Große Werke des Films 2
0415
2019
978-3-7720-5674-1
978-3-7720-8674-8
A. Francke Verlag
Günter Butzer
Hubert Zapf
Über 120 Jahre nach den ersten öffentlichen Vorführungen ist der Film längst als eigenständige Kunst anerkannt, die ihre "Großen Werke" ebenso hervorgebracht hat wie die Literatur, die Musik oder die bildende Kunst. Über die Epochen- und Genregrenzen hinweg hat sich ein Kanon von Werken herausgebildet, der als Bezugsgröße für die Einordnung und Beurteilung von Filmen fungiert, der aber auch immer wieder aufs Neue befragt und revidiert werden muss. Die Reihe "Große Werke des Films", die mit diesem Band fortgeführt wird, will diesen dynamischen Prozess der Kanonbildung, -fortschreibung und -revision mitgestalten, indem sie etablierte Filme neu interpretiert und aktuelle Filme für den Kanon vorschlägt.
Der nun vorliegende zweite Band der Reihe präsentiert Werke von Robert Wiene ("Das Kabinett des Dr. Caligari"), Tod Browning ("Freaks"), Orson Welles ("Citizen Kane"), Howard Hawks ("Rio Bravo"), Tom Tykwer ("Lola rennt"), David Fincher ("Fight Club"), Sam Mendes ("American Beauty"), Béla Tarr ("Die Werckmeisterschen Harmonien"), Ethan & Joel Coen ("No Country for Old Men"), und Christopher Nolan ("Inception").
Günter Butzer, Hubert Zapf (Hrsg.) GROSSE WERKE DES FILMS B A N D 2 Große Werke des Films 2 Herausgegeben von Günter Butzer und Hubert Zapf Große Werke des Films Band 2 Eine Ringvorlesung an der Universität Augsburg 2017 herausgegeben von Günter Butzer und Hubert Zapf Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-7720-8674-8 5 Inhalt Vorwort ........................................................................................................................................................ 7 Johanna Hartmann Robert Wiene: Das Cabinet des Dr. Caligari ........................................................................................ 9 Heike Schwarz Tod Browning, Freaks .............................................................................................................................33 Sebastian Feil ‚Größe‘ interpretieren - Der Fall Citizen Kane ................................................................................. 61 Günter Butzer Screwball Western: Howard Hawks, Rio Bravo ................................................................................ 81 Ingo Kammerer Tom Tykwer, Lola rennt ........................................................................................................................107 Matthias Krumpholz David Fincher, Fight Club .....................................................................................................................127 Julia Rössler Sam Mendes, American Beauty ...........................................................................................................151 Jörn Glasenapp Ein Wal ist ein Wal ist ein Wal: Béla Tarr, Die Werckmeisterschen Harmonien .......................167 Rebecca Sommer No Country for Old Men - Western ohne Helden...........................................................................195 Daniela Otto Zwischen Traum, Trauma und Trauer - zur Metaphorik, Liebe und Ästhetik des Schmerzes in Christopher Nolans Inception .............................................................................213 Die Beiträgerinnen und Beiträger......................................................................................................227 Vorwort 7 Vorwort Über 120 Jahre nach den ersten öffentlichen Vorführungen ist der Film längst als eigenständige Kunst anerkannt, die ihre ‚Großen Werke‘ ebenso hervorgebracht hat wie die Literatur, die Musik oder die bildende Kunst. Über die Epochen- und Genregrenzen hinweg hat sich ein Kanon von Werken herausgebildet, der als Bezugsgröße für die Einordnung und Beurteilung von Filmen fungiert, der aber auch stets aufs Neue befragt und revidiert werden muss. So sind kanonische Werke nicht nur auf ihre historische Bedeutung, sondern ebenso auf ihre aktuelle Relevanz hin zu diskutieren; neue Filme müssen auf ihre Kanonizität hin besprochen werden; vergessene Werke schließlich sind neu bzw. wieder zu entdecken. Die Reihe Große Werke des Films , deren zweiter Band hiermit vorliegt, will diesen dynamischen Prozess der Kanonbildung, -fortschreibung und -revision mitgestalten, indem sie etablierte Filme ebenso vorstellt wie aktuelle Filme, denen ein kanonisches Potenzial innewohnt. Die Konzeption der Reihe, die weder thematisch noch generisch eingegrenzt wird, ermöglicht dabei die Offenheit des Blicks und gewährleistet innovative Einsichten durch die Neuinterpretation bekannter Werke ebenso wie durch die Vorstellung unbekannter oder nicht mehr bekannter Filme. Im Laufe der Zeit wird sich so, wenn kein neuer Kanon, so doch ein stetig wachsendes Korpus von Filmen herausbilden, das, so ist zu hoffen, für die Leserinnen und Leser auch immer wieder Überraschungen bereithält. Die neuere Kanonforschung hat gezeigt, dass das mit jeder Kanonisierung - unabhängig von ihrem Geltungsbereich und ihrer Verbindlichkeit - verknüpfte Moment der Selektivität schlichtweg unabdingbar für jede kulturelle Formation und von daher unhintergehbar ist. Werden die Selektion und die damit verbundenen Wertungsprozesse nicht reflektiert, vollziehen sie sich unter der Hand und damit ungesteuert. Auf Grund dieser Prämisse erweist es sich als ebenso klug wie zukunftsweisend, Kanonisierung als reflexiven Vorgang gleichermaßen zu betreiben wie zu beobachten, um weder einer falschen Ontologisierung ‚großer Filme‘ als überzeitliche Qualität anheimzufallen, noch die Relevanz von Selektivität für die kulturelle Dynamik zu leugnen. Nicht zuletzt ist dabei auch zu berücksichtigen, dass ästhetische Kanones - und mit ihnen der filmische - nicht nur und sogar nicht primär aus einem Korpus von hochgeschätzten Werken bestehen, sondern in weitaus stärkerem Maße aus ‚Deutungskanones‘ (Renate von Heydebrand), die die Interpretation der Filme ebenso anleiten wie sie eine bestimmte Lektüre eines Films als kanonisch verbreiten. Veränderungen im filmischen Kanon vollziehen sich zuallererst im Bereich des Deutungskanons, und hierfür sollen die vorliegenden Interpretationen Anstöße und Argumente liefern. Dass wir die seit Jahrzehnten erfolgreiche Publikationsreihe Große Werke der Literatur (zuletzt erschienen ist Band 14) durch die Reihe Große Werke des Films erweitern und ergänzen, nicht aber ersetzen wollen, hat - neben der ästhetischen Produktivität der Filmkunst - auch zu tun mit Veränderungen dessen, was die Kultursemiotik als ‚kulturelle Texte‘ beschreibt. Hier vollzieht sich der Prozess der Kanonbildung, der nach Jurij Lotman essentiell für die Selbstorganisation einer Kultur ist, auf einer höheren Ebene: Ein kanonischer kultureller Text ist ein Text, der im für die Kultur prestigereichsten Medium übermittelt wird und der 88 Vorwort der besonderen Pflege - durch Ritualisierung, Speicherung, Interpretation, Auslegung, Übersetzung und Autorisierung - unterliegt. Die Präferenz bestimmter Medien ist aber einem Wandel unterworfen, oder umgekehrt besteht kultureller Wandel nicht zuletzt im Wechsel des dominanten Mediums, und der Film ist Teil eines solchen Wechsels in der Dominanz kultureller Texte, wie er insbesondere durch die zunehmende Bedeutung ikonischer Zeichen und deren Medien zum Ausdruck gelangt. Dabei kann von einer einfachen Opposition von sprachlichen und ikonischen Zeichen nicht die Rede sein; vielmehr treffen beide im filmischen Text zusammen, verbunden mit einem breiten Spektrum akustischer Zeichensysteme, das von Geräuschen und Lauten bis hin zur Filmmusik reicht. Es ist diese spezielle ästhetische Faktur, die den Film nicht nur als eine Kunst sui generis ausweist, sondern auch seine vielfältigen Beziehungen zur Literatur ermöglicht, so dass beide Künste nicht nur konkurrieren, sondern zugleich interagieren und eine intermediale Komplexität erzeugen, die als solche charakteristisch für unsere heutige Kultur geworden ist. Auch dieser nun nicht mehr filmimmanente, sondern gesamtkulturelle Kanonisierungsprozess ist mit im Blick zu behalten, wenn man sich den ‚großen Werken des Films‘ zuwendet. Der vorliegende Band setzt drei Schwerpunkte: Neben zwei frühen Klassikern des Horrorgenres (Robert Wienes Stummfilm Das Kabinett des Dr. Caligari und Tod Brownings Freaks) werden mit Orson Welles‘ Citizen Kane und Howard Hawks‘ Rio Bravo zwei hochbzw. höchstkanonisierte Werke der 1940er und 1950er Jahre präsentiert, die auf raffinierte Weise mit Genrekonventionen und Publikumserwartungen spielen. Den dritten, quantitativ dominierenden Schwerpunkt bilden neuere und neueste Filme deutscher, ungarischer und US-amerikanischer Provenienz, die zum einen kongeniale Literaturverfilmungen (David Finchers Fight Club , Béla Tarrs Die Werckmeisterschen Harmonien , Ethan und Joel Coens No Country for Old Men ) und zum anderen international erfolgreiche komplexe Spielfilme (Sam Mendes‘ American Beauty , Tom Tykwers Lola rennt , Christopher Nolans Inception) umfassen. Die Beiträge nehmen die Filme aus werkanalytischer, kulturwissenschaftlicher und rezeptionsgeschichtlicher Sicht in den Blick. Sie gehen zurück auf eine Augsburger Ringvorlesung im Studienjahr 2016/ 17, an der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Philologisch-Historischen Fakultät sowie Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftler mitgewirkt haben. Ziel der Reihe, die fortgesetzt werden soll, ist die sukzessive Etablierung eines Kanons von Einzelinterpretationen bedeutender Werke der Filmgeschichte, die zugleich als Reflexion kanonrelevanter Prozesse und deren Deutungskanones fungiert. Der herzliche Dank der Herausgeber gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre Unterstützung des Projekts sowie dem Francke Verlag und besonders dessen Lektor Tillmann Bub für die gewohnt zuverlässige Zusammenarbeit. Ihr spezieller Dank gilt Katharina Steffelmaier, Katharina Braun und Fritz Bommas für die Sorgfalt, mit der sie die Beiträge redigiert und das Manuskript für den Druck eingerichtet haben. Augsburg, im Februar 2019 Günter Butzer und Hubert Zapf Robert Wiene: Das Cabinet des Dr. Caligari Johanna Hartmann I. Der Film Das Cabinet des Dr. Caligari ist vielen ein Begriff, unabhängig davon, ob er gesehen wurde oder nicht, hat er doch die Geschichte der deutschen, der internationalen Filmproduktion, -ästhetik und -kritik, aber auch die Populärkultur nachhaltig geprägt. 1 Gleichzeitig verstellen Begriffe wie z. B. ‚caligaresk‘ oder ‚Caligarismus‘, 2 die aus dem Film eine paradigmatische Kategorie machen, den Blick auf die Heterogenität des Weimarer Kinos. Das Cabinet des Dr. Caligari ist ein Stummfilm in sechs Akten aus dem Jahr 1920, der sich klaren Genrezuweisungen verweigert, da er Elemente des Horrorfilms, des Psychothrillers, des Detektivfilms oder auch der Romanze aufzeigt. 3 Das von Carl Mayer und Hans Janowitz verfasste 1 Der Film hatte eine ungemeine Wirkung auf die literatur-, film-, und mediengeschichtliche Entwicklung des 20. und 21. Jahrhunderts. Dies zeigt sich in filmwissenschaftlichen Titeln wie Hantkes Caligari‘s Heirs: The German Cinema of Fear after 1945 oder z. B. Prawers Caligari‘s Children: The Film as Tale of Terror und einer Vielzahl von Primärtexten unterschiedlicher medialer Ausprägungen. Hier kann man zwischen Adaptationen, ästhetischen Imitationen und Referenzen unterscheiden. Vgl. hierzu Kaul, „Retrospektive“, S. 60ff. oder auch Gregor u. Patalas, Geschichte des Films , S. 59-61. Filme, die von Caligari beeinflusst sind, sei es im expressionistischen Setdesign, der Ästhetik von Licht- und Schatteneffekten, oder auch dem Sujet, sind z. B. Genuine, Raskolnikow, Orlacs Hände (alle von Wiene), Von morgens bis Mitternacht (Kaiser), Das Testament des Dr. Mabuse (Lang), oder Das Wachsfigurenkabinett (Leni). Als Adaptationen wäre die Oper The Cabinet of Dr. Caligari von John Moran (1997) zu nennen, weiterhin der mit gesprochenem Dialog versehene Film gleichen Titels aus dem Jahr 2005, der sich im Hinblick auf die Raumgestaltung weitestgehend an sein filmisches Vorbild hält, in dem die Verbindung von Visuellem und Auditivem aufgrund der gesprochenen Dialoge jedoch grundlegend anders gestaltet ist. Die Musik, die beim Originalfilm zusammen mit der Raumgestaltung und der Handlung synergetisch zusammenwirkt, wird in der Fassung von 2005 allerdings zur Hintergrundmusik degradiert. Die Adaptation The Cabinet of Dr. Ramirez (1991) ist ein zwar in Farbe aber stumm gehaltener, opernhafter Film, der in der klaustrophobischen, architektonisch durchstrukturierten Büro- und Börsenwelt New Yorks der 1990er Jahre spielt. Referenzen auf Caligari finden sich u. a. in Upton Sinclairs Roman They Call Me Carpenter , in dem ein Mob versucht, den Erzähler daran zu hindern, eine Filmvorführung des Films Das Cabinet des Dr. Caligari anzusehen. Weiterhin finden sich in Donald Barthelmes postmoderner Kurzgeschichte „Up, aloft in the air“, die in der Sammlung Come Back, Dr. Caligari erschien, Referenzen auf Dr. Caligari, wodurch allein durch die Nennung des Namens ‚Dr. Caligari‘ verschiedene Medien und Genres bzw. die durch den Film beeinflussten Texttraditionen aufgerufen werden. Ein weiteres Beispiel aus den 1990er Jahren ist die architektonische Ausgestaltung des Musikvideos „Otherside“ von den Red Hot Chili Peppers. Der deutsche expressionistische Film und Caligari - zumindest in ästhetischer Hinsicht als Prototyp - hatte weiterhin maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung des Filmgenres Film noir in den USA. Vgl. hierzu Budd, „Moments“, S. 102-108. 2 In Frankreich wurde ‚Caligarisme‘ als Begriff geprägt. Vgl. Kaul, „Bestandsaufnahme“, S. 7. 3 Das lange verschollene Drehbuch trägt den Untertitel „Phantastischer Filmroman in 6 Akten / von Carl Mayer und Hans Janowitz“ und stellt sich damit in die Folge mehrerer Texttraditionen, denen des Films, 10 10 Johanna Hartmann Skript wurde vom Decla-Produzenten Erich Pommer angenommen, 1919 filmisch umgesetzt und am 26. Februar 1920 im Berliner Marmorhaus uraufgeführt. 4 Für die Gestaltung des Setdesigns waren die Künstler Hermann Warm, Walter Reimann und Walter Röhrig verantwortlich. Die Regie übernahm, nachdem Fritz Lang abgesagt hatte, Robert Wiene. Die Frage der Autorschaft, insbesondere hinsichtlich der ästhetischen Gestaltung und der Struktur des Films, ist seit seiner Premiere umstritten. 5 Hier ist besonders Hans Janowitz‘ Schrift „Caligari - The Story of a Famous Story“ hervorzuheben, die als maßgebliche Grundlage für Kracauers Interpretation diente. Obwohl verloren geglaubte Texte in den letzten Jahren wiedergefunden wurden und auch manche Fragen geklärt und rekonstruiert werden konnten, die die finale Gestalt des Films und Fragen der Autorschaft betreffen, ist der Film doch immer noch mit Mythen besetzt und die Frage nach der künstlerischen Verantwortung nicht konsensual geklärt. Besonders auffällig ist, dass dem Regisseur Robert Wiene in zeitgenössischen Dokumenten nur eine geringe Mitwirkung am Film zugestanden wird. 6 Auch was die Filmkritik anging, polarisierte der Film. Die Urteile fielen höchst unterschiedlich aus, da die modernistische Avantgarde ihn als Interpretationsfolie verwendete und sich so an dem Film abarbeitete. So schreibt Kurt Tucholsky unter dem Pseudonym ‚Peter Panter‘ am 11. März 1920 in der Weltbühne , er hätte „[s]eit Jahren […] nicht so aufmerksam im Kino gesessen wie beim Kabinett des Dr. Caligari“, der Film zeige „etwas ganz Neues“, da er „endlich! Endlich! - in einer völlig unwirklichen Traumwelt“ spiele. 7 Sergej Eisenstein hingegen lehnte die Ästhetik des Films als barbarisch und überzogen ab: „this barbaric carnival of the destruction of the healthy human infancy of our art, this common grave for normal cinema origins, this combination of silent hysteria, particolored canvases, daubed flats, painted faces, and the unnatural der Prosa und der Dramatik. Vgl. Prawer, „Filmroman“, S. 15. 4 Zur Rezeption in Europa und in den USA vgl. Budd, „Moments“, S. 52-62, oder Thompson, „Dr. Caligari“. 5 Tatsächlich findet sich in vielen Darstellungen der Vorwurf, dass viel „in den Film hineingeheimnißt“ worden sei (Feld, „Robert Wiene“, S. 20). Vgl. auch Warm, „Gegen die Caligari-Legenden“. 6 Der Bühnendesigner Robert Herlth, der mit Hermann Warm und Walter Röhrig bei anderen Filmen zusammengearbeitet hatte, behauptete z. B. Folgendes: „Die Wahrheit ist, daß gerade in diesem Falle der Regisseur [Wiene, JH] nicht nur nicht [im Original gesperrt, JH] derjenige war, der Stil und Charakter dieses wohl seltenen, aber dennoch erfolgreichen, ja sogar trotz seiner expressionistischen Bildform populären Filmwerkes bestimmte, sondern sogar gegen die Gestaltung war, die einzig und allein aus der Initiative der drei Maler kam, die ihre Entwürfe nicht allein für den Bau, sondern für die Szenen schlechthin schufen […] [D]ie verantwortlichen Filmschaffenden erfanden das, was sie auf der Leinwand zeigen wollten, in gemeinsamer Diskussion, Planung und Skizzierung“ („Aus einem Vortrag“, S. 5). Erst später wurde versucht, Wiene zu rehabilitieren. Z. B. interpretiert Kaul im Jahr 1970 den Film als Produkt der Verhandlungen zwischen den drei Bühnenausstattern und Wiene, vgl. „Bestandsaufnahme“, S. 7-8. Auch Pegge z. B. findet, dass die ästhetische Innovation des Films besonders auf Schnitt und Montage zurückzuführen sei, die in der Hand Wienes lagen, vgl. „ Caligari “, S. 136. Auch Robinson rehabilitierte Wiene in seiner Darstellung und schreibt Wiene auch die Verantwortung für den erzählerischen Rahmen zu, vgl. Das Cabinet , S. 25. Zu Wienes Schaffen vgl. Jung und Schatzberg, „The invisible man“, Beyond Caligari oder auch „Dr. Wiene“. Im letztgenannten Artikel machen die Autoren v. a. Kracauers Text für den Umschwung der öffentlichen und wissenschaftlichen Meinung Wienes Arbeit gegenüber verantwortlich und werfen Kracauer eine unzulässige Methoden- und Korpuswahl vor, weswegen der Film eben nicht als mentalitätsgeschichtliche Quelle untersucht werden könne. Andere wiederum sehen die Hauptleistung bei Carl Mayer, dessen visuelle Schreibweise v. a. das Augenmerk der Forschung erhielt. Vgl. z. B. Luft, „Notes“, oder auch Luft, „Carl Mayer“, S. 29. 7 Tucholsky, „Caligari“, S. 612. Robert Wiene: Das Cabinet des Dr. Caligari 11 broken gestures and actions of monstrous chimaeras“. 8 Auch Blaise Cendrars veröffentlichte in der avantgardistischen Zeitschrift Broom einen Verriss, in dem er dem Film u. a. anlastet, „die gesamte moderne Kunst in Verruf zu bringen“, da die moderne Kunst auf „Ausgeglichenheit, Intensität und mentale Geometrie“ beruhe und nicht der dargestellten Geisteskrankheit entspräche, 9 und André Bazin bezeichnet den Film gar als „failure“. 10 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass der eklektische Zugriff des Films auf verschiedene Kunst- und Denktraditionen eine Ästhetik erzeugt, die insbesondere in Bezug auf die Inszenierung epistemologischer Vorgänge das Oszillieren zwischen Rationalität und Antirationalität, Wissenschaft und Wahnsinn, oder auch den Einbruch des Irrationalen in die Lebenswelt des Individuums darstellt. Dazu sollen im Folgenden verschiedene Dimensionen des Films beschrieben und interpretiert werden: erstens, die Plotstruktur; zweitens, die Figurenkonstellation; drittens, die expressionistische Gestaltung des Films, wobei hier die hervorgebrachte Ästhetik mit verschiedenen zeitgenössischen Theorien zur Darstellung des Unbewussten im Medium Film gelesen wird; und viertens, die Diskurse, die den Film umgeben, da die Geschichten und Mythen, die den Film umgeben, für den Einfluss und Bekanntheitsgrad des Films zentral sind. Besonders Siegfried Kracauers Buch From Caligari to Hitler aus dem Jahr 1947 wird für die „kulturelle Währung“ des Films verantwortlich gemacht. 11 II. Die Handlung des Films ist in einen einführenden Rahmen, eine Binnenhandlung und einen abschließenden Rahmen, der wiederum dreigeteilt ist, strukturiert. Auch in der Binnenhandlung sind weitere Narrative intradiegetisch eingebettet. Der Film beginnt mit einem Gespräch zwischen dem Protagonisten Francis und einem älteren Mann. Nachdem eine junge Frau tranceartig an beiden vorbeigezogen ist, kündigt Francis an, die Geschichte dieser jungen Frau, die er als seine Braut Jane einführt, erzählen zu wollen. Diese kurze Sequenz etabliert die Rahmenhandlung des Films und Francis als ihren Erzähler. Was nun folgt, ist die Binnenerzählung vom Kuriositätenkabinett des Dr. Caligari. Dabei handelt es sich um eine Schaubude, für die Caligari versucht, eine Genehmigung für den Holstenwaller Jahrmarkt einzuholen, vom Stadtsekretär aber erst einmal brüsk abgewiesen wird. Dieser wird in derselben Nacht ermordet. Bei Caligaris erster Vorführung sind Francis und sein Freund Alan, die beide in Jane verliebt sind, anwesend. Alan lässt sich nun gegen den Willen Francis‘ von Cesare seinen Todestag vorhersagen und erfährt, dass er nur noch wenige Stunden zu leben habe. Tatsächlich wird auch er in der folgenden Nacht ermordet, und zwar von Cesare, der von Caligari hierzu abgeordnet wird. Aufgrund der Prophezeihung verdächtigt Francis nun Caligari, den er bei der Polizei meldet. In derselben Nacht verübt nun aber ein Trittbrettfahrer einen Mordversuch, was Cesare und Caligari erst einmal entlastet. Jane macht sich in derselben Nacht auf nach Holstenwall, wo es in Caligaris Schaubude zu einer ersten verstörenden Begegnung mit Caligari und Cesare kommt. Die Stadt wird erneut aufgerüttelt, als in der folgenden Nacht Jane von Cesare entführt wird. Es ist hier der Anblick der schlafenden Jane, der Cesare davon 8 Eisenstein, „Dickens, Griffith“, S. 203. 9 Cendrars, „The Cabinet of Doctor Caligari“, S. 351 (meine Übersetzung). 10 Bazin, „The Screen“, S. 109. 11 Vgl. Budd, „Introduction“, S. 1 (meine Übersetzung). 12 12 Johanna Hartmann abbringt, auch sie zu ermorden. Diese Sequenz ist mit Einstellungen montiert, in denen Francis Caligari und den scheinbar schlafenden Cesare in ihrem Wohnwagen beobachtet. Francis weiß nicht, dass es nicht Cesare ist, den er zu sehen glaubt, sondern eine ihm gleichsehende Puppe. Die Entführung Janes wird von der Stadtbevölkerung entdeckt, sie verfolgt Cesare und zwingt ihn dazu, sie auf einer Brücke zurückzulassen, woraufhin Cesare entkräftet stirbt. Erst bei der anschließenden Durchsuchung von Caligaris Wohnwagen stellt sich heraus, dass Caligari eine Puppe als Alibi eingesetzt hatte. Nachdem Caligari nun entlarvt ist, flieht er in eine Nervenheilanstalt, wohin er von Francis verfolgt wird und wo dieser schockiert feststellen muss, dass es sich bei Caligari um den Direktor der Anstalt handelt. Francis überredet nun andere Ärzte, in der darauffolgenden Nacht mit ihm zusammen das Studierzimmer von Caligari zu durchsuchen, wobei sie zwei Bücher finden, einmal ein wissenschaftliches Werk zum Somnambulismus und weiterhin das Tagebuch von Caligari. In dem wissenschaftlichen Werk, das intradiegetisch in die Handlung eingebettet ist, findet sich nun auch die Erklärung für die Morde in Holstenwall: Ein gewisser Dr. Caligari, ein Mystiker aus dem 18. Jahrhundert, schreibt über die Möglichkeit, Somnambule gegen ihren Willen zum Morden instrumentalisieren zu können. Caligaris Tagebuch stellt nun die Aufzeichnungen der Umsetzung dieser ‚wissenschaftlichen‘ Erkenntnisse seines Vorgängers dar. Diese filmische Sequenz besteht aus einer Montage von Einstellungen, die die lesenden Männer, den in seinem Zimmer schlafenden Caligari und die in mentale Bilder übersetzte Leseerfahrungen von Francis und den Ärzten zeigen, also Transformationsprozesse, die durch simultane Auf- und Abblendungen inszeniert werden. Wir sehen in dieser Sequenz, wie Caligari der neu eingelieferte Somnambule Cesare präsentiert wird, er seinen Glücksfall erst nicht glauben kann, sich aber darüber mit seinen eigenen Augen und Händen versichert. Die Einlieferung Cesares führt bei Caligari zu Zwangsvorstellungen und dem ihm durch seine Umwelt eingegebenen Befehl, zu „Caligari“, d.h. zu seinem Vorbild aus dem 18. Jahrhundert, werden zu müssen, 12 was im Film durch Schrifteinblendungen visualisiert wird (vgl. Abb. 1, Abb. 2). 12 Prawer macht uns darauf aufmerksam, dass diese im Bild schwebende Schrift in Marcel L‘Herbiers L‘Inhumaine von 1924 wiederaufgenommen wird und auch einen weiterreichenden Einfluss auf den französischen Film der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte. Vgl. Caligari‘s Children , S. 166. Abb. 1: Wiene, Das Cabinet des Dr. Caligari (1: 01: 13) Abb. 2: (1: 02: 30) Dr. Caligari, der Protagonist des Films, wird zur faustischen Figur, die ungeachtet wissenschaftsethischer Überlegungen versucht, die Experimente seines Vorgängers zu wiederholen und zu bestätigen. Als Caligari den toten Cesare sieht, erleidet er einen Nervenzusammenbruch, wird in eine Zwangsjacke gesteckt und in eine Zelle gesperrt. Francis sieht dabei zu, wie sich die Türe hinter Caligari schließt. Nun führt der Film zurück zum zweiten und ab- Robert Wiene: Das Cabinet des Dr. Caligari 13 14 14 Johanna Hartmann schließenden Teil der Rahmenhandlung, der wiederum dreigeteilt ist. Die erste Szene greift den Anfang des Films auf, in dem Francis mit einem älteren Herrn spricht, der sich nun als Arzt der Nervenheilanstalt herausstellt, in der Francis selbst, zusammen mit Jane und Cesare, institutionalisiert ist. Als Francis nun den Direktor als den Dr. Caligari erkennt, der für die vermeintlichen Morde in Holstenwall verantwortlich ist, versucht er - die Binnenhandlung des Films aufgreifend - die anwesenden Ärzte von seiner Sicht der Dinge zu überzeugen. Er wird nun selbst in eine Zwangsjacke gesteckt und - und dies stellt die letzte Szene der abschließenden Rahmenhandlung dar - in eine Einzelzelle gesperrt, in der die Raumanordnung der letzten Szene der Binnenhandlung wiederaufgenommen wird (vgl. Abb. 3, Abb. 4). Abb. 3: (1: 06: 37) Abb. 4: (1: 12: 35) Caligari beobachtet nun, wie sich die Türe hinter Francis schließt, er nimmt seine Brille ab, blickt in die Kamera und behauptet, er wisse, woran der Patient leide und wie er zu heilen sei. Mit diesem letzten Blick auf Caligari endet der Film. Dieses ambige Ende lässt verschiedene Deutungen zu: zum einen, dass Francis tatsächlich geisteskrank ist und die Binnenhandlung seiner Fantasie entspringt, oder, dass es Caligari gelungen ist, Francis, der über seine Verbrechen Bescheid weiß, als Verrückten darzustellen und ihn einsperren zu lassen, um so seine kriminellen Taten zu vertuschen. III. Die Figuren des Films können für sich allein und in Beziehung zueinander interpretiert werden. Es lassen sich zwei trianguläre Konstellationen identifizieren, einmal zwischen Caligari, 13 Cesare und Francis, und weiterhin zwischen Francis, Alan und Jane. 14 Diese beiden Konstellationen, von denen die erstere mit den Genres Psychothriller, Detektivfilm und Horrorfilm verknüpft sind und die letztere mit der Romanze, sind wiederum miteinander verwoben. Weiterhin kann man Alter-Ego-Konstellationen zwischen Alan und Francis, Francis und Cesare sowie Cesare und Caligari identifizieren. Janes Funktionsspektrum und die charakterliche Ausgestaltung bleiben sehr eingeschränkt. Sie ist das Objekt des Begehrens von Francis und Alan, die beide in sie verliebt sind, aber auch von Caligari, der versucht, sich ihrer mit der Hilfe Cesares zu bemächtigen. Sie tritt somit als Typ der ‚Damsel in Distress‘ auf, wie man sie in Gothic Tales der europäischen und amerikanischen Romantik zuhauf findet. 15 Auch Alan tritt nur am Anfang als Nebenbuhler von Francis auf, wird aber nicht zuletzt aufgrund seines ‚Wissen-Wollens‘ umgebracht. Francis ist zum einen der Verehrer von Jane, andererseits eine Detektivfigur, die den Mord an Alan aufklären will. Wie auch Poes Kommissar Dupin geht Francis seinem Verdacht nach und sucht nach Beweisen, indem er Caligari mit seinen eigenen Augen beobachtet. Regel hingegen diagnostiziert Francis mit „klassische[r] Schizophrenie“, um „erstmals das zu visualisieren, also vor Augen zu führen, was bisher nur im Kopf, (hinter den Augen! ), seinen Platz hatte […]“ (Hervorhebung im Original). In dieser Interpretation überschneiden sich mediale und medizinische Diskurse. 16 In der titelgebenden Figur des Dr. Caligari, der als Wissenschaftler, Psychiater und Zirkusaussteller auftritt, überlagern sich wissenschaftsethische und kulturelle Diskurse. Die Darstellung der Figur des Psychiaters ist, angesichts der zeitgenössischen Präsenz der Psycho- 13 Der Name des Protagonisten soll laut Janowitz „unbekannten Briefen von Stendhal“ entstammen. Prawer, „Filmroman“, S. 14. 14 Prawer mutmaßt, dass die für die Figuren verwendeten englischen bzw. niederländischen Namen im deutschen Kleinstadtsetting „auf ein internationales Publikum spekuliert[en]“ oder eventuell auch „das Phantastische des Films weiter verstärken“ sollten („Filmroman“, S. 14). 15 Die Darstellung von Jane ist als äußerst passiv zu bezeichnen, sie ist in weiß gekleidet und verkörpert die jungfräuliche Unschuld und wird bei ihrer Entführung ohnmächtig. Erst gegen Ende des Films erlangt sie eine durch das Setting gebrochene Autorität, da sie als ‚Königin‘ der Anstalt auf einem Thron sitzend dargestellt ist. Zur Darstellung Janes vgl. auch Petro, „The Woman“. Prawer stellt weiterhin einen Zusammenhang zwischen Caligari und den anderen „man-made-monsterand vampire-tales“, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Konjunktur hatten und die sich zentral auf die europäische Romantik bezogen, fest. Vgl. Caligari‘s Children , S. 1 und Kapitel 6, „The Iconography of the Terror-film“, im selben Band. 16 Regel, „Einleitung“, S. 5. Robert Wiene: Das Cabinet des Dr. Caligari 15 16 16 Johanna Hartmann analyse, 17 von zentraler kultureller Bedeutung. Der wissenschaftliche Ethos des Psychiaters steht hier jedoch in eklatantem Gegensatz zur Mystik des 18. Jahrhunderts, insbesondere hinsichtlich der damit einhergehenden religiösen Implikationen, die sich im Film in Form des wissenschaftlichen Werks des Dr. Caligari aus dem 18. Jahrhundert zum Somnambulismus manifestieren. 18 Er ist ein faustischer Wissenschaftler, der ungeachtet wissenschaftsethischer Bedenken Menschen als Versuchsobjekte instrumentalisiert. Visuell manifestiert sich dies in der Raumanordnung von Caligaris Kammer, die als Zitat von bildlichen Darstellungen von Fausts Studierzimmer interpretiert werden kann. Faust wie auch Caligari werden in ihrer räumlichen Umgebung als Wissenschaftler dargestellt, die von den sie umgebenden Büchern und Materialien fast umzingelt und eingeschlossen erscheinen und trotz bzw. gerade wegen ihrer Wissensfülle und der damit einhergehenden Frustration über ihr Unwissen zu Getriebenen und Besessenen werden, deren Tun von außen kontrolliert wird (vgl. Abb. 5). Abb. 5: (00: 53: 34) Sowohl Caligari als auch Cesare sind Besessene, was sich auch in der Darstellung ihrer Körperlichkeit manifestiert. Tucholsky schreibt z.B.: Und die Mimen? Werner Krauss wie aus einer Hoffmannschen Erzählung herausgeschnitten, er ist wie ein dicker Kobold aus einem deutschen Märchen, ein Bürgerteufel, eine seltsame Mischung von Realistik und Phantasie. Besonders bei ihm ist zu spüren: Niemand geht durch solche Gassen, weil es sie nicht gibt - ginge aber Einer, dann könnte er nur so gehen wie dieser unheimliche Kerl. […] Veidt 17 Vgl. Cléments psychoanalytische Betrachtung „Charlatans and Hysterics“ oder auch Walker, der argumentiert, dass der Film den Konflikt zwischen Freudscher Subjektkonstitution und einem „älteren moralphilosophischen Modell des Selbst“ (meine Übersetzung), das durch das erstgenannte ersetzt werden sollte und aus dem der Effekt des Horrors entsteht, darstellt. („Grip“, S. 617). 18 Vgl. auch Thiele, „Die dunklen Seiten“. stelzt dünn und nicht von dieser Erde durch seine wirre Welt: einmal ein herrlicher Augenaufschlag, einmal wie von Kubin, schwarz und schattenhaft und ganz lang an einer Mauer hingespensternd. 19 Caligari und Cesare sind in expressionistische Kostüme gekleidet und ausdrucksstark geschminkt. Beider Bewegungen sind surreal-unnatürlich und besonders durch Cesares enganliegende Kleidung wird seine skelettähnliche Figur herausgestellt, die seine Death-in-Life-Situation symbolisiert. Ihre Beziehungskonstellation eröffnet Fragestellungen (wissenschafts-)ethischer Natur, die auch in anderen filmischen und dramatischen Texten des frühen 20. Jahrhunderts aufgenommen wurden. Insbesondere die Instrumentalisierung willenloser Menschen, die sich in verschiedenen Figurentypen kristallisiert - dem Golem, dem Sklaven oder auch dem Roboter -, ist ein weit verbreiteter Topos in dieser Zeit. Zu nennen wären hier exemplarisch Paul Wegeners und Carl Boeses Film Der Golem, wie er in die Welt kam (1920). In diesem Film geht es um einen Golem, eine von einem jüdischen Antiquitätenhändler für Arbeitszwecke geschaffene Lehmstatue, die sich im Zuge des Films in die Frau seines Schöpfers verliebt und mehrere Morde begeht. Ein Beispiel aus dem Bereich Drama wäre Karel Capeks Stück R.U.R. (tschechisch Rossumovi Univerzální Roboti, engl. Rossum Universal Robots, 1920), ein dystopisches Science-Fiction-Stück, in dem künstlich hergestellte Menschen erst menschliche Arbeitskraft ersetzen, bald aber auch als Soldaten bzw. Kriegsmaschinen eingesetzt werden. In allen angesprochenen Beispielen - Der Golem , R.U.R. und Das Cabinet des Dr. Caligari - wenden sich die instrumentalisierten Figuren letztendlich gegen ihre Schöpfer und werden so zur Allegorie des außer Kontrolle geratenen wissenschaftlichen Experiments. Cesare ist eine solche Figur, 20 die aber auch als frühe Form des Zombies interpretiert werden kann. Obwohl er als Individuum dargestellt wird, ist er auch ein entindividualisierter Arbeitssklave, der aufgrund seiner Krankheit vermeintlich willenlos geworden ist und von Caligari in einem Sarg gehalten, schlafend gefüttert und öffentlich ausgestellt wird, und dem so alle sinnlichen und ästhetischen Erfahrungen des Lebens verwehrt sind. Für den Mystiker Caligari sind Somnambule Medien, für den Protagonisten des Films ist er ein Patient, den er aber gleichsam als Werkzeug missbraucht, nicht in erster Linie um Menschen zu töten, sondern um sein Geschäftsmodell wirksam umzusetzen. 21 Caligaris Kabinett kann auch im Kontext voraufklärerischer Kuriositätenkabinette verortet werden. Diese Sammlungen, die als Vorläufer heutiger Museen interpretiert werden können, stellten auch absonderliche Ausformungen menschlicher oder tierischer Körper aus. Diese Kuriositätenkabinette wurden auch als ‚Wunderkammern‘ bezeichnet, ein Begriff, der die Spektakelhaftigkeit der Exponate mit dem Entfachen wissenschaftlicher Neugier durch Verwunderung verknüpft. Caligaris Schaubude muss in diesem Zusammenhang als Einbruch des Irrationalen in eine ansonsten aufgeklärte Welt verstanden werden. Weiterhin ist hier die gesellschaftliche Einrichtung des Jahrmarkts bzw. des Zirkus relevant, Orte, an denen außer- 19 Tucholsky, „Caligari“, S. 612-613. 20 Das Wort ‚Roboter‘, auf tschechisch ‚robota‘, das durch Capeks Stück in unseren Sprachgebrauch gelangte, bedeutet seiner ursprünglichen Bedeutung nach ‚Arbeit‘ bzw. ‚Fronarbeit‘ und geht auf das altkirchenslawische Wort ‚rab‘ für Sklave zurück. Hier ist weiterhin bemerkenswert, dass es eben nicht Caligaris Ziel ist, seinen Patienten zu heilen, sondern sich durch seine Krankheit einen Vorteil zu verschaffen. 21 Hier können Vergleiche zu Ärzten des 19. Jahrhunderts gezogen werden, z. B. zu Franz Anton Mesmer (von seinem Namen leitet sich das englische Wort ‚to mesmerize‘ ab) oder auch Jean-Martin Charcot, der seine Patientinnen ‚hypnotisierte‘ und so ‚hysterische‘ Anfälle provozierte. Vgl. hierzu Clément, „Charlatans and Hysterics“. Robert Wiene: Das Cabinet des Dr. Caligari 17 18 18 Johanna Hartmann gewöhnliche Fähigkeiten (z. B. durch Zauberer oder Akrobaten) oder auch körperliche Absonderlichkeiten aus- und dargestellt werden. Fischer-Lichte interpretiert den Zirkus als eine gesellschaftliche Institution, die gerade über die Kontrolle des Körpers und seiner Disziplinierung ihr Attraktionspotenzial gewinnt. 22 Der Mensch wird zur übernatürlichen Maschine, 23 der weder Nägel, glühende Kohlen unter den Fußsohlen, noch verschluckte Schwerter etwas ausmachen können. Gleichzeitig wird er zur Ware innerhalb einer Verkaufsmaschinerie, in der sich das Publikum, das für die Gesellschaft steht, durch ihre voyeuristische Beteiligung an dem Spektakel mitschuldig macht. Bei diesen Schaulustigen wird keine Empathie ausgelöst, denn sie betrachten Cesare als Kuriosum, das der Befriedigung ihrer morbiden Neugier dient, die sie in aller Anonymität - die Kamera zeigt sie bis auf Alan alle von hinten - befriedigen können. Durch ihre voyeuristische Teilnahme an der Kommodifizierung eines offensichtlich willenlosen Menschen machen sie sich zu Caligaris Komplizen, ja zu Tätern, die sich durch ihr Unterlassen schuldig machen. In dem Moment, als Alan sein Schicksal wissen will und in diesem Sinne partizipiert, hat er sein eigenes Schicksal besiegelt: Er erfährt, dass er bald sterben wird - ohne sich allerdings des kausalen Zusammenhangs zwischen seiner Partizipation an diesem (performativen) Akt und den Folgen bewusst zu sein. Im Gegensatz zu den oben erwähnten Figuren ist Cesare darüber hinaus „a tragic figure“: „He is a human being robbed of an essential part of his humanity: his consciousness and his will. He is a human dreamer forced, by a malevolent agency, to lose himself in his dream“. 24 Wie auch in einem Prätext der Romantik, Mary Shelleys Frankenstein , stellen Bewusstwerdungsprozesse und das Erwachen von Gefühlen und spontan auftretenden Emotionen die Wende dar, die die Ablehnung der Instrumentalisierung einleiten. Im Film vollzieht sich dies in dem Blick auf die schlafende Jane. Dieses emotionale Erwachen wird weiterhin durch das mit ihm assoziierte musikalische Thema unterstützt. Cesares Thema ist bis zur Schlafzimmerszene das einer repetitiven Drehorgel, das allerdings beim Blick auf Jane jazzartig variiert wird. 25 Nach seinem vermeintlichen Tod in der Binnenhandlung tritt die Figur des Cesare in der mittleren Szene des abschließenden filmischen Rahmens wieder auf. Ist er in der Binnenhandlung noch eine skeletthafte Erscheinung in enganliegenden Hosen, steht er nun mit seine Figur umspielender Kleidung an der Mauer des Innenhofs und riecht intensiv an einer Blume (vgl. Abb. 7, Abb. 8). 22 McCormick schreibt hierzu: „Not just the street of course, but also the variety show, as well as the carnival and the amusement park, were often used to symbolize the chaos of modernity. The latter two forms were thematized as such in Caligari , depicting the topsy-turvy world out of which its villain emerges“ ( Gender and sexuality , S. 119). 23 Kracauer berichtet auch davon, dass die Autoren Janowitz und Mayer „unwiderstehlich angezogen [wurden, JH] von dem lauten und lichterglitzernden Jahrmarktsrummel der Kantstraße“ und sich zusammen eine Veranstaltung mit dem Titel „Mensch und Maschine“ anschauten, in der „man einen Athleten in einer Art von Halbschlaf wahre Wunder an Kraft und Stärke vollbringen [sah]“ und „bei seinen Darbietungen stieß er lallende Satzbrocken aus, die den gebannten Zuschauern und -hörern wie unheilschwangere Prophezeiungen klangen“ ( Caligari bis Hitler , S. 38-39). 24 Prawer, Caligari‘s Children , S. 180. 25 Zur musikalischen Dimension vgl. Hubbert, „Modernism“. Abb. 6: (00: 18: 33) Abb. 7: (01: 09: 42) Robert Wiene: Das Cabinet des Dr. Caligari 19 20 20 Johanna Hartmann Abb. 8: (1: 09: 47) Cesare gewinnt also im Gegensatz zu seiner dehumanisierten Darstellung in der Binnenhandlung mit dem Abschluss der Rahmenhandlung seine Körperlichkeit und die damit einhergehende Sensualität sowie Möglichkeit zur sinnlichen Erfahrung zurück. IV. „Das Filmkunstwerk muß eine lebendige Grafik werden“, fasste der Setdesigner Hermann Warm seine Arbeitsprämisse zusammen und lässt seinen Anspruch erkennen, den Film als Kunstform zu etablieren. 26 Tatsächlich übt die ästhetische Gestaltung der im Film dargestellten Räume bis heute eine ungemeine Faszinationskraft auf die Zuschauer aus. Es ist die Tatsache, dass, wie Tucholsky dies beschreibt, „[m]anche Bilder haften: der Mörder in seiner hohen Zelle, Straßen mit laufenden Leuten, eine dunkle Gasse - man muß an Wunder glauben, um das gestalten zu können. […] Ein Mord wird sichtbar - als Schattenspiel an einer grauen Wand. Und zeigt wieder, wie das Geahnte schrecklicher ist als alles Gezeigte“. 27 Die auf die Kulissen aufgemalten Lichteffekte, die Kostüme und die spitzwinklige Raumgestaltung haben oft zu einer Klassifizierung von Caligari als Prototyp des deutschen expressionistischen Films geführt. 28 Gleichzeitig wurde an dieser Klassifizierung deutliche Kritik geübt, da der Film zwar 26 Warm zit. in Toeplitz, S. 217. 27 Tucholsky, „Caligari“, S. 612-613. 28 Gregor und Patalas geben an, dass „[b]ereits die frühesten künstlerischen Versuche im deutschen Film […] die Neigung zur Darstellung ‚innerseelischer‘ Vorgänge und deren symbolhafte Objektivierung“ zeigen ( Geschichte , S. 57). Filme, die expressionistische Setdesigns einsetzten, waren Das Haus ohne Türen und Fenster von Stellan Rye (1914) oder auch die Homunculus -Serie von Otto Rippert (1916). In Das Cabinet des Dr. Caligari können weiterhin Anleihen an die Kunst von Robert Delaunay, Lyonel Feininger und der Künstlergruppe Die Brücke erkannt werden. Vgl. Budd, „Moments“, S. 17-18 oder auch Prawer, ästhetisch innovativ, auf der Plotebene jedoch eher als konventionell anzusehen ist. Der Film kombiniert verschiedene Stilrichtungen und Raumästhetiken und inszeniert dadurch ästhetisch das Oszillieren zwischen Normalität und Pathologie, dem Normalen und Wahnsinn. Die räumliche Gestaltung erfüllt so bedeutungsstiftende, medientheoretische und selbstbzw. medienreflexive Funktionen, die in Zusammenhang mit zeitgenössischen Medien- und Wahrnehmungstheorien stehen. Der Holstenwaller Jahrmarkt, auf dem Caligari Cesare ausstellt, wird als zugespitzte Stadtlandschaft visualisiert, die eine Kleinstadtidylle mit visuellen Darstellungen des Turms von Babel überlagert (vgl. Abb. 9). Diese Darstellung symbolisiert die Unheil versprechende menschliche Hybris, die zu Untergang und Zerstörung führt. Abb. 9: (00: 03: 36) Die Visualität des Films ist aber auch schon im Text angelegt. So sagt z. B. Warm, er wäre beim Lesen schon von der „skurrilen Atmosphäre“ beeindruckt gewesen, 29 und Feld beschreibt Mayers Drehbücher weiterhin als „geschriebenes Sehen“. 30 Neben der ästhetischen Innovation waren es aber auch noch weit pragmatischere Gründe, die für die ästhetische Ausgestaltung des Films verantwortlich gewesen sein sollen. Erich Pommer berichtet, dass nicht getragene Stromkosten zum Vorschlag der Bühnenbildner führten, Lichteffekte auf die Requisiten zu malen und so eine kostengünstigere Produktion zu ermöglichen. Er sah in dem Film v. a. „eine verhältnismäßig billige Produktion“. 31 Es war nicht zuletzt die Konkurrenz durch Hollywood, Caligari‘s Children , S. 197 zu den verschiedenen Kunststilen der visuellen Kunst, die in den Film integriert sind. 29 Warm, „Gegen die Caligari-Legenden“, S. 11. 30 Feld, „Carl Mayer“, S. 25. 31 Pommer, „Caligari und Caligarismus“, S. 78. Robert Wiene: Das Cabinet des Dr. Caligari 21 22 22 Johanna Hartmann die den deutschen Film dazu zwang, Alleinstellungsmerkmale zu entwickeln. 32 Das expressionistische Design kann aber auch als Resultat eines Missverständnisses erklärt werden. Hans Janowitz schrieb z. B., dass er den Film im Sinne des tschechischen Malers Alfred Kubin gestaltet wissen wollte, seine Instruktionen aber als „kubistisch“ aufgefasst worden seien. Die einzelnen Szenen des Films stellen städtische Innenräume - privat oder öffentlich -, die ländliche Umgebung bzw. die an Holstenwall angrenzenden Gebiete und die Innen- und Außenbereiche der Nervenheilanstalt dar. Die schiefwinkligen Innen- und Außenarchitekturen und die grotesk verzierten Innenräume sind jedoch allesamt gemalte Kulissen, die weiterhin durch die Inszenierung von Licht ihr expressionistisches Erscheinungsbild erhalten. Der Film ist in ästhetischer Hinsicht jedoch keineswegs konsistent, 33 sondern besitzt, wie Eisner dies nennt, „break[s] in style“, 34 was Raumgestaltung und Schauspielweise angeht, naturalistische Elemente und unterschiedlich starke Ausprägungen des Expressionismus. Das Setting der Rahmenhandlung ist z. B. naturalistisch gehalten. Thiele verweist weiterhin darauf, dass unterschiedlichen Figuren unterschiedliche Raumästhetiken zugeordnet sind. Während „[d]ie Männer […] in spitzen, steilen, gestürzten Kompositionen [agieren], [wird] das Mädchen Jane dagegen […] eingebunden in eine vegetabile, eher zentrisch geordnete Ornamentik“. 35 Dies wird auch von Budd bemerkt, der darauf aufmerksam macht, dass verschiedene Figuren unterschiedlich gut in das Dekor passen. Cesare und Caligari z. B. sind durch ihren Körpergestus, ihre Schauspielweise und ihre Kostüme der Ästhetik des Expressionismus zuzuordnen, wohingegen Alan und Francis einer eher realistischen Ästhetik entsprechen, in ihrem ausdrucksstarken Habitus jedoch an traditionelle Stummfilmschauspielerei erinnern. Interessanterweise überschneiden sich in der Schauspielerei expressionistische Ästhetik mit der für den Stummfilm konventionalisierten Schauspielweise, die auf übertriebene Körpergesten und Gesichtsausdrücke angewiesen war. Auch Tucholsky erkennt diese ästhetischen Diskrepanzen und behauptet, „[w]enn man nun noch die Schauspieler in weniger reale Kostüme steckte - wo gibt es in diesen schiefen, verqueren, hingehauenen Häusern solche soliden Kragen? -: dann wäre alles gut“. 36 Auch die Übergänge zwischen Rahmen- und Binnenhandlung erfolgen nicht abrupt, sondern können als Übergangssequenzen bezeichnet werden, in denen sich erzählerische Metakommentare mit Bildern aus der Binnengeschichte und dem Rezeptionseindruck durch Francis‘ Zuhörer zeigen. Die grafische Gestaltung der Zwischentitel 37 und deren Kombination und Interaktion mit der ikonischen Ebene kann sowohl als Korrespondenzals auch als Dissonanzverhältnis interpretiert werden, da die Schrifteinblendungen, obwohl sie inhaltlich nur wenig hinzufügen, für längere Zeit eingeblendet sind und so den Bilderfluss unterbrechen 32 Zur technischen, ästhetischen und thematischen Entwicklung und den ökonomischen Rahmenbedingungen des frühen Films vgl. Korte und Faulstich, „Überblick“. Zur expressionistischen Ästhetik als Alleinstellungsmerkmal vgl. Pommer zit. in Prawer, Caligari‘s Children , S. 165. 33 Vgl. Budd, „Moments“, S. 10 oder auch Eisner, Dämonische Leinwand , S. 27-28, ausführlicher in Eisner, The Haunted Screen, S. 25. 34 Eisner, Haunted Screen , S. 25. 35 Thiele, „Die dunklen Seiten“, S. 348. 36 Tucholsky, „Caligari“, S. 612. Vgl. hierzu auch Ihering, der als Resultat dieser Diskrepanz behauptet „[w]enn in einer Dekoration, in der sich alle Linien überschneiden, ein handfestes naturalistisches Bett steht, so wird der Rhythmus aufgehoben […]. Wenn maskenhaft starr geschminkte Darsteller mit naturalistisch hergerichteten wechseln, so tilgt sich der Stil“ („Stimmen“, S. 36). 37 Vgl. auch „Zwischentitel mit Zwischentönen“, ein Beitrag von 81 Schrifttafeln. und dadurch gleichzeitig Spannung aufbauen. Weiterhin entsprechen die Zwischentitel in ästhetischer Hinsicht dem expressionistischen Design, wurden sie doch individuell von den drei Setdesignern gestaltet. Die Forschung zum Film ist dahingehend gespalten, ob der expressionistische Stil der Innenraumgestaltung ästhetisch innovativ und bedeutungsstiftend ist oder rein dekorativ. Budd beschreibt das Spannungsfeld zwischen Innovation und Konvention, in dem der Film anzusiedeln ist, behauptet aber weiterhin, dass es gerade diese Widersprüchlichkeit war, die den Film kommodifizierbar und konsumierbar machte. 38 Und auch Elsaesser stimmt dem zu, wenn auch ungleich harscher: The success of the film at the time was less due to its gripping story or the acting, but because of the ‚expressionist‘ sets, here seen for the first time. But ever since the gag of drawing all right-angles askew, showing houses collapse on top of each other, and of squeezing every round shape into a pointed edge has become de rigeur for interiors of cabarets, theatres and cinemas, and ever since the walls of even the shabbiest café speak the fiery tongue of this extravagant fashion language [… it has become] obvious that none of this has anything to do with Expressionism, the representation of the essence of things. It only means that the exterior surface of objects has been reworked according to the principles of ornament. [The result is] a delightful design for wallpaper. 39 Insbesondere für Kunstschaffende kam der Film einer Popularisierung und Vulgarisierung des Expressionismus gleich, 40 der ihn durch Mechanismen der Kommerzialisierung und Kommodifizierung zu einem Klischee herabwürdigte. Dem damaligen Publikum war der Expressionismus als Stilrichtung der bildenden Kunst oder der Bühnenkunst durchaus vertraut. Das expressionische Design war also nicht im klassischen Sinne avantgardistisch, sondern im Jahr 1920 bereits zumindest Teil des ästhetischen Mainstreams. Für den Architekten Heinrich de Fries greift die Beschreibung des filmischen Innenraums allerdings zu kurz. Für ihn verfügen die filmischen Innenräume über ein eigenes Agens, das sowohl die Handlung des Films als auch die Wirkung auf den Zuschauer determiniert: Raum ist als handelnder Organismus aufgefaßt, als solches aufs stärkste in Erscheinung gesetzt durch kubische Modellierung, scharf umgrenzte Schatten- und Lichtgebung, intensive Ausnutzung der Tiefenwirkung. Der Raum als Schauspieler erscheint den handelnden Personen (die im Film ja auch, wie der Raum selbst, stumm spielen müssen) mindestens gleichberechtigt, manchmal sogar […] stärker, so daß selbst nicht stark spielende Personen häufig sekundär wirken. 41 De Fries interpretiert die Raumgestaltung im Film also nicht nur im Sinne ihres dekorativen Werts, sondern macht sie zentral für die Bedeutungsgenerierung des Films verantwortlich, 38 Zum Aspekt der Kommodifizierung vgl. Budd, „Moments“, S. 19-25, S. 35. 39 Arnheim zit. in Elsaesser, Weimar cinema , S. 70. In der New York Times bemerkt ein zeitgenössischer Rezensent, „[t]his story is coherent, logical, a genuine and legitimate thriller, and after one has followed it through several scenes the weird settings seem to be of its substance and no longer call disturbing attention to themselves“. Vgl. auch McCormick, der feststellt: „Caligari certainly attempted to be Expressionist […]“ und „[e]ven Caligari could be considered merely a citation of theatrical Expressionism“ ( Gender and Sexuality , S. 118-119). 40 Thiele kommt zu der Einschätzung, dass Caligari „kein Avantgardefilm ist, sondern ein Zwitter zwischen vertrautem Erzählkino, ehrgeiziger Studioinszenierung und abgefilmtem Theater“ („Die dunklen Seiten“, S. 319). 41 De Fries, „Raumgestaltung“, S. 69. Robert Wiene: Das Cabinet des Dr. Caligari 23 24 24 Johanna Hartmann weist ihr sogar als „aktives Phänomen“ 42 eine gleichwenn nicht übergeordnete Rolle mit den menschlichen Charakteren des Films zu. In De Fries‘ Aussage manifestieren sich Überlegungen, die Theorien des Unbewussten mit neuen Kunstformen, hier dem Film, erklären. Im Folgenden soll dieser Zusammenhang zwischen medientheoretischen und psychologischen Theorien anhand der Überlegungen von De Fries, Walter Benjamin und Hugo Münsterberg illustriert werden. De Fries z. B. sieht im Weimarer Kino, dass [d]as Empfinden, daß bildplastisch hingestellte Vorgänge des Innenlebens, die in der gewohnten Realität des Daseins keine Parallele haben, auch eines nicht realen Raumes bedürfen [und, JH], hat schon seit langem in Bühne und Dichtung zu entsprechender Umformung der Raumbilder geführt. […] Von stark zu betonender Bedeutung ist hier vor allem das Gefühl von den unlösbaren Wechselbeziehungen zwischen Mensch, Raum und Schicksal. 43 Der Film ist also für ihn eine innovative gestalterische Möglichkeit, um „innere Seelenlandschaften“ darzustellen und dem Menschen hinter die Augen zu blicken. Gregor stellt dies in einen epochalen Zusammenhang und behauptet, dass „[b]ereits die frühesten künstlerischen Versuche im deutschen Film […] die Neigung zur Darstellung ‚innerseelischer‘ Vorgänge und deren symbolhafte Objektivierung [zeigen]“. 44 Und auch Thiele gibt an, dass „[i]n den Spiegelbildern, Doppelgängern und Kunstfiguren […] die Abgründe der eigenen Seele angstvoll-fasziniert zur Schau gestellt wurden“. 45 Diese Zusammenhänge bergen auch rezeptionsästhetische Folgen. Regt für Tucholsky der Film die eigene Phantasie des Zuschauers an und löst in ihm eine sinnliche Erfahrung aus, 46 ersetzt er für De Fries schon die Realität. 47 Auch in Benjamins Aufsatz zum „Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ und Hugo Münsterbergs The Photoplay: A Psychological Study wird der Film als Medium zur Darstellung innerer Vorgänge theoretisiert und konzeptionalisiert. In diesen theoretischen Texten zeigt sich die Überzeugung, dass insbesondere der Film als Kunstmedium sich besonders gut dazu eigne, das Unterbewusste darzustellen. Für Benjamin hat der Film „[s]eine Charakteristika […] nicht nur in der Art, wie der Mensch sich der Aufnahmeapparatur, sondern wie er mit deren Hilfe die Umwelt sich darstellt“. Der Film wird zum Aufzeichnungssystem, in dem - anders als bei der menschlichen Alltagserfahrung - „Dinge […], die vordem unbemerkt im breiten Strom des Wahrgenommenen mitschwammen […] isoliert und zugleich analysierbar gemacht [werden können]“. 48 Er stellt also eine Analogie zwischen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Unbewussten und dem Film in seiner Eigenschaft als „Aufnahmeapparatur“ her, die die Wahrnehmung 42 De Fries, „Raumgestaltung“, S. 69. 43 De Fries, „Raumgestaltung“, S. 63. 44 Gregor und Patalas, Geschichte , S. 57. 45 Thiele, „Die dunklen Seiten“, S. 344. 46 Tucholsky behauptet, „[m]it unserer Phantasie kann kein Kino mit. Und daß in diesem Film, von einer geraubten Frau, ein Schrei ertönt, den man hört, wirklich hört (wenn man Ohren hat) - das soll ihm unvergessen sein. […] ein guter Film. Mehr solcher! “ Tucholsky, „Caligari“, S. 613. 47 Das Cabinet des Dr. Caligari wird von de Fries als ein Film charakterisiert, in dem „das menschliche Gehirn, durch irgendwelche Erschütterungen bestimmter Hemmungen beraubt, […] seelische Vorgänge plastisch in so starker Bildkraft vor sich [sieht], daß das wirkliche Dasein dagegen verblaßt und die Fiktion seine Stelle einnimmt“. De Fries, „Raumgestaltung“, S. 63. 48 Benjamin, „Das Kunstwerk“, S. 498. in der Moderne sowohl analysierbar macht als auch präfiguriert. Wie es für frühe Theorien des Films üblich war, greift auch Benjamin bei seiner Charakterisierung der Besonderheiten des Films auf andere Kunstformen wie das Theater und die Malerei zurück. Er behauptet, dass es beim Film „die unvergleichlich genauere Angabe der Situation [ist], die die größere Analysierbarkeit der im Film dargestellten Leistung ausmacht“. Weiterhin werde durch die „höhere Isolierbarkeit […] die gegenseitige Durchdringung von Kunst und Wissenschaft […] beförder[t]“. 49 Nach Benjamin hat der Film den Vorteil, die Realität scheinbar realitätstreu wiederzugeben, und dadurch das Potenzial für Situations- und Verhaltensanalysen, die über die Malerei nicht zugänglich sind. Gleichzeitig besteht er auf den Kunstcharakter des Films. In dieser funktionalen Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft liegt für ihn das „revolutionäre[]“ Potenzial des Films. 50 Die filmischen Mittel, die Benjamin in dieser Hinsicht hervorhebt, sind die Großaufnahme, die Zeitlupe und die Montage, die in einer Veränderung von Zeit- und Raumerfahrung resultieren. Die Großaufnahme ermöglicht für ihn eine vollkommen neue Form des Sehens und der Welterfahrung, da sie „völlig neue Strukturbildungen der Materie“ aufzeigt; die Zeitlupe „entdeckt in diesen bekannten ganz unbekannte, ‚die gar nicht als Verlangsamungen schneller Bewegungen, sondern als eigentümlich gleitende, schwebende, überirdische wirken.‘“ 51 Die Kamera selbst, „mit ihren Hilfsmitteln, ihrem Stürzen und Steigen, ihrem Unterbrechen und Isolieren, ihrem Dehnen und Raffen des Ablaufs, ihrem Vergrößern und ihrem Verkleinern“, ermöglicht die Erfassung des „Optisch-Unbewußten“. 52 Auch in Münsterbergs früher Filmtheorie The Photoplay: A Psychological Study wird ein Zusammenhang zwischen Unbewusstem, Psychologie und ästhetischen Techniken des Films hergestellt. 53 Für Münsterberg ist der Film im Gegensatz zu anderen Medien in der Lage, Bewusstseinsvorgänge darzustellen - Erinnern und Imaginieren -, die v. a. in der Montagetechnik, in Vor- und Rückblenden inszeniert werden können. Für ihn sind die Kameraeinstellung und die Großaufnahme die definierenden Charakteristika, aus denen der Film seine Wirkkraft bezieht. Anders als im Theater nämlich ist es durch die Großaufnahme möglich, die Aufmerksamkeit der bzw. aller Zuschauer auf besonders signifikante Details zu lenken. Sowohl Benjamin als auch Münsterberg entwickelten Konzepte des Optisch-Unbewussten als Resultat ihrer Beschäftigung mit zeitgenössischen Wahrnehmungstheorien und der Psychologie aber auch mit optischen Geräten. 54 Auch weit später finden diese Theorien Resonanz. Friedrich Kittler sagt z.B. über den frühen Film: „Zum erstenmal in der Kunstweltgeschichte implementiert ein Medium den neurologischen Datenfluß selber“. 55 Kittlers Aussage ist letztendlich nicht haltbar, aber doch ein 49 Benjamin, „Das Kunstwerk“, S. 499. 50 Benjamin, „Das Kunstwerk“, S. 499. 51 Benjamin, „Das Kunstwerk“, S. 500. Benjamin zitiert hier Rudolf Arnheim. 52 Benjamin, „Das Kunstwerk“, S. 500. 53 Vgl. Kreimeier, Traum und Exzess , S. 15. Bei Münsterberg entspricht die Großaufnahme der „seelischen Aktivität der Anteilnahme“, die Rückblende dem „seelische[n] Akt des Erinnerns“. 54 So leitet Münsterberg in The Photo-Play : A Psychological Study die Entwicklung des Films aus der Existenz der camera obscura ab, eines optischen Apparats, der einen Vorläufer der filmischen Projektion darstellt. Weiterhin sagt er schon 1916 die Entstehung von 3D-Filmtechnologie aus dem Aufbau des Stereoskops, das die dreidimensionale Sicht auf Photographien ermöglicht, voraus. 55 Kittler zit. in Kreimeier, Traum und Exzess , S. 15. Robert Wiene: Das Cabinet des Dr. Caligari 25 26 26 Johanna Hartmann eindrückliches Beispiel dafür, wie das neue Medium Film für die Darstellung und Artikulation von Bewusstseinsinhalten herangezogen wird und wurde und wie ein neues Kunst- und Technikmedium zur Erklärung des Menschen und seiner Funktionsweisen verwendet wird. Die Metaphorisierung und der Zusammenhang zwischen Bewusstsein bzw. mentalen Inhalten und dem Film ist bezeichnend für den zeitgenössischen Umgang mit dem Kunstmedium Film. Diese Theorien sind aber aussagekräftiger hinsichtlich der Erklärungsmodelle für die menschliche Natur und Wahrnehmungsprozesse denn über den Film selbst. V. Die Interpretationslinien des Films waren seit seiner Premiere im Februar 1920 verschiedenen Paradigmenwechseln unterworfen. Der Streit um die Autorschaft des Films war dabei immer zentral. So war die Rezeption des Films bis Kracauers From Caligari to Hitler durch den Fokus auf die ästhetische Dimension des Films bestimmt. Seit Siegfried Kracauers Studie und Lotte Eisners Buch Die dämonische Leinwand kann das Interpretationsparadigma als mentalitätsgeschichtliches und politisches verstanden werden. Erst seit dem Wiederauftauchen des Filmskripts erstarken wieder Interpretationsansätze, die sich auf die Autorschaft und die Transformation vom Filmskript zum Film konzentrieren. In jüngsten Interpretationen, z. B. in der Dokumentation Von Caligari zu Hitler von Rüdiger Suchsland, wird der Film jedoch wieder in Anlehnung an Kracauer gelesen und interpretiert. Die Diskursgeschichte ist durch verschiedene, sich widersprechende und gegenseitig anfechtende Dokumente und Bezeugungen nicht widerspruchsfrei aufzuarbeiten. Der Film wurde von seinen Autoren als Allegorie des Machtmissbrauchs und Autoritätsgläubigkeit geplant. Janowitz selbst wollte den Film folgendermaßen verstanden wissen: [O]ur drama resembled in its structure an ancient Greek tragedy, having for its theme the eternal theme of a man gone mad with the misuse of his powers. This idea of our story, conceived in a new form, intended in a new form, written in a new form, presented in a new form of stylized painted scenery, and even of stylized acting; this idea was our own; it came from none other than the authors. 56 Er reklamiert hier für sich und Carl Mayer die alleinige Autorenschaft und die Ideengebung für das expressionistische Setdesign. Diese Vereinnahmung ist allerdings nicht unwidersprochen geblieben. Kaul z. B. erkennt im Film keine „‚revolutionäre‘ Parabel“, sondern gibt an, dass Caligari „nur ein Verbrecher mit Doppelleben, vielleicht ein krimineller, ein klinischer Fall - aber nie eine Autorität“ war. 57 Auch Lang schließt sich dieser Schilderung an und stellt dabei gleich seinen eigenen Einfluss auf den Film als minimal heraus. 58 Während der Produktion wurde dieser Handlung ein Rahmen hinzugefügt, der laut den Autoren aus einer Allegorie hochproblematischer Macht-, Unterdrückungs- und Unterwerfungsstrukturen die Fantasiegespinste eines psychisch Kranken machte und dem Film dadurch - und auch Kracauer und anderen 59 - seine politische und gesellschaftskritische Dimension 56 Janowitz zit. in Budd, „Moments“, S. 233. 57 Kaul, „Bestandsaufnahme“, S. 9. 58 Lang, „Ein Brief“, S. 23-24. 59 Z.B. interpretiert Toeplitz: „Die Moral der neuen Drehbuchfassung war: Die Macht ist im Grunde gut, und diejenigen, die sich gegen sie auflehnen, sind seelisch unausgeglichen, ja sogar geistesgestört“ ( Geschichraubte. So zumindest empfand dies Janowitz und in seiner Folge Kracauer, der sich für seine Studie auf die Äußerungen Janowitz‘ stützte. Kracauer 60 folgt in seinem Buch der Darstellung von Janowitz zur Rahmung des Films und interpretierte den Film massen- und sozialpsychologisch. Als Folge attestierte er dem deutschen Volk während der Weimarer Republik eine Autoritätsgläubigkeit, die in ihrer letzten Konsequenz zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten führte. Mit der Frage nach der Erzählinstanz, die sich im Film im Verhältnis von Rahmen- und Binnenhandlung manifestiert, ist die Frage nach Autorität, Authentizität, Wahrheitsgehalt oder Möglichkeit zur Affekterregung und Emotionalität verbunden. Stellen wir uns also vor, der Film verzichte auf die Rahmenhandlung. In diesem Falle beruht die Handlung auf in der fiktionalen Welt tatsächlich eingetretenen Ereignissen. Caligari wird so nun zum Tyrannen und zum Symbol für Autorität und deren Missbrauch, der seinem willenlosen Patienten das Morden befiehlt. Blicken wir dann auf die Rahmenhandlung, so wird die Binnenhandlung zum Hirngespinst des psychisch kranken Francis bzw. entspringt seiner Imagination. Obwohl Francis durch den Rahmen als unzuverlässiger Erzähler interpretiert werden kann, verliert die Binnenhandlung doch nicht an Schrecken. Hier werden vielmehr metafiktional und selbstreflexiv die Möglichkeiten der Literatur bzw. des Films und der Kunst, Empathie auszulösen, ausgelotet. Laut Janowitz und Kracauer verflüchtigt sich durch das Hinzufügen des erzählerischen Rahmens aber das sozialkritische Potenzial. Kracauer argumentiert, dass „in jenen Nachkriegsjahren viele Deutsche vor einer schmerzhaft harten Wirklichkeit [sich] in ein ungreifbares ‚Reich der Seele‘ zurückzuziehen suchten“. Der Rahmen stelle diesen Rückzugsort dar und „spiegelte [so, JH] den allgemeinen Rückzug ins Gehäuse des eigenen Innern wider“. 61 Für Kracauer wird zentral, dass durch den Rahmen „die Entmachtung [Caligaris] ins Psychologische abgedrängt [wird]“. Durch das Hinzufügen des Rahmens stellen sich verschiedene Fragen, das gesellschaftskritische Potenzial geht meines Erachtens allerdings nicht verloren. 62 Eisner, wie auch Kracauer, geht in ihrer Studie von einem „Nationalcharakter“ der Deutschen aus und stellt zudem eine philosophische, geistige und ideengeschichtliche Kontinuität zwischen Romantik, Mystizismus und Expressionismus her: „It is reasonable to argue that the German cinema is a development of German Romanticism, and that modern technique (i.e. cinematography) merely lends a visible form to Romantic fancies.“ 63 Eisner sieht in dem Film eine Szenerie des Abgründigen, 64 eine Interpretation, die auch in jüngeren Analysen wieder eine wichtigere Rolle spielt. Auch Thiele z. B. behauptet, der Film reflektiere te , S. 216). Das Ende des Film ist m. E. jedoch weit komplexer, ist doch die Aussage Caligaris, Francis heilen zu können, und sein durchdringender Blick, mit dem der Film endet, ambig und lässt keine eindeutige Sinnzuschreibung zu. 60 Vgl. Petro, „Shift“, S. 131 und 135, die in diesem wissenschaftsgeschichtlichen Text das Unverständnis, das Kracauer im Ausland entgegengebracht wurde, auf die fehlenden Übersetzungen seiner frühen Texte in der Frankfurter Zeitung und seine aus der Exilsituation resultierende „epistemologische Wende“ zurückführt. 61 Kracauer, Von Caligari zu Hitler , S. 43. 62 Kracauers Theorie wurde so einflussreich, dass der Kunstfilm u. a. zu kulturkundlichen Zwecken im Unterricht vorgeschlagen wurde. Vgl. Figge, „The Use of Film“. 63 Eisner, The Haunted Screen , S. 113. 64 Auch Budd sieht im Film Anleihen an der deutschen Romantik, insbesondere den Erzählungen von E.T.A. Hoffmann. Vgl. Budd, „Moments“, S. 11. Robert Wiene: Das Cabinet des Dr. Caligari 27 28 28 Johanna Hartmann [i]n dem angstvollen Umgang mit Normalität und Wahnsinn […] unbewußt die psychischen Verunsicherungen und Minderwertigkeitsgefühle des Bürgertums im Nachkriegsdeutschland, bedingt durch den Schock des verlorenen Krieges und verbunden mit der Angst vor einer ökonomischen Krise. Er treibt den ausgeprägten Hang zu Verrätselung und Mystizismus im damaligen Film auf die Spitze und beschwört eine Welt der Imagination, in der die projizierten Geister übermächtig erscheinen. 65 Für andere stellte die Interpretation Kracauers eine unzulässige Erweiterung dar. Hermann Warm z. B. schrieb: „[m]an kann nur den Kopf schütteln, wenn Dr. Kracauer in seinem viel gelesenen und noch öfter zitierten Buch […] schreibt, daß mit der langsamen Kreisaufblendung des Karussels auf dem Jahrmarkt das Chaos späterer Zeiten vorahnend geschildert werde. An die politischen Bezüglichkeiten haben weder Carl Mayer noch Dr. Wiene gedacht“. 66 Die Thesen Kracauers beeinflussten die (Nachkriegs-)Interpretation der Rolle des deutschen Volkes während des Nazi-Regimes. So sagte er: „In exposing the German soul, the postwar films seemed to make even more of a riddle of it. Macabre, sinister, morbid: these were the favorite adjectives used in describing them“. 67 Aus seiner Sicht trug das deutsche Volk also aufgrund seiner psychologischen und mentalitätsgeschichtlichen Disposition, die den Aufstieg des Nationalsozialismus überhaupt erst ermöglichte, eine entscheidende Mitschuld. Er schreibt weiterhin: The films of a nation reflect its mentality in a more direct way than other artistic media for two reasons: First, films are never the product of an individual. […] Since any film production unit embodies a mixture of heterogeneous interests and inclinations, teamwork in this field tends to exclude arbitrary handling of screen material, suppressing individual peculiarities in favor of traits common to many people. Second, films address themselves, and appeal, to the anonymous multitude. Popular films—or, to be more precise, populär screen motifs—can therefore be supposed to satisfy existing mass desires. 68 Kracauer setzt hier das filmschaffende Kollektiv und die Bevölkerung einer Nation gleich, was doch sehr kritisch gesehen werden muss. 69 Dennoch hat die Interpretation im Sinne Kracauers heute wieder Konjunktur, wie der Film von Suchsland zeigt. Kracauer interpretiert den Film massenpsychologisch und sieht in Caligari die Verkörperung autoritärer und diktatorischer Gewalt und in Cesare den willenlosen Schlafwandler, der zum Mordinstrument gemacht wird. Tatsächlich ist es erstaunlich, wie stark verbreitet die Figur des Willenlosen aber auch des Tyrannen im Weimarer Kino war. Es muss jedoch in Frage gestellt werden, ob sich Cesare als psychisch Kranker für eine Allegorie des deutschen Volkes eignet. Im Gegensatz zu Cesare, der Caligari ausgeliefert ist, hatten die Deutschen Hitler demokratisch gewählt und konnten sich zumindest bis zu einem gewissen Zeitpunkt ohne Gefahr für Leib und Leben gegen die Nationalsozialisten wenden. Die Darstellung als Somnambule, die ohne ihr eigenes Wissen und scheinbar willenlos Morde begehen, käme m. E. einer Exkulpation der Deutschen gleich. Aber genau so z. B. verstand der Autor Janowitz die Frage nach Schuld und Unschuld: Cesare, das „Instrument“, „the tool, who in our explanation 65 Thiele, „Die dunklen Seiten“, S. 346. 66 Warm, „Gegen die Caligari-Legenden“, S. 14. 67 Kracauer, From Caligari to Hitler , S. 3. 68 Kracauer, From Caligari to Hitler , S. 5. 69 Zur Kritik an Kracauers Text vgl. Salt, „From Caligari to Who? “; Jung und Schatzberg, „Dr. Wiene“, S. 83f., oder auch Elsaesser, „Social Mobility“. stands for the subdued army of a compulsory conscription, was not guilty; Doctor Caligari, the director of the lunatic asylum, who stands for the authoritative power, was guilty“. 70 Janowitz sah in Cesare also nicht die schuldverstrickten Deutschen, die dem Massenmord an Juden, Sinti und Roma, Kranken und politisch Andersdenkenden zugesehen hatten, sondern v. a. Soldaten, die wie er im Ersten Weltkrieg eingesetzt wurden und durch diese Erfahrung traumatisiert zurückblieben. Seiner Aussage zufolge war der Film also eine Kritik am Kaiserreich und bezog sich - aus Autorensicht - also vielmehr auf die historische Situation des Ersten Weltkrieges und nicht prophetisch auf das nationalsozialistische Regime. 71 Kracauers Text wurde innerhalb kürzester Zeit zu einer prägenden Interpretationsfolie der Mentalität und psychologischen Disposition der Deutschen und tatsächlich auch 1958 vom Rowohlt Taschenbuchverlag in deutscher Sprache veröffentlicht. Schon beim Vergleich des Umfangs fällt allerdings auf, dass es sich bei der deutschen Fassung um einen stark gekürzten und auch inhaltlich veränderten Text handelt. Weiterhin wurde der Untertitel, „A psychological history“, der den Film ganz klar in der Traditionslinie anderer früherer filmtheoretischer Schriften platziert (s. o.), durch den nondeskriptiven Untertitel „Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Films“ ersetzt. Auch für die Übersetzung des Titels „From Caligari to Hitler“ wurde die Präposition „bis“ anstatt „zu“, also „Von Caligari bis Hitler“, gewählt, die weniger eine kausale als aufzählende Lesart suggeriert. Laut Christoph Brecht resultierten diese editorischen Eingriffe in der „Verwandlung einer politisch scharf profilierten, thesengeleiteten Abrechnung mit dem Weimarer Kino in eine akademisch desinteressierte Überblicksdarstellung des Gegenstandes“. 72 VI. Die vorhergehenden Ausführungen waren ein Versuch, den Film Das Cabinet des Dr. Caligari in der zeitgenössischen Theoriebildung und -geschichte zu verorten und zu interpretieren. Meines Erachtens muss der Film Das Cabinet des Dr. Caligari als großes Werk des Films bezeichnet werden, da er immer noch neue Interpretationen hervorbringt. Die Spannungsfelder zwischen Text und Theorie, die Rolle des Individuums in seiner Beziehung zur Gesellschaft, die Fragen nach den Grenzen zwischen dem Normalen und dem Pathologischen, zwischen Macht und Machtmissbrauch, und natürlich die Ästhetik des Films - all dies sind Dimensionen des Films, die auch heute noch aktuell und faszinierend bleiben. Filmographie Das Cabinet des Dr. Caligari. Produktion: Decla, Deutschland 1919/ 1920. Regie: Robert Wiene. Drehbuch: Hans Janowitz, Carl Mayer. Kamera: Willy Hameister. Musik: Giuseppe Becce. Darsteller: Werner Krauß (Dr. Caligari), Conrad Veidt (Cesare), Lil Dagover ( Jane), Friedrich Fehér (Francis), Hans Heinrich von Twardowski (Alan), Rudolf Lettinger (Sanitätsrat Olfers), Ludwig Rex, Elsa Wagner, Henri Peters-Arnolds, Hans Lanser-Ludolff. 70 Janowitz zit. in Budd, „Moments“, S. 225. 71 Vgl. hierzu die Kritik von Gregor und Patalas, Filmgeschichte , S. 58-59, wo sie die Autoren Janowitz und Mayer dafür kritisieren, ihre kritische Position in Form einer Parabel zu maskieren. 72 Brecht, „Ausblicke“, S. 7. Robert Wiene: Das Cabinet des Dr. Caligari 29 30 30 Johanna Hartmann Bibliographie Bazin, André, „The Screen and the Realism of Space“. In: What is Cinema? Vol. 1. Hg. v. André Bazin. Berkeley 1967, S. 108-124. Benjamin, Walter, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ [Dritte Fassung]. In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften I.2. Hg. v. Walter Benjamin et. al. Frankfurt/ Main 2015, S. 471-508. 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Robert Wiene: Das Cabinet des Dr. Caligari 31 Tod Browning, Freaks Heike Schwarz I. Living, Breathing Monstrosities Horrorfilme haben immer Konjunktur, scheinbar analog zu unserer Furcht vor dem Abgründigen, Abscheulichen und Unheimlichen. Die Manifestation der Korrumpierbarkeit des Körperlichen, der Fluidität und des Verletzten scheint das Genre des Horrors und gerade die Visualisierung von Gebrechen, körperlicher Zerstörung, Andersartigkeit von substantiell Materiellem, Übernatürlichem und seiner unaufhaltsam möglichen Grenzüberschreitung und einer elementaren Gefahr, selbst zum Opfer zu werden, zu markieren. Die Darstellung von Monstern, monströsen Außerirdischen, Dämonen, Untoten, Vampiren, Golems und Homunculi, Tier-Mensch-Morphen, umgestalteten Leibern sowie entkörperlichten Geistern, die sich wiederum in neuen Körpern festsetzen müssen, kennzeichnen Kernthemen, die sich im Genre des Horrorfilms genüsslich fabrizieren lassen. 1 Oppositionen vom künstlich oder fremdartig Anderen gegenüber dem als normal Codierten und Kontrollierbaren, der Verlust von physischer und psychologischer Ordnung, Zu- und Einordnung scheinen im Horrorgenre Fixpunkte einer Phobie vor allem unaufhörlich Mutierbaren, vor dem Asymmetrischen, Disharmonischen zu sein. Die Physis bildet quasi die Grundlage einer psychologischen und emotionalen Teilhabe an allem Wechselhaften, das keiner noch so wissenschaftlichen Kontrolle unterworfen zu sein scheint. Dieser Prämisse des Veränderlichen folgt heutzutage die Überreizung des CGI-Wahns, der computer generated imagery , die das Unfixierbare im Körperlichen mit immer neuen Variationen auf die Spitze treibt. Dabei, so scheint Tod Brownings Freaks zu zeigen, liegt der eigentliche Horror in jedem Menschen selbst. Der Film Freaks von Tod Browning korrumpiert die eindeutige Verortung des ‚Normalen‘ versus dem ‚Abnormalen‘, indem zwar der Schaulust bezüglich körperlicher Auffälligkeit durch Sensationsbetonung Rechnung getragen wird, allerdings verwischt der Film gleich von Beginn die Grenze von Ich/ Nicht-Ich, indem er die Frage nach Schicksal und minimal veränderbaren genetischen Veranlagungen in den Mittelpunkt rückt. Ist der ausgestellte Mensch, dessen Existenz als ‚Freak‘ ihn zu einer visuell auszusondernden Sensation bestimmt, indem sie ihn in Sideshows als Attraktion verbannt, sowie unser eigener Blick auf dieses Phänomen nicht doch auch human und diabolisch zugleich? 2 Wenn Freaks als Horrorfilm verstanden werden 1 Zu unterscheiden sind Horrorfilme mit extremer Gewaltdarstellung (z. B. zeitgenössische Variationen wie Martyrs (2008) und der Saw -Reihe) oder Werke, die eher auf unheimliche Leerstellen setzen und diese nur teilweise andeuten wie z. B. It Comes At Night (2017) oder gleich nur der Imagination überlassen wie Blair Witch Project (1999). Dazwischen oszilliert das Genre seit jeher gewaltig. 2 Die Herkunft des Wortes freak scheint ungeklärt, kann sich aber aus dem Begriff des Mittelenglischen friken (unkontrolliert bewegen) oder dem Altenglischen frician (tanzen) herleiten. Im 18. Jahrhundert 34 34 Heike Schwarz soll, dann muss der Diktion, zu jedem Horrorfilm gehöre ein Monster, auch gefolgt werden. Doch wer in Freaks das Monster oder Monströse ist, scheint die essentielle Frage zu sein. 3 In der Tat scheint zuzutreffen, was zu Beginn des Films Freaks in harsch anmutenden Worten verkündet wird: Niemals wieder werde irgendjemand eine solche Geschichte verfilmen, da die moderne Wissenschaft und Lehre von den Missbildungen der Lebewesen so zügig diese Fehlgriffe der Natur vom Angesicht der Welt eliminiert habe. 4 Mit dieser rohen Einführung der Rahmenhandlung heißt das Filmskript das Publikum willkommen, das sich - wenn es nach der Vermarktung im Jahre 1932 in Hollywood ginge - nach Sensationslust heischend auf einen neuen Horrortrip aus Hollywood einlassen soll, in den Kinosesseln seiner Angstlust frönend, um einer neuen Art der horrorhaften Gestalt gewahr zu werden. „We didn‘t lie to you, folks“, verkündet ein Marktschreier zu Beginn des Films: „We told you we had living, breathing monstrosities. You‘ll laugh at them, shudder at them, and yet, but for the accident of birth, you might be even as they are“. 5 Sich dem Realismusprinzip einer Wirklichkeitsnähe scheinbar verpflichtend, seien sie hier nunmehr zu sehen, die „lebendigen, atmenden Monstrositäten“, über die zwar gelacht werde, mit denen jedoch jedermann selbst trotz eines Geburtsfehlers mehr gemein habe als zunächst angenommen. Brownings Entscheidung, echte Attraktionen als Darsteller auftreten zu lassen, war und ist eine Sensation des Echten. Schon die ersten Sätze, die im Film während der Rahmenhandlung fallen, die der Marktschreier und Vorführer in einer Freakshow vorgibt, zeigen, dass der Filmkonsument selbst mit dem im Film gezeigten Publikum sogleich verschmilzt und sich von den vorgeführten ‚Monstrositäten‘ in der folgenden Ausstellung womöglich nicht unterscheidet, auch wenn er die menschlichen Exponate mit Schaudern betrachtet. Mit diesen ersten Ankündigungen im Film werden zwar zunächst die als Freaks oder ‚Missgeburten‘ Vorgeführten zum Anderen, zum Sensationellen deklariert. Und doch werden derart gesetzte, künstliche Grenzen gleichzeitig verwischt und eine unheimliche Nähe zu den vorgeführten ‚Monstrositäten‘ provoziert. Im liminalen Grenzraum des Zirzensischen konzentriert sich der Blick auf exponiert platzierte, außergewöhnliche Körper, die sich in diesem Kontext der Überhöhung zum unheimlichen Konsumprodukt kondensiert sehen. Einerseits holt diese Verortung der Freakshow im Film als quasi reproduzierter Gang durch ein solches setting den unheimlich sonderlichen Körper in die Realität einer Zirkuswelt und eine realistische Abbildung, um sich von im Horrorgenre so üblichen Schauderelementen zu befreien. Denn in Freaks werden keine im Pre-Code-Hollywood der 1930er Jahre bereits etablierten und später nahezu streng durchexerzierten Horrormythen fremder exotischer Halbwesen reanimiert, wie sie z. B. der Vampir ( Dracula ,1925), der Zombie markiert der Begriff das Außergewöhnliche, Unnormale. Im 19. Jahrhundert taucht er im Zusammenhang mit Varietéschauen oder Sideshows auf, wo freaks of nature , körperlich Auffällige, ausgestellt wurden. Der Freak, der sich gegen die gesellschaftlichen Normen stemmt, bekommt im Laufe der Zeit eine eher positive Konnotation, da er Individualität und Nonkonformität ausdrückt (vgl. auch Kastl, Soziologie der Behinderung , S. 276 und Church, „Freakery“, S. 2ff.). Die Darsteller wehren sich im frühen 20. Jahrhundert gegen den Begriff in der „revolution of the prodigies“ (1903) und fordern im Pamphlet „Freaks, A Word of Bitter Grief“, ‚Wundermenschen‘ genannt zu werden: „Forget Freak, Pray Prodigy“ (Vgl. Bogdan, Freak Show , S. 270.). 3 Vgl. Carroll, Philosophy of Horror , S. 16ff. 4 Im nachträglich eingefügten Vorspann heißt es: „Never again will such a story be filmed, as modern science and teratology is rapidly eliminating such blunders of nature from the world“. 5 Browning, Freaks , 00: 00: 34. Tod Browning, Freaks 35 ( White Zombie , 1932) oder der Werwolf ( The Wolfman , 1931) mit sexualisiertem Unterton im Kontext des gothic horror verkörpern. Freaks konzentriert sich zwar einerseits auf den andersartigen Körper, findet ihn aber nicht in Mensch-Tier-Verschmelzungen, Monstren vergangener Mythen oder fernen und fremden Kulturen, sondern holt das Unheimliche in den Alltag und die Realität zurück, wobei Tod Browning, der als Edgar Allan Poe des Kinos eingeordnet wird, die Verschiebung des ‚Normalen‘ umsetzt, indem er Freakshowdarsteller in einer realistischen Umgebung agieren lässt, ihre Nöte und Sorgen sowie die ethisch-moralischen Verpflichtungen ihres Geheimbundes thematisiert und dergestalt der Umkehrung des genretypischen Horrorhaften einen eigenen Reiz verleiht. Das Spiel mit den Zuneigungen und der Empathie des Filmpublikums, im Gegensatz zum Zirkusbesucher im Film, wirkt korrumpierbar, wenn gegen Ende des Films die eigentlich sympathischen Freaks als eindeutig in einem genretypischen Horrorfilm agierende Charaktere die zunächst aufgebaute Gefühlsverbindung zum Publikum verletzen. Die Katastrophe der durch die Freaks realisierten Verstümmelung einer äußerlich schönen, weißen Frau - die in Hollywoodproduktionen eigentlich stets als reines, gefährdetes, aber gleichwohl nahezu immer gerettetes Fast-Opfer stilisiert wird, welche hier in Wirklichkeit als femme fatale innere Abgründe, Gier und Boshaftigkeit verkörpert - bricht eindeutig mit der ersten Hälfte des Films. Die als fast komödienhaft angelegte Dokumentation zirzensischen Lebens und dessen Hierarchisierung endet in traditionellem, nahezu klischeehaftem Horror. Der Bruch mit der Sensation gebiert eine weitere, visuelle Attraktion angesichts der Echtheit der Darsteller. Der Blick auf sie und ihre Wirkung auf den Filmkonsumenten sind dem Versuch, atmosphärischen Horror ästhetisch zu inszenieren, im Grunde überlegen. Darum besteht der Reiz von Freaks nicht im artifiziellen, sondern im naturalistischen Ästhetischen. Den Film Freaks als Umkehr der Horrorkonvention zu verstehen, mag einerseits zwar einleuchten, da die Monstren dekonstruiert und doch wieder etabliert werden und Freaks doch nach wie vor als Horrorfilm klassifiziert wird. Der Film vermag jedoch auch innerhalb eines Filmgenres des revenge als Racheakt gefährdeter und diskriminierter, immerhin als Freaks titulierter Charaktere fungieren, die Agens haben und jenseits aller kultureller und soziologisch konstituierter Kategorisierung handeln und ein Exempel statuieren. Sie weisen sich als überlegen aus, indem sie eine vermeintlich vitalere Schönheit, die Trapezkünstlerin Cleopatra (Olga Baclanova) und den strong man Hercules (Henry Victor) verstümmeln. Cleopatra will eigentlich den kleinwüchsigen Hans (Harry Earles) nur ehelichen und ermorden, um an sein Vermögen zu gelangen. Die echten Sideshowdarsteller - Kleinwüchsige, siamesische Zwillinge, ‚Deformierte‘ und mannigfaltig Andersartige - formieren sich zu einer Allianz der Ausgegrenzten und nehmen an den scheinbar leistungsfähigeren Schönen, den eigentlichen moralischen Monstern, Rache, was gesellschaftlich codierte Grenzen nicht nur im Film eindeutig korrumpiert. Freaks formiert sich daher als Beispiel einer Emanzipation der Menschen mit Handicaps, deren Einordnung als ‚Freak‘ schon hinterfragt werden muss. Während er als Horrorfilm nur ansatzweise filmisch überzeugt, kann man Freaks tendenziell eher als metaphorisch-moralisches Lehrstück begreifen, dessen historische Einmaligkeit es weitaus tiefgründiger als nur als ein visuell-markantes Genrestück erscheinen lässt. 36 36 Heike Schwarz II. Tod Browning: Makabres, Körperfetisch, Subversion Fast hätte Freaks nicht in den Kanon relevanter Kultfilme aufgenommen werden können. Heute gilt Tod Browning als Kultregisseur noch immer jenseits des mainstream mit treuer internationaler Anhängerschaft des Arthousekinos oder der midnight movies , die neben den sehr eigensinnigen Thematiken wie Fetisch des hochvitalen sowie amputierten oder verwachsenen Körpers, die sich in seinen Filmen zeigen, auch die Qualität und den heute hochaktuellen Bezug seiner Arbeit gerade in Bezug auf Disability Studies oder Medical Humanities sowie Ethik und Ästhetik schätzt. 6 Dies unterscheidet ihn teilweise als Kultregisseur von anderen Kuriositäten wie etwa Ed Wood (1924-1978), dessen trashig-originelle, in Genres des gothic oder science fiction schwelgende Werke zwar einen eigenen, aber auch eher in subkulturellen, nahezu laienhaft skurrilen Welten verorteten Charme versprühen. Tod Brownings Filme überdauern alle medialen Modernisierungen vom Stummzum Tonfilm und changieren zwischen makabren, den Körper inszenierenden und eindeutig (sexuell) subversiv jenseits hochglänzender Hollywoodfassaden eingefärbten Schwarzweißbildern. Tod Brownings Bildwelten umfassen zahlreiche Stummfilme und Stummfilmepisoden, in denen vor allem die Kooperation mit dem kongenialen Schauspieler Lon Chaney, dem „Mann mit den tausend Gesichtern“, und die Wiederkehr des Zirkus und der Side- und Freakshows als Orte der „Ästhetik des Hyperbolischen“ 7 erwähnenswert sind. In dem Stummfilm The Unholy Three (1925) etwa portraitiert Browning drei Zirkusartisten, die als Bauchredner, Schwertschlucker und kleinwüchsiger Darsteller auch in Verkleidung als Großmutter, Onkel und Kind verschiedene Einbrüche in noble Villen durchführen. In dieser Produktion sind bereits zu Beginn des Films Bereiche der Sideshow in fast dokumentarischer Weise zu sehen, denen Browning so zugetan war. Auch etablierte sich in The Unholy Three die Zusammenarbeit mit Lon Chaney (Bauchredner, Großmutter) und dem kleinwüchsigen Harry Earles 8 , der als Mittzwanziger u. a. ein Kleinkind mimt und der später in Freaks die tragende Rolle des Hans übernehmen wird. Im Stummfilm The Unknown (1927) führt Browning das Filmpublikum wiederum in die von ihm so geliebte Zirkuswelt und reflektiert das Leben der Artisten und deren hierarchische Existenz jenseits der Nummernshows. Brownings Fixierung auf Körper und Körperteile wird evident - er inszeniert und zelebriert den vitalrobusten Körper der Darstellerin Joan Crawford (Nanon) als Amazone und den verstümmelten Torso des scheinbar armlosen Lon Chaney (Alonso), der sie erfolglos begehrt. Nanons Angstneurose vor grapschenden Männerhänden kann der arm- und handlose Alonso the Armless, der in Wahrheit seine Dysmelie 9 mit einem 6 Die Disability Studies beschäftigen sich mit Darstellung und sozialer Konstruktion von ‚Behinderung‘ und körperlichen Handicaps, die Medical Humanities veranschaulichen als interdisziplinäres Feld die Wirkmechanismen von kulturellen Elementen im Hinblick auf medizinische Diagnosen und deren Veränderlichkeit. 7 Vgl. Jürgens, Poetik des Zirkus , S. 15. 8 Harry Earles war als Mitglied der sogenannten Doll Family oder Earles Family bereits gut beschäftigter Darsteller auf Vaudeville-, Kleinkunst- und Sideshowbühnen in den USA auf Tournee. Als kleinwüchsiger Künstler war Earles wie andere Darsteller seines Formats stets darauf bedacht, als midget (kleinwüchsig) und nicht als dwarf (beleidigend für Zwerg) bezeichnet zu werden. Weltweit tourten verschiedene Gruppierungen kleinwüchsiger Künstler als Orchesterformationen, z. B. die Singer Midgets, die teilweise beachtliche Gagen erhielten (siehe auch Bly, The Freak-Garde ; Chemers, Staging Stigma ; Stephens, Anatomy as Spectacle ). 9 Dysmelie verweist auf das Fehlen von Gliedmaßen. In The Unknown zeigt Browning auch die Revuenummern des Alonso, der mit seinen Beinen ein Gewehr auslöst und auf Nanon, die auf einer Scheibe fixiert Korsett vortäuscht, zeitweise fast mit platonisch-harmonischer Zweisamkeit eliminieren, so dass er sich entschließt, bei einem zwielichtigen Arzt seine Arme endgültig amputieren zu lassen, bevor Nanon die Lüge entlarvt. Nun tatsächlich ‚entmannt‘ kehrt er zu Nanon zurück, die ihre Phobie dank eines dynamischen Artisten überwunden hat. Diese makabre Wendung vollendet Browning mit bedeutsam aufgeladenen Bildern in der Schlussszene, in der Alonso dank eines manipulierten Bühnentricks seinem Kontrahenten die Arme ausreißen und ihn so symbolisch entmannen will. Die Dramatik dieser Szenen mit ständig wiederholten Großaufnahmen auf gespannte und fast gesprengte Oberarmmuskulaturen 10 zeigen Brownings fast bizarre Fixierung auf den Körper, dessen Verletzlichkeit und Wandelbarkeit letztendlich die eigentliche Kernthematik scheint. 11 Browning lebt seine Vorliebe für Zirkuswelten als junger Ausreißer und Artist selbst aus, wenn er sich als ‚The Hypnotic Living Corpse‘ mehrfach tagelang lebendig begraben lässt, um öffentlichkeitswirksam wieder aufzuerstehen. In Hollywood wird er als Regisseur bald nach einem schweren Autounfall bekannt. 12 Die Filmtraumfabrik wird sozusagen Ersatzwelt für den versehrten Browning, der in Horrorgenres stilbildend reüssiert. So kann sich Browning 1931 mit seiner Verfilmung des Vampirstoffes durch Dracula und Dank des typecast Vampirdarstellers Bela Lugosi in die erste Riege der Regisseure katapultieren, als er einen Kassenhit landet. 13 Nach dem Erfolg von Dracula soll Browning nun einen weiteren Horrorfilm realisieren, was er mit der Verfilmung von Freaks in Angriff nimmt. In Kollaboration mit MGM wird Freaks produziert, zunächst als Sensation aufgrund realer, körperlich auffälliger und nicht kostümierter Zirkusdarsteller vermarktet, vor Verteilung in die Kinosäle zensiert und um dreißig bis heute verschollene Minuten sprichwörtlich selbst amputiert und als extremer Horrorstreifen, der laut verbreitetem Mythos das zeitgenössische Publikum zu Ohnmachten reizt, sogleich vom Markt genommen. 14 Die unmittelbare Rezeption des Films Freaks zeigt sich relativ verunsichert, ob der Film für den Kinosaal nicht unpassend und besser in einem medizinischen Institut zu zeigen wäre, was dem Kontext um die Eugenikbewegung Rechnung trägt. 15 Verbannt in die Archive wird Freaks erst in den europäischen Arthousekinos ab den 1960ern gezeigt, unter anderem neu betitelt als The Monster Show oder Nature‘s Mistakes 16 , wird nach ist, zielt (Browning, The Unknown , 00: 02: 18). In weiteren Einstellungen sieht man Alonso, der eigentlich Arme hat, mit seinen Beinen verschiedene Gegenstände, z. B. ein Glas, zum Mund führen (durch ein Bodydouble). 10 Browning, The Unknown , 00: 47: 49. 11 Eindeutig muss sich der Zuschauer mit Alonso und seinen Nöten identifizieren, insbesondere wenn er schockiert feststellt, dass Nanon ihre Phobie überwunden hat (Browning, The Unknown , 00: 40: 16). Wiederum ist die ‚disabled person‘ also Empathieträger, deren Rache den Pfad vorausahnen lässt, der in Freaks wiederholt wird. 12 Vgl. Skal, The Monster Show , S. 25. 13 Als typische typecast Darsteller kann man z. B. auch Boris Karloff als Frankensteins Monster bezeichnen. Die Fixierung Hollywoods und des Universal Studio, bei dem Browning vorher unter Vertrag stand, auf den Wiedererkennungswert und die Vermarktbarkeit von Horrordarstellern wurde vor allem seit den 1920ern deutlich. So wird Lon Chaney als Wolfman mehrfach auftreten; ebenso wird Bela Lugosi die Rolle des Vampirgrafen Dracula nicht wieder los (vgl. Seeßlen, Horror , S. 133ff.). 14 Vgl. Skal, Hollywood Gothic , S. 236. 15 So bezeichnet die New York Times den Film als eher passend für „medical centers“ und „whether it deserves the title of abnormal is a matter of personal opinion“ (vgl. L.N., „The Circus Side Show“, n.p.). 16 Diese Neubetitelung verweist auf eine ausbeuterische Sicht auf die Darsteller mit Handicap, denn ihre ‚Abnormalität‘ wird nicht durch Brownings paradoxerweise im ersten Teil des Films intendierten Sym- Tod Browning, Freaks 37 38 38 Heike Schwarz Frankreich exportiert und dort zum Kultfilm auf Festivals, dem allgemeinen Publikum jedoch erst wieder im Jahre 1990 ein Begriff, als der Film unter seinem ursprünglichen Namen Freaks im amerikanischen Fernsehen läuft. 17 Heute wird der Film u. a. als Beispiel eines exploitation film klassifiziert, indem Browning selbst Ausbeutung der Darsteller aus Sensationsgründen unterstellt wird. Brownings Hollywoodkarriere scheint nach dem Desaster von Freaks zunächst ruiniert. Er kann noch einige wenige Filme drehen, wie einen weiteren Draculafilm Mark of the Vampire (1935), den Horrorstreifen The Devil-Doll (1936) und die Mystery Miracles for Sale (1939), die eher als B-Movies und Kuriosum mit eindeutig sinisterem Charme des gothic- Filmgenres zuzuordnen sind, welches seine Atmosphäre eher durch Kunstnebel und Halloweenkostümierung zu charakterisieren scheint. 18 Eindeutig manifestiert sich Brownings Fixierung auf alles Karnivaleske, Makabre, Bizarre, Untote und Freakische, obwohl diese Tendenz nicht im Sinne einer Neudefinierung der filmischen Ästhetik zu lokalisieren ist, 19 sondern eher in der Skurrilität der erzählten Geschichten verdeutlicht wird. Eine Grenz- und Tabuüberschreitung kann als Stilmittel der Ära des Pre-Code Hollywood zugeordnet werden, wobei Brownings gebrochene Männlichkeits- und Weiblichkeitsdiskurse jenseits übersexualisierter Filme des Pre-Code neu geskriptet werden, indem sie die seelischen Gebrechen und körperlichen Schwächen eines Geschlechts eher im Maskulinen als im scheinbar gefürchteten, vitalen Femininen verorten. 20 Damit setzt sich Tod Browning von den hypersexualisierten, eindeutigen Filmen des Pre-Code in den USA ab, die sich mit dem amerikanischen Alptraum oder, psychoanalytisch gedeutet, den dunklen Seiten der Moderne befassen und doch in Genderstereotypen verfangen bleiben in ihren Darstellungen von Nacht- und Nacktgeschöpfen. Prostitution, Gewalt, Kriminalität und körperliche Versehrtheit sowie klar visualisierte Sexualität und Triebgesteuertheit kulminieren in den durchaus reizvollen Filmen des Pre-Code, während die Nation von der Weltwirtschaftskrise und ökologischen Katastrophen wie der Entstehung der Dust Bowl getroffen wird oder Arbeiteraufstände die soziale Ordnung unterminieren. Hollywood schafft neue Gesetze des Marktes in den umwälzenden 1930er Jahren, in denen eine Unterhaltungsindustrie während der Umwandlung vom Stummzum Tonfilm ihre Produkte an pathiebekundung und die Betonung von Alltäglichsowie Menschlichkeiten dieser Künstler zurechtgerückt. Den Film also als Schmuckstück des Arthouse mit derartigen Neutiteln zu vermarkten, zeigt dadurch doch eine zwiespältige Herangehensweise, zumal er nach dem Vorführdesaster in den 1930ern sogar sexuell konnotiert wurde u. a. als Forbidden Love und der Frage auf Plakaten: „Do Siamese Twins Make Love? “. 17 Vgl. Skal, Hollywood Gothic , S. 236. Anscheinend werden einige Szenen des überlieferten 60-minütigen Films noch im amerikanischen Fernsehen zensiert, z. B. die Szene des Prince Randian, dem durch Tetraamelie Arme und Beine fehlen und der sich kunstvoll eine Zigarette selbst anzündet (Browning, Freaks , 00: 24: 44ff.). 18 Trotz dieser Ed-Wood-artigen Qualität der letzten Filme von Tod Browning als B-Movies scheint man diese in eine stilbildende, bis heute andauernde Ästhetik der gothic Subkulturen einordnen zu können. Draculas Tochter in Mark of the Empire (1935) wirkt wie Vampira, die ab den 1950ern als Ansagerin in Hollywood fungiert und mit ihrer eindeutigen Erscheinung später in Ed Woods Kultstreifen Plan 9 From Outer Space (1959) auftauchte. 19 Brownings Filmästhetik ist eher nicht durch einen dynamischen Kameraeinsatz markiert, sondern zeichnet sich durch oftmals eher starre Bildkompositionen und lange Schnittfrequenzen aus (vgl. Skal, Hollywood Gothic , S. 183: „static campera setups“). 20 Zu einer feministischen Lesart von Freaks siehe auch Brinkema, „Browning. Freak. Woman. Stain“, S. 158 ff. den Massenmarkt anpasst, während Großteile der Bevölkerung erhebliche wirtschaftliche Probleme durchleben. Mit einer Unterdrückung der dunklen Seite der USA einen Massenmarkt zu erreichen ist nicht möglich. 21 Die Weltwirtschaftskrise, Einwanderungskrisen und die Unsicherheiten der global fragilen Zwischenzeit der Weltkriege bewirken in Hollywood eine Hinwendung zu transgressiven und aggressiven Themen: Das comic book folgt dem comic strip , Superhelden folgen als Antwort auf die Eugenikfrage, im Film werden die Genregesetze des film noir deutlich, crime fiction und die hardboiled detective stories erleben einen Höhepunkt. Die Idee der Modernisierung der Gesellschaft wird konterkariert durch Helden des Horrors, des Krimis und der subversiven, verdrängten Seite der USA. Psychoanalytisch mit Freud im Sinne des Unbehagens in der Kultur gesprochen, brechen sich ungeahnte Kräfte Bahn und münden in durchaus exzessiven und expliziten Produktionen. 22 Pre-Code Hollywood visualisiert körperliche Begierde, Gewalt und Lust derart explizit - allerdings für heutige Verhältnisse relativ zahm -, dass erst 1927 gewisse Anweisungen bezüglich Zeigbarem formuliert werden: Drogen, Flüche, Nacktheit werden eher zensiert, was im Jahre 1934 in den private industry code und das Motion Picture Association of Film Rating System (MPAA) mündet. 23 Der Film Freaks überschreitet derartige Restriktionen nicht zuletzt, weil eine mögliche, wenn auch in der Katastrophe endende Beziehung eines Artisten mit einem Sideshowdarsteller angedacht wird und ‚disabled persons‘ als überlegene Akteure dem robusten Idealmenschen in ihrem Sinne Schaden zufügen: „In Freaks we are asked to identify with the ostensibly nonhuman, to turn against what we normally think of as our ‚own kind‘ and to discover in the humanity of the freaks a moral center for the universe.“ 24 Moralische Anschauungen und die Frage nach Humanität also verknüpfen sich mit dem Unterhaltungspotential. III. Freaks als Statement gegen die Eugenikbewegung und The New American Race Wenn Freaks heute vor dem historischen Hintergrund der sogenannten Eugenikbewegung in den Vereinigten Staaten gelesen und gleichzeitig betont wird, dass Tod Brownings Film sich als Opposition zu einer medikalisierten und optimierten Gesellschaftsnorm positioniert, dann zeigt ein Blick auf die Grundzüge der Eugenik, wie radikal Brownings Position tatsächlich ist. Als einer der Vordenker der Eugenikbewegung, die sich nicht nur in Europa seit Ende 21 „Suppressing the dark side of America, the Un-Americanness“, vgl. McGowan, American Carnival , S. 58. 22 Gangsterfilme wie Public Enemy (1931) oder Little Cesar (1931) zeigen gewalttätige Kriminelle und Unterwelten. Erotikdarstellungen wie Filmimport Ecstasy (1933) und Mädchen in Uniform (1931) greifen Untreue, Homosexualität und Ektase nur zu deutlich auf. Exotik und transkulturelle Romantik werden in Filmen wie Trouble in Paradise (1932) deutlich, Begierde und Grenzüberschreitungen jenseits gesellschaftlicher Normen werden in Born to Be Bad (1932) und einer psychoanalytischen Verfilmung von Dr Jekyll and Mr Hyde (1931) realisiert. 23 Zeigt der Film Frankenstein von 1931 ausgearbeitete Gewaltszenen durch das namenlose Monster, weist das Remake von 1935 bereits Spuren des Codes auf. Diese durch äußerliche Restriktionen deutliche Konstruktion einer ‚sauberen‘ Hollywoodkultur wurde aber nicht zuletzt durch die Kunst der Assoziation und Andeutung wiederum von etlichen Filmschaffenden unterminiert. Trotzdem markiert der Code einen Bruch des offiziellen Hollywood mit Untergrundbewegungen. 24 Thomas, „Review of Freaks by Tod Browning“, S. 59-60. Tod Browning, Freaks 39 40 40 Heike Schwarz des 19. Jahrhunderts als vermeintlich wissenschaftlich fundierte Praxis zur Gesundhaltung der Bevölkerung immer weiter durchsetzte und dabei eine Dezimierung kranker oder als krank markierter Körper anstrebte, 25 zeigt sich im Laufe der 1920er Jahre der amerikanische Historiker und Journalist Lothrop Stoddard, der über den Niedergang der Zivilisation klagt, welche in der Seuche der Minderwertigkeit verbrennt und verkohlt und verschmutzt endet. 26 Rassismus und die Ausgrenzung von Menschen mit medizinischen oder körperlichen Beeinträchtigungen war seit dem späten 19. Jahrhundert in den USA durchaus explizit formuliert und fand infolge der Wissenschaft der ‚racial hygiene‘ sogar in Gesetze zur Fortpflanzung und zur Eindämmung von Krankheiten Eingang. 27 Lennard Davis, heute führender Wissenschaftler der sogenannten Disability Studies 28 und Biocultures, verweist auf die aufkommende Statistikerhebung im 19. Jahrhundert, die Begriffe wie ‚normal‘ und ‚außergewöhnlich‘ neu ordnet. 29 Die Besessenheit des 19. und 20. Jahrhunderts mit wissenschaftlich und statistisch nachweisbaren Abweichungen definiert den Freak neu und weist ihm die Rolle des minderwertigen Menschen zu, dessen Zustand Defizite in der Medizin und anderen Wissenschaften - etwa der Soziologie und Politik - postuliert. Das Projekt der Zivilisation und Modernisierung aber kann derartige Abweichungen im fortschrittlichen 20. Jahrhundert nicht tolerieren, da die zukünftigen hochmodernen Gesellschaften zum Zustand des Normalen, Normalisierten und Normierten streben sollen. Disability, also Behinderung bzw. Beeinträchtigung, wird hier nicht nur zum individuellen Schicksal, sondern zu einer sozialen Frage, die bis zur absoluten Ideologie des Ausmerzens des scheinbar Minderwertigen ausufert. 30 Assoziationen mit der Bewegung der Nationalsozialisten in Deutschland werden allzu deutlich. Transatlantische Wechselwirkungen einer Weltvorstellung des idealen, robusten ‚Übermenschen‘ resultieren aus den Bestrebungen der Eugenikbewegung in den USA, wo man Begriffe wie super-man und under man verwendet, um „the new race“ der Amerikaner zu veranschaulichen. 31 Der Mythos des amerikanischen melting pot steigert sich innerhalb 25 Bezüglich der globalen Dimension der ‚Rassenhygiene‘ und Eugenik siehe auch The Oxford Handbook of the History of Eugenics . Hg. von Alison H. Bashford, Oxford 2010. 26 Vgl. Stoddard, „The Nemesis of the Inferior“ in Revolt Against Civilization: The Menace of the Under Man , S. 88. Des Weiteren prägte Stoddards Begriff des under man die nationalsozialistische Formulierung des ‚Untermenschen‘, der aufgrund seiner Behinderung oder ethnischen Herkunft nicht überleben sollte. Stoddard schreibt vom eisernen Gesetz der Ungleichheit, von der Nemesis des Minderwertigen („inferior“) und der Gefahr des Primitiven („lure of the primitive“). Unbegrenzte Immigration etwa wird hier schon als Gefahr begriffen („unrestricted immigration“), und eine Nichtassimilierung dieser Kräfte würde sinngemäß zu einer Destruktion der Nation führen. 27 Vg. Paul, Myths , S. 257ff. 28 Disability, wenn man dies mit Behinderung durch eine Krankheit oder durch die Gesellschaft begreifen will, bedeutet oft ein Label als ‚the Other‘, der Andere, dessen Existenz auch bedeutet, daran erinnert zu werden, dass Unversehrtheit nicht stetig sein muss. Disability wurde 1990 im Americans with Disability Act beschrieben als „körperliche oder mentale Beeinträchtigung, die das Leben substantiell beeinflusst“. Andere definierten Disability als Verlust von Normalität psychologischer, physiologischer oder anatomischer Struktur oder Funktion. Im Bereich der Disability Studies werden darüber hinaus noch Diskriminierung über persönliche körperliche oder geistige Fähigkeiten hinaus analysiert. 29 Vgl. Davis, „Constructing Normalcy“, S. 6. 30 So antwortet in den 1930er Jahren ein Schild in den Straßen der amerikanischen Städte etwa auf die Frage, inwieweit die Gesellschaft kränkelnde Individuen unterstützen müsse: „Some people are born to be a burden to the rest“, vgl. Baskett, „U.S. Eugenic Movement“, n.p. 31 Vgl. Paul, Myths , S. 260ff. der Eugenikbewegung zu einer Ideologie der neuen amerikanischen Idealbevölkerung als hellhäutig-nordischen Typus, dessen körperlicher und geistig-moralischer Überlegenheit alle anderen möglichen Einwirkungen minderwertiger Genetik entgegenstehen. 32 Um den perfekten Menschen (perfect human being) hervorzubringen, muss der Genpool im Sinne einer Reproduktionskontrolle rein gehalten werden. 33 Stellvertretend soll innerhalb einer solchen Rhetorik eine Segregation der Ethnien, die schon durch die Jim-Crow-Laws nach dem amerikanischen Bürgerkrieg zementiert ist, weitergeführt und eine sprichwörtliche Ausgrenzung der feeble minded , also aller jenseits der Norm auffälligen und als solche medizinisch diagnostizierten Menschen erreicht werden. Riesige staatliche Heilanstalten entstehen, deren Aufnahmekapazitäten weit überspannt werden. 34 Festzuhalten ist, dass der historisch-gesellschaftliche Kontext von Freaks zeigt, dass sozial verankerte, in Gesetz gegossene Ungleichheiten bezüglich des ‚andersartigen‘ Menschen die Angst vor Ausgrenzung oder die aktive Ausgrenzung und Gefahr des Anderen in der medikalisierten Leistungsgesellschaft thematisieren. Die Bestrebungen, besonders in der Landbevölkerung Krankheiten und Abnormalitäten auszumerzen, indem man Betroffene in Anstalten verbringt, sind immens. 35 Die Existenz der sogenannten Freak- oder Sideshows allein mit ihrer Mobilität und der Möglichkeit, selbst ins tiefste Hinterland zu dringen, scheint hier schon soziologisch gefährlich und kann nur im Sinne einer Verdeutlichung der Gefahr, die von den ausgestellten Degenerierten ausgeht, verstanden werden. Neben dieser ideologischen Darstellung der Eugenikbewegung und statistischen Erfassung des Abnormalen besteht insbesondere für die Masse der Bevölkerung die Gefahr, selbst als degeneriert und verkommen diagnostiziert zu werden. Die Normatitivität des Gesunden und Angst vor dem Außergewöhnlichen strahlen also auch auf den Sideshowkonsumenten aus. Wenn er nicht im Dunkeln der konsumierenden Masse verharrt, kann er selbst zum Außenseiter definiert werden. Der amerikanische Soziologe Ervin Goffman umreißt in seinem Buch Asylums: Essays on the Condition of the Social Situation of Mental Patients and Other Inmates die Reduzierung der sozialen Rolle der in Psychiatrien Eingewiesenen auf einen Insassen-Status. Sie würden dort durch ritualisierte Institutionalisierung in ein soziales Rollenschema gepresst, in welchem der Mensch nur wie eine Maschine gewartet werden muss. 36 Jörg Michael Kastl, deutscher Soziologe mit Schwerpunkt Soziologie der Behinderung, verweist auf die Disability Studies des amerikanischen Anthropologen Robert F. Murphy und betont, dass außerhalb solcher Insti- 32 Vgl. Paul, Myths , S. 260ff.. 33 Die Biologen Harry H. Laughlin und Charles B. Davenport sind hier federführend und verlangen eine Sterilisation, nicht unbedingt Eliminierung, verschiedener Bevölkerungsgruppen, deren Minderwertigkeit nicht nur aus körperlichen Beeinträchtigungen besteht, sondern allgemein als feeble minded (schwach, kraftlos, dümmlich) definiert wird. Vgl. Paul, Myths , S. 261f. 34 Vgl. Yanni, The Architecture of Madness: Insane Asylums in the United States . 35 In einem Werbefilm aus dem Jahre 1956 wird die Institution des Glenwood State Home als idealer Lebensort für jedwedes Leiden angesehen. Zu Beginn des Films wird eine weinende Mutter überredet, ihr als unnormal diagnostiziertes Kind in die Obhut einer beachtlich großen Institution zu geben. Die Bewohner verblieben meist lebenslang in den Institutionen. In den 1950ern formuliert die Anthropologin Margaret Mead erstmalig, dass Menschen mit Beeinträchtigung nicht abseits der Gesellschaft verbracht gehören. Diesen Standpunkt vertritt die Anti-Psychiatriebewegung, die sich u. a. für das Recht auf Freakery einsetzt. Sichtbar wird diese Kritik am medizinischen Establishment z. B. in Einer flog über das Kuckucksnest (1975). 36 Vgl. Goffman, Asylums , S. 342. Tod Browning, Freaks 41 42 42 Heike Schwarz tutionen, Krankenhäuser, Bezirkskliniken oder Psychiatrien sogenannte „soziale Reaktionen“ auf Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen stets ambivalent wären. 37 Kastl spricht von einer fast „rituellen Scheu und Meidung, Peinlichkeit, Verunsicherung sowie Verunreinigungsängsten, die sich mischen mit übertriebener Fürsorge, Mitleidshaltung und Bevormundung“. 38 Behinderung sei hier eine Art nicht einzuordnender „Schwellenzustand“ zwischen krank/ gesund und gegebenenfalls sozial nicht akzeptiert, so dass ein Status behinderter Menschen als „declassified, not reclassified“ zu bezeichnen sei. 39 Kastl widerspricht einer solchen Einteilung nicht absolut, betont aber auch bestimmte ‚Inklusionsrituale‘ mit performativem Charakter (Theateraufführungen, Musikgruppen etc.). Eine tatsächliche Inklusion müsse über Schritte wie Exklusion, Separation, Integration und schließlich Inklusion verlaufen, wobei im letzten Schritt jedweder Unterschied quasi irrelevant wird, Individualität aber möglich ist. 40 Im Vergleich dazu vollzieht sich die Aufnahme von Cleopatra in die Gemeinschaft der Freaks, die außerhalb anerkannter gesellschaftlicher Strukturen existieren, ebenso über mehrere Schritte, wobei sie den ersten, quasi freiwilligen, Schritt verweigert. So wird Cleopatra erst als körperlich Verunstaltete - gleichsam in einem zweiten Schritt - Mitglied der Freaks. Diese äußere Verstümmelung markiert sie eindeutig als Außenseiterin, zumal die vormals amazonenhafte Frau im Sinne des Browningschen vitalen Frauenzimmers zu einer hilflosen Gestalt mutiert. 41 Grenzüberschreitend und Tabus dekonstruierend wirkt Freaks insofern, als der zeitgenössische Kinokonsument den Freak als Mitmenschen präsentiert bekommt, bevor er, scheinbar den Gesetzen des Horrors folgend, als verstümmelndes Monster inszeniert wird. Der Freak aber, nunmehr mit empathisch aufgeladenen Sequenzen als Identifikationsfigur durch den Zuschauer betrachtet, agiert nicht grundlos, wie es eine von ihren Trieben beeinflusste Bestie - als Vampir, Zombie, Werwolf - in einer Art dissoziativem Zustand tun müsste. Der Freak hat in Brownings Welt einen soziologisch fundierten Grund, sich zur Wehr zu setzen, da er sich sprichwörtlich der potentiellen Mörder Cleopatra und Hercules entledigen muss. IV. Zirkus und Freakshow als Gegenwelt: Normalisierung des Anderen? Midnight Kultfilme 42 und ihre Vorliebe für unkonventionelle, nichtnormative oder ‚queere‘ Körper unterstreichen die Bedeutung des Handicaps als ‚freakish spectacle‘ und weisen so das Kultcinema als Ausdruck von Subversion und gesellschaftlichen Gegenentwürfen aus, wobei der freakische Körper einerseits immer noch als Objekt des gehypten Grusels, 43 andererseits als Symbol der Stigmatisierung durch eine diskriminierende gesellschaftliche Codierung fungiert 37 Vgl. Kastl, „Inklusionsrituale“, S. 270. Zu einer psychoanalytischen Lesung nach Freud bezügl. emotionaler Reaktionen auf Körperbesonderheiten siehe Smith, Hideous Progeny , S. 85. 38 Vgl. ebd., S. 270. 39 Vgl. ebd., S. 270. 40 Vgl. ebd., S. 270. 41 Schon im Stummfilm The Unknown verkörperte Joan Crawford jene amazonenhafte, selbstbewusste Weiblichkeit, der emotional überforderte Männer erliegen. Allerdings bleibt Crawford als Nanon im Grunde unschuldig im Gegensatz zur femme fatale Cleopatra, die sprichwörtlich unschädlich gemacht werden muss, bevor sie endgültig zur Mörderin an Hans wird. 42 In dieses Milieu des vor allem seit den 1970ern etablierten midnight Kultfilms bzw. der underground movies der 1960er wird Freaks oft verortet (Vgl. Church, „Freakery“, S. 9). Darunter fallen auch Night of the Living Dead (1968), Rocky Horror Picture Show (1975) oder Eraserhead (1977). 43 Siehe dazu auch Dellmann, Widerspenstige Körper. und so das Nichtnormative den Kultfilm jenseits der Konventionen des Mainstream verortet. 44 Während Freaks heute als Kuriosum klassifiziert wird, kann der Film jedoch als cineastische Antwort auf den versehrten Körper der amerikanischen Nation der 1930er und der Great Depression gelten, aber auch als Beispiel des bereits in den 1930ern etablierten Genres des exploitation film , in dem der nicht-normative Körper ausgestellt wird. 45 Literarische Auseinandersetzungen mit dem ‚working man‘, der Arbeiterklasse, die abgewirtschaftet mit physischen Deformierungen gekennzeichnet ist, zeigen sich etwa in der Dustbowl Trilogy (1936-9) von John Steinbeck, in der der geschundene und von Krankheit, Inzucht und Armut gezeichnete Körper der Unterschicht den gesellschaftlichen Umbrüchen nicht mehr gewachsen ist. 46 Die Side- und Freakshows stellen noch groteskere Körper aus, die wiederum den Niedergang des Prozesses des Moderne symbolisieren und so quasi durch genetische Kapriolen gesellschaftlich noch stärker Diskriminierte präsentieren. 47 Die Freakery ist hier eine dunkle Variante des Grotesken, humorlos und furchterregend. 48 Der freakische Körper wird so in den 1930er Jahren zum amerikanischen Alptraum. „Here comes the freak show, stink show“, wird eine junge körperlich beeinträchtigte Mazie in Tillie Olsens Yonnonido: From the Thirties (1974) 49 durch das Dorf gemobbt. 50 Die Metapher des Zirkus - „the world torn down like a circus“ als transitorischer Nicht-Ort für verlorene Träume - lässt in John Steinbecks Grapes of Wrath (1939) die verarmten Oakies ihre Ängste realisieren, wenn Kinder nur noch als Freaks geboren werden: „What chance that baby got to get born right? I know - gonna be a freak - a freak! “ 51 Wolfsmenschen, Aztekenkinder, bärtige Frauen, Kleinwüchsige, Riesen, siamesische Zwillinge, gliederlose Leiber, Existenzen markiert durch Pigmentstörungen, Progerie, Mikroenzephalie, lebende Skelette, Albino-Schwarze 52 , all diese Ambiguitäten der ungewöhnlichen Körper verwiesen in der Side- oder Freakshow auf die Sensationalisierung physischer Differenzen. Der ausgestellte Mensch mit seinem ansonsten als Stigma wahrgenommenen Außergewöhnlichen wird hier auch wissenschaftliches Objekt, bleibt aber als Gegenstand und Sensation markiert. 53 Eine Subversion der Zuschauererwartung, die sich auf das Horrorhafte und seine genretypischen Fokalisierungen gebündelt hat, tritt auf verschiedenen Ebenen in Kraft, etwa bezüglich Charakteridentifizierung, Bildsprache und nicht zuletzt durch die Entlarvung der eigenen Vorurteile, welche sich in der Diskrepanz von eindeutigen Zuordnungen von Gut und Böse, 44 Vgl. Church, „Freakery“, S. 3. 45 Wie David Church zeigt, wurde dieses Genre des exploitation film , insbersondere Freaks , während Mitternachtsvorstellungen auch von Darstellern wie den siamesichen Zwillingen Daisy und Violet Hilton, die auf Tour gingen, als adult only vermarktet. Der exploitation film bricht mit gesellschaftlichen Tabus, muss dies aber nicht unbedingt tun, weil er gesellschaftskritisch ist (vgl. Church, „Freakery“, S. 6f.). 46 Zur Korrelation gesellschaftlicher Umbrüche und Spiegelung der kollektiven Ängste im Horrorfilm der 1930er siehe auch Skal, The Monster Show sowie Paszylk, The Plaisure and Pain of Cult Horror Films , S. 26. 47 Der Alptraum des ökonomischen Niedergangs wird in den Romanen der 1930er als crooked , grotesque und misshapen bezeichnet. 48 Vgl. King and Fahy, Peering Behind the Curtain , S. 71. 49 Der Roman wurde in den 1930ern geschrieben und erst später veröffentlicht. 50 Vgl. King and Fahy, Peering Behind the Curtain , S. 71. 51 Vgl. Fahy, Freak Shows , S. 93. 52 Browning dagegen trat auch schwarz angemalt im Blackface auf (vgl. Skal und Savada, Dark Carnival , S. 9). 53 Zur Ambivalenz des Blickes auf den Freak, vgl. Church, „Freakery“, S. 3ff. Tod Browning, Freaks 43 44 44 Heike Schwarz Monströsem und Integrem zeigt. Der Zuschauer muss sich, von Brownings eindeutig streng bemühter Bildsprache geleitet, mit den Freaks auf empathische Weise verbinden, denn nur diese Zuschauer/ Charakterbindung, hervorgerufen durch lange, ruhige Close-ups und starre, bühnenhafte Einstellungen ohne schnelle Schnitte, führt das Publikum zur Identifikation mit den körperlich Andersartigen, indem ihnen deren absolute Normalität und die Monotonie des Alltäglichen aufgezeigt wird. Nicht das normativ-kulturell konnotierte Hässliche oder Unnormale zeigt die Abartigkeit in geordneter Formierung an, sondern im Zentrum steht die Tendenz des Zusehers, sich vormals von von Filmnarrativen und fixierten Genreattributen üblicherweise vorgegebenen (aber oftmals aufgelösten) Sympathiezuschreibungen leiten zu lassen, nämlich, sich dem scheinbar Schönen zu verhaften und gleichzeitig das scheinbar Böse, Monströse abzulehnen und mit dem Fortgang des Films sprichwörtlich zu zerstören. Die zugegebenermaßen vom Filmregisseur stark forcierte Identifikation mit den Freaks wird also vom Film durch die Leerstelle des Nichtzeigens des körperlich Schockierenden hyperbolisiert, da die Erwartungshaltung des Publikums, dem Monster visuell zu begegnen, durch retardierende Momente gesteigert wird. Zunächst erlebt das Publikum nur den Schock der Menge im Film, die den Anblick einer menschlichen Monstrosität teilweise nicht ertragen kann und trotzdem tapfer hinsieht, was der Filmkonsument wiederholt (siehe Abb. 1). Andererseits führen Brownings lange Einstellungen dazu, den nicht-normativen Körper genau studieren zu können, also den Blick am Anblick der Andersartigkeit zu schulen. Abb. 1: Blick in die erleuchteten Ausstellungsboxen, im Hintergrund die anderen Sideshowattraktionen Zunächst führt Browning das Filmpublikum in eine Sideshow, wobei scheinbar die eigentlichen Hauptattraktionen nicht auf Bühnen, sondern in ausgeleuchteten Laufställen ausgestellt sind. Die Form des sonst üblichen Othering , also eine Abwendung vom Gegenüber als möglichem Spiegel des Selbst, um eine deutliche Tendenz der Umformulierung des anderen Menschen als den ultimativen Anderen zu konstruieren, zeigt sich in der physikalischen Umdeutung des Ortes als Präsentationsmittel: Der eigentlich humane Freak wird künstlich zum Monströsen erhoben, indem er auf einer Plattform präsentiert und somit vom Publikum räumlich entfernt wird. Hier zeigt sich Brownings Film als historische Dokumentation, die den Gang durch eine solche Sideshow für das heutige Kinopublikum möglich macht. Da die Präsentation des Freaks als monströses Objekt verstärkt werden muss, können sich das Objekt und der Betrachter, der den Anblick des Monströsen konsumiert, nicht auf gleicher Ebene begegnen. 54 Zwei Arten der Präsentation sind in den historischen Sideshows möglich: 1. der exotic mode , der den Freak als kulturanthropologisches Wunder wie das missing link oder uralte exotische Kultur präsentiert; 55 2. der aggrandized mode , indem der Freak selbst im Kontrast zu seinem Äußeren steht, da er außergewöhnliche Fähigkeiten zeigt und mit besonders prächtigen Roben, Schmuck sowie künstlichen aristokratischen Titeln ausgestattet ist. 56 Die hyperbolische Exotierung und Exposition der Performer unterliegt stets theatralischen Modi. Born freaks, made freaks, alle sind soziale Konstruktionen in einer künstlich überhöhten Welt. 57 In Freaks findet allerdings visuell ein Ausgleich dieser Bühnenüberhöhung und doch gesellschaftlichen Erniedrigung statt: Der kleinwüchsige Angelo überreicht Cleopatra einen Kelch, mit dem sie auf den Ehrencodex der Freaks anstoßen soll, um ihre Mitgliedschaft als „one of us“ zu besiegeln; Hercules kriecht am Boden, wenn er von den Freaks am Ende des Films gejagt wird (vgl. Abb. 11). Als karnevaleske Unterhaltung erscheint der Jahrmarkt oder der Zirkus nur für den Konsumenten, der diese Gegenwelt betritt, um mit einer physischen und psychischen Transgression einen Gegenentwurf zur Restriktion der geregelten Alltagswelt zu betreten. Für die Freaks ist der Jahrmarkt selbst ein Alltag, dessen Ausstellungscharakter aber ihre gesellschaftlichen Grenzen aufzeigt. Jenseits der zirzensischen Verortung und einer codierten Ästhetik des Hyperbolischen, Bourlesquen 58 kann der Freak nur Gefahr für die genormte Welt bedeuten. Der Freak darf also nur im vorgezirkelten Bereich existieren. Der Einbruch der Normalen in die Welt der Deformierten und Abnormalen wird - schon in The Unholy Three - durch Gegenmaßnahmen der Freaks unterminiert, etwa wenn sie als Taschendiebe operieren und die scheinbar Normalen mit ihrer Schläue und Schlagfertigkeit überbieten können. Wie Rachel Adams in Sideshow U.S.A.: Freaks and the American Cultural Imagination schreibt, stellen die Freakshows ein starkes politisches Symbol und eine neue Art der Unterhaltungsindustrie dar: Although they have often been treated as an ephemeral form of amusement, freak shows performed important cultural work by allowing ordinary people to confront, and master, the most extreme and terrifying forms of Otherness they could imagine, from exotic dark-skinned people, to victims of war and disease, to ambiguously sexed bodies. 59 Zwar fungieren, so Adams, die Side- und Freakshows als kurzweilige Unterhaltung. Sie leisten aber auch kulturelle Arbeit, indem sie den scheinbaren Durchschnittsbürger mit dem Außergewöhnlichen und Verdrängten zusammenführen. Das absolute Andere ist hier symbolisiert 54 David Church benennt dies „an aesthetic mode especially attuned to displaying the body as spectacle“ (Church, „Freakery“, S. 6). 55 Vgl. Bodan, Freak Show , S. 107. Menschen mit Mikroenzephalie (Schädelmissbildung) werden z. B. als Azteken kostümiert. 56 Vgl. Bogdan, Freak Show , S. 165. 57 Oftmals waren Freaks auch Fakes, die zwischen Illusion und Realismus agierten. Made freaks waren z. B. Menschen mit Tätowierungen, born freaks Menschen mit medizinischen Besonderheiten. Gliedmaßen wurden abgebunden und Kriegsverletzungen vorgetäuscht, wie Browning in The Unknown (1927) bereits zeigt. 58 Vgl. Jürgens, Poetik des Zirkus , S. 33ff. 59 Adams, Sideshow U.S.A ., S. 2. Tod Browning, Freaks 45 46 46 Heike Schwarz durch Menschen, deren Äußeres durch Krankheit oder Kriegswunden, Hautfarbe oder nicht eindeutige Geschlechtszugehörigkeit definiert ist. Freaks forciert eine Empathiebildung, indem die Darsteller im Film eben nicht oder nur ansatzweise als Zirkusnummern gezeigt werden. Die Illusion des stage acts wird also gebrochen, der Alltag holt die Freaks auf die Ebene der absoluten Normalität zurück, so dass sie eher in ihrer Banalität als innerhalb konstruierter Absurdität präsentiert werden. Die Devianz wird zur normalisierten Agens. Der Freak trägt, um mit der Logik der Sideshow zu sprechen, seine eigene Bühne am Leib. So oszilliert er zwischen Fantasieprodukt, Hassobjekt und Konsumartikel und einer nötigen Einordnung seiner Menschlichkeit und Empathie. 60 Letzteres, die universelle Menschlichkeit, wird zwar auch in Browning überraschendes Element, weil der Freak als erwartetes Horrorobjekt zwar ästhetisch verstört, stärker ist die Darstellung aber, wenn es um die Einordnung als Menschen geht, letztlich in der Gattung aller Menschen, auch die des Zuschauers. Der Körper wird als Anschauungsobjekt auch Lust- und Schauerobjekt, ein Abjekt, das durch die Verschiebung des ‚Normalen‘ emotional verstört. Darüber hinaus dient der Freak zur Orientierung und Versicherung der eigenen ‚Normalität‘ - der passive Betrachter in der Menge kann sich seiner totalen Funktionsfähigkeit gegenüber dem Ausgestoßenen versichern. Diese Vergewisserung folgt dem sehr körperlichen Schockmoment, den z. B. Mark Twain in Those Extraordinary Twins (1894) beschreibt, wenn ein siamesisches Zwillingspaar auf ein anderes stößt und die erste Begegnung mit einer körperlichen Reaktion, „gut-level responses“ und Verwunderung reflektiert: „Shaken them up like an earthquake with the shock of its gruesome aspect“. 61 Der neugierige Blick auf die Ausgestellten wird von den Freaks allerdings erwidert. Der staunende Blick der vitalschönen Cleopatra auf den kleinwüchsigen Hans etwa wird durch sofortige Gegenwehr durch Hans gekontert: HANS: Are you laughing at me? AERIALIST: Why no, monsieur. HANS: Then I‘m glad. AERIALIST: Why should I laugh at you? HANS: Most big people do. They don‘t realize I‘m a man, with the same feelings they have. 62 62 Im Grunde fasst Hans hier den Aspekt der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Freaks bereits zusammen - den Kampf, die Emanzipation gegen normativ festgesetzte Vitalität und 60 Adams beschreibt hier einen „promotional hype“ (siehe Adams, Sideshow U.S.A. , S. 6). 61 Adams, Sideshow U.S.A. , S. 7. Zur Wahrnehmung und Einordnung von Symmetrie als Schönheit und ‚Hässlichkeit‘ oder ‚abnormales‘ Äußeres als verstörend gibt es zahlreiche neurowissenschaftliche Untersuchungen. Schlussendlich bleibt zu sagen, dass Schönheit oftmals als absolute Harmonie verstanden wird und die Freaks im Film selbst auch als schön gelten können, wenn die Außergewöhnlichkeit ihrer Körper in den Hintergrund und ihre teilweise sehr deutliche überdurchschnittliche Physis eine eigene Schönheit entwickelt. Zu neurologischen Konzepten der Schönheit siehe Christoph Taucher, Neuropsychologische Einflüsse von Schönheit und Niedlichkeitsfaktoren von Bildern , München 2009. 62 Browning, Freaks , 00: 03: 18ff. Schönheit. 63 Die Freaks verlangen Gleichheit und Akzeptanz, Browning verlangt dies auch vom Publikum, wenn die Ungerechtigkeit, Unverschämtheit, Unzivilisiertheit der ‚normalen‘ Artisten gezeigt wird. Oft wird der Freak sofort sanktioniert und gemobbt, wenn etwa Joseph/ Josephine von Hercules geschlagen wird, wenn er/ sie einen Blick zurück auf Hercules wirft. 64 Die Freaks können aber im Kollektiv durch einen auf Cleopatra und Hercules gebündelten Blick wiederum Autorität zurückerobern, denn ihnen entgeht der Mordversuch nicht. 65 Cleopatras Annahme von Sicherheit bezüglich eines perfekten Mordes an Hans stellt sich als falsch und fatal heraus, denn die Freaks ahnden diese Transgression, indem sie Cleopatra forcieren, eine von ihnen - und eigentlich viel mehr - zu werden. Dieser Kontrollverlust trägt zur Umkehrung eines eher oberflächlich komödiantischen Modus des Films in einen Horrorfilm bei. 66 V. Umcodierung des Monströsen: Freaks als Horrorfilm? Wenn Georg Seeßlen Tod Brownings größten Hollywooderfolg Dracula aus dem Jahre 1931 mit Begriffen wie „statische[n] Einstellungen und Dialoglastigkeit“ in die allgemeine Kritik um diese Verfilmung verknüpft, kann man eine ähnliche starre Statik der Bilder und Dialoge ebenso für den auf Dracula folgenden Film Freaks feststellen. 67 Für David Skal stellt das Jahr 1931 dagegen ein stilbildendes Jahr für den nun etablierten Horrorfilm dar. 68 Als Tod Browning unter Universal mit Dracula den ikonischen Vampirfilm erschafft, erlaubt ihm MGM die Arbeit an der Verfilmung der Kurzgeschichte „Spurs“ des Mystery-Horror-Autors Tod Robbins aufzunehmen. 69 Browning castet echte Sideshow-Darsteller, kann jedoch zunächst keine echten Hollywoodstars für den Film gewinnen. Als Stummfilmregisseur und trotz Dracula scheint Browning in Freaks noch sehr der Konvention der silent movies und nicht der talkies anzuhängen. 70 Mitten im Film taucht ein Zwischentitel auf („The Wedding Feast“), und Brownings damals schon seltsam antiquierter Kamerastil tritt insgesamt hinter den gewaltigen Bildern der kuriosen Darsteller zurück, die zunächst den fast dokumentarischen Charakter des Films ausmachen. Dabei spielt Browning schon von Anfang an mit den Andeutungen einer Angst produzierenden Bilderflut, ohne dies jedoch ausdrücklich zu realisieren. Somit findet sich die Angst(lust) anfangs nur im Innern des Publikums ohne externen Reiz. 63 In dieser ersten Szene mit Cleopatra, die Hans umgarnt, während Frieda, Hans‘ Verlobte, zugegen ist, werden die Beziehungskonstellationen bereits gesetzt (Browning, Freaks , 00: 02: 52). Bei Filmvorführungen in verschiedenen Seminaren wurde die Szene als komikhaft wahrgenommen, da Hans eigentlich wie ein Kleinkind wirkt, aber seine männlich-erwachsene Wut durchaus deutlich wird. Cleopatras Arroganz versus Friedas Leid zeigen klare Codierungen der femme fatale versus der schwächeren damsel in distress . Hans wiederum reagiert wie ein testosterongesteuerter Verehrer. 64 Browning, Freaks , 00: 15: 52. 65 Browning, Freaks , 00: 46: 44. 66 Zum Kontrollverlust als Genremarkierung im Horror vgl. White, „Poetics of Horror“, S. 8ff. 67 Seeßlen, Horror , S. 128. 68 Vgl. Skal, The Monster Show , (zitiert in Pszsylk, Pleasure and Pain , S. 26). 69 In der Kurzgeschichte „Spurs“ malträtiert ein vermögender Kleinwüchsiger seine schöne Frau, indem er auf ihr reitet und sie über sein Anwesen jagt. Die Heirat kam nur zustande, weil die Frau das Vermögen erben wollte. Kein Charakter in der Geschichte ist sympathisch. Harry Earles macht Browning auf die Geschichte aufmerksam (vgl. Skal und Savada, Dark Carnival , S. 161). 70 Mitten im Film taucht vor der maßgeblichen Hochzeitsszene ein Zwischentitel auf: „The Wedding Feast“ (Browning, Freaks , 00: 37: 24). Tod Browning, Freaks 47 48 48 Heike Schwarz Die erste visuelle Begegnung - nach Hans und Frieda - mit den so andersartig aussehenden Menschen, die dem Film den ambivalenten Titel Freaks geben, findet auf einer Waldlichtung statt, als der Wildhüter Jean dem Grundbesitzer von den schrecklichen Gestalten erzählt, die im Wald tanzen. Dies findet bereits in der Binnenhandlung statt, nachdem der Ansager der Sideshow zu Beginn die Rahmenhandlung bildet, in der die Geschichte der veränderten Cleopatra erzählt wird. Bis zu diesem Moment diktiert das Skript einen konventionellen Horrorfilm mit Monstern: DUBOIS: …only your imagination. JON: But Monsieur Dubois, at first, I could not believe my own eyes. A lot of horrible, twisted things crawling, whining, globbering. DUBOIS: Really, Jon, what were you drinking last night? JON: Nothing, monsieur, I assure you. (We see what appears to be a family group in the distance.) Oh, monsieur, there must be a law in France to smother such things at birth, or lock them up. DUBOIS: All right, Jon, if there‘s anything like you say on my grounds we‘ll have it removed. 71 71 Der Schnitt zur harmlos und in pastoraler Idylle um die lesende Zirkusdirektorin Madame Tetrallini lagernde Gruppe im Wald erfolgt auf die Bemerkung des Waldhüters Jon, der seinen Vorgesetzten zu den tanzenden Gestalten führen will, dass dies die hässlichsten, verkrümmten Dinger (! ) seien, die dort am Boden kriechen und wimmern. 72 Zwar sieht man schon Prince Randian, den Living Torso, und andere, sich auf dem Boden fortbewegende Gestalten, sie aber als derartige Monster einzuordnen wird durch ihren kurzen Anblick zunächst konterkariert, der neugierige Blick aber gefördert. Jons Ausspruch, dass es ein Gesetz geben müsse, das erlaube, derartige Dinge schon bei der Geburt zu eliminieren, evoziert Assoziationen bezüglich der Eugeniknarrative und jene Bemerkungen, die schon die einleitende Stimme des Schaustellers zu Beginn des Films reflektiert, ob diese entsetzlich entstellten Körper nicht vom Boden der Erde getilgt werden sollten. Hier schneidet Browning eine übermütige Tanzszene ein, bei der die ‚Nagelköpfe‘ oder Pinheads , verschiedene Kleinwüchsige, die von Madame Tetrallini als Kinder vorgestellt werden, freudig losgelöst im Reigen vereint sind, durch eine Flötenmusik begleitet. Auf Jons entsetzten Ausruf, dies seien Monster und keine Kinder, erfolgt der sofortige Gegenschnitt auf Prince Randian, den beinlosen Johnny Eck und den kleinwüchsigen Angelo, Zip, Pip und Schlitzie, die alle erkennbar erwachsen sind. Browning schneidet die Szene so, dass Madame Tetrallinis Schutzbehauptung als solche erkannt und ihre Widersprüchlichkeit entlarvt und die Codierung als Monster oder Kinder hinterfragt wird. 73 Versucht der Film zuvor noch in einer Art Pastiche des Horrorfilms Spannung aufzubauen, zeigen sich hier erste Diskrepanzen bezüglich der Andersartigkeit der Darsteller, deren körperliche Merkmale als einerseits verstörend, andererseits Klischee zerstörend wirken können. Die 71 Browning, Freaks , 00: 04: 34. 72 Browning, Freaks , 00: 04: 48. 73 Browning, Freaks , 00: 06: 11. Monströsen sind hier liebevoll Umarmende, in Großaufnahme gezeigte freundliche Menschen, deren körperliche Besonderheit, welche die Szene eigentlich als erschreckend antizipiert, der scheinbaren Harmlosigkeit und der offensichtlichen Ängstlichkeit widerspricht. Jons Entsetzen spiegelt sich in der Angst der ‚children‘ Madam Tetrallinis wieder, wenn sie Zuflucht bei der großen Frau suchen, eingeschüchtert zurückblicken und sie umarmen. Es ist aber der dritte Blickende, der Zuseher, dessen Staunen und Zerrissenheit zwischen Empathie und Verwunderung oder Neugier das Othering und den Distanzaufbau zum Anderen, dem Freak, decodieren kann oder soll. Die Antlitze der sich ängstlich und erschrocken um Madame Tetrallini gruppierenden, als Kinder bezeichneten Erwachsenen zeigt, dass der Zuseher, der Außenstehende, sie auch mit seinen Blicken zur Andersartigkeit degradiert. Madame Tetrallinis Ausspruch, dass alle Kinder den gleichen Schutz bekommen sollen wie jeder andere Mensch auch, ist auch als Aufruf an den Zuseher zu verstehen, dass der klassische Horrorfilm um andere Nuancen erweitert wird. Mit Madame Tetrallini illustriert der Film eine Gleichheit aller Menschen: „God looks after all his children“ (vgl. Abb. 2). 74 Abb. 2: Madame Tetrallini umarmt ihre Schützlinge, u. a. Schlitzie, Zip und Pip Wie Studien zu historischen Freakshows aufzeigen, findet die Zuweisung der Freakdarsteller in Zirkussen und Varietés stets in einem Diskurs der Verkindlichung statt, der ihnen eine Würdigung im Humanen, gleichgestellt allen Menschen, versagt. 75 Die Offensichtlichkeit mentaler und körperlicher Besonderheiten, chronischer Erkrankungen und Anomalien, sogenannter Missbildungen, zementiert die Verortung des Freaks als Außenseiter. Man kann den Freak als monströs, grotesk, ekelhaft, teuflisch, verformt und unästhetisch bezeichnen, ohne Sanktionen erwarten zu müssen. Wie historische Abrisse über Sideshows zeigen, gab es unter Darstellern, die als selfmade Freaks - die etwa durch besonderen Haarwuchs oder durch Tattoos Besonderheiten zeigten - und Varietéstars - also Schwertschlucker, Trapez- und Zauberkünstler - auftraten, eine deutliche Hierarchie gegenüber Darstellern mit angeborenen Besonderheiten. Fahrende Leute waren sie alle - aber nicht alle waren gleichwertig. 76 Dies zeigt Browning sehr 74 Browning, Freaks , 00: 06: 37. 75 Vgl. Bogdan, Freak Shows , S. 172. Siehe auch generell Fahy, Freak Shows . 76 Vgl. Skal und Savada, Dark Carnival, S. 168f. Tod Browning, Freaks 49 50 50 Heike Schwarz eindrücklich, wenn der Film zunächst den Zirkusalltag vorführt, in dessen Diegese eine Grenze zwischen ‚normalen‘ Darstellern und den Sideshowartisten deutlich wird. Unterstrichen wird dies, wenn Joseph/ Josephine von zwei selbst kostümierten männlichen Schaustellern im Bildausschnitt visuell quasi gerahmt und angepöbelt wird, die Zweigeschlechtlichkeit und das Kostüm degradierend. 77 Kurz agiert der Film als Simulation eines tatsächlichen Zirkusbesuches, wenn das Close-up Joseph/ Josephine präsentiert und die Stimme eines der Artisten aus dem Off die Attraktion ankündigt. 78 Durch die Nahaufnahmen im attachment style sind wir Konsumenten der Attraktion und doch eher Teilhaber an der Gefühlswelt der Freaks, deren Ungleichbehandlung durch übertrieben pöbelhaftes Benehmen der Nicht-Freaks verdeutlicht wird. In den Sequenzen des Zirkusalltags wendet sich Browning vom Horrorfilm deutlich ab und präsentiert eher statisch und durch lange Einstellungen wie Bühnenauftritte inszeniert die einzelnen Interaktionen zwischen Sideshowdarstellern - fast alle Profiartisten und Laiendarsteller - und den ‚normalen‘ Akteuren (Profischauspieler). Gleichzeitig wird Brownings Auseinandersetzung mit Geschlechterkonstruktionen deutlich, indem er diese Eingangsszenen mit beißender Situationskomik mischt. Beim Blick von Josephine auf Hercules, den stärksten Mann der Welt, der vom stotternden Rosco als sich während der Aufführung inadäquat kratzende Roman Lady begleitet wird, was der Illusion abträglich erscheint, meint Rosco mühsam: „I think she llll…likes you, but he dddd…don‘t.“ 79 Die Verhandlung von Männlichkeit gegenüber femininer Dominanz wiederholt sich, etwa wenn der kleinwüchsige Hans sich von seiner Verlobten Frieda nichts vorschreiben lassen will, 80 oder der freundliche Clown Phroso mit Venus über seine Operation scherzt und einen Flirt beginnt, nachdem Venus den gewalttätigen Hercules verlässt. 81 Phroso und Venus agieren im Film stets als Mittler der zwei Hierarchien von nicht-normativ und normativ. Die malignen Charaktere Hercules und Cleopatra, die aktiv um den nun freien Hercules wirbt, sprühen vor vitaler, offensiver Sexualität. Ihr Plan, Hans als künftigen Ehemann von Cleopatra zu etablieren, damit sie an sein Erbe kommen, wird von der verschworenen Gemeinschaft der Freaks vereitelt. Diese verschworene Gemeinschaft als machtvolles Kollektiv findet als unheimlich platzierter Unterton vermehrt Eingang in den dargestellten Zirkusalltag. Dass sie eine Gruppe bilden, zeigt eine Szene nach der Geburt der Tochter der Bärtigen Lady, wenn sich alle versammeln und das neue Mitglied begrüßen. Phroso und Venus sind hier ebenso beteiligt, weil sie Respekt vor allen Freaks haben. Deutliche Hinweise auf Konsequenzen nach Verletzungen von Ehre und Würde eines Freaks zeigen sich, wenn Angelo mit seiner armlosen Frau diniert und ihr formvollendet ein Glas Wein einschenkt (vgl. Abb. 3). 77 Browning, Freaks , 00: 07: 22. 78 Browning, Freaks , 00: 07: 14. 79 Browning, Freaks , 00: 08: 09f. 80 Browning, Freaks , 00: 16: 28. 81 Browning, Freaks , 00: 10: 03. Abb. 3: Angelo serviert seiner armlosen Frau formvollendet einen Drink In dieser Szene präsentiert Browning nahezu im aggrandized mode die Zivilisiertheit der Freaks in ihren adrett eingerichteten Wohnwagen, die sich in nichts von denen der übrigen Darsteller unterscheiden. Die relevante Differenz zwischen Normalen und Freaks ist hier das Niveau ihrer Handlungsfähigkeit: Sie sind höflich, auf Manierlichkeit und Manieren bedacht. 82 Gleichzeitig wird hier schon deutlich, dass das gierige Spiel von Cleopatra und Hercules bereits durchschaut wird: FRANCES: Cleopatra ain‘t one of us. Why, we‘re just filthy things to her. She‘d spit on Hans if he wasn‘t giving her presents. ANGELINO: Let her try it. Let her try doing anything to one of us. FRANCES: You‘re right. She don‘t know us. But she‘ll find out. 83 83 Die Macht hat inne, wer sich auf das Kollektiv - hier das der Freaks, der scheinbar Schwachen-- verlässt. Jenseits sozialer Oppositionen - männlich/ weiblich, der Norm entsprechend/ freak, Gesellschaft/ Zirkus - finden die Freaks ihre Stärke in der Gemeinschaft Gleichgestellter, wobei sie die Mitglieder wohl nicht unterscheiden, da physische wie mentale Beeinträchtigungen keine Rolle mehr spielen. Wenn sich der Zuseher hier gruseln kann, dann höchstens mit dem Staunen über die verschiedenen Erscheinungen der Sideshowdarsteller. Sie sind bis heute tatsächlich ein ungewohnter Anblick, aber keineswegs abartige Monster. So sind etwa Violet und Daisy Hilton als berühmte siamesische Zwillinge in der Interaktion mit ihren jeweiligen Verlobten zu sehen: „Yes, and you must come to see us sometime“, angesichts der untrennbaren 82 Die Diskrepanz zwischen der Rohheit der übrigen Artisten gegenüber den höflichen Freaks zeigt sich, wenn Hans Cleopatra gegen harsche Bemerkungen einiger Bühnenarbeiter und Hercules verteidigt, ohne zu ahnen, dass er auch von Cleopatra vorgeführt wird. Hans bäumt sich hier mit Fäusten auf, um gegen die Unverschämtheiten der Arbeiter zu protestieren (Browning, Freaks , 00: 20: 33). Auch hier platziert Browning gegnerische Figuren im Bildausschnitt im Vordergrund, so dass kein Schnitt/ Gegenschnitt erforderlich ist und das Bild statisch bleibt und trotzdem wirkt. 83 Browning, Freaks , 00: 24: 18ff. Tod Browning, Freaks 51 52 52 Heike Schwarz Frauen eine provozierte Pointe (vgl. Abb 4). 84 Frieda, die von Hans wegen Cleopatra verlassen wird, hängt Wäsche auf und der freundliche Phroso interagiert mit dem entzückenden Schlitzie, der als Pinhead auftritt und im Film Frauenkleider trägt (vgl. Abb. 5). Abb. 4-5: Harmonische Interaktionen In der Gesamtheit kumulieren sich diese Szenen zu einer fröhlichen Parade aller besonderen Figuren im Film, und es wird eindeutig deren Freundlichkeit und das Liebevolle an ihnen betont. Während keiner der Akteure in seinen eigentlichen Revuenummern zu sehen ist, schneidet Browning allerdings eine bemerkenswerte Szene mit Prince Randian dazwischen. Der arm- und fußlose Living Torso, selbst mehrsprachig und fünffacher Vater im realen Leben, zeigt, wie er sich mit seinem Mund eine Zigarette anzündet. Hier spricht er seinen einzigen Satz im Film, als ein Berufsgenosse über die Darstellungsfähigkeit und Vermarktbarkeit konkurrierender Künstler klagt und eine neue Nummer ankündigt. Prince Randians Vorführung vermischt die Medien Zirkus und Zirkusfilm (vgl. Abb 6). 85 Abb. 6: Prince Randian zündet sich eine Zigarette an und blickt kurz in die Kamera Brownings Obsession mit Körperteilen und ihre sorgsame Inszenierung wird offensichtlich, als die armlose Francis sich mit einer ausgenommen unweiblich aussehenden Darstellerin 84 Browning, Freaks , 00: 30: 50. 85 Browning, Freaks , 00: 25: 17. Selbst nach etlichen Wiederholungen kann der Satz, der im Filmskript als „RANDIAN: Anything I can do in the act, bro? “ vermerkt ist, nicht herausgehört werden. Der gesagte Satz hört sich eher an wie „Can you do anything with your eyebrow? “. Sogar die italienische Synchronisation entspricht deutlich dem gehörten Satz (sopracciglio/ Augenbraue). Damit scheint sich Prince Randian zu verteidigen, dass er die bessere Nummer hat und nicht Teil der anderen Nummer werden will. über deren Stalker im Publikum unterhält und die Kamera sich auf Francis konzentriert, die mit ihrem Fuß ein Glas Bier zum Mund führt. 86 Ein rascher Gegenschnitt auf Cleopatras Hand, die ein von Hans eingeschenktes Champagnerglas hält, betont die unterschiedliche Physis und doch die Gemeinsamkeiten. Neben Phroso und Venus, die beide allen Hollywoodkonventionen eines adäquaten Liebespaares entsprechen, entwickelt sich die ungleiche Geschichte zwischen dem liebestollen Hans und der ihn betrügenden Cleopatra, die in Hercules einen passenden Liebhaber gefunden hat. Jedwede Entwicklung, auch die spätere Vergiftung von Hans, findet unter den Augen aller Zirkusbewohner statt, also eingebettet in einer Art physischer surveillance culture , einer ständigen Überwachung mit bereits unheimlicher Konnotation. VI. Umcodierung des Normalisierten: Freaks als Horrorfilm! Die zentrale Hochzeitsszene bildet die Peripetie des Films, in der die Gemeinschaft der Ausgestoßenen nicht mit den ‚Normalen‘ verschmelzen kann, da die Braut, Cleopatra, dies vehement ablehnt. Das Angebot „we make her one of us“ wird durch Cleopatras Hassanfall zum Pakt gegen sie, d. h. zur Ausgangslage einer physischen Verletzung ihres Körpers. Browning zeigt eine ausgelassene Gesellschaft im Alkoholrausch, die scheinbar unkoordiniert ausgelassen feiert und schließlich ernsthaft zum allgemeinen Schwur aufruft: FREAKS: (chanting) We accept her--one of us--gooble, gobble--we accept her--one of us-gooble, gobble… HERCULES: They‘re going to make you one of them, my peacock! (He laughs. But Cleo stops laughing and stiffly rises from her chair. Angelino is walking back and forth across the tabletop giving the others sips from the loving cup. He trots over to Cleo, drinks from the cup himself, then offers it to her. She takes it in her hand.) CLEO: (shouting) YOU! …DIRTY! …SLIMY! …FREAKS! (There is silence.) FREAKS! … FREAKS! …GET OUT OF HERE! (She throws the drink at them.) HERCULES: Get out! You heard her! Get out! (laughs. They all slowly leave.) CLEO: You filth! Make me one of you, will you! (to Hans) Well, what are you going to do? What are you a man or a baby! HANS: Please! Please! You make me ashamed. 87 87 Cleopatras Ekel konfrontiert und schockiert die Gemeinschaft (vgl. Abb. 7-8). Browning nutzt wiederum die Szene, um einzelne Showacts in den Film zu integrieren. Cleopatra und Hercules, oft gemeinsam im Bild und im Gegenschnitt zur ausgelassenen Freakgemeinschaft gezeigt, sind hier die Außenseiter, deren ungehöriges und kriminelles Benehmen sie eindeutig als die Monströsen kennzeichnet. Noch während der Hochzeitsfeier wird Hans vergiftet, was kontinuierlich fortgesetzt wird. Allerdings hegen die Freaks bereits einen Verdacht und schreiten ein, was sich im aufgeladenen Finale brutal inszeniert. 86 Browning, Freaks , 00: 26: 58ff. 87 Browning, Freaks , 00: 40: 15. Tod Browning, Freaks 53 54 54 Heike Schwarz Abb. 7-8: Cleopatra konfrontiert die Gemeinschaft: „Dirty, slimy FREAKS ! “ Browning unterminiert hier die allgemeine Auffassung, Sideshowdarsteller wären normaler Gefühle nicht mächtig, indem er Freude, Ausgelassenheit und tiefe Trauer um den verlorenen Verlobten - die trauernde Frieda hat Hans verloren - deutlich macht und Cleopatras unzivilisiertes Verhalten als verabscheuenswert klassifiziert. Schnitt und Gegenschnitt zeigen hier wiederum die Diskrepanz der Gefühlswelten, welche die betrunkene Cleopatra und der lärmende Hercules hier verletzen. Im Zentrum stehen also wiederum die nur scheinbar Monströsen. In verschiedenen Nahaufnahmen wird Schlitzie gezeigt, der die Ernsthaftigkeit der Situation - die Ironie von Cleopatras Gelächter, das Hans und seine romantischen Gefühle der Lächerlichkeit preisgibt - nicht versteht und nur die Oberfläche - Gelächter - wiederholt und selbst freudig erregt ist. Schlitzies naive und pure Freude während des Fests macht erst einer Ernsthaftigkeit Platz, als der Schwur ausgesprochen wird, dem sich Cleopatra mit Abscheu widersetzt. Alle Teilnehmer der Tafel, ungeachtet ihrer Besonderheiten, sitzen gleichberechtigt um den Tisch. Als Cleopatra im Wutanfall Angelo, der sich auf dem Tisch stehend nun mit der großen Frau Cleopatra auf gleicher Höhe befindet, mit dem Wein überschüttet, bleibt die Kamera auf den entsetzten Gesichtern der Freaks verhaftet und unterstreicht so die Regel- und Höflichkeitsverletzung. Ihr Ausruf „FREAKS! “ wird in eine Stille des Entsetzens platziert. 88 Hier verstärkt Browning eindeutig die Empathienahme des Zusehers, der als Beobachter der Szenerie und als Zeuge - z. B. Cleopatras Hand mit dem Gift folgend - den Sittenverfall genau registriert, wobei Cleopatra später Hans noch huckepack in der Zirkuskuppel herumträgt. „Are you a man or a baby? “, ruft sie aus. 89 Wenn der erkrankte Hans von Cleopatra nach der Hochzeit scheinbar gepflegt, aber eigentlich weiter vergiftet wird, sind die Freaks sich dieser Tat bewusst und verfolgen den Hergang genau. Browning ersetzt die vorherige Dialoglastigkeit nun zum Teil mit Gegenschnitten ohne Sprache, die nur die drohende Kulmination andeuten. Es finden teilweise physische Übergriffe (Hercules gegen Venus, vgl. Abb. 9) statt, immer unter den Augen der beobachtenden Freaks (vgl. Abb. 10). 88 Browning, Freaks , 00: 41: 48. 89 Browning, Freaks , 00: 42: 15. Abb. 9-10: Feindselige Gegenblicke, Konfrontationen Die Ambivalenz des Films wird gegen Ende immer deutlicher, wenn - in einem der raren Momente im Film - die unheimliche, ständig wiederholte Melodie einer Flöte den Angriff auf Cleopatra einleitet. Ihre Mordabsicht wird aufgedeckt, Hans, der das Gift schon lange nicht mehr geschluckt hat, verlangt die „little black bottle“ von Cleo. In dem Moment, indem ein Messer gezückt und eine Pistole gezeigt wird, ist der Umschwung in einen unheimlichen Modus endgültig. 90 Der freundliche, diskriminierte Freak wird zur Gefahr. Browning greift hier bereits visuell etablierte Mittel des Horrorfilms auf: Blitz und Donner, teilweise Tempiwechsel, die das Unheimliche in überschnellen oder scheinbar ruckelnden Bildern mit schnellen Schnitten forcieren. Das Unwetter, dessen Geräuschkulisse die einzige akustische Untermalung neben Cleopatras und Hercules ‘ Schreien bleibt, ist nun absolut dem Horrorhaften verschrieben. Cleopatra muss aus dem umgestürzten Wagen kriechen, Hercules schleppt sich verletzt vergeblich von den angreifenden Freaks weg. Schlitzie, der sympathische feminisierte Mikroenzephalit, selbst der Living Torso, Prince Randian und alle anderen Freaks verkehren Brownings kleine Zirkusschau in den von ihm geforderten ultimativen Horror, dessen düstere Bilder nur zeitweise vom Blitz erleuchtet werden und aufgrund dieser visuellen Abstraktion schauerlich weil unkontrollierbar wirken (vgl. Abb. 11-12). Abb. 11-12: Blitze erhellen kurzzeitig den Angriff auf Hercules und Cleopatra Die Legende um die verschollenen Teile von Freaks besagt, dass Browning etwa ein Drittel des Films nach der Testvorführung kürzen musste. 91 So soll eine Kastrationsszene um Hercules 90 Browning, Freaks , 00: 54: 09. Beim wiederholten Screenen der Szene reagierte das Publikum immer entsprechend emotional, so dass dieser Umschwung deutlich reflektiert wird. 91 Skal und Savada, Dark Carnival , S. 174. Tod Browning, Freaks 55 56 56 Heike Schwarz und die Darstellung, wie die Freaks Cleopatra umringen, sowie Hercules als singender Kastrat am Ende herausgeschnitten worden sein. In der Tat sieht man eindeutig am Ende zwei beleuchtete Ausstellungsboxen, über die das Publikum entsetzt gebeugt steht, wenn in die Rahmenhandlung um Cleopatras Geschichte zurückgekehrt wird. Brownings Volten - der Twist, vom dokumentarischen, die Illusion hinterfragenden, den Humanismus für Sideshowdarsteller in den Vordergrund stellenden Modus in den Horror abzugleiten - hinterlassen im Publikum wohl seltsame Gefühle einer nichtaufgelösten Katharsis. Das finale Bild der quakenden Cleopatra, der duck woman , erscheint dem Betrachter komikhaft und schockierend zugleich. Browning muss diesen Abschluss des Films modifizieren - und so ist der entstellte Körper nicht die letzte Schau, welcher man der derzeitigen Version beiwohnt. Hans, auf seinem Landsitz weilend, trauert dem schönen Pfau der Lüfte hinterher, findet aber zu Frieda zurück. Ein für das Publikum seltsam entrücktes, völlig losgelöstes Ende, das in der Paarung Hans/ Frieda sowie Phroso/ Venus zu alten Einordnungen zurückfindet. 92 Abb. 13: Die verstümmelte Cleopatra als Freak VII. Schlussbemerkungen: Von der Ethik im Spektakel Die Faszination des Films Freaks liegt nicht zuletzt an dessen historischer Einmaligkeit, aber auch an einer Ambivalenz, die Kultfilme des transgressiven Kinos auszeichnet. Inwieweit das Publikum zwischen Spektakel und Ethik wählt oder wählen kann, inwieweit Browning selbst 92 Browning, Freaks , 00: 57: 49ff. Weder dieses künstliche Ende noch ein vorausgestellter, einleitender Text hat dem Film gutgetan. Beide Verrenkungen wirken völlig hilflos und sind mit Sicherheit nicht im Sinne Brownings. seine Vorliebe für das Makabre in diesen Film verlagern konnte oder inwiefern er als Beispiel der Disability Studies zum Lehrstück für ethisches Handeln taugt, mag nicht eindeutig festzulegen sein. Allerdings ist es genau das, was den Reiz dieses Films ausmacht. 93 „Abnormality was a meal ticket, not only to the exhibits themselves but to a host of other showmen who understood the money-making potential“, betont Robert Bogdan in Freak Show . 94 Unbestritten ist der Einfluss von Browning auf Regisseure wie z. B. Tim Burton, Terry Gilliam, David Lynch usw., die ihre Filme mit dem körperlich nicht-normativen Körper als Metapher für soziale und psychische Kräfte verstanden wissen wollen, wobei sie Freakery einbeziehen, „to mark their films as more transgressive than others“. 95 Der Bruch mit politisch nicht korrekten Visualisierungen und Einordnungen von Darstellern mit Handicaps, wie er in Freaks vor allem gegen Ende im eindeutigen Horror ausexerziert wird, hat Kritiker einerseits auf die Transgression von Freaks als exploitation film aufmerksam gemacht, andererseits drückt der Rachekampf der diskriminierten Außenseiter gegen maligne Zeitgenossen ohne Handicaps aus, was als „horrific revenge fantasy“ dem subkulturellen Milieu zum Symbol der Auflehnung gesellschaftlicher Unterdrückungen dienen konnte. 96 Freaks ist also stilistisch wie metaphorisch ein Zwitterwesen: Der Film ist sozialer Realismus mit Elementen des Dokumentarischen, einem eigenartigerweise selten erwähnten satirisch-humoristischen Slapstickelement als comic relief , und schließlich bildet er nunmehr klassische, stereotype Bilder des Horrorfilms ab, welche ohne diesen Film nicht existierten. Guy Debords Gesellschaft des Spektakels , die nur in der Übertreibung und Künstlichkeit angerührt wird, reibt sich mit Theorien der politischen Teilhabe und Gerechtigkeit, etwa eines John Rawls, der die Schwächsten der Gesellschaft als Korrektiv für eine Theorie der Gerechtigkeit versteht. 97 Brownings Filmwelten diktieren dem Horrorgenre bis heute eigene Regeln auf. Ohne Browning, ohne Freaks kann man zeitgenössische Varianten nicht verstehen, und seien sie noch so oberflächlich auf der Ebene der Ästhetik verhaftet. 98 Wenn Freaks als Umkehr von Lombrosos diskriminierender Physiognomielehre gelesen werden will und doch dem andersartig Aussehenden bedrohliche Tendenzen unterstellt werden, so bedeutet das mit Browning nur, dass das Othering umcodiert wird: „Everyone comes to the Freak Show/ To laugh at the Freaks and the Geeks/ Everyone comes to the Freak Show/ But nobody laughs when they leave.“ 99 Filmographie The Unholy Three. Produktion: MGM, USA, 1925. Regie: Tod Browning. Drehbuch: Waldemar Young. Kamera: David Kesson. Musik: —. Darsteller: Lon Chaney (Prof. Echo/ Granny), Harry 93 Anekdotenhaft werden Browning unlautere, eher sadistisch ausbeuterische Tendenzen zugewiesen (vgl. Skal und Savada, Dark Carnival , S. 171). Nichtsdestotrotz wird Freaks nicht eindeutig, sondern ambivalent eingeordnet (vgl. David Church, „Freakery“). 94 Bogda, Freak Show , S. 268. 95 Church, „Freakery“, S. 7. 96 Church, „Freakery“, S. 14f. 97 Siehe Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels und John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit . 98 Zu nennen ist hier die TV-Serie American Horror Story: Freakshow (2014), in der nahezu alle ikonischen Darsteller auferstehen und in einem Horror-Blood-Gore agieren müssen. 99 The Residents. Nobody Laughts When They Leave . Album, 1990. Tod Browning, Freaks 57 58 58 Heike Schwarz Earles (Tweedledee/ Baby Little Willie), Mae Busch (Rosie O´Gradie), Matt Moore (Hector McDonald), Victor McLaglen (Hercules/ Son-in-Law), Matthew Betz (Detective Regan). The Unknown . Produktion: MGM, USA, 1927. Regie: Tod Browning. Drehbuch: Tod Browning, Waldemar Lang. Kamera: Merritt B. Gerstadt. Musik: —. Darsteller: Joan Crawford (Nanon), Lon Chaney (Alonso the Armless), Norman Kelly (Maramar the Mighty), John St. Polis (Surgeon), Nick de Ruiz (Antiono), John George (Cojo). Freaks . Produktion: MGM, USA, 1932. Regie: Tod Browning. Drehbuch: Willis Goldbeck, Leon Gordon. Kamera: Merritt B. Gerstad. Musik: —. Darsteller: Olga Baclanova (Cleopatra), Johnny Eck (Half Boy), Prince Randian (The Living Torso), Simon Metz (Schlitzie), Leila Hyams (Venus), Wallace Ford (Phroso), Henry Victor (Hercules), Roscoe Ates (Roscoe), Rose Dione (Madame Tetrallini), Josephine Joseph (Half Woman-Half Man), Harry Earles (Hans), Peter Robinson (Human Skeleton), Daisy Earles (Frieda), Daisy Hilton (Siamese Twin), Violet Hilton (Siamese Twin), Frances O´Connor (Armless Girl), Elvira Snow (Zip), Angelo Rossitto (Angelo). Bibliographie Adams, Rachel, Sideshow U.S.A. Freaks and the American Cultural Imagination . Chicago 2001. Baskett, Kelsie, „U.S. Eugenics Movement and the Influence on the Nazi Holocaust“. In: Washington State University . (19.01.2015). Online: https: / / history.libraries.wsu.edu/ spring2015/ author/ kelsie-baskett/ [letzter Zugriff am: 20.03.2018]. Bly, Robin, The Freak-Garde. Extraordinary Bodies and Revolutionary Art in America . Minneapolis 2013. Bogdan, Robert, Freak Show. 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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Browning, Freaks, 00: 01: 22 Abb. 2: Browning, Freaks, 00: 06: 06 Abb. 3: Browning, Freaks, 00: 24: 42 Abb. 4: Browning, Freaks, 00: 30: 52 Abb. 5: Browning, Freaks, 00: 26: 18 Abb. 6: Browning, Freaks, 00: 24: 59 Abb. 7: Browning, Freaks, 00: 41: 48 Abb. 8: Browning, Freaks, 00: 41: 50 Abb. 9: Browning, Freaks, 00: 47: 17 Abb. 10: Browning, Freaks, 00: 47: 18 Abb. 11: Browning, Freaks, 00: 57: 05 Abb. 12: Browning, Freaks, 00: 57: 10 Abb. 13: Browning, Freaks, 00: 57: 39 Tod Browning, Freaks 59 ‚Größe‘ interpretieren - Der Fall Citizen Kane Sebastian Feil Fitted like pieces of puzzles, complicated. Eric B. & Rakim I. „Perhaps the single word“ „Everybody‘s talking about it! It‘s terrific! “, verkündete 1941 das Werbeposter zur Premiere von Citizen Kane (Abb. 1). Und was heute wie eine selbsterfüllende Prophezeiung erscheint, war damals noch eine PR-Maßnahme zur Schadensbegrenzung - der Start des Films nämlich stand unter denkbar schlechtem Vorzeichen: Der einflussreiche Medienmogul William Randolph Hearst bekam im Vorfeld der Premiere das Drehbuch des Films zu Gesicht und warf all sein Gewicht in die Waagschale, um dessen Veröffentlichung zu verhindern. Die von ihm aufgebaute Drohkulisse bewegte niemand geringeren als Joseph B. Mayer dazu, dem produzierenden Studio RKO Radio Pictures ein Angebot zu unterbreiten: Für den Gegenwert der Summe der Produktionskosten sowie einen kleinen Bonus für die Mühe sollten der Film und alle Negative vernichtet werden. 1 Nur die Integrität des für Welles zuständigen Studiomanagers, sowie die Tatsache, dass der Film bereits landesweit angekündigt worden war, bewahrten die Negative vor der Zerstörung und so startete jener Meilenstein zumindest ‚in ausgewählten Kinos‘ zu leider nur als mäßig zu bezeichnenden Besucherzahlen aber dennoch (zumindest außerhalb der Hearst-Presse) fast schon überschwänglich positiven Kritiken, die sich in großer Zahl auf Welles ‚Genie‘ bezogen, einen Ruf, den er sich durch brisante Shakespeare-Inszenierungen (z. B. den „Voodoo Macbeth“ mit dem Federal Theatre Project) und skandalträchtige Radiohörspiele (z. B. „War of the Worlds“) zusammen mit seiner Schauspieltruppe Mercury Theatre erworben hatte. Für die Academy Awards war Citizen Kane neunmal nominiert - die Nennung des Films wurde allerdings während jeder Nominierungsrunde von empörten Zwischenrufen aus dem Publikum begleitet. Letztlich gewann der Film nur in einer Kategorie, nämlich „Best Screenplay“ (Herman J. Mankiewicz und Orson Welles) und die überraschte Variety vom 4. März 1942 machte gleich darauf eine Verschwörung der Statisten Hollywoods dafür verantwortlich: „The mob“, wurde geschrieben, „prefers a regular guy to a genius“. 2 1 Naremore, „Introduction“, S. 12-13. 2 „Extras Scuttled Welles“, S. 4. 62 62 Sebastian Feil Abb. 1: Filmplakat zur Erstaufführung Die Auszeichnung des Drehbuchs (und damit eben der Geschichte) mit einem Oscar wirkt deutlich in der Rezeption des Filmes nach, welche sich in manchen Fällen mitunter auf ein einziges Wort reduzieren lässt. Und ausgerechnet der 45. US-Präsident Donald Trump hält eben dieses für den Schlüssel zu seinem selbsterklärten Lieblingsfilm: The word Rosebud, for whatever reason, has captivated moviegoers and moviewatchers for so many years, and to this day, is perhaps the single word [sic! ]. And perhaps, if they came up with another word that meant the same thing, it wouldn‘t have worked. But Rosebud works. […] For whatever reason. 3 Interessant an Trumps Erklärung, die er im Jahre 2002 im Rahmen einer Interviewreihe zur Verleihung der Academy Awards abgab, ist die Forterzählung des ‚Mythos Rosebud‘ durch 3 „Clan Sinclair - Rosebud Works! Donald Trump Discusses His Thoughts on the Classic Film Citizen Kane“, 0: 35-0: 59 (Youtube). ‚Größe‘ interpretieren - Der Fall Citizen Kane 63 die Exposition einer qualitativen Unmittelbarkeit, die dem Wort anhafte. Trump hält es für möglich, dass ein anderes Zeichen nicht die gleiche Wirkung entfaltet haben könnte wie Rosebud - dass nämlich der Klang oder die spezifische Semantik selbst das Wort einzigartig und unersetzlich gemacht hätten. ‘Rosebud‘, das englische Wort für ‚Rosenknospe‘, könnte bezeichnen: ‚die Rose im Aufblühen‘, dadurch aber auch ‚die unfertige Rose‘, ‚die Rose vor der Entfaltung‘ oder ‚die Rose während der Entfaltung‘, und je nachdem, ob die Rose dann ‚Liebe‘, ‚Schönheit‘, oder vielleicht gar ‚Vollkommenheit‘ symbolisiert 4 , würde ‚Rosebud‘ das Werden und Entstehen dieser Eigenschaften bezeichnen. Die Konventionalität solcher poetisch-rhetorischer Repertoires verweist seit den Zwanzigern des 20. Jahrhunderts aber auch auf Gertrude Steins berühmteste Gedichtzeile „Rose is a rose is a rose is a rose“, 5 welche ebenjene postromantische Konventionalität thematisiert und auf propositionale Weise mit dem Gesetz der Identität, auf diagrammatische Weise mit der aufgeschobenen Fixierbarkeit von Identität konfrontiert. Im Zusammenhang der Erzählung des Films öffnet die Referentialität des Wortes auch das Feld der Interpretation. ‚Rosebud‘ bezeichnet schließlich 1.) jene Leerstelle, welche die Erzählung überhaupt erst in Schwung bringt und 2.) die Schließung ebendieser Lücke. ‚Rosebud‘ ist die treibende Kraft der Erzählung, vom ersten gesprochenen Wort in der Sterbeszene Kanes (ein Chiasmus der Signifikanz, der erste Laut im letzten Atemzug) bis zum Schmelzen und Verfließen des Lacks im Ofen Xanadus am Ende des Films. Die archetypische Kohärenz von Anfang und Ende überspannt die Geschichte und bildet die Schaltstellen der Bedeutung in der Erzählung nach einem zunächst gewöhnlich erscheinenden dichotomen Prinzip heraus. Aus dieser Perspektive stellt die Zahl 2 das Strukturprinzip des gesamten Films dar. II. Sign of the two Tatsächlich bedarf es mitunter sogar eines zweiten Durchganges, um den Umfang dieses Strukturprinzips der ‚Zweifaltigkeit‘ zu erfassen. So taucht Rosebud, der Schlitten, schon in der ersten Rückblende Thatchers auf, schneebedeckt, am Ende der Adoptionsszene (Abb. 2), 6 die sich von nun an gegensätzlich verhält zum bereits genannten Ende Rosebuds im Ofen, in dem die im Vergleich zum sonstigen Nachlass wertlosen Erbstücke der Mutter verbrannt werden (Abb. 3). 7 4 Schuster, „Rose“, S. 302-304. 5 Stein, „Sacred Emily“, S. 187. 6 Welles, Citizen Kane , 00: 22: 53-00: 23: 06. 7 Welles, Citizen Kane , 01: 55: 53-01: 56: 24. 64 64 Sebastian Feil Abb. 2: Rosebud im Schnee Abb. 3: Rosebud im Feuer Jener Rosebud verhält sich nun wiederum entgegengesetzt zum anderen und wesentlich weniger sichtbaren Schlitten Crusader (Abb. 4), den der junge Charlie unmittelbar darauf in der nächsten Szene zu Weihnachten geschenkt bekommt. 8 Zieht man dessen Unsichtbarkeit im Ablauf der Einstellung in Betracht, ist Crusader wohl nicht viel mehr als ein inside joke der Macher 9 und taucht auch in der cutting continuity nur als generischer Schlitten auf. 10 Aber ist er einmal entdeckt, kann (und muss) Crusader als Markierung und Wendepunkt für Charles‘ Leben interpretiert werden. Die schon für sich genommen wenig heimelig anmutende Weihnachtsgesellschaft verwandelt sich aus dieser Perspektive in einen bedrohlichen Geheimbund (Abb. 5), der Charles initiiert und fortan die Geschicke des jungen Kane lenken wird. Abb. 4: The Crusader Abb. 5: Initiation Der auf diese Sequenz folgende Zeitsprung mündet fast unmittelbar im zunächst jovial inszenierten, rebellischen Skandaljournalismus des Inquirer , welcher sich in bitteren Ernst verwandelt, als Kanes Medienimperium systematisch die Berichterstattung um den Kuba-Konflikt Ende des 19. Jahrhunderts manipuliert und so die USA zum Krieg gegen Spanien bewegt. Charles Foster Kane hat im Rennen um immer höhere Auflagen den Spanisch-Amerikanischen 8 Welles, Citizen Kane , 00: 23: 08. 9 Naremore, Magic World , S. 6. 10 „RKO Cutting Continuity“, S. 334 (2A.6). Krieg (mit)angezettelt 11 und wird sich bald auf seinem vorletzten Kreuzzug - ins Amt des Gouverneurs von New York - befinden. Kanes Wahl scheitert an einem vom Widersacher Gettys im Stile des Inquirer inszenierten Skandal. Der letzte Kreuzzug schließlich ist ein Stellvertreterkrieg, zu dem Kane seine zweite Ehefrau Susan Alexander zwingt. Um seinen Namen nach der Wahlniederlage im Gespräch zu halten, lässt Kane in Chicago ein Opernhaus bauen, dessen erste Diva Susan werden wird. Über die geteilte Liebe zu ihren Müttern kommen Kane und sie in Kontakt: Er wartet auf ein Taxi, um in ein Lagerhaus zu fahren, in dem die Hinterlassenschaften der Mutter eingelagert sind - unter ihnen höchstwahrscheinlich Rosebud - und die hilfsbereite Verkäuferin Susan nimmt ihn mit nach Hause, nachdem er von einem vorbeifahrenden Fahrzeug mit Pfützenwasser beschmutzt wird. Im dort entstehenden Dialog - gerade auch im Vergleich zum Frühstückstisch der Kanes vielleicht der intimste des gesamten Films - tauschen sich beide auch über ihre Herkunft aus und rücken in ihrer Nostalgie näher zusammen. 12 Susans geringes Talent für Gesang irritiert Kane kaum. Offensichtlich ist er der Überzeugung, solcherlei Defizite ließen sich durch Geld und Einfluss ausgleichen. 13 Für ihn zählt vor allem die Geste: Die Frau, Susan Alexander, wie er aus einfachen Verhältnissen stammend, eröffnet über Nacht, nun als Susan Alexander Kane, das wahrscheinlich größte und modernste Opernhaus des Landes: „We‘re gonna be a great opera star! “, verkündet Kane dem Reporter nach der Hochzeit. 14 Ihre Karriere soll das Vermächtnis Kanes unterstreichen und die anhaltende Bedeutung seines Imperiums zum Ausdruck bringen. Den Umschlag der öffentlichen Meinung bringt der Film erneut in der Darstellung der Rezeption durch ein Publikum zum Ausdruck. Der donnernde Applaus nach der fulminanten Wahlkampfrede 15 weicht dem unsicheren, verhalten-höflichen Beifall am Ende der durchwachsenen Premiere - den gewichtigsten Beitrag zur Selbstversicherung leistet Kane (in einer der berühmtesten Applausszenen der Filmgeschichte) nun bereits selbst. 16 Abb. 6: Leland zweifelt an Kane Abb. 7: Kane zweifelt (an sich? ) 11 Welles, Citizen Kane , 00: 25: 30. 12 Welles, Citizen Kane , 00: 58: 00-00: 59: 58. 13 Welles, Citizen Kane , 01: 27: 36-01: 29: 08. 14 Welles, Citizen Kane , 01: 15: 56. 15 Welles, Citizen Kane , 01: 03: 03-01: 03: 28. 16 Welles, Citizen Kane , 01: 31: 52-01: 32: 32. ‚Größe‘ interpretieren - Der Fall Citizen Kane 65 66 66 Sebastian Feil Mit Kanes Erkenntnis (Abb. 7) seiner romantisch verklärten Fehleinschätzung des Talents seiner Ehefrau 17 ist das Projekt „great opera star“ aber keineswegs beendet. Noch in der Nacht der Aufführung sucht Kane Jed Leland in den Chicagoer Büros des Inquirer auf, findet diesen betrunken und schlafend über einem halbfertigen Verriss der Aufführung vor, schreibt diesen als Verriss im Geiste der alten ‚Declaration of Principles‘ des Inquirer zu Ende 18 und feuert Leland, der ihm postwendend den zerrissenen Abfindungsscheck und das Original ebenjener Declaration zukommen lässt - ein letzter Appell an die gemeinsamen fundierenden Prinzipien. Kane aber erneuert seine Prinzipien fortwährend selbst: „Love on my terms, that‘s the only terms everybody ever knows“, teilt er Leland schon nach der verlorenen Wahl mit. 19 Ebenso wie das Verhältnis zum „underpriviledged man“ 20 kennzeichnet sein Verhältnis zu Freundschaft und Liebe die Forderung nach bedingungsloser Hingabe des Gegenübers, allerdings mit fortwährend wechselnden Ansprüchen. 21 Als Susan nach drei qualvollen Jahren an der Oper einen Selbstmordversuch unternimmt, gelingt es ihr Charles das Versprechen abzuringen, nicht mehr auftreten zu müssen. 22 Ihre Isolation in der Kunstwelt kann sie aber lediglich gegen die Isolation in Xanadu (eine andere Art von Kunstwelt) eintauschen, wo sie nächtelang Puzzlesteine zusammenlegt und Kane schließlich verlässt. Den ältesten und besten Freund Leland hat Kane zu diesem Zeitpunkt bereits vollständig durch die bezahlte Ergebenheit Mr. Bernsteins ersetzt und auch diese Qualität des zwischenmenschlichen Verhältnisses wird gegen Ende des Films noch ein letztes Mal durch den Butler Raymond substituiert werden (in dieser Hinsicht eine Art Negativ Bernsteins), welcher selbst deren ausschließlich rationale, transaktionsbasierte Beziehung fortwährend unterwandert. Kane verbringt die letzten Tage seines Lebens alleine mit einer Schneekugel und wird, gemäß der Vorhersage Lelands nach der verlorenen Wahl, nun wirklich zum „lord of the monkeys“ auf einer „deserted island“. 23 Die weiteren Instanzen der „perfect contrasts“ 24 füllen in ihrer durchdringenden Dualität nahezu den gesamten restlichen Film aus: Der Zuschauer bekommt zwei Anfänge und zwei Enden zu sehen (Sterbeszene und Wochenschau), zweimal wird der expressionistische Hügel Xanadus erklommen 25 und zweimal wird Susan Alexander in ihrem Nachtclub aufgesucht 26 , deren Interviews die Notwendigkeit der doppelten Rezeption des Films auch intradiegetisch spiegeln. Doch wie Kanes nicht vorhandene Prinzipien sind alle diese, anhand der zentral inszenierten Bedeutung Rosebuds strukturierten Gegensätze nur oberflächlich signifikant, wie auch alle in Kanes Leben angehäuften Besitztümer. Was Kane von seinem gelebten Leben vielleicht erwartet hat, lässt sich vermuten. Mit ziemlicher Sicherheit lässt sich auch sagen, was sein gelebtes Leben hervorgebracht hat, nämlich Macht und Geld, und (wie Walter Ben- 17 In dieser milden Epiphanie ist Lelands Reaktion auf Kanes hohles Bekenntnis zum „working man“ gespiegelt, vgl. Welles, Citizen Kane , 01: 02: 00 (Abb. 6). 18 Welles, Citizen Kane , 01: 20: 35. 19 Welles, Citizen Kane , 01: 15: 19. 20 Welles, Citizen Kane , 01: 12: 41. 21 Susan selbst teilt diese Einschätzung, vgl. Welles, Citizen Kane , 01: 43: 23-01: 43: 33. 22 Welles, Citizen Kane , 01: 37: 28-01: 38: 18. 23 Welles, Citizen Kane , 01: 13: 47. 24 Naremore, Magic World , S. 68. 25 Welles, Citizen Kane , 00: 00: 35. 26 Welles, Citizen Kane , 00: 14: 30. jamins „Erzähler“) eine Geschichte, die erst mit dem Ende des Protagonisten erzählt werden kann. 27 Was Rosebud aber bedeutet, muss, um den Bilderfundus des Films selbst zu bemühen, für den Betrachter auch am Ende der Geschichte unter einer Schicht aus frisch gefallenem Schnee verborgen bleiben. III. Sled is a sled is a sled Die oben skizzierte Struktur der Verdopplung und Konfrontation, zu der Rosebud den Schlüssel liefert, ist zwar deutlich identifizier- und aussagbar, trägt jedoch nicht zur Auflösung des durch sie selbst verantworteten Mysteriums bei. „‘Rosebud‘ was his sled“, spoilert Lucy in einem bekannten comic strip der Peanuts . 28 Wofür dieser nun aber steht ist viel weniger offensichtlich als gelegentlich angenommen. So ist es beispielsweise völlig unklar, ob Kane überhaupt eine unbeschwerte und geborgene Kindheit hatte, nach der er sich zurücksehnt. Man kann nur vermuten, dass er gelegentlich auch der Gewalt des sonst freundlich-naiv auftretenden Vaters 29 sowie der kühl-kalkulierten ‚Fürsorge‘ der Mutter ausgesetzt war. Die verlorene Kindheit sowie Transpositionen dieser in den Bereich der Phantasie, etwa durch eine ‚Nostalgie-Diagnose‘, scheinen ebenso wie der Symbolismus der Rose den Import viel zu offensichtlich postromantischer Konventionalität in ein eigentlich offenes Netzwerk von Andeutungen darzustellen. In der Tat: „The essence of the film, in other words, is its structure of alternating attitudes. It is an impure mixture of ideas, forms, and feelings—part magic show, part tragedy; part satire, part sentiment—as divided as Kane himself“, resümiert Naremore in seiner Kritik der Rosebud-Interpretation. 30 Noël Carroll hält die „Rosebud“-Interpretation aus diesem Grund gar für nicht besonders geistreich: „So a liability of the Rosebud interpretation is that, however accurate, it has the net effect of making Citizen Kane sound pretty dumb. Thus, a critic who favors the Rosebud interpretation is likely to accompany it with a defense of the intellectual credentials of this way of explaining Kane‘s behavior.“ 31 Die Validität der Rosebud-Interpretation variiert (bis hin zur Selbstauflösung) mit dem psychologischen Kontext, der zu ihrer Validierung herangezogen wird. Mit seiner Einschätzung befindet sich Carroll in bester Gesellschaft. Welles selbst hat, wie Robert Carringer in „The Scripts of Citizen Kane “ aufdeckt, im Verlauf der Produktion des Films einiges dafür getan, 32 um die Ambivalenz des ‚Enigmas Kane‘ zu erzeugen und die 27 Vgl. Benjamin, „Der Erzähler“, S. 113-114: „Nun ist es aber an dem, daß nicht etwa nur das Wissen oder die Weisheit des Menschen sondern vor allem sein gelebtes Leben - und das ist der Stoff, aus dem die Geschichten werden - tradierbare Form am ersten am Sterbenden annimmt.“ 28 Schulz, „Peanuts Rosebud Strip“. 29 Vgl. die Gewaltandrohung des Vaters und die Reaktion der Mutter, Welles, Citizen Kane , 00: 22: 43-00: 22: 50. 30 Naremore, Magic World , S. 67. 31 Carroll, „Interpreting Citizen Kane“, S. 155. 32 Vgl. Carringer, „Scripts“, S. 400: „In the eight weeks between the time the Victorville material passed into Welles‘ hands and the final draft was completed, the Citizen Kane script was transformed, principally by him, from a solid basis for a story into an authentic plan for a masterpiece. Not even the staunchest defenders of Mankiewicz would deny that Welles was principally responsible for the realization of the film. But in light of the evidence, it may be they will also have to grant him principal responsibility for the realization of the script.“ ‚Größe‘ interpretieren - Der Fall Citizen Kane 67 68 68 Sebastian Feil „dollar book Freud“-Psychologie 33 des ersten Skriptentwurfs von Herman Mankiewicz zu unterwandern. Diese Ambivalenz schlägt uns schon am zweiten Anfang des Films entgegen, dem Wochenschau-Segment, in dem der Tod Kanes mit einer feierlichen aber auch ironisierenden Würdigung seines Lebenswerks verkündet wird. Kane contains multitudes und wird dem Zuschauer in der News on the March -Sequenz weniger als kohärente Persönlichkeit, sondern vielmehr als Bündel von Gegensätzen präsentiert. Pazifisten halten ihn für einen Kriegstreiber, Kriegsprofiteure für einen Pazifisten, für die Wall Street ist er Kommunist, für die Gewerkschaften Faschist und, in seinen eigenen Worten, vor allem aber „an American“. 34 Nicht zuletzt ist Kane natürlich Kapitalist. Seine unternehmerischen Tätigkeiten erstrecken sich auf Zeitungen, Radiostationen, Holzverarbeitung, Fabriken, Minen, Immobilien, Lebensmittel und Passagierschiffe. 35 Teilweise deuten sich hierbei Übergänge an, aber nur die Tätigkeit der Konversion und Rekonversion der Zeichen ‚Geld‘ und ‚Macht‘ überspannt das gesamte ‚Unternehmen Kane‘. Abb. 8: Kanes Besitztümer Ebenso verhält es sich mit der enormen Ansammlung von völlig disparaten Objekten der Begierde (Abb. 8), deren einziger Zusammenhang wiederum durch den enormen Geldwert entsteht, welchen sie verkörpern. 36 Kane ist nicht mehr als die Summe seiner Objekte und Unternehmen, und Geld ist in diesem Zusammenhang völlig von seinem Tauschwert entkoppelt und hat entweder Bedeutung nur für sich selbst oder eben keine. ‚Reichtum‘ repräsentiert hier in seiner überflussreichen (und überflüssigen) Existenz die fruchtlosen Bemühungen Kanes ‚reine Vollständigkeit‘ zu erlangen. Aber ausgerechnet ‚Geld‘ repräsentiert so auch-- einige Jahr- 33 Welles‘ eigener Ausdruck, vgl. Naremore, Magic World , S. 88-89. 34 Welles, Citizen Kane , 00: 07: 20-00: 07: 57. 35 Welles, Citizen Kane , 00: 05: 43-00: 06: 20. 36 Welles, Citizen Kane , 01: 54: 50. zehnte später in der postmodernen Hermeneutik dann das ‚freie Spiel der Zeichen‘ genannt - die Abwesenheit von fundierbaren Rückbezügen und die daraus resultierende Unmöglichkeit von umfassenden Sinnentwürfen. Kane war alles auf einmal, nicht aber eindeutig. Metaphorisch kondensiert dargestellt wird dies in der berühmten Spiegelszene (Abb. 9), in welcher das den gesamten Film bestimmende Thema der Originalität inszeniert und kommentiert wird. 37 Abb. 9: Kanes Mise en abyme Die Frage nach der finalen Sinnhaftigkeit der Unternehmungen Kanes drängt, insbesondere in Differenz zur Sinnsuche der Rosebud-Interpretation, geradezu ins Rätselhafte. Der Film bietet uns hier eine recht offensichtliche Metapher an, das Puzzle. Zunächst eher eine Art Symbol für die Ratlosigkeit Susans und die Mühseligkeit ihrer Existenz, 38 wird es gegen Ende vom Reporter Jerry Thompson zur Allegorie der Sinnsuche erhoben und auf das Objekt seiner Investigationen übertragen: „I wonder, you put all this stuff together, palaces, paintings, toys and everything, what would it spell? “ 39 Tatsächlich stellt gerade die Rahmenhandlung, in der Jerry Thompson sich auf die Jagd macht, „Rosebud, Dead or Alive! “ 40 zu finden und zu stellen (das Detektivische verschränkt sich in dieser berühmten Anweisung Rawlstons am Ende der Newsroom-Szene mit dem Western), die Verfahrensweisen eines Puzzlespielers nach. Immer auf der Suche nach dem sensationellen angle (ein ironischer Seitenhieb auf die dominante narrative Struktur sowohl 37 Welles, Citizen Kane , 01: 51: 10-01: 51: 22. 38 Welles, Citizen Kane , 01: 40: 21-01: 40: 38. 39 Welles, Citizen Kane , 01: 53: 24-01: 53: 39. Den daraufhin entstehenden Dialog (die einzige Antwort: „Charles Foster Kane? “) unterbricht Rawlston sofort mit einem süffisanten „Or Rosebud? How ‚bout it, Jerry? “ Sein Spott richtet sich gegen die Persistenz, mit der Thompson versuchte, Rosebud zu enträtseln ohne dabei etwas Spektakuläres zu Tage zu befördern. Im Unterschied dazu verhält sich die Narration für den Zuschauer abweichend. Hier ist die Auflösung unspektakulär und setzt sich so in ein kritisches Verhältnis zur sensationalistischen Erwartungshaltung des zeitgenössischen Zuschauers. 40 Welles, Citizen Kane , 00: 14: 17. ‚Größe‘ interpretieren - Der Fall Citizen Kane 69 70 70 Sebastian Feil des zeitgenössischen Sensationsjournalismus als auch des sich ‚ post code ‘ im weiteren Verlauf der 30er Jahre herausgebildeten ziel- und auflösungsfokussierten Hollywoodkinos) wird das Leben Kanes zwar aus verschiedenen Perspektiven, aber in doch recht zuverlässigen weil informationell weitestgehend konsistenten Rückblenden beleuchtet, die so ein Bild vervollständigen. Gerade die Struktur der Verdopplung und Vervielfältigung von Andeutungen (etwa in den oben genannten replay flashbacks ) repräsentiert das erneute Legen von Puzzlestücken, diesmal an die richtige Stelle. Das Fehlen des letzten Teiles erscheint dabei fast schon nebensächlich, auch wenn es sich dabei um Rosebud handeln sollte. Dieses würde das Bild zwar komplettieren. Was darauf gezeigt wird, ist aber auch ohne diese finale Vollständigkeit erkennbar - und bleibt dennoch unverstanden, weil unverständlich. „I don‘t think any word can explain a man‘s life“, so Jerry Thompsons Fazit am Ende seiner Suche. 41 Die Puzzle-Metapher wird bereits zu Beginn des Films vorzeichenreich angedeutet in der Schneekugel (Abb. 10), die Kane mit Rosebud assoziiert, nachdem er Susans Zimmer verwüstet hat, und die er im Sterben fallen lässt, woraufhin sie in unzählige Scherben zerspringt (Abb. 11). Im Fallen des Schnees neigt sich das Leben Kanes seinem Ende zu und es sind gewölbte, perspektivisch zulaufende Scherben (Abb. 12), durch die wir die Person Kanes präsentiert bekommen. 42 Robert Carringer fasst diese Einschätzung zusammen: The little glass globe (not Rosebud) is the film‘s central symbol. A mediating symbol of inner and outer, of subjective and objective, it stands at once for what we have just seen and seek to recover, the psychic wholeness of Kane, and for the totality of Kane as a force, the man whose life and work are empires and private worlds. The shattering of the globe (not the appearance of Rosebud) is the film‘s main symbolic ‚event.‘ It stands for the death of Kane, obviously, but, more importantly, for the loss of ‚Kane-ness,‘ the unifying force behind the phenomenon of Kane. The fragments represent what used to be Kane now without Kane, bits and pieces without order or significance or design. 43 Abb. 10: Schneekugel Abb. 11: Scherben Abb. 12: Perspektiven Vielleicht weil in der Puzzle/ Glaskugel-Interpretation die Rosebud-Interpretation noch zu stark nachwirkt, tendierten Kritiker wie Wissenschaftler vielfach dazu, die ‚Essenz‘ des Films unter eine andere analytische Metapher zu fassen, die des Labyrinths . Den Anfang machte schon im Jahr der Erstaufführung der damals noch nicht vollständig erblindete und unter anderem auch als Filmkritiker tätige argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges, der in einer kürzeren Rezension schrieb: 41 Welles, Citizen Kane , 01: 54: 01-01: 54: 30. 42 Welles, Citizen Kane , 00: 02: 25-00: 02: 45. 43 Carringer, „Rosebud, Dead or Alive“, S. 187. En uno de los cuentos de Chesterton - „The Head of Caesar“, creo - el héroe observa que nada es tan aterrador como un laberinto sin centro. Este film es exactemente ese laberinto. 44 Und in der Tat birgt die Metapher einiges an Potential, trägt sie doch dem expressionistisch-modernistischen Erbe des Films Rechnung und schließt ihn als ‚großes Werk‘ an jene auch sehr alte westliche Tradition an, die Eigenschaften wie Komplexität, Rätselhaftigkeit und Undurchschaubarkeit 45 jenen der Einfachheit, Klarheit und Distinktheit vorzieht. Nur passen will sie nicht so recht. Xanadu, „a sunny pleasure dome with caves of ice“, 46 ist in der Tat teilweise Labyrinth, zumindest wird es dem Zuschauer gelegentlich so präsentiert. Auch jene große Halle, durch welche die News on the March -Produzenten am Ende laufen, hat in seiner schieren Größe und Fülle labyrinthhafte Züge. Aber der Film? Die Erinnerungen in den geführten Interviews tragen, wie bereits erwähnt, und wenn auch erst im zweiten Anlauf, alle zur Erhellung der Person Kane bei, nur ist diese eben nicht auf einen Nenner zu bringen. Interessanterweise verstärkt gerade die Suche nach Rosebud - nach Vollständigkeit - den Eindruck der Verworrenheit. Nach nicht ganz zwei Stunden Suche könnte man meinen, man sei immer nur falsche Wege entlanggelaufen, und die Entdeckungen, die man dabei gemacht hat, verblassen angesichts der Verzweiflung, den Weg nach draußen (oder auch nach drinnen) nicht zu finden. Auf diese Weise täuscht die Rätselstruktur erfolgreich über den doch substantiellen Informationsgehalt des Films hinweg. Dass die Labyrinth-Metapher, deren allgemeine Popularisierung durch Umberto Ecos theoretisches Werk 47 wie natürlich auch durch seinen Roman Der Name der Rose 48 kaum überschätzt werden kann, im Zusammenhang der zeitgenössischen Rezeption des Films immer noch Konjunktur hat, zeigt sich an neueren Veröffentlichungen wie Bert Rebhandls 2005 erschienenem Orson Welles - Genie im Labyrinth , 49 aber auch in kulturkritischen Gelegenheitsschriften wie dem 2013 in PopMatters erschienen Artikel „ Citizen Kane is a Labyrinth Without a Centre“ - trotz fast wörtlicher Paraphrase wohlgemerkt ohne jeglichen Bezug zu Borges. Interessant ist in diesem Zusammenhang insbesondere der letzte Absatz des Artikels: Like Susan trapped at Xanadu, trying to piece together an impossibly large jigsaw, the audience too is trapped within an equally impossible structure, left with a fragmented jigsaw to try to piece together. Furthermore, analogous to the continuity flaw in which the jigsaw seems to become less complete at a later point in the film, the audience may also find that in attempting to complete the metaphorical jigsaw/ labyrinth their efforts are purposefully undermined or overwhelmed by the film. The film refuses to give a concrete definition of what lies in its „centre“ because that would compromise the ethos behind Citizen Kane . 50 44 Borges, „El Ciudadano“: „In einer der Erzählungen Chestertons - „The Head of Caesar“ glaube ich - macht der Held die Feststellung, dass nichts so furchterregend sei wie ein Labyrinth ohne Zentrum. Dieser Film ist genau dieses Labyrinth.“ (Übers. v. Verf.) 45 Gramatzki, „Labyrinth“, S. 199-200. 46 So die Beschreibung des ‚anderen‘ Vorbilds in Coleridge, „Kubla Khan“, S. 448. 47 Z.B. Eco, Das offene Kunstwerk und Eco, Im Labyrinth der Vernunft . 48 Eco, Der Name der Rose . 49 Rebhandl, Genie im Labyrinth . 50 Wilson, „Labyrinth Without a Centre“. ‚Größe‘ interpretieren - Der Fall Citizen Kane 71 72 72 Sebastian Feil Beachtenswert ist die Insistenz des Autors auf eine fast schon kategoriale ‚Unmöglichkeit‘ des Films wie auch die nur vermeintlich scharfsinnige Feststellung einer vermeintlichen logischen Lücke. 51 Durch derartig hyperbolische Rhetorik wird so Struktur geschaffen, wo vorher keine war, und so ist es vielleicht gar nicht das Labyrinth, sondern die Eigenschaft ‚Komplexität‘ selbst, und zwar in ihrer Ausprägung als ‚Unbezwingbarkeit‘, die dem Autor besonders mundet, wenn er zwei Metaphern zusammenwirft um zum vermeintlichen ethos des Films vorzudringen. Problematisch ist das vor allem deshalb, weil solcherlei rhetorische Handlungen, ebenso wie die Puzzle/ Glaskugel-Interpretation, den Zentralismus der Rosebud-Interpretation affirmieren anstatt den Versuch zu unternehmen, diese tatsächlich hinter sich zu lassen. Der Film ist nämlich genau dann (und nur dann) ‚Labyrinth ohne Zentrum‘, wenn auch angenommen wird, dass sich hinter ‚Rosebud‘ die zentrale Bedeutung des Films verbirgt. Tatsächlich ist es, wie bereits gesagt, nicht möglich, Rosebud (also die Bedeutung des Schlittens für Kane) zu bestimmen. Das ist aber weder durch die Feststellung der Komplexität des Films begründbar, noch ist die Rosebud-Interpretation durch das Prädikat ‚Komplexität‘ substituierbar. „Rosebud was the name of his sled“ - eine eindeutige wenn auch unspektakuläre Auflösung. Und so drängt sich der Verdacht auf, dass insbesondere in den Komplexitätsanalysen eigentlich ein Wertungsdiskurs geführt wird. Alle diese Beschreibungen haben nämlich eine Gemeinsamkeit: Sie haben sich im Laufe der Zeit verselbstständigt und drücken vielfach hauptsächlich ein Geschmackserlebnis aus, das mit dem Film einhergehen soll. Aber der für dessen Genuss erforderliche kultivierte Feinsinn ist ebenso vom Zuschauer importiert wie etwa der psychologische Kontext einer ‚Nostalgie‘-Diagnose. So naiv die verschiedenen Rosebud-Interpretationen durch ihre „blatant amateur psychology“ 52 erscheinen mögen, so generisch wirkt der Komplex der ‚Enigma‘-Interpretationen - blatant amateur hermeneutics - in der Phantasielosigkeit, mit welcher ‚Rosebud‘ einfach nur durch einen anderen Begriff ersetzt wird. Und dieser Mangel an Phantasie ist vielleicht auch der Grund, weshalb der Film laut Naremore (Anhänger der Labyrinth-Metapher) mittlerweile besser studiert als genossen werden sollte. 53 It seems the academy prefers a genius to a regular guy . Unabhängig von der Plausibilität dieser Einschätzung - es darf festgehalten werden, dass der Film jahrzehntelang darin erfolgreich war, die Rezeptionsverhalten ‚Reflexivität‘ und ‚Informationsabbau‘ gegeneinander auszuspielen. Sämtliche Informationen, die sich über die knapp zweistündige Laufzeit verteilen, tragen nicht zur Lösung oder Erklärung der vom Film inszenierten Fragen bei, sind daher wertlos und können vergessen werden. Für Günter Butzer ist gerade der Rezeptionsmodus des Informationsabbaus ein hauptsächliches Kennzeichen von ‚reiner‘ Unterhaltung im deutlichen Unterschied zur reflexiven Auseinandersetzung mit künstlerischen Objekten. 54 Citizen Kanes ‚Spiel‘ mit dieser Unterscheidung bedeutet eigentlich ein Spiel mit konventionellen Erwartungen gegenüber künstlerischen Objekten, sowohl alltäglicher als auch theoretischer Natur. Die Reflexionsangebote, die der 51 Man sieht Susan nämlich deutlich eine Anzahl unterschiedlicher Motive vervollständigen, ein paar Teile fehlen den Motiven jeweils immer noch. 52 Carringer, „Rosebud, Dead or Alive“, S. 185. 53 Vgl. Naremore, Magic World , S. 2. 54 Butzer, „Theorie literarischer Unterhaltung“, S. 174: „Der konkrete Unterhaltungstext hingegen kann nach der Lektüre schnell vergessen werden, weil er im informationstechnischen Sinn veraltet - wie die Nachricht vom vergangenen Tag.“ Film unterbreitet, suggerieren die Notwendigkeit eines entsprechenden Engagements. Dieses nun wird aber in allen Fällen ins Leere geleitet, was sämtliche Reflexion invalidiert und den Zuschauer mit den nackten Informationen zurücklässt. Im historischen Interpretationszusammenhang des Werks wird diesem negativen Resultat etwa durch den Einsatz von Komplexitätsmetaphern (intrawie auch extratextuellen Ursprungs) entgegengewirkt, deren Funktion vor allem die Harmonisierung von Unvereinbarem zum Zwecke des Erhalts der Bedeutsamkeit des Films darstellt. Die reflexive Lösung, die den Film aus den ‚Niederungen‘ der nur unterhaltenden Kunst erheben würde, muss außerhalb des Objekts liegen. Eine Art ‚Reflexivität light ‘ für Objekte der Unterhaltung wäre vorstellbar, denn ein Werk kann immer auch nach außen verweisen, auf die Situation des Rezipienten etwa, oder auf gesellschaftliche Verhältnisse. Dabei verbürgt dann ein Drittes die Bedeutung, welche allerdings nicht mehr auf das Werk zurückwirkt und nicht zu dessen Erschließung beiträgt. Im Bezug auf die Feststellung des Werkcharakters läuft diese Art von Reflexivität also ins Leere. Im Falle Citizen Kane wird diese Leerstelle der Relevanz seit jeher von außerhalb durch eine Wertung substituiert, 55 welche rückwirkend sinnvolle Zusammenschlüsse von Bedeutung erlaubt. Alle Sinnschlüsse sind somit schon deshalb von Bedeutung, weil man es mit dem ‚größten Film aller Zeiten‘ zu tun hat und eben diese Sinnschlüsse lassen auch die Gültigkeit dieses Prädikats weiter anschwellen. IV. Der größte Film aller Zeiten Die Geschichte dieses verhängnisvollen Prädikats - ‚größter Film aller Zeiten‘ - ist mindestens kompliziert zu nennen und auch ausgemachte Experten wie David Bordwell sprechen davon, dass diese Bezeichnung einfach „irgendwann aufkam“ 56 und gewissermaßen unfallartig den Interpretationszusammenhang beeinflusste. Heute ist nicht mehr eindeutig nachvollziehbar, warum genau der Film bis zu seiner Abwahl auf Platz 2 im Jahre 2012 die Bestenliste des britischen Filmmagazins Sight & Sound in den Jahren 1962, 1972, 1982, 1992 und 2002 dominierte, 57 1998, 2007, und somit bis heute, die Liste „100 Years…100 Movies“ des American Film Institute anführt 58 , ebenso wie die Sammlung „100 films pour une cinématique idéale“ des Cahiers du Cinéma . 59 Was man aber mit Sicherheit sagen kann: Nachdem Citizen Kane recht bald nach seiner Veröffentlichung in der Versenkung verschwand, erlebte er in den 50er Jahren ein Revival, insbesondere in Europa, und insbesondere bei solchen dem Cahier nahestehenden Kritikern wie André Bazin, der in seinem vielbeachteten Aufsatz „Die Entwicklung der Filmsprache“ (Originaltitel: „L‘évolution du langage cinématographique“, 1951) schrieb: 55 Eine Leerstelle ist nicht einfach leer, sondern stellt vielmehr ein Überangebot an Sinnmöglichkeiten dar, vgl. Iser, Akt des Lesens , S. 284: „Leerstellen indes bezeichnen weniger eine Bestimmungslücke des intentionalen Gegenstandes bzw. der schematisierten Ansichten als vielmehr die Besetzbarkeit einer bestimmten Systemstelle im Text durch die Vorstellung des Lesers. Statt einer Komplettierungsnotwendigkeit zeigen sie eine Kombinationsnotwendigkeit an.“ 56 Bordwell, „ Citizen Kane Assumption“. 57 Christie, „BFI 50 Greatest Films“. 58 „AFI‘s Greatest Movies“. 59 Philippe, Cinémathèque Idéale . ‚Größe‘ interpretieren - Der Fall Citizen Kane 73 74 74 Sebastian Feil Wir haben uns deshalb ausführlicher mit Orson Welles beschäftigt, weil sein Erscheinen am Filmfirmament (1941) ziemlich genau den Beginn einer neuen Ära markiert und er selbst noch in seinen Exzessen der aufschlußreichste und spektakulärste Fall ist. 60 Die Argumentation, die ihn zu dieser Einschätzung führt, beginnt mit der These, der Einsatz von Schärfentiefe sei als „wesentliche Errungenschaft der Mise-en-scène ein dialektischer Fortschritt in der Geschichte der Filmsprache“ 61 , denn der „moderne Regisseur verzichtet mit den in Schärfentiefe gedrehten Plansequenzen nicht auf die Montage“, fällt also nicht in den ‚Modus Lumière‘ zurück, sondern „integriert die Montage in seine Gestaltung.“ 62 Damit „beeinflußt sie auch die intellektuelle Beziehung des Zuschauers zum Bild“ und zwar indem sie das Bild „realistischer“ mache und im Gegensatz zur analytischen Montage „aktives Mitdenken“ des weniger geführten Zuschauers fördere, von dessen „Willen“ nun der Sinn des Gezeigten abhängig wird. 63 Bazin glaubt in der Bildgestaltung des Films ebenjenes genuin künstlerische Reflexionsangebot auszumachen, welches die semantische Gestaltung der Geschichte nur antäuscht: Die Schärfentiefe […] führt die Mehrdeutigkeit wieder in die Struktur des Bildes ein, zwar nicht notwendigerweise […], aber als Möglichkeit. Deshalb ist es keine Übertreibung zu sagen Citizen Kane definiere sich einzig und allein in der Schärfentiefe. Die Ungewißheit, in der man zurückbleibt, was den geistigen Schlüssel oder die Interpretation betrifft, ist zuallererst in den Aufbau der Bilder selbst eingeschrieben. 64 Interessant an Bazins Darstellung ist, wie sich hierin das Vorhandensein von Möglichkeit eigentlich potenzieren sollte, das Potential aber für Citizen Kane sofort in Aktualität verwandelt wird. Der Einsatz von Schärfentiefe erhöhe die Möglichkeiten der Deutung - zwar nicht unbedingt, aber doch ganz sicher im Falle Citizen Kanes , denn dort spiegle diese, so Bazin, die Mehrdeutigkeit der Handlung wider. Das ist einerseits ein Zeichen für ‚gelungene Kunst‘ bei der alle Teile ein harmonisches Ganzes bilden, andererseits fällt die Zusammenführung der beiden Bereiche im Falle Kanes auch sehr leicht, denn hier ist die Semantik der Mehrdeutigkeit auf deutliche Weise bereits mehrfach gegeben. So kann zumindest vermutet werden, dass die Feststellung ebendieser Wechselwirkung auch ‚paranoide‘ Züge im Sinne Umberto Ecos trägt. In „Overinterpreting Texts“ schreibt dieser: We may see someone in the distance whose features remind us of person A, whom we know, mistake him for A, and then realize that in fact it is B, a stranger: after which, usually, we abandon our hypothesis as to the person‘s identity and give no further credence to the similarity, which we record as fortuitous. We do this because each of us has introjected into him or her an indisputable fact, namely, that from a certain point of view everything bears relationships of analogy, contiguity and similarity to everything else. […] The paranoiac is not the person who notices that ‚while‘ and ‚crocodile‘ curiously appear in the same context: the paranoiac is the person who begins to wonder about the 60 Bazin, „Die Entwicklung der Filmsprache“, S. 104. 61 Bazin, „Die Entwicklung der Filmsprache“, S. 103. 62 Bazin, „Die Entwicklung der Filmsprache“, S. 102. 63 Bazin, „Die Entwicklung der Filmsprache“, S. 103. 64 Bazin, „Die Entwicklung der Filmsprache“, S. 104. mysterious motives that induced me to bring these two particular words together. The paranoiac sees beneath my example a secret, to which I allude. 65 Dass am Ende aus dieser filmtechnischen ‚Evolution‘ ausgerechnet im Falle Kanes ein „Zeugnis für die Revolution der Sprache“ 66 des Films wurde, darf als das von Bazin aufgespürte Geheimnis Welles‘ gedeutet und die Feststellung dieser mysteriösen semantischen Konvergenz als ein Element der ‚Logik des besten Exemplars‘ gesehen werden. Eine Ironie tritt zutage: Die hauptsächliche Anstrengung der filmischen Realisation Citizen Kanes liegt in der Maskierung von fehlender Tiefe durch fingierte Tiefe. Die laut Bazin so augenfällige Harmonie zwischen Form und Inhalt potenziert die Disharmonie der Teile aber nur noch weiter, indem sie auf Seite der Form die Bedingungen für ein Verweilen schafft, welches die reflexive Tätigkeit in Gang setzt und gleichzeitig ins Leere schickt. Schon für Bazin führte der Weg zum ‚großen Werk‘ über die Exposition eines dominanten Elements, dem alle anderen untergeordnet werden können. Ohne den unmittelbaren kritischen Einfluss Bazins und mit der Entwicklung eines wesentlich umfassenderen und differenzierteren Bewusstseins für die Kontinuitäten der Filmgeschichte hat die Forschung das Revolutions-Narrativ (im Wesentlichen die Vorgeschichte, die 1962 zur Wahl zum besten Film in den Sight&Sound -Umfragen geführt hat) mittlerweile weitestgehend aufgegeben. Im Laufe der Jahre wurden sämtliche zuvor als Innovationen geltende Verfahren unter die Lupe genommen, immer auch im Hinblick auf die Frage, was Citizen Kane denn eigentlich so bedeutsam mache. So stellte man fest: Deep focus war schon Jahre vor Citizen Kane ein Markenzeichen Gregg Tolands, mitunter der Grund, warum Welles ihn engagiert hatte, und außerdem in den 30er Jahren, unabhängig davon, was Bazin darüber sagt, gerade in Mode. 67 Die Erzählung in Rückblenden? Direkt aus Spencer Tracys The Power and the Glory von 1933 übernommen, einem Film, der in Rückblenden Aufstieg und Fall eines mächtigen Industriellen erzählt und dabei tatsächlich ein filmisches Verfahren erfunden hat (so zumindest das zeitgenössische Marketing), die sogenannte „narratage“ (Montage durch Erzähler im Off). 68 Ebenfalls eine Mode der 1930er Jahre. Die Plansequenz? Welles war jahrelang am Theater tätig - sowohl als Schauspieler als auch als Regisseur - entwarf also durchaus schon vor Citizen Kane Segmente gänzlich ohne Schnitte. Die innere Montage? Die Schauspieler waren in ihrer Mehrzahl bühnentrainiert und tendierten zu dramatischer Expressivität, und zwar im deutlichen Unterschied zum Standard des Hollywood-Kinos der 30er und 40er. 69 Die dazugehörige Tongestaltung? Eindeutig Radioästhetik, wie Rick Altman schließlich 1994 feststellte. 70 Am Ende dieser Reihe von Entdeckungen steht ein Fazit wie das von Benjamin Cawthra: The claims made for Citizen Kane ‘s technical innovation seem less credible the more one views German expressionism, French poetic realism, John Ford‘s late thirties and early forties run, or indeed anything else Kane cinematographer Gregg Toland had done prior to this film […]. 71 65 Eco, „Overinterpreting Texts“, S. 48. 66 Bazin, „Die Entwicklung der Filmsprache“, S. 105. 67 Bordwell, „Welles At 101“. 68 Bordwell, „Grandmaster Flashback“. 69 Naremore, Magic World , S. 61-62. 70 Altman, „Deep Focus Sound“, S. 1-33. 71 Cawthra, „Citizen Borges“. ‚Größe‘ interpretieren - Der Fall Citizen Kane 75 76 76 Sebastian Feil Damit ist natürlich nicht gesagt, dass sämtliche technischen Verfahren nichts bedeuten. Aber gerade in der verschwenderischen Kombinatorik sich mitunter auch kontradiktorisch verhaltender, sowohl zur Schließung als auch zur Störung der Bedeutung des Narrativs beitragender Verfahren erweist sich die hybride Ästhetik Citizen Kanes geradezu als Gegenbeispiel für ein sogenannte ‚große Narrative‘ tragendes organisches, geplantes, komponiertes und realisiertes großes Werk. Unter dem Mikroskop ist Citizen Kane ein eher inkohärenter Film, der seine eigene Inkohärenz mal maskiert, mal zur Schau stellt - ein Setzkasten, gefüllt mit Effekten, Film- und Erzähltechniken, dessen einziger Zusammenhang letztlich durch räumliche wie temporale Kopräsenz der Teile über die Dauer von etwa zwei Stunden entsteht. Jene Feststellung Bazins, die technischen und inszenatorischen Innovationen stünden nicht nur für sich selbst, wären nicht nur Zaubertricks, sondern würden dem Film selbst (und in der Verlängerung, dem gesamten Medium) zu Bedeutung verhelfen und so die Emanzipation des Mediums Film und dessen Aufstieg zur eigenständigen Kunstform markieren, muss wohl als entkräftet gelten, zumindest in der Filmwissenschaft - in der Kritik hat dieses Narrativ weiterhin Konjunktur: Citizen Kane is more than a great movie; it is a gathering of all the lessons of the emerging era of sound, just as Birth of a Nation assembled everything learned at the summit of the silent era, and 2001 pointed the way beyond narrative. These peaks stand above all the others. 72 So schreibt der eminente US-amerikanische Filmkritiker Roger Ebert in einer Würdigung des Films zu einem seiner vielen Jubiläen und unterstreicht damit auch den Charakter des Lehrstücks, den der Film bisweilen einnehmen kann. Es ist wenig verwunderlich, dass Citizen Kane scheinbar bis heute sein eigenes großes Narrativ trägt, in welchem der Film geradezu eine eigene Kategorie darstellt und selbst als überzeugendes (wenn auch unverkennbar vages) Prädikat (synonym mit ‚groß‘, ‚herausragend‘ oder ‚am besten‘) für die Beurteilung und Bewertung fungiert. So hat Mark Kermode, der bekannte britische Filmkritiker, in einer Rezension im Guardian im Jahr 2006 ausgerechnet Guillermo del Toros El Laberinto del Fauno als „a Citizen Kane of fantasy cinema, a masterpiece made entirely on [del Toros] own terms“ beschrieben. 73 Wiederum am anderen Ende der Skala wurde zum Beispiel Babe , der Sommerferienfilm des Jahres 1995, vom Chicago Daily Herald -Kritiker Dann Gire als „the Citizen Kane of speaking pig movies“ bezeichnet. 74 Die komische Note, die diesen Attribuierungen bisweilen anhaftet, ist bestens dokumentiert, 75 hält wiederum andere aber nicht davon ab, diese Attribuierung weiterhin vorzunehmen. 76 Ein jüngeres Medium hat Citizen Kane in den letzten Jahren heimgesucht: das Computerspiel. Dieser Umstand ist vermutlich Roger Ebert zu verdanken, welcher seit den frühen 2000er Jahren jene folgenschwere These vertreten hatte, die er dann 2010 als Replik auf den TED-Talk der Entwicklerin Kellee Santiago noch einmal strukturiert zum Besten gab: „Videogames can never be art.“ Seine Begründung: Spiele kann man gewinnen, Kunst jedoch nicht, sondern nur 72 Ebert, „ Citizen Kane Review“. 73 Kermode, „Pain Should Not be Sought“. 74 Diese Aussage wird u. a. ernsthaft diskutiert in: „Rezension zu Babe “ (Decent Films). 75 Vgl. Kim, „Citizen Kane of Lists“. 76 Vgl. Campbell, „Citizen Kane Tributes“. erfahren. 77 Ohne nun eine Gegenposition vertreten, die Implikationen des Begriffs der ‚Erfahrung‘ näher beleuchten oder darauf eingehen zu wollen, dass die Möglichkeit des Gewinnens kein notwendiges Merkmal von Spielen ist, scheint doch gerade Citizen Kane in der kritischen wie öffentlichen Wahrnehmung und in den wichtigen Rankings in der Tat ein eindeutiger Gewinner zu sein. Und es bedurfte Jahre der Auseinandersetzung und der Suche nach dem „Citizen Kane of Videogames“, so die gängige Floskel, deren Äußerungen seit einer Weile auch der gleichnamige Blog dokumentiert, 78 bis schließlich der bekannte Deus Ex -Entwickler Warren Spector den Schlüssel zur Kunsthaftigkeit schlechthin gefunden zu haben schien, als er fragte: „Where is Gaming‘s Roger Ebert? “ - also ebenjene kritische Institution, die autoritär und öffentlichkeitswirksam den Anschluss einzelner Exemplare einer verfemten Gattung an jene bisweilen seltsame Metakategorie ‚Kunst‘ zu vertreten in der Lage sind. Spector schreibt: We need people in mainstream media who are willing to fight with each other (not literally, of course) about how games work, how they reflect and affect culture, how we judge them as art as well as entertainment. We need people who want to explain games, individually and generically, as much as they want to judge them. We need what might be called mainstream critical theorists. 79 Wenn dies impliziert, dass das Medium Film diese Leute bereits hat, dann könnte es auch ein Hinweis darauf sein, warum Citizen Kane der größte Film aller Zeiten ist, nämlich vornehmlich aufgrund der ständigen Wiederholung des Prädikats in allen Varianten zum Zwecke der symmetrischen Aufrechterhaltung sowohl der Institution Film wie auch ihrer Meilensteine. Die Bedeutsamkeit des Films in allen ihren Erscheinungen erweist sich in der Betrachtung der inhaltlichen wie formalen Rezeption als Effekt einer sekundären Inszenierung im Diskurs über den Film. Die Bedeutung für seine Kultur ergibt sich reziprok aus der Bedeutung des Films aus seiner Kultur, nicht aber aus dem Werk selbst. So ist das reflexive Potential, das von der Rätselstruktur ausgeht, nur oberflächlich gegeben, und hat erst mit der Bedeutsamkeit des Films in anderen Bereichen eigentlich an Tiefe gewonnen. Und die Attraktivität modernistischer Komplexitätsmetaphern, die gleichwohl erst mit Einsetzen einer postmodernen Phase in der Hermeneutik erneut zunahm, bescherte dem Ganzen eine weitere ironische Wendung. Ausgerechnet in jener kulturgeschichtlichen Phase, die sich die Auflösung von ganzheitlichen Sinnentwürfen auf die Fahnen geschrieben hat, legt die Bedeutsamkeit des ‚besten Exemplars‘ noch einmal zu, indem sie dem Film eine weitere Schicht der Bedeutung zuträgt, die er nur durch die Hartnäckigkeit ihrer Vertreter auch tatsächlich erhält. Selbiges gilt für die formalen Innovationen, die eigentlich in ihrer Okkasionalität 80 betrachtet werden sollten, die sich durch zahlreiche kritische Interventionen zu einer einheitlichen Vision von Bedeutsamkeit zusammengeschlossen haben. Der Ursprung der ‚Größe‘ Citizen Kanes liegt somit mehr als er jemals selbst im Werk liegen könnte in der (manchmal programmatischen, manchmal unbewussten) Insistenz auf Missverständnissen, welche sich (ganz im Geiste des Films) aus vergangenen informationellen Unzulänglichkeiten ergeben haben. 77 Ebert, „Videogames Can Never be Art“. 78 „The Citizen Kane of Video Games“ (tumblr). 79 Spector, „Gaming‘s Roger Ebert“. 80 Zum Begriff der Okkasionalität: Gadamer, Wahrheit und Methode , S. 149-153. ‚Größe‘ interpretieren - Der Fall Citizen Kane 77 78 78 Sebastian Feil Kurz vor dem Ende der „Herrschaft“ 81 Citizen Kanes nannte Peter Bogdanovich, ein alter Freund Orson Welles‘, die bevorstehenden Wahlen der Sight&Sound „an absurd game that we are playing“. 82 Und es ist ebenjenes Spiel, mit dem Roger Ebert dem Medium Computerspiel die Möglichkeit absprach Kunst sein zu können: ein Spiel, das nicht ohne eine teleologische, bisweilen eschatologische Struktur existieren kann und dessen Wesen durch die Mechanik des Gewinnens und Verlierens - des Erfolgs und Misserfolgs - bestimmt ist. Citizen Kane ist Maßstab und Bürge dieses Spiels der Kunst. Und gerade dann, wenn man sich von so mancher analytischen wie institutionellen Denkgewohnheit lösen kann, auch ein ebenso lehrreicher wie unterhaltsamer, kurzum, ein relevanter Film. Filmographie Citizen Kane . Produktion: RKO Radio Pictures, USA, 2015. Regie: Orson Welles. Drehbuch: Herman J. Mankiewicz u. Orson Welles. Kamera: Gregg Toland. Musik: Bernhard Hermann. Darsteller: Orson Welles (Charles Foster Kane), Joseph Cotton ( Jedediah Leland), Dorothy Comingore (Susan Kane), Ruth Warrick (Emily Norton Kane), Everett Sloane (Mr. Bernstein), Ray Collins ( Jim W. Gettys), George Coulouris (Walter P. Thatcher), Agnes Moorehead (Mrs. Mary Kane), Harry Shannon (Mr. Jim Kane), Paul Stewart (Butler Raymond), Erskine Sanford (Chefredakteur Carter), Buddy Swan (Charly Kane), William Alland (Reporter Thompson). Bibliographie „AFI‘s 100 Greatest American Films of All Time“. In: American Film Institute (2007). 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Abb. 2: Welles, Citizen Kane , 00: 22: 53 Abb. 3: Welles, Citizen Kane , 01: 55: 53 Abb. 4: Welles, Citizen Kane , 00: 23: 08 Abb. 5: Welles, Citizen Kane , 00: 23: 17 Abb. 6: Welles, Citizen Kane , 01: 02: 02 Abb. 7: Welles, Citizen Kane , 01: 32: 32 Abb. 8: Welles, Citizen Kane , 01: 54: 50 Abb. 9: Welles, Citizen Kane , 01: 51: 18 Abb. 10: Welles, Citizen Kane , 00: 02: 32 Abb. 11: Welles, Citizen Kane , 00: 02: 39 Abb. 12: Welles, Citizen Kane , 00: 02: 40 Screwball Western: Howard Hawks, Rio Bravo Günter Butzer I. In den 1950er Jahren entwickelten die jungen Filmkritiker der Pariser Cahiers du cinéma (Truffaut, Chabrol, Rivette, Godard, Rohmer) ihre sog. Autorentheorie des Films und versuchten auf diese Weise, das moderne, auf Genie und Individualität beruhende Künstlerbild auch für eine kulturelle Produktionsform zu reklamieren, die sich als Kunst noch nicht durchgesetzt hatte. 1 Dass sie ihr Programm eine politique des auteurs nannten, zeugt von der strategischen Ausrichtung ihres Unterfangens: Nicht Ästhetik, sondern Diskurspolitik war das vornehmliche Ziel der neuen Kritikergeneration, aus der die Nouvelle vague hervorgehen sollte. Stellt man dies in Rechnung, ist es nicht verwunderlich, dass sie ihr Konzept des Autorenfilms nicht nur an älteren Regisseuren wie Jean Renoir, Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau sowie an den jüngeren europäischen Regisseuren des italienischen Neorealismus - allen voran Roberto Rossellini - zu belegen suchten, sondern sich auch an das amerikanische Genrekino ihrer Zeit heranwagten. 2 Denn wenn - so die implizite Argumentation - sogar das amerikanische Studiosystem den Hollywood Professionals die Möglichkeit zur Ausbildung eines individuellen Autorenstils bietet, ist damit bewiesen, dass im Film, wie in anderen kulturellen Feldern auch, unter beliebigen Umständen große Kunst produziert werden kann. Die Regisseure Hollywoods gerieten damit zum Prüfstein einer Filmprogrammatik, die ihnen gleichermaßen fremd wie über weite Strecken gleichgültig gewesen ist. 3 Eines der vornehmsten Ziele dieser diskursiven Expansionsstrategie war Howard Hawks, ein Hollywood Professional reinster Provenienz, der sich sein Leben lang nicht als Künstler, 1 Vgl. François Truffauts programmatischen Artikel Une certaine tendance du cinéma français , bes. S. 25ff.-- André Bazin, Mitstreiter der Cahieristes , hat das Programm als Etablierung eines „culte esthétique de la personnalité“ der Filmregisseure kritisiert, erfasst damit m. E. aber nur einen Nebenaspekt. Vgl. Bazin, De la politique des auteurs , S. 10f. (Bazins Paradebeispiel für diesen Personenkult ist Jacques Rivettes Cahiers -Artikel über Howard Hawks, der noch eingehender zu behandeln sein wird). 2 Aus amerikanischer Sicht definiert dies geradezu die auteur -Theorie, so etwa, wenn Peter Wollen im Anschluss an Andrew Sarris schreibt: „It [the auteur theory, G.B.] sprang from the conviction that the American cinema was worth studying in depth, that masterpieces were made not only by a small upper crust of directors, the cultured gilt on the commercial gingerbread, but by a whole range of authors, whose work had previously been dismissed and consigned to oblivion“ (Wollen, „The Auteur Theory“, S. 680). 3 Von Nicholas Ray, dem weithin gepriesenen Helden der Cahieristes , wird kolportiert, dass er bei einem Europa-Aufenthalt in deren Pariser Redaktionsbüro vorbeischaute - nicht, um mit ihnen zu reden, sondern lediglich, um sich die merkwürdigen Leute einmal anzusehen, die da jenseits des Atlantiks solche Lobeshymnen über ihn veröffentlichten. Zu Ray und den Cahiers vgl. Oplustil, „Blick ins Königreich“. 82 82 Günter Butzer sondern als Geschichtenerzähler verstanden hat; 4 er scheint damit zu bestätigen, dass unter den arbeitsteiligen Produktionsbedingungen des Studiosystems keine Kunst entstehen könne, da hier der Regisseur nicht mehr als ein Rädchen im Getriebe sei, das jenseits seines Regiestuhls keinen Einfluss auf die Produktion eines Films nehme. Somit kann ein Hollywoodregisseur auch keinen Anspruch auf den Status des Künstlers erheben, sofern dieser seit seiner Entstehung um 1800 an die Schöpfung aus der eigenen Natur und an die vollständige Kontrolle über sein Werk - im Sinne von Heinrich Bosses Konzept der Autorschaft als Werkherrschaft 5 -- gebunden ist. Nun könnte man ins Feld führen, dass gerade Hawks kein optimales Beispiel für einen klassischen Hollywood-Regisseur darstellt, weil er, selbst lange Zeit als Drehbuchautor tätig, bevor er Regie führte, schon frühzeitig wesentliche Elemente seiner Filme - von der Auswahl der Stoffvorlage über das Drehbuch und das Casting bis hin zum final cut - selbst zu bestimmen suchte und viele seiner Werke tatsächlich auch selbst produzierte. 6 Das führte indessen keineswegs dazu, dass er deswegen den Status eines Künstlers für sich in Anspruch nehmen wollte, im Gegenteil: Wer, so Hawks, gute Geschichten erzählen will, sollte möglichst großen Einfluss darauf haben, wie diese zustandekommen; deswegen ist er aber noch lange kein Künstler. 7 Damit könnte man das ohnehin weitgehend einseitige Verhältnis der französischen Kritiker zu Hawks und seinen amerikanischen Kollegen als Missverständnis abtun, jedoch möchte ich es dabei nicht bewenden lassen. Denn so, wie auf der einen Seite das moderne Künstlerkonzept ja keine Realität beschreibt, sondern eine Ideologie zur Überhöhung der Herstellung von 4 Dennoch bildet er auch für Wollen das paradigmatische Beispiel des auteurs : „The test case for the auteur theory is provided by the work of Howard Hawks“ (Wollen, „The Auteur Theory“, S. 683). Hawks selbst äußert sich zu seiner Verehrung durch die französischen Kritiker und Filmemacher wie folgt: „I listen to them, and I get open-mouthed and wonder where they find some of the stuff that they say about me. I‘m very glad that they like it, and I‘m very glad that a lot of them are copying what I do, but they find things. They give me credit for an awful lot of things that I don‘t pay any attention to“ (McBride, Hawks on Hawks , S. 8). Zur Diskussion der Alternative von auteur und storyteller in Bezug auf Hawks vgl. das entsprechende Kapitel bei Mast, Howard Hawks, Storyteller , S. 27-35. 5 Vgl. Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft , bes. S. 99-142. 6 Vgl. Mast, Howard Hawks, Storyteller , S. 28f., der das auteur -Konzept entsprechend auf Hawks‘ gesamte Tätigkeit als Produzent ausgeweitet sehen will: „The contribution of Howard Hawks to a film cannot be illuminated […] by his separation from or antagonism to his content or script or performers. His contribution is the whole film“ (S. 29). Von zentralem Einfluss für die Einstufung Hawks‘ als auteur in den USA war die Studie von Andrew Sarris, The American Cinema (zu Hawks S. 52-56), ausführlicher bereits dargelegt in seinem Essay „The World of Howard Hawks“, der mit den Worten beginnt: „Howard Hawks is the least known and least appreciated giant in the American cinema“ (Sarris, „The World of Howard Hawks“, S. 35). 7 „Ich bin ein Geschichtenerzähler, kein Künstler. […] Die bloße Tatsache, daß jemand mein Werk künstlerisch nennt, bedeutet nichts. Mit Kunst hat meine Arbeit überhaupt nichts zu tun“ (Blumenberg, Die Kamera in Augenhöhe , S. 42). Manny Farber hat in einer einflussreichen diskursiven Intervention 1957 Hawks als Protagonisten des underground film apostrophiert, dessen Unscheinbarkeit gegen den etablierten Kunst-Begriff opponiert - und eben deshalb die eigentliche Kunst darstellt: „Hawks and his group are perfect examples of the anonymous artist, who is seemingly afraid of the polishing, hypocrisy, bragging, fake educating that goes on in serious art. To go at his most expedient gait, the Hawks type must take a withdrawn, almost hidden stance in the industry. Thus, his films seem to come from the most neutral, humdrum, monotonous corner of the movie lot“ (Farber, „Underground Films“, S. 36). Die Parallele zur argumentativen Strategie der Cahieristes ist offensichtlich: Die unscheinbare Underground-Kunst der Hollywood (! ) Professionals soll gegenüber der exaltierten Künstlichkeit der ‚ernsten Kunst‘ ins Feld geführt und damit ein Paradigmenwechsel eingeleitet werden. Screwball Western: Howard Hawks, Rio Bravo 83 ästhetischen Artefakten, so ist auch auf der anderen Seite die Produktion von Kunst unter Bedingungen der Arbeitsteilung ohne Weiteres möglich. Das Kriterium hierfür ist dann freilich nicht mehr der autonome Künstler, sondern es müssen systemimmanente Merkmale sein, die zur Beurteilung des ästhetischen Werts herangezogen werden. Für Hawks‘ Film Rio Bravo und sein filmisches Umfeld möchte ich im Folgenden drei davon in Ansatz bringen: (1.) den Grad an filmischer Intertextualität, (2.) das Maß an (genreimmanenter) Reflexivität und (3.) die Hybridisierung als treibendes Element der Genre-Entwicklung. Anhand dieser Kriterien ließe sich die Geschichte des klassischen A-Western als Geschichte ästhetischer Innovationen schreiben, die in keinem einzigen Fall als bloße Variation vorgegebener Schemata daherkommen. Denn der eigentliche Genre-Western, das sind nicht die aufwändigen A-Pictures der großen Hollywood-Studios, sondern das ist die um ein Vielfaches größere Produktion von B-Western und Western-Serien, die fast mit dem Beginn des Kinos entstanden sind und ihre großen Erfolge lange vor der Entstehung der großen Western-Epen der 1920er Jahre (u. a. James Cruzes ‘ The Covered Wagon und John Fords The Iron Horse ) feierten - wobei selbst diese B-Western z.T. noch ein erhebliches narratives, z.T. auch visuelles und nicht zuletzt schauspielerisches Innovationspotenzial bergen. 8 Gegenüber diesen im Ganzen nichtsdestotrotz als Genrefilme zu bezeichnenden Werken und Serien zehrt ein Meilenstein der Gattungsgeschichte wie Michael Curtiz‘ Dodge City aus dem ‚Western-Jahr‘ 1939 von seiner Kreuzung mit Elementen des Abenteuerfilms, was sich vom Casting (Errol Flynn und Olivia de Havilland) über die mise en scène bis hin zur Kameraarbeit auswirkt - und nicht zuletzt dem Regisseur zu verdanken ist, der, etliche Jahre vor Casablanca , seine großen Erfolge mit Werken wie dem Piratenfilm Captain Blood (1935) und dem Abenteuerfilm The Adventures of Robin Hood (1938) feierte; auf diese Weise entstand durch Hybridisierung ein neues, actionbetontes Subgenre des Western: die town tamer story . 9 Doch bereits Cecil DeMilles The Plainsman von 1936, also zu Beginn der Western-Renaissance der 1930er Jahre, kann als Produkt der Hybridisierung - hier durch die Übernahme von Elementen des Historienfilms, den der Pionier des Hollywoodkinos zu dieser Zeit pflegte - angesehen werden, 10 und auch Henry Kings Jesse James , mit dem die sog. outlaw -Western ihren extrem erfolgreichen Anfang genommen haben, lässt die Vorgeschichte des Regisseurs in der filmischen Pastorale des amerikanischen Landlebens deutlich erkennen. 11 Die Reihe ließe sich problemlos verlängern. So benutzt, um zwei vorerst letzte Beispiele zu nennen, John Fords herausragender Western My Darling Clementine aus dem Jahr 1946 sowohl narrative als auch visuelle Elemente des Film noir , um die gegenläufigen Welten der beiden 8 Exemplarisch hierfür sind die B-Western, die Budd Boetticher in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre mit Randolph Scott und dem Produzenten Harry Joe Brown drehte und die unter dem Namen ‚Ranown-Western‘ bekannt geworden sind. Vgl. Kitses, Horizons West , S. 173-199. 9 Beworben wurde Dodge City von Warner nicht mit seinem innovativen Stil und seinem neuen Plot-Typus, sondern zum einen mit den beiden Stars Flynn und de Havilland, die dem Publikum aus den erwähnten Abenteuerfilmen bekannt waren, und zum andern mit der scheinbar authentischen location : Die Premiere fand unter erheblichem Aufwand und unter Beteiligung nahezu der gesamten Einwohnerschaft in Dodge City statt (vgl. den Trailer). Zur cross over -Strategie des Films vgl. auch Kinnard/ Vitone, The American Films of Michael Curtiz , S. 51-59. Bereits ein Vergleich dieses opulenten, in Technicolor gedrehten Films mit John Fords im selben Jahr 1939 veröffentlichten ersten Talkie-Western Stagecoach und dessen narrativ wie visuell (bei aller Bildgewalt) letztlich reduktionistischer Ästhetik zeigt die enorme Bandbreite, die der A-Western schon zu dieser Zeit erlangt hatte. 10 Vgl. Essoe/ Lee, DeMille , S. 132ff., und Higham, Cecil B. DeMille , S. 230ff. 11 Vgl. Meyer, The Making of the Great Westerns , S. 59ff., und Coppedge, Henry King‘s America , S. 93ff. 84 84 Günter Butzer Protagonisten Wyatt Earp und Doc Holliday zu inszenieren, 12 und Nicholas Rays Film Johnny Guitar von 1954 ist so sehr Melodram, dass man ihn kaum noch als Western bezeichnen mag. 13 Dabei lässt sich eine deutliche Steigerung dieser Tendenz zur Hybridisierung erkennen, die schließlich zur Entstehung von reinen Hybridfilmen führt, bei denen - so meine an Rio Bravo zu erhärtende These - Genreinnovation in Kunst übergeht. II. In den 1950er Jahren ist im Bereich des Western eine deutliche Tendenz zur Abstraktion festzustellen, die sich zunächst an den beiden Grundkonstituenten des Genres festmachen lässt: der Geschichte und der Landschaft (man könnte auch sagen: Zeit und Raum). Die bedeutenden Westernfilme der 1920er bis 1940er Jahre gruppieren sich um einzelne Phasen der Landnahme der weißen Siedler zwischen dem Ende des Bürgerkriegs 1865 und der vollständigen Eroberung des Westens ca. 1890. Es handelt sich also im weitesten Sinn um Geschichten der allmählichen Verschiebung der Frontier in Richtung Westen, die von weißer Seite als eine Geschichte der Zivilisierung roher Natur (zu der man bekanntlich auch die indigene Bevölkerung zählte) verstanden wurde und die sich, wie Frederick Jackson Turner in seinem epochalen Vortrag „The Significance of the Frontier in American History“ ausführt, in mehreren Wellen vollzog, welche in gewissem Sinn die Menschheitsgeschichte in komprimierter Form wiederholten: von den Jägern und Fallenstellern über die Goldgräber, Rancher und Siedler bis hin zum Bau transkontinentaler Eisenbahnlinien und der Errichtung industrieller Produktionsstätten. 14 Die Konflikte, die sich zwischen diesen unterschiedlichen sozioökonomischen Gruppen mit ihren je eigenen Produktions- und Lebensweisen zwangsläufig ergaben und die dazu führten, dass die Pioniere der frühen Erschließungswellen von den Nachfolgenden immer weiter in den Westen gedrängt wurden (bis zur endgültigen Schließung der Grenze), bilden den vornehmlichen Gegenstand des klassischen Western bis in die 1940er Jahre hinein. Um 1950 ist damit schlagartig Schluss. Es scheint, als sei dem Western das - wie auch immer mythisch transformierte - Geschichtsbewusstsein abhandengekommen. Anstatt dem Publikum seine Lehrstücke in amerikanischem Nationalbewusstsein vorzuführen, konzentriert er sich plötzlich auf den einsamen Einzelnen ohne sozialen Auftrag, der nurmehr für sich selbst steht, und auf dessen individuelle Fähigkeiten: auf die Figur des Gunfighters. 15 Markiert wird dieser Einschnitt durch Henry Kings Film The Gunfighter , dessen Erscheinen 1950 von der Produktionsgesellschaft Twentieth Century Fox als Start eines neuen Western- 12 Jim Kitses spricht in Bezug auf Doc Holliday in My Darling Clementine von „a shadow text with Doc as hero, a noir Clementine“ (Kitses, Horizons West , S. 60). Ansatzweise gilt dies, wie Edward Buscombe gezeigt hat, bereits für Stagecoach (vgl. Buscombe, Stagecoach , S. 57). 13 „Ein Melodram […] in der Hülle eines Western. Ein Genre in den äußeren Formen eines anderen“, schreibt Jochen Brunow über Johnny Guitar (Brunow, „Johnny Guitar“, S. 196). 14 Vgl. Turner, „The Significance of the Frontier“. - Dass in diesem Modell notwendigerweise auch ein Moment der Regression impliziert ist, hat Richard Slotkin in seinen Büchern zur kulturellen Bedeutung der frontier herausgearbeitet. Vgl. Slotkin, Regeneration Through Violence , und ders., Gunfighter Nation . 15 Vgl. zur Transformation des „happy-go-lucky, footloose action star of the 1930s and 1940s to a brooding, tormented, and angst-wracked gunman in den 1950s“: Agnew, The Creation of the Cowboy Hero , S. 152- 165. formats geplant war, 16 der jedoch, weit darüber hinausgehend, das Ende des klassichen Western einläutete. Der Film hat keine eigentliche Handlungsstruktur (außer einem rudimentär entwickelten Racheplot, wie er im Laufe des Jahrzehnts typisch werden wird, paradigmatisch in den Western Anthony Manns, z. B. in Winchester ‚73 ), sondern gewinnt seine Dramatik allein aus der Hauptfigur, dem Gunfighter Jimmy Ringo (gespielt von Gregory Peck). Dieser zeichnet sich durch genau eine Eigenschaft aus: Er ist der Schnellste mit dem Colt, 17 womit letztlich nichts anderes benannt wird als eine antrainierte motorische Fertigkeit, wie man sie aus dem Bereich der Akrobatik und des Sports kennt. Mit Letzterem teilt das gunfightin‘ auch den Wettbewerbskontext, in dem es ausgeübt wird: Ringo sieht sich, wie der Film von Anfang an deutlich macht, auf Grund seines Status als „champion“ 18 und des damit einhergehenden Ruhms wie ein Boxchampion permanent zur Verteidigung seines Titels herausgefordert und muss diesen Herausforderungen, unabhängig von der Qualität des Gegners, auch nachkommen. Mit diesem agonalen Prinzip entfernt sich der Film weit von allen historischen und sozialen Dimensionen des klassischen Western und etabliert ein Narrativ, das so abstrakt ist, dass man es kaum noch als solches bezeichnen mag: Der Held duelliert sich so lange mit seinen Herausforderern, bis er selbst erschossen wird (was in diesem Film dadurch möglich wird, dass Ringo versucht, aus seiner Gunfighter-Existenz auszusteigen - wie aus einer Drogenkarriere, und tatsächlich sind Ringo und seine Nachfolger eine Art gun-addicts ). Mit der Abstraktheit der Handlung geht die Reduktion des Raums einher. Wenn wir heute mit dem Western die weite, offene Landschaft der Great Plains assoziieren, die von den Trappern, Cowboys, Farmern oder Eisenbahnbauern durchquert und dabei erschlossen wird, so ist dies zum einen den großen Stummfilm-Epen der 1920er Jahre (v. a. den bereits erwähnten The Covered Wagon und The Iron Horse ) zu verdanken, die on location gedreht wurden und Cast und Crew, so geht zumindest die Sage, ähnlichen Strapazen aussetzten wie den historischen Akteuren (ein Authentifizierungseffekt, der Jahrzehnte später nicht unwesentlich zum Erfolg von Kevin Costners Dances with Wolves beigetragen hat). Zum andern speist sich das filmische Bild des Wilden Westens aus einer Entdeckung John Fords, der für seinen ersten großen Talkie-Western Stagecoach 1939 eine Landschaft nutzte, die mit der historischen Landnahme kaum etwas zu tun hat: das in der Navajo Nation Reservation in Utah und Arizona gelegene Monument Valley (Abb. 1). In diesem erhabenen Gelände situierte Ford - und nach 16 Im Trailer wird der Film als „a bold and startling departure from the conventional“ und „a picture and a character utterly unlike everything ever brought to the screen“ (Trailer zu The Gunfighter , 00: 00: 06- 00: 00: 26) beworben. Vgl. Meyer, The Making of the Great Westerns , S. 199, und Coppedge, Henry King‘s America , S. 117. 17 Der Vorspann des Films formuliert dies mit aller Deutlichkeit: „In the Southwest of the 1880‘s the difference between death and glory was often but a fraction of a second. This was the speed that made champions of Wyatt Earp, Billy the Kid, and Wild Bill Hickok. But the fastest man with a gun who ever lived, by many contemporary accounts, was a long, lean Texan named Ringo“ (King, The Gunfighter , 00: 01: 52). Duccio Tessaris Ringo-Western der 1960er Jahre ( Una pistola per Ringo , Il ritorno di Ringo ) knüpfen an die Schnelligkeit des gunslingers an, verwandeln ihn jedoch zugleich in eine ambivalente Figur von mörderischem Charme (im Titelsong Angel Face von Una pistola per Ringo heißt es: „And his laughin‘ was a presage of death / Ringo had an angel face / But whenever Ringo laughed, Ringo fired“; Tessari, Una pistola per Ringo , 00: 05: 32-00: 05: 58). 18 Auch dieser Begriff aus dem Bereich des sportlichen Wettkampfs findet sich im Vorspann (vgl. die vorherige Fußnote). Nicht zufällig war der Skriptautor André de Toth mit dem dreimaligen Schwergewichtsweltmeister im Boxen, Joe Louis, befreundet. Screwball Western: Howard Hawks, Rio Bravo 85 86 86 Günter Butzer ihm viele weitere Regisseure wie Sergio Leone für C‘era una volta il West und Dennis Hopper mit dem Krypto-Western Easy Rider - seine Erzählungen, sodass sich an der Interaktion von Figuren, Siedlungen und Natur die Geschichte seiner herausragenden Western nachzeichnen ließe - von der allmählichen Herausbildung einer temporären Gemeinschaft im er-fahrenen Naturraum in Stagecoach über die Konstitution einer Zivilgesellschaft mit offenen Grenzen zur Natur in My Darling Clementine bis hin zur Reduktion des Menschlichen auf das schiere Überleben in einer feindlichen Natur in The Searchers . Diese Landschaft Fords ist von Anfang an ein Palimpsest gewesen: Zeichen über Zeichen über Zeichen; denn wie wir wissen, hat er in diese ohnehin künstliche Landschaft Bilder projiziert, die er nach dem Vorbild amerikanischer Landschaftsmaler wie Frederic Remington, Charles M. Russell und Charles C. Schreyvogel gestaltete, deren Gemälde selbst erst um 1900 entstanden sind, 19 sodass von der vielgerühmten historischen Treue seiner Filme vor allem eins übrig bleibt: die Details. Abb. 1-2: Von räumlicher Weite zum engen Winkel: Stagecoach vs. The Gunfighter Es ist diese zugleich authentische und künstliche Landschaft des klassischen Western, die sich in The Gunfighter und seinen Nachfolgern extrem zusammenzieht - im vorliegenden Fall auf die Ecke eines Saloons, in der der Held über weite Strecken des Films sitzt und wartet (Abb.-2). So wie sich seine Person auf die schiere Geschwindigkeit des fast draw verdichtet hat, so ist sein Raum geschrumpft auf jene Parzelle, über der sich ironischerweise der einzige geschichtliche Verweis des gesamten Films befindet: ein Gemälde von „Custer‘s Last Fight“, der traumatischen Niederlage der amerikanischen Armee in den sog. Indianerkriegen 1876 am Little Bighorn gegen die vereinten Stämme der Sioux unter Sitting Bull, Crazy Horse und Big Foot (neben Alamo der große Opfermythos des Western). 20 Ironisch ist diese Konstellation deshalb 19 Vgl. Cowie, John Ford and the American West , bes. S. 158-196. Allgemein zum Palimpsest-Charakter der Western-Landschaft vgl. French, Westerns , S. 68: „No one today can easily bring a totally fresh, primitive eye to the land. The traditions of American art, of photography, of the western genre itself, interpose themselves.“ 20 Vgl. etwa Stöver, United States of America , S. 147f. - Der Alamo-Mythos spielt für Rio Bravo eine nicht unerhebliche, im Vergleich mit John Waynes fast zeitgleichem reaktionären Western The Alamo (1960) eher parodistische Rolle, da durch die Stilisierung der historisch unbedeutenden Situation in Hawks‘ Film als Alamo-Kampf eine Ironisierung sowohl des Mythos als auch dieses Strangs des Film-Plots erfolgt, die sich nahtlos in die parodistische Faktur des gesamten Films einfügt. Dies unterscheidet Rio Bravo von The Gunfighter , der bei der Ironisierung des Helden durch den Bezug auf „Custer‘s Last Fight“ stehenbleibt. zu nennen, weil zwar auch Ringo in der Ecke seinem letzten Gefecht entgegensieht, dieses aber, im Unterschied zu demjenigen Custers, keinerlei Relevanz für die nationale Mythologie aufweist. Losgelöst von Geschichte und Natur, gerät der Gunfighter zur existenziellen-- manche Interpreten meinen: zur existenzialistischen 21 - Figur, deren Bedeutung sich nicht mehr episch, sondern allenfalls tragisch entfaltet (sofern man das unvermeidliche Ende eines Champions tragisch nennen mag). 22 Tatsächlich hat Ringo keinen Ort in der gezeigten Welt, doch genausowenig hat er Zeit: er will sich mit seiner von ihm verlassenen Familie versöhnen und irgendwo ein neues Leben beginnen (konkreter vermag er ohnehin nicht zu planen), doch die Brüder eines von ihm Getöteten sind ihm auf den Fersen und der nächste Herausforderer steht schon in der Tür. Letztlich stirbt Ringo, weil er den beengten Raum nicht mehr verlassen kann und die Zeit falsch berechnet hat, die seine Verfolger benötigen, um ihn einzuholen. III. Die Abstraktheit von Zeit und Raum ist auch das Thema desjenigen Western, der laut Hawks den Anlass zu Rio Bravo gegeben hat: Fred Zinnemanns High Noon von 1952. 23 Dabei ist auffällig, dass dessen Produktionsteam um Stanley Kramer mit seinem vergleichsweise kostengünstigen, in mancherlei Hinsicht unabhängigen Film großen Wert auf dessen dokumentarischen Charakter gelegt hat. „Zinnemann and photographer Floyd Crosby […] saw High Noon as a 19th-century newsreel“, 24 schreibt William R. Meyer, und man hat tatsächlich viel über High Noon und seinen Gegensatz zum klassischen Western à la Ford gesagt, wenn man sich deren unterschiedliche filmästhetische Leitmedien vergegenwärtigt: Während Ford und andere Regisseure (darunter auch Hawks) sich, wie erwähnt, in ihren Bildkompositionen an der amerikanischen Landschaftsmalerei um 1900 ausrichten, orientiert sich Zinnemann an frühen Fotografien des Westens und versucht, wie besonders in der Eingangssequenz deutlich wird, deren Faktur - mit grauem Hintergrund, Grobkörnigkeit und in schwarz/ weiß - filmisch zu imitieren (Abb. 3-4). Zum fehlenden historischen Sinn in Rio Bravo vgl. Ryall, „Hawks and the Western“, S. 105. Dazu passt auch, dass Hawks den Degüello -Song, über den das Alamo-Thema in Rio Bravo integriert wird, nicht im Original verwendet hat, weil er ihn als ungeeignet empfand, und ihn stattdessen von Dimitri Tiomkin neu komponieren ließ, und diese Version ist musikalisch „strikingly ahistoric“ (Kalinak, „Scoring the West“, S. 166). Kathryn Kalinak zieht darüber hinaus eine - weithin unbestrittene - direkte Linie von Tiomkins Degüello zu Ennio Moricones stilbildender Musik für Sergio Leones Italowestern der 1960er Jahre (vgl. ebd., S. 168f. und Leinberger, „The Dollars Trilogy“). 21 Vgl. Saisselin, „Poetics of the Western“, der die Western als „existentialist dramas“ (S. 162) bezeichnet. 22 Robert Warshow schreibt über The Virginian , aber bereits mit Blick auf The Gunfighter : „[…] the movie is still a tragedy, for though the hero escapes with his life, he has been forced to confront the ultimate limits of his moral ideas. This mature sense of limitation and unavoidable guilt is what gives the Westerner a ‚right‘ to his melancholy“ (Warshaw, „Movie Chronicle: The Westerner“, S. 143). 23 „ Rio Bravo was made because I didn‘t like a picture called High Noon . […] we made Rio Bravo the exact opposite from High Noon “ (McBride, Hawks on Hawks , S. 130). 24 Meyer, The Making of the Great Westerns , S. 213 u. 215. - Floyd Crosby hat seine Ursprünge als Kameramann im Dokumentarfilm, wo er mit dessen Pionier Robert Flaherty zusammenarbeitete; für seine Kameraarbeit in Murnaus letztem Film Tabu , der - zumindest zu Beginn - in Kooperation mit Flaherty entstand, erhielt Crosby einen Oscar. Screwball Western: Howard Hawks, Rio Bravo 87 88 88 Günter Butzer Abb. 3-4: Pseudo-dokumentarische Foto-Ästhetik in High Noon Ob High Noon mit diesem zwar, im Vergleich mit der Malerei, deutlich filmaffineren, aber nichtsdestrotz durch und durch künstlich eingesetzten Leitmedium seinem dokumentarischen Anspruch wirklich gerecht zu werden vermag, darf bezweifelt werden. Was stattdessen jedoch durch die Ausrichtung des Films an seinem fotografischen Basismedium entsteht, ist ein medienreflexiver Effekt, der High Noon insgesamt auszeichnet und ihn zu einem ganz und gar unklassischen Western macht. Das haben seine Gegner frühzeitig erkannt, wenn sie dem Film Künstlichkeit, Schematismus, Thesenhaftigkeit und erzwungene Originalität vorwarfen 25 (und von daher ist es völlig unverständlich, wie High Noon im öffentlichen Bewusstsein bis heute als ‚der‘ Western schlechthin gehandelt werden kann). Tatsache ist, dass Zinnemanns Film ab der ersten Sekunde seine filmischen Verfahren offen darlegt. Zugespitzt könnte man sagen: High Noon erzählt uns, wie The Gunfighter , keine echte Geschichte, aber im Gegensatz zu Letzterem zeigt er uns dies obendrein. Denn das Interessante an dem Film ist nicht nur und vielleicht auch nicht primär sein defätistischer Plot, der alle sozialen Werte des klassischen Western untergräbt: Ein Marshal sucht in seiner Stadt vergeblich Unterstützung gegen einen entlassenen Verbrecher und dessen Kumpane, die sich an ihm rächen wollen. 26 Das Bemerkenswerteste ist vielmehr seine abstrakt-formalistische Struktur, die sich von (für das Genre) ungewöhnlichen Einstellungen mit z.T. extremen Kamerawinkeln über oftmals harte, die ohnehin kaum vorhandene Handlungskohärenz durchbrechende Schnitte 27 bis hin zu schon fast penetrant zu nennenden Einstellungswiederholungen erstreckt. Diktiert wird diese formalistische Struktur von der wohl abstraktesten Kategorie schlechthin: der Zeit. 25 Vgl. Wood, Howard Hawks , S. 27f. 26 Zur reflexiven Struktur des Films gehört auch, dass die Sensationsgier derselben Bürger, die Marshal Kane (der eigentlich nurmehr ein Citizen Kane ist! ) nicht helfen wollen, aber keinen Augenblick des finalen shoot-outs verpassen möchten, ziemlich genau der Situation der Kinozuschauer entspricht. Wir haben es also gewissermaßen mit einer reflexiven Appellstruktur zu tun, die sich in der Westerngeschichte der 1950er Jahre fortschreibt, am explizitesten wohl in George Stevens‘ ein Jahr nach High Noon veröffentlichem Film Shane . Tom Ryall („Hawks and the Western“, S. 99) lokalisiert die selbstreflexive Phase des Western daher zu Unrecht erst in den 1960er Jahren mit Filmen wie John Fords The Man Who Shot Liberty Valance , Sam Peckinpahs Ride the High Country (beide 1962) oder Sergio Leones C‘era una volta il West (1968). 27 Meyer spricht von „a form of editing in the montage tradition of Eisenstein“ (Meyer, The Making of the Great Westerns , S. 209). Was sich im Gunfighter bereits angebahnt hat, wird in High Noon zum principium stilisationis erhoben: Der Film präsentiert, nachdem das Rachemotiv zu Beginn eingeführt wurde, über seine gesamte restliche Länge bis hin zum finalen shoot-out vor allem das Vergehen von Zeit. 28 Das beständige, erfolglose Hin-und-her-Rennen des Marshals auf der Suche nach Hilfe motiviert somit letztlich vor allem die regelmäßig auftauchenden Einstellungen des die Straßen der Stadt auf und ab eilenden Gesetzeshüters (Abb. 5-7) - wobei die intermittierenden, nach dem wenig erfolgversprechenden Preview noch vermehrten 29 Close-ups seines Gesichts die eigentliche, innere Handlung im Sinne seiner immer klarer zu Tage tretenden Hoffnungslosigkeit offenlegen (Abb. 8-10). Abb. 5-7: Marshal Kane auf der Suche nach Helfern Abb. 8-10: Des Marshals zunehmende Hoffnungslosikgiet Diese Einstellungen werden parallelgeschnitten mit Aufnahmen der Bahngleise, auf denen der Zug mit dem Rächer kommen wird, und Point-of-view-shots unterschiedlicher Uhren (auch diese nachträglich vermehrt), auf die der Marshal beständig schaut und die die zunehmende Aussichtslosigkeit seiner Situation anzeigen. Dies kulminiert in einer Sequenz harter Schnitte ohne jede Handlungskohärenz, die die Sekunden vor der Ankunft des Zugs darstellt und die man nicht anders denn als abstrakte Serie geometrischer Formen (Bahngleise, Kirchenschiff etc.) mit dazwischenmontierten Uhren sowie Close-ups als reaction shots der Hauptfiguren bezeichnen kann (Abb. 11-16). 30 28 Es ist überhaupt auffällig, dass die abstrakte Zeit im Western der 1950er Jahre, etwa in Delmer Daves‘ 3: 10 to Yuma (1956) oder in John Sturges‘ Last Train From Gun Hill (1958), eine zunehmende Bedeutung erlangt - zumeist, wenig verwunderlich, gekoppelt an die Eisenbahn; so auch in High Noon , und das geht bis hin zu Sergio Leones C‘era una volta il West , der in vielem Zinnemanns Film verpflichtet ist. 29 Vgl. Meyer, The Making of the Great Westerns , S. 215. 30 Vgl. Zinnemann, High Noon , 01: 04: 48-01: 06: 53. Screwball Western: Howard Hawks, Rio Bravo 89 90 90 Günter Butzer Abb. 11-16: Montage-Sequenz mit harten Schnitten und reaction shots Hinzu kommt, dass der Film, trotz seiner Vielzahl an Montagen und kleineren Anachronien, im Großen und Ganzen in Echtzeit - nicht gedreht, sondern gezeigt wird (d. h. die Zeitspanne der Geschichte ist weitgehend deckungsgleich mit der screen time , ohne dass durchgehend zeitdeckend erzählt werden würde), 31 wodurch sich keineswegs, wie von manchen Kritikern behauptet, 32 eine Illusionswirkung ergibt; vielmehr entsteht gerade dadurch, dass High Noon zu einem Film in Echtzeit erst montiert wurde, zusammen mit den erwähnten Inkohärenzen ein Abstraktions- und Distanzierungseffekt: In Echtzeit spielt sich nicht die Handlung ab, sondern in Echtzeit vergeht, schlicht und einfach - die Zeit. 33 IV. Wenn Howard Hawks, wie erwähnt, in den Kreis der High Noon -Verächter einstimmt, so wäre das aus der Sicht eines Vertreters des klassischen Western durchaus nachvollziehbar, und zweifellos hat sich Hawks als ein solcher verstanden. Wie aber macht man einen klassischen Western nach dessen Ende, ohne auf das Niveau eines reinen Genrefilms zurückzufallen? Es ist exakt diese Frage, die den Ausgangspunkt von Rio Bravo bildet. Wenn High Noon von seinem Plot und seiner ästhetischen Struktur her ein Anti-Western ist - wofür vieles spricht--, dann ist Rio Bravo ein Anti-Anti-Western, und man muss nicht an die Dialektik glauben, um zu vermuten, dass die doppelte Negation nicht zur Affirmation des Anfangs zurückführt. Was Hawks in Rio Bravo auf der narrativen wie auf der visuellen Ebene durchexerziert, ist die totale Eliminierung reflexiver Elemente. Insofern ist sein Film in der Tat als das genaue Gegenteil von High Noon zu verstehen. Seinem Anspruch als storyteller gemäß, erzählt er eine 31 Vgl. Drummond, Zwölf Uhr mittags , S. 78. 32 Vgl. Kuchenbuch, Filmanalyse , S. 177. 33 Dazu passt auch, dass die Uhren im Film nicht nur in subjektiven, sondern auch in objektiven Einstellungen gezeigt werden und damit direkt an die Zuschauer gerichtet sind: Seht her, wie die Zeit vergeht! richtige, in sich geschlossene Geschichte, ja er erzählt sogar deren drei: zum einen die erfolgreiche Überwindung eines Belagerungszustands, in dem sich der Sheriff der texanischen Stadt Rio Bravo zusammen mit seinen Gefährten befindet und der daraus resultiert, dass ein reicher Rancher seinen wegen Mordes verhafteten Bruder mit Gewalt aus dem Gefängnis befreien will, bevor dieser dem U.S. Marshal übergeben werden kann (das Moment der Zeit spielt hier also auch eine zentrale Rolle! ); zum andern - und hier wird der ideologische Gegenstandpunkt von Hawks gegenüber Zinnemann besonders deutlich - die Geschichte der vier Verteidiger von Recht und Ordnung, die in der scheinbar aussichtslosen Situation zusammenfinden und am Ende über eine zehnfach überlegene Gegenmacht obsiegen; schließlich die Liebesgeschichte zwischen dem Sheriff John T. Chance und der professionellen Pokerspielerin Feathers, die ihn nach Kräften bei seinem Kampf unterstützt und am Ende dazu bringt, ihr zu gestehen, dass er sie liebt (jedenfalls nach ihrem Verständnis). Diese drei Erzählungen werden kunstvoll ineinander verwoben und mit Geradlinigkeit entfaltet, wobei die Belagerungsgeschichte über weite Strecken den Rahmen für die beiden anderen abgibt, die sich in deren - die screen time deutlich dominierenden - Zwischenräumen abspielen und damit genau das vermeiden, was in High Noon so deutlich vor Augen tritt: die Wahrnehmung der abstrakten Zeit. 34 Was in Zinnemanns Film die Ausbildung einer Handlung zunichte macht: die iterative Struktur der verhinderten Ereignishaftigkeit zwischen der Ankündigung der Rache und dem finalen shoot-out , wird in Rio Bravo transformiert in eine doppelte, sich überlagernde und durch die Figur des Sheriffs verknüpfte Entwicklungslinie. Mit anderen Worten: Die durch den Rahmen abgesteckte leere Zeit wird mit echter Handlung i.S. ereignishafter Transformation narrativer Zustände gefüllt. 35 Doch auch auf der visuellen Ebene vermeidet Hawks jegliche Elemente, die die Reflexion des filmischen Mediums provozieren könnten. Hawks, der in seiner frühen Phase als Regisseur von Murnaus erstem amerikanischen Film Sunrise aus dem Jahr 1927 und dessen formalen Experimenten beeinflusst war, distanziert sich in der Folge vehement von allen medienreflexiven Verfahren. Gegenüber Hans C. Blumenberg benennt er diese Haltung wie folgt: Meiner Meinung nach ist ein Regisseur nichts anderes als ein Geschichtenerzähler: ein Mann, der mit Kamera und Aktion eine Geschichte so gut wie möglich erzählt. […] Ich drehe ohne Umwege. Es gibt keine Kameratricks. Gewöhnlich steht die Kamera in Augenhöhe. Die Zuschauer sehen das, was ich auch sehe. 36 Tatsächlich verwendet Hawks bevorzugt Kameraeinstellungen, die durch ihre leichte Untersicht die Perspektive der Kinozuschauer imitieren 37 und dadurch zu einer optimalen Verwirk- 34 Es ist nicht zuletzt die Geradlinigkeit und Handlungsorientiertheit des Erzählens, die die Kritiker der Cahiers du cinéma an Hawks fasziniert hat und die sie zugleich medienreflexiv verstanden; so spricht Jacques Rivette in Bezug auf den Hawksschen Helden vom „déroulement […] de son voyage […] aussi sûr et régulier que celui de la pellicule dans le projecteur“ (Rivette, „Génie de Howard Hawks“, S. 22). 35 Ganz fehlt diese freilich auch in High Noon nicht: Hier ist es die Entwicklung von Kanes Frau Amy (Grace Kelly), die sich im Verlauf des Films von ihrer Gewaltablehnung als Quäkerin lossagt, ihrem Mann am Ende mit der Waffe beisteht und so dessen Sieg erst ermöglicht. 36 Blumenberg, Die Kamera in Augenhöhe , S. 36. - In einem anderen Interview äußert er sich wie folgt: „All I‘m doing is telling a story. I don‘t analyze or do a lot of thinking about it. […] I try to tell my story as simply as possible, with the camera at eye level“ (McBride, Hawks on Hawks , S. 8 u. 82). 37 Diesen Aspekt macht Mast besonders stark, er ist indessen nicht in allen Filmen Hawks‘ gleichermaßen zu beobachten: „[…] a very familiar description of Hawks‘s shooting style must forever be abandoned: that Hawks‘s camera works inevitably at eye level […] almost no shot in the entire Hawks canon seems Screwball Western: Howard Hawks, Rio Bravo 91 92 92 Günter Butzer lichung dessen führen, was Noël Burch den institutional mode of representation genannt hat: eines narrativ ausgerichteten, auf Identifikation mit den Figuren und der Handlung sowie auf die Verringerung der ästhetischen Distanz zwischen Publikum und Leinwand zielenden Kinos. Letzten Endes geht es hier um die Installation des klassischen Kino-Dispositivs, das dem Publikum die totale Illusionswirkung ermöglichen und die absolute Durchsichtigkeit des Mediums suggerieren soll. Das Ergebnis ist ein weitreichender Naturalisierungseffekt, der das künstliche Artefakt des Films als lebendige Wirklichkeit ausgibt - womit Rio Bravo tatsächlich in diametralem Gegensatz zum seine Artifizialität offen ausstellenden Film Zinnemanns steht: [Ich] nehme […] die Dinge so auf, wie man sie auch in Wirklichkeit sieht. Denn wie schaut man etwas an? Etwa, indem man auf dem Boden liegt und aufblickt? Oder indem man auf eine Leiter klettert und runterschaut? Man sieht die Dinge einfach an. […] Natürlich bewege ich die Kamera. Ich folge einer Figur mit der Kamera, wie man ihr mit den Augen folgt. 38 Mit solchen Aussagen und deren Vokabular - „in Wirklichkeit“, „einfach“, „mit den Augen“ - hat Hawks sehr präzise die Ideologie des Natürlichen und Lebendigen formuliert, die Burch als durch und durch künstlich entlarvt, da sie technisch allererst hergestellt wurde: For […] the transport , the penetration of the spectator into the visual (and eventually aural) diegetic space is the main gesture around which the Institution itself revolves. […] the aim was literally to surround the spectator with a single continuous picture reproducing, in theory at least, the conditions of real vision. 39 Dazu gehört auch ein perfekter Stil des continuity editing , der durch weiche, unsichtbare Schnitte die Konzentration der Zuschauer auf die Handlung zu lenken und diese als natürliches Geschehen auszugeben sucht. Man vergleiche die folgende Aussage Hawks‘: Von Zooms halte ich überhaupt nichts. Dagegen mag ich es, in einer Bewegung zu schneiden. In anderen Worten: Wenn ein Mann von einem Stuhl aufsteht, mache ich den Schnitt in seiner Bewegung und zeige ihn danach aus einer größeren Entfernung. Dann paßt alles richtig zusammen. 40 „Dann paßt alles richtig zusammen“ - damit ist alles gesagt; denn wenn alles richtig zusammenpasst, dann werden die filmischen Verfahren unsichtbar, und genau das ist das Ziel. 41 Jacques Rivette hat diese Ausrichtung in seinem berühmten Essay über Hawks mit dem unmissverständlichen Titel „Génie de Howard Hawks“, erschienen im Mai 1953 in den Cahiers du cinéma , präzise diagnostiziert, bewertet sie - im Gegensatz zu Burch - jedoch rundweg positiv: to be from such a level. It is far closer to the chest or shoulder level of a standing onlooker, the camera tilted slightly upward at the object of its gaze. Or, to be more accurate, at the eye level of a sitting onlooker - which is precicely the audience‘s position as it looks on“ (Mast, Howard Hawks, Storyteller , S. 43f.; vgl. auch Vossen, Howard Hawks , S. 314). 38 Blumenberg, Die Kamera in Augenhöhe , S. 37. - Zu Hawks‘ Ablehnung eines ‚stylish style‘ vgl. auch Cossar, „Hawks, Widescreen and Visual Style“, S. 53. 39 Burch, Life to those Shadows , S. 39. 40 Blumenberg, Die Kamera in Augenhöhe , S. 39. 41 Vgl. Blumenberg, Die Kamera in Augenhöhe , S. 39: „Man darf die Mittel der Inszenierung nicht bemerken.“ - Diese Verdeckung der filmischen Verfahren stellt auch Mast als „mask of easiness“ ins Zentrum seiner Analyse von Hawks als Geschichtenerzähler und vergleicht sie u. a. mit den Filmen des auf ähnliche Weise wie Hawks technikaffinen Buster Keaton. Vgl. Mast, Howard Hawks, Storyteller , bes. S. 17-25. Diese Kunst verlangt von sich selbst eine fundamentale Ehrlichkeit, die deutlich wird an der Art, wie Zeit und Raum verwendet werden; ihre Regel ist Kontinuität; keine Rückblenden, keine Ellipsen; keine Person unternimmt etwas, bei dem man ihr nicht folgen könnte […]. Der Ort und das Nacheinander der Gesten unterliegen einer Gesetzmäßigkeit, die ihre entscheidende Bestätigung im Leben der Kreatur findet. 42 Im Folgenden führt Rivette diese Bildlichkeit des Kreatürlichen weiter, indem er den Rhythmus der Einstellungen bei Hawks als „Rhythmus des Pulsschlags“ bezeichnet und seinen Filmen eine „weiche und tiefe Atmung“ bescheinigt. 43 Es sind diese quasi-natürlichen Eigenschaften von Hawks‘ visuellem Stil, die perfekt mit der anfangs erläuterten Geniekonzeption harmonieren und die es Robin Wood in seiner einflussreichen Hawks-Monografie ermöglichen, ihn - ebenfalls mit deutlicher Wertung - als exakten Antipoden von High Noon auszurufen. Die Oppositionen, mit denen er operiert, fügen sich nahtlos in jenes Dispositiv, das den Film als Natur auszugeben bemüht ist und nebenbei auch deutlich antiintellektuelle Konnotationen mit sich führt. Zinnemanns Film, so Wood, sei geprägt von „ [m]ental intentions, not emotional or intuitive intentions: intentions of the conscious, willing mind, not of the whole man“. 44 Dem entgegen gehalten wird die innere Logik von Hawks‘ Film als „ organic development“ und „the working-out of natural processes“. 45 Kunst ist für Wood ein „record of lived and felt experience“ 46 - womit wir das gesamte Inventar der modernen Kunstideologie zusammen hätten: Emotionalität, Intuition und gelebte Erfahrung auf Seiten des Produzenten sowie Organizität und Natürlichkeit auf Seiten des Werks stehen einem bewussten, geistig gesteuerten Prozess gegenüber, dem entsprechend Willkürlichkeit und Artifizialität attestiert werden. Wie weit dieses Programm für Rio Bravo trägt, wird sich gleich zeigen. V. Betrachtet man den Eingang des Films, 47 scheint dieser die Selbst- und Fremdzuschreibungen klar zu bestätigen. In der ohne jeden Dialog gedrehten Szene zeigt die Kamera einen der Protagonisten in seiner tiefsten Erniedrigung: Der alkoholsüchtige Dude (Dean Martin) ist eben dabei, sich das Geld für den nächsten Whisky aus einem Spucknapf zu holen, wovor ihn der Sheriff, sein ehemaliger Vorgesetzter aus besseren Tagen ( John Wayne), bewahrt, was jener wiederum - süchtig, wie er ist - damit beantwortet, dass er ihn niederschlägt. Wenn Hawks, 42 „Cet art s‘impose une honnêteté fondamentale dont témoigne l‘emploi du temps et de l‘espace-; nul flashback, nulle ellipse, la continuité est sa règle-; nul personnage ne se déplace que nous ne le suivions […]. La place et l‘enchaînement de chaque geste ont force de loi, mais de loi biologique qui trouve sa preuve la plus décisive dans la vie de la créature […].“ (Rivette, „Génie de Howard Hawks“, S. 19; Übers. nach Blumenberg, Die Kamera in Augenhöhe , S. 36). 43 „[…] chacun des plans possède la beauté efficace d‘une nuque ou d‘une cheville-; leur succession, lisse et rigoureuse, retrouve le rythme des pulsations du sang-; le film entier, corps glorieux, est animé d‘une respiration souple et profonde“ (Rivette, „Génie de Howard Hawks“, S. 19). 44 Wood, Howard Hawks , S. 27. 45 Wood, Howard Hawks , S. 27. 46 Wood, Howard Hawks , S. 28. 47 Vgl. Hawks, Rio Bravo , 00: 01: 36-00: 03: 53. - Der Film wird im Folgenden im fortlaufenden Text mit der Sigle RB nachgewiesen. Screwball Western: Howard Hawks, Rio Bravo 93 94 94 Günter Butzer wie wir gehört haben, erklärt hat, dass er die Kamera stets so positioniert, dass der Zuschauer das sehen kann, was er selbst sieht, dann wird spätestens hier deutlich, dass damit keineswegs eine statische Kameraführung gemeint ist; 48 vielmehr begleitet sie die Figur bis auf den Boden des Saloons, um anschließend ihre verzweifelte Selbstbehauptung vorzuführen. Dies ist der erste Schritt Dudes auf dem Weg zur Wiedererlangung seiner Selbstachtung und damit verbunden seiner sozialen Position; beides äußert sich in der Kontrolle über seinen Körper und mündet in die Kontrolle des sozialen Raums - zunächst eines der Saloons, in denen er seinen Niedergang durchlebte (Abb. 17), später der öffentlichen Sphäre der gesamten Stadt (Abb. 18). Abb. 17-18: Dude erobert den Raum Die Fixierung auf die Ebene von Körper und Handlung charakterisiert den gesamten Film, 49 und vielleicht ist Hawks deshalb ein so guter Western-Regisseur, weil das Genre selbst auf dem agierenden Körper beruht - was ihm wiederum, so André Bazin, eine besondere Affinität zum Medium Film verleiht, dessen bevorzugten Gegenstand nach Béla Balázs die menschliche Gebärde bildet. 50 Wie dem auch sei, jedenfalls vollzieht sich die Rückgewinnung der Souveränität für Dude ausschließlich am Körper, Sprache spielt hierbei praktisch keine Rolle. Nachdem Chance ihn wieder als Deputy engagiert und ihm damit eine neue Chance zur Bewährung gegeben hat, zeigt sich seine Eignung für den Job über die allmähliche Wiedererlangung seiner Körperbeherrschung. Der Fokus liegt dabei auf seinen Händen (seit der Gerichtsszene von Griffiths Intolerance ein bevorzugter Gegenstand von Close-ups), 51 deren Zittern einerseits als Markierung seiner Alkoholsucht eingesetzt wird, andererseits seine fehlenden skills als gunfighter kenntlich macht. „What can a man do with hands like that“ (RB 01: 38: 08), bringt es Dude in einer Szene auf den Punkt. Wer seine Hände nicht beherrscht, beherrscht auch 48 Eine genaue Beschreibung der einzelnen Einstellungen dieser Sequenz gibt Neale, „Gestures, Movements and Actions in Rio Bravo , S. 115-118. 49 Sie gilt zugleich als Charakteristikum von Hawks‘ Filmen insgesamt. Vgl. die klassische Formulierung bei Belton, The Hollywood Professionals , S. 11: „Hawks roots his films in physical action, shaping his plots around events rather than ideas, and building his characters around concrete gestures and mannerisms rather than abstract inner motivation.“ Zitiert wird dabei gerne ein Satz aus Hawks‘ Komödie Monkey Business : „The language is confusing, but the actions are unmistakable“ (Hawks, Monkey Business , 00: 10: 22), der freilich auf das Verhalten eines Liebespaars gemünzt ist. - Im Umfeld von Belton geriet die Gestik bei Hawks zu einem der beliebtesten Forschungsgegenstände. Vgl. u. a. Farber, Howard Hawks , S. 656; Mast, Howard Hawks, Storyteller , S. 64ff.; McElhaney, „Howard Hawks: American Gesture“; Neale, „Gestures, Movements and Actions in Rio Bravo . 50 Vgl. Bazin, „Der Western“, S. 256 und Balázs, Der sichtbare Mensch , S. 16-23. 51 Vgl. Kracauer, Theorie des Films , S. 78f. nicht sich selbst und ist nicht in der Lage, andere zu beherrschen. Das zeigt sich, als Dude von Chance zur Kontrolle der Stadtgrenze eingesetzt wird, um den Belagerern beim Betreten der Stadt die Waffen abzunehmen. Nach anfänglichen Erfolgen gelingt es diesen dann doch mühelos, ihn zu überwältigen - womit sich sein unausgereifter moralischer Zustand in seiner körperlichen Schwäche manifestiert. Die sukzessive Wiedererlangung seiner Selbstachtung stellt der Film mithin als zurückgewonnene Kontrolle über den Körper, speziell die Hände, dar (Abb. 19-20). Visuell konzentriert wird dies in Dudes Unfähigkeit, sich eine Zigarette zu drehen (Abb. 21) - ein Ritual, das den gesamten Film durchzieht, den jeweiligen Stand seiner Selbstbeherrschung anzeigt und neben seiner individuellen auch eine soziale Bedeutung beinhaltet; denn es ist Chance, der ihm immer dann, wenn ihm ein Versuch misslingt, wortlos eine Zigarette reicht (Abb. 22) und so seine Zuwendung und Hilfe signalisiert. 52 Abb. 19-22: Unbrauchbare und hilfreiche Hände Damit kommen wir zur zentralen sozialen Dimension des Films. Der Sheriff, „a game-legged old man and a drunk“ (RB 00: 12: 05) - alternativ: der Sheriff, „a barfly and an old cripple“ (RB 01: 02: 54) -, so wird wiederholt auf abschätzige Weise die kleine Gruppe benannt, die sich zur Verteidigung von Recht und Ordnung zusammenfindet und im Verlauf des Films durch den jungen gunfighter Colorado komplettiert wird. Mit Ausnahme des Letzteren sind alle als körperlich defizitär dargestellt: Der Sheriff ist nicht mehr der Jüngste und kann nicht schnell 52 „The exchange and lighting of cigarettes is one of the most consistent Hawks gestures for communicating states of human closeness or distance“ (Mast, Howard Hawks, Storyteller , S. 50). McElhaney bezeichnet die Zigarette des Hawksschen Protagonisten als „an extension of his body“ (Howard Hawks: American Gesture, S. 37). Zur Funktion der Zigarette in Rio Bravo vgl. Neale, „Gestures, Movements and Actions in Rio Bravo “, S. 111. Screwball Western: Howard Hawks, Rio Bravo 95 96 96 Günter Butzer genug mit dem Revolver umgehen, weshalb er das Gewehr bevorzugt; 53 Stumpy, der Wächter des Gefangenen, ist ein alter, hinkender Mann, und Dude ist der Alkoholiker auf Entzug, als der er bereits vorgestellt wurde. Es ist mithin ein in beiderlei Wortsinn komischer Haufen, der sich im Büro des Sheriffs zusammenschließt und zwischenzeitlich dort verbarrikadiert (Zutritt für Frauen verboten! ); eine heterogene Gruppe, die alles andere als Souveränität ausstrahlt. Und doch ist es genau diese Gruppe, die im Verlauf des Films eine große Mächtigkeit erlangt. Wie dies geschieht, beansprucht einen erheblichen Teil von Rio Bravo . Und wie sich zeigt, ist es gerade die fehlende Souveränität jedes Einzelnen, die den Zusammenhalt der Gruppe vertieft. So wird deutlich, dass der Sheriff Dude nie völlig aufgegeben hat, ihm seine Kleider - als visuelles Zeichen seines Persönlichkeitswandels - aufgehoben und seine Waffen - als visuelles Zeichen seiner Macht - ausgelöst hat, die er ihm nacheinander, je nach Stand von dessen innerer und äußerer Reinigung, wieder aushändigt. Auf diese Weise ermöglicht er ihm, sich zunächst als individuelle, damit einhergehend aber auch als soziale Person wiederzufinden. Auf seine Art zeigt auch Stumpy, angelegt als comic relief -Figur, die von Anfang an zu Chance gehalten hat, eine Veränderung, sofern er im abschließenden shoot-out trotz seiner Behinderung ungeahnte taktische Fähigkeiten unter Beweis stellt und damit Anerkennung gewinnt. Und Colorado, der scheinbar perfekte gunslinger , der über weite Strecken des Films versucht, sich aus allem herauszuhalten, muss schließlich feststellen, dass es sich für eine der Seiten zu entscheiden gilt, was durch mehrere Hilfsaktionen vorbereitet wird. Vor allem aber ist es der Sheriff selbst, der die Dynamik der Gruppenbildung durch seine persönlichen Defizite am Laufen hält. Man hat festgestellt, dass hier wiederum ein Gegenentwurf zu High Noon vorliegt: Sucht dort der alternde, eigentlich im Ruhestand befindliche Marshal beständig nach Hilfe und bekommt keine, so leugnet Chance in Rio Bravo regelmäßig jede Hilfsbedürftigkeit - „I don‘t want anybody […] helping me“ (00: 49: 17), heißt es monoton - und erhält sie trotzdem. 54 Dies ist zweifellos ein ironischer Zug der Figur. Ob er die Unterstützung aus altruistischen Gründen ablehnt (schließlich stellt sich das Verteidigungsunternehmen als Himmelfahrtskommando angesichts eines weit überlegenen Gegners dar) oder ob es schlicht an fehlerhafter Selbsteinschätzung liegt, ist nicht endgültig zu entscheiden (für beides gibt es Hinweise). Tatsache ist jedoch, dass trotz anderslautender verbaler Äußerungen immer jemand zur Stelle ist, wenn der Sheriff in Gefahr gerät, was wesentlich zur Konstitution und Festigung des Männerbundes beiträgt. Und auch dieser wird, ähnlich wie der Selbstfindungsprozess Dudes, von der Kamera umgesetzt: als sukzessive Öffnung des Bilds für die einzelnen Gruppenmitglieder 55 - bis am Ende alle zusammen den Rahmen ausfüllen und, als Signum ihrer spontanen Zusammengehörigkeit, gemeinsam singen (Abb. 23). 56 53 Chance selbst bezeichnet sich im Gespräch mit Feathers als gunfighter im Ruhestand, vgl. RB 00: 47: 42- 00: 47: 48. 54 Vgl. Wood, Howard Hawks , S. 40. 55 Dass die Kadrierung im Allgemeinen und speziell bei Hawks ein wesentliches Element der visuellen Gestaltung der Figurenbeziehung bildet, bestätigt auch Mast: „Multiple photographic objects, human or otherwise, within the same shot necessarily acquire a meaningful relationship to one another simply by their common enclosure“ (Mast, Howard Hawks, Storyteller , S. 44f.). Zur sozial-integrativen Funktion des Framing bei Hawks vgl. Belton, Hollywood Professionals , S. 35f.: „Hawks‘ use of composition to set up conflicts within the frame and to specify the relationships among his characters reflects, on a visual level, his interest in the integration of his characters with one another and with their environment.“ 56 Zumindest drei von ihnen: der Sheriff steht - als Verbindungsfigur zwischen den semantischen Räumen des Marshal Office und des Hotels - als Beobachter am Rande und ist auch am Ende, wie die letzte Einstellung des Abb. 23: Gruppenbild singender Männer Das Lied als scheinbar anachronistisches Element aus dem Western-Musical der 1940er Jahre-- Can‘t Help Singing heißt, ganz unwesternmäßig, ein entsprechender Film von Frank Ryan aus dem Jahr 1944 - erhält damit eine essentielle Funktion bei Hawks: als Ausdruck des sozialen Ideals einer freien Assoziation individuell befähigter, jedoch keineswegs suisuffizienter Männer, deren Tragfähigkeit im abschließenden Feuergefecht unter Beweis gestellt wird, das damit fast schon zur Nebensache gerät - oder zumindest etwas belegt, was wir vorher schon wussten. 57 Rio Bravo weist demnach zwei einander ergänzende visuelle Bewegungsrichtungen auf: zum einen die vertikale Aufrichtung eines gebrochenen Mannes in Gestalt von Dude, die integriert wird, zum andern, in die horizontale Ausweitung des sozialen und bildlichen Rahmens vom Einzelnen auf die Gruppe. VI. Doch was ist die Funktion der Frau in diesem männerdominierten Gefüge - zumal einer Frau, die nicht nur ein erhebliches Maß der screen time des Films beansprucht, sondern darüber hinaus von Anfang an als völlig autarkes Wesen vorgestellt wird? Feathers ist, mehr noch als die Männer, in ihrem Bereich, dem Pokerspiel, eine absolute professional , die es mit jedem Mann aufnehmen kann. 58 Doch nicht nur mit den Karten ist sie den Männern überlegen; ihre Films zeigt, nicht mehr vollständig in den Männerbund integriert. Adrian Danks spricht von Letzterem treffend als „homosocial relationships between men of varied ages and backgrounds“, deren Häuslichkeit in Nachtclubs, Büros, Hotels etc. transferiert ist - Orte, die, wie das Gefängnis in Rio Bravo , bei Hawks utopische (oder besser: heterotopische) Dimensionen annehmen (vgl. Danks, „‚Ain‘t There Anyone Here for Love? ‘ “, S. 35, 37 u. 40 f.). 57 Das relativiert die Aussage Beltons, der den shoot-out als Befreiung der Figuren aus ihrer räumlichen Beschränkung versteht: „The increasing confinement of the characters in Rio Bravo is reversed in the final, explosive, exterior action sequence“ (Belton, Hollywood Professionals , S. 47). Die action sequence ist eben nicht, wie Belton behauptet, die letzte Sequenz des Films - wie die folgenden Ausführungen darlegen. - David Arnold bezeichnet die Songs in Rio Bravo als „the rhetorical spine of the film“ (Arnold, „My Rifle, My Pony, and Feathers“, S. 273). Der zentrale Song dieser Szene, „My Rifle, My Pony, and Me“, formuliert die im Film sonst unausgesprochene Spannung „between the expression of unrestrained masculinity and the acceptance, however limited, of feminity and domestication“ (Kalinak, „Scoring the West“, S. 167). 58 Vgl. Danks, „‚Ain‘t There Anyone Here for Love? ‘ “, S. 36: „[…] his [Hawks‘s, G.B.] work is also marked by a fascination with singular female figures (often situated within masculine enclaves)“. - Die Sonderstellung von Feathers wird auch durch Tiomkins Musik unterstrichen, die ihr - für den klassischen Western Screwball Western: Howard Hawks, Rio Bravo 97 98 98 Günter Butzer eigentliche Domäne ist nämlich, wie schon früh im Film deutlich wird, das Kommunikationsspiel. Peter Lehman hat in Bezug auf das klassische Hollywood-Kino festgestellt, dass dort der männliche Körper Macht über seine Stärke gewinnt, der weibliche Körper hingegen über seine Schönheit; der männliche Körper agiert via Bewegung, der weibliche via Sprache. 59 Doch während Stärke, Bewegung und Schönheit als Fundament visueller Macht fungieren, ist die Sprache auf einer anderen medialen Ebene des Films situiert. Insofern könnte man sagen, dass die Macht der schönen eloquenten Frau bereits auf Grund ihrer multimedialen Codierung der schieren körperlichen Macht des Mannes überlegen ist. 60 Der Film führt dies in der ersten Zweiersequenz von Chance und Feathers unmissverständlich vor Augen, wenn diese den Verdacht der Falschspielerei mit der Aufforderung zur Leibesvisitation beantwortet (vgl. RB 00: 29: 28-00: 31: 38). Was Chance hier und in anderen Szenen völlig verstört, ist der souveräne sprachliche Einsatz von Feathers‘ sexualisiertem Körper (Abb. 24). Denn im Unterschied zu anderen schönen Frauen des Western-Genres (Extrembeispiel: Grace Kelly als Quäkerin Amy in High Noon , Abb. 25), ist die Schönheit Angie Dickinsons als Feathers nicht statisch und passiv und mithin nicht einfach nur schön, sondern zugleich verführerisch und damit erotisch, wie sonst im Western nur diejenige der Prostituierten (für die Chance Feathers dementsprechend zunächst auch hält). 61 Chance jedenfalls verstummt regelmäßig angesichts von Feathers‘ verbaler und körperlicher Präsenz und büßt dabei seine eigene körperliche Macht vollständig ein (Abb. 26-27) (das Gewehr, das er stets mit sich führt, markiert als Prothese die Notwendigkeit der Supplementierung seiner Männlichkeit). 62 undenkbar - ein zumeist von einem Saxofon gespieltes Leitmotiv zuweist. Vgl. dazu Kalinak, „Scoring the West“, S. 163. 59 Vgl. Lehman, Running Scared , S. 59f. 60 Dieses für Rio Bravo entscheidende Element wird in der Forschung hartnäckig ignoriert, die spätestens seit der einflussreichen Studie von John Belton die körperliche Gestik und Aktion als zentrale Ebene von Hawks‘ Filmen hervorhebt - durchaus, wie oben (Anm. 49) bemerkt, mit Recht, jedoch nicht in dieser Ausschließlichkeit, die die Sprachzentrierung von Hawks‘ Komödien - und damit auch von Rio Bravo - übersieht zugunsten eines homogenen Autorenbilds. So ist es schlicht falsch, wenn Mast behauptet: „For Hawks, talk is cheap and actions speak louder than words“ (Mast, Howard Hawks, Storyteller , S. 48), oder wenn Andrew Sarris bereits 1968 schreibt: „The idea that a man is measured by his work rather than by his ability to communicate with women is the key to Hawksian masculinity“ (Sarris, The American Cinema , S. 53f.). Eine Ausnahme von dieser allgemeinen Ignoranz bildet Richard T. Jameson, der in Bezug auf Rio Bravo feststellt: „Action defines and so does speech, which is itself a form of action. […] talk can be as dynamic, as cinematic as any cattle stampede. His characters know talk is important: they talk about talk all the time“ ( Jameson, „Talking and Doing“, S. 28). 61 Den innovativen Typus der ‚Hawksian Woman‘ hat erstmals Naomi Wise 1971 herausgestellt: „In most of Hawks‘s adventure films, women play consequential roles; in fact, the heroines are, if anything, superior to the heroes. The good girl and bad girl are fused into a single, heroic heroine, who is both sexual and valuable“ (Wise, „The Hawksian Woman“, S. 111f.). 62 Man kann hierin ein Leitmotiv der drei späten Western von Hawks sehen, in denen der verwundete, versehrte männliche Körper die Solidarität der Gefährten provoziert - bis hin zum Schlussbild von Hawks‘ letztem Western Rio Lobo , in dem Amelita, die entstellte Frau, und McNally, der hinkende Mann (wiederum gespielt von John Wayne), sich gegenseitig stützend, nach ihrem Sieg die Szene gemeinsam verlassen. Lehman ( Running Scared , S. 63) nennt dies „a logic of once-powerful bodies marked by loss, which links NcNally and Amelita and forms them into the unusual couple in the film‘s final shot.“ Abb. 24-25: Macht durch Sexualisierung - Ohnmacht durch Entsexualisierung: Feathers und Amy Abb. 26-27: Der redende Körper der Frau - der schweigende Körper des Mannes: Feathers und Chance Das Ziel, das sich auf dieser Ebene des Films für die souveräne Frau stellt, besteht wesentlich darin, den männlichen Körper, der sich allein über seine Stärke (und supplementär über seine Waffengewalt) definiert, zum Sprechen zu bringen - bei Chance und Feathers könnte man fast sagen: zur Rede zu stellen. „I told you once you wouldn‘t have to say anything. That I‘d know. But I don‘t know. So you gonna have to talk“ (RB 02: 12: 42-02: 12: 51) - so fasst Feathers ihr Erziehungsprogramm des geliebten Mannes zusammen. Die daraus resultierenden, beständig wiederholten Kommunikationsversuche verschieben den Film nun aber endgültig in ein anderes Genre: die Filmkomödie bzw., genauer, die screwball comedy , als deren prominenter Vertreter Hawks seit den 1930er Jahren mit Filmen wie Twentieth Century , Bringing Up Baby und His Girl Friday gilt. 63 In diesem Genre trifft die zugleich exzentrische und starke, weil schöne und eloquente, Frau auf einen ebenso exzentrischen Mann, der ihr jedoch, im Unterschied zum Westernhelden, weder körperlich noch sprachlich gewachsen ist. 64 Es sind durchweg effeminierte Männer, die die screwball comedy bevölkern (man vergleiche etwa Hawks‘ Film I Was a Male War Bride , bei dem bereits der Titel das Programm der sukzessiven Frauwerdung 63 Hawks hat wiederholt bemerkt, dass für ihn Komödie und Tragödie keine getrennten Genres darstellen und sich dabei auf Chaplin berufen. Vgl. McBride, Hawks on Hawks , S. 65. Auch Rivette betont die Fusion von Dramen und Komödien bei Hawks (vgl. Rivette, „Génie de Howard Hawks“, S. 16). 64 Vgl. zur screwball comedy bspw. Gehring, Screwball Comedy , Kap. 3; Sarris, „ ‚ You Ain‘t Heard Nothin‘ Yet‘“ , Kap. 2.4; Richter, Screwball-Comedies als Produkt ihrer Zeit , Kap. II.1-2. Screwball Western: Howard Hawks, Rio Bravo 99 100 100 Günter Butzer des Mannes offenlegt; aber auch in Rio Bravo finden sich bspw., wie in zahlreichen anderen Filmen Hawks‘, Elemente des cross dressing ; vgl. Abb. 28-32). Abb. 28-31: Cross dressing in Hawks‘ Komödien-… Abb. 32: …-und in Rio Bravo Tatsächlich hat Hawks bereits in seinem ersten Western Red River von 1948 die Männlichkeit des Helden - der auch in diesem Fall von John Wayne verkörpert wird - grundlegend problematisiert, da hier der starre Panzer der Maskulinität als asozialer Irrweg gegenüber einem effeminierten Männlichkeitstypus verhandelt wird. Hawks hat damit dem eindimensionalen Heldentypus Waynes zu einer sowohl diskursiv als auch figural weiblich induzierten Differenzierung verholfen, an der er in Rio Bravo weiterarbeitet. Was jedoch in Red River noch als Öffnung des starren Männerkörpers inszeniert wurde, erscheint jetzt als Komödie des geschwächten Mannes, der zwar im Kampf der Männerbünde noch zu bestehen vermag, aber in der Beziehung zur Frau - als sprechender Männerkörper gewissermaßen - neu erfunden werden muss. Sieht man sich die wiederholten Kommunikationsversuche Feathers‘ mit Chance etwas genauer an, so kann man von einer speziellen Art der talking cure sprechen. 65 Im Verlauf mehrerer, über die zweite Hälfte des Films verteilter Sequenzen 66 wird die zunächst leere Rede (1. Sequenz: „neither of us are saying anything“, „I talk too much“) 67 in eine existenzielle Krise getrieben (2. Sequenz: „You just don‘t make any sense - and neither do I“ / „We‘re all fools - just a bunch of idiots“), aus der schließlich in der dritten (und zugleich Schluss-)Sequenz die volle Rede hervorgehen soll („you gonna have to talk“). Dass dieses Ziel am Ende nicht vollständig erreicht wird, da Feathers Chance die Bedeutung seiner Rede („You have the funniest way of saying things“) erst noch übersetzen muss - „I‘ll arrest you“ bedeutet eigentlich „I love you“ -, entspricht durchaus dem Konzept der screwball comedy , deren happy ending ebenfalls in einer gewissen Schwebeposition gehalten wird (dabei gibt es wörtliche Übernahmen aus Hawks‘ bester screwball comedy : Bringing Up Baby ). 68 Damit vereint Rio Bravo tatsächlich die wesentlichen Elemente dieses Komödiengenres: Die konfliktreiche Geschlechterbeziehung, die intelligenten und witzigen Dialoge, der sexuelle Subtext, die Dominanz der Frau und die Provokation der Männlichkeit - all dies findet sich auch in Rio Bravo und lässt diesen Film das Western-Genre endgültig überschreiten. Dabei muss man auch festhalten, dass die Reflexivität, die Hawks‘ Film auf der visuellen und narrativen Ebene im Gegensatz zu High Noon eliminiert, auf der sprachlichen Ebene umso stärker Einzug hält. Die scheinbare Natürlichkeit des Films, repräsentiert durch die körperliche Selbst-Verständlichkeit der männlichen Figuren, wird vehement unterlaufen von einer alles in Frage stellenden, extrem reflexiven Kommuni- 65 Eine nahezu klassische talking cure findet sich wiederum in Red River , wenn Tess Millay den traumatischen, schuldbehafteten Verlust der Frau des Protagonisten Tom Dunson in einem Akt des Erinnerns, Wiederholens und Durcharbeitens aufdeckt und - zumindest im Ansatz - auch kathartisch heilt. Vgl. dazu Springer, „Beyond the River“, S. 116 u. 121: „One of the functions of the Hawksian woman is to lead the male character from a state of emotional aloofness to a discovery of his real feelings. […] In her [= Tess‘s, G.B.] character, the repressed feminine principle that Dunson rejects at the beginning of the film (and which remains completely banished throughout the ensuing two-thirds of the story) suddenly erupts back into the narrative. […] the frank discussion between the two provokes a glacial thaw in Dunson‘s frozen emotions.“ - Vgl. Hawks, Red River , 01: 48: 08-01: 53: 19. 66 Vgl. insbes. RB 00: 51: 56-00: 53: 55, 01: 33: 44-01: 35: 24 und 02: 12: 22-02: 14: 18. 67 Dass hier auch Gender-Stereotype eine Rolle spielen, ist offensichtlich, und Hawks hat diese zweifellos geteilt, wenn er etwa in einem Interview äußert: „I can‘t stand Jane Fonda - I wouldn‘t want to get anywhere near her […]. She talks too much, and about stuff she doesn‘t know about“ (zit. nach Mast, Howard Hawks, Storyteller , S. 57, s. Anm. dort). Dass Hawks in der Lage ist, diese Stereotype zu reflektieren und zu dekonstruieren, zeigt indes keiner seiner Filme besser als der vielgeschmähte Gentlemen Prefer Blondes , in dem Marilyn Monroe nicht nur ihre Rolle, sondern zugleich die Stereotype der schönen Blondine spielt und diese dadurch sicht- und kritisierbar macht. Vgl. dazu die aktuelle Studie von Wright, „‚A Travesty on Sex ‘ “. 68 Vgl. RB 01: 34: 49 und Hawks, Bringing Up Baby , 00: 34: 05 („Just when we get one thing settled you have to go bring up another“). Desgleichen wiederholt Feathers Dialogpassagen der weiblichen Hauptfigur Slim aus Hawks‘ Film To Have and Have Not (vgl. Wise, „The Hawksian Woman“, S. 115). Screwball Western: Howard Hawks, Rio Bravo 101 102 102 Günter Butzer kation zwischen Frau und Mann, in der gerade nichts mehr selbst-verständlich ist, sondern alles zum Problem wird. Die Figur Chances bzw. Waynes erscheint dadurch gespalten: als Western-Held gelingt ihm mit Hilfe der Prothese seines Gewehrs und vor allem mit Hilfe seiner männlichen Gefährten die Konstitution einer Männergemeinschaft, die ihre Macht aus der Freiwilligkeit und wechselseitigen Supplementierung der je individuellen skills gewinnt; als Komödien-Figur hingegen verkörpert er eine vollständig dekonstruierte Männlichkeit, die der Lächerlichkeit preisgegeben und allein durch die Macht der liebenden Frau neu erzeugt wird. 69 Dass die beiden zentralen Räume des Films - das Sheriff-Office als Ort der Männlichkeit und das Hotel als Ort der Herrschaft des Weiblichen (neben Feathers regiert dort auch die Frau des mexikanischen Hoteliers) - so strikt getrennt gehalten werden, ist kein Zufall; es zeigt an, dass hier zwei Genres gegeneinander gestellt sind, die auf Grund ihrer gegensätzlichen Männlichkeitskonzepte - Beweis männlicher Souveränität im Western, Frustration der männlichen Figur in der Komödie - wie auch ihrer medialen Codierungen - Visualität und körperliche Aktion im Western, Sprachlichkeit und Dialogzentrierung in der Komödie - nicht zu vereinen sind, zumindest nicht von Chance, der reichlich ratlos zwischen beiden Räumen hin- und herpendelt. Auch hier ist es, ähnlich wie in Red River , erst die effeminierte, schöne Figur des jungen, zur Gemeinschaft bekehrten gunfighters Colorado (gespielt vom Teenie-Schwarm Ricky Nelson), die eine mögliche Synthese beider Räume in der Zukunft andeutet. Fazit: Howard Hawks wollte einen klassischen Western als Gegenfilm zu High Noon drehen, doch aus dem Anti-Anti-Western ist eine Mischung aus Western und screwball comedy geworden. Die Tendenz zur Hybridisierung des Westerngenres wird dadurch entschieden radikalisiert, sodass die Genre-Evolution in etwas Neues übergeht, das kein Western mehr (aber natürlich auch keine Komödie) geworden ist. Die Innovation des Genres hat etwas hervorgebracht, das in kein Genre mehr passt und wofür die moderne Ästhetik nur einen Begriff parat hat: Kunst. Filmographie Bringing Up Baby . Produktion: Cliff Reid, Howard Hawks/ RKO, USA, 1938. Regie: Howard Hawks. Drehbuch: Hagar Wilde, Dudley Nichols. Kamera: Russell Metty. Musik: Roy Webb, Jimmy McHugh. Darsteller: Katharine Hepburn (Susan Vance), Cary Grant (Dr. David Huxley), May Robson (Elizabeth Random), Charlie Ruggles (Major Applegate), Walter Catlett (Constable Slocum). - DVD: Kinowelt, 2010. Dodge City. Produktion: Robert Lord/ Warner Bros., USA, 1939. Regie: Michael Curtiz. Drehbuch: Robert Buckner. Kamera: Sol Polito. Musik: Max Steiner. Darsteller: Errol Flynn (Wade Hatton), Olivia de Havilland (Abbie Irving), Ann Sheridan (Ruby Gilman), Bruce Cabot ( Jeff 69 „It‘s Feathers‘s role to wear him down (and build him up) to humanness“ (Wise, „The Hawksian Woman“, S. 115). Jameson („Talking and Doing“, S. 30) spricht von der ‚Entmannung‘ Chances durch Feathers. Mast schreibt treffend vom „collapsing of superficial stereotypic sexual differentiations between characters“ in Hawks‘ Filmen und lässt weitere dekonstruierte kulturelle Oppositionen folgen: außen vs. innen, Arbeit vs. Spiel, Kindheit vs. Erwachsenenalter, menschlich vs. animalisch, Worte vs. Taten, Liebe vs. Freundschaft. Vgl. Mast, Howard Hawks, Storyteller , S. 61-69. Surrett), Frank McHugh ( Joe Clemens), Alan Hale (Rusty Hart). - DVD: Turner Entertainment/ Warner Bros. Entertainment, 2005 (enthält auch den Trailer zum Film). Gentlemen Prefer Blondes . Produktion: Sol C. Siegel/ Twentieth Century Fox, USA, 1953. Regie: Howard Hawks. Drehbuch: Charles Lederer. Kamera: Harry J. Wild. Musik: Jule Styne, Leo Robin. Darsteller: Jane Russell (Dorothy Shaw), Marilyn Monroe (Lorelei Lee), Charles Coburn (Sir Francis ‚Piggy‘ Beekman), Elliott Reid (Earnie Malone), Tommy Noonan (Gus Esmond), Norma Varden (Lady Beekman). - DVD: Twentieth Century Fox Home Entertainment, 2006. I Was a Male War Bride . Produktion: Sol C. Siegel/ Twentieth Century Fox, USA, 1949. Regie: Howard Hawks. Drehbuch: Charles Lederer, Leonard Spigelgass, Hagar Wilde. Kamera: Norbert Brodine, Osmond Borradaile. Musik: Cyril Mockridge. Darsteller: Cary Grant (Henri Rochard), Ann Sheridan (Catherine Gates), Marion Marshall (Lt. Kitty Lawrence), William Neff (Capt. Jack Ramsey). - DVD: Twentieth Century Fox Home Entertainment, EuroVideo Bildprogramm, 2011. High Noon . Produktion: Stanley Kramer/ United Artists, USA, 1952. Regie: Fred Zinnemann. Drehbuch: Carl Foreman. Kamera: Floyd Crosby. Musik: Dimitri Tiomkin. Darsteller: Gary Cooper (Sheriff Will Kane), Grace Kelly (Amy Kane), Thomas Mitchell ( Jonas Henderson), Lloyd Bridges (Harvey Pell), Katy Jurado (Helen Ramirez). - DVD: Kinowelt, 2009. Monkey Business . Produktion: Sol C. Siegel/ Twentieth Century Fox, USA, 1952. Regie: Howard Hawks. Drehbuch: Ben Hecht, Charles Lederer, I.A.L. Diamond. Kamera: Milton Krasner. Musik: Leigh Harline. Darsteller: Cary Grant (Dr. Barnabas Fulton), Ginger Rogers (Edwina Fulton), Charles Coburn (Oliver Oxley), Marilyn Monroe (Lois Laurel), Hugh Marlowe (Hank Entwhistle). - DVD: Twentieth Century Fox Home Entertainment, 2003. Red River . Produktion: Howard Hawks/ Monterey, USA, 1948. Regie: Howard Hawks. Drehbuch: Borden Chase, Charles Schnee. Kamera: Russell Harlan. Musik: Dimitri Tiomkin. Darsteller: John Wayne (Tom Dunson), Montgomery Clift (Matthew Garth), Joanne Dru (Tess Millay), Walter Brennan (Nadine Groot). - Blu-ray: Twentieth Century Fox Home Entertainment, 2014. Rio Bravo . Produktion: Howard Hawks/ Warner Bros., USA, 1959. Regie: Howard Hawks. Drehbuch: Jules Furthman, Leigh Brackett. Kamera: Russell Harlan. Musik: Dimitri Tiomkin. Darsteller: John Wayne ( John T. Chance), Dean Martin (Dude), Ricky Nelson (Colorado Ryan), Angie Dickinson (Feathers), Walter Brennan (Stumpy). - DVD: Süddeutsche Zeitung, 2005. The Gunfighter . Produktion: Nunnally Johnson/ Twentieth Century Fox, USA, 1950. Regie: Henry King. Drehbuch: William Bowers, William Sellers. Kamera: Arthur Miller. Musik: Alfred Newman. Darsteller: Gregory Peck ( Jimmy Ringo), Helen Westcott (Peggy Walsh), Millard Mitchell (Sheriff Mark Strett), Jean Parker (Molly), Karl Malden (Mac), Skip Homeier (Hunt Bromley). - DVD: Twentieth Century Fox Home Entertainment, 2011 (enthält auch den Trailer zum Film). Screwball Western: Howard Hawks, Rio Bravo 103 104 104 Günter Butzer Una pistola per Ringo . Produktion: Luciano Ercoli, Alberto Pugliese/ Produzioni Cinematografiche Mediterranee, Balcázar Producciones Cinematográficas, IT/ SP, 1965. Regie: Duccio Tessari. Drehbuch: Duccio Tessari, Alfonso Balcázar. Kamera: Francisco Marín. Musik: Ennio Morricone. Darsteller: Giuliano Gemma (Ringo), Fernando Sancho (Sancho), Lorella de Luca (Miss Ruby), José Manuel Martín (Pedro), Nieves Navarro (Dolores), Antonio Casas (Major Clyde). - DVD: Koch Media, 2013. 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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Ford, Stagecoach, 00: 20: 51 Abb. 2: King, The Gunfighter , 00: 38: 40 Abb. 3: Zinnemann, High Noon , 00: 00: 05 Abb. 4: Zinnemann, High Noon , 00: 01: 13 Abb. 5: Zinnemann, High Noon , 00: 56: 15 Abb. 6: Zinnemann, High Noon , 00: 49: 19 Abb. 7: Zinnemann, High Noon , 01: 10: 28 Abb. 8: Zinnemann, High Noon , 01: 07: 46 Abb. 9: Zinnemann, High Noon , 01: 00: 20 Abb. 10: Zinnemann, High Noon , 01: 10: 04 Abb. 11: Zinnemann, High Noon , 01: 05: 39 Abb. 12: Zinnemann, High Noon , 01: 05: 12 Abb. 13: Zinnemann, High Noon , 01: 06: 11 Abb. 14: Zinnemann, High Noon , 01: 06: 16 Abb. 15: Zinnemann, High Noon , 01: 06: 18 Abb. 16: Zinnemann, High Noon , 01: 06: 17 Abb. 17: Hawks, Rio Bravo , 00: 42: 00 Abb. 18: Hawks, Rio Bravo , 00: 55: 30 Abb. 19: Hawks, Rio Bravo , 01: 38: 05 Abb. 20: Hawks, Rio Bravo , 01: 30: 41 Abb. 21: Hawks, Rio Bravo , 01: 21: 40 Abb. 22: Hawks, Rio Bravo , 00: 44: 58 Abb. 23: Hawks, Rio Bravo , 01: 43: 54 Abb. 24: Hawks, Rio Bravo , 02: 11: 59 Abb. 25: Zinnemann, High Noon , 00: 28: 59 Abb. 26: Hawks, Rio Bravo , 00: 31: 25 Abb. 27: Hawks, Rio Bravo , 00: 52: 19 Abb. 28: Hawks, Bringing Up Baby , 00: 38: 03 Abb. 29: Hawks, I Was a Male War Bride , 01: 35: 16 Abb. 30: Hawks, Monkey Business , 00: 55: 17 Abb. 31: Hawks, Gentlemen Prefer Blondes , 00: 50: 56 Abb. 32: Hawks, Rio Bravo , 00: 17: 55 Tom Tykwer, Lola rennt Ingo Kammerer Plötzlich schlägt die Filmklappe zu (vgl. Abb. 1-3)! Natürlich keine echte, sondern eine Trickblende. Aber der Hinweis auf die Produktion ist doch sichtbar und der damit gesetzte Bezug zum gemachten Superzeichen für diesen Film nicht ganz unwesentlich. Die Handlung beginnt mit dem Produktionsrequisit der Gliederung und Synchronisierung, das doch eigentlich unsichtbar bleiben sollte und hier durchaus zu erkennen ist. Für einen Augenblick verweist der Film auf seine Herstellung, wird der Einstieg des Spiels, des konstruierten Lebens als Gestaltungsakt markiert und schließen sich so quasi die Gurte der Zuschauersitze, damit die Achterbahnfahrt von Lola rennt starten kann. Was in der Folge auch ganz konkret geschieht, wenn innerhalb von 8 Sekunden per sturzfliegender Kamera der Spree-Panoramablick in einen Detailschuss auf ein rotes Telefon überführt wird. Beweglich, rasant und mit viszeraler Auswirkung auf den mitfliegenden Zuschauer eröffnet ein Text der Gestaltungsextreme: ein Planspiel rund um die Möglichkeiten des Seins und so nicht zuletzt um die des Films, des Kinos. Abb. 1-3: Klappe zu - vor dem Sturzflug! Vielleicht war ja die letzte Dekade des 20. Jahrhunderts auch die letzte eines experimentierfreudigen Kinos für ein großes Publikum. 1 Die Jahre danach brachten durch Internetaufschwung, die Blu-Ray-Disk, erschwingliche Heimkinos und im Zuge dieser Konkurrenzsituation mit losgelöst budgetierten Eskapismustexten in Leinwandserie wie auch dem Kino als wiedererstarktem 3-D-Erlebnispark manche Änderung, weshalb inzwischen die spannenden Filmarbeiten eigentlich nicht mehr im Kino, sondern eher in Fernseh- oder Internetserien zu finden sind. In den 1990ern dagegen wurden noch einmal Experimente mit vertrauten Dramaturgien für das Kino umgesetzt, kam es mit dem Dogma-95-Postulat zur finalen, zwar nicht ganz ernstzunehmenden, aber doch auswirkungsstarken epochalen Strömung und entwickel- 1 Tykwer spricht in Bezug auf Lola rennt von einem von Beginn an anvisierten „Experimentalfilm für ein Massenpublikum“ (Tykwer, „Zehn Jahre“), was offensichtlich in den 1990ern noch kein Widerspruch war. 108 108 Ingo Kammerer te sich im Schatten einiger Großproduktionen ein thematisch wie formal breit gefächertes Filmangebot, das nicht selten größere Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Hauptstrom und Innovation gingen noch interessante Verbindungen ein und mancher Regieauteur nutzte das Jahrzehnt zum Aufbau einer Reputation, die es ihm auch heute ermöglicht, im Kino präsent zu sein. So auch Tom Tykwer, der mit jenem Klappenschlag von Lola rennt unverhofft den Beginn seiner internationalen Karriere markierte und heute wohl weltweit als der deutsche Regisseur wahrgenommen wird, dem ein größeres Publikum Beifall spendet. Früh cineastisch interessiert, oder besser: fokussiert, ist der Wuppertaler Filmemacher vielleicht so etwas wie ein Kinosozialisierter. Ganze Nächte verbrachte er manisch wissbegierig bereits als Pennäler im dunklen Saal, schaute alles Mögliche und eignete sich so mit der Zeit ein großes Filmwissen an, das in Folge der Übernahme eines Berliner Programmkinos noch zielstrebig ausgebaut wurde. 2 „[Es] ging“, so Tykwer, „im Prinzip darum, jeden Film, der irgendwie rauskommt und der als Filmkopie erreichbar war, zu bekommen und zu kucken.“ 3 Kino als Lehr- und Lebensplan! Nicht die schlechteste Vorbereitung für einen zukünftigen Filmgestalter, denn dieser „Vollständigkeitswahn“ 4 sorgte für einen Seh- und Hörfundus, der beim schwierigen Geschäft des Tonbilderkreierens ertragreich genutzt werden konnte. Und wurde: Tykwers erste Langfilme 5 erzielten bereits wohlwollende nationale Feuilleton-Aufmerksamkeit; die Lola -Folgeproduktion übersprang dann diese Grenze und wurde zum international wahrgenommenen und breit diskutierten Phänomen. Dabei habe Tykwer ja eigentlich, vermerkt Helmut Krausser, mit Lola rennt keineswegs das Kino neu erfunden, „aber in seiner Trinität als Regisseur, Drehbuchautor und Filmkomponist […] schlichtweg alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel genutzt.“ Und das sei mehr, als viele andere von sich behaupten könnten. 6 Zweifellos. Gleichwohl ist da aber auch ein metamediales Mehr, ein, wenn man so will, habgieriger Griff Tykwers ins üppig gefüllte Portfolio der Filmgeschichte, das das Kino zwar nicht neu erfindet, aber in der (vor allem deutschen) Filmumgebung der ausgehenden neunziger Jahre gewissermaßen wiederfindet. Denn Tykwer setzte, umgeben von einer wortlastigen, ästhetisch belanglosen und international überhaupt nicht wahrgenommenen deutschen Komödienwelle, 7 mit Lola auf das Fundamentale oder die Urkraft des Kinos selbst. Bewegung sowie Bewegendes in Raum und Zeit oder die Form, die sich ihren Inhalt schafft! Vielleicht ist das ja in staubigen Zeiten der richtige Ansatz: vom starken Grundstein ausgehend das Bauwerk renovieren. Zurück zum sich rührenden, klingenden, rhythmischen Bild. Jedenfalls meinte Tykwer, gefragt nach der Ursprungsidee Lolas , dass er immer dieses eine Bild im Kopf gehabt habe; das Bild einer Frau mit feuerroten Haaren, die 2 Vgl. z. B. Schuppach, Tom Tykwer , S. 12f.; Tykwer, „Generalschlüssel“, S. 17-22; Höbel, „Pippi außer Atem“, S. 171. 3 Tykwer in: Schuppach, Tom Tykwer , S. 223. 4 Ebd. 5 Das sind der fürs Fernsehen produzierte Die tödliche Maria (1993) und die Kinoproduktion Winterschläfer (1997). 6 Krausser, „Ein Nachwort“, S. 36. 7 Erfolgreiche einheimische Kinoproduktionen der frühen und mittleren 1990er Jahre waren häufig Filme mit dem Siegel „Deutsche (Beziehungs-)Komödie“ wie z. B. Abgeschminkt (Katja v. Garnier, 1993), Der bewegte Mann , Das Superweib (Sönke Wortmann, 1994, 1996), Stadtgespräch (Rainer Kaufmann, 1995) und Männerpension (Detlev Buck, 1996). Der (allerdings in die Millionen gehende) Publikumszuspruch für jene Filme wurde ausschließlich im deutschsprachigen Raum erzielt. Tom Tykwer, Lola rennt 109 verzweifelt und entschlossen rennt. Ein „Urbild des Kinos“, 8 eine Filmallegorie: Bewegung und Emotion! Kein anderes Medium sei zu solchem Transport annähernd gut in der Lage. Vom Bild her denken, von der dynamischen, formalen Grundlage des Mediums ausgehen und dann zur Story kommen, so gehe er meist bei der Entwicklung seiner Texte vor, 9 denn „[e]in Film über die Möglichkeiten des Lebens […] muß auch ein Film über die Möglichkeiten des Kinos sein.“ 10 Also kreierten Tykwer und sein Stab rund um Lola herum ein „cineastisches Feuerwerk“, 11 zelebrierten die erzählende Kunstform mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Techniken und dem Ergebnis eines beinahe puren Films, der das Publikum ergreift und dabei auch noch über sich selbst einiges preisgibt. Nennen wir es doch so: Tykwers Lola rennt singt auch sein eigenes Lob. Ein Lob auf das Medium, den Film, die Geschichte des Films: das Kunstobjekt audiovisuell erzählter Attraktionen. I. Die Organisation … Wenn nun die Filmklappe von Lola rennt über der Spree fällt (vgl. Abb. 1-3), ist das keinesfalls die erste Information für den Zuschauer. Eher so etwas wie ein zweiter Anfang. Der Film hat nämlich zu diesem Zeitpunkt sein Bezugsfeld bereits abgesteckt: in einer Art ‚Vorspiel‘ (vgl. zum Folgenden auch Abb. 4-12). Und dieser eigentliche Filmbeginn, der im Stil einer Spielanleitung die folgenden Verstrickungen andeutet, startet grafemisch. Nach zwei in Schrift vorliegenden Hinweisen auf die ewige Wiederkehr, auf das Neue, das irgendwie auch das Alte ist, 12 kommt der wesentliche Faktor der Zeit per Kuckucksuhr direkt ins Bild und wird durch die Geisterbahnanleihen der Uhrschnitzereien als bedrohlich konnotiert (Abb. 4, 5). Im folgenden Menschengewimmel werden zur melodischen Erzählerstimme Hans Paetschs, die über einige Grundfragen des Seins räsoniert, 13 manche Nebenfiguren der kommenden Handlung herausgefiltert (Abb. 6) und schließlich der von Armin Rohde gespielte Wachmann fokussiert (Abb.-7). Letzterer spricht das Publikum direkt an. Sepp-Herberger-Weisheiten 14 im Stil von ‚Die Wirklichkeit liegt auf dem Platz‘, enden mit einem ins Spiel gebrachten Ball, der in die Höhe geschossen (Abb. 8) von der Kamera verfolgt wird, so dass der Titel des Films, gebildet aus dem Menschengewusel, zu erkennen ist (Abb. 9). Ball und Kamera fallen daraufhin zurück in das O, den Kreis von Lola (Abb. 10), die sich sodann als animierte Figur durch einen Zeittunnel zu boxen hat (Abb. 11). Schließlich werden alle Mitspieler mit Rollen- und 8 Tykwer, „Generalschlüssel“, S. 31. 9 Tykwer in: Töteberg, Lola rennt , S. 129. 10 Ebd., S. 131. 11 Töteberg, „Run, Lola, Run“, S. 45. 12 Zitate von T.S. Eliot („Wir lassen nie vom Suchen ab, / und doch, am Ende allen unseren Suchens, / sind wir am Ausgangspunkt zurück / und werden diesen Ort zum ersten Mal erfassen“) und S. Herberger („Nach dem Spiel / ist vor dem Spiel“). 13 Off-Erzähler: „ Der Mensch. Die wohl geheimnisvollste Spezies unseres Planeten. Ein Mysterium offener Fragen. Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Woher wissen wir, was wir zu wissen glauben? Wieso glauben wir überhaupt etwas? Unzählige Fragen, die nach einer Antwort suchen, einer Antwort, die wieder eine neue Frage aufwerfen wird, und die nächste Antwort wieder die nächste Frage und so weiter und so weiter. Doch ist es am Ende nicht immer wieder die gleiche Frage? Und immer wieder die gleiche Antwort? “; Tykwer, Lola rennt , 0: 01: 52f. 14 Wachmann: „Ball ist rund. Spiel dauert neunzig Minuten. Soviel ist schon mal klar. Alles andere ist Theorie. Und ab.“ ; Tykwer, Lola rennt , 0: 02: 40f. 110 110 Ingo Kammerer Klarnamen (im Stil von Fahndungsfotos) präsentiert (Abb. 12). Dann fällt die Filmklappe: Die Handlung beginnt. Abb. 4-12: Beredtes Vorspiel - Spiel(-figuren) und Zeit(-läufe) Kaum verschwiegen ist dieses ‚Vorspiel‘. Im Gegenteil. Die Verweise auf Kommendes purzeln regelrecht. Der durch die Zitate von Eliot und Herberger verdeutlichte infinite Regress, ein ewiger Neubeginn oder Kreislauf, gibt einen Hinweis auf die kuriose Filmgestalt. 15 Das Spiel, das hier zu spielen ist, findet wohl, so kann man Pendel, Uhr und Zeittunnel (Abb. 4, 5, 10, 11) entnehmen, in einem Zeitfenster statt - offensichtlich in einem dreifachen, da die Animationslola dreimal durch eine Uhr läuft (Abb. 11). Die anthropologisch-philosophischen Grundfragen des Off-Erzählers markieren die drei Zeitebenen des Seins. Auch thematisiert der vor allem als Märchenerzähler vieler Hörspiele bekannt gewordene Sprecher, Hans Paetsch, den Progress von Ursache und Wirkung sowie die Suche der Menschen nach eigentlich „immer wieder der gleichen Antwort“. Schließlich wird sogar im Wunsch-Konjunktiv „Ich wär so gern …“ geflüstert und überhaupt die Bewegung als primäres Handlungsprinzip überdeutlich formuliert. Übrigens nicht nur im Bild, sondern auch anhand der musikalischen Intervention. Hier nämlich beginnt schon der auditive Rhythmus, der sich nach einem Geigen-Sampleklang 16 zu Beginn langsam über Uhrticken bis hin zum treibenden Techno-Sound steigert, was die Metrik des Films, die Handlung und Teilnahme durchgehend bestimmen wird. Diese Bild-Klang-Verbindung ist eine Synthese des Tempos, der wilden Agilität und des filmischen Exzesses. Tatsächlich ist vieles von dem, das da noch folgen wird, in der kurzen Einführung schon da. Man muss es nur erkennen. 15 Vgl., auch zum Folgenden: Kepser, „Auf den Spuren“, S. 44f. 16 Sinnigerweise entnehmen die Komponisten Johnny Klimek, Reinhold Heil und Tom Tykwer die Samplekonserve einer symphonischen Tondichtung von Charles Ives mit dem für den Film ‚wegweisenden‘ Titel The Unanswered Question . Tom Tykwer, Lola rennt 111 Dann, nach dem Klappenschlag, wird im Stil einer Kurzgeschichte unmittelbar eröffnet. Sofort kommen die variantenreich präsentierten, aber klar organisierten Protagonisten 17 am Telefon zur Sache, wird der Konflikt mitsamt seiner Vor- und zu erwartenden Nachgeschichte thematisiert und so der folgende Handlungsweg vorbereitet. Der Kleinkriminelle Manni hat bei einem illegalen PKW-Deal erfolgreich 100.000 DM für seinen Schieberboss Ronnie ergaunert, dieses Geld dann aber schusselig in der U-Bahn liegen lassen. In 20 Minuten muss er abliefern - nur wie? Ein Überfall des Supermarkts Bolle, vor dem er in einer Telefonzelle steht, wäre vielleicht eine Lösung. Aber Lola hat noch eine andere Idee und verlangt die verbleibenden 20 Minuten für ihren Rettungsversuch. Manni verspricht bis 12 Uhr stillzuhalten, worauf der Telefonkontakt abbricht und er vorerst aus dem Bild verschwindet. In den hier umschriebenen 5 Minuten und 40 Sekunden der Sequenz kommt es zu 211 Schnitten. Das entspricht einer durchschnittlichen Einstellungspräsenz von 1,6 Sekunden, was, wenn auch ein bildintensiver Stream of Consciousness mächtig auf die Tube drückt, 18 für damalige Verhältnisse ein ungeheuer hohes Variationstempo bedeutet. 19 Indes stellt diese rasante Erzählrhythmik unzweideutig aus, dass der Film nichts zu verschenken, dass er keine Zeit für lange Erklärungen, überhaupt für Längen an sich hat. In kürzester Zeit gelangt man in den dritten Akt und wartet fiebrig auf die Lösung. Missliche Vergangenheit, zu befürchtende Zukunft und die vorwärtsdrängende, bei schlechter Prognose zielstrebig ablaufende Gegenwart der Protagonisten erhalten knappe sechs Minuten Erzählzeit: Der mit dem Klappenschlag sich bereits in Fahrt befindliche Handlungszug lässt den Zuschauer gerade noch so aufspringen. Aber auch diese fliegende Bildzeit verrinnt. Ein Animationscroupier startet per Blende das Spiel: Der Kreislauf beginnt. Lola überlegt und rennt nun dreimal zur Rettung Mannis. Am Ende des ersten Laufs (zur roten Geldtüte) 20 wird sie von einem Polizisten erschossen, beim zweiten (zur grünen) wird Manni von einem Krankenwagen überfahren und beim finalen (mit goldener Belohnungstüte) werden beide um 126.000 DM reicher im letzten Bild eingefroren. Zwischen den Laufszenarien folgen jeweils rot ausgeleuchtete ‚Olympbilder‘ einer vermutlich 17 Während Lola durchgängig rechts aus dem Bild und damit kulturell bedingt nach vorne schaut, wird Manni dem Chaos seiner Situation und Gedankenwelt gemäß aus allen Himmelsrichtungen inszeniert. 18 Ein Bewusstseinsstrom, der Mannis Gedächtnischaos (mögliche Reiseziele des nun reichen Clochards, der wartende und gefährliche Ronnie) konkret abbildet. 19 David Bordwell hat den gesamten Film ausgemessen und stellt eine durchschnittliche Einstellungsdauer von 2,7 Sekunden fest, wobei die einzelnen Episoden im Ablauf des Films immer langsamer geschnitten würden (2,2 - 2,6 - 4 Sekunden pro Einstellung). Der dennoch hohe Einstellungswechsel sei im Grunde mit der intensiven Variationsdarbietung amerikanischer Actionfilme zu vergleichen, greife aber auch den damaligen MTV-Musikvideo-Look auf; vgl. Bordwell, Visual Style , S. 184-188. Slavoj Žižek spricht von einer Schnellfeuer-Montage ( rapid-fire montage ), die aber im Zusammenhang mit dem Techno-Soundtrack, der Lolas und des Zuschauers Herzschlag abbilde, zu betrachten sei; vgl. Žižek, Opera‘s Second Death , S. 199. In diese Richtung argumentiert auch Tom Tykwer, wenn er sagt: „Ich finde […] nicht, dass es ein Techno-Film ist, sondern ich wollte den beiden Elementen, die den Film dominieren, musikalisch Rechnung tragen: dem Herzschlag von Lola und der Zeit, einer […] brutalen Konstante, die Lola total einengt. Die Zeit hat einen unerbittlich gleichen Rhythmus, so kam die Bassdrum.“ (Tykwer, „Generalschlüssel“, S. 33) 20 Die farblich divergierenden Geldtüten sind pro Episode der wichtige Aufbewahrungsort des gestohlenen (rot, grün) und gewonnenen (golden) Geldes und somit farblich als misslungenes (Rot-Grün, auch als Vertigo -Referenz, s. u.) bzw. gelungenes oder glückliches Handeln (Gold als märchenhafte Belohnung für ‚moralische‘ Integrität) markiert. 112 112 Ingo Kammerer postkoitalen Entspannungssituation der beiden im Bett. 21 Nach dem ersten Versuch versichert sich Lola darin Mannis Liebesschwur und ist mit dem Gebotenen gar nicht zufrieden. Im Anschluss an Lauf Nummer zwei bemängelt Manni, dass Lola ihn nach seinem Tod vergessen werde. Jene im Vorspiel versprochene „eine Antwort“ des bewussten Selbst- und Fremdverstehens muss erst noch gefunden werden. Das könnte in diesem eigentümlichen Filmspiel aber durchaus gelingen. 22 Wie ist das wohl bei der ersten Filmansicht: der Handlungswechsel ins Optionale und Märchenhafte? Jeder Zuschauer mag sich hier selbst befragen. Sicher ist jedenfalls, dass man, wenn Lola am Ende der ersten Lösungsepisode erschossen wird - übrigens auch hier dreimal durch Schnitt und Perspektive betont -, dem Psycho -Moment dieses Films gegenübersitzt und entsprechend irritiert reagieren dürfte. Der Namensgeber, das Identifikationsobjekt des Films wird getötet - hier nicht unter der Dusche, zielstrebig und im Schnittgewitter, sondern auf der Straße, eher zufällig und in dramatischer Zeitlupe - und der Zuschauer kann und will nicht glauben, dass es das dann schon gewesen sein soll. Nicht zuletzt auch deswegen, da der Film erst 30 Minuten alt ist. Nun ist jener Einschnitt aber, anders als bei Hitchcock, kein Ziel- oder Endpunkt einer falschen Fährte, sondern die spielerische Grundbedingung des Filmexperiments. Diese Nullstelle des Films, die brachial zum Ende linearer Narration führt und, wenn es 21 Diese rot ausgeleuchteten Zwischenspiele sind das Zeit-Raum-Rätsel des Films, das zwar, da prominent zwischen den Episoden platziert, von jedem Rezensenten erwähnt, meist aber nicht wirklich ausgedeutet wird. Z. B. formuliert Schuppach vage eine Traumbzw. Zwischenwelt, „aus der Lola sich und Manni mit ihrer alles überlagernden Kraft [! ] herausreißt“ (Schuppach, Tom Tykwer , S. 56), und spricht Bordwell unsicher von „einer Art hypnotischer Sequenz: Vielleicht passiert das wirklich oder vielleicht auch nicht […], die Szene bleibt zweideutig“ (Bordwell, Visual Style , S. 193). Nur Krausser wagt, im Übrigen ohne die roten Szenen zu erwähnen, eine filmumfassende Deutung und behauptet, hier werde sukzessive gestorben und dann geträumt bzw. die andere Option in einer Übertrittsvision gesehen. Zuerst (zweiter Lauf) von der sterbenden Lola, dann (dritter Lauf) von dem „(in Lolas Traum) sterbenden Manni“ (Krausser, „Ein Nachwort“, S. 37), so dass Lola im Anschluss an ihr Casinoerlebnis endgültig im Jenseits angelangt sei (denn: eine Berliner Straße menschenleer, das könne nicht real sein). Angelangt in einem „Jenseits, in das aus der Kraft der Liebe heraus, die Elemente einer ehemals starr geglaubten Welt hinübergezogen werden“ (S. 38). Dass Lola überlebe und drei Chancen erhielte, also das, was die meisten Zuschauer akzeptiert hätten, entspreche halt dem „Erwartungsniveau der Augsburger Puppenkiste“ (S. 37). Vielleicht kann man das ja so sehen. Jedoch hat sich meines Wissens in und um Augsburg herum bislang keiner an Kraussers spekulativem Totenspektakel beteiligt. Auch Tom Tykwer selbst hält sich (klugerweise) bedeckt und meint nur enigmatisch, die Szenen seien „das heimliche Herz des Films“ (Tykwer, „Generalschlüssel“, S. 23). 22 Eine interessante Lesart, orientiert an Friedrich Nietzsches Hauptmotiven der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ und dem „Willen zur Macht“, legen Alexandra Ludewig und Mathias Keller vor. Lola, so die Autoren, könne im Episodenverlauf durchaus als Manifestation des „Übermenschen“ gelesen werden, weil sie eben einen Prozess hin zur „absoluten Selbstbestimmung“ (Ludewig/ Keller, „Nietzsche“, S. 136) durchlaufe. Sie, „gleichbedeutend mit Handeln“ (139), verändere ihre Einstellung in jedem Kapitel. Zunächst (Lauf 1), als schwacher Herdenmensch und ohne Selbstvertrauen, setze Lola auf die Unterstützung anderer und kapituliere ob der unüberwindlichen Hindernisse (vgl. 139 f.). Dann (Lauf 2), wütend und aggressiv, handle sie gegen jede eingetrichterte Vernunft mit einem Machtwillen, der allerdings noch „blinde Kraft“ (141) sei, worauf Manni „für den negativen Einfluß Lolas und wegen der Blindheit ihres Forderns“ (142) bestraft werde (vgl. 140 ff.). Schließlich (Lauf 3) „beruft sich Lola endlich auf sich selbst“ (142), werde kompromisslose „Wahrheit“, „Bedeutung“ und verändere dadurch die Realität (vgl. 142 ff.). „Wenn man argumentieren will, dass der Film Lola rennt ein Drehbuch nach Hollywood-Machart hat, in welchem die Hauptfigur eine Entwicklung durchmacht, dann kann dies bei Lola daran gesehen [sic! ], dass sie ihre Angst überwindet und die alleinige Verantwortung für ihr Leben akzeptiert“ (S. 139; Herv. i. Orig.). denn überhaupt weitergehen soll, überschrieben werden muss, wird schließlich nach kleiner Beratung mit Manni im roten Zimmer zum Neuanfang oder Folgeversuch übergeleitet. „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel! “ Der hinweisende Vorspann verliert endgültig sein Geheimnis. Dieser Film ist anders, ermöglicht Erzählalternativen, kann irgendwie Wünsche erfüllen: jene Lolas, wie auch die des Zuschauers. II. … des Spiels … Damit ist das besondere Spielfeld benannt, 23 das einer ganz eigenen Logik folgt und anders als die übliche aristotelisch-Field‘sche Drehbuchschablone 24 erzählt werden muss. Jenes Zeit- Spiel mit drei Lebensoptionen ist schon etwas Besonderes. Eine außergewöhnliche Form der Gestaltung. Keineswegs aber eine unbekannte Größe. Episodenhaftes Erzählen im Sinne von mehreren Parallelwegen der Handlungsentwicklung kommt in der Spielfilmhistorie schon vor und es mag ja so sein, dass sich der Filmkenner Tykwer an manch anderem Text orientieren konnte. 25 Gleichwohl wird in Lola das Spielen recht frisch, neu und eigen zum Schlüssel des Verstehens und zwar mit dem einladenden Spielgegenstand der weiblichen Hauptfigur. Diese Lola trägt nämlich das nötige Sieger-Gen in sich und ist zudem mit einer übermenschlichen Willensstärke oder, vielleicht besser: Willensstimme ausgestattet, die nicht nur Glas zersingen kann, sondern auch Roulettekugeln zum richtigen Sprung verleitet. Man kann ihr also beruhigt folgen. Dies aber auch aus einem anderen, gattungsspezifischen Grund, denn das Spiel in Tykwers Film kennt doch manche Bezüge zum virtuellen Video- oder Computergame. 26 Die immer gleichen Berliner Raumpunkte bestimmter Konfrontationen, Lolas dreimaliger Laufstart, ihre drei Leben, die Animationseinschübe, auch die Fähigkeit des Franka-Potente-Avatars von Lauf zu Lauf in manchen Bereichen etwas dazuzulernen, verleihen dem Film gewissermaßen Gamequalitäten. Somit kennt der vor der Leinwand sitzende Mitspieler wohl 23 Vgl. zur Spieldramaturgie in Lola rennt auch Whalen, „Run Lola Run“, Schuppach, Tom Tykwer , S. 54ff., Kepser, „Auf den Spuren“. 24 Vgl. Field, Handbuch. 25 Man denke z. B. an die verschiedenen Lebensrettungsoptionen der weiblichen Hauptfigur in Fritz Langs Der müde Tod (1921), die Erzähl(er)varianten in Akira Kurosawas Rashomon (1950) oder die Dauerwiederholungsschleife des einen Murmeltier-Tages in Harold Ramis‘ Groundhog Day (1993). Am nächsten aber kommt Tykwers Lola dem polnischen Film Przypadek (dt.: Der Zufall möglicherweise / 1981/ 87) von Krzysztof Kieślowski. In Kieślowskis Determinismusparabel kann der Protagonist Witek drei Leben führen, die alle am Bahnhof beginnen (und dorthin auch zweimal zurückführen). Auslösendes Moment für die drei Episoden ist die Frage, ob und wie Witek einen Zug nach Warschau erreicht. Je nachdem startet er drei unterschiedliche Lebensentwürfe (kommunistischer Funktionär - Mitglied der politischen Opposition - Rückzug ins Private) und stirbt am Ende bei einer Flugzeugexplosion. Die Nähe von Tykwer zu Kieślowski wurde natürlich nicht übersehen, aber zumeist nurmehr registriert und kaum diskutiert (vgl. Brockmann, „Cool Germania“, S. 460; Lischke, „New Metropolis“, S. 92). Dass Tykwer aber nicht bierernsten Realismus abbildet, dem Spielgedanken eine Schlüsselposition zuweist und so das Dreierschema des gemeinsamen Ausgangspunkts in eine gänzlich andere Richtung führt, was anders als die „schwerfällig[e] und künstlich[e]“ Nutzung Kieślowskis hervorragend zum narrativen Gehalt passe (Žižek, Die Furcht , S. 86f.), ist doch mindestens zu erwähnen. Vielleicht ist ja die klare Form-Inhalt-Korrespondenz in Tykwers spielerisch-leichter ‚Philosophie‘ die stimmigere Umsetzung des gewählten filmischen Potentialis. Zugegeben, darüber ließe sich streiten. 26 „Eine Aufgabe ist gestellt (Komme an das Geld), das Hilfsmittel bestimmt (‘Papa‘), ein Parcours eröffnet (die Straßen Berlins), auf dem die Spielerin (Lola) sich bewegen und bewähren muss. Die Spielzeit läuft (hier beträgt sie 20 Minuten).“ Mergenthaler, „Kreisfahrten“, S. 281. Tom Tykwer, Lola rennt 113 114 114 Ingo Kammerer das Setting (zeitlich begrenzte Problemlösung durch Raumbewegung) aus anderen Feldern der Erlebnisindustrie und möglicherweise drückt er ja während des Films imaginäre Controller-Knöpfe oder fühlt sich am Ende vom Autor hierin gut vertreten. Wie dem auch sei, der mitspielende Zuschauer wird sich sicher wohl fühlen, denn ein Charakteristikum solcher Spiele ist ja, dass sie, ganz gleich wie blutrünstig es auf den Bildschirmen auch zugehen mag, immer wieder neu beginnen „in a zone of safety“. 27 Da gibt es keine Toten, die nicht wieder aufstehen, keine Logik, die nicht überwunden werden kann, letztlich auch keinen Avatar, der dauerhaft verliert. 28 Lola - man weiß das, fühlt es zumindest - wird überleben und sicherlich (irgendwann) auch gewinnen. Das ist Spielspaß mit Erfolgsgarantie - für alle Teilnehmer, auf und vor der Leinwand! Zu diesem Spiel-Feld ließe sich noch manches anführen. Ein Spiel, das bei zweckfreien und geschlossenen Bedingungen ein gegenwärtig zu erlebendes Quasi, ein Als-ob oder eine gesetzte interne Realität nutzt, um spannungsreiche Ambivalenzerlebnisse mit Ewigkeitswunsch zu ermöglichen, 29 ist ja auch im Zwischenreich des Spielfilms ohne weiteres zu entdecken. Gerade das Spannungselement der Ambivalenz kann als so etwas wie der Kitt zur entrückten Zuschauerteilnahme bezeichnet werden, weshalb die dafür vom Psychologen Heinz Heckhausen gefundene Bezeichnung „Aktivierungszirkel“ 30 recht gut gewählt ist. Heckhausen verrät dann auch die auslösenden Anregungskonstellationen jener Spielmotivation: Einerseits sind da Neuigkeit bzw. Wechsel , Überraschung und Verwickeltheit ausschlaggebend für die Aufmerksamkeit des Spielers und sein Interesse an aktiver Teilnahme. Andererseits fesseln den Spieler Erwartungsunsicherheiten wie Ungewissheit bzw. Konflikt im Aktivierungsmoment selbst durch den ausgelösten Thrill oder die Angstlust. 31 Sollte man nun diese Auslöser in Lola rennt suchen, wird man schnell fündig oder muss vielleicht - zumal in den Episoden-- von einem ununterbrochenen Aktivierungszirkel sprechen! Überraschende Varianten und verwickelte Konfliktsteigerungen begegnen dem Zuschauer innerhalb der Handlungsläufe Lolas andauernd, 32 weshalb er lange Zeit in einer beharrlichen Aufmerksamkeit, verzweifelten Lösungshoffnung, demnach rastlosen und doch so vergnüglichen Anspannung gehalten wird. Lustvoll erlebte Angstmomente sind bei zeitlicher Fixierung und positiver Lösungshoffnung die kleinen Bewährungsmomente des Alltags. 33 Und mit der im Spielmodus platzierten Lola an der Seite ist jenes wohlige Gefühl, das aus einem erwünschten guten Ende resultiert, beinahe schon so etwas wie Gewissheit. 27 Whalen, „Run Lola Run“, S. 34. 28 Vgl. ebd. 29 Orientiert an Hans Scheuerls „Momenten des Spielerischen“, also einigen „Charakteristika spielerischer Ablaufgestalten“ (S. 343), die da wären: Momente der Freiheit, inneren Unendlichkeit, Scheinhaftigkeit, Ambivalenz, Geschlossenheit und Gegenwärtigkeit. Vgl. Scheuerl, „Zur Begriffsbestimmung“, S. 342f. 30 Heckhausen, „Psychologie des Spielens“, S. 86. 31 Vgl. ebd., S. 88-90. 32 Da der Zuschauer auf dem Episodenweg immer neue Einblicke erhält und durch den Perspektivenwechsel ohnehin mehr erfährt, als die Hauptfigur wissen kann, könnte man dramaturgisch von einer schrittweise zugespitzten Suspensesituation (bzw. dramatischen Ironie) im filmischen Kommunikationsraum sprechen. 33 Nach Michael Balint, der in den 1950er Jahren das Phänomen des Thrill in seiner Studie Thrills and Regressions (dt.: Angstlust und Regression ) untersucht hat und erklärt: „Diese Mischung von Furcht, Wonne und zuversichtlicher Hoffnung angesichts einer äußeren Gefahr ist das Grundelement aller Angstlust ( thrill ).“ Balint, Angstlust , S. 20f. Soviel wird klar, Lola rennt ist keine allzu ernste Beweisführung der Chaostheorie (wie auch immer die aussehen könnte), auch kein Tatsachenbeleg für die Auswirkungen des so genannten Schmetterlingseffektes. Solch ‚philosophisches Beiwerk‘ ist eigentlich nur mehr die ‚höhere‘, ohne Zweifel interessante Idee für ein (ironisches) Spiel mit den Möglichkeiten des gestalteten Lebens im Spielfilm. 34 Dass dabei nun aber, wie bereits erwähnt, eine Art Sightseeing-Tour durch die Filmgeschichte geschieht, ist der notwendigen Form-Inhalt-Korrespondenz einer erzählten Kinoallegorie geschuldet und möglicherweise dem auf einer Metaebene repräsentierten Kunstspiel des, freilich mit Abstrichen, absoluten Films. Dieses Lebensspiel ist also Film pur. Und Film ist wiederum nichts anderes als (gespiegeltes und) gespieltes Leben: durch Bewegung, Zeit und Zitat. III. … im Film a) Bewegung Die ‚wundersame‘ Abbildung der natürlichen Bewegung von Objekten war vor gut 125 Jahren so etwas wie die Eintrittskarte des Films in das Konzert der Künste. Und die dadurch erzielte Realitätsillusion sein sensationeller Wirkungsvorteil. Es ist ja im Endeffekt ganz gleich, ob nun die Zuschauer 1895 tatsächlich vor dem einfahrenden ‚Lumière-Zug‘ aus dem Kino geflüchtet sind oder ‚nur‘ innerlich überrollt wurden. 35 Entscheidend ist, dass der kinetische Effekt im Film von Anfang an ein doppelter war. Zur abgebildeten Bewegung auf der Leinwand kam eine mal mehr, mal weniger bewegte Betrachtergruppe vor ihr. Und diese frühen, noch statischen Aufnahmen wurden schon bald durch Neuerungen wie Kamerabewegung und Montage ausgebaut, so dass das movere zum tragenden Prinzip der Film- und Rezipientenprägung wurde. In der englischen Bezeichnung moving pictures hat jene Erlebnisdopplung bis heute überlebt. Um diese schon im Titel formulierte Dauerbewegung filmisch umzusetzen, greifen Tykwer und sein Gestaltungsteam in Lola rennt dann auch auf alle filmischen Optionen zurück. Ein „Film über die Möglichkeiten des Kinos“ 36 hat das Bewegungsbild vielfältig zu formen und tatsächlich wird hier dann auch so gut wie nichts ausgelassen. Die Einstellungsgrößen- und Perspektivenvarianz ist hoch und wird nicht selten durch Jump-Cuts besonders eindringlich unterstrichen. Schnelle Short-Cuts sorgen ebenso für manche Bewegungsneurose wie auch Kamerabewegungen in allen Bereichen der Intervention. Da sind freilich Schwenks und Zooms wahrzunehmen, kommen Kameraflüge und -fahrten in alle erdenklichen Richtungen vor, fehlt selbst das Rahmenzittern bei eingesetzter Handkamera nicht. Sogar eine gekippte Einstellung ist mal wieder zu sehen und schließlich, aus einer Daueranspielung heraus, auch eine spezielle Fahrt-Zoom-Kombination: der so genannte Vertigo-Effekt . 37 Rund um Lola wird 34 „Ich war damals von Chaos-Theorien fasziniert, habe sie aber nicht wirklich reflektiert, sondern irgendwie in den Film reingeprügelt. Auf dieses Triebhafte bin ich sehr stolz.“ Tykwer, „Zehn Jahre“. 35 Der einminütige Film „L‘Arrivée d‘un train en gare de La Ciotat“ (dt.: Die Ankunft des Zuges im Bahnhof von La Ciotat) ist einer der frühen Kurzfilme der Gebrüder Lumière, der der (werbewirksamen) Legende nach bei seiner Erstaufführung einen Großteil des Publikums in die Flucht schlagen konnte; vgl. z. B. Binotto, „Unreines Kino“, S. 33. 36 Tykwer in Töteberg, Lola rennt , S. 131. 37 Bezogen auf das „cineastische Feuerwerk“ (Töteberg, „Run, Lola, Run“, S. 45) sind auch noch folgende, nicht unbedingt die Bewegung unterstreichende, Gestaltungsbesonderheiten wenigstens zu erwähnen: Tom Tykwer, Lola rennt 115 116 116 Ingo Kammerer also nicht gekleckert, sondern geklotzt. 38 Und das aus gutem Grund. Soll doch der drängenden Spiel- und Soundmetrik möglichst adäquat im visuellen Bereich entsprochen werden. Somit entsteht ein bewegliches Bild-Sound-Spiel: Lolas Spiel. Es ist demnach konsequent, dass die rennende Hauptfigur die meisten Bewegungseinstellungen im Film erhält. In jeder Spielrunde wird die archaische Kinoidee an ihr, ihrem Handeln, ihrer Hauptfunktion für Minuten direkt im Bild gefeiert: in normaler Geschwindigkeit wie auch in Zeitlupe, mit fliegender, fahrender und statischer Kamera, in allen Einstellungsgrößen und Perspektiven. Nicht zu übersehen, sind diese Momente tatsächlich ein Fest des Films im Film, eine Feier seines Ursprungs: der einfachen Attraktionsbedingung einer stellvertretenden Handlung in action . Dieses zentrale Motiv wird allerdings noch von einer besonderen Kamerabewegungsart begleitet, die einen genaueren Blick rechtfertigt. Denn die gemeinte Kreisfahrt kennt ja eigentlich keinen Raumgewinn. Ihre Integration muss somit eine andere Funktion erfüllen. Zunächst ist auffällig, dass Tykwer die erste Kreisfahrt vom gezeichneten Croupier als Blende ins Bild schieben lässt (Abb. 13). Mit den Worten „ Rien ne va plus “ wirft der die Kugel ins Spiel, worauf sich die quasi als Achse des Roulettekessels fungierende Lola ihrem Bewusstseinsstrom rot und schwarz hinterlegter Personen hingibt (Abb. 14 f.). 39 Es ist also die Spielidee mit Neustartoption, die ein stimmiges Bewegungselement erhält und zu diesem am Schluss dann auch ganz konkret zurückkehren wird. Das Rouletterad und mit ihm die Kreisfahrt wird zum Kontingenz-Platzhalter des Films. Zur möglichen Nichtnotwendigkeit, denn Leben ist ja nichts anderes als ein stetig neuer Griff in den großen Lostopf, ist ein vom Zufall gesteuertes Lotteriespiel mit kreisender Gewinn- und Verlustoption. Mal verliert man - wie am Ende des ersten Laufs, wenn Manni und Lola von der Polizei eingekreist sind (Kreisfahrt 2; Abb. 16). Mal gelangt man mit Mentorenhilfe auf die Gewinnerstraße - wenn die blinde Frau Manni auf den Clochard aufmerksam macht und so zu seinem Geld verhilft (Kreisfahrt 3; Abb. 17). Und einmal sogar schreit die besonders begabte Lola - sich selbst als Roulettekessel endlich erkennend - den märchenhaften Gewinn herbei (kreisender over-shoulder-shot ; Abb. 18). Die Kreisbewegung startet das Spiel und führt es am Ende zu seinem großen Finale. Schwarz-Weiß-Rückblenden, Film- (mit Lola und Manni) und Videoaufnahmen (ohne Lola und Manni), Animationseinschübe, die Vielfalt der gewählten Montageformen bis hin zum Split-Screen-Verfahren (s.a.u.). Dies alles lasse den Film wie „eine Zusammenfassung der Wunder, die hundert Jahre Filmgeschichte entwickelt haben“ (Stefan Arndt, zitiert in Hickethier, „Drei Möglichkeiten“, S. 15), erscheinen. 38 Diese Vielfalt der Gestaltungselemente ist dann auch der Hintergrund für manchen (kreativen) Bezeichnungsversuch. Bei Durchsicht der Angebote wird aber eine gewisse Ratlosigkeit deutlich, wenn neben der allerorten zu findenden und eigentlich nie geklärten „MTV-Ästhetik“ z. B. von „Bricolage-Qualität“ (Bordwell, Visual Style , S. 184), „Mix aus Pop und Pistolen“ (Höbel, „Pippi außer Atem“, S. 171) und „eine[r] Art Geburt des Films aus dem Geist der Achterbahn“ (Althen, „Ein Narr“) die Rede ist. 39 Vgl. Mergenthaler, „Kreisfahrten“, S. 278f. Mergenthaler diskutiert in seiner Analyse - ausgehend vom „Modellfall Vertigo “ (S. 271) - diese doppelte Kreisfahrt um Lola formal wie inhaltlich als „positives Beispiel“ (S. 278). Hiermit werde filmsprachlich das „Kontingenz-Paradigma“ (S. 280) des Films formuliert, das „dasjenige[m] der Kausalität (ikonisch repräsentiert im Gegenmodell der Dominostrecke) als mögliche Erklärung für den guten Ausgang zur Seite [rückt]“ (S. 281). Abb. 13-18: Der Kreis - Kontingenz und Zufall Dabei wird das Rouletterad zum Gegenmotiv der anderen hier verhandelten Bewegungsidee, nämlich der der Kausalität, die im Dominospiel einmal konkret im Bild erscheint. 40 Linie oder Kreis? Das mag eine Frage des Films sein, die eine Antwort benötigt. Und eigentlich auch erhält. Wird doch im Film selbst die im Dominospiel verhandelte Korrespondenz von Ursache und Wirkung durch die folgende Variationshandlung der zweiten Episode deutlich eingeebnet, weshalb im Optionalen, Erhofften und mehr und mehr von der Hauptfigur willensstark Erzwungenen fortan kein Dominostein mehr so fallen kann, wie zu erwarten ist. Naturgesetze werden im Filmverlauf sukzessive eingeschränkt, die Berechenbarkeit eines Folgebezugs wird schrittweise abgebaut, so dass die kausale Zwangsläufigkeit genau in dem Moment endet, als die Als-ob-Herrschaft des Spiels alle anderen Deutungsmuster überdeckt. Wenn dann 40 Ebd., S. 281 - Aus dieser Doppelperspektivierung, so Mergenthaler, ließen sich eine ganze Menge der vom Film aufgeworfenen Fragen beantworten: „Fällt Lola das Casino ins Auge, als oder weil sie in ihrer Verzweiflung ein Stoßgebet abgibt? Fällt die Kugel auch das zweite Mal auf die 20, als oder weil Lola so durchdringend schreit? “ (281 f., Herv. i. Orig.). Beide Bildmotive seien also wichtige Bausteine des Films. Indes ist Mergenthaler selbst auf den Kreis konzentriert und verfolgt, wenn er anschließend der kreisnahen Spirale (einem erneuten Vertigo -Komplex) seine Aufmerksamkeit schenkt, das Kausalität-Paradigma nicht weiter; vgl. ebd., S. 282-286. Tom Tykwer, Lola rennt 117 118 118 Ingo Kammerer schließlich in der finalen Episode das Roulettespiel zum zentralen Requisit gerät, obsiegt der Kreis endgültig und schenkt ein neuer märchenhafter Ton (auch im orientalisch angehauchten Soundmix wahrnehmbar) dem Film-Spiel ein bewegtes und bewegendes Ende. b) Zeit Dass Film neben (und in) dem Bewegungsauch ein Zeitbild 41 repräsentiert, leuchtet unmittelbar ein. Möglicherweise auch, dass der Umgang mit der Zeit ein ganz spezielles Experimentierfeld des Mediums darstellt mit durchaus einigen Spielmöglichkeiten. Die Entdeckung der Montage sorgte nämlich für so etwas wie einen frühen Quantensprung im Filmbereich. Durch Schnitt und Verknüpfung gelangte ein Gestaltungselement in die Hände der Filmschaffenden, das neue Erzählmöglichkeiten schuf, eigentlich Erzählen im Film, den perspektivischen Umgang mit Zeit und Raum, erst so richtig möglich machte. Hiermit konnte man auch jenseits der bis dahin herrschenden Bildkomposition Wirkung erzielen, so dass aus einer „Kunst in der Zeit“ eine „über die Zeit hinweg manipulierbare Kunst“ 42 wurde mit reichlich Optionen für die Darbietung von Kontinuität und Kollision. Wenn nun Tykwer in Lola rennt Zeit erzählt, 43 geschieht das weitgehend nach den Regeln szenischer Kontinuität (bei kleiner Fantasieoption). Einfühlung und Teilnahme sind dem Publikum zu ermöglichen. Der Erzählerbericht sollte, lässt auch die allerorten sprießende Formenvielfalt anderes vermuten, nicht zu viele Umwege wagen. Ausgestellt wird nur das Wesentliche, wiederkehrende Räume sind streng begrenzt, das Alternieren zwischen den Protagonisten ist gängiges Erzählvorgehen und Raffung grundsätzlich die Regel. So sind die 20 Minuten der Läufe natürlich keine, rennt Lola zwar durch ein Fantasie-Berlin, das aber immerhin passgenau geschnitten, und werden die einmal szenisch ausgebreiteten Inhalte der Nebenhandlungen nur dann wieder aufgegriffen, wenn sie eine Wandlung erfahren. Kurz und bündig, nur an Höhepunkten interessiert, steuern die Spielläufe auf die entsprechenden Lösungen zu. Allerdings gibt es in dieser gerafften Szenerie doch einige Ausbrüche, die jenseits der oft verwendeten Zeitlupe zeitdehnend, dann pausierend, einmal auch ‚zeittilgend‘ erzählen und dabei die gesetzgebenden Faktoren des Films - die Hauptfiguren, das philosophische Subthema, die Spielspannung - eindringlich unterstreichen. Nun ist das im Film deutlich fokussierte personale Erzählverhalten sicherlich der Spielgestalt und den platzierten Avataren geschuldet. Berührungsängste darf es im Spielmodus nicht geben, weshalb der Zuschauer bis in die Köpfe der Figuren gelangt, deren aktive Denkprozesse konkret im Bild sieht und vielleicht auch ein bisschen mitdenkt. Jene zeitdehnenden Bewusstseinsströme werden bereits im Vorfeld des ersten Laufs als Identifikationsangebot platziert. Lolas ‚Rouletteerinnerung‘ (Abb. 19-21) wird genauso wie Mannis Spekulation über die Urlaubsziele des Clochards als Mind-Screen-Technik platziert und diese mit Short-Cuts von 2, 3 Bildern - es braucht 24 in der Sekunde - überfüllten Gedankenströme attackieren einen regelrecht, belustigen mitunter, intensivieren aber immer die Beziehung zu den jeweiligen Figuren. 41 Die Filmphilosophie von Gilles Deleuze gründet auf dieser dualen (Folge-)Beziehung. Vgl. Deleuze, Bewegungs-Bild u. ders., Zeit-Bild . 42 Beller, „Aspekte der Filmmontage“, S. 13. 43 Dass die Zeit (also grob die dreimal 20 Episodenminuten) jenseits der hier verhandelten Gestaltungsmöglichkeiten auch ein inhaltlicher Schwerpunkt des Plots ist, sei noch einmal erwähnt und nicht weiter verfolgt. Abb. 19-27: Zeiterzählungen im Spiel - Gedanken (19-21), Visionen (22-24), Streichung und Wiederbeginn (25-26), Aktionsziel (27) Die folgende besondere Zeitgestalt gehört dann schon den so genannten Flashforwards , jenen Zukunftssprüngen durch kurze Fotoromane rund um das weitere Schicksal mancher Nebenfigur. Diese auktorialen Eingriffe (gleichwohl: Wer spricht hier eigentlich? ) führen auf Nebengleise und weg von der Haupthandlung. In Form von elliptisch drängenden Pausen - einem Kommentar mit rhythmischen Zeitsprüngen - geben die variablen Zukunftsvisionen der Subplot-Mixtur aus Vorherbestimmtheit, Chaostheorie und Willensfreiheit das stärkste Motiv des ganzen Films. In teilweise gruseliger, teilweise komischer, immer aber pointierter Sukzession werden die Folgeleben der Akteure in wenigen Sekunden abgebildet, kommt es nach Berührung oder Blickverbindung mit Lola (Abb. 22) und einer grafemischen Zäsur (Abb. 23) zu Lebensoptionen unterschiedlichster Art (Abb. 24). 44 Diese damals so nie gesehenen Episodensprünge unterstreichen nicht nur die Gesetzgeberfunktion Lolas, sie heben letztlich auch das Optionale des Spiels besonders hervor. Lola als rasender Roulettekessel entscheidet ganz offenkundig über Gewinn oder Verlust; eine Berührung oder Kontaktaufnahme mit ihr kann in diesem Spiel nicht ohne Folgen bleiben. Sodann muss nur noch ein Bedingungsfeld besonders motiviert werden: der dreimalige Spielbeginn. Was auch heißt, dass so etwas wie die Löschung der kompletten Vorgängerepisode notwendig ist. Die Uhr springt zurück, das Spiel beginnt erneut und irgendwie muss dies dem Publikum wenigstens beim ersten Wechsel verdeutlicht werden. Tykwer nutzt dazu mit dem Match-Cut ein zeitraffendes Montageverfahren und bindet zwei fliegende Objekte aus unterschiedlichen Zeitsphären zusammen. Dieses Zusammenpassen - der rote Telefon- 44 Konkretisiert am Beispiel der Figur Doris sind das folgende Optionen: Sie stiehlt ein fremdes Baby, nachdem ihr eigenes Kind von der Sozialfürsorge abgeholt wurde (Lauf 1; Lola rennt , 0: 12: 46 - 0: 12: 53; vgl.a. Abb. 22-24). Sie gewinnt im Lotto und lebt im Luxus (Lauf 2; Lola rennt , 0: 35: 13 - 0: 35: 21). Sie schließt sich den Zeugen Jehovas an und praktiziert eine entrückte Frömmigkeit (Lauf 3; Lola rennt , 0: 53: 55 - 0: 54: 02). Tom Tykwer, Lola rennt 119 120 120 Ingo Kammerer hörer verweist auf das Ausgangstelefonat (Abb. 25), die rote Geldtüte auf das Scheitern des ersten Laufs (Abb. 26) - macht den Zeitsprung auch dem Zuschauer möglich und ist dann beim Übergang vom zweiten in den dritten Versuch schon ein prinzipiell verstandenes Erzählphänomen. Mit jenem Match-Cut endet die lineare Erzählung, gelingt der Sprung auf eine optionale Parallelebene und wird so dafür gesorgt, dass die Wunder dieses Films endgültig Gestalt annehmen können. Es ist somit der letzte Moment für den Betrachter, den Fiktionsvertrag aufzukündigen. Wie man so hört, haben das aber nur wenige getan. Vielleicht auch aufgrund einer anderen Montageeinheit, die kurz zuvor den Bildraum ausfüllt. Mit der Nutzung der gemeinten Split-Screen-Technik montiert Tykwer am Ende der ersten beiden Läufe die Parallelstruktur der Handlung direkt im Bild und macht so das Teilnahme- und (An-)Spannungsmotiv, den suspense , unmittelbar transparent (Abb. 27). Es ist eben der Lauf, das Spiel gegen die Zeit, der den Thrill dieses bestimmt. Dies zweimal mit allen Komponenten in einem Bild zu fassen, dabei auch noch mit Zeitlupe extrem auszudehnen und dennoch die geweckten Hoffnungen des Publikums jeweils zu enttäuschen, ist möglicherweise der eine böse Scherz im filmischen Zeitraum, den sich Tom Tykwer gegen das Publikum erlaubt hat. Indes spürt man schon, dass das nicht das letzte Wort gewesen sein kann, und wird dann auch für sein Ausharren am Ende märchenhaft belohnt. Das Schöne am Film sei doch, so Tykwer in einem Interview, die Möglichkeit, mit dem Raum-Zeit-Kontinuum zu spielen. Ob man dabei nun der Logik folge oder nicht, sei letztlich ganz irrelevant, denn: „Wir sind doch im Kino! “ 45 Natürlich … c) Ref/ verenz … um es zu preisen. Denn Tykwer will ja ein Loblied auf das Kino singen und muss dann wohl auch einigen einschlägigen Werken der Filmgeschichte seine Reverenz erweisen. Solches geschieht und Tykwer wählt dabei gut aus! Der Match-Cut zwischen Tüte und Telefon zitiert direkt den weltberühmten Knochenflug aus Kubricks 2001 , die Gläser zersingende Willensstimme der Heldin den mindestens national bedeutenden Oskar Matzerath aus Schlöndorffs Literaturverfilmung Die Blechtrommel . Auch Fred Zinnemanns Western High Noon ist wegen seiner zeitdrängenden Gestalt und derselben finalen Uhrzeit ein irgendwie mitzudenkender Text. Dann aber folgt da nur noch einer: Alfred Hitchcock. 46 Ein bisschen Psycho , vielleicht auch North by Northwest , immer aber Vertigo . Hitchcocks Schwindel-Film, der inhaltlich wie formal das Publikum betörend in die Irre führt und als eine der analytischen Kinolektionen des Briten über das Filmerzählen betrachtet werden kann, ist eine wichtige Blaupause für Tykwers eigenes Kinospiel. Gerade die Vertigo -Spirale, jenes Leit-, Sog- und Stolpermotiv des Films, wird in Lola rennt mehrfach konkret 45 Tykwer in: Töteberg, Lola rennt , S. 137. 46 Weitere Filme werden in verschiedenen Publikationen benannt, wobei insbesondere die deutsche oder, vielleicht besser, eine Berlin-Filmgeschichte fokussiert wird (so z. B. Ruttmanns Berlin - Die Sinfonie der Großstadt und Fassbinders Berlin Alexanderplatz , aber auch Wenders‘ Der Himmel über Berlin ); vgl. Lischke, „New Metropolis“, Gottgetreu, „Lola rennt“, Sinka, „A Blueprint“. Ein gelegentlich erwähnter Bezug zu Godards À bout de souffle ist neben dem Protagonistenpaar und Spiel mit der Filmform ganz sicher auch der Vermutung einer neuen paradigmatischen Schwelle geschuldet, im Stil von: „Tom Tykwer‘s Run Lola Run […] blasts open doors for viewers in the late 90s the way Godard‘s Breathless […] did for viewers in the late 50s“ (Whalen, „Run Lola Run“, S. 33). Stilistische Beziehungen zwischen Lola rennt und den Filmen der Nouvelle Vague verdeutlicht auch David Bordwell in: Visual Style , S. 178-194. zitiert 47 - bis hin zum gemalten Frauenportrait mit gebundenem Haarknoten. 48 Der Vertigo -Effekt, ursprünglich die psychische Schwäche des Protagonisten verdeutlichend, wird als Zeit und Raum bestimmende Willensstärke Lolas in der Casinoszene umgesetzt. Der hier zwar durch den Vorspann gemilderte, aber eben auch einschneidende red herring nach Lauf Nr. 1 spielt mit der Betrugsfabel und Zuschauermanipulation Vertigos . Und schließlich wird sogar die Farbdramaturgie Hitchcocks - eine gesetzte Rot-Grün-Ambivalenz - in vielen wesentlichen Requisiten, Räumen und nicht zuletzt in der Hauptfigur selbst wiederaufgegriffen. Zwei Kinolektionen ‚verbünden‘ sich zum einträglichen Zusammenspiel und vielleicht ist ja auch in Anbetracht der von Tykwer nie moralisch qualifizierten kriminellen Energie seiner Helden eine Sentenz des britischen Vorbilds anleitend, die da heißt: „[D]ie Liebe zum Kino ist für mich entscheidender als jede Moral! “ 49 Bleibt noch der titelgebende Name der Protagonistin, der besonders sprechend und daher kein Setzungszufall sein kann. Wer nämlich in der einheimischen Filmlandschaft mit jener Dolores-Kurzform agiert, greift automatisch in die kleine Zuckerbüchse des international bekannten deutschen Films und so mitten hinein in die auswirkungsstarke deutsche Filmgeschichte. Lola rennt per Namensgebung eben auch in der Folge von Sternbergs Der blaue Engel (1930) und Fassbinders Lola (1981), also vom Ende der einen großen Epoche deutscher Filmgeschichte - dem expressionistischen und neu-sachlichen Film der Weimarer Republik-- zum Fast-Ende der anderen - dem so genannten Neuen Deutschen (Autoren-)Film, der in Rainer Werner Fassbinder seinen wohl schillerndsten Stern besaß und nach dessen Tod 1982 dann auch langsam darnieder ging. Die Figur „Lola“ selbst, die noch in Heinrich Manns Romanvorlage Professor Unrat „Rosa Fröhlich“ heißt und ‚Barfußtänzerin‘ ist, wurde durch den Engel -Regisseur Josef von Sternberg zur Tingeltangel-Attraktion „Lola Lola“ umbenannt, schließlich von Marlene Dietrich als robuste, selbstsichere und durchaus ironische Femme fatale singend auf dem Bierfass (Abb. 28) gegeben, worauf der Sternberg-Text als deutscher Film- und Namenserfolg um die Welt ging. Fassbinders Remake rund 50 Jahre später verlegte den wilhelminischen Stoff in die Adenauer-Zeit, fokussierte in fröhlichen Bonbonfarben und mit für Fassbinder außergewöhnlichem Humor die allseitige Korruption des Menschen und der restaurativen BRD-Gründerzeit. Nicht selten nur in Unterwäsche spielte hier Barbara Sukowa die Titelrolle (Abb. 29) als singende Hure mit ein bisschen Herz und viel Brieftasche, der der korrekte städtische Baudezernent rettungslos verfällt. 47 Vgl. hierzu auch Mergenthaler, „Kreisfahrten“, S. 282f. 48 Das sei, so Tykwer (vgl. Tykwer, „Generalschlüssel“, S. 30f.), aber auch ein wenig zufällig passiert. Die ‚Casino‘-Wand zwischen Spieltischen und Uhr sei für die langsame Kamerafahrt zu leer gewesen, man habe also ein Bild benötigt. Unter Zeitdruck und in 15 Minuten (! ) habe der Ausstatter „Kim Novak mit diesem Dutt“ (31) gemalt und, weil er sich an ihr Gesicht nicht mehr erinnern konnte, eben in der Hinterkopfansicht. „Das ist die Wahrheit über dieses tiefsinnige Zitat“ (31). Allerdings spiele Vertigo schon allein „wegen seiner erstaunlichen zeitlichen Struktur eine Rolle“ (30) in Lola rennt . 49 Hitchcock in: Truffaut, Mr. Hitchcock , S. 308. Tom Tykwer, Lola rennt 121 122 122 Ingo Kammerer Abb. 28-30: Kontinuität und Wandlung - Dietrich, Sukowa und Potente als Lola Der internationale Erfolg beider Filme sorgte also dafür, dass die spanische Dolores-Kurzform deutsch überlagert und in Cineastenkreisen wohl auch überschrieben wurde mit einem bestimmten Filmfrauen-Typus, so dass bei Wiederaufnahme in dieser Kontinuität weitergeschrieben und freilich verändert werden musste. Tykwers Lola (Abb. 30) gibt dann jener verhängnisvollen Gestalt der Vorgängerinnen eine ganz eigene Richtung, man könnte sagen, sie kleidet den Filmmythos im Umfeld der ausgehenden 1990er Jahre neu ein. Als starke Frau, willensstark aus Liebe und möglicherweise deshalb nach einigen fehlgeschlagenen Findungsversuchen mit überirdischen Kräften beschenkt, lässt Franka Potente Bierfass und Unterwäsche hinter sich, singt auch kein einziges Lied, sondern rennt vielmehr in einem Genrefeld der populären Vielheit 50 zum versöhnlichen Happy End. Erstaunlich cool, spielfunktional (statt erotisch verwirrend), schließlich auch unabhängig und selbstbewusst erweitert Potentes Lola den filmgeschichtlich gesponnenen Erzählfaden ihrer Vorgängerinnen um eine zeitgemäße Frauenfigur. IV. Nachspiel Tom Tykwers Film war, wie man so sagt der richtige Film zur rechten Zeit. In den letzten Zügen der Helmut-Kohl-Kanzlerschaft erstellt und von Tykwer auch als Energie- und Bewegungsschub gegen festgestellte Lethargietendenzen seiner Generation gedacht, 51 entwickelte 50 Ein Hybrid aus Thriller, Actionfilm, Krimi, Animationsfilm, Melodram, Komödie und Liebesfilm. 51 In einem frühen Interview (August 1998) geht Tykwer mit dem damals noch amtierenden Kanzler Helmut Kohl streng ins Gericht, spricht ein wenig forsch vom „idiotischen Kanzler“, der ein „Stagnationsfetischist“, „dick, stumm und träge“ sei und so symbolisch „wie ein Virus“ eine ganze Gesellschaft angesteckt oder für einen „Akt der kollektiven Besinnungslosigkeit“ gesorgt habe. Zwar versäumt es Tykwer nicht, der eigenen selbstzufriedenen Generation, die so fett sei „wie unser Kanzler“, den Spiegel vorzuhalten, allerdings bleibt für ihn Kohl die fatale Grundbedingung. Lola rennt wäre in diesem Zusammenhang vielleicht so etwas wie ein „anarchistischer Einfluß“, den solch „statisches System braucht“, damit der es „auseinanderdrückt, oder eine Delle reinhaut, […] ein bißchen aus der Bahn wirft“ (Tykwer, „Tykwer spricht“). Zehn Jahre später ist er da schon sehr viel zurückhaltender und meint ganz kanzlerfrei, der Film habe „einer dieser „auf Film gebannte Geistesblitz“ 52 sich zum „Geniestreich“, 53 der, wie erwähnt, auch international nicht übersehen wurde. Das Feuilleton frohlockte! Michael Althen bezeichnete, was viele dachten, dass nämlich so der Film aussehe, „von dem das deutsche Kino all die Jahre geträumt“ habe. 54 Mindestens einen Schritt weiter ging der Schriftsteller Helmut Krausser. Er verlieh in seinem an Exaltiertheit dem Film in nichts nachstehenden „Nachwort [zu] Lola“ das paradigmatische Siegel, dass der Sommer 1998 fortan der Sommer sei, „in dem Lola rannte. Als in Deutschland etwas - endlich - geschah“. 55 Warum eigentlich nicht? Was aber trägt den Text auch heute, zwanzig Jahre später noch? Es ist vor allem die in ihm gestaltete Hochzeit des Filmischen, jenes Loblied auf das Kino oder die beeindruckende ästhetische Kreativität der Gestalter. Vom ersten Klappenschlag an zeigt das Gesamtkunstwerk Film hier, was es ist, was es alles kann und wie es dies kann. Dafür griff Tom Tykwer mit experimentierfreudiger Chuzpe in das filmgeschichtliche Füllhorn, präsentierte sinnenfroh und formsicher einen rhythmisch gefügten Als-ob-Raum, letztlich ein Kino-Wunderland für den aktivierten, gefesselten und zugleich befreiten Menschen, der bekanntlich „nur da ganz Mensch [ist], wo er spielt“. 56 Filmographie Der blaue Engel . Produktion: UFA, Deutschland, 1930. Regie: Josef von Sternberg. Drehbuch: Carl Zuckmayer, Karl Vollmoeller, Robert Liebmann nach dem Roman Professor Unrat von Heinrich Mann. Kamera: Günther Rittau, Hans Schneeberger. Musik: Friedrich Hollaender. Darsteller: Emil Jannings (Prof. Immanuel Rath), Marlene Dietrich (Lola Lola), Kurt Gerron (Zauberkünstler Kiepert), Rosa Valetti (Guste, seine Frau), Hans Albers (Mazeppa). Lola . Produktion: Rialto-Film, Trio-Film und WDR, Bundesrepublik Deutschland, 1981. Regie: Rainer Werner Fassbinder. Drehbuch: Peter Märtesheimer, Pea Fröhlich, Rainer Werner Fassbinder. Kamera: Xaver Schwarzenberger. Musik: Peer Raben. Songs: „Fährt ein weißes Schiff nach Hongkong“, „Caprifischer“, „Am Tag, als der Regen kam“, „Plaisir d‘amour“. Darsteller: Barbara Sukowa (Lola), Armin Mueller-Stahl (von Bohm), Mario Adorf (Schuckert), Matthias Fuchs (Esslin), Helga Feddersen (Fräulein Hettich). Lola rennt . Produktion: X-Filme Creative Pool, WDR und ARTE, Deutschland, 1998. Regie: Tom Tykwer. Drehbuch: Tom Tykwer. Kamera: Frank Griebe. Musik: Tom Tykwer, Johnny Klimek, Reinhold Heil. Darsteller: Franka Potente (Lola), Moritz Bleibtreu (Manni), Herbert Knaup (Lolas Vater), Nina Petri ( Jutta Hansen), Armin Rohde (Wachmann Schuster), Ludger Pistor (Herr Meier), Joachim Król (Norbert von Au/ Clochard), Julia Lindig (Doris). Vertigo . Produktion: Paramount, USA, 1958. Regie: Alfred Hitchcock. Drehbuch: Alec Coppel, Samuel Taylor nach dem Roman D‘entre les morts von Pierre Boileau und Thomas Narcejac. Energie Ausdruck [gegeben], nach der es offenbar ein großes Bedürfnis gab“. Man habe nach der Fertigstellung gespürt, „dass der Film möglicherweise genau zur rechten Zeit kommt“ (Tykwer, „Zehn Jahre“). 52 Ebd. 53 Töteberg, „Run, Lola, Run“, S. 45. 54 Althen, „Ein Narr“. 55 Krausser, „Ein Nachwort“, S. 39. 56 Schiller, „Ästhetische Erziehung“, S. 481. Tom Tykwer, Lola rennt 123 124 124 Ingo Kammerer Kamera: Robert Burks. Musik: Bernard Herrmann. Darsteller: James Stewart ( John ‚Scottie‘ Ferguson), Kim Novak (‘Madeleine Elster‘, Judy Barton), Barbara Bel Geddes (Midge Wood), Tom Helmore (Gavin Elster). Bibliographie Althen, Michael, „Ein Narr, wer den Zufall Schicksal nennt. Sie läuft und läuft und läuft: Tom Tykwer schlägt mit ‚Lola rennt‘ ein neues Kapitel deutscher Filmgeschichte auf“. In: Süddeutsche Zeitung (19.08.1998). Online: www.michaelalthen.de/ texte/ themenfelder/ filmkritiken/ lola-rennt/ Balint, Michael, Angstlust und Regression . Übers. v. Konrad Wolff. Stuttgart 1999. Beller, Hans, „Aspekte der Filmmontage. Eine Art Einführung“. In: Handbuch der Filmmontage . Hg. v. Hans Beller. München 2002, S. 9-32. Binotto, Johannes, „Für ein unreines Kino. Film und Surrealismus“. In: Filmbulletin , 52/ 3 (2010), S. 33-39. Bordwell, David, Visual Style in Cinema. Vier Kapitel Filmgeschichte . Hg. u. eingeleitet von Andreas Rost. Übers. v. Mechtild Ciletti. Frankfurt a. M. 2003. 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Abb. 11: Tykwer, Lola rennt , 0: 03: 11 Abb. 12: Tykwer, Lola rennt , 0: 03: 58 Abb. 13-15: Tykwer, Lola rennt , 0: 10: 45f. Abb. 16: Tykwer, Lola rennt , 0: 29: 17 Abb. 17: Tykwer, Lola rennt , 1: 07: 19 Abb. 18: Tykwer, Lola rennt , 1: 05: 13 Abb. 19-21: Tykwer, Lola rennt , 0: 10: 55f. Abb. 22-24: Tykwer, Lola rennt , 0: 12: 46f. Abb. 25-26: Tykwer, Lola rennt , 0: 33: 31f. Abb. 27: Tykwer, Lola rennt , 0: 49: 06 Abb. 28: www.filmposter-archiv.de/ filmplakat.php? id=574 Abb. 29: www.filmposter-archiv.de/ filmplakat.php? id=10780 Abb. 30: www.filmposter-archiv.de/ filmplakat.php? id=679 Tom Tykwer, Lola rennt 125 David Fincher, Fight Club Matthias Krumpholz I. Die Anfangsszene des Films Fight Club 1 katapultiert den Rezipienten mitten in das Geschehen und, fast wie in einer gängigen Exposition, verrät diese die Grundtopoi des Films. Zu dem hämmernden Beat der Dust Brothers beginnt der Trip in die Niederrungen der menschlichen Psychosen standesgemäß im zerebralen Angstzentrum des Gehirns des namenlosen 2 Character Narrator. Rasant schießt die Wahrnehmung in wilder Kamerafahrt rückwärts durch die Nervenbahnen eines Gehirns, durchstößt Schädeldecke und Haut, über die Kimme einer Automatikpistole hinweggleitend verharrt der Blick in einer Detailaufnahme direkt auf den Augen der entsetzt starrenden Hauptfigur. Die Stimme der Hauptfigur, die ebenfalls als Erzählstimme fungiert, somit der Character Narrator, führt in die Rahmenhandlung des Films ein und hat hierbei nicht nur verbal erhebliche Probleme, da ihm ein Pistolenlauf zwischen den Zähnen klemmt. Die Anfangsszene 3 steht oppositionell zu den vor allem aus dem Realismus bekannten textuellen Einführungen, in denen ein langsamer, auf die Figur zugleitender Vogelflug installiert wird. Die Bewegung aus dem Nervensystem heraus bricht mit der Simulation einer übergeordneten Erzählinstanz und verankert simultan die Grundproblematik des Films im Gehirn der Hauptfigur. Tyler Durdens Stimme erklingt aus dem off: „Three minutes, this is it, ground zero“, 4 woraufhin der Bedrohte Tylers Präzisionsprengungsgeschichte vergisst und sich fragt, wie sauber die Waffe wohl sei. 5 Die Szene ist kurz vor dem Höhepunkt der Terrorakte angesiedelt, der Sprengung von zehn Hochhäusern, in denen Banken und Versicherungen residieren. Deren Zerstörung wird in der Schlussszene, der Schließung der Rahmenhandlung, zelebriert. Zu Beginn des Films wird nicht nur der bevorstehende Terroranschlag sogleich an die Identitätsproblematik gekoppelt, sondern auch die Struktur der Diegese. „The old saying, that you hurt the one you love, well, it works both ways“ 6 feststellend, wendet sich die Erzählfigur um, 1 Fight Club . Produktion: Twentieth Century Fox Film Corporation, USA, 1999. Regie: David Fincher. Drehbuch: Jim Uhls nach einem Roman von Chuck Palahniuk. Kamera: Jeff Cronenweth. Musik: The Dust Brothers. Darsteller: Edward Norton ( Jack), Brad Pitt (Tyler), Helena Bonham Carter (Marla), Meat Loaf (Bob), Jared Leto (Angel) u.a. 2 Die Figur verbleibt namenlos, allerdings wird dieser im Verlauf der Diegese die Bezeichnung ‚Jack‘ zugewiesen. Im Folgenden u.a.: ‚Jack‘. 3 Vgl. Fincher, Fight Club , 0: 00: 34-0: 03: 08. 4 Fincher, Fight Club , 0: 02: 12. 5 Vgl. Fincher, Fight Club , 0: 02: 22. 6 Fincher, Fight Club , 0: 02: 30. 128 128 Matthias Krumpholz mit dem Blick auf Tyler, der im Muskelshirt, die Waffe hinter dem Rücken verborgen, lässig am Fenster lehnt. Nach einem schnellen Schnitt und durch einen Achsensprung entlang der Blickrichtung Jacks wechselt die Kamera sogleich die Perspektive um 180 Grad und durchbricht dabei den Raum symbolträchtig von innen nach außen, homolog zur Kamerafahrt heraus aus Jacks Gehirn. Das Fenster fungiert hier in einer klassischen Doppelfunktion. Der Blick der Kamera, außerhalb des Gebäudes über erahnbaren Untiefen schwebend, eröffnet die Sicht nach innen (vgl. Abb. 1). Strahlende Bauscheinwerfer, denen von Setscheinwerfern nicht unähnlich, sind um den Erzähler gruppiert, der in Unterhose, einem verschüchterten Kind gleich, auf einem Bürostuhl sitzt. Die Ausleuchtung verhindert mittels im Bild installierter Lichtquellen im Inneren des Gebäudes die gänzliche Überlagerung durch die Spiegelung der zu zerstörenden Hochhäuser. Die Reflektionen durchleuchten den Erzähler leicht, der sich in die Kleinteiligkeit des Gesamtbildes einzufügen scheint. Tyler hingegen, aufrecht, gelassen und monolithisch, durch die Rahmung der Fenster vom Erzähler getrennt, wird stark von der Spiegelung eines Hochhauses überlagert (das videoclipartige Achtzigerjahre-Shirt verstärkt den Eindruck), ein weiteres Gebäude ist parallel sichtbar. Die Figur Tyler wird durchlässig, durchscheinend und optisch der Spiegelung eingepasst, der Raum in Gänze durchschritten - wie zuvor durch den Blickwinkelwechsel der Kamera angedeutet - und löst sich auf. Tyler präsentiert sich schon zu Beginn als keine im Raum klar verankerte Figur, sondern als ein durch Spiegelungen und Reflektionen gebrochenes, durchscheinendes Bildkonstrukt. Durch das Abtrennen der Augen mittels des oberen Bildrands werden der Figur zugleich die hervorstechendsten Identitätsmerkmale genommen. Abb.: 1 David Fincher, Fight Club 129 „We have front row seats for this theater of mass destruction.“ 7 Sowohl Tyler als auch die mit ihm optisch verschmolzenen Hochhäuser werden in der Schließung dieser Rahmenhandlung im Schlussakkord der Theateraufführung symbolisch exekutiert, bzw. gesprengt. Nach zwei Sekunden Standbild kippt die Kamera unvermittelt weg, löst das Bild in Bewegung auf und stürzt in die Tiefe. Das ‚wir‘ bezieht sich auch auf den Zuschauer, der in der ersten Kinoreihe sitzt, quasi in den Film hineingestoßen, der der Konfrontation mit Bedrohung, Tod, Verzweiflung, Massenvernichtung und einem gebrochenen Blick auf die Figuren ausgesetzt wird, um dann unmittelbar fallengelassen zu werden, in einer Drehung wild auf der ebenfalls optisch gebrochenen und durchlässigen Straße aufzuschlagen droht - nur um diese rasant zu durchschlagen, in einer Tiefgarage zu landen und sich in einem Sprengungsszenario und deren technischer Erklärung wiederzufinden. Der physische Raum wird durchbrochen, die schnelle Kamerafahrt zieht den Rezipienten durch ein Schussloch der Windschutzscheibe in den nächsten Bedrohungsraum - nur um im Angesicht der Bombe zu verharren und sogleich im Kamerasog einer Wischblende und rasantem Zoom aus dem Lieferwagen vor der nächsten - noch größeren - Bombe abgelegt zu werden. „I know this because Tyler knows this“, 8 gesteht der Voice-Over-Erzähler, nachdem ein unvermittelter Schnitt statt der Bombe den am Fenster lehnenden Tyler Durden in Rückansicht präsentiert. Die rasant animierte 9 Exkursion in das Sprengungsszenario endet wieder mit dem Frame vor dem Achsensprung und präsentiert sich als Illustration von Jacks Gedankensprüngen und assoziativen Denkstrukturen. Erzähltechnische Unübersichtlichkeit deutet sich an, die Identitätsproblematik des Character Narrator wird klar formuliert, wenn auch für den Zuschauer noch in der Schwebe gehalten. Als Hintergrundgeräusch wird das Ticken einer Stoppuhr hörbar, es folgt ein harter Schnitt, der durch die Kopfbewegung des Character Narrators überlagert wird, welche zwischen den riesigen männlichen Brüsten von Meat Loaf (Bob) endet - der Übergang in die Binnenhandlung der Diegese. Die Anfangssequenz fungiert also einerseits als Rahmenhandlung, zugleich aber auch als Einleitung mit der ‚klassischen‘ Funktion, die Grundtopoi des Films anzuspielen, um in diesem Kontext vor allem mittels Schnitttechnik, Kameraführung und Lichtgestaltung sogleich Ansätze der formalen Machart des Films zu präsentieren. Der Film ist an der Kinokasse gefloppt, mit einem Budget von 63 Millionen Dollar hat dieser nur knapp 100 Millionen wieder eingespielt, über VHS- und DVD-Verleih ist er dann in eine Art Kultstatus erhoben worden. 10 Die Kritiker haben den Film ambivalent kommentiert. Peter Travers äußert sich bspw. im Rolling Stone Magazine begeistert. 11 Olaf Schneeklooth hingegen erkennt und verlagert, kurz nach der Premiere des Films, die faschistischen Tendenzen in die 7 Fincher, Fight Club , 0: 02: 38. 8 Fincher, Fight Club , 0: 02: 55. 9 „Wir müssen eine Methode entwickeln, die der Kamera die Möglichkeit gibt, die Dinge mit der Geschwindigkeit eines Gedanken zu illustrieren.“ (eigene Übersetzung) Smith und Fincher, „Inside Out“, S. 61. 10 Vgl. IMDb, „ Fight Club (1999)“. 11 „Guaranteed: Fight Club will blow your skirt up.“ Und: „ Fight Club pulls you in, challenges your prejudices, rocks your world and leaves you laughing in the face of an abyss. It‘s alive, all right. It‘s also an uncompromising American classic.“ Travers, „ Fight Club “. 130 130 Matthias Krumpholz Notwendigkeit einer Darstellungsweise der präsentierten Gesellschaft, 12 womit er dem Grundthema des Films auf die Spur kommt. Der Film basiert auf der Romanvorlage von Chuck Palahniuk (1996), der jedoch im Vorwort der deutschen Buchausgabe fünf Jahre nach Erscheinen des Films seinen Text in den Erfolg des Films einbettet: Bevor The Weekly Standard »Die Krise der Männlichkeit « ausrief… […] Bevor der Sohn des Gouverneurs von Utah, Mike Leavitt, weil er in einer Mormonenkirche einen Fight Club organisiert hatte, wegen Ruhestörung und Hausfriedensbruch vor Gericht gestellt wurde… […] Bevor in Saturday Night Live der »Fight-Like-A-Girl-Club« eingeführt wurde […]. Bevor die Universität von Pennsylvania Tagungen veranstaltete, auf denen Fight Club auf alle mögliche Art und Weise auseinander genommen wurde, von Freud über Puppenspiel bis Ausdruckstanz… […] Am Anfang war es bloß eine Kurzgeschichte. Nur ein Experiment, einen langweiligen Nachmittag auf der Arbeit totzuschlagen. […] Das Kämpfen war nicht das Entscheidende an der Geschichte. Ich brauchte lediglich die Regeln . Diese belanglosen Grenzsteine, die mir erlauben sollten, diesen Club aus dem Blickwinkel der Vergangenheit und der Gegenwart, aus der Nähe oder von weitem, seine Anfänge und seine Entwicklung zu schildern und jede Menge Einzelheiten und Augenblicke auf nur sieben Seiten zusammenzupacken und dabei den Leser nicht zu verlieren. 13 Davon abgesehen, dass jenes Vorwort eine reine Selbstinszenierung des Autors darstellt, der auf der Welle des Filmerfolgs schwimmt, liefert der Text doch interessante Bausteine. Für den Autor sei nicht das Kämpfen der entscheidende Punkt, sondern vielmehr die Regeln. In doppelter Funktion ist dies hier natürlich als eine Anspielung auf die Regeln des Fightclubs in der diegetischen Arena zu verstehen, vielmehr jedoch ist dies ein Verweis auf die Konstruktionsprinzipien des Textes, mit denen der Versuch unternommen werden soll, Zeit und Raum zu komprimieren und zu perspektivieren. Gleichzeitig liegt aber auch der Fokus zentral auf dem Rezipienten, der einer Informationsdichte ausgeliefert sei, die es zu verarbeiten gelte. Es ist möglich, den daraus entstandenen Film, in dem David Fincher Regie führte und dessen Hauptrollen kongenial mit Edward Norton und Brad Pitt besetzt wurden, unter diversen Gesichtspunkten zu lesen. Wie Palahniuk andeutet, ist der Film psychoanalytisch zu lesen, die Identitätskrise des amerikanischen bzw. westlichen Mannes - die Leere des Subjekts wird versucht, durch ungezügelten Warenkonsum zuzuschütten - wäre auf fehlende väterliche Vorbilder oder abwesende identitätsstiftende Kollektivnarrationen zurückzuführen. Man könnte auch soziologisch bzw. politikwissenschaftlich vorgehen, wie sich diese leeren männlichen Hüllen auf Gewalt und Gemeinschaftsgefühl zurückwerfen lassen, in einem neuen Kollektiv Anerkennung finden und - durch kultische Kämpfe vereint - sich einem Führer unterwerfen, der aus ihnen eine Terrororganisation mit faschistischen Tendenzen formt. Das wären Bausteine, die aber nicht unmittelbar den Kultstatus des Films erklären, den dieser vom linken bis in ein reaktionäres rechtes Gesellschaftsspektrum einzunehmen vermag. 12 „Dem gewaltigen Bildersturm wurden auf dem Filmfestival von Venedig gar faschistoide Tendenzen nachgesagt. Eine ebenso verständliche wie unsinnige Unterstellung. Natürlich trägt Durdens Terrorgruppe ganz klar faschistische Züge - eine namenlose, gewaltbereite und gehorsame Masse. Natürlich ist die anarchistische Farce zutiefst zynisch und menschenverachtend - aber nur, weil die Gesellschaft, die sie karikiert, es ist.“ Schneeklooth, Fight Club . 13 Palahniuk, Fight Club , S. 9ff. David Fincher, Fight Club 131 Zunächst soll der Fokus auf narratologischen Schwerpunkten liegen, um die Sogwirkung des Films exemplarisch auszuleuchten. Und ich glaube, dass diese Sogwirkung schon durch ein Identifikationspotential des Films hervorgerufen wird. Jedoch bin ich der Meinung, dass die Ursache derselben in den Konstruktionsmechanismen des Films zu suchen ist und stark mit Schnitttechnik, Kameraführung und der Anlage des unübersichtlichen und unzuverlässigen Erzählens zusammenhängt. Der Rezipient des Films durchläuft einen Identifikationsprozess, nicht unbedingt nur mit dem Erzähler, sondern mit verschiedenen, perspektivisch unterschiedlichen Figuren, gar mit Erzählinstanzen. Der Zuschauer ‚verschmilzt‘ regelrecht mit der Darstellungsart des Films, die gleichzeitig immer wieder aufgedeckt und thematisiert wird. Das Kino selbst stellt sein eigenes manipulatives Potential aus, um dieses wiederum konsequent zu nutzen. Synchron wird die Narration selbst zu einem unübersichtlichen wie unzuverlässigen Erzählen und entlarvt Durdens ‚Philosophie‘ einer verlorenen Generation, nihilistischer Wiedererweckung und kollektiven Aufgehens in einer Gemeinschaft als Phrasen, die zwar rhetorisch geschickt gesetzt sind, den Rezipienten manipulieren und als Identifikationsangebot bereitstehen, jedoch eben auch durch erzähltechnische Konstruktionen als jene Gemeinplätze ausgestellt werden. Trotz eines prozesshaften Verlaufs vollzieht sich die Identitätsgenerierung der Hauptfigur in einem Dreischritt, der ästhetisch durch die Darstellung seiner Umgebung flankiert wird. In der Ausgangssituation konstituiert sich das Selbstbild Jacks rein über Konsum, der dann zunächst durch Gewalt und kleine subversive Hausaufgaben 14 in den Fight Clubs ersetzt wird, um sich anschließend durch straffe Organisationsführung, Führerprinzip und Indoktrinierung in eine faschistische Gruppe zu wandeln. 15 II. Marlas Rauchstudie Im Folgenden werden diverse Konstruktionsmechanismen des Films in den Blick genommen, da diese den Schlüssel zu einem möglichen Verständnis anbieten können. Im Zuge dessen werden gleichzeitig semantische Schwerpunkte angerissen, welche der Film setzt. Jack begibt sich in eine Selbsthilfegruppe für Männer, die an Krebs leiden, um seine Schlaflosigkeit durch voyeuristisches und heuchlerisches Miterleben des fremden Leids sowie durch die Möglichkeit des eigenen Weinens zu lindern. „Every evening I died, and every evening I 14 Laass erkennt treffend, dass der Kultstatus natürlich durch das Identifikationspotential hervorgerufen wird, einerseits da Tyler die Möglichkeit zur Artikulation von Wut und Ängsten bietet, gleichzeitig diese jedoch als Auflehnung (mittels der Hausaufgaben) gegen kapitalistische Gesellschaftsstrukturen kanalisiert werden: „Another reason why the Fight Club becomes a sub-cultural mass movement is that Tyler not only voices anger with capitalist society and provides an outlet for it on an individual level, but, as a second step in the development of the movement, also provides an outlet for his anger on a more global level. By way of ‚homework assignments ‘ , he comes up with numerous ideas on how to subvert capitalist societal structures […].“ Laass, Broken Taboos , S. 155. 15 Auch Laass formuliert die Fehleinschätzung mancher Rezipienten bzgl. sogenannter linker Kapitalismuskritik und unterstreicht die faschistischen Tendenzen des Project Mayham: „Curiously, however, the political attitude Tyler embodies is much less clearly definable as left-wing radicalism than it may first seem. The concept of masculinity underlying the idea of the Fight Club is already rather contrary to leftist gender politics, after all. Moreover, the more elaborate the organisation becomes, the more clearly its structures develop fascist traits.“ Laass, Broken Taboos , S. 155. 132 132 Matthias Krumpholz was born again. Resurrected.“ 16 Der Wunsch nach Erneuerung und Wiedergeburt ist schon hier in der individuellen Erzählinstanz angelegt. „Pressed against his [Bobs, MK] tits. Ready to cry. This was my vacation.“ 17 Der Rezipient wird, auch durch die intime Nahaufnahme unterstrichen, in unmittelbare Nähe zu dem Erzähler gerückt, geradezu gemeinsam mit diesem in dessen Urlaub verfrachtet. „Durch vielfältige Mittel werden die Zuschauer dazu gebracht, Jacks Wahrnehmungsperspektive zu teilen: […] Übereinstimmende Blickrichtungen, subjektive Einstellungen, Nahaufnahmen und Kamerabewegungen richten die Aufmerksamkeit immer wieder auf Gegenstände, denen auch Jack sich zuwendet. Diese Passung visueller und akustischer Aufmerksamkeit intensiviert den Eindruck eines geteilten Wahrnehmungsraums und vertieft das Verständnis der Bedeutung, die die jeweilige Situation für Jack besitzt.“ 18 Das Einbeziehen des Rezipienten ist jedoch komplexer und multiperspektivisch angelegt. Marla Singer betritt die Selbsthilfegruppe für Hodenkrebs. „[A]nd she ruined everything.“ 19 Das „she“ bezieht sich sowohl auf Marla als auch auf den Zuschauer, der ebenso als voyeuristische Instanz in der Szene installiert wird. Marla wird zum Fremdkörper für den Character Narrator. „Her lie reflecting my lie.“ 20 - Und auf einmal verspürt der Erzähler nichts mehr. Die Sequenz, 21 Marlas Rauchstudie, dient zur Illustrierung der verwendeten Schnitttechnik, die eingesetzt wird, um den Zuschauer in die Diegese einzubauen. Jack ist während dreier Sitzungen von Selbsthilfegruppen zu sehen, die aneinandergeschnitten sind. Währenddessen berichtet er als Voice-Over-Narrator, die Schnitte verbindend, wie Marla diese Sitzungen infiltriert. In der Szene schwenkt die Kamera in fast ballhausscher Manier in einer 180-Grad- Drehung durch den Raum; das ist typisch für die Kameraführung, sobald Figuren ausgeleuchtet werden. Die Rauchstudie zeigt, wie schnell eine eigentlich sehr entspannende Tätigkeit geschnitten ist, wodurch der Film ohne rasche Bewegungen in der Diegese Dynamik bekommt. Jacks (Hinter-)Kopf wird hier erneut als Motiv für den Erzähler eingeführt. Der Character Narrator spricht, nur sein Hinterkopf ist sichtbar. Marlas Daumen wird kurz (nur drei Frames) eingeschnitten, das Feuerzeug haltend und Funken schlagend, eine Flamme zu erzeugen scheitert. Das Klicken des Feuerzeugs erregt jedoch die Aufmerksamkeit des Character Narrator. Es folgt ein schneller Schnitt auf Marla in einer Aufsicht von oben, der Hut verdeckt ihr Gesicht (vgl. Abb. 2). Das Entflammen der krebsbringenden Zigarette gelingt, woraufhin ein harter Schnitt auf den Hinterkopf des Erzählers folgt. Ähnlich der Eingangssequenz vollführt die Kamera einen 180-Grad-Achsensprung und dem Rezipienten wird gewahr, dass Marla direkt hinter dem Erzähler Jack sitzt, der nun aggressiv und verstohlen sein Gesicht Marla zuwendet, den Raum mit Blicken durchmisst und direkt in die Kameralinse und somit die Augen der Zuschauer blickt (vgl. Abb. 3). Darauf schließt ein plötzlicher Schnitt in die Frontale und Großaufnahme auf Marla Singer an (vgl. Abb. 4). In diesem Moment fallen Marla und Rezipient durch die identische Position zusammen, die Position, die eine Zehntelsekunde zuvor der Rezipient eingenommen hat, wird durch Marla Singer ersetzt, genüsslich als Elendstouristin an ihrer Zigarette ziehend. Die einzige nennenswerte Frauenfigur des Films wird mit schwarzem Hut 16 Fincher, Fight Club , 0: 11: 18. 17 Fincher, Fight Club , 0: 11: 35. 18 Eder, „Imaginative Nähe“, S. 154. 19 Fincher, Fight Club , 0: 11: 45. 20 Fincher, Fight Club , 0: 12: 19. 21 Vgl. Fincher, Fight Club , 0: 11: 29-0: 12: 40. und dunkler Sonnenbrille maskiert abgelichtet, der grau-silberne Zigarettenrauch verschleiert ihre Identität gänzlich. Natürlich wird Marla zu einer Reflektion Jacks eigener Lüge, doch darüber hinaus kann die Figur auch zur Projektionsfläche nicht nur für den Erzähler werden. Der Zuschauer selbst wird zum lügenden Elendstouristen, in der Diegese wie im Medium des Films, dessen Blick durch den Rauch visueller Effekte und rhetorischer Kniffe vernebelt wird. Die Kamera vollführt nach dem Schnitt wieder einen 180-Grad-Achsensprung, Jack ist in der rechten Bildhälfte als Close-up, Marla rauchend und unscharf im Hintergrund zu sehen. Der Voice-Over-Erzähler übernimmt erneut die Regie der Erzählung. Abb. 2-4 Daraufhin verlässt dieser die Räumlichkeiten, wie der Zuschauer etwas orientierungslos, sucht nach Marla und erspäht diese (vgl. Abb. 5). Der teilnehmende Beobachter ist in der Diegese installiert. Der aufmerksame Rezipient nimmt an dieser Stelle jedoch eine Irritation war, ein kurzes Flackern in der rechten Bildhälfte. Direkt neben dem Erzähler wird ein Frame von Tyler Durden eingeschnitten, der zu diesem Zeitpunkt als Figur in der Diegese noch nicht eingeführt ist (vgl. Abb. 6). Die Farbcodierung aus schwarz-silbernem Rauch und der braun-gelb-ockerfarbenen Lichtinstallation im Innenraum wird auf den Außenbereich, die Straße, übertragen. Marla wandelt rauchend im eckigen Torbogen, wie ein einzelner materieller Frame einer Filmrolle, im Durchgang auf der rechten Seite befindet sich der Warnhinweis „slow“ - hier gilt es die Betrachtung zu verlangsamen. Der Aufbau des Settings verweist direkt auf die Konstruktion und Schnitttechnik des Films. Tyler blitzt auf, Marla (zuvor der Zuschauer) und Tyler (die imaginierte Figur) fallen hier durch Schnitttechnik in einer Position ineinander. Marla befindet sich noch in ihrer Rauchbewegung, der Erzähler dreht den Kopf, als ob er erwarten würde, Tyler zu sehen, der sich im Rücken von Marla und für diese wie für den Zuschauer scheinbar unsichtbar einschiebt - das Bild von Tyler ist in einer ähnlichen Bewegung wie Marla zuvor eingefroren, im Begriff sich eine Zigarette anzustecken. Marla wird von Tyler überblendet und das Problem Marla Singer vom noch größeren Problem Tyler Durden überlagert, der sich zwischen Erzähler und den Figuren der Diegese einschiebt. Der Zuschauer wird in dieser Szene zur Touristin. Diese Art der Kameraführung und Schnitttechnik wird zu einem Prinzip des Films. Durch das multiperspektivische Erzählen nimmt der Zuschauer nicht nur die Position von Jack sondern diverse Rollen ein, wodurch eben kein Miterleben über eine einzelne Figur, sondern das Involvieren des Rezipienten in die Gesamtdiegese erreicht wird, trotz aller Brüche. David Fincher, Fight Club 133 134 134 Matthias Krumpholz Abb. 5 Abb. 6 Der in der Kellerarena stattfindende Faustkampf 22 des Erzählers mit Angel Face markiert eine Umcodierung der Gewaltdarstellung im Film. Ist die Gewalt der Faustkämpfe selbstredend auch zuvor vorhanden, wird jene in dieser Szene zum ersten Mal negativ konnotiert, das Gebot des Wettkampfs wird außer Kraft gesetzt und stattdessen rohe, entfesselte Gewalt, ohne jede Form der Selbstbeschränkung, ausgestellt. Diese semantische Verschiebung ist im Anschluss an die Bedrohung des Polizeipräsidenten geschnitten und kennzeichnet analog die dramaturgische Darstellung des endgültigen Umschlagens der subversiven Vereinigung in eine kriminelle Organisation. Angel Face wird vom Erzähler brutal niedergeschlagen, in einer Draufsicht des am Boden Liegenden werden die auf ihn einprasselnden Schläge abgefilmt, schnelle eingeschobene Schnitte zeigen das Entsetzen der im Kreis Umherstehenden, woraufhin die Kameralinse die Perspektive des halb bewusstlosen Angel Face einnimmt und verschwommen die auf die Linse zurasenden Fäuste 23 zeigt. War der Zuschauer zuvor in Form von Marla störender Beobachter, wird er nun zum Opfer. Blutbesudelt kniet der Erzähler, langsam aus dem Gewaltrausch aufwachend, über dem Opfer, um sogleich mit einer teilnahmslosen Geste von dannen zu schreiten. Der Kampf der Männer im Ring, d. h. die dort ausgeübte Gewalt, wird umgewertet und verschiebt sich zur Lust an der Zerstörung: „I felt like destroying something beautiful.“ 24 Eine Kameraneigung von 90 Grad markiert die Umwertung. Der Erzähler verlässt mit Tyler den Keller, eine Treppe hinaufsteigend. Die Kamera nimmt die Perspektive des auf dem Boden liegenden und an die Kellerdecke starrenden Angel Face ein, 25 umrahmt von den auf ihn blickenden Zuschauern, um in einer vertikalen 90-Grad-Neigung über die Schädeldecke hinwegzukippen und das vorherige Bild des Aufstiegs auf den Kopf zu stellen (vgl. Abb. 7). Das Heraufsteigen aus dem Keller wird zum spiegelverkehrten Abstieg in die Welt des Terrors. Die Kameraperspektive zeigt in diesem Fall den Opferstatus des Zuschauers an und kehrt die Vorzeichen von Gewalt sowie die ursprüngliche Idee der Rückgewinnung von Selbstbewusstsein einer scheinbar verlorenen Männergeneration um. Im Anschluss verursacht Tyler, der noch nicht als die Erscheinung der dissoziativen Persönlichkeitsstörung 26 des Erzählers eingeführt ist, einen Autounfall, um zu seinem absoluten Nullpunkt zu gelangen. 22 Vgl. Fincher, Fight Club , 1: 33: 18-1: 34: 54. 23 Vgl. Fincher, Fight Club , 1: 34: 15. 24 Fincher, Fight Club , 1: 34: 39. 25 Vgl. Fincher, Fight Club , 1: 34: 49. 26 Heike Schwarz weist das Krankheitsbild in Bezug auf Palanhiuks Roman überzeugend nach, stellt die Erscheinungsformen der Krankheit in einen theoretischen Kontext und verknüpft diese mit einer Gesell- Abb. 7 Die Verwendung von Achsensprüngen und Neigungen der Kamera involvieren den Zuschauer in die Diegese und markieren in diesem Fall einen zentralen Wendepunkt im Plot, durch kurze Einschnitte von Frames wird Durden in die Narration eingebracht. Über das ausgeführte Beispiel hinaus ist Tyler, bevor er als diegetische Figur im Flugzeug auf den Erzähler trifft, noch an drei weiteren Stellen kurz zu sehen. Diese Technik kann als ein Darstellungsprinzip der dissoziativen Persönlichkeitsstörung des Erzählers in der extradiegetischen Erzählinstanz verstanden werden. Durch das Aufblenden Tylers wird darüber hinaus Irritation beim Zuschauer erzeugt. Im Folgenden werden nun Konstruktionsprinzipien des unzuverlässigen Erzählens näher beleuchtet. Narratologische Instanzen und Kapitalismuskritik Wie oben an zwei Szenen gezeigt veranlassen narratologische Auffälligkeiten Steinke 27 zu folgender Feststellung: „Assoziationsabläufe und Denkprozesse, die im Vorspann als helles Aufleuchten umhertreibender Teilchen sichtbar werden […], erweisen sich als prägend für die gesamte Erzählung. Derartigen Prozessen entsprechend bildet sich die Erzählung nicht stufenweise heraus und beschreibt keinen geradlinigen Handlungsverlauf, sondern sie verzweigt sich - beinahe wie ein Rhizom - in sämtliche Richtungen.“ 28 Diese Verzweigungen zeigen sich sowohl auf der Ebene der temporalen Ordnung wie auf der dramaturgischen. In Bezug auf die temporale Ordnung kann beispielsweise eine Analepse zweiten Grades beobachtet werden. 29 Der Film beginnt mit der eingangs erwähnten Rahmenhandlung, durch die Erzählerstimme wird eine Analepse in die Binnenhandlung forciert. In dieser Binnenhandlung bricht der Character Narrator seine Erzählung in der Selbshilfegruppe ab, wohl wissend, dass seine Analepse nicht ausreichend sein wird, um dem Zuschauer, dessen schaftsdiagnose. Vgl. Schwarz, Beware of the Other Side(s) , S. 317-333. 27 Ich werde mich im Folgenden an dem Aufsatz von Steinke orientieren, auf den sich ebenfalls Laass in ihrer Analyse bezieht. 28 Steinke, „Filmische Irrwege“, S. 150. 29 Vgl. Steinke, „Filmische Irrwege“, S. 150. David Fincher, Fight Club 135 136 136 Matthias Krumpholz sich der Erzähler bewusst sein muss, 30 mit ausreichend Informationen auszustatten: „No, wait. Back up. Let me start earlier.“ 31 Der Erzähler vollzieht eine Analepse in der Analepse, somit eine Analepse zweiten Grades, 32 bezeichnender Weise zu dem Punkt seiner Darstellung der Schlaflosigkeit. Sein behandelnder Arzt mahnt den Erzähler, auf natürliche Weise Schlaf zu finden und gibt diesem den Hinweis, an Selbsthilfegruppen teilzunehmen, falls er wahrliches Leid beobachten möchte. In einer dieser Selbsthilfegruppen schließt sich die Analepse zweiten Grades, die Binnenerzählung wird fortgeführt bis zur letzten Filmszene, dort schließt sich dann die Rahmenerzählung der Eingangssequenz. 33 Die Schlaflosigkeit wird somit strukturell exponiert und vom Character Narrator als so wichtig eingestuft, dass der Hinweis kaum zu übersehen ist, dass die Schlaflosigkeit zu einem handlungstreibenden Element wird. Der Kopf des Character Narrator ist nicht nur das organisierende Prinzip der temporalen Verlaufsstruktur, 34 vielmehr, wie in der Anfangssequenz durch die neuronalen Blitze im Gehirn des Erzählers angedeutet, schreiben sich Gedankenblitze und deren Prozesse in die Binnendiegese ein und beeinflussen den Handlungsverlauf, indem diese die äußere Handlung wiederholt durchbrechen und kleine Nebenhandlungen aufmachen. Es ist entscheidend zu betonen, dass diese erzählerische Unübersichtlichkeit nicht missverstanden werden darf als erzählerische Unzuverlässigkeit, welche „die Inadäquatheit der Darstellung der fiktionalen Welt meint.“ 35 Das sind zwei narrative Aspekte, die jedoch im Film in wechselseitiger Abhängigkeit stehen. Im Film hingegen liegen zwei narrative Instanzen vor, eine extradiegetische Vermittlungsinstanz 36 und ein intradiegetischer Erzähler. Die extradiegetische Vermittlungsinstanz wird als Konstrukt begriffen, das Fundament für den Gesamtdiskurs des Films. 37 Den intradiegetischen Erzähler stellt der Voice-Over-Erzähler dar, der Character Narrator des Films, die Hauptfigur, die als überlagernde Erzählstimme Handlungen und Gedankengänge kommentiert, relativiert und versucht Zusammenhänge herzustellen, sowie vermeintlich philosophische Reflexionen einschiebt. Hier ist Steinkes These anschlussfähig, dass „[d]ie erzählerische Unsicherheit in FIGHT CLUB eine Konsequenz der Übernahme von Aufgaben der extradiegetischen Vermittlungsinstanz seitens der intradiegetischen Vermittlungsinstanz [sei].“ 38 Die Organisation der Erzählung wird im Film in großen Teilen an diesen intradiegetischen Erzähler abgegeben - wie am Beispiel der Analepse zweiten Grades erwähnt. Entsprechend der psychisch labilen Disposition der Erzählerfigur, hervorgerufen durch Schlaflosigkeit und eine dissoziative Persönlichkeitsstörung, gestaltet sich die Narration als unübersichtlich und unsystematisch. In der Folge dieses Arrangements werden Spuren von narrativer Unzuverlässigkeit wahrnehmbar, quasi als Potenzierung der Unübersichtlichkeit. Denn - und das ist der Hauptgrund: Der Character 30 „Jacks Worte richten sich an niemanden und demnach indirekt ausschließlich an den Zuschauer. Auf diese Weise wird die Narration von der ersten Minute an selbstbewusst in den Vordergrund gerückt, so wie der Akt des Erzählens an sich hervorgehoben wird.“ Heiser, Erzählstimmen , S. 317. 31 Fincher, Fight Club , 0: 03: 50. 32 Vgl. Steinke, „Filmische Irrwege“, S. 150. 33 Vgl. Steinke, „Filmische Irrwege“, S. 151. 34 Vgl. Steinke, „Filmische Irrwege“, S. 151. 35 Steinke, „Filmische Irrwege“, S. 151. 36 ‘Vermittlungsinstanz‘ deshalb, da hier auch Kameraführung, Musik, Geräusche etc. eingeschlossen sind. 37 Vgl. Steinke, „Filmische Irrwege“, S. 151f. 38 Steinke, „Filmische Irrwege“, S. 152. Narrator ist nicht in der Lage, die Geschichte wahr bzw. angemessen wiederzugeben, bis zum Change-Over. 39 In der Binnenerzählung gründen der namenlose Erzähler und Tyler Durden die Fight Clubs, um einer Generation von Männern, die dem Anschein nach nur von Frauen erzogen und der männliche Vorbilder entzogen wurden, wieder ein sinn- und gemeinschaftsstiftendes Element zu schenken. Auf Grund unsinnigen Konsums und der Verrichtung ihrer als noch sinnloser empfundenen Jobs ist die Frustration der Männer so enorm, dass diese Leerstelle in der Untergrundselbsthilfegruppe nur durch exzessive Gewalt, scheinbar nihilistische Gesellschaftskritik und einen männerbündlerischen Verschwiegenheitskodex gefüllt werden kann. Initiationsriten und das Zur-Schau-Stellen der in den Kämpfen erlittenen Wunden lässt ein Gemeinschaftsgefühl entstehen, das den Männern in der amerikanischen Gesellschaft anscheinend gefehlt hat. Tyler macht, wie einst sein Vater dies mit Familiengründungen tat, Filialen der Boxclubs im ganzen Land auf. Zusätzlich beginnen die Mitglieder, von Tyler angeordnet, Provokationen und Sabotageakte als Hausaufgaben durchzuführen. Diverse Rezensenten, Kommentatoren und Autoren 40 haben hierin anarchistisches Vorgehen gesehen, was natürlich unzutreffend ist. Anarchie ist ein komplexes politiktheoretisches Phänomen und kann nicht mit ‚Chaos‘, ‚Widerstand‘ o. Ä. gänzlich gleichgesetzt werden. 41 „Offenbar ist Fight Club keineswegs anarchistisch: regressive Wünsche werden zensiert, durch traditionelle Werte aufrechterhalten.“ 42 So besetzt Tyler umgehend die Leerstelle der Männer als eine Art ‚charismatischer Herrscher‘, 43 der autoritär und kultisch regiert. Radikalisiert wird das Konzept, als die Fight Clubs vom Keller an die Oberfläche wandern und sich zu einer straff organisierten Terrorgruppe verändern. Die Gewalt wird mittels einer Terrororganisation aus dem inneren Zirkel heraus in die Gesellschaft getragen, auch mit Todesopfer in den eigenen Reihen. Als der Erzähler bemerkt, dass er im kultischen und organisatorischen Mittelpunkt der Bewegung steht, dies jedoch nicht versteht, macht er sich durch das Land fliegend auf die Suche nach dem verschwundenen Tyler, denn „Tyler had been busy, setting up franchises all over the country.“ 44 Dieser erscheint unvermittelt in einem Hotelzimmer. Dort wird klar, dass der Character Narrator, die namenlose Figur der Diegese, und Tyler ein und dieselbe Figur darstellen; die dissoziative Persönlichkeitsstörung wird nun auch dem intradiegetischen Erzähler bewusst. „It‘s called the change-over, the movie goes on and nobody in the audience has any idea.“ 45 Szenen wie die Bedrohung des Polizisten Jacobs, der gegen das Project Mayham ermittelt, der Geschlechtsverkehr mit Marla Singer und nicht zuletzt die Schlägereien mit Tyler selbst werden im Erkenntnisprozess der Figur mittels schneller Schnitte in einem selbstständigen Erzählakt umcodiert und mit dem Erzähler neu besetzt. Es wird sowohl dem Rezipienten als auch dem Character Narrator mehr als deutlich, dass die vorangegangenen 112 39 Vgl. Steinke, „Filmische Irrwege“, S. 153. 40 Bspw. Desalm, die die Aktionen der Gruppe als „anarchistische Spielchen“ bezeichnet, vgl. „Extreme Mittel“, S. 175. 41 „Der Anarchismus umfaßt sowohl eine Theorie als auch ein Programm der Befreiung, die dem Menschen eine Grundlage dafür liefern sollen, sich aus seiner Verstrickung in Unterwerfungsideologien (Stichwort: Patriarchat) und Unterwerfungsordnungen […] zu lösen.“ Senft, „Glanz und Elend“, S. 32. 42 Höss, „Machismo als Gesellschaftskritik“, S. 354. 43 Sicherlich auch im Sinne Webers zu verstehen. 44 Fincher, Fight Club , 1: 46: 55. 45 Fincher, Fight Club , 1: 50: 00. David Fincher, Fight Club 137 138 138 Matthias Krumpholz Minuten der Binnenhandlung nur unter dem Vorzeichen der völligen Unzuverlässigkeit auf zwei Ebenen zu betrachten sind: zum einen intradiegetisch, in der die äußerst unzuverlässige, an dissoziativer Persönlichkeitsstörung leidende Stimme des Character Narrator die Diegese als Voice-Over-Stimme begleitet und kommentiert, aber auch als Off-Stimme auftritt. Die extrem schnellen Schnitte und die rasante Abfolge der kurzen Szenen werden durch die Stimme des Character Narrator verbunden, strukturiert und eingeordnet. Dadurch, dass diese Sicherheit für den Zuschauer nun wegbricht, kann in keiner Weise mehr der Wahrheitsanspruch des Gesehenen und Gehörten für den Film und, wie sich noch zeigen wird, für das Medium Kino selbst, gelten. Ein Grund für unzuverlässiges Erzählen ist also auf den Erzähler zweiter Ordnung, den Character Narrator, zurückzuführen. In diesem Fall lässt sich die narrative Unzuverlässigkeit an einer Figur der Diegese festmachen, jedoch präsentiert sich diese auch auf der Diskursebene des Films und findet sowohl in der Binnenwie auch der Rahmenhandlung statt, verbindet gar beide Handlungen strukturell. Das ist auch die Ebene, auf welcher der discours eine metareflexive Funktion auf das Medium des Films und Kinos selbst einnimmt. Somit ist, laut Helbig, die Fragestellung von entscheidender Bedeutung, „wie sich erzählerische Unzuverlässigkeit im Film manifestiert, wenn sie nicht an eine intradiegetische Erzählfigur gebunden ist.“ 46 Eines der konstituierenden Merkmale eines Films oder Textes ist zunächst die Verlässlichkeit der extradiegetischen narrativen Instanz, die sich nicht durch ‚Sprache‘, sondern die Mittel der Präsentation und Konstruktion der fiktionalen Welt offenbart. Grundsätzlich ist die extradiegetische Vermittlungsinstanz vertrauenswürdig, da diese die Grundlage für alle Informationen bietet, außer diese „artikuliert sich als fehlende Gewissheit hinsichtlich allen Geschehens. Die dort präsentierte Welt gerät aus den Fugen, Unstimmigkeiten und Paradoxien verhindern ein einheitliches Bild des fiktionalen Universums.“ 47 Eine Folge der Installation eines Character Narrator ist die zunehmende Distanz der extradiegetischen Erzählinstanz von der Darstellung selbst, was hier zur Folge hat, dass die entstehende Lücke von der imaginierten Figur Tyler Durden gefüllt wird, bzw. dieser gar versucht - wie in der Szene mit Marla Singer gezeigt werden konnte - dramaturgisch agierende Figuren zu überlagern. Im filmischen Abschnitt des Change-Over verwackelt nun in den dynamisch geschnitten und mit Jack umcodierten Einschüben das Bild im Close-Up der Figur (vgl. Abb. 8). Der Film läuft aus der Spur, die Ränder einer traditionell gebrauchten Zelluloidrolle werden sichtbar, das materielle Medium des Films gerät in dem Moment außer Kontrolle, in dem der erzähltechnische Kontrollverlust und die Persönlichkeitsstörung der Figur offenkundig werden. Das ist vorher schon zu bemerken. Der Kontrollverlust des extradiegetischen Erzählens ist zuvor im selben Arrangement bei Tyler zu sehen und verbindet nun auch auf Diskursebene Tyler mit Jack. In diesem Ausschnitt 48 offenbart Tyler, ebenso direkt im Close-Up frontal in die Kamera, seine konsumkritische Weltsicht, die das Subjekt auf einen singenden, tanzenden Abschaum der Welt reduziert, seine Idee vom Nullpunkt, auf den jeder zu kommen habe, um wahre Freiheit zu erfahren. 46 Helbig, „Erzählerische Unzuverlässigkeit“, S. 78. 47 Steinke, „Filmische Irrwege“, S. 156. 48 Vgl. Fincher, Fight Club , 1: 19: 40-1: 22: 26. Abb. 8 „You‘re not your job. You‘re not how much money you have in the bank. You‘re not the car you drive. You‘re not the contents of your wallet. You‘re not your fucking khakis. You‘re the all-singing, all-dancing crap of the world.“ 49 Der kurze Monolog beendet eine längere Sequenz 50 , in welcher Durden zu Beginn jene ‚subversiven‘ Hausaufgaben an seine Gefolgsleute verteilt, die in Reih und Glied anstehen müssen, um diese zu empfangen. Im Zuge der zu erledigenden Aufgaben zerstören Durdens Trupps Videobänder, Autos, Satellitenschüsseln, Güter der Konsumgesellschaft. Konsum sei an die Stelle von Identität getreten. Zuvor zwingt er, als selbstgewählte Hausaufgabe, einen Verkäufer mit vorgehaltener Waffe wieder Tiermedizin zu studieren - nur zu dessen eigenem Vorteil -, woraufhin ein Computerladen (eine symbolische Sprengung von Simulationstechnik) in die Luft fliegt. In den als gesellschaftliche Subversion gedachten Aktionen ermächtigt sich Durden der individuellen Entscheidungsfähigkeit des Subjekts, das eigene Leben autonom zu gestalten. Der Verkäufer wird seiner Autonomie beraubt, scheinbar ein falsches Leben im Falschen lebend. Durden setzt seine gewaltsame Herrschaft über den Menschen statt einer selbst gewählten Lebensführung. Der durch Todesangst ausgeübte Zwang zum Studium der Tiermedizin impliziert die Annahme, dass rein mangelnder Wille die Ursache für den Abbruch des Studiums sei. Durden substituiert subjektive Autonomie und Konsum durch Macht und Unterdrückung, jedoch rhetorisch als altruistischer Akt präsentiert. „You‘re the all-singing, all-dancing crap of the world.“ Tylers Verachtung der Identitätsbildung durch Konsum wird jedoch unterlaufen, da er sich selbst als imaginierte Figur herausgestellt hat. Tylers Gesicht verschwimmt (vgl. Abb. 9), die Filmrolle läuft aus der Führung, sein entschlossen-unerbittliches Antlitz wird zur Unkenntlichkeit verzerrt, bleibt nur noch Schatten. Durden macht sich auf den Weg, den Raum der filmischen Repräsentation zu verlassen, um die Kontrolle, auch im materiellen Sinne, über den Film zu erlangen. In doppelter Bewegung fällt auf intra- und extradiegetischer Ebene Machtausübung zusammen, die jedoch durch eigene Bedingtheit subvertiert wird; beide Ebenen, Diskurs wie Diegese, erweisen sich als hochgradig unzuverlässig. Durch diese Konstruktion wird die Konsumkritik von Durden untergraben und als hohle, imaginierte Phrase aufgedeckt. 49 Fincher, Fight Club , 1: 22: 01. 50 Vgl. Fincher, Fight Club , 1: 17: 11-1: 22.26. David Fincher, Fight Club 139 140 140 Matthias Krumpholz Abb. 9 Vor diesem Hintergrund des Diskurses, der hier exemplarisch offengelegt wurde, ist nun auch die Entwicklung des Untergrundboxclubs zu beurteilen, der aus den Ideen der Hauptfigur erwächst. Desalm schreibt nahezu aufgebracht: Je drakonischer die Regeln, desto glücklicher wirken sie [die Gefolgsleute Durdens, MK]; wenn das Fernsehen einen Bericht über ihre neusten Heldentaten zeigt, wird mit Bierdosen angestoßen. Die verspäteten Nachfahren der Urhorde, vaterlos, obwohl ihnen der rituelle Vatermord verweigert wurde, müssen sie sich dennoch selbst die Gesetze geben. In Tyler Durdens Sätzen über die in der Shoppinggesellschaft aufgegangenen Spezies der Jäger oder über Selbstzerstörung, die besser sei als Selbstverbesserung, ist Nietzsche aufgekocht zu aalglatten Werbeparolen. 51 Dass Nietzsche für Durdens philosophische ‚Aphorismen‘ nicht einmal ironisch oder sarkastisch als Gewährsmann dienen könnte, ist unbestreitbar. So ist beispielsweise Nietzsches Konzept des Nihilismus, welches Tyler Durden an verschiedenen Stellen untergeschoben wurde, als (mindestens) zweistufiger Ansatz zu denken, welches in die komplexe Denkstruktur eines Verhältnisses des Willens zur Macht, des Willens zum Nichts und der Dualität eines reaktiven und aktiven Lebens eingebettet ist. „Der primäre Sinn des Nihilismus fand sein Prinzip im Willen zur Verneinung als Wille zur Macht. Der zweite Sinn, ‚Pessimismus aus Schwäche‘, findet sein Prinzip allein im nackten, reaktiven Leben, in den auf sie selbst zurückgeworfenen reaktiven Kräften. Der erste Sinn symbolisiert einen negativen Nihilismus, der zweite einen reaktiven Nihilismus.“ 52 Das Konzept erweitert sich zum dreistufigen Modell, eingebettet in Nietzsches berühmtes Diktum vom Tod Gottes. „So erzählt führt uns die Geschichte freilich immer noch zum gleichen Schluß: Der Ersetzung des negativen Nihilismus durch den reaktiven Nihilismus , der sich im passiven Nihilismus vollendet. Von Gott zum Mörder Gottes, vom Mörder Gottes zum letzten Menschen. Aber dieses Ende bleibt noch Wissen des Wahrsagers.“ 53 Der Hauptfigur und seinem Alter Ego kann sicherlich nicht der Status des Wahrsagers zugeschrieben werden, wenn überhaupt, dann kommt diese Rolle dem Kino selbst zu. 51 Desalm, „Extreme Mittel“, S. 190. 52 Deleuze, Nietzsche , S. 162. 53 Deleuze, Nietzsche , S. 165. Dem Willen zur Gewalt gegen die eigene Person, ausgeübt in der eigenen Gruppe und schließlich in die Gesellschaft getragen, kann sich mittels dem Verhalten des Individuums, seinem Verhältnis sich selbst gegenüber und der daraus resultierenden Machtstruktur angenähert werden. Fabricius, der den Film mit Deleuze und Baudrillard im postmodernen Simulationsprozess der Zeichen auf homosoziale Beziehungen untersucht, entlarvt natürlich, ohne in altpsychologische Deutungen zu verfallen, die beschworene Leere des Subjekts, die sich daraufhin als männliches Generationenproblem manifestiert, als Ideologie. Allerdings wendet sich im Film das ‚duale‘ und ‚dualhafte‘ homosoziale Begehren letztlich gegen sich selbst, die anarchistische Subversion kapitalistischer Symbole und Stabilität mündet in paranoid-faschistoiden Strukturen. Dabei erweist sich die Rede von einer ‚Krise der Männlichkeit‘, die den gesamten Film durchzieht, selbst bereits als ideologische Voraussetzung für die mikrofaschistische Männlichkeit, die durch die homosoziale Struktur begründet wird. 54 In Deleuzescher Terminologie formuliert, wird im Zweikampf der Versuch unternommen, die zu überwindende Leere des Mannes durch beliebige Gewalt als Selbstzweck und quasi-religiöses Heilsversprechen 55 im Akt der Selbstauslöschung zuzuschütten. Als Ursache sieht Fabricius - sein Ansatz bleibt das Verhältnis des Mannes zum Mann, imaginiert oder nicht -, dass auch der Versuch der physischen Herstellung von Resonanz 56 scheitert. „Die Inszenierung mann-männlicher Unmittelbarkeit kann daher nicht wirklich die Kontingenz der kulturellen ‚Texte‘ [Kapitalismus, MK] durchbrechen, sondern schreibt die universelle Produktion von Realität (und Repression) mit besonderer Insistenz fort.“ 57 Und hier liegt ein entscheidender Punkt. Das kulturell-kapitalistisch verfasste System von Ausbeutung, Leistung, Konsum und Status wird zwar als kontingent aufgefasst, in annähend dialektischer Bewegung jedoch reproduziert und radikalisiert, nur unter anderen Vorzeichen und sowohl semantisch, im Prinzip der Darstellung, wie auch ästhetisch fortgeführt. Die Sequenz 58 , in der Tyler Durden die Regeln des Fight Club verkündet, und die anschließende Reflexion Jacks über dessen Bedeutung kann exemplarisch hierfür herangezogen werden. Die dissoziative Persönlichkeitsstörung präsentiert sich durch die Aufspaltung einerseits in der verbalen aktiven Ansprache Durdens und andererseits in der Voice-Over-Narration Jacks. „It was right in everyone‘s face. Tyler and I just made it visible. It was on the tip of everyone‘s tongue. Tyler and I just gave it a name.“ 59 Die Figur suggeriert rhetorisch, im Dienste aller Anhänger die Umstände sichtbar zu machen, aufzudecken und nur das scheinbar Offensichtliche zu artikulieren. Jack/ Tyler hat die Macht der Namensgebung inne, welche durch den Anspruch, nur die Anliegen des Volkes zu vertreten, legitimiert sei, diese Kraft der Sprache wird den Anhängern 54 Fabricius, „Pa(ar)thologie“, S. 397. 55 „Boxen als Eucharistie, der hysterische Schrei als religiöser Akt: Analog zum archaischen Ritual ersetzt nun die sinnferne Alleatorik des paarweisen männlichen Gewaltaustausches jedes Konzept von Identität, und an die Stelle narzisstischer Arbeit am Körper tritt dessen potentielle Vernichtung.“ Fabricius, „Pa(ar)thologie“, S. 405. 56 Das ist sicherlich auch im Sinne von Hartmut Rosas Ansatz einer misslingenden Ich-Welt-Beziehung aufzufassen. 57 Fabricius, „Pa(ar)thologie“, S. 406. 58 Fincher, Fight Club , 0: 39: 50-0: 42: 37. 59 Fincher, Fight Club , 0: 39: 50. David Fincher, Fight Club 141 142 142 Matthias Krumpholz des Fight Clubs aber verwehrt. Als oberste Regel des Fight Clubs gilt ein Sprachverbot, um die Vereinigung als elitären Zirkel zu etablieren. Die definitorische Macht der Sprachsetzung wird sogleich vom Anführer genutzt, um ein Gemeinschaftsgefühl zu konstituieren, die Gruppe nach außen hin abzugrenzen und sogleich Autorität über diese zu erlangen. Der Rezipient wird gleichzeitig durch Kameratechniken - ähnlich derer, die im Kontext von Marlas Rauchstudie aufgezeigt wurden (Achsensprünge, 180-Grad-Fahrten um Tyler als Nah- und Großaufnahme etc.) - als teilnehmender Jünger Durdens in der Diegese installiert. Jede Woche werden die Regeln als Mantra der Indoktrinierung neu verkündet, dann beginnt der Kampf. „But Ricky was a god for ten minutes when he trounced the maître d‘of a local food court.“ 60 Der Kellner bäumt sich Blut erbrechend auf, der kleine Angestellte Ricky wird in den Status eines Gottes erhoben. Es folgt ein Schnitt, der einen semantischen Gegenraum zum dunklen und blutverschmierten Keller der Kampfarena eröffnet. Im mit hellen Grautönen ausgeleuchteten Büro, 61 die Kamerasicht folgt wieder Jacks Blick, schiebt Ricky einen Materialwagen an Jack vorbei; Schnitt in ein Restaurant bei Tage, in dem Jack von dem völlig lädierten Kellner bedient wird. Jacks Voice-Over-Erzählung verbindet wieder die kurzen Szenen: „But fight club only exists in the hours between when fight club starts and when fight club ends. […] Who you were in fight club is not who you were in the rest of the world.“ 62 Die verbale Ebene ist dissoziativ in der Figur zwischen Tyler im Untergrund und Jack in der Öffentlichkeit gebrochen. Sie suggeriert gottgleiche Menschwerdung im Ordnungssystem des untergründigen Kampfes und grenzt diese scharf gegen eine diegetische öffentliche Realität ab. Mimik und Gestik der Figuren stehen diesem jedoch entgegen. Im Kontrast zur verbalsprachlichen Ebene erkennen sich Jack und bspw. der Kellner nicht nur, sondern nehmen sich gar verschwörerisch war und nicken einander anerkennend zu. Damit manifestieren sie die Existenz einer auserwählten, elitären Gruppe, zugleich trägt der Kellner seine Prellungen und Pflaster als Insignien der Zusammengehörigkeit. Die im Kampf erlittenen sichtbaren Wunden substituieren die Statussymbole der kapitalistischen Konsumgesellschaft in ihrer Funktion. Sie werden erkämpft statt erkauft (was strukturell ebenfalls ein Erkämpfen beinhaltet) und daraufhin zur Schau gestellt, um Identität und Gruppenzugehörigkeit nicht nur zu demonstrieren, sondern diese auch als Belohnung von Leistung auszustellen. Die Mitglieder des nächtlichen Fight Clubs, angetreten, um Konsum durch eine krude Form der Unmittelbarkeit zu ersetzen, legen wiederum die Mechanismen der Konsumgesellschaft an den Tag. 63 Der Rezipient wird mittels Kameraführung erneut in diesen Prozess involviert. Mit dem Blick über die Schulter des sitzenden Jack hinauf auf den ihn bedienenden Kellner - der Hinterkopf ist wieder als Zeichen des Character Narrator im Bild - springt die Linse in die Perspektive des Kellners, der in Jacks Gesicht aus der stehenden Draufsicht blickt. Der Zuschauer nimmt die Perspektive Jacks sowie des Kellners ein und wird dadurch am Substitutionsprozess der Zeichen direkt beteiligt. „You‘re not your job. You‘re not how much money you have in the bank. You‘re not the car you drive. You‘re not the contents of your wallet. You‘re not your fucking khakis.“ Tyler/ Jack 60 Fincher, Fight Club , 0: 41: 53. 61 Ähnlich der Eingangsszenen, die in den Räumen der Büros abgelichtet wurden, halten auch hier gesichtslose Angestellte Starbucks-Kaffeebecher in den Händen, was natürlich zum einen als Verweis auf die Schlaflosigkeit, zum anderen als Konsumkritik gelesen werden könnte. 62 Fincher, Fight Club , 0: 42: 17. 63 Auch wenn man dies als eine Form der Tarnung verstehen sollte, bleiben die strukturellen Mechanismen homolog. läuft aus der Spur und versucht, die Kontrolle über den Film und den Zuschauer zu erlangen. Seine Phrasen werden als das, was sie sind, desavouiert; Statussymbole und kapitalistische Mechanismen, die dann in ein organisatorisches Führerprinzip 64 übersetzt werden, werden reproduziert und strukturell perpetuiert, während der Rezipient kontinuierlich in diesen Vorgang eingeschlossen wird. Kino der Manipulation Der Film selbst deckt schon nach ca. einer halben Stunde seine eigenen Konstruktionsmechanismen auf. 65 Im Vorfeld des in der Folge beleuchteten Ausschnittes ist in der Diegese das Bargespräch zu sehen, in dem Tyler den Menschen als Konsumenten definiert, der am Ende nicht nur dem eigenen Konsum sondern auch Tylers Organisation unterworfen sein wird. „The things you own - end up owning you.“ 66 Um bei Tyler übernachten zu dürfen, die Ikeawohnung 67 des Erzählers wurde zuvor gesprengt, soll dieser Tyler einen Schlag versetzen. Der Kampf mit sich und dem eigenen Bewusstsein verlagert sich auf eine individuelle physische Ebene, bevor er zu einem gruppendynamischen Phänomen werden kann. Zuvor erklärt der Character Narrator allerdings die Machart, wie sich seine Persönlichkeitsstörung auf die Diskursebene des Films niederschlägt. Der Character Narrator spricht den Rezipienten direkt an: „Let me tell you a little bit about Tyler Durden“, 68 es folgt ein Schnitt in die Unschärfe, der Fokus wird scharf auf ein einzelnes Bild gestellt, welches ein männliches Geschlechtsteil als Frame einer Zelluloidfilmrolle zeigt. Der Character Narrator erscheint in einer Halbnahen im Bild und berichtet eigentlich über sich selbst - während im Hintergrund Tyler im Schneide- und Vorführraum arbeitet. In der Binnenhandlung schiebt der Voice-Over-Narrator eine Binnenerzählung zweiter Ordnung ein. „In dieser Sequenz entsteht dabei der Effekt einer Dopplung der Narration und des Erzählers, so dass nicht nur die Figur Jacks in Tyler dupliziert wird, sondern seine Funktion als Voice- Over-Narrator auch auf der visuellen Ebene gespiegelt wird […].“ 69 Der Akt des Erzählens wird in diesem Arrangement selbst zum Thema auf visueller sowie verbalsprachlicher Ebene. Ein permanent rauchender Tyler Durden schneidet manuell Bilder in abzuspielende Kinofilme, um die Zuschauer zu verstören, mindestens zu irritieren. Zigarette und Brandlöcher, die einen Rollenwechsel für den Filmvorführer markieren, stellen eine direkte Verbindung von visueller und struktureller Ebene her. Tyler wird zum Verursacher der technischen Brandlöcher. Direkter kann man den materiellen und gleichzeitig artifiziellen Charakter des Me- 64 „Als Szenario ‚post festum‘ zeigt er in den Szenen in Tylers abenteuerlich verwahrloster Wohnhöhle in der Paper Street, die sich langsam mit Gefolgsleuten füllt, wie Sektenbildung funktioniert, wie Führerprinzip und Kadavergehorsam zusammengehören - die Kandidaten müssen zwei Tage in voller Montur unbeweglich vor der Tür anstehen und sich demütigen lassen, bevor sie eingelassen werden.“ Desalm, „Extreme Mittel“, S. 187. Das erinnert an Arbeitssuchende vor einem Arbeitsamt oder Vorstellungsgespräch. 65 Vgl. Fincher, Fight Club , 0: 30: 54-0: 32: 10. 66 Fincher, Fight Club , 0: 30: 02. 67 Die Wohnung wird ästhetisch durch Animationen in einen Ikeakatolog umverwandelt: „Die Codes der Konsumwelt und die Strukturen des männlichen Begehrens kollabieren deutlich ineinander und werden unauflöslich in die filmische Ästhetik eingearbeitet.“ Fabricius, „Pa(ar)thologie“, S. 399. 68 Fincher, Fight Club , 0: 31: 02. 69 Heiser, Erzählstimmen , S. 318. David Fincher, Fight Club 143 144 144 Matthias Krumpholz diums nicht exponieren. Tyler, also der Erzähler, wird zum subversiven Manipulator des Films und verliert seine Kohärenz stiftende Funktion gänzlich, die jedoch simultan in der Diegese vom Voice-Over-Erzähler Jack gestiftet wird. Durch die Identität von Jack und Tyler fallen Kohärenzstiftung in erzähltechnischer Unübersichtlichkeit und die Subversion derer in einer Sequenz zusammen. Möglich ist dies allein durch das Zusammenspiel auditiver und visueller Komponenten des Mediums Film selbst, wodurch das Medium die Bedingungen seiner eigenen Existenz performativ selbst inszeniert und in Frage stellt. „The movie keeps right on going and nobody in the audience has any idea.“ 70 Mit ebenjenem Satz wird später in der Binnenhandlung - wie oben erwähnt - der Change-Over, der zentrale Wendepunkt des Films, für Zuschauer und Erzähler gekennzeichnet, die mediale Manipulation wird dadurch strukturell an die Inszenierungspraktik des eigenen Mediums gebunden und in die Rezeptionsebene des Zuschauers transponiert. Der Film, der Film Fight Club , wird unbewusst zum Wendepunkt für den Rezipienten, denn, wie die Schlussszene zeigen wird, bearbeitet Tyler in dieser Szene seinen eigenen Film Fight Club . Der Voice-Over-Erzähler Jack wandelt während seiner Erzählung über Durden durch die technischen Hinterzimmer der Kinovorführung, durchschreitet währenddessen inszenatorisch wie symbolisch die Räumlichkeiten, um dem Zuschauer eine eingeschobene Sequenz dritten Grades regelrecht zu präsentieren, durch die er die realen Kinogänger auf sich selbst zurückwirft. Der Filmrezipient darf hierbei mitten unter den Zuschauern der Diegese im Kinosaal Platz nehmen, die Kamera bewegt sich langsam durch die Reihen, ein schweifender Blick durch das Kino, dann flackert ein heller Blitz auf, das von Tyler eingeschnittene Bild eines Penis, ein kurzes aber deutliches Stöhnen ist zu hören. Ein harter Schnitt, wieder wird die Achse der Kameraperspektive um fast 180 Grad verändert, Kind und Mutter schauen sich verstört an. „Nobody knows that they saw it, but they did.“ 71 Wahrnehmbar ist nur der Lichtblitz, der die Leinwand des gezeigten Kinderfilms (eine weitere visuell nicht dargestellte Reflexionsebene) im Kino nur andeutet, denn im Fokus stehen die Reaktionen der Zuschauer. Kinder weinen und Paare kommen auf andere Gedanken. Die Szene um Marla Singer hat beispielhaft gezeigt, wie der Zuschauer mit Schnitt und Kameraperspektive in dem Film hineingezogen wird, hier wird er mit den selben Mitteln nahezu physisch auf einen Kinosessel gesetzt und auf seine Rolle als Zuschauer, aber auch als Opfer der filmischen Manipulation, hingestoßen. Der eingeschnittene Penis verbindet die Verschachtelung (Binnenhandlung bis eingeschobene Narration dritten bzw. vierten Grades) zum einen strukturell, zum anderen wird pornographisches Sehen zum Motiv. 72 Das ist offensichtliche Subversion des Mediums Kino durch technisches Unterlaufen der Sehgewohnheiten, indem der Zweifel 70 Fincher, Fight Club , 0: 31: 31. 71 Fincher, Fight Club , 0: 32: 00. 72 Heiser erkennt zwar das unzuverlässige Erzählen und die doppelte Selbstreflexivität des Mediums, tut aber die Erzählkonstruktion als reflexiven Scherz ab. Damit verkennt sie die diskursive Funktion. „Die Frage nach dem Konstrukt eines Image Makers [Penis in Rahmenhandlung, MK] stellt sich in diesem nicht mehr und wäre auch völlig überflüssig, da die gesamte Narration als ein großer Scherz angesehen werden kann, der sich selbst augenzwinkernd betrachtet. Demnach ist die filmische Narration in Fight Club nicht nur ihrer selbst bewusst, sondern auch ihrer eigenen Selbstreflexivität.“ Heiser, Erzählstimmen , S. 322. am Gesehenen ausgestellt wird. 73 Gleichzeitig wird die Wahrnehmung wie auch die körperliche Präsenz des Zuschauers in den Film hineingesogen. III. Das hier Präsentierte zeigt zum einen die strukturelle und narratologische Konstitution des Films auf, die in Rahmen- und Binnenhandlung sowie auf extradiegetischer wie intradiegetischer Ebene zu einer Unübersichtlichkeit der Narration und zu einem gänzlich unzuverlässigen Erzählakt führt. Zum anderen sind dies Darstellungsprinzipien der dissoziativen Persönlichkeitsstörung der Figur. Gleichzeitig werden die Produktionsbedingungen des Films und des Kinos verhandelt, die in diesen Prozess eingebunden sind. Durch den artifiziellen und konstruierten Charakter, das technische Potential wie auch die Kameraführung und Schnitttechnik stellt sich der Film als das Medium der Manipulation sui generis heraus. Hinzu kommt, dass die Rolle des Zuschauers keinesfalls nur reflektiert wird. Der Zuschauer als Objekt der Manipulation wird im Film nicht nur als Rezipient (im Kinosaal) installiert, sondern durch Schnitte und Kameraeinstellungen in eine Position gezwungen, die nicht nur teilnehmenden Beobachter, sondern gar Mitleidende, Mitkämpfende, Opfer und Täter beinhaltet. Das Identifikationspotential - nicht mit einzelnen Figuren, sondern mit der Ästhetik, der Narration, dem Film selbst - wird multipliziert. In homologer Struktur zur Hauptfigur und zur Diegese selbst durchläuft der Zuschauer immer wieder einen Erkenntnisprozess über die Machart des Kinos, der mit der Darstellung des Films regelrecht verschmilzt, Film und Zuschauer bilden eine Einheit. „Schon die erste Kameraeinstellung [Kamerafahrt heraus aus Jacks Gehirn, MK] kann als entlarvender Verweis auf die Macht der Simulation gelesen werden, einen überdeutlichen Effekt Realität zu erzeugen, während gleichzeitig diese ‚Hyperrealität‘ jede Unterscheidung zwischen Imaginärem und Realem hinfällig macht.“ 74 Wenn die Auflösung von Imaginärem und Realem durch Hyperrealität einen überdeutlichen Effekt der Realität erzeugen sollte, dann verweist dies auf die Simulationskraft des Mediums, erklärt aber nicht genealogische Probleme des Mediums. Auch Simulation birgt das Problem der Autorschaft und kann zunächst nicht generell nur als creatio ex nihilo und autopoietischer Prozess begriffen werden. Durch die Schließung der Rahmenhandlung kann die Autorenperspektive in das Medium selbst verlagert werden, die extradiegetische Instanz des Rezipienten bleibt, wenn auch mehrfach gebrochen und reflektiert, dennoch bestehen. In der Rahmenhandlung, kurz vor dem Erscheinen Marla Singers, exekutiert sich die Figur Jack und sein imaginiertes Alter Ego Tyler symbolisch, indem er sich in den Kopf, den Mund und die Backe schießt. Nur durch diesen äußersten Akt der Gewalt, quasi ein Akt der Selbsttötung und physischer Auslöschung eines Teils seiner Identität, gelingt es Jack, den Persönlichkeitsteil Tyler in sein eigenes Identitätskonzept zu integrieren. Gewalt, die Jack zunächst gegen sich selbst richtet, radikalisiert sich zunehmend im Film, wird in einem inneren Zirkel unter Männern in Kellerlöchern praktiziert, tritt zunächst in Form von Hausaufgaben schein- 73 Das könnte man eben, wie Fabricius es unternimmt, mit Deleuze und Baudrillard aufzeigen, ist aber durch die Darstellung der Konstruktion des Diskurses möglich. 74 Fabricius, „Pa(ar)thologie“, S. 398. David Fincher, Fight Club 145 146 146 Matthias Krumpholz bar harmlos an die Öffentlichkeit und formiert sich dann dort als Terrororganisiation. Der Schuss in den Kopf, die maximale Gewalt gegen sich selbst, kulminiert in der Schlussszene mit der Sprengung von Hochhäusern des Finanzkapitals. Marla ersetzt hier Tyler Durden - erinnert sei an die Struktur der Eingangsszene -, die parallele Anordnung der aufrecht Stehenden zu den Hochäusern ist nicht zu übersehen, diesmal ungebrochen mit dem festen Kamerablick von innen nach außen. Die Erzählung scheint sich stabilisiert zu haben, die Symbole für Kapitalismus vernichtet - scheinbar. Denn auch in der Rahmenhandlung, einem letzten Gruß gleich, schneidet sich Tyler symbolisch in den Film ein. Die Filmspur verwackelt, Jack und Marla verschwimmen, woraufhin der Frame mit dem Penis, den Tyler zuvor im Schneideraum präpariert hatte, kurz aufleuchtet und - analog zur Darstellung von Tylers phrasenhafter Kapitalismuskritik - sofort in einer zitternden Bewegung verschwindet. 75 Tyler behält auch hier das letzte Bild, stößt den dann doch verstörten Kinozuschauer auf seine Rolle in der Manipulation final zurück und schließt den Gedankenkreislauf. Tyler, die kranke Imagination, bleibt der Herrscher über den Film wie das Kino und winkt uns zum Abschied grinsend, singend und tanzend seinen ganz speziellen letzten Gruß zu. Damit erlangt er auch die Gestaltungsmacht über die Rahmenhandlung und transponiert unzuverlässiges Erzählen in die Gesamtdiegese, um sich auch dort als Manipulator zu inszenieren. Vielmehr wird er aber auch zum Kreateur des Films, zumindest in einer technischen Form, das Kunstwerk Film erschafft sich aus sich selbst heraus. Umgekehrt wird Durden dadurch aber auch zu einem essentiellen Bestandteil nicht nur der histoire , sondern auch des discours . In diesem Sinne könnte man Tyler Durden, mit Deleuze, tatsächlich einen Revolutionär nennen. Wie oben in den Erwähnungen zu Deleuze‘ Interpretationen bzgl. Nietzsches Konzept des Nihilismus angeklungen, besteht einer von Nietzsches Grundgedanken nicht in der Propagierung des Nihilismus, sondern in dessen Überwindung. Das Ressentiment spielt in Nietzsches Nihilismuskonzept - und auch in Deleuze‘ Interpretation - eine entscheidende Rolle, denn es gilt einen Grundsatz festzuhalten, der die Philosophie Nietzsches allgemein leitet: Das Ressentiment, das schlechte Gewissen usw. bilden keine psychologische Bestimmung. ‚Nihilismus‘ wird von Nietzsche das Unternehmen genannt, welches das Leben verneint und das Dasein entwertet; dessen hauptsächliche Formen deckt er im Ressentiment, schlechten Gewissen, asketischen Ideal auf; ‚Geist der Rache‘ nennt er das Gesamt des Nihilismus und seiner Formen. Niemals nun beschränken sich der Nihilismus und dessen Formen auf psychologische Determinationen, noch weniger auf historische Ereignisse oder ideologische Strömungen, ja nicht einmal auf metaphysische Strukturen allein. 76 Deleuze bezieht sich hierbei auch auf Heideggers Nihilismusinterpretation im Kontext von Nietzsche. Dieser ‚Geist der Rache‘ ist als Typus zu verstehen, der „vielmehr die Grundlage [ist], auf der unsere Psychologie steht und von der sie abhängig ist. Nicht ist das Ressentiment der Psychologie geschuldet, vielmehr unsere ganze Psychologie ist, ohne es zu wissen, eine des Ressentiments.“ 77 Das Ressentiment mit den Mitteln psychologischer Ansätze zu deuten wird in dieser Lesart unmöglich. Der Nihilismus sei in diesem Kontext ein „Element der Geschichte 75 Vgl. Fincher, Fight Club , 2: 11: 35. 76 Deleuze, Nietzsche , S. 40. 77 Deleuze, Nietzsche , S. 40f. schlechthin“. 78 Das Ressentiment bildet die Kraft, die hinter und im Nihilismus steckt, den es zu überwinden gilt. 79 Denn, so Deleuze, „[d]ies haben wir zu begreifen: Der Instinkt der Rache bildet die Kraft, die die Essenz dessen ausmacht, was wir Psychologie, Geschichte, Metaphysik und Moral heißen. Der Geist der Rache ist das genealogische Element unseres Denkens, das transzendentale Prinzip unserer Werte.“ 80 Dadurch wird der Geist der Rache, das Ressentiment universell verankert. Nietzsches Programm sei es, durch die Auslöschung der Metaphysik und durch das Ende der Geschichte als Geschichte des Menschen den Kampf gegen den Nihilismus aufzunehmen. 81 Auch Deleuze verankert das Ressentiment als eine anthropologische Größe und sieht genau darin eben einen seiner erstrangigen Begriffe, den der Differenz, begründet: „Und um ehrlich zu sein, wir wissen doch nicht einmal, was ein Mensch bar jeden Ressentiments wäre. Einer, der das Dasein nicht anklagte und entwertet, wäre der noch ein Mensch, dächte der noch wie ein Mensch? Wäre der nicht schon etwas Anderes als ein Mensch, fast schon ein Übermensch? “ 82 Dieser pessimistischen Sicht muss man nicht unbedingt folgen, auch ist bei einem Versprechen der Ehrlichkeit immer Vorsicht geboten, die Feststellungen sind darüber hinaus als rhetorische Fragen formuliert. Dennoch knüpft er den Stellenwert des Ressentiments, auch wenn er dessen absolute Existenz doch in der Schwebe hält, an die höchste Kategorie. „Ressentiment zu hegen oder keines zu hegen: Es gibt jenseits der Psychologie, jenseits von Geschichte und jenseits von Metaphysik keinen größeren Unterschied. Es ist die wahre Differenz oder die transzendentale Typologie - die genealogische oder hierarchische Differenz.“ 83 In diesem Sinne stellt sich die Überwindung des Ressentiments, im deleuzeschen Sinne: der Differenz, als die höchste Aufgabe (des Denkens) dar. In seinem Nietzsche -Text schreibt Deleuze diesen Ansatz noch dem ‚Übermenschen‘ zu, sieben Jahre später wird in einem seiner Hauptwerke, Die Logik des Sinns , diese Möglichkeit dem freien Menschen, dem Revolutionär, zugebilligt. „Einzig der freie Mensch kann also alle Gewalttätigkeiten in einer einzigen Gewalttätigkeit erfassen, alle vergänglichen Ereignisse in einem einzigen Ereignis , das dem Unfall keinen Raum mehr läßt und ebenso die Macht des Ressentiments im Individuum wie der Unterdrückung in der Gesellschaft bloßstellt und abschafft. Durch die Propagierung des Ressentiments verschafft der Tyrann sich Verbündete, das heißt Sklaven und Diener, nur der Revolutionär hat sich vom Ressentiment befreit, mittels dessen man immer an einer Unterdrückungsordnung teilhat und von ihr profitiert.“ 84 Diesen Schritt vollzieht Tyler Durden, indem er sich gegen die Herrschaft einer Autoreninstanz richtet. In diesem Zusammenhang muss die Welt antihierarchisch und virtuell gedacht werden. Durden, die dissoziative Figur, richtet sich auf Diskursebene gegen das Ordnungsprinzip einer erschaffenden Instanz, unterläuft aber auch mit den Mitteln dieser die eigene Diegese, um sich in der Schlusssequenz erneut als Gestalter und somit Bedingter des eigenen Diskurses einzuschalten. „Erst wenn Ich und Welt also als virtuelle Einheit begriffen werden ersticken hier Angst und das Ressentiment - die Schuld des anderen und des unwürdigen 78 Deleuze, Nietzsche , S. 41. 79 „Nietzsche gibt das Ziel seiner Philosophie vor: Das Denken vom Nihilismus und seinen Formen zu befreien.“ Deleuze, Nietzsche , S. 41. 80 Deleuze, Nietzsche , S. 41. 81 Vgl. Deleuze, Nietzsche , S. 41. 82 Deleuze, Nietzsche , S. 41. 83 Deleuze, Nietzsche , S. 41. 84 Deleuze, Die Logik des Sinns , S. 191. David Fincher, Fight Club 147 148 148 Matthias Krumpholz Zufalls - am Ereignis, das nicht mehr ist als eine Perspektive, die hinter jedem Urteil die Komplexität eines weiteren Ereignisses erblickt und zudem der eigenen Wahrnehmung misstraut, denn subjektiv, anhand der eigenen Zeit und kulturell geprägt ist die Einschätzung allemal […].“ 85 Die Überwindung des Ressentiments als virtuelle Einheit von Ich und Welt wird im Film als Einheit von Tyler und Jack als discours und histoire praktiziert, als erschaffender Erschaffter und umgekehrt. Dadurch kann in diesem einzigen Gewaltakt die Diegese in einem einzigen Ereignis zusammengeführt und der Geist der Rache in antihierarchischen Strukturen überwunden werden. Immer - und das offenbart die Analyse - vor dem Hintergrund der reinen Subjektivität. Marla und Jack, die Komplexität der kommenden Ereignisse erwartend, einem kitschigen romantischen Ideal gleich, stehen für das ‚Ja‘ zur Befreiung von auktorialer Unterdrückungsordnung. „Nach Deleuze kann also erst das ‚Ja‘ des hier verhandelten Revolutionärs eine Ordnung jenseits der Schuld und des Gesetzes herbeirufen, die Affirmation des Ereignisses als Bedingung des Vertrauens in diese Welt.“ 86 Auch der Filmrezipient flüstert sein ‚Ja‘ in den Kinosaal. Tyler hat diesen zum Teil des Kunstwerks gemacht, in die virtuelle Welt eingeschlossen und ihn als Teilnehmer die Prozesse einer faschistischen Indoktrinierung miterleben lassen, woraufhin er simultan als Jack in der Diegese zu verbleiben vermag. Die brillante Konstruktion und Finchers Regie lassen den Film zum affirmativen Ereignis werden. Filmographie Fight Club . Produktion: Twentieth Century Fox Film Corporation, USA, 1999. Regie: David Fincher. Drehbuch: Jim Uhls nach einem Roman von Chuck Palahniuk. Kamera: Jeff Cronenweth. Musik: The Dust Brothers. Darsteller: Edward Norton ( Jack), Brad Pitt (Tyler), Helena Bonham Carter (Marla), Meat Loaf (Bob), Jared Leto (Angel Face) u.a. Bibliographie Desalm, Brigitte, „Extreme Mittel, elegante Beiläufigkeit. FIGHT CLUB (1999)“. In: David Fincher . Hg. v. Frank Schnelle. Berlin 2002, 173-194. Deleuze, Gilles, Die Logik des Sinns . Frankfurt am Main 1993. Deleuze, Gilles, Nietzsche und die Philosophie . Hamburg 2013. Eder, Jens, „Imaginative Nähe zu Figuren“. In: Montage AV, Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation , 15/ 2/ 2006, 137-160. Fabricius, Tobias, „Pa(ar)thologie. Kulturtext, Körperschrift und männliche Homosozialität in David Finchers Film Fight Club “. In: Bi-Textualität, Inszenierung des Paars . Hg. v. Annegret Heitmann, Sigrid Nieberle u. a. Berlin 2001, 395-410. Hartung, Maximilian, Revolution? Revolte? Widerstand! 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In Anbetracht der institutionellen Vorherrschaft von Hollywood in der amerikanischen Filmlandschaft scheint John Ellis‘ Annahme, dass kommerzielles Kino als Massenmedium mit Vorliebe auf Eindeutigkeit der Aussage, Verständlichkeit der Absicht und damit auf reibungsloser Auslegung basiert, überaus treffend. Erzählstruktur, Figurenkonstellation und -konfiguration, sowie die Bildkomposition fügen sich bei Hollywoodproduktionen scheinbar unmittelbar bei der Filmerfahrung für den Zuschauer und Kritiker zu einer thematischen und interpretatorischen Einheit. Einigen Kritikern zufolge erschließt sich auch die Bedeutung von Sam Mendes‘ American Beauty (1999) eindeutig als eine „familiar parade of social evasion“ (Arthur, „Film Reviews“, S. 51) oder eine „satire on middle-class materialism“ (Karlyn, „,Too Close to Comfort‘“, S. 82). Der Literaturwissenschafter Gary Hentzi zeigt sich mitunter nur mäßig überzeugt vom Topos Suburbia und der Originalität dessen Verhandlung im Film (vgl. „American Beauty“, S. 46). In der Tat ist die Darstellung des amerikanischen Vororts als Lebensumwelt bereits seit Anfang der 1950er Jahre fester Bestandteil der amerikanischen Film- und Fernsehkultur und reicht von der Idealisierung familiärer und heimischer Erfüllung in der amerikanischen Suburbia bis zur Demaskierung deren Hypokrisis (vgl. Hebel, „American Suburbia“, S. 190ff.). 1 Dennoch besticht der Film durch filmästhetische Andersartigkeit. Die Erzählung und Geschehnisse des Films werden wiederholt durch voice-over Kommentare des bereits verstorbenen Lesters begleitet, die Einspielung von handkameragefilmten, dokumentarisch anmutenden Videoaufnahmen des Nachbarsjungen Ricky und die entrückten Fantasiesequenzen von Lesters Tagträumen von der jungen Angela setzen markante Tiefendimensionen innerhalb des Illusionsrealismus des Films. Der den Film durchziehende gesellschaftskritische Impuls lebt von der milieuspezifischen Konkretisierung der Rahmenerzählung auf die Suburbia, die amerikanische Vorstadt: das Leid der Protagonisten und die Tragik der sich abzeichnenden Geschehnisse entspringt aus ihrer Mitte. Die vielschichtige filmische Darstellung wird weiterhin angereichert durch komplexe Figuren, deren soziale, ethische und psychologische Konfiguration vielfältige Deutungsräume eröffnen. Gleichermaßen manifestiert sich in der 1 Als weitere Beispiele können The Stepford Wives, Revolutionary Road , aber auch The Graduate aufgeführt werden (vgl. Mascia-Lees, „Middle Class Arts and Crafts Revival“, S. 58). 152 152 Julia Rössler Ausdeutung der eben genannten Aspekte der Milieuerzählung, der Figurenkonfiguration und der filmischen Kompositionsmuster jene große Leistung des Films in seiner innewohnenden Unbestimmtheit und dem damit einhergehenden Irritationspotential. In einem kurzen Beitrag präzisiert der Literaturwissenschaftler Wayne Booth diese Andersartigkeit des Films und die Schwierigkeit, ein thematisches Zentrum zu finden, und die damit verknüpfte Frage nach einer einheitlichen Aussageintention des Films als eine hermeneutische Herausforderung, die das hochgradig Widerspenstige an American Beauty darstellt. Denn die Meinungen teilen sich weniger in der Frage nach der Qualität des Films, sondern vielmehr in der Bewertung dessen auffälliger Gestalt und Bedeutung, knapp: „about what it‘s about “ (Booth, „,Implied Author? ‘“, S. 129). Deutungsversuche reichen von der Postulierung einer Männlichkeitskrise, einer Kritik an Materialismus- und Schönheitsimperativen bis hin zu einer Parabel über die Sinnhaftigkeit des Lebens. Sie verweisen auf die erstaunliche Assoziationsbreite und Offenheit des Films und führen dabei nicht selten zu unvereinbaren Lektüren. Ringt man um eine Antwort auf Booths Frage, so meine ich: Es geht um die Offenlegung der normativen Prämissen der Suburbia als Lebensumwelt und um darin eingeschriebene Wertesysteme. Der Film erzählt mit der Figur Lester eine Geschichte vom Ausbruch und adressiert dabei letztlich auch handlungsethische Fragestellungen. Dabei verhandelt der Film auch Überlegungen über das Verhältnis von filmischem Medium und realer Lebenswelt. Im Jahr 1960 beschreibt der einflussreiche Filmtheoretiker Siegfried Kracauer eine dem Film immanente mediale Spezifik wie folgt: „Film, in other words, is uniquely equipped to record and reveal physical reality, and hence, gravitates toward it“ (Kracauer, „From Theory of Film“, S. 8). Es geht Kracauer in seiner medienspezifischen Bestimmung also um die Fähigkeit des Films, Wirklichkeit zu repräsentieren und dabei einen erkenntnistheoretischen Mehrwert zu leisten. Durch Film kann Sichtbares re -präsentiert werden, aber auch Unsichtbares sichtbar gemacht werden. Auch American Beauty folgt dieser Repräsentationslogik dahingehend, filmische Darstellung als Form genuiner und wahrhaftiger Bedeutungsproduktion zu beanspruchen um seine gesellschaftskritische Deutungskraft geltend zu machen. Zugleich - und darin besteht die große interpretatorische Herausforderung und Vielschichtigkeit des Films - entfaltet der Film diese Abbildungslogik nicht mechanisch-nachahmend, sondern kreativ und stilisierend, wodurch American Beauty seine besondere Inhaltssemantik und Formästhetik der Dissonanz im Spannungsverhältnis zwischen mitfühlender Identifikation, kritischer Distanz und ontologischer Verunsicherung ausdrückt. II. In der Filmlandschaft der 1990er Jahre vollzieht sich eine neue und bemerkenswert konsequente Spaltung des amerikanischen Kinos und der Filmkunst in zwei bezeichnende Lager. 2 Einerseits dominiert das in den 1970er Jahren durch Steven Spielberg auf den Weg gebrachte Blockbuster- und Spektakelkino, das visuell und technisch opulent ausgestaltete und mit 2 Eine einführende Lektüre zu dieser Entwicklung im Rahmen thematischer, sowie film- und rezeptionsästhetischer Überlegungen bieten Mendik/ Schneider (2002) mit ihren Ausführungen zum underground cinema als auch Jeffrey Sconce mit der Konzeptualisierung eines smart cinemas (Sconce 2002, 2006). Für eine gute Übersicht zu den Entwicklungen des amerikanischen Kinos eignet sich Chris Holmlunds American Cinema of the 1990s (2008). Sam Mendes, American Beauty 153 hohem Unterhaltungswert versehene Film- und Fantasiewelten auf die Leinwand bringt. Die mit astronomischem Budget aufwendig produzierten Filme, die meist auf den mehrheitlichen Geschmack und auf eine eskapistische und illusionsermöglichende Kinoerfahrung setzen, prägen die spezifisch cineastischen Medienkonventionen und die Produktions- und Vermarktungsstrategien besonders in den 1990er Jahren. Jenseits davon formiert sich ein kleiner aber nennenswerter Kanon von Filmen, die sich bewusst und einfallsreich den Form- und Gestaltungsformeln des mittlerweile als Blockbustermaschinerie markierten Hollywoodkinos widersetzen oder sich deren Formeln mitunter produktiv zu Eigen machen. An dieser Schnittstelle ist auch American Beauty zu situieren. Einerseits schreibt der vom britischen Regisseur Sam Mendes und vom amerikanischen Drehbuchautor Alan Ball realisierte Film eine Hollywooderfolgsgeschichte. Produziert wurde American Beauty von dem 1994 durch Steven Spielberg, Jeffrey Katzenberg und David Geffen gegründeten US-amerikanischen Filmstudio DreamWorks SKG. Das seither auf kommerzielles Spektakelkino spezialisierte Studio produzierte große Publikumsmagneten, wie den Katastrophenfilm Deep Impact (1998) oder den Kriegsfilm Saving Private Ryan (1998). Auf eine Übereinstimmung mit Hollywooderfolgsformeln deutet neben der Produktionsfirma auch das hochkarätige Schauspielensemble des Films. Zahlreiche federführende Filmakademien honorierten American Beauty . 3 Allein der Premierenort bricht aus diesem Muster aus, denn der Film feierte seine Premiere abseits von Hollywood auf dem Toronto Film Festival (1998) und wurde augenblicklich mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. Dennoch, wie bereits eingangs erwähnt, sperrt sich American Beauty gegen eine triviale Deutungslogik vieler Hollywooderfolgsformeln. In Anerkennung dessen künstlerischen Gehalts beschreibt Kathleen Karlyn American Beauty zum Beispiel als einen „stylish art film“ (Karlyn, „,Too Close to Comfort‘“, S. 69). Schenkt man den Überlegungen von Jeffrey Sconce Aufmerksamkeit, so lässt sich American Beauty filmhistorisch vor dem Grundhorizont des smart film formal als auch thematisch begreifen und zwar besonders in Bezug auf seine vielschichtige Auslotung sich im Wandel befindender amerikanischer Wert- und Idealkulturen (vgl. Sconce 2002, 2006). Ironisch durchsetzt und kritisch distanziert verhandelt der smart film der 1990er Jahre häufig die Lebensgestaltung der weißen Mittelschicht, besonders in der Suburbia, und diagnostiziert dabei nicht selten eine tiefe Männlichkeitskrise. 4 Zum Gegenstand der filmischen Darstellung wird die amerikanische Mittelschicht und offen gelegt wird dabei nichts minder als die Anatomie der sozialen und ideologischen Wertesysteme, die die existentiellen Krisen und die mitmenschliche Entfremdung zu verantworten haben. 3 Bei den amerikanischen Oscars wurde Kevin Spacey für seine Rolle als Lester Burnham als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet, Conrad Hall erhielt die Auszeichnung für die beste Kamera, Sam Mendes wurde mit dem Preis als bester Regisseur ausgezeichnet und der Film wurde als bester Film honoriert. Alan Ball wurde für das beste Drehbuch mit einem Oscar ausgezeichnet. Darüber hinaus wurde American Beauty bei den britischen BAFTAs mit sechs Auszeichnung bedacht und erhielt eine Vielzahl weiterer internationaler Filmpreise. 4 Eine kontrastive Lektüre dieses Topos der Männlichkeitskrise bietet Tilman Höss (2001) in „Machismo als Gesellschaftskritik: American Beauty, Fight Club, The Sea-Wolf “. 154 154 Julia Rössler III. „My name is Lester Burnham. This is my neighborhood. This is my street. This… is my life. I‘m forty-two years old. In less than a year, I‘ll be dead“ (Ball, Shooting Script , S. 2). Mit diesen klar expositorischen Worten leitet die Hauptfigur von American Beauty in einer Rückschau aus dem Jenseits zu Beginn des Films die Zuschauer in die Welt von Lester Burnham (Kevin Spacey) ein und nimmt sogleich den Ausgang des Films vorweg. Lester fährt fort: „And in a way, I‘m dead already“ (Ball, Shooting Script , S. 3). Das in der vorherigen Aussage zu Tage tretende nüchterne und repetitive Sprachmuster Lesters findet zugleich eine visuelle Parallele in der Kameraeinstellung, die die unwahrscheinlich wirkende Symmetrie der Vorstadtarchitektur einfängt (vgl. Abb. 1) und den Schauplatz der von Lester nun beginnenden Vorstellung seines Wohnorts und seiner Familie darstellt. Abb. 1 Der Grundhorizont des Films wird also unmittelbar für den Zuschauer abgesteckt: Der Film handelt vom Leben einer Familie im amerikanischen Vorort und von einer damit eng verquickten Lähmung und Leblosigkeit. Der Film rekapituliert die Ereignisse und Geschehnisse im letzten Lebensjahr von Lester Burnham und seiner Familie, bestehend aus seiner Ehefrau Carolyn (Annette Bening) und seiner 16-jährigen Tochter Jane (Thora Birch), und erzählt dabei zunächst aus der Perspektive Lesters von Verzweiflung und Scheitern, von Ausbruchsunternehmungen, Versagen und Selbstfindung. Während Lester einleitend von seinem zur leblosen Routine verkommenen Dasein aus dem off erzählt, realisiert die Bildkomposition die Einengung, Entrückung und Entmachtung Lesters: Wir sehen Lester symbolisch eingesperrt und versteckt hinter einem Fensterrahmen (Abb. 2), während er hinter verschlossenen und durch Vorhänge verkleideten Fenstern ein Gespräch zwischen seiner Frau Carolyn und dem Nachbarn Jim beobachtet (Abb. 3); auch die räumliche Figurenkonfiguration im Innenraum des Autos (Abb. 4) weist auf die Entrückung Lesters und ein starkes Hierarchiegefälle innerhalb der Familie hin. Zuletzt fängt die Kameraeinstellung in Abb. 5 die Spiegelung von Lesters Oberkörper im Computerbildschirm zwischen Statistikbalken und Zahlenreihen ein und symbolisiert dessen Inhaftierung. Sam Mendes, American Beauty 155 Abb. 2 & 3 Abb. 4 & 5 Diese suggestive Wirkung der Bildkompositionen verstärkt zu Beginn des Films den Eindruck der von Lester empfundenen Leblosigkeit und Gefangenschaft. Der Film folgt dabei zunächst einer Darstellungsformel der visuellen Veräußerung der inneren Empfindlichkeiten seiner Hauptfigur. Diese Formsemantik verwirklicht der Film zudem in den Darstellungen der Fantasiesequenzen Lesters, in denen die junge Angela als Objekt seiner sexuellen Begierde hervortritt (vgl. Abb. 8 und 9). Emotional abgestumpft von seiner bedeutungslosen Tätigkeit bei Media Monthly und einer nach rigoroser Effizienz und Optimierung ausgerichteten Firmenpolitik, fristet Lester ein stumpfes und lustloses Dasein, während sich Carolyn mit eiserner und selbstzerstörerischer Disziplin dem Aufstieg zur erfolgreichen Immobilienmaklerin widmet. Jane verbringt ihre Freizeit mit der gleichaltrigen Angela (Mena Suvari), eifert einer Brustvergrößerung entgegen und beginnt mit dem Cheerleader-Sport, um sich einem Mädchenideal anzupassen. Die Ehe zwischen Lester und Carolyn ist geprägt von Distanz und Feindseligkeiten. Carolyn blickt auf Lester mit Desinteresse und erwartet von ihm lediglich, dass er das Bild einer idealen bürgerlichen Familie nach außen hin repräsentiert, denn Carolyn eifert privat und beruflich der unaufhörlichen Vermarktung von Scheinwelten nach. Nicht nur eine Immobilie wird verkauft, sondern ein ganzheitlicher Lebensentwurf: Haus bedeutet gleich ideelles und materielles Glück. Und so erinnert sie den gelangweilten Lester bei einer Firmenveranstaltung an ihr Kredo: „As you know, my business is selling an image. And part of my job is to live that image-“ (Ball, Shooting Script , S. 29). Lester sieht sich zunehmend diesem unerschrockenen Kommodifizierungsregime seiner Frau Carolyn ausgesetzt, er empfindet Entmündigung. Trotz, oder gerade aufgrund ihres überzeichnet affektierten Wesens, erscheinen die Handlungsmotive Lesters zunehmend nachvollziehbar. Nahezu tragisch wirkt daher zunächst das Leben von Lester, das sich gänzlich innerhalb der von materialistischen und kapitalistischen Wertesystemen gestützten Scheinwelten abspielt. Auch die 16-jährige Tochter Jane ist von Selbstzweifeln und Unsicherheit geplagt, über 156 156 Julia Rössler ihre Eltern peinlich berührt und ringt dennoch um ein liebevolles Verhältnis zu ihnen. Die innerfamiliäre Kommunikation scheitert gänzlich, ein Umstand, den der Film durch eine stark konzentrierte und verdichtete Mise-en-Scène visualisiert. 5 Eine strenge Formästhetik der Rahmung, Symmetrie und Distanz bestimmt die Bildgestaltung des gemeinschaftlichen Abendessens, welches steif und affektiert wirkt. Abb. 6 & 7 In dieser Einstellung (Abb. 6 und 7) nehmen die Kamera und die Zuschauer eine entrückte Perspektive der objektiven Beobachtung ein. Die Familie wird betrachtet innerhalb der Stasis dieser Rahmung und der Dialog schreitet fort, ohne dass der Kamera die Perspektive einer der Figuren zugesprochen wird. Diese statische Darstellung wird belebt durch die suggestive Wirkung, die die Bilder evozieren. Die räumlich vermittelte Enge und Stasis der Rahmung kann auch sinnbildlich für die starren Gesellschaftsstrukturen gelesen werden und rezeptionsästhetisch interpretiert werden: Der verstärkte Eindruck der Lähmung evoziert Mitgefühl und Verständnis gegenüber den Ausbruchsversuchen der Figuren (vgl. Blothner, „Wirkungsanalyse“, S. 68). Zudem wird deutlich, dass die privilegierte Perspektivierung der Geschehnisse und Figuren durch Lesters Bewusstsein und Wahrnehmung im Film subtil durch objektivere Kameraeinstellungen von kritischer Distanz konterkariert werden. Sam Mendes beschreibt diese Kameraführung, die perspektivisch nicht involviert ist und statisch-regungslos Momentaufnahmen einfängt, als „the camera‘s impassive and uninflected gaze“ (Mendes, „Introduction“, S. vii). Besonders Momente der Einsamkeit und des Zweifelns aller Figuren - Carolyn in einem verdunkelten und abgeschiedenen Raum einer Immobile nach einem gescheiterten Verkaufstag, Jane mit ihrem selbstkritischen Blick in den Spiegel, oder Ricky, nach einem Gewaltausbruch seines Vater mit blutüberströmtem Gesicht in den Spiegel blickend - werden mit dieser intensiven aber entrückten Kameraeinstellung eingefangen und schaffen eine reflexive Distanz zum Handlungsgeschehen (vgl. Mendes, „Introduction“, S. vii-viii). Die Reflexion des Zuschauers erlaubt im Brecht‘schen Sinne einen Transfer konkreter lebensumweltlicher Darstellung in einen gesellschaftskritischen Kontext. Der Film arbeitet zunächst auf ein Exposé familiärer Dysfunktionalität und Entfremdung hin. Die Strukturen und Mechanismen des Innenlebens der Familie Burnham werden von Beginn an akribisch seziert. Während eines Basketballspiels trifft Lester auf die 16-jährige Angela, eine enge Freundin seiner Tochter Jane. Wie hypnotisiert beginnt Lester unmittelbar sich in tagträumerischen erotischen Fantasiewelten über Angela zu bewegen. Eine neue Bekanntschaft mit dem jungen Nachbarsjungen Ricky Fitts (Wes Bentley), den eine ambivalente 5 Eine anschauliche Erfassung und Interpretation der kinematografischen Techniken des Films bietet Jeremy Points Studying American Beauty (2004). Sam Mendes, American Beauty 157 und mysteriöse Aura umgibt, tut ihr Übriges; in Lester erwacht neuer Lebenswille. Beide Erlebnisse markieren zentrale Wendepunkte: Lester kündigt seine Arbeitsstelle unter Erpressung einer Abfindung, beginnt bei der Fastfood Kette Mr. Smiley‘s an der Theke zu arbeiten und gibt sich dem Drogenkonsum und der Stählung seines Körpers hin und widersetzt sich in allen Belangen den Erwartungshaltungen seiner tief beleidigten Ehefrau und peinlich berührten Tochter Jane. Währenddessen stürzt sich Carolyn in eine Affäre mit dem von ihr angehimmelten Immobilienmakler Buddy Kane (Peter Gallagher). Als Lester durch Zufall von der Affäre erfährt, beendet Buddy das Verhältnis zu Carolyn, und dieser sie in tiefe Verzweiflung stürzende Rückschlag zählt zugleich zu einem der wenigen Momente im Film, in denen Carolyn an nuancierter psychologischer Tiefe gewinnt. Jane, anfangs verstört von Rickys Angewohnheit, sie in unbeobachteten Momenten mit der Handkamera zu filmen, freundet sich mit Ricky an. Ricky bestärkt mit seinem genuinen Interesse an ihr ihr Selbstbewusstsein und führt ihr auch die Abhängigkeitsbeziehung zu ihrer Freundin Angela vor. Während sich Janes Sorgen um Anerkennung und Konformität ringen, hat die junge Angela, blind orientiert an Schönheitsimperativen der Modelindustrie, vor allem Angst davor normal und gewöhnlich zu sein. Sie scheut deshalb auch nicht vor erotischen Andeutungen gegenüber Lester zurück, als sie dessen Interesse an ihr bemerkt. In der Nachbarschaft der Burnhams leben Familie Fitts und das homosexuelle Paar Jim und Jim. Letztere tauchen im Film lediglich als funktionale Randfiguren auf, Familie Fitts, wiederum, nimmt eine tragende Rolle im Film ein. Während die Mutter Barbara (Allison Janney) als geisterhafte und verstörend abwesende Gestalt in nur wenigen Szenen auftritt, entwickelt sich um den Vater Colonel Fitts (Chris Cooper) und seinen Sohn Ricky ein zweiter Erzählstrang, der die Ereignisse im Leben von Lester und Jane entscheidend beeinflusst. Rickys Vater Frank, ein Kriegsveteran, terrorisiert die Familie mit physischer und psychischer Gewalt und einer obsessiven Disziplinserwartung. Seine charakterliche Komplexität und Widersprüchlichkeit spitzt sich besonders am letzten Abend der Erzählung zu. Nach einem Jahr in der erzählten Zeit des Films verdichten sich die Peripetien des Films an einem Abend. Eine Beobachtung verleitet Frank Fitts fälschlicherweise zu der Annahme, Ricky biete Lester sexuelle Dienste an. Als er Ricky mit diesem Vorwurf konfrontiert, zeichnet sich in Rickys Gesicht eine Erleichterung ab, denn er erkennt nun einen Ausweg. Er bestätigt die Gerüchte und ein fassungsloser Frank wirft Ricky tränenüberströmt aus seinem Haus. Ricky verabschiedet sich von seiner Mutter und sucht Jane auf. Frank, fehlgeleitet und tief erschüttert von Rickys Reaktion, sucht Lester auf und in einem zentralen Wendepunkt im Film zeigt sich die Homosexualität von Frank, der sich Lester nun in der Garage körperlich nähert, was dieser einfühlsam ablehnt. Frank verlässt in tranceartigem Zustand die Garage. Nach einem Streit zwischen Jane und Angela findet Lester die gekränkte Angela weinend auf einem Wohnzimmerstuhl vor. Auf seine Annäherungen reagiert die verletzte Angela nun aktiv und Lester beginnt Angela zu küssen und langsam zu entkleiden. Als Angela zugibt, noch Jungfrau zu sein, verändert sich die Haltung Lesters erkennbar. Fürsorglich deckt er Angela wieder zu und versichert ihr ihre Außergewöhnlichkeit. In einem kurz darauffolgenden Gespräch in der Küche erkundigt sich Lester nach Janes Befinden und zeigt sich sichtlich gerührt von der Entdeckung der Liebe seiner Tochter. Auf Angelas Frage, wie er sich fühle, antwortet Lester, „I‘m great“ (Ball, Shooting Script , S. 96). Lester nimmt eine in einen Bilderrahmen gefasste Schwarz-Weiß-Aufnahme der jungen Familie in einem Vergnügungspark in die Hand, ehe er von hinten von Frank Fitts 158 158 Julia Rössler erschossen wird. 6 Der Film endet mit einer von Lester kommentierten Parallelmontage von glücklichen Erinnerungen und der Reaktion der einzelnen Figuren auf Lesters Tod. Glückerfüllt und in Dankbarkeit spricht Lester nun von der Schönheit seines „stupid little life“ (Ball, Shooting Script , S. 100). IV. Die mitunter aus kulturkritischer, psychoanalytischer, und theologischer Sicht vorgenommenen Auslegungsunternehmungen verdeutlichen die interpretatorische Offenheit und Wandelbarkeit von American Beauty . Auf ganzheitliches Verstehen des Films ausgerichtete Ansätze, die die Bestimmung eines eindeutigen Sinnzentrums ersuchen, weisen jedoch reduktionistische und simplifizierende Züge gegenüber der Vielschichtigkeit und Dissonanzen des Films auf, besonders im Hinblick auf dessen filmästhetische Formsemantik. So erweist sich beispielsweise eine theologisch-ethische Lektüre des Films in ihrer Konzentration auf dessen spirituellen und transzendentalen Gehalt als eine, die die Ambivalenzen des Films augenfällig einschränkt. Der Befreiungsakt Lesters wird interpretiert als ein Ausbruch aus einer an fehlender Spiritualität erkrankten Gesellschaft, die ihre spirituelle Energie nun dem Materialismus entnimmt (vgl. Smith, „,Beautiful Necessities‘“). 7 Lesters Transformation signalisiert eine Inanspruchnahme spirituellgeprägter Wertesysteme. Um Lesters Entwicklung als durchweg spirituelle Transformation zu begreifen, wird einerseits eine Unterschlagung der handlungsethischen Ambivalenz von Lesters Verhalten gegenüber der jungen Angela getätigt, denn Angela wird reduziert auf eine sündhafte Gestalt der Verführung (vgl. Johnston, „Beyond Futility“, S. 94: „No, [Lester] does not need to find meaning in the beauty of a blond nymph with a rose petal covering“). Gleichzeitig leidet diese Lesart unter der Ausklammerung der von Lester empfundenen Inhaftierung in das Vorstadtkorsett, die nicht in spiritueller Besinnung mündet, sondern sich zunächst in jugendlicher Rebellion, in der Aufkündigung von verantwortungsethischen Überlegungen und im Eskapismus durch Drogenkonsum entäußert. Eine Entschärfung der komplexen, teils widersprüchlichen Assoziationsketten des Films manifestiert sich in dem Versuch einiger Kritiker, philosophisch-existentielle Überlegungen über die Bedeutung des Lebens ins Sinnzentrum des Films zu rücken (vgl. Hole, „Look Closer“). Die Bedeutung und Wertschätzung von Leben wird dabei eng versponnen mit der Möglichkeit wahrhaftiger Schönheitserfahrungen. Dabei interpretieren Kritiker den Film als eine Absage an hohle, triviale und sinnentleerte Schönheitsimperative. Während ein Teil der Figuren, wie 6 Das Originaldrehbuch von Alan Ball wurde dahingehend gravierenden Veränderungen unterzogen, besonders im Hinblick auf eine ursprünglich vorgesehene Rahmenerzählung: Die Verurteilung der unschuldigen Jane und Ricky für den Mord an Lester. Eine ausführliche Schilderung der Drehbuchveränderung ist nachzulesen in dem hier zitierten Aufsatz von Wayne Booth (2002). 7 Die Forschungsliteratur weist in der Tat eine erstaunliche Dichte theologischer Zugänge zum Film auf. Neben David Smith möchte ich an dieser Stelle kurz drei weitere Deutungswege herausgreifen: D. Brent Laytham erschließt im Film ein Nachdenken über die sinnstiftende Kraft von Hoffnung inmitten einer Umwelt geprägt von Versagen und fehlgeleiteten Wertgrundsätzen (vgl. Laytham, „Time for Hope“, S. 76). Ähnlich argumentiert Robert Johnston und spricht dem Film eine gleichnishafte Reflexion über „life‘s sacredness“ zu (vgl. Johnston, „Beyond Futility“, S. 95). Judith Spector zufolge verkörpert American Beauty die Suche nach einem sinnerfüllten Leben inmitten der übermächtigen Normmechanismen, die Wohlstand und Erfolg als Grundlage für Glück und Sinnhaftigkeit bemühen (vgl. Spector, „Aesthetics of Materialism“, S. 279). Angela und Carolyn, Schönheit konzeptuell mit Perfektion und Makellosigkeit verbinden, verkörpern Ricky und später auch Lester ein tiefgehend philosophisches Verständnis von der Schönheit des Lebens durch eingehende Betrachtung und Wahrnehmung von Liebe, Leben und Sterben. Diese teils klischeehaft-romantisch überzeichnete Wahrnehmungsgabe von Ricky (die Plastiktüten-Szene ist hier paradigmatisch) und Lester wird im Film jedoch eigentlich weitaus schnörkelfreier und tiefgründiger problematisiert als durch diese Lesart suggeriert, bezieht man die formästhetische Komposition des Films ein. Eine psychoanalytische Lesart eröffnet wichtige Erkenntnisse über die im Film subtil problematisierten Mechanismen von Verdrängung und Unterdrückung, von Trieben und Verlangen, besonders in Bezug auf Frank Fitts und Lester. 8 Während Frank Fitts an seiner unterdrückten Sexualität leidet, deutet Vincent Hausmann Lesters Verhalten als einen Widerstand gegen symbolische Kastration und erläutert die ambivalente Dynamik der Abkehr und Inanspruchnahme seiner Vaterrolle (vgl. Hausmann, „Otherness“, S. 126). In ähnlicher Manier konzentrieren sich gendertheoretische Studien auf den Männlichkeitsdiskurs und kontextualisieren Lesters Verhalten als Resultat einer „wounded masculinity“ (Nungesser, „Ways of Reclaiming Masculinity“, S. 45-46), eine Reaktion auf die Gefährdung der Machtintegrität innerhalb der Geschlechterrollen (vgl. Höss, „Machismo als Gesellschaftskritik“, S. 350) und eine aufgrund der Vormachtstellung Carolyns innerhalb der Familie entstandene Entmündigung in Form einer „emasculat[ion] by his wife“ (Hausmann, „Otherness“, S. 118), wobei insbesondere die letzte Lesart problematisch ist aufgrund der angenommenen normativen Prämissen von Geschlechterrelationen. Matthew Rindge erhebt American Beauty kulturkritisch gar ins parabelhaft-belehrende durch die Assoziation der Suburbia mit der identitätsstiftenden Signifikanz des amerikanischen Traums. Demzufolge durchleuchtet American Beauty dessen nahezu sakrale Würdigung und Wirkung als eines orthodoxen Mythos amerikanischer Kultur (Rindge, Profane Parables , S. 2). Tatsächlich stellt American Beauty eine verdichtete Auseinandersetzung mit den ideellen Versprechen und zugleich der materialistischen Verformung des amerikanischen Traums dar und lotet vor allem Fragen nach individueller, selbstbestimmter Lebensgestaltung aus. Die Geste der Entlarvung der Lügen, Scheinwelten und Abgründe der amerikanischen Mittelschicht entblößt eine tief in die amerikanische Mittelschicht greifende menschliche Entfremdung, Bedeutungsleere und eine um nicht-materielle Werte verlegene Gesellschaft. Dabei geht es jedoch nicht um eine finale Absage und Abkehr von den großen Versprechen des amerikanischen Traums, denn auch Lester strebt weiterhin nach Glücksversprechen des amerikanischen Traums, nur, dass diese nun ideeller Art sind und eine Zuwendung an Werten wie Freiheit, Autonomie und Individualität. Sein Rückzug in Muster jugendhaften Verhaltens erscheint als nostalgischer Versuch der Vergegenwärtigung von Selbstverwirklichungsversprechen und damit verloren geglaubter genuin amerikanischer Werte und Ideale. Es geht dem Film also auch um die strukturellen gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Bedingungen in der Suburbia, die die Entfaltung individueller Identität und freiheitlicher Selbstgestaltung ermöglichen oder verhindern. In der Tat weist John Archer darauf hin, dass Suburbia jenseits seiner geografischen Verortung ein vielschichtiges ideologisches Paradigma darstellt (vgl. Archer, Architecture and Suburbia , S. xvi). Nicht selten ist die Rede von der „suburban 8 Vgl. Vincent J. Hausmann, Cinema, Technologies of Visibility, and the Reanimation of Desire . New York 2011. Sam Mendes, American Beauty 159 160 160 Julia Rössler nation“ oder den „United States of Suburbia“ (Hebel, „American Suburbia“, S. 184). Der Film repräsentiert diese sozialen und kulturellen Mechanismen der gemeinschaftlichen und individuellen Lebensgestaltung im amerikanischen Vorort. Eine durchaus glaubhafte Darstellung der Sorgen und Nöte von Heranwachsenden (zum Beispiel Jane und Angela) und deren Ringen um Anerkennung und Akzeptanz verleihen dem Film eine Authentizität, die jedoch vielseitig gestört wird, beispielsweise durch die teils übertrieben künstlich und karikaturhafte Erscheinung von Carolyn Burnham. Die grotesk anmutende Darstellung und Überzeichnung von Carolyn Burnham verleiht dabei kaum psychologische Tiefe. Im Gegenteil fungiert Carolyn hauptsächlich als ideologische (narrative) Gegenspielerin Lesters: Sie versinnbildlicht eben jene Verdächtigung des Films, welche blinde Orientierung an den leeren Versprechen des Materialismus und die nahezu naive Orientierung an einer Konsumideologie als ursächlich für die materielle Verformung der Grundideen des amerikanischen Traums sieht. Die hier rekapitulierten Deutungsversuche zeugen vom vielschichtigen Bedeutungsspektrum des Films und der komplementären aber auch ambivalenten Verflechtung der Themen im Film. Darüber hinaus ist die eben erwähnte Verschiedenheit in der Beschaffenheit von Figuren beispielhaft für die Dissonanz der Darstellungsmodi, die der Film mit erstaunlicher Konsequenz aufrechterhält. Im Folgenden soll nun die für den Film paradigmatische interpretatorische Offenheit durch das Prinzip der Dissonanz hinsichtlich der filmischen Formsemantik durch eine eingehende Betrachtung zweier konkreter Beispiele illustriert werden. V Nimmt man die eingangs zitierte Passage von Siegfried Kracauer und die darin enthaltene These ernst, so schafft das Medium Film Zugang zur physischen Wirklichkeit realer Lebenswelt in einer entrückt-objektiven Form. Trifft diese Annahme für den Film in gewisser Weise zwar zu, denn dieses Repräsentationsparadigma stabilisiert das thematische Deutungsspektrum des Films (vgl. IV.), so unterläuft American Beauty gleichermaßen dieses Prinzip durch Strategien der Perspektivierung durch den Wahrnehmungsraum von Lester und andererseits auch Ricky. Der Einsatz der nicht involvierten Kamera, Lesters Perspektive, als auch die von Rickys Handkamera eingefangenen Wahrnehmungspfade verdichten sich somit zu einem komplexen Wechselspiel, welche die Sehgewohnheiten, die medial-filmische Bedeutungsproduktion und die Verstehensvorgänge der Zuschauer stets verunsichern, aber auch wechselseitig vertiefen. In dem Zusammenspiel mit den statischen, nicht involvierten Bildaufnahmen, und der Beobachterposition von Ricky schafft der Film ein Spannungsverhältnis von Identifikation, Distanz und Entfremdung, das vom Zuschauer ständig auszuloten ist. Besonders eine sinnkohärente Auslegung von der Figur Lester führt dabei zu höchst divergenten Beurteilungen von Lesters handlungsethischer Haltung und der filmischen Vermittlung dieses Verhaltens. 9 Es kommt zu spannungsreichen Wirkungsinteraktionen zwischen der inhaltlichen und formalen Ebene. Ein zentraler formsowie rezeptionsästhetischer Kniff des Films sind transitorische Momente der Privilegierung der narrativen Perspektivierung durch Lesters Wahrnehmung und Empfindungswelt. Häufig nimmt die Kamera die Perspektive Lesters ein. Kathleen Karlyn zufolge schlägt sich der Film auf die Seite von Lester und 9 Eine ausführliche Studie über die Rezeption des Films bei Zuschauern und deren Bewertung von Lesters Verhalten ist nachzulesen in dem Beitrag von Dirk Blothner (2007). fordert auch vom Zuschauer eine Identifikation mit Lesters Gefühlswelt und Bewusstsein ein. Lester wird ein „sympathetic victim“, urteilt Kathleen Karlyn, und seine Verwandlung zum liebenswerten Rebellen aufgrund seines Verlangens nach Angela soll vom Zuschauer nicht als moralische Entgleisung und Übergriff, sondern als Zeichen seines aufblühenden Lebenswillens gedeutet werden, was von Karlyn als höchst problematisch eingeschätzt wird (Karlyn, „,Too Close to Comfort‘“, S. 78). Besonders die bildkompositorische und suggestive Wirkung der Fantasiesequenzen, in die Lester mehrmals während des Films eintaucht, sind hier aufschlussreich, weil sie ein tiefgreifendes Spannungsverhältnis aufgreifen: Abb. 8 & 9 Angelas sinnlich-erotische und verführerische Erscheinung zieht nicht nur Lester, sondern auch den Zuschauer in seinen Bann, denn die Kamera verschmilzt mit Lesters Wahrnehmung. 10 Der Film visualisiert ausgedehnt, sinnlich und farbensatt die Attraktivität der jungen Angela. Obwohl es sich hier um eine subjektive Projektion von Lesters Fantasie handelt, kritisiert Karlyn weitergehend, dass es sich nichtdestotrotz um eine Sexualisierung junger Mädchen handelt. Lemaster äußert ähnliche Bedenken und urteilt, dass Angela „abstractly represented as aesthetic figure […]“ ist und spricht angesichts der Ästhetisierung durch Sexualisierung junger Frauen im Film von einem Problem der Populärkultur (Lemaster, „The Nymphet as Consequence“). In ihrer Hypothese komplexer begreift Susann Cokal diese Spannung als eine der vielen Ambivalenzen im Film: „there is a contradiction and a tension between the way the film presents physical beauty‘s erotic power and the artistic power of metaphor“ (Cokal S. 48). Angela wird zur Kippfigur, die zugleich Verführerin als auch - so wie sich in ihrem Vornamen andeutet - als Retterin und Erlöserin Lesters und als Inspiration Lesters spirituellen Wandels gedeutet werden kann. Jedoch entsteht durch diese mehrdeutige Rolle Angelas bezüglich der Beurteilung Lesters Verhalten ein Spannungsfeld aus minderer Moral und verantwortungsethischem Versagen. Zugleich sind die Sequenzen exponiert und verweisen selbst auf ihren metaphorischen Gehalt und die problematische Subjektivierung durch Perspektivierung. Der Film markiert die Szenen durch die veränderte Formästhetik (Musik, Rhythmus, zeitliche Manipulation durch sich wiederholende Handbewegungen) als imaginiert und umgeht diesbezüglich eine ontolo- 10 Für eine ausführliche Analyse der Figur der Nymphe in American Beauty sei an dieser Stelle auf den hier zitierten Aufsatz von Tracy Wendts verwiesen. Diese Lesart liegt nicht allzu fern, trägt doch Angela den Nachnamen Hayes, der unmittelbar einen Verweis auf das literarische Werk Vladimir Nabokovs enthält, dessen Ich-Erzähler Humbert Humbert, von pädophilen Neigungen geprägt, seine Sexualisierung junger Mädchen auf die junge Doloreas Haze projiziert. Sam Mendes, American Beauty 161 162 162 Julia Rössler gische Irritation, gleichwohl ein ambivalenter und moral-ethisch problematischer Deutungsspielraum eröffnet wird. 11 Diese Geste der scheinbaren Favorisierung der Figur Lester ist ein integraler narrativer und filmästhetischer Kniff des Films, der so in ein Spannungsverhältnis von Identifikation, Distanz und Perspektivierung eintritt und dabei auf eine Geste der Dissonanz deutet. VI. Eine besonders brisante Überlegung in diesem Zusammenhang scheint mir zu sein, warum Lester am Ende sterben muss. Lässt sich die Entwicklung der Figur Lester nachvollziehen und dabei die ihr eingeschriebenen Widersprüche aufzeigen? Oder lässt sich Lesters Tod mit der dem Film eingeschriebenen Unbestimmtheit und Dissonanzen erklären? Zunächst der Versuch, diese Frage anhand der internen Erzähllogik nachzuvollziehen. Inhaltlich lässt sich der Mord an Lester nachvollziehbar als eine Verkettung unglücklicher Umstände und der daraus von Colonel Fitts resultierenden homoerotischen Annäherungsversuche rekonstruieren. Ausgehend von der Frage nach der zu Grunde liegenden Handlungslogik erscheint Lesters Tod in einem anderen Licht: Lester muss nicht sterben, weil er sich, zumal auf erstaunlich liebevolle und urteilsfreie Art, den Annährungsversuchen von Colonel widersetzt. Die (narrative) Notwendigkeit von Lesters Tod ist in dem Moment besiegelt, als die sündhafte Zuwendung der jugendhaften Angela auch handlungsethisch sein Schicksal im Film besiegelt. Aristotles bezeichnet den immanenten Irrtum und die damit inkraft gesetzte unausweichliche Verkettung und Finalität der Ereignisse als Hamartie in der griechischen Tragödie - der tödliche Irrtum des Helden. Vorausgehend manifestiert sich Lesters Hybris 12 nun in dem Moment, als die 16-jährige Angela in sein Leben tritt und unmittelbar zum Objekt seiner sexuellen Begierde wird. Weil der Film Lester zwar für sein Verhalten abstraft - denn Lester muss aufgrund seiner Hybris letztlich sterben - nimmt der Film zuvor eine entscheidende Entschärfung der Schuldfrage durch Lesters Rückzug gegenüber Angela und eine Besinnung auf ein Verantwortungsbewusstsein. Somit wird Lesters Moralität gerettet und eine Wertindifferenz verworfen, gleichwohl sich die inhärenten Ambivalenzen der Figur Lester dadurch nicht auflösen. Damit lässt sich der Film - etwas in seiner Strenge der Unbestimmbarkeit einbüßend - auf ein versöhnliches Ende ein, das wieder das Repräsentationsparadigma bemüht, um nicht letztlich in ein wertindifferentes Werk zu münden. Zentral erscheint hier ebenfalls eine als Prolog vorangestellte Videoaufnahme. American Beauty beginnt mit einer Videoaufnahme von Lesters 16-jähriger Tochter Jane (vgl. Abb. 11), die nur leicht bekleidet und in liegender Position direkt in die Kamera schaut und somit den Zuschauer anblickt und ihrem hinter dem Kameraauge verborgenen Gegenüber preisgibt: „I need a father who‘s a role model, […] What a lame-o. Somebody really should put him out of his misery“ (Ball, Shooting Script , S. 1). Erst im späteren Verlauf des Films erfahren wir, dass dieses Videodokument von Janes Freund Ricky während eines Gesprächs über Janes Vater und dessen mangelnde Vaterqualitäten entstanden ist. Die Qualität der Videoaufnahme wirkt dokumentarisch und authentisch, die suggestive 11 Vgl. Peter Rothbart, The Synergy of Film and Music. Sight and Sound in Five Hollywood Films (2013). 12 Leslie Erickson beschreibt diesen Verlauf gar als eine typische Erzählformel einer heldenhaften Geschichte (Erickson 2006), wobei die Interpretation teils an der Oberflächlichkeit einer modellhaften Anwendung leidet. Wirkung des Bildes unterstreicht glaubhaft Janes emotionale Entrückung von ihrem Vater. Diese ernstzunehmende Reflexion über Wertentwürfe und Handlungsethik wird zentral und paradigmatisch verstärkt durch die dokumentarischen Aufnahmen von Ricky im Film, die entfremden und zugleich eine besondere Authentizität und dokumentarische Qualität schaffen. Besonders zu Beginn des Films wird Ricky in mehreren Sequenzen eingeführt als ein junger Mann, der in fast voyeuristischer Manier die junge Jane filmt. Dieser Vorwurf entkräftet sich schnell, Ricky erscheint auf der Suche nach Wahrhaftigkeit und Schönheit in der ihn umgebenden dinglichen Realität und möchte diese mit seiner digitalen 13 Handkamera festhalten. Die Handkamera bietet die Möglichkeit, Momente einzufangen und damit in Erinnerungen zu transferieren, um eine Form der ständigen Vergegenwärtigung zu schaffen und gleichzeitig gegen das Vergessen anzuarbeiten. Jaqueline Furby weist darauf hin, dass die Videoaufnahmen einen therapeutischen Mehrwehrt für Ricky einnehmen (vgl. „Rhizomatic Time and Temporal Poetics“, S. 21). Aber es geht auch um die Möglichkeit von Wahrnehmung und Sichtbarkeit. In seiner sorgfältigen Analyse des Einsatzes von Analog- und Digitalmedialität in American Beauty kommt Georg Stanitzek zum Schluss, dass im Film auch zur Debatte steht, inwieweit sich „Film als Medium mit privilegiertem Bezug zur äußeren Realität zu behaupten vermag“ („Kracauer in American Beauty “, S. 377). Dabei setzen sich die Videoaufnahmen durch ihre veränderte Materialität - Qualität, Farbintensität, Kamerafokus - gezielt von der Bildkomposition des Films ab. Abb. 10 & 11 In diesen Sequenzen (Abb. 10 und 11) übernimmt die Handkamera nun ganzheitlich den Filmrahmen und verändert die Textur der dargestellten Situationen. Das Filmbild und das Videobild synthetisieren und der Blick und das Sehen des Zuschauers fallen mit dem Kameraauge Rickys zusammen. Dabei wirken diese Aufnahmen nicht notwendigerweise kontrastiv, sondern verwirklichen und unterstreichen eben jene mediale Annäherung an die Möglichkeit der Sichtbarmachung und Eröffnung und führen zu einem „,klirrenden‘ Realitätseffekt“ (Stanitzek, „Kracauer in American Beauty “, S. 375). Die Aufnahmen wirken allzu real und familiär. Die Formsemantik des Films wird entscheidend vertieft und zeigt eine medientheoretische Geste über die dem Film innewohnende Fähigkeit, Wirklichkeit(en) aufzunehmen, mimetisch anzueignen und abzubilden, um eine besondere Form der Perspektive und Wahrnehmung zu eröffnen. Die durch Rickys Handkamera innerhalb des Filmgeschehens (simultan) geschaffe- 13 Ein medientheoretischer Zugang zum Film und eine Diskussion des Verhältnisses von Analogmedialität und Digitalmedialität in American Beauty : Georg Stanitzek. Für eine ausführliche Lektüre des multimedialen Einsatzes von Kommunikationsmedien im Film bietet sich M. O‘Gorman an. Sam Mendes, American Beauty 163 164 164 Julia Rössler nen und teils punktuell, teils sukzessive eingeblendeten digitalen Aufnahmen erweisen sich als Schlüssel zur medientheoretischen Ebene des Films. Es geht um die Frage nach der erkenntnistheoretischen Möglichkeit des Films qua seiner medialen Repräsentationsverfahren und dabei steht nicht weniger als die Integrität der filmischen Aufnahme auf dem Spiel. Auch rezeptionsästhetische Intentionen über Gewohnheiten des Sehens, der Wahrnehmung und des Schauens werden dabei thematisiert und arbeiten gegen monotone und lähmende Gewohnheiten des Sehens an (vgl. Haussmann, Visibility , S. 4). In Anbetracht dieser zusätzlich zu erschließenden Bedeutungsebene verwehrt sich der Film durch diese Verdichtung andersartiger filmischer Repräsentationsformen einer verlässlichen, stabilen Ausdeutung und privilegiert Formprinzipien der Offenheit und Dissonanz als kreativ-produktives Vorgehen. VII. Hermeneutische Bemühungen, also auf das ganzheitliche Verstehen und Auslegen des Films ausgerichtete Ansätze, treffen in der immanent-dissonanten Logik von American Beauty schnell auf Irritationen und Brüche. Der Film widersetzt sich stringenten und eindeutigen Festlegungen eines Sinnzentrums. In der punktuellen Betrachtung von Deutungsunternehmungen zeichnet sich ab, dass einige Zugänge und Lektüren unter der Ausklammerung der besonderen Formsemantik des Films leiden, denn wie es im Laufe dieses Aufsatzes herauszuarbeiten galt, findet eine zentrale Ausdifferenzierung und Auslotung des inhaltlichen Gehalts des Films auf der Ebene der Formsemantik statt. Im Repräsentationsparadigma der Offenlegung und Sichtbarmachung ist ein zentrales Anliegen des Films die kritische Reflexion über identitätskonstituierende Wertesysteme und Mechanismen in der Suburbia, und dafür bemüht der Film Darstellungsprinzipien der Entfremdung und Dissonanz. Besonders durch die Perspektive des Protagonisten Lester Burnham erleben wir dessen sich zuspitzende jugendliche Rebellion als einen Befreiungsschlag gegen die gesellschaftspolitischen Fesseln verknüpft mit einer ideellen Werteneuordnung. Dabei geht es in American Beauty zunächst in seiner Darstellung um eine Geste der Inspektion, Offenlegung und Kritik der Identitätskonstitution. In zweiter Instanz und unter Berücksichtigung der besonderen Formsemantik und filmischen Kompositionsmuster geht es im Film aber um eine Störung des unkritischen Konsums filmischer Medien und damit um die Irritation der Seh- und Interpretationsmöglichkeiten der Rezipienten. Im Film wird ein kritisches medientheoretisches Moment in dem Thematischwerden der Frage nach der filmischen Repräsentation und deren erkenntniskritischem Potential realisiert, welches im Film vor allem kulturkritischer Natur ist. So materialisiert der Film neben kulturkritischen Impulsen auch ein genuin film- und medientheoretisches Anliegen. Filmographie American Beauty. Produktion: DreamWorks Pictures, Vereinigte Staaten, 1998. Regie: Sam Mendes. Drehbuch: Alan Ball. Kinematographie: Conrad L. Hall. Musik: Thomas Newman. Darsteller: Kevin Spacey (Lester Burnham), Annette Bening (Carolyn Burnham), Thora Birch ( Jane Burnham), Wes Bentley (Ricky Fitts), Mena Suvari (Angela Hayes), Peter Gallagher (Buddy Kane), Allison Janney (Barbara Fitts), Chris Cooper (Colonel Fitts). Bibliographie Archer, John, Architecture and Suburbia. From English Villa to American Dream House, 1690-2000 . Minneapolis 2005. Arthur, Paul, „Film Reviews. American Beauty“. In: Cineaste , 25: 2 (2000), 51-53. 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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Mendes, American Beauty , 00: 01: 13 Abb. 2: Mendes, American Beauty , 00: 02: 38 Abb. 3: Mendes, American Beauty , 00: 02: 48 Abb. 4: Mendes, American Beauty , 00: 03: 57 Abb. 5: Mendes, American Beauty , 00: 04: 14 Abb. 6: Mendes, American Beauty , 00: 06: 45 Abb. 7: Mendes, American Beauty , 00: 07: 48 Abb. 8: Mendes, American Beauty , 00: 16: 28 Abb. 9: Mendes, American Beauty , 00: 18: 45 Abb. 10: Mendes, American Beauty , 00: 08: 54 Abb. 11: Mendes, American Beauty , 00: 00: 54 Ein Wal ist ein Wal ist ein Wal: Béla Tarr, Die Werckmeisterschen Harmonien Jörn Glasenapp I. Die zwei Tarrs oder: László Krasznahorkais Mitgift Die Rede ist oft von zwei Béla Tarrs, dem frühen und dem späten: Ersterer drehte sozial-realistische, sich offensiv kunstlos gebende Filme, die, politisch engagiert und unübersehbar beeinflusst vom direct cinema sowie cinéma vérité , Kritik an den gesellschaftlichen Strukturen im zeitgenössischen Ungarn üben. Letzterer dagegen schuf erlesen ‚schön‘ anmutende, aufs Sorgsamste komponierte Werke, deren streng formalistisch-minimalistische Ästhetik mit einer gegenüber dem Frühwerk augenfälligen Weitung des Problemhorizonts vom Sozialen ins gleichsam ‚Kosmische‘ einhergeht. Den frühen Tarr bzw. den Regisseur von Familiennest (1977), Der Außenseiter (1980) und Betonbeziehung (1982) kennt bis heute nahezu niemand. Der späte Tarr, also jener, dem wir Filme wie Satanstango (1994), Die Werckmeisterschen Harmonien (2000) oder Das Turiner Pferd (2011) verdanken, gilt seit geraumer Zeit als Größe des internationalen Arthaus-Kinos. Einspruch gegen eine derartige Sicht der Dinge erhebt allen voran Tarr selbst. Der 1955 im südungarischen Pécs geborene Regisseur will von einem „ästhetischen Bruch“ 1 bzw. der Aufteilung seines im Übrigen vergleichsweise schmalen Œuvres in zwei Abschnitte nichts wissen. Stattdessen insistiert er immerzu auf die Konsistenz desselben. „[P]lease, don‘t split my life! “, wendet er sich 2007 ganz in diesem Sinne an eine Interviewerin. „Don‘t say that there was the social period and now it is a more existential one. No, I‘m talking always about the same thing. If you want, you can say it‘s always the same movie, but I‘m going deeper, deeper, deeper.“ 2 Statt eines revolutionären Umschlagens sieht Tarr vielmehr evolutionäre Prozesse am Werk. Sicher, es gibt sie, die Konstanten bzw. rekurrenten Aspekte im Schaffen des Ungarn, und sie sind vor allem inhaltlicher Natur: Man denke an den Alkohol, den (zumal) die männlichen Figuren sowohl der frühen als auch der späten Filme gern im Übermaß konsumieren, an das Motiv des Tanzes, ohne das bis auf Familiennest und Das Turiner Pferd keiner der abendfüllenden Tarr-Filme auskommt, 3 oder aber an die seit jeher ausgeprägte Vorliebe und Empathie des Regisseurs für Außenseiterfiguren, für die Unterprivilegierten, die Prekarisierten und vollends Entkoppelten. Und doch lässt sich die markante, die Gemeinsamkeiten deutlich überschattende Differenz zwischen Früh- und Spätwerk nicht hinwegdiskutieren, wobei es an dieser Stelle zunächst genügen soll, allein auf zwei Gesichtspunkte hinzuweisen: zum einen auf die in 1 Hetzenauer, Das Innen im Außen , S. 56. 2 Tarr, „Béla Tarr“, S. 35. Vgl. hierzu auch Bálint Kovács, The Cinema of Béla Tarr , S. 5 und 55 sowie Hetzenauer, Das Innen im Außen , S. 9. 3 Vgl. hierzu Glasenapp, „Bewegungsbilder“, S. 212-214. 168 168 Jörn Glasenapp beiden Werkphasen grundverschiedene Kameraarbeit, zum anderen auf die Tatsache, dass nur der ‚große‘ Tarr, der Tarr des zweiten, die Hauptwerke versammelnden Schaffensabschnitts also, massiv im Rückgriff auf die Literatur operiert, das heißt fortwährend adaptiert. Werde ich mich zu letzterem Aspekt etwas weiter unten noch ausführlicher äußern, möchte ich es hinsichtlich der Kameraarbeit dabei belassen, Jacques Rancière zu Wort kommen zu lassen. „Die Wut des jungen Filmemachers“, gibt der Philosoph in seinem großen, übrigens auch von Tarr selbst sehr geschätzten Essay über den Regisseur hilfreich zu bedenken, übersetzte sich in die schroffen Bewegungen einer Schulterkamera, die in beengten Räumen von einem Körper zum nächsten sprang und jeden Ausdruck der Gesichter aus größtmöglicher Nähe einzufangen versuchte. Der Pessimismus des gereiften Filmemachers hingegen drückt sich in langen Plansequenzen aus, die die ganze leere Tiefe des Bildfelds erforschen, die sich um die in ihrer Einsamkeit eingeschlossenen Individuen ausbreitet. 4 Nein, von einer Homogenität des Tarr‘schen Œuvres kann keine Rede sein. Vielmehr wird man dem Filmkritiker Jonathan Romney zustimmen müssen, wenn er behauptet: „Seen after Satantango and Werckmeister Harmonies , [Tarr‘s] back catalogue comes as something of a shock.“ 5 Einen solchen dürfte unter anderem auch Jared Rapfogel erlebt haben, der in seinem Review-Artikel über das Frühwerk Tarrs zu demselben Ergebnis wie Romney kommt. „Few filmmakers“, beginnt er dementsprechend seine Einlassungen, „have undergone so thorough, and sudden, a transformation as the Hungarian Béla Tarr.“ 6 Man ist also geneigt zu fragen, warum der Regisseur, ohne dafür einschlägige Argumente ins Feld führen zu können, so entschieden auf die Geschlossenheit seines Schaffens pocht. Tut er dies, um nicht indirekt zugeben zu müssen, was schlussendlich auf der Hand liegt: dass bzw. in welch hohem Maße sein Sprung zur Reife der Literatur geschuldet ist, sich seine ‚Größe‘ der Mitarbeit eines anderen verdankt, und zwar seines ungarischen Landsmannes und Freundes László Krasznahorkai? Letzterer „[betritt] mit Verdammnis das Universum Béla Tarrs“, 7 so Rancière, der mit dieser Behauptung allerdings am Eigentlichen vorbeigeht. Genau genommen nämlich entsteht das Universum Béla Tarrs, also das, was wir mit dem Namen des Regisseurs verbinden und was vor unser inneres Auge tritt, wenn wir an Filme wie Satanstango oder Die Werckmeisterschen Harmonien denken, erst in dem Moment, in dem Krasznahorkai am Schaffen des Regisseurs teilhat. Dieser hatte den Schriftsteller und seinen längst zum modernen Klassiker avancierten Debütroman Satanstango bereits kurz vor dessen Drucklegung im Jahr 1985 über die Vermittlung durch den Literaturkritiker Péter Balassa kennengelernt und sogleich eine Adaption des Buchs ins Auge gefasst. Doch erwies sich das Vorhaben in der Endphase des kommunistischen Ungarn als unrealisierbar - dies freilich nicht so sehr, wie bisweilen behauptet wird, ob der Maß- und Kompromisslosigkeit, mit der Tarr und Krasznahorkai bei der Verfilmung zu Werke gehen wollten (und dann auch später gingen), sondern weil der Regisseur aufgrund seiner vorangegangenen kritischen Arbeiten als politisch problematischer Künstler galt. Letzteres traf 4 Rancière, Béla Tarr , S. 10. Tarr äußert seine Wertschätzung von Rancières Buch in Kudlac, „‘Be More Radical Than Me! ‘“ 5 Romney, „Béla Tarr“, S. 74. 6 Rapfogel, „DVD Review“, S. 62. 7 Rancière, Béla Tarr , S. 43. auf den damaligen literarischen ‚Neuling‘ Krasznahorkai (noch) nicht zu. Und so hatte man die Drucklegung des - nun beileibe nicht regimefreundlichen - Romans, in dem die seit den 1970er Jahren im Umlauf befindliche Rede von Ungarn als ‚lustigster Baracke des Ostblocks‘ radikal wörtlich genommen und zudem miserabilistisch gewendet wird, genehmigt. Darüber wiederum kann sich der Autor bis heute nicht genug wundern. 8 Dass das ehrgeizige Satanstango -Projekt vorerst scheiterte bzw. auf Eis gelegt werden musste, bedeutete nun keineswegs das Ende der Zusammenarbeit zwischen Tarr und Krasznahorkai. Vielmehr wich man stattdessen auf eine bescheidenere Idee des Regisseurs aus, einen Noir-Stoff um Verrat und vergebliche Liebe, aus dem schließlich der oben bereits genannte Neo-Noir-Film Verdammnis werden sollte. 9 Mit ihm feierte Tarr 1987 seinen - wenn auch noch reichlich bescheidenen - internationalen Durchbruch. Von da an entstanden alle weiteren Spielfilme des Regisseurs unter Drehbuchmitarbeit von Krasznahorkai: zunächst, im mittlerweile demokratischen Ungarn, das über sieben Stunden lange opus magnum Satanstango , sodann, basierend auf Krasznahorkais zweitem, 1989 erschienenen Roman Melancholie des Widerstands , Die Werckmeisterschen Harmonien , auf den wiederum, als Adaption des gleichnamigen Romans Georges Simenons aus dem Jahr 1934, Der Mann aus London (2007) folgte. Dass dieser - wenn auch völlig zu Unrecht - weder Kritik noch Publikum wirklich zu überzeugen vermochte, mag ein Grund dafür gewesen sein, dass Tarr mit seiner Kammerspiel-Apokalypse Das Turiner Pferd erneut auf einen Text Krasznahorkais, den 1979 verfassten, aber erst 1990 publizierten Nietzsche-Essay „Spätestens in Turin“, als Impulsgeber und Vorlage zurückgriff. Das Gesagte in Rechnung gestellt, besteht kein Zweifel: Eine engere Zusammenarbeit zwischen einem Schriftsteller und einem Regisseur als diejenige Tarrs und Krasznahorkais kennt die Filmgeschichte nicht. Und wenn wir fragen, was durch diese Zusammenarbeit Eingang in das Schaffen Tarrs gefunden hat, woraus, wenn man so will, Krasznahorkais Mitgift in die künstlerische Beziehung mit Tarr besteht bzw. bestand, so findet sich so Einiges. Kurz und in der Reihenfolge nach ansteigender Wichtigkeit vorgestellt sei an dieser Stelle fünferlei: erstens , die Tierwelt, zweitens , das schlechte Wetter, drittens , das existenzielle Unbehaustsein, viertens , die apokalyptische Logik sowie, fünftens , der Verlust der Sprache bzw. die Austreibung des Worts. Die Tierwelt Obgleich Tarrs gesamtes Œuvre mit Tieren einsetzt, genauer: mit zwei auf der Straße pickenden Hühnern, die uns die Initialeinstellung von Familiennest in Nahsicht präsentiert, und obgleich das Spielfilmdebüt des Ungarn durch einen die belastende Enge der hoffnungslos überbelegten Wohnung symbolisch bekräftigenden Vogelkäfig und das Faktum, dass die Protagonistin in einer Wurstfabrik arbeitet, die Sphäre des Animalischen auch anderswo präsent hält, gilt: Erst die Kooperation mit Krasznahorkai sorgt dafür, dass der Fauna ein zentraler Stellenwert im Werk Tarrs zukommt. In großer Zahl bevölkert von nun an unterschiedlichstes - diegetisches - Getier das Tarr‘sche Universum und bezeugt durchweg und zudem eindrucksvoll, was Béla Balázs konstatiert - nämlich dass unsere besondere Freude an Tieren auf der 8 Vgl. hierzu etwa das Interview mit Krasznahorkai, das am 13. Juni 2012 in der Library of Congress, Washington geführt wurde [Letzter Zugriff am 30.10.2017]. 9 Vgl. hierzu Bálint Kovács, The Cinema of Béla Tarr , S. 10. Ein Wal ist ein Wal ist ein Wal: Béla Tarr, Die Werckmeisterschen Harmonien 169 170 170 Jörn Glasenapp Leinwand daher rühre, „daß sie nicht spielen, sondern leben.“ 10 Während Satanstango mit einer großen Artenvielfalt aufwartet - neben Kühen und Hunden bekommen wir Pferde, Hühner, Fliegen, Spinnen, ein Schwein, eine Katze und eine Eule zu Gesicht -, paradieren die anderen Filme mit jeweils nur einem Leittier, mag dieses auch im Kollektiv auftreten: Verdammnis mit dem Hund, Die Werckmeisterschen Harmonien mit dem Wal, Der Mann aus London mit dem Fuchs (in der Form eines Fuchspelzes) und schließlich Das Turiner Pferd mit dem Pferd. Für das gesamte Ensemble gilt grosso modo , was Rancière betont: dass „das Tier das Universum Béla Tarrs als diejenige Figur [bewohnt], in deren Angesicht der Mensch seine Grenzen erfährt.“ 11 Von selbst versteht sich daher, dass die seit nunmehr geraumer Zeit boomenden Cultural Animal Studies nicht zuletzt aufgrund ihres gesteigerten Interesses für Fragen, die die Anthropologische Differenz bzw. Sonder-‘Stellung des Menschen im Kosmos‘ (Max Scheler) betreffen, 12 allmählich beginnen, die Auseinandersetzung mit Tarrs Filmen auf ihre Agenda zu nehmen. 13 Das schlechte Wetter Die oft gehörte Rede, in Tarrs Filmen sei das Wetter chronisch schlecht, geht an der Realität entschieden vorbei und dürfte zumal der Unkenntnis des Tarr‘schen Frühwerks geschuldet sein. In diesem nämlich lacht die Sonne fortwährend, und die Temperaturen - siehe Betonbeziehung - laden dazu ein, ins Freibad zu gehen. Ja, der frühe Tarr ist ein regelrechter Schönwetterbzw. Sommer-Regisseur, dem es augenscheinlich auf den Gegensatz ankommt. Man denke in diesem Zusammenhang nur an die Familienausflüge aus Familiennest und Betonbeziehung , die beide darauf hinauslaufen, dass sich die Ehemänner betrinken (und sich einer von beiden infolgedessen sogar übergeben muss) und Frau und Kinder alleine lassen. Keine Frage: Bei strahlendem, wolkenlosem Himmel wirkt die eklatante Dysfunktionalität der dargestellten Beziehungen nur umso deprimierender. Diese Kontraststrategie nun ist mit Beginn der Kooperation mit Krasznahorkai Geschichte, denn er, der Autor, der mit seinen Regenbzw. Kälteromanen Satanstango und Melancholie des Widerstands apokalyptische Szenarien der klimatischen Abkühlung entwirft, 14 sorgt für gewaltige Tiefs im Tarr‘schen Werk bzw. dafür, dass der Schlechtwetterbzw. Winter-Tarr die Bühne betritt. Und bei diesem harmonieren Wetter und Geschehen ganz und gar, ziehen sie am gleichen düsteren Strang. 15 Konsequenterweise 10 Balázs, Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films , S. 76. - Zur Unterscheidung von diegetischen Tieren, also solchen, die als Lebewesen in einem diegetischen Universum leibhaftig in Erscheinung treten, und semiotischen Tieren, die nur über die Vermittlung beispielsweise durch Redewendungen, Namen oder Metaphern Eingang in die Diegese finden, vgl. Borgards, „Tiere und Literatur“, S. 226. 11 Rancière, Béla Tarr , S. 97. 12 Einen glänzenden, die von der Antike bis zur Gegenwart reichende Diskussion über die Anthropologische Differenz konzis nachzeichnenden Überblick bietet Wild, „Anthropologische Differenz“. 13 Vgl. etwa - mit Blick auf Das Turiner Pferd - Hockenhull, „Horseplay“. Ferner zu den Tieren bei Tarr vgl. Glasenapp, „Béla Tarrs Kino der Zeit, des Raums und der Materialität“, S. 157-181, hier: S. 168-170, 171 f. und 179 f. 14 Zum Szenario der Abkühlung als prominente Spielart apokalyptischer Klimanarrationen vgl. Horn, Zukunft als Katastrophe , S. 139-148. 15 Charmant, jedoch gewiss unzutreffend wäre die Behauptung, die Wetterverschlechterung in Tarrs Werk kündige sich bereits im Titel des zwischen beiden Werkphasen stehenden Scharnierwerks Herbstalmanach (1984) an, einem nicht allzu fern an Sartres Geschlossene Gesellschaft (1944) erinnernden, ohne jede Außenaufnahme auskommenden closed-situation drama , bei dem es sich gewissermaßen um einen Film ohne Wetter handelt. Ein Wal ist ein Wal ist ein Wal: Béla Tarr, Die Werckmeisterschen Harmonien 171 dreht der Regisseur von nun an ausschließlich in der Zeit zwischen November und März und legt bei den Außenaufnahmen auf Folgendes wert: keine frischen Blätter an den Bäumen, dafür totes Laub am Boden (oder, wie in Das Turiner Pferd , in der sturmgepeitschten Luft), so gut wie keine Sonne und keine durch ihr Licht generierte Schlagschatten, dafür ein milchig weißer, weitgehend monochromer Himmel, und vor allem: kein Schnee, dafür gern heftiger Regen. 16 Statt diesen nun aber auf einen wie auch immer gearteten symbolisch-metaphorischen ‚Sinn‘ abzuklopfen, sollte er innerhalb der Tarr‘schen Diegese als eine durch und durch materielle Gegebenheit betrachtet werden, als ein Agent der Zersetzung und Dekomposition, der die ungeteerten Straßen in Schlammwüsten verwandelt und darüber hinaus Schimmel und Steinfraß mit im Gepäck führt, der also das im Sinne Vilém Flussers Informierte bzw. in Form Gebrachte aus der Form gehen lässt. 17 Vergleichbares darf für den im Spätwerk Tarrs so oft und so heftig pfeifenden Wind gelten. Das existenzielle Unbehaustsein Seine kurze Einlassung zum Regen lässt Flusser mit der Beobachtung beginnen, es sei gemütlich, durch das Fenster dem Regen zuzuschauen. Dort draußen spielen die Naturkräfte und kreisen sinnlos wie immer. Derjenige, der von dem Kreisen erfaßt wird, ist machtlos dem heftigen Wirbel und unkontrollierten Kräften ausgesetzt. Hier drinnen sind andere Prozesse im Spiel. Die Ereignisse lenkt der, der drinnen ist. Die Ursache für das Gefühl der Geborgenheit ist das Gefühl, sich während des sinnlosen Ungestüms der Natur inmitten von Geschichte und Kultur zu befinden. Die Tropfen, die vom stürmischen Wind gegen das Fensterglas schlagen, in den Raum aber nicht eindringen können, bilden den Sieg der Kultur über die Natur. 18 Unzweifelhaft handeln Verdammnis und Satanstango , also jene beiden Filme, die den Zuschauer ins „Reich des Regens“ 19 einführen, auch und vor allem von der Rücknahme dieses Sieges, der Verkehrung desselben zur Niederlage. Entsprechend lassen sie wieder und wieder das Durchlässigwerden der Grenze zwischen dem Innen und dem ‚feindlichen Draußen‘, kurz: die Krise des Hauses, augenfällig werden, das seine wesentliche Funktion - nämlich, den Raum der Geborgenheit von dem der Bedrohung zu sondern 20 - nicht mehr zu erfüllen vermag. Der Unterschied zum Frühwerk könnte nicht größer sein: Hatte sich Tarr in seinem Erstling Familiennest noch in sozial-realistischer Manier den desaströsen Folgen der im damaligen Ungarn herrschenden Wohnungsnot gewidmet und mit Insistenz herausgestellt, was mit Menschen geschieht, wenn der Hausbzw. Wohnungsfrieden durch die extreme Überbelegung des Wohnraums permanent gestört ist, so begegnet uns das Thema der problematisch gewordenen Behausung in Tarrs Spätwerken, allen voran in Das Turiner Pferd , in universal gewendeter Form. Mehr noch: Auch jenseits des konkreten ‚Heims‘ ist jedwede bergende Struktur, jedwede Vorstellung einer antwortenden, entgegenkommenden, kurz: resonanten Welt, 21 verloren- 16 Vgl. hierzu auch Bálint Kovács, The Cinema of Béla Tarr , S. 97. 17 Vgl. hierzu Flusser, Ins Universum der technischen Bilder , S. 22f., passim. 18 Flusser, Vogelflüge , S. 32. 19 Rancière, Béla Tarr , S. 35. 20 Vgl. hierzu vor allem Bachelard, Poetik des Raumes , passim und Bollnow, Mensch und Raum , S. 95-109, darüber hinaus aber auch Flusser, Dinge und Undinge , S. 89f. 21 Vgl. hierzu umfassend Rosa, Resonanz . 172 172 Jörn Glasenapp gegangen. Das heißt, als existenziell Unbehauste bzw. „metaphysische Vagant[en]“ 22 sind die Figuren Tarrs der, um es mit seinem Landsmann Georg Lukács zu sagen, „transzendentalen Obdachlosigkeit“ 23 überantwortet. Auch deswegen wird man ihm Recht geben müssen, wenn der Regisseur behauptet, man solle die ihm so gern nachgesagte Nähe zum tief religiösen Andrej Tarkowskij nicht überbetonen. 24 Die apokalyptische Logik Was Karrer (Miklós B. Székely), der zur philosophischen Reflexion neigende Protagonist aus Verdammnis , im argumentativen Fahrwasser etwa eines E. M. Cioran konstatiert - nämlich, dass jedwede Geschichte vom Verfall erzähle -, wird schlussendlich durch alle Filme Tarrs bestätigt, den frühen ebenso wie den späten. Doch gibt es hinsichtlich des Ausmaßes des Verfalls einen entscheidenden Unterschied, seit mit Krasznahorkai der, wie es seine prominenteste Fürsprecherin Susan Sontag einmal formulierte, „contemporary Hungarian master of the apocalypse“ 25 zum Team Tarr gehört. Etwas forciert ließe sich dieser Unterschied wie folgt fassen: Während im Frühwerk Tarrs die Welt der Figuren aus den Fugen gerät, ist es im Spätwerk - mit Ausnahme von Der Mann aus London - die gesamte Ordnung des Seins. Oder kurz und salopp: Nicht mehr bloß Ehen gehen kaputt, sondern die ganze Welt, was konkurrenzlos drastisch natürlich Das Turiner Pferd , Tarrs Abschied von der Leinwand, in Szene setzt. Allein das Spätwerk des Ungarn folgt demnach einer dezidiert apokalyptischen Logik, wobei das in Aussicht stehende Ende nicht, wie wir es beispielsweise aus der Offenbarung des Johannes kennen, als bloße Passage zu einer neuen, besseren Ordnung begriffen wird. Eine solche spielt beim späten Tarr nicht die geringste Rolle, der sich ihr verdankende Trost bleibt aus. Wie es sich für posttheologische Untergangsnarrative des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts gehört, handelt es sich bei seinen Filmen mithin um das, was Klaus Vondung in seiner mittlerweile klassischen Studie zur literarischen Apokalypse in Deutschland trefflich als „kupierte“, das heißt auf den Untergang konzentrierte bzw. um ihren heilsgeschichtlichen Fluchtpunkt gebrachte, Apokalypsen bezeichnet. 26 Der Verlust der Sprache Man kann getrost die Augen schließen, und doch wird man es bemerken: Tarrs Filmen gehen im Laufe der Zeit die Worte aus. Das heißt, seine Figuren verstummen mehr und mehr, wobei der enorme Wortreichtum des Frühwerks mit der zunehmenden Wortkargheit des Spätwerks flagrant kontrastiert. 27 Bedenkt man, dass Letzteres in engster Kooperation mit Krasznahorkai entstanden ist, liegt folgende Frage auf der Hand: Hat ausgerechnet der das Attribut ‚wortgewaltig‘ wahrlich verdienende Schriftsteller bzw. die Konfrontation mit dessen scheinbar 22 Cioran, Lehre vom Zerfall , S. 35. 23 Lukács, Die Theorie des Romans , S. 32. 24 „The main difference [between Tarkovsky and us]“, so gibt Tarr zu bedenken, „is Tarkovsky‘s religious and we are not. But he always had hope; he believed in God. He‘s much more innocent than us - than me. No, we have seen too many things to make his kind of film. I think his style is also different because several times I have had a feeling he is much softer, much nicer.“ (Ballard, „In Search of Truth“). 25 Susan Sontag zitiert nach Bausells, „Everything You Need to Know about László Krasznahorkai“. 26 Vgl. Vondung, Die Apokalypse in Deutschland , S. 12. 27 Vgl. hierzu auch Bálint Kovács, The Cinema of Béla Tarr , S. 48f. und 142-145. Ein Wal ist ein Wal ist ein Wal: Béla Tarr, Die Werckmeisterschen Harmonien 173 endlos wuchernder absatzloser Prosa dem Regisseur die Worte ausgetrieben bzw. ihn daran erinnert, dass das Bild das zentrale Metier des Filmemachens ist? Möglicherweise - doch sollte man, zumindest mit Blick auf das Kommunikationsgebaren der Tarr‘schen Figuren, die Differenz von Früh- und Spätwerk auch nicht überbetonen, denn ob die Figuren nun sprechen oder nicht, ist so entscheidend nicht. Immerhin läuft beides letztlich auf dasselbe, wenigstens aber sehr Vergleichbares hinaus: Während im Frühwerk das Nicht-Funktionieren von Kommunikation durch zahllose fehlschlagende Kommunikationsakte manifest wird - erinnert sei hier nur an die endlosen Zänkereien in Familiennest oder die zermürbend-unergiebigen Ehestreitigkeiten, mit denen uns Betonbeziehung zusetzt -, wird im Spätwerk schlicht nicht bzw. kaum mehr kommuniziert. Etwas lässig formuliert: Die einen, die andauernd Redenden, können‘s nicht, die anderen, die Maulfaulen, tun‘s nicht - möglicherweise, weil sie wissen, dass sie‘s nicht können bzw., grundsätzlicher gefasst, dass jedes Kommunikationsbemühen von vornherein zum Scheitern verurteilt und/ oder schlicht sinnlos ist. In besonders markanter Hinsicht gilt Letzteres selbstredend für Ohlsdorfer ( János Derzsi) und seine Tochter (Erika Bók), die beiden Protagonisten aus Das Turiner Pferd , welche in 146 Minuten nicht viel mehr als zwei Dutzend Worte wechseln, von denen das erste erst nach etwas über 20 Minuten fällt. Damit tragen sie maßgeblich dafür Sorge, dass in Tarrs letztem Film, der sich einigermaßen unübersehbar als letzter Film überhaupt und damit als ein Zu-Grabe-Tragen der Kinematografie geriert, 28 der sich seit Verdammnis immer entschiedener vollziehende Abschied vom Film als talkie bzw. die Rückführung des Kinos zu seinen stummen Anfängen geradezu zelebriert wird. 29 II. Hereinspaziert! Zirzensischer Befall Die Werckmeisterschen Harmonien kam 2000, also sechs Jahre nach Satanstango , in die Kinos und gilt seitdem neben seinem monumentalen Vorgänger als Tarrs wichtigstes und zugleich gelungenstes Werk. Mit ihm, so wird immer wieder mit einiger Berechtigung betont, habe der Regisseur das in seinem opus magnum gezeigte Können eindrucksvoll bestätigt und erneut Filmgeschichte geschrieben. Nicht zuletzt die aktuelle Ausgabe der so überaus wirkmächtigen, von Cineasten stets mit größter Spannung erwarteten Sight & Sound -Liste der besten Filme 28 Vgl. hierzu Glasenapp, „Béla Tarrs Kino der Zeit, des Raums und der Materialität“, S. 165 und 171, aber auch Hetzenauer, Das Innen im Außen , S. 96f., Marc Weiland, „Ontologie des Nicht-Mehr“, S. 477-479 sowie Selyem, „How Long and When“, S. 118f. 29 Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass auch in den Spätwerken Tarrs immer mal wieder gleichsam ‚Inseln‘ des Vielsprechens auftauchen, die die Existenz des sie umgebenden Meers der Sprachkargheit bzw. -losigkeit natürlich nur umso mehr betonen. Erinnert sei hier etwa an Karrer aus Verdammnis , der seiner Geliebten lang und breit seine letztlich völlig unverständlich bleibende existenzialistische Lebens- und Liebesphilosophie unterbreitet, oder an den Nachbarn von Ohlsdorfer, der in Das Turiner Pferd plötzlich in der Tür steht und dem Protagonisten einen mehrminütigen ununterbrochenen, zudem völlig wirren Sermon über den Niedergang der Welt hält. Bemerkenswerterweise handelt es sich bei diesen ‚Inseln‘ stets um das, was man mit Alenka Zupančič als „dialogische Monologe“ bezeichnen könnte, um Wortbeiträge also, die von Personen stammen, die, komplett eingekapselt in ihrer Weltsicht, den Dialogpartner überhaupt nicht im Blick haben, sondern stattdessen genau genommen nur mit sich selbst reden. Vgl. Zupančič, Der Geist der Komödie , S. 82-84. Dass ein solches Sprechen gehöriges komisches Potenzial birgt, zeigt Tarr in Betonbeziehung , und zwar in jener Szene, in der der Vater (Róbert Koltai) seinem etwa fünfbis sechsjährigen Sohn die unterschiedlichen Gesellschafts- und Staatsformen vom Feudalismus bis zum Kommunismus zu erklären sucht und dabei keinerlei Sensibilität dafür erkennen lässt, dass sein Gegenüber nicht das Geringste seiner Auslassungen begreift bzw. begreifen kann. 174 174 Jörn Glasenapp der Welt legt hiervon Zeugnis ab: Sie führt den Film im Critics‘ poll auf Platz 171, im Directors‘ poll sogar auf Platz 132. 30 Hatte sich Tarr mit Satanstango einen nachgerade legendären Ruf als ebenso radikaler wie kompromissloser Regie-Nonkonformist erworben, für den zu arbeiten nicht unerhebliche Prestigegewinne in Aussicht stellte, so konnte er nun beim Casting für Die Werckmeisterschein Harmonien neue Wege beschreiten. Er tat dies, indem er dessen drei Hauptrollen an internationale Schauspieler vergab, an die Deutschen Lars Rudolph, Peter Fitz und Hanna Schygulla, wobei wir das Engagement Letzterer, des ehemaligen Fassbinder-Stars, gewiss auch als wertschätzende Verneigung vor dem Regiegenie des Neuen Deutschen Films begreifen können. 31 Dass Tarrs Ästhetik dem Deutschen sehr viel verdankt, ist seit längerem bekannt; eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen beiden Filmemachern steht aber nach wie vor aus. Wie oben bereits vermerkt, haben wir es bei Die Werckmeisterschen Harmonien mit einer Adaption von Melancholie des Widerstands zu tun, Krasznahorkais zweitem Roman. Diesen wird man, wie seinen Vorgänger Satanstango auch, insofern als ausgesprochen ‚unfilmisch‘ bezeichnen dürfen, als es sich bei ihm um einen an äußerer Handlung armen, an innerem Geschehen dafür umso reicheren Text handelt, der, polyphon komponiert, uns die Wirklichkeit seiner Diegese - vergleichbar etwa mit William Faulkners Absalom, Absalom! (1936) oder Malcolm Lowrys Under the Volcano (1947) - durch verschiedene Bewusstseine vermittelt präsentiert. Anders dagegen seine Verfilmung: Die nämlich kennt nur ein zentrales Wahrnehmungszentrum und weigert sich zudem konsequent, dem Roman bei dessen ausufernden Figurenintrospektionen zu folgen. Die Konsequenz dieses Abrückens liegt auf der Hand: Wo der Roman immer wieder Antworten liefert bzw. aus dem Inneren der Figuren zu Tage fördert - so unter anderem, wenn er deren Handlungsmotive in großer Ausführlichkeit offenlegt -, klaffen in Tarrs Film eklatante permanente Lücken bzw. Leerstellen, die sein Verständnis gegenüber dem seiner Vorlage ganz erheblich erschweren. 32 Letzteres wird darüber hinaus auch dadurch bewirkt, dass der Film mit seiner Spielzeit von 145 Minuten gleichsam nur den Rumpf von Krasznahorkais ca. 450 Seiten langem Werk adaptiert, das heißt zahlreiche und noch dazu wichtige seiner Figuren und Geschehnisse außen vor lässt, er demnach bestätigt, was die Adaptionsforschung immer wieder betont: dass es sich bei der Verfilmung zumal längerer Texte zu großen Teilen um eine „surgical art“ 33 handelt. Doch soll es hier nicht um Die Werckmeisterschen Harmonien als Adaption des Krasznahorkai‘schen Romans gehen, weswegen wir diesen bei unseren Ausführungen bis auf Weiteres einigermaßen unberücksichtigt lassen können. Folgt man der berühmten engen Fantastik-Definition Tzvetan Todorovs und begreift das Fantastische entsprechend als Unschlüssigkeit angesichts einer „unheimliche[n] Erscheinung, 30 Vgl. www.bfi.org.uk/ films-tv-people/ 4ce2b848e226c/ sightandsoundpoll2012 [Letzter Zugriff am 30.10.2017]. Zur eminenten Bedeutung der Sight & Sound -Bestenliste für die filmische Kanonbildung vgl. Glasenapp, „Filmwissenschaft“, S. 380. 31 Vergleichbares wird man hinsichtlich der Besetzung des Doktors aus Satanstango mit Peter Berling behaupten können, der ebenfalls, wenn auch nur in Nebenrollen, in zahlreichen Fassbinder-Filmen zu sehen ist. 32 Das hier Gesagte trifft voll und ganz auch auf das Verhältnis von Tarrs Satanstango und Krasznahorkais gleichnamigen Roman zu. - Grundlegend zur Leerstelle im Film vgl. Liptay, „Leerstellen im Film“, darüber hinaus aber auch Krützen, Klassik, Moderne, Nachmoderne , S. 142-146. 33 Abbott, The Cambridge Introduction to Narrative , S. 108. die man auf zweierlei Weise erklären kann, nämlich entweder aus natürlichen Ursachen oder aber aus übernatürlichen“, 34 so wird man Die Werckmeisterschen Harmonien als ein fantastisches Werk reinsten Wassers bezeichnen können. Denn die in vielfacher Hinsicht sonderbar anmutenden Ereignisse, mit denen es uns konfrontiert, lassen ein Sich-Festlegen nicht zu, das heißt, sie provozieren eben jene für das Fantastische konstitutive Sicht auf die Dinge, die zwischen rationaler Explikation einerseits und Verwerfen derselben andererseits schwankt. Typisch für Tarrs Spätwerk und dessen Abkehr vom Großstädtischen, spielt der Film in einer namenlos bleibenden ungarischen Kleinstadt. Es ist November und doch schon bitterkalt: Ohne dass es schneien würde, befinden sich die Temperaturen bereits seit geraumer Zeit im hohen zweistelligen Bereich unter Null. Ein Verdacht regt sich: Haben wir es mit dem „Herbst der Erde“, 35 mit dem Anfang ihrer unaufhaltsamen Abkühlung zu tun? Unbekannte Seuchen gehen um, eine vor Jahrzehnten stehengebliebene Turmuhr setzt sich plötzlich wie durch Geisterhand wieder in Gang, das spurlose Verschwinden einer Familie wird beklagt, grundlos kippt eine riesige alte Pappel um. Diese Melange aus Abnormitäten, von der wir durch die Tirade einer Arbeiterin in der örtlichen Zeitungsdruckerei erfahren, stellt gewissermaßen das Präludium für die Ankunft eines ominösen bzw., wie es bei Krasznahorkai heißt, „auf unverständliche Weise rätselhaften, in gefährlichem Ruf stehenden Zirkus“ 36 dar. Dieser wiederum wird umgehend von den Bewohnern mit all ihren diffusen apokalyptischen Ahnungen und Befürchtungen belehnt und als ‚Hort des Bösen‘ identifiziert, was er in gewisser Weise auch ist: Bereits am Abend des ersten Tages seines Gastspiels sorgt er als Gewaltkatalysator für Chaos und Anarchie in der Stadt. Das bis hierhin Gesagte lässt bereits erahnen, dass das Rückgrat der Handlung von Die Werckmeisterschen Harmonien durch einen Befallsplot gebildet wird, der das folgenreiche Eindringen einer fremden Macht in ein weitgehend geschlossenes, zugleich sedentäres System schildert. Damit schreibt sich der Film in eine ehrwürdige und zudem lange kinematografische Tradition ein, die schon früh prominente und wirkmächtige Beispiele für diesen Plottypus liefert, wobei nicht wenige derselben erhellende Parallelen zu Tarrs Film erkennen lassen. Man denke etwa an Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari (1920), in dem die Kontamination von der irrationalen Gegenwelt des Jahrmarktes ausgeht, an Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens (1922), in dem der Hafen, die zentrale Kontaktzone zur Fremde, als Einfallstor für den Befall dient, oder aber an Josef von Sternbergs Der blaue Engel (1930), dessen titelgebendes, bezeichnenderweise in Hafennähe gelegenes Varieté mit seinem dort gastierenden ‚Star‘, der Tingeltangel-Künstlerin Lola Lola, den Herd der Pathogenese von außen abgibt. Wie Andrea Bartl in ihrer umsichtigen Lesart von Sternbergs Meisterwerk als Befallsfilm herausgestellt hat, 37 geht der Ankunft von Lola Lola und ihrer Truppe deren bereits erste kontaminatorische Folgen zeitigende Annoncierung in Form von Plakaten und Werbepostkarten voraus. Darüber hinaus übt sich die Bevölkerung der Stadt prophylaktisch in Dekontamination, und sie tut dies in ganz handfestem Sinn: Sie putzt und schrubbt, was das Zeug hält. Beidem begegnen wir mutatis mutandis auch in Die Werckmeisterschen Harmonien , wo Plakate das baldige Eintreffen des Zirkus ankündigen und sich Teile der Bürgerschaft der 34 Todorov, Einführung in die fantastische Literatur , S. 35. 35 Horn, Zukunft als Katastrophe , S. 139-148. 36 Krasznahorkai, Melancholie des Widerstands , S. 99. 37 Vgl. Bartl, „‘Alles verpestet! ‘“, S. 37 und 41-49. Ein Wal ist ein Wal ist ein Wal: Béla Tarr, Die Werckmeisterschen Harmonien 175 176 176 Jörn Glasenapp Stadt zu einer Sauberkeitsbewegung, im Roman der „Bewegung Ordnung und Sauberkeit in Haus und Hof “, 38 formieren. Was für das Varieté und den Jahrmarkt gilt - dass es sich um karnevaleske „Enklave[n] der Anarchie“ 39 handelt, die sich als exterritoriale Regressionsoasen jenseits des Alltags ihrer Kundschaft als zeitweises Ventil für Verdrängtes anempfehlen -, gilt natürlich auch und erst Recht für den Zirkus, einer weiteren von der ‚offiziellen‘ Kultur geduldeten Gegenwelt mit karnevalesk-utopischen Zügen. In ihr sind, wie Matthias Christen in seiner großen Studie zum Zirkusfilmgenre notiert, „[s]ämtliche Prinzipien, die das Leben normalerweise ungefragt regeln - physikalische Gesetze, biologische Determinanten, Umgangsformen, moralische Standards -, […] für die Dauer einer Vorstellung außer Kraft gesetzt.“ 40 Damit wiederum leiste der Zirkus „nichts weniger als eine versuchsweise Generaltransgression der herrschenden Weltordnung“, 41 wobei die souveräne Überbietung der Norm durch die Akrobaten, die Hochseilkünstler und Äquilibristen, Magier, Jongleure, Dompteure und Kontorsionisten, ihren Kontrapunkt im konsequenten Unterschreiten der Norm durch den Clown findet. 42 Wie hinlänglich bekannt ist, eignet Letzterem ein gehöriges transgressives Potenzial, doch um ein Vielfaches in den Schatten gestellt wird dieses durch das der dritten Zirkusfigur, des Freaks; ja, der Freak, der erst gegen Mitte des 20. Jahrhunderts allmählich aus der Zirkuswelt verschwindet, 43 ist die zirzensische Transgressionsfigur par excellence. Hierzu erneut Christen: „Freaks stellen durch ihre abnorme Physis alles in Frage, worüber sich in der Welt außerhalb des Zirkus Normalität definiert: die Unterscheidung der Geschlechter (Hermaphroditen, Bartfrauen), die Abgrenzung des Menschen vom Tier (Affen-, Vogel-, Elefanten-, Haarmenschen), die Trennung von Leben und Tod (menschliche Skelette), die Einheit der Person (siamesische Zwillinge, Menschen mit überzähligen Gliedmaßen) sowie Maßstab und Proportionen des menschlichen Körpers (Zwerge, Riesen, extrem Dicke und Spindeldürre).“ 44 Mit der unterschwelligen Bedrohung, die von ihrer speziellen Transgressivität ausgeht, lässt sich wiederum erklären, warum den Freaks ein Auftritt in der Manege gewöhnlich nicht zugestanden wird, warum sie stattdessen - als in doppelter Hinsicht Randständige bzw. institutionell Marginalisierte in der marginalisierten Welt des Zirkus - in separaten Sideshows abseits des Hauptprogramms zu sehen sind. 45 Mag in Die Werckmeisterschen Harmonien auch fortwährend von ‚Zirkus‘ die Rede sein und mag ein solcher auch auf den Plakaten angekündigt werden; genau genommen ist es nur eine Zirkus-Schwundform, mit der sich die ortsfeste Gesellschaft der Stadt konfrontiert sieht: Kein Zelt, keine Manege, kein Nummernprogramm, keine Artisten und keine Clowns - für das Zirzensische haben allein zwei Sideshow-Attraktionen, ein riesiger Walkadaver und ein offenbar dreiäugiger und nur zehn Kilogramm schwerer Freak, einzustehen, wobei dieser seine fantastische transgressive Macht auch insofern völlig ungehindert ausspielen kann, als 38 Krasznahorkai, Melancholie des Widerstands , S. 204f. 39 Kracauer, Von Caligari zu Hitler , S. 80. 40 Christen, Der Zirkusfilm , S. 69. 41 Bouissac, Circus and Culture , S. 7f. 42 Vgl. Christen, Der Zirkusfilm , S. 70-72. 43 Vgl. hierzu vor allem Bogdan, Freak Show , S. 62-68, aber auch Christen, Der Zirkusfilm , S. 74. 44 Ebd., S. 72. Vgl. ferner Fiedler, Freaks , S. 24, passim. 45 Christen, Der Zirkusfilm , S. 74. Zum kurzen und in jeder Hinsicht naheliegenden Weg des Freaks von der Sideshow auf die Leinwand vgl. neben Christens Studie unter anderem Ochsner, DeMONSTRAtion , S. 249-286. zum einen jedwede für den Zirkus typische Form der Abschottung, vor allem aber Einhegung, sei es durch Wagen, Zäune oder Schmuckfassaden, fehlt und zum anderen der Zirkus nicht an der Peripherie der Stadt gastiert, sondern auf dem zentralen Platz und damit im Herzen derselben. Doch noch Weiteres ist normwidrig und verdient Beachtung: so beispielsweise die Tatsache, dass das Publikum, welches ebenso wie das Zirkuspersonal ausschließlich männlichen Geschlechts ist, sich nicht etwa nur, wie im Zirkus- und Schaustellergewerbe üblich, aus der ortsansässigen Bevölkerung rekrutiert, sondern zum Großteil aus Personen besteht, die die Tournee augenscheinlich Station für Station begleiten. Dass es dabei regelmäßig zu Plünderungen und Verwüstungen vor Ort kommt, demnach also das für den Zirkus konstitutive nomadische Prinzip des spurlosen Verschwindens nach dem Gastspiel außer Kraft gesetzt ist, 46 sei ebenfalls als Devianz vom zirzensischen Usus herausgestellt. Das Einrücken des Zirkus in die Stadt wirkt hochgradig klandestin (vgl. Abb. 1). Es erfolgt nachts, im Schutze der Dunkelheit, wobei Tarr speziell durch die extreme, in seinen späten Werken im Übrigen reichlich zum Einsatz kommende Chiaroscuro-Beleuchtung dafür sorgt, den Vorgang so unheilschwanger wie möglich und den von einem Traktor gezogenen riesigen Wellblechcontainer als das „gespenstische Gefährt“ 47 bzw. „alptraumhafte Vehikel“ 48 erscheinen zu lassen, von dem Krasznahorkais Roman berichtet. Geradezu provozierend langsam bewegt sich der Transport von links ins Bild hinein und dann vor einer Häuserzeile entlang, seinen gewaltigen Schlagschatten gleichsam als Vorhut vorausschickend, bis er selbst mit seiner schieren Masse (und unterstützt durch einen Rechtsschwenk der Kamera) Haus für Haus in einer Weise verdeckt, die es, zumal angesichts der leviathanischen Fracht und der an Augen erinnernden Scheinwerfer des Traktors, schwer macht, nicht an einen ungeheuren Inkorporationsvorgang zu denken. Ohne Frage: Hier ist Tarr ein kongenialer, ausgesprochen ‚werktreuer‘ und zugleich filmischer Transfer der literarischen Vorlage gelungen, in der von einem „exotische[n] Monstrum“ die Rede ist, „das mit unaufhaltsamer Trägheit an den dunklen Fenstern der ahnungslosen Bürger vorüberkriecht, sich unvermeidlich alles einverleibt, was ihm in den Weg gerät, und den Eindruck verbreitet, daß alles, was er hinter sich läßt, nicht mehr ist, wie es war.“ 49 Auf die Tatsache, dass Tarr, indem er den Zuschauer dazu provoziert, etwas (den gezogenen Container) zu sehen und zugleich als etwas anderes (ein verschlingendes Monstrum) anzusehen, in der Szene mit einer für den gesamten Film zentralen ‚kippenden‘ Denkfigur arbeitet, wird an späterer Stelle, wenn es um die mögliche allegorische Dimension desselben geht, zurückzukommen sein. 46 Vgl. hierzu Christen, Der Zirkusfilm , S. 85f. 47 Krasznahorkai, Melancholie des Widerstands , S. 38. 48 Ebd., S. 43. 49 Ebd., S. 40. Ein Wal ist ein Wal ist ein Wal: Béla Tarr, Die Werckmeisterschen Harmonien 177 178 178 Jörn Glasenapp Abb. 1: Der Zirkus kommt in die Stadt Wenn der Zuschauer - der nächste Morgen ist mittlerweile angebrochen - den auf dem großen Platz gastierenden Zirkus das erste Mal zu Gesicht bekommt, sind Teile seines Publikums bereits vor Ort: vereinzelte Gruppen zumeist schweigender, dabei aggressiv bzw. ressentimentgeladen wirkender Männer, die, umflattert von Taubenscharen, offenbar auf etwas warten. Die Stimmung mutet gespannt-bedrohlich an. Bis zum Nachmittag sind die Gruppen zu dicken Trauben angeschwollen, und es brennen vereinzelte Feuer, um das Ausharren in der Eiseskälte etwas erträglicher zu machen. Die Tauben haben sich verzogen. Am Abend schließlich ist der Platz voll von Wartenden, wodurch er scharf mit dem Rest der Stadt kontrastiert, die stets wie ausgestorben wirkt. Die Flammen der Feuer schlagen nun mannshoch, womit die dritte Stufe eines auf Entladung zulaufenden Eskalationsvorgangs erreicht wäre, bei dem die größtenteils dunkel gekleideten Wartenden in ihrer schubweisen Vermehrung nicht allzu entfernt an jene Krähen erinnern, die sich in Alfred Hitchcocks The Birds (1963), einem weiteren mustergültigen Befallsfilm, im Rücken von der Zigarette rauchenden Tippi Hedren auf einem Klettergerüst versammeln, um kurz darauf anzugreifen. Bleibt bei Hitchcock bis zum Schluss unklar, wer oder was das Signal zur Attacke gibt, so besteht bei Tarr hierüber kein Zweifel: Es ist der redegewandte und -gewaltige sinistre Freak, der dem Warten ein Ende setzt und zum Losschlagen aufruft, von dessen Beginn mehrere Explosionen und ein haushoher Feuerschein künden (vgl. Abb. 2-5). „Durch das Feuer“, so heißt es bei Gaston Bachelard, „ändert sich alles. Wenn man wünscht, alles möge sich ändern, beschwört man das Feuer herauf.“ 50 50 Bachelard, Psychoanalyse des Feuers , S. 77. Abb. 2-5: Die Eskalation Dringen dem Zuschauer zunächst noch aus der Entfernung die Rufe der mobil gemachten Menge ans Ohr, so fällt diese schnell wieder in ihr vorheriges Schweigen zurück. Folglich sehen wir kurz darauf, wie die durch Worte aufgeputschten Männer wortlos wüten, als sie in das Krankenhaus einfallen, wie sie komplett schweigend und, wie es scheint, bar jeden (Hoch-)Gefühls ihr Destruktionswerk verrichten. „Im Zerstören“, vermerkt der Gewaltexperte Wolfgang Sofsky, „sind die Menschen alle Sorgen los. Mit großem Getöse feiern sie das Fest der Gewalt“ 51 und geben sie sich der „Lust der Zerstörung“ 52 hin. Nichts dergleichen finden wir bei Tarr, bei dem bemerkenswerterweise unter den Schlägen der Täter auch die - erneut ausschließlich männlichen - Opfer keinen Ton von sich geben, bei dem somit allein die Dinge, das Bett beim Umgeworfenwerden, der Vorhang beim Heruntergerissenwerden und der Nachtschrank beim Zertrümmertwerden, ‚sprechen‘. Dass der hochgradig irreale und zugleich verstörende Charakter der Sequenz maßgeblich auf deren eigenwillige Tonregie zurückzuführen ist, versteht sich von selbst. Völlig rätselhaft bleibt hingegen, wie es zum plötzlichen, mit viel Pathos inszenierten Abbruch der Gewalteruption kommt bzw. warum der Anblick des nackt in der Badewanne stehenden Greises die Mordbrenner zur Beendigung ihres Tuns, sie im wörtlichen Sinne zur Umkehr veranlasst (vgl. Abb. 6). 53 Diesbezüglich befragt, antwortet der bekanntermaßen nur 51 Sofsky, Traktat über die Gewalt , S. 194. 52 Ebd., S. 208. 53 Diese mittlerweile nahezu ikonisch gewordene, von manchem gar zum stärksten Moment im gesamten Œuvre Tarrs erklärte Szene (vgl. diesbezüglich etwa Hetzenauer, Das Innen im Außen , S. 94), die mit allen Insignien des Bedeutsamen aufwartet - man beachte nur das synchrone beidseitige, enorm theatrale Vorhangherunterreißen, die nahezu achsensymmetrische Bildkomposition bzw. die plakative Rahmung des Ein Wal ist ein Wal ist ein Wal: Béla Tarr, Die Werckmeisterschen Harmonien 179 180 180 Jörn Glasenapp höchst ungern Aufschluss über sein Schaffen gebende Regisseur gewohnt lapidar und allenfalls mäßig geistreich: weil hinter dem Mann eine Mauer, dem destruktiven Voran also eine materielle Grenze gesetzt ist. Entschieden konstruktiver, wenn auch selbstredend ebenso spekulativ wäre ein Erklärungsversuch, der den Männern eine Art Erkenntnisschock unterstellt: Das plötzliche Erscheinen des hinfälligen Körpers führt ihnen in aller Drastik das gänzlich Unnötige ihres Handelns vor Augen, da sich die Zerstörungsarbeit ohnehin, das heißt ohne ihr Zutun, vollzieht. Oder anders: Ihnen wird klar, was der Krasznahorkai und (damit) auch dem späten Tarr in vielfacher Hinsicht so nahe stehende Cioran in einem seiner berühmtesten Aphorismen in der ihm eigenen Radikalität und Prägnanz wie folgt formuliert: „Das Leben ist nichts als die Ungeduld, endlich zu verfallen.“ 54 Abb. 6: Das Ende der Gewalt Im Morgengrauen ist der nächtliche Spuk vorbei - und die Ordnung durch das vor allem durch einen dicke Abgaswolken ausstoßenden sowjetischen T-34-Panzer repräsentierte Militär wiederhergestellt. Dass, wie Rancière und andere behaupten, der Aufruhr von den reaktionären Kräften der Gesellschaft begrüßt werde, da man nun, angesichts des Ausnahmezustands und der allgemein laut werdenden Forderung nach mehr Sicherheit, die Daumenschrauben der autoritären Herrschaft noch fester ziehen könne als bisher, 55 lässt sich Krasznahorkais Roman entnehmen, nicht jedoch Tarrs diesbezüglich entschieden offenerem Film. Dieser schließt mit einer Einstellung vom Zirkus bzw. dem, was nach der Chaos-Nacht von ihm übrig geblieben ist: Das Personal einschließlich des Freaks ist, so scheint es, über alle Berge, der von Rancière bildmittig platzierten nackten Körpers sowie den plötzlichen Einsatz von Mihály Vígs melancholischer Musik -, hat interessanterweise in Krasznahorkais Roman keine Entsprechung. 54 Cioran, Lehre vom Zerfall , S. 24. Vgl. ebd., S. 68. 55 Vgl. Rancière, Béla Tarr , S. 71f. und 76. als „Höhle des Ungeheuers“ 56 titulierte Wellblechcontainer komplett aufgebrochen. Seine Seitenwände liegen am Boden, so dass der Blick nun ungehindert auf den Wal fallen kann, der die letzten 30 Sekunden des Films als alleiniges Bildsujet dominiert. Hierbei nun trägt Tarr durch eine allmähliche, die Aufnahme mehr und mehr in Weiß tauchende Überblendung dafür Sorge, dass das ‚Ungeheuer‘, von dem es im Roman nur lapidar heißt, es sei „beseitigt worden“, 57 als auratisches Lichtwesen eine spektakuläre Apotheose erfährt (vgl. Abb. 7-8) - Grund genug, dass wir uns ihm im folgenden Abschnitt in einiger Ausführlichkeit widmen. Abb. 7-8: Zurück bleibt der Wal III. Hercules, Goliath, Jonah - und der Leviathan Tarrs Zirkus wartet mit zwei Exzessphänomenen auf: dem winzigen Freak und dem riesigen Wal. Beide sind, wiewohl sie auf Tournee sind, von sich aus immobil - der Freak muss herumgetragen, der Wal herumgefahren werden. Dass Letzteres in vergleichbarer Form auch in realiter geschah, bestätigt unter anderem das Schicksal dreier Finnwale, die 1952 vor der norwegischen Küste harpuniert worden waren, um sodann, eingelegt in riesigen Mengen von Formaldehyd und transportiert auf knapp 30 Meter langen Trucks, als Hercules, Goliath und Jonah jeder für sich eine Odyssee quer durch Europa anzutreten, die nicht weniger als zwei Jahrzehnte dauerte und auf der sie, mal unter der Ägide ‚Bildung‘, mal im Rahmen von Sideshow-Programmen, von Tausenden von Besuchern bestaunt wurden. Hercules schaffte es bis nach Spanien, bevor man ihn dort ob seines mittlerweile unerträglich gewordenen Gestanks entsorgte, Goliaths letzte Station war Italien, und Jonah endete in einem Gefrierhaus in Belgien, wobei Gerüchte umgehen, ein britischer Showmann hätte ihn gekauft und wolle ihn nun ‚wiederbeleben‘. 58 56 Ebd., S. 67. 57 Krasznahorkai, Melancholie des Widerstands , S. 422. 58 Vgl. hierzu Barnicoat, „The Mystery of Jonah, the Giant Whale Who Toured the UK in the 1950s“ sowie Hoare, Leviathan oder Der Wal , S. 344f. Ein Wal ist ein Wal ist ein Wal: Béla Tarr, Die Werckmeisterschen Harmonien 181 182 182 Jörn Glasenapp Abb. 9: Jan Saenredam: Gestrandeter Wal bei Beverwijk (1602) Lebt die wenig erbauliche und weitgehend in Vergessenheit geratene Ausstellungsgeschichte der Wale in Die Werckmeisterschen Harmonien aufs Lebendigste wieder auf - ein anderes diesbezügliches Filmbeispiel wäre Federico Fellinis spätes Meisterwerk Il Casanova di Federico Fellini (1976) -, so rekurriert Tarrs Film darüber hinaus natürlich auch auf jene Jahrtausende alte Denktradition, die im Wal zunächst und zuvorderst das apokalyptische Tier schlechthin erkennt. Berufen kann sie sich unter anderem auf die Tatsache, dass der Wal, als mythisches Seeungeheuer Leviathan, immer wieder in der apokalyptischen Literatur in Erscheinung tritt, so beispielsweise in der wohl berühmtesten und wirkmächtigsten Apokalypse überhaupt, der Johannesoffenbarung. Kein Wunder also, dass bis in die frühe Neuzeit Walstrandungen in den Augen der Menschen Unheil ankündigten. Besonders eindrucksvoll legt hiervon ein grandioser Stich des niederländischen Kupferstechers und Zeichners Jan Saenredam Zeugnis ab, der, entstanden Ende 1602, jenen 18 Meter langen Pottwal (samt der ihn bestaunenden und besteigenden Menschen) wiedergibt, welcher am 19. Dezember 1601 im nordholländischen Beverwijk strandete (vgl. Abb. 9). Prominent eingefasst ist das zentrale Sujet durch eine opulente Rahmung, die im oberen Teil auf diverse Katastrophen und Kalamitäten verweist - darunter eine Mond- und eine Sonnenfinsternis, ein Erdbeben und eine Pestepidemie -, die sich, wie man weiß, in den Wochen und Monaten nach der Strandung tatsächlich ereignet hatten und von Saenredam mit Letzterer kausal verknüpft wurden. 59 Der tote Wal tritt folglich als ein Vorzeichen in Erscheinung, für dessen ‚Validität‘ aus divinatorischer Sicht sich der Stich verbürgt. 60 Dass im noch zu besprechenden Prolog von Die Werckmeisterschen Harmonien eine Sonnenfinsternis zur Aufführung kommt, sei an dieser Stelle nur im Vorbeigehen eingeworfen. 59 Vgl. hierzu vor allem Schama, The Embarrassment of Riches , S. 138f., aber auch Hoare, Leviathan oder Der Wal , S. 71-75. 60 Zum Zeichentyp ‚Vorzeichen‘ vgl. Assmann, Im Dickicht der Zeichen , S. 39-41. Abb. 10: Titelblatt von Thomas Hobbes‘ Leviathan (1651) Exakt ein halbes Jahrhundert nach der von Saenredam festgehaltenen Walstrandung, also 1651, erschien in London mit Leviathan das vor dem Hintergrund des englischen Bürgerkriegs entstandene staatsphilosophische Hauptwerk Thomas Hobbes‘ (vgl. Abb. 10), mit dem das mythische Untier zur „wohl berühmtesten Metapher der Politik auf[stieg].“ 61 Bekanntlich profiliert Hobbes die Übertragung aller Macht auf den Souverän als conditio sine qua non der 61 Bredekamp, Der Behemoth , S. 13. Ein Wal ist ein Wal ist ein Wal: Béla Tarr, Die Werckmeisterschen Harmonien 183 184 184 Jörn Glasenapp Ordnung und des Friedens im Innern eines jeden Staates, wobei das titelgebende Tier als Namenspatron des Machtinhabers fungiert. Dies wiederum überrascht insofern, als der Leviathan zur damaligen Zeit noch als Inbegriff der Mächte des Chaos und der Zerstörung galt. „Offenbar“, löst Herfried Münkler diese Widersprüchlichkeit auf, war Hobbes der Überzeugung, dass es nicht genüge, die Nutzendimension des Staates, die Sicherung des Lebens und die darauf aufruhende Ermöglichung des Wohllebens, herauszustellen, um die Loyalität der Bürger gegenüber dem Souverän sicherzustellen, sondern dass dazu auch eine gehörige Portion Furcht und Schrecken gehöre, die vom Staat und dem Herrscher an seiner Spitze ausgehen mussten. Nur ein starker, furchterregender Staat ist nach Hobbes‘ Überzeugung in der Lage, sich gegen die eigennützigen Orientierungen der Bürger durchzusetzen. 62 Andernfalls würden Aufruhr und Revolution drohen, das heißt jenes Prinzip, das der Philosoph mit einer weiteren großen Tiermetapher seines politischen Denkens verbindet: der des ebenfalls mythischen, dem Leviathan als Gegenspieler entgegengesetzten Landungetüms Behemoth. 63 Keine Frage: Tarrs in vielerlei Hinsicht so rätselhafter Film legt es, wie seine literarische Vorlage auch, darauf an, vor dem Horizont der hier selbstredend nur völlig unzureichend in zwei Stufen vorgestellten Diskursgeschichte des Wals betrachtet bzw. gedeutet zu werden. In diesem Zusammenhang nun dürfte es dem kundigen Zuschauer fraglos besonders schwerfallen, sich des Parallelenziehens zwischen dem Film und Hobbes‘ wirkmächtiger politischer Zoologie zu enthalten und beispielsweise in dem den Aufstand entfesselnden Freak eine behemothische Kraft auszumachen, der der wehrhaft-totalitäre Staatsleviathan schlussendlich mit Waffengewalt Einhalt gebietet. Doch was wäre die Konsequenz einer solchen Lesart? Gilt dann nicht dem die Ordnung wiederherstellenden Staat die Apotheose in Weiß, die dem Wal am Ende von Die Werckmeisterschen Harmonien widerfährt? Oder handelt es sich bei der letztlich obsiegenden Macht etwa um eine Art Staatsbehemoth, wie ihn der Jurist und Politologe Franz Neumann in seiner direkt auf Hobbes rekurrierenden Behemoth -Studie (1942/ 1944) über den nationalsozialistischen, auf Terror und Willkür setzenden „Unstaat“ (Neumann) beschreibt? Und noch ein weiterer Aspekt drängt sich als diskussionswürdig auf: Warum wird der Freak gerade „Herzog“ bzw. in der englischen Version „prince“ genannt, über die Namensgebung also implizit, aber doch recht forciert Niccolò Machiavelli mit ins Deutungsspiel eingebracht, 64 Hobbes‘ wichtiger staatsphilosophischer Vorgänger, der als Autor des berüchtigten Traktats Il principe (1513) freilich nicht für Chaos und Anarchie eintritt, sondern dem es wie dem Verfasser des Leviathan um eine stabile Herrschaft zu tun ist? Dies alles sind Fragen, die zu stellen sich der Zuschauer hüten sollte - zumindest, wenn es nach dem Regisseur ginge, der wieder und wieder betont, dass seine Filme gänzlich symbol- und metaphernfrei, das heißt allein dem materiellen Sosein der Dinge bzw. der phänomenalen Fülle ihres Erscheinens verpflichtet, seien, dass sie Welten präsentierten, die gesehen (und gehört), nicht aber gelesen bzw., um es mit Hans Blumenberg zu sagen, „im Aggregatzustand 62 Münkler, Thomas Hobbes , S. 46. 63 Vgl. vor allem Hobbes‘ erst posthum erschienene, in engem Zusammenhang zum Leviathan stehende Schrift Behemoth, or The Long Parliament (1681). 64 Vgl. hierzu auch Hodgkins, „Not Fade Away“, S. 62. der ‚Lesbarkeit‘“ 65 rezipiert werden sollen. Der Zuschauer tue demzufolge gut daran, seinen Intellekt zu drosseln und seine Dekodierungslust zu zügeln. „If you are a writer and you have an ashtray like the one I have in front of me now“, führt Tarr hierzu in einem nicht zuletzt hinsichtlich der medialen Differenz von Literatur und Film instruktiven Interview aus, you can write 20 pages about this ashtray, with metaphors and symbols, you can say a lot of theoretical things, because everything depends on the imagination of the reader. But I am a filmmaker; I have just the concrete, definitive ashtray. And the question is how am I able to show you the ashtray. In this case, I‘m able to develop emotions from you, but it‘s always physical, concrete, and clear. I cannot use any metaphors. I cannot use any symbols. What I have are just some lenses, which are objective. I tell you and show you real things. 66 Kurz und mit Blick auf Die Werckmeisterschen Harmonien : Ein Wal ist ein Wal ist ein Wal. Doch wenn dem so sein sollte: Sind dann auch sich im Kreis drehende Betrunkene nichts Anderes als sich im Kreis drehende Betrunkene? Auf den ersten Blick scheint der hieran Zweifelnde gute Karten in der Hand zu haben, wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden. IV. Sich im Kreis drehende Betrunkene oder: Gegen Interpretation Neben Die Werckmeisterschen Harmonien wartet nur noch ein anderer Film Tarrs mit einem Prolog auf: Satanstango , der mit einer längst legendär gewordenen Plansequenz einsetzt, welche uns eine aus etwa fünfzehn Tieren bestehende Kuhherde präsentiert. Ohne sichtbare Zeichen des Getrieben-Werdens zieht diese gemächlich durch das desolate Dorf, den Hauptschauplatz des Films - ein ausgesprochen passender Auftakt, stellt man in Rechnung, erstens , dass Kühe Expertinnen des Wiederkäuens und damit einer Tätigkeit sind, in der bereits Friedrich Nietzsche das Urbild des Wiederholens ausmachte, 67 und, zweitens , dass es sich bei Tarrs Mammutwerk um einen Film handelt, der nur sehr schleppend - oder wie die Kühe: gemächlich - voranschreitet, weil er fortwährend Wiederholungsschleifen unternimmt und Ereignisse ‚wiederkäut‘. Und auch die Tatsache, dass die Kühe am Ende der siebeneinhalbminütigen Einstellung hinter einem Haus verschwinden und das Dorf offenbar verlassen, fügt sich problemlos ins Bild. Schließlich tun es ihnen später die Dorfbewohner mit ihrem Exodus gleich. 68 Auch der Prolog aus Die Werckmeisterschen Harmonien besteht aus nur einer Einstellung, deren Länge jene aus Satanstango sogar noch um zwei Minuten übertrifft. Sie führt uns an einen in kaum einem Tarr-Film fehlenden Ort, in eine Kneipe, und macht uns zu Zeugen eines Rituals, das dort augenscheinlich allabendlich stattfindet. Und zwar besteht es darin, dass der von der perfekten Ordnung und monumentalen Großartigkeit des Kosmos ganz und gar überzeugte Protagonist, der ‚weise Narr‘ János Valuska (Lars Rudolph), das harmonische 65 Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt , S. 10. Vgl. hierzu auch Glasenapp, „Béla Tarrs Kino der Zeit, des Raums und der Materialität“, S. 177f. 66 Tarr, „Béla Tarr“, S. 37. 67 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra , S. 505-509. 68 Eine ausführliche Sichtung des Prologs bietet Glasenapp, „Béla Tarrs Kino der Zeit, des Raums und der Materialität“, S. 168-170. Ein Wal ist ein Wal ist ein Wal: Béla Tarr, Die Werckmeisterschen Harmonien 185 186 186 Jörn Glasenapp und in seinen Augen Sinn versprechende Zusammenwirken von Sonne, Erde und Mond in einer hochgradig grotesk anmutenden Performance nachspielen lässt (vgl. Abb. 11). 69 Hierbei nun haben einige der ausnahmslos männlichen, eher mehr denn weniger betrunkenen Gäste die einzelnen Gestirne zu repräsentieren, deren unveränderliche orbitale Bahnen ihr irdisches Pendant in Valuskas immer gleichen Stadtrundgängen finden. Unter anderem als Zeitungsausträger und Essenslieferant unternimmt er diese in derart großer Zahl, dass es in Krasznahorkais Roman heißt, sein ganzes Leben sei letztlich nichts anderes als ein „einziger, nicht enden wollender Rundgang.“ 70 Abb. 11: Valuska, die Sonne und der Mond Ist der Held während des gesamten Films notorisch passiv bzw. im Sinne Gilles Deleuze‘ ein „reine[r] Sehende[r]“ und als solcher „zum Herumirren und Umherschlendern verurteilt“, 71 so erleben wir ihn in der Prologszene in einer ganz anderen, dezidiert aktiven Rolle: als Regisseur bzw. Dirigent. Derart autorisiert, fordert er die Kneipenbesucher dazu auf, einen Imaginationssprung zu leisten und sich vorzustellen, die sich im Kreis drehenden Menschen seien Planeten und Himmelskörper auf ihren Umlaufbahnen. In dieser Anweisung des innerdiegetischen ‚Regisseurs‘ wiederum könnte der Zuschauer des Films darüber hinaus auch eine ihm selbst geltende Aufforderung seitens des realen Regisseurs Tarr erkennen, das heißt eine Rezeptionsanweisung, das, was es im Folgenden zu sehen gibt, nicht so sehr für das zu nehmen, was es dem Augenschein nach ist, sondern für das, was es meint bzw. für was es steht. Der Prolog wäre damit nichts anderes als ein großangelegtes Allegorie-Signal bzw. initialer Aufruf zur Allegorese, Die Werckmeisterschen Harmonien somit von Anfang an als Allegorie ausgewiesen. Als eine Form der Anders-Rede ist Letztere, wie wir Gerhard Kurz‘ einschlägiger Definition entnehmen, „ein indirekter Sprechakt. Etwas Anderes wird zu verstehen gegeben, dadurch, 69 Hingewiesen sei darauf, dass die Szene auch in Krasznahorkais Roman vorkommt, dort allerdings nicht als Auftakt bzw. Prolog fungiert. Vgl. Krasznahorkai, Melancholie des Widerstands , S. 97ff. 70 Ebd., S. 115. 71 Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild , S. 60. Zur Bewegungs- und Beobachtungsmotorik des Tarr‘schen Protagonisten vgl. wiederum Glasenapp, „Bewegungsbilder“, S. 204-207 und Jaffe, Slow Movies , S. 159. daß dieses gesagt wird. Es wird etwas gesagt und durch dieses Gesagte etwas anderes (als das, was das Gesagte meint) gemeint.“ 72 Das heißt, „[d]ie Allegorie sagt sehr wohl, was sie meint - sie sagt es eben direkt und indirekt. Sie meint, was sie sagt (verbis), und sie meint damit und dadurch noch etwas Anderes (sensu), auf das es vor allem ankommen kann. Der Autor einer Allegorie will das Gesagte so verstanden wissen, daß es verstanden wird und noch etwas anderes mitverstanden wird.“ 73 Und dass es Tarr in Die Werckmeisterschen Harmonien zumal um etwas Mitzuverstehendes geht, davon ist die Tarr-Forschung zu großen Teilen überzeugt, wobei sie sich bei ihrer Sicht grosso modo an Francis Bacon halten kann, der im Vorwort seiner Abhandlung The Wisdom of the Ancients (1619) zwischen zwei grundlegenden Allegorese-Aufforderungen unterscheidet. Und zwar sei, so Bacon, dann von einer Allegorie auszugehen, wenn, erstens , eine Erzählung auf ‚wörtlicher‘ Ebene völlig absurd anmutet und gerade ihre Sinnlosigkeit zu einem Fingerzeig auf einen verborgenen Sinn wird oder wenn, zweitens , Elemente einer Erzählung (Struktur, Figurenarsenal etc.) in einem evidenten Analogieverhältnis zu einer anderen Bedeutung bzw. einem anderen Narrativ oder Prätext stehen. 74 Beide Arten von Aufforderung, so scheint es in der Tat, gehen von Tarrs Werk aus: Erstere aufgrund der vielen, Figuren und Handlung gleichermaßen betreffenden Rätselhaftigkeiten und Implausibilitäten, Letztere, wenn man die passenden historisch-politischen Kontexte mit dem filmischen Geschehen in Beziehung setzt. Doch um welche Kontexte könnte es sich dabei handeln? Die weitreichendste Antwort auf diese Frage gibt zweifelsohne ein 2009 publizierter Artikel von John Hodgkins, der wahrhaft schwere Geschütze auffährt. Und zwar begreift der Autor den Film nicht allein als eine Allegorie auf die Vernichtung der ungarischen Juden, sondern darüber hinaus auf die erwiesenermaßen erschreckend hohe Kollaborationsbereitschaft der nichtjüdischen ungarischen Bevölkerung bei der Durchführung der ‚Endlösung‘. Wolle man hiervon, so Hodgkins, im modernen Ungarn bis heute nichts wissen, so komme dieses unrühmliche Kapitel der eigenen Geschichte mittlerweile mehr und mehr ans Licht - auch dank Tarrs, der es als ein mit den Mitteln des Kinos operierender Therapeut der Nation seinen Landsleuten ermögliche, sich über die Rezeption seines Filmes dem - im Walkadaver symbolisierten - Verdrängten zu nähern. „With Werckmeister Harmonies “, resümiert Hodgkins, „Béla Tarr is thrusting his audience into the depths of the Final Solution, so that they may emerge with a better understanding of their country and themselves, and perhaps purge their collective psyche of history‘s long shadow.“ 75 Wenig überraschend und einigermaßen schematisch fallen in diesem Zusammenhang Identifizierung und ‚Übersetzung‘ der Übergangsbzw. Scharnierelemente zwischen dem sensus litteralis und dem sensus translatus aus: Während der maliziöse Freak, der bei seinem Gewaltaufruf antisemitische Stereotype bedienend erklärt, all ihr Gold und Silber könne die Opfer nicht retten und man werde sich ihrer Häuser bemächtigen, natürlich für Hitler stehe und der den Zirkus von Stadt zu Stadt begleitende Mob für die SS, repräsentierten die an den Gewaltaktionen beteiligten Stadtbewohner die den Holocaust nicht nur befürwortende, sondern aktiv unterstützende ungarische Bevölkerung. 72 Kurz, Metapher , S. 37f. Oder in den viel zitierten Worten Angus Fletchers: „In the simplest terms, allegory says one thing and means another. It destroys the normal expectation we have about language, that our words ‚mean what they say.‘“ (Fletcher, Allegory , S. 2). 73 Kurz, Metapher , S. 38. 74 Vgl. hierzu ebd., S. 64. Zum Verhältnis von Text, Prätext und Kontext in der Allegorie vgl. insbesondere Quilligan, The Language of Allegory . 75 Hodgkins, „Not Fade Away“, S. 61. Ein Wal ist ein Wal ist ein Wal: Béla Tarr, Die Werckmeisterschen Harmonien 187 188 188 Jörn Glasenapp Dies in Rechnung gestellt, versteht es sich nachgerade von selbst, dass der nackte Greis in Hodgkins Augen so aussieht, „as if he has been transplanted directly from the ‚showers‘ at Auschwitz or Buchenwald.“ 76 Ist Hodgkins meines Wissens der Einzige, der eine ausführliche diesbezügliche Allegorese vornimmt, der es also nicht beim bloßen Konstatieren belässt, so hat es sich im Sprechen über den Film mittlerweile einigermaßen durchgesetzt, Die Werckmeisterschen Harmonien als einen Holocaustfilm zu betrachten oder ihn gar, wie dies Armin Rosen in einem kürzlich erschienenen Essay tut, als „[o]ne of the most affecting evocations of the Holocaust on film“ 77 zu titulieren. Erwartungsgemäß distanziert sich Tarr von derlei (und auch anders gelagerten) Interpretationen vehement und pocht stattdessen auf eine Rezeptionshaltung, die der materiellen Realitätsverbundenheit des Mediums Film Rechnung trägt und entsprechend aufs Schauen und weniger aufs Durch-Schauen abzielt, dem hermeneutischen Paradigma also eine Absage erteilt. Ein Wal ist ein Wal ist ein Wal. Worauf es dem Regisseur bei seiner Interpretationsaversion ankommt, wird offenkundig, wenn man sich vor Augen führt, was die Interpretation genau genommen ist: ein Übersetzungsverfahren. Mit aller Klarheit hat dies vor allen Dingen Susan Sontag in Against Interpretation (1964), ihrer berühmten Invektive gegen das alles dominierende Deutungsdogma, herausgestellt. Dort heißt es: „Der Interpret sagt: Schaut her, seht ihr nicht, daß X in Wirklichkeit A ist - oder bedeutet? Daß Y in Wirklichkeit B ist? Daß Z in Wirklichkeit C ist? “ 78 Mit Blick auf das hier Verhandelte könnte man hinzufügen: Seht ihr nicht, dass der Freak in Wirklichkeit Hitler ist? Die Interpretation zielt demnach auf das Nicht-Präsente bzw. das durch das ‚Wörtliche‘ Bedeutete ab, und zwar einerlei, ob es um Literatur oder Film geht - schließlich taucht Hitler weder in Krasznahorkais Melancholie des Widerstands noch in Tarrs Werckmeisterschen Harmonien auf. Während allerdings aus zeichentheoretischer Perspektive der interpretatorische bzw. allegoretische Übersetzungsakt im Falle der Literatur insofern keinen allzu nennenswerten Unterschied ausmacht, als Letztere als „immaterielle, latente Kunstform“ 79 mit einem nahezu vollständig unsinnlichen symbolischen Zeichensystem arbeitet und der mit ihr Befasste deswegen bereits auf der ‚wörtlichen‘ Ebene mit Abwesendem bzw., wie es bei Jean-Paul Sartre heißt, „mit Bedeutungen zu tun [hat]“, 80 so sieht dies beim Film entschieden anders aus. Hier nämlich sorgt die Übersetzung für eine drastische Verschiebung, die sich wiederum als ein Verlust an Anwesenheit bzw. Präsenz beschreiben ließe. Schließlich ist im Film die Welt, sind die Dinge und Figuren, die in ihm zur Erscheinung kommen, sowohl spurhaft indexikalisch als auch ikonisch, das heißt unter - wenn auch natürlich nicht vollständiger - Beibehaltung ihrer sinnlichen Materialität und Konkretheit, präsent, und erst die intellektuelle, der Logik einer Kippfigur folgende Operation der Interpretation bzw. Allegorese 76 Ebd., S. 60. Angemerkt sei, dass es sich bei dem KZ Buchenwald nicht um ein Vernichtungslager handelte, es dort somit auch keine Gaskammern gab, auf die Hodgkins anspielt. 77 Rosen, „The Importance of Béla Tarr‘s Werckmeister Harmonies “. Zum Verhältnis von Tarrs Film zum bzw. seinen Allusionen auf den Holocaust vgl. ferner Romney, „Béla Tarr“, S. 78 sowie Skrodzka, Magic Realist Cinema in East Central Europe , S. 93. 78 Sontag, „Gegen Interpretation“, S. 13. Vgl. hierzu auch Assmann, Im Dickicht der Zeichen , S. 294-296. 79 Potsch, Literatur sehen , S. 5. 80 Sartre: Was ist Literatur? , S. 16. Auszunehmen ist Sartre zufolge allein die Lyrik, weil ihr eine „poetische Haltung“ zugrunde liege, „die die Wörter als Dinge und nicht als Zeichen betrachtet“ (ebd., S. 17). ist es, die uns von ihnen abkommen lässt und vom Sinnlich-Anwesenden in den Bereich des Unsinnlich-Abwesenden führt. 81 Nun könnte man allerdings Folgendes behaupten (und sich dabei unter anderem auf Sontag berufen 82 ): Gerade weil es sich bei ihm um eine, so Rancière voller Emphase, „Kunst des Sinnlichen“ 83 handelt und gerade weil die Welt, die er uns präsentiert, gleichsam in materialiter bzw. direkt zu uns spricht, ist der Film mit einer Art medienspezifischem Schutz gegen interpretatorische bzw. allegoretische Bemühungen versehen. Wird dieser entschieden genutzt, dann sind, um es mit Sontag zu sagen, „Kunstwerke“ möglich, „deren Oberfläche so geschlossen und klar, deren Impuls so stark und deren Sprache so direkt ist, daß das Werk sein kann … nun, ganz einfach sein kann, was es ist.“ 84 Um ein solches Kunstwerk nun handelt es sich bei Die Werckmeisterschen Harmonien , was uns dessen Regisseur in aller Deutlichkeit zumal durch den Prolog vor Augen führen möchte, der aus genau diesem Grund mit einem bemerkenswerten Szenario der Nicht-Passung arbeitet bzw. sich als ein solches darstellt. Sehen wir ihn uns daraufhin noch einmal kurz an: Valuska, der ‚Sternenbegeisterte‘, glaubt an die Ordnung, Erhabenheit und Unveränderlichkeit des Kosmos, die er in den scheinbar schwerelos in ihm kreisenden Himmelsköpern manifestiert sieht. Um diesen Konnex den Anwesenden zu veranschaulichen, arrangiert er eine Performance, die der Zuschauer in dieser Form weniger aus Kneipen, sondern aus Aulen von Grundschulen kennen dürfte, wo Sechsbis Siebenjährige durch ihr darstellerisches Tun auf der Bühne die anwesende Elternschaft beglücken. Hier sind es mit der Schwerkraft kämpfende, da alkoholisierte erwachsene Männer, die in ihrer ganz und gar irdischen Täppischheit den orbitalen Reigen zur Aufführung bringen. Dabei nun ist ihre Präsenz bzw. ihr sinnliches Sein als Trunkenbolde, das der Film so wuchtig und noch dazu im Modus des (Inkongruenz-)Komischen vermittelt - man denke hier nur an das rhythmische Auf und Zu der Hände der ‚Sonne‘, das deren Strahlen bedeuten soll -, schlicht zu überwältigend, als dass dem Zuschauer gelingen könnte, dem zur Abstraktion von der Wirklichkeit auffordernden „Stellen Sie sich vor! “ Valuskas Folge zu leisten. Die Imagination, die im wahrsten Sinne zu den Sternen aufsteigen soll, wird durch die lastende Schwere der Materialität niedergedrückt und am Boden festgehalten. Der für Tarrs Spätwerk so typische, auch und vor allem im strömenden Regen sinnfällig werdende ‚Zug nach unten‘ oder anders, etwas pompös formuliert, das vertikale Wirken des Tellurischen, erweist sich auch in dieser-- das rein Geistige betreffenden - Hinsicht als unwiderstehlich. 85 Und so bleiben die sich im Kreis drehenden Betrunkenen in den Augen des Zuschauers das, was sie sind: sich im Kreis drehende Betrunkene - und der Prolog als ein Aufruf zur Allegorese stumm. V. Epilog Er hatte zunächst keinerlei Interesse, Melancholie des Widerstands zu adaptieren, so die Behauptung Tarrs, der man getrost wird Glauben schenken dürfen. Schließlich kann man sich 81 Zum Lesen als Kippfigur vgl. Assmann, Im Dickicht der Zeichen , S. 214-218. 82 Vgl. Sontag, „Gegen Interpretation“, S. 19f. 83 Rancière, Béla Tarr , S. 11. 84 Sontag, „Gegen Interpretation“, S. 19. 85 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Glasenapp, „Béla Tarrs Kino der Zeit, des Raums und der Materialität“, S. 175f. Ein Wal ist ein Wal ist ein Wal: Béla Tarr, Die Werckmeisterschen Harmonien 189 190 190 Jörn Glasenapp kaum einen literarischen Text vorstellen, der entschiedener allegoretische Lektüren von seiner Leserschaft einfordert bzw. dieser unmissverständlicher einen Übersetzungsauftrag erteilt als Krasznahorkais Romanzweitling, in dem, wie es in einer Rezension durchaus treffend heißt, „alles von Anfang an so überdeutlich für etwas anderes steht“ und „zu einer Allegorie [zusammenfindet], so schön, daß sie fast keinen Leser mehr braucht.“ 86 Die Frage, die sich Tarr gestellt haben dürfte, lautet: Wie sollte er, der Filmemacher des Konkreten, mit solch einer deutungsheischenden Vorlage verfahren? Die letzten Endes gefundene Antwort: indem er ihr - pikanterweise mit Krasznahorkai als Drehbuchcoautor an seiner Seite - das allegorische Moment förmlich austreibt, und zwar mit dezidiert kinematografischen Mitteln. Seine Einstellung bezüglich einer Verfilmung habe sich, so Tarr, erst geändert, nachdem er zufällig Lars Rudolph getroffen hatte, der zur damaligen Zeit noch gar nicht als Schauspieler, sondern als Straßenmusiker tätig war. Noch am selben Tag habe er Krasznahorkai angerufen, so der Regisseur, und ihm mitgeteilt, dass er nun, da eine passende Besetzung für Valuska gefunden sei, den Film durchaus drehen wolle. 87 Einhellig wird Tarrs Wahl des Hauptdarstellers von Seiten der Kritik gelobt, wobei regelmäßig auf Rudolphs ausdrucksstarken Blick verwiesen wird, der einem Helden, dem die Welt ein Ort des fortwährenden Staunens ist und der entsprechend wieder und wieder die Augen exzentrisch weit aufreißt, in der Tat bestens zu Gesicht steht. Wollte man die Form des Staunens von Valuska näher charakterisieren, so wäre das Attribut ‚physikotheologisch‘ vielleicht nicht die schlechteste Wahl. Schließlich haben wir es mit einem Staunen zu tun, das den Erweis des göttlichen Waltens in den Wundern der Schöpfung erblickt - beispielsweise im Wal, der den Helden über die Maßen (und offenbar, anders als in der Vorlage, als einzigen) fasziniert. „Wenn man da so vor steht und ihn betrachtet“, erklärt Letzterer voller Begeisterung seinem einzigen Freund, dem weltmüden Musikphilosophen György Eszter (Peter Fitz), „dann merkt man, wie mächtig die Bewegung des Herrn ist und all seine Kraft und wie er sich in diesem Tier widerspiegelt und sich selbst und seine Allmächtigkeit Milliarden von Geschöpfen anheftet.“ In den großen Augen Valuskas wird die maritime Erscheinung demnach zum bloßen Zeichen, genauer: zur Offenbarung, 88 womit sich der von einem ozeanischen Gefühl des transzendentalen Geborgenseins ganz und gar durchdrungene Held, mag er ob seiner zutiefst menschlichen Freundlichkeit auch noch so sympathisch sein, als Blickvorbild des Zuschauers von vornherein disqualifiziert. Gewiss, Letzterer soll ebenfalls staunen, aber nicht als homo interpres , und schon gar nicht als religiöser homo interpres , sondern als Betrachter, der die Dinge und nichts als die Dinge sieht, der sie in ihrer unerschöpflichen Materialität wahrnimmt und an sich heranlässt. Die entscheidende Hilfestellung hierbei kommt von der Kamera, deren Blick die Betrachtung der Welt in einer Kombination aus größtmöglicher Ruhe und geduldiger Beharrlichkeit betreibt und am jeweiligen Objekt immer wieder förmlich haften bleibt, mal in absoluter Immobilität, mal in gemächlich-fließender Bewegung - doch stets unter Verzicht auf jedwede Form der découpage , was unter anderem zur Folge hat, dass es der weit über zwei Stunden lange Film insgesamt auf bloß 39 Einstellungen mit einer Durchschnittsdauer von mehr als dreieinhalb Minuten bringt. Die eigentümliche Wirkung, die das Gros von ihnen beim Zuschauer erzielt, ließe sich wie folgt fassen: Die Sekunden vergehen, und wir, die wir im Laufe 86 Detje, „Der Himmel ist leer“. 87 Vgl. Tarr, „My Master‘s Voice“. 88 Zum Zeichentyp ‚Offenbarung‘ vgl. Assmann, Im Dickicht der Zeichen , S. 42-44. unseres Lebens ein sehr gutes Gespür für das rechte Maß der Blickdauer (auch und vor allem im Kino) entwickeln, erwarten mit jeder weiteren Sekunde einen Wechsel des Blickobjekts. Dieser allerdings bleibt aus und der Blick starr. 89 Letzteren mit Wilhelm Genazino als einen „gedehnten“ zu bezeichnen, bietet sich folglich an, denn „[d]er gedehnte Blick“, so der Schriftsteller in seinem gleichnamigen Essay, sieht auch dann noch, wenn es nach allgemeiner Übereinkunft […] nichts mehr zu sehen gibt. Wir können sagen: Erst dann, wenn das gemeine, das verallgemeinerte Auge die Oberflächenstruktur eines Bildes fixiert und das Bild damit ‚erledigt‘, das heißt registriert ist, erst dann beginnt die Arbeit des gedehnten Blicks. Diese Arbeit besteht in einer dauernden Verwandlung des Bildes. 90 Im Fall der Bilder, die uns die Kamera in Die Werckmeisterschen Harmonien präsentiert, ist diese Verwandlung grob in drei aufeinanderfolgende Stufen einzuteilen, deren ersten zwei die oben bereits angesprochene Kippfigur der Lektüre bzw. Interpretation, den Schritt vom die Formen der äußeren Wirklichkeit erfassenden Schauen zum in die hermeneutischen Tiefen ausgreifenden Durch-Schauen, markieren: Der konkrete Wal tritt zurück bzw. verwandelt sich in den Hobbes‘schen Leviathan. Doch die insistierende Dehnung des Blicks, das fortwährende Starren, das dem Rezipienten nach einer gewissen Zeit implizit zu verstehen gibt, dass es mit einer übersetzenden Lektüre des Gesehenen nicht getan ist, sorgt bald schon für ein In-Frage-Stellen sowie eine sich anschließende Rücknahme derselben und damit im wörtlichen Sinne zu einer Revision des Gesehenen. Entsprechend räumt der Leviathan das Feld und macht erneut Platz für den Wal als materielle Entität eigenen Rechts. Und als eine solche erfährt der Koloss, auf dem Präsentierteller des Marktplatzes liegend, im strahlenden Weiß der finalen Einstellung seine Apotheose. Bibliographie Abbott, H. Porter, The Cambridge Introduction to Narrative . Cambridge 2002. Assmann, Aleida, Im Dickicht der Zeichen. Frankfurt/ M. 2015. Bachelard, Gaston, Psychoanalyse des Feuers . München 1985 (1949). Bachelard, Gaston, Poetik des Raumes . Frankfurt/ M. 2003 (1957). 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Glasenapp, „Béla Tarrs Kino der Zeit, des Raums und der Materialität“, S. 176-178. 90 Genazino, „Der gedehnte Blick“, hier: S. 42. Ein Wal ist ein Wal ist ein Wal: Béla Tarr, Die Werckmeisterschen Harmonien 191 192 192 Jörn Glasenapp Bausells, Marta, „Everything You Need to Know about László Krasznahorkai, Winner of the Man Booker International Prize“. In: The Guardian (20.05.2015). Online: www.theguardian.com/ books/ booksblog/ 2015/ may/ 20/ man-booker-international-prize-laszlo-krasznahorkai-who-he-is-and-whyyou-should-read-him [Letzter Zugriff am 30.10.2017]. Blumenberg, Hans, Die Lesbarkeit der Welt . Frankfurt/ M. 1981. Bogdan, Robert, Freak Show. Presenting Human Oddities for Amusement and Profit . Chicago 1988. Bollnow, Otto Friedrich, Mensch und Raum (1963). In: Ders., Schriften , Bd. 6. Würzburg 2011. Borgards, Roland, „Tiere und Literatur“. In: Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch . Hg. v. Roland Borgards. Stuttgart 2016, S. 225-244. Bouissac, Paul, Circus and Culture. 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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Screenshot aus Die Werckmeisterschen Harmonien Abb. 2: Screenshot aus Die Werckmeisterschen Harmonien Abb. 3: Screenshot aus Die Werckmeisterschen Harmonien Ein Wal ist ein Wal ist ein Wal: Béla Tarr, Die Werckmeisterschen Harmonien 193 194 194 Jörn Glasenapp Abb. 4: Screenshot aus Die Werckmeisterschen Harmonien Abb. 5: Screenshot aus Die Werckmeisterschen Harmonien Abb. 6: Screenshot aus Die Werckmeisterschen Harmonien Abb. 7: Screenshot aus Die Werckmeisterschen Harmonien Abb. 8: Screenshot aus Die Werckmeisterschen Harmonien Abb. 9: Jan Saenredam: Gestrandeter Wal bei Beverwijk (1602) Abb. 10: Titelblatt von Thomas Hobbes‘ Leviathan (1651) Abb. 11: Screenshot aus Die Werckmeisterschen Harmonien No Country for Old Men - Western ohne Helden Rebecca Sommer No Country for Old Men ist ein Film der Coen Brothers aus dem Jahr 2007, der auf dem gleichnamigen Roman von Cormac McCarthy basiert. Der Roman ist nur zwei Jahre vor Entstehung des Films erschienen, was zeigt, dass sich die Coens schnell dafür entschieden, ihre Vision des literarischen Stoffs auf die Leinwand zu bringen. In diesem Aufsatz wird sich der Frage angenähert, wie sich der Film von klassischen Hollywoodfilmen abhebt und wie er mit den Konventionen eines bestimmten Genres - des Westerns - spielt. Wie viele Gegenwartsfilme sperrt sich auch No Country for Old Men gegen die Zuordnung zu einem bestimmten Genre. Dies ist in großen Teilen der Tatsache geschuldet, dass der Film konsequent mit Erwartungen jeglicher Art bricht - mit Genreerwartungen und filmischen Konventionen gleichermaßen. Zugleich ist er vieles: Independent-Movie, Crimefilm, Noir, Hard-Boiled und ein bisschen schwarze Komödie. Doch am auffälligsten sind die Bezüge zum Western, sowohl auf der inhaltlichen Ebene als auch in der filmischen Inszenierung. Zentrale Motive des Westerns werden in diesem Film neu verhandelt und zu unserer Zeit in Bezug gesetzt. Aufgrund dessen wird der Film in diesem Aufsatz durch die Linse des Westerns betrachtet, um zu zeigen, wie klassische Westernmotive neu verhandelt werden und wie das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart und Mythos und Realität thematisiert wird. Die Story ist nicht allzu komplex. Alles beginnt mit einem Drogendeal, der in der texanischen Prärie schiefgeht. Der Zuschauer bekommt dies nicht mit. Stattdessen stolpert er zufällig zusammen mit einer der drei Hauptfiguren über den Schauplatz dieses Verbrechens. Llewellyn Moss ist ein Kriegsveteran, ein Jäger, der bei der Jagd zufällig dieses Schlachtfeld entdeckt. Dort findet er viele Leichen, einen tödlich verletzten Mexikaner, der ihn um Wasser bittet, und eine Spur zu einem Koffer voller Geld. Er nimmt den Koffer an sich und verschwindet nach Hause in seinen Trailer zu seiner Frau Carla Jean. Das Problem: Er empfindet plötzlich doch noch Mitleid mit dem verletzten Mann und kehrt mitten in der Nacht zum Schauplatz des Verbrechens zurück, um ihm Wasser zu bringen. Dieser ist inzwischen verstorben, doch dummerweise haben sich nun weitere Beteiligte an dem schief gegangenen Drogendeal am Schauplatz eingefunden, auf der Suche nach dem Koffer voller Geld. Sein Truck wird entdeckt und er kommt gerade so davon, doch auch ihm ist bewusst, dass das Kartell durch das Nummernschild ohne Probleme herausfinden wird, dass Llewellyn Moss das Geld hat. Moss flüchtet und schickt seine Frau Carla Jean zu ihren Eltern. Ihm auf der Spur sind in den Deal verwickelte Mexikaner sowie der psychopathische Auftragskiller Anton Chigurh. Chigurh hatte zuvor einen Polizisten und einen Zivilisten getötet. Die dritte Hauptfigur, Sheriff Ed Tom Bell, ist also sowohl hinter dem Mörder Chigurh als auch hinter Moss mit den zwei Millionen her. Von Anfang an scheint es klar zu sein, dass Moss sich hier in etwas verwickelt hat, aus dem er höchstwahrscheinlich nicht lebend herauskommen wird. Doch weder wie sich die Hand- 196 196 Rebecca Sommer lung entfaltet, noch wie die Konflikte aufgelöst werden oder wie der Film endet, ist vorhersehbar. Keine Erwartung, die sich aufbaut, wird erfüllt. Die Figuren - abgesehen von Chigurh, was ihn so bedrohlich macht - handeln zutiefst menschlich, auf eine Art, die keinen von ihnen als klassischen Held qualifiziert. No Country for Old Men ist ein Chase-Film, ein Neo-Western oder ein Krimi, ohne Helden, aber voll von sinnloser Grausamkeit und einem absolut ernüchternden Realismus. Ein Beispiel für die Menschlichkeit, die die Figuren als Helden disqualifiziert, ist der Sheriff, der kurz vor der Rente steht und aufgrund der fehlenden Motivation, sich einem Psychopathen in den Weg zu stellen, immer einen Schritt hinterherhinkt. Moss zeigt ebenfalls Schwäche, da er aus Geldgier handelt und sein Leben sowie das Leben seiner Ehefrau für einen Koffer voller Geld riskiert, was ebenfalls nicht sehr heldenhaft ist. Außerdem ist er dem psychopathischen Chigurh von Anfang an haushoch unterlegen. Auch wenn er tapfer kämpft, eine wirkliche Chance hat er nicht. Ein Beispiel für den ernüchternden Realismus und die Weigerung, filmische Konventionen einzuhalten, ist der relativ frühe Tod von Moss off-screen, ohne heldenhafte Konfrontation mit dem Bösewicht. Hat er etwa keinen Showdown verdient? Nein, nicht bei den Coens. Es gibt keinen Showdown und keine Möglichkeit, das Ableben irgendeiner der Identifikationsfiguren zu betrauern. Wer einen typischen Hollywoodfilm erwartet, mit Pathos, Moral und einer am Ende wohl verdienten Katharsis, wird schwer enttäuscht werden. Wer solche Filme schon oft genug gesehen hat, wird sich hingegen freuen. No Country for Old Men spielt nicht mit Erwartungen der Zuschauer, nein, er zerschmettert sie gnadenlos, indem er ihnen das vorenthält, was in den meisten Filmen selbstverständlich ist. Diese Freude daran, Erwartungen von Zuschauern nicht zu erfüllen, zieht sich durch das Werk der Coens, beispielsweise, wenn in Burn After Reading mitten im Film Brad Pitt der Schädel weggeschossen wird. Nicht nur in Bezug auf das Westerngenre spielt auch die Darstellung und Inszenierung der Haupt- und Nebenfiguren eine wichtige Rolle. Wie stehen die Figuren in Bezug zueinander und wie verhält es sich mit den weiblichen Figuren? Obwohl unsere drei Hauptfiguren männlich sind und sie die meiste screen time beanspruchen, gibt es doch ein paar starke Szenen mit herausragenden Frauenfiguren. Auf den ersten Blick ist es vielleicht ein von Männern dominierter Film. Doch einige der stärksten Szenen - und das meiste Rückgrat - haben am Ende die Frauen. I. Die Anfangsszene als Exposition: Hinführung an Genre, Inszenierung und Figuren Die erste Szene führt den Zuschauer an das heran, was ihn in den nächsten Filmminuten erwartet. Auch die Exposition von No Country for Old Men eröffnet bereits zentrale Erzählstränge, deutet wichtige Motive an und führt immerhin zwei der drei Hauptfiguren ein. Der Film beginnt mit Ton und nicht mit Bildern. Der Bildschirm ist dunkel. Die Produktionsfirmen sowie der Titel des Films werden kurz in einem schlichten Schriftzug auf schwarzem Hintergrund eingeblendet. Dazu hört man das Rauschen und Pfeifen von Wind. Der Film beginnt auf der Tonebene mit Geräuschen aus der Natur. Dann setzt eine Stimme ein, die uns aufgrund des Dialekts sofort nach Texas führt. Erst wenn der erste Satz gesprochen ist, kommt das erste Bild hinzu. „I was Sheriff of this county when I was 25 years old.“ 1 Darauf folgen elf statische Bilder einer rauen, relativ unberührten Natur, während die Stimme aus dem Off von den old timers erzählt und von Verbrechen, die aktuell in seinen Augen immer grausamer und kaltblütiger werden. Die Geräusche der Natur, die Stimme des Sheriffs sowie die ersten, statischen Bilder sind noch nicht deutlich in einer Zeit zu verankern. Das Einzige, das auf der Bildebene auf die Anwesenheit von Menschen und Zivilisation hinweist, sind Strommasten im zweiten Bild, ein paar Zäune und eine alte Westernmühle, ein bekanntes Motiv aus klassischen Western. Die einzige Bewegung in diesen Bildern stammt aus der Natur selbst. Es gibt keine extra-diegetische Bewegung der Kamera. Jegliche Bewegung, die sich ab dem dritten Bild ausmachen lässt, ist natürlich: das Zittern von Grashalmen in der Prärie im Wind oder das Aufgehen der Sonne über einem Hügel. Erst in der zehnten und elften Einstellung kommt indirekt menschengemachte Bewegung hinzu. Die Westernmühle - von Menschenhand geschaffen - dreht sich im Wind. Die zwölfte Einstellung ist ein Kameraschwenk, der die Weite und Einsamkeit dieser texanischen Landschaft und am Ende zum ersten Mal deutliche Spuren unserer Zeit einfängt. Der Kameraschwenk endet mit einer Straße, einem Polizeiauto und der Verhaftung von Anton Chigurh im Bild. Erst jetzt, mit dieser ersten künstlichen Bewegung der Kamera, sind wir in der Zeit des Films angekommen. Die Hinführung - die statischen elf Bilder zuvor - verdeutlichen hingegen, wie zeitlos diese Landschaft ist, in der sich die Figuren des Films bewegen. Jeffrey Adams schreibt dazu in The Cinema of the Coen Brothers : „This is a view of the world as it had been for thousands of years. As it was in the days of the ‚old timers‘ and still is, despite all human efforts to tame it - a country unchanged and unconquered by men.“ 2 Was die Bildebene suggeriert, ist, dass die Landschaft in der Zeit stehen geblieben ist. Die Stimme aus dem Off bietet einen Gegenpol dazu, denn Sheriff Bell erzählt, dass sich alles verändert hat, dass die Verbrechen und die Grausamkeit der Menschen schlimmer geworden seien. Ob sich die Sicht dieser erzählerartigen Figur bestätigen wird, offenbart sich im Laufe des Films. Laut Bell habe der Lauf der Zeit Dinge zutage gebracht, die zumindest in den Stories der old timers laut unserem Erzähler nicht denkbar gewesen wären. Die Dichotomie zwischen ‚old times‘ und ‚new times‘ wird in dieser Szene als zentrales Motiv eingeführt. Die Zeitlosigkeit der Natur bricht jedoch die Dichotomie bereits auf, da sie durch die Zeit hindurch relativ unberührt und vor allem ungezähmt bestehen bleibt. Die Landschaft ist das Bindeglied der Vergangenheit und Zukunft und hat sich nicht sonderlich verändert. Ob sich die Menschen in dieser Landschaft grundlegend geändert haben ist fraglich, auch wenn Sheriff Bell davon ausgeht. Es gibt einige Anhaltspunkte im Film, die dagegensprechen. Unter anderem wird dies schon in der Anfangsszene angedeutet, in der Bell zwar von Wandel spricht, der jedoch nicht auf der visuellen Ebene gespiegelt wird. Es besteht ein subtiler Bruch zwischen Erzählung und Bildern. Sein Hinweis, dass die Presse bei einem von ihm als kaltblütig empfundenen Mord von einem „crime of passion“ 3 sprach, deutet außerdem auf ein zeitloses Problem der Repräsentation von Gewalt in Erzählungen und schriftlich fixierten Zeitzeugnissen hin. 1 Coens, No Country for Old Men , 00: 00: 26. 2 Adams, Cinema of the Coen Brothers , S. 166. 3 Coens, No Country for Old Men , 00: 01: 33. No Country for Old Men - Western ohne Helden 197 198 198 Rebecca Sommer Die Einstellung, in der Chigurh das erste Mal auftaucht, wird auf allen Ebenen der filmischen Inszenierung als Bruch dargestellt. Wirklich alles ist anders als zuvor. Die Kameraführung war zuvor statisch, doch mit Chigurh kommt durch den ersten Kameraschwenk Bewegung ins Spiel. Der Ton bestand zu Beginn aus natürlichen und vor allem diegetischen Geräuschen wie Wind oder dem Mühlenrad. Genau in dem Moment, als Chigurh auftaucht, setzt ein subtiler Soundtrack ein. Die Szene, in dem die Verhaftung von Chigurh zu sehen ist, wird von dem ersten nichtdiegetischen Soundeffekt begleitet. Dies ist besonders bemerkenswert, da sich der komplette Soundtrack des Films auf 16 Minuten beläuft, von denen fast vier Minuten allein auf den Abspann entfallen. Die Coen Brothers setzen Soundtrack in diesem Film demnach sehr sparsam ein. Die grundlegende Katastrophe, die Chigurhs reine Anwesenheit bedeutet, wird mit diesem subtilen filmischen Mittel als Bruch dargestellt. Während der Erzähler aus dem Off also von den alten Zeiten spricht, in denen Sheriffs nicht einmal Waffen tragen mussten, sieht der Zuschauer auf der visuellen Ebene Landschaften, wie man sie sich in den ‚alten Zeiten‘ des Westerns vorstellt. Erst mit der letzten Einstellung und dem Kameraschwenk in der zweiten Filmminute wird ohne Zweifel klar, dass man sich definitiv in dieser bedrohlichen Gegenwart befindet, von der der Sheriff erzählt, in der Menschen aus reiner Freude töten. Abb. 1: Gegensatz von zeitloser Landschaft und Verankerung in den „new times“ in der Anfangsszene Damit sind Bell und Chigurh, die zwei zentralen Figuren des Films, eingeführt: Bell als ein alternder Mann, der sich vorsichtig in seiner Realität situiert und diese in Bezug zur Repräsentation der Vergangenheit setzt, und Chigurh, der bereits als absoluter Bruch in der sonstigen Narration inszeniert wird. Der - man ahnt es schon - das Element ist, dem sich Bell auf keinen Fall in den Weg stellen will. Neben Bell und Chigurh wird durch die Landschaft, die Totalen und durch den Verweis auf die old timers bereits das Genre des Westerns eingeführt. II. No Country for Old Men und das Genre des Westerns Jeffrey Adams bezeichnet No Country for Old Men als „hybrid form between Western and Film- Noir“. 4 Dieser Aufsatz behandelt den Film durch die Linse des Westerns, beziehungsweise des Neo-Westerns, da die Genre-Verweise auf den Western offensichtlich sind und eine fruchtbare Deutung und Einordnung des Films zulassen. No Country for Old Men ist in vieler Hinsicht 4 Jeffrey, Cinema of the Coen Brothers , S. 168. No Country for Old Men - Western ohne Helden 199 ein Neo-Western wie er im Buche steht. Nicht nur, da er in dieser geografischen Region spielt, in der sich schon der Kampf um die Frontier zur Zeit der klassischen Western abgespielt hat, was natürlich kein Zufall ist. Nicht nur, weil Sheriffs darin vorkommen, die tatsächlich noch zu Pferde unterwegs sind. No Country for Old Men greift Westernmotive und Traditionen auf, doch es geht nicht darum ‚the Old West‘ zu rekonstruieren, sondern stärker darum, unsere Gegenwart und damit den Neuen Westen mit der Vergangenheit und den noch immer existenten und wirksamen Mythen des Westerns in Bezug zu setzen. Roman und Film spielen in Westtexas im Jahr 1980, also 100 Jahre nach der Ära, in der die meisten Westernfilme angesiedelt sind - zwischen 1865 und 1890. Doch die Mythen und Traditionen des Westerns sind noch sehr lebendig, vor allem in einer Gegend wie West-Texas, in der es noch berittene Sheriffs gibt. Der Western basiert auf amerikanischen Mythen, die er gleichzeitig weiter formt. Denn der Western handelt von einem signifikanten Zeitraum in der amerikanischen Geschichte, auf den man sich noch immer in Hinsicht auf sein Selbstverständnis und die kollektive Identität bezieht. Definiert wird der Begriff Mythos in Bezug auf Western von Bernd Kiefer und Norbert Grob wie folgt: Der Begriff des Mythos zielt auf eine besondere Form der Welterfahrung. Mythos meint den Komplex traditioneller, amerikanischer Erzählungen, die zunächst mündlich tradiert und dann schriftlich fixiert worden sind. Erzählungen, in denen die Erfahrungen einer neuen, unbekannten Welt symbolisch gedeutet und zu Geschichten verarbeitet wurden, die später dem Verständnis amerikanischer Geschichte/ Historie dienten. Mythos umfasst Berichte, Erzählungen, Legenden, in denen die amerikanische Kultur sich über sich selbst verständigt und die strukturiert werden durch oppositionelle Spannungsverhältnisse zwischen Wildnis und Zivilisation, Indianern und Weißen, Natur und Stadt, Naturrecht und Gesetz, Freiheit und Bindung, Mann und Frau. 5 Bells einleitendes Voice-Over zeigt, dass sich daran nichts geändert hat, dass diese Definition des Mythos noch immer greift und er noch immer lebendig ist. Denn Bells Verständnis von Vergangenheit basiert auf diesen mündlich tradierten Erzählungen und Legenden über die old timers , die er so gerne hört. Den Erfahrungen einer neuen, unbekannten Welt sieht sich auch Bell ausgesetzt. Neu sind für Bell die grausamen Konsequenzen von Drogenkriegen und einer Globalisierung des Verbrechens. Außerdem haben sich deutlich die Grenzen zwischen Zivilisation und Wildnis verschoben. Wenn in den Geschichten des klassischen Western noch einfach zwischen den zu zähmenden Wilden und den positiv besetzten Zivilisationsprozessen durch die Weißen unterschieden wurde, ist in der Realität dieses Filmes wie in vielen psychologischen oder Revisionist Western die Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis in den Menschen selbst zu finden. No Country for Old Men verweigert sich, wie auch schon viele Revisionist Western , dieser vereinfachten Wahrnehmung der Welt. Mit dieser Beobachtung setzt man sich bereits mit den beiden Grundmotiven des Westerns auseinander. Was den Western strukturiert, sind die beiden Archetypen der Mythologie Amerikas: der Mythos der frontier , der Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation im Gefolge der Eroberung des Kontinents, […] 5 Kiefer, Grob, Western , S. 15f. 200 200 Rebecca Sommer und der Mythos der regeneration through violence , der permanenten Erneuerung und Wiedergeburt Amerikas aus und durch die Gewalt im Kampf von Gut gegen Böse. 6 Der Film ist voller Gewalt, doch die Coen Brüder machen absolut deutlich, dass an dieser Gewalt nichts Gutes ist. Sie basiert auf Geldgier und Freude am Töten und bringt keinerlei Erneuerung oder Reinigung, nur mehr Gewalt und kaltblütigere Grausamkeit. Obwohl viel Gewalt in dem Film dargestellt wird, wird sie nicht glorifiziert. Dies wird besonders deutlich, da der Film sich dem zentralen Element eines jeden Westerns verweigert. Der Showdown zwischen Moss und Chigurh, oder Chigurh und Bell, bleibt aus. Moss wird off-screen in einem Motel erschossen und es ist zuerst nicht einmal klar, ob von Chigurh oder von den Mexikanern. Die Zuschauer erhalten dadurch keinen Showdown, der doch auch eine kathartische Wirkung haben kann. Wenn der Held endlich über das Böse siegt, wird es oft zur Nebensache, dass dies auch durch Gewalt passiert, die wiederum mehr Gewalt hervorrufen kann. No Country for Old Men ist jedoch kein Abgesang auf den Western. Visuelle Elemente des Westerns werden aufmerksam und liebevoll umgesetzt und mit der heutigen Zeit in Bezug gesetzt. Dabei bleibt es aber natürlich nicht, sonst wäre es kein Coen-Film. Der Film setzt sich deutlich von der naiven Auseinandersetzung mit Geschichte in den klassischen, naiven Western ab und ist eher eine Hommage oder eine Reminiszenz an den Revisionist Western , den psychologischen Western oder den Neowestern. III. Historischer Kontext: Ein Western im Jahr 2007 Als das Genre des Westerns schon längst totgesagt und nur immer mal wieder durch ein paar herausragende, aber vereinzelte Neowestern belebt wurde, gab es plötzlich wieder eine Welle an Westernfilmen und -büchern. McCarthys Roman, und dieser Coen-Western, sind nämlich nicht die einzigen Auseinandersetzungen mit den Mythen des Westerns zu dieser Zeit. Die 2000er waren eine Zeit, in der der Western plötzlich wieder interessant wurde und in der sich viele Neowestern kritisch mit der amerikanischen Vergangenheit auseinandersetzten. There Will Be Blood ist ein weiterer Film aus dem gleichen Jahr, der mit Western-Motiven spielt, und die Geschichte und den Aufstieg eines Öl-Magnaten erzählt. Außerdem erschienen 2007 Todeszug nach Yuma - ein Remake - und Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford : vier Western in einem Jahr. 2005, als der Roman von McCarthy erschien, sah es ähnlich aus. Three Burials ist ein Neo-Western von Tommy Lee Jones und Brokeback Mountain von Ang Lee beging einen Tabubruch, da er eine Liebesgeschichte zwischen zwei schwulen Cowboys erzählte. Das sind alles Filme, die auf Westernmotive, -settings und -traditionen zurückgreifen, die diese jedoch auf die eine oder andere Art neu erzählen und den Western für unsere Zeit und Weltsicht öffnen. Viele dieser Filme, besonders No Country for Old Men und There Will Be Blood , stellen den Mythen des und der Glorifizierung der amerikanischen Geschichte eine brutalere, oder ehrlichere Version gegenüber. Laut William Rodney Allen ging es den Coens auch nicht vorrangig darum, Texas in der Zeit der Handlung, also in den 80ern, darzustellen: „Joel stresses that it 6 Kiefer, Grob, Western , S. 15f. No Country for Old Men - Western ohne Helden 201 was not intended to represent Texas as it exists today, but rather‘ something preserved in legend, a collection of histories and myths.‘“ 7 In William Bells Figur spiegelt sich deutlich, dass für das amerikanische, speziell für das texanische, Selbstverständnis die Mythen des Westerns eine große Rolle spielen. Dabei verwischt manchmal die Grenze zwischen Mythos und Geschichte. Deswegen ist eine Kritik am Western und eine Neuevaluierung dessen auch immer auch eine Neuevaluierung der amerikanischen Geschichte und Identität. Doch woher kommt dieses Bedürfnis, sich genau zu dieser Zeit mit dieser kollektiven Geschichte und den Mythen des Old West auseinanderzusetzen? Der Schluss ist naheliegend, dass ein Zusammenhang besteht zwischen den politischen Hintergründen der 2000er und dem erhöhten Interesse an kritischer Auseinandersetzung mit den Mythen, die die amerikanische Identität begründen. Ein kurzer Blick auf die politische Situation in Amerika in den 2000ern gibt mehr Aufschluss. Im Jahr 2001 war der Angriff auf das World Trade Center. Als Reaktion darauf folgten die amerikanische Intervention in Afghanistan und 2003 der Irakkrieg. Interessant ist dabei besonders die Rhetorik der Bush-Administration, mit der diese Kriege und Interventionen gerechtfertigt wurden. Darin spiegelt sich ein deutlicher Rückfall in die Rhetorik der Westerner mit ungebrochener Glorifizierung von Helden und des amerikanischen Gründermythos sowie einer pauschalen Verurteilung eines simplifizierten ‚Bösen‘, dem das alternative Hollywood offensichtlich etwas entgegensetzen wollte. Wenn früher die Gräueltaten gegen die amerikanischen Ureinwohner in den Mythen des naiven Westerns beschönigt und verharmlost wurden, so müssen heute alte Westernmythen herhalten, um den amerikanischen Exzeptionalismus und die Außenpolitik der USA zu rechtfertigen. Indem No Country for Old Men diese Mythen dekonstruiert und die Gewalt als sinnfrei und alles andere als reinigend entlarvt, verweigert er sich einer solchen Deutung des Mythos und damit der amerikanischen Geschichte und Rolle in der Welt. Matthew Carter liefert in Myth of the Western - New Perspectives on Hollywood‘s Frontier Narrative ein paar Beispiele aus Reden und Ansprachen von George W. Bush: „You are either with us or you are with the terrorists. This is civilisation‘s fight.“ 8 Carter stellt richtigerweise fest, dass Bush damit etwas sehr Komplexes in eine naive Dichotomie zwängt: By reducing what must be one of the most complex political issues in modern history to such a simplistic binary opposition, Bush (whether consciously or not) was utilising one of the most archetypal foundational constructs of the myth‘s grand narrative: the antagonistic struggle between the forces of civilization and savagery. 9 Ausdrücke wie „Wanted, Dead or Alive“ 10 in Bezug auf Osama Bin Laden sprechen eine ähnliche Sprache. Interessanterweise verweist Bush in dieser Rede darauf, dass diese Plakate in seiner Kindheit noch immer im Westen, in Texas, genutzt wurden: „the common old poster out West, as I recall… remembering when I was a kid…“ 11 Er wurde mit diesen Westernmythen und der Westernrhetorik genauso zivilisiert wie Bell mit Geschichten über die old timers . Ob- 7 Allen, The Coen Brothers. Interviews , S. 26. 8 Carter, Myth of the Western , S. 213. 9 Ebd., S. 213. 10 Ebd., S. 212. 11 Ebd., S. 212. 202 202 Rebecca Sommer wohl ich sagen muss, dass die fiktive Figur Bell doch reflektierter mit diesen Mythen umgeht als der allzu reale George Bush es zu seiner Zeit tat. No Country for Old Men zeigt ganz deutlich, dass diese glorifizierten Westernmythen nicht zur Darstellung der Geschichte und besonders nicht zur Legitimation gegenwärtiger Politik geeignet sind. Gewalt hat in diesem Film nichts Reinigendes, sie resultiert nur in mehr Gewalt, und jeglicher Gewalt scheint Eigennutz zugrunde zu liegen: in No Country for Old Men Geld und Gier. Und auch im Fall der amerikanischen Außenpolitik zu dieser Zeit unterstellen nicht wenige, dass finanzielle Aspekte und die Ausweitung von Machtverhältnissen die treibenden Kräfte für den Kriegseintritt waren. Der Kampf der Zivilisation gegen die Bösen wird als ein höchst gefährlicher Deckmantel entlarvt. Auch wenn Bell zu Beginn im Voice-Over andeutet, dass er denkt, dass sich die Menschen gewandelt haben und dass die Grausamkeit und Brutalität schlimmer wurde, macht der Film deutlich, dass es höchstwahrscheinlich nicht so ist. Am Ende des Films unterhält sich Bell mit einem ehemaligen Sheriff, der im Dienst verletzt wurde und im Rollstuhl sitzt. Dieser sagt sinngemäß, dass es früher nicht besser war und deutet damit das zentrale Problem der Westernmythen an: Dass die Realität in den Erzählungen und Mythen glorifiziert und verzerrt wird, dass Mythos und Legende nicht Geschichte entsprechen und dass das Verständnis der grausamen Gegenwart durch die Geschichten der old timers zwangsläufig scheitern muss, da die Vergangenheit schon nicht durch die Mythen gedeutet und erklärt werden kann. Die amerikanische Regierung zur Entstehungszeit des Films greift auf die alten Mythen der regeneration through violence und den Kampf von Gut gegen Böse zurück. In dieser simplen Dichotomie sind natürlich die Amerikaner ungebrochen die Guten und ‚die Achse des Bösen‘ stellt die wilden Kräfte dar, die durch Zivilisation gebändigt werden müssen. Die Frontier, die Landeroberung, hat sich auf einer politischen Ebene längst internationalisiert. No Country for Old Men äußert sich zwar nicht explizit politisch. Doch der Film greift sehr deutlich diese Mythen auf und zeigt eine andere Wirklichkeit auf: Regeneration through violence gibt es nicht, Gewalt löst nur mehr Gewalt aus, wie man auch aktuell im Nahen Osten sehen kann. In der Realität wie im Film scheitert die Zivilisation daran, das Wilde, also beispielsweise Chigurh, oder die unzähmbare Landschaft in Texas, zu bändigen. Stattdessen muss man erkennen, dass das Böse Teil von uns ist. Und wenn man dem Bösen etwas entgegensetzen will - in diesem Film Chigurh - dann muss man selbst diese Methoden anwenden - was sich Bell in diesem Film weigert zu tun. IV. Figuren Wie bereits einführend erwähnt wurde, stehen in diesem Film drei Figuren im Zentrum der Handlung. Diese Figuren sind Abwandlungen von klassischen Typen des Westerns. Matthew Carter weist jeder der drei Hauptfiguren ein Typus des Westerns zu: In the case of No Country , none of the Western tropes is more important than the issue of individual identity and the mythic mode of its expression - the archetypal hunter-hero, Llewellyn Moss ( Josh Brolin); the lawman, Sheriff Bell; the savage force representing the myth‘s figurative wilderness, Anton Chigurh ( Javier Bardem). 12 12 Carter, Myth of the Western , S. 204. Llewellyn Moss, der hunter-hero , ist definitiv ein Jäger. Ob er ein Held ist, steht jedoch noch zur Debatte. Er fungiert als sympathische Identifikationsfigur, ist ein Cowboy, gehört zur Arbeiterklasse und lebt in einem Trailerpark. Er ist Ex-Military, ein Vietnam-Veteran und Hobby-Jäger. Aber ziemlich schnell wird der Jäger in diesem Film zum Gejagten. Llewellyn Moss wird auf der visuellen Ebene als zweite Figur nach Chigurh eingeführt. Gerade hat Chigurh den Mann auf dem Highway erschossen. Die darauffolgende Einstellung zeigt den Blick durch die Zielvorrichtung eines Gewehrs mit einer Herde Antilopen im Visier. Bevor der Zuschauer Moss überhaupt sehen kann, sieht er mit ihm und nimmt seine Perspektive und seinen Blickwinkel, den Blickwinkel des Jägers, ein. Zum zweiten Mal wird durch die Inszenierung des Films Identifikation geschaffen, oder zumindest angeboten. Das erste Mal war es das Voice-Over von Bell, das dem Zuschauer in den ersten Minuten des Films seine Sicht der Dinge schilderte. Er ist eine Art Erzähler, durch dessen Bewusstsein wir das Folgende wahrnehmen werden. Nun kommt Moss ins Spiel, mit dem uns als Publikum ebenfalls durch filmische Mittel Identifizierung angeboten wird. Durch diese Schuss-Gegenschuss-Sequenz ist der Zuschauer von Anfang an sehr nahe bei dem Jäger. Er sieht immer abwechselnd Moss und das, was Moss sieht. Llewellyn Moss wird mit viel Liebe zum Detail in Bezug auf Kostüm und mit authentischen Waffen als Jäger und Spurenleser eingeführt und somit als typischer Westerner etabliert. Auf der Suche nach seiner Beute findet er ein viel größeres Blutbad, dem er sich zögerlich und vorsichtig, aber offensichtlich doch neugierig, nähert. Llewellyn ist mit dieser rauen Landschaft offensichtlich vertraut und weiß sich in ihr zu bewegen und zurechtzufinden. Er kennt auch die Menschen dort und traut niemandem. Als er den Last Man Standing findet, nähert er sich ihm vorsichtig und geduldig. Er wartet ab und geht kein Risiko ein. Er erscheint wie jemand, der das, was er macht, im Griff hat. Doch das ändert sich schon bald. Die erste unkluge Entscheidung ist, dass er das Geld an sich nimmt. Die zweite macht ihn sympathisch, doch trotzdem ist sie nicht sehr klug; in seinen Worten: „dumber than hell“. 13 Denn wie bereits erwähnt, bekommt Llewellyn Moss erst so richtig Ärger, weil er Mitleid mit dem sterbenden Mann am Tatort empfindet. Er kehrt zurück an den Ort des Verbrechens und damit setzt die Katastrophe ein. Die Szene, in der er sich dazu entscheidet, zurückzugehen, ist ein schönes Beispiel für den schrägen Humor der Romanvorlage und der Coens, der uns noch weiter auf Llewellyns Seite zieht. Die Szene ist einerseits komödiantisch - beispielsweise durch den Kommentar über seine Mutter - andererseits wird auch deutlich, dass sich Llewellyn sehr wohl des Risikos seines Unterfangens bewusst ist. Auch diese Szene ist frei von Musik, stattdessen hört man eine Uhr ticken, vorbeifahrende Autos und Wind; was die Figuren eben hören. Geräusche, wie das Wasser, das aus dem Wasserhahn in den Kanister läuft, sind lauter und stärker betont als gewöhnlich. Hierdurch übernehmen Geräusche die Funktion von Musik und bilden darüber hinaus ihre eigene Motivwelt. Das Wasser ist in dieser Szene so laut zu hören, dass es in den Vordergrund tritt. Tatsächlich wird so auf der Tonebene die Tatsache der Bedeutung des Wassers als Auslöser allen Übels auf der Handlungsebene gespiegelt. Das Wasser sowie Moss‘ Mitleid stürzen ihn erst Hals über Kopf in die Verfolgungsjagd, die einen großen Teil des Films ausmachen wird. 13 Coens, No Country for Old Men , ca. 00: 15: 25. No Country for Old Men - Western ohne Helden 203 204 204 Rebecca Sommer Ein weiteres Zitat zeigt, wie sehr sich Llewellyn der Tragweite der Situation bewusst ist, in die er sich hineinmanövriert hat: „Baby, at what point would you quit bothering to look for your two million dollars? “, 14 fragt er Carla Jean. Der nächste Satz zeigt, dass seine Handlung wenig durchdacht und spontan war. Die Situation, in die er sich hineinmanövriert hat, wurde von ihm zu Beginn nicht reflektiert. Doch nun nimmt er die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, schicksalsergeben an. Denn er sagt weiter: „Things happen. Come on, I can‘t take ‚em back.“ 15 Vielleicht spiegelt sich in dieser Antwort doch eine Art Bereuen. Doch er scheint einfach zu akzeptieren, dass er sich nun seiner neuen Realität stellen muss. Einen anderen Ausweg als Flucht nach vorne sieht er nicht. Die erste Verfolgungsjagd überlebt er, da er das Land kennt und da er sich in diesem Terrain auskennt. Doch sobald er sich aus dieser gewohnten Landschaft entfernt, wird es immer brenzliger für ihn. Erst in der 27. Minute sieht der Zuschauer Sheriff Ed Tom Bell, gespielt von Tommy Lee Jones, zum ersten Mal. Zwar wurde er schon in der ersten Szene als Stimme aus dem Off eingeführt, doch visuell erscheint er erst deutlich später. Er ist der dritte Jäger im Bunde, der hinter den beiden anderen Hauptfiguren, Chigurh und Moss, her ist. Die Figur des Erzählers ist im Medium Film problematischer und schwieriger zu definieren als im Roman. 16 Jedoch ist Bell durch das einleitende Voice-Over und dadurch, dass er am meisten über die im Film gegebene Situation sinniert, Identifikationsfigur und eine Art Erzähler. Auch Bell und der Hilfssheriff Wendell sind Spurenleser wie Moss. Sie sind zu Pferd unterwegs, genau wie die guten alten Westerner. Dass die Mythen des Westerns in dieser Gegend der USA noch wirksam sind, wird anhand eines Kommentars von Wendell über den Schauplatz des eskalierten Drogendeals in der Wüste deutlich: „Execution here, wild west over there.“ 17 Was Bell und Llewellyn Moss gemeinsam haben: Sie beide sind positive Identifikationsfiguren. Doch aufgrund ihrer Ohnmacht gegenüber Chigurh und ihrer menschlichen Schwächen sind beide kein klassisches Heldenmaterial. „Neither of them is master of their own fate nor, significantly, can either man domesticate the wilderness, much less can they defeat the terrifying Chigurh.“ 18 Später wird sich zeigen warum Bell, auch wenn er nicht klassisch heldenhaft ist, dann doch den Helden, oder Antihelden, des Films bildet. In seiner Figur offenbart sich zumindest die Möglichkeit des modernen Helden, der zeigt, wie die Westernmotive in unserer Zeit helfen können, ein neues amerikanisches Selbstverständnis zu begründen. Die zentrale Figur in dem Film ist - manche argumentieren, im Gegensatz zum Buch - Anton Chigurh. Chigurh, sein Ziel, seine Motivation und seine Moral zu beschreiben ist aus vielen Gründen keine einfache Aufgabe. Es lässt sich beispielsweise wunderbar diskutieren, ob er amoralisch oder jenseits von Moral handelt, oder ob er nach seiner eigenen Moral funktioniert. Sobald sich ein Kritiker jedoch für eine dieser Kategorien in Bezug auf Chigurh entscheidet, müssen aufgrund der Komplexität der Figur andere Faktoren unter den Tisch fallen, was dieser wiederum nicht gerecht wird. Auch er ist ein Jäger und zusätzlich ein Auftragskiller, vom Drogenkartell damit beauftragt, die zwei Millionen Dollar zurückzubeschaffen. Dass Chigurh sich nicht kontrollieren 14 Coens, No Country for Old Men , ca. 00: 25: 18. 15 Ebd., 00: 25: 38. 16 Vgl. Bordwell, Narration in the Fiction Film , S. 61. 17 Coens, No Country for Old Men , 00: 30: 27. 18 Carter, Myth of the Western , S. 204. lässt, wird dadurch deutlich, dass er, sobald er den Auftrag erhalten hat, seine Auftraggeber erschießt und Moss und das Geld ab diesem Punkt auf eigene Faust jagt. Anton Chigurh ist ein eiskalter Killer, aber gleichzeitig eine sehr schräge Person. Seine Handlungen sind unvorhersehbar und dadurch extrem unheimlich. Seine Frisur ist einfach nur lustig und grenzt an Absurdität, doch das macht das Ganze tatsächlich noch unheimlicher. Diese schreckliche Figur hat jedoch eine nicht unwichtige Funktion. Sie hält den Zuschauer davon ab, den Bösen als zu cool und attraktiv zu stilisieren und eine gewisse Begeisterung für das Böse zu entwickeln. Im Guardian beschreibt Chrissy Iley den Stellenwert dieser grausamen Frisur. The killer bob modelled by Javier Bardem in No Country for Old Men was so repulsive, so overwhelming, it seemed to me that it was the haircut that won the Oscar for best supporting actor. Certainly it was method hair: the power behind the performance. It was the single thing that changed the normally brooding, come-to-bed-with-me Bardem into run-from-me psychopath. 19 Bardem wurde in dieser Hinsicht ideal gecastet, da er Chigurh auf eine unheimliche, unnahbare, geheimnisvolle Art ohne nennenswerte menschliche Regungen spielt: als einen Psychopathen mit Gott-Komplex, könnte man sagen, der durch Münzwürfe über das Leben von Menschen entscheidet. Manche gehen so weit und deuten Chigurh als eine Allegorie des Todes, wenn nicht sogar als den personifizierten Tod. Der amerikanische Wissenschaftler John Cant, beispielsweise, sieht Chigurh in der Romanvorlage als eine entmenschlichte Allegorie des Todes: „Chigurh is an allegorical representation of death himself“. 20 Diese Qualität geht seiner Meinung nach im Film verloren, und zwar aufgrund der Casting-Entscheidung, da ein Spanier mit spanischem Akzent, mit dunklen Haaren als Chigurh gecastet wurde. Einerseits erkennt er Bardems Leistung an. Doch andererseits: [A]s a number of critics have pointed out, the choice of the Spanish actor has led many to assume that he is meant to be read as Mexican. This is understandable given the relevance of Mexico to the location and action of the film but introduces a facet to Chigurh‘s meaning that is not present in the book, and, I would suggest, detracts from his indefinable, and thus somehow more generalized, in current terms - transnational - metaphorical status. 21 Ich finde, dass sich Cant und diese anderen Kritiker hier auf etwas gefährlichem Terrain bewegen und ich würde hier auch einfach nicht zustimmen. Diese Feststellung entlarvt potentiell nur, dass für John Cant „generalized“ und „transnational“ weiß, männlich und am besten noch blond bedeutet. Das ist stereotypisches Denken, dem nicht jeder so zum Opfer fällt. Auch wenn Cant „vielen Zuschauern“ unterstellt, Chigurh als Mexikaner zu deuten, würde ich nicht zustimmen, dass das so ist. Nicht jeder Braunhaarige ist gleich Mexikaner, nicht jeder Kinobesucher weiß, dass Bardem Spanier ist und auch besteht noch ein kleiner aber feiner Unterschied zwischen Spanien und Mexiko. In meinen Augen haben die Coens Javier Bardem ideal als identitätslosen Fremdkörper in Szene gesetzt, als wäre er einfach irgendwann, so wie er ist, vom Himmel gefallen, nicht als wäre er in einer bestimmten Kultur sozialisiert und geformt worden. Nichts an ihm passt in 19 Iley, „The method haircut that won an Oscar“, Onlinepublikation. 20 Cant, „The Silent Sheriff“, S. 96. 21 Ebd., S. 95. No Country for Old Men - Western ohne Helden 205 206 206 Rebecca Sommer seine Umgebung, weder seine Kleidung, sein Haarschnitt noch sein Akzent. Es kann unterstellt werden, dass der typische Amerikaner nicht sehr gut darin ist, Akzente zu erkennen. Gleichzeitig ist Bardems Akzent in diesem Film nicht sehr ausgeprägt und der Sprechanteil seiner Rolle ist ebenfalls nicht sonderlich hoch. Das Einzige, was deutlich wird, ist, dass er nicht texanisch spricht. Aus diesem Grund hat er genau diese transnationale, fremdartige Aura, die Cant unterstellt, dass sie im Gegensatz zum Buch abhandengekommen wäre. Hätten die Coens einen blonden, blauäugigen Schauspieler wie beispielsweise Brad Pitt gecastet, wäre die Annahme nahegelegen, dass er Texaner ist. Demnach wäre er ebenso wenig als transnational wahrgenommen worden. Das filmische Bild ist voller als das, was eine Romanvorlage durch Sprache evoziert. Das muss kein Nachteil sein, denn Javier Bardem füllt dieses Bild mit seiner herausragenden Darstellung von Chigurh, auch wenn weniger Raum für die eigene Vorstellungskraft bleibt. In diesem Aufsatz wird die Kritik an der Nationalität des Schauspielers klar zurückgewiesen, da ein unheimlicherer, schrägerer und fremdartiger Chigurh als der, den Javier Bardem darstellt, kaum vorstellbar ist. Dass er Mexikaner sein solle, ist der Autorin persönlich tatsächlich weder während der Rezeption des Films noch danach in den Sinn gekommen. Doch zurück zu der Vorstellung, dass Chigurh eine Allegorie des Todes sei. Sicher ist, dass dort, wo Chigurh in diesem Film auftaucht, der Tod droht. Doch nicht jede Figur, die ihm gegenübersteht, stirbt auch. In der ersten Szene, in der Chigurhs Spiel des Münzwurfs eingeführt wird, widersetzt sich Chigurh allen Konventionen des menschlichen Miteinanders. Der Besitzer einer Tankstelle startet einen harmlosen Smalltalk, doch Chigurh geht nicht darauf ein und scheint fast von der Bedeutungslosigkeit dieser Gesprächskonvention beleidigt zu sein. Smalltalk ist im deutschsprachigen Raum vielleicht nicht so verbreitet. Doch die Amerikaner haben die Kunst des Smalltalks zum Umgehen von peinlicher Stille und zum Austausch von Höflichkeiten perfektioniert. Chigurh will davon jedoch nichts wissen. Aus dem Versuch eines Gesprächs über das Wetter wird eine Grundsatzdiskussion. Alles, was der Tankstellenwärter sagt, wird auf seine Bedeutung geprüft auf die Waagschale gelegt. Chigurh scheint nach seiner eigenen Moral zu funktionieren. Doch diese zu durchschauen ist schwierig, vielleicht sogar unmöglich, vor allem aber auch unnötig. Denn erst das Geheimnisvolle und Ambivalente macht diese Figur so interessant. Chigurh ist undurchsichtig und er scheint seinem eigenen, außer-gesellschaftlichen Code zu folgen, den weder der Tankstellenwärter, oder Sheriff Bell, noch irgendeine andere Figur im Film greifen und verstehen könnte. Dass Chigurh für den Tod steht, würde die Autorin auch nicht unterschreiben, da es erneut seine Ambivalenz einschränkt. Doch ganz deutlich repräsentiert er das Wilde, das ‚Unzivilisierte‘, die Komponente des Bösen und der Wildnis im Frontier-Mythos. Dass Chigurh nicht zu verstehen ist, kann auch als Parallele dazu gesehen werden, wie schwer es ist, das Böse an sich zu greifen und zu verstehen. Was wir alle in uns tragen, was jede Figur als Potential in sich trägt, ist in Chigurh geballt vorhanden und nicht zu bändigen. Dass Chigurh am Ende nicht geschnappt werden kann, ist ein weiteres Zeichen, dass die Wildnis nicht zu zähmen ist. Wenn man sich ihr in den Weg stellen wollte, müsste man Teil von ihr werden, suggeriert der Film. Auch in der Tankstellenszene gibt es Soundtrack, der wieder aus diesem einzelnen Ton besteht, der erst unmerklich im Hintergrund einsetzt und immer mehr anschwillt. Es kann einem leicht entgehen, aber es baut eine unglaubliche Anspannung auf. Bis zu diesem Punkt setzte in No Country for Old Men ausschließlich ein Score ein, wenn Chigurh Teil der Szene war. Diese Tatsache soll unter anderem im nächsten Kapitel geklärt werden unter der Fragestellung, was No Country for Old Men eigentlich zu einem so außergewöhnlichen Film macht, bei dem sich ausnahmsweise nicht nur Kritiker oder Zuschauer vor Begeisterung überschlagen, sondern der gleichzeitig unterhält und trotzdem filmisch anspruchsvoll und interessant ist. V. No Country for Old Men als ‚Großes Werk des Films‘ Abgesehen von den visuellen und strukturellen Anspielungen an den Western machen viele weitere filmische Elemente No Country for Old Men zu einem Film der mehr als typische, kurzweilige Hollywood-Unterhaltung bietet. Alle Elemente, die im Folgenden vorgestellt werden, haben eins gemeinsam: Sie brechen mit filmischen Konventionen und mit den Erwartungen der Zuschauer, die durch Konventionen des letzten Jahrhunderts im Film geprägt sind. Oft folgen Erzählfilme klassischen Mustern, von denen natürlich auch ab und an etwas abgewandelt wird. Doch die Coens treiben diese Absage an Konventionen im Rahmen des Erzählfilms auf die Spitze. Erwartungen werden wieder und wieder gebrochen, bis der Zuschauer am Ende orientierungslos zurückbleibt. Eine der auffälligsten Eigenschaften des Films ist, dass er - wie bereits erwähnt - fast ohne Musik auskommt. Dies ist sehr ungewöhnlich, besonders, da in diesem Film viel davon abhängt, dass Spannung aufgebaut wird. Gerade Thriller, Filme mit Verfolgungsjagden, oder Katz-und-Maus-Szenen wie zwischen Chigurh und Llewellyn im Motel, verlassen sich gerne auf Musik, auch um die Empfindungen des Zuschauers zu lenken oder zu verstärken. Dennis Lim schreibt in der New York Times ganz passend, dass No Country for Old Men kein „Popcorn Movie“ ist. Nicht, da er nicht unterhaltend und spannend wäre. It is not a popcorn movie. Which is to say, it is especially ill-suited to the crunching of snacks or the crinkling of wrappers or any of the usual forms of movie-theater noise pollution. There is virtually no music on the soundtrack of this tense, methodical thriller. Long passages are entirely wordless. In some of the most gripping sequences what you hear mostly is a suffocating silence. 22 Eine drückende, gar erstickende Stille trifft es sehr gut. Denn den Film fast ohne Musik zu gestalten, war eine geniale Strategie, die wunderbar aufgeht. Die Stille wird für den Zuschauer genauso unerträglich, wie sie für Llewellyn sein muss, wenn er im dunklen Hotelzimmer sitzt und auf Chigurh wartet. Diese Abwesenheit von Musik bedeutet für den Zuschauer nämlich die Abwesenheit einer Hilfestellung, die uns durch spannende Szenen leitet. Denn Musik sagt uns ganz oft, was wir zu empfinden haben, wann es spannend wird und wann wir etwas Schlimmes erwarten können. In schlechten Filmen ist das überdeutlich und geht nicht mit dem einher, was der Film visuell oder inhaltlich ausdrückt. In guten Filmen ist der Soundtrack subtil, holt den Zuschauer genau an der Stelle ab, an der er ist, oder unterwandert in anderen Fällen das, was ein Zuschauer instinktiv fühlen sollte und schafft so eine ganz andere Stimmung. In No Country for Old Men fällt diese Hilfestellung, die die Musik gewöhnlich bietet, komplett weg. Der Sound-Designer des Films, Skip Lievsay, sagt dazu: 22 Lim, „Exploiting Sound, Exploring Silence“, Onlinepublikation. No Country for Old Men - Western ohne Helden 207 208 208 Rebecca Sommer The idea here was to remove the safety net that lets the audience feel like they know what‘s going to happen. I think it makes the movie much more suspenseful. You‘re not guided by the score and so you lose that comfort zone. 23 Das einzige Mal, dass Musik im Vordergrund zu hören ist, ist, wenn eine mexikanische Band in der Diegese des Films auf der Straße für Llewellyn spielt. Sobald sie seinen desolaten Zustand erkennen, bricht die Musik jedoch wieder ab. Das Gefühl, dass man nicht weiß, was einen als Nächstes erwartet, wird nicht nur durch die Abwesenheit von Sound, sondern spätestens ab Llewellyns Tod auch durch das Fortschreiten der Handlung verstärkt. Eine weitere Besonderheit ist das Ausbleiben eines Showdowns und, noch weiter, das Ausbleiben einer tatsächlichen Begegnung von zentralen Protagonisten, zwischen denen eigentlich eine finale Konfrontation vermutet werden könnte. Es gibt wenige Filme, in denen eine Haupt- und Identifikationsfigur so unerwartet, unspektakulär und vor allem off-screen stirbt. Es gibt keinen Showdown für Llewellyn Moss. Die Bilder am Anfang, der Sheriff, der den Verbrecher jagt und unser kleiner Anti-Held Moss, der vom Verbrecher gejagt wird - das alles schreit nach einer spannungsgeladenen Auflösung von Angesicht zu Angesicht, zumindest zwischen zweien von dreien der Gegenspieler. Aber nein. Auch Bell begegnet Chigurh nicht ein einziges Mal in dem Film. Die einzigen ‚Begegnungen‘ zwischen den beiden sind nicht real. Einmal sind die zwei am gleichen Ort, doch zu unterschiedlichen Zeiten. In der 32. und 35. Filmminute sehen sie genau das, was der andere sieht, doch eben nicht sich gegenseitig, sondern nur sich selbst, als Spiegelung im Fernseher in Moss‘ Trailer. Abb. 2: Bell und Chigurh spiegeln sich im Fernsehgerät in Moss‘ Trailer Dies könnte theoretisch ein raffinierter filmischer Verweis auf eine zukünftige Begegnung sein, doch das ist es nicht. Bell nimmt die Perspektive von Chigurh ein, doch er ist ihm immer einen Schritt hinterher, kommt immer erst nach ihm zu den Schauplätzen seiner Verbrechen, wahrscheinlich auch, da er nicht sonderlich scharf darauf ist, sich diesem Psychopathen in den Weg zu stellen. Das zweite Mal wird durch einen Bruch im sonstigen Realismus des Films und in der sonstigen Kontinuität der Handlung eine mögliche Begegnung angedeutet. Bis dahin passierte alles im Film kontinuierlich und in geregelter zeitlicher Abfolge. Zwar laufen mehrere Handlungs- 23 Ebd. stränge parallel, doch es gibt keine Rückblenden, größere Zeitsprünge oder filmische Brüche der Realität von Raum und Zeit. In der einzigen Szene, in der ein solcher Bruch inszeniert wird, nähert sich Sheriff Bell dem Motel-Zimmer, in dem Moss erschossen wurde. Die nächste Einstellung zeigt Chigurh, offensichtlich im gleichen Hotelzimmer, hinter der Tür stehen. Da der Film zuvor immer streng chronologisch vorging und die Einheit der Zeit der filmischen Handlung gewahrt hat, ist man als Zuschauer im ersten Moment davon überzeugt, dass sie beide sich gleichzeitig in diesem Motel befinden und nun der alles klärende Showdown ansteht. Doch diese Erwartung wird nicht erfüllt. Bell öffnet die Tür und ist allein. In diesem Fall ist man froh für Bell. Doch gleichzeitig steigt die Orientierungslosigkeit. Immer näher kommen wir Bells Perspektive, der nicht weiß, was ihn erwartet und was er diesem neuen, unerklärlichen Bösen entgegensetzen soll. Dies bringt uns schon zum nächsten Punkt: Man hat selten in diesem Film eine Ahnung, was als Nächstes passiert und wie das alles enden soll, denn immer wieder werden Erwartungen nicht erfüllt. Der kaltblütige Mörder Chigurh lässt auch einmal ein potentielles Opfer davonkommen und entscheidet dies per Münzwurf. Die Chancen für das potentielle Opfer stehen in diesem Moment 50/ 50 und genau diese Ungewissheit, wie bei einem Münzwurf, hat der Zuschauer zunehmend, je weniger Orientierung er durch die Einhaltung von gängigen Konventionen des Films hat. Zwei weitere Dinge sind ‚enttäuschend‘ für Zuschauer, die klassisches Hollywood-Kino erwarten und noch nicht durch das sonstige Werk der Coens ‚abgehärtet‘ sind. Erstens entwickelt Sheriff Bell keinen Ehrgeiz, stellt sich Chigurh nicht in den Weg und hat seiner Gewalt und seinem Morden nichts entgegenzusetzen. Vielleicht ist das aber auch das Klügste, was er tun kann. Vielleicht ist er dadurch doch ein Held, der aus den gescheiterten Mythen der Western gelernt hat. Denn das Einzige, was er Chigurh entgegensetzen könnte, wäre mehr Gewalt. Er würde Teil dieser neuen brutalen Welt werden, an der er nicht teilhaben will. Um an seine Eingangsworte zu erinnern: „Man had to put his soul at hazard. He‘d have to say, OK, I‘ll be part of this world.“ 24 Darum ist dies vielleicht kein country for old men , da old men genügend Gewalt gesehen haben, um nicht mehr ein Teil dieser Welt sein zu wollen. Die Aussage, dass Bell kein Held ist, muss also relativiert werden. Bells Weigerung, sich Chigurh in den Weg zu stellen, ist nur im ersten Moment enttäuschend, doch tatsächlich ist es zutiefst menschlich und klug. Nehmen wir einmal an, dass tatsächlich eine subtile politische Motivation in No Country for Old Men steckt. Dann zeigt der Film, dass die Mythen des Old West nicht mehr greifen, dass mehr Gewalt als Antwort auf Gewalt nicht reinigend wirkt und dass Gewalt nicht im Namen von Zivilisation zu rechtfertigen ist. Wenn dem so ist, dann kann Bells Rückzug aus dieser Spirale der Gewalt symbolisch gesehen werden und auf das Weltgeschehen und die Außenpolitik der USA übertragen werden. Statt sich der Gewalt entgegenzustellen und darauf mit mehr Gewalt zu reagieren, hält er sich zurück. Vielleicht ist darin die subtile Aufforderung an die USA in der Zeit nach dem 11. September enthalten, Gewalt und Terrorismus nicht mit mehr Gewalt und eigenem Terrorismus zu beantworten. Denn auch dies kann nur im Weiterführen der Spirale von Gewalt enden. Doch zurück zur Handlung: Bells Ausstieg und seine Verweigerung, ein Teil dieser grausamen Welt zu werden, ist nicht enttäuschend, sondern es hat etwas Heroisches und Weises. 24 Coens, No Country for Old Men , 00: 02: 20. No Country for Old Men - Western ohne Helden 209 210 210 Rebecca Sommer Doch der nächste Punkt ist und bleibt tatsächlich enttäuschend. Wieder passiert es off-screen, doch es gibt keinen Zweifel: Carla Jean, die auf unerklärliche Weise sehr sympathische Ehefrau von Moss, muss am Ende sterben. Als zweite Figur in diesem Film widersetzt sie sich Chigurh. Die erste Figur, die Chigurh erfolgreich nicht das gibt, was er will, ist die Verwaltungsdame im Trailerpark, in dem Moss lebte. Sie überlebt durch Zufall, Chigurh hört eine Klospülung und weiß, dass da noch jemand ist. Er geht, anstatt die von ihm gewünschten Information mit Gewalt aus ihr herauszuholen. Nun, gegen Ende des Films, weigert sich Carla Jean als Erste anzusagen. Wie am Anfang erwähnt: Frauen haben nicht viel Platz und Screen-Time in dem Film, doch wenn sie auftauchen, sind sie stark, zeigen sie Rückgrat und hinterlassen sie Eindruck. Carla Jean weigert sich, anzusagen. Es erfolgt ein Schnitt und die nächste Einstellung zeigt Chigurh, wie er das Haus verlässt. Dass er einen kurzen Blick auf seine Schuhsolen wirft, verrät, dass er Carla Jean erschossen hat, denn anders kann man diese kleine Geste fast nicht deuten. Chigurh hält an seinem Versprechen gegenüber Moss fest. Wenn Moss flüchtet, muss nicht nur er, sondern auch Carla Jean sterben. Anhand von Chigurhs Verhalten über den gesamten Film hätte man dies voraussehen können. Doch es sind erneut die Konventionen von Hollywood-Erzählfilmen, oft auch von Independent-Filmen, dass es nicht unwahrscheinlich ist, dass selbst ein Bösewicht irgendwo einen soft spot hat. Doch leider nicht Chigurh. Ob er Sympathien für Carla Jean empfindet, ist zweifelhaft. Er handelt nach seinem Code und lässt sich ja schon in vorherigen Szenen auf Gespräche und Diskussionen über diesen Code ein, beispielsweise mit dem Tankstellenwärter. Es wirft ihn vielleicht etwas aus der Bahn, dass sie sich nicht entscheiden will. Doch wenn dies tatsächlich der Fall wäre, bekommen wir Zuschauer diesen inneren Konflikt nicht mit, da der Mord off-screen geschieht. Chigurh kommt am Ende davon. Er verlässt den Tatort, doch kurz darauf wird er von einem Auto angefahren. Es folgt eine Szene, in der er seinen gebrochenen Arm mit dem T-Shirt eines Jungen verarztet und am Ende läuft er völlig zugerichtet, aber noch immer aufrecht, davon, während im Hintergrund Polizeiautos höchstwahrscheinlich zum Tatort von Carla Jeans Mord eilen. VI. Fazit Der Coen-Film bietet dem Zuschauer eine ähnliche Ungewissheit wie der Münzwurf von Chigurh. Was als Nächstes passiert, ist eigentlich immer offen. Durch die Abwesenheit von Musik wird dem Zuschauer eine wichtige Orientierung genommen. Die Hauptfiguren sterben off-screen oder gehen einer abschließenden, für den Zuschauer kathartischen Konfrontation aus dem Weg. Dadurch ist No Country for Old Men unberechenbar und zugleich unglaublich spannend. Gleichzeitig erzählt der Film die Geschichte von Figuren, die durch ihre Verlorenheit gegenüber diesem unberechenbaren Bösen menschlich und sympathisch sind. Die Verweigerung des Showdowns zeigt, dass das Leben einfach keine Geschichte, kein Western ist, in dem jeder sein verdientes, glorreiches Ende bekommt. Es ist willkürlich, geprägt von Zufällen und unberechenbar. Eine letzte wichtige Szene ist das Gespräch zwischen Sheriff Bell und seinem Cousin Ellis, der ebenfalls Sheriff war. Denn sie bezieht die Narration zum ersten Mal inhaltlich auf die Vergangenheit und arbeitet sich nicht mehr nur an der Gegenwart ab. Außerdem schließt sie einen thematischen Spannungsbogen, der in der ersten Szene mit der Frage eröffnet wird, ob die Gegenwart anhand der Geschichten der old timers und der Mythen des Westerns, auf denen das amerikanische Selbstverständnis basiert, deutbar ist. Der Film beantwortet diese Frage mit einem deutlichen Nein. In jeder Instanz scheitern die Western-Mythen, -Tropen und -Motive. Es gibt keine regeneration through violence , nur mehr Gewalt. Das Motiv der frontier greift nicht mehr und die Wildnis stellt sich als unbezwingbar heraus: Die Landschaft ist und bleibt ungezähmt und rau. Chigurh als Personifikation der Wildnis kommt davon, bleibt auch ungezähmt und ‚unzivilisiert‘. Unsere Zivilisation versagt und scheitert an der Wildnis. In der Szene zwischen Bell und Ellis wird deutlich, dass die Mythen des Westerns nicht nur in der Gegenwart als Hilfe zur Bedeutungsfindung scheitern müssen, sondern dass auch das Verständnis der Vergangenheit durch die Mythologie nicht möglich ist. Ellis ist ein ehemaliger Sheriff, der sozusagen in der Zeit der von Bell glorifizierten old timers für Recht und Ordnung sorgte. Doch er widerlegt Bells These, dass sich das Land und mit ihm das Böse verändert hätten. „What you got ain‘t nothing new. This country is hard on people.“ 25 Bell ist vielleicht doch eine Art Held, der sieht, wie die Mythen des Westerns an der Realität scheitern, und der durch Ellis‘ Aussage erkennen muss, dass dies kein Problem der Gegenwart ist, sondern dass schon immer die Geschichten nicht die Realität abbilden konnten. Bei der Mythologie des Westerns handelt es sich um Geschichten, nicht um Geschichte. Die Mythen des Westerns scheitern an der Realität. Doch dieser Film zeigt ganz deutlich, dass das nicht bedeutet, dass der Western als Filmgenre tot ist. Denn wie sich Neo-, Post- und Neu-Western an diesem Bruch zwischen Realität und Mythos abarbeiten, daraus entsteht der Neue Western. Dies liefert neue Erzählungen, die sehr wohl das Potential haben, das amerikanische Selbstverständnis zu begründen: menschlicher, ehrlicher, brutaler, und nicht verklärend, in einem Western ohne Helden, wie No Country for Old Men . Filmographie No Country for Old Men . Produktion: Paramount Vantage, Miramax, USA, 2007. Regie: Ethan Coen, Joel Coen. Drehbuch: Joel Coen, Ethan Coen. Kamera; Roger Deakins. Musik: Carter Burwell. Darsteller: Tommy Lee Jones (Ed Tom Bell), Javier Bardem (Anton Chigurh), Josh Brolin (Llewelyn Moss), Kelly Macdonald (Carla Jean Moss), Garret Dillahunt (Wendell). Bibliographie Adams, Jeffrey, Cinema of the Coen Brothers. Hard-Boiled Entertainment . New York 2015. Allen, William Rodney, The Coen Brothers. Interviews . Jackson 2006. Bordwell, David, Narration in the Fiction Film . Wisconsin 1985. Cant, John, „The Silent Sheriff: No Country for Old Men - A Comparison of Novel and Film“. In: Intertextual and Interdisciplinary Approaches to Cormac McCarthy: Borders and Crossings . Hg. v. Nicholas Monk. New York 2012, 90-99. Carter, Matthew, Myth of the Western. New Perspectives on Hollywood‘s Frontier Narrative . Edinburgh 2014. 25 Coens, No Country for Old Men , 01: 43: 11. No Country for Old Men - Western ohne Helden 211 212 212 Rebecca Sommer Kiefer, Bernd u. Norbert Grob, Filmgenres: Western . Stuttgart 2003. Iley, Chrissy, „The method haircut that won an Oscar“. In: The Guardian, 28.02.2008. Online: www. theguardian.com/ film/ 2008/ feb/ 28/ fashion.oscars2008. [Letzter Zugriff am 01.11.2017]. Lim, Dennis, „Exploiting Sound, Exploring Silence“. In: New York Times , 06.01.2008. Online: www. nytimes.com/ 2008/ 01/ 06/ movies/ awardsseason/ 06lim.html [Letzter Zugriff am 01.11.2017]. Zwischen Traum, Trauma und Trauer - zur Metaphorik, Liebe und Ästhetik des Schmerzes in Christopher Nolans Inception Daniela Otto Christopher Nolans Inception (2010) ist zweifelsohne ein Meisterwerk der Filmgeschichte. Doch was macht diesen Film zu einem solch grandiosen Film? Und was macht ihn letztlich auch zu einem großen Liebesfilm ? Im Folgenden stehen nicht nur die vielfältigen metaphorischen Bedeutungsebenen, sondern insbesondere auch die in der Forschung erst defizitär betrachtete Liebesdramaturgie Inceptions im Fokus, deren morbider Reiz in einer bestechenden Ästhetik des Schmerzes liegt. Zunächst aber ist Inception vor allem gute Unterhaltung in Form eines spannenden Thrillers. Dom Cobb, gespielt von Leonardo DiCaprio, ist ein sogenannter Extractor. Mittels einer speziellen Maschine kann er in die Träume und somit das Unterbewusstsein anderer Menschen eindringen und daraus Informationen stehlen. Dieser Job ist zwar hochspannend, jedoch nicht ganz risikofrei - die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen zusehends. Um zu überprüfen, ob sich Dom im Traum oder der Wirklichkeit befindet, benutzt er - und jeder andere seines Teams - ein Totem. In Doms Fall ist dies ein Kreisel, der sich im Traum unaufhörlich weiterdreht, in der Wirklichkeit jedoch umfällt. Zudem trägt Dom schwere Altlasten mit sich herum. Inception entwickelt das Konzept des mehrstufigen Traums, es gibt den Traum im Traum, man kann also träumen, dass man träumt, dass man träumt usw. Mit seiner Frau Mal (Marion Cotillard) verliert er sich einst so tief im Traum, in der untersten Traumebene, dem sogenannten Limbus, dass eine Rückkehr ins Hier und Jetzt fast unmöglich scheint. Da Mal den Limbus als ihre Wirklichkeit akzeptiert, sieht Dom nur eine Möglichkeit: Er dreht das Konzept von Extraction um, stiehlt also keinen Gedanken, sondern pflanzt ihr die Idee ein, dass ihre Welt nicht real sei. Diesen Akt des Einpflanzens eines Gedankens nennt man Inception. Einmal in ihrem Unterbewusstsein verankert, wächst der Gedanke in Mal und das Unheil nimmt seinen Lauf. Um aus dem Traum zu erwachen, begehen beide Selbstmord. Doch selbst danach glaubt Mal, dass sie sich noch in einem Traum befindet und begeht, in der Hoffnung, endlich wieder im richtigen Leben aufzuwachen, erneut Suizid. Dom steht daraufhin unter Mordverdacht - Mal hat vorgesorgt und entsprechende, Dom belastende Briefe hinterlassen - und die Rückkehr in seine Heimat und damit zu seinen beiden Kindern bleibt ihm versagt. Diese backstory wound blutet unaufhörlich- - Dom ist eine getriebene, innerlich zerrissene Figur. Ein letzter Auftrag des Geschäftsmanns Saito (Ken Watanabe) jedoch soll ihm das Nachhausekommen ermöglichen. Noch einmal sollen er und sein Team eine Inception durchführen, diesmal bei Robert Fischer Jr. (Cillian Murphy). Dem Erben eines Wirtschaftsimperiums soll der Gedanke eingepflanzt werden, das Geschäft seines verstorbenen Vaters aufzuteilen, um eine Monopolstellung zu vermeiden. 214 214 Daniela Otto I. Inception als Film- und Bewusstseinsmetapher Die Forschung hat zurecht auf das selbstreferentielle Potential von Inception hingewiesen: Wie Oliver Jahraus argumentiert, ist Inception ein „Filmfilm“, also ein Film, der darstellt, wie Filme gemacht sind, wie sie funktionieren, insbesondere wenn man die filmwissenschaftlich gesetzte Nähe von Film und Traum berücksichtigt. 1 So schreibt Jahraus: [ Inception ] liefert mit dem Traum das filmische Modell des Films. Er zeigt uns, wie ein Film funktioniert, indem er uns einen Traum als Film, bzw. einen Film als Traum vorführt. Er zeigt uns dabei nicht nur die technischen Voraussetzungen, die narrative Konstruktion des Films in Montage und mise-en-scène, sondern vor allem auch das affektive Wirkpotenzial des Films. Er zeigt und führt uns gleichzeitig vor, er vollzieht, wovon er erzählt, wie nämlich der Film unsere Sicht der Welt und ihrer Wirklichkeit, aber auch unser Unterbewusstsein determiniert. 2 Dieses Unterbewusste spielt in Inception eine immens wichtige Rolle, was den Film per se in einen psychoanalytischen Kontext rückt. Die psychoanalytische Filmwissenschaft geht davon aus, dass sich Filme wie ein manifester Trauminhalt ausdeuten lassen. Dabei differenziert die Psychoanalyse zwischen latentem und manifestem Trauminhalt. Der latente Trauminhalt meint den verborgenen Sinn eines Traums, die Wahrheit darüber, was und warum verdrängt wurde. Der manifeste Trauminhalt meint die mediale Transformation des Latenten, meist in Form von Sprache, also die Erzählung eines Traums, das konkrete Traummaterial, das nach dem Aufwachen noch übrig ist. Dieses Modell ist auch für Inception tragfähig, denn so wie sich in Inception die Wirklichkeit zum Traum verhält, so verhält sich für uns, in unserer Realität, die Wirklichkeit zum Film. Anders formuliert: Wir träumen filmisch, also medial, und Filme sind in ihrer Gesamtkonzeption traumhaft, auf die Leinwand geworfene Träume, ganz im Sinne der Hollywoodschen Traumfabrik . Indem Inception den medialen Operationsmodus des Träumens reflektiert, führt er zudem den grundlegenden Operationsmodus des Bewusstseins an sich vor Augen und wird dadurch zu einem sogenannten Bewusstseinsbzw. Gedankenspielfilm oder auch Mindgame-Movie , also einem Film, der die Realitätswahrnehmung des Protagonisten thematisiert und problematisiert und damit zeigt, wie unser Bewusstsein an sich funktioniert. 3 Dabei wurden Geist und Film, exemplarisch im Sinne eines Mindscreens , also der Visualisierung der Gedanken und somit des Bewusstseins einer Figur, schon immer zusammen gedacht. 4 Rückbeziehend auf den Psychologen und Filmtheoretiker Hugo Münsterberg lässt sich eine grundlegende Analogie von Geist und Film attestieren: „Viele der typischen Techniken des Kinos ahmen die Arbeitsweise des Geistes nach.“ 5 Inception macht ganz in diesem Sinne das eigentlich Unsichtbare sichtbar, das eigentlich Unbeobachtbare beobachtbar und offenbart damit eine grundlegende Leistung des Kunst- und Mediensystems. Dieses Unsichtbare bzw. Unbeobachtbare sind „psychische Phänomene wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Phantasie oder Emotion“. 6 Wir denken und träumen in Bildern und in Sprache, also, nochmals, dezidiert medial: „Kino und Bewusst- 1 Jahraus, „Inception“, S. 5. 2 Ebd. 3 Zum Bewusstseinsfilm vgl. Elsaesser, „The Mind-Game Film“. 4 Vgl. Kawin, Mindscreen . 5 Elsaesser und Hagener, Filmtheorie , S. 192. 6 Ebd., S. 193. Zwischen Traum, Trauma und Trauer - Christopher Nolans Inception 215 sein konvergieren [also] darin, dass dem Zuschauer durch ein bestimmtes Bild der Akt der Bildbetrachtung als solcher und damit seine Bewusstseinsvorgänge selbst bewusst werden“. 7 Thomas Elsaesser wirft sodann die filmwissenschaftliche Frage auf, wo eigentlich der Film spiele: „Vorne auf der Leinwand, entfernt vom Zuschauer? Oder ist er in seinem Kopf, auf seiner Netzhaut und in seinen Synapsen? “ 8 Filme sind oftmals weit mehr als eben nur Filme. Sie nehmen ein Eigenleben an, verankern sich tief ins kollektive Bewusstsein, sie entfachen Diskurse, ja bringen große Sehnsüchte und Träume hervor. Wie Elsaesser argumentiert, seien manche Filme (er bezieht sich insbesondere auf Kult- und Propagandafilme) „keine Filme mehr, die mit der Vorführung zu Ende sind, sondern sie heften sich den Zuschauern an, um Bewusstsein und Phantasie zu besetzen“. 9 Nicht zuletzt die im Internet kursierenden Theorien über Inception , die ganze Fangemeinschaften auf Trab halten, zeugen hiervon. Zu nennen sind auch Lifestyle-Trends und Strömungen, die Filme ins Leben rufen, zum Beispiel die Reiselust nach Thailand nach The Beach , aber auch die absurde Paradoxie, dass ein Film wie Findet Nemo , in dem es darum geht, einen Fisch zu befreien, zur Folge hat, dass sich Kinder weltweit einen genau solchen Clownfisch wünschen - im Aquarium, versteht sich. Ähnliches hat Black Swan evoziert, ein Film, der geradezu plakativ die Pathologie des Balletts zur Schau stellt und dennoch einen Ballettboom ausgelöst hat, als gäbe es nichts Schöneres als vom Spitzentanz blutende Zehen. Auch die Modeindustrie greift immer wieder Impulse aus der Filmwelt auf, sei es ein Feiern der lasziven Verführung durch Moulin Rouge auf den Laufstegen von Paris, ein modisches Comeback der Golden Twenties durch den Great Gatsby oder natürlich unvergessliche Stilimpulse durch die Kultserie Sex and the City . II. Inception als Vernetzungsmetapher Filmen kommt somit eine fundamentale verbindende Kraft zu - Gleichgesinnte, Fans, sind im gleichen Gedankenkreis vereint. Überhaupt, die Gruppe, das Gemeinsame, die Gemeinschaft, ja das Kollektiv, steht in Inception im Vordergrund, denn alleine träumen kann jeder, gemeinsam träumen jedoch geht hier nur durch eine Maschine - ein Medium also - an das sich alle anschließen und in tiefsten Schlummer versinken. Das hier abgebildete Szenenbild (vgl. Abb. 1) verdeutlicht dieses Gemeinsame: Mit einem Kabel sind alle Figuren (bis auf Arthur) miteinander per Maschine vernetzt. Alle sind im Traum versunken - die hierdurch entstehende Intimität wird ersichtlich, handelt es sich quasi um eine besondere Form des „miteinander Schlafens“. Der Film suggeriert, dass die Grenze zwischen Ich und anderen durch den bewusstseinsverbindenden Vernetzungsakt aufgehoben wird. Was entsteht ist eine Erotik des Geistes, die von bestechender Attraktivität ist, denn intellektuell näher kann man einander schlichtweg nicht sein. Inception kommuniziert hiermit das grundlegende Versprechen von Vernetzungsmedien, das genauso einfach wie unwiderstehlich ist, denn es heißt: Du bist nicht allein. 10 Die aufgrund der unüberwindbaren Abgeschlossenheit des Bewusstseins schmerzhafte Isolation des Ichs kann durch Vernetzungs- 7 Ebd., S. 194f. 8 Ebd., S. 190. 9 Ebd., S. 191. 10 Vgl. Otto, Vernetzung . 216 216 Daniela Otto medien scheinbar doch, zumindest illusionär , überwunden werden, ja das Versprechen von Vernetzungsmedien ist die Überwindung der oft quälenden Vereinzelung. 11 Vernetzungsmedien locken mit vielem, aber allem voran mit der Wiederkehr der verlorenen Gemeinschaft, ja der heilsamen Absicherung, dass das Ich doch nicht ewiglich einsam bleiben muss, sondern aller Ausdifferenzierungsprozesse zum Trotz in Harmonie verbunden sein kann. 12 Denn im Zuge der Moderne hat sich - und damit wird der fundamentale Schmerz der Einsamkeit vielleicht besser verständlich - das Individuum zunehmend aus stabilisierenden Verbundsystemen gelöst. 13 Religionsgemeinschaften lösen sich genauso auf wie Großfamilien, normal wird der Single in der Großstadt, der, so vollendet sich die Paradoxie, auf der Suche nach der Liebe ist (auch hier sei nochmals an die Serie Sex and the City erinnert, die dieses Paradoxon par excellence auf den Punkt bringt). Zudem setzt mit der Moderne ein intensiver Reflexionsprozess ein, der nicht frei von psychischen Folgeschäden ist: Was macht das Subjekt zum Subjekt? Das ist eine der bedeutendsten philosophischen Fragen überhaupt, und wenn ein Subjekt über sich selbst nachzudenken beginnt, nimmt es sich zwangsläufig in Differenz zu anderen wahr. Das Ich ist nicht ein anderer, das ist eine Grunderkenntnis, die in ihrem Kern geradezu hoffnungslos, ja deprimierend und pessimistisch erscheint, weil sie dem für die Psyche so bedeutenden Gefühl der Einheit diametral gegenübersteht. Verstärkt wird dies auch durch die moderne Psychoanalyse seit Freud, die unmissverständlich klargemacht hat, dass man sich nicht einmal selbst kennt, ja nicht einmal Herr im eigenen Hause ist - und wenn man sich schon selbst nicht versteht, wie soll man dann andere verstehen? 14 Moderne Denker wie Niklas Luhmann zögern nicht, auch die Idee des Konsens vehement zu negieren: Im Zuge der Systemtheorie, des radikalen Konstruktivismus sowie der Hirnforschung wird die Erkenntnis „Missverstehen ist das Normale, Verstehen die Ausnahme“ salonfähig. 15 All das trägt zu einem seelischen Urschmerz bei und jenes - nach Freud - „ozeanische Gefühl“ der Einheit, in der Ich und Welt noch nicht getrennt waren, scheint unwiederbringlich verloren zu sein - und wird dadurch nur umso erstrebenswerter. 16 Sich mit anderen verbunden zu fühlen, sich voll und ganz zu verstehen, ist nichts Geringeres als eine menschliche Ursehnsucht. Inception stellt nun exemplarisch zur Schau, inwiefern Vernetzungsmedien die sonst eigentlich unüberwindbare Kluft zwischen, so die systemtheoretischen Termini, Kommunikation und Bewusstsein schließen können. Medial induziert kommt es zumindest zur Illusion einer funktionierenden Verbundenheit. Dabei macht Inception auch klar, dass eine solche Nähe nicht jedem lieb ist. Unter der Prämisse einer erotischen Konnotation des Vernetzungsaktes wird das Eindringen in ein fremdes Bewusstsein schnell zum übergriffigen Akt, ja zum „ mindfuck “. Dies wird insbesondere in der Zugszene (vgl. Abb. 2) deutlich, die als mentale Vergewaltigungsmetapher gedeutet werden kann. So wehrt sich Fishers Unterbewusstsein vehement gegen den fremden Zugriff auf sein Bewusstsein durch das Team von Dom, der als gewaltvoller Zug und damit überdeutliches Sexualsymbol inszeniert wird. Phallisch-monströs durchdringt dieser Zug die 11 Zur Abgeschlossenheit des Bewusstseins vgl. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit . 12 Vgl. Miller Das wilde Netzwerk , S. 195. 13 Vgl. Beck, Risikogesellschaft , S. 115. 14 Vgl. Otto, Vernetzung , S. 16ff. 15 Roth, Fühlen, Denken, Handeln , S. 367. 16 Freud, Das Unbehagen in der Kultur , S. 11. Zwischen Traum, Trauma und Trauer - Christopher Nolans Inception 217 Szenerie, entfaltet sein gewaltvolles und destruktives Potential, das vor allem eines kommuniziert: Abwehr. Abb. 1: Der erotisch konnotierte Vernetzungsakt in Inception. Abb. 2: Die Zugszene als Vergewaltigungsmetapher. Auch das im Film omnipräsente Labyrinthmotiv lässt sich im Kontext der Vernetzung deuten. Das Labyrinth ist einerseits klassischer Bestandteil einer Heldenreise und hier zitiert Inception klar den Theseus-Mythos: So wie Theseus erst zum Held werden kann, indem er den im Labyrinth hausenden Minotaurus besiegt, so muss Dom ins Traumlabyrinth einsteigen, um dort seinen Dämon - Mal - zu besiegen. 17 Tatsächlich spricht vieles dafür, auch das digitale Netz als verwirrendes Labyrinth zu lesen. 18 Das Internet ist eben eines nicht mehr: linear. Es ist prinzipiell unabschließbar, hochgradig komplex (alles ist mit allem verbunden) 17 Zum labyrinthischen Erzählen vgl. Schmeling, Der labyrinthische Diskurs . 18 Vgl. Otto, Vernetzung , S. 152ff. 218 218 Daniela Otto und es bietet aufgrund unendlicher Verbindungen enormes desorientierendes Potential. Die Grenzverwischung zwischen virtuellem und wirklichem Raum nimmt zudem immer mehr zu, genauer gesagt: Eine Grenze zwischen online und offline ist kaum mehr aufrechtzuerhalten. In Inception erlangt eine solche Grenzverwischung - hier zwischen Traum und Wirklichkeit - eine besondere Bedeutung, wie exemplarisch in der Szene ersichtlich wird, in der Ariadne aus ihrer ersten Traumsitzung, aufgrund der unschönen Begegnung mit Mal sichtbar geschockt, erwacht. Doch insbesondere Dom, der dabei war, muss um Fassung ringen. Um zu überprüfen, ob er sich im Traum oder in der Wirklichkeit befindet, benutzt er bereits oben genanntes Totem - in seinem Fall einen Kreisel, der sich unaufhörlich dreht, solange er träumt und nur dann kippt, wenn er in der Wirklichkeit ist (vgl. Abb. 3). Das Bedürfnis nach Rücksicherung ist in Inception von höchster Relevanz und es ist selbstverständlich kein Zufall, dass Ariadne einen solch plakativen sprechenden Namen hat: Sie ist es, die Dom immer wieder den rettenden Faden auswirft, ohne den er sich zweifelsohne im unendlichen Traumlabyrinth verlieren würde. Abb. 3: Dom versichert sich mit seinem Totem, ob er sich im Traum oder in der Wirklichkeit befindet. Inception spielt jedoch nicht nur inhaltlich, sondern auch narrativ mit dem Labyrinth: Durch die labyrinthische Konzeption erlangt der Film performativen Charakter - so wird nicht nur der Selbstverlust des Helden auf der Inhaltsebene thematisiert, sondern auch der Rezeptionseffekt labyrinthischer Erzählungen liegt in der Desorientierung des Zuschauers. Nicht zuletzt geht es beim labyrinthischen Erzählen stets um Selbstfindung durch Selbstverlust, das heißt, im Moment der Desorientierung, ja des Taumels, liegt ein großer, ganz im Sinne einer Initiation identitätsstiftender, Mehrwert - natürlich auch ein filmwissenschaftlicher Mehrwert, denn das Interpretationspotential des Filmes ist nicht zuletzt aufgrund solcher Unsicherheiten (und seiner schieren Unendlichkeit) enorm. Dies wird besonders am Schluss deutlich, wenn der Zuschauer - vergeblich - auf die sicherheitsbringende Funktion des Totems wartet. Befindet sich Dom am Ende im Traum oder in der Wirklichkeit? Der Film lässt es offen und wird dadurch nur umso interessanter, ja verdient dadurch umso mehr seinen Platz in der Liga der großen Werke der Filmgeschichte. Denn der nicht fallende (nur leicht wackelnde) Kreisel ist letztlich noch eine weitere, finale Huldigung an das im Kino und das durch Filme zelebrierte Träumen. Im Kunst- und Mediensystem darf, muss, ja soll geträumt werden, geträumt mit Zwischen Traum, Trauma und Trauer - Christopher Nolans Inception 219 unaufhörlicher Verve, mit Mut und Trotz gegenüber einer Wirklichkeit, die nicht nur oftmals enttäuschend, sondern aufgrund ihres mangelnden Zaubers, ihrer radikalen Härte und Gewalt auch seelisch erschütternd sein kann. Der finale Schnitt, der uns die Klarheit über den Traumbzw. Wachzustand des Helden verwehrt, ist ein augenzwinkernder Verweis auf die Unendlichkeit des Träumens, das neue Welten eröffnet, so wie es das Kino seit jeher mit seiner unaufhaltbaren Hingabe an die Phantasie getan hat. Kurz: Der Kreisel darf am Ende nicht fallen, so wie die Traummaschine Film niemals aufhören darf zu laufen. III. Liebe als (traumhafte) Geschichte Welcher Traum aber, ja welches dem Menschen, oder mehr noch: der Menschheit, innewohnende Traumbild, ist stärker als das der Liebe? Traum und Liebe sind seit jeher nicht zu trennen. Der Theologe und Tiefenpsychologe Eugen Drewermann formuliert diesen konstitutiven Zusammenhang wie folgt: „[I]n der Liebe erscheint der andere als lebende Traumwirklichkeit einer lebenslangen Suche und Wanderschaft.“ 19 Alleine die Tatsache, dass kaum ein Film ohne Liebe auskommt und die erfolgreichsten Filme aller Zeiten große Liebesfilme sind, ob Avatar oder Titanic , scheint dies zu bestätigen. Und so kann Inception nicht nur als filmtheoretisches Manifest gefeiert, sondern auch als große Abhandlung darüber gelesen werden, inwiefern Liebe durch das (Fort-) Erzählen unsterblich wird, ja Liebe immer auch ein narratives Konstrukt, eine Geschichte, ein gemeinsamer Traum ist. Film, Traum und Liebe ergeben somit eine hochattraktive, interdependierende Trias, die nun näher analysiert wird. Wie bereits erläutert, fungiert das eigentlich Unmögliche, das gemeinsame Träumen, als Handlungskern von Inception und kann, um noch einmal auf die vielfältigen metaphorischen Lesarten zurückzukommen, als exemplarische Kinometapher gelten: Dort, im abgedunkelten Raum, der mutterarchetypischen Höhle, ist das kollektive Träumen mit „weit geschlossenen Augen“ möglich. 20 Jean-Louis Baudrys hat dies mit seiner Analogisierung von Höhle und Kino bzw. von Höhle und Uterus herausgearbeitet. Laut Baudry vermag das Subjekt aufgrund einer cinematisch evozierten Regression neue Ganzheit zu erlangen: „Das Kino transportiert uns in die Kindheit zurück, spielt das ursprüngliche Zerfallen der imaginären Ganzheit der Welt des Kindes nach und imitiert so den Prozess der Subjektformation.“ 21 Baudrys These, dass der Kinosaal mit seiner dunklen Behaglichkeit jenen Mutterleib zitiert, in den wir uns - ganz im Sinne Freuds - ödipal zurücksehnen, erweist sich im Kontext des kollektiven Träumens als relevant und anschlussfähig. Bedenkt man erneut, wie intim das gemeinsame Träumen in Inception ist - die Figuren schlafen buchstäblich miteinander, denn sie sind alle wie mit einer Nabelschnur an eine Traummaschine angeschlossen -, so lassen sich hieraus Rückschlüsse auf den Kinobesuch ziehen - denn nicht umsonst ist das Kino ein exemplarischer Ort des ersten Dates, der verstohlenen Küsse, ja der körperlichen Anbahnungen. Die gemeinsame Seherfahrung affiziert das Innerste, das Unbewusste, das Es. Wo, wenn nicht im Kino, ist Platz für Wünsche, Sehnsüchte und Begierden? Gerade aber vor dem Hintergrund der bereits angesprochenen Abgeschlossenheit des Bewusstseins wird das Teilen dieser Wünsche zum symbolischen Intimakt - das Bewusstsein ist letztlich weit privater, da unzugänglicher, als der 19 Drewermann, Psychoanalyse und Moraltheologie II, S. 26. 20 Scheffer, „Medien als Passion“. 21 Baudry, „Das Dispositiv“, S. 391. 220 220 Daniela Otto Körper. Dabei ist dieses Teilen von (Kino-)Träumen nicht zuletzt ein Teilen von Geschichten: von Geschichten, die den Alltag übersteigen, von Geschichten, die das Mögliche - oder eben Unmögliche - aufzeigen. Denn Medien beziehen genau hierdurch, durch eine fundamentale Lebenssteigerung, ihren Reiz, dem wir immer wieder aufs Neue erliegen. 22 Mit der omnipräsenten Suchtmetaphorik (wie Junkies an der Nadel hängen einige Figuren an der Traummaschine) spielend, reflektiert Inception genau dies: Das Leben erlangt erst durch einen narrative turn jenen Mehrwert, den es braucht, um lebenswert zu sein. Inception ist hier jedoch weit mehr als nur eine Kinometapher und dies wird insbesondere ersichtlich, wenn man auf den Kernsatz, ja die narrative Quintessenz des Filmes zurückgreift: Nichts sei, so Dom, so widerstandsfähig, so resistent wie ein Gedanke : „Wenn ein Gedanke einen Verstand erstmal infiziert hat, ist es fast unmöglich, ihn zu entfernen“. 23 Ein gemeinsamer Traum und damit ein geteilter Gedanke avanciert dadurch zum ultimativen Kitt, der zwei (oder mehr) Individuen verbindet, ja mehr noch: Die Erotik des Träumens, die Erotik des gemeinsamen Denkens, die Erotik der gemeinsamen Geschichte wird evident und dies verleiht dem Akt des Erzählens einen sinnlichen Nimbus. Anders, und auf die vielleicht prägnanteste märchenhafte Urszene des Erzählens überhaupt zurückzugreifen: So wie Scheherazade in Tausendundeiner Nacht nicht nur um ihr Leben, sondern auch für die Liebe erzählt (sie bringt während der 1001 Nächte mehrere Kinder zur Welt), so ist der Erzählakt an sich stets durch Lust geprägt - die Lust am Leben, am Überleben, am Fortleben durch das Erzählen, das per se wiederum eine Nähe zur körperlichen Fortpflanzung aufweist. 24 Wer keine Kinder hat, muss nicht zwangsläufig aussterben. Unsterblichkeit erlangen auch jene Helden, deren Geschichten tradiert und immer wieder von Neuem mit Verve erzählt werden. Indes, wenn Novalis in romantischer Manier davon schwärmt, dass Kinder sichtbar gewordene Liebe und Hoffnung seien, so zeigt sich auch hier ein im Kinderwunsch schlummerndes Narrativ einer Vervollkommnung der Paarliebe und einer besseren Zukunft. 25 Kurz: Die Liebe in all ihren Formen kommt niemals ohne das Erzählen aus, schon alleine deswegen nicht, weil Literatur selbst „ein[] die Liebe (mit-)konstituierende[s] Medium[]“ ist und immer schon war. 26 So attestiert Roman Giesen: „Die Erzählung ‚der Geschichte der Liebe‘ ist also ihrerseits durch eine unauflösbare Durchdringung von Geschichte (history) und ihrer (Nach-)Erzählung (story) beschrieben“. 27 Und so lässt sich nun hier der Bogen zu jenem Verständnis von Liebe schlagen, wie es Robert J. Sternberg vorschlägt: Liebe funktioniert laut dem amerikanischen Psychologen immer als Geschichte. Geliebt wird nach kulturell verankerten Drehbüchern und „wir neigen [dazu], uns in Menschen zu verlieben, deren Geschichten mit unseren identisch sind oder ihnen gleichen, deren Rollen in diesen Geschichten aber die unseren ergänzen.“ 28 Dabei affiziert dies unser Innerstes. „Jedem von uns“, so Sternberg, „ist eine ideale Geschichte über die Liebe zu eigen, und sie kann das Wichtigste sein, was wir über uns erfahren.“ 29 Anders formuliert und 22 Vgl. Scheffer, „Medien als Passion“. 23 Nolan, Inception , TC [02: 48-03: 14]. 24 Vgl. Anz, Literatur und Lust . 25 Vgl. Novalis, Schriften , S. 155. 26 Giesen, Zur Medialität von Liebe , S. 56. 27 Ebd., S. 61. 28 Sternberg, Warum der Gärtner nie auf die Prinzessin hereinfällt , S. 10. 29 Ebd., S. 19. darauf zurückkommend, dass auch Träume Geschichten sind: Wir verlieben uns in jene, mit denen wir denselben Traum teilen können und zu diesem Traum vorzudringen, ihn in der eigenen seelischen Tiefe, der uns ureigenen Herzensweite auszumachen, ihn im Idealfall real mit einem Partner auszuleben , ist ein hochgradig identitätsstiftender, wenn nicht der identitätsstiftende Prozess schlechthin. Und Träumer gibt es viele: Die großen Heldinnen und Helden der Weltliteratur und Filmgeschichte, die bis zur Selbstaufgabe lieben, kennen und bewundern wir. Ob Romeo und seine Julia, Anna Karenina oder Jack Dawson, immer besticht die innere Größe und Bereitschaft dieser Figuren, alles für die Liebe zu tun, ja die Liebe als jenen Wert zu setzen, den nichts sonst jemals erreichen kann. Insbesondere im Hinblick auf den gesellschaftlichen Wandel der Liebe mögen solche romantischen Extremformen heute oft als pathologisch erscheinen, ihrem Faszinationspotential tut dies jedoch keinen Abbruch. 30 Auch Dom ist ein solch radikal Liebender - und seine eigene Form der (abgelehnten) Traumabewältigung (und schließlich auch Traumbewältigung) ist ein starkes, faszinierendes Statement gegen die zeitgenössische romantische Beliebigkeit. Denn Dom will vor allem eines nicht: aufhören, den gemeinsamen Traum mit Mal zu träumen. IV. Die Ästhetik des Schmerzes Die in Inception entworfene Liebesdramaturgie ist zunächst durch eine an Masochismus grenzende seelische Selbstverletzung gekennzeichnet, ja das innere desaströse Leiden, das nur die Liebe hervorzubringen vermag (man denke an die Verzweiflung rasend Liebender wie Anna Karenina), wird geradezu repetitiv zelebriert. Genau genommen handelt es sich um eine pervertierte Form der unsterblichen Liebe: Dom hält seine tote Frau in seinen Träumen und folglich durch das Forterzählen der gemeinsamen Geschichte am Leben. Mal ist tot, doch sie lebt weiter als Traumfigur. Inception liefert mit einem Helden, der sich im Traum an seine verstorbene Frau klammert, die Antwort auf die Frage, warum das Loslassen eines geliebten Partners (wider jede Vernunft) oftmals so schwerfällt: weil zuweilen der Schmerz alles ist, was bleibt. Inception inszeniert damit eine exemplarische Ästhetik des Schmerzes und leistet damit das, was nur das Kunst- und Mediensystem leisten kann: Der Film bietet Trost für jene, die sich nicht mit den gesellschaftlichen Regeln abfinden können, dass Trauerprozesse innerhalb eines gewissen Zeitfensters abgeschlossen sein müssen. Heute gibt es Therapeuten und Medikamente, die möglichst schnell für eine reibungslose Rückkehr in das funktionierende Gesellschaftssystem sorgen sollen. Was aber, wenn das scheitert? Inception ist ein solch starker Liebesfilm, weil er ein Szenario durchspielt, das nur wahrhaft Liebende kennen: die radikale Verzweiflung darüber, dass ein Leben ohne den geliebten Partner eben nicht einfach möglich ist. Dieses Verzweifeln und Hadern darf innerhalb des geschützten Kunstrahmens sein, es erlangt eine ästhetische Existenzberechtigung, wird sensibel durchgespielt und von Inception meisterhaft inszeniert. Dabei sind die Begegnungen Doms mit seiner Frau von einer Stimmung des Unheimlichen gekennzeichnet (die eigentlich bekannte Frau wird zusehends dämonischer) und über allem steht das Gefühl der unfassbar großen, ja kaum erträglichen psychischen Qual: Mal ist tot und 30 Vgl. Illouz, Warum Liebe weh tut , S. 9ff. Zwischen Traum, Trauma und Trauer - Christopher Nolans Inception 221 222 222 Daniela Otto wird nie wieder lebendig werden. Indem Dom dieses schmerzhafte Aufeinandertreffen immer wieder evoziert, unterbindet er - bewusst und freiwillig - seinen eigenen Trauerprozess. Die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross hat mit ihrer Theorie der fünf Trauerphasen aufgezeigt, dass zumindest die meisten Trauerprozesse abschließbar sind. Diese sind: Nichtwahrhaben Wollen (denial) Zorn (anger) Verhandeln (bargaining) Depression und Leid (depression and grief) Zustimmung (acceptance) 31 Dom jedoch widersetzt sich der Abschließbarkeit seines Leidens vehement, indem er dezidiert nicht loslassen kann und vielmehr noch: nicht loslassen will. Der Kreisel, der sich nicht zu drehen aufhört, wenn sich Dom im Traum befindet, wird somit zur Metapher seines eigenen Traumas: Er wiederholt und wiederholt und wiederholt dieses, ist darin gefangen, er dreht sich im Kreise und findet - das omnipräsente Labyrinthmotiv aufgreifend - den Ausweg nicht. Er verliert sich nicht nur im Traum, sondern vielmehr im Trauma, ja ist zwischen Traum, Trauer und Trauma gefangen. Warum tut er das? Mit dieser Fragestellung wird Inception zum Lehrstück über die Liebe - und damit, nochmals, zu einem großen Liebesfilm -, denn sowohl Dom als auch Mal sind derart fest aneinandergebunden, dass sie jene ideale romantische Liebe empfinden, die tatsächlich den Tod zu überwinden vermag. Es erscheint für Dom besser, Schmerz zu spüren, als Mal gar nicht mehr zu spüren. Die Ästhetik des Schmerzes hat ihren eigenen Reiz und wirft eine unorthodoxe Frage auf: Ist Dom um seinen inneren Schmerz vielleicht doch zu beneiden? Er kann nicht loslassen, auch nicht den Schmerz, weil dieser alles ist, was ihm von seiner Frau bleibt. Und weil die Liebe zu ihr so groß sein muss, erhält dieser Schmerz eine seltsam attraktive Dimension: Wenn der Schmerz nur ein fahler Abglanz der ursprünglichen Liebe ist, was muss diese Liebe dann besonders, einmalig, ja wahrhaftig gewesen sein? Und ja, um eine solche Liebe ist dieser Held tatsächlich zu beneiden. Nicht zuletzt durch Leonardo DiCaprios Performance als Romeo in Baz Luhrmanns Romeo + Julia erlangt diese Liebe eine assoziative Verortung im emotionalen Maximalbereich: Tiefgehender, allumfassender als Shakespeares Helden lässt sich nicht lieben. Und die ewige Liebe wird durch den Tod erst endgültig besiegelt bzw. es ist nichts dramatischer als eine Liebe im Angesicht des Todes. V. Inception als „Zeugungsmetapher“ 32 Doch nicht nur Doms Liebe zu Mal ist stärker als der Tod, auch Mals Liebe zu Dom zeichnet sich durch eine Radikalität aus, die genauso schockierend wie faszinierend ist. Doms Inception, also das Einpflanzen eines Gedankens in das Bewusstsein seiner Frau, lässt sich nicht nur als hochgradig intimer intellektueller Akt, sondern auch als ultimative Zeugungsmetapher lesen: Mal trägt den Gedanken wie ein geistiges Kind aus, und einmal gereift, kann sie es nicht loslassen, oder, um in der Metaphorik zu bleiben: nicht abtreiben. So wie sich Dom 31 Vgl. Kübler-Ross, On Death & Dying , S. 51ff. 32 Jahraus, „Inception“, S. 6. an Mal klammert, klammert sich Mal an dieses gemeinsame Produkt, entstanden aus der Verschmelzung von männlicher Idee und weiblichem Nährboden (ein Rückgriff auf die konventionelle Trennung von männlich konnotiertem Geist und weiblich konnotiertem Körper). So tragisch es also anmutet, so fatal die Tatsache ist, dass Mal den eingepflanzten Gedanken nicht loslassen kann, so sehr ist dieses Festhalten doch auch ein ultimativer Liebesbeweis: Das gemeinsame Kind als symbolisches Produkt der Liebe wird nicht aufgegeben, die Mutter opfert sogar ihr eigenes Leben dafür. Abb. 4: Der „Tatort“: Mals Elternhaus. Es ist in diesem Kontext bezeichnend, dass die im Film vorgenommene Inception mit Bildern konventioneller Geschlechterzuschreibungen inszeniert wird. Im Limbus bauen Mal und Dom eine ganze Stadt auf, deren Architektur geradezu irritierend kalt ist. Ein sich von dieser kühlen Ästhetik auffallend abhebendes, und zumindest peripher Wärme ausstrahlendes Haus (Mals nachgebautes Elternhaus, vgl. Abb. 4), wird zum Schauplatz des ‚Eingriffs‘: In einem Safe in einem sich darin befindenden Puppenhaus (was an das Prinzip russischer Matrjoschka-Puppen erinnert) sperrt Mal den Gedanken weg, dass der Limbus nicht real sei. Dom wiederum dringt in diesen Intimraum ein, um diesen Gedanken umzukehren. Der in ein Puppenhaus eingepflanzte Gedanke provoziert die Assoziation mit einem Kind - und Mal, die Dom im Traum demonstrativ als erotische Femme Fatale begegnet, erscheint in dieser Szene mütterlicher denn je. Das geistige Kind ist gezeugt, doch seine Geburt hat verheerende Folgen, davon handelt dieser Film. Inception hat Filmgeschichte geschrieben und ist doch, zumindest was seine Liebesdramaturgie angeht, jenseits des Zeitgeists zu verordnen: Die Liebe der Protagonisten beweist in Zeiten der digitalen Beliebigkeit, in derer man sich (potentieller) Partner - exemplarisch auf Tinder - per einfacher Wischbewegung entledigen kann, eine klare Gegenhaltung. 33 Die Liebe in Inception ist explizit nicht austauschbar, sie ist weitaus mehr als nur sexuelles Verlangen, ja sie ist ein tief im Unbewussten verwurzelter gemeinsamer Traum. Und kaum etwas ist 33 Vgl. Otto, Lieben, Leiden und Begehren , S. 4ff. Zwischen Traum, Trauma und Trauer - Christopher Nolans Inception 223 224 224 Daniela Otto schöner als das Träumen, das weiß jeder, der gerne ins Kino geht - und dabei vielleicht mit seiner Begleitung Händchen hält. Filmographie Inception . Produktion: Warner Brothers, USA und Großbritannien, 2010. Regie: Christopher Nolan. Drehbuch: Christopher Nolan. Kamera: Wally Pfister. Musik: Hans Zimmer. Darsteller: Leonardo DiCaprio (Dominick Cobb), Marion Cotillard (Mal), Ken Watanabe (Saito), Joseph Gordon-Lewitt (Arthur), Ellen Page (Ariadne), Tom Hardy (Eames), Cillian Murphy (Robert Fisher Jr.), Tom Berenger (Peter Browning), Michael Caine (Miles), Dileep Rao (Yusuf), Lukas Haas (Nash), Pete Postlethwaite (Maurice Fisher). Bibliographie Anz, Thomas, Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen . München 2002. Baudry, Jean-Louis, „Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks“. In: Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard . Hg. von Claus Pias, Joseph Vogl, Lorenz Engell, Oliver Fahle und Britta Neitzel. Stuttgart 1999, S. 381-405. Beck, Ulrich, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne . Frankfurt a. M. 1986. Drewermann, Eugen, Psychoanalyse und Moraltheologie. Band. 2: Wege und Umwege der Liebe . Mainz 1991. Elsaesser, Thomas, „The Mind-Game Film“. In: Puzzle Films. Complex Storytelling in Contemporary Cinema . Hg. v. Warren Buckland. Malden 2009, S. 13-41. Elsaesser, Thomas und Malte Hagener, Filmtheorie zur Einführung . Hamburg 2007. Freud, Sigmund, Das Unbehagen in der Kultur . Stuttgart 2010. Giesen, Roman, Zur Medialität von Liebe . Würzburg 2014. Illouz, Eva, Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung . Berlin 2011. Jahraus, Oliver, „Filmmetapher - Bewusstseinsmetapher. Zu Christopher Nolans Meisterwerk Inception“. In: Medienobservationen . Hg. von Oliver Jahraus und Bernd Scheffer. München 2010. Kawin, Bruce F., Mindscreen. Bergman, Godard, and First-Person Film . Princeton 1978. Kübler-Ross, Elisabeth, On Death & Dying. What the Dying Have to Teach Doctors, Nurses, Clergy & Their Own Families . New York 2014. Miller, Daniel, Das wilde Netzwerk. Ein ethnologischer Blick auf Facebook . Berlin 2012. Novalis, Schriften . Hg. v. Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel. Berlin 1837. Otto, Daniela, Lieben, Leiden und Begehren. Wie Filme unsere Beziehungen beeinflussen . Berlin 2017. —, Vernetzung. Wie Medien unser Bewusstsein verbinden . Würzburg 2015. Roth, Gerhard, Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen . Frankfurt a. M. 1994. —, Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert . Frankfurt a. M. 2001. Scheffer, Bernd, „Medien als Passion“. In: Medienobservationen . Hg. von Oliver Jahraus und Bernd Scheffer. München, 2004. Schmeling, Manfred, Der labyrinthische Diskurs. Vom Mythos zum Erzählmodell . Frankfurt a. M. 1987. Sternberg, R. J., Warum der Gärtner nie auf die Prinzessin hereinfällt. Das verborgene Drehbuch unserer Beziehungen . München 2002. Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Nolan, Inception , Screenshot, TC [1: 37: 53] Abb. 2: Nolan, Inception , Screenshot, TC [1: 05: 31] Abb. 3: Nolan, Inception , Screenshot, TC [16: 07] Abb. 4: Nolan, Inception , Screenshot, TC [2: 02: 22] Zwischen Traum, Trauma und Trauer - Christopher Nolans Inception 225 Beiträgerinnen und Beiträger 227 Beiträgerinnen und Beiträger Prof. Dr. Günter Butzer lehrt Vergleichende Literaturwissenschaft/ Europäische Literaturen an der Universität Augsburg. Arbeitsschwerpunkte: Kulturelles Erinnern und Vergessen, literaturwissenschaftliche Symbolforschung, physiologische Poetik, Theorie der inneren Rede, Medienkulturen des Jenseits. Veröffentlichungen: (Hg., mit Bettina Bannasch) Übung und Affekt. Formen des Körpergedächtnisses , Berlin/ New York 2007; Soliloquium. Theorie und Geschichte des Selbstgesprächs in der europäischen Literatur , München 2008; (Hg., mit Joachim Jacob) Berührungen. Komparatistische Perspektiven auf die frühe deutsche Nachkriegsliteratur , München/ Paderborn 2012; (Hg., mit Hubert Zapf) Große Werke des Films , Bd. 1, Tübingen 2015; (Hg., mit Hubert Zapf) Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven , Bd. 7: Literatur und die anderen Künste , Tübingen 2018; (Hg., mit Joachim Jacob) Metzler Lexikon literarischer Symbole , 3., erw. Aufl., Stuttgart/ Weimar 2019 [i.V.]. Sebastian Feil, M.A.- ist am Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Augsburg tätig. M.A. 2014 in Vergleichender Literaturwissenschaft, Englischer und Amerikanischer Literatur und Philosophie mit einer Magisterarbeit zu den Problemen kontextueller Interpretation. Zu seinen besonderen Interessen zählen die allgemeine Semiotik, die allgemeine Hermeneutik und die Begriffs- und Ideengeschichte. Prof. Dr. Jörn Glasenapp Studium der Germanistik, Amerikanistik und Anglistik in Göttingen; 1999 Promotion; 2006 Habilitation; seit 2010 Inhaber des Lehrstuhls für Literatur und Medien an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Film, Fotografie, Intermedialität, Adaptionsforschung, Visual History, Kulturtheorie, Sigmund Freud. Monografien: ‚Prodigies, anomalies, monsters‘: Charles Brockden Brown und die Grenzen der Erkenntnis , Göttingen: Wallstein 2000; Die deutsche Nachkriegsfotografie: Eine Mentalitätsgeschichte in Bildern , Paderborn 2008; Abschied vom Aktionsbild: Der italienische Neorealismus und das Kino der Moderne , München 2013; Wim Wenders: „Paris, Texas“ , München 2019. Dr. phil. Johanna Hartmann ist derzeit Research Fellow an der University of Texas in Austin, wo sie zum amerikanischen Kurzschauspiel in der Moderne forscht. In ihrer Dissertation untersuchte sie die ästhetischen und poetologischen Funktionen von Visualität im Romanwerk Siri Hustvedts ( Literary Visuality in Siri Hustvedt’s Works: Phenomenological Perspectives, Würzburg 2016); siehe auch Zones of Focused Ambiguity in Siri Hustvedt’s Works (hg. mit Christine Marks und Hubert Zapf, Berlin/ New York 2016; ). Weitere Forschungsschwerpunkte sind das amerikanische Drama vom 19. bis 228 Beiträgerinnen und Beiträger zum 20. Jahrhundert (e.g. Tragedy in American Drama and Theater , Sonderausgabe des Journal of American Drama and Theatre , 2019), literarische Kurzformen, Literatur und Politik (hg. mit Hubert Zapf, Censorship and Exile , Göttingen 2015) und die Darstellung von Räumlichkeit in Literatur und bildlichen Medien. Dr. phil. Ingo Kammerer ist Akademischer Rat am Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Augsburg. Forschungsschwerpunkte: Filmästhetik und -didaktik, Literatur- und Sprachdidaktik. Veröffentlichungen (in Auswahl): Mediale Sichtweisen auf Literatur (Mhg., 2008), Film - Genre - Werkstatt. Textsortensystematisch fundierte Filmdidaktik im Fach Deutsch (2009), Filmanalyse im Deutschunterricht: Spielfilmklassiker (2012), Dokumentarfilm im Deutschunterricht (Mhg., 2014), Art Hitchcock. Angstgelächter in der Zelle (2019), diverse Aufsätze. Matthias Krumpholz, M.A. ist seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft/ Europäische Literaturen an der Universität Augsburg. Studium der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Augsburg. Von 2011 bis 2013 war er als Stipendiat der Robert Bosch Stiftung Lektor an der Weltsprachenuniversität in Taschkent/ Usbekistan, im Zuge dessen Teilnahme an „Bildungsmanagement an Hochschulen in Osteuropa und China“ der Universität Hildesheim. Derzeit Promotion zum Thema „Spieltheorie in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und der narrativen Serie“. Seine Schwerpunkte bilden Gegenwartliteratur, Kulturtheorie und Literaturtheorie des 20./ 21. Jhdts. Sein gegenwärtiges Interesse bildet die Wechselwirkung von Literatur und Politik und deren Transformation in ästhetische Konzepte. Jüngst ist der Aufsatz „Erich Mühsam - Anarchist und Humanist“ (2018) erschienen. Dr. phil. Daniela Otto ist promovierte Literaturwissenschaftlerin. Sie arbeitet als Journalistin, Texterin und Dozentin für Literatur-, Film- und Medienwissenschaften. Ihre Dissertation schrieb sie zu dem Thema Vernetzung. Wie Medien unser Bewusstsein verbinden . Von ihr erschienen Digital Detox. Wie Sie entspannt mit Handy & Co. leben und Lieben, Leiden und Begehren. Wie Filme unsere Beziehungen beeinflussen. Hollywoods geheime Liebesbotschaften entschlüsselt . Julia Rössler, M.A. ist seit Oktober 2018 wissenschaftliche Mitarbeitern am Lehrstuhl für Amerikanistik der Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt. Sie studierte Anglistik, Amerikanistik und Ethik der Textkulturen an der Universität Augsburg. Von 2015 bis 2017 war Julia Rössler Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Amerikanistik an der Universität Augsburg und im Anschluss am internationalen Doktorandenkolleg MIMESIS der Ludwig-Maximilians-Universität München beschäftigt. Derzeit Promotion zum Thema Mimesis in der amerikanischen und britischen Gegenwartsdramatik. Aktuelles Publikationsprojekt ist ein Sonderheft zur Denkfigur des Tragischen im Beiträgerinnen und Beiträger 229 amerikanischen Gegenwartsdrama (Hg., mit Johanna Hartmann), Journal of American Drama and Theatre , 2019. Dr. Heike Schwarz Studium Amerikanistik, Politik, Philosophie sowie Staats- und Völkerrecht an der Universität Augsburg und der University of Reading (UK). Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Amerikanistik und Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Augsburg. Schwerpunkte der Forschung: Darstellungs- und Wahrnehmungsformen von psychiatrischen und neuro-degenerativen Diagnosen und dissoziativen Syndromen in Film und Literatur. Veröffentlichungen in den Bereichen Dis/ Ability Studies, Medical Humanities, Environmental Humanities, „Ecopsychology“, EcoGothic und Graphic Novel Studies, z.B. Beware of the Other Side(s): Multiple Personality Disorder and Dissociative Identity Disorder in American Fiction . Herausgeberschaften Border Stories: Narratives of Peace, Conflict and Communication (2018) und Madness in the Woods: The Ecological Uncanny in Literature and Film (2019). Dr. Rebecca Sommer studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Anglistik an der Universität Augsburg. Im Anschluss promovierte Sie am Lehrstuhl Komparatistik. Während der Promotion verbrachte Sie ein Jahr am German Department und war Teil des Film Studies Program der University of Pittsburgh (USA). Ihre Themenschwerpunkte sind Film, Intermedialität und Gedächtnisforschung. Prof. Dr. Hubert Zapf ist Amerikanist an der Universität Augsburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind amerikanische Literatur und Kultur, Kulturökologie, Literaturtheorie, Environmental Humanities. Ausgewählte Publikationen: Literatur als kulturelle Ökologie , 2002; Amerikanische Literaturgeschichte (Hg.), 3. Aufl., Stuttgart 2010; Handbook of Ecocriticism and Cultural Ecology (Hg.), 2016; Literature as Cultural Ecology: Sustainable Texts , Bloomsbury, 2016; “Ecological Thought in Europe and Germany.” A Global History of Literature and Environment (Hg. John Parham und Louise Westling) Cambridge 2017: 269-285; Ecological Thought in German Literature and Culture (Mit-Hg.). Rowman & Littlefield, 2017; “Cultural Ecology and the Sustainability of Literature.” Cultural Sustainability (Hg. Torsten Meireis und Gabriele Rippl). Routledge, 2019: 140-152. ISBN 978-3-7720-8674-8 www.narr.de Über 120 Jahre nach den ersten öffentlichen Vorführungen ist der Film längst als eigenständige Kunst anerkannt, die ihre „Großen Werke“ ebenso hervorgebracht hat wie die Literatur, die Musik oder die bildende Kunst. Über die Epochen- und Genregrenzen hinweg hat sich ein Kanon von Werken herausgebildet, der als Bezugsgröße für die Einordnung und Beurteilung von Filmen fungiert, der aber auch immer wieder aufs Neue befragt und revidiert werden muss. Die Reihe „Große Werke des Films“, die mit diesem Band fortgeführt wird, will diesen dynamischen Prozess der Kanonbildung, -fortschreibung und -revision mitgestalten, indem sie etablierte Filme neu interpretiert und aktuelle Filme für den Kanon vorschlägt. Der nun vorliegende zweite Band der Reihe präsentiert Werke von Robert Wiene (Das Kabinett des Dr. Caligari), Tod Browning (Freaks), Orson Welles (Citizen Kane), Howard Hawks (Rio Bravo), Tom Tykwer (Lola rennt), David Fincher (Fight Club), Sam Mendes (American Beauty), Béla Tarr (Die Werckmeisterschen Harmonien), Ethan & Joel Coen (No Country for Old Men) und Christopher Nolan (Inception).
