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Abwägen und Anwenden

Zum ‚guten‘ Umgang mit ethischen Normen und Werten

1029
2018
978-3-7720-5666-6
978-3-7720-8666-3
A. Francke Verlag 
Uta Müller
Philipp Richter
Thomas Potthast

Die sogenannte Angewandte Ethik erfährt seit Jahrzehnten einen beachtlichen Aufschwung. Ihr Anspruch ist, in konkreten moralischen Problemstellungen einen Beitrag zur Orientierung zu leisten. Dass Ethik einen Bestand an Normen und Prinzipien auf reale Probleme in der Welt "anwendet", ist freilich zu einfach gedacht. Denn weder die Problemformulierung noch die einschlägigen moralischen Normen können ohne Weiteres als begründet oder stets akzeptiert vorausgesetzt werden. In diesem Band werden Grundfragen der "Anwendung" in der Ethik kritisch reflektiert. In der Rechtsprechung ist die Anwendung von Normen zwar gut etablierte Praxis, neue Entwicklungen verlangen aber eine erneuerte methodologische Auseinandersetzung. In der Medizin und dem Bereich der Bildung lassen sich Fragen der ethischen Bewertung jenseits der "Anwendung" finden. Hier kommt abwägendes Denken über Normen und Werte ins Spiel, das unterschiedliche Wege ethischer Reflexion aufzeigt. Dieser Band trägt dazu bei, ethisches Erwägen konzeptionell und praktisch weiterzudenken und Bedingungen ,guter' Abwägung zu erkunden.

<?page no="0"?> Tübinger Studien zur Ethik · Tübingen Studies in Ethics 9 Uta Müller / Philipp Richter Thomas Potthast (Hrsg.) Abwägen und Anwenden Zum ‚guten‘ Umgang mit ethischen Normen und Werten <?page no="1"?> Abwägen und Anwenden <?page no="2"?> Tübinger Studien zur Ethik Tübingen Studies in Ethics 9 Herausgegeben vom Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) Schriftleitung: Prof. Dr. Regina Ammicht Quinn Dr. Cordula Brand Dr. Birgit Kröber Prof. Dr. Thomas Potthast Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing <?page no="3"?> Uta Müller, Philipp Richter, Thomas Potthast (Hrsg.) Abwägen und Anwenden Zum ‚guten‘ Umgang mit ethischen Normen und Werten <?page no="4"?> © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8666-3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 7 I. 19 27 55 85 II. 107 133 155 Inhalt Uta Müller / Philipp Richter / Thomas Potthast Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzepte und Methodologien Andreas Luckner Abwägen als Moment klugen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Richter Die Unhintergehbarkeit der Reflexion in der anwendungsbezogenen Ethik - eine Positionsbestimmung in klugheitsethisch-topischer Perspektive . . . Eugen Pissarskoi Das Problem der epistemisch-evaluativen Abwägung bei Entscheidungen unter Unsicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uta Müller / Lieske Voget-Kleschin Zur Rolle von Vorstellungen des Guten in der Angewandten Ethik - der gesellschaftliche Diskurs um biologische Altersforschung als Beispiel . . . . Ethik, Recht, Medizin Jens Peter Brune / Micha H. Werner „Wenig, weniger, zu wenig“: Minimalstandards als ‚Abkürzung‘ im Abwägungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Gebauer / Felix Berner Anwendung und Abwägung bei der Bestimmung des maßgeblichen Rechts Michael von Grundherr / Orsolya Friedrich Wie Explikation ethische Abwägungsprozesse beeinflusst: Moralpsychologische Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> III. 173 189 211 Bildung und Ausbildung Bernhard Schmidt-Hertha Zur Abwägung befähigen: Kompetenzorientierte Vermittlung ethischer Werte und Normen in der Weiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christiane Burmeister / Uta Müller Die Rolle ethischer Abwägung in der Sozialen Arbeit: Überlegungen zur beruflichen Weiterbildung in sozialen Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . Orsolya Friedrich / Michael von Grundherr Moralische Kompetenz und Medizinethikausbildung im Medizinstudium . 6 Inhalt <?page no="7"?> Einleitung Uta Müller / Philipp Richter / Thomas Potthast Seit den 1960er Jahren hat die sog. „Angewandte Ethik“ einen beachtlichen Auf‐ schwung erfahren und sich in Form verschiedener Bereichsethiken wie Um‐ welt-, Bio-, Medizin- und Wirtschaftsethik etc. institutionalisiert (Steigleder/ Mieth 1991). Das Projekt einer „Angewandten Ethik“ oder „Ethik in den Wis‐ senschaften“ ist dabei mit der gesellschaftlichen Erwartung konfrontiert, dass sie bei konkreten und offenen Problemstellungen, z.B. bei Moralfragen in Wis‐ senschaft und Technik, einen methodisch gesicherten Beitrag zur gesellschaft‐ lichen Orientierung leisten kann (Düwell 2000). Dass diese methodische Basis allerdings keineswegs einfach ist und sich für die anwendungsbezogene Ethik insbesondere die Frage stellt, wie sich allgemeine Normen und Werte überhaupt auf konkrete Problemstellungen beziehen lassen, zeigt sich allein schon an der (unabgeschlossenen) Suche nach ihrer angemessenen Bezeichnung (Düwell 2011). Der auch durch Handbücher und Lexika-Einträge etablierte Begriff einer Angewandten Ethik (Nida-Rümelin 2005) scheint, so die Kritik, eine allzu ein‐ fache Konzeption von „Anwenden“ einer Theorie nahezulegen, bei der die Ra‐ tionalität der Übergänge zwischen den Aussagen von verschiedenen Allge‐ meinheitsgraden letztlich unklar bleibt und zugleich das jeweils Besondere des konkreten Einzelfalls zu verschwinden droht. Eine zu einfache, subsumtive Konzeption von Anwendung verstellt jedoch nicht nur die konzeptionellen Pro‐ bleme, mit denen das Projekt einer Konkretisierung philosophischer Ethik in spezifischen Fallfragen zu konfrontieren wäre. Vielmehr besteht auch die Ge‐ fahr, dass theoretische Überlegungen der Ethik sich „unter Anwendungsdruck“ an der sozialen Erwünschtheit ihrer Ergebnisse orientieren könnten, und so keine philosophisch-ethische Klärung leisten, sondern lediglich spezifische Vor‐ stellungen der herrschenden Moral „rationalisieren“ und reproduzieren würden. Eine reflexive Klärung der methodischen Leistungen und Grenzen einer „Ethik in Anwendung“ scheint daher erforderlich, nicht zuletzt um auch die zweifellos <?page no="8"?> sachlich ergiebigen Forschungsprojekte, die unter dem Titel „Angewandte Ethik“ durchgeführt werden und wurden, hinsichtlich ihrer methodischen Basis weiterzuentwickeln. Dass nun die langjährigen Diskussionen um eine „Anwendung“ ethischer Theorie bislang noch nicht im Sinne einer konzeptionellen Klärung entschei‐ dend vorangekommen sind, kann auf verschiedene Gründe zurückgeführt werden: Erstens werden häufig ganz verschiedene Fragestellungen und inter‐ disziplinäre Problemfelder unter dem Begriff der „Anwendung“ zusammenge‐ fasst. So kann zum Beispiel bereits die Frage „Wie kommt die Erkenntnis allge‐ meingültiger, theoretisch begründeter Normen im Einzelfall zur Anwendung? “ empirisch-psychologisch, pädagogisch-didaktisch, sozialwissenschaftlich oder normativ philosophisch, rechtswissenschaftlich oder theologisch untersucht und durch entsprechend disziplinäre Theoriebildung unterschiedlich beant‐ wortet werden. Zweitens hat die starke Ausdifferenzierung der sog. Ange‐ wandten Ethik dazu geführt, dass in den verschiedenen Bereichsethiken eine Vielzahl von spezifischen Untersuchungsergebnissen und Urteilsbildungsmo‐ dellen entwickelt wurde, die den Anforderungen der jeweiligen Praxisfelder wohl genügt, aber nicht mehr übergreifend methodologisch diskutiert wird. Hier fehlt bislang eine Zusammenführung der einzelnen ethischen Diskurse unter eine gemeinsame, philosophisch reflexive Forschungsperspektive zur Klä‐ rung ihrer methodischen Leistungsfähigkeit im Allgemeinen. Drittens wird dem Anwendungsaspekt im Rahmen verschiedener ethischer Theorieansprüche eine unterschiedliche Relevanz und Verortung gegeben: Während zum Beispiel das Subsumtionsproblem hauptsächlich ein Problem für Ethiken des Kantischen Typs darstellt (vgl. Wieland 1989; Werner 2004: 81f.), tritt dieses in klugheits‐ ethischen Konzeptionen nicht auf (vgl. Luckner 2005). Überlegungen im Modus einer Klugheitsethik sind dagegen mit dem Problem der Vagheit und Unsicher‐ heit hinsichtlich ableitbarer Direktiven im Sinne konkreter Gebote bzw. Verbote belastet - Argumente gegen einen absoluten, epistemischen und normativen Relativismus sind daher dringend erforderlich. Bereits diese kurze Andeutung mag exemplarisch ersichtlich machen, dass das Erfordernis einer methodologi‐ schen Klärung von „Angewandter Ethik“ auch und gerade einen Rückgang zu den begrifflichen Grundlagen der philosophischen Ethik sowie deren vertiefte Reflexion erforderlich macht. Die Unterscheidung einer (nur) allgemeinen Ethik als reiner Theorielieferantin einerseits und einer problemorientierten Ange‐ wandten Ethik andererseits, wie sie von manchen Einführungswerken zum Thema nahegelegt wird (Fenner 2010; Vieth 2006), erscheint daher fraglich und wenig zielführend (vgl. auch Salloch 2016: 36f.). 8 Uta Müller / Philipp Richter / Thomas Potthast <?page no="9"?> In Bezug auf Anwendungsfragen allgemeiner Theorieansprüche und Normen auf das „wirkliche Leben“ stellt insbesondere auch die Kooperation der Philo‐ sophie mit anderen normativen und auch empirisch-erklärenden Disziplinen ein Desiderat dar. Beispielsweise steht die juristische Methodenlehre vor dem ähnlichen Problem einer Sicherung der „kleinteiligen“ Rationalität der Subsum‐ tion von Einzelfällen unter allgemeine rechtliche Normen und Gesetze. Päda‐ gogik und Psychologie arbeiten ähnlich wie die philosophische Ethik, freilich methodisch auf andere Weise, an Konzepten, wie allgemeine Erkenntnisse, Normen und Werthaltungen im Handeln (am besten) zur Geltung gebracht werden können. In diesem interdisziplinären Forschungsfeld ist jedoch klar zu unterscheiden, ob angesichts von „Anwendungsfragen“ der Fokus auf der be‐ grifflichen Klärung von anerkannten und anerkennungswürdigen Regeln und auf den expliziten Begründungen liegt, die Überlegungen in bestimmten Pra‐ xisbereichen als gut bzw. angemessen erscheinen lassen - im Sinne eines Qua‐ litätsurteils auf Grundlage einer rationalen Reflexion. Oder ob es in empi‐ risch-erklärender Hinsicht darum geht, die gedanklichen Vorgänge des ethischen Überlegens empirisch-experimentell überprüfbar zu machen und das praktische Entscheidungsverhalten in seinen individual- oder sozialpsycholo‐ gisch erklärbaren Aspekten weiter zu erforschen. Beide Forschungsperspek‐ tiven scheinen zur Klärung der Methode und Leistungsfähigkeit einer „Ange‐ wandten Ethik“ erforderlich, jedoch ist die begrifflich-reflexive Klärung primär und muss logisch vor einer empirischen Erforschung anwendungsbezogener Überlegungen und dem entsprechenden Entscheidungsverhalten durchgeführt werden. Die begriffliche Klärung und methodische Ausrichtung wird dabei frei‐ lich „unterwegs“ immer wieder produktiv durch empirische Erkenntnisse irri‐ tiert werden. Diese Irritationen sollte die philosophische Auseinandersetzung zulassen und konstruktiv aufnehmen. In gewisser Hinsicht stellt dieser Sammelband neben der Darstellung neuer möglicher Forschungsperspektiven im „Anwendungsfeld der Ethik“ auch einen Zwischenbericht über die Diskussions- und Untersuchungsergebnisse eines Forschungsnetzwerkes dar, das am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (Universität Tübingen) von Julia Dietrich und Philipp Richter 2016 initiiert und von Uta Müller, Thomas Potthast und Philipp Richter über zwei Jahre hinweg organisiert und mit zahlreichen interdisziplinären Koopera‐ tionspartnerinnen und -partnern im gemeinsamen Austausch gepflegt wurde. An dieser Stelle möchten die Herausgebenden des Bandes für die rege Beteili‐ gung durch Diskussion, Texte und Vorträge unseren Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Disziplinen danken, die sich gerne bereit erklärt haben, an zwei größeren Workshops zur Sichtung und Klärung des interdisziplinären For‐ 9 Einleitung <?page no="10"?> schungsfeldes einer „Anwendung von Ethik“ am Ethikzentrum der Universität Tübingen mitzuwirken. Eine wichtige Ausgangsfrage der Workshops war, wie sich allgemeine Normen auf konkrete Einzelfälle beziehen lassen können und welche Relevanz ihnen dabei für die konkrete Handlungsorientierung zukommen kann. Ziel war die Ermittlung interdisziplinärer Forschungsperspektiven, um zur Klärung der methodischen Leistungen und Grenzen einer „Ethik in Anwendung“ beitragen zu können. Sowohl in philosophisch immanenter als auch methodisch interdis‐ ziplinärer Konstellation erwies sich das Forschungsfeld als äußerst divers und die verschiedenen Fragestellungen und Zielsetzung als methodisch und inhalt‐ lich sehr heterogen. Diese Heterogenität wurde bei Berücksichtigung der Ei‐ gengesetzlichkeit der adressierten Praxisbereiche nochmals gesteigert (man denke an Ethiklehre an Schule oder Hochschule, politisches Engagement auf Grundlage ethischer Argumente, Umsetzung von Reflexion in Organisationen oder auch an juristisches Denken auf Grundlage des gebräuchlichen Rechts in einzelnen Ländern, im deutschen Strafrecht, im Richterrecht oder in allgemeiner rechtswissenschaftlicher Perspektive). Eine kreuzklassifikatorische Matrix, die alle wichtigen Forschungsmöglichkeiten erfassen sollte, stieß bald an die Grenzen der graphischen Darstellbarkeit. Jedoch konnte nach weiterer inter‐ disziplinärer Vertiefung das gemeinschaftliche Forschungsinteresse der Betei‐ ligten fokussiert werden auf die Beantwortung der Frage: „Was macht morali‐ sche Urteile in Praxisbereichen gut? “ Dabei ist die Leitdifferenz zu beachten zwischen der „Güte moralischer Urteile“ (methodologisch-reflexive Perspek‐ tive) und der „moralischen Güte von Urteilen“ (lebensweltliche Fundierung und Angemessenheit eines konkreten moralgeleiteten Handelns). Es hat sich schließlich ergeben, dass es für eine methodische Klärung des Phänomens „Ethik in Anwendung“ zielführend ist, das ethische Überlegen als Tätigkeit ins Zentrum der Auseinandersetzung zu stellen. Wie alle deutschen Substantive, die auf „-ung“ enden, lässt sich hierbei „Überlegung“ zum einen prozessual im Sinne einer Tätigkeit (das Überlegen) und zum anderen resultativ bzw. als ein Ergebnis (die Überlegung) auffassen. Während der interessante, ar‐ gumentative und philosophisch reflexive Aspekt des Überlegens beim Blick auf seine bloßen Resultate, die in Form von Propositionen vorgetragen werden, nicht mehr klar ersichtlich ist, wird dieser Aspekt bei der Fokussierung auf Überlegungen, die explizit und zugleich das Überlegen selbst hinsichtlich seiner Form und Methode betreffen, deutlicher. Der zu einfache und letztlich unklare Begriff einer „Anwendung“ von ethischer Theorie wird so - um eine Formulie‐ rung Hegels zu verwenden - aufgehoben (also hinsichtlich seiner Einseitigkeiten identifiziert, diese Einsicht „aufbewahrt“ und für die weitere Differenzierung 10 Uta Müller / Philipp Richter / Thomas Potthast <?page no="11"?> 1 Die Benennung dieses Vorgangs ist strittig. Als Synonyme finden sich in der Literatur Begriffe wie zum Beispiel „Erwägen“, „(praktisches) Überlegen“ oder „Beratschlagen“; in Kontexten der politischen Theorie und Philosophie wird zumeist von „Deliberation“ bzw. „Deliberieren“ (gr. boulesis; lat. deliberatio als Beratung) gesprochen. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Metaphorik des Wiegens und Maßnehmens (vgl. Valesco 2010: 360). Dies kommt auch bei der heute gebräuchlichen Rede von „Überlegungsgleichge‐ wicht“ zum Tragen, das als paradigmatisches Modell des metaethischen Kohärentismus gilt und ebenfalls eine Form des Abwägens kategorial unterschiedlicher Anforderungen implizieren soll (vgl. Badura 2011: 199f.). Vgl. zur Frage der Begriffsverwendung auch den Text von Andreas Luckner in diesem Band. durch Reflexion verfügbar gemacht). Auf diese Weise wird nun die Tätigkeit des konstruktiven Anwendens ethischer Vorüberlegungen angesichts konkreter Pro‐ bleme zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Diese Tätigkeit des Konkreti‐ sierens und Weiterführens kann, das schien den Teilnehmerinnen und Teilneh‐ mern der Diskussion sinnvoll, auch als ein prozessuales Abwägen unterschiedlicher theoretischer und praktischer Anforderungen im Einzelnen verstanden werden. Mit Abwägung ist hier der gesamte Vorgang der reflexiven Urteilsbildung gemeint, der den eine Praxis leitenden Regeln und impliziten Normen folgt oder sich kritisch zu diesen positionieren kann, nicht nur der Ex‐ tremfall einer „Güterabwägung“ bei einer offensichtlichen Pflichtenkollision oder bei Dilemmata. In der deutschsprachigen Diskussion hat sich zur Adres‐ sierung des Letztgenannten die Rede von „Güterabwägung“ etabliert. Darunter wird eine argumentative Entscheidungsfindung verstanden, die auf Fälle von nicht-trivialen Güterkonflikten oder Dilemmata beschränkt ist und zum Ziel hat, entweder das kleinere Übel oder einen Ausgleich zwischen Nutzen und unvermeidlichen Schaden zu ermitteln (vgl. Horn 2011: 391f.). Dieser sehr engen Bezeichnung von Abwägung soll hier, so auch das Ergebnis der Diskussion im Forschungsnetzwerk, ausdrücklich nicht gefolgt werden. „Abwägung“ und „Ab‐ wägen“ sollen vielmehr insgesamt als Konzepte - oder zunächst einmal als Ti‐ telworte - für einen argumentativ angeleiteten Reflexionsprozess verstanden werden; dabei ist sicherlich fraglich, inwieweit dieser Prozess in klare Begriff‐ lichkeit übersetzbar ist oder ob es sich bei der gedanklichen Tätigkeit des Ab‐ wägens doch um „absolute Metaphern“ für das ethische Überlegen handelt (vgl. Luckner 2008: 157). 1 Konzeptionelle Überlegungen finden sich z.B. bei Luckner (2008: 156), der „Erwägen“ in Anschluss an Aristoteles als das erste von drei Momenten einer „klugen Handlung“ bestimmt: Vor dem Urteilen (Erkennen der richtigen Hand‐ lungsoption) und dem Entschließen (Realisierung der Handlungsoption) finde das „Erwägen“ oder „Abwägen“ von Handlungsgründen statt, wobei sich diese sowohl auf die Zwecke als auch die Mittel der Handlung beziehen. Dabei wird 11 Einleitung <?page no="12"?> betont, dass Erwägungsprozesse nur „im Bereich des Kontingenten“ stattfinden und die Klärung ihrer „übersituativen“ Relevanz ein theoretisches Problem dar‐ stellt (vgl. ebd.: 157). Nadia Mazouz (2012: 359) expliziert „Abwägen“ in ähnlicher Hinsicht als das „subjektive Verfahren der Relevanz- und Wichtigkeitszuwei‐ sung“ im Unterschied zum „Begründen“ als dem expliziten Schlussfolgern. Im Kontext der politischen Theorie und Philosophie ist der Begriff „Deliberation“ gebräuchlich: Juan Carlos Velasco (2010: 360) bestimmt ihn als ergebnisoffene Entscheidungsfindung durch Klärung relevanter Gegenstände und Sachverhalte sowie Prüfung möglicher Argumente und Gegenargumente für bestimmte Handlungsoptionen. Typischerweise beziehe sich „Deliberieren“ auf vergleichs‐ weise komplexe Fragen und Probleme, die sich nicht durch einfaches Dedu‐ zieren aus allgemeinen Normen lösen lassen. Auch in der Rechtswissenschaft und in der Rechtspraxis ist das Konzept der Abwägung von großer Bedeutung. Das positive Recht wird heute nicht mehr nur als ein „konsistentes System von Normen“ verstanden, das gleichsam „alle Antworten für den Prozess der Rechtsanwendung“ bereit hielte (Luf 2014: 1f.). Vielmehr finden sich im Rahmen des positiven Rechts ganz unterschiedliche Problemsichten, differenzierte methodische und auch ethische Perspektiven, unterschiedliche Bestimmtheitsgrade von Normen, Spannungsfelder und Kon‐ flikte zwischen verschiedenen Normen, so dass „harmonisierende“ Abwägungs‐ prozeduren nötig sind. Diese stellen nun keine Ausnahme dar, sondern vielmehr den Normalfall der Rechtsanwendung (ebd.). Große Beachtung gefunden hat hier die Abwägungslehre von Robert Alexy (1983; 1985), der Prinzipien als „Op‐ timierungsgebote“ charakterisiert (Alexy 1985: 75f.), die nicht wie Regeln oder Normen in einem vollständig disjunktiven Verhältnis zueinander stehen ( Jes‐ taedt 2007: 256f.; Luf 2014: 5). Ähnlich wie im Falle der Abwägungslehre des positiven Rechts und einer Idee von Gerechtigkeit bei Gustav Radbruch (1946; „Radbruchsche Formel“) können auch hier Verbindungen zur philosophischen Klugheitsethik hergestellt werden. Zwar gilt die binäre Entgegensetzung, ent‐ weder Subsumtion oder Abwägung, und auch ein zu einfaches Modell des Rechtsanwenders als „Subsumtionsautomat“ als überwunden ( Jestaedt 2007: 272f.), jedoch besteht in der Rechtswissenschaft nach wie vor das Desiderat einer differenzierten Ausarbeitung und methodologischen Diskussion des Vorgangs des Abwägens (ebd.: 275). Auch wenn bisher keine einheitliche Bestimmung des Begriffs „Abwägung“ zur Verfügung steht, wird diesem auch in der praktischen Philosophie eine zen‐ trale Stellung eingeräumt. Ein wichtiger Grund dafür könnte sein, dass häufig ein enger Zusammenhang von Abwägen und praktischer Rationalität postuliert wird. Das Forschungsthema „Abwägung“ steht dabei für das Konzept eines dy‐ 12 Uta Müller / Philipp Richter / Thomas Potthast <?page no="13"?> namischen Vorgangs, der als Inbegriff der Prozesse des Überlegens unter Prob‐ lemdruck schließlich zu einer konkreten Bewertung oder Handlung im Einzel‐ fall führt. Insofern könnte das „Abwägen“ auch als ein konstitutives Moment von praktischer Rationalität bezeichnet werden (vgl. Kettner 1996a: 15; Rinder‐ mann 2006: 251; Gosepath 2002: 51). Der Begriff signalisiert bereits, dass ein schablonenartiges Rezeptwissen zur Lösung von moralischen Konflikten im Einzelfall nicht zu haben ist und womöglich auch nicht zielführend wäre. Jedoch scheint das Abwägungskonzept gerade auch geeignet, ethische oder rechtlich allgemeine Anforderungen in nicht-relativistischer bzw. nicht-partikularisti‐ scher Weise mit in den Vorgang des Überlegens einzubeziehen, wie es die Rechtsmethodologien und die Diskussion über praktische Rationalität zeigen. Der Begriff „Abwägung“ ist insofern gut geeignet, um im Ausgang von „typi‐ schen“ Fällen und beispielhaften Entscheidungskonflikten in den Praxisberei‐ chen nach einer verallgemeinerbaren Methodologie der Urteilsbildung zu fragen. Die Beiträge des Bandes führen die skizzierte Diskussion der Workshops fort und nehmen verschiedentlich das Problem einer Anwendung von Ethik bzw. allgemeiner Normen im Einzelnen als einen Prozess des gedanklichen Abwä‐ gens verschiedener Anforderungen in den Blick. Der erste Themenblock widmet sich konzeptionellen und methodologischen Fragestellungen zur Rolle von Abwägung und Anwendung in der Ethik. Im ersten Beitrag untersucht Andreas Luckner die über eine bloße „Anwendung“ oder Mittelkalkulation hinausgehende Konkretisierung ethischen Überlegens. Dieses Abwägen ist, was Luckner im Ausgang von Aristoteles entwickelt, rati‐ onal, obwohl nicht nur deduktive Logik oder der Umgang mit übersituativ gül‐ tigen Normen als Paradigma dienen. Philipp Richter diskutiert Konzepte von Angewandter Ethik und weist diesen immanente Widersprüche nach, die vor allem daher resultieren, dass die betreffenden Modelle statisch und isoliert ge‐ dacht werden - ohne dass ein Bezug zur Reflexivität einer philosophischen Auseinandersetzung und Begründung hergestellt wird. Zur Bewältigung dieser Problematik bietet Richter die Grundzüge einer Methodologie der Konkretisie‐ rung ethischen Überlegens an, die sich am Argumentationsmodus der Klug‐ heitsethik und Topik orientiert. Eugen Pissarskoi untersucht die Problematik einer argumentativen Entscheidungsfindung in deontologischen und konse‐ quentialistischen Ethikansätzen, auf die diese angesichts der Unsicherheit über die empirischen Konsequenzen der verfügbaren Handlungsoptionen notwendig stoßen. Diese Dimension des Umgangs ist besonders relevant für die rationale Klärung und Begründung des Vorsorgegedankens. Der Beitrag von Uta Müller und Lieske Voget-Kleschin versucht zu zeigen, dass sich die anwendungsbezo‐ 13 Einleitung <?page no="14"?> gene Ethik in vielen umstrittenen Fällen zu sehr auf die Frage konzentriert, was Menschen tun dürfen, anstatt darüber zu reflektieren, was Menschen und die Gesellschaft, in der sie leben, eigentlich wollen. Diese Diskussion wird am Bei‐ spiel des aktuellen Diskurses über den Umgang mit der biologischen Altersfor‐ schung geführt. Im zweiten Themenblock werden Fragen von Anwendung und Abwägung in den Praxisbereichen Ethik, Recht und Medizin behandelt. Jens Peter Brune und Micha Werner diskutieren in ihrem Beitrag einige Modelle ethischer Abwägung in politischen Gerechtigkeitsfragen mit Blick auf das Problem einer Konkreti‐ sierung von Ethik. Diese - aktuell viel diskutierten - Modelle postulieren nicht nur die Existenz von generalisierenden, auf Situationstypen oder typische An‐ spruchsqualitäten bezogenen Werte, Normen, Rechte oder Pflichten, sondern nehmen zusätzliche Kategorisierungen und Priorisierungen vor, um ethische Entscheidungen begründen zu können. Martin Gebauer und Felix Berner erör‐ tern typische Abwägungskonstellationen im Kollisionsrecht. Nicht selten er‐ geben sich nämlich bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts Prinzipien‐ konflikte, die nur durch die Methode der Abwägung zu lösen sind. Dabei sind auch kollisionsrechtliche Ausweichklauseln und Anpassungsfragen als Grund‐ lage für Abwägungsentscheidungen zu bedenken. Im Bereich der Medizinethik stellen Michael von Grundherr und Orsolya Friedrich aktuelle psychologische Befunde vor, die nahelegen, dass in manchen konkreten Abwägungsfällen in der Medizin bewusstes verbales Überlegen und Argumentieren nicht immer dabei helfen, ein Ergebnis zu finden, das im Einklang mit gegebenen normativen Richtlinien steht - seien es die eigenen allgemeinen moralischen Überzeu‐ gungen der ethischen Entscheiderinnen und Entscheider, weithin akzeptierte berufsethische Prinzipien oder die Vorgaben einer ethischen Theorie. In vielen Fällen scheinen Forschungen zu belegen, dass intuitive Prozesse in dieser Hin‐ sicht zu besseren Entscheidungen führen. Der dritte Themenblock befasst sich mit Abwägungsfragen im Bildungsbe‐ reich. Bernhard Schmidt-Hertha widmet sich der Frage, welche Rolle in den Kompetenzdiskursen zur Erwachsenenbildung ethische Werte und Normen spielen. In seinem Beitrag werden - gestützt auf Konzepte zur Entwicklung ethischer Kompetenz im Schulunterricht und den Diskursen um Kompetenz‐ orientierung in der Weiterbildung - grundlegende Überlegungen zur Vermitt‐ lung von ethischer Kompetenz in Weiterbildungskontexten angestoßen. Der Beitrag von Christiane Burmeister und Uta Müller konzentriert sich auf Berufs‐ tätige in der Sozialen Arbeit. Die Autorinnen diskutieren die Problematik, vor welche charakteristischen Herausforderungen sich die in der Sozialen Arbeit tätigen Personen gestellt sehen, wenn sie das „gute Abwägen“ in normativen 14 Uta Müller / Philipp Richter / Thomas Potthast <?page no="15"?> Fragen des beruflichen Alltags praktizieren wollen. Der Blick richtet sich auf die professionseigenen Strukturbedingungen Sozialer Arbeit und erweitert dann die Fragestellung dahingehend, worauf Weiterbildungen in Sozialen Organisa‐ tionen besonderen Wert legen sollten. Der Ausbildung von Medizinstudierenden widmet sich der Beitrag von Orsolya Friedrich und Michael von Grundherr. Dabei gehen die AutorInnen von Studien aus, die zeigen, dass die ethische Kom‐ petenz von Studierenden der Medizin im Verlauf ihres Studiums deutlich ab‐ nimmt. Aus einer konzeptionellen Perspektive wird diskutiert, ob und warum unterschiedliche ethische Begründungsstrategien in der Medizinethikausbil‐ dung die angestrebte moralische Kompetenz in unterschiedlicher Weise fördern könnten. Die HerausgeberInnen danken der Universität Tübingen, die das Forschungs‐ projekt „Ethische Abwägung in Recht, Medizinethik und normativen Fragen der Bildung - konzeptionelle und empirische Perspektiven“ im Rahmen ihres Zu‐ kunftskonzepts „Research - Relevance - Responsibility“ (Exzellenzinitiative) gefördert hat. Literatur Alexy, Robert (1983). Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Alexy, Robert (1985). Theorie der Grundrechte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Ammicht Quinn, Regina/ Potthast, Thomas (Hrsg.) (2015). Ethik in den Wissenschaften. 1 Konzept, 25 Jahre, 50 Perspektiven. Tübingen: IZEW. Badura, Jens (2001). Kohärentismus. In: Düwell, Marcus/ Hübenthal, Christoph/ Werner, Micha H. (Hrsg.). Handbuch Ethik. Stuttgart/ Weimar: Metzler, 30-33. Düwell, Marcus (2000). Die Bedeutung ethischer Diskurse in einer wertepluralen Welt. In: Kettner, Matthias (Hrsg.). Angewandte Ethik als Politikum. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 76-114. Düwell, Marcus (2011). Angewandte oder Bereichsspezifische Ethik. Einleitung. In: Dü‐ well, Marcus/ Hübenthal, Christoph/ Werner, Micha H. (Hrsg.). Handbuch Ethik. 3. Aufl. Stuttgart u.a.: Metzler, 243-247. Fenner, Dagmar (2010). Einführung in die Angewandte Ethik. Tübingen/ Basel: UTB. Gosepath, Stefan (2002). Eine einheitliche Konzeption von Rationalität. Ein Zugang aus Sicht der Analytischen Philosophie. In: Karafyllis, Nicole Christine (Hrsg.). Zugänge zur Rationalität der Zukunft. Stuttgart: Metzler, 29-52. Horn, Christoph (2006). Güterabwägung. In: Düwell, Marcus/ Hübenthal, C./ Werner, Micha H. (Hrsg.). Handbuch Ethik. Stuttgart/ Weimar: Metzler, 243-247. 15 Einleitung <?page no="16"?> Jestaedt, Matthias (2007). Die Abwägungslehre: ihre Stärken und ihre Schwächen. In: Deppenheuer, Otto/ Isensee, Josef (Hrsg.). Staat im Wort. Festschrift für Josef Isensee. Heidelberg: Müller, 253-275. Kettner, Matthias (1996a). Einleitung. In: Ders./ Apel, Karl-Otto (Hrsg.). Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kettner, Matthias (1996b). Gute Gründe. Thesen zur diskursiven Vernunft. In: Ders./ Apel, Karl-Otto (Hrsg.). Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Luckner, Andreas (2005). Klugheit. Berlin/ New York: DeGruyter. Luckner, Andreas (2008). Erwägen als Moment klugen Handelns. In: Jüttemann, Gerd (Hrsg.). Suchprozesse der Seele. Die Psychologie des Erwägens. Göttingen, 154-163. Luf, Gerhard (2014). Abwägungsentscheidungen aus rechtsphilosophischer Sicht. In: Khakza-deh, Lamiss Magdalena (Hrsg.). Interessenabwägung und Abwägungsentschei‐ dungen. Wien: Verl. Österreich. Mazouz, Nadia (2012). Was ist gerecht? Was ist gut? Eine deliberative Theorie des Gerechten und Guten. Weilerswist: Velbrück, 356-359. Nida-Rümelin, Julian (Hrsg.) (2005). Angewandte Ethik: Die Bereichsethiken und ihre theo‐ retische Fundierung: ein Handbuch. 2., aktual. Aufl. Stuttgart: Kröner. Radbruch, Gustav (1946). Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. Süddeutsche Juristenzeitung (1946), 105-108. Salloch, Sabine (2016). Prinzip, Erfahrung, Reflexion. Urteilskraft in der Angewandten Ethik, Paderborn: Mentis. Steigleder, Klaus/ Mieth, Dietmar (Hrsg.) (1991). Ethik in den Wissenschaften. 2. Aufl. Tü‐ bingen: Attempto. Velasco, Juan Carlos (2010). Deliberation/ deliberative Demokratie. In: Sandkühler, Hans Jörg (Hrsg.). Enzyklopädie Philosophie, 2. Aufl. Hamburg: Meiner, 360-363. Vieth, Andreas (2006). Einführung in die Angewandte Ethik, Darmstadt: WBG. Werner, Micha H. (2004). Kants pflichtenethischer Rigorismus und die Diskursethik. Eine maximenethische Deutung des Anwendungsproblems. In: Gottschalk-Mazouz, Niels (Hrsg.). Perspektiven der Diskursethik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 81-110. Wieland, Wolfgang (1989). Aporien der praktischen Vernunft. Frankfurt a. M.: Kloster‐ mann. 16 Uta Müller / Philipp Richter / Thomas Potthast <?page no="17"?> I. Konzepte und Methodologien <?page no="19"?> 1 Vgl. hier und im folgenden Luckner (2005). Abwägen als Moment klugen Handelns Andreas Luckner Es gilt als ein Kennzeichen einer reifen (erwachsenen) Persönlichkeit, Hand‐ lungsgründe abwägen zu können. Aber auch schon die Entwicklung der Per‐ sönlichkeit selbst steht in engem Zusammenhang mit Abwägungs- und Ent‐ scheidungsprozessen, wie man im Rahmen von Tugend- und Erziehungstheorien von alters her gesehen hat. Die Abwägung (griechisch: boulêsis, lateinisch: deliberatio) galt und gilt dabei als konstitutives Moment der Tugend Klugheit (griechisch: phronêsis, lateinisch prudentia), mit der man be‐ kanntlich nicht schon auf die Welt kommt. Vielmehr wurde und wird sie als die erfahrungsbasierte Ausformung praktischer Vernunft verstanden, durch die ge‐ eignete und situationsangemessene Mittel und Wege zur Realisierung genereller Handlungsziele habituell erkannt und angewandt werden können. 1 Dies soll in systematischer Absicht im Folgenden anhand historischer tugendethischer Positionen gezeigt werden. Zunächst eine terminologische Klärung: Im Deutschen besteht ein leichter Unterschied zwischen den Verben „abwägen“ einerseits, „erwägen“ anderer‐ seits; Gründe und Handlungsmöglichkeiten können zwar sowohl erwogen als auch abgewogen werden, aber mit dem Wort „erwägen“ bezieht man sich zu‐ meist auf den Umstand, dass man überhaupt eine Handlungsoption in Betracht zieht (z.B. „Ich erwäge nächstes Jahr meinen Urlaub auf Korsika zu verbringen.“). Von Abwägung im Sinne einer Gewichtung der Option bzw. der Gründe, die für diese Option sprechen, muss hierbei noch gar die Rede sein. Man könnte viel‐ leicht vorläufig sagen, dass jeder Abwägungsprozess voraussetzt, dass mehrere Optionen bzw. Gründe in Erwägung gezogen wurden, Abwägen also Erwägen voraussetzt, aber nicht umgekehrt. Erwägen ist ein Moment des Abwägens - und damit immer mit gemeint - und Abwägen wiederum, so die titelgebende These dieses Beitrags, ein Moment klugen Handelns. Niemand kann klug im Sinne der Lebensdienlichkeit handeln, der nicht Gründe gegeneinander abzu‐ <?page no="20"?> 2 Vgl. hierzu ausführlich Luckner (2005). wägen (und diese vorher zu erwägen) vermag. Natürlich kann jemand zufälli‐ gerweise das Richtige im Sinne der Klugheit tun, aber dann würde man noch nicht deswegen schon unterstellen können, dass die betroffene Person wirklich klug ist bzw., als Ausdruck dessen, klug handelt. Hierfür gehört vielmehr not‐ wendigerweise eine praktische Vernunft, die notwendig (wenn auch nicht schon hinreichend) Abwägungsprozesse vollzieht. Klugheit (als Tugend) ist eine an der Lebensdienlichkeit orientierte Grund‐ haltung gegenüber den praktischen Dingen des Lebens. Die Abwägung der si‐ tuationsadäquaten Mittel und Wege spielt hierfür eine zentrale Rolle, wenn auch gutes Abwägen alleine nicht ausreicht, um klug zu sein - es müssen zudem durch Erfahrung Urteils- und Entschlusskraft ausgebildet werden, um von der komplexen Tugend der Klugheit sprechen zu können. Wer klug ist, kann gut abwägen, bildet sich auf Grundlage von Abwägungen angemessene Urteile über das zu Tuende und setzt diese situationsadäquat und entschlussfreudig in die Tat um. Die Klugheit, die sich demgemäß also immer auch in den Prozessen des Abwägens (und damit einer praktischen Form von Rationalität) manifestiert, galt im Abendland über Jahrtausende hinweg als eine der Kardinaltugenden, weil nur durch ihren Besitz ein Mensch es vermochte, das Gute (was immer man darunter auch jeweils zu verstehen hatte) in der Welt zu realisieren. Heutzutage allerdings spricht man von Klugheit, auch und gerade in der akademisch-phi‐ losophischen Ethik, zumeist nur im Sinne des Prinzips des rationalen Egoismus im Unterschied (und oftmals auch: im Gegensatz) zur moralischen Einstellung, durch welche die Präferenzen auch der anderen Menschen in die Handlungs‐ entscheidungen eine andere Gewichtung erfahren. Das Verhältnis von Klugheit und Moral erscheint im Rahmen modern-autonomistischer Ethik daher recht spannungsreich, während es für die antike und mittelalterliche Ethikansätze selbstverständlich ist, dass ein kluger Mensch die Mehrung des Wohls der An‐ deren auch in die eigene Handlungsbeurteilung und -abwägung mit einbe‐ zieht. 2 So kann man auch heute noch zwanglos z.B. von der (unegoistischen) Klugheit der Eltern in Bezug auf das Fortkommen ihrer Kinder sprechen. Auch in der Moderne ist es unbestritten, dass das Abwägenkönnen von Handlungsoptionen ein konstitutives Teilmoment praktischer Rationalität (Klugheit) ist. Allerdings läuft der Prozess der Abwägung hier durchaus auf etwas anderes hinaus: Während im Rahmen teleologischer Ethiken - also des Typs, unter den die meisten der antiken und mittelalterlichen Ansätze fallen - allgemeine Handlungsziele als dem Akteur (natural und gesellschaftlich) gege‐ bene konzipiert werden und Abwägungsprozesse daher primär Mittel und Wege 20 Andreas Luckner <?page no="21"?> 3 Besonders gut kann man diese historisch gewandelte Funktion des Abwägens an den Essais Montaignes ablesen, vgl. hierzu Luckner (2005: 122ff.). zum glücklichen Leben ermitteln, sind im Rahmen der autonomistischen Ethiken der Neuzeit die Abwägungen auch auf die jeweils individuellen Orien‐ tierungsinstanzen ausgedehnt. Denn ein kluger Mensch hat, wenn ihm die Ver‐ bindlichkeit göttlich oder natural gegebener normativer Rahmenordnungen nicht weiter einsichtig ist, nun nicht nur abzuwägen, was dem guten Leben dienlich ist, sondern zusätzlich, woran er sich dabei eigentlich orientieren soll, worin also das gute Leben - oder dessen „Richtungssinn“ - eigentlich besteht. 3 Da in den autonomistisch fundierten neuzeitlichen Ethiken Handlungsziele primär als vom Handlungssubjekt gesetzte Zwecke konzipiert werden, beziehen sich die ethischen Abwägungen mehr und mehr auf die Ermittlung von Ant‐ worten auf die Frage, welche Zwecke im Leben verfolgt, ja, welchen Sinn und Zweck das jeweils individuelle Leben überhaupt haben soll. Kurz: Begreift sich ein Individuum als autonom, dann müssen die Orientierungsinstanzen selbst zu einer Sache der Abwägung werden; wenn diese erst einmal ermittelt sind, be‐ kommen die Klugheitsabwägungen wiederum tendenziell den Charakter von quasi-technischen Ermittlungen der besten Mittel, um (schon anderweitig von einem selbst oder anderen) gesetzte Zwecke zu realisieren. Was aber ist überhaupt eine Abwägung, eine deliberatio, eine boulêsis? Zu‐ nächst: Oft werden deliberatio und boulêsis mit „Beratung“ übersetzt; dies ist genau dann treffend und richtig, wenn man unter Beratung nicht, wie heute verbreitet, den Vorgang versteht, in dem ein Experte in einer bestimmten Wis‐ sens- oder Könnensdomäne einen Unkundigen „berät“, sondern vielmehr den ergebnisoffenen Vorgang eben des Abwägens von Gründen, die für die eine oder andere Vorgehensweise sprechen. Es wäre hier also eher an eine Beratung von Geschworenen bei Gericht als an eine Beratung beim Kauf eines Artikels zu denken. Der Ausdruck „abwägen“ drückt diese für das Abwägen konstitutive Ergebnisoffenheit sehr viel besser aus als „beraten“. Das Wortfeld der Waage und des Gewichts, dem ja die Wörter „erwägen“, „abwägen“, „ausgewogen“, „wichtig“ usw. entstammen - auch deliberatio stammt ja von lateinisch libera, Waage, ab - verweist auf diese charakteristische Eigenschaft von Abwägungen, denn für Wägeprozesse und Balanceakte ist es charakteristisch, dass ihre Er‐ gebnisse, die hergestellten Gleichgewichte und Ausgewogenheiten also, nicht stabil sind. Im übertragenen Sinne führen Abwägungen demgemäß nicht zu festen Wissensbeständen, auf die nach Belieben zurückgegriffen werden könnte. Die Ermittlung des Gewichts bzw. der Wichtigkeit und Relevanz zum Beispiel eines Handlungsgrundes ist daher einerseits unvordenklich und auch immer nur 21 Abwägen als Moment klugen Handelns <?page no="22"?> 4 Es scheint, als wenn man bei der Analyse des Wortgebrauchs von „Wiegen“ das zuge‐ hörige Wortfeld nicht verlassen kann; „Wiegen“, „Wichtigkeit“, „Abwägen“ und so weiter scheinen daher absolute Metaphern zu sein, also solche, für die wir keine adä‐ quatere Ausdrucksweise finden können. Zum Begriff der absoluten Metapher, vgl. Blu‐ menberg (1979). 5 Vgl. Aristoteles (1985: NE III, 1112a15 - 1113a15). 6 Vgl. Aristoteles (1985: NE VI, 1141a25 - 1142b35). von provisorischem Charakter - eine kleine Veränderung der Situation und es können andere Handlungsgründe, die bislang gar keine Rolle gespielt haben, sehr viel schwereres Gewicht haben 4 (besonders dann, wenn bislang bestehende Grenzen überschritten werden). Die philosophische Tradition hat seit ihren Anfängen immer wieder gesehen, dass das Er- und Abwägen von Gründen der elementare Denkvorgang in Bezug auf die Handlungsorientierung ist. So schreibt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik, dass jeder klugen, das heißt guten, Entscheidung (prohairesis) eine Berat‐ schlagung im Sinne der Abwägung von Handlungsgründen (boulêsis) voraus‐ gehen muss, letztlich in Hinblick und umwillen eines gelingenden Gesamtle‐ bensvollzuges (eudaimonia). 5 Abwägungen finden dabei logischerweise nur im Bereich des Kontingenten statt, dessen also, was nicht notwendig so ist, wie es ist. Weil Handlungen genau deswegen auf Entscheidungen beruhen - seien diese aktuell zu treffen oder schon früher getroffen worden und nur mehr zu aktualisieren -, sind Erwägungen daher konstitutiv für Handeln überhaupt. Mit anderen Worten: Wer nicht abwägen kann, kann im strengen Sinne auch nicht handeln. Es handelt sich beim Abwägen also um einen im wahrsten Sinne des Wortes grundlegenden kognitiven Akt in praktischer Hinsicht. Aristoteles dis‐ kutiert ein wichtiges Teilmoment der guten, das heißt klugen, praktischen Ur‐ teils- und Entscheidungsfindung auch unter den Namen euboulia  6 . Unter dieser „Wohlberatenheit“ - oder, etwas freier übersetzt, „Abwägungskompetenz“ - versteht Aristoteles die Haltung einer Person, vor dem eigentlichen In-Aktion-Treten, die Gründe, Mittel und Ziele in lebensdienlicher Hinsicht - d. h. in Hinblick auf die eudaimonia - zu bewerten. Hierbei werden allerdings, anders als etwa in technischen Zusammenhängen, die Handlungsweisen nicht im Sinne der Effektivität von Mitteln für die Realisierung von der Aktion äu‐ ßerlichen Zwecken angesprochen, sondern als „selbstzweckhafte“ Vollzüge, das heißt als solche Akte, die um ihrer selbst willen vollzogen werden. Die Form der Tätigkeit, die ihren Zweck nicht außerhalb der Tätigkeit selbst hat, nennt Aris‐ toteles bekanntlich praxis, im Fall ihres Gelingens auch eupraxia. Die der gut gelingenden Praxis zugeordnete Tugend ist die Klugheit (phronêsis), so dass die Abwägung (boulêsis) bzw. genauer: die entsprechende Tugend der Wohlbera‐ 22 Andreas Luckner <?page no="23"?> 7 Vgl. hierzu Luckner (2005: 75 ff.). 8 Es ist genau dieser, bestimmte Bereiche der zeitgenössischen, neoaristotelischen Virtue Ethics (Alasdair MacIntyre, Michael Slote usw.) durchziehende Intuitionismus, der es fast unmöglich macht, in der Frage nach der Rekonstruktion der phronêsis unter den Bedingungen der Moderne positiv an sie anzuschließen. Die anti-rationalistische Kon‐ zentration der Virtue Ethics auf die ethischen Tugenden beziehungsweise Charakter‐ züge für die moralische Bewertung von Personen führt dazu, dass das zentrale delibe‐ rative Moment der aristotelischen Klugheitsethik, also das Moment der Abwägung, nicht angemessen zum Zuge kommen kann. 9 Vgl. Thomas von Aquin (1933 ff.: S. th. II/ II, q. 47, a8). tenheit (euboulia) als das Hauptmerkmal einer klugen Person und daher als Mo‐ ment der Klugheit gelten muss. Damit ist die ausgebildete Fähigkeit gemeint, sowohl mit sich selbst als auch mit anderen zu Rate gehen und in diesem Sinne situationsadäquat abwägen zu können. 7 Klugheit muss nach Aristoteles allerdings als eine allererst zu entwickelnde Kompetenz, eben als Tugend der Selbstorientierung im Denken und Handeln gefasst werden. Sie ist also weder ein theoretisches, das heißt durch bloße In‐ formationsvermittlung übertragbares Verfügungswissen, das zudem einen ex‐ ternen Maßstab tugendhaften Handelns bilden würde, noch ein bloßer Charak‐ terzug, der mit bestimmten Handlungsweisen verbunden wäre, ohne dass die betreffende Person hierfür noch Gründe angeben könnte oder müsste, weil sie gewissermaßen intuitiv das Richtige tut. 8 Deswegen unterscheidet Aristoteles die Klugheit als eine der dianoetischen Verstandestugenden von einer ethischen Tugend wie Besonnenheit, Tapferkeit oder auch Gerechtigkeit. Es ist wesentli‐ ches Charakteristikum einer klugen Person, dass sie Gründe für bestimmte Handlungen und Handlungsweisen abwägt, d. h. sich mit sich selbst und an‐ deren berät. Thomas von Aquin, der Aristoteles in handlungstheoretischer Hinsicht zwar weitgehend folgt und präzisiert, allerdings in entscheidender und uns hier in‐ teressierender Hinsicht auch abändert, unterscheidet beim Klugheitsakt drei Phasen: deliberare beziehungsweise consiliare (das Abwägen der Handlungs‐ gründe), iudicare (das Urteilen, das heißt das Fassen eines Beschlusses) und praecipere (das Fassen eines Entschlusses zur Tat). 9 Der erste Teilakt, durch den sich Klugheit in einer Handlung manifestiert, ist der hier thematisierte grund‐ legende Akt des Abwägens von Handlungsgründen (incl. des Erwägens von Handlungsmöglichkeiten). Aufgrund des Abwägens kann dann das Urteil gefällt werden über das, was zu tun am besten ist (im Sinne einer Optionswahl). Das Urteil wird sodann in einen konkreten Handlungsentschluss und damit in ein Tun umgesetzt - das praeceptum beziehungsweise die applicatio ad ope‐ 23 Abwägen als Moment klugen Handelns <?page no="24"?> 10 Vgl. hierzu Thomas von Aquin (1933 ff.: S. th. II-II, q. 47, a8); vgl. auch Rhonheimer (1994: 381). randum.  10 Alle drei Teilakte sind notwendig, damit man von einer Abwägung tatsächlich auch zu einem Handeln kommt; Erwägung und Abwägung, Mo‐ mente des ersten Teilaktes der deliberatio, reichen alleine dazu nicht hin, denn wer nur weiß, was zum Beispiel in einer bestimmten Situation gerecht wäre zu tun, ist dadurch freilich noch nicht gerecht: Durch Er- und Abwägung mag er zwar die recta ratio, aber deswegen noch nicht die applicatio rectae rationis ad opus, die ins Werk gesetzte rechte Vernunft, haben. Umgekehrt ist die recta ratio, die durch Abwägung entstandene richtige Einschätzung (i. S. der Situati‐ onsangemessenheit) einer bestimmten Handlungsweise auch bei Thomas von Aquin eine notwendige Bedingung für das kluge, lebensdienliche Handeln. Bei Aristoteles wie bei Thomas von Aquin haben wir es mit dem Akt des Abwägens also mit einem wichtigen Teilmoment der Selbstorientierungskom‐ petenz bzw. Klugheit der Individuen zu tun. Es besteht allerdings ein wichtiger Unterschied zwischen beiden, der Einfluss auf den Status der Abwägung im Prozess der Handlungsorientierung hat. Thomas’ von Aquin Klugheits- und Abwägungskonzeption steht nicht nur historisch, sondern auch systematisch auf halbem Wege zwischen den oben angesprochenen Ethiktypen, dem antik-te‐ leologischen und dem neuzeitlich-autonomistischen. Obwohl er an die aristo‐ telische Konzeption von Klugheit und Abwägung anknüpft, kann man bei Thomas von Aquin bemerken, dass die Abwägung eine eher technische Funk‐ tion in Bezug auf die jeweiligen Orientierungsinstanzen bekommt. War es bei Aristoteles der Wertehorizont der sittlichen Gemeinschaft, der in zwar kontin‐ genter, gleichwohl selbstverständlicherweise den Rahmen bildete, innerhalb dessen die Abwägung von Handlungsmöglichkeiten um des gelingenden Lebens willen stattfinden konnte, sind hierfür bei Thomas von Aquin andere normative Quellen markiert, die notwendig-unbedingten (kategorischen) Charakter haben. Während bei Aristoteles die wechselseitige Bedingtheit von Klugheit und ethischen Tugenden (Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit usw.) unhinter‐ gehbar war - ohne Klugheit wären die ethischen Tugenden leer, ohne ethische Tugenden die Klugheit blind -, ist die letzte Instanz der praktischen Selbstori‐ entierung bei Thomas von Aquin (und freilich auch noch viel stärker betont bei christlichen Denkern wie Abaelard oder Bonaventura): das Gewissen (synder‐ esis), durch das Gott zu uns spricht. Auch wenn Thomas von Aquin die Selb‐ ständigkeit der Klugheit und deren Teilakt, die Abwägung beziehungsweise deliberatio, nicht etwa leugnet, operiert sie doch nicht mehr länger in demselben Sinne autotelisch (selbstausrichtend) wie bei Aristoteles, bei dem die Gewis‐ 24 Andreas Luckner <?page no="25"?> 11 Vgl. zu dieser Analyse Heidegger (1927/ 1979: 63-88); vgl. hierzu ausführlich auch Luckner, (2008: 43 ff.). sensfunktion integraler Bestandteil der Lebensklugheit ist und von daher auch nicht eigens begrifflich thematisiert wurde, wie in erstmalig in der stoischen und dann in der christlichen Praxeologie. Hier, bei Thomas von Aquin wie ten‐ denziell überhaupt in der ganzen christlichen Lehre des Gewissens und ihr nachfolgend in der neuzeitlichen Ethik bis heute, wird das mit dem Handlungs‐ entschluss einhergehende Wissen um die Angemessenheit des Handelns be‐ stimmter Grundsätze des Handelns nicht aus der je individuellen Selbstorien‐ tierungskompetenz, sondern aus überpositiven, und das heißt: übermenschlichen, Vorgaben abgeleitet. Damit wird aber zugleich die Abwä‐ gung und Einschätzung von Handlungsmöglichkeiten auf den Rahmen des von den Grundnormen Erlaubten eingeengt und damit gewissermaßen mit der Funktion betraut, das Handeln so einzurichten, dass es den überpositiven („gött‐ lichen“) Gesetzen entspricht. Die Abwägung gerät damit in Abhängigkeit der (anderweitig gegebenen) Zwecke eines menschlichen Lebens. Wenn es im Rahmen der neuzeitlichen Ethik nun die praktisch-vernünftigen Wesen sind, von denen gedacht wird, dass sie sich die Gesetze ihres Handelns selbst geben - nichts anderes bedeutet ja Autonomie im Unterschied zur Hete‐ ronomie beziehungsweise Theonomie der theologischen Ethikentwürfe -, än‐ dert dies aber bezeichnenderweise nichts an dieser im Unterschied zur aristo‐ telischen Ethik veränderten Funktion der Abwägung: Bis in die Rationale Entscheidungs- und Spieltheorie hinein, dem herrschenden praxeologischen Modell unserer Tage, werden Abwägungsprozesse letztlich nur mehr als tech‐ nische Prozeduren des Aufsuchens geeigneter Mittel zu (anderweitig gegebenen und konstituierten) Zwecke gefasst. Abgewogen werden müssen aber, wie nicht zuletzt die aristotelische Fassung des Klugheitsprozesses zeigt, nicht allein die Mittel, sondern auch die Zwecke selbst und in dieser Hinsicht sind Abwägungen typische Manifestationen der Weberschen Wertrationalität. Zwecke sind ja, formal gefasst, gewünschte und (durch bestimmte Mittel) für herbeiführbar erachtete Sachverhalte; Zweck-Mittel-Zusammenhängen eignet typischerweise eine Um-Zu-Struktur 11 , die aber, in der individualethischen Sphäre, ihrerseits revidierbar erscheint unter höherstufigen Kriterien des Lebenssinns bzw. -glücks, um dessentwillen be‐ stimmte zu verfolgende Zwecke im Leben allererst gesetzt werden. Letztlich, so würde man aus der Perspektive einer aristotelischen Klugheitsethik argumen‐ tieren, werden die Abwägungsprozesse selbst um willen des höchsten Zieles, der eudaimonia als dem Lebenssinn, vollzogen. Der Lebenssinn ist aber kein 25 Abwägen als Moment klugen Handelns <?page no="26"?> möglicher Sachverhalt im Leben und damit eben auch kein Zweck, dem effektive Mittel im Sinne einer Glückstechnik zugeordnet werden können. Vielmehr ist er die wie auch immer entstehende Form des Lebens selbst, die sich je und je im Handeln, das um seiner selbst willen geschieht, manifestiert und herausbildet. Literatur Aristoteles (1985). Nikomachische Ethik. Hrsg. v. G. Bien. Hamburg: Meiner. Blumenberg, Hans (1979). Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. Main: Suhr‐ kamp Heidegger, Martin (1927/ 1979). Sein und Zeit. Frankfurt a. M.: Klostermann. Loh, Werner (1989). Erwägende Vernunft. Voraussetzungen und Hindernisse eines Phi‐ losophierens mit Alternativen. Prima philosophia 2, 301 - 323. Luckner, Andreas (2005). Klugheit. Berlin u. New York: de Gruyter. Luckner, Andreas (2008). Heidegger und das Denken der Technik. Bielefeld: Transcript Rhonheimer, Martin (1994). Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis. Hand‐ lungstheorie bei Thomas von Aquin in ihrer Entstehung aus dem Problemkontext der aristotelischen Ethik. Berlin: Akademie. Thomas von Aquin (1933 ff.). Summa theologica. Deutsch-Latein. Salzburg: Pustet. 26 Andreas Luckner <?page no="27"?> 1 Ich verwende hier und im Folgenden die Begriffe „ethische“ und „philosophische“ Re‐ flexion von Moral bzw. von „gelebten Normen und Werten“ synonym (zur Terminologie vgl. Düwell et al. 2011; Kettner 2011). Die Unhintergehbarkeit der Reflexion in der anwendungsbezogenen Ethik - eine Positionsbestimmung in klugheitsethisch-topischer Perspektive Philipp Richter Die sog. „Angewandte Ethik“ ist heute gesellschaftlich und akademisch etabliert. Sie tritt vor allem in den Diskursen der Bereichsethiken und in verschiedenen Varianten von Beratungsgremien an Krankenhäusern, Forschungseinrich‐ tungen oder politischen Organisationen in Erscheinung. Wer sich mit dem Phä‐ nomen „Angewandte Ethik“ jedoch in theoretischer Absicht beschäftigt, betritt ein undurchsichtiges Feld: Unter dem Titel bieten zahllose Positionspapiere, Denkschriften und Ratgeber ganz unterschiedlicher Provenienz, aber auch wis‐ senschaftliche und philosophische Abhandlungen sehr heterogene Einlas‐ sungen zu aktuellen Positionen und Methodenfragen der Moralphilosophie in ihrem Praxisbezug. Dabei zeigen sich - explizit oder implizit - deutlich konträre Konzeptionen von Angewandter Ethik, die zudem mit sehr unterschiedlichem Anspruch auftreten. Wie lässt sich mit dieser Vielheit unterschiedlicher und sich zum Teil widersprechender Ansätze umgehen? Zweifellos kann nicht jede der ethischen Äußerungen gleichermaßen wohlbegründet, überzeugend und richtig sein. Auch verbürgt die Verwendung des Titelwortes „Angewandte Ethik“ noch nicht, dass der Anspruch, eine philosophische  1 Reflexion von spezifischen Mo‐ ralfragen zu leisten, auch tatsächlich eingelöst wird. Die Vielheit der konkur‐ rierenden Ansätze wirft also die Frage auf, was das philosophisch-ethische Nachdenken über moralische Urteile und Moral im Konkreten - gewissermaßen „Ethik in Anwendung“ - von anderen Weisen der kognitiven Auseinanderset‐ zung mit Praxis unterscheidet. <?page no="28"?> 2 Vgl. den Problemaufriss bei Dietrich 2007a. Nicht jedes Bezweifeln, Kritisieren und Diskutieren von gelebten Werten und Normen kann bereits als philosophisch-ethische Reflexion moralischer Urteile gelten. Problematisch erscheint vor allem, dass auch bei „bester Absicht“ die Ergebnisse des Nachdenkens letztlich doch durch unreflektierte Moralvorstel‐ lungen beeinflusst sein könnten - seien diese nun „noch nicht“ bedacht oder manipulativ eingesetzt - und somit letztlich nicht die vorgetragenen Argu‐ mente, sondern moralische Vormeinungen und Machtstrukturen zur Einstel‐ lungsänderung führen würden. 2 Daher stellen manche Philosophinnen und Phi‐ losophen aus theoretischen Gründen die Möglichkeit einer „Angewandten Ethik“ überhaupt in Frage (Gehring 2015, Wolf 1994), wohingegen andere kein echtes Problem sehen, da Ethik wohlverstanden immer „praktisch“ sei (Fenner 2010, Vieth 2006). Es wäre natürlich denkbar, dass die Vielheit der oben er‐ wähnten Positionen und Konzeptionen von „Angewandter Ethik“ unvermittelt nebeneinander stehen bleiben darf. Wenn wir jedoch annehmen, dass „Ange‐ wandte Ethik“ im Kern ein philosophisches Projekt ist, dann besteht notwendig ein Klärungsinteresse an der methodologischen Güte von ethischer Reflexion in konkreten Fragen. Nicht jede moralische Einlassung und nicht jede Metho‐ denkonzeption von Angewandter Ethik kann in ein und derselben Hinsicht richtig sein - gerade die „Umsetzung“ allgemeinmoralischer Gesichtspunkte ist in der Argumentationssituation zumeist strittig und muss sich daher im Ein‐ zelnen als richtig oder falsch, besser oder schlechter begründet sowie als allge‐ mein zustimmungsfähig, problematisch oder unverständlich etc. differenzieren lassen. Dieses Erfordernis der epistemischen und methodologischen Differenzier‐ barkeit resultiert bereits aus dem Sokratischen Leitmotiv der Ethik, nur ein ge‐ prüftes Leben sei wert, gelebt zu werden, und nicht notwendig, wie manche meinen, allererst aus einer Auffassung von Ethik, die sich am Paradigma einer einseitig positivistischen Wissenschaftstheorie orientiert (vgl. Nida-Rümelin 2001: 156ff.; Nida-Rümelin 2005). Diesem Paradigma entsprechend würde Ethik und ihre Konkretisierung konzipiert nach dem Vorbild eines exakten, allge‐ meinen Regelwissens, das nach dem Verfahren der unpersönlich reproduzier‐ baren Induktion o. ä. und isolierbaren Deduktionstests nach dem Hempel-Op‐ penheim-Schema bestätigt würde bzw. zur „Anwendung“ käme (vgl. Fischer 2017: 4ff.). Aber nicht nur die durch den naturwissenschaftlichen Erkenntnis‐ fortschritt inspirierten neuzeitlichen Ethikansätze, sondern auch Ansätze, die eine Aristotelische Konzeption von praktischer Philosophie als einem rationalen Umgang mit dem veränderlichen Bereich des Seins aufgreifen, müssen sich um 28 Philipp Richter <?page no="29"?> 3 Das heißt jedoch nicht, dass sich methodische Kriterien und Standards im Sinne einer Liste von transsituativen Merkmalen angeben lassen oder dass die Differenzierungen immer vollständig disjunkt sein müssen, vgl. Luckner 2005. eine klare, an methodischen Standards und Kriterien bemessene Differenzie‐ rung von bloß moralischen Aussagen und ethischen Theorien und Begrün‐ dungen dieser Aussagen bemühen. 3 Falls diese methodische Differenzierung und Reflexion nicht vorkommt, so bedeutet das, dass der Versuch des besseren Verstehens zugunsten einer vorfindlichen Moral als einem Komplex gelebter Werte und Normen abgebrochen wird. Hierzu lassen sich auch geteilte Auffas‐ sungen über fachliche Üblichkeiten, methodische Konventionen oder praktische Rahmenbedingungen zählen. Ein derartiger Abbruch der Reflexion kann durchaus stellenweise erwünscht oder erforderlich sein. Nur ist dieser Reflexi‐ onsabbruch dann wiederum höherstufig entweder ein reflektierter, der sich be‐ gründen und gegen schlechtere Alternativbegründungen verteidigen ließe, oder aber der Versuch des besseren Verstehens wird hier ohne weitere Begründung vertagt oder gänzlich aufgegeben. Eine vorbehaltlose, reflexive Klärung von moralischen und ethischen Vormeinungen, Aussagen und Begründungsansprü‐ chen ist für eine philosophische Ethik jedoch unausweichlich. Daher ist es er‐ forderlich, Strategien zur wohlbegründeten Differenzierung richtiger und fal‐ scher Urteile über die Umsetzung von allgemeinen Gesichtspunkten des Moralischen, Maximen, Normen sowie über methodische und argumentative Maßstäbe zu ermitteln. Diese methodologischen Fragen sind in der themabezo‐ genen Literatur noch nicht abschließend bearbeitet worden. Im Gegenteil zeigen viele Ethikansätze hinsichtlich ihrer „Umsetzung“ eine deutliche Kluft zwischen dem theoretisch fundierten Anspruch auf Notwendigkeit der Erkenntnis und der Kontingenz auftretender Einzelfälle, Situationen oder dem Geschehen der Praxis. Negativ formuliert führt diese Kluft jedoch zu Ununterscheidbarkeit und Beliebigkeit in der Beurteilung der methodischen Qualität (vermeintlich) ethi‐ scher Überlegungen im Einzelnen. Ich will im Folgenden einige häufig anzutreffende Strategien zur Beantwor‐ tung der Frage, was die sog. „Angewandte Ethik“ bzw. „Ethik in Anwendung“ eigentlich auszeichnet und auszeichnen sollte, auf Leistungen und Grenzen überprüfen. Die Diskussion von fünf Problemfeldern, mit denen sich die philo‐ sophische Ausarbeitung einer Konzeption von „Ethik in Anwendung“ konfron‐ tiert sieht, dient einerseits als Darstellung der Defizite bestimmter Konzepti‐ onen. Zugleich entwickle ich daraus im Sinne eines indirekten Arguments eine mögliche Alternativstrategie des Umgangs mit sog. Anwendungsproblemen in der Ethik, die vor allem von der Tradition der Aristotelischen Klugheitsethik und Topik ausgeht. Das Resultat meiner Argumentation ist also zunächst ein 29 Die Unhintergehbarkeit der Reflexion in der anwendungsbezogenen Ethik <?page no="30"?> negatives, zu einfache Konzeptionen von „Ethik in Anwendung“ werden als widersprüchlich erwiesen und widerlegt. Positiv betrachtet soll jedoch die These verteidigt werden, dass abgeschlossene Modelle von Ethik in Anwendung (z.B. Subsumtion, Urteilskraft, Urteilsbildungsmodelle, realer Diskurs) eigentlich nicht denkbar und der ethischen Reflexion nicht angemessen sind. Das liegt daran, dass diese Modelle die Reflexivität des philosophischen Nachdenkens hinsichtlich seiner immer wiederum nur reflexiv und argumentativ gültigen methodischen Kriterien und Standards nicht abbilden können. Die klugheits‐ ethische und topische Tradition des ethischen Denkens scheint jedoch dem Er‐ fordernis dieser Reflexivität am besten gerecht werden zu können. 1. Reflexivität und Ergebnisoffenheit - das Problem abschließender Antworten Was ist mit „Angewandter Ethik“ gemeint? Das, was Ethik auszeichnet, lässt sich nicht ohne weiteres an bestimmten Kenntnissen, Inhalten oder Forschungs‐ ergebnissen festmachen. Nicht immer, wenn z.B. über Aristoteles’ Nikomachi‐ sche Ethik oder Kants Konzeption von Autonomie gesprochen wird, wird auch schon in ethischer Hinsicht nachgedacht. Besser geeignet zur Auszeichnung von Ethik scheint die Fokussierung auf eine spezifische Methodizität als einer Weise des geordneten, reflexiven Nachdenkens über Moralfragen - mit dem norma‐ tiven Anspruch auf Richtigkeit der Aussagen. Nach einer heute gängigen Be‐ griffsverwendung hat „Ethik“ in diesem Sinn als Reflexion moralische Urteile, Moralvorstellungen oder moralische Praxis zum Gegenstand. Dabei gilt „Moral“ als Gesamtheit der tatsächlich anerkannten „gelebten Werte und Normen“ von Individuen oder Gruppen (Düwell et al. 2011; Hubig 2007: 17). Manche Einfüh‐ rungswerke unterscheiden heute eine Allgemeine Ethik und eine sog. Ange‐ wandte Ethik. Letztere ließe sich aufgrund ihres Erkenntnisziels, das in einem Beitrag zur Lösung praktischer Probleme besteht, abgrenzen (Fenner 2010: 12f.; Vieth 2006; Bayertz 1991). Begriffliche Differenzierungen und Argumentationen der Angewandten Ethik sollen demnach für die Bewältigung moralischer Fragen und praktischer Probleme nützlich sein und für die jeweiligen Praxisbereiche „angemessene“ Theorievorschläge erarbeiten (Nida-Rümelin 2005: 60ff.). Besonders trennscharf ist diese Unterscheidung einer Angewandten Ethik von einer Allgemeinen Ethik, die sich gleichsam selbstzweckhaft mit den ka‐ nonischen Texten und Argumentationen der Ethik auseinandersetzt, jedoch nicht. Erstens ist jede wissenschaftliche oder philosophische Untersuchung nur im Ausgang von Problemen denkbar; auch die Auseinandersetzung mit der aktu‐ 30 Philipp Richter <?page no="31"?> ellen Theoriendiskussion in Fachjournalen oder mit klassischen Positionen der Ethik ist immer nur perspektivisch durch eine zweckbezogen formulierte Pro‐ blemstellung möglich, die allererst relevantes Material und Gesichtspunkte auf‐ scheinen lässt und auswählbar macht. Jede Überlegung ist problembezogen, nicht nur die einer Angewandten Ethik. Zweitens kann die Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen und das Konsultieren von klassischen Argumenta‐ tionen der Ethik häufig sinnvoll bzw. „nützlich“ sein, um aktuelle Denk- oder Orientierungsprobleme zum Beispiel hinsichtlich des richtigen Umgangs mit technikwissenschaftlichen bzw. technologisch induzierten Konfliktlagen besser zu verstehen, um alternative Denk- und Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Die Unterscheidung einer Angewandten Ethik und einer Allgemeinen Ethik scheint daher, zumindest was ihre Methoden und Erkenntnisziele betrifft, nicht als Artunterscheidung, sondern höchstens als graduelle Differenzierung mög‐ licher Forschungsinteressen möglich (vgl. Salloch 2016: 36f.). Darüber hinaus sind drittens die vorgeschlagenen Differenzierungskriterien wie z.B. „Problem‐ lösung“, „Nützlichkeit“ oder „praktische Angemessenheit“, die einige Auto‐ rinnen und Autoren als epistemische Eigentümlichkeit einer Angewandten Ethik herausstellen wollen, zu vage und ambivalent, als dass sie zur Identifika‐ tion und deutlichen Differenzierung der methodischen Standards und Kriterien ethischer Reflexion im Konkreten etwas beitragen könnten. Dass die methodischen Anforderungen und Ziele einer „Angewandten Ethik“ noch nicht hinreichend geklärt sind, zeigt auch die Vielzahl der konkurrierenden Bezeichnungsvorschläge; wobei sich keine Standardbezeichnung etabliert hat (vgl. Kaminsky 2005). Freilich ist die Benennung der Sache nicht wesentlich, der Streit verweist aber doch zumindest darauf, dass es verschiedene Auffassungen von Methode und Zielsetzung des Projekts gibt und die Bezeichnung „Ange‐ wandte Ethik“ zum Teil als irreführend oder tautologisch wahrgenommen wird. Die Uneinigkeit über die Bezeichnung kann ein Indiz dafür sein, dass unklar ist, wie der „Praxisbezug“ in der Ethik überhaupt konzipiert werden kann. Die Be‐ nennungsvorschläge haben allerdings gemeinsam, dass ethische Reflexion in Anwendung eine Konkretisierung durch praktische Fragen und Zwecke erfährt. Es fällt jedoch nicht leicht, diese Zielsetzung einer „Ethik in Anwendung“ zu konzeptualisieren: Eine abschließende Problemlösung oder eine gleichsam au‐ toritative Beantwortung einer Moralfrage, die alle Uneinigkeit verschwinden ließe und weitere Einwände unmöglich macht, würde der prinzipiellen Ergeb‐ nisoffenheit des philosophischen Nachdenkens widersprechen. Zudem würde durch eine autoritative Beantwortung - sei sie auch als Aufklärung oder Ori‐ entierungsvorschlag gemeint - die Komplexität einer nichtidealen Welt zu‐ gunsten der in philosophischen Überlegungen notwendig vorgenommenen Ide‐ 31 Die Unhintergehbarkeit der Reflexion in der anwendungsbezogenen Ethik <?page no="32"?> 4 Das schließt nicht aus, dass es in der argumentativen Auseinandersetzung „Spielzüge“ gibt, die sich immer wieder erneut bewähren und sich so als notwendig gültige Sätze darstellen, wie z.B. die Normen der 1. Stufe in der Diskursethik, die durch Nachweis performativer Widersprüche des Argumentierens identifiziert werden können (vgl. Gottschalk-Mazouz 2017: 76ff.; vgl. die Beispiele bei Kettner 2017: 341ff.). alisierungen missachtet (Schramme 2015: 378f.). Die Reduktion von empirischer und theoretischer Komplexität auf eine einzelne Frage bzw. eindeutige Antwort erlaubt zwar die Testung von Theorieansprüchen auf Defizite und Plausibilität, gestattet jedoch nur vermeintlich eine praktische Lösung. Nämlich eine, die über ihre Einseitigkeit keine Auskunft gibt und den Möglichkeiten des Andersseins, der weiteren Ergebnisoffenheit und der Reflexivität des philosophischen Nach‐ denkens nicht Rechnung trägt. Die Beantwortung der Moralfrage wäre also keine philosophische, sondern eine, die nur beiläufig (womöglich) auch mit philosophischer Reflexion zutun hatte. Positive Einlassungen im Modus inhalt‐ lich moralischer Direktiven, die notwendig einen Abbruch des Denkens bei be‐ stimmten Setzungen erfordern, können nicht Ziel des ethischen Reflektierens sein - wenn dieses auf die reflexive Einsicht in den (nicht abschließbaren) Pro‐ zess des besseren Verstehens moralischer Urteile abzielt. Anders gesagt: eine autoritative und abschließende Positionierung angesichts moralischer oder ethi‐ scher Unklarheit widerspricht dem philosophischen Erkenntnisinteresse der Ethik. Insofern muss sich ethisches Nachdenken gleichsam auf ein Wissen vom Nichtwissen in Moralfragen fokussieren. Moralische Direktiven kann Ethik dann aber immer nur indirekt und immanent in Bezug auf das moralische Nach‐ denken oder die Argumentation von Personen vorbringen, z.B. indem diese als widersprüchlich erwiesen werden. 4 Die Konzeption einer Angewandten Ethik, die sich durch praktische Relevanz, Nützlichkeit oder Problemlösefähigkeit von einer Allgemeinen Ethik abgrenzen ließe, scheint nicht aussichtsreich. Jedoch kann für ein ethisches Reflektieren im Allgemeinen gefragt werden, wie sich dessen Konkretisierung ohne Relativierung auf subjektive Nützlichkeit, autori‐ tative Antworten oder einseitige Problemlösungsangebote denken ließe. 2. Der Topos vom „ungelösten Theorienpluralismus in der normativen Ethik“ - das Problem einer Ethik vor der Ethik Die Hoffnung auf eindeutige Antworten durch die Ethik scheint ebenfalls beim Blick in die Philosophiegeschichte und die aktuelle Diskussion enttäuscht zu werden. Der Topos vom „ungelösten Theorienpluralismus der normativen Ethik“ (Salloch 2016: 41) hat sich heute anscheinend etabliert und festgesetzt. Es existiere, so der Topos, in der Ethik eine Vielzahl „konkurrierender Theoriean‐ 32 Philipp Richter <?page no="33"?> 5 Vgl. den Begriffsgebrauch „naturalistisch“ in der Klassifikation von Theorien der Ge‐ rechtigkeit bei Nadia Mazouz 2012: 67f.; 91f. 6 Vgl. Mazouz 2012: 85. 7 Wir könnten nicht sagen, dass wir wüssten, welche Theorieoption hier die richtige wäre, sondern vielmehr nur zur Kenntnis nehmen, dass bestimmte Personen aus ei‐ genen oder gemeinschaftlichen Überzeugungen bestimmte Theorieoptionen für ge‐ eignet hielten; das lässt sich freilich nur noch im Nachhinein deskriptiv erfassen, nicht aber mit dem normativen Anspruch auf Richtigkeit - z.B. gegen die moralischen In‐ tuitionen mancher Personen - vertreten. sätze“ (Salloch 2016: 45; vgl. Vieth 2006: 46f.), die sich scheinbar als gleichsam vollständige Theorieoptionen überblicken ließen, jedoch untereinander nicht vereinbar wären. In Kombination mit dem kohärentistischen Ansatz von Julian Nida-Rümelin, der u.a. als Maßstab die Angemessenheit des ethischen Nach‐ denkens zum jeweiligen Praxisbereich vertritt, entsteht leicht der Eindruck, dass mal die eine Theorieoption oder mal die andere zur Problemlösung „in beson‐ derer Weise geeignet“ sei (Salloch 2016: 57). Das Bild der unvereinbaren und zugleich doch unzureichenden ethischen „Basistheorien“, das eine gleichsam dezisionistische Antwort ohne Bezug auf die unentschiedenen Grundfragen der Ethik erfordern würde (Fenner 2010: 15ff.; Vieth 2006: 42), ist jedoch irreführend. Denn die Rede von einer vorliegenden Vielheit der Theorieoptionen, die als Strategien zur theoretischen Ermittlung des Richtigen und Guten je nach Eig‐ nung gewählt oder ignoriert werden könnten, impliziert eine sog. „naturalisti‐ sche Einstellung“ 5 gegenüber ethischer Reflexion und ihren Ergebnissen. Es wird suggeriert, vor dem ethischen Nachdenken „in einer bestimmten Praxis“ könne gleichsam im Modus einer objektivierenden Nichteinmischung 6 darüber entschieden werden, ob hier zum Beispiel die Option einer Variante des Utili‐ tarismus - bei Ausblendung der bekannten Paradoxien - oder der Ansatz der Prima-Facie-Pflichten nach Ross besser geeignet sei. Bei dieser Entscheidung muss jedoch bereits darauf reflektiert worden sein, welche der moralphiloso‐ phischen Optionen geeignet ist, die „evaluative Erfahrung von Personen“ (Vieth 2006: 47) bzw. deren „moralische Intuitionen“ (Nida-Rümelin 2005: 60) am besten abzubilden. Wenn über die Richtigkeit dieser Reflexion wiederum im Verweis auf moralische Überzeugungen und evaluative Erfahrungen entschieden werden soll, dann handelt es sich dabei ersichtlicher Weise um eine zirkuläre Behauptung. 7 Hinzu kommt, dass diese Auswahl einer „geeigneten Theorie“, die in naturalistischer Einstellung scheinbar unberührt vorliegt, bereits doch auf‐ grund moralischer Vormeinungen selektiv interpretiert wird, wie auch jede scheinbar teilnahmslose Situationsbeschreibung letztlich doch durch Moral- und Theoriemeinungen vorbelastet ist. Wenn nun die interpretierende Verwen‐ dung eines Theorieansatzes der Ethik, wie diesen eine Person auf aktuellem 33 Die Unhintergehbarkeit der Reflexion in der anwendungsbezogenen Ethik <?page no="34"?> 8 So ähnlich formuliert Nadia Mazouz die aufgrund der Reflexivität des Überlegens ge‐ gebene methodische Anforderung an eine vollständige, deliberative Theorie der Ge‐ rechtigkeit (Mazouz 2012: 417ff.). „Gerechte Überlegungen sind in gerechten Überle‐ gungen bestimmte Überlegungen“ (ebd.: 423). Stand der Forschung und ihrer eigenen Überlegungen auffassen mag, nicht dogmatisch-moralisch, sondern ethisch reflektiert erfolgen soll, dann ist diese Auffassung begründungsbedürftig. Wobei letzteres wiederum eine philoso‐ phisch-ethische Reflexion auf die Richtigkeit der vorgebrachten Begründung für diesen einen Theorieansatz und dessen Interpretation erforderlich macht. Das schließt zum Beispiel jedoch auch die argumentationstheoretische Refle‐ xion auf die Güte von Gründen oder den Leistungen und Grenzen einer prak‐ tischen Rationalität ein. Insofern müsste, wenn ein „ungelöster Theorienplura‐ lismus der normativen Ethik“ behauptet wird, zugleich ein ethisches Theoretisieren, das logisch vor den vermeintlich gegebenen Theorieoptionen vorkommt, angenommen werden. Somit erweist sich der Topos jedoch als ab‐ wegig: Es müsste „Ethik“ als Vielheit von abgeschlossenen, jedoch kategorial inhomogenen Theorieoptionen (Utilitarismus, Kohärentismus, Partikularismus etc.) gedacht werden, zugleich müsste eine Ethik vor dieser Ethik angenommen werden, die sich reflektierend, unterscheidend und auswählend zu den Theo‐ rieoptionen verhält. Die philosophische Ethik kann Theorieoptionen jedoch nicht einfach hinnehmen, weil sie gerade darin besteht, sich und ihre Ergebnisse permanent selbst in problemorientierter Weise in Frage zu stellen, da der ethi‐ sche Reflexionsvorgang immer nur vorläufig durch das relativ bessere und bisher nicht widersprochene Argument abzuschließen ist. Die Kriterien und Standards, mit denen sich über die Güte der ethischen Reflexion entscheiden lässt, sind, das scheint mir die Perspektive eines Auswegs aus der Verwirrung durch den genannten Topos zu sein, selbst durch ethische Reflexion ermittelt und insofern auch diesen Kriterien und Standards unterworfen, die jedoch um Dogmatik zu vermeiden, wiederum unter dem Vorbehalt des ergebnisoffenen besseren Verstehens jeweils reflexiv, also in einem kritisch argumentativen Ver‐ hältnis zur Begründung dieser Kriterien und Standards, ermittelt werden müssen. Die Kriterien und Standards einer ethischen Reflexion wären dann solche, die in ethischer Reflexion ermittelt wurden und für Revision durch eben diesen Vorgang der Reflexion offen sind. 8 Diese Denkfigur könnte die eingangs geforderte Differenzierbarkeit von ethischen Überlegungen und anderen kog‐ nitiven Umgangsweisen mit moralischen Urteilen oder gelebten Werten und Normen ermöglichen. Hierbei handelt es sich, anders als es zunächst scheinen mag, um keine zirkuläre Behauptung, was ich jedoch zunächst nur ex negativo in Auseinandersetzung mit Julian Nida-Rümelins Konzept kohärentistischer 34 Philipp Richter <?page no="35"?> praktischer Rationalität verdeutlichen kann - im letzten Abschnitt komme ich darauf zurück. Nida-Rümelin geht davon aus, dass praktische Rationalität weder im Ausgang von externen Prinzipien, die dieser Rationalität als bloße Setzungen gegenüber‐ stünden, noch im Sinne eines praktischen Dezisionismus konzipiert werden kann (Nida-Rümelin 2001: 158ff.). Nach direkter Ablehnung eines Dezisionismus entwickelt er gewissermaßen im Modus eines indirekten Arguments eine ko‐ härentistische Position. Dabei wird eine vollständige Disjunktion zugrunde ge‐ legt, die in Analogisierung zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie von einem Positivismus mit deduktivem Konzept hin zu einem pragmatischen Kohären‐ tismus wissenschaftlicher Wahrheit plausibilisiert wird. Entweder ließe sich, so die vorausgesetzte Disjunktion, praktische Rationalität bzw. das Konkretisieren ethischer Überlegungen im Ausgang von der Setzung bestimmter Prinzipien konzipieren; oder sie verzichte auf allgemeine Prinzipien und orientiere sich an einer partikulär relativen, vorläufigen Stimmigkeit, die als ein kohärentes Bild moralischer Intuitionen, Umständen im Praxisbereich und distanziert rationalen Überlegungen aufgefasst werden könne. Die Disjunktion, die Nida-Rümelin an‐ bietet, ist jedoch nicht vollständig. Vielmehr scheint sie ein Subsumtionsmodell von Anwendung, das ja gerade durch den kohärentistischen Ansatz kritisiert werden sollte, vorauszusetzen. Prinzipien als bloße von der Rationalität der Überlegung abgekoppelte Setzungen aufzufassen, die für eine deduktive Ablei‐ tung zur Verfügung stünden, erinnert an John Stuart Mills Prinzipienbegriff, der Verwendung findet für sein Argument von der Unmöglichkeit, einen Beweis für das Nützlichkeitsprinzip zu führen, da dieses als ultimatives Prinzip keine Ab‐ leitung aus einem solchen darstellen könne. Wenn aber, so meine Kritik an der vermeintlich vollständigen Disjunktion, Prinzipien nicht als externe Setzungen mit Allgemeingültigkeitsanspruch aufgefasst, sondern als vorläufige und relativ gut begründete Ergebnisse der Reflexion aufgefasst würden, ergibt sich eine dritte Konzeptionsoption für eine rationale Konkretisierung ethischer Überle‐ gungen, die beide einseitige Optionen eines Prinzipiendogmatismus und eines kohärentistischen Partikularismus aufhebt. Diese Option ließe sich weiter mit Blick auf Kants praktische Philosophie und andere Überlegungen im Deutschen Idealismus vertiefen; ich kann hier jedoch nur zur Erläuterung andeuten, dass zumindest nach einem Kantischen Konzept von der Autonomie der vernünf‐ tigen Reflexion weder „die Praxis“ bzw. ein Eindruck von Stimmigkeit noch allgemeine Prinzipien ohne Bezug auf vernünftige bzw. reflexiv entwickelte Gründe als Maßstäbe für praktische Rationalität gelten können. Wenn nun in dieser Hinsicht Reflexion als selbstbezügliche Handlung auf‐ gefasst wird, dann können die vermeintlich „konkurrierenden Theorieansätze 35 Die Unhintergehbarkeit der Reflexion in der anwendungsbezogenen Ethik <?page no="36"?> 9 Das gilt auch dann, wenn sie in einem kritischen Verhältnis zu moralischen Urteilen und zu den bisherigen Üblichkeiten einer philosophisch-ethischen „Methodenmoral“ auftritt. 10 Vgl. Mazouz 2012: 67f.; 91f. (s. oben: Fußnote 5). der normativen Ethik“ keinen Bestand an methodischem und inhaltlich-morali‐ schem Wissen ausmachen (gleichsam als externe Setzungen), der bei Bedarf eingesetzt werden könnte, vielmehr sind die mit ihnen verbundenen methodi‐ schen, ethischen und moralischen Aussagen jeweils im Einzelnen erneut recht‐ fertigungsbedürftig. Da die philosophische Ethik aufgrund ihres Zieles, ein Wissen zweiter Ordnung zu entwickeln (reflexives Wissen vom moralischen Wissen), keine Moral neben und unter anderen Moralen darstellen kann, 9 ist der Umgang mit dem vermeintlich „ungelösten Theorienpluralismus“ weder eklek‐ tizistisch und selektiv als Geltenlassen einzelner Aspekte, noch als eine Orien‐ tierung an einem übergeordneten Prinzip, wie zum Beispiel der subjektiven Nützlichkeit von Überlegungen für bestimmte Praxisbereiche, denkbar. In beiden Fällen führt die implizite „naturalistische Einstellung“ 10 gegenüber dem ethischen Nachdenken und seinen vorläufigen Ergebnissen zu einer Abschaf‐ fung der Rationalität der ethischen Reflexion selbst. Bleibt nun als Ausweg nur die Abstinenz von moralischen oder ethischen, inhaltlichen Antworten? Lässt sich überhaupt etwas Gehaltvolles und Abschließendes durch ethisches Über‐ legen „in Anwendung“ sagen? Angesichts dieser Fragen haben sich zwei Weisen des Umgangs mit der Re‐ flexivität und Ergebnisoffenheit des ethischen Nachdenkens etabliert, die ich im Folgenden darstellen und kritisch diskutieren möchte. Die erste Position, die sog. Bereichsethikkonzeption, geht davon aus, dass sich Abschließendes nicht mit Allgemeingültigkeitsanspruch, sondern immer nur mit partikularem Bezug auf Praxisbereiche sagen ließe. Inhaltliches im moralischen oder ethischen Sinne, so die zweite Position, ließe sich mit ethischen Mitteln vermutlich überhaupt nicht abschließend feststellen, jedoch könnten die invarianten Strukturen des Urteilebildens des ethischen Nachdenkens im Sinne einer Methode ermittelt werden. 3. „Bereichsspezifische Moral- und Ethikgeschichten“ - Probleme der Bereichsethik-Konzeption Die Vorstellung unterschiedlicher Anwendungsbereiche des ethischen Nach‐ denkens - die sog. Bereichsethikkonzeption - geht vor allem auf das von Julian Nida-Rümelin herausgegebene Handbuch zur Angewandten Ethik (2005) zu‐ rück. Je nach Praxisbereich seien unter Umständen im Einzelnen jeweils andere 36 Philipp Richter <?page no="37"?> Begrifflichkeiten und normative Kriterien angemessen (Nida-Rümelin 2005: 62f.). Das ethische Nachdenken könnte sich bereichsweise unterschiedlich ent‐ wickeln, wobei sich auch dessen Rationalität an unterschiedlichen Kriterien und Standards orientieren würde. Je nach empirischen Umstandsbedingungen könnten die allgemeinmoralischen Gesichtspunkte sowie tradierten ethischen Theorien in anderer Hinsicht produktiv weitergedacht werden. Und in der Tat haben sich zahlreiche Diskurse unter den Titeln der sog. Bereichsethiken eta‐ bliert: Bio- und Medizinethik, Umweltethik, Wirtschaftsethik oder neuerdings die Informationsethik, Polizeiethik oder spezifischer die Wildtierethik. Will man diese Konzeption von Angewandter Ethik pointieren, so kann man sich ein Ad‐ ditionsverhältnis vorstellen. Die Überlegungen einer allgemeinen, eher selbst‐ zweckhaft betriebenen normativen Ethik und Metaethik werden empirisch-in‐ haltlich angereichert und unter den Bedingungen bestimmter Praxisbereiche, wie z.B. das Gesundheitswesen oder die politische Gestaltung von Großtechnik, spezifiziert. Zu einer allgemeinen Rationalitätstheorie, Argumentationstheorie oder ethischen Basistheorie sollen Überlegungen aus den einzelnen Praxisbe‐ reichen hinzukommen. Das epistemische Prinzip für diese angewandt ethischen Überlegungen ist dabei ein kohärentistisches; es geht darum, die Überlegungen solange fortzutreiben, bis sich zwischen allgemeiner Theorie, Beschreibung des Praxisfalles und den moralischen Intuitionen der Beteiligten ein harmonisches Gleichgewicht bzw. die Angemessenheit der moralischen Urteile einstellt (s. oben Abschnitt 2). Damit hat die Bereichsethikkonzeption jedoch nur das Pro‐ blem benannt, es aber nicht gelöst. Denn entweder ist „Angemessenheit“ eine ästhetische Qualität und als solche nicht weiter argumentativ explizierbar. Oder es liegt doch ein Prinzip zugrunde, das Angemessenheit im Einzelnen be‐ stimmbar macht. Ein derartiges Prinzip wird in der Bereichsethikkonzeption in Verbindung mit Nida-Rümelins kohärentistischer Theorie praktischer Rationa‐ lität jedoch nicht expliziert. Implizit muss jedoch ein solches unterstellt werden, um die Bestimmung der richtigen Erkenntnis im Einzelnen von der falschen leisten zu können. Andernfalls wäre je nach Interessenlage und moralischer Intuition Manches - je nach aktueller Konstellation im Handlungsbereich - mal wahr und mal falsch. Vollkommene Klarheit über die Richtigkeit von ethischen Aussagen ließe sich auf rationaler Basis nie ereichen. Es bleibt also fraglich, wie in den einzelnen, bereichsethisch charakterisierten Bereichen die methodische und moralische Güte von Aussagen der ethischen Überlegung jeweils identifi‐ ziert werden kann. Wenn für die Identifikation wiederum auf moralische Intui‐ tion und Angemessenheit verwiesen wird, liegt ersichtlicher Weise eine zirku‐ läre Behauptung vor (s. oben Abschnitt 2). 37 Die Unhintergehbarkeit der Reflexion in der anwendungsbezogenen Ethik <?page no="38"?> 11 Dieses Beispiel stammt von Julia Dietrich (2007b). Der Hinweis auf die Existenz der bereichsethischen Diskurse und auch die zugrundeliegende Bereichsethikkonzeption bieten allerdings keine Hilfe zur Klärung der normativen Grundfrage, nach welchen theoretischen Standards ethisches Nachdenken in den Bereichen zur Umsetzung kommen soll. Es lassen sich gegen die Auffassung, „Anwendung in der Ethik“ ließe sich konzipieren als Anpassung und Fortentwicklung allgemeinethischer Überlegungen an die „mo‐ ralischen Überzeugungen“, Bedürfnisse und Erfordernisse der Vertreter eines Praxisbereichs (Nida-Rümelin 2005: 60f.), mindestens drei Argumente als Ein‐ wände vorbringen. Moralische Fragen lassen sich, so der erste Einwand, den „Binde‐ strich-Ethiken“ beliebig zuordnen. Hierzu ein Beispiel: Soll die moralische Frage, ob eine Umgehungsstraße durch ein bisher unberührtes Waldgebiet gebaut werden soll, 11 nun eher innerhalb der Umweltethik, der Technikethik, der Wirt‐ schaftsethik oder vielleicht sogar der Wildtierethik behandelt werden? Sicher‐ lich werden in der Durchdringung der Frage moralische Belange berührt werden, die sich jedem dieser Titelwörter zuordnen ließen. Es wird ersichtlich, dass sich, je nach dem, was für relevant gehalten wird, unterschiedliche und letztlich eine unendliche Anzahl möglicher „Praxisbereiche“ und entsprechende Ethiken generieren ließen. Auch fällt die kategoriale Inhomogenität der Merk‐ male auf, die im Handbuch von Nida-Rümelin zur Bestimmungen der jeweiligen Bereichsethiken verwendet werden: Zur Definition wird u.a. verwiesen auf be‐ rufliche Tätigkeitsfelder, gesellschaftliche Subsysteme, bestimmte Personen‐ gruppen, aber auch auf allgemeine Aspekte des menschlichen Verhaltens, die überall relevant sind, oder akademische Diskurse und neue Disziplinen - zum Teil auch in Überschneidung und Kombination (Nida-Rümelin 2005: 64ff.). Die Liste der Bereichsethiken und somit auch jene der möglichen Maßstäbe der An‐ gemessenheit des ethischen Nachdenkens ist in methodischer Hinsicht daher nicht informativ (vgl. Hubig 2015: Kap. 4; Hubig/ Richter 2015). Und selbst wenn die Praxisbereiche über radikal eigene Ethikansätze mit jeweils unterschiedli‐ cher Begrifflichkeit und Methodik verfügten, dann würde entweder die Unter‐ stellung einer nicht bereichsunabhängig diskutierbaren und insofern jeweils be‐ liebigen Bereichszuordnung von Moralfragen diese normativen Teilethikansätze ad absurdum führen (denn jedem kritischen Einwand ließe sich 38 Philipp Richter <?page no="39"?> 12 So ließen sich beispielsweise moralische Fragen des „Risikomanagements in der Fi‐ nanzbranche“ bei Bedarf und je nach rhetorischer Absicht als Fragen der Bankenethik, der Führungs- und Personalwirtschaftsethik, der Verbraucherethik oder Rentenethik uminterpretieren oder es ließe sich ausweichen, indem die Sachlage in die grundlegen‐ dere Rechtsethik, Technikethik, in die ökologische oder politische Ethik verschoben wird. Dabei könnten jedoch alle Belange, die sich diesen Bereichen zuordnen lassen, relevant sein oder nur einige oder keine von diesen - nur das müsste unabhängig oder zumindest in Distanz zu den jeweiligen Bereichen mit guten Gründen entschieden werden. Strukturanalog zu diesem Problem der Beliebigkeit in der Zuordnung qua Re‐ formulierung von Moralfragen verhalten sich das von Micha H. Werner mit Blick auf Kants Moralphilosophie diskutierte Problem der unbegrenzten Maximenspezifikation angesichts unliebsamer Konsequenzen (vgl. Werner 2004: 104ff.) sowie das Problem der Immunisierung von naturwissenschaftlichen Aussagen gegen Falsifikation durch Ad-hoc-Hypothesen bei Popper (vgl. Richter 2015b: 557f.). 13 Das stellt eine Variante des Problems einer „Ethik vor der Ethik“ dar, s. oben. durch Verlagerung oder Spezifikation der Frage entgehen) 12 , oder die eigentliche Frage nach den Kriterien und Standards, die eine mögliche Zuordnung von einem reflexiven Standpunkt aus als richtig oder falsch kritisierbar machen würde, müsste vor und unabhängig zu den Praxisbereichen getroffen werden. Es müsste also erneut ein ethisches Theoretisieren vor der bindestrichethischen Theoriebildung angenommen werden, dessen Status als Ethik jedoch unklar bliebe. 13 Der zweite Einwand betrifft das Problem der Nicht-Isolierbarkeit der ethi‐ schen Reflexion: Fragen der ethischen Reflexion „in einem Bereich“ führen not‐ wendig auf allgemeine begründungstheoretische, erkenntnistheoretische oder ontologische Fragen. Es wird in den „Bereichen“ auch immer wieder reflexiv und höherstufig gefragt werden, was denn nun eigentlich ein gutes Argument ist und woran sich dieses erkennen lässt. Oder was wir meinen, wenn wir hier und jetzt von „gut“, „schlecht“ oder „ungerecht“ reden. Offensichtlich distan‐ zieren wir uns bei derartigen Überlegungen von den Üblichkeiten und Bedin‐ gungen des Praxisbereichs, insofern allgemeine Begriffe zum Gegenstand der Auseinandersetzung werden. Es sind begriffliche Klärungen erforderlich, die empirische Information aus dem Handlungsbereich zwar einbeziehen, diese aber nicht als epistemische Autorität gelten lassen können. Der dritte und letzte Einwand scheint mir jedoch entscheidend. Die Bereichs‐ ethikkonzeption muss einerseits annehmen, dass es viele Fälle des Anwendens von Ethik gibt - z.B. Ethik in der Medizin oder Ethik in Fragen der Technikge‐ staltung. Andererseits müsste sie erklären können, was dabei das jeweils Ethi‐ sche ausmacht. Wie kann in den potentiell unendlich differenzierbaren Praxis‐ bereichen ethische Reflexion von anderen Formen der kognitiven Auseinandersetzung mit Werten und Normen unterschieden werden? Denn die 39 Die Unhintergehbarkeit der Reflexion in der anwendungsbezogenen Ethik <?page no="40"?> 14 Eine strukturähnliche Argumentation findet sich mit Blick auf die Transzendental‐ pragmatik bei Audun Øfsti (1986: 144f., 155f.), der den Nachweis erbringt, dass die Be‐ tätigung der diskursiven Vernunft, also ein methodenreflexiv transparentes, begrün‐ dungsinteressiertes und dialogisches Nachdenken, keine Sonderpraxis neben anderen Diskurskonstellationen, Moralen oder Weisen der Kommunikation darstellt, der man bei Bedarf beitreten oder sich entziehen könnte. Vielmehr stellt diese eine in jedem Praxisbereich oder Sprachspiel immer mögliche und zur an Wahrheit interessierten Beurteilung von Geltungsansprüchen unausweichlich notwendige Methode zur dis‐ tanzierten Reflexion auf vorfindliche institutionelle, arbeitsteilige und rollenspezifische Asymmetrien dar, in der „der Einzelne“ dann zugleich „nicht mehr als dies oder jenes Besonderes gilt“, sondern gleichsam als ‚universelles‘ Wesen“ (ebd.: 155). Erst in dieser Distanzierung kann klar werden, was an den Üblichkeiten des Praxisbereichs und an bestimmten „moralischen Überzeugungen“ in inhaltlicher und methodischer Hinsicht einen ethischen Anspruch auf gut begründete, verstandene und zustimmungsfähige Legitimität erheben kann. faktische Zustimmung der Akteure zu bestimmten Aussagen oder das Ver‐ schwinden von Verständnisschwierigkeiten kann verschiedene Gründe haben; nicht notwendig ist das eine Leistung ethischer Reflexion. Die Bereichsethik‐ konzeption kann hier entweder keine klare Unterscheidung anbieten oder sie muss über den einzelnen Bereich hinaus im Allgemeinen explizieren, was das ethische Reflektieren im Konkreten auszeichnet. Da also ein ethisches Theore‐ tisieren angenommen werden muss, das logisch vor der bereichsethischen The‐ oriebildung, u.a. über mögliche Bereichszuordnungen disponiert und insbeson‐ dere als normative Kritik der moralischen Überzeugungen und Üblichkeiten auftritt, 14 wird die Rede von einer eigentümlich bereichsethischen Theoriebil‐ dung hinfällig. Aus diesen drei Argumenten lässt sich folgern, dass die Annahme einer sog. Angewandten Ethik im Sinne eines speziellen philosophischen Nachdenkens über Moralfragen, das sich je nach Bereich anders darstellen könnte, nicht plau‐ sibel ist. Man könnte einwenden, dass damit Julian Nida-Rümelins Konzeption womöglich missverstanden wäre; die Kritik könnte vielleicht auf das oben dis‐ kutierte Konzept einer kohärentistischen praktischen Rationalität zutreffen, nicht aber auf das Bereichsethikkonzept. Denn womöglich war die Rede von den Bindestrich- oder Bereichsethiken nur als pragmatischer Behelf gemeint - so ähnlich wie die Verwendung von Ismen zur Charakterisierung von philosophi‐ schen Positionen. Es könnte ja sein, dass die Rede von Bereichsethiken nicht klassifikatorisch-inhaltlich gemeint ist, sondern nur auf unterschiedliche em‐ pirische Information hinweist, die je nach Praxisbereich bei der ethischen The‐ oriebildung berücksichtigt werden müsste. Dieser Einwand würde allerdings eine Trennung der Theoriebildung über die praktische Rationalität ethischer Reflexion und der ethischen Theoriebildung in verschiedenen Praxisbereichen 40 Philipp Richter <?page no="41"?> voraussetzen. Die Argumentation in den Abschnitten 1 und 2 sowie die drei Argumente gegen die Bereichsethikkonzeption in diesem Abschnitt sollten je‐ doch deutlich machen, dass eine Trennung von nur allgemeinethischen einer‐ seits und nur anwendungsbezogenen Überlegungen andererseits aufgrund der Reflexivität des philosophisch-ethischen Reflektierens nicht durchzuhalten ist. Wenn die Bereichsethikkonzeption also lediglich als pragmatischer Behelf zur Markierung von Forschungsinteressen gemeint ist, dann ist das sicherlich un‐ problematisch und legitim. Ist sie jedoch als Theorie über die Methode einer Konkretisierung ethischer Reflexion gemeint, dann ist sie unzureichend. Im Gegensatz zur Bereichsethikkonzeption gehen andere Positionen davon aus, dass sich vermutlich wenig Inhaltliches oder Abschließendes im morali‐ schen oder ethischen Sinne mit Blick auf verschiedene Praxisbereiche sagen ließe. Jedoch könnten die invarianten Strukturen des Urteilebildens, wie sie in jedem Praxisbereich vorkommen könnten, ermittelt werden. 4. „Das Allgemeine und das Besondere“ - Probleme einer Modellierung des angewandten ethischen Urteils (nach Hegel) Welche invarianten Strukturen des Urteilebildens im Sinne einer „Ethik in An‐ wendung“ lassen sich feststellen? Einigkeit besteht weitgehend darin, dass die sog. „subsumptive option“ (Dancy 2004: 3) das ethische Nachdenken nicht an‐ gemessen abbildet. „Anwendung“ würde demnach am Vorbild der logischen Deduktion konzipiert. Moralisch bedeutsame Situationen würden gedanklich vorsortiert und als Fälle der Entsprechung oder des Widerspruchs zu allge‐ meinen Prinzipien klassifiziert - diese Konzeption ist isoliert betrachtet zum Teil nicht plausibel und führt verschiedentlich in theoretische Probleme (vgl. z.B. Hegel 1816/ 2003: 359-363; Hubig 1995: 65ff.; Wieland 1989). Das Subsumti‐ onsmodell bildet u.a. gerade das entscheidende normative Problem der Abs‐ traktion und Reduktion von Situationen auf Allgemeines nicht ab. Wovon aber soll angesichts bestimmter Situationen in welcher Hinsicht abstrahiert werden? Welche Abstraktion ist die richtige? Allgemeine Regeln geben, wenn sie, wie im Subsumtionsmodell, isoliert vorgestellt werden, über ihren richtigen Gebrauch keine Auskunft. Aber auch das vermeintliche „Gegengift“ eines nur kasuis‐ tisch-induktiven Modells, dem entsprechend ethisches Nachdenken moralische Prinzipien, ethische Theorien und allgemeine Gesichtspunkte des Moralischen nur beiläufig und ausgehend vom „jeweiligen Fall“ berücksichtigen oder erneut erschließen soll, überzeugt nicht (vgl. Bayertz 2008: 174f.). Denn entweder er‐ weist sich das kasuistische Bottom-Up-Konzept als komplementär zu moral‐ philosophischen Überlegungen, die allgemeine Maßstäbe und Normen entwi‐ 41 Die Unhintergehbarkeit der Reflexion in der anwendungsbezogenen Ethik <?page no="42"?> ckeln, oder es liegt ein Selbstwiderspruch der Konzeption vor, da beim ethischen Argumentieren immer Allgemeines in methodologischer Absicht vorausgesetzt oder aufgesucht werden muss (vgl. Heinrichs 2008: 50f.); andernfalls stünde zum Beispiel kein Standpunkt zur Kritik normativer Geltungsansprüche zur Verfü‐ gung. In der Literatur wird daher häufig ein „drittes Modell“ empfohlen (vgl. Salloch/ Schildmann/ Vollmann 2012: 263; Bayertz 2008), das Aspekte beider ide‐ alisierten Schlussweisen berücksichtigt und gleichsam kohärentistisch im Sinne der „Kreisförmigkeit einer kritischen Hermeneutik“ zusammenführt (Cortina 1998: 399; vgl. Schöne-Seifert 2008: 18f.). Derartige „dritte“ Konzeptionen, die Allgemeines und Besonderes vermitteln sollen, ohne eines der beiden Momente zu privilegieren, werden verschiedentlich auf Begriffe gebracht: Urteilskraft, Urteilskraft und Zusatzprinzipien, instrumentelle oder praktische Klugheit, reale Diskurse o. ä. Diese Konzepte gelten nicht mehr als „bloß“ theoretisches Denken, sondern als ein denkendes Tätigsein der „Anwender“, die Allgemeines und Besonderes nach bestimmten schematischen Verfahren der Urteilsbildung zusammenführen. Es gibt einige Modelle, die in heuristischer Absicht versu‐ chen, ohne moralische oder dogmatische Vorgaben die unveränderliche Struktur des ethischen Nachdenkens hinsichtlich variabler Inhalte zu be‐ stimmen. Exemplarisch genannt werden können das Konzept des praktischen Syllogismus in der Interpretation nach Julia Dietrich (Dietrich 2007b), das ko‐ härentistische Modell der sittlichen Orientierung nach Johannes Fischer (Fischer 2000: 261f.) oder narrativ-hermeneutische Modelle, die die Urteilsbildung als produktive Weiterentwicklung im Sinne eines „Hin- und Hergehens“ zwischen Allgemeinem und seiner Instantiierung im Hier und Jetzt konzipieren (vgl. Mieth 2002: 65f.). Diese Modelle für „Ethik in Anwendung“ können sicherlich vor allem für die Argument-Rekonstruktion in der Lehre oder bei der Diskussion in Beratungsgremien eine gedankliche Stütze darstellen. Jedoch kann sich so etwas wie „Ethik in Anwendung“ in der Konzeption und Verfeinerung derartiger Modelle nicht erschöpfen. Denn bei der Formulierung abgeschlossener Modelle der moralischen und ethischen Urteilsbildung entsteht das Problem, dass sich die Modelle zugleich „selbst enthalten“ müssten. - Was heißt das? Aufgrund der Reflexivität und Ergebnisoffenheit des ethischen Nachdenkens, das mit dem normativen Anspruch auf Richtigkeit auftritt, müsste die Modellbildung und Setzung bei ihrer Aktualisierung jeweils erneut gegen Alternativen verteidigt und gleichsam immer wieder entwickelt werden. Es ist beispielsweise nötig, eine durch Argumentation begründete Antwort auf die Frage zu geben: Warum sollen wir hier und jetzt gerade dieses Modell von moralischer und ethischer Urteilsbildung anerkennen? Die Gegenmodelle zu der unreflektierten „sub‐ sumptive option“ einerseits oder zum radikalen Bottom-Up einer bloßen Fall‐ 42 Philipp Richter <?page no="43"?> 15 Diesen Begriffsgebrauch von „naturalistisch“ übernehme ich aus Nadia Mazouzs Ab‐ handlung über deliberative Theorien der Gerechtigkeit (vgl. oben Fußnote 5). 16 „Gleiche“ Sachlagen oder Fälle müssen, wenn Erkenntnisinteresse besteht, „gleich“ be‐ handelt werden etc. Eine gegenteilige Behauptung, es gebe keine gleichen Fälle oder es gebe nichts Gleiches, kann als performativ widersprüchlich behandelt werden. 17 Mit der metaphorischen Rede von „tätigem Denken“ sollen argumentative Handlungen gemeint sein, z.B. in Gesprächssituationen Feststellungen treffen, Setzungen vor‐ nehmen, sich auf Voraussetzungen verpflichten, inferentielle Zusammenhänge her‐ stellen, auf Einwände antworten etc. betrachtung andererseits bleiben zumeist doch noch dem Subsumtionspara‐ digma verhaftet, insofern sie in „naturalistischer Einstellung“ 15 getrennte Bereiche des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen unterstellen, um sodann die Entscheidung über deren richtige Vermittlung an die „Anwender“ zu dele‐ gieren. Jedoch müsste das Verhältnis des ethischen Nachdenkens zu seinem Modell mitberücksichtigt werden; wenn tatsächlich ethisch reflektiert wird, dann muss das Modell dieses ethischen Nachdenkens kritisiert, weiterentwi‐ ckelt und verworfen werden können. Dann handelte es sich jedoch nicht mehr um das ursprüngliche Modell, das insofern nicht die vollständigen Maßstäbe und Kriterien der argumentativen Auseinandersetzung im Modus einer „Ethik in Anwendung“ enthalten hatte - es wurde ja zum Gegenstand der Kritik, Wei‐ terentwicklung oder Korrektur. Vor diesem Hintergrund verliert auch die Frage, ob Prinzipien oder Fälle in der ethischen Urteilsbildung primär sind, an Bedeutung. Allgemeine Prinzipien sind den Einzelfällen, in denen sich Moralfragen auftun, nie ganz angemessen, aber derartige Fälle stellen sich nie ohne Bezugnahme auf Prinzipien dar. Auch allgemeine Aussagen über die Gültigkeit und Güte von Gründen sind in dieser Hinsicht allgemeine Prinzipien, die bei einer ethischen Urteilsbildung nicht fehlen können (vgl. dagegen Dancy 2006: 81). Selbst ein radikaler Partikula‐ rismus muss noch in epistemischer Absicht Prinzipien unterstellen, wie z.B. Nachvollziehbarkeit und Klarheit der Argumentation oder methodische Regel‐ treue. 16 Die Problematik einer Anwendung von Prinzipien setzt die Trennung von Allgemeinem und Einzelnem als isolierbare Entitäten voraus. Die Frage ihrer nachträglichen Vermittlung ist daher in gewisser Weise künstlich, wie Hegel in der Begriffslogik der Wissenschaft der Logik ausführt (Hegel 1816/ 2003: 358ff.; vgl. Hegel 1830/ 1991, Enz. § 190). In Kritik eines nur subsumtionslogi‐ schen Denkens zeigt Hegel (vgl. Hegel 1816/ 2003: 374f.), dass dieses in Abstrak‐ tion von einem „tätigen Denken“ 17 hinsichtlich der Frage nach einer richtigen Vermittlung des Allgemeinen und Einzelnen „völlig zufällig und willkürlich“ wird (ebd.: 359f.). „Das Einzelne hat in dieser Unmittelbarkeit eine unendliche Menge von Bestimmtheiten, […] deren jede daher einen Medius Terminus für 43 Die Unhintergehbarkeit der Reflexion in der anwendungsbezogenen Ethik <?page no="44"?> 18 Eines der vier Beispiele Hegels lautet: „Wenn aus dem Medius Terminus der Sinnlichkeit geschlossen wird, dass der Mensch weder gut noch böse sei, weil vom Sinnlichen weder das eine noch das andere prädiziert werden kann, so ist der Schluss richtig, der Schluss‐ satz aber falsch, weil von dem Menschen, als dem Konkreten, ebensosehr auch der Medius Terminus der Geistigkeit gilt.“ (Hegel 1816/ 2003: 360f.) Hegel muss bei Formu‐ lierung dieses Beispiels allerdings voraussetzen, dass nur Sinnlichkeit und nicht auch zugleich Geistigkeit vom Menschen prädiziert wird. Denn ein sinnlich-geistiges Wesen ist ebenso wie ein rein geistiges hinsichtlich seines Tätigseins nicht amoralisch (wie ein nur sinnliches), vielmehr sind seine Tätigkeiten verantwortbar und somit moralisch ambivalent bzw. je nach Maßstab bewertbar. Für diesen und weitere wertvolle Hinweise zum Thema danke ich sehr herzlich Dietmar Hübner. dasselbe in einem Schlusse ausmachen kann. […] Ferner ist auch der Medius Terminus ein Konkretes in Vergleichung gegen das Allgemeine; er enthält selbst mehrere Prädikate, und das Einzelne kann durch denselben Medius Terminus wieder mit mehreren Allgemeinen zusammengeschlossen werden“ (ebd.: 359). Die Frage nach der richtigen Vermittlung ist also nicht aufgrund der Vorausset‐ zung eines erkenntnistheoretischen Relativismus oder Subjektivismus o. ä. „zu‐ fällig und willkürlich“, sondern aus begrifflichen Gründen: Der formale Sub‐ sumtionsschluss besteht einerseits durch die klar definierte Funktion der verwendeten Termini (Subjekt, Mittelbegriff, Prädikat), andererseits und zu‐ gleich werden die Instanzen der Termini als „etwas Selbständiges vorgestellt“ und weisen also mehr Merkmale auf, als ihre im Schluss relevante Funktion (vgl. ebd.: 308f.). Die Frage, welches der vielen denkbaren Merkmale als Mittelbegriff das richtige sei, ist vor dem Hintergrund des subsumtionslogischen Paradigmas unentscheidbar, da es „immer übrigbleibt, dass noch andere Medii Termini sich finden, aus denen das gerade Gegenteil ebenso richtig abgeleitet werden kann“ (ebd.: 361). Es ist also, genauer gesagt, allein auf subsumtionslogischer Grund‐ lage nicht entscheidbar, ob ein Schlusssatz wahr oder falsch ist, „obgleich für sich Prämissen und ebenso Konsequenzen [des Schlusses] ganz richtig sind“ (ebd.: 360). 18 Wenn Konzeptionen dem subsumtionslogischen Paradigma ver‐ haftet bleiben, dann wird philosophisches und somit auch ethisches Nach‐ denken hinsichtlich seines Anspruchs auf Richtigkeit beliebig. Es lässt sich keine Behauptung bzw. kein moralisches Urteil, insofern es sich als ein abgeleitetes präsentiert, kritisieren oder als falsch zurückweisen. Was aber haben wir nun durch die Auseinandersetzung mit Hegel gewonnen? Wie Hegel zeigt, kann das kleinteilig und formal darstellbare Schließen nicht isoliert von einem tätigen Denken, das sich selbst immer wieder zugleich über seine eigenen Vorausset‐ zungen und Setzungen vergewissert, Anspruch auf Richtigkeit machen. Der prozessuale Vorgang des konkreten und auch reflexiven Schließens taucht im isoliert-abstrakten Blick auf Schlüsse nicht auf. Hegel weist letztlich darauf hin, 44 Philipp Richter <?page no="45"?> dass im Subsumtionsmodell das eigentlich interessante philosophische Reflek‐ tieren als eine Tätigkeit, die sich nicht nur deduktiver Argumente bedient, gar nicht abgebildet wird. Wenn wir jedoch so etwas wie „ethisches Überlegen in Anwendung“ denken wollen, dann müssten wir diese Tätigkeit und die vorbe‐ haltlose Reflexivität dieses Denkens berücksichtigen. Hegel diskutiert die er‐ forderliche Aufhebung des „Formalismus des Schließens“ im Teleologiekapitel der Wissenschaft der Logik und bietet einen Vorschlag, wie die Beliebigkeit in der Wahl der Mittelbegriffe vermieden und wie hierbei Vermittlung gedacht werden kann (vgl. Hubig 2006: 125ff.). Diesem Lösungsvorschlag will ich hier nicht weiter nachgehen, sondern die aufgeworfene normative Problematik weiter mit Blick auf den vermeintlichen Schlüsselbegriff der Angewandten Ethik, „der Urteilskraft“, herausarbeiten. 5. Anwendung als „Urteilskraft + X“? Das Problem normativer Ansprüche Der durch Kant geprägte Begriff der Urteilskraft gilt gemeinhin als das Ver‐ mögen zu urteilen und Zusammenhänge „richtig zu erfassen“ (Pieper 1989: 86). Es ist allerdings bekannt, dass sich bei Kant keine „Angewandte Logik“ des mo‐ ralischen Urteils bzw. kein Konzept einer praktischen Urteilskraft findet (Höffe 1990). In der Diskussion der sog. „Angewandten Ethik“ wird allerdings dem Vermögen der Urteilskraft zumeist die Aufgabe zugewiesen, die „Lücke“ zwi‐ schen philosophischer Theorie und besonderer Situation zu schließen (Salloch 2016: 201). Es gilt als ausgemacht, dass hierfür das Konzept einer bloß nach‐ träglich bestimmenden Urteilskraft - gleichermaßen wie das unzureichende Subsumtionsmodell - modifiziert werden muss (Salloch/ Schildmann/ Vollmann 2012: 257). Beispielsweise geht hierfür Annemarie Pieper in ihren Überlegungen von der Typik der reinen praktischen Vernunft aus (vgl. Pieper 1989: 91f.), obwohl dieses Lehrstück keine angewandte Logik des moralischen Urteils entwickelt. Eigent‐ lich müsste differenziert werden, ob es im Gebrauch des Begriffs „Urteilskraft“ eher um die (von Pieper hauptsächlich fokussierte) Frage gehen soll, eine on‐ tologische Verträglichkeit eigentlich unähnlicher Bereiche (z.B. Freiheit - Natur, Sollen - Sein) als denkmöglich nachzuweisen, oder ob die Rede von Urteilskraft tatsächlich auf die normative Problematik einer Unterscheidung richtiger und falscher Urteile im Einzelnen bezogen ist. Auch in Piepers Rekonstruktion eines „methodischen Vorgehens der praktischen Urteilskraft“ (Pieper 1989: 87), ganz gleich, ob es als einseitiges „Übergehen“ oder ein „Hin- und Hergehen“ zwischen verschiedenen Bereichen (z.B. Norm und Empirie) (ebd.: 94f.) verstanden wird, 45 Die Unhintergehbarkeit der Reflexion in der anwendungsbezogenen Ethik <?page no="46"?> bleiben die Bereiche getrennt und die Frage nach ihrer Vermittlung würde für sich betrachtet beliebig. Es ließe sich nämlich jeweils die Frage stellen, warum sich ein allgemeiner Zusammenhang durch Einsatz der Urteilskraft genauso, wie von Pieper beschrieben, konkretisieren muss? Weshalb hier also eine Denk‐ notwendigkeit in normativer Hinsicht bestünde? Oder anders gesagt: Weshalb muss die Abstraktion notwendig auf diese allgemeinere Bestimmung führen? Wolfgang Wieland hat ausgearbeitet, dass ein derartiger Versuch, die Lücke zwischen unähnlichen Bereichen (z.B. Theorie - Praxis, Denken - bloßes Tun) als eine schrittweise Verringerung oder Steigerung der Allgemeinheit durch fallbezogene Urteilskraft o. dgl. überbrücken zu wollen, nicht durchführbar ist, sondern vielmehr in Aporien führt (Wieland 1989). Weniger auf die ontologische, sondern stärker auf die normative Problem‐ stellung fokussiert dagegen das Konzept einer „produktiv-reflektierenden Ur‐ teilskraft“ nach Sabine Salloch (Salloch et al. 2012: 254). Es wird versucht, das Verfahren der praktischen Urteilskraft als ein „Wechselspiel zwischen ethischem Prinzip und […] Situationsbeschreibung“ (Salloch et al. 2012: 260) bzw. als einen „dynamischen Ausgleich zwischen Prinzip, Regel, Fall und ‚Empirie‘“ (Salloch 2016: 28) auf den Begriff zu bringen. Das „produktiv-reflektierende Konzept“ von Urteilskraft erscheint gewissermaßen als ein drittes Modell zwischen Uni‐ versalismus und Partikularismus. Die Urteilskraft sei in diesem Sinne für die Zusammenführung des Allgemeinen und Einzelnen zuständig. Der „Reproduk‐ tionsleistung der Urteilskraft [liegen] selbst keine Prinzipien zu Grunde“ (Sal‐ loch et al. 2012: 263), weil bei gegenteiliger Behauptung ein Regress der unend‐ lichen Iteration des Verhältnisses „Allgemeines - Einzelnes“ auftreten würde und eine abschließende Vermittlung so nicht denkbar wäre (ebd.; vgl. auch Sal‐ loch 2016: 312). Es komme daher, um die Probleme eines bloßen Subsumtions‐ modells zu vermeiden, auf die individuelle Urteilskraft an und letztlich auf das moralische Individuum selbst - „während ethische Prinzipien dem gängigen Verständnis nach einen überindividuellen Charakter haben, ist es jeweils meine Urteilskraft, die das Urteil im Einzelnen ermöglicht“ (Salloch et al. 2012: 265; Herv. i. Orig.). Sallochs Argument funktioniert folgendermaßen: Weil der Nach‐ weis eines richtigen Gebrauchs der Urteilskraft nicht wiederum durch Verweis auf allgemeingültige Regeln dieses Gebrauchs möglich ist, da ansonsten der oben skizzierte Regress entsteht, soll nicht nach Regeln des richtigen oder fal‐ schen Gebrauchs der Urteilskraft gefragt werden bzw. nicht gefragt werden müssen. Trotz aller weiteren Ausführungen zu Zusatzprinzipien, Richtlinien und Verfahrensweisen ist damit die argumentative Verwendung des Topos „meine Urteilskraft“ immunisiert gegen jegliche Kritik (vgl. Richter 2017: 193ff.). Denn wie lässt sich ein „redlicher“ von einem manipulativen Verweis auf „meine 46 Philipp Richter <?page no="47"?> Urteilskraft“ unterscheiden? Wie lassen sich Selbsttäuschung oder Irrtum ohne objektive Standards vermeiden? Wie soll z.B. zwischen einer ausgewogenen und „einer verzerrten und tendenziösen Auffassung von Situationsumständen“ un‐ terschieden werden - Salloch verweist hier lediglich wiederum auf „die Urteils‐ kraft“ als Entscheidungsinstanz (Salloch 2016: 205). Diese lässt sich jedoch, wie Salloch ausführte, nicht gemäß allgemeiner Prinzipien hinsichtlich ihres rich‐ tigen Gebrauchs kritisieren. Somit müsste jedoch jeder Gebrauch individueller Urteilskraft, auch wenn gänzlich unterschiedliche Situationsbeschreibungen oder kontradiktorische Bewertungen auftreten, gleichermaßen richtig sein. Damit wird aber jeglicher normative Anspruch, der sich mit dem Konzept „Ur‐ teilskraft“ verbinden ließe, unhaltbar und absurd. Die Rede von Urteilskraft, die Allgemeines und Besonderes richtig vermitteln soll, stellt also eher die Formu‐ lierung eines Problems dar und nicht dessen Lösung. Als Ausgangspunkt für eine Konzeption von „Ethik in Anwendung“ scheint der Topos einer „individu‐ ellen Urteilskraft“ also nur bedingt tauglich. 6. Perspektive eines Ausweges? Nicht „Anwenden“, sondern klugheitsethisch-topisch Argumentieren Entweder dient eine allgemein verstandene „Urteilskraft“ der erkenntnistheo‐ retischen oder ontologischen Erklärung, wie sich zwei unähnliche Bereiche, wie zum Beispiel Allgemeines und Besonderes, verbinden ließen, dann ist ein Ver‐ weis auf dieses Vermögen jedoch in normativer Hinsicht irrelevant. Oder mit Urteilskraft ist ein besonderes, an Erfahrung geschultes Können einzelner Per‐ sonen gemeint, dann jedoch kann diese aufgrund der Beliebigkeit der Aus‐ gangsbasis („je meine“ Urteilskraft) ebenso wenig eine Grundlage für allgemeine normative Urteile bilden. Der Begriff der „Urteilskraft“ wird ohnehin obsolet, wenn man sich verdeutlicht, dass weniger der Einsatz der Urteilskraft bei nor‐ mativen Fragen von Interesse ist, sondern die im Einzelnen durchgeführte Ar‐ gumentationsbzw. Reflexionshandlung. Für diese stehen in philosophischer Hinsicht, ebenso wenig wie für eine individuelle Urteilskraft, allgemeingültige Regeln des Gebrauchs zur Verfügung, jedoch lassen sich mögliche Gesichts‐ punkte des zielführenden Argumentierens (topoi) angeben, die freilich jeweils erneut in ihrer Leistungsfähigkeit in dieser oder jener Argumentationshandlung bewährt werden müssen. Ich habe zu zeigen versucht, dass in methodischer Hinsicht das Konzept einer „Ethik in Anwendung“ nicht in von der Reflexion isolierbaren Modellen erfasst werden kann (Abschnitte 1 und 2). Die Reflexivität und Ergebnisoffenheit des philosophischen Fragens erlaubt keine statische Modellbildung von diesem phi‐ 47 Die Unhintergehbarkeit der Reflexion in der anwendungsbezogenen Ethik <?page no="48"?> losophischen Denken: Vielmehr müssen die Kriterien und Standards, mit denen sich über die Güte ethischer Reflexion entscheiden ließe, (immer wieder) selbst durch ethische Reflexion ermittelt werden. Insofern sind sie auch selbst diesen (zu ermittelnden) Kriterien und Standards unterworfen, die jedoch, um den Selbstwiderspruch dogmatischer Setzungen zu vermeiden, wiederum unter dem Vorbehalt des ergebnisoffenen, besseren Verstehens jeweils reflexiv ermittelt und gegebenenfalls erneut gegen Einwände verteidigt werden müssen. Beson‐ ders deutlich wurde diese normative Problematik bei der Diskussion der Be‐ reichsethikkonzeption von „Angewandter Ethik“ (Abschnitt 3). Diese ist inkon‐ sistent und erlaubt keine Begründung oder Widerlegung von moralischen oder ethischen Urteilen, die Anspruch auf Richtigkeit machen. Wenn philosophisch argumentiert wird, so scheint mir, steht keine andere Autorität als die des je neu argumentierenden und vorbehaltlosen Denkens zur Verfügung. Außerhalb und ohne Bezug zu diesem reflexiven Denken können keine Antworten, Regeln oder Modelle von „Ethik in Anwendung“ irgendeine Bedeutung in normativer Ab‐ sicht haben. Denn warum sollten gerade diese und keine anderen anerkannt werden? Besonders deutlich wurde diese Problematik einer Nicht-Modellier‐ barkeit von „Ethik in Anwendung“ bei der Kritik der sog. „subsumptive option“ durch Hegel (Abschnitt 4) sowie hinsichtlich der normativen Beliebigkeit im Verweis auf Urteilskraft - hier schien der kritisierte Ansatz einer Problemlösung darin bestanden zu haben, das Problem außerhalb der Reichweite des theoretisch Erklärbaren zu verschieben (Abschnitt 5). Jedoch muss eine Argumentation, auch unter der Bezeichnung „Aktualisierung meiner Urteilskraft“, für oder gegen bestimmte moralische oder ethische Thesen rational kritisierbar sein, um überhaupt als eine philosophische gelten zu können. Die Frage nach einer Ethik in Anwendung kann also nicht durch Formulierung und Begründung eines (neuen) Modells, das mit anderen Modellen konkurrieren würde, beantwortet werden. Die Adäquatheit der Modelle müsste ja wiederum vor dem Hintergrund eines Modells, das seinerseits wohlbegründet ist, diskutiert werden (ad infi‐ nitum). Die andere Option einer Akzeptanz der unvermittelten Pluralität von Modellen ohne argumentative Differenzierung erwies sich ebenfalls als nicht mit dem reflexiven Anspruch auf klares, besseres Verstehen vereinbar (Ab‐ schnitt 3). Was bedeutet das nun für eine „Ethik in Anwendung“? Ausgangspunkt war, dass nicht jede moralische Einlassung und nicht jede Methodenkonzeption von Angewandter Ethik in ein und derselben Hinsicht gut und gleichermaßen richtig sein kann. Aber wie kann vor dem Hintergrund der diskutierten Probleme über die methodologische Güte von ethischer Reflexion in konkreten Fragen ent‐ schieden werden? Es mag zunächst trivial klingen: Es muss jeweils dafür argu‐ 48 Philipp Richter <?page no="49"?> mentiert werden, was als ethische Reflexion gemäß bestimmter Standards und Kriterien gelten kann. Da die philosophische Argumentation reflexiv und er‐ gebnisoffen stattfinden muss, können keine methodischen Standards oder all‐ gemeingültigen Regeln des ethischen Reflektierens ad hoc vorausgesetzt, de‐ duktiv ermittelt oder ohne Begründung unterstellt werden (vgl. Richter 2018: 69ff.). Die „Findung“ von Gütekriterien sollte dementsprechend nicht als de‐ duktives Ableiten oder Anwenden von Modellen verstanden werden, sondern es handelte sich, wie bei jeder philosophischen Auseinandersetzung, um Argu‐ mentationshandlungen zur Standpunktentwicklung angesichts eines Problems. In der Tradition der Aristotelischen Topik ließen sich nun Gesichtspunkte für die problemrelative Standpunktentwicklung sammeln und jeweils erneut in Ar‐ gumentationen erproben und verfeinern. So ergeben sich zwar keine exakten Bestimmungen, jedoch lassen sich graduell bessere oder schlechtere Argumen‐ tationen differenzieren (vgl. Luckner 2005: 86f.; 144), wodurch eine naiv-prag‐ matistische Position („subjektive Nützlichkeit der ethischen Ausführungen“) zurückgewiesen werden kann. Aufgrund der diskutierten Konzeptionsprobleme von Angewandter Ethik scheint mir der folgende, indirekt begründete Vorschlag einer Skizze für eine zu entwickelte Konzeption der Konkretisierung ethischer Überlegungen am Para‐ digma der Praktischen Philosophie des Aristoteles sinnvoll. Dabei geht es mir um die systematische Erschließung einer Kombination von Klugheitsethik und Topik des Aristoteles im Sinne eines bestimmten Modus des Argumentierens unter kontingenten Bedingungen (Luckner 2005; Hubig 2006ff.); dieser enthält streng deduktive Argumente, die sich formallogisch darstellen lassen, lediglich als eine Teilmenge. Im Gegensatz zu neuzeitlichen Ethikansätzen ist Aristoteles’ Konzeption nicht am Ideal des exakten Wissens orientiert, da dieses dem ver‐ änderlichen Seinsbereich der Praxis nicht gerecht würde (vgl. Höffe 1979: 38ff.). Die Ableitung von streng deduktiver Erkenntnis wäre nur möglich, wenn sich beim Überlegen der Bereich des Handelns nicht beeinflussen ließe, sich verän‐ dern oder ganz anders darstellen könnte. Das impliziert freilich auch eine nicht-deduktive Rekonstruktion des praktischen Wissens bzw. praktischen Syl‐ logismus bei Aristoteles (vgl. Kertscher 2018: 113-120). In Kritik an Platons the‐ oretisch praktischer Philosophie bietet Aristoteles ein Alternativkonzept (vgl. Hubig 1995: 65-74; 113-118). Die Unterscheidung „gut“ und „schlecht“ stellt dabei keine vollständige Disjunktion dar, sondern ermöglicht ein Wissen im Umriss, das situativ und erfahrungsgesättigt jeweils neu und in Auseinander‐ setzung mit bereits Bewährtem entwickelt werden muss. Den „Umriss“ bilden dabei die zu vermeidenden „Extreme“, die freies Überlegen und Handeln ten‐ denziell zukünftig einschränken oder unmöglich machen könnten. Dieses tele‐ 49 Die Unhintergehbarkeit der Reflexion in der anwendungsbezogenen Ethik <?page no="50"?> ologische Moment der Klugheitsethik lässt sich hinsichtlich der Erkennbarkeit der Extreme mit der Aristotelischen Topik zusammenführen. Die Topik als Lehre von den argumentativen Örtern (gr. topoi) bietet keinen Katalog allgemeingül‐ tiger Regeln, sondern eine offene Sammlung von Gesichtspunkten für mögliche Strategien des zielführenden Argumentierens (vgl. Hubig 1990: 134; 140f.). Statt allgemein verbindlicher Regeln, die tatsächlich, wie Nida-Rümelin zu Recht kri‐ tisiert, den Status von bloßen Setzungen mit Allgemeingültigkeitsanspruch hätten, stehen bewährte Gesichtspunkte zur Verfügung, die problemrelativ in Argumentationshandlungen konkretisiert werden können. Die Frage nach der Rationalität der Konkretisierung ethischen Überlegens verlagert sich dann vom Problem der Vermittelbarkeit des Allgemeinen und des Besonderen, hin zur Frage eines Umgangs mit dem Verhältnis Mögliches und Wirkliches - im Sinne eines prozessualen Überlegens, in dem mögliche und verwirklichte Topoi andere mögliche Topoi erschließbar, kritisierbar und revidierbar machen etc. Die mög‐ lichen Topoi sind hinsichtlich ihrer Aktualisierung nicht beliebig, obwohl sie ohne ein Verhältnis zu Situationen, Problemen, dem moralischen Common Sense und Vorstellungen von stimmigen und überzeugenden Argumentations‐ weisen nicht aktualisierbar sind. Die Güte einer Argumentation würde in diesem Modus zunächst einmal an eher formalen Gesichtspunkten wie zum Beispiel Konsistenz und Kohärenz bemessen, aber auch, auf Grundlage klugheitsethi‐ scher Topoi, an der Machbarkeit der Handlung, den Üblichkeiten bei ähnlichen Handlungen und letztlich daran, wie sich die Handlungsweise zum Erhalt von weiteren Handlungsmöglichkeiten verhält. Auf diese Weise lassen sich relativ bessere und schlechtere Argumente differenzieren. Zunächst gilt also, dass stets mehrere Alternativ-Argumentationen ausformuliert werden müssten, die dann mit Hilfe der formalen und inhaltlichen Topoi kritisiert und verglichen werden können. Hier bleibt freilich das Problem der Nicht-Absolutheit der klugheits‐ ethischen Erkenntnis bestehen: Keine „Konkretisierung “ ist absolut richtig oder verwerflich. Es gibt unter Umständen nur sehr abwegige und unübliche Vor‐ stellungen des konkretisierten Guten, die womöglich auch relativ schlecht be‐ gründet sind. Auf Grundlage einer klugheitsethischen Topik kann jedoch zu‐ mindest dafür argumentiert werden, dass manche „Konkretisierungen“ relativ besser als andere sind. Dieser von Aristoteles ausgehende Ansatz ist einerseits offen für weitere Klärung und Erweiterung durch neue Topoi, andererseits ist er nicht beliebig, obwohl keine allgemeingültigen Regeln oder Prinzipien ange‐ nommen werden müssen, die von der praktischen Rationalität des Reflektierens isoliert wären. Auch das, was methodisch eine rationale Reflexion der Ethik auszeichnet, wird argumentativ in der Verwendung von Topoi festgestellt, die zugleich kriterielle Voraussetzungen und Ergebnisse des Reflektierens sind. In 50 Philipp Richter <?page no="51"?> einem klugheitsethisch-topischen Argumentationsmodus müssten, um einen Relativismus der Konkretisierung zu vermeiden, zusätzlich zu Aristoteles’ und bisherigen Überlegungen mindestens drei weitere methodische Gesichtspunkte berücksichtigt werden, die so noch nicht auf den Begriff gebracht wurden. Erstens müsste gelten, dass allgemeine Gesichtspunkte des Moralischen oder der Ethik für sich selbst genommen nicht aussagekräftig sind, vielmehr erlauben sie eine Positionierung zu Problemen und somit einen Ausgangspunkt der Ar‐ gumentation. Zweitens lässt sich der Relativismus bzw. Partikularismus in der Konkretisierung nur vermeiden, wenn eine logisch und zeitlich dimensionierte Argumentationshandlung im Ganzen und nicht nur bestimmte formal notierte Kombinationen von Aussagen in den Blick genommen werden. Als dritter Punkt müsste berücksichtigt werden, dass nur die Reflexivität des philosophischen Nachdenkens und entsprechende höherstufige Topoi die epistemische Autorität beim Argumentieren darstellen können und keine - mit welcher Begründung auch immer - festgelegten Modelle einer Anwendung von Ethik. Damit ist wo‐ möglich noch nicht viel gesagt, aber zumindest können so die weiteren Unter‐ suchungsperspektiven bestimmt werden: Herauszuarbeiten sind die Möglich‐ keiten eines rationalen und kritischen Umgangs mit Partikularismus und Eklektizismus, um weiter an einem Konzept der Konkretisierung ethischer Re‐ flexion arbeiten zu können, das auf das Gefälle von Möglichem und Wirklichem fokussiert und weniger vom Problem der Ähnlichkeit des Allgemeinen und des Besonderen seinen Ausgang nimmt. Literatur Bayertz, Kurt (1991). Praktische Philosophie als angewandte Ethik. In: Ders. (Hrsg.). Praktische Philosophie. Reinbek. Bayertz, Kurt (2008). Was ist angewandte Ethik? 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Dordrecht: Kluwer, 187-196. 54 Philipp Richter <?page no="55"?> 1 Ihre Richtigkeit hängt nicht immer nur von den Konsequenzen der Entscheidungen ab, doch ihre Folgen sind ein nicht zu vernachlässigender moralisch bedeutungsvoller Ge‐ sichtspunkt. 2 Die Ausdrücke „Ethik“ und „Moral“ unterscheide ich in diesem Aufsatz folgender‐ maßen: Gegenstand der Ethik sind Reflexionstheorien der Moral, moralische Aussagen bringen (moralische) Normen oder moralisch relevante Werte zum Ausdruck; so z. B. Düwell et al. (2011: X). Das Problem der epistemisch-evaluativen Abwägung bei Entscheidungen unter Unsicherheit Eugen Pissarskoi 1. Einleitung In zahlreichen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen geht es um moralische Entscheidungen, deren Richtigkeit (auch) davon abhängt, zu welchen langfris‐ tigen Konsequenzen die Entscheidungen führen werden. 1 Beispielsweise ist dies in Debatten über Technikregulierung der Fall, in Diskussionen darüber, welche politische Strategien und individuelle Handlungen angesichts der globalen Um‐ weltveränderungen moralisch geboten sind, oder auch in Debatten über Re‐ formen ökonomischer Institutionen (z. B. Finanzmärkte) oder der Systeme so‐ zialer Sicherung (Alterssicherungssysteme, Einführung von bedingungslosem Grundeinkommen). In allen diesen Beispielen können die Konsequenzen der uns zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen nicht eindeutig prognosti‐ ziert werden. Es können allerdings mögliche Konsequenzen vorhergesagt werden, wobei unsere Prognosefähigkeit sich von Fall zu Fall unterscheidet. Bezüglich der in diesem Sammelband diskutierten Problematik einer ethischen Begründung moralischer Urteile 2 in konkreten Situationen will ich mit diesem Beitrag darauf aufmerksam machen, dass die Unsicherheit über die Konse‐ quenzen von Handlungsoptionen bei moralisch bedeutungsvollen Entschei‐ dungen eine zusätzliche ethische Herausforderung mit sich bringt, nämlich die‐ jenige einer epistemisch-evaluativen Abwägung. <?page no="56"?> 3 In den genannten Beispielen kommen unterschiedliche Kategorien moralischer Prin‐ zipien vor: Die ersten beiden Prinzipien regulieren bestimmte deskriptive Handlungs‐ typen (töten, stehlen); die letzten beiden Prinzipien regulieren hingegen Typen mora‐ lischer Handlungen (moralische Rechte; das Gute), sie bedürfen einer (ethischen) Theorie dessen, was moralische Rechte bzw. das Gute ist. Viele vertraute moralische Prinzipien, die Gründe für moralische Entschei‐ dungen liefern, setzen voraus, dass die Konsequenzen der relevanten Hand‐ lungsoptionen eindeutig bekannt sind, zum Beispiel: • Es ist moralisch verboten, andere Lebewesen zu töten. • Du sollst nicht stehlen. • Es ist geboten, Rechte anderer moralisch berücksichtigungswürdiger Wesen einzuhalten. • Es ist geboten, das Gute zu maximieren. 3 Damit solche Prinzipien Handlungsorientierung stiften können, ist es erforder‐ lich, dass in einer Handlungssituation bekannt ist, dass bestimmte Handlungs‐ optionen zu den durch die Prinzipien regulierten Folgen (in den Beispielen oben: Tötung, Diebstahl, Verletzung von moralischen Rechten) führen. In einer Situ‐ ation der Unsicherheit ist aber genau das nicht gegeben: Wenn ich die Handlung A vollziehe, ist es (vielleicht mit einer Wahrscheinlichkeit p) möglich, dass ich X töte. Es ist aber (mit einer Wahrscheinlichkeit 1-p) auch möglich, dass ich X nicht töte. Auf die Frage, wie ich mich in einer solchen Situation verhalten soll, geben die bislang genannten Prinzipien keine Auskunft. Prinzipien für Entscheidungen unter Unsicherheit werden seit Langem dis‐ kutiert - das Prinzip der Maximierung des erwarteten Guten (Broome 1991) ist ein prominentes Beispiel für ein konsequentialistisches moralisches Prinzip, das in Situationen anwendbar sein soll, in denen Wahrscheinlichkeiten der mögli‐ chen Folgen der Handlungsoptionen identifizierbar sind. Die Entscheidungs‐ theorie kennt darüber hinaus viele andere Regeln (vgl. Ellsberg 1961, 194 ff.), die sich als Prinzipien für Entscheidungen unter unterschiedlichen Typen der Un‐ sicherheit interpretieren lassen dürften. Das Vorsorgeprinzip, auf dem Hans Jonas‘ (1979) Argumentation gründet, ist ein viel diskutiertes Prinzip für Ent‐ scheidungen in Situationen, in denen keine Wahrscheinlichkeiten bekannt sind (Steel 2015). In der letzten Zeit - vielfach in der Reaktion auf die Herausforde‐ rung, zu begründen, welche Klimapolitik angesichts der klimatologischen Un‐ sicherheiten moralisch gerechtfertigt ist - haben PhilosophInnen deontologi‐ sche Prinzipien für Entscheidungen unter Unsicherheit vorgeschlagen: unterschiedliche Varianten des Vorsorgeprinzips (Hartzell-Nichols 2012, Shue 56 Eugen Pissarskoi <?page no="57"?> 2010, Pissarskoi 2014) oder auch Prinzipien für Entscheidungen unter Risiko (Steigleder 2016) . Prinzipien für Entscheidungen unter Unsicherheit scheinen auf den ersten Blick so etwas wie „Erweiterungen“ der vertrauten moralischen Prinzipien auf bestimmte epistemische Situationen zu sein, nämlich diejenigen, in denen wir eingeschränktes Wissen über die Konsequenzen haben. Oder, um ein anderes Werkzeug zu bemühen: Sie sind „Übertragungen“ der deterministischen Prin‐ zipien auf Entscheidungssituationen unter Unsicherheit. Wenn es verboten ist, anderen Lebewesen zu schaden, so ist es unter Unsicherheit verboten, Hand‐ lungen, bei denen eine gewisse Möglichkeit besteht, dass sie anderen Lebewesen schaden, auszuführen. Wenn es geboten ist, das Gute zu maximieren, so ist es unter Unsicherheit geboten, den erwarteten Wert des Guten zu maximieren. In diesem Aufsatz möchte ich erklären, was diese Ausdrücke der „Erweite‐ rung“ oder der „Übertragung“ bedeuten. Ich werde erstens eine strukturelle Ge‐ meinsamkeit verdeutlichen, die Prinzipien für Entscheidungen unter Unsicher‐ heit unabhängig davon zukommt, ob sie teleologischen oder deontologischen ethischen Metatheorien entspringen. Diese Gemeinsamkeit lautet: Prinzipien für Entscheidungen unter Unsicherheit generalisieren - unter Annahme einer bestimmten ethischen Metatheorie - Abwägungen zwischen dem epistemi‐ schen Status möglicher Konsequenzen von Handlungsoptionen auf der einen und dem moralischen Wert ihrer möglichen Konsequenzen auf der anderen Seite. Mit anderen Worten: sie bringen allgemeine Prinzipien für Abwägungen zwischen dem epistemischen Status der möglichen Konsequenzen und ihrem moralischen Gewicht zum Ausdruck und ergänzen die deterministischen Prin‐ zipien um diese Perspektive. Zweitens will ich mit diesem Text auf eine Forschungslücke aufmerksam machen: Es ist keine Theorie bekannt, die allgemein erklärt, wie zwischen dem epistemischen Status möglicher Konsequenzen und ihrem moralischen Wert abgewogen werden soll. Die bislang vorgeschlagenen Entscheidungsprinzipien sind auf bestimmte Situationen ausgerichtet (in denen ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem epistemischen Status und dem moralischen Wert der möglichen Konsequenzen besteht). Ob und wie dies verallgemeinert werden kann, ist eine Forschungsfrage, auf deren Dringlichkeit ich hinweisen möchte. Der Text ist wie folgt aufgebaut: In Abschnitt 2 stelle ich kurz dar, wie teleo‐ logische und deontologische Theorien Handlungsbegründung gewöhnlich be‐ schreiben und warum ihre gewöhnlichen Prinzipien in Situationen unter Un‐ sicherheit keine Handlungsorientierung liefern können. In Abschnitt 3 charakterisiere ich die Besonderheit der Situationen unter Unsicherheit. In Ab‐ schnitt 4 diskutiere ich, wie deontologische Prinzipien aussehen könnten, um 57 Das Problem der epistemisch-evaluativen Abwägung <?page no="58"?> Handlungsorientierung unter Unsicherheit - sowohl in Situationen unter Un‐ gewissheit (Abschnitt 4.1.) als auch unter Risiko (Abschnitt 4.2.) - zu bieten. Ich will verdeutlichen, dass zahlreiche theoretische Probleme der Abwägung zwi‐ schen dem epistemischen Status der möglichen Konsequenzen und ihrem mo‐ ralischen Wert bestehen. In Abschnitt 5 diskutiere ich diese Thematik in Bezug auf teleologische Theorien. Abschnitt 6 fasst die Ergebnisse zusammen. 2. Teleologische und deontologische Prinzipien Es gibt zwei etablierte ethische Metatheorien, gemäß denen moralische Prinzi‐ pien Orientierung dabei bieten sollen, zu bestimmen, was in einer Situation moralisch richtig ist: teleologische und deontologische Theorien. Gemäß den teleologischen Theorien ist die Richtigkeit einer Handlung allein durch die Menge des durch sie hervorgebrachten Guten bestimmt (Broome 1991: 6). Varianten teleologischer Theorien unterscheiden sich dahingehend, welche Aspekte von Handlungen zum Guten beitragen: Gemäß konsequentialistischen Theorien sind es allein die Konsequenzen der Handlungen, deren hervorge‐ brachtes Gute bestimmt, was getan werden soll. Nicht-konsequentialistische Theorien berücksichtigen hingegen auch evaluative Merkmale von Hand‐ lungen, die keinen Einfluss auf die Konsequenzen haben, bei der Bestimmung dessen, wie gut eine Handlung ist: beispielsweise eine Tatsache, dass eine Hand‐ lung eine Lüge darstellt, oder Eigenschaften der Handelnden (z. B. Tapferkeit). VertreterInnen teleologischer Theorien stehen vor den metaethischen Auf‐ gaben, zu erläutern, was unter dem für sie zentralen ethischen Begriff, das Gute, zu verstehen ist, worin das Gute besteht, wie es erkannt und gemessen werden kann und wie die vielfältigen Hinsichten, in denen Handlungen gut sein können, miteinander im Hinblick auf das Gute aggregiert werden können. Angenommen, das gelingt ihnen. Dann bieten teleologische Theorien hand‐ lungsorientierende Prinzipien, mit denen von der Güte der verfügbaren Hand‐ lungsoptionen auf die Richtigkeit einer Handlung geschlussfolgert werden kann. Teleologische Theorien kennen mehrere solcher Prinzipien: Das Prinzip der Maximierung des Guten besagt, dass diejenigen Handlung moralisch richtig ist, welche die größte Menge an Gutem im Vergleich zu allen anderen verfüg‐ baren Handlungsoptionen hervorbringt (z. B. Parfit 1984: 24). Ein anderes Prinzip ist das der Genügsamkeit („Satisficing“), es besagt, dass all diejenigen 58 Eugen Pissarskoi <?page no="59"?> 4 Slote (1989) verteidigt das Prinzip der Genügsamkeit ausführlicher, allerdings als ein Prinzip der Rationalität. Amartya Sen (1979: 471 f.) bezeichnet die hier als „Genügsam‐ keit“ („satisficing“) bezeichnete Regel als „sufficiency“ („Suffizienz“). 5 Damit es wirklich eindeutig wird, muss noch ergänzt werden, was zu tun ist, wenn mehrere Handlungsoptionen gleich gut sind, z.B.: wenn mehrere Handlungsoptionen gleich gut sind, ist es geboten, eine beliebige von ihnen auszuführen. Handlungen moralisch erlaubt sind, deren Ausführung ein gewisses Niveau an Güte nicht unterschreitet (Broome 1991: 6 f.). 4 Das Maximierungsprinzip ist handlungsanleitend in dem Sinne, dass es er‐ laubt, eine Handlung auszuwählen. 5 Das Genügsamkeitsprinzip ist handlungs‐ orientierend, da es erlaubt, eine Menge von moralisch erlaubten Handlungen auszuzeichnen. Um zu entscheiden, welche Handlung aus der Menge der er‐ laubten Handlungen getan werden soll, müsste es durch weitere Prinzipien er‐ gänzt werden. Dank solcher Prinzipien kann eine Entscheidung darüber, welche Handlung getan werden soll, als ein einfaches, deduktiv gültiges, Argument rekonstruiert werden, hier am Beispiel des Maximierungsprinzips formuliert: Argument 1: Teleologische Handlungsbegründung unter Sicherheit 1. [Moralisches Prinzip]: Es ist moralisch geboten, dass Handelnde diejenige Handlung ausführen, welche relativ zu verfügbaren Handlungsoptionen die größte Menge an Gutem herbeiführt. 2. [Spezifikation der Situation]: Von den in der Situation S der handelnden Person A verfügbaren Handlungsoptionen H 1 -H n führt die Ausführung von H i die größte Menge an Gutem herbei. 3. [Konklusion]: Es ist geboten, dass A H i tut. Die ethische Plausibilität teleologischer Theorien sowie ihre tatsächliche Un‐ terstützungskraft für die moralische Entscheidungsfindung hängt im hohen Maße von der Plausibilität der ersten Prämisse und der ihr zugrundeliegenden Theorie des Guten ab. Doch nehmen wir an, es gäbe eine solche Theorie, die uns in die Lage versetzen würde, unterschiedliche evaluative Hinsichten zu er‐ kennen, miteinander zu aggregieren, so die Güte von Handlungen zu be‐ stimmen, und sie kardinal zu messen. Selbst dann stellt sich für teleologische Theorien ein Problem, wenn in einer Entscheidungssituation die Handlungs‐ optionen moralisch bedeutungsvolle Konsequenzen haben, die nicht eindeutig vorhergesagt werden können. In einer solchen Situation kann der Wahrheits‐ wert der zweiten Prämisse nicht festgestellt werden und das Handlungsprinzip verliert seine handlungsorientierende Funktion. Für solche Situationen muss das in der Prämisse (1) spezifizierte Prinzip angepasst werden. Doch bevor wir 59 Das Problem der epistemisch-evaluativen Abwägung <?page no="60"?> 6 Nach Schmidt (2012: 515 f.) ist es eine Besonderheit moralischer Prinzipien, dass im Antezedenz nicht-moralische Eigenschaften stehen, sodass das moralische Prinzip eine Schlussfolgerung von nicht-moralischen Eigenschaften auf eine moralische Vorschrift erlaubt. Im Folgenden werde ich auch Konditionale als moralische Prinzipien auffassen, bei denen im Antezedenz moralische Eigenschaften vorkommen, beispielsweise gilt dies für die obigen Beispiele „Niemand darf moralisch berücksichtigungswürdigen Wesen ohne ihre Zustimmung Leid zufügen“ sowie „Niemand darf legitimes Eigentum Anderer ohne ihre Zustimmung an sich nehmen“. Ich bin mir unsicher, wie solche Prinzipien am besten interpretiert werden sollten. Eine Möglichkeit besteht darin, sie als zusammengesetzte Prinzipien aufzufassen. Den in ihnen vorkommenden morali‐ schen Begriffe „moralisch berücksichtigungswürdige Wesen“, „Leid“ sowie „legitimes Eigentum“ liegen nicht-zusammengesetzte moralische Prinzipien zugrunde (welche wiederum die Form haben, dass eine Implikation von nicht-moralischen auf moralische Eigenschaften behauptet wird). Eine andere Möglichkeit besteht darin, sich darauf fest‐ zulegen, dass es auch (sinnvolle) moralische Prinzipien gibt, bei denen im Antezedenz moralische Begriffe vorkommen, deren Bedeutung sich nicht in einen deskriptiven Be‐ deutungsbestandteil und eine moralische Beurteilungsregel zerlegen lässt. Ich will mich an dieser Stelle bezüglich dieser möglichen Interpretationen nicht festlegen. zu der Diskussion der Frage kommen, wie teleologische Theorien damit um‐ gehen, führen wir uns kurz die Idee der deontologischen Theorien vor Augen. Im Gegensatz zu teleologischen Theorien verneinen deontologische Theo‐ rien, dass die Richtigkeit einer Handlung allein von dem durch sie hervorgeb‐ rachten Guten abhängt. Vielmehr sind es moralische Normen, die moralische Vorschriften (geboten, verboten, erlaubt etc.) enthalten, und denen moralische Pflichten bzw. die ihnen korrespondierende Rechte zugrunde liegen, welche die Richtigkeit einer Handlung determinieren (Alexander/ Moore 2016). Beispiele für solche, durchaus vertrauten, Normen sind: „Du sollst nicht lügen“; „Es ist moralisch verboten, Andere zu töten“; „Niemand darf moralisch berücksichti‐ gungswürdigen Wesen ohne ihre Zustimmung Leid zufügen“; „Niemand darf legitimes Eigentum Anderer ohne ihre Zustimmung an sich nehmen“ etc. Was genau moralische Normen, Pflichte und Rechte sind, wie wir sie erkennen können und wie genau einzelne moralische Normen in einer bestimmten Situ‐ ation das determinieren, was getan werden soll, das sind wiederum Fragen an deontologische Theorien, die ich hier beiseite schieben möchte. Für die Diskus‐ sion in diesem Text ist hingegen die Beobachtung von Thomas Schmidt (2012) einschlägig, dass deontologische Normen sich als generelle Konditionale auf‐ fassen lassen, Schmidt (2012) nennt sie „moralische Prinzipien“: Für jede Hand‐ lung, die die Eigenschaft F hat, gilt die moralische Vorschrift O (Schmidt 2012: 515). 6 Als moralische Prinzipien leisten sie wiederum Handlungsorientierung, indem durch Subsumption einer konkreten Handlung unter ein geeignetes mo‐ ralisches Prinzip eine Handlungsempfehlung deduktiv folgt. 60 Eugen Pissarskoi <?page no="61"?> 7 Ein weiterer Ausweg liegt darin, moralische Prinzipien als sehr komplexe Konditionale zu verstehen, bei denen im Vordersatz die Umstände spezifiziert werden, unter denen die im Konsequenz spezifizierte Handlungsvorschrift gilt. Beispielsweise: unter den Umständen U 1 bis U m ist es verboten, zu lügen (vgl. hierzu Schmidt 2012: 518 f.). Die in diesem Aufsatz diskutierte Herausforderung der Veränderung von Prinzipien für Situ‐ ationen unter epistemischer Unsicherheit trifft auf diesen Ausweg im gleichen Maße wie auf die Interpretation der Prinzipien als Prima-facie-Prinzipien, deshalb diskutiere ich nur die letztere Interpretation. In einer derart allgemeinen Form sind moralische Prinzipien allerdings nicht gültig (d. h., die generellen Konditionale sind nicht wahr). Denn es lassen sich stets Umstände finden, in denen die Handlungsvorschrift O, die laut dem je‐ weiligen Prinzip der Eigenschaft F zukommt, umgedreht wird. Es sind beispiels‐ weise Situationen denkbar, in denen es erlaubt oder gar geboten ist zu lügen, zu töten, Eigentum anderer an sich zu nehmen etc. Um diesem Problem Rechnung zu tragen, lassen sich moralische Normen als generelle Aussagen verstehen, die „unter sonst gleichen Umständen“ (ceteris paribus) gelten (Pietroski 1993) oder die einzelne moralische Pflichten bzw. beitragende Gründe neben anderen mo‐ ralischen Gesichtspunkten zum Ausdruck bringen (Prima-facie-Pflichten, Ross 1930; Schmidt 2012: 522 ff.). 7 Wenn wir moralische Prinzipien als Prima-facie-Vorschriften interpretieren, haben sie die Form: Für jede Handlung, die die Eigenschaft F hat, gilt prima facie die moralische Vorschrift O. Dann sieht die argumentative Struktur einer deontologischen Handlungsrechtfertigung folgendermaßen aus: Argument 2: Deontologische Handlungsbegründung unter Sicherheit 1. [Moralisches Prinzip]: Für jede Handlung, bei der die handelnde Person Anderen ohne ihre Zustimmung Leid zufügt, gilt die Prima-facie-Pflicht, dass die Handlung unterlassen wird. 2. [Spezifikation einer Situation]: In der Situation S hat die handelnde Person A die Handlungsoption H, Person B ohne ihre Zustimmung Leid zuzufügen. 3. [Zwischenkonklusion]: In S hat A die Prima-facie-Pflicht, H zu unter‐ lassen. 4. [Begriffliche Wahrheit]: Die Prima-facie-Pflicht, eine Handlung H i zu unterlassen, bedeutet, dass H i unterlassen werden soll, wenn es keine ge‐ wichtigeren Prima-facie-Pflichten gibt, H i zu tun. 5. [Abwägungsprämisse]: In der Entscheidungssituation S gibt es keine ge‐ wichtigeren Prima-facie-Pflichten, H zu tun. 6. [Konklusion]: H soll unterlassen werden. 61 Das Problem der epistemisch-evaluativen Abwägung <?page no="62"?> 8 Bei der Begründung der ersten Prämisse des teleologischen und der fünften Prämisse des deontologischen Arguments handelt es sich um die in diesem Band diskutierte ‚Anwendungsproblematik‘ (vgl. Richter in diesem Band). Richter (2015, 2017) arbeitet diese Problematik für die Kantische deontologische Theorie am Beispiel der unvoll‐ kommenen Hilfspflicht heraus. Nach dieser Interpretation haben moralische Prinzipien keine handlungsanlei‐ tende, sondern eine handlungsorientierende Funktion. Sie zeichnen beitragende Gründe aus, die bei der Bestimmung dessen, was zu tun ist, in die Abwägung gezogen werden müssen (Zwischenkonklusion in (3)). Zur Begründung einer eindeutigen Handlung müssen weitere beitragende Gründe (Prima-facie-Pflichten) in Betracht gezogen werden (dies erfolgt bei der Be‐ gründung der Abwägungsprämisse (5)). Während bei der Rekonstruktion der Handlungsempfehlung gemäß teleolo‐ gischen Theorien (Argument 1) die erste Prämisse die ethisch am anspruchs‐ vollsten bleibt (denn ihre Begründung erfordert eine Theorie des Guten), ist es bei den deontologischen Theorien (unter Annahme der Interpretation von mo‐ ralischen Normen als Prima-facie-Pflichten) die fünfte, die Abwägungsprä‐ misse. Sie ist am schwersten zu rechtfertigen und dürfte in praktischen Ausei‐ nandersetzungen den Gegenstand der ethischen Kontroverse bilden. 8 Doch nehmen wir auch hier an, wir hätten eine überzeugende Theorie für die Be‐ gründung der Abwägungsprämisse. In Situationen unter Unsicherheit hilft uns das bisherige Argument dennoch nicht weiter, um eine Handlungsentscheidung zu begründen. Zahlreiche deontologische Prinzipien sind von der Art, dass die Eigenschaft, derentwegen eine moralische Vorschrift besteht, eine Verursachung beinhaltet. Beispielsweise gilt dies für das moralische Prinzip, Anderen kein Leid zufügen zu dürfen. Die Eigenschaft des Leidzufügens stellt eine Verursachung dar: Es gibt eine Handlung, in deren kausalen Folge Andere leiden. Allgemein möchte ich moralische Prinzipien, die Verursachungen regulieren, folgendermaßen fassen: Für alle Handlungen, deren Ausführung dazu führt, dass ein moralisches Recht Dritter verletzt wird, gilt die Prima-facie-Pflicht, dass die Handlung unterlassen wird. Bei solchen Prinzipien können wir immer in die epistemische Situation der Un‐ sicherheit geraten, lediglich wissend, dass eine Handlung möglicherweise die im Prinzip regulierte Konsequenz verursacht. Die deterministischen (also ein‐ deutige Handlungskonsequenzen voraussetzenden) Prinzipien verlieren dabei ihre handlungsorientierende Funktion. Auch im Rahmen deontologischer Theo‐ rien stehen wir damit vor dem analogen Problem wie bei teleologischen Theo‐ 62 Eugen Pissarskoi <?page no="63"?> 9 Manche AutorInnen unterscheiden epistemische Unsicherheit von sogenannter „mo‐ ralischer Unsicherheit“ (für einen Überblick hierzu siehe Bykvist 2017). Letztere ist die Unsicherheit der Handelnden, ein moralisches Prinzip (bzw. eine moralische Theorie) auszuwählen, mit dem (bzw. der) die Handlungsentscheidung begründet werden soll (gemäß der obigen Argumentrekonstruktionen von Entscheidungsbegründungen han‐ delt es sich bei moralischer Unsicherheit um Unsicherheit darüber, welches Prinzip in der ersten Prämisse stehen soll). In diesem Text geht es ausschließlich um epistemische Unsicherheit. Im Folgenden werde ich auf die Qualifizierung „epistemisch“ verzichten, es sei denn der Kontext wird ihre Erwähnung erfordern. rien: Aus welchen Prinzipien können unter Unsicherheit beitragende Gründe für eine Handlung abgeleitet werden? 3. Situationen unter Unsicherheit In Situationen unter Unsicherheit können Handelnde zukünftige Entwick‐ lungen nicht eindeutig vorhersagen. Epistemische Unsicherheit 9 in Entschei‐ dungssituationen ist bedingt durch die Fähigkeit der handelnden Person, Hand‐ lungskonsequenzen zu prognostizieren. Weil Unsicherheit eine epistemische Eigenschaft ist, könnte man meinen, dass sie keinerlei Implikationen bezüglich der Gültigkeit moralischer Prinzipien hat. Zwar mag es zahlreiche Situationen geben, in denen handelnde Personen die Folgen der ihnen verfügbaren Handlungsoptionen nicht eindeutig kennen. Jedoch hat jede Handlungsoption eine eindeutige Konsequenz, auch wenn sie für uns Menschen nicht erkennbar bleibt, und die moralischen Prinzipien geben an, was unabhängig von unserem Erkenntnisvermögen (bzw. aus der Perspek‐ tive einer EntscheidungsträgerIn mit perfekter Voraussicht) moralisch richtig ist zu tun. Ich möchte von der Frage abstrahieren, ob moralische Gebote erkenntnis‐ transzendent sein können - ob es also sein kann, dass es moralisch richtig ist, dass ich H tue, auch wenn es für mich aufgrund meines Erkenntnisvermögens nicht möglich ist, zu erkennen, dass ich H tun soll. Mich interessieren moralische Prinzipien als Prinzipien, die realen EntscheidungsträgerInnen Handlungsori‐ entierung geben. Selbst wenn es wahr wäre, dass moralische Gebote erkennt‐ nistranszendent sein könnten, würde sich für eine Handelnde mit unserem menschlichen Erkenntnisvermögen die zusätzliche Frage stellen, was sie in der nicht-idealen Situation tun soll, wenn Handlungskonsequenzen kontingenter‐ weise nicht eindeutig erkennbar sind. Um hier Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich die obigen moralischen Prinzipien epistemisch umformulieren: 63 Das Problem der epistemisch-evaluativen Abwägung <?page no="64"?> 10 Situationen unter Unsicherheit lassen sich weiter im Hinblick auf das verfügbare Wissen über die möglichen Folgen differenzieren (Betz 2010, ein Überblick findet sich in Riesch 2012). Einige dieser Unsicherheitskategorien werde ich im weiteren Verlauf des Textes einführen. (Teleologisches Prinzip): In einer epistemischen Situation, in der die handelnde Person A eindeutig vorhersagen kann, welche Menge an Gutem die ihr verfügbaren Hand‐ lungsoptionen herbeiführen werden, ist es moralisch geboten, dass A diejenige Hand‐ lung ausführt, welche relativ zu verfügbaren Handlungsoptionen die größte Menge an Gutem herbeiführt (und wenn mehrere Handlungen gleich gut sind, ist es geboten, eine beliebige von ihnen zu tun). (Deontologisches Prinzip): Wenn eine Person A weiß, dass, falls sie eine Handlung H tut, dies moralische Rechte Dritter verletzen wird, so hat A eine Prima-facie-Pflicht, H zu unterlassen. Unsicherheiten über Handlungskonsequenzen sind graduell. Sie unterscheiden sich in Abhängigkeit davon, wie detailreich die zukünftigen Handlungsfolgen vorhersagbar sind. Epistemische Sicherheit (also eine Situation, in der zukünf‐ tige Handlungskonsequenzen eindeutig bekannt sind) kann als ein Extremfall der Unsicherheitsgrade aufgefasst werden. Knight (1921) hat zwischen drei Typen von Unsicherheiten unterschieden: neben der Situation der Sicherheit - diese werde ich auch, Betz (2010) folgend, als „deterministische“ Situation be‐ zeichnen - hat er zwischen „Risiko“ („risk“) und „Ungewissheit“ („uncertainty“) differenziert. In Risiko-Situationen sind die objektiven Wahrscheinlichkeiten, mit denen die möglichen Konsequenzen eintreten können, bekannt. In Situ‐ ationen unter Ungewissheit haben EntscheidungsträgerInnen lediglich Wissen über mögliche Folgen, ohne dass sie die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens bestimmen können. 10 Der entscheidende Unterschied zwischen deterministischen Situationen und denen unter Unsicherheit besteht darin, dass in ersteren zu jeder Handlungs‐ option eindeutige Handlungsfolgen bekannt sind, während in letzteren über mindestens eine Handlungsoption lediglich eine Menge möglicher Handlungs‐ folgen bekannt ist. Und genau diese Eigenschaft macht es unmöglich, die bislang explizierten moralischen Prinzipien - welche eindeutige Handlungsfolgen vo‐ raussetzen - anzuwenden. Moralisch relevant sind Entscheidungssituationen, in denen sich mögliche Handlungskonsequenzen der verfügbaren Handlungsoptionen moralisch signi‐ fikant unterscheiden - weil in ihnen moralische Rechte und Pflichten verletzt werden oder weil sie unterschiedliche Menge an Gutem realisieren. Durch die Wahl einer Handlungsoption nimmt die handelnde Person Einfluss darauf, 64 Eugen Pissarskoi <?page no="65"?> welche zukünftigen Weltzustände herbeigeführt und welche moralisch signifi‐ kanten Konsequenzen eintreten werden, auch wenn sie nicht genau vorher‐ sagen kann, welche Weltzustände es genau sein werden, die durch ihre Ent‐ scheidungen herbeigeführt werden. Innerhalb sowohl teleologischer als auch deontologischer Theorien gibt es Prinzipien, die in Situationen unter Unsicherheit Handlungsorientierung liefern können. Betrachten wir nun im Einzelnen, wie solche Prinzipien aussehen. 4. Deontologische Prinzipien für Entscheidungen unter Unsicherheit Wenn in deterministischen Situationen eine Prima-facie-Pflicht besteht, eine Handlung zu unterlassen, in deren Folge moralische Rechte Anderer verletzt werden, so scheint es, lässt sich diese Prima-facie-Pflicht leicht auf Situationen unter Unsicherheit ausdehnen: (DP-Unsicherheit): Wenn eine EntscheidungsträgerIn A weiß, dass, falls sie eine Handlung H tut, dies möglicherweise moralische Rechte Dritter verletzt, so hat A eine Prima-facie-Pflicht, H zu unterlassen. Die Idee dieses Prinzips besagt, dass es auch moralisch prima facie verboten ist, Andere einer Situation auszusetzen, in der die Möglichkeit besteht, dass ihre moralischen Rechte verletzt werden. Ein solches Prinzip bietet allerdings keine Handlungsorientierung. Für sehr viele unserer Handlungen gilt, dass wir mo‐ ralische Rechte Dritter verletzen können: Wenn wir im Haushalt mit einem Messer hantieren, mit dem Fahrrad oder Auto fahren und erst recht, wenn wir großtechnische Anlagen bauen und betreiben. Würde das DP-Unsicherheit gelten, wären alle diese Handlungen prima facie verboten und es bedürfte kom‐ plexer zusätzlicher Abwägungen, um zu entscheiden, ob sie nach Berücksichti‐ gung aller anderen Prima-facie-Pflichten erlaubt sind. In vielen Fällen dürften wir dabei in eine Patt-Situation geraten, dass, gleichgültig welche Handlungs‐ option wir wählen, Rechte Dritter möglicherweise verletzt werden. Damit wäre das Prinzip nicht befolgbar, da kein Handeln erlaubt wäre - alles, was wir tun, könnte Anderen schaden. Gewöhnlich werden Prinzipien unter Unsicherheit für einzelne Unsicher‐ heitstypen - Risiko und Ungewissheit - unterschieden. Betrachten wir diese Unsicherheitstypen einzeln. 65 Das Problem der epistemisch-evaluativen Abwägung <?page no="66"?> 11 Diesen Punkt haben zahlreiche AutorInnen gegen das Vorsorgeprinzip vorgebracht (u. a. Sunstein 2007, Manson 2002, Steele 2006). Allerdings interpretierten die Kritiker‐ Innen das Vorsorgeprinzip als ein handlungsanleitendes Prinzip und warfen diesem vor, widersprüchlich zu sein (d. h. vorzuschreiben, p und non-p zu tun). Interpretieren wir das Vorsorgeprinzip als ein Prinzip, das eine Prima-facie-Pflicht enthält, trifft der Ein‐ wand, es sei widersprüchlich, nicht mehr zu. Doch das Problem, dass das DP-Unge‐ wissheit keine Handlungsorientierung bietet, bleibt. 4.1. Prinzipien für Entscheidungen unter Ungewissheit Zahlreiche AutorInnen haben dafür argumentiert, das Vorsorgeprinzip als ein Prinzip aufzufassen, das in Situationen der Knightschen Ungewissheit Hand‐ lungsorientierung liefert (Gardiner 2006, Steel 2015). Im Rahmen deontologi‐ scher Theorien lässt es sich in einer ersten Annäherung folgendermaßen for‐ mulieren: (DP-Ungewissheit): Wenn eine EntscheidungsträgerIn A sich in der epistemischen Situation der Ungewissheit befindet und wenn sie weiß, dass es möglich ist, dass die Ausführung einer Handlungsoption H dazu führt, dass moralische Rechte Dritter ver‐ letzt werden, dann hat A die Prima-facie-Pflicht, das Ausführen von H zu unterlassen. Doch auch dieses Prinzip liefert aufgrund der Vagheit des Begriffs „ist möglich“ in realen Entscheidungssituationen keine Handlungsorientierung. In einem ge‐ wissen Sinne von „möglich“ lässt sich über jede Entscheidungssituation unter Ungewissheit festhalten: Gleichgültig, ob wir die Handlung H tun oder sie un‐ terlassen, in beiden Fällen ist es im gewissen Sinne möglich, dass dadurch mo‐ ralische Rechte Dritter verletzt werden. 11 Um diesen Einwand zu entkräften, muss der Möglichkeitsbegriff präziser ge‐ fasst und das Vorsorgeprinzip auf einen bestimmten Typ von Möglichkeiten eingeschränkt werden. Es lassen sich erstens Typen von relativen Möglichkeiten unterscheiden: Ein Sachverhalt p ist möglich relativ zum Gegenstandsbereich Q genau dann, wenn die Aussage „p“ mit den in Q enthaltenen Wahrheiten kon‐ sistent ist. Ein Gegenstandsbereich kann umfassen beispielsweise metaphysi‐ sche, begriffliche, physikalische, sozialwissenschaftliche, historische etc. Wahr‐ heiten. Zweitens lassen sich Typen von Möglichkeiten epistemisch unterscheiden und das ist die für uns interessantere Einteilung. Diese Möglich‐ keitstypen unterscheiden sich im Hinblick darauf, wie wir rechtfertigen, dass ein Sachverhalt p möglich ist, d. h. dass die Aussage „p“ mit dem vorhandenen Hintergrundwissen konsistent ist. Betz (2010; 2015) hat vorgeschlagen, folgende Typen von epistemischen Möglichkeitsaussagen zu unterscheiden: 66 Eugen Pissarskoi <?page no="67"?> • Verifizierte Möglichkeitsaussage: eine Aussage „möglich, dass p“ ist nach‐ gewiesenerweise konsistent mit dem verfügbaren Hintergrundwissen, sie referiert auf verifizierte Möglichkeiten; • falsifizierte Möglichkeitsaussage: eine Aussage „möglich, dass p“ ist nach‐ gewiesenerweise inkonsistent mit dem verfügbaren Hintergrundwissen, sie referiert auf verifizierte Unmöglichkeiten (es ist äquivalent mit veri‐ fizierten Unmöglichkeitsaussagen); • artikulierte Möglichkeitshypothese: das sind Möglichkeitsaussagen, deren Konsistenz mit dem Hintergrundwissen weder nachgewiesen noch falsifiziert worden ist. Dieser Aussagentyp referiert auf bloße Möglich‐ keiten. Der Typ „artikulierte Möglichkeitshypothesen“ lässt sich weiter differenzieren (einige Differenzierungen schlagen Steel 2013 sowie Shue 2010 vor, vgl. auch Hubig 2007). Für manche artikulierten Möglichkeitshypothesen haben wir kei‐ nerlei wissenschaftliche Evidenzen (z. B. „Es ist möglich, dass das weltweite Bruttoeinkommen im Jahr 2019 um 40 % relativ zum Vorjahr sinken wird.“; „Es ist möglich, dass morgen Außerirdische landen werden.“). Für andere Möglich‐ keitshypothesen existieren erste Evidenzen oder der Mechanismus ist bekannt, der zum in der Hypothese behaupteten Sachverhalt führen wird (z. B. „Es ist möglich, dass die thermohaline Zirkulation aufhören wird, falls die Treibhaus‐ gaskonzentration 600 ppm CO 2 e überschreitet“). Bei einigen Möglichkeitshy‐ pothesen kennen wir analoge Fälle aus der Vergangenheit oder aus Experi‐ menten unter abweichenden Randbedingungen, verstehen aber nicht, wie relevant die abweichenden Randbedingungen für das Auftreten des Sachver‐ haltes sind (z. B. „Es ist möglich, dass ein weiterer Anstieg der Immobilienpreise in Deutschland zu einem Börsencrash im Jahr 2019 führen wird.“). An dieser Stelle bin ich nicht in der Lage, eine systematische Typologisierung der epistemischen Möglichkeitsaussagen anzugeben, und sie bezwecke ich in diesem Text auch nicht. Ich will aber festhalten, dass es unterschiedliche Typen von epistemischen Möglichkeitsaussagen gibt, kürzen wir einen Möglich‐ keitstyp i mit „e i -möglich, dass p“ ab. Die Typen von Möglichkeitsaussagen sowie die ihnen korrespondierenden Möglichkeiten lassen sich im Hinblick auf etwas, was ich „epistemische Strenge“ bezeichne, ordnen. Artikulierte Möglich‐ keitshypothesen sind leichter zu begründen als Aussagen, die weiter oben als „verifizierte Möglichkeitsaussagen“ bezeichnet wurden; verifizierte Möglich‐ keitsaussagen implizieren artikulierte Möglichkeitshypothesen. Die Strenge der Möglichkeitstypen lässt sich auch folgendermaßen verstehen: Denken wir an eine Zukunftsprognose, über die Unsicherheit besteht, z. B. die Höhe des glo‐ balen Bruttoeinkommens (BE) im Jahr 2025. Die Menge von verifizierten Mög‐ 67 Das Problem der epistemisch-evaluativen Abwägung <?page no="68"?> lichkeiten für den Wert des globalen BE im Jahr 2025 ist deutlich kleiner als die Menge von bloßen Möglichkeiten für diesen Wert; verifizierte Möglichkeiten haben eine kleinere Bandbreite als bloße Möglichkeiten. In Bezug auf das moralische Prinzip für Entscheidungen unter Ungewissheit stellt sich angesichts der Vielfalt von Möglichkeitstypen die Frage: Welcher Typ von Möglichkeiten soll im Entscheidungsprinzip DP-Ungewissheit vorkommen, mit anderen Worten, welche Möglichkeiten sollen bei der Entscheidungsfindung unter Ungewissheit berücksichtigt werden? Nach meinem Wissensstand ist diese Frage bislang nicht explizit diskutiert worden. Hier bezwecke ich keine Überlegungen zu dieser Frage. Ich will viel‐ mehr darauf aufmerksam machen, dass eine Festlegung auf einen bestimmten Typ von Möglichkeiten, für die es eine Prima-facie-Pflicht gibt, e i -mögliche Verletzungen von moralischen Rechten zu vermeiden, einer Theorie der Abwä‐ gung bedarf, und zwar zwischen dem epistemischen Typ der Möglichkeiten (e i ) und der moralischen Signifikanz der Konsequenzen. Das möchte ich anhand der folgenden, beispielhaft konstruierten, Entschei‐ dungssituation verdeutlichen. Stellen wir uns vor, wir befinden uns in der Situ‐ ation der Knightschen Ungewissheit und uns stehen zwei Handlungsoptionen, A und non-A, zur Auswahl. Das, was wir über die schlimmstmöglichen Konse‐ quenzen der beiden Handlungsoptionen wissen, ist in der Tabelle 1 dargestellt. Wissenschaftliche Modellierungen der Entscheidungssituation haben ergeben, dass bei der Wahl von A schlimmstenfalls keine moralischen Rechte verletzt werden, wohingegen beim Unterlassen von A (non-A) schlimmstenfalls 100 Personen sterben werden. Wir wissen aber, dass die Modelle wichtige kausale Beziehungen der Entscheidungssituation nicht berücksichtigen und dass zahl‐ reiche Randbedingungen ungewiss sind. So sind auch Hypothesen geäußert worden, dass es möglich ist, dass beim Ausführen von A 10.000 Menschen um‐ kommen werden, wohingegen beim Unterlassen von A schlimmstenfalls 200 Menschen sterben. A Non-A Verifizierte Möglichkeitsaussagen 0 -100 Artikulierte Möglichkeitshypothesen -10.000 -200 Tabelle 1: Schlimmstmögliche Konsequenzen der verfügbaren Handlungsoptionen Würde das DP-Ungewissheit nur verifizierte mögliche Konsequenzen berück‐ sichtigen, hätten wir die Prima-facie-Pflicht, die Handlungsoption A zu wählen. Wenn wir hingegen auch artikulierte Möglichkeitshypothesen bei unserer Ent‐ 68 Eugen Pissarskoi <?page no="69"?> scheidungsfindung einbeziehen, sind beide Handlungsoptionen prima facie ver‐ boten, allerdings könnten wir argumentieren, dass das Unterlassen von A im schlimmstmöglichen Fall deutlich weniger Menschenleben fordert, was einen zusätzlichen Grund liefern würde, A zu unterlassen. Mit diesem Beispiel will ich den folgenden Unterschied zwischen Prinzipien für Entscheidungen unter Sicherheit auf der einen und unter Unsicherheit auf der anderen Seite verdeutlichen. In der Situation der epistemischen Sicherheit besteht eine Prima-facie-Pflicht, eine Handlung zu unterlassen, wenn wir wissen, dass sie moralische Rechte Dritter verletzten wird. Um zu einer Hand‐ lungsentscheidung zu gelangen, muss geprüft werden, ob diese Prima-facie-Pflicht durch andere moralische Prinzipien überwogen wird: Bei‐ spielsweise dadurch, dass es andere moralisch berücksichtigungswürdige Wesen in einer deutlich höheren Anzahl gibt, deren (womöglich auch noch grundlegendere) moralische Rechte nur dadurch gewahrt werden können, dass wir die Handlung ausführen. In der Situation der epistemischen Sicherheit sind es also moralische Pflichten, die gegeneinander abgewogen werden müssen. In der Situation der epistemischen Ungewissheit kommt allerdings etwas hinzu. Die Prima-facie-Pflicht bezüglich einer Handlung hängt nicht nur von den möglicherweise moralisch signifikanten Konsequenzen ab (Verletzung eines moralischen Rechts), sondern auch von dem epistemischen Typ dieser Möglichkeit, wobei wir noch nicht verstehen, welche normative Rolle unter‐ schiedliche epistemische Möglichkeitstypen spielen. Um eine letztendliche Handlungsentscheidung unter Ungewissheit zu rechtfertigen, muss die Ent‐ scheidungsträgerIn nicht nur prüfen, ob andere moralische Prinzipien über‐ wiegen, sie muss auch noch prüfen, welche moralisch signifikanten Konse‐ quenzen gemäß anderen Möglichkeitstypen möglich sind, und diese mit der Prima-facie-Pflicht abwägen. An der argumentativen Struktur der Entscheidungsbegründung in Situ‐ ationen unter Ungewissheit ändert sich dabei nicht viel im Vergleich zum Ar‐ gument für deterministische Fälle: Argument 3: Deontologische Handlungsbegründung auf Basis von 'DP-Ungewissheit' 1. [DP-Ungewissheit] Wenn eine EntscheidungsträgerIn A sich in der epis‐ temischen Situation der Knightschen Ungewissheit befindet und wenn sie weiß, dass es e i -möglich ist, dass die Ausführung einer Handlungsop‐ tion H i dazu führt, dass ein moralisches Recht R i Dritter verletzt wird, dann hat A die Prima-facie-Pflicht, das Ausführen von H i zu unterlassen. 69 Das Problem der epistemisch-evaluativen Abwägung <?page no="70"?> 12 Auch Jonas’ (1979) Vorschrift angesichts der Zukunftsverantwortung (1979: 70-83) dürfte sich als ein SPHL-PP auffassen lassen. 2. A befindet sich in der epistemischen Situation der Knightschen Unge‐ wissheit. 3. A weiß, dass es verifiziert möglich ist, dass, wenn sie die Handlung H tut, anderen Personen Leid zugefügt wird. 4. [Zwischenkonklusion]: A hat die Prima-facie-Pflicht, das Ausführen von H zu unterlassen. 5. Prima-facie-Pflicht, eine Handlung H i zu unterlassen, bedeutet, dass H i un‐ terlassen werden soll, wenn es keine gewichtigeren Prima-facie-Pflichten gibt, H i zu tun. 6. [Abwägungsprämisse]: Es gibt keine gewichtigeren Prima-facie-Pflichten, H auszuführen. 7. [Konklusion]: H soll unterlassen werden. Allerdings ist die Begründung der Abwägungsprämisse (6) in der Situation der Ungewissheit deutlich aufwändiger als die Begründung der analogen Prämisse im deterministischen Argument, eben weil für ihre Rechtfertigung die Abwä‐ gung der möglichen Konsequenzen bei unterschiedlichen epistemischen Typen nötig ist. Eine zentrale Herausforderung für deontologische Theorien für Ent‐ scheidungen unter Ungewissheit liegt nun darin, zu erklären, welche Abwä‐ gungen in dieser Prämisse vorgenommen werden müssen und mit welchen Prinzipien solche Abwägungen ihrerseits begründet werden können. Einige AutorInnen haben Versionen des Vorsorgeprinzips vorgeschlagen, die implizit eine Abwägung zwischen dem epistemischen Status der möglichen Konsequenzen und ihrer Bewertung enthalten (u. a. Gardiner 2006, McKinnon 2009, Shue 2010, Hartzell-Nichols 2012), diese Version des Vorsorgeprinzips habe ich als „Serious-Possibility-of-High-Losses Precautionary Principle“ (SPHL-PP) bezeichnet (Pissarskoi 2018). Es lautet: [Epistemische Bedingungen] Wenn eine Entscheidungsträgerin A sich in der episte‐ mischen Situation der Knightschen Ungewissheit befindet und wenn sie nur ernst zu nehmende Möglichkeiten betrachtet und [evaluative Bedingungen] wenn sie weiß, dass eine ernst zu nehmende Möglichkeit besteht, dass die Ausführung einer Handlungsoption H dazu führt, dass moralische Rechte Dritter im katastrophalen Ausmaß verletzt werden, [Handlungsanweisung] dann hat A die Prima-facie-Pflicht, das Ausführen von H zu unterlassen. 12 70 Eugen Pissarskoi <?page no="71"?> SPHL-PP enthält zum einen einen bestimmten Typ der Möglichkeiten, welcher eine Minimalbedingung dafür darstellt, um in Entscheidungsfindungsprozessen berücksichtigt zu werden. Shue nennt diese Kategorie die „Anti-Paranoia-Be‐ dingung“ und die darunter fallenden Möglichkeiten „ernst zu nehmende Mög‐ lichkeiten“ („serious possibilities“, Shue 2010: 149). Shues Ziel liegt darin, aus‐ zuschließen, dass bestimmte mögliche Entwicklungen Eingang in den Entscheidungsfindungsprozess finden, die, obwohl sie nicht falsifizierte Mög‐ lichkeitshypothesen darstellen, jedoch im Entscheidungsfindungsprozess nicht berücksichtigt werden sollten (z. B. Möglichkeitshypothesen wie „Es ist möglich, dass übermorgen Außerirdische auf der Erde landen und großen Schaden an‐ richten.“). Nach Shue (2010, 2015) zählen diejenigen Möglichkeiten als ernst zu nehmend, bei denen die kausale Kette ihrer Wirkung wissenschaftlich „gut ver‐ standen“ ist und bei denen die Evidenzen zunehmend daraufhin deuten, dass die Bedingungen für das Funktionieren der Wirkungskette vorhanden sind (Shue 2015: 87, ähnliche Kriterien für ernst zu nehmende Möglichkeiten nennt auch Steel 2013: 329). Zum anderen enthält das SPHL-PP im Antezedenz ein Kriterium für die moralische Signifikanz der Konsequenzen: Über die (ernst zu nehmenden) möglichen Konsequenzen muss auch bekannt sein, dass sie eine bestimmte Höhe an moralischem Schaden überschreiten. Einen genauen Wert spezifizieren die AutorInnen nicht, Shue (2010) spricht von „schlimmen“ („se‐ vere“) Konsequenzen, McKinnon (2009) sowie Hartzell-Nichols (2012) meinen „katastrophale“ Folgen, Jonas (1979) spricht vom „apokalyptischen Potential“. Das SPHL-PP spezifiziert in seinem Antezedenz Umstände, für die gilt: Wenn diese Umstände zutreffen, dann ist eine Handlung normalerweise verboten. Im Gegensatz zum Prinzip „DP-Ungewissheit“ müssen sehr besondere Umstände vorliegen, damit die mit dem SPHL-PP begründete Prima-facie-Pflicht, eine Handlung zu unterlassen, aufgewogen wird (das kann beispielsweise der Fall sein, wenn alle alternativen Handlungsoptionen mit einer höheren Gewissheit ähnlich katastrophale Folgen nach sich ziehen können). Die argumentative Struktur einer Handlungsbegründung auf der Basis von SPHL-PP ist analog zu der auf der Basis von DP-Ungewissheit: Argument 4: Deontologische Handlungsbegründung auf Basis von 'SPHL-PP' 1. [SPHL-PP]: Wenn eine EntscheidungsträgerIn A sich in der epistemi‐ schen Situation der Knightschen Ungewissheit befindet und wenn sie weiß, dass eine ernst zu nehmende Möglichkeit besteht, dass die Ausfüh‐ rung einer Handlungsoption H i dazu führt, dass moralische Rechte Dritter im katastrophalen Ausmaß verletzt werden, dann hat A die Prima-facie-Pflicht, das Ausführen von H i zu unterlassen. 71 Das Problem der epistemisch-evaluativen Abwägung <?page no="72"?> 2. A befindet sich in der epistemischen Situation der Knightschen Unge‐ wissheit. 3. A weiß, dass es ernst zu nehmend möglich ist, dass, wenn sie H tut, mo‐ ralische Rechte Dritter im katastrophalen Ausmaß verletzt werden. 4. [Zwischenkonklusion]: A hat die Prima-facie-Pflicht, das Ausführen von H zu unterlassen. 5. Prima-facie-Pflicht, eine Handlung H i zu unterlassen, bedeutet, dass H i unterlassen werden soll, wenn es keine gewichtigeren Prima-facie-Pflichten gibt, H i zu tun. 6. [Abwägungsprämisse]: Es gibt keine anderen, moralisch gewichtigen Prima-facie-Pflichten, H zu tun. 7. [Konklusion]: H soll unterlassen werden. Allerdings kann die Abwägungsprämisse (6) im SPHL-Argument analog be‐ gründet werden wie die Abwägungsprämisse im Argument in der Situation der Sicherheit (vgl. Argument 2, S. 61). Es muss gezeigt werden, dass andere morali‐ sche Prima-facie-Pflichten die prima facie verbotene Handlung nicht doch noch erlauben. Im Gegensatz zum generellen Vorsorgeprinzip DP-Ungewissheit (Ar‐ gument 3) erfordert die Abwägungsprämisse aber nicht, dass Prima-facie-Pflichten unter Annahme aller anderen epistemischen Typen ge‐ prüft werden. Denn, falls das SPHL-PP gilt, gilt auch, dass unter der minimalen epistemischen Anforderung, nur ernst zu nehmende Möglichkeiten zu berück‐ sichtigen, eine Prima-facie-Unterlassungspflicht besteht. Doch diese relative Einfachheit, die das SPHL-PP im Vergleich zum DP-Un‐ gewissheit bei der Handlungsbegründung zu bieten scheint, kommt nicht ohne zusätzliche theoretische Kosten. Das SPHL-PP enthält implizit eine Festlegung auf eine Abwägung zwischen dem epistemischen Typ und dem moralischen Wert der Konsequenzen: Ein bestimmter epistemischer Typ von Möglichkeiten, ernst zu nehmende Möglichkeiten, hat eine höhere Rangordnung als mögliche Konsequenzen aller schwächeren epistemischen Typen. Wenn es bei einer Handlung H ernst zu nehmend möglich ist, dass sie schlimme Verletzungen von moralischen Rechten mit sich bringt, ist es nach dem SPHL-PP für die Entschei‐ dungsfindung irrelevant, dass non-H (also das Unterlassen von H) gemäß einem schwächeren epistemischen Typ noch viel schlimmere Verletzungen morali‐ scher Rechte verursachen kann. Eine solche lexikalische Rangordnung eines epistemischen Typs bedarf einer ethischen Begründung. Die zweite ethische Herausforderung, die das SPHL-PP für eine allgemeine deontologische Theorie für Entscheidungsfindung unter Ungewissheit mit sich bringt, liegt darin, dass das SPHL-PP weniger allgemein ist als das DP-Unge‐ wissheit. Das SPHL-PP enthält im Antezedenz sehr spezifische Bedingungen, 72 Eugen Pissarskoi <?page no="73"?> die beide erfüllt sein müssen, damit die Prima-facie-Pflicht gilt. In Situationen, in denen mindestens eine der Bedingungen nicht erfüllt ist - und in der Realität dürften wir häufig mit solchen Fällen konfrontiert werden - schweigt das Prinzip. Diese Eingeschränktheit macht das Prinzip nicht falsch (vielmehr ver‐ dankt es seine ethische Plausibilität gerade der Tatsache, dass es auf bestimmte Umstände eingeschränkt wird). Doch wir benötigen weitere Versionen von Vor‐ sorgeprinzipien, die in den Fällen, in denen das SPHL-PP nicht anwendbar ist, Handlungsorientierung stiften bzw. eine andere Theorie dessen, wie in solchen Fällen moralisch richtige Handlungsentscheidungen begründet werden können. 4.2. Prinzipien für Entscheidungen unter Risiko Situationen unter Risiko zeichnen sich dadurch aus, dass der Entscheidungs‐ trägerIn Wahrscheinlichkeiten für das Auftreten möglicher Folgen aus den Handlungsoptionen bekannt sind. Von den Situationen unter Knightscher Un‐ gewissheit unterscheiden sich Risiko-Situationen durch den Typ der bekannten Möglichkeiten. Während Prinzipien für Entscheidungen unter Risiko meist unter der (häufig implizit unterstellten) Annahme konsequentialistischer Theo‐ rien diskutiert werden, sind auch Vorschläge erarbeitet worden, wie moralisch relevante Entscheidungen unter Risiko im Lichte von deontologischen (bzw. Rechte-basierten) Theorien begründet werden sollen (Hannson 2003, Steigleder 2016, Schuppert 2016). Ich will an dieser Stelle diese Vorschläge nicht im Detail diskutieren - die erwähnten Autoren betrachten ihre Vorschläge nicht als ausgearbeitete Theo‐ rien, sondern erste Überlegungen auf dem Weg zu deontologischen Theorien für Entscheidungsfindung unter Unsicherheit - sondern darauf verweisen, dass solche Theorien ebenfalls Prinzipien für Abwägungen zwischen dem epistemi‐ schen Status - welcher sich numerisch in Wahrscheinlichkeitswerten reprä‐ sentieren lässt - und dem Wert der möglichen Konsequenzen benötigen, welche erst noch zu entwickeln sind. Betrachten wir Hanssons (2003) Prinzip, gemäß welchem Handlungen, bei denen eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, dass durch sie moralische Rechte Dritter verletzt werden, erlaubt sind: (DP-Risiko-Hansson) „Exposure of a person to a risk is acceptable if and only if this exposure is part of an equitable social system of risk-taking that works to her advan‐ tage“. (Hansson 2003: 305) Hansson betont, dass das DP-Risiko-Hansson kein vollständiges Prinzip, son‐ dern eine Annäherung an ein solches Prinzip darstellt, unter anderem, weil darin viele ethische Begriffe unspezifiziert bleiben (Hansson 2003: 305 f.). Allerdings 73 Das Problem der epistemisch-evaluativen Abwägung <?page no="74"?> können wir dieser Annäherung bereits folgende Abwägungen entnehmen, für die wir weitere Theorien benötigen, die erläutern, wie sie festgelegt werden sollen: • Risiken, denen Dritte durch eine Handlung H ausgesetzt werden, stehen in einem gewissen (bislang nicht näher spezifizierten) Verhältnis zu den Vorteilen aus H. • Eine EntscheidungsträgerIn, die durch eine Handlung H Dritte Risiken aussetzt, kann im gleichen Maße von Dritten ähnlichen Risiken ausge‐ setzt werden. Steigleders Überlegungen (2016) lassen sich als Präzisierungen von DP-Risiko-Hansson verstehen. Steigleder hat hinreichende Bedingungen vor‐ geschlagen, unter denen in der Situation des Risikos Handlungen erlaubt sind, durch die mit einer positiven Wahrscheinlichkeit andere in ihren moralischen Rechten verletzt werden können („residual-risks“ nach Steigleder 2016: 262): „(1) The agent uses instruments with which the possibilities of severe harms to others are connected, but the agent takes the necessary measures to avoid such harms. (2) By taking these measures, one may assume that normally the risk will not mate‐ rialize, but one cannot exclude this possibility completely. (3) If the risk materializes, it normally will affect only single persons or in rare cases only a few persons. (4) To be permitted to perform actions that are connected with such residual risks would considerably enhance the opportunities of agents to lead their lives.“ Diese Bedingungen enthalten die erwähnte Struktur einer epistemisch-evalua‐ tiven Abwägung, der wir bereits bei der Diskussion von Prinzipien für Ent‐ scheidungen unter Ungewissheit begegnet sind. Sie spezifizieren bestimmte epistemische Bedingungen sowie einen bestimmten Wert der möglichen Kon‐ sequenzen, die hinreichend dafür sind, dass eine Handlung trotz der positiven Wahrscheinlichkeit, anderen Schaden zuzufügen, moralisch erlaubt ist. In dieser Hinsicht präzisieren sie das Hanssonsche Prinzip. Im Gegensatz zu DP-Risiko-Hansson bezieht sich Steigleders Prinzip auf eine einzelne Handlung und nicht auf eine soziale Praxis eines Handlungstyps. Darüber hinaus enthalten Steigleders Bedingungen eine weitere Kategorie, die wir bislang nicht betrachtet hatten, ich möchte sie als „prozessuale Bedingungen“ bezeichnen. Sie spezifi‐ zieren, dass im Prozess der Ausübung der Handlung bestimmte Regeln einzu‐ halten sind (die Handelnde handelt sorgfältig - übt das in ihrer Macht stehende auf eine Weise aus, dass die guten Konsequenzen eintreten). So können wir 74 Eugen Pissarskoi <?page no="75"?> Steigleders Prinzip der erlaubten Nebenwirkungsrisiken in eine analoge Struktur wie das SPHL-PP bringen: DP-Risiko-Steigleder: [Epistemische Bedingungen] Wenn eine handelnde Person A sich in der epistemischen Situation des Risikos befindet und [evaluative Bedingungen] wenn sie weiß, dass die Ausführung einer Handlungsoption H dazu führt, dass mit einer geringen Wahrscheinlichkeit Schaden an Dritten verur‐ sacht werden kann, und wenn der Verzicht auf H große Nachteile für A hätte und wenn die Verletzungen moralischer Rechte aus der Ausübung von H im schlimmst‐ möglichen Fall gering sind und [prozessuale Bedingung] wenn A sorgfältig handelt (übt das in ihrer Macht stehende auf eine Weise aus, dass die negativen Konsequenzen vermieden werden), [Handlungsanweisung] dann ist es moralisch erlaubt, dass A H tut. Dieses Prinzip enthält sehr spezifische epistemische, evaluative und prozessuale Bedingungen, die gemeinsam hinreichend sind, um Handlungen moralisch zu legitimieren, die mit einer geringen Wahrscheinlichkeit moralische Rechte Dritter verletzen können. Dem DP-Risiko-Steigleder liegt die folgende Abwä‐ gung zugrunde: Wenn der Vorteil für die handelnde Person sehr bedeutsam ist, die Wahrscheinlichkeit für den Schaden gering, der Schaden selbst überschaubar und die handelnde Person alles in ihrer Macht steht, um das Eintreten des Un‐ wahrscheinlichen zu vermeiden, ist die Handlung legitim. Die moralische Plausibilität dieses Prinzips erwächst aus dem Ausmaß der Vorteile (sehr hoch), der möglichen Nachteile (eher gering) sowie der epistemi‐ schen Situation (geringe Wahrscheinlichkeit für das Eintreten der negativen Konsequenzen). Was uns, analog zur Situation unter Ungewissheit, aber noch fehlt, ist ein Prinzip dafür, wie wir zwischen diesen Parametern - Ausmaß der (möglichen) Vorteile, der möglichen Nachteile, epistemische Situation (hier kar‐ dinal messbar in Eintrittswahrscheinlichkeiten) sowie prozessuale Bedingungen - mit Gründen abwägen bzw. gewichten sollen. 5. Teleologische Prinzipien für Entscheidungen unter Unsicherheit Gemäß teleologischen Theorien hängt die Richtigkeit einer Entscheidung in einer epistemischen Situation, in der die Menge des Guten der Handlungsopti‐ onen eindeutig vorhersehbar ist, allein von dem Guten der Handlungsoptionen ab. Um Entscheidungen unter Unsicherheit zu rechtfertigen, benötigen teleolo‐ gische Theorien Prinzipien, die festlegen, welche Handlungsoptionen gewählt werden sollen, wenn lediglich mögliche Konsequenzen (in unterschiedlicher 75 Das Problem der epistemisch-evaluativen Abwägung <?page no="76"?> 13 Um den erwarteten Wert des Guten einer Handlungsoption zu bestimmen, wird für alle möglichen Konsequenzen einer Handlungsoption die Menge des Guten der möglichen Konsequenz mit ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit multipliziert und diese Produkte aller möglichen Konsequenzen werden addiert (vgl. z. B. Jackson 1991: 463 f.). epistemischer Strenge) bekannt sind. In diesem Unterabschnitt möchte ich zeigen, dass auch entsprechende teleologische Prinzipien - analog zu deonto‐ logischen Prinzipien - Abwägungen zwischen dem epistemischen Typ der mög‐ lichen Konsequenzen und der Menge des Guten enthalten, und dass Theorien, die angeben, wie solche Abwägungen moralisch zu rechtfertigen sind, erst noch entwickelt werden müssen. 5.1. Prinzipien für Entscheidungen unter Risiko Deutlich ist die Abwägung anhand der teleologischen Prinzipien für Entschei‐ dungen unter Risiko sichtbar. Betrachten wir ein verbreitetes Prinzip, das der Maximierung des erwarteten Guten (PMEG) (z. B. Parfit 1984: 25, Jackson 1991: 463 f.): (PMEG) Wenn eine EntscheidungsträgerIn sich in der epistemischen Situation des Risikos befindet, dann ist sie moralisch geboten, diejenige Handlung auszuführen, die relativ zu verfügbaren Handlungsoptionen die größte Menge am erwarteten Guten herbeiführt. Die Menge des erwarteten Guten einer Handlungsoption hängt von den Ein‐ trittswahrscheinlichkeiten aller möglichen Konsequenzen und der Menge des Guten ab, welches dabei jeweils realisiert werden würde. Das PMEG enthält eine Regel für die Abwägung zwischen der Menge des Guten einer Handlungsoption und ihrem epistemischen Gewicht, gemessen in Wahrscheinlichkeitswerten: ein um Wahrscheinlichkeitswerte gewichtetes arithmetisches Mittel der Menge des Guten der möglichen Konsequenzen einer Handlungsoption. 13 Teleologische Theorien sind mit unterschiedlichen Regeln dafür kompatibel, wie von der Menge des Guten der verfügbaren Handlungsoptionen darauf ge‐ schlussfolgert werden soll, welche Handlungsoptionen moralisch richtig bzw. erlaubt sind (neben der Maximierungsregel habe ich in Abschnitt 2 das Prinzip der Genügsamkeit erwähnt). Die metaethische Herausforderung, zu begründen, welche dieser Regeln Handlungsorientierung liefern soll, stellt sich in Situ‐ ationen unter Unsicherheit genauso wie in deterministischen Situationen. Wenn eine Regel für das Schlussfolgern von der Menge des Guten der Handlungsop‐ tionen darauf, welche Option umgesetzt werden soll, festgelegt ist, bleibt der handlungsbegründende Syllogismus innerhalb der teleologischen Theorien für Situationen unter Unsicherheit von seiner Struktur her identisch mit dem für 76 Eugen Pissarskoi <?page no="77"?> 14 In den hier diskutierten Fällen heißt es, dass sie im Hinblick auf ihre moralische Rich‐ tigkeit gleichwertig sind. 15 AutorInnen wie z. B. Hans Jonas (1979) argumentieren dafür, dass Handlungen in Ent‐ scheidungssituationen, in denen Handlungsoptionen zur Auswahl stehen, die mit einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit sehr hohe - katastrophale - Schäden auslösen können (z. B. Großtechnologien wie Kernkraftwerke), mit risikoaversen Entschei‐ dungsprinzipien begründet werden sollten. deterministische Situationen (vgl. Argument 1, S. 59): Unter Annahme eines moralischen Prinzips - beispielsweise des PMEG - und einer Spezifikation der Entscheidungssituation unter Risiko folgt eine eindeutige Handlungsanwei‐ sung. Dennoch ist die Rechtfertigung einer Handlung unter Unsicherheit deutlich komplexer. Denn die Bestimmung dessen, welche Handlungsoption unter Un‐ sicherheit ausgewählt werden soll, muss Regeln für die Abwägung des episte‐ mischen Gewichts mit der Menge des Guten von möglichen Handlungskonse‐ quenzen berücksichtigen. Das PMEG enthält das um Wahrscheinlichkeitswerte gewichtete arithmetische Mittel der möglichen Mengen des Guten als Abwä‐ gungsregel. Es ist allerdings nicht die einzige Abwägungsregel und in der all‐ gemeinen Form wie in PMEG führt sie dazu, dass das PMEG gegen fest veran‐ kerte moralische Intuitionen verstößt (und somit unhaltbar ist). Die in PMEG enthaltene Abwägung impliziert eine Eigenschaft, die als „Ri‐ sikoneutralität“ bezeichnet wird. Sie besagt: Würde eine EntscheidungsträgerIn vor die Wahl gestellt werden zwischen (i) einer Handlungsoption, die eine be‐ stimmte Menge an erwartetem Guten erbringt, und (ii) einer Handlungsoption, die dieselbe Menge an Gutem mit Sicherheit realisiert, wären die Handlungs‐ optionen gleichwertig. 14 Es lassen sich aber Situationen finden, in denen es mo‐ ralisch geboten ist, risikoavers zu handeln, d. h. die Handlungsoption, die eine bestimmte Menge an Gutem mit Sicherheit realisiert, anstatt der Handlungsop‐ tion, die dieselbe Menge an erwartetem Guten erbringt, umzusetzen. 15 Und es dürften sich Situationen finden lassen, in denen es moralisch erlaubt (und viel‐ leicht auch geboten) ist, risikofreudig zu handeln, d. h., eine Handlungsoption, die eine bestimmte Menge an erwartetem Guten erbringt, der Handlungsoption vorzuziehen, die dieselbe Menge an Gutem mit Sicherheit realisiert, wenn die EntscheidungsträgerIn zwischen die beiden Handlungsoptionen gestellt werden 77 Das Problem der epistemisch-evaluativen Abwägung <?page no="78"?> 16 Beispiele für risikofreudige Entscheidungen sind: Glücksspiele, riskante Sportarten. Hierbei handelt es sich meist um individuelle Entscheidungen. Ich glaube, dass es auch für politische Gemeinschaften (z. B. Staaten) legitim sein kann, risikofreudige Entschei‐ dungen zu treffen (z. B. soziale Reformen zu unternehmen, bei denen das erwartete Gute der Reformergebnisse geringer ist als das erwartete Gute beim Behalten des Status quo). Eine Begründung, warum dies moralisch legitim sein kann, muss ich an einer anderen Stelle ergänzen. 17 Viele BefürworterInnen der teleologischen Entscheidungstheorien bezweifeln, dass die Unterscheidung zwischen Entscheidungen unter Risiko und Ungewissheit sinnvoll ist. Sie sind der Ansicht, dass auch in einer Situation, in der objektive Wahrscheinlichkeiten nicht bekannt sind, subjektive Wahrscheinlichkeiten, also Grade der Überzeugungen der EntscheidungsträgerInnen darüber, dass die einzelnen Handlungskonsequenzen eintreten werden, ermittelt werden können. Unter bestimmten Rationalitätsannahmen (siehe Savage 1954) lassen sich diese Überzeugungsgrade als Wahrscheinlichkeiten in‐ terpretieren und Entscheidungen unter Ungewissheit können nach denselben Prinzi‐ pien wie Entscheidungen unter Risiko gerechtfertigt werden. würde. 16 Risikoaverse bzw. risikofreudige Entscheidungsprinzipien implizieren unterschiedliche Abwägungsregeln zwischen dem epistemischen Wert und der Menge des Guten der möglichen Handlungskonsequenzen. Bei risikoaversen Entscheidungen fallen Handlungskonsequenzen, die einen hohen moralischen Schaden mit sich bringen, stärker ins Gewicht bei der Bestimmung dessen, welche Handlungsoption getan werden soll, als im PMEG. Bei risikofreudigen Entscheidungen werden hingegen Handlungsoptionen, die hohe moralische Vorteile mit sich bringen können, stärker gewichtet. Bei der Begründung des moralischen Prinzips für Entscheidungen unter Ri‐ siko benötigen teleologische Theorien - analog zu deontologischen Theorien - Metaprinzipien, die angeben, unter welchen Umständen welche Abwägungen zwischen dem epistemischen Status und dem Wert der möglichen Handlungs‐ konsequenzen moralisch rechtfertigbar sind, wann also risikoneutrale, -averse und -freudige Entscheidungsprinzipien bestimmen, welche Handlungsoption moralisch geboten oder erlaubt ist. 5.2. Prinzipien für Entscheidungen unter Ungewissheit Innerhalb teleologischer Theorien können auch Prinzipien für Entscheidungen unter Ungewissheiten entwickelt werden, also für Situationen, in denen objek‐ tive Eintrittswahrscheinlichkeiten der möglichen Konsequenzen der verfüg‐ baren Handlungsoptionen nicht bekannt sind. 17 In solchen epistemischen Situ‐ ationen muss die Handlungsentscheidung auf der Basis von Wissen über die Güte möglicher Konsequenzen, ohne dass diese mit Wahrscheinlichkeitswerten gewichtet werden können, gerechtfertigt werden. 78 Eugen Pissarskoi <?page no="79"?> 18 Als ein aus der Entscheidungstheorie stammendes Prinzip ist die MaxiMin-Funktion eine Funktion, die angesichts von Nutzenwerten möglicher Handlungskonsequenzen eine Handlungsoption auswählt. Hier interpretiere ich die MaxiMin-Funktion im Sinne teleologischer Theorien, in denen die Menge des Guten (und nicht des Nutzens) deter‐ miniert, was moralisch richtig ist (im Gegensatz zur Entscheidungstheorie, die über moralische Richtigkeit von Handlungen keine Auskunft gibt). 19 Eine Systematisierung der Entscheidungsregeln für Situationen Knightscher Unge‐ wissheit hat Ellsberg (1961: Kapitel 7) erstellt. Aus der ethischen Sicht stellt sich die Frage, welche dieser entscheidungstheoretischen Regeln unter welchen Umständen Handlungsorientierung leisten sollte. Um den Vorsorgegedanken innerhalb teleologischer Theorien zu repräsen‐ tieren, könnte man meinen, die MaxiMin-Regel eigne sich, um Entscheidungen unter Ungewissheit zu begründen. Die MaxiMin-Regel besagt: Wähle diejenige Handlungsoption, bei der die schlimmstmöglichen Konsequenzen relativ zu denen von allen verfügbaren Handlungsoptionen die größte Menge an Gutem realisieren. 18 (TP-MaxiMin) Wenn eine EntscheidungsträgerIn in der Situation Knightscher Unge‐ wissheit ist, dann ist sie moralisch geboten, diejenige Handlungsoption auszuwählen, die im schlimmstmöglichen Fall die größte Menge an Gutem relativ zu verfügbaren Handlungsoptionen realisieren würde. Das TP-MaxiMin fordert, in allen Situationen der Knightschen Ungewissheit Handlungsentscheidungen allein nach den schlimmstmöglichen Konsequenzen auszuwählen. Unabhängig von der Vagheit des Begriffs „ist möglich“ ist ein sol‐ ches Prinzip in der Allgemeinheit aufgrund seiner sehr starken Risikoaversion höchst kontraintuitiv. Eine entscheidungstheoretische Regel für Situationen Knightscher Unge‐ wissheit, das maximal risikofreudig ist, ist die MaxiMax-Regel, die besagt: Wähle diejenige Handlungsoption, bei der die bestmöglichen Konsequenzen relativ zu denen von allen verfügbaren Handlungsoptionen die größte Menge an Gutem realisieren. Für teleologische Theorien für Entscheidungen unter Ungewissheit ergibt sich somit die ethische Herausforderung, zu spezifizieren, unter welchen Umständen in einer Situation unter Ungewissheit eine bestimmte entschei‐ dungstheoretische Regel (die eine Schlussregel von der Güte von möglichen Handlungskonsequenzen auf eine Handlungsoption darstellt) moralisch legitim ist. 19 Ein Weg zu einer solchen teleologischen Theorie ist analog zu dem Weg der deontologischen Theorien, nämlich der Entwicklung von weniger allgemeinen Prinzipien, in denen epistemische und evaluative Umstände spezifiziert werden, die gemeinsam hinreichend sind, um nach einer entscheidungstheoretischen 79 Das Problem der epistemisch-evaluativen Abwägung <?page no="80"?> Regel moralische Handlungsanweisungen anzugeben. Ein Beispiel für ein sol‐ ches spezifischeres Prinzip ist das von Gardiner (2006) systematisierte „Rawlsian Core Precautionary Principle“ (RCPP). Es besagt in der teleologischen Form: [Epistemische Bedingungen] Wenn eine EntscheidungsträgerIn in der Situation Knightscher Ungewissheit ist und wenn sie nur ernst zu nehmende mögliche Konse‐ quenzen betrachtet und [evaluative Bedingungen] wenn es möglich ist, dass die Konsequenzen einiger Hand‐ lungsoptionen signifikante Schäden mit sich bringen werden und wenn die höchsten möglichen Gewinne aus verfügbaren Handlungsoptionen nicht bedeutsam sind, [Handlungsanweisung] dann ist es moralisch geboten, diejenige Handlungsoption auszuwählen, deren schlimmstmöglichen Konsequenzen von allen verfügbaren Hand‐ lungsoptionen am besten sind. Das RCPP hat eine sehr ähnliche Struktur wie das deontologische SPHL-PP. Die normativen Begriffe „signifikante Schäden“ sowie „ernst zu nehmende mögliche Konsequenzen“ lassen sich genauso interpretieren wie im SPHL-PP. Im Gegensatz zu SPHL-PP, welches eine Prima-facie-Pflicht begründet, be‐ gründet das RCPP mit der Maximin-Regel eine letztendliche Handlungsanwei‐ sung. Dieser Unterschied resultiert aus der Grundstruktur der metaethischen Theorien. Sehr ähnlich sind sich die Prinzipien in der Spezifikation der episte‐ mischen und evaluativen Umstände, unter denen die Auswahl der Handlungs‐ option nach der Maximin-Regel moralisch geboten ist. Die epistemischen Bedingungen sind derart, dass die EntscheidungsträgerIn sich erstens in der Situation Knightscher Ungewissheit befindet. Zweitens ent‐ hält das RCPP die Anti-Paranoia-Bedingung, fordert also nur diejenigen Mög‐ lichkeiten für die Entscheidungsfindung in Betracht zu ziehen, die eine gewisse epistemische Strenge haben (ernst zu nehmend möglich). Die evaluativen Be‐ dingungen besagen, dass das MaxiMin dann moralisch geboten ist, wenn die verfügbaren Handlungsoptionen zu Konsequenzen mit bestimmtem Ausmaß an Schaden (das negativ Gute) führen können. Und zwar können einige der ver‐ fügbaren Handlungsoptionen dazu führen, dass sehr viel Schaden entsteht; aber keine Handlungsoption kann sehr viel Gutes herbeiführen. Damit enthält das RCPP die gleiche lexikalische Abwägung zwischen dem epistemischen Status und der Menge des Guten der möglichen Konsequenzen wie das SPHL-PP. Und damit stellen sich für die gleichen theoretischen Heraus‐ forderungen für die Begründung des RCPP: Wie lässt sich die lexikalische Rang‐ ordnung der epistemischen Typen rechtfertigen? Wie sehen Entscheidungs‐ prinzipien aus für Situationen Knightscher Ungewissheit, in denen die 80 Eugen Pissarskoi <?page no="81"?> 20 Teleologische und deontologische Theorien unterscheiden sich darin, welche nor‐ mativen Eigenschaften moralisches Gewicht haben (Menge des Guten bzw. Einhal‐ tung von moralischen Rechten und Pflichten). epistemischen und evaluativen Umstände aus dem Antezedenz des RCPP nicht zutreffen? 6. Fazit und Forschungsperspektiven Prinzipien für Entscheidungen unter Unsicherheit lassen sich als Erweiterungen der deterministischen Prinzipien auf Situationen der Unsicherheit auffassen. Dabei wird der epistemische Typ der Handlungskonsequenzen als ein weiteres Entscheidungskriterium ergänzt. Doch wie genau dieser epistemische Typ mit dem moralischen Wert abzuwägen ist, stellt ein Desiderat für die Forschung dar. Sowohl für deontologische als auch teleologische Prinzipien unter Unsicher‐ heit, unabhängig davon, ob es sich um Situationen unter Ungewissheit oder Risiko handelt, gilt: Sie enthalten eine Abwägung zwischen dem epistemischen Typ der möglichen Konsequenzen und deren moralischem Gewicht. 20 In einer Situation von Risiko können mögliche Konsequenzen einer Handlungsoption in epistemischer Hinsicht kardinal geordnet werden (durch Wahrscheinlichkeits‐ werte). Dieses Wissen nutzen teleologische Theorien aus, um das epistemische Gewicht mit dem moralischen Gewicht (der Menge des Guten) der möglichen Konsequenzen zu verrechnen. Es lassen sich aber mehrere Verrechnungsregeln aufstellen, ich hatte die Typen risikoneutral, -avers und -freudig als Beispiele eingeführt. Es bleibt ungeklärt, in welchen Situationen welche Typen der Ver‐ rechnungsregeln moralisch verboten oder geboten sind. Die bislang vorgeschlagenen deontologischen Prinzipien für Entscheidungen in Risiko-Situationen sind weniger allgemein als die teleologischen Risiko-Prin‐ zipien. Das betrachtete deontologische Prinzip (DP-Risiko-Steigleder) schränkt sich auf eine bestimmte epistemisch-evaluative Situation (geringe Wahrschein‐ lichkeit, dass schlimme Konsequenzen eintreten, bei gleichzeitig einer Verlet‐ zung von moralischen Rechten im geringen Maße). Das DP-Risiko-Steigleder enthält darüber hinaus neben epistemisch-evaluativen eine prozessuale Bedin‐ gung, die erfüllt sein muss, damit eine Handlungsvorschrift gilt. Für deontolo‐ gische Theorien ergibt sich die Frage, wie solche spezifischen Prinzipien syste‐ matisiert werden können, sodass sie Handlungsorientierung in möglichst vielen Risiko-Situationen bieten. In der Situation der Ungewissheit können Handlungskonsequenzen nach epistemischen Typen zwar nicht kardinal, aber (voraussichtlich) ordinal im Hinblick auf ihre epistemische Strenge geordnet werden. Im Rahmen von de‐ 81 Das Problem der epistemisch-evaluativen Abwägung <?page no="82"?> ontologischen Theorien lassen sich einerseits Prinzipien angeben, die Prima-facie-Pflichten festlegen, ohne eine Abwägung zwischen dem epistemi‐ schen Typ und dem moralischen Wert der möglichen Konsequenzen zu ent‐ halten (DP-Ungewissheit). Um eine letztendliche Handlungswahl zu rechtfer‐ tigen, sind dennoch solche Abwägungen (bei der Rechtfertigung der Abwägungsprämisse) erforderlich. Hierfür fehlt bislang eine Theorie. Anderer‐ seits werden im Rahmen deontologischer Theorien spezifische Entscheidungs‐ prinzipien diskutiert (SPHL-PP). Diese enthalten eine Abwägung zwischen dem epistemischen Typ und dem moralischen Wert der Konsequenzen. Eine derar‐ tige Theorie, wie eine solche Abwägung gerechtfertigt werden kann, fehlt der‐ zeit, stellt jedoch, wie ich zeigen wollte, ein Desiderat für eine „Ethik in An‐ wendung“ dar. Des Weiteren benötigen deontologische Theorien eine Vervollständigung von spezifischen Entscheidungsprinzipien für alle möglichen epistemisch-evaluativen Umstände unter Ungewissheit. Vor analogen Herausforderungen stehen auch teleologische Theorien für Entscheidungen unter Ungewissheit. Das RCPP enthält eine lexikalische Ord‐ nung des epistemischen Status (Berücksichtigung nur von ernsthaft möglichen Konsequenzen) und der Güte der möglichen Handlungskonsequenzen (falls die bestmöglichen Konsequenzen nicht bedeutsam, dann wähle die Handlungsop‐ tion anhand der schlechtestmöglichen Konsequenzen). Warum und inwiefern eine solche epistemisch-evaluative Gewichtung moralisch angemessen ist, bleibt ungeklärt. Literatur Alexander, Larry/ Moore, Michael (2016). Deontological Ethics. In: Edward N. Zalta (Hrsg.). The Stanford Encyclopedia of Philosophy. Metaphysics Research Lab, Stanford University. Winter 2016. Betz, Gregor (2010). What’s the Worst Case? The Methodology of Possibilistic Prediction. Analyse & Kritik 1: 1, 87-106. Betz, Gregor (2015). Are climate models credible worlds? Prospects and limitations of possibilistic climate prediction. European Journal for Philosophy of Science 5: 2, 191- 215. Broome, John (1991). Weighing Goods. Cambridge: Basil Blackwell. 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Wir argumentieren, dass Angewandte Ethik in gesell‐ schaftlichen Diskursen eine breitere und konstruktivere Rolle spielen kann und sollte, indem sie stärker auch Fragen des guten Lebens in den Blick nimmt und - alltagssprachlich gesagt - danach fragt, was wir (wirklich) tun wollen. Wir entwickeln diese These am Beispiel des gesellschaftlichen Diskurses um die bio‐ logische Altersforschung, die Biogerontologie. Wer möchte nicht gerne lange gesund leben? Auf den ersten Blick scheint es völlig eindeutig zu sein, dass biomedizinische Möglichkeiten, die es erlauben würden, Gebrechlichkeit, altersbedingte Krankheiten, kognitive Einschrän‐ kungen etc. zu verhindern oder hinauszuzögern, zu begrüßen sind. Aber sind körperliche Gesundheit, Fitness und ein möglichst langes Leben wirklich die einzigen oder auch nur die wichtigsten Kriterien für gutes Altern? Welche Rolle spielen soziale, psychische und gesellschaftliche Aspekte für die Frage, was gutes Altern ausmacht? Und wie wirken sich Antworten auf diese Fragen auf die Bewertung der biologischen Altersforschung aus? Der vorliegende Beitrag zielt nicht darauf ab, die ethischen Probleme der Bio‐ gerontologie im Detail zu erörtern. Stattdessen diskutieren wir am Beispiel der biologischen Altersforschung, welche Bedeutung Überlegungen hinsichtlich eines guten menschlichen Lebens für die ethische Bewertung von Handlungen und Entscheidungen zukommt. Durch die Auseinandersetzung mit diesen <?page no="86"?> 1 Weitere Details der Forschungsergebnisse können hier außer Acht gelassen werden; vgl. zusammenfassend Ehni 2014. 2 Vgl. u.a. Gems 2009: 27ff., Ehni 2014: 51ff., Bahnsen 2017a, Bahnsen 2017b. Fragen möchten wir auch dazu beitragen, die Konzeption einer „Angewandten Ethik“ zu klären. Fallbeispiel: Das Altern abschaffen? Die biologische Altersforschung untersucht die physiologischen Ursachen des Alterns von Organismen, vor allem nichtmenschlichen Tieren und Menschen. Aktuell existieren unterschiedliche Theorien über die Ursachen des Alterns, angefangen von der Theorie der Erosion der Telomere, über die Theorie des „oxidativen Stress“, bis hin zu Erklärungsansätzen, die molekulare und zelluläre Veränderungen und auch genetische Faktoren für das Altern von Organismen verantwortlich machen (Bahnsen 2017a: 31, Ehni 2014: 28ff.). Auf der Basis dieser Untersuchungen wird in vielen Forschungslaboren welt‐ weit mit unterschiedlichen Theorieansätzen, Methoden und Therapien daran gearbeitet, die Alterungsprozesse von Organismen zu verlangsamen, indem die biologischen Ursachen des Alterns bekämpft werden (vgl. u.a. Ehni 2014: 45ff.). Mit Hilfe biomedizinischer Eingriffe sollen die physiologischen Bedingungen des Alterns verändert werden, um das Altern von Organismen zu verzögern oder sogar umzukehren. 1 In Tierversuchen wurden bereits erste praktische Er‐ folge erzielt. So konnte das Leben von Fadenwürmern, Hefen, Mäusen und an‐ deren Organismen mit Hilfe verschiedener biomedizinischer Therapien verlän‐ gert werden. 2 Beispielsweise wurde jüngst von einer neuen Therapie berichtet, bei der alten Mäusen das Blutplasma junger Tiere gespritzt wurde. Die Mäuse wurden auf diese Weise tatsächlich „verjüngt“: ihre Organe regenerierten sich, sie wurden wieder fitter und die Gehirnleistungen stiegen merklich an (Bahnsen 2017a: 30). Auch biomedizinische Therapien gegen das Altern von Menschen scheinen wahrscheinlicher zu werden (ebd.). „Für immer jung? “ - ein Beispiel für die Thematisierung von Biogerontologie in den Medien In der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 6. April 2017 findet sich unter der Über‐ schrift „Für immer jung“ ein Artikel zur Biogerontologie von Ulrich Bahnsen. So‐ wohl Titel als auch Text stellen die denkbaren positiven Folgen der Altersfor‐ schung in den Mittelpunkt: So lautet der Untertitel „Wissenschaftler arbeiten daran, den größten Traum der Menschheit wahr werden zu lassen: Ein längeres 86 Uta Müller / Lieske Voget-Kleschin <?page no="87"?> 3 Hier soll nicht auf sachliche und/ oder journalistische Mängel des Artikels eingegangen werden. Allerdings muss doch festgehalten werden, dass insbesondere heute wie auch schon in früheren Zeiten, ein hohes Alter zu erreichen, nicht einfach ein „Geschenk der Natur“ ist bzw. war, sondern ursächlich mit der Qualität der Ernährung, hygienischen Bedingungen und medizinischen Versorgung verknüpft ist. Auch haben Menschen schon immer Eingriffe und Behandlungen vorgenommen, die darauf zielten, Altern und Tod zu verzögern. Das Ziel, das heute mit Hilfe der Biogerontologie (weiter) verfolgt wird, ist also nicht neu. Zutreffend ist jedoch, dass die Biogerontologie in diesem Forschungsfeld - ins‐ besondere auf molekularer und zellulärer Ebene - neue wissenschaftliche Kenntnisse ge‐ wonnen hat, und damit u.U. neue Therapien gegen Altern ermöglichen kann. 4 Vgl. Haker 2012. Leben. Diesem Ziel sind sie schon sehr nahe gekommen.“ Hiermit wird das Ziel, „den Verfall unseres Körpers [zu] zügeln, bremsen, vielleicht sogar umzukehren…“ als gut und erstrebenswert dargestellt (ebd.: 31). Biomedizinische Eingriffe werden als Möglichkeit beschrieben, dass „die Vergänglichkeit aller Geschöpfe, die letzte un‐ besiegbare Macht der Natur, […] nach und nach unter die Kontrolle des Men‐ schen“ gerät (ebd.: 29). Der Artikel beschreibt auch erste Erfolge bei Versuchen am Menschen. Damit wird die Hoffnung geweckt, dass es bald auch für Menschen zugängliche Therapieangebote gegen das Altern geben wird. Erst ganz am Schluss des Artikels wirft ein kurzer Absatz ansatzweise kritische Fragen auf: „Doch dürften wir wirklich - wenn es möglich würde - darangehen, die Grenzen un‐ serer Lebensdauer ins Unabsehbare auszudehnen? Auf durchschnittlich 150 oder 200 Jahre? Wie immer wir uns entscheiden - unser Leben, die Gesellschaft würde anders, Zeit eine andere Bedeutung bekommen. Ein langes, gesundes Leben wäre nicht länger ein Geschenk der Natur. Es wäre ein Gut, das man erwirbt. Wenn man es sich leisten kann“ (ebd.: 31). 3 Angewandte Ethik als Mahnerin und Bremserin? Der letzte, kritische Abschnitt des zitierten Artikels fragt lediglich, ob wir das, was wir (mit Hilfe der Biogerontologie) tun können, auch tun dürfen. Eine solche Kritik ist in gewisser Weise typisch für den ethischen Diskurs um Fragen der Biogeron‐ tologie. Und auch hinsichtlich anderer Themenfelder beschränkt sich Ethik häufig auf die Rolle, Bedenken zu äußern, dass nicht alle neuen Verfahren und Techniken notwendig auch realisiert werden dürfen. Zu nennen sind hier beispielsweise ethi‐ sche Arbeiten zur Präimplantationsdiagnostik (PID) 4 , zur Gentechnik in der Land‐ 87 Zur Rolle von Vorstellungen des Guten in der Angewandten Ethik <?page no="88"?> 5 In systematischer Hinsicht immer noch einschlägig Ott 2003, Comstock 2000. 6 Vgl. Domes 2017: „Autonom fahrende Autos sind die Zukunft. Sie sollen den Straßenver‐ kehr sicherer machen, womöglich sogar vollständig unfallfrei. […] Wie weit dürfen auto‐ nome Autos gehen, um Personen- und Sachschäden zu vermeiden? Was passiert in einer sogenannten Dilemma-Situation, sprich wenn ein Unfall unvermeidbar wird und abge‐ wogen werden muss, welche Person eher geschädigt werden kann, als eine andere? “ Eine differenzierte ethische Analyse des autonomen Fahrens findet man bei Birnbacher, der für dieses Konfliktfeld auch die Notwendigkeit sieht, dass die Regeln für Konfliktfälle, „[…] so weit wie möglich durch eine gesellschaftliche Konsensbildung nach ausführlicher öffentli‐ cher Diskussion festgelegt werden [sollen]“ (Birnbacher 2017: 12). 7 Verwendet werden diese Begriffe etwa von Düwell et al. 2011: 2. Krämer versucht, Sollens- und Strebensethik in einer konstruktiven Weise zu verbinden: Krämer 1995, insbes. 75ff. wirtschaft 5 oder auch zum Einsatz digitaler Techniken etwa bei autonom fahrenden Autos 6 . Nun kann und soll die Ethik selbstverständlich auch die Frage stellen, was Men‐ schen tun dürfen. Aber sie sollte sich - so die These dieses Artikels - nicht auf diese Frage beschränken. Eine komplementäre Aufgabe der Ethik besteht darin, Überle‐ gungen dazu anzustoßen, was Menschen aus welche Gründen wollen (sollten). Ant‐ worten auf die Frage, was Menschen wollen, sind in ethischer oder philosophi‐ scher Hinsicht nicht auf die Frage nach subjektiven Präferenzen („Was will ich jetzt in diesem Moment? “) beschränkt. Argumente dafür, was wir (als sozial und gesell‐ schaftlich eingebundene Individuen) wirklich meinen - oder meinen sollten -, wenn wir uns fragen, was wir wollen, haben in der philosophischen Ethik eine lange Tra‐ dition. Diese soll im vorliegenden Artikel für den Diskurs um die biologische Al‐ tersforschung fruchtbar gemacht werden. Gleichzeitig möchten wir am Beispiel des Diskurses um die Biogerontologie zeigen, dass und wie die Frage nach dem evalu‐ ativ Guten die aktuellen gesellschaftlichen Diskurse bereichern kann. Dazu fächern wir zunächst im Rahmen eines kurzen geschichtlichen Exkurses zur Rolle des Guten in der Ethik verschiedene Nuancen des Glücksbegriffs auf, der seit der Antike für die Bestimmung des „guten Lebens“ eine zentrale Rolle spielt. Im Anschluss daran erläutern wir am Beispiel der Biogerontologie, dass und wie die Diskussion dieser verschiedenen Aspekte des Guten zur Orientierung hinsichtlich der Frage, wie man sich hinsichtlich der Biogerontologie verhalten soll(te), beitragen kann. Vorstellungen des Guten in der Ethik Mit den Fragen danach, was Menschen dürfen, und wie Menschen leben wollen, sind zwei zentrale Herangehensweisen bzw. Bereiche von Ethik gekennzeichnet, die hier als Sollens- und Strebensethik bezeichnet werden. 7 Die Sollensethik beschäftigt sich mit Fragen nach dem normativ Richtigen (Gesollten), im Fokus stehen Rechte und 88 Uta Müller / Lieske Voget-Kleschin <?page no="89"?> 8 „Angewandte Ethik“ verstanden im Sinne einer Beantwortung der Frage, wie „man leben soll(te)“ (vgl. Williams und Moore 2011), also im Sinne einer Begründung und Kritik von Moral, umfasst beides, Sollens- und Strebensethik (ebd., Düwell et al. 2011). 9 Im Zuge dieser Renaissance wird die Bedeutung von Fragen des guten Lebens v.a. mit Bezug auf Begründungsfragen von Ethik diskutiert (vgl. MacIntyre 2007 [1981], Nussbaum 1999), Überlegungen hinsichtlich der Angewandten Ethik finden sich v.a. hinsichtlich tugendethi‐ scher Ansätze (Nida-Rümelin 2005: 31ff., vgl. beispielsweise Hursthouse 1997, Hursthouse 2006). 10 Im Rahmen dieses Exkurses können lediglich einige ausgewählte Epochen insofern ange‐ sprochen werden, als sie für das Verständnis der Argumente dieses Artikels einschlägig sind. Für eine detaillierte Darstellung vgl. die angegebene Literatur. Pflichten. Der Begriff Strebensethik kennzeichnet dagegen die Frage nach dem eva‐ luativ Guten. 8 Die antiken Ethiken sind - mit Ausnahme der Ethik der Kyrenaiker - Streben‐ sethiken, d.h. sie stellen die Frage nach dem guten Leben in den Mittelpunkt. (Horn 2011; Hossenfelder 1998; Steinfath 1998) Weiterhin gingen diese Ethiken davon aus, dass es möglich sei, überindividuell anzugeben, wie ein gutes Leben zu denken und zu erreichen sei. Die neuzeitliche Ethik (etwa seit dem 18. Jahrhundert) hat Zweifel, ob das gute Leben auch notwendigerweise ein „gerechtes“, also moralisch richtig geführtes, Leben ist (vgl. Seel 1994: 145f.). Die Beschäftigung mit strebensethischen Fragen trat daher seit der Neuzeit zugunsten eines starken Fokus auf die Sollens‐ ethik in den Hintergrund. In jüngerer Zeit lässt sich nun eine Renaissance von Fragen guten Lebens in der Ethik beobachten. 9 (Vgl. Horn 2011; Steinfath 1998) (Siehe Kasten) Glück und gutes Leben von der Antike bis heute 10 In der antiken Klassik wird Glück bzw. gutes Leben nicht als subjektives Ge‐ fühl, sondern als objektiv feststellbarer Zustand angesehen. Glück bestünde darin, die natürliche Weltordnung zu erfüllen. Diese natürliche Weltordnung sei ihrerseits objektiv gegeben. Gemäß diesem Verständnis lassen sich sowohl die natürliche Weltordnung als auch gutes Leben (als Erfüllung dieser Weltord‐ nung) objektiv beschreiben. Ethik kann also Argumente und Begründungen entwickeln, wie sich ein gutes Leben denken und erreichen ließe. Im Gegensatz zur Klassik versteht der Hellenismus ein Leben dann als gelungen oder gut, wenn es dem Individuum gelingt, die Ziele, die dieses Individuum sich selbst gesetzt hat, zu erfüllen. Trotzdem gehen auch die Hellenisten davon aus, dass es möglich sei, wohl begründet anzugeben, wie ein gutes Leben zu denken und zu erreichen sei. Wenn nämlich das Glück in der Erfüllung selbst gesetzter Ziele bestünde, so liege - so die hellenistische Ethik - der einfachste und sich‐ 89 Zur Rolle von Vorstellungen des Guten in der Angewandten Ethik <?page no="90"?> 11 Erst durch diese „Entmoralisierung des Glücks“ (Thomä et al. 2011: 7) wurde überhaupt ein Auseinanderfallen von gutem Leben einerseits und moralisch Gesollten andererseits denk‐ möglich (Steinfath 1998; vgl. auch Seel 1994: 145). Während in der vormodernen Philoso‐ phie die Auffassung vorherrschte, Glück und Moral fielen zusammen (Koinzidenzthese) bzw. seien zumindest vereinbar (Harmoniethese), tendieren neuzeitliche PhilosophInnen zu der Auffassung, es gäbe keinen positiven Zusammenhang zwischen Glück und Moral (Disso‐ nanzthese), bzw. die beiden seien sogar unvereinbar (Unvereinbarkeitsthese) (Horn 2011: 385f.). Dies erklärt auch, so Horn, warum „eine der zentralen Kontroversen in der Moral‐ philosophie der Gegenwart der Frage gewidmet ist, ob man dem Blickwinkel der Moralität oder der Perspektive der gelingenden Lebensführung den Vorrang zuerkennen soll, sowie dem Anschlussproblem, was dann mit dem nachgeordneten Teil zu geschehen hat“ (ebd.: 386). erste Weg, seine Ziele erfüllen zu können darin, sich möglichst wenig Ziele zu setzen (Hossenfelder 1998). Die Neuzeit übernimmt nun von den Hellenisten die Idee, das Leben eines Indi‐ viduums sei dann gelungen, wenn das Individuum die Ziele, die es sich selbst gesetzt hat, unter Abwesenheit von äußerem Zwang erreicht. Im Gegensatz zu den Hellenisten schließt die neuzeitliche Ethik daraus aber nicht, dass Men‐ schen sich so wenig wie möglich Ziele setzen sollten. Stattdessen zieht sie aus der Idee von gutem Leben als Erfüllen selbst gesetzter Ziele den Schluss, die Ethik sei nicht in der Lage, objektiv angeben zu können, wie (für alle Men‐ schen) ein gutes Leben zu erreichen sei. Denn wie ein Mensch die Ziele, die er sich selbst gesetzt habe, am besten erreichen könne, hinge - so die neuzeitliche Ethik - eben davon ab, welche Ziele er oder sie sich gesetzt habe. Was ein gutes Leben ausmacht, ist für die Ethik der Neuzeit individuell-subjektiv - obwohl sich objektiv angeben lässt, was alle letztlich wollen, nämlich Glück als einen Zu‐ stand - damit ist das individuelle Streben nach Glück nicht länger Gegenstand der Philosophie (vgl. Hossenfelder 1998; Steinfath 1998). Hossenfelder (1998: 182) beschreibt diesen Prozess so: Die „antike Möglichkeit der Moralbegründung ging […] verloren, als sich in der Neuzeit die Überzeu‐ gung durchsetzte, die Natur lasse sich mit technischen Mitteln beherrschen, so daß eine Zweckökonomie, wie sie die Hellenisten propagiert hatten, nicht mehr einsichtig blieb. Da sich die Natur den Zwecken des Menschen anpassen ließ, durfte jeder beliebige Ziele verfolgen, in deren Erreichung er sein Glück fand, mit der Konsequenz, daß allgemeine Glücksregeln nicht mehr angebbar waren. Für die Moralbegründung war das zunächst deshalb nicht empfindlich, weil der antike Eudämonismus durch die christliche Glaubenslehre ersetzt werden konnte, so daß die moralischen Forderungen mit dem Willen Gottes gerechtfer‐ tigt wurden. Je größer aber der Glaubensschwund wurde, desto mehr begannen die moralischen Forderungen in der Luft zu hängen […].“ 11 90 Uta Müller / Lieske Voget-Kleschin <?page no="91"?> 12 Eine solche Unterscheidung würde im Übrigen unverzüglich zu der Frage führen, wel‐ cher der beiden, der alltagssprachliche oder der philosophiegeschichtliche, für eine ak‐ tuelle ethische Untersuchung überhaupt den Vorrang beanspruchen dürfte. Im Zuge der Wiederentdeckung von Fragen guten Lebens ist auch darauf hin‐ gewiesen worden, dass die Begriffe „Glück“ bzw. „gutes Leben“ im heutigen Sprachgebrauch notorisch mehrdeutig sind. Insbesondere zeigen sich deutliche Unterschiede in der alltagssprachlichen Verwendung des Begriffs „Glück“ ei‐ nerseits und der philosophischen Verwendung des Begriffs „gutes Leben“ an‐ dererseits. (Vgl. Tab. 1) Eher** alltagssprachliche Bedeu‐ tung des Begriffs „Glück“ Eher** philosophische Bedeutung des Begriffs „gutes Leben“ Zufallsglück Lebensglück präsentisch episodisch Gesamtbiographie maximalistisch unvollkommen individuell/ privat gesellschaftlich subjektives Empfindungsglück objektives Erfüllungsglück Tab. 1: Verschiedene Bedeutungsnuancen der Begriffe ‚Glück‘ und ‚gutes Leben‘* * Die Unterscheidung der verschiedenen Bedeutungsnuancen ist kategoriell nicht trennscharf, d.h. die Aspekte/ Unterscheidungen, die in den einzelnen Zeilen ausgedrückt werden, überschneiden sich inhaltlich. ** Diese Zuordnung stellt lediglich eine Tendenz dar. Einerseits kann selbst‐ verständlich auch der alltagssprachliche Begriff des „Glücks“ in anderer bzw. breiterer Bedeutung verwendet werden. Andererseits wird in der Ethik insbe‐ sondere der Begriff des „objektiven Erfüllungsglücks“ durchaus kritisch ge‐ sehen. Vgl. Horn (2011) Diese Darstellung soll nicht dazu dienen, einen richtigen oder angemesseneren von einem falschen oder weniger angemessenen Begriff des Glücks/ Guten Lebens zu unterscheiden. 12 Vielmehr soll sie zeigen, dass auf die Frage, was wir eigentlich wollen, sehr unterschiedliche Antworten gegeben werden können. Alltags‐ sprachlich wird die Frage, was ich will, was du willst, oder was wir (als Mit‐ 91 Zur Rolle von Vorstellungen des Guten in der Angewandten Ethik <?page no="92"?> glieder einer Familie, eines Freundeskreises, einer Gemeinschaft sowie der Ge‐ sellschaft) wollen, eher subjektiv, wenig unvollkommen, auf uns selbst und den aktuellen Zeitpunkt bezogen beantwortet. In der Antike und nachfolgend in neueren Ansätzen, die die Fragen nach dem guten Leben in den Mittelpunkt ihrer philosophischen Untersuchungen stellen, wurden unsere Wünsche, also das, was wir wollen, dagegen bezogen auf die Vorstellung, dass das „letzte Ziel“ oder der „höchste Wunsch“ von uns Menschen ein glückliches Leben sei. Die subjektiven, aktuellen Wünsche oder Ziele, die wir verfolgen, wurden nur dann als sinnvoll angesehen, wenn sie zu unserem so verstandenen guten, glücklichen Leben beitragen. Nicht die Erfüllung möglichst vieler individuell-subjektiver, aktueller Ziele führe zu einem gelingenden Leben, sondern ein gelungenes Leben zeichne sich dadurch aus, dass diese Ziele in den Horizont des überge‐ ordneten Ziels eines guten Lebens gestellt werden. Seel hat ausgehend von der Aristotelischen Ethik eine moderne Glücksethik formuliert, die diesen Ge‐ danken fruchtbar macht: „Letztlich sind es nicht einzelne Wünsche, sondern individuelle Lebenskonzeptionen, die sich im Laufe eines Lebens mehr oder we‐ niger erfüllen. […] Denn wir werden ein gutes Leben nur dort finden, wo wir nach etwas streben, das wir, wo es uns zufällt, tatsächlich um seiner selbst willen wollen können. […] Wir sind demnach glücklich, wenn wir es vermögen, unser Leben so einzurichten, dass eintreten kann, was wir uns wirklich (langfristig) wünschen.“ (Seel 1994: 151f.). Dass und wie der Einbezug dieser verschiedenen Antworten die „Ange‐ wandte Ethik“ bereichern kann, soll im folgenden Abschnitt am Beispiel der Wahrnehmung und Bewertung von Alter und Altern aufgezeigt werden. Altern als integraler Bestandteil eines ganzen menschlichen Lebens Die zu erwartenden Möglichkeiten der Biogerontologie, durch medizinische Therapien die Spanne des gesunden, nicht von Gebrechlichkeit und Krankheit gezeichneten Lebens zu verlängern, scheinen auf den ersten Blick für das gute Leben der Menschen als durchweg positiv zu bewerten zu sein. Wenn also über das menschliche Glück oder auch das gute Leben nicht mehr zu sagen wäre, als dass die individuellen und subjektiven Präferenzen, etwa nicht an altersassozi‐ ierten Krankheiten zu leiden, für das Gelingen des Lebens entscheidend sind, läge eine Sichtweise nahe, der zufolge Altern und Alter, die auch gekennzeichnet sind durch Gebrechlichkeit, Krankheiten und Einschränkungen, Menschen an einem guten Lebensvollzug hinderten. Aus dieser Perspektive ist das Ziel der Biogerontologie, Altern zu verlangsamen oder den Altersprozess gar umzu‐ 92 Uta Müller / Lieske Voget-Kleschin <?page no="93"?> kehren, nachvollziehbar und als gut und richtig zu bewerten. Es gäbe keinen Grund, die Biogerontologie und ihre Ziele zu kritisieren. Allerdings ist der al‐ leinige Verweis auf einen solchen subjektiven Glücksbegriff, wenn er zum Thema Altern Konstruktives beitragen soll, nicht überzeugend. Menschen sind eben nicht ihr gesamtes Leben lang fit, gesund, selbstständig und mehr oder weniger unabhängig und können ihr Lebensglück daran ausrichten. Insofern hilft ein so gefasster Glücksbegriff für eine ethische Auseinandersetzung um Altern und mögliche Eingriffe in das Altern nicht weiter. Dieser Glücksbegriff kann also kritisch hinterfragt werden. Wenn andere Aspekte des Alterns bei der Beschreibung berücksichtigt werden, dann ergibt sich der gerade geschilderte Gedankengang nicht so ein‐ deutig: Die Lebensphase des Älter- und Altwerdens kann als ein Teil des menschlichen Lebens gesehen werden, der nicht ausschließlich von Leid, Dege‐ neration und Einschränkungen geprägt ist. Diese anderen Aspekte von Alter geraten dann in den Blick, wenn man Glück nicht maximalistisch fasst, sondern Verletzlichkeit und Unvollkommenheit als Charakteristika menschlichen Glücks annimmt, und wenn man den Begriff des guten Lebens auf die Gesamt‐ biographie eines Menschen bezieht (vgl. Tab. 1). So ist es sowohl in der allgemeinen Wahrnehmung als auch in der Ethik um‐ stritten, inwieweit Gesundheit und Fitness zum Gelingen des Lebens notwendig sind. Zur menschlichen Grundsituation gehören Verletzlichkeit und Abhängig‐ keit von anderen sowie Krankheit, die Möglichkeit des Sterbens und die Tat‐ sache des Todes (Nussbaum 2001, im Anschluss an Aristoteles). Dies wird schon darin deutlich, dass das Leben aller Menschen mindestens eine Phase extremer Abhängigkeit und Verletzlichkeit beinhaltet - die (frühe) Kindheit, die in der gesellschaftlichen Wahrnehmung als wesentlich positiver aufgefasst wird als das Alter. Als gutes Leben eines Menschen kann nicht nur das Leben in der Phase gelten, in der junge oder mittelalte Erwachsene mit ihren Fähigkeiten, Mög‐ lichkeiten und ihrer Energie leben. Die ununterbrochen und stetig hohe Leis‐ tungsfähigkeit von Körper und Geist und die entsprechende Lebensweise können nicht die Norm für ein gutes und glückliches Leben darstellen, weil sonst andere Personengruppen - neben Älteren, (chronisch) Kranken und behin‐ derten Menschen, auch Kinder und Jugendliche - gar kein gutes, glückliches 93 Zur Rolle von Vorstellungen des Guten in der Angewandten Ethik <?page no="94"?> 13 Vgl. dazu Rentsch 2012: „Es ist falsch zu denken, dass die Alten und sehr Alten gleichsam wie ein exotischer Stamm fremd inmitten ansonsten nur junger, unbeschwerter, kern‐ gesunder, in Liebe, Glück und Konsum schwelgender Menschen leben. Dieses durch manches oberflächliche Medium vermittelte Zerrbild verkennt, dass die Verletzlichkeit, die Leidbedrohtheit und Schutzlosigkeit, die existentielle Fragilität alle Phasen des menschlichen Lebens wesentlich prägen.“ (197f.) 14 Vgl. Seel 1994, der ausgehend von der aristotelischen Ethik eine „formale Theorie des Glücks“ entfaltet. 15 Dieser kann vielleicht ähnlich aussehen, wie der „Frieden “, den Familienmitglieder nach dem Tod eines geliebten Angehörigen und nach einer individuell unterschiedlich langen Trauerzeit finden können: man ist weiterhin traurig und wünscht sich, es wäre anders, ist aber in gewisser Hinsicht mit der Situation „im Reinen“. Leben führen könnten. 13 Dass aber Kinder und Jugendliche prinzipiell nicht glücklich sein können, widerspricht den Intuitionen der meisten Menschen. Abhängigkeit und Verletzlichkeit sind aber für Kindheit und Jugend konstitutive Merkmale. Geht man also davon aus, dass Kindheit und Jugend gute, glückliche Zeiten und in diesem Sinne Teil eines guten Lebens sein können, dann schließen sich gutes Leben einerseits und Abhängigkeit und Verletzlichkeit andererseits nicht prinzipiell aus. Körperliche Gesundheit, Fitness und möglichst wenig Leiden während des ganzen Lebens können also nicht notwendige Bedingungen dafür sein, ein menschliches Leben umstandslos als gut zu verstehen. Folgt man einer mo‐ dernen Lesart der eudämonistischen Ethik, so gehören zu einem gelingenden oder glücklichen Leben eines Menschen, dass sich wichtige Wünsche erfüllen lassen, dass spontane Momente von Glücksempfinden erlebt werden können, dass der Mensch über sich und seine längerfristige Lebensplanung selbst ent‐ scheiden kann, und dass es ihm gelingt, mit der äußeren Lebenswirklichkeit erfolgreich umzugehen. 14 Es kommt also nicht darauf an, Verletzlichkeit, Krank‐ heit, Alter und Tod grundsätzlich zu vermeiden, sondern sich reflektierend mit diesen Gegebenheiten auseinanderzusetzen. Die Reflexion über das Älter‐ werden könnte helfen, Altern als eine Lebenszeit zu verstehen, zu der gewisse Einschränkungen „dazu gehören“. Manche Menschen mag eine solche Reflexion dazu führen, entsprechende Einschränkungen und die Begrenztheit des Lebens als akzeptabel oder sogar sinnvoll anzusehen. Für andere mag der Begriff „ak‐ zeptabel“ zu stark sein. Dennoch scheint es den Autorinnen dieses Beitrags zu einem guten Alter(n) zu gehören, einen gewissen Frieden mit Einschränkungen und der Begrenztheit des Lebens zu finden. 15 Dies bedeutet allerdings nicht, jede gesundheitliche Einschränkung oder Krankheit als Teil eines „guten Lebens“ oder „guten Alters“ anzunehmen. Letzt‐ lich ist es schwierig - vielleicht sogar unmöglich - die Grenze zu ziehen zwi‐ 94 Uta Müller / Lieske Voget-Kleschin <?page no="95"?> 16 Ob Altern als Krankheit verstanden werden kann oder soll, ist umstritten (vgl. Ehni 2014, Kapitel IV: Biologisches Altern und Krankheit, 75ff.). Manche Biogerontologen vertreten die Ansicht, dass Altern als Krankheit interpretiert werden soll, u.a. weil dann argumentiert werden kann, dass Krankheit Leiden verursacht und auch Altern des‐ wegen medizinisch behandelt werden sollte (Gems 2011: 108). Gegen diese Position können allerdings historische, geriatrische und medizintheoretische Argumente stark gemacht werden, die zeigen, dass Altern nicht als Krankheit zu verstehen ist. Diese Diskussion würde hier allerdings zu weit führen. 17 Letztlich verweist die Frage, was eigentlich zu einem „ganzen“/ vollständigen mensch‐ lichen Leben dazu gehört bzw. gehören sollte, auf die Notwendigkeit einer normativen bzw. evaluativen Anthropologie (vgl. hierzu beispielsweise Nussbaums (1999: 49ff.) „Grundstruktur der menschlichen Lebensform“, insbesondere ihre Auseinandersetzung mit Sterblichkeit und dem menschlichen Körper). schen Bedingungen, die Menschen akzeptieren sollen, und solchen, die man überwinden soll; eine Antwort, die für alle Menschen gleichermaßen gelten kann, ist wohl nicht zu finden. Sich miteinander über die Erfahrungen des Al‐ terns auszutauschen, die Einstellungen anderer Personen anzuhören und ernst zu nehmen, kann für die eigene Haltung den Einschränkungen des Alterns ge‐ genüber wichtig sein. Auch in der Medizin, an die sich ältere und alte Menschen wenden (müssen), könnte die Einsicht, dass Alterserscheinungen nicht immer pathologisch zu betrachten sind und behandelt werden müssen, womöglich den Umgang der Menschen mit dem Älter- und Altwerden verbessern. 16 Mit der Anerkennung von Unvollkommenheit und Verletzlichkeit als kon‐ stitutiven Charakteristika allen menschlichen Lebens einher geht die Überzeu‐ gung, dass die Gesamtbiographie eines jeden Menschen aus verschiedenen Phasen besteht - und dass Alter eine der Phasen darstellt, die zu einem voll‐ ständigen menschlichen Leben dazu gehören. 17 Dass die Idee von Alter(n) als integralem Bestandteil eines menschlichen Lebens auch gesellschaftlich ver‐ wurzelt ist, zeigt sich schließlich darin, dass eigentlich alle Menschen es als (besonders) tragisch ansehen, wenn ein Mensch jung stirbt. In der Literatur wird die zeitliche Verfasstheit des Lebens, zu der Altern und auch Sterben und der Tod gehört, von manchen Autoren als für die menschliche Existenz positiv bedeutsame Bedingung gesehen (Rentsch/ Vollmann 2012). So stellt das Alter einen Lebensabschnitt dar, in dem - unter bestimmten Bedin‐ gungen - berufliche und familiäre Herausforderungen geringer werden und damit mehr Ruhe und Gelassenheit möglich wird. Mindestens das Nachlassen beruflicher Herausforderungen ist - gesellschaftlich gesehen - eine Folge der nachlassenden körperlichen und geistigen Kräfte. Nun ist leicht vorstellbar, dass bessere Gesundheit und höhere Fitness im Alter sehr schnell Forderungen nach einer Erhöhung der Lebensarbeitszeit nach sich zögen. Inwiefern diese Folge „gut“ oder „richtig“ wäre, müsste diskutiert werden. Für Rentsch/ Vollmann 95 Zur Rolle von Vorstellungen des Guten in der Angewandten Ethik <?page no="96"?> 18 Aber nicht muss: Die Aussicht auf ein baldiges Ende des Lebens kann auch zu Angst und anderen negativen Emotionen führen, die die Lebenszufriedenheit, aber auch die Fähigkeit zur Einsicht behindern. 19 Vgl. dazu auch Kruse 2012: „In Beiträgen zur psychischen Entwicklung im hohen Alter wird betont, dass die zunehmende Erfahrung von Endlichkeit und Endgültigkeit zu einer qualitativ neuen Selbst- und Weltsicht beitragen kann, die mit Begriffen wie Ge‐ nerativität und Integrität umschrieben wird […]“ (240f.) 20 Vgl. Gesang 2007: „Es bedarf hinreichender Dauer, damit soziale Kontakte geknüpft, Projekte realisiert und Erfahrungen gemacht werden können. Deshalb halten wir auch den Tod eines jungen Menschen für besonders tragisch“ (144). (2012a) stellt Altern und Alter darüber hinaus eine „Radikalisierung der mensch‐ lichen Grundsituation“ (168) dar, in der eine „vertiefte Einsicht in die Begrenz‐ theiten des Lebens“ möglich sei, die „zur Grundlage einer durch Weisheit und Gelassenheit begünstigten Lebenszufriedenheit“ werden kann (ebd.: 172). 18 Al‐ tern auf biologische Mechanismen des menschlichen Körpers zu reduzieren, er‐ scheint der Komplexität des menschlichen Lebens nicht gerecht zu werden, Vincent formuliert diese Kritik an der einseitigen Interpretation des Alterns so: „Biologisation is the cultural phenomenon which reduces old age to merely part of biology than understanding it as embracing other possibilities; possibilities which include social relationship such as family extension, and psychological development like wisdom or maturity“ (Vincent 2009: 8). 19 Die Einstellung zum Alter(n), das ist eine Folgerung aus den gerade ange‐ deuteten Überlegungen, sollte nicht außer Acht lassen, dass zu einem mensch‐ liches Leben Gefährdungen der Gesundheit gehören, Krankheiten letztlich un‐ vermeidbar sind und dass Alter ein Teil des Lebens ist. Dieser Teil des Lebens kann demnach auch zu einem guten Leben beitragen, und muss nicht als defi‐ zitärer, ausschließlich von Leiden und Einschränkungen geprägter Lebensab‐ schnitt begriffen werden. Hier kann man sich nochmals auf die antike Ethik beziehen: Um dem Ideal eines guten, glücklichen Lebens nahe zu kommen, muss der Mensch, Aristoteles zufolge, tätig sein, dabei vernünftig und klug handeln, und zwar „[…] in einem ganzen Leben. Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling, auch nicht ein Tag. So macht auch ein Tag oder eine kurze Zeit keinen selig oder glücklich“ (Aristoteles 2006: 1098a). Gemeint ist hier, dass ein Leben dann gut ist, wenn es die Möglichkeit bietet, lebenserfahren, reif und in diesem Sinne klug zu werden. Eine bestimmte Dauer menschlichen Lebens ist daher nicht an sich wertvoll und gut, sondern insofern sie es erlaubt, erfahren, reif und klug zu werden. Manche Erfahrungen können Menschen jedoch nur machen, wenn sie ein gewisses Alter erreichen - wie etwa ihre Enkelkinder kennen‐ lernen. 20 Wie lange ein Menschenleben idealerweise dauern soll, kann aber nicht generell festgelegt werden, dies wurde und wird in verschiedenen geschichtli‐ 96 Uta Müller / Lieske Voget-Kleschin <?page no="97"?> chen Epochen und unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich bewertet und auch innerhalb einer Epoche und Kultur sind dazu die individuellen Lebensge‐ schichten unterschiedlich zu berücksichtigen. Im Gegensatz zu der hier dargestellten Sichtweise beschränkt sich die Sicht der biogerontologischen Forschung auf ein Verständnis von Alter(n), das die physiologisch degenerativen Aspekte des Alterungsprozesses in den Mittel‐ punkt stellt: Altern wird vor allem mit negativen Entwicklungen, mit be‐ stimmten Krankheiten, mit Gebrechlichkeit und Demenz verbunden. So spricht die biologische Forschung etwa von „zellulärer Seneszenz“ oder vom „program‐ mierten Zelltod“, um die physiologischen Veränderungen auf der Ebene der Zellen zu beschreiben (vgl. Gems 2011). Vorrangiges Ziel der Biogerontologie sind Behandlungen, die diese Entwicklungen aufhalten und das physiologische Altern verlangsamen sollen. Neben der Verlängerung der Lebensspanne würde das Erreichen dieses Ziels, „die Häufigkeit altersbedingter Krankheiten in jedem Alter reduzieren. Die Folge wäre eine Verringerung menschlichen Leidens in immensen Ausmaßen, in der Größenordnung vergleichbar etwa mit der Ent‐ wicklung der Antibiotika“ (Gems 2009, 41). Manche Autoren sehen im Altern tatsächlich nur die defizitären physiologi‐ schen Prozesse, die es - wie bei Krankheiten generell - zu verhindern gilt: „Se‐ nescence has no function; it is simply the inadvertent subversion of organic function, later in life, in favour of maximizing reproductive advantage early in life. […] As such there is no reason why it is intrinsically wrong to try to reverse or cure ageing. […] There is no intrinsic or ethical reason why we should not try to extend our lives“ (Caplan 2005: 75). Im Gegensatz zu diesen Positionen haben Ethik und Philosophie zu zeigen versucht, dass Alter(n), integriert in das Konzept eines menschlichen Lebens, das von Beginn an auch mit Unvollkommenheiten zu rechnen hat, nicht nur negative Seiten hat, die bekämpft werden müssen (vgl. Rentsch/ Vollmann 2012). Individuelle und gesellschaftliche Vorstellungen des Guten Es ist ein verständlicher und berechtigter Wunsch einer Person, nicht oder zu‐ mindest möglichst spät an altersassoziierten Krankheiten zu erkranken und die Zeit der Gebrechlichkeit hinauszuzögern. Es kann auch für manche Individuen wünschenswert sein, ein möglichst hohes Alter zu erreichen, um sich bestimmte Wünsche (noch) erfüllen zu können. Bei der Bewertung dieser Präferenzen und Wünsche ist allerdings zu berücksichtigen, dass diese Wünsche auch davon ab‐ hängen, welche von diesen Zielen in einer Gesellschaft als wünschenswert und 97 Zur Rolle von Vorstellungen des Guten in der Angewandten Ethik <?page no="98"?> 21 Auch Überlegungen zu Gerechtigkeit sollten in der gesellschaftlichen Debatte eine Rolle spielen. Wir können hier nicht auf Überlegungen eingehen, die Fragen der Gerechtig‐ keit betreffen, die durch die Möglichkeit von Eingriffen in Altersprozesse hervorgerufen werden könnten. Sicher könnten in manchen Gesellschaften nur bestimmte Personen‐ gruppen mit entsprechendem sozialen Status von solchen Therapien profitieren und noch gravierendere Probleme könnten sich ergeben, wenn man globale Gerechtigkeit mit in den Blick nehmen würde (vgl. Ehni 2014: 243ff.). 22 Laut einer Studie zu Altersbildern gibt es in verschiedenen Ländern unterschiedliche Sichtweisen auf das Altern und ältere oder alte Personen und damit auch unterschied‐ liche Altersbilder. So wird z.B. in der japanischen Gesellschaft das Alter immer noch verehrt, und viele Ältere leben in Dreigenerationenhaushalten, dabei ist „[d]ie soziale Repräsentation des Alters in Japan […] häufig noch von der Abhängigkeit als einem Merkmal des »guten Alterns« bestimmt.“ (Altersbilder in anderen Kulturen, Ro‐ bert-Bosch-Stiftung, 2009: 34). Allerdings ändern sich mit den modernen Lebensbedin‐ gungen, insbesondere in den großen Städten, auch die Betreuungsbedingungen und damit die Sichtweise auf das Alter(n) nicht nur in Japan, sondern auch in vielen anderen Ländern. realisierbar angesehen werden. 21 Die Entscheidungen über wichtige Fragen des menschlichen Lebens treffen Menschen in vielen Fällen nicht ganz allein, ohne dass sie sich mit anderen Personen austauschen. Menschen verlassen sich (in der Regel) nicht nur auf ihr eigenes Urteil, sondern kommen zu Entscheidungen im und durch den Austausch mit anderen Menschen. Die jeweils eigene Abwä‐ gung in der Lebensplanung hängen auch davon ab, welche Lebensformen und welche alternative Vorstellungen vom guten Leben in einer Gesellschaft vorge‐ lebt und geachtet werden. Wie die Chancen und Möglichkeiten älterer und alter Menschen auf ein gutes Leben im Alter gestaltet werden, ist auch geprägt von den Altersbildern und ihrer Verbreitung in der jeweiligen Gesellschaft. Mit Alter verbinden viele Men‐ schen in unserer Kultur 22 die von Einschränkungen durch Gebrechlichkeit und altersassoziierte Krankheiten begleitete letzte Lebensphase. Die Biogeronto‐ logie hebt die defizitären Aspekte der Phase des Alterns hervor und verstärkt damit dieses Bild. Auch in der gesellschaftlichen Debatte über die ethische Bewertung biome‐ dizinischer Therapiemöglichkeiten werden fast ausschließlich die subjektiven individuellen Präferenzen einzelner Personen in den Mittelpunkt gestellt. Zur Beantwortung der Frage, ob und wie viele gesellschaftliche Ressourcen für die Forschung und mögliche Therapien für die Abschaffung des Alters eingesetzt werden sollen, müsste eigentlich eine Debatte begonnen werden, die sowohl individuelle wie auch soziale und weitere Aspekte guten Alterns in den Blick nimmt. Eine solche Abwägung der Vor- und Nachteile der biomedizinischen Therapien gegen das Altern würde allerdings voraussetzen, dass wir als Gesell‐ 98 Uta Müller / Lieske Voget-Kleschin <?page no="99"?> 23 Die Autorinnen wollen hier nicht für die eine (Biogerontologie) oder andere (Barriere‐ freiheit etc.) Möglichkeit argumentieren, sondern lediglich aufzeigen, dass verschie‐ dene Möglichkeiten existieren, Gelder zu verwenden um Alter(n) gesellschaftlich zu beeinflussen. schaft Antworten darauf finden, was wir unter einem guten Leben verstehen wollen oder sollten - und zwar sowohl auf die Gesamtbiographie bezogen als auch hinsichtlich eines guten Lebens im Alter. Eine solche Debatte sollte nicht dazu führen, dem Individuum vorzuschreiben, wie er oder sie (sein oder ihr eigenes) Alter(n) sehen, empfinden und leben soll. Aber wenn soziale und ge‐ sellschaftliche Altersbilder individuelle Vorstellungen von Alter(n) prägen, dann kann eine entsprechende Debatte ganz ohne solche direktiven Vorgaben dazu führen, dass sich (auch) individuelle Vorstellungen von Alter(n) weiterentwi‐ ckeln. Darüber hinaus sind individuelle Einstellungen gegenüber dem Alter(n) sehr stark auch davon abhängig, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen individuelles Alter(n) stattfindet. In diesem Sinne kann und sollte eine entspre‐ chende gesellschaftliche Debatte auch diese Rahmenbedingungen in den Blick nehmen. So könnten etwa Gelder, die heute in die biologische Altersforschung investiert werden, auch dazu verwendet werden, gutes Altern zu ermöglichen. Denkbar wäre in dieser Hinsicht etwa die Förderung von Barrierefreiheit, Mehr-Generationen-Wohnen oder der Verbesserung der Qualität von Pflege‐ einrichtungen und der Palliativmedizin. 23 Erst vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Verständnisses davon, ob und unter welchen Bedingungen Alter(n) gut sein kann, können wissenschaft‐ liche Entwicklungen wie etwa die in der Biomedizin als Vor- oder Nachteil be‐ wertet werden (vgl. van Tongeren 1995). Diese Diskussion ist allerdings bisher kaum in der allgemeinen öffentlichen Debatte und in der „Angewandten Ethik“ angekommen. Fazit Aus den Überlegungen ergibt sich ein differenzierteres Bild der Angewandten Ethik: Wir haben zu zeigen versucht, dass bei der Beurteilung mancher Sach‐ verhalte, in denen wir unsicher sind oder (noch) nicht wissen, wie wir sie ein‐ 99 Zur Rolle von Vorstellungen des Guten in der Angewandten Ethik <?page no="100"?> 24 Darüber hinaus führt diese Frage hinsichtlich neuer Handlungsmöglichkeiten des Men‐ schen (wie sie etwa die Biogerontologie bietet) zu eigenen Problemen: Überzeugende Kriterien für entsprechende Entscheidungen würden voraussetzen, dass es begründete und anerkannte normative Prinzipien gibt, die diese Entscheidungen zu bestimmen erlauben. Auf manche ethischen Fragen können sollensethische Begründungen, die sich auf Pflichten und Rechte beziehen, Antworten geben; so z.B. gilt das Prinzip, dass die bewusste Tötung einer unschuldigen Person immer moralisch verwerflich ist. Auch über manche Pflichten gibt es einen breiten Konsens, etwa, dass Eltern gegenüber ihren Kindern bestimmte Pflichten zu erfüllen haben. Mittels dieser existierenden ethischen Begründungen lassen sich aber bei weitem nicht alle Fragen danach, welche neuen Handlungsmöglichkeiten wir nutzen dürfen (und welche nicht), beantworten. Vgl. hierzu insbesondere die Diskussion um so genannten „new harms“, vgl. Lichtenberg 2010. schätzen sollen, ethische Antworten, die sich darauf beschränken zu sagen, was wir dürfen oder nicht dürfen, nicht ausreichen. 24 Viele moderne Ethikansätze beschränken Ethik jedoch auf diese sollensethi‐ schen Fragen. Eine Differenzierung in mehr oder weniger gute (oder eben un‐ gute) Handlungsmöglichkeiten treffen sie nicht. Entsprechende Beurteilungen überlassen sie allein den jeweiligen subjektiven Einstellungen und Präferenzen individueller Personen. Die Frage, was wir (wirklich) tun wollen, sehen Vertreter solcher Ansätze nicht als Frage der Ethik an. In Ergänzung dieser sollensethischen Perspektive haben wir in diesem Bei‐ trag zu zeigen versucht, dass das menschliche Leben - zurückgehend auf zent‐ rale Gedanken der antiken Ethik zu Glück und gutem Leben - als Lebensglück zu verstehen ist, das sich auf die gesamte Biographie einer Person von der Kind‐ heit bis zum Alter bezieht und zu dem auch Unvollkommenheiten und manche Leiden gehören. Außerdem ist das Glück oder das gute Leben eines Individuums nicht vom Gedeihen und guten Leben anderer Personen einer Gemeinschaft zu trennen. Man kann daraus den Schluss ziehen, dass zu den Fragen, die von der angewandten Ethik gestellt werden sollen, neben Fragen nach dem Dürfen not‐ wendig auch Fragen danach gehören, wie Menschen - Jüngere und Ältere - gut (zusammen) leben wollen. Bezogen auf das Altern also: Wie wollen wir gut altern? Oder noch grundsätzlicher: Wie wollen wir alle in unserer Gemeinschaft leben? Um diese Frage zu beantworten, ist ein gesellschaftlicher Diskurs not‐ wendig. Dieser sollte die verschiedenen genannten Aspekte aufgreifen. Dazu gehört etwa die Frage, wie das Zusammenleben der Generationen in Gesell‐ schaften angesichts des demografischen Wandels gut gelingen kann. An dieser Stelle sind selbstverständlich auch sollensethische Überlegungen relevant, da es auch um die Fragen der gerechten Verteilung von Ressourcen, etwa der Ge‐ sundheitsversorgung geht. Manche Fragen danach, was Menschen tun dürfen, sind in diesem Kontext sicherlich berechtigt - aber nicht alle Fragen, die sich in 100 Uta Müller / Lieske Voget-Kleschin <?page no="101"?> 25 Weiterhin folgt aus der Bedeutung der Medizin für das Altern auch nicht, dass viele Ressourcen wie etwa öffentliche Forschungsgelder in die biologische Altersforschung investiert werden sollen. Vgl. die vorvorherige Fußnote. diesem Diskurs stellen, können ausschließlich sollensethisch beantwortet werden. Dass die Medizin und Gesundheitsversorgung für gutes Altern eine große Rolle spielen, ist offensichtlich, da altersassoziierte Krankheiten für viele Menschen Leiden schaffen. Nur folgt daraus nicht ohne weitere (ethische) Über‐ legungen, dass auf die Frage, ob Menschen das, was sie mit medizinischen The‐ rapien tun können, auch tun wollen oder gar sollen. 25 Die Biogerontologie hat unbestritten große Fortschritte beim Verständnis physiologischer Alterungsprozesse von Organismen gemacht. Aber wie diese Fortschritte der biologischen Forschung, die eine längere gesunde Lebensspanne und womöglich ein viel längeres menschliches Leben zur Folge haben könnten, zu bewerten sind, ist Gegenstand einer ethischen und gesellschaftlichen Ausei‐ nandersetzung. Für diese Auseinandersetzung müssen die BürgerInnen, um deren Leben es ja letztlich geht, mit den relevanten Informationen versorgt werden: Wie wir gesehen haben, sind die biologischen Kenntnisse der Alters‐ forschung nicht ausreichend, es sind auch Kenntnisse (und Kompetenzen) nötig, die Individuen eine Reflexion über gelingendes und gutes Lebens von Individuen und Gesellschaft sowie von verschiedenen Altersgruppen ermöglichen. Diese Kenntnisse sind nicht auf individuelle Präferenzen oder subjektive Einstel‐ lungen oder Emotionen reduzierbar, sondern sind auch offen für allgemein zu‐ gängliche Begründungen und rationales Argumentieren (vgl. Nida-Rümelin 2005: 46ff.). Hier kann die „Angewandte Ethik“ in der Kombination von Sollens- und Strebensethik einen wichtigen Beitrag leisten. Literatur Aristoteles (2006). Nikomachische Ethik. Übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf. Hamburg: Rowohlt. Bahnsen, Ulrich (2017a). Für immer jung? DIE ZEIT. Nr. 15. 6.4.2017, 29-31. 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Ansatzpunkte einer allgemeinen Typologie normativer Minimalstandards In normativen Kontroversen ist regelmäßig folgende Konstellation anzutreffen: Unterschiedliche Ansprüche, Werte oder Normen werden von den beteiligten Parteien zwar als an sich begründet oder zumindest legitim anerkannt, lassen sich aber in einer gegebenen Situation nicht gleichermaßen umfassend einlösen. Dabei besteht die zentrale Herausforderung in einer Art Abwägung. Für solche Abwägungsaufgaben sind in der Ethik unterschiedliche Modelle vorgeschlagen worden. Ansätze einer methodisch besonders strikten Rationalisierung von Ab‐ wägungsentscheidungen sind etwa auf der Grundlage des Wertmonismus ent‐ wickelt worden. Wertmonistische Theorien wie der Utilitarismus versuchen alle relevanten Ansprüche, Werte oder Normen auf eine homogene evaluative Grundlage (klassischerweise subjektives Wohlbefinden oder Präferenzbefriedi‐ gung) zu beziehen. Konkurrierende Optionen, die bei vordergründiger Betrach‐ tung qualitativ unterschiedlichen Ansprüchen, Werten oder Normen Rechnung zu tragen scheinen, sollen sich so als alternative Versuche der Realisierung eines und desselben Gutes erweisen lassen. Entsprechend ließen sich Kontroversen, die sich vordergründig als Interessenkonflikte, Wertkonflikte oder Normenkol‐ lisionen präsentieren, „handlungskonsequenzialistisch“ auf Kontroversen über die relative Effizienz alternativer Handlungsoptionen zur Realisierung des be‐ treffenden Gutes reduzieren. Solche Effizienzfragen wären dann nach Maßgabe des verfügbaren prognostischen Wissens eindeutig zu beantworten. Dass sich solche wertmonistisch-reduktionistischen und handlungskonse‐ quenzialistischen Verfahren der Anspruchs-, Wert- oder Normenabwägung nicht überall durchgesetzt haben, ist zum einen durch Vorbehalte gegenüber ihren normativen Grundannahmen zu erklären. So ist strittig, ob sich Normen auf Werte reduzieren lassen, ob der Wertmonismus als solcher phänomenolo‐ gisch adäquat ist, inwieweit spezifische Vorschläge für die fundamentale Wert‐ <?page no="108"?> basis plausibel sind, oder ob ethisch legitime Modelle für die interindividuelle Aggregation von akteursrelativen Werten zur Verfügung stehen. Ferner sieht sich der Handlungskonsequenzialismus auch pragmatischen Herausforde‐ rungen gegenüber. So müssen lebensweltliche Entscheidungen regelmäßig unter Zeitdruck und unter Bedingungen eingeschränkten Wissens und einge‐ schränkter Rationalität von Akteuren getroffen werden; zugleich ist die Zuver‐ lässigkeit von Folgeprognosen in Kontexten sozialen Handelns von der Verläss‐ lichkeit wechselseitiger Verhaltenserwartungen abhängig, die ohne die Institutionalisierung typisierender Verhaltensregeln (auch etwa zur Festlegung von Zuständigkeiten) kaum zu gewährleisten sein könnte. Solche Überlegungen haben bekanntlich auch erklärte Handlungsutilitaristen dazu veranlasst, das Idealmodell direkter handlungskonsequenzialistischer Orientierung am Nut‐ zenprinzip für Entscheidungen unter Realbedingungen zugunsten der Orien‐ tierung an generalisierenden Prima-facie-Prinzipien, Daumenregeln, Sekundär‐ prinzipien oder Praxisnormen abzuschwächen (z.B. Hare 1981: 44ff.; Birnbacher 2013: 194ff.; 1988: 16ff.). Soweit zwischen solchen Prinzipien wiederum mit Kol‐ lisionen zu rechnen ist, sieht sich freilich auch der entsprechend abgeschwächte Konsequenzialismus dem Ausgangsproblem gegenüber, zwischen konkurrier‐ enden Prima-facie-Orientierungen „abwägen“ zu müssen, ohne dass hier der erneute Rekurs auf das Nutzenprinzip eine überzeugende Lösung bieten könnte. Denn einerseits würde eine uneingeschränkte Inanspruchnahme des Nutzen‐ prinzips bei allen Abwägungsentscheidungen in einen reinen Handlungskon‐ sequenzialismus zurückführen, andererseits lassen sich dem Nutzenprinzip selbst kaum Kriterien für eine Einschränkung der Orientierung an eben diesem Nutzenprinzip entnehmen. Viele ethische Ansätze, die eine Abwägung konfligierender Ansprüche, Werte oder Normen für relevant halten, verzichten daher auch zumindest für Kontexte realer Handlungsentscheidungen auf den Versuch, sämtliche orien‐ tierungsrelevanten Situationsaspekte auf eine qualitativ homogene Wertbasis zu beziehen und dadurch unmittelbar verrechenbar zu machen. Die Vielfalt al‐ ternativer Abwägungsmodelle und ihre Begründungen sollen uns im Folgenden aber nur insoweit beschäftigen, als wir uns für ein häufig anzutreffendes Struk‐ turmerkmal solcher Modelle interessieren: Zahlreiche Modelle der politischen Ethik, allgemeinen oder angewandten normativen Ethik oder der Rechtsethik postulieren nicht nur die Existenz von generalisierenden, auf Situationstypen oder typische Anspruchsqualitäten bezogenen, Werten, Normen, Rechten oder Pflichten. Um Abwägungen zwischen diesen zu erleichtern, nehmen sie zusätz‐ liche Generalisierungen vor, indem sie die postulierten Werte, Normen, Rechte oder Pflichten noch einmal allgemeineren Kategorien zuordnen und Priorisie‐ 108 Jens Peter Brune / Micha H. Werner <?page no="109"?> rungen zwischen diesen Kategorien vornehmen. So wird vielfach vorge‐ schlagen, das Feld des Supererogatorischen von dem der eigentlichen Pflichten zu unterscheiden. Es wird im Feld der Pflichten noch einmal zwischen unvoll‐ kommenen oder Prima-facie-Pflichten und vollkommenen oder absoluten Pflichten differenziert. Es wird vorgeschlagen, „Grundwerte“ von einfachen Werten zu unterscheiden. Es wird dafür plädiert, Rechten Vorrang vor anderen normativen Ansprüchen zuzuerkennen, oder dafür, innerhalb der Rechte den Abwehrvor den Anspruchsrechten Vorrang zu geben. Auch wird versucht, Grundrechte von einfachen Rechten zu unterscheiden oder im Bereich der Grundrechte noch einmal einen besonders geschützten Kernbereich auszu‐ weisen, der sich zu Grundrechten ähnlich verhält wie diese zu einfachen Rechten. Schließlich werden häufig normative „Minimal-“ oder „Mindeststan‐ dards“ postuliert, die gegenüber weitergehenden normativen Forderungen als vorrangig gelten sollen (vgl. Brune et al. 2016: 25ff.). Ohne damit etwas über die Berechtigung solcher Vorschläge der Normen‐ stratifikation zu sagen, lässt sich feststellen, dass es sich dabei jedenfalls auch um Vorschläge für „Abkürzungen“ im Abwägungsprozess handelt. Schon der Rekurs auf generalisierende, auf allgemeine Situationstypen oder Situationsa‐ spekte bezogene Werte oder Normen stellt in gewisser Weise einen Beitrag zur Komplexitätsreduktion dar, sofern nämlich durch die betreffenden Werte oder Normen eine endliche Zahl von Interpretationsschemata für die Erschließung einer prinzipiell unbegrenzten Vielfalt möglicher ethischer Konfliktsituationen zur Verfügung gestellt wird. Zuordnungen dieser normativen Konzepte zu hie‐ rarchisch geordneten Klassen lassen sich sodann als Vorschläge einer noch wei‐ tergehenden Komplexitätsreduktion verstehen. Dies lässt sich auch mit Bezugnahme auf die kantische Unterscheidung zwi‐ schen reflektierender und subsumierender Urteilskraft erläutern: In Abwesen‐ heit entsprechender Oberkategorien fällt die Aufgabe zu entscheiden, welche Norm in einer gegebenen Situation angemessen ist, auf das Gebiet der reflek‐ tierenden Urteilskraft. Im Fall von Normenkollisionen wäre analog nach einer angemessenen Vorrangregel zu suchen. Die Zuordnung von Normen zu hier‐ archisch geordneten Klassen transformiert diese Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft in eine bloße Subsumtionsaufgabe: Nach der Diagnose, dass im vor‐ liegenden Fall einschlägige Normen kollidieren, muss nicht mehr im Ausgang von der jeweiligen Handlungssituation nach einer Vorrangregel gesucht werden. Vielmehr steht bereits eine solche Vorrangregel zur Verfügung, die im Prinzip anscheinend „situationsblind“ auf alle entsprechenden Kollisionsfälle angewandt werden kann. 109 „Wenig, weniger, zu wenig“: Minimalstandards als ‚Abkürzung‘ im Abwägungsprozess <?page no="110"?> Was die Begründung von spezifischen Vorschlägen für Vorrangverhältnisse zwischen Klassen von Ansprüchen, Werten, Normen u.ä. betrifft, lässt sich eine durchaus begrenzte Zahl von Argumentationsmustern dingfest machen. Wie wir an anderer Stelle bereits skizziert haben (ebd.: 31ff.), wird unter anderem (1.) auf den handlungstheoretischen Status von Normen (Unterlassungs‐ pflichten versus Handlungspflichten), (2.) die logische Struktur von Begrün‐ dungen, (3.) auf faktische Konsense über die besondere Dringlichkeit be‐ stimmter Ansprüche, (4.) auf anthropologisch verankerte Bedürfnishierarchien oder - insbesondere - (5.) pragmatische Voraussetzungsverhältnisse Bezug ge‐ nommen. Exemplarisch haben wir in diesem Zusammenhang die Diskussion über Anspruchsrechte auf ein Existenzminimum untersucht (Brune 2016). Im Zentrum stand dabei Thomas Pogges Versuch, globale soziale Anspruchsrechte aus negativen Pflichten abzuleiten, und ihnen so durch die Bezugnahme auf die vielfach unterstellte Priorität von negativen Pflichten vor positiven (Hilfs-)pflichten höhere Priorität zuzuerkennen. Im Folgenden möchten wir einen weiteren Versuch in den Blick nehmen, sozialen Anspruchsrechten Nach‐ druck zu verleihen, nämlich die Bezugnahme auf das Konzept eines ursprünglich absolut gedachten Existenzminimums. Dabei werden wir uns vor allem mit dessen Interpretation und Weiterentwicklung durch die Vertreter/ innen des Capability Approach auseinandersetzen. 2. Schwellenwerte des Existenzminimums: „absolut“, „relativ“ - oder beides? (1) Unter dem Dach der Armutsforschung ist die Entwicklung von Schwellen‐ werten für ein menschliches Existenzminimum von Anfang an mit Fragen der Messung und dem Vergleich von Zuständen der Deprivation verknüpft worden. Benjamin Seebohm Rowntree, der nach Charles Booth als einer der Ersten das vom London School Board entwickelte Konzept einer „line of poverty“ verwen‐ dete (Gillie 1996), untersuchte an der Wende zum 20. Jahrhundert die Lebens‐ bedingungen im Arbeitermilieu der englischen Stadt York. Die von ihm detail‐ liert aufgeschlüsselten Indikatoren Ernährung, Miete und Bedarfsartikel (Kleidung, Licht und Brennstoff zum Heizen; vgl. Rowntree 1903: chap. IV) dienen bis heute als Grundstock zur Konzeptionalisierung eines als „absolut“ bezeichneten Armutsbegriffs, der an der Schwelle des nackten Überlebens ope‐ 110 Jens Peter Brune / Micha H. Werner <?page no="111"?> 1 Über die genauen Indikatoren zur Feststellung „absoluter“ Armut besteht allerdings bis heute kein Konsens, was u.a. daran liegen mag, das implizit oder explizit die Bezugs‐ dimension der „Grundbedürfnisse“ unterschiedlich weit gefasst wird. So zählen die einen „Hilfen gegen leicht heilbare Krankheiten“ (Hauser 2012: 124) oder auch pauschal „health“ (Townsend Centre for International Poverty Research, o.J.) zu den Indikatoren absoluter Armut, andere hingegen nicht (Bäcker/ Bispinck/ Hofemann et al. 2008: 257; Stockmann/ Menzel/ Nuscheler 2016: 296). 2 „No claim is made that it [our classification of basic needs] is ultimate or universal for all cultures. The claim is made only that it is relatively more ultimate, more universal, more basic, than the superficial conscious desires from culture to culture, and makes a somewhat closer approach to common-human characteristics. Basic needs are more common-human than superficial desires or behaviors.“ (Maslow 1943: 390) 3 Vgl. etwa die Kritik am Maßstab der FAO für Unterernährung in Lappé et al. 2013. riert und damit prima facie nur enge Abwägungsspielräume lässt. 1 Das Prädikat „ist absolut“ wird dabei einerseits semantisch eng an die Rede von „Grundbe‐ dürfnissen“ („basic needs“) eines Menschen gekoppelt. Andererseits lässt sich an Hand der Indikatoren auf dem Wege einer monetaristischen Reduktion ein „Warenkorb“ marktgängiger (und nur marktgängiger) Güter zusammenstellen, deren Preise eine einheitliche geldbezogene „Armutslinie“ bilden. Diese Ar‐ mutsschwelle steht sodann Zwecken der synchronen und diachronen empi‐ rischen Forschung zur Verfügung, die Hoffnung auf eine evidenzbasierte Ar‐ mutsbekämpfung weckt. Gegenüber Rowntrees frühem Armutskonzept mit seinen wenigen, auf physiologische Bedürfnisse zugeschnittenen Indikatoren hat Abraham H. Maslow in seiner gestaltpsychologisch inspirierten, holistisch angelegten „Theory of Human Motivation“ (Maslow 1943; ders. 1954: chap. 4) die Kategorie der Grundbedürfnisse um „safety needs“, „love needs“, „esteem needs“ und „needs for self-actualization“ erweitert und diese zugleich als „ends in themselves“ qualifiziert (Maslow 1943: 383). Ebenfalls hat er aber früh davor gewarnt, diese Grundbedürfnisse als „universell“ zu bezeichnen, da auch sie in Raum und Zeit, von Kultur zu Kultur qualitativ variieren könnten (Maslow 1943: 385, 390). 2 Zwar lassen sich für die Ernährung quantitative Grenzwerte des Makro- und Mikronährstoffbedarfs angeben, die wunschgemäß sensibel sind für Gesundheitszustand, Geschlecht, Alter, Art der Tätigkeit, Kulturraum und Klima. 3 Doch schon die „Übersetzung“ dieser Bedarfe in vor Ort verfügbare Nahrungsmittel und die Ermittlung von Preisen (so es geldgesteuerte Märkte für sie gibt) gelingt nicht ohne Willkür (Lepenies 2017: 104). Weitergehende Grundbedürfnisse konnten bislang ohnehin nicht auf eine Weise identifiziert und gemessen werden, dass sie einmütig und global als solche akzeptiert, der Metrik von Marktpreisen unterworfen und damit komparabel werden. (2) In Auseinandersetzung mit Rowntree hat Peter Townsend Anfang der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts ein einflussreiches Gegenmodell vor‐ 111 „Wenig, weniger, zu wenig“: Minimalstandards als ‚Abkürzung‘ im Abwägungsprozess <?page no="112"?> 4 So wählt beispielsweise die OECD die Hälfte des Medianeinkommens der Haushalte ihrer Mitgliedsländer als Armutsschwelle, die EU und ihre Mitgliedsstaaten haben sich auf 60% unter dem Medianwert der Äquivalenzeinkommen als Armutsgefähr‐ dungsgrenze festgelegt. 5 Einen späten Nachhall fand die Segregation des alltagssprachlich noch konzilianten Gebrauchs von „Armut“ in eine absolute und eine relative Deutungslinie in der philo‐ sophischen Debatte um Egalitarismus und Non-Egalitarismus, um „Gleichheit oder Ge‐ rechtigkeit“ (Krebs 2000). gestellt (Townsend 1962), indem er Armut und Subsistenz als relative Konzepte fasste: „My main thesis is that both ‚poverty‘ and ‚subsistence‘ are relative concepts and that they can only be defined in relation to the material and emotional resources available at a particular time to the members either of a particular society or different societies.“ (Townsend 1962: 210) Im Zentrum seiner Kritik am „absoluten“ Armutsbegriff steht die Beobachtung, dass Bedürfnisse, auch Grundbedürfnisse, über Räume und Zeiten nicht kons‐ tant sind, vielmehr werden sie „continuously adapted and augmented as changes take place in a society and its products“ (Townsend 1979: 915). So betrachtet lässt sich Armut verstehen als Exklusion von der Teilhabe an „living conditions and amenities which are customary, or are at least widely encouraged or ap‐ proved, in the societies to which they belong“ (Townsend 1979: 31), wobei diese Lebensbedingungen eigenen sozioökonomischen und kulturellen Dynamiken unterworfen sind. Vereinfacht gesprochen, wird Armut damit zu einem Fall so‐ zialer Ungleichheit: Im Ausgang von dem veränderlichen Durchschnitt (Median) einer Vergleichsgruppe (Haushalte einer Region, eines Landes, und darüber hinaus) ist die Richtung, in der die Schwelle des Armut indizierenden Existenz‐ minimums zu suchen ist, als Abweichung nach unten vorgegeben. Es liegt auf der Hand, dass sich mit einem „relativen“ Armutskonzept sozialpolitisch ehr‐ geizigere Ziele wie zum Beispiel die Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung legitimieren lassen als mit einem „absoluten“ Konzept (Hauser 2012: 613). Zu‐ gleich erweitert sich der Spielraum möglicher Abwägungsprobleme: Der Streit dreht sich dann vor allem um den genauen Zuschnitt der Indikatoren und der Vergleichsgruppe, den Grad der Abweichung vom je aktuellen Median und um rhetorische Finessen der Terminologie. 4 (3) Die Abkehr vom „absoluten“ Armutskonzept ist nicht unwidersprochen geblieben. 5 So möchte Amartya Sen an der Intuition festhalten, dass zum Ar‐ mutskonzept die Kernidee eines absoluten Mangels („an irreducible core of ab‐ solute deprivation“, Sen 1981: 17; vgl. Sen 1983: 158f.) gehöre, sofern Zustände des Hungers, der Unterernährung und Verelendung unabhängig vom Lebensstil 112 Jens Peter Brune / Micha H. Werner <?page no="113"?> 6 „What is entirely absolute in one space (capabilities) is partly relative in another (com‐ modities), translating into minimum income requirements with some ‚relative‘ fea‐ tures.“ (Sen 1984: 28) 7 Immerhin ließe sich fragen, ob bei ihrer Identifikation nicht doch auf andere, ggf. au‐ ßerökonomische Vergleichsindikatoren wie etwa der Kalorien- und Mikronährstoffbe‐ darf einer geeigneten Vergleichsgruppe Bezug genommen werden müsse, so dass wir es mit einer anderen Art von Relativität zu tun hätten: Während der ökonomische Re‐ lativismus definitorisch für den entsprechenden Armutsbegriff ist, hat ein ernährungs‐ physiologischer Vergleich explanative und gegebenenfalls prognostische Funktion. 8 Zur Diskussion zwischen Sen und Townsend um „relative“ und „absolute“ Aspekte der Deprivation vgl. Sen 1983, ders. 1985; Townsend 1985. (Einkommen, Güterausstattung, Konsum) einer Vergleichsgruppe seien (Sen 1981: 17; Sen 1983: 159). Eine Untersuchung relativer Deprivation sei daher nur eine Ergänzung des absoluten Ansatzes. Um das Nebeneinander beider Rede‐ weisen zu analysieren, führt er den Begriff der „capabilities“ ein: „Certain capabilities (e.g. the capability to be well-nourished) may largely depend on the person’s absolute intake of food, whereas other capabilities (e.g. that of appearing in public without shame) depends crucially on what clothing, etc., the person possesses relative to others and in relation to established stan‐ dards in that community.“ (Sen 1984: 27 f.) Unter den Fähigkeiten gäbe es demnach solche, deren individuelle Realisie‐ rungsmöglichkeit unabhängig davon ist, wie es um die Realisierungsmöglich‐ keit dieser Fähigkeit in der jeweiligen Gesellschaft bestellt ist. Sollte beispiels‐ weise eine Person nicht in der Lage sein, aus eigener Kraft ihren Hunger zu stillen, so würde der Umstand, dass andere auch hungern, an der ersten Diagnose nichts ändern (Sen 1985: 670). Während in diesem minimalen (negativen) Sinne einige Fähigkeiten „absolut“ seien, gelte dies freilich nicht für die zur Realisie‐ rung solcher Fähigkeiten notwendigen Ressourcen oder Güter (z.B. Nahrungs‐ mittel oder Medikamente): „At the risk of oversimplification, I would like to say that poverty is an absolute notion in the space of capabilities but very often it will take a relative form in the space of commodities or characteristics.“ (Sen 1983: 161) 6 Die Diskussion darüber, in welchem positiven Sinne die von Sen avisierten Fä‐ higkeiten als „absolut“ zu bezeichnen sind, müssen wir hier dahingestellt sein lassen. 7 Wichtig sind uns die beiden Einwände gegen die strikt relativistischen Armutskonzeptionen. 8 Erstens weist Sen die Kritik Townsends zurück, dass „ab‐ solute“ Armutskonzepte die soziale Imprägnierung von Bedürfnissen leugnen und stattdessen von einer Dauerhaftigkeit von Grundbedürfnissen über die Zeit ausgehen müssten. Dies sei nicht der Fall: „absoluteness of needs is not the same 113 „Wenig, weniger, zu wenig“: Minimalstandards als ‚Abkürzung‘ im Abwägungsprozess <?page no="114"?> 9 Im Human Development Report der UN von 2005 wird dieses Problem angedeutet: „It is clear that when economic conditions change rapidly, relative poverty measures do not always present a complete picture of the ways that economic change affects people’s lives.“ (United Nations 2005: 334) 10 Hier seien neben Sens frühen Studien (Sen 1977, 1981) und den zusammen mit Jean Drèze veröffentlichten Studien zu Indien (Drèze/ Sen 1997, 2002) nur einige Beispiele genannt: Volkert (Hrsg. 2005) und Arndt et al. (2006) für Deutschland; Krishnakumar/ Ballon (2008) für Bolivien; Panzironi/ Gelber (2012) für den Asien-Pazifik-Raum und Vollmer (2013) für Mosambik; weitere Hinweise auf regional- und länderspezifische Applikationen des CA finden sich in Comim/ Quilbach/ Alkire (Hrsg. 2008), Part III; für einen Überblick über die aktuelle internationale Literatur zum CA vgl. die Website des HDCA: https: / / hd-ca.org/ publication-and-resources/ ca-bibliography. thing as their fixity over time“ (Sen 1983: 155). Bedürfnisse könnten sich sehr wohl ändern, doch gebe es eben solche, deren Änderung unabhängig von ir‐ gendeiner Vergleichsgruppe sei. Zweitens sei ein rein relativistisches Armuts‐ konzept unsensibel gegenüber bestimmten armutsrelevanten Veränderungen: Angenommen, ein allgemeiner Einbruch der Wirtschaft würde zwar zu weit verbreitetem Hunger in der Bevölkerung führen, aber nichts an der relativen Verteilung von Einkommen oder Vermögen ändern. Im strikt relativistischen Modell würde dies gar nicht zur Kenntnis genommen. Eine solch außerordent‐ liche Verschärfung der Armutsproblematik müsse aber „be seen by any accep‐ table criterion of poverty“ (Sen 1983: 157; vgl. ders. 1981: chap. 2). 9 Auf dieses hier nur negativ bestimmte Konzept „absoluter“ Deprivation baut der von Sen in der Tanner Lecture zu der Frage „Equality of What? “ 1979 begründete und zusammen mit Martha C. Nussbaum maßgeblich weiterentwickelte „Capability Approach“ (CA) auf. Der Capability Approach: „functionings“, „capabilities“ und „freedom“ Der CA ist vor allem in den letzten 20 Jahren zu einem Bezugsrahmen vielseitiger und disziplinübergreifender Forschungszweige herangewachsen. So wird der CA auf den Feldern der Wohlfahrtsökonomie, der Entwicklungspolitik, der Gender- und Bildungsforschung, vor allem aber der Armutsforschung fruchtbar gemacht und für unterschiedliche Länder und Regionen operationalisiert. 10 Im philosophischen Diskurs konkurriert er mit alternativen Theorien der Gerech‐ tigkeit (bzw. Verteilungsmetriken), wird in bereichsspezifische Ethiken wie die Wirtschafts- und Umweltethik getragen und - durchaus kritisch - in der tier‐ ethischen Debatte rezipiert (Nussbaum 2004; Nussbaum 2006; Wissenburg 2011; Melin/ Kronlid 2016). Zugleich anerkennen seine Vertreterinnen und Vertreter 114 Jens Peter Brune / Micha H. Werner <?page no="115"?> 11 „What are people actually able to do and to be? What real opportunities are available to them? “ (Nussbaum 2011a: x; vgl. Robeyns 2005: 94) 12 Es ist unter Capabilitarians keineswegs Konsens, dass der Ansatz auf einen Schwellen‐ wert fokussieren, also eine Suffizienzregel als Verteilungsgrundsatz akzeptieren sollte. Diese Position vertreten etwa Anderson (1999, 2010) und Nussbaum (2006). Andere wie Arneson (2006) tendieren eher zu einer egalitaristischen Lösung, während Robeyns (2011/ 2016) auch eine prioritarianische Verteilungsregel im Sinne von Rawls’ Diffe‐ renzprinzip nicht ausschließt. - wir nennen sie in Anlehnung an den Titel eines jüngst erschienenen Aufsatzes von Ingrid Robeyns (Robeyns 2016) „Capabilitarians“ -, dass mit den begriffli‐ chen Ressourcen des CA bislang noch keine umfassende Theorie der Gerech‐ tigkeit entwickelt worden ist. Vielmehr ist längst eine Diskussion darüber ent‐ flammt, ob es sich überhaupt um einen einheitlichen Ansatz handelt bzw. was gegebenenfalls seine identitätsstiftenden Kernelemente sind (Crocker 2008: 55; Robeyns 2016). Gleichwohl sind zwei Punkte auszumachen, die - wenn sie nur allgemein genug formuliert werden - offenbar auf alle normativ (ethisch) an‐ spruchsvollen Varianten des CA zutreffen. So fokussiert der CA erstens auf die vermeintlich einfache Frage, was Menschen (in ihrem Leben) tatsächlich tun und wer sie sein können. 11 Diese Frage zielt zunächst darauf, diejenigen Bedin‐ gungen zu analysieren, unter denen Menschen die Chance haben, ihre jeweilige Vorstellung guter, fruchtbarer („flourishing“) Lebensführung oder des indivi‐ duellen „well-being“ zu realisieren. Art und Menge der Ressourcen, die zur chancengleichen Realisierung individueller Lebenspläne nötig sind, können freilich stark differieren: Damit eine gehbehinderte Person auch nur annähernd die Mobilität einer nicht-gehbehinderten Person erreicht, bedarf sie zusätzlicher Hilfsmittel wie Rollstuhl, Rampen, Lifte etc. (Clark 2005: 3; vgl. Sen 2000: 70f.). Der zweite Kernpunkt ist die normative Forderung, soziale, politische und öko‐ nomische Verhältnisse so zu verändern, dass alle Menschen in der Lage sind, ihre Vorstellung von Wohlergehen („well-being“) bzw. guter Lebensführung zu‐ mindest bis zu einem Schwellenwert  12 chancengleich zu realisieren. Diese Auf‐ gabe stellt der CA in den Mittelpunkt einer Theorie der Gerechtigkeit. Was Menschen tatsächlich zu tun und wer zu sein sie in der Lage sind, drückt der CA mit Hilfe dreier zentraler Begriffe aus: „functioning“ (Funktionsweise), „ca‐ pability“ („Fähigkeit“ oder auch „Befähigung“) und „freedom“. Bevor wir Nuss‐ baums Schwellenwertkonzeption genauer untersuchen, führen wir (1) diese drei Grundbegriffe im Zusammenhang ein und schließen (2) zwei kritische Bemer‐ kungen an. Ad (1): Eine vorläufige, recht simplifizierende Antwort auf die Frage, was mit „functionings“ und „capability“ gemeint ist und wie sie zusammenhängen, gibt Sen in dem Aufsatz „Capability and Well-Being“ von 1993: 115 „Wenig, weniger, zu wenig“: Minimalstandards als ‚Abkürzung‘ im Abwägungsprozess <?page no="116"?> 13 Neben diesem Freiheitsbegriff kennt Sen allerdings noch einen zweiten, auf (politische) Entscheidungsprozesse bezogenen Aspekt der Freiheit (Sen 2002: 585). „Functionings represent parts of the state of a person - in particular the va‐ rious things that he or she manages to do or be in leading a life. The capability of a person reflects the alternative combinations of functionings the person can achieve, and from which he or she can choose one collection.“ (Sen 1993: 31) Der Ausdruck „functioning“ steht hier für all das, was eine Person tatsächlich (aktual) in ihrem Leben zu tun und zu sein bewerkstelligt. Diejenigen Zustände („beings“) und Aktivitäten („doings“), die eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt realisieren könnte, bezeichnet Sen als „capability“. Als „ability to achieve“ (Sen 1987: 36) seien „capabilities“ zugleich Freiheiten: „A person’s capability refers to the alternative combinations of functionings that are feasible for her to achieve. Capability is thus a kind of freedom: the substantive freedom to achieve alternative functioning combinations.“ (Sen 2000: 75) Auch Nussbaum verortet Freiheit auf Seiten der „Fähigkeiten“ und schließt sich in dieser Hinsicht Sens Bestimmung an: „In contrasting capabilities with functionings, we should bear in mind that capability means opportunity to select. The notion of freedom to choose is thus built into the notion of capability.“ (Nussbaum 2011a: 25) Der Schritt der Realisierung einer Realisierungsmöglichkeit nimmt die Form einer „choice“ derjenigen Zustände und Aktivitäten an, welche die Person im Lichte ihrer Vorstellung des guten Lebens aus gutem Grund wertschätzt (Sen 2009: 231; vgl. ders. 2000: 14, 18, 73, 293 u. ö.). Soweit wir sehen, markiert dieses evaluative Moment einer individuellen Wahl in allen normativ anspruchsvollen Versionen des CA den paradigmatischen Ort der Freiheit. 13 Von einer „substan‐ tiellen“ oder auch „wirklichen“ Freiheit einer Person, ihre vorhandenen Fähig‐ keiten in konkrete Seins- und Aktivitätsformen zu transformieren, könne jedoch erst gesprochen werden, wenn gewisse weitere, je nach Situationstyp unter‐ schiedliche Voraussetzungen erfüllt sind. So vermag eine Frau ihre gute körper‐ liche Konstitution nur sehr eingeschränkt in Mobilität umzusetzen, wenn ihr die Gesetze des Landes oder die Tradition der Gemeinschaft verbieten, ohne männliche Begleitung das Haus zu verlassen. Eine andere mag trotz bester Qua‐ lifikationen den Job nicht bekommen, weil sie Angehörige einer stigmatisierten Minderheit ist. Die vielfältigen Faktoren, die mitbestimmen, ob und wie eine Fähigkeit oder ein Bündel (Set) von Fähigkeiten mit Hilfe faktisch zur Verfügung stehender Ressourcen zu einem bestimmten Zeitpunkt „into freedom of choice 116 Jens Peter Brune / Micha H. Werner <?page no="117"?> over alternative combinations of functionings […]“ (Sen 1992: 81) umgewandelt werden kann, hat Sen „conversion factors“ genannt (Sen 1992: 79-87). Diese Umwandlungsfaktoren hat Robeyns in personaler, gesellschaftlicher und um‐ weltbezogener Hinsicht aufgeschlüsselt (Robeyns 2005: 98f.; dies. 2011/ 2016): Personale Umwandlungsfaktoren umfassen individuelle Eigenschaften wie In‐ telligenz, Talente und Fertigkeiten, physische Kondition (Gesundheitszustand), Geschlecht und biochemische Grundparameter wie z.B. die Stoffwechselrate. Mit sozialen Umwandlungsfaktoren kommt die ganze Bandbreite heterogener gesellschaftlicher Merkmale und Konditionen ins Spiel, angefangen von Rechten, Konventionen, Hierarchien, Praktiken und Traditionsbeständen (zu denen auch geschlechts- oder ethnienbezogene diskriminierende Einstellungen gehören), bis hin zu öffentlichen Gütern wie Infrastruktur, Bildungssystem und dergleichen mehr. Hier lassen sich jene äußeren Garantien der Rede- und Ver‐ sammlungsfreiheit ansiedeln, die Nussbaum anführt, um die internen Fähig‐ keiten des Kritisch-Denken- und Politisch-Handeln-Könnens zu „combined ca‐ pabilities“ zu vervollständigen (s.u.). Zu den umweltbedingten Umwandlungsfaktoren gehören schließlich dauerhafte klimatische Bedingungen und geografische Lagen, aber auch mehr oder weniger kurzfristig eintretende Katastrophen wie Erdbeben, Unwetter, Sturmfluten oder Dürren. Ad (2): Die kritischen Bemerkungen beziehen sich einerseits auf die vielen einschlägigen Schriften der Capabilitarians anzutreffende Gleichsetzung von „freedom“ bzw. „substantial“ oder „real freedom“ mit „capability“, andererseits auf einen grundsätzlich ambivalenten Gebrauch des Ausdrucks „capability“. So sieht Sen „freedom“ verbunden mit „the real opportunity [d.i. capability] that we have to accomplish what we value“ (Sen 1992: 31). Sodann spricht er von „substantive freedoms - the capabilities - to choose a life one has reason to value“ (Sen 2000: 74, 87 ). Bei Nussbaum ist von „capability, in the sense not of coerced functioning but of substantial freedom to choose and act“ (Nussbaum 2011a: 24) die Rede. Und Robeyns fügt dem Ausdruck „substantielle Freiheiten“ offenbar in explikativer Absicht „capabilities“ hinzu (Robeyns 2005: 93, 111). Eine solche semantische Vereinheitlichungstendenz ist aber keineswegs unpro‐ blematisch. Indessen schwankt die Bedeutung des Ausdrucks „capability“ in der ein‐ schlägigen Literatur zwischen zwei Grundbedeutungen. Diese Bedeutungen lassen sich im Anschluss an den von Nussbaum so geschätzten Aristoteles als Differenzierung zweier Modi des Möglichen einführen: In der Metaphysik (1019b) unterscheidet Aristoteles das Mögliche ohne Bezug auf ein Vermögen („possibility“) als dem bloß logisch Widerspruchfreien und als solchem real Möglichen vom Möglichen in Bezug auf ein Vermögen („potency“). Entspre‐ 117 „Wenig, weniger, zu wenig“: Minimalstandards als ‚Abkürzung‘ im Abwägungsprozess <?page no="118"?> chend verwenden Capabilitarians den Ausdruck „capability“ regelmäßig in nur jeweils einer oder auch in einer Legierung der beiden folgenden Sinndimensi‐ onen: - in der Bedeutung einer „Möglichkeit“ („possibility“) im Sinne einer lo‐ gisch möglichen Option, die als tatsächlich gegebene eine kontingente Gelegenheit („opportunity“) ist; - in der Bedeutung einer Fähigkeit („ability“) im Sinne eines im Individuum selber angelegten Vermögens, das wiederum in aktives und passives, schwach oder stark entwickeltes differenziert werden kann. Von „Vermögen“ in einem aktiven Sinne sprechen wir, wenn wir ein Können, ein „Know-how“ oder auch eine Fertigkeit („skill“) meinen. Wir nennen sie Fä‐ higkeiten im engeren Sinne. Sofern Capabilitarians auch physische und psychi‐ sche Eigenschaften („traits“, „characteristics“) von Personen zu den „capabili‐ ties“ (s.u.) zählen, wären nach Aristoteles wohl nicht aktive, sondern passive Vermögen gemeint. Hinsichtlich der Realisierung von Eigenschaften in Funkti‐ onen lässt sich daher von individuell zurechenbaren Dispositionen sprechen. Dass jemand mit seinen Fertigkeiten aktiv Einfluss auf seine eigenen Disposi‐ tionen nehmen kann, liegt auf der Hand. Umgekehrt lässt sich eine fördernde bzw. erst ermöglichende oder eben hemmende, gar verhindernde Wirkung von Dispositionen auf aktive Vermögen kaum leugnen. Fassen wir die wesentlichen Unterscheidungen in einer Figur zusammen: Schema „Binnendifferenzierungen im Begriff ‚capability‘“ Die Möglichkeiten der Kombination von tatsächlicher, durch äußere Umstände sich ergebener oder nicht ergebener Gelegenheit (G) mit einer als „inneres“ Vermögen zu verstehender personaler Fähigkeit (F) (Disposition und/ oder „skill“) sind auf den ersten Blick überschaubar: F ˄ G, F ˄ -G, -F ˄ G, und -F ˄ -G. Auf den zweiten Blick sind sowohl Gelegenheiten wie auch Fähigkeiten - seien sie nun aktiver oder passiver Natur - graduierbar: Jene können günstig oder weniger günstig, diese mehr oder weniger ausgeprägt sein. So haben wir 118 Jens Peter Brune / Micha H. Werner <?page no="119"?> 14 Diese Terminologie verwendet Nussbaum (spätestens) seit ihrem Aufsatz „Capabilities and Human Rights“ (Nussbaum 1997: 289f.). zwar leicht Zugang zu robustem Baumaterial, doch sind unsere Fähigkeiten („Know-how“, „skills“), dafür zu sorgen, „well-sheltered“ (Sen 1992: 45; ders. 2004: 78) zu sein, nicht besonders ausgeprägt. Umgekehrt kann ein gelernter, aber mittelloser Maurer oder Zimmermann in einem Slum von Manila seine Fähigkeiten nicht einsetzen, wenn ihm nur Plastikplanen und Wellblech zur Verfügung stehen. Eine „combined capability“ im Sinne substantieller Freiheit besteht, wenn eine Kombination von ‚F ˄ G‘ vorliegt, bei der ‚F‘ und ‚G‘ mög‐ lichst vollumfänglich gegeben sind. So gesehen, dürfte die Zielperspektive des CA sein, alle Fälle von F ˄ -G, -F ˄ G, und -F ˄ -G so gut es geht über einen „Schwellenwert“ von F ˄ G zu führen. Da aber ‚F‘ und ‚G‘ unabhängig vonein‐ ander graduierbar sind, müsste es sich eigentlich um zwei Typen von Schwel‐ lenwerten handeln: einen für F und einen für G. Es handelt sich also um ein von Grund auf hybrides Freiheitskonzept. Fähigkeiten und Schwellenwerte eines menschenwürdigen Lebens nach Martha C. Nussbaum Im Bereich der Fähigkeiten unterscheidet Nussbaums Variante des CA zwischen (a) „basic capabilities“, (b) „higher-level-capabilities“, an denen sie die Binnen‐ differenzierung zwischen „internal“ und „combined capabilities“ erläutert, sowie schließlich (c) „central capabilities“. 14 Ad (a): Sen hatte unter „basic capabilities“ noch diejenigen basalen Fähig‐ keiten verstanden, die den überlebenswichtigen Funktionsweisen in Zusam‐ menhängen extremer Armut und Deprivation korrespondieren (Sen 1992: 45). Sein Duktus verbleibt allerdings im Bereich von Grundbedürfnis- und Grund‐ güteransätzen, die primär auf offensichtliche physische Lebensbedingungen ab‐ heben und nur enge Abwägungsspielräume bieten. In Nussbaums Schriften ver‐ schiebt sich die Terminologie in eine stärker ontogenetische Perspektive, die auf die individuelle Entwicklung des Menschen in psychophysischer Einheit ge‐ richtet ist. So zählt sie zu den „basic capabilities“ exemplarisch „the capability for speech and language, the capability to love and gratitude, the capability for practical reason, the capability to work“ (Nussbaum 2000a: 84). Sofern bereits ein Säugling über all dies soll verfügen können, versteht sie „capabilities“ hier im Sinne allgemeiner angeborener Ausstattung oder Vermögen („innate equip‐ ment“; „innate power“; Nussbaum 2011a: 23). Solche Vermögen ließen sich da‐ nach skalieren, ob sie vieljähriger Übung bedürften oder von Anfang an in ge‐ 119 „Wenig, weniger, zu wenig“: Minimalstandards als ‚Abkürzung‘ im Abwägungsprozess <?page no="120"?> 15 Nussbaum spricht von „personality traits, intellectual and emotional capacities, states of bodily fitness and health, internalized learning, skills of perception and movement“ (Nussbaum 2011a: 21). wissem Maße „ready to function“ seien - wie zum Beispiel die Fähigkeit zu sehen und zu hören (Nussbaum 2000a: 84). Zu den besonders übungsintensiven Ver‐ mögen gehören zweifelllos die „capability for practical reason“ und die „capa‐ bility to work“: Wenn wir sie noch zum Typus „basic capabilities“ zählen wollen, ist die Rede von „capability“ wohl eher als Anlage zu einer Fähigkeit zu ver‐ stehen. Auf beide, sowohl basale Fähigkeiten als auch Anlagen zu Fähigkeiten, dürfte zutreffen, dass sie sich nicht autark entwickeln, sondern äußerer Voraus‐ setzungen bzw. eines geeigneten Milieus bedürfen. Evidenzen dafür liefert das vor allem bei Säuglingen und Kleinkindern in Entwicklungsländern verbreitete Phänomen des „stunting“: Mangel- und Unterernährung führen bereits in utero zu Entwicklungsstörungen, die sich auf die spätere Ausbildung motorischer und kognitiver Fähigkeiten und damit auch auf die Bildungschancen insgesamt aus‐ wirken können (vgl. Handa/ Peterman 2006; Grantham-McGregor et al. 2007; Groppo 2015). Ad (b): Bei den höherstufigen, da „trained or developed traits and abilities“ wie etwa der Fähigkeit „of participating in politics“, oder auch den Fähigkeiten, „to think critically or speak publicly“ (Nussbaum 2011a: 22) empfiehlt Nuss‐ baum, zwischen „internal“ und „combined capabilities“ zu unterscheiden: „I use […] the term combined capabilities for the combination of trained capacities with suitable circumstances for their exercise.“ (Nussbaum 2008: 357; vgl. dies. 2000a: 84f.; dies. 2011a: 22) Danach gehören beispielsweise zu den „inneren“ Vermögen, kritisch denken zu können, politisch aktiv zu werden, sich entspre‐ chend in der Öffentlichkeit äußern und politisch organisieren zu können, auch ganz wesentlich die „äußeren“ Garantien von Rede-, Versammlungs- und Ver‐ einigungsfreiheit. Des Weiteren zählt Nussbaum zu „internen Fähigkeiten“ in‐ dividuelle Merkmale wie die Wesenszüge einer Person, intellektuelle und emo‐ tionale Vermögen, Zustände körperlicher Gesundheit, internalisiertes Wissen sowie Fertigkeiten der Wahrnehmung und Bewegung. 15 Als dynamische Phä‐ nomene seien sie für ihre Ausbildung und Aufrechterhaltung ebenfalls auf ent‐ gegenkommende soziale, ökonomische und politische Rahmenbedingungen an‐ gewiesen, um als „combined capabilities“ reüssieren zu können (Nussbaum 2011a: 21). Da auch die von Nussbaum als „basic“ eingestuften Fähigkeiten zum Gedeihen entgegenkommender äußerer Bedingungen bedürfen („stunting“! ), empfiehlt es sich, entgegen der terminologischen Suggestion „internal capabi‐ lities“ von „basic capabilities“ durch deren höhere Grade der Entwicklung zu unterscheiden. Gewiss - die Grenzen sind fließend, und das komplexe Zusam‐ 120 Jens Peter Brune / Micha H. Werner <?page no="121"?> 16 „The difficulty is that the notion of capability combines internal preparedness with external opportunity in a complicated way, so that measurement is likely to be no easy task.“ (Nussbaum 2011a: 61) 17 Als Motiv ist die Würde der Menschheit („dignity of humanity“) schon früher im Spiel gewesen, um aber in Nussbaums Interpretation sogleich hinter den Grundbegriff der „capability“ zurückzutreten: „There is a deep moral tradition that says that compassion is not required, for we can be sufficiently motivated to other-regarding action by respect for the dignity of humanity. This tradition, exemplified in the thought of the ancient Stoics, Spinoza, Kant, and in a different way, Nietzsche, still makes central use of a notion of common humanity, for respect is not groundless or arbitrary. It has a foun‐ dation: the recognition in the object of certain powers or capabilities.“ (Nussbaum 1992: 239) In Creating Capabilities hingegen betont sie den zentralen theoretischen Stellen‐ wert, der dem Konzept der Menschenwürde in ihrem Ansatz zukomme, was auch einen der Unterschiede zu Sens Version des CA bezeichne (Nussbaum 2011a: 20). menspiel von internem Potential und äußeren Umständen auf allen Stufen der Entwicklung und Spezialisierung erklärt nicht zuletzt die Schwierigkeiten, die sich für Messung und Vergleich von Fähigkeiten ergeben. 16 Ad (c): Noch in den 1990er Jahren hat Nussbaum ihren CA unmittelbar auf das aristotelisch verstandene Wesen der menschlichen Natur bezogen (Nuss‐ baum 1987, 1990, 1995). Spätestens seit „Woman and Human Development“ (2000a) rückt sie aber ein Konzept der Menschenwürde in den Mittelpunkt 17 , gelte es doch, mit Hilfe bestimmter menschlicher Fähigkeiten ein soziales Mi‐ nimum auszubuchstabieren, dessen Gewährleistung allererst ein menschen‐ würdiges Leben („a life commensurate with human dignity“, Nussbaum 2006: 44; vgl. dies. 2000a: 5, 72; dies. 2011a: 15, 29-42, u.ö.) ermögliche. Zwar könne die Idee der Menschenwürde letztlich nur im Kontext anderer wichtiger Begriffe wie „respect“, „agency“ und „equality“ geklärt werden (vgl. Nussbaum 2011a: 30f.). Jedoch gibt es einen „capability“-spezifischen Zugang zur Idee eines men‐ schenwürdigen sozialen Minimums, den sie so zusammenfasst: „I shall argue that the best approach to this idea of a basic social minimum is provided by an approach that focuses on human capabilities, that is, what people are actually able to do and to be - in a way informed by an intuitive idea of a life that is worthy of the dignity of the human being. I shall identify a list of central human capabilities, setting them in the context of a type of political liberalism that makes them specifically political goals and presents them in a manner free of any specific metaphysical groun‐ ding. In this way, I argue, the capabilities can be the object of an overlapping consensus among people who otherwise have very different comprehensive conceptions of the good.“ (Nussbaum 2000a: 5; dies. 2000a: 76; 2000b: 222f.; 2006: 70) Ziel ist es also, ein soziales Minimum zu bestimmen, das ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Was ein menschenwürdiges Leben auszeichnet, ist in Termini 121 „Wenig, weniger, zu wenig“: Minimalstandards als ‚Abkürzung‘ im Abwägungsprozess <?page no="122"?> von „central capabilities“ zu explizieren. Die Explikation der Menschenwürde dürfe jedoch nicht auf eine substantielle Vorstellung des guten Lebens vor‐ greifen, sondern solle den metaphysischen und weltanschaulichen Neutrali‐ tätsansprüchen eines politischen Liberalismus Rawls’scher Provenienz ge‐ nügen: Der moralisch geforderte und politisch zu realisierende Schutz der Menschenwürde müsse nämlich mit einer Pluralität von Realisierungen des guten Lebens vereinbar sein (Nussbaum 1998: 284; dies. 2006: 163, 310 u.ö.; dies. 2011a: 89ff.). Die Adaption von Rawls’ politischem Liberalismus ist zugleich eine Abkehr vom aristotelischen „internen“ Essentialismus, den Nussbaum früher offensiv vertreten hatte (Nussbaum 1990; 1992). Wie auch immer diese Wendung zu beurteilen ist (zur Diskussion vgl. Jaggar 2006; Biondo 2008; Claassen 2014): Nussbaum zieht ihre bekannte Liste an Sets von zentralen Fähigkeiten zur Klä‐ rung der Bedeutung der notorisch vagen Idee menschlicher Würde heran. Nach einer jüngeren Zusammenstellung handelt es sich um folgende Fähigkeiten (Nussbaums Erläuterungen gekürzt): „1. Life. Being able to live to the end of a human life of normal length; not dying prematurely, or before one’s life is so reduced as to be not worth living. 2. Bodily health. Being able to have good health, including reproductive health; to be adequately nourished; to have adequate shelter. 3. Bodily integrity. Being able to move freely from place to place; to be secure against violent assault […] 4. Senses, imagination, and thought. Being able to use the senses, to imagine, think, and reason - and to do these things in a „truly human“ way, a way informed and cultivated by an adequate education […] 5. Emotions. Being able to have attachments to things and people outside ourselves; […] in general, to love, to grieve, to experience longing, gratitude, and justified anger. […] 6. Practical reason. Being able to form a conception of the good and to engage in critical reflection about the planning of one’s life. […] 7. Affiliation. (A) Being able to live with and toward others, to recognize and show concern for other human beings, to engage in various forms of social interaction; to be able to imagine the situation of another. […] (B) Having the social bases of self-respect and nonhu‐ miliation; being able to be treated as a dignified being whose worth is equal to that of others. […] 8. Other species. Being able to live with concern for and in relation to animals, plants, and the world of nature. 9. Play. Being able to laugh, to play, to enjoy recreational activities. 122 Jens Peter Brune / Micha H. Werner <?page no="123"?> 18 „Many approaches to social justice hold that an ample threshold is not sufficient. Some demand strict equality; John Rawls insists that inequalities can be justified only where they raise the level of the worst-off. The Capabilities Approach does not claim to have answered these questions, although it might tackle them in the future.“ (Nussbaum 2011a: 40) 10. Control over one’s environment. (A) Political. Being able to participate effectively in political choices that govern one’s life; having the right of political participation, protections of free speech and association. (B) Material. Being able to hold property […], and having property rights on an equal basis with others […].“ (Nussbaum 2011a: 33f.) Die Bündel an Fähigkeiten auf dieser Liste seien bewusst vage und abstrakt formuliert, ihre Spezifikation obliege weitestgehend („[f]or the most part“) den nationalen Gesetzgebern (Nussbaum 2011a: 40, 108). Gleichwohl lasse sich aus philosophischer Sicht etwas über den mit den zentralen Fähigkeiten verbun‐ denen normativen Sinn, ihren Charakter und Zusammenhang sowie den Gel‐ tungsanspruch sagen: Nationale und internationale Verpflichtungen. Der normative Sinn, den Nuss‐ baum mit ihrer Liste verbindet, ist recht allgemeiner Natur. Die Gewährleistung und Förderung der zehn Fähigkeiten bis zu einem Schwellenwert sei eine For‐ derung der sozialen Gerechtigkeit: „The basic claim of my account of social justice is this: respect for human dignity requires that citizens be placed above an ample (specified) threshold of capability, in all ten of those areas.“ (Nussbaum 2011a: 36) Das schöpfe zwar den Sinn sozialer Gerechtigkeit keineswegs aus. Da sich Nussbaum aber in der Frage, wie Ungleichheiten oberhalb der Schwelle bzw. des Minimalstandards zu beurteilen sind, nicht festlegen will (Nussbaum 2011a: 40) 18 , kann ihr Ansatz als Suffizienz-Position bezeichnet werden. Die entschei‐ dende normative (moralische) Kraft erhält die Theorie dadurch, dass mit dem Zusprechen menschlicher Würde alle Menschen gleichermaßen ein Anrecht („entitlement“; Nussbaum 2011a: 63f.; dies. 2011b) hätten, ihre zentralen Fähig‐ keiten zu entwickeln. Dieses Anrecht sei von allen anderen Menschen anzuer‐ kennen und zu achten (Nussbaum 2006: 53). Vor allem aber lege es einem jeden Staat die korrespondierende Pflicht auf, für die Entwicklung der zentralen Fä‐ higkeiten seiner Bürgerinnen und Bürger bis zu dem Schwellenwert Sorge zu tragen (Nussbaum 2011a: 24). Dass zu diesen Pflichten positive, also Leistungs‐ pflichten gehören, liegt auf der Hand. Damit auch ärmere Länder solchen Pflichten nachkommen können, sollen reichere ihnen helfen (Nussbaum 2011a: 123 „Wenig, weniger, zu wenig“: Minimalstandards als ‚Abkürzung‘ im Abwägungsprozess <?page no="124"?> 19 „The list represents the result of years of cross-cultural discussion, and comparisons between earlier and later versions will show that the input of other voices has shaped its content in many ways. Thus it already [sic! ] represents what it proposes: a type of overlapping consensus on the part of people with otherwise very different views of human life.“ (Nussbaum 2000a: 76; dazu kritisch: Jaggar 2006) 63f.). Tatsächlich zeichnet sich damit ein recht anspruchsvolles, nationale Grenzen von vornherein überschreitendes pflichtentheoretisches Programm ab, dessen Ausarbeitung und Verteidigung etwa gegen ethische nationalistische (David Miller 2007; ders. 2008) oder auch libertäre Positionen unterschiedlicher Couleur (Robert Nozick 1974; David Friedman 1995; Jan Narveson 2000; ders. 2003) von Seiten der Capabilitarians bislang weitgehend Desiderat ist. Substitutions- und Trade-off-Verbot. Aus der Sicht sozialer Gerechtigkeit sei, so Nussbaum, zu fordern, dass alle Fähigkeiten auf der Liste bis zu einem Schwellenwert garantiert werden, ohne dass eine durch eine andere substituiert (Nussbaum 2006: 85) oder eine zu Lasten einer anderen bevorzugt werden dürfe („trade-offs“): „What the theory says is: all ten of these plural and diverse ends are minimum requi‐ rements of justice, at least up to the threshold level. In other words, the theory does not countenance intuitionistic balancing or trade-offs among them.“ (Nussbaum 2006: 175; vgl. dies. 2000a: 81; 2006: 84, 175 u.ö.). Unterhalb der Schwelle, mit der die Möglichkeit einer menschenwürdigen Le‐ bensführung festzulegen ist, hätte das Trade-off- und das darin implizierte Ab‐ wägungs-Verbot für zentrale Fähigkeiten unmittelbare Würderelevanz. Dilem‐ matisch könnte dann sein, dass das Verbot nicht in Kraft treten kann, solange keine Schwellenwerte als Minimalstandards feststehen. Da die Schwellenwerte aber auf dem Wege demokratischer Willensbildung zu spezifizieren sind, dürfte in die Resultate dieser Willensbildung die zu vermeidende Abwägung der Trade-offs bereits eingeflossen sein. Sollte das zutreffen, würde sich das Trade-off-Verbot als wirkungslos erweisen. Geltungsanspruch. Hatte Nussbaum vormals versucht, die wichtigsten Fähig‐ keiten einer „thick vague theory of the good“ zu entlehnen (Deneulin 2011), sah sie in „Woman and Human Development“ sogar Evidenzen für einen faktischen „overlapping consensus“ bezüglich der Fähigkeiten-Liste (Nussbaum 2000a: 76). 19 Inzwischen hat sie diesen Geltungsanspruch zurückgenommen auf die be‐ scheidenere Annahme, dass ein solcher Konsens in Zukunft immerhin möglich wäre: 124 Jens Peter Brune / Micha H. Werner <?page no="125"?> „Overlapping consensus is not a current reality, of course […]. One need only show that over time it is plausible to imagine that it might become a reality.“ (Nussbaum 2011a: 79, 90f.) Gesucht sind nunmehr also Anhaltspunkte für einen künftigen Konsens in der Frage, ob die Fähigkeiten (substantiellen Freiheiten) auf der Liste zentral in dem Sinne sind, dass ihre zumindest schwellenwertige Entwicklung Voraussetzung für eine menschenwürdige Lebensführung ist. 3. Ausblick Die vorigen Überlegungen können einerseits als Beitrag zur Diskussion des „Capability Approach“ gelesen werden. Zugleich mögen sie als exemplarische Untersuchung einer generellen Argumentationsstrategie gelten, die darauf zielt, einer allgemeineren Klasse von Ansprüchen oder Rechten besondere Priorität gegenüber anderen Ansprüchen oder Rechten beizumessen. Die Überlegungen des „Capability Approach“ sind paradigmatisch für ein Argumentationsmuster, das sich als Voraussetzungsargumentation bezeichnen lässt: Weil es sich bei X um eine Ermöglichungsbedingung für Y und Z handelt, ist der Anspruch auf X vorrangig gegenüber Ansprüchen auf Y oder Z. Voraussetzungsargumentati‐ onen sind nicht auf den „Capabilities Approach“ begrenzt, sondern begegnen in zahlreichen Zusammenhängen, auch etwa im Kontext der Rawls’schen Argu‐ mentation für die von ihm so genannten Grundgüter. Das Konzept der „capabilities“ als Vermögen oder (substantiellen) Freiheiten ordnet Voraussetzungsargumentationen freilich eine zentrale Rolle zu. Die Un‐ tersuchung hat indes deutlich gemacht, welche Herausforderungen sich bei dem Versuch ergeben, die Bezugnahme auf Voraussetzungsverhältnisse so zu präzi‐ sieren, dass normative Ansprüche auf bestimmte „capabilities“ von Personen mit individuell unterschiedlichen Voraussetzungen und über ein breites Spek‐ trum ganz unterschiedlicher Lebenssituationen hinreichend genau eingegrenzt werden können. Hinsichtlich der Festlegung von Schwellenwerten scheinen sich hier gegenüber subsistenzorientierten Deprivationskonzepten die Abwä‐ gungsspielräume und -dimensionen eher wieder zu erweitern. Überdies sorgt neben der Abgrenzung zwischen aktualen und nur potentiellen Fähigkeiten insbesondere die Konfusion von äußeren Ermöglichungsbedingungen und per‐ sonalen Fähigkeiten (die in Nussbaums Konzept der „combined capabilities“ ge‐ radezu programmatisch wird) für Schwierigkeiten. Die Untersuchung hat auch Belege für die Vermutung erbracht, dass Voraussetzungsargumentationen für Ansprüche auf „grundlegende“ Fähigkeiten durch den Rekurs auf „generische“ Ermöglichungsbedingungen zwar die Abhängigkeit von ganz spezifischen sub‐ 125 „Wenig, weniger, zu wenig“: Minimalstandards als ‚Abkürzung‘ im Abwägungsprozess <?page no="126"?> stantiellen Wertannahmen abschwächen mag, letztlich aber nicht ganz ohne substantielle Wertannahmen (sei es nun bezüglich der notwendigen Ingredien‐ zien eines gelungenen oder eines menschenwürdigen Lebens) auskommen kann. Deshalb greift Nussbaum, nachdem sie sich den unmittelbaren Rekurs auf eine aristotelische Anthropologie versagt hat, auf das Kriterium der Konsens‐ fähigkeit der von ihr vorgeschlagenen Liste an „central capabilities“ zurück, mit deren Hilfe sie die Idee der Menschenwürde explizieren will. An zumindest einer Stelle in ihrem umfangreichen Werk schlägt sie nun aber vor, die Idee der Men‐ schenwürde selber heranzuziehen, um zu prüfen, ob eine Fähigkeit als zentrale gelten sollte oder nicht: Danach schaffen diejenigen Fähigkeiten den Sprung auf die Liste, deren „removal makes a life not worthy of human dignity“ (Nussbaum 2011a: 31). Dieses neue, zirkulär angelegte Argumentationsmuster, bei dem die Idee der Menschenwürde mittels derjenigen Fähigkeiten expliziert und konkre‐ tisiert werden soll, zu deren Selektion sie ihrerseits herangezogen wird, bedarf indes einer gesonderten Untersuchung. Literatur Anderson, Elizabeth (1999). What is the Point of Equality? Ethics 109, 287-337. 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Seine Normen haben zunächst den Cha‐ rakter von Regeln im Sinne einer Alles-oder-Nichts-Anordnung: Das eine Recht gelangt zur Anwendung, ist damit für den Einzelfall maßgeblich, das andere nicht. Nicht selten ergeben sich aber auch bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts Prinzipienkonflikte, die im Wege der Abwägung zu lösen sind. Ziel dieser Untersuchung ist es, typische Abwägungskonstellationen im Kol‐ lisionsrecht zu ergründen und zu systematisieren. Dazu werden in einem ersten Schritt einige grundsätzliche Überlegungen zur Abwägung im Recht und ins‐ besondere im Internationalen Privatrecht vorangestellt (I.) Abwägungskonstel‐ lationen tauchen auf drei Ebenen der Bestimmung des maßgeblichen Rechts auf. Zunächst können sie bei der grundsätzlichen Bestimmung des anwendbaren Rechts relevant werden, wenn lediglich an eine Generalklausel wie „die engste Verbindung“ angeknüpft wird (II.). Auf einer zweiten Ebene erlangen sie Be‐ deutung im Rahmen von Ausweichklauseln, welche eine Anknüpfungsregel aufgrund einer „noch engeren Verbindung“ korrigieren (III.). Drittens kommt es zu Abwägungen, wenn das eigentlich nach den Kollisionsnormen anwendbare Sachrecht wegen seines Inhalts eventuell nicht anzuwenden ist, beispielsweise bei einem Verstoß gegen den ordre public (IV.). I. Besonderheiten der Abwägung und im Internationalen Privatrecht In der rechtstheoretischen Diskussion sind die Begriffe der Anwendung und Abwägung eng verbunden mit der Normentheorie Alexys (1996: 71ff.), einer Weiterentwicklung der Theorie Dworkins (1967: 14, insb. 22ff.). Nach Alexy (1996: 71) existieren zwei Arten von Normen: Regeln und Prinzipien. Regeln <?page no="134"?> 1 Zu der Verbindung zwischen Abwägung und Prinzipien vgl. Alexy 2003: 131, 133ff.; Sieckmann 1990: 18; kritisch Poscher 2006: 70ff. sind Gebote oder Verbote, die angewandt werden oder nicht angewandt werden. Die Anwendung oder Nichtanwendung wird determiniert durch Subsumtion des Sachverhalts unter den Tatbestand der in Betracht kommenden Regel. Prin‐ zipien werden demgegenüber abgewogen. Sie stellen sich dar als zu optimie‐ rende Gebote (vgl. Alexy 2000: 38f.). Im Wettstreit zwischen verschiedenen Prinzipien wird durch Abwägung im einzelnen Fall ermittelt, welches Prinzip sich mehr oder weniger durchsetzt. Das Ergebnis dieser Abwägung ist dabei oftmals wieder eine Regel (vgl. z.B. Alexy 1996: 83f.). Die Abwägung zwischen zwei Prinzipien hat also nicht zur Folge, dass das unterliegende Prinzip keine Beachtung fände. Es muss lediglich im Einzelfall mehr oder weniger stark zu‐ rücktreten (vgl. Alexy 1996: 78f.). Konflikte zwischen Regeln produzieren andere Ergebnisse. Widersprechen sich Regeln, ist zunächst zu prüfen, ob eine der wi‐ derstreitenden Regeln eine geschriebene oder ungeschriebene Ausnahme für den Fall des Widerspruchs mit der anderen Regel vorsieht. Ist dies nicht der Fall, ist eine der Regeln im Einzelfall nicht zu beachten (vgl. Alexy 1996: 77f.). Alexys Theorie der abschließenden dualistischen Teilung aller Normen in Regeln und Prinzipien ist nicht unumstritten. Die Einwände sind unterschied‐ licher Art (vgl. z.B. Sieckmann 2009: 21ff.; Poscher 2015: 1ff.; ders. 2006: 59ff.; Günther 1988: 270ff.). So wird beispielsweise bezweifelt, dass Normen abschlie‐ ßend in Regeln und Prinzipien im Sinne Alexys einteilbar sind (vgl. z.B. Poscher 2015: 21f.). Auf diese rechtstheoretische Diskussion soll hier nicht näher eingegangen werden. Wichtig für die vorliegende Untersuchung der Anwendung und Ab‐ wägung im Internationalen Privatrecht sind lediglich die Verbindungen zwi‐ schen Subsumtion und Regel einerseits sowie zwischen Abwägung und den Kriterien, die abgewogen werden, andererseits. 1 Dass die deutsche Rechtsord‐ nung sowohl Regeln kennt, deren Anwendung durch „bloße“ Subsumtion ent‐ schieden wird, als auch weichere Kriterien, durch deren Abwägung der Rechts‐ anwender wiederum Regeln bildet, dürfte nicht bestritten sein. Ob hinsichtlich der Einteilung der Normen dem Modell Alexys in Gänze gefolgt werden kann, mag vorliegend dahinstehen. Die Begriffe der Regeln und Prinzipien sollen hier aber verwendet werden, und zwar in dem Sinne, dass Regeln die Normen be‐ schreiben, welche einer Subsumtion im Sinne einer binären Prüfung zugänglich sind, und Prinzipien die genannten „weicheren“ rechtlichen Kriterien be‐ schreiben, die beim Vorgang der Abwägung Berücksichtigung finden. 134 Martin Gebauer / Felix Berner <?page no="135"?> 2 Vgl. zu der Berücksichtigung tatsächlicher Umstände und die Umsetzung nach der Prinzipientheorie kritisch Poscher 2006: 73ff. Für die Abwägung im Internationalen Privatrecht gilt jedoch noch eine Be‐ sonderheit: Im Rahmen der Abwägungsvorgänge des Internationalen Privat‐ rechts sind zuweilen die Kriterien, nach denen abgewogen wird, nicht unbedingt normtechnischer Art. Anders als im Verfassungsrecht, auf welches sich die rechtstheoretische Diskussion über den Charakter von Normen üblicherweise bezieht, erschöpft sich die international-privatrechtliche Abwägung - beispiels‐ weise, wenn die engste Verbindung (näher unter II.2.) zu ermitteln ist - nicht zwingend in einer Abwägung rechtlicher Kriterien. Vielmehr sind oftmals so‐ wohl rechtliche Kriterien (Prinzipien) als auch tatsächliche Nähekriterien im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen. 2 Abwägung im Rahmen des ordre public ist jedoch wie die Abwägung im Verfassungsrecht prinzipienorientiert. II. Die grundsätzliche Bestimmung des maßgeblichen Rechts Nach herkömmlichem Verständnis des Kollisionsrechts wird das anwendbare Recht grundsätzlich durch Regeln bestimmt. Ein Kaufvertrag wird etwa unter Art. 4 Abs. 1 lit. a Rom I-VO subsumiert, der das Recht des gewöhnlichen Auf‐ enthalts des Verkäufers für maßgebend erklärt. Von diesem Grundsatz gibt es jedoch Ausnahmen. Verträge ohne charakteristische Leistung werden beispiels‐ weise einzelfallabhängig danach beurteilt, zu welchem sie die engste Verbin‐ dung aufweisen, Art. 4 Abs. 4 Rom I-VO. Gleiches gilt für die letzte Sprosse der Anknüpfungsleiter in Art. 14 Abs. 1 EGBGB, bei der ebenfalls die „engste Ver‐ bindung“ den Ausschlag geben soll. Die Suche nach der engsten Verbindung ist dabei keine Anwendung einer Regel. Vielmehr muss eine einzelfallbezogene Regel stets erst durch Abwägung der fallrelevanten Interessen gefunden werden. Die so aus einer Abwägung resultierende Regel würde etwa lauten: Der Fall weist die engsten Verbindungen zu Luxemburg auf, so dass das Recht von Luxemburg zur Anwendung gelangt. Bevor jedoch auf diese Konstellationen in unserem Recht näher eingegangen wird, wo sie seltener auftauchen, weil wir stärker regelbezogenen Ansätzen folgen, soll hier zunächst am Beispiel US-amerikanischer Theorien zum Inter‐ nationalen Privatrecht dargelegt werden, dass andernorts schon im Ausgangs‐ punkt wesentlich „weichere“ Kriterien bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts verfolgt werden. 135 Anwendung und Abwägung bei der Bestimmung des maßgeblichen Rechts <?page no="136"?> 3 Für eine Zusammenfassung der Theorie vgl. Curries Darstellung 1963: 1242ff., sowie deren Übersetzung bzw. Darstellung von Joerges 1971: 39f. Vgl. für eine frühe Zusam‐ menfassung seiner Methode Currie 1963: 183f. 1. Die Prinzipienabwägung als Grundsatz des Internationalen Privatrechts Die Landschaft des Internationalen Privatrechts der USA ist für kontinentaleu‐ ropäische Juristen genauso unübersichtlich wie fremdartig. Einheitliche Rege‐ lungen bestehen aufgrund der Gesetzgebungskompetenz der Bundesstaaten ebenso wenig wie eine Einigkeit über die grundlegende Herangehensweise. Vielmehr existieren verschiedene Theorien, die als „approaches“ in den Einzel‐ staaten befolgt werden. Auch wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts zwei „Re‐ statements on the Conflict of Laws“ erlassen (Restatement of the law: Conflict of laws: May 11, 1934; Restatement of the law: Conflict of laws 2d: May 23, 1969 (veröffentlicht 1971)). Die einzelnen Gerichte der Bundesstaaten greifen sich aus dieser Vielzahl von Herangehensweisen die ihnen als überzeugend erscheinende heraus (vgl. den Überblick bei Symeonides 2015: 299ff.). Dabei können auch durchaus für verschiedene Rechtsgebiete verschiedene Ansätze gewählt werden. Viele der Ansätze sind nicht regel-, sondern prinzipienbetont. Diese gegen‐ über kontinentaleuropäischer Theorie grundlegend verschiedene Herangehens‐ weise lässt sich nur historisch erklären. Ein Großteil der heute einflussreichen Ansätze sind Gegenansätze zur sogenannten „vested rights theory“ (vgl. grund‐ legend Beale 1935). Aus dieser Theorie, auf welcher auch das erste Restatement zum Kollisionsrecht aufbaute, leiteten ihre Vertreter starre Kollisionsnormen ab, denen von den Urhebern der Gegentheorien Blindheit gegenüber der Ge‐ rechtigkeit im Einzelfall vorgeworfen wurde (vgl. exemplarisch Currie 1963: 699ff., vgl. auch Joerges 1971: 162ff.). Starre Kollisionsnormen sollten durch einzelfallbezogene Abwägung ersetzt werden. Den theoretischen Grundstein hierzu legte Currie mit seiner „Govern‐ mental Interest Analysis“. 3 Nach dieser Theorie muss der Rechtsanwender zu‐ nächst ermitteln, welcher Staat in dem zu entscheidenden Fall ein Interesse an der Anwendung seines Rechts hat. Hat nur ein Staat ein solches Interesse, handle es sich um einen „false conflict“. Das Recht des interessierten Staates sei anzu‐ wenden. Haben zwei Staaten ein Interesse an der Anwendung ihres Rechts („true conflict“), soll nach Currie die lex fori Anwendung finden. Zwar findet bei Currie noch keine Abwägung zwischen Prinzipien bzw. Interessen statt, sondern le‐ diglich die Ermittlung von Interessen. Andere Autoren entwickelten jedoch seine Theorie weiter und wägen die betroffenen Interessen gegeneinander ab. Als Weiterentwicklungen Curries zu nennen sind hier beispielsweise die „com‐ 136 Martin Gebauer / Felix Berner <?page no="137"?> 4 Die „comparative impairment“-Methode übernahm der kalifornische Gerichtshof in Bernhard v. Harrah’s Club, 546 P. 2d 719, 722-24 (Cal. 1976). 5 Die „considerations“ Leflars mit zugehöriger Erklärung finden sich bereits nahezu identisch bei dems., 41 N.Y.U.L. Rev. (1966): 282ff. und bei dems., 54 Cal. L. Rev. (1966): 1586ff. Auf 315ff. (N.Y.U.L. Rev.) bzw. 1588ff. (Cal. L. Rev.) erläutert Leflar seine Rechts‐ findung anhand von Beispielfällen. 6 Vgl. in diesem Zusammenhang aber auch BeckOGK/ Schulze, Art. 3 EGBGB Rn. 51 ff., der von Abwägung bei der nach ihm bestehenden Kategorie der „Berücksichtigung“ im Rahmen des Internationalen Privatrechts ausgeht. parative impairment“-Methode Baxters (grundlegend 1963: 1ff.) 4 sowie der „functional approch“ von v. Mehren/ Trautmann (1965: insb. 76ff., vgl. über‐ blicksartig auch Hay/ Borchers/ Symeonides 2010: 45ff., Joerges 1971: 40ff., 50ff., 56, 61f., 67ff., Heller 1983: 147ff.). Bei dieser Abwägung berücksichtigen die amerikanischen Theorien oftmals nicht, zumindest nicht nur, Prinzipien des Kollisionsrechts, sondern leiteten aus den beteiligten Sachrechten Prinzipien ab, die sie in die Abwägung einstellen. Sehr weit geht dabei Leflars „Better Law-Approach“ (1977: 195ff.) 5 , nach wel‐ chem sogar die Frage (mit-)entscheidend sein soll, welches der beteiligten Rechte das „bessere Recht“ ist (1977: 195). Nachdem die Theorien, welche das „1st Restatement on the Conflict of Laws“ allesamt ablehnten, sowohl akademisch als auch in der gerichtlichen Praxis die Oberhand gewannen, wurde ein zweites Restatement erarbeitet und veröffent‐ licht. In diesem nimmt die Prinzipienabwägung ebenfalls prominente Stellung ein (vgl. Joerges 1971: 76). Zwar gibt es teilweise Kollisionsregeln (die jedoch wiederum alle durch eine engere Verbindung verdrängt werden können), in einem Großteil der Rechtsgebiete existiert jedoch lediglich eine Generalklausel, nach welcher Prinzipien abzuwägen sind, die in § 6 des Restatements aufgelistet sind, um das anwendbare Recht zu bestimmen. 2. Die hilfsweise Anknüpfung an die engste Verbindung Auch wenn nach europäischem Verständnis zumindest im Ausgangspunkt feste Kollisionsnormen nicht abzulehnen sind, sondern im Interesse der Rechtssi‐ cherheit durchaus für erstrebenswert gehalten werden (vgl. z.B. Kegel/ Schurig 2004: 143) 6 , sieht das europäische Recht an einigen Stellen doch keine feste Regel vor, sondern überlässt es dem Rechtsanwender, die mit dem Rechtsverhältnis am engsten verbundene Rechtsordnung zu ermitteln und anhand dieser zu ent‐ scheiden. Beispiel stehen soll an dieser Stelle Art. 4 Abs. 4 Rom I-VO. Danach unterliegt der Vertrag „dem Recht des Staates, zu dem er die engste Verbindung aufweist“, wenn sich für den Vertrag keine charakteristische Leistung ermitteln lässt. Interessant ist hier die bereits angesprochene Diskrepanz zwischen einer 137 Anwendung und Abwägung bei der Bestimmung des maßgeblichen Rechts <?page no="138"?> 7 Sprachlich anders bei Martiny 2015: Art. 4 Rom I-VO Rn. 312, der die Abwägung als Interessenabwägung und damit wohl als Prinzipienabwägung im hier verstandenen Sinn bezeichnet, inhaltlich aber wohl gleich, wie die Rn. 320 ff. zeigen; ebenso Spickhoff 2017: Art. 4 Rom I-VO Rn. 82a. solchen Abwägung im Rahmen des Kollisionsrechts einerseits und einer Ab‐ wägung im verfassungsrechtlichen Rahmen andererseits. Im Rahmen des Art. 4 Abs. 4 Rom I-VO sind es weniger kollidierende Prinzipien, die es gegeneinander abzuwägen gilt, vielmehr sollen hier normativ geprägte Nähekriterien mit einer Reihe von tatsächlichen Elementen ausgelotet werden, wie etwa der gewöhn‐ liche Aufenthalt der Parteien, der Erfüllungsort oder die enge Verbindung zu einem anderen Vertrag (vgl. Magnus 2011: Art. 4 Rom I-VO Rn. 146 ff.; Köhler 2017: Art. 4 Rom I-VO Rn. 168, 199 ff.). 7 Bei den einzelnen unter Art. 4 Abs. 4 Rom I-VO fallenden Verträgen können noch andere Kriterien hinzukommen. So könnte man im Rahmen des Tausches überlegen, ob der Wert der jeweiligen Sachen mit einzubeziehen ist (vgl. hierzu z.B. Martiny 2015: Art. 4 Rom I-VO Rn. 340). Das wird jedoch lediglich in seltenen Fällen wirklich in Betracht kommen, da bei einem zu großen Auseinanderfallen des Wertes die Übereignung der wertvolleren Sache wohl die charakteristische Leistung darstellt und der Vertrag in diesem Fall unter Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO fällt (vgl. Martiny 2015: Art. 4 Rom I-VO Rn. 340; Köhler 2017: Art. 4 Rom I-VO Rn. 221). Sofern diese Schwelle nicht erreicht ist, wird einer eventuellen Wert‐ diskrepanz dennoch höchstens ein geringes Gewicht zukommen. Zu fragen ist ferner, ob dieses Gewicht zu dem Land des gewöhnlichen Aufenthalts desjenigen zeigt, der die wertvollere Sache hergibt, oder zu dem Land, in welchem sich der Erfüllungsort bezüglich der wertvolleren Sache befindet. Letzteres überzeugt wohl mehr, da es sich bei dem Wert um ein sach- und nicht personenbezogenes Argument handelt. III. Die Ausweichklausel als Ausnahme Erfolgt die grundsätzliche Anknüpfung nach europäischem Verständnis wie üb‐ lich aufgrund von Regeln, kennt das Kollisionsrecht allerdings auch von dieser grundsätzlichen Vorgehensweise in vielen Fällen eine Ausnahme - die Aus‐ weichklausel der „(offensichtlich bzw. wesentlich) engeren Verbindung“ (z.B. Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO; Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO; Art. 41 EGBGB; Art. 46 EGBGB). Sieht man den Grundgedanken des Internationalen Privatrechts mit Savigny in der Suche nach dem „Sitz des Rechtsverhältnisses“ (1849: z.B. 108), gebietet dieser Grundgedanke in vielen Fällen das Schaffen einer Ausweichklausel. Zwar kann der Gesetzgeber versuchen, den Sitz eines Rechtsverhältnisses typisierend 138 Martin Gebauer / Felix Berner <?page no="139"?> 8 In Bezug auf Kulturgüter für die Anwendung der lex originis des Kulturguts plädierend Kienle/ Weller 2004: 290, 291. zu bestimmen, eventuell trifft diese typisierende Einschätzung aber nicht auf jeden Einzelfall zu. Für diese Fälle existieren die Ausweichklauseln (z.B. Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO, Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO, Art. 41 EGBGB, Art. 46 EGBGB). Eine Ausnahme stellen diese Klauseln insbesondere in methodischer Hinsicht dar. Anders als die grundsätzlich regelbetonte Anwendung des Kollisionsrechts muss im Rahmen der Ausweichklausel wieder eine Abwägung von Prinzipien sowie anderen Anhaltspunkten erfolgen. Dabei spricht ein Prinzip stets gegen ein Abweichen von der in Frage stehenden Regel: die durch das Bilden einer Regel erreichte Rechtssicherheit. Würde man zu inflationär auf die Ausweich‐ klausel zurückgreifen, bildeten die geltenden Regeln des deutschen Kollisions‐ rechts wie die früheren Regeln EGBGB zu vertraglichen Schuldverhältnissen lediglich „Anhaltspunkte“ zur Konkretisierung der Anknüpfung an die engste Verbindung. Dass eine solche Lesart nicht gewollt ist, lässt sich bereits am Wortlaut der Ausweichklauseln erkennen, die typischerweise eine „offensicht‐ lich“ oder „wesentlich“ engere Verbindung fordern (vgl. statt vieler und am Bei‐ spiel des Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO Köhler 2017: Art. 4 Rom I-VO Rn. 160; Nordmeier 2010: Art. 4 Rom I-VO Rn. 52; Wendehorst 2015: Art. 46 EGBGB Rn. 2). Andere abwägungsspezifisch zu berücksichtigende Prinzipien sind grund‐ sätzlich nach Maßgabe jedes Einzelfalls zu ermitteln. Teilweise sind zu berück‐ sichtigende Prinzipien jedoch auch ausdrücklich benannt. Beispiel hierfür steht Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO, der die Berücksichtigung des Prinzips des Gleichlaufs von Vertrags- und Deliktsstatut ausdrücklich festschreibt. Genauer betrachtet werden soll vorliegend aber nicht die Ausweichklausel des Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO, sondern die des Internationalen Sachenrechts, Art. 46 EGBGB, und dies anhand der Fälle gestohlener Sachen. Nach einer Ansicht soll der gutgläubige Eigentumserwerb bei abhanden gekommenen Sachen nicht nach der lex rei sitae zum Zeitpunkt des Eigentumserwerbs zur Anwendung kommen, was nach Art. 43 EGBGB geboten wäre. Vielmehr soll über Art. 46 EGBGB das Belegenheitsrecht zum Zeitpunkt des Abhandenkommens der Sache angewandt werden (vgl. Mansel 2015: Art. 46 Rn. 63 ff.; ders. 1988: 271). 8 Eine solche Auslegung betont das Prinzip des kollisionsrechtlichen Eigen‐ tumsschutzes. Dem Eigentümer soll der Schutz zugute kommen, dem ihm das Sachenrechtsstatut gewährt, unter dem ihm die Sache abhanden gekommen ist. Der spätere Statutenwechsel soll nicht mehr berücksichtigt werden, da er rechtswidrig erfolgt (vgl. Mansel 2015: Art. 46 Rn. 63). 139 Anwendung und Abwägung bei der Bestimmung des maßgeblichen Rechts <?page no="140"?> 9 Dasselbe Problem stellt sich bei der Anerkennung ausländischer Entscheidungen. Auch in diesen Fällen können der Anerkennung Wertungen der inländischen Rechtsordnung entgegenstehen, vgl. z.B. § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO bzw. Art. 45 Abs. 1 lit. A EuGVVO. Gegen das Prinzip des kollisionsrechtlichen Eigentumsschutzes streitet bei abhanden gekommenen Sachen nicht nur das generell zu beachtende Prinzip der Rechtssicherheit, sondern auch das Prinzip des Verkehrsschutzes. Im Rahmen der Abwägung spricht für einen Vorrang des kollisionsrechtli‐ chen Eigentumsschutzes zunächst die Wertung des deutschen materiellen Rechts, die auf das Kollisionsrecht abfärben könnte. § 935 BGB räumt den Inte‐ ressen des Eigentümers einer abhanden gekommenen Sache im Sachrecht Vor‐ rang gegenüber Verkehrsschutzinteressen ein (vgl. Mansel 2015: Art 46 Rn. 65). Der sachrechtlichen Wertung des deutschen Rechts kann aber nicht unbedingt eine gleichlaufende kollisionsrechtliche Wertung entnommen werden. Kollisi‐ onsrechtlich ist das Prinzip des Verkehrsschutzes zumindest so gewichtig, dass es einer wesentlich engeren Verbindung zur lex furti entgegen steht (vgl. Wen‐ dehorst 2015: Art. 43 EGBGB Rn. 193; Henrich 1995: 202 Fn. 6; Kropholler 2006: 556). Bei inländischen Sachverhalten weiß ein informierter Dritter immerhin, dass er das Eigentum an der Sache nicht erwerben kann, wenn die Sache dem ursprünglichen Eigentümer abhanden gekommen ist. Bei internationalen Sach‐ verhalten weiß er lediglich, wo sich die Sache befindet. Auf das Recht, an dem sich die Sache befindet, kann er sich einstellen. Auf welchem Weg die Sache zu dem aktuellen Ort gelangt ist und welche Umstände hierzu geführt haben, kann der Dritte nicht wissen. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber trotz der sach‐ rechtlichen Wertung des § 985 BGB keinerlei Anhaltspunkt im Gesetzestext oder den Materialien gegeben hat, dass eine Übertragung der sachrechtlichen Wer‐ tung ins Kollisionsrecht erfolgen sollte. Daher ist im Fall von abhanden gekommenen Sachen die Ausnahme des Art. 46 EGBGB nicht einschlägig, sondern die Regel des Art. 43 Abs. 1 maßgebend - Anwendung der lex rei sitae zum Zeitpunkt der (eventuell lediglich versuchten) Eigentumsübertragung (h.M., vgl. z.B. Wendehorst 2015: Art. 43 EGBGB Rn. 192 f.; Thorn 2017: Art. 43 EGBGB Rn. 3; Spaun 2003: 157f., 165). IV. Nichtanwendung des fremden Rechts Auf der dritten Ebene geht es negativ um die Nichtanwendung eines bestimmten fremden Rechts 9 im Hinblick auf eine bestimmte ausländische Entscheidung vor dem Hintergrund eventuell überwiegender inländischer Wertentscheidungen. Rechtsdogmatisches Instrument zur Verteidigung inländischer Werte bildet ty‐ pischerweise der ordre public. In dessen Rahmen bedarf es einer Abwägung der 140 Martin Gebauer / Felix Berner <?page no="141"?> 10 Vgl. Thomale 2015: 7f., Wagener 2014: 16, Dietrich 1989: 8f., Medicus 1986: 302 (der allerdings darüberhinausgehend die Einordnung als entgeltlichen Werkvertrag für dog‐ matisch treffender hält), Kaiser 2014: § 1 I Nr. 7 Rn. 8. 11 Gegen diese Entscheidung nun aber OLG Braunschweig, StAZ 2017, 237ff., allerdings für einen Fall nicht festgestellter genetischer Abstammung vom Wunschvater; kritisch zur Entscheidung des OLG Duden 2017: 225ff. fallrelevanten Prinzipien, um für den zu entscheidenden Einzelfall eine Regel zu entwickeln. Die Abwägungsentscheidungen im Rahmen des ordre public sollen an der Frage exemplifiziert werden, von wem im Wege der Leihmutterschaft (teilweise auch als Mietmutterschaft bezeichnet) 10 gezeugte Kinder rechtlich abstammen. Der deutsche Gesetzgeber ist zur Abwehr fremden Rechts aber nicht auf das Instrument des ordre public beschränkt. Er kann auch spezifische Regeln zur Abwehr fremden Rechts aufstellen. Solche Regeln enthält beispiels‐ weise das „Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen“ (vgl. Gesetz vom 17.07.2017 (BGBl. I: 2429)) (hierzu unten III.2.). 1. Leihmutterschaft Das deutsche Sachrecht verbietet die Leihmutterschaft zwar nicht ausdrücklich, der Gesetzgeber hat aber in § 1591 BGB eindeutig geregelt, dass Mutter im rechtlichen Sinn die Frau ist, die das Kind geboren hat. Ferner hat der Gesetz‐ geber die künstliche Befruchtung einer Leihmutter unter Strafe gestellt (vgl. § 1 I Nr. 7 ESchG), was einem Verbot in praktischer Hinsicht gleichkommt, sowie die Vermittlung von Leihmüttern sanktioniert (vgl. § 13c AdVermG). Da sich damit die Möglichkeit, die Dienste einer Leihmutter in Deutschland anzunehmen, in der Praxis nicht realisieren lässt, begeben sich deutsche Paare, die in den meisten Fällen nur mit Hilfe einer Leihmutter ihren Kinderwunsch erfüllen können, in einen der Leihmutterschaft offener gegenüberstehenden Staat. Dort lassen sie das Kind durch eine Leihmutter austragen. Mit dem durch die Leihmutter geborenen Kind wollen die Wunscheltern daraufhin wieder nach Deutschland zurück, um hier als Familie zu leben. Dabei standen sie bis zu einer Grundsatzentscheidung des BGH (vgl. BGH NJW 2015, 479ff.) aus dem Jahr 2014 häufig vor erheblichen Hindernissen. So wurde den Wunscheltern von in Indien geborenen Zwillingen zunächst sogar die Einreise mit den Zwillingen nach Deutschland verweigert. Erst nachdem der Vater zwei Jahre mit den Kindern in Indien gelebt hatte, wurde die Einreise gestattet (vgl. Duden 2015: 1ff.; ders. 2014: 648 m.w.N., auch zur nicht-juristischen Berichterstattung über diesen Fall). Dieser Rechtsunsicherheit hat der BGH in Teilen abgeholfen. Er entschied, dass die Entscheidung eines ausländischen Gerichts anerkannt werden kann, in welcher ein Kind den Wunscheltern zugeordnet wird (BGH NJW 2015, 479ff.). 11 141 Anwendung und Abwägung bei der Bestimmung des maßgeblichen Rechts <?page no="142"?> 12 Grund für den engeren ordre public im Anerkennungsrecht ist nach dem BGH, dass im Recht der Entscheidungsanerkennung der internationale Entscheidungseinklang das „vornehmliche Ziel“ darstellt. Insbesondere lehnte der BGH im Rahmen der Anerkennungsfrage einen Verstoß gegen den ordre public (§ 109 Abs. 1 Nr. 4 FamFG) ab (BGH NJW 2015, 480ff. (Rn. 3 ff.)). Nun kann dieses Urteil nicht unbesehen auf die hier interessierende Ab‐ wägungsfrage im Rahmen des kollisionsrechtlichen ordre public übertragen werden. Nach herrschender Meinung ist der ordre public des Kollisionsrechts weiter als der des Anerkennungsrechts in dem Sinne, dass die Schwelle für einen Verstoß gegen den anerkennungsrechtlichen ordre public höher liege (vgl. BGH NJW 2015, 480 (Rn. 28), ebenso z.B. Henrich 2015: 230, gegen eine engere Aus‐ legung des anerkennungsrechtlichen ordre public Thomale 2015: 43ff., Gebauer 2001: 324, 328). 12 Dennoch ist zu erwarten, dass der BGH seine Rechtsprechung zur Anerken‐ nungsfähigkeit einer Elternzuordnung auf die entsprechende kollisionsrecht‐ liche Fragestellung übertragen würde. Denn die Argumente des BGH, auf die er sein Urteil gestützt hat, sprechen auch auf kollisionsrechtlicher Ebene gegen einen ordre public-Verstoß. a) Die Zuordnung des Kindes zu den Wunscheltern als ordre public-Verstoß? Voraussetzung der kollisionsrechtlichen Frage, ob die Zuordnung des Kindes zu den Wunscheltern gegen den ordre public widerspricht, ist zunächst, dass über‐ haupt ausländisches Recht auf die Abstammungsfrage Anwendung findet (vgl. hierzu ausführlich Berner 2017: 185ff.). Führen die nationalen Kollisionsnormen des Art. 19 Abs. 1 EGBGB zur Anwendung deutschen Sachrechts, ist zumindest die Zuordnung zur Wunschmutter verwehrt. § 1591 BGB ist in dieser Hinsicht eindeutig: „Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat.“ Die Antwort des deutschen Sachrechts auf die Zuordnung zum Wunschvater ist weniger ka‐ tegorisch. Ist die Leihmutter nicht verheiratet, kann der Wunschvater - zumin‐ dest, wenn er auch der genetische Vater ist (vgl. Berner 2017: 189ff.) - das Kind mit Zustimmung der Mutter anerkennen und auf diese Weise die Vaterschaft begründen, § 1592 Nr. 2, 1594 ff. BGB. Was aber nach deutschem Sachrecht möglich ist, kann nicht dem deutschen ordre public widersprechen (vgl. BGH NJW 2015, 480 (Rn. 30). Ist die Leihmutter verheiratet, stellt sich aber auch für die Zuordnung des Wunschvaters die Frage nach einem ordre public-Verstoß. Richtigerweise ver‐ stößt die Zuordnung des Kindes zum verheirateten Wunschvater, zumindest sofern dieser auch genetischer Vater ist, ebenfalls nicht gegen den ordre public, da § 1592 Nr. 1 BGB das Kind dem Ehemann der Mutter nicht aufgrund einer 142 Martin Gebauer / Felix Berner <?page no="143"?> durch das Kindeswohl geleiteten ethischen Grundentscheidung zuordnet, son‐ dern aufgrund einer Vermutung der biologischen Vaterschaft des Ehemanns und um schnell und einfach dem Kind seinen Vater zuzuordnen (vgl. Balzer 2017: § 1592 BGB Rn. 10 ff.). aa) Die Prüfung des ordre public als Prüfung eines Prinzipienkonflikts Prüft man einen ordre public-Verstoß der Zuordnung des Kindes zu der Wunsch‐ mutter und einem Wunschvater, der nicht auch genetischer Vater ist, wird deut‐ lich, dass es sich bei der Abwägung im Rahmen des ordre public um einen Prin‐ zipienkonflikt handelt. Im Kern streiten zwei Prinzipien gegeneinander: das Prinzip des Kindeswohls gegen das Prinzip der Generalprävention im weitesten Sinne. Gegen die Anwendung des ordre public streitet generell noch das Gebot, das durch die Kollisionsnormen ermittelte Recht getreu dessen Vorgaben anzu‐ wenden. Sowohl der BGH als auch die mittlerweile herrschende Lehre (vgl. m.w.N. Duden 2015: 133ff.; Mayer 2014: 59ff.; dies. 2014: 580ff.; Henrich 2014: Art. 19 EGBGB Rn. 110a) betonen das Kindeswohl und lösen die Abwägungsfrage zu seinen bzw. zu Gunsten der Wunscheltern. Dies sei nicht nur aufgrund von Art. 3 UN-Kinderrechtskonvention gefordert (vgl. BGH NJW 2015: 482 (Rn. 41), jedes andere Ergebnis wäre auch eine unzulässige Bestrafung des Kindes für Taten seiner (Wunsch-)Eltern (vgl. Frank 2014: 1529). Die Gegenansicht betont die Generalprävention und fürchtet, dass durch Inanspruchnahme einer Leihmutter bei rechtlicher Zuordnung der Kinder zu den Wunscheltern das de facto-Verbot der deutschen Rechtsordnung umgangen und eine institutionalisierte Umge‐ hungsmöglichkeit geschaffen würde (vgl. z.B. Engel 2014: 558). Selbstverständlich handelt es sich bei dieser Gegenüberstellung um eine re‐ lativ stark vereinfachte Skizze. Die erste Ansicht würde sicherlich auch nicht in jedem Fall einen Verstoß gegen den ordre public ablehnen, beispielsweise in dem Fall, dass die Leihmutter das Kind nicht herausgibt, sondern behalten möchte. Für die rechtliche Beurteilung kann zudem von Bedeutung sein, ob ein Teil der oder sogar beide Wunscheltern genetische Eltern sind, oder ob sie neben der Leihmutter noch eine Samenund/ oder Eizellenspende benötigten bzw. nutzten. Ebenso relevant ist die Frage nach der Entgeltlichkeit der Tätigkeit der Leih‐ mutter. Aus der oftmals bestehenden Entgeltlichkeit ergibt sich auch, warum zumindest für diese Fälle teilweise der Begriff der Mietmutterschaft verwendet wird (vgl. begrifflich nach der Frage der Entgeltlichkeit differenzierend auch Berner 2017: 184f.). 143 Anwendung und Abwägung bei der Bestimmung des maßgeblichen Rechts <?page no="144"?> 13 BT-Drs. 13/ 4899, 82: „Eine Klarstellung der Mutterschaft im Zivilrecht erscheint den‐ noch im Hinblick auf die Fälle geboten, in denen eine Eispende entweder im Ausland oder verbotenerweise im Inland vorgenommen wird“. bb) Die besondere Bedeutung einer ethischen Grundentscheidung des Gesetzgebers Nach hier vertretener Ansicht verstößt die Zuordnung des Kindes zur Wunsch‐ mutter bei Einsatz einer Leihmutter in vielen Fällen gegen den ordre public . Im Rahmen rechtlicher Abwägungsfragen ist folgender Gesichtspunkt entschei‐ dend: Juristische Abwägung ist nicht freie Abwägung nach dem, was einem Individuum auf Grundlage der ihm zugänglichen Tatsachen und Erwägungen als richtig erscheint. Vielmehr hat ein Rechtsanwender bei der Abwägung in‐ nerhalb eines Rechtssystems stets eventuellen Vorgaben dieses Systems zu folgen. Im Rahmen der Frage, ob die Zuordnung des durch eine Leihmutter ge‐ borenen Kindes durch eine ausländische Rechtsordnung gegen den ordre public verstößt, gibt es solche Vorgaben. Zunächst hat der Gesetzgeber im Rahmen des § 1591 BGB klar zum Ausdruck gebracht, dass in Leihmutterschaft geborene Kinder stets der Leihmutter rechtlich zugeordnet werden sollen. Nun gehört selbstverständlich nicht jede zwingende Norm des einfachen Rechts zugleich zu dem Bestand von Normen, deren Verteidigung im Rahmen des ordre public geboten ist (vgl. statt aller v. Hein: 2015: Art 6 EGBGB Rn. 8). § 1591 BGB unterscheidet sich jedoch von anderen zwingenden Normen da‐ durch, dass der Gesetzgeber eine ethische Grundentscheidung getroffen hat. Bei ethischen Grundentscheidungen spricht vieles dafür, dass diese Grundentschei‐ dungen auch in internationalen Fällen verteidigt werden sollen. Im vorliegenden Fall kommt noch etwas Entscheidendes hinzu. Der Gesetzgeber hat in den Materialien unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass § 1591 BGB seine heutige Fassung auch gerade im Hinblick auf Sachverhalten mit Auslandsbezug bekommen hat. 13 Dieser gesetzgeberischen Anweisung sollte im Rahmen der Abwägung Folge geleistet und ein Verstoß gegen den ordre public bei Zuordnung eines in Leihmutterschaft geborenen Kindes in typischen Fällen, in denen keine weiteren Besonderheiten hinzutreten, bejaht werden. Einen Verstoß gegen den ordre public anzunehmen, bedeutet jedoch nicht, dass die Gründe, die den BGH dazu bewogen haben, einen Verstoß abzulehnen, rechtlich keine Rolle spielten. In der Tat darf ein Kind nicht für die Taten seiner „Eltern“ büßen. Ebenso richtig ist es, dass das Wohl des Kindes zu beachten ist. Diesen beiden Erfordernissen kann aber auf andere Weise Rechnung getragen werden. Hierfür lassen sich drei rechtliche Hilfsmittel nutzbar machen. Zum einen steht den Wunscheltern die Adoption offen (zur Möglichkeit der Adoption vgl. Berner 2017: 223f.). Zweitens kann den materiellen Bedürfnissen des Kindes 144 Martin Gebauer / Felix Berner <?page no="145"?> durch eine Substitution im Unterhaltsrecht gerecht werden. Dabei werden die Eltern im Rechtssinne, welche dem Kind normalerweise Unterhalt schulden, durch die Wunscheltern ersetzt (vgl. Thomale 2015: 36ff). Grund hierfür ist der Umstand, dass die Wunscheltern durch ihr Handeln den Anstoß zur Geburt des Kindes gegeben haben und daher vergleichbar mit Eltern bei natürlicher Zeu‐ gung auch die Verantwortung für das in Leihmutterschaft geborene Kind in materieller Hinsicht haben (vgl. Thomale 2015: 37f.). Letztlich kann den Wunscheltern und dem Kind durch das Institut der „faktischen Familie“ ge‐ holfen werden. Zwar mögen die Wunscheltern aufgrund der grundlegenden Wertentscheidungen des deutschen Rechts nicht als Eltern im Rechtssinne an‐ erkannt werden können, sie kümmern sich jedoch in den allermeisten Fällen seit der Geburt des Kindes um dieses und sind seine primären Bezugspersonen. Daher darf den Wunscheltern, wenn die eben formulierten Voraussetzungen auf sie zutreffen, weder die Einreise mit dem Kind verboten werden noch darf ihnen das Kind ohne Grund weggenommen werden (vgl. näher Berner 2017: 225f.). Folgt man dem, kann sowohl der ethischen Grundentscheidung des Gesetz‐ gebers entsprochen als auch den Interessen des Kindes Rechnung getragen werden. Zudem zeigt sich an diesem Beispiel der Alexysche Gedanke der Ab‐ wägungsentscheidung als Ergebnis eines Prinzipienkonflikts. Zwar kann das Prinzip Kindeswohl im Rahmen der ordre public-Prüfung zurücktreten, es wird jedoch nicht deswegen aus der Rechtsordnung verbannt. An anderen Stellen setzt es sich durch und kommt auf diese Weise trotz des Zurücktretens an einer Stelle zu seiner in diesem Kontext größtmöglichen Entfaltung. 2. Kinderehen Interessen von Kindern sollen auch im Rahmen des letzten Beispiels - Kinder‐ ehen - im Mittelpunkt stehen. Ehen mit der Beteiligung von Kindern sind kein global neues Phänomen. In den letzten Jahren ist das Phänomen aber durch den Zuzug von Flüchtlingen aus Ländern, in denen ein grundsätzlich anderes Ver‐ ständnis von Ehemündigkeit besteht, vermehrt Gegenstand gesellschaftlicher Diskussion und gerichtlicher Entscheidungen geworden. Besonderes Aufsehen erregte ein Urteil des OLG Bamberg (OLG Bamberg, BeckRS 2016, 09621). Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde (vgl. OLG Bamberg, BeckRS 2016, 09621 Rn. 1 ff.): Bei den syrischen Beteiligten handelte es sich um Cousin und Cousine. Beide waren in derselben Stadt in Syrien aufgewachsen und hatten in Syrien geheiratet, bevor beide gemeinsam aufgrund der Kriegs‐ ereignisse nach Deutschland geflohen waren. Bei der Eheschließung war die Cousine 14 Jahre alt, der Cousin 21. Zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung war das Mädchen 15 Jahre und 4 Monate alt. 145 Anwendung und Abwägung bei der Bestimmung des maßgeblichen Rechts <?page no="146"?> Bei Anwendung ihres syrischen Heimatsrechts war die Ehe wirksam ge‐ schlossen (vgl. OLG Bamberg, BeckRS 2016, 09621 Rn. 18 ff.). Die Vereinbarkeit einer Eheschließung im Kindesalter mit dem deutschen ordre public ist wie‐ derum eine Frage der Abwägung. Für eine Anwendung des ordre public wird das Prinzip „Kindeswohl“ vorgebracht. Dies wird man allerdings dahingehend kon‐ kretisieren müssen, dass das Kindeswohl abstrakt stets für eine Anwendung des ordre public streitet. Im Einzelfall kann der Gedanke des Kindeswohls auch für ein Aufrechthalten der Ehe ins Feld geführt werden. So geschah es in dem vom OLG Bamberg zu entscheidenden Fall: Die Ehegatten wollten wohl beide die Ehe ohne Zwang fortführen, ihre Beziehung war durch die gemeinsame Flucht nach Deutschland gefestigt, und die Minderjährige hätte bei Unwirksamkeit der Ehe in ein Heim für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge umziehen müssen. Für die Wirksamkeit der Ehe spricht stets auch das grundsätzliche Prinzip des Respekts vor Entscheidungen fremder, nach den deutschen Kollisionsnormen anwendbaren Rechtsordnungen. Nach bisheriger Rechtslage kam es bei der Entscheidung der Abwägungsfrage stark auf das Alter des bzw. der Minderjährigen zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. BGHZ 51, 290, 293; v. Hein 2015: Art. 6 EGBGB Rn. 204; Stürner 2017: Art. 6 EGBGB Rn. 271) an (vgl. Überblick z.B. bei Mankowski 2016: 1276; Antomo 2016: 3561f.; Majer 2016: 102f.). Je jünger das Kind war, desto stärker wog der Gedanke des Kindeswohls in abstrakter Hinsicht und desto we‐ niger konnten eventuell für die Gültigkeit streitende, konkrete Aspekte des Kindeswohls berücksichtigt werden. Das Prinzip des Kindeswohls ist selbstver‐ ständlich auf den konkreten Einzelfall bezogen. Handelt es sich bei der Ehe um eine Zwangsehe oder soll die Ehe gegen den Willen der bzw. des Minderjährigen gelebt werden (für beides gab es nach den Erkenntnismöglichkeiten des OLG Bamberg keinerlei Anhaltspunkte), streitet das Kindeswohl im konkreten Fall für die Anwendung des ordre public. In Fällen, in denen das Kindeswohl für den konkreten Fall einen Verstoß gegen den ordre public nahelegt, kommt ein Ver‐ stoß selbst in Fällen mit über 16-Jährigen in Betracht, obwohl man in Ausnah‐ mefällen auch in Deutschland nach bisheriger Rechtslage mit 16 Jahren die Ehe eingehen konnte. Das OLG Bamberg konnte die Frage nach der Anwendung des ordre public im Ergebnis offenlassen, da es der Auffassung war, dass selbst bei Vorliegen eines ordre public-Verstoßes die Ehe nicht nichtig, sondern lediglich aufhebbar ge‐ wesen wäre (OLG Bamberg, BeckRS 2016, 09621 Rn. 24 ff., vgl. zustimmend Antomo 2016: 3561f., ablehnend Majer 2016: 1021, ebenfalls ablehnend Andrae 2016: 927ff.). Dies folgerte das OLG Bamberg überzeugend aus den Rechtsfolgen des ordre public. Selbst wenn ein Verstoß gegen den ordre public vorliegt und die 146 Martin Gebauer / Felix Berner <?page no="147"?> 14 Dieselbe Vermutung stellt auch Antomo (2016: 1159) auf. Ehe aufgrund der fehlenden Ehemündigkeit nicht rechtsgemäß geschlossen wurde, wäre die Folge der fehlenden Ehemündigkeit weder nach deutschem, vgl. §§ 1303, 1314 Abs. 1 BGB, noch nach syrischem Recht (vgl. OLG Bamberg, BeckRS 2016, 09621 Rn. 26) die Nichtigkeit, sondern bloß die Aufhebbarkeit der Ehe. Dennoch kann man den Gründen des OLG Bamberg in gewissem Maße auch entnehmen, dass das Gericht in dem zu entscheidenden Fall wohl auch einen Verstoß gegen den ordre public abgelehnt hätte (vgl. die Gründe in OLG Bamberg, BeckRS 2016, 09621 Rn. 28 ff.). 14 Insbesondere stellte es darauf ab, dass das Kindeswohl im konkreten Fall kein Abweichen von der bloßen Aufhebbar‐ keit erfordere. Der Gesetzgeber war mit dieser und anderen Entscheidungen der Gerichte in Bezug auf Kinderehen nicht einverstanden und sah die politische Notwendigkeit einer Gesetzesänderung. Das Gesetz zur Frage der kollisionsrechtlichen Be‐ handlung von Kinderehen nimmt eine methodische Richtungsänderung vor, die zur Erreichung der gesetzgeberischen Ziele auch erforderlich scheint. Bei Kin‐ derehen soll nicht mehr die Abwägung aller Umstände des Einzelfalls ein auf diesen Einzelfall zugeschnittenes Ergebnis erzielen. Vielmehr sieht das Gesetz nicht Prinzipien, sondern Regeln vor, um die Vorstellungen des Gesetzgebers von Ehemündigkeit international durchzusetzen. Die vorliegend relevanten Regeln sind folgende: § 1303 BGB n.F. Ehemündigkeit: Eine Ehe darf nicht vor Eintritt der Volljährigkeit eingegangen werden. Mit einer Person, die das 16. Lebensjahr nicht vollendet hat, kann eine Ehe nicht wirksam ein‐ gegangen werden. Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F.: Unterliegt die Ehemündigkeit eines Verlobten nach Absatz 1 ausländischem Recht, ist die Ehe nach deutschem Recht 1. unwirksam, wenn der Verlobte im Zeitpunkt der Eheschließung das 16. Lebensjahr nicht vollendet hatte, und 2. aufhebbar, wenn der Verlobte im Zeitpunkt der Eheschließung das 16., aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet hatte. Artikel 229 EGBGB § 44 (4) Artikel 13 Absatz 3 Nummer 1 gilt nicht, wenn (…) 2. die nach ausländischem Recht wirksame Ehe bis zur Volljährigkeit des minderjäh‐ rigen Ehegatten geführt worden ist und kein Ehegatte seit der Eheschließung bis zur 147 Anwendung und Abwägung bei der Bestimmung des maßgeblichen Rechts <?page no="148"?> Volljährigkeit des minderjährigen Ehegatten seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte. Nach der Konzeption des Gesetzgebers sollen jede Form von Einzelfallabwägung zurückgedrängt und Minderjährigenehen auf diese Weise wirksam bekämpft werden. Ob dies tatsächlich gelungen ist, scheint fraglich. Doch bevor die neue Regelung kritisch betrachtet wird, soll zunächst noch ein kurzer Überblick der gesetzgeberischen Neuerungen gegeben werden. Die Regelung zur Ehemündigkeit des materiellen Rechts, § 1303 BGB n.F., lässt die Ehemündigkeit generell erst ab 18 Jahren eintreten und schafft die bisher bestehende ausnahmsweise Möglichkeit einer Eheschließung ab 16 Jahren ab. Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F. führt eine spezielle ordre public-Regel in das Kollisionsrecht ein (vgl. a.A. (Regelung von Eingriffsnormen) Coester-Waltjen 2017: 432). Solche speziellen Regelungen des ordre public sind dem deutschen internationalen Eherecht nicht unbekannt. Ein weiteres Beispiel ist der aufgrund des „Spanier-Beschlusses“ (vgl. BGH NJW 1971, 1509) einge‐ führte Art. 13 Abs. 2 EGBGB. Der Impetus des Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F. ist eindeutig. Durch ihn sollen die Regelung des deutschen materiellen Rechts flankiert und ihre Durchsetzung in Fällen mit Auslandsberührung gesichert werden. Nach Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB n.F. soll eine Ehe unwirksam sein, wenn einer der beiden Verlobten bei Eheschließung das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Bei unter 18-Jäh‐ rigen soll die Ehe aufhebbar sein. Interessant ist die Regel des Art. 229 § 44 Abs. 4 EGBGB. Der Gesetzgeber hat an dieser Stelle erkannt, dass seine strikte Haltung gegenüber Minderjährigen‐ ehen eventuell den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 GG (Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung) nicht hinreichend ge‐ nügt. Ob die neuen Regelungen des Gesetzgebers rechtspolitisch überzeugen, mag hier dahinstehen. Vielmehr soll untersucht werden, wie das Gesetz rechtsprak‐ tisch anzuwenden ist. Hier fällt zunächst die systematisch deplatzierte Regelung des Art. 229 § 44 Abs. 4 Nr. 2 EGBGB auf. Bei dieser Regelung handelt es sich keineswegs um eine Überleitungsvorschrift, wie der Gesetzgeber vorzugeben scheint, sondern um eine Art. 13 Abs. 3 EGBGB n.F. konkretisierende kollisi‐ onsrechtliche Regelung (vgl. ebenso Coester-Waltjen 2017: 433). Man kann nur vermuten, dass die Regelung aus politischen Gründen im Zusammenhang der Überleitungsvorschriften „untergebracht“ werden sollte, da sie eine Abschwä‐ chung und Relativierung des vorgegebenen rigiden Umgangs mit Kinderehen darstellt. Für die praktische Rechtsanwendung ist dies misslich. Es ist nicht aus‐ 148 Martin Gebauer / Felix Berner <?page no="149"?> 15 Zu anderen verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Fragen vgl. Coester-Waltjen 2017: 434f. 16 Nach Coester-Waltjen, soll die Ehe zur „Volljährigkeit“ i.S.d. Art. 229 § 44 Abs. 4 Nr. 2 EGBGB führen, wenn es das Recht vorsieht, welches nach Art. 7 EGBGB anwendbar ist. Da Art. 229 § 44 Abs. 4 Nr. 2 EGBGB jedoch im Gesamtkontext der neuen Regelungen zur Minderjährigenehe zu sehen ist, wird man wohl annehmen müssen, dass „Volljäh‐ rigkeit“ i.S.d. Art. 229 § 44 Abs. 4 Nr. 2 EGBGB die Volljährigkeit nach deutschem ma‐ teriellen Recht meint. zuschließen, dass die Regelung aufgrund ihrer systematischen Stellung in be‐ hördlichen oder sogar in gerichtlichen Verfahren nicht aufgefunden wird. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob der Gesamtkomplex der neuen Re‐ gelungen nicht in Teilen verfassungswidrig ist. Dies soll an einem Fallbeispiel erläutert werden 15 : Der 17-jährige A und die 15-jährige B schließen in einem Land die Ehe, in dem dies möglich ist, dem sie beide angehören und in welchem sie seit ihrer Geburt wohnen. Kurz bevor B ihr 18. Lebensjahr vollendet hat 16 , wandern beide gemeinsam nach Deutschland aus. Sie leben ihre Ehe daraufhin in Deutschland, bis A nach weiteren fünfzig Ehejahren stirbt. Bis zum Tod des A wurde das Ehepaar stets als solches behandelt. Nach dem Tod des A wird B die Zahlung von Witwenrente verweigert, nachdem es nun erstmalig zu einer Überprüfung der Ehewirksamkeit kommt. Geht man davon aus, dass B noch vor ihrem achtzehnten Geburtstag ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland nahm, greift die Ausnahmenregelung des Art. 229 § 44 Abs. 4 EGBGB n.F. nicht ein. Die Ehe wäre gemäß Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB n.F. eigentlich unwirksam. Die Rentenversicherung hätte B damit zu Recht die Zahlung von Witwenrente verweigert. In einem ähnlich gelagerten Fall hatte das BVerfG allerdings die Verweige‐ rung der Zahlung von Witwenrente für verfassungswidrig erachtet (BVerfG NJW 1983: 511). In diesem Fall hatten zwei Verlobte entgegen dem Verbot des Art. 13 Abs. 3 EGBGB a.F. in Deutschland vor einem englischen Militärpfarrer versucht, eine wirksame Ehe zu schließen. Nach englischem Recht war ihnen dies auch gelungen, nach deutschem Recht aufgrund Art. 13 Abs. 3 EGBGB a.F. nicht. Die Ehegatten hatten daraufhin zunächst in England und dann in Deutschland bis zum Tod des Mannes zusammengelebt. Danach wurde der Ehe‐ frau die Zahlung von Witwenrente verweigert. Das BVerfG stützte seine Entscheidung insbesondere darauf, dass auch die nach deutschem Recht zwar nicht wirksame, aber über lange Zeit gelebte Ehe unter den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG fällt (BVerfG NJW 1983: 511). Die „Ehegatten“ seien in ihrem Vertrauen auf den Schutz, den ihnen ihr vermeint‐ liches Eheband vermittelt, zu schützen. 149 Anwendung und Abwägung bei der Bestimmung des maßgeblichen Rechts <?page no="150"?> 17 Diese Frage hat das BVerfG im Witwenrentenbeschluss ausdrücklich offengelassen (NJW 1983: 511f.). 18 Zur Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung des damals geltenden § 1264 RVO (heute § 46 SGB VI) BVerfG NJW 1983: 511, 512. Auf den ersten Blick scheint es daher sehr naheliegend, auch in dem hier gebildeten Beispielfall einen - teilweisen - Verstoß der neuen Regelungen zur Kinderehe gegen Art. 6 Abs. 1 GG anzunehmen (vgl. in diese Richtung auch Coester 2017: 79; Antomo 2017: 81). Allerdings besteht zwischen den beiden Fällen ein eventuell entscheidender Unterschied. Im Witwenrentenbeschluss war der Verstoß gegen das deutsche Recht formeller Art, im vorliegenden Fall ist er materieller Art. 17 An der Durchsetzung ethischer Grundentscheidungen über die Frage, ab welchem Alter ein Mensch fähig ist, eine Ehe einzugehen, kann der Staat ein durchaus gewichtigeres Interesse als an der Durchsetzung der Eheschließung vor einem Standesbeamten geltend machen, auch wenn hinter dem formalen Erfordernis der Eheschließung vor dem Standesamt selbst‐ verständlich auch materielle Interessen des Staates stehen, namentlich das In‐ teresse an der flächendeckenden Durchsetzung der Zivilehe (vgl. z.B. Wellen‐ hofer 2017: § 1310 Rn. 1). Dennoch dürfte auch in dem gebildeten Beispielfall die Zahlungsverweige‐ rung einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 GG bilden. Der Schutzgedanke der neuen Regelungen würde ansonsten in sein Gegenteil verkehrt. Der damals Minder‐ jährigen, die eigentlich geschützt werden sollte, wird nicht nur die Zahlung von Witwenrente verweigert, sie wäre vor deutschen Gerichten beispielsweise auch nicht als Erbin des A anzusehen. Zudem würde die langjährig gelebte Gemein‐ schaft zwischen A und B ignoriert und ihr Vertrauen in das „Eheband“ ent‐ täuscht. Die faktische Ehe zwischen A und B muss in dem gebildeten Beispiel daher auch vom Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst sein. Der bei Nicht‐ anerkennung durch staatliche Stellen bestehende, massive Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG kann kaum durch die legitimen Interessen des Gesetzgebers an der Verhinderung von Kinderehen aufgewogen werden. Als Folge sollte Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB (n.F.) verfassungskonform aus‐ gelegt 18 und in Einzelfällen wie dem vorliegend beschriebenen teleologisch re‐ duziert werden. Der Fall der Kinderehe zeigt: Selbst wenn der Gesetzgeber versucht, Abwä‐ gungsvorgaben in Regeln umzuwandeln, behalten Abwägungsentscheidungen im Hintergrund dennoch ihre Bedeutung. Im Fall der Kinderehe zwingt diese Abwägungsentscheidung ggf. sogar zur Modifikation der eigentlich durch den einfachen Gesetzgeber vorgegebenen Regel. 150 Martin Gebauer / Felix Berner <?page no="151"?> V. Zusammenfassung Abwägungsentscheidungen bei der Bestimmung des maßgebenden Rechts treten im Internationalen Privatrecht bisweilen schon bei der Regelanknüpfung auf, im deutschen bzw. europäischen Recht z.B. bei der hilfsweisen Anknüpfung an die engste Verbindung. Die im heutigen Kollisionsrecht allenthalben anzutreffenden Ausweichklau‐ seln bilden geradezu einen Prototyp für Abwägungsentscheidungen. Die Be‐ sonderheit bei ihnen liegt darin, dass sie sich als Ausnahme präsentieren und gegen die Regelanknüpfung gerichtet sind. In ähnlicher Weise werden Regelanknüpfungen ausnahmsweise als Ergebnis von Abwägungsentscheidungen durchbrochen, wenn überragende Interessen und Wertentscheidungen der eigenen Rechtsordnung die Nichtanwendung fremden Rechts gebieten, obwohl dieses fremde Recht eigentlich aus inländi‐ scher Sicht zur Anwendung berufen ist. Die methodischen Fragen der Abwä‐ gungsentscheidungen, durch die Prinzipienkonflikte aufzulösen sind, konnten hier an den Beispielen der Leihmutterschaft und der Kinderehen verdeutlicht werden. Literatur Alexy, Robert (2003). The Identity of the Constitutional Subject: Selfhood, Citizenship, Culture, and Community. Ratio Juris 16 2003, 131-140. Alexy, Robert (1996). Theorie der Grundrechte. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Alexy, Robert (2000). Zur Struktur der Rechtsprinzipien. In: Schilcher, Bernd/ Koller, Peter/ Funk, Bernd-Christian (Hrsg.). Regeln, Prinzipien und Elemente im System des Rechts. Wien: Verl. Österreich, 31-53. Andrae, Marianne (2016). 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Um eine ethisch ge‐ rechtfertigte Entscheidung zu treffen, muss die Ärztin in diesem Fall abwägen, welches der beiden Prinzipien (Fürsorge oder Respekt vor der Patientenauto‐ nomie) im speziellen Fall schwerer wiegt. In diesem Artikel stellen wir aktuelle psychologische Befunde vor, die nahe‐ legen, dass in einem solchen konkreten Abwägungsfall bewusstes verbales Überlegen und Argumentieren nicht immer dabei helfen, ein Ergebnis zu finden, das im Einklang mit gegebenen normativen Richtlinien steht - seien es die ei‐ genen allgemeinen moralischen Überzeugungen, weithin akzeptierte berufs‐ ethische Prinzipien oder die Vorgaben einer ethischen Theorie. In vielen Fällen scheinen intuitive Prozesse in dieser Hinsicht zu besseren Entscheidungen führen. Unser Ziel ist es, Forschungsfragen herauszuarbeiten, die gezielte em‐ pirische Forschung zur Methodologie des ethischen Abwägens in der berufli‐ chen Praxis anstoßen. Auf dem Online-Portal „EthikDiskurs“ (www.ethikdiskurs.de), das sich an erster Stelle an Fachpersonal aus sozialen und medizinischen Berufen richtet, stellt die Philosophin Julia Engels (o.J.) einen Fall vor, der die Problematik der Abwägung gut veranschaulicht: <?page no="156"?> „Die 19 jährige Lisa M. leidet seit ihrem 14. Lebensjahr an einer diagnostizierten Ma‐ gersucht und wiegt bei einer Körpergröße von 1,73m derzeit 46kg (BMI 15,4). Bei entsprechender Adaption des Körpers an die geringe Menge von Nahrungsaufnahme besteht derzeit keine akute Lebensgefahr, eine deutliche Gewichtszunahme und lang‐ fristige Stabilisierung des Allgemeinzustandes sind jedoch wünschenswert. Sie ist sich ihrer Krankheit bewusst und lebt aufgrund eines schwierigen Verhältnisses zu ihrer alleinerziehenden Mutter seit einem Jahr in einer Einrichtung für junge Frauen mit Essstörungen. […] In den ersten Monaten hatten sich ihr Gewicht als auch ihr Essverhalten positiv ent‐ wickelt und stabilisiert. […] Seit ca. acht Wochen jedoch verschlechtert sich ihr Zu‐ stand. Zunehmend verweigert sie die Nahrungsaufnahme, erfindet Ausreden, um nicht an gemeinsamen Kochen und Einnehmen der Mahlzeiten teilzunehmen und nimmt auch keine psychotherapeutischen Therapieangebote mehr wahr. […] Auf Ge‐ sprächsangebote reagiert sie abweisend, zunehmend aggressiv abwehrend. Sie zieht sich immer mehr zurück und tauscht sich auch mit ihren MitbewohnerInnen immer weniger aus. Die BetreuerInnen […] suchen auch das Gespräch mit Lisas Mutter, diese jedoch ge‐ winnt ebenso wenig Kontakt zu ihrer Tochter. BetreuerInnen und Mutter befürchten, dass sich Lisas Zustand in kurzer Zeit weiter dramatisieren könnte und ihr Unterge‐ wicht akut lebensbedrohlich werden könnte. Sie überlegen daher, sie auch gegen ihren Willen in eine Klinik zwangseinweisen zu lassen, um sie dort ggf. auch unter Zwang zu ihrem eigenen Schutz ernähren zu lassen.“ Wie sollten die Betreuerinnen oder Betreuer und die Mutter entscheiden? Diese Frage erlaubt zwei Lesarten, deren Differenzierung für das Thema unseres Ar‐ tikels relevant ist: Erstens geht es um das normativ richtige Ergebnis: Zu wel‐ chem Ergebnis sollten sie kommen, welche Entscheidung ist in diesem Fall aus ethischer Sicht richtig? Zweitens zielt die Frage auf die Zuverlässigkeit des Ent‐ scheidungsverfahrens: Auf welchem Weg oder mit welcher Methode treffen die Betroffenen in konkreten Anwendungssituationen mit hoher Wahrscheinlich‐ keit diese richtige Entscheidung? Im Weiteren wird der Fokus auf der zweiten Frage liegen. Wir klammern eine Diskussion der ersten Frage vorläufig aus, indem wir die Annahme treffen, dass die auf den Arbeiten von Beauchamp und Childress (2008) basierende und in der Medizinethik weit verbreitete Prinzipienethik, die wir im nächsten Ab‐ 156 Michael von Grundherr / Orsolya Friedrich <?page no="157"?> 1 Wie das obige Beispiel signalisiert, möchten wir uns auf medizinethisches Entscheiden konzentrieren. Die Hypothesen, die wir entwickeln, sollten sich aber problemlos auf ethisches Entscheiden in anderen beruflichen Kontexten übertragen lassen. Ein ethisch gerechtfertigtes Ergebnis für den Beispielfall könnte auch mithilfe von klassischen mo‐ ralphilosophischen Theorien wie z.B. deontologische oder konsequentialistische Ethik‐ theorien zustande kommen. Da wir auf die zweite Frage fokussieren, diskutieren wir die Divergenzen, die durch unterschiedliche Moraltheorien für das Ergebnis im Bei‐ spielfall entstehen, hier nicht. schnitt erläutern, eine adäquate normative Leitlinie gibt. 1 Leitend in unserem Artikel ist also die Frage nach moralischen Entscheidungsverfahren in der be‐ ruflichen Praxis, die zuverlässig eine als normativ richtig ausgewiesene Ent‐ scheidung hervorbringen kann. Die einschlägige medizinethische Literatur diskutiert die Argumentation für Dilemma-Fälle ausführlich in schriftlicher Form. Auch in der medizinethischen Ausbildung wird oft die Fähigkeit vermittelt, Argumentationslinien schriftlich oder mündlich zu verbalisieren und zu durchdenken. Wie wir zeigen werden, legen jedoch eine Reihe von empirischen Ergebnissen nahe, dass explizites Überlegen nur unter bestimmten Bedingungen dazu führt, dass Entscheidungs‐ verfahren zuverlässig durchgeführt werden. Personen scheinen in sehr vielen Fällen in der Lage zu sein, durch intuitive - also größtenteils unbewusste - Abwägungsprozesse angemessene moralische Urteile zu finden. Empirische Studien aus der Kognitionspsychologie deuten an, dass bewusste Explikation, Anwendung und Abwägung von Entscheidungskri‐ terien hingegen zu ethisch schlechter begründeten Ergebnissen führen können. Eine Reflexion der Diskrepanz zwischen diesen Befunden und der in Praxis und Theorie sicher oft getroffenen Standardannahme, dass wohlabgewogene, expli‐ zite moralische Urteile nicht nur in der akademischen Diskussion, sondern auch in der beruflichen Praxis zuverlässig seien, erscheint uns vielversprechend. Un‐ sere Überlegungen sollen in diesem Artikel schließlich in empirisch zu erforsch‐ enden Hypothesen und Fragen danach münden, wie wir konkrete praktische Entscheidungen möglichst nahe an gegebenen normativen Leitlinien orien‐ tieren könnten. Prinzipienethik Die Prinzipienethik (Beauchamp/ Childress 2008) hat sich als normativer Rahmen für Fragen der Medizinethik bewährt. Die Prinzipienethik unter‐ scheidet sich klar von umfassenden Moraltheorien, die für ein oberstes Prinzip argumentieren - etwa den Kategorischen Imperativ oder das utilitaristische Nutzenmaximierungsgebot -, aus dem dann speziellere moralische Regeln ab‐ 157 Wie Explikation ethische Abwägungsprozesse beeinflusst <?page no="158"?> geleitet werden können. Anders als diese Ansätze schlägt die Prinzipienethik eine Reihe von Prinzipien vor, die in keiner Hierarchie zueinander stehen und in konkreten Fällen ausgelegt und abgewogen werden müssen. Die Prinzipien qualifizieren sich dadurch, dass sie moralische Überzeugungen auf den Punkt bringen, die in der jeweiligen moralischen (Berufs-)Gemeinschaft ohnehin weithin geteilt werden. Laut Beauchamp und Childress (2008) sind für das bio- und medizinethische Entscheiden die im Folgenden skizzierten Prinzipien einschlägig (vgl. auch Marckmann et al. 2014): • Wohltun: Nutze dem Patienten oder der Patientin und fördere sein oder ihr Wohlergehen durch präventive, therapeutische und schmerzstillende Maßnahmen. • Nichtschaden: Füge dem Patienten oder der Patientin keinen Schaden zu. • Respekt vor der Autonomie: Berücksichtige Wünsche, Ziele und Wert‐ vorstellungen des Patienten oder der Patientin, fördere seine oder ihre Entscheidungsfähigkeit. • Gerechtigkeit: Trage dazu bei, dass Nutzen und Lasten im Gesundheits‐ system gerecht verteilt sind. Behandle gleiche Fälle gleich. Die vier Prinzipien bilden eine normative Basis für kohärente ethische Ent‐ scheidungen, die auch potenziell die Konflikte zwischen den Prinzipien im Ein‐ zelfall berücksichtigen. In vielen Fällen sind zum Beispiel Spannungen zwischen dem Prinzip des Wohltuns und dem Prinzip des Nichtschadens zu erwarten, da fast alle medizinischen Maßnahmen Risiken beinhalten (Marckmann/ Mayer 2009: 2). Mangels eines vorrangigen Prinzips können solche Fälle nicht deduktiv oder autoritativ gelöst werden. Folglich müssen die vier Prinzipien im Einzelfall interpretiert, spezifiziert, gewichtet und abgewogen werden. Konkret bedeutet das, dass ein Entscheider oder eine Entscheiderin für jeden einzelnen Fall eine Reihe von Deliberationsschritten durchlaufen muss (ebd.). Im ersten Schritt muss zunächst die Sachlage analysiert werden, es geht zum Beispiel darum, medizinische Möglichkeiten, Risiken und Heilungschancen zu explizieren. In einem zweiten Schritt gilt es, die Prinzipien in diesem Kontext zu interpretieren: Welche ethischen Verpflichtungen gibt es gegenüber dem Pa‐ tienten oder der Patientin? Welche ethischen Verpflichtungen gibt es gegenüber Dritten? Danach kann sich in der Zusammenschau (Synthese) bereits eine klare Entscheidung abzeichnen. Wenn aus Prinzipien allerdings sich widersprechende Ergebnisse folgen, ist eine begründete Abwägung notwendig: Welches Prinzip wiegt in diesem Fall schwerer? Welches Prinzip ist in diesem speziellen Fall weniger gewichtig (etwa weil die Patientin oder der Patient durch die Erkran‐ 158 Michael von Grundherr / Orsolya Friedrich <?page no="159"?> kung nur über eine eingeschränkte Selbstbestimmungsfähigkeit verfügt)? Am Schluss sollte eine kritische Reflexion stehen, bei der man mögliche starke Ein‐ wände gegen die gewählte Option betrachtet und überlegt, wie der Konflikt zwischen den Prinzipien möglicherweise hätte vermieden werden können. In ihrem Kommentar zum eingangs dargestellten Fall argumentiert Engels im Rahmen der Prinzipienethik. Wir gehen hier nur exemplarisch auf eine zentrale Abwägungsfrage ein. Auf der einen Seite fordert das Prinzip des Wohltuns, Lisa vor schweren gesundheitlichen Schäden zu bewahren. Im Augenblick ist Lisas Zustand zwar nicht akut lebensbedrohlich, aber gefährlich, und könnte sich schnell verschlechtern. Ohne Berücksichtigung weiterer ethischer Normen wäre eine Zwangseinweisung in die Klinik nach diesem Prinzip geboten. Auf der anderen Seite erfordert das Prinzip des Respekts vor der Autonomie, den Wunsch der volljährigen Lisa, nicht in eine Klinik eingewiesen zu werden, zu beachten. Zu berücksichtigen sind allerdings Faktoren, die Lisas Fähigkeit zur Selbstbestimmung einschränken könnten. Engels weist zum Beispiel darauf hin, dass die Ablehnung einer klinischen Behandlung (und Ernährung) auch ein spezifisches Symptom der Erkrankung sein könnte. Engels diskutiert zudem ein weiteres Risiko einer Zwangseinweisung, und bringt damit das Prinzip des Nichtschadens ins Spiel. Eine Zwangseinweisung in diesem Stadium könnte das Vertrauensverhältnis zwischen Lisa, ihrer Mutter und den Betreuungspersonen gefährden. Ein solches Vertrauensverhältnis sei aber unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg psychotherapeutischer Maß‐ nahmen und sollte deswegen nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden, um der Patientin mittelfristig nicht den Weg zu einer erfolgreichen Therapie und möglichen Heilung zu versperren. In der aktuellen Situation spricht also vieles dafür, dem Autonomieprinzip den Vorrang zu geben und Lisa nicht mit Zwang einzuweisen. Sollte sich Lisas Zustand aber verschlechtern und akut lebensbe‐ drohlich werden, würde das Prinzip des Wohltuns ein viel stärkeres Gewicht in der Abwägung bekommen. Eine solche Falldiskussion mithilfe der Prinzipienethik geht von weit ge‐ teilten moralischen Überzeugungen und Prinzipien aus. Sie ist wegen ihrer ge‐ ringen moraltheoretischen Komplexität praxistauglich. Da es uns in diesem Aufsatz um die Frage geht, wie sich konkrete praktische Entscheidungen mög‐ lichst nahe an gegebenen normativen Leitlinien orientieren können, sind Fragen nach der Begründung der einschlägigen ethischen Prinzipien hier nicht im Fokus. Deswegen werden wir der Einfachheit halber die eben skizzierte Prinzi‐ pienethik auch als normative Standardtheorie für die folgenden Überlegungen annehmen. 159 Wie Explikation ethische Abwägungsprozesse beeinflusst <?page no="160"?> An welcher Stelle stößt die eingangs schon angesprochene kognitionspsy‐ chologische Forschung nun eine Diskussion über die Methodologie der Prinzi‐ pienethik in der beruflichen Praxis an? Wir erwarten nicht, dass die empirische Forschung allgemeine Gütekriterien für den ethischen Entscheidungsprozess aufstellt. Diese Kriterien leiten sich nach der eben gemachten Annahme viel‐ mehr aus dem prinzipienethischen Rahmen ab; sie fordern, dass die einschlä‐ gigen Prinzipien berücksichtigt, richtig auf den Fall angewendet und dem Sach‐ verhalt angemessen abgewogen werden. Wir erwarten auch nicht, dass die empirische Forschung hilft zu verstehen, wie ein idealer Prozess der ethischen Entscheidungsfindung gestaltet sein sollte. Die empirische Forschung kann aber sehr wohl einen Beitrag zu der Frage leisten, wie ein Prozess, der in realen Anwendungssituationen (z.B. bei der me‐ dizinethisch schwierigen Entscheidung einer Ärztin oder eines Arztes) unter den gegebenen Einschränkungen wie Zeitdruck, emotionale Involviertheit oder eingeschränkte Informationslage zu einem Ergebnis führt, das den - dem je‐ weiligen theoretischen Konstrukt geschuldeten - Gütekriterien möglichst weit‐ gehend entspricht. Da im Rahmen der Prinzipienethik der begründeten Abwä‐ gung der Prinzipien eine besondere Bedeutung zukommt, werden wir uns im Folgenden darauf konzentrieren. Ethische Explikation Das Forschungsprogramm der Psychologie, auf das wir uns im Folgenden be‐ rufen wollen, interessiert sich weniger für den spezifischen Inhalt von Abwä‐ gungsprozessen, sondern vielmehr für die Art der kognitiven Prozesse, die an ihrer Verarbeitung beteiligt sind. In der Kognitionspsychologie gibt es eine klas‐ sische, wenn auch immer wieder kritisch diskutierte Unterscheidung zwischen zwei allgemeinen kognitiven Systemen (Evans 2008). System 1 ist demnach au‐ tomatisch, schnell, intuitiv und dem bewussten Überlegen nicht zugänglich. Wenn eine (ethische) Entscheidung von System 1 verarbeitet wird, dann ist der Person der Entscheidungsprozess zwar unbekannt, das Ergebnis kann die Person aber üblicherweise benennen. System 2 ist vergleichsweise langsam, be‐ wusst und rational. Wenn System 2 beteiligt ist, können Personen auch die Ab‐ leitungsschritte, die zu einem moralischen Urteil führen, verbalisieren. Begründete Abwägung in der Form, wie sie Engels (o.J.) oder auch Marck‐ mann et al. (2014, 2009) in ihren Fachartikeln vorführen, macht den Sachverhalt, die als einschlägig erachteten ethischen Prinzipien und die Gründe für die Ab‐ wägung explizit. Diese werden also versprachlicht und in Form eines linear strukturierten Arguments dargelegt. Dieses Vorgehen wollen wir „ethische Ex‐ 160 Michael von Grundherr / Orsolya Friedrich <?page no="161"?> plikation“ nennen. Aus psychologischer Sicht stützt sich ethische Explikation auf System-2-Prozesse. Ob ein Entscheidungsprozess die prinzipienethischen Gütekriterien erfüllen kann, ist zunächst unabhängig von der kognitiven Verarbeitung. Automatische Abwägungsprozesse, die zum großen Teil gar nicht bewusst werden, können genauso moralischen Prinzipien und Gründen für deren Gewichtung folgen wie ein bewusst kontrolliertes, verbalisiertes Abwägen. Es ist prima facie plausibel, dass ethische Explikation schwierige Abwä‐ gungsfragen erleichtert, indem sie einen komplexen Sachverhalt analytisch auf‐ teilt und in abstrakte Kategorien einordnet. Sie benennt darüber hinaus An‐ satzpunkte für die normative Bewertung, einschlägige ethische Prinzipien und Gründe für deren Gewichtung. Die meisten Leser expliziter Argumente in der Medizinethik werden es aber nicht nur einfacher finden, die jeweiligen Fälle überhaupt zu bewerten - sie haben vermutlich auch ein besseres Gefühl bei dem Urteil und vertrauen eher auf ein verbal begründetes und bewusst durchdachtes Urteil als auf ein Urteil, das sie „aus dem Bauch“ heraus getroffen haben. Auf den ersten Blick scheint das auch psychologisch plausibel zu sein. In intuitive Abwägungsprozesse fließen mit großer Wahrscheinlichkeit moralische Werte, Prinzipien oder Eigeninteresse mit unkontrolliertem Gewicht ein. Es kann sein, dass zum Beispiel Vorurteile, die der oder die Urteilende bewusst ablehnt, im intuitiven Urteil eine Rolle spielen (vgl. Forscher et al. 2017). Eine Reihe von Befunden aus unterschiedlichen Bereichen der Psychologie legt allerdings nahe, dass Explikation nicht pauschal, sondern nur unter be‐ stimmten Bedingungen dazu führt, dass Entscheidungsprozesse zuverlässig zu den erwarteten Ergebnissen führen. In anderen Fällen kann intuitives Abwägen angemessenere Ergebnisse liefern. Diese Befunde stellen nicht das Modell der Prinzipienethik - und insbeson‐ dere nicht die begründete Abwägung zwischen moralischen Prinzipien als Ideal der ethischen Entscheidungsfindung - in Frage. Allerdings legen sie nahe, genau zu untersuchen, in welcher Weise ethische Entscheiderinnen und Entscheider, etwa Ärztinnen und Ärzte, in der Praxis am ehesten Abwägungsentscheidungen treffen können, die den Ergebnissen des idealtypischen Prozesses am nächsten kommen und die Gütekriterien der jeweils präferierten normativen Leitlinie erfüllen. Die empirischen Befunde lassen vermuten, dass Explikation dabei ver‐ mutlich nicht immer und nicht in jeder Form das Mittel der Wahl ist. 161 Wie Explikation ethische Abwägungsprozesse beeinflusst <?page no="162"?> 2 Im „Marmeladenbeispiel“ erscheint uns die oben genannte Annahme ohne weitere Dis‐ kussion naheliegend. Das soll jedoch nicht zu der Ableitung führen, dass gelungene Rechtfertigung im Bereich der Ethik durch Konsens zustande kommt. Diese Frage dis‐ kutieren wir hier nicht. 3 Dies ist in dem Experiment per Annahme wahrscheinlich. Psychologische Befunde Dieser Artikel kann und soll keinen umfassenden Überblick über die einschlä‐ gige psychologische Forschung zum Thema „Entscheiden“ liefern. Im Folgenden wollen wir aber schlaglichtartig zentrale Experimente vorstellen, die zeigen, dass die Frage nach dem angemessenen moralischen Entscheidungsprozess vielschichtig ist. Wir beginnen mit einem Beispiel, das noch keine moralische Dimension aufweist, aber verdeutlicht, dass die Explikation von intuitiven Eva‐ luationsprozessen zu einer Verzerrung und mithin Verschlechterung der resul‐ tierenden Urteile führen kann. In einem klassischen Versuch ließen Wilson und Schooler (1991) Studierende die Qualität von Erdbeermarmeladen verschiedener Hersteller beurteilen. Die Angaben der Versuchspersonen stimmten sowohl untereinander als auch mit der Bewertung von professionellen Lebensmitteltestern gut überein. Professio‐ nelle Lebensmitteltester haben gelernt, zu beurteilen, wie gut ein bestimmtes Produkt einem Konsumenten im Durchschnitt in verschiedenen realen Situ‐ ationen schmeckt. Die Übereinstimmung des Expertenrankings mit den Laien‐ urteilen in der Basisbedingung passen zu dieser Annahme. Die Lebensmittel‐ tester scheinen ein relativ gutes Konsensurteil zu treffen, das in diesem Kontext plausibler Weise als normative Leitlinie gelten kann. 2 In einem zweiten Durchgang baten die beiden Psychologen ihre Versuchs‐ personen, ihre Urteile zu analysieren, also anzugeben, warum sie die jeweilige Marmeladensorte als gut oder schlecht empfanden. In diesem Durchgang stimmten die Bewertungen der Versuchspersonen deutlich schlechter mit den Urteilen der Experten überein und wichen auch untereinander stärker vonein‐ ander ab. Der Versuch, die Urteile zu explizieren, scheint mithin zu erratischen Abweichungen vom eigenen intuitiven Urteil und vom Konsensurteil der Ex‐ perten zu führen. Falls die ursprünglichen Urteile adaptiv und funktional waren, so die Autoren, zeige dieses Ergebnis, dass eine Explikation Urteile verschlech‐ tern kann. 3 In diesem Fall gelang es den Versuchspersonen, die ihre Urteile ex‐ plizierten, schlechter als der Vergleichsgruppe, eine Marmelade zu wählen, die sie mit großer Wahrscheinlichkeit tatsächlich gerne aßen. Wilson und Schooler erklärten ihr Ergebnis damit, dass Personen, die um explizite Erklärung ihres Urteils gebeten wurden, dazu neigten, ihre Aufmerk‐ 162 Michael von Grundherr / Orsolya Friedrich <?page no="163"?> 4 Eine Reihe von neueren Experimenten, in denen unbewusstes Entscheiden zu besseren Ergebnissen führte, beschreibt Dijksterhuis (2004), vgl. auch den neuen Überblicksar‐ tikel von Dijksterhuis und Strick (2016). Öllinger et al. (2015) zeigen, dass Versuchs‐ personen, die ihre Lernfortschritte beim Steuern eines komplexen Systems verbal oder visuell festhielten, später schlechter beurteilen konnten, wie man das System erfolg‐ reich steuert, als Personen, die ihre Lernerfolge nicht explizit machten. samkeit auf nicht-optimale Bewertungskriterien zu lenken und diesen überpro‐ portional viel Gewicht zu geben. Insbesondere wenn die Kriterien der intuitiven Entscheidungsfindung weitgehend kognitiv unzugänglich seien, verließe man sich bei der Explikation des Urteils oft auf plausiblere und leichter zugängliche Kriterien. Leichter zugänglich könnten Kriterien zum Beispiel deswegen sein, weil man sie sprachlich formulieren könne, entsprechende Gründe (zum Bei‐ spiel aus der Werbung) schon gehört habe und denke, sie seien weithin akzep‐ tiert. Dieser Versuch und viele Folgeversuche, die zu ähnlichen Ergebnissen kamen, legen nahe, dass Explikation Abwägungsgleichgewichte verschieben kann. 4 Diese Befunde deuten aber auch an, dass es eine Frage von erlernbaren Fähigkeiten und Ressourcen sein könnte, ob Explikation hilfreich ist oder nicht. Denn man kann aus der Kontrollbedingung noch etwas ablesen: Die Marme‐ laden-Experten hatten es offenbar gelernt, Urteile zu explizieren, die mit den intuitiven Urteilen übereinstimmen. Bei ihnen führte der Prozess der Explika‐ tion nicht im selben Maße zu einer Verzerrung und Umgewichtung von Ent‐ scheidungskriterien. Für ethisches Entscheiden in der Medizin im Rahmen des prinzipienethischen Ansatzes könnten diese Befunde auch einschlägig sein. Sie deuten auf basale kognitive Mechanismen hin, die sich am Beispiel von Geschmacksurteilen leicht testen lassen, aber mit großer Wahrscheinlichkeit auch bei anderen Evaluati‐ onsprozessen, inklusive moralischer Urteile, wirksam werden. In der Praxis möchte die Prinzipienethik weithin geteilte, oft implizite, mo‐ ralische Bewertungskriterien möglichst gut zur Anwendung bringen. Auch wenn wir annehmen, dass medizinethische Experten dies auf dem Weg der Ex‐ plikation sehr gut können, ist es eine offene empirische Frage, ob und in welcher Weise explizites Abwägen die Entscheidung von ethischen Laien oder von un‐ terschiedlich intensiv geschultem Personal unterstützt. Es ist eine plausible - wenn auch in diesem Bereich noch nicht untersuchte - Hypothese, dass zu‐ mindest wenig routinierte Entscheider zwar intuitive moralische Urteile so häufig treffen, dass diese den Ergebnissen von ethisch geschulten Experten gut folgen, aber relativ zufällig davon abweichen, wenn sie ihre Urteile explizit be‐ gründen müssen. 163 Wie Explikation ethische Abwägungsprozesse beeinflusst <?page no="164"?> 5 Motivationseffekte könnten ebenfalls eine Rolle spielen: Die motivationale Bindung der Personen an das abstrakte Recht könnte so gering sein, dass in den einzelnen prakti‐ scheren Entscheidungen eigeninteressierte Einstellungen (etwa eine persönliche Ab‐ neigung gegen das Auftreten der Nazis) die Oberhand gewinnen. Andere Studien zum spezifischeren Gegenstandsbereich des moralischen Ur‐ teilens zeigen, dass sogar eine explizite Zustimmung zu normativen Entschei‐ dungskriterien nicht dazu führen muss, dass diese in einem Entscheidungspro‐ zess tatsächlich Gewicht bekommen. McClosky und Brill (1983) berichten, dass bei ihren Versuchspersonen die Zustimmung zu abstrakten Prinzipien deutlich höher war, als die Zustimmung zu den (kontroversen) Einzelfällen, in denen das Prinzip zur Anwendung kommen müsste. So stimmten 89% der Aussage „Ich unterstütze freie Meinungsäußerung für jeden, unabhängig von seinen oder ihren Ansichten“ zu, aber nur 58% bejahten den Satz „Freie Meinungsäußerung sollte jedem zugestanden werden, unabhängig davon, wie intolerant er oder sie gegenüber anderen Meinungen ist.“ 82% stimmten der Aussage zu: „Auch Men‐ schen, die unseren Lebensstil hassen, sollten eine Chance haben, sich zu äußern und gehört zu werden“, aber nur 18% fanden, eine Gemeinde solle der amerika‐ nischen Nazi-Partei die Stadthalle für eine öffentliche Versammlung zur Verfü‐ gung stellen. Diese Ergebnisse lassen mehrere Erklärungen für die Folgenlosigkeit der Zu‐ stimmung zu abstrakten Prinzipien zu. Es könnten „Erwünschtheitseffekte“ eine Rolle spielen: abstrakt für Meinungsfreiheit zu sein, ist sozial erwünscht und erfordert noch nicht, sich mit den konkreten Implikationen dieses Rechts aus‐ einanderzusetzen. Eine mögliche Erklärung für jene Studienergebnisse könnte aber auch sein, dass die allgemeinen Prinzipien in der anfänglichen Befragung explizit benannt werden, in den komplexeren Einzelfällen dann aber implizite kognitive Entscheidungsprozesse dominieren, die nicht auf die explizite Reprä‐ sentation der Prinzipien zurückgreifen. 5 Es ist wahrscheinlich, dass ein ähnliches Phänomen auch in medizinethischen Anwendungsfällen auftritt. Es könnte sein, dass medizinethische Schulung unter bestimmten Bedingungen zur Akzeptanz von Prinzipien führt, ohne je‐ doch konkrete Einzelfallentscheidungen konsequent zu beeinflussen. Ein Experiment, das in neueren Debatten zur Moralpsychologie viel Resonanz erfahren hat, ist ebenfalls einschlägig. Haidt, Björklund und Murphy (2000) er‐ zählten den Versuchspersonen eine kurze Geschichte über zwei Geschwister, die in den Semesterferien gemeinsam verreisten und dabei einmalig miteinander schliefen. Die beiden verwendeten eine sichere Verhütungsmethode und hielten das für beide angenehme Erlebnis geheim. 164 Michael von Grundherr / Orsolya Friedrich <?page no="165"?> 6 Im Rahmen seines sozial-intuitionistischen Gesamtmodells schreibt Haidt dem expli‐ ziten Überlegen und Argumentieren allerdings eine relevante Funktion zu. Es diene regelmäßig dazu, die moralischen Urteile anderer Personen zu beeinflussen - allerdings nicht durch logisch zwingende Argumente, sondern indem es assoziativ neue, affekt‐ geladene Intuitionen im Zuhörer auslöse (Haidt 2001: 814, 818-819). Die große Mehrheit der Versuchspersonen antwortete, das Verhalten der beiden Geschwister sei falsch. Danach hinterfragte ein Experimentator die Gründe für diese Einschätzung und konfrontierte die Versuchspersonen immer wieder mit Gegenargumenten. Wenn jemand z.B. antwortete, Inzest erhöhe das Risiko von Behinderungen bei Kindern, wies der Experimentator darauf hin, dass dies irrelevant sei, da die Geschwister eine sichere Verhütungsmethode nutzten. Die meisten Versuchspersonen scheiterten entweder daran, überhaupt Gründe für ihre Meinung zu finden, oder sahen ein, dass der Experimentator ihre Argumente entkräften konnte. Allerdings hielten fast alle trotzdem an ihrer Meinung fest und antworteten sinngemäß, der Wissenschaftler habe schon recht, aber sie seien sich sicher, dass das Verhalten einfach falsch sei. Die Autoren nennen das den „dumbfounding effect“. In einem einflussreichen Aufsatz argu‐ mentiert Haidt (2001) auf Basis dieser Befunde, dass explizites Urteilen („reaso‐ ning“) in fast allen Fällen dazu diene, schnell getroffene automatische Urteile ex post zu rechtfertigen. In einem einflussreichen Bild spricht er davon, dass ex‐ plizites Urteilen und Argumentieren in den meisten Fällen die Rolle eines Straf‐ verteidigers spiele, der versuche, eine vorher feststehende Position mit allen Mitteln zu verteidigen. 6 Für die Methodologie der angewandten oder praktischen Ethik ist Haidts kontroverse Theorie einschlägig. Sie stellt die Wirksamkeit von explizitem Ab‐ wägen - und damit die Wirksamkeit von Schulungen, die diese Kompetenz trainieren - in Frage. Wenn z.B. die ethische Entscheidung von Betreuern oder Betreuerinnen und Eltern im Fall der magersüchtigen Lisa ohnehin schon un‐ abänderlich feststeht, bevor sie beginnen, den Sachverhalt und die einschlägigen Prinzipien explizit zu durchdenken und abzuwägen, dann ist explizite prinzipi‐ enethische Argumentation hinfällig. Neuere Forschung weist allerdings darauf hin, dass Haidts Theorie jedenfalls nicht unter allen Bedingungen zutrifft. Paxton, Ungar und Greene (2012) modi‐ fizierten das ursprüngliche Experiment, um die Hypothese zu testen, dass mo‐ ralische Reflexion die Versuchspersonen unter den richtigen Bedingungen durchaus dazu bringe, ihr intuitives Urteil zu revidieren. In diesem Versuch las die Experimentalgruppe die ursprüngliche Geschichte über die zwei Ge‐ 165 Wie Explikation ethische Abwägungsprozesse beeinflusst <?page no="166"?> schwister und bekam im Anschluss Zeit, über folgendes Argument nachzu‐ denken: „For most of our evolutionary history, there were no effective contraceptives, and so if siblings slept together they might conceive a child. Children born of such closely related parents would have a lower than normal likelihood of surviving. Thus, feelings of disgust toward incest probably evolved to prevent such children from being born. But in Julie and Mark’s case, two kinds of contraception were used, so there was no chance of conceiving a child. The evolutionary reason for the feeling of disgust is, therefore, not present in Julie and Mark’s case. Any disgust that one feels in response to Julie and Mark’s case cannot be sufficient justification for judging their behavior to be morally wrong.“ (Paxton et al. 2012: 170) Kontrollgruppen erhielten entweder nur knappe Zeit, um über dieses Argument nachzudenken, oder die Experimentatoren konfrontierten sie mit einem schwa‐ chen Argument, das auf einer zu wörtlichen Lesart eines englischen Euphe‐ mismus für „Sex haben“ beruhte: Geschwisterliebe finde schließlich wie jede Form der Liebe ihren ultimativen Ausdruck darin, „to make love“ (ebd.). Das Experiment bestätigte die Hypothese, dass die Versuchspersonen in der Gruppe, die viel Zeit erhielt, um über guten argumentativen Input nachzudenken, ihre Meinung häufiger änderten als die Versuchspersonen in den Kontrollgruppen. Es stellte sich sogar heraus, dass die Bedingungen Zeit zur Reflexion und Qua‐ lität des Arguments sich wechselseitig verstärkten (Interaktionseffekt). Sollten sich ähnliche Ergebnisse im Bereich der medizinethischen Praxis be‐ stätigen, würde das darauf hindeuten, dass die Bedingungen bei der Entschei‐ dungsfindung wie Stress oder Zeitdruck und die Qualität der argumentativen Ressourcen - auch die Fähigkeit, Entscheidungskriterien zu explizieren und an‐ zuwenden -, die die Personen etwa durch Training in der Diskussion von Fall‐ studien erwerben, bestimmen, ob explizites Überlegen wirksam wird. Abschließend möchten wir darauf hinweisen, dass auch die soziale Rolle des expliziten Argumentierens empirisch sehr differenziert erforscht wird. Mercier und Sperber (2011) zum Beispiel fassen zahlreiche empirische Befunde zu‐ sammen und argumentieren, dass die kognitiven Mechanismen des expliziten Überlegens an soziales Argumentieren adaptiert seien, und sie zeigen, dass Menschen gemeinsam recht zuverlässige Urteile fällen könnten, während sie alleine regelmäßig Urteilsverzerrungen unterlägen. Diese Befunde zeigen eben‐ falls empirischen Forschungsbedarf im Hinblick auf medizinethische Fragestel‐ lungen. Sollten diese Befunde sich im Bereich der Medizinethik ebenfalls er‐ härten, könnte Entscheidungsprozessen in Gruppen (z.B. in Ethikkomitees) ein deutlich höheres normatives Gewicht zukommen als denen von Einzelpersonen, 166 Michael von Grundherr / Orsolya Friedrich <?page no="167"?> weil sie sich zuverlässiger an den bevorzugten normativen Leitlinien ansiedeln ließen. Forschungsfragen Die skizzierten empirischen Befunde sind durchgängig komplex und verweisen auf eine Vielzahl von moderierenden Bedingungen. Während Haidt und Björ‐ klund zeigen, dass explizite Abwägung und Argumentation in manchen Fällen keinen Einfluss auf das moralische Urteil haben, finden Paxton et al. heraus, dass genügend Zeit und hochwertiger argumentativer Input diesen Effekt ver‐ schwinden lassen. Zahlreiche Studien über die Qualität von unbewusstem Denken und Evaluieren, z.B. die Arbeiten von Wilson und Schooler, weisen da‐ rauf hin, dass das Explizitmachen intuitive Kompetenzen untergraben kann. Wie gut unbewusstes Denken aber im konkreten Fall abschneidet, hängt stark von der Art ab, in der die zu verarbeitende Information präsentiert wird (Dijkster‐ huis/ Strick 2016). Die genauen Bedingungen und Wirkverhältnisse sind kom‐ plex und bisher - insbesondere in konkreten Anwendungskontexten - nur in Ansätzen verstanden. Diese Befundlage öffnet ein weites Feld für die empirische Forschung zur Methodologie der ethischen Entscheidungsfindung in beruflichen Situationen. Wir schlagen vor, die Leitfrage zu stellen, wie ein idealer Prozess der Abwägung von ethischen Prinzipien unter realen Anwendungsbedingungen in professio‐ nellen Kontexten gestaltet werden sollte. Die normative Frage nach der Rich‐ tigkeit und Rechtfertigung moralischer Prinzipien kann in einem solchen empi‐ rischen Forschungsprogramm nicht beantwortet werden. Vielmehr nehmen wir es als gesetzt an, dass es in der untersuchten moralischen Gemeinschaft be‐ stimmte anerkannte Prinzipien gibt, die deren Mitglieder (oft nur implizit) ak‐ zeptieren. Diese Prinzipien können explizit gemacht werden, wie die akademi‐ sche Ethik dies tut, und zum Beispiel in Schulungen vermittelt werden. Wie oben erläutert, konfligieren die Implikationen der Prinzipien in zahlreichen Fällen und müssen abgewogen werden. Die konkrete empirische Frage ist nun, ob es bei der Abwägung hilft, den Sachverhalt, die Prinzipien und die Gründe für deren Gewichtung explizit zu benennen und die Anwendungs- und Abwägungsargumente zu verbalisieren. Wir schlagen hier zwei umfassende Forschungsfragen vor und nennen beispiel‐ hafte Detailfragen, die durch einzelne Studien beantwortet werden könnten. (A) Ist Explikation unter verschiedenen Bedingungen unterschiedlich stark wirksam? Folgende konkretere Fragen könnten sich hier anschließen: 167 Wie Explikation ethische Abwägungsprozesse beeinflusst <?page no="168"?> 7 In unserem Aufsatz sind wir aus methodologischen Gründen zunächst nur der Prinzi‐ pienethik gefolgt. Es wäre jedoch auch zu überprüfen, ob und wie sich die Effekte von Explikation mit unterschiedlichen moralphilosophischen Hintergrundannahmen di‐ vergieren. Dies wäre auch deshalb besonders interessant, weil sich große Teile der Er‐ gebnisse der psychologischen Forschungen auf andere Hintergrundannahmen stützten, vgl. etwa McClosky und Brill (1983). • Welche Auswirkung haben Formulierung und Präsentationsform? Macht es einen Unterschied, ob ein Prinzip abstrakt oder am Beispiel eingeführt wird? • Zu welchem Zeitpunkt ist Explikation am wirksamsten (zum Beispiel vor oder nach der Präsentation des konkreten Problems? ) • Welche Rolle spielt es, wie intensiv sich die Personen mit dem Prinzip oder mit dem Fall beschäftigt haben? Reduziert zum Beispiel Zeitdruck die Wirksamkeit ethischer Explikation? • Finden Personen ethische Explikation hilfreich oder stressreduzierend? • Macht Explikation die Entscheidung stabiler gegen kritische Einwände? (B) Wie beeinflusst die (Art der) Explikation den Inhalt moralischer Entschei‐ dungen? Exemplarische detailliertere Fragen sind: • Beeinflusst die Explikation der Prinzipien die Entscheidung wie erwartet? Konvergieren etwa die Ergebnisse in einer Gruppe stärker oder nähern sie sich stärker den Urteilen von Fachleuten an, nachdem alle Mitglieder dieselbe Explikation gehört haben? • Orientieren sich Personen in konkreten Fällen vorrangig an den Prinzi‐ pien, die sie abstrakt als besonders wichtig bewerten? Spiegelt also die konkrete Abwägung die abstrakte Abwägung? • Führt Explikation bei Experten (Fachexperten, ethische Experten) zu sys‐ tematischeren Effekten? • Welche Rolle spielt die der jeweiligen Explikation zugrundeliegende mo‐ ralphilosophische Theorie? 7 Hier ist nicht der Ort, um die Operationalisierung dieser Fragen in Experimenten zu erläutern. Die oben an Beispielen vorgestellten empirischen Forschungspro‐ gramme haben verschiedene experimentelle Paradigmen entwickelt, an denen sich die weitere Forschung orientieren könnte. Neben den empirischen Fragen sind auch wichtige theoretische Fragen offen. Besonders relevant erscheint uns im Lichte der aktuellen Diskussion die Frage über die Abgrenzung zwischen verschiedenen Typen kognitiver Prozesse. Die klare Unterscheidung zwischen zwei Typen der Kognition war lange Zeit hilf‐ reich und auch kommunikativ bis in die populärwissenschaftliche Literatur sehr 168 Michael von Grundherr / Orsolya Friedrich <?page no="169"?> wirkungsvoll, wird aber immer häufiger in Frage gestellt. Dijksterhuis und Strick (2016: 129) diskutieren z.B., ob man neben kognitiven Prozessen von Typ 1 und Typ 2 Prozesse eines Typs 3 gesondert behandeln sollte. Dies seien Pro‐ zesse, die sich über längere Zeit erstreckten und aus Phasen bewussten und unbewussten Denkens bestünden. In medizinethischen Entscheidungsfällen könnte dieser Kognitionstyp relevant oder sogar typisch sein. Im Eingangsbei‐ spiel müssen die Betreuerinnen und Betreuer über die Frage der Zwangsein‐ weisung nicht ad hoc entscheiden; vielmehr werden sie den Fall vielleicht einmal im Team diskutieren, dann könnten sie während anderer Tätigkeiten unbewusst weiter darüber nachdenken und sie im Gespräch mit der Mutter dann wieder bewusst behandeln. Pragmatische Implikationen Zusammengenommen liefern die bestehenden empirischen Befunde zum Ver‐ hältnis von intuitivem und explizitem moralischen Urteilen den Hintergrund für weitere experimentelle Forschung im konkreten Anwendungsbereich der Medizinethik. Gestützt auf die Ergebnisse von Folgestudien im Bereich der Me‐ dizinethik, die anhand der bereits vorhandenen empirischen psychologischen Forschungen entwickelt werden, könnten professionelle Ethikerinnen und Ethiker in Zukunft beginnen, hinsichtlich psychologischer Effekte gezielter und fundierter als bisher, Empfehlungen für die Ausbildung im ethischen Ent‐ scheiden zu geben. 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Bildung und Ausbildung <?page no="173"?> Zur Abwägung befähigen: Kompetenzorientierte Vermittlung ethischer Werte und Normen in der Weiterbildung Bernhard Schmidt-Hertha Einleitung Die kompetenzorientierte Gestaltung von Lehr-Lern-Arrangements wird spä‐ testens seit den 1990er Jahren insbesondere im Bereich der Hochschuldidaktik diskutiert und ist inzwischen aber auch in der beruflichen Weiterbildung ange‐ kommen. Dabei geht es einerseits um die Frage, wie Lehren und Lernen so zu gestalten ist, dass Weiterbildungsteilnehmende nicht nur Wissen, sondern auch Handlungsfähigkeit aufbauen. Andererseits geht es um die kompetenzbasierte Formulierung von Lernzielen, deren Erreichen schließlich auch überprüft und zertifiziert werden kann. Für Letzteres spielt vor allem der Deutsche Qualifika‐ tionsrahmen (DQR) als Schablone zur vertikalen Verortung von Kompetenzen eine wesentliche Rolle. In den verschiedenen Kompetenzdiskursen spielen Werte und Normen eine ganz unterschiedliche Rolle. In der klassischen empirischen Bildungsforschung werden sie zum Teil als wichtiger, in jedem Fall aber schwer messbarer Be‐ standteil von Kompetenzen betrachtet. In einem eher auf Personal- und Orga‐ nisationsentwicklung bezogenen Kompetenzverständnis (z.B. Erpenbeck 2010) sind Werthaltungen als zentrale Grundlage von Kompetenzen zu verstehen und entscheidend für das professionelle Handeln von Akteuren. Gleichzeitig werden Werte und Normen hier in Verbindung mit affektiven Kompetenzkomponenten gebracht, die wesentlich dafür verantwortlich sind, ob ein potenziell verfügbares Verhalten (Kompetenz) auch tatsächlich realisiert wird (Performanz). Schließ‐ lich werden in einem subjektorientierten Kompetenzverständnis, das die Rele‐ vanz selbsteingeschätzter Handlungsfähigkeit als zentralen Prädiktor für Per‐ formanz in den Mittelpunkt rückt, Werte und Normen zur immanenten Basis dieser selbstzugeschriebenen Kompetenzen. <?page no="174"?> Ethische Kompetenz als Vermittlungsziel wird in den einschlägigen andra‐ gogischen Arbeiten bislang kaum adressiert, hat aber z.B. in der Lehrerbildung oder in der Ausbildung von Führungskräften und Medizinern sowie in der Pä‐ dagogik insgesamt einen festen Platz (vgl. Prange 2010). In meinem Beitrag werden diese Diskurse analysiert und daraufhin geprüft, welche Rolle Aspekte der Abwägung von Normen und Werten in den verschiedenen Konstrukten von ethischer Kompetenz spielen. Teilweise wird in der Literatur auf konkrete Stra‐ tegien zur Vermittlung von ethischer Kompetenz verwiesen, ohne dies jedoch systematisch didaktisch zu begründen. Unter Rückbezug auf die Debatte um kompetenzorientierte Weiterbildung sowie erste Versuche einer Modellierung von ethischer Kompetenz wird versucht, die bestehende Lücke zwischen ethi‐ scher Kompetenz als Bildungsziel und didaktischen Szenarien zu deren Ver‐ mittlung zu schließen. In meinem Beitrag sollen - gestützt auf Konzepten zur Entwicklung ethischer Kompetenz im Schulunterricht und den Diskursen um Kompetenzorientierung in der Weiterbildung - grundlegende Überlegungen zur Vermittlung von ethischer Kompetenz in Weiterbildungskontexten angestoßen werden. Was ist ethische Kompetenz? Kaum ein Begriff hat bildungswissenschaftliche Diskurse in den vergangenen zwei Jahrzehnten so geprägt wie der Kompetenzbegriff. Dabei haben sich die mit diesem Begriff verbundenen wissenschaftlichen Diskurse soweit ausdiffe‐ renziert, dass man von mehreren parallelen Kompetenzdiskursen sprechen kann, die kaum miteinander verzahnt sind und teilweise auf unterschiedlichen Begriffsverständnissen aufbauen (vgl. Klieme/ Hartig 2007; Schmidt-Hertha 2018). Gemeinsamer Bezugspunkt dieser Kompetenzdiskurse scheint - neben dem Kompetenzverständnis von Noam Chomsky (1968), der den Begriff zuerst für wissenschaftliche Analysen fruchtbar gemacht hat - der Rückgriff auf das Kompetenzverständnis von Franz Weinert. Während Chomsky Kompetenz von Performanz abgrenzt, und letzteres als das sichtbar werdende Handeln einer Person beschreibt, das auf eine nicht unmittelbar erfassbare Disposition (Kom‐ petenz) zurückzuführen ist, grenzt Weinert den Begriff näher auf das Zusam‐ menspiel unterschiedlicher Elemente von Kompetenz ein. Seine Definition ge‐ hört zu den wohl am häufigsten zitierten. „Unter Kompetenzen versteht man die bei Individuen verfügbaren oder durch sie er‐ lernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereit‐ 174 Bernhard Schmidt-Hertha <?page no="175"?> schaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolg‐ reich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert 2001: 27f.). Ein wesentlicher Kritikpunkt an diesem Kompetenzbegriff, der weniger für den schulischen, jedoch gerade für den beruflichen Bereich relevant ist, bezieht sich auf die Situations- und Kontextsensitivität von Kompetenzen. Während Weinert Kompetenz grundsätzlich als situationsunabhängige Dispositionen versteht, verweisen Studien aus der Berufs- und Professionalisierungsforschung auf die Abhängigkeit individueller Handlungsfähigkeit von situationalen Rahmungen und Kontexten (vgl. Langemeyer 2013). Mit anderen Worten ist es von den je‐ weiligen Rahmenbedingungen abhängig, ob sich dispositionale Fähigkeiten auch in Performanz ausdrücken können. Gerade im Hinblick auf die Kompe‐ tenzvermittlung scheint dieses Problem hochrelevant. Ethische Kompetenz wird - wie andere Kompetenzen auch - zunächst nicht kontextspezifisch gedacht oder definiert. Im Zentrum verschiedener Definiti‐ onsentwürfe stehen die Fähigkeiten, vorherrschende und u.U. internalisierte moralische Normen bewusst zu machen, zu reflektieren und zu hinterfragen, sowie alternative ethische Standpunkte zu entwickeln und auf deren Basis Han‐ deln zu bewerten und Handlungsvorschläge zu machen (vgl. Spichal-Mößner 2007; Maak/ Ulrich 2007; Richter et al. 2011). Damit grenzt sich ethische Kom‐ petenz von moralischer Kompetenz ab, die im Verständnis von Richter et al. (2011) stärker die Umsetzung bestehender Moralvorstellungen ins Zentrum rückt, oder im Sinne von Dietrich (2007) diese Umsetzung impliziert, aber auch die ethische Kompetenz miteinschließt. Dabei wird ethische Kompetenz nicht nur als Basis für die Reflexion von Normen und begründete ethische Argumen‐ tation gesehen, sondern auch mit einem handlungsbezogenen Anspruch ver‐ bunden. „Zur fortschrittlichen Ethikkompetenz gehört nicht nur ein Bewusstsein für entspre‐ chende Standards und Prinzipien, sondern auch die Fähigkeit, diese in situativer und empathischer Weise im Rahmen des eigenen moralischen Ermessensspielraums zur Anwendung zu bringen.“ (Maak/ Ulrich 2007: 492) Dietrich (2007) sieht Moralkompetenz, Moralitätskompetenz und ethische Kom‐ petenz als die drei Säulen einer umfassenderen moralischen Kompetenz. Wäh‐ rend Moralkompetenz und Moralitätskompetenz Menschen dazu befähigen, ihr Handeln an bestimmten moralischen Standards auszurichten bzw. „überhaupt eine durch Werte und Normen regulierte Praxis aufzubauen“ (Dietrich 2007: 36), zielt ethische Kompetenz darauf ab, diese moralischen Prinzipien zum Gegen‐ stand von Reflexion zu machen. Hier ist das konkrete Handeln also eher in einer grundlegenden moralischen Kompetenz verortet, während ethische Kompetenz 175 Zur Abwägung befähigen: Kompetenzorientierte Vermittlung ethischer Werte <?page no="176"?> - als Teil hiervon und in Anlehnung an den praktischen Syllogismus - drei Kompetenzdimensionen umfasst. Ethisch kompetente Personen müssen (1) eine Situation als ethisch relevant identifizieren und entsprechend beschreiben, (2) grundsätzliche einschlägige Normen formulieren und (3) daraus logische Schlüsse ziehen können. Besonders interessant scheint Dietrichs Ansatz vor dem Hintergrund des oben erwähnten Problems der Situationsbezogenheit von Kompetenzen. Diet‐ rich (2007) geht davon aus, dass die Wahrnehmung einer Situation von indivi‐ duellen, perspektiven- und kontextbezogenen Werten und Normen geprägt ist. Dadurch können Situationsbeschreibungen und entsprechend die Affinitäten zu Begründungsansätzen variieren. Mit anderen Worten werden ethische Reflek‐ tionen immer aus einer bestimmten Perspektive, auf Basis eines bestimmten Informationsstandes und vor dem Hintergrund grundlegender normativer Ori‐ entierungen realisiert. Was zeichnet kompetenzorientierte Weiterbildungen aus? Kompetenzen können grundsätzlich in jeder Lebensphase und in unterschied‐ lichen Kontexten aufgebaut bzw. weiterentwickelt werden. Gleichwohl wird der Erwerb verschiedener Kompetenzen primär bestimmten Abschnitten im Le‐ bensverlauf und/ oder bestimmten Kontexten des Kompetenzerwerbs zuge‐ schrieben. Grundlegende Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen werden in der Regel in der Kindheit und in einem schulischen Setting erworben, während berufliche Handlungskompetenzen eher in der Jugend bzw. im Er‐ wachsenenalter und am Arbeitsplatz entwickelt werden. Einige sehr generische Kompetenzbereiche - wie z.B. soziale Kompetenzen - lassen sich dagegen nicht ohne Weiteres bestimmten Lebensphasen oder Kontexten des Erwerbs zu‐ schreiben, wenngleich auch hier von einem Entwicklungsprimat in Kindheit und Jugend ausgegangen wird (vgl. Malti/ Perren 2008). Auch wenn die Entwicklung einzelner Kompetenzen im Schwerpunkt spezi‐ fischen Lebensabschnitten zugeordnet wird, so bleibt dieser Prozess doch immer verwiesen auf in vorangegangenen Phasen erworbene Voraussetzungen. Gleichzeitig ist Kompetenzentwicklung nie abgeschlossen, sondern setzt sich als Prozess mit unterschiedlicher Intensität und Geschwindigkeit über die ge‐ samte Lebensspanne fort. Ebenso wie Kompetenzgewinne sind aber auch Kom‐ petenzverluste möglich, mit welchen sich bislang nur die Altersforschung aus‐ einandersetzt, wenngleich Studien aus der Bildungsforschung durchaus die Möglichkeit von Kompetenzverlusten auch im mittleren Erwachsenenalter na‐ helegen (z.B. Zabal et al. 2013). 176 Bernhard Schmidt-Hertha <?page no="177"?> Weiterbildung muss also davon ausgehen, dass (1) die Grundlagen für die jeweils avisierten Kompetenzen bereits in früheren Lebensphasen gelegt wurden, (2) diese u.U. in früheren Lebensphasen bereits erworben wurden, aber aktuell nicht mehr verfügbar sind, (3) Kompetenzentwicklung im Erwachse‐ nenalter mit einer zunehmenden Spezialisierung der Lernenden einhergeht und (4) Kompetenzentwicklung in die jeweiligen historischen, kulturellen alters- und lebenszeitbezogenen Rahmungen eingebettet ist (vgl. auch Schmidt-Hertha 2014). Vor diesem Hintergrund muss kompetenzorientierte Weiterbildung so‐ wohl die aktuelle Lebenswelt als auch die Lebensgeschichte der Lernenden im Blick haben und sich gleichzeitig bewusst sein, dass Kompetenzentwicklung nicht isoliert in einer Weiterbildungsmaßnahme stattfinden kann, sondern dieser Prozess gleichzeitig von Erfahrungen in anderen Kontexten und Lebens‐ bereichen beeinflusst wird. Diese Grundgedanken spiegeln sich auch in der angloamerikanischen Lite‐ ratur zu Competency-based Trainings wider - ein Ansatz, der bereits seit den 1960er Jahren diskutiert wird (vgl. Hodge 2007) und oft weniger didaktische als die formalrechtlichen Gestaltungsaspekte von Bildungsmaßnahmen themati‐ siert. Betont wird dabei (1) die (formale) Anerkennung und Zertifizierung auch außerhalb organisierter (Weiter-)Bildungsangebote erworbener Wissensbe‐ stände und Kompetenzen, (2) die Ausrichtung von Bildungsinhalten an den An‐ forderungen realer Anwendungskontexte (insbesondere am Arbeitsplatz), sowie (3) Prüfungs- und Zertifizierungssysteme, die in der Lage sind, Kompe‐ tenzen unabhängig von deren Entwicklungskontexten zu erfassen und zu do‐ kumentieren (z.B. Sturgis/ Patrick 2010). Im Kern geht es dabei um den Wechsel von einer inputorientierten hin zu einer ergebnisorientierten Planung und Gestaltung von Lehr-Lern-Kontexten. Nicht die in einer Weiterbildungsveranstaltung dargebotenen Inhalte stehen im Fokus, sondern die Kompetenzen der Teilnehmenden - also deren Erwerb von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie deren Motivation, diese in beruflichen und/ oder außerberuflichen Kontexten auch anzuwenden. Auf der Ebene der didak‐ tischen Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen ergeben sich aus dem Ziel der Kompetenzorientierung eine ganze Reihe von Anforderungen und Gestaltungs‐ elementen. Das Vorwissen der Teilnehmenden sollte aktiviert und konstruktiv in die weiteren Lernprozesse eingebracht werden. Reale Anforderungskontexte sollten Grundlage für die inhaltliche Ausgestaltung von Weiterbildungsange‐ boten sein. Weiterbildung darf sich nicht auf die reine Vermittlung von Wissensbe‐ ständen und Fähigkeiten beschränken, sondern muss den Teilnehmenden auch 177 Zur Abwägung befähigen: Kompetenzorientierte Vermittlung ethischer Werte <?page no="178"?> Möglichkeiten eröffnen, diese in realen oder realitätsnahen Kontexten anzu‐ wenden. Darüber hinaus können sich Lernziele nicht auf die kognitive Ebene be‐ grenzen, sondern umfassen auch affektive (motivationale und volitionale) sowie ggf. motorische Ziele, die sich auch in der inhaltlich-didaktischen Ausgestaltung widerspiegeln müssen (vgl. Siebert 2010). Schließlich sind Instrumente zur kompetenzorientierten (Selbst-)Diagnostik von Lernfortschritten zu entwickeln und zur Verfügung zu stellen, die es Ler‐ nenden und Lehrenden ermöglichen Lernerfolge sichtbar zu machen und indi‐ viduelle Lernziele zu formulieren. Neben dem individuellen Lernerfolg ist auch die Reflektion des Lernprozesses wesentlich für die Weiterentwicklung von Lernkompetenz und die Unterstüt‐ zung weiterer Kompetenzentwicklungsprozesse. Viele Anforderungen an kompetenzorientierte Weiterbildung sind unmit‐ telbar anschlussfähig an ein konstruktivistisches Verständnis von Lehren und Lernen, das die Selbststeuerung der Lernenden im Sinne einer Ermöglichungs‐ didaktik (Arnold 1996) in den Mittelpunkt rückt. Davon ausgehend, dass das menschliche Gehirn als selbstreferentielles System zu verstehen ist (Maturana/ Varela 1987) und Lernen als individueller Akt daher nicht von außen gesteuert, sondern lediglich angeregt werden kann, steht in der konstruktivistisch orien‐ tierten Erwachsenenbildung die Eröffnung von Lernmöglichkeiten, die Schaf‐ fung anregender Umgebungen und das Angebot von Lernunterstützung im Zentrum und weniger das instruktionale Design (vgl. auch Siebert 2006). Für konstruktivistisch orientierte Lehr-Lern-Szenarien wird dabei nicht nur auf die Relevanz des Vorwissens und dessen Aktivierung verwiesen, sondern es werden auch realitätsnahe und komplexe Problemstellungen, Anwendungsorientie‐ rung, die Berücksichtigung von Emotionen im Lernprozess sowie reflexive Ele‐ mente zur Stärkung metakognitiver Lernstrategien gefordert (vgl. Siebert 2006). Einerseits scheint das Konzept der Kompetenzorientierung auf didaktischer Ebene so für die Erwachsenenbildung also wenig neue Impulse zu bieten und wird vermutlich auch deshalb in anderen Kontexten (Schule, Hochschule, Be‐ rufsausbildung) stärker rezipiert. Andererseits bedeutet die Präsenz dieser Prin‐ zipien in erwachsenenpädagogischen Diskursen nicht, dass diese in der Praxis auch flächendeckend umgesetzt werden. Insbesondere praktische Zwänge wie vorgegebene Curricula, Zeitstrukturen und festgelegte Prüfungsverfahren, aber auch die fehlende didaktische Kompetenz von manchen in der Erwachsenen‐ bildung Tätigen (vgl. hierzu Marx et al. 2017) oder der Wunsch mancher Ziel‐ gruppen nach dozentenzentrierten Formaten (z.B. Barz/ Tippelt 2004) dürften mit dafür verantwortlich sein, dass Erwachsenenbildungspraxis die genannten 178 Bernhard Schmidt-Hertha <?page no="179"?> Prinzipien nicht immer realisieren kann und es unter den gegeben Umständen vielfach auch gar nicht angebracht erscheint. Auf der Ebene der Zertifizierung und Anerkennung stößt die Umsetzung der Grundideen kompetenzorientierter Weiterbildung immer wieder an formal‐ rechtliche Grenzen. Wenn Kompetenzorientierung impliziert, dass Lernpro‐ zesse unter verschiedenen Bedingungen und unterschiedlichen Kontexten statt‐ finden können und letztlich nur das Ergebnis - also die erreichte Kompetenz - zählt, scheint dies vielfach inkompatibel mit Zertifizierungssystemen, die vor allem auf die Teilnahme an Veranstaltungen, Kursen und Lehrgängen abzielen - also im Grunde inputorientiert sind. Nicht zuletzt durch Einführung eines europäischen und nationalen Qualifikationsrahmens sowie durch zahlreiche Initiativen zur Anerkennung informell und non-formal erworbener Kompe‐ tenzen (z.B. Bohlinger/ Münchhausen 2011) wird an Lösungsansätzen für diese Problematik gearbeitet. Dennoch ist die vom Kontext ihrer Genese unabhängige Zertifizierung von Kompetenzen - wie sie z.B. für den Sprachbereich (vgl. Schmidt-Hertha 2011) oder in sogenannten Externenprüfungen (vgl. Schreiber 2012) schon lange eingesetzt wird - für den überwiegenden Teil (vor allem be‐ ruflich relevanter) Kompetenzfelder noch kaum vorstellbar. Ein Grund hierfür dürfte der enorme Aufwand sein, mit dem spezifische Kompetenzfeststellungs‐ verfahren für jeden beruflichen Handlungsbereich eigens entwickelt werden müssen, was für viele berufliche Handlungsbereiche aktuell aber mit Nachdruck vorangetrieben wird (vgl. Münchhausen/ Seidel 2016). Auf der Basis solcher Ver‐ fahren zur Kompetenzvalidierung, die in anderen Ländern bereits länger er‐ folgreich eingesetzt werden (vgl. Severing et al. 2015), ließen sich auch Kompe‐ tenzentwicklungsprozesse passgenauer für das jeweilige Ausgangsniveau gestalten. Wie lässt sich ethische Kompetenz vermitteln? Versteht man ethische Kompetenz in dem oben erläuterten Sinn als Fähigkeit, ethische Prinzipien zur Anwendung zu bringen (vgl. Maak/ Ulrich 2007), so lassen sich vier zentrale Lernziele festhalten. Erstens gilt es Lernende zu befä‐ higen, ethisch relevante Situationen zu erkennen und erläutern zu können. Hierzu bedarf es auf motivationaler Ebene einer grundlegenden Bereitschaft sich mit ethischen Aspekten auseinanderzusetzen und einer Sensibilisierung für ethische Problemstellungen. Zweitens müssen die Lernenden auf kognitiver Ebene über die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten verfügen, ethische As‐ pekte angemessen zu artikulieren und zu beschreiben. Bezogen auf schulische Kontexte, aber nicht auf diese begrenzt, empfiehlt Dietrich (2007) als Basis 179 Zur Abwägung befähigen: Kompetenzorientierte Vermittlung ethischer Werte <?page no="180"?> hierfür eine Auseinandersetzung mit den einschlägigen philosophischen Grund‐ lagen. Drittens müssen die Lernenden befähigt werden, auf Basis logischer Prin‐ zipien aus der Beschreibung ethisch relevanter Situationen und in diesem Kon‐ text als wesentlich erkannter grundlegender Normen die richtigen Schlüsse zu ziehen und so konkrete situationsbezogene Handlungsprämissen zu formu‐ lieren. Hierzu bedarf es u.a. eines Grundverständnisses zum Zusammenspiel von normativen Orientierungen und empirisch-deskriptiven Situationsbeschrei‐ bungen. Diese ersten drei Lernziele werden von Moritz (2017) für den schuli‐ schen Unterricht noch weiter ausdifferenziert, wenn er zwischen der Vermitt‐ lung erfahrungsbezogener Kompetenzen (Wahrnehmen und Beschreiben), hermeneutischer Kompetenzen (Verstehen und Interpretieren), begrifflicher Kompetenzen (Analysieren und Systematisieren), diskursiver Kompetenzen (Argumentieren und Urteilen) und lebensweltbezogener Kompetenzen (Über‐ tragen und Erweitern) im Ethikunterricht unterscheidet. Viertens kann darüber hinaus auch die konkrete Umsetzung von Handlungs‐ entwürfen im Rahmen der eigenen Handlungsmöglichkeiten als volitional-mo‐ tivationales Lernziel hinzugenommen werden - auch wenn in der Literatur dies teilweise der ethischen Kompetenz und teilweise der moralischen Kompetenz zugeschrieben wird. In Anlehnung an die bereits formulierten grundlegenden Prinzipien kompe‐ tenzorientierter Bildungsangebote und vor dem Hintergrund der genannten Lernziele ergeben sich einige zentrale Herausforderungen für die Vermittlung ethischer Kompetenz. Die Aktivierung und Nutzung des Vorwissens der Lernenden scheint hier ebenso wichtig wie herausfordernd. Dabei dürften sich philosophische Vor‐ kenntnisse noch relativ leicht eruieren lassen, Vorkenntnisse in der Auseinan‐ dersetzung mit und Reflexion von moralischen und ethischen Fragestellungen dürfte hingegen grundlegend bei allen Lernenden in ganz unterschiedlicher Be‐ wusstheit sowie aus ganz unterschiedlichen Kontexten und Erfahrungen heraus gegeben sein. Lernangebote zur Vermittlung ethischer Kompetenz müssen gleichwohl an diese heterogenen Erfahrungswelten anknüpfen und diese als wertvolle Ressource für ethische Diskurse im Rahmen des Lernprozesses ver‐ stehen. Die Lernziele einer auf den Erwerb ethischer Kompetenz ausgerichteten Wei‐ terbildungsmaßnahme können sich schon im Sinne des oben beschriebenen Verständnisses von ethischer Kompetenz nicht auf die Formulierung kognitiver Lernziele beschränken, sondern müssen die Motivation zur Auseinandersetzung mit ethischen Fragen und die Volition, ethische Erwägungen im eigenen Han‐ deln zu berücksichtigen, implizieren. Daraus ergeben sich nicht zuletzt didak‐ 180 Bernhard Schmidt-Hertha <?page no="181"?> tische Konsequenzen, die ein rein auf Wissensvermittlung ausgerichtetes Lehr-Lern-Szenario ausschließen und handlungsorientierte Elemente sowie Möglichkeiten der konkreten Einübung ethischer Abwägungen und Entschei‐ dungsfindungsprozesse als obligatorischen Bestandteil solcher Lernarrange‐ ments nahelegen und damit neben der kognitiven auch die affektive und moti‐ vationale Ebene ansprechen. Gerade ethische Kompetenz lässt sich nur anhand konkreter Szenarien erar‐ beiten (vgl. Dietrich 2007), wobei reale Kontexte hier besonders vielverspre‐ chend scheinen. Authentische Problemstellungen aus der Lebenswelt der Ler‐ nenden erlauben nicht nur die Einübung ethischer Problemdiagnosen, Problembeschreibungen und Abwägungen unter realen Bedingungen, d.h. mit emotionaler Einbindung, eigenen Interessen und echten Handlungszwängen. Solche realen Lernanlässe dürften gleichzeitig die Motivation der Lernenden erhöhen und den Transfer des Gelernten in zukünftige persönliche Handlungs- und Entscheidungszusammenhänge erhöhen (vgl. Syring et al. 2015). Durch konkrete ethische Probleme aus der Lebenswelt der Lernenden werden diesen schließlich konkrete Anwendungsmöglichkeiten ethischen Handelns aufge‐ zeigt und ein Erfahrungsraum eröffnet, der über den geschützten Raum der Weiterbildungsveranstaltung hinausgehen kann und in Idealfall im Sinne von Service Learning (Gerholz et al. 2015) sogar einen gesellschaftlich relevanten Beitrag zu einem aktuellen Handlungsproblem liefern kann. Die größte Herausforderung dürfte im Bereich der kompetenzorientierten Lernfortschrittsdiagnostik liegen. Hier steht die Entwicklung von entsprech‐ enden Verfahren noch aus, die sich an den von Dietrich genannten Kompetenz‐ facetten und einer ergänzenden Handlungsperspektive orientieren könnten. Für den schulischen Bereich liegen erste Versuche vor, ethische Kompetenz er‐ fassbar zu machen (vgl. Heynitz et al. 2009; Benner et al. 2010). Allerdings wird ethische Kompetenz hier eher als Facette (Heynitz 2009) bzw. Spezialfall reli‐ giöser Kompetenz (Benner et al. 2010) verstanden, die Anwendung moralischer Normen in fiktionalen Fallbeispielen in den Fokus gerückt und daher auch als Synonym für moralische Kompetenz verwendet. Entsprechend dem hier dar‐ gestellten Verständnis von ethischer Kompetenz müssten einschlägige Ver‐ fahren prüfen, inwieweit Lernende zu einem bestimmten Zeitpunkt im Lern‐ prozess in der Lage sind, ethische Aspekte einer Situation zu erkennen und zu beschreiben, relevante Normen zu formulieren und entsprechende Schlüsse da‐ raus zu ziehen sowie diese in konkretes Handeln überführen zu können. Gleich‐ zeitig müsste die Bereitschaft der Lernenden, sich mit ethischen Fragen ausei‐ nanderzusetzen und ihr Handeln an den erarbeiteten ethischen Erwägungen auszurichten, ebenfalls Gegenstand der Lernfortschrittsdiagnostik sein. 181 Zur Abwägung befähigen: Kompetenzorientierte Vermittlung ethischer Werte <?page no="182"?> Schließlich ist die Reflexion des eigenen Lernprozesses nicht nur eine weitere Möglichkeit für die Lernenden sich des eigenen Kompetenzerwerbs bewusst zu werden, sondern eröffnet diesen auch Möglichkeiten, die individuellen Lern‐ kompetenzen weiterzuentwickeln und darauf weiterführende Lernprozesse auch außerhalb organisierter Bildungsangebote aufzubauen. Die Lehrenden er‐ halten durch solche Reflexionsphasen Rückmeldung zum Verlauf des Kurses und zur weiteren Optimierung des Weiterbildungsangebots. Ein Weiterbildungsangebot, das sich an diesen Prinzipien orientiert, hätte das Potenzial, ethische Kompetenz bewusst zu machen, diese gezielt weiterzuent‐ wickeln und - die Entwicklung entsprechender Niveaumodelle vorausgesetzt - auch zu zertifizieren. Die bisher vorliegenden Niveaumodelle sind empirisch noch nicht ausreichend geprüft und vorläufig mit Skepsis zu betrachten. Das von Heynitz et al. (2009) vorgeschlagene Stufenmodell versucht, verschiedene Facetten moralischer Kompetenz zu differenzieren, die eher auf horizontaler als auf vertikaler Ebene anzuordnen sein dürften. Moritz (2017) dagegen grenzt ethische Kompetenz als Konstrukt klarer von religiöser und moralischer Kom‐ petenz ab und formuliert innerhalb der einzelnen Kompetenzfacetten (siehe Abbildung 1) Entwicklungsprozesse. Diese sind in jeweils drei Stufen (z.B. von der Reproduktion einzelner Elemente, über deren Transfer in andere Bereiche bis hin zur eigenständigen Anwendung der jeweiligen Teilkompetenz) geglie‐ dert und mit dieser Differenzierung auch anschlussfähig an die Logik des Deut‐ schen Qualifikationsrahmens (Boden/ Hillmann 2013). Zwar formuliert Moritz (2017) explizit kein Niveaumodell ethischer Kompetenz, die formulierten Kate‐ gorien könnten aber durchaus als Grundlage zur Entwicklung eines solchen Modells dienen. Modell ethischer Kompetenz nach Eichler und Moritz (Moritz 2017: 18) 182 Bernhard Schmidt-Hertha <?page no="183"?> Perspektiven für die Weiterbildung Das Thema „Ethik“ ist in Weiterbildungsdiskursen bislang insgesamt eher rand‐ ständig - sowohl als Bildungsgegenstand als auch als relevante Dimension pro‐ fessionellen Handelns in Weiterbildungskontexten (vgl. Schrader 2014). Gleich‐ zeitig sind ethische Fragestellungen in beiden Perspektiven - als Vermittlungs- und Professionalisierungsthema - in der Weiterbildung sehr präsent, z.B. in der Auseinandersetzung mit zentralen gesellschaftlich relevanten Themen oder bei Fragen des Umgangs mit professionsbezogenen Antinomien (vgl. Hippel 2011). In den vorangegangenen Ausführungen zur Vermittlung ethischer Kompetenz in Weiterbildungskontexten wurde von ethischer Kompetenz als explizitem Lernziel ausgegangen, was in der Erwachsenenbildung (wie auch in anderen Bildungsbereichen) nur für einen sehr kleinen Teil von Bildungsangeboten so der Fall ist. Ethische Fragestellungen spielen hingegen in weiten Teilen der po‐ litischen, religiösen, kulturellen und auch beruflichen Weiterbildung eine we‐ sentliche Rolle, ohne zwangsläufig in den mit der jeweiligen Veranstaltung as‐ soziierten Lernzielen verankert zu sein. Es ist folglich davon auszugehen, dass ethische Kompetenz auch in der Weiterbildung vielfach implizit gefördert oder zumindest aktiviert wird, was die Gefahr birgt, dass einzelne Facetten ethischer Kompetenz vernachlässigt werden und die Lernenden sich ihrer ethischen Kom‐ petenz kaum bewusst werden. Wenn man - wie eingangs erwähnt - gleichzeitig davon ausgeht, dass ethi‐ sche Kompetenzen nicht kontext- und situationsunabhängige Dispositionen sind, sondern ethisches Reflexions- und Urteilsvermögen nur kontextbezogen erworben bzw. gestärkt werden kann, so stellt sich die Frage, inwieweit es nicht zielführender wäre, ethische Kompetenz als eine Lernzielebene (neben kogni‐ tiven, affektiven u.a. Lernzielen) quer über alle Inhaltsbereiche mitzudenken, anstatt den Erwerb ethischer Kompetenz als primäres Ziel spezifischer Weiter‐ bildungsangebote auf diese zu begrenzen. In der Folge müsste Weiterbildung anstelle der Konzipierung spezifischer „Ethik-Trainings“ sich um die systema‐ tische Verankerung ethischer Aspekte in einem breiten Spektrum von Bildungs‐ angeboten bemühen. Der Idee kompetenzorientierter Weiterbildung folgend, hieße das auch, Facetten ethischer Kompetenz in der Auseinandersetzung mit authentischen Problemstellungen explizit mit zu reflektieren, das einschlägige Vorwissen der Lernenden abzurufen und ethische Kompetenz auch als relevante Lernzieldimension in Lernstandserhebungen und anderen diagnostischen Ver‐ fahren zu berücksichtigen. Gleichzeitig sehen sich auch die in der Weiterbildung professionell Tätigen in ihrem beruflichen Handeln selbst immer wieder mit Fragen konfrontiert, die 183 Zur Abwägung befähigen: Kompetenzorientierte Vermittlung ethischer Werte <?page no="184"?> ethisch zu reflektieren sind. Sei es im Umgang mit diskriminierenden Ge‐ schlechterrollen in Integrationskursen oder einfach hinsichtlich der Frage nach Programmschwerpunkten und der Abwägung der ökonomischen Interessen der Organisation und dem gesellschaftlichen Auftrag. Ethische Kompetenz kann daher auch als Teil professioneller Kompetenzprofile von Erwachsenenbildne‐ rinnen und Erwachsenenbildnern gesehen werden und ist als solches auch in einschlägigen Kompetenzmodellen integriert. In dem erst in den letzten Jahren entwickelten GRETA-Kompetenzmodell wird ein Berufsethos mit den Facetten Menschenbilder und pädagogische Werte explizit als Teil eines erwachsenen‐ pädagogischen Kompetenzprofils eingeführt (vgl. Lencer/ Strauch 2016), wobei der Schwerpunkt hier eher auf die Anwendung von ethischen Grundsätzen und moralischen Maßstäben gelegt zu sein scheint und weniger auf die Dimensionen des Erkennens und Beschreibens moralisch relevanter Situationen. Eine ge‐ nauere Ausbuchstabierung dieses Teils des Kompetenzmodells steht aber noch aus und könnte auch im Rahmen eines darauf aufbauenden Aus- und Weiter‐ bildungsprogramms für erwachsenenpädagogische Fachkräfte umgesetzt werden. Auch das Konzept kompetenzorientierter Weiterbildung selbst ist so von den Verantwortlichen in den Weiterbildungseinrichtungen ethisch zu reflektieren. Mit Kompetenzorientierung verbinden sich nicht selten Heilsversprechen und Machbarkeitsillusionen, die zum Teil auch in Veranstaltungsankündigungen bewusst bedient werden. Dabei muss sich Weiterbildung mit den Grenzen des Konzepts kompetenzorientierter Weiterbildung auseinandersetzen und diese auch kommunizieren. Zu diesen Grenzen gehört, dass erstens dem Einlassen auf individuelle Vorerfahrungen und Vorwissen in der Weiterbildungspraxis Grenzen gesetzt sind, die sich aus begrenzten zeitlichen und personellen Res‐ sourcen ergeben. Zweitens lassen sich reale Anwendungssituationen nicht flä‐ chendeckend in Weiterbildungsangebote einbinden, was auch kaum wün‐ schenswert erscheint. Dies liegt einerseits in dem damit verbundenen Vor- und Nachbereitungsaufwand und andererseits in einer dann entstehenden Über‐ frachtung von Kommunen und Unternehmen mit Service-Learning-Angeboten. Die Alternative wären Simulationen authentischer Anwendungskontexte, die vielfach aber nur mit viel Aufwand umzusetzen sind und oft doch nicht die ganze Komplexität realer Handlungskontexte bieten können. Schließlich sind drittens Verfahren der Kompetenzfeststellung, wie sie für fundierte Lernfortschrittsdi‐ agnostik erforderlich wären, in vielen Bereichen noch nicht ausgereift oder schlicht noch gar nicht verfügbar. Diese Begrenzungen und der Umgang damit - z.B. in Programmankündigungen - wären von Seiten der Professionellen ethisch zu reflektieren. 184 Bernhard Schmidt-Hertha <?page no="185"?> Fazit Ethische Kompetenz gehört ohne Zweifel zu den Fähigkeiten, die in einer Viel‐ zahl unterschiedlicher Situationen, Kontexte und Handlungsanforderungen auch im Berufsleben relevant werden. Allerdings fordern bereits das Erkennen dieser Relevanz und das Bewusstwerden über herangezogene oder verworfene moralische Normen im Kontext von Entscheidungsfindungsprozessen ethische Kompetenz, da sonst die normativen Grundlagen getroffener Entscheidungen unbewusst und unreflektiert bleiben. Die Vermittlung ethischer Kompetenz kann also für das ganze Spektrum der Weiterbildung - von der politischen über die allgemeine bis hin zur beruflichen Weiterbildung - als zentrale Herausfor‐ derung verstanden werden, die auch die in der Erwachsenenbildung professio‐ nell Tätigen selbst betrifft. Dabei können sich didaktische Konzepte zur Ver‐ mittlung ethischer Kompetenz an den Prinzipien kompetenzorientierten Lernens und Lehrens orientieren, die sich in Weiterbildungskontexten oft besser realisieren lassen als in schulischen und hier - z.B. im Hinblick auf die Aktivie‐ rung des Vorwissens der Teilnehmenden - an grundlegende erwachsenenpä‐ dagogische Prinzipien anschließen können. Die genannten Prinzipien kompetenzorientierter Weiterbildung orientieren sich allerdings an dem dominanten Kompetenzverständnis, das Kompetenzen als grundlegende individuelle Dispositionen versteht, die sich in unterschiedli‐ chen Kontexten in einer entsprechenden Performanz ausdrücken. Davon ab‐ weichend sieht Langemeyer (2013) weniger die dispositionale Ausgangslage eines Individuums als primär verantwortlich für dessen Performanz, als viel‐ mehr dessen selbsteingeschätzte Handlungsfähigkeit und damit die Frage, in‐ wieweit sich Handelnde zutrauen, Anforderungen kompetent bewältigen zu können. Diese Perspektive scheint auch für das Konstrukt der ethischen Kom‐ petenz anregend und würde hier bedeuten, dass das Erkennen, Reflektieren und Abwägen ethischer Problemstellungen weniger von den kognitiven Vorausset‐ zungen der Handelnden abhängt, sondern von deren Zutrauen in die eigene ethische Reflexions- und Entscheidungsfähigkeit. Damit scheint allerdings we‐ niger eine Gegenposition zum gängigen Kompetenzverständnis skizziert als eine ergänzende Facette, die in entsprechenden kompetenzorientierten Bil‐ dungsangeboten aber ebenfalls zu berücksichtigen wäre. Gerade die bereits be‐ tonte Relevanz realer oder zumindest authentischer Problemstellungen als Aus‐ gangspunkt für Lernprozesse könnte hier noch eine besondere Rolle spielen, da das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten in realen bzw. realitätsnahen Hand‐ lungssituationen vermutlich am besten geschult wird. 185 Zur Abwägung befähigen: Kompetenzorientierte Vermittlung ethischer Werte <?page no="186"?> Literatur Arnold, Rolf (1996). Weiterbildung. Ermöglichungsdidaktische Grundlagen. München: Verl. Vahlen. Barz, Heiner/ Tippelt, Rudolf (Hrsg.) (2004). Weiterbildung und soziale Milieus in Deutsch‐ land. Bd. 1: Praxishandbuch Milieumarketing. Bielefeld: Bertelsmann. Benner, Dietrich/ Dehghani, Shamsi/ Nikolova, Roumiana/ Scharrel, Joanna/ Schieder, Rolf/ Schluß, Henning/ Weiß, Thomas/ Willems, Joachim (2010). Modellierung und Tes‐ tung religiöser und ethischer Kompetenzen im Interesse ihrer Vergleichbarkeit. Zeit‐ schrift für Pädagogik und Theologie 10(2), 165-174. 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Dies gilt auch für die Abwägung von - expliziten oder impliziten - moralisch-ethischen Gesichtspunkten. Für Berufs‐ tätige in helfenden bzw. sozialen Berufen kommt hinzu, dass ihr professionelles Handeln auf besondere Weise mit moralisch-ethischen Fragen verwoben ist. Unser Beitrag konzentriert sich auf Berufstätige der Sozialen Arbeit und die Frage, vor welche charakteristischen, also wiederkehrenden Herausforde‐ rungen diese gestellt sind, wenn es um das ‚gute‘ Abwägen von normativen Fragen im alltagspraktischen Geschehen geht. Unser Blick richtet sich also auf die professionseigenen Strukturbedingungen Sozialer Arbeit, mit denen sich - so unsere These - spezielle Zugänge zu bestimmten ethisch-moralischen Prob‐ lemen verbinden, welche gutes ethisches Abwägen erschweren können. Dabei ist auch entscheidend, dass der Auftrag Sozialer Arbeit, wie er durch den internationalen und deutschen Berufsverband formuliert wird, keine wirk‐ liche Orientierung bietet. Vielmehr wird deutlich, wie viele Werte und Normen in diesem Berufsfeld miteinander in Konflikt stehen können: „Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte […] Profession und wissenschaftliche Dis‐ ziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zu‐ sammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung […] von Men‐ schen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt […] bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. Dabei stützt sie sich auf Theorien der Sozialen Arbeit […], der Human- und Sozialwissenschaften und auf indigenes Wissen […]. Soziale Arbeit befähigt und er‐ <?page no="190"?> 1 Vgl. hierzu den Beitrag von Bernhard Schmidt-Hertha in diesem Band. mutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern […].“ (DBSH: 2016) Diese Erläuterung enthält sowohl Anforderungen bezogen auf gesellschaftliche Veränderungen und soziale Entwicklungen als auch den Bezug auf individuelle Geltungsansprüche wie „Autonomie und Selbstbestimmung“; außerdem stellt sie Ansprüche an die Selbstverpflichtung, wie z.B. die forschungsbasierte Ausrich‐ tung der Sozialen Arbeit. Damit verweist diese Erklärung auf das dreifache Mandat der Sozialen Arbeit, im Auftrag der Klient/ -innen, der rechtsstaatlichen Gesell‐ schaft und der eigenen Professionalität zu agieren. In konkreten moralischen Abwägungsfragen, welche im oft hektischen Alltag sinnvolle und für alle Beteiligten befriedigende Antworten verlangen, führen diese umfassenden und allgemeinen Formulierungen aber meist nicht weiter, denn sie geben keine Richtung vor, wie normative Grundsätze im Konfliktfall abzuwägen sind. Um moralisch-ethische Entscheidungssituationen bewältigen zu können, sollte es darum für Berufstätige der Sozialen Arbeit die Möglichkeit und die zeit‐ liche Gelegenheit ethischer Reflexion geben, welche durch Weiterbildung zu ethi‐ schen Problemdimensionen der Sozialen Arbeit sowie zu den Grundlagen guten ethischen Abwägens unterstützt werden kann. In diesem Sinne verweisen die nachfolgenden Überlegungen jederzeit zugleich auf die Anforderungen ethischer Weiterbildungen für berufliche Akteure in der Sozialen Arbeit. 1 In einem ersten Teil werden zunächst Überlegungen zum ‚guten Abwägen‘ vorgestellt, die dann bezogen werden auf die konkreten Anforderungen in der Praxis der Sozialen Arbeit. Schließlich werden diese Überlegungen für die Aus‐ richtung ethischer Weiterbildungsformate für Mitarbeiter/ innen der Sozialen Ar‐ beit fruchtbar gemacht. 2. Vorüberlegungen zu ethischen Abwägungsprozessen 2.1. Formulieren und Inbezugsetzen von Gegenstand, Kriterium und Ziel Um über die Herausforderungen für gutes Abwägen in der Praxis Sozialer Arbeit nachzudenken, muss vorangestellt werden, was unter gutem Abwägen zu ver‐ stehen ist. Diese Frage kann im Rahmen dieses Beitrags nicht mit einem umfas‐ senden Kriterienkatalog beantwortet werden. Vielmehr wollen wir jene Aspekte benennen, die uns in der Auseinandersetzung mit den wesentlichen ethisch-mo‐ ralischen Problemstellungen der Praxis Sozialer Arbeit als bedeutsam erschienen sind. 190 Christiane Burmeister / Uta Müller <?page no="191"?> Hierzu zählt die Unterscheidung von Gegenstand, Kriterium und Ziel der Ab‐ wägung. Diese Unterscheidung dient dazu, normative Begriffe sinnvoll mitein‐ ander in Bezug setzen zu können. Gerade die in ethischen Abwägungen verhan‐ delten Gegenstände, also Handlungsoptionen, Normen, Prinzipien, Interessen, Nutzen- oder Schadensaspekte usw., sind oft derart heterogen, dass ihre Verwen‐ dung unübersichtlich werden und in prinzipiell endlose Reflexionsschleifen führen kann. Der Versuch, den Abwägungsprozess selbst zu reflektieren, dient also der Klä‐ rung, ob es bei den Überlegungen bereits um ein Abwägen konfligierender Güter vor einem feststehenden Maßstab geht, oder ob dieser Maßstab noch zu finden bzw. zu konkretisieren ist. Freilich bedeutet die zweite Frage, einen „Schritt zu‐ rück zu gehen“ und einen Diskurs über grundsätzliche Fragen nach Zielen, Pflichten, Rechten, Werten o.ä. zu bemühen, der möglicherweise viel Zeit in An‐ spruch nimmt. Das Ergebnis eines solchen Diskurses ermöglicht dann aber die zielgerichtete und effektivere Verhandlung normativer Gesichtspunkte eines kon‐ kreten Abwägungsproblems. Schließlich muss ethischen Problemlagen im Berufs‐ alltag mit einem realistischen Zeitaufwand begegnet werden, nicht zuletzt, da Ent‐ scheidungen oft unter Zeitdruck gefällt werden müssen. Zur Veranschaulichung der Unterscheidung von Gegenstand, Ziel und Krite‐ rium der Abwägung soll folgendes Fallbeispiel diskutiert werden: Erhält eine So‐ zialarbeiterin Kenntnis über einen Sachverhalt, der ihren Klienten zwar betrifft, aber in seinem gegenwärtigen psychoemotionalen Zustand mit hoher Wahrschein‐ lichkeit eine starke Krise auslösen könnte, kann es für die Sozialarbeiterin zur Ab‐ wägung der beiden Handlungsoptionen „diese Wahrheit (vorläufig) vorenthalten“ oder „diese Wahrheit mitteilen“ kommen. Hier ist zu klären, welches Abwägungs‐ kriterium anzulegen ist, ob es etwa um eine bestimmte Qualität der Handlungs‐ folgen geht (z.B. um die gelingende Lebensführung der Patientin) oder darum, mit einem wertvollen Prinzip in Einklang zu sein (z.B. Wahrhaftigkeit). Dies wiederum führt hin zur Frage nach dem Ziel der Abwägung - also der mit Kant gesprochen genuin moralphilosophischen Grundfrage „Was soll ich tun? “. Da sich auf dieser grundsätzlichen Ebene der Moralbegründung in der anwendungsbezogenen Ethik vorerst kein Konsens abzeichnet, sollte ethische Weiterbildung die Mehrzahl an Begründungswegen thematisieren, was fruchtbar mit einer Diskussion der ein‐ schlägigen grundlegenden ethischen Theorien begleitet werden kann. Damit diese Diskussion jedoch nicht an Praxisbezug verliert, ist sie schließlich wieder auf die Ausgangsfrage „Was bedeutet dies für das richtige Handeln gegenüber der/ dem (vulnerablen) Klientin/ en? “ zurückzuführen. Besteht vorläufig Klarheit über das ‚gute‘ Ziel, mit Bezug auf welches die Hand‐ lungsoptionen gewichtet werden sollen, können schließlich die Abwägungskrite‐ 191 Die Rolle ethischer Abwägung in der Sozialen Arbeit <?page no="192"?> 2 Die Notiz der Nachhaltigkeit ist in diesem Zusammenhang mehr als nur ein modern ge‐ wordenes Schlagwort, welches der Sozialen Arbeit extern hinzugefügt wird. Sie „lenkt das Augenmerk auf das Erfordernis, dass die Unterstützungsangebote Sozialer Arbeit auf dau‐ erhaft tragfähige Lebensführungskompetenzen angelegt werden“ (Lob-Hüdepohl 2007: 129) und ergibt sich damit aus der inneren Logik des professionellen Auftrags. 3 Ausdruck geprägt von Karl Engisch („Logische Studien zur Gesetzesanwendung“, 1943, zit. n. Dietrich 2007: 44). rien näher bestimmt werden. Hier ist zu fragen, ob und inwiefern sich die Hand‐ lungen in Bezug auf ihre Angemessenheit unterscheiden, wozu nach Horn die Prüfung der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne gehören (Horn 2002: 395). Daneben können sich die Handlungen auch in anderen Hinsichten qualitativ unterscheiden, Hinsichten, die zwar nicht das oberste Ziel, aber doch wertvolle Güter darstellen, wie Fachlichkeit, Transparenz, Effektivität, Nachhaltigkeit 2 , Subsidiarität, Konsensfähigkeit, Reversibilität und dergleichen. 2.2. Identifikation und Gewichtung normativer Geltungsansprüche Im Zuge dieser Bemühungen, Gegenstand, Kriterium und Ziel der Abwägung zu unterscheiden, zu formulieren und in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, kommen zwei Prozessschritte zum Einsatz. Den ersten Schritt stellt die Überle‐ gung dar, ob überhaupt ethische Normen bzw. Prinzipien für einen konkreten Sachverhalt relevant sind. Hiermit verbindet sich auch die grundsätzliche Klä‐ rung, ob es sich bei einem Problemfall überhaupt um ein in relevanter Weise ethi‐ sches Problem handelt. Diese Art der Gewichtsbestimmung ist, wie es für den Fall der Rechtsauslegung von Karl Engisch beschrieben wurde, durch ein beständiges „Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Norm und Lebenssachverhalt“ 3 ge‐ kennzeichnet. Die Anwendbarkeit eines abstrakten Prinzips auf eine konkrete Si‐ tuation zu prüfen bedeutet auch, das Prinzip nicht allein gemäß einer starren De‐ finition zu verstehen, sondern den Sinn und Gehalt seiner A-priori-Geltung zu beachten. So ist etwa bei ‚Respekt vor Selbstbestimmung‘ zunächst zu ergründen, welche Idee von Selbstbestimmung diesem Gebot zugrunde liegt, und warum deren Achtung als wertvolles Prinzip in ethische Urteile einfließen soll. Keineswegs fallen nämlich sämtliche Anliegen, Wünsche oder Bedürfnisse einer Person in die Kate‐ gorie der zu respektierenden Selbstbestimmtheit. Denken wir z.B. an einen Kli‐ enten, der auf zwanghafte Weise Gegenstände hortet, welche er nicht mehr in wertvolle und wertlose Sachen unterscheiden kann, was ihm zunehmend organi‐ satorische und hygienische Probleme bereitet, so taugt in diesem Fall der ‚Respekt vor Selbstbestimmung‘ nicht als begründendes Prinzip, ihn schlicht gewähren zu lassen. Schließlich ist gerade in Frage zu stellen, ob eine qualitative Selbstbes‐ 192 Christiane Burmeister / Uta Müller <?page no="193"?> 4 Zum Beispiel kann in Anlehnung an die von Beauchamp/ Childress für den medizinischen Kontext spezifizierten Kriterien von Autonomie gefragt werden, ob der Klient in Bezug auf seine problematische Selbstorganisation in hinreichendem Maße frei von unerwünschten Kontrolleinflüssen ist, ob er absichtlich handelt (und mit welcher Absicht), und ob er ein hinreichendes Situationsverständnis aufweist (vgl. Beauchamp/ Childress 2001: 101ff). 5 Diese Verbindung von empirischem und normativem Wissen ist, mit Potthast gespro‐ chen, ein Charakteristikum anwendungsbezogener Ethik, innerhalb derer Urteile als mo‐ ralisch-epistemische Hybride zu verstehen sind (Potthast 2015: 405ff). timmtheit vorliegt, die Respektierung verlangt. 4 Das Prinzip verweist vielmehr auf die prospektive Idee, dass das Eingreifen der Sozialen Arbeit darauf gerichtet sein sollte, dem Klienten selbstbestimmtes Handeln in der Zukunft (wieder) zu ermög‐ lichen. Daraus ergibt sich gerade nicht das Gebot, fürsorglich-assistierende Inter‐ ventionen schlicht zu unterlassen. Vielmehr werden diese aus der Idee der pros‐ pektiven Selbstbestimmung heraus motiviert und gestaltet. Blicken wir zurück auf unser vorhergehendes Beispielproblem der Aufklärung eines Klienten über einen beunruhigenden Sachverhalt, so wäre es, in ähnlicher Weise, nicht damit getan, einen Konflikt zwischen Geltungsansprüchen - etwa dem Wahrheitsgebot und dem Fürsorge- oder Nichtschadensprinzip - bloß fest‐ zustellen, sondern es ist nach der Verbindung zwischen dem allgemeinen und dem situationsspezifischen Sinn des Wahrheits-, Fürsorge- oder Nichtschadensgebots zu fragen. Sind mehrere zutreffende Geltungsansprüche erst einmal identifiziert, ist es schließlich in einem zweiten Schritt Aufgabe ethischer Reflexion, sie mit neuer‐ lichem Blick auf den Sachverhalt zu spezifizieren und zu vergleichen. Aus diesen Vorüberlegungen ergibt sich also ein Grundriss dessen, worin Kom‐ petenz in der ethischen Abwägung bestehen kann, und worauf demnach in ethi‐ schen Weiterbildungen Wert gelegt werden sollte: • Die Kompetenz, moralische Geltungsansprüche zu identifizieren und ein ethisches Abwägungsproblem zu erkennen. • Die Kompetenz, Gegenstand, Kriterium und Ziel der Abwägung zu unter‐ scheiden, zu formulieren und in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. • Die Kompetenz der Abwägung selbst, die in der situationsgerechten Ge‐ wichtung abstrakter normativer Geltungsansprüche im Licht eines kohä‐ renten und widerspruchsfreien Systems normativer und deskriptiver Aus‐ sagen 5 besteht. In Bezug auf all diese Bedingungen guter ethischer Abwägung sind für Angehö‐ rige einer jeden Profession je eigene moralische Zugänge, Grundhaltungen und systematische Verzerrungen zu erwarten - so auch für die Soziale Arbeit. 193 Die Rolle ethischer Abwägung in der Sozialen Arbeit <?page no="194"?> 6 Dem jeweiligen Organisationsrahmen nach steckt Conradi hier nochmals ein Spektrum an Aufgabengebieten ab, das von professionell entgoltener Tätigkeit über die Arbeit im ehrenamtlichen bis privat-persönlichen Raum reicht (vgl. Conradi 2013: 6). Für unsere Einteilung soll der Hinweis genügen, dass es bei der helfenden Interaktionsebene um Akteure im Inneren sozialprofessioneller Strukturen geht, einschließlich der prekär Beschäftigten, Ehrenamtlichen usw. 3. Strukturmerkmale, Spannungsfelder und Herausforderungen in der Sozialen Arbeit Auch wenn mit dem Begriff ‚Soziale Arbeit‘ häufig die unmittelbare Arbeit an und mit Klient/ innen angesprochen ist, beschränkt sie sich doch, wie Conradi be‐ merkt, „nicht darauf, eine Professionsethik der sozialberuflich Tätigen zu sein, so wie die ‚Ethik in der Medizin‘ keinesfalls auf eine Berufsethik der Ärztinnen und Ärzte limitiert ist“ (Conradi 2013: 6). Um die jeweils relevanten ethisch-moralischen Abwägungsfragen zu identifi‐ zieren, die sich in verschiedenen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit stellen, ist es sinnvoll, relevante Akteursebenen zu unterscheiden. Einen Ausgangspunkt dafür bietet Großmaß’ Unterteilung in Angebotsstruktur und soziale Interaktion (vgl. Großmaß 2013). Da diese grobe Strukturierung jedoch einige Akteure nicht oder nur ungenau einbeziehen kann, bietet sich die Erweiterung des Ebenen‐ schemas nach dem Modell von Horn an (Horn 2002). Diese Grundideen aufneh‐ mend und erweiternd kann folgende Übersicht der Akteursebenen Sozialer Arbeit erstellt werden: nach Großmaß (2013) Vorschlag einer Strukturierung (erw. nach Horn [2002]) Angebots‐ struktur Berufsorganisationen, -fach‐ verbände, -gesellschaften und Interessengruppen Akteure im Wissen‐ schaftsfeld Verantwortliche im Bereich Sozialpolitik/ Prinzipien der Ressourcenverteilung Führungskräfte Institutionsleitung/ Geschäftsfeldleitung Helfende In‐ teraktion Bereichsleitung Gruppen-/ Teamleitung Sozialarbeiter/ innen in der Arbeit mit Klient/ innen 6 Tabelle 1: Akteursebenen der Sozialen Arbeit Der Fokus wird im Folgenden auf ausgewählte Strukturmerkmale gelegt, die sich für Akteure innerhalb der helfenden Interaktion ergeben, wobei das letzte 194 Christiane Burmeister / Uta Müller <?page no="195"?> 7 Im Sinne einer die vorfindenden Gegebenheiten zunächst akzeptierenden advokatori‐ schen Ethik ist Soziale Arbeit auf den ersten Blick „parteilich für die Lebenserfahrungen und -probleme ihrer AdressatInnen und schafft ihnen einen Raum und Zugänge zu ihren Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten“ (Thiersch 2015: 1061). 8 Das „Gefährliche“ besteht, wie Großmaß zutreffend erläutert, darin, dass Muster der Alltagsmoral aufgrund ihrer (sozial, kulturell oder religiös bedingten) Pluralität nicht intersubjektiv geltungsfähig sind. Schon gar nicht lässt sich darum ihre Durchsetzung mit der notwendigerweise (Experten-)machtbesetzten Berufsrolle vereinbaren (Großmaß 2013: 212). Problemfeld (Kap. 3.4) stärker in den Verantwortungsbereich von Führungs‐ kräften hineinreicht, deren Arbeit sich zwischen der Interaktions- und der An‐ gebotsebene bewegt. Aus den vorgestellten Strukturmerkmalen werden jeweils beispielhafte Spannungsfelder herausgearbeitet, die besondere Themenbereiche und Herausforderungen der ethischen Abwägung aufzeigen. 3.1 Primat der Parteilichkeit, Alltagsorientierung und asymmetrische Beziehungen Insofern sich die Soziale Arbeit „in der Sinnfälligkeit erfahrener Nöte und er‐ fahrenen Unrechts“ (Thiersch 2015: 1062) begründet, ist sie geneigt, eine spezi‐ fisch moralische Perspektive einzunehmen, die Thiersch als „Primat der Partei‐ lichkeit“ bezeichnet. 7 Auch für Maaser gehört diese „sozialanwaltliche Parteinahme zugunsten des Klienten“ (Maaser 2013: 7) seit den 1970er Jahren zum allgemeinen Selbstverständnis Sozialer Arbeit. In Verbindung mit ihrer „programmatischen Alltagsorientierung“ (Müller 1995: 48), dem Blick also auf „das gesamte Leben, die Lebensplanung, Lebens‐ lagen, Alltagsroutinen, Ängste, Konflikte, fehlende Ressourcen, Emotionen“ (Galuske 2015: 1029) von Klient/ innen, ähnelt das Handeln von Sozialarbeiter/ innen dem alltäglichen fürsorglichen oder erzieherischen Handeln in privater Sphäre. Daraus ergibt sich ein besonderer Gefahrenhorizont: helfende Akteure der Sozialen Arbeit können dazu verleitet werden, in Deutungs- und Hand‐ lungsmuster der Alltagsmoral zu verfallen 8 , in denen Gefühle von Dankbarkeit, Scham-, Schuld- oder persönliche Zubzw. Abneigungsgefühle auf überwiegend intuitive Weise wirkmächtig werden. Dass gerade die asymmetrischen Interak‐ tionsbeziehungen zwischen Sozialarbeiter/ innen und Klient/ innen für diese Deutungen anfällig sind, gründet in dem schlichten Umstand, dass der Grund dieser Beziehung auf der einen Seite zwar durch einen professionellen Auftrag bestimmt ist, auf der anderen Seite aber durch (Assistenz)Bedürftigkeit auf einer besonders existenziellen Ebene. „[D]er, der hat, gibt dem, der nicht hat; der, dem Erfahrungen und Kompetenzen fehlen, ist angewiesen darauf, dass sie ihm ver‐ 195 Die Rolle ethischer Abwägung in der Sozialen Arbeit <?page no="196"?> 9 Wie Lob-Hüdepohl in einem ähnlichen Gedankengang hinzufügt, sind die Adressaten Sozialer Arbeit „[g]elegentlich […] sogar dem sozialen Hilfesystem und seinen Ak‐ teuren wehrlos ausgeliefert“ (Lob-Hüdepohl 2009: 552). mittelt werden“ (Thiersch 2015: 1066). 9 Hinzu kommt, dass die helfende Inter‐ aktionsbeziehung strukturell einseitig von Seiten der Fachkräfte ‚geöffnet‘ wird, was die Soziale Arbeit von vielen anderen Berufen unterscheidet, in der sich eine Fachperson-Kunden-Beziehung in freiwilliger Wechselseitigkeit ergibt (vgl. Großmaß/ Perko 2011: 17). Diese Besonderheit ist umso gewichtiger ein‐ zuschätzen, als es sich bei der sozialarbeiterischen Klientenbeziehung oftmals um ein Eingreifen in intime, äußerst sensible Persönlichkeitssphären handelt. Es ist diese multidimensionale Asymmetrie, aus der sich die Notwendigkeit er‐ gibt, „immer neue und heikle Balancen, die doch oft widersprüchlich bleiben“ (Thiersch 2015: 1061), zu finden. Einer der häufigsten Balanceakte ist der zwischen Fürsorge und Selbstsorge (vgl. Becker-Lenz/ Müller 2009: 311). Dass die einseitige Situation des Helfens zur emotionalen Erschöpfung werden kann, ist hinreichend bekannt. Ebenso ist unstrittig, dass eine umfassende ethische Abwägung von involvierten Inte‐ ressen, Rechten und Ansprüchen auch jene einschließt, die das eigene Wohl der Sozialarbeiter/ innen betreffen. Worauf die Häufung von Burnout- und Erschöp‐ fungsfällen hinweist, ist, dass die Notwendigkeit dieser das eigene Wohl einbe‐ ziehenden Abwägungen oft nicht oder erst zu spät erkannt wird. Heikel ist also nicht nur, dass die Verbindung von Parteilichkeit, Alltagsorientierung und Asymmetrie Spannungsfelder hervorbringen kann, sondern vor allem, dass sie sie verdecken kann. Dies gilt auch für andere Problemstellungen. Zum Beispiel kann eine intime Nähe zur Lebenswelt einer Klientin einen So‐ zialarbeiter dazu verleiten, die Macht- und Kontrolldimension seines Handelns (vgl. Lambers 2016: 100) zu vergessen. Sollte es zu einer Situation kommen, in der ein kritisches Bewusstsein über die eigene Expertenmacht von Bedeutung ist, wird er diese womöglich nicht erkennen und kann den Prozess ethischer Abwägung gar nicht erst beginnen. Eine ähnliche Gefahr ergibt sich, wenn die verinnerlichte Parteilichkeit die Perspektive auf den gesellschaftlichen Gesamtkontext, in dem sozialarbeiteri‐ sches Handeln stattfindet, versperrt. Ist es für eine Sozialarbeiterin in der Flücht‐ lingsarbeit eine Selbstverständlichkeit, dass sie eine Person, die ihre Asylge‐ nehmigung unter Falschangabe ihres Herkunftslands erworben hat, unter nahezu allen Umständen vor der Polizei, dem Unmut der Mitbewohner/ innen in einer Unterkunft und anderen Anspruchsgruppen beschützt, so wird sie wo‐ möglich gar keine moralische Irritation verspüren. 196 Christiane Burmeister / Uta Müller <?page no="197"?> 10 Dieses Wahrnehmen der ethischen Dimension eines Falls stellt typischerweise den ersten Schritt ethischer Entscheidungsfindungsbzw. Fallbesprechungsmodelle dar (vgl. Ranisch/ Burmeister/ Brand/ Müller 2016). 11 Das Nachsichtsprinzip bezieht sich auf solche Situationen, in denen die Regeldurch‐ setzung eine überstrenge Anwendung wäre, die nicht mehr im Verhältnis zum Einzelfall stehen würde (vgl. Horn 2017: 36). An diesen Stellen ist zunächst die Feststellung eines moralischen Konflikts und damit der Notwendigkeit ethischer Erwägungen gefragt. Sowie sich zu Be‐ ginn einer ethischen Urteilsbildung die Bestandsaufnahme der relevanten Kon‐ textfaktoren und betroffenen Akteure einschließlich ihrer Wertperspektiven empfiehlt 10 , ist auch hier eine Erweiterung des (möglicherweise einge‐ schränkten) Blickwinkels erforderlich. Folgt das konkrete Handeln des Sozial‐ arbeiters nicht einer bestimmten Vorstellung des moralisch Guten - etwa, dass jeder Asylbedürftige ein Recht auf Zuflucht hat - unabhängig davon, ob sein Herkunftsland rechtlich als sicher oder unsicher eingestuft wird? Falls ja: Trifft dieses Prinzip auf den konkreten Sachverhalt zu - liegt also eine Asylbedürf‐ tigkeit des Klienten vor? Und schließlich: Sind vom Handeln besagter Sozialar‐ beiterin nicht auch Gesichtspunkte der Gerechtigkeit, der Wahrhaftigkeit, der Gemeinnützigkeit oder der Rechtssicherheit betroffen, welche ebenso einen moralischen Geltungsanspruch einfordern? Dieses ‚Hin- und Herwandern‘ mit Blick auf die Frage, ob ein ethischer Konflikt vorliegt, dient damit zugleich der Sensibilisierung für die normative Dimension der beruflichen Handlungspraxis der Sozialarbeiterin. Geht es um die Gewichtung bereits als legitim wahrgenommener Geltungs‐ ansprüche, so kann der Primat der Parteilichkeit eine Voreinstellung zugunsten des Interesses von Individuen oder individuellen Gruppen gegenüber dem In‐ teresse einer Allgemeinheit bewirken. Dies kann beispielsweise zu der Neigung führen, Normkonflikte, in denen das Interesse eines/ r Heimbewohners/ in mit dem kollektiven Interesse der Gesamtbewohner/ innen konfligiert, mit Hilfe solcher Prinzipien zu entscheiden, die dem ersten gerecht werden. Ist etwa im Fall eines individuellen Vergehens über Sanktionen nachzudenken, die laut einer gemeinschaftlichen Regel oder gar einem positiven Gesetz angebracht wären, könnten Sozialarbeiter/ innen dazu neigen, aus Gründen der Nachsicht dem Ein‐ zelnen gegenüber eher ‚Gnade walten zu lassen‘ - auch, wenn es sich bei der geschädigten Personengruppe nicht um weniger benachteiligte bzw. bedürftige Menschen handelt und die Anwendung des Nachsichtsprinzips in diesem Kon‐ text nicht plausibel ist. 11 Aus diesem Grund sollte ethische Weiterbildung die Reflexion der asymmet‐ rischen Beziehung angesichts der besonderen professionsbedingten Nähe des 197 Die Rolle ethischer Abwägung in der Sozialen Arbeit <?page no="198"?> helfenden Akteurs zu seinem Klienten oder seiner Klientin, sowohl als allge‐ meines Strukturmerkmal, als auch als konkrete Gegebenheit in einer Situation, enthalten. Dabei ist einerseits anzuerkennen, dass die lebensweltliche Nähe und auch der Primat der Parteilichkeit fachlich begründete Bedingungen der sozi‐ alpädagogischen Beziehung sind (vgl. Galuske 2015: 1027). Doch nur die Refle‐ xion darüber, ob diese fachlichen Begründungen für eine konkrete Situation greifen - ebenfalls ein fallgerechtes Abwägen - kann Aufschluss darüber geben, ob der Zugang zu einem Abwägungsproblem bzw. die Wahl der Abwägungs‐ kriterien in einem begründeten Zusammenhang zu einem guten Ziel stehen oder ob sie angesichts der „Alltags- und […] Klientennähe und allen damit zusam‐ menhängenden Problemen“ (Galuske 2015: 1027) einer problematischen Wahr‐ nehmung entspringen. 3.2. Professionelle Distanz und Grundhaltung Wie Thiersch hervorhebt, hat die Soziale Arbeit selbst mit wachsender Profes‐ sionalisierung formale Mechanismen entwickelt, um angesichts ihrer struktu‐ rellen Parteinahme und Klientennähe eine fachlich begründete Distanz zu be‐ wahren. So geht professionelles pädagogisches Handeln wissenschafts- und erfahrungsgestützt sowie strukturiert-planvoll vor und bewegt sich im ge‐ schützten Rahmen der organisationellen Konstellation (Thiersch 2015: 1061, 1066). Sozialarbeiter/ innen stehen für die Annäherung an eine/ n Klienten/ in „Kenntnis methodischer Ansätze, diagnostische Raster für typische Symptome, Klassifizierung von Problemen, Unterscheidung wesentlicher Merkmale von den zufälligen Erscheinungsformen eines Falles, beherrschte Routine der Inter‐ vention“ (Müller 1995: 48) zur Verfügung. Wie aus dem vorhergehenden Abschnitt hervorgeht, sind diese formalen Distanzierungsinstrumente also selbst aus ethischer Perspektive erforderlich, um auch innerhalb der asymmetrischen, für vielfältige Abgrenzungsprobleme anfälligen sozialpädagogischen Beziehung das professionelle Tun und Unter‐ lassen an Aspekten der Gerechtigkeit sowie verallgemeinerbaren und intersub‐ jektiv gültigen Handlungsgründen auszurichten. Zugleich können sie jedoch in ein Spannungsverhältnis mit dem fürsorglich-assistierenden Auftrag geraten und damit vom Kriterium guter ethischer Abwägung zum Gegenstand werden. Zum einen wohnt der distanzierten Professionalität die immanente Gefahr einer Expertokratie inne, „die besonders anfällig für ein rein kategoriales Ver‐ ständnis des Sozialen ist und gerne dem Direktivismus huldigt“ (Lepschy 2009: 221). Zugleich kann es angesichts der Alltagsorientierung der Sozialen Arbeit zu besonderen Umständen kommen, die die Aufrechterhaltung distanzierender Mechanismen erschweren. Wo in kurzer Zeit Entscheidungen getroffen werden 198 Christiane Burmeister / Uta Müller <?page no="199"?> 12 Lob-Hüdepohl fasst diese Denkfiguren in anschaulicher Form als vier Grundhaltungen zusammen: 1) Aufmerksamkeit für vielfältigen Anzeichen und Formen versehrter psy‐ chosozialer Integrität, 2) Achtsamkeit gegenüber problematischen wie stärkenden und hilfreichen Aspekten, welche an die Stelle des Mitleids zu treten vermag, 3) Assistenz anstelle einer paternalistisch orientierten Fürsorge, 4) Anwaltlichkeit als Agieren im (mutmaßlichen oder subjektiv empfundenen) Sinne des Anderen (Lob-Hüdepohl 2009: 552). müssen, die nicht durch den Entwurf eines Arbeitsplans oder die Erstellung eines Tests vorbereitet bzw. abgesichert werden können, wo der geschützte Rahmen der organisationellen Konstellation verlassen und etwa eine private Kontaktmöglichkeit für Notfallsituationen ausgehändigt wird, muss das er‐ strebte Ziel ins Verhältnis zur Sicherung der Fachlichkeit gesetzt werden. Die hierfür erforderliche abwägende Kompetenz ist die Fähigkeit, Grundsätze der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Erst wenn feststeht, dass eine fragliche Maß‐ nahme ein geeignetes und notwendiges Mittel zur Zielerreichung darstellt, ist zu überlegen, in welchem Ausmaß und mit welcher Begründung sie Regeln der fachlichen Distanz verletzen könnte. Dass sich an dieser Stelle das fachliche Urteil der Problemeinschätzung also mit einer ethischen Angemessenheitsprü‐ fung verschränken muss, verweist deutlich auf das notwendige Zusammenspiel von professioneller und ethischer Kompetenz. Abgesehen von diesen formalen Abgrenzungsmechanismen hat sich die So‐ ziale Arbeit aber auch durch bestimmte Haltungen gegenüber ihrem Klientel professionalisiert, die viele Überschneidungen mit allgemein anerkannten ethi‐ schen Grundsätzen aufweist. So gelten heute ein nicht-defizitärer Blick auf die Klient/ innen, die Achtung des prinzipiellen Subjektstatus, der Menschenrechte und des Grundstrebens nach Selbstbestimmung (Lob-Hüdepohl 2009: 552) eines jeden Menschen, sowie das sich daraus ergebende Prinzip der ‚Hilfe zur Selbst‐ hilfe‘ als Denkfiguren und -formeln eines professionellen pädagogischen Be‐ rufsethos (vgl. Thiersch 2015: 1066) 12 . Diese Einstellungen sind also bereits ein Ergebnis berufsethischer Deliberation und darum auf den ersten Blick unver‐ dächtig, selbst in ethische Spannungsfelder zu führen. Wie Lob-Hüdepohl be‐ merkt, bringen aber auch sie eine gewisse Neigung von Sozialarbeiter/ innen mit sich, gegenüber rechtlichen, politischen oder gesellschaftlichen Rahmenbedin‐ gungen, die das autonome Handeln ihres Klientels behindern, von Grund auf kritisch eingestellt zu sein, führen sie doch „unweigerlich zu einer Widerstands‐ orientierung […] gegen alle Blockaden, Dominanzen oder auch (materielle wie immaterielle) Ausstattungsdefizite, die die persönliche Autorschaft der ein‐ zelnen Individuen über ihr Leben beschädigen und damit ihre autonome, also ihre gleichermaßen selbstbestimmte wie selbstzweckliche Lebensführung latent 199 Die Rolle ethischer Abwägung in der Sozialen Arbeit <?page no="200"?> 13 Doch selbst in diesem Fall, dem Fall des Konflikts einer rechtlichen Bestimmung mit einem ethischen Urteil, ist das Missachten der rechtlichen Bestimmung nicht ohne Weiteres geboten, da auch das Gut der Rechtssicherheit einen starken Geltungsan‐ spruch stellt, der nicht leichtfertig verworfen werden sollte. oder manifest, individuell oder strukturell behindern oder gar verunmöglichen“ (Lob-Hüdepohl 2009: 552). Mit anderen Worten: diese Widerstandsorientierung ist hilfreich, weil sie systemische Defizite zu erkennen und aufzudecken vermag, die das Gelingen Sozialer Arbeit behindern können. Die Gefahr besteht jedoch darin, dass sie sich zu einer Abwehrhaltung auch gegenüber ethisch legitimen bzw. gebotenen Ein‐ schränkungen verselbstständigt. Zum Beispiel mag es aus Sicherheitsgründen in manchen Räumlichkeiten nicht erlaubt sein, Kerzen anzuzünden, Türen zu schließen, Vorhänge anzubringen oder sperrige Gegenstände in Fluren zu plat‐ zieren. Fraglos können daraus für Klient/ innen, die diese Räumlichkeiten be‐ wohnen, Einschränkungen der Privatsphäre, des spirituellen oder materiellen Wohlergehens resultieren. Es kann aber im Einzelfall problematisch sein, sich diesen Sicherheitsbestimmungen schlicht zu widersetzen. Auch hier ist es Auf‐ gabe ethischer Reflexion, die situationsspezifische Gültigkeit allgemeiner Gel‐ tungsansprüche zu erwägen, um sie miteinander in Bezug zu setzen. Erfüllen die konkreten Brandschutzbestimmungen den Zweck des Personenschutzes? Beschränken sie die Ausübung freier Autorschaft über das eigene Leben so, dass gelingende Lebensführung verunmöglicht wird? Beide Fragen erfordern wieder eine wechselseitige Betrachtung von Norm auf Sachverhalt und umgekehrt. Es gilt, das Geltungsgewicht beider Ansprüche - dem Recht auf eigene Lebensge‐ staltung, auf Privatheit u.ä. auf der einen Seite und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit Aller auf der anderen Seite - zu bestimmen, um schließlich er‐ wägen zu können, ob den fraglichen Regeln mehr oder weniger Gewicht zu‐ kommen sollte, als den konkreten Möglichkeiten der Selbstentfaltung der Be‐ wohner/ innen. Je nach Kontext mag sich dann zeigen, dass es berechtigte Anfragen an die Angemessenheit der Sicherheitsbestimmungen, z.B. bezüglich der Höhe des Brandschutzniveaus, geben kann. 13 Es mag sich aber auch her‐ ausstellen, dass der anfängliche Widerstand gegen sie einer informierten und wohlerwogenen Akzeptanz weichen sollte und für die Bewohner/ innen nach einem Ausgleich gesucht werden kann. 3.3. Pädagogisches Paradox Ein weiteres Spannungsfeld bietet das einer jeder pädagogischen Arbeit inne‐ wohnende Dilemma, im Umgang mit Klient/ innen deren Autonomiebestre‐ bungen wahren bzw. fördern und zu diesem Zweck bisweilen begrenzen zu 200 Christiane Burmeister / Uta Müller <?page no="201"?> 14 Hier ist besonders an eine Gegenüberstellung der klassisch-liberalen bzw. individua‐ listischen und der relationalen Idee von Autonomie zu denken. Nicht ausgeschlossen ist, dass auch das Autonomiekonzept der Selbstgesetzgebung im Sinne Kants Beachtung findet. Da dies aber ausgesprochen voraussetzungsreich ist, bedürfte es unseres Erach‐ tens einer begleitenden Theoriendiskussion einschließlich theoretischer wie pragma‐ tischer Einwände gegen das Modell. Dazu ist nicht nur ein ausreichender Zeitrahmen vonnöten, sondern sind auch schlüssige Lehrziele notwendig. müssen: „Einerseits zielen Bildung und Erziehung auf die Verwirklichung ver‐ antworteter Freiheit und damit auf die autonome Lebensführung der Edukanden ab. Andererseits sind die meisten Interventionen keine von ihnen selbst ver‐ fügten Einwirkungen auf ihre Lebensentwicklung und Lebensführung; gele‐ gentlich setzen sie solche Selbstverfügungen dezidiert außer Kraft“ (Lob-Hüde‐ pohl 2009: 554). Diese Paradoxie beschreibt ein ethisch-philosophisches Problem, für dessen Handhabung es der Auseinandersetzung mit verschiedenen Konzepten und Dimensionen von Autonomie und Fürsorge bedarf. Zum Beispiel mag abzuwägen sein, ob sich eine Klientin einem pädagogisch funktionalen Ri‐ tual wie den gemeinsamen Mahlzeiten in der Wohngruppe dauerhaft entziehen darf. Aus pädagogischer Sicht könnte das Gewährenlassen dieses Rückzugs ihre Isolation bestärken und ihren Entwicklungsprozess beeinträchtigen. Mittels Ausübung von Zwang oder Druck vollzöge die Pädagogik aber gleichsam eine „praktische Dementierung ihrer eigenen Zielvorstellungen“ (Nordström 2014: 85). Die ethische Abwägung steht hier vor der besonderen Schwierigkeit, dass der Respekt vor Autonomie in verschiedenen Lesarten sowohl Gegenstand als auch Ziel der ethischen Abwägung sein kann. Ersteres ist der Fall, wenn das Problem als Fürsorge-Autonomie-Konflikt formuliert wird; zweiteres liegt vor, wenn es nurmehr darum geht, die möglichen Mittel zu erwägen, dem Respekt vor Au‐ tonomie bestmöglich gerecht zu werden. Um hier ein gutes Abwägen zu er‐ möglichen, muss also zunächst diskutiert werden, welche Rolle der Hinweis auf Autonomie in diesem Problemfall spielt. Ein Theorieinput über relevante Kon‐ zepte dieser Idee 14 kann hierfür entscheidende Orientierung schaffen, insbeson‐ dere hinsichtlich der Frage, ob stärker das Spannungs- oder das Bedingungs‐ verhältnis von Fürsorge und Autonomie hervorgehoben werden sollte. So könnte für den Fall der sich zurückziehenden Klientin schließlich argumentiert werden, dass das pädagogische Ziel in der Errichtung einer vertrauensvollen Umgebung besteht, welche die Erfahrung und (Weiter)Entwicklung von Auto‐ nomie im Wechselspiel von sozialer Anerkennung und Selbsterkenntnis ermög‐ licht. Unter dieser Zielsetzung kann dann die fachliche Einschätzung über die Situation der Klientin in den Entwurf verschiedener Handlungsoptionen ein‐ 201 Die Rolle ethischer Abwägung in der Sozialen Arbeit <?page no="202"?> fließen und es kann sich herausstellen, dass der aktive Einbezug der Klientin in die Handhabung des Konflikts ein bedeutendes Kriterium ist, diese Optionen zu gewichten. 3.4. Situative Offenheit vs. Ökonomisierungsdruck Der vorhergehende Autonomiekonflikt ist auf methodisch-praktischer Ebene verwandt mit einem weiteren berufstypischen Problem: Art und Ergebnis der Sozialen Arbeit können im Vorfeld weder konkretisiert noch erzwungen werden. Wie Galuske erläutert, findet die soziale bzw. pädagogische Arbeit mit und für die Klient/ innen statt. Anders als in der materiellen Güterproduktion stehen darum nicht alle ‚Produktionsfaktoren‘ in der Verfügungsmacht des Leistungsanbieters. Ob die Arbeit gelingt oder nicht, ist auch abhängig vom Kooperationswillen des Klienten oder der Klientin; er oder sie „kann in der Regel nicht gezwungen werden, sich physisch oder psychisch an der Leistungserbrin‐ gung zu beteiligen“ (Galuske 2015: 1023). Diese „situative Offenheit“ (ebd.: 1024) ist ein Merkmal des sozialen Tuns überhaupt und damit auch ein Merkmal der Methoden und Zielbestimmungen Sozialer Arbeit. Will der helfende Akteur den Hilfesuchenden bei einer gelingenden und selbstbestimmten Teilhabe an nor‐ malen sozialen Austauschprozessen unterstützen, so muss er ihn in seiner kom‐ plexen Integrität wahrnehmen und ihm eine Wahl zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten eröffnen bzw. ermöglichen. Aus ökonomischer Sicht stellt dies einen erheblichen Unsicherheitsfaktor hinsichtlich der Ergebniskontrolle Sozialer Arbeit dar. Vor allem Akteure der Angebotsstruktur, also Professionsangehörige auf höheren Leitungsebenen, in Berufsfachverbänden, Wissenschaft und Sozialpolitik (siehe Tabelle 1), müssen aber erwägen, dass der sozialarbeiterische Prozess aus Gründen wirtschaftlicher Rationalisierung transparent und kalkulierbar zu gestalten ist. Galuskes Über‐ legungen zufolge müssen im Zuge einer Verschiebung des sozialstaatlichen En‐ gagements von eher direkt steuernder zu eher marktförmiger Regulierung auch die Leistungen der Sozialen Arbeit an Effizienz und Kostenbewusstsein, Trans‐ parenz und Vergleichbarkeit, Mess- und Kalkulierbarkeit, ausgerichtet sein (Ga‐ luske 2015: 1028f.). Hieraus ist eine Zunahme an standardisierten, evidenzbasierten Diagnose- und Dokumentationsverfahren erwachsen, deren vermehrter Einsatz den Zu‐ gang der Fachperson zur hilfesuchenden Person auf empirische Evidenzen ver‐ kürzt. Dies steht in starker Dissonanz mit dem guten sozialpädagogischen Fallverstehen, welches immer auch „Widerstand gegen ‚Schema X‘, Ernst‐ nehmen der besonderen Umstände jedes Falles, die das überlagern, was der je‐ weilige fachliche Ansatz als ‚eigentliche‘ Problemzone vermutet“ (Müller 1995: 202 Christiane Burmeister / Uta Müller <?page no="203"?> 15 Zum Beispiel, indem sie „sich nicht an der umfassenden Förderung ‚gelingenderen All‐ tags‘ [orientieren, C.B./ U.M.], sondern die Arbeitsfähigkeit als Kern von Selbstständig‐ keit im flexiblen Kapitalismus in den Mittelpunkt“ stellen (Galuske 2015: 1028). 48), ist. Eine bedenkliche Folge des breiten Einzugs kontrollierender Instrumente in viele Geschäftsfelder der Sozialen Arbeit ist aus Sicht Galuskes die Rückkehr zu einer längst überwunden geglaubten fürsorglichen Belagerung der Klient/ innen (Galuske 2015: 1032). Für Führungskräfte der Sozialen Arbeit, die in dieser Hinsicht Gestaltungs- und Budgetverantwortung tragen, ergibt sich daraus ein schwieriger Balan‐ ceakt. Einerseits besteht die ökonomische Notwendigkeit, die zur Wettbewerbs‐ fähigkeit der verantworteten Organisation gehörenden Test-, Zielbestimmungs- und Qualitätssicherungsverfahren zu implementieren. Andererseits darf die sinnvolle Offenheit der helfenden Interaktion zwischen Mitarbeiter/ innen und Klient/ innen nicht einer engen und einseitig definierten Erfolgsorientierung weichen. 15 Zur Veranschaulichung sei folgender Beispielfall angeführt: Eine soziale In‐ stitution wird darüber benachrichtigt, dass sie von einer sozialstaatlichen Be‐ hörde beträchtliche finanzielle Zuwendungen erhalten kann, wenn sie für die Bearbeitung bestimmter ‚Klientenfälle‘ einen Fragebogen anwendet, der jedoch die jeweiligen Klient/ innen in stark vereinfachenden, vorgefertigten Rubriken erfasst. Die zuständige Führungskraft bringt pädagogische Bedenken gegen An‐ satz und Einsatz des Fragebogens vor und zögert darum, ihn einzuführen. Zu‐ gleich ist sie sich ihrer Budgetverantwortung bewusst und kann nicht leicht‐ fertig auf die Zuwendungen verzichten. Abwägungen in diesem Spannungsfeld verlangen in besonderem Maß die pädagogisch-fachliche Kompetenz einzuschätzen, an welchen Stellen eine Bin‐ dung an standardisierte Prozesse in Kauf zu nehmen ist und an welchen Stellen sie in relevantem Maße schadet. Der Beitrag, den ethische Weiterbildung an dieser Stelle leisten kann, besteht einmal mehr darin, • die normative Dimension des Problems zu beleuchten (z.B. mit den Fragen: „In welcher Hinsicht ist die gute sozialpädagogische Beziehung gerade bei dieser Klientengruppe betroffen? “; „Welche bedeutsamen Zu‐ sammenhänge werden von dem Fragebogen nicht abgedeckt und was sind die Folgen? “; „Welche guten Ziele verbinden sich mit der behördlichen Kooperation? “); • im Dialog mit den Fachpersonen ein ethisch begründetes Ziel der Abwä‐ gung zu formulieren (z.B. die wirtschaftlich erfolgreiche Entscheidung zu treffen, welche eine „umfassende Orientierung an der gelingenden Le‐ 203 Die Rolle ethischer Abwägung in der Sozialen Arbeit <?page no="204"?> bensführung der Menschen“ [Galuske 2015: 1031] sowie ein zuträgliches Arbeiten für die Mitarbeiter/ innen erlaubt), • und schließlich zum Entwurf von Handlungsoptionen sowie zu ihrer am Abwägungsziel ‚Maß nehmenden‘ Gewichtung zu verhelfen. Auf das gerade erwähnte Beispiel Bezug nehmend, könnte ein wohl erwogenes Ergebnis dann in der Zustimmung zur Kooperation bei gleichzeitiger Sensibili‐ sierung der Mitarbeiter/ innen für den kritischen Umgang mit dem Fragebogen und die Bedeutung größtmöglicher Transparenz gegenüber den Klient/ innen bestehen. Mit den oben vorgestellten Problembereichen lässt sich die Tabelle der Ak‐ teursebenen für Sozialarbeiter/ innen und Klient/ innen sowie Führungskräfte folgendermaßen erweitern: Akteurs‐ ebene Akteure Strukturmerkmale der Sozialen bzw. so‐ zialpädagogischen Arbeit Risiken / Herausforde‐ rungen Angebots‐ struktur Führungs‐ kräfte Koproduktivität der Klient/ innen und päda‐ gogische Offenheit Verschiebung/ Reduktion des Auftragsziels (bspw. auf Arbeitsfähigkeit); ‚fürsorgliche Belagerung‘ Ökonomisierungsdruck Helfende In‐ teraktion Sozialarbeiter/ innen in der Arbeit mit Klient/ innen Primat der Parteilich‐ keit, Alltagsorientie‐ rung und asymmetri‐ sche Beziehungen Urteilsmuster der Alltags‐ moral; Vorrangstellung individu‐ eller gegen kollektive In‐ teressen; mangelnde Wahrnehmung der Macht- und Kontrolldi‐ mension Professionelle Distanz und Grundhaltung Expertokratie; unverhält‐ nismäßiges Festhalten an Distanz auf der einen Seite, vorschnelle Preis‐ gabe der Distanz auf der anderen Seite; automati‐ sierte Widerstandsorien‐ tierung Pädagogisches Paradox der Autonomiebefähi‐ gung durch Autonomie‐ begrenzung Paternalismus auf der einen Seite, Überforde‐ rung der Klient/ innen auf der anderen Seite Tabelle 2: Strukturmerkmale und Herausforderungen 204 Christiane Burmeister / Uta Müller <?page no="205"?> Dabei ist zu betonen, dass die dargestellten Problembereiche lediglich einen Ausschnitt darstellen, der keine Vollständigkeit beansprucht, sondern lediglich eine Veranschaulichung der Tatsache bezweckt, dass die Berufszugehörigkeit - in diesem Falle zur Sozialen Arbeit - spezifische Spannungsfelder und kognitive Verzerrungen mit sich bringen kann, auf die die ethischen Weiterbildungsan‐ gebote planvoll reagieren sollten. Wie dies geschehen kann, wird im nachfol‐ genden letzten Abschnitt skizziert. 4. Ausblick: Der Beitrag wissenschaftlicher Weiterbildung Ganz allgemein sind zunächst die Vorteile einer interdisziplinär zusammenge‐ setzten Teilnehmendengruppe aus verschiedenen Bereichen der Sozialen Arbeit zu nennen. Die kritische Selbstreflexion von Angehörigen einer Profession pro‐ fitiert vor allem vom diskursiven Austausch mit Perspektiven und Standpunkten von Angehörigen anderer Professionen. So ist es etwa sinnvoll, Berufstätige aus dem Gesundheitswesen, dem Bildungsbereich und der Sozialen Arbeit in inter‐ aktiv angelegten Workshops zusammenzubringen. Sie alle stehen als Vertreter/ innen von im weitesten Sinne helfenden Berufen einander hinreichend nahe, um Unterschiede im moralischen Urteilen als bemerkenswert wahrzunehmen und hinterfragen zu können. Als besonders geeignete Methode hat es sich im Rahmen des Weiterbildungsangebotes für Berufstätige aus Sozialen Organisa‐ tionen „Ethik in Organisationen: Bildung und Soziales“ des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen (IZEW) erwiesen, die Teilnehmenden zu Beginn einer Veranstaltung oder Veranstal‐ tungsreihe um eine kurze Bestandsaufnahme jener Werte, Haltungen und Normen zu bitten, die sie in ihrem beruflichen Alltag begleiten. Diese visuell festgehaltene ‚normative Landschaft‘ eignet sich sodann als Grundlage für Im‐ pulsgespräche über den Bedeutungsgehalt der Wertbegriffe für konkrete Situ‐ ationen, über Zusammenhänge, Spannungsverhältnisse oder Widersprüchlich‐ keiten, über die Mehrdimensionalität bestimmter gehaltvoller Konzepte (etwa Gerechtigkeit) sowie über starke Häufungen oder gar das Fehlen von Wertbe‐ griffen. Diese Diskussion kann fruchtbar mit einer Reflexion von Definition und Auftrag und Zielsetzung der jeweiligen Professionen verknüpft werden, wobei sich für die Soziale Arbeit besonders eine Auseinandersetzung mit ihrer ein‐ schlägigen Definition durch den Berufsverband anbietet. Es ist dieser Einstieg, der den Teilnehmenden einen ersten Zugang zu präziser Begriffsarbeit bietet, sowie zur Notwendigkeit, allgemeine Norm und konkreten Sachverhalt mitei‐ nander in Bezug zu setzen. 205 Die Rolle ethischer Abwägung in der Sozialen Arbeit <?page no="206"?> Wie wir aus dem bisher Gesagten außerdem festhalten wollen, gilt es im Sinne guten ethischen Abwägens, die Wahrnehmung ethischer Probleme zu fördern. Dies bedeutet auch, ein allgemeines Bewusstsein für die vielen normativen Im‐ plikationen im praktischen Handeln des beruflichen Alltags zu schaffen. Teil‐ nehmende sollten in einer ethischen Weiterbildung auch für jene moralischen Geltungsansprüche sensibilisiert werden, die im Berufsalltag leicht übersehen werden können. Es empfiehlt sich darum, in der Besprechung von praxisnahen Fallbeispielen besonderen Wert auf eine genaue Bestandsaufnahme relevanter Kontextfaktoren zu legen sowie auf eine Analyse derjenigen Personen und An‐ spruchsgruppen, die von dem Problem betroffen sind. Erst anschließend kann die Diskussion in Richtung einer gemeinsamen Problemformulierung, einer Abwägung bzw. Bewertung und schließlich der Schlussfolgerung eines ethi‐ schen Urteils gelenkt werden. Diese Vorgehensweise entspricht der Dreischrit‐ tigkeit des Toulminschen Argumentationsmodells (Toulmin 1996: 153) und auch dem Grundaufbau ethischer Entscheidungsfindungsmodelle (vgl. Ranisch/ Burmeister/ Brand/ Müller 2016: 245ff.). Sie kann außerdem im Rahmen einer Weiterbildung nicht nur als Übung im praktischen Argumentieren, sondern auch für die Erkenntnis fruchtbar gemacht werden, wie eng empirisch-sachli‐ ches Wissen und normative Überlegungen in jedem Schritt des ethischen Ur‐ teilsbildungsprozesses zusammenwirken. Werden zum Beispiel in unterschied‐ lichen Gruppen verschiedene Fallbesprechungen ein- und desselben Problembeispiels durchgeführt und anschließend gemeinsam analysiert, kann deutlich werden: was als relevanter Fakt erkannt und in die Problembeschrei‐ bung aufgenommen wird, folgt bestimmten Wertentscheidungen, die keines‐ wegs intersubjektiv geteilt werden müssen. Wie sich dabei auch zeigt, darf der Austausch der Teilnehmenden unterein‐ ander nicht lediglich als ‚trojanisches Pferd‘ der didaktischen Vermittlung von Inhalten verstanden werden, er hat eine eigene Funktion als Erweiterung der eigenen moralischen Perspektive. Um diesen Austausch gezielt anzuregen, eignen sich besonders interaktive Lehr-Lern-Methoden wie das Schreibge‐ spräch, das Gespräch im sog. ‚Weltcafé‘ oder der ‚Galeriegang‘, der es Teilnehm‐ enden ermöglicht, eine bestimmte Fragestellung in wechselseitiger Ergänzung zu bearbeiten. Geht es schließlich um den konkreten Prozess ethischer Abwägung, so ist nach der Wahrnehmung eines Problems seine Übersetzung in eine aussagekräf‐ tige und bearbeitbare Fragestellung zentral, in der kohärente Abwägungen 206 Christiane Burmeister / Uta Müller <?page no="207"?> 16 Wie sich am Beispiel des Autonomiebegriffs gezeigt hat (Kap. 3.3.) kann ein moralisch gehaltvoller, im alltäglichen Gebrauch eher unterbestimmter Begriff wie Autonomie verschiedene Funktionen einnehmen und die Grenzen zwischen Ziel, Gegenstand und Kriterien der Abwägung können verschwimmen. 17 So etwa die Vorbereitung und Durchführung eines Streitgesprächs, bei dem die Disku‐ tierenden konkrete Positionen, etwa die tugendethische, die deontologische und die utilitaristische Position, einnehmen müssen. 18 Z.B. mit Überlegungen wie: „Ist bei gleichrangig stehenden Handlungsoptionen unter hoher Folgenunsicherheit eine der beiden Entscheidungen nicht revidierbar, so ist die andere Entscheidung zu befürworten.“ stattfinden können. 16 Hierfür ist u.a. theoretisches Wissen über Möglichkeiten der konsistenten Moralbegründung zu vermitteln, was etwa anhand eines In‐ putvortrags über die wichtigsten Theorieansätze der Ethik gelingen kann. Damit jedoch von den Teilnehmenden praxisnah nachvollzogen werden kann, wie sich diese verschiedenen Argumentationslinien auf moralische Abwägungsfragen auswirken, haben sich nach unserer Erfahrung praktische diskursive Übungen bewährt, in denen die Teilnehmenden das theoretisch Gelernte umgehend in Begründungsgänge zur Bearbeitung eines Beispielfalls aus ihrem beruflichen Alltag einfließen lassen. 17 Dass sich der Prozess der Abwägung selbst an Gütekriterien wie Kohärenz, Widerspruchsfreiheit, Rechtfertigungsfähigkeit, Verallgemeinerungsfähigkeit, Verbindlichkeit und dergleichen orientiert, kann zum einen durch Teilnehmer‐ diskussionen unterstützt werden, in denen die Lehrperson durch sokratische Gesprächsführung die Geltung ebenjener Kriterien zum Vorschein bringt. Be‐ sonders angesichts der vielfältigen problematischen Deutungsmuster, die sich aus dem in der Sozialen Arbeit wirksamen ‚Primat der Parteilichkeit‘ ergibt, sollte ein Schwerpunkt der Diskussionsleitung auf dem Allgemeingültigkeits‐ anspruch moralischer Aussagen liegen. Zum anderen hat sich das Adv‐ ance-Organizer-Prinzip einer anschaulichen Übersicht an „ethischen Werk‐ zeugen“ bewährt, in der ebensolche Prinzipien guten Abwägens sowie nützliche Heuristiken 18 aufgeführt sind. Sobald diese im Verlauf einer Diskussion zur An‐ wendung kommen, kann explizit auf sie verwiesen und ihr Bedeutungsgehalt erläutert werden. Wie insgesamt deutlich wurde, ist als ‚roter Faden‘ der Didaktik eine enge Verzahnung von Theorie und Praxis zu empfehlen. Theoretischer Input sollte sowohl in seiner Form als auch seiner Idee ein Impulsgeber sein, Begriffe, An‐ sätze, Definitionen etc. umgehend in anwendungsbezogene Diskussionsein‐ heiten zu überführen und zu prüfen. Nur dann besteht die Möglichkeit, dass ethisches Grundlagenwissen nicht „träges Wissen“ (Hinrichs 2016: 106) bleibt, 207 Die Rolle ethischer Abwägung in der Sozialen Arbeit <?page no="208"?> welches keinen Transfer in den Berufsalltag erfährt, sondern dann abgerufen werden kann, wenn gutes ethisches Abwägen erforderlich wird. Literatur Beauchamp, Tom L./ Childress, James F./ (2001). Principles of Biomedical Ethics. Oxford u.a.: Oxford Univ. Press. Becker-Lenz, Roland/ Müller, Silke (Hrsg.) (2009). Der professionelle Habitus in der Sozialen Arbeit: Grundlagen eines Professionsideals. Bern u.a.: Peter Lang Verlag. Conradi, Elisabeth (2013). Ethik im Kontext sozialer Arbeit. EthikJournal 1: 1, 1-19. DBHS (2016). Abgestimmte deutsche Übersetzung des DBSH mit dem Fachbereichstag So‐ zialer Arbeit. Abrufbar unter: https: / / www.dbsh.de/ beruf/ definition-der-sozialen-arbeit/ deutsche-fassung.html (Stand: 23.12.2017). Dietrich, Julia (2007). Was ist ethische Kompetenz? 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Sonderheft 11, 3-10. 209 Die Rolle ethischer Abwägung in der Sozialen Arbeit <?page no="211"?> Moralische Kompetenz und Medizinethikausbildung im Medizinstudium Orsolya Friedrich / Michael von Grundherr Die Ausbildung in Ethik im Rahmen des Medizinstudiums stellt seit Jahren einen festen Bestandteil des Curriculums dar. Ziele der Medizinethikausbildung um‐ fassen die Verbesserung verschiedener Fähigkeiten. Zum einen sollen vielfältige Wissensinhalte erworben werden. Dazu gehören neben der Kenntnis rechtlicher Regelungen (zum Beispiel der juristische Umgang mit Patientenverfügungen) auch Inhalte diverser moralphilosophischen Theorien. Durch die schnelle Ent‐ wicklung medizinischer Technologien zum einen und durch einen zunehm‐ enden Wertepluralismus in der westlichen Gesellschaft zum anderen, wachsen die Anforderungen an Ärztinnen und Ärzte, die in der Praxis mit moralischen Konflikten umgehen müssen. Daher sollte im Rahmen des Medizinstudiums auch die Fähigkeit verbessert werden, in solchen Fällen zu einer begründeten Entscheidung zu gelangen. Alarmierend sind in diesem Kontext einige Studien, die zeigen, dass die Fähigkeit von Studierenden der Medizin im moralischen Argumentieren (moral reasoning) bzw. die Fähigkeit, moralische Argumente konsistent und unabhängig von der eigenen Meinung zu bewerten, im Verlauf des Medizinstudiums abnimmt (Hegazi/ Wilson 2013; Patenaude/ Niyonsenga et al. 2003; Eckles/ Meslin et al. 2005; Gross 2001). Letzteres wird vielfach als mo‐ ralische Kompetenz bezeichnet (Lind 2006). Wenn moralische Kompetenz in diesem Sinne im Verlauf des Medizinstudiums abnimmt, dann scheint es eine Kernaufgabe des Medizinethikunterrichts zu sein, sie zu stärken. Wie kann dies geschehen? Es existieren in der Literatur vielfältige unterrichtsmethodische Vorschläge, um moralische Kompetenz zu fördern (Eckles/ Meslin et al. 2005), die auf optimierte Rahmenbedingungen des Medizinethikunterrichts abzielen, wie etwa Gruppengröße oder Frontalversus Gruppenunterricht. Es wurden auch einige Studien durchgeführt, die weitere didaktisch relevante Faktoren, wie z.B. die Förderung von Verantwortungsübernahme für die Ergebnisse von Falldiskussionen seitens der Lernenden, berücksichtigen (Schillinger 2006). <?page no="212"?> 1 Der Einfachheit halber und weil eine weitere (an anderer Stelle sicherlich sinnvolle) Differenzierung für diesen Aufsatz entbehrlich ist, sprechen wir in Folge synonym von Rechtfertigung und Begründung. Wir gehen in unserem Aufsatz der Idee nach, dass die im Medizinethikun‐ terricht erlernbaren Argumentationsstrategien ein gutes Korrektiv sein können, um der sinkenden moralischen Kompetenz im Medizinstudium entgegenzu‐ wirken. Wir verteidigen dabei die Hypothese, dass sich moralische Kompetenz unterschiedlich entwickelt, je nachdem, welche normativen Argumentationsbzw. Rechtfertigungsstrategien unterrichtet werden. Wir diskutieren hier aus einer konzeptionellen Perspektive, ob und warum solche unterschiedlichen ethischen Begründungsstrategien in der Medizinethikausbildung die ange‐ strebte moralische Kompetenz in unterschiedlicher Weise fördern könnten. 1 Dabei greifen wir auf die Unterscheidung zwischen kohärentistischen und fun‐ damentalistischen Ansätzen zurück, die in der Literatur als wesentliche Recht‐ fertigungsstrategien diskutiert werden. Mit jeder dieser Strategien sind jeweils bestimmte Arten des deduktiven, induktiven und abduktiven Schlussfolgerns verbunden. Werden im Medizinethikunterricht jeweils unterschiedliche Arten des ethischen Begründens und Schlussfolgerns über eine längere Zeit eingeübt, könnte sich am Ende von mehreren Unterrichtseinheiten eine Differenz hin‐ sichtlich der moralischen Kompetenz manifestieren. Ziel unserer Diskussion ist es, zu mehr konzeptioneller Klarheit darüber zu gelangen, welche Argumentationsbzw. Rechtfertigungsstrategien als Inhalte des Medizinethikunterrichts am besten geeignet erscheinen, um der sinkenden moralischen Kompetenz im Medizinstudium entgegenzuwirken. Unsere Über‐ legungen sollen auch dazu dienen, zukünftige empirische Studien im Bereich der Medizinethikdidaktik zu informieren und anzuregen. Zunächst skizzieren wir die Ziele der medizinethischen Ausbildung und ei‐ nige Ergebnisse empirischer Studien zur medizinethischen Ausbildung. Im An‐ schluss werden unterschiedliche Begründungsstrategien der Moralphilosophie sowie die damit verbundenen Arten des Schlussfolgerns dargestellt. Schließlich diskutieren wir diese unterschiedlichen Unterrichtsinhalte hinsichtlich ihres didaktischen Potenzials, moralische Kompetenz im Unterrichtsverlauf zu ver‐ bessern. Ziele und Realität medizinethischer Ausbildung Seit über 15 Jahren ist ein Leistungsnachweis im Querschnittsbereich Ge‐ schichte, Theorie, Ethik der Medizin (GTE) in der Approbationsordnung für Ärztinnen und Ärzte (ÄApprO) vorgeschrieben (Fachverband für Medizinge‐ 212 Orsolya Friedrich / Michael von Grundherr <?page no="213"?> schichte et al. 2009). Die Lehre in diesem Querschnittsfach soll „die geistigen, historischen und ethischen Grundlagen ärztlichen Verhaltens“ vermitteln (ebd.; Bundesministerium für Gesundheit 2002). Jenseits des medizinischen Wissens sollen dabei Fähigkeiten entwickelt und Haltungen einer ärztlichen Persönlich‐ keit erworben werden, die eine kritische Reflexion und verantwortungsbe‐ wusste Handlungen ermöglichen (Fachverband für Medizingeschichte et al. 2009). Relevante Zielsetzungen für die medizinethische Ausbildung werden auf kognitiver, emotionaler und praktischer Ebene formuliert: So sollen insbeson‐ dere kognitive Fähigkeiten zur ethischen Analyse, zur Urteilsbildung und zur Argumentation gefördert und Wissen erworben werden; zudem sollen die mo‐ ralische Sensibilität weiterentwickelt und die praktischen Fähigkeiten zur Lö‐ sung von Konfliktsituationen vermittelt werden (Bobbert 2013). Das Lehrziel medizinethisches Wissen umfasst auch das Wissen über juristische Regelungen, über Aufgaben der Ethik, über das Verhältnis von Ethik, Moral und Recht sowie die Kenntnis moralphilosophischer Theorien, Grundbegriffe und Prinzipien der moralischen Urteilsfindung (Biller-Andorno/ Neitzke et al. 2003). Als relevante Fähigkeiten und Fertigkeiten werden angeführt: Fähigkeiten zur moralischen Sensibilität, zur kritischen Reflexion und argumentativen Verteidigung eigener moralischer Positionen, zur Berücksichtigung anderer Perspektiven und Inte‐ ressen sowie Kompetenzen in der Anwendung von Methoden der Entschei‐ dungsfindung und in der Begründung, Kommunikation und Umsetzung von Entscheidungen (ebd.). Zudem wird als allgemeines Lehrziel vielfach formuliert, dass ärztliche Ein‐ stellungen und Haltungen zu schulen seien, wie etwa Bereitschaft zur Verant‐ wortungsübernahme, Toleranz, Fürsorglichkeit, Empathie, intellektuelle Red‐ lichkeit und Verlässlichkeit (ebd.). So formulierte Lehrziele im Bereich der Medizinethik sind in der Gesamtschau extrem ambitioniert. In anderen univer‐ sitären Ausbildungsbereichen, etwa im Philosophiestudium, wo Ethik oder praktische Philosophie im Fokus stehen, ist etwa Charakterbildung kein direkt angestrebtes Ziel (Gross 2001). Eine Schulung des Charakters oder von lebens‐ lang erworbenen Einstellungen und Haltungen, scheint als Zielsetzung zunächst sehr verlockend, da man sich von zukünftigen Ärztinnen und Ärzten angemes‐ sene Charaktereigenschaften und Haltungen wünscht. In der kurzen Zeit des medizinethischen Unterrichts im Studium ist die Umsetzung eines solchen Ziels jedoch bereits auf konzeptioneller Ebene kaum vorstellbar (Eckles/ Meslin et al. 2005). Ein empirischer Nachweis einer Veränderung in diesem Bereich ist eben‐ falls kaum möglich. Das Lehrziel der Vermittlung medizinethischen Wissens ist hingegen empirisch besser evaluierbar, und eine Steigerung der Kenntnisse in dieser Lehrdimension ist bei einem gelungenen Unterricht zu erwarten. 213 Moralische Kompetenz und Medizinethikausbildung im Medizinstudium <?page no="214"?> 2 Ein Beispiel für ein moralisches Dilemma, das im Moral Competence Test MCT von Georg Lind (mehr zum MCT vgl. http: / / www.uni-konstanz.de/ ag-moral/ ) verwendet wird, ist folgendes: Für eine krebskranke Frau besteht keine Rettungsmöglichkeit mehr; sie ist stark geschwächt, hat immense Schmerzen; sie wünscht sich von ihrem Arzt die Verabreichung einer größeren Dosis Morphin, um ihr Sterben zu beschleunigen; der Arzt kommt ihrem Wunsch nach. Die Testteilnehmer sollen zuerst beurteilen, ob sie das Verhalten des Arztes richtig oder falsch finden. Dann sollen sie die Qualität von jeweils sechs Pro- und sechs Contra-Argumenten für dieses Verhalten einschätzen. Diese orientieren sich an den Stufen der Moralentwicklung nach Kohlberg. Beispiele sind: „Der Arzt hat den Wunsch der Frau erfüllt und muss sich deswegen nicht vor Konsequenzen fürchten“, „Der Arzt hat kein Gesetz verletzt, da für die Frau keine Ret‐ tung bestand und seine Absicht war, die Schmerzen zu verkürzen“, „Der Arzt hat nach seinem Gewissen gehandelt und die Ausnahme vor der moralischen Verpflichtung, Leben zu erhalten, wird durch den Zustand der kranken Frau gerechtfertigt“. Kritisch und für unseren Artikel relevant ist die Ebene der zu erwerbenden Fähigkeiten und Fertigkeiten. Etliche international angelegte Studien zeigen, dass gerade ethische Fähigkeiten und Fertigkeiten im Verlauf des Medizinstudiums abnehmen (ebd.; Gross 2001; Patenaude/ Niyonsenga et al. 2003; Hegazi/ Wilson 2013). Diese Studien verwenden Testverfahren, die im Anschluss an Kohlbergs Forschungen (Kohlberg 1981) entwickelt wurden, um moralische Kompetenzen zu messen. Ein von Lind weiterentwickelter und häufig eingesetzter Test aus diesem Spektrum beruht auf der Annahme, dass moralisch kompetente Per‐ sonen nicht nur die eigene Position richtig ausdrücken und begründen können, sondern dass sie auch gegenläufige ethische Argumente berücksichtigen und deren Qualität unvoreingenommen bewerten können (Lind 2006; Hegazi/ Wilson 2013; Gross 2001). In diesem und in ähnlichen Testinstrumenten werden moralische Konfliktfälle beschrieben, zu deren Lösung die Probandinnen und Probanden zunächst ihre eigene Position angeben und dann Prosowie Contra- Argumente für alle Stufen der Moralentwicklung nach Kohlberg auf einer Skala bewerten müssen. 2 Als Messergebnis dient nicht die bevorzugte Stufe der Mo‐ ralentwicklung, sondern das Antwortmuster für alle Argumente, das die kon‐ sistente moralische Differenzierungsfähigkeit darstellen soll (Lind 2006; Hegazi/ Wilson 2013; Gross 2001). In so konzipierten Tests schnitten Studierende der Medizin in höheren Semestern ihres Studiums schlechter ab als am Anfang ihrer Ausbildung (Eckles/ Meslin et al. 2005; Gross 2001). Diese Ergebnisse deuten da‐ rauf hin, dass sich bei Studierenden der Medizin häufig die Fähigkeit zur argu‐ mentativen Verteidigung eigener moralischer Positionen unter Berücksichti‐ gung anderer Perspektiven und Interessen im Studienverlauf reduziert. Demnach scheint das Medizinstudium auf der Ebene des Erwerbs von Fähig‐ keiten und Fertigkeiten, die für die Medizinethikausbildung als relevant disku‐ tiert werden, eher hinderlich zu sein. 214 Orsolya Friedrich / Michael von Grundherr <?page no="215"?> Da gerade Ärzte und Ärztinnen durch rasante Fortschritte der Medizin und daraus entstehende neue moralische Konfliktsituationen herausgefordert werden, sind solche empirischen Ergebnisse alarmierend. Ethisches Verständnis und Argumentationsfähigkeit anhand von moralischen Normen oder Prinzi‐ pien, die auch unabhängig von eigenen Vorurteilen, Affekten oder Intuitionen in Erwägung gezogen werden, erscheinen für den Umgang mit neuen Konflikt‐ fällen in der Medizin essentiell, in vielen Situationen sogar wichtiger als bei‐ spielsweise das Wissen um juristische Normen und Regelungen. Die Frage ist, ob und wie man solche Fähigkeiten und Fertigkeiten durch Medizinethikunter‐ richt verbessern kann. Diese Frage ist empirisch bereits untersucht worden; die bisher verfügbaren Ergebnisse sind jedoch widersprüchlich. Manche Studien zeigen, dass sowohl moralische Sensibilität (verstanden als die Fähigkeit, moralische Themen und Konflikte zu erkennen) als auch moralische Kompetenz bzw. die Fähigkeit zum moralischen Argumentieren (moral reasoning) trotz Medizinethikunterricht im Medizinstudium abnehmen (Eckles/ Meslin et al. 2005). Andere Studien weisen demgegenüber auf durchaus positive Effekte des Medizinethikunterrichts hin und berichten, dass dieser der Verschlechterung solcher Fähigkeiten im Verlauf des Studiums entgegenwirken kann (ebd.). In einem Review von empirischen Studien werden folgende Rahmenbedin‐ gungen als potenziell relevant benannt, um durch Medizinethikunterricht eine Verbesserung moralischer Kompetenzen zu erzielen: kleine Gruppen, Gruppen‐ diskussionen, konkrete Falldiskussionen statt Frontalunterricht, insgesamt mehr als 20 Unterrichtseinheiten, Medizinethikunterricht möglichst als Prozess über das gesamte Studium hinweg und als Wahlfachformat am Anfang des Stu‐ diums (ebd.). Eine Studie weist darauf hin, dass eine Lernumgebung, die genü‐ gend Gelegenheit für Verantwortungsübernahme und für geführte Reflexion‐ sprozesse bietet, sich positiv auf die Entwicklung moralischer Kompetenz auswirke (Schillinger 2006). Eine andere Studie gibt erste Hinweise darauf, dass sich unterschiedlich gestaltete Falldiskussionen ebenfalls auf die Entwicklung moralischer Kompetenz auswirken könnten: Studierende der Medizin profi‐ tierten in dieser Studie mehr von Falldiskussionen, die anhand einer struktu‐ rierten Abwägung verschiedener, zunächst gleichrangiger Prinzipien geführt wurden, als von Falldiskussionen anhand einzelner Prinzipien klassischer mo‐ ralphilosophischer Theorien (Friedrich/ Hemmerling et al. 2017). Es bleibt eine empirisch ungeklärte Frage, wie dem Absinken der Werte für moralische Kompetenz im Verlauf des Medizinstudiums durch Medizinethik‐ unterricht effektiv entgegenzusteuern sei. Einige Faktoren wie Gruppengröße oder Unterrichtsformat scheinen zumindest laut ersten empirischen Ergeb‐ 215 Moralische Kompetenz und Medizinethikausbildung im Medizinstudium <?page no="216"?> nissen die Entwicklung moralischer Kompetenz zu verbessern. Sollten sich diese Befunde erhärten, und würde man sie im Medizinethikunterricht durchgängig implementieren, bliebe weiterhin die Frage offen, ob und wie sich unterschied‐ liche inhaltliche Schwerpunktsetzungen im Medizinethikunterricht auf die Ent‐ wicklung moralischer Kompetenz auswirken. Zu solchen möglichen inhaltli‐ chen Schwerpunktsetzungen zählt auch die Frage, welche der unterschiedlichen ethischen Rechtfertigungsstrategien und welche der damit verbundenen Arten des Schlussfolgerns im Medizinethikunterricht im Vordergrund stehen sollten, um moralische Kompetenz zu fördern. Wir widmen uns im Folgenden dieser Frage durch konzeptionelle Überlegungen. Wir fragen aus einer theoretischen Perspektive, wie unterschiedliche Strategien der ethischen Rechtfertigung sich im didaktischen Kontext auf die moralische Kompetenz der Studierenden aus‐ wirken könnten. Zuvor führen wir in einem kurzen Exkurs in die theoretischen Grundlagen unterschiedlicher Begründungs- oder Rechtfertigungsstrategien in der Ethik ein. Begründung und Rechtfertigung in der Ethik Begründung oder Rechtfertigung kann mindestens drei Formen annehmen: sie kann induktiv, abduktiv oder deduktiv erfolgen. Induktiv geht man vor, wenn man von einem Fall und einem Resultat auf eine Regel schließt (Peirce 1976). Bei einer Abduktion schließt man von einem bekannten Resultat sowie einer bekannten Regel auf einen Fall bzw. auf die beste Erklärung für etwas, oder bildet eine prima facie erklärende Hypothese (Peirce 1976; Bartelborth 1996). Von De‐ duktion spricht man, wenn man von einer bekannten Regel und einem speziellen Fall auf ein Resultat schließt (Peirce 1976). Deduktion ist zwar als Schlussform am wenigsten fehleranfällig, dafür erlauben abduktive Schlüsse auch eine Inte‐ gration von alternativen Hintergrundannahmen sowie von neuen Zusammen‐ hängen und können so den Weg öffnen für Erkenntniserweiterung und für neue Handlungsoptionen (Bartelborth 1996). Diese unterschiedlichen Formen des Schließens sind auch im Bereich der philosophischen Ethik zu finden und werden dort auch jeweils kritisch disku‐ tiert. Im Prozess des deduktiven Schlussfolgerns kommen keine weiteren oder alternativen Prämissen hinzu. Häufig spricht man in diesem Zusammenhang auch von einer fundamentalistischen Begründung, wie dies etwa in der deonto‐ logischen oder konsequentialistischen Ansätzen der Moralphilosophie zu finden ist. Die konkreten Handlungsorientierungen können aus dem Fundament, aus dem Grundprinzip gewissermaßen abgeleitet oder deduziert werden; aus dem zugrundeliegenden Prinzip ergibt sich die Geltung der konkreten Handlungs‐ 216 Orsolya Friedrich / Michael von Grundherr <?page no="217"?> empfehlung. Deduktive Schlüsse in der Ethik können durch die Ablehnung der zugrundeliegenden Prämissen angefochten werden. Aus pragmatischer Pers‐ pektive - z.B. in der Medizin - wird häufig die Praxisferne von fundamentalis‐ tischen Begründungsstrategien bemängelt. Kasuistische Ansätze verwenden die Form induktiven Schließens. Eine Recht‐ fertigung ethischer Urteile erfolgt anhand von Vergleichen mit anderen Fällen oder mit Präzedenzfällen. Abduktive Schlüsse sind für kohärentistische Begründungsstrategien inner‐ halb der Ethik besonders relevant. Kohärentistische Rechtfertigung gründet auf Zusammenhängen zwischen Normen, Prinzipien, moralischen Überzeugungen, Hintergrundannahmen und Theorien (Badura 2002). Im Rahmen kohärentisti‐ scher Rechtfertigung in der Moralphilosophie gilt, dass die gesuchte beste Er‐ klärung eines vermuteten Zusammenhangs nicht auf einem Fundament basiert, sondern auf sich gegenseitig stützenden inferentiellen Beziehungen zwischen den Einzelkomponenten eines Überzeugungssystems; die Erklärungskraft er‐ gibt sich durch einen kohärenten Zusammenhang verschiedener Teile eines Überzeugungssystems (ebd.). Bedingungen für eine adäquate Kohärenz können differieren, Bartelborth hat einige, mittlerweile als Standard geltende, benannt: Der Vernetzungsgrad eines Überzeugungssystems soll möglichst hoch sein; es sollen möglichst wenige Inkonsistenzen, unvernetzte Subsysteme sowie Ano‐ malien vorkommen; möglichst viele Einzelüberzeugungen sollen eingebettet sein; das Überzeugungssystem soll eine gewisse zeitliche Stabilität aufweisen (Bartelborth 1996). Liegt eine kohärentistische Rechtfertigung in der Ethik vor, dann ist die Integration pluralistischer Wertvorstellungen und außermorali‐ scher Gründe einfacher als bei fundamentalistischer Rechtfertigung. Dafür büßen einzelne Prinzipien an Geltung ein und Prozesse der Spezifikation sowie der Abwägung von Normen und Prinzipien gewinnen an Bedeutung. In der Moralphilosophie sind kohärentistische Ansätze in den letzten Jahr‐ zehnten vermehrt zu beobachten, häufig mit einem Analogieverweis auf die Rechtfertigungsstrategien in den Naturwissenschaften (Nida-Rümelin 1997). Zumeist greifen dabei Autorinnen und Autoren in der Ethik methodisch auf den unter anderem von Rawls (1973) formulierten Gedanken des Überlegungsgleich‐ gewichts (reflective equilibrium) zurück. Rawls operiert mit der Vorstellung eines hypothetischen Urzustands, in dem bestimmte Bedingungen (unter anderem Gleichheit aller Verhandlungspartner, Gerechtigkeitssinn und praktische Rati‐ onalität der Beteiligten, Schleier des Nichtwissens) vorherrschen, die ein Über‐ legungsgleichgewicht ermöglichen und so zur Begründung angemessener Ge‐ rechtigkeitsgrundsätze führen (Rawls 1973). Das Überlegungsgleichgewicht erfordert, dass einzelne wohlüberlegte moralische Urteile und theoretische Prin‐ 217 Moralische Kompetenz und Medizinethikausbildung im Medizinstudium <?page no="218"?> 3 Man kann grundsätzlich einen begründungs- und ein problemorientierten Kohären‐ tismus unterscheiden, je nachdem, ob die Moralprinzipien selbst kohärentistisch be‐ gründet werden oder lediglich die Anwendung der Prinzipien nach einem kohärentis‐ tischen Modell erfolgt (Badura 2002). zipien der Ethik gleichwertig in den moralischen Überlegungsprozess eingehen. Passen diese Ausgangsannahmen nicht zusammen, müssen sie (üblicherweise in einem diskursiven Prozess) angepasst werden, bis sie in einer kohärenten Beziehung zueinanderstehen. Keine der Annahmen ist dabei unantastbar, alle können - solange der Gesamtprozess ausgewogen ist - modifiziert werden (ebd.). Versuche einer kohärentistischen Begründung sind auch in der Medizinethik vermehrt zu beobachten, so etwa in den neueren Ausgaben des prominenten Werkes Principles of Biomedical Ethics (Beauchamp/ Childress 2013). In ihrer so‐ genannten Prinzipienethik verfolgen die Autoren den Ansatz einer problem‐ orientierten kohärentistischen Rechtfertigung ausgehend von vier Moralprin‐ zipien, die zunächst im Verweis auf eine Common Morality ausgewiesen werden. 3 Die vier Prima-facie-Prinzipien des Respekts der Autonomie, des Nichtschadens, des Wohltuns und der Gerechtigkeit werden inhaltlich weiter spezifiziert und gegeneinander so lange abgewogen, bis sich ein Gleichgewicht einstellt und man so zu moralisch richtigen Entscheidungen gelangt (ebd.). Vor‐ teilhaft an dieser Methode sei, dass trotz ethischem Orientierungsrahmen kon‐ textabhängige Faktoren und moralische Alltagsüberzeugungen in den Abwä‐ gungsprozess einfließen können (Marckmann 2013). Zur Herstellung des Überlegungsgleichgewichts ist es notwendig, durch abduktives Schließen auf die beste Erklärung für eine dem Fall angemessene Spezifikation der vier Prin‐ zipien zu verweisen. Potenzielle Auswirkungen von unterschiedlichen Rechtfertigungsstrategien und Formen des Schlussfolgerns auf Ergebnisse des Medizinethikunterrichts Wir haben versucht, holzschnittartig zu zeigen, dass fundamentalistische und kohärentistische Rechtfertigungsstrategien in der Ethik mit unterschiedlichen Formen des Schlussfolgerns verbunden sind. Im Anschluss möchten wir disku‐ tieren, warum die Resultate zur Verbesserung moralischer Kompetenz diver‐ gieren könnten, je nachdem welche Inhalte in der Medizinethikausbildung ver‐ stärkt vermittelt werden. Unsere Hypothese ist, dass, je nachdem welche Rechtfertigungsstrategie und damit Art des Schlussfolgerns im Unterricht stärker im Vordergrund steht, nicht nur die Ergebnisse von Falldiskussionen 218 Orsolya Friedrich / Michael von Grundherr <?page no="219"?> inhaltlich differieren könnten, sondern auch moralische Kompetenz unter‐ schiedlich gut gefördert werden könnte. In eine solche Richtung weisen auch Ergebnisse einer empirischen Studie, die bei ansonsten weitestgehend gleichen methodischen Rahmenbedingungen Un‐ terschiede für die im Medizinethikunterricht erworbene moralische Kompetenz zeigte, je nachdem ob primär kohärentistische oder fundamentalistische Theo‐ rien in Falldiskussionen im Unterrichtsverlauf zur Anwendung kamen (Fried‐ rich/ Hemmerling et al. 2017). Probandinnen und Probanden, die strukturierte Falldiskussionen überwiegend anhand des Modells der Prinzipienethik (also ko‐ härentistisch) durchführten, machten im Kursverlauf tendenziell deutlichere Verbesserungen in ihren Testergebnissen zur moralischen Kompetenz (sie waren also besser in der Lage in einem entsprechenden Test moralische Argu‐ mente konsistent und unabhängig von der eigenen Meinung zu bewerten) als diejenigen, die im Kurs eher mit einem Grundprinzip deduktiv operierendender Ethik-Theorien (also fundamentalistisch) Fälle diskutierten (ebd.). Da das Stu‐ diendesign jedoch nicht darauf ausgelegt war, die Ursache dieser Differenzen weiter zu ergründen, und die Studie auch nicht ausreichend randomisiert war, wären zukünftige empirische Untersuchungen empfehlenswert. Sollten sich diese ersten Befunde bestätigen, wäre freilich zu untersuchen, inwiefern der differenzierende Effekt des Unterrichtsinhalts damit zu erklären ist, dass die aktuell eingesetzten Messinstrumente (Beschreibung siehe Ab‐ schnitt „Ziele und Realität medizinethischer Ausbildung“) für moralische Kom‐ petenz bereits so starke Vorannahmen hinsichtlich präferierten ethischen Be‐ gründungsstrategien enthalten, dass die im Schulungsverlauf gemessene Differenz von moralischer Kompetenz lediglich auf die im Messinstrument ent‐ haltenen Prämissen zurückzuführen ist. Wenn genau die ethische Rechtferti‐ gungsstrategie im Medizinethikunterricht geschult wird, deren Beherrschung das verwendete Instrument vorrangig misst, könnte nur die Effektivität der Schulung genau dieser Kompetenz gemessen werden. Um nicht zirkulär vorzu‐ gehen, muss der Begriff der moralischen Kompetenz unabhängig von den als Unterrichtsgegenstand untersuchten Theorien definiert und operationalisiert werden oder es muss eine Definition gefunden werden, die von allen invol‐ vierten Ansätzen gleichermaßen getragen wird. In dem Testverfahren etwa, das oben dem Vorschlag von Lind folgend be‐ schrieben wurde, ist moralische Kompetenz konzeptionell mit der Fähigkeit verbunden, moralische Argumente konsistent und unabhängig von der eigenen Meinung bewerten zu können. Es bleibt eine offene theoretische Frage, ob es in der medizinischen Praxis auf diese Art der moralischen Kompetenz wesentlich ankommt. Die eben genannte Kompetenz ist unter anderem immer dann erfor‐ 219 Moralische Kompetenz und Medizinethikausbildung im Medizinstudium <?page no="220"?> derlich, wenn man in ethischen Konflikten vermitteln oder sich positionieren muss, in denen die Parteien, ggf. durch situationsbedingt starke moralische In‐ tuitionen und Gefühle, dazu neigen, dogmatisch auf ihren Standpunkten zu be‐ harren. Sie ist auch dann von Bedeutung, wenn man in Dilemma-Fällen, in denen es keine klare Lösung gibt, die eigene Abwägungsentscheidung so begründen möchte, dass sie für einen weiten Personenkreis mit differierenden moralischen und faktischen Überzeugungen nachvollziehbar ist. In der klinischen Praxis sind Situationen dieser Art an der Tagesordnung. Wenn der Arzt - wie in dem Dilemma-Fall des Messinstruments beschrieben - etwa einer Patientin im End‐ stadium ihrer Erkrankung auf ihr Wunsch hin eine hohe und damit letale Dosis eines Medikaments verabreicht, in der Absicht ihre Schmerzen zu lindern, gibt es verschiedene Positionen, die man einnehmen kann und die argumentativ verteidigt werden können. Es wäre zu überprüfen, ob die von diesem Messinstrument erfasste Fähigkeit eher mit dem kognitiven Prozess korreliert, der mit kohärentistischen Begrün‐ dungsstrategien und abduktiven Schlüssen verbunden ist. Ein positiver Test-Wert in den angeführten Messinstrumenten könnte demnach eher dann zu erwarten sein, wenn diese Rechtfertigungsstrategie im Medizinethikunterricht z.B. in Falldiskussionen verstärkt trainiert wird. Zum Beispiel könnte der Semi‐ narleiter oder die Seminarleiterin für den Fall des Arztes, der bei der sterbens‐ kranken Frau die Morphingabe veranlasst hat, mit den Studierenden unter‐ schiedliche Argumente für und gegen die Morphingabe sowie mit den Argumenten jeweils verbundene ethische Prinzipien diskutieren. Wenn am Ende einer solchen Diskussion eine gut begründete Entscheidung herausgear‐ beitet wird, die alle Perspektiven, Prinzipien und Argumente spezifiziert und gegeneinander abgewogen einbezogen hat, dann sind die Studierenden unter Anleitung zu einer kohärentistischen Begründung für diesen Fall gelangt. Übt man ein solches Vorgehen an mehreren Fällen, dann könnte am Ende eines Kurses ein besserer Test-Wert resultieren in einem Test, der auf einer differenz‐ ierten Beurteilung unterschiedlicher moralischer Argumente basiert. Fazit Die Frage, welche Schulungsinhalte im Medizinethikunterricht zu bevorzugen sind, wird besonders interessant, wenn man diese in den Gesamtkontext des Medizinstudiums stellt. Denn im Verlauf des Medizinstudiums scheint morali‐ sche Kompetenz zu sinken. Die Fähigkeit zur kritischen Reflexion und zur ar‐ gumentativen Verteidigung eigener moralischer Positionen, unter Berücksich‐ tigung anderer Perspektiven und Interessen stellen essenzielle Fähigkeiten und 220 Orsolya Friedrich / Michael von Grundherr <?page no="221"?> Fertigkeiten zukünftiger Ärztinnen und Ärzte dar, um gut mit moralischen Kon‐ fliktsituationen umgehen zu können (Biller-Andorno/ Neitzke et al. 2003). Es scheint, als wären die Lerninhalte oder die Art und Weise, wie diese im Medi‐ zinstudium vermittelt werden, hinderlich, um diese Fähigkeiten weiter zu ent‐ wickeln oder aufrechtzuerhalten. Um im Rahmen des Medizinethikunterrichts auf die Abnahme moralischer Kompetenz adäquat antworten zu können, müsste man zunächst verstehen, an welchen Faktoren die Abnahme liegt. Im Medizin‐ studium überwiegt die Anforderung sich viel Wissen anzueignen und dieses wiederzugeben. Der Fokus im Studium liegt weniger auf der Entwicklung al‐ ternativer Lösungen oder der Berücksichtigung verschiedener Perspektiven. Nimmt man eine Erhöhung der im Medizinstudium abnehmenden morali‐ schen Kompetenz als Ziel des medizinethischen Unterrichts, dann scheinen laut einigen empirischen Studien Falldiskussionen in kleineren Gruppen ein geeig‐ netes didaktisches Mittel darzustellen (Eckles/ Meslin et al. 2005). Unklar ist weiterhin, welche Inhalte in Falldiskussionen am ehesten dazu beitragen, mo‐ ralische Kompetenz zu steigern. Wenn wir unter moralischer Kompetenz dieje‐ nigen Fähigkeiten und Fertigkeiten subsumieren, wie dies in entsprechenden moralpsychologischen Messinstrumenten auch der Fall ist, moralische Argu‐ mente konsistent und unabhängig von der eigenen Meinung zu bewerten (wozu auch die Berücksichtigung anderer Perspektiven und Interessen notwendig ist), dann scheinen bestimmte Falldiskussionsstrategien geeigneter, um diese Fähig‐ keiten zu steigern. Unsere Hypothese ist, dass Falldiskussionen, die in Semi‐ naren repetitiv so geführt werden, dass dabei möglichst viele normative Per‐ spektiven eingefangen und abgewogen werden, eher dazu führen könnten, dem Sinken moralischer Kompetenz entgegenzuwirken, als Falldiskussionen, wo ein einzelnes ethisches Grundprinzip auf einen Fall angewendet wird. Die damit verbundene Idee ist, dass die Einübung abduktiver Argumentationsschlüsse und das Ringen um eine kohärentistische Rechtfertigung in Falldiskussionen das Defizit, das im Medizinstudium im Hinblick auf die Förderung moralischer Kompetenz entsteht, eher beheben kann, als Falldiskussionen mit deduktiver Anwendung von Prinzipien. Um diese Hypothesen zu überprüfen, bedarf es weiterer empirischer Erforschung von Medizinethikunterricht mit unterschied‐ lichen Inhalten, die in Falldiskussionen zur Anwendung kommen. Die Anfor‐ derungen an deduktive, induktive und abduktive Schlüsse könnten nämlich aus kognitionspsychologischer Perspektive erheblich differieren und sich sowohl auf ethische Entscheidungsprozesse als auch auf die Ergebnisse von Schulungs‐ prozessen auswirken. 221 Moralische Kompetenz und Medizinethikausbildung im Medizinstudium <?page no="222"?> Literatur Badura, Jens (2002). Kohärentismus. In: Hübenthal, Christoph/ Düwell, Markus/ Werner, Micha H. (Hrsg.). 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Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Praktischen Philosophie, besonders der Ethik, der Politischen Philosophie und der Philosophie der Men‐ schenrechte. Christiane Burmeister ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Ethik in Organisationen: Bildung und Soziales“ am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen. Ihre Schwerpunkte liegen auf der Ethik der Medizin, Pflege und Sozialen Arbeit sowie dem Begriff der (Patienten-)Autonomie. Orsolya Friedrich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, LMU München. Sie arbeitet insbesondere zu Fragen der Medizinethik, Neuroethik, Technikethik, Metaethik und Grund‐ lagenfragen der anwendungsorientierten Ethik. Martin Gebauer ist seit 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Tü‐ bingen und seit 2014 im Nebenamt Richter am Oberlandesgericht Stuttgart. Ak‐ tuelle Forschungsschwerpunkte betreffen Methodenfragen des Internationalen Privatrechts und das Europäische Zivilprozessrecht. Michael von Grundherr ist Privatdozent an der Forschungsstelle Neurophi‐ losophie und Ethik der Neurowissenschaften der Ludwig-Maximilians-Univer‐ sität München und Mitarbeiter der Parmenides Stiftung. Er forscht zu Moral‐ psychologie, Metaethik und Wirtschaftsethik. Andreas Luckner ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Stuttgart. Fachgebiete: Ethik, Technikphilosophie, Ontologie, Ästhetik (Philo‐ <?page no="225"?> sophie der Musik). Historische Schwerpunkte: Aristoteles, Rationalismus, Kant und Deutscher Idealismus, Phänomenologie. Uta Müller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen, dort ist sie ins‐ besondere verantwortlich für interdisziplinäre Ethiklehre. Ihre Forschungsin‐ teressen betreffen aktuelle Fragen der Wissenschaftsethik, medienethische Fragen und Themen der Ethikvermittlung. Eugen Pissarskoi ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Zen‐ trum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Umweltethik, Entscheidungstheorie und Philosophie der Ökonomik. Thomas Potthast ist Professor für Ethik, Theorie und Geschichte der Biowis‐ senschaften sowie Sprecher des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wis‐ senschaften (IZEW) der Universität Tübingen. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: inter- und transdisziplinäre Fragen der Ethik, der Nachhaltigen Entwick‐ lung und der biologischen Vielfalt sowie Geschichte und Theorie der Wissen‐ schaften. Philipp Richter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der TU Darmstadt, Fachgebiet: Praktische Philosophie. Er arbeitet zu Ethik (transzendentale und klugheitsethische Argumentationen), Metaethik und me‐ thodologischen Fragen der Angewandten Ethik. Im Sommersemester 2018 ver‐ tritt er eine Professur für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Hei‐ delberg. Bernhard Schmidt-Hertha ist Professor für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt berufliche und betriebliche Weiterbildung an der Universität Tü‐ bingen. Nach seinem Studium der Pädagogik promovierte und habilitierte er an der LMU München und war u.a. an der Universität Frankfurt a.M. und der TU Braunschweig tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. Lernen in der zweiten Lebenshälfte, informelles Lernen, Medienkompetenz im Erwachsenen‐ alter und Qualität in Erwachsenenbildung und Hochschule. Lieske Voget-Kleschin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Philosophie und Ethik der Umwelt an der Universität Kiel sowie an der Professur für Umweltethik an der Universität Greifswald. Ihre Arbeitsschwerpunkte um‐ fassen Gerechtigkeitstheorien, Konzepte von Nachhaltigkeit, Agrar- und Er‐ nährungsethik, Fähigkeitenansatz und die Bedeutung von Fragen guten Lebens für die angewandte Ethik. 225 Kurzbiographien der Autoren und Autorinnen <?page no="226"?> Micha Werner ist Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Universität Greifswald. Seine Forschungsthemen betreffen Grundlagenfragen der Moralphilosophie (insbes. des zeitgenössischen Kantia‐ nismus und der Verantwortungstheorie) sowie Methodenfragen und Einzel‐ themen der Angewandten Ethik. 226 Kurzbiographien der Autoren und Autorinnen <?page no="227"?> Tübinger Studien zur Ethik · Tübingen Studies in Ethics 9 Die sogenannte Angewandte Ethik vertritt den Anspruch, in konkreten moralischen Problemstellungen einen Beitrag zur Orientierung zu leisten. Dass Ethik einen Bestand an Normen und Prinzipien auf reale Probleme in der Welt „anwendet“, ist freilich zu einfach gedacht. Denn weder die Problemformulierung noch die einschlägigen moralischen Normen können ohne Weiteres als begründet oder stets akzeptiert vorausgesetzt werden. In diesem Band werden Grundfragen der „Anwendung“ in der Ethik kritisch reflektiert. In der Rechtsprechung verlangen aktuelle Entwicklungen eine erneuerte methodologische Auseinandersetzung mit der etablierten Praxis. In der Medizin und im Bildungsbereich lassen sich Fragen der ethischen Bewertung jenseits der „Anwendung“ finden, die unterschiedliche Wege ethischer Reflexion erfordern. Dieser Band trägt dazu bei, ethisches Erwägen konzeptionell und praktisch weiterzudenken und Bedingungen ‚guter‘ Abwägung zu erkunden. ISBN 978-3-7720-8666-3