussten Voranstellung des 190 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="191"?> 498 So die Mehrzahl der Interpreten. Allerdings kann hier durchaus auch ein Hauch von einem genitivus objectivus mitgehört werden. So ganz treffend Karrer, Offenbarung, 188: „Der Genitiv enthält aber auch die Dimension des Gegenstandes und Ziels.“ Vgl. auch Lohmeyer, Offenbarung, 6, der davon spricht, dass hier „Träger und Inhalt“ ge‐ nannt sind. Auch Reichelt, Angelus, 40-41, sieht in der Genitivverbindung „eine An‐ kündigung der Enthüllung Jesu Christi [ausgedrückt], eine Offenbarung darüber, wie dieser Jesus jetzt herrscht und wer er tatsächlich ist.“ Dies scheint nicht unberechtigt. Vgl. Resseguie, Revelation, 62, der beschreibt, dass in diesem Fall Offenbarung das „un‐ covering“ der Heilsgeschichte meint. Dass die Apk inhaltlich „the meaning and signi‐ ficance of Jesus‘ life, death and final appearance for history“ (Resseguie, Revelation, 62) wiedergibt, lässt sich ja kaum von der Hand weisen. Richtig fragt Resseguie, Reve‐ lation, 62, folglich: „Is not any revelation that comes from Jesus Christ also about Jesus Christ? “ Ähnlich spricht auch Pesch, Auslegung, 17, davon, dass die Apk „die Offen‐ barung des eschatologischen Offenbarungsmittlers Jesus Christus“ enthält. Ebenso sieht Holtz, Offenbarung, 16, dass der Genitiv „einen doppelten Boden“ hat, da Christus eben nicht nur Urheber, sondern auch Inhalt der Offenbarung ist. Dies zeigt, dass die Genitivverbindung durchaus beide möglichen Aspekte vermitteln kann. Bewusste Mehrdeutigkeiten lassen sich in Apk 1,1-3 außerdem öfter finden. Vgl. Karrer, Offen‐ barung, 184; Reichelt, Angelus, 41. 499 Müller, Offenbarung, 66, sieht hier eine „Weiterentwicklung der Buchüberschrift“ alt‐ testamentarischer Prophetenbücher vorliegen. 500 Müller, Offenbarung, 66. Vgl. Bousset, Offenbarung, 181. 501 Aune, Revelation I, 22. 502 Roloff, Offenbarung, 27. 503 Vgl. auch Satake, Offenbarung, 119, der von einem „Muster der alttestamentlichen Pro‐ phetenbücher“ spricht. 504 Das hier verwendete Verb δίδωμι kennzeichnet wie öfter im NT (z. B. Mt 11,27; Joh 3,35; 5,22. 26. 36) die entscheidende Übergabe der eschatologischen Geheimnisse Gottes an den Sohn. Vgl. Pesch, Auslegung, 18. 505 Vgl. Müller, Offenbarung, 67. Begriffs ἀποκάλυψις, der näher durch den genitivus subjectivus 498 Ἰησοῦ Χριστοῦ qualifiziert wird. 499 Er kann als „ausführlich gestaltete Überschrift“ 500 oder als „the author’s own descriptive title of his composition“ 501 angesehen werden. Die Apk weist damit „eine gewisse Ähnlichkeit [mit den] Eröffnungen alttestamentlicher Prophe‐ tenbücher“ 502 auf (Hos 1,1; Am 1,1; Jes 1,1). 503 Subjekt des Satzes ist θεός, der ihm, hier liegt ein Rückbezug auf Christus vor, diese Offenbarung „gab“, 504 wobei Christus, das zeigt die gebräuchliche Geni‐ tivkonstruktion (vgl. Gal 1,12; 2.Kor 12,1), somit zu einem Sender der Offenba‐ rung wird. 505 Damit ist auch der eigentliche Autor der Apk benannt: Letztlich ist es nicht Johannes, weil er keinen inhaltlichen Anteil an dem Text hat, sondern 191 3. Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="192"?> 506 Vgl. Roloff, Offenbarung, 27: Johannes „will nichts weiter sein als ausführendes Werk‐ zeug.“ 507 Vgl. Koester, Revelation, 222. 508 Vgl. Karrer, Brief, 86. 509 Aune, Revelation I, 12. 510 Vgl. Karrer, Offenbarung, 187. 511 Vgl. Pesch, Auslegung, 18. Aune, Revelation I, 13, will das „αὐτοῦ“ mit Verweis auf Apk 22,6 eher auf Gott als auf Christus beziehen. So auch Kraft, Offenbarung, 21. Vgl. auch die Überlegungen von Karrer, Brief, 105. Das Phänomen des doppelt möglichen Bezugs wird durch ἐσήμανεν wieder gestellt. 512 Vgl. Roose, Zeugnis, 43. 513 Aune, Revelation I, 12. Vgl. Wenn Pesch, Auslegung, 18. 514 Diese spezielle Enthüllung des Vaters an den Sohn lässt an Lk 10,21-22 denken, wo dieser Gedanke ebenfalls ausgedrückt ist. Vgl. Aune, Revelation I, 12. Gerade Lk 10,22 sagt dabei deutlich, dass der Sohn bei der Überlieferung der Offenbarung eine ent‐ scheidende Rolle spielt. 515 Vgl. zur Verwendung des Begriffs in der Apk Satake, Gemeindeordnung, 86-97. Im Hinblick auf Johannes kommt er zu dem Ergebnis, dass der Seher „als der Vermittler der Offenbarung eine einzigartige Stellung innehat, während alle übrigen Gemeinde‐ glieder […] dieser Autorität […] untergeordnet werden.“ 516 Vgl. Aune, Revelation I, 17: „By the end of the first century A. D. the term δοῦλος has already become a common self-designation for Christian leaders.“ 517 Vgl. Kraft, Offenbarung, 18. 518 Vgl. Aune, Revelation I, 13.17, der die vielfältigen Parallelen aufzeigt. nur aufschreibt, was ihm aufgetragen wurde. 506 Der Autor der Apk soll folglich Christus selbst sein. 507 Den finalen Zweck 508 der Übergabe an Christus zeigt der Inf. Aor. δεῖξαι an: Gott als „ultimate source of revelation“ 509 hat Christus die Offenbarung gegeben, damit er sie seinen Knechten, also auch den Knechten Christi zeigt. 510 Das αὐτοῦ kann sich grammatikalisch sowohl auf Gott als auch auf Christus beziehen. 511 Inhaltlich dürfte es kaum einen Unterschied ergeben. Wichtiger ist, dass Christus hier als der erste Mittler der Offenbarung Gottes erscheint. 512 Er ist der „agent of that revelation“, 513 dessen Aufgabe es ist, sie den Knechten weiterzu‐ leiten. 514 Der Terminus „δοῦλος“, 515 mit dem Johannes die - auch im NT begegnende (z. B. 1.Kor 7,22: Sklave Christi) 516 - alttestamentliche Redeweise vom Knecht Gottes aufnimmt (z. B. Jes 48,20; 49,5) 517 , wird im Umfeld der Apk bereits meta‐ phorisch verstanden worden sein. Immerhin dürfte dies durchaus nicht unge‐ wöhnlich gewesen sein. 518 Er drückt dabei aus, dass sich Johannes zumindest 192 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="193"?> 519 Allerdings kann man auch nicht - wie Gradl, Buch, 156 - sagen, dass sich Johannes überhaupt keine „eigene Amts- und Funktionsbezeichnung“ zu eigen macht. Als „Knecht“ ist er ein Christ wie alle anderen auch, aber als „Prophet“ doch wieder einer spezifischen Gruppe zugehörig. Dies sieht auch Gradl, Buch, 154, wenn er Johannes als „Propheten“ bezeichnet und ihn „als Teil einer Prophetengruppe“ versteht. 520 Vgl. Aune, Revelation I, 17. 521 Vgl. Karrer, Brief, 101, der im Vergleich mit Am 3,7 von einer deutlichen „Entschrän‐ kung“ des Adressatenkreises spricht. 522 Vgl. Lohmeyer, Offenbarung, 7; Pesch, Auslegung, 19; Roose, Zeugnis, 43; Gradl, Buch, 139: „Angesprochen sind alle Leser (Offb 1,3) und Hörer (Offb 1,3; 22,18) und alle, die sich der im Buch niedergeschriebenen Enthüllung öffnen wollen (Offb 22,17).“ 523 Vgl. Aune, Revelation I, 17, der Parallelen aufzeigt, die belegen, dass Sklaven „a consi‐ derable degree of authority and power in the context of the patron-client structure of society“ ausüben konnten. 524 Vgl. Koester, Revelation, 211, der „Knecht“ als eine „positive metaphor for God’s people“ erkennt. 525 Vgl. Hellholm, Visions, 131: „What the reader encounters is only an urgent and yet vague time limit.“ 526 Vgl. Kraft, Offenbarung, 21; Aune, Revelation I, 6, der es gleichfalls logisch findet, Gott als Subjekt anzunehmen. Der Befund, dass die Engel in der Apk meist als Engel Gottes angesehen werden, z. B. Apk 22,6 (vgl. Müller, Offenbarung, 68), deutet auch in diese Richtung. hier nicht titular von seinen Adressaten unterscheidet. 519 Vielmehr reiht er sich in dieser Hinsicht in die Gruppe der Christen ein. 520 Der Adressatenkreis ist somit nicht eingeschränkt, 521 sondern bewusst auf alle Christen, die dieser Of‐ fenbarung folgen, ausgeweitet. 522 Damit ist das Zugehörigkeitsverhältnis zu Gott einerseits ausgesagt wie auch der dadurch ausgezeichnete Status der Christen, 523 die sich als Knechte Gottes der Welt gegenüber grundsätzlich erhaben fühlen dürfen. 524 Das gilt natürlich nur, wenn sie den Offenbarungen der Apk Folge leisten und sich als Diener des allein würdigen Lammes (Apk 5,2.4.9) erweisen. Inhalt der Offenbarung ist das, was in Kürze geschehen muss. Es bleibt aller‐ dings noch unausgeführt, was geschehen muss, wichtiger scheint die Nähe dessen zu sein. 525 Der zweite Teil des ersten Satzes beginnt mit einem durch καὶ angezeigten Neuansatz, der inhaltlich genauer ausführt, wie die Offenbarung zu ihren Lesern und Hörern kommt. Der Vorgang, der also bereits zuvor beschrieben wurde, wird nun näher betrachtet. Grammatikalisch eindeutig ist durch die 3.Pers.Sg.Aor. ἐσήμανεν ein Rück‐ verweis angezeigt. Als Subjekt des Verbes kommen wieder Gott oder Christus in Frage. Da Gott bereits das Subjekt des ersten Satzteils darstellt, scheint es grammatisch angeraten, ihn auch hier anzunehmen. 526 Von Apk 22,16 her aller‐ dings lässt sich auch an Jesus denken, der dort aussagt, dass er seinen Engel 193 3. Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="194"?> 527 Vgl. Aune, Revelation I, 15, der daran denkt, dass Christus die Offenbarung weiterver‐ mittelt. Diese Auffassung ist möglich, muss aber inhaltlich begründet werden. Weil es sich um die Offenbarung Christi handelt, kann auch Christus selbst sie weitergeben. Inhaltlich entscheidend ist dies für die vorliegende Untersuchung nicht. 528 Für Karrer, Brief, 105, liegt in diesem doppelt möglichen Bezug ein Hinweis auf die Christologie der Apk vor, die dahingeht, Christus und Gott letztlich miteinander zu identifizieren. Genauer scheint die Einsicht von Holtz, Offenbarung, 16, zu sein, der den Monotheismus durchaus gewahrt sieht, aber betont, dass Gott sich der Welt christolo‐ gisch darstellt. 529 Vgl. Kraft, Offenbarung, 21: „Der erste Vers ist bestrebt, diese Beziehung zwischen all‐ gemeiner und besonderer Offenbarung darzulegen.“ Taeger, Autorisierung, 162, spricht hier vom „tatsächlichen Vollzug“ der Offenbarung. Satake, Offenbarung, 121, sieht beide Ketten als „komplementär“ an. Vgl. auch Aune, Revelation I, 14; Müller, Offenbarung, 67. 530 Roose, Zeugnis, 44. Vgl. Pesch, Auslegung, 16: „Die beiden ersten Strophen beschreiben also die Offenbarungsvermittlung von Gott bis hin zum Apokalyptiker, zum Seher Jo‐ hannes.“ Vgl. auch Bousset, Offenbarung, 181, der eine „Stufenleiter der Autoritäten“ erkennt, während Resseguie, Revelation, 62, von einer „chain of transmission“ spricht. 531 Vgl. Resseguie, Revelation, 62: „John provides a chain of disclosure to establish a reliable and authoritative venue for the revelation of an above point of view.“ 532 Müller, Buch, 294. 533 Vgl. Aune, Revelation I, 14. 534 Illustriert bei Aune, Revelation I, 14; Reichelt, Angelus, 39. gesandt hat. 527 Wieder kann die exakte Zuordnung offenbleiben, da es durchaus möglich ist, dass der Seher beide Möglichkeiten in eins setzen wollte. 528 Gott (oder Christus) hat also die Offenbarung - in der Übersetzung wird hier das im Griechischen ausgelassene Objekt „sie“ zur besseren Verständlichkeit ergänzt - durch die Entsendung seines Engels zu seinem Knecht Johannes ge‐ sandt. Es handelt sich dabei nicht um einen zweiten Vorgang, sondern die erste Übergabe der Offenbarung bleibt die einzige und wird lediglich näher ausge‐ führt. 529 „Die zweite Offenbarungskette ist damit eine Explikation der ersten.“ 530 Dass die Übermittlung der Offenbarung zweimal beschrieben ist, zeigt, dass dem Seher viel daran liegt, seine Botschaft zuverlässig erscheinen zu lassen. Gleich‐ zeitig lädt er sie dadurch mit großer Autorität auf. 531 Deshalb ist Gott bei beiden vertikalen Ketten der Anfang, die Spitze der „Offenbarungshierachie“, 532 der Seher bei beiden der Zielpunkt. Die Vermittlung läuft einmal über Christus, einmal über einen Engel. 533 Nimmt man die beiden Überlieferungsketten zu‐ sammen, die im Satz parallel zueinander laufen, 534 lässt sich erkennen, dass die Kette der Übermittlung von Gott über Christus über seinen Engel zu seinem 194 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="195"?> 535 Dies bringt Gradl, Buch, 155, in eine grafische Darstellung. Vgl. auch Roose, Zeugnis, 43, die den Begriff der „Offenbarungskette“ benutzt. Richtig sieht Müller, Offenbarung, 66: „Die Autorisierung des Buches durch die Betonung seines göttlichen Ursprungs ist dabei das Ziel des Verfassers.“ Vgl. auch Lichtenberger, Apokalypse, 55: „Das Ziel des Vorspanns ist es, dem Brief eine grundlegende Aussage voranzustellen. Die Offenba‐ rung […] kommt nicht vom Verfasser, sondern von Jesus Christus selbst.“ Vgl. auch Nicklas, Ewige, 119. 536 Müller, Offenbarung, 67. 537 Müller, Offenbarung, 67. 538 Allerdings ändert die neue Blickrichtung nichts daran, dass „die unlösbare Zusammen‐ gehörigkeit aller genannten Glieder der Offenbarungskette betont“ (Lohmeyer, Offen‐ barung, 6) wird. 539 Taeger, Autorisierung, 161. 540 Vgl. Roose, Zeugnis, 44, die beobachtet, dass „der Seher und Christus in ihrer Funktion als Offenbarungsmittler parallelisiert werden.“ 541 Vgl. Satake, Offenbarung, 121, der Christus und Johannes „besonders hervorgehoben“ sieht. 542 Taeger, Autorisierung, 162. 543 Aune, Revelation I, 6. Dies vermutet schon Bousset, Offenbarung, 183: „Der Aor. ist gewählt, weil der Schreiber sich auf den Standpunkt seiner Leser versetzt.“ Vgl. auch Reiser, Sprache, 222; Giesen, Offenbarung, 58. 544 Karrer, Brief, 101. 545 Vgl. Karrer, Brief, 101-102. Knecht Johannes läuft. 535 Dass Christus als „das zweite Glied der Kette“ 536 in Apk 1,1 aber vorgezogen wird, zeigt die besondere Stellung Christi für den Seher und seine weitere Funktion. Christus „als eigentlicher Offenbarungssprecher in den Sendschreiben“ wird hier bereits vorbereitet. 537 Dann endet die vertikale Kette und die Blickrichtung wird durch den angeschlossenen Relativsatz horizontal weitergeführt. 538 Die vertikale Perspektive von Gott zu Johannes wird zugunsten einer horizontalen von Johannes zu seinen Adressaten verlassen. Johannes wird vom Empfänger zum Sender und bezeugt als Subjekt des Re‐ lativsatzes das Wort Gottes und das Zeugnis Jesu seinen Adressaten, sodass letztlich von einer „fünfgliedrigen Offenbarungskette“ 539 gesprochen werden muss. In ihrer Funktion stehen also Christus, der Engel und der Seher in der Linie, 540 die von Gott zu den Adressaten der Apk führt. 541 Hier zeigt sich bereits die besondere Autorität des Johannes, dem eine „Schlüsselrolle zugeordnet“ 542 wird. Sein Bezeugen (ἐμαρτύρησεν) kann als „epistolary aorist“ erklärt werden, der anzeigt, dass „what the author writes in the present will be a past event from the perspectives of the readers.“ 543 Von diesem Verb, das von seiner „forensischen Grundbedeutung her zu verstehen“ 544 ist, hängt sowohl das λόγον τοῦ θεοῦ als auch der Relativsatz ab. Beide stehen also miteinander in Beziehung, weil der Seher beides gesehen hat. Er verbürgt damit den Text in seiner Person. 545 195 3. Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="196"?> 546 Aune, Revelation I, 19. 547 Vgl. Aune, Revelation I, 19. 548 Vgl. Roose, Zeugnis, 41: „Denn Inhalt des ,Zeugnisses Jesu‘ ist nach 1,1-3 das Buch der Offb.“ 549 Richtig formuliert Müller, Offenbarung, 67, dass die Botschaft der Apk den Anspruch erhebt, aufgrund ihres Ursprungs Wort Gottes zu sein, nicht dass der Text in einem technischen Sinn selbst von Gott diktiert wurde. Vgl. auch Tilly, Textsicherung, 245, der mit der Textsicherungsformel von Act 22,18-19 belegt, „dass der Seher von Patmos sein Werk als literarische Verarbeitung seines prophetischen Offenbarungsempfangs ver‐ steht.“ 550 Von daher ist es zu hart formuliert, wenn Taeger, Autorisierung, 163, davon spricht, dass dieses Buch das Wort Gottes ist. Gerade der Eingang widerspricht dieser These, da er ja auf einer Metaebene über das Buch spricht. Mit Mauz, Machtworte, 257, der betont, dass die Apk nicht nur das enthält, was den Anspruch erhebt, diktiert worden zu sein, sondern auch eigene Worte des Johannes: „Einerseits schreibt Johannes auf, was ihm von Christus in einem konkreten Wortlaut diktiert wird (eine Form medialen Schreibens). Andererseits beschreibt er mit eigenen Worten, was er sieht (eine Form konzeptionellen Schreibens).“ (kursiv im Original) Vgl. auch Hellholm, Visions, 127. Mit der mehrfach in der Apk begegnenden Kombination λόγος τοῦ θεοῦ und μαρτυρίαν Χριστοῦ (Apk 1,2.9; 6,9; 20,4) wird das Wort Gottes mit dem Zeugnis Jesu zusammengebunden. Die Wendung „Wort Gottes“ ist dabei in der LXX „a stereotypical formula“, 546 das den Text in die prophetische Literatur des AT einordnet. Johannes selbst definiert damit seinen Platz unter den Propheten. 547 Durch das Zeugnis Jesu wiederum wird das Wort Gottes näher bestimmt. Un‐ abhängig von Christus kann kein Prophet mehr weissagen. Die Relativverbin‐ dung deutet daraufhin, das Zeugnis Jesu mit dem Inhalt der Apk in Verbindung zu setzen. 548 Dies legt auch der Fortgang des Satzes nahe. Denn das Relativpro‐ nomen ὅσα zeigt deutlich, dass alles, was die Offenbarung beinhaltet, durch Gott bzw. Christus gezeigt wurde. Allerdings ist damit nicht der Umkehrschluss ge‐ geben, dass die Apk selbst Wort Gottes ist. 549 Sie enthält das Zeugnis des Jo‐ hannes zwar vollständig, kleidet es aber in den zum Verstehen notwendigen literarischen Kontext ein. Sie ist die Verarbeitung der ἀποκάλυψις Jesu und enthält sie nur noch in dieser Form. 550 Was der Seher in der Apk wiedergibt, ist also gleichzeitig das Wort Gottes und das Zeugnis Jesu, aber so, wie er es gesehen 196 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="197"?> 551 Vgl. Mauz, Machtworte, 257-258: „Dass der Schreibbefehl von 2,1, der zum ersten Sendschreiben überleitet, sich (wie auch die folgenden) auf Wortoffenbarungen bezieht, auf wörtliche Diktate, geht aus dem heiligenden Text nicht hervor.“ Nach Frensch‐ kowski, Vision, 23, liegt zwischen Offenbarungsempfang und Verschriftlichung sogar ein längerer Zeitraum vor: Eine „visionäre Ausgangserfahrung [wurde] über eine län‐ gere Zeit meditativ bewegt und gestaltet.“ 552 Nicklas, Ewige, 119. Vgl. Karrer, Offenbarung,190: „Das Wort Gottes und das Rechts‐ zeugnis Christi sind somit nicht identisch mit dem Wort der Apk, sondern diesem Wort vorgegeben; der Seher ist seinerseits Zeuge des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu, nicht wörtlich inspirierter Mittler.“ 553 Reiser, Spache, 222. 554 Aune, Revelation I, 19. 555 Vgl. Aune, Revelation I, 19. 556 Vgl. Müller, Buch, 295. 557 Aune, Revelation I, 22. 558 Vgl. Satake, Offenbarung, 121; Gradl, Buch, 153. 559 Vgl. Giesen, Offenbarung, 57: „Das Verb ,zeigen‘ weist bereits darauf hin, daß die Of‐ fenbarung […] vor allem in Visionen, in symbolischen Bildern, geschieht.“ hat und nun wiedergibt: 551 „Der Text ist nicht einfach ,Wort Gottes‘, er will als Zeugnis eines Berufenen gelesen werden, der Gottes Ruf wiedergibt.“ 552 Weiter zeigt ὅσα - „leicht inkongruent zu den Bezugsgliedern λόγος und μαρτυρία“ 553 - „the completeness of the revelation transmitted by John“ 554 an. Dass Apk 1,2 für den Empfang der Offenbarung das Verb ὁράω verwendet, ist ebenfalls durch die prophetische Literatur des AT vorgegeben (vgl. Am 1,1; Hab 1,1). 555 Johannes hat also die Offenbarung gesehen und sie dann verschrift‐ licht. 556 Der erste Satz beginnt damit programmatisch mit einer Inhaltsangabe des Buches, die dem ganzen Buch „divine authority“ 557 zuspricht. Von diesem Titel hängen die weiteren Explikationen ab. 558 Die Offenbarung ist inhaltlich be‐ stimmt, durch das, was in Kürze kommen muss. Das wurde visionär empfangen, „gesehen“, womit die Form der Übermittlung an Johannes genannt ist. 559 Und sie ist aufgeschrieben (γεγραμμένα) in dem dem Vorleser nun vorliegenden Buch, womit die Überlieferung zu den Adressaten sichergestellt und das Buch selbst als Offenbarung Christi qualifiziert ist. Das Part. Perf. (γεγραμμένα) zeigt an, dass das, was Johannes sah, nun schriftlich vorliegt. Damit wird der Schreib‐ befehl von Apk 1,11 bereits vorausgesetzt, was nicht auffällt, da der Text ja verlesen wird, also aufgezeichnet sein muss. 197 3. Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="198"?> 560 Vgl. Giesen, Offenbarung, 59. 561 Gradl, Buch, 456, macht dabei bezüglich des Lektors darauf aufmerksam, dass ihm „im Überlieferungsprozess eine entscheidende Rolle“ zukommt, da er die Offenbarung durch sein Vorlesen „aktualisiert und inszeniert“. 562 Vgl. Karrer, Brief, 86. Von „conditional macarism“ spricht Hellholm, Visions, 135. 563 So der Konsens der Forschung vgl. Müller, Bestimmung, 606; Müller, Buch, 298. 564 Vgl. Aune, Revelation I, 11: „The makarism in Rev 1: 3 is unique in that is formulated in both the third person singular […] and the third person plural […].“ Als formgeschicht‐ liche Parallele verweist Pesch, Auslegung, 25, auf Ps 1,1. 565 Vgl. Bousset, Offenbarung, 183. 566 Vgl. Resseguie, Revelation, 64, der von einem „liturgical setting for the book“ spricht. Ihm stimmt Gradl, Buch, 446, zu. Lichtenberger, Apokalypse, 61, kommentiert: „V. 3 gibt uns einen ungemein wichtigen Einblick in Teile des urchristlichen Gottesdienstes.“ Im Hinblick auf die Kriterien von kanonischen Texten nach Theißen, Texte, 431, liegt damit ein Merkmal der Kanonizität vor: der kultische Gebrauch. 567 Vgl. Wolter, Ethos, 208, der zur Pragmatik des Makarismus bemerkt: „Jede Seligpreisung, die sich auf ein bestimmtes Tun bezieht, will zu eben diesem Tun auffordern. Das heißt: auf derselben Ebene, auf der Johannes von seinen Adressaten verlangt, das in seinem Buch Geschriebene zu ,befolgen‘ und sich der Teilhabe an der weltumspannenden Kultur Babylon-Roms zu verweigern, fordert er sie zur gottesdienstlichen Verlesung seiner λόγοι τῆς προφητείας auf.“ 568 Vgl. Müller, Buch, 298: „Das Buch wird Offenbarung - und zwar in dreifacher Akzen‐ tuierung im Vorgang des Lesens, Hörens und Bewahrens.“ 569 Gradl, Buch, 138. Vgl. Tilly, Textsicherung, 245, der beschreibt, wie der Seher versucht, Einfluss auf seine Adressaten zu gewinnen. Die Lektüre der Apk „stellt für ihn also nicht nur passiven Empfang formulierter Information dar, sondern soll zugleich auch die aktive konsequente Ausrichtung des christlichen Lebens an seiner prophetischen Botschaft mit sich bringen.“ Weil das Buch also mit göttlicher Autorität aufgeladen wird, 560 ist klar, dass derjenige, der es vorliest, selig ist. 561 Der durch einen deutlichen Subjektswechsel abgegrenzte, konditionierte Makarismus sagt dies aus. 562 Doch nicht nur derje‐ nige wird als selig gepriesen, der das vorliest, was in dem Offenbarungsbuch (ἐν αὐτῇ) geschrieben steht, sondern auch die Zuhörer. Die Situation, die hier vorausgesetzt ist, ist Verlesung in der Gemeinde. 563 Dies zeigen die mitzuhör‐ enden präsentischen Verbformen und die Part. Präs.-Formen an. Sie wenden den Blick in die unmittelbare Gegenwart der Adressaten. Auch die einzigartige Form des Makarismus, 564 der zunächst den Singular und dann den Plural bringt, 565 zeigt die Situation des gottesdienstlichen Vorlesens: Einer liest, die Anderen hören zu. 566 Der Vorgang der Enthüllung ist durch das Verlesen abgeschlossen, der Text, der die Enthüllung enthält, liegt vor. Nun kommt es darauf an, die Offenbarung vorzulesen, zu hören und sie zu beherzigen. 567 So wird das Buch wiederum zur Offenbarung Gottes für seine Hörer. 568 Durch das Verb τηρέω wird darauf ge‐ drungen, dass die Offenbarung eine „lebenspraktische Dimension“ 569 hat. Nicht 198 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="199"?> 570 Vgl. Giesen, Offenbarung, 59; Karrer, Brief, 106-107; Resseguie, Revelation, 64: „Hea‐ ring, however, involves more than listening to a lector; it requires attentive listening that internalizes and obeys the words that are read.“ 571 Vgl. Müller, Buch, 300: τηρέω „hat insgesamt einen Akzent auf dem glaubenden Fest‐ halten an den Worten der Weissagung, in dem zugleich eine Warnung vor jeglicher Abänderung mitschwingt.“ 572 Vgl. Pesch, Auslegung, 27. 573 Vgl. Gradl, Buch, 156, der erkennt, dass es auf „die Autorität ihres Inhalts“ ankommt. Trotzdem heißt dies nicht, dass die Apk einer „personengebundenen Autorität“ (Taeger, Autorisierung, 163) entsage. Vielmehr dient das Aufschreiben dem Zweck der göttlichen Offenbarung: „Die Offenbarung wird aufgeschrieben, weil sie gerade im Medium der Schrift Wirkung entfalten kann, über die an den Propheten unmittelbar ergangene Vi‐ sion hinaus.“ (Müller, Buch, 309) 574 Vgl. Resseguie, Revelation, 63. 575 Karrer, Brief, 103, spricht vom „göttlichen Muß“. Darin liegt ein Moment des Trostes, denn „der Geschichtsplan erfüllt sich nach Gottes Willen; die Menschen sind nicht etwa einem blinden Zufall ausgeliefert.“ (Lichtenberger, Apokalypse, 56) Vgl. auch Lohmeyer, Offenbarung, 8. 576 Vgl. Bousset, Offenbarung, 182: „Es soll geschehen nach göttlicher (absoluter) Willens‐ bestimmung […] und zwar in Kürze“. 577 Vgl. Taeger, Autorisierung, 165, der in der Zeitansage der Apk „ein unausweisliches Platzgreifen des Angesagten, das keine distanzierte Betrachtung mehr zulässt“, erkennt. 578 Vgl. Vielhauer, Geschichte, 504, der feststellt, dass der Determinismus der Apk gegen‐ über Mk 13 und 2Thess 2 „noch deutlicher“ hervortritt. Vgl. dazu auch Holtz, Offenba‐ rung, 17. nur das reine Zuhören wird also genügen, es muss auch Konsequenzen im Leben haben. 570 Der Vergleich der Verwendung des Verbs in Apk 16,15; 22,7 legt nahe, dass τηρέω sowohl das Beachten der Worte meint, wie auch die Warnung vor dem Abweichen von den Ausführungen der Apk beinhaltet. 571 Dies ist nötig, denn - und damit steuert der kurze Eingang auf seinen Höhe‐ punkt zu - der Kairos ist nahe. Der prädikatslos formulierte Satz ist durch seine Prägnanz besonders eindrucksvoll und wird am Schluss des Buches - mit Prä‐ dikat - wiederholt (Apk 22,10). 572 Dies ist die Begründung, warum Johannes seine Offenbarung empfangen, er sie aufgeschrieben hat und warum sie seinen Adressaten zu Gehör gebracht werden soll. Die Autorität, die im Text aufgebaut wird, steht also im Dienst der dringenden Botschaft. 573 Diese Dringlichkeit wird durch eine Inklusion doppelt ausgedrückt. 574 Erstens bereits im ersten Satz, wenn die Enge der Zeit durch ἐν τάχει betont wird, zweitens direkt in Apk 1,3, wenn der nahe Kairos unterstrichen wird. Das δεῖ in Apk 1,1 zeigt dabei, dass Gott die Zeit überblickt, 575 ihren Gang festgelegt hat 576 und es kein Entrinnen aus dem göttlichen Heilsplan geben wird. 577 Der Ablauf der Ereignisse steht fest und der Seher breitet diese im Hauptteil der Apk aus. 578 Er verortet sich selbst 199 3. Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="200"?> 579 Vgl. Horn, Leiderfahrung, 183; Böcher, Vaticinium, 24. 580 Vgl. zur verzögernden Komposition der Apk Metzger, Katechon, 163-168.170-174. 581 Vgl. Resseguie, Revelation, 61. Pesch, Auslegung, 27, spricht hier von der „Stimmung“ des Buches. Lichtenberger, Apokalypse, 62, sieht in der Ankündigung der nahen Zeit „Rahmung und Motto“ des ganzen Buches. 582 Vgl. Aune, Revelation I, 21. 583 Müller, Offenbarung, 69. 584 Vgl. Aune, Revelation I, 21-22, der weitere Belegstellen für diese Auffassung nennt. 585 Vgl. Karrer, Brief, 103: „Beide Male setzt er also in eigener Akzentuierung primär lokale, nicht temporale Termini ein.“ Vgl. auch Resseguie, Revelation, 63; Tilly, Textsicherung, 246: „Der Seher Johannes enthüllt seinen christlichen Adressaten eine zeitlich und räumlich gefasste transzendente Wirklichkeit.“ 586 Vgl. Karrer, Brief, 103. 587 Vgl. dazu ausführlich auch Metzger, Katechon, 157-163. darin 579 und sieht das Ende der Geschichte in unbestimmter, doch greifbarer Nähe. 580 Das Motiv verweist auf das Kommen Jesu (Apk 22,7.20) und legt so eine Klammer der Dringlichkeit um das ganze Buch. 581 Weil das Ende der Zeit nahe ist, muss auf die Worte der Apk gehört und ihnen gehorcht werden. 582 Ihre Bot‐ schaft „von den in Bälde eintreffenden und endzeitlichen Ereignissen (1,1) ist heilsnotwendig und heilschaffend angesichts der Nähe des Endes.“ 583 Traditi‐ onsgeschichtlich kann hier Dan 7,22 im Hintergrund stehen, der damit eine grundlegende Vorstellung für die frühchristliche Auffassung (vgl. Mk 1,15; Lk 21,8) des Endes und der eventuell davor ablaufenden Ereignisse (vgl. 2Thess 2,1-12) liefert. 584 Mit den Begriffen τάχος und ἐγγύς nimmt Johannes in erster Linie die zeitliche Nähe des Endgerichts in den Blick, während in zweiter Linie durchaus eine lokale Nuance mitschwingen kann, der die räumliche Grundbe‐ deutung der Begriffe eher entspricht. 585 Diese Kombination liegt im Vorstel‐ lungshorizont der Apk begründet, was z. B. durch das Motiv des Kommens Christi mehrfach belegt ist (Apk 3,11; 16,15; 22,20; u. ö.). Christus kommt bald und ist damit sowohl zeitlich wie räumlich nahe. 586 3.4. Die Absicht der Apk Mit den Überlegungen zur Dringlichkeit der Zeit wird der eigentliche Anlass der Apk berührt. 587 Zwar ist die Zeitvorstellung der Apk von dem bewusst ge‐ 200 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="201"?> 588 Es lässt sich nicht behaupten, dass die Naherwartung nur in den Rahmenteilen der Apk präsent sei. Apk 6,11; 10,6 sowie die Angaben von relativ kurzen Fristen (Apk 11,2; 12,12; 13,5) belegen dieses Bewusstsein auch im Korpus der Apk. Richtig deshalb Strecker, Theologie, 546: „Die Naherwartung des Weltendes und damit des Kommens des Christus durchzieht das Werk von Anfang bis Ende.“ Vgl. auch Müller, Offenbarung, 76; Günther, Enderwartungshorizont, 51; Böcher, Johannes-Apokalypse, 622; Rissi, Ge‐ schichtsauffassung, 115, Roose, Zeugnis, 57. 589 Vgl. dazu ausführlich Metzger, Katechon, 163-188. Vgl. auch Pesch, Auslegung, 27, der bemerkt, dass Johannes „keinen Versuch [macht], das kommende Ende als berechen‐ baren Termin vorzustellen.“ 590 Vgl. Taeger, Johannesapokalypse, 146. 591 Deshalb ist richtig, dass die Apk „ein Buch der Bewahrung“ (Holtz, Offenbarung, 17) ist. Sie will nicht nur trösten, sondern sie will ihre Hörer „durch die Krisen der Endzeit hindurch mittels der Bindung an Gott und an sein Wort“ (Holtz, Offenbarung, 17) be‐ wahren. 592 Vgl. Karrer, Zeit, 159. 593 Vgl. Karrer, Zeit, 159: Der Seher „ist sicher, dass Christus nicht auf sich warten lässt.“ 594 Vgl. Tilly, Textsicherung, 247. 595 Vgl. Tilly, Apokalyptik, 12, der zu Recht grundsätzlich feststellt: „Ein Ausgangspunkt des apokalyptischen Denksystems ist die Deutung der Gegenwart.“ Dies unterstreicht auch Pesch, Auslegung, 26: „Die Botschaft des Weissagungsbuches ist keine Lehre über die Zukunft, kein Fahrplan der Kirchengeschichte, sondern eine auf die gegenwärtige Existenz der kleinasiatischen Gemeinden bezogene Botschaft, die ihnen in ihren Aus‐ einandersetzungen […] Grund ihrer Hoffnung und Treue sein soll.“ 596 Vgl. Horn, Synagoge, 146, der darauf hinweist, dass „die endgeschichtlichen Aussagen der Apokalypse in einer Verschränkung mit der unmittelbaren Vergangenheit und Ge‐ genwart stehen, ja ein Stück Bewältigung dieser Zeit sein wollen.“ Dass die Gegenwart dabei durchaus offen ist, zeigt auch Apk 22,14-15. Der Hörer muss sich die Frage stellen, ob er in die Stadt eingehen darf oder ob er draußen bleiben muss. Vgl. Hieke / Nicklas, Worte, 61: „Die bevorstehende Parusie […] ist eine Krisis im wörtlichen Sinn: eine Ent‐ scheidungssituation für den Leser, die vom Text dezidiert offen gehalten wird.“ (kursiv im Original) Vgl. auch Giesen, Offenbarung, 484: „Die Gegenwart ist somit Entschei‐ dungszeit.“ stalteten Nebeneinander von akuter Naherwartung (Apk 1,1.3; 22,6-10) 588 und diese wiederum retardierende Elemente (Apk 5,1-5; 6,9-11; 7,6-11) 589 geprägt, doch bleibt für den Seher klar, dass jetzt der letzte Kampf, dessen Dauer er aber nicht anzugeben wagt, 590 zwischen dem Tier und der christlichen Gemeinde an‐ gebrochen ist. 591 Denn immerhin sieht er in Apk 21.22 die eschatologische Voll‐ endung der Welt schon als Ende und Ziel des Kampfes anbrechen. 592 Angesichts des baldigen Kommens Christi 593 kennzeichnet Johannes also seine Zeit als die Stunde der Entscheidung für oder gegen Gott 594 und weist damit seiner Gegenwart 595 eine eschatologisch relevante Bedeutung zu. 596 Das kom‐ 201 3. Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="202"?> 597 Vgl. Ford, Revelation, 373, die im Blick auf das kommende Gericht betont: „The crisis appears more urgent in Revelation than in earlier apokalyptic literature.“ 598 Tilly, Apokalyptik, 106. 599 Tilly, Apokalyptik, 106. 600 Vgl. Müller, Offenbarung, 95-96. 601 Roloff, Offenbarung, 51. 602 Vgl. Duff, Beast, 14; Huber / Hasitschka, Kanon, 613. 603 Vgl. Taeger, Johannesapokalypse, 138. 604 Vgl. Tilly, Apokalyptik, 106. Zur Situation der Adressaten allgemein vgl. Koester, Re‐ velation, 85: „Revelation addresses congregations in Asia Minor that faced a range of issues, including conflicts with outsiders, internal dispute over accommodating Greco-Roman religious practices, and the problem of complacency due to wealth.“ 605 Auf die ethische Bedeutung der Textsicherungsformel machen Dohmen / Oeming, Kanon, 88, im Bezug auf die alttestamentarischen Bezugspunkte von Apk 22,18-19 aufmerksam: „In paränetischer Abzweckung dient die Offenbarungssicherung ihrer‐ seits als Motivation der Ethik.“ 606 Müller, Offenbarung,108. 607 Müller, Offenbarung, 59. 608 Vgl. Roloff, Offenbarung, 153: „Alles kommt darauf an, daß [die Christen] in der auf sie zukommenden Stunde der Bewährung nicht schwach werden, sondern standhaft und treu bleiben.“ mende Gericht ist damit der letzte Grund, warum Johannes die Apk verlesen lassen will. 597 Er schreibt sein Buch, weil er sich dazu gezwungen sieht, „gegen die Anpas‐ sung der jungen Kirche an die attraktive pagane Alltagskultur im Osten des römischen Imperiums“ 598 anzugehen. Offensichtlich ist in seinen Augen ein dis‐ tanziertes „Verhältnis gegenüber der nichtchristlichen Mehrheitsgesellschaft“ 599 heilsnotwendig. Deshalb finden sich zahlreiche ethische Impulse im Text, ge‐ häuft in den Sendschreiben, die das Schema von Anerkennung, Aufforderung und Aussicht 600 zeigen. Das Schicksal des Glaubenden in der Zukunft wird zur Triebfeder der Ethik: „So ist das Überwinden Ziel und Frucht des allen Christen gebotenen Ausharrens.“ 601 Die wohl in erster Linie inneren (Apk 2,5.20; 3,2) 602 und eher sekundär äußeren Konflikte (Apk 13 603 ) der Gemeinde 604 sollen durch den Blick in die Zukunft zugunsten der theologischen Ansicht des Johannes entschieden werden. Dies ist der Sinn der im Hauptteil der Apk geschilderten Visionen. Weil in der Zukunft diejenigen siegen, die sich der in der Apk vertre‐ tenen Ansicht anschließen, 605 liegt für diese in der „Ankündigung letztlich eine Ermutigung“. 606 Die ethischen Forderungen der Apk sind also deshalb den Hö‐ rern unabdingbar zuzumuten, weil sie das Bestehen im Gericht bewirken. Die Grundlage der Ethik ist damit der Gedanke der Belohnung. Die „Ethik der Standhaftigkeit und des Ausharrens“ 607 wird dadurch motiviert, 608 die Zeit des 202 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="203"?> 609 Vgl. Lohse, Offenbarung, 14: „Vom kommenden Ende her aber will die Gegenwart ver‐ standen werden, damit die Frist nicht vertan, sondern die Stunde genutzt werde.“ 610 Gradl, Buch, 467. 611 Taeger, Autorisierung, 163 (kursiv im Original). Dies erkennen auch Kraft, Offenbarung, 21, der den Seher einen „Gottesknecht im speziellen Sinn“ nennt, und Satake, Gemein‐ deordnung, 63: „In diesem Sinn ist der Seher nicht ein Prophet unter anderen, sondern der Prophet.“ (kursiv im Original) 612 Vgl. Hellholm, Visions, 134, der zeigt, wie sich Johannes damit einerseits mit seinen Adressaten zusammenschließt, auf der anderen Seite aber in pragmatischer Hinsicht deutlich macht, dass seine Überordnung als Übermittler der Offenbarung nicht auf in‐ nerweltlicher Hierarchie basiert, sondern von „other-worldly nature“ ist. Verlesens ist die Entscheidungsstunde der Zukunft. 609 Deshalb ist der Apk daran gelegen, sich selbst mit größtmöglicher Autorität aufzuladen, weil der Seher seinen Text als entscheidendes Instrument zur Sicherung der Zukunft seiner Gemeinde erkennt: „Das Buch rettet seine Leser und öffnet ihnen einen Zugang zur himmlischen Gottesstadt.“ 610 3.5. Die Autorität des Johannes Wie bereits gesehen, steht der Seher bezüglich der Übermittlung der Offenba‐ rung in einer Reihe mit Christus und seinem Engel, wenn auch am Ende der Kette. Für die Frage der persönlichen Autorität des Johannes ist dies zunächst zu beachten. Denn durch die beschriebene Offenbarungskette ist deutlich, dass Johannes als der einzige direkte Offenbarungsempfänger zur entscheidenden Mittlergestalt berufen ist: „Er ist nicht ein, er ist der Sklave, der von seinem Herrn mit einer einzigartigen Aufgabe betraut wurde, übrigens ein in der antiken Sklaverei nicht ungewöhnlicher und durchaus prestigeträchtiger Status.“ 611 Er ist der Zeuge, der die Offenbarung inhaltlich verbürgt und weitergeben kann. Deshalb fällt ihm der Verzicht auf eine offensichtliche Autorität leicht. Er braucht keine Titel und kann sich deshalb selbst als Knecht unter Knechten (Apk 1,9) vorstellen. 612 Seine trotzdem vorhandene, von Gott persönlich zugewiesene Autorität beruht also nicht darauf, dass Johannes Prophet ist oder sonst eine 203 3. Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="204"?> 613 Aune, Revelation I, 17. 614 Vgl. Aune, Revelation I, 17, der die Autorität des Sehers zu Recht grundgelegt sieht, „in the revelation that he mediates to the Christian communities to whom he writes.“ Es ist also zwar zu bemerken, dass der Seher „seinen Adressaten nicht in prophetisch-apos‐ tolischer Autorität gegenübertritt“ (Karrer, Brief, 101), doch scheint er diese als der einzigartige Zeuge Jesu auch gar nicht nötig zu haben. Vgl. Satake, Offenbarung, 123. Seine Autorität liegt in seiner Sache begründet. Vgl. Müller, Buch, 295: „Aus der göttli‐ chen Beauftragung bezieht er seine Autorität.“ Es ist von daher missverständlich, wenn Roose, Zeugnis, 156, formuliert: „Der Seher ist nur Offenbarungsmittler und als solcher mit seinen Adressaten gleichrangig.“ Weil Johannes der einzige und entscheidende, weil real präsente Offenbarungszeuge ist, ist er weder „als solcher“ noch „nur Offenba‐ rungsmittler“. Seine Autorität als Zeuge hebt ihn vielmehr ohne jeglichen Titel oder institutionelle Absicherung über seine Adressaten, denen er sich allerdings demütig zur Seite stellt, ohne wirklich gleichrangig zu sein. 615 Deshalb erkennt Taeger, Autorisierung, 162, zu Recht einen „chiastisch-konzentri‐ sche[n] Aufbau“ des Satzes, dessen Mittelpunkt der Seher bildet. 616 So ist zwar richtig, dass sich Johannes seinen Adressaten als „zuverlässiger Zeuge“ (Gradl, Buch, 156) präsentiert, doch angesichts seiner einzigartigen Stellung in der Ver‐ mittlung der Offenbarung scheint dies unterbestimmt. Vgl. Taeger, Autorisierung, 163, der zu Recht betont, dass Johannes im Gegenüber zu seinen Adressaten „die menschliche Autorität“ (kursiv im Original) darstellt. 617 Tilly, Apokalyptik, 106. Gradl, Buch, 465, spricht sogar einem „- im Kontext aller wei‐ teren Schriften des Neuen Testaments - einzigartigen Geltungsanspruch.“ 618 Vgl. Holtz, Offenbarung, 18: „Johannes definiert seine kanonische Autorität allein über den Inhalt seiner Botschaft, die er betont ,Prophetie‘ nennt.“ 619 Lapidar warnt Kraft, Offenbarung, 19: „ἀποκάλυψις hat nicht viel mit den umfangrei‐ chen Erörterungen zu tun, die Theologie und Religionsgeschichte über Wesen und Be‐ griff der Offenbarung angestellt haben.“ 620 Oepke, καλύπτω, 573. „superior social role“ 613 innehat, sondern die Autorität ist durch seine Vermitt‐ lerrolle gegeben. 614 Apk 1,1-2 beschreiben mit ihrem Gefälle eine Struktur, in deren Zentrum der Seher steht. 615 Er ist für seine Adressaten die entscheidende Schnittstelle 616 und kann sich deshalb „mit einem immensen Autoritätsanspruch“ 617 an seine Ad‐ ressaten wenden. 618 Diese Autorität geht dann von Gott und der Person des Jo‐ hannes auf das Buch über. Besonders eindringlich ist dies durch die Kennzeich‐ nung der Apk als ἀποκάλυψις zu sehen. 3.6. Autorität und Offenbarung Eine etymologische Analyse des Begriffs 619 zeigt „mit aller Deutlichkeit, daß die Begriffe ἀποκαλύπτειν und ἀποκάλυψις in keiner Weise dogmatisch geprägt sind und daß ihre theologische Verwendung dem Griechen von Hause aus fern‐ liegt.“ 620 Es ist daher nicht verwunderlich, dass ἀποκάλυψις im historischen 204 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="205"?> 621 Vgl. dazu die Warnung von Collins, Prophets, 291: „Although the scriptures of Israel play a major role in the book, he also drew upon post-biblical Jewish, Greek, and Roman traditions.“ 622 Roose, Zeugnis, 148. Vgl. Koester, Revelation, 104: „At the time Revelation was com‐ posed, the word was not a technical term for a literary genre.“ 623 Vgl. Aune, Revelation I, 12; Gradl, Buch, 151; Labahn, Babylon, 321. 624 Darin ist Taeger, Autorisierung, 163, Recht zu geben, wenn er darauf insistiert, dass die ἀποκάλυψις „in diesem Buch“ vorliegt. Dass aber eine der Abfassung „außertext‐ liche Erfahrung“ dem Buch nicht vorausliegen kann, ist damit nicht gesagt. 625 Vgl. Müller, Buch, 294-295: „Es handelt sich nicht um ein Buch, das Johannes sich als Autor erarbeitet und dann niedergeschrieben hätte, sondern das ihm von Gott in Form von Visionen und Auditionen zuteil wird.“ 626 Vgl. Koester, Revelation, 220. 627 So Kraft, Offenbarung, 19; Karrer, Brief, 102; Taeger, Autorisierung, 165; Collins, Pro‐ phets, 291; Holtz, Offenbarung, 17. 628 Labahn, Babylon, 332. 629 Kraft, Offenbarung, 19. 630 Resseguie, Revelation, 62. 631 Vgl. Gradl, Buch, 460: „Die Autorität der Schrift ist strikt herkunfts- und inhaltsbe‐ zogen.“ Damit ist ein zweites Kriterium der Kanonizität nach Theißen, Texte, 431, ge‐ geben: Autoritätsgewinn durch Transzendenzbezug. 632 Vgl. Karrer, ἀποκαλύπτω, 1410. Kontext der Apk 621 nicht „als umfassende literarische Bezeichnung eines Textes“ 622 belegt ist. Deswegen gilt erstens, dass der Seher sein Buch nicht des‐ halb als „Apokalypse“ (ἀποκάλυψις) bezeichnet, weil er sich etwa in eine lite‐ rarische Gattung einreihen wollte. 623 Zweitens scheint klar zu sein, dass ἀποκάλυψις textpragmatisch zu würdigen ist. Denn der Begriff „shapes the readers’ expectations of what will follow.“ Er dient also der inhaltlichen Qualifikation des Textes selbst 624 und ist Textsignal für die Adressaten, dass sie es nun mit einem Text zu tun bekommen, der auf Befehl Gottes geschrieben werden musste 625 und der deshalb die Hörer an Grenzen menschlichen Wissens führt. 626 Durch den deutlichen Anklang an Dan 2,28-29 627 zeigt sich, dass es in der Apk um das Offenbaren von göttlichen Ge‐ heimnissen, um eine „,Enthüllung‘ der Wirklichkeit“ 628 bzw. um „die Enthüllung der Endgeschichte“ 629 geht. Diejenigen, die den folgenden Text also hören, wie Apk 1,3 voraussetzt, „should expect an unveiling of things that can be seen only from a heavenly or above point of view.“ 630 Damit wird der transzendente Cha‐ rakter des folgenden Textes unterstrichen, der mit göttlicher Autorität aufge‐ laden wird. 631 Von der Grundbedeutung des Wortes her, „enthüllen“, etwas sichtbar werden lassen durch Wegnehmen eines Hindernisses, 632 lässt sich drittens eine Spur durch die prophetische Literatur des AT verfolgen. Wenn Num 21,31 davon 205 3. Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="206"?> 633 Vgl. Karrer, ἀποκαλύπτω, 1410-1411. 634 Vgl. Koester, Revelation, 212. 635 Roose, Zeugnis, 148. 636 Vgl. Karrer, ἀποκαλύπτω, 1415, der resümiert, dass bei ἀποκάλυψις „der Akzent auf dem eschatologisch-aktuellen, umbrechenden und entscheidenden, christologisch ver‐ knüpften Enthüllungshandeln Gottes“ liegt. 637 Vgl. Hahn, Apokalyptik, 130, der darauf hinweist, dass „zwischen einem prophetischen Grunderlebnis und dessen Ausgestaltung unterschieden werden muss.“ Horn, Patmos, 139, sieht im Aufenthalt des Johannes auf Patmos (Apk 1,9) und den dort erfolgten Visionen und Auditionen „die Grundlage für diejenige Apokalyptik gelegt […], die sich jetzt in der Apk in literarischer Form Gehör verschafft.“ 638 Vgl. Labahn, Babylon, 333-334: „Indem die Johannesoffenbarung die Visionen des Se‐ hers Johannes erzählt, ,entzaubert‘ sie nicht nur den schönen Schein der römischen Wirklichkeit, sondern enthüllt ihren Adressaten ein Bild von der Umwelt als wider‐ göttlicher und damit besiegter Größe, die keine Konzessionen im Umgang mit ihr er‐ laubt.“ (kursiv im Original) 639 Müller, Buch, 300. 640 Gradl, Buch, 152. 641 Vgl. Karrer, Offenbarung, 175, der den Begriff ἀποκάλυψις „als vielfältig verwendbare Bezeichnung überweltlicher Enthüllung“ versteht. Er dient an dieser Stelle des Textes als „Leitsignal für das Verständnis“ des gesamten Werkes (Karrer, Offenbarung,183). spricht, dass der Herr die Augen Bileams befreit und ihn so sehen lässt; wenn in Num 24,4.19 die Augen „entschleiert“ werden müssen, damit die Vision Gottes geschaut werden kann; wenn Gott Samuel das Ohr öffnet, damit er eine Offen‐ barung empfangen kann (1Sam 9,15), dann scheint der prophetischen Vision eine Zurüstung durch Gott vorherzugehen, damit die Offenbarung auch ange‐ nommen werden kann. 633 Dem Offenbarungsempfang geht eine Entschleierung, eine Öffnung von Augen oder Ohren voraus, sodass auch die Möglichkeit zum Sehen der Offenbarung von Gottes Werk gegeben ist. Dies scheint auch Paulus in 1.Kor 14,29-33 so zu denken, wenn er Offenbarung und prophetische Rede eng verzahnt. Gleichfalls deutet die Grundbedeutung von μαρτυρέω (Apk 1,2) in diese Richtung: Jemand kann nur bezeugen, was er zuvor gesehen hat. 634 Auf den Begriff ἀποκάλυψις in der Apk übertragen, lässt sich folgern: „ἀποκάλυψις meint dann die Offenbarung, die es dem Seher erlaubt, τοὺς λόγους τῆς προφητείας niederzuschreiben.“ 635 Die ἀποκάλυψις ist also Ge‐ schehen, 636 Tat Gottes an Johannes, und zugleich Voraussetzung und Begrün‐ dung der Apk. 637 Erst in diesem Sinn ist sie dann selbst Offenbarung mit einer bestimmten Zielrichtung. 638 Der Begriff ist also als „Zeichen zum Verständnis des Gesamtwerkes“ 639 zu verstehen, dass nämlich in diesem Buch „ein transzendentes, zeitlich wie räum‐ lich entferntes und sich menschlicher Erkenntnis eigentlich entziehendes Wissen“ 640 vermittelt wird. 641 Diese Vermittlung geschieht dabei in der ebenfalls 206 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="207"?> 642 Vgl. Müller, Buch, 300: „Diese Wechselwirkung zwischen verschriftlicher Offenbarung und zur Offenbarung werdender Schrift kommt bereits im ersten Wort der Schrift zum Ausdruck.“ Ihm folgt Gradl, Buch, 507, wenn er erkennt: „Das Buch erwächst der In‐ spiration und wirkt inspirierend.“ 643 Vgl. Hieke / Nicklas, Worte, 39: „Das Buch selbst wird zum Offenbarungsmittler, zum Medium, durch das Gottes Wort und Heil zugänglich werden.“ 644 Vgl. Satake, Gemeindeordnung, 68; Gradl, Buch, 465: „Autorität wird dem Werk durch die Betonung seiner transzendenten Herkunft und seines von Gott geoffenbarten In‐ halts verliehen.“ 645 Gradl, Buch, 153. 646 Müller, Buch, 298. 647 Vgl. Müller, Bestimmung, 602. 648 Taeger, Autorisierung, 169. 649 Vgl. Müller, Offenbarung, 67; Tilly, Textsicherung, 245. Diese Einsicht sollte aber nicht dazu führen, den Begriff ἀποκάλυψις in Apk 1,1 nicht auf das Buch selbst beziehen zu wollen. Vgl. z. B. Jauhiainen, Climax, 115, der den Begriff lediglich auf eine Textpartie in dem Buch beziehen will: „In sum, once we no longer assume that ἀποκάλυψις in Rev 1: 1 refers to the document as a whole, an analysis of all three signposts provided in the same verse strongly suggests that 1: 1 is looking forward to the climax of the book, namely, the visions of the destruction of Babylon (17: 1-19: 10) and its replacement by the New Jerusalem (21: 9-22: 9).“ Richtig scheint also die Einsicht, dass ἀποκάλυψις grundsätzlich nicht anzeigt, dass die ganze Apk an sich Offenbarung Gottes ist, dass sie aber als Buch die ganze Offenbarung enthält, die Johannes geschaut hat. Vgl. dagegen Hellholm, Visions, 122, der den Begriff auf „the written text that follows“ bezieht. bereits im Begriff ἀποκάλυψις angezeigten signifikanten Wechselwirkung: Die Offenbarung Christi ist durch Johannes in das Buch Apk eingeflossen und wird durch das Verlesen der Apk wieder zur Offenbarung Christi. 642 Das Buch ver‐ mittelt also in buchstäblichem Sinn als Textzeuge die Offenbarung und tritt damit an die Stelle des letzten Vermittlers Johannes. 643 Das allein macht das Buch bereits unendlich wertvoll und schenkt ihm unüberbietbare Autorität. 644 In schriftlicher und damit festgesetzter Form überliefert der Seher „eine allein auf Gott zurückgehende und die Offenbarung Christi beinhaltende Entschleierung, die menschliches Erkenntnisvermögen quantitativ wie qualitativ übersteigt.“ 645 Es zeigt sich damit: „In der Johannesoffenbarung wird die Offenbarung zur Schrift.“ 646 Indem ἀποκάλυψις weiter mit den prophetischen Worten aus Apk 1,3 ver‐ bunden wird, ist ersichtlich, dass die Apk die Worte der Prophetie auf sich selbst bezieht. 647 Denn was verlesen werden soll, ist ja der Text der Apk. Aufgrund des „metatextuellen Charakters“ 648 der Verse sind sie demnach zu Recht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Inhaltlich stellt sich die Apk in ihren Visionen als Wiedergabe dessen vor, was Johannes von Gott her gesehen hat. Dies bedeutet, dass nicht der ganze Text der Apk als solcher „Wort Gottes“ ist, 649 sondern in erster Linie das, was im Text 207 3. Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="208"?> 650 Vgl. Paulsen, Scriptura, 71, der die eigentliche ἀποκάλυψις „kompositionell in den Mit‐ telpunkt“ der Apk gerückt sieht. 651 Frenschkowski, Offenbarung, 397. 652 Vgl. Frenschkowski, Offenbarung, 398, der außerdem noch darauf hinweist, dass die Apk „zwei revelatorische Oberbegriffe“ kennt: Neben ἀποκάλυψις ist dies vor allem ὃρασις. 653 Frenschkowski, Offenbarung, 400 (kursiv im Original). 654 Vgl. Satake, Gemeindeordnung, 60: „Autorität besitzen also nur die Worte, die durch den Verfasser vermittelt werden, und nicht alle mögliche Prophetie.“ Insbesondere die Textsicherungsformel in Apk 22,18-19 belegt dies ganz deutlich. 655 Vgl. Roose, Zeugnis, 151: „Für die Suffizienz der Schrift des Sehers spricht in der Tat Offb 1,3: Wer die Offenbarung des Sehers vernimmt - und mehr scheint nicht nötig zu sein -, ist selig.“ 656 Gradl, Buch, 469. 657 Taeger, Autorisierung, 164 (kursiv im Original). 658 Aune, Revelation III, 1201. Vgl. auch Koester, Revelation, 847: „The conclusion of Re‐ velation (22: 6-21) is the counterpart to its introduction (1: 1-8).“ 659 Vgl. die Auflistung der Motive bei Aune, Revelation III, 1205-1206. Zur Struktur des Textes vgl. Hieke / Nicklas, Worte, 16-20. den Anspruch erhebt, solches zu sein. 650 Die Apk lässt sich damit zwar als „Of‐ fenbarungsschrift im Vollsinn“ 651 verstehen, differenziert aber in sich, was Wort Gottes ist. Dazu zählt z. B. die extra eingeführte Rede Christi im Kontext der Sendschreiben (Apk 2,1.12), aber vor allem die eigentlichen Visionen und Au‐ ditionen, nicht aber deren einleitende Bemerkungen (z. B. Apk 9,17). 652 Die mehrfache und ausdrückliche Betonung des Sehens (z. B. Apk 1,12.17) erinnert den Hörer / Leser stets daran, „daß er eine Vision liest“, 653 die erlebt und dann verschriftlicht wurde. Weil derjenige nun selig ist, der exakt diese Worte hört und bewahrt, 654 scheint die Apk sich selbst als suffizient anzusehen. 655 „Ihrem Selbstverständnis nach zeigt die Offenbarung ihren Lesern alles, was es zu wissen gibt und was heils‐ notwendig ist.“ 656 Der Text wird demnach mit einem hohen Autoritätsanspruch aufgeladen: „Das Christliche, dem der explizite Autor Johannes selbst ver‐ pflichtet war und ist, […] ist fortan durch dieses vorliegende Buch definiert und in ihm fixiert.“ 657 3.7. Die Absicherung der Autorität in Apk 22,6 - 21 Der Prolog in Apk 1,1-3 findet in Apk 22,6-21 einen Epilog „in the sense that it exhibits a striking thematic correspondence to the prologue in 1,1-8.“ 658 We‐ sentliche Elemente des Anfangs werden im Schluss des Buches wieder aufge‐ nommen. 659 Ähnlich wie Apk 1,1-3 geben die Verse nicht die eigentliche Of‐ fenbarung Christi wieder, sondern sprechen über sie, vor allem Apk 22,18-19. 208 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="209"?> 660 Mit Hellholm, Visions, 127; Aune, Revelation III, 1201. „This unit […] is like the title in 1: 1-2 in that it is metatextual since it comments on the text of Revelation.“ (kursiv im Original). 661 Vgl. Lichtenberger, Apokalypse, 654: „In immer neuen Anläufen und Wiederholungen geht es um die Autorität des Buches.“ Auch Roloff, Offenbarung, 209, erkennt, dass hier nochmals „Zweck und Absicht des Buches“ zur Sprache kommen. 662 Vgl. Roloff, Offenbarung, 209. 663 Vgl. Koester, Revelation, 847. 664 Vgl. Giesen, Offenbarung, 63, der hier auch eine Chance für die Christen erkennt, ihr Schicksal durch die Bewährung im Glauben selbst bestimmen zu können. In jedem Fall ist hier deutlich „das Drängende der Entscheidung unterstrichen“ (Giesen, Offenbarung, 63). 665 Vgl. Aune, Revelation III, 1201, der für den ganzen Abschnitt feststellt: „Its primary function is to underscore the divine origin and authority of the book that it concludes.“ 666 Holtz, Offenbarung, 142. 667 Hieke / Nicklas, Worte, 25. Vgl. Koester, Revelation, 847; Roloff, Offenbarung, 27. Huber / Hasitschka, Kanon, 608, weisen zu Recht darauf hin, dass sich in diesem Rahmen die Textelemente finden, die den immensen „Geltungsanspruch der Apokalypse text‐ intern“ erheben. 668 Mit Müller, Offenbarung, 367; Hieke / Nicklas, Worte, 25; Holtz, Offenbarung, 142. 669 Vgl. Müller, Offenbarung, 368. Sie sind deshalb auch als ein Metatext anzusprechen. 660 Vor allem diejenigen Züge, die dazu verhelfen, die bereits erhobenen Autoritätsansprüche zu unter‐ mauern, sind dabei für die vorliegende Untersuchung interessant. 661 Grundsätzlich zeigt ein Überblick, dass die wesentlichen Aussagen aus Apk 1,1-3 in Apk 22,6-21 wieder aufgenommen und somit bestätigt sind: 662 Das Buch ist und enthält Prophetie (Apk 1,3; 22,7. 10. 18.19). Diejenigen, die es lesen oder hören und ihm entsprechen, sind gesegnet, also für das neue Jerusalem prädes‐ tiniert (Apk 1,3; 22,7). Und die Zeit des neuen Himmels und der neuen Erde ist nah (Apk 1,1.3; 22,10). 663 Die Offenbarung ist also dringlich, weil das Ende nahe bevorsteht, und notwendig, weil sie den Zugang zu Gott ermöglicht. 664 Deshalb muss ihre Autorität als Mittel zum Zweck abgesichert werden. Dies geschieht zunächst, indem Apk 22,6 mit der Versicherung des Engels einsetzt, dass die zuvor gehörten Worte glaubwürdig und wahrheitsgetreu (πιστοὶ καὶ ἀληθινοι) sind. 665 Damit ist klar: „V6f. ratifiziert die Offenbarung der Wahrheit über die Welt und die Geschichte, die Johannes zu verkünden hatte.“ 666 Dann zitiert der Vers zum Teil wörtlich Apk 1,3 und konstruiert damit „eine Art Rahmen um das Buch“, 667 sodass mit οὗτοι οἱ λόγοι wahrscheinlich das ganze Buch gemeint ist. 668 Mit der Wendung, was in Kürze geschehen muss, wird wieder der Inhalt des Buches auf einen Satz konzentriert. 669 Erwähnt ist ebenfalls die Sendung des Engels durch Gott, um seinen Knechten zu zeigen, was in Kürze geschehen muss. Im Gegensatz zu Apk 1,1-2 werden die dort parallel zueinander 209 3. Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="210"?> 670 Vgl. Reichelt, Angelus, 49. 671 Vgl. Reichelt, Angelus, 49. 672 Vgl. Lohmeyer, Offenbarung, 177, der diese Unklarheit grundsätzlich interpretiert: „Es ist für die Apc bezeichnend, daß sie fast nur dort den Urheber deutlich bezeichnet, wo es sich im strengen Sinne um ein Gesicht handelt; Worte können gleichsam subjektlos sein, sie legitimieren sich durch ihre innere Wahrheit.“ 673 Vgl. Bousset, Offenbarung, 456. 674 Müller, Offenbarung, 367, erklärt den oft abrupten Wechsel der Subjekte als Spiegelung einer Gemeindesituation, in der im Verlauf des Gottesdienstes, „mehrere Propheten auftreten, um ihre Offenbarungen kundzutun.“ 675 Vgl. Hieke / Nicklas, Worte, 28. 676 Vgl. Tilly, Textsicherung, 245; Hieke / Nicklas, Worte, 29, die hier zu Recht einen ethi‐ schen Aspekt erkennen. Umgekehrt gilt deshalb mit Giesen, Offenbarung, 67: „Wer gegen dieses Verbot handelt, verliert sein Heil.“ 677 Vgl. Hellholm, Visions, 124-127. 678 Endgültig sollte damit belegt sein, dass der Inhalt der Apk „das Wort Gottes, das Zeugnis Jesu Christi, in seiner Bedeutung für die Gegenwart und unmittelbare Zukunft der Ge‐ meinden“ (Pesch, Auslegung, 24) ist. 679 Vgl. Satake, Gemeindeordnung, 67; Müller, Buch, 298. Die Verwendung der Textsiche‐ rungsformel in Apk 22,18-19 bestätigt diesen Befund, da sie unter anderem dazu dient, „einen Text auf göttlichen Ursprung zurückzuführen“ (Dohmen / Oeming, Kanon, 81). konstruierten Traditionsketten nun zusammengezogen 670 und so gleichfalls der Übermittlungsvorgang konzentriert. Die zweifache Konzentration zeigt, dass Apk 22,6 einen Schnittpunkt der Komposition der gesamten Apk darstellt. 671 Dies wird als Zusage in der 1.Pers.Sg. nochmals bekräftigt: ἔρχομαι ταχύ (Apk 22,7; wiederholt in Apk 22,12). Unklar bleibt der Bezug des Verbs. 672 Auf Apk 22,6 bezogen, müsste der Engel sprechen. Dieser spricht aber bereits vorher, sodass sich ein anderer Bezug inhaltlich erschließt. Zu denken ist wohl in erster Linie an Christus, 673 dessen Parusie Gegenstand der grundsätzlichen Erwartung der Apk ist. Deutlich ist dies in Apk 22,16, sodass es sich nahelegt, auch unklare Bezüge wie Apk 22,12.20 auf Christus zu beziehen. Weiter zu diskutieren bleibt der Bezug in Apk 22,18. 674 Der Makarismus in Apk 22,7 nimmt Apk 1,3 675 auf und dringt durch die Ver‐ wendung von τηρέω nochmals darauf, die Worte der Apk nicht nur zu hören, sondern auch zu tun. 676 Deutlicher als in Apk 1,1-3 wird der Inhalt der Offen‐ barung Christi mit dem vorliegenden Buch verbunden, 677 da die λόγοι τῆς προφητείας nun speziell mit dem Zusatz τοῦ βιβλίου τούτου gekennzeichnet sind. 678 Dies geschieht nochmals in Apk 22,10, sodass kein Zweifel daran be‐ stehen sollte, dass der vorliegende Text der Apk selbst den Anspruch erhebt, durch die Bezeugung der Offenbarung in den Rang einer Offenbarungsschrift aufgestiegen zu sein. 679 210 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="211"?> 680 Vgl. Hieke / Nicklas, Worte, 35. 681 Vgl. Hieke / Nicklas, Worte, 36. 682 Dies bedeutet nicht, dass Engel und Seher deshalb grundsätzlich keine „besondere Stel‐ lung“ (Satake, Gemeindeordnung, 59) zugewiesen bekommen. Wenn Satake, Gemein‐ deordnung, 59, meint, dass nur die Botschaft Autorität besäße, nicht aber die Zeugen, dann übersieht er den Übermittlungsprozess, der die Autorität der Botschaft schließlich erst generiert. Erst die Situation der Hörer, die zu diesem Zeitpunkt die ganze Apk ja bereits gehört und als göttliche Botschaft akzeptiert haben, kann hier gemeint sein. Am Ende der Autoritätskette steht dann in der Tat der Text. 683 Vgl. Hieke / Nicklas, Worte, 38. Richtig erkennt Holtz, Offenbarung, 143: „In jedem Fall widerspricht der Text jeder Hierarchisierung in der Heilsvollendung. Gott allein ge‐ bührt die Ehre! “ 684 Vielleicht scheint es dem Seher notwendig, jegliche Form der Engelverehrung abzu‐ wehren. Sicher ist dies aber nicht. Vgl. Holtz, Offenbarung, 143. 685 Müller, Offenbarung, 368. 686 Vgl. Aune, Revelation III, 1216. 687 Vgl. dazu ausführlich Metzger, Offenbarung, 207-224. Apk 22,8 nimmt Bezug auf Apk 1,3, wenn Johannes sich analog zu Apk 1,9 und in Abgrenzung zu Jesus in Apk 22,16 als zweites „Ich“ kennzeichnet, das sich an den Hörer wendet. 680 Von hier an ist der Wechsel etabliert, der die ver‐ schiedenen Bezüge der vorkommenden 1.Pers.Sg.-Verben - wahrscheinlich be‐ wusst - erschwert. Deutlich will Apk 22,8 Johannes als den Zeugen aufwerten, der die Apk verantwortet. Er hat die Offenbarung Christi gehört und gesehen, die in der Apk nun aufgeschrieben ist. Aufgrund seiner Stellung ist er seinen Lesern also überlegen. 681 Der eigentlich über ihm wiederum stehende Engel er‐ fährt dagegen eine Degradierung auf die Ebene des Sehers, der Propheten und der Hörer der Apk (Apk 22,9). 682 In pädagogischer Absicht verweist der Engel den Seher stellvertretend für die Hörer auf Gott. 683 Ihm allein gebührt Anbetung, nicht dem Engel und nicht dem Seher. 684 Durch diesen Verweis wird die Apk selbst weiter aufgeladen. „Gott allein ist der Urheber der prophetischen Bot‐ schaft des Verfassers; ihr gebührt höchste Autorität.“ 685 Im Gegensatz zu anderen Apokalypsen, die aufgrund ihrer Fiktion einen Ver‐ siegelungsbefehl enthalten (vgl. Dan 8,26; 12,4.9; 686 4Esr 14,45-47 687 ), betont Apk 22,10, dass τοὺς λόγους τῆς προφητείας nicht versiegelt werden sollen. Grund dafür ist, dass keine Zeit vergehen muss, bis diese zu Gehör gebracht werden dürfen (wie beim 4Esr), sondern: der Kairos ist nahe (Apk 22,10). 211 3. Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="212"?> 688 Vgl. Bousset, Offenbarung, 459. Aune, Revelation III, 1231 kritisiert diesen Begriff heftig: „The integrity formula cannot be labeled a ,canonization formula‘ without dras‐ tically oversimplifying its function in ancient literature.“ In der Tat ist er missverständ‐ lich, wenn damit die Absicherung des biblischen Kanons mitgedacht wird. Vgl. Dohmen / Oeming, Kanon, 80; Hieke / Nicklas, Worte, 72. Soll lediglich festgehalten sein, dass der Text einen „kanonischen“ (im Sinne von autoritativ und normativ) Rang be‐ kommen soll, kann der Begriff Verwendung finden. Denn gerade im Selbstverständnis der Apk dient die Formel sehr wohl dazu, eine heilige Schrift abzuschließen. In diesem Sinn schreibt Bousset, Offenbarung, 460, zu Recht: „Der Apok. kanonisiert hier seine eigne Schrift mit der üblichen Formel. Welche eigentümliche Sicherheit prophetischen Bewußtseins kommt hier zum Ausdruck! “ Auch Müller, Offenbarung, 372, sieht, dass der Seher hier versucht, die „heilige Gültigkeit seines Buches zu sichern.“ Letztlich kommt auch Aune, Revelation III, 1231, zu dem Ergebnis, dass die Formel die Vollstän‐ digkeit und Heiligkeit des Textes anzeigen soll. In diesem Sinn verwenden schließlich auch Huber / Hasitschka, Kanon, 612, noch den Begriff „Kanonformel“. 689 Vgl. die Analyse von Dohmen / Oeming, Kanon, 80, die dafür plädieren, den Begriff der „Kanonformel“ zugunsten einer „Wortlautsicherungsformel“ oder „Textsicherungs‐ formel“ aufzugeben. Ihrer Analyse (vgl. Dohmen / Oeming, Kanon,68-89) folgt die vor‐ liegende Untersuchung und übernimmt ihren Vorschlag. Vgl. Tilly, Textsicherung, 235; Nicklas, Words, 310. Denn dieser Begriff scheint im Vergleich zur „Kanonisie‐ rungsformel“ besser zur Beschreibung des allgemeinen Phänomens geeignet, da er prä‐ zise das Anliegen der Verse erfasst, ohne weitere dogmatische Implikationen zu evo‐ zieren. 690 Vgl. Aune, Revelation III, 1229. 691 Mit Bousset, Offenbarung, 459; Kraft, Offenbarung, 281; Satake, Offenbarung, 427. 692 Vgl. Müller, Offenbarung, 366: „Es geht immer neu um die Autorisierung der Weissa‐ gung des Buches und damit zusammenhängend um die Aktualisierung des nahen Endes.“ 693 Mit Aune, Revelation III, 1230. Besonders interessant für die Frage der Autorität der Apk sind Apk 22,18-19. Die sog. „Kanonisierungsformel“ 688 bzw. besser „Textsicherungsformel“ 689 be‐ ginnt mit dem Verweis auf den Zeugen der Offenbarung. Da die Offenbarungs‐ kette aus Apk 1,1-2 verschiedene Stadien der Übermittlung kennt, kann zu‐ nächst gefragt werden, wer mit der 1.Pers.Sg. hier gemeint ist. Apk 22,16, die letzte vorher auftauchende 1.Pers.Sg., wird durch die Namensnennung explizit auf Jesus bezogen. 690 Sie ist aber zu weit entfernt, um grammatisch überzeugend als Bezug für Apk 22,18 zu gelten. Deshalb ist eher an den Zeugen zu denken, der bereits in Apk 1,1 als der entscheidende Zeuge der Offenbarung vorgestellt wurde: Johannes. 691 Er identifiziert zum dritten Mal in Folge die Apk explizit mit den Worten der Weissagung. 692 Es sollte deshalb endgültig klar sein, dass auch Apk 1,3 einen Selbstbezug darstellt. 693 Indem er denjenigen schwere Strafen ankündigt, die diesem, also seinem Buch, etwas wegnehmen oder hinzufügen, macht er klar, dass „der Inhalt des Buches in all seinen Teilen für die Adressaten heilsnot‐ 212 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="213"?> 694 Giesen, Offenbarung, 492. 695 Vgl. Roose, Zeugnis, 151; Huber / Hasitschka, Kanon, 612: „Im Grunde wird damit die Botschaft der Apokalypse als sakrosankt erklärt und für sie der Anspruch auf Suffizienz bzw. Vollständigkeit erhoben, eine Vollständigkeit, die sich bis hin auf die in der Ka‐ nonformel konkret angedrohten Folgen erstreckt.“ 696 Vgl. Hieke / Nicklas, Worte, 76: „Es geht vielmehr um die Bewahrung der unverkürzten und unvermehrbaren Integrität einer göttlichen Offenbarung, die in den ,Worten der Prophetie dieses Buches‘ schriftlich vorliegt.“ 697 Vgl. Giesen, Offenbarung, 492, der Johannes „auf eine traditionelle Formel zurück‐ greifen“ sieht. 698 Vgl. zur Analyse Dohmen / Oeming, Kanon, 81-89; Hieke / Nicklas, Worte, 73-75; Tilly, Textsicherung, 235-237, der die Gemeinsamkeiten der Texte vorführt. Vgl. weiter Nicklas, Words, 311, der zwei Linien der Autoritätsanrufung erkennt: „The text of Re‐ velation makes its claims to authority by means of these: (1) reference to the authority of the Torah and (2) reference to Israel’s prophets.“ Zu den Bezügen der Apk zu Ez vgl. Nicklas, Words, 321. 699 Vgl. Dohmen / Oeming, Kanon, 69, die darauf aufmerksam machen, dass insbesondere das „Erweiterungsverbot“ gravierende Konsequenzen hat: „Ein Mehr ist nicht nur nicht nötig, es ist schädlich oder gefährlich und daher verboten.“ 700 Dohmen / Oeming, Kanon, 84. 701 Tilly, Textsicherung, 236. wendig ist.“ 694 Das Buch genügt demnach für sich, es ist suffizient. 695 Es darf keinerlei Änderung erfahren, sondern ist in seinem aktuellen Bestand Offenba‐ rung Christi und als solche von höchster Dignität. 696 Deshalb greift Johannes auf ihm bekannte Formen der Textsicherung zurück. 697 Besonders Dtn 4,1-2; 13,1; 29,19-20 stehen dabei für Apk 22,18-19 Pate. 698 Immer geht es darum, einen als normativ angesehenen Textbestand unangetastet zu lassen. 699 Die vergleich‐ baren Texte erheben wie die Apk „den ungeheuren Anspruch […] auf unüber‐ treffliche Vollkommenheit, Autorität und Weisheit“, 700 weshalb sich schließen lässt: „Apk 22,18f fasst das gesamte fertige Buch der Offenbarung als autorita‐ tive ,Heilige Schrift‘ zusammen, was durch die Korrespondenz der beiden Verse mit Apk 1,2f akzentuiert wird.“ 701 Inhaltlich evozieren die Anklänge an das Dtn durch ihre Warnung vor falscher Prophetie und vor Götzendienst für die Apk 213 3. Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="214"?> 702 Vgl. Tilly, Textsicherung, 245. Man kann mit Aune, Revelation III, 1231, fragen, warum Johannes offensichtlich meinte, dass es nötig sei, eine solche Textsicherung vorzu‐ nehmen. Hatte er Grund zur Sorge, dass sein Text verfälscht werden würde? „Or was he simply using this protective device to emphasize the sanctity and completeness of his relevatory book? “ Seine Antwort lautet: Beides! Auch Giesen, Offenbarung, 493, denkt daran, dass der Seher Veränderungen am Buch fürchtet und vor allem die Parä‐ nesen schützen will. Denn: „Jede Manipulation am Inhalt des Buches hat negative Folgen in der Gegenwart und in der Zukunft, zumal nach der Auffassung des Sehers das zukünftige dem gegenwärtigen Ergehen entspricht.“ Vgl. auch Satake, Offenbarung, 427, der hier eine polemische Warnung an Anhänger einer „realised eschatology“ er‐ kennt. 703 Vgl. Hieke / Nicklas, Worte, 77: „Das Buch, dem nach Apk 22,18-19 nichts hinzugefügt und von dem nichts weggelassen werden darf, ist ,Heilige Schrift‘. Was hier formuliert ist, kann man als Konzept oder Idee von Kanon in literaturwissenschaftlich-hermeneu‐ tischer Hinsicht bezeichnen.“ 704 Deshalb sieht Theißen, Entstehung, 263 richtig, dass die Offenbarungskette lauten muss: „Gott - Christus - Engel - Johannes - Johannesapokalypse“. 705 Holtz, Offenbarung, 18. 706 Gegen Taeger, Autorisierung, 163; mit Müller, Offenbarung, 67; Tilly, Textsicherung, 245. den besonderen Aspekt, das christliche Leben streng an den Worten des Jo‐ hannes auszurichten. 702 Da die Tätigkeit des Sehers endet bzw. vom Standpunkt der Hörer aus bereits beendet ist, kommt nun dem Buch die Aufgabe zu, die Offenbarung zu vermit‐ teln. Es ist der letzte und entscheidende, weil dem Hörer allein verfügbare Zeuge in der Überlieferungskette von Gott zum Hörer. Während es in Apk 1,1-3 noch nicht explizit als Medium der Überlieferung genannt wurde, ist hier nun deut‐ lich, dass eigentlich die dort entworfene Kette der Übermittlung um ein weiteres Glied erweitert werden muss. Zwischen Gott und den Hörer tritt nun auch das Buch. 703 Johannes dagegen tritt zurück, seine Autorität hat sich darin erschöpft, diese auf das Buch zu übertragen. 704 3.8. Der Autoritätsanspruch der Apk Die Autorität der Apk liegt in ihrem Ursprung begründet. Weil sie die ἀποκάλυψις Ἰησοῦ Χριστοῦ enthält, die von Gott persönlich initiiert wurde, erhebt sie den Anspruch, die entscheidende Offenbarungsinstanz Gottes für den Hörer zu sein. Sie „erhebt ökumenischen Anspruch als eine Schrift, deren un‐ antastbarer Inhalt (22,18f) soteriologische Bedeutung hat.“ 705 Wichtig ist dabei zu bemerken: Da sie auch vorbereitende und kommentierende (metatextuelle) Bemerkungen enthält, ist sie nicht das Wort Gottes selbst, 706 sondern stellt le‐ 214 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="215"?> 707 Vgl. Mauz, Machtworte, 263: „Verschriftlicht wird also nicht nur das, was ausdrücklich zur Verschriftlichung bestimmt ist; verschriftlicht wird auch die metatextuelle Rah‐ mung, innerhalb derer die Verschriftlichung angeordnet wurde.“ 708 Vgl. Giesen, Offenbarung, 59, der richtig darauf hinweist, dass das Heil der Christen „von der Annahme des Zeugnisses“ abhängt. 709 Vgl. Theißen, Texte, 433: „Kultisch gebrauchte Schriften, die von Offenbarung zeugen, sind auf dem Weg, kanonische Schriften zu werden.“ 710 Mit Hieke / Nicklas, Worte, 77; Tilly, Textsicherung, 236. 711 Mit Mauz, Machtworte, 253. diglich, aber immerhin eine autoritative Verarbeitung, eine Verschriftlichung der göttlichen Offenbarung dar. 707 Vermittelt durch Christus, den Engel und den Seher kommt letztlich - wie vor allem Apk 22,18-19 zeigen - ihr selbst eine unüberbietbare Funktion zu. Sie spielt die entscheidende Rolle für ihre Hörer. An der Akzeptanz ihrer Forde‐ rungen entscheidet sich das menschliche Heil. 708 Wer ihren Forderungen Folge leistet, wird in das himmlische Jerusalem aufgenommen. Wer sie aber nicht be‐ achtet und vielleicht sogar am Buch selbst Veränderungen jeglicher Art vor‐ nimmt, wird bestraft. Sie erhebt damit einen - im Sinn von normativ - kanoni‐ schen Anspruch. 709 Diesen Anspruch erhebt die Apk aufgrund ihres Ursprungs zu Recht. Sie er‐ hebt ihn, weil die Parusie Christi nahe ist. Die Autorität steht also im Dienst der Botschaft. Nur weil die Zeit drängt, schreibt der Seher die ihm zuteil gewordene Offenbarung auf und schafft damit für seine Hörer ein Medium, das über ihn selbst hinausweist. Die Verschriftlichung seiner Offenbarung dient dazu, po‐ tentiell allen Menschen die entscheidenden Orientierungspunkte mitzuteilen. Deshalb lässt sich feststellen, dass die Apk keine abstrakte Autorität für sich reklamieren will, sondern sie braucht sie, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Die Au‐ torität dient demnach der Funktion und ist kein abstrakter Ausweis der Qualität. So stellt sich die Apk als Buch vor, dessen Lektüre von größtmöglicher Be‐ deutung ist. Ihrem Selbstverständnis nach kann man sie als „Heilige Schrift“ 710 bezeichnen, die in ihrer Rahmung „heiligende Texte“ 711 aufweist. 4. Ertrag: Der Autoritätsanspruch der untersuchten Texte Im Überblick sollen nun die erzielten Ergebnisse gebündelt werden, um sie dann im nächsten Schritt in die Diskussion um die Schriftautorität einbringen zu können. Das erste Ergebnis dieser Untersuchung lautet, dass exegetisch nicht von einer Autorität der Schrift als Eigenschaft der Bibel gesprochen werden darf. 215 4. Ertrag: Der Autoritätsanspruch der untersuchten Texte <?page no="216"?> 712 Vgl. Kapitel II.2.2. Keiner der hier untersuchten Texte sieht sich aufgrund äußerer Faktoren als autoritativ an. Die Kriterien der äußeren Autorität, die insbesondere im Zeitalter der Altprotestantischen Orthodoxie definiert wurden, 712 lassen sich in den Texten kaum wiederfinden. Das bedeutet aber nicht, dass die Texte nun ihrer‐ seits keinen Anspruch auf Autorität erheben. Sie erheben auf je ihre Weise einen solchen, doch nicht dezidiert den gleichen. Im Gegenteil: Die untersuchten Texte zeigen einen unterschiedlichen Anspruch, der zuweilen - wie im Joh - schon innerhalb des Textes selbst changieren kann. Als zweites Ergebnis lassen sich demnach verschiedene Autoritätsansprüche aufzeigen, die in die moderne Diskussion einfließen und diese präzisieren können. Dazu ist die Beschreibung der Autoritätsstruktur hilfreich. 4.1. Implizite Autorität Lk 1,1-4 und Joh 20,30-31 lassen sich unter dem Begriff einer impliziten Auto‐ rität einordnen. Sie ist implizit, weil sie in erster Linie funktional verstanden wird. Dies beinhaltet, dass die beanspruchte Autorität nicht ausdrücklich für sich behauptet und dass sie zweitens nur dann anerkannt wird, wenn sie ihre Funktion erfüllt. Die Autorität beruht folglich darauf, dass dem Text gelingt, wozu er geschrieben wurde. Diese beiden Texte heben also auf ihre Kraft ab, sich selbst durchzusetzen. Sie stehen der dogmatischen Zuweisung von efficacia am nächsten. Lk 1,1-4 will in gewisser Weise pädagogisches Hilfsinstrument sein. Das Evangelium widmet sich der Aufgabe, diejenigen ihres Glaubens zu versichern, die diesen bereits kennen. Der Text bietet eine orientierende Grunderzählung des Glaubens, die den Glauben der Leser vertiefen soll. Autorität erlangt das Werk dann, wenn es sein Ziel erreicht, also die Zuverlässigkeit des Glaubens erwiesen ist. Seine Autorität liegt damit erstens in seiner Wirkung begründet. Sie hängt aber zweitens davon ab, dass zuvor ein Vorschuss an Vertrauen gegenüber der Erzählung gewährt wurde. Diese Bedingung ist für Lukas durch den vorausge‐ setzten Glauben gegeben, aber auch durch das Werk selbst zugesichert. Dies ist der Sinn des Autoritätenverweises innerhalb des Proömiums. Die Anrufung der Zeugen des Evangeliums dient diesem als Erweis seiner Zuverlässigkeit. Autorität proklamiert der Text also auf einer zweiten Ebene durch den Ver‐ weis auf seine Quellen. So lässt sich der Beginn einer Autoritätskette verfolgen. Das Evangelium verweist auf seine Gewährsmänner, die wiederum dadurch 216 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="217"?> 713 Vgl. Theißen, Entstehung, 263; Menken, Authority, 187; Söding, Schriftinspiration, 197. 714 Vgl. Söding, Schrift, 369. 715 Markl, Rahmen, 110. 716 Menken, Authority, 192. ausgezeichnet sind, dass sie Zeugen Jesu sind. Und diesem hat letztlich laut Lk 10,22 Gott selbst alles übergeben. Der Autoritätsanspruch des Lukas beruht also schließlich darauf, dass er in einer Erzählung wiedergibt, was als Offenbarung Gottes zu gelten hat. Dieser Anspruch wird allerdings nicht so deutlich ausgesagt, wie dies bei Apk 1,1-3 der Fall ist. Deshalb hängt damit die Autorität des Werkes deutlich an ihrem Inhalt, ohne die Akzeptanz der Erzählung als Gründungsmythos des Glaubens ist der Text hinfällig. Eine Autorität per se hat der Text nicht. Wirkung und Inhalt sind demnach die beiden entscheidenden Autoritätsfaktoren bei Lukas. Joh 20,30-31 lässt sich analog zu Lk 1,1-4 verstehen. Es beansprucht die Au‐ torität, die es im Korpus seiner Erzählung dem Protagonisten Jesus zuweist. Die Autorität, die Mose im Hinblick auf die Tora innehatte, übernimmt Jesus für die Adressaten des Joh und weist sie dann in seiner Abwesenheit dem Parakleten (z. B. Joh 14,26), dem Lieblingsjünger und eben dem Evangelium selbst zu. 713 Deutlich ist der Verweis auf die Funktion des Textes: Das Evangelium ist dazu geschrieben, damit die Leser glauben. Da Jesus nicht mehr persönlich zu erleben ist, übernimmt der Text nun seine Rolle als Verkündiger und verkündigt ihn. Wie bei Lukas ist klar, dass Christus die eigentliche Autorität des Evangeliums ist. Das Evangelium dient der Kompensation seiner Abwesenheit und erhebt den Anspruch, dem Glauben seiner Leser behilflich sein zu können. Analog zu Lukas richtet es sich nicht als Missionsschrift an außerhalb des christlichen Überlie‐ ferungszusammenhangs stehende Menschen, sondern an solche, die bereits den Glauben an Christus kennengelernt haben, in ihm vielleicht schon leben. Der Text will nun eine tiefere Einführung in den Glauben leisten und so das Ziel erreichen, seine eigene Theologie als die maßgebliche Explikation des Chris‐ tusereignisses zu etablieren. Damit setzt der Text wiederum auf die Wirkung, die er erzielt und erlangt von dort seine Autorität. Autorität entsteht also im Zusammenspiel von Text und Erlebnis, in johan‐ neischer Terminologie gesprochen im Zusammenwirken von Text und Geist. 714 Diese Autorität ist folglich ebenfalls als funktionale anzusprechen, die nur da‐ durch anerkannt wird, indem sie funktioniert. Darin besteht die „Logik der Au‐ torität“ 715 : Sie entsteht, indem sie funktioniert. Sie wird beansprucht, damit sie funktionieren kann. Der Text ist deshalb also nur ein „concrete medium“ 716 , das keine eigene Autorität erheben kann, sondern völlig von der Beglaubigung 217 4. Ertrag: Der Autoritätsanspruch der untersuchten Texte <?page no="218"?> 717 Vgl. Beutler, Johannesevangelium, 556. durch das Erleben, von der Beglaubigung durch den Geist abhängt. Tritt das Erleben ein, wird also anfänglicher Glauben ausgebildet, erreicht der Text sein soteriologisches Ziel: das ewige Leben. Die Autorität steht also ganz im Dienst des Glaubens. Sie ist Mittel zum Zweck. Auch das Joh steht damit Pate für das Verständnis der Selbstdurchsetzung der Schrift. Besonders interessant für die Frage der Autorität ist der zweite Schluss des Evangeliums. 717 Während Joh 20,30-31 keine weitere Sicherung der Autorität erkennen lassen, zeigen Joh 21,24-25 das Bedürfnis, weitere Instanzen zu nennen. So wie Lukas Zeugen seiner Erzählung als Autoritäten anruft, so weist das Evangelium der prominenten Figur des Lieblingsjüngers seinen Text zu und gibt so eine menschliche Autorität an, die den Text verbürgt. Der Vorgang ist für den Autoritätsanspruch sprechend. Offensichtlich scheint das reine Ver‐ trauen auf die Selbstevidenz des Textes zu wenig, um ihm im Überlieferungs‐ prozess eine gesicherte Autorität zu verleihen. Um das Ziel des Evangeliums zu erreichen, werden damit innerweltlich greif‐ bare Instanzen angegeben, die gleichsam objektiv von außen die Wirkung des Textes sichern sollen. Die Form der impliziten Autorität ist damit ergänzt, da Autorität nun ausdrücklich behauptet und personell verankert wird. Lk 1,1-4 und Joh 20,30-31 zeigen also, dass sie von sich aus eine funktionale Autorität beanspruchen. Die Autorität steht damit im Dienste ihrer Zielsetzung und wird deshalb beansprucht. Und sie wird nur dann akzeptiert, wenn sie funktioniert. Zweitens zeigen beide die Tendenz, diese Autorität nicht nur auf ihre Wir‐ kung zu gründen, sondern sie auch durch innerweltlich benennbare Instanzen abzusichern. Die grundlegende Autorität hängt also von der Wirkung ab, die aber wiederum auf einer zweiten Ebene vorbereitet wird. Die Autorität der an‐ gegebenen Zeugen des Textes dient zum Aufbau eines notwendigen Vorschusses an Vertrauen. Damit ist ersichtlich, dass die Texte nicht allein und von sich aus wirksam werden wollen, sondern eingebettet sind in einen umfassenden Ver‐ weiszusammenhang. Ihre Autorität entsteht in einem zumindest zweistufigen Prozess und wandelt sich von einer vorläufigen zu einer sich selbst aufbauenden Autorität. 4.2. Explizite Autorität Apk 1,1-3 stimmt mit den Evangelientexten auf der einen Seite überein, auf der anderen überbietet sie sie im Hinblick auf den Autoritätsanspruch aber deutlich. 218 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="219"?> 718 Vgl. Holtz, Offenbarung, 18. 719 Mit Hieke / Nicklas, Worte, 77; Tilly, Textsicherung, 236. Deshalb scheint es gerechtfertigt, sie von den anderen beiden Texten abzuheben und ihr einen expliziten Autoritätsanspruch (ähnlich Joh 21,24-25) zu attes‐ tieren. Zunächst ist klar, dass auch die Apk Autorität nicht für sich selbst als Text beansprucht, sondern weil sie etwas erreichen will. Sie wird verfasst, weil die Zeit nahe ist (Apk 1,1.3). Auch dieser Text dient also einem konkreten Anliegen. Die Nähe der Zeit macht das Anliegen der Apk dringend. Deshalb muss die Offenbarung Jesu verschriftlicht werden, damit die Adressaten zeitnah und un‐ mittelbar die entscheidende Orientierung an Christus einsehen können, die nur der Seher vermitteln kann. Insofern dient auch die Apk ihrem Zweck und weist eine funktionale Autorität auf. Weil dieses Interesse aber so wichtig und dringlich ist, erhebt die Apk zwar im Grunde den gleichen Autoritätsanspruch wie die Evangelien, nämlich die entscheidende Botschaft von Christus wiederzugeben, unterstreicht aber ihren Anspruch wesentlich deutlicher. Sie gibt sich nicht als Erzählung aus, die auf Zeugen basiert und erst in die richtige Reihenfolge gebracht werden musste, sondern will als Offenbarung Gottes selbst verstanden werden. Sie erzählt also nicht von der Offenbarung, sondern enthält sie über weite Passagen direkt. Sie verweist nicht auf andere Zeugen, sondern ihr Autor ist seinem Selbstzeugnis nach als einziger und entscheidender Zeuge das letzte Glied der Offenbarungs‐ kette. Sie erhebt damit Anspruch auf eigene Autorität. Dass die Apk eine unüberbietbare Autorität beansprucht, drückt sie bereits in ihrer Selbstbezeichnung als ἀποκάλυψις Ἰησοῦ Χριστοῦ aus. Diesem An‐ spruch entspricht das Selbstbewusstsein, dass sie allein und ohne jegliche Ver‐ änderungen (Apk 22,18-19) soteriologisch entscheidend ist. 718 Während Lukas zu akzeptieren scheint, dass es noch andere Evangelien gibt, die er aber durch sein eigenes überflüssig werden lässt, und Johannes anerkennt, dass es noch viele andere Dinge gibt, die man über Jesus berichten könnte, geht es der Apk nicht allein um die Betonung ihrer Suffizienz, sondern auch um ihre einzigartige Stellung. Sie will die alleinige autoritative Schrift sein, die den christlichen Glauben normativ grundlegt. Deshalb bietet sie in einer einzigartig deutlich ausgeführten Autoritätskette die vermittelnden Instanzen auf, die die Offenba‐ rung Gottes bis zu ihrem Text transportieren. Zwar behauptet sie nicht, das Wort Gottes selbst zu sein, aber immerhin dessen autoritative Vermittlung. An der Stellung zu ihr entscheidet sich das Schicksal der Gläubigen. Von daher ist ver‐ ständlich, dass sie sich selbst als „heiligen Text“ versteht. 719 Es ist deshalb ge‐ 219 4. Ertrag: Der Autoritätsanspruch der untersuchten Texte <?page no="220"?> 720 Mit Bousset, Offenbarung, 460; Müller, Offenbarung, 372; Aune, Revelation III, 1231; Huber / Hasitschka, Kanon, 612. 721 Vgl. Mauz, Machtworte, 79: „Denn die einzige biblische Schrift, die in poetologischer Perspektive integral als ,heiliger Text‘ angesprochen werden kann - und die einzige Schrift, die auch Paratextelemente aufweisen kann, die diese Identität betonen -, ist die Offenbarung des Johannes.“ (kursiv im Original) rechtfertigt, den Autoritätsanspruch in der Apk deutlicher ausgesprochen zu sehen als bei Lk und Joh. Durch die Autoritätsketten und die Textsicherungs‐ formel in Apk 22,18-19 zeigt sich in der Tat ein kanonisches Bewusstsein im Sinne eines normativen Anspruchs. 720 Die Apk präsentiert sich also als Text, der explizit Autorität für sich einfordert und diese in den Dienst ihrer Botschaft stellt. Sie enthält mit Apk 1,1-3 den einzigen Metatext, der den Anspruch erhebt, sie selbst zu „heiligen“. 721 220 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften <?page no="221"?> 1 Vgl. Schmidt, Wort, 22. Man muss hier allerdings betonen, dass im Sinne Luthers „die Differenz zwischen Gott und Schrift einzuschärfen“ (Baur, Scriptura, 21) ist. Die ein‐ deutige Identifizierung von Gott bzw. Christus, die in evangelikalen Glaubensgemein‐ schaften anzutreffen ist und deshalb nicht undiskutiert übergangen werden kann, hat daher keinen überzeugenden Anhalt am Denken Luthers. Vgl. Kapitel II.2.1. IV . Die Autorität der neutestamentlichen Texte und die Autorität der Schrift Ziel dieser Untersuchung ist es, einen Beitrag zur Diskussion um die Autorität der Schrift zu liefern. Dazu wurden drei - hier so bezeichnete - Metatexte des Neuen Testaments auf ihren Autoritätsanspruch hin untersucht. Dieser An‐ spruch soll beschrieben und in Beziehung zu der gegenwärtigen fundamental‐ theologischen bzw. ökumenischen Diskussion gesetzt werden. Die Schrift nimmt also durch ihre Schriften selbst an der Diskussion über sich teil. 1. Die Erwartungen der Dogmatik an die Schrift Was die Schrift sein und leisten soll, hat sich im Laufe der Kirchengeschichte verändert. Der höchste Anspruch, der an sie gestellt wird, findet sich in der kontroverstheologischen Situation der Reformationszeit und der sich anschließ‐ enden altprotestantischen Orthodoxie. Martin Luther mutet der Bibel die Regierungsgewalt über die Theologie zu, sie soll Richterin und erstes Prinzip von Theologie und Kirche sein. Diese ab‐ solute Hochschätzung der Schrift führt dazu, Gott und Schrift in einen so engen Zusammenhang zu bringen, dass die Schrift als „Gott selbs“ ( WA 50,657,26f) angesehen wird. 1 Die Bibel, die für die Kirche Heilige Schrift darstellt, wird im theologischen System so zum Prinzip der Theoriebildung. Die Wahrnehmung des Eigenwertes und des selbständigen Profils der Texte tritt zugunsten ihres Charakters als „Schrift“ zurück. Die lutherischen Bekenntnisschriften folgen ihm in dieser Wertschätzung und betonen, dass die so verstandene Schrift diejenige Instanz ist, nach der sämtliche Lehre und jegliches Handeln beurteilt und eingeschätzt werden soll. Daraus folgt mit innerer Notwendigkeit, dass die biblischen Texte mit theo‐ logischen Setzungen konfrontiert werden, die sie als Schrift tragen müssen, als <?page no="222"?> solche aber nicht erfüllen können. Dazu zählen ihre Unfehlbarkeit und Fehler‐ losigkeit, die göttliche (Verbal-)Inspiration und ihre sich daraus ergebende Suf‐ fizienz. Der Schrift wird zugemutet, sich selbst imponieren zu können und zu müssen, da sie von keiner menschlichen Instanz gestützt werden dürfe. Allein das göttliche Zeugnis des Geistes sei stark genug, sie ins Recht zu setzen. Nur ein übernatürlicher Akt könne demnach die Schrift beglaubigen. Der Kirche, dem Menschen selbst oder einer anderen Instanz komme es dagegen nicht zu, die Schrift beurteilen zu können oder gar kritisieren zu dürfen. Sie sei hinrei‐ chend klar, um alle fraglichen Probleme entscheiden zu können. Keine mensch‐ liche Anstrengung kann garantieren, dass die Schrift ihre Wirksamkeit entfaltet, sie müsse dies letztlich aus der freien Verfügung Gottes her leisten. Wo die Schrift diese Kraft entfaltet, sei sie im Grunde unwiderstehlich, es sei denn, der Mensch leistet sündhaft Widerstand. Die moderne Dogmatik tritt zumindest im akademischen Kontext wesentlich bescheidener an die Schrift heran und nimmt, gezwungen durch die Emanzipa‐ tion der Exegese im Rahmen und im Gefolge der Aufklärung, viele dieser Zu‐ mutungen zurück. So werden erstens dort, wo eine Autorität der Schrift nicht grundsätzlich verworfen wird, überkommene Lehrinhalte restauriert, indem man mit Hilfe vorauszusetzender Annahmen daran festhält, dass in der Bibel Gottes Wort zu finden ist. Oder man versucht zweitens, in erster Linie an den Gedanken der Wirksamkeit der Bibel anzuknüpfen, wodurch die Bibel zur Schrift werde. Unbefriedigend scheint es, die Autorität der Schrift einfach als Grundkon‐ stante christlicher Überzeugung einzuführen, weil sie kanonisch sei und deshalb Autorität beanspruchen könne. Diese vorausgesetzte Autorität wird dann mit der Nähe zu den Ursprungsereignissen belegt. Dies erscheint fraglich, da nicht klar ist, welche Ereignisse gemeint sind. Geht es um die Geschehnisse um Christus oder gilt dies auch für die Ereignisse, von denen im Alten Testament berichtet wird? Weiter ist zu fragen, ob und wie diese gleichsam automatisch einen wirksamen Niederschlag in den Texten hinterlassen haben sollen. Und drittens ist zu fragen, in welchen biblischen Schriften dieser Eindruck zu finden und ob er in allen Texten gleich intensiv ist. Demgegenüber muss festgehalten werden: Autorität als Zeugnis der göttli‐ chen Offenbarung kann die Bibel nicht a priori beanspruchen, weil sie erst zeigen muss, dass sie sie enthält. Von daher ist es notwendig, zunächst den Be‐ griff der Autorität differenziert zu betrachten und darauf zu achten, welche Form von Autorität die Texte für sich beanspruchen und wie sie diesen Anspruch aufbauen. 222 IV. Die Autorität der neutestamentlichen Texte und die Autorität der Schrift <?page no="223"?> 2 Wenz, Schriftprinzip, 310. 3 Lauster, Prinzip, 445. 4 Vgl. Lauster, Entzauberung, 51. 5 Roth, Verhältnis, 237. 6 Vgl. Slenczka, Historizität, 14. Insgesamt scheint sich in der neueren Dogmatik die Selbsterschließung der Schrift in den Vordergrund zu drängen, die eine existentielle Wirkung entfaltet. Der biblische Text bekommt als Schrift einen unverfügbar heiligen Charakter und wird zu einer Form des medium salutis. Hier zeichnet sich in ökumenischer Hinsicht eine Differenz ab. Kirche und Schrift treten als Grundsakramente gegenüber. Die Autorität der Schrift wird römisch-katholisch grundsätzlich von der Autorität der Kirche gesichert, wäh‐ rend die Schrift ihre Autorität evangelisch gesehen selbst gewährleisten muss. Im Blick auf die Schrift als Kanon bedeutet dies, „daß der Sinngehalt des Kanons kraft seiner materialen Evidenz sich selbst zu bewähren und in seiner kanoni‐ schen Autorität gewiß zu machen vermag, so daß es zur Fundierung und Be‐ glaubigung der Kanonizität des Kanons einer externen Autorisierungsinstanz nicht bedarf.“ 2 Dass die Bibel vielfältige „Ausdrucksgestalten religiöser Erfahrung“ 3 auf‐ weist, lässt sich nicht bestreiten und kann als Ausgangspunkt der Überlegungen festgehalten werden. Dies stellt für sich allerdings keine Form der Autorität dar, sondern kann nur als Anknüpfungspunkt dienen. Zunächst sprechen dafür in erster Linie kulturgeschichtliche Gründe sowie in einem engeren Rahmen der liturgische Gebrauch von Seiten der Kirche. Da diese Texte in der Tat dazu beigetragen haben, eigene religiöse Erfahrung zu deuten - sonst wären sie nicht überliefert und nicht kanonisiert worden -, kommt ihnen zumindest ein Vorschuss an Vertrauen zu. Es geht dann also nicht so sehr um Normativität, sondern um den Anknüpfungspunkt eines Prozesses zur Gewinnung von autonomer Autorität. Hierbei handelt es sich nicht um eine Form der historischen Absicherung, nicht um das problematische Argument der Ursprungsnähe, 4 sondern um einen hermeneutischen bzw. didaktisch-pädago‐ gischen Zugang zur Bibel als Schrift. Wichtig ist dabei die Erkenntnis, dass die Autorität der Schrift sich im eigenen Erleben bewahrheiten muss. Sie beruht auf „dem Erleben von Evidenz, dem Ge‐ fühl der Wahrheit“, 5 auf dem Umstand, dass die Schrift ein- und erleuchtet. 6 Die Autorität der Schrift leuchtet also erst demjenigen auf, der erfahren hat, dass biblische Texte ihm dazu verhelfen, seine eigene Existenz vor Gott zu ver‐ 223 1. Die Erwartungen der Dogmatik an die Schrift <?page no="224"?> 7 Vgl. Roth, Verhältnis, 244. 8 Vgl. Raatzsch, Autorität, 63. 9 Vgl. Raatsch, Autorität, 107: „Eine Autorität bedarf, um eine Autorität zu sein, mindes‐ tens einer oder eines Anderen, dem oder der gegenüber sie eine Autorität ist.“ 10 Deshalb spricht Theißen, Entstehung, 39.93, von einer charismatischen Phase, die am Beginn der Literaturgeschichte des Neuen Testaments steht. Interessant ist dabei, dass er im weiteren Verlauf der Entstehung des Neuen Testaments auch eine „funktionale Phase“ (Theißen, Entstehung, 245) der Autorität ausweist, der z. B. die Apk zugehört. Von daher decken sich seine Erkenntnisse zur Genese der Textautorität der kanonisch werdenden Schriften mit den hier erzielten Ergebnissen. stehen. 7 Damit scheint die dogmatische Rede von der Selbstwirksamkraft der Texte letztlich gerechtfertigt. 2. Strukturen der Autorität der Texte nach ihrem Selbstzeugnis Einzusetzen ist mit der Einsicht, dass Autorität ein Verhältnisbegriff ist. 8 Zwi‐ schen demjenigen, der Autorität hat, und dem, der sie anerkennt, besteht dieses Verhältnis. 9 Die zentrale Autorität, die die Texte präsentieren, ist Jesus von Na‐ zareth als Christus. Ihre eigene Autorität leiten sie aus ihrem Verhältnis zu ihm ab. 10 Diese muss von ihren Adressaten akzeptiert werden. Da die Texte kanoni‐ schen Rang erlangt haben, scheint dies in der Phase der Kanonisierung der Fall gewesen zu sein. Gegenwärtig steht die Autorität der Schrift aber in der Diskussion. Heute ist demnach ihre Autorität nicht unhinterfragbar. Der kanonische Status trägt dazu nichts bei. Ihre Adressaten haben sich über die Jahrhunderte verändert. Die Frage, der sich diese Untersuchung widmet, ist daher das Verhältnis der Schrift zu den gegenwärtigen Lesern und ihr Stellenwert in der modernen Theoriebil‐ dung. Welche Autorität kann die Bibel hier und heute beanspruchen? Im vorliegenden Zusammenhang heißt dies erstens, dass von der Bibel nur dann als Schrift zu sprechen ist, wenn dies als Zuweisung von Autorität ver‐ standen wird. Diese Zuweisung geschieht durch die Kirche, welche ihrerseits lediglich in verschiedenen konfessionellen Ausprägungen existiert und in der Gegenwart selbst keine unhinterfragte Autorität darstellt. Kirchliche Autorität ist genauso hinfällig geworden wie die der Schrift. Deshalb ist auch die Zuwei‐ sung von Autorität nur noch schwer möglich. Damit kommt zweitens in das Verhältnis von Schrift und Adressaten mit der Kirche ein dritter Faktor ins Spiel. Sie muss in der Gegenwart die Bibel überhaupt erst als Autorität behaupten und den Adressaten zumuten. 224 IV. Die Autorität der neutestamentlichen Texte und die Autorität der Schrift <?page no="225"?> 11 Raatzsch, Autorität, 93 (kursiv im Original). 12 Vgl. Bedford-Strohm, Bedeutung, 20: „Die Kirche entsteht aus dem Hören auf Gottes Wort, und sie wird durch das Hören auf Gottes Wort erhalten. Darum orientiert sie sich an der Schrift.“ Die biblischen Texte unterscheiden - wie gesehen - mindestens zwei Stufen von Autorität. Die erste Stufe ist eine mittels Zuweisung „gemachte“ Autorität. Dies bezeichnet die Perspektive dessen, der die Autorität der Schrift erlangen will. Im konkreten Fall die Kirche. Für die Adressaten der Schriftautorität stellt sich diese erste Stufe als „vor‐ auszusetzende“ Autorität dar. Sie müssen der Bibel den von der Kirche erbetenen Vorschuss an Autorität gewähren. Eigentliche Autorität im Sinne der unter‐ suchten Texte stellt dann die zweite Stufe dar, die als selbstevidente oder auto‐ nome bezeichnet werden kann. 2.1. Gemachte Autorität: Autorität als Gewährleistung Autorität ist keine Eigenschaft, sondern ein Verhältnis. Dieses kann hergestellt werden, weshalb gilt: „Autoritäten werden gemacht.“ 11 Gegenwärtig gilt dies auch für die Schrift. Sie hat gegen die Behauptungen der Altprotestantischen Orthodoxie und der evangelikalen Theologie keine Autorität als Eigenschaft, sondern diese wird durch die Kirche vorläufig gemacht. Hier taucht eine Ahnung des ursprünglichen Autoritätsbegriffs auf. Jemand stellt eine Autorität dar, wenn er für etwas oder jemanden auch die Gewähr‐ leistung übernimmt. Dieser Vorgang ist gegenwärtig für die Bibel zentral. Sie wird von der „Kirche“ zur „Schrift“ gemacht, also zur maßgeblichen Autorität der Kirchen. Die Kirche übernimmt in diesem Prozess also die Verantwortung dafür, dass die Bibel für sie Schrift sein soll. Sie setzt dabei darauf, dass die Bibel sich dann als Schrift selbst imponiert. Gleichzeitig unterstellt sich die Kirche, die die Autorität der Schrift bezeugt, dieser Autorität selbst. Aus diesem Zirkel gibt es kein Entrinnen. Ohne die Kirche ist die Bibel nicht Schrift. Und ohne die Schrift ist die Kirche nicht christliche Kirche. 12 Deshalb sind die biblischen, im Rahmen des Christentums vor allem die neutestamentlichen Texte für alle The‐ ologie und Kirche faktisch unhintergehbar. Allerdings gilt gerade im Autoritätsverhältnis von Kirche, Schrift und Indi‐ viduum, dass dies nicht blind sein darf. Der aufgeklärte Glaube kann der Bibel keine Autorität zuweisen, nur weil dies kirchlich angeboten wird. Der Gewähr‐ leistung der Kirche muss auf der anderen Seite die persönliche Glaubensüber‐ zeugung entgegenkommen. Der Bibel kommt deshalb keine kirchliche Autorität 225 2. Strukturen der Autorität der Texte nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="226"?> 13 Da es hier um den konkreten Aufbau von Autorität geht, scheint es nun angebracht, nicht theologisch von der Kirche zu sprechen, sondern den Blick auf diejenigen In‐ stanzen zu richten, die real die biblischen Texte zum Hören oder Lesen empfehlen, also die vorfindlichen, verfassten Kirchen. an sich zu, auch nicht weil sie - historisch kontingent - kanonisch geworden ist. Da Autorität auch anerkannt werden muss, handelt es sich im Hinblick auf die Schrift - gegen Forderungen der evangelikalen Theologie - nicht um ein reines Gehorsamsverhältnis, sondern sie beruht auf dem freien Akt der Person. Anerkennung gewinnt die Schrift aber nicht aufgrund einer immer mehr schwindenden kirchlichen Autorität, sondern aufgrund ihrer eigenen Kraft. Es geht letztlich um die Überzeugung der Adressaten. Der Beginn der Autorität der Schrift ist demnach nur ein Angebot an die Adressaten der Kirche, eine ge‐ machte Autorität also. Dies ist die eine Seite der ersten Stufe. 2.2. Vorläufige Autorität: Autorität als Vertragsautorität Alle drei untersuchten biblischen Texte leben von ihrer Wirkung. Damit sie aber überhaupt Wirkung entfalten können, müssen sie gehört oder gelesen werden. Sie brauchen demnach eine Instanz, die sie ihrem Publikum empfiehlt. Aus dieser Perspektive wurden die Kirchen 13 in den Blick genommen, die Gewähr‐ leistung übernehmen. Ihnen schenken die Adressaten das Vertrauen, dass die Bibel das einlösen kann, was die Kirchen versprechen. Sie gehen insofern einen Vertrag ein. Au‐ torität ist in dieser Perspektive als die klassische Form der Vertragsautorität zu bestimmen. Eine von den Kirchen gemachte Autorität muss also von den Adressaten ak‐ zeptiert werden. Sie gewähren Autorität im Sinne eines Vertrages und vertrauen auf die Gewährleistung der Kirchen. Mit Überlegungen Augustins lässt sich dieser Verhalt illustrieren. Nach ihm bürgt die Kirche für die Autorität der Schrift (c. ep. Man. 6). Sie steht für die Gewährleistung ein. Gegenwärtig lässt sich feststellen, dass dies in ökumeni‐ scher Eintracht geschieht. Dies kann allerdings - wie gezeigt - heute kein blindes Vertrauen, sondern lediglich der Beginn des Verstehens sein. Im Sinne einer propädeutischen Vor‐ bereitung ist hier genauer von einem notwendigen Autoritätsverhältnis zu spre‐ chen, wie es zwischen Lehrer und Schüler im Rahmen der Schule existieren 226 IV. Die Autorität der neutestamentlichen Texte und die Autorität der Schrift <?page no="227"?> 14 „Die Autorität fordert Glauben und bereitet den Menschen auf die Vernunft vor, die Vernunft führt zur Einsicht und Erkenntnis.“ Vgl. Göbel, Fides, 45. 15 Vgl. Göbel, Fides, 19: „Augustinus knüpft an den antiken Wissenschaftsbegriff an, wo‐ nach jedes Wissen mit dem Glauben als ,Fürwahrhalten auf Grund von Autorität‘ be‐ ginnt, von dem aus Schüler dialektisch-dialogisch zu eigenem Verstehen geführt werden.“ 16 Vgl. Theobald, Evangelium, 186, der im Hinblick auf das Joh formuliert, was auch all‐ gemein gilt: „Aus einem unmündigen, autoritätsbezogenen Glauben wird ein mündiger Glaube, den eigene Christuserfahrung auszeichnet.“ 17 Vgl. Raatzsch, Autorität, 63-64. 18 Schleiermacher, Glaube II, § 128. sollte: „Auctoritas fidem flagitat, et rationi praeparat hominem. Ratio ad intel‐ lectum cognitionemque perducit.“ (Augustin, vera rel. 45) 14 Der Schüler muss dem Lehrer zubilligen, dass er ihn etwas lehren kann. Dafür übernimmt die Schule die Gewährleistung. Schüler und Lehrer gehen also einen Autoritätsvertrag ein. Sobald der Schüler realisiert, dass der Lehrer aufgrund seiner Kompetenz ihm in der Tat beim Aufbau der eigenen Persönlichkeit helfen kann, wird die Vertragsautorität in eine von ihm selbst zuerkannte Autorität umgewandelt. 15 Autorität im Lehrer-Schüler-Verhältnis kann also nur eine vorbereitende sein, die sich in dem Moment auflöst, wenn das eigene Einsehen sie ersetzt, wenn die eigene Vernunft, das eigene Einsehen den Glauben als lebensdienliches Element erkennt. 16 Autorität richtet sich deshalb auf ihre eigene Auflösung in der Selbst‐ bestimmung aus. 17 Überträgt man das Schüler-Lehrer-Schule-Bild auf die Schriftautorität, stellt es sich so dar, dass die Kirchen als Schule die Gewährleistung für die Schrift, den Lehrer, übernehmen. Der Schüler ist in diesem Prozess zunächst der Leser, der durch die Kirchen bereits unterrichtet wurde, dem also wenigstens die Bi‐ bellektüre empfohlen wurde, und nun zu seinem eigenen Glauben finden soll. Diese vertragliche Autorität muss sich also bewähren und dadurch wandeln. Dies entspricht auch dem Grundsatz F. D. E. Schleiermachers, der den Beginn der Schriftautorität gleichfalls nicht bei der Schrift, sondern beim Glauben der Kirche sucht: „Das Ansehen der Schrift kann nicht den Glauben an Christum begründen, vielmehr muß dieser schon vorausgesetzt werden, um der Heiligen Schrift ein besonderes Ansehen einzuräumen.“ 18 Diese Überlegung lässt sich auf alle drei untersuchten biblischen Texte über‐ tragen. Überall beziehen sich die Texte auf ein Vorwissen ihrer Adressaten. Bei Lukas ist der vorgestellte Leser schon unterrichtet worden (Lk 1,4). Bei Johannes geht es darum, im Glauben zu wachsen ( Joh 20,31). Und der Seher der Apk setzt voraus, dass er selbst mit seiner persönlichen Autorität den Gemeinden bekannt 227 2. Strukturen der Autorität der Texte nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="228"?> 19 Göbel, Fides, 45. 20 Stuhlmacher, Verstehen, 223. Vgl. zur Kritik an der Position Stuhlmachers Landmesser, Wahrheit, 356: „Die Wahrheit der biblischen Texte wird präzise an der Stelle, an der die Exegese ihre Arbeit aufnimmt, schon vorausgesetzt.“ Vgl. auch Körtner, Leser, 48. 21 Vgl. Schleiermacher, Glaube II, § 128,1, der die legitime Bezugnahme der Kirche auf die Bibel nicht dadurch begründet sieht, dass „jeder solle den Beweis führen können, daß diese Bücher eine göttliche Offenbarung enthalten.“ 22 Gegen Archer, Zeugnis, 90, der der Bibel (! ) eine „objektive Autorität“ zuspricht. ist und kann sich deshalb schlicht mit Namen vorstellen (Apk 1,1.9). Daraus folgt, dass die Texte keine magisch-unwiderstehlich Kraft haben, sodass deren Lektüre erst den Glauben wecken müsste (oder könnte), sondern dass sie davon leben, als Lehrer des christlichen Glaubens einen Vorschuss an Vertrauen ent‐ gegen gebracht zu bekommen. „Deshalb bedarf es passender ,Zeugen‘ als ,Au‐ toritäten‘, denen man sich gläubig anvertrauen kann.“ 19 Die untersuchten Texte stehen ihren Adressaten zur Verfügung und erwarten, dass diese ihnen dann eine weitere Form der Autorität zuerkennen, wenn sie ihre Wirkung entfaltet haben. Die Vertragsautorität muss sich zu einer Autorität wandeln, die selbst einleuchtet und keine Gewährleistung von Seiten der Kirchen benötigt. Deshalb ist es zumindest missverständlich, der Bibel eine „aller wissenschaftlichen Exe‐ gese vorausliegende und sie transzendierende kirchliche Autorität“ 20 zuzu‐ weisen. Solch kirchliche Autorität kann lediglich im Sinne der gemachten und gewährten Autorität verstanden werden, deren Pointe aber gerade darin liegt, dass sie schließlich überwunden werden muss. Eine Eigenschaft der Bibel, die eventuell mit Hilfe der Vernunft gefunden werden könnte, 21 ist sie nicht. 22 2.3. Autonome Autorität: Autorität als charismatische Autorität Die Form der Autorität, die den biblischen Texten nach ihrem Selbstverständnis eigentlich zukommt, tritt in dem Moment ein, wenn ihre Adressaten sie aus freien Stücken anerkennen. Dann haben die Texte funktioniert. Sie haben ein‐ geleuchtet. Sie haben ein Evidenzerlebnis evoziert. Dies ist als unverfügbares Charisma zu bezeichnen, als Geistesgabe im ursprünglichen Wortsinn. Die Kirchen präsentieren die biblischen Texte als Autoritäten, sie machen sie dazu, indem sie Gewähr für sie übernehmen und bitten um einen Autoritäts‐ vorschuss für die Texte, der von ihren Adressaten gewährt werden muss, die so eine Form der Vertragsautorität eingehen. Erst aber in dem Moment, in dem von Seiten der Adressaten erfahren wurde, dass und wie diese Texte zum Aufbau 228 IV. Die Autorität der neutestamentlichen Texte und die Autorität der Schrift <?page no="229"?> 23 Inhaltlich formuliert heißt das: Erst in dem Moment, in dem die Texte „die für die Men‐ schen heilsrelevante Wahrheit zur Sprache“ (Landmesser, Wahrheit, 438) gebracht haben und dies beim Adressaten als solche verfangen hat, erreichen sie ihre eigentliche, von der Kirche unabhängige Autorität. 24 Vgl. Schleiermacher, Glaube II, § 131,2. Dessen Ausführungen fasst Lauster, Prinzip, 56, so zusammen: „Die prinzipielle Bedeutung der Schrift besteht darin, produktiv auf das religiöse Bewußtsein der Nachgeborenen zu wirken, indem sie Erfahrungsbeschrei‐ bungen bereit stellt, die ihrerseits zu Erfahrungen mit den beschriebenen Gehalten an‐ regt.“ 25 Körtner, Leser, 47: „Ein-Sichten produziert man nicht. Man gewinnt sie nur, indem sie sich jemandem eröffnen.“ 26 Vgl. Slenczka, Historizität, 36, der von einem „Vorgang des Einleuchtens“ spricht, in dem „dem Leser nicht einfach der Text und dessen Weltsicht, sondern durch den Text seine eigene Welt und sein Selbst verständlich wird: entweder in der Repetition dessen, was er schon verstanden hat - solche Texte legen wir beiseite. Oder in der Neuformu‐ lierung unseres Verstehens, der Erschließung eines Sinnes des Selbst und der Welt, die das Gemeinsame neu sehen lehrt.“ Analog spricht Körtner, Leser, 60, von einem „Wi‐ derfahrnis“, das nicht erzwungen werden kann und setzt dies in Beziehung zum Glauben: „Der Glaube als Widerfahrnis verwandelnden Verstehens kann sich selbst nicht als Tat, sondern nur als Gabe begreifen.“ (Körtner, Leser, 111) 27 Vgl. Söding, Buch, 375, der hier zu Recht darauf aufmerksam macht, dass diese Autorität „nicht gemacht, sondern nur empfangen werden kann.“ (kursiv im Original) 28 Vgl. Raatsch, Autorität, 97. 29 Vgl. Raatsch, Autorität, 99: „Indem der Zögling den Lehrer entlässt, also eine Form der Autorität abschafft, setzt er zugleich eine neue ein.“ Im vorliegenden Zusammenhang muss allerdings genauer formuliert werden, dass nicht der Lehrer entlassen wird, son‐ dern lediglich die Schule verlassen werden kann. des eigenen Glaubenslebens dienlich sind, 23 werden die Texte zu einer Autorität, die autonom von der Kirche wird. Die Texte entfalten dann eine Kraft, die sie als Schrift erst eigentlich ausweist. 24 Sie lassen neue „Ein-Sichten“ 25 entstehen. Die Wirksamkeit der Texte im Akt ihrer Rezeption rückt damit in den Vorder‐ grund. Sie erschließen dem Leser einen neuen Sinn von sich und der Welt und Gott. 26 Diese Autonomie von den Kirchen stellt dann den Punkt dar, an dem die Texte sich selbst ihren Adressaten imponiert haben, oder das Ereignis, dass die Texte ihren Adressaten eingeleuchtet haben. 27 Das zuvor skizzierte Autoritätsver‐ hältnis ist also eine notwendige und unabdingbare Vorstufe der autonomen Au‐ torität. 28 Die biblischen Texte wirken in dem von ihnen anvisierten Sinn und gewinnen so ihre eigentliche Autorität, die dann wiederum gegen die Kirchen ins Feld geführt werden kann. Dies ist ihre kritische Funktion gegenüber den Kirchen. Im Zirkel des Verstehens setzen sich die Kirchen der Schrift gegenüber und rücken so eine ihnen übergeordnete Instanz ins Licht. 29 Die Schule als notwen‐ 229 2. Strukturen der Autorität der Texte nach ihrem Selbstzeugnis <?page no="230"?> 30 Die Betonung liegt auf der Möglichkeit, die Schule, also die Kirche, verlassen zu können, da diese nicht mehr die Autorität der Schrift gewährleisten muss. Faktisch führt aber der nun gefundene eigene Glaube wieder in die Kirche als Lesegemeinschaft der Schrift hinein. Die Schrift bleibt immer Lehrer in der nicht endenden Schule des Lebens. 31 Vgl. Landmesser, Wahrheit, 440. Vgl. auch Luz, Hermeneutik, 107, der im Hinblick auf Klarheit der Schrift bei Luther ausführt, dass die Bibel nur dann „klar“ wird, „wenn der einzelne Mensch ihre Wahrheit durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes in seinem Leben erfährt.“ (kursiv im Original) Damit beschreibt er das hier angesprochen Evi‐ denzerlebnis. 32 Vgl. Körtner, Leser, 111: „Wo sich im Akt des Lesens gläubige Annahme ereignet, ver‐ vollständigt sich der Text in dem von ihm selbst intendierten und provozierten Sinn.“ 33 Vgl. Wenz, Schriftprinzip, 310, der diesen Punkt in aller Klarheit zur Sprache bringt. 34 Göbel, Fides, 46. 35 Vgl. Raatsch, Autorität, 115, der zeigt, „dass der Gegensatz zwischen Autonomie und Autorität ein Scheingegensatz ist.“ 36 Die Autorität der Schrift ist demnach keine Autorität eines Buches, sondern sie ist prä‐ zise in der hier aufgezeigten Bestimmung mit der Autorität Christi zu verbinden. Um‐ gekehrt bedeutet dies: Wenn Christus bzw. der Geist Gottes die Bibel dem Leser oder Hörer nicht als lebensdienliches Medium eröffnen, ist sie auch nicht Schrift, sondern ein einfaches Buch wie jedes andere auch. Deshalb ist es missverständlich, von der Bibel als Buch zu sprechen, das „mehr als ein Buch“ (Söding, Buch, 3) ist. Von sich aus ist es das nicht. Deshalb ist es falsch, im Sinne einer statischen Einheit bzw. einer Gegebenheit zu formulieren: „Die Autorität der Schrift und die Autorität Christi sind eins.“ (Chi‐ cago-Erklärung zur Anwendung der Bibel 1, 52) dige Institution, die die anfängliche Autorität des Lehrers gewährleistet, kann nun als Gewährleister entbehrlich werden. 30 Die gemachte vorläufige Autorität der Schrift wird entlassen und durch die eigentliche, die autonome ersetzt. Au‐ torität ist erreicht, wenn der Wahrheitsanspruch der biblischen Texte akzep‐ tiert 31 und in ihnen die eigene, persönlich relevante Wahrheit erkannt wurde. 32 Dieses Autoritätsverhältnis zeigt, dass die Kirchen letztlich keine Interpreta‐ tionshoheit über die Schrift behaupten können (wie dies im römisch-katholi‐ schen System der Fall ist), ohne die autonome Stellung der Bibel als Schrift ein‐ zuziehen. 33 Die Schrift bildet erst dann ein Regulativ der Kirchen, wenn diese eine letzte Hoheit über die Bibel abgeben und sich damit begnügen, diese als Schrift den Gläubigen zu empfehlen. „Die Autorität (auch des Lehramts) be‐ kommt gerade dadurch Kraft, daß sie einsichtig ist, anstatt willkürlich Unter‐ ordnung zu fordern.“ 34 Die Autorität der Schrift ist demzufolge die Bedingung der Autonomie des Individuums im Glauben. 35 Sie ist letztlich als charismatische Autorität zu be‐ zeichnen. 36 230 IV. Die Autorität der neutestamentlichen Texte und die Autorität der Schrift <?page no="231"?> 3. Ökumenische Perspektiven Es ist wenig ertragreich, die vielfältigen Metaphern zur Schrift, die sich bei Lu‐ ther und vor allem im Kontext der evangelischen Konfessionsfamilie finden, auf die biblischen Texte zu beziehen und damit zu vergleichen. Kein biblischer Text bezeichnet sich selbst als Richter jeglicher theologischer Theoriebildung, schlicht deshalb, weil dies nicht in seinem Horizont liegt. Für die fundamental‐ theologische bzw. ökumenische Diskussion bedeutet dies, dass man bei dem Anspruch der Texte selbst ansetzen sollte. Erstens: Deutlich ist in dieser Hinsicht zunächst, dass alle untersuchten Texte den Anspruch erheben, suffizient zu sein. Jeder einzelne Text bietet für sich all das, was zu wissen nötig ist, um ein gläubiges Leben zu führen. Kein Text ver‐ weist darauf, dass andere Quellen der Offenbarung Gottes überhaupt existieren oder nötig sind. Für die ökumenische Diskussion birgt dies die Erkenntnis, dass keine kirchliche Lehre das biblische Zeugnis ergänzen muss oder ihm zuwider‐ laufen sollte. Weder die Tradition der Kirche noch weitere Offenbarungen jeg‐ licher Art sind aus der Sicht der untersuchten Texte nötig, um die beabsichtigte Wirkung zu erzielen. Sie sind sogar im Gegenteil deutlich ausgeschlossen. Diese Erkenntnis hat im Bezug zur römisch-katholischen und orthodoxen Überzeu‐ gung der Harmonie zwischen Schrift und Tradition die gleichen Konsequenzen wie man sie gegenüber charismatischen Privatoffenbarungen geltend machen muss: Für die Theoriebildung von kirchlicher Lehre dürfen sie nicht herange‐ zogen werden. Sie sind als Zeugnisse der Wirkungsgeschichte wahrzunehmen und zu gewichten, sie bilden Verstehensangebote möglicher Interpretationen anderer Zeiten und Umstände, eigene Quellen der Offenbarung neben der Schrift sind sie aber nicht. Zweitens: Alle drei Texte zeigen, dass sie Autorität zwar auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Intensität für sich reklamieren, dies aber tun, weil sie eine Botschaft vermitteln wollen. Sie verstehen sich als Mittel zum Zweck. Eine Dignität kommt ihnen nicht aus sich selbst heraus zu, sondern aufgrund ihres Inhalts. Dies ist ein zweites wichtiges Ergebnis dieser Untersu‐ chung. Insbesondere gegenüber biblizistischen Positionen muss dies unbedingt eingeschärft werden. Die biblischen Texte verkündigen nicht sich selbst, son‐ dern sie erzählen die Offenbarung Gottes in Christus. Sie stellen ihren Adres‐ saten die Geschichte Gottes mit den Menschen als lebensbestimmenden Hori‐ zont vor Augen. Insofern treten sie als Vermittler Christi auf und zeigen somit, 231 3. Ökumenische Perspektiven <?page no="232"?> 37 Vgl. Becker, Autorität, 124, der für die nachapostolische Zeit, in der alle hier unter‐ suchten Texte entstanden sind, festhält: Die „grundlegende Autorität ist und bleibt der Herr selbst.“ 38 Dies muss im ausdrücklichen Widerspruch zu radikalen Spielarten der evangelikalen Hermeneutik betont werden. Vgl. z. B. Archer, Zeugnis, 90, der als Fazit seiner Unter‐ suchung zur Irrtumslosigkeit der Schrift zu dem Ergebnis kommt, dass die Bibel (! ) „bezüglich der Wahrheit als unfehlbar und bezüglich der Autorität als Absolut ange‐ sehen werden muß. Wenn die Schrift spricht, spricht sie als das lebendige und wirksame Wort Gottes […], das das innerste Wesen des Menschen durchdringt und über alle menschlichen Philosophien und Vernunftanschlüsse mit einer Autorität zu Gericht sitzt, die absolut souverän ist. Sie ist nicht allein frei von jedem Irrtum, sondern ist auch erfüllt mit aller Autorität und sitzt zu Gericht über den Menschen und alle seine Ab‐ sichten und Gedanken.“ 39 Die Behauptung der Irrtumslosigkeit der Schrift wird in evangelikalen Kreisen zuweilen sogar auf die Textgeschichte der Bibel ausgedehnt, sodass z. B. von Archer, Zeugnis, 94 behauptet wird, „daß die originalen Handschriften von jedem Irrtum frei waren“ und Fehler erst in Übersetzungen entstehen konnten. Der Schrift kommt deshalb eine „ob‐ jektive Autorität“ zu, die die in der Moderne aufgerissene Alternative entscheiden kann: „Entweder halten wir die Schrift für völlig zuverlässig und glaubwürdig in allem, was sie berichtet, behauptet oder lehrt, oder wir besitzen eine Sammlung religiöser Schriften, die sowohl Wahrheit als auch Irrtum enthält.“ (Archer, Zeugnis, 88) Wenn man sich „auf die Seite Jesu Christi und der Apostel stellt“ (Archer, Zeugnis, 94), ak‐ zeptiert man „die unfehlbare, irrtumslose Autorität der Autographen“ (94). 40 Vgl. Theißen, Texte, 446, der die Autorität von kanonisch gewordenen Texten auf ihre Beziehung zu Jesus oder Paulus begründet sieht. dass Christus der zentrale Bezugspunkt ihrer selbst ist. 37 Ihm kommt die Auto‐ rität zu, an der sie teilhaben wollen. Nur unter der Maßgabe der Geisteswirkung werden sie als charismatische Autorität erkennbar. Obgleich immer Gott das erste Glied der Offenbarung darstellt (Apk 1,1; Lk 10,22), sehen die Texte diese Offenbarung in Christus konzentriert. Sie erkennen die Offenbarung Gottes also durchgehend in christologischer Präferenz. Autorität ist also immer eine refe‐ renzielle Autorität, an und für sich haben die Texte keine. 38 Diese Erkenntnis hat massive Auswirkungen insbesondere hinsichtlich der Festlegungen der Altprotestantischen Orthodoxie, die sich gegenwärtig vor allem bei einigen Spielarten der evangelikalen Theologie wiederfinden lassen. Dass der Schrift immer und unter allen Umständen gehorcht werden müsse, dass sie absolut fehlerfrei und irrtumslos sei, lässt sich folglich nicht aufrechter‐ halten. 39 Die Bibel hat also keine von Christus abgelöste, starre eindeutig zu fixierende Autorität, sie ist weder Gesetznoch dogmatisches Lehrbuch. 40 Eine moderne Form der Verbalinspiration biblischer Texte widerspricht demnach den Texten selbst. Sie ist als der Versuch zu beurteilen, den komplexen Problemen der Gegenwart durch Rückzug auf ein einfaches Hören auf die Texte auszuwei‐ chen, das aber nur durch die Preisgabe wissenschaftlicher Redlichkeit möglich 232 IV. Die Autorität der neutestamentlichen Texte und die Autorität der Schrift <?page no="233"?> 41 Vgl. Kapitel II.3.1.3. 42 Vgl. Campenhausen, Entstehung 70: „Die Schrift kann auf Jesus so wohl ein wunder‐ bares, verheißendes Licht werfen; aber das genügt noch nicht, um die Menschen zum Glauben zu führen. Dazu muss er sie selber erleuchten.“ ist. Die inneren Widersprüche der Texte werden kunstvoll kaschiert und viel Arbeit darauf verwendet, das gehorsame Hören überhaupt möglich erscheinen zu lassen. Die Texte selbst zeigen aber, dass dies nicht in ihrem Sinn ist. Denn sie verweisen gerade nicht auf sich selbst, sondern von sich weg auf ihre Wir‐ kung. Eine Autorität, die ihnen von außen beigelegt wird und den mühevollen Weg der Interpretation umgeht, weisen sie ab. Drittens: Lk 1,1-4 und Joh 20,30-31 gründen ihre Autorität auf ihrer Wir‐ kung. Diese Einsicht korrespondiert der neueren Diskussion in der evangeli‐ schen Theologie 41 und dem Verständnis von autonomer Autorität, das in der Untersuchung gewonnen werden konnte. Die Texte gewinnen dann Autorität, wenn sie funktionieren, wenn ihr Anliegen zum Ziel findet. Damit ist von der Schrift selbst letztlich der Gedanke der Selbstbeglaubigung durch den Geist (testimonium spiritus sancti internum) eingeholt und begründet. Das, was in der Dogmatik als Evidenz- oder Transzendenzerlebnis bezeichnet wird, wird in beiden Texten konkreter angegeben. Bei Lukas geht es um die Zuverlässigkeit des Glaubens, bei Johannes darum, den Glauben zu stärken. Damit wird der offene religionswissenschaftliche Terminus biblisch präzisiert. Es geht nicht um irgendein Evidenzerlebnis, sondern um ein Gotteserlebnis, das Glauben stärkt und vertieft. In dem Moment, in dem die Lektüre des Evangeliums das ausge‐ wiesene Ziel erreicht, erweist sich die charismatische Autorität des Textes. 42 Diese Erkenntnis führt zur modernen evangelischen Position, wonach die Wirksamkeit der Texte, den eigenen Glauben zu evozieren und ihn zu vertiefen, den eigentlichen Grund ihrer Autorität bildet. Innerhalb des Neuen Testaments selbst zeigt sich aber bereits, dass eine solche funktionale Autorität als zu schutzlos empfunden wird, um derart offen auf Selbsterweis bezogen zu bleiben. Der zweite Schluss des Joh sichert die Autorität des Evangeliums in perso‐ neller Hinsicht. Ähnlich personal verknüpft die Apk ihre Autorität mit der Hochschätzung ihres Autors, der als der einzige Zeuge der göttlichen Offenba‐ rung auftritt. Von daher ist ersichtlich, dass Autorität neutestamentlich auch immer im Sinne einer personellen Gewährleistung verstanden wird. Diese wird durch die Anrufung von Zeugen gegeben (Lk; Joh) oder direkt beim Autor selbst verortet (Apk). Diese Einsicht führt nun zur römisch-katholischen Position, die neben der Schrift weitere Bezeugungsinstanzen des Glaubens sucht. Hier liegt das Wahr‐ heitsmoment einer personellen Instanz begründet, die ihre Autorität zwar eben‐ 233 3. Ökumenische Perspektiven <?page no="234"?> 43 Vgl. Zimmermann, Augenzeugenschaft, 231; 243. 44 Vgl. Becker, Autorität, 124, der im Hinblick auf die Apostel die Überzeugung der frühen Christen so beschreibt: Es bedarf „der die Generationen überbrückenden Vermittlung und Weitergabe durch die Apostel, deren Autorität und Wahrheitstreue ganz selbst‐ verständlich unbezweifelt bleibt, denn der Herr hat sie ja eingesetzt.“ Diese Einsetzung durch den Herrn wird aber mit jedem weiteren Glied der Überlieferungskette zuneh‐ mend unsicher. Gerade dieser Umstand dürfte ja zur Verschriftlichung der Überliefe‐ rung geführt haben, sodass hier das Bewusstsein der Unzuverlässigkeit mündlicher Überlieferung aufscheint. Die Kanonentstehung spricht also klar gegen die Meinung, dass eine apostolische Sukzession genügsam sei, um die Überlieferung zu garantieren. „Es wird ja kein Zufall sein, dass [die] ersten Literarisierungsphänomene der Jesustra‐ dition am Übergang von der ersten zur zweiten urchristlichen Generation das Licht der Welt erblickten.“ (Becker, Autorität, 136) Die Evangelien und ihre Vorstufen zeigen damit, „dass zu dieser Zeit die Aufgabe erkannt wurde, traditionssichernde Maßnahmen zu tätigen.“ (Becker, Autorität, 136) Gleichfalls wird so für das frühe Christentum „ein bisher unbekanntes Spannungsfeld“ (Becker, Autorität, 158) zwischen mündlicher und schriftlicher Überlieferung eröffnet. Strukturell scheint dieses Feld gegenwärtig in der Spannung zwischen apostolischem Zeugnis und apostolischer Sukzession auf. Wichtig ist dabei allerdings, dass das Zeugnis durch seine Kanonisierung feststeht, während die Sukzession eine historisch nicht verifizierbare Glaubensaussage darstellt. falls von Christus bezieht, aber auch dem Text gegenübertreten kann. Vor allem im Modell der apostolischen Sukzession wird dieser Gedanke umgesetzt. So einsichtig und verständlich der Wunsch nach einer weiteren Versicherung und Gewährleistung auch ist, so bleibt er doch verschiedenen Schwierigkeiten unterworfen. Erstens ist zweifelhaft, inwieweit die angerufenen Zeugen als Au‐ toritäten wirklich die Gewährleistung für die Botschaft tragen können. Hier bricht das Problem der Augenzeugen auf. Da man sie wohl kaum als Zeugen im heutigen forensischen Sinn verstehen darf, sondern eher als Teil der literari‐ schen Darstellung, 43 können sie auch keine gegenwärtig anerkannte Gewähr‐ leistung übernehmen. Doch selbst wenn man ihnen dies zubilligen würde, dann wäre zweitens das Problem der Überlieferung virulent. Setzt man auf die Zeugen, lassen sich diese vielleicht für das Christusereignis durch den Hinweis auf die gläubig gewordenen Zeitgenossen Jesu in frühchristlicher Zeit befrie‐ digen, doch kann deren Zeugnis - sofern es rein mündlich überliefert sein soll - nicht weit reichen. Denn die historische Zuverlässigkeit einer Zeugenkette schwindet mit jedem weiteren Glied. Die Produktion der Texte zeigt doch gerade das Bedürfnis, deren Zeugnis festzuhalten. Es kann deshalb heute wohl nicht anders als eben in den biblischen Texten gefunden werden. 44 Von daher kann die apostolische Sukzession, also die Bindung von Autorität an das bischöfliche Amt, nicht von den neutestamentlichen Texten her be‐ gründet werden. Sie kann gegenwärtig lediglich als Glaubenssatz aufrechter‐ halten werden. Dieser soll der Idee nach versichern, dass die Botschaft, die die 234 IV. Die Autorität der neutestamentlichen Texte und die Autorität der Schrift <?page no="235"?> 45 Vgl. Wenzel, Geschichte, 152; Hoping, Kommentar, 764. 46 Vgl. Bedford-Strohm, Bedeutung, 24, der das Lehramt gleichfalls in „die Verstehens- und Interpretationsgemeinschaft der Kirche“ eingebettet sieht. 47 Vgl. Theobald, Amt, 126, der diese Erkenntnis im Hinblick auf das Corpus Paulinum formuliert und die Erkenntnisse der vorliegenden Untersuchung damit von anderen neutestamentlichen Texten her bestätigt. 48 Dieser Gedanke knüpft an die Bestimmung der biblischen Texte als erstes „Glied in der seitdem fortlaufenden Reihe aller Darstellungen des christlichen Glaubens“ (Schleier‐ macher, Glaube II, § 129) an. 49 Vgl. Lauster, Protest, 114, der diesen Gedanken konkret auf Pfarrer anwendet: „Was das Christentum den Menschen zu sagen hat, sagt es durch Personen. Pfarrerinnen und Pfarrer fungieren als personale Verkörperung der Kirche, sie sind ihre sichtbaren und darum exponierten Ansprechpartner.“ Kirche heute verkündet, mit derjenigen der ersten Christen, konzentriert in den Aposteln, identisch ist. Er ist demnach eine ähnliche Zusatzannahme wie sie bereits in Joh 21 zu beobachten ist. Eine Autorisierungsfunktion kann der Ge‐ danke der apostolischen Sukzession aber nicht übernehmen. Er kann lediglich im Sinne der Gewährleistung positiv gewürdigt werden. Diese Gewährleistung nun aber direkt auf eine Person zu konzentrieren, scheint aber wiederum frag‐ lich. Das bischöfliche Lehramt ist demnach als Autorität selbst nur vorläufig und auf Bewährung angewiesen. Es ist gegen die Intention von Dei Verbum 10 in dogmatischer Hinsicht eigentlich verzichtbar 45 und seinerseits - wie dies schon bei VZ III vorgeschlagen wird - einzubinden in die Gemeinschaft der Kirche. 46 Lediglich in propädeutischer und moderierender Funktion gewinnt es Bedeu‐ tung, wenn es die Bibel als Schrift zur Lektüre empfiehlt. Von daher ist deutlich, dass das kirchliche Amt in erster Linie ein „Dienst, keine Herrschaftsaus‐ übung“ 47 ist. Es ist demnach zu überlegen, den personellen Pfeiler der Autorität der bibli‐ schen Texte neu zu definieren. Analog zu Joh 21, wo eine konkrete Person im Blick zu sein scheint, kann dies heute geschehen, wenn der Begriff des Zeugen nicht auf biblische, historisch oft fragwürdige Figuren bezogen wird, sondern überall da zum Tragen kommt, wo persönliche Glaubenserfahrungen artikuliert werden. 48 So wie der Lieblingsjünger den ersten Lesern des Joh wahrscheinlich eine bekannte Person war, der man offensichtlich Zutrauen schenkte, so müssten auch gegenwärtig vertrauenswürde Personen gefunden werden, die für die Botschaft des Evangeliums anfänglich bürgen. 49 Es geht dabei nicht um au‐ toritative Privatoffenbarungen, sondern Glaubenszeugnisse, die als Anknüp‐ fungspunkt im Sinne gemachter Autorität dienen können. Das Glaubenszeugnis von Individuen und folglich der Kirche als Glaubensgemeinschaft kann dem‐ nach den Pfeiler der persönlichen Autorität bilden. Die kirchliche Tradition und 235 3. Ökumenische Perspektiven <?page no="236"?> 50 Vgl. Felmy, Einführung, 3; Ivliev, Macht, 74. 51 Stuhlmacher, Verstehen, 251. 52 Vgl. Rahner, Gotteswort, 34, die den sensus fidelium als „eigene Instanz der vergegen‐ wärtigenden Überlieferung“ versteht und ihn so in den Prozess der Interpretation ein‐ bindet. 53 Vgl. Böttigheimer, Bibel, 295. 54 Vgl. Härle, Kompetenz, 166. 55 Rahner, Gotteswort, 34. private Transzendenzerlebnisse kommen also genau an diesem Punkt zu ihrem Recht. Diese Zeugnisse - ob private oder kirchliche Erfahrung, ob Dogma, Tradition, Liturgie oder Bekenntnis - sind also immer nur Angebote, können aber zu keiner Zeit Kriterien der Auslegung werden, wie dies z. B. in der orthodoxen Theologie zuweilen scheint. 50 Dies gilt auch für die lutherische Hochschätzung der Be‐ kenntnisschriften, die sogar „im Sinne von hermeneutischen und dogmatischen Entscheidungshilfen“ 51 der Exegese verstanden werden können. Mehr als ein Tor zum Text können die Bekenntnisse aber nicht sein. Sie sind ihrer Autorität nach deshalb der Schrift unterlegen. Sie gehören in den Bereich der vorläufigen Gewährleistung von Autorität. Da Christus als Person, die als Autorität zentral ist, nicht mehr innerweltlich anders zu fassen ist als in verschiedenen Formen der Vermittlung, ist verständ‐ lich, dass so viele Instanzen wie möglich gesucht werden, die ihn erlebbar werden lassen. Wenn man also dem Text allein nicht zutraut, wirksam zu werden, dann ist dies absolut legitim. Man muss dann aber auch zeigen, welche Form der Autorität dazu beitragen kann, seine Wirkung zu befördern. Diese kann nicht - wie gezeigt - in Form eines in die apostolische Sukzession einge‐ bundenen Amtes geschehen, da diese Autorität historisch zweifelhaft übermit‐ telt und deshalb in der Gegenwart obsolet geworden ist. Allerdings scheint die kirchliche Vermittlung an sich im Sinne der beschriebenen personellen Ge‐ währleistung hier durchaus am Platz. Dieses Angebot muss aber eingebunden sein in die kirchliche Gemeinschaft. Wenn die römisch-katholische Kirche dieser Gemeinschaft den sensus fide‐ lium 52 zuschreibt und diesen als zentral für die theologische Erkenntnis aner‐ kennt (wie in IBK 86 geschehen), 53 kann dies im Sinne der eher evangelisch gedachten Mitwirkung der Glaubenden am Interpretationsprozess der Schrift verstanden werden. 54 Kirche wäre dann als Interpretationsgemeinschaft der Schrift zu verstehen, als „Sprach- und Überlieferungsgemeinschaft“, 55 in der das Amt keine besondere Hoheit einnimmt, sondern den Interpretationsprozess le‐ 236 IV. Die Autorität der neutestamentlichen Texte und die Autorität der Schrift <?page no="237"?> 56 Dies entspricht der Bestimmung von Kirche, die Luz, Hermeneutik, 556, vorschlägt: „Für mich ist Kirche eine grenzenlose Dialoggemeinschaft von Konfessionen und von Menschen, die auf die Bibel hören und sie auslegen, die unterwegs sind auf einem Weg zu wechselseitigem Verständnis, zu Konsens und zur Liebe.“ Jegliche konfessionelle Engführung von Kirche ist damit gesprengt. Dass die Bestimmung von Kirche hier nur ansetzen kann und weiter ausgebaut werden muss, ist deutlich. Vgl. Klaiber, Kirchen‐ leitung, 95, der diese Bestimmung aufnimmt und mit dem wesleyanischen „Quadrila‐ teral“ in Verbindung bringt. Er bietet zur praktischen Ausgestaltung m. E. in sehr sinn‐ voller Weise „das hermeneutische ,Viereck‘ aus Schrift, Tradition, Vernunft und Erfahrung“ (Klaiber, Kirchenleitung, 95; kursiv im Original) an, um die Schrift für die Kirchenleitung wirksam werden zu lassen. 57 Vgl. Pesch, Dogmatik, 261. 58 So ist es kein Wunder, dass gerade „die römisch-katholische Lehre von der Möglichkeit unfehlbarer Lehrentscheide“ den „in nahezu allen Dialogen erkennbare[n] Hauptge‐ genstand der verbliebenen konfessionellen Kontroverse“ (Nüssel / Sattler, Einführung, 50) darstellt. Anregend ist an diesem Punkt der Vorschlag von Kügler, Gegenwart, 30, der Exegeten als „Virtuosen des Vorläufigen“ bezeichnet. Dies scheint für Theologen generell angemessen. 59 Koch, Exegese, 33. 60 Koch, Exegese, 37. 61 Pesch, Dogmatik, 319. 62 Kügler, Gegenwart, 27. diglich unterstützt und allenfalls moderiert. 56 Dies entspricht der Forderung von Otto H. Pesch, der die Selbstimmunisierung der römisch-katholischen Kirche gegen die Schrift kritisiert. 57 Kirche soll und kann auf die Bibel hinweisen, soll christliches Leben unterstützen, kann aber keine Hoheit über die Schrift er‐ langen, sondern muss den Zirkel des Verstehens soweit es geht initiieren, darf ihn aber nicht an einem beliebigen Punkt abbrechen. Infallible Interpretationen darf es deshalb nicht geben. 58 Gleichfalls ist der Schluss abzulehnen, dass die Kirche im Stadium der autonomen Autorität der Schrift wirklich „als Schöpferin, Tradentin und Exegetin der Heiligen Schrift einbezogen sein muss.“ 59 In dem Moment, in dem sich die Autorität gebildet hat, führt sie folgerichtig in den Raum der Kirche als Glaubens- und Lesegemeinschaft, die dort aber wiederum nicht verlangen kann, in den Interpretationsprozess strukturell und autoritativ eingebunden zu werden. Die Bibel kann also letztlich sehr wohl Schrift „gegen“ die Kirche sein und es ist auch theologisch nicht nur „die Glaubensgemeinschaft der Kirche, die als das lebendige Subjekt der Heiligen Schrift sie“ 60 auslegen darf. Mehr als eine „Einladung zum Glauben“ 61 und zur „herrschaftsfreien Kom‐ munikation“ 62 kann und soll die Kirche nicht aussprechen. Diese Einladung um‐ fasst dann in gehörigem Maße auch eine Einladung zur Auseinandersetzung mit der Bibel. Gerade wenn die Bibel in historisch-kritischer Perspektive gelesen 237 3. Ökumenische Perspektiven <?page no="238"?> 63 Vgl. Pesch, Dogmatik, 245. 64 Lauster, Prinzip, 449. 65 Hier gilt es also, der „allgemeinen christlichen Erfahrung als dem Zeugnis des Heiligen Geistes“ (Schleiermacher, Glaube II, § 131,1) zu vertrauen. 66 Vgl. Horn, Paulus, 402. und interpretiert wird, kommt ihr eigener Anspruch zur Geltung und gerade auf diesem Weg spricht sie dann selbst diese „Einladung zum Glauben“ aus. Die historische Interpretation der Bibel ist in dieser Perspektive eine dezidiert theologische Disziplin, 63 die auch darauf abzielt, den Wirkungswunsch der Texte zur Sprache zu bringen und ihn damit also selbst im Sinne einer Sprechhandlung auszusprechen. Somit kommt nicht nur der Schrift selbst, sondern auch ihrer historischen Methode eine Vermittlungsleistung zu, die „vor dem eigentlichen religiösen Erlebnis, das letztlich unvermittelt als Akt göttlicher Selbstdurchset‐ zung im Bewußtsein des Menschen zu begreifen ist“, 64 endet. Wenn im Prozess des Interpretierens und im persönlichen Lebensvollzug also ersichtlich wird, dass die Bibel letztlich Gott selbst erschließt und umgekehrt Gott selbst die Bibel als Schrift erkennbar werden lässt, 65 hat sich die Autorität der Schrift etabliert. 4. Ausblick Die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen in exegetischer Perspektive, wie lohnenswert die Ausweitung der Textbasis und ihre Bearbeitung unter der Fra‐ gestellung der Selbstausweisung von Autorität ist. Strukturen eines oft noch erst anfänglichen Bewusstseins von eigener Autorität scheinen auf. Diese Struk‐ turen legen Spuren, die weiterverfolgt werden sollten. Zunächst ist hier an die neutestamentliche Briefliteratur zu denken. Welche Form der Autorität beanspruchen die unterschiedlichen Briefe, wie wird diese konstruiert und wozu genutzt. Stellen sie bereits in sich eine Autorität dar, die auf dem Weg ist, kanonisch zu werden. 66 Ein weiteres Feld stellen die alttesta‐ mentlichen Texte dar. Auch hier sollte gefragt werden, welche Facetten und Aspekte von Autorität sie zur Sprache bringen. Eine weitere Dimension von Autorität lässt sich zweifelsohne bei Texten ausmachen, die im Kanon über andere Texte sprechen. Dies betrifft direkt vor allem die hier aus den genannten Gründen ausgeschiedenen klassischen Stellen der Schriftlehre (2.Tim 3,16; 2.Petr 1,20). Damit kommen auch die Untersu‐ chungen zu ihrem Recht, die indirekt den Umgang der neutestamentlichen Au‐ toren mit ihren Quellen diskutieren. 238 IV. Die Autorität der neutestamentlichen Texte und die Autorität der Schrift <?page no="239"?> 67 Vgl. Schleiermacher, Glaube II, § 131,2. In einer historischen Perspektive wäre es interessant zu verfolgen, wie die impliziten Autoritätsstrukturen sich - ausgehend von den neutestamentlichen Texten - entwickeln. Hier wird die Frage der Kanonentstehung relevant. Lassen sich Beobachtungen machen, die zeigen, wie sich der implizite Anspruch ein‐ zelner Texte zu einem Gesamtanspruch einer Schriftsammlung auswächst? Und ist dieser Anspruch gemessen an der zunächst funktionalen Autorität der Texte hinreichend bewahrt? Oder steckt im kanonischen Anspruch der Texte eine weiterreichende Autorität? Vielleicht lässt sich der Prozess der Kanonisierung analog zur Entstehung des Johannesevangeliums verstehen. So wie dort die Au‐ toren letzter Hand die Autorität ihres Traditionsgaranten absichern wollten, so könnte auch die Kirche die Autorität der Texte, die sich ihr als autoritativ er‐ wiesen haben, absichern wollen. Die evidente Autorität der Texte wird in diesem Vorgang geschützt durch die Autorität der kirchlichen Gewährleistung. In systematischer Perspektive ist es wünschenswert, wenn der Begriff „Au‐ torität“ im Sinne der hier gemachten Beobachtungen differenzierter verwendet würde als dies bislang der Fall gewesen ist. Insbesondere sollte der Bibel keine Autorität an sich zugewiesen, sondern Autorität stets im Zusammenhang von Kirche und Individuum gesehen werden. Die Beachtung dieses Kontextes ver‐ bietet dann eine abstrakte Rede von Autorität. „Autorität“ beschreibt also im Grunde einen komplexen und fragilen Prozess auf dem Weg der persönlichen Glaubensautonomie. Deshalb ist es berechtigt, mit Schleiermacher von einer „individualisierten“ Schriftautorität zu sprechen, 67 die als Grundlage einer all‐ gemeinen Autorität der Schrift anzugeben ist. Autorität ist gegenwärtig demnach eine Zuschreibung, die sich selbst be‐ wahrheiten muss. Sie ist also keine Eigenschaft der Schrift, sondern ein voraus‐ zusetzendes Phänomen, das sich ins Recht setzen muss. Wenn Autorität als ein prozesshaftes Geschehen begriffen wird, lässt sich in der Tat noch von einer „Autorität der Schrift“ sprechen. Dieses Verständnis von Autorität muss dann aber in eine moderne Lehre von der Schrift eingebracht werden. In interreligiöser Perspektive können die Ergebnisse dieser Untersuchung in einen Dialog mit dem Verständnis des Koran eingebracht werden. Sofern dieser als nahezu ausschließliche Autorität im Sinne des Wortes Allahs verstanden wird und deshalb keinerlei menschlichen und damit prinzipiell fehlbaren Inter‐ pretation unterworfen werden darf, folglich also ausnahmslos wörtlich zu be‐ 239 4. Ausblick <?page no="240"?> 68 Dieses Verständnis ist besonders virulent, wenn es als Triebfeder des radikalen Sala‐ fismus erkannt wird. Es stellt in dieser Hinsicht einen wichtigen Baustein des modernen Terrorismus dar. Vgl. dazu Heinke / Hunter, Radicalization: https: / / leb.fbi.gov/ 2011/ september/ perspective-radicalization-of-islamist-terrorists-in-the-western-world (ab‐ gerufen am 15. 12. 2016). 69 Zitiert nach Kermani, Gott, 198. folgen ist, 68 scheint trotz aller Unterschiede ein ähnliches Problem vorzuliegen wie in der Diskussion mit evangelikalen Gruppierungen. Hier dürfte die Er‐ kenntnis von Imam Ali, des vierten Kalifen des Islams, am Platz sein: „Der Koran ist eine aufgezeichnete Schrift zwischen zwei Buchdeckeln, die nicht spricht. Es sind die Menschen, die durch ihn sprechen.“ 69 Gleiches gilt auch für die Bibel. 240 IV. Die Autorität der neutestamentlichen Texte und die Autorität der Schrift <?page no="241"?> V. Literaturverzeichnis In der vorliegenden Untersuchung werden Monographien, Aufsätze und Artikel in den Anmerkungen unter Nennung des Autors bzw. der Autorin und eines signifikanten Schlagworts des Titels aufgeführt. Dieses Titelwort wird im Lite‐ raturverzeichnis durch Kursiv-Setzung kenntlich gemacht, sofern es nicht im Text selbst erläutert wird. Die verwendeten Abkürzungen der biblischen Bücher sowie der Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten und des Neuen Testaments richten sich nach den „Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaften nach RGG 4 “, Tü‐ bingen 2007. Die Abkürzungen im Literaturverzeichnis richten sich nach Sieg‐ fried M. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin-New York 3 2014. Die Abkürzungen weiterer antiker Schriftsteller und Quellen orientieren sich an dem Lexikon der Alten Welt, hg. v. Carl Andresen u. a., Zürich-München 1965 (3439-3464). 1. Quellen 1.1. Antike Texte 1.1.1. Altes Testament Biblia Hebraica Stuttgartensia, Editio funditus renovata, ediderunt K. Elliger, W. Rudolph, Stuttgart 5 1997. Septuaginta. Id est Vetus Testamentum graece iuxta LXX interpretes, edidit Alfred Rahlfs, Stuttgart 1935. Editio altera quam recognovit et emendavit Robert Hanhart, Duo vo‐ lumina in uno, Stuttgart 2006. Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, hg. v. W. Kraus, M. Karrer, Stuttgart 2 2010. Septuaginta Deutsch. Erläuterungen und Kommentare zum griechischen Alten Testa‐ ment, hg. v. M. Karrer, W. Kraus, I / II, Stuttgart 2011. Biblia Sacra. Iuxta Vulgatam Versionem, recensuit et brevi apparatu critico instruxit R. Weber, Editionem quintam emendatam retractatam R. Gryson, Stuttgart 5 2007. <?page no="242"?> 1.1.2. Neues Testament Novum Testamentum Graece. Begründet von Eberhard und Erwin Nestle, hg. v. B. und K. Aland, J. Karavidopoulos, C. M. Martini, B. M. Metzger, 28. revidierte Auflage, hg. v. Institut für Neutestamentliche Textforschung Münster / Westfalen, unter der Leitung von H. Strutwolf, Münster 2012. Synopsis Quattuor Evangeliorum. Locis parallelis evangeliorum apocryphorum et patrum adhibitis, hg. v. K. Aland, Stuttgart 15 2001. 1.1.3. Literatur des Antiken Judentums 1.1.3.1. Allgemein Rießler, Paul, Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel, Augsburg 1928 (Nachdruck Freiburg i.Br./ Heidelberg 4 1979). Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, 2 Bde., hg. v. E. Kautzsch, Tübingen u. a. 1900, Nachdr. Hildesheim 1975. The Old Testament Pseudepigrapha, 2 Vol., hg. v. J. H. 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