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Heiligkeit und Gottes Beistand

Ein moraltheologischer Blick auf die Ethikvorlesungen und die Religionsschrift Immanuel Kants

0513
2019
978-3-7720-5675-8
978-3-7720-8675-5
A. Francke Verlag 
Johannes Reich

An Kant spalten sich in der katholischen Moraltheologie die Geister: Den einen gilt er als Galionsfigur einer willkommenen Ethik der Autonomie, den anderen als Vorläufer einer Infragestellung der theologischen Ethik. Die Studie bringt in diese Diskussion einen weiteren Aspekt ein, indem sie rekonstruiert, wie Kant die Relevanz der christlichen Religion für das moralische Selbstverständnis des Menschen bestimmt. In der Analyse der Religionsschrift und der neueren Quellen zu den Ethikvorlesungen zeigt sie auf, dass "Religion" für Kant nicht nur für die Lehre vom höchsten Gut, d. h. bezüglich des Resultats der moralischen Praxis, von Bedeutung ist. Vielmehr werfen auch die Mängel beim Streben nach moralischer Vollkommenheit ("Heiligkeit") für ihn die Frage auf, inwiefern der Mensch die Unterstützung durch einen göttlichen "Beistand" benötigt. Die Studie kommt am Ende der Textanalysen zu dem doppelten Ergebnis, dass Kants moralphilosophische Gnadenlehre durch innere Aporien belastet ist und markante Differenzen zu theologisch-ethischen Grundbestimmungen der Gnade aufweist.

<?page no="1"?> Heiligkeit und Gottes Beistand <?page no="2"?> Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie Herausgegeben von Franz-Josef Bormann und Johannes Brachtendorf Band 27 <?page no="3"?> Johannes Reich Heiligkeit und Gottes Beistand Ein moraltheologischer Blick auf die Ethikvorlesungen und die Religionsschrift Immanuel Kants <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1432-4709 ISBN 978-3-7720-8675-5 (Print) ISBN 978-3-7720-5675-8 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0095-5 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 5 Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1 Kants Ethik und die zeitgenössischen moraltheologischen Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1.2 Die Dominanz der Autonomie-Problematik in der späteren Kantrezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.3 Die Vorgehensweise und die Intentionen der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen . . . . . . 33 2.1 Eine späte Schrift Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.2 Die Religionsschrift und die Lehre vom höchsten Gut . . . . . . . . . . . . . . 41 2.3 Fragen an Kants Theorie des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2.4 Die Aufmerksamkeit für die kantische Gnadenlehre . . . . . . . . . . . . . . . 70 2.5 Kant als Übersetzer des Christentums? - Gemeinwesen und Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2.6 Das Profil der hier verfolgten Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.1 Kants Vorlesungen zur Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3.2 Gott und Moralbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3.3 Gott und das summum bonum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3.4 Des Menschen Unheiligkeit und Gottes Beistand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 3.5 Gottes Beistand und die Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 3.6 Fazit: Die moralisch-religiöse Beistandslehre in den Vorlesungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 4.1.1 Kants Rigorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 4.1.2 Die Anlagen zum Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 <?page no="6"?> 6 Inhaltsverzeichnis 4.1.3 Der Hang zum Bösen als ‚intelligible Tat‘ und als Mangel an ‚gutem Willen‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 4.1.4 Das Böse unter der Perspektive der Besserung . . . . . . . . . . . . . . 204 4.1.5 Das radikale Böse und die theologische Lehre von der Erbsünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit . . . . . 221 4.2.1 Der Aufbau und die Argumentation von RGV II . . . . . . . . . . . . 221 4.2.2 Das Ideal des gottwohlgefälligen Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 4.2.3 Die Eigenschaften des Ideals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 4.2.4 Das Ideal und das Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 4.2.5 Die Verwirklichung des Ideals und ihre Schwierigkeiten . . . . 244 4.2.6 Die Charakteristik der Beistandslehre in RGV II . . . . . . . . . . . . 257 4.3 Der Sieg des guten Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 4.3.1 Der Aufbau von RGV III und der Zusammenhang mit den anderen Stücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 4.3.2 Das ‚ethisch gemeine Wesen‘ und die christliche Kirche . . . . 273 4.3.3 Die verschiedenen Aspekte der Zuordnung von Vernunft und Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 4.3.4 Die Antinomie der Besserung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 4.3.5 Die Geheimnisse der Genugtuung und der Erwählung . . . . . . 307 4.3.6 Die Aporie der kantischen Besserungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 4.4 Zwischen ‚Religion‘ und ‚Afterdienst‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 4.4.1 Der Religionsbegriff und der Aufbau von RGV IV . . . . . . . . . . . 315 4.4.2 Das Beistandsargument als Religionskriterium . . . . . . . . . . . . . . 322 4.4.3 Die moralförderliche Funktion ‚religiöser Mittel‘ . . . . . . . . . . . 332 5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 5.1 Zu den Vorlesungen und zur Religionsschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 5.2 Anregungen für die moraltheologische Kantrezeption . . . . . . . . . . . . 347 6 Quellen, Zitation und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 6.1 Quellen zu Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 6.2 Hinweise zur Zitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 6.2.1 Zitate und Belege aus der RGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 6.2.2 Zitate und Belege zu Kants Vorlesungstätigkeit . . . . . . . . . . . . . 354 6.2.3 Zitate und Belege aus den sonstigen Werken Kants . . . . . . . . . 354 6.2.4 Sonstige Zitierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 6.3 Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 <?page no="7"?> 7 Vorwort Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit einem weniger bekannten Gedanken in Kants Moral- und Religionsphilosophie. Er besagt, dass Versagen und Schuld zum Handeln hinzugehören, weil der Mensch dem moralisch Gebotenen oftmals nicht gerecht wird, und dass deshalb ein unterstützender göttlicher Beistand angenommen werden muss. Ein solcher Befund, der sich in Kants Vorlesungen zur Ethik und der Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ aufweisen lässt, bereichert die Diskussion der katholischen Moraltheologie um die kantische Ethik. Die Studie wurde im Sommersemester 2018 von der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen als Dissertation angenommen. Die Promotion erfolgte am 13. Juni 2018. Sie entstand während einer längeren Tätigkeit an den Lehrstühlen für theologische Ethik derselben Fakultät und verschiedener beruflicher Aufgaben in caritativen Einrichtungen. Zum Gelingen der Studie und zum erfolgreichen Abschluss der Promotion haben mehrere Personen und Institutionen beigetragen. Allen voran danke ich Prof. Dr. Franz-Josef Bormann, der meine moraltheologisch motivierte Beschäftigung mit Kant von Anfang an unterstützt und das Entstehen der Arbeit mit geduldigem Interesse und detaillierten Anregungen begleitet hat. Prof. Dr. Johannes Brachtendorf erstellte dankenswerter Weise das Zweitgutachten und war immer ein guter Ratgeber, wenn es der Fortgang der Arbeit erforderte. Beiden möchte ich außerdem für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie“ danken. Dankbar bin auch der Studienstiftung des deutschen Volkes für die langjährige ideelle Förderung und für die Gewährung eines Promotionsstipendiums sowie der Eberhard Karls Universität Tübingen, welche die Dissertation mit einem Promotionspreis ehrte. Ein herzliches Dankeschön möchte ich überdies meiner Familie, meinen Freunden, allen Exerzitien- und Rückzugsorten für die persönliche Unterstützung aussprechen - vor allem meiner Ehefrau Christina. Ohne sie hätte wohl manches Mal die Resignation die Oberhand gewonnen. <?page no="9"?> 9 1 Einleitung Die Moralphilosophie Immanuel Kants hat in der katholischen Moraltheologie eine sehr wechselhafte Aufnahme gefunden. Das Spektrum der Reaktionen reicht von uneingeschränkter Zustimmung über verschiedenartige Vereinnahmungs- und Kompromissversuche bis hin zur entschiedenen Kritik und Ignoranz. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es vor allem das „Autonomie“-Stichwort, das Kant in den Blick der Moraltheologie rückte. Bis heute stellt die theologisch-ethische Auseinandersetzung mit Kants Moralphilosophie ein offenes Diskussionsfeld dar. Und es mangelt nicht an Aufforderungen, die Bearbeitung dieses Feldes fortzuführen. 1 Solche Aufforderungen erscheinen mir angesichts der großen Aufmerksamkeit, die Kants Ethik in der derzeitigen praktischen Philosophie erfährt, wenig überraschend. Die kantische Moralphilosophie ist ein sehr beliebter Forschungsgegenstand. Dies hat eine wohl unvergleichliche Vielzahl und Vielfalt an Forschungsbeiträgen zur Folge. Immer wieder werden hierbei neue Erkenntnisse über das umfang- und facettenreiche Werk gewonnen und bisherige Urteile revidiert. Darüber hinaus greifen aber auch moralphilosophische Entwürfe der Gegenwart auf die kantische Ethik zurück, indem sie diese zum Ausgangspunkt für ihre eigenen Überlegungen nehmen oder in ihr einen systematischen Ansatz sehen, gegen den sie sich ausdrücklich abgrenzen wollen. Sofern die katholische Moraltheologie nicht auf den wechselseitigen Austausch mit der praktischen Philosophie verzichten möchte, wird sie folglich nicht umhinkommen, die philosophischen Wortmeldungen zur kantischen Ethik kritisch wahrzunehmen und sich auch mit Kant selbst zu beschäftigen. Dies gilt umso mehr, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Kant selbst intensiv darüber nachdachte, wie sich seine Ethik zur christlichen Überlieferung und zur theologischen Ethik verhält. Der Königsberger Philosoph hat eigene Vorstellungen davon, welche Bedeutung die christliche Religion für das ethische Nachdenken und für die moralische Praxis hat. Kants Ethik schließt eine komplexe Konzeption bezüglich der moralischen Relevanz von „Religion“ ein und diese Konzeption avanciert schließlich zur systematischen Grundlage, um sich überhaupt philosophisch mit den Phänomenen und Lehren von Religionen zu befassen. Mit Kant findet die Moraltheologie daher einen Gesprächspartner vor, der in zahlreichen moralphilosophischen Debatten eine Rolle spielt und 1 Vgl. bspw. Hübenthal 2005, 100, Schockenhoff 2007, 32, u. Mieth 2016, XIII. <?page no="10"?> 10 1 Einleitung überdies zu einer Frage führt, die sie in ihrem Selbstverständnis betrifft, nämlich die nach der Relevanz des christlichen Glaubens für das moralische Handeln des Menschen. Die vorliegende Arbeit möchte einen Beitrag zur theologisch-ethischen Auseinandersetzung mit Kant leisten. Sie konzentriert sich dabei auf die Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (kurz: Religionsschrift bzw. RGV) von 1793, worin Kant ausführlich auf die moralische Relevanz von „Religion“ reflektiert. Es lässt sich zeigen, dass die Religionsschrift eine moralphilosophische Grundüberzeugung verarbeitet, die Kant auch über Jahrzehnte hinweg in seinen Ethikvorlesungen vertrat: dass Gott den Menschen unterstützen müsse, damit dessen moralische Bemühungen gelingen können. Nicht in der Begründung moralischer Normen und nicht allein in Bezug auf eine ausgleichende Gerechtigkeit für das moralische Handeln, sondern auch bei der Frage danach, wie der Mensch überhaupt ‚gut‘ werden kann und die Forderungen des Moralgesetzes zu erfüllen vermag, erachtet Kant eine gewisse Mitwirkung durch ein göttliches Wesens für notwendig und reflektiert auf die moralförderliche Funktion einer solchen Annahme. Dieser Aspekt wurde bislang innerhalb der theologisch-ethischen Auseinandersetzung mit Kants Moralphilosophie nicht oder allenfalls randständig berücksichtigt. Um dies darzulegen, steht am Beginn dieser Arbeit ein knapper Überblick über die Kant-Rezeption innerhalb der katholischen Moraltheologie. 1.1 Kants Ethik und die zeitgenössischen moraltheologischen Reaktionen Blickt man in den Zeitraum, in dem die wichtigsten Schriften Kants erschienen, also in die letzten Dezennien des 18. Jahrhunderts, fällt auf, dass der Autor und dessen Veröffentlichungen auf Seiten der katholischen Theologie durchaus wahrgenommen wurden. Dies kann man auch für die Disziplin der theologischen Ethik zeigen, obgleich in jener Zeit viele Theologen verschiedene Themenbereiche bearbeiteten und daher die Zuordnung von Autoren zu theologischen Fächern nicht leichtfällt. Viele der im Folgenden ausgewerteten Quellen lassen den Schluss zu, dass die kantische Ethik auch damals ein Gegenstand kontroverser Debatten war. 2 2 Neben den direkten Quellen, von denen im Folgenden einige exemplarisch herausgegriffen werden, steht auch eine beachtliche Sekundärliteratur zu den einschlägigen Autoren zur Verfügung. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts erlebte die Rückbesinnung auf die sog. katholische Aufklärung (vgl. Seewald 2016, 84-99) immer wieder Phasen der Hochkonjunktur und dies betraf auch die Moraltheologen jener Zeit. <?page no="11"?> 1.1 Kants Ethik und die zeitgenössischen moraltheologischen Reaktionen 11 Sowohl in Bezug auf die zeitgenössischen Reaktionen als auch darüber hinaus muss sich die vorliegende Studie auf den Bereich der katholischen Theologie beschränken. Selbstverständlich wäre es auch interessant, wie Kants Ethik beispielsweise in der evangelischen Theologie rezipiert wurde, zumal auch über die konfessionellen Grenzen hinweg mit Wechselwirkungen zu rechnen ist. 3 Im Rahmen dieser Arbeit ist eine solche Ausweitung aber weder leistbar noch erforderlich. Die Studie zielt darauf ab, einen Aspekt in Kants eigenem Nachdenken zu erheben und diesen gegen gewisse Vorprägungen und Einseitigkeiten in die katholisch-moraltheologische Kantdiskussion einzubringen. Unter den zeitgenössischen Reaktionen lassen sich m. E. drei verschiedene Tendenzen ausmachen, die anzeigen, wie unterschiedlich sich die damaligen Autoren gegenüber Kants Ethik positionierten: Ein Teil der Autoren sucht den engen Anschluss an die kantische Moralphilosophie. Mitunter reicht dieser Anschluss so weit, dass auch die Thesen Kants zur moralisch-religiösen Praxis und zum Religionsbegriff übernommen werden. Ein anderer Teil lehnt den Ansatz Kants ab, da die Autoren von gänzlich anderen theologischen oder moralphilosophischen Grundlagen ausgehen. Die dritte Gruppe lässt insofern eine vermittelnde Tendenz erkennen, als in ihr versucht wird, die kantische Moralphilosophie als philosophische Unterstützung oder als argumentatives Gegenüber für eigenständige theologisch-ethische Theoriebildungen zu gebrauchen. Autoren, bei denen die erste Tendenz exemplarisch illustriert werden kann, sind T. Sartori 4 und G. L. Reiner 5 . Für Sartori besteht der vorrangige Zweck des seelsorgerlichen Wirkens in der Förderung der Moralität. Und um diese Zwecksetzung zu verwirklichen, empfiehlt der Benediktiner aus Zwiefalten und Professor in Salzburg das Studium der kantischen Ethik. 6 Denn entgegen anderen, theologischen Überlieferungen sind seines Erachtens allein die Begriffe aus Kants praktischer Philosophie moralphilosophisch valide und geeignet, die genuinen Forderungen der christlichen Morallehre auszudrücken. Der Prämonst- 3 Hinweise finden sich bspw. bei Pannenberg 1996, 203-215, in dem umfangreichen Werk von Rohls 1997 u. im Artikel von Malter 1988, 579. 4 Vgl. Sartori 1796. 5 Vgl. Reiner 1796. 6 Vgl. Sartori 1796, 86-89: „Man darf sich also nicht mehr verwundern, warum die alten Moralsysteme so plötzlich zusammenstürzten, als die Meisterhand des Königsberger Philosophen Immanuel Kant an derselben rüttelte. Ja! Sie fielen, und werden von Tag zu Tag noch immer mehr fallen müssen, je mehr Critismus [sic! ] und die hieraus entspringende reinere Philosophie werden ausgebreitet werden […] Aus dem bisher angeführten Inhalte der heutigen Moralphilosophie, werden Sie, meine Herren! Von selbst einsehen, von welchem ausgebreitetem Nutzen das ernstliche Studium derselben sey. […] Wir werden zu einem reineren sittlichen Betragen gegen alle höhere und niedere Wesen geleitet; wir lernen wahre Religion von religiösem Eigennutz, von Maschinen-Werk, und Bigottisin besser unterscheiden.“ Vgl. hierzu auch Lehner 2011, 212 f. <?page no="12"?> 12 1 Einleitung ratenser Reiner veröffentlichte die Schrift „Kant’s Theorie der reinmoralischen Religion mit Rücksicht auf das reine Christenthum kurz dargestellt“. Reiner bietet in dem anonym veröffentlichten Buch eine zugespitzte Darstellung von zentralen Ausführungen der Religionsschrift. Die Präsentation der kantischen Behauptungen fällt durchweg affirmativ aus. 7 Für Reiner bestand kein Zweifel, dass die kantische Auffassung von Religion mit der christlich-theologischen in Einklang steht. 8 Der bekannteste Kantanhänger unter den katholischen Moraltheologen des 18. Jahrhunderts ist S. Mutschelle, ein weiterer Repräsentant der ersten Tendenz. In seiner Schrift „Über das sittliche Gute“ von 1788 argumentiert der Jesuit für den kategorischen Imperativ als Moralprinzip. 9 Dabei wird das religiös-positivistische Prinzip, welches das Urteil über das sittlich Gute aus dem göttlichen Willen ableiten möchte, ebenso abgelehnt wie die eudämonistische Konzeption, derzufolge das Gute zur Erreichung der Glückseligkeit dienen soll. 10 Die Glückseligkeit findet dadurch ihren Platz in der Ethik, dass sie neben der Tugend als ein Element des ‚höchsten Gutes‘ betrachtet wird. Das höchste Gut wird den tugendhaft Lebenden dadurch zuteil, dass ein allmächtig-moralisches Wesen postmortal die Glückseligkeit zur Tugend hinzufügt. 11 Eine solche enge Gefolgschaft gegenüber der kantischen Ethik legt die Frage nahe, welche Bedeutung Mutschelle der Theologie in Bezug auf seine theologische Ethik beimisst. Nach C. Keller kann man bei Mutschelle drei Funktionszuweisungen erkennen 12 : Gemäß der ‚kognitiven‘ Funktion erklärt die Theologie die metaphysischen Hintergründe der praktischen Rationalität, indem sie beispielsweise Gott als Seinsgrund für die praktisch-vernünftige Einsicht in das moralische Sollen erläutert. ‚Affirmative‘ Funktion hat die Theologie insofern, als sie die am kategorischen Imperativ orientierten Urteile der praktischen Vernunft bestätigt und unterstützt. Und schließlich haben die theologischen Lehren und die Religionspraxis ‚bestärkende‘ Wirkung für die Ethik, da sie dem Menschen Gott als das moralisch vollkommene Wesen vor Augen stellen und die Liebe zu diesem Wesen erwecken. Daher stellt die christliche Religion für Mutschelle ein nützliches Mittel dar, um die Sittlichkeit des Menschen zu stärken. 13 7 Das wird z. B. daran deutlich, dass Reiner in seiner Zusammenfassung des dritten Stücks der RGV (1796, 82-126) darauf verzichtet, den schwierigen Abschnitt zur Antinomie der Besserung (siehe Kap. 4.3.4) aufzunehmen. 8 Vgl. Fischer 2005. 9 Vgl. Mutschelle 1788, 214-221. 10 Vgl. Mutschelle 1788, 27-133. 11 Vgl. Mutschelle 1801, 128-158. 12 Vgl. Keller 1976, 126-159. 13 Vgl. Mutschelle 1801, 202: „Die Religion, diese achtungs- und verehrungsvolle Aufsicht zu Gott, stärkt und festigt nicht nur unsere Tugend, insoferne sie durch Glaube, Hoff- <?page no="13"?> 1.1 Kants Ethik und die zeitgenössischen moraltheologischen Reaktionen 13 Die positive Rezeption der kantischen Ethik blieb nicht ohne Widerspruch. B. Stattler sorgte dafür, dass Mutschelle für ein kantfreundliches Werk keine Druckerlaubnis erhielt. 14 Zuvor schon hatte Stattler seinen „Anti-Kant“ veröffentlicht, worin er nichts weniger versuchte, als den vermeintlichen „Zermalmer“ der Logik und Metaphysik seinerseits zu zermalmen. Der Jesuit vertrat bis zu seiner Entlassung aus der Universität Ingolstadt das Fach Dogmatik und verfasste darüber hinaus mehrere theologisch-ethische Werke. Die Kant-Kritik Stattlers bezieht sich ausdrücklich auch auf dessen praktische Philosophie. 15 In Stattlers Reaktion kann man insofern eine zweite, ablehnende Rezeptionstendenz erkennen, als der Autor aufgrund divergierender philosophischer Voraussetzungen Kritik an Kant übt und dessen Ethik von der Moraltheologie fernhalten möchte. Stattler folgt in seinen Werken dem cartesianischen Wissenschaftsideal, wonach Sachverhalte clare et distincte erkannt werden müssen, um dann wie in der Mathematik oder Geometrie durch Ableitung und Konstruktion zu umfassenderen Zusammenhängen voranzuschreiten. Dementsprechend muss auch die Ethik in ein umfassendes philosophisch-theologisches Gesamtsystem integriert werden. Diese Integration wird für Stattler vor allem dadurch geleistet, dass die Ethik seines Erachtens von der Ausrichtung des Menschen auf ein Ziel hin handelt und dieses Ziel in der wahren Glückseligkeit besteht. Die Ethik bildet somit die praktische Konsequenz sowohl aus der metaphysischen und theologischen Bestimmung Gottes als dem vollkommenen Wesen, das durch unendliche Freude ausgezeichnet ist, als auch aus der anthropologischen Charakterisierung des menschlichen Wollens. 16 Es sind daher gleich mehrere Eigenschaften, die Stattlers theologisch-ethischen Ansatz von Kant trennen: Kants Vernunftkritik stellt nicht nur die generelle Vorgehensweise infrage, wonach die Ethik in metaphysischen Überlegungen gegründet werden soll, sondern auch das weitergehende Bemühen, hierdurch einen philosophischen Ausgangspunkt für die Darlegungen theologischer Lehren zu gewinnen. Und moralisches Handeln nach der Verwirklichung der erstrebten Glückseligkeit zu bemessen, ist mit der kantischen Analyse von Moralität unvereinbar. Gerade weil der Theologe Stattler den Anschluss an das rationalistische Wissenschaftsideal der Aufklärungszeit sucht, sich dabei aber an der vorkantischen Philosophie orientiert, kann er den kritischen Neuerungen aus Königsberg nichts abgewinnen. Die Ablehnung der kantischen Moralphinung und Zutrauen belebt, sondern noch auf eine ganz vorzügliche Weise, wenn sie durch reine Liebe und Achtung des Höchsten unser Herz erfüllt.“ 14 Vgl. Hunscheit 1948, 133-146, Keller 1976, 91 f., Sirovátka 2005, 272. 15 Vgl. die Werkübersicht bei Ruhstorfer 2003, 202 f. 16 Vgl. Scholz 1957, 87-198, u. Ruhstorfer 2003, 189-200. <?page no="14"?> 14 1 Einleitung losophie und die Agitation gegen deren Anhänger beruht folglich vorrangig darauf, dass der Autor von einem grundsätzlich anderen, weil metaphysisch fundierten und eudämonistisch begründeten Ethikansatz ausgeht. 17 Ähnliches finden wir bei A. Schelle. Schelle stand der Benediktineruniversität in Salzburg vor, wo der zeitgenössichen Philosophie und so auch den Veröffentlichungen des Königsbergers großes Interesse entgegengebracht wurde. Anders als manche seiner Ordensbrüder sieht er sich hierdurch aber nicht genötigt, den eudämonistisch-perfektionistischen Grundansatz seiner praktischen Philosophie zu verändern. 18 Auch im Werk des Naturrechtstheoretikers J. A. von Zallinger ist die Tendenz erkennbar, Kants Ethik abzulehnen, weil man sich zuvor bereits anderen philosophischen Bezugsgrößen der Aufklärungszeit angeschlossen hatte. Der Jesuit meldete sich in einer zweibändigen Erörterung zu Wort, wo er versucht, Widersprüche in Kants Ethik aufzudecken. 19 Als Beispiele für die dritte Gruppe unter den zeitgenössischen Kantrezipienten sollen hier zwei Moraltheologen angeführt werden. Der eine geriet trotz viel gelesener Veröffentlichungen in Vergessenheit, während der andere sich bis heute recht großer Bekanntheit und Aufmerksamkeit erfreut. Zunächst zu M. von Schenkl, dem unbekannteren der beiden. In Schenkls Hauptwerk, der Ethica Christiana aus den Jahren 1800-1801, sieht man das Bemühen am Werk, die theologische Ethik aus der engen Orientierung an der aufklärerischen Schulphilosophie zu lösen und sich verstärkt auf theologische Quellen wie die heilige Schrift und die patristisch-scholastischen Autoritäten zu stützen. 20 Der Benediktiner wendet sich dabei insbesondere gegen den Eudämonismus. Das Ziel der menschlichen Praxis besteht nach Schenkl nicht in der Erreichung von Glück, sondern in der moralischen Vervollkommnung, zu der dann das Glück hinzutritt. Allein diese Verbindung zwischen der Sittlichkeit und der daraus resultierenden Würdigkeit und Empfänglichkeit für das Glück ist für den Menschen 17 Vgl. hierzu die langgestreckte rhetorische Gegenfrage, zu der Stattler in seinem „Kurzen Entwurf der unausstehlichen Ungereimtheiten der Kantischen Philosophie“ ausholt (1791, 26): „Wenn wir nun alle diese Sätze des Hrn. Kant […] nehmen; so behauptet er in denselben als gewiß, daß Freyheit, Moralität, Moralgesetz, Pflicht, Tugend, blos eben solche Ideale […] sind; für dergleichen er in seiner Schrift Kritik der Vernunft unsere Ideen von einer Seelensubstanz, von einem Weltalle, von einem unendlich vollkommenen Wesen oder Gott, ausgab […]. Welchen Eindruck wird nun so eine Erkenntnis von Moralität der Handlungen, von Tugend, von Moralgesetzen und Pflichten […] auf den Willen der Menschen machen? […] Wie viel Tugend und Würde, einst doch von einem vorhandenen reellen Gott in einem andern Leben mit voller Glückseligkeit beehret zu werden, wird dieses Ideal, die problematische Ungewißheit desselben, in der Welt hervorbingen? “ 18 Vgl. Bruch 1997, 116 f., u. Lehner 2011, 183-185. 19 Vgl. Bruch 1997, 131-134. 20 Vgl. Schmeing 1959, 53-58. <?page no="15"?> 1.1 Kants Ethik und die zeitgenössischen moraltheologischen Reaktionen 15 erstrebenswert. Prinzip und Maßstab der Vervollkommnung bildet die Liebe, vor allem diejenige gegenüber Gott und den Nächsten. 21 Es ist nun die kantische Ethik, die Schenkl bei seinen theologisch-ethischen Reformbemühungen Schützenhilfe leistet. Dies zeigt sich insbesondere an zwei Stellen der Argumentation: Zum einen greift der Autor bei der Diskussion der Moralprinzipien auf Kants kategorischen Imperativ zurück. Der kategorische Imperativ wird dabei nicht als das allein gültige Moralprinzip dargestellt, aber als ein Prinzip betrachtet, das mehrere systematische Vorzüge mit sich bringt. Demnach hat das Prinzip im Gegensatz zur Verpflichtung auf das Gemeinwohl den Vorteil, dass der Verpflichtungscharakter des Prinzips nicht bereits als bewiesen in Anspruch genommen oder im Eigeninteresse des Menschen fundiert werden muss. Vielmehr beruht das Prinzip des kategorischen Imperativs allein auf der Übereinstimmung mit der allgemeinen Vernünftigkeit. 22 Zum anderen argumentiert Schenkl für seine These vom Vorrang der moralischen Vervollkommnung vor dem Glück, indem er verschiedene stimuli im Menschen unterscheidet. Der stimulus felicitatis richtet sich auf das Angenehme, wohingegen der stimulus honestatis zum Ehrbaren hin treibt; die lex naturalis verlangt die Unterordnung des ersteren unter den letzteren. C. Schmeing hat herausgearbeitet, dass Schenkl neben dieser zweigliedrigen auch eine dreigliedrige stimuli -Unterscheidung verwendet. Demzufolge ist zwischen den Trieben der animalitas , der humanitas und der personalitas im Menschen zu differenzieren. Schenkl verwendet hier die gleichen Kategorien und Begriffe wie sie im ersten Teil von Kants Religionsschrift erscheinen, um den Vorrang des Tugendstrebens darzulegen. 23 Der Moraltheologe rezipiert Überlegungen aus der moralphilosophischen Anthropologie Kants, da sie ihm als Argumente gegen eine vermeintliche Überfremdung der katholisch-theologischen Ethik durch die aufklärerisch-eudämonistische Philosophie dienen. Der andere Moraltheologe, an dem sich aufzeigen lässt, dass Kants Ethik mitunter für theologisch-ethische Überlegungen herangezogen wurde, ist J. M. Sailer. Im Laufe seines stationsreichen Lebens, das ihn schließlich auf den Regensburger Bischofsstuhl führte, verfasste Sailer auch zwei moraltheologische Schriften im engeren Sinne: Die „Glückseligkeitslehre“ von 1787 und das „Hand- 21 Vgl. Schmeing 1959, 66-87. 22 Vgl. Schenkl 2 1802, 243-247: „Sic age, ut lex subiectiva voluntatis tuae seu tua agendi regula simul tanquam principium legislationis universalis valere queat […]. […] hoc principium boni communis promovendi officium iam pro demonstrato sumere, aut in amore sui ipsius fundare debet: illud nec propriam nec alienam felicitatem, sed actionis cum ratione universali, cum legibus universalibus convenientiam ceu primum moralitatis iustique scopum et basin respicit.“ 23 Vgl. Schmeing 1959, 66-68. <?page no="16"?> 16 1 Einleitung buch der christlichen Moral“ von 1817. Sailer verbindet mit dem älteren Stattler und dem etwa gleichaltrigen Mutschelle nicht nur die Zugehörigkeit zum Jesuitenorden, sondern auch eine gemeinsame Studienbzw. Lehrphase an der Universität Ingolstadt. 24 Die kantische Moralphilosophie hat er allerdings anders aufgenommen und verarbeitet als seine jesuitischen Mitbrüder. Sailers Handbuch übernimmt eine Reihe von Überlegungen und Begriffen aus der kantischen Moralphilosophie. Das gilt bereits für den Ausgangspunkt des umfangreichen Handbuches. Sailer stellt an den Beginn des ersten Hauptstückes die Erörterung des „höchsten Gesetzes der menschlichen Freythätigkeit“. Denn „der berühmte Verfasser einer Kritik der Sittenlehre“ habe nachgewiesen, dass die „Idee der Moral“ zuvörderst die „Idee des Gesetzes“ einschlöße. 25 Nur wenn zuerst das Grundgesetz der Moralität aufgewiesen wurde, ermangeln die weiteren Kapitel nicht des Zusammenhanges mit dem reinen Prinzip der Sittlichkeit. Ähnlich wie bei Schenkl liefert Kants Ethik hierbei die Argumente, um in der Diskussion des obersten Moralgrundsatzes den allgemein verbreiteten Eudämonismus zu widerlegen. Und auch in den späteren Kapiteln finden sich zahlreiche kantische Begriffsbildungen und Gedanken, wie beispielsweise in der Lehre vom Bösen und im Abschnitt über den Übergang vom Bösen zum Guten. Die Bezüge gehen soweit, dass G. Fischer in seiner Untersuchung zum Verhältnis zwischen Sailer und Kant vermutet, Sailer müsse das „Kantische Werk neben sich liegen gehabt haben“ 26 , als er diese Abschnitte verfasste. Erstaunlicherweise werden Kant und seine Werke aber nur sehr selten ausdrücklich benannt. Fischer spricht daher von einer „Verschleierungstaktik“ oder „Mimikry“ 27 , die Sailer nach negativen biografischen Erfahrungen angewandt habe, um eine positive Rezeption seines Handbuches nicht durch die offene Nennung von Reizwörtern zu behindern. Indes, Sailer bleibt bei einer bloßen Übernahme der kantischen Ethik nicht stehen. Er möchte diese vielmehr in seine eigene theologische Lehre integrieren. Die Diskussion des kategorischen Imperativs erbringt für ihn nicht das oberste Moralprinzip, sondern bildet nur eine argumentative Zwischenetappe, die mittels komplexer Unterscheidungen zum eigentlich höchsten Moralgrundsatz in Beziehung gesetzt wird: die Liebe gegenüber den Nächsten und gegenüber Gott. Nur der Grundsatz der Liebe, wie er in der biblischen Weisung beschrieben 24 Vgl. Keller 1976, 88 u. 196. 25 Vgl. Fischer 1953, 60. Beim Abschluss des Manuskriptes für die vorliegende Arbeit erschien die Studie von M. Wasmaier-Sailer (2018) zum Verhältnis von Moral und Religion bei Sailer (und Kant). Sie konnte nicht mehr berücksichtigt werden. 26 Fischer 1953, 203. 27 Fischer 1953, 202. Allerdings wird bspw. die Religionsschrift durchaus auch im Klartext als Quelle benannt (vgl. Sailer 1817, 246). <?page no="17"?> 1.1 Kants Ethik und die zeitgenössischen moraltheologischen Reaktionen 17 wird, gilt ihm aus moraltheoretischer Sicht als befriedigend, weil er „so rein und […] so vollständig [ist], daß er als Grundgesetz des menschlichen Willens angesehen werden kann“ 28 . In der Lehre von der Regeneration des Menschen begnügt sich Sailer nicht mit den Ausführungen Kants, sondern betont noch stärker, dass das Gutwerden neben der menschlichen Leistung auch die Einwirkung der Kraft Gottes erfordert. 29 Kant bietet für Sailer einen neuen, den bisherigen Moralphilosophien überlegenen Typus von praktischer Rationalität, an den die Moraltheologie anknüpfen kann und muss, da - so lässt das Bemühen des Jesuiten durchblicken - kein Widerspruch zwischen dem wahrhaft Vernünftigen und dem Christlichen herrschen darf. Leitend ist jedoch das theologische Interesse, ein überzeugendes System der christlichen Morallehre zu entwickeln. In diese theologische Synthese werden manche Teile der kantischen Moralphilosophie recht unvermittelt, andere nur nach gründlicher Relativierung integriert. Wie die vorgestellten Beispiele erkennen lassen, finden wir unter den zeitgenössischen moraltheologischen Reaktionen auf Kants Ethik eine große Vielfalt vor - sowohl was die Positionierung anbelangt als auch die Motive und Voraussetzungen im Hintergrund. Der moralphilosophische Neuerer erfuhr große Aufmerksamkeit. Seine Veröffentlichungen wurden gelesen, und zwar nicht nur die Kritiken, sondern auch die spätere Religionsschrift. Allerdings dürfte auch deutlich geworden sein, dass diese Phase der Kantrezeption in ihrem theologiegeschichtlichen Kontext betrachtet werden muss. Wie das Beispiel Stattler zeigt, war die deutschsprachige Theologie des 18. Jahrhunderts insgesamt sehr bemüht, die Philosophie der Aufklärungszeit wahrzunehmen und diese theologisch zu verarbeiten. Kant war dabei ein weiterer Gesprächspartner, und zudem einer, der philosophischerseits viel Aufmerksamkeit erregte, weil er die Argumente und Behauptungen seiner Vorgänger einer tiefgreifenden Kritik unterzog. Eine Facette dieser Kritik war, den überkommenen Eudämonismus in der Moraltheorie zu verwerfen. Diesen Aspekt der kantischen Ethik griffen Moraltheologen wie Schenkl dankbar auf. Das Nebeneinander von einseitig affirmativen und ablehnenden Positionierungen führte zu den dargestellten Polarisierungen und Lagerbildungen. Vermittelnd-differenzierende Stellungnahmen wie die von Sailer bildeten die Minderheit, und auch sie waren mitunter innerkirchlichen Sanktionen ausgesetzt. 28 Sailer 1817, 189, vgl. auch Keller 1976, 301-313. 29 Vgl. Fischer 1953, 196. <?page no="18"?> 18 1 Einleitung 1.2 Die Dominanz der Autonomie-Problematik in der späteren Kantrezeption Laut J. Diebolt, der eine Monografie über die deutsche Moraltheologie im Zeitraum 1750-1850 geschrieben hat, beginnt nach Kant die sog. Restauration. Diebolt versteht hierunter die schrittweise Ausbildung einer stärkeren Eigenständigkeit der Moraltheologie gegenüber der „modernen Philosophie“ und der protestantischen Theologie. 30 Ungeachtet der Standpunktgebundenheit einer solchen Charakterisierung hebt der Autor damit zurecht hervor, dass um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die Forderung erhoben wurde, die Moraltheologie stärker mit der heiligen Schrift, der Patristik und den Theologen des Mittelalters in Verbindung zu bringen. 31 Und am Ende des von Diebolt untersuchten Zeitraumes stehen in der Tat zahlreiche Handbücher, die neuscholastische Züge erkennen lassen. 32 Freilich war Kant auch im 19. Jahrhundert in der katholischen Moraltheologie kein unbekannter. 33 Hierbei fand jedoch keine eingehende Kantrezeption mehr statt, da andere Autoren wichtiger geworden waren. Der Einfluss Kants auf die katholisch-theologische Ethik ging recht rasch zurück. Schon bald hatte er seine Bedeutung als philosophischer Gesprächspartner verloren. Danach war es vor allem ein Stichwort, das die Aufmerksamkeit auf Kant lenkte: das Stichwort „Autonomie“. Wenn Kant wahrgenommen wurde, dann ging es vor allem um die Frage nach der moralischen Urteilsfähigkeit des Menschen und um das Problem, inwiefern sich das Urteil des Individuums an anderen Autoritäten als der eigenen praktisch-rationalen Einsicht orientieren muss. Dementsprechend wurden aus dem kantischen Œuvre vor allem die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ und die „Kritik der praktischen Vernunft“ gelesen. Wie im Folgenden herausgearbeitet wird, sieht die deutschsprachige 34 30 Vgl. Diebolt 1926, 166: „La secon partie de ce travail est consacrée à la première moitié du XIX e siècle, remplie par cette evolution complexe et mouvementée des idées qui about it à la restauration de la vie et de la science religieuses, dans l’Allemagne catholique. […] dans cette période de renaissance catholique, les personnes et les idées ne sont remplacées que peu à peu, et la pensée des meilleurs ne s’affranchit que péniblement des habitudes d’esprit contractées par la longue dependence de la philosophie moderne et de la théologie protestante.“ 31 Diebolt verweist hierzu neben dem in Kap. 1.1 erwähnten Schenkl auf G. Riegler, J. Frint u. B. Galura. 32 Vgl. Diebolt 1926, 342-345. 33 Man kann hier beispielsweise an die theologische Ethik im Umfeld von G. Hermes oder A. Günther denken, vgl. Böttigheimer 2005, 323-341. 34 Die Darstellung beschränkt sich im Wesentlichen auf die deutschsprachigen Beiträge. Vereinzelt werden Parallelen aus anderen Sprachräumen aufgenommen. Folgt man dem Überblick von J. F. Keenan (2010, bes. 141-196), war die Kantrezeption vor allem für die <?page no="19"?> 1.2 Die Dominanz der Autonomie-Problematik in der späteren Kantrezeption 19 katholische Moraltheologie bis heute in Kant primär den Vertreter einer Autonomie-Ethik, in deren Zentrum die Ausbildung und die Befolgung von selbstauferlegten Pflichten durch das einzelne Subjekt stehen. Erst in jüngerer Zeit erfahren die kantische Theorie zur Relevanz von Religion und insbesondere die Theorie vom höchsten Gut größere Aufmerksamkeit. Um zu verstehen, wie es zu einer solchen Schwerpunktsetzung in der Kantwahrnehmung kommen konnte, dürfte es hilfreich sein, sich einige zeit- und kirchengeschichtliche Zusammenhänge zu verdeutlichen. Angesichts der lehramtlichen Verurteilungen im „Syllabus Errorum“ von 1864, wonach die Behauptung ein Irrtum darstelle, dass die „menschliche Vernunft […] der einzige Richter über Wahr und Falsch sowie Gut und Boese“ sei, „ohne daß Gott irgendwie berücksichtigt würde“ 35 , galt die katholische Moraltheologie als Inbegriff einer Ethik, die der kantischen Forderung nach einer autonomen Handlungssteuerung konträr gegenübersteht. Innerkatholische Beiträge wie die von F. Probst, B. Fuchs und J. Schwane dürften diese Einschätzung begünstigt haben. 36 Zeitgleich erfuhren Kants Texte eine ungeheure Aufmerksamkeit durch die Neu-Kantianer. Für einen Großteil der Philosophen und Theologen scheint es dabei festgestanden zu haben, dass die katholisch-theologische Moralauffassung mit der Ethik eines Philosophen, dessen erkenntnistheoretisches Hauptwerk zudem im römischen Index 37 verzeichnet war, unvereinbar ist. In der katholischen Theologie gewannen hingegen andere Bezugsgrößen - allen voran Thomas von Aquin - an Bedeutung, was die vermeintliche Opposition zwischen der katholisch-theologischen und der kantischen Ethik verstärkte. So findet man beispielsweise bei C. Gutberlet ein Thomas-Kant-Schema am Werke, wonach die katholisch-theologische Ethik vor allem auf Grundlage des christlichen Kirchenlehrers Thomas argumentiere, während die evangelisch-theodeutschsprachige Moraltheologie ein wichtiges Thema. Daneben gab es in ihr freilich noch eine Reihe von Problemstellungen und Entwicklungen, in denen Kants Ethik keine Rolle spielte. 35 DH 2903. Auch Leo XIII., der auf Pius IX. folgte, brachte gelegentlich seine Sorge zum Ausdruck, dass ohne den Bezug zu Gott die Moral zersetzt würde, vgl. sein Apostolisches Schreiben v. 19.03.1902: „Sind einmal die Bande gelöst, welche die Menschen mit Gott, dem höchsten Gesetzgeber und Richter, verbinden, so gibt es nur mehr ein Schattenbild einer rein bürgerlichen oder, wie man sagt, einer unabhängigen Moral, welche um ein ewiges Gesetz und göttliche Vorschriften sich nicht kümmert und auf abschüssiger Bahn bei der äußersten Folgerung anlangt, daß der Mensch nach Lust und Laune sich selber Gesetze gibt.“ (518, Übersetzung nach Bruch 1981, 61). Vgl. auch die Bezugnahmen auf Leo XIII. in der Enzyklika „Veritatis Splendor“ von Johannes Paul II. (Nr. 44). 36 Vgl. Bruch 1981, 59 f. 37 Vgl. Göbel 2005. Im Jahre 1827 wurde die „Kritik der reinen Vernunft“ in den Index Librorum Prohibitorum aufgenommen - und blieb dort bis 1966, als der Index aufgehoben wurde. <?page no="20"?> 20 1 Einleitung logische Ethik auf einen Subjektivismus kantischer Manier hinauslaufe. 38 Die Texte der protestantischen Autoren F. Paulsen und J. Kaftan bedienten ebenfalls dieses Schema und erklärten Kant zum Philosophen des Protestantismus. Das erfuhr jedoch auch Widerspruch von katholischer Seite. 39 In dieser Gemengelage war es immer wieder das Stichwort „Autonomie“, das die Auseinandersetzung mit Kant provozierte. J. Mausbach sah sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts genötigt, die „katholische Moral“ gegen Kritik protestantischer Provenienz zu verteidigen, und setzte sich in diesem Zusammenhang auch mit dem Heteronomie-Vorwurf auseinander. Dem Vorwurf zufolge erhebt die katholische Sittenlehre den Gehorsam gegen Normen, die dem Individuum äußerlich gegenüberstehen und allein durch die kirchliche Autorität vermittelt werden, zum Prinzip und unterminiert hierdurch die innerliche Akzeptanz des moralisch Guten. 40 Um den im Vorwurf angezielten Sachverhalt richtigzustellen, greift Mausbach auf Kants Autonomiekonzeption zurück. Dieser Rückgriff lässt eine ambivalente Stellungnahme erkennen: Einerseits versucht er, den Sinn der kantischen Autonomie-Heteronomie-Gegenüberstellung dahingehend zu rekonstruieren, dass diese sich gegen eine „Abhängigkeit des Willens von natürlichen, sinnlichen Antrieben“ 41 und gegen ein bloßes Glückseligkeitsstreben richte. Von einer solchen Heteronomie, so Mausbach, wolle auch die christliche Moral nichts wissen. Andererseits sieht er Kant und mit ihm die Gegner der katholischen Moral auf dem Holzweg, wenn sie annehmen, dass wir - d. h. wir Menschen - uns selbst oberstes Gesetz seien. Die Aufgabe der Theologie bestünde darin, die Gründung des Moralgesetzes in Gott und das von ihm her gegebene Ziel der Moralgesetzbefolgung darzulegen, nicht ebendies durch „autonomistische Trugschlüsse zu verdunkeln“. 42 38 Vgl. Gutberlet 1893, 141 f. (Hervorhebung im Original durch Sperrdruck): „Worin besteht nun aber [sc. für Kant] der Werth der Sittlichkeit? In der Autonomie. Nicht einem fremden Willen darf sich die Vernunft unterwerfen, sondern ihren eigenen Befehlen muß sie gehorchen […]. Von den Lobrednern Kant’s wird ihm als besonderes Verdienst angerechnet, daß er mit dem klassischen Altertum und mit der modernen Welt die Vollendung der menschlichen Natur von deren innerer eigenen Ausbildung abhängig macht, während Thomas durch äußere Einwirkung, durch übernatürliche Gnade und Wahrheit Heil und Glückseligkeit des Menschen bedingt sein läßt. Und gewiß hierin erweist sich Kant als ein Hauptvertreter […] der Humanitätsmoral und Humanitätsreligion, während Thomas der Philosoph des Christenthums […] genannt werden muß. Noch genauer gesprochen ist Thomas der katholische Philosoph, während Kant den Subjektivismus des Protestantismus philosophisch begründet hat und der Philosoph des Protestantismus genannt werden kann.“ 39 Vgl. Raffelt 2005. 40 Vgl. Mausbach 4 1913, 3, 126 f., 132. 41 Vgl. Mausbach 4 1913, 132. 42 Vgl. Mausbach 4 1913, 133-135, Zitat: 135. Differenziert erscheint auch die Positionierung Mausbachs bezüglich der kantischen Auffassung der göttlichen Gnade: Kant nehme eine <?page no="21"?> 1.2 Die Dominanz der Autonomie-Problematik in der späteren Kantrezeption 21 Mausbach stützt sich in seiner Argumentation auf Thomas. Die Reserve der katholischen Moraltheologen gegenüber der kantischen Autonomiekonzeption war jedoch nicht nur der neuscholastisch-thomistischen Prägung des Faches geschuldet. Andere katholische Moraltheologen wie etwa T. Steinbüchel befassten sich stark mit der Wertethik und formulierten vor diesem Hintergrund Einwände gegen Kant. Steinbüchel führt in seiner „Philosophischen Grundlegung der katholischen Sittenlehre“ eine Reihe von diskussionsbedürftigen Aspekten aus der Ethik Kants an. 43 Ein grundsätzlicher Dissens gegenüber Kant speist sich bei ihm allerdings bereits daraus, dass die im kantischen Autonomiebegriff eingeschlossene Forderung nach Allgemeingültigkeit seines Erachtens nicht nur in eine „qualitätslos-formalistisch[e]“ Auffassung der Sittlichkeit führt, sondern auch der Empfindung von sittlichen Werten keinen Raum gebe. Für Steinbüchel steht fest, dass die „materiale Wertethik“ hier „einen entscheidenden Mangel in Kants Ethik entdeckt“ hat. 44 Sowohl bei Mausbach als auch bei Steinbüchel stützte sich die Auseinandersetzung mit dem kantischen Autonomie-Begriff folglich auf andere theologische oder philosophische Bezugsgrößen. An dieser misslichen Lage änderte sich auch nur wenig, als A. Auer ab den späten 1960er Jahren im Zusammenhang seiner „autonomen Moral“ eine Annäherung an Kant versuchte. Der Tübinger Moraltheologe geht von einer grundsätzlichen Vereinbarkeit zwischen der kantischen Moralphilosophie und seiner eigenen theologischen Ethik aus. In seinem Hauptwerk „Autonome Moral und christlicher Glaube“ von 1971 legt er dies dadurch dar, dass er Kant mit Cicero und Aristoteles - den philosophischen Referenzautoren für Ambrosius v. Mailand und für Thomas - parallelisiert. 45 Die Arbeiten des oben bereits vorgestellten Mutschelle gelten ihm dabei als hervorragendes Beispiel für eine entsprechende Integration der kantischen Ethik durch die katholische Theologie, denn Kant befinde „sich, ohne daß er sich dessen bewußt wird, genau auf der Spur des Thomas von Aquin, wenn er das Sittliche in der Vernunft des Menschen angelegt sieht“. 46 In der späteren Auseinandersetzung mit den kritischen Re- Lähmung der moralischen Anstrengungen aufgrund der Einwirkung der Gnade an (298 f.), gestehe aber trotz seiner Ablehnung gegenüber allem Sakramentalen und Mystischen in der Religion ein, dass die Unmöglichkeit der Gnade nicht bewiesen werden kann (303). 43 Steinbüchel ist auch Verfasser einer zweibändigen Einführung zur Philosophie Kants. Seine „philosophische Grundlegung“ lässt eine profunde Kantkenntnis erkennen. Steinbüchel geht z. B. auf die verschiedenen Formulierungen Kants zum Verhältnis zwischen Autonomie und Gottesgedanken (1938b, 248-250) sowie auf die kantische Auffassung vom radikalen Bösen im Menschen und von der göttlichen Mitwirkung (1938a, 107 f.) ein. 44 Vgl. Steinbüchel 1938b, 61-65, Zitate: 63, vgl. auch Gaziaux 1998, 155-213, u. Grill 2008, 251 u. 256. 45 Vgl. Auer 2 1984, 131. 46 Vgl. Auer 2 1984, 131-136, Zitat: 132. <?page no="22"?> 22 1 Einleitung aktionen auf das Werk bestreitet Auer allerdings, dass er den Autonomiebegriff von Kant übernommen habe. Er betont aber weiterhin die Gemeinsamkeit, die zwischen einer (an Thomas orientierten) Moraltheologie und den kantischen Moralprinzipien herrsche. 47 Man kann allerdings in der Schrift Auers mehrere, sogleich näher zu beschreibende Merkmale ausmachen, die zeigen, dass eine solche Verbrüderung sachlich nicht berechtigt ist. Die sachlich unbegründete Verbrüderung trug mit dazu bei, dass sich die unklare Beziehung zwischen der katholischen Moraltheologie und der kantischen Moralphilosophie fortsetzte. Mehr noch, die „autonome Moral“ und die daran anschließenden Debatten verstärkten zeitweise die Einseitigkeit in der moraltheologischen Kantwahrnehmung. Zu den markanten Merkmalen der Auer’schen Moraltheologie gehört deren „seinsethisches“ Fundament. Für Auer inhäriert der Wirklichkeit in all ihren Bereichen eine sinnhafte Ordnung. Die Berechtigung einer Autonomie des sittlichen Urteils ist für ihn darin begründet, dass der Mensch diese Ordnung zu erkennen vermag. Im sittlichen Urteil - sofern es sich auf die sogleich näher zu erläuternden „weltethischen“ Normen bezieht - anerkennt und vollzieht der Mensch das Sein-Können der Wirklichkeit. 48 Ein solcher Theorieansatz ist jedoch nicht nur als solcher gewichtigen Anfragen ausgesetzt, sondern lässt sich auch nicht ohne Weiteres mit der kantischen Moralphilosophie vermitteln. 49 Unstimmigkeiten zeigen sich auch, wenn man sich die binnentheologischen Kontexte vergegenwärtigt, welche die Entwicklung dieses Ansatzes beeinflussten. Auer hatte sich in seinen akademischen Qualifikationsschriften mit dem Moraltheologen F. X. Linsenmann und mit Erasmus von Rotterdam beschäftigt. Bei ersterem entdeckte er den Gedanken einer durch die Schöpfungsordnung begründeten Unabhängigkeit der profanen Wissenschaften von der Theologie 50 , bei zweiterem analysierte er ein Kompendium zur sog. Laienspiritualität 51 . In der Rückschau zeigt sich, dass es neben diesen theologischen Inspirationsquellen vor allem die innerkirchliche Enttäuschung über die Enzyklika „Humanae Vitae“ und die darin enthaltene kirchenamtliche Stellungnahme zur Empfängnisverhütung war, die Auer von der Mangelhaftigkeit der lehramtlichen Argumentationsweise überzeugte und die aus seiner Sicht die Aufnahme der „Autonomie-Vorstellung“ plausibel erscheinen ließ. 52 47 Vgl. Auer 2 1984, 209-211 u. 218-225. 48 Vgl. Auer 2 1984, 15-54 u. 212. 49 Vgl. Hirschi 1992, 126-133, u. Bormann 2002, 481-483. 50 Vgl. Hirschi 1992, 44-56. 51 Vgl. Hirschi 1992, 57-67. 52 Vgl. Auer 1969 u. 2 1984, 209. <?page no="23"?> 1.2 Die Dominanz der Autonomie-Problematik in der späteren Kantrezeption 23 Diese theologische und geschichtliche Ausgangssituation dürfte bedeutenden Einfluss darauf gehabt haben, dass Auers Autonomiebegriff der Sache nach einen recht unkantischen Charakter aufweist. Nirgendwo geht der Moraltheologe auf die spezifischen Anforderungen ein, die Kant zufolge im Falle einer „autonomen“ Betätigung der praktischen Vernunft gegeben sein müssen. Auer schreibt selbst, dass durch die autonome Ethik „nicht die Autonomie-Vorstellung Kants oder eines anderen Philosophen, sondern eine allgemeine Vorstellung von Autonomie, wie sie sozusagen in der Luft lag“ 53 , rezipiert werden sollte. Der Autonomie-Begriff der „autonomen Moral“ hat folglich primär programmatische Bedeutung. Er intendiert eine Aufwertung der praktischen Rationalität gegenüber der kirchlichen Morallehre und eine stärkere Berücksichtigung derjenigen Einsichten, die die Menschen aus dem Kontakt mit den verschiedenen Bereichen ihrer Lebenswelt gewinnen. Der Begriff fügt sich gut in die Gesamtargumentation der Hauptschrift ein, in deren dritten Teil der Theologie und dem kirchlichen Lehramt eine nur subsidiäre Funktion für die moralische Bewertung von Handlungsweisen zugewiesen wird. 54 Die oberflächlichen Parallelen zwischen der Kritik gegen eine unreflektierte Theologisierung oder Verkirchlichung der Ethik und den hierfür einschlägigen Überlegungen Kants stehen außer Frage. Wie im Verlauf dieser Studie dargestellt wird, insistierte auch Kant darauf, theologische Voraussetzungen aus der Begründung moralischer Urteile herauszuhalten. Wichtig ist an dieser Stelle aber zu sehen, dass dieser Umstand Konsequenzen dafür hatte, aus welchen Motiven heraus Kant in der Moraltheologie herangezogen wurde - und welche Aspekte aus dessen umfangreichem Schrifttum daher stärker rezipiert, welche anderen Aspekte hingegen ausgeblendet wurden. Vermittelt durch die eigentümliche Autonomie-Forderung Auers und anderer Vertreter der autonomen Moral 55 geriet die Kantrezeption in den Strudel des Grundlagenstreits innerhalb der katholischen Moraltheologie. Statt sich detailliert mit den umfänglichen Quellen und den darin entfalteten Argumenten zu beschäftigen, wurde Kant als Galionsfigur einer Ethik der Freiheit und der Selbstbestimmung wahrgenommen, die nun endlich auch für die katholische Moraltheologie rezipierbar ist oder aber zu einer problematischen Säkularisierung der christlich-religiösen Moralauffassung beiträgt. So verzichtete Auer darauf, diejenigen Überlegungen Kants aufzunehmen, in denen der Philosoph über die moralische Relevanz der Theologie und der religiösen Praxis nachdenkt. Kant selbst beschäftigte sich intensiv mit theologischen 53 Auer 2 1984, 209. 54 Vgl. Auer 2 1984, 137-197. 55 Bspw. F. Böckle und J. Fuchs (vgl. Gillen 1989, 73 f.). <?page no="24"?> 24 1 Einleitung Traditionen. Immer wieder formulierte er Theorien dazu, welche Bedeutung verschiedene theologische Lehren für das praktisch-moralische Selbstverständnis des Menschen und für dessen moralische Praxis haben. Und trotz seines Optimismus hinsichtlich der praktischen Rationalität sind es gerade auch die Unzulänglichkeiten und Verfehlungen der menschlichen Selbstbestimmung, in denen er sich genötigt sieht, theologische Motive und Überlegungen in seine Moralphilosophie zu integrieren. Die theologie- und zeitgeschichtlichen Hintergründe der Autonomiefrage machten es jedoch weder für Auer noch für die nachfolgende Debatte interessant, sich mit diesem Aspekt der kantischen Ethik und den hierfür einschlägigen Texten im Werk Kants zu beschäftigen. Der systematische Schulterschluss zwischen der thomanischen Naturrechtslehre und dem Autonomie-Begriff wurde durch K.-W. Merks weiterverfolgt. Merks bezieht sich in der Begründung seiner Fragestellung auf Auer sowie dessen Rückbesinnung auf die Vordenker der Autonomie, und kommt schließlich zu dem Ergebnis, dass Thomas trotz aller Unterschiede in der Argumentation zu diesen Vordenkern gerechnet werden kann. 56 Gleichzeitig erscheint ein von C. J. Pinto de Oliveira und D. Mieth herausgegebener Sammelband, in dem sich eine Reihe von theologischen Ethikern mit den semantischen Hintergründen des Autonomie-Begriffs befassen. Neben dem Begriff „Menschenwürde“ ist es auch hier vor allem die Autonomieproblematik, hinsichtlich derer das Verhältnis zwischen der katholischen Moraltheologie und Kant erörtert wird. 57 Zwei Jahre später, 1980, wird Auer anlässlich seines 65. Geburtstages mit einer Festschrift geehrt. Die Festschrift führte die Debatte insofern weiter, als sie den Ausdruck ‚nicht nur Autonomie der Moral - sondern Moral der Autonomie‘ nennt und das dem Autonomie-Begriff anhaftende Vorurteil einer absolut-willkürlichen Selbstverwirklichung des Individuums widerlegt. Die kantische Ethik - so stellen die unterschiedlichen Autoren fest - bietet gerade kein gutes Beispiel für eine derartige individualistisch verengte Willkürkonzeption, da sie mit dem Hinweis auf die ‚autonome‘ Urteilsbildung der praktischen Vernunft zwar die Emanzipation des Sittlichen aus religiösen und weltanschaulichen Voraussetzungen betreibt, die tatsächlich autonome Urteilsbildung aber an verallgemeinerbare Prinzipien bindet. 58 Lediglich angedeutet wird, dass Kant auch über die moralische Relevanz der christlichen Religion und der Theologie für seine ‚Moral der Autonomie‘ nachgedacht hat. 59 56 Vgl. Merks 1978, bes. 16 u. 353 f. Dass die Arbeit von Merks so aufgenommen wurde, zeigt der Aufsatz von Hoffmann 1980, 100-106. 57 Vgl. nebst der Einleitung von Pinto de Oliveira (1978, 9-18) die Beiträge von Mieth (85- 103) und Compagnoni (124-142). 58 Vgl. Kasper 1980, 27 f., Mieth 1980, 74, Schwartländer 1980, 76-82. 59 Vgl. Kasper 1980, 28, u. Schwartländer 1980, 82. <?page no="25"?> 1.2 Die Dominanz der Autonomie-Problematik in der späteren Kantrezeption 25 Einen Kontrapunkt in der Debatte bildet die Studie von K. Hilpert, in der die Genealogie des Autonomieproblems untersucht wird. Hilpert kommt zu dem Ergebnis, dass die Ausbildung der Autonomie-Ethik mit einem grundsätzlichen Wandel des Wirklichkeitsverständnisses in der Neuzeit zusammenhängt. Auf Kant bezogen bedeutet das: Im Gegensatz zu manchen Positionen der scholastischen Erkenntnistheorie wird das Begreifen der Wirklichkeit von ihm nicht mehr als rezeptiver Abbildungsvorgang aufgefasst. Allein schon deshalb ist es ausgeschlossen, das moralische Urteil auf teleologische Seinsprinzipien zu gründen. Das Unbedingte, auf das sich die sittliche Selbstbestimmung des Menschen stützt, wird daher in das ‚autonome‘ Prinzip der praktischen Rationalität als solche, namentlich in die Verallgemeinerbarkeit von Handlungsmaximen, verlagert. 60 Dies stellt für den Autor insofern einen gewichtigen Einwand gegen den Auer’schen Entwurf und die darin vorgenommene Bezugnahme auf Kant dar, als Auer diese grundsätzliche Diastase zwischen dem von ihm zitierten Wirklichkeits- und Moralverständnis vorneuzeitlicher Prägung und dem geistesgeschichtlich voraussetzungsreichen Autonomie-Begriff nicht berücksichtigte. 61 D. Witschen, der kurze Zeit später eine Verhältnisbestimmung zwischen Kants Ethik und der „Idee einer christlichen Ethik“ vornahm, motiviert seine Studie ebenfalls im Grundlagenstreit um die autonome Moral. Seines Erachtens stellt Kant die „ursprüngliche[] und weiterhin exemplarische[] Gestalt“ für eine autonome Moral dar. 62 Kant - so lässt diese Formulierung erkennen - gilt hier folglich als der philosophische Gewährsmann einer innertheologisch diskutierten Moraltheorie. Am Ende des Buches steht das positive Fazit, dass die „Grund- 60 Vgl. Hilpert 1980, 511-527, bes. 519 f. 61 Vgl. Hilpert 1980, 561-564 u. 578-582. - Neben dem Autonomieproblem schlägt sich in Hilperts Arbeit auch die Frage nach dem ‚Proprium der christlichen Moral‘ nieder, die ebenfalls im Zusammenhang mit der ‚autonomen Moral‘ diskutiert wurde (546-550). Für Auer und andere sind den Christen im Bereich des ‚Weltethos‘, wo es um Handlungen in den verschiedenen Sachbereichen der Wirklichkeit geht, keine anderen Normen auferlegt als solche, die auch durch Nicht-Christen auf dem Wege vernünftiger Reflexion eingesehen werden könnten. Davon zu unterscheiden ist der Bereich des ‚Heilsethos‘, d. h. derjenigen Normen, die sich aus dem Offenbarungszeugnis oder dem theologischen Nachdenken über die unmittelbare Gottesbeziehung ergeben und deren Sinn und Berechtigung nur unter Voraussetzung des Glaubens akzeptiert werden kann (vgl. Auer 2 1984, bes. 12, 161 u. 185 f.). Eine solche Unterscheidung wirft die Frage auf, worin dann jeweils die theologisch zu begründende und in der kirchlichen Morallehre festzuhaltende Eigentümlichkeit (das proprium ) der christlichen Ethik besteht (vgl. Auer 2 1984, bes. 163- 172 u. 185-197). B. Stoeckle, der die Studie von Hilpert betreute, konnte der Unterscheidung nichts abgewinnen. Er sah den Auftrag der theologischen Ethik darin, eine theologisch fundierte Sicht der Moralität zu entfalten (Stoeckle 1974, 128-143). Vgl. zu dieser Thematik auch den Sammelband von Mieth/ Compagnoni 1978 (bes. die Beiträge von E. Schillebeeckx, J. Fuchs und T. Styczen im ersten Teil), Gillen 1989 u. Bobbert/ Mieth 2015. 62 Witschen 1984, 4. <?page no="26"?> 26 1 Einleitung züge der kantischen Ethik […] und die grundsätzliche Verhältnisbestimmung zwischen Moral und Religion durchaus mit einer christlichen Ethik vereinbar sind“. 63 Um dies aufzeigen zu können, verfolgt Witschen eine „Konvergenzargumentation“, wobei er für die Argumentation bedeutsame Aspekte der beiden Bezugsgrößen auswählt und auf ihre Gemeinsamkeiten hin untersucht. 64 Als ein Vergleichspunkt dient ihm beispielsweise der kognitivistische Ansatz in der Normbegründung, den er sowohl in der kantischen Moralphilosophie als auch in der christlichen Ethik ausmachen kann. 65 Die Besonderheit der Kantrezeption Witschens besteht darin, dass er in diese positive Verhältnisbestimmung auch diejenigen Teile der kantischen Ethik einbezieht, in denen Kant verschiedene theologische Lehrstücke aufgreift. Die bereits erwähnte Studie von Keller hatte diese Aspekte nicht unbeachtet gelassen 66 und auch Hilpert befasste sich vergleichsweise detailliert mit Kants Religionsschrift 67 . Letzterer zog hieraus allerdings keine Konsequenzen für seine moraltheologische Stellungnahme zu Kants Ethik. Witschen stellt nun ausführlich die Theorie vom radikalen Bösen und von dessen Überwindung vor, er geht der Idee des höchsten Gutes sowie den Postulaten der Unsterblichkeit und der Existenz Gottes nach und diskutiert die Lehre von der gnadenhaften Mithilfe Gottes. 68 Der Moraltheologe interessiert sich dafür, wie Kant die moralische Relevanz der (christlichen) Religion bedenkt. Andererseits leidet auch die Auseinandersetzung mit diesen Teilen der kantischen Ethik an der Selektivität, die durch das übergeordnete Anliegen der Konvergenzargumentation gegeben ist. Hierdurch kommen mitunter die werkimmanenten Spannungen und Eigentümlichkeiten, die auf interpretatorische Probleme hindeuten bzw. zur theologischen Kritik Anlass geben, zu kurz. Witschen ließ seiner Studie noch eine Reihe weiterer Arbeiten mit ähnlicher Zielsetzung folgen, in denen allerdings die Vereinbarkeit zwischen der kantischen Religionskonzeption und theologisch-systematischen Sichtweisen teilweise kritischer beurteilt wurde. 69 Die Debatte um die autonome Moral stellt weiterhin ein wichtiges Motiv für die Moraltheologie dar, sich mit Kants Ethik zu beschäftigen. Wie sich in der Rückschau abzeichnet, gehen die Beiträge der vergangenen dreißig Jahre jedoch 63 Witschen 1984, 292. 64 Vgl. Witschen 1984, 6: „Zum anderen bedeutet es [sc. das erkenntnisleitende Interesse in Bezug auf die Kant-Interpretation], daß im Sinne einer Konvergenzarumentation nur einige Grundzüge der kantischen Ethik in einer uns plausibel und konsistent erscheinenden Art und Weise vorgestellt werden sollen.“ 65 Vgl. Witschen 1984, 250-271. 66 Vgl. Keller 1976, 52-64. 67 Vgl. Hilpert 1980, 151-191. 68 Vgl. Witschen 1984, 88-112, 187-211, 240-249. 69 Vgl. Witschen 2009, bes. Kap. 2, Kap. 6 u. Kap. 9. <?page no="27"?> 1.2 Die Dominanz der Autonomie-Problematik in der späteren Kantrezeption 27 über die Diskussion der kantischen Autonomiekonzeption hinaus. So steuerte beispielsweise L. Honnefelder einen Aufsatz zu einem theologisch-ethischen Sammelband bei, der sich ausdrücklich auf die durch Auer angestoßene Debatte zurückbezieht. Honnefelder benennt darin zwar die kantische Abwehr eines theonomen Moralpositivismus. Ebenso diskutiert er allerdings Textstellen, an denen Kant die motivationale Relevanz der Hoffnung auf eine jenseitige Welt und das moralische Versagen des Menschen bedenkt. 70 Weitergeführt wurde die theologisch-ethische Kantrezeption außerdem durch transzendentalphilosophische Reflexionen in der Dogmatik, die sich mit Kants Lehre von der Freiheit als dem Unbedingten im Menschen befassen. 71 In der jüngeren moraltheologischen Kantrezeption rücken nun verstärkt diejenigen Aspekte der kantischen Ethik in das Zentrum der Aufmerksamkeit, in denen der Religion eine unterstützende Funktion für die moralische Praxis zugedacht wird. Der Beitrag des Philosophen R. Wimmer zum Kongress der Moraltheologen und Sozialethiker von 2009 betont, dass zwischen den moralphilosophischen und den religionsphilosophischen Gedankengängen Kants insofern ein Verhältnis der Asymmetrie herrscht, als erste von letzteren unabhängig sind, während die religionsphilosophischen Überlegungen eine methodische und begriffliche Abhängigkeit von den moralphilosophischen Voraussetzungen aufweisen. 72 Die systematische Verbindung hierfür besteht in dem vorwiegend funktionalistischen Gottes- und Religionsverständnis Kants, das religiöse Überzeugungen von den Erfordernissen der praktischen Vernunft her begründet. 73 Das bedeutet jedoch umgekehrt, dass bei Kant eine Idee dazu vorliegt, inwiefern praktische Rationalität mit religiösen Überzeugungen verbunden ist. Die Beiträge der Moraltheologen G. Höver und R. Lutz auf demselben Kongress knüpfen das Band zwischen dem moralischen Handeln des Menschen und der Hoffnung auf das unterstützende und erfüllende Handeln Gottes noch enger. 74 In diesen und anderen Beiträgen 75 zeichnet sich im Vergleich zur dominierenden Kantrezeption des 20. Jahrhunderts eine erhebliche Erweiterung ab. Und angesichts der skizzierten Rezeptionsgeschichte kann man die systematische Bedeutung einer solchen Perspektiverweiterung kaum hoch genug veranschlagen! - Kant wird von Seiten der katholisch-theologischen Ethik nun nicht mehr primär als Vertreter einer „autonomen Ethik“ wahrgenommen, sondern als Mo- 70 Vgl. Honnefelder 1996, 123 f. 71 Vgl. bspw. Hoping 1990, sowie Pröpper 1996 u. 1998. 72 Vgl. Wimmer 2010, 111. 73 Vgl. Wimmer 2010, 116. 74 Vgl. Höver 2010 u. Lutz 2010. 75 Vgl. Schockenhoff 1991, 81-83, 1995, 117-120, u. 2012, 130 f., Kasper 2012, 35 f. sowie Rossi 1982, 1991, 2006 u. 2010. <?page no="28"?> 28 1 Einleitung ralphilosoph, der eine differenzierte Theorie zur Relevanz des Gottesglaubens und der Religion für die Moral unterbreitet. Im Gegensatz zur Debatte um die „autonome Moral“ wird die Berechtigung eines kognitiven, von religiösen Vorannahmen unabhängigen Verfahrens der Moralbegründung, wie es auch bei Kant zu finden ist, nicht in Frage gestellt. Vielmehr stellt Kant ein interessanter Gesprächspartner dar, um gerade vor dem Hintergrund eines solchen (mehr oder weniger akzeptierten) moraltheoretischen Grundansatzes die ethische Relevanz der (christlichen) Religion zu diskutieren. Die einschlägigen moraltheologischen Beiträge beziehen sich dabei in erster Linie auf die Lehre vom summum bonum bzw. vom höchsten Gut, die Kant in seinen drei Kritiken sowie in manchen Teilen der Religionsschrift ausführt. Die an der moraltheologischen Debatte beteiligten Autoren sehen durchaus, dass Kant auch andere Ansatzpunkte gewählt hat, an denen die Moral zur Religion führt. Dennoch wird vor allem die Frage nach dem Endzweck des moralischen Handelns und die Antwort einer durch Gott vollführten Entsprechung zwischen Glückswürdigkeit und Glückseligkeit als der zentrale Argumentationszusammenhang rekonstruiert, auf dem die kantische Theorie zur moralischen Relevanz der Religion aufbaut. Zuweilen wird der Eindruck erweckt, als ob Kant lediglich in der Lehre vom höchsten Gut über den Zusammenhang zwischen Moralität und Religiosität nachgedacht habe. 76 Der auf die Lehre vom höchsten Gut fokussierten Kantrezeption korrespondiert dann auch eine entsprechende Auswahl von Referenztexten, was dazu führt, dass die Religionsschrift und insbesondere deren inhaltlich anders gelagerten Textteile nur verkürzt wahrgenommen werden. 1.3 Die Vorgehensweise und die Intentionen der Studie Die vorhergehenden Abschnitte dürften deutlich gemacht haben, dass die Wahrnehmung der praktischen Philosophie Kants innerhalb der katholischen Moraltheologie in hohem Maße von theologischen Motiven und innerkirchlichen Problemstellungen beeinflusst wurde. Zu Kants Zeiten betraf dies beispielsweise die Unzufriedenheit darüber, dass sich die Moraltheologie sehr stark an dem 76 Vgl. bspw. Schockenhoff 2012, 130f: „Um der Sinnhaftigkeit der Moral willen postuliert Kant Gott als den moralischen Urheber einer Welt, in der die Kongruenz von Glück und Moral kontrafaktisch erhofft werden kann. […] Gott wird in Kants Vernunftglauben nur als der oberste Diener des höchsten Guts benötigt, der die Erreichbarkeit des sittlichen Weltzwecks gewährleisten soll, indem er durch einen postmortalen Ausgleich von Moralität und Glück die Sinnhaftigkeit moralischen Handelns in einer Welt sicherstellt, in der dieser Ausgleich nach allgemeiner menschlicher Erfahrung nicht angetroffen werden kann.“ <?page no="29"?> 1.3 Die Vorgehensweise und die Intentionen der Studie 29 eudämonistischen Rationalismus der aufklärerischen Moralphilosophie orientierte. Im 20. Jahrhundert war es vor allem die theologiegeschichtlich bedingte und kirchengeschichtlich virulente Auseinandersetzung um die Unabhängigkeit der praktischen Rationalität von Voraussetzungen des Glaubens bzw. der Glaubensgemeinschaft. Je nach Anhänglichkeit zu der einen oder anderen theologischen Position sah man sich zumeist aufgefordert, zur kantischen Ethik in toto Stellung zu nehmen. Die komplexe Moralphilosophie Kants wurde so zum Gegenstand pauschaler Verdikte oder großzügiger Bundesschlüsse. Methodisch wurden diese Tendenzen dadurch befördert, dass auf Seiten der Moraltheologie eher wenig Anstrengungen unternommen wurden, das gewaltige Œuvre Kants eingehend zu studieren und hierzu auch die aktuellen Beiträge der philosophischen Forschung zur Hilfe zu nehmen. Kants Ethik war und ist innerphilosophisch ein Gegenstand vitaler und ausführlicher Debatten. Jede Kantlektüre, auch die theologisch motivierte, stellt auf die ein oder andere Weise eine Stellungnahme zu den philosophischerseits vertretenen Interpretationen dar. Die Selbstvergewisserung bei der Lektüre anspruchsvoller philosophischer Texte und die ‚Anschlussfähigkeit‘ des moraltheologischen Argumentierens, die zeitgleich mit der Kantrezeption eingefordert wird, machen es aber m. E. unabdingbar, das Verhältnis zwischen den eigenen Bezugnahmen auf Kant und anderen Interpretationsmeinungen zumindest offen darzulegen. Auf diese Weise wäre möglicherweise auch nicht so leicht aus dem Blickfeld geraten, dass das diffizile moralphilosophische Forschen Kants kein geschlossenes Moralsystem bildet, sondern eine keineswegs bruchlose Entwicklung durchlief und an vielen Stellen sehr unmittelbar auf die Moralphilosophien seines Umfeldes bezogen ist. Die vorliegende Studie fokussiert sich auf die Überlegungen zum Beistand Gottes angesichts der Unheiligkeit des Menschen, die Kant in seinen Vorlesungen zur Ethik und in der Religionsschrift ausführt. Die Studie knüpft damit einerseits an die jüngere Phase der moraltheologischen Kantrezeption an, in der den Ausführungen zur moralischen Relevanz der Religion verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Andererseits verhält sie sich hierzu komplementär, da sie sich mit Texten beschäftigt, die bislang zu wenig und zu wenig detailliert wahrgenommen wurden, und neben der Lehre vom höchsten Gut einen zweiten wichtigen Reflexionsstrang betont, mit dem Kant über die moralische Relevanz der christlichen Religion nachdenkt - nämlich die Idee, dass der moralische geforderte Mensch von einer göttlichen Unterstützung ausgehen muss, die seiner Unfähigkeit zur vollständigen Entsprechung gegenüber dem Moralgesetz in näher zu bestimmender Weise abhilft. Dieser Reflexionsstrang stellt eine wichtige Grundlage für die kantische Überzeugung von der moralischen Relevanz von Religion dar und zieht sich wie ein roter Faden durch die RGV, die an vielen Stellen nach Antworten auf die Frage sucht, wie der Mensch gemessen <?page no="30"?> 30 1 Einleitung an den gewaltigen Ansprüchen des Moralgesetzes überhaupt moralisch ‚gut‘ werden kann. Um dies darzulegen, werden in Kap. 2 zunächst die heterogenen Herangehensweisen vorgestellt, von denen die zahlreichen Untersuchungen zur Religionsschrift ihren Ausgang nehmen. Es soll hier bewusst ein weites Spektrum von Interpretationsansätzen widergegeben werden, um erstens einen Einblick in die aktuelle und äußerst vitale philosophische Debatte um die Schrift zu gewinnen und zweitens einige Tendenzen kritisch zu beleuchten, die bedeutenden Einfluss darauf haben, unter welchen Vorannahmen auf die RGV Bezug genommen wird. Gegen Ende des Kapitels (2.6) wird die hier verfolgte Interpretation in dieser vielstimmigen Interpretationslandschaft verortet und der eingeschlagene Interpretationsweg gegenüber alternativen Herangehensweisen profiliert. Dabei wird sich zeigen, dass die bisherigen RGV-Interpretationen vorrangig die Zusammenhänge der Schrift mit anderen Texten aus dem veröffentlichten Werk Kants diskutierten. Demgegenüber besteht das methodische Charakteristikum des hier gewählten Interpretationsweges darin, die Religionsschrift mit Kants Vorlesungen zur Ethik in Beziehung zu setzen. Kant behandelte in seinen Vorlesungen auch die religiösen Pflichten. Und die Traktierung dieses Pflichtenkreises lässt zahlreiche Überlegungen erkennen, die uns auch in der Religionsschrift begegnen. Die Analyse der Ethikvorlesungen in Kap. 3 verortet zahlreiche Begriffe und Argumente aus der Religionsschrift in den Ethik-Vorlesungen, die sich wiederum sehr eng an die Lehrstücke der vorkantischen Moralphilosophie anlehnten. Der wichtigste Grund für die Einbeziehung der Vorlesungen liegt jedoch in der These von der moralischen Relevanz des göttlichen Beistands, wovon sowohl in den Vorlesungen als auch in der Religionsschrift die Rede ist. Es zeigt sich, dass das kantische Nachdenken über Religion immer schon mit einer gewissen Auffassung hinsichtlich der gnadenhaft-göttlichen Unterstützung für die menschlichen Moralanstrengungen verknüpft war. Vor einem solchen Hintergrund erscheint die Religionsschrift, in der an zahlreichen Stellen das Problem des göttlichen Beistandes diskutiert und ausdrücklich über das rechte, weil moralisch begründete Verständnis von Religion nachgedacht wird, in einem anderen Licht. Kap. 4 wird im Durchgang durch den RGV-Text darlegen, dass weite Teile der Schrift eine Auseinandersetzung mit der Thematik bieten, wie der moralisch fehlerhafte Mensch sich bessern kann und dass Kants Ansicht nach hierfür der göttliche Beistand bzw. die Annahme eines solchen hilfreich ist. Es handelt sich bei der RGV zwar um eine vielschichtige und facettenreiche Schrift, die sich nicht einer einzigen einheitlichen Reflexionsbewegung zuordnen lässt. Die Überlegungen zur Besserung und zur gnadenhaften Mithilfe Gottes sind je- <?page no="31"?> 1.3 Die Vorgehensweise und die Intentionen der Studie 31 doch an sehr vielen Stellen präsent. Kant variiert das Beistandsargument über die Schrift hinweg. Er kommt zu unterschiedlichen Lösungen und bringt das Argument mit verschiedenen, thematisch anders akzentuierten Kontexten in Verbindung. In Kap. 5 werden die Ergebnisse der Studie zusammengefasst und einige Folgerungen benannt, die sich aus der Untersuchung ziehen lassen. Spätestens in diesem Kapitel wird deutlich werden, dass es auch ein systematisches Motiv dafür gibt, sich als Moraltheologe mit den kantischen Überlegungen zum Ideal der Heiligkeit und zum göttlichen Beistand zu befassen. Vielfach wurde zu wenig beachtet, dass Kants Denken - wie die Vorlesungen zur Ethik und die damit zusammenhängende Religionsschrift dokumentieren - eine größere Sensibilität für das moralische Versagen und die Unterstützungsbedürftigkeit des Menschen erkennen lassen als manche moraltheologischen Entwürfe. Für die katholische Moraltheologie sind diese Aspekte der kantischen Ethik interessant, weil in ihnen auf der Grundlage eines kognitivistischen und nach wie vor viel beachteten Ethikansatzes ein Vorschlag dazu unterbreitet wird, die ethische Relevanz der theologisch zentralen Kategorien von Sünde und Gnade zu bedenken. Um zu diesem Vorschlag aus moraltheologischer Perspektive Stellung nehmen und auch darlegen zu können, inwiefern die kantische Beistandslehre nicht nachvollziehbare Auffassungen einschließt, ist es erforderlich, die einschlägigen Ansichten Kants präzise und bezüglich der maßgeblichen Argumente wahrzunehmen. <?page no="33"?> 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen Die Religionsschrift, ein wichtiger Referenztext für Kants Überlegungen zur moralischen Relevanz von Religion, gibt Probleme en masse auf. Es handelt sich um einen vielschichtigen und thematisch reichhaltigen Text. Die Gedankenführung ist oftmals erläuterungsbedürftig oder gar unklar. Und selbst wenn die Einsicht in das, was Kant darzulegen versucht, gelingt, erscheint die Plausibilität der vorgetragenen Argumente und Behauptungen fraglich. Daher ist es verständlich, dass die Schrift Anlass gibt, vielfältige und kontrovers diskutierte Interpretationshypothesen aufzustellen. In diesem Kapitel werden zunächst zwei übergeordnete Fragestellungen exponiert, welche die späte Schrift Kants seit ihrem Erscheinen begleiten und auch noch in der aktuellen Interpretationsdebatte eine wichtige Rolle spielen. Die weiteren Abschnitte stellen eine Reihe von Interpretationsansätzen und -hypothesen zur RGV vor. Bei der Darstellung der Positionen wird aufgezeigt, wie vielfältig die Perspektiven sind, unter denen die Schrift jeweils beleuchtet wird, und dass es unter anderem von der Wahl der Betrachtungsperspektive abhängt, ob die kantische Theorie vom göttlichen Beistand überhaupt als bedeutendes Thema der Schrift wahrgenommen wird. Da das Kapitel nebenbei auch in die vier Teile der Religionsschrift sowie in einige Zusammenhänge mit den sonstigen Druckschriften Kants einführen soll, werden die Interpretationen so vorgestellt, dass auch die Stellen aus Kants Werk, auf die sie jeweils Bezug nehmen, zur Sprache kommen. 2.1 Eine späte Schrift Kants Die Entstehung der RGV wird von zwei Sagen umrankt. Wie in vielen Sagen werden hier in Form von dramatischen Erzählungen Fragen verhandelt, die sich den Lesern bzw. Leserinnen früher wie heute stellen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass beide Sagen bis in die aktuelle Interpretationsdebatte hinein immer wieder aufgegriffen werden. Die erste Sage kann mit ‚Kant und die Zensur‘ betitelt werden und erzählt die Geschichte eines Konfliktes, der sich zwischen Kant auf der einen und der unheiligen Allianz aus preußischer Monarchie und Kirche auf der anderen Seite bezüglich der philosophisch-kritischen Behandlung des Religionsthemas ent- <?page no="34"?> 34 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen zündet hat. Nur unter großer Vorsicht - so insinuiert die Sage - konnte sich der verfolgte Philosoph daher mit dem Religionsthema beschäftigen. 1 Die zweite Sage handelt vom ‚altersmilden Kant‘, der nach der Destruktion der metaphysischen Gotteslehre, nach der Aufklärung allen Autoritätsgehorsams als abzuschüttelnder Unmündigkeit und nach der Herauslösung der praktisch-moralischen Frage ‚Was soll ich tun? ‘ aus einem religiösen Bezugsrahmen erneut auf das Religionsthema zugeht. Von den Gründen dieser späten Zuwendung zur Religion wird Unterschiedliches erzählt: Vielleicht wollte er den „christlichen Dom […] in Königsberg“ 2 nicht einfach ignorieren oder zu den durch seine Philosophie beunruhigten religiösen Mitmenschen eine Brücke schlagen 3 . Oder vielleicht hatte auch er das Bedürfnis, sich angesichts des nahenden Lebensendes über seine eigenen religiösen Überzeugungen zu vergewissern. 4 Hinter der ersten Sage verbirgt sich die Frage nach der komplexen Entstehungsgeschichte der Schrift. Diesbezüglich ist zunächst die Tatsache in Rechnung zu stellen, dass der vorliegende Text alles andere als aus einem Guss ist: Der erste Teil der Schrift erscheint 1792 in der April-Nummer der ‚Berlinischen Monatsschrift‘, einer von J. E. Biester herausgegebenen Zeitschrift. Die in derselben Zeitschrift vorbereitete Veröffentlichung des Folgeaufsatzes, der mit dem heutigen zweiten Stück der Schrift identisch sein dürfte, scheitert hingegen im Juni desselben Jahres, da ihm das imprimatur der kurz zuvor eingerichteten ‚Immediaten Examinations-Kommission‘ verweigert wird. Daraufhin fügt Kant den bereits veröffentlichten Text mit dem durchgefallenen Aufsatz, zwei weiteren Kapiteln und einer längeren Vorrede zu einer eigenständigen Publikation zusammen, die er im Frühjahr 1793 unter dem bekannten Titel drucken lässt (A-Auflage). Der Zensurprozess sowie das Verhältnis von theologischer und philosophischer Urteilskompetenz wird dabei mehrfach von Kant thematisiert - beispielsweise in der Wahl des Titels und in einem längeren Teil der Vorrede. 5 1 Vgl. Stangneth 2003, XIV f. 2 Vgl. Jüngel 2011, 40. 3 Vgl. Malter 1975, 149-163, der die Reaktionen von C. Garve, M. Claudius, J. W. v. Goethe, J. C. F. v. Schiller und J. G. Herder referiert. Zu Goethes abfälliger Einschätzung, Kant habe „seinen philosophischen Mantel […] beschlabbert, damit doch auch Christen herbeigelockt werden, den Saum zu küssen“, vgl. auch Höffe 2011, 20. O. O’Neill (1996, 269 f. u. 308) verweist auf H. Heine, der Kants Diener M. Lampe zum Protagonisten dieser religiösen Zeitgenossen stilisiert. 4 Vgl. auch die ähnliche Schilderung von Interpretationstendenzen bei Firestone/ Palmquist 2006, 3. 5 Kant hat offenbar lange über die Betitelung seines Werkes nachgedacht. Die Rechtfertigung des nun verwendeten Titels (B XIII-XX; AA VI 8 7 -11 2 , bes. 9 6-23 ) bezieht die Titelformulierung auf die Zensurzuständigkeiten. Ein Indiz auf einen nicht zum Zuge gekommenen Werktitel liegt in der Betitelung der vier Kapitel vor, die zusätzlich als ‚Stücke‘ der ‚Philosophischen Religionslehre‘ bezeichnet werden. <?page no="35"?> 2.1 Eine späte Schrift Kants 35 Ein Jahr darauf erscheint dann die um eine zweite Vorrede erweiterte, im Fließtext durch geringfügige Corrigenda modifizierte und mit zusätzlichen Fußnoten versehene zweite Auflage der Schrift (B-Auflage). 6 Der Konflikt, der zu einer solchen Textgenese führte, ist indes Teil einer komplexeren Gemengelage im Preußen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Das Zensurwesen wurde von Friedrich Wilhelm II. in den Jahren vor der Veröffentlichung verschärft. Nach dem Scheitern der Aufsatzveröffentlichung bedient sich Kant daher eines juristischen Winkelzuges, den er in der Vorrede zu rechtfertigen versucht: Eine selbständige Publikation eines Universitätsangehörigen konnte ohne Einschaltung der Kommission durch die zuständige Fakultät zensuriert werden. Dementsprechend lässt Kant sich zunächst durch die theologische Fakultät Königsberg bescheinigen, dass die RGV keine theologische Schrift darstelle und daher allein durch die philosophische Fakultät begutachtet werden könne. Daraufhin bittet er die philosophische Fakultät in Jena, wo das Buch gedruckt werden soll, um die Druckerlaubnis, die auch erteilt wird. Nach der Veröffentlichung beider Auflagen erfolgt im Herbst 1794 ein Missbilligungsschreiben des Königs, in dem der Autor gewarnt wird, sich keine weiteren derartigen Angriffe auf die christliche Religion zu Schulden kommen zu lassen. Kant verwahrt sich gegen die erhobenen Vorwürfe, lenkt aber ein und verspricht, sich einschlägiger Äußerungen fürderhin zu enthalten. Nach dem Tod des Königs und der Thronbesteigung des liberaleren Friedrich Wilhelm III. sieht er sich jedoch nicht mehr an dieses Versprechen gebunden. 7 Angesichts dieses tatsächlichen Konfliktverlaufes kann man m. E. in Bezug auf den nicht selten aus der ‚Zensur-Erzählung‘ abgeleiteten Verdacht, Kant 6 Zur unmittelbaren Textgeschichte sowie den zur Verfügung stehenden Quellen und Ausgaben vgl. Stangneth 2003, XXXVII-XL. LXI-LXIV. 7 Vgl. SdF AA VII 5-11, bes. 10. Oftmals wird in diesem Zusammenhang der Name J. C. Wöllner erwähnt. Dieser war zwar an dem die friderizianische Toleranz begrenzenden Religionsedikt von 1788 beteiligt und Verfasser des Missbilligungsschreibens von 1794. Andererseits stand er der Verschärfung der Zensur distanziert gegenüber, wurde von Friedrich Wilhelm II. für die Wirkungslosigkeit der Zensurmaßnahmen gerügt und war insbesondere nicht Mitglied der Kommission, die den Aufsatz Kants ablehnte. Es entspräche daher nicht den komplizierten Macht- und Personenkonstellationen am preußischen Hof, wenn man für die tatsächliche Beargwöhnung der kantischen Veröffentlichungen - sowohl der Herausgeber der Monatsschrift als auch Kant wussten, dass gerade solche Aufsätze wie „Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ von 1791 nicht mehr geduldet würden - ausgerechnet Wöllner verantwortlich machte, obgleich die Präsenz dieses Namens im kantischen Schrifttum den Eindruck erwecken kann, dass es sich hierbei um den Protagonisten der königlich-staatskirchlichen Reaktion handelte (vgl. dagegen DiCenso 2012, 3-9, sowie meine diesbezüglich kritische Rezension 2013, 272 f., zur Rekonstruktion der historischen Vorgänge Stangneth 2003, XVII-LII, u. Wiggermann 2010, 467-471). <?page no="36"?> 36 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen habe sich beim Verfassen der Schrift Zurückhaltung auferlegen müssen, festhalten: Einerseits wusste Kant natürlich, dass die Situation heikel war. Andererseits sicherte er sich juristisch ab und suchte die offene, im Rahmen der Legalität geführte Konfrontation mit der Zensur. Dementsprechend war die Affäre im Ergebnis für Kant harmlos. Die Schrift wurde ein publikatorischer Erfolg. Der inzwischen 71-Jährige, der bereits den Tod seiner engsten Freunde überlebt hatte und sich aufgrund von Altersschwäche ohnehin aus der (bislang auch das Religionsthema behandelnden) Lehrtätigkeit zurückzog, durfte seine königliche Gehaltszulage behalten. Für die folgenden Jahre standen andere Arbeitsprojekte - etwa die Rechtsphilosophie und die Anthropologie 8 - an und mit Ausnahme des Äußerungsverbotes lässt sich die Vorgehensweise als kluge Ausnutzung der gegebenen rechtlichen Spielräume deuten, um dem aufklärerisch-selbstständigen Vernunftgebrauch das gewünschte öffentliche Publikum zu geben. 9 Es liegen nur sehr wenige Anhaltspunkte dafür vor, dass Kant von dem, was er in der Schrift schreibt, in Wirklichkeit nicht so recht überzeugt wäre. 10 Dennoch bleibt die Frage der ersten Sage in anderer Hinsicht spannend. Die mit der Zensur zusammenhängenden Entstehungsumstände machen verständlich, dass die Religionsschrift manche Themen und polemische Einlassungen enthält, die in hohem Maße dem aktuellen Veröffentlichungsverfahren geschuldet sind. Überdies lassen die unterschiedlichen Phasen der Textentstehung verschiedene Akzentsetzungen und Präzisierungen erkennen. So finden wir beispielsweise in den ersten beiden Teilen der Schrift die Theorie einer Schrifthermeneutik, wonach derjenige Sinn aufzusuchen ist, der mit der Vernunft in Harmonie steht, und dies dadurch geschieht, dass die biblischen Geschichten ihrer ‚Hülle‘ entkleidet werden. Es fehlen dort aber Reflexionen auf die spezifischen Zuständigkeiten theologischer und philosophischer Urteilskompetenz, die in den später veröffentlichten Vorreden und im dritten Teil mit dem Thema verbunden werden. 11 Die Verballhornung christlicher Lehren und Vorstellungen scheint mit den Veröffentlichungsphasen fortzuschreiten, wie etwa an der Diskussion der Geburt des Heilandes durch eine jungfräuliche Mutter illustriert werden kann: In einer hinzugefügten Fußnote der B-Auflage werden mit 8 Vgl. MdS-R u. „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“. 9 Vgl. etwa den Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? “, bes. AA VIII 36-42. 10 Ein solcher Anhaltspunkt könnte eine Stelle aus einem Brief an J. G. Fichte von 1792 darstellen, in der Kant auf dessen diesbezügliche Frage hin empfiehlt, eine Schrift „mit den (doch nicht völlig bekannten) Ideen des Censors in Uebereinstimmung zu bringen“, indem zwischen einem „dogmatischen, über alle Zweifel erhabenen Glauben“ und einem „blos moralischen“ Glauben unterschieden wird (vgl. AA XI 308 f.; vgl. hierzu auch Troeltsch 1904, 67-69). Allerdings bezeichnet Kant diese Überlegung im gleichen Brief als „eine in aller Eile hingelegte[] […] Idee“ (309). 11 Siehe Kap. 4.3.3. <?page no="37"?> 2.1 Eine späte Schrift Kants 37 ironischer Überzeichnung und unter Anspielung auf die zeitgenössischen Zeugungstheorien die theoretischen Schwierigkeiten dieser religiösen Vorstellung herausgearbeitet, wobei Kant zu dem Ergebnis kommt, dass in diesem Fall auch eine ‚übernatürliche Schwangerschaft‘ angenommen werden müsste, weil sonst der moralische Makel eben qua mütterlicher Vererbung übertragen würde. Das macht die Suggestivkraft der abschließenden polemischen Frage, ob man sich die theoretischen Behauptungen nicht sparen könne, nahezu unwiderstehlich. 12 Auch die Struktur und die Systematik der Schrift wird Revisionen unterworfen. 13 Der zuerst veröffentlichte Aufsatz firmiert unter dem Titel „Ueber das radikale Boese in der menschlichen Natur“. Er versucht die These von der Bosheit des Menschen zu erklären und handelt in seinem Schlussabschnitt auch von der Besserung bzw. „Von der Wiederherstellung der urspruenglichen Anlage zum Guten in ihre Kraft“, ohne dass eine in der Darstellung oder in der Sache begründete Ergänzungsbedürftigkeit durch weitere Kapitel erkennbar wäre. In der Religionsschrift erscheint der Text jedoch lediglich als erster von vier Teilen einer dramatischen Auseinandersetzung zwischen dem guten und dem bösen Prinzip im Menschen. In der zweiten Auflage setzt Kant die innere Systematisierung seiner Schrift fort, indem er die den einzelnen Stücken beigegebenen „Allgemeinen Anmerkungen“ jeweils betitelt und als „Parerga“ bestimmt, da sie erstens - wie ein ‚Zierrat‘ - rein äußerlich zur eigentlichen Religion innerhalb der bloßen Vernunft hinzukommen und zweitens lediglich der „Wegräumung“ von Hindernissen für die praktische Vernunft dienen, was ein „Nebengeschäft“ („Parergon“ > griechisch: πάρεργον ) darstelle. 14 12 Vgl. B 109f/ AA VI 80 13-40 . Da im ersten Teil der Fußnote (Z. 13-24) eine Rationalisierung der Erzählung von der jungfräulichen Geburt versucht wird, steht diese Hinzufügung in gewisser Spannung zu RGV I, wo von der Übertragung des Bösen mittels Anerbung gesagt wird, es sei die ‚unschicklichste‘ Erklärung für die Verbreitung des Bösen unter den Menschen (vgl. 41/ 40 8-15 ). Kant spielt mit den dargestellten Überlegungen auf die Zeugungstheorien des 18. Jhd. und insbesondere auf die Entdeckung des weiblichen ovolum an, vgl. zu diesem medizingeschichtlichen Hintergrund Hack 2011, 65-68. 13 Das überlieferte Material der Vorarbeiten hat diesbezüglich keine Aussagekraft, da die auf ‚losen Blätter‘ vorfindlichen Notizen nach ihrer inhaltlichen Passung zu den veröffentlichten Schriften ausgewertet wurden, die Originale nicht mehr zur Verfügung stehen (vgl. Lehmann in AA XXIII, 505-518) und die Textbausteine als solche keinen Gesamtentwurf voraussetzen. Andererseits wissen wir, dass die Schrift bereits wenige Monate nach dem ersten Aufsatz abgeschlossen war, da Kant im August 1792 die theologische Fakultät um Begutachtung bittet (vgl. AA XI 358) und zumindest C. F. Stäudlin gegenüber erklärt, ursprünglich ein vierteilige Aufsatzserie in der Berlinischen Monatsschrift geplant zu haben (vgl. AA XI 415). 14 Kant nennt folgende Titel: (1) von Gnadenwirkungen, (2) von Wundern, (3) von Glaubensgeheimnissen, (4) von Gnadenmittel. Die Systematisierung erscheint insofern noch komplexer, als den vier Parerga spezifische Probleme zur Seite gestellt werden, die sich aus ihnen ergeben, wenn der Zierrat in die Religion eingeht (‚Schwärmerei‘, ‚Aberglau- <?page no="38"?> 38 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen Wir haben es folglich mit einer Schrift zu tun, die schrittweise in diejenige Gestalt überführt wurde, die uns heute vorliegt. Dieser Überformungsprozess ist auch den religionspolitischen Verwicklungen geschuldet, die sich wiederum in den Inhalten und der Konzeption der Schrift selbst niederschlagen. Der Text wird in der Überarbeitung von der Aufsatzpublikation zum vierteiligen Werk und erneut durch die Zusätze der B-Auflage auf die religionsphilosophische und offenbarungskritische Thematik hin zugespitzt. Das die Lektüre des Endtextes lenkende Programm einer Überprüfung der christlichen Offenbarungsreligion auf ihre Vereinbarkeit mit der ‚Vernunftreligion‘ sowie einer Rationalisierungsbedürftigkeit der christlichen Offenbarung erscheint erst in der letzten von Kant autorisierten Auflage der Schrift. 15 Zugleich dürfen wir den Effekt einer nachweisbaren religionspolitischen und religionsphilosophischen Transformation bei der Entstehung der Schrift nicht zu hoch veranschlagen. Kant bearbeitet in allen Textteilen moralphilosophische Problemüberhänge, die seines Erachtens ohne Religion keiner überzeugenden Lösung zugeführt werden können. Allerdings zieht er hierfür nicht irgendeine Religion heran, sondern eine solche, die seines Erachtens ein Profil aufweist, das besonders gut zu der vorausgesetzten Auffassung von Moralität passt. Auch die sonstige Vorgehensweise in der Religionsschrift zeichnet sich durch eine kontinuierliche Verschränkung von moralphilosophischen und religionsphilosophischen Reflexionen aus. Es ist allerdings wichtig zu sehen, dass die Zensur-Sage in Verbindung mit den kantischen Überarbeitungen leicht das Vorverständnis erwecken kann, als läge hier eine primär religionsphilosophische Schrift vor. Ein solches Vorverständnis - das zeigt die Analyse in Kap. 4 - würde den im Text selbst entfalteten Argumenten und Überlegungen jedoch nur teilweise gerecht. Die zweite Erzählung zielt auf das Verhältnis der Religionsschrift zu Kants sonstigem Werk. Diesbezüglich sind zunächst die vielzitierten Hinweise interessant, die Kant selbst hierzu gibt, auch wenn diese wie in anderen Fällen 16 be‘, ‚Illuminatism‘ oder ‚Adeptenwahn‘, ‚Thaumaturgie‘). Am Ende der Schrift wird jedoch im (A-)Haupttext unter dem Oberbegriff ‚Wahnglauben‘ eine dreiteilige Systematik etabliert, wonach Titel (1) und (4) sich mit der gleichen Problematik des Glaubens an (vermeintliche) Gnadenmittel beschäftigen (vgl. B 63/ AA VI 52 16-19 u. B 301f/ AA 194 9-25 ). 15 Vgl. B XXI-XXIII/ AA VI 12 f. (zweite Vorrede), siehe auch Kap. 4.3.3. Vgl. zu diesen Differenzierungen auch Hare 1996, 36, der den Befund jedoch i. S. der zweiten Sage als Zugeständnis an das traditionell-christlich eingestellte Umfeld deutet. 16 Ein Beispiel ist die Behauptung Kants im Vorwort der KrV, er habe dort gegenüber der A-Auflage im Wesentlichen nur die Darstellung verbessert (vgl. B XXXVII-XLIV). De facto weisen beide Auflagen aber beträchtliche textliche Änderungen auf und es ist nicht leicht zu beurteilen, ob diese Behauptung in Bezug auf die in den jeweiligen Texten greifbaren Argumentationen zutreffend ist. <?page no="39"?> 2.1 Eine späte Schrift Kants 39 nicht frei von Stilisierungen sein dürften. Im Kanonkapitel der KrV findet sich die Aufzählung von drei Fragen, die das Interesse der Vernunft zusammenfassen sollen. 17 Kurz nach der Veröffentlichung der RGV bemerkt er in einem Brief an Stäudlin, dass er in der erschienenen Schrift die dritte Frage und damit das dritte Gebiet der ‚reinen Philosophie‘ bearbeitet habe. 18 Nach Auskunft der KdU endet mit der dritten Kritik das ‚kritische Geschäft‘, woraufhin das ‚doctrinale‘ einsetzt. 19 Dieser Einteilung zufolge gehört die Religionsschrift zur materialen philosophischen Lehre, nämlich zum Lehrthema ‚vernünftiges Hoffen‘, und diese Lehre war längst angezielt, musste aber aufgrund der Schwierigkeiten mit der kritischen Untersuchung der Vernunftvermögen aufgeschobenen werden. Im Vorwort zur B-Auflage der RGV versichert Kant zwar gegen eine Rezension, die die Abhängigkeit des Buches von den vorhergehenden kritischen Schriften in Rechnung stellt, dass für das Verständnis der RGV die Kenntnis der ersten beiden Kritiken nicht erforderlich sei, begründet dies aber damit, dass die darin gegebenen Analysen ganz dem gemeinen Menschenverstand entsprächen und daher der Sache nach allgemein verständlich seien. 20 Für Kant steht die Altersschrift folglich ganz auf dem Boden der durch die Kritiken abgesicherten (und als allgemein einsichtig behaupteten) epistemologischen und moralphilosophischen Prinzipien. Dass der Autor selbst sich also gegen den Vorwurf einer intellektuell fragwürdigen Hinwendung zur Religion oder die noch üblere Unterstellung einer Anbiederung an die religiös Gesinnten gewehrt hätte, sagt noch nichts über die tatsächlichen Verhältnisse aus, könnte vielmehr auch Ausdruck einer möglicherweise ins Selbstbild übernommenen Stilisierung sein. Denn in der Tat lassen sich auch gegenläufige und die Einschätzung erheblich verkomplizierende Indizien ausmachen: So wird in der RGV zwar die ‚Hoffnungsfrage‘ verhandelt, diese Hoffnung richtet sich allerdings weniger auf eine Glückseligkeitszuteilung für den Rechtschaffenen als darauf, überhaupt vor Gott als rechtschaffen - ‚gottwohlgefällig‘ - gelten zu können. Wie die moralische Relevanz von Religion sowie die Bestimmung der Vernunftreligion hier begründet 17 Vgl. KrV B 832 f.: „Alles Interesse meiner Vernunft (das speculative sowohl, als das praktische) vereinigt sich in folgenden drei Fragen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich thun? 3. Was darf ich hoffen? “. 18 Vgl. AA XI 414. In dem Brief selbst ist allerdings - ebenso wie in der „Logik“, die auf Kants Vorlesungsmanuskript beruht - von einem Viererschema die Rede: „Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen: 1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich thun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch? “ (vgl. ebd. u. AA IX 25). 19 Vgl. KdU B X/ AA V 170. 20 Vgl. B XXV f./ AA VI 13 30 -14 15 . - Eine weitere ausdrückliche Bezugnahme auf die Erkenntniskritik der KrV findet sich in B 259/ AA VI 170 21f . <?page no="40"?> 40 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen wird, weist Unterschiede mit den in den vorhergehenden Druckschriften und der zitierten Vorredenpassage greifbaren Argumenten auf. Hinzu kommt, dass Kant im Umfeld der Schrift auch geschichtsphilosophische Antworten auf die Frage nach der mit der Rechtschaffenheit verbundenen Hoffnung erwägt. Die Bearbeitung dieses Vernunftbedürfnisses erfolgte an anderen Stellen also auch ohne eingehende Offenbarungshermeneutik. 21 Und schließlich finden sich in der RGV noch einige Einlassungen, in denen Kant auf aktuelle Kontroversen um seine früheren Veröffentlichungen reagiert 22 oder andere Lektüreerfahrungen reflektiert. Die stichwortartige Benennung der Problempunkte dürfte deutlich gemacht haben, dass die Verhältnisbestimmung zwischen der Religionsschrift und Kants sonstigem Werk ein sehr problembehaftetes Unterfangen darstellt. Dies schlägt sich auch in den Bemühungen der RGV-Interpretationen nieder. 23 Sie nehmen die Verhältnissetzung vor, indem sie bei der Lehre vom höchsten Gut (Kap. 2.2), bei der Frage nach dem Bösen (Kap. 2.3) oder bei der Theorie vom ethischen Gemeinwesen (Kap. 2.5) ansetzen. Insofern die Theorie vom ethischen Gemeinwesen mitunter als ethische ‚Übersetzung‘ christlicher Glaubens- und Moralauffassungen betrachtet wird, beziehen die Interpretationshypothesen dabei auch Position in der Frage hinter der ersten Sage, nämlich wie sich Kants philosophische Religionslehre zum Christentum verhält. Angesichts der Prominenz dieser Fragestellungen überrascht es nicht, dass die kantische Gnadenlehre weniger Aufmerksamkeit erfährt und die Diskussion um diese Thematik oftmals von theologischen Motiven dominiert wird (Kap. 2.4). 21 Vgl. etwa den Aufsatz „Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ sowie Höffe 2011, 6. 22 Das berühmteste Beispiel hierfür ist die sog. Schiller-Fußnote, vgl. RGV B 10 f. / AA VI 23 18 -24 33 . Die Anmerkung ist ein Zusatz zur B-Auflage und kommentiert die ‚Rigorismus‘-These (siehe Kap. 4.1). Inhaltlich stellt sie eine Reaktion auf Schillers Vorwurf in „Über Anmut und Würde“ dar, wonach die Forderung nach einem Handeln allein aus Pflicht zu einem Ausschluss aller positiven emotionalen und ästhetischen Qualitäten aus der Moralität führe. Das Sprachspiel dieses späteren Zusatzes wirkt insofern als Fremdkörper in der Schrift, als es mit Gestalten und Erzählungen der griechischen Mythologie arbeitet und damit unvermittelt neben der biblischen und theologischen Terminologie steht. 23 Der Blick in den Spiegel der RGV-Interpretationen setzt den Schwerpunkt bei den deutsch- und englischsprachigen Veröffentlichungen ab den 1990er Jahren. Nur wenn einzelne Problematiken verdeutlicht werden sollen oder wenn es sich um besonders wirkmächtige Beiträge handelt, werden auch anderssprachige oder ältere Veröffentlichungen herangezogen. <?page no="41"?> 2.2 Die Religionsschrift und die Lehre vom höchsten Gut 41 2.2 Die Religionsschrift und die Lehre vom höchsten Gut Eine weit verbreitete Möglichkeit, auf die Problematik hinter der Sage vom ‚altersmilden Kant‘ zu reagieren, besteht darin, die Überlegungen und Thesen der Religionsschrift in einen inhaltlichen Zusammenhang mit den kantischen Hauptschriften der 1780er Jahre zu stellen. Die in der Schrift erfolgende Beschäftigung mit dem Religionsthema wäre dann nicht als Bruch mit den vorhergehenden erkenntnis- und moralphilosophischen Thesen anzusehen. Es könnte gezeigt werden, dass Kant in der RGV an seine bisherigen Überlegungen anschließt und auf deren Grundlage weiterdenkt. Als wichtigstes Verbindungsstück wird dabei die Lehre vom höchsten Gut angesehen, weil dieser Begriff einen argumentativen Übergang aus der Moralin die Religionsphilosophie herstellt. Im Text der RGV finden sich hierfür mehrere Anknüpfungspunkte: Im Laufe der Schrift, besonders in der Vorrede zur ersten Auflage der Schrift und in RGV III, wird der Ausdruck ‚das höchste Gut‘ gelegentlich erwähnt. 24 Außerdem wird in der Vorrede zu RGV-A in einer längeren Passage erläutert, dass es dem vernünftig nachdenkenden Menschen nicht gleichgültig sein könne, was aus dem moralischen Handeln herauskomme 25 , und die „Idee eines höchsten Guts“ 26 dementsprechend das finale Objekt des Handelns darstelle, da es eine Verbindung von tugendhaftem Lebenswandel und Glückseligkeit in sich enthält. Wenn dieses höchste Gut möglich sein soll, muss allerdings ein „höheres, moralisches, heiligstes und allvermögendes Wesen“ 27 angenommen werden, weil nur ein solches Wesen die Vereinigung der beiden Elemente herstellen kann. Ein zweiter Anknüpfungspunkt bildet das dritte Stück der Schrift, das unter dem Titel „Der Sieg des guten Prinzips über das böse und die Gründung eines Reichs Gottes auf Erden“ steht. Der Philosoph denkt hier über die Etablierung eines von Gott regierten Reiches nach. Dieses Reich weist allein schon dadurch eine Verwandtschaft zur sumum bonum -Lehre auf, dass in ihm dasjenige Wesen herrschen soll, dessen Wirksamkeit gemäß der Vorredenpassage ausgehend vom höchsten Gut angenommen werden muss. Noch wirkmächtiger als diese textlichen Hinweise dürfte jedoch die systematische Ausgangsposition für das Nachdenken über das Religionsthema sein, die sich Kant in den Kritiken erarbeitet hat und von der er auch in der Religionsschrift nicht abweicht. Freilich ist auch diese Ausgangsposition alles andere als eindeutig und mit vielfachen Verständnisproblemen behaftet. Dennoch lassen 24 Vgl. B 135/ AA VI 97 21 , B 136/ Z. 21 f., B 210/ AA VI 139 2 . 25 Vgl. B VII-X/ AA VI 4 11 -6 11 . 26 B VII/ AA VI 5 11f . 27 Z. 12 f. <?page no="42"?> 42 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen sich in den kritischen Hauptwerken einige Weichenstellungen identifizieren, denen zufolge das Thema ‚Religion‘ aus kantischer Sicht nur in sehr spezifischer Weise philosophisch bearbeitet werden kann. Vereinfacht dargestellt umfassen diese Weichenstellungen erkenntnistheoretische und moralphilosophische Thesen, an die wiederum religionsphilosophische Folgerungen anschließen. 28 Aus der immanenten Beschränkung der menschlichen Erkenntnis, von der Kant in der KrV handelt, folgt, dass die Behauptung der Existenz erfahrungstranszendenter Entitäten, wie sie in der metaphysischen und religiösen Tradition zu finden ist, der Kritik ausgesetzt werden muss. Nach der Diskussion um die (unsterbliche) Seele und um den Determinismus-Freiheits-Gegensatz meint Kant dies in Bezug auf die Behauptung der Existenz Gottes insbesondere dadurch zeigen zu können, dass er zwei der drei aus seiner Sicht überhaupt möglichen Gottesbeweise auf den ersten ‚ontologischen‘ Gottesbeweis zurückführt. Er analysiert diesen vermeintlichen Beweis als eine fälschliche Ableitung des allein synthetisch zu fällenden Urteils ‚Gott existiert‘ aus der analytischen Explikation der Eigenschaften Gottes. 29 Gemäß der Erkenntnistheorie der ersten Kritik ist das Dasein Gottes folglich weder beweisbar noch auszuschließen. Eine solche erkenntnistheoretische Reflexion weist in mindestens zweifacher Weise Zusammenhänge damit auf, auch das Vermögen der praktischen Vernunft einer eingehenden Reflexion zu unterziehen: Zum einen wird am Ende der Diskussion des Freiheits-Determinismus-Problems in der KrV herausgestellt, dass gemäß der Erkenntniskritik die Behauptung einer naturgesetzlichen Kausalität lediglich für den Bereich der Erscheinungen Gültigkeit beanspruchen kann. Damit ist aber die Existenz eines ‚Vermögens absoluter Spontaneität‘, mithin die Voraussetzung für freies Handeln keineswegs ausgeschlossen. 30 Zum anderen sieht Kant in der Nicht-Beweisbarkeit der Existenz Gottes und der postmortalen Weiterexistenz des Menschen einen tieferen Sinn, der darin besteht, dass ein unzweifelhaftes Vor-Augen-Stehen dieser metaphysischen Entitäten den eigentlichen moralischen Wert der Handlungen und der Person untergraben würde. 31 28 Vgl. beispielsweise die zwei programmatischen Aussagen aus der besagten RGV-Vorrede: Einerseits geht „diese Idee [sc. des höchsten Gutes] […] aus der Moral hervor, und ist nicht die Grundlage derselben“ (B VIII/ AA VI 5 19f ). Andererseits führt „Moral […] unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll“ (B-IX-f./ AA VI 6 8-11 ). 29 Vgl. KrV A 592-602/ KrV B 620-632. 30 Vgl. das ‚praktische Interesse‘ der Vernunft in Bezug auf die Antinomie der reinen Vernunft: KrV A 466/ KrV B 494. 31 Vgl. KpV A 264/ AA V 146- f.: „Gesetzt nun, sie [sc. die uns mit Vermögen ausstattende Natur] wäre hierin unserem Wunsche willfährig gewesen, und hätte uns diejenige Ein- <?page no="43"?> 2.2 Die Religionsschrift und die Lehre vom höchsten Gut 43 Diese Befürchtung ist nur vor dem Hintergrund des spezifischen Verständnisses von Moralität verständlich, das Kant in der GMS und der KpV entfaltet. Kant erhebt in der GMS den Anspruch, ein oberstes Moralprinzip aufzustellen, das unabhängig von materialen Einzelnormen und empirischen Handlungssituationen zu erklären vermag, warum und inwiefern Moralität vorliegt. Für Kant expliziert dieses Prinzip - der kategorische Imperativ in seinen verschiedenen, als äquivalent behaupteten Formulierungen - das allgemeine moralische Bewusstsein. Denn die Beachtung dieses Prinzips konstituiert einen ‚guten Willen‘ und damit dasjenige, was uneingeschränkt für gut gehalten wird. 32 Nur die formale Gesetzförmigkeit - mithin die Eignung, als allgemeines Gesetz gelten zu können - kann Inhalt eines Moralprinzips sein, das die unbedingte moralische Notwendigkeit einer Handlung erklärt. Eine Handlung ist demnach genau dann moralisch richtig, wenn ihr eine Handlungsregel zugrunde liegt, die sich als uneingeschränkt verallgemeinerungsfähig erweisen lässt. Daraus folgt, dass Handlungsregeln, die auf den Gehorsam gegen ein göttliches Wesen rekurrieren oder die Erreichung der (jenseitigen) Glückseligkeit beschreiben, nicht die intrinsische Gutheit von Handlungen begründen können. Mit der Erläuterung des kategorischen Imperatives ist die moralphilosophische Grundlegungsaufgabe allerdings noch nicht vollendet: Wie Kant in der GMS feststellt, wurde mit der Analyse unterschiedlicher Imperativgattungen noch nicht bewiesen, dass „Sittlichkeit kein Hirngespinst sei“. 33 Im dritten Abschnitt der Schrift unternimmt er daher den Versuch einer Deduktion des kategorischen Imperatives, d. h. eines transzendentalphilosophischen Nachweises der Möglichkeit und Notwendigkeit eines solchen apriorisch-synthetischen Satzes. In der KpV wird dieses Unternehmen nicht fortgeführt. Stattdessen werden andere Theorieelemente eingeführt bzw. in den Vordergrund gerückt, die die objektive Gültigkeit des Moralprinzips sichern sollen: Das Vorliegen des Grundgesetzes der praktischen Vernunft wird als unabweisbares ‚Faktum der Vernunft‘ dargestellt, als ein apriorisches und apodiktisches Bewusstsein vom Beanspruchtwerden durch das Moralgesetz. 34 Des Weiteren wird der kategorische Imperativ durchgängig mit der Willensfreiheit korreliert. Die praktisch-vernünftige Forsichtsfähigkeit, oder Erleuchtung erteilt, die wir gerne besitzen möchten, oder in deren Besitz einige wohl gar wähnen, sich wirklich zu befinden, was würde allem Ansehn nach wohl die Folge hievon sein? […] Die Übertretung des Gesetzes würde freilich vermieden, das Gebotene gethan werden; [… aber es würden] die mehrsten gesetzmäßigen Handlungen aus Furcht, nur wenige aus Hoffnung und gar keine aus Pflicht geschehen, ein moralischer Werth der Handlungen aber, worauf doch allein der Werth der Person und selbst der der Welt in den Augen der höchsten Weisheit ankommt, würde gar nicht existiren.“ 32 Vgl. GMS 393-405/ AA IV 393-406. 33 GMS 96/ AA IV 445. 34 Vgl. KpV 55-56/ AA V 31. <?page no="44"?> 44 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen derung, die Maxime des Willens nicht durch Neigung, sondern ausschließlich gesetzförmig bestimmt sein zu lassen, ermöglicht die Erkenntnis, dass Freiheit gegeben ist. Und umgekehrt ist die Freiheit die Bedingung dafür, dass der Mensch überhaupt moralgesetzlich beansprucht werden kann. In diesem Sinne stellt sich Freiheit als ‚Autonomie‘ dar, d. h. als Vermögen, den Willen nur an gesetzförmigen und verallgemeinerbaren Handlungsgründen auszurichten und aufgrund dieser Willensbestimmung zu handeln. 35 Da es aus Kants Sicht allerdings auch zum Menschen gehört, über den letzten Zweck seines Daseins und seines Handelns nachzudenken und die Vorstellung dieses letzten Zwecks auch das Moment einer beglückenden Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse umfasst, führt die Selbstauslegung der praktischen Vernunft auf die Annahme einer teleologischen Hinordnung der Welt auf diese Erfüllung. Kant nennt diese umfassende Erfüllung des menschlichen Strebens das höchste Gut. Damit das summum bonum nicht nur eine utopische Idee darstellt, sondern als verwirklichbar gedacht werden kann, ist ein vollkommen moralisches und allmächtiges Wesen (sowie möglicherweise die Unsterblichkeit der Seele) anzunehmen, wodurch das höchste Gut realisiert werden kann. In dieser Neuaufnahme des Gottesgedankens liegt eine entscheidende Weichenstellung: Nachdem die Kritik des theoretischen Vernunftgebrauches es erforderlich machte, die Rechtfertigung des Gottesgedankens sowie das Nachdenken über dessen Wesen und Handeln aus dem Bereich legitimer (theoretischer) Erkenntnis auszuschließen, geht Kant von seinen moralphilosophischen Grundlagen aus erneut auf den Gottesbegriff zu. Im Bereich der praktischen Vernunft werden die tradierten metaphysischen Fragen - nach einem göttlich-vollkommenen Wesen, nach der Seele und nach der teleologischen Ordnung der Welt - diskutabel. Antworten kann man auf diese Fragen nunmehr allerdings nicht mehr im Modus theoretischer Aussagen, sondern nur in Form von ‚Postulaten‘, d. h. von Forderungen, die bei der Selbstreflexion des Menschen als praktisch-rationales Wesen erhoben werden. Mithin handelt es sich bei diesen religiösen Lehren um Annahmen, deren erkenntnistheoretisch rechtfertigbare Bedeutung mit dem moralischen Gefordertsein und den daraus resultierenden Bedürfnissen des Menschen verknüpft sein muss. Und angesichts dieser Weichenstellung liegt die Auffassung nahe, dass die Lehre vom höchsten Gut gleichsam ein Scharnier 35 Damit unterscheidet sich der spezifische Autonomiebegriff Kants wesentlich von manchen Varianten des derzeitigen Verständnisses von Autonomie als Selbstbestimmung (vgl. O’Neill 2003, siehe auch Kap. 1.2). Im Extremfall wird hierbei Autonomie als bloße Kohärenz einer Handlungsentscheidung mit den unreflektierten Bedürfnissen oder Neigungen des Individuums verstanden und damit - in Kants Worten - der „Freiheit eines Bratenwenders […], der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet“ (KpV 174/ AA V 97) gleichgesetzt. <?page no="45"?> 2.2 Die Religionsschrift und die Lehre vom höchsten Gut 45 bildet - zwischen den Grundlagen der ‚kritischen Philosophie‘ auf der einen Seite und den religionsphilosophischen Annahmen auf der anderen Seite. So formuliert beispielsweise D. Keller, dass das höchste Gut „das Gelenkstück der praktischen Metaphysik Kants im Übergang von Moral- und Religionsphilosophie“ darstelle. 36 Für O. O’Neill spannt die summum bonum -Lehre eine ‚ Brücke der Hoffnung‘ über die ‚große Kluft‘, die aus den kantischen Auffassungen von Natur und menschlicher Freiheit resultiert. Gelagert ist diese Brücke auf dem Gottes- und dem Unsterblichkeitspostulat. 37 Für die Interpretation der Religionsschrift ergibt sich hieraus folgende Perspektive: Da die Schrift sich ebenfalls mit dem Gottesgedanken und anderen religiösen Überzeugungen beschäftigt, kann man die zwölf Jahre nach der KrV und fünf Jahre nach der KpV erschienene Veröffentlichung als Anschluss an dieses systematische Verbindungselement betrachten. Die RGV erscheint dann als Fortführung der Lehre vom höchsten Gut, die durch die Auseinandersetzung mit dem Christentum einen konkreten Anwendungsbezug erhält und hierdurch eine materiale Anreicherung erfährt. Oftmals wird die Schrift daher primär vor dem Hintergrund der summum bonum -Theorie gelesen. Hinzu kommt ein weiterer Gesichtspunkt. Insofern das höchste Gut eine Vermittlung der RGV mit Kants Moralphilosophie verspricht, kann dieser systematisierende Interpretationsansatz eine Erklärung dafür bieten, weshalb der Autor ‚Religion‘ in der Schrift vor allem unter moralischen Gesichtspunkten betrachtet. Es ist keineswegs selbstverständlich, mit einer solchen Hermeneutik auf Religionsphänomene zuzugehen und auf Grundlage der Moralphilosophie eine religionsphilosophische Rekonstruktion von Religionsphänomenen durchzuführen. Dass dies aber so geschieht - so liegt die Vermutung nahe -, hängt mit dem skizzierten Übergang aus der Moralin die Religionsphilosophie zusammen, bei dem die auch in der RGV greifbare Theorie vom höchsten Gut eine genauer zu erhebende Rolle spielt. Daher dürfte auch verständlich sein, weshalb die Kantwahrnehmung innerhalb der katholischen Moraltheologie sich oftmals auf die Lehre vom höchsten Gut beschränkt, sofern den religiösen Zusammenhängen der kantischen Ethik überhaupt Relevanz beigemessen wird. Wie in Kap. 1.2 herausgearbeitet, wird auch dort die Lehre vom höchsten Gut als zentrale Vermittlungsinstanz zwischen der Moralphilosophie und den religiösen Überlegungen angesehen. Die Moraltheologie partizipiert damit an einer auch in der Philosophie weit verbreiteten Ansicht über Kants Moral- und Religionsphilosophie. 36 Vgl. Keller 2008, 361 (Hervorhebung: Reich). Keller folgert daraus, dass „[j]ede theologische Auseinandersetzung mit der Moral- und Religionsphilosophie Kants […] bei diesem Begriff ansetzen“ sollte. 37 Vgl. O’Neill 1992, 104 f. u. 1996, 269-290 (Hervorhebung: Reich). <?page no="46"?> 46 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen Indes, bei dem Versuch, die RGV mittels des summum bonum -Begriffs in das System der kritischen Philosophie einzuordnen, handelt es sich um einen Interpretationsansatz, der durch ein ganzes Bündel verschiedenartiger Probleme belastet wird. Diese Probleme betreffen zum einen die angenommene Integration der Theorie vom höchsten Gut in das ‚kritische System‘ selbst. Denn bei genauerer Betrachtung zeigt sich erstens, dass die in den einschlägigen Texten enthaltenen Anspielungen auf die Theorie unter verschiedenen Bezeichnungen firmieren. Dies wirft die Frage auf, ob es sich hierbei überhaupt um eine einheitliche Konzeption handelt. Zweitens wird zurecht diskutiert, ob die Idee des höchsten Gutes zu Kants sonstigen moralphilosophischen Prinzipien passt, ob also ein konsistenter Zusammenhang zwischen dem (auch in der RGV greifbaren) Theorem und den moraltheoretischen Thesen aus der GMS und der KpV hergestellt werden kann. Und drittens werfen die religiösen Implikationen der summum bonum -Konzeption(en) insofern Fragen auf, als der Übergang zu den Gottes- und Unsterblichkeitspostulaten keineswegs eindeutig ist. Zum anderen sind auch unter Voraussetzung eines solchen Interpretationsansatzes sehr unterschiedliche Vorschläge dazu zu finden, wie das Verhältnis zwischen der Religionsschrift und den Hauptschriften der 1780er Jahre genau bestimmt werden muss. Was die zuerst genannte Problemanzeige betrifft, kann man feststellen, dass in den einschlägigen Texten beispielsweise vom ‚höchsten Gut‘, vom ‚obersten‘ und vom ‚vollendeten Gut‘ sowie vom ‚höchsten ursprünglichen‘ und vom ‚höchsten abgeleiteten Gut‘ die Rede ist. Daneben finden sich mehr assoziative Ausdrücke, die teils an Begriffe aus der philosophischen oder theologischen Tradition angelehnt sind, teils Neubildungen Kants darstellen: ‚moralische Welt‘, ‚corpus mysticum‘, ‚Reich der Gnaden‘ (‚regnum gratiae‘), ‚Reich der Zwecke‘, ‚Reich Gottes‘. 38 Außerdem spielt in manchen der Formulierungen der Glückseligkeitsbegriff eine Rolle, in anderen hingegen nicht. Doch auch in Bezug auf den Glückseligkeitsbegriff muss man damit rechnen, dass Kant im Laufe seiner intellektuellen Entwicklung unterschiedliche Konzeptionen vertreten hat und sich dies auch in den veröffentlichten Schriften niedergeschlagen hat. 39 Für die Erhebung der diversen Begriffe des höchsten Gutes stehen mehrere Textpassagen im Fokus der Aufmerksamkeit. So wird etwa im sog. Kanonkapitel der KrV zwischen dem höchsten ‚ursprünglichen‘ Gut - Gott - und dem höchsten ‚abgeleiteten‘ Gut - der ‚moralischen Welt‘ - unterschieden. 40 Die letztere Idee drückt insofern auch eine kollektive 38 Vgl. Habichler 1991, 50-57, u. Keller 2008, 358. 39 Vgl. Düsing 1971, 24-27.33- f., Forschner 1988, 359-370, Wimmer 1990, 27-35, Himmelmann 2003, 75-148, u. Keller 2008, 38-63. 40 Vgl. KrV A 810f/ B 838 f. <?page no="47"?> 2.2 Die Religionsschrift und die Lehre vom höchsten Gut 47 Dimension im Begriff des höchsten Gutes aus, als ihr zufolge alle vernünftigen Wesen ihren Willen an den moralischen Gesetzen ausrichten und deren Willen daher eine systematische Einheit bilden (‚corpus mysticum‘) können. 41 Gemäß der Argumentation der KrV geht damit einher, dass Sittlichkeit und Glückseligkeit in proportionalem Verhältnis realisiert werden. Die Menschen könnten sich demnach selbst Ursache der vollständigen Beglückung sein, sofern sie in ihren Unterlassungs- und Hilfshandlungen die anderen berücksichtigten. Da aber eben diese Idealbedingungen in der Welt nicht realisiert sind, entstehen aus Kants Sicht die Notwendigkeiten eines moralischen Weltherrschers und einer postmortalen Weiterexistenz. 42 In der GMS finden wir im Zusammenhang der dritten Formel des Kategorischen Imperativs das Ideal eines ‚Reichs der Zwecke‘, das allerdings nicht ausdrücklich als höchstes Gut bezeichnet wird. Hinsichtlich der hierzu gegebenen Begriffsbestimmung und der Vorstellung eines Oberhauptes 43 weist der Ausdruck große Ähnlichkeit mit dem ‚corpus mysticum‘ aus der KrV auf, das dort in Anverwandlung eines Terminus von G. W. Leibniz auch ‚Reich der Gnaden‘ 44 genannt wird. Bemerkenswert an der GMS-Stelle ist jedoch, dass sie abgesehen vom Vorhandensein eines moralisch gesetzgebenden Oberhauptes keine Notwendigkeit eines göttlichen Wesens formuliert. Außerdem wird die Realisation des ‚Reiches‘ unabhängig vom Glückseligkeitsmoment dargestellt. Kant spinnt eine Verbindung zum ‚Reich der Natur‘ und erläutert diese damit, dass die praktische Vernunft das ‚Reich der Zwecke‘ deswegen als ‚Reich der Natur‘ auffasse, weil es durch unser Tun und Lassen ‚wirklich‘ werden solle. 45 Die Verwirklichung des Reiches ist also Gegenstand eines moralischen Imperatives. 41 Vgl. KrV A 808/ B 836. 42 Vgl. KrV A 809-811/ B 837-839. 43 Vgl. GMS 74/ AA IV 433: „Ich verstehe aber unter einem Reiche die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze. Weil nun Gesetze die Zwecke ihrer allgemeinen Gültigkeit nach bestimmen, so wird, wenn man von dem persönlichen Unterschiede vernünftiger Wesen, imgleichen allem Inhalte ihrer Privatzwecke abstrahirt, ein Ganzes aller Zwecke (sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich, als auch der eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag) in systematischer Verknüpfung, d. i. ein Reich der Zwecke, gedacht werden können, welches nach obigen Principien möglich ist.“ Wenig später - nach einer Erläuterung dieses Reiches und der in ihm herrschenden intersubjektiven Verhältnisse (‚Zweck an sich selbst‘, ‚Würde‘ statt ‚Preis‘) - bringt Kant eine modifizierte Fassung des kategorischen Imperativs, die auf das ‚Reich der Zwecke‘ Bezug nimmt (80/ 436). 44 Vgl. KrV A 812/ B 840, vgl. auch Ricken 2013b, 70 f. 45 Vgl. GMS 80/ AA IV 436: „eine praktische Idee, um das, was nicht da ist, aber durch unser Tun und Lassen wirklich werden kann, und zwar eben dieser Idee gemäß zu Stande zu bringen.“ <?page no="48"?> 48 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen Explizit das Hauptthema bildet das höchste Gut in der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“, die in der KpV erläutert wird. Kant reflektiert dort eingehend über das summum bonum , das seines Erachtens ein notwendiges Objekt für das Wollen des Menschen darstellt, zugleich aber problematisch ist, da es eine Verbindung von Tugend und Glückseligkeit erfordert. Tugend und Glückseligkeit dürfen jedoch nicht identifiziert werden, um der generischen Verschiedenheit der beiden Elemente gerecht zu werden. Die Verbindung muss daher synthetischer Art sein. Eine synthetische Verbindung nach einem Ursache-Wirkungs-Verhältnis ist allerdings ausgeschlossen, da die Tugend offenkundig nicht die Ursache der Glückseligkeit in der Welt darstellt. Angesichts der Dissoziation zwischen Tugendstreben und Glückseligkeit einerseits und der naturgesetzlichen Verfasstheit der empirischen Wirklichkeit andererseits wäre das höchste Gut ein unerfüllbares Objekt des menschlichen Wollens. 46 Den Ausweg aus dieser Problemlage sieht Kant in den Postulaten der Unsterblichkeit der Seele und des Daseins Gottes. Für das Unsterblichkeitspostulat werden zwei etwas unterschiedlich gelagerte Rekonstruktionswege eingeschlagen, die beide wiederum von dem entsprechenden KrV-Argument differieren: erstens ausgehend vom Begriff des höchsten Gutes - die Angemessenheit der Gesinnung gegenüber dem Moralgesetz ist eine Bedingung des höchsten Gutes und diese Bedingung ist in der Sinnenwelt nicht erfüllbar 47 - und zweitens mittels der Überlegung, dass die moralisch geforderte, vollständige Erfüllung des Moralgesetzes für sich genommen bereits über den Tod hinaus andauern muss 48 . Für die Realisation des höchsten Gutes muss außerdem die Existenz Gottes angenommen werden, weil nur eine von den Naturgesetzen unterschiedene, ‚moralische‘ Ursache die der Gesinnung proportionierte Glückseligkeit verwirklichen kann. 49 An die Einführung des Gottespostulates sind weitere Ausführungen angeschlossen, die unter dem ‚Reich Gottes‘-Titel firmieren. Gemäß dieser Ausführungen umfasst das ‚abgeleitete höchste Gut‘ auch eine gemeinschaftliche Dimension, nämlich in Form einer Unterordnung aller vernünftigen Wesen unter das Moralgesetz in einem ‚Reich Gottes‘. Unter dem göttlichen Wesen als Oberhaupt entsteht hierdurch eine harmonische Verbindung zwischen Natur und Sitten. 50 Die KpV-Passagen bilden auch wichtige Referenzstellen für die sogleich aufzugreifende Diskussion um eine konsistente Einbindung des summum bonum -Theorems in Kants Moraltheorie und für die Frage nach den religiösen Implikationen des höchsten Guts. 46 Vgl. KpV 198-203/ AA V 110-113. 47 Vgl. KpV 219f/ AA V 122. 48 Vgl. KpV 238/ AA V 132. 49 Vgl. KpV 223-227/ AA V 124-126. 50 Vgl. KpV 231f/ AA V 128. <?page no="49"?> 2.2 Die Religionsschrift und die Lehre vom höchsten Gut 49 Eine Erhebung der summum bonum -Thematik in der dritten Kritik steht vor erheblichen Schwierigkeiten. Denn die Textbasis ist recht schmal und die Begriffsverwendungen in den einzelnen Paragrafen erweisen sich mitunter als nur schwer vermittelbar. So wird beispielsweise in der „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ einerseits der Mensch selbst, andererseits die durch den Mensch hervorzubringende Kultur und die moralische Entwicklung der Menschheit als ‚letzter Zweck‘ bzw. ‚Endzweck‘ angesprochen, der unter einer teleologischen Perspektive für die Welt anzunehmen ist. 51 Die zweite Gleichsetzung könnte darauf hindeuten, dass Kant in der KdU über eine weltimmanente, geschichtliche Realisation des gemeinschaftlich gefassten summum bonum nachdenkt. Der Gedanke einer geschichtsphilosophischen und vom jenseitigen Schicksal des Individuums gänzlich losgelösten Konzeption des höchsten Gutes spielt auch in der Interpretationsdebatte um das ‚ethische Gemeinwesen‘ aus RGV III eine große Rolle. Im Zusammenhang des ‚ethikotheologischen‘ Gottesbeweises der KdU kehren jedoch auch die aus der KpV bekannten, auf das einzelne Individuum bezogenen Momente des höchsten Gutes wieder. 52 Neben der Vielgestaltigkeit der kantischen Ausführungen zum höchsten Gut in den Hauptschriften der 1780er Jahre wird auch die Frage diskutiert, ob und wie dieser Theoriekomplex mit den sonstigen Thesen in diesen Schriften und vor allem mit den darin dargelegten moralphilosophischen Grundsätzen vermittelt werden kann. Mit D. Keller kann man die Debatte um die zweite der oben genannten Problemanzeigen danach strukturieren, ob die betreffenden Beiträge für die Konsistenz oder Inkonsistenz der Integration des summum bonum -Gedankens argumentieren. 53 Wer der Konsistenzthese anhängt, ist der Meinung, dass die (jeweils herangezogene) Theorie des höchsten Guts mit den moralphilosophischen Grundlagen der kantischen Ethik vereinbar ist. Wer die Inkonsistenzthese vertritt, bestreitet gerade dies und deutet diesen Befund beispielsweise als Bruch im System, als Spätfolge einer bereits im Ansatz verfehlten Moralphilosophie oder als unaufgeklärtes theologisches Residuum in Kants Philosophie. Das Grundprofil der kantischen Ethik scheint zunächst für die Inkonsistenzthese zu sprechen: In einer Systematik des 20. Jahrhunderts gesprochen bildet Kants Moralphilosophie einen sehr spezifischen Typ innerhalb der Theoriefamilie der sog. deontologischen Ethiken: Das (sittlich) ‚Gute‘ wird hier ausdrücklich vom ‚Rechten‘ aus, d. h. über die Entsprechung gegenüber dem obersten Moralgesetz in Form des kategorischen Imperativs bestimmt. 54 Innerhalb der 51 Vgl. KdU B 379-400/ AA V 425-436. 52 Vgl. KdU B 410-429/ AA V 442-453. 53 Vgl. Keller 2008, 95-102. 54 Vgl. KpV 110/ AA V 62 f. (im Original teilweise gesperrt): „Hier ist nun der Ort, das Paradoxon der Methode in einer Kritik der praktischen Vernunft zu erklären: daß nämlich der <?page no="50"?> 50 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen Familie deontologischer Begründungstheorien unterscheidet sich ein solcher Rückgriff auf das (zunächst) rein formal gedachte Moralprinzip beispielsweise von theonomen oder auch naturrechtlichen Ansätzen, die die intrinsische ‚Rechtheit‘ von Handlungstypen über die Entsprechung gegenüber dem göttlichen Willen oder mittels des Zusammenhangs mit einer teleologisch gedachten ‚Natur des Menschen‘ bestimmen. Hinzu kommt, dass für Kant Moralität an die motivationspsychologisch anspruchsvolle Forderung gebunden ist, aus keinem anderen Grund zu handeln als der Anerkenntnis des moralischen Gesolltseins einer Handlung. Angesichts eines solchen Grundprofils muss es fragwürdig erscheinen, wäre Kant - wie es die Vertreterinnen und Vertreter der Inkonsistenzthese behaupten - nachweislich der Meinung, dass das Moralgesetz seine Verbindlichkeit einbüßt und nicht handlungswirksam werden kann, wenn es den übergeordneten Zweck des höchsten Gutes nicht gäbe. Der ‚gute Wille‘ verlöre dann seine charakteristische Unabhängigkeit von außerhalb der Pflichterfüllung liegenden Zwecksetzungen und es entstünde die Gefahr, dass das moralische Handeln für die Erreichung des höchsten Gutes instrumentalisiert wird. 55 Insbesondere die KpV lässt jedoch erkennen, dass sich Kant der Konsistenzproblematik durchaus bewusst war - und dass er sie für bewältigbar hielt. Im Laufe der Argumentation zeichnen sich diesbezüglich mehrere Überlegungen ab: Immer wieder wird betont, dass die Tugend, d. h. das moralgesetzgemäße Urteil über das Vorliegen einer Pflicht und die Motivation zum Handeln aus der Einsicht in das Verpflichtetsein, den konstitutiven und bedingenden Bestandteil des höchsten Gutes ausmacht. Das höchste Gut kann daher gar nicht anders Gegenstand der praktischen Vernunft sein, als dass in ihm die Sittlichkeit zum Bestimmungsgrund des Willens gemacht wird. Praktische Rationalität ist auf das höchste Gut hin ausgerichtet, wird aber gerade dadurch auf das Ideal einer von allen heteronomen Bestimmungsgründen und Antrieben befreiten Handlungssteuerung festgelegt. 56 Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze (dem er dem Anschein nach sogar zum Grunde gelegt werden müßte), sondern nur (wie hier auch geschieht) nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse.“ 55 Vgl. Keller 2008, 101 f. Keller subsummiert unter die Inkonsistenzdiskussion noch die Problemanzeige bezüglich einer Pflicht zur Beförderung des höchsten Gutes. Ein anderer Autor, der de facto eine Inkonsistenzthese vertritt, ist J. Habermas. Zu dessen Interpretation der kantischen Religionsphilosophie und insbesondere der RGV siehe unten Kap. 2.5. 56 Vgl. KpV 196/ AA V 109: „Das moralische Gesetz ist der alleinige Bestimmungsgrund des reinen Willens. […] Mithin mag das höchste Gut immer der ganze Gegenstand einer reinen praktischen Vernunft, d. i. eines reinen Willens, sein, so ist es darum doch nicht für den Bestimmungsgrund desselben zu halten, und das moralische Gesetz muß allein als der Grund angesehen werden, jenes und dessen Bewirkung oder Beförderung sich zum Objecte zu machen.“ Wenig später kann Kant das höchste Gut (bzw. die ‚Vorstellung der durch unsere praktische Vernunft mögliche Existenz desselben‘) allerdings auch <?page no="51"?> 2.2 Die Religionsschrift und die Lehre vom höchsten Gut 51 Zu Beginn des Dialektik-Teils führt Kant das höchste Gut mit der generellen These ein, dass die Vernunft auch in ihrem praktischen Gebrauch das Verlangen zeige, zu einem gegebenen Bedingten die ‚ Totalität der Bedingungen‘ zu finden. Es ist nun für die Konsistenzfrage instruktiv, wie Kant dies im Einzelnen erläutert: Das Bedingte sind in diesem Fall Handlungen, die auf ‚Neigung‘ und ‚Naturbedürfnis‘ beruhen. Das verlangte Unbedingte wird nun im Dialektik-Teil nicht als etwas gesucht, das den ‚Bestimmungsgrund des Willens‘ ausmacht. Dieser liegt, wie die Analyse der praktischen Rationalität im ersten Teil der Schrift zeigte, im Moralgesetz. Vielmehr wird hier die ‚ Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft‘ gesucht und dieses ‚totale‘ Objekt praktischer Rationalität firmiert unter dem Namen ‚höchstes Gut‘. Das eine Unbedingte - das Moralgesetz als Prinzip der Beurteilung und Exekution der Moral - wird folglich vom anderen Unbedingten - der Totalität des Objektes praktischer Vernünftigkeit - unterschieden. Kant sieht das höchste Gut offenbar nicht als gleichberechtigten oder alternativen Handlungsgrund an, der in Bezug auf die Erfüllung einzelner Pflichten zum Moralgesetz in Konkurrenz geraten könnte. An mehreren nachfolgenden Stellen wird dieses ‚Objekt‘ der praktischen Vernunft dementsprechend als ‚das ganze und vollendete Gut‘ ( bonum consumatum oder perfectissium ) oder auch als ‚der ganze Gegenstand einer reinen praktischen Vernunft‘ angesprochen. 57 Hieraus werden in der Literatur jedoch auch von denjenigen, die die Konsistenzthese vertreten, unterschiedliche Schlüsse gezogen: Häufig kann man lesen, dass der Gedanke des höchsten Gutes für Kant nicht zur moralphilosophischen Prinzipienlehre gehört, sondern zu einer praktisch orientierten Weisheitslehre, als ‚Bestimmungsgrund des Willens‘ ansprechen, weil das moralische Gesetz in diesen Begriff eingeschlossen ist: „Es versteht sich aber von selbst, daß, wenn im Begriffe des höchsten Guts das moralische Gesetz als oberste Bedingung schon mit eingeschlossen ist, alsdann das höchste Gut nicht blos Object, sondern auch sein Begriff und die Vorstellung der durch unsere praktische Vernunft möglichen Existenz desselben zugleich der Bestimmungsgrund des reinen Willens sei“ (197/ ebd.). Vgl. Zu diesem Gesichtspunkt auch Geismann 2000, 464-467, und Keller 2008, 117-120. 57 Vgl. KpV 194/ AA V 108: „Sie [die Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche] sucht als reine praktische Vernunft zu dem praktisch Bedingten (was auf Neigungen und Naturbedürfniß beruht) ebenfalls das Unbedingte, und zwar nicht als Bestimmungsgrund des Willens, sondern, wenn dieser auch (im moralischen Gesetze) gegeben worden, die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts.“ Vgl. auch KpV 196/ AA VI 109 u. KpV 198/ AA V 110. Die Hervorhebung dieser Differenzierungen erscheint mir wichtig, damit die Konsistenz-Inkonsistenz-Diskussion nicht vorschnell in eine handlungstheoretisch orientierte Interpretation der summum bonum -Lehre abrutscht, wonach das höchste Gut als zusätzlicher Motivator für die Erfüllung moralischer Pflichten zu betrachten ist. Aus einer derart hybridisierten Handlungstheorie ließe sich dann in der Tat folgern, dass sich Kant durch die Einführung des höchsten Gutes eine Inkonsistenz einhandelt. <?page no="52"?> 52 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen die den ‚Endzweck‘ oder ‚Sinn‘ praktischer Rationalität im Ganzen zu bestimmen versucht. 58 J. Rawls sieht darin eine systematische Unterscheidung verschiedener Arten des ‚Guten‘ figuriert. Von dem ‚Guten‘, das in der Erfüllung von durch den kategorischen Imperativ gebotenen Einzelhandlungen besteht, muss demnach eine umfassende Konzeption des ‚vollständigen Guten‘ abgehoben werden, für das die Realisation des ‚Reichs der Zwecke‘ im höchsten Gut stehe. 59 Die religiösen Bezüge werden hierbei allerdings zu Gunsten einer innerweltlich-sozialen Deutung des höchsten Gutes ausgeblendet. Für R. Langthaler tritt mit der Idee des höchsten Gutes hingegen „eine zwar moralisch begründete - weil gerechtigkeits-inspirierte -, zuletzt aber doch trans-moralische Sinndimension in den Vordergrund, die Kant in jenem Aufweis, wie ‚Moral unumgänglich zur Religion‘ führt, aufhellen […] wollte“ 60 . Der Versuch, die Lehre vom höchsten Gut als Scharnier zwischen der kantischen Moralphilosophie und deren religiösen Elemente zu verwenden, wird allerdings nicht nur durch Probleme belastet, die sich der Erhebung des summum bonum -Begriffs in den Weg stellen oder die systematische Funktionalität des Scharniers betreffen. Vielmehr sind auch die religiösen Implikationen des vermeintlichen Brückenbegriffs nicht eindeutig. Die dritte der oben genannten Problemanzeigen führt in die Diskussion, ob es berechtigt oder gar notwendig ist, ausgehend vom höchsten Gut die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele zu postulieren. Werfen wir hierzu erneut einen kurzen Blick in die Argumentation des Dialektik-Kapitels der KpV! Ausgangspunkt des Übergangs zum Gottespostulat ist dort die Pflicht, das höchste Gut zu befördern. 61 Das Ziel dieser Bemühung, nämlich die Übereinstimmung von Glückseligkeit und Sittlichkeit, wird durch den empirisch wahrnehmbaren Lauf der Natur in den meisten Fällen konterkariert. Soll die Realisation der Pflicht dennoch möglich sein, so argumentiert Kant, verlangt die praktische Vernunft nach einer anderen Wirkursache. Diese 58 Vgl. Wood 1970, 91 f., Düsing 1971, 28 (in Bezug auf die KpV) u. 41, Wimmer 1990, bes. 66, u. Keller 2008, 120-123. 59 Vgl. Rawls 1989, 92-94. 60 Vgl. Langthaler 2007, 46 (Hervorhebung im Original). 61 Vgl. KpV 205/ AA V 114 u. KpV 225/ AA V 125. In diesem Ausgangspunkt liegen bereits eine Reihe von Problemen: der Übergang vom Begriff des höchsten Gutes zur Beförderungspflicht, der schwierige Zusammenhang zwischen Beförderung des höchsten Gutes und Validität des Moralgesetzes, der Einwand, dass die Pflicht zur Beförderung des höchsten Gutes auch auf die Förderung einer der Glückswürdigkeit entsprechenden Zuteilung von Glückseligkeit verpflichte, was jedoch aufgrund der Nichtwahrnehmbarkeit für den Menschen undurchführbar ist sowie die Frage, worin die verlangte Beförderung des höchsten Gutes durch den Menschen überhaupt bestehen kann (vgl. etwa Keller 2008, 130-142). <?page no="53"?> 2.2 Die Religionsschrift und die Lehre vom höchsten Gut 53 Ursache muss allerdings an den moralischen Gesetzen ausgerichtet sein und die Gesinnung der Vernunftwesen berücksichtigen können. Sie muss folglich in einem allmächtigen und zugleich vollkommen vernunftbegabten Wesen, d. h. in Gott bestehen. 62 Die skizzierte Argumentation kann nun mit R. Wimmer dahingehend hinterfragt werden, ob in der Tat die Pflicht zur Beförderung - wie das Argument formuliert - oder nicht vielmehr die Verwirklichung des höchsten Gutes das Gottespostulat erforderlich macht. Wimmer optiert für das zweite und baut hierauf seine kritische These auf, dass die Befolgung des Moralgesetzes vom Gottespostulat entkoppelt, mithin die Sphären von Moralität und Religion stärker voneinander gelöst werden könnten. 63 Die Annahme Gottes ergäbe sich dann in letzter Konsequenz nicht aus der Befolgung der moralgesetzlichen Verpflichtung, sondern aus der Frage nach dem Sinn und Zweck des menschlichen Lebens im Ganzen, nach dem totalen und umfassenden Objekt praktischer Rationalität, wie oben formuliert wurde. Das wichtigste Argument für die Beförderungs-Auslegung besteht in der Beobachtung, dass Kant von der Verpflichtung spricht, das höchste Gut zu befördern, und zu Recht nicht davon, es tatsächlich zu verwirklichen. Für die Beförderung - indem man etwa die Talente und die Glückseligkeit der anderen und seiner selbst fördert - ist die Annahme Gottes in der Tat nicht erforderlich. G. Geismann und Keller bringen dagegen den Einwand vor, dass gerade die Notwendigkeit einer Herbeiführung des höchsten Gutes, das ja das Objekt der praktischen Vernunft ist, das Gottespostulat erzeugt, weil die menschlichen Kräfte unter den natürlichen Gegebenheiten hierfür nicht ausreichend sind, und Kant davon ausgehend dem Menschen zurecht nur eine Beförderungspflicht auferlegt. 64 Praktische Rationalität erfordert, auf die Realisation des höchsten Gutes hinzuarbeiten; weil der Mensch dies allerdings nur befördern kann und eine Beförderungspflicht ohne die Möglichkeit der Realisation sinnlos wäre, muss ein das summum bonum verwirklichendes Wesen angenommen werden. Das führt zu einer weitergehenden Rückfrage: Ist die Rede vom Postulat als einer mit der Moralität notwendigerweise gegebenen Annahme des Daseins Gottes so zu verstehen, dass alle Tugendhaften notwendigerweise das Dasein Gottes anerkennen müssen? Kann man, sofern man sich dem Anspruch praktischer Vernünftigkeit unterstellt, dennoch das Dasein Gottes nicht anerkennen? Und würde die Verneinung dieser Frage nicht die aufgewiesene Selbstständig- 62 Vgl. KpV 225/ AA V 125. 63 Vgl. Wimmer 1990, 11 f., 66 f., 73-77. 64 Vgl. Geismann 2000, 489 f., u. Keller 2008, 124 f. Ähnlich, aber ohne ausdrückliche Bezugnahme auf die Studie von Wimmer argumentiert Ricken 2013c, 80 f. <?page no="54"?> 54 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen keit der Moralität aufheben und die Moralität damit hinterrücks in einen theistischen Horizont einweisen? Geismann erinnert daran, „daß Kants Schlusßfolgerungen bezüglich Moral und Religion ausnahmslos in eine Richtung verlaufen, nämlich vom Unbedingt-Moralischen zum Bedingt-Religiösen.“ 65 Eine umgekehrte Inanspruchnahme der Analyse des sittlichen Bewusstseins ist seines Erachtens nicht vorgesehen und würde, wenn man beispielsweise in Analogie zum Freiheitspostulat auch in Bezug auf das Gottespostulat das durch die Analyse Entdeckte zur ratio essendi für das Aufdeckende erklärte, lediglich zu dem nicht weiter beeindruckenden Ergebnis führen, dass das göttliche Wesen (dereinst) der Seinsgrund für die Realität des höchsten Gutes, nicht aber für das vernünftige Wollen desselben oder gar für das Moralgesetz selbst wäre. Die thetischen „Überlegungen zum moralischen Beweis für die Existenz Gottes“ von F. Ricken bestreiten jedoch genau diese Einschränkung. Gemäß der darin vorausgesetzten Kantauslegung müssen wir an eine „höchste Vernunft […] als Ursache der Natur“ glauben, sofern wir vermeiden wollen, dass die Moralgesetze zu „leere[n] Hirngespinste[n]“ 66 degradiert werden. Die bereits zitierte RGV-Vorrede schildere ein Erfordernis der praktischen Vernunft, wonach das moralische Handeln einer Zwecksetzung und damit auch des Gottespostulates bedürfe. 67 Dagegen kommt B. Dörflinger in seiner Bearbeitung der Problematik zu dem differenzierten Ergebnis, dass der um die Erfüllung des Moralgesetzes Bemühte laut Kant nicht notwendigerweise das Gottes-Postulat akzeptieren muss, eine solche ‚Verzichttuung auf Vernunftglauben‘ jedoch eine Anstrengung gegen ein Vernunftbedürfnis darstellt. 68 Da Schlussfolgerungen der praktischen Vernunft nicht auf Anschauung beruhen und generell eine von theoretischen Erkenntnissen zu unterscheidende Art des Fürwahrhaltens darstellen, und da die Annahme Gottes nicht wie das Moralgesetz unmittelbar einleuchtet, sondern Ergebnis einer Selbstreflexion des moralisch Handelnden darstellt, ist denkbar, dass sich die praktische Vernunft auch unter Absehung vom Gottesgedanken, dann aber - in einem der KrV entlehnten Bild gesprochen - „wie auf einer Insel, umgeben von Hoffnungslosigkeit“ 69 Geltung verschafft. Als noch problematischer wird die Verknüpfung des höchsten Gutes mit dem Unsterblichkeitspostulat eingeschätzt. Für diese Einschätzung spricht die Beobachtung, dass Kant nicht an allen Stellen, an denen er von den religiösen Implikationen des summum bonum -Gedankens handelt, auch auf die Unsterblichkeit 65 Geismann 2000, 496-501, Zitat: 500 (Hervorhebung im Original). 66 Vgl. Ricken 2013b, 70. 67 Vgl. Ricken 2013b, 71 f., u. 2013c. 68 Vgl. Dörflinger 2004, 217. 69 Dörflinger 2004, 221. <?page no="55"?> 2.2 Die Religionsschrift und die Lehre vom höchsten Gut 55 zu sprechen kommt und deren Postulierung durch die praktische Vernunft sehr unterschiedlich rekonstruiert. 70 In Bezug auf das Argument des postmortalen Ausgleichs ist es m. E. zwar nachvollziehbar, dass die Realisation des höchsten Gutes angesichts der offensichtlich defizitären Gegenwart nur für die Zukunft erwartet werden kann. Ein Weiterexistieren der Seele, das nicht sinnlich oder gemeinschaftlich vermittelt ist, läuft jedoch Gefahr, die anderen Momente, die mit Begriff des höchsten Gutes verbunden werden, nämlich die Befriedigung der Bedürfnisse eines Sinnenwesens oder die kollektive Dimension, zu konterkarieren. Und in Bezug auf das Argument von der nötigen Moralgesetzentsprechung lässt sich bezweifeln, ob eine moralische Perfektionierung, die als unendliches Fortschreiten gedacht wird, die geforderte Erreichung der moralischen Vollkommenheit nicht gerade verunmöglicht. Angesichts dieser Schwierigkeiten um das Unsterblichkeitspostulat kommt Keller zu dem differenzierenden Ergebnis, dass im Gegensatz zur Annahme eines „divinatorisch-transzendente[n] Moment[s]“, das „eine plausible systematische Integration des höchsten Gutes in die kantische Ethik“ ermöglicht, die Forderung nach der „Unsterblichkeit der Seele als zweite Realisationsbedingung des höchsten Guts […] aus systemimmanenten und anthropologischen Gründen problematisch“ 71 ist. Das vermeintliche Scharnier zwischen Moral- und Religionsphilosophie impliziert folglich zahlreiche und mitunter recht gravierende Schwierigkeiten. M. E. deuten diese Schwierigkeiten darauf hin, dass die Lehre vom höchsten Gut nicht als Teil eines ausgeklügelten und vollständig konsistenten philosophischen Systems aufgefasst werden sollte. Vielmehr scheint Kant immer wieder neu an einer Problematik anzusetzen, die für ihn aus seiner Moralphilosophie folgt und die er offenbar trotz aller erkenntnistheoretischer Skepsis nur im Rückgriff auf den Gottesgedanken lösen zu können glaubt. Darüber hinaus deutet das in der KpV vorfindliche Argument des postmortal perpetuierten Fortschreitens zur moralischen Heiligkeit darauf hin, dass Kant neben der Frage nach dem Endzweck des tugendhaften Handelns noch einen anderen Reflexionsstrang zur moralischen Relevanz des Gottesgedankens verfolgt und versucht, das auf tönernen Füßen stehende Unsterblichkeitspostulat in diese offene Überlegung hineinzukomponieren. Das kantische Bedürfnis, für die Selbstauslegung des moralisch unbedingt geforderten Menschen auf reli- 70 Siehe den Überblick oben, S. 46-49. In der RGV wird das Unsterblichkeitsthema nur an zwei Stellen gestreift: eine Erwähnung auf B 236/ AA VI 157 21 und ein Exkurs zur leiblichen Auferstehung unter B 191-193/ AA VI 128 19 -129 38 , wo Kant gegen die Vorstellung der leiblich-materiellen Vorstellung argumentiert. Gegen Ende der MdS-TL lässt sich eine weitere Herleitung der postmortalen Weiterexistenz ausmachen: Sie folgt dort aus der praktischen Notwendigkeit der Strafgerechtigkeit (A 186 Fn./ AA VI 490). 71 Keller 2008, 159. <?page no="56"?> 56 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen giöse Ideen zurückzugreifen, sollte daher nicht vorschnell auf die Theorie des höchsten Gutes verkürzt werden. Vor allem aber dürfte die kritische Sichtung zur Vorsicht in Bezug auf die Interpretation der RGV mahnen: Angesichts der Uneindeutigkeiten und Probleme innerhalb der summum bonum -Lehre sollte man die Schrift nicht ausschließlich unter dieser Perspektive lesen und bei der Interpretation die Zusammenhänge mit dieser Theorie nicht zu sehr in den Vordergrund rücken. Die Fragwürdigkeit eines solchen Interpretationsansatzes zeigt sich auch daran, dass der vermeintliche Zusammenhang zwischen der Schrift und der Lehre vom höchsten Gut sehr unterschiedlich rekonstruiert wird. Bei der Sichtung der Sekundärliteratur stößt man hier auf einen weiteren Problemkomplex, der oben an letzter Stelle benannt wurde. In Wirklichkeit unterbreiten allerdings selbst diejenigen Interpreten, die den Scharnierbegriff des höchsten Gutes auf die Religionsschrift anwenden, sehr unterschiedliche Vorschläge dazu, wie sich die vermeintlich unter dem summum bonum -Gesichtspunkt zu lesende RGV zu den sonstigen Ausführungen Kants bezüglich der Thematik verhält. Die Literatur lässt sich zwei Tendenzen zuordnen: Es wird tendenziell entweder eine Transformations- oder eine Beibehaltungseinschätzung vertreten. 72 Beiträge, die der Beibehaltungsthese zuzuordnen sind, sehen in der summum bonum -Thematik der Religionsschrift eine weitgehend bruchlose Wiederauflage der früheren Überlegungen zum Thema. Sie bilden quantitativ die Minorität der Wortmeldungen. In Beiträgen, die zur Transformationsthese tendieren, wird auf die Modifikationen hingewiesen, die die einschlägigen Ausführungen der RGV gegenüber den vorhergehenden Thematisierungen erkennen lassen. Als exemplarischen Vertreter der Beibehaltungsthese kann man Geismann ansehen. Er bestreitet konsequent jede Entwicklung oder Modifikation der kantischen summum bonum -Konzeption. Mögliche textliche Abweichungen lassen sich seines Erachtens als unterschiedliche Schwerpunktsetzungen erklären, aus denen nicht gefolgert werden dürfe, dass Kant die jeweils nicht beachteten Aspekte seiner Theorie bei der Abfassung der jeweiligen Texte nicht auch akzeptiert hätte. 73 In Bezug auf die Religionsschrift vertritt Geismann die Auffassung, dass dort lediglich ein diesseitiger Aspekt der einen Lehre vom höchsten Gut entfaltet, nicht aber dessen innerweltliche Verwirklichung behauptet werde. 74 Begründet wird dies unter anderem durch seine Analyse der Begriffsverwen- 72 Vgl. Keller 2008, 216, unterscheidet sachlich ähnlich zwischen ‚Fortschritts-‘ oder ‚Kontinuitätsthese‘ und ‚Identitätsthese‘, wobei die Bezeichnungen für die erste Option bereits eine Deutung der Textbefunde implizieren. 73 Vgl. Geismann 2000, 451-494. 74 Vgl. Geismann 2000, 492. <?page no="57"?> 2.2 Die Religionsschrift und die Lehre vom höchsten Gut 57 dung in RGV III, die zu dem Ergebnis führt, dass an den bereits angesprochenen Fundstellen vom höchsten Gut im eigentlichen Sinne nicht die Rede sei. 75 Die Transformationsthese wird in verschiedenen Spielarten vertreten: A. Habichler, der sich dem Thema im Rahmen einer Untersuchung des ‚Reich-Gottes‘-Motives bei Kant annimmt, entfaltet eine entwicklungsgeschichtliche Sichtweise, wonach in der Religionsschrift drei sachlich verschiedene Reflexionsstränge zusammengeführt würden. Der erste kann in den summum bonum -Theorien der KrV, der GMS und KpV ausgemacht werden und kreist um den proportionalen Ausgleich von Glückseligkeit und Tugend sowie die Verbindung des individuellen und des gemeinschaftlichen Elementes im höchsten Gut. Der zweite Strang ist in Kants Geschichtsphilosophie und teilweise in der KdU latent enthalten und formuliert die Verwirklichung des höchsten Gutes als geschichtliches Entwicklungsziel der Menschheit. Der dritte hinterließ seine Spuren in den Reflexionen der vorkritischen Zeit, wo von einem Reich Gottes in den Menschen die Rede ist, das zugleich aber von Gott herbeigeführt wird. 76 Obgleich Habichler zufolge die Religionsschrift vor allem an den dritten, d. h. an einen in den kritischen Schriften nicht bearbeiteten Reflexionsstrang anknüpft, integriert sie die beiden anderen Reflexionsgänge. 77 Für die Interpretation der RGV bedeutet dies, dass die Schrift vor allem als umfassende Synthese gelesen werden muss. Die Schrift wird hier als Zielpunkt des Nachdenkens Kants über das höchste Gut des Menschen und dessen religiösen Implikationen aufgefasst - und vermittelt hierdurch sogar als Zeugnis des vermeintlich höchsten Konstruktionspunktes der Philosophie Kants insgesamt. 78 Wie Habichler aber selbst einräumt, kann diese Makroperspektive nur unter Anwendung einer einseitigen Textwahrnehmung durchgehalten werden. 79 Eine solche Textlektüre dürfte daher angesichts der Überlegungen zur moralischen Besserung des einzelnen Menschen, die im zweiten Stück unter der Überschrift „Von dem Kampf des guten Prinzips, mit dem bösen, um die Herrschaft über den Menschen“ zu finden sind, in echte Verlegenheit geraten. Die Interpretation weist allerdings noch ein weiteres, methodisches Charakteristikum auf: Wie vor allem an der Rekonstruktion des dritten Stranges 75 Vgl. Geismann 2000, 514 f. Im Gegensatz zu den nachfolgenden Vertretern der Transformationsthese differenziert Geismann sehr stark zwischen den in der RGV verwendeten Begriffen ‚Reich Gottes‘, ‚höchstes Gut in der Welt‘ und ‚ethisches Gemeinwesen‘ einerseits und den Termini, mit denen das höchste Gut bezeichnet wird. Außerdem sieht er keinen Zusammenhang zwischen der summum bonum -Lehre und der Geschichtsphilosophie (523-525). 76 Vgl. Habichler 1991, 191-194. 77 Vgl. Habichler 1991, 221-227. 78 Das ist auch die Voraussetzung der RGV-Lektüre von P. J. Rossi (vgl. 1991, 132-135). 79 Vgl. Habichler 1991, 226 f. <?page no="58"?> 58 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen deutlich wird, bezieht Habichler in seine RGV-Analyse kantisches Gedankengut aus der vorkritischen Zeit und aus unveröffentlichten Hinterlassenschaften ein, weil er feststellt, dass diese offenbar erst im Alterswerk zum Austrag kommen. Die in der Religionsschrift greifbaren Überlegungen können daher nicht nur mit den kritischen Hauptschriften vermittelt werden. Sie haben darüber hinaus auch eine Verankerung in Kants vorkritischen Ansichten. Nach der Meinung von Wimmer setzt Kant seine Reflexionsanstrengungen bezüglich des höchsten Guts über die Religionsschrift hinaus fort, wie dessen sog. Opus Postumum belegen kann. Das summum bonum -Thema in der Religionsschrift bildet dieser Interpretation zufolge eine Zwischenetappe, in der stärker als in den vorhergehenden Referenztexten der soziale Aspekt des höchsten Gutes im Vordergrund steht. Wie Wimmer in einer detaillierten Analyse der ersten Seiten des dritten Stücks (RGV III) aufzeigt, erachtet Kant es hier für nötig, dass das höchste Gut in einem ethischen Gemeinwesen verwirklicht werde. 80 Die Besprechung der RGV in der Studie hinterlässt insgesamt jedoch einen hybriden Eindruck, weil Wimmer einerseits das höchste Gut ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, andererseits aber die andersartigen Überlegungen aus der Schrift - etwa zum radikalen Bösen und zur Wiederherstellung des Menschen - eingehend bespricht und deren eigenständige Bedeutsamkeit durchaus würdigt. 81 Dieser Studie steht hinsichtlich der Vorstellung von Kants intellektueller Entwicklung die Arbeit von Keller nahe. Keller entwirft eine aspektuale Verhältnissetzung, nach der die Unterschiede der Lehren über das höchste Gut in der Religionsschrift und den vorhergehenden Veröffentlichungen als grundsätzlich vereinbare, aber von Kant in verschiedenen Anläufen ausgebildete Aspekte des einen summum bonum -Theorems zu deuten sind. 82 Anders als Habichler unterscheidet er genauer zwischen philosophischer Interpretation und theologischer Anverwandlung und sieht die Schrift nicht als alles Vorhergehende in sich aufhebende, abschließende Supersynthese an. Dennoch verzichtet er auf eine eingehende Würdigung derjenigen Textteile, die nicht in die summum bonum -Perspektive passen. Er benennt zwar die Lehre vom radikalen Bösen und von der Rechtfertigung des bösen Menschen durch Gottes Beistand, sieht das erste allerdings nur als „systematische[] Einführung des Gedankens einer Tu- 80 Vgl. Wimmer 1990, 186-197. In einer Erwiderung auf Geismanns Kritik an seiner Arbeit spricht er allerdings davon, dass er diese spezifische RGV-Stelle nicht als Veränderung des summum bonum -Gedankens verstanden wissen will, sondern als dessen „Entfaltung“ (vgl. Wimmer 2004b, 378 Fn. 19). 81 Vgl. die Zusammenschau der Kapitel B-E (Wimmer 1990, 91-218). 82 Vgl. Keller 2008, 215 f. <?page no="59"?> 2.3 Fragen an Kants Theorie des Bösen 59 gendgemeinschaft“ an 83 und reduziert das zweite auf eine „Nuancierung“ innerhalb der einen Theorie das rationalen Hoffens auf das höchste Gut. 84 Zusammenfassend lässt sich daher festhalten: Das Lehrstück vom höchsten Gut, zu dem Kant mittels unterschiedlich ausgestalteter Überlegungen vorstößt, stellt einen wichtigen Übergang von der Moralphilosophie in seine religionsphilosophischen Reflexionen dar. Und da dieser Übergang in allen drei Kritiken behandelt wird, kann es nicht nur einer möglichen Altersmilde geschuldet sein, wenn der fast Siebzigjährige die Auseinandersetzung mit religiösen Ideen sucht und manchen von diesen einen legitimen Platz innerhalb der kritischen Philosophie einräumt. Ebenso verfehlt wäre es allerdings, den Selbstinterpretationen des Autors ganz unkritisch zu folgen und die Religionsschrift mittels des summum bonum -Theorems nahtlos in das Gesamtgebäude der kritischen Philosophie eingefügt zu sehen. Das liegt zum einen an der Vielgestaltigkeit der kantischen Überlegungen zum höchsten Gut, die durch die entsprechenden Ausführungen in der RGV sogar noch bereichert wird. Zum anderen wird eine Interpretation, die die Religionsschrift vorrangig als Fortführung der kantischen Reflexion über das höchste Gut versteht, der tatsächlichen Gedankenführung der Schrift nicht gerecht. Wesentliche Textteile sind unter Voraussetzung einer solchen Interpretation unverständlich oder müssen gänzlich ignoriert werden, wie in den entsprechenden Beiträgen zuweilen auch unverhohlen dargelegt wird. Es sind jedoch gerade diese tendenziell ausgeblendeten Argumentationen und Gedanken, die - wie in dieser Studie mithilfe des Rückgriffs auf die Ethikvorlesungen gezeigt werden soll - für eine moraltheologische Auseinandersetzung mit Kants RGV sehr fruchtbar sind. 2.3 Fragen an Kants Theorie des Bösen Die im ersten und ältesten Stück der Religionsschrift entfaltete Theorie des Bösen hat einen schweren Stand in der philosophischen wie außerphilosophischen Kantwahrnehmung. Wie R. Malter herausarbeitet, war es vor allem die These vom ‚radikalen Bösen‘, die manche von Kants Zeitgenossen zu der Einschätzung führte, der vergreisende Kant sei in der RGV seinen eigenen aufklärerischen Prinzipien untreu geworden und habe in seinem Alterswerk einen intellektuell 83 Vgl. Keller 2008, 181. 84 Vgl. Keller 2008, 232-235, sowie programmatisch 240: „Obwohl Kant in der Religionsschrift mit der Hoffnung auf göttliche Genugtuung ein anderes Hoffnungsobjekt anschneidet, so richtet sich in der kantischen Moral- und Religionsphilosophie rationale Hoffnung systematisch nur auf einen bestimmten Gegenstand: das höchste Gut.“ <?page no="60"?> 60 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen unredlichen Brückenschlag zum Christentum unternommen. 85 Dafür, dass gerade dieser Theorieteil kritische oder bestenfalls zurückhaltende Aufnahme findet, kann man mehrere hintergründige Motive vermuten. Es könnte die Tendenz mancher Teile der Ethik im Hintergrund stehen, sich einer vertiefenden moralphilosophischen Auseinandersetzung mit den auch in unserer Zeit reich gesäten Erfahrungen von menschlichem Versagen zu entziehen. 86 Überdies dürfte das inhaltliche Profil der kantischen Theorie des Bösen bei den Leserinnen und Lesern ambivalente Reaktionen erzeugen. Denn einerseits widerspricht die These vom Bösen im Menschen und dessen allgemeiner Verbreitung dem überwiegend positiven Bild, das der ‚aufgeklärte‘ Mensch von sich selbst hat und das wohl durch die vielfältigen Fortschritts- und Entfaltungsmöglichkeiten genährt wird, über die zumindest manche Teile der Menschheit selbstverständlich verfügen. Sowohl lebensweltlich als auch in den maßgeblichen intellektuellen Ressourcen der jeweiligen Selbstreflexion begegnen dann kaum mehr Hinweise auf die Grenzen menschlicher Aktivität oder auf ein (womöglich unvermeidliches) Versagen des Menschen. Und wenn - meist in skandalisierender Zurschaustellung - von den negativen und destruktiven Seiten des Menschen gesprochen wird, dann dominiert nicht selten eine rationalistische Vermeidungsrhetorik, die regelmäßig mit der Tendenz einhergeht, das Böse auf gesellschaftliche Bedingungen zurückzuführen und es dadurch, wie Kant entgegenhalten würde, als moralisch zurechenbare Schuld eines unvertretbar verantwortlichen Handlungssubjektes aufzuheben. Andererseits kann man dem kantischen Entwurf gerade deshalb eine hohe Modernität bescheinigen, weil er sowohl im Aufweis menschlichen Versagens als auch hinsichtlich der Überwindung des Bösen metaphysisch oder weltanschaulich voraussetzungsreiche Denkmodelle, die in der Philosophiegeschichte mit der Frage nach dem Bösen assoziiert wurden, zu umgehen scheint. Die in 85 Vgl. Malter 1975, 149-163. 86 Vgl. Höffe 1995, 14-f.: „Vielleicht ist das Böse ein Thema weniger der Ethik als der Religion, und dann nicht einmal jederart Religion, sondern nur in ihrer theistischen Form. Folgerichtig gehöre der Begriff in eine Philosophie, die es im 20. Jahrhundert aber kaum noch gibt, in eine christliche oder jüdisch-christliche Philosophie, […] nicht zur Philosophie tout court .“ Auch S. Morgan konstatiert in Bezug auf die englischsprachige Kantforschung, dass das Bosheitsthema über weite Strecken vernachlässigt wurde (vgl. 2005, 64). Allerdings hat insbesondere für den englischsprachigen Raum das Diktum H. Arendts von der ‚Banalität des Bösen‘ verstärkte Aufmerksamkeit auf das erste Stück der RGV gelenkt, da der auf die bürokratische Ermöglichung des Holocausts gemünzte Ausdruck Arendts eine rege Popularisierung erfahren hat und eine bewusste, in der Sache aber schiefe Kontrastierung zu Kants These vom radikalen Bösen darstellt (zum komplizierten sachlichen Verhältnis von Arendts Bosheitskonzeption zu Kant vgl. Allison 1995, zur Initialwirkung des geflügelten Ausdrucks für die Kantdebatte vgl. Bernstein 2002, 3). Jedenfalls häufen sich in jüngerer Zeit die Veröffentlichungen zum Thema. <?page no="61"?> 2.3 Fragen an Kants Theorie des Bösen 61 der Religionsschrift hervortretende Konzeption des Bösen greift die metaphysische Bestimmung des Bösen als privatio boni , die theodizeebelastete Spekulation über die Vereinbarkeit der Realität des Bösen mit der Gerechtigkeit Gottes und die aus heutiger Sicht ungerecht erscheinende Verdammung des Einzelnen aufgrund der Sünde der Vorfahren zwar auf, steht zu diesen traditionellen Vorstellungen aber in einem durchaus kritischen Verhältnis. In der Interpretationsdebatte um die kantische Theorie des Bösen zeichnen sich drei Kristallisationspunkte ab, zu denen eine Vielzahl von teilweise aufeinander Bezug nehmenden Beiträgen vorliegt. Jeder dieser Kristallisationspunkte deutet auf spezifische Schwerpunktsetzungen bei den jeweiligen Interpretationsbemühungen hin. Die ersten beiden Diskussionsfelder beziehen sich auf Teilthesen, die in der Rede vom ‚ radikalen Bösen in der menschlichen Natur‘ eingeschlossen sind. Der Ausdruck besagt nicht - wie der derzeit vorherrschende Sprachgebrauch nahelegt -, dass das Böse ‚extrem‘ oder ‚kompromisslos‘ wäre. Vielmehr ist er als Metapher zu verstehen, derzufolge es ein Böses im Menschen gibt, das gleichsam als Wurzel (lateinisch radix : die Wurzel) des unmoralischen Handelns angesehen werden muss und wie eine Wurzel in den Menschen eingeschlossen ist. Es geht zum einen also um eine Lokalisierung und Internalisierung des Bösen, wonach für die Rede vom zurechenbar Bösen nicht primär das äußere Handeln, sondern die freiheitlich gefassten Maximen, sprich: das Zustandekommen des Bösen aus der menschlichen Willensfreiheit, untersucht werden müssen. Zum anderen wird hierdurch die Behauptung einer allgemeinen Verbreitung unter allen Menschen, ja einer näher zu bestimmenden Zugehörigkeit des Bösen zur menschlichen ‚Gattungsnatur‘, aufgestellt. Im dritten Diskussionsfeld werden das Anliegen und der übergreifende Sinnzusammenhang dieser vielfach problematisierten Thesen erörtert. Die erste Teilthese wirft die Frage auf, wie eine zurechenbare und damit freiheitliche Abwendung von der moralischen Maxime vor dem Hintergrund des kantischen Freiheitsbegriffs überhaupt möglich ist. Gemäß der sog. Identitätsthese, die sich vor allem auf den dritten Abschnitt der GMS stützt 87 , liegt Freiheit für Kant genau dann vor, wenn der Wille sich am autonom gegebenen sowie 87 Vgl. GMS IV 446 f. (Hervorhebung: Reich): „[W]as kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein als Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein? Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz, bezeichnet nur das Prinzip, nach keiner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als ein allgemeines Gesetz zum Gegenstande haben kann. Dies ist aber gerade die Formel des kategorischen Imperativs und das Prinzip der Sittlichkeit: also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei .“ G. Prauss (1983) und J. Bojanowski (2006) sprechen von der ‚Identitätsthese‘, D. Schönecker und A. Wood von der ‚Analytizitätsthese‘ (vgl. 2002, 174-183), bei H. Allison findet sich die Bezeichnung ‚Reziprozitätsthese‘ (1990, 201-213 u. 2001, 612). <?page no="62"?> 62 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen zugleich unbedingt und allgemein geltenden Moralgesetz ausrichtet. Ein im Sinne der Identitätsthese gefasster Freiheitsbegriff hat den Vorteil, auch einen heiligen Willen, wie er Kant zufolge bei Gott oder den Engeln angenommen werden muss, als frei zu denken, obwohl in diesem Fall die Möglichkeit des Andershandelns faktisch nicht eintritt, da die so gedachten Wesen keinen anderen als einen moralgesetzlichen Willen haben können. 88 Andererseits muss es unter Voraussetzung der Identitätsthese äußerst fraglich erscheinen, ob eine beim Menschen vorkommende Abweichung vom Moralgesetz überhaupt als freiheitlich aufgefasst werden kann oder nicht vielmehr ein verlässlicher Hinweis auf die Abwesenheit freiheitlicher Selbstbestimmung darstellt. Doch, wie sollte sie dann als böse und schuldhaft zugerechnet werden können? 89 - Die in der Religionsschrift entfaltete Theorie des Bösen nötigt daher zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der kantischen Freiheitstheorie, auch wenn sich die diesbezüglichen interpretatorischen und systematischen Probleme nicht allein mittels des RGV-Textes entscheiden lassen. Die Debatte um die freiheitstheoretischen Implikationen der Religionsschrift kann deshalb danach strukturiert werden, ob - analog zur summum bonum -Lehre - im diachronen Vergleich mit den anderen kantischen Schriften Diskontinuitäts- oder Kontinuitätsthesen vertreten werden, ob das (möglicherweise durch die RGV revidierte) Freiheitsverständnis als plausibel angesehen wird und wie die Identitätsthese angesichts der in der RGV verhandelten Problematik genau zu verstehen ist. 90 Materialer Gegenstand der Debatte ist zum einen der Zusammenhang der RGV mit den zeitgenössischen Reaktionen auf Kants Schriften 88 Vgl. Allison 2002, 343. 89 Rößner 2012, 76, formuliert das dieser Problemanzeige vorschwebende Dilemma aussagenlogisch: „(1) Das moralisch Böse kann nur aus Freiheit stammen, denn sonst wäre es nicht moralisch. (2a) Das moralisch Böse kann aber nicht aus gesetzlicher Freiheit stammen, denn sonst wäre es nicht böse. (2b) Das moralisch Böse kann aber auch nicht aus ungesetzlicher Freiheit stammen, ‚denn es gibt sie nicht‘“. 90 Vertreter der Diskontinuitätsthese sind bspw. G. Prauss (1983) und D. Sussman (2005) sowie - laut H.-J. Ehni 2006, 57-59 - C. Schulte, wobei Prauss das kantische Freiheitsverständnis insgesamt zurückweist (100: „Im Rahmen seiner Konzeption müßte Kant über eine Vernunft verfügen, die auf wirklich radikale Weise ‚für sich selber praktisch‘ ist, das heißt, die tatsächlich bereits für sich selbst und nicht erst darin praktisch ist, daß sie sich ein Moralgesetz auferlegt“; Hervorhebung im Original). Die Kontinuitätsthese wird von Allison (1990), O. Höffe (1995) und Bojanowski (2006) verteidigt, wobei letzterer Prauss und Allison eines Missverständnisses der Identitätsthese zu überführen versucht. N. Fischers Position (1988 u. 2006, ähnlich auch Michalson 1990, bes. 34 u. 52) kann als insofern vermittelnde These eingeordnet werden, als sie die Ausbildung eines begrifflichen Instrumentariums für die Zurechenbarkeit des Bösen in der RGV als konsequente Weiterentwicklung der kantischen Freiheitslehre ansieht. Wimmers Insistieren (1990, 97- 108) auf die Verschiedenheit der in den Schriften der 1780er Jahre diskutierten Freiheitsbegriffe scheint diese Diskussion insgesamt zu unterlaufen. <?page no="63"?> 2.3 Fragen an Kants Theorie des Bösen 63 der 1780er Jahre: Im Jahr 1792, also im Jahr des Erscheinens von RGV I in der Berlinischen Monatsschrift, veröffentlichte K. L. Reinhold den zweiten Band seiner „Briefe über die Kantische Philosophie“, in dem er nicht nur den schon damals aufgeworfenen Einwand referiert, dass ausschließlich die moralisch gute Handlung eine freie Handlung sei und daher der kantische Freiheitsbegriff die Möglichkeit einer moralisch bösen Handlung ausschließe, sondern auch einen eigenen Lösungsvorschlag entwirft, demzufolge man sich in einem freien Akt der Willkür entscheiden könne, entweder das praktische Gesetz zur Maxime zu machen und darin autonom-frei zu handeln oder dies zu unterlassen und sich damit heteronom-unfreiem Handeln auszuliefern. 91 Obgleich wir nicht wissen, inwieweit die beiden Publikationen voneinander abhängig sind 92 , ist doch auffällig, dass Kant in RGV I Überlegungen zur freiheitlichen Hervorbringung des Bösen anstellt, die in den sonstigen Druckschriften nicht zu finden sind. Es ist daher durchaus verständlich, dass sich an diesem Thema die referierte Sage mit unverminderter Schärfe zu Wort meldet. 93 Zum anderen wird das oben geschilderte Problem diskutiert, wie das zurechenbar Böse vor dem Hintergrund des kantischen Freiheitsverständnisses möglich sein kann. Die Ausführungen der RGV ordnen diese Problematik in eine Handlungstheorie ein, wonach eine Handlung dadurch hervorgebracht wird, dass eine ‚Triebfeder‘ in die ‚Maxime‘ aufgenommen, d. h. in der Handlungsregel berücksichtigt wird. Böses Handeln ist dementsprechend so zu erklären, dass eine nichtmoralische Triebfeder in die Maxime aufgenommen wird. 94 Die Aufnahme der jeweiligen Triebfeder muss, um eine naturalisierende Aufhebung von ‚gut‘ und ‚böse‘ auszuschließen, jedoch wiederum ein Akt der Freiheit sein. Aber woran sollte sich dieser Willkürakt ausrichten? - Dass für die Zurechenbarkeit des moralgesetzwidrigen Bösen folglich eine nicht moralgesetzlich determinierte (Willkür-)Freiheit anzunehmen ist, muss, wie Bojanowski zu belegen versucht, nicht die Identitätsthese infrage stellen, sofern diese so interpretiert wird, dass die wechselseitige Verwiesenheit von moralgesetzlicher Willensbestimmung und Freiheit lediglich den Aufweis eines (praktisch) gesicherten Falles tatsächlich vorliegender Freiheitskausalität darstellt und nicht eine ausschließliche Festlegung von Freiheit auf Autonomie. 95 Andererseits will 91 Vgl. Prauss 1983, 83-86.91, u. Bojanowski 2006, 236-239. 92 Vgl. Bojanowski 2006, 232 f. 93 Vgl. bspw. Horn 2011, 43. 94 Vgl. bspw. RGV B 11f/ AA 23 3 -24 3 : „[D]ie Freiheit der Willkür ist von der ganz eigentümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat“. Man kann diesen Aspekt der kantischen Willensfreiheitskonzeption mit Allison (1990, 147 f.) ‚incorporation thesis‘ nennen. 95 Vgl. Bojanowski 2006, 254-257, ähnlich auch Korsgaard 1996, 159 f. u. 171-176. <?page no="64"?> 64 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen Kant diese um der Zurechnung willen anzunehmende Freiheit wohl nicht im Sinne einer libertas indifferentiae , d. h. einer gleichberechtigt-dezisionistischen Wahl hinsichtlich der Befolgung des Moralgesetzes, verstanden wissen. 96 Vielmehr scheint die kantisch gedachte Freiheit darin ihre Entfaltung zu finden, dass sie sich selbst als moralgesetzlich konstituiert, während im Falle des frei gewählten Bösen eine Selbstauslieferung an heteronome Maximen und damit ein Mangel an moralgesetzlich-freiheitlicher Willensbestimmung vorliegt. 97 Nach dem derzeitigen Stand der Diskussion lässt sich festhalten, dass das erste Stück der Religionsschrift den tatsächlichen Entstehungsverhältnissen und der Sache nach nicht als Reaktion auf Einwände gegen das Freiheitsverständnis der früheren Schriften interpretiert werden muss. Hinzu kommt, dass - wie beispielsweise auch Bojanowski einräumt 98 - eine vorrangige Wahrnehmung des Textes unter dieser freiheitstheoretischen Fragestellung weder der argumentativen Gedankenführung noch der Bedeutung des ersten Stücks für die RGV gerecht wird. Die Untersuchungen zum zweiten der oben vorgestellten Kristallisationspunkte - der Behauptung, dass bei allen Menschen ein Hang zum Bösen vorliegt und das Böse zur menschlichen ‚Natur‘ gehört - bearbeiten oftmals gleichzeitig zwei Probleme: Zum einen fällt bei der Textlektüre auf, dass Kant irreführende Hinweise zum Aufbau seiner Argumentation gibt. Auf unterschiedliche Weise wird daher versucht, die eigentlich kantische Begründung für die Behauptung zu rekonstruieren. Zum anderen birgt die Allgemeinheitsthese das sachliche Problem in sich, wie angesichts einer allen Menschen aufgrund ihrer ‚Natur‘ zukommenden Bosheit die Zurechenbarkeit an ein freies Subjekt behauptet 96 Zur kantischen Ablehnung einer libertas indifferentiae in der MdS vgl. Fischer 1988, bes. 35-39. In der möglicherweise auch auf Reinhold gemünzten Einleitung zur MdS wird überdies zwischen ‚Wille‘ und ‚Willkür‘ sowie zwischen ‚negativer‘ und ‚positiver‘ Freiheit unterschieden. Manche deuten auch die Ablehnung einer Diabolisierung des Menschen in RGV I als Ausschluss einer dezisionistischen, die moralische Zurechnung infrage stellenden Position, wonach das moralische Gefordertsein von dem Entschluss, sich überhaupt diesen Forderungen zu unterstellen, abhängig wäre (vgl. Ehni 2006, 119; Rößner 2012, 85). 97 Nach dem Modell des selbstverschuldeten Nichtvollzuges von autonomer Freiheit argumentieren Prauss 1983 (94: „Sofern es sich dabei nur immer um die Fremdbestimmung oder Heteronomie von so etwas wie Willensfreiheit handelt, und das heißt um die eines Subjekts zu Handlungen, muß diese Fremdbestimmung eigentlich in einer Selbst bestimmung zur Fremdbestimmung bestehen bzw. in einer Auto nomie zur Heteronomie.“) und Ehni 2006 (123: „Freiheit und Vernunft [kommen] beim moralisch Guten in einem vollen Sinn zur Geltung […], im Falles des moralisch Bösen jedoch nicht.“). Mit Klemme 1999, 146, kann man diesem Zusammenhang die ‚selbstverschuldete Unmündigkeit‘ im Aufsatz „Was ist Aufklärung? “ (vgl. AA VIII 35-42) parallelisieren. 98 Vgl. Bojanowski 2006, 277 f. <?page no="65"?> 2.3 Fragen an Kants Theorie des Bösen 65 werden kann - mit anderen Worten: ob die These, dass der Mensch ‚von Natur böse‘ sei, für Kant nicht eine contradictio in adiecto darstellen müsste. Manche, wie beispielsweise G. E. Michalson oder C. Horn, halten die These daher insgesamt für verfehlt. 99 Viele andere trauen dem Königsberger Logikprofessor einen solchen Schnitzer nicht zu und versuchen, seinen Begründungsbemühungen Folge zu leisten. Im Folgenden sollen einige der hierbei besonders häufig diskutierten Gesichtspunkte vorgestellt werden, da deren Bewertung weitreichende Konsequenzen für die Herangehensweise an den Text und das Verständnis der kantischen These hat. 100 Ein insbesondere in der aktuellen englischsprachigen Literatur weit verbreiteter Interpretationsansatz versucht, das radikale Böse durch eine sozialanthropologische Erklärung zu plausibilisieren. Ein solcher Interpretationsansatz wird vor allem von S. Anderson-Gold und Wood vertreten. 101 Wood erläutert die Allgemeinheitsthese vor dem Hintergrund der kantischen Überzeugung von der ‚geselligen Ungeselligkeit‘ des Menschen. Demnach liegt das radikale Böse in dem für den Menschen eigentümlichen Zwiespalt begründet, zwar auf Gemeinschaft hin ausgerichtet zu sein, in Gemeinschaft aber Konkurrenzverhalten auszubilden und sich dadurch wechselseitig zu verderben. 102 Der entscheidende Kunstgriff dieser Interpretation besteht nun darin, die Ausführungen zu den sog. ‚Lastern der Kultur‘ aus dem ersten Abschnitt von RGV I mit der einleitenden Passage aus RGV III zusammenzuschließen, wo Kant tatsächlich eine sozialanthropologische Begründung für die Lasteranfälligkeit des Menschen und die Notwendigkeit einer gemeinschaftlichen Vorsorge dagegen anführt. 103 Hinzu kommt, dass dieser Zugriff auf den Gesamttext es erlaubt, die Lehre vom 99 Vgl. Michalson 1990, 62-70, u. 2012, 188; Horn 2011. 100 Dass hier der sog. ‚Hang zum Bösen‘ und die allgemein-radikale Bosheit des Menschen in eins gesetzt werden und damit eine freilich begründungspflichtige Äquivalenzbehauptung aufgestellt wird, braucht nicht zu beunruhigen. Denn wie sich in Kap. 4.1 leicht zeigen lässt, nimmt Kant mittels der Bestimmung des Hanges als ‚intelligibele Tat‘ eben diese Identifikation vor, um eine naturalisierende Aufhebung des malum morale zu vermeiden. 101 Da der Interpretationsansatz von Anderson-Gold in Kap. 2.5 skizziert wird, stützt sich die Darstellung an dieser Stelle vor allem auf Wood (1991b; 2000; 2010; 2011, bes. 131- 133). Auf den Zusammenhang zwischen RGV I und RGV III bezüglich der Erörterung des Bösen weisen auch Sussman (2005) und Morgan (2005) hin. 102 Vgl. Wood 1991b, 331-341. Der Ausdruck ‚ungesellige Geselligkeit‘ findet sich in der Abhandlung „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ von 1784 (vgl. AA VIII 17-31, bes. 20). Im Rahmen der kantischen Überzeugung von der teleologischen Geordnetheit der Geschichte fungiert der dort genannte Zwiespalt zwischen Vergemeinschaftungstrieb und Konkurrenzverhalten als Grundlage für die Ausbildung einer Gesellschaftsordnung. 103 Vgl. Wood 1991b, 331-347, 2000, 502-507, u. 2010, 159-165. Wood macht aus der damit verbundenen Ausblendung von RGV II keinen Hehl, wenn er schreibt (2011, 132): „The social context and origin of the propensity to evil plays little role in Kant’s argument in <?page no="66"?> 66 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen Bösen mit einer geschichtsphilosophisch transformierten Lehre vom höchsten Gut in RGV III zu vermitteln. Von Allison, der einen konkurrierenden Interpretationsansatz ausgearbeitet hat, wird gegen diese sozialanthropologische Interpretations- und Plausibilisierungsstrategie vor allem ins Feld geführt, dass eine solche Erklärung des Bösen dem im Text angedeuteten Beweisanspruch Kants nicht gerecht wird und das Böse hierdurch auf eine zwischenmenschliche Verhaltensweise zurückgeführt, ja zuweilen sogar mit dieser identifiziert wird. 104 Das Böse betrifft nach Kant nicht nur - und, wie zu zeigen sein wird, nicht einmal vorrangig - Fehl- und Unterdrückungsverhalten gegenüber anderen Menschen, sondern auch Verletzungen der Pflichten gegen sich selbst und Motivationsmängel. 105 Schließlich erwecken Interpretationen wie die von Wood den Eindruck, dass Kants Ausführungen in RGV I stark von J. J. Rousseau und dessen Theorie der Entstehung von Unmoral durch die Vergesellschaftung des Menschen her gelesen 106 und auf die Theorie des ethischen Gemeinwesens in RGV III bezogen werden. Allison ist daher der Überzeugung, dem spezifischen Gepräge der kantischen These sowie den im Text gegebenen Hinweisen auf die Argumentationsstruktur besser gerecht zu werden, wenn sie als transzendental fundiertes Argument rekonstruiert werden: Gemäß der bereits genannten incorporation thesis werden nach Kant Neigungen und auch das Moralgesetz dadurch handlungswirksam, dass sie in die oberste Maxime aufgenommen (‚inkorporiert‘) werden. Wie Kant bei der Entfaltung seines rigoristischen Standpunktes darlegt, nimmt der Mensch entweder das Moralgesetz auf oder die Neigungen; der Mensch hat also, wie Allison formuliert, entweder einen Hang zum Guten oder zum Bösen. Wenn ein Hang zum Guten vorläge, würde der Mensch im Handeln und in seiner Gesinnung unbedingt und immerzu das Moralgesetz befolgen; er hätte einen ‚heiligen‘ Willen. 107 Der dritte Argumentationsschritt besteht in dem Aufweis, dass kein Hang zum Guten gegeben ist, woraus gemäß der rigoristischen Voraussetzung folgt, dass ein Hang zum Bösen vorliegen muss. An diesem Punkt weisen die transzendental orientierten Rekonstruktionsansätze eine gewisse Variabilität auf: Entweder der Aufweis der Nichtheiligkeit wird wie bei Allison the Religion in the First and Second Parts. But it comes to the fore at the beginning of the Third Part, where we take up the struggle against evil.“ 104 Vgl. Allison 2001, 605-610. Das ‚radikale Böse‘ und die ‚ungesellige Geselligkeit‘ bringen demnach unterschiedliche Überlegungen Kants zum Ausdruck, die zwar durchaus in einen Zusammenhang gebracht werden können, aber nicht ineinander überführbar sind (vgl. Michalson 1990, 26 f., Wimmer 1990, 123 f., Klemme 1999, 142, u. Morgan 2005, 110 f.). 105 Vgl. auch die Objektionen, die Wood (2010, 165-170) aufwirft und zur Stärkung seiner These zu widerlegen versucht. 106 Vgl. Allison 2001, 594, u. 2002, 344. 107 Vgl. Allison 1990, 154-157, 2001, 607-609, u. 2002, 341 f. <?page no="67"?> 2.3 Fragen an Kants Theorie des Bösen 67 im menschlicherseits bestehenden Widerstand gegen die Moralgesetzbefolgung gesehen. Oder hierfür werden dann doch Kants empirische Beobachtungen herangezogen, wonach das tatsächliche Verhalten der Menschen sicherlich keinen Hang zum Guten vermuten lässt. 108 Auch dieser Interpretationsansatz ist Schwierigkeiten ausgesetzt: Wood fragt beispielsweise zurück, ob ein solcher Interpretationsansatz nicht zwangsläufig auf fragwürdige Erfahrungsurteile über das Vorliegen der Unheiligkeit in jedem menschlichen Wesen zurückgreifen muss. 109 Möglicherweise ist in Bezug auf den dritten Schritt des eben referierten Argumentationsganges nicht auszuschließen, dass bei irgendeinem ‚heiligmäßigen‘ Menschen doch ein Hang zum Guten vorliegt, folglich auch der indirekte Beweis nicht die gattungsweite Verbreitung darlegen kann. 110 Das wäre dann aber in erster Linie ein Problem der sachlichen Behauptungen Kants und nicht des Textverständnisses. Und wenn man sich vorrangig und ohne einseitige Fokussierung auf die Allgemeinheitsproblematik um ein Verständnis des Textes von RGV I bemüht, dann zeigt sich, dass Kants Gedankenführung nicht auf den resignativ-pessimistischen Nachweis einer ausnahmslos zementierten Unterwerfung eines jeden Menschen unter das Böse abzielt. Kant behauptet trotz oder gerade angesichts der allgemeinen Verbreitung des Bösen, dass Besserung möglich und nötig ist. Nach Höffe, dessen geistesgeschichtliche Einordnung des Bosheitsthemas bereits zu Beginn des Unterkapitels zitiert wurde, ist die kantische Aufdeckung der allen Menschen zukommenden Selbstbestimmung zum Bösen deshalb so wertvoll, weil sie gegen eine hybrishafte Selbstillusionierung und gegen utopische Visionen von einer Abschaffung des Bösen dem Menschen die nur durch persönlichen Einsatz bewältigbare Aufgabe auferlegt, konkrete Maßnahmen gegen das allgegenwärtig wirksame Böse zu ergreifen. Höffe weist damit der Lehre vom radikalen Bösen eine Bedeutung zu, die über deren einzelne Behauptungen hinausgeht und sich auf die Besserung des Menschen bezieht. Die 108 Vgl. Rieger 2007, 81. Ähnlich argumentiert P. Muchnik, der beim Versuch, Kants Argument zu verbessern (vgl. 2009, XI), auf die empirisch-anthropologische Einsicht vom sich unvermeidlich durchsetzenden und die Realisation des summum bonum konterkarierenden Glückstreben zurückgreift (vgl. 2009, 61-84 u. 2010). Er hält einen solchen ‚Synkretismus‘ zwischen apriorischer und empirischer Argumentationsweise für textgemäß (vgl. 2009, 129). Nach der außerordentlich kreativen, aber nicht ausreichend belegten Hypothese von C. Firestone und N. Jacobs ist die spannungsvolle Verbindung von Bosheits- und Naturbegriff als Nachwirkung eines im 17. Jahrhundert aufkommenden Gattungsbegriffes zu begreifen, wonach das Gattungswesen Mensch als Quasi-Subjekt über die Generationen hinweg das Böse als Gattungsmerkmal zweiter Ordnung erworben habe und jedes Individuum real an dieser zurechenbaren Gattungseigenschaft partizipiere (vgl. 2008, 146-151). 109 Vgl. Wood 1991b, 350. 110 Vgl. Morgan 2005, 113 f., Muchnik 2009, 57 f., u. Horn 2011, 51 f. <?page no="68"?> 68 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen These vom radikalen Bösen muss diesem Interpretationsansatz zufolge nicht als abgeschlossenes Negativurteil über die Menschheit gelesen werden, sondern als diagnostische Grundlage für eine wirksame moralische Verbesserung. 111 Der Interpretation Höffes stehen eine Reihe weiterer Interpretationsvorschläge nahe, die einen dritten Kristallisationspunkt der Debatte um das radikale Böse bilden. Es wurde bereits mehrfach angedeutet, dass in der Sekundärliteratur immer wieder ein Zusammenhang zwischen den Ausführungen zum Bösen in RGV I und der Theorie des ethischen Gemeinwesens in RGV III hergestellt wird. H. F. Klemme bringt das darin eingeschlossene Verständnis der These vom radikalen Bösen auf den Punkt, indem er festhält, dass das Lehrstück vom radikalen Bösen angesichts der problembehafteten Argumentation in RGV I in Wirklichkeit gar nicht darauf abzielt, „die Möglichkeit einer freien bösen Handlung aufzuklären“ 112 . Die RGV sei aufs Ganze gesehen vielmehr mit der Überwindung des Bösen befasst. Kant geht es demnach um den Aufweis, warum und wie der Mensch sowohl den politischen als auch den ethischen Naturzustand verlassen und sich einem rechtlichen und ethischen Gemeinwesen anschließen soll. Da die dem Bösen entgegenwirkende Tugendgemeinschaft als unter der Herrschaft Gottes stehend konzipiert wird, stellt dies auch den Übergang zur ‚Religion‘ dar. 113 Andere Beiträge setzen an der am Ende des ersten Stücks vorgenommenen Zuordnung der Bosheitslehre zur moralischen ‚Asketik‘ an. Wie M. Forschner schreibt, lassen sich die Ausführungen zum Bösen nur dann einer konsistenten Interpretation unterziehen, wenn beachtet wird, dass Kant das Thema unter verschiedenen Perspektiven bearbeitet. 114 Eine der zu berücksichtigenden Perspektiven besteht darin, die Relevanz des Satzes vom „angeborenen Bösen […] in der moralischen Aszetik, d. h. der Lehre von der praktischen Vermittlung und Einübung des Moralischen“ 115 zu sehen, wonach „die reine Vernunftperspektive mit der empirisch erklärenden und empirisch beurteilenden Perspektive in pragmatisch-praktischer Absicht“ 116 verbunden werden muss. 111 Insofern die kantische Analyse die Bosheit nicht auf mangelhafte Fähigkeiten oder soziale Zusammenhänge, sondern auf eine willentliche Abweichung vom Moralgesetz zurückführt, bewahrt sie mögliche Verbesserungsprogramme ebenso vor einem naiven Vernunftoptimismus, wie er etwa in der platonischen Forderung nach einem Philosophenkönigtum laut wurde (vgl. Höffe 1995, 31 f. bzw. 2001, 175 f.), wie vor einem geschichtsphilosophisch-kollektivistischen Futurismus hegelianisch-marxistischer Manier (vgl. Wimmer 1990, 124). 112 Klemme 1999, 144. 113 Vgl. Klemme 1999, 142-144.148f. Auch Bojanowski sieht im Zusammenhang zwischen Bosheitslehre und ethischem Gemeinwesen den „zentralen Gedanken der gesamten Religionsschrift “ (vgl. 2006, 277 f.; Hervorhebung im Original). 114 Vgl. Forschner 2009, bes. 519 f. 115 Forschner 2011, 79. 116 Forschner 2011, 82. <?page no="69"?> 2.3 Fragen an Kants Theorie des Bösen 69 Auch Allison und Wood sind sich trotz aller Differenzen darüber einig, dass das Lehrstück vom radikalen Bösen einen pragmatischen Sinn hat, weil Kant damit eine Agenda der moralischen Besserung verfolgt. 117 Allison geht dabei soweit, dass er die Allgemeinheitsthese zu einem Postulat erklärt, das dem durch die praktische Vernunft auferlegten Streben nach Heiligkeit korrespondiert. Denn der durch die praktische Vernunft auferlegte Prozess der Durchsetzung des Moralgesetzes und der inneren Läuterung setzt seines Erachtens erstens die Annahme voraus, dass der Ist-Zustand des Menschen unzureichend ist und eine grundsätzliche Besserung erfordert, und wird zweitens durch die inhaltliche Analyse dieses defizitären Zustandes als Gesinnungswandel und Kampf gegen Hindernisse spezifiziert. 118 Ähnlich orientiert wie diese pragmatische Bedeutungszuschreibung sind Interpretationsansätze, die Kants Theorie des Bösen als Teil einer anthropologisch grundierten Reflexion auf die Selbstkonstitution des Menschen als moralisches Wesen 119 ansehen oder auf die traditionsreiche (und bspw. auch in der MdS erscheinende) Forderung nach einer schonungslosen Selbsterkenntnis beziehen. 120 Auch die Einschätzung von P. L. Quinn, der den Text als philosophische Reflexion der christlichen Erbsündenlehre untersucht, ist für die Deutung der These vom radikalen Bösen interessant. Quinn stellt als ein Merkmal der kantischen 117 Vgl. Allison 1990, 147: „We shall also see […] that it [sc. Kant’s doctrine of radical evil] enables us to understand crucial features of Kant’s accounts of virtue and the pursuit of holiness as a moral ideal, both of which presuppose the doctrine of radical evil.“ Woods Beiträge sind in diesem Punkt uneindeutig: Während er im Zusammenhang seiner sozialanthropologischen Erklärung des Bösen die Meinung vertritt, Kant sehe den Menschen in der RGV auf eine kollektive Bekämpfung des Bösen, wie sie im ‚ethischen Gemeinwesen‘ durchdacht werde, angelegt (siehe oben und Kap. 2.5), fasste er in seiner älteren Monografie die RGV vor allem als individualethische Theorie auf und stellte fest, dass für Kant die Idee der gnadenhaften Mithilfe notwendigerweise zu dieser Theorie hinzugehöre (1970, 226-248), weil nur so verhindert werden könne, dass die praktische Vernunft den Menschen einer absurden Besserungsforderung aussetze (248). 118 Vgl. Allison 1990, 146 (‚synthetic a priori claim‘, ‚postulate of morally practical reason‘) sowie bes. 179: „As we have already seen, Kant holds that because of our self-imposed propensity to evil, the path to virtue must begin with a revolution or radical change of disposition and this revolution consists in the adoption of a maxim of holiness. […] For these reasons, then, the claim that we have an imperfect duty to strive after the unobtainable ideal of holiness is not an eliminable addendum to Kant’s moral theory but rather an essential component of it.“ 119 Vgl. Muchnik 2009, xi-xxix u. 133-135; Rieger 2007, 74-76. 120 In den „Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre“, dem zweiten Teil der „Metaphysik der Sitten“ von 1797 (MdS-TL) wird die Überwindung des bösen Willens durch die Selbsterkenntnis auf die Formel gebracht: „nur die Höllenfahrt des Selbsterkenntnisses bahnt den Weg zur Vergötterung“ (A 104/ AA VI 441, vgl. auch SdF 86/ AA VII 55). Vgl. hierzu auch Ricken 2001, 257, u. insbesondere zu den Vorlagen dieser Formel im Umfeld Kants Goldstein 2010. <?page no="70"?> 70 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen Theorie fest, dass sie bei der Erklärung der Bosheitsentstehung das Moment einer nachwirkenden ‚Katastrophe‘ in der Menschheitsgeschichte - d. h. der Fall von Adam und Eva - ausschließt, und zwar deshalb, weil nach Kant auch für die Erlösung aus dieser Bosheitssituation kein erneutes geschichtliches Ereignis nötig oder überhaupt wünschenswert wäre. Im Gegensatz zum Christentum denkt Kant also nicht heilsgeschichtlich. Und das schlägt sich auch in seiner Konzeption des radikalen Bösen im Menschen nieder, da diese, wie Quinn herausstreicht, in den größeren Zusammenhang einer (andersartigen) Rechtfertigungs- und Erlösungsvorstellung gehört. 121 Im Vergleich zu den dargestellten Kontroversen um die Freiheitsbedingung und die allgemeine Verbreitung des Bösen spricht also einiges dafür, die Ausführungen zum radikalen Bösen als Teil einer Reflexion auf die Besserung des Menschen zu lesen. Denn die von Höffe und Anderen eröffnete Sichtweise vermeidet eine isolierte Betrachtung einzelner Problemstellen in der kantischen Argumentation. Zweifellos kommt man nicht umhin, bei der Untersuchung des kantischen Freiheitsverständnisses auch die Überlegungen zum Bösen aus der Religionsschrift miteinzubeziehen und auf Herausforderungen aufmerksam zu machen, die durch das Problem des Bösen an den Freiheitsbegriff gestellt werden. Verständlicherweise werden hierbei allerdings Gesichtspunkte und Fragestellungen in die Interpretation von RGV I eingebracht, die den Darstellungszielen und der Gedankenführung des Textes eher äußerlich gegenüber stehen. Ebenso ist es legitim und sinnvoll, bei der philosophischen Lektüre eines Textes auf dessen argumentative Schwächen aufmerksam zu machen und im Text selbst nach Lösungen zu suchen, die etwa die These von der ‚natürlichen‘ Bosheit des Menschen verständlich und vielleicht sogar plausibel machen können. Das sollte aber nicht den Blick dafür verstellen, dass am Ende des ersten Stücks ein Abschnitt steht, in dem Kant über die Besserung des Menschen nachdenkt, und dass die Religionsschrift hierzu in ihrem weiteren Verlauf noch eine Vielzahl an Erörterungen bereithält. Viele dieser Erörterungen kreisen um die Aufforderung zur uneingeschränkten Erfüllung des Moralgesetzes und die Idee eines herbei erforderlichen ‚übernatürlichen‘ Beistandes. 2.4 Die Aufmerksamkeit für die kantische Gnadenlehre Vor allem im Verlauf von RGV II, aber auch gegen Ende von RGV I sowie in verschiedenen Abschnitten aus RGV III und IV wird erörtert, ob und wie der Mensch seine Bosheit überwinden kann. An allen Stellen ist auch von einer 121 Vgl. Quinn 1988, bes. 115 f., u. Michalson 1990, bes. 37. <?page no="71"?> 2.4 Die Aufmerksamkeit für die kantische Gnadenlehre 71 gnadenhaften Mithilfe Gottes hierbei die Rede. In den vergleichsweise spärlich gesäten Interpretationsbemühungen um diesen Aspekt der Schrift werden eine Reihe von Problemen benannt, die von der präzisen Erfassung des Argumentationskomplexes über die Frage nach dessen Widerspruchsfreiheit bis hin zur theologischen Überzeugungskraft der identifizierten gnadentheoretischen Position reichen. Da die einschlägigen Textpassagen zugleich eine Auseinandersetzung mit christlichen Lehren und insbesondere mit der Rechtfertigungslehre bieten, erfahren diese Texte besondere Aufmerksamkeit durch Interpretinnen und Interpreten christlich-theologischer Provenienz. Zugespitzt auf das Problem des göttlichen Gnadenhandelns kann man hierin insofern einen Nachklang der Sagen um die RGV sehen, als in diesen Diskussionen ausdrücklich und nicht ohne Polemik das spannungsvolle Verhältnis der kantischen Schrift zur christlichen Theologie verhandelt wird. Ein erster Problemkomplex geht bereits von dem Befund aus, dass Kant der These von der Bosheit des Menschen in RGV II die Aufforderung zur Besserung gegenüberstellt. So sehr die These die Aufforderung überhaupt als sinnvolles und notwendiges Unterfangen begründen kann, wird dadurch die strukturelle Spannung erzeugt, dass der Mensch einerseits mit willentlicher Bosheit gekennzeichnet wird, andererseits eine Besserung vollführen soll. Wie in einiger Literatur mit kritischem Unterton zu lesen ist 122 , beschreibt der Text zwar ausführlich die Notwendigkeit und die Herausforderungen der verlangten Besserung, bietet aber keine oder nur wenig Erklärungen dafür, wie ein böser Mensch überhaupt eine Besserungsbemühung initiieren kann. Dies wiegt umso schwerer, als an vielen Textstellen betont wird, dass der Mensch die Besserung tatsächlich selbst vollziehen kann und selbst vollziehen muss. 123 Kant grenzt sich ausdrücklich vom alternativen, im Christentum vertretenen Lösungsweg ab, indem er beispielsweise in RGV III eine Antinomie zwischen einer gnadenhaft gewährten Besserung aufgrund des Glaubens an ein historisches Erlösungsereignis und der 122 Vgl. Michalson 1990, 73: „The fundamental problem is clear: if radical evil is a corruption of the underlying disposition, and if the disposition is itself the source of moral regeneration, then the obligation to undertake moral regeneration appears to rest on an impossibility.“ Ähnlich Hare 1996, 65 f., u. Brachtendorf 2011, 171 f. Vielfach ist daher die Einschätzung zu lesen, Kant habe unter der Hand die Problemstellung verschoben - von der Frage nach der Besserung angesichts der radikalen Bosheit hin zum Problem der moralischen Vervollkommnung des mit der Besserung befassten Menschen (vgl. Sala 1981, 104, Michalson 1990, 104, u. Thiede 2004, 100 f.). 123 An diesem Übergang von der Lehre vom radikalen Bösen zur Besserungslehre wird daher gelegentlich auf die Auseinandersetzung zwischen Luther und Erasmus von Rotterdam angespielt und festgestellt, dass Kant mehr der Partei des Erasmus’ angehöre als derjenigen Luthers (vgl. Michalson 1990, 75 f., u. Wimmer 1990, 157). Vgl. zur Luther-Erasmus-Kontroverse auch Eichhorn 2012. <?page no="72"?> 72 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen Mithilfe Gottes aufgrund der vorgängigen Besserungsleistung des Menschen konstruiert. Er entscheidet diese Antinomie zugunsten der zweiten Variante. Erheblich verschärft wird die Besserungsproblematik durch die sog. Opazitätsthese. Gemäß dieser These ist für Kant die Gesinnung und damit die moralisch entscheidende Größe ‚undurchsichtig‘. Und dies nicht nur für die außenstehenden Mitmenschen, sondern auch für das handelnde Subjekt selbst! Während die Gesinnung dem erfahrungsenthobenen, ‚noumenalen‘ Bereich der Wirklichkeit angehört, ist das ‚Erkennen‘ des Menschen notwendigerweise auf Erfahrung angewiesen und damit auf den phänomenalen Bereich - im Fall der Introspektion beispielsweise die Bewusstseinserforschung und die Selbstbeobachtung - beschränkt. Umso mehr muss es daher erstaunen, dass Kant in der RGV sowohl in Bezug auf das radikale Böse als auch im Zusammenhang der Besserungslehre ein Rückschlussargument formuliert, demzufolge die Gesinnungsqualität zumindest indirekt und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erschlossen werden kann, nämlich ausgehend von den empirisch gegebenen Handlungen oder über die Empfindung von inneren Widerständen, die beim moralgesetzkonformen Handeln überwunden werden müssen. 124 Nicht wenige sehen darin eine Inkonsequenz, die mit den Grundlagen der kritischen Philosophie unvereinbar sei, und verweisen auf konterkarierende, die eigentlich ‚kantische‘ Position besser repräsentierende Hinweise im Text. 125 Jedenfalls aber belastet die Opazitätsthese, auch wenn sie durch das Rückschlussargument etwas entschärft werden sollte, die Besserungstheorie. Denn aufgrund dieser Voraussetzung ist keine bzw. nur eine mittelbare Kenntnis vom eigenen moralischen Status möglich. Folglich kann sich auch der zur Besserung entschlossene Mensch letztlich nicht sicher sein, ob er dies aus moralischer Gesinnung unternimmt und seine Bosheit tatsächlich überwindet. 126 So gesehen ist die Relativierung der Opazitätsthese in der RGV vielleicht auch als Hinweis darauf zu lesen, dass Kant durch die Frage nach der Besserung herausgefordert war, 124 Vgl. Wimmer 1990, 118 f., Höffe 1995, 27-29, Ehni 2006, 68 f., Bojanowski 2006, 273-276, u. Rieger 2007, 77. 125 Vgl. Dörflinger 2008, 96-98, u. Muchnik 2009, 88-90. 126 Wimmer hält diese Konsequenz für sachgemäß (1990, 131): „Das hat sowohl psychowie existenzanalytische Plausibilität: Die tatsächlich leitenden höherstufigen Grundsätze sind häufig nicht bewußt […]. Existenzanalytisch betrachtet ist der oberste Grundsatz zudem in einer Dimension angesiedelt, die für das reflektierende, Rechenschaft fordernde Bewußtsein transzendent ist, und zwar u. a. deshalb, weil er sich auf das Ganze des Daseins, die Weise des Lebens überhaupt bezieht und somit das forschende Bewußtsein selbst noch umfängt und in sich schließt.“ Aus Wimmers Sicht verwickeln sich die andersartigen Überlegungen aus RGV II in Widersprüche, ein Übergang zwischen ‚empirischem‘ und ‚noumenalem‘ Bewusstsein sei lediglich von letzterem aus denkbar, der allerdings nicht durch Reflexion, sondern durch eine beispielsweise in der Mystik beschriebene „Ausweitung des noumenalen Bewußtseins“ (160) vollzogen würde. <?page no="73"?> 2.4 Die Aufmerksamkeit für die kantische Gnadenlehre 73 zumindest in Bezug auf die moralische Selbsteinschätzung die kategorische Unvermitteltheit von noumenaler und phänomenaler Perspektive zu überdenken. In der Interpretation der Besserungslehre zeigt sich dies beispielsweise in den unterschiedlichen Lesarten desjenigen Momentes, das Kant zufolge die Grundlage der wirksamen Besserung des Menschen bildet. In RGV I wird dies als ‚Revolution‘, in RGV II vor allem als ‚Umkehr‘ oder ‚Sinnesänderung‘ bezeichnet. Manche Interpretationen tendieren dazu, dieses Element der kantischen Besserungslehre als eine Art bewusste Entscheidung oder biografisch datierbare Wahl zu erklären - beispielsweise nach dem Vorbild mancher religiöser Bekehrungsgeschichten oder ähnlich zu dem, was Kant an sich selbst oder anderen erfahren haben mag. 127 Nach der gegenläufigen Lesart muss man darin eine unzulässige ‚Empirisierung‘ der Gesinnungsvorgänge sehen. Demnach ist die ‚Revolution‘ als ein Geschehen zu akzeptieren, das Kant zufolge für den Besserungsprozess angenommen werden muss, aber keiner veranschaulichenden Erklärung zugänglich ist. 128 Für Witschen, von dessen Kant-Rezeption in Kap. 1 bereits ausführlich gehandelt wurde, stellt der Begriff in der spannungsvollen Kombination beider Deutungsmomente eine „Präfiguration der Idee einer optio fundamentalis “ dar, wie sie besonders in der katholischen Moraltheologie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskutiert wurde. 129 127 Vgl. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798; B 268f/ AA VII 294): „Man kann auch annehmen: daß die Gründung desselben [sc. des Charakters] gleich einer Art der Wiedergeburt, eine gewisse Feierlichkeit der Angelobung, die er sich selbst tut, sie und den Zeitpunkt, da diese Umwandlung in ihm vorging, gleich einer neuen Epoche ihm unvergeßlich mache. - Erziehung, Beispiele und Belehrung können diese Festigkeit und Beharrlichkeit in Grundsätzen überhaupt nicht nach und nach, sondern nur gleichsam durch eine Explosion, die auf den Überdruß am schwankenden Zustande des Instinkts auf einmal erfolgt, bewirken. Vielleicht werden nur Wenige sein, die diese Revolution vor dem 30sten Jahre versucht, und noch wenigere, die sie vor dem 40sten fest gegründet haben. - Fragmentarisch ein besserer Mensch werden zu wollen, ist ein vergeblicher Versuch“. Vgl. hierzu auch die Bekehrungsgeschichte des mit Kant bekannten J. G. Hamann (Goldstein 2010). J. Mariña (1997, 395-397) zieht die von H. Frankfurt stammende Unterscheidung zwischen ‚first-‘ und ‚second-order desires‘ heran. Die ‚Revolution‘ stellt ihres Erachtens ein ‚second-order desire‘ und damit ein bewusstes Wollen der moralischen Besserung dar. Für Horn ist die Revolution zwar durchaus ein „abrupter und radikaler Gesinnungswechsel“ (2008, 1091), der jedoch nicht als ‚Initialzündung‘ am Beginn, sondern am Ende der Besserungsbemühungen steht (2011, 58-62). 128 Vgl. Wimmer 1990, 136, u. Klemme 1999, 137-139. Thiede (2004) erhellt die Ähnlichkeiten der ‚Revolution‘ mit der ‚Wiedergeburt‘ im Pietismus, hält aber auch fest, dass der auch in der RGV verwendete Begriff als „Bildwort“ ungeeignet sei „für die Beschreibung des in der Religionsschrift als Akt intelligibler Willensfreiheit des Menschen zur Sprache Gebrachten“ (97). 129 Witschen 2009, Zitat: 300 (Hervorhebung: Reich). Interpretatorisch sieht er im Revolutionsbegriff zum einen „eine grundlegende Entscheidung im Sinne einer völligen Neuori- <?page no="74"?> 74 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen Vor allem bei Beiträgen theologischer Provenienz gehen Interpretation und systematische Auseinandersetzung mit der (mehr oder weniger zuverlässig rekonstruierten) Besserungslehre Kants rasch ineinander über. Das rührt daher, dass der Philosoph nicht nur selbst auf die identifizierten Problempunkte seiner Theorie reflektiert und damit ein differenziert ausgearbeitetes Diskussionsangebot unterbreitet, sondern die Problematiken durch die ausdrückliche Einbeziehung religiöser Begriffe und Überlegungen zu lösen versucht. Besonders gilt dies für die ‚gnädige‘ Mithilfe Gottes bei der Besserung des Menschen. Eine der thematisch fokussiertesten Arbeiten zu dieser Thematik stammt von J. Mariña. Die Autorin führt aus, dass die Schrift unterschiedliche Konzeptionen der göttlichen Gnade erkennen lässt: Nach einer der Konzeptionen wird Gnade als „übernatürliches Mitwirken“ in dem Sinne verstanden, dass Gott der geforderten Besserung des Menschen zuvorkommt oder diese auf übernatürlichem Wege unterstützt. Kant schließt das Vorkommen eines solchen Gnadenhandelns nicht aus, insistiert aber darauf, dass hierüber nichts gewusst werden kann und es keinesfalls ins praktisch-moralische Selbstverständnis aufgenommen werden darf. 130 Eine in anderen Textstellen implizierte Konzeption besteht in dem Gedanken, dass die göttliche Hilfe nur unter Voraussetzung des moralischen Bemühens eintritt. 131 Die kantische Gnadenlehre scheint daher von mindestens zwei Gnadenkonzeptionen durchzogen zu sein: Gemäß der einen Konzeption ist die Gnade dem menschlichen Handeln vorgeordnet, wodurch allerdings der autonome Charakter der Selbstbestimmung in Frage gestellt wird. Nach der anderen Konzeption wird die Besserung unabhängig von der Gnade vollzogen, sodass diese als Beiwerk zur Selbstbesserung hinzukommt. 132 Für Michalson hat die von Kant verfolgte Überzeugung von der göttlichen Gnade vor allem motivationale Funktion, da hierdurch möglichen Frustrationen bei der Besserung entgegengewirkt wird. 133 Er identifiziert neben den von Maentierung“ (306), zum anderen eine „grundlegende Wahl“, nämlich „eine transzendentale, keine kategoriale“ (312). 130 Vgl. Mariña 1997, 385 f. u. 398f. 131 Vgl. Mariña 1997, 386. Mariña stellt dem noch eine Gnadenkonzeption voran, die sich ihres Erachtens im generellen Nachdenken Kants über die Moralfähigkeit des Menschen und die durch Gott ermöglichte moralische Geordnetheit der Welt abzeichnet (380-385). Sowohl dem Anliegen (siehe unten) als auch der Sache nach lehnt sich P. Rossi (2006 u. 2010) direkt an Mariña an. 132 Vgl. Hoping 1990, 230, u. Heit 2006, 107-113 (wobei für ihn nur die von Kant als für die praktische Selbstbestimmung irrelevant erachtete Variante die im eigentlich Sinne ‚religiöse‘ Erlösungslehre darstellt), abgrenzend von dieser Alternative hingegen Schaeffler 1981, 252 f. 133 Vgl. Michalson 1990, 95-99, bes. 95: „The chief purpose of Kant’s comments about divine aid or grace is to counteract this motivational problem.“ <?page no="75"?> 2.4 Die Aufmerksamkeit für die kantische Gnadenlehre 75 riña herausgestellten noch zwei weitere konzeptionelle Elemente: Zum einen spricht Kant auch dann von ‚Gnade‘, wenn Gott als rein geistiges und zeitloses Wesen allein die Qualität der Gesinnung beurteilt, statt wie der Mensch nur die fragmentarischen und zeitlich zerdehnten Besserungsbemühungen zu sehen. 134 Zum anderen sieht Michalson in den christologischen Überlegungen, insbesondere in den Reflexionen zum Auftreten Jesu Christi und zur moralförderlichen Funktion dieses Beispiels moralischer Vollkommenheit, einen weiteren Argumentationsgang bezüglich einer von außen kommenden Unterstützung bei der Besserung. 135 Ein anderes Motiv in der Gnadentheorie der RGV wird von N. Fischer herausgehoben. Demnach lehnt Kant ein göttliches Erlösungshandeln, das ein Mitwirken des Menschen gänzlich außer Acht lässt und die Besserung allein von einer gnadenhaften Erwählung durch Gott abhängig macht, ab, weil das Handeln Gottes dann als völlig willkürlich eintretendes Widerfahrnis aufgefasst werden müsste. Wie Fischer immer wieder in Erinnerung ruft, gilt für Kant insbesondere die Prädestinationslehre als ‚salto mortale‘ der Vernunft, weshalb er in einer für die Theologie lehrreichen Weise alles daran setze, eine weniger halsbrecherische Gnadenlehre zu entwerfen. 136 Die auf verschiedene Weise rekonstruierten Überlegungen zur göttlichen Mithilfe werden wiederum von den Interpretinnen und Interpreten recht unterschiedlich gedeutet. Verständlicherweise gibt die skizzierte Diversität der Gnadenkonzeptionen Anlass, die Widerspruchsfreiheit der einschlägigen Ausführungen in der RGV zu diskutieren. Ein etwas in die Jahre gekommenes, deutschsprachiges Beispiel hierfür findet sich in der Kontroverse zwischen G. Sala und R. Schaeffler. Ein Streitpunkt der Autoren resultiert daraus, dass sie es angesichts der Uneindeutigkeit der kantischen Ausführungen für notwendig erachten, nach einer ‚Mitte‘ bzw. nach einer zentralen gedanklichen ‚Dynamik‘ der kantischen Gnadenlehre zu suchen. Sie kommen hierbei jedoch zu unterschiedlichen Ergebnissen: Während für Sala dieser Kerngedanke in der Selbstbesserung des Menschen liegt und alle weiteren mit der ‚Gnade‘ befassten Ausführungen in diesem Licht und folglich als latent religionskritisch interpretiert werden müssen, sieht Schaeffler den gedanklichen Akzent in der Überzeugung, dass der menschliche Freiheitsgebrauch mit der Hoffnung auf eine tatsächliche und gnadenhafte Unterstützung durch Gott verbunden sein müsse. 137 134 Vgl. Michalson 1990, 103-106; vgl. auch Sala 1981, 104, u. Wolterstorff 1991, 44-46. 135 Vgl. Michalson 1990, 109-114. 136 Vgl. Fischer 2010, bes. 148-151, u. 2012; vgl. auch Quinn 1990, bes. 431 f. 137 Vgl. Sala 1981, 99-101, bes. 100: „Die hier formulierte These [sc. von der Notwendigkeit einer Besserung durch eigene Leistung] bringt die Mitte der kantischen Ethik, zugleich den kantischen Pelagianismus zur Sprache. Sinn und Tragweite einer Lehre von der Hoff- <?page no="76"?> 76 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen Nebst der inneren Widerspruchsfreiheit wird auch die Vereinbarkeit der Gnadenlehre mit den (vermeintlichen) Grundprinzipien der kantischen Moralphilosophie diskutiert. Ähnlich wie in Bezug auf die Lehre vom höchsten Gut erscheint fraglich, inwiefern die offenbar von Kant durchdachte gnadenhafte Unterstützung bei der Erfüllung der Besserungspflicht angesichts der wechselseitigen Verschränkung von Sollen und Können überhaupt erforderlich oder wünschenswert ist. 138 Für Michalson stellt der Ausgriff auf die Gnadenlehre ein Symptom für das unterschwellige Problem des Textes dar, dass Kant angesichts der behaupteten Realität des radikalen Bösen in denkerische Nöte gerät und daher einen Mittelweg zwischen Selbstbesserung und göttlicher Unterstützung zu konstruieren versucht - ein Mittelweg allerdings, der allenthalben von Unklarheiten und argumentativen Problemen belastet ist. Das zeigt sich etwa an der seines Erachtens im Text implizierten Annahme, die Überzeugung von einem göttlichen Gnadenhandeln wirke motivational, indem sie den zur Besserung entschlossenen Menschen vor Frustrationen bewahre. Doch wie hat man sich eine solche motivationale Funktion vorzustellen, wenn sie nicht die Authentizität der moralischen Gesinnung aufheben soll? 139 - Ähnlich hellsichtig in Bezug auf dieses Folgeproblem der kantischen Gnadenlehre bemerkt H. Blumenberg: „Nur in diesem unbedingten Charakter der Gesinnung, die sich mit Gnade zu ‚rechnen‘ nie unterfängt, kann Hoffnung auf Gnade verwurzelt sein. Jede ‚Theoretisierung‘ dieses Zusammenhanges führt unmittelbar die Gefahr von spekulativem Kalkul [sic! ] herauf; die sittliche Person kann nie mit dem Objekt ihrer Hoffnung ‚rechnen‘, ohne den Grund dieser Hoffnung zunichte zu machen.“ 140 Mariñas Beitrag ist hingegen ausdrücklich von dem Anliegen motiviert, gegen derartige Interpretationen die innere Plausibilität der kantischen Gnadenlehre darzulegen und damit eine interessante Vorlage für eine philosophische Rechtnung bei Kant müssen auf diese Mitte hin geprüft werden, statt aus abstrakten Implikationen abgeleitet zu werden.“ Nach Schaeffler 1981, 253, will Kant hingegen zeigen, „daß alles Zutrauen, das der Mensch in seine eigene Freiheit setzen kann, den Charakter der Hoffnung hat und daß der Begriff des gnädigen Gottes gerade dadurch verständlich wird, daß er den Grund dieser Hoffnung bezeichnet.“ Auf die Seite Schaefflers stellt sich diesbezüglich auch Hoping (1990, 208), der die Frage nach der Widerspruchsfreiheit rundum positiv beantwortet (221). 138 Laut Hare führt die Moralphilosophie Kants unvermeidlich in ein ‚moral gap‘ zwischen dem, wie der Mensch tatsächlich ist, und dem, was der Mensch gemäß dieser Ethik sein soll (1996, 38). Deshalb greife Kant auf die christlichen Lehren vom göttlichen Heilswerk zurück (39), was aus Hares Sicht jedoch misslingt. 139 Vgl. Michalson 1990, 76 f., 122-124 u. 128-133, sowie bes. 99: „The fragile balance here between an appeal to something ‚outside‘ me that I seem to require for salvation, and the epistemological self-sufficiency of my own conscience, is symptomatic of Kant’s more specialized approach to the specific issue of grace.“ 140 Blumenberg 1954, 566. <?page no="77"?> 2.4 Die Aufmerksamkeit für die kantische Gnadenlehre 77 fertigung der christlichen Gnadenlehre aufzutun. 141 Auch bei vielen anderen Auseinandersetzungen um die Gnadenlehre der RGV steht die heiß diskutierte Frage im Hintergrund, wie sich Kants religiöse Überzeugungen zum Christentum verhalten. Wie A. Heit zutreffend beobachtet 142 , erscheinen in der Debatte um die theologische Profilierung der Gnadenlehre regelmäßig mehrere Schlagworte, die an Kants Text herangetragen werden: Zum einen wird der Verdacht des Pelagianismus diskutiert, was eine theologiegeschichtlich-systematische Charakterisierung der kantischen Gnadenlehre impliziert. Zum anderen wird Kant in Abgrenzung zu früheren Stellungnahmen als ‚Philosoph des Katholizismus‘ bezeichnet und damit über das erste Stichwort hinausgehend nach einem möglichen konfessionellen Profil seiner Gnadenlehre gefragt. Dem Pelagianismusvorwurf wird durch die Religionsschrift insofern Nahrung gegeben, als dort erstens sehr stark für eine Besserung des Menschen aus eigener Initiative und durch eigene Anstrengung sowie zweitens für eine nur nachfolgende und assistierende Mithilfe Gottes argumentiert wird. In den Augen mancher Leser/ -innen steht dies der Position des spätantiken Mönches Pelagius nahe, der in der Kontroverse mit Augustinus betonte, dass für die Erlösung der Entschluss und die Anstrengung des einzelnen Menschen relevant sind. Sowohl in der Entwicklung der christlichen Lehre im ersten Jahrtausend als auch in der Reformation wurde jedoch die (vermeintliche) Position des Pelagius abgelehnt und mit Augustinus der unverdienten göttlichen Gnade eine größere Relevanz für die Erlösung beigemessen. 143 Zurückgewiesen wird der Pelagianismusvorwurf oftmals durch eine synergistische Lektüre der kantischen Gnadenlehre, und zwar in dem Sinne, dass etwa der Gedanke einer übernatürlichen, aber nicht einsehbaren Mitwirkung in den Vordergrund gerückt oder die autarke Moralfähigkeit des Menschen als gnadenhafte Gabe interpretiert wird. 144 Dem Vorwurf, dass viele Textstellen eine Bindung der Gnade an moralische Voraussetzungen implizierten, wird dabei häufig mit dem Argument begegnet, dass Kant den Synergismus zwischen göttlichem und menschlichem Handeln lediglich aus philosophischer Perspektive betrachte und es daher sachgemäß sei, ausschließlich hervorzuheben, was der 141 Vgl. Mariña 1997, 380: „I hope to show that an analysis of the deep structure of Kant’s views on divine justice and grace shows them not to conflict with an authentically Christian understanding of these concepts.“ Mariña argumentiert für ihre Vereinbarkeitsthese, indem sie erstens behauptet, dass auch aus christlicher Sicht der Annahme der Offenbarung das aktive Verlangen vorhergehen müsse, eine bessere Person zu werden (vgl. 391 f.), und indem sie zweitens in den Einlassungen auf den ‚Sohn Gottes‘ in RGV II das Erfordernis einer historischen Befreiungsperson begründet sieht (vgl. 394-398). 142 Vgl. Heit 2006, 112 f. 143 Vgl. Markschies 2003. 144 Vgl. Mariña 1997, 380-385; Rossi 2006 u. 2010. <?page no="78"?> 78 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen Mensch für seine Besserung tun kann und soll. 145 Manche von denen, die die kantische Besserungslehre als synergistischen Mittelweg zwischen göttlicher und menschlicher Aktivität interpretieren, verwenden die (solchermaßen aufgefasste) kantische Gnadenlehre auch als Argument in einer schon über Jahrzehnte immer wieder aufblitzenden Debatte darüber, ob Kant eher als ‚Philosoph des Protestantismus‘ oder als ‚Philosoph der Katholizismus‘ bezeichnet werden kann: Für die einen deuten die kantische Ablehnung ekklesialer Autoritäten und die Betonung der individuellen Freiheit auf eine Nähe zum Protestantismus hin. Von anderen wird gerade umgekehrt aus der kantischen Überzeugung von der unverlierbaren Moralfähigkeit und von der notwendigen Mitwirkung des Menschen bei der Bosheitsüberwindung gefolgert, dass der Philosoph lutherischen Bekenntnisses vielmehr der katholischen Tradition zuzuordnen sei. 146 Über die eigentliche Textinterpretation hinaus gehen auch solche systematischen Rückfragen, in denen die Gnadenlehre auf ihre innere Überzeugungskraft und Sachgemäßheit hin befragt wird. So kommen beispielsweise Hoping und Thiede trotz divergierender fundamentaltheologischer Argumentationsziele zu dem Ergebnis, dass die kantische Besserungslehre sich in argumentative Aporien verwickle, da sie trotz der Einbeziehung einer göttlichen Assistenz das Problem der Überwindung endlicher und pervertierter Freiheit letztlich doch durch Appelle an das selbsttätige Bemühen des Menschen zu lösen versuche. Hieran zeigten sich systematische Defizite der kantischen Autonomie- und Freiheitskonzeption: Die RGV offenbare, dass vom archimedischen Konstruktionspunkt autonomer Freiheit aus nicht nur die Möglichkeit des Bösen, sondern auch diejenige einer immer schon anvisierten moralischen Besserung nicht hinreichend erklärt werden könne. 147 Dagegen zieht Schaeffler diesbezüglich ein erheblich positiveres Fazit: „Nur in einem solchen Verständnis der Vernunftautonomie [das die von Kant legitimierte Hoffnung auf eine ungeschuldete Gnade einschließt] wird die Dialektik der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche auflösbar.“ 148 145 Vgl. Hoping 1990, 223 f., u. Winter 2005, 50 f. 146 Vgl. Winter 2000, 1-47, u. 2005, 46-53, Thiede 2004, 87 f. 147 Vgl. Thiede 2004, 102. Thiede möchte in seiner Auseinandersetzung mit der RGV zeigen, dass die von Kant „angestrebte Bewältigung der Differenzproblematik [gemeint ist die Differenz zwischen dem Menschen und der von ihm erfahrenen Transzendenz] kraft Überwindung religiöser Heteronomie nur scheinbar gelingt“ (68). Seines Erachtens setzt dies das ‚Theonomie‘-Paradigma ins Recht, wonach die fragliche Differenz durch den Glauben daran gelöst wird, dass Gott den ersten und versöhnenden Schritt tut (67 f.). In eine ähnliche Richtung argumentiert H. Cassirer, der zum Christentum konvertierte Sohn des Kanteditors E. Cassirer: Kants Überzeugung von der menschlichen Würde erführe durch die Anerkenntnis eines Angewiesenseins auf die göttliche Gnade eine tiefe Kränkung (1988, 82 f.). 148 Schaeffler 1981, 247. <?page no="79"?> 2.4 Die Aufmerksamkeit für die kantische Gnadenlehre 79 Ein weiterer systematische Diskussionspunkt entzündet sich schließlich an einer Teilbehauptung der Besserungslehre, wonach eine ‚Vergebung‘ der Bosheit ebenso wie eine stellvertretende Vergeltung unmoralisch sei und deshalb selbst durch Gott nicht vorgenommen werden könne. Für N. P. Wolterstorff verfehlt der kantische Alternativvorschlag, der de facto auf eine Verpflichtung Gottes zur Auslöschung der unabgegoltenen Schuld beim Sich-Bessernden hinauslaufe, den Sinn einer ‚Vergebung aus Gnade ‘. 149 Und mit R. Swinburne und Wimmer kann man weiterfragen, ob Kant überhaupt gute Gründe für seine spezifische Reserve gegenüber einer von Gott geschenkten Vergebung liefert und warum das Phänomen einer moralischen Umkehr nicht entgegen Kant mit dem Gedanken einer unverdienten Vergebung bzw. der Stellvertretung verbunden werden sollte. 150 Bei der Wahrnehmung der Religionsschrift das Hauptaugenmerk auf die kantischen Überlegungen zum göttlichen Beistand zu richten, ist eine Herangehensweise, die der im Folgenden erarbeiteten Interpretation sehr nahe steht. In den Beiträgen zu diesem Zweig der RGV-Debatte finden sich zahlreiche Hinweise und Problemanzeigen, an welche die vorliegende Studie anknüpfen kann. Zugleich fällt allerdings auf, dass das Interesse an der kantischen Gnadenlehre oftmals durch die Frage nach dem Verhältnis zum Christentum motiviert ist. Manchmal tritt das damit verbundene Anliegen auch in einer konfessionalistischen Variante auf. Eine pauschale Zuordnung zu einer Konfession wird m. E. aber weder der Vielgestaltigkeit protestantischer bzw. katholischer Gnadentheologien gerecht noch trägt dies zur präzisen Analyse der im Text entfalteten und implizierten Auffassungen bei. Im Gegensatz dazu legt die hier ausgebreitete Interpretation den Schwerpunkt darauf, die Überlegungen zum Beistand in Kants Moralphilosophie zu verorten. Durch den Rückgriff auf die Vorlesungen zur Ethik soll gleichsam die moralphilosophische Vorgeschichte derjenigen Pro- 149 Vgl. Wolterstorff 1991, 47 f.: „To forgive a guilty person is not to declare that she is not guilty but to declare that the person will be treated as not guilty.“ Sowie 52: „What Christianity affirms is that the unworthy are saved - saved by the grace of divine forgiveness.“ Kant wohlgesonnener, aber textferner wiederum die Lesart Schaefflers (2014, 49): „Und werde ich, mit Kant gefragt, durch noch so erfolgreiches Tugendstreben die Erinnerung daran jemals abstreifen können, daß ich solches Streben nur nötig hatte und habe, weil ich nicht tugendhaft war und es bis heute nicht bin? Können Sühne und Vergebung mich über diesen bleibend unüberwindbaren Mangel jemals hinausführen […]? “ 150 Swinburne 1989, 89 f.; Wimmer 1990, 161-167, u. 2005b, 103-122. Allerdings muss man bezüglich Wimmers Kritik in Rechnung stellen, dass dieser eine eigene Besserungs- und Erlösungslehre im Blick hat (1990, 158): „Es wäre allerdings noch eine mittlere Position denkbar, die zwischen Kant und Luther liegen soll: […] Ein unfrei gewordener, böser Wille bedarf einer Macht von außen, und zwar einer göttlichen Macht, die ihn wieder in den ursprünglichen Zustand der Freiheit versetzt, in der er, weder gut noch böse, sich wieder neu entscheiden kann.“ <?page no="80"?> 80 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen blematik erhoben werden, die in der Religionsschrift vielfach aufgenommen und verschiedenartigen Lösungen zugeführt wird. Dabei wird sich zeigen, dass Kant bei der Bearbeitung der moralphilosophischen Problematik recht eigentümliche Auffassungen verfolgt und nicht vorrangig an einer Positionierung gegenüber dem Christentum (oder gar gegenüber einzelnen Konfessionen) interessiert ist. 2.5 Kant als Übersetzer des Christentums? - Gemeinwesen und Christentum Mit der Frage nach dem Bösen und der Theorie vom göttlichen Beistand sind die Themen noch nicht erschöpft, die in dieser komplexen Schrift angesprochen werden und Gegenstand intensiver Interpretationsdebatten sind. Besondere Aufmerksamkeit zieht auch die Theorie vom ‚ethisch gemeinen Wesen‘ auf sich, die in RGV III entwickelt wird. Das ‚ethische Gemeinwesen‘ - so kann man das Kunstwort vielleicht unserem Sprachgebrauch annähern - bezeichnet das Ideal einer die gesamte Menschheit umfassenden Tugendgemeinschaft. Kant bezieht diesen Begriff ausdrücklich auf die existierenden christlichen Kirchen und die Geschichte des Christentums. Deshalb kann er hieran eine Kritik an der zeitgenössischen religiösen Praxis anschließen, die in RGV IV unter dem Titel „Vom Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft des guten Prinzips, oder: Von Religion und Pfaffentum“ durchgeführt wird. Vermittelt durch die Theorie vom ethischen Gemeinwesen und die daran anschließende Religionskritik wird daher (erneut) das komplizierte Verhältnis zwischen der Schrift und dem christlichen Glauben zum Thema. Einen äußerst prominenten Interpretationsvorschlag, der sowohl auf das ethische Gemeinwesen als auch auf das Verhältnis zum Christentum eingeht, stellt die Übersetzungsthese von J. Habermas dar. Nach Habermas unternimmt Kant in der Religionsschrift den Versuch, die christliche Überlieferung in die Sphäre einer säkularen Rationalität zu ‚übersetzen‘. Die Wirkung einer solchen Charakterisierung der Schrift als ‚Übersetzung‘ ist kaum zu überschätzen: Habermas‘ These hat das Interesse an der RGV verstärkt und eine neue Terminologie geprägt, die oftmals selbstverständlich bei der Auseinandersetzung mit Kant in Anspruch genommen wird. 151 Deshalb soll die Habermasʼsche Sichtweise in diesem Unterkapitel zunächst dargelegt werden. 152 Nach der Erläuterung und 151 Vgl. bspw. Winter 2005, 44, Forschner 2012, bes. 268, Ricken 2013d, 163-166, u. Wasmaier- Sailer 2014. 152 Eine Erhebung der RGV-Interpetation Habermasʼ steht vor der methodischen Schwierigkeit, dass der Autor seine Position immer wieder überarbeitet hat. Seit den Veröffent- <?page no="81"?> 2.5 Kant als Übersetzer des Christentums? - Gemeinwesen und Christentum 81 der kritischen Stellungnahme zu dieser Sichtweise werden aber auch alternative Wortmeldungen aufgegriffen, die sich teilweise stärker auf die von Kant selbst gegebenen Hinweise in Bezug auf das Verhältnis der Schrift zum Christentum konzentrieren, teilweise ebenso wie Habermas versuchen, die Theorie vom ethischen Gemeinwesen für eigene politisch-philosophische Überlegungen fruchtbar zu machen. Für Habermas ist das Konzept vom ethischen Gemeinwesen das exemplarische Ergebnis einer ‚Übersetzung‘. Demnach entwirft Kant seine Theorie, indem er versucht, die christliche Botschaft vom Reich Gottes auf Erden in das ‚Diskursuniversum‘ des allgemein-vernünftigen Nachdenkens, in dem lediglich öffentliche Gründe - d. h. Gründe, die unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer partikularen Religionsgemeinschaft überzeugen können - gelten, zu übertragen. 153 Kant rationalisiert damit die religiöse Verheißung, dass das eschatologische Eingreifen Gottes ein Ausgleich zwischen gerechtem Lebenswandel und Wohlergehen herstellt, sowie den Wunsch nach einer von Gott unterstützten und durch kollektive Praxis durchgeführten Moralisierung und Humanisierung der Lebensverhältnisse für alle Menschen. 154 Die in der Gemeinwesentheorie durchgeführte Übersetzung ist dabei lediglich der exemplarische Fall für weitere Übertragungen. Die christliche Tradition enthält aus Habermasʼ Sicht nämlich weitere Gehalte, die unter den Bedingungen und angesichts der Gefährdungen einer ‚entgleisenden Moderne‘ übersetzt werden sollten: die Vorstellung kooperativer und umfassender Weltverbesserung, Bilder nicht-verfehlter Lelichungen ab Mitte der 1990er Jahre kann man bei Habermas eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Religionsthema konstatieren (vgl. Reder/ Schmidt 2008, 15-18). Besondere Bedeutung für die Kantinterpretation hat der Aufsatz „Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie“, der erstmals 2004 erschien, 2005 in überarbeiteter Form publiziert wurde und - nachdem er im selben Jahr Gegenstand einer umfangreichen Tagung geworden war (vgl. Langthaler/ Nagl-Docekal 2007, 7) - durch eine längere Replik an manchen Stellen Präzisierungen und Korrekturen erfuhr (vgl. Habermas 2007). Meine Darstellung stützt sich vor allem auf den Aufsatz in der Fassung von 2005 (2005a) sowie auf die Abhandlungen „Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral“ (1996) und „Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den ‚öffentlichen Vernunftgebrauch‘ religiöser und säkularer Bürger“ (2005b), die für das Verständnis einzelner Aspekte des zuerst genannten Textes hilfreich sind. 153 Vgl. Habermas 2005a, 255. 154 Vgl. Habermas 2005a, 222-232. Habermas steht mit seiner Kantlektüre stark unter dem Einfluss von T. Adorno (vgl. Habermas 2005a, 240, sowie Langthaler 2007, 77 und Nagl-Docekal 2007, 119). Obgleich er Kant letztlich ebenfalls intellektuelle Unredlichkeit unterstellt, will er jedoch Adornos Einschätzung, „das Geheimnis der Kantischen Philosophie sei ‚die Unausdenkbarkeit der Verzweiflung‘“ nicht als Abqualifizierung, sondern als konstruktiv aufzugreifendes Merkmal dieser Philosophie verstanden wissen (vgl. Habermas 2005a, 229). <?page no="82"?> 82 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen bensformen, Sensibilität für pathologische Gesellschaftszustände, ja sogar das Prinzip des kategorischen Sollens und der geistige Widerstand gegen eine die Selbstzwecklichkeit unterminierende ‚Reifizierung‘ des Menschen. 155 Der Vielfalt möglicher ‚Übersetzungsthemen‘ entsprechend weist Habermas der Übertragung mehrere und verschiedenartige Funktionen zu. Zwar dominiert in der Argumentation das Augenmerk auf motivational wirksame Überzeugungen und Vorstellungen, wie etwa die Aussicht auf eine endgültige Herstellung der Gerechtigkeit. Die Funktion der in der RGV vorliegenden Übersetzung liegt demnach vor allem darin, dass in ihr moralitätsförderliche Vorstellungen von den weltanschaulichen Voraussetzungen einer partikularen Religionsgemeinschaft abgelöst und - zumindest ist das nach Habermas der Anspruch Kants - mit einer allgemein konsentierbaren Begründung versehen werden. Auch die Inkonsistenz, die Habermas aufgrund der Aufnahme solcher Motive in das Grundgerüst der kantischen Ethik ausmachen zu können glaubt, zeigt an, dass er vor allem mit einer motivationalen Funktion der Übersetzungen rechnet. Manche der genannten Übersetzungsthemen deuten allerdings darauf hin, dass das Christentum aus Habermasʼ Sicht auch Prinzipien und evaluative Urteile enthält, deren Übersetzung heuristische Relevanz zukommt. 156 Der Hintergrund für dieses Changieren zwischen unterschiedlichen Funktionszuschreibungen dürfte im sog. ‚genealogischen‘ Argument zu suchen sein, das auch erklärt, weshalb für Habermas ausgerechnet Kant den interessantesten Fall für eine derartige Übersetzungsleistung abgibt. Nach Habermas waren moralische Normen und Werte in der Vormoderne Bestandteil eines umfassenden, religiös und metaphysisch fundierten Weltbildes. Moralisch zu handeln und zu leben, war ‚ontotheologisch‘ in der von Gott gegebenen Schöpfungsordnung begründet und ‚soteriologisch‘ in den von Gott offenbarten Heilsweg eingebettet. Kant markiert und vollzieht aus Habermasʼ Sicht den Übergang in ein konsequent und methodisch ausgearbeitetes ‚nachmetaphysisches‘ Denken, das dogmatisch-autoritäre Wahrheitsansprüche aus der Sphäre des von Allen nachvollziehbaren Wissens verabschiedet, sowie in eine Moraltheorie, die verlangt, religiöse Gründe aus dem genuin moralischen Handeln auszuschließen, und das ‚moralisch Richtige‘ von der Konzeption des ‚guten Lebens‘ unabhängig macht. 157 Ebenso wie für manche Moraltheologen in der zweiten Hälfte des 155 Vgl. Habermas 2005a, 218, 222, 235 f. u. 247-251. 156 Vgl. Habermas 2005a, 236: „Die Übersetzung der Idee von Gottes Herrschaft auf Erden in den Begriff einer Republik unter Tugendgesetzen zeigt exemplarisch, dass Kant die kritische und zugleich selbstkritische Abgrenzung des Wissens vom Glauben mit der Aufmerksamkeit für die mögliche kognitive Relevanz von Gehalten verbindet, die in religiösen Überlieferungen aufbewahrt sind.“ 157 Vgl. Habermas 1996, 16-22.45-48.50-52. <?page no="83"?> 2.5 Kant als Übersetzer des Christentums? - Gemeinwesen und Christentum 83 20.- Jahrhunderts, von denen in Kap. 1.2 die Rede war, erscheint Kant hier als Galionsfigur einer sich von der Religion emanzipierenden Ethik. Das Spannende an diesem spätaufklärerischen Ahnvater liegt nun aber darin, dass er seinen philosophischen Ethikansatz mit dem Bemühen verbindet, die religiösen Elemente des ursprünglichen Ethikkontextes für die Vernunft zu ‚retten‘, wie es Habermas ausdrückt. Dieses Bemühen erscheint gerade für die heutige Zeit umso interessanter, weil die unter anderem mit Kant emanzipierte Vernunft derzeit eine ‚Entgleisungsgefahr‘ zu gewärtigen hat, die sie allein nicht bewältigen kann. 158 Habermas sieht bei Kant eine ‚rettende Aneignung‘ am Werk, die versucht, die (aus seiner Sicht) hilfreichen Elemente der religiösen Tradition für eine von eben dieser Tradition emanzipierten Ethik zu erschließen. Dementsprechend dient ihm der kantische Rekurs auf das höchste Gut und das ethische Gemeinwesen als Modell dafür, wie sich die Ethik auch heute nach motivational wirksamen Überzeugungen und tradierten Strukturen des guten bzw. ‚nicht verfehlten‘ Lebens umschauen sollte, ohne den rationalen - und das heißt für Habermas: politisch-öffentlichen - Charakter ethischer Orientierung aufzugeben. Habermas qualifiziert die kantischen Vermittlungsbemühungen allerdings in einer Weise, die ein weiteres Charakteristikum seiner Kantinterpretation zu Tage fördert. Er bewertet die vorliegende ‚Übersetzung‘ nämlich trotz der wegweisenden Absicht als misslungen. Neben der ins Metaphysische abgleitenden Unterscheidung von noumenaler und phänomenaler Welt sind seines Erachtens das Bemühen, in ein deontologisch-individualethisches Moralsystem eine Endzwecklehre mit darauf bezogenen kollektiven Pflichten einzuführen, und das hierauf aufbauende Festhalten an der Annahme Gottes als Indizien dafür zu deuten, dass Kant einer unreflektiert wirksamen Abhängigkeit von der christlichen Tradition verhaftet bleibt und seine religionsphilosophischen Argumente daher letztlich nicht allgemein überzeugen können. 159 Kants vor allem in der Religionsschrift entfaltete Theorie von der bleibenden moralischen Relevanz von Religion ist für Habermas gerade nicht auf der Höhe einer nachmetaphysischen, selbstreflexiven Moderne. Zu diesem generellen Blick auf die RGV passt, dass Habermas das ethische Gemeinwesen vor allem als allgemeine geteilte Leitüberzeugung liest: Mit dem 158 Vgl. Habermas 2005a, 216-219. 159 Vgl. Habermas 2005a, 225-238, bes. 235: „Die Postulatenlehre verdankt sich der Einführung einer problematischen Pflicht, die das Sollen so weit über menschliches Können hinausschießen lässt, dass die Asymmetrie mit der Erweiterung des Wissens um den Glauben geheilt werden muss. […] Der Versuch einer reflexiven Aneignung religiöser Gehalte liegt im Streit mit dem religionskritischen Ziel, über deren Wahrheit und Falschheit philosophisch zu richten [Hervorhebung im Original]. Die Vernunft kann den Kuchen der Religion nicht gleichzeitig verzehren und behalten wollen.“ <?page no="84"?> 84 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen Begriff entwickle Kant eine ‚innerweltliche Utopie‘, aus der die Menschen die Zuversicht gewinnen sollen, dass ihr moralisches Handeln zur Verwirklichung eines idealen Zieles beitragen kann. Das ethische Gemeinwesen fungiert als Vision einer unter glücklichen Umständen alle Menschen umfassenden, gemeinsamen Lebensform. Sie inspiriert bestehende partikulare Gemeinschaften zu Kooperationsversuchen und weckt ein Bewusstsein für kollektive Verantwortung und den Mangel an kooperativen Anstrengungen. 160 Das Nachdenken über die Funktion und die Veränderung der realen Institution Kirche oder die Transzendenzbezüge des ethischen Gemeinwesens sind aus Habermasʼ Sicht keine relevanten Bestandteile der Übersetzung. Was übersetzt werden sollte, ist die sehr bescheidene und vom religiösen Ursprungskontext gänzlich losgelöste Überzeugung, dass kollektives moralisches Handeln die Welt zu verbessern vermag. 161 Verständlicherweise ist eine solch programmatische Kantlektüre Gegenstand eingehender Diskussion. Die kritischen Diskussionsbeiträge setzen zum einen an der Interpretation der Gemeinwesentheorie an. So richtet sich beispielsweise die RGV-Interpretation Hoeschs insofern auch gegen Habermas, als sie gegen dessen verkürzte Lesart herausstellt, dass auch Kants säkularisierende Auslegung der Gottesherrschaft als menschliche Gemeinschaftsaufgabe auf die Überzeugung von der Unterstützungs- und Vollendungsbedürftigkeit durch Gott ausgreift. 162 Da Habermas offenkundig die in Kap. 2.2 referierte Inkonsistenzthese vertritt und hiervon ausgehend für die unbewusste Abhängigkeit Kants von christlich-partikularen Überzeugungen argumentiert, wird auch seine Interpretation der Lehre vom höchsten Gut diskutiert. Wie R. Langthaler und H. Nagl-Docekal unter anderem mithilfe der in Kap. 2.2 genannten Beobachtungen herausarbeiten, können die diesbezüglichen Ausführungen Habermasʼ einer kritischen Überprüfung nicht standhalten. 163 Ersterer führte überdies den Nachweis, dass Kant sich dem heuristischen Charakter seiner Bezugnahmen auf die christliche Tradition durchaus bewusst war, was Habermas dann auch anerkannte. 164 Zum anderen sorgt die vielschichtige Charakterisierung der Religionsschrift als ‚Übersetzung‘ der christlichen Überlieferung für Diskussionsstoff. Habermas 160 Vgl. Habermas 2005a, 230 f., 234f., 250. 161 Vgl. Habermas 2005a, 225: „[E]rst wenn diese Idee nicht mehr nur das individuelle Handeln moralisch anleiten, sondern in das Ideal eines in der Welt der Erscheinungen kooperativ zu verwirklichenden gesellschaftlich-politischen Zustandes übersetzt würde, verwandelte sich das intelligible Reich der Zwecke in ein Reich von dieser Welt. Unter dem Namen eines ‚ethischen Gemeinwesens‘ wird Kant in der Religionsphilosophie tatsächlich eine solche Übertragung vornehmen.“ 162 Vgl. Hoesch 2014, 129-134. 163 Vgl. Langthaler 2007, 41-82, u. Nagl-Docekal 2007, 98-110. 164 Vgl. Langthaler 2007, 83-92, u. Habermas 2007, 378. <?page no="85"?> 2.5 Kant als Übersetzer des Christentums? - Gemeinwesen und Christentum 85 zieht hier eine hermeneutische Kategorie heran, die Konjunktur hat. Zumindest bei Habermas stellt die Verwendung der Übersetzungs-Kategorie aber ein Indiz dafür dar, dass er Teile der Religionsschrift vor dem Hintergrund von Fragestellungen liest, die vor allem die derzeitige politische Philosophie beschäftigen. Im Zentrum des Interesses steht hier nicht mehr der Befund, dass Kant ausgehend von seiner Moralphilosophie über den Gottesbegriff und die christliche Religion nachdenkt, sondern die Säkularisierungsthese, derzufolge das Erbe der Religionen durch eine per se agnostische Philosophie rekonstruiert werden müsse. 165 Eine solche Wahrnehmung der kantischen Christentums-Rezeption wird daher von einer unterschwelligen Spannung durchzogen, die sich darin äußert, dass Habermas einerseits den ‚Sinnüberschuss‘ religiöser Überzeugungen und religiöser Praxis betont und sein Interesse an den Religionen sich gerade der ‚Sperrigkeit‘ der Religionen gegenüber dem säkularen Denken verdankt, er aber andererseits eine Modernisierung der Religionen für unvermeidlich hält und diese nur mittels ‚Übersetzung‘ in allgemein einsichtige Konzepte öffentlich wirksam werden dürfen. 166 Indem Habermas die kantische Übersetzungsleistung allerdings als defizitär, weil abhängig von partikularen Voraussetzungen einschätzt, weist er nolens volens auf eine weitere Problematik der Übersetzungskategorie hin: Kant setzt sich gerade nicht vom Standpunkt einer allgemeingültig-neutralen Religionstheorie aus mit dem Christentum auseinander. Vielmehr vertritt er eine eigene und normativ gedachte Religionsauffassung. 167 Der Übersetzungsbegriff kann dagegen allzu leicht dazu verführen, sowohl die enge Verflechtung der Schrift mit der christlichen Religionspraxis und den theologischen Leitfiguren im Preußen des 18. Jahrhunderts zu übersehen als auch auszublenden, dass der vermeintliche Übersetzer hier in erster Linie seine eigenen moral- und religionsphilosophischen Überzeugungen entfaltet, auch wenn er diese als allgemein-vernünftig deklariert. 165 Nach Habermas muss die Philosophie agnostisch, zugleich jedoch dialogbereit sein (vgl. 2005a, 247-257), was aber wiederum angesichts der Pluralität und Geschichtlichkeit rationalen Argumentierens entgegen Kants monologischer Vernunftkonzeption nur im intersubjektiven diskursiven Austausch eingelöst werden kann (vgl. 1996, 52-62). 166 Vgl. Habermas 2005b, bes. 141-154. K. Flikschuh konstatiert in der politischen Philosophie Habermasʼ eine Metaphysikverdrängung, die auf der philosophisch keineswegs zwingenden Annahme einer kategorischen Nicht-Begründbarkeit ‚metaphysischer‘ Aussagen beruhe (vgl. 2000, 12-49). Für C. Danz resultiert die geschilderte Spannung aus einem Zugriff auf das Religionsthema, der insgeheim von Habermasʼ diskursethischen Voraussetzungen dominiert wird und daher keineswegs um die Jahrtausendwende innoviert worden ist (vgl. 2007, 13 f. u. 25-31). F.-J. Bormann sieht ebenfalls eine Spannung zwischen einer integrativ-symmetrischen und einer ‚hierarchischen‘ Vorstellung des angezielten Dialoges (vgl. 2009, 194-200). 167 Vgl. Nagl-Docekal 2007, 108-110. <?page no="86"?> 86 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen Es überrascht daher nicht, dass andere Interpreten mit den anhand von Habermasʼ These herausgearbeiteten Problempunkten anders umgehen. Im Folgenden sollen alternative Auffassungen aufgezeigt werden, indem jeweils Vertreter zu Wort kommen, die in exemplarischer Weise die Vielfalt und Diskrepanz der Interpretationsdebatte illustrieren können. Den Anfang machen die unterschiedlichen Ansichten darüber, wie Kant sich in seiner Schrift in Bezug auf das Christentum positioniert. Der letzte Teil des Unterkapitels wird dann Lesarten der Theorie des ethischen Gemeinwesens vorstellen. Für S. Palmquist ist Kants Bezugnahme auf das Christentum affirmativ zu interpretieren. Palmquist geht zwar davon aus, dass eine kirchlich-theologische Darlegung des christlichen Selbstverständnisses und die Ausführungen der Religionsschrift durchaus Abweichungen aufweisen. Seines Erachtens stehen beide Darstellungen jedoch insofern in einem additiv-perspektivischen Verhältnis zueinander, als Kant die christliche Religion unter verschiedenen Thematisierungshorizonten bedacht wissen möchte und die praktisch-philosophische Perspektive der Religionsschrift nur als eine unter mehreren gleichwertigen Konzeptualisierungen aufgefasst werden muss. 168 Im Unterschied zu Schaeffler, der ebenfalls den ‚rein philosophischen Charakter‘ der Schrift betont und daher bezüglich einer theologischen Beurteilung zur Zurückhaltung mahnt 169 , geht für Palmquist der Schulterschluss zwischen beiden Darstellungen sogar noch weiter: Seinem Dafürhalten nach unterscheidet Kant nicht nur zwischen den beiden Perspektiven. Vielmehr hält der Philosoph die in der Religionsschrift durchgeführte Darstellung für ergänzungsbedürftig. Und die christliche Religion leiste aus Kants Sicht hierfür die notwendige Ergänzung. 170 Mit einer Ergänzungsrelation operiert mitunter auch Ricken, allerdings in einem anderen Sinn. Seines Erachtens vertritt Kant einen dem Christentum fremden Offenbarungsbegriff und reduziert Religion auf Moralität. Das jedoch zu seinem eigenen Schaden. Denn insbesondere die Frage nach der Annahme des Sünders durch Gott könne auf der Basis eines solch rationalistischen Konstrukts nicht adäquat beantwortet werden. Die in der RGV entfaltete Vorstellung, dass das Christentum lediglich ein (verzichtbares) ‚Vehikel‘ für den Vernunft- 168 Das für Palmquists Affirmationsthese zentrale Perspektivitätsargument verdankt sich indes weniger einer Rekonstruktion der diesbezüglichen Reflexionen in der Schrift selbst als der generellen Einschätzung, dass die Unterscheidung von Hinsichten (wie bspw. zwischen phänomenaler und noumenaler Welt) für die gesamte kantische Philosophie strukturbildend sei (vgl. 2000, 44-62). 169 Vgl. Schaeffler 1981, 244 f., 252-255, daran anschließend auch Hoping 1990, 223. 170 Vgl. Palmquist 2000, 114-135 u. 188-245. Der baptistische Kantforscher sieht den Autor der Religionsschrift geradezu als theologischen Denker an, dessen Werk von einem latenten ‚kritischen Mystizismus‘ durchzogen sei (vgl. 2000, 307-323). <?page no="87"?> 2.5 Kant als Übersetzer des Christentums? - Gemeinwesen und Christentum 87 glauben darstelle, verunmöglicht daher die aus systematischen Gründen erforderliche Ergänzung durch den christlichen Glauben. 171 In deutlichem Kontrast hierzu steht die RGV-Interpretation von OʼNeill. Wie bereits in Kap. 2.2 angedeutet, liegt ihres Erachtens die Bedeutung der kantischen Religionsphilosophie darin, dass Kant in ihr eine ‚Brücke der Hoffnung‘ über die große Kluft schlägt, die die theoretisch-naturalistische und die praktisch-moralische Weltsicht voneinander trennt. Diese Hoffnungsbrücke weist O’Neills Einschätzung nach allerdings eine ausgeprägte Differenz zum traditionellen Christentum auf, und dies vor allem deshalb, weil sie einen Pluralismus an möglichen Hoffnungsinhalten und -gestalten impliziert. Neben der generellen Beobachtung, dass Kant sowohl die rationalistisch-spekulative Begründung eines Glaubenswissens als auch einen die menschlichen Erkenntnisformen überspringenden Fideismus ablehnt 172 , sind ihre Argumente für diese Einschätzung die folgenden: Erstens sieht sie bei Kant eine schwache, als ‚konstruktivistisch‘ bezeichnete Rationalitätskonzeption angelegt, derzufolge Vernünftigkeit lediglich in der Prüfung auf Prinzipienkonformität und der allgemeinen Rechtfertigbarkeit bestehe. 173 Eine in diesem Sinne rationale Begründung von Hoffnung erlaubt es daher nicht, diese Hoffnung auf distinkte Inhalte (wie etwa die christlichen oder die in der RGV diskutierten Vorstellungen) festzulegen. 174 Zweitens lässt O’Neills Ansicht nach die distanzierte und relativierende Art der kantischen Bibelauslegung erkennen, dass er die christlichen Lehren nur als eine Möglichkeit polymorpher Hoffnungsartikulierungen ansieht. 175 Und drittens rechtfertige Kant die ausgiebige Auseinandersetzung mit dem Christentum aus dem letztlich kontingenten Umstand, dass es sich hierbei um eine weithin verbreitete Hoffnungsartikulation handelt und die kirchliche Glaubensgemein- 171 Vgl. Ricken 1992, 193 f. 172 Vgl. O’Neill 1996, 277-283. 173 Vgl. O’Neill 1988/ 89, 1-17, u. 1992, 100-105. Auch Ricken konstatiert, dass O’Neill bei Kant einen schwachen Vernunftbegriff ausmacht, wonach die Vernunft zwar Grenzen setze, „die manches als unvernünftig ausschließen, […] aber auch sehr vieles unbestimmt“ lasse (1992, 12). O’Neill bezeichnet diese von ihr appropriierte Rationalitätskonzeption als ‚kantischen Konstruktivismus‘ und grenzt ihn gegenüber der Rawls’schen Auffassung moralischer Rechtfertigung ab. Mit der Tendenz zur weltimmanenten Auslegung des Hoffnungsobjektes steht sie allerdings anderen Rawls-Schülern nahe (vgl. O’Neill 1996, 303-307, u. Keller 2008, 97-100). 174 Vgl. O’Neill 1992, 104 f., u. 1996, bes. 304: „All that Kant argues is that we must postulate, assume, hope for the possibility that our moral commitments are not futile […]. This bare structure of hope - the canon of hope - can be expressed in a range of vocabularies whose permissible articulations of hope will be accessible to different people, who may hope for varying conceptions of grace or of progress that might bridge and gap between moral intention and empirical outcomes.“ 175 Vgl. O’Neill 1996, 301 f. <?page no="88"?> 88 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen schaft ein ‚Vehikel‘ für die Ausbildung rationalisierbarer Hoffnungsartikulationen darstellt. 176 In der Offenheit der kantischen Religionstheorie für eine Pluralität von Religionen und in der Infragestellung eines mutmaßlich vom Christentum in Anspruch genommenen Exklusivismus liegt für O’Neill folglich die zentrale Differenz zwischen der Religionsauffassung der RGV und dem christlichen Selbstverständnis. Während Palmquist und Ricken (auf jeweils unterschiedliche Weise) das Verhältnis zwischen Religionsschrift und Christentum mittels eines Ergänzungsmodells bearbeiten, hebt O’Neill vor allem die christentumkritischen Argumente der Schrift hervor. In beiden Verhältnisbestimmungen wird Kant nicht als ‚Übersetzer‘ angesehen, sondern die eigenständige Programmatik seiner Auseinandersetzung mit der christlichen Religion betont. Auch in Bezug auf die Theorie des ethischen Gemeinwesens tendiert das Gros der Interpretation dazu, die Theorie stärker in Kants eigenen Denkmotiven zu verorten. Neben dem in Kap. 2.2 referierten Zusammenschluss mit dem summum bonum -Theorem wird beispielsweise der Versuch unternommen, das ‚ethische Gemeinwesen‘ mit der politischen Philosophie Kants in Verbindung zu bringen. Für einen solchen Interpretationsansatz spricht die Tatsache, dass Kant um das Jahr 1793 herum - das Jahr der ersten Veröffentlichung der RGV und der Hinrichtung Ludwigs XVI. - mehrere Abhandlungen veröffentlicht, in denen auch von der Kriegsvermeidung und von einer fortschreitenden Besserung der Menschheit die Rede ist. 177 Die in der Gemeinwesentheorie beschriebene Vereinigung aller Menschen unter Tugendgesetzen wäre demnach in dessen sonstige Überlegungen zur Friedenssicherung und zum Fortschreiten der Menschheit einzubeziehen. Dem ethischen Gemeinwesen käme dabei möglicherweise sogar besondere Relevanz zu, weil das ‚juridische Gemeinwesen‘, d. h. der Rechtsstaat, eine zwangsausübende staatliche Gewalt voraussetzt und daher Bereiche, die der Kontrolle einer staatlichen Zwangsinstanz entzogen sind, nicht allein durch das Recht humanisiert werden können. 178 Für eine enge Verwandtschaft zwischen RGV und Friedensschrift spricht auch der textliche Befund, dass sowohl in der RGV als auch in der Friedensschrift von der Bösartigkeit des Menschen die Rede ist und diese Bösartigkeit in beiden Texten anhand der kriegerischen 176 Vgl. O’Neill 1996, 293-301.304-308. 177 „Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte“ (1786), „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ (1793); „Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf“ (1795); „Der Streit der Fakultäten: zweiter Abschnitt“ (1798). 178 Vgl. zu dieser Deutung des ethischen Gemeinwesens die Literaturbelege bei Hoesch 2014, 125. <?page no="89"?> 2.5 Kant als Übersetzer des Christentums? - Gemeinwesen und Christentum 89 Beziehungen zwischen den Völkern exemplifiziert wird. 179 Für S. Anderson-Gold beispielsweise repräsentiert das ethische Gemeinwesen das Ziel der Menschheitsgeschichte in Form einer kulturell verankerten humanen Praxis. 180 Da sie außerdem die in der Friedensschrift entfaltete Völkerbundidee als reifstes Erzeugnis der kantischen Fortschrittsüberlegungen versteht und in dieser Idee auch Elemente der Gemeinwesentheorie (z. B. in Form der globalen Gastfreundschaft oder der zwischenstaatlichen Kooperation) aufgenommen sieht, meint sie, dass das ethische Gemeinwesen de facto in einer solchen kosmopolitischen Weltordnung verwirklicht sei. 181 Und noch in einer weiteren Hinsicht ist die RGV-Interpretation Anderson- Golds ein gutes Beispiel dafür, wie die Gemeinwesentheorie häufig als Hinweis auf hintergründige und bei Kant nur vermeintlich unterrepräsentierte Überlegungen gelesen wird. Dieser Lesart zufolge tut man Kant unrecht, wenn man seine Moraltheorie durch eine Fokussierung auf die autonome Entscheidung des Einzelnen charakterisiert sieht oder ihr eine solipsistische Vorstellung des Individuums vorwirft. Denn die Rede vom ethischen Gemeinwesen - von der Pflicht der Menschheit, ein solches zu etablieren, und von seiner Funktionalität für die Überwindung des Bösen - scheint ein sozialanthropologisches Bewusstsein dafür widerzuspiegeln, dass auch das autonome Subjekt mit anderen verwoben ist und die Überwindung der Bosheit durch die Einbindung in eine moral community unterstützt wird. Bei Anderson-Gold und anderen stehen unter anderem solche Überlegungen im Hintergrund, wenn - wie in Kap. 2.3 erläutert - die Analyse des Bösen aus RGV I mit der sozialanthropologischen 179 Vgl. Zum ewigen Frieden AA VIII 355: „die Bösartigkeit der menschlichen Natur, die sich im freien Verhältniß der Völker unverhohlen blicken läßt“, u. RGV B 29 f/ AA VI 33 11 -34 7 : „Ist man aber für die Meinung gestimmt, daß sich die menschliche Natur im gesitteten Zustand […] besser erkennen lasse: […] er wird an den Lastern der Kultur und Zivilisierung […] genug haben, um sein Auge lieber vom Betragen der Menschen abzuwenden, damit er sich nicht selbst ein anderes Laster, nämlich den Menschenhaß, zuziehe. Ist er aber damit noch nicht zufrieden, so darf er nur den aus beiden [sc. aus dem Naturzustand und dem Zustand der Kultivierung] auf wunderliche Weise zusammengesetzten, nämlich den äußeren Völkerzustand in Betrachtung ziehen, da zivilisierte Völkerschaften gegeneinander im Verhältnisse des rohen Naturzustandes (eines Standes der beständigen Kriegsverfassung) stehen“. Eine Fußnote aus RGV-B fügt dem einen Aphorismus hinzu, der auch in der Friedensschrift verwendet wird: Der Krieg macht mehr böse Menschen, als er wegnimmt (vgl. RGV B 31/ AA VI 34 37f u. „Zum ewigen Frieden“ AA VIII 365). Vgl. zu den wechselseitigen Bezügen der beiden Texte auch Laberge 1992, Höffe 2001, 96 f. u. 234-237, Stangneth 2000, 284, u. 2005, 200-202, u. Lutz-Bachmann 2005. 180 Vgl. Anderson-Gold 2001, 7-9.58-62. Anderson-Golds Interpretation reagiert wiederum auf zwei ältere Debatten im englischsprachigen Raum: Die eine drehte sich um die unter Kap. 2.2 erläuterte Inkonsistenzthese, die andere um die (Wieder-)Entdeckung der kantischen Geschichtsphilosophie. 181 Vgl. Anderson-Gold 2001, 85-100, bes. 99 f. <?page no="90"?> 90 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen Begründung für das Erfordernis eines ethischen Gemeinwesens in RGV III zusammengeschlossen wird. Interpretationen wie die von Anderson-Gold haben jedoch mindestens zwei blinde Flecken: Zum einen berücksichtigt Kant das ethische Gemeinwesen oder die darin ausgedrückte Vorstellung einer menschheitsumfassenden Tugendgemeinschaft weder in seiner Rechtsphilosophie noch in seiner kosmopolitischen Friedenssicherungstheorie. Kants diesbezüglichen Überlegungen weisen einen hohen und wohl kaum eindeutig zu entflechtenden Differenzierungsgrad auf. Er entfaltet dort die viel weniger idealistische Prognose, dass selbst ein ‚Volk von Teufeln‘ einen Rechtsstaat ausbilden kann und die Staaten aufgrund von grenzüberschreitendem Verkehr und Kriegsmüdigkeit ganz allmählich Konflikte seltener in brutalen Kriegen austragen. Der entscheidende Stabilisator eines humanen Zusammenlebens ist für ihn das Recht. Moralität oder gar eine moralische Vereinigung können und müssen zur Friedenssicherung nicht verlangt werden. 182 Zum anderen bilden der Transzendenzbezug und die Verhältnissetzung zu den christlichen Kirchen essentielle Bestandteile der Gemeinwesentheorie. Das ethische Gemeinwesen der RGV hat einen religiös-kirchlichen Charakter. In den rechtsphilosophischen und politischen Schriften ist davon allerdings nichts zu lesen. Die Entwicklung des real existierenden Christentums und das mit der moralischen Vergemeinschaftung zusammenhängende ‚Reich Gottes‘ spielen dort offenbar keine Rolle. 183 Ein anderer werkkontextueller Interpretationsansatz versucht die Zusammenhänge der Religionsschrift mit Kants geschichtsphilosophischen Ansichten herauszuarbeiten. Auch hier steht das dritte Stück der Schrift im Zentrum der Aufmerksamkeit. Eine solche Lesart findet sich bereits in der älteren, aber nach wie vor häufig zitierten Abhandlung von E. Troeltsch. Seines Erachtens setzen die Texte zur Geschichts- und Religionsphilosophie voraus, dass „von Anfang an […] in allen Evolutionen der Vernunft“ eine teleologische Gerichtetheit der Menschheitsgeschichte wirksam ist und das Ziel dieser Geschichte in einer „Einheit der Gattung in der sittlichen Gesinnung“ 184 besteht, wie sie im ethischen Gemeinwesen beschrieben wird. Troeltsch sieht in Kant der Sache nach eine 182 Vgl. Habichler 1991, 162 f., Höffe 2001, 163-183.236, u. Hoesch 2014, 70-87, bes. 87: „Dass Menschen in vernunftgemäßen Rechtsverhältnissen leben, ist für Kant auch dann ein intrinsisch wertvoller Zustand, wenn dort keine moralisch-guten Handlungen stattfinden. Deshalb […] ist es möglich, den vollkommenen Rechtszustand als ein in der Geschichte zu verwirklichendes Ideal anzusehen, ohne dass dabei per se [Hervorhebung im Original] die Moralisierung der Menschheit in den Blick genommen werden muss.“ - Das Wort vom „Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben)“ findet sich in der Friedensschrift (AA VIII 366). 183 Vgl. Wimmer 1995, 113-116. 184 Troeltsch 1904, 127. <?page no="91"?> 2.5 Kant als Übersetzer des Christentums? - Gemeinwesen und Christentum 91 Art Kryptotheologen, zu dessen hintergründiger metaphysischer Weltsicht die Überzeugung gehört, dass auch die autonome Vernunft letztlich ‚heterogonen‘ Charakter habe, weil sie sich einem göttlichen Schöpferwillen verdankt und auf ein durch die Vorsehung herbeigeführtes Geschichtsziel hingeordnet ist. 185 Die Relevanz des Vorsehungsgedankens arbeitet Hoesch dadurch heraus, dass er die kantischen Ausführungen zum weiteren Verlauf der Religionsgeschichte analysiert. Demnach schließt die kantische Kirchenlehre zwar ein transitorisches Moment ein, wonach die Menschen auf eine Überwindung der geschichtlichen Religionen zugunsten einer ausschließlich moralischen, deinstitutionalisierten Religionsgemeinschaft hinwirken. Für Kant stelle eine solche ‚Gründung eines Reichs Gottes auf Erden‘ aber lediglich ein anzunäherndes Ideal dar, wohingegen die Verwirklichung allein von Gott im Jenseits erwartet werden könne. 186 Hoesch folgert daraus allerdings, dass Kant den (bereits unter Kap. 2.4 angesprochenen) Synergismus zwischen göttlichem und menschlichem Handeln vorrangig „in den Zusammenhang des Problems kollektiver Moralität“ stelle und er dadurch „der Idee einer vernünftigen Gestaltbarkeit der Geschichte durch kollektive Handlungen deutlich näher [stehe] als die theologische Tradition“. 187 Im Spektrum der Auslegungen finden sich schließlich auch Versuche, die kantischen Überlegungen zum ethischen Gemeinwesen als (moral-)philosophische Gesellschaftstheorie zu lesen. So sieht C. Dierksmeier in der Religionsschrift (unter anderem) eine Anregung für eine kritische Theorie gesellschaftlicher Institutionen, die insbesondere die Rolle religionsgemeinschaftlicher Körperschaften reflektiert. Wie die kantische Analyse seines Erachtens zeigt, vertreten die Religionsgemeinschaften nicht nur eigene moralische Orientierungen, sondern befördern auch ganz allgemein die Befolgung moralischer Werte. Daher haben sie einerseits moralkonstitutive und -erhaltende Relevanz für das Zusammenleben. Andererseits - und hier nimmt Dierksmeier einen Aspekt der RGV auf, der theologische Leser/ -innen hellhörig machen sollte - lassen sich hieraus normative Kriterien dafür ableiten, um herauszufinden, welche religiösen Körperschaften aus moralischen Gründen legitim und förderungswürdig sind. 188 Dementsprechend müsste nach B. Dörflinger eine ‚kantische‘ Theorie 185 Vgl. Troeltsch 1904, bes. 138-154. 186 Vgl. Hoesch 2014, 148-151. 187 Hoesch 2014, 189. 188 Vgl. Dierksmeier 1998, bes. 118-121.185-202. Dierksmeiers Gemeinwesen-Interpretation setzt mehrere Vorentscheidungen voraus: Erstens soll hier keine „bloß textorientierte[]“, sondern eine „systematisch durchgeführte[]“ Interpretation vorgenommen werden (vgl. 120). Zweitens muss diese systematische Interpretation „zum Zwecke der Entfaltung dieses Systems“ über die von Kant selbst gegebenen Bestimmungen hinausgehen (vgl. 187 u. 192). Unter Voraussetzung solcher hermeneutischer Vorentscheidungen lasse sich <?page no="92"?> 92 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen des Staat-Kirche-Verhältnisses auch berücksichtigen, dass der Autor in den historisch-partikularen Religionsgemeinschaften ein erhebliches Gefährdungspotential sieht und an den Staat die Forderung richtet, durch Öffentlichkeit und Bildung zu einer schleichenden Transformation der überlieferten Religionen beizutragen. 189 Die schlaglichtartige Umschau dürfte deutlich gemacht haben: Das Verhältnis der Religionsschrift zur christlichen Überlieferung und die Idee eines ethischen Gemeinwesens lassen sich in der Literatur, die auf RGV III und IV Bezug nimmt, als wichtige Diskussionspunkte identifizieren. Die Habermas’sche Übersetzungsthese, welche die beiden Punkte unter einer spezifischen Sichtweise beleuchtet, wurde in der Debatte zu Recht problematisiert. Die alternativen Interpretationsvorschläge weisen eine große Vielfalt auf und implizieren mitunter gegensätzliche Positionen. Darüber hinaus bietet die Idee des ethischen Gemeinwesens offenbar einen willkommenen Ausgangspunkt, um eigene politisch-philosophische Überlegungen anzustellen. Im Vordergrund steht dann nicht mehr der Versuch, die eigentümlichen Auffassungen Kants zu erheben, sondern die in der Religionsschrift angelegten Begriffe und Aussagen für die Bearbeitung von Fragestellungen zu nutzen, die aktuellen Debatten in der Politik und der politischen Philosophie entstammen. 2.6 Das Profil der hier verfolgten Interpretation Der Blick in den Spiegel der Interpretationen zeigte, dass die Religionsschrift innerhalb der Philosophie eine große Aufmerksamkeit erfährt. Es gibt eine Reihe von äußerst virulenten Debatten und es liegt eine Vielzahl von divergenten Interpretationsansätzen vor. Manche Themen der Schrift erfahren in den letzten Jahren zunehmendes Interesse. Die Sichtung der Interpretationen lässt überdies zeigen, dass einerseits die von Kant aus weitergesponnene Lehre eine Differenzierung von Verhältnissetzungen in der Staat-Religionsgemeinschaften-Beziehung erforderlich macht, „wie sie nahezu mustergültig im bundesrepublikanischen Recht durchgeführt ist“ (187), und andererseits die Privilegierung der Kirchen keinen „anderen Grund haben dürfe, als den ihrer organisationell verfestigten sittlichen Substanz“ (191). 189 Vgl. Dörflinger 2008 u. 2009. Nach dem an den zweiten Beitrag angehängten Diskussionsprotokoll wäre auch das derzeitige Christentum gemäß dieser Staat-Kirchen-Theorie noch weiterer ‚Aufklärung‘ auszusetzen. Insbesondere die katholische Kirche widerspreche laut Dörflinger der kantischen Vernunftreligion in weiten Teilen (83). Dierksmeier konzediert den „westlichen Religionsgemeinschaften“ gleichzeitig einen beträchtlichen „qualitativen Gewinn reflektierter, versittlichter Religiosität“ und schätzt aufgrund der Erfüllung dieses seines- Erachtens religionslegitimierenden Kriteriums den staatlichen Interventions- und Fortentwicklungsbedarf geringer ein (1998, 195-202, Zitat: 199). <?page no="93"?> 2.6 Das Profil der hier verfolgten Interpretation 93 einige allgemeine Auffälligkeiten erkennen. Diese Auffälligkeiten sollen nun herausgestellt werden, um den im Folgenden gewählten Interpretationsweg gegen andere Herangehensweisen abzugrenzen. Eine erste Auffälligkeit besteht darin, dass die Lektüre der Religionsschrift jeweils von sehr unterschiedlichen Perspektiven geprägt wird. Die Gründe hierfür liegen zum einen in dem Werk selbst: Bei der RGV handelt es sich um eine vielschichtige und abwechslungsreiche Schrift, die eine große Vielfalt an Themen anspricht und sehr unterschiedlich gelagerte Problempunkte beinhaltet. Zum anderen konnte gezeigt werden, dass nicht wenige Herangehensweisen an die Schrift ein eigenes Darstellungsinteresse verfolgen, das über die RGV hinausreicht und unabhängig von ihr besteht, oder dass andere Interpretationen gerade umgekehrt eine sehr spezifische Zielsetzung der Kant-Exegese verfolgen, weshalb sie jeweils einzelne Textteile herausgreifen. Hieran schließt eine zweite Auffälligkeit an: Viele Beiträge beschäftigen sich nahezu ausschließlich mit dem ersten oder dem dritten Stück der Schrift. Die Thematik des frei verschuldeten und doch ‚natürlich‘-allgemeinen Bösen sowie die Idee des ethischen Gemeinwesens ziehen große Aufmerksamkeit auf sich. Die Fokussierung auf das dritte Stück wird zusätzlich noch dadurch begünstigt, dass vielfach und mit großer Selbstverständlichkeit der Versuch unternommen wird, die Religionsschrift in den größeren Zusammenhang der Lehre vom ‚höchsten Gut‘ oder der kantischen Geschichtsphilosophie einzuordnen und sich für derartige Vermittlungsversuche die ähnlich klingende Terminologie des dritten Stücks anbietet. Begründet wird diese Herangehensweise in vielen Fällen, indem Zusammenhänge und inhaltliche Verbindungen mit anderen Werken Kants hergestellt werden. Hierbei ist - drittens - auffällig, dass nahezu ausschließlich die Veröffentlichungen Kants aus den 1780er und 1790er Jahren Verwendung finden. Weder die Werke der sog. vorkritischen Phase noch das ungedruckte Material finden eingehende Berücksichtigung. Die Ausführungen und Behauptungen der Religionsschrift, so scheint es, können nach Einschätzung vieler Interpreten bzw. Interpretinnen am besten vor dem Hintergrund der kritischen Philosophie verständlich gemacht werden, wie sie mit dem Erscheinen der KrV das Licht der Welt erblickt. Vergleicht man diesen Befund mit der Kant-Rezeption in der katholischen Moraltheologie, die in Kap. 1 skizziert wurde, fällt auf, dass dort die Religionsschrift eher wenig Beachtung erfährt. A fortiori gilt dies für die Diversität und das weit entwickelte Problembewusstsein der philosophischen Interpretationsbeiträge. Das Gros der theologisch-ethischen Arbeiten, die überhaupt auf die RGV eingehen, arbeitet mit einer vergleichsweise bescheidenen Auswahl von Textpassagen, ohne sich mit den in der Sekundärliteratur aufgeworfenen Pro- <?page no="94"?> 94 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen blemen zu belasten. Mehr oder weniger unbekümmert in Bezug auf die dargestellten Alternativlesarten stehen die Beiträge oftmals unter dem Eindruck der in Kap. 2.2 erörterten summum bonum -Thematik. Ebenso wie manche der hierunter versammelten Interpretationen tendiert die katholisch-theologische Ethik dazu, die in der RGV entfalteten Überlegungen zur moralischen Relevanz von Religion auf die Frage nach der postmortalen Glückseligkeitszuteilung zu reduzieren. Dass bei der Lektüre der Religionsschrift so wenig Austausch zwischen Moraltheologie und Philosophie stattfindet, ist m. E. nicht nur für die Moraltheologie ein Manko. Der Nutzen eines intensiveren Austauschs läge auch auf Seiten der Philosophie. Denn die Theologie kann eine besondere Sensibilität und Sachkenntnis in Bezug auf diejenigen theologisch-ethischen Traditionen und Problematiken einbringen, die Kant in der RGV offen oder unterschwellig aufnimmt. Vor allem aber könnte sie aufzeigen, wo die kantische Positionierung in diesen Problematiken das christliche Selbstverständnis gerade nicht adäquat widergibt, sondern eigenwillige religiöse Überzeugungen verfolgt. Das setzt jedoch voraus, dass die Positionierung Kants zuerst umfassend und präzise erfasst wird. Die vorliegende Studie möchte hierzu einen Beitrag leisten, indem sie ein Thema herausarbeitet, das in allen Teilen der Religionsschrift nachgewiesen werden kann und auf einen weiteren Aspekt im kantischen Nachdenken über die moralische Relevanz von Religion hindeutet: die Überzeugung, dass für die moralische Vervollkommnung des Menschen die Mithilfe eines göttlichen Beistands erforderlich ist. Dieser Aspekt kann herausgestellt werden, wenn man Kants Vorlesungen zur Ethik in die Interpretation miteinbezieht: Bereits bei einer oberflächlichen Lektüre der überlieferten Vorlesungsmitschriften erkennt man, dass die Religionsschrift Begriffe und Überlegungen verarbeitet, die Kant zuvor in seiner rund 30-jährigen Vorlesungstätigkeit verwendet hat. Die Analyse der Vorlesungsmitschriften zeigt darüber hinaus, dass der Vorlesungsdozent Kant schon lange vor der Religionsschrift eine komplexe und immer wieder ausformulierte Vorstellung von der moralischen Relevanz von Religion vertrat. Zu dieser Vorstellung gehören zwei Reflexionsstränge, von denen der eine um das (problematische) Resultat der moralischen Praxis kreist und der andere an der Frage ansetzt, ob der Mensch die Forderungen des Moralgesetzes überhaupt erfüllen kann und inwiefern er hierbei durch Gottes Beistand unterstützt wird. Die RGV - so argumentiert die Interpretation der nachfolgenden Kapitel - partizipiert über weite Strecken hinweg an diesem zweiten Reflexionsstrang, indem sie bedenkt, wie der ‚von Natur böse‘ Mensch überhaupt ‚gut‘ werden kann, inwiefern Gott dem Menschen bei dieser Besserungsbemühung beisteht und was hieraus für die rechte Art und Weise der Religionspraxis folgt. <?page no="95"?> 2.6 Das Profil der hier verfolgten Interpretation 95 Auch ein solcher Interpretationsansatz kann an Vorarbeiten anknüpfen. Für die Exegese der einschlägigen Textpassagen innerhalb der Religionsschrift sind dabei vor allem die Arbeiten interessant, die in den Kap. 2.3 und 2.4 angesprochen wurden. Was die Analyse der Ethikvorlesungen anbelangt, gab es in der Vergangenheit vereinzelt umfassende Studien, die diese Quellen untersuchten. 190 Das Ziel des Rückgriffs auf die Vorlesungen bestand oftmals darin, die Entwicklungsgeschichte der kantischen Ethik zu rekonstruieren, und zwar insbesondere für den Zeitraum vor den großen Veröffentlichungen der 1780er Jahre. Dementsprechend wurden die Vorlesungszeugnisse auf die bekannten Problempunkte der kantischen Ethik hin gelesen: das Autonomieprinzip, die Formulierungen des kategorischen Imperativs, das Problem der moralischen Motivation. Die Beschäftigung mit den Quellen führte zu dem erstaunlichen Resultat, dass Kant bereits einige Jahre vor der KrV, der GMS und der KpV wesentliche Grundzüge seiner Moralphilosophie ausgebildet hat. Für die entwicklungsgeschichtliche Fragestellung wurden neben den Vorlesungen auch die sog. Reflexionen 191 herangezogen. In den vergangenen Jahren scheint jedoch vor allem die Aufmerksamkeit für Kants Vorlesungen zuzunehmen. 192 Sowohl die älteren als auch die jüngeren Arbeiten konzentrieren sich auf Themen und Fragestellungen, die in den drei soeben genannten Schriften und der späteren MdS verhandelt werden. Was Kant in den Vorlesungen über die ‚Pflichten gegen Gott‘ lehrte, was er in diesem Zusammenhang zur ‚natürlichen Religion‘, zum inneren und äußeren Gottesdienst und zur Relevanz dieser religiösen Überzeugungen und Praktiken für die Moralität des Menschen sagte, findet meistens keine Berücksichtigung. 193 Eine Ausnahme hiervon bildet die Arbeit von J. Santos Herceg. Er hat anhand der Vorlesungen eine Untersuchung zur Bedeutung der Religion in Kants Moralphilosophie durchgeführt, die den hier verfolgten Aspekt eng berührt. Die Studie entfaltet die These, dass die einschlägige Theoriebildung Kants zwei Phasen aufweise, von denen die eine durch 190 Vgl. die Forschungsüberblicke von Gerhardt/ Kaulbach 1979, 57-74, u. Sala 1982, 78- 80. Wichtige Arbeiten stammen bspw. von J. Schmucker (1961), K. Düsing (1971) u. C. Schwaiger (1999). 191 Siehe unten, S. 115. 192 Vgl. bspw. den von A. Trampota, O. Sensen u. J. Timmermann herausgegebenen Kommentar zur Tugendlehre der MdS (2013), wo verschiedene Autoren auf die Ethikvorlesungen zurückgreifen, sowie den Critical Guide zu den Vorlesungen von L. Denis u. Sensen (2015). 193 Hierfür ist der Sammelband von Denis u. Sensen (2015) ebenfalls ein gutes Beispiel: Obgleich in den Aufsätzen zu den einzelnen Vorlesungszeugen die entsprechenden Passagen durchaus besprochen werden, findet sich unter den thematisch orientierten Studien kein Beitrag, der näher auf die Pflichten gegen Gott und damit auf den ersten Teil der von Kant gelehrten materialen Ethik eingeht. Interesse geweckt hat hingegen die Lehre vom höchsten Gut (vgl. den Aufsatz von S. Engstrom in dem zitierten Band, 103-119). <?page no="96"?> 96 2 Kants Religionsschrift im Spiegel verschiedener Interpretationen die andere abgelöst werde: Die erste Phase sei in den Vorlesungen, die zweite vor allem in der KpV zu erkennen. 194 Santos Hercegs Untersuchung weist jedoch methodische Mängel auf 195 und wird überdies sehr stark von den Thesen dominiert, mit denen seines Erachtens in der KrV, der GMS und der KpV das Verhältnis zwischen ‚Moral‘ und Religion bestimmt wird. Vor allem aber schließt Santos Herceg die RGV explizit aus seiner Fragestellung aus, sodass dessen Arbeit für eine spezifische Interpretation der in der Religionsschrift entfalteten Überlegungen zur moralischen Relevanz von Religion nichts austrägt. Und noch etwas Anderes kommt hinzu: Weder Santos Herceg noch den früheren Arbeiten stand das sog. Kaehler-Manuskript zu Kants Ehtikvorlesungen zur Verfügung. Dessen Veröffentlichung hat die Diskussion um die Datierung und die Edition der Vorlesungsmitschriften noch einmal erneuert und bereichert. Dies wird verständlich, wenn man einen Blick auf die Eigenart der Vorlesungen und deren Überlieferung wirft, wie es zu Beginn des nachfolgenden Kapitels geschieht. In Bezug auf die herausgearbeiteten Lesarten bezieht die hier verfolgte Interpretation damit in mehrfacher Weise inhaltlich Position: Ergänzend zur Lektüre der Religionsschrift unter dem Eindruck der in den Schriften der 1780er Jahre entfalteten Lehre vom höchsten Gut stellt sie die Ausführungen zum Erfordernis und zur Vollzugsweise einer göttlichen Unterstützung bei den moralischen Bemühungen des Menschen in den Vordergrund. Diese Ausführungen ordnen die Schrift in einen primär individualethischen Problemhorizont ein, dem sozialethische und politisch-ethische Überlegungen (wie sie etwa in die Theorie vom ethischen Gemeinwesen eingegangen sein dürften) zur Seite stehen. Insofern Kant eine sehr spezifische Konzeption des göttlichen Beistandes entwirft und dies auch als zentrales Argument für seinen moralisch-normativen Religionsbegriff anführt, bereichert die Untersuchung die moraltheologische Diskussion um den kantischen Vorschlag zur Relevanz von Religion. Sie zeigt, dass der Autor - anders als manche theologisch-ethischen Entwürfe, die sich unter anderem auf Kants ‚autonome‘ Vernunftethik berufen - über ein ausgeprägtes Bewusstsein für die menschliche Unvollkommenheit und Ergänzungsbedürftigkeit verfügt, dieses Bewusstsein jedoch in einer Weise ausbuchstabiert, die einige markante Differenzen zur christlichen Auffassung von der Vergebung und von der helfenden Zuwendung Gottes zu den Menschen aufweist. 194 Vgl. Santos Herceg 2000, 117-135. 195 So werden beispielsweise in den Fußnoten 204-206 u. 222-224 Belege aus den Vorlesungen, aus Reflexionen verschiedener Datierung und aus den gedruckten Schriften kombiniert, ohne auch nur ein Wort zur sachlichen Berechtigung einer solchen Melange zu verlieren. <?page no="97"?> 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik Auch wenn die Bekanntheit Kants sich heute vor allem seinem umfangreichen Schrifttum verdankt, darf nicht übersehen werden, dass der Philosoph über Jahrzehnte hinweg als Hochschullehrer tätig war. Sowohl in den Jahren als Privatdozent (1756-1770) als auch als Professor für Logik und Metaphysik (ab 1770) bot er kontinuierlich zahlreiche Vorlesungen an. Zu seinem Lehrrepertoire gehörte auch eine Vorlesung zur Ethik, die Kant sogar besonders häufig vortrug. Die Lehrveranstaltung war an der philosophischen Fakultät der Königsberger Universität ein semestraler Standardkurs, da sie für die Vorbereitung der Studenten auf das Studium der höheren Fakultäten benötigt wurde. Für die Teilnahme an diesem Pflichtkolleg mussten die Studenten Hörergeld entrichten. Die Ethik-Vorlesungen waren daher für den Hochschullehrer auch eine wichtige Einnahmequelle. Gemessen an der langen akademischen Lehrtätigkeit und den Lebensdaten Kants stellt der Großteil seiner Schriften - und so auch die Religionsschrift - geradezu ein ‚Alterswerk‘ dar. 1 Den Vorgaben für die preußische Hochschullehre entsprechend 2 stützte Kant sich bei seinen Lehrveranstaltungen auf Lehrbücher, die im Unterricht für die Studenten ausgelegt und kommentiert werden sollten. Für das Ethik-Kolleg verwendete er hierzu die moralphilosophischen Lehrbücher von A. G. Baumgarten (1714-1762). Dementsprechend betitelte er auch seine moralphilosophischen Vorlesungen: „Moralphilosophie nach Baumgarten“. Es dürfte allerdings nicht nur Anpassung an die Lehrregularien oder vorsichtige Klugheit gewesen sein, weshalb Kant nach den anerkannten Lehrbüchern Baumgartens unterrichtete. Vielmehr erschien ihm die Baumgarten’sche Vorlage als inhaltlich und didaktisch sehr geeignet, um dem akademischen Unterricht als Referenzwerk zu dienen. 3 Die überschaubaren Lehrbücher boten Gelegenheit, in den Kollegstunden die aus seiner Sicht zentralen systematischen Fragen der Moralphilosophie und eine Fülle von materialen Pflichten zu erörtern. Wie sich in der Analyse der Vorlesungsmitschriften zeigen wird, kam dem Hochschullehrer offenbar auch die differenzierte Aufnahme religiöser Themen bei Baumgarten entgegen, da er 1 Vgl. Stark 1992, 543-548, u. 2004, 380-391, Schwaiger 2000, Kühn 2003, 240-243 sowie die Verzeichnisse von Arnoldt/ Schöndörffer 1909 und Oberhausen/ Pozzo 1999. 2 Vgl. Stark 2004, 387. 3 Vgl. Herder AA XXVII 1 16 24-26 (Hervorhebung: Reich): „Diesen Unterschied verfehlt Baumgarten im ganzen Buch welches sonst das Sachreichste, und vielleicht sein bestes Buch ist .“ <?page no="98"?> 98 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik diesen Fragestellungen recht viel Raum gab. 4 Andererseits weichen die inhaltlichen Argumente und Thesen mitunter erheblich von denen seines Frankfurter Kollegen ab. Kant scheint also auch deshalb gerne mit Baumgartens Büchern gearbeitet zu haben, weil sie Ausgangspunkte für fruchtbare und kritische Diskussionen boten. Bevor die eigentliche Analyse der Ethikvorlesungen beginnen kann (Kap. 3.2- 3.5), müssen die überlieferten Vorlesungsmitschriebe vorgestellt und die mit der Quellenlage verbundenen methodischen Herausforderungen reflektiert werden. Aufgrund der Ausrichtung der Vorlesungen an den Lehrbüchern Baumgartens geht der einleitende Teil auch auf die Person und die philosophische Lehre des Lehrbuchautors ein (Kap. 3.1). Der abschließende Teil des Kapitels (Kap. 3.6) fasst die Ergebnisse der Analysen zusammen, wobei er sich auf die aufzuweisende Lehre vom göttlichen Beistand konzentriert. 3.1 Kants Vorlesungen zur Ethik Baumgarten, an dessen Lehrbüchern sich ein Großteil der Vorlesungen Kants orientierte, war der Sohn eines Berliner Garnisonspredigers, der seinen Söhnen nebst einer stattlichen Büchersammlung den Willen hinterließ, dass sie sich im pietistischen Halle zu Theologen ausbilden lassen sollten. Nach einigen Jahren Privatunterricht - unter anderem durch seinen Bruder Siegmund Jacob, der später tatsächlich Theologieprofessur wurde - besucht Baumgarten die Lateinschule des von A. H. Francke gegründeten, pietistischen Waisenhauses in Halle. Er interessiert sich für die lateinische Sprache und Poesie sowie für die Philosophie C. Wolffs, dessen Schriften er trotz eines einschlägigen Verbotes studiert. 1735 beendet er sein Studium mit einer philosophischen Magisterarbeit, 1739 wird er an die Universität Frankfurt (Oder) berufen. Der Ordinarius für Philosophie konnte bis zu seinem frühen Tod ein beachtliches Schrifttum veröffentlichen. Derzeit findet vor allem die unvollendet gebliebene Aesthetica (1750/ 1758) Beachtung, da Baumgarten überhaupt als erster ein Werk unter diesem Titel publizierte. Für Baumgartens Zeitgenossen und so auch für Kant waren allerdings die anderen Werke wichtiger: Metaphysica (1739, insg. sieben Auflagen, Übertragung ins Deutsche durch den früheren Schüler G. F. Meier), „Einige Gedanken vom vernünfftigen Beyfall auf Academien“ (1740, 2 1741), Acroasis logica (1761), Ius naturae (1763) sowie die in Kants Vorlesungen verwendeten Werke Ethica philosophica (1740, 2 1751, 3 1763) und Initia philosophiae practicae primae („Anfangsgründe bzw. Grundlegung 4 Vgl. auch die Einschätzung von Bacin 2015, 17 f. <?page no="99"?> 3.1 Kants Vorlesungen zur Ethik 99 der ersten praktischen Philosophie“, 1760). 5 In der Vorrede zur ersten Auflage bezeichnet der Autor seine Ethik als ‚Brüderchen‘ 6 der ein Jahr zuvor erschienenen Metaphysica , die neben der Ontologie, der Kosmologie und der Psychologie auch die natürliche Theologie behandelt. Die Vita gibt Anlass, Baumgartens metaphysische und ethische Lehren unter zwei Vorannahmen wahrzunehmen: zum einen im Zusammenhang mit seiner pietistisch-religiösen Prägung, zum anderen ausgehend von seiner intensiven Auseinandersetzung mit Wolff. Die zuerst genannte Vorannahme wird durch Äußerungen verstärkt, die von Baumgartens Lebensende überliefert werden. Der Philosoph soll auf dem Sterbebett alle Gelehrsamkeit zurückgewiesen und sich allein auf seinen christlichen Glauben berufen haben. 7 Andererseits ist die Annahme nicht unplausibel, dass sich mit der Abkehr vom Studium der Theologie, insbesondere unter der in Halle vorherrschenden pietistischen Prägung, und der Zuwendung zu Wolff auch das Menschen- und Weltbild Baumgartens verändert hatte. Der Rationalismus Wolffs geht von einer natürlichen Fähigkeit des menschlichen Geistes zur zuverlässigen Erkenntnis aus, ohne dass - wie es etwa der Pietist J. Lange lehrte - zuvor eine Läuterung und von Gott geschenkte Heilung der Geistestätigkeit erforderlich ist. 8 Ebenso wäre es aber im Blick auf die zweite Vorannahme falsch, Baumgarten zu einem unkritischen Anhänger einer vermeintlich bruchlosen ‚Schulphilosophie‘ im Gefolge Wolffs zu stempeln. 9 So folgert etwa U. Niggli aus einem Vergleich der 3. Auflage der Metaphysica mit den vorhergehenden Auflagen, dass Baumgarten sich hier „[d]urch kleine Zusätze und neue Überschriften […] geradezu als Anhänger von Leibniz “ und gegen Wolff profilierte. 10 Außerdem 5 Vgl. Gawlick/ Kreimendahl 2011, IX-XL, Mirbach 2007, XVI-XXV, Niggli 1999, XVII-XLV. Der Text der Metaphysica in der vierten Auflage, der Initia und der Ethica in der zweiten und dritten Auflage findet sich auch in der AA: XVII 5-226, XIX 3-91 und XXVII 2,1 735- 1015. Für die Metaphysica liegt eine lateinisch-deutsche Edition von G. Gawlick und L. Kreimendahl (2011) vor, der auch die Referenzstellen und Übersetzungen entnommen sind. Für die Ethica wurde ein reprografischer Nachdruck der dritten Auflage aus dem Jahre 1969 verwendet. Eine lateinisch-deutsche Ausgabe wird derzeit von D. Mirbach vorbereitet. 6 Vgl. Ethica , Vorrede zur ersten Auflage, wo eine langgestreckte Apostrophe an den auditori benevolo formuliert wird (Hervorhebung: Reich): „Anno praeterito quod obtuleram tibi nullo munusculum cultu metaphysicum ea fronte susceperas, ea sedulitate tuos in usus converteras ad postremam acroasium mearum halensium horam, […], quae non gratias solum referre posceret, sed et spem faceret fore, ut non omnino negligas fraterculum illius libelli […].“ 7 Vgl. Mirbach 2007, XVIIIf, u. Gawlick/ Kreimendahl 2011, XXVIII-XXX. 8 Vgl. Gawlick/ Kreimendahl 2011, XVIII. 9 So geschieht es beispielsweise bei Schneewind 1998, 529 (Hervorhebung: Reich): „For most of thirty courses he [sc. Kant] gave on moral philosophy, he used two Wolffian textbooks by Alexander Gottlieb Baumgarten.“ 10 Vgl. Niggli 1999, LXVI. <?page no="100"?> 100 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik fällt auf, dass Baumgarten innerhalb des Psychologietraktates der Metaphysik ausführlich auf die sog. ‚unteren‘ Seelenvermögen eingeht, was im Falle der unteren Erkenntnis vermögen auf sein Interesse an der Ästhetik 11 , im Falle der unteren Begehrungs vermögen auf das an der etwa zeitgleich ausgearbeiteten Ethik hindeuten könnte. Wie in anderen Monografien bedient sich Baumgarten in der Ethica und in den Initia einer sog. akroamatischen Darstellungsmethode. Geordnet nach Paragrafen schreibt er lediglich Definitionen, Thesen und kurze Argumentationen auf, die dann im mündlichen Lehrvortrag (griechisch: ἀκρόασις ) für das studierende Auditorium erläutert und ergänzt werden sollen. Vielleicht waren die Baumgarten’schen Lehrbücher auch deshalb eine gern genutzte Vorlesungsgrundlage für Kant, da sie von sich aus schon Raum für Kommentierungen und Einlassungen boten. In der Ethica wurden in der dritten Auflage deutsche Übersetzungen der zentralen Stichwörter für die jeweiligen Paragrafen eingefügt, bis § 192 von Baumgarten selbst, für die restlichen Paragrafen durch den bereits erwähnten Meier. 12 Der Aufbau der Ethica ist für die damalige Zeit nicht ungewöhnlich: Nach der Vorrede und einigen Prolegomena nimmt die tractatio generalis den größten Raum ein. Sie ist wiederum nach den drei Pflichtenkreisen - Religionspflichten (§§ 11-149), Pflichten gegen sich selbst (§§ 150-300) und Pflichten gegen Andere (§§ 301-399) - gegliedert. Am Ende steht die tractatio specialis , die die spezifischen Pflichten in Bezug auf verschiedene Ämter und Aufgaben, in Bezug auf verschiedene Lebensalter und Gesundheitszustände und schließlich in Bezug auf den gesellschaftlichen Stand erörtert. Die Initia betrachten zunächst die Verpflichtung ( obligatio ) als solche, dann unterschiedliche Verpflichtungsinstanzen (wie das Gesetz, den Gesetzgeber, Belohnung und Strafe) sowie die Zurechnung von Handlungen an einen Akteur ( imputatio ), worunter auch die Behandlung der Gewissensthematik fällt. Wie der Blick in die Inhaltsverzeichnisse bereits andeutet, stellt Baumgarten den Verpflichtungsbegriff ins Zentrum seiner Moralphilosophie. Praktische Philosophie ist für ihn in erster Linie die Lehre von Verbindlichkeiten. 13 Im Falle des Rechts sind diese Verbindlichkeiten äußerlich erzwingbar, im Falle der Ethik handelt es sich um innere Nötigungen. 14 Das Verpflichtetsein des Menschen wird 11 Vgl. Mirbach 2007, XXIX-f. 12 Vgl. Gawlick/ Kreimendahl 2011, XXIV. 13 Vgl. Ethica § 1: „Ethica […] est scientia obligationum hominis internarum in statu naturali.“ Vgl. auch Initia § 1: „Quemadmodum PHILOSOPHIA est scientia qualitatum in rebus sine fide cognoscendarum: ita PRACTICA est scientia obligationum hominis sine fide cognoscendarum.“ 14 Vgl. Schwaiger 2011, 133-134. <?page no="101"?> 3.1 Kants Vorlesungen zur Ethik 101 für Baumgarten jedoch durch das Axiom eingeschränkt, dass die Verpflichtung nur dann besteht, wenn ihre Erfüllung durch den Menschen geleistet werden kann. Dieser Grundsatz dürfte auch mit dem psychologischen Hintergrund der Baumgarten’schen Verpflichtungslehre zusammenhängen, wonach eine Verpflichtung im Gegensatz zum Intellektualismus Wolffs dadurch realisiert wird, dass die sowohl aus rationalen Motiven als auch aus sinnlichen Bewegursachen bestehende Handlungstriebfeder die gegenteiligen Triebfedern überwiegt. 15 Die fundamentale Verpflichtung, die dementsprechend verwirklicht werden soll, besteht in der eigenen Vervollkommnung ( perfice te quatenus potes ). Diese wird wiederum vorrangig in der ‚religio‘ realisiert, verstanden als Anerkenntnis der Seinsweise des vollkommenen Wesens ( gloria Dei ). Baumgarten denkt hier allerdings weniger an eine theoretische oder gar spekulative Betrachtung des höchsten Wesens, sondern an eine ‚lebendige‘ Erkenntnis, die sich allgemein förderlich auf die Vervollkommnungsbemühungen auswirkt, weil in ihr sowohl die oberen als auch die unteren Seelenvermögen auf die Vollkommenheit hin ausgerichtet werden. 16 Auch hieran zeigt sich, dass Baumgarten bereits in die Phase der kritischen und eigenständigen Auseinandersetzung mit Wolffs Moralphilosophie gehört, denn anders als letzterer unterscheidet Baumgarten zwischen menschlicher Vervollkommnung und der Erreichung des Glücks. 17 Kant wird ihm darin folgen. Trotz der engen Verknüpfung von Religion und Pflichterfüllung grenzt Baumgarten seine Moralphilosophie von der Theologie ab. Gemäß den soeben zitierten ersten Paragrafen der Ethica und der Initia möchte er die Pflichtenlehre nur soweit behandeln, wie ‚natürliche‘ Verpflichtungen bestehen. Das erste Vorwort zur Ethica geht überdies auf einen Vorwurf ein, der gegen den philosophischen Arbeitsstil ins Feld geführt wird: Demnach würde die Philosophie den Fehler des Pelagianismus begehen, da sie behaupte, dass alles an Religion, was der heiligste göttliche Wille verlangt, allein durch die Kräfte der verderbten Natur zu leisten sei. 18 Der Philosoph kontert diesen Vorwurf, indem er ein hypo- 15 Vgl. Schwaiger 2011, 132 f. Eine Morallehre, die dem Menschen unerfüllbare Verbindlichkeiten auferlegt, nennt Baumgarten eine ‚ethica deceptrix‘ oder ‚chimaerica‘ (vgl. Ethica § 7). 16 Vgl. Ethica § 10 f. sowie Initia § 46. Vgl. auch die Beschreibung, die Schwaiger (2016) von Baumgartens Religionsbegriff gibt (441): „Zusammenfassend gesprochen ist Religion also durch einen theoretisch-praktischen Doppelaspekt gekennzeichnet: Sie umfasst sowohl ein Moment wissentlicher Anerkennung eines göttlichen Wesens wie ein daraus resultierendes Moment willentlicher Selbstbestimmung.“ 17 Vgl. Bacin 2015, 21 f. 18 Vgl. Ethica , Vorrede zur ersten Auflage: „Quam ob rationem […] amarius est mihi cordolium, ubi video, probos etiam viros […] philosophiae morum sese opponere propter hanc caussam, quia fovere credunt eum errorem, quem a Pelagio dicunt, quantam sanc- <?page no="102"?> 102 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik thetisches Beispiel einführt, das von einem Theologen handelt, der zunächst die ‚Grundsätze des Gesetzes‘ behandelt und dann zu den ‚Inhalten‘ des Evangeliums übergeht. Das Beispiel endet in einer Suggestivfrage, die m. E. die Absurdität des Pelagianismus-Vorwurfs aufzeigen soll. 19 Das Argument hinter dieser rhetorisch verklausulierten Erwiderung dürfte darin bestehen, dass eine systematische Unterscheidung etabliert wird - einerseits zwischen den ‚Grundsätzen des Gesetzes‘, zu denen auch der Dekalog gehört und die offenbar mittels der natürlichen Vernunft eingesehen und befolgt werden können, und den ‚Inhalten des Evangeliums‘ andererseits. Eine solche Erwiderung deutet darauf hin, dass Baumgarten neben seiner ethischen Pflichtenlehre, die sich allein vernünftig einsehbarer Überlegungen bedient und an die natürlichen Kräfte des Menschen appelliert, einen Bereich von Weisungen anerkennt, die durch die Philosophie nicht erfasst werden, weil sie nur unter Voraussetzung des Glaubens akzeptiert oder nur auf ‚übernatürlichem‘ Wege realisiert werden können. 20 Auf diese beiden Werke Baumgartens beziehen sich nun die überlieferten Vorlesungsmitschriften. Sie wurden von Studenten im Zusammenhang mit dem Ethik-Kolleg als Mit- oder Nachschriften angefertigt. Man kann hier fünf eigenständige Überlieferungen unterscheiden, die nach den jeweiligen Autoren benannt werden: Herder , Kaehler-Collins , Powalski , Mrongovius II und Metaphysik der Sitten Vigilantius . 21 Durch die Vernichtungen und Wirren des zweiten Weltkrieges sind viele Originalquellen für diese Überlieferungen verloren gegangen. Sie standen jedoch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, als die wissenschaftliche Bearbeitung der Vorlesungszeugnisse einsetzte, zur Verfügung. Die Bände zu den Mitschriften der Ethik-Vorlesungen innerhalb der Akademieausgabe wurden von G. Lehmann in den Jahren 1974-1980 veröffentlicht. Die Kritik an dieser Edition und an der dadurch etablierten Einschätzung der betreffenden Texte sowie die Wiederentdeckung des Kaehler -Manuskriptes haben in jüngerer Zeit die Forschungslage differenziert und bereichert. Für die tissimum numen a nobis religionem postulat, tantam corruptae naturae viribus esse praestandam, ad hanc se manu quasi ducturos omnino per suas demonstrationes unice polliceri philosophos, ad hanc eos sine fide se perventuros gloriari.“ 19 Vgl. Ethica , Vorrede zur ersten Auflage: „Fac in theologia, quam revelatam nuncupamus, docuisse non neminem gravissima capita legis, qua distinguitur ab evangelio, […] totumque decem verborum ambitum fatis ubertim absoluisse, fatis rigide: fac eidem, dum est in procinctu, quo transeat ad evangelii vires largientis interpretationem, obiici, quae philosophis vitio verti supra notavi: quid regesturum eum opinaris, aut quid ipse caussam ipsius suscepturus regereres? “ 20 Vgl. auch Schwaiger 2016, 447. 21 Daneben gibt es noch Vorlesungsnachschriften, von deren früherer Existenz wir zwar wissen, die aber nicht mehr zur Verfügung stehen (so z. B. das Heft ‚Motherby‘, vgl. Stark 2004, 377 f.). <?page no="103"?> 3.1 Kants Vorlesungen zur Ethik 103 Arbeit mit Kants Ethikvorlesungen ist es daher notwendig, die einzelnen Überlieferungen in ihrer Eigenart vorzustellen und über deren editorische Zugänglichkeit zu informieren. Die Herder -Überlieferung geht auf den Königsberger Studienaufenthalt J. G. Herders (1744-1803) in den Jahren 1762-1764 zurück. Der junge Herder studierte aufmerksam bei dem in jenen Jahren sehr geselligen Magister. Auch noch später, als Herder seinem ehemaligen Lehrer in vielem kritisch gegenüberstand, lobt er Kant dafür, dass dessen Lehrvortrag in ihm das eigene Denken förderte. 22 Zu verschiedenen Vorlesungen Kants sind durch Herder Zeugnisse überliefert. Zumindest für die Ethikvorlesung handelt es sich dabei allerdings nicht um einen fortlaufenden Text, sondern um eine Sammlung von Textpassagen verschiedener Größe, die Gedanken und mitunter auch längere Argumentationen widergeben. Gerade die Unvollständigkeit und Direktheit des Textes könnte darauf hindeuten, dass das überlieferte Material Notizen darstellt, die Herder direkt in der Vorlesung anfertigte. Die Herder-Notate zerfallen in drei Teilstücke, von denen das erste unter der Überschrift „Praktische Philosophie nach Hutcheson und Baumgarten“ firmiert und unter Verweis auf andere Moralphilosophen eine allgemeine Einleitung in die Moralphilosophie bietet. Das zweite Teilstück setzt unvermittelt mit der Kommentierung von teilweise direkt benannten Paragrafen aus Baumgartens Initia ein. Nach einer erneuten Einleitung in die praktische Philosophie kommentiert das dritte und längste Stück nahezu die komplette Ethica . Das Verhältnis dieser Textstücke zueinander sowie die zahlreichen Anspielungen sind ungeklärt, weshalb die genaue Datierung und die Zuordnung zu den nachweisbaren Lehrveranstaltungen umstritten sind. 23 Das Herder-Material zu Kants Ethikvorlesungen liegt in zwei Editionen vor, nämlich von H. D. Irmscher und von Lehmann. 24 Trotz dieser Unsicherheiten sind die von Herder überlieferten Vorlesungszeugnisse für die Kant-Forschung sehr wertvoll. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass sie einen moralphilosophischen Standpunkt dokumentieren, der einerseits eine große inhaltliche Distanz zu Kants späterer Ethik aufweist, andererseits aber Fragestellungen und Problemlinien andeutet, die ihn bis in seine kritischen Hauptwerke hinein beschäftigen werden. Die entwicklungsgeschichtliche Erforschung der kantischen Ethik hat herausgearbeitet, dass Kant wichtige Grundzüge seiner Ethik bereits gut ein Jahrzehnt vor der Veröffentlichung der Kritiken und der GMS ausgebildet hatte. Die Meinung darüber gehen 22 Vgl. Kühn 2003, 158 f. 23 Vgl. Lehmann in AA XXVII 2,2, 1043 u. 1046-1050, Schwaiger 2000, 180-183 und Stark 2004, 387 f. 24 Vgl. Irmscher 1964, 89-178 und AA XXVII 1 3-89. <?page no="104"?> 104 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik auseinander, welche Erkenntnisse für die Ausbildung dieser Grundzüge entscheidend waren und auf welche Jahre diese jeweils datiert werden können. 25 Wie dem auch sei, für die vorliegende Untersuchung ist es wichtig zu sehen, dass der Herder-Text in die Phase gehört, in der diese Entwicklungen ihren Anfang nehmen: Der Text lässt bereits eine deutliche Distanzierung und Eigenständigkeit gegenüber den Ethiken Wolffs, C. A. Crusiusʼ und Baumgartens erkennen, und zeigt zugleich deutliche Anklänge an Hutchesons Theorie des ‚moral sense‘, von der sich Kant wiederum wenig später distanzierte. Dennoch weist die Vorlesung eine große Nähe zu Kants späteren religionsphilosophischen Ansichten auf. Wie die Analysen in den folgenden Abschnitten zeigen werden, sind in der Herder-Vorlesung manche Überlegungen zur Relevanz Gottes für die ‚Moral‘ und zum Religionsbegriff angelegt, die Kant auch später in den Vorlesungen und seinen Veröffentlichungen aufgreift. Außerdem dokumentieren die überlieferten Notate bereits für den Beginn der kantischen Lehrtätigkeit den methodischen Ansatz, die Baumgarten’sche Vorlage zwar um eigene Überlegungen und Thesen zu ergänzen, zugleich aber sowohl zentrale moralphilosophische Fragestellungen als auch einen Großteil der materialen Pflichtenlehre aus den Lehrbüchern zu übernehmen. Die Überlieferungsgruppe Kaehler-Collins umfasst eine Reihe von Vorlesungszeugnissen. Die betreffenden Texte weisen so große Übereinstimmungen auf, dass man sie als Varianten einer Vorlesungsdokumentation ansehen 25 Wichtige Quellen für diese entwicklungsgeschichtliche Fragestellung sind zum einen die „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ (1764) sowie die sog. „Bemerkungen“, die Kant in sein Exemplar dieser Schrift eingetragen hat, und zum anderen die „Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765-1766“, in denen A. A.-C. Shaftesbury, F. Hutcheson und D. Hume bescheinigt wird, „am weitesten in der Aufsuchung der ersten Gründe aller Sittlichkeit gelangt“ zu sein, obgleich auch bei ihnen Mängel zu finden seien (vgl. AA II 311 25-29 ). J. Schmucker sieht mit der in den „Bemerkungen“ greifbaren Verallgemeinerungsformel die Ausbildung des kantischen Ethikansatzes als abgeschlossen an (vgl. 1961, 256-261). D. Henrich und C. Schwaiger gehen hingegen von einer Weiterentwicklung der Moralphilosophie nach den „Bemerkungen“ aus. Für sie dokumentiert die Herder-Vorlesung eine vor die „Bemerkungen“ zu datierende Zwischenphase, in der Kant die traditionellen Bahnen verlassen hat, aber erst allmählich beginnt, eine eigene Prinzipienlehre auszubilden. Mit den divergierenden Einschätzungen sind auch unterschiedliche Ansichten in Bezug auf die generelle Verortung der kantischen Ethik verbunden: Henrich würdigt die moral sense -Phase als berechtigte Abkehr vom eudämonistischen Rationalismus Wolffs, der dem genuinen Charakter moralischer Forderungen nicht gerecht werde und eine einseitige Motivationstheorie mit sich bringe (1957/ 58, 1963a u. 1963b). Für Schmucker stellt die früh ausgebildete Verallgemeinerungsformel eine „bloße Transponierung der staatsphilosophischen Konzeption Rousseaus auf die innere Welt der frei wollenden geistigen Wesen“ dar (1961, 254). Schwaiger hingegen stellt einen Zusammenhang mit Kants Platonrezeption und mit der Ausbildung des Ideen-Begriffs in der zweiten Hälfte der 1760er Jahre her (1999, 25 u. 81-95). <?page no="105"?> 3.1 Kants Vorlesungen zur Ethik 105 kann. Wahrscheinlich handelt es sich bei den Texten um Abschriften eines Vorlesungsskriptes, das in Königsberg kursierte. Möglicherweise hatte sich Kant auch selbst ein Vorlesungsmanuskript angelegt, das er in Ergänzung zu seinen Notizen in den Baumgarten’schen Lehrbüchern über Jahre hinweg in mehr oder weniger identischer Form vorgetragen hat. 26 Jedenfalls beweist die weite zeitliche Verteilung der Texte (bis in die 1790er Jahre), dass unter den Königsberger Studenten ebendieser Text als das Ethik-Kolleg Kants galt. 27 Da viel für eine Datierung der ersten zugrunde liegenden Ethikvorlesung(en) in die Mitte der 1770er Jahre spricht 28 , stellt der in diesen Abschriften greifbare Vorlesungstext eine äußerst wertvolle Quelle für Kants Ethik vor Erscheinen der moralphilosophischen Hauptschriften dar. Die Kaehler-Collins -Überlieferung hat daher auch forschungsgeschichtlich die bedeutendste Rolle gespielt. Alle Texte zeigen, dass Kant in der Vorlesung den Büchern Baumgartens folgte und dementsprechend in einem ersten Teil die Paragrafen der Initia und in einem zweiten Teil die der Ethica kommentierte. Paragrafen und Themen sind zu übergreifenden Komplexen unterschiedlicher Länge zusammengefasst. Auffällig sind die wenigen, aber umfangreichen und inhaltlich sehr gehaltvollen Abschnitte, die Kant an verschiedenen Stellen in die Kommentierung eingeschaltet hat. Inhaltlich lässt Kants moralphilosophischer Standpunkt eine beachtliche Veränderung gegenüber der gut zehn Jahre älteren Vorlesung erkennen, die Herder gehört hat. Die Texte dieser Überlieferungsgruppe liegen in mehreren Editionen vor: Die bekannte Edition von P. Menzer verwendete drei Abschriften (‚Brauer‘, ‚Kutzner‘ und ‚Mongrovius I‘) sowie zu Kontrollzwecken eine anonyme Königsberger Handschrift. 29 Für die AA wählte Lehmann die Abschrift ‚Collins‘ als Referenztext und listete einige, von ihm als Varianten angesehene Abweichungen aus anderen Abschriften auf. Als gegen Ende der Editionstätigkeit die ebenfalls zu derselben Überlieferungsgruppe gehörende ‚Moral Mrongovius‘ (= ‚Mrongovius I‘) auftauchte, wurde dieser Text als ‚uneingerichteter‘ Anhang in einem Ergänzungsband gedruckt. 30 G. Gerhardt erstellte eine nicht nachvollziehbare Melange aus der Menzer-Edition und dem Collins-Text aus AA. 31 Erwähnenswert ist außerdem die Ausgabe innerhalb der digitalen Textsammlung „Kant im Kontext III“ (2009), in der neben einem Großteil des AA-Materiales auch die Ab- 26 Hierauf deutet auch ein Bericht des ‚Amanuensis‘ und späteren Kantbiografen R. B. Jachmann hin (vgl. Stark 2004, 389 f.). 27 Vgl. die Liste der einschlägigen Manuskripte bei Stark 1999, 97-100, sowie Kühn 2015, 51 f. 28 Vgl. Schwaiger 1999, 151-157 sowie Stark 2004, 380-386. 29 Vgl. Menzer 1924, 324 f. u. 334 f. 30 Vgl. AA XXVII 2,2 1041, 1052 u. 1058-1060 sowie 1395-1581. 31 Vgl. Gerhardt 2 1991, 291. <?page no="106"?> 106 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik schrift ‚Brauer‘ nach Menzer und Verlinkungen zwischen Baumgarten, ‚Collins‘, ‚Mongrovius I‘ und ‚Brauer‘ zu finden sind. Die Editionslage hat sich nun in jüngerer Zeit noch einmal verändert, als die rund 70 Jahre verschollene Vorlesung ‚Kaehler‘ wieder verfügbar wurde und W. Stark dieses Heft ediert hat. Stark verbindet mit der Herausgabe des Manuskriptes den Anspruch, die bisherigen Editionen abzulösen. 32 Hierfür führt er erstens äußere Gründe an. So ist der Kaehler-Text der älteste Repräsentant dieser wichtigsten Überlieferungsgruppe, denn das Heft wurde im Sommer 1777 von J. F. Kaehler angefertigt, der bei Kant Ethik gehört hat, und gibt sehr wahrscheinlich eine im Wintersemester 1773/ 74 bzw. 1774/ 75 abgehaltene Vorlesung wider. 33 Zweitens sprechen philologische Beobachtungen am Text des offenbar tadellos erhaltenen Heftes für die hohe Qualität und Vorlesungsnähe dieses Repräsentanten. 34 Mit ihm liegt also der beste Zeuge für die von Kant in den 1770er Jahren und vielleicht auch darüber hinaus vorgetragene Ethikvorlesung vor. Neben der allgemeinen textkritischen Qualität dieses Zeugen spricht mit Blick auf die hier verfolgte Fragestellung noch ein dritter Gesichtspunkt gegen die Verwendung des in AA bevorzugten Collins-Textes und für die Wahl der Stark-Edition als primärer Referenztext: Die Abschrift ‚Collins‘ weist im Vorlesungsabschnitt „Vom obersten principio der Moralität“, der sogleich noch eingehend untersucht wird und reichhaltige Argumente zur Bedeutung des Gottesbegriffes für die Moralbegründung beinhaltet, einen von den sonstigen Zeugen abweichenden Text auf. Was vom AA-Editor Lehmann, der offenbar um die Problematik der Stelle wusste, 35 als Varianten angesehen wurde, ist in Wirklichkeit der vorzugswürdige und hier eingehend auszuwertende Überlieferungs- 32 Vgl. Stark 2004, 392. 33 Vgl. Stark 2004, 372 f., 392, 395, 402-404. 34 So z. B. die Abwesenheit einer in anderen Abschriften vorhandenen späteren Zutat, der Textumfang, der charakteristische kantische Stil, die Sorgfalt der Abschrift (vgl. Stark 2004, 395-400, sowie die Textvergleiche in Stark 1999, 89-97). J. B. Schneewind hat sich jüngst hingegen für die Weiterverwendung des Collins-Textes ausgesprochen, zumal dieser auch bereits in einer englischsprachigen Ausgabe vorliegt (2015, XIV f.). Dem widerspricht M. Kühn in demselben Sammelband, wenn er schreibt (52): „Kaehler’s notes may very well represent the Urtext on which all the other relevant lexture notes, including those of Collins, are based.“ 35 Die als Varianten zu ‚Collins‘ (AA XXVII 1, 276-278) dargestellten Texte finden sich in AA XXVII 2,2 1208-1211, 1223-1226 u. 1274-1278, worauf Lehmann in der Einleitung eigens hinweist (vgl. AA XXVII 2,2 1058-1060). Auch der von Menzer ausgewertete und der AA beigefügte ‚Mrongovius I‘ bietet einen besseren Text (vgl. AA XXVII 2,2 1422- 1430). - Da die oben bereits vorgestellte Studie von Santos Herceg (2000) sich gänzlich kommentarlos auf die betroffene Textpartie in Collins bezieht (65, 130 u. 133), liegt das Urteil nahe, dass der Autor die der AA zu entnehmende und in der Folge mehrfach bemängelte (vgl. Oberer 1983, 222, Stark 1999, 73 sowie Schwaiger 1999, 143-146, u. 2000, 183-185) Problematik dieser wichtigen Textstelle nicht wahrgenommen hat. <?page no="107"?> 3.1 Kants Vorlesungen zur Ethik 107 bestand! - Im Folgenden wird deshalb die von Stark edierte Kaehler -Vorlesung als Leittext für die Untersuchung gewählt. Sofern entsprechende Fundstellen in ‚Collins‘ vorliegen, werden Querverweise zur AA beigegeben, damit Leser/ -innen, denen die Stark-Edition nicht zur Verfügung steht, die Belege nachvollziehen können. Die Wahl von Kaehler (- Collins ) als wichtigster Referenztext ist auch der Grund dafür, dass dieses Vorlesungszeugnis nun etwas ausführlicher vorgestellt werden muss. Was Kants moralphilosophischen Ansichten anbelangt, sind vor allem die Textpartien instruktiv, in denen der Dozent - inzwischen ordentlicher Professor - sich recht weit von den Vorlesungshandbüchern entfernt und Überlegungen zum ‚Prinzip‘ bzw. ‚obersten Prinzip‘ der Moralität anstellt. Der erste dieser Abschnitte schließt unmittelbar an die moralhistorische Einleitung in die Vorlesung an. Die unumgängliche Aufgabe des Abschnittes besteht darin, ein Prinzip aufzusuchen, das die sittliche Gutheit oder Schlechtheit von Handlungen zu beurteilen erlaubt. Kant bezeichnet dies als „principium der moralischen Diiudikation“. 36 Die hierzu angestellten Überlegungen lassen sich in zwei Teile aufgliedern: Der erste Teil bietet eine systematisch konstruierte Einordnung verschiedener ‚(Moral-)Systeme‘ und der in ihnen jeweils vertretenen ‚Moralprinzipen‘ sowie zeitgenössischer Repräsentanten der verschiedenen Prinzipien. 37 Im zweiten Teil werden das Problem der ‚praktischen Necessitation‘ diskutiert und hierbei auf verschiedene Weise ‚nötigende‘ Imperative (‚problematische‘, ‚pragmatische‘, ‚moralische‘) vorgestellt. 38 Kant argumentiert hier dafür, dass die moralische Nötigung in Abgrenzung von Handlungserfordernissen, die sich aus einer beliebigen Zweckverfolgung oder der angestrebten Glückseligkeit ergeben, als ein Handlungsimperativ sui generis aufgefasst werden muss, der an allgemeingültigen Zwecken ausgerichtet ist und daher mit dem Wollen der Anderen grundsätzlich übereinstimmt. 39 Das zentrale Kriterium für die im ersten Teil vorgenommene Systematisierung ist die Frage, ob bei der diiudicatio auf ‚empirische‘ oder ‚intellektuale‘ Gründe abgehoben wird. Empirische Gründe sind der Vorlesung zufolge solche, „die von den Sinnen abgeleitet“ werden und die eine sinnliche Befriedigung zum Ziel haben. 40 Es liegen dann insofern reduktionistische Ethikansätze vor, als sie Moralität entweder auf eine Gefühlsbefriedigung - sei es in der klugen Befrie- 36 Vgl. Stark 2004, 21 2-4 : „Da wir doch nun […] ein principium der moralischen Diiudication haben müssen, nach welchem wir einstimmig darüber urtheilen können, was sittlich gut oder nicht gut ist“. 37 Vgl. Stark 2004, 21 18 -27 23 / AA XXVII 1 252 29 -255 9 . 38 Vgl. Stark 2004, 27 24 -34 26 / AA XXVII 1 255 9 -260 13 . 39 Vgl. Stark 2004, 28 16-33 sowie 30 22 -32 1 / AA XXVII 1 255 29 -256 5 . 40 Stark 2004, 22 2-6 / AA XXVII 1 252 34 -253 1 . <?page no="108"?> 108 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik digung der Selbstliebe, sei es in der Befolgung des moralischen Gefühls - oder auf äußere Adaptionen, etwa mittels Sozialisation oder Folgsamkeit gegenüber staatlichen Autoritäten zurückführen. Das wichtigste Gegenargument gegen diese Ansätze besteht darin, dass das Urteil über die Moralität einer Handlung bei ihnen nur auf zufälligen Gründen beruhen kann. 41 ‚Intellectuale‘ Prinzipien zeichnen sich hingegen dadurch aus, dass sie Moralität unabhängig von sinnlichen Befriedigungen und kontingenten Fremdsteuerungen „völlig a priori“ einsichtig machen. 42 Der Sache nach kommt Kant den späteren Formulierungen des kategorischen Imperativs schon sehr nahe, wenn er als zentrale Bestandteile für das gesuchte Beurteilungsprinzip die Widerspruchsfreiheit und Verallgemeinerbarkeit des Willens angibt: „Wenn ich meine freye Willkür betrachte, so ist das eine Uebereinstimmung der freyen Willkür mit sich selbst und anderer. Es ist also ein nothwendiges Gesetz der freyen Willkür.“ 43 Der zweite Moralprinzip-Abschnitt innerhalb der Kaehler - Collins -Vorlesung fügt sich zwischen die lehrbuchnahe Besprechung der Paragrafen 68 (‚vorschreibende, verbietende und erlaubende Gesetze‘) und 75 (‚der Geist des Gesetzes‘) ein und nimmt Inhalte auf, die in den Paragrafen 69-74 traktiert werden, nämlich die Vervollkommnungsgebote sowie die Zuordnung von natürlichem und göttlichem Gesetz. 44 Der Text zerfällt inhaltlich und aufgrund verschiedener Gliederungshinweise in vier größere Teilstücke: Zunächst wird die Unterscheidung zwischen diiudicatio und executio exponiert 45 und die zweigliedrige These zum obersten Moralprinzip genannt, wonach das Prinzip der Beurteilung im Verstand, dasjenige der Ausführung ( executio ) jedoch im ‚Herzen‘ bzw. im ‚moralischen Gefühl‘ liege 46 . Im zweiten, der diiudicatio gewidmeten Teilstück 47 fällt im Vergleich zum ersten Moralprinzip-Abschnitt auf, dass Kant sich noch deutlicher von Wolffs ‚Fac bonum, et omitte malum‘-Prinzip abgrenzt. Seines 41 Vgl. Stark 2004, 25 11 -26 4 / AA XXVII 1 253 37 -254 9 . 42 Stark 2004, 26 7f u. 27 5-8 / AA XXVII 1 254 12 u. 32-34 . 43 Stark 2004, 26 20-23 / AA XXVII 1 254 23-25 . 44 Der Einschub sowie das doppelte Vorhandensein von Abschnitten ähnlichen Inhaltes und mit nahezu gleichlautenden Überschriften haben den Verdacht aufkommen lassen, bei ihnen handle es sich um nicht authentische Einträge oder Kompilationen. Dagegen konnten Schmucker (1961, 332-334) und Schwaiger (1999, 151-154) mit schlagkräftigen Beobachtungen wahrscheinlich machen, dass diese Ausführungen sinnvolle Bestandteile der kantischen Vorlesung darstellen. 45 Vgl. Stark 2004, 55 24 -57 11 / AA XXVII 1 274 21 -275 8 . 46 Vgl. Stark 2004, 57 1-11 / AA XXVII 1 274 35 -275 8 . 47 Vgl. Stark 2004, 57 12 -64 20 / im Collins-Text fehlt der letzte Teil dieser Textpassage. Dieses Teilstück wird durch zwei Gliederungshinweise (57 12f „Anjetzo wollen wir noch kürzlich zeigen negative, worin das principium […] nicht bestehe“ - 64 21-23 : „Da nun gezeiget ist, worin das principium der Moralitaet nicht bestehe, so muß nun gezeiget werden, worin es denn bestehe.“ Hervorhebungen: Reich) deutlich als eine Einheit ausgewiesen. <?page no="109"?> 3.1 Kants Vorlesungen zur Ethik 109 Erachtens ist ein solcher Grundsatz tautologisch und umgeht die eigentliche Frage nach dem (moralisch) Guten. Nachdem im dritten Teilstück erneut die widerspruchsfreie Verallgemeinerbarkeit als Diiudikationsprinzip aufgestellt wurde 48 , bietet das vierte Teilstück mit der Behandlung der executio -Problematik etwas wirklich Neues. Allerdings sucht man im Text vergeblich nach einer klaren Lösung für diese bedeutende Problematik. Dazu sind die dokumentierten Überlegungen (vielleicht auch für den Schreiber der Quelle? ) zu schwer verständlich: Einerseits muss dem Verstand „vermöge seiner Natur eine bewegende Krafft“ innewohnen, da sich der Verstand solchen Handlungen widersetzt, die nicht verallgemeinerungsfähig sind. 49 Andererseits geschieht dies mittels des ‚moralischen Gefühls‘, das dann affiziert bzw. nicht affiziert wird, wenn, wie der Verstand im moralischen Urteil einsehen kann, eine moralische ‚Abscheulichkeit‘ vorliegt. Der Verstand hat also zwar Motive und ‚bewegende Kraft‘, wird aber irgendwie doch nur durch das moralische Gefühl handlungswirksam. 50 In diesem Zusammenhang fällt auch das viel zitierte, aber rätselhafte Wort vom ‚Stein der Weisen‘. Es bleibt unklar, ob Kant damit ein noch ungelöstes und in seinem weiteren ethischen Nachdenken zu verfolgendes Arbeitsprojekt andeutet, oder die Suche nach dem Übergang vom Verstandesurteil zur Triebfeder an dieser Stelle als alchemistisch-vermessenes Unterfangen ansieht, oder andeutet, dass er seines Erachtens einen Teil des Rätsels gelöst hat. 51 48 Teilstück (3): Stark 2004, 64 21 -68 4 / nicht in Collins; Teilstück (4): 68 4 -73 14 / nicht in Collins. Für diese Gliederung sprechen (trotz der abweichenden Absatzgestaltung und des Fehlens eindeutiger Gliederungsanzeiger): In (3) ist im Gegensatz zu (4) nirgendwo von der executio die Rede. Vielmehr muss - laut Kant - die vorher behandelte Unterscheidung von Diiudikation und Exekution erneut aufgenommen werden (vgl. 68 10-13 ). Des Weiteren wird die Gedankenführung in diesem letzten Textstück durch Fragen vorangetrieben, die jeweils eine neue Unterthematik eröffnen (70 12 -71 17 : Die Ursache des moralischen Versagens liegt nicht im Verstand, sondern in der Triebfeder des Willens; 71 17 -73 14 : Das moralische Gefühl ist kultivierbar). Eine erste, in Gegenüberstellung zur Urteilsfähigkeit des Verstandes formulierte Frage leitet das gesamte Teilstück ein: „Da nun der Verstand das Vermögen der Regel und der Urteile ist, […]. Wie nun der Verstand ein principium der Handlungen enthalten soll, ist etwas schwer einzusehen.“ (68 4-6 ). 49 Vgl. Stark 2004, 70 1 -70 12 (Zitat: Z. 8 f.). 50 Vgl. Stark 2004, 68 17 -69 5 . Dieses Gefühl ist allerdings nicht natürlich gegeben, sondern durch Erziehung und Habitualisierung auszubilden (vgl. auch die Textpassage 72 1 -73 14 ). 51 Stark 2004, 69 2-5 : „Urteilen kann der Verstand freylich, aber diesem Verstandes-Urtheilen eine Krafft zu geben, und daß es eine Triebfeder werde den Willen zu bewegen, die Handlung auszuüben, das ist der Stein der Weisen.“ - Henrichs Interpretation (1963a, 368) geht davon aus, dass Kant damit ein ungelöstes und auch in den 1780er Jahren immer wieder erneut aufgenommenes Arbeitsprojekt andeute. Dem widerspricht Schwaiger (1999, 108). Für Stark trägt die „die Redeweise […] eine pejorativ-spöttische Konnotation“ in sich (2004, 69). Kühn (2004 u. 2015) geht davon aus, dass Kant das Motivationsproblem <?page no="110"?> 110 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik Beachtenswert - auch mit Blick auf die weiteren Ausführungen zur ‚Unheiligkeit‘ des Menschen und die Bosheitsthese in RGV I - ist m. E., dass die executio -Problematik hier vor dem Hintergrund moralisch mangelhafter Handlungen angegangen wird. 52 Das für Kant erklärungsbedürftige Phänomen scheint nicht das moralische Handeln, sondern vielmehr der Moralitätsmangel oder das moralisch verwerfliche Handeln zu sein. Er rechnet nicht nur damit, dass der Verstand aufgrund mangelnder Information 53 oder mangelnder Beurteilungsschulung 54 in der diiudicatio fehlgehen kann, sondern führt die Unsittlichkeit und Bösartigkeit von Handlungen ausdrücklich auf den Willen, die „Pravitaet des Willens oder des Hertzens“ 55 zurück. Diese ‚Schlechtigkeit‘ des Willens wird damit erklärt, dass die bewegende Kraft des Verstandes von der Sinnlichkeit überwogen wird. 56 Umgekehrt hält die Vorlesung fest, dass sich die ‚Bonität‘, d. h. die innere sittliche Gutheit einer Handlung, nicht direkt fühlen lässt. Nur auf Grundlage des Widerstandes, den der Verstand gegen eine schlechte Handlung ausübt und der das Überwiegen gegen die Sinnlichkeit erforderlich macht, regt sich das moralische Gefühl überhaupt. 57 Die Kaehler - Collins -Vorlesungen zeigen, dass Kant um 1775 herum einen moralphilosophischen Standpunkt vertritt, der gegenüber seinen Ansichten in den 1760er Jahren eine deutliche Veränderung darstellt und insbesondere in der Frage des Moralprinzips der GMS und der KpV sehr nahe steht. Kant analysiert das Phänomen moralischer Nötigung als einen Handlungsimperativ, der verlangt, einem widerspruchsfreien und verallgemeinerungsfähigen Willen zu folgen. Aus der Analyse leitet er ein valides principium diiudicationis ab. Zugleich sieht er sich aber herausgefordert, das rein ‚intellektuale‘ Prinzip mit psychologischen und handlungstheoretischen Überlegungen zu verbinden. In dieser komplexen Gemengelage - und so beispielsweise auch unmittelbar in den genannten Abschnitten zum obersten Moralprinzip - stellt Kant auch ausführliche Erörterungen zur Relevanz Gottes für die Moral und zu den religiösen Pflichten an. Der mit 144 Druckseiten vergleichsweise kurze Powalski -Text geht auf G. B. Powalski zurück, der in der zweiten Hälfte der 1770er Jahre in Königsberg war. in der Kaehler-Collins-Vorlesung als gelöst betrachtet - allerdings auf eine Weise, die von der Forderung nach einem Handeln aus Pflicht in der späteren GMS beträchtlich abweicht, siehe hierzu unten S. 125 f. 52 Vgl. die gesamte Textpassage Stark 2004, 70 12 -73 10 , die mit der Frage „Woran liegt es nun, wenn die Handlung nicht moralisch ist […] ? “ (70 12-14 ) eingeleitet wird. 53 Vgl. Stark 2004, 70 14f . 54 Vgl. Stark 2004, 71 1f . 55 Vgl. Stark 2004, 71 4f . 56 Vgl. Stark 2004, 71 5-7 . 57 Vgl. Stark 2004, 71 10-14 . <?page no="111"?> 3.1 Kants Vorlesungen zur Ethik 111 Ab dem Jahr 1782 ist eine Tätigkeit außerhalb von Königsberg belegt. Und das ist auch schon alles, was bezüglich der Entstehung dieses Vorlesungszeugen gesichert behauptet werden kann. So wissen wir beispielsweise nicht, ob Powalski das Ethik-Kolleg überhaupt besucht hat. Die Handschrift deutet darauf hin, dass er die Nachschrift nicht selbst angefertigt hat und nur einige Bemerkungen eintrug. Aufgrund inhaltlicher Erwägungen kann man vermuten, dass die in der AA abgedruckte Powalski -Überlieferung zeitlich wie inhaltlich in das Umfeld der Kaehler - Collins -Gruppe, also in den Zeitraum von Mitte der 1770er Jahre bis zum Erscheinen der GMS, gehört. 58 Die Überlieferung Mrongovius II trägt eine wohl zuverlässige Datierung ins Wintersemester 1784/ 85. Ihr Autor, ein polnischer Theologe und Lehrer verfasste auch die Abschrift ‚Mrongovius I‘, die zur Kaehler - Collins -Gruppe gehört. 59 Im Gegensatz zu der umfassenden ersten Abschrift ist der knappe Text Mrongovius II Teil eines Sammelheftes. Der ebenfalls in die AA aufgenommene Zeuge dokumentiert lediglich Ausführungen, die sich auf Baumgartens Initia beziehen, und folglich nicht die Auseinandersetzung mit dem Religionstraktat der Ethica . 60 Der Vorlesungszeuge spielt hier dennoch eine Rolle, da in ihm wie in den anderen Texten unter den Stichworten ‚lex‘ und ‚legislator‘ die Relevanz Gottes für die Begründung und das Bestehen moralischer Verpflichtung diskutiert wird und weitere beiläufige Ausführungen zum Religionsbegriff zu finden sind. Bezüglich des vorausgesetzten moralphilosophischen Standpunktes deuten die Vorlesungen Powalski und Mrongovius II darauf hin, dass Kant die durch Kaehler-Collins dokumentierten Ansichten nicht mehr aufgegeben hat. Die in den beiden Moralprinzip-Abschnitten der Kaehler - Collins -Vorlesung herausgearbeitete Systematisierung und Kritik anderer moralphilosophischer Ansätze erscheint in beiden Vorlesungen, teilweise sogar an den entsprechenden Stellen der Lehrbuchkommentierung. Andererseits finden sich in den Texten auch terminologische Neuerungen, die auf eine größere Nähe zur GMS hindeuten. Im Powalski -Text wird das Prinzip der Verallgemeinerbarkeit des Willens als mehrfache ‚Übereinstimmung‘ aufgefasst: Kriterium der Moralität ist, dass der Wille mit der Vernunft und die Willkür mit sich selbst übereinstimmt, was dann 58 Vgl. AA XXVII 1 91-235 sowie die Einleitung Lehmanns in XXVII 2,2 1043, außerdem Schwaiger 1999, 147-151, u. 2000, 185-188. 59 Auf K. C. Mrongovius geht überdies eine von den Vorlesungszeugnissen zu unterscheidende, sekundär aus den Unterlagen kompilierte und im Original polnischsprachige ‚Philosophische Abhandlung über Religion und Moral stammend von Immanuel Kant‘ zurück (vgl. Żelazny/ Stark 1987). 60 Vgl. AA XXIX 1,1 595-642 sowie Schwaiger 1999, 157-159. Bedauerlicherweise ist die Edition in AA an mehreren Stellen fehlerhaft (vgl. auch Timmermann 2015, 68). <?page no="112"?> 112 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik der Fall ist, wenn die Handlung ‚allgemein gefällt‘, also die allgemeine Übereinstimmung möglicher Handlungsakteure findet. 61 Kant unterscheidet überdies zwischen dem ‚objektiven‘, für die Beurteilung maßgeblichen Gesetz des guten Willens, und dem ‚subjektiven Gesetz‘ der Triebfedern, die sich auf die Begierden und Neigungen beziehen. Im Gegensatz zu Gott, bei dem objektives und subjektives Wollen zusammenfallen, entsteht beim Menschen das Sollen dadurch, dass der urteilende Verstand zwar ‚potestas executoria‘ hat, diese aber realisieren muss. 62 Für die Bearbeitung der executio -Frage spielt die Lehre vom moralischen Gefühl hier offenbar keine Rolle mehr, wobei allerdings generell keine Reflexionen auf die Vermittlung zwischen verstandesgemäßer Handlungsleitung und den Begehrungsvermögen erkennbar sind. In Mrongovius II ist der Zusammenhang mit den Leitbegriffen und Argumenten der zeitgleich veröffentlichten GMS noch deutlicher. Das Verallgemeinerungskriterium wird hier in der allgemeinen Formulierung und in der Naturgesetzformulierung des kategorischen Imperatives ausgedrückt. 63 Fundament der Exekution des Gesetzes bildet das moralische Gefühl, das sich dann einstellt, wenn die Vernunft den Willen bestimmen kann, und das in der ‚Achtung‘ vor dem Gesetz besteht. Moralität liegt dann vor, wenn die Vernunft nicht nur urteilt, sondern auch den Willen bestimmt. 64 Kant nennt dies in der Vorlesung auch die ‚Autonomie‘ des Willens, weil der Wille unter dieser Voraussetzung bei allen Handlungen als gesetzgebend angesehen werden kann. 65 Die in der obigen Aufzählung zuletzt genannte Metaphysik der Sitten Vigilantius dürfte auf Kants letzte Lehrveranstaltung zur Ethik im Wintersemester 1793/ 94 zurückgehen. J. F. Vigilantius war ein Freund Kants, der ihn auch in rechtlichen und geschäftlichen Angelegenheiten beriet. Im Gegensatz zu den anderen Mitschreibern besuchte er die Vorlesung, als er bereits etablierter Jurist 61 Vgl. AA XXVII 1 110 30-33 (Powalski): „Die Uebereinstimmung des Willens also mit der Form der Vernunft ist die, wo aus dem allgemeinen aufs besondere geschloßen wird, darinn besteht also die moralitaet, daß unsre freie Handlungen mit dem Wort allgemein gefällt übereinkommen.“ Vgl. auch 140 38 -141 13 (mit Bezug auf das Recht): „[Wenn] die gemeinschaftliche Willkühr auch unsre in sich begreift, so stimmt […] unsre Willkühr mit sich selbst überein […]. Wenn wir eine Handlung betrachten wollen, ob sie gut oder nicht gut ist, so wird erstlich gefragt, ob die Meinung dieser Handlung mit der allgemeinen Willkühr übereinstimmet oder nicht? stimmt sie überein so ist sie recht, weil sie von jedermann gebilliget wird.“ 62 Vgl. AA XXVII 1 201 36 -202 2 . 63 Vgl. AA XXIX 1,1 608 19-25 u. 609 5f . 64 Vgl. AA XXIX 1,1 612 30-32 : „Zur legalitaet einer Handlung gehört bloß, daß eine Handlung, zu der man verbunden ist, geschehe; zur moralitaet einer Handlung aber gehört, daß sie aus Verbindlichkeit geschehe.“ 65 Vgl. AA XXIX 1,1 629 7f . Vgl. auch Timmermann 2015, 75 f. <?page no="113"?> 3.1 Kants Vorlesungen zur Ethik 113 war. 66 Der im Original nicht erhaltene Text weist ebenfalls starke Bezugnahmen auf die Kompendien Baumgartens auf: Kant behält die Zweiteilung der Vorlesung in einen Grundlegungsteil und eine materiale Ethik bei 67 und diskutiert zahlreiche Stichworte aus Baumgarten, so z. B. im Grundlegungsteil die Lehren von der obligatio und von der imputatio und im Religionstraktat die Atheismusproblematik und das Beten. Auf die Nähe zur wenig später veröffentlichten MdS deutet hin, dass der Text einen kurzen Vorläufer der Rechtslehre erkennen lässt und die Traktierung der (vermeintlichen) Pflichten gegen Gott ans Ende der Vorlesung verschoben wird. Auch die letzte Ethikvorlesung wird ganz durch die moralphilosophischen Grundsätze bestimmt, die Kant in den 1780er Jahren veröffentlicht hat. Demnach kann eine Handlungssteuerung durch die Vernunft nur vorliegen, wenn Handlungen nach dem formalen Grund der Gesetzmäßigkeit bestimmt werden. 68 Mehrfach zitiert Kant sich selbst, indem er die Grundformel des kategorischen Imperativs anführt und auf die Zweck-An-Sich-Selbst-Formel zu sprechen kommt. 69 Im Anschluss an die Diskussion verschiedener anderer moralphilosophischer Systeme hält er fest, dass die praktisch wirksame Autonomie der Vernunft unvereinbar ist mit allen empirischen Prinzipien, wie der Verfolgung der eigenen Glückseligkeit oder der Orientierung am ‚moralischen Gefühl‘. 70 Die Vorlesung lässt allerdings auch Überlegungen und Begriffe erkennen, die gegenüber den vorhergehenden Vorlesungen neu sind und darauf hindeuten, dass Kant sich aufgrund aktuellerer Debatten erneut mit den Problemstellen seiner Moralphilosophie beschäftigte bzw. nach Ausbildung seines moralphilosophischen Ansatzes verschiedene Folgeprobleme erörterte. 71 66 Vgl. AA XXVII 2,1 477-732 sowie die Einleitung Lehmanns in XXVII 2,2 1045 f., außerdem Oberhausen/ Pozzo 1999, 609, Schwaiger 1999, 159, Stark 2004, 388, u. Louden 2015, 85-87. 67 Vgl. den Gliederungshinweis in AA XXVII 2,1 576 20-22 : „Die bisherige Behandlung der Metaphysic der Sitten betraf nur prolegomena zur Ethic, die nunmehro in specie behandelt werden soll.“ 68 Vgl. AA XXVII 2,1 494 34 -495 13 . 69 Vgl. bspw. AA XXVII 2,1 495 35 -496 2 , 541 20f u. 544 12-15 . 70 Vgl. AA XXVII 2,1 499 24 -500 18 . 71 Eines dieser Probleme betrifft die aus der RGV bekannte Schiller-Anfrage (siehe oben, S. 40), ob das Phänomen moralischen Handelns tatsächlich sachgemäß analysiert ist, wenn es auf die strenge und von aller Neigung absehende Beachtung des Moralgesetzes reduziert wird (vgl. AA XXVIII 2,1 490 18-28 u. 623 15-22 ). Ein anderes Problem, das nun in der Vorlesung diskutiert wird, besteht in der Unterscheidung zwischen einer ‚noumenalen‘ und einer ‚phänomenalen‘ Perspektive auf den Menschen. Mit der noumenon phaenomenon -Unterscheidung lässt Kant eine neuere konzeptuelle Ressource einfließen, um die freiheitliche Handlungssteuerung sowie den imperativischen Charakter einer selbstinduziert gedachten moralischen Verpflichtung zu erklären (vgl. bspw. AA XXVIII 2,1 505 3-11 u. 601 30-35 ). <?page no="114"?> 114 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik Nebst der mitunter komplizierten Überlieferungs- und Editionslage wird die Arbeit mit den Ethikvorlesungen durch eine weitere Problematik belastet: Auch wenn die Überlieferung von Manuskripten gesichert werden kann, so handelt es sich doch wahrscheinlich nur um Aufzeichnungen von Hörern, die sich zudem auf Vorlesungen beziehen, die die Moralphilosophie unter Bezugnahme auf einen Andern, nämlich Baumgarten, erklären soll. Wie ist also erstens die Zuverlässigkeit der dargestellten ‚Kant-Worte‘ zu beurteilen und inwiefern können wir zweitens davon ausgehen, dass das, was Kant lehrte, jeweils auch seinen eigenen argumentativen Überzeugungen entspricht? Der mehrfach diskutierte Zweifel an der Authentizität im zuletzt genannten Sinne, nämlich dass „Kant nicht dasselbe gelehrt wie geschrieben zu haben scheint“ 72 und die Vorlesungen daher nicht Kants Standpunkt, sondern den des kommentierten Autors wiedergeben, verfehlt den Charakter kantischer Lehrpraxis. Die Vorlesungen lassen durchgängig erkennen, dass in ihnen sowohl Baumgarten als auch Kant selbst zu Wort kommen. Wie auch den Zeugnissen der damaligen Hörer zu entnehmen ist, hat Kant ‚frei‘ vorgetragen und sich bloß ‚pro forma‘ an die von ihm selbst ausgewählten Lehrbücher gehalten. Diese Lehrmethode dürfte auch mit Kants pädagogischen Anliegen, den zu propädeutischen Zwecken anwesenden Hörern nicht die Philosophie, sondern das Philosophieren nahezubringen, zusammenhängen. 73 Wenn sich in den Vorlesungen also affirmative Übernahmen aus Baumgarten finden, dann nicht aufgrund sklavischer Abhängigkeit vom gewählten Referenzautor, sondern weil der Dozent die Materie als sachdienlich erachtete und er keinen Bedarf sah, sie einer Kritik zu unterziehen. In der Beurteilung der erst genannten Zuverlässigkeitsfrage wird man kaum vollständige Gewissheit erlangen können. Die Vielzahl der Texte und deren editorische Erschließung erlauben es, an manchen Stellen Rezeptions- oder Überlieferungsverderbnisse (nicht-kantische Ausdrucksweise, Abschreibefehler, …) auszuschalten. Überdies erscheinen die Überlegungen und Argumente, auf die es im Folgenden ankommen wird, an mehreren Stellen innerhalb ein- und derselben Vorlesungstextes und zeigen Parallelen in anderen Mitschriften, die auf andere Autoren und auf gesonderte Mitschreibvorgänge zurückgehen. Das macht es doch sehr wahrscheinlich, dass wir durch die sorgfältige Analyse im Wesentlichen der ipsisima vox Kants habhaft werden. Hinzu kommt noch ein weiteres: Neben den genannten Überlieferungen gibt es noch anderes Quellenmaterial, das die Rekonstruktion der Vorlesungstätig- 72 Vgl. Lehmann 1969, 67, dagegen ders. 1980, 178, sowie das Referat und Widerlegung dieses Zweifels bei Stark 1992, 545-550. 73 Vgl. Stark 1992 u. 1995. <?page no="115"?> 3.1 Kants Vorlesungen zur Ethik 115 keit unterstützen könnte. Dies betrifft zum einen die anderen Vorlesungen Kants (etwa zum Naturrecht oder zur ‚Rationaltheologie‘), die von ihm jedoch weniger häufig angeboten wurden und für die weniger Quellen zur Verfügung stehen. Eine adäquate Berücksichtigung dieser Quellen ist im Rahmen der vorliegenden Studie jedoch nicht möglich. Überdies ist es auch nicht erforderlich, da die analysierten Texte bereits hinreichend aussagekräftige Einsichten zu Tage fördern. Zum anderen wurden in mehreren Bänden der AA die sog. Reflexionen abgedruckt. 74 Es handelt sich dabei um auf Zetteln notierte Gedanken. Manche dieser Zettel entstammen den teilweise mit zusätzlichen Notizseiten ‚durchschossenen‘ Handexemplaren der von Kant verwendeten Vorlesungslehrbücher. Über lange Jahre hinweg wurden von der entwicklungsgeschichtlich orientierten Forschung vorrangig die Reflexionen ausgewertet. Die Arbeit mit den gedanklichen Bruchstücken ist jedoch einer Reihe von Problemen ausgesetzt: Die Datierung der Notizen bzw. der aus verschiedenen Jahren stammenden Bemerkungen auf den größeren Zetteln und Buchseiten erwies sich als so unsicher, dass sehr viele Reflexionen in der AA mehreren Entstehungsphasen zugeordnet werden. Eine weitere Bearbeitung oder Überprüfung ist ausgeschlossen, da die Originale spätestens seit dem zweiten Weltkrieg verloren sind. Das betrifft auch Kants Handexemplar der Ethica , das ähnlich wie die Initia zahlreiche Notizen für die Vorlesungstätigkeit enthalten haben dürfte. Außerdem war bereits E. Adickes, der Bearbeiter und Herausgeber der Reflexionen, der Meinung, dass die notierten Gedankenfetzen oft nur in Verbindung mit den gedruckt vorliegenden Werken verwertbar sind. 75 Und schließlich deuten etwa die thematisch mit dieser Studie verwandten Arbeiten von Schmucker und Forschner darauf hin, dass die Reflexionen diejenigen Einsichten, die man aus der sorgfältigen Lektüre der Vorlesungen gewinnt, bestätigen und nicht etwa eine Korrektur dieser Analyseergebnisse erforderlich machen. 76 74 Vgl. AA XIV-XXIII. 75 Vgl. Adickes in AA XIV, L u. Lehmann in AA XXVII 2,2 1038-1040. 76 Schmucker (1961) verfolgt viele der in den Kaehler-Collins-Vorlesungen dokumentierten Ausführungen in die Reflexionen zurück, die er auf die 1760er Jahre datiert. Er versucht dadurch zu belegen, dass die seines Erachtens sehr GMS- und KpV-nahen Vorlesungen eine starke Kontinuität zu Kants frühen Ansichten aufwiesen und deshalb die Ausbildung der Ethik Kants im Wesentlichen von dessen Metaphysik- und Erkenntniskritik unabhängig sei (vgl. 379-393). Schmuckers Studie verdeutlicht, dass die Vorlesungen durch die Reflexionen weithin bestätigt werden - so z. B. in Bezug auf die in Kap. 3.4 herausgearbeitete Auffassung Kants, dass das christliche Ideal im Gegensatz zu den Idealen der antiken Ethikschulen vollkommen sei (vgl. 315). Nach Auswertung von Reflexionen der 1770er Jahre sowie eines Briefes an J. C. Lavater von 1775 kommt Forschner (1992, 97) zu dem Ergebnis: „Kant hat, dies läßt sich den Reflexionen eindeutig entnehmen, vom Beginn der 70-er Jahre bis etwa um die Zeit der Veröffentlichung der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ eine moralphilosophische Grundposition ausformuliert, die er in ihren wesentlichen Zügen <?page no="116"?> 116 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik Zu den Ergebnissen, die im Folgenden herausgearbeitet werden, gehört, dass der Gottesgedanke und die Verknüpfung zwischen Moralität und Religion zum „Urgestein“ 77 der kantischen Moralphilosophie gehört. Obgleich Kant den Gottesbegriff kontinuierlich aus dem Geschäft der Moralbegründung ausschließt, weist er ihm eine bedeutende Rolle für das moralische Handeln des Menschen zu. Durch die Analyse der Vorlesungsquellen lässt sich zeigen, dass diese Rolle eine doppelte ist: Zum einen bietet er eine Antwort auf die Frage nach der Finalität und nach der Vergeltung für das moralische Bemühen, oder - wie Kant im ersten Vorwort zur RGV schreibt - auf die Frage, was aus unserem ‚Recht-Handeln‘ herauskommt. Zum anderen bewältigt der Gottesglaube das Problem, ob und inwiefern ein begrenztes und moralisch unvollkommenes Wesen wie der Mensch überhaupt ‚recht-handeln‘ kann. Die vollkommene Entsprechung gegenüber den Forderungen des Moralgesetzes, wie es das praktische-vernünftige Ideal der Heiligkeit verlangt, ist für Kant nur unter Voraussetzung eines solchen Beistandsglaubens denkbar. Dieser zweite Reflexionsstrang, innerhalb dessen ‚Moral‘ und ‚Religion‘ zusammengedacht werden, weist überdies Zusammenhänge zu Kants normativem Religionsbegriff auf, der in den Vorlesungen und später auch in der Religionsschrift begründet wird. 3.2 Gott und Moralbegründung Dass der Begriff ‚Gott‘ zum Urteil über die moralische Richtigkeit einer Handlung nichts beitragen kann, erhellt in der Herder-Vorlesung bereits aus dem moralphilosophischen Standpunkt, den die Notate erkennen lassen. Ausdrücklich wird festgehalten, dass man in der Reflexion über ‚richtig‘ und ‚falsch‘ von der emotional affizierenden moralischen Schönheit bzw. vom Gefühl der Schuldigkeit anfangen müsse, nicht von Gott. Es gilt sogar das Gegenteil: Wer sich in der Begründung sittlicher Normen nicht auf die ‚inneren‘, durch die normierten Handlungen selbst gegebenen und emotional affizierenden ‚Gründe‘ stützt, sondern sie auf eine göttliche Offenbarung zurückführt, trägt dazu bei, bis zum Ende seines Lebens beibehalten wird. Man mag sie mit dem Titel eines christianisierten Platonismus charakterisieren.“ Wie beispielsweise aus der Reflexion Nr. 7060 (vgl. AA XIX 238 20 -239 9 , von Adickes in die Phase ‚u‘, d. h. in die Jahre 1776-1778 datiert, vgl. auch Forschners frühere Studie zu den Reflexionen von 1988, bes. 369 f.) hervorgehe, wird das Christentum hierbei auf mehrere Gedanken hin - die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit, die Heiligkeit und den göttlichen Beistand - interpretiert, worauf sich auch der Religionsbegriff der Reflexionen stütze. Die vorliegende Analyse der Vorlesungen verhält sich daher komplementär zu Forschners Auswertung der Reflexionen. 77 Kühn 2015, 67. <?page no="117"?> 3.2 Gott und Moralbegründung 117 die Plausibilität moralischen Handelns zu unterminieren und ‚Moral‘ mit der einengenden ‚Anständigkeit‘ der zivilisierten Gesellschaften zu verwechseln. 78 In der Kommentierung des Baumgarten’schen lex -Traktates finden sich mehrere Argumente, mit denen die Unabhängigkeit vom Gottesbegriff untermauert wird. So können Gott und dessen arbitrium nicht die maßgebliche Beurteilungsgrundlage bilden, da zuvor verständlich sein muss, was moralische Gutheit bedeutet, wenn dies als Eigenschaft des göttlichen Urteilsschlusses aufgefasst werden soll: „[V]om arbitrio diuino kann ich selbst nicht die gehorigen begriffe der Güte haben, wenn nicht der Begriff vom Moralisch Guten vorausgeschickt würde: […] Kurz das Urteil über Gottes Vollkommenes arbitrium sezt die Untersuchung der Vollkommenheit moralis voraus.“ 79 Kant sieht hier eine Analogie zu den ‚geometrischen Wahrheiten‘, deren letzter Seinsgrund, nicht aber deren unmittelbarer Sachgrund in Gott liegt. 80 Die Begründungsfrage korrespondiert insofern mit der generellen Frage nach Gottes Wesen und Handeln, als es darum geht, inwiefern ‚Gott‘ und dessen arbitrium verständlich sein müssen. 81 Die Unabhängigkeit des moralischen Urteils betrifft allerdings nicht nur die einzelnen Handlungsnormen, sondern auch das Bestehen der moralischen Verpflichtung als solche. Andernfalls käme Gott einem schrecklichen Despoten gleich, dem man nur aus Furcht und blindem Gehorsam Folge leistet, zur Vermeidung von Nachteilen und nicht aus moralischen Gründen. 82 Obgleich die Herder-Vorlesung in der Prinzipienfrage erhebliche Differenzen zu den späteren Vorlesungen zeigt, wird Kant diese Argumente über Jahrzehnte hinweg beibehalten. Insbesondere die zuerst genannte Überlegung erinnert an das platonische Euthyphron-Argument. Auch die späteren Vorlesungen wiederholen ähnlich lautende Überlegungen. 83 M. E. sollte man jedoch die Unterschiede in den jeweiligen Begründungen nicht übersehen. Denn Kant stellt die Euthyphron-Frage 78 Vgl. Frierson 2015, 38. 79 Vgl. AA XXVII 1 9 20-24 . 80 Vgl. AA XXVII 1 9 36 -10 3 : „Ja, er ist der Grund davon aber nicht per arbitrium, sondern da er der Grund der Möglichkeit ist, so ist er auch der Materiale Grund (da in ihm alle data sind) von Geometrischen Wahrheiten, und Moralität - in ihm ist also selbst Moralität und sein arbitrium ist also nicht der Grund“. 81 Vgl. AA XXVII 1 9 28f u. 10 3-10 . 82 Vgl. AA XXVII 1 9 25-27 : „Gesetzt ich habe Gottes arbitrium gewusst, woher ist die Nothwendigkeit daß ichs soll: wenn ich nicht aus der Natur der Sache die Verbindlichkeit schon herleite - Gott wills, warum soll ichs“. 83 Vgl. etwa AA XXVII 1 136 13-15 (Powalski): „Unsre Handlungen sind nicht darum gut, weil sie Gott befohlen hat, sondern Gott hat sie darum befohlen, weil sie gut sind“; u. Stark 2004, 39 9-12 / AA XXVII 1 262 28-30 : „Es muß also eine Handlung geschehen nicht deswegen weil sie Gott will, sondern weil sie an sich selbst rechtschaffen und gut ist, und weil sie so ist, so will sie auch Gott und verlangt sie von uns.“ Stark (2004, 38) listet weitere einschlägige Stellen aus der Kaehler-Vorlesung auf. <?page no="118"?> 118 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik in den Kontext einer Problematisierung des jeweils vorausgesetzten Gottesbildes: Wenn Gottes Wille sich an rational einsichtigen Merkmalen orientiert, wird Gott nicht als willkürlich herrschender Despot angesehen und es wird nicht davon ausgegangen, dass sich die Menschen seinem Willen sklavisch beugen müssen. Vielmehr beruht dann die Erfüllung des Willen Gottes auf Einsicht und freier Anerkennung. Im Hintergrund dieses Begründungskontextes steht ein Analogie-Denken, wonach Gottes gesetzgebende Herrschaft und die menschliche Gefolgschaft in Analogie zu zwischenmenschlichen Herrschaftsverhältnissen bestimmt werden. Und hierfür ist entscheidend, ob die göttliche Regentschaft solchen Grundsätzen gehorcht, die von den betroffenen Menschen nachvollziehbar und konsentierbar sind. In den Kaehler-Collins-Vorlesungen sind es vor allem zwei Textpassagen, die sich eignen, um der inhaltlichen Argumentation gegen den Rekurs auf Gott in der Moralbegründung ansichtig zu werden: Zum einen diskutiert Kant im Zusammenhang der Kritik an den seines Erachtens ungültigen obersten Moralprinzipen auch das ‚theologische‘ Moralprinzip. Zum anderen lehnt er bei der Kommentierung des Initia -Abschnittes über den legislator den Baumgarten’schen Lehrsatz ab, dass Gott der ‚Urheber‘ ( auctor ) des Moralgesetzes sei. Ein vergleichsweise ausführliches Argument aus dem (zweiten) Moralprinzip-Abschnitt ist in der Form einer reductio ad absurdum konstruiert: „[1] Wenn das [sc. das Prinzip der Diiudication ein theologisches wäre] [,] so müssten alle Völker erst Gott erkennen, ehe sie den Begrif von den Pflichten hätten“ 84 . Daraus folgt, dass „[2] alle Völker, die keinen rechten Begrif von Gott hätten, auch keine Pflichten hätten“ 85 . Satz [2] ist Kant zufolge aber empirisch falsch, da [3a] die Völker ihre Pflichten richtig erkannten, indem sie beispielsweise die moralische Verwerflichkeit des Lügens einsahen, ohne den rechten Gottesbegriff zu haben, und [3b] sogar bei unheiligen und falschen Begriffen von Gott die rechten Pflichtbegriffe vorlagen. 86 Sofern man diese Kenntnis des Moralgesetzes nicht durch Zufall erklären will, zieht die in Satz [1] aufgestellte Behauptung also nachweislich falsche Schlussfolgerungen nach sich, weshalb wenigstens gilt, dass „die Pflichten aus einem andern Quell [als aus Gott] entlehnt seyn“ müssen. 87 Wenig später greift Kant den Gedanken der sittlichen Erkenntnis bei den ‚Völkern‘ ( τὰ ἔθνη bzw. gentes , Nebenbedeutung: Heiden) erneut auf, indem er Röm 2, 14 f. zitiert. 88 Auch die theologischen Autoritäten sind gemäß dieser 84 Vgl. Stark 2004, 61 16-18 / AA XXVII 1 277 19-20 . 85 Vgl. Z. 18 f./ Z. 21 f. 86 Vgl. Z. 20-24/ Z. 22-26. 87 Z. 25/ Z. 26 f. 88 Stark 2004, 62 14-18 / AA XXVII 1 278 7-11 . Das Argument über die Völker spiegelt die an Sokrates festgemachte, aufklärerische Debatte um die Möglichkeit von Sittlichkeit vor Chris- <?page no="119"?> 3.2 Gott und Moralbegründung 119 Auslegung also der Meinung, dass das Moralgesetz trotz Unkenntnis des göttlichen Willens den Menschen bekannt ist. Zur Ablehnung des theologischen Beurteilungsprinzips in den Kaehler-Collins-Vorlesungen gehört des Weiteren eine Art ‚entlarvender Erklärung‘, mit deren Hilfe aufgeklärt werden soll, wie man auf diese von seinem eigenen Moralprinzip abweichende Meinung verfallen konnte. Überdies kann die abweichende Position durch den Verweis auf ihre fragwürdigen Voraussetzungen entkräftet werden. Der abgelehnten Meinung liegt demnach eine unrichtige, weil analoge Deutung des imperativischen Charakters moralgesetzlicher Forderungen zugrunde: „[W]eil die moralischen Gesetze lauten: du sollst das thun, so denkt man es muß ein drittes Wesen seyn, welches das verbothen hat.“ 89 Das Phänomen imperativisch erfahrener moralischer Ge- und Verbote ist Kant zufolge jedoch komplexer zu analysieren: „[D]as moralische Gesetz ist [in der Tat] ein Befehl“ und bei dessen Forderungen kann es sich um „Gebothe des göttlichen Willens“ handeln; aber „Gott hat es gebothen, weil es ein moralisches Gesetz ist und sein Wille mit dem moralischen Gesetz übereinstimmt“. 90 Der Rekurs auf den göttlichen Willen kann kein valides Moralprinzip und Gott nicht der Grund moralischer Verpflichtung sein. Aber weil Gott als vollkommen moralisches Wesen nichts anderes als ‚Moral‘ wollen kann, kann es sich bei moralgesetzlichen Forderungen durchaus um göttliche Gebote handeln. Einige Zeilen später wird dies erkenntnistheoretisch zugespitzt: Der göttliche Wille kann weder ‚im Herzen gefühlt‘ noch aus einer Offenbarung erkannt werden. 91 Dies beruht wiederum auf einer Überlegung, die in ihrer argumentativen Struktur folgendermaßen auflösbar sein dürfte: Unter Gott versteht man ein Wesen, das einen heiligen und vollkommen moralischen Willen hat. Wie ein solcher Wille beschaffen sein muss, können wir aber nur durch das Moralgesetz erkennen. Folglich gilt: Dem Willen eines göttlich-vollkommenen Wesens ist diejenige moralische Vollkommenheit zu unterstellen, die sich aus dem moralischen Gesetz ergibt. Und ferner: Wir können Gottes Willen durch die Vernunft erkennen, nämlich indem wir ihm in höchstem Maße beilegen, was das Moralgesetz gebietet. 92 Da also Gottes Wille einerseits vollkommen moralisch ist, andererseits moralische Vollkommenheit nur ausgehend von einem Moraltus (vgl. Stark 2004, 134). Kant liegt eine Verklärung der Sitten in antiken Gesellschaften fern - Sokrates ist für ihn beispielsweise eine literarisch inszenierte Figur (vgl. Stark 2004, 97 17 u. 133 9 -134 4 / AA XXVII 1 294 7 u. 316 34f ) -, andererseits steht für ihn aber außer Frage, dass das Wissen um das Moralgesetz auch außerhalb des Christentums gegeben ist. 89 Stark 2004, 61 27-29 / AA XXVII 1 277 28-30 . 90 Z. 29-33/ Z. 32-34. 91 Vgl. Stark 2004, 62 13-16 / AA XXVII 1 278 7-9 . 92 Stark 2004, 62 18 -63 2 / nicht bei Collins. <?page no="120"?> 120 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik prinzip, das auf innere Handlungsmerkmale rekurriert, bestimmt werden kann, müssen wir davon ausgehen, dass Gott nur das will, was aufgrund vernünftiger Einsicht als moralisch ausgewiesen werden kann. Andernfalls erscheint Gott als ein Despot, dem man nicht aus Einsicht in die moralische Richtigkeit, sondern aus ‚Furcht und Schrekken‘ Folge leistet, wodurch das ‚Herz‘ aber sicher nicht gebessert wird. 93 Wie in den Ethikvorlesungen zehn Jahre zuvor wird hier eine Korrespondenz zwischen der begründungstheoretischen Relevanz des Gottesbegriffes und dem Gottesbild hergestellt. Dazu passt, dass Gott gemäß der Sektion zum Thema „Gesetzgeber“ nicht als „Urheber“ des Moralgesetzes angesehen werden soll. Kant führt hier zum einen die von Herder bekannte Analogie mit mathematischen Urteilen an: „Alsdenn ist dieses Wesen ein Gesetzgeber aber kein Urheber. Eben so wie Gott davon kein Urheber ist, daß ein Triangel drey Winkel hat.“ 94 Zum anderen würde der Urheber-Titel insofern mit einem positivistischen Verständnis des Moralgesetzes einhergehen, als von ‚Urheber‘ immer dann gesprochen wird, wenn die betreffenden Normen nur ‚zufällig‘, im Sinne von ‚logisch möglich, aber nicht notwendig‘, sind. Bei moralischen Gesetzen handelt es sich aber nicht nur um Möglichkeiten, von denen manche durch den göttlichen Urheber positiviert und dadurch überhaupt als moralische Gesetze ins Dasein gerufen würden. Vielmehr sind sie ‚praktisch nothwendig‘: Denn „wären sie nicht nothwendig, so könnte auch seyn, daß die Lüge eine Tugend wäre.“ 95 Powalski dokumentiert die Ablehnung des sog. ‚theologischen‘ Moralprinzips unter anderem in der Kommentierung des lex -Abschnittes. Die bereits rekonstruierten Argumente werden dort erneut aufgegriffen. Darüber hinaus findet sich dort eine subtile Überlegung, die auf eine Widersprüchlichkeit im ‚theologischen‘ Moralprinzip hinweist. Demnach stellt der Gehorsam gegenüber Gott, der in diesem Moralprinzip zum Grundsatz erhoben wird, selbst eine moralische Verpflichtung dar. Mithin wird in ihm der deontische Charakter der im Begründungsprinzip eingeschlossenen Forderung - nämlich dass die Menschen zum Gehorsam gegenüber Gott verpflichtet sind - bereits vorausgesetzt. Das Moralisch-Verpflichtetsein als solches kann daher nicht allein durch den göttlichen Willen konstituiert werden. 96 Auch dem Vorlesungszeugen Mrongovius II kann man entnehmen, dass der Rekurs auf Gott in der Moralbegründung ungültig ist. Erläutert wird dies nicht nur über die aus Kaehler-Collins bekannten Argumente, sondern auch über eine präzisierende Analyse des Phänomens moralischer Verpflichtung, die an den 93 Vgl. Stark 2004, 63 27 -64 8 / nicht bei Collins. 94 Stark 2004, 79 27-29 / AA XXVII 1 283 13f . 95 Z. 20-22/ Z. 7 f. 96 Vgl. AA XXVII 1 136 4-10 . <?page no="121"?> 3.2 Gott und Moralbegründung 121 generellen moralphilosophischen Standpunkt der Vorlesung anschließt: Verpflichtetsein beinhaltet zwar das Moment, nicht nach eigenem Willen, sondern nach dem Willen eines Anderen handeln zu müssen. Bei diesem Anderen handelt es sich jedoch nicht um den Willen eines vom Menschen verschiedenen, göttlichen Wesens, sondern um den eigenen Willen des Menschen, sofern er einer verallgemeinerbaren Regel folgt. Dieser Wille kann dem privaten Wollen gegenüberstehen, was erklärt, weshalb moralische Verpflichtungen in der dargestellten Weise erfahren werden. 97 Das verallgemeinerte Wollen bildet ein ‚Reich der Zwecke‘. Die Menschen - gleichzeitig Gesetzgeber und Untertanen - beabsichtigen darin ein ‚allgemeines System der Zwecke‘. Gott ist das ‚Oberhaupt‘ dieses Reiches. 98 Normen, die allein auf den göttlichen Willen zurückgeführt werden, bezeichnet Kant in der Mrongovius-II-Vorlesung als „bloße statuta (Satzungen)“, da sie nur auf einer arbiträren Setzung beruhen und auch nur dadurch ihre Verbindlichkeit erhalten. 99 Wie schließlich Vigilantius überliefert, ändert sich Kants Position auch in der 1793/ 94 vorgetragenen Vorlesung nicht. Die Einsicht in eine moralische Norm sowie die daraus sich ergebende Verpflichtung geht einer möglichen göttlichen Positivierung voraus. 100 Auch in dieser späten Vorlesung wird auf die Zusammenhänge zwischen der begründungstheoretischen Position, dem Gottesbild und der dadurch hervorgerufenen Gott-Mensch-Beziehung reflektiert. 101 Wie bei Powalski interpretiert Kant im Vigilantius-Text den Dekalog als (moralische) ‚Naturgesetze‘, während er insbesondere die kultischen Vorschriften aus den fünf Büchern Mose - wie etwa das „Verbot, ein Thier mit gespaltenen Klauen zu essen“ - als ‚statutarische‘ Gesetze bezeichnet, da sie seines Erachtens nicht vernünftig einsichtig sind, sondern ausschließlich auf einer göttlichen Willensäußerung beruhen. 102 Eine solche Interpretation des Dekalogs impliziert eine zweiteilige Hermeneutik der biblischen Offenbarung, wobei vernunft-, weil moralitätskonforme von nicht vernünftig ausweisbaren Gehalten unterschieden werden. In der RGV erscheint eine ähnliche Offenbarungshermeneutik in der Vorrede zur zweiten Auflage und an weiteren Stellen der Schrift. Die Argumentation lässt jedoch auch eine Weiterentwicklung bereits früher verwendeter Überlegungen erkennen. So führt Kant bei der Kommentierung 97 Vgl. AA XXIX 1,1 627 13-20 . 98 Vgl. AA XXIX 1,1 629. 99 Zitat: AA XXIX 1,1 638 8 , vgl. 627 25-27 . Der Begriff erscheint auch bereits in Kaehler-Collins (Stark 2004 53 28f / AA XXVII 1 273) und bei Powalksi (bspw. AA XXVII 1 173). 100 Vgl. AA XXVII 2,1 529 25-32 . 101 Vgl. AA XXVII 2,1 546 13-27 : Weder ist Gott ein ‚Despot‘ noch der Mensch ein ‚Sklave‘ Gottes. 102 Vgl. AA XXVII 2,1 510 f., Zitat: 511 5f . <?page no="122"?> 122 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik der legislator -Paragrafen aus, dass aus dem Dasein des Menschen als göttliches Geschöpf keine Verpflichtung gegenüber dem Schöpfer folgt. Auch die Verpflichtungskraft moralischer Normen wird nicht durch das Schöpfersein Gottes konstituiert. 103 Im Vergleich zu den früheren Vorlesungen fällt an dem durch Vigilantius dokumentierten Gedanken die große Zurückhaltung auf, mit der hier über die Existenz Gottes gesprochen wird. Kant formuliert in Bezug auf den göttlichen Gesetzgeber: „Daher widerstreitet es auch der Vernunft nicht, die Möglichkeit der Existenz Gottes in dieser Rücksicht anzunehmen “. 104 In einer solchen Formulierung klingt insofern die Erkenntniskritik der KrV an, als nur von einer ‚Annahme‘ die Rede ist, die sich auf die ‚Möglichkeit‘ der Existenz Gottes richtet, und diese Annahme außerdem auf die praktische Hinsicht eingeschränkt wird, derzufolge sie wenigstens nicht vernunftwidrig ist. Wie der Gesetzgeber-Kommentar bei Vigilantius dokumentiert, wird hier also nicht nur in puncto Moralbegründung der Rekurs auf Gott kritisiert, sondern bereits die Behauptung von Gottes Existenz problematisiert. 105 Man kann zusammenfassen: Über die Jahrzehnte hinweg war Kant bemüht, seinen Studenten klarzumachen, dass Gott bei der Begründung moralischer Normen keine Rolle spielt. Trotz wechselnder begründungstheoretischer Standpunkte muss das Urteil über moralisch ‚richtig‘ bzw. ‚falsch‘ seines Erachtens anders gefällt werden, nämlich durch die Berücksichtigung von intrinsischen Merkmalen, die mit der Handlung als solcher gegeben sind. Umso mehr überrascht es, dass in den Vorlesungen dennoch die Wichtigkeit Gottes für die Moral betont wird. Oftmals im gleichen Atemzug mit der Ablehnung des ‚theologischen Moralprinzips‘ stellt Kant die positive und förderliche Bedeutung des Gottesbegriffes heraus. Die Vorlesungen halten hierbei eine Reihe von Formulierungen und Begriffen bereit: Gott verleihe der Moral ‚completudinem‘. Gott fungiert als ‚Zeuge‘ für das moralische Handeln, der die Gesinnungsqualität wahrzunehmen vermag und hierdurch den Menschen in seinem moralischen Bemühen bestärkt. Die Religion halte ‚sinnliche Mittel‘ bereit, die helfen, die Gesinnung praktisch zu machen. Man müsse zwischen diiudicatio und executio sowie zwischen ‚objektiven‘ und ‚subjektiven‘ Gründen der Willensbestimmung unterscheiden. Moralisches Handeln ohne die Vorstellung einer Belohnung oder eines Bezuges zur 103 Vgl. AA XXVII 2,1 545 11-14 . 104 AA XXVII 2,1 545 14-16 (Hervorhebungen: Reich). 105 Vgl. AA XXVII 2,1 545 11-16 : . „Daher widerstreitet es auch der Vernunft nicht, die Möglichkeit der Existenz Gottes in dieser Rücksicht anzunehmen; denn sonst reicht die Vernunft zu, sich diese als Schöpfer der Gesetze zu denken, und daraus, daß Gott nur als Schöpfer dient, folgt auch eine verbindende Kraft der Gesetze nicht, da die Existenz des Menschen allein ein factum ist, das keine Verbindlichkeit produzirt.“ <?page no="123"?> 3.2 Gott und Moralbegründung 123 Glückseligkeit wäre eine ‚Chimäre‘, d. h. ein realitätsfernes Hirngespinst. Einige dieser Formulierungen sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden, bevor in den nächsten Unterkapiteln zwei umfangreichere Argumentationsstränge herausgearbeitet werden. Von einer ‚Komplettierung der Moral‘ durch die Religion ist bereits in den Herder-Notaten die Rede. Die Vorlesung lehnt sich hier der Sache nach sehr stark an Baumgarten an, indem sie darlegt, dass das moralische Handeln unvollständig wäre oder der Vollkommenheit ermangelte, wenn es nicht alle Verbindlichkeitsgründe und so auch das göttliche arbitrium berücksichtigte. 106 Wie Powalski und die Kaehler-Collins-Vorlesungen bezeugen, behält Kant die completitudo -Formulierung noch lange Jahre bei. 107 Offenbar ändert sich aber die hierfür angeführte Begründung. Denn der Kontext der betreffenden Formulierungen in den Kaehler-Collins-Vorlesungen deutet auf die Argumentationskomplexe hin, die in den folgenden Unterkapiteln erhoben werden. Für die ‚sinnlichen‘ Mittel, welche die Religion bietet und die den Menschen in seinem moralischen Lebenswandel unterstützen können, finden sich in den Vorlesungen eher wenig Belege. Herder notiert, dass die vom moralischen Gefühl unterschiedenen sinnlichen Beweggründe hilfreich wären, um der Moralität näher zu kommen, und dies auch das Verhältnis der Erziehung und der Religion auf die Moral betreffe. 108 In Kaehler-Collins erscheint der fragliche Zusammenhang etwa im Rahmen einer Problematisierung des Betens: In der Religion gibt es verschiedene Praktiken, die zwar selbst ungeeignet sind, Gott einen Dienst zu erweisen, aber dennoch „sinnliche Mittel“ darstellen und „Vorbereitungen und Uebungen“ bilden, „um unsere Gesinnungen practisch zu machen.“ 109 Wie in Unterkaptiel 3.5 herausgearbeitet werden soll, besteht seit der Herder-Zeit der eigentliche Gottesdienst für Kant allein in der ‚innerlichen‘ Religion, der Religion der Gesinnung. Äußerliche Handlungen (wie bspw. Wallfahrten) können daher allenfalls als Mittel für diese eigentlich-innerliche Religion dienen. Trotz dieser religionskritischen Stoßrichtung bei der Kommentierung des religio -Traktates hält Kant aber fest, dass diese sinnlichen Mittel durchaus hilfreich und förderlich für die Moral sein können. Offenbar geht er davon aus, dass es eine religiöse Praxis gibt, 106 Vgl. AA XXVII 1 10 16-22 : „Moralität ist incomplet, wenn nicht alle Gründe der Verbindlichkeit genommen werden: und alsdenn ist unserer Moralität das arbitrium diuinum ein Grund der äußern Verbindlichkeit; […] incomplete wird also unsere moralische vollkommenheit wenn sie blos aus der innern Moralität entsteht, und ohne arbitrium Gottes betrachtet wird.“ Vgl. auch Frierson 2015, 42. 107 Vgl. AA XXVII 1 164 u. 170 (Powalski), Stark 2004, 20 17 u. 120 23f / AA XXVII 1 252 u. 308. 108 Vgl. AA XXVII 1 15. 109 Stark 2004, 152 24-26 . <?page no="124"?> 124 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik deren moralische Bedeutung darin besteht, das eigentlich moralische Handeln zu unterstützen. In der Charakterisierung dieser religiösen Handlungen kann man eine Nähe zu den sog. ‚motiva subsidiaria‘ aus den Kaehler-Collins-Vorlesungen sehen, weil in beiden Fällen die delikate Frage diskutiert wird, inwiefern das moralische Handeln durch moralanaloge Motive und Handlungen unterstützt werden kann. 110 Auch wenn die reinen Ansprüche der Moralität bekannt sind und geachtet werden, gehört es für Kant zur conditio humana , dass die Einsicht in die sittliche Gutheit möglicherweise nicht ohne Weiteres handlungswirksam wird. Die motiva subsidiaria sind dann zur Hilfe zu nehmen, ‚damit der Verstand wieder herrschen‘ kann. Das spezifische Phänomen, dem die Hilfe gilt, wird als inertia , als Trägheit beschrieben. Es handelt sich um gewisse ‚sinnliche Hindernisse‘, die durch die zusätzlichen Anreize aus dem Weg geräumt werden können. Auch wenn der Text nichts dazu sagt, was man sich unter diesen Mitteln und deren Wirkweise vorzustellen hat, können wir der zitierten Stelle wenigstens entnehmen, dass es darum geht, den Menschen in seiner sinnlichen Situiertheit so zu manipulieren, dass diese einer vernunftgeleiteten Selbstbestimmung nicht im Wege steht. Vor dem Hintergrund der kantischen Ethik, wie sie seit Mitte der 1770er Jahre in den Vorlesungen dokumentiert ist, ergibt sich hieraus jedoch ein Kohärenzproblem. Denn eine Unterstützung durch sinnlichkeitsmanipulierende Handlungen oder zusätzliche Motive läuft Gefahr, die Tugend durch moralanaloges Verhalten zu ersetzen und damit die moralische Richtigkeit im eigentlichen Sinne aufzuheben. Kants Nachdenken über die moralische Relevanz von Religion jenseits der Begründungsfrage scheint bei genauerer Betrachtung also nicht frei von Spannungen zu sein. Die in den Vorlesungen belegte Unterscheidung zwischen principium diiudicationis und principium executionis hat in der Forschung einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen. 111 Die tatsächliche Überlieferungslage ist jedoch weniger umfangreich, als die zahlreichen Bezugnahmen auf die Stichworte insinuieren. Die 110 Vgl. Stark 2004, 111 26 -112 6 / AA XXVII 1 303 10-22 : „Alle Anreitzungen und sinnlichen Antriebe müssen bey den moralischen Lehren selbst nicht angebracht werden, sondern nachdem die Lehren der Sittlichkeit gantz rein gefaßt sind, und nachdem man sie hat hochachten und schätzen lehren denn können solche Triebfeder ins Spiel gebracht werden nicht um deswillen, damit die Handlung deswegen geschehe, denn sonst wäre sie alsdenn nicht mehr moralisch, sondern sie sollen nur als motiva subsidiaria dienen, weil unsere Natur in Ansehung solcher intellectuellen Begriffen, die für den Verstand sind, gegen die Triebfeder inertiam besitze, wenn diese sinnlichen Triebfeder [sic! ] aber ihre Würkung gethan haben, so müssen die echten und genuin moralischen BewegungsGründe wieder Platz einnehmen; sie dienen also nur zur Wegräumung grösserer sinnlichen Hindernisse, damit der Verstand wieder herrschen könne“. 111 Vgl. bspw. Patzig 1986, Schwaiger 1999, Santos Herceg 2000 sowie Kühn 2004 u. 2015. <?page no="125"?> 3.2 Gott und Moralbegründung 125 Unterscheidung ist bei Herder nicht belegt. Eine definitorische Exposition der Gegenüberstellung findet sich in den Ethikkollegien ab Mitte der 1770er Jahre im zweiten Moralprinzip-Abschnitt. Kant eröffnet den Abschnitt mit der Feststellung, dass bei der Diskussion des Moralprinzips zwischen zwei Fragen unterschieden werden müsse, nämlich zum einen die Frage nach der Beurteilung von ‚sittlich gut oder nicht‘ ( principium diiudicationis ) und zum anderen die Frage danach, was dazu ‚bewegt‘, dem Moralgesetz gemäß zu handeln ( principium executionis ). 112 Sachlich entsprechende und terminologisch teilkongruente Unterscheidungen finden sich bei Powalksi und Mrongovius II. 113 Die Vorlesungen verwenden hierfür auch das Begriffspaar ‚obiectiv‘ und ‚subiectiv‘: Während der objektive Grund für die Ausführung einer Handlung in der rationalen Billigung derselben besteht, bezeichnen die subjektiven (d. h. im menschlichen Handlungssubjekt liegenden) Gründe „dasjenige[,] was mich antreibt, das zu thun, wovon der Verstand sagt, ich soll es thun“. 114 Beim göttlichen Wesen und bei Engeln fallen objektiver und subjektiver Handlungsgrund hingegen zusammen. Die bedeutsame Frage nach dem Ausführungsprinzip stellt sich folglich nur in Bezug auf ein rational-sinnliches Hybridwesen, wie es der Mensch ist. Häufiger als bei dieser handlungs- und motivationstheoretischen Fragestellung erscheint der executio -Begriff aber in einem anderen Problemkontext, nämlich in Bezug auf die Relevanz Gottes für die Moral. In allen Ethik-Vorlesungen wird Gott als der executor der Moral bezeichnet. 115 Wenn in den Vorlesungen ei- 112 Vgl. Stark 2004, 55 24 -56 14 , bes. 56 6-10 : „Wenn die Frage ist, was ist sittlich gut oder nicht, so ist das das principium der Diiudication, nach welchem ich die Bonitaet und Pravitaet der Handlung beurtheile. Wenn aber die Frage ist, was bewegt mich diesen Gesetzen gemäß zu leben, so ist das das principium der Triebfeder.“ Ähnlich der entsprechende Collins-Text: AA XXVII 1 274 22 -275 8 . 113 Vgl. AA XXVIII 134 20-22 (Powalski), wo zwischen ‚dem Gesetz der Triebfedern‘ (Begierden und Neigungen) und dem ‚Gesetz der Bewegungsgründe‘ unterschieden wird; AA XXIX 626 2-19 (Mrongovius II): „Wenn die Vernunft durch das Moral Gesetz den Willen bestimmt, so hat sie die Kraft einer Triebfeder, […]. Sie hat denn gesetzgebende und auch executive Gewalt. Die avtocratie der Vernunft den Moral Gesetzen gemäß den Willen zu bestimmen, wäre dann das moralische Gefühl. […] Das moralische Gefühl gehört nicht zur Gesezgebung sondern ist das Fundament der Execution des Gesezes“. 114 Vgl. Stark 2004, 56 12f / AA XXVII 1 274. 115 Vgl. Stark 2004, 62 1-9 / AA XXVII 1 277 36 -278 5 : „ In der Exekution muß zwar freylich ein drittes Wesen seyn, das da nothiget dasjenige zu thun, was moralisch gut ist. […] [I]n der Ausübung wären sie [sc. die moralischen Gesetze] leer, wenn kein drittes Wesen uns dazu nicht nöthigen möchte. Man hat also mit Recht eingesehen, daß ohne einen obersten Richter alle moralischen Gesetze ohne Effekt wären, alsdenn wäre keine Triebfeder, keine Belohnung und keine Bestrafung.“ AA XXVII 146 35-37 (Powalski): „Gott muß durchaus nicht ein Urheber der moralischen Gesezze seyn. Wir wißen zwar daß er ein executor der moralischen Gesezze sey“. Vgl. AA XXIX 1,1 628 3-6 (Mrongovius II): „[A]ber, wenn man Religion vor der Moral voraussetzte; so wäre der erste Satz: gehorche dem gött- <?page no="126"?> 126 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik nerseits mit der diiudicatio executio -Unterscheidung das Motivationsproblem der kantischen Ethik adressiert und andererseits der executio -Begriff mit Gott in Zusammenhang gebracht wird, liegt es nahe, in den Vorlesungen eine Lösung des Motivationsproblems angelegt zu sehen, wonach der Mensch zwar selbstständig urteilen kann, für die Handlungsmotivation allerdings auf die Vorstellung Gottes angewiesen ist. Ein besonders prägnantes Beispiel für eine solche Interpretationsweise stellt die bereits genannte Arbeit von Santos Herceg dar. Für ihn weist die Motivationstheorie der Vorlesungen insofern wesentliche Unterschiede zur Forderung nach einem Handeln aus Achtung vor dem Gesetz in der GMS und der KpV auf, als in den Vorlesungen „die Hoffnung auf Glückseligkeit die Triebfeder der Moral“ 116 sei. Dementsprechend komme den Vorlesungen zufolge der Religion eine „entscheidende Rolle“ zu, da sie (bzw. der in ihr angesprochene Gott) das summum bonum ermögliche und damit die erforderliche Motivation für das moralische Handeln erzeuge. 117 Folgt man M. Kühns Interpretation, so scheint der Kant der Vorlesungen den ‚Stein der Weisen‘ in der executio -Frage gefunden zu haben, nämlich in der religiösen Vorstellung eines nötigenden und belohnenden Gottes bzw. eines von Gott eingepflanzten moralischen Sinns. 118 Auffällig ist jedoch, dass die Textstellen selbst nur wenig über den genauen Inhalt der Titulierung aussagen und auch nur knappe Andeutungen zu deren Begründung geben. Außerdem wird der Gedanke einer göttlichen Moral-Exekution nirgendwo mit dem zuerst genannten, motivationstheoretischen Diskussionsfeld vermittelt. Der Text stellt weder einen Zusammenhang zum andernorts behandelten motivationstheoretischen executio -Begriff her noch befragt er das executor -Amt Gottes auf mögliche Konsequenzen für die Handlungsmotivation auf Seiten des Menschen oder für die am Stichwort ‚moralisches Gefühl‘ angerissene Handlungstheorie. Die Vorlesungsthese von der executio -Relevanz Gottes kann daher nicht ohne Weiteres und nicht ausschließlich dadurch rekonstruiert werden, dass man sich auf die motivationstheoretische Unterscheidung zwischen Diiudikations- und Exekutionsprinzip stützt. Sie verweist vielmehr auf ein vielschichtiges Geflecht von Überlegungen, von denen die wichtigsten in den folgenden Kapiteln herausgearbeitet werden. lichen Willen, damit aber wird die ganze Moral verdorben. Du erkennst die Nothwendigkeit der Moral und mußt auch wissen daß Gott der oberste executor der Gesetze ist“. AA XXVII 2,1 530 13-18 (Vigilantius): „Die verbindende Kraft des Gesetzes liegt also in dem Princip, so die Vernunft erkennt: dagegen kann und muß man dieser hypothese den Sinn beylegen, daß Gott als ein moralisches und allgewaltiges Wesen der höchste executor aller inneren und äußeren moralischen Gesetze sey, daß er ihrer Kraft diejenige Wirksamkeit beylegt, die erforderlich ist, um Kraft zu äußern“. 116 Santos Herceg 2000, 123. Siehe oben S. 95 f. 117 Vgl. Santos Herceg 2000, 133. 118 Vgl. Kühn 2004, XXV-XXXI, u. 2015, 64-66. <?page no="127"?> 3.3 Gott und das summum bonum 127 3.3 Gott und das summum bonum Die in den Vorlesungen greifbare Formulierung, dass Gott die Moral ‚exekutiere‘, steht mit der Lehre vom ‚höchsten Gut‘ und mit den Kommentaren zu den ‚Belohnungen‘ und zu den ‚Bestrafungen‘ in Zusammenhang. Die Erhebung der Ausführungen zu diesen Themen erlaubt es, ein inhaltsreicheres und profilierteres Verständnis der Formulierung zu entwickeln und damit einen wichtigen Reflexionsstrang zu identifizieren, mit dessen Hilfe Kant die moralische Relevanz von Religion durchdenkt. Grob skizziert stellt sich der Zusammenhang wie folgt dar: Weil erstens zum höchsten Gut - d. h. zur Leitidee für das Gute, auf das sich alles moralische Handeln richtet - Glückswürdigkeit und Glückseligkeit gehören, aber nur Gott eine Zuteilung von Glückseligkeit gemäß der Glückswürdigkeit bewerkstelligen kann, und weil es zweitens nur gerecht ist, dass moralisches Handeln Belohnungen oder Bestrafungen nach sich zieht, für manche Handlungen aber nur Gott die Vergeltung leisten kann, ist es Gott, der die moralisch erforderliche Ordnung herstellt. Gott fungiert als executor der Moral, indem er eine Ordnung ins Sein setzt und sichert, die auch moralischen Gesichtspunkten gehorcht. Eine besonders aussagekräftige Textpassage für die summum bonum -Lehre der Vorlesungen liegt in der Einleitung vor, die den Vorlesungen ab den 1770er Jahren vorangestellt ist. Der Abschnitt ist unabhängig von Baumgarten und stellt eine kantische Eigenkomposition dar. Kant gibt hier einen Überblick über die ‚moralischen Systemata der Alten‘. Die antiken Moralphilosophen und Ethikschulen (Platon, Kyniker, Epikur und Stoa) werden hier unter dem systematisierenden Gesichtspunkt dargestellt, welche Konzeption des höchsten Guts nach Kants Dafürhalten in der jeweiligen Moralphilosophie vertreten wird. Da das höchste Gut für Kant durch Wohlverhalten bzw. Tugend und Glückseligkeit konstituiert wird, fokussiert sich die Darstellung insbesondere auf die Frage, ob und wie die verschiedenen Lehrsysteme diese beiden Bestandteile integrieren. Den Abschluss macht das ‚Ideal des Evangelii‘. Dessen systematische Überlegenheit liegt darin, dass es zum einen die ‚Heiligkeit‘, d. h. die sittliche Vollkommenheit zum Maßstab nimmt, und zum anderen im Gegensatz zu den alternativen summum bonum -Konzeptionen Sittlichkeit und Glückseligkeit unter Wahrung ihrer Heterogenität zu verbinden vermag. 119 Zu Beginn des Abschnittes wird das höchste Gut zunächst rein formal bestimmt. Es stellt ein ‚Ideal‘ dar und als solches ein überhaupt nur denkbares 119 Man kann sich diese dreiteilige Gedankenführung an dem entsprechenden Abschnitt der Kaehler-Collins-Vorlesungen veranschaulichen: (1) Stark 2004 9 25 -13 15 / AA XXVII 1 247 15 - 248 13 ; (2) 13 16 -17 27 / 248 13 -250 14 ; (3) 18 1 -20 22 / 250 14 -252 5 . <?page no="128"?> 128 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik Maximum. Dieses Maximum gibt auch das Muster ab, nach dem ein Gegenstand beurteilt werden kann. Der hier zu bewertende Gegenstand ist der Begriff des ‚Guten‘, das im (moralischen) Handeln verfolgt wird. Das summum bonum bildet daher „eine MusterIdee, ein Urbild aller unsrer Begriffe[] vom Guten “. 120 Erst in einem zweiten Schritt findet eine inhaltliche Bestimmung statt, indem versucht wird, ‚Glückseligkeit‘ und ‚Glückswürdigkeit‘ als die notwendigen Bestandteile des summum bonum aufzuweisen. Die Begründung hierfür lässt mehrere Argumente erkennen. Das erste und begrifflich strengste wird mit einer Prämisse eröffnet, die auf den Gedanken der ‚vollkommensten Welt‘ referiert. Dieser fungiert insofern als terminus medius , als die vollkommenste Welt im ersten Satz mit dem höchsten (erschaffenen) Gut identifiziert und im anschließenden Satz dargelegt wird, dass zu dieser vollkommensten Welt die beiden genannten Bestandteile gehören. In anderen Worten: Die vollkommenste Welt, die das höchste (erschaffene) Gut bildet, liegt nur vor, wenn die Geschöpfe glückselig sind und wenn sie dieser Glückseligkeit würdig sind. 121 Vier Ideale sind es, die Kant in der Geschichte der antiken Moralphilosophie meint ausmachen zu können und die er im Blick auf den entwickelten summum bonum -Begriff darstellt: Zum einen das nur erwähnte und als ‚fanatisch‘ abgetane Ideal Platons, wo das höchste Gut in der Gemeinschaft des Menschen mit dem höchsten Wesen gesehen wird, und zum anderen das Ideal der naturgegebenen Einfachheit bei den Kynikern, das epikureische einer durch Klugheit erzeugten Glückseligkeit und das stoische der in der Sittlichkeit bestehenden Glückseligkeit. Für Kants eigene Auffassung vom höchsten Gut instruktiv sind vor allem die Überlegungen, mit denen er diese überlieferten Ideale als invalide verwirft. Dem Text zufolge wird in der Naturromantik des Kynikers, der - ähnlich wie Rousseau, „der feine Diogenes“ 122 - eine Rückkehr zum bedürfnislosen Naturzustand fordert, eine viel zu positive Einschätzung der menschlichen Natur vorausgesetzt. Von Natur aus hat der Mensch zwar keine ‚Laster‘, aber doch den 120 Stark 2004, 11 5f / AA XXVII 1 247 22-23 (Hervorhebung: Reich). 121 Vgl. Stark 2004, 11 8-10 / AA XXVII 1 247 24-27 . Die weiteren, argumentativ weniger stringent aufgebauten Begründungsansätze verzichten auf die Unterscheidung zwischen höchstem Gut und vollkommenster Welt: Es widerspräche der Vernunft anzunehmen, dass alle Menschen unabhängig von ihrer moralischen Qualität glückselig würden, weshalb nur beides zusammen als höchstes Gut anzunehmen sei. Wie die antiken Ethiker sahen, beruht die Glückseligkeit auf dem rechten, d. h. durch den guten Willen gesteuerten Gebrauch der gegebenen Güter, weshalb die moralische Vollkommenheit des Willens eine Voraussetzung für die Glückseligkeit darstellt. Umgekehrt läge kein höchstes Gut vor, wenn die Welt voll von der Glückseligkeit würdigen Geschöpfen wäre, die aber immerzu Kummer und Not litten. 122 Stark 2004, 14 20f / AA XXVII 1 248 38 . <?page no="129"?> 3.3 Gott und das summum bonum 129 ‚Hang‘ zu ihnen. Es ist also nicht die Natur , sondern die Kunst , die das höchste Gut unter den tatsächlichen Bedingungen der conditio humana herbeiführen kann. Daher sind die Konzeptionen der Epikureer und Stoiker in dem ihnen gemeinsamen Ansatz, die Verfolgung des höchsten Gutes zu einer ‚Sache der Kunst‘, d. h. der Erziehung und der kontinuierlich bewusst-sittlichen Lebensführung, zu machen, grundsätzlich realitätsnäher. In der Art und Weise, wie das höchste Gut zum Gegenstand einer moralisch gesteuerten Lebensführung gemacht wird, erweisen sich jedoch sowohl das Ideal des Epikureismus als auch das der Stoa als defizitär. Denn weder die epikureische Degradierung von Tugend zu einem Mittel der Glückseligkeit noch die stoische Gleichsetzung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit wird der Komplexität des höchsten Gutes gerecht. Beide Ethikschulen (und ihre neuzeitlichen Epigonen) machen den Fehler, die zwei verschiedenartigen ‚Prinzipien‘ des höchsten Gutes auf jeweils eines dieser Prinzipien zu reduzieren. 123 Die zentrale inhaltliche Anforderung an die Konzeption des summum bonum besteht also darin, die Heterogenität von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit zu wahren und dennoch beide Elemente zu verbinden. Nur eine Lehre, die beide Elemente verbinden kann, ohne deren jeweilige generische Identität aufzulösen, kann daher als angemessene Konzeptualisierung des höchsten Gutes für die menschliche Praxis fungieren. Dies leistet aus Kants Sicht nur das christliche Ideal - indem es allerdings auf das Wirken Gottes Bezug nimmt und mit der Möglichkeit rechnet, dass die Glückseligkeit erst im Jenseits realisiert wird. Um die Verbindung der beiden heterogenen Elemente geht es auch in den entsprechenden Abschnitten der späteren Vorlesungen. In Mrongovius II wird die Heterogenität von Tugend und Glückseligkeit sogar ausdrücklich so benannt. 124 Zudem erlaubt eine nur in dieser Vorlesung vorgenommene Zuschreibung der ‚Glückseligkeit‘ zu Gott, den hier verwendeten Begriff näher zu charakterisieren: Der diesseitige Mensch kann demnach nicht glückselig sein, da (Glück-) Seeligkeit eine Zufriedenheit bezeichnet, die sich unabhängig von kontingenten Umständen und dauerhaft einstellt, der Mensch in seinem Wohlbefinden aber von vielem abhängig ist. 125 Auch bei Vigilantius wird explizit festgehalten, dass nur die Religion vermittelst des Gottesbegriffes eine solche Verbindung von 123 Vgl. Stark 2004, 17 1-11 / AA XXVII 1 249 31 -250 1 . Vgl. auch den Kommentar von Schmucker zur Stelle (1961, 313-315). 124 Vgl. AA XXIX 1,1 600 35f : „Sie [Tugend und Glückseligkeit] sind beide heterogen und haben also beyde ihre besondere Quelle“. Vgl. auch Timmermann 2015, 81. 125 Vgl. AA XXIX 1,1 600 11-15 : „Seeligkeit ist die Zufriedenheit, die von keiner äußeren Ursache abhängt, und diese gehört allein Gott zu. Der Mensch ist nicht von der Art; er ist ein abhängiges Wesen: Er fühlt die Uebel und Trübsale wohl, wenn er gleich sich der größten Tugend bewußt ist.“ <?page no="130"?> 130 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik Glückseligkeit und Tugend vorstellen kann, die die Heterogenität beider Elemente zur Geltung bringt. 126 Ausgehend von dem, was bereits dargestellt wurde, dürfte dieser Hintergrund des executor -Amtes Gottes zu einer Rückfrage führen: Läuft die von Kant unzweifelhaft favorisierte Vorstellung einer göttlichen Vergeltung für das Wohlbzw. Fehlverhalten nicht dem Handeln aus einem moralischen Gefühl heraus bzw. der geforderten moralischen ‚Bonität‘ zuwider? In der Tat lassen die Quellen erkennen, dass Kant derartige Bedenken trägt und die genannten Gefahren als Perversionen moralischen Handelns ansieht. Wie schon die Herder-Notate bezeugen, ist die Aussicht auf Strafen und Belohnungen, die das physische Gefühl beeindruckt und auf diese Weise ein gewisses Verhalten hervorruft, unvereinbar mit dem genuin moralischen Gefühl. Darüber hinaus nimmt dem Text zufolge auch die Religion Schaden, wenn der (moralgesetzliche) Wille Gottes nur aus Eigennutz erfüllt wird, denn wie bereits dargestellt implizierte ein solches Verhalten die Vorstellung eines mit Hilfe von Bestrafung und Gunsterweis herrschenden Despoten-Gottes. 127 In den späteren Vorlesungen wird darüber hinaus die Befürchtung geäußert, dass die Heranziehung von Strafe oder Lohn insofern den Charakter des Menschen verdirbt, als hierdurch eine ‚Lohnmoral‘ oder ein ‚niedriger Charakter‘ ausgebildet wird. Kant nennt diese Charakterprägung auch ‚indoles servilis‘, was schließlich auch Aufnahme in die RGV findet. Die Bezeichnung deutet darauf hin, dass der Grund für die Aburteilung dieser Charakterprägung in der ‚knechtischen‘ Unfähigkeit liegt, das eigene Handeln frei, d. h. nicht als ‚Sklave‘ der gegebenen Neigungen, sondern ausschließlich aufgrund der moralgesetzlichen Gesolltheit zu steuern. 128 Außerdem gefährdet die Instrumentalisierung des Handelns im Blick auf die Belohnung bzw. Bestrafung auch die Dauerhaftigkeit des gesollten Handelns, da dies sogleich unterlassen wird, wenn die Vergeltung ausbleibt oder ihre Eindrücklichkeit verliert. Hierdurch werden die Täuschung und ein minimalistisches Strafvermeidungsverhalten befördert, was beispielsweise dazu führen kann, nach einem unmoralischen Lebenswandel erst gegen Lebensende eine Bekehrung vorzunehmen, um den jenseitigen Strafen zu entgehen. 129 Andererseits lassen die Vorlesungen eine sehr differenzierte Theorie zu den Belohnungen und Bestrafungen erkennen, die diesen eine legitime Funktion 126 Vgl. AA XXVII 2,1 482-485, bes. 484-485. 127 Vgl. AA XXVII 1 32 8 -33 9 . 128 Stark 2004, 85 12-20 / AA XXVII 1 287 4-11 ; XXVII 1 152 6-8 (Powalski), XXIX 1,1 624 30-32 (Mrongovius II); XXVII 2,1 549 13-16 (Vigilantius). Kant unterscheidet bei den nichtswürdigen Charakteren zwischen einem solchen, der ‚mercenaria‘, d. h. auf Lohn aus ist, und dem noch niederträchtigeren, der als ‚servilis‘ nur die Strafvermeidung sucht. 129 Vgl. Stark 2004 86 9-19 / AA XXVII 1 287 25-34 . <?page no="131"?> 3.3 Gott und das summum bonum 131 einzuräumen versucht und insbesondere auf ein göttliches Vergeltungshandeln Bezug nimmt. So wird den Belohnungen und Bestrafungen eine subsidiäre und moralpädagogische Rolle zugesprochen: Sie können dann, wenn die ‚objektiven‘, sprich: aus dem Moralgesetz folgenden Beweggründe „nicht […] fruchten“ als ‚subjektive‘ eintreten, um ersatzweise „den Mangel an Moralität“ zu ersetzen. 130 Sie dienen insofern als Mittel für die ‚moralische[] Zucht‘, als sie beispielsweise den ‚Trunkenbold‘ die Schlechtheit seines Handelns spüren lassen, wodurch sich die Einsicht einstellen kann, dass übermäßiger Alkoholkonsum moralisch falsch und deshalb zu unterlassen ist. 131 Bestrafungen sind als subsidiäre Mittel jedoch weniger geeignet als Belohnungen, da sie den gravierenden Nachteil mit sich bringen, dass sie das Moralgesetz als etwas Unangenehmes erscheinen lassen und deshalb keine Liebe zum Gesetz hervorbringen. Und wenn Strafen herangezogen werden, dürfen sie nicht ‚verächtlich‘ oder ‚schimpflich‘ sein, d. h. es darf sich nicht um willkürliche, maßlose oder demütigende, also von moralischen Grundsätzen abweichende Strafen handeln. 132 Um die weiteren Überlegungen zur moralförderlichen Wirksamkeit von Belohnung und Strafe nachvollziehen zu können, müssen einige Distinktionen erläutert werden, die Kant in seine Vergeltungstheorie einzeichnet: Die Theorie unterscheidet zwischen ‚geschuldeten‘ und ‚verdienstlichen‘ Handlungen. Während die sog. debita notwendigerweise erfüllt werden müssen, sind die sog. merita Ausdruck des Wohlwollens, das sich allerdings auch an ethischen Grundsätze orientiert. Das hat Auswirkungen auf die Zurechnung ( imputatio ) der betreffenden Handlungen, denn die Befolgung eines debitums wird nicht positiv als verdienstliche Leistung, die Unterlassung eines meritums nicht negativ als schuldhafter Schaden dem Handlungssubjekt zugerechnet. 133 Daneben ist 130 Stark 2004, 85 25 -86 2 / AA XXVII 1 287 17-19 : „Die Belohnungen und Bestrafungen sind nur subjektive BewegungsGründe, wenn die objective [sic! ] nicht mehr fruchten; sie dienen nur den Mangel der Moralitaet zu ersetzen.“ 131 Stark 2004, 86 20-31 / AA XXVII 1 287 34 -288 6 . Bei Powalski werden die Strafen als „Mittel wider das sklavische Gemüth“ bezeichnet (vgl. AA XXVII 1 152 18 ). Ihre moralförderliche Funktion wird darin gesehen, einen nur auf diese Weise steuerbaren Charakter überhaupt auf moralisches Handeln hin auszurichten. 132 Vgl. Stark 2004, 86 31 -87 10 / AA XXVII 1 288 6-16 ; XXIX 1,1 639 37 -640 7 (Mrongovius II); XXVII 2,1 556 (Vigilantius). 133 Vgl. Stark 2004, 88 24 -92 19 / AA XXVII 1 288 18-32 ; AA XXVII 2,1 558 27 -561 28 . Die Unterscheidung hat eine Parallele im Abschnitt über die Liebespflichten gegenüber anderen Menschen (vgl. AA XXVII 1 65 26 -67 24 [Herder], Stark 2004, 279 3 -292 2 / AA XXVII 1 413 2 -422 9 , AA XXVII 2,1 600 f.). Bei Powalski erscheint sie nur dort (vgl. AA XXVII 1 225-233). Die Erörterung des verdienstlichen Handelns ist mit dem Problem des supererogatorischen Handelns verwandt. Kant vertritt in den Kaehler-Collins-Vorlesungen hierzu eine ambivalente Position. Einerseits haben die Menschen schon alle Mühe, das Geschuldete zu tun: „So unterlassen sehr viele ihre schuldigen Pflichten und wollen verdienstliche <?page no="132"?> 132 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik in Mrongovius II und Vigilantius von sog. adiaphora die Rede, d. h. von Handlungen bzw. Handlungsvariationen, die in moralischer Hinsicht gleichermaßen gültig sind und weder mit einem positiven (+) noch mit einem negativen (-) Vorzeichen, sondern mit einem Null-Wert (0) versehen werden. 134 Des Weiteren werden im Kommentar zu Baumgartens Initia -Abschnitten bezüglich der Praemia und der Poenae solche Belohnungen, die zur Hervorbringung der betreffenden Handlung führen, von anderen abgegrenzt, die lediglich der Anerkennung oder Vergeltung dienen. Belohnungen sind immer dann als praemia auctorantia (wörtlich: ‚urheberlich hervorbringende Belohnungen‘) aufzufassen, wenn die ihnen vorausgehenden Handlungen nur wegen der erwarteten Folgen oder der verheißenen Belohnung ausgeführt werden. Als praemia remunerantia , d. h. als ‚anerkennend‘ oder ‚vergeltend‘, sind sie hingegen anzusehen, wenn die Belohnung nur als Ausdruck der Wertschätzung oder als Entschädigung hinzukommt. In der Herder-Zeit werden die verschiedenen Belohnungsarten ‚physische‘ und ‚moralische‘, ab Kaehler auch praemia pragmatica und praemia moralia genannt. 135 Doch Belohnungen und Bestrafungen werden nicht nur aufgrund ihrer handlungstheoretischen Verursachung qualifiziert, sondern auch hinsichtlich ihrer moralischen Rechtfertigung: Die Vorlesungen verfolgen eine vergeltungstheoretische Strafauffassung, wonach Strafen - das Gegenstück der praemia remunerantia bzw. moralia - dem Verbrechen angemessen sein und für dieausüben. […] Allein die Stimme ist durchdringlich und eisern, die da schreyt, daß man seine Schuldigkeit noch nicht gethan hat, und die kann ein solcher durch alle verdienstliche Handlungen nicht unterdrücken, und solche verdienstliche Handlungen sind noch grössere Verbrechen, denn sie sind als Bestechungen und Geschenke gegen das höchste Wesen gegeben, um die Schuld gut zu machen“ (Stark 2004, 78 13-23 / AA XXVII 1 282 15- 24 ). Andererseits traut er der Hilfeleistung der Menschen viel zu: „Man muß hier nicht eine eingebildete Reinlichkeit der Moral annehmen und alle verdienstlichen Handlungen wegstreichen. […] und wenn nur alle Menschen zusammen einstimmig wollten ihre Glückseligkeit befördern, so könnte man in Nova Zembla ein Paradies machen. Gott setzt uns in den Schauplatz, wo wir uns einander können glüklich machen“ (83 11-13 / 285 36 -286 3 ). 134 Vgl. AA XXIX 1,1 615 24-34 u. XXVII 2,1 512 33-37 . 135 Vgl. AA XXVII 1 10 12-15 (Herder), Stark 2004, 80 20 -87 10 / XXVII 1 283 36 -288 16 ). In der Powalski-Vorlesung wird diese Differenzierung mit etwas anderer Terminologie verdeutlicht: Moralische Belohnungen sind lediglich ‚Folgen‘ ( consectaria ) und ‚Bestätigungsgründe‘, sie können keinen ‚Preis‘ haben. Überdies wird das Handeln aufgrund nichtmoralischer Gratifikationen der sinnlichen Antriebsstruktur des Menschen zugeordnet (vgl. XXVII 1 149 1 -152 30 ). Kant hält es dort also für möglich, die jeweiligen Handlungsgründe zu unterscheiden und hierdurch die auf die Handlungen folgenden Belohnungen moralisch zu qualifizieren. - Schmucker stellt heraus, dass die Unterscheidung zwischen auctorantia und remunerativa bzw. (im Falle der Strafen) diejenige zwischen ‚warnenden‘ und ‚rächenden‘ bei Baumgarten nicht vorkommt und von diesem auch nicht nachvollziehbar wäre (vgl. 1961, 356 u. 358). <?page no="133"?> 3.3 Gott und das summum bonum 133 ses Genugtuung leisten müssen. Kant wendet sich damit gegen utilitaristische Strafbegründungen und Strafmaßfestlegungen, denn ein ausschließlich erzieherisches, abschreckendes oder auf die Förderung des Gemeinwohls abgezwecktes Strafverständnis implizierte eine pragmatische Strafidee und kann zu Disproportionen im Strafmaß führen. 136 Dementsprechend müssen die praemia moralia von unendlicher Qualität sein, da die hierfür disponierende moralische Gesinnung eine dauerhafte Bereitschaft zum moralischen Handeln einschließt. 137 Kant vertritt nun die These, dass die praemia in der Religion nicht als auctorantia präsentiert werden dürfen, und bringt hierfür mehrere Argumente vor: Erstens ginge mit einer solchen Darstellung die vermessene Forderung einher, „von Gott zu verlangen , daß er ihn belohne und glückselig mache“. 138 Zweitens ist die angemessene Folge der Aussicht auf die Glückseligkeit der „frohe[n] Muth“: Es handelt sich um eine das moralische Handeln begleitende Hoffnung, die aber nicht zur Handlung bewegen, sondern nur trösten soll. 139 Gemäß der Argumente drei und vier können die durch religiöse Vorstellungen vermittelten praemia in Wirklichkeit gar nicht als auctorantia wirken: Wie die üblicherweise bestehende Neigung zum diesseitigen Leben und die Wirkungslosigkeit einer Verzichtforderung zugunsten einer in Aussicht gestellten jenseitigen Glückseligkeit beweisen, empfinden die Menschen das gegenwärtige Leben stärker, sodass eine Jenseitsverheißung ohnehin nicht handlungshervorbringend wirksam werden kann. 140 Außerdem besagt die Glückseligkeitshoffnung nicht mehr als das, was sich notwendigerweise bei jedem Rechtschaffenen einstellt. Denn Kant ist der Ansicht, dass mit der Anerkennung des Gefordertseins durch das Moralgesetz die moralische Überzeugung übernommen wird, dass dem Rechtschaffenen auch Belohnung zuteil wird. Diese Überzeugung verdankt sich einer Analogie zur physischen Welt: Wer den Anspruch des Moralgesetzes akzeptiert, geht davon aus, dass die Welt nicht nur einer physischen, sondern auch einer moralischen Ordnung gehorcht, aufgrund derer das Handeln die angemessene Vergeltung in Form eines praemium remunerante oder einer gerechten poena erfährt. 141 136 Vgl. Stark 2004, 84 7 -85 8 / AA XXVII 1 286 13 -287 1 , XXVII 1 150 9 -151 29f (Powalski), XXVII 2,1 551 9 -556 ßß (Vigilantius). Das schließt eine Bagatellisierung von Delikten ebenso aus wie eine Verzweckung des Täters bzw. der Täterin für gesellschaftliche Wohlfahrtsvisionen oder eine ‚grausame‘ Strafpraxis (vgl. XXIX 2,1 641 4-16 [Mrongovius II]). Aus der Vigilantius-Vorlesung geht hervor, dass Kant als zeitgenössischen Anknüpfungspunkt unter anderem die josephinistische Strafrechtsreform vor Augen hatte (vgl. XXVII 2,1 551 36-38 ). 137 Vgl. Stark 2004, 81 17-21 / AA XXVII 1 284 23-26 . 138 Stark 2004, 81 25f / vgl. AA XXVII 1 284 20 (Hervorhebung: Reich). 139 Vgl. Z. 29f/ nicht bei Collins; vgl. auch Schmucker 1961, 357. 140 Vgl. Stark 2004, 81 33 -82 10 / nicht bei Collins. 141 Stark 2004, 82 14-18 / AA XXVII 1 285 12-16 : „Ein jeder Rechtschaffene hat diesen Glauben, er kann unmöglich rechtschaffen seyn, ohne zugleich zu hoffen nach der Analogie der <?page no="134"?> 134 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik Das wird in Bezug auf die Anerkennung der merita noch deutlicher hervorgehoben. Kant spricht davon, dass „Gott diejenigen verdienstliche[n] Handlungen, die wir gegen andere ausgeübt [haben], denen wir es doch nicht zu thun schuldig waren, vergeltet“ 142 . Obwohl wir von Gott niemals Lohn fordern können, weil ihm zugunsten nichts Übergebührliches getan werden kann, ersetzt Gott freigebig-gnädiglich die von Menschen nicht abzutragenden Verbindlichkeiten für verdienstliches Handeln. Diese spezifische Art der göttlichen Vergeltung steht dem Autor zufolge in bestem Einklang mit dem Evangelium. Die in den Vorlesungen aufgespürten Belegstellen lassen in mancher Hinsicht zu wünschen übrig. Auch der Kant der Vorlesungen verzichtet darauf, das Lehrstück vom höchsten Gut mit seinen handlungs- und motivationstheoretischen Ausführungen zu vermitteln. Ebenso würde man gerne genauer erfahren, inwiefern bei den ‚moralischen‘ Belohnungen und Strafen ausgeschlossen werden kann, dass diese nicht doch das moralische Handeln korrumpieren. Dennoch konnte das Ziel des Unterkapitels erreicht werden, das darin bestand, den Hintergrund des formelhaften Bekenntnisses auszuleuchten, dass Gott für das moralische Handeln des Menschen von Bedeutung ist, nämlich als executor der Moral. Wie sich zeigte, betreffen die diesbezüglichen Überlegungen Kants das Problem der Handlungs finalität , d. h. des Resultates oder Zieles, auf das die Moralität hinausläuft. Dass es sich hierbei um ein gravierendes Problem handelt, wird in der summum bonum -Theorie dadurch dargelegt, dass dem Text zufolge jede Ethik eine Konzeption des höchsten Gutes impliziert und dieser Begriff den durch das ‚gute‘ Handeln verfolgten Idealzustand repräsentiert. In den Ausführungen zu den Belohnungen wird es geradezu als moralisch notwendig dargestellt, dass das Handeln eine adäquate Vergeltung erfährt. In beiden Fällen ist es aber allein Gott, der die Finalitätsproblematik zu lösen vermag. Denn nur er kann bewerkstelligen, was innerweltlich kaum zu erwarten ist, indem er Glückseligkeit der Glückswürdigkeit proportioniert und das unvergoltene Wohlwollen belohnt. Deshalb weist die Welt aufs Ganze gesehen eine moralische Wohlgeordnetheit auf, die von Gott dem Schöpfer nicht nur weise eingerichtet wurde, sondern vor allem auch durch Gott - den executor - andauernd erhalten wird. Indem die Ethikvorlesungen Gott deswegen als relevant für die Moral erklären, weil Gott für die Finalität des Handelns eine bedeutende Rolle spielt, spiegeln sie gleich mehrere christlich-theologische Traditionen wider, die auch durch andere Philosophen der Aufklärungszeit aufgenommen wurden. Dies betrifft etwa den Gedanken einer göttlichen Vorsehung, kraft derer die Welt physischen Welt, daß solches auch müste belohnt werden. Aus eben dem Grunde, aus welchem er [der Rechtschaffene] an die Tugend glaubt, glaubt er auch an die Belohnung.“ 142 Stark 2004, 83 2-4 / AA XXVII 1 285 26-29 . <?page no="135"?> 3.4 Des Menschen Unheiligkeit und Gottes Beistand 135 von Gott gut eingerichtet und geleitet wird. Bei Vigilantius wird ausdrücklich erklärt, dass nur eine Weltordnung, in der eine Proportionierung von guten Handlungen und Belohnungen gegeben ist, der Vorsehung eines vollkommenen göttlichen Wesens entsprechen kann. 143 Indem die Vorlesungen überdies davon sprechen, dass der moralisch Handelnde die Zuversicht hegt, die Welt gehorche einer moralischen Ordnung und die Moralität werde dereinst belohnt, greifen sie die theologische Tugend der Hoffnung auf. Ausgehend von der Trias ‚Glaube, Liebe, Hoffnung‘ aus dem Korintherbrief wird diese Tugend in der theologischen Ethik mitunter als ein menschliches Wollen verstanden, das durch einen propositionalen Gehalt bestimmt ist. 144 Und nicht zuletzt greifen die Ausführungen insofern einen weiteren Grundgedanken der theologischen Ethik auf, als das moralische Handeln damit unter die größere Perspektive eingeordnet wird, ob und wie die Menschheit hierdurch auf ihre Vollendung bei Gott zugeht. Kant bearbeitet diesen mit der Finalität des Handelns befassten Reflexionsstrang auch in seinen gedruckten Werken und hier vor allem in den Schriften der 1780er Jahre, wie in Kap. 2.2 belegt wurde. Der Aufweis einer Finalität der Moralpraxis in Form des höchsten Guts bildet dort die argumentative Grundlage dafür, trotz der erkenntnistheoretisch begründeten Einwände am Gottesgedanken festzuhalten. Daneben lassen die Vorlesungen jedoch noch einen inhaltlich anders gelagerten Reflexionsstrang erkennen, mit dem Kant über die moralische Relevanz von Religion nachdenkt und der vor allem durch die Religionsschrift wieder aufgegriffen wird. Das folgende Kapitel dient nun dazu, diesen zweiten Reflexionsstrang zu erheben. 3.4 Des Menschen Unheiligkeit und Gottes Beistand Um des anderen Reflexionsstranges zur moralischen Relevanz von Religion ansichtig zu werden, muss zunächst der anthropologische Ausgangspunkt rekonstruiert werden, an dem die kantischen Überlegungen ansetzen. Man kann diesen 143 Vgl. AA XXVII 2,1 549. Nach Schneewind (1984) kann man Kant als Endpunkt einer Epoche der Moralphilosophie betrachten, die durch die Auseinandersetzung mit der christlich inspirierten Überzeugung von der moralischen Geordnetheit der Welt gekennzeichnet ist: „My main suggestion ist that we will best explain the development of modern ethics by seeing it as resulting from attempts to defend belief in the reality of the moral world, viewed as a just cooperative venture, while accommodating changes in, or departures from, the religious underpinnings of that belief“ (180). Bei Kant schlägt sich dies aus Schneewinds Sicht in der Lehre vom höchsten Gut nieder (189-191). In der späteren Publikation ‚The invention of autonomy‘ von 1998 wird auch das Autonomieprinzip vor dem Hintergrund der angedeuteten Transformationsprozesse interpretiert. 144 Vgl. Lutz 2012, 255-286. <?page no="136"?> 136 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik Ausgangspunkt mit den Begriffen ‚Schwäche‘ und ‚Gebrechlichkeit‘ umreißen. Beide Phänomene stellen Indizien dafür dar, dass der Mensch weit weniger moralisch handelt als er sollte. Dem gegenüber steht das Ideal der Heiligkeit, das Kants Ansicht nach im Moralitätsbegriff implizit enthalten ist. Aufgrund der moralischen Defizite kann der Mensch dieses Ideal nicht selbst erreichen. Er bedarf des göttlichen Beistandes, der jedoch nur unter Voraussetzung des menschlichen Bemühens und lediglich ergänzend eintritt. Das ist der Grund, weshalb Kant überzeugt ist, dass die Moral notwendigerweise durch die Religion ‚vervollständigt‘ und ‚ergänzt‘ werden müsse. In näher zu bestimmender Weise geht er davon aus, dass Moralität nur durch die Mithilfe Gottes vollständig realisiert werden kann. Da dabei auch eine Zuordnung zwischen dem Handeln Gottes und dem Handeln der Menschen vorgenommen wird, bildet dieser Reflexionszusammenhang auch eine wichtige argumentative Grundlage für den kantischen Religionsbegriff. Doch damit wird sich dann erst das nachfolgende Kapitel befassen. In Baumgartens Initia wird in einer ganzen Reihe von Sektionen die imputatio , d. h. die Zurechnung von Handlungen an ein Handlungssubjekt, traktiert. Von den verschiedenen Teilproblemen, die Baumgarten aufführt, wählt Kant die imputatio facti - die ‚Zurechnung der Handlung‘ im Gegensatz zur korrekten Anwendung des Gesetzes ( imputatio legis ) - sowie das Problem der gradus imputabilitatis , der Zurechenbarkeitsgrade, aus. Die Vorlesung diskutiert hier allerhand Gesichtspunkte, die Einfluss auf die Zurechenbarkeit und auch auf das Ausmaß der Zurechnung selbst haben: der eingeschränkte Freiheitsgebrauch, die Gewohnheit, der Vorsatz, und auch das Maß des Widerstandes, der überwunden werden musste, um die Handlung auszuführen. 145 Gegen Ende des Abschnittes geht Kant recht umfänglich auf die Phänomene infirmitas (‚Schwäche‘) und fragilitas (‚Gebrechlichkeit‘) ein. Beide Phänomene, so setzt der Dozent an, gehören zur menschlichen Natur und könnten „als Gründe der Verringerung der Imputabilitaet […] angesehen werden“. 146 Die Schwäche des Menschen zeigt sich darin, dass die ‚moralische Bonität‘ Mängel aufweist. Zur Moralität gehört der Vorlesung zufolge wesentlich hinzu, „daß eine Handlung aus dem BewegungsGrunde [sic] der innern Bonität derselben entspringe“; nur unter dieser Voraussetzung liegt die bekannte moralische rectitudo vor. 147 Zwar ist im Menschen immer etwas ‚moralisch Reines‘, weshalb es nicht angebracht wäre und moralitätszersetzend wirkte, den Menschen glau- 145 Im Gegensatz zum heute vorherrschenden Sprachgebrauch geht es bei der imputatio auch um die Zurechnung von positiven, ‚guten‘ Taten ( merita ). 146 Vgl. Stark 2004, 92 20 -100 3 , Zitat: 96 6f / AA XXVII 1 290 33 -295 35 . Baumgarten behandelt dies in den §§ 125-179 der Initia . 147 Stark 2004, 96 15-18 / AA XXVII 1 293 13-16 . <?page no="137"?> 3.4 Des Menschen Unheiligkeit und Gottes Beistand 137 ben zu machen, moralische Bonität sei unmöglich. 148 Zugleich ist die ‚treibende Krafft‘ dieses moralischen Bewegungsgrundes aber begrenzt und „das ist die Schwäche der Menschlichen Natur“. 149 Die Schwäche ist folglich ein allgemeines Wesensmerkmal, das das Wollen des Menschen betrifft. Obwohl das Phänomen hier also eine ganz spezifische, auf die Reinheit der Gesinnung bezogene Interpretation erhält, weisen die Ausführungen eine große strukturelle Ähnlichkeit zu Baumgartens infirmitas -Begriff auf. 150 Bezüglich der Zurechenbarkeitsfrage gilt, dass die Schwäche kein zurechnungsmindernder Entschuldigungsgrund darstellt, da der Mensch durchaus die Möglichkeit hätte, aus keinem anderen Grunde als der moralischen Verpflichtung zu handeln. Die Gebrechlichkeit geht über einen bloßen Mangel an moralischer Bonität hinaus. Sie zeigt sich darin, dass ein mögliches ‚positives Gutes‘ nicht stattfindet oder gar ein ‚positives Böses‘ vorliegt. Sie ist sogar eine „Triebfeder zu bösen Handlungen“. 151 Da die imputatio -Erörterung sich sowohl auf die Zurechnung von verdienstlichem Handeln als auch auf die Verantwortung von unmoralischem Handeln bezieht, kann man die Gegenüberstellung von ‚positivem Guten‘ und ‚positivem Bösen‘ vor dem Hintergrund der Differenzierung zwischen merita und debita lesen. Gemeint ist dann, dass nicht nur verdienstliche Handlungen unterlassen werden, sondern auch gegen das Moralgesetz verstoßen wird. Dazu passt, dass Kant den Begriff propensio verwendet und die Gebrechlichkeit mit einem ‚Hang zum moralisch Bösen‘ gleichsetzt, der zwar der freiheitlichen Hervorbringung des Bösen nicht widerspricht - „denn sonst wäre es nicht moralisch böse“ -, aber dennoch zur menschlichen Natur gehört und sich im regelmäßig vorkommenden unmoralischen Handeln bemerkbar macht. 152 Die Gebrechlichkeit zieht daher keine Zurechnungsminderung nach sich. 148 Vgl. Stark 2004, 96 27 -97 23 / AA XXVII 1 293 23 -294 12 . 149 Stark 2004, 96 25 / AA XXVII 1 293 22f . 150 Initia § 168: „INFIRMITAS HUMANA est impotentia naturalis actuandi in liberis suis determinationibus certum gradum rectitudinis. Ergo est vel simpliciter et absolute talis, vel tantum secundum quid […]. Prior mere naturalis et defectus rectitudinis ex hac fluentes, qua tales, imputari non possunt prorsus inevitabiles […]. Pone tamen defectum eiusmodi nasci ex infirmitate humana secundum quid naturali, quae est consectarium morale facti alicuius praegressi vel commissivi, vel omissivi […], tunc et ipsa talis infirmitas humana et inde natus defectus recte imputatur“. 151 Stark 2004, 96 14f / AA XXVII 1 293 12f . 152 Vgl. Stark 2004, 98 24 -99 2 / AA XXVII 1 294 38 -295 5 : „In Ansehung der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur merken wir, daß es zwar an dem ist, daß seine Natur gebrechlich ist, daß er nicht allein kein positives Gute nicht hat, sondern daß er auch sogar positives Böse hat. Allein alles moralische Böse entspringt doch aus Freyheit, denn sonst wäre es nicht moralisch böse. So sehr als auch die Natur Hang dazu hat, so entspringen doch die bösen Handlungen aus Freyheit, deswegen werden sie uns auch als Laster angerechnet.“ <?page no="138"?> 138 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik Das so analysierte Phänomen steht der Vorlage Baumgartens insofern sehr nahe, als auch dort die fragilitas als Hang (‚inclinatio‘, ‚propensio‘) charakterisiert und eine subtile Differenzierung zwischen ‚Natürlichkeit‘ und (schuldhafter) Zurechenbarkeit vorgenommen wird. Baumgarten schließt zumindest für einen Teil derjenigen Neigung zum Bösen, die über die metaphysische Begrenztheit des Menschen hinausgeht, eine Herabsetzung der Imputabilität dadurch aus, dass sie als Resultat ursächlicher Handlungen - so z. B. Tat- oder Unterlassungshandlungen, die auf die Handlungsfähigkeit einwirken - aufzufassen ist und diese ursächlichen Handlungen wiederum zugerechnet werden können. Auch diese Phänomene bezeichnet er als eine ‚Gebrechlichkeit der menschlichen Natur‘, die allerdings imputabel ist. 153 Auch in der von Powalski notierten Vorlesung gibt es einen längeren Abschnitt über die Zurechnung. 154 Wie Powalski dokumentiert, scheint Kant manche Detailfragen der Zurechnungstheorie immer wieder überdacht zu haben. Dies betrifft etwa die Problemkonstellation des voluntarium in causa bzw. der actio libera in causa , wo es um die Zurechnung einer Handlung geht, die von einer Person ausgeführt wird, welche durch eine vorhergehende freie Handlung (wie z. B. starker Alkoholgenuss) die eigene Entscheidungs- und Handlungsfreiheit eingeschränkt hat. Während Kant in den Kaehler-Collins-Vorlesungen nicht die Handlungen des Betrunkenen, sondern lediglich das Sich-Betrinken für zurechenbar hält, nimmt er in der Powalski-Vorlesung eine indirekte Zurechenbarkeit jener Handlungen an. 155 Bezüglich der infirmitas-fragilitas -Thematik werden jedoch die früheren Überlegungen bestätigt. Noch deutlicher als bei Kaehler-Collins wird dabei hervorgehoben, dass die Schwäche des Menschen darin besteht, der ‚Heiligkeit‘ zu ermangeln und keinen sittlich ‚reinen‘ Willen zu haben, d. h. nicht allein aufgrund der moralgesetzlichen Gesolltheit zu handeln. 153 Vgl. Initia § 169: „FRAGILITAS (lubricitas) NATURAE HUMANAE est inclinatio (propensio, pronitas) naturalis in malum morale, s. illa humanae naturae conditio, qua facile est hominem in malum morale impellere. Haec etiam vel absoluta esset […hier wird auf den Sündenfallparagrafen in der Metaphysik verwiesen], non imputabilis […] vel hypothetica, et haec iterum vel mere fortuita non imputabilis illi personae, cui tribuitur, […] vel est consectarium morale alicuius facti, vel commissivi, […] vel omissive […], et tunc eiusmodi fragilitas naturae humanae est imputabilis personae, cui tribuitur“. - Baumgarten unterscheidet also zwischen der ‚absoluten‘, metaphysisch begründeten Gebrechlichkeit und nur kontingenterweise vorliegenden (‚hypothetica‘) Gebrechlichkeiten, bei letzteren wiederum zwischen durch Schicksal hervorgebrachten (‚fortuita‘) und solchen, die als Folge (‚consectarium‘) einer anderen moralisch zu qualifizierenden Handlung aufzufassen sind. Zum Abgleich mit den Baumgartenʼschen Begriffsdenitionen vgl. auch Schmucker 1961, 366. 154 Vgl. AA XXVII 1 159 4-27 . 155 Vgl. Hruschka 2015, 180 f. Bei Vigilantius wird dann auch noch das Adjektiv ‚indirekt‘ weggelassen. <?page no="139"?> 3.4 Des Menschen Unheiligkeit und Gottes Beistand 139 Interessant ist auch die imputatio -Lehre im Vigilantius-Skript. In bekannter Manier wird dort die menschliche Gebrochenheit anhand des ‚Hang‘-Begriffes erläutert. Aufgrund der Verwendung botanischer Metaphern weisen die diesbezüglichen Ausführungen allerdings eine noch größere Nähe zur These vom ‚radikalen Bösen‘ aus RGV I auf. Außerdem rücken die Formulierungen, die auf eine bei allen Menschen gegebene moralische Defizienz und Verbesserungsbedürftigkeit eingehen, den Hang sehr eng an die infirmitas heran. 156 Am Ende der Ethica bearbeitet Baumgarten die Pflichten von besonders charakterisierten Personengruppen, nämlich der ‚Tugendhaften‘ und der ‚Lasterhaften‘. Kant übernimmt dieses Thema und ebenso die pietistische Begrifflichkeit zur Besserung des Menschen, die auch von Baumgarten verarbeitet wurde. Demnach ist die Grundsituation des Menschen als ‚Kampf‘ aufzufassen. Der Mensch befindet sich im status corruptionis , weshalb er sich immerzu mit der Neigung zum Bösen abmühen muss. Das ‚Reich des Lichts‘, die Gesellschaft der Tugend, und das ‚Reich der Finsternis‘, die Gesellschaft des Lasters, stehen einander gegenüber. Von dieser Grundsituation hebt der Text das selbst verschuldete ‚Laster‘ ab, das einen Widerspruch zum Moralgesetz anzeigt. 157 Das Laster und die daraus resultierende Lasterhaftigkeit werden in den Vorlesungen noch weiter aufgefächert: Die Lasterhaftigkeit zeigt sich sowohl in den ‚viehischen Lastern‘ bzw. in der ‚Brutalität‘, wobei sich der Mensch unter das Vieh herabsetzt, als auch im Zustand des ‚Teuflischen‘, in dem nach dem Bösen getrachtet wird. Zu den entwürdigenden ‚viehischen‘ Lastern gehören Verstöße gegen die Selbsterhaltung und eine geordnete Sexualität, also beispielsweise die Trunksucht, die Völlerei und die crimina carnis contra naturam . 158 Die ‚teuflischen‘ Laster beinhalten den Neid, die Undankbarkeit und die Schadenfreude. In ihnen wird den Anderen Schaden gewünscht oder sogar zugefügt. 159 Der Mensch als solcher ist weder viehisch noch teuflisch. Auch wenn es in der ‚Ver- 156 Vgl. AA XXVII 2,1 570 6 -572 13 , bes. 571 33 -572 4 : „Nun findet der Mensch, wenn er sich selbst beurtheilt, es sey in welcher Lage er wolle, daß er nie fehlerfrei ist, und jederzeit Grund habe, sich zu bessern; er findet also eine Form seiner Handlungen, dadurch sie bösartig geworden, er mag übrigens cultivirt seyn, oder nicht; es folgt daraus also, daß dieser Hang zum Bösen schon von Natur eingepflanzt sey: aber es ist ex adductis klar, daß er auch unterdrückt werden könne: es ist also gewiß, daß sobald der Hang nicht unterdrückt, sondern genährt wird, dadurch der Grad der Imputation entstehe, der größer ist, als der vorher von der Natur eingepflanzte bewirken konnte.“ 157 Vgl. Ethica § 401; Stark 2004, 356 16-18 / AA XXVII 1 464 33-35 . 158 Vgl. AA XXVII 1 88 1 [Herder], 215 4-21 u. 228 21-25 [Powalski], Stark 2004, 233 3-30 u. 246 27 - 249 29 / XXVII 1 380 21-30 u. 390 10 -392 23 , AA XXVII 2,1 632 29-32 u. 639 12-18 [Vigilantius]. 159 Vgl. AA XXVII 1 5 5f [Herder], 228 26 -230 5 [Powalski], Stark 2004, 316 21 -323 4 / XXVII 1 439 22 - 444 14 , XXVII 2,1 692 12 -695 34 [Vigilantius]. <?page no="140"?> 140 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik stockung‘ zu einer passagären Einstellung des moralischen Bemühens kommen kann, schließt Kant eine gänzliche moralische Bestialisierung, in der auch noch der ‚Keim‘ zur Tugend ausgelöscht wäre, aus, denn in einem solchen Zustand wäre auch jede Besserung ausgeschlossen. 160 Indes, der dem Menschen aufgegebene Kampf richtet sich den Vorlesungen zufolge nicht nur gegen die erworbenen Laster, sondern betrifft auch die generelle Herausforderung der Moralität, die ein Wohlverhalten aus Grundsätzen, nicht aus Instinkt oder Neigung bedeutet. Daher ist nicht nur eine Besserung, die sich auf den äußeren Lebenswandel oder auf Teilbereiche des Handelns bezieht, sondern eine umfassende Bekehrung ( conversio ) von Nöten. Sie besteht darin, den festen Grundsatz und die innere Entschlossenheit auszubilden, sich gänzlich auf die Moralität hin auszurichten. 161 Die Vorlesungen enthalten sich jedoch näherer Ausführungen dazu, wie der Mensch den Willen und die Kraft zu dieser grundsätzlichen Umorientierung ausbilden kann. Die Ablehnung einer gänzlichen moralischen Degenerierung scheint vielmehr vorauszusetzen, dass ein solcher Wille immerzu im Menschen vorhanden ist. Darüber hinaus rechnet Kant damit, dass es auch nach der Bekehrung, die sich ja auf die für die Moralität maßgeblichen Grundsätze richtet, zu einzelnen Hindernissen und Rückfällen in das Laster kommen kann. 162 Den Vorlesungen zufolge ist der Mensch also durch moralische Mangelhaftigkeit gekennzeichnet. Dieser Mangelhaftigkeit eignet insofern eine subtile Zwischenstellung, als sie einerseits allgemein verbreitet ist und zum Menschen gehört, andererseits aber durch den einzelnen Menschen selbst verschuldet wurde. Sie setzt die Imputabilität der betreffenden Handlungen nicht außer Kraft und kann korrigiert werden, da der Mensch auch über die rechte Einsicht in die Forderungen des Moralgesetzes sowie über die Möglichkeit verfügt, dieser Einsicht im Handeln zu folgen. Der Mensch kann und soll daher über die ihm eigentümliche moralische Defizienz nicht verzweifeln. Um das faktische Vorhandensein von Schwäche, Gebrechlichkeit und Lastern aufzuweisen, bedient sich Kant einer insofern präsumtiven Argumentationsweise, als er annimmt, dass sich bei nüchterner Selbstprüfung jeder selbst seiner moralischen Fehler überführen würde. Zum Abschnitt über die rechte Selbstbeurteilung - bei Baumgarten eine für die geforderte Selbstvervollkommnung 160 Vgl. Stark 2004, 134 5-20 / AA XXVII 1 316 38 -317 13 . 161 Vgl. Stark 2004, 355 8-11 / AA XXVII 1 464 8-11 : „Die Besserung ist von der Bekehrung zu unterscheiden; Besserung ist wenn man anders lebt aber Bekehrung ist, wenn man den festen Grundsatz und die sichere Grundlage hat, daß man niemals anders als tugendhafft leben wolle.“ 162 Vgl. Stark 2004, 355 4-7 / AA XXVII 1 464 4-7 . <?page no="141"?> 3.4 Des Menschen Unheiligkeit und Gottes Beistand 141 unabdingbare Kernkompetenz 163 - überliefern Kaehler und Co. die prägnante Formulierung: „[W]enn das Gesetz in seiner völligen Reinigkeit vorgetragen wird, so wird keiner ein solcher Thor seyn, daß er glauben sollte, durch seine Kräffte das Gesetz völlig rein zu erfüllen.“ 164 Der persönlich durchgeführte Vergleich mit dem Moralgesetz schränkt den moralischen ‚Eigendünkel‘ ein und macht demütig. Auf die Imputationstheorie folgt der Abschnitt über das forum internum , sprich: das Gewissen. Der ‚innere Richter‘ lässt sich nicht betäuben oder durch leicht durchschaubare Exkulpierungen manipulieren. Im Gewissensspruch beurteilt sich der Mensch nach seiner Gesinnungsqualität. Dementsprechend dürfen Gebrechlichkeit und Schwäche allenfalls bei der ‚pragmatischen‘ Beurteilung anderer Menschen in Betracht gezogen werden, die Imputabilität der eigenen Handlungen wird durch sie nicht herabgesetzt. 165 Sowohl die Deutung der traditionellen Begrifflichkeiten als auch der Aufweis ihrer faktischen Berechtigung sind in den Vorlesungen ganz durch Kants Moralitätsauffassungen geprägt: Die hohen Anforderungen der Moralität können nur dadurch erfüllt werden, dass das Moralgesetz strikt befolgt und allein aufgrund der Einsicht in das moralische Verpflichtetsein gehandelt wird. Angesichts solcher Anforderungen kann die Selbsteinschätzung wohl nur negativ ausfallen. Die moralische Mangelhaftigkeit des Menschen bildet daher gleichsam die Kehrseite der perfektionistischen Forderung nach Sittlichkeit und gesinnungsmäßiger Reinheit, nach ‚Heiligkeit‘, wie sogleich dargelegt wird. Der Aufweis der menschlichen Schwäche und Gebrechlichkeit zielt daher nicht auf eine entwürdigende Herabsetzung oder gar eine resignative Selbstaufgabe. Vielmehr gehört er in den größeren Zusammenhang eines kontinuierlichen Bemühens um Moralität, zu dessen innerer Dynamik auch die Selbsterfahrung gehört, hinter dem moralisch Gesollten zurückzubleiben und dies immerzu anstreben zu müssen. 166 163 Ethica § 164 (zur Selbstbeurteilung): „Quum omnis tui cognitio ad te diiudicandum requiratur, […] esto tui iudex.“-- § 152 (zur Selbstkenntnis): „Obligaris ad perfectiones tuas omnes appetendas, imperfectiones auersandas, quantum potes […]. Iam vero nec appetere, nec auersari potes […] nisi […] cognitas […]. Ergo perfectiones imperfectionesque tuas nosce, quam fieri potest, viuidissime, […] et distinctissime“. 164 Vgl. Stark 2004, 184 16 -188 14 , Zitat: 187 9-12 / AA XXVII 1 348 37 -351 20 , Zitat: 350 32-34 . Vgl. zum kantischen Demutsbegriff in den Vorlesungen und darüber hinaus auch Witschen 2009, 84-86. 165 Vgl. Stark 2004, 99 28- 100 3 u. 101 8 -102 17 / AA XXVII 1 295 28-35 u. 296 24 -297 23 . 166 Vgl. Stark 2004, 188 9-14 / AA XXVII 1 351 16-20 : „Jeder Mensch wird doch bey sich empfinden, daß er doch wenigstens einmal eine gute Handlung aus moralischer Gesinnung gethan hat, und daß er derselben noch mehr zu thun fähig ist, obgleich sie noch immer sehr unrein seyn und niemals dem moralischen Gesetz völlig gleich seyn werden, so nähern sie sich doch immer mehr und mehr demselben.“ <?page no="142"?> 142 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik Die ideale Richtgröße, auf das sich das sittliche Streben richtet, bezeichnet Kant in den Vorlesungen als ‚Heiligkeit‘. Obwohl die Vorlesungen eine vielfältige und mitunter wenig durchdacht wirkende Verwendung des Heiligkeits-Prädikates zeigen 167 , können den Texten doch einige bestimmte Momente des Begriffs entnommen werden. Neben dem bereits vorgestellten Abschnitt zu den Idealen der antiken Morallehren sind hierfür insbesondere die Ausführungen zum ‚heiligen Willen‘ des göttlichen Wesens und zur imitatio Dei einschlägig. Wie diese Textpassagen zeigen, impliziert das Heiligkeitsideal für Kant einen Anspruch an den Menschen. Dieser Anspruch ist formaler Natur und besteht darin, die Forderungen des Moralgesetzes uneingeschränkt zu erfüllen. Der Mensch kann diesem Anspruch jedoch aus eigenen Kräften nicht gerecht werden. Als im vorhergehenden Kapitel aufgezeigt wurde, dass Kant das christliche Ideal gegenüber den anderen Idealen für überlegen erachtet, weil nur hier Glückswürdigkeit und Glückseligkeit unter Wahrung ihrer Heterogenität verbunden werden, war das nur die halbe Wahrheit. Die antiken Ethiken werden nicht nur aus diesem Grund als defizitär dargestellt, sondern weit mehr noch aufgrund ihrer unvollständigen Sicht auf die sittliche Vollkommenheit. Die zutreffende Konzeption der moralischen Vollkommenheit sieht Kant im ‚Ideal der Heiligkeit‘ ausgedrückt: „Das Ideal der Heiligkeit ist nach der Philosophie genommen das vollkommene Ideal, denn es ist ein Ideal der grösten reinen sittlichen Vollkommenheit […] In diesem Ideal ist aber alles complet und da ist die gröste Reinlichkeit und die gröste Glükseligkeit. Die principia der Sittlichkeit sind in ihrer gantzen Heiligkeit vorgetragen, und nun heißt es, du sollst heilig seyn“. 168 Im Heiligkeitsideal wird der Zustand vollkommener Moralität ausgedrückt, der sich dem Text zufolge nicht extensional - etwa im Vollbringen besonders umfänglicher und weltverändernder Liebesdienste -, sondern durch eine innere Qualität - die ‚Reinlichkeit‘ - auszeichnet. Des Weiteren gehört das Ideal dem Christentum an. Die Heiligkeitsforderung ist eine unzweideutige Anspielung 167 Der moralisch bestimmte Heiligkeitsbegriff, der eine sittliche Qualität bezeichnet, dominiert die Befundlage. Daneben finden sich jedoch einzelne Belege, an denen ‚heilig‘ als ‚von ganz außerordentlicher Wichtigkeit‘ oder ‚nicht-relativierbar‘ aufgefasst wird: die Menschheit als ‚Heiligthum‘ (AA XXVII 2,1 602.627.694 [Vigilantius]), die im Katholizismus verehrten Heiligen (AA XXVII 1 42 [Herder]), die Geschwisterehe bei den Ägyptern (XXVII 1 6 [Herder]). Die häufig vorkommende Bezeichnung des Moralgesetzes als ‚heilig‘ dürfte insofern einen vermittelnden Sprachgebrauch widergeben, als damit sowohl die Unbedingtheit und Nichtrelativierbarkeit der dadurch formulierten moralischen Verpflichtung zum Ausdruck gebracht wird als auch die sittliche Güte des Moralgesetzes. 168 Stark 2004, 20 1-3 u. 17-20 / AA XXVII 1 251 26-28 u. 252 1-4 (bei Collins aber fehlerhaft: „Das Ideal der Klugheit …“). <?page no="143"?> 3.4 Des Menschen Unheiligkeit und Gottes Beistand 143 auf den Sprachgebrauch des Neuen Testaments und die jesuanischen Aufforderungen. Kant spricht auch vom „Ideal des Evangelii“ 169 und bezeichnet den ‚Christ‘ als das für diese ethische Orientierungsgröße maßgebliche ‚Muster‘ sowie als das ‚Urbild der sittlichen Vollkommenheit‘. Wie in den antiken Schulen eine Leitfigur das jeweilige Ideal verkörpert und so beispielsweise der ‚Weise‘ als das Muster für die stoische Lebenskunst gilt, macht der ‚Christ‘ deutlich, was es für den Menschen heißt, das Heiligkeitsideal zu verwirklichen. Doch weil die Funktion der Leitfigur darin liegt, das Ideal gedanklich zu veranschaulichen, ist auch ‚der Christ‘ ein ‚bloßes Ideal‘. Er ist ebenso von Jesus aus Nazareth, der Hauptperson und dem Verkünder des Evangeliums, zu unterscheiden wie von den Christen, die dem ‚Christ‘-Ideal nachfolgen. 170 An allen Textstellen wird jedoch noch eine andere, äußerst folgenreiche Eigenschaft des Heiligkeitsideales betont: Weil die im Ideal ausgedrückte sittliche Vollkommenheit vom Menschen nicht erreicht werden kann, „gründet es sich auf den Glauben eines Göttlichen Beystandes“. 171 An der Stelle wird nicht erläutert, warum der Mensch die Vollkommenheit nicht erreichen kann, sondern lediglich festgehalten, dass er unvermeidlich hinter der Perfektion des Ideals zurückbleibt. Wenn wir allerdings die oben interpretierten Ausführungen zur Schwäche und Gebrechlichkeit hinzulegen, dürfte die hier vertretene Überzeugung verständlicher werden: Weil der handelnde Mensch (zumeist) keine reine Gesinnung in sich trägt, kann er die im Heiligkeitsideal implizierte Gesinnungsqualität nicht ausbilden. Das christliche Ideal ist jedoch weit davon entfernt, dem Menschen ein utopisches Ideal vor Augen zu stellen und ihn mit einem Anspruch zu konfrontieren, den er nicht erfüllen kann. Vielmehr kommt zum Ideal in diesem Fall ein zusätzlicher Gedanke hinzu, nämlich der eines göttlichen Beistandes, welcher den Menschen bei der Erfüllung des Ideals unterstützt. Das Ideal hat ein ‚adjument‘, ein Unterstützungsmittel, nämlich den Glauben an den unterstützenden Beistand Gottes. Das Fehlen dieser Zutat ist auch der Grund, weshalb das Heiligkeitsideal bei den antiken Moralphilosophen nicht vorkommen konnte. Sie kannten „keine grössere sittliche Vollkommenheit“, „als die aus der Natur des Menschen fliessen konnte“; sie „accommodirten die Tugend der Schwäche des Menschen“ 172 und konnten daher kein anspruchsvolleres Moralitätsideal aufstellen. Der nicht genannte Grund für diese Zurückhaltung dürfte in dem bekannten Axiom liegen, 169 Stark 2004, 20 9 / AA XXVII 1 251 33 . 170 Vgl. Stark 2004, 18 1-6 , Zitat: Z. 4-6/ AA XXVII 1 250 17-20 : „Dieses muß aber nicht mit den Menschen vermengt werden, die sich Christen nennen, denn die suchen nur diesem Ideal, diesem Muster näher zu kommen.“ 171 Stark 2004, 20 4f / AA XXVII 1 251 28-30 . 172 Stark 2004, 20 12-17 / AA XXVII 1 251 35 -252 1 . <?page no="144"?> 144 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik wonach niemand über sein Vermögen hinaus verpflichtet werden kann. Nur unter Voraussetzung des göttlichen Beistandes, so zeigt der Vergleich, kann das Ideal der Heiligkeit auf Seiten des Menschen als realisierbar gedacht und daher überhaupt als anzustrebende Richtgröße vorgelegt werden. 173 Der andere in den Vorlesungen hervortretende Argumentationszusammenhang, in dem das Heiligkeitsattribut eine große Rolle spielt, ist die Bestimmung des göttlichen Willens. Bei Gott sind das ‚objektive‘ Wollen, das durch das Moralgesetz determiniert wird, und das ‚subjektive‘ Wollen kongruent. In einem moralisch vollkommenen Wesen fallen principium diiudicationis und principiium executionis in eins. Gott will nichts anderes als das sittlich Gute und aus keinem anderen Grund als dem, dass es das sittlich Gute ist. Es gehört zu seinem Wesen, für keinerlei nichtmoralische Motive empfänglich zu sein. Kant nennt dies einen ‚heiligen Willen‘. Beim Menschen ist dies hingegen radikal anders. Er will oftmals nicht das, was er wollen soll, und tut das moralisch Gesollte nicht in jedem Fall und nicht aus dem Grund heraus, dass es das Moralgesetz verlangt. Oder in modallogischen Attributen ausgedrückt: Bei Gott ist das Vorhandensein eines moralischen Willens ‚notwendig‘, beim Menschen hingegen nur ‚zufällig‘. Weil er keinen heiligen Willen hat, erfährt er den moralischen-verallgemeinerten Willen, den er kraft seiner Vernunft erkennt, zumeist als etwas, das gegen sein persönlich-subjektives Wollen durchgesetzt werden muss. Das erklärt, weshalb nur der Mensch ‚verpflichtet‘ sein kann und nur er einem ‚Sollen‘ unterliegt. Für Kant macht diese oftmals schmerzhaft erfahrene Übernahme des moralischen Willens geradezu eine Eigenschaft der Tugend aus, sodass er formulieren kann: bei Gott (und auch bei den Engeln) ist zwar Heiligkeit, aber keine Tugend. Die ‚Heiligkeit‘ wird folglich einerseits dadurch bestimmt, dass der Wille hier dem Gegensatz zwischen moralisch-autonomen und neigungsgesteuerten Wollen enthoben ist. Dies kann beim Menschen (zumindest in seiner irdischen Verfasstheit) niemals der Fall sein. Andererseits ist Kant im Gegensatz zu den späteren Bedenken bezüglich einer Opakheit der Gesinnung recht optimistisch, dass die kritische Selbstreflexion es erlaubt, die jeweilige Gesinnungsqualität zu erkennen, und der Mensch von Fall zu Fall eine unzweifelhaft heiligmäßige Gesinnung hegt. 174 Lediglich punktuell und fragil kann der Mensch aus eigenen 173 Wie S. Engstrom (2015, 113) beobachtet, wird im oben analysierten Abschnitt über die antiken ‚Moralsysteme‘ das Ideal Platons nicht ausdrücklich in den Vorwurf der ‚Unreinheit‘ und der Anpassung an die begrenzten Möglichkeiten des Menschen einbezogen. In Bezug auf den implizierten Anspruch steht das Heiligkeitsideal folglich dem (neu-) platonischen Ideal nahe. 174 Stark 2004, 32 13-17 / AA XXVII 1 258 30-34 : „Wir sind in unserm Gemüth von Natur geschikt genug die moralische Bonitaet sehr genau und subtil von der problematischen und pragmatischen Bonitaet zu unterscheiden, und denn ist die Handlung so rein als wenn sie vom Himmel käme.“ <?page no="145"?> 3.4 Des Menschen Unheiligkeit und Gottes Beistand 145 Kräften diejenige moralische Qualität in sich ausbilden, die im ‚heiligen Willen‘ dauerhaft und wesenshaft vorliegt. Bei der Kommentierung des Ethica -Paragrafen 92, der von der imitatio Dei handelt, lehnt Kant daher die von Baumgarten geforderte ‚Nachahmung‘ Gottes ab. 175 Begründet wird dies zum einen damit, dass die das Wesen betreffenden Unterschiede zwischen Gott und Mensch eine Nachahmung im Sinne einer tatsächlichen ‚Anähnlichung‘ verunmöglichen. Zum anderen hat Kant generell Vorbehalte gegen den Nachahmungs-Begriff, da er darin eine unreflektierte und unselbständige Imitation des Vorbildes sieht. Statt Gott als solchen nachahmen zu wollen, sollen wir dem „Ideal der Heiligkeit“ nachgehen und versuchen, „demselben conform zu seyn“. 176 Das im Heiligkeitsideal ausgedrückte Ziel für die menschlichen Bemühungen besteht also nicht darin, wie Gott zu werden. Eine solche Forderung wäre nicht realisierbar und sowohl aus anthropologischen wie auch aus metaphysischen Gründen unsinnig. Vielmehr muss der Mensch sich nach besten Kräften bemühen, handelnd und wollend diejenige Qualität in sich auszubilden, die in der Heiligkeit vollständig und dauerhaft gegeben ist. Denn dann tritt Gott unterstützend bei und der Menschen wird so behandelt, als ob er das Ideal gänzlich erfüllt hätte. Das Heiligkeitsideal beschäftigt Kant auch in den anderen Vorlesungen, auch wenn er es dort mitunter in anderen Zusammenhängen und weniger umfangreich thematisiert. So finden wir im frühesten Vorlesungszeugen nebst einer ähnlich kritischen Diskussion des imitatio -Begriffes einen Kommentar zu Baumgartens Unterscheidung zwischen ‚philosophischer‘ und ‚christlicher‘ Sittenlehre. Herder notiert hierzu, dass die erstere vor der zweiten dargestellt werden müsse, da sie manche Verbindlichkeiten aufzeigt, die für sich genommen unmöglich sind und daher auf die zweite hinführen - und zwar deswegen, weil die christliche Ethik den „Wiederspruch im Menschen hebet“, der daraus resultiert, dass der Mensch „sich etwaz zurechnet, was er doch nicht unterlaßen kann“, und weil sie die „Collision der Ohnmacht mit der Moralischen Vorschrift hebt[…] und jene heilt“. 177 Die Heiligkeit und auch der göttliche Beistand werden an dieser Stelle nicht ausdrücklich erwähnt. Dennoch lässt die Formulierung 175 Vgl. Ethica § 92, von Baumgarten mit den Stichworten ‚Nachahmung‘ und ‚Gottes Ebenbild‘ zusammengefasst: „Studium assimilandi quid alteri est eius imitatio (a); te deo et omnia tua diuinis tantum assimilare stude, quantum eius a te fieri potest, […]. Ergo deum, quantum potes, imitare, vitans, quicquid vitabilium te deo reddit dissimilem, […]. Ergo quaere omnes perfectiones in te possibiles, vita omnes perfectiones tuas contingentes, ob dei gloriam, […]. vt sis imago dei tui (b) quanta potes, […].“ 176 Stark 2004, 143 2-7 / AA XXVII 1 322 39 -323 5 . 177 AA XXVII 1 16 1-3 . Der Bezug des Demonstrativpronomens ‚jene‘ lässt sich nicht eindeutig auflösen. Allerdings kann ‚,moralische Vorschrift‘ aufgrund des Sinnzusammenhanges ausgeschlossen werden, und der Unterschied zwischen einer Heilung der ‚Kollision‘ <?page no="146"?> 146 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik den Gedanken eines durch den Menschen nicht erfüllbaren, obgleich philosophisch gerechtfertigten Ideales erkennen, das allein im Zusammenhang einer christlichen Ethik sinnvoll behandelt werden kann. In den Vorlesungen Powalski und Mongrovius werden die Grundzüge der aus Kaehler-Collins bekannten Argumentation aufgegriffen: Nur das Christentum konnte das Heiligkeitsideal vorlegen, da es das ‚natürliche‘ Vermögen des Menschen überschreitet und auf die Überzeugung einer ‚übernatürlichen‘ Mithilfe angewiesen ist. 178 Bei Vigilantius wird immerhin erwähnt, dass die Bitte um den Beistand Gottes angesichts der eigenen moralischen Mangelhaftigkeit der Moralität gemäß ist. 179 Die Ausführungen zum Ideal der Heiligkeit und der damit verknüpften Annahme eines göttlichen Beistandes haben einen weiteren thematischen Strang zu Tage gefördert, in dem Kant über die Relevanz von Religion für die Moral durchdenkt. ‚Religion‘ bietet gemäß den Vorlesungen nicht nur eine hinreichend komplexe Lösung für die Finalität des moralischen Handelns, sondern hat auch Bedeutung für den Gehalt des sittlichen Anspruches an den Menschen und für das Streben nach der Erfüllung dieses Anspruches. Doch die Aussagekraft der Vorlesungen reicht noch weiter. An einigen Stellen geben sie auch nähere Auskunft dazu, wie sich der Philosoph die Wirkweise des Beistandes denkt und inwiefern die Lehre vom göttlichen Beistandshandeln seines Erachtens die Moralpraxis des Menschen unterstützen kann. Dies geschieht jedoch in etwas verklausulierter und mitunter nur indirekt verständlicher Form, da manche der Ausführungen mit einer erläuterungsbedürftigen Differenzierung zwischen dem ‚Natürlichen‘ und dem ‚Übernatürlichen‘ sowie mit Erläuterungen zum religio -Begriff verschränkt sind. Bei der soeben zitierten Abgrenzung von philosophischer und christlicher Sittenlehre in den Herder-Notaten war die Rede davon, dass die christliche Ethik und der ‚Ohnmacht‘ verändert die Gesamtaussage nur unwesentlich. Vgl. zur Stelle auch Frierson 2015, 48. 178 Vgl. AA XXVII 1 165 21-27 (Powalski): „Die Macht und Stärke der Tugend in den moralischen Gesinnungen bestehet darinn: Daß sie große Handlungen vom Gegentheil, das ist vom Laster, zu überwinden hat-- Heiligkeit und Tugend sind darin unterschieden. […] Die Tugend ist die wahre moralische Bestimmung des Menschen“. Vgl. auch AA XXIX 1,1 604 11 -606 7 , bes. 604 11-22 (Mrongovius II): „Im Evangelio findet man auch ein Ideal nehmlich das Ideal der Heiligkeit. […] Die alten Philosophen sind darauf nicht gekommen ob man gleich gesagt hat, daß sie alles Moralische in der Bibel gesagt haben.“ 179 Vgl. AA XXVII 2,1 727 36 -728 6 : „Jeder Wunsch ist unerlaubt, insoweit es an vernünftigen Gründen mangelt, […] mithin nur allein der moralische Wunsch d. i. daß die Handlungen des Bittenden zum gewünschten Zweck so beschaffen sind, daß sein eigenes Gewissen ihm Beyfall geben könne, und daß, insofern er sich nach seinen Kräften für unvermögend halten sollte, er hoffe, daß der Beistand Gottes dazu ihm gewährt werden werde. Dieser Wunsch ist an sich gut und der Moralität gemäß.“ <?page no="147"?> 3.4 Des Menschen Unheiligkeit und Gottes Beistand 147 den ‚Widerspruch‘ im Menschen beseitigt, indem sie die ‚Kollision‘ zwischen dem mangelndem Vermögen und dem praktisch-vernünftigen Moralitätsideal ‚heilt‘. Im imitatio -Abschnitt wird als Ausnahme auf die ‚ übernatürliche Religion‘ verwiesen. Sie kann offenbar durch ihre ‚Einwirkung‘ die im ‚ natürlichen Zustande‘ unmögliche Anähnlichung an Gott zustande bringen. 180 In der Definition der auch bei Baumgarten erwähnten religio supernaturalis heißt es, dass in der übernatürlichen Religion „das praktische unmittelbar von Gott gewirkt wird“. 181 Gemäß der vagen Andeutungen Herders ist Kant offenbar der Ansicht, dass das Christentum anders als die philosophische Lehre über die natürliche Religion die Überzeugung eines übernatürlichen göttlichen Wirkens inkludiert, das dem Menschen zur Erfüllung des Ideales verhilft. Diese Ansicht erscheint auch in den späteren Vorlesungen. Vor allem in dem Kolleg, das beispielsweise Kaehler aufzeichnete, wird sie umfänglich erläutert. Besonders aussagekräftig ist dabei der Abschnitt „Von der natürlichen Religion“, mit dem Kant seine Kommentierung des religio -Traktates eröffnet. 182 Er unterscheidet hier zwischen ‚natürlicher‘ und ‚übernatürlicher‘ Theologie einerseits, und ‚natürlicher‘ und ‚ übernatürlicher‘ Religion andererseits. Die ‚übernatürliche‘ Theologie wird auch als ‚geoffenbart‘ bezeichnet und aus den vorhergehenden Passagen wissen wir, dass die natürliche Theologie eine solche ist, die sich dem Gebrauch der Vernunft, insbesondere der Analyse von Moralität verdankt. Von der natürlichen Religion wird gesagt, dass sie nur diejenigen Pflichten enthalte, „die ich durch die Vernunfft in Ansehung des höchsten Wesens einsehe“ 183 . Da jedoch aus Kants Sicht der Wille Gottes mit dem Moralgesetz übereinstimmt und folglich in Bezug auf das höchste Wesen keine anderen 180 Vgl. Herder AA XXVII 1 33 27-35 : „Im natürlichen Zustande können Menschen Gott kaum nachahmen: da Nachahmung Ähnlichkeit voraussezt […] - Ob bei der Erfüllung des Willens Gottes auch die Nachahmung ein beweggrund [sic! ] seyn soll, ist Spekulation da sonder dem die Ahnlichkeit nicht recht bestimmt werden kann: - die übernatürliche Religion macht hier durch die Einwirkung Ausnahme etc.“. 181 AA XXVII 1 19 35f . 182 Der Abschnitt setzt mit zwei kürzen Absätzen ein: In Stark 2004, 115 4 -115 13 / AA XXVII 1 305 10-17 diskutiert Kant die rechte Stellung des religio-Themas innerhalb der Ethik, in 115 14 -115 22 / 305 18-24 nimmt er eine Begriffsbestimmung der ‚natürlichen Religion‘ vor. Ein größerer Hauptteil beschäftigt sich mit der dieser natürlichen Religion entsprechenden Theologie, wobei der Schwerpunkt der Erörterung zunächst auf der Inhaltlichkeit dieser Theologie (115 23 -118 8 / 305 24-28 ) und dann auf dem Ursprung dieser Theologie in der Moralität liegt (118 9 -119 29 / 305 28 -307 28 ). In diesem letzten Teil ist auch von der Funktion der Religion für die Gesinnung die Rede. In 119 29 -121 5 / 307 28 -308 22 wird die Funktion der Religion für die Moral an weiteren Gesichtspunkten expliziert, was in 122 13 -123 33 / 309 19 - 310 31 anhand der verklausulierten Gegenüberstellung von ‚natürlich‘ und ‚übernatürlich‘ in der Beistandstheorie fortgeführt wird. Der Zwischenabschnitt 121 6 -122 12 / 308 23 -309 18 bestimmt die ‚innerliche‘ und eigentliche Religion als die ‚Religion der Gesinnung‘. 183 Stark 2004, 122 16-18 / AA XXVII 1 309 17f . <?page no="148"?> 148 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik Pflichten als die allgemein moralisch einsichtigen und gebotenen bestehen, ist die zitierte Aussage wohl so zu verstehen, dass natürliche Religion als moralisch auferlegte Praxis in nichts anderem als dem Handeln nach allgemein moralisch geforderten Grundsätzen besteht. Diese kantische Religionsdefinition wird im nächsten Kapitel näher analysiert. Was im Gegensatz dazu mit der ‚übernatürlichen‘ Religion gemeint ist, kann dem Text nur indirekt über die Zuordnung zu anderen Begriffen entnommen werden: Kant stellt die Behauptung auf, dass auch unter Anerkenntnis einer Offenbarung nur solche Pflichten ausgeübt werden, die sich aus dem vernünftig einsichtigen Moralgesetz ergeben. Und er argumentiert für diese Behauptung, indem er folgert, dass die betreffenden Menschen andernfalls eine übernatürliche Religion hätten und damit ein übernatürlicher Beistand bei ihnen vorliegen müsse. 184 Die Ausdrücke ‚übernatürliche Religion‘ und ‚übernatürlicher Beistand‘ könnten so zu verstehen sein, dass die Menschen unter der genannten Offenbarungsbedingung auf empirisch nachvollziehbare Weise („[m]an sehe sich doch um“, „wir sehen aber“) nicht nur das allgemein moralisch Gebotene, das durch die natürliche Religion auferlegt wird, sondern ein ‚Mehr‘ an Moralität vollführen müssten. Doch auch diejenigen, die eine übernatürliche Theologie anerkennen, vollbringen aus sich heraus keine moralisch vollkommenen, heiligmäßigen Handlungen. Die Identifikation von Religion mit moralischem Handeln vorausgesetzt, muss man die ‚übernatürliche‘ Religion daher als eine Ergänzung zur ‚natürlichen‘ auffassen. Die ‚übernatürliche‘ Religion ist nicht wie die ‚natürliche‘ ein Handeln des Menschen, sondern ein Handeln Gottes, das „Beistand“ genannt wird. 185 184 Vgl. Stark 2004, 122 19-22 / AA XXVII 1 309 24-30 : „Man sehe sich doch um, so wird man finden, daß die Menschen bey der übernatürlichen Theologie doch natürliche Religion haben; hätten sie übernatürliche Religion so müßte ein übernatürlicher Beystand bey ihnen angetroffen werden; wir sehen aber, daß die Menschen nur solche Pflichten ausüben, die sie natürlich durch die Vernunfft einsehen können.“ 185 Stark 2004, 122 25-31 / AA XXVII 1 309 30-35 : „Natürliche Religion ist von der Übernatürlichen zu unterscheiden, aber nicht so, daß sie sich entgegengesetzt sind; […] die übernatürliche ist die Ergäntzung der Natürlichen durch einen höhern göttlichen Beistand.“ Die gleiche Gegenüberstellung finden wir bei Powalski in der Auseinandersetzung mit dem ‚Naturalismus‘, d. h. der Position, die nur eine natürliche Religion annimmt (AA XXVII 1 172-173: „Wir können nur der übernatürlichen Religion fähig werden, wenn wir die natürliche gebraucht haben, wie viel es uns möglich war. […] Man muß seine Kräfte anwenden, der Natürlichen Religion Genüge zu leisten, und denn kann man hoffen, die übernatürliche als das Supplementum der natürlichen Religion zu genießen. […] Der natürlichen Religion ist es gänzlich unbekannt, wodurch eine Ergänzung unseres Wohlverhaltens unserer Gebrechlichkeit und der moralischen Reinigkeit geschehen könnte, sie sieht doch aber daß das nöthig ist, und daß wir sonst keine andere Hoffnung mit der Gerechtigkeit des Richters zusammenzustimmen haben können.“ <?page no="149"?> 3.4 Des Menschen Unheiligkeit und Gottes Beistand 149 Doch wie hat man sich nun das ergänzende Beistandshandeln Gottes vorzustellen? - Die folgende Textpassage gibt diesbezüglich nähere Auskunft: „[1] Wenn auch in der übernatürlichen Religion vieles ist, was die Gebrechlichkeit der Menschen ersetzen kann, so ist die Frage, was denn dem Menschen kann imputirt werden? Alles kann ihm imputiret werden, was von ihm natürlicher Weise durch seine eigene Kräffte hervorgebracht wird. Durch solches Verhalten und den guten Gebrauch seiner natürlichen Kräffte kann er sich nun würdig machen aller Ergäntzung seiner Gebrechlichkeit. […] [2] Die natürliche ist eine wahre Religion, nur incomplett, wir müssen durch sie erkennen, wie viel wir aus unserer Krafft thun können und wie viel uns kann zugerechnet werden, und wenn wir uns nun so verhalten so machen wir uns der Ergäntzung würdig. Was macht uns fähig die Vollständigkeit und Ergäntzung unsrer Unvollkommenheit durch übernatürliche Mittel der Religion zu bekommen? Nichts als der gute Gebrauch der natürlichen Religion. […] Man kann also nicht die übernatürliche Religion sogleich annehmen, und sogleich durch einen höhern Beystand unterstützt werden und die natürliche fahren lassen. […] [D]ie natürliche Religion ist aber die nothwendige Bedingung, unter der wir der Ergäntzung würdig werden könnten, weil die übernatürliche ein Supplement der natürlichen ist. […] [3] [W]ürden wir die natürliche Religion weglassen, so würde die Uebernatürliche was passives seyn, denn müste der Mensch mit sich machen lassen, was Gott wollte, er hätte also nichts zu thun, weil alles übernatürlich zugehen müste. Muß aber Moralitaet in den Handlungen seyn, so muß die natürliche Religion vorhergehn.“ 186 Der Akzent der Gedankenführung Kants liegt sicherlich auf dem, was unter der Gliederungsziffer [2] ausgeführt wird. ‚Natürliche‘ und ‚übernatürliche‘ Religion werden so zueinander ins Verhältnis gesetzt, dass die erste die Bedingung der zweiten darstellt. Demnach darf man sich nicht unter Außerachtlassung der Pflichten der natürlichen Religion sogleich der übernatürlichen zuwenden. Diese Verhältnissetzung richtet sich oberflächlich betrachtet gegen eine Priorisierung des ‚Übernatürlichen‘ in der Religionsauffassung und -praxis. Vermittelt durch die Gleichsetzung von ‚Religion‘ und moralischem Handeln - natürliche Religion: ‚Inbegriff aller moralischen Handlungen‘; übernatürliche Religion: ‚Unterstützung durch einen höheren Beistand‘ - steht hier aber das Verhältnis zwischen dem moralischen Handeln des Menschen und dem Handeln Gottes zur Debatte. Da Kant das erste als Bedingung des zweiten ansieht, bezieht er offensichtlich gegen das systematisch gegenläufige Modell Position, demzufolge das (Beistands-)Handeln Gottes dem Handeln des Menschen vorausgeht oder dieses gar in seiner Wichtigkeit relativiert: „Man kann also nicht die übernatürliche 186 Stark 2004, 122 31 -123 31 / AA XXVII 1 309 35 -310 29 . <?page no="150"?> 150 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik Religion sogleich annehmen, und sogleich durch einen höhern Beystand unterstützt werden und die natürliche fahren lassen.“ Unter Ziffer [3] bietet der Text eine Begründung für diese Verhältnissetzung. Die Begründung ist auch hier wieder so aufgebaut, dass Kant Folgerungen expliziert, die sich seines Erachtens aus der umgekehrten Zuordnung ergeben würden: Zum einen wäre die ‚übernatürliche‘ Religion dann nämlich eine solche, bei der der Mensch rein passiv wäre. Er wäre bloßes Objekt des göttlichen Handelns, das sich zudem nicht nach dem Kriterium der beim Menschen vorfindlichen Moralität richtete, sondern ausschließlich in der Willkür Gottes begründet läge. Zum anderen könnte und würde der Mensch in Passivität verfallen, da er ja den vorgängigen Beistand Gottes erwartete und sich nicht um moralisches Handeln bemühen müsste. Während in der ersten Folgerung auf die Gefahr der Willkür und der Unbegreiflichkeit im Handeln Gottes abgehoben wird, besteht die Befürchtung hinter der zweiten Überlegung darin, dass ein anderer Zusammenhang als der eines Bedingungsgefüges die moralische Handlungspraxis des Menschen unterminiert. Der Gliederungsabschnitt [1] birgt einige Hinweise dazu, wie man sich die Verbindung zwischen menschlicher und göttlicher Aktivität in etwa vorzustellen hat. Kant spricht von einer ‚Ergänzung‘ der ‚Gebrechlichkeit‘ und dieser Ergänzung muss sich der Mensch durch den Gebrauch der ‚natürlichen Kräffte‘ würdig machen. Wenn aber der Gebrauch der ‚natürlichen Kräfte‘ als Voraussetzung für die Ergänzung dargestellt wird, dann bedeutet das auch, dass Kant den Gebrauch der ‚natürlichen Kräfte‘ für ergänzungsfähig und -bedürftig einschätzt. Das, was der Mensch mit seinen ihm ‚natürlich‘ gegebenen Fähigkeiten und Möglichkeiten an Pflichterfüllung und moralisch Verdienstlichem zu vollbringen vermag, ist also insgesamt immer noch von ‚Gebrechlichkeit‘ gekennzeichnet, woraufhin der göttliche Beistand ergänzend und helfend entgegenkommen möge. Der göttliche Beistand leistet also keine Ersetzung oder Abhilfe für das, was der Mensch hätte moralisch leisten können und sollen, aber nicht geleistet hat, sondern eine Ergänzung über das ‚natürlich‘ zu leistende hinaus. Das lässt an eine zweistufige Zuordnung denken: Auf der ersten Stufe des ‚natürlichen‘ moralischen Gefordertseins und Handelns soll und muss getan werden, was dem Menschen möglich ist. Dies ist jedoch ergänzungsfähig und -bedürftig. An dieser Stelle setzt nun als zweite Stufe das Handeln Gottes ein und ergänzt auf übernatürliche Weise, was der Mensch nicht selbst zu tun vermochte. In diesem Sinne dürften auch die Bemerkungen zu verstehen sein, dass die übernatürliche Religion eine ‚Ergänzung‘ oder eine ‚Supplement‘ der natürlichen darstellt. Im Zitat aus Ziffer [2] wird das so formuliert: Gott leistet durch seinen Beistand <?page no="151"?> 3.4 Des Menschen Unheiligkeit und Gottes Beistand 151 eine „Ergäntzung der Unvollständigkeit unserer moralischen Handlungen“, sofern man sich durch Moralität dieser Ergänzung würdig gemacht hat. Neben der Kommentierung des religio -Begriffs gibt es noch weitere Textabschnitte, die es erlauben, die kantische Vorstellung eines göttlichen Beistandes inhaltlich zu profilieren: Im Abschnitt ‚De Cultu Externo‘ stellt Kant einen argumentativen Zusammenhang zwischen der Beistandslehre und den Gottesprädikaten her. Er leitet daraus ab, dass die göttliche Hilfeleistung nicht in einem Straferlass oder einer Vergebung bestehen kann. Der Abschnitt zur rechten ‚Selbstbeurteilung‘ bietet Überlegungen dazu, inwiefern die Vorstellung eines göttlichen Beistandshandelns das moralische Streben des Menschen befördern kann. Für Kant korrespondiert das Hilfshandeln Gottes mit dem Gottesprädikat der Güte. 187 Allerdings muss die Güte mit einer weiteren Eigenschaft Gottes in Einklang gebracht werden, die darin besteht, dass dieser einen ‚heiligen‘, d. h. mit dem Moralgesetz vollkommen übereinstimmenden Willen hat. Der Vorlesung zufolge ist es daher nicht denkbar, dass Gott dem Menschen die Strafe für seine moralischen Versäumnisse erlässt: „[Man] kann von einem gütigen Regierer hoffen aber nicht die Erlassung der Strafe seiner Laster, denn alsdenn wäre der göttliche Wille nicht heilig, er ist aber heilig, so fern er dem heiligen moralischen Gesetz adaequat ist“. 188 Hinzu kommt das weitere Argument, wonach bereits die moralische Geordnetheit der Welt als solche - in die hinein sowohl der Konnex von Handlungen und entsprechenden Folgen als auch das Ergänzungshandeln Gottes gehört - für sich genommen als Ausdruck der göttlichen Güte anzusehen ist. 189 Für den Kant der Vorlesungen bedeutet das auch, dass das Beistandshandeln Gottes nicht als Vergebung des moralischen Versagens gedacht werden darf. 190 Eine Vergebung durch Gott ist ausgeschlossen, weil das Gottesprädi- 187 Vgl. Stark 2004, 156 5-7 / AA XXVII 1 331 17-19 (Hervorhebungen: Reich): „Allein soll denn der Mensch keine Hülfe haben […]? Ia er kann von einem gütigen Regierer hoffen“. 188 Stark 2004, 156 7-10 / AA XXVII 1 331 19-22 . 189 Vgl. Stark 2004, 156 10-19 / AA XXVII 1 331 22-29 : „wir können aber von einem gütigen Regierer hoffen nicht allein in Ansehung des physischen, wo schon die gute Handlungen an sich gute Folgen bringen, welches auch Gütigkeit ist, sondern auch eine Gütigkeit in Ansehung des moralischen, […] die Gütigkeit besteht in den Hülfsmitteln, wodurch Gott die Mängel unserer natürlichen Gebrechlichkeit ergäntzen kann, darin kann Gott seine Gütigkeit beweisen.“ 190 Vgl. Stark 2004, 155 7-12 / AA XXVII 1 330 29-34 : „[N]icht allein dasjenige, was sie [sc. die Menschen] als eine gute Handlung ausüben, ist sehr mangelhafft und beflekt, sondern da sie auch noch mit Bewustseyn und Willen das göttliche Gesetz übertreten, so können sie gar nicht hoffen für [lies: vor] einen [einem] heiligen und gerechten Richter, der nicht das Laster simpliciter vergeben kann, zu bestehen.“ Vgl. auch wiederum Powalski (AA XXVII 173): „Man muß nicht glauben, daß Gott nach Belieben vergeben könnte, das ist, <?page no="152"?> 152 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik kat der Güte mit dem Richteramt Gottes in Ausgleich gebracht werden muss. Die Vorstellung eines gütig vergebenden Richters stellt in Kants Augen eine contradictio in adiecto dar. Wenn Gott vergeben würde, behandelte er das Moralgesetz mit Willkür, sodass er ebenso auch eine Gesetzesübertretung legitimieren könnte. Sobald die Menschen von einer solchen Ausnahme erfahren, bestünde die Gefahr, dass die moralische Praxis durch Bitten und Schmeichelei ersetzt wird. Vergebung wird hier zwar primär juridisch als Strafdispens, d. h. als Außer-Kraft-Setzung der moralisch erforderlichen Straffolge, verstanden. Doch wie die Konjunktion mit den Gottesprädikaten anzeigt, ist Kant auch grundsätzlich der Ansicht, dass das Hilfehandeln Gottes allgemein nur konditioniert, unter Voraussetzung und als Ergänzung einer moralischen Vorleistung auf Seiten des Menschen stattfinden kann. Eine von dieser Bedingung absehende Hilfeleistung müsste gemessen an der in den Vorlesungen entfalteten Morallehre nicht nur für den göttlichen Hilfeleister, sondern auch für den menschlichen Hilfsempfänger problematisch erscheinen. Nur wenn der Mensch die Voraussetzung erfüllt, macht er sich der göttlichen Beihilfe ‚würdig‘. 191 Er entgeht damit der an anderen Stellen angedeuteten Problematik, dass der Empfang einer Hilfeleistung moralische Verbindlichkeiten konstituiert. 192 Ein nach der Konzeption eines konditionierten Beistandes erfolgendes göttliches Hilfshandeln kann diese Problematik insofern abmildern, als der Mensch es zwar immer noch allein der Güte Gottes verdankt, wenn ihm die Erreichung des Heiligkeitsideales ermöglicht wird, er aber zugleich von sich behaupten kann, alles in seinen Kräften Stehende unternommen zu haben, um das Ideal zu erfüllen. Außerdem lässt sich die erhoffte Güte dann nicht als willkürlicher Hilfsakt, sondern als moralisch berechtigte Ergänzung infolge des eigenen Bemühens begreifen. daß er als ein gerechter Richter nachsichtlich seyn und vergeben könnte. Wenn er könnte vergeben, so könnte er auch andere Gesezze machen, denn weil er im sprechen vom Gesezz abweichen kann, so könnte er auch nach andern Gesezzen sprechen und richten, dieses wiederspricht aber der natürlichen Religion.“ 191 Vgl. Stark 2004, 187 23 / AA XXVII 1 351 4 . 192 Die Entgegennahme einer Hilfeleistung konstituiert Kant zufolge eine ‚obligatio passiva‘. Hinzu kommt noch, dass die Verbindlichkeit nicht abgelöst werden kann, wenn der Wohltäter zuerst in Vorleistung ging (vgl. Stark 2004, 36 15-19 / AA XXVII 1 261 16-19 ). Verbindlichkeiten erzeugen Scham und können zu feindschaftlichen Gefühlen gegenüber dem Wohltäter bzw. der Wohltäterin führen (vgl. 316 25 -317 16 / 439 26 -440 4 ); sie zerstören das auf Gleichheit beruhende Verhältnis zwischen Freunden (vgl. 298 23-30 / 426 14-21 ). Das Almosen wirkt tendenziell erniedrigend, weshalb der Armut besser in einer Weise abgeholfen werden sollte, die diese erniedrigende Wirkung ausschließt (vgl. 340 30 -341 2 / 455 30-33 ). Da das Freisein von Verbindlichkeiten und die Würde notwendige Bestandteile der Selbsterhaltung als moralisches Subjekt darstellen, erwägt Kant sogar, ob die Annahme von Wohltaten eine Verletzung der Pflicht gegen sich selbst darstellt (vgl. 172 18 -173 11 / 341 32 -342 18 ). <?page no="153"?> 3.4 Des Menschen Unheiligkeit und Gottes Beistand 153 Damit ist ein letzter Aspekt genannt, der die in den Vorlesungen gegebene Lehre vom Beistand Gottes angesichts der Unheiligkeit des Menschen inkludiert. Kant gibt den Studenten auch Hinweise dazu, welche Funktion die Beistandslehre für das moralische Handeln des Menschen hat. Diese Funktion, so zeichnete sich ab und lässt sich weiter belegen, liegt darin, dass die Überzeugung von einer ergänzenden Hilfe Gottes das reflexive Selbstverständnis des moralisch Handelnden bereichert und den Abbruch des moralischen Bemühens verhindert. Im Abschnitt über die Selbstbeurteilung wird die Beistandslehre im Zusammenhang mit der ‚Mutlosigkeit‘ diskutiert. Die Erfahrung der Nichtkonformität mit dem Moralgesetz kann zur Mutlosigkeit und sogar zu Niedergeschlagenheit führen. Kant übernimmt damit Elemente der abiectio animi bei Baumgarten und deutet dies als Verzagen des Menschen über seine Fehler und seine mangelhaften Kräfte. 193 Aus der Niedergeschlagenheit kann Resignation werden, woraus „die Unthätigkeit entspring[t], indem der Mensch hernach gar nichts zu thun wagt“. 194 An dieser Gefahr der Entmutigung setzt die Beistandslehre an: „Um dieser Muthlosigkeit abzuhelfen, so merke man folgendes an: daß wir hoffen können, unserer Schwäche und Gebrechlichkeit werde durch die Göttliche Hülfe eine Ergänzung wiederfahren, wenn wir nur so viel gethan, als […] uns zu thun möglich war“ 195 . Die Zuversicht auf das Eintreten des göttlichen Beistandes widerstreitet einer solchen Einschätzung des eigenen Zustandes, derzufolge es angesichts des vorliegenden und zu erwartenden moralischen Versagens unmöglich ist, den moralgesetzlichen Ansprüchen zu entsprechen. Sie widerlegt die Annahme, dass das weitere, schmerzhaft empfundene Bemühen um Moralität sinnlos sei, und verhindert dadurch den Abbruch des Heiligkeitsstrebens. Eine ähnliche Überlegung scheint Kant bereits zu Herders Zeiten angestellt zu haben. In Bezug auf das ‚falsche‘ und ‚faule‘ Vertrauen führt er aus, dass es zwar nicht richtig sei, von Gott die Steigerung der eigenen moralischen Qualität zu erwarten, dass man aber andererseits auch auf eine von Gott gewirkte Besserung vertrauen müsse, weil sich andernfalls Verzweiflung einstelle. 196 Auch bei Vigilantius wird der fiducia -Paragraf aus dem religio -Traktat der Ethica dahingehend kommentiert, dass sich das moralische Vertrauen auch auf eine göttliche Ergänzung der eigenen Mangelhaftigkeit richte. 197 193 Vgl. Baumgarten Ethica §§ 173 f., Stark 2004 186 30 -187 7 / AA XXVII 1 350 24-30 . 194 Stark 2004, 186 29f / AA XXVII 1 350 23f . 195 Stark 2004, 187 16-21 / AA XXVII 1 350 37 -351 2 . 196 Vgl. AA XXVII 1 29, sowie Frierson 2015, 49. 197 Vgl. AA XXVII 2,1 727 7-9 : Zur inneren Gottesverehrung gehört „das moralische Vertrauen zu Gott, es werde unserem Endzweck, insoweit er nicht durch unsre Kräfte erreichbar ist, das Ermangelnde von Gott ergänzt werden“. Der fiducia -Begriff ist in der reformatorischen <?page no="154"?> 154 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik Kant weist der zuversichtlichen Erwartung von Gottes Beistand damit eine motivationale Relevanz für die Realisierung der Moral zu. Der Antagonist der Zuversicht - die Mutlosigkeit - wird vor allem als Urteil über das moralische Unvermögen und die Erfolglosigkeit des weiteren Bemühens, mithin als kognitive Einsicht dargestellt. Daher dürfte auch der Zuversichtsbegriff vorrangig durch seinen propositionalen Gehalt bestimmt sein. Folglich ist die hier gemeinte Zuversicht primär eine Überzeugung, die Aussagen zum Fort- und Ausgang des moralischen Bemühens enthält. Die motivationsförderliche Wirkung der Zuversicht besteht gemäß dieser kognitivistisch-propositionalen Lesart darin, dass bei der rationalen Abwägung von Handlungsgründen der negativen Sicht auf die Möglichkeit der Vervollkommnung eine positive entgegengestellt wird, die aufgrund ihrer spezifischen Inhaltlichkeit das weitere Bemühen um Moralität als notwendiges und sinnvolles Unterfangen erscheinen lässt. In der fiducia immunisiert sich der Mensch gegen eine kurzsichtige Auslegung des moralphilosophischen Axioms vom vorauszusetzenden Können und gegen die Einreden einer neigungsgeleiteten Klugheit und gewinnt die Überzeugung, dass aus den unvermeidlichen Moralitätsdefiziten weder die Illegitimität des Ideales noch der Abbruch des mitunter schmerzhaften Bemühens um die Erreichung des Ideals gefolgert werden muss. Wie im Falle der Aussicht auf ein göttliches Belohnungs- und Ausgleichshandeln verzichtet Kant aber darauf, diesen motivationalen Aspekt der Beistandslehre mit seinen sonstigen motivationstheoretischen Ausführungen zu vermitteln. Fassen wir die Analysen zur kantischen Lehre von der menschlichen Unheiligkeit und Gottes Beistand zusammen! Kant legt die Begriffe fragilitas und infirmitas dahingehend aus, dass der Mensch bei nüchterner Selbstprüfung eingestehen muss, dass er mitunter böse handelt und dass sein Wille oftmals der moralischen Gutheit ermangelt. Der Maßstab, angesichts dessen sich diese negative Einschätzung einstellt, ist das Ideal der Heiligkeit. Dieses Ideal erfüllen kann nur ein gottgleiches Wesen, da nur ein solches Wesen seinen Willen dauerhaft und uneingeschränkt am Moralgesetz ausrichtet. Dennoch sieht sich der handelnde Mensch dem Anspruch des Ideals ausgesetzt, weil das Ideal ein Implikat der ihm eigenen praktischen Rationalität darstellt und er grundsätzlich dazu in der Lage ist, eine heiligmäßige Gesinnung auszubilden. Die Vorlesungen zeichnen folglich ein komplexes Bild vom Menschen, zu dem die Diskrepanzerfahrung gehört, einem perfektionistischen Sittlichkeitsideal nachzustreben, das jedoch aufgrund des mangelnden Vermögens nicht erfüllt werden kann. Tradition aufs engste mit dem Glaubensbegriff verknüpft. Glauben ist wesentlich Vertrauen - auf Gottes Verheißung und das in Jesus Christus gewirkte Heil. Aus einem solchen Vertrauen entsteht die Heilsgewissheit ( certitudo ). Vgl. hierzu Dalferth/ Peng-Keller 2012, 20-26. <?page no="155"?> 3.4 Des Menschen Unheiligkeit und Gottes Beistand 155 An diesem Punkt gewinnt die Lehre vom göttlichen Beistand ihre moralphilosophische Bedeutung: Nur wenn Gott mithilft, kann der Vollendungszustand im und durch den Menschen verwirklicht werden. Wie der Vergleich mit den antiken Ethikschulen herausstellt, kann das Ideal nur unter Voraussetzung dieser Annahme sinnvollerweise expliziert werden, da dann das Axiom ultra posse nemo obligatur gewahrt wird, auch wenn in diesem Fall das für die Verpflichtung erforderliche ‚Können‘ nur mittels der göttlichen Mithilfe vollumfänglich gegeben ist. Kant präsentiert in seinen Vorlesungen folglich auch Reflexionen dazu, wie der endliche und fehlbare Mensch überhaupt ‚moralisch gut‘ werden kann. Für Kant ist hierfür die Mitwirkung Gottes erforderlich. Neben dem Thema des höchsten Gutes gibt es in den Vorlesungen also einen zweiten Reflexionszusammenhang, in dem die Relevanz der Religion für die Moral bedacht wird. Und die religiöse Lehre vom göttlichen Beistand hat ihre moralphilosophische Bedeutung darin, dass sie das Problem des fraglichen ‚Gut-Werdens‘ bzw. der notwendigen Besserung des Menschen löst. Dieser Reflexionsstrang steht einem Themenkomplex nahe, der in der christlich-theologischen Tradition mit dem Gedanken der Annahme des sündigen Menschen durch Gott sowie mit der Frage des menschlich-göttlichen Zusammenwirkens bei der Erlösung, ja bei der Vergöttlichung des Menschen verbunden wurde. In theologischer Terminologie ausgedrückt geht es dabei um Fragestellungen der Hammartialogie sowie der Soteriologie und der Gnadenlehre. Die Präsumtion einer durch jeden Menschen diagnostizierbaren Mangelhaftigkeit angesichts des Anspruches der Moralität erinnert an die Aussagen des Römerbriefes, wonach alle Menschen über ein Gewissen verfügen und von diesem angeklagt werden. 198 Kant selbst sieht das Ideal der vom Menschen anzustrebenden Heiligkeit in den Evangelien angelegt. Und der Gedanke, dass es neben dem menschlichen Wohlverhalten auch der gnadenhafte Mithilfe Gottes bedarf, damit der Mensch in die dauerhafte Gemeinschaft mit Gott eingehen kann, spiegelt die theologische Kontroverse um die genaue Rolle der Gnade beim Erlösungsgeschehen wider. Auf spezifische Weise greift Kant damit einen Problemkomplex auf, der auch seine philosophischen Zeitgenossen beschäftigte. Baumgarten verweist bei seiner differenzierten Betrachtung der imputatio auf die Erörterungen zum ‚Übernatürlichen‘ in seiner Metaphysica . Demnach besteht das supernaturale in dem, 198 Kant rezipiert also nicht nur - ebenso wie laut Schneewind (1993, 63) alle neuzeitlichen Naturrechtsethiker - die Formel von der allgemeinen Verbreitung des Gesetzes unter den Menschen in Röm 2,14 f., sondern auch die eher pessimistische Einschätzung des Paulus, dass deshalb alle Menschen die Anklage durch das Gewissen spüren (2,15) und die Konsequenzen einer Gesetzesübertretung tragen müssen (2,12). <?page no="156"?> 156 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik was von der Natur keines Dings vollbracht werden kann. Das Übernatürliche kann und wird eintreten, wenn hierdurch der Grundsatz des bestmöglichen Weltzustandes besser verwirklicht wird, als wenn die Gesetze der Naturordnung eingehalten werden. 199 Die Kehrseite dieser positiven Bestimmung ist, dass das, was gemäß der natürlichen Ordnung auf gleiche oder gar bessere Weise geschieht, nicht durch ein übernatürliches Ereignis realisiert wird. 200 Baumgarten spricht daher von ‚ausbessernden‘ oder ‚ergänzenden‘ Wundern: „Wieviel und wie großes Bestes in ihr entweder gar nicht oder nicht gleich gut auf natürliche und ordentliche Weise geschehen kann, das geschieht in ihr auf übernatürliche und wunderbare Weise […]. Die an erster Stelle genannten Wunder können ERGÄNZENDE, die an zweiter Stelle genannten AUSBESSERNDE WUNDER heißen.“ 201 Auch Baumgarten vertritt folglich eine zweistufige Vorstellung vom Eintreten des Übernatürlichen. Demnach wird dieses dann auftreten, wenn die Eigenaktivität des Natürlichen nicht mindestens die gleichermaßen positiven Ergebnisse hervorbringt. Sofern man als Philosoph keinen ‚naturalistischen‘ Irrtum begehen will, muss man sich zumindest der Begrenztheit seiner Theorie von der Naturordnung bewusst sein und die Möglichkeit einer derartigen übernatürlichen Vervollkommnung anerkennen. 202 Kants Vorlesungen arbeiten mit begrifflich ähnlichen Verhältnissetzungen. Eine bedeutende Differenz besteht allerdings darin, dass der Königsberger Philosoph innerhalb der philosophischen Morallehre ausführlich auf den Gedanken eines göttlichen Beistandes sowie auf die Bedeutung dieses Gedankens für den handelnd-reflektierenden Menschen eingeht. Damit verlässt er die etablierte methodologische Beschränkung auf die ‚natürlichen‘ Vermögen des Menschen und grenzt sich überdies von einem überwiegend optimistischen Menschenbild ab, das eben diesen natürlichen Vermögen zutraut, die vernunftgemäßen Grundsätze des sittlichen Handelns zu befolgen. Bildlich gesprochen versetzt bereits die vorkantische Aufklärungsphilosophie ein Ideal, das im benachbarten Garten der theologischen Ethik kultiviert wurde, in den von den Philosophen bewirtschafteten Garten der Moralphilosophie. Kant legt in seinen Vorlesungen dar, dass dieses Ideal durch die Vorstellung vom göttlichen Beistand umrankt werden muss, wenn es gemäß dem Sollen-Können-Axiom und unter Voraussetzung der spätestens ab den Kaehler-Collins-Vorlesungen geforderten ‚Gesinnungsreinheit‘ keine unstatthafte Überforderung darstellen soll. Die anspruchsvolle Forderung der Philosophie nach moralischer Vervollkommnung macht für ihn auch eine philosophische Gnadenlehre erforderlich. 199 Vgl. Metaphysica § 474, § 483 f. 200 Vgl. Metaphysica § 495. 201 Metaphysica § 497. 202 Vgl. Metaphysica § 493 f. <?page no="157"?> 3.5 Gottes Beistand und die Religion 157 Umso auffälliger ist jedoch, dass die Vorlesungen trotz dieses Rückgriffs auf die Gnadenlehre ohne jede Christologie und überhaupt ohne jede nähere Erwähnung von Jesus Christus auskommen. Außerdem argumentieren die Vorlesungen ausdrücklich für einen Beistand, der ausschließlich konditioniert-ergänzend gedacht wird. Der Beistand kann ausschließlich konditioniert , d. h. unter der Bedingung eines größtmöglichen Bemühens, das Moralgesetz zu erfüllen, eintreten, und er ergänzt das menschliche Bemühen im Blick auf das angestrebte Heiligkeitsideal. Nebst der Gefahr, dass andernfalls das moralische Bemühen des Menschen nachlassen könnte, deuten die Texte zwei Motive für eine solche Beistandskonzeption an: Erstens würde Gott, wenn er vergebend oder schulderlassend am Menschen handelte, zu seinen sonstigen Eigenschaften, nämlich insbesondere zu seinem vollkommen moralgesetzlichen Willen und zu seinem Amt des gerechten Richters, in Widerspruch geraten. Und zweitens erlaubt nur eine solche Handlungskonstellation, dass sich der Mensch trotz der Angewiesenheit auf die göttliche Mithilfe nicht als unterwürfiger Bittsteller ansehen muss. Die Beistandslehre erscheint in den Vorlesungstexten als ein das moralische Handeln begleitendes und inhaltlich bestimmtes Bewusstsein davon, was der Mensch tun muss und dass Gott dem Menschen helfen wird, wenn die Kräfte des Menschen trotz bestem Bemühen nicht zureichen. Auf diesen Themenkomplex geht Kant auch an verschiedenen Stellen seiner gedruckten Werke ein. Allen voran geschieht dies in der Religionsschrift, wo die moralphilosophische Reflexion über den göttlichen Beistand mit der Begründung eines normativen Religionsbegriffs verschränkt wird. Eine solche Verschränkung lässt sich, wie nun gezeigt werden soll, auch in den Vorlesungen ausmachen. 3.5 Gottes Beistand und die Religion Nicht nur in der GMS, sondern auch in den Ethik-Vorlesungen verwendet Kant das Beispiel eines übervorteilenden Kaufmannes, um ein Fehlverhalten zu illustrieren. Bei der Kommentierung des religio -Traktates ist von einem Kaufmann die Rede, der fleißig die Pflichten der Frömmigkeit erfüllt und häufig Andacht hält. Unmittelbar nach einer Morgenandacht kommt ein einfältiger Käufer zu ihm. Der Kaufmann nutzt seine Chance. Er hintergeht den Käufer durch einen für diesen sehr nachteiligen Handel. Da der Kaufmann ein (auf seine Weise) frommer Mensch ist, dankt er Gott für den Segen, der ihm in diesem vorteilhaften Handel beschert wurde. 203 203 Vgl. Stark 2004, 157 9-16 / AA XXVII 1 332 14-19 . <?page no="158"?> 158 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik Kant wertet das Beispiel dahingehend aus, dass hier eine falsche und heuchlerische Religion praktiziert wird. Er bezeichnet diese Religion als ‚gunstbewerbende‘, weil sie letztlich als Versuch durchschaut werden kann, mittels religiöser Handlungen auf Gott einzuwirken, damit dieser die offenkundige sittliche Unvollkommenheit durch sein Ergänzungshandeln ausgleichen möge. Insbesondere der cultus externus - d. h. die äußerlich sichtbaren und ohne innerlich-moralische Veränderung vollziehbaren Frömmigkeitshandlungen - wird in dieser Weise benutzt, obwohl dieser doch nur den Wert eines Mittels für die eigentliche Religion hat. 204 Die Verwendung des Beispiels zeigt erstens an, dass Kant den Studenten eine spezifische und normativ gedachte Auffassung von Religion nahe zu bringen versucht. Ab den Herder-Notaten erscheint in allen Vorlesungszeugen eine sachlich kongruente Definition dieses Religionsbegriffes, was im folgenden Durchgang durch die Texte belegt werden soll. Zweitens sieht das Beispiel den falschen Religionsbegriff mit einer problematischen Ansicht über Gottes Beistand verknüpft. Diese Verknüpfung wird nach einer vertiefenden Charakterisierung des Religionsbegriffes eigens beleuchtet. Meine Interpretationsthese hierzu besagt, dass der normative Religionsbegriff der Vorlesungen eng mit der Konzeption des Beistandes als (bedingte) Ergänzung des moralischen Bemühens verflochten ist. In der Herder-Vorlesung wird Religion folgendermaßen definiert: „Religio est cognitio practica relationis moralis entis creati ad voluntatem Dei“ - „Religion ist die praktische Erkenntnis der moralischen Beziehung eines geschaffenen Seienden auf den göttlichen Willen“. 205 ‚Religion‘ besteht demnach in einer Erkenntnis, d. h. in einem nicht näher spezifizierten intellektuellen Vorgang. Die Erkenntnis ist überdies ‚praktisch‘, d. h. sie hat Einfluss auf den Willen. Erkenntnisobjekt ist die spezifische moralische Relation zwischen den Menschen und dem göttlichen Willen. Man kann hier an das unter Kap. 3.2 dargestellte Argument denken, wonach Gott nicht den Sachgrund moralischer Normen 204 Vgl. Stark 2004, 157 22 -158 9 / AA XXVII 1 332 24-33 (in Collins fehlt das Adjektiv ‚gunstbewerbend‘). Vgl. auch die Einleitung zum Kaufmann-Beispiel (157 3-9 ): „Die Religion der Gunstbewerbung ist schädlich […] und ist ein System der Religionsschminke und Verstellung, wo man unter dem Schein der Religion und des äussern Gottesdienstes, wodurch man alles vorige gut zu machen denkt, hernach wieder aus [sic] neue darauf los sündigt in Hofnung solches wieder durch solche äussere Mittel gut zu machen.“ Winter (2000, 149 f.) führt als eine mögliche Quelle für die Formulierung und das Problem des ‚Gunsterwerbs‘ D. Humes Schrift „Dialogues concerning Natural Religion“ an. 1780 stand Kant die Schrift offenbar in einer Übersetzung durch Hamann zur Verfügung. Damit besteht auch eine zeitliche Nähe zur Kaehler-Collins-Vorlesung. 205 AA XXVII 1 17 3f . Aus dem Kontext erhellt, dass mit ens creatum lediglich die vernunftbegabten Wesen, d. h. vor allem der Mensch, zu verstehen sind. <?page no="159"?> 3.5 Gottes Beistand und die Religion 159 bildet und daher auch nicht die Richtigkeit der Normen konstituiert, er aber einen durch und durch moralischen Willen hat und überhaupt als moralisch vollkommenes Wesen angesehen werden muss. An anderer Stelle identifiziert Kant ‚Religion‘ bzw. die in ihr enthaltenen Handlungen mit moralischen Handlungen: „Alle Moralisch gute Handlungen sind also in ihrer Höchsten Stuffe: Religionshandlungen“. 206 In den Vorlesungen Kaehler-Collins kann man mehrere Religionsbegriffe ausmachen. Den ersten finden wir beispielsweise in dem bereits erläuterten Abschnitt ‚Von der natürlichen Religion‘ dokumentiert, wo behauptet wird: Die natürliche Religion ist praktisch und besteht in der natürlichen Erkenntnis unserer Pflichten in Ansehung des höchsten Wesens. Die Definition entspricht in den entscheidenden Merkmalen - Religion als ‚Erkenntnis‘ bezüglich der moralischen Pflichten und in Bezug auf Gott, Religion ist ‚praktisch‘ - der Religionsauffassung in der Herder-Vorlesung. Wie bereits im vorigen Kapitel gezeigt, arbeitet die betreffende Textpassage allerdings mit einer Abgrenzung zwischen natürlicher und übernatürlicher Religion. Demnach bezeichnet die natürliche Religion ein Handeln des Menschen, die übernatürliche hingegen ein Handeln Gottes am Menschen. Hierauf nimmt auch das ‚Erkenntnis‘-Stichwort Bezug: Die als ‚natürlich‘ bezeichneten Erkenntnisse haben die Pflichten zum Gegenstand, von denen man annehmen muss, dass sie auch ein göttliches Wesen mit vollkommen moralischem Willen auferlegt. Mithin umfasst dieser Religionsbegriff sowohl das moralische Handeln des Menschen als auch die Erkenntnis, dass es sich hierbei um diejenigen Pflichten handelt, deren Erfüllung dem Willen Gottes entspricht. Daneben verwendet Kant einen weiteren, scheinbar deskriptiven Religionsbegriff. Mit ihm bezeichnet er gewisse Phänomene im Handeln der Menschen, die gemeinhin als Ausübung oder Vollzug einer Religion angesehen werden. Hierzu rechnet er beispielsweise den ‚äußerlichen Kult‘. Im Text werden derartig charakterisierte Handlungen auch als ‚Observanzen‘ bezeichnet. 207 Der ‚Observanzen‘-Titel deutet aber zugleich die mehrfache Problematik an, die mit diesem vermeintlich beschreibenden Religionsbegriff verbunden ist: Erstens lässt die Bezeichnung als ‚Observanz‘ ( observare : dienen, gehorchen) erkennen, dass hier keine bloße Beschreibung eines Teilbereiches der menschlichen Handlungspraxis vorliegt, sondern eine ausgesprochen kritische und überfremdende Deutung dieser Vollzüge als unterwürfige Dienstleistung gegen ein göttliches Wesen. Dass religiöse Handlungen aus Freude oder als Ausdruck der Freundschaft mit Gott vollzogen werden, zieht Kant nicht einmal in Erwägung. Hinzu 206 Z. 22 f. 207 Vgl. Stark 2004, 115 25f / AA XXVII 1 305 26 . <?page no="160"?> 160 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik kommt eine zweite Auffälligkeit: Die Erläuterung deutet darauf hin, dass Kants Wahrnehmung und Deutung von Religion sich ausschließlich im Horizont theistischer Religionen bewegt. Religio ist für ihn in irgendeiner Art und Weise Gottes dienst. Nichttheistische Religionen werden durch diesen Religionsbegriff nicht erfasst. 208 Wie der Kommentar zum cultus externus , dem auch das Kaufmann-Beispiel entnommen ist, andeutet, können die ‚Observanzen‘ und der äußerliche Gottesdienst durchaus der normativ gedachten Religion angehören. Dem ersten Religionsbegriff entsprechend hält der Text zunächst fest, dass die Erfüllung der Pflichten gegenüber anderen Menschen und gegenüber sich selbst bereits den vollständigen Gottesdienst darstellt. Gott verlangt demnach keine spezifischen Pflichten, die allein ihm gegenüber geschuldet wären, und ist für zusätzliche, vermeintlich gottesdienstliche Leistungen der Frömmigkeit völlig unempfänglich. 209 Sodann arbeitet der Text mit einer Differenzierung zwischen ‚außen‘ und ‚innen‘: Während äußerlich gesehen die eigentliche Religion mit der Erfüllung moralgesetzlicher Pflichten identisch ist, kommt im Inneren des Handlungssubjektes noch das Bewusstsein bzw. die ‚Erkenntnis‘ hinzu, dass eben durch diese Moralgesetzerfüllung dem moralisch vollkommenen Wesen gedient wird. 210 Die sonstigen Handlungen der Frömmigkeit können daher lediglich als ‚Mittel‘ zur Beförderung der moralischen Praxis und des damit verbundenen Bewusstseins dienen - denn eine Pflicht gegenüber den Anderen bzw. dem Handelnden selbst erfüllen sie offensichtlich nicht und aufgrund ihres äußerlichen Charakters sind sie auch kein das Handeln begleitendes Bewusstsein. Wenn der ‚äußerliche Kult‘ nach Kants Dafürhalten also nicht als eine heuchlerisch-unaufgeklärte Religionspraxis vollzogen wird, dann kann er nur ein Mittel für die gerechtfertigte Religion sein, das auf eine an dieser Stelle nicht näher erläuterte Weise die eigentliche Religion fördert und unterstützt. Bei Powalski wird die in der Herder-Zeit angelegte und bei Kaehler-Collins angereicherte Religionsauffassung fortgeführt. Allerdings findet sich dort eine stärkere Identifizierung des Religionsbegriffes mit dem Begriff ‚Gesinnung‘: „[D]ie Religion ist nichts als gereinigte sittliche Gesinnungen, die man hernach auf das allervollkommenste Wesen anwendet, deßen Willen der allervollkom- 208 Stark 2004, 119 19f / AA XXVII 1 307 23f : „Man stelle sich die Religion vor aller Sittlichkeit vor, sie müste doch eine Beziehung auf Gott haben“. 209 Vgl. Stark 2004, 152 12-14 / AA XXVII 1 328 33-35 : „Die Gottesfurcht und der Gottesdienst ist keine besondere Handlung, sondern die Form aller Handlungen.“ Sowie 152 8f / 328 30 : „in allen Handlungen kann ich Gott dienen“. 210 Vgl. Z. 1-6/ Z. 24-28: „Der wahre Gottesdienst besteht […] in den Gott geheiligten Gesinnungen, die im Leben durch Handlungen thätig sind. Der Mensch ist Gottesfürchtig, der für sein allerheiligstes Gesetz Ehrfurcht hat, und dessen Gottesfurcht alle seine Handlungen begleitet“. <?page no="161"?> 3.5 Gottes Beistand und die Religion 161 menste ist.“ 211 Religion besteht demnach primär in einer inneren Einstellung und Entschlossenheit, das Moralgesetz unbedingt zu befolgen und dadurch diejenige Heiligkeit des Willens auszubilden, die man einem moralisch vollkommenen Wesen wie Gott zuschreibt. Diese ‚religiöse‘ Haltung erfordert eine beschwerliche mentale Selbstkontrolle, weshalb Religion auch mit ‚Gewissenhaftigkeit‘ gleichgesetzt wird. 212 Die Vorlesung Mrongovius II ist für die Erhebung des Religionsbegriffes kaum aussagekräftig, da die Quelle nur Ausführungen dokumentiert, die sich auf Baumgartens Initia beziehen, und sie daher keine Auseinandersetzung mit den Pflichten gegen Gott aus der Ethica bietet. Der moralisch-normative Religionsbegriff wird jedoch insofern durch einzelne Belege bestätigt, als Religion auch dieser Vorlesung zufolge darin besteht, die Erfüllung des Moralgesetzes auf Gott zu beziehen und Gott nicht anders als durch moralische Handlungen zu dienen. 213 In der Metaphysik der Sitten Vigilantius wird eine bereits früher erwähnte methodologische Forderung umgesetzt und die Auseinandersetzung mit der religio -Thematik ans Ende der Vorlesung gestellt. 214 Kant betont dabei, dass es keine Pflichten gegenüber Gott geben kann. Denn „Religion“, so wird definiert, „ist der Inbegriff aller Menschenpflichten als göttlicher Gebote.“ 215 Das aus Kaehler-Collins bekannte Moment des Bewusstseins bzw. der Erkenntnis wird wie bei Powalski als ‚Gesinnung‘ angesprochen. Religion umfasst also neben den Verpflichtungen gegenüber den Anderen und der eigenen Person auch die Gesinnung, die eine Art Wissen darum darstellt, dass es sich hierbei um göttliche Gebote handelt. 216 Dabei ist es für das Religionsbewusstsein ausreichend, wenn 211 AA XXVII 1 136 31-33 . 212 Vgl. AA XXVII 1 183 16f . 213 Vgl. AA XXIX 1,1 628: „Die Religion ist nichts anders als Moral und Theologie verbunden. […] Alle Religion, wenn auf sie die Moral gebaut wird, beruht auf nichts als Gunstbewerbungen.“ 214 In Kaehler-Collins eröffnet Kant die Kommentierung des religio -Teiles (d. h. des von Baumgarten in der Ethica zuerst traktierten Pflichenkreises) mit einer Kritik daran, dass die Religion hier als erstes besprochen wird: „Die natürliche Religion sollte billig in der Moral den Schluß machen, sie sollte das Siegel in der Moralitaet seyn, die Idee der sittlichen Vollkommenheit sollte in der natürlichen Religion executirt und zu Stande gebracht werden, […]. Allein es hat unserm Autor beliebt, sie vorhero abzuhandeln, und weil es darauf nicht viel beruht, so lassen wir es auch, indem doch schon der Begrif der Ethic, so fern er hier in der natürlichen Religion nöthig ist, vorhergegangen.“ (Stark 2004, 115 4-13 / AA XXVII 305 10-17 ; vgl. auch bereits AA XXVII 1 18 3-5 [Herder]). 215 Vgl. AA XXVII 2,1 713 3-5 . 216 Vgl. Z. 29-39: „In dem Begriffe selbst liegt objective Vorstellung der Religion […], welche in dem Bewußtseyn von der Verpflichtung des Menschen gegen Gott, und der Gesinnung des Menschen besteht, der Erkenntniß seiner Pflichten gemäß zu handeln. Ein Mensch hat also Religion, wenn er Kenntniß von seinen Pflichten, und die Gesinnung hat, aus <?page no="162"?> 162 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik man sich das Moralgesetz in einem vollkommen moralischen Wesen personifiziert denkt. 217 Trotz der zeitlich weit gestreckten Verteilung der Vorlesungszeugen weisen die erhobenen Auffassungen von der eigentlichen Religion eine hohe Kontinuität auf, die teilweise bis in die Formulierungen hineinreicht. Die zentralen und allen Belegen gemeinsamen Elemente des Religionsbegriffes liegen in Folgendem: Religion bedeutet, die moralischen Verpflichtungen gegenüber Anderen und sich selbst anzuerkennen, den Verpflichtungen soweit wie menschenmöglich nachzukommen und dies mit dem Bewusstsein zu tun, dass die Moralgesetze zugleich Gebote eines moralisch vollkommenen Wesens sind. Insofern Moralität den Vorlesungen zufolge mit Überzeugungen hinsichtlich einer von Gott garantierten moralischen Weltordnung und einer göttlichen Ergänzung der eigenen Unvollkommenheiten verknüpft ist, weist der kantische religio -Begriff auch sachliche Zusammenhänge mit diesen Annahmen auf, obgleich dies in den Definitionen nicht eigens erwähnt wird. Religion ist für den Kant der Vorlesungen also ein komplexer Begriff. Er bezeichnet sowohl die moralische Praxis des Menschen als auch dasjenige Gebieten und Handeln, das von einem göttlichen Wesen angenommen werden muss. Zugleich lassen die Texte eine Reihe weiterer Motive erkennen, die den Hintergrund des herausgearbeiteten Religionsbegriffs bilden. Der Religionsbegriff partizipiert erstens an der für das heutige Empfinden befremdlichen Konzeptualisierung von Religion unter einer Pflichtensemantik. ‚Religion‘ wurde von vielen Ethikern des 18. Jahrhunderts als eine Praxis aufgefasst, die sich mittels der Darlegung von entsprechenden Pflichten gegenüber Gott erörtern lässt. Kant behält diese handlungsbezogene und moralisch qualifizierende Perspektive auf die Religion bei. Wie bei Baumgarten, für den die religiösen Pflichten die ersten moralischen Pflichten überhaupt darstellen und die Erfüllung der anderen Pflichten fundieren, sind für Kant moralisches Handeln und Religionspflichten aufs engste verknüpft. Die entscheidende Differenz gegenüber Baumgarten besteht jedoch darin, dass Kant gerade keine spezifischen Pflichten gegen Gott annimmt. Bei ihm ist die moralisch-handlungsbezogene Traktierung von Religion darauf gerichtet, die Erfüllung von Pflichten gegen sich selbst und gegen Andere als vollgültige und allein moralisch gerechtfertigte Religionspraxis darzustellen. 218 Neigung zu diesen Pflichten seine Handlungen denen gemäß einzurichten. Er hat keine Religion wenn er entweder keine Kenntniß seiner Pflichten hat, oder nicht die Gesinnung hat, sie um des Gesetzes willen als Gebot des höchsten Wesens auszuüben.“ 217 Vgl. AA XXVII 2,1 713 24-28 . 218 Schwaiger (2011, 140) schreibt hierzu (unter Bezugnahme auf die Studie von K. Feiereis [1965]): „Mit dieser engen Verknüpfung von Religion und Sittlichkeit bzw. mit dieser <?page no="163"?> 3.5 Gottes Beistand und die Religion 163 Hinzu kommt zweitens die Vorrangstellung der inneren religiösen Vollzüge, die man als Hinweis auf eine große Nähe zum pietistischen Umfeld deuten kann. Im Gegensatz etwa zu Baumgarten vertritt Kant jedoch eine insofern intellektualistischere Religionskonzeption, als für ihn Religion neben den moralischen Handlungen vor allem in einem reflexiv erworbenen Wissen besteht. Gefühle spielen weder in der Definition von Religion als Erkenntnis der Pflichten noch bei den religiösen Überzeugungen vom göttlichen Ausgleichs- und Beistandshandeln eine Rolle. Dementsprechend warnt er seine Studenten vor den ‚Schwärmern‘, ‚Fanatikern‘ und ‚Enthusiasten‘ in Religionsdingen. 219 Drittens betont Kant den antispekulativen Charakter der eigentlichen Religion. Gegen die seines Erachtens haarspalterischen Kontroversen in den konfessionell differenzierten Theologien geht es ihm um die ‚Einfachheit‘ und um die Religion des ‚gemeinen Mannes‘, die sich - so eine erneute Präsumtion - einstellt, wenn man die unkritische Imitation traditioneller Religionsformen unterlässt und den eigenen vernunftbegründeten Überzeugungen folgt. 220 Die Ablehnung theologischer Spekulation steht dem Gedanken der Nützlichkeit nahe, der sich in den Vorlesungen auch in Folgendem niederschlägt: zum einen darin, dass gewisse religiöse Vollzüge wie Wallfahrten, das Fasten oder sonstige ‚Kasteiungen‘ unter Verweis auf deren vermeintliche Nutzlosigkeit als gänzlich illegitim angesehen werden 221 , zum anderen in der Reduzierung der sonstigen gottesdienstlichen Handlungen (z. B. Gebet, Gotteslob, Erbauung) auf bloße Hilfsmittel für die moralische Religionspraxis. 222 In Verbindung mit der Darstellung in Form einer Pflichtenlehre führt dies dazu, dass ‚Religion‘ ausschließlich als ein Handeln aufgefasst wird, wozu auch das (aktive) Annehmen und Bekennen von Sätzen gehört. Für die Kontemplation, für das Fragen und Zweifeln, für ästhetische Ausdruckshandlungen ist in diesem Religionsverständnis, das Kant mit anderen Zeitgenossen teilt, kein Platz. Und schließlich beruht die kantische Kritik an der manipulativen Erfüllung von ‚Observanzen‘ insofern auf einem Analogiedenken, als unterstellt wird, Grundlegung der Ethik in einem philosophischen Religionsbegriff ist Baumgarten für die deutsche Aufklärung der Folgezeit wegweisend gewesen. […] Erst Kants Ethikotheologie hat dann das Baumgartensche Fundierungsverhältnis geradezu auf den Kopf gestellt: Jetzt soll sich durch die Moral allererst ein Zugang zur Gottesfrage eröffnen; eine eigene Klasse von auf Gott bezogenen Pflichten wird dagegen als überflüssig angesehen.“ 219 Vgl. AA XXVII 1 21-22 (Herder); Stark 129 7-12 / AA XXVII 1 314; XXVII 1 176 (Powalski), XXVII 2,1 726-727 (Vigilantius). 220 Vgl. Stark 2004, 119 9-12 u. 126 14 -128 11 / AA XXVII 1 307 u. 312-312. Im Vigilantius-Text wird dieser Gedanke auch mit der epistemischen Begrenztheit der Vernunft begründet (AA XXVII 2,1 723). 221 Vgl. Stark 2004, 151 24-31 / AA XXVII 1 328. 222 Siehe oben: De Cultu Externo S. 160. <?page no="164"?> 164 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik dass dann, wenn derartige Handlungen vollführt werden, Gott als absolutistischer Herrscher vorgestellt wird, der sich in seiner Willkür-Souveränität denen zuwendet, die vermittelst irrationaler Unterwürfigkeitsgesten seine Gunst erwerben. Ebenso wird das in der moralischen Religionspraxis vorausgesetzte Gottesbild nach dem Muster menschlicher und insbesondere staatlicher Herrschaftsverhältnisse modelliert. Gottes Wesen ist in diesem Fall wie ein moderner Rechtsstaat strukturiert, er amtet als ‚heiliger Gesetzgeber‘, ‚gütiger Regierer‘ und ‚gerechter Richter‘, und als solcher verlangt er nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Erfüllung der allgemein nachvollziehbaren Verpflichtungen. 223 Darüber hinaus kann man den Texten noch ein weiteres wichtiges Motiv entnehmen, das im Hintergrund des Religionsbegriffes steht - nämlich das des göttlichen Beistandes. Kurz gefasst argumentiert Kant hierbei folgendermaßen: Weil Gott nur aufgrund der Bedingung, dass der Mensch nach besten Kräften moralisch handelt und gesinnt ist, die erforderliche Mithilfe zur Erreichung des Heiligkeitsideals leistet, kann es beim Vollzug der Religion lediglich darum gehen, diese Bedingung zu erfüllen. Religion besteht folglich darin, den Forderungen des Moralgesetzes nachzukommen, und zwar in dem Bewusstsein, hierdurch auch Gottes Gebote zu erfüllen und sich des göttlichen Beistandes als würdig zu erweisen. Ein erster Gedanke, der diesen Argumentationszusammenhang bedient, wurde bereits im eingangs geschilderten Kaufmannbeispiel deutlich. Kant behauptet, dass das kultisch-religiöse Handeln des Kaufmanns als Versuch entlarvt werden kann, Gott wohlwollend zu stimmen und ihn hierdurch zur gnädigen Gabe der moralischen Vervollkommnung zu bewegen, zu deren Erreichung der opportunistische Kaufmann moralisch nicht berechtigt ist. ‚Religion‘ wird demnach als Möglichkeit verstanden, Gottes Gunst zu erwerben und Gottes Unterstützung für moralisch fragwürdige Einzelinteressen herbeizuführen. Zugleich wird das im Beispiel dargestellte Verhalten als ‚Verstellung‘ charakterisiert. 224 Denn der Mensch, so kann man anderen Stellen der Vorlesung entnehmen, weiß durchaus, was das Moralgesetz von ihm verlangt, und dass dies nur durch moralgesetzkonformes Handeln und eine entsprechende Gesinnung verwirklicht werden kann. Das In-Anspruch-genommen-Werden durch das Moralgesetz korrespondiert jedoch mit der Zuversicht, dass Gott ergänzend eintreten wird, damit das Bemühen um Moralgesetzerfüllung nicht unerfüllt bleibt. Wer 223 Vgl. bspw. Stark 2004, 141 15f / AA XXVII 1. In AA XXVII 2,1 721 (Vigilantius) werden diese drei göttlichen Eigenschaften die „drey pouvoirs in der göttlichen Staatsverfassung“ (Hervorhebung: Reich) genannt, was als Anspielung auf den Staatstheoretiker C. d. S. Montesquieu interpretiert werden kann. 224 Vgl. Stark 2004, 157 15f / AA XXVII 1 332 18f : „[D]as ist recht Gott durch Iesuitische Ränke zu hintergehen trachten.“ <?page no="165"?> 3.5 Gottes Beistand und die Religion 165 indes wie der Kaufmann seine religiöse Aufgabe nicht primär im moralischen Handeln, sondern im Gunsterwerb sieht, verkehrt aus Kants Sicht die praktisch-vernünftige Zuordnung des menschlichen und des göttlichen Beitrags zur moralischen Vervollkommnung. Die im Kaufmannbeispiel angedeutete Handlungsweise kann sogar in ein regelrechtes Nutzenkalkül übergehen. Das Buhlen um den göttlichen Beistand erfordert nämlich schlicht weniger Einsatz als der moralische Gottesdienst und fällt daher für den an der Neigungsbefriedigung interessierten Menschen günstiger aus. Kant trägt diese Überlegungen in Bezug auf das Phänomen vor, die Bekehrung zu einem moralischen Lebenswandel bis ans Lebensende zu verschieben. Er könnte dabei Erzählungen über die altkirchliche Taufpraxis vor Augen haben, denen zufolge sich Erwachsene um der sündenvergebenden Wirkung willen erst im fortgeschrittenen Alter taufen ließen, oder auch die pietistische Vorstellung einer persönlich zu vollziehenden Bekehrung zu einem neuen und vorbehaltlosen Leben mit Gott. Gegen diese religiösen Praktiken wird der Vorwurf erhoben, dass ein (falsches) Vertrauen auf das vergebende und heiligende Eingreifen Gottes dazu führen kann, die ggf. unverzüglich aufzunehmenden und andauernden Bemühungen um einen moralischen Lebenswandel zu unterlassen. 225 Wenn der göttliche Beistand hingegen lediglich als Ergänzung gedacht wird, ist ein kalkulierender Aufschub der Bemühungen ebenso sinnlos wie der Versuch einer nichtmoralischen Einflussnahme auf Gott. Doch es muss nicht immer ein Nutzenkalkül sein, weshalb der kultisch-religiöse Versuch unternommen wird, Gott zur Mithilfe zu bewegen. Die Vorlesungen geben noch eine andere Erklärung zur Genese des Kultes. Demnach kann dessen Entstehung auch darauf zurückgeführt werden, dass die Menschen ihre moralische Mangelhaftigkeit - ihre ‚Schwäche‘ und ‚Gebrechlichkeit‘ angesichts des bei Gott verwirklichten Heiligkeitsideals - erkannten und überdies einsehen mussten, dass sie diese Mangelhaftigkeit niemals ganz überwinden können. Sie zogen daraus jedoch falsche Schlussfolgerungen: Weil der Mensch unvermögend ist, kann allein Gott die Heiligung bewirken bzw. die Moralitätsmängel rückwirkend ungeschehen machen. Und da nur Gott die Adäquatheit gegenüber dem Moralgesetz erzeugen kann und die moralischen Handlungsmöglichkeiten des Menschen ohnehin begrenzt sind, flehen die Menschen Gott um seine Hilfe an und verrichten kultische Handlungen, um Gott auf ihre Gewissensnot aufmerksam zu machen und ihn zur Hilfe zu bewegen. 226 Das falsche Bemühen um 225 Vgl. Stark 2004, 73 6-9 , 86 17-19 u. 355 11-14 / AA XXVII 279, 287 u. 464. 226 Stark 2004, 156 26-34 / AA XXVII 1 331 36 -332 8 : „Weil die Menschen aber geglaubt haben, daß sie allemal, so weit sie es auch immer im Guten bringen dennoch in ihren Augen vielmehr als in den Augen Gottes mangelhafft wären, so glaubten sie Gott müste alles an ihnen thun oder ihnen alle Sünden erlassen, dahero haben sie sich äusserer Mittel <?page no="166"?> 166 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik Gottes Gnade kann also nicht nur auf ein perfides Nutzenkalkül zurückgeführt werden. Vielmehr stellt es auch eine Reaktion auf einen inneren Zwiespalt im Menschen dar. Wirklich gelöst werden kann dieser Zwiespalt Kants Ansicht nach jedoch nur, wenn der Mensch dem höchsten Wesen dadurch dient, dass er seine moralischen Pflichten erfüllt, und darauf vertraut, dass die Pflichterfüllung um das Fehlende ergänzt werde. Diese doppelte Zuversicht - auf die eigene Pflichterfüllung und die göttliche Ergänzung - nennt Kant bei der Kommentierung des cultus Dei internus auch ‚praktischer Glaube‘. In Kaehler-Collins wird die Zuversicht auf den göttlichen Beistand zusätzlich mit der Hoffnung auf die Realisation des höchsten Gutes parallelisiert, in den durch Powalski und Vigilantius dokumentierten Vorlesungen bildet die Mithilfe Gottes hingegen das zentrale Objekt des gebotenen Vertrauens. 227 Diesem Vertrauen werden in den Vorlesungsquellen zwei verschiedene Antagonisten gegenübergestellt: Zum einen benennen die Herder-Notate das bereits erwähnte ‚faule Vertrauen‘, mit dem Kant ebenso wie Baumgarten die Gefahr bezeichnet, dass der Mensch die Eigenaktivität einstellt, weil er meint, dass Gott durch sein Handeln erledigen wird, wozu er selbst eigentlich verpflichtet ist. Zum anderen warnt Kant die Prediger davor, das menschliche Vermögen zur Tugend zu gering zu veranschlagen, nur um die Abhängigkeit von Gottes Gnade hervorzuheben. 228 Alle diese Belege zeigen, dass Kants Ansicht nach die unterschiedlichen religiösen Vorstellungen von Gottes Mithilfe handlungsrelevante Einstellungen erzeugen, die sowohl das religiöse als auch das moralische Handeln des Menschen beeinflussen. Und nur im Falle der Lehre vom konditionierten Beistand Gottes ist diese Einstellung moralitätsadäquat, da sie einerseits vom Menschen die bestmögliche Erfüllung der Pflichten verlangt und sonstige Einwirkungsversuche auf Gott als unsinnig entlarvt, andererseits aber den Menschen aus der Verzweiflung über seine unzureichenden Kräfte befreit. bedient, solches von Gott zu erflehen und seine Gunst zu erlangen und ergaben sich also dem Cultu, ihre Religion war also eine Religion der Gunstbewerbung, und keine Religion des guten Lebenswandels“. 227 Vgl. bspw. Stark 2004, 139 22 -141 13 / AA XXVII 1 320 34 -322 5 , XXVII 1 179 39 -180 1 (Powalski), XXVII 2,1 727 7-10 (Vigilantius). 228 Vgl. Stark 2004, 134 5-12 / AA XXVII 316 38 -317 5 : „Wer aber solchen Unglauben wieder die Tugend und den Keim des Guten im Menschen predigt, der will damit soviel sagen, daß wir alle zusammen von Natur Spitzbuben seyn, und daß keinem Menschen zu trauen wäre, der nicht durch die Gnade und den Beystand Gottes erleuchtet wäre. Allein diejenigen bedenken nicht, daß eine solche Gesellschafft von Grundbösen Menschen gar nicht des göttlichen Beystandes würdig wäre.“ <?page no="167"?> 3.6 Fazit: Die moralisch-religiöse Beistandslehre in den Vorlesungen 167 3.6 Fazit: Die moralisch-religiöse Beistandslehre in den Vorlesungen Die überlieferten Vorlesungsmitschriften wurden unter verschiedenen Hinsichten beleuchtet und zahlreiche Überlegungen herausgearbeitet, die Kant in seinen Vorlesungen zur moralischen Relevanz der ‚Religion‘ vorgetragen hat. Bereits in der frühesten dokumentierten Vorlesung wird deutlich, dass Kant den Gottesbegriff aus der Begründung sittlicher Urteile ausschließt. Im Laufe der Jahrzehnte ändern sich die Prinzipien, die Kant für geeignet hält, um die moralische Güte oder Schlechtigkeit einer Handlung zu bewerten. In allen Fällen argumentiert er jedoch gegen das Verfahren, in der Moralbegründung auf den (vermeintlichen) Willen Gottes zu rekurrieren. Zugleich führt er allerdings eine Reihe von Formeln im Munde, die dem Gottesbegriff wiederum moralische Relevanz zuweisen und auf diverse Vorstellungen von der moralförderlichen Funktion Gottes hindeuten. Von religiösen Vorstellungen und Praktiken wird dabei nicht nur im Zusammenhang der systematischen Prinzipienerörterung gehandelt, sondern auch in der Auseinandersetzung mit der Lehre von den Pflichten gegen Gott. Da sich die Vorlesungen an Baumgartens Initia und Ethica orientieren, beinhalten sie auch eine materiale Religionslehre, in der Kant zu einer Vielzahl an religiösen Überzeugungen und Handlungen Stellung bezieht. Neben einer Reihe weiterer Motive - z. B. Religion als Handeln, nicht als Kontemplation - finden wir in allen Vorlesungsmitschriften mit Ausnahme von Mrongovius II eine identische Definition von Religion. Religion besteht demnach darin, die moralischen Pflichten als Gebote des höchsten Wesens zu erkennen. Die Religionsdefinition ist also, was ihre wesentliche Inhalte anbelangt, seit den frühen 1760er Jahren (Herder) über die 1770er und 1780er Jahre (Kaehler-Collins und Powalski) bis in die Jahre 1793/ 94 (Vigilantius) gleich geblieben, obwohl die sonstige Moraltheorie Kants beträchtliche Entwicklungen durchlaufen hat. Diese Befunde haben Konsequenzen für die Verortung der kantischen Auffassung von der moralisch-vernunftgemäßen ‚Religion‘: Nicht erst die Erkenntniskritik der KrV und nicht erst die Explikation des kategorischen Imperatives in der GMS bzw. der KpV führen zur Konstruktion eines hiermit vereinbaren Religionsbegriffes und zu bestimmten Ansichten bezüglich der moralischen Relevanz von Religion. Vielmehr brachte Kant ebendiese Gedanken zuvor schon in seinen Vorlesungen zum Ausdruck und vertrat dort bereits einen moralischen Religionsbegriff, der die rechte Religionsausübung auf die Erfüllung der Pflichten gegen sich selbst und gegen Andere sowie auf Bewusstseinsinhalte, die diese Pflichtenerfüllung begleiten, reduzierte. Freilich bieten die genannten Schriften <?page no="168"?> 168 3 Die moralische Relevanz der Religion in Kants Vorlesungen zur Ethik eine systematische Begründung für diese Auffassungen. Anders als manche der in Kap. 2.2 vorgestellten, systematisierenden Interpretationsansätze insinuieren, waren die kritischen Schriften aber nicht erforderlich, um sie überhaupt erst auszubilden. Die Ausführungen der Vorlesungen zur moralischen Relevanz von Religion konnten zwei komplexen Reflexionssträngen zugeordnet werden. Nebst dem Gedanken des höchsten Guts reflektiert Kant auf die moralische Mangelhaftigkeit und Unterstützungsbedürftigkeit des Menschen, die wir angesichts des anspruchsvollen Ideals der Heiligkeit annehmen müssen. Seines Erachtens muss die Moralphilosophie daher den Gedanken eines gnadenhaften Beistandes aufgreifen. Nur unter der Annahme einer Ergänzung des menschlichen Bemühens durch Gott lässt sich das Ideal als erfüllbar denken. Und nur die Präsenz des Beistandsgedankens im Bewusstsein bewahrt den moralisch Handelnden vor einem resignativen Abbruch des Strebens nach dem moralischen Ideal. Der Beistandsgedanke bildet im Weiteren auch ein Argument für den normativen Religionsbegriff, weil das darin angenommene Handeln Gottes nur unter der Bedingung eines größtmöglichen Bemühens eintritt und daher neben der Pflichterfüllung keine anderen, vermeintlich religiösen Handlungen vollzogen werden müssen, um eine Ergänzung des Unvermögens zu erhalten. Eine wichtige Bestimmung von ‚Religion‘, die Kant über seine dreißigjährige Vorlesungszeit hinweg lehrt, besteht folglich in dem Bewusstsein, dass die authentische Religionsausübung mit der moralischen Praxis des Menschen identisch ist und das Handeln Gottes diese Praxis ergänzt. Die Religionsschrift knüpft an dieses Thema an, indem sie das rechte ‚religiöse‘ Bewusstsein davon expliziert, was der Mensch tun muss, um moralisch gut zu leben, und welche Unterstützung Gott dabei leistet. Was die Quellen für diese argumentativen Verflechtungen anbelangt, hat sich die Kaehler-Collins-Vorlesungsgruppe als besonders aussagekräftig erwiesen. Hinweise finden sich auch in den anderen Mitbzw. Abschriften. Doch insbesondere bei Kaehler-Collins lässt sich eindeutig nachweisen, dass Kant in seinen Ausführungen eine zweistufige Auffassung vom Eintreten des göttlichen Beistandes voraussetzt: Nur unter der Bedingung, dass alles Menschenmögliche unternommen wurde, um das praktisch-vernünftige Ideal zu erfüllen, findet eine Unterstützung durch Gott statt, die den unvermeidlichen Mangel an Heiligkeit beseitigt. Es wurde deutlich, dass das Kaehler-Manuskript im Vergleich zu Collins, der in der AA vorrangig ediert wurde, einen verlässlicheren und begrifflich präziseren Text bietet. Aus moraltheologischer Sicht ist an dem Befund interessant, dass Kant es aufgrund moralphilosophischer Erwägungen für notwendig erachtet, auch gnadentheoretische Reflexionen zum Zusammenwirken von moralischem Handeln <?page no="169"?> 3.6 Fazit: Die moralisch-religiöse Beistandslehre in den Vorlesungen 169 und dem Handeln Gottes anzustellen. Die Vorlesungen benennen ein perfektionistisches Ideal, legen aber zugleich dar, dass der Mensch diesem Ideal nicht gerecht werden kann und daher von einem göttlichen Beistand ausgehen muss. Im Gegensatz zur Moralphilosophie Baumgartens und zum Gedanken des höchsten Gutes fügt Kant damit eine spezifisch christliche Lehre in seine Theorie der moralischen Vervollkommnung ein. Umso erstaunlicher ist es, dass die Vorlesungen ganz ohne einen Bezug zur Christologie auskommen und dass sie das komplexe Phänomen des moralischen Versagens und der Sünde zwar immer wieder benennen, aber nur eine knappe begriffliche Ausdifferenzierung anhand der Ausdrücke ‚Gebrechlichkeit‘ und ‚Schwäche‘ vornehmen. Man hat den Eindruck, dass die Studenten diesen diffizilen moralphilosophischen Bezugnahmen auf die Sünden- und die Gnadenlehre vergleichsweise wenig abgewinnen konnten. Und vielleicht war sich auch Kant seiner originellen These zur moralischen Relevanz des Beistandsgedankens noch nicht so sicher, als dass er ihn bis ins Detail hätte entfalten wollen. Dennoch kann man in den wenigen Belegen eine inhaltliche Stoßrichtung erkennen. Und diese Stoßrichtung deutet auf eine erhebliche Distanz zur christlich-theologischen Auffassung von Gott und von der Gott-Mensch-Beziehung hin: Nebst dem Fehlen der Christologie und den Hinweisen auf den konditionierten und ergänzenden Charakter des Beistands ist in den Vorlesungen Kaehler-Collins und Powalski davon die Rede, dass eine Vergebung oder ein Erlass der Schuld durch Gott nicht möglich ist, weil dies mit der Gerechtigkeit Gottes unvereinbar wäre. Außerdem würde der Vergebung empfangende Mensch hierbei als würdeloser Hilfeempfänger erscheinen. Es ist nun spannend zu sehen, wie Kant diese Problempunkte in der RGV aufnimmt und weiterführt. <?page no="171"?> 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Nachdem im vorherigen Kapitel die Vorlesungsmitschriften untersucht und Kants Überlegungen zur moralisch-religiösen Beistandslehre frei gelegt wurden, bezieht sich dieses Kapitel auf den Text der Religionsschrift. Es wird aufgezeigt, dass die Schrift an vielen Stellen von den moralischen Defiziten, von der Besserung angesichts dieser Defizite und vom Gedanken eines göttlichen Beistands bei diesem Besserungsgeschehen handelt. Die späte Religionsschrift bearbeitet damit Problemstellungen, mit denen sich Kant bereits über Jahrzehnte hinweg in seinen Ethikvorlesungen beschäftigt hatte. Der Text setzt im Verlauf der vier Stücke immer wieder neu an diesen Problemstellungen an, ohne jedoch zu einer abschließenden Auflösung zu gelangen. Um nachvollziehen zu können, dass die ganze Religionsschrift mit dieser profunden Problematik verwoben ist, werden alle vier Teile der Schrift einzeln interpretiert. Dabei müssen auch die argumentativen Zusammenhänge, die zwischen den Abschnitten der jeweiligen Stücke sowie über die Stücke hinweg bestehen, diskutiert werden. Die beiden Vorworte der Schrift werden im Verlauf der Interpretation von RGV III aufgegriffen. Da bereits in Kap. 2 eine Vielzahl unterschiedlicher Textlesarten vorgestellt wurden, wird die Interpretation immer wieder auf jenes Kapitel zurückverweisen. Um die Beziehung zwischen der RGV und den Vorlesungen darzulegen, greift die Interpretation an vielen Stellen auf Kap. 3 zurück. Ebenso wie in jenem Kapitel wird gelegentlich zu den erhobenen Argumenten und Thesen Kants Stellung genommen, um die in Kap. 5 gegebene Zusammenfassung zu begründen. 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 4.1.1 Kants Rigorismus Die in das erste Stück einleitende Textpassage 1 bietet dreierlei: Sie eröffnet die Abhandlung, indem sie allgemein vertretene Ansichten zur moralischen Entwicklung der Menschheit referiert und die Frage nach dem Bösen im Men- 1 Der unvermittelt einsetzende Textteil vor den mit Zwischenüberschriften versehenen Abschnitten I.-IV. wird in B 34/ AA VI 36 19 als „Einleitung“ angesprochen. Denn dort <?page no="172"?> 172 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung schen so beleuchtet, als ob sie an eine von alters her geführte Diskussion anknüpft. 2 Zweitens skizziert der Textabschnitt das Thema des ersten Stückes und exponiert wichtige Begriffe. 3 Und drittens wird der ‚moralische Rigorismus‘ eingeführt. 4 Kant verteidigt darin die Position, wonach der Mensch entweder gänzlich gut oder gänzlich böse ist, da eine nicht vollständige Ausrichtung des Willens am durch das Moralgesetz geforderten Guten als willentlich gewähltes Böses aufgefasst werden muss. Die beiden zuerst genannten Textbestandteile sollen hier nur kurz ausgewertet werden, um dann ausführlicher zu erläutern, inwiefern der Rigorismus eine wichtige Voraussetzung für Kants Behandlung des Bosheitsthemas darstellt. Kant eröffnet das erste Stück mit dem typologisierenden Referat zweier Positionen zum Verlauf der Menschheitsgeschichte: Während nach der einen Position die Menschheitsgeschichte als moralischer und physischer Niedergang aufzufassen ist und der gegenwärtige Zustand der Welt als Abfall gegenüber einem ‚goldenen Zeitalter‘ gedeutet werden muss, vertritt die gegenteilige Position einen Fortschrittsoptimismus, demzufolge die Menschheit zumindest über die Anlage verfüge, ihre Situation kontinuierlich zu verbessern. 5 Kant schließt sich hier keiner der Positionen an. Ein genauerer Blick auf die Auseinandersetzung mit den Positionen offenbart jedoch einige subtile und kaum beachtete Abgrenzungen, die Kant rhetorisch sehr geschickt in die Eröffnung der Abhandlung hineinkomponiert und die dieser einen programmatischen Charakter verleihen. Zunächst einmal ist auffällig, dass als Belege für die erste Position kulturgeschichtlich bedeutsame Dichtungen und religiöse Überlieferungen angeführt werden. 6 Es wird der Eindruck erzeugt, als würde die pessimistische und menschheitskritische Position vor allem in antiquierten, religiös grundierten Welt- und Menschenbildern vertreten und zumindest bezüglich des entscheidenden systematischen Standpunktes kein Unterschied zwischen diesen bestehen. Die zweite Position wird als Ansicht von Philosophen und als Innovation der wird ausgeführt, dass „nach [sc. gemäß] der Einleitung “ die Position der ‚Synkretisten‘ - der Mensch kann nicht zugleich gut und böse sein - einen Widerspruch einschließt, was genau auf den ersten Seiten von RGV I herausgearbeitet wird. 2 B 3-5/ AA VI 19 6 -20 22 . 3 B 5-8/ AA VI 20 35 -22 9 . 4 B 5-6/ AA VI 20 18 -21 23 ; B 8-15/ AA VI 22 10 -25 34 („Anmerkung“). 5 B 3-5/ AA VI 19 6 -20 17 . 6 Laut der Anmerkung von Stangneth 2003, 277 ist der erste Satz „Daß die Welt im Argen liege“ (B 3/ AA VI 19 6 ) eine Bibelanspielung (nämlich auf 1 Joh 5,19). Außerdem ist von der ‚Priesterreligion‘ und vom ‚Paradiese‘ (B 3/ AA VI 19 8.10 ), also von Stichworten die Rede, die auch in der weiteren Auseinandersetzung mit der jüdisch-christlichen Tradition von Bedeutung sind. Vor allem referiert Kant jedoch religionsgeschichtliches Wissen über die Religionen des Ostens und der Antike. <?page no="173"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 173 landläufig-aufklärerischen Pädagogik dargestellt - als weltfremd optimistische Annahme der „Moralisten von Seneca bis zu Rousseau“. 7 Trotz der ironischen Distanzierung werden für diese Annahme mögliche Begründungen angeführt: Sie ist Ausdruck eines generellen Vertrauens in die zweckhafte Ordnung des Geschichtsverlaufes und könnte sich einem Analogieschluss von der körperlichen auf die seelische ‚Gesundheit‘ des Menschen verdanken. 8 Überdies ist eine optimistische Einschätzung des Menschen und seiner Fähigkeiten Kant zufolge zur moralischen Weiterentwicklung hilfreich, um den Menschen „zum unverdrossenen Anbau des vielleicht in uns liegenden Keimes zum Guten anzutreiben“. 9 Ein solches pragmatisches Argument basiert auf der Voraussetzung, dass zwischen der Einschätzung des Menschen und dem erforderlichen Bemühen um Besserung ein Zusammenhang besteht: Wie der Mensch sich selbst einschätzt, so initiiert und formiert er auch seine moralischen Bemühungen. Bereits in der Auseinandersetzung mit den ‚Moralisten‘ finden wir also Hinweise auf die Relevanz der nachfolgenden Untersuchung für die ‚moralische Askese‘, d. h. die Besserung des Menschen. Andererseits distanziert sich Kant von vorne herein von einem weltfremden Fortschrittsoptimismus sowie von einer naiv-utopistischen Auslegung teleologisch begründeter Fortschrittserwartungen und gesteht daher der pessimistischeren Einschätzung in den religiösen Überlieferungen zumindest ein gewisses Maß an gültiger Einsicht in die Situation des Menschen zu. Es zeichnet sich hier die aus den Vorlesungen bekannte Zwischenposition ab, derzufolge gegen die Skepsis der Theologen und Prediger die humanistisch-aufklärerische Überzeugung von den menschlichen Selbstgestaltungskräften und der Fähigkeit des Einzelnen zur moralischen Mündigkeit grundsätzlich geteilt, zugleich aber auch herausgestellt wird, dass die Menschen in ihrer moralischen Entwicklung erheblich hinter diesen Möglichkeiten zurückbleiben. Hinzu kommt, dass der Pädagogen- und Philosophenoptimismus sich in seiner empirischen Fundierung allenfalls auf einen äußerlichen Fortschritt an Zivilisierung stützen kann. 10 Im Gegensatz zu derartigen Verwechslungen soll es in der nachfolgenden Untersuchung um die genuin ‚moralische‘ Qualität der Menschheit gehen. Mit seiner Eröffnung macht Kant deutlich, dass die in der Überschrift genannte These vom 7 Vgl. B 4f/ AA VI 19 21 -20 17 , Zitat: B 5/ AA VI 20 7f . 8 Vgl. B 5/ AA VI 20 10-17 . 9 Vgl. B 5 / AA VI 20 6-10 . Streng genommen ist der Inhalt dieser Einschätzung nicht mit der fraglichen These bezüglich der tatsächlichen moralischen Besserung der Menschheit identisch. Sie weist nur eine gewisse Nähe dazu auf. 10 Vgl. B 4/ AA VI 20 3-5 : „Diese Meinung aber haben sie sicherlich nicht aus der Erfahrung geschöpft, wenn vom Moralisch-Guten oder Bösen (nicht von der Zivilisierung) die Rede ist“. <?page no="174"?> 174 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung ‚radikal Bösen in der menschlichen Natur‘ in die Diskussion um den nicht zu leugnenden Bedarf an ‚Moralisierung‘ der Menschheit gehört und die bisherigen Vorschläge diese knifflige Problematik nicht adäquat bearbeiteten. 11 In den weiteren Passagen des Einleitungsabschnittes skizziert Kant einige zentrale Konturen der These. Da aber in der Einleitung noch offen gelassen wird, ob der Mensch gut oder böse ist, werden diese Konturen als allgemeine Anforderungen an die angestrebte moralische Beurteilung des Menschen präsentiert. Die wichtigste Erläuterung betrifft den Ausdruck „Natur“. Er darf entgegen dem üblichen Sprachgebrauch nicht so verstanden werden, als ob damit das Gegenteil eines in der Freiheit liegenden Grundes mit einer moralischen Qualifizierung in Verbindung gebracht würde. Denn dann könnte nicht vom moralisch Guten bzw. Bösen gesprochen werden. Um dieses Missverständnis abzuwehren, führt Kant eine etwas eigenwillige Bestimmung des Naturbegriffes ein: nämlich als ‚subjektiver Grund des Gebrauchs der Freiheit‘. Dieser ‚Grund‘ wird in dreifacher Weise näher charakterisiert. Erstens geht er allen empirisch wahrnehmbaren Einzelhandlungen voraus. 12 Ein Zwischenabschnitt 13 bringt diesen Gedanken dadurch zum Ausdruck, dass er die Benennung eines Menschen mit dem Prädikat ‚böse‘ so analysiert, dass damit nicht das Vollbringen einzelner Gesetzwidrigkeiten, sondern das Vorliegen einer bösen Maxime gemeint ist, und überdies festhält, dass „aus einer einzigen mit Bewußtsein bösen Handlung“ auf eine moralisch-böse Maxime und auf einen selbst wiederum als Maxime fungierenden Grund für diese Maxime geschlossen werden müsste. Auch wenn dort vom Prädikat ‚böse‘ die Rede ist und nicht von der als subjektiver Grund identifizierten, bösen ‚Natur‘ des Menschen, wird an beiden 11 Mit Rieger 2007, 76, und Hoesch 2014, 116, und damit gegen Horn 2011, 45, sehe ich Kant daher eher der Position der ‚Moralisten‘ zugeneigt, auch wenn er deren Argumentationsweise und deren Ratschläge für unplausibel hält. Vgl. hierzu auch die Eröffnung von RGV II, wo behauptet wird, dass die ‚alten Moralisten‘ den Gegner im zurecht geforderten Kampf gegen das Böse nicht richtig erkannten (siehe unten Kap. 4.2.1). 12 Vgl. B 6/ AA VI 21 1-4 . 13 Der uns vorliegende Text fährt nach dem eröffnenden Referat der beiden Positionen mit diesem Absatz (B 5f/ AA VI 20 18-34 ) fort, der möglicherweise erst in einer späteren Bearbeitungsstufe an dieser Stelle eingefügt wurde. Da die dort entfalteten Überlegungen wohl von Kant selbst stammen, kann er bei der Besprechung der sonstigen Gedankenführung berücksichtigt werden. R. Brandt (1995) sieht in diesem Absatz einen den Haupttext unterbrechenden und missglückten Einschub und führt für diese Einschätzung mehrere literarkritische Beobachtungen an. Wie Brandt jedoch ebenfalls zu bedenken gibt (336 f.), kann man die Zeilen aber nicht einfach als Athetese ausscheiden, da die Entstehungsgeschichte des Textes erkennen lässt, dass Kant diesen merkwürdigen Einschub entweder selbst vornahm oder zumindest billigte. Ähnlich wie im Fall der nicht vereinheitlichen Zwischenüberschriften (siehe oben Kap. 2.1) müssen wir damit rechnen, dass Kant nicht alle Ungenauigkeiten und inneren Spannungen im RGV-Text beseitigte. <?page no="175"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 175 Stellen das Verhältnis zwischen gesetzmäßiger bzw. -widriger Einzelhandlung und den Maximen thematisiert. Für den Kant der RGV gilt die Opazitätsthese, wonach die für die moralische Selbstbeurteilung maßgeblichen Maximen empirisch nicht zu fassen sind und daher nur von den Handlungen aus erschlossen werden können. Darüber hinaus muss im Blick auf die weiterzuverfolgende Diskussion um den Beweis für die Allgemeinheitsthese festgehalten werden, dass an der eingespielten Stelle lediglich von der Bewertung eines Individuums, nicht vom Gattungswesen Mensch, die Rede ist. 14 Zweitens muss der Grund selbst ein ‚Aktus der Freiheit‘ sein, da sonst die Imputation (‚Zurechnung‘) und die moralische Qualifikation nicht möglich sind. Er darf also nicht wiederum auf ‚Naturursachen‘ zurückgeführt werden. 15 Damit wird als drittes Merkmal die Eigenschaft der ‚Unerforschlichkeit‘ verbunden. Dieses Merkmal spielt hier weniger auf einen heuristischen, etwa mit der Opazitätsthese verbundenen Problemzusammenhang an, sondern bringt wiederum die antinaturalistische Stoßrichtung des hier verwendeten Naturbegriffs zum Ausdruck, da die hier besprochene ‚Natur‘ nicht durch einen vorgelagerten, außerhalb des Freiheitsgebrauches selbst liegenden Grund zurückgeführt werden kann. Bei der Suche nach dem ersten Grund der Maximenannahme können wir nicht weiter zurückgehen als auf einen entsprechenden, als solchen aber nicht weiter erklärbaren Freiheitsgebrauch. 16 Nachdem durch die eigentümliche Akzentuierung des Naturbegriffs eine Naturalisierung des Bösen ausgeschlossen wurde, wird am Ende des Absatzes ein anderes, der philosophischen Begriffsgeschichte näher stehendes Moment des von Kant sehr facettenreich gebrauchten Begriffs in den Vordergrund gerückt. Die ‚Natur‘ des Menschen bezeichnet demnach dessen generische Eigenschaften, d. h. dasjenige, was der Mensch „allgemein als Mensch [enthält], mithin so, 14 Vgl. Horn 2011, 46. Daher kann man diese Überlegung weder sachlich noch aufgrund der tatsächlichen Einbettung in den Text für ein entsprechendes Rückschlussverfahren in Bezug auf die gesamte Gattung heranziehen, wie das etwa durch Fischer 1988, 40 oder Rieger 2007, 77 u. 81 nahegelegt wird. 15 Vgl. B 6f/ AA VI 21 5-18 . Diese Bestimmungen können das von Kant nicht direkt erläuterte Adjektiv ‚subjektiv‘ in der Identifikation der menschlichen ‚Natur‘ als ‚ subjektiver Grund‘ erklärlich machen. Im Gegensatz zu den ‚objektiven‘ Regeln des Moralgesetzes (beachte die Gegenüberstellung ‚subjektiver Grund‘ - ‚objektive moralische Gesetze‘ in Z. 3) und naturalistischen Abläufen (Z. 9f: der Grund des Bösen kann „in keinem die Willkür […] bestimmenden Objekte, in keinem Naturtriebe“ liegen) kann es sich dabei nur um eine durch das Subjekt selbst und für sich selbst aufgestellte Handlungsregel (Z. 11f: eine „Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch der Freiheit macht“) handeln. Siehe auch unten: Kap. 4.1.3. 16 Vgl. B 7f/ AA VI 21 18-23 , sowie das regressus-infinitus -Argument in der angehängten Fußnote B 8/ AA VI 21 29-37 . <?page no="176"?> 176 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung daß er durch dieselbe[n] zugleich den Charakter seiner Gattung ausdrückt“. 17 Das aufzuweisende Gute bzw. Böse im Menschen soll demnach als allgemeines Gattungsmerkmal verstanden werden. Die Besonderheit des von Kant angestrebten Aufweises liegt folglich in der paradox anmutenden Verbindung dieser beiden Aussagen: Der Mensch ist seinem Wesen nach moralisch böse, diese essentialistisch gefasste Eigenschaft kann aber nur ‚subjektiv‘, d. h. durch die freiheitliche Verursachung in jedem Menschen erzeugt worden sein. Mit etwas anderer, nämlich zeitlicher Konnotation wird dies im letzten Absatz auch mit dem Leitadjektiv „angeboren“ zum Ausdruck gebracht. Kant zufolge hat man dies so zu verstehen, dass der erste Grund dieses Gattungscharakters gleichsam mit der Geburt gegeben ist, aber nicht weil er auf eine naturgesetzliche Ursache zurückgeführt werden könnte, sondern weil er in der freien Willkür selbst lokalisiert werden muss und daher allem erfahrbaren und zeitlich datierbaren Freiheitsgebrauch vorhergeht. 18 Nach der Interpretation der Eröffnungspassage und den in der Einleitung vorgenommenen Begriffsexpositionen muss nun eine wichtige inhaltliche Voraussetzung für die weitere Abhandlung besprochen werden, die ebenfalls in der Einleitung zur Sprache kommt: der moralische Rigorismus. In der Gedankenführung des Textes wird der rigoristische Standpunkt mittels einer angehängten Reflexion auf die eingangs referierten Positionen zum moralischen Zustand der Menschheit eingeführt. In einem längeren Abschnitt, der ‚Anmerkung‘ genannt wird und de facto den zweiten Teil der Einleitung bildet, führt Kant diese Positionen auf eine vollständige Disjunktion in der Beurteilung des Menschen zurück. 19 Er wiederholt den bereits in der Einleitung genannten, empirisch naheliegenden Einwand gegen diese Disjunktion, dass nämlich der Mensch doch auch weder gut noch böse oder aber teils gut und teils böse sein könnte. 20 In Bezug auf die Gesamtargumentation des ersten Stücks fungiert der Aufweis, dass die disjunktive Betrachtungsweise zutreffend ist, insofern als Rechtfertigung der weiteren Untersuchung, als in ihr begründet wird, weshalb eine binäre moralische Beurteilung des Menschen möglich und sinnvoll ist. Bei genauerer Betrachtung werden hier jedoch moralphilosophische Grundlagen der kantischen Konzeption des Bösen sichtbar, die bereits ein gewisses Untersuchungsergebnis wahrscheinlich machen und im Weiteren eine nähere Charakterisierung der kantischen Konzeption des Bösen erlauben. 17 B 8/ AA VI 21 22f . 18 Vgl. B 8/ AA VI 21 24 -22 9 ; vgl. innerhalb des Einleitungsabschnittes auch B 14/ AA VI 25 1-17 . 19 B 8f/ AA VI 22 11-13 : „Dem Streite beider oben aufgestellten Hypothesen liegt ein disjunktiver Satz zum Grunde: der Mensch ist (von Natur) entweder sittlich gut oder sittlich böse.“ 20 Vgl. B 5/ AA VI 20 19-22 u. B 9/ AA VI 22 13-18 . <?page no="177"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 177 Gemäß der Anmerkung sind drei divergierende Antwortansätze zu unterscheiden, die jeweils durch die Benennung der Vertretergruppen bezeichnet werden. 21 Die Vertreter der beiden von Kant ausgeschlossenen Optionen werden ‚Latitudinarier‘ genannt. Kant scheint diesen Oberbegriff so zu verstehen, dass mit ihm eine beide Positionen integrierende und in diesem Sinne ‚breite‘ Ansicht bezeichnet wird. 22 Die eine Richtung der ‚Latitudinarier‘, die ‚Latitudinarier der Neutralität‘ oder ‚Indifferentisten‘ 23 , bestreitet das Vorliegen der genannten Disjunktion und behauptet, dass der Mensch „von Natur keines von beiden“ sei 24 . Die andere Richtung, die ‚Latitudinarier der Coalition‘ oder ‚Synkretisten‘ 25 , hält die Ausschließlichkeit der Disjunktion für unbegründet und sieht den Menschen „als beides zugleich, nämlich in einigen Stücken gut, in anderen böse“ an 26 . Ginge es nach den Latitudinariern, wäre eine allgemeine Charakterisierung des Menschen als „(von Natur) entweder sittlich gut oder sittlich böse“ 27 unzutreffend. Die von Kant verteidigte Option wird als die der ‚Rigoristen‘ bezeichnet, weil sie einer ‚strengen Denkungsart‘ anhängen. 28 Nach diesem Antwortansatz gilt die genannte Disjunktion. Argumentiert wird für die rigoristische Position in mehreren Anläufen und vor allem mittels einer Widerlegung der indifferentistischen Alternative. 29 Das entscheidende Argument besteht darin, dass die Prädikate ‚gut‘ und ‚böse‘ zum Moralgesetz ins Verhältnis gesetzt werden. Kant zufolge sind diese Verhältnisse so zu bestimmen, dass die indifferentistische Position ausgeschlossen werden kann. Erläutert wird dies zum einen mittels eines Vergleichs mit der 21 Man kann sich fragen, worin die „gedachte[] Frage“ (B 10/ AA VI 23 1 ) eigentlich genau besteht, auf die in solch fundamental verschiedener Weise geantwortet werden kann. Kant gibt hier keine eindeutige Auskunft. Er verkompliziert diese vielmehr, indem er in den soeben zitierten Ausdruck die sog. Schillerfußnote (siehe Kap. 2.1) einbaut. Aufgrund der Rückbezüge ist jedoch wahrscheinlich, dass er in dem eröffnenden Referat der beiden Positionen die Frage impliziert sieht, wie der moralische Zustand der Menschheit bewertet werden soll, und er diese Frage mit derjenigen nach dem Charakter des Menschen an sich gleichsetzt. 22 Vgl. B 9/ AA VI 22 26 . 23 B 9/ AA VI 22 26f . 24 B 9/ AA VI 22 15 ; vgl. B 13/ AA VI 24 14f . 25 B 9/ AA VI 22 26-28 . 26 B 9/ AA VI 22 16f ; vgl. B 13/ AA VI 24 16f . 27 B 8f/ AA VI 22 12f . 28 B 9/ AA VI 22 23-25 . 29 Schon bei der Einführung der unterschiedlichen Ansätze wird das allgemeine Argument genannt, dass in der Sittenlehre überhaupt alle ‚moralischen Mitteldinge‘ vermieden werden müssten (B 9/ AA VI 22 19-21 ). Nebst der Widerlegung bemüht sich Kant auch, seine Position als die philosophischerseits eigentlich traditionskonforme auszuweisen, indem er ein Autoritätsargument anhängt, das in einer recht gezwungenen Auslegung der antiken Lehren zur Erlernbarkeit und Einzigkeit der Tugend besteht (vgl. B 14/ AA VI 24 f.). <?page no="178"?> 178 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Empfindung von Vergnügen bzw. Schmerz. Zum anderen bedient sich Kant algebraischer Gleichsetzungen, die er bereits in den Vorlesungen Mrongovius II und Vigilantius heranzog, um die Übereinstimmung oder Abweichung von Handlungen in Bezug auf das Moralgesetz auszudrücken. Das Empfinden von Vergnügen hat demnach zwei Gegenstücke: die Empfindung von Schmerz und das Nichtvorliegen einer Empfindung des Vergnügens oder Schmerzes. Im Falle dieser Empfindung gibt es also einen Mittelzustand der Indifferenz (algebraisch ausgedrückt: „= 0“), in dem weder ein Vergnügen („= a“) noch sein Gegenteil, der Schmerz („= - a“), empfunden wird. Ebenso stehen dem sittlich Guten zwei Gegenstücke gegenüber: das positiv gesetzte Böse („= - a“) und eine Handlung, die nicht zum Guten („= 0“) bestimmt ist. 30 Da im Menschen jedoch immerzu die moralische Triebfeder zum Guten - das moralische Gesetz - vorliegt, d. h. der Mensch sich immerzu aufgefordert weiß, sich zum Guten zu bestimmen, ist auch der ‚0‘-Zustand als moralisch böse zu werten. Jede Abweichung von den Ansprüchen des Moralgesetzes, also auch deren Ignorierung, ist moralisch böse. Denn möglich ist „der Mangel der Übereinstimmung der Willkür [mit dem moralischen Gesetz] […] nur als Folge von einer realiter entgegengesetzten Bestimmung der Willkür […], d. i. nur durch eine böse Willkür“. 31 Folglich gibt es beim menschlichen Handeln keinen Bereich moralischer Indifferenz. In Kants Worten: „[Z]wischen einer bösen und guten Gesinnung (innerem Prinzip der Maximen), nach welcher auch die Moralität der Handlung beurteilt werden muß, gibt es also nichts Mittleres.“ 32 In einer der zweiten Auflage hinzugefügten Ergänzung bringt Kant eine weitere, handlungstheoretische Erläuterung ein: Sobald tatsächlich gehandelt wird, besteht eine Beziehung zur Freiheit und zum Moralgesetz. Und wenn diesem nicht Folge geleistet wird, indem bspw. eine Selbstauslieferung an die Neigungen stattfindet, liegt moralisch Böses vor. Eine „moralisch-gleichgültige Handlung“ wäre daher eine ausschließlich „aus Naturgesetzen erfolgende Handlung[! ]“ und damit im strengen Sinne gar kein „Faktum“, d. h. keine zurechenbare Tat des Menschen. 33 Des Weiteren ergibt sich die Ablehnung des Indifferentismus für Kant daraus, dass der Entwurf einer allgemeinen Handlungsregel, d. h. einer Maxime, die transzendentale Bedingung einer Handlung ist, sofern diese durch die freie Willkür hervorgebracht und somit überhaupt moralisch qualifizierbar sein soll. Immer dann, wenn aus freier Willkür eine Handlungsentscheidung getroffen wird, muss eine entsprechende Handlungsregel vorliegen. Diese Handlungsregel kann - wie es vernunftgemäß wäre - im 30 Vgl. B 10 Fn./ AA VI 22 29 -23 12 . 31 B 10 Fn./ AA VI 23 6-9 . 32 Vgl. B 10 Fn./ AA VI 23 9-12 . 33 Vgl. B 10 Fn./ AA VI 23 13-17 . <?page no="179"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 179 Moralgesetz bestehen, dann liegt moralische Gutheit vor. Wenn aber das Gesetz die Willkür in Bezug auf eine Handlung nicht bestimmt, wird zwangsläufig eine andere Maxime angenommen, die wiederum einschließt, die Abweichung vom Moralgesetz zur Regel zu machen. In einem solchen Fall ist der Mensch als moralisch böse zu charakterisieren. „[I]n Ansehung des moralischen Gesetzes“ ist die Indifferenz also ausgeschlossen, denn entweder man macht sich das Gesetz oder die Abweichung davon zur Regel. 34 Während Kant - sofern man, wie hier geschehen, die Fußnote B 9f./ AA VI 22 f. auswertet - recht ausführlich gegen den Standpunkt der Indifferentisten argumentiert, fällt die Ablehnung der ‚Synkretisten‘, d. h. der alternativen Position, dass der Mensch „in einigen Stücken sittlich gut, in anderen zugleich böse“ ist 35 , knapp aus. Für Kant kann dieser ‚synkretistische‘ Antwortansatz mittels der Analyse des Gut-Seins und des Allgemeinheitsanspruchs des Moralgesetzes ad absurdum geführt werden. Gut zu sein, bedeutet, das Moralgesetz in seine Maxime aufzunehmen, und dies erfordert, ihm grundsätzlich und immerzu Folge zu leisten. Wenn aber ein Zugleich von Gut- und Böse-Sein behauptet werden soll, müsste davon ausgegangen werden, dass der Mensch einerseits grundsätzlich und immerzu dem Moralgesetz Folge leistet (wodurch er als gut charakterisiert werden könnte), andererseits dies nur auf besondere Fälle einschränkt, für andere jedoch ablehnt (wodurch er als böse beurteilt werden müsste). Angesichts des Unbedingtheitsanspruches des Moralgesetzes birgt die von den Synkretisten aufgestellte Behauptung folglich einen Widerspruch. Der rigoristische Grundansatz und dessen Begründung sind in mehrfacher Hinsicht für das weitere Nachdenken Kants über das Böse bedeutsam. Erstens gibt der Aufweis der disjunktiven Beurteilungsweise einen Hinweis auf die Voraussetzungen der nachfolgenden Argumentation. Kant schließt damit neben einer Urteilsenthaltung eine gradualistische oder partielle Bewertung des Menschen aus. Wenn vom Bösen oder vom Guten geredet wird, gilt es allein zu prüfen, ob das Moralgesetz vollständig und immerzu befolgt wird. Das Verhältnis zwischen Gutheit oder Bosheit ist insofern asymmetrisch, als die Gutheit nur auf eine einzige Weise vorliegen kann, jede Abweichung jedoch als Vorliegen einer regelhaften Ablehnung des Moralgesetzes und damit als gänzliche Bosheit 34 Vgl. B 10-13/ AA VI 23 1 -24 15 ; hier B 13/ AA VI 24 13f . In den im Einleitungsabschnitt vorgenommenen Ausführungen dominiert das hier dargestellte Modell der Struktur von Handlungsgründen, wonach diese selbst eine Handlungsregel bilden. Dieses wird allerdings in B 13/ AA VI 24 17f mit einem anderen, im weiteren Verlauf von RGV I weiter verfolgten Modell identifiziert, das Allison als incorporation thesis bezeichnet (vgl. 1990, 147 f., siehe auch Kap. 2.3) und wonach sowohl das Moralgesetz als auch andere ‚Antriebe‘ mittels Aufnahme in eine metaregulative, oberste Maxime wirksam werden. 35 B 13/ AA VI 24 16f . <?page no="180"?> 180 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung analysiert wird. Kant bringt damit in sehr spezifischer Terminologie die auch von anderen Moralphilosophen geteilte Auffassung zum Ausdruck, dass man auf vielerlei Weise böse, jedoch nur auf eine einzige Weise gut handeln kann. Und wenn auch das Urteil über den moralischen Charakter des Menschen der anschließenden ‚anthropologischen Nachforschung‘ überantwortet wird, dürften die im Eröffnungsabschnitt erläuterten moralphilosophischen Grundlagen es zumindest sehr wahrscheinlich machen, dass dieses Urteil negativ ausfällt und das Böse als so allgemein verbreitet angesehen werden muss, dass es gleichsam zur ‚Natur‘ des handelnden Menschen gehört. Sozialanthropologische Interpretationen 36 der These vom radikalen Bösen greifen daher bereits in ihrem Ansatz zu kurz, weil sie Überlegungen, die die transzendentalen Grundlagen der These betreffen, ausblenden. Zweitens lässt die Ablehnung der indifferentistischen Position erkennen, dass Kant hierbei darstellerisches Material aus seiner Vorlesungstätigkeit aufgreift. Wie die Untersuchung der Vorlesungszeugnisse zeigte, finden sich in Mrongovius II und Vigilantius algebraische Vergleiche, um die moralische Qualität von Handlungen auszudrücken. Andererseits wird in den Textstellen auch die Legitimität von ‚ adiaphora ‘, d. h. moralisch gleichermaßen legitimen Handlungen eingestanden. 37 Der Rigorismus der RGV mahnt diesbezüglich jedoch zur Zurückhaltung. Zwar scheint Kant auch in der RGV manche Handlungen als erlaubt, aber nicht geboten anzusehen, folglich auch einen Bereich von Handlungsoptionen einzuräumen, die moralisch gleichermaßen zulässig sind. 38 Moralische ‚Mitteldinge‘ und (vermeintliche) Handlungen, die in dem Sinne ‚moralisch-gleichgültig‘ sein könnten, dass sie vom Moralgesetz nicht betroffen wären, werden aber explizit ausgeschlossen. 39 Die Vergegenwärtigung dieser terminologischen Bezüge ist m. E. hilfreich, weil der rigoristische Ansatz drittens auf eine sehr spezifische Konzeption moralischer Gutheit hindeutet, die gleichsam die Kehrseite der These vom radikalen Bösen bildet. Nach der für die rigoristische Position angeführten Begründung impliziert die im Menschen gegebene Beanspruchung durch das Moralgesetz, dass das Gesetz das Prinzip und die Triebfeder des Handelns sein soll. Jede Abweichung von dieser gesollten Handlungssteuerung impliziert, dass der Mensch willentlich eine andere Handlungsregel setzt und Handlungsgründe, die außerhalb des Moralgesetzes liegen, akzeptiert; eine solche Abweichung wird 36 Siehe Kap. 2.3, wo als Beispiel für diesen Interpretationsansatz die Veröffentlichungen von Wood vorgestellt wurden. 37 Siehe Kap. 3.3. 38 So ist in B 10/ AA VI 23 16f davon die Rede, dass zwischen Moralgesetz und Handlungen die Verhältnisse ‚Gebot‘, ‚Verbot‘ und ‚ Erlaubnis ‘ bestehen können. 39 Vgl. B 9/ AA VI 22 19-21 u. B 10/ AA VI 23 13-17 . <?page no="181"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 181 als schuldhaft und böse aufgefasst. Die anstehende Untersuchung über das Böse im Menschen ist folglich von einer sehr spezifischen Konzeption von ‚sittlicher Gutheit‘ grundiert. Dabei deuten die Fokussierung auf die Willkürordnung und die gewählte Terminologie (‚Gesinnung‘, ‚inneres Prinzip der Maximen‘, ‚Triebfeder‘) darauf hin, dass bei dieser Konzeption nicht die äußerlich-extensionale Dimension des Handelns im Vordergrund steht, sodass der Mensch beispielsweise aufgefordert wäre, immer mehr und immer wirkungsreichere gute Handlungen zu vollziehen, ja gar überverdienstlich zu handeln. Das erste Stück der RGV beschäftigt sich nicht mit der Festsetzung oder Vermehrung von distinkten Pflichten. Vielmehr liegt der Fokus hier auf der innerlich-motivationalen Dimension des Handelns, derzufolge es darauf ankommt, dem Moralgesetz unbedingt und ausdrücklich Folge zu leisten. In diesem Sinne wird im weiteren Verlauf des Textes immer wieder von der aus den Vorlesungen bekannten ‚Reinheit‘ oder ‚Heiligkeit‘ die Rede sein, zu deren Realisation der Mensch zwar unbedingt aufgefordert ist, die ihm jedoch regelmäßig fehlt. 4.1.2 Die Anlagen zum Guten Im ersten Unterkapitel des ersten Stücks beschreibt Kant drei ‚Anlagen‘ des Menschen. Die vordergründige argumentative Intention des Abschnittes innerhalb des ersten Stückes liegt darin, die ‚ursprüngliche‘ Grundausstattung des Menschen davon zu entlasten, als Ursache für das Böse im Menschen in Betracht gezogen zu werden. Denn die drei Anlagen - für die ‚Tierheit‘, für das (vernunftbegabte) ‚Menschsein‘ und für die Fähigkeit, eine moralische ‚Persönlichkeit‘ auszubilden - sind dem Abschnitt zufolge gut und sogar geeignet, das Gute zu befördern. Sie können allerdings, mit Ausnahme der dritten Anlage, durch den Menschen selbst korrumpiert werden. Die Analyse dieses Abschnittes zeigt, dass Kant in RGV I ein komplexes Bild vom Menschen zeichnet. In einer solchen Anthropologie finden sowohl die ‚gute‘ Grundausstattung als auch die These vom radikalen Bösen ihren Platz. Mit der Untersuchung „der ursprünglichen Anlage zum Guten in der menschlichen Natur“, so die Abschnittsüberschrift, eröffnet Kant die in der Einleitung angekündigte ‚anthropologische Nachforschung‘. 40 Wie der Text an verschiedenen Details erkennen lässt, werden in dieser anthropologischen Untersuchung allerdings nur gewisse Merkmale des Menschen ausgewählt. Das geht zum einen aus der Unterscheidung zwischen notwendigen und ‚zufälligen‘ Eigenschaften hervor: Die ersteren sind „ursprünglich“, sie gehören zur „Möglichkeit eines solchen Wesens“, das der Mensch ist; es handelt sich folglich um konsti- 40 Vgl. B 15/ AA VI 25 21f -26 2f . <?page no="182"?> 182 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung tutive Merkmale des Menschen. Ihnen stehen ‚zufällige‘ Bestimmungselemente gegenüber, von denen gilt, dass „das Wesen auch ohne dieselben an sich möglich wäre“. Die in diesem Abschnitt erörterten „Anlagen“ bilden notwendige Eigenschaften des Menschen. 41 Der ‚Hang‘ wird hier noch nicht genannt. Die Verwendung von ‚zufällig‘ im bereits wenige Zeilen später einsetzenden Folgeabschnitt als Attribut für den ‚Hang zum Bösen‘ ist jedoch ein starker Hinweis darauf, dass dieser zu den nicht-notwendigen Eigenschaften des Menschen gehört. Kant zieht zwischen Wesenszügen (‚Anlagen‘), die mit dem Menschsein als solchem gegebenen sind, und dem erworbenen Gattungsmerkmal des Hanges eine begriffliche Grenze, auch wenn diese im weiteren Verlauf von RGV I mitunter wieder verwischt zu werden scheint. Wie aus den Überschriften zu den Abschnitten eins und zwei hervorgeht, bezeichnet der Begriff der ‚menschlichen Natur‘ dagegen eine übergeordnete Größe, in der die offenbar heterogenen Bestimmungsstücke ‚Anlage‘ und ‚Hang‘ vorkommen. 42 Zum anderen wird die Untersuchung der Anlagen im Schlusssatz des Abschnittes auf die Darstellung solcher menschlicher Eigenschaften beschränkt, die sich auf „das Begehrungsvermögen und den Gebrauch der Willkür“, d. h. auf die für das Handeln des Menschen einschlägigen Vermögen, „beziehen“. 43 Eine Beschränkung auf diejenigen Eigenschaften des Menschseins, die mit dem Handeln in Verbindung stehen, kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass die anthropologische Untersuchung eine vorrangig praktische Zwecksetzung verfolgt. Offenbar geht es Kant vor allem darum, den Menschen als handelndes Wesen zu beschreiben und darzulegen, welche Charakteristika dessen Handeln aufweist. Und das Wissen um diese Charakteristika kann eine Hilfe sein, um die eigene Handlungssteuerung und die Selbstkultivierung an die spezifischen Gegebenheiten des homo agens anzupassen. Darüber hinaus kann man die For- 41 B 19/ AA VI 28 14-21 : „Sie [sc. die Anlagen] sind ursprünglich; denn sie gehören zur Möglichkeit der menschlichen Natur. […] Unter Anlagen eines Wesens verstehen wir sowohl die Bestandstücke, die dazu erforderlich sind, als auch die Formen ihrer Verbindung, um ein solches Wesen zu sein. Sie sind ursprünglich, wenn sie zu der Möglichkeit eines solchen Wesens notwendig gehören; zufällig aber, wenn das Wesen auch ohne dieselben an sich möglich wäre.“ ‚Sie‘ dürfte sich auf ‚Bestandsstücke‘ beziehen, da in dem Satz notwendige und zufällige Bestimmungen unterschieden werden und die Anlagen (die als zweite Bezugsmöglichkeit infrage kommen) notwendige Wesensbestimmungen bezeichnen sollen. 42 B 15/ AA VI 26 2f : „Von der ursprünglichen Anlage zum Guten in der menschlichen Natur “; B 20/ AA VI 28 25 : „Von dem Hange zum Bösen in der menschlichen Natur “. Vgl. auch Sommerfeld-Lethen 2005, 263-266, die auf die Verwendung unterschiedlicher Natur-Begriffe in RGV I hinweist. 43 Vgl. B 19f/ AA VI 28 22-24 : „Noch ist zu merken, daß hier von keinen anderen Anlagen die Rede ist, als denen, die sich unmittelbar auf das Begehrungsvermögen und den Gebrauch der Willkür beziehen.“ <?page no="183"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 183 mulierung noch in anderer Weise, nämlich für das nun herauszuarbeitende Verständnis der ‚Anlagen‘ auswerten. Denn die Anlagen werden in der zitierten Formulierung zwar mit den voluntativen Vermögen in Verbindung gebracht, aber nicht mit diesen identifiziert. Unter der zuerst genannten ‚Anlage für die Tierheit‘ werden die physische (d. h. ohne Mitwirkung der Vernunft vollziehbare) ‚Selbstliebe‘ sowie die Tätigkeiten der Selbsterhaltung, der Fortpflanzung (inklusive Aufzucht des Nachwuchs) und der Vergemeinschaftung angeführt. 44 Die zweite Anlage bestimmt den Menschen als vernünftiges Wesen, da er eine auf der „Vergleichung mit anderen“ beruhende Selbstliebe in sich trägt und sich durch kompetitives Streben „in der Meinung anderer einen Wert […] verschaffen“ möchte. Hierdurch bringt der Mensch kulturelle Leistungen hervor, die über die Bewältigung der physischen Notdurft hinausreichen. 45 Überblickt man die Erläuterungen, die Kant zu den ersten beiden Anlagen gibt, fällt auf, dass hierunter nicht - wie man aufgrund des Begriffes vermuten könnte - bloße Fähigkeiten oder Entfaltungspotentiale zu verstehen sind. Vielmehr bezeichnen diese Anlagen gewisse Handlungstriebe und daraus resultierende Handlungsfelder des Menschen. Die Anlagen beschreiben, was die für den Menschen charakteristischen Tätigkeiten sind und dass sie es sind, weil dessen psychische Antriebsstruktur eine charakteristische Empfänglichkeit hierfür aufweist. Möglicherweise erklärt ein solches Verständnis der Anlagen, weshalb Kant die Anlagen nicht nur - der Überschrift gemäß - als ‚(negativ) gut‘, d. h. dem Moralgesetz nicht widerstreitend, bezeichnet, sondern darüber hinaus auch als ‚Anlagen zum Guten‘. Denn sie beschreiben den Menschen als ein Wesen, das in verschiedenen Bereichen und auf geistig unterschiedlich anspruchsvollen Niveaus auf Handeln hin angelegt ist. Und nur aufgrund dieser anthropologischen Eigenschaft kann es zu sittlicher Gutheit, nämlich zu das Moralgesetz befolgendem und moralische Zwecke realisierendem Handeln, kommen. 46 44 Vgl. B 16/ AA VI 26 12-18 . 45 Vgl. B 17f/ AA VI 27 4-12 , Zitate: Z. 6-9 (im Original gesperrt gedruckt). 46 Vgl. B 19/ AA VI 28 12-14 (Hervorhebung: Reich): „Alle diese Anlagen im Menschen sind nicht allein (negativ) gut (sie widerstreiten nicht dem moralischen Gesetze), sondern sind auch Anlagen zum Guten (sie befördern die Befolgung desselben).“ - Ein verkürztes Verständnis der Anlagen (wie z. B. bei Michalson 1990, 37-40, als bloße ‚potentialities‘) führt mitunter dazu, die Charakterisierung der Anlagen als solche ‚zum Guten‘ nicht angemessen zu berücksichtigen (vgl. Bernstein 2002, 30 und Michalson 1990, 45) oder auf textexterne Plausibilisierungen für diese Aussage zurückzugreifen (vgl. Horn 2011, 54, siehe auch Kap. 2.3). In Richtung der hier vorgeschlagenen Interpretation weisen auch die diesbezüglichen Ausführungen von Wimmer 1990, 110-112, bes. 112 u. Sussman 2005, 162 („For Kant, the predispositions all seem to involve some distinctive way of understanding ourselves teleologically, some self-conception that presupposes a special capacity for self-directed activity“). <?page no="184"?> 184 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Aufgrund dieses Selbstvollzuges des Menschen als handelndes Wesen ist es jedoch auch möglich, dass sich verschiedenartige Laster ausbilden, bei denen in unterschiedlicher Intensität der eigenen Person oder Anderen geschadet wird. Bezüglich des Verhältnisses von Anlage und Laster verwendet Kant die botanische Metapher des ‚Pfropfens‘, die sowohl den Übergang der Triebkraft als auch die generische Verschiedenheit zwischen Grundlage und Spross festhält. 47 Im Falle der ‚Tierheit-Anlage‘ kann es zu „Laster[n] der Rohigkeit“, im schlimmsten Fall zu „viehische[n] Laster[n]“, nämlich zu „Völlerei“, „Wollust“ und „wilde[r] Gesetzlosigkeit“ kommen. 48 Aus der ‚Menschheit-Anlage‘ können „Laster der Kultur“, nämlich sozialschädliche Bestrebungen wie „geheime[] und offenbare[] Feindseligkeiten gegen alle, die wir als für uns fremde ansehen“, und schlimmstenfalls die „teuflische[n] Laster“ des Neides, der Undankbarkeit und der Schadenfreude erwachsen. 49 Die Bezeichnungen und Phänomene beider Lasterarten nehmen insofern Begriffe aus den Ethik-Vorlesungen auf, als auch in den Vorlesungen die ‚viehischen‘ und die ‚teuflischen‘ Laster Subkategorien zum Oberbegriff ‚Laster‘ bezeichnen, nämlich Verletzungen von Pflichten gegen sich selbst und Verfehlungen gegen die gebotene Liebe zu den Mitmenschen. 50 Anders als bei Baumgarten, dem Referenzautor der Ethikvorlesungen, bezeichnet das ‚viehische‘ Laster bzw. die bestialitas in RGV I nicht einen habitualisierten Zustand der sittlichen Verrohung, der womöglich auch noch die Fähigkeit zur sittlichen Selbststeuerung beschädigte, sondern lediglich eine sektoral abgegrenzte Fehlbildung menschlichen Handelns. 51 An solchen Details wird deutlich, dass Kant in der Religionsschrift die ebenfalls aus den Vorlesungen bekannte, differenzierte Einschätzung des Menschen fortführt: Eine grundsätzliche oder gar anlagebedingte Zerstörung der Möglichkeit zur sittlichen Selbstbestimmung ist ausgeschlossen. Zugleich wird aber durchaus Kritik am Menschen und dessen Fehlhandeln geübt. 47 B 17/ AA VI 26 18-20 : „Auf sie [die Anlage für die Tierheit im Menschen] können allerlei Laster gepfropft werden (die aber nicht aus jener Anlage, als Wurzel, von selbst entsprießen).“ Vgl. auch B 17/ AA VI 27 12-16 . Wie bei der Kultivierung von Obstbäumen ein Zweig der einen Pflanze auf den Stamm oder Ast einer anderen aufgesetzt wird, damit er durch den Saft der letzteren wachsen kann, so ist das Laster eine sich nicht ‚natürlicherweise‘ ergebende, sondern willentlich gesetzte Handlung, die das dem Menschen eigene Streben im jeweiligen Bereich - und hier kommt die Analogie zur Pflanzenveredelung an ihre Grenzen - auf pervertierte Weise zum Austrag kommen lässt. 48 Vgl. B 17/ AA VI 26 20 -27 3 . 49 Vgl. B 17f/ AA VI 27 12-26 . 50 Siehe Kap. 3.4. Vgl. auch Klemme 1999, 135, der durch seine Auswertung von Parallelstellen in Kants Anthropologievorlesungen zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt. 51 Vgl. Baumgarten, Ethica § 434, sowie Stark 2004, 356 4-11 , siehe auch oben Kap. 3.4. <?page no="185"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 185 Um eben diese unverlierbare Moralfähigkeit des Menschen geht es in der dritten Anlage. Ebenso wie die ersten beiden Anlagen gehört sie zu den notwendigen Eigenschaften des Menschen. Sie kann nicht ‚vertilgt‘ werden, wie Kant schreibt. Und im Gegensatz zu den ersten beiden Anlagen kann die ‚Anlage für die Persönlichkeit‘ in keinen zweckwidrigen Gebrauch ausschlagen. 52 Aufgrund dieser Anlage hat der Mensch nicht nur Vernunft, sondern in ihm ist auch der Anspruch praktischer Rationalität, d. h. das Moralgesetz, gegeben; ihm wird sein Handeln daher moralisch zugerechnet. 53 Überdies bezeichnet die Anlage die sehr spezifische, im Willkürvermögen liegende Eigenschaft, dass das Moralgesetz die alleinige Triebfeder sein kann. 54 Die Erläuterungen zu dieser Anlage bergen jedoch einige Verständnisschwierigkeiten. 55 Die schwierigen Formulierungen sagen m. E. aus, dass unter der Anlage für die Persönlichkeit mehr als die bloße Moralfähigkeit, aber auch nicht die aktuale moralische Selbstbestimmung des jeweiligen Individuums zu verstehen ist. Durch die Anlage für die Persönlichkeit charakterisiert zu sein bedeutet, das moralisch Richtige erkennen (‚Moralgesetz‘) zu können und daher auch moralisch verantwortlich zu sein (‚ein der Zurechnung fähiges Wesen‘) sowie über die Fähigkeit zu verfügen, moralisch richtige Handlungen allein aus Pflicht auszuführen (‚moralisches Gefühl‘). Es bezeichnet darüber hinaus aber auch die Eigenschaft, diese Moralfähigkeit auch nutzen zu wollen , d. h. zumindest intellektuell den Anspruch des Moralgesetzes zu akzeptieren. Der Mensch ist gemäß der hier erläuterten Anthropologie ein Wesen, das nicht nur fähig, sondern aufgrund seiner praktischen Vernünftigkeit grundsätzlich auch dazu ‚geneigt‘ ist, moralisch zu handeln, auch wenn er sich oft genug dazu entscheidet, sich nicht entsprechend seiner Anlage zu verhalten. 56 52 Vgl. B 19/ AA VI 28 16 sowie B 18/ AA VI 27 37 . 53 Vgl. B 15f/ AA VI 26 10f.21-37 . 54 Vgl. B 18f/ AA VI 27 27 -28 7 . 55 Dies betrifft etwa die Vereinbarkeit zwischen der ersten Nennung der ‚Anlage‘ zu Beginn des Abschnitts und der späteren Wiederaufnahme. In beiden Fällen wird die differentia specifica , aufgrund derer sich die ‚Anlage für die Persönlichkeit‘ von der ‚Anlage für die Menschheit‘ unterscheidet und diese dritte Anlage eine Näherbestimmung des Menschen erlaubt, als Moralfähigkeit formuliert. Während an der ersten Stelle jedoch ausgesagt wird, dass der Mensch ein Wesen ist, dem Handlungen überhaupt moralisch imputiert werden können (B 15/ AA VI 26 10f : „[Die Anlage] für seine Persönlichkeit, als eines vernünftigen und zugleich der Zurechnung fähigen Wesens“), liegt der Tenor der späteren Ausführungen darauf, dass der Mensch eine Empfänglichkeit dafür aufweist, das Moralgesetz in die eigene Handlungssteuerung aufzunehmen (B 18/ AA VI 27 27-29 : „Die Anlage für die Persönlichkeit ist die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz, als einer für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür“, vgl,. hierzu auch Wimmer 1990, 111). 56 Kant sieht einerseits die bloße, im Vorhandensein des moralischen Gefühls bestehende Empfänglichkeit nicht als eine Größe an, die „einen Zweck der Naturanlage“ ausmacht, <?page no="186"?> 186 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Insgesamt fällt bei der hier entfalteten Anthropologie des handelnden Wesens auf, dass eine strikte Abgrenzung zwischen den ersten beiden Anlagen - von denen ja auch die zweite ausgeprägte intellektuelle Fähigkeiten erfordert! - und der dritten Anlage vorgenommen wird. Für Kant bilden die Gegebenheit des Moralgesetzes und der Wesenszug, das Moralgesetz grundsätzlich zu bejahen, Eigenschaften sui generis , die konstitutiv zum Menschsein hinzugehören, aber von dessen anderen Konstituenten deutlich abgehoben werden müssen. 57 In struktureller Parallelität zur Endgestalt der Lehre von den Imperativen wird also auch in dieser Systematisierung eine Dreigliederung durch die Gegenüberstellung zweier Sphären überlagert: Für Kant gibt es keinen Weg von der physischen (erste Anlage) oder sozialen (zweite Anlage) ‚Natur‘ des Menschen zur Moral (dritte Anlage). Und dennoch gelten die natürlichen menschlichen Neigungen als an sich gut. 58 Denn die Neigungen und die Sozialnatur haben großen Einfluss darauf, dass der Mensch überhaupt eine Vielzahl von (moralisch zu determinierenden) Handlungen hervorbringen will. Ausgehend von den analysierten Hinweisen im Text und den dargestellten interpretatorischen Überlegungen kann man festhalten, dass Kant in diesem Abschnitt ein teleologisches Verständnis der menschlichen Natur 59 verfolgt, dem zufolge es konstitutiv zum Menschsein hinzugehört, sich handelnd zu entsondern nur sofern die gefühlsmäßig empfundene Achtung auch tatsächlich Triebfeder der Willkür ist (B 18/ AA VI 27 29-32 ). Andererseits hebt er aber die (freiheitlich erworbene, tugendhafte) Entsprechung gegenüber dem Moralgesetz - in Kants Worten: das Sich-Konstituieren als diejenige ‚Persönlichkeit‘, die der rein intellektuellen Idee der Menschheit entspricht (27 37 -28 4 ) - ebenfalls von der ‚Anlage‘ ab (27 32-37 ). Vgl. auch die Formulierung B 19/ AA VI 28 4-7 („[D]aß wir diese Achtung zur [als] Triebfeder in unsere Maxime aufnehmen, der subjektive Grund hierzu scheint ein Zusatz zur Persönlichkeit zu sein, und daher den Namen einer Anlage […] zu verdienen“) sowie die ähnlichen Interpretationsvorschläge von Wimmer 1990, 111 u. 128, Rieger 2007, 78 u. Fischer 1988, 42. 57 Vgl. hierzu insbesondere die Anmerkung zur Einführung der Anlage für die Persönlichkeit: „[E]s folgt daraus, daß ein Wesen Vernunft hat, gar nicht, daß diese ein Vermögen enthalte, die Willkür unbedingt, durch die bloße Vorstellung der Qualifikation ihrer Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung zu bestimmen, und also für sich selbst praktisch zu sein. […] Wäre dieses Gesetz nicht in uns gegeben, wir würden es, als ein solches, durch keine Vernunft herausklügeln, oder der Willkür anschwatzen: und doch ist dieses Gesetz das einzige, was uns der Unabhängigkeit unserer Willkür von der Bestimmung durch alle anderen Triebfedern (unserer Freiheit) […] bewußt macht“ (B 15f/ AA VI 26 22- 37 ). Im weiteren Verlauf der RGV schildert Kant das Staunen darüber, dass der Mensch ein moralfähiges und moralisch gefordertes Wesen ist (siehe unten Kap. 4.1.5). Der letzte Satzteil gibt im Übrigen einen starken Beleg für das Argument Bojanowskis (siehe Kap. 2.3) ab, dass Kant Freiheit nicht mit moralgesetzlicher Selbstbestimmung gleichsetzt (wie die Identitätsthese behauptet), sondern letzteres für den Menschen lediglich der Beweis für das tatsächliche Vorliegen von Freiheit ist. 58 Vgl. Ricken 2001, 246 f. u. 256 f. 59 Vgl. Bormann 2011, 1596 f. <?page no="187"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 187 falten und dabei dem unbedingten Anspruch praktischer Rationalität ausgesetzt zu sein. Umso bedeutsamer ist es, dass diesem positiven Grundzug in Kants Bild vom Menschen in den folgenden Abschnitten die Lehre vom radikalen Bösen zur Seite gestellt wird. 4.1.3 Der Hang zum Bösen als ‚intelligible Tat‘ und als Mangel an ‚gutem Willen‘ Mit Abschnitt II beginnt die nähere Befassung mit der These vom radikalen Bösen. Kant diskutiert dort den sog. ‚Hang zum Bösen‘. Am Anfang des Abschnitts steht eine Definition des Hang-Begriffes: „Unter einem Hange ( propensio ) verstehe ich den subjektiven Grund der Möglichkeit einer Neigung (habituellen Begierde, concupiscentia ), sofern sie für die Menschheit überhaupt zufällig ist.“ 60 Des Weiteren werden drei Stufen dieses Hanges unterschieden und der Hang als eine besondere Art von zurechenbarer Handlung, nämlich als ‚intelligibele Tat‘ beschrieben. Der darauffolgende dritte Abschnitt setzt mit einer Erläuterung der These aus der Überschrift ‚Der Mensch ist von Natur böse‘ ein und führt dann empirische Beispiele für das Vorhandensein des Hanges an. Er nimmt eine erneute Abgrenzung gegenüber der ‚Sinnlichkeit‘ und dem Gedanken einer ‚verderbten‘ bzw. ‚boshaften‘ Vernunft vor. Stattdessen wird das ‚radikale Böse‘ auf die Ordnung der obersten Maximen zurückgeführt und das Problem der Selbsttäuschung benannt. Trotz der reichhaltigen Ausführungen erklärt Kant in einer Fußnote am Ende des Abschnitts, dass der ‚eigentliche Beweis‘ für die genannte These und damit für das ‚Verdammungsurteil‘ über den Menschen im vorhergehenden Abschnitt, d. h. in Abschnitt II, enthalten sei. 61 Die in Abschnitt IV ausdrücklich vorgenommene Reflexion auf den ‚Ursprung‘ des Bösen führt die vorhergehenden Ausführungen in zweifacher Weise weiter: Zum einen, indem sie die Zurechenbarkeit einer Handlung angesichts des Vorliegens des Hanges erörtert. Und zum anderen, indem sie eine ausdrückliche Gegenüberstellung zwischen der These vom radikalen Bösen und der Erbsündenlehre vornimmt. Dabei dürfte es nicht nur der generellen sprunghaften Darstellungsweise in RGV I geschuldet sein, dass die weiteren Erläuterungen zum Bösen in der menschlichen Natur weithin von Bezügen auf die Erbsündenlehre durchsetzt sind. Vielmehr dürfte Kant damit bezwecken, eine rhetorisch gewandte Konfrontation zwischen der moralphilosophischen Ursprungsanalyse und der christlichen Überlieferung zu erzeugen. Ein weiteres Anliegen des Ab- 60 Vgl. B 20/ AA VI 28 27-29 (Kursiv im Original). 61 Vgl. B 39/ AA VI 39 22f . <?page no="188"?> 188 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung schnittes besteht folglich darin, die moralphilosophisch aufgedeckte Radikalität des Bösen nach dem Modell eines vorfindlichen, aber schuldhaft-zurechenbaren Falls zu beschreiben und eine weitgehende inhaltliche Kongruenz des moralphilosophisch anzunehmenden Ursprungs des Bösen mit den einschlägigen narrativen Darstellungen aus der christlichen Überlieferung aufzuweisen. Die hier verfolgte Interpretation dieser Textabschnitte wird sich im Gegensatz zu manchen Beiträgen der Sekundärliteratur nicht darauf fokussieren, den Text nach Argumenten zu durchsuchen, welche der Behauptung einer allgemeinen Verbreitung des radikalen Bösen die gewünschte Plausibilität verleihen. Wie bereits in Kap. 2.3 ausgeführt, verfehlen solche Bemühungen den springenden Punkt der kantischen Gedankenführung. Vielmehr sollen die verschiedenen Erläuterungen, die der Text zum Vorliegen des radikalen Bösen gibt, analysiert und das damit verbundene Darstellungsinteresse Kants rekonstruiert werden. Hierdurch lässt sich m. E. zeigen, dass die menschliche Bosheit von Kant einerseits als ‚ intelligibele Tat ‘ und andererseits als Mangel an ‚ gutem Willen ‘ beschrieben wird. Die Identifikation des zuletzt genannten Punktes wird zu der Schlussfolgerung führen, dass Kant in der RGV eine privative Konzeption des Bösen vertritt, indem er das Böse als eine willentliche und daher imputable Nichtverwirklichung des dem Menschen auferlegten Moralgesetzes beschreibt. Zu diesem komplexen Phänomen der schuldhaften Verweigerung gegenüber der ‚Anlage für die Persönlichkeit‘ gehört auch die Selbsttäuschung. Sie blockiert die Anerkenntnis dieser menschlich-defizitären Grundsituation sowie des dadurch gegebenen Verbesserungsbedarfes. Im Verlauf des Textes finden sich drei Stellen, an denen Kant auf die Frage nach einem Beweis für die Behauptung, dass ein jeder Mensch - und dazu noch ‚von Natur aus‘ - böse sei, eingeht. Die erste Einlassung besteht darin, die Notwendigkeit eines „förmlichen“ Beweises zurückzuweisen: „Daß nun ein solcher verderbter Hang im Menschen gewurzelt sein müsse, darüber können wir uns, bei der Menge schreiender Beispiele, welche uns die Erfahrung an den Taten der Menschen vor Augen stellt, den förmlichen Beweis ersparen.“ 62 Eine solche Zurückweisung ist jedoch merkwürdig, da im selben Absatz eine Vielzahl an empirischen Beispielen für das böse Handeln von Menschen angeführt wird. 63 Die strukturierte und kommentierte Anordnung der Beispiele verleiht der Textpassage einen argumentierenden Charakter. Obgleich die Darbietung der Beispiele lediglich die Entbehrlichkeit des Beweises aufzeigen soll, kann man eben dies als empirisches Argument für die These selbst auffassen. Denn wenn - etwa im Rückgriff auf unwiderlegbare Befunde - die Entbehr- 62 B 27f/ AA VI 32 34 -33 2 . 63 Vgl. B 28-31/ 33 2 -34 17 . <?page no="189"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 189 lichkeit des Beweises für eine Behauptung erwiesen werden könnte, käme der Behauptung selbst zweifellos eine hohe Plausibilität zu. Überdies wird wenige Seiten darauf von ‚Erfahrungsbeweisen‘ gesprochen, die das Vorhandensein des Hanges darlegen könnten. 64 Möglicherweise spricht Kant die Beispielliste also an anderer Stelle selbst als Beweis an. Die Textpassage führt uns daher insofern in eine interpretative Zwickmühle, als der Text einerseits durchaus argumentierende Passagen bietet und diese auch als empirisches Argument für die These aufgefasst werden können, andererseits jedoch eben dieses empirische Argument von dem Königsberger Logikprofessor gerade nicht als logisch gültiger (‚förmlicher‘) Beweis angesehen wird. 65 Und dies, wie nun gezeigt werden soll, zu Recht. Aufgebaut ist die Beispielargumentation als Widerlegung der gegenteiligen optimistischen Meinung. In einem ersten Schritt falsifiziert sie die Annahme von der „Gutartigkeit der menschlichen Natur“ im „sogenannten Naturstande“ und in einem zweiten Schritt das vermeintlich bessere Verhalten der Menschheit im „gesitteten [d. h. zivilisierten] Zustand“, indem sie jeweils auf Gegenbeispiele verweist. 66 Unter Aufbietung ausführlicher geografischer und völkerkundlicher Kenntnisse sowie mit einer großen Sensibilität für zwischenmenschliche Verfehlungen und die in den internationalen Beziehungen vorherrschende Feindschaft wird dargelegt, dass die Menschen sich in allen Erdteilen, auf allen Zivi- 64 Vgl. B 32f/ AA VI 33 27-31 : „Wenn nun aber gleich das Dasein dieses Hanges zum Bösen in der menschlichen Natur, durch Erfahrungsbeweise des in der Zeit wirklichen Widerstreits der menschlichen Willkür gegen das Gesetz, dargetan werden kann, so lehren uns diese doch nicht die eigentliche Beschaffenheit desselben, und den Grund dieses Widerstreits“. 65 Daraus lässt sich nicht, wie Allison meint, folgern, dass Kant daher einen anderen, der Form nach validen Beweis für möglich hält (vgl. 2001, 606 f.). 66 Vgl. die strukturierenden Sätze: „Will man sie [= die ‚Taten‘ der Menschen oder die ‚schreienden‘ Beispiele für die Verwurzelung eines verderbten Hanges im Menschen] aus demjenigen Zustande haben […], nämlich aus dem Naturzustande: so darf man nur die Auftritte von ungereizter Grausamkeit …“ (B 28/ AA VI 33 2-6 ) - „Ist man aber für die Meinung gestimmt, daß sich die menschliche Natur im gesitteten Zustand […] besser erkennen lasse: so wird man eine lange melancholische Litanei …“ (B 29/ AA 33 11-14 ). - In diesem Vorgehen zeigt sich bereits eine logische Problematik, da aus der Widerlegung der Antithese nicht notwendigerweise die These erwiesen wird. Um aus dem Aufweis, dass erfahrungsgemäß weder im Naturzustand noch im zivilisierten Zustand die vermeintliche „natürliche Gutartigkeit der menschlichen Natur“ angetroffen werden kann (vgl. B 28/ AA VI 33 3f ), zu folgern, dass alle Menschen böse sind, sind weitere begründungspflichtige Voraussetzungen nötig. Neben dem Nachweis der Vollständigkeit der damit angesprochenen Zustände betrifft das die oben erläuterte rigoristische Voraussetzung, wonach eine Abwesenheit von Gutheit als Bosheit zu werten ist. M. E. ist es für die von Kant verwendete Konzeption des Bösen im Menschen signifikant, dass diese Voraussetzung hier offenbar stillschweigend angenommen wird. <?page no="190"?> 190 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung lisierungsstufen und bei noch so freundschaftlichen Verhältnissen gegenseitig Böses antun. Und dennoch: Trotz aller Suggestivkraft der durchkomponierten Beispielliste kann man nicht ausschließen, dass manche Individuen in ihrem Verhalten keinerlei Bosheit erkennen lassen. Induktiv begründete Wahrscheinlichkeit ist etwas anderes als strikte Allgemeinheit oder gar die Zugehörigkeit einer Eigenschaft zur ‚menschlichen Natur‘. Es ist daher dem mehrfach geäußerten Einwand zuzustimmen, dass das empirische Argument die in der These ausgedrückten Allgemeingültigkeitsansprüche nicht beweisen kann. 67 So gesehen ist es verständlich, dass Kant es im Zwielicht lässt, ob die Beispielliste nun so etwas wie einen (freilich fragwürdigen) Beweis darstellen soll. Der zweiten Referenzstelle für die Frage nach dem Beweis ist das bereits zitierte Zugeständnis entnommen, dass das Dasein des Hanges durch empirische Beweise aufgezeigt werden könne. 68 Allerdings müssen wir uns vor Augen halten, dass die Behauptung Teil eines negativ formulierten Satzgefüges ist. Kant hält hier fest, dass mit Erfahrungsbeweisen noch nichts über die ‚eigentliche Beschaffenheit‘ und den ‚Grund des Widerstreites der Willkür gegen das Gesetz‘ ausgesagt sei, und diesbezügliche Auskünfte a priori aus dem Begriff des Bösen entwickelt werden müssten. 69 Es geht hier nicht primär um den Beweis der allgemeinen Verbreitung des Bösen, sondern um die Erörterung des Hanges selbst. M. E. trifft daher der in Kap. 2.3 referierte Einwand gegen eine sozialanthropologische Plausibilisierung der Allgemeinheitsthese zu. Kant verfolgt weder latent noch im Vorausgriff auf RGV III das Ziel, die allgemeine Verbreitung des Bösen durch das faktische Sozialverhalten des Menschen zu beweisen. Vielmehr liegt ihm daran, die apriorischen Bedingungen des Hanges zu erhellen. Die an den Abschnitt III angehängte Fußnote - als dritte Referenzstelle - bestätigt dies insofern, als sie für den ‚eigentlichen Beweis‘ auf Abschnitt II zurückverweist. In Abschnitt II findet man jedoch die Unterscheidung verschiedener Hangstufen und die Erklärung des Hanges als ‚intelligibele Tat‘. Abschnitt III bietet der Fußnote zufolge lediglich die ‚Bestätigung des Beweises durch Erfahrung‘, wie sie bspw. im Rahmen der Beispielliste durchgeführt sein könnte. 70 67 Vgl. Michalson 1990, 67, Wimmer 1990, 117 u. 222, Allison 2001, 608 f., u. Horn 2011, 51 u. 66. 68 Siehe oben S. 189, Fn. 66. Für einen Bezug auf die Beispielliste spricht die Wiederaufnahme des Erfahrungsstichworts. Andererseits sind die jeweils vorausgesetzten Beweisziele insofern nicht vollständig kongruent, als an der ersten Stelle von einem ‚verderbten Hang‘, an der zweiten Stelle vom ‚Hang zum Bösen‘ gesprochen wird. 69 Vgl. B 32f/ AA VI 35 27-36 . Vgl. auch Ricken 2001, 249, u. Rieger 2007, 81. 70 Vgl. B 39/ AA VI 39 22-26 . Allerdings ist auch dieser Rückverweis und die angehängte Charakterisierung der Ausführungen aus dem dritten Abschnitt als empirische Bestätigung wiederum seltsam, da im Schlusssatz der zweiten Referenzstelle die erforderliche apriorische Entwicklung des Begriffes angekündigt (siehe Fn. 66) und im darauffolgenden Ab- <?page no="191"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 191 Darüber hinaus birgt die Fußnote möglicherweise einen indirekten Hinweis auf die argumentative Funktion eines solchen Zusammenschlusses zwischen der Erklärung des Bösen und der Allgemeinheitsthese, da sie auf die bereits des Öfteren genannte rigoristische Voraussetzung Bezug nimmt: Gemäß der intellektuellen Beurteilung ist eine Handlung Ausdruck einer Selbstbestimmung der Willkür. Weil eine solche Selbstbestimmung jedoch im Entwurf einer entsprechenden Handlungsregel besteht und moralische Gutheit es erfordert, allein das Moralgesetz als unbedingt geltende Handlungsregel anzunehmen, kann es unter dieser Perspektive nur entweder eine ständige und uneingeschränkte Moralgesetzbefolgung oder eine willentliche und boshafte Absage gegen den moralgesetzlichen Anspruch geben. Danach, wie man den Menschen kennt - so kann man die von Kant vorgeschlagene Zusammenfügung von transzendentalem Beweis und erfahrungsmäßiger Bestätigung vielleicht rekonstruieren -, ist die zuletzt genannte Alternative der wahrscheinlichere Fall. Aber noch einmal: Wahrscheinlichkeit ist etwas anderes als strikte Allgemeinheit. 71 Der Vorteil einer sozialanthropologischen Erklärung oder einer empirischen Erweiterung der rein begrifflichen Aufklärung des Hanges läge sicherlich darin, dass hierdurch die These von der Allgemeinheit des Bösen zusätzlich gestützt werden könnte. In den von Kant gegebenen Hinweisen zum Vorliegen des Beweises und der tatsächlichen Gedankenführung in den Abschnitten von RGV I finden wir aber kein solches Argument. Aufgabe der Interpretation ist es, die tatsächliche Argumentation eines Autors zu rekonstruieren, und nicht, diese Argumentation vermeintlich zu verbessern oder einem abschließenden Urteil zu unterwerfen. Und nur wenn man sich auf die interpretative Aufgabe beschränkt, kann (nach und nach) deutlich werden, dass auch die Erhebung argumentativer Spannungen wichtig ist, damit man der Probleme und Intentionen ansichtig wird, die den Autor in seiner Gedankenführung beschäftigen. Und so wäre beispielsweise ein ausnahmsloses ‚Verdammungsurteil‘ über alle Menschen - was im Text gerade nicht befriedigend begründet wird - mit dem in der Gliederung in Aussicht gestellten ‚Sieg des guten Prinzips über das böse‘ und der am Ende von RGV I dargelegten Besserungsforderung unvereinbar. Es spricht also viel dafür, dass Kant die Erörterung der Allgemeinheitsthese der aus seiner Sicht adäquateren Frage unterordnet, wie das radikale Böse bzw. der Hang zum Bösen selbst beschaffen ist und was der Grund für diesen Hang darstellt. Daher müssen nun die hierfür einschlägigen Textpassagen, die satz (vgl. B 33f/ AA 36 1 -37 7 ) durchgeführt wird, der dritte Abschnitt also durchaus auch erfahrungstranszendente Erörterungen enthält. 71 Vgl. Horn 2011, 66: Kant kann mittels verschiedener Hilfsüberlegungen vielleicht die generelle Verbreitung (i. S. v. GMS AA IV 415: generalitas ), nicht aber die universale Zugehörigkeit zum Gattungswesen Mensch ( universalitas ) darlegen. <?page no="192"?> 192 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung vor allem in Abschnitt II zu finden sind, genauer untersucht werden. Dies soll geschehen, indem zunächst die Bestimmung des Hanges als ‚intelligibele Tat‘ aufgearbeitet wird. Denn diese Bestimmung begründet, was in den vorherigen Darstellungen einfach angenommen wurde, dass nämlich der Hang zum Bösen selbst eine moralisch qualifizierbare Größe, d. h. etwas genuin Böses darstellt. Sie bringt die antinaturalistische Voraussetzung in Kants Analyse des Bösen zum Ausdruck, wonach das Böse nicht auf eine natürlich-vorgegebene Eigenschaft oder gar ausschließlich naturgesetzlich ablaufende Prozesse zurückgeführt werden darf, sondern in näher zu bestimmender Weise mit der Freiheit des Menschen verbunden sein muss. Der ‚Hang zum Bösen‘ ist daher nicht nur eine im Menschen liegende Voraussetzung für die Ausbildung von Bosheit, sondern insofern der Mensch diesen Hang hat, wird er als ‚von Natur böse‘ aufgefasst, wie auch in der Explikation der These zu Beginn des dritten Abschnittes erklärt wird. 72 Die Gedankenführung der mit der ‚intelligibelen Tat‘ befassten Textpassage 73 zerfällt in zwei Teilschritte: Zunächst wird dargelegt, weshalb es sich bei dem Hang nicht um ein ‚physisches‘, der ‚sinnlichen‘ Antriebsstruktur angehörendes Merkmal des Menschen handeln kann, in einem zweiten Schritt differenziert Kant verschiedene Tatbegriffe, um aufzuzeigen, inwiefern es sich beim Hang um ein moralisch qualifizierbares Merkmal handelt. Den ersten Teilschritt gießt Kant in die Form eines modus tollendo ponens : Jeder Hang ist entweder ‚physisch‘ oder ‚moralisch‘, was Kant als „zur Willkür [… des Menschen] als moralisches Wesen gehörig“ definiert. 74 Das moralisch Böse kann nur aus Freiheit hervorgebracht werden und ein physischer Hang, der einen bestimmten Freiheitsgebrauch vorgibt, steht dazu in Widerspruch. Mithin kann es keinen physischen Hang zum (moralisch) Bösen geben. Der Ausschluss der einen Alternative einer vollständigen Disjunktion begründet aber die Annahme der anderen Alternative und so kann man die Folgerung ziehen, dass der „Hang zum Bösen nur dem moralischen Vermögen der Willkür ankleben“ kann. 75 Der Aufweis eines Hanges zum Bösen, der nicht dem Freiheitsgebrauch anhaftet, wäre für Kant also gleichbedeutend mit einer naturalisierenden Aufhebung des Bösen. 72 Vgl. B 26f/ AA VI 32 13-33 , bes. Z. 16-33 (Hervorhebungen: Reich): „Er ist von Natur böse, heißt soviel als: dieses gilt von ihm in seiner Gattung betrachtet; […] Da dieser Hang nun selbst als moralisch böse , mithin nicht als Naturanlage, sondern als etwas, was dem Menschen zugerechnet werden kann, betrachtet werden [… muss]: so werden wir diesen einen natürlichen Hang zum Bösen , und da er doch immer selbstverschuldet sein muß, ihn selbst ein radicales, angebornes, […] Böse in der menschlichen Natur nennen können.“ Vgl. auch B 35/ AA VI 37 8-11 . 73 Vgl. B 24-26/ AA VI 31 6 -32 4 . 74 B 24/ AA VI 31 7-9 . 75 Vgl. B 24f/ AA VI 31 7-14 , Zitat: Z. 13 f. <?page no="193"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 193 Der hieran anschließende Übergang zum zweiten Teilschritt geht davon aus, dass nur eine ‚Tat‘ moralisch qualifiziert werden kann: „Nun ist aber nichts sittlich-(d. i. zurechnungsfähig-) böse, als was unsere eigene Tat ist.“ 76 Der Ausdruck ‚Tat‘ dürfte auf die Imputationstheorie zurückgehen, wonach nur facta , d. h. auf einen freien auctor zurückführbare Handlungen als gute oder böse zugerechnet werden können. Wie in den Vorlesungen gibt Kant den komplexen factum -Begriff hier mit dem deutschen Wort ‚Tat‘ wieder. 77 Das Besondere der Verwendung des Begriffes in der RGV liegt jedoch darin, dass hierbei nicht der Vollzug einer zeitlich datierbaren Handlung, sondern das Fassen einer Handlungsmaxime und damit der Vollzug einer praktisch relevanten Selbstbestimmung bezeichnet wird. Kant argumentiert nämlich im Folgenden dafür, dass die Annahme eines nicht in einer äußeren Handlung bestehenden factum erforderlich ist. Diese anzunehmende und zurechenbare Handlung nennt er ‚intelligibele‘ Tat. Das Argument für die Annahme einer solchen Tat hat - wie Kant sagen würde - insofern ‚dialektischen‘ Charakter, als ein Widerspruch zwischen zwei gleichermaßen gültigen Aussagen festgestellt wird und sich zeigen lässt, dass nur eine weitere Annahme diesen (deshalb realiter nicht bestehenden) Widerspruch zu beheben vermag. Der aufzulösende Widerspruch liegt für Kant deshalb vor, weil der Hang erstens „jeder Tat vorhergeht, mithin selbst noch nicht Tat ist“, zweitens aber gemäß der zurechnungstheoretischen Voraussetzung selbst Tat sein muss, um moralisch qualifizierbar zu sein. 78 Um den Widerspruch zu beheben, muss daher der Tatbegriff differenziert werden. ‚Tat‘ kann Kant zufolge sowohl denjenigen Freiheitsgebrauch bezeichnen, durch den „die oberste Maxime […] in die Willkür aufgenommen“ wird, als auch denjenigen, wodurch die „Handlungen […] jener Maxime gemäß ausgeübt“ werden. 79 Nur wenn es neben den in den Handlungen bestehenden facta noch ein den Vollzug der Selbstbestimmung bezeichnendes, intelligibeles factum gibt und der Hang als eine solche Tat verstanden wird, ist der aufgeworfene Widerspruch lösbar. Der Hang ist dann imputabel und eine durch den Hangbegriff nahe gelegte Naturalisierung des Bösen ausgeschlossen. 76 B 25/ AA VI 31 14f . 77 Wie J. Hruschka (2015, 173) bemerkt, partizipiert Kant damit an der moralphilosophischen Fachsprache seiner Zeit: Während der lateinische Terminus actio , der ein in der Welt stattfindendes ‚Ereignis‘ bezeichnet, im 18. Jhd. mit ‚Handlung‘ übersetzt wird, bezeichnet das als ‚Tat‘ widergegebene factum das, was heute unter einer ‚Handlung‘ verstanden wird. 78 Vgl. Z. 14-19, Zitat: Z. 17 f. 79 Vgl. Z. 19-26, Zitate: Z. 23-26. <?page no="194"?> 194 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Die erste, mit dem Hang identifizierte ‚Tat‘ wird dabei dreifach von der zweiten, in der Einzelhandlung bestehenden ‚Tat‘ abgegrenzt 80 : Gemäß einer auf theologische Begriffe anspielenden Begriffszuordnung wird sie - die Tat im ersten Sinne - als ‚peccatum originarium‘ im Gegensatz zum ‚peccatum derivativum‘ bezeichnet. Des Weiteren ist sie ‚der formale Grund‘ einer Handlung, die ‚der Materie nach‘ dem Moralgesetz zuwider ist. Und schließlich steht der Hang als ‚intelligibele Tat‘, die „bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar“ 81 ist, der Einzelhandlung gegenüber, die ein „factum phaenomenon“ und „sensibel [=sinnlich wahrnehmbar], empirisch, in der Zeit gegeben“ ist 82 . Der vierte Abschnitt des ersten Stücks vertieft diese doppelte Charakterisierung als ‚ursprüngliche‘ und ‚zeitlose‘ Handlung, indem er zwischen einem ‚Vernunft‘- und einem ‚Zeit‘-Ursprung unterscheidet: Demnach handelt es sich beim Ursprung um diejenige Ursache, die nicht wiederum die „Wirkung einer anderen Ursache von derselben Art“ 83 darstellt. Wenn nun der ‚Ursprung‘ des moralisch Bösen erörtert wird, dann muss dieser im Freiheitsgebrauch liegen und kann definitionsgemäß nicht auf eine andere Ursache-Wirkung-Beziehung zurückgeführt werden. Eine solche nach ‚Freiheitsgesetzen‘ ablaufende, ursprungskonstituierende Kausalität kann man sich jedoch nicht als ‚Geschehen in der Zeit‘ denken. Es liegt diesbezüglich nur eine ‚Vernunftvorstellung‘ vor, die am ‚Dasein‘ der Wirkung ansetzt. 84 Wir können also nicht erklären, wann und aus welchen Ursachen es zu einer bösen Handlung kam, sondern lediglich festhalten, dass aufgrund einer zeitlosen Selbstbestimmung der Willkür das Böse hervorgebracht und der Mensch böse wurde. Was ist nun angesichts dieser Ausführungen unter dem Hang zu verstehen? Was ist der Hang aus Kants Sicht? 85 - Die rekonstruierte Argumentation lässt erkennen, dass es sich beim Hang um eine moralisch qualifizierbare, selbstver- 80 Vgl. Z. 26-34. 81 Z. 32 f. 82 Z. 33 f. 83 B 39f/ AA VI 39 10f . 84 Vgl. B 40/ AA VI 39 11 -40 7 . 85 Vgl. Z. 28 f.: Der Hang ist der „Grund aller gesetzwidrigen Tat im zweiten Sinne“. - Gegen Quinns missverständliche Bezeichnung des Hanges als ‚general policy‘ (vgl. 1988, 110) und gegen die kritische Interpretation Horns als erworbene ‚Sucht‘ (vgl. 2011, 47-49) muss eingewandt werden, dass für das darin angedeutete Verständnis der Hangerwerbung als bewusste Entscheidung bzw. biografisch datierbares Ereignis keine Belege vorliegen. Die Bezeichnung als ‚Metamaxime‘ (vgl. Quinn 1988, 110, Allison 2002, 340 u. Morgan 2005, 65; Michalson 1990, 54 f.: ‚mega-maxim‘) erscheint mir adäquat, aber unverfänglich. Über die sachliche Berechtigung einer lediglich atemporal gedachten, aber imputablen Handlung ist damit noch nichts entschieden (vgl. die in diesem Punkt gegensätzlichen Bewertungen von Quinn 1988, 113-115 und Horn 2011, 65 f.). Michalson (1990, 55-61) identifiziert die ‚intelligibele Tat‘ schlicht mit der ‚Gesinnung‘, allerdings um den <?page no="195"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 195 schuldete und daher boshafte Größe im Menschen handelt. Besonders deutlich zeigt sich dies beim Übergang vom ersten zum zweiten Teilschritt der Argumentation, wo die aufgewiesene Notwendigkeit, dass der Hang der Willkür des Menschen anhaften müsse, unmittelbar in die dann problematisierte Bestimmung überführt wird, dass der Hang eine zurechenbare Handlung darstellen müsse. Kant argumentiert hier im Rahmen eines imputationstheoretischen Instrumentariums, indem er den Gedanken eines factums im Bereich des Intellegiblen einführt, um den Hang als selbst böse fassen zu können. Die moralische Qualifizierbarkeit als böse ‚Tat‘ sagt jedoch noch nichts darüber aus, worin diese Handlung besteht. Die fragliche Textstelle enthält m. E. starke Hinweise darauf, dass mit dem Hang ein transzendentaler Grund gemeint ist, der als Bedingung der Möglichkeit für böses Handeln angenommen werden muss. Die Formal - Material -Gegenüberstellung und das Insistieren auf die ‚oberste Maxime‘ im unmittelbaren Kontext sprechen dafür, dass hier zwei Momente im Vollzug der Willensfreiheit selbst unterschieden werden, nämlich erstens die Wahl der grundsätzlichen Regel in Bezug auf die Berücksichtigung des Moralgesetzes - d. h. darüber, ob dem kategorischen Anspruch des Moralgesetzes unbedingt Folge geleistet oder eine Abweichung hiervon akzeptiert wird - und zweitens die Entscheidung zu einer Einzelhandlung. Für das erst genannte Moment wäre die Bezeichnung als ‚intelligibele Tat‘ insofern passend, als diese Wortwahl dann so zu verstehen wäre, dass der so angesprochene böse Hang nur in der intellektuell-analytischen Reflexion aus dem bösen Handeln gefolgert und in diesem Sinne ‚intelligibel‘ genannt wird. 86 Dass die Untersuchung des bösen Handelns auf eine solche Annahme führt, setzt spezifische moral- und handlungstheoretische Annahmen voraus, allen voran die im Einleitungsabschnitt dargelegte Rigorismusthese. Der als transzendentaler Grund verstandene Hang kann daher als Versuch angesehen werden, diese Handlungstheorie auf das Problem des Bösen anzuwenden. Die ‚transzendentaler-Grund‘-Lesart wird schließlich durch die weiteren Attribute gestützt, die mit dem Hang verbunden werden. Das betrifft etwa die Eigenschaft der Zeitlosigkeit, weil gemäß dieser Eigenschaft der Hang nicht als an einem zeitlich fixierbaren Datum erworben oder eingefangen, sondern als immerzu gegenwärtig aufgefasst werden muss. Im Abschnitt IV formuliert Kant dies folgendermaßen: „Eine jede böse Handlung muß […] so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie ge- Preis, diesen Begriff zu einer bloßen Chiffre für die ‚letzte Einheit des moralischen Handelns‘ und den ‚nichtentzifferbaren Charakter der Freiheit‘ herabsetzen zu müssen (61). 86 Vgl. Z. 32 f.: „Jene [sc. die Tat in der ersten Bedeutung = der Hang] ist intelligibele Tat, bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar“. <?page no="196"?> 196 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung raten wäre“. 87 Da das Fassen einer obersten Maxime durch „keine Ursache der Welt“, also weder durch vorhergehende Handlungen noch durch Naturursachen, determiniert wird, muss dies immer als ursprünglicher Freiheitsgebrauch aufgefasst werden. 88 Sobald also eine böse Handlung vorkommt, ist das so zu bewerten, als ob der Mensch sich in dem betreffenden Moment und - aufgrund der Zeitlosigkeit der ‚intellegibelen Tat‘ - zugleich immer schon für das Böse entschieden hätte. Ein solches Verständnis des Hanges passt insofern in das übergeordnete Argumentationsziel des ersten Stückes, als unter Voraussetzung einer solchen Hangkonzeption das Vorliegen von Bosheit deshalb sehr wahrscheinlich ist, weil hierdurch eine in transzendentaler Hinsicht vorliegende Schuld formuliert und angenommen werden kann, auch wenn die erfahrbaren Taten dem Moralgesetz entsprechen. 89 Kant bezeichnet die intelligibele Tat bzw. den Hang außerdem als ‚angeboren‘ und versteht dieses Attribut auf sehr eigentümliche Weise 90 : Das ‚angeboren‘-Sein des Hanges schließt den Gedanken ein, dass ein solcher Freiheitsgebrauch nicht auf weitere Ursachen zurückgeführt werden kann und daher eine Analogie zu den sonstigen ‚Grundeigenschaften‘ besteht, die zu unserer Natur gehören. Mit dem ‚angeboren‘-Attribut will Kant aussagen, dass der Hang eine Grundeinstellung des Menschen darstellt, die dem empirisch fassbaren Handeln vorausgeht und sich im Bereich der Entschließung für eine Maxime abspielt. Dennoch - und hier lässt der Autor wieder sein imputationstheoretisches Problembewusstsein erkennen - führt die anzunehmende Vorgeordnetheit der Bosheit nicht dazu, dass die Verantwortlichkeit für den Vollzug der bösen Handlungen herabgesetzt würde oder die Möglichkeit der Besserung ausgeschlossen wäre. Denn wenn „jemand bis zu einer unmittelbar bevorstehenden freien Handlung auch noch so böse gewesen wäre (bis zur Gewohnheit als anderer Natur): so ist es nicht allein seine Pflicht gewesen, besser zu sein; sondern es ist jetzt noch seine Pflicht, sich zu bessern“; folglich ist dieser Jemand „der Zurechnung in dem Augenblicke der Handlung eben so 87 B 42/ AA VI 41 1-3 . 88 Vgl. Z. 3-11, Zitat: Z. 10. 89 Vgl. Z. 30-32: „[U]nd die erste Verschuldung [der intelligibelen Tat parallelisiert] bleibt, wenn gleich die zweite (aus Triebfedern, die nicht im Gesetz selber bestehen) [der äußerlichen Handlung parallelisiert] vielfältig vermieden würde.“ 90 Vgl. B 26/ AA VI 31 34 -32 4 (Hervorhebung: Reich): „ Die erste [Tat] heißt nun vornehmlich in Vergleichung mit der zweiten ein bloßer Hang, und angeboren , weil er nicht ausgerottet werden kann (als wozu die oberste Maxime die des Guten sein müßte, welche aber in jenem Hange selbst als böse angenommen wird); vornehmlich aber, weil wir davon: warum in uns das Böse gerade die oberste Maxime verderbt hat, obgleich dieses unsere eigen Tat ist, eben so wenig weiter eine Ursache angeben können als von einer Grundeigenschaft, die zu unserer Natur gehört.“ <?page no="197"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 197 fähig und unterworfen, als ob er […] aus dem Stande der Unschuld zum Bösen übergeschritten wäre.“ 91 Dem steht im Text jedoch eine andere Konzeptualisierung des radikalen Bösen zur Seite. Sie tritt in der Unterscheidung verschiedener Hangstufen und an weiteren Textstellen hervor. Nach dieser Konzeption ist das Böse im Menschen als Mangel an ‚gutem Willen‘ zu verstehen. Wie zu zeigen sein wird, ist dieser Aspekt durchaus mit der soeben herausgearbeiteten Tat-Konzeption vereinbar. Die Mangel-Konzeption des Bösen setzt allerdings andere Schwerpunkte: Sie ist gegen eine Diabolisierung des menschlichen Willens gerichtet und zielt auf den Aufweis, dass der Mensch die weitreichenden Ansprüche des Moralgesetzes meist nur unvollkommen zu erfüllen vermag. Terminologisch wie sachlich erscheint hier erneut der Gedanke eines Mangels an ‚Heiligkeit‘, von dem Kant auch in den Vorlesungen sprach. Bei der Einführung des Hanges zum Bösen in Abschnitt II ist davon die Rede, dass man sich drei verschiedene Stufen des Hanges denken kann: Erstens die ‚Gebrechlichkeit‘ oder ‚Schwäche‘, zweitens die ‚Unlauterkeit‘ und drittens die ‚Bösartigkeit‘. Die Gebrechlichkeit besteht darin, dass das ‚menschliche Herz‘ im Allgemeinen eine Schwäche in Bezug auf die Befolgung gefasster Maximen aufweist und dass insofern ein Hang zum Bösen im Menschen vorliegt, als das Moralgesetz zwar in die Maxime aufgenommen wird, aber bei der Ausführung der Handlung nicht befolgt, sondern anderen Triebfedern untergeordnet wird. 92 Auf der zweiten Stufe der Unlauterkeit liegt eine Vermischung unmoralischer Triebfedern mit der moralischen Triebfeder des Moralgesetzes vor. Es wird zwar die Pflicht erfüllt, allerdings gibt das Moralgesetz nicht die einzige und allein hinreichende Triebfeder ab, sondern andere Triebfedern werden herangezogen, um den Willen zu dem zu bewegen, was die Pflicht fordert. 93 Im Falle der Bösartigkeit auf der dritten Stufe werden schließlich Maximen ergriffen, nach denen die moralgesetzliche Triebfeder anderen nichtmoralischen Triebfedern untergeordnet wird. 94 91 B 43/ AA VI 41 17-25 . Kant konstruiert das Problem nach der actio libera in causa -Konstellation, die auch in den Vorlesungen bearbeitet wurde (siehe Kap. 3.4). Nach Hruschka (2015, 180 f.) hat die RGV mit den Ethik-Vorlesungen ab der Powalski-Zeit gemein, dass sie auch solche Handlungen für zurechenbar erklärt, die in einem Zustand des eingeschränkten Freiheitsgebrauches durchgeführt werden (vgl. B 42f/ AA VI 41 11-17 ). Das Besondere im Falle der ‚angeborenen‘ Bosheit besteht aber darin, dass Kant hierdurch die Freiheit und die Möglichkeit zum Anders-, nämlich Besser-Handeln gerade nicht eingeschränkt sieht. 92 Vgl. B 22/ AA VI 26 12 -27 3 . 93 Vgl. B 22/ AA VI 27 4-26 . 94 Vgl. B 23/ AA VI 27 27 -28 7 . <?page no="198"?> 198 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Obgleich oberflächlich gesehen manches dafür spricht, dass Kant hier anders über das Böse nachdenkt als in der ‚intelligiblen Tat‘-Textpassage 95 , muss dies nicht als Widerspruch zu den anderen Ausführungen interpretiert oder als ausschließliche Gleichsetzung des ‚radikalen Bösen‘ mit der ‚Bösartigkeit‘ gelesen werden. Für letzteres könnte man eine Formulierung ins Feld führen, mit der die dritte Stufe erläutert wird: In der Bösartigkeit wird „die Denkungsart […] in ihrer Wurzel […] verderbt […], und der Mensch darum als böse bezeichnet“. 96 Dies lässt sich jedoch entkräften, wenn man sich vor Augen führt, dass die RGV die Wurzelmetapher recht unterschiedlich verwendet. Außerdem kann die im letzten Halbsatz vorgenommene Bezeichnung des Menschen als böse, die zur Begründung dieser Negativqualifizierung auf die ‚Bösartigkeit‘ verweist, nicht als exklusive Aufdeckung des Bösen in der menschlichen Natur, sondern auch schlicht als Abschluss der Erläuterungen zur dritten Stufe, bei denen das Adjektiv ‚böse‘ nicht vorkommt, gelesen werden. 97 Alle Phänomene, die in der Stufenunterscheidung angesprochen werden, sind daher als unterschiedlich schwer wiegende, aber vollgültige Äußerungen des Hanges anzusehen. 98 Das radikale Böse wird nicht nur durch die dritte Stufe der Bösartigkeit repräsentiert, sondern es liegt im Menschen eben in den unterschiedlichen Phänomenen von Gebrechlichkeit, Unlauterkeit und Bösartigkeit vor. Und wenn man den 95 Das betrifft zum einen die Frage, ob die Stufenliste eine gradualistische Vorstellung des Bösen bzw. des darauf bezogenen Hanges erkennen lässt, die vielleicht die immer wieder angemahnte (siehe Kap. 2.3) Binnendifferenzierung des Bosheitsphänomens herstellt, aber mit den sonstigen Ausführungen zum Hang in Spannung steht (vgl. Sussman 2005, 160-162, Michalson 1990, 45, Klemme 1999, 135 f.). Zum anderen wird die Erläuterung zur dritten Stufe häufig dahingehend interpretiert, dass Kant allein mit dieser Stufe das radikale Böse anspreche (vgl. Klemme, ebd., u. Klar 2007, 57). Eine solche Zuordnung würde jedoch in Spannung zur rigoristischen Voraussetzung stehen, da mit den ersten beiden Stufen die Möglichkeit kleinerer (motivationaler) Abweichungen vom Moralgesetz eingeräumt würde, die aber für die Frage nach der radikalen Bosheit des Menschen nicht ins Gewicht fielen. 96 B 23/ AA VI 30 16-18 . 97 Die Wurzelmetapher wird bspw. auch bei den Anlagen zum Guten verwendet, wo offensichtlich kein Zusammenhang mit dem radikalen Bösen gemeint ist (vgl. B 17/ AA VI 26 20 ; B 19/ AA VI 27 16 ). Ebenso wie der Text hier die Spezifika der dritten Stufe durch Ausführungen erläutert, in denen die zu erklärenden Begriffe nicht vorkommen, dann aber die Ausführungen wieder mit dem erläuterten Ausdruck begrifflich vermittelt, wird bei der Erklärung zur ersten Stufe, die in der Gebrechlichkeit oder Schwäche des Menschen besteht, der Begriff ‚schwach‘ am Ende wieder aufgenommen (vgl. B 22/ AA VI 29 29 ). 98 Vgl. die Einleitung der Stufenunterscheidung in B 21/ AA VI 29 16 : „Man kann sich drei verschiedene Stufen desselben [sc. des Hanges] denken .“ Außerdem wird im dritten Abschnitt die Stufenunterscheidung lediglich als Binnendifferenzierung des Bösen im Menschen angesehen: „Diese angeborene Schuld […] kann in ihren zwei ersteren Stufen (der Gebrechlichkeit, und der Unlauterkeit) als unvorsätzlich ( culpa ), in der dritten aber als vorsätzliche Schuld ( dolus ) beurteilt werden“ (B 37/ AA VI 38 1-7 ). <?page no="199"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 199 Gemeinsamkeiten der unterschiedenen Stufen und den terminologischen Details der Stufenliste mehr Beachtung schenkt, wird deutlich, dass sich hierin die spezifisch kantische Auffassung des Bösen zeigt. Der Hang zum Bösen äußert sich auf allen Stufen darin, dass die Triebfeder des Moralgesetzes anderen Triebfedern untergeordnet wird. Auf den ersten beiden Stufen wird das Moralgesetz durchaus als Handlungsgrund akzeptiert. Der Mensch versagt jedoch beim ‚Vollbringen‘ bzw. bei der ‚Ausübung‘, indem das moralgesetzliche Gebotensein dann (im Fall der Gebrechlichkeit und der Schwäche) doch nicht hinreicht, eine entsprechende Handlung zu initiieren, oder (im Fall der Unlauterkeit) andere Triebfedern hinzugenommen werden. Auch für die Bösartigkeit schließt Kant keineswegs aus, dass moralgesetzkonforme Handlungen vorliegen. Sie werden dann allerdings aus nichtmoralischen Triebfedern verfolgt. Kant spricht folglich auf allen drei Stufen von der Problematik, die moralgesetzlich gebotene Maximenordnung zu befolgen. Die Unterscheidung der Hangstufen erbringt daher vor allem eine nähere Erläuterung zum Vorliegen des Hanges im Menschen: Der Hang zum Bösen besteht darin, dass die innere Bereitschaft fehlt, das Moralgesetz als allein hinreichenden und unbedingten Handlungsgrund zu akzeptieren. Gestützt wird diese Interpretation durch eine terminologische Beobachtung, die man bei den Erläuterungen zur ersten Stufe anstellen kann: Kant verwendet hier die Begriffe ‚Gebrechlichkeit‘ und ‚Schwäche‘. Für den ersten Begriff nennt er darüber hinaus die lateinische Entsprechung fragilitas . Wie in Kap. 3 herausgearbeitet, werden beide Begriffe auch im imputatio -Traktat Baumgartens verwendet. Nach Kants Kommentierung in den Vorlesungen besteht die fragilitas des Menschen darin, dass dieser - trotz besseren Wissens - nicht die Entsprechung gegenüber dem Moralgesetz und damit das Gute, sondern das Böse wählt. Die infirmitas hingegen bezeichnet die ‚Unreinheit‘ oder die mangelnde ‚Bonität‘ des menschlichen Willens, die darin bestehen, dass moralische Handlungen nicht aus einem ausschließlich moralischen Beweggrund vollzogen werden. Was die genaue Ausdeutung der Begriffe anbelangt, gibt es also Unterschiede zwischen den Vorlesungen und RGV I. Gemeinsam ist jedoch die mit den Begriffen verbundene Überlegung, dass die Bosheit des Menschen einen Mangel darstellt - nämlich in Bezug auf die vollständige Befolgung der Ansprüche des Moralgesetzes - und dieser Mangel dennoch zugerechnet werden kann. Eben diese Charakterisierung des Bösen finden wir in der darauffolgenden Textpassage bestätigt: Kant betont hier, dass der für das moralische Urteil maßgebliche Unterschied zwischen einem „Menschen von guten Sitten“ und einem „sittlich guten Menschen“ nicht in der „Übereinstimmung der Handlungen mit dem Gesetz“ besteht, sondern darin, ob „das Gesetz [lediglich] dem Buchstaben nach“, d. h. in Bezug auf „die Handlungen […], die das Gesetz gebietet“, oder <?page no="200"?> 200 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung auch „dem Geiste nach“, d. h. dadurch, dass das Gesetz „allein zur Triebfeder hinreichend“ ist, erfüllt wird. 99 Nicht nur die Handlungen als solche, sondern die inneren Momente der Handlungssteuerung und -motivation sind daher für die moralische Charakterisierung des Menschen maßgeblich. In dem Zitat wird überdies deutlich, dass Kant bei der Formulierung dieser äußerst anspruchsvollen Anforderungen an die menschliche Selbststeuerung auf das Neue Testament zurückgreift und Anspielungen hierauf setzt. 100 Kant sieht also sowohl die der Bosheitsanalyse korrespondierenden Voraussetzungen für das umfassende Gutsein des Menschen als auch die schonungslose Anerkenntnis der (schuldhaften) Nichterfüllung dieser Voraussetzungen besonders in der neutestamentlich-christlichen Tradition ausgedrückt. Dies deutet darauf hin, dass im Hintergrund der Aufdeckung eines Hanges zum Bösen das aus den Vorlesungen bekannte Ideal der Heiligkeit steht und dort ebenfalls im Neuen Testament verankert wurde. Interessant ist auch, dass Kant hier vor allem Paulus zitiert und seine Ausdifferenzierung des Hanges als mangelhafte Ausrichtung des Willens am Guten in die Nähe der bei Paulus ausgedrückten Erfahrung der Willensschwäche rückt. 101 Obgleich Kant in seinen Erläuterungen zu den ersten beiden Stufen festhält, dass die beschlossene Maxime gut ist und lediglich die Ausführung einen moralischen Defekt aufweist, kann er jedoch aufgrund der rigoristischen Voraussetzung eine solche Willensschwäche nicht als entschuldigendes oder für die moralische Bewertung vernachlässigbares Phänomen analysieren. Denn der Rigorismus besagt, dass nicht nur die Abweichung vom Moralgesetz, sondern auch die Hinzunahme eines außerhalb des Moralgesetzes liegenden Handlungsgrundes - sei es als Unterstützung für die Handlungsentscheidung oder bei der Ausführung der Handlung - als Entscheidung gegen die Ansprüche des Moralgesetzes und damit als moralisch böse zu werten ist. Diese Beobachtungen stellen m. E. starke Indizien dafür dar, dass die RGV I durch eine Konzeption des Bösen unterfangen ist, die bereits in den Vorlesungen 99 B 23f/ AA VI 30 24-33 (Kursivierungen im Original Sperrdruck). 100 Für das Zitat vgl. Röm 7,6 und 2 Kor 3,6. Die Buchstaben-Geist-Gegenüberstellung findet sich auch im Abschnitt „De littera legis“ in Baumgartens Initia . Eine durch Sperrdruck hervorgehobene Anspielung auf Röm 14,23 lässt der Satz erkennen, der an die zitierte Gegenüberstellung anschließt: „Was nicht aus diesem Glauben geschieht, das ist Sünde (der Denkungsart nach)“ (B 24/ AA VI 30 33f ). 101 Bei der Erläuterung der ersten Stufe wird unter indirekter Nennung des Paulus Röm 7,18 zitiert: „[D]ie Gebrechlichkeit [… ist] in der Klage eines Apostels ausgedrückt: Wollen habe ich wohl, aber das Vollbringen fehlt“ (B 22/ AA VI 29 24-26 ). Vgl. auch Ricken 2001, 252: „Kants Lehre vom Hang zum Bösen in der menschlichen Natur atmet den Geist des Römerbriefs“. <?page no="201"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 201 erkennbar war. 102 Demnach ist der Hang, der selbst als böse zu qualifizieren ist und dem Bösen zugrunde liegt, als Willensdefekt, als mangelnde innere Ausrichtung am sittlich Guten zu verstehen. Der Mensch kennt das Moralgesetz, er weiß, was es verlangt, und trägt vielleicht auch das Vorhaben mit sich herum, dem Moralgesetz zu gehorchen. De facto bestimmt das Gesetz aber nicht seinen Willen. Eine solche Näherbestimmung setzt gegenüber der zuvor herausgearbeiteten Bestimmung des Bosheitshanges als transzendentaler Grund einen anderen Akzent, indem sie nicht die Zurechenbarkeit und den Verschuldungscharakter des Hanges klärt, sondern darlegt, wie man sich das Vorhandensein des Bösen im Menschen vorstellen kann. Die Näherbestimmung setzt voraus, dass Bosheit nicht nur bei moralgesetzwidrigen Handlungen vorliegt, sondern auch und vor allem dann, wenn der Wille nicht so gut ist, wie er angesichts des weitreichenden Anspruches des Moralgesetzes sein sollte. Der Aufdeckung des Hanges zum Bösen im Menschen korrespondiert also das sehr anspruchsvolle Ideal eines vollkommen guten Willens oder der Heiligkeit, von dessen Realisation im weiteren Verlauf der RGV noch ausführlich gehandelt wird. Die Bestimmung des Hanges als (selbstverschuldeter) Mangel an gutem Willen, die sich vor allem aus der Unterscheidung der Hangstufen erheben lässt, ist überdies geeignet, weitere Probleme und Textstellen aus dem zweiten und dritten Abschnitt von RGV I zu erhellen. Hierdurch wird erneut deutlich, dass die Mangelkonzeption sich durchaus in die sonstigen Ausführungen einfügt und ihre Berücksichtigung dazu beiträgt, die Bedeutung der Lehre vom radikalen Bösen aufzuklären. So besteht zwischen der Näherbestimmung des Hanges und der These von der Zugehörigkeit des Bösen zur menschlichen Natur insofern ein argumentativer Zusammenhang, als es unter Voraussetzung eines solchen Verständnisses des bösen Hanges sehr viel wahrscheinlicher ist, dass der Mensch als böse charakterisiert werden muss. Da der Hang bereits dann gegeben ist, wenn (auf verschiedenen Stufen) das Moralgesetz nicht die handlungsinitiierende Triebfeder ausmacht und der Anspruch des Moralgesetzes auf unbedingte und stetige Befolgung nicht erfüllt wird, kann das Vorliegen des Hanges zumindest als wahrscheinlich gelten. Kant stellt diesen Zusammenhang selbst her, wenn er im Anschluss an die Stufenunterscheidung schreibt, dass der hierdurch erläuterte Hang auch beim ‚besten‘ Menschen aufgestellt werden könne und dies auch erforderlich sei, wenn die allgemeine Verbreitung 102 Vgl. auch manche der kontinuitätsorientierten Interpretationsansätze zur kantischen Bosheitslehre (siehe Kap. 2.3.2, bes. Allison 1990, bes. 146-179 u. Muchnik 2006 sowie 2009, 155 f.), in denen dargelegt wird, dass diese Konzeption des Bösen mit zahlreichen Grundsätzen der kantischen Moraltheorie (v. a. die Relevanz des ‚guten Willens‘ sowie die Überzeugung von der strikten Heterogenität moralischer und nichtmoralischer Antriebe im Menschen) korrespondiert. <?page no="202"?> 202 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung des Hanges aufgewiesen werden soll. 103 Die These von der allgemeinen Verbreitung des Hanges bezieht sich also nicht auf ein monströses Fehlhandeln unter den Menschen. Vielmehr wird die These dadurch plausibilisiert, dass angesichts der in den Hangstufen greifbaren Bosheitskonzeption und der rigoristischen Voraussetzung die Bedingungen für das Vorliegen des Bösen so niedrig sind, dass dessen allgemeine Verbreitung zumindest angenommen werden kann. 104 Des Weiteren passt die Konzeption des bösen Hanges als Mangel an ‚gutem Willen‘ dazu, dass die Ausführungen zum Bösen den bereits mehrfach angedeuteten Mittelweg zwischen einer entmündigenden Herabsetzung und einer Diabolisierung des Menschen erkennen lassen. So enthält, wie in Abschnitt drei in Bezug auf den Grund für das moralisch Böse gefolgert wird, auf der einen Seite „die Sinnlichkeit zu wenig[,] denn sie macht den Menschen, indem sie die Triebfedern, die aus der Freiheit entspringen können, wegnimmt, zu einem bloß Tierischen“; auf der anderen Seite enthält eine „gleichsam boshafte Vernunft (ein schlechthin böser Wille) […] dagegen zu viel, weil dadurch der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder […] erhoben und das Subjekt zu einem teuflischen Wesen gemacht werden würde.“ 105 Kant geht von einem ‚natürlichen‘ Nebeneinander der Triebfeder des Moralgesetzes und der Triebfedern der Sinnlichkeit aus. Da das Moralgesetz allerdings verlangt, „als die oberste Bedingung der Befriedigung der ersteren [sc. Triebfedern der Selbstliebe und ihre Neigungen] in die allgemeine Maxime der Willkür als alleinige Triebfeder aufgenommen“ zu werden 106 , gilt das, was schon im rigoristischen Grundansatz gezeigt wurde, dass nämlich die Triebfedern nicht gleichrangig nebeneinander bestehen können und dass der Mensch daher nicht als teils gut, teils böse charakterisiert werden kann. Die These vom radikalen Bösen besagt daher, dass der Mensch weder ein Teufel ist noch seine Identität als moralfähiges Wesen verliert, dass er aber den in ihm vorliegenden moralgesetzlichen Antrieb in seinem 103 Vgl. B 23/ AA VI 30 19-23 : „Man wird bemerken: daß der Hang zum Bösen hier am Menschen, auch dem besten (den Handlungen nach) aufgestellt wird, welches auch geschehen muß, wenn die Allgemeinheit des Hanges zum Bösen unter Menschen, oder, welches hier dasselbe bedeutet, daß er mit der menschlichen Natur verwebt sei, bewiesen werden soll.“ Vgl. auch B 36/ AA VI 37 18-37 . 104 Manche sehen daher den Beweis für die Allgemeinheitsthese in der Stufenunterscheidung (vgl. bspw. Sussman 2005, 161 f.). Allerdings vermag auch die Stufenunterscheidung die allgemeine Verbreitung nicht im strengen Sinne zu beweisen. Siehe auch das soeben genannte Zitat (Fn. 103), wo Kant die Stufenunterscheidung als Vorüberlegung für den noch ausstehenden Beweis zu kennzeichnen scheint. 105 B 32/ AA VI 35 17-25 . Vgl. auch B 33/ AA VI 36 1-3 : „Der Mensch (selbst der ärgste) tut, in welchen Maximen es auch sei, auf das moralische Gesetz nicht gleichsam rebellischerweise (mit Aufkündigung des Gehorsams) Verzicht.“ 106 B 34/ AA VI 36 30-33 . <?page no="203"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 203 Willen nicht zur Geltung kommen lässt und dies ein schuldhaftes Versagen des Menschen darstellt. 107 Die herausgearbeiteten Überlegungen zum Vorliegen des Hanges deuten schließlich darauf hin, dass Kant mit seinem Hang-Theorem eine Konfrontation zwischen den gemeinhin beim Menschen vorkommenden Neigungen, Antrieben und Handlungen - den ‚Anlagen‘, den ‚Triebfedern‘ und den ‚Taten‘ - auf der einen und den Forderungen des Moralgesetzes auf der anderen Seite vornimmt. Hierbei zeigt sich, dass der Mensch nicht so gut ist, wie er sein sollte und sein könnte; er richtet seinen Willen nicht vollständig am Moralgesetz aus und ermangelt daher der vom Moralgesetz geforderten Heiligkeit. Eine solche Thematisierung des Bösen zeigt daher eine strukturelle Ähnlichkeit zur Konzeption des Bösen als privatio boni , ohne dass das Böse hier auf eine bloße Negation reduziert würde. Denn als ‚intelligibele Tat‘ ist der böse Hang eine positive und willentliche Setzung. 108 Kant wendet in seinen Überlegungen zum Hang und zur Bosheit im Menschen also die seines Erachtens im Moralgesetz implizierte Forderung nach einem ‚guten Willen‘ auf den real existierenden Menschen an, und stellt hierbei das (nahezu) unvermeidliche, aber selbstverschuldete Scheitern des Menschen bei der Erfüllung dieser Forderung fest. Bei der Untersuchung des Textes konnte jedoch auch festgestellt werden, dass für das Zutreffen dieser Grundsituation auf ausnahmslos alle Menschen und für die starke Behauptung einer Zugehörigkeit des Bösen zur menschlichen Gattung keine valide Begründung angegeben wird. Der hier am Text nachgezeichnete Argumentationsgang stellt stattdessen heraus, wie das selbstverschuldete Böse im Menschen vorliegt - nämlich als Mangel an ‚gutem Willen‘. Ebenso wie die allgemeine Verbreitung der fragilitas und der infirmitas hat die These vom radikalen Bösen daher am ehesten den Status einer Präsumtion 109 , wonach durch jeden Einzelnen das Vorliegen des radikalen Bösen verifiziert werden kann, sofern er bzw. sie sich der kritischen Selbstprüfung aussetzt. Daher möchte ich abschließend einige Hinweise zusammenstellen, die der Text in Bezug auf die selbstreflexive Anerkenntnis des Bösen im Menschen gibt: 107 Kant nennt diese Konstellation im Verhältnis zwischen Willen und Moralgesetz auch die ‚Verkehrtheit des Herzens‘ (vgl. B 35f/ AA VI 37 18-23 ). 108 In der Sekundärliteratur wird immer wieder betont, dass Kant in der Erklärung des Bösen wissentlich von der privatio-boni -Tradition abweiche (Michalson 1990, 35, Dörflinger 2008, 91 f., u. Rößner 2012, 75 f.). In der Tat denkt Kant das Böse nicht als Mangel an Sein und die Bestimmung des (bösen) Hanges als Tat dürfte gezeigt haben, dass das Böse hier als positive Setzung konzeptualisiert wird. Zugleich gibt es aber die dargestellten Elemente in der Bosheitslehre der RGV, die das Böse zwar nicht als Nichtsein, aber als (frei induzierten) Mangel an moralgesetzlicher Selbstbestimmung thematisieren. 109 Vgl. Klar 2007, 39-52, bes. 50. <?page no="204"?> 204 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Mit dem Hang ist demnach eine gewisse ‚Tücke‘ verbunden, die darin besteht, „sich selbst blauen Dunst vorzumachen“, d. h. sich hinsichtlich der Qualität der Gesinnungen zu betrügen und sich unabhängig von der gewählten Handlungsmaxime bereits dann für moralisch gerechtfertigt zu halten, wenn lediglich keine bösen Handlungsfolgen festzustellen sind. 110 Bei der Tücke handelt es sich nicht nur um eine falsche Selbsteinschätzung oder eine bloße ‚Unredlichkeit‘, sondern um eine vorsätzliche und hinterlistige Selbsttäuschung. Sie bildet ein durch und durch böses Verhalten im Umgang mit sich selbst. Obgleich der Mensch sich selbst und die Gründe seines Handelns zumindest bis zu einem gewissen Grad durchschauen könnte, verzichtet er regelmäßig auf die unverblümte Selbstprüfung, weil sie nämlich - so die Annahme - regelmäßig negativ ausfallen dürfte. Die Ignoranz und das Leugnen der eigenen Bosheit sind daher gerade der subtile Ausdruck der radikalen Bosheit selbst. 111 Eine solche Selbsttäuschung hat gravierende Folgen. Sie verhindert, dass der an sich regsame ‚Keim des Guten‘ im Menschen zum Austrag kommt. 112 Dies geschieht beispielsweise dadurch, dass bei falscher Selbsteinschätzung die ‚Gründung einer echten moralischen Gesinnung‘ verunmöglicht wird, weil kein Veränderungsbedarf gesehen oder falsche Verbesserungsmaßnahmen ergriffen werden. 113 Ohne kritische Selbsterkenntnis kann es daher auch nach der RGV keine moralische Besserung geben. So gesehen stellen die Erläuterungen zum Vorliegen und zur Verbreitung des Bösen im ersten Stück wichtige Voraussetzungen für die moralische Besserung des Menschen dar. Denn sie führen vor Augen, dass und inwiefern der Mensch sich bessern muss. 4.1.4 Das Böse unter der Perspektive der Besserung „Von der Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten in ihre Kraft“ zu handeln, kündigt die Überschrift über dem letzten Abschnitt des ersten Stücks an. Wie bereits in Kap. 2.1 dargestellt, bildete der Text in der ursprünglichen Aufsatzveröffentlichung Kants den Schluss der Abhandlung über das radikale Böse. In der vorliegenden Textgestalt erscheint er als eine der ‚Allgemeinen Anmerkungen‘, die Kant ans Ende jedes Stückes setzt. Aufgrund dieser 110 Vgl. B 37f/ AA VI 38 1-33 , Zitat: Z. 24. 111 Kant spricht diesbezüglich auch von einer „radikalen Verkehrtheit im menschlichen Herzen“ (vgl. B 36/ AA VI 37 32-37 ). Vgl. auch Sussman 2005, 162. Ricken 2001, 250 f., konstatiert unter Auswertung RGV-externer Belege ebenfalls eine Identifikation von Selbstbetrug und radikaler Bosheit. 112 Vgl. B 38/ AA VI 38 32f . 113 Vgl. B 38/ AA VI 38 17-26 . <?page no="205"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 205 nachträglichen ‚Umetikettierung‘ und der facettenreichen Gedankenführung ist zunächst zu erheben, worin das eigentliche Thema dieses Abschnittes besteht. Hinweise auf die Themenstellung lassen sich zum einen dem einleitenden Absatz entnehmen, wo davon die Rede ist, dass die moralische Qualität des Menschen von dessen Willkürgebrauch abhängt und folglich ein für die moralische Besserung möglicherweise erforderlicher ‚übernatürlicher Beistand‘ nur auf eine Weise wirksam werden kann, die mit diesem nicht in Widerspruch steht. 114 Zum anderen werden drei Absätze des Abschnitts jeweils mit der Frage eingeleitet, wie es überhaupt möglich sein kann, dass der böse Mensch gut werden kann. 115 Da der Text also an hervorstechenden Stellen auf die Frage der Besserung zu sprechen kommt, liegen starke Indizien dafür vor, dass in diesem Abschnitt die Besserung des Menschen angesichts seiner radikalen Bosheit thematisiert wird. Was für die vorhergehenden Abschnitte lediglich als hintergründig mitlaufende Perspektive herausgearbeitet wurde, macht Kant am Ende von RGV I explizit, indem er diskutiert, wie ausgehend von einer selbstverschuldeten Verfallenheit ins Böse die konstitutiv zum Menschsein gehörende Anlage für die Persönlichkeit zur Geltung kommen kann. Oder anders formuliert: Wie der mit guten Anlagen gesegnete Mensch, der jedoch offenbar böse ist, moralisch besser oder gar gut werden kann. Hiervon eine konsistente Theorie vorzulegen, kann unter den in RGV I entwickelten Voraussetzungen wie die Auflösung des gordischen Knoten erscheinen 116 : Gemäß den vorhergehenden Abschnitten ist die oberste Maxime des Willkürgebrauchs verdorben. Daher muss es als fraglich erscheinen, ob der Mensch überhaupt die Verfolgung des sittlich Guten wählen und sich um die Ausbildung eines ‚guten Willens‘ bemühen kann. Zugleich insistiert Kant jedoch darauf, dass der Mensch nur durch eigenes Tun moralisch gut oder böse sein bzw. werden kann. Moralische Qualitäten können nicht anders als durch die eigene sittliche Selbstbestimmung und das entsprechende Handeln zustande kommen, da sonst die Zurechenbarkeit, die notwendigerweise in den Prädikaten ‚gut‘ und ‚böse‘ eingeschlossen ist, nicht mehr gegeben wäre. 117 Die Moralphilosophie gerät folglich bei der Analyse dessen, was das Moralgesetz verlangt und wie der Mensch eingeschätzt werden muss, in eine äußerst vertrackte Lage. Im vorliegenden Abschnitt und in den weiteren Stücken der 114 Vgl. B 48f/ AA VI 44 15-31 . 115 Vgl. B 49/ AA VI 44 32 -45 1 ; B 54/ AA VI 47 29-31 ; B 59/ AA VI 50 12-14 . 116 Kant spielt in RGV III selbst auf die Sage vom gordischen Knoten an (vgl. B 174/ AA VI 119 3-5 ). 117 Vgl. die programmatische Eröffnung dieses Abschnittes (B 48/ AA VI 44 15f ): „Was der Mensch im moralischen Sinne ist, oder werden soll, […] dazu muß er sich selbst machen, oder gemacht haben.“ <?page no="206"?> 206 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Religionsschrift versucht Kant, diesen Knoten aufzulösen. Er möchte ihn nicht zerhauen, wie das aus seiner Sicht in manchen religiösen Überzeugungssystemen geschieht, die die Besserung gänzlich auf die gnadenhafte Aktivität einer außerhalb des Menschen liegenden Instanz zurückführen. Eine Auflösung des Knotens ist allerdings auch nicht ohne die Annahme einer näher zu bestimmenden göttlichen Mithilfe denkbar. Wie beim in den Vorlesungen dokumentierten Rückgriff auf die Beistandslehre liegt Kant daran, den religiösen Lösungsvorschlag in die richtige - und das heißt aus seiner Sicht: die moralphilosophisch begründete Ordnung - zu bringen. Um der diesbezüglichen Überlegungen unter der komplexen Gedankenführung des Abschnittes 118 ansichtig zu werden, wird der Text im Folgenden unter drei Gesichtspunkten beleuchtet: In einem ersten Schritt soll herausgearbeitet werden, dass Kant die in den vorhergehenden Abschnitten entfaltete These vom radikalen Bösen in diesem letzten Abschnitt unter die Perspektive der Besserung stellt und daher in einen umfassenderen moralphilosophischen Reflexionszusammenhang einweist. Daraufhin wird nachgezeichnet, was hier zu der vom Menschen selbst zu vollbringenden Besserung gesagt wird. Der letzte Schritt beschäftigt sich mit den Bezugnahmen auf die Lehre vom göttlichen Beistand, soweit das in diesem Textabschnitt bereits zu erkennen ist. Einen ersten Hinweis darauf, dass die These vom radikalen Bösen in einen komplexeren Zusammenhang gehört und entsprechend interpretiert werden muss, finden wir in der hier erneut aufgegriffenen Erläuterung eines Zwiespaltes im Menschen. Dieser Zwiespalt kommt insbesondere in einer Fußnote zur 118 Der Abschnitt bietet folgende Überlegungen: (1) Einleitung (B 48f/ AA VI 44 15-31 ): Exposition der Thematik und Nennung der Voraussetzung, dass eine Besserung nur auf des Menschen eigener Aktivität beruhen kann. (2) Erste Bearbeitung der Besserungsfrage (B-49-51/ AA VI 44 32 -45 15 ): ‚Wie kann ein böser Baum gute Früchte bringen? ‘, Argumente: (a) Die Möglichkeit des Freiheitsgebrauches ist nicht bestreitbar. (b) Der Keim des Guten ist nicht zerstörbar. (c) Weil wir bessere Menschen werden sollen , müssen wir es auch können (wobei das Können möglicherweise nur im Erwerb der Empfänglichkeit für den Beistand besteht). (3) ‚Wiederherstellung‘ bedeutet Herstellung der Maximenreinheit und der ‚Heiligkeit der Maximen‘, Einführung der Begriffe ‚Revolution‘ und ‚Reform‘ (B- 52-54/ AA VI 46 1 -47 28 ). (4) Zweite Bearbeitung der Besserungsfrage (B 54f/ AA VI 47 29 -48 16 ): Umkehrung der Gesinnung (‚Revolution‘) und allmähliches Fortschreiten vom Schlechten zum Besseren (‚Reform‘). (5) Die moralische Bildung des Menschen (B 55/ AA VI 48 17 -49 5 ). (6) Die moralische Anlage ist erstaunlich und das Staunen hierüber erweckt die sittliche Gesinnung (B 57-59/ AA VI 49 5 -50 11 ). (7) Dritte Bearbeitung der Besserungsfrage (B 59-61/ AA VI 50 12 -51 21 ): Die These von der allgemeinen Verbreitung des Bösen ist mit der Wiederherstellungsforderung vereinbar, da die These ihre Relevanz (nur) für den Bereich der ‚moralischen Asketik‘ hat. (8) Die rechte und die falsche Vorstellung vom göttlichen Beistand bei der Besserung (B 61-63/ AA VI 51 22 -52 15 ). (9) Anmerkung zur Anmerkung (B 63f/ AA VI 52 16 -53 27 ): Die Beistandslehre als ‚Parergon‘ der Vernunftreligion und die ‚Gnadenwirkungen‘. <?page no="207"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 207 Sprache, in der die ‚Selbstliebe‘ des Menschen analysiert wird. Die Liebe des Menschen zu sich selbst gibt es demnach als ‚Wohlwollen‘ sich selbst gegenüber, d. h. als Streben nach dem eigenen Wohlergehen, aber auch als ‚Wohlgefallen‘, d. h. als begründet-vernünftige Hochschätzung der eigenen Persönlichkeit. 119 Die ‚wohlwollende‘ Selbstliebe wird dabei nicht pauschal als Ursache für das Böse inkriminiert. Vielmehr ist das Böse darauf zurückzuführen, dass der Mensch sich entschließt, die ‚wohlwollende‘ Selbstliebe anstelle des ‚Wohlgefallens‘ in sich wirksam werden zu lassen. Die in der These vom radikalen Bösen ausgedrückte Verweigerung des Menschen, das Moralgesetz in seinem unbedingten Anspruch zur Geltung kommen zu lassen, bildet daher nur ein Element innerhalb eines umfassenderen und bezugsreicheren anthropologischen Entwurfes, der auch solche Vermögen und Antriebe beschreibt, die darauf angelegt sind, dem Moralgesetz Folge zu leisten. Insofern knüpft der letzte Abschnitt aus RGV I an das komplexe Bild des Menschen als handelndes und auf Moralität hin angelegtes Wesen an, das bereits in Abschnitt I entfaltet wurde. Daran, wie Kant die ‚Wiederherstellung‘ erklärt, wird ein Moment aus der vorhergehenden Analyse des Bösen aufgenommen, das bereits dort auf den Charakter der erforderliche Besserung hindeutete. Wieder herstellung bedeutet demnach nicht die erneute Einrichtung einer ‚verlorenen‘ oder zerstörten Fähigkeit, sondern eine ‚Reinigung‘. 120 Das Ziel der Wiederherstellung besteht darin, dass eine Störung beseitigt wird, was dann der Fall ist, wenn das Moralgesetz die alleinige Triebfeder der Willkür ist, d. h. wenn die Gebote des Moralgesetzes befolgt und als alleinige Handlungsgründe akzeptiert werden. Dieser Zustand des menschlichen Wollens wird hier als „Heiligkeit der Maximen“ bezeichnet. 121 Das Böse stellt demgegenüber eine mangelnde Realisation der durch das Moralgesetz auferlegten ‚Heiligkeit‘ dar. Es bildet einen (selbstverschuldeten und zurechenbaren) Widerstand bei der gebotenen Durchsetzung der sittlichen Gutheit im Menschen. Schließlich finden wir am Ende des Abschnittes eine Textpassage, in der die vorhergehenden Ausführungen ganz unter die Perspektive der durch den Einzelnen zu vollbringenden moralischen Besserung eingeordnet werden. Kant führt hier aus, dass die These vom Bösen im Menschen nicht für die ‚moralische 119 B 50-52 Fn./ AA VI 45 21 -46 40 . Für Kant besteht das allein moralische und - nach dem Urteil der Vernunft - eigentliche Wohlgefallen an sich selbst in der Zufriedenheit über die Unterordnung aller Maximen unter das Moralgesetz. Vgl. Ricken 2001, 247 f. u. 252-254. 120 Vgl. B 52f/ AA VI 46 1 -47 1 . - Vgl. Michalson 1990, 75: „[T]he moral renewal oft he underlying disposition is not the restoration that has been lost, but the purifying of something that has been corrupted“. 121 Zitat B 52/ AA VI 46 5-12 , bes. Z. 10-12: „Das ursprünglich Gute ist die Heiligkeit der Maximen in Befolgung seiner Pflicht, mithin blos aus Pflicht“. Vgl. auch die Überschrift zu Abschnitt 5: „Von der Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten in ihre Kraft“. <?page no="208"?> 208 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Dogmatik‘, sondern für die ‚moralische Asketik‘ relevant ist. 122 Der Verwendung dieser Leitbegriffe haftet im Kontext der Religionsschrift insofern eine gewisse polemische Zweideutigkeit an, als beide Begriffe der christlich-theologischen Tradition entstammen, hier jedoch herangezogen werden, um unterschiedliche Aufgabenstellungen der Ethik zu unterscheiden. In der Theologie beschäftigt sich die Dogmatik mit der Glaubenslehre der christlichen Kirche. Sie erhebt ihre Überlieferung und erklärt, was der christliche Glaube als solcher bedeutet. 123 Die Asketik bildete ein Teilgebiet der Moral- oder Pastoraltheologie und wird heute durch die Ratgeberliteratur zur Spiritualität fortgeführt. Sie gibt Hinweise zur Einübung in das geistliche Leben der Christen. 124 Gemäß den Ausführungen der RGV kann der Aufweis der Bosheit im Menschen nun zur ‚moralischen Dogmatik‘ nichts beitragen, weil sich hierdurch in Bezug auf die Lehre von den Pflichten und von deren Verpflichtungscharakter nichts ändert. Die ‚moralische Asketik‘ bezeichnet in Abgrenzung dazu die ‚sittliche Ausbildung‘, also das Ein- und Ausüben der im Menschen angelegten Fähigkeit zur Moralität. Und hierfür, so Kant, hat das Wissen um das Böse im Menschen sehr wohl Relevanz, da es die Start- und Ausgangssituation beschreibt und offenlegt, dass diese durch einen Widerspruch zur sittlichen Anlage geprägt ist. Aufgrund der Aufklärung über die spezifische Art und Weise, wie das Böse im Menschen vorliegt, erkennen wir, dass das moralgesetzlich Geschuldete nur im kontinuierlichen Entgegenwirken gegen diese Gegebenheit verwirklicht werden kann. Durch eine solche Beschreibung der praktischen Bedeutung der These vom radikalen Bösen wird die Aussageabsicht der vorhergehenden Untersuchung dahingehend präzisiert, dass es dabei um die Erhebung von pragmatisch-handlungsbezogenem Wissen geht. Das Wissen um das Böse im Menschen soll eine Handlungspraxis ermöglichen und verändern, nämlich die Einübung und Verwirklichung von Moralität. Zugleich bringt die Zuordnung zur Asketik insofern eine Relativierung der These vom radikalen Bösen mit sich, als sie ein weiteres Argument für die Vereinbarkeit der These mit der Wiederherstellungsforderung 122 Vgl. B 60/ AA VI 50 21 -51 6 : „Der Satz vom angeborenen Bösen ist in der moralischen Dogmatik von gar keinem Gebrauch: denn die Vorschriften derselben enthalten eben dieselben Pflichten, und bleiben auch in derselben Kraft, ob ein angeborener Hang zur Übertretung in uns sei, oder nicht. In der moralischen Asketik aber will dieser Satz mehr, aber doch nichts mehr sagen, als: wir können, in der sittlichen Ausbildung der anerschaffenen moralischen Anlage zum Guten, nicht von einer uns natürlichen Unschuld den Anfang machen, sondern müssen von der Voraussetzung einer Bösartigkeit der Willkür in Annehmung ihrer Maximen der ursprünglichen sittlichen Anlage zuwider anheben, und, weil der Hang dazu unvertilgbar ist, mit der unablässigen Gegenwirkung gegen denselben.“ 123 Vgl. Walter 2006, 288-290. 124 Vgl. Grün 2006. <?page no="209"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 209 und damit für die Auflösung des skizzierten Knotens darstellt. Sie kann daher als eine grundsätzliche Antwort auf die zentrale Frage des Abschnitts nach der Besserung des ‚bösen‘ Menschen gelesen werden. Die häufige Nennung des Stichwortes ‚Satz‘ in der einschlägigen Textpassage deutet darauf hin, dass mittels der Askese-Zuordnung insbesondere dafür argumentiert werden soll, dass die These vom radikalen Bösen in aussagenlogischer Hinsicht mit der Wiederherstellungsforderung vereinbar ist. 125 Eine derartige Lösung des Knotens kann jedoch nur um den Preis einer zumindest teilweisen Relativierung erreicht werden, nämlich dann, wenn die These vom radikalen Bösen hier lediglich als Beschreibung der Ausgangssituation und eines unter irdisch-menschlichen Bedingungen vielleicht niemals ganz zu überwindenden Hindernisses verstanden wird. Genau auf eine solche Relativierung deutet der Text auch hin, wenn die These an dieser Stelle „nichts mehr sagen“ soll, als dass man „in der sittlichen Ausbildung […] von der Voraussetzung einer Bösartigkeit der Willkür in Annehmung ihrer Maximen anheben, und, weil der Hang dazu unvertilgbar ist, mit der unablässigen Gegenwirkung gegen denselben“ anheben muss. 126 Dann aber kann der (ohnehin problematische) Aufweis einer ‚natürlichen‘ Bosheit aller Menschen nicht so gemeint sein, dass dadurch eine (schrittweise oder punktuelle) Veränderung der moralischen Qualität ausgeschlossen wäre. Bei isolierter Betrachtung kann dieser argumentative Kontext den Eindruck erwecken, als ob mit der Zuordnung zur Asketik ad hoc eine mit dem sonstigen Text unvermittelte Relativierung eingeführt würde. Es handelt sich dabei jedoch nicht nur um eine punktuelle Neu-Akzentuierung. Auch andere Indizien sprechen dafür, dass Kant die vorhergehende Analyse des Bösen im Menschen tatsächlich in einen umfassenderen Reflexionszusammenhang einweisen möchte, der die moralische Besserung des Menschen betrifft. Ein Indiz hierfür ist traditionsgeschichtlicher Art: Denn neben dem Stichwort ‚Asketik‘ erinnert auch die sogleich zu kommentierende Gegenüberstellung einer innerlichen und einer äußerlichen Besserung an die beispielsweise aus den Vorlesung bekannte Unterrichtung über das Verlassen des Zustandes der Lasterhaftigkeit. 127 Diese Bezüge machen es wahrscheinlich, dass Kant in dem vorliegenden Werk auch das altbekannte Problem der moralischen Besserung behandelt, wozu als wesentliche Voraussetzung eine Erörterung des moralischen Versagens - seiner Ursachen und Formen sowie der von ihm ausgehenden Gefährdungen - gehört. 125 Vgl. B 59/ AA VI 50 12-14 . 126 Siehe Fn. 122. 127 Siehe Kap. 3.4, bes. S. 139 f. <?page no="210"?> 210 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Ein weiteres Indiz besteht darin, dass eben diese Perspektive zu Beginn des zweiten Stückes wieder aufgenommen und bestätigt wird. Kant setzt sich dort mit der stoischen Tugendkonzeption auseinander. Dabei kritisiert er, dass die Stoiker den ‚eigentlichen Gegner des Guten‘ verfehlten, indem sie die Wurzel des Bösen in den sinnlichen Neigungen lokalisierten. 128 Die Wurzel liegt jedoch in der ‚Bosheit des Herzens‘, d. h. im mangelhaften Wollen des Menschen. Die Untersuchung der Bosheit im Menschen hat für die weitere Argumentation der RGV folglich den Sinn, die wahre Wurzel des Bösen aufgedeckt zu haben, damit man weiß, wogegen sich der Kampf richten muss und wie der Kampf zu führen ist, um moralisch gut zu werden. Eine Bearbeitung des Problems finden wir in der Unterscheidung zwischen der ‚Revolution in der Gesinnung‘ und der ‚Reform für die Sinnesart‘. Indem im Folgenden diese Unterscheidung erläutert wird, geht die vorliegende Interpretation auf den zweiten der oben angekündigten Gesichtspunkte ein. Er versammelt die Ausführungen zur Selbstbesserung des Menschen und präsentiert damit einen Antwortversuch auf die Leitfrage des Abschnitts. Der Zusammenhang, in dem das Begriffspaar eingeführt wird, beschäftigt sich damit, die fragliche Wiederherstellung zu präzisieren. Hierzu nimmt Kant eine Differenzierung des Tugendbegriffes vor: Demnach bezeichnet der erste Tugendbegriff, die ‚virtus phaenomenon‘, lediglich die Übereinstimmung der äußeren Handlungen mit dem Moralgesetz, und zwar unabhängig von dem Motiv hinter diesen Handlungen. 129 In Bezug auf diesen ersten Tugendbegriff vollzieht sich die Besserung als allmählicher Prozess, als ‚Reform des Verhaltens‘ und ‚Änderung der Sitten‘. Tugendhaftigkeit schließt jedoch auch ein innerlich-dispositionelles Moment ein - nämlich gemäß der hier gegebenen Definition „keiner anderen Triebfeder“ zu bedürfen, „als […] [der] Vorstellung der Pflicht selbst“. Dies wird durch einen zweiten Tugendbegriff, die ‚virtus noumenon‘ zum Ausdruck gebracht. 130 Dafür, dass jemand in diesem Sinne ein moralisch guter Mensch wird, ist eine ‚Revolution in der Gesinnung‘ notwendig. Sie besteht darin, dass in und durch die Gesinnung ein ‚Übergang zur Maxime der Heiligkeit‘ stattfindet, also die Befolgung des Moralgesetzes tatsächlich gewollt wird und dieser Wille handlungsleitend wird. 131 Kant verbindet die Revolution mit biblischen Metaphern: Durch die Revolution kommt es zu einer ‚Änderung des Herzens‘; wie in einer 128 Vgl. B 68f/ AA VI 57 18-25 (sowie die an die Textpassage angehängte Fußnote 57 26 -58 40 ) und B 71/ AA VI 59 1-15 . Siehe auch Kap. 4.2.1. 129 Vgl. B 53f/ AA VI 47 1-18 , Zitate: Z. 3 f. 130 Vgl. B 54/ AA VI 47 18-22 . 131 Vgl. B 54/ AA VI 47 22-28 , bes. Z. 22-26: Die moralische Besserung „kann nicht durch allmähliche Reform, solange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt, sondern muß <?page no="211"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 211 Wiedergeburt oder Neuschöpfung wird der alte durch den neuen Menschen ersetzt; es entsteht ein ‚Gott wohlgefälliger‘ Mensch. 132 Die Unterscheidung zwischen Reform und Revolution wird nun als Lösung für den oben dargestellten Knoten diskutiert. 133 Die Begründung, inwiefern die Unterscheidung eine Lösung für das Besserungsproblem abgeben soll, ist allerdings nicht leicht nachzuvollziehen und darüber hinaus nicht frei von argumentativen Problemen. So wie ich die Gedankenführung verstehe, argumentiert Kant in zwei Teilschritten, indem er zunächst die Unterscheidung exponiert und dann herausstellt, dass sich die Besserung für den Menschen als ‚fortdauerndes Streben‘, für Gott jedoch als ‚Einheit‘ und vollständige ‚Veränderung‘ zu einem guten Menschen darstellt. 134 Dem ersten Schritt zufolge muss und kann der Menschen „den obersten Grund seiner Maximen, wodurch er ein böser Mensch war, durch eine einzige unwandelbare Entschließung“ umkehren (‚Revolution‘ < lateinisch: revolvere ) und hierdurch „ein fürs Gute empfängliches Subjekt“ 135 werden. Denn aufgrund der Revolution wird - gemäß der oben entwickelten Interpretation des Hanges - der transzendentale Grund verändert, auf dem das Böse beruhte. Jedoch wird der Mensch nur durch „kontinuierliche[s] Wirken und Werden“, „auf dem […] Wege eines beständigen Fortschreitens vom Schlechten zum Besseren“ 136 ein guter Mensch. Mit der Revolution-Reform-Unterscheidung wird also ein zweiteiliges Besserungsmodell entworfen, das sowohl das Fassen der Handlungsregel, dem Moralgesetz uneingeschränkt Folge zu leisten, als auch das moralgesetzkonforme, über die Zeit sich bewährende und graduell sich verbessernde Handeln umfasst. Der zweite Argumentationsschritt besagt, dass dieser Veränderungsprozess für den Menschen einen andauernden Kampf zwischen der gefassten Maxime und anderen Handlungsantrieben bedeutet. Aus Sicht eines Wesens, das den Grund der Maximen wahrnimmt und dem der unendliche Fortschritt des Menschen in der Zeit als eine (zeitlose) Einheit präsent ist, stellt dieser Vorgang durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt werden“. 132 Vgl. B 54/ AA VI 47 19.26-28 . Vgl. auch B 55/ AA VI 48 11 u. B 61/ AA VI 51 11f . 133 Vgl. den Übergang B 54 / AA VI 47 29-36 : „Wenn der Mensch aber […] wie ist es möglich, daß er […] von selbst ein guter Mensch werde? […] Dieses ist nicht anders zu vereinigen, als daß die Revolution für die Denkungsart, die allmähliche Reform aber für die Sinnesart […] notwendig, und daher auch dem Menschen möglich sein muß.“ 134 (1) B 54f/ AA VI 47 29 -48 8 ; (2) B 55/ AA VI 48 8-16 . Vgl. auch die Wiederaufnahme in B 61/ AA VI 51 7-21 . 135 AA VI 47 26 -48 3 . 136 AA VI 48 3.6f . <?page no="212"?> 212 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung jedoch eine einzige vollständige Umwandlung des Menschen dar. 137 Gott fungiert in Bezug auf das hier entworfene Besserungsmodell also als einheits- und identitätsstiftende Instanz: Die Vorstellung, dass Gott die für den Menschen nur nach und nach vollziehbare und in Einzelhandlung zu bewährende Besserung als verwirklichte Einheit vor Augen hat, ermöglicht es dem ernsthaft um Besserung bemühten Menschen, sich als gebesserte Person zu begreifen. Zu fragen ist allerdings, ob ein solches Besserungsmodell die von Kant aufgeworfene Problematik der Selbstbesserung tatsächlich lösen kann. Denn die Unterscheidung zwischen einer revolutionierten Maximenordnung und allmählich reformierten Handlungen legt eine Charakterisierung des Menschen als zugleich gut und böse nahe. Das widerspräche der rigoristischen Voraussetzung. Auch wenn dieses Problem als Schein durchschaut werden könnte, weil mit der Revolution die transzendentale Bedingung des Gutseins angesprochen wird, die jedoch der menschlichen Beurteilung kategorisch entzogen ist, und daher eine Qualitätsdifferenz zwischen Handeln und Gesinnung eigentlich nicht behauptet werden kann, dürfte es gerade aufgrund der kategorischen Unabhängigkeit von moralgesetzkonformem Handeln und moralischer Gutheit auch für den sich mühenden Menschen nur indirekt abschätzbar und letztlich nicht entscheidbar sein, ob er sich tatsächlich verbessert oder seine Maximenordnung weiterhin verdorben bleibt. Dass die Bemühungen tatsächlich eine moralische Besserung mit sich bringen, ist dann nur eine ‚Hoffnung‘, wie Kant an mehreren Stellen schreibt. 138 Und sofern man die Revolution als bewusst vollziehbares und möglicherweise sogar biografisch datierbares Ereignis denkt, bleibt außerdem fraglich, weshalb gemäß der Unterscheidung nach der Revolution immer noch ein Reformbedarf besteht. 139 M. E. stellen diese Einwände Hinweise darauf dar, dass die Unterscheidung nicht als Beschreibung des Besserungsprozesses, sondern vor allem als Beschreibung der Grundsituation des um Besserung bemühten Menschen gelesen werden sollte. Diese Situation wird hier als Kampf beschrieben, der verschiedene Momente (Gesinnung und Handeln) umfasst und daher sowohl auf der Ebene der Gesinnung als auch auf der Ebene der Einzelhandlungen ausgetragen 137 Vgl. 55 / AA VI 48 8-11 : „Dies ist für denjenigen, der den intelligibelen Grund des Herzens […] durchschauet, für den als diese Unendlichkeit des Fortschrittes Einheit ist, d. i. für Gott so viel, als wirklich ein guter […] Mensch sein“. - Das deutet darauf hin, dass die Revolution-Reform-Unterscheidung gerade nicht auf ein zeitliches Nacheinander reduziert werden darf, wie das die Interpretation von Allison (1990, 179) nahelegt und Horns Kritik impliziert (vgl. 2011, 59 f.). Auch Forschners Vergleiche mit der Lehre des Konzils von Trient über die Hinwegnahme der Erbsünde und die verbleibende concupiscentia verstehen unter der Revolution ein zeitlich singuläres Ereignis (vgl. 2009, 527, u. 2011, 88). 138 Vgl. B 55/ AA VI 48 4-8 , außerdem auf dieser Seite Z. 12-14 u. B 61/ AA VI 51 12-19 . 139 Vgl. Klemme 1999, 136-138, u. Morgan 2005, 104 f. <?page no="213"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 213 werden muss. Und wer in diesem Kampf obsiegt, kann selbst der Sich-Bessernde nicht überblicken. Aber auch eine solche Lesart kann die schwerwiegende und in den weiteren Stücken der Schrift wiederkehrende Rückfrage nicht beseitigen, wie es bei einem Menschen, der sich in aller Regel gegen das Ideal der Heiligkeit entschieden und das Böse gewählt hat, überhaupt dazu kommen kann, dass er dieses asketische Streben aufnimmt. 140 Der Text deutet allerdings noch eine weitere Auflösung für den Knoten an: den Gedanken des göttlichen Beistandes. Man findet die diesbezüglichen Ausführungen an drei Stellen des Abschnitts 141 sowie in einer Anmerkung, die der zweiten Auflage hinzugefügt wurde. Wir kommen damit zum dritten Gesichtspunkt, nämlich den Bezugnahmen auf den göttlichen Beistand. Da die dritte Referenzstelle im Haupttext und die Anmerkung die ausführlichsten Einlassungen bieten, sollen sie zuerst analysiert werden. Kant stellt hier zwei Varianten davon vor, wie die göttliche Reaktion auf den Besserungsbedarf auf Seiten des Menschen gedacht werden kann. Nach der ersten Variante meint der Mensch, ohne Besserung seines moralischen Zustandes durch Gott glücklich gemacht zu werden, indem Gott ihm die Unmoral vergibt. 142 Nach der zweiten Variante kann Gott den Menschen zwar nicht unabhängig von dessen moralischer Qualität beglücken, aber den Menschen moralisch bessern, wenn dieser ihn lediglich darum bittet. 143 Für die Ablehnung der ersten, auf eine bedingungslose Beglückung oder Vergebung durch Gott abzielenden Variante wird keine ausdrückliche Begründung angegeben. Es scheint für Kant ausgemacht, dass Gott die moralischen Mängel nicht vergibt. Kant diskutiert nur die zweite und damit die der Wiederherstellungsproblematik näher stehende Variante weiter. Hierzu lässt der Text mehrere Argumente erkennen. Im direkten Anschluss an die Nennung der beiden Varianten wird eine reductio ad absurdum durchgeführt, der zufolge die Bitte um die Besserung angesichts der Allwissenheit Gottes gleichbedeutend mit einem bloßen Wünschen wäre. Da ein Wunsch aber keinerlei Mühe bereitet und er daher - so setzt Kant voraus - von jedem Menschen geäußert würde, wäre, wenn Gott aufgrund der bloßen Bitte die moralische Besserung durchführte, jeder Mensch gebessert, was offensichtlich nicht zutrifft. 144 Außerdem unterstellt der Text, dass es sich bei der Selbstbesserung um eine ‚Zumutung‘ handelt, die der Mensch gerne umgehen möchte. Besserungsmodelle, die allein auf Gottes Aktivität bauen, können daher als das Wunschgebäude derjenigen durchschaut werden, die schlicht unwillig sind, moralische 140 Siehe Kap. 2.4. 141 B 49/ AA VI 44 24-31 , B 50/ AA VI 45 9-11 u. B 61-63/ AA VI 51 22 -52 15 . 142 Vgl. B 62/ AA VI 51 28-31 . 143 Vgl. Z. 31-34. 144 Vgl. Z. 34-37. <?page no="214"?> 214 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Anstrengungen zu unternehmen. 145 Das reductio-ad-absurdum -Argument unterstellt, dass alle Menschen wie der Kaufmann aus der Kaehler-Collins-Vorlesung handeln 146 : Sie sind ausschließlich auf ihren Vorteil bedacht, ordnen moralische Erwägungen dem Nützlichkeitskalkül unter und gestalten dementsprechend ihre religiösen Ideen. Kant lehnt die Annahme eines göttlichen Beistandes nicht grundsätzlich ab, sondern nur, wenn dieser Beistand gemäß solcher Konzeptionen vollzogen wird, die von einer Besserung ohne menschliche Aktivität ausgehen. Dies lässt sich daraus ersehen, dass die Ausführungen auch andere Varianten eines göttlichen Beistandshandelns formulieren, die den menschlichen Anteil berücksichtigen. Diese Varianten werden von Kant als legitime Möglichkeiten bewertet. So bezeichnet er zu Beginn des Abschnittes die göttliche Mithilfe als „Verminderung der Hindernisse“ oder als „positiver Beistand“ bzw. als „positive Kraftvermehrung“ 147 , was er allerdings nicht näher erläutert. Jedenfalls muss das Beistandshandeln aber solcher Art sein, dass es eine Bedingung im Menschen voraussetzt. Denn der Beistand kann und darf nur eintreten, wenn der Mensch sich durch moralisches Bemühen für den Beistand würdig gemacht hat und aufgrund seiner moralischen Disponiertheit für den Beistand empfänglich ist. 148 Dementsprechend ist an der letzten Referenzstelle aus dem Haupttext ausdrücklich von einem Ergänzungsverhältnis die Rede: Der sich moralisch bestmöglich Mühende kann in Bezug darauf, „was nicht in seinem Vermögen ist“, hoffen, es „werde durch höhere Mitwirkung ergänzt werden“. 149 Demnach kommt der Beistand zu der bereits vorfindlichen moralischen Aktivität des Menschen hinzu und vollbringt ggf. dasjenige (an Besserung und an Heiligung), was dem Mensch trotz bestem Bemühen nicht gelingt. In Bezug auf diese Formulierungen muss jedoch einschränkend festgehalten werden, dass Kant die Erörterung der genauen Vollzugsweise des Beistandes für unwichtig ansieht und die Möglichkeit verschiedener, gleichermaßen legitimer Vorstellungen einräumt. 150 Überdies sind die Referenzstellen konjunktivisch oder konditional formuliert, was darauf hindeutet, dass Kant sich offenbar an diesen Stellen nicht darauf festlegen möchte, ob ein auch nur konditionierter Beistand tatsächlich erforderlich ist. Letzteres entspricht indes nicht ganz derjenigen Position, die Kant in der an den Abschnitt angehängten Anmerkung einnimmt. Diese in der zweiten 145 Vgl. Z. 22-26. 146 Siehe Kap. 3.5. 147 B 49/ AA VI 44 24-31 . 148 Vgl. ebd. 149 Vgl. B 62/ AA VI 52 2-7 , Zitat: Z. 6 f. (Hervorhebung: Reich); vgl. auch B 50/ AA VI 45 8-11 . 150 Vgl. B 62f/ AA VI 52 7-15 . <?page no="215"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 215 Auflage hinzugefügte Textpassage ist für die Interpretation der kantischen Beistandstheorie insofern instruktiv, als Kant den Abschnitt unter das Thema ‚Gnadenwirkungen‘ einordnet. 151 Kant weist seinen Überlegungen damit einen bestimmten Sinn zu: Der Abschnitt ist als eine Reflexion darüber zu lesen, wie in die notwendige, aber angesichts der Bosheit problematische Selbstbesserung eine übernatürliche Gnade hineinwirkt. Die Anmerkung beschreibt vor allem den vernunfttheoretischen Status der Beistandslehre. Es handelt sich demnach um einen ‚Glauben‘, der ‚reflektierend‘ ist, weil er um die erkenntnistheoretischen Grenzen einer solchen Glaubenslehre weiß. 152 Die Möglichkeit und die Wirklichkeit eines göttlichen Beistandshandelns lassen sich nicht durch die Vernunft erweisen. Die Vernunft kann sich die Idee eines übernatürlichen Beistandes nicht ‚als Besitz aneignen‘ und nicht in ihre Grundsätze des Denkens oder Handelns aufnehmen. 153 Am Ende der Anmerkung kann man eine Begründung für diese erkenntnistheoretischen Kautelen ausmachen. 154 Gemäß dieser Begründung ist eine theoretische Erkenntnis von Gnadenwirkungen ausgeschlossen, weil die Identifikation von Ursache-Wirkung-Verhältnissen auf Erfahrungsgegenstände begrenzt ist und übernatürlich hervorgebrachte Wirkungen daher nicht als solche kenntlich gemacht werden können. Und eine Berücksichtigung von ‚Gnade‘ durch die praktische Vernunft wäre selbstwidersprüchlich, da eine praktische Regel angibt, wie der Mensch handeln soll, während die Erwartung einer Gnadenwirkung im Gegensatz dazu besagt, dass ein anderes Wesen handeln soll. Das würde in die widersprüchliche Lage führen, dass eine moralisch imputable ‚Tat‘ durch moralische Untätigkeit und das Handeln eines Andern zustande kommen soll. Dennoch erwächst der ‚Glaube‘ an den gnadenhaften Beistand aus einer profunden Problematik, die sich der Vernunft aufdrängt und mit der sie sich 151 Vgl. B 63/ AA VI 52 16-18 : „Diese Allgemeine Anmerkung [sc. der letzte Abschnitt von RGV-I] ist die erste, von den vieren, deren eine jedem Stücke dieser Schrift angehängt ist, und welche die Aufschrift führen könnten: 1) von Gnadenwirkungen …“. 152 Vgl. B 63/ AA VI 52 32-35 . 153 Vgl. Z. 24-27. 154 Vgl. B 64/ AA VI 53 14-25 : „Denn, sie theoretisch woran kennbar zu machen […] ist unmöglich, weil unser Gebrauch des Begriffs von Ursache und Wirkung über Gegenstände der Erfahrung […] nicht erweitert werden kann; die Voraussetzung einer praktischen Benutzung dieser Idee ist ganz sich selbst widersprechend. Denn, als Benutzung würde sie eine Regel von dem voraussetzen, was wir […] Gutes selbst zu tun haben, um etwas zu erlangen; eine Gnadenwirkung aber zu erwarten, bedeutet gerade das Gegenteil, nämlich, daß das Gute […] nicht unsere, sondern die Tat eines anderen Wesens sein werde, wir also sie durch Nichtstun allein erwerben können, welches sich widerspricht.“ Die Bezugnahmen durch ‚sie‘ und ‚Idee‘ können sowohl die ‚Herbeirufung‘ als auch die ‚Gnadenwirkungen‘ selbst meinen; im letzten Teilsatz geht es ausdrücklich um die Erwartung von Gnadenwirkungen. <?page no="216"?> 216 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung auseinandersetzen muss: Die Vernunft vollzieht ihre ‚Ausdehnung‘ zu den ‚überschwänglichen Ideen‘ der Gnadenlehre, weil sie, wie Kant formuliert, das Bewusstsein mit sich bringt, dass sie (d. h. die Vernunft) unvermögend ist, „ihrem moralischen Bedürfnis ein Genüge zu tun“. 155 Ausgangspunkt dieser rätselhaften Aussage dürfte das Ergebnis der vorhergehenden Analysen zur Bosheit sein, wonach der Mensch bei unverstellt-vernünftiger Beurteilung feststellen muss, dass er letztlich den Ansprüchen des Moralgesetzes nicht gerecht wird und es durchaus möglich ist, dass er diese Ansprüche auch beim besten Bemühen nicht gänzlich erfüllen kann. Die unbedingt gebotene und angesichts der Bosheit immerzu erforderliche Besserung ist daher mit „Schwierigkeiten gegen das, was für sich selbst (praktisch) fest steht“ 156 , konfrontiert. Die (praktische) Vernunft scheint in einen Zwiespalt zu geraten, wenn sie auf der einen Seite die Besserung verlangt und auf der anderen Seite das Ungenügen des Menschen anerkennen muss. Daher nimmt sie die Idee eines übernatürlichen Beistandes zur Hilfe, der das unvollkommene Bemühen ergänzen kann. Beim vernunftgemäßen Ausgriff auf die Vorstellung vom konditioniert-ergänzenden Beistand Gottes handelt es sich zwar nur um ein ‚Parergon‘, ein ‚Nebengeschäft‘, und ein Lehre, die die Vernunft aus den dargestellten Gründen nicht in die Maximen des Denkens und Handelns aufnehmen kann. Dennoch „rechnet“ die Vernunft „sogar darauf“ 157 , wie Kant schreibt, dass die Ergänzung zum menschlichen Bemühen hinzukommt. Denn die Gnadenlehre - zumindest in einer entsprechend spezifizierten Variante - kann die vernünftigerweise anzunehmenden Schwierigkeiten bei der notwendigen Selbstbesserung ‚wegräumen‘ und den misslichen Zwiespalt beseitigen. Wie in den Vorlesungen sieht die RGV die Annahme eines göttlichen-gnadenhaften Beistandes also deshalb als erforderlich an, damit die moralisch notwendige Erfüllung des Moralgesetzes für den Menschen nicht ein Unterfangen bildet, das aussichtslos ist und von einem niemals behebbaren Zwiespalt durchzogen wird. Das argumentative Geflecht um die Beistandslehre im letzten Abschnitt von RGV I ist allerdings noch etwas komplexer. Kant verwendet nämlich die moralphilosophisch erforderliche Beistandstheorie auch als religionsphilosophisches Kriterium, um verschiedene Religionstypen zu unterscheiden: „Man kann aber alle Religionen in die der Gunstbewerbung (des bloßen Cultus) und die moralische, d. i. die Religion des guten Lebenswandels, eintheilen.“ 158 Die Anhängerinnen und Anhänger des ersten Religionstyps vertreten die oben kritisierte Variante einer allein durch Gott vollführten Besserung des Menschen. Sie zer- 155 Vgl. B 63/ AA VI 52 21-24 . 156 Z. 34 f. 157 Z. 27. 158 B 61f/ AA VI 51 26-28 . <?page no="217"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 217 hauen gleichsam den Knoten, indem sie versuchen, durch Bitten und Kult Gottes Gunst zu erwerben und ihn dazu zu bewegen, dass er sie zu besseren Menschen macht, anstatt durch eine Veränderung ihrer Handlungsmaximen und ein entsprechendes Verhalten die Besserung selbst zu vollziehen. Im anderen, moralischen Religionstypus hingegen gilt der Grundsatz des konditionierten Beistandes als Ergänzung eines möglicherweise unvermeidlichen Unvermögens. Moralisch-vernünftige und unmoralisch-vernunftwidrige Religion unterscheiden sich folglich auch nach dem ersten Stück der RGV darin, wie man sich Gottes Mitwirkung bei der Besserung vorstellt. Wie in einem Nukleus werden in dieser Textpassage weitere mit der Beistandslehre zusammenhängende Gesichtspunkte sichtbar, von denen in den folgenden Stücken der Religionsschrift immer wieder die Rede ist: So wird bereits an dieser Stelle der Zusammenhang zwischen der menschlichen Schwäche und der Religionsgenese thematisiert. 159 Indem Kant das Gleichnis von den Talenten als neutestamentliche Mahnung zur moralischen Besserung durch menschliche Anstrengung auslegt, sieht er die moral- und vernunftkonforme Beistandslehre am besten in der christlichen Religion verwirklicht. 160 Und die Möglichkeit, dass die für die christlich-vernünftige Religion zentrale Beistandslehre einmal durch Offenbarung den Menschen kundgetan wurde, schließt nicht aus, dass die diesbezüglichen religiösen Vorstellungen und Bräuche eine legitime Vielfalt aufweisen. Denn vielleicht ist „gar unvermeidlich“, „daß […] verschiedene Menschen zu einer anderen Zeit sich verschiedene Begriffe, und zwar mit aller Aufrichtigkeit, davon machen würden.“ 161 4.1.5 Das radikale Böse und die theologische Lehre von der Erbsünde Es ist ein komplexes, von mehreren Motiven durchzogenes Bild, das im ersten Stück der Religionsschrift vom Menschen gezeichnet wird. Da ist zum einen das Motiv einer teleologisch gefassten Charakterisierung des Menschen als handelndes Wesen, das sich in verschiedenen Bereichen handelnd entfaltet und zu dem auch die praktische Rationalität konstitutiv hinzugehört. Der Mensch ist darauf angelegt, zu handeln und zugleich moralisch zu handeln. Worauf es in diesem Zusammenhang beim moralisch guten Handeln ankommt, erhellt aus der Verteidigung der rigoristischen Position: Das Handeln des Mensch ist entweder ganz und gar gut - nämlich dann, wenn die oberste Maxime darin besteht, dem Moralgesetz unbedingt Folge zu leisten -, oder aber letztlich böse 159 Vgl. B 61/ AA 51 22-25 . 160 Vgl. B 62/ AA 52 3-5 . 161 B 62 f./ AA 52 8-11 . Stangneth schreibt hier (allerdings ohne textkritischen Beleg, und daher wohl versehentlich) „viellei ch “, AA und Weischedel haben „viellei cht “. <?page no="218"?> 218 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung - weil die Abweichung von dieser Maxime als Handlungsregel akzeptiert wurde und dadurch die ‚Wurzel‘ des Handelns verdorben wurde. An dieser handlungstheoretischen Voraussetzung knüpft das Motiv vom Bösen in der menschlichen ‚Natur‘ an. Wie sich in der Interpretation zeigte, erbringt der Text keinen validen Beweis einer allgemeinen Verbreitung des Bösen. Die Ausführungen legen den Schwerpunkt vielmehr darauf, das Vorliegen des Bösen zu erläutern. Demnach müssen wir bei nüchterner Selbstprüfung davon ausgehen, dass im Menschen ein Hang zum Bösen gegeben ist. Dieser Hang wird zum einen nach dem imputationstheoretischen Modell einer transzendentalen ‚Tat‘, zum anderen privativ als ‚Mangel an gutem Willen‘ erläutert. Am Ende von RGV I wird das Asketik-Motiv eröffnet, wonach die vorhergehenden Erläuterungen mit Bezug auf die Besserung des offenbar moralisch unvollkommenen Menschen zu lesen sind. Der gedankliche Ausgangspunkt der Religionsschrift ist folglich ähnlich wie bei den Überlegungen zum Ideal der Heiligkeit und zum göttlichen Beistand, die sich in den Vorlesungen zur Ethik finden. Die Begriffe ‚Gebrechlichkeit‘ und ‚Schwäche‘ haben ebenfalls ihre Vorläufer in den Begriffen fragilitas und infirmitas aus den Vorlesungen. Und wie in Kap. 3.5 beschrieben wurde, sehen auch die Vorlesungen ein merkantilistisches und boshaftes Nützlichkeitskalkül am Werk, wenn der Mensch den Versuch unternimmt, die Entsprechung gegenüber dem Moralgesetz dadurch zu umgehen, dass er anstelle des moralischen Handelns Beistandsanrufungen und kultische Handlungen vornimmt. Es gibt allerdings auch bedeutende Unterschiede zwischen den Überlegungen zum Bösen in den Vorlesungen und denen in RGV I: Die Analyse des Bösen in der Religionsschrift geht systematischer vor und fällt erheblich differenzierter aus. So wurde beispielsweise auch in den Vorlesungen davon gesprochen, dass die Phänomene der Gebrechlichkeit und der Schwäche trotz ihres persistierenden Charakters eine Imputabilität nicht ausschließen. Für den Hang zum Bösen aus der Religionsschrift konstruiert Kant darüber hinaus eine Handlung auf der Ebene der Maximenwahl, die erklären soll, wie eine der Einzelhandlung zu Grunde liegende Disposition zurechenbar sein kann. Vor allem aber stellt das erste Stück der Schrift enge Bezüge zum biblischen Motiv der Erbsünde her. Wie die Analyse der Vorlesungen und der Gedankenführung des ersten Stücks gezeigt hat, hält Kant es aus Gründen, die seiner Moraltheorie immanent sind, für erforderlich, von einer unvermeidlichen moralischen Bosheit des Menschen auszugehen. In der RGV durchsetzt er seine Argumentation mit Anspielungen auf biblische Erzählungen und deren theologische Deutung. 162 Er ist der 162 Vgl. B 43-46/ AA VI 41 30 -43 11 , zur kantischen Stellungnahme bezüglich einer Vererbung des Bösen siehe oben, Kap. 2.1, S. 37. Die RGV kennt auch den Gedanken des Engelstur- <?page no="219"?> 4.1 Die These vom radikalen Bösen in RGV I als Ausgangspunkt der Besserung 219 Meinung, dass die biblische Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies damit übereinstimmt. 163 Hinzu kommt, dass dieser explizite Brückenschlag zur Erbsündenthematik neben der Frage nach einer gnadenhaften Mithilfe Gottes für den durch Bosheit gekennzeichneten Menschen steht. Auch unter den Ausführungen zur infirmitas , die Baumgarten in seiner Ethica vornimmt, finden wir den Hinweis auf einen metaphysischen Aspekt der menschlichen Schwäche. In Kants RGV erscheinen die Anspielungen auf die Erbsündenthematik jedoch in einem größeren Argumentationszusammenhang, in dem auch auf die Gnadenlehre Bezug genommen wird. Aus moraltheologischer Sicht ist ein solcher Befund in mehrfacher Hinsicht interessant: Es wird hier ein moralphilosophisches Denkmodell angeboten, das nicht nur die Erbsündenlehre und das diffizile Verhältnis zwischen der erbsündlichen Belastung und den Einzelhandlungen reflektiert, sondern dies auch mit dem Gedanken einer von Gott ermöglichten Erlösung verbindet. Die RGV steht damit der theologischen Erbsündenlehre insofern nahe, als diese ebenfalls in enger Korrespondenz zur Gnadentheologie ausgebildet wurde und bedacht werden muss. 164 Vergegenwärtigt man sich die Ausführungen des ersten Stücks, wird es allerdings sehr zweifelhaft, ob die kantische Sicht auf die radikale Bosheit im Menschen und dessen Überwindung tatsächlich geeignet ist, um die moraltheologische Berücksichtigung der Erbsündenthematik zu unterstützen. Kant gibt sich alle Mühe, für das Böse in der menschlichen ‚Natur‘ sicherzustellen, dass die Zurechenbarkeit bei jedem einzelnen Handlungssubjekt liegt. Von Schuld, auch von der vermeintlich angeborenen, kann nur die Rede sein, wenn sie aus dem individuellen Freiheitsgebrauch entsprungen ist. 165 Vergleicht man diese Anforderung mit der Sündenlehre des Augustinus, einem der wichtigsten Referenzautoren für die Theologie der Erbsünde, dann fällt auf, dass Augustinus gerade diese Prämisse aufgegeben hat, um die Schuld aller Menschen gegenüber Gott behaupten zu können. Augustinus interpretiert das ihm in der Vulgata-Übersetzung vorliegende fünfte Kapitel des Römerbriefes. Er legt die Stelle aus dem Paulusbrief dahingehend aus, dass ebenso wie das Leben des ersten Menschen das Leben aller Nachkommen in sich enthält, so auch in Adams Bezes (vgl. B 106f/ 78 17 -79 11 ). 163 Vgl. B 43/ AA VI 41 30-35 : „Hiermit stimmt nun die Vorstellungsart, deren sich die Schrift bedient, den Ursprung des Bösen als einen Anfang desselben in der Menschengattung zu schildern, ganz wohl zusammen; indem sie ihn in einer Geschichte vorstellig macht, wo, was der Natur der Sache nach […] als das Erste gedacht werden muß, als ein solches der Zeit nach erscheint.“ 164 Vgl. Hoping 2006, 744 f. 165 Vgl. B 37/ AA VI 38 1-4 . <?page no="220"?> 220 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung leidigung gegenüber dem Schöpfer alle Menschen einbezogen sind und daher jeder Mensch vor Gott schuldig ist. 166 Im Dekret über die Ursünde auf dem Konzil von Trient wird die Formel ‚ propagatione, non imitatione ‘ genannt, um auszudrücken, dass die Sünde Adams qua Menschsein auf jeden Menschen übertragen und hierdurch jedem einzelnen Menschen zu eigen gemacht wird. 167 Aus diesen Belegen dürfte deutlich werden, dass Kants eigene Überzeugung vom Vorliegen des Bösen im Menschen nicht einfachhin mit Positionsmarkierungen der theologischen Erbsündenlehre in Einklang gebracht werden kann. Man müsste Kants Theorie kritisch modifizieren, um eine Vereinbarkeit zu erreichen, und vielleicht wäre eine solche Modifikation angesichts der Aporien, in die sich Kants Vorstellungen von der Besserung des Menschen verwickeln und von denen noch zu handeln sein wird, auch sachgemäß. Was das Verhältnis zwischen der Erbsünde und den Einzelhandlungen anbelangt, stellen die Ausführungen aus RGV I und hierbei insbesondere der Hang-Begriff interessante Vergleichspunkte dar: Das bereits zitierte Konzilsdokument bedenkt auch die Auswirkung der Erbsünde auf die Getauften. Im Taufsakrament wird die Erbsünde hinweggenommen, dennoch verbleibt aber eine concupiscentia (lat. Begehrlichkeit) oder ein fomes (lat. Zündstoff). Sie sind nicht Sünde im eigentlichen Sinne, aber sie resultieren aus der Sünde. Den Getauften ist aufgegeben, gegen diese Spätfolgen der Erbsünde zu kämpfen. 168 Kant sieht im Hang ebenfalls einen schuldhaften Mangel an gutem Willen, der allein dadurch überwunden werden kann, dass man eine gute Maximenordnung in sich ausbildet und diese im Handeln wirksam werden lässt. 169 Der Hang ist ein zu überwindendes Hindernis bei der moralischen Vervollkommnung, der Realisation des Ideals der Heiligkeit. In seiner asketischen Bedeutung, als Lehre von der Verwirklichung der Tugend (was für den Christen zugleich auch ein Wachstum in der Beziehung zu Gott bedeutet), kann man die Ausführungen zum Hang und dessen Überwindung heranziehen, um vor dem Hintergrund der kantischen Moralprinzipien den Widerstand zu bedenken, denen das moralische Handeln der Getauften ausgesetzt ist. Schließlich ist es aber wichtig zu sehen, dass die kantische Analyse des Bösen mit einer spezifischen Erlösungs- und Gnadenlehre im Zusammenhang steht. Die diesbezüglichen Überzeugungen Kants inkludieren bedeutende Differenzen zur christlich-theologischen Erlösungs- und Gnadenlehre. Die Vorlesungen waren ohne Christologie ausgekommen. Auch die Ausführungen zur Revolution-Reform-Unterscheidung und zum Beistand in RGV I kamen ohne den Ge- 166 Vgl. Hoping 1990, 14-27, u. Löhr 2007, 500-505. 167 Vgl. DH 1513. 168 Vgl. DH 1515. 169 Vgl. zu diesem Gesichtspunkt Forschner 2009 u. 2011. <?page no="221"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 221 danken eines geschichtlichen Heilsereignisses aus. Das anschließende Unterkapitel zum zweiten Stück wird diese Problematik genauer erheben und die bereits angedeuteten Beistandsbegriffe näher charakterisieren. 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 4.2.1 Der Aufbau und die Argumentation von RGV II Das zweite Stück der Religionsschrift gliedert sich in einen ‚ersten‘ und einen ‚zweiten‘ Abschnitt. Wie beim ersten Stück ist eine ‚allgemeine Anmerkung‘ angehängt, die sich in diesem Fall mit ‚Wundern‘ beschäftigt. Die Überschriften zu den beiden Abschnitten sind gegenläufig formuliert: Während der erste Abschnitt den ‚Rechtsanspruch des guten Prinzips auf die Herrschaft über den Menschen‘ darlegt, erklärt der zweite Abschnitt den des ‚ bösen Prinzips‘ sowie den ‚Kampf beider Prinzipien‘. Der Sinn dieser Überschriften lässt sich dadurch erhellen, dass man sich mit dem Inhalt der Abschnitte vertraut macht. Der erste Abschnitt setzt mit der Darstellung der ‚personifizierten Idee des guten Prinzips‘ ein. Im Unterabschnitt (a) stellt Kant ein Ideal moralischer Vollkommenheit vor. Er entwickelt hier das Bild einer idealen Person, die vollständig moralisch lebt und handelt sowie einen heiligen Willen hat. Man kann leicht erahnen, dass es sich dabei um die Figur des ‚Heiligen des Evangelii‘ bzw. des ‚Sohn Gottes‘ handelt, die eindeutig auf Jesus Christus hin profiliert wird. In einem zweiten Schritt (b) wird unter dem Titel ‚objektive Realität dieser Idee‘ diskutiert, was es bedeutet, wenn das Ideal verwirklicht wird, und wie es im Menschen verwirklicht werden kann. Im letzten und längsten Unterabschnitt (c) werden schließlich drei ‚Schwierigkeiten gegen die Realität dieser Idee‘ diskutiert sowie jeweils Versuche unternommen, diese Schwierigkeiten aufzulösen. Nebst den Anspielungen auf die Christologie stellt der Abschnitt Bezüge zur sog. Rechtfertigungslehre her, also zu einer Konzeptualisierung der christlichen Erlösungsbotschaft als eine ‚Gerechtwerdung‘ des Menschen vor Gott. Diese Bezüge zeigen sich bereits darin, dass Kant seine Besserungslehre mit Überschriften versieht, die juridische Terminologie enthalten, und sich manche der herauszuarbeitenden Argumente auf rechtliche Grundsätze stützen. Insbesondere bei der Bearbeitung der ‚Schwierigkeiten‘ dürfte er insofern sachliche Entsprechungen zu dieser christlich-theologischen Lehre sehen, als es in beiden Fällen um eine Verständigung darüber geht, wie dem Menschen das Leben und Tun eines anderen so zugerechnet werden kann, als ob es sein eigenes wäre. <?page no="222"?> 222 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Ausdrücklich spricht Kant in der Überleitung zum ‚Schwierigkeiten‘-Abschnitt vom ‚Gerechtwerden des Menschen‘ und der ‚Zueignung einer fremden Gerechtigkeit‘. 170 Für ein besseres Verständnis der Struktur dieses Abschnitts kann man daher versuchen, nicht nur die Beziehungen zwischen den einzelnen Eigenschaften des Ideales und den vorausgesetzten dogmatischen Lehren herauszustellen, sondern auch auf eine Parallelität in der verwendeten Darstellungssystematik zu achten. Verschiedentlich wurde ein dogmatisches Werk des Theologen J. F. Stapfer als Quelle für Kants christologische Anspielungen identifiziert. 171 Die einschlägigen Kapitel in Stapfers Dogmatik sind so aufgebaut, dass Jesus Christus zunächst als präexistenter und inkarnierter Gottessohn besprochen wird. Auf diesen christologischen Traktat im engeren Sinne folgt die soteriologische Darlegung des ‚Heilswerkes‘ Christi. 172 Bei der Lektüre der Abschnitte (a) und (b) kann man den Eindruck gewinnen, dass hier zumindest in sachlicher Hinsicht insofern eine parallele Anordnung vorliegt, als manche Charakterisierungen das Wesen und den göttlichen Ursprung des Ideales betreffen, während andere den irdischen Lebenswandel des gottwohlgefälligen Menschen explizieren. 173 Die Fragen des ‚Heilswerkes‘ des Ideales - seine stellvertretende, rechtfertigende und erlösende Funktion für die Menschheit - müssten dann im darauffolgenden Abschnitt (c) 170 Siehe unten Kap. 4.2.5. 171 Vgl. die Erläuterungen von Stangneth in ihrer RGV-Ausgabe (2003, 288, 290 u. 296 f.) sowie die ältere Studie von Bohatec (1938, 353-355, 388-390, 446 f.). 172 Vgl. den Inhaltsüberblick zur insgesamt zwölfbändigen Dogmatik Stapfers (Bd. 1 [ 3 1757], vor S. 1): „Cap. I. Von der Religion überhaupt. […] XV. Von der Person des Erlösers, und von desselben Eigenschaften. XVI. Von den Aemtern des Erloesers. XVII. Von den Staenden des Erlösers. XVIII. Von der Genugtuung Christi. XIX Von der Berufung des Sünders.“ Den Übergang aus dem ‚Eigenschaften‘in das ‚Ämter‘-Kapitel begründet Stapfer folgendermaßen (Bd. 6 [ 3 1757], 503): „Es ist nicht genug, daß unser Erlöser nur die erforderlichen Eigenschaften habe, welche zur Ausführung des grossen Erlösungswerks vonnoethen sind; sondern er mußte auch gewisse Sachen verrichten, welche zur Verklärung der göttlichen Eigenschaften und zum Heyl so vieler Sünder nothwendig waren.“. Als weiteres, katholisches Beispiel für eine Aufteilung von Christologie und Soteriologie könnte man die Dogmatik Stattlers, von dem in Kap. 1.1 bereits die Rede war, heranziehen. Bei Stattler ( 2 1781) wird allerdings zuerst das Gnadenwirken (Tract. 4) und dann der Gottmensch Jesus Christus (Tract. 5) behandelt. 173 Vgl. den Übergang B 75/ AA VI 61 25-33 , wo das in der ersten Eigenschaft bereits erläuterte Ideal auf einen prototypisch lebenden und handelnden Menschen bezogen wird: „Das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit […] können wir uns nun nicht anders denken, als unter der Idee eines Menschen, der nicht allein alle Menschenpflicht selbst auszuüben, zugleich auch durch Lehre und Beispiel das Gute in größtmöglichem Umfange um sich auszubreiten, sondern auch, obgleich durch die größten Anlockungen versucht, dennoch alle Leiden bis zum schmählichsten Tode um des Weltbesten willen und selbst für seine Feinde zu übernehmen bereitwillig wäre.“ <?page no="223"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 223 behandelt werden. In der Tat deutet die Überleitung am Ende des b)-Abschnittes gerade auf einen solchen darstellerischen Übergang hin. 174 Gemessen an einer solchen theologisch orientierten Gliederung muss es umso auffälliger erscheinen, dass die Ausführungen zum ‚Heilswerk‘ in Abschnitt (c) vor allem die notwendige Selbstbesserung des Menschen betonen. Dort, wo in der christlichen Dogmatik von der Erlösung und Vergebung durch Gott gehandelt würde, elaboriert der Philosoph eine Theorie davon, wie die durch den Menschen zu vollziehende Besserung vor Einwänden bewahrt werden kann. Für die Widerlegung der Einwände ist dann allerdings der Rekurs auf das ‚gnädige‘ Zutun Gottes wichtig. Ebenso impliziert das Ideal als solches bereits eine besserungsförderliche Funktionalität, wie in der Erläuterung des Ideals in den Abschnitten (a) und (b) immer wieder herausgestellt wird. Der zweite Abschnitt des Stücks ist ohne weitere Binnengliederung abgefasst. Er unterscheidet sich in seinem Charakter wesentlich vom ersten. Wir finden hier keine philosophische Diskussion des Ideals, sondern eine Auslegung der Heiligen Schrift, die diese als eine Geschichte vom Kampf um die Besserung des Menschen auffasst und mit den Ausführungen zum bösen Prinzip einsetzt. Des Weiteren bietet der Abschnitt einige Reflexionen zur dabei angewandten Bibelhermeneutik 175 , die in Kap. 4.3 wiederaufgenommen werden. Neben den programmatischen Besonderheiten des darin geforderten praktisch-rationalen Schriftgebrauchs lässt die vorliegende Bibellektüre durchblicken, dass sie in hohem Maße von traditionell vermittelten Sichtweisen auf die Heilige Schrift abhängig ist. So geht Kant etwa mit der unbegründeten Prämisse vor, die Bibel müsse auf das Christusereignis hin gelesen werden. Zugleich scheint er aber auch eigene Vorstellungen von den biblischen Erzählungen einzubringen, da er beispielsweise die Meinung vertritt, dass das Eindringen der griechischen Philosophie in das Judentum die ‚Revolution‘ vorbereitet habe, die seines Erachtens mit der Inkarnation des guten Prinzips im Christus-Ereignis vonstatten ging. 176 Für Kant extrapoliert und personifiziert die Heilige Schrift das Verhältnis zwischen dem guten und dem bösen Prinzip in Form eines geschichtlich ausgetragenen Konflikts zwischen zwei Personen, die jeweils versuchen, ein herrschaftliches Reich zu errichten und den Menschen unter ihre Herrschaft zu brin- 174 Vgl. B 82/ AA VI 66 8-18 : „Eine solche Gesinnung mit allen um des Weltbesten willen übernommenen Leiden, in dem Ideale der Menschheit gedacht, ist nun für alle Menschen zu allen Zeiten und in allen Welten, vor der obersten Gerechtigkeit vollgültig: wenn der Mensch die seinige derselben, wie er es tun soll, ähnlich macht. […] Es muß aber doch eine Zueignung der ersteren um der letzten willen, wenn diese mit der Gesinnung des Urbildes vereinigt wird, möglich sein, obwohl sie sich begreiflich zu machen noch großen Schwierigkeiten unterworfen ist, die wir jetzt vortragen wollen.“ 175 Vgl. B 106/ AA VI 78 7-13 u. B 115f/ AA VI 83 35 -84 5 . 176 Vgl. in diesem Abschnitt B 108f/ AA VI 79 31 -80 5 und in RGV III B 190f/ AA VI 127 36 -128 11 . <?page no="224"?> 224 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung gen. Nach der Einsetzung des Menschen als Untereigentümer über die Güter der Erde gelingt es dem bösen Wesen unter freiheitlicher Einwilligung Adams, des Stammvaters der Menschen, die Herrschaft zu erringen und mittels der beherrschten Menschen auf der Erde ein ‚Reich des Bösen‘ zu etablieren, das dem bösen Wesen außerdem als Ersatz für seinen Sturz aus dem Himmel dient. 177 Dann erscheint jedoch eine (menschliche) Person, deren unvergleichbar reiner und moralisch vollkommener Lebenswandel in aller Deutlichkeit demonstriert, dass sie nicht in die Herrschaft des bösen Wesens einwilligt, wodurch sie die auf Einwilligung beruhende Herrschaft des Bösen in Gefahr bringt. 178 Es kommt zum Kampf. Das böse Wesen setzt den gottwohlgefälligen Menschen Versuchungen, Verlusten und bis in den Tod führenden Verfolgungen aus, das gute Wesen lässt hingegen nicht von seinem Leben und seiner Lehre ab und beweist hierdurch, dass es den Menschen auch möglich ist, nicht in die Herrschaft des Bösen einzuwilligen. 179 Der Kampf endet damit, dass der gute Mensch in physischer Hinsicht unterliegt (weil er stirbt), gerade dadurch aber (in der Übernahme der ‚höchsten Stufe‘ des Leidens) die moralische Vollkommenheit zur Darstellung bringt. Es wird nämlich deutlich, dass es eine Möglichkeit der menschlichen Freiheit ist, sich das gute Prinzip bedingungslos zu eigen zu machen. In näher aufzuschlüsselnder Weise hat das Leben und die Lehre dieser Person also eine die Moralität der Menschen befördernde Funktion und dient somit der Durchsetzung des guten Prinzips gegen das böse. 180 Neben dieser ‚dramatischen‘ erörtert Kant auch eine ‚juridische‘ Auseinandersetzung zwischen den beiden Prinzipien. In diesem Sinne ist sie als ein vor ‚einem höchsten Richter‘ ausgetragener Rechtsstreit darum zu verstehen, wer die berechtigteren Ansprüche auf den Menschen hat. 181 Hier zeichnet sich der hintergründige Sinn der Rede vom ‚Rechtsanspruch‘ in den Abschnittsüberschriften ab: Zu welcher Partei gehört der Mensch, der gleichsam als Zwitterwesen zwar auf die unbedingte Befolgung des Moralgesetzes hin angelegt ist, sich aber regelmäßig an die Unmoral ausliefert? - Kant betreibt in RGV II großen argumentativen Aufwand, um herauszustellen, dass der Mensch, wenn er das Moralgesetz mit bestmöglichem Bemühen zu erfüllen versucht, davon ausgehen kann, vom Richter dem guten Prinzip zugeschlagen zu werden. Der Rechtsstreit führt jedoch ebenso wie der geschichtliche Ausgang des Kampfes zu einem ambigen Ergebnis: Das gute Prinzip kann seinen Rechtstitel, der sogar - und hiermit wird auf die christliche Lehre von der Präexistenz des Logos angespielt 177 Vgl. B 106f/ AA VI 78 14 -79 16 . 178 Vgl. B 110/ AA VI 79 29 -80 12 . 179 Vgl. B 110f/ AA VI 80 12 -81 14 . 180 Vgl. B 111-113/ AA VI 81 14 -82 28 u. B 114f/ AA VI 83 15-35 . 181 Vgl. B 106/ AA VI 78 11-13 . <?page no="225"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 225 - der ältere ist, geltend machen und zeigen, dass es tatsächlich im Menschen wohnen und dadurch den Menschen in die göttliche Gemeinschaft aufnehmen kann. 182 Das böse Prinzip wird jedoch dadurch nicht besiegt, sondern bleibt als ‚Fürst dieser Welt‘ weiterhin im Besitz der irdischen Güter, weshalb die rechtlich mögliche Befreiung aus der Gewaltherrschaft des Bösen mit vielerlei Nachteilen in dieser Hinsicht sowie mit Leiden und Verfolgungen verbunden ist. 183 Die allgemeine Anmerkung zu RGV II handelt von ‚Wundern‘. In aller Ausführlichkeit argumentiert sie dafür, dass es zwar Wunder geben kann, die Menschen sich mit ihnen aber nicht aufhalten sollten und sie insbesondere in ‚Geschäften‘ nicht berücksichtigen dürfen. Der Grund hierfür liegt in deren Unvereinbarkeit mit der menschlichen Rationalität, die nach allgemein verständlichen Ursachen und nach Gesetzen sucht. Wunder sind nach Kant als „Begebenheiten in der Welt“ anzusehen, „von deren Ursache uns die Wirkungsgesetze schlechterdings unbekannt sind[] und bleiben müssen“. 184 Folglich wäre der Rekurs auf ein Wunder nicht nur erkenntnistheoretisch vermessen, weil die tatsächliche Ursache ja nicht ausgemacht werden kann und eine vermeintliche Abweichung von Naturgesetzen beispielsweise ebenso auf einen guten wie einen bösen Geist zurückgeführt werden könnte. Überdies würde dadurch die Erkenntnistätigkeit der Vernunft ‚wie gelähmt‘, weil der ‚Naturforscher‘ die Erklärung nach bekannten Naturgesetzen oder die Entdeckung bislang unbekannter Ursache-Wirkung-Beziehungen unterließe. Und in moralischer Hinsicht nützt die Anerkennung von Wundern nichts, weil nach Maßgabe der praktischen Vernunft davon ausgegangen werden muss, dass alle Besserung vom Menschen selbst abhängt. 185 Auffällig ist, dass Kant sehr verschiedenartige ‚Begebenheiten‘ unter den Wunderbegriff subsumiert. 186 Man hat den Eindruck, als ob mit der Wunder- 182 Vgl. B 113f/ AA VI 82 13 -83 4 . 183 Vgl. B 114/ AA VI 82 29 -83 10 . 184 Vgl. B 119/ AA VI 86 9f . Nach den (mutmaßlichen) Hervorbringern werden im Text ‚theistische‘, ‚teuflisch-dämonische‘ und ‚von Engeln bewirkt-dämonische‘ Wunder unterschieden. 185 Vgl. B 120-122/ AA VI 86-88. Kant bringt für diese Nichtberücksichtigungs- und Nichtanerkennungsregel auch das politische Argument vor, dass die mögliche Anerkennung aktueller Wundertäter die öffentliche Ordnung stören würde (vgl. B 118/ AA VI 85 18 -86 5 ). An Stellen wie diesen zeigt sich, dass Kant eine Gemeinsamkeit zwischen einem erforschend-theoretischen und einem handelnd-praktischen Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit sieht. Denn in beiden Fällen müssen seines Erachtens bestimmte Vorannahmen über die Wirklichkeit getroffen werden, ohne die das jeweilige Tun (bspw. das Erforschen kausaler Zusammenhänge oder die Gleichbehandlung aller Bürger aufgrund allgemein nachvollziehbarer Regeln) in einen pragmatischen Selbstwiderspruch führte und deshalb auch unterlassen würde (vgl. Wimmer 2004b, 357-365). 186 Es handelt sich um folgende ‚Begebenheiten‘: Die narrativ vermittelten Wunder im Zusammenhang der Einführung der moralischen Religion (B 116f/ AA VI 84 16-30 ), das Leben <?page no="226"?> 226 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung kritik alles ‚Übernatürliche‘ in der christlichen Religion aufs Korn genommen werden soll. Im Vergleich zu den bisherigen Texten scheint hier also die moralphilosophische Argumentationslinie zugunsten einer generellen Religionskritik zurückzutreten. Andererseits lässt der angehängte Text durchaus auch Verbindungslinien zu anderen Überlegungen im zweiten Stück erkennen. Die ‚Anmerkung‘ stellt an dieser Stelle eine sinnvolle Ergänzung dar. Denn auch in den beiden Hauptabschnitten von RGV II wird auf die kontingenten Umstände angespielt, unter denen aus Kants Sicht die vorhergehende äußerliche Religion abgelöst und mit dem Auftreten des Religionsgründers Jesus Christus die Herrschaft des guten Prinzips eingeführt wurde. Die Anmerkung nimmt diesen Punkt auf, indem sie für die Berechtigung der Annahme und der Tradierung von Wundern das nicht weiter entfaltete Argument anführt, dass das Wunder-Beiwerk für die ‚Introduktion‘ der moralischen Religion ein geeignetes Hilfsmittel darstellte, auch wenn dieses nun - im Gegensatz zu den Ansichten mancher theologischer Apologetik des 18. Jahrhunderts - für die Beglaubigung und Annahme der Vernunftreligion unnötig sei. 187 In diesem Zusammenhang wird außerdem das Argument des ‚moralischen Unglaubens‘ eingespielt, von dem auch im ersten Abschnitt die Rede ist: Für Kant zeugt die Forderung und der vermeintlich fromme Glaube an Wunder gerade von einem tiefgreifenden (inklusive Inkarnation und Himmelfahrt) und das Wirken der gottwohlgefälligen Person sowie die Offenbarung in Form der heiligen Schrift (B 117/ AA VI 85 1-6 ), die nicht anerkannten Handlungen neuer ‚Wundertäter‘ (B 118/ AA VI 85 18 -86 5 ), göttliche bzw. teuflische Einreden, aufgrund derer gehandelt wird (B 120f/ AA VI 87 3-29 ; zur Problematik der Tötung des Isaaks aufgrund göttlicher Einrede vgl. auch B 289f/ AA VI 187 4-8 ), unerwartete positive Veränderungen (B 121/ AA VI 87 29-32 ) sowie der himmlische Einfluss bei der Besserung des Menschen (siehe unten). 187 Vgl. B 116f/ AA VI 84 f., bes. 84 16-29 : „Nun ist es doch der gemeinen Denkungsart der Menschen ganz angemessen, daß, wenn eine Religion des bloßen Kultus und der Observanzen ihr Ende erreicht, und dafür eine im Geist und in der Wahrheit […] gegründete eingeführt werden soll, die Introduktion der letzteren […] in der Geschichte noch mit Wundern begleitet und gleichsam ausgeschmückt werde, um die Endschaft der ersteren, die ohne Wunder gar keine Autorität gehabt haben würde, anzukündigen: ja auch wohl so, daß, um die Anhänger der ersteren für die neue Revolution zu gewinnen, sie als jetzt in Erfüllung gegangenes älteres Vorbild dessen, was in der letztern der Endzweck der Vorsehung war, ausgelegt wird; und unter solchen Umständen kann es nichts fruchten, jene Erzählungen oder Ausdeutungen jetzt zu bestreiten, wenn die wahre Religion einmal da ist, und sich nun und fernerhin durch Vernunftgründe selbst erhalten kann“ Wie nach und nach herausgearbeitet werden wird, lässt das Zitat mehrere Eigenschaften des in den Vorlesungen dokumentierten und auch in der RGV wirksamen Religionsbegriffes erkennen, wie etwa die Sinnlosigkeit aller kultisch-äußerlichen Frömmigkeit, das Verhältnis des Bruches zwischen der (christlich-)moralischen Religion und dem Judentum (weshalb bspw. das ‚Vorbild‘-‚Erfüllungs‘-Schema auch nur ein sachlich unnötiges Introduktionsmittel darstellt) und die Problematik der ‚Imitation‘ in autoritativ vermittelten Religionen. <?page no="227"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 227 Unglauben, da man dabei die (moralische) Güte eines Menschen oder von Vorschriften nur anerkennt, sofern sie zusätzlich durch Wunder begleitet werden. 188 Ein Sonderproblem im Verhältnis zwischen Anmerkung und dem Haupttext ergibt sich daraus, dass die Anmerkung an mehreren Stellen die Frage aufnimmt, wie der Mensch sich moralisch bessern und gottwohlgefällig werden kann, und diesbezüglich auch die Möglichkeit ‚himmlischer Einflüsse‘ diskutiert. Demnach kann deren Mitwirkung bei der moralischen Besserung nicht ausgeschlossen werden, allerdings darf man bei der Bewältigung des aufgegebenen Besserung-‚Geschäftes‘ ein wundersames Einwirken Gottes nicht berücksichtigen. Ebenso wäre es in praktisch-moralischer Hinsicht absurd, durch das Bekennen historischer Wundererzählungen eine übernatürliche Besserung bewirken zu wollen. 189 Die Ausführungen stehen dabei zu der aus RGV I bekannten Charakterisierung der Anmerkung als ‚Parerga‘ in leichter Spannung. Denn als ‚Beiwerke‘ dürften die Reflexionen der Anmerkung zum Unterstützungshandeln Gottes lediglich Zutaten zur eigentlichen ‚moralischen Religion‘ bilden. De facto implizieren die Ausführungen aber eine inhaltlich sehr ähnliche Position wie der Haupttext, wo moralphilosophische Gründe für den Beistandsgedanken angeführt werden. 190 Stellen wie diese deuten darauf hin, dass wir in Bezug auf die im zweiten Stück greifbaren Beistandsüberlegungen mit Spannungen und Inkonsistenzen rechnen müssen. Kap. 4.2.6 wird sich mit den verschiedenen Problempunkten dieser Überlegungen beschäftigen und hierzu aus theologischer Sicht Stellung beziehen. Die Kap. 4.2.2-4.2.5 rekonstruieren die kantischen Ausführungen über die Abschnitte hinweg. Bevor dies einsetzt, soll noch der kleine Einleitungsabschnitt betrachtet werden, der dem ersten Abschnitt vorangestellt ist. Die Wahrnehmung des Einleitungsabschnittes ist vor allem deshalb wichtig, weil er eine inhaltliche Verknüpfung zwischen dem ersten und dem zweiten Stück herstellt. Zahlreiche Interpretationsbeiträge tendieren dazu, das zweite Stück der Schrift auszublenden und allein die Theorie vom ‚ethischen Gemeinwesen‘ in RGV III als Gegenstück zur These vom radikalen Bösen zu lesen. 191 Mitunter wird hierdurch versucht, eine Integration der Religionsschrift in die kantische Lehre vom 188 Vgl. B 77f/ AA VI 62 31 -63 8 u. B 116/ AA VI 84 11-16 . 189 Vgl. B 117/ AA VI 84 30 -85 1 , B 117/ AA VI 85 10-13 u. B 122/ AA VI 88 1-14 . 190 Daher kann man nicht wie Thiede 2004, 88 f., aus dem bloßen Umstand, dass das erste Stück die göttliche Unterstützung unter dem Stichwort ‚Parergon‘ (siehe oben S. 37) - von Thiede u. a. als ‚Nebengeschäft‘ übersetzt - verhandelt, folgern, dass der Beistand für Kants Gedankenführung entbehrlich wäre. 191 Als Beispiele für diese Tendenz wurde in Kap. 2.3 der Interpretationsansatz von Wood vorgestellt, in Kap. 2.5 derjenige von Anderson-Gold. <?page no="228"?> 228 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung ‚höchsten Gut‘ zu begründen. 192 Aber bereits die in Kap. 2.1 dargestellte Entstehungsgeschichte des zweiten Stücks spricht dafür, RGV I und RGV II im Zusammenhang zu lesen. Es zeigt sich dann, dass die Bestimmung der Bosheit als selbstverschuldeter Mangel an ‚gutem Willen‘ im ersten Stück und die Überlegungen zur Ausbildung moralischer Gutheit im zweiten Stück gleichsam zwei Seiten einer einzigen Medaille bilden, die auf das gemeinsame Problem gemünzt ist, ob und wie der Mensch den in ihm vorfindlichen Ansprüchen des Moralgesetzes gerecht zu werden vermag. Der Einleitungsabschnitt zu RGV II gibt eine Erklärung dafür, warum dieses Bemühen um Moralität gemäß der Überschrift als Kampf anzusehen ist, der dann in den beiden Hauptabschnitten behandelt wird. 193 Im Proömium zum ersten Stück wird die weltfremde Meinung der ‚Moralisten von Seneca bis Rousseau‘ zurückgewiesen, der zufolge in jedem Menschen ein ‚Keim zum Guten‘ liege und die Menschheit daher, sofern die Entfaltung ihrer ‚natürlichen‘ Ausstattung nicht behindert wird, moralische Fortschritte machen müsse. Dennoch geht Kant detailliert auf die Annahmen der ‚Moralisten‘ ein und gibt dadurch zu erkennen, dass er mit der vorliegenden Schrift in die Diskussion um die rechte Auffassung von der moralischen Besserung eintritt. 194 In der Einleitung zu RGV II sieht er nun durch Stoiker wie Seneca einige Überzeugungen vertreten, die seiner Einschätzung nach für die Theorie der Besserung richtungsweisend sind. 195 Denn die Stoiker gaben der ‚Tugend‘ die Nebenbedeutungen ‚Mut‘ und ‚Tapferkeit‘. Zum Tugendbegriff der RGV gehört folglich neben der äußeren Gesetzmäßigkeit und der innerlich-motivationalen Einstellung ein drittes Moment: die Bereitschaft zur beherzten Konfrontation mit dem Gegner. 196 Hinzu kommt, dass die Stoiker nicht der aus den Vorlesungen bekannten ‚kleinmütigen Denkungsart‘ anhingen, wonach die praktisch-vernünftigen Selbstgestaltungskräfte des Menschen kleingeredet werden, um die Abhängigkeit von äußerer Hilfe zu begründen. Kant wirft einer solchen Denkweise vor, die moralische Selbstbestimmung des Menschen zum Erlahmen zu bringen. 197 192 Als extremes Beispiel für diese Tendenz wurde in Kap. 2.2 die Interpretation von Habichler problematisiert. 193 Vgl. den ersten Satz von RGV II B 67/ AA VI 57 4-7 : „Daß, um ein moralisch guter Mensch zu werden, es nicht genug sei, den Keim des Guten, der in unserer Gattung liegt, sich bloß ungehindert entwickeln zu lassen, sondern auch eine in uns befindliche entgegenwirkende Ursache des Bösen zu bekämpfen sei …“. 194 Siehe Kap. 4.1.1. 195 Vgl. auch Thiede 2004, 71 f., Horn 2008, bes. 1090 f., u. Bojanowksi 2011, 93-95. 196 Vgl. B 67/ AA VI 57 7-10 , zur ersten Erläuterung des Tugendbegriffs in RGV I B 53f/ AA VI 47 1-28 (siehe oben, Kap. 4.1.4). Laut Horn (2008, 1090 f.) liegt hierin bereits insofern eine gewichtige philosophiegeschichtliche Fehleinschätzung, als der stoische σοφός ein Harmoniemodell repräsentiert, wonach im Falle der vollkommenen Tugendhaftigkeit nicht mehr um die Verwirklichung der Tugend gekämpft werden muss. 197 Vgl. B 68/ AA VI 57 14-17 , siehe auch Kap. 3.4, bes. S. 136 f. <?page no="229"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 229 Der maßgebliche Differenzpunkt zu den Stoikern besteht indes darin, dass diese fälschlicherweise die Neigungen zur Wurzel des Bösen erklärten. Wie Kant in RGV I deutlich machte, würde jedoch die bloße Forderung nach einer Beherrschung der Neigungen durch die Vernunft weder dem in der Maximenordnung liegenden Grund für das Böse noch dem spezifischen Charakter des sittlich Guten gerecht. Der Fehler der stoischen Ethik liegt seines Erachtens darin, dass sie den ‚Feind verkannten‘, da sie das Böse nicht weiter als bis auf die Unterlassung der Neigungsbekämpfung zurückführten und damit nicht zur eigentlichen Quelle des Bösen - der verkehrten Selbstbestimmung des Willens - vordrangen. 198 Kant nutzt die Auseinandersetzung mit der stoischen Ethik also, um seine Überlegungen in die moralphilosophische Debatte um den Erwerb der Tugendhaftigkeit einzuordnen. 199 Wie gegen Ende des ersten Stücks wird hierdurch die These vom radikalen Bösen in einen umfassenderen Argumentationszusammenhang eingefügt: Die vorhergehende Analyse der Bosheit im Menschen dient für die weitere Argumentation der Schrift dazu, die Notwendigkeit einer moralischen Besserung zu begründen und die Theorie der Besserung inhaltlich vorzubereiten. In deren Diskussion tritt der Autor mit dem zweiten Stück nun ausdrücklich ein. Aufgrund des spezifischen Vorliegens der Bosheit im Menschen bzw. aus den spezifischen Anforderungen der Gutheit ergibt sich, dass diese Besserung für den Menschen einen Kampf darstellen muss. Und die mit diesem Kampf gegebenen Herausforderungen machen die Überzeugung erforderlich, dass Gott das unvollkommene menschliche Bemühen gnädig anerkennt. 198 Vgl. B 71/ AA VI 59 6-15 : „da aber diese Unterlassung selbst pflichtwidrig (Übertretung), nicht bloßer Naturfehler ist, und nun die Ursache derselben nicht wiederum (ohne im Zirkel zu erklären) in den Neigungen, sondern nur in dem, was die Willkür, als freie Willkür, bestimmt […], gesucht werden kann, so läßt sich’s wohl begreifen, wie Philosophen, denen ein Erklärungsgrund, welcher ewig in Dunkel eingehüllt bleibt, und obgleich unumgänglich, dennoch unwillkommen ist, den eigentlichen Gegner des Guten verkennen konnten, mit dem sie den Kampf zu bestehen glaubten.“ Vgl. Bojanowski 2011, 94 f. 199 Die Wichtigkeit einer (im Gegensatz zu der stoischen) sachgemäßen Bosheitskonzeption für die moralische Besserung unterstreicht Kant auch in der Fußnote B 72/ AA VI 59 26-38 : „Es ist eine ganz gewöhnliche Voraussetzung der Moralphilosophie, daß sich das Dasein des Sittlich-Bösen […] aus der Macht der Triebfedern der Sinnlichkeit einerseits und aus der Ohnmacht der Triebfeder der Vernunft […] andererseits, d. i. aus Schwäche [erklären lasse]. Aber alsdann müßte sich das Sittlich-Gute (in der moralischen Anlage) an ihm noch leichter erklären lassen; denn die Begreiflichkeit des einen ist ohne die des andern gar nicht denkbar. […] [W]enn alle Welt der Vorschrift des Gesetzes gemäß verführe, so würde man sagen, daß alles nach der natürlichen Ordnung zuginge, und niemand würde sich einfallen lassen, auch nur nach der Ursache zu fragen.“ <?page no="230"?> 230 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung 4.2.2 Das Ideal des gottwohlgefälligen Menschen Die Explikation des Ideales der gottwohlgefälligen Menschheit im ersten Abschnitt von RGV II setzt damit ein, dass ein komplexer Zusammenhang zwischen drei Größen, nämlich Gott, der Schöpfung und der Menschheit hergestellt wird: Nur aufgrund der „Menschheit in ihrer moralischen ganzen Vollkommenheit“ kann die Welt „Gegenstand[] des göttlichen Ratschlusses[] und Zweck[] der Schöpfung“ sein. 200 M. E. ist diese schwierige Formulierung so zu verstehen: Sofern die Welt als göttliche Schöpfung betrachtet wird, wurde sie dazu aus dem Nichtsein ins Sein gesetzt, dass die Menschheit moralische Vollkommenheit ausbildet, die wiederum ein Bestandteil des höchsten Gutes darstellt. 201 Insofern Kant die moralisch vervollkommnete Menschheit als ‚Sohn Gottes‘ anspricht, bezieht er die teleologische Begriffszuordnung auf die Schöpfungsmittlerschaft des ungeschaffenen Gottessohnes und deutet diese finalursächlich. 202 Umgekehrt setzt eine solche Verknüpfung der Begriffe, wonach nur die vollkommen moralische Menschheit die Welt als Ausdruck einer göttlichen Schöpfungstat verständlich machen kann, eine moralische Bestimmung des göttlichen Willens voraus. Gott, der als vollkommen moralisches Wesen aufgefasst wird, ja seinem Wesen nach nicht anders als moralisch wollen kann, wird nur dadurch schöpferisch tätig und spricht sich nur dadurch in seinem ewigen Sohn aus, dass er damit eine moralische Vollkommenheit setzt. 200 Vgl. B 73/ AA VI 60 9-13 , bes. Z. 9-12: „Das, was allein eine Welt zum Gegenstande des göttlichen Ratschlusses und zum Zwecke der Schöpfung machen kann, ist die Menschheit (das vernünftige Weltwesen überhaupt) in ihrer moralischen, ganzen Vollkommenheit, wovon als oberster Bedingung die Glückseligkeit die unmittelbare Folge in dem Willen des höchsten Wesens ist.“ 201 Die Formulierung als solche bezeichnet die moralisch vollkommene Menschheit als Zweck der Schöpfung und folgt damit der aus der KdU bekannten Lehre vom Menschen als Endzweck (vgl. Hoping 1990, 215 u. Sala 2000, 27 f.). Die Anspielung auf das höchste Gut, das dem Text zufolge moralische Vollkommenheit und Glückseligkeit umfasst, wird lediglich in einem Relativsatz angehängt. Deshalb liegt hier allenfalls ein schwacher Beleg dafür vor, dass die folgenden Überlegungen zur moralischen Vervollkommnung und zum primären Objekt des göttlichen Wohlgefallens lediglich dazu dienen, die Verwirklichung der (moralischen) Bedingung des höchsten Gutes und damit vor allem dessen Realisation verständlich zu machen. Abgesehen von dieser Anspielung und der Unterscheidung von ‚moralischer‘ und ‚physischer‘ Glückseligkeit (siehe unten: Kap. 4.2.3) lässt der Text von RGV II kaum Hinweise auf die summum-bonum -Theorie erkennen. Daher ist es nicht nachvollziehbar, weshalb Bojanowski die Explikation des Ideales von der Anspielung auf das höchste Gut aus rekonstruiert (2011, 96). 202 Vgl. B 73f/ AA VI 60 14-20 , bes. Z. 18-20: „denn um seinet-, d. i. des vernünftigen Wesens in der Welt willen, so wie es seiner moralischen Bestimmung nach gedacht werden kann, ist alles gemacht“. <?page no="231"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 231 Dies steht im Hintergrund, wenn der moralisch vollkommene Mensch im Weiteren dadurch näher charakterisiert wird, dass nur er ‚Gott wohlgefällig‘ sein kann: Ein moralisch vollkommenes Wesen kann im Sinne dieser Diktion nur an moralischen Qualitäten Gefallen finden. In RGV I war bereits vom ‚Wohlgefallen‘ an sich selbst die Rede, das eine spezifische Zufriedenheit des Menschen mit sich selbst bezeichnet und das sich dann einstellt, wenn er das Moralgesetz befolgt. Ein solches ‚Gefallen‘ ist ein vernunftgewirktes Gefühl, eine intellektuelle ‚Liebe‘, die die Anerkenntnis einer (in diesem Fall moralischen) Vollkommenheit voraussetzt. 203 Bei Gott kann sich aus Kants Sicht nur dieses Wohlgefallen einstellen. Denn wie sich auch in der Analyse der Vorlesungen abzeichnete, kann ein vollkommen moralisches und rein geistiges Wesen an nichts anderem als an einer moralischen Qualität Gefallen haben. Gottes Wollen und ‚Lieben‘ ist mit dem Moralgesetz vollständig kongruent. Das wird gemäß der Textpassage auch in dem Bibelwort ausgedrückt, wonach Gott die Welt „in ihm“, d. h. in dem moralisch vollkommenen Menschen bzw. Gottessohn, geliebt habe. 204 Der zweite Problemzusammenhang, in dem die ‚Gottwohlgefälligkeit‘ im Laufe der RGV thematisiert wird, betrifft die moral- und vernunftwidrigen Religionen. In solchen vermeintlichen Religionen wird Kants Ansicht nach der Versuch unternommen, mittels kultischer Handlungen und durch schmeichelnde Bekenntnisse das Gefallen Gottes zu erreichen, was jedoch kategorisch ausgeschlossen ist. Gottwohlgefälligkeit, so die tiefgehende und auch für die RGV prägende Überzeugung Kants, ist nur durch das Bemühen um Moralität in Gesinnung und Handeln, mithin durch moralische Perfektionierung zu erreichen. Obgleich in diesem einleitenden Absatz nicht ausdrücklich genannt, lässt die weitere Gedankenführung des Textes keinen Zweifel daran, dass Kant mit dem durch die Schöpfung angezielten, gottwohlgefälligen Menschen die in der Überschrift genannte ‚personifizierte Idee des guten Prinzips‘ anspricht. 205 Die genauen Identifikationsverhältnisse müssen indes mithilfe der Zuordnung der Begriffe ‚Ideal‘ und ‚Idee‘ rekonstruiert werden, wozu der Text als solcher allerdings in Ermangelung klarer Definitionen und aufgrund der promisk wirkenden Begriffsverwendung nur wenig Anhaltspunkte bietet. Gemäß der KrV handelt es sich bei ‚Ideen‘ um reine Vernunftbegriffe, d. h. erfahrungsunabhängige und (im Falle der praktischen Vernunft) normativ geltende Vorstellungen. Auch das 203 Vgl. B 50-52/ AA VI 45 21 -46 40 (Fn.). 204 Vgl. B 74/ AA VI 60 21 . 205 Vgl. den relativen Satzanschluss im ersten Satz nach dem interpretierten Einleitungsabsatz (B 75/ AA VI 61 3-7 Hervorhebung: Reich): „ Zu diesem Ideal der moralischen Vollkommenheit, d. i. dem Urbilde der sittlichen Gesinnung in ihrer ganzen Lauterkeit uns zu erheben, ist nun allgemeine Menschenpflicht, wozu uns auch diese Idee selbst, welche von der Vernunft uns zur Nachstrebung vorgelegt wird, Kraft geben kann.“ <?page no="232"?> 232 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung ‚Ideal‘ ist eine Idee, allerdings ‚in individuo‘. Sie umfasst eine einzelne Sache oder Person, die vollständig durch die Idee bestimmt wird. 206 Überträgt man diese Erläuterungen auf die fraglichen Formulierungen des Abschnitts, dann lässt sich die Zuordnung in etwa folgendermaßen rekonstruieren: Die praktische Vernunft verfügt über einen Begriff moralischer Vollkommenheit ( Idee ), den sie in einer rein gedanklichen und insofern auch als Idee ansprechbaren Vorstellung ausdrückt. Diese Vorstellung umfasst die inneren wie äußeren Merkmale eines gänzlich durch diesen Begriff bestimmten und daher moralisch vollkommenen Menschen ( Ideal ). Das Ideal ist folglich die allgemeinste und kompromisslose Anwendung von rein vernünftig konzipierten moralgesetzlichen Prinzipien auf den besonderen Fall des Vernunft- und Sinnenwesens Mensch. 207 Für uns Menschen, die wir unverbrüchlich dem Anspruch des Moralgesetztes ausgesetzt sind, stellt das Ideal daher auch ein normatives ‚Urbild‘ davon dar, wie es Kants Meinung nach um unsere moralische Selbstbestimmung eigentlich bestellt sein sollte. 208 Kant sprach in seinen Ethikvorlesungen des Öfteren vom Begriffspaar ‚Idee‘ und ‚Ideal‘. Bei der vielfach belegten Systematisierung der antiken Ethikschulen konnte eine Abgrenzung von ‚Idee‘ und ‚Ideal‘ festgestellt werden, bei der das Ideal als ‚Muster‘ oder ‚Urbild‘ der anzustrebenden Vollkommenheit verstanden und gemäß der unterschiedlichen Schulen in jeweils spezifischen Figuren personifiziert wird. Dem Professor erschien nur das christliche ‚Ideal der Heiligkeit‘ dem Charakter der Moralität angemessen. 209 Diese begrifflichen und sachlichen Kontinuitäten stellen starke Indizien dafür dar, dass die in RGV II entfaltete Besserungslehre eine argumentative Tiefenstruktur aufweist, die tief in Kants ethischen und religiösen Überzeugungen verwurzelt ist. Daher erscheint es an dieser Stelle lohnend, eine kurze Reflexion auf den hier gewählten, ‚idealen‘ 206 Vgl. KrV B 595-598. Ein solcher ‚Import‘ der Erläuterungen zu ‚Idee‘ und ‚Ideal‘ aus der KrV wird häufig vorgenommen, um die hier fragliche Begriffszuordnung zu erhellen (vgl. etwa Sala 2000, 29 f., Bojanowski 2011, 96 f.). 207 Das wird durch eine zweite Referenzstelle in diesem Abschnitt bestätigt (B 75/ AA VI 61 25-28 ): „Das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit (mithin einer moralischen Vollkommenheit, so weit sie an einem von Bedürfnissen und Neigungen abhängigen Weltwesen möglich ist) können wir uns nun nicht anders denken, als unter der Idee eines Menschen, der …“. 208 Vgl. auch Hoping 1990, 215: „Die Heiligkeit im ‚Ideal der Heiligkeit‘ […], zu der wir uns erheben sollen, ist die mögliche Heiligkeit von Menschen, nicht die vollkommene Heiligkeit Gottes.“ Allerdings ist Kant mitunter so sehr um Bibelanspielungen bemüht, dass er feine Differenzierungen wie die soeben exponierte wieder einebnet. So kann man einige Seiten weiter lesen (B 84/ AA VI 66 24-26 ): „Das Gesetz sagt: ‚Seid heilig (in eurem Lebenswandel), wie euer Vater im Himmel heilig ist‘; denn das ist das Ideal des Sohnes Gottes, welches uns zum Vorbilde aufgestellt ist.“ 209 Siehe Kap. 3.3 u. Kap. 3.4. <?page no="233"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 233 Ausgangspunkt der Besserungslehre 210 einzuschalten und über die systematische Bedeutung einer solchen Argumentationsweise nachzudenken. Was sagt es über die kantische Besserungslehre aus, dass hier ein Ideal moralischer Vollkommenheit eingeführt wird, dem der Mensch nachstreben und sogar ähnlich werden soll, und dass dieses Ideal darin besteht, vor Gott Gefallen zu finden? Wie bereits die ‚Anlagen‘ in RGV I stellt das Ideal erstens ein teleologisch-entfaltungsorientiertes Element in Kants ethischem Nachdenken über den Menschen dar. Die teleologische Bestimmung des Menschen wird hier individualethisch durchdacht, als eine moralische Aufgabe, die jedes Individuum über sein ganzes Leben hinweg zu bewältigen hat. Fernab von einer Reduktion der moralischen Verpflichtung auf die Regelung zwischenmenschlicher Verhältnisse und die äußerliche Normerfüllung entwirft Kant ein anspruchsvolles und überindividuell gültiges Bild von der Vollendung des Menschen, das sich allerdings auf den formalen Aspekt der unbedingten Befolgung des Moralgesetzes beschränkt. 211 Was in der Begründung der These vom radikalen Bösen nur ex negativo angedeutet wurde, wird in RGV II nun explizit gemacht: Seine praktische Vernünftigkeit setzt den Menschen dem Anspruch aus, einen ‚guten Willen‘ auszubilden, wohinter der reale Mensch jedoch häufig und selbstverschuldet zurückbleibt. Insofern die damit identifizierte Gottwohlgefälligkeit ein Gefallen an einer moralischen Vollkommenheit einschließt und dieses Wohlgefallen beim Menschen ein spezifisches Zufriedenheitsgefühl auslöst, dürfte Kant in diesem Entfaltungsprozess auch eine selbstreferentiell emotionale Komponente involviert sehen. 212 Eine derartige Besserungstheorie steht dem perfektionistischen Ansatzpunkt vieler Ethiken des 18. Jahrhunderts nahe. Da der Text außerdem begriffliche und argumentative Anleihen zu den Vorlesungen zeigt, kann man m. E. annehmen, dass Kant hiermit an eine Themenstellung anknüpft, welche ihm beispielsweise in der Ethica Baumgartens vor Augen stand und die moralische Vervollkommnung, d. h. das umfassende Gut-Werden des Menschen 210 Vgl. B 74/ AA VI 60 21 -61 2 (alle Kursivierungen in der Fußnote: Reich): „Nur in ihm [sc. im Sohn Gottes bzw. im gottwohlgefällige Mensch] und durch Annehmung seiner Gesinnungen können wir hoffen ‚Kinder Gottes zu werden‘“; B 74/ AA VI 61 5-7 : „diese Idee selbst [sc. das Ideal der moralischen Vollkommenheit], welche von der Vernunft uns zur Nachstrebung vorgelegt wird“; B 76/ AA VI 62 5-10 : Wer glauben und darauf vertrauen kann, „er würde […] dem Urbilde der Menschheit unwandelbar anhängig , und seinem Beispiele in treuer Nachfolge ähnlich bleiben, ein solcher Mensch […] ist befugt, sich für denjenigen zu halten, der ein des göttlichen Wohlgefallens nicht unwürdiger Gegenstand ist“. 211 Von der Pfordten (2010, 275-280) hat daher recht, wenn er die kantische Konzeption der Pflichten gegen sich selbst darauf zurückführt, dass bei Kant das Moralgesetz selbst als Subjekt von Verpflichtungen fungieren kann. 212 Vgl. Dierksmeier 2001, 205-211. <?page no="234"?> 234 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung betrifft. Und wie auf dem Vorlesungspult der 1770er Jahre hält er nur das ‚Ideal der Heiligkeit‘ für eine angemessene Explikation dieser umfassenden Gutheit, obwohl diese nur unter größter Mühe und auch dann nur unvollständig vom Menschen erreicht werden kann. Zweitens weist dieses Ideal eine gewisse Offenheit für eine religiöse Grundierung auf, da in der Gottwohlgefälligkeit die Vollendung des Menschen als (zumindest partielle) Aufnahme in dasjenige Verhältnis gedacht wird, das zwischen ‚Gott‘ und seinem ‚Sohn‘ besteht. 213 Die interpretierten Stellen lassen es jedoch offen, ob und inwiefern man von der tatsächlichen Existenz dieser moralisch vollkommenen Wesen ausgehen kann. Und schließlich hat Kants Ideal mit anderen moralphilosophischen Entwürfen von der vollkommenen Lebensweise gemein, dass es eine tiefgreifende Abhängigkeit von der vorausgesetzten Moraltheorie und vom vorausgesetzten Menschenbild aufweist. In der Darstellung des Ideales macht sich das vor allem daran bemerkbar, dass Kant zwar ausdrücklich Bezüge zum neutestamentlichen und christologischen Zeugnis von Jesus Christus herstellt, dieses Zeugnis aber einer sehr spezifischen Auslegung unterzieht. 4.2.3 Die Eigenschaften des Ideals Eine der Eigenschaften, die dem ‚Ideal der gottwohlgefälligen Menschheit‘ eingeschrieben ist, wurde bereits bei der Rekonstruktion des argumentativen Ansatzes genannt: Es handelt sich um ein Implikat der praktischen Vernunft. 214 Wie eine längere Passage im Anschluss an die oben erläuterte ‚Idee‘-‚Ideal‘-Zuordnung erkennen lässt, erweitert Kant diese Eigenschaft um die Vorstellung vom göttlichen Ursprung und von der ‚Kenosis‘, d. h. von der gandenhaften Hingabe des göttlichen Ideales in die Welt. Die Vorstellung vom Ursprung des Ideals gilt Kant als gesetzt, was damit zusammenhängen dürfte, dass er die Präsenz des für alle Vernunftwesen geltenden Moralgesetzes oftmals mit einer Passivitätserfahrung verknüpft und als Anlass zum religiösen Staunen sieht. 215 In der Begrün- 213 Für Blumenberg gehört die kantische Besserungslehre in einen mariologischen Reflexionszusammenhang. Er schreibt 1954, vier Jahre nach der Dogmatisierung der Aufnahme Mariens in den Himmel (569): „Die katholische Theologie […] hat dem Bedürfnis nach einer Bezeugung dessen, was der Mensch seiner ursprünglichen Anlage nach sein kann, durch die über Jahrhunderte kontinuierliche Entfaltung der Mariologie entsprochen. Die dogmatisierte Gestalt der Maria, von der ‚immaculata conceptio‘ bis zur kürzlich definierten ‚assumptio‘, stellt eine geschlossene Teleologie des Menschen nach dem ‚ordo intentionis‘ Gottes dar.“ 214 Vgl. auch B 76/ AA VI 62 13 : „[S]ie [sc. die Idee bzw. das Ideal] liegt in unserer moralisch gesetzgebenden Vernunft.“ Sowie B 79/ AA VI 63 26f.35-37 . 215 Vgl. für die RGV B 74/ AA VI 61 7-9 : „Eben darum aber, weil wir von ihr nicht die Urheber sind, sondern sie in dem Menschen Platz genommen hat, ohne daß wir begreifen, wie die menschliche Natur für sie auch nur habe empfänglich sein können, …“. <?page no="235"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 235 dung für die ‚Kenosis‘-Vorstellung wird auf das ‚radikale Böse‘ zurückgegriffen: Angesichts der Bosheit erscheint es Kant angemessener sich vorzustellen, dass das Ideal die Menschheit annimmt, als dass umgekehrt der böse Mensch sich zum Ideal der Heiligkeit erhebt. Und da das Ideal auch die freiwillige, weil moralisch ungerechtfertigte Übernahme von Leiden einschließt, menschlicherseits aber das Leiden als Strafe für die moralische Schuld angesehen werden kann, muss sich der Mensch überdies für unwürdig halten, eine Verbindung mit dem Ideal einzugehen. 216 Eine weitere Eigenschaft des Ideals besteht in seiner ‚objektiven Realität‘. Sie folgt für Kant bereits aus der Zugehörigkeit des Ideals zur praktischen Vernunft. Was durch die ‚moralisch-gesetzgebende‘ Vernunft vorgegeben ist, kann im Gegensatz zu ‚Naturbegriffen‘ durch den Verweis auf Erfahrung weder verifiziert noch falsifiziert werden. Eine handelnd zu verwirklichende Norm darf nicht vom faktischen Handeln der Menschen abhängig gemacht werden. Die Gültigkeit eines deontischen Urteils hängt nicht davon ab, ob die äußere Wirklichkeit der in ihm formulierten Forderung entspricht, vielmehr bildet es den normativen Maßstab dafür, wie es in moralischer Hinsicht um die Wirklichkeit bestellt ist. 217 Mit diesem kategorialen Argument sind jedoch andere Überlegungen verschränkt, die auf einen weiteren und anders akzentuierten Aspekt führen: Kant negiert zwar zunächst im Sinne des genannten Argumentes, dass ein empirisch wahrnehmbares ‚Beispiel‘ bzw. die tatsächliche Existenz eines Menschen, der das Gesetz unbedingt befolgt hat, notwendig wäre. Wie er wenige Zeilen später ausführt, muss die Erfahrung eines solchen Beispiels aber dennoch möglich sein; „denn, dem Gesetz nach, sollte billig ein jeder Mensch ein Beispiel zu dieser Idee an sich abgeben“. 218 Die Frage nach der objektiven Realität des Idea- 216 Vgl. B 74/ AA VI 61 10-15 , B 74f/ AA VI 61 15-24 und unter ausdrücklicher Anspielung auf die johannäische Inkarnationstheologie B 82/ AA VI 65 13-19 : „Zu dieser Vorstellungsart bequemt sich auch die Schrift […], indem sie ihm [= Gott] die höchste Aufopferung beilegt, die nur ein liebendes Wesen tun kann, um selbst Unwürdige glücklich zu machen („Also hat Gott die Welt geliebt“, u.s.w.): ob wir uns gleich durch die Vernunft keinen Begriff davon machen können, wie ein allgenugsames Wesen etwas von dem, was zu seiner Seligkeit gehört, aufopfern, und sich eines Besitzes berauben könne.“ Diese auf die Kenosis- und Erniedrigungslehre gemünzte Erläuterung des Ideals lässt allerdings eine präzisere Begründung vermissen. So bleibt beispielsweise unklar, weshalb es nicht ebenso vorstellbar sein soll, dass das Ideal selbsttätig erkannt und hervorgebracht wird, zumal die (Selbst-)Qualifizierung als böse - wie an RGV I aufgewiesen - das Vorhandensein und die Beanspruchung durch dieses Ideal voraussetzt. 217 Vgl. B 76f/ AA VI 62 12-31 . 218 Vgl. B 78/ AA VI 63 9-13 , Zitat: Z. 12 f. Allerdings wird dann sogleich wieder der Vorbehalt nachgeschoben, dass kein erfahrungsmäßiges Beispiel aufgrund der Unerkennbarkeit der Gesinnung der Idee ‚adäquat‘ sein kann (B 78/ AA VI 63 13-21 ). <?page no="236"?> 236 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung les schließt folglich den Gedanken ein, dass es durchaus möglich ist, ja sogar möglich sein muss , einen tatsächlich existierenden Menschen wahrzunehmen, der in seinem Leben und Handeln das Ideal exemplarisch verwirklicht bzw. verwirklicht hat. Und eben diese Argumentationslinie wird von Kant fortgesetzt, indem er verschiedene Eigenschaften diskutiert, die einem das Ideal exemplifizierenden und auf Erden wandelnden Menschen inhärieren. 219 An erster Stelle fällt hierunter der tadellose Lebenswandel. Der moralisch vollkommene Mensch erfüllt stetig und ohne Abstriche seine Pflichten, er stimmt in den Vertrag mit dem Bösen nicht ein und ist daher frei von der Ursünde. 220 Vor allem aber hat er einen vollkommen ‚guten Willen‘ und ist damit - wie bei der Diskussion der Schwierigkeiten herausgestellt wird - das Gegenteil des Durchschnittsmenschen, dessen Gesinnung gemäß der Lehre vom radikalen Bösen mehr oder weniger gravierende Mängel aufweist. Doch für Kant muss der gottwohlgefällige Mensch nicht nur in seinem Lebenswandel eine unbedingte Befolgung des Moralgesetzes erkennen lassen. Er muss darüber hinaus auch eben dies als Lehre vortragen: Der das Ideal realisierende Mensch verfügt über eine weise und unübertroffen reine Lehre; er versucht „das Gute in größtmöglichem Umfang um sich auszubreiten“, indem er das Moralgesetz lehrt und insbesondere über die moralische Relevanz der Gesinnung aufklärt. 221 Die Gründe für die Beifügung des Lehrerattributes dürfte zum einen darin liegen, dass Kant die in der Aufklärung weit verbreitete Tendenz aufnimmt, die christliche Offenbarung und das Leben Jesu als didaktisch-informierendes Geschehen zu konzeptualisieren, weshalb er auch vor allem in RGV III und IV vom ‚Lehrer des Evangelii‘ spricht. 222 Zum anderen dient die Lehrereigenschaft als zusätzlicher Hinweis auf die moralische Qualität der (unerkennbaren) Gesinnung. Denn erstens ist es laut Text dem rechtlichen Beurteilungsgrundsatz der ‚Billigkeit‘ gemäß, wenn man einen die Lehre exemplifizierenden Lebenswandel auf eine entsprechende Gesinnung zurückführt. Und zweitens - so wird m. E. in einer weiteren schwierigen Formulierung angedeutet - kann der Mensch gar nicht anders ein Beispiel für das Ideal moralischer Vollkommenheit abgeben, als wenn er moralgesetzkonform handelt und zusätzlich durch seine 219 Vgl. den durch den Vorbehalt unterbrochenen Anschluss an den Satz, aus dem das soeben genannte Zitat (Fn. 218) stammt: „Wäre nun ein solcher wahrhaftig göttlich gesinnter Mensch zu einer gewissen Zeit gleichsam vom Himmel auf die Erde herabgekommen, der durch Lehre, Lebenswandel und Leiden das Beispiel eines Gott wohlgefälligen Menschen an sich gegeben hätte, […] so würden wir […]“ (B 78f/ AA VI 63 22-30 ). 220 Vgl. B 75/ AA VI 61 28f , B 77/ AA VI 62 33-35 , B 78/ AA VI 63 24 und B 109f/ AA VI 80 8-11 . 221 Vgl. B 75/ AA VI 61 29f , Zitat: Z. 29 f., B 82f/ AA VI 65 1 -66 8 . 222 Vgl. bspw. B 191/ AA VI 128 11 . <?page no="237"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 237 Lehrtätigkeit erklärt, dass sein Handeln auf der Akzeptanz gewisser Moralprinzipien beruht. 223 Doch die äußere wie innere Heiligmäßigkeit hat einen hohen Preis. Die Heiligkeit läuft Gefahr, verkannt und verleumdet zu werden, was angesichts der Unerkennbarkeit der Gesinnung und der unter Umständen notwendigen Abweichung von der gesellschaftlichen Praxis kaum zu vermeiden ist, den tugendhaft Gesinnten aber zutiefst kränkt. Eine solche Revolution in den moralischen Grundsätzen, wonach nicht mehr die äußerlich-kultische Sittlichkeit, sondern die Befolgung des Moralgesetzes über die moralische Qualität und die Gottwohlgefälligkeit entscheidet, erscheint als Provokation. Sie zieht daher Verfolgungen nach sich, die bis in den Tod führen. 224 Allerdings, neben dem äußeren haftet dem exemplarischen Menschen auch ein innerer Konflikt an. Und dies ist für die Charakterisierung des kantischen Vollkommenheitsideals besonders instruktiv. Denn wie Kant ausführt, sieht sich auch der gottwohlgefällige Mensch ‚Versuchungen‘ ausgesetzt, er empfindet um der Moralität willen Frustrationen und muss Opfer bringen. 225 Ein solches Erleben kann sich nur einstellen, sofern man für nichtmoralische Befriedigungen und Frustrationen (etwa im Bereich der sozialen Anerkennung und des physischen Wohlempfindens) empfänglich bleibt. Moralität, so setzt der Text voraus 226 , muss und soll also gegen andersartige Antriebe im Menschen durchgesetzt und erkämpft werden. Im kantischen Heiligkeitsideal ist es dementsprechend nicht vorgesehen, eine dahingehende Überformung der sonstigen Antriebe zu vollziehen, dass der ‚Heilige‘ derartiger Konflikte enthoben wäre. 223 Vgl. B 82f/ AA VI 65 1 -66 4 : „Eben derselbe göttlich gesinnte […] Lehrer würde doch […] von sich […] mit Wahrheit reden können. Denn er würde alsdann nur von der Gesinnung sprechen, die er sich selbst zur Regel seiner Handlungen macht, die er aber, da er sie als Beispiel für andere, nicht für sich selbst [= die Gesinnung als solche? ] sichtbar machen kann, nur durch seine Lehren und Handlungen äußerlich vor Augen stellt“. Die Heranziehung des aus der Rechtsphilosophie bekannten (vgl. Stangneth 2003, 287 f.) Billigkeits-Grundsatzes findet sich einige Zeilen darauf in B 83/ AA VI 65 5-8 . 224 Vgl. B 110f/ AA VI 81 6-14 , B 75/ AA VI 61 31-33 . Kant zufolge ergibt sich dieses Merkmal aus der Applikation des Ideals auf die realen Bedingungen des Menschseins. Das entbindet freilich nicht von der komplizierten Frage, ob das Merkmal nicht doch in einer geistesgeschichtlichen Abhängigkeit vom „historischen Faktum des Lebens und Sterbens Jesu“ entwickelt wurde, wie bspw. Hoping (1990, 216) zu bedenken gibt. 225 Vgl. B 110/ AA VI 80 12 -81 5 : Der Gott wohlgefällige Mensch ‚widersteht‘ der Versuchung (80 12 ). ‚Versuchungen‘ und ‚Leiden‘ erscheinen des Öfteren im Doppelpack (B 75/ AA VI 61 31f , B 76/ AA VI 62 6 ). 226 In RGV II wird dieser Punkt in einer Fußnote durch den Verweis auf Kants Zeitgenossen A. von Haller expliziert (B 81/ AA VI 65 8-12 ): „So legt ein philosophischer Dichter dem Menschen, sofern er einen Hang zum Bösen in sich zu bekämpfen hat, […] einen höheren Rang auf der moralischen Stufenleiter der Wesen bei, als selbst den Himmelsbewohnern, die, vermöge der Heiligkeit ihrer Natur, über alle mögliche Verleitung weggesetzt sind.“ <?page no="238"?> 238 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Die Ideal-Person der Vorlesungen war bekanntlich nicht der stoische Weise, der sich kraft seiner intellektuellen Einsicht von allen Leidenschaften und Schicksalsschlägen soweit distanziert, dass diese keine Empfindungen mehr bei ihm auslösen, und auch nicht der aristotelische Tugendhafte, der seine Bedürfnisse und Neigungen ins rechte Maß gebracht hat. Es ist der ‚Heilige des Evangelii‘, der sich - so sieht das zumindest Kant - in einem zähen Ringen den Willen seines göttlich-vollkommenen Vaters zu eigen macht. Dies zeichnet sich auch in einer Reihe weiterer Überlegungen ab, die mit der Erläuterung des Ideales verbunden sind. So führt der im zweiten Abschnitt illustrierte Konflikt zwischen dem bösen und dem guten Prinzip zu einem ambivalenten Ergebnis: Dem ‚rechtlich-moralischen‘ Erfolg des guten Prinzips - der Mensch wird seines Vermögens versichert, die Knechtschaft einer an das Erdenleben gefesselten Lebensweise abzuschütteln - steht eine ‚physische‘ Niederlage entgegen. Sie besteht darin, dass der moralische Vollzug der Freiheit unter irdischen Bedingungen dauerhaft von Leiden und Opfern begleitet ist. 227 Wenn Kant die Heilige Schrift als geeignete narrative Darstellung für die Durchsetzung des guten Prinzips ansieht, liegt dies folglich auch darin begründet, dass dort auf die unvermeidlichen Nachteile im physischen und sinnlich wahrnehmbaren Bereich aufmerksam gemacht wird, mit der die Bekämpfung des Bösen und die Veränderung des Menschen verknüpft sind. Kant möchte zwar nicht grundsätzlich ausschließen, dass der moralisch vollkommene Mensch tatsächlich von Gott gezeugt wurde und mit ihm wesensgleich ist. 228 Allerdings kann dieser Mensch nur dann ein gültiges und wirksames Beispiel für die Menschen sein, wenn auch er die Heiligkeit des Willens ‚erringen‘ musste und sie ihm nicht etwa bereits angeboren war. 229 Die christologischen Lehren von den zwei Naturen Jesu Christi und des göttlichen Willens Jesu sind daher aus Kants Sicht eher hinderlich, denn offenbar macht das Moment des selbsttätigen Erringens einer moralischen Gesinnung, wie es allein dem Menschen zu eigen ist, den entscheidenden Aspekt für die Vorbildfunktion des Ideales aus. 230 227 Vgl. B 111-115/ AA VI 81 14 -83 35 , bes. 83 6-8 . 228 Vgl. B 79/ AA VI 63 29-34 . 229 Vgl. B 79f/ AA VI 64 7-16 : „Denn wenn gleich jenes Gott wohlgefälligen Menschen Natur in so weit als menschlich gedacht würde: daß er mit eben denselben Bedürfnissen, folglich auch denselben Leiden, mit eben denselben Naturneigungen, folglich auch eben solchen Versuchungen zur Übertretung wie wir behaftet, aber doch so fern als übermenschlich gedacht würde, daß nicht etwa errungene, sondern angeborene unveränderliche Reinigkeit des Willens ihm schlechterdings keine Übertretung möglich sein ließe: so würde diese Distanz vom natürlichen Menschen dadurch wiederum so unendlich groß werden, daß jener göttliche Mensch für diesen nicht mehr zum Beispiel aufgestellt werden könnte.“ 230 Vgl. B 81/ AA VI 65 8-13 . - Zuweilen gewinnt man den Eindruck, dass Kant sich durch überstrapazierte Anspielungen auf die Christologie Probleme einhandelt. So bricht bei- <?page no="239"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 239 4.2.4 Das Ideal und das Beispiel Die Unterabschnitte a) und b) des ersten Abschnitts von RGV II beschränken sich jedoch nicht nur darauf, das Ideal moralischer Vollkommenheit zu erläutern. Vielmehr werden die Erläuterungen mit Überlegungen dazu verknüpft, inwiefern das Ideal den Menschen nützt, ja worin gleichsam das Werk des Ideales besteht. Der Text lässt drei Funktionsweisen des Ideales erkennen: erstens auf dem Wege der ‚Erhebung‘, zweitens mittels der ‚Veranschaulichung‘ und drittens durch die Beispielpersönlichkeit, die beweist, dass das Ideal verwirklicht werden kann. Von der ersten Funktionsweise spricht der Text nur beiläufig und nicht ohne innere Spannungen. Demnach kann sich in Bezug auf das Ideal der moralischen Vollkommenheit eine ‚Erhebung‘ einstellen, die das Gemüt affiziert. Einerseits ist es das Ideal selbst, das ‚Kraft‘ zu diesem Unterfangen gibt. Andererseits stellt die ‚Erhebung‘ eine Pflicht (sprich: ein gesolltes und aktives Tun des Menschen) dar. 231 Der Text bleibt uns genauere Erläuterungen zu dieser Funktionsweise schuldig. Im Verbund mit der sogleich zu analysierenden Veranschaulichungsfunktion kann man sich allerdings denken, dass das Ideal die Einsicht in die moralische Vervollkommnung steigert, zu der der Mensch berufen ist und die er handelnd verwirklichen kann. Und diese Einsicht scheint den Menschen ins Staunen zu bringen, ja sogar mit einer emotionalen Reaktion einherzugehen. 232 Zweitens führt der Text an mehreren Stellen aus, dass der Mensch nur mittels einer veranschaulichenden Vorstellung begreifen kann, was es bedeutet, spielsweise im weiteren Textverlauf das Problem auf, dass im Rahmen der vernünftigen Annahme einer moralischen Geordnetheit der Welt die dem Menschen widerfahrenden Leiden und Übel als legitime Strafen für Moralgesetzverstöße angesehen werden können. Der dargestellten Charakterisierung zufolge ist aber auch das realisierte Vollkommenheitsideal nicht frei von Nachstellungen und Schmerzen, obgleich diese ja nicht als Strafen für eine bestehende Bosheit gerechtfertigt werden können. Wie Kant eingesteht, ist der gottwohlgefällige Mensch „zu keiner Erduldung von Leiden verhaftet“ (B 75/ AA VI 61 18f ). Zugleich wird aber behauptet, dass dieser die Leiden um seiner moralförderlichen Funktion willen freiwillig übernimmt. Die geschilderte Spannung wird bei der Diskussion der sog. dritten Schwierigkeit wieder aufzunehmen sein. 231 Vgl. B 74/ AA VI 61 3-7 : „Zu diesem Ideal der moralischen Vollkommenheit […] uns zu erheben, ist nun allgemeine Menschenpflicht, wozu uns auch diese Idee selbst […] Kraft geben kann.“ 232 Vgl. etwa im ersten Stück B 57-59/ AA VI 49 6 -50 11 , bes. 57/ 49 6-10 : „Aber eines ist in unserer Seele, welches, wenn wir es gehörig ins Auge fassen, wir nicht aufhören können, mit der höchsten Verwunderung zu betrachten, und wo die Bewunderung rechtmäßig, zugleich auch seelenerhebend ist; und das ist: die ursprüngliche moralische Anlage in uns überhaupt.“ Wimmer sieht darin eine „intellektuale Empfindung“, die für Kant auch religiöse Bedeutung hat, da sie den Menschen erfahren lässt, dass er aufgrund des Gegebenseins dieses Ideales einer anderen, göttlichen Wirklichkeit angehört (1990, 145). <?page no="240"?> 240 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung einen moralischen Lebenswandel auszubilden, der diesem Ideal gerecht wird. Denn die Gesinnung und die freiheitlich-moralische Selbstbestimmung gehören zu den übersinnlichen Entitäten und zu deren Erkenntnis ist der Mensch schlicht nicht fähig. 233 Er muss sich daher des sog. ‚Schematismus der Analogie‘ bedienen: Dabei werden Entsprechungen zu empirisch wahrnehmbaren Entitäten und Zusammenhängen hergestellt, um die Begriffe wenigstens indirekt verständlich zu machen. 234 Eine solche Veranschaulichung zieht beispielsweise die Phänomene ‚Widerstand‘ und ‚Überwindung‘ heran, wie sie etwa aus der Mechanik oder dem Nahkampf bekannt sind. 235 Mit der veranschaulichenden Funktion des Ideals sind allerdings auch Beschränkungen verbunden. Denn es handelt sich nur um eine Veranschaulichung. Auch in der Erläuterung des Ideales und den Überlegungen zu dessen Realisation durch den Menschen insistiert Kant darauf, dass sich die Qualität der Gesinnung gerade nicht wahrnehmen lässt, folglich auch das Bestehen des Konfliktes und die Selbsthingabe um der Moralität willen zwar gewichtige, aber keine hinreichenden Indizien für das Vorliegen moralischer Vollkommenheit darstellen. Vor allem darf das veranschaulichende Analogieverhältnis nicht dazu verwendet werden, um auf die tatsächliche Beschaffenheit einer transzendenten Größe wie der vollkommen moralischen Gesinnung zu schließen. Dass die veranschaulichende Analogie so ausfällt, geht ausschließlich auf das Konto unserer beschränkten Auffassungsgabe und könnte nur um den Preis eines unstatthaften ‚Anthropomorphismus‘ etwas darüber aussagen, wie die veranschaulichte Größe κατ᾽ ἀλήθειαν , d. h. ihrer tatsächlichen Qualität nach, beschaffen ist. 236 Kant macht keinen Hehl daraus, dass seines Erachtens das neutestamentliche Zeugnis von Jesus Christus diese Veranschaulichungsfunktion hervorragend ausfüllt. Die Ausführungen zum Ideal als solche lassen es jedoch offen, ob diese Veranschaulichung, die auf eine historische Persönlichkeit und die kirchliche Überlieferung von deren Leben Bezug nimmt, für die Begreifbarkeit des Ideales notwendigerweise erforderlich ist. 237 233 Vgl. B 75/ AA VI 61 33-37 ; B 75/ AA VI 61 25-28 ; B 81f/ AA VI 64 35 -65 20 . 234 Eine detaillierte Analyse der Ausführungen zum ‚Schematismus der Analogie‘ findet sich bei Maly 2012, 306-324. 235 Vgl. B 75/ AA VI 61 33-37 : „Denn der Mensch kann sich keinen Begriff von dem Grade und der Stärke einer Kraft, dergleichen die einer moralischen Gesinnung ist, machen, als wenn er sie mit Hindernissen ringend, und unter den größtmöglichen Anfechtungen dennoch überwindend sich vorstellt.“ 236 Vgl. B 81f/ AA VI 64 35 -65 20 . 237 Ein solches Offenlassen durch den Vorgriff auf die Bibelauslegung im zweiten Abschnitt von RGV II nachträglich zu beschränken, wird m. E. der Argumentation Kants nicht gerecht (vgl. für eine solche Vorgehensweise Mariña 1997, 394 f.). S. Maly (2012, 284-288) zieht hingegen die Unterscheidung zwischen ‚Kirchenglauben‘ und ‚Religionsglauben‘ <?page no="241"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 241 Bereits im vorigen Unterkapitel zeichnete sich ab, dass das Ideal drittens als moralisches exemplum , d. h. als Beispiel zur ‚Nachahmung‘ oder ‚Nachfolge‘ dienen soll. Hierzu wäre dem Text zufolge das Bekenntnis zu einer göttlichen Natur und einem unangefochten gottgleich-guten Willens auf Seiten des Ideal-Menschen hinderlich. Begründet wird dies mit einem Argument zur spezifischen Funktionalität des Beispiels, das man ausgehend von den Formulierungen im Text das Argument vom ‚Beweis der Tunlichkeit‘ nennen kann: Eine göttlich-heilige Person, die „über alle Gebrechlichkeit der menschlichen Natur“ erhaben ist, könnte demnach gerade kein „Beispiel der Nachahmung“ abgeben. Denn die mit einem Gottmenschen Konfrontierten würden sich dann durch den Verweis auf die wesentlichen Unterschiede zwischen ihnen selbst und der Beispiel-Person entschuldigen und vom Ideal distanzieren. Der ‚natürliche‘, d. h. nicht mit einem göttlichen Willen ausgestattete Mensch „würde sagen: man gebe mir einen ganz heiligen Willen, so wird alle Versuchung zum Bösen von selbsten an mir scheitern“. Mithin könnte ein solches Exempel „nicht als Beweis der Tunlichkeit und Erreichbarkeit eines so reinen und hohen moralischen Guts für uns“ fungieren. 238 Der Unterschied führte dazu, die moralische Aufgabe nur unter Voraussetzung einer ‚göttlichen Natur‘ für bewältigbar zu halten. Das Beispiel würde nicht mehr aufzeigen, was es deutlich machen soll, dass nämlich Tugend für den Menschen ‚tunlich‘ und ‚erreichbar‘ ist. Um die Pointe einer solchen Funktionsanalyse des moralischen Exempels zu erfassen, ist es zum einen hilfreich, sich die Stellung dieses Tunlichkeitsbeweises innerhalb des sonstigen kantischen Nachdenkens über Beispiele zu vergegenwärtigen. Kant bedenkt die Beispielthematik sowohl in Bezug auf die praktische Vernunft als auch für die Konstitution empirischer Erkenntnis und die Schulung des ästhetischen Geschmacks. 239 Wenn wir uns die GMS, KpV und MdS vor Augen führen, fällt auf, dass dort an zahlreichen Stellen Beispiele für die Argumentation verwendet und überdies zahlreiche Reflexionen zur moralischen Funktion von Beispielen angestellt werden. 240 Diesen Reflexionen zufolge sind Beispiele aus dem dritten Stück heran (siehe unten Kap. 4.3.3). Er kommt zu dem differenzierteren Ergebnis: Zwar müsse es aus Kants Sicht grundsätzlich möglich sein, auf die Veranschaulichung zu verzichten, aber ‚vielleicht‘ wird es nie so weit kommen, dass die Veranschaulichung tatsächlich entbehrlich wird. 238 Vgl. B 79-81/ AA VI 64 3-34 , Zitate: Z. 4 f., 31-34, 16-18. 239 Vgl. Buck 1967, 158-165.182f, Louden 1992, 306-310. In allen Fällen sind Beispiele nicht nur die Darstellung eines allgemeinen Satzes in concreto , sondern auch ‚Gängelwagen‘, d. h. eine Hilfe für das Erlernen des selbstständigen Vollzuges (des Gehens bzw. der Urteilskraft). 240 O’Neill (1989, 166 f.) unterscheidet zwischen ‚hypothetischen‘ und ‚ostentativen‘ Beispielen, die Kant verwendet. Unter die erste Gruppe - die hypothetischen oder vielleicht besser: kasuistischen Beispiele - fällt die Diskussion von Handlungstypen, wie z. B. die Diskussion der vier berühmten Beispiele aus der GMS, mit denen Kant sein aufgefundenes <?page no="242"?> 242 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung besonders für die Moralpädagogik wichtig. Kant empfiehlt für das Einüben der Moralität, ‚Beispiele von guten Menschen‘ in ostentativer Weise darzustellen und zu diskutieren. Dies allerdings nur mit großer Vorsicht: Denn wie er immerzu festhält, dürfen Beispiele nicht zur ‚Nachahmung‘ oder gar zur ‚Nachäffung‘ im Sinne einer verhaltenskopierenden Verwendung als ‚Regel der Sittlichkeit‘ gebraucht werden, sondern nur zur ‚Nachfolge‘. 241 Auch die Bewunderung eines beispielhaften Menschen sieht er als problematisch an, da sie die Befolgung des Moralgesetzes als etwas exzeptionell-heroisches erscheinen lässt und statt der selbsttätigen Anähnlichung an das Exempel zur Distanzierung und sogar zum Widerwillen gegenüber dem Beispiel führen kann. 242 Die vorliegende Exemplumtheorie geht zwar über eine rein moralpädagogische Zielsetzung hinaus, impliziert aber insofern eine Spitze gegen die auch im 18. Jahrhundert präsente imitatio - Christi -Tradition, als der moralische ‚Heilige des Evangelii‘ keinerlei inhaltliche Handlungsorientierung gibt, sondern lediglich deutlich macht, dass das, was als moralisch geboten eingesehen wird, auch getan werden kann. 243 Zum anderen deuten die zitierten Formulierungen darauf hin, dass die moralförderliche Funktion des Beispiels hier in einer sehr spezifischen, nämlich dis- Moralprinzip testen möchte. Die ‚ostentativen‘ Beispiele bilden Personen und Lebensläufe, die in moralischer Hinsicht besonders anschaulich und bedeutsam sind, weil sie zeigen, was es heißt, moralisch zu sein und zu handeln. Die pädagogische und moralische Funktion des Beispiels, die in den genannten Schriften und in den Ethik-Vorlesungen (siehe unten) angesprochen wird, lässt Maly (2012, 320 f.) außer Acht, wenn er allein den Vergleich mit dem Beispielbegriff in KdU B 254/ AA V 351 anstellt. 241 Vgl. bspw. GMS A 28f/ AA VI 408 f. Zum ‚Nachäffen‘: KdU B 200/ AA V 318 u. Anthr A 266f/ AA VII 293. 242 Vgl. den einschränkenden Satz B 80/ AA VI 64 24-34 : „Zwar würde der Gedanke, daß jener göttliche Mensch […] sich derselben [= Hoheit und Seligkeit] für lauter Unwürdige […] entäußerte, […] unser Gemüt zur Bewunderung, Liebe und Dankbarkeit gegen ihn stimmen müssen; […] er selbst [würde] aber nicht als Beispiel der Nachahmung […] uns vorgestellt werden können.“ Vgl. hierzu auch die in der MdS-TL (A 167/ AA VI 479 f.) geäußerten Vorbehalte Kants dagegen, eine moralisch beispielhaft handelnde Person über die anderen zu erheben. 243 Diese bewusste Absetzung von (manchen Formen) der christlichen Nachfolgeethik unterschätzt Witschen, wenn er aus seiner detaillierten Analyse folgert, dass die christliche Ethik aus der Auseinandersetzung mit Kants Beispiellehre profitieren könnte (vgl. 2009, 64 f.), ohne auch das sehr spezifische Gepräge dieser Lehre in Rechnung zu stellen. In Kants ambivalenter Haltung gegenüber dem ‚Imitieren‘ - gerade auch in religiösen Angelegenheiten (siehe oben: Kap. 3.4) - schlagen sich wohl verschiedene aufklärerische Diskussionen und auch Zerrbilder der imitatio-Christi -Tradition nieder (vgl. Whistler 2010, 19-23). Außerdem lassen, wie Buck ausführt (1967, 180-183), manche Passagen aus der KdU eine noch positivere und diese Tradition zumindest sachlich würdigende Einschätzung der Relevanz von moralischen und religiösen Vorbildern erkennen. In der RGV und an anderen Stellen (vgl. Buck 1967, 171-174) steht aber die Funktionszuschreibung, ein Beweis der Tunlichkeit zu sein, im Vordergrund. <?page no="243"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 243 kursiven Wirkweise gesehen wird. Formulierungen wie ‚der natürliche Mensch würde sagen ‘ lassen die Vorstellung eines Dialoges erkennen, der durch die Konfrontation mit dem Beispiel hervorgerufen wird und in dessen Zusammenhang das moralisch geforderte Subjekt sich entweder von der Unerfüllbarkeit oder von der Tunlichkeit des Moralgesetzes überzeugt. Wenn ein exemplum für das Ideal vor Augen steht, fungiert dies gleichsam als ständiger Einspruch, wodurch dem Menschen, dessen ‚radikale Bosheit‘ sich auch darin äußert, gegen das Moralgesetz zu ‚vernünfteln‘ und nach trügerischen Ausflüchten zu suchen, deutlich gemacht wird, dass eine unbedingte Befolgung des Moralgesetzes menschenmöglich ist. 244 Dieser diskursive Aspekt in der Wirksamkeit des Beispieles wird vollends deutlich, wenn wir uns klarmachen, dass in der Traktierung des pium exemplum bzw. scandalum in den Ethik-Vorlesungen sehr ähnliche Überlegungen vorliegen. Auch dort interpretiert Kant die Steigerung der illustratio gloriae divinae , die sich nach Baumgarten durch das exemplum und die daran anschließende Nachahmung einstellt 245 , als diskursiv-argumentativen Vollzug: Gemäß den Vorlesungen Kaehler-Collins muntert ein moralisches Beispiel deshalb zur Nachfolge auf, weil hierdurch die autosuggestive Entschuldigungsstrategie, bei der man auf die vermeintliche oder tatsächliche Unmoral der Anderen verweist, durchkreuzt wird und der Mensch sich von der Tunlichkeit der ‚Moral‘ überzeugt. Umgekehrt verleitet ein zu vermeidendes scandalum deshalb zur Unmoral, weil hierdurch ein (vermeintlicher) Entschuldigungsgrund gegeben wird. 246 Die moralförderliche bzw. -abträgliche Funktion des Beispiels weist damit eine sachliche Verbindung zur Diskussion des sog. ‚moralischen Unglaubens‘ auf. Manche - so doziert Kant - suchen geradezu nach den Unvollkommenheiten in den Lebensläufen der überlieferten exempla . Doch die Diskreditierung der moralischen Heiligen beschädigt die Überzeugungskraft der exempla . 247 Unter dem ‚moralischen Unglauben‘ ist daher ein Mangel an Überzeugtheit von der 244 Vgl. auch Blumenberg 1954, 568 f.: „Immer steht der Mensch in der Versuchung, gegen den Anspruch des Sollens den entpflichtenden Defekt seines Könnens geltend zu machen. […] Christus macht diese Einrede zunichte: er ist die real bezeugte Möglichkeit der Teleologie des sittlichen Menschen. In diesem Sinne ist die Christusgestalt […] eine einzigartige Instanz, an die sich das unendlich seiner moralischen Qualität ungewisse Bewußtsein wenden kann, um sich […] der eigenen Freiheit inne zu werden“. 245 Vgl. Ethica § 133. 246 Vgl. Stark 2004, 161 5-10 / AA XXVII 1 334: „Ueberhaupt mögen die Menschen gerne Beyspiele haben, und wenn kein Beyspiel ist, so mögen sie sich damit excusiren, daß sie sagen, es lebt ja jeder so, sind aber Beyspiele, und kann man sich auf welche beruffen und sagen: siehe doch den Mann an, wie der lebt, so muntert solches zur Nachfolge auf.“ 247 Vgl. Stark 2004, 133 8 -134 4 / AA XXVII 1 316 f. <?page no="244"?> 244 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Tatsächlichkeit der Tugend zu verstehen. 248 Ein ähnlicher Gedanke erscheint auch in RGV II im Zusammenhang der Beispiel-Erörterung: Auch hier bezeichnen die durch Sperrdruck hervorgehobenen Stichworte ‚moralischer Unglaube‘ bzw. ‚praktischer Glaube‘ das Vertrauen darauf, dass das Ideal moralischer Vollkommenheit tatsächlich verwirklicht werden kann und es Widerständen wirksam standzuhalten vermag. 249 Ausgehend von diesen Befunden kann man also festhalten, dass Kant sich die moralförderliche Wirksamkeit des Exempels vor allem als diskursive Ein- oder Widerrede denkt - als ein Argument für die Realisierbarkeit des Ideals, das in einem inneren Dialog vorgetragen wird. Und eine solche Einrede gründet weniger auf der historischen Person selbst, sondern mehr auf der aussagekräftigen Erzählung über die Beispielpersönlichkeit. 250 4.2.5 Die Verwirklichung des Ideals und ihre Schwierigkeiten Der Unterabschnitt c) des ersten Abschnitts von RGV II ist nach den drei Schwierigkeiten gegliedert 251 , die ‚gegen die Realität‘ der zuvor erläuterten Idee bestehen. Doch was ist unter diesen Schwierigkeiten zu verstehen, die der Überschrift zufolge durch die anschließenden Ausführungen ‚aufgelöst‘ werden sollen? - Es gibt zwei Textpassagen, die diesbezüglich instruktive Hinweise enthalten. Die erste Textpassage befindet sich am Ende des vorhergehenden Unterabschnitts. Aufgrund mehrerer textlicher Signale geben sich diese nicht eigens abgegrenzten Zeilen als Überleitung zu erkennen. 252 Die Gedankenführung weist 248 Vgl. Stark 2004, 132 4-12 / AA XXVII 1 316: „Der moralische Unglaube ist, wenn man an die Würklichkeit der Tugend nicht glaubt, dieses ist ein Misanthropischer Zustand zu glauben es sey eine Idee, es ist eine Masque der Eitelkeit seiner Neigung Gnüge zu thun. Man kann darinn hochgehn, und nicht einmal ein Analogon der Tugend bey Menschen zugeben. Bey solchen Menschen kann man es nicht einmal soweit bringen, daß man für einen rechtschaffenen Mann gehalten werde, und denn wird man sich auch nicht bemühen einer zu werden.“ 249 Vgl. B 76/ AA VI 62 1-10 u. B 77f/ AA VI 62 31 -63 8 . 250 Vgl. Buck 1967 176-178, und bes. Louden 1992, 316 f.: „[W]hat is really exemplary […] is not some particular person, even idealized, but the story or script whereby we make the passage to pure principles.“ Bei seiner Untersuchung des Schematismus der Analogie kommt Maly (2012, 329 f. u. 381-383) ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die RGV dessen Funktion vor allem als hermeneutische beschreibt. Auf sprachlichem Wege wird erläutert, was das Ideal für den Menschen und für dessen Realisierung durch den Menschen bedeutet. 251 Erste Schwierigkeit: B 84-86/ AA VI 66 21 -67 16 ; zweite Schwierigkeit: B 86-94/ AA VI 67 17 - 71 21 ; dritte Schwierigkeit: B 94-105/ AA VI 71 21 -78 2 . 252 Gemeint ist die Textpassage B 83f/ AA VI 66 8-18 : Während zuvor vom lehrenden exemplum gehandelt wurde, wechselt das Thema zur Frage, inwiefern diese beispielhafte Gesin- <?page no="245"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 245 drei dicht aufeinander folgende Schritte auf: Zunächst wird festgestellt, dass die Gesinnung der moralisch vollkommenen Beispielperson vor der ‚obersten Gerechtigkeit‘ auch für die nicht-idealen Menschen als ‚vollgültig‘ anerkannt wird, wenn der (nicht-ideale) Mensch seine Gesinnung der beispielhaften Gesinnung ‚ähnlich macht‘. 253 Allerdings handelt es sich dann nicht um eine eigene ‚Gerechtigkeit‘, sondern um eine zugeeignete, da die Gerechtigkeit einen vollkommen der Gesinnung gemäßen Lebenswandel voraussetzt. 254 Als zweite Überlegung wird hier folglich eingespielt, dass der (nicht-ideale) Mensch zwar eine gute Gesinnung, aber keinen derartigen Lebenswandel aufweist, der ein ‚Gerechtwerden‘ erlaubte. Um der Gerechtwerdung willen muss aber eine ‚Zueignung‘ möglich sein. Allerdings bereitet es - drittens - ‚große[] Schwierigkeiten‘, sich diese Zueignung ‚begreiflich zu machen‘. 255 Obgleich diese Formulierungen manches im Unklaren lassen, sind sie hilfreich, um die fraglichen ‚Schwierigkeiten‘ etwas besser einordnen zu können: Die Schwierigkeiten betreffen demnach das ‚Begreiflich-Machen‘, d. h. die Einsehbarkeit des Vorganges und die begriffliche Ebene. Was begreiflich gemacht werden soll, ist die Zueignung der idealen Gesinnung zugunsten des nicht-idealen Menschen, der zwar seine Gesinnung der idealen anähnlicht, dessen Lebenswandel dieser Gesinnung aber nicht gerecht wird. Die Schwierigkeiten setzen folglich einen herkulischen Besserungsprozess voraus, in dem der Mensch das zuvor explizierte Ideal in sich auszuprägen versucht. Der Besserungsprozess droht jedoch zur Sisyphos-Aufgabe zu werden, da trotz bester Vorsätze eine unvermeidliche Divergenz zwischen dem Anspruch des Moralgesetzes und der menschlichen Unvollkommenheit festgestellt werden muss. Indem Kant die näher zu benennenden Schwierigkeiten behebt, möchte er zeigen, dass es für den zur Besserung aufgeforderten Menschen denkbar ist, dass das Ideal realisiert werden kann und das Streben danach kein vergebliches Unterfangen darstellt. 256 Auch für den Autor der Religionsschrift gilt, dass aus dem Sollen das Können folgt. Im Falle der Selbstbesserung auf das Ideal der gottwohlgefälligen Menschnung für alle Menschen ‚vollgültig‘ ist. Im letzten Satz der Passage wird die Behandlung der Schwierigkeiten angekündigt (B 84/ AA VI 66 18 ). 253 Vgl. B 83/ AA VI 66 8-13 . 254 Vgl. B 83/ AA VI 66 13-15 . 255 Vgl. B 83f/ AA VI 66 15-18 . 256 Vgl. auch den ersten Satz des c)-Abschnittes (B 84/ AA VI 66 21-24 ): „Die erste Schwierigkeit, welche die Erreichbarkeit jener Idee, der Gott wohlgefälligen Menschheit in uns, […] bei dem Mangeln unserer eigenen Gerechtigkeit zweifelhaft macht, ist folgende.“ Unter der Hand verlagert Kant in dieser Formulierung allerdings die Schwierigkeiten von der (sekundären) Ebene des Einsehen- und Begreifen-Könnens auf die (primäre) Ebene des Besserungsvorganges selbst. <?page no="246"?> 246 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung heit hin scheint das erforderliche Können allerdings mit Problemen verknüpft zu sein, die einer detaillierten Auflösung bedürfen. Diesen Hinweisen muss eine zweite Textpassage zur Seite gestellt werden, die sich gegen Ende des ‚Schwierigkeiten‘-Abschnittes befindet. Der Text führt dort aus, dass es sich bei dem Vorhergehenden um eine ‚Deduktion der Idee einer Rechtfertigung‘ handelt. 257 Die daran anschließende Diskussion der praktischen Verwendung dieser Deduktion weist eine zweiteilige argumentative Struktur auf: Zunächst wird der ‚positive‘, dann der ‚negative‘ Gebrauch der Rechtfertigungsidee erörtert. 258 Die negativ-religionskritische Verwendung liegt darin, dass gemäß der in der Deduktion erhobenen Verfasstheit des göttlichen Gnadenhandelns alle kultisch-religiösen Hinwendungen zu Gott keinen Einfluss auf die moralisch notwendige Vergeltung für die mangelnde moralische Vervollkommnung haben können. Auch bezüglich des ‚positiven Gebrauchs‘ mahnt Kant zunächst zur Zurückhaltung, da die hier durchgeführte Deduktion im Hinblick auf einen Menschen konstruiert sei, der bereits eine gute Gesinnung habe, und die Rechtfertigungsidee daher zur Ausbildung dieser entscheidenden Voraussetzung nichts beitragen könne. 259 Andererseits ist die Deduktion der Rechtfertigungsidee die Beantwortung einer „spekulativen Frage, die […] nicht mit Stillschweigen übergangen werden kann “. 260 Als Begründung hierfür wird angegeben, dass es in moralischer Rücksicht „nachteilig sein könnte“, wenn die Vernunft unvermögend erschiene, „die Hoffnung auf die Lossprechung des Menschen von seiner Schuld mit der göttlichen Gerechtigkeit zu vereinigen“, d. h. wenn die moralisch fordernde Vernunft nicht über eine valide Vorstellung davon verfügte, wie das praktische Interesse des Menschen an Vervollkommnung und unbedingter Gottwohlgefälligkeit einerseits und die nicht revidierbaren Unvollkommenheiten des vergangenen oder gegenwärtigen Lebenswandels andererseits zu einem überzeugenden Ausgleich gebracht werden können. 261 257 Vgl. B 101-103/ AA VI 76 7-34 , Z. 7-10: „Es kann nun noch gefragt werden, ob diese Deduktion der Idee einer Rechtfertigung des zwar verschuldeten, aber doch zu einer Gott wohlgefälligen Gesinnung übergegangenen Menschen irgend einen praktischen Gebrauch habe und, welcher es sein könne.“ Dafür, das Demonstrativpronomen auf alle drei Schwierigkeiten (nicht nur auf die dritte) zu beziehen und somit den gesamten ‚Schwierigkeiten‘-Abschnitt als Deduktion der Rechtfertigungsidee anzusehen, spricht, dass Kant den sehr selten verwendeten Rechtfertigungs-Begriff noch an einer weiteren Stelle gebraucht. Die Fundstelle B 100/ AA VI 75 18f stellt eine Anmerkung zu dem Gedanken dar, dass beim Menschen die moralische Vervollkommnung immer nur im Werden ist und Gott gnädigerweise die Gesinnung anstelle der Tat akzeptiert. Eben dieses Argument erscheint jedoch auch bei der Auflösung der ersten Schwierigkeit. 258 (1) B 102/ AA VI 76 10-23 ; (2) B 102f/ AA VI 76 23-34 . 259 Vgl. Z. 10-17. 260 Z. 18. 261 Z. 19-23. <?page no="247"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 247 Wie dieser Ausgleich genau bestimmt wird, muss im Durchgang durch die einzelnen Absätze erarbeitet werden. Bedeutsam für das Verständnis des Anliegens hinter dem Abschnitt insgesamt ist jedoch, dass die Schwierigkeiten als ‚Vorwurf‘ 262 und damit als eine Art Einrede charakterisiert werden, die sich der auf Besserung drängenden praktischen Vernunft in den Weg stellt. Diese Einrede - ähnlich wie der durch das exemplum widerlegbare Zweifel an der Tunlichkeit des Ideals - muss argumentativ entkräftet werden, wenn sie nicht zur gedanklichen Blockade werden soll, die die Besserungsbemühungen behindert. Freilich werden im ‚Schwierigkeiten‘-Abschnitt noch eine Reihe anderer Problemzusammenhänge behandelt. So erscheint in der Diskussion der Schwierigkeiten immer wieder das Rückschlussargument, wonach die für sich genommen undurchsichtige Gesinnung zumindest indirekt, durch Wahrnehmung des Lebenswandels und der Taten, erschlossen werden kann. 263 Hier spielt auch der aus den Vorlesungen bekannte und im Verlauf der RGV mehrfach erwähnte Vorwurf gegen die Bekehrung am (nahenden) Lebensende hinein: Kant polemisiert gegen das seines Erachtens weit verbreitete Moralitätsvermeidungskalkül, in dem die Besserung weit, ja im Extremfall sogar bis in die Sterbestunde hinein aufgeschoben wird und die Menschen dann meinen, vermittelt durch die kirchlichen Sterberiten gottwohlgefällig zu werden. Eine späte Bekehrung, auch wenn sie infolge einer echten révision de vie vollzogen wird, erscheint ihm moralisch ungerecht und überdies unzuverlässig, da dann keine Bewährungszeit für die Bestätigung der Tatsächlichkeit des Gesinnungswandels gegeben ist. Interessant sind zweifelsohne auch die zahlreichen Anspielungen auf die christlich-theologische Erlösungslehre, nämlich insbesondere auf die Rechtfertigungslehre und den Gedanken einer stellvertretenden Satisfaktion. Die analysierten Textpassagen stellen allerdings starke Argumente dafür dar, die Diskussion der sog. drei Schwierigkeiten nicht nur als eine Auseinandersetzung mit der Rechtfertigungslehre oder gar mit Stapfer oder einem anderen Vertretern dieser theologischen Lehre zu lesen. Wie sich zeigte, ist die Auflösung der Schwierigkeiten für Kant überhaupt nur erforderlich, weil hierdurch ein Hindernis für die Realisation des Ideals der moralischen Vollkommenheit zerstreut wird. Die kantische Auseinandersetzung mit der ‚Rechtfertigungsidee‘ weist daher ein sehr spezifisches moralphilosophisches Gepräge auf. Das dürfte vollends deutlich werden, wenn man zunächst die moralphilosophischen Probleme rekonstruiert, die dem Text zufolge den Schwierigkeiten zugrunde liegen und einer Auflösung bedürfen. 262 Z. 19f: „weil sonst [wenn die genannte Frage mit Stillschweigen übergangen würde] der Vernunft vorgeworfen werden könnte“; Z. 23: „ein Vorwurf , der […] vornehmlich in moralischer Rücksicht nachteilig sein könnte.“ 263 Vgl. B 87f/ AA VI 68 19 -69 4 , B 93/ AA VI 71 5-20 , B 103f/ AA VI 76 36 -77 20 . <?page no="248"?> 248 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Worin die erste Schwierigkeit besteht, lässt sich leichter verständlich machen, wenn man die angezielte Auflösung in den Blick nimmt: Die Auflösung liegt in dem Gedanken, dass ein ‚Herzenskündiger‘ den unendlichen ‚Fortschritt‘ des ‚Guten in der Erscheinung‘, d. h. dem empirischen Handeln nach, als vollendetes Ganzes beurteilt, und zwar aufgrund der nicht wahrnehmbaren Gesinnung. Unabhängig davon, wann das irdische Leben und damit die aus empirischer Sicht als Prozess ablaufende ‚Gut-Werdung‘ abbricht, kann der Mensch von dieser Fremdbeurteilung erhoffen, als vollständig ‚Gott wohlgefällig‘ zu erscheinen. 264 In einer solchen Auflösung schlägt sich zum einen die Unterscheidung zwischen Handeln und Gesinnung nieder. Zum anderen nimmt Kant hier offenbar an, dass die moralische Besserung im Bereich des Handelns ein Vervollkommnungs prozess - ein ‚kontinuierlicher Fortschritt vo[m] mangelhafte[n] Guten zum Besseren ins Unendliche‘ - darstellt, weil das menschliche Handeln durch eine andauernde moralische Mangelhaftigkeit gekennzeichnet ist. Ohne dass ein expliziter terminologischer Anschluss erkennbar wäre, entspricht dieses prozessuale Moment der in RGV I genannten ‚Reform (für die Sinnesart)‘, die von der ‚Revolution (für die Gesinnung)‘ unterschieden wurde. Die Auflösung setzt folglich das Problem einer aus menschlicher Sicht unaufhebbaren Divergenz zwischen dem Gottwohlgefälligkeitsideal und der realiter vom Menschen erreichbaren moralischen Qualität voraus. 265 Zur Begründung dieser Divergenz gibt der Text nur vereinzelte Hinweise, die auf das Thema ‚Zeit‘ abheben: Die „Tat“ - d. h. das Handeln des Menschen - wird insofern als mangelhaft bezeichnet, als sie „nicht überhaupt, sondern in jedem Zeitpunkte“ und in diesem Sinne „jederzeit“ mangelhaft ist. 266 Außerdem ist die Ein- 264 Die Beschreibung der Auflösung ist zweiteilig: Zunächst wird die alleinige Maßgeblichkeit der vom Menschen vollziehbaren Gesinnungsänderung herausgestellt (B 84/ AA VI 66 31 -67 1 ). In B 85/ AA VI 67 1-16 erscheint dann die Lösung, dass der Besserungsvorgang als vollständige Vervollkommnung angesehen werden kann, Z. 3-16: „Die Auflösung derselben aber beruht darauf, daß die letztere [= die Tat] als ein kontinuierlicher Fortschritt von mangelhaftem Guten zum Besseren ins Unendliche […] immer mangelhaft bleibt; so, daß wir das Gute in der Erscheinung, d. i. der Tat nach , in uns jederzeit als unzulänglich […] ansehen müssen; seinen Fortschritt aber ins Unendliche […] als ein vollendetes Ganzes[? ] […] beurteilt denken können, und so der Mensch […] doch überhaupt Gott wohlgefällig zu sein erwarten könne“. ‚ Seinen Fortschritt‘ muss m. E. auf ‚ das Gute ‘ bezogen werden. Zum ‚Tat‘-Begriff siehe Kap. 4.1.3. 265 Vgl. auch B 84/ AA VI 66 26-30 : „Die Entfernung aber des Guten, was wir in uns bewirken sollen, von dem Bösen, wovon wir ausgehen, ist unendlich und sofern, was die Tat, d. i. die Angemessenheit des Lebenswandels zur Heiligkeit des Gesetzes, betrifft, in keiner Zeit erreichbar.“ 266 Vgl. B 85/ AA VI 67 2f , auch die Erläuterung in einer angehängten Fußnote kann man im Sinne dieser zeitlichen Interpretation verstehen: „nur den von dem Dasein eines Wesens in der Zeit überhaupt unzertrennlichen Mangel, nie ganz vollständig das zu sein, was man zu werden im Begriffe ist, ersetze“ (B 86/ AA VI 67 33-35 ). <?page no="249"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 249 schätzung der Handlung (quasi die ‚Wirkung‘) als Ausdruck einer moralischen Gesinnung (‚Ursache‘) wie jede Identifikation einer Ursache-Wirkung-Relation immer zeitlich ‚eingeschränkt‘, weil sie ‚Zeitbedingungen‘ unterliegt. 267 Diese kurzen Bemerkungen lassen sich dahingehend interpretieren, dass eine unbedingte Erfüllung des Moralgesetzes aus menschlicher Perspektive allein schon deshalb nicht behauptet werden kann, weil die Moralgesetzerfüllung dann auch zeitlich nicht eingeschränkt sein dürfte und daher alles zukünftige Handeln umfassen müsste. Für Kant wird diese Schwierigkeit, die man das Problem der unabgeschlossenen Handlungsbiografie nennen kann, durch die Annahme eines ‚Herzenskündigers‘ gelöst, der seinem Wesen gemäß ‚die Gesinnung für die Tat‘ nimmt und dadurch den kategorisch unvollkommenen Menschen als das Moralgesetz erfüllend gelten lässt. Die zweite Schwierigkeit wird mittels eines merkwürdigen Begriffspaares exponiert: die Unterscheidung zwischen ‚moralischer‘ und ‚physischer‘ Glückseligkeit. Unter der moralischen Glückseligkeit versteht Kant das kontinuierliche Bestehen und Befolgen der Gesinnung: „die Wirklichkeit und Beharrlichkeit einer im Guten immer fortrückenden (nie daraus fallenden) Gesinnung“. 268 Die zweite, ‚physische‘ Glückseligkeit wird als „Versicherung eines immerwährenden Besitzes der Zufriedenheit mit seinem physischen Zustande“ angesprochen. 269 Die hier im Fokus stehende Schwierigkeit soll sich allein auf die moralische Glückseligkeit beziehen. Sie liegt darin, dass in Bezug auf diese erstgenannte Glückseligkeit keine Gewissheit zu erreichen ist. 270 Zwar wird infolge dieser Ungewissheit auch die zweite fraglich. Die Zuversicht, dass auf die moralische Glückseligkeit auch die physische folgt, wird hier jedoch nicht weiter problematisiert und in den folgenden Ausführungen nur mittelbar in den Blick genommen. Man hat es hier folglich mit dem Problem der Ungewissheit in Bezug auf die Perseveranz des guten Willens zu tun. Die weitere, dialektisch gewundene Diskussion lässt gleichsam einen schmalen Grat zwischen zwei gefährlichen Abhängen erkennen: Einerseits kann und darf es aus mehreren Gründen keine vollständige Gewissheit geben. Andererseits muss der nach Besserung strebende Mensch zuversichtlich sein können, dass er sich nachhaltig auf dem Weg der moralischen Besserung befindet. Dafür, dass diese Gratwanderung die adäquate Lösung für die Schwierigkeit darstellt, 267 Vgl. B 85/ AA VI 67 6f . 268 B 86/ AA VI 67 23-25 ; ‚Beharrlichkeit‘ wird im Original durch Sperrdruck hervorgehoben. 269 B 86/ AA VI 67 20-23 . 270 B 86f/ AA VI 67 25 -68 1 : „denn das beständige ‚Trachten nach dem Reiche Gottes‘, wenn man nur von der Unveränderlichkeit einer solchen Gesinnung stets versichert wäre [durch Sperrdruck hervorgehoben], würde eben so viel sein, als sich schon im Besitz dieses Reichs zu wissen.“ <?page no="250"?> 250 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung werden mehrere Argumente angeführt: Eine ‚gefühlsmäßige‘ Versicherung über die Gesinnung und ihre Perseveranz kann es aus kategorischen Gründen nicht geben. 271 Zudem neigt der Mensch zu einer positiven Verzerrung des Selbstbildes, ähnlich dem in RGV I benannten Selbstbetrug. 272 Vor allem aber ist der Moralität nicht die Gewissheit, sondern „Furcht und Zittern“, d. h. das kontinuierliche Bemühen um eine moralische Lebensführung, zuträglich. 273 Andererseits würde eine gänzliche Unsicherheit den moralisch Strebenden in Sorge stürzen und die Gefahr mit sich bringen, erst recht in die „finsterste[] Schwärmerei“ zu verfallen oder die Weiterverfolgung des moralischen Lebenswandels einzustellen. 274 Es muss daher eine bestimmte moralische Gewissheit gesichert werden und dem Text zufolge ergibt sich diese „aus der Vergleichung seines bisher geführten Lebenswandels mit seinem gefaßten Vorsatze“. 275 Begründet wird diese Lösung der Gewissheitsproblematik durch die Betrachtung zweier gegensätzlicher Szenarien. Eine Person, die immer wieder ins Böse zurückfällt oder gar von einem mangelhaften Zustand ausgehend immer schlechter wird, kann sich keinerlei Hoffnung machen, eine dauerhaft gute Gesinnung zu behalten. Anders fällt die Selbstbeurteilung dagegen aus, wenn man aufgrund des sich bessernden Lebenswandels vermuten kann, dass „eine gründliche Besserung in [… der] Gesinnung“ stattgefunden hat; in diesem Fall kann man „vernünftigerweise hoffen“, dass man „diese Bahn nicht mehr verlassen“ und sich ggf. auch noch postmortal „dem […] Ziele der Vollkommenheit […] nähern werde“. 276 Außerdem sollen die bereits erfolgten Fortschritte auch die ‚Kraft‘ zu den folgenden steigern. 277 Für Kant gilt daher, dass die „gute und lautere Gesinnung […] das Zutrauen zu ihrer Beharrlichkeit und Festigkeit […] mittelbar [] bei sich“ führt und über Besorgnisse infolge von ‚Fehltritten‘ hinwegtrösten kann 278 - und zwar (nur) mittelbar deswegen, weil aufgrund des Rückschlusses aus dem bisherigen Lebenswandel. Die Tragfähigkeit dieser Argumentation kann man freilich bezweifeln. Denn wie sehr trägt eine problematisch erschlossene und auch aus moralischen Gründen begrenzte Gewissheit tatsächlich? Und warum ist die Gewissheit überhaupt erforderlich? Wäre die moralische Vervollkommnung nicht auch 271 Vgl. B 87/ AA VI 68 4-9 . 272 Vgl. B 87/ Z. 9 f. 273 Vgl. B 87/ Z. 10-14. 274 Vgl. B 87/ Z. 15 f. 275 Vgl. B 87/ Z. 17-19. 276 Vgl. B 87f/ AA VI 68 19 -69 4 , Zitate: Z. 23, 26-31. 277 Vgl. Z. 25 f. In B 89/ AA VI 69 4-11 wird als zusätzlicher Zusammenhang die Aussicht auf eine ‚unabsehliche, aber glückliche Zukunft‘ bzw. ein ‚unabsehliches Elend‘ eingespielt, die als ‚Triebfedern‘ der Besserung dienen. 278 B 90-92/ AA VI 70 1 -71 4 . <?page no="251"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 251 dann Pflicht, wenn man an deren kontinuierlicher Fortführung Zweifel hätte? Der Text vermag diese Zweifel nicht in zufriedenstellender Weise zu zerstreuen. Immerhin gibt er aber Hinweise darauf, weshalb Kant die Gratwanderung überhaupt einschlägt. Nebst der offensichtlich auf die Selbstmächtigkeit des Subjekts abhebenden Transformation von Theologumena wie etwa der reformatorischen fiducia -Lehre 279 oder der Tröstung durch den ‚Parakleten‘, d. h. durch den heiligen Geist 280 , zeigt sich hier das eingangs angeführte Motiv der Ablehnung eines billigen Trostes am Lebensende. Die dargestellte Lösung der zweiten Schwierigkeit arbeitet dem aus Kants Sicht naheliegenden Kalkül entgegen, den Entschluss zur moralischen Lebensführung und das entsprechende Bemühen erst spät im Leben tatsächlich durchzuführen, und zwar aufgrund der Erwartung einer Vergebung für die zuvor unterlassenen Bemühungen. Wie eine umfängliche Fußnote 281 verdeutlicht, soll die erläuterte Art der Gewissheit sicherstellen, dass die Rechte der Mitmenschen und ggf. notwendige Wiedergutmachungen bei der Reflexion über die Notwendigkeit und den Fortgang der moralischen Vervollkommnung ohne Abstriche berücksichtigt werden. Denn nur durch stetiges Bemühen, nicht etwa durch ein „leicht zu erlangende[s] Pardon“ 282 am Lebensende kann nach Kant eine moralisch berechtigte Zuversicht entstehen, ein gottwohlgefälliger Mensch zu sein. Das dritte und letzte Problem, das sich dem Text zufolge dem moralisch fortschreitenden Menschen aufdrängt, bereitet Kant das größte Kopfzerbrechen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass selbst eine radikal gebesserte Person deshalb nicht vor dem Moralgesetz als gerecht erscheinen kann, weil sie vor der Besserung Schuld auf sich geladen hat und für diese Schuld Vergeltung leisten muss - oder präziser formuliert: die Person sich dem Anscheine nach nicht 279 Zum fiducia -Begriff siehe Kap. 3.4, S. 154. 280 Die Gesinnung selbst - vermittelt durch den Rückschluss aus dem bisherigen Lebenswandel - wird als „Tröster (Paraklet)“ bezeichnet (B 92f/ AA VI 71 3 ), vgl. Sala 1981, 105. 281 Kant fügt an die Diskussion der zweiten Schwierigkeit eine mehrseitige Fußnote an, in der er unter anderem die Unstatthaftigkeit und Problematik einer dogmatischen Ewigkeitslehre diskutiert. Hier wird auch das folgende Argument genannt: „da der böse Mensch im Leben schon zum voraus auf diesen leicht zu erlangenden Pardon rechnet, oder am Ende desselben es nur mit den Ansprüchen der himmlischen Gerechtigkeit auf ihn zu tun zu haben glaubt, die er mit bloßen Worten befriedigt, indessen daß die Rechte der Menschen hierbei leer ausgehen, und niemand das Seine wieder bekommt“ (B 90/ AA VI 70 3-7 ). Ähnlich B 93/ AA VI 71 12-16 : Bei einer vermeintlichen Besserung am Lebensende fehlt schlicht die empirische Basis, um sich (mittelbar und nicht ohne Restunsicherheit) von deren Tatsächlichkeit zu überzeugen. 282 B 90/ AA VI 70 3f . <?page no="252"?> 252 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung konsistent auszudenken vermag, wie eine solche, für die moralische Vervollkommnung erforderliche Vergeltung möglich sein sollte. 283 Die denkerische Verlegenheit resultiert aus der Konjunktion mehrerer moralischer Grundsätze, die Kant en passant in seiner Argumentation erwähnt und für allgemein praktisch-vernünftig hält. Nach dem ersten, vergeltungstheoretischen Grundsatz ist es moralisch notwendig, dass Verstöße gegen das Moralgesetz Vergeltung in Form von sühnender Strafe erfahren. Dementsprechend liegen solange, wie die Person noch keine Sühne für begangene Verfehlungen durchgeführt hat, moralische Defizite vor; die entsprechende Person kann sich in diesem Fall also nicht als gerecht ansehen. 284 Es fällt nicht schwer, in diesem ersten Grundsatz die straf- und vergeltungstheoretischen Überzeugungen zu identifizieren, von denen auch in den Vorlesungen die Rede war. 285 Demzufolge muss die Bestrafung als ein moralisch notwendiger Vorgang betrachtet werden, um begangenes Unrecht zu sühnen und die bei nüchterner Selbstbetrachtung kaum zu leugnende Schuld zu bewältigen. Auch in der Ablehnung eines billigen Trostes am Lebensende und den damit zusammenhängenden Überlegungen zur fehlenden Wiedergutmachung, die soeben herausgearbeitet wurden, dürfte diese hintergründige Überzeugung wirksam sein. Der zweite Grundsatz, den man den Grundsatz der Angemessenheit nennen kann, besagt, dass jede Verfehlung eine ihr proportionierte Strafe nach sich ziehen muss. Und weil das böse Handeln auf eine verkehrte Gesinnung zurückgeht und eine ‚unendliche‘ Verletzung des Gesetzes darstellt, hätte es eine „unendliche[] Strafe“ verdient. 286 Der Grundsatz korrespondiert mit der in RGV I durchgeführten Analyse des Bösen: Aus rigoristischer Perspektive ist jede böse Handlung und jeder Mangel an ‚gutem Willen‘ auf eine verkehrte Anordnung der Maximen und damit eine grundsätzliche Entscheidung gegen 283 Vgl. B 94/ AA VI 71 21 -72 6 : „Die dritte und dem Anscheine nach größte Schwierigkeit, welche jeden Menschen, selbst nachdem er den Weg des Guten eingeschlagen hat, doch in der Aburteilung seines ganzen Lebenswandels vor einer göttlichen Gerechtigkeit als verwerflich vorstellt, ist folgende. - [… der Mensch] fing […] doch vom Bösen an, und diese Verschuldung ist ihm nie auszulöschen möglich.“ 284 Vgl. B 97/ AA VI 73 20 -74 1 : Kant sucht nach Übeln, „die der neue, gutgesinnte Mensch als von ihm […] verschuldete und als solche Strafen ansehen kann, wodurch der göttlichen Gerechtigkeit ein Genüge geschieht.“ 285 Siehe Kap. 3.3. 286 Vgl. B 95/ AA VI 72 22-34 : „Da nun das Sittlich-Böse nicht […] wegen der Unendlichkeit des höchsten Gesetzgebers, […] sondern als ein Böses in der Gesinnung und den Maximen überhaupt eine Unendlichkeit von Verletzungen des Gesetzes, mithin der Schuld, bei sich führt […], so würde jeder Mensch sich einer unendlichen Strafe und Verstoßung aus dem Reiche Gottes zu gewärtigen haben.“ <?page no="253"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 253 die Unbedingtheitsansprüche des Moralgesetzes zurückzuführen. 287 Und wer sich zur Handlungsregel macht oder gemacht hat, dem Moralgesetz nicht oder nicht unbedingt zu folgen, begeht nicht nur eine einzelne böse Tat, sondern ist darüber hinaus auch willens, eine Reihe von bösen Handlungen zu vollbringen. Kant denkt sich wohl, dass diese Reihe - wenigstens ihrem Prinzip nach oder unter der zusätzlichen Voraussetzung einer postmortal prolongierten Fortdauer der Handlungspraxis - ins Unendliche fortgesetzt werden könnte. Zugleich lassen die Ausführungen unverhohlen erkennen, dass sie auf die Satisfaktionslehre des Anselm von Canterbury gemünzt sind. Anselm zufolge stellt die Schuld des Menschen eine Beleidigung Gottes dar. Der Mensch ist unfähig, hierfür Genugtuung zu leisten, und dies rührt unter anderem daher, dass sich die Wiedergutmachung nach der Schwere der Sünde bemessen und eine zusätzliche Gabe einschließen muss. Für Anselm kann daher allein die Menschwerdung Gottes und der Tod des Gottmenschen Jesus Christus die erforderliche Genugtuung leisten. 288 Obgleich die Anspielungen im Text mit einem kritischen Unterton versehen sind, steht Kant in der Sache manchen anselmischen Gedanken recht nahe. So ist es beispielsweise auch für Anselm undenkbar, dass die göttliche Majestät durch die Sünde realiter verletzt wird, dass der Mensch durch moralisches Handeln vor Gott ein Verdienst erwirbt oder dass Gott die (Straf-) Gerechtigkeit außer Kraft setzt, um dem Menschen die aufgeladene Schuld einfachhin zu vergeben. Diese gemeinsamen Charakteristika in den Gerechtigkeitsvorstellungen der beiden Denker müssen in den nachfolgenden Kapiteln weiterverfolgt werden. Drittens gilt der Grundsatz der Besserung: Der Mensch kann und muss eine Sinnesänderung vollziehen, wodurch er „moralisch ein anderer Mensch“ wird und eine „neue[] Qualität“ 289 annimmt, die das Wohlgefallen Gottes erweckt. Die in der dritten Schwierigkeit verhandelte Problematik besteht also in der Tat darin, dass es doch ungerecht erschiene und den sich bessernden Menschen frustrierte, wenn er bewussterweise eine Verschuldung mit sich herumschleppte, die er nicht loswerden kann und die überdies gemäß dem rigoristischen Charakter der Gesetzesübertretung sehr erheblich ausfiele. Hinzu kommt schließlich ein weiterer Grundsatz der kantischen Verpflichtungsethik, der in das Aufkommen und die Lösung der Schwierigkeit hineinspielt: Die strikte Befolgung des Moralgesetzes ist schon für sich genommen obligat und kann daher nicht als verdienstliches meritum gezählt werden, das 287 Vgl. auch den Rückverweis auf die These vom radikalen Bösen: „Diese […] Schuld, die auch dasjenige ist, was, und nichts mehr, wir unter dem radikalen Bösen verstanden ( s. [sc. siehe] das Erste Stück )“ (B 94/ AA VI 72 11-14 ). 288 Vgl. Ernst 2011, 98-107, u. Kirschner 2015, 140-146. 289 B 96/ AA VI 73 13-15 . <?page no="254"?> 254 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung einen Anspruch auf Belohnung begründen könnte oder einen wiedergutmachenden ‚Überschuss‘ an moralischer Gutheit erzeugte. 290 Den umfangreichen Forderungen des Moralgesetzes Genüge zu tun, erlaubt nicht, dies mit der eigenen oder mit fremder Schuld zu verrechnen. Eine stellvertretende Übernahme der Sühneleistung - durch einen ganz und gar heiligmäßigen Menschen wie etwa durch Jesus Christus - kann daher grundsätzlich nicht möglich sein. 291 Unter Voraussetzung solcher Gerechtigkeitsvorstellungen müssen Vergebung, Verzicht auf Sühne und stellvertretende Wiedergutmachung als unmoralische Akte bewertet werden. Die Interpretation zum dritten Stück wird wie bereits angekündigt dieses Thema wieder aufgreifen. Den Ausweg aus der Konjunktion dieser moralischen Grundsätze sucht Kant, indem er die Bestrafung in den Moment der Sinnesänderung hinein verlegt: „Da sie [sc. die Strafe] weder vor noch nach der Sinnesänderung der göttlichen Weisheit gemäß, und doch notwendig ist: so würde sie als in dem Zustand der Sinnesänderung selbst ihr angemessen und ausgeübt gedacht werden müssen.“ 292 Im Verlauf der Argumentation wird diese Lösung zunächst als Hypothese vorgetragen. Es soll geprüft werden, ob der Moment der Sinnesänderung selbst bereits die Strafe enthält, und zwar auf solch subtile Weise, dass auf der einen Seite die ersten beiden Grundsätze - Straftheorie und Angemessenheit der Strafe - und auf der anderen Seite der dritte Grundsatz - nach Vollzug der Besserung ist Bestrafung ungerecht - ihre Geltung behaupten können. Beim Verlassen der bösen Gesinnung und der Annahme der guten Gesinnung handelt es sich demnach nur scheinbar um zwei distinkte ‚Akte‘. In Wirklichkeit liegt nur ein Akt vor, in dem die Annahme und das Beibehalten einer guten Gesinnung mit dem Verlassen der bösen Gesinnung zusammenfallen. Wie auch bei der Explikation des Ideales herausgestellt wurde, ist diese Selbstveränderung zum Besseren mit Frustrationen und Schmerzen verbunden. Die kantische Lösung des Konjunktionsproblems besteht nun darin, dass diese mit der Sinnesänderung einhergehenden Negativerlebnisse als Strafe gedeutet werden, die nicht 290 Vgl. B 94/ AA VI 72 6-11 . Siehe auch hier Kap. 3.3. 291 Vgl. B 94 f./ AA VI 72 15-22 , bes. Z. 16-22: „denn sie [=die Schuld] ist keine transmissible Verbindlichkeit, die etwa wie eine Geldschuld […] auf einen andern übertragen werden kann, sondern die allerpersönlichste, nämlich eine Sündenschuld, die nur der Strafbare, nicht der Unschuldige, er mag auch noch so großmütig sein, sie für jenen übernehmen zu wollen, tragen kann.“ 292 Vgl. B 96f/ AA VI 73 17-20 . Die Möglichkeit einer Bestrafung vor der Besserung ist für Kant uninteressant, weil sie nicht die hier zu diskutierende Schwierigkeit infolge einer bereits in Angriff genommenen Besserung betrifft (vgl. B 96/ AA VI 73): „Da hier die Frage nicht ist: ob auch vor der Sinnesänderung die über ihn verhängte Strafe mit der göttlichen Gerechtigkeit zusammenstimmen würde (als woran niemand zweifelt), so soll sie (in dieser Untersuchung) nicht als vor der Besserung an ihm vollzogen gedacht werden.“ <?page no="255"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 255 den ‚neuen‘, moralisch gesinnten Menschen, sondern den ‚alten‘ und bösen Menschen treffen soll, dadurch aber den gebesserten Menschen vom Makel der ungetilgten Schuld frei macht. 293 Oder mithilfe einer anderen Perspektivenunterscheidung ausgedrückt: Als rein ‚intelligibeles‘ Wesen vor einem ‚göttlichen Richter‘ gilt allein die Gesinnung und der moralisch gesinnte Mensch erscheint gottwohlgefällig, auch wenn der bisherige Lebenslauf zu sühnende Mängel aufweist; zugleich ist er aber ‚physisch‘ derselbe Mensch, dem diese Unvollkommenheiten anhaften und dem die unvermeidlich mit der moralischen Besserung zusammenhängenden Schmerzen und Nachteile als gerechte Strafe auferlegt sind. 294 Die Auflösung spielt auf das lutherische Diktum simul iustus et peccator an. Nach M. Luther wird dem sündigen Menschen durch die Taufe die Rechtfertigung zuteil. Dennoch ist der Mensch bis zu seinem Tod dem Kampf gegen die Sünde ausgesetzt, worin sich die trotz der geschenkten Erlösung fortwährende Erbsünde äußert. 295 Kant versieht diese Anspielung jedoch insofern mit einer sehr eigenwilligen Deutung, als er das Rechtfertigungsgeschehen in den sich bessernden Menschen hineinverlegt. Demzufolge leistet der Mensch, dessen (noumenale) Gesinnung auf das Gute abzielt und der hierdurch dem ‚Sohn Gottes‘ angeglichen wird, eine stellvertretende Tilgung, indem er als solcher keine Bestrafung verdient hätte, aber mit dem das Böse allererst verlassenden und daher strafwürdigen Menschen identisch ist. Die ‚Stellvertretung‘ findet gleichsam im sich-bessernden und durch das sich-bessernde Subjekt selbst statt und verdankt sich nicht der gnadenhaften Zueignung einer göttlichen Heilstat. 296 293 Vgl. B 98/ AA VI 74 1-17 , bes. Z. 8-11: „Das gute Prinzip ist also in der Verlassung der bösen eben sowohl, als in der Annehmung der guten Gesinnung enthalten, und der Schmerz, der die erste rechtmäßig [meine Interpretation: als Strafe! ] begleitet, entspringt gänzlich aus der zweiten.“ 294 Vgl. B 98f/ AA VI 74 18 -75 1 . Ähnlich wie bei der Interpretation von RGV I gelegentlich angemerkt, tendiert der Text an dieser Stelle dazu, den Dualismus noumenal-empirisch in eine Gesinnung-Körper -Gegenüberstellung zu überführen (vgl. B 98/ AA VI 74 13 : „Kreuzigung des Fleisches“; B 98/ AA VI 74 18 : „physisch“). 295 Vgl. Axt-Piscalar 2001, 402, u. Heit 2006, 194 f. 296 Vgl. B 99/ AA VI 74 19 -75 1 , bes. 74 21-29 : „[S]o ist er [der zu bestrafende Mensch] doch in seiner neuen Gesinnung […] von einem göttlichen Richter […] moralisch ein anderer, und diese [sc. Gesinnung] in ihrer Reinigkeit, wie die des Sohnes Gottes, welche er in sich aufgenommen hat, oder (wenn wir diese Idee personifizieren) dieser selbst trägt für ihn und so auch für alle, die an ihn (praktisch) glauben, als Stellvertreter die Sündenschuld. Tut durch Leiden und Tod der höchsten Gerechtigkeit als Erlöser genug, und macht als Sachverwalter, daß sie hoffen können, vor ihrem Richter als gerechtfertigt zu erscheinen.“ Vgl. hierzu auch Quinn 1990, 424 f., u. 2006, 245 f., Thiede 2004, 107, u. Bojanowski 2011, 107 f., im Gegensatz zu Wimmer 1990, 162, der davon auszugehen scheint, dass Kant mit dem ‚Stellvertreter‘ eine vom Sich-Bessernden zu unterscheidende Person einführt. <?page no="256"?> 256 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Ein Moment der Gnade findet sich hingegen in der (Selbst-)Identifikation als gebesserter Mensch. Dem Text zufolge besteht sogar für den gesinnungsmäßig gebesserten Menschen kein Anspruch darauf, vor der moralisch urteilenden Vernunft und dem dieses Urteil repräsentierenden Gott als eine Person zu erscheinen, die - wie die ideale Person - dem Moralgesetz vollumfänglich gerecht wird. Als Begründung hierfür wird das Argument angeführt, dass beim Menschen die Besserung immer nur ‚im Werden‘ sei. Dazu, welches Phänomen mit dieser allgemeinen Formulierung gemeint ist, gibt der Text keine genaue Erklärung. Wie bei der Diskussion der ersten beiden Schwierigkeiten, finden sich allerdings Hinweise, wonach die bloß prozessuale Verwirklichung des Ideales auf die zeitliche Verfasstheit des Menschen sowie die Opazität der Gesinnung zurückgeführt werden muss: Weil das menschliche Handeln unabgeschlossen ist, die tatsächliche Qualität der Gesinnung jedoch nur indirekt aus der kontinuierlichen Beobachtung des Lebenswandels und des Handelns erhoben werden kann, muss sich aus menschlicher Perspektive die ‚Gesinnung‘ erst über die Lebenszeit hinweg bewähren. 297 Als ergänzendes, der Sache nach aber nicht bruchlos mit der vorhergehenden Begründung vereinbares Argument erscheint in der angehängten Fußnote überdies der Gedanke, dass das empirisch wahrnehmbare Handeln „dem Grade nach - wie sie [sc. die Gesinnung] sich in Handlungen offenbart - […] immer mangelhaft [bleibt], und von der ersteren [sc. der heiligen und dem Ideal vollkommen entsprechenden Gesinnung] unendlich weit abstehend“. 298 An dieser Stelle wird nun der Begriff der Gnade eingeführt. Sie besteht dem Text zufolge darin, dass das, was nur ‚im Werden‘ ist, dem Menschen als „volle[r] Besitz zugerechnet“ wird, worauf der Mensch aus den genannten Gründen „doch wohl keinen Rechtsanspruch“ hätte. 299 Der Mensch wird vor und durch Gott als gebessert angesehen, obgleich er nach unserem Ermessen noch nicht so betrachtet werden dürfte. Für Kant stellt dies ein „Überschuß über das Verdienst der Werke“ und ein aus Gnade zugerechnetes „Verdienst“ dar. 300 297 Als gerecht machend gelten soll das, „was bei uns im Erdenleben (vielleicht auch in allen künftigen Zeiten und Welten) immer nur im bloßen Werden ist“ (B 101 / AA VI 75 4f ). Hierauf hat der Mensch keinen Anspruch - gemäß „der empirischen Selbsterkenntnis[…,] so weit wir uns selbst kennen“ (B 101 / Z. 8 f.), was „nicht unmittelbar, sondern nur nach unseren Taten ermessen“ werden kann (B 101/ AA VI 75 9 -76 1 ). 298 Vgl. B 99f/ AA VI 74 37 -75 14 , Zitat: Z. 13 f. 299 B 101/ Z. 3-8. 300 Zitate: B 100f/ AA VI 75 1-8 : „Hier ist nun derjenige Überschuß über das Verdienst der Werke, der oben vermißt wurde, und ein Verdienst, das uns aus Gnaden zugerechnet wird. Denn damit das, was bei uns im Erdenleben […] immer nur im bloßen Werden ist […], uns, gleich, als ob wir schon hier im vollen Besitz desselben wären, zugerechnet werde, dazu haben wir doch wohl keinen Rechtsanspruch“. Die Betonung des Überverdienstlichen („Überschuß“, „Verdienst“) spielt auf das meritum an, vgl. auch B 101/ AA VI 76 2-6 . <?page no="257"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 257 Man muss folglich der Argumentation des Textes sehr präzise folgen, um den genauen Sinn dieses Gnadenaktes erkennen zu können: Es geht hier nicht darum, dass Gott seine Strafgerechtigkeit außer Kraft setzt oder die Missetaten der Vergangenheit ignoriert. 301 Die Grundsätze der Vergeltung und der Angemessenheit der Strafe bleiben auch bei dem hier verfolgten Besserungsgedanken in Kraft. 302 Die Strafe wird in Form der Schmerzen vollzogen, die sich infolge der Sinnesänderung und deren dauerhafter Bewährung einstellen. Wie beim Problem der unabgeschlossenen Handlungsbiografie, das durch die erste Schwierigkeit angesprochen wurde, liegt die Gnade darin, dass Gott den Menschen als gebessert ansieht, obgleich der positive Wandel der Gesinnungsqualität aus menschlicher Perspektive allenfalls indirekt von der dauerhaften Moralpraxis aus erschlossen werden kann. Der Mensch wird von Gott so betrachtet, als ob er den heiligmäßigen Lebenswandel des Gott-Wohlgefälligen übernommen hätte. Die Explikation des Beispiels der Gottwohlgefälligkeit zeigte, dass mit einem solchen Lebenswandel unvermeidlich Nachteile und Schmerzen verbunden sind. Beim gottwohlgefälligen Menschen kann dies aber nicht als die berechtigte Strafe für böses Handeln oder den Mangel an gutem Willen gelten. In diesem Sinne erbringt der aufrichtig und dauerhaft um Besserung Bemühte zwangsläufig eine verdienstliche Leistung, welche die (vor der Besserung ausgeführten) unmoralischen Handlungen sühnt. Die Satisfaktion wird somit durch den Sich-Bessernden selbst geleistet. Das ‚Zutun‘ Gottes besteht darin, dass er dasjenige, was aus menschlicher Perspektive zweifelhaft und fragmentarisch erscheinen muss, als vollgültig anerkennt. 303 Und durch eine solche Bestätigung von Seiten des obersten Moralgesetzrepräsentanten wird das reflexive Selbstbewusstsein eines um Besserung bemühten Menschen positiv verbessert. 4.2.6 Die Charakteristik der Beistandslehre in RGV II Die Erörterung der drei Schwierigkeiten wirft eine Reihe von Rückfragen auf. Die Beschäftigung mit diesen Rückfragen ist hilfreich, um die kantische Lösung der Schwierigkeiten noch etwas prägnanter zu erfassen. Da Kant im ‚Schwierigkeiten‘-Abschnitt bei der Auflösung des gordischen Knotens auf gewisse An- 301 Vgl. als Beispiele für solche Rekonstruktionsversuche Witschen 1984, 244, Wolterstorff 1991, 46 f., und Heit 2006, 174. 302 Der anhand der dritten Schwierigkeit entfaltete Vorwurf, dass Kant mit der Aufnahme der Vergebung eine „immanente Sprengung seines Gerechtigkeitsbegriffs besorgt“ (Wimmer 1990, 166) habe, trifft folglich nicht zu. 303 Eine ähnliche Interpretation findet sich bei Michalson 1990, 105: „God is not exercising a free and gracious option in viewing our moral change as complete; instead, God is viewing things in the only way God can.“ <?page no="258"?> 258 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung sichten zum göttlichen Beistandshandeln zurückgreift, trägt dies auch dazu bei, die im zweiten Stück implizierte Beistandslehre inhaltlich zu verorten und zu charakterisieren. Eine Rückfrage greift den bereits in Kap. 2.4 referierten Einwand auf, wonach eine der großen Aporien der Religionsschrift darin liege, dass nirgendwo erklärt würde, wie der durch Bosheit und eine verkehrte Maximenordnung gekennzeichnete Mensch die Besserungsbemühung überhaupt wollen und initiieren kann. Und in der Tat: Kant gibt sich in der Diskussion der Schwierigkeiten zwar alle Mühe, den Vollzug der Besserung gegen vermeintlich gravierende Einwände zu verteidigen. Die vorgelegten Einwände betreffen jedoch nicht die grundsätzliche Fähigkeit, eine moralische Gesinnung auszubilden und dem Moralgesetz im Handeln Folge zu leisten. Sie beziehen sich vielmehr auf die Vervollkommnung dieser moralischen Leistungen im Sinne einer uneingeschränkten und vollständigen ‚Gut-Werdung‘ des Menschen. Dass Kant hier den erstgenannten Punkt - die Möglichkeit von Umkehr und Besserung - nicht eigens problematisiert, dürfte mehrere Gründe haben. Wie bei der Interpretation von RGV I und des Einleitungsabschnittes zu RGV II deutlich wurde, intendiert die These vom radikalen Bösen nicht eine ausnahmslose Herabsetzung und Pervertierung der menschlichen ‚Natur‘, sondern begründet die Notwendigkeit eines aktiven Kampfes gegen das faktische Zurückbleiben des Menschen hinter seiner Moralfähigkeit. Dementsprechend muss Kant sein Sollen-Können-Axiom und seine Ansicht von der Fähigkeit des Menschen zur Moralgesetzbefolgung nicht revidieren. Vor allem aber dürfte sich diese Vorgehensweise einer distinkten Überzeugung vom Zusammenwirken zwischen göttlicher und menschlicher Aktivität verdanken. Nach Kants Dafürhalten kann Gott aus moralischen Gründen den bösen Menschen nicht zum Guten hinwenden, da dann das moralisch Gute bzw. Böse nicht imputiert werden könnte, die gerechte Vergeltung ausfiele und keine selbsttätige Entscheidung für eine moralische Maximenordnung vorläge. Die Initiative zur Besserung darf nicht von außen kommen, sondern muss vom Subjekt selbst ausgehen. Die im zweiten Stück bedachte Besserungslehre muss daher voraussetzen, dass der Mensch die Besserung will und sich um die Besserung bemüht. Sie entspinnt Ihre Ausführungen auf dieser Grundlage und reflektiert auf das kämpferische Bemühen um die Heiligkeit. In diesem systematischen Zusammenhang wird auch die Frage nach dem göttlichen Beistand bedacht. Eine andere Rückfrage gehört zu der Problematik, die Kluft zwischen ‚homo noumenon‘ und ‚homo phaenomenon‘ zu überbrücken. Ein solcher Überbrückungsversuch zeichnet sich darin ab, dass hier eine Variante des Rückschlussargumentes verwendet wird, die über die Position in RGV I hinausgeht: Nicht nur wird von gesetzwidrigem Handeln aus auf eine schlechte Gesinnung ge- <?page no="259"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 259 schlossen, sondern das kontinuierlich gesetzmäßige und der Wahrscheinlichkeit nach aus Pflicht ausgeübte Handeln wird als valider Indikator für die moralische Gutheit der Gesinnung angesehen. Das Vorliegen eines entsprechenden Bemühens und Handelns lässt vermuten, dass dem auch eine gottwohlgefällige Gesinnung zugrunde liegt und Gott dies anstelle der fragmentarischen und von Umbrüchen behafteten Handlungsbiografie anerkennt. Hinzu kommt, dass bei der Diskussion der Schwierigkeiten über weite Strecken hinweg zeitliche Kategorien dominieren: der ‚alte‘ böse Mensch zuvor , der ‚neue‘ gebesserte Mensch nachher . Die ‚Sinnesänderung‘ erscheint an manchen Stellen geradezu als zeitlich fixierbares Ereignis, als eine Art Lebensentscheidung. Entgegen der Opazitätsthese erweckt der Text hierdurch den Eindruck, als ob die Gesinnung der bewussten Wahrnehmung und Entschließung des Menschen zugänglich wäre. Andererseits wechselt die zeitliche Beschreibung des Gesinnungswandels an verschiedenen Stellen in eine aspektuale Darstellung. Dies macht sich insbesondere an der Überlegung bemerkbar, dass die Annahme der guten Gesinnung und die entsprechende Übernahme von Leiden als kontinuierlich zu vollziehender Prozess - nämlich als andauerndes ‚Absterben‘ und ‚Werden‘ - beschrieben wird, das Gott ‚gnädigerweise‘ als eine vollständige Verbesserung anrechnet. Des Weitern betrifft die in der zweiten Schwierigkeit behandelte Ungewissheit auch die Tatsächlichkeit der ‚moralischen Glückseligkeit‘. Und die Auflösung der dritten Schwierigkeit schließt damit, dass der Mensch seine moralische Qualität nicht etwa durch den Verweis auf Lebensentscheidungen oder Erweckungserlebnisse fixieren kann, sondern sich unaufhörlich um Besserung bemühen muss. Die ‚Sinnesänderung‘ wird damit der ebenfalls zeitenthobenen und lediglich anzunehmenden ‚intelligibelen Tat‘ aus RGV I angeglichen - allerdings um den Preis, dass auch erstere nunmehr ein intransparentes Geschehen darstellt, das selbst vom betreffenden Subjekt bestenfalls indirekt hervorgebracht und wahrgenommen werden kann. Wir finden im Text daher zwei Konzeptualisierungen des Umkehrmomentes: zum einen als erfahrbares und zeitlich fixierbares Geschehen, zum anderen als lediglich anzunehmende Veränderung in den transzendentalen Gründen des Rechthandelns. Beide Konzeptualisierungen sind gut im Text fundiert, sodass weder die eine noch die andere Auffassung als die eigentliche Position der Schrift ausgewiesen werden kann. M. E. kann man diese unaufhebbare Spannung als Hinweis darauf interpretieren, dass Kant an diesen Stellen nicht erklären möchte, wie sich auf Seiten des Menschen ein Bemühen um Moralität einstellen kann. Sie setzen das Vorhandensein eines solchen Bemühens voraus - wie es beispielsweise in der ‚Anlage für die Persönlichkeit‘ in RGV I beschrieben wird. Die Besserungslehre zielt vielmehr auf die Beschreibung und Etablierung <?page no="260"?> 260 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung einer subtilen Haltung, mit der die moralische Askese verknüpft sein muss: einerseits der (immer wieder zu treffende und durchzuhaltende) intentionale Entschluss, das Gute um des Guten willen zu tun, und andererseits das bescheidene Bemühen, mit vollem und entbehrungsreichem Einsatz moralgesetzlich zu handeln, weil man auf diese Weise angesichts der kategorischen Ungewissheit über die Gesinnungsqualität wenigstens annehmen kann, die Gottwohlgefälligkeit des Ideales zu verwirklichen. Trotz der zahlreichen Anspielungen auf die theologische Rechtfertigungslehre 304 hat die Besserungslehre aus RGV II folglich mit der christlichen Soteriologie wenig gemein. Sowohl der Ausgangspunkt der Überlegungen als auch die detaillierte Beschäftigung mit den unterschiedlichen Facetten des menschlichen Bemühens zeigen, dass der vorliegende Text keine Erlösungs-, sondern eine Selbstvervollkommnungslehre entfaltet. Es geht darum, wie der Mensch, der im Sinne des Rigorismus ‚gut‘ handeln will, den Prozess der Besserung durchlaufen kann. Dennoch zieht Kant an verschiedenen Stellen des Textes den Gedanken eines göttlichen Beistandes heran. Im Folgenden sollen diese Bezugnahmen auf den Beistandsgedanken und die unterschiedlichen Überlegungen zum göttlichen Beistand systematisch ausgewertet werden. In Kap. 2.4 wurden bereits Systematisierungen der kantischen Gnadenbegriffe vorgestellt. Im Gegensatz zu jenen Systematisierungen beschränkt sich die folgende Auswertung zunächst auf das zweite Stück. Sie wird auch auf die bereits anhand der Vorlesungen und des ersten Stücks herausgearbeiteten Gesichtspunkte Bezug nehmen und in Kap. 4.3 fortgesetzt werden. Inhaltlich wird die vorliegende Auswertung die gegebenen Systematisierungen insofern differenzieren, als sie eine genaue Beschreibung der moralförderlichen Wirksamkeit des Beistandsgedankens für die Besserungsbemühungen vornimmt. In Entsprechung zur ‚Christologie‘ des zweiten Stücks, so soll aufgezeigt werden, kann man die von Kant angenommene Wirkweise ähnlich wie die moralförderliche Wirkung der exemplarischen Persönlichkeit verstehen. Eine erste Bezugnahme auf den Gnadengedanken findet sich bereits dort, wo das Vorhandensein des Ideals im Menschen beschrieben wird. Kant hält es angesichts der überragenden ‚Heiligkeit‘ des Ideales einerseits und der menschlichen Mangelhaftigkeit andererseits für angemessen, diesen Umstand als Resultat einer Bewegung des Göttlichen auf den Menschen hin anzusehen. Das durch den Menschen in sich selbst vorfindliche Ideal lässt sich aus menschlicher Sicht als gnadenhaft-göttliche Gabe deuten. 305 304 Vgl. bspw. Pesch 2006. 305 Vgl. Mariña 1997, 380-385, u. Thiede 2004, 104. <?page no="261"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 261 Der Gedanke steht dem biblischen Motiv der ‚Kenosis‘ nahe. Ein hymnischer Textabschnitt in Kap. 2,5-9 des Philipperbriefes - ein weiterer Paulus-Brief, den Kant gelegentlich zitiert 306 - spricht davon, dass Gott sich seiner göttlichen Sphäre entäußert und in die menschliche Sphäre eintritt. Aus christlich-theologischer Sicht wird eine solche Bewegung Gottes auf den Menschen zu, die in Jesus Christus bis in die äußerste Konsequenz vollzogen wurde, als gnadenhaftes Geschehen aufgefasst. Der kantische Gedanke handelt zwar nicht von Gott selbst, sondern lediglich vom Ideal der Heiligkeit, welches allein in einem vollkommenen moralischen Wesen wie Gott verwirklicht ist. Er schreibt dem Heiligkeitsideal aber ein Passivitätsmoment ein, das einer konstruktivistischen Interpretationen des Ideals zuwiderläuft und Raum dafür eröffnet, das Vorhandensein dieses moralischen Anspruchs religiös zu deuten. In der Diskussion der Schwierigkeiten dominiert eine andere Konzeption. Der Text empfiehlt bezüglich der Selbstidentifikation als moralisch gebesserter Mensch und für das damit zusammenhängende Problem der unabgeschlossenen Handlungsbiografie, den ‚gnädigen‘ Blick Gottes zu antizipieren. Denn Gott, der ‚Herzenskündiger‘, durchschaut die ‚noumenale‘ Qualität des Daseins, an der dem moralisch Gesinnten gelegen sein muss, die von diesem aber nicht beurteilt werden kann. Außerdem gilt für das allwissende Wesen die ‚Gesinnung für die Tat‘. Dies wird von Kant als ‚Gnade‘ bezeichnet. Aus der Antizipation der göttlichen Herzensschau erwächst die Zuversicht, welche wiederum insofern positive Auswirkungen auf die ‚phänomenal‘ wahrnehmbare Selbststeuerung des Menschen hat, als sie den Zweifel an einer verifizierbaren und umfassenden Erreichung der Tugendhaftigkeit abschwächt. Eine solche ‚kardiognostische‘ 307 Gnadenkonzeption hat dem Begriff und der Sache nach jedoch wenig mit der Auffassung gemein, dass Gott bei der Besserungsleistung als solcher behilflich wäre. An das Kardiognosie-Argument ist eine knappe Definition angehängt, die einen anderen Gesichtspunkt betont: Dass das Werden als Besitz zugerechnet wird, dazu haben wir „keinen Rechtsanspruch“, sondern „nur Empfänglichkeit, welches alles ist, was wir unsrerseits uns beilegen können“; und „der Ratschluß […] eines Oberen zu Erteilung eines Guten, wozu der Untergeordnete nichts weiter als die (moralische) Empfänglichkeit hat, heißt Gnade.“ 308 Der Text bringt damit die auch in RGV I belegte Überzeugung zum Ausdruck, dass die Gnade nur unter der Bedingung einer moralischen Qualifizierung des Gnadenempfängers eintritt und eine die menschliche Vorleistung verbessernde Ergänzung oder 306 Vgl. Stangneth 2003, 319. 307 Der Begriff ist Rößner 2012, 78, entnommen, wo er als Bezeichnung für die Nichterkennbarkeit des Herzens durch den Menschen verwendet wird. 308 B 102/ AA VI 75 8.38-41 . <?page no="262"?> 262 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Vervollständigung darstellt. Als Begründung wird das Argument von Gottes Gerechtigkeit angeführt: Eine von Gott hergestellte Wandlung des Menschen oder eine göttlichen Vergebung der angehäuften Schuld müssen strikt abgelehnt werden, da dies aus Kants Sicht der Gerechtigkeit und damit dem Handeln eines moralisch vollkommenen Wesens widersprechen würde. Hier erscheint folglich der Gedanke der Ergänzung, dessen moralphilosophischen Hintergründe in Kap. 3.4 anhand der Ethikvorlesungen herausgearbeitet wurden. In Bezug auf die beiden soeben dargelegten Konzeptionen des göttlichen Beistandes - die Kardiognosie und die Ergänzung - kann man das anhand der Rückfragen herausgearbeitete, systematische Charakteristikum wiederholen: In RGV II wird nicht die Frage nach der Abkehr vom Bösen reflektiert, sondern es werden die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der moralischen Vervollkommnung erörtert. Theologisch gesprochen geht es nicht um die Erlösung, sondern um die Heiligung und Vollendung des Menschen. 309 Ausgehend von den Ausführungen des zweiten Stücks muss der Beistandsgedanke in diesem Zusammenhang betrachtet werden. Gottes Beistand wirkt auf den Vervollkommnungsprozess ein - und zwar nicht als synergistische Mitwirkung oder als Vergebungszusage, sondern als Vergewisserungsinstanz hinsichtlich der Gesinnungsqualität und der Erreichung des Ideals. Wie sich in Kap. 4.3 zeigen wird, bleibt Kant im dritten Stück bei diesen Überlegungen nicht stehen. Er scheint zu sehen, dass sich der durch die moralphilosophische Analyse aufgeworfene Knoten durch eine derartige Beistandslehre nicht lösen lässt. Der systematische Zusammenhang, in dem die Beistandsüberlegungen des zweiten Stücks stehen, muss auch in der Diskussion um die moraltheologische Kantrezeption beachtet werden. Zwei Vergleichspunkte sollen hier herausgegriffen werden. Der eine betrifft das problematische Verhältnis von transzendentalem Handlungsgrund und Einzelhandlung. Sowohl die Exposition als auch die Lösung der Schwierigkeiten nehmen immer wieder das Problem auf, inwiefern der Mensch sich als moralisch gut begreifen kann, obgleich eine solche Selbstcharakterisierung angesichts der hohen Ansprüche umfassender Gutheit fraglich erscheint und sich erst noch in Form einer stetigen Moralpraxis beweisen muss. Eine strukturell ähnliche Thematik wird in der moraltheologischen Theoriebildung unter dem Stichwort optio fundamentalis erörtert. 310 Das Selbstverständnis eines um Heiligung bemühten Menschen darf sich weder allein an dessen distinkten Einzelhandlungen orientieren noch diese außer Acht lassen. 309 Heit 2006, 103, unterscheidet zwischen ‚Erlösung‘ („dasjenige Ereignis […], durch das jemand vom Bösen zum Guten gewendet wird“) und ‚Rechtfertigung‘ (ein „Akt, in dem die Schuld des Sünders nicht als solche angesehen wird“). Vgl. zu der genannten Unterscheidung auch Hare 1996, 58. 310 Vgl. Witschen 2009, 123-135. <?page no="263"?> 4.2 Der Kampf um die Besserung und das Beispiel der Heiligkeit 263 Dieses Selbstverständnis wird zudem durch den göttlichen Beistand positiv beeinflusst. Allerdings, so lässt sich dem Text des zweiten Stücks entnehmen, steht bei dieser positiven Beeinflussung weniger das tatsächliche Handeln Gottes im Mittelpunkt, sondern die Vorstellung von einem solchen Handeln. Das führt auf einen zweiten Vergleichspunkt, nämlich die präzise Rolle, die dem göttlichen Beistand beim Heiligungsgeschehen zukommt. In der Interpretation der moralförderlichen Funktionen des Ideales wurde deutlich, dass es bei der beispielhaften Persönlichkeit, die das Ideal verwirklicht, nicht in erster Linie um eine historische Person geht, ja eine bloße Nachahmung einer solchen Person sogar gefährlich wäre. Zugleich aber wird die durch das Christentum präsente und vermittelte Beispielerzählung durchaus als hilfreicher Beweis für die ‚Tunlichkeit‘ der Tugend anerkannt. Kant enthält sich des Urteils über die tatsächlichen historischen Begebenheiten ebenso wie über eine mögliche göttliche Herkunft dieser Person. Die tradierte und von den Nachfolgenden lediglich empfangene Erzählung über ein exemplum der Tugend hält er jedoch für ausgesprochen hilfreich und bewahrenswert. Ebenso interessiert sich Kant bei der Auflösung der Schwierigkeiten nicht für das tatsächliche Handeln eines göttlichen Wesens. Es liegt ihm vor allem an der gedanklichen Repräsentation dieser Gnadenhandlungen, da sie aus seiner Sicht eine adäquate Explikation desjenigen Bewusstseins darstellt, das mit dem moralischen Kampf verbunden sein sollte, um diese Bemühung nicht als vergebliches und undurchführbares Unterfangen anzusehen. Kant hat ein ausgeprägtes Sensorium für den Mangel an ‚gutem Willen‘, für die Fraglichkeit einer Perseveranz in der Besserung und für die daraus resultierenden Schwierigkeiten, sich angesichts dessen als jemand zu verstehen, der den Idealzustand auch nur annähernd verwirklichen kann. Seit seiner Vorlesungstätigkeit grenzt er sich dadurch von anderen Perfektionierungsethiken ab und ist der Überzeugung, dass die christliche Gnadenlehre für die Bewältigung dieser Problemlagen sachgemäße Theorieelemente bereithält. Wie die Zusammenschau mit der Argumentation zur Funktion des exemplum zeigt, entfalten diese Theorieelemente ihre positive Wirksamkeit jedoch vor allem auf diskursivem Wege: als wirkungsvolle Entkräftung kritischer Einwände gegen die Besserungsbemühung. 311 Die in der Sekundärliteratur benannte ‚motivationale‘ Funktion der 311 Vgl. auch eine Stelle aus der Bibelauslegung im zweiten Abschnitt, wonach das Wichtigste am ‚Beispiel‘ offenbar auch durch eine bloße Repräsentation in der ‚Vorstellung‘ vermittelt wird (B 112f/ AA VI 82 1-13 ; Hervorhebungen: Reich): „Da aber das Reich […] ein solches [ist], in welchem man über die Sachen nur in sofern disponieren kann, als man über die Gemüter herrscht, in welchem also niemand Sklave (Leibeigner) ist als der-- und solange er es sein will: so war eben dieser Tod (die höchste Stufe der Leiden eines Menschen) die Darstellung des guten Prinzips, nämlich der Menschheit, in ihrer <?page no="264"?> 264 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Gnadenlehre 312 muss daher mittels der Analogie zur moralförderlichen Wirkung des Beispiels präzisiert werden. Die Vorstellung, dass Gott die im Werden befindliche Besserung als vollendete Ganzheit ansieht, stellt somit keine zusätzliche Triebfeder dar, die die kantische Theorie vom Handeln aus Pflicht in Gefahr brächte. Vielmehr arbeitet sie dem naheliegenden Einwand entgegen, dass es klüger wäre, die Vervollkommnungsbemühungen einzustellen, weil deren zuverlässige Identifikation nicht möglich ist und die moralische Bilanz durch vergangene oder gegenwärtige moralische Patzer ohnehin schon erheblich eingetrübt wird. Die Vorstellung der Gnade entfaltet ihre moralförderliche Wirksamkeit auf das sich-bessernde Subjekt dadurch, dass sie dazu geeignet ist, Hindernisse auf der begrifflich-argumentativen Ebene - wovon in den Rahmenteilen der Schwierigkeitendiskussion mehrfach die Rede ist - zu entkräften. Ebenso wie im Falle der Beispielpersönlichkeit und ähnlich wie bei der in Kap. 3.4 beschriebenen Abhilfe gegen die ‚Mutlosigkeit‘ geht es um gedanklich präsente Vorstellungen von Gottes Beistandshandeln, die gegen eine argumentativ schlagkräftige Moralitätsvermeidungsrhetorik ins Feld geführt werden können. Im Gegensatz zu den bisher analysierten Texten besteht in RGV II also eine große Nähe zwischen den Beistandsüberlegungen und Kants Nachdenken über Jesus Christus. Diese Nähe wird durch die Textstruktur erzeugt - der Aufbau von RGV II ähnelt der theologischen Traktierung von Person und Werk Christi 313 - und zeigt sich auch in der Beschreibung der Einwirkungsweisen auf das Bewusstsein des moralisch Handelnden. Gegenüber den bereits herausgearbeiteten Reflexionen zur göttlichen Unterstützung ist das etwas Neues. So wurde beispielsweise in Kap. 3.4 und 3.6 festgestellt, dass die Beistandslehre der Vorlesungen ohne christologische Bezüge auskommt. Die Frage des göttlichen Beistandes für den durch Schwäche und Gebrechlichkeit gekennzeichneten Menschen und die Frage der Vergebung werden dort erörtert, ohne ein Wort über Jesus Christus zu verlieren. Doch die Überlegungen zu Jesus Christus, mit der die Beistandslehre im zweiten Stück der Religionsschrift in Zusammenhang gebracht wird, weisen ein sehr spezifisches Profil auf und operieren mit voraussetzungsreichen philosophischen Begriffen. Die Differenzen zu zentralen Aussagen der Christologie (wie z. B. die Zwei-Naturen-Lehre, die jesuanische Verkündigung, die Deutung moralischen Vollkommenheit, als Beispiel der Nachfolge für jedermann. Die Vorstellung desselben sollte und konnte auch für seine, ja sie kann für jede Zeit vom größten Einflusse auf menschliche Gemüter sein, indem es die Freiheit der Kinder des Himmels und die Knechtschaft eines bloßen Erdensohns in dem allerauffallendsten Kontraste sehen läßt.“ 312 Vgl. Michalson 1990, 95 f. 313 Siehe Kap. 4.2.1. <?page no="265"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 265 des Todes Jesu) sind nicht zu übersehen. 314 Daher muss es verblüffen, wenn theologischerseits verschiedentlich Versuche unternommen werden, in der kantischen Christologie christentumsaffine Gedanken aufzuweisen. 315 Wie die systematische Zusammenschau ergeben hat, nimmt das zweite Stück zwar die für die christliche Theologie zentrale Frage auf, wie der in der Heiligung befindliche, aber weiterhin moralisch defizitäre Mensch zuversichtlich sein kann, Anteil am Heil zu erlangen. Für Kant ist es wichtig, dass das moralische Streben eines fragilen und frustrationsgefährdeten Wesens wie das des Menschen von einem distinkten Bewusstsein begleitet wird. Und zu diesem Bewusstsein gehören auch Überzeugungen hinsichtlich der beispielhaften Persönlichkeit Jesus Christus und des göttlichen Beistandes. Diese Überzeugungen sind jedoch sehr spezifischer Art und haben mit christlichen Glaubensüberzeugungen nur wenig gemein. Sie besagen in etwa: „Wie das Beispiel des Menschen Jesus gezeigt hat, kannst du die umfassenden Ansprüche des Moralgesetzes erfüllen; und sofern du dich bemühst, wirst du von Gott so betrachtet, als ob du sie tatsächlich dauerhaft erfülltest.“ 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 4.3.1 Der Aufbau von RGV III und der Zusammenhang mit den anderen Stücken Auch das dritte Stück hebt kämpferisch an. Es ist von einem ‚Kampf‘ die Rede, der sich gegen ‚Anfechtungen‘ richtet und der ‚Zurüstung‘ bedarf. Hierdurch erwartet Kant, wie die Überschrift des Stücks besagt, den „Sieg des guten Prinzips über das böse“ und die „Gründung eines Reichs Gottes auf Erden“. 316 Bevor diese Kampfhandlungen genauer betrachtet werden, ist es hilfreich, sich einen Überblick über die verschiedenartigen Abschnitte des Stückes zu verschaffen. Es wird sich zeigen, dass RGV III nicht nur das in der Einlei- 314 Vgl. Sala 2000, 24-68. 315 Vgl. bspw. Mariña 1997, 394-398, bes. 394 f. (Hervorhebung durch Kursiv im Original): „Note that here it is a historical example , and not merely the archetype of goodness lying in our reason, which is represented as paving the way to a life directed away from the satisfaction of ends having to do with merely subjectively conditioned desires.“ 316 Vgl. B 127/ AA VI 93 8-13 . Wie Stangneths Ausgabe (2003, 123) entnommen werden kann, wird die Überschrift (B 127/ AA VI 93 2f ) insofern durch eine textkritische Schwierigkeit belastet, als Kant in der ersten Auflage ‚ Böse ‘ statt ‚ böse ‘ schreibt und dadurch (übrigens wie im Einleitungsabschnitt zu RGV II) das Böse als subjektivierte Größe erscheint. Erst in der B-Auflage erscheint die adjektivisch-elliptische Formulierung, parallel zur Überschrift von RGV II. <?page no="266"?> 266 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung tung angedeutete Kampfgeschehen beschreibt, sondern damit noch weitere Überlegungen verknüpft, allen voran zum Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft und zur Lehre vom gnädigen Beistand Gottes. Überdies muss das Verhältnis der Argumentation zu den Ausführungen in den anderen Stücken erörtert werden. Das dritte Stück umfasst insgesamt vier Textteile: Eine umfangreiche ‚erste Abteilung‘, die die ‚ philosophische Vorstellung‘ der Gründung des ‚Reiches‘ entfaltet, eine ‚zweite Abteilung‘, in der die ‚ historische Vorstellung‘ dieser Gründung diskutiert wird, und schließlich eine ‚allgemeine Anmerkung‘, die von ‚Geheimnissen‘ handelt. Der ersten Abteilung vorangestellt ist ein knapper Einleitungsabschnitt, in dem der Ausgangspunkt der anhebenden Ausführungen erläutert und diejenige Größe benannt wird, in der Kant die in Aussicht gestellte, siegreiche Durchsetzung des guten Prinzips verwirklicht sieht: das ‚ethische gemeine Wesen‘. Die erste Abteilung ist in sieben Unterabschnitte aufgegliedert. Ab dem zweiten Unterabschnitt sind diese jeweils mit Thesen überschrieben. Kant entfaltet hierdurch eine langgestreckte Argumentation, die mittels der Verknüpfung von Leitbegriffen vorangetrieben wird: Aus der Analogie, die zwischen dem ‚ethischen‘ und dem politischen Gemeinwesen besteht, und der Analyse des ‚ethischen Naturzustandes‘ folgert er, dass der Mensch ein Glied des ‚ethischen gemeinen Wesens‘ werden muss. Diese spezifische Form der Vergemeinschaftung wird dann begrifflich mit religiösen Gemeinschaften - ‚Volk Gottes‘, ‚Kirche‘ - vermittelt. Die Thesen fünf bis sieben führen noch einen Schritt weiter, indem sie in Bezug auf die Kirche und die in ihr verkündete Lehre das Verhältnis von Vernunft und Glaube sowie die Frage des ‚seligmachenden Glaubens‘ diskutieren. In der zweiten Abteilung werden die Geschichte und der zeitgenössische Zustand der real existierenden christlichen Kirchen betrachtet - und zwar vor dem Hintergrund der in der ersten Abteilung entfalteten ‚philosophischen‘ Kirchenlehre. Über mehrere Seiten hinweg bringt Kant Gründe dagegen vor, diese Geschichtsdarstellung bereits mit dem Judentum beginnen zu lassen. 317 Doch auch die mit dem Christentum anhebende ‚Gründung der Herrschaft des guten Prinzips auf Erden‘ verläuft dem Text zufolge so, wie es die Überschrift und die ersten Zeilen andeuten: nämlich sehr ‚allmählich‘ und ‚als beständiger Kampf‘ 318 zwischen Elementen, die praktisch-vernünftig gerechtfertigt werden können, und anderen Elementen, die dieser kritischen Prüfung nicht standhalten oder dem moralischen Sinn der Tugendgemeinschaft widerstreiten. 317 Vgl. B 184-189/ AA VI 124 29 -127 18 . 318 Vgl. B 183/ AA VI 124 7f u. B 184/ AA VI 124 22-28 . <?page no="267"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 267 Denn trotz des hervorragenden Unterrichts und Lebenswandels des ‚Lehrers des Evangeliums‘ sowie der günstigen Entstehungsbedingungen entstehen in der weiteren Kirchengeschichte Frömmigkeiten, die vom moralischen Gründungsimpuls abweichen. Es bildet sich eine priesterliche Hierarchie aus. Und in Form von Religionskriegen trägt das Christentum zuweilen sogar zur Zerstörung der Friedensordnung und zur Dehumanisierung bei. 319 Die seinerzeit gegenwärtige Phase der christlichen Kirche ist dabei für Kant die beste, da die Menschen im Begriff sind, den „Keim des wahren Religionsglaubens, so wie er jetzt in der Christenheit […] öffentlich gelegt worden“ ist, sich entwickeln zu lassen und hierdurch eine „kontinuierliche Annäherung zu derjenigen […] Kirche“ erwartet werden kann, „die die sichtbare Vorstellung […] eines unsichtbaren Reichs Gottes auf Erden ausmacht“ 320 . Die allgemeine Anmerkung zum dritten Stück diskutiert die Geheimnisse, die in den ‚Glaubensarten‘ gelehrt werden und Kant zufolge eine subtile erkenntnistheoretische Zwischenposition einnehmen. Zwei dieser Geheimnisse, nämlich das der ‚Genugtuung‘ und das der ‚Erwählung‘, gehören zur Thematik des göttlichen Gnadenhandelns, das bereits in der ersten Abteilung unter dem Stichwort ‚seligmachender Glaube‘ erörtert wurde. Kant wiederholt hier seinen Grundsatz, wonach die Vernunft sich die Notwendigkeit und die Art und Weise des göttlichen Gnadenhandelns auf eine ganz bestimmte Weise verständlich machen könne. Um die praktisch-vernünftige und damit für den Menschen allein bedenkenswerte Vollzugsweise des göttlichen Beistandes einzusehen, bedarf die Vernunft daher keiner Vermittlung durch eine Offenbarung. Der Einleitungsabschnitt lässt sich in einen einleitenden Absatz aufgliedern, der bereits am Beginn des Kapitels zitiert wurde, 321 sowie in einen längeren Mittelteil 322 und in einen Übergangsabschnitt, wo die Ausdrücke ‚ethisches‘ und ‚bürgerliches gemeines Wesen‘ eingeführt werden 323 . Der Mittelteil enthält ein Argument, das erstens eine Erklärung für die im dritten Stück dargestellte Kampfsituation bietet und hieraus zweitens die Notwendigkeit der ethischen Vergemeinschaftung ableitet. Das Spezifische des hier geschilderten Kampfszenarios liegt darin, dass es aus der Gemeinschaft mit anderen Menschen resultiert. 324 Denn der einzelne 319 Vgl. B 193-197/ AA VI 129 16 -131 29 . 320 B 197f/ AA VI 131 32 -132 1 . 321 Vgl. B 127/ AA VI 93 4-13 . 322 Vgl. B 127-129/ AA VI 93 14 -94 25 . 323 Vgl. B 129f/ 94 26 -95 6 . 324 Vgl. B 128/ AA VI 93 17-21 : „Wenn er sich nach den Ursachen und Umständen umsieht, die ihm diese Gefahr zuziehen und darin erhalten, so kann er sich leicht überzeugen, daß sie ihm nicht sowohl von seiner eigenen rohen Natur, sofern er abgesondert da ist, sondern von Menschen kommen, mit denen er in Verhältnis oder Verbindung steht.“ <?page no="268"?> 268 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Mensch, so argumentiert der Autor, hat nur geringe und maßvoll zu realisierende Bedürfnisse und auch „die eigentlich so zu benennenden Leidenschaften“ sind dem Einzelwesen als solchem nicht eingeschrieben. 325 Was mit dieser subtilen Unterscheidung gemeint sein dürfte, wird am Beispiel des Besitzes illustriert: Arm zu sein, schreibt sich der Mensch nur zu, „sofern er besorgt [sc. sich sorgt], daß ihn andere Menschen dafür halten und darüber verachten möchten“; diese Selbstattribution und die aus ihr resultierenden „feindseligen Neigungen“ wie „der Neid, die Herrschsucht [… und] die Habsucht“ entstehen immer dann, wenn der Mensch unter anderen Menschen ist. 326 Das ‚immer dann‘ - im Text: ‚als bald‘ - ist wichtig, da der Text darauf abhebt, dass sich diese Leidenschaften nicht etwa aufgrund der Verleitung durch schlechte Vorbilder - im Sinne der aus Kap. 4.2.4 bekannten scandala - Geltung verschaffen. Die Gefährdungslage ergibt sich nicht aus den individualethisch zu traktierenden Phänomenen einer Depravierung einzelner Personen und des mangelnden Widerstandes gegen derartige Vorbilder. Bedrohlich ist aus Kants Sicht schon die vergemeinschaftete Lebensweise der Menschen als solche. 327 Im Umkehrschluss folgt daraus aber, dass eine Theorie von der Besserung des Menschen sich nicht auf das ‚Gut-Werden‘ des Einzelnen beschränken darf. Sie muss auch die aus der sozialen Lebensweise resultierenden Schwierigkeiten berücksichtigen und eine Transformation dieser Lebensweise auf eine andere Vergemeinschaftung hin bedenken. Die verschiedenen Bezeichnungen und Eigenschaften, die dieser andersartigen Gemeinschaft beigelegt werden, werden in Kap. 4.3.2 noch eingehend diskutiert. Wichtig ist an dieser Stelle der grundsätzliche Ansatzpunkt, den der Einleitungstext darlegt: Die sozialanthropologisch aufgewiesene Gefährdung des Menschen macht die Etablierung einer Form des zwischenmenschlichen Zusammenlebens erforderlich, damit das gute Prinzip den Sieg erringen kann. Diese Neu-Vergemeinschaftung der Menschen muss nach ausschließlich moralischen Grundsätzen organisiert sein. Und überdies muss sie ausdrücklich die Zielsetzung verfolgen, das moralische Zusammenleben zu fördern. 328 Obgleich vorerst nicht näher ausgeführt wird, inwiefern eine solche Tugendvereinigung die aus dem Gemeinschaftsleben resultierenden Gefahren zu eliminieren ver- 325 Vgl. B 128/ AA VI 93 21-25 , Zitat: Z. 22. 326 Vgl. B 128/ AA VI 93 25 -94 4 . 327 Vgl. B 128/ AA VI 94 2-6 : „[U]nd es ist nicht einmal nötig, daß diese [sc. die Menschen] schon als im Bösen versunken, und als verleitende Beispiele vorausgesetzt werden; es ist genug, daß sie da sind, daß sie ihn [sc. den Menschen] umgeben, und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben, und sich einander böse zu machen.“ 328 Vgl. B 129/ AA VI 94 7-25 . <?page no="269"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 269 mag, scheint für Kant auch deshalb keine andere Überwindung der Vergemeinschaftungsproblematik infrage zu kommen, weil er ebenso wie in RGV II davon ausgeht, dass „der Mensch […] durch seine eigene Schuld“ diesem „gefahrenvollen Zustande“ ausgesetzt ist und deshalb verpflichtet ist, „wenigstens Kraft anzuwenden, um sich aus demselben herauszuarbeiten“. 329 Aber anders als in RGV II ist der zu bekämpfende Gegner nicht ein Mangel an ‚gutem Willen‘, sondern die problematische Wirkung, die die soziale Lebensweise auf den Menschen ausübt. Der präzise Ausgangs- und Problempunkt in RGV III ist folglich ein anderer als in RGV II. Eine solche Lektüre des Ausgangspunktes wird durch eine Reihe weiterer Hinweise im Text gestützt. So ist hier beispielsweise nicht mehr nur vom ‚Kampf‘ zwischen dem guten und dem bösen Prinzip die Rede. Es gerät bereits der ‚Sieg‘ über das Böse in den Horizont der Ausführungen. Zweitens fällt in Bezug auf die Extension der Kampfgemeinschaft auf, dass diese im dritten Stück die gesamte Menschheit und nicht mehr nur eine einzelne, um Moralität ringende Person umfasst. 330 Und drittens setzen einige Textstellen offenbar voraus, dass bereits eine Besserung des einzelnen Menschen stattgefunden hat und die noch zu bewältigende Auseinandersetzung (lediglich) die zusätzlichen Gefährdungen der vergemeinschafteten Lebensweise betrifft: Ohne die Gründung der Tugendvereinigung, so argumentiert der Einleitungsabschnitt, droht die Gefahr eines „Rückfalls“ unter die Herrschaft des Bösen, und zwar unabhängig davon, wie viel „der einzelne Mensch bereits auch getan haben möchte, um sich der Herrschaft desselben [sc. des Bösen] zu entziehen“. 331 Wenig später wird die Tugendgesellschaft in blumig-militärischem Jargon als „Fahne der Tugend“ bezeichnet, die von der Vernunft „als Vereinigungspunkt für alle, die das Gute lieben, ausgesteckt“ 332 ist. Diese Textstellen sprechen m. E. dafür, dass die sozialanthropologischen Überlegungen und die Theorie vom ethischen Gemeinwesen ihren Ausgangspunkt von einem Menschen nehmen, der durch individuelle Anstrengung bereits eine Besserung durchläuft und aufgrund seiner vergemeinschafteten Lebensweise gleichsam eine weitere Kampfrunde gegen das Böse zu bestehen hat. Die Theorie gehört folglich in den Zusammenhang eines andersartigen Kampfes, der nur kollektiv bewältigt werden kann und schließlich die vollständige Durchsetzung der Herrschaft des guten Prinzips erbringt. Eine solche sachliche Verortung der Theorie hat allerdings Konsequenzen dafür, wie der Zusammenhang zwischen RGV III und den anderen Teilen der Schrift interpretiert werden sollte. 329 Vgl. B 127f/ AA VI 93 14-16 . 330 Vgl. B 129/ AA VI 94 17-19 . 331 B 129/ AA VI 94 12-14 . 332 B 129/ AA VI 94 22-23 . <?page no="270"?> 270 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Wie sich beim Überblick über die Interpretationsdebatte in Kap. 2 zeigte, wird zwischen dem ersten und dem dritten Stück häufig eine besonders enge Verknüpfung hergestellt. Darüber hinaus konnte herausgearbeitet werden, dass sich diese hermeneutische Herangehensweise an die Religionsschrift unterschiedlichen Interpretationsinteressen verdankt: So hat das beispielsweise in den Kritiken leicht belegbare und auch im Vorwort der Schrift genannte summum bonum -Motiv starken Einfluss auf die RGV-Lektüre. 333 Hierdurch gerät das dritte Stück vorrangig in den Fokus der Aufmerksamkeit, weil die Hypothese naheliegt, dass das Motiv des höchsten Gutes im Theorem des ‚ethisch gemeinen Wesens‘ eine weltimmanente Auslegung erfährt. Andere versuchen die argumentativen Schwierigkeiten der These vom radikalen Bösen in RGV I durch den Rückgriff auf den Einleitungsabschnitt von RGV III zu beheben und tendieren dazu, die Schrift insgesamt als eine sozialanthropologische Theorie des Bösen und der Besserung zu interpretieren. 334 Darüber hinaus werden manche Überlegungen aus dem dritten Stück als kantische Sozialutopie gelesen, die als kritischer Impulsgeber für die politische Philosophie und die Gesellschaftstheorie fungieren kann. 335 Auf den ersten Blick bietet es sich an, die sozialanthropologische Argumentation aus dem Einleitungsabschnitt von RGV III mit der Erläuterung zur ‚Anlage für die Menschheit‘ in RGV I 336 zusammenzuschließen. Denn in beiden Fällen ist von dem Phänomen die Rede, dass die Menschen den Vergleich mit anderen suchen und sich aufgrund dieses Vergleichens Eigenschaften beilegen, die dann wiederum die Grundlage für Aktivitäten bilden, um ihren relativen Wert gegenüber den Mitmenschen zu steigern. Unter den negativen Auswüchsen dieses Bestrebens nennt Kant auch im ersten Stück den Neid. Im Einleitungsabschnitt zu RGV III findet sich überdies eine Formulierung, die diese soziale Dynamik geradezu zur Ursache für die Bosheit erklärt. Das betreffende Zitat verdient daher eingehende Beachtung: „[E]s ist genug, daß sie [sc. die Mitmenschen] da sind, daß sie ihn [sc. den einzelnen Menschen] umgeben, und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben, und sich einander böse zu machen.“ 337 Allerdings weisen beide Textstellen auch bedeutende Differenzen auf. Die soeben zitierte Aussage rechnet offenbar mit der Möglichkeit einer ‚Verderbnis‘ der moralischen Anlage, was mit dem in RGV I durchscheinenden Menschenbild unvereinbar ist. Hinzu kommt, dass bei der Diskussion der Anlagen posi- 333 Siehe Kap. 2.2. 334 Siehe Kap. 2.3. 335 Siehe Kap. 2.5. 336 Vgl. B 17f/ AA VI 27 4-26 , siehe auch Kap. 4.1.2. 337 B 128/ AA VI 94 4-6 . <?page no="271"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 271 tive Entfaltungstendenzen beschrieben werden: Aufgrund des Charakteristikums, sich mit anderen zu vergleichen, gehört es gemäß dieser Sichtweise zum Menschen, komplexe und subtile Handlungen zu vollziehen. Kant schreibt den Anlagen den Sinn zu, für sich gut und auf das Gute hin ausgerichtet zu sein. Dieses Angelegt-Sein auf Handeln bringt es jedoch mit sich, dass der Mensch sich ‚von Natur aus‘ in einer Grundsituation befindet, die die Möglichkeit der Lasterbildung einschließt. Dass aber beispielsweise das Laster des Neides vorkommt, dazu bedarf es zusätzlich eines freiheitlichen Grundes. 338 Aufgrund dieser Differenzen in der Argumentationsabsicht dürfte die sozialanthropologische Argumentation aus RGV III nicht geeignet sein, um mit der Erläuterung der Anlagen in RGV I textlich zusammengeschlossen zu werden und so eine stückeübergreifende Begründung für die These zu bilden. 339 Hinzu kommen weitere Details: RGV I benennt neben den sozialschädlichen Pervertierungen der Anlage für die Menschheit auch Laster, die (lediglich) eine Verletzung der Pflichten gegen die eigene Person darstellen und mit den Problemen der sozialen Lebensweise nichts zu tun haben. 340 Außerdem werden die Gefahren durch die Vergemeinschaftung zu Beginn von RGV III als ‚Angriffe‘ und ‚Anfechtungen‘ des ‚Sündengesetzes‘ gedeutet. Auch wenn der Einzelne sich aus der Knechtschaft unter diesem Gesetz befreit hat oder sich weiterhin in einem andauernden Befreiungsprozess befindet, ist offenbar mit weiterhin stattfindenden ‚Angriffen‘ und ‚Anfechtungen‘ zu rechnen und es müssen ge- 338 Vgl. B 17/ AA VI 27 12-15 : „Hierauf [sc. auf die Anlage für die Menschheit, …] können die größten Laster […] gepfropft werden: die eigentlich doch nicht aus der Natur als ihrer Wurzel von selbst entsprießen“; B 19/ AA VI 28 16 : „Der Mensch kann die zwei ersteren [Anlagen] zwar zweckwidrig brauchen“. Siehe auch Kap. 4.1.2. 339 Ein ähnlicher Befund stellt sich beim Vergleich mit dem von Kant diskutierten Phänomen der ‚ungeselligen Geselligkeit‘ ein, das mitunter als zusätzlicher textexterner Hinweis auf einen solchen argumentativen Zusammenhang herangezogen wird. Wie in Kap. 2.3 erläutert, lassen sich zwar einige Gemeinsamkeiten mit der im Einleitungsabschnitt geschilderten zwischenmenschlichen Problematik ausmachen: Auch die ‚ungesellige Geselligkeit‘ äußert sich in „Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht“ und bringt den Menschen dazu, „sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen“ (AA VIII 218 f.). Andererseits liegt der Akzent hier auf den positiven Aspekten des Phänomens, das Kant in der Menschheitsgeschichte erkennen zu können glaubt und das aus seiner Sicht die Partizipation der Menschheit an der teleologischen Ordnung der Welt offenbart. Außerdem zielt die ‚ungesellige Geselligkeit‘ auf die Etablierung einer gerechten und alle Länder umfassenden Staatsordnung, nicht auf die moralische Vereinigung der Menschen in einem ‚ethisch gemeinen Wesen‘, auf das der Einleitungstext hinführt. 340 So wird beispielsweise auch für die erste, vorwiegend individualethisch relevante Anlage ein Lasterpfropf genannt (vgl. Klemme 1999, 142). Die sozialanthropologische Intepretation Woods (2010, 168) muss daher alle derartige Pflichtverletzungen auf intersubjektive Verhältnisse zurückführen, was im Text jedoch nur in Bezug auf manche Laster wie den Neid oder die Herrschsucht behauptet wird (vgl. B 129/ AA VI 93 27 -94 6 ). <?page no="272"?> 272 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung eignete kollektive Gegenmaßnahmen ergriffen werden. 341 Auch die Rückblende auf das dritte Stück zu Beginn von RGV IV bringt dies zum Ausdruck, indem einerseits vom Gehorsam bezüglich der jeweiligen ‚Privatpflicht‘, andererseits von einer ‚Pflicht von besonderer Art‘ die Rede ist, die darin besteht, sich zu einem ‚ethischen Gemeinwesen‘ zu vereinigen. 342 Genauso wie in Bezug auf das Problem der Allgemeinheit des Bösen in RGV II - wo zuweilen auch versucht wird, ein über den Text hinausgehendes Argument für die Allgemeinheitsthese zu finden - ist es m. E. nicht die Aufgabe einer Interpretation, die im Text gegebenen Überlegungen und Argumente zu verbessern. Die verschiedenen Details und die Differenzen innerhalb des Textes sollten als solche zur Kenntnis genommen werden. Auf den konkreten Fall bezogen bedeutet dies, die divergenten Aussageabsichten und Schwerpunkte der drei Stücke zur Geltung zu bringen. Es wird daher folgende Lesart vorgeschlagen: Dass es in moralischer Hinsicht nicht gut um den Menschen bestellt ist und er der Besserung bedarf, wird in RGV I dargelegt. Während in RGV II die Vervollkommnungsbemühungen des einzelnen Menschen diskutiert wurden, beschäftigt sich die Gemeinwesentheorie aus RGV III primär mit der moralischen Besserung der menschlichen Gemeinschaft und arbeitet daher zu Beginn eine aus dem sozialen Miteinander resultierende Herausforderung für die um Besserung bemühten Menschen heraus. Die moralische Unvollkommenheit ebenso wie die Besserung haben für Kant also sowohl eine individuelle als auch eine zwischenmenschliche Komponente, wobei die letztere im dritten Stück der Schrift thematisiert wird. 343 Wir haben mit Kants Besserungslehre eine Theorie vor uns, die einen sehr hohen Differenzierungsgrad aufweist: Sie anerkennt die Wichtigkeit von kollektiven Anstrengungen angesichts der mit der Vergemeinschaftung einher- 341 Vgl. B 127/ AA VI 93 8-13 : „Daß er frei, daß er ‚der Knechtschaft unter dem Sündengesetz entschlagen wird, um der Gerechtigkeit zu leben‘, das ist der höchste Gewinn, den er erringen kann. Den Angriffen des letzteren bleibt er nichts destoweniger noch immer ausgesetzt; und seine Freiheit, die beständig angefochten wird, zu behaupten, muß er forthin immer zum Kampfe gerüstet bleiben.“ 342 Vgl. B 225f/ AA VI 151: „Wir haben gesehen, daß zu einem ethischen gemeinen Wesen sich zu vereinigen, eine Pflicht von besonderer Art ( officium sui generis ) sei, und daß, wenn gleich ein jeder seiner Privatpflicht gehorcht, man daraus wohl eine zufällige Zusammenstimmung aller zu einem gemeinschaftlichen Guten […] folgern könne, daß aber doch jene Zusammenstimmung aller nicht gehofft werden darf, wenn nicht aus der Vereinigung derselben […], als vereinigter und darum stärkerer Kraft, den Anfechtungen des bösen Prinzips (welchem Menschen zu Werkzeugen zu dienen sonst von einander selbst versucht werden) sich zu widersetzen, ein besonderes Geschäft gemacht wird.“ 343 Ähnlich Sala (2004, 240): Das Böse, von dessen Ursprung in RGV I gehandelt wurde, wird gemäß RGV III durch die Gesellschaft ‚aktualisiert‘. Auch für Lutz-Bachmann (2005, 212- 214) wird im dritten Stück ein ‚intersubjektives‘ Argument entfaltet, das die Analysen aus dem ersten und zweiten Stück ergänzt. <?page no="273"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 273 gehenden Gefahren, ohne jedoch die ‚Gut-Werdung‘ des Menschen auf eine gesellschaftliche Entwicklung zu reduzieren. Im weiteren Verlauf grenzt sie sich überdies gegen die einseitig-naive Vorstellung ab, eine tatsächliche Moralisierung der Menschen könnte mittels politischer Maßnahmen oder durch die Veränderung der äußeren Gesellschaftsverhältnisse erreicht werden. Und nicht zuletzt anerkennt die Theorie die christlichen Kirchen als gemeinschaftliche Hilfsmittel für den moralischen Fortschritt der Menschheit, behauptet aber zugleich, dass ein großer Teil ihrer Lehren und Gebräuche für den moralischen Fortschritt der Menschheit entbehrlich oder gar hinderlich ist. Allerdings darf auch unter Voraussetzung dieser Lesart die komplexe Gedankenführung des dritten Stücks nicht verkürzt werden. Kant verschränkt seine Argumentation zum ‚ethischen Gemeinwesen‘ nämlich mit anderen Themen: zum einen mit einer Verhältnisbestimmung zwischen Vernunft und Offenbarung und zum anderen mit der Diskussion um den göttlichen Beistand. Das folgende Unterkapitel 4.3.2 intendiert, genau diese Verschränkung darzulegen. Hierdurch lässt sich bereits auf der Ebene des Textes zeigen, dass der ‚Gemeinwesen‘-Teil der kantischen Besserungslehre folglich eine Reflexion darauf einschließt, wie Gott den Menschen unterstützt. Diese Reflexion geht allerdings über den durch das ethische Gemeinwesen gesteckten Rahmen hinaus. Sie stellt noch einmal und sogar in noch radikalerer Weise die Frage danach, inwiefern der moralisch geforderte Mensch auf göttliche Unterstützung angewiesen ist und was hieraus für die moralische sowie religiöse Praxis des Menschen folgt. Dies wird dann das Thema der Unterkapitel 4.3.4 bis 4.3.6 sein. 4.3.2 Das ‚ethisch gemeine Wesen‘ und die christliche Kirche Einige Eigenschaften des ‚ethisch gemeinen Wesens‘ werden bereits in dem soeben diskutierten Einleitungsabschnitt genannt. Kant beschreibt diese spezifische Form zwischenmenschlicher Vergemeinschaftung dort als eine „Gesellschaft nach Tugendgesetzen“ und als „Vereinigungspunkt für alle, die das Gute lieben“. 344 Er weist ihr den Zweck zu, den Anfechtungen durch das Böse entgegenzuwirken, die Moralität zu erhalten und das Gute im Menschen zu fördern. Gegen Ende des Textes wird überdies ausgeführt, dass das ‚ethisch gemeine Wesen‘ eine ‚gewisse Analogie‘ mit dem politischen Gemeinwesen aufweise. 345 Bis in das vierte Stück der Schrift hinein erscheint diese staatsanaloge Darstellungsweise, um die Eigenschaften und Besonderheiten des ‚ethischen gemeinen Wesens‘ herauszustellen. 344 B 129/ AA VI 94 17 u. 23 . 345 Vgl. B 130/ AA VI 94 36 . <?page no="274"?> 274 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Für Kant liegt die Ähnlichkeit darin, dass auch das ethische Gemeinwesen eine Verbindung von Menschen ist, die öffentlichen Gesetzen - nämlich dem allen Menschen einsichtigen Moralgesetz - unterliegt. Form und Verfassung des ‚ethisch gemeinen Wesens‘ differieren jedoch von denjenigen des politischen Staates, weil ersteres sich einem Vereinigungsprinzip sui generis , nämlich der Tugend, verdankt. Aufgrund dieser kategorialen Verschiedenheit der Gemeinschaften ist es auch möglich, dass beide nebeneinander und gleichzeitig existieren. Allerdings kann das politische Gemeinwesen das ethische nicht selbst hervorbringen, da das letzte auf den tugendhaften Gesinnungen der Mitglieder basiert und diese dem Staat nicht zu Gebote stehen. 346 Auch die Bürger eines politischen Gemeinwesens, so argumentiert Kant, befinden sich als ‚politische Bürger‘ im ethischen Naturzustand. Der Staat hat zwar ein eminentes Interesse an der Ausbildung einer ethisch orientierten Gesellschaftsordnung, da das ethische Gemeinwesen dem Text zufolge insofern in einem positiv unterstützenden Verhältnis zum politischen Gemeinwesen steht, als ersteres keine Verletzungen der Staatsbürgerpflichten mit sich bringt und überdies die Ordnung des Zusammenlebens in den Bereichen komplementiert, die sich staatlichen Regulierungen entziehen, etwa „weil der menschliche Richter das Innere anderer Menschen nicht durchschauen kann“. 347 Dennoch kann der Staat - der sich durch die Eigenschaft auszeichnet, legitimerweise Zwang auszuüben - seine Bürger nicht dazu zwingen, auch in ein ethisch gemeines Wesen einzutreten. Denn erstens stellte es eine contradictio in adjecto dar, wenn man versuchen wollte, eine derartige Vergemeinschaftung, die auf moralischen Gründen und freiem Entschluss beruhen muss, durch Zwang herzustellen. 348 Zweitens meint Kant, dass der Versuch, ein ethisches Gemeinwesen zu erzwingen, auch das politische Gemeinwesen selbst „untergraben und unsicher machen“ 349 würde, was jedoch nicht näher ausgeführt wird. Und schließlich darf 346 In Abschnitt I wird die rechtsphilosophische Konstruktion des Naturzustandes auf das ethische Gemeinwesen angewendet. Kant buchstabiert den ‚ethischen Naturzustand‘ als Zustand der Rechtlosigkeit und buchstabiert dies in Analogie zu den drei staatlichen Gewalten aus: Wenn (noch) kein ethisches Gemeinwesen gegründet ist, gibt es kein äußeres Gesetz, dessen rechtliche Verbindlichkeit von allen anerkannt wird. Und es fehlt eine öffentliche Autorität, die unter Anwendung der Gesetze bestimmt, was jeweils Pflicht ist, und für den Vollzug der Gesetze sorgt (vgl. B 131/ AA VI 95 19-24 ). Diese Unterscheidung zwischen einem Zustand vor der Gründung des Gemeinwesens und einem entwickelten Zustand wird als begrifflicher Rahmen genutzt, um darzulegen, dass das Vorhandensein eines politischen gemeinen Wesens nicht notwendigerweise die Etablierung einer moralischen Gemeinschaft nach sich zieht (vgl. B 132f/ AA VI 95 25 -96 16 ). 347 Vgl. B 132f/ AA VI 95 30 -96 1 , Zitat: Z. 33 f., u. 96 8-16 . 348 Vgl. B 132/ AA VI 95 27-30 u. 96 4-8 . 349 B 132/ AA VI 96 3f . <?page no="275"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 275 die innere Verfasstheit einer freiwillig eingegangenen Gemeinschaft nicht von der staatlichen Politik gesteuert werden. 350 Als weiteres Element kommt zu dieser Gegenüberstellung hinzu, dass das ‚ethische gemeine Wesen‘ - zumindest idealerweise - die gesamte Menschheit umfasst. 351 Der Gedanke einer moralischen Vergemeinschaftung impliziert für Kant notwendigerweise die Vereinigung aller vom Moralgesetz Betroffenen, d. h. aller ‚endlichen vernünftigen Wesen‘. Jede nicht-menschheitsumfassende Vereinigung steht daher zu anderen derartigen Gemeinschaften im Verhältnis des ‚ethischen Naturzustandes‘. In ihr findet nur eine unvollkommene Bekämpfung der geschilderten sozialanthropologischen Gefährdungen statt. 352 Abschnitt II schildert dies in drastischen Farben: Selbst wenn die Menschen für sich genommen einen guten Willen haben, ohne öffentlich-gemeinschaftliche Unterwerfung unter Tugendgesetze findet eine „unaufhörliche[] Befehdung durch das Böse“ statt und die Menschen fungieren gleichsam als „Werkzeuge des Bösen“, indem sie sich wechselseitig der Gefahr aussetzen, „seiner [sc. des Bösen] Herrschaft wiederum in die Hände zu fallen“. 353 Die Situation der Menschheit ist durch eine „öffentliche wechselseitige Befehdung der Tugendprinzipien“ und durch einen „Zustand der inneren Sittenlosigkeit“ 354 gekennzeichnet. Dafür, dass dieser beängstigende Zustand verlassen werden muss, lässt der Text zwei Begründungswege erkennen: Der eine, vordergründige besteht in der bekannten Analogie mit dem rechtlich-staatlichen Naturzustand, den der Mensch verlassen muss, um nicht im Kriegszustand mit anderen Menschen zu leben. 355 Der andere Begründungsweg geht vom Begriff des höchsten Gutes aus und führt auf eine Pflicht, die sich aus Kants Sicht von allen anderen Pflichten 350 Vgl. B 133/ AA VI 96 8-12 . 351 Vgl. B 133/ AA VI 96 17-29 : „Übrigens, weil die Tugendpflichten das ganze menschliche Geschlecht angehen, so ist der Begriff eines ethischen gemeinen Wesens immer auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen, und darin unterscheidet es sich von dem eines politischen.“ - Die genaue Unterscheidung vom politischen Gemeinwesen wird jedoch dadurch verkompliziert, dass sich hier die kantische Theorie des Staatenbundes im Text bemerkbar macht: Die Etablierung eines alle Menschen umfassenden Rechtsverhältnisses soll demnach nicht durch eine weltweite Super-Republik geschehen, sondern durch die Gründung eines Staatenbundes, in dem die jeweils für sich rechtlich organisierten Staaten wechselseitig völkerrechtliche Vereinbarungen treffen. In der dadurch gegebenen strukturellen Ausschaltung kriegerischer Auseinandersetzungen sieht Kant den entscheidenden Schritt für die zivilisatorische Weiterentwicklung der Menschheit getan (vgl. B 29-31/ AA VI 34 3-17.22-38 u. 133f/ AA VI 96 27-29 ). In diesem Sinne dürfte auch der oben referierte Gedanke zu interpretieren sein, dass das politische Gemeinwesen dem ethischen vorausgehen muss. 352 Vgl. B 133/ AA VI 96 20-27 . 353 Vgl. B 134/ AA VI 96 35 -97 9 , Zitate: Z. 1, 6 u. 8 f. 354 B 134f/ AA VI 97 13-15 . 355 Vgl. B 134f/ AA VI 97 9-16 . <?page no="276"?> 276 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung unterscheidet. Das in einer langen Formulierung präsentierte Argument weist mehrere Lakunen und Unklarheiten auf. 356 Trotz dieser interpretatorischen Schwierigkeiten lassen sich hier einige weitere Charakteristika des Konzeptes vom ‚ethisch gemeinen Wesen‘ ausmachen. So wird die anvisierte moralische Gemeinschaft als Gemeinwesen bestimmt. Das impliziert aus Sicht des Autors den Aspekt der Öffentlichkeit: Das ethische Gemeinwesen unterscheidet sich vom ethischen Naturzustand darin, dass in ihm allgemein geteilte und öffentliche moralische Gesetze und Institutionen herrschen. 357 Praktische Rationalität führt für Kant notwendigerweise zu moralischen Normen und Prinzipien, die von allen akzeptiert und öffentlich bekannt werden. Die Gründung einer solchen allgemeinen Tugendgemeinschaft stellt ein eigenständiges ‚sittliches Bedürfnis‘ dar. 358 Die moralische Vereinigung dient nicht nur als ein Hilfsmittel zur Hebung der Moralität des Einzelnen oder als moralische Zusatzressource für die staatliche Ordnung. Vielmehr zielt das ‚ethische gemeine Wesen‘ auf eine ‚innerliche‘ Zusammengehörigkeit, eine nicht erzwing- und kontrollierbare, aber dennoch von allen beitretenden Menschen geteilte Moralität, über deren Gesetzmäßigkeiten auch ein gemeinsamer Austausch stattfindet. 359 Nachdem in RGV II ein Ideal der individuellen moralischen Vollkommenheit aufgestellt wurde, zeichnet sich in RGV III folglich ein soziales Ideal ab, das eine Anregung für die Gestaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen jenseits der Regelung freiheitsrechtlicher Grundnormen abgibt. Man kann hier beispielsweise an eine bestimmte Art der Freundschaft denken. In den Vorlesungen ist von der 356 Vgl. B 135f/ AA VI 97 21 -98 8 : „Weil aber das höchste sittliche Gut durch die Bestrebung der einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit allein nicht bewirkt wird, sondern eine Vereinigung derselben in ein Ganzes zu eben demselben Zwecke, zu einem System wohlgesinnter Menschen erfordert, in welchem und durch dessen Einheit es allein zu Stande kommen kann, die Idee aber von einem solchen Ganzen, als einer allgemeinen Republik nach Tugendgesetzen, eine von allen moralischen Gesetzen (die das betreffen, wovon wir wissen, daß es in unserer Gewalt stehe) ganz unterschiedene Idee ist, nämlich auf ein Ganzes hinzuwirken, wovon wir nicht wissen können, ob es als ein solches auch in unserer Gewalt stehe: so ist die Pflicht der Art und dem Prinzip nach von allen andern unterschieden.“ 357 Vgl. B 132/ AA VI 96 8-10 u. B 135/ AA VI 97 13-16 . 358 Vgl. B 135/ AA VI 97 17-21 : „Hier haben wir nun eine Pflicht von ihrer eigenen Art, nicht der Menschen gegen Menschen, sondern des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst. Jede Gattung ist nämlich objektiv, in der Idee der Vernunft, zu einem gemeinschaftlichen Zwecke, nämlich der Beförderung des höchsten, als eines gemeinschaftlichen Guts, bestimmt.“ Eine solche Pflicht ist freilich merkwürdig: Nicht nur, dass die Erfüllung nicht durch den einzelnen Menschen und wohl nicht einmal durch die Menschheit insgesamt zustande gebracht werden kann (vgl. Baumgartner 1992, 159; die kategorische Unerfüllbarkeit eignet allerdings auch der Heiligkeitsforderung! ), sondern als Adressat der Verpflichtung erscheint die Gattung. 359 Vgl. B 137/ AA VI 98 18-21 . <?page no="277"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 277 ‚Freundschaft der Gesinnung‘ die Rede, die auf gemeinsam geteilten Grundsätzen und der vertraulichen Aussprache über diese Grundsätze beruht. 360 Die Gründung einer solchen Gemeinschaft ist aus kantischer Sicht eine moralische Pflicht, weil dies nicht nur der Bekämpfung des Bösen geschuldet ist, sondern eine Vervollkommnung der menschlichen Gemeinschaft darstellt. 361 Sowohl aufgrund der universalen sozialen Bezugsgröße als auch durch diesen teleologischen Grundzug ist das ethische Gemeinwesen sehr weit von kontraktualistischen Theorien utilitaristischer Manier entfernt, in denen - wie etwa beim zitierten T. Hobbes 362 - das Verlassen des Naturzustandes und die Gründung einer staatlichen Gewaltordnung auf ein rationales Nutzenkalkül zurückgeführt werden. Das ‚ethische gemeine Wesen‘ soll keine gegenwärtige Gemeinschaftsform rechtfertigen. Die Theorie stellt vielmehr eine visionäre Entwicklungsperspektive dar, die als kritischer Maßstab auf die bestehenden Gemeinschaften und Religionen angewandt wird. Kant erwartet von ihnen, dass sie sich in eine nichtstaatliche, alle Menschen umfassende Tugendgemeinschaft transformieren. Allerdings ist Kant skeptisch, ob die Menschheit die Etablierung einer solchen Tugendgemeinschaft alleine bewerkstelligen kann. In einer knappen Formulierung postuliert er auch an dieser Stelle die Idee „eines höheren moralischen Wesens, durch dessen allgemeine Veranstaltung die für sich unzulänglichen Kräfte der einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt werden“. 363 Dies schlägt sich auch im Begriff der ‚Kirche‘ nieder, den Kant in den weiteren Abschnitten entwickelt. Wie eingangs herausgestellt bilden die Abschnitte eine langgestreckte Argumentation, deren einzelne Schritte mittels begrifflicher 360 Vgl. Stark 2004, 299 17 -301 3 / AA XXVII 2,1 426 f. Korsgaard (1996, 195) deutet das ethische Gemeinwesen als das praktisch-vernünftige Ideal, mit anderen Menschen in einer auf Wechselseitigkeit und Verantwortungsübernahme beruhenden Beziehung zu unterhalten. Sie greift hierzu unter anderem auf die Ausführungen zur Freundschaft in den Vorlesungen zurück, da Kant ihres Erachtens die gemeinte Art der Beziehung anhand gewisser Formen der Freundschaft exemplifiziert habe. 361 Vgl. B 136f/ AA VI 97 21 -98 8 : „Weil aber das höchste sittliche Gut durch die Bestrebung der einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit allein nicht bewirkt wird, sondern eine Vereinigung derselben in ein Ganzes zu eben demselben Zwecke, zu einem System wohlgesinnter Menschen erfordert, […] so ist die Pflicht [auf diese Vereinigung hinzuwirken], der Art und dem Prinzip nach, von allen anderen unterschieden.“ 362 Vgl. B 134f/ AA VI 97 25-38 . 363 Vgl. B 136/ AA VI 98 10-14 . Vgl. auch B 141/ AA VI 100 29-31 : „Ein moralisches Volk Gottes zu stiften, ist also ein Werk, dessen Ausführung nicht von Menschen, sondern nur von Gott selbst erwartet werden kann.“ Im Gegensatz zu Klar (2007, 230-236) und Hoesch (2014, 131-135) werden hier allerdings die weitaus ausführlicheren Textpassagen, die in Kap. 4.3.4 u. 4.3.5 analysiert werden, zum Ausgangspunkt genommen, um die Position des dritten Stücks zum Verhältnis zwischen göttlichem und menschlichem Handeln zu erörtern. <?page no="278"?> 278 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Verkettungen aufeinander aufbauen. Der zentrale terminus medius für den Übergang zwischen Gemeinwesentheorie und Kirchenlehre ist der ‚Volk Gottes‘-Begriff. Der Königsberger Logikprofessor konstruiert hier ein rein begriffsanalytisches Argument: Insofern Gott als oberste Instanz einer rein moralischen Regierung angesehen wird, können diejenigen, die sich dem Moralgesetz unterwerfen, als Volk Gottes angesehen werden. 364 Um diese Idee einer Untertanenschaft unter einem moralisch vollkommenen Oberhaupt lagert Kant weitere Differenzierungen an. Diese Differenzierungen werden mit Ausdrücken belegt, die der reformatorischen Ekklesiologie entstammen. 365 So muss zwischen einer ‚unsichtbaren‘ und einer ‚sichtbaren‘ Kirche unterschieden werden, wobei erstere die eigentliche Volk-Gottes-Gemeinschaft und letztere deren empirisch wahrnehmbare Außenseite bildet. Die sichtbare Kirche beinhaltet wiederum ein geschichtlich kontingentes und daher veränderliches Element. Kant rechnet daher mit einer ausgeprägten historischen Bedingtheit aller ‚kirchlichen‘ Gemeinschaften. Diese sind jedoch daraufhin zu befragen, ob ihnen die Kennzeichen der wahren Kirche inhärien. In Anlehnung an die vierteilige Kategorientafel aus der KrV werden hierzu vier nota ecclesiae benannt: erstens das Kennzeichen der ‚Allgemeinheit‘ verstanden als ökumenische Einheit, zweitens die besondere qualitative ‚Beschaffenheit‘, nämlich die ausschließliche Vereinigung unter der moralischen Triebfeder, drittens die Verbindung der Mitglieder in einem freiheitlichen ‚Verhältnis‘ und zuletzt die spezifische geschichtliche ‚Modalität‘, wonach die eigentliche ‚Konstitution‘ der Kirche als ethisches Gemeinwesen unveränderlich, die konkrete ‚Administration‘ jedoch von den Umständen abhängig ist. 366 Die zuletzt genannte Eigenschaft entspricht der Unterscheidung zwischen moralischen und sog. statutarischen Gesetzen, die aus den Vorlesungen bekannt ist und hier im Laufe der weiteren Überlegungen aufgegriffen wird. Historisch gewachsene kirchliche Gemeinschaften beruhen neben dem Moralgesetz auch auf solchen Verbindlichkeiten, die rein menschlicher Satzung entstammen. 367 364 Vgl. B 138/ AA VI 99 10-20 : „Also kann nur ein solcher als oberster Gesetzgeber eines ethischen gemeinen Wesens gedacht werden, in Ansehung dessen alle wahren Pflichten, mithin auch die ethischen zugleich als seine Gebote vorgestellt werden müssen […]. Dieses ist aber der Begriff von Gott als einem moralischen Weltherrscher. Also ist ein ethisches gemeines Wesen nur als ein Volk unter göttlichen Geboten, d. i. als ein Volk Gottes, und zwar nach Tugendgesetzen, zu denken möglich.“ 365 Vgl. bspw. in der bereits zitierten Dogmatik Stapfers den Inhaltsüberblick zum Traktat „Von der Kirche oder der Stadt Gottes“ (Bd. 10 3 1757, 196-198). 366 Vgl. B 143f/ AA VI 101 27 -102 15 . 367 Vgl. B 139/ AA VI 99 21-23 : „Man könnte sich wohl auch ein Volk Gottes nach statutarischen Gesetzen denken, nach solchen nämlich, bei deren Befolgung es nicht auf die Moralität, sondern bloß auf die Legalität der Handlungen ankommt.“ <?page no="279"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 279 Bezüglich dieser Elemente gehört zum authentischen Kirche-Sein aus Kants Sicht ein Moment der Selbstüberschreitung: Eine Kirche als äußerliche Organisation von Moralgesetzuntertanen muss das Bewusstsein einschließen und vermitteln, nur als notwendiges, aber transitorisches Hilfsmittel zu fungieren, das sich im besten Fall auf eine von statutarischen Satzungen befreite, rein moralische Gemeinschaft hin auflöst. Nach und nach, so Kants ‚eschatologische‘ Vision, wird sich aus den bestehenden kirchlichen Gemeinschaften tatsächlich ein ‚göttlich-ethischer‘ Staat auf Erden entwickeln. 368 Hierdurch wird sich das gute Prinzip „eine Macht und ein Reich“ errichten, wodurch es „den Sieg über das Böse behauptet“ und „der Welt einen ewigen Frieden zusichert“ 369 . Es kommt zu dem in der Überschrift zum dritten Stück in Aussicht gestellten „Sieg des guten Prinzips über das Böse“ und die „Gründung eines Reichs Gottes auf Erden“. Auch die Betrachtungen zur Kirchengeschichte, die Kant in der zweiten Abteilung von RGV III anstellt, werden von der Unterscheidung zwischen moralischen und nicht-moralischen religiösen Satzungen und von dem Gedanken einer ausdrücklichen Hinordnung der bestehenden Religionen auf den ‚rein moralischen‘ Religionsglauben bestimmt. Dem geschichtsphilosophischen Vorspann zufolge sind beide Annahmen sogar notwendig, um überhaupt eine ‚historische Vorstellung von Gründung der Herrschaft des guten Prinzips auf Erden‘ gewinnen zu können. Denn von dieser Herrschaft als solcher kann es - so das erste Argument - eigentlich keine historische Darstellung geben, da sie nicht sichtbar ist und daher nicht aus geschichtlichen Daten erhoben werden kann. Materialiter erhebbar ist nur der von historischen Umständen und menschlichen Statuten geprägte ‚Kirchenglaube‘. Die Gründungsgeschichte der Gottes-Herrschaft besteht in den darin mehr oder weniger vollzogenen Realisationen des ‚reinen Religionsglaubens‘. Außerdem kann die Gründungsgeschichte eines freiheitlich konstituierten ethischen Gemeinwesens sich nur auf solche Vorgemeinschaften erstrecken, deren Selbstreflexion das commitment zur suk- 368 Vgl. B 180/ AA VI 122: „In dem Prinzip der reinen Vernunftreligion, als einer an alle Menschen beständig geschehenden göttlichen […] Offenbarung, muß der Grund zu jenem Überschritt zu jener neuen Ordnung der Dinge liegen, welcher […] durch allmählich fortgehende Reform zur Ausführung gebracht wird […] Man kann aber mit Grunde sagen: ‚daß das Reich Gottes zu uns gekommen sei‘, wenn auch nur das Prinzip des allmählichen Überganges des Kirchenglaubens zur allgemeinen Vernunftreligion, und so zu einem (göttlichen) ethischen Staat auf Erden, allgemein, und nirgendwo auch öffentlich Wurzel gefaßt hat: obgleich die wirkliche Errichtung desselben noch in unendlicher Weite von uns entfernt liegt.“ Hoesch (2014, 148-154) argumentiert allerdings (im Gegensatz zum Groß der Sekundärliteratur, vgl. ebd.) dafür, dass Kant diese Selbstüberschreitung nicht in dieser Welt, sondern erst in einer künftigen Welt für möglich hält. 369 B 182f/ AA VI 124 3-5 . <?page no="280"?> 280 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung zessiven Herbeiführung einer ausschließlich innerlich-moralischen ‚Religion‘ und zur Überwindung alles ‚Statutarischen‘ einschließt. 370 Es gehört nun zu den Eigentümlichkeiten der Religionsschrift, dass Kant dem Judentum diese Eigenschaften kategorisch abspricht. 371 Für Kant ist das Judentum ‚ein Inbegriff bloß statutarischer Gesetze‘ und damit weniger eine ‚Religion‘ als eine mit religiöser Terminologie verbrämte Staatsverfassung. 372 Als Gründe für diese Zuordnung werden im Text mehrere vermeintliche Merkmale des Judentums zusammengetragen: die ausschließlich auf äußere Handlungen gerichtete Extension der jüdischen Gesetze 373 , das Fehlen eines Jenseitsglaubens 374 und schließlich die Überzeugung Israels, ein exklusiv von Gott erwähltes Volk zu sein 375 . Die Geschichte der Gottesherrschaft kann folglich nicht mit dem Judentum ansetzen. Auch die im Christentum enthaltenen Bezüge auf das Judentum sind lediglich als Mittel zur ‚Introduktion‘ der moralischen Religion in die zeitgeschichtliche religiöse Situation zu verstehen. Und darüber hinaus beziehen sie sich nicht auf das ursprüngliche Judentum, sondern auf eine durch den Hellenismus transformierte und moralisch weiterentwickelte Mischform. 376 Der große Vorzug des Christentums besteht dieser Geschichtsbetrachtung zufolge dagegen darin, dass es durch den ‚Lehrer des Evangeliums‘ der moralischen Religion zum Durchbruch verhilft. In der Beschreibung des ‚Lehrers‘ erscheinen die aus der Erläuterung des Ideals in RGV II bekannten Attribute und Eigenschaften: Die durch ihn verbreitete Lehre ist in seinen Aufforderungen und Überzeugungen ganz und gar moralisch. Außerdem schließt sie eine kultkritische Forderung ein. Der Gründungsimpuls des Christentums enthält folglich die für die Heraufführung des Gottesreiches erforderliche Selbstverpflichtung, alle äußerlichen und nichtmoralischen Religionsstatuten überwinden zu wollen, auch wenn dieses Anliegen aus Kants Sicht in der realen Geschichte des Christentums vielfach ignoriert wurde und in seiner Zeit mitunter sogar gewaltsam unterdrückt wird. 377 370 Vgl. B 183-185/ AA VI 124 6 -125 14 . 371 Vgl. Brachtendorf 2011, 156-163. 372 Vgl. B 186/ AA VI 125 20-28 : „Der jüdische Glaube ist, seiner ursprünglichen Einrichtung nach, ein Inbegriff bloß statutarischer Gesetze, auf welchem eine Staatsverfassung gegründet war […]. Das letztere [sc. das Judentum] ist eigentlich gar keine Religion, sondern bloß Vereinigung einer Menge Menschen, die, da sie zu einem besonderen Stamm gehörten, sich zu einem gemeinen Wesen unter bloß politischen Gesetzen, mithin nicht zu einer Kirche formten; vielmehr sollte es ein bloß weltlicher Staat sein“. 373 Vgl. B 187/ AA VI 125 37 -126 8 . Das trifft aus Kants Sicht auch für den Dekalog zu (vgl ebd.). Erst mit dem Christentum hält eine ‚moralische‘, d. h. eine die Gesinnung beachtende Gesetzgebung Einzug. 374 Vgl. B 187f/ AA VI 126 8-35 . 375 Vgl. B 188/ AA VI 126 35 -127 18 . 376 Vgl. B 190f/ AA VI 127 19 -128 11 . Siehe auch Kap. 4.2.1. 377 Vgl. B 191-193/ AA VI 128 9 -129 15 . <?page no="281"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 281 Dass man das Christentum unter dieser Perspektive betrachten müsse, wird im Text allerdings nicht bloß behauptet. An verschiedenen Stellen finden sich auch Begründungen, die auf umfangreichere Voraussetzungen Bezug nehmen. Die wichtigsten dieser hintergründigen Theorien sind die Verhältnisbestimmung zwischen Offenbarung und Vernunft und die Lehre vom Beistand Gottes beim Bemühen des Menschen um Besserung. Sie spielen hier insofern eine bedeutende Rolle, als die vordergründige Argumentation um das ‚ethische Gemeinwesen‘ an mehreren Stellen mit umfangreichen Überlegungen zu diesen beiden Fragestellungen verschränkt wird. Bevor die Wiederaufnahme dieser Fragestellungen detaillierter untersucht wird, soll zunächst die argumentative Funktion erhoben werden, die ihnen bei der Entfaltung der Lehre vom ethischen Gemeinwesen zugeteilt wird. Hierdurch dürfte sich auch zeigen, dass die Gemeinwesentheorie an mehreren Stellen auf den Ansichten Kants zu den genannten Fragestellungen aufruht. Eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit der Offenbarung-Vernunft-Thematik setzt unter der fünften These des ersten Abschnitts ein, die von der genealogischen Ordnung zwischen Offenbarungs- und Vernunftreligion handelt. Die These ist zweiteilig. Sie besagt erstens, dass der auf eine Offenbarung und deren Überlieferung aufbauende Glaube vor dem durch die Vernunft hervorgebrachten moralischen ‚Glauben‘ zeitlich vorhergeht, und zweitens, dass der vorhergehende Glaube am besten auf einer heiligen Schrift als Bezeugungs- und Bezugsinstanz aufbaut. 378 Zur Erläuterung dieser These grenzt Kant den ‚reinen Religionsglauben‘ bzw. den ‚bloßen Vernunftglauben‘ von dem Glauben ab, der sich auf eine geschichtlich ergangene und bezeugte ‚Offenbarung‘ richtet. Ein Teil des Abschnitts diskutiert die Vorzüge, die aus Kants Sicht damit verbunden sind, wenn sich der Offenbarungsglaube wie im Falle des Christentums auf eine schriftliche Überlieferung stützt. 379 Hieran knüpft der nachfolgende Abschnitt sechs an. Er argumentiert vor dem Hintergrund der exponierten Unterscheidung dafür, dass die Schrift - als zentrale Grundlage für den ‚Offenbarungs-‘ oder ‚Kirchenglauben‘ - auf den ‚reinen Religionsglauben‘ hin ausgelegt werden muss. Noch interessanter als der Textfortgang ist jedoch die inhaltliche Verortung der Thematik in der größeren Argumentation der Thesen. Wie aufgezeigt steht am Beginn des dritten Stücks eine sozialethisch reflektierte Idealgestalt des zwischenmenschlichen Zusammenlebens sowie der begriffliche Übergang zum ‚Volk Gottes‘. Die Reflexion auf die Offenbarung-Vernunft-Thematik hat hier 378 Vgl. B 145/ AA VI 102 30-33 : „Die Konstitution einer jeden Kirche geht allemal von irgend einem historischen (Offenbarungs-)Glauben aus, den man den Kirchenglauben nennen kann, und dieser wird am besten auf eine heilige Schrift gegründet.“ 379 Vgl. B 152-154/ AA VI 106 31 -107 25 , siehe auch die sogleich (Kap. 4.3.3) diskutierten Reflexionen zum Schriftgebrauch. <?page no="282"?> 282 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung insofern ihren Ort, als sie eine Vermittlung zwischen dem Ideal und den geschichtlichen Religionen ermöglicht. Die Theorie vom Zusammenhang und von der wesentlichen Differenz zwischen ‚Offenbarungs‘- und ‚Vernunftglauben‘ stellt die begriffliche Grundlage dafür dar, das ‚ethisch gemeine Wesen‘ mit den real existierenden Religionen und vor allem mit dem Christentum ins Verhältnis zu setzen. Aufgrund dieser Verhältnisbestimmung erschließt sich auch erst der volle Sinn der Rede vom ‚Statutarischen‘ in den Religionen: Manche der insbesondere im Christentum enthaltenen Handlungsimperative sind in dem Sinne praktisch-vernünftig, dass der Mensch sie auch ohne religiöse Überlieferung erkennen und beachten könnte. Andere Verpflichtungen gehen jedoch über diesen Bereich hinaus. Sie können für Kant folglich nur auf einer vermeintlich göttlich autorisierten, vor allem aber menschlich weitergegebenen ‚Satzung‘ beruhen. In den Vorlesungen wurde dieser Differenzpunkt unter anderem an der Problematik der ‚Nachahmung‘ erläutert, welche dazu führt, dass die Menschen für gewöhnlich unkritisch den religiösen Bräuchen ihrer Vorfahren folgen. 380 Reflektiert wird diese Verschränkung mit der Argumentation von RGV III in dem ebenfalls bereits in den Vorlesungen erscheinenden genealogischen Argument. Gemäß dem fünften Abschnitt entsteht die ‚gottesdienstliche‘ Religion dadurch, dass die Menschen eine falsche Vorstellung davon haben, wie sie einem moralisch vollkommenen Wesen wie Gott dienen sollen. Es will den Menschen „nicht in den Kopf“, „daß sie, wenn sie ihre Pflichten gegen Menschen (sich selbst und andere) erfüllen, eben dadurch auch göttliche Gebote ausrichten, mithin in allem ihrem Tun und Lassen, sofern es Beziehung auf Sittlichkeit hat, beständig im Dienste Gottes sind, und daß es auch schlechterdings unmöglich sei, Gott auf andere Weise näher zu dienen“. 381 Zurückgeführt wird diese Dickköpfigkeit erstens auf einen Mangel an Erkenntnis und auf ein falsches Analogiedenken, das die Pflichterfüllung mit der Schmeichelei gegenüber einem weltlichen ‚Herrn‘ gleichsetzt. 382 Formulierungen wie ‚es will ihnen nicht in den Kopf‘ deuten aber zweitens darauf hin, dass die Menschen sich der anderen Auffassung der Religion auch willentlich verschließen, um die Unterlassung der Pflichterfüllung und ihre Anhängerschaft an den nichtmoralischen Gottesdienst rechtfertigen zu können. Die kantische Reflexion auf das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft wird darlegen, dass die geltungslogische Ordnung gerade umgekehrt sein muss: Mittels der praktischen Vernunft kann vorrangig der moralische Gottesdienst gerechtfertigt werden, woran sich weitere Lehren 380 Vgl. Stark 2004, 160 6-28 / AA XXVII 1 334. 381 Vgl. B 146/ AA VI 103 20-26 . 382 Vgl. B 146/ AA VI 103 9f u. 26-32 . <?page no="283"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 283 und frömmigkeitliche Übungen als abgeleitete und unterstützende Elemente anschließen können. Schließlich wächst der Vernunft-Offenbarungs-Thematik durch die Platzierung an dieser Stelle auch eine religionspolitische Bedeutung zu. Der Text liefert damit eine Legitimation für die in RGV III als Ziel dargelegte Transformation der tatsächlich existierenden Religionen in eine von Satzungen und Äußerlichkeiten befreite Tugendgemeinschaft. Kant belässt den ‚Schriftgelehrten‘, die mit der Tradierung des Offenbarungszeugnisses befasst sind, zwar eine gewisse Berechtigung und Aufgabe. Gerade hierdurch wird jedoch das religionspolitische Profil seiner Theorie vom ‚ethischen Gemeinwesen‘ dahingehend zugespitzt, dass es den kirchlichen Akteuren eine fest definierte Rolle und ein begrenztes Tätigkeitsfeld zuweist. Erste Bemerkungen zum göttlichen Beistand finden wir in RGV III bereits in den Unterabschnitten (II.) und (IV.). Kant geht davon aus, dass angesichts der Größe der Aufgabe, die Menschheit ihrer sozialethischen Idealgestalt zuzuführen, die Vermutung naheliegt, dass die Menschen diese Aufgabe nur erfüllen können, wenn Gott mithilft. Nur kurz wird angedeutet, worin diese Mithilfe bestehen könnte, nämlich indem das höhere Wesen „die für sich unzulänglichen Kräfte der einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung“ vereinigt. 383 Dennoch darf der Mensch sich nicht zurücklehnen und sich allein auf die göttliche Hilfe verlassen. Er muss vielmehr so handeln, „als ob alles auf ihn ankomme“. 384 Die intensivere Befassung mit dem Beistandsthema setzt indes in Unterabschnitt (VII.) ein. Kant bringt dort weitere Erläuterungen zum transitorischen Moment seines Kirchenbegriffes, indem er die These auslegt, dass „[d]er allmähliche Übergang des Kirchenglaubens zur Alleinherrschaft des reinen Religionsglaubens […] die Annäherung des Reichs Gottes“ ist. 385 Der bestehende Dualismus von geschichtlich gewachsenem ‚Kirchenglauben‘ und ‚reinem Religionsglauben‘ wird in diesem Abschnitt auf den Gegensatz unterschiedlicher Positionen in der Gnadenlehre zurückgeführt. Hierin liegt auch die Verschränkung zwischen dem Volk-Gottes- und dem Beistandsthema: Je nachdem, ob man für die Seligmachung - d. h. für die Bewältigung der moralischen Mangelhaftigkeit des Menschen - das Handeln Gottes oder das Handeln der Menschen als erste Bedingung ansieht, wird man entweder dem Kirchenglaube den Vorzug geben oder aber der rein moralischen Religion, die im Wesentlichen in der selbsttätigen Unterwerfung unter das Moralgesetz und der begleitenden Hoffnung auf eine von Gott unterstützte Vervollkommnung der menschlichen Bemühungen besteht. 383 Vgl. B 136/ AA VI 98 8-12 , bes. Z. 11 f. 384 Vgl. B 142/ AA VI 100 29 -101 3 . 385 B 167/ AA VI 115 2-4 . <?page no="284"?> 284 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Der Text signalisiert diese Verschränkung dadurch, dass er den mit dem Gnadenthema befassten Textteil B 168-179/ AA VI 116 4 -121 10 durch entsprechende Überleitungen einrahmt: Er nähert sich dem Thema an, indem er in jedem historisch vermittelten ‚Kirchenglauben‘ eine Auffassung davon impliziert sieht, dass der Mensch die ‚Empfänglichkeit‘ erwirbt, ‚ewig glückselig‘ zu werden. 386 Diese Auffassung ist der ‚seligmachende Glaube‘, der „nur ein einziger sein und bei aller Verschiedenheit des Kirchenglaubens doch in jedem angetroffen werden“ kann. 387 Diese latent vorhandene, weil praktisch-vernünftige Überzeugung bildet das Prinzip, das dazu führt, dass der partikulare und mannigfaltige ‚Kirchenglaube‘ sich allmählich auf den ‚reinen Religionsglauben‘ hin weiterentwickeln wird. Am Ende der gerahmten Textpassage wird dementsprechend festgehalten, dass es „eine notwendige Folge der physischen und zugleich der moralischen Anlage in uns“ sei, dass alle Religion „endlich von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen, und die vermittelst eines Kirchenglaubens provisorisch die Menschen zu Beförderung des Guten vereinigen, allmählich losgemacht werde, und so reine Vernunftreligion zuletzt über alle herrsche“. 388 Die gnadentheoretische Textpassage führt nun aus, dass dieser transitorisch wirksame Glaube notwendigerweise die Überzeugung von zwei Bedingungen enthält, nämlich zum einen von der Notwendigkeit eines vom Menschen selbst zu realisierenden, moralischen Lebenswandels, zum anderen von der von Gott ermöglichten Genugtuung und Vervollkommnung des der Heiligkeit nicht adäquaten Menschen. Der ‚Kirchenglaube‘ ordnet die zweite Bedingung vor die erste: Die Menschen sind überzeugt, durch nicht-moralische Handlungen wie den Kult oder das Bekenntnis überlieferter Glaubenssätze der göttlichen Gnade teilhaftig zu werden, woraufhin sich der moralische Lebenswandel einstellen wird. Diese Überzeugung ist, wie aus Kants genealogischen Betrachtungen hervorgeht, die geschichtlich ältere, da sie dem Bewusstsein des Menschen über seine Unheiligkeit entspringt und eine leicht durchschaubare Moralitätsvermeidungsstrategie darstellt. Der ‚reine Religionsglaube‘, der in der Textpassage als die allein praktisch-vernünftige Ansicht ausgewiesen werden soll, fordert hingegen gerade die umgekehrte Anordnung der Bedingungen. Mit dieser Anordnung geht notwendigerweise einher, dass für die ‚Seligmachung‘ des Menschen nicht vorrangig der überlieferte ‚Kirchenglaube‘, sondern der moralische Lebenswandel erforderlich ist, und sich die im ‚Kirchenglauben‘ vermittelten Überzeugungen und frömmigkeitlichen Handlungen der ersten Bedingung 386 Vgl. B 168/ AA VI 115 26f . 387 Z. 27-29. 388 B 179/ AA VI 121 11-17 . <?page no="285"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 285 unterordnen müssen. Aus der Zuordnung von göttlicher und menschlicher Aktivität in der Frage, wie der Mensch dem Moralgesetz zu entsprechen vermag, gewinnt die Theorie vom ‚ethisch gemeinen Wesen‘ folglich ein entscheidendes Argument dafür, dass die gegebenen religiösen Gruppierungen sich auf eine Gemeinschaft hin weiterentwickeln müssen, die alle tugendgesinnten Menschen in sich versammelt. 4.3.3 Die verschiedenen Aspekte der Zuordnung von Vernunft und Offenbarung Um die mit der Gemeinwesentheorie verschränkten Überlegungen zum Verhältnis zwischen Vernunft und Offenbarung angemessen erfassen zu können, müssen weitere Texte aus anderen Teilen der Schrift miteinbezogen werden. Denn nur in ihrer Gesamtheit vermitteln sie ein umfassendes Bild von der Vielschichtigkeit der hier vorliegenden Verhältnisbestimmung. Als erstes sind in diesem Zusammenhang die Vorworte zu den beiden Publikationen der Religionsschrift zu nennen. An ihnen werden zwei wichtige Aspekte der Zuordnung deutlich, nämlich erstens der zensur-politische Kontext, in dem Kant über das Verhältnis zwischen Offenbarung und Vernunft nachdenkt, und zweitens die bildhaft ausgedrückte Reflexion auf die Vorgehensweise in der Schrift und die darin stattfindende Auseinandersetzung mit der christlichen Religion. Die Vorworte sind freilich nur mit Vorsicht zu genießen, wie in Kap. 2.1 erklärt wurde. Sie wurden erst verfasst, als Kant sich nach dem bereits erfolgten Druck des Aufsatzes über das radikale Böse und dem Scheitern der Publikation des Manuskriptes von RGV II veranlasst sah, die bereits verfassten Textteile zu ergänzen und auf Umwegen eine vierteilige Schrift auf den Markt zu bringen. Das Vorwort zur ersten Auflage spiegelt diese Vorgänge insofern wider, als es eine längere Einlassung enthält, in der Kant die Kompetenzen der theologischen und philosophischen Fakultäten gegeneinander abgrenzt und hieraus die jeweiligen Berechtigungen zur Bücherzensur ableitet. Dabei wird zunächst zwischen unterschiedlichen professionellen Rollen unterschieden, die die Theologen ausfüllen können: Zum einen kann ein Theologe „bloß als Geistlicher“ amten, indem er „bloß für das Heil der Seelen“ Sorge zu tragen hat; zum anderen kann er zusätzlich Wissenschaftler sein, dem auch an der Entfaltung und Förderung der Wissenschaften, wie sie vor allem an öffentlichen Universitäten betrieben werden, gelegen sein sollte. 389 389 Vgl. B XIV/ AA VI 8 14-17 , Zitat: Z. 15. <?page no="286"?> 286 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Dieser zweite, sowohl um das Seelenheil bemühte als auch in die Universität eingebundene Theologe sollte nach Kants Dafürhalten die Oberzensur führen. Innerhalb der Universität werden die Themen und Quellen dieses Theologen allerdings zugleich von der philosophischen Fakultät bearbeitet: Sie zieht die „Geschichte, Sprachen, Bücher aller Völker“ und so auch die Bibel heran und betreibt philosophische Theologie, ohne jedoch „diese [philosophischen] Sätze in die biblische Theologie hineinzutragen[] und dieser ihre öffentlichen Lehren, dafür der Geistliche privilegiert ist, abändern zu wollen“. 390 Wie Kant darzulegen versucht, ist eine Beschäftigung mit der Religion ‚innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‘ legitim und durch die theologisch-wissenschaftliche Zensur nicht zu beanstanden, sofern sie keine ‚Eingriffe‘ in die biblische Theologie vornimmt und sie nicht „auf andere Zwecke richten will, als es dieser ihre Einrichtung verstattet“ 391 . Das Vorwort zur B-Auflage bietet nebst einigen Einlassungen auf die erneute Publikation zwei Bilder dafür, wie man sich das Verhältnis zwischen ‚Vernunft-‘ und ‚Offenbarungsreligion‘ vorzustellen hat. Gemäß dem ersten Bild sind ‚Offenbarung‘ und ‚Vernunft‘ als zwei Kreise anzusehen, die einen gemeinsamen Mittelpunkt, aber verschiedene Umfänge haben. Das Bild soll ausdrücken, dass die historisch vermittelte Offenbarungsreligion als umfangreichere Sphäre den engeren Kernbereich der moralisch-praktischen Vernunftreligion einschließt. 392 Das zweite Bild setzt das Verhältnis mit einem Gemisch aus Öl und Wasser gleich. Wenn die beiden Flüssigkeiten „zusammengeschüttelt“ werden, entsteht eine Emulsion. Nach kurzer Zeit separieren sich die Komponenten wieder, woraufhin das „Reinmoralische (die Vernunftreligion)“ wieder „obenauf“ schwimmt. 393 Das Bild von den konzentrischen Sphären dient dazu, die nachfolgende Schrift als Experiment zu inszenieren. Die Formulierungen ähneln der Beschreibung eines Versuches, wie er in den Naturwissenschaften üblich ist. Das Bild fungiert gleichsam als Hypothese, an die zwei wissenschaftliche Operationen anschließen, nämlich erstens die von der Erfahrung unabhängige Konstruktion eines reinen ‚Vernunftsystems‘ der Religion, und zweitens die Beschreibung des ‚historischen Systems‘ der Religion mit dem Fokus auf die in ihr implizierten moralischen Begriffe. 394 Zur Validierung der Hypothese muss im zweiten Schritt 390 B XVI/ AA VI 9 14-13 . 391 B XVIIf/ AA VI 10 3f . 392 Vgl. B XXIf/ AA VI 12 8 -13 4 . Zu möglichen Hintergründen dieses Bildes vgl. Winter 2005, 37-41. 393 Vgl. B XXIII/ AA VI 13 4-11 . 394 Die Charakterisierung des (zweiten) Untersuchungsgegenstandes als empirisch gegebene Größe erhellt auch daraus, dass im Text von „ irgend einer dafür gehaltenen Offenbarung“ <?page no="287"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 287 überprüft werden, ob das ‚historische System‘ hinsichtlich der moralischen Begriffe zu dem bereits aufgestellten ‚Vernunftsystem‘ zurückführt. Trifft dies zu, ist das naheliegende Ziel der Untersuchung erreicht: Zwischen Vernunft und Schrift(religion) herrscht ‚Einigkeit‘- oder im Bild der Hypothese ausgedrückt: Offenbarung und Vernunft bilden konzentrische Kreise, wobei die Sphäre der Offenbarung die Sphäre der Vernunft einschließt und überdies noch weitere Inhalte umfasst, die jedoch außerhalb der Vernunftsphäre liegen. Auch der Vorschlag gegen Ende des A-Vorwortes, den Theologen nach Abschluss ihrer Ausbildung in der ‚biblischen Theologie‘ eine philosophische Ergänzungsvorlesung anhand der Religionsschrift zukommen zu lassen, weil diese sich „auch die Bibel […] zu Nutze macht“ 395 , setzt die Hypothese einer (Teil-)Kongruenz zwischen Vernunft und Offenbarung voraus. Indes, beim genaueren Nachdenken über die Experimentsanleitung zeigt sich, dass der Einstimmigkeitsaufweis weitergehende Folgerungen zulässt. Eine theologiefreundliche Folgerung könnte sein, dass Kant damit den religiösen Überzeugungen und Vollzügen des Christentums einen durch die Vernunft legitimierten Bereich einräumt. 396 Genauso ist es jedoch möglich, dass das Experiment die Grundlage für die latente Verdrängung derjenigen religiösen Gehalte bildet, die in der engen Sphäre der Vernunftreligion keinen Platz finden. Denn wenn die auf eine Offenbarung gestützte Religion mit der Vernunftreligion kongruiert, diese Vernunftreligion aber (zumindest mittels Kants Moralphilosophie) unabhängig von der geschichtlich vermittelten Religion konstruiert werden kann, dann ist die Vernunftreligion selbstständig und in moralisch-praktischer Hinsicht hinreichend. Die experimentell erwiesene Einigkeit impliziert die Möglichkeit, die umfänglichere Peripherie der Offenbarungssphäre wegzulassen, ohne das, was Religion zentral und in ihrem ‚Kern‘ ausmacht, zu verlieren. Oder umgekehrt formuliert: Wenn man sich nicht auf den epistemisch fragwürdigen und - wie beispielsweise in gewissen Spielarten der Gnadenlehre - tendenziell (B XXII/ AA VI 12 16 ) die Rede ist, bei der es sich im Weiteren gleichsam nur zufällig um das Christentum handelt. Eine Wiederaufnahme der Experimentinszenierung finden wir zu Beginn des vierten Stücks, wo Kant „irgend ein Buch“ herausgreifen möchte, um „das, was uns darin reine, mithin allgemeine Vernunftreligion sein mag, herauszusuchen“ (B- 235/ AA VI 156 31 u. 157 1f ). Die Inszenierung der Schrift als Experiment ist insofern nicht ganz aus der Luft gegriffen, als man ein Gliederungsprinzip der einzelnen Abschnitte innerhalb der Stücke darin erkennen kann, dass oftmals zuerst eine (ihrem Anspruch nach) philosophische Darlegung durchgeführt und dann die gleiche Thematik anhand der Bibel bzw. der Christentumsgeschichte wiederaufgenommen wird. 395 B XIX/ AA VI 10 24 . 396 So die Folgerung von Winter 2005, bes. 37-42, u. Fischer 2004, XXII. Palmquist sieht darüber hinaus eine Ergänzungsbedürftigkeit durch die (christliche) Offenbarungslehre (siehe Kap. 2.5, S. 86). <?page no="288"?> 288 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung moralitätsgefährdenden Rekurs auf Offenbarungsgehalte einlässt, bleibt vielleicht für den nachdenkenden Menschen am Ende nur das übrig, was aus Kants Sicht zur ‚Vernunftreligion‘ gehört. Ein derartiger Zugriff auf die christliche Überlieferung wird durch eine entsprechende Schrifthermeneutik sekundiert. Dies bildet einen dritten Aspekt der Zuordnung. Ein Beispiel hierfür findet sich bereits in RGV I, wo die partielle Übereinstimmung der These vom radikalen Bösen mit der biblischen Sündenfallgeschichte behauptet wird. Der Autor reflektiert dort auch auf den dabei implizierten Schriftgebrauch, indem er den lateinischen Dichter Horaz zitiert: „Mutato nomine de te fabula narratur“ 397 - „Unter geändertem Namen wird die Fabel über dich erzählt“. Dementsprechend wird die biblische Urgeschichte als Parabel dafür aufgefasst, dass die Bosheit des Menschen das Resultat einer anzunehmend-zeitlosen, aber dennoch zurechenbaren Abweichung vom Moralgesetz darstellt. Das Zitat ist insofern sehr geschickt gewählt, als es andeutet, welche alternative Bibelinterpretation hierdurch zurückgewiesen wird: Die Auslegung wendet sich gegen ein Verständnis der Sündenfallerzählung, die das Erzählte als historische und singuläre Begebenheiten bei den ersten Menschen auffasst. Die Erzählung soll nicht primär von einer historischen Begebenheit oder vom Fall einzelner Individuen berichten, sondern die tathafte Missachtung der unbedingten Forderungen des Moralgesetzes beschreiben, in die laut dem ersten Stück jeder Mensch selbstverschuldet verstrickt ist. Der mit der Bibelauslegung befasste Abschnitt aus RGV III führt eine Reihe von Argumenten dafür an, dass eine solche überfremdende und gewaltsame ‚Auslegung‘ legitim ist. 398 Neben dem ausführlich illustrierten Traditionsargument, demzufolge ‚heilige Bücher‘ auch bei den Römern und Griechen sowie in den monotheistischen Religionen mitunter recht gezwungenen Auslegungen unterzogen worden seien, 399 wird die Berechtigung des Verfahrens dadurch erklärt, dass die Texte selbst die Möglichkeit einer solchen Deutung einschlössen. Zur Begründung erscheint eine Variante des bereits skizzierten genealogischen Argumentes. Demnach verdanken die auszulegenden Überlieferungen ihre Entstehung einem moralisch-religiösen Bedürfnis, in ihrer konkreten Gestalt sind sie aber durch sinnliche und theoretische Einkleidungen überlagert. Mittels hermeneutischer Bemühungen muss daher die ursprüngliche moralische 397 B 45/ AA VI 42 19f . 398 RGV 158/ AA VI 110 10-15 : „Diese Auslegung mag uns selbst in Ansehung des Textes (der Offenbarung) oft gezwungen scheinen, oft es auch wirklich sein, und doch muß sie, […] einer solchen buchstäblichen vorgezogen werden, die entweder schlechterdings nichts für die Moralität in sich enthält, oder dieser ihren Triebfedern wohl gar entgegen wirkt.“ 399 Vgl. B 158-160/ AA VI 110 15 -111 19 . <?page no="289"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 289 Aussageabsicht rekonstruiert werden. 400 Auch das bereits in den Vorlesungen dokumentierte, generelle Primat des ‚Nützlichen‘ in religiösen Angelegenheiten rechtfertigt für Kant eine überfremdende Auslegung, vor allem dann, wenn die Texte zu einem Handeln auffordern, das der Moralität oder anderen Aufforderungen aus derselben Schrift widerspricht. 401 Schließlich dient die kreative Suche nach einem aus Sicht des Autors moralkonformen Textsinn dem Übergang vom historisch überlieferten Kirchenglauben auf den reinen Religionsglauben des ‚Volkes Gottes‘ hin. Denn mittels derartiger Auslegungen wird die zur ‚Introduktion‘ erforderliche Offenbarungsurkunde auf ihren moralisch-vernunftgemäßen Gehalt reduziert und damit ein wesentlicher Schritt in Richtung der authentischen Kirche getan, die als Versammlung der moralisch gesinnten Menschheit unter einem moralisch vollkommenen Oberhaupt vernünftig gerechtfertigt werden kann. Die in der Religionsschrift vorgenommenen Bibelverweise und -auslegungen erfüllen daher insofern auch eine performative Funktion, als sie gerade in ihrer Selektivität und ihrem überfremdendem Textgebrauch diese Transformation durchführen. Immer wieder äußert Kant seine Faszination über die Ergiebigkeit einer solchen Bibelauslegung. Lobpreis gebührt der Bibel dafür, dass sie sich für eine solche Lektüre eignet und in ihr die moralische Botschaft bestens herausgeschält werden kann! Das allein macht das Buch zu einem Gegenstand der Hochachtung und deutet auf dessen göttlichen Ursprung hin, worüber sich der Philosoph allerdings des Urteiles enthält. 402 Allerdings betreffen diese positiven Äußerungen lediglich das Neue Testament. Kant ist der festen Überzeugung, dass die christliche Überlieferung und insbesondere das Neuen Testament solche Vorstellungen enthält, die nicht nur die rigoristische Unbedingtheit des Moralgesetzes zum Ausdruck bringen, sondern auch auf die weitergehenden Annahmen reflektieren, die für den Menschen mit der Moralgesetzerfüllung verbunden sein müssen. Darin liegt der systematische Vorzug der aus dem Neuen Testament extrahierbaren Moral gegenüber anderen moralphilosophischen Entwürfen. Und wie sich anhand der Vorlesungsmitschriften und in der Religionsschrift zeigen lässt, wird dieser Befund neben dem Ideal des ‚Heiligen des Evangelii‘ und der Hoffnung auf den endzeitlichen Glückseligkeitsausgleich vor allem in der Lehre 400 Vgl. B 160f/ AA VI 111 26-31 . 401 Vgl. B 161/ AA VI 111 31-35 . 402 Vgl. B 153/ AA VI 107 17-25 : „Glücklich! wenn ein solches den Menschen zu Händen gekommenes Buch neben seinen Statuten als Glaubensgesetzen, zugleich die reinste moralische Religionslehre mit Vollständigkeit enthält, die mit jenen (als Vehikeln ihrer Introduktion) in beste Harmonie gebracht werden kann, in welchem Falle es […] das Ansehen, gleich einer Offenbarung, behaupten kann.“ <?page no="290"?> 290 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung vom göttlichen Beistand verankert, die nach Kants Dafürhalten aus der Heiligen Schrift herausgelesen werden kann. Der primäre Zweck, den die Bibel erfüllt, ist daher pragmatischer Natur. 403 Nebst dem in den Religionsanfängen bedeutsamen Gesichtspunkt, dass die narrative Veranschaulichung und Ausschmückung ein für die (unaufgeklärten) Zeitgenossen geeignetes Mittel für die ‚Introduktion‘ der moralischen Religion darstellte, bringt das Vorhandensein der Bibel gemäß der fünften These in RGV-III bis heute eine Reihe von Vorteilen mit sich. Denn nur eine autoritative Schrift sichert die ‚unveränderliche Aufbehaltung‘, d. h. eine Aufbewahrung und Tradierung von Lehren, auch gegenüber den sonstigen geschichtlichen Umwälzungen. Es befördert die menschheitsweite Verbreitung. Ein ‚heiliges Buch‘ zieht Achtung auf sich, selbst bei denen, die das Buch nicht lesen oder verstehen können, und gibt den Menschen bezüglich ihrer gottesdienstlichen Pflicht Gewissheit. Darüber hinaus ermöglicht eine gemeinsame textliche Grundlage, dass einer willkürlichen Verwässerung des Offenbarungsinhaltes Einhalt geboten und jede Offenbarungsbezugnahme durch eine argumentative Auseinandersetzung mit dem Text kontrolliert werden kann: „[A]lles Vernünfteln verschlägt nichts wider den alle Einwürfe niederschlagenden Machtspruch: da steht’s geschrieben.“ 404 Die religiöse Institution einer heiligen Schrift und eine gelehrte Auslegung dieser Schrift sind überdies nützlich, weil sie Verhaltensweisen entgegenwirkt, die - so Kants Befürchtung - jede vernunftförmige Umgangsweise mit der Religion ausschalten, nämlich die völlig ungeregelte ‚Schwärmerei‘, d. h. das Sich-Hingeben gegenüber rein emotionalen Anwandlungen, sowie der Rekurs auf vermeintliche Privatoffenbarungen. 405 Einen vierten Aspekt finden wir in den systematischen Reflexionen, die der Autor selbst in Bezug auf die Zuordnung zwischen Offenbarung und Vernunft anstellt. Die bereits diskutierte, zensurpolitisch motivierte Unterscheidung aus den Vorworten versucht systematisch gesehen, ein wissenschaftstheoretisches Differenzierungsmodell zu etablieren. 406 Demnach kann die Heilige Schrift Forschungsgegenstand von unterschiedlichen und voneinander unabhängigen Fakultäten sein. Neben die theologische Argumentation, die die heilige Schrift als 403 Vgl. O’Neill 1996, 298-301. Dieser Aspekt wird von Wood (2011, 137-145) unterschätzt. Der umgekehrten Gefahr erliegt Winter (2005, 42-46), indem er bei der kantischen Schriftlektüre lediglich Einseitigkeit feststellt. 404 B 153/ AA VI 107 9f . 405 Vgl. B 164-166/ AA VI 113 27 -114 17 . 406 Auch die nachlaufenden Bekräftigungen betonen, dass bei den Wissenschaften alles darauf ankomme, die verschiedenen methodischen Zugänge zu Sachverhalten zu differenzieren (B XIX/ AA VI 10 27-30 ): „Denn die Wissenschaften gewinnen lediglich durch die Absonderung, sofern jede vorerst für sich ein Ganzes ausmacht, und nur dann allererst mit ihnen der Versuch angestellt wird, sie in Vereinigung zu betrachten.“ <?page no="291"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 291 für sich beglaubigte Offenbarungsquelle annimmt und dadurch vermeintlich hinreichend begründete Folgerungen ableitet, tritt die philosophische Beschäftigung mit der Bibel, die lediglich nach den Vernunftgründen für die in der Schrift zum Ausdruck gebrachten Gehalte fragt. Die methodische Unabhängigkeit der philosophischen, ‚vernünftig‘ argumentierenden Religionslehre beruht gerade darauf, dass für sie der begründende Rekurs auf eine anzuerkennende und von berufenen Autoritäten auszulegende Offenbarung nicht erforderlich ist. Nach einem solchen Differenzierungsmodell kann die Offenbarung für den Philosophen nicht das sein, als was sie eben diesem Modell zufolge primär betrachtet wird, nämlich eine außer-vernünftige Begründungsquelle. In letzter Konsequenz läuft das Modell daher auf eine Zuordnung von Offenbarung und Vernunft hinaus, bei der die Offenbarung in der Sphäre des vernünftigen Argumentierens keinen Platz hat, sofern sie nicht moralische Lehren expliziert, die auch ohne sie einsichtig gemacht werden können. Eine weitere systematische Reflexion ist zu Beginn des vierten Stücks eingefügt: Wie bei der Diskussion um den moralphilosophischen Ansatz der ‚Rigoristen‘ in RGV I werden hier verschiedene Bezeichnungen für Personengruppen eingeführt, die jeweils systematische Positionen in der fraglichen Verhältnisbestimmung repräsentieren. In diesem Fall steht dem ‚Supernaturalist‘ der ‚Rationalist‘ gegenüber, der wiederum entweder ‚Naturalist‘ oder ‚reiner Rationalist‘ sein kann. 407 Kants Position wird am besten durch den ‚reinen Rationalisten‘ vertreten. 408 Der ‚reine Rationalist‘ ist insofern ‚Rationalist‘, als er ausschließlich die offenbarungsunabhängige Religion „für moralisch notwendig, d. i. für Pflicht erklärt“ 409 . Zugleich unterscheidet er sich jedoch vom ‚Naturalisten‘ dadurch, dass er „die Wirklichkeit aller übernatürlichen göttlichen Offenbarung“ 410 nicht verneint, sondern deren Möglichkeit einräumt. Er behauptet lediglich, „dass sie [es ist wohl die Offenbarung gemeint] zu kennen und für wirklich anzunehmen, zur Religion nicht notwendig erfordert wird“. 411 Die mittels Abgrenzungen charakterisierte Position zeichnet sich folglich durch eine Selbstbeschränkung aus: Der ‚Rationalist‘, d. h. wer sich allein auf ‚vernünftige‘ Argumente stützt, verbleibt „innerhalb der Schranken der menschlichen Einsicht“ und wird „weder die […] Möglichkeit der Offenbarung […] noch die Notwendigkeit einer Offenbarung als […] Mittel[] zur Introduktion“ bestreiten. 412 Wenn im Durchdenken des frag- 407 Vgl. B 231f/ AA VI 154 5 -155 4 . 408 Vgl. Wimmer 1990, 177, u. Ricken 2011, 180. 409 B 231/ AA VI 154 5f . 410 B 231/ AA VI 154 7f . 411 B 231/ AA VI 154 9 -155 2 . 412 B 232/ AA VI 155 6-10 . <?page no="292"?> 292 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung lichen Verhältnisses auch auf das (Un-)Vermögen der Vernunft selbst reflektiert wird, dann kann die Möglichkeit einer Offenbarung nicht ausgeschlossen werden. Eine mögliche Offenbarung hat aber für das Argumentieren und die Handlungsentscheidungen des Rationalisten keine Relevanz. Die Reihe der Textstellen und Facetten, die in der RGV vom Verhältnis zwischen Vernunft und Offenbarung handeln, könnte zweifellos noch fortgesetzt werden. Doch die analysierten Textstellen sowie die dabei herausgearbeiteten Aspekte (der zensurpolitische Kontext, das Bild der konzentrischen Kreise und die Einkleidung der RGV als Experiment, die Schrifthermeneutik und die Verteidigung des ‚reinen Rationalismus‘) lassen bereits einige signifikanten Auffälligkeiten erkennen, die es erlauben, die hier vorliegende Zuordnung genauer zu charakterisieren. So dürften heutige Leser/ -innen, die mit der Theologie des 20. Jahrhunderts Berührung hatten, vor allem über das Verständnis von Offenbarung stolpern, das in den verschiedenen Aspekten der Zuordnung vorausgesetzt wird. Die RGV sieht ‚Offenbarung‘ - genauso wie die Vorlesungen - ausschließlich als göttliche Kundgabe von Sätzen oder Lehren an. Sie wird als übernatürliche Instruktion verstanden, worin Gott über heilsrelevante und für den Menschen nicht vollständig einsehbare Sachverhalte informiert. 413 Bezüglich der Vermittlung dieser geoffenbarten Wahrheiten ist der Text nicht eindeutig: Einerseits und primär erscheint die Bibel als Vermittlungsmedium, das die entscheidenden Aussagen enthält, andererseits wird mehrfach Jesus Christus als ‚Lehrer‘ und göttlicher Botschafter vorgestellt, dessen Lehrautorität zumindest für die damalige Anhängerschaft zusätzlich durch Wundererzählungen beglaubigt wurde. In beiden Fällen dient die ‚Offenbarung‘ der Informationsweitergabe, sei es zur Vermittlung eines vermeintlich heilsrelevanten Wissens oder sei es als pädagogische Unterweisung der Menschheit. Markant erscheint mir überdies das Differenzierungsmodell, das die Schrift in den Vorworten und anlässlich der Präsentation des ‚reinen Rationalisten‘ verfolgt. Denn was vordergründig als respektvolle Arbeitsteilung und Bescheidenheit verstanden werden kann, ist in Wirklichkeit ein systematisch stringenter Versuch, die Offenbarungsreligion und damit auch das auf Offenbarung rekurrierende Christentum seiner Relevanz für die Bildung des persönlichen Bekenntnisses und das Fassen von Handlungsentscheidungen zu berauben. 414 413 Vgl. Seckler 2 2000, 45-47. 414 Vgl. B 294/ AA VI 189 20-27 : „[W]enn sich der Lehrer einer Kirche, ja jeder Mensch, sofern er innerlich sich selbst die Überzeugung von Sätzen als göttlichen Offenbarungen gestehen soll, fragte: getrauest du dich wohl in Gegenwart des Herzenskündigers mit Verzichttung auf alles, was dir wert und heilig ist, dieser Sätze Wahrheit zu beteuern? So müßte ich von der menschlichen (des Guten doch wenigstens nicht ganz unfähigen) Natur einen sehr <?page no="293"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 293 Denn wozu sollte jemand, der sich dem aus Kants Sicht wohlbegründeten Standpunkt des ‚reinen Rationalisten‘ anschließt, jetzt noch in einer Weise auf die Offenbarung Bezug nehmen, die mehr ist als die bloße Anerkenntnis, dass eine Offenbarung nicht ausgeschlossen werden kann und die vermeintlichen Offenbarungslehren einen pragmatischen Zweck als Hilfsmittel erfüllen? Eine rein theoretisch-spekulative Beschäftigung mit den über die Vernunftreligion hinausgehenden Offenbarungsgehalten muss als müßiges und unsinniges Unterfangen gelten, da sie keine der allgemeinen Vernunft zugängliche Grundlage besitzt. Überdies führen die daran anschließenden Dispute aus Kants Sicht häufig zu Spaltungen, ja sogar zu Religionskriegen, Gewissenszwang und religiösen Verfolgungen. 415 Und praktische Relevanz als alternative oder weiterreichende Begründung für Handlungsentscheidungen darf der Bezug auf die Offenbarung nach dieser Systematik keinesfalls haben, da die Handlungen dann nicht-verallgemeinerbaren Maximen folgten, obgleich die Menschen bereits mit der Erfüllung des moralgesetzlich Gebotenen überfordert sind. Sich neben oder anstelle der Vernunft auf eine gefühlsmäßig gewonnene Gewissheit oder eine vermeintliche Offenbarung des göttlichen Willens zu verlassen, ist für Kant nichts anderes als Schwärmerei, die willkürlichen Auslegungen des göttlichen Willens sowie Scheinlegitimationen Tor und Tür öffnet. 416 Auch das beschriebene Bild vom Wasser und vom Öl impliziert insofern ein deutliches Plädoyer für die Verdrängung der Offenbarungsreligion, als die Wasser-Öl-Mischung dem Text zufolge nur aufgrund eines künstlichen ‚Zusammenschüttelns‘ verbunden ist. Sofern die natürlichen Prozesse nicht gestört werden, scheiden sich die Bestandteile wieder voneinander ab und das „Reinmoralische (die Vernunftreligion)“ schwimmt „obenauf“. 417 M. E. sprechen diese Einwände gegen Interpretationen, die in der dargestellten Zuordnung von Offenbarung und Vernunft eine Legitimation der christlichen Offenbarungslehre 418 oder eine tolerante Öffnung gegenüber pluralen Artikulationen des vernünftigen Hoffens 419 angelegt sehen. nachteiligen Begriff haben, um nicht vorauszusehen, daß auch der kühnste Glaubenslehrer hierbei zittern müßte.“ Vgl. auch Wood 1991a, 11 f. (allerdings ohne der unnötigen Gleichsetzung mit dem Deismus-Begriff) sowie Dörflinger 2006, bes. 156 f., u. 2012, bes. 166. 415 So erhofft sich Kant, dass durch die Vernunftreligion Einigkeit und Frieden zwischen den verschiedenen Konfessionen einkehrt (vgl. B 181-183/ AA VI 123). Der Autor steht damit der aufklärerischen Irenik (vgl. bspw. Klueting 2003) nahe. 416 Die RGV spielt an zwei Stellen (B 120/ AA VI 87 8-10 u. 290/ 187 6f ) auf die Aufforderung an Abraham an, dass dieser seinen Sohn Isaak opfern müsse (Gen 22, 1-19). Die letzte Stelle, die in den Zusammenhang der Gewissenslehre in RGV IV gehört, hebt darauf ab, dass man sich bei einer solchen, offensichtlich moralgesetzwidrigen Forderung niemals gewiss sein kann, dass nicht doch ein Irrtum vorliegt. 417 Vgl. B XXIII/ AA VI 13 9-11 . 418 Siehe die in Kap. 2.5 referierte Position von Palmquist (S. 86). 419 So die Lesart von O’Neill, siehe oben Kap. 2.5 (S. 87). <?page no="294"?> 294 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Im Argumentationszusammenhang des dritten Stücks verfolgt die kantische Zuordnung vielmehr einen performativen Zweck. Denn die Auslegungen und Reflexionen zur Relevanz der Offenbarung vollziehen bereits denjenigen Prozess, den Kant in RGV III als positive Entwicklung der Kirche prognostiziert: der Übergang zu einer reinen Vernunftreligion, in der nicht nur der äußere Kult, sondern auch die geschichtlich-partikulare Anhänglichkeit an eine Offenbarungstradition ihre Bedeutung verlieren und möglicherweise irgendwann ganz verschwinden. 420 Sofern nicht Gewalt oder latenter Druck die freie öffentliche Debatte verhindern und auch wenn dieser geschichtlich unumgängliche Prozess noch lange dauern wird, liegt es im Bereich des Möglichen, so die Zuversicht Kants bezüglich der Durchsetzungskraft der Menschenvernunft und der Überzeugungskraft seiner eigenen Überlegungen, dass die überlieferte offenbarungsgestützte Religiosität sich allmählich in die allgemeine Vernunftreligion nach Zuschnitt der RGV transformiert. Hinzu kommt, dass Kant sich bewusst einer tendenziell zirkulären Argumentationsweise bedient, um die angezielte Einstimmigkeit zwischen einem Teil der Offenbarungsreligion und der Vernunftreligion aufzuweisen. 421 So wird etwa die als Untersuchungsgegenstand herangezogene Offenbarung ausdrücklich „bloß fragmentarisch“ an „moralische Begriffe“ 422 gehalten. Was wie eine bescheidene Selbstbeschränkung klingt, birgt insofern eine frappierende methodologische Schwachstelle, als offenbar von vornherein nur das in den Offenbarung-Vernunft-Abgleich eingehen darf, was als passend in Bezug auf solche Leitbegriffe und Vorstellungen identifiziert werden kann, die sich einem zuvor gebildeten moralphilosophischen Bezugssystem verdanken. M. E. stellen diese Beobachtungen starke Indizien dafür dar, dass Kants ‚philosophische Religionslehre‘ nur vordergründig an die traditionelle Unterscheidung von natürlicher Theologie und Offenbarungstheologie anknüpft. Wie in Kap. 3.1 angedeutet wurde, verfolgte beispielsweise Baumgarten in der wissenschaftstheoretischen Fundierung seiner Werke eine methodische Zweiteilung zwischen solchen Lehrsätzen, die auf philosophischem Wege einsichtig gemacht und begründet werden können, und anderen Wahrheiten, die über diese natürlichen Erkenntnisse von Gott und seinem Wirken hinausgehen, weil sie nur auf Grundlage der Offenbarungsurkunde angenommen werden können und den spezifischen Teil des christlichen Bekenntnisses ausmachen. In der RGV ist dies anders: Der Königsberger Philosoph geht zwar auch davon aus, dass zwischen philosophischer Gotteserkenntnis und Offenbarung kein Widerspruch besteht. 420 Die Empfehlung, die RGV als Lehrbuch für die Kandidaten der Theologie zu verwenden (vgl. B XIX/ AA VI 10 20-27 ), wird deshalb von Kant wohl nicht ohne Hintergedanke gegeben. 421 Vgl. zu diesem Einwand auch Firestone/ Jacobs 2008, 97-99. 422 B XXII/ AA VI 12 19 . <?page no="295"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 295 De facto sprechen die angestellten Beobachtungen jedoch dafür, dass diejenigen Bestandteile des christlichen Glaubens, die nicht als Implikate der praktischen Rationalität ausgewiesen werden können, nach Kants Dafürhalten allenfalls als Hilfsmittel rational gerechtfertigt werden können. Für die Annahme dieser Bekenntnisse und Weisungen jenseits der Hilfsmittelfunktion verbleibt nur der fragwürdige Rekurs auf vor der Vernunft nicht rechtfertigbare Offenbarungssätze sowie die unkritische ‚Imitation‘ von religiösen Überlieferungen und kirchlichen Autoritäten. Die RGV bietet keinerlei theoretische Ressourcen dafür, wie ein Mensch, der die Begrenztheiten und die Ansprüche seiner eigenen Vernünftigkeit anerkennt, neben der ‚Vernunftreligion‘ noch die Weisungen einer ‚Offenbarungsreligion‘ als etwas anderes als ein Hilfsmittel befolgen könnte. Bei der Analyse der Vorlesungen zeigte sich bereits die doppelte Auffälligkeit, dass Kant einerseits keine distinkten Pflichten gegenüber Gott zuließ, andererseits aber seine philosophische Ethik nicht auf das ‚natürliche‘ Vermögen des Menschen beschränkte, sondern das Heiligkeitsideal als adäquate Explikation des moralgesetzlichen Anspruches ansah, welches jedoch notwendigerweise von der Vorstellung eines übernatürlich wirksamen, ergänzenden Beistandes begleitet sein muss. 423 In der RGV finden wir ebenfalls den Versuch, solche christliche Lehren auf (moral-)philosophischem Wege zu erschließen, die von anderen Autoren eher der Offenbarungstheologie zugeordnet werden. Neben den Fragen über die postmortale Zukunft des Menschen betrifft dies etwa die Reflexionen auf die Vollzüge und den Sinn der Kirche aus dem dritten Stück sowie die christologischen Andeutungen aus dem zweiten Stück. Vor allem sticht die Einbeziehung der Gnadenlehre hervor. In mehreren Anläufen entwickelt der Autor ‚rationale‘ Konzeptionen davon, wie der göttliche Beistand den Menschen bei der unbedingten Befolgung des Moralgesetzes unterstützt. Der Maßstab für Rationalität ist dabei ausschließlich praktischer Natur: Die Ansichten über den gnadenhaften Beistand müssen zu den Anforderungen passen, die der vorausgesetzte Moralitätsbegriff aus Kants Sicht an die Selbststeuerung des Menschen und dessen Selbstverständnis als handelndes Wesen stellt. Vorstellungen der göttlichen Gnade, die dem widersprechen, können nur falsch sein. Sie korrumpieren das Bewusstsein des Menschen und lassen das moralische Bemühen des Menschen erlahmen. Auch aus diesen Gründen trifft die in Kap. 2.5 vorgestellte These, dass die RGV eine ‚Übersetzung‘ christlicher Lehren in die Sphäre der Vernunft darstelle, bestenfalls zur Hälfte zu. 424 Kant bedenkt zwar überlieferte christliche Motive mit argumentativ ausgefalteten und nachvollziehbaren Überlegungen. Es fin- 423 Siehe Kap. 3.4. 424 Siehe S. 80-85. <?page no="296"?> 296 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung det hier jedoch alles andere als eine harmlose Übertragung in die Sphäre einer vermeintlich säkularen Vernünftigkeit statt, wie es die Vorworte und die Übersetzungsthese insinuieren. Die Schrift setzt bei diesen Überlegungen vielmehr einen sehr profilierten und - wie Kants eigene moralphilosophische Entwicklung zeigt - keineswegs alternativlosen Begriff von Moralität voraus. Darüber hinaus verfolgt die RGV eine eigenständige Religionskonzeption, deren Grundzüge der Autor schon Jahrzehnte vor der Schrift ausgebildet hat. Es handelt sich dabei um die ‚Religion des guten Lebenswandels‘, die sich auf die Erfüllung der moralischen Pflichten und das Streben um ‚Heiligkeit‘ sowie einige begleitende Überzeugungen beschränkt, die für den tugendhaften Lebenswandel förderlich sind. Die wichtigsten dieser Überzeugungen richten sich auf das ‚höchste Gut‘, d. h. eine Vorstellung bezüglich des endgültigen Ausgleichs zwischen Tugend und Glückseligkeit, und den göttlichen Beistand, d. h. die Unterstützung des ‚gebrechlichen‘ und unvollkommenen Menschen beim Erwerb der Tugend. Und wie in den folgenden Abschnitten deutlich wird, führt die Auseinandersetzung mit der zuletzt genannten Überzeugung nicht zu einer irgendwie gearteten Anreicherung der postreligiösen Vernünftigkeit. Vielmehr ist es Kant aufgrund seines vorgeprägten Verständnisses von praktischer Rationalität unmöglich, die zentralen Gehalte, welche die theologische Gnadenlehre in Bezug auf die Vergebungs- und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen formuliert, nachzuvollziehen und für seine eigene Reflexion über diese Problempunkte fruchtbar zu machen. 4.3.4 Die Antinomie der Besserung In Kap. 4.3.2 wurde aufgezeigt, dass die Argumentation zum ethischen Gemeinwesen bzw. zur Kirche im dritten Stück eng mit einer längeren Überlegung zur Notwendigkeit der göttlichen Gnade verschränkt ist. Für den ‚Kirchenglauben‘ stellen das Bekenntnis und die kultischen Handlungen die erste Bedingung dafür dar, der Gnade Gottes teilhaftig zu werden und aufgrund dieser Gnade auch moralisch gebessert zu werden. Für die vernünftige Auffassung des ‚reinen Religionsglaubens‘ hingegen ist die moralische Besserung die zentrale Voraussetzung für eine gegebenenfalls erforderliche Gnade. Die Gnadenlehre fungiert folglich insofern als ein Argument für den ‚reinen Religionsglauben‘, wie er im ethischen Gemeinwesen praktiziert wird, als sie begründet, worauf sich das menschliche Bemühen vorrangig richten muss. Das Ziel des vorliegenden Kapitels ist es nun, diese Begründung zu analysieren und zu erheben, wie das Zusammenwirken zwischen menschlichem und göttlichem Handeln hier gesehen wird. Dazu müssen die einzelnen argumentativen Schritte der Textpassage nachgezeichnet werden. Zugleich gilt es herauszuarbeiten, welche Art der göttlichen Unterstützung jeweils angesprochen wird. <?page no="297"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 297 Die undurchsichtig gegliederte Textpassage 425 nimmt ihren Ausgangspunkt von dem Problem, dass der ‚seligmachende Glaube‘ aus Kants Sicht zwei Bedingungen einschließt, die beiden Bedingungen jedoch miteinander unvereinbar erscheinen. 426 Auf den Bezugspunkt dieser Bedingungen - die Erreichung der ‚Seligkeit‘ (daher ‚selig-machender‘ Glaube) - wird im Text nicht eigens eingegangen. Wenige Sätze darauf, bei der Erläuterung der zweiten Bedingung, wird dies allerdings mit der Formulierung umschrieben, „Gott wohlgefällig werden zu können“. 427 Es geht bei der angezielten Seligkeit also sehr wahrscheinlich um die ‚Gott wohlgefälligkeit ‘, die im zweiten Stück erklärt und dort auch als ‚moralische Glück seligkeit ‘ bezeichnet wurde. Der ‚seligmachende Glaube‘, der am Beginn des Satzes steht, ist daher im Wesentlichen eine komplexe Überzeugung hinsichtlich der moralischen Qualität der eigenen Person. Die eine der beiden Bedingungen, deren Konjunktion das Problem bildet, besteht in der Überzeugung, dass eine Handlung vor dem göttlichen Richter nicht ungeschehen gemacht werden kann. Hieran schließt der ‚Glaube an eine Genugtuung‘ an. Die andere Bedingung ist in der Forderung impliziert, einen pflichtgemäßen Lebenswandel führen zu sollen und durch diesen guten Lebenswandel gottwohlgefällig zu werden. 428 Problematisch wird die Verbindung dieser ‚Bedingungen‘ für Kant deshalb, weil sie einerseits integrale Bestandteile des beschriebenen ‚Glaubens‘ darstellen, eine solche Verbindung es aber andererseits erforderlich macht, dass die beiden Bedingungen in einem Konditionalverhältnis miteinander verknüpft sind: Entweder müsste der Glaube an Gottes Beistand den guten Lebenswandel oder der gute Lebenswandel den Glauben an Gottes Beistand bedingen. 429 Wie der darauf folgende Gliederungsabschnitt ausführt, führen beide Alternativen jedoch in Widersprüche. Hinzu kommt das spezifische Argumentationsdilemma, dass die in den beiden Bedingungsverhältnissen implizierten Schwierigkeiten durch die Voranstellung der jeweils anderen Bedingung gelöst werden könnten, was aber wiederum in eine Schwierigkeit führte, die durch die Voranstellung der ersten Bedingung gelöst werden müsste, usw. - Konkret formuliert: Die Annahme einer Besserung durch eine fremde Leistung und einer 425 Die Undurchsichtigkeit der Gliederung entsteht dadurch, dass inhaltliche Zäsuren nicht parallel zur Absatzstrukturierungen laufen: B 169/ AA VI 116 4-19 : Exposition der Problemstellung; B 169-172/ AA VI 116 20 -118 7 : Darlegung der ‚Antinomie‘; B 172-174/ AA VI 117 34 -119 3 : die theoretische und die praktische Perspektive; B 174-178/ AA VI 119 3 -121 10 : Überlegungen zu einer theoretischen Auflösung des ‚Knotens‘. 426 Vgl. B 168/ AA VI 116 4f : „Der seligmachende Glaube enthält zwei Bedingungen seiner Hoffnung der Seligkeit.“ 427 B 169/ AA VI 116 11f . 428 Vgl. B 168f/ AA VI 116 5-12 . 429 Vgl. B 169/ AA VI 116 13-19 . <?page no="298"?> 298 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung nachfolgend sich einstellenden Moralität ist unvernünftig, weil es sich dann gerade nicht um eine im eigentlichen Sinne moralische Besserung handelte, die durch den eigenen guten Lebenswandel hervorgebracht wird; daher müsste die Selbstbesserung der göttlichen Unterstützungsleistung vorangehen. Eine Selbstbesserung des Menschen (mit nachfolgender göttlicher Unterstützung für das nicht in der Macht des Menschen Stehende) ist jedoch durch die Schwierigkeit belastet, dass die Besserungsbedürftigen gemäß der Charakterisierung aus RGV-I keinen ‚guten Willen‘ haben und ihre Maximenordnung letztlich verkehrt ist. Wir geraten folglich in die denkerisch beunruhigende Lage, beide Glaubensbestandteile - die Selbstbesserung und die göttliche Unterstützung - in ein Ableitungsverhältnis bringen zu müssen, andererseits aber keine Variante des Ableitungsverhältnisses angeben zu können, die nicht in einen Widerspruch führt. Kant nennt dies „eine merkwürdige Antinomie der menschlichen Vernunft mit ihr selbst“. 430 Bereits in der Exposition der Antinomie zeichnen sich mehrere Auffälligkeiten ab. Merkwürdigerweise wird die Annahme der ersten Bedingung regelrecht rhetorisch erschüttert: Suggestiv stellt der Text fest, dass „es gar nicht einzusehen [ist], wie ein vernünftiger Mensch, der sich strafschuldig weiß, im Ernst glauben könne, er habe nur nötig, die Botschaft von einer für ihn geleisteten Genugtuung zu glauben, und sie […] anzunehmen, um seine Schuld als getilgt anzusehen, und zwar dermaßen […], daß auch fürs künftige ein guter Lebenswandel, um den er sich bisher nicht die mindeste Mühe gegeben hat, von diesem Glauben und der Akzeptation der angebotenen Wohltat, die unausbleibliche Folge sein werde“. 431 Ein solcher Glaube - so versuchen die Ausführungen mittels einer genealogischen Unterstellung zu destruieren - beruht vielmehr auf der betrügerischen Selbstliebe, die die Menschen des Öfteren zu der Hoffnung verführt, den erwünschten Gegenstand nur aufgrund des Wunsches zu erhalten. 432 Und die letzte Widerrede an dieser Stelle erinnert insofern an das Problem der mangelnden Erweisbarkeit des Offenbarungsglaubens, als das Vorhandensein des Satisfaktionsglaubens auf eine himmlische Eingebung zurückgeführt wird, die der vernünftigen Reflexion entzogen ist und deshalb angesichts der Gefahr des Selbstbetruges eigentlich nicht angenommen werden kann. 433 Die Auseinandersetzung mit der alternativen Position einer vorgeordneten Selbstbesserung fällt demgegenüber knapper aus. Es werden lediglich die bekannten Defizite rekapituliert, die der Mensch bei nüchterner Selbsteinschätzung an sich feststellen muss und angesichts derer kein Grund zur Hoffnung 430 B 169/ AA VI 116 20f . 431 Vgl. B 170/ AA VI 116 32 -117 2 . 432 Vgl. B 170/ AA VI 117 2-6 . 433 Vgl. B 170f/ AA VI 117 6-9 . <?page no="299"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 299 besteht, jemals ein gottwohlgefälliger Mensch zu werden, sofern nicht der göttliche Richter dem Menschen gnädigerweise entgegenkommt. 434 Die Darlegung der Defizite ist in Form von Fragen formuliert, die danach fragen, wie der moralisch Strebsame sich ein Gelingen seiner Bemühungen denken kann. Die Darstellung der beiden Bedingungen deutet folglich darauf hin, dass zwischen ihnen ein bedeutender Unterschied besteht: Während der Satz von der Selbstbesserung eine moralisch einwandfreie Forderung impliziert und allein deren Erfüllbarkeit durch den Menschen in Schwierigkeiten führt, argumentiert Kant in Bezug auf die Annahme einer vorhergehenden göttlichen Unterstützung, dass diese einen illusorischen und moralisch illegitimen Wunschglauben bildet. Im Gegensatz zur Selbstbesserung handle es sich um eine Annahme, die nicht nur zu Folgeproblemen führt, sondern wenigstens in das praktisch-moralische Selbstverständnis des Menschen gar nicht erst aufgenommen werden dürfte. Die spezifische Problematik der Vereinbarkeit der einen Bedingung mit der anderen, um deren Auflösung sich die Textpassage im Weiteren bemüht, entsteht folglich vor allem auf Seiten der Selbstbesserung. 435 Denn die Alternative einer von Gott allein bewerkstelligten Besserung erscheint für sich genommen bereits als inakzeptabel. Als zweite Auffälligkeit kommt hinzu, dass Kant in der Exposition der Antinomie verschiedene Arten der göttlichen Intervention zusammenfasst. Am Beginn der Exposition steht das Problem, die „geschehenen Handlungen rechtlich (vor einem göttlichen Richter) ungeschehen zu machen“ 436 Hierauf richtet sich dem Text zufolge der ‚Glaube an eine Genugtuung‘. 437 Wir haben damit das Problem vor uns, das in RGV II bei der Diskussion der dritten Schwierigkeit angesprochen wurde: Wie können geschehene Handlungen, die der Gutheit ermangelten, bewältigt werden, und inwiefern leistet Gott hierbei Unterstützung? - Kant verwehrte sich diesbezüglich einer göttlichen Vergebung oder der stellvertretenden Wiedergutmachung durch eine andere Person. Sodann, im weiteren Verlauf der Antinomieexposition, wird jedoch der Glaube an die Genugtuung als eine Be- 434 Vgl. B 172/ AA VI 117 21-26 (Hervorhebung: Reich): „Wenn aber der Mensch von Natur verderbt ist, wie kann er glauben , aus sich, er mag sich auch bestreben, wie er wolle, einen neuen, Gott wohlgefälligen, Menschen zu machen; wenn er, sich der Vergehungen, deren er sich bisher schuldig gemacht hat, bewußt, noch unter der Macht des bösen Prinzips steht und in sich kein hinreichendes Vermögen antrifft, es künftighin besser zu machen? “ 435 Dieser Unterschied in der Darlegung der beiden Bedingungen wird bspw. von Quinn (1990, 426 f.) übersehen. Andere sehen die Differenz und folgern daraus, dass der Sache nach überhaupt keine Antinomie vorliege (Wimmer 1990, 285, u. Wolterstorff 1991, 51). Wie sogleich herausgearbeitet wird, erwägt Kant aber an manchen Stellen tatsächlich, ob nicht der Glaube an die Schuldentilgung den guten Lebenswandel hervorbringen muss. 436 B 169/ AA VI 116 6f . 437 Vgl. B 169/ AA VI 116 9 . <?page no="300"?> 300 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung dingung für den guten Lebenswandel angesehen: Entweder es ist „der Glaube an die Lossprechung von der auf uns liegenden Schuld“, der den guten Lebenswandel hervorbringt, oder die „wahrhafte und tätige Gesinnung eines jederzeit zu führenden guten Lebenswandels“ bringt den Glauben an die Lossprechung hervor. 438 Und hierbei geht es dann nicht mehr nur um die Frage nach der Vergeltung und der Vergebung für das moralisch Unvollkommene, sondern um das Problem, wie überhaupt ein moralisch guter Lebenswandel möglich ist. Symptomatisch ist bereits die Paraphrasierung, die der ersten Nennung des Glaubens an die Genugtuung in Klammern beigegeben ist. Es soll damit offenbar sowohl die ‚Bezahlung für die Schuld‘ und die ‚Versöhnung mit Gott‘ als auch die ‚Erlösung‘ angesprochen werden. 439 Bei der Diskussion der ersten Annahme geht der Text ebenfalls davon aus, dass es der rhetorisch abgeschmetterten Position zufolge allein der Glaube an die Genugtuung ist, auf den der gute Lebenswandel folgt. 440 Die verschiedenen Begriffe und Probleme, die mit der Besserung des Menschen und der göttlichen Mithilfe zusammenhängen, werden hier folglich unter der Behauptung subsummiert, dass der Glaube an die (von Gott irgendwie ermöglichte) moralische Genugtuung eine Besserung des Menschen erzeugt. Bei der Darlegung der zweiten Annahme werden wiederum mehrere Defizite angeführt: Zum einen ist von den ‚Vergehungen‘ die Rede, die der Mensch vor der Besserung begangen hat 441 , zum anderen von einer ‚natürlichen Verderbnis‘ des Menschen und davon, dass das Vermögen zur Besserung unzureichend ist 442 . Den Defizitphänomenen gegenüber stehen einerseits die ‚Neugeburt‘ und andererseits die ‚Versöhnung‘ mittels ‚Genugtuung‘. 443 Die Genugtuung führt des Weiteren auf die Idee eines ‚fremden Verdienstes‘. 444 Auch hier lässt der Text den Gedanken erkennen, dass allein der Glaube an die Genugtuung (für die schuldhaften Handlungen der Vergangenheit) die Besserung erzeugen könne - und mit dieser Besserung auch das Vermögen entsteht, „es künftighin besser zu machen“ 445 . Diese Auffälligkeit birgt jedoch für die Interpretation eine Schwierigkeit: Entweder die hier diskutierte Besserungsfrage bezieht sich lediglich auf das Problem der Vergeltung für die unbewältigte Schuld der Vergangenheit. 446 Hierfür spre- 438 Vgl. B 169/ AA VI 116 15-19 . 439 Vgl. Z. 9 f. 440 Vgl. B 170/ AA VI 116 32 -117 2 . 441 Vgl. B 171/ AA VI 117 23f . 442 Vgl. Z. 21 u. 24-26. 443 Vgl. B 171f/ Z. 26-31. 444 Vgl. B 171/ Z. 27 u. 32. 445 Z. 26. 446 Zu einer solchen Lesart tendieren Wimmer 1990, 167, u. Wolterstorff 1991, 51. <?page no="301"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 301 chen die Formulierungen zu Beginn der Antinomie-Exposition. Für Kant stellt dies eine echte denkerische Herausforderung dar, weil die Frage der Vergebung durch Gott, den obersten Moralgesetzrepräsentanten, berührt ist. In der Sache würde dann in diesem Abschnitt das gleiche Problem diskutiert wie in RGV II im Zusammenhang mit der dritten Schwierigkeit. Oder die in der Antinomie aufgeworfene Problematik radikalisiert das Besserungsproblem und stellt darüber hinaus die Frage, ob der radikal böse Mensch überhaupt eine Besserung vollführen kann oder nicht vielmehr mittels eines ‚Glaubens‘ hierzu befähigt werden muss. 447 Hierauf deuten die Formulierungen bei den Darlegungen der beiden Annahmen hin. In diesem Fall erscheint es aber unklar, wie Kant sich den Zusammenhang zwischen dem Genugtuungsglauben und der Besserung denkt. Ebenso unverständlich wäre dann das Verhältnis zu den Motiven ‚Wiedergeburt‘, ‚Versöhnung‘ und ‚Stellvertretung‘. Auch bliebe die Rolle des göttlichen Handelns beim Besserungsgeschehen unterbestimmt. Kant unternimmt mehrere Anläufe, die exponierte Antinomie zu lösen. Der erste Lösungsansatz differenziert zwischen einer theoretischen und einer praktischen Perspektive. In einem zweiten Schritt wird dann eine theoretische Auflösung versucht, die mit ähnlichen Begrifflichkeiten wie die exemplum -Theorie des zweiten Stücks arbeitet. Am Ende des Abschnittes steht ein Seitenhieb auf die Prädestinationslehre. Der erste Lösungsansatz schließt direkt an die Darlegungen zur zweiten Annahme an. Kant hält dabei schlicht fest, dass eine theoretische Auflösung, die nach den Ursachen des Freiheitsgebrauches forscht, das Spekulationsvermögen der Vernunft übersteigt und daher unmöglich ist. Unter dieser theoretischen Perspektive würde der Versuch unternommen, die „Ursachen, welche machen, daß ein Mensch gut oder böse wird“, zu erheben. 448 Der abgelehnte Versuch bezieht sich offenbar auf die Problematik, die soeben als zweite Interpretationsmöglichkeit aufgezeigt wurde: nämlich die Frage, wie es dazu kommt, dass ein nicht nach dem Guten strebender Mensch einen guten Willen ausbildet. Unter praktischer Hinsicht besteht hingegen dem Text zufolge kein Zweifel, dass der zweite Satz der Antinomie - das Bemühen um Selbstbesserung - den Vorrang inne hat. Denn das praktische Interesse zielt darauf, was „für den Gebrauch unserer freien Willkür das [E]rste“ 449 ist, d. h. was der Mensch als erstes tun muss. Und hier muss man natürlich bei dem den Anfang nehmen, was man selbst tun kann - sc. das Moralgesetz befolgen -, und nicht bei dem, was Gott für den Menschen tut. 450 Zusätzlich wird als Argument auf den Unbedingt- 447 Hierzu tendieren Quinn 1990, 422, 425-427, Thiede 2004, 89-102, u. Heit 2006, 162-167. 448 B 172/ AA VI 117 34 -118 1 . Zitat: Z. 117 36f . 449 B 172/ AA VI 118 3 . 450 Vgl. B 172/ AA VI 118 4-7 . <?page no="302"?> 302 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung heitscharakter verwiesen, welcher der Pflichtbefolgung eignet und daher eine nachfolgende Position in einem Bedingungsgefüge ausschließt. 451 Mittels der praktischen Auflösung wird folglich wieder die gleiche Argumentationsposition erreicht, die sich bereits bei der Exposition der Antinomie-Sätze abzeichnete. Zugleich erklärt Kant, dass der Glaube an eine stellvertretende Genugtuung nur für das theoretische Begreifen notwendig sei. Im Gegensatz zur Gewissheit von der Notwendigkeit der Selbstbesserung benötigen wir jene Ansicht deshalb, weil wir uns die „Entsündigung […] nicht anders begreiflich machen“ 452 können. Die Zuversicht, dass eine Genugtuung stattfindet und hierdurch die angezielte (moralische) Seligkeit erreicht wird, stellt sich indes nur ein, wenn der Mensch mit der Besserung anfängt. 453 Eine solche nachfolgende Hilfsüberzeugung bezieht sich aber ausschließlich auf das Problem der Schuldbewältigung (‚Entsündigung‘) bei bereits im Vollzug befindlicher Besserung, d. h. auf die in der ersten Interpretationsmöglichkeit aufgeworfene Problematik. Indem Kant einige Zeilen später das aus RGV I bekannte Bild vom gordischen Knoten einspielt, bereitet er einen zweiten Anlauf vor: „Das wäre aber den Knoten (durch eine praktische Maxime) zerhauen, anstatt ihn (theoretisch) aufzulösen, welches auch allerdings in Religionsfragen erlaubt ist. - Zur Befriedigung des letzteren Ansinnens kann indessen folgendes dienen.“ 454 Obgleich die Bezugnahmen in dieser Formulierung nur unvollständig erhellt werden können 455 , ist 451 Vgl. B 173/ AA VI 118 12-20 , hier sind vor allem die kursivierten Teile (Reich) interessant: „ wir können sicher nicht anders hoffen , der Zueignung selbst eines fremden genugtuenden Verdienstes, und so der Seligkeit teilhaftig zu werden , als wenn wir uns dazu durch unsere Bestrebung in Befolgung jeder Menschenpflicht qualifizieren , welche letztere die Wirkung unserer eigenen Bearbeitung, und nicht wiederum ein fremder Einfluß sein muß, dabei wir passiv sind. Denn da das letztere Gebot unbedingt ist, so ist es auch notwendig, daß der Mensch es seinem Glauben als Maxime unterlege, daß er nämlich von der Besserung des Lebens anfange, als der obersten Bedingung “. 452 B 172f/ AA VI 118 10f („begreiflich machen“ im Original gesperrt). 453 Siehe oben Fn. 451, vor allem die nicht kursivierten Teile. 454 B 174/ AA VI 119 3-5 . 455 Der einleitende Rückbezug (‚ Das ‘) dürfte sich auf die vorhergehend erörterte Überzeugung von der erstrangigen Verpflichtung zum guten Lebenswandel beziehen - eine insofern ‚naturalistische‘ Spielart, als jede übernatürliche und durch Offenbarung vermittelte Vorbedingung für den guten Lebenswandel ausgeschlossen wird. Dafür, dass mit dem ‚ letzteren ‘ Ansinnen sehr wahrscheinlich die theoretische Auflösung gemeint ist, spricht, dass die nachfolgenden Ausführungen die Diskussion um die Vereinbarkeit der beiden Bedingungen fortsetzen. Der Bezug des Relativpronomens ‚ welches ‘ kann sowohl im ‚praktischen‘ Zerhauen als auch in der ‚theoretischen‘ Auflösung des Knotens gesucht werden. Im ersten Fall würde damit der naturalistische Unglauben für ‚in Religionsfragen‘ legitim erklärt (was eine im Vergleich zu den im vorigen Unterkapitel [4.3.3] diskutieren Textstellen auffällig positive Bewertung der ‚naturalistischen‘ Vorgehensweise implizierte). Im anderen (wahrscheinlicheren) Fall würde sich der Autor für legitimiert erklären, eine Auflösung der Verknotung von religiös-moralischen Ansichten vorzunehmen. <?page no="303"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 303 die Aufnahme des Knotenbildes instruktiv. Kant bezieht hier zu seinen eigenen Argumentationsbemühungen Stellung. Demnach möchte er nicht bei einer ausschließlich handlungspraktischen Bewältigung der Verknotung stehen bleiben, was wohl einem ‚Zerhauen‘ des Knotens gleichkäme. Vielmehr will er eine theoretische Auflösung versuchen, indem er, im Bild gesprochen, die einzelnen Fäden heraussucht und voneinander ablöst. Hierzu greift der Text erneut die exemplum -Theorie aus RGV II auf. Das Argumentationsziel hinter diesem Rückgriff ist m. E. ein doppeltes: Zum einen versucht Kant damit, die Alternative zwischen dem Glauben an ein historisch kontingentes Ereignis und der Orientierung an einem Vernunftprinzip auf die fragliche Antinomie abzubilden. Hierin zeigt sich noch einmal, was eingangs bezüglich der Einbettung der Textpassage in die Gedankenführung des dritten Stücks festgestellt werden konnte, dass nämlich die Besserung-Gnade-Diskussion und die Absonderung des Vernunftglaubens vom historisch überkommenen Kirchenglauben miteinander verschränkt sind. Folgt man der Parallelisierung zwischen der Antinomie und der Kirchenglaube-Vernunftglaube-Gegenüberstellung wird der erste Satz der Antinomie mit allen Mankos des Kirchenglaubens belastet. 456 Zum anderen ruft Kant die exemplum -Problematik auf, um darzulegen, dass es sich bei dem Widerstreit der beiden Bedingungen nur um eine scheinbare Antinomie handelt. Denn an das Bild vom Knoten und die Entwirrungsabsicht schließt folgender Überleitungssatz an: „Zu Befriedigung des letzteren Ansinnens kann indessen folgendes dienen.“ 457 Und nachdem die zentralen Begriffe aus der Theorie vom moralischen Beispiel wiederholt wurden, wird festgestellt, dass „die Antinomie […] nur scheinbar [… ist,] weil sie eben dieselbe praktische Idee, nur in verschiedener Beziehung genommen, durch einen Mißverstand für zwei verschiedene Prinzipien ansieht.“ 458 Bedauerlicherweise unterlässt es der Text jedoch, das Verhältnis zwischen der Antinomie und der exemplum -Theo- 456 Vgl. B 176f/ AA VI 120 16-35 : Der Kirchenglaube steht nicht jedem Menschen zur Verfügung. Und wenn der geschichtlich vermittelte Glaube gegeben ist, dann lässt sich beobachten, dass die Aufforderung zum guten Lebenswandel mit dem überlieferten Glauben an das göttliche Gnadenwirken im Widerstreit liegt - was wohl als Hinweis darauf gelesen werden darf, dass die vernunftgemäße und ursprüngliche Aufforderung zum guten Lebenswandel sich durchsetzen würde, wenn der ererbte ‚Gnaden‘-Glaube dies nicht immer wieder konterkarierte. Überdies ist es angesichts dessen, wie man den Menschen wahrnimmt, kaum denkbar, wie die Überzeugung von einer geschenkten Abgeltung aller Schuld, wo man durch gläubige Anhängerschaft nur „hinlangen darf […] um sich schuldenfrei zu machen“ (Z. 30-32), etwas anderes hervorbringen kann als die Einstellung des Vorsatzes zum guten Lebenswandel. 457 B 174/ AA VI 119 5f . 458 Vgl. B 175f/ AA VI 119 29-31 . <?page no="304"?> 304 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung rie genauer zu bestimmen. Jedenfalls läuft die Diskussion des Urbildexemplum -Problems in der Sache auf eine Relativierung des einen Satzes zugunsten des anderen Satzes hinaus. Und in Verbindung mit den bereits herausgearbeiteten Einwänden gegen den ersten Satz der Antinomie kann man vermuten, dass auch Kant hier eine Relativierung intendiert. Satz (1) des Urbildexemplum -Problems ist folgender: Die praktische Orientierung am Urbild der Gott wohlgefälligen Menschheit bezieht sich auf eine Vernunftidee - das Ideal der Heiligkeit. 459 Satz (2) hingegen besagt: Was der gute Lebenswandel ist, wird nach einem singulären empirischen Beispiel - die historische Überlieferung des Lebenswandels des Gottmenschen Jesu Christi - bestimmt. 460 So gesehen besteht ein Widerspruch zwischen den beiden Sätzen. Dieser kann jedoch gelöst werden, wenn man sich klar macht, dass das eigentliche Objekt der praktischen Orientierung nicht die Erscheinung als solche ist, sondern das in der Vernunft liegende Urbild, das der Erscheinung unterlegt wird. Allein aufgrund der Kongruenz mit dem Ideal der Heiligkeit kann das Beispiel Jesus Christus als exemplum der Gottwohlgefälligkeit erkannt werden und seine moralförderliche Wirksamkeit entfalten. 461 Der Widerspruch zwischen Satz (1) und Satz (2) ist folglich nur ein scheinbarer. Was Satz (2) behauptet, nimmt immer schon in Anspruch, was Satz (1) ausführt. Wie gesagt, Kant schweigt sich darüber aus, inwiefern durch diese Überlegung die Antinomie des seligmachenden Glaubens einer Lösung zugeführt werden kann. 462 Der Text fährt damit fort, dass er den einen Satz der Antinomie noch einmal dem anderen gegenüberstellt. Und bezüglich des Satzes der Selbstbesserung gilt, dass dieser den guten Lebenswandel als Bedingung für eine ergänzende Unterstützung Gottes ansieht: „Man muß mit allen Kräften der heiligen Gesinnung eines Gott wohlgefälligen Lebenswandels nachstreben, um glauben zu können, daß die (uns schon durch die Vernunft versicherte) Liebe desselben zur Menschheit, sofern sie seinem Willen nach allem ihrem Vermögen nachstrebt, in Rücksicht auf die redliche Gesinnung, den Mangel der Tat, auf welche Art es auch sei, ergänzen werde.“ 463 Wenn das die kantische Lösung der Antinomie ist, dann geht sie allerdings vollständig zu Gunsten der Selbstbesserung. Was gegen die Selbstbesserung spricht (das Problem der Verderbnis des 459 Vgl. B 174/ Z. 29-31. 460 Vgl. B 174f/ Z. 11-16. 461 Vgl. B 175/ Z. 17-23. 462 Mariña (1997, 394) stellt in Bezug auf diese Stelle fest, dass Kant die ‚gute Gesinnung‘ mit dem Glauben an eine historische Offenbarung verbunden habe. Das ist - ganz allgemein gesprochen - richtig, berechtigt aber nicht zu weitergehenden Schlussfolgerungen (394- 398) dahingehend, dass Kant dem Glauben an ein geschichtliches Offenbarungsgeschehen eine Relevanz für die Besserung zuspricht. 463 B 176/ AA VI 120 10-16 . <?page no="305"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 305 Menschen und des mangelnden Vermögens, der Gedanke von der Besserung aufgrund des Glaubens und die Wiederherstellungsidee) wird nicht mehr in Betracht gezogen. Dann haben wir es aber nicht mehr mit einem Konjunktionsproblem zu tun, sondern mit zwei antagonistisch gegenüberstehenden Sätzen, von denen der eine - der Satz von der Selbstbesserung als Bedingung für eine ergänzende Unterstützung - wahr und der andere falsch ist. Völlig vernunftwidrig ist es dem Text zufolge jedoch, wenn man nicht nur den Glauben zur Bedingung für die Besserung erklärt, sondern dies darüber hinaus im Sinne der Prädestinationslehre versteht. Wenn davon ausgegangen wird, dass alles Tun und Lassen des Menschen, inklusive des Glaubens selbst, allein auf den Ratschluss Gottes hinausläuft, unternimmt die Vernunft einen ‚ salto mortale ‘, d. h. eine halsbrecherische und damit das Risiko der Selbstvernichtung in Kauf nehmende Akrobatik. 464 Kant arbeitet sich offenbar an einer aus theologischer Sicht seltsamen Prädestinationsvorstellung ab, die nicht nur völlig des christologischen Kontextes entbehrt, sondern auch den auf die Erlösung bezogenen Glauben als von Gott vorherbestimmt auffasst. 465 Kant kann der Überzeugung von der göttlichen Prädestination zunächst durchaus einen rational verständlichen Sinn abgewinnen, nämlich insofern, als man bei einem überzeitlichen Wesen wie Gott davon ausgehen kann, dass es im Gegensatz zum Menschen die moralische Entwicklung eines jeden Individuums vorhersieht. 466 Problematisch ist der Prädestinationsglaube aber dann, wenn erstens dem Glauben an die vorgängig-gnadenhafte Besserung ein solcher Einfluss zugeschrieben wird, dass dieser Glaube sowie die Gefühle, die ihn - gemäß dieser Ansicht - begleiten, alleine eine grundständige Besserung und Neu-Werdung des Menschen hervorbringen sollen und zweitens auch das Gegebensein dieses Glaubens selbst wiederum als von Gott zugeteilt und eingegeben geglaubt wird. 467 Im Vergleich mit dem Vorhergehenden kann man das spezifische Problem des Prädestinationsglaubens folglich darin sehen, dass sich 464 Unter einer solchen Voraussetzung gilt, dass „denn alles selbst mit der moralischen Beschaffenheit des Menschen zuletzt auf einen unbedingten Ratschluss Gottes hinausläuft: ‚er erbarmet sich, welches er will, und verstocket, welchen er will‘ welches, nach dem Buchstaben genommen, der salto mortale der menschlichen Vernunft ist“ (B 178/ AA VI 121 6-10 , Hervorhebung im Original). 465 Vgl. Link 2003. 466 Vgl. B 178f/ AA VI 121 25-38 . 467 Vgl. B 177f/ AA VI 120 35 -121 10 : „Würde aber sogar dieser Glaube selbst so vorgestellt, als ob er eine so besondere Kraft und einen solchen […] Einfluß habe, daß […] er doch, wenn man ihm, und den damit verbundenen Gefühlen nachhängt, den ganzen Menschen von Grunde aus zu bessern […] im Stande sei: so müßte dieser Glaube selbst als unmittelbar vom Himmel […] erteilt und eingegeben angesehen werden, wo denn alles selbst mit der moralischen Beschaffenheit des Menschen zuletzt auf einen unbedingten Ratschluß Gottes hinausläuft […], welches, nach dem Buchstaben genommen, der salto mortale der menschlichen Vernunft ist.“ <?page no="306"?> 306 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung die göttliche Besserungshilfe dann nicht nur unabhängig vom Lebenswandel lediglich aufgrund eines Glaubensaktes vollzieht, sondern sich auch die ‚echte‘, weil emotional wirksame, und erlösungserwirkende Annahme dieser Überzeugung allein der göttlichen Initiative verdankt. Die Diskussion der Antinomie hinterlässt aufs Ganze gesehen einen spannungsreichen Eindruck. Im Verlauf des Textes werden eine Reihe von theologischen Begriffen und Gedanken angesprochen, die in den Zusammenhang des göttlichen Handelns an dem von Sünde gekennzeichneten Menschen gehören. Die Nennung dieser Motive lässt freilich vieles im Unklaren. So bleibt z. B. unverständlich, wie der vielfach angesprochene ‚Glaube an die Genugtuung‘ die moralische Besserung hervorbringen sollte. Dennoch wird hierdurch die Brisanz der Frage nach der göttlichen Unterstützung, die Kant innerhalb seiner Moralphilosophie aufwirft, gesteigert: Zwar wurde auch in den Ethik-Vorlesungen und in den ersten beiden Stücken das Problem gestreift, wie ein ‚böser‘ Mensch überhaupt den Willen zum ‚Gut‘-Werden ausbilden kann. Die gnadentheoretischen Überlegungen gingen dann aber nicht direkt auf diese Rückfrage ein, sondern formulierten Modelle dazu, wie man sich vorstellen kann und muss, dass der Mensch bei den im Vollzug befindlichen Besserungsbemühungen von Gott unterstützt wird. An dieser Stelle aus dem dritten Stück wird die Besserungsfrage nun erstmals radikaler diskutiert. Es wird nichts weniger als die fundamentale Frage aufgeworfen, ob für die Aufnahme und die Ermöglichung des moralischen Bemühens eine göttlich-gnadenhafte Unterstützung erforderlich ist. Es geht um eine inchoative Wirkung der Gnade auf das moralische Handeln. Andererseits beziehen sich zahlreiche Belege dann doch auf Problemstellungen, die aus Kants Sicht nicht die Ausbildung eines moralischen Willens betreffen, sondern die Bewältigung der bestehenden Schuld und die moralische Vervollkommnung. Bei genauer Betrachtung laufen die vorliegenden Versuche, die Antinomie aufzulösen, auf den Gedanken hinaus, dass der Mensch selbst eine gute Gesinnung ausbildet und daraufhin die Zuversicht haben kann, dass die unbewältigte Schuld eine Erreichung der Seligkeit nicht dauerhaft behindert. Und in diesem letzten Punkt - unter dem Stichwort ‚Genugtuung‘ - erwägt Kant zumindest den Gedanken, dass dem Menschen eine Ablösung der Schuld durch ein ‚fremdes Verdienst‘ zuteil wird. 468 Synergistische Lösungsmöglichkeiten, die sowohl die Notwendigkeit der göttlichen Unterstützung als auch die des menschlichen Bemühens festhalten, finden dabei keine Berücksichtigung. 469 Bereits die Rede von einer ‚Antinomie‘ 468 Vgl. Heit 2006, 176-180. 469 Synergistische Interpretationen und Vermittlungsversuche, wie sie in Kap. 2.4 nachgezeichnet wurden, verfehlen daher die Argumentation des Textes. <?page no="307"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 307 lässt erkennen, dass Kant in Bezug auf die Ausbildung eines guten Willens von einem unüberbrückbaren Antagonismus zwischen göttlichem und menschlichem Handeln ausgeht. Und weil ihm eine Abhängigkeit der menschlichen Willensbildung vom göttlichen Zutun in höchstem Maße unvernünftig, ja geradezu halsbrecherisch erscheint, geht er von der crucialen Frage, wie der böse Mensch das Gute überhaupt wollen kann, zu der nachrangigen Problematik über, wie das moralische Bemühen sein Ziel erreichen kann. Das hat allerdings zur Folge, dass die von Kant selbst angesprochenen, fundamentalen Probleme der Besserung ungelöst bleiben. 4.3.5 Die Geheimnisse der Genugtuung und der Erwählung Vielleicht ist die herausgearbeitete Ambivalenz auch ein Grund dafür, dass Kant ganz am Ende von RGV III, im Anmerkungsabschnitt, erneut die gnadentheoretische Frage aufwirft. Der Anmerkungsabschnitt beschäftigt sich mit den sog. Glaubensgeheimnissen. Daher muss zunächst der in diesem Abschnitt vorliegende Geheimnisbegriff erhoben werden. Dies wird auf eine Charakterisierung des Gottesbildes führen, die bis in die Formulierungen hinein auch in den Ethik-Vorlesungen dargelegt wurde. Die Diskussion um die Geheimnisse der ‚Genugtuung‘ und der ‚Erwählung‘ bietet dann eine erneute Diskussion um den Beitrag Gottes bei der Besserung des Menschen. Demnach sind die Geheimnisse, von denen im Folgenden die Rede sein wird, erstens als etwas ‚Heiliges‘ anzusehen, und zwar in dem Sinne, dass sie einen moralischen Sachverhalt ansprechen. Es handelt sich um gedankliche Zusammenhänge, auf welche die praktische Vernunft stößt. 470 Zweitens eignet dem Geheimnis insofern ein spezifischer epistemischer Status, als sein Inhalt einerseits „innerlich für den praktischen Gebrauch hinreichend erkannt werden“ kann, andererseits aber „nicht für den theoretischen“ 471 . Im Fortgang des Zitates zeigt sich, dass diese Ambiguität zwischen Wissen und Nicht-Wissen an zwei Gegensatzpaaren festgemacht wird: zum einen am bereits genannten Gegensatz zwischen praktischem und theoretischem Vernunftgebrauch, zum anderen an den Gegenüberstellungen von ‚innerlich‘ und ‚allgemein mitteilbar‘ und ‚äußerlich‘ bzw. ‚öffentlich‘ bekannt werden. Das ‚heilige Geheimnis‘ wird im Sinne dieser Unterscheidungen als mysterium stricte dictum charakterisiert, da es im Gegensatz zu den sog. ‚Geheimnissen der Natur‘ oder den Geheimhaltungssachen in der Politik nicht nur vorläufig oder mutwillig, sondern grundsätzlich unerkennbar ist und vom Menschen als solches akzeptiert werden muss. 470 Vgl. B 207 f/ AA VI 137 2-11 . 471 B 208/ AA VI 137 7-9 . <?page no="308"?> 308 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Eine dritte Näherbestimmung liegt darin, dass zwischen ‚Glaubensgeheimnissen‘, die (vermeintlich) ‚göttlich eingegeben‘ bzw. nur gefühlsmäßig angenommenen werden, und solchen, die dem ‚reinen Vernunftglauben‘ inhärieren, unterschieden wird. 472 Aufgrund des (spezifischen) Erkenntnischarakters werden nur die letzteren zugelassen. Überdies ist Kant sichtlich bemüht, die ebenso unerklärliche Freiheit des Menschen aus der Extension des Geheimnis-Begriffes auszuschließen. 473 M. E. kann man das als Hinweis darauf lesen, dass die hier vorliegende Auseinandersetzung mit dem Geheimnisbegriff vor allem auf die Frage nach der göttlich-gnadenhaften Mitwirkung beim Besserungsgeschehen gemünzt ist. Die praktische Vernunft stößt auf die zu diskutierenden Geheimnisse, so wird weiter argumentiert, da sich bei ihrer Selbstreflexion die Frage nach Gott stellt. Gott ist „eine Aufgabe für unsere praktische Vernunft“, wobei das praktische Bedürfnis der Vernunft nicht darauf abzielt, „was Gott an sich selbst […] sei, sondern was er für uns als moralische Wesen sei“. 474 Die praktisch-moralische Gottesidee stellt allerdings für sich genommen noch kein Geheimnis dar. Der ‚Abgrund des Geheimnisses‘ erhebt sich erst, wenn der Versuch unternommen wird, den moralischen Überzeugungen theoretische Aussagen zum Wesen und Handeln Gottes zu entnehmen. 475 In diesem Abgrund liegen drei Geheimnisse: das Geheimnis der moralischen ‚Berufung‘ des geschaffenen Menschen 476 sowie die Geheimnisse der Genugtuung und der Erwählung, die sogleich näher betrachtet werden. Dem praktisch-moralischen Gottesglaube werden im Verlauf des Abschnittes noch weitere Inhalte eingeschrieben. Kant verwendet auch hierfür Dreierlis- 472 Vgl. B 208/ AA VI 137 12 -138 7. 473 Die Freiheit als Eigenschaft des sittlich geforderten Menschen gilt nicht als ‚Geheimnis‘, weil sie allgemein mitgeteilt werden kann. Lediglich der nicht näher erläuterte ‚Grund‘ der Freiheit ist unerforschlich und ein ‚Geheimnis‘ (vgl. B 209/ AA VI 138 16-20 ). Auch in RGV IV wird erklärt, dass die Freiheit zwar nicht begriffen werden kann, aber im Gegensatz zum göttlichen Beistand nichts ‚Übernatürliches‘ enthält und zumindest das Gesetz der Freiheit unzweifelhaft durchschaut werden kann (vgl. B 297/ AA VI 191 14-21 ). „Eigentliches, nämlich heiliges Geheimnis (mysterium) der Religion“ liegt hingegen in Bezug darauf vor, „was nur Gott tun kann, wozu etwas selbst zu tun unser Vermögen, mithin auch unsere Pflicht übersteigt“ (B 210/ AA VI 139 31-37 ; vgl. auch B 210f/ AA VI 139 1-12 ). 474 B 211/ AA VI 139 13-16 . 475 Vgl. B 211/ AA VI 140 1f und B 214f/ AA VI 142 4-20 . 476 Vgl. B 215f/ AA VI 142 21 -143 5 , bes. Z. 22-31: „Wir können uns die allgemeine unbedingte Unterwerfung des Menschen unter die göttliche Gesetzgebung nicht anders denken, als sofern wir uns zugleich als seine Geschöpfe ansehen; […]. Es ist aber für unsere Vernunft schlechterdings unbegreiflich, wie Wesen zum freien Gebrauch ihrer Kräfte erschaffen sein sollen: weil wir nach dem Prinzip der Kausalität einem Wesen, das als hervorgebracht angenommen wird, keinen andern innern Grund seiner Handlungen beilegen können als denjenigen, welchen die hervorbringende Ursache in dasselbe gelegt hat“. <?page no="309"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 309 ten: Gott wird demnach erstens als ‚heiliger Gesetzgeber‘ geglaubt, der weder nachsichtig noch despotisch herrscht, sondern den Menschen moralische Gesetze auferlegt. Zweitens muss Gott als ein ‚gütiger Regierer‘ gelten, der seine Güte nicht in einem beliebigen oder moralisch indifferenten Wohlwollen erweist, sondern darin, dass er die erreichte moralische Beschaffenheit wahrnimmt und das verbleibende Unvermögen ergänzt. Und schließlich wird in Gott der ‚gerechte Richter‘ gesehen. 477 Die Gerechtigkeit, nach der sich das göttliche Richteramt ausrichtet, muss jedoch noch nach zwei Seiten hin eingeschränkt werden: Auf der einen Seite kann man sich nicht denken, dass die Gerechtigkeit „gütig und abbittlich“ 478 vollzogen wird, weil dies aus Kants Sicht einen Widerspruch einschließt. Auf der anderen Seite kann sich die Gerechtigkeit nicht an der Heiligkeit, die in der Gesetzgebung obwaltet, orientieren, weil hiervor kein Mensch als gerecht erscheinen kann. 479 Die Gerechtigkeit kommt vielmehr dadurch zum Tragen, dass - wie bereits ausgeführt - die göttliche Güte auf die Bedingung eingeschränkt wird, dass der gütige Beistand nur dann eintritt, wenn der Mensch in bestmöglichem Maße den Forderungen des Moralgesetzes gehorcht. 480 Im Verlauf des Abschnitts bringt Kant noch zwei weitere Dreierlisten ein, indem er das trinitarische Glaubensbekenntnis auf seinen Gottesbegriff hin auslegt 481 und einen Vergleich zwischen der dreifachen Herrschaft Gottes über die Menschen und den staatlichen Gewalten herstellt 482 . Bis in die verwendeten Begriffe hinein findet man diese dreigliedrige Gotteslehre auch in den Vorlesungen. Wie in Kap. 3.5 herausgestellt wurde, bedient sich Kant gerne des Analogiegedankens, indem er die Gott-Mensch-Beziehung in Entsprechung zu staatlichen Herrschaftsverhältnissen betrachtet. Die Bezogenheit des Menschen auf Gott, wie sie durch die praktische Vernunft gefordert wird, ist demnach nicht als Untertanenschaft unter einem despotischen Willkürherrscher, sondern nach dem Modell eines Rechtsstaates aufgebaut. 483 Zudem wird auch in den Vorlesungen Kaehler-Collins und Powalski ausgeführt, dass der Gedanke eines Richters, der gütig ist oder sich vom gerechten 477 Vgl. B 211/ AA VI 139 22-27 und B 213/ AA VI 141 9-25 . 478 B 214/ AA VI 141 19f . 479 Vgl. Z. 21 f. 480 Vgl. Z. 22-25. 481 Vgl. B 219-222/ AA VI 145 6 -147 14 . 482 Vgl. B 211f/ AA VI 140 1-11 : „Er [sc. der Glaube] liegt in dem Begriffe eines Volkes als eines gemeinen Wesens, worin eine solche dreifache obere Gewalt (pouvoir) jederzeit gedacht werden muss, nur dass […] diese dreifache Qualität des moralischen Oberhaupts des menschlichen Geschlechts in einem und demselben Wesen vereinigt gedacht werden kann, die in einem juridisch-bürgerlichen Staate notwendig unter drei verschiedenen Subjekten verteilt sein müsste.“ 483 Siehe oben Kap. 3.5, S. 163 f. <?page no="310"?> 310 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Urteil abbringen lässt, selbstwidersprüchlich wäre. 484 Das kantische Gottesbild, wie es in der Lehrtätigkeit und in der RGV zum Ausdruck kommt, schließt aus, dass Gott dem Menschen vergibt. Denkbar und aus moralphilosophischen Gründen erforderlich ist für Kant allein eine solche Konjunktion der Gottesprädikate ‚Güte‘ und ‚Gerechtigkeit‘, derzufolge Gott dem Menschen nur unter der Bedingung helfend zur Seite steht, dass dieser sich nach besten Kräften bemüht. Dieses Gottesbild kommt nun bei den Geheimnissen der Genugtuung und der Erwählung an seine Grenzen. Im Falle des Geheimnisses der Genugtuung wird die Grenze dadurch erreicht, dass von Gott ein Handeln angenommen werden muss, das dem Urteil der Vernunft zufolge unmöglich ist. Der Text führt diese Problematik vor, indem er Sätze zusammenstellt, die für sich genommen jeweils (vor dem Hintergrund der kantischen Moraltheorie) gültige Aussagen bilden, in der Zusammenschau allerdings in eine Aporie führen: (1) Der Mensch ist verderbt und dem Moralgesetz nicht adäquat. 485 (2) Die Spontaneität - d. h. die Rückführbarkeit des Handelns auf den eigenen Antrieb und die eigenen Kräfte (lat. sponte ) - ist eine notwendige Voraussetzung für die Imputabilität und deshalb kann das (mangelhafte) Handeln des Menschen nicht durch eine andere Person kompensiert werden. 486 (3) Wenn Gott den Menschen dazu geschaffen hat, dass dieser sich moralisch vervollkommne, muss er auch eine Abhilfe für die unzureichende Tauglichkeit hierzu und das mangelhafte Handeln des Menschen bereithalten, denn sonst - so darf man wohl ergänzen - hätte Gott einen unerfüllbaren Anspruch in die Welt gesetzt und damit eine Welt von eher fragwürdiger Qualität hervorgebracht. 487 Kant bietet hierfür keine Lösung an. Die Ausführungen schließen allerdings damit, dass die stellvertretende Genugtuung zum Geheimnis erklärt wird: „Es kann ihn [sc. den durch die genannten Sätze charakterisierten Mensch] kein andrer durch das Übermaß seines Wohlverhaltens und durch sein Verdienst vertreten“. 488 Es kann nur „in moralischer Absicht notwendig sein, es [sc. die 484 Vgl. Stark 2004, 155/ AA XXVII 1 330 (Kaehler-Collins) u. AA XXVII 1 173 (Powalski). 485 Vgl. B 216/ AA VI 143 6-8 : „Der Mensch, so wie wir ihn kennen, ist verderbt und keineswegs jenem heiligen Gesetze von selbst angemessen.“ 486 Vgl. Z. 12-16: „Dieses [siehe Satz (3)] ist aber der Spontaneität (welche bei allem moralischen Guten und Bösen, das ein Mensch an sich haben mag, vorausgesetzt wird) zuwider, nach welcher ein solches Gute nicht von einem andern, sondern von ihm selbst herrühren muß, wenn es ihm soll zugerechnet werden können.“ 487 Vgl. Z. 8-12: „Gleichwohl, wenn ihn die Güte Gottes gleichsam ins Dasein gerufen, d. i. zu einer besonderen Art zu existieren (zum Gliede des Himmelreichs) eingeladen hat, so muß er auch ein Mittel haben, den Mangel seiner hierzu erforderlichen Tauglichkeit aus der Fülle seiner eigenen Heiligkeit zu ersetzen.“ 488 Z. 16-18. <?page no="311"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 311 stellvertretende Genugtuung] anzunehmen“. 489 Für den Vernunftgebrauch muss dies jedoch ein Geheimnis darstellen. 490 Ein solches Fazit ist in mehrfacher Hinsicht merkwürdig. Kant bringt hier eine Lösung ins Spiel, die er bislang ablehnte: Der Gedanke der Stellvertretung wird zwar als vernunftwidrig bewertet, zugleich wird aber konzediert, dass er zu moralischen Zwecken angenommen werden kann. 491 Die Definition des Geheimnisses vom Beginn des Abschnittes sprach lediglich davon, dass der fragliche Sachverhalt der theoretischen Erkenntnis entzogen ist. Hier scheint Kant aber auszudrücken, dass das Geheimnis auch (seines Erachtens) vernunftwidrige Inhalte zum Gegenstand haben kann. Die Problematik des Erwählungs-Geheimnisses wird in drei Schritten entfaltet. Zunächst knüpft der Text an den vorhergehenden Unterpunkt an, indem er die ‚Annehmung‘ der Genugtuung zu einer Willensbestimmung erklärt, die bereits eine ‚gottwohlgefällige‘, d. h. ‚moralische‘ Gesinnung voraussetzt. 492 In der Voraussetzung einer solchen Gesinnung besteht nun der erste Problempunkt dieses Geheimnisses, da man beim Menschen, der durch ein ‚natürliches Verderben‘ gekennzeichnet ist, nicht davon ausgehen kann, dass er eine solche Gesinnung von selbst erzeugen kann. 493 Ein Ausweg aus dieser Problematik stellt die Prädestinationslehre dar: Nach einem ‚unbedingten‘, d. h. nicht auf moralischen Vorleistungen beruhendem ‚Ratschluss‘ wird manchen Menschen eine gnadenhafte Unterstützung bewilligt, kraft derer sie einen guten Willen ausbilden und die Voraussetzung zur Gottwohlgefälligkeit erfüllen, anderen jedoch verweigert. Ein solcher Ausweg bringt aus Kants Sicht allerdings die unangenehme Konsequenz mit sich, dass ein solches göttliches Gnadenhandeln mit der Gerechtigkeit Gottes kollidiert. Gott urteilte und handelte dann in einer Weise, die nach dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit nicht nachvollziehbar wäre. Der Text geht hierauf nicht näher ein, sondern hält schlicht fest, dass dieses Handeln für den Menschen ein Geheimnis darstellen müsse. 494 489 Z. 18 f. An das soeben genannte Zitat (Z. 16-18) schließt an: „oder, wenn dieses angenommen wird, so kann es nur in moralischer Absicht notwendig sein, es anzunehmen“. In der Tat formuliert Kant hypothetisch (vgl. Brachtendorf 2011, 168) - indem er einen Konditionalsatz einfügt. Allerdings benennt er keine Bedingungen, unter denen der Wenn-Satz eintritt bzw. nicht eintritt, und im Falle des Eintretens ist es ‚in moralischer Absicht‘ notwendig . 490 Vgl. B 216/ Z. 19f: „denn fürs Vernünfteln ist es ein unerreichbares Geheimnis“. 491 Vgl. Quinn 1990, 422, Heit 2006, 179, u. Brachtendorf 2011, 168. 492 Vgl. B 217/ AA VI 143 21-24 : „Wenn auch jene stellvertretende Genugtuung als möglich eingeräumt wird, so ist doch die moralischgläubige Annehmung derselben eine Willensbestimmung zum Guten, die schon eine gottwohlgefällige Gesinnung im Menschen voraussetzt“. 493 Vgl. B 217/ AA VI 143 24-26 . 494 Vgl. B 217f/ AA VI 143 26-32 : „Daß aber eine himmlische Gnade in ihm wirken solle, die diesen Beistand nicht nach Verdienst der Werke, sondern durch unbedingten Ratschluß <?page no="312"?> 312 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Dass Kant die Argumentation zur Erwählungsproblematik auf diese Weise abbricht, muss angesichts dessen, was er im ersten Abschnitt des dritten Stücks zum Gedanken der Vorherbestimmung schrieb, erstaunen. Wie in Kap. 4.3.4 beschrieben, weist er den Prädestinationsgedanke dort entschieden zurück. In der Anmerkung erscheint der Gedanke, der zuvor noch zum salto mortale der Vernunft erklärt wurde, zwar immer noch unvereinbar mit Gottes Gerechtigkeit. Kant setzt dem jedoch keine Lösung entgegen, die aus seiner Sicht überzeugender wäre. Er scheint nun eher pessimistisch, was die Selbstbesserung anbelangt, denn aufgrund des ‚natürlichen Verderbens‘ kann der Mensch die hierfür erforderliche Gesinnung nicht selbst hervorbringen. 495 Es scheint als ein Geheimnis hinzunehmen zu sein, dass den Einen der Wille zum Guten gegeben und den Anderen offenbar nicht gegeben wird. 4.3.6 Die Aporie der kantischen Besserungslehre Bei genauer Betrachtung erweist sich das dritte Stück als äußerst marmorierter Text. Verschiedenartige Argumentationsgänge werden ineinander verschachtelt. Mitunter wird durch verschiedene Argumentationsgänge an den gleichen Problemen angesetzt, ohne dass ein systematischer Zusammenhang mit dem Vorhergehenden hergestellt oder die jeweiligen Diskussionen einer Lösung zugeführt würden. Letzteres trifft vor allem auf das Problem der Besserung zu, mit denen sich das dritte Stück in zwei Abschnitten befasst. Im Folgenden werden nun einige Gesichtspunkte gesammelt, die in beiden Diskussionen der Besserungsproblematik deutlich wurden. Hierdurch zeigt sich, dass die kantische Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung von einem gewissen Gottesbild unterfangen ist, das es Kant unmöglich macht, die aufgeworfenen Probleme mittels eines Rückgriffs auf die göttliche Unterstützung zu lösen. Sowohl im Antinomie-Abschnitt als auch im Abschnitt über die Geheimnisse werden zahlreiche Gedanken aufgerufen, die der Dogmatik und hierbei insbesondere der Soteriologie, d. h. der Erlösungslehre, entstammen. Der Text bietet eine Vielzahl von theologischen Begriffen: ‚Erwählung‘, ‚Wiederherstellung‘, ‚Neugeburt‘, ‚Genugtuung‘, ‚Lossprechung‘ und ‚Versöhnung‘. Abgesehen vom Erwählungsbegriff, der immerzu gesondert behandelt wird, lässt der Text allerdings nicht erkennen, was Kant unter diesen theologischerseits differenziert zu erläuternden Schlagworten genau versteht. Aus der Exposition der Problemeinem Menschen bewilligt, dem andern verweigert, und der eine Teil unsers Geschlechts zur Seligkeit, der andere zur ewigen Verwerfung ausersehen werde, gibt wiederum keinen Begriff von einer göttlichen Gerechtigkeit, sondern müßte allenfalls auf eine Weisheit bezogen werden, deren Regel für uns schlechterdings ein Geheimnis ist.“ 495 Vgl. B 217/ Z. 25 f. <?page no="313"?> 4.3 Der Sieg des guten Prinzips 313 stellung erhellt, dass Kant diese Begriffe mit der Intention heranzieht, die Frage zu diskutieren, wie der Mensch gut werden kann und welche göttliche Hilfeleistung hierfür angenommen werden muss. Wie die Textanalyse zeigte, sind es dabei vor allem zwei inhaltliche Sachverhalte, die er an den theologischen Begrifflichkeiten fixiert. Zum einen geht es um die Bewältigung der Schuld, die der sich-bessernde oder auch der bereits gebesserte Mensch mit sich herumschleppt und die der moralischen Vervollkommnung im Wege steht. Hier stellt sich die Frage, wie eine Vergeltung geleistet werden kann, damit der Mensch vor Gott gerecht erscheinen kann. Zum anderen handelt die Diskussion davon, ob der durch Bosheit gekennzeichnete Mensch - nämlich ein Mensch, der gemäß dem ersten Stück nicht immer oder nicht vollumfänglich, mithin nicht unbedingt dem Moralgesetz Folge leistet - überhaupt eine Besserung vollziehen kann. Hierdurch wird das Besserungsproblem ebenso wie die damit verknüpfte Annahme vom göttlichen Unterstützungshandeln verschärft. Für die Diskussion der drei Schwierigkeiten in RGV II lässt sich zeigen, dass Kant zwar die grundsätzliche Frage nach der Besserungsfähigkeit des Menschen stellt, im Verlauf der Argumentation aber vor allem diskutiert, wie man sich vorstellen kann, dass der Mensch das Ziel der Besserungsbemühungen angesichts der Fragilität des Willens und der unabgegoltenen Schuld erreichen kann und welche Annahmen zu treffen sind, damit das gegebene moralische Bemühen nicht den Verdacht der Vergeblichkeit auf sich zieht. 496 Hier, in RGV III, steht nun nichts weniger zur Diskussion als ebendiese grundsätzliche Frage, ob der Mensch die Besserungsbemühung überhaupt initiieren kann, wie sich also der Mangel an gutem Willen in einen guten Willen verwandeln kann. In Bezug auf diese zweite, radikalisierte Fragestellung erwägt Kant, dass der Glaube an die Genugtuung die erforderliche Willensveränderung hervorbringen könnte 497 oder dass die Willensveränderung auf einer göttlichen Vorherbestimmung beruht 498 , ohne sich diesen Auswegen anzuschließen. Bei beiden Problempunkten und in Bezug auf alle Versuche, die Kant im Verlauf des dritten Stückes zu deren Lösung unternimmt, fällt auf, dass diese sich in einem juridischen Argumentationsrahmen bewegen. So wird etwa beim ersten Satz der Antinomie in Frage gestellt, dass man die Genugtuung bzw. die Botschaft von ihr „(wie die Juristen sagen) utiliter “ in Besitz nehmen könne. 499 Im 496 Siehe Kap. 4.2.5. 497 Siehe Kap. 4.3.4. 498 Siehe Kap. 4.3.5. 499 Vgl. B 170/ AA VI 116 32 -117 2 (Kursiv im Original): „Allein es ist gar nicht einzusehen, wie ein vernünftiger Mensch, der sich strafschuldig weiß, im Ernst glauben könne, er habe nur nötig, die Botschaft von einer für ihn geleisteten Genugtuung zu glauben und sie <?page no="314"?> 314 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Anmerkungsabschnitt findet man die staatsrechtliche Darstellung der Ämter Gottes nach dem Modell der drei Staatsgewalten. Auch der Gedanke der Stellvertretung, der in der Antinomie-Diskussion sowie beim Geheimnis der Genugtuung erscheint, wird in juridischen Kategorien ausgedrückt. Im Gegensatz zum zweiten Stück, wo Kant die ‚Stellvertretung‘ in das sich-bessernde Subjekt hineinverlegt und damit der Sache nach zugunsten einer selbsterzeugten Schuldbewältigung auflöst, geht das dritte Stück zwar tatsächlich von einer Leistung aus, die ein Anderer für das schuldbeladene Subjekt erbringt. Dieses Handeln wird aber ebenfalls als Tilgung debitorischer Verbindlichkeiten oder als Vertretung in einem Strafverfahren beschrieben. Von den Motiven, die den Anderen zu diesem selbstlosen Handeln bewegen, oder von dem Beziehungsgeschehen, das sich in diesem Handeln darstellt, verliert Kant kein Wort. Gemäß der durchweg juridischen Betrachtungsweise ist es verständlich, dass die Schuld und deren Vergeltung einander gleichsam auf einer Waage gegenüber gestellt werden. Gemäß der aus den Vorlesungen und dem zweiten Stück bekannten Vergeltungstheorie müssen Schuld und Strafe in einem proportionierten Verhältnis zueinander stehen. Hinzu kommt der Grundsatz der Selbstbesserung, wonach die Ausbildung eines guten Willen und die daran anschließende Zurechnung dieses Willens allein von der Selbstbestimmung des Subjekts abhängen dürfen. Aus moralischen Gründen ist folglich für Kant eine Vergebung - in dem Sinne, dass die Schuld ihre Relevanz für das weitere Leben des Schuldig-Gewordenen verlöre oder die Strafe erlassen würde - ebenso ausgeschlossen wie die Entstehung eines guten Willens, die sich nicht allein der eigenen Entscheidung verdankt. Ebendiese Einschränkungen gelten auch für Gott. Denn wie man in der Anmerkung zu RGV III erfährt, wird Gott von Kant als vollkommen moralisches Wesen bestimmt. Angesichts eines solchen Gottesbildes ist es undenkbar, dass Gott dem Menschen bedingungslos die Vergebung erteilt (und sei es auch nur für den Umstand, dass nicht die Pflichtbefolgung das treibende Motiv für ein gesetzkonformes Handeln war) oder gar dem Menschen dazu verhilft, einen guten Willen auszubilden. 500 Wenn Gott so handelte, würde er anderen als moralischen Grundsätzen folgen und wäre nicht mehr ein vollkommen moralisches Wesen, das nichts anderes als die Erfüllung des Moralgesetzes will. In einem solchen Gottesbild ist für zahlreiche Eigenschaften, die Gott im biblischen Zeugnis zugesprochen werden, kein Platz. Gott kann weder Barm- (wie die Juristen sagen) utiliter anzunehmen, um seine Schuld als getilgt anzusehen, und zwar dermaßen (mit der Wurzel sogar), daß auch fürs künftige ein guter Lebenswandel, um den er sich bisher nicht die mindeste Mühe gegeben hat, von diesem Glauben und der Akzeptation der angebotenen Wohltat, die unausbleibliche Folge sein werde.“ 500 Vgl. Wolterstorff 1991, 44-46, u. Quinn 1990, 430. <?page no="315"?> 4.4 Zwischen ‚Religion‘ und ‚Afterdienst‘ 315 herzigkeit üben noch von leidenschaftlicher Liebe für sein Volk erfüllt sein. Gott kann kein unwiderrufliches Heilsereignis setzen, in dem er sich ein für alle Mal den Menschen zeigt und die Menschen zu einem neuen Leben befreit. Und Gott kann nicht die Versöhnung mit den Sündern und der in Sünde verstrickten Menschheit suchen. Wer dies von Gott annimmt, der überschreitet die Grenzen der Vernunftreligion, und dies beruht nach Kant - wie in Kap. 4.3.3 rekonstruiert wurde - nicht nur auf einer fragwürdigen epistemischen Grundlage, sondern birgt auch die Gefahr in sich, dass das moralische Bemühen erlahmt. Noch deutlicher als in den Vorlesungen oder den vorhergehenden Stücken kommen in RGV III die profunden Probleme zum Ausdruck, die aus Kants Sicht mit der ‚Gut‘-Werdung des Menschen verknüpft sind. Auch der Rekurs auf Gott und dessen Beistand, wie er von Kant durchgeführt wird, kann diese Probleme jedoch nicht lösen, denn die moralischen Eigenschaften Gottes erlauben es nicht, dass dieser Vergebung übt oder dem Menschen einen guten Willen verleiht. Auch eine synergistische Lösung, wonach Gott und der Mensch gemeinsam eine Ausbildung des guten Willens erwirken oder Gott seine Vergebung auf die aufrichtige Reue und Vergebungsbitte des Menschen hin gewährt, wird von Kant nicht diskutiert. Stattdessen wird immerzu beteuert, dass diese Aporien für das ‚Praktische‘, d. h. das Wissen um das Moralgesetz und dessen Befolgung, keine Rolle spielen. 501 Solche Beteuerungen erwecken den Eindruck, dass Kant am Ende der Auflösungsversuche dann doch den Knoten um das Gut-Werden des Menschen praktisch zerhaut, anstatt angesichts der sich abzeichnenden Aporien sein Gottesbild und die damit verknüpfte, jahrzehntealte Auffassung vom konditioniert-ergänzenden Beistandshandeln Gottes zu befragen. 4.4 Zwischen ‚Religion‘ und ‚Afterdienst‘ 4.4.1 Der Religionsbegriff und der Aufbau von RGV IV Die erste Unterabteilung des vierten Stücks setzt mit einer Religionsdefinition ein, der wir bereits mehrfach in den Vorlesungen und in der Religionsschrift begegnet sind: „Religion ist (subjektiv betrachtet) das Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote.“ 502 Die Definition bildet den Ausgangspunkt für die Gegenüberstellung von ‚geoffenbarter‘ und ‚natürlicher‘ Religion. Bei der ersteren muss man zuerst wissen, „dass etwas ein göttliches Gebot sei, um es 501 Vgl. B 218f/ AA VI 144 10-13 : „Über die objektive Regel unseres Verhaltens aber ist uns alles, was wir bedürfen (durch Vernunft und Schrift), hinreichend offenbart, und diese Offenbarung ist zugleich für jeden Menschen verständlich.“ 502 B 229/ AA VI 153 28f . <?page no="316"?> 316 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung als […] Pflicht anzuerkennen“, im zweiten Fall verhält es sich hingegen genau umgekehrt. 503 Im Folgenden sollen zunächst die Ausführungen des vierten Stücks zum Religionsbegriff vorgestellt werden. Denn ein genauerer Blick auf den Religionsbegriff ist hilfreich, um den systematischen Grundgedanken hinter dem Aufbau von RGV IV nachzuvollziehen. Hierbei werden uns zahlreiche Argumente wiederbegegnen, die bereits unter Kap. 4.3.3 referiert wurden. So schließt beispielsweise an die Nennung und Erläuterung der Religionsdefinition die Unterscheidung zwischen der Position des ‚Rationalisten‘ und des ‚Naturalisten‘ an. 504 Das vierte Stück entspinnt aus diesen erkenntnis- und offenbarungstheoretischen Überlegungen eine harsche Kritik an den Bräuchen und Überzeugungen der überlieferten Religionen. Wie in Kap. 4.4.2 gezeigt wird, beruht die Kritik an den ‚geoffenbarten‘ und ‚gelehrten‘ Religionen allerdings nicht nur auf der Zuordnung zwischen Vernunft und Offenbarung. In die Rechtfertigung des Religionsbegriffes und die Ablehnung der anderen Religionsformen spielt vielmehr auch das Argument vom göttlichen Beistand hinein. Insgesamt ist das vierte Stück in zwei Hauptteile aufgegliedert. Vor dem ersten Hauptteil findet sich ein einleitender Abschnitt. Wie in den anderen Stücken ist eine allgemeine Anmerkung angehängt. Der erste Hauptteil spielt mehrere Kombinationsmöglichkeiten durch, wie die ‚natürlich-vernunftgemäße‘ und die ‚geoffenbarte‘ Religion miteinander verbunden sein können. Demnach kann eine Religion beides zugleich sein: Dann gilt einerseits, dass „die Menschen durch den bloßen Gebrauch ihrer Vernunft auf sie von selbst hätten kommen können, und sollen“, andererseits konnte „eine Offenbarung derselben [sc. Religion], zu einer gewissen Zeit, und an einem gewissen Ort, weise und für das menschliche Geschlecht sehr ersprießlich sein“, da die Menschen „nicht so früh, oder in so weiter Ausbreitung, als verlangt wird, auf dieselbe gekommen sein würden“. 505 In einem solchen Fall ist die Religion ihrer geschichtlichen Entstehung nach ‚geoffenbart‘. Bezüglich der ‚inneren Beschaffenheit‘ und Mitteilbarkeit handelt es sich allerdings um eine ‚natürliche‘ Religion. Eine mögliche Offenbarung kann für die Ausbildung und Etablierung der Religion ausgesprochen nützlich sein. Nachdem die Religion etabliert ist, so muss man folgern, können die Überzeugung von deren Offenbarungscharakter sowie die ‚Offenbarungsanteile‘ in ihr aber ohne Schaden wegfallen. Dies ist bei einer Religion, die lediglich als ‚geoffenbart‘ und nicht als ‚natürlich‘ bestimmt werden kann, anders. Es handelt sich um eine ‚gelehrte‘ Reli- 503 Vgl. B 230/ AA VI 153 29 -154 5 , Zitat: Z. 1 f. 504 Vgl. B 230f/ AA VI 154 5 -155 4 . 505 B 233/ AA VI 155 31-34 . <?page no="317"?> 4.4 Zwischen ‚Religion‘ und ‚Afterdienst‘ 317 gion, die entweder durch übernatürliche Belehrung in Form einer Offenbarung bei jedem Menschen erneut entsteht oder mittels menschlicher Weitergabe der göttlichen Instruktionen tradiert werden muss. Die zuletzt genannte Form der Religionsvermittlung stützt sich nicht auf die selbsttätige Einsicht durch den Einzelnen, sondern auf die autoritative Auslegung heiliger Bücher und die Übernahme vorgegebener Überzeugungen bzw. die ‚Imitation‘ vorgelebter Bräuche. Dass eine Religion ausschließlich ‚gelehrten‘ Charakter hat, hält Kant jedoch für ausgeschlossen: „[E]inem Teile nach wenigstens muß jede, selbst die geoffenbarte Religion, doch auch gewisse Prinzipien der natürlichen enthalten.“ 506 Das impliziert, dass alle Religionen als Mischungen aus ‚geoffenbarten‘ und allgemein vernünftig einsichtigen, ‚natürlichen‘ Bestandteilen betrachtet werden müssen. Bei einer solcher Einschätzung erinnert man sich sofort an das Bild vom Wasser-Öl-Gemisch aus dem zweiten Vorwort. Sie bildet insofern den Ansatzpunkt für die Kritik der Religionen, als dies die analytische Prüfung auf den Plan ruft, was zu den ‚natürlichen‘ und was zu den ‚geoffenbarten‘ bzw. ‚gelehrten‘ Bestandteilen gehört. Wenn zu jeder Religion ein rationaler Anteil gehört, der aufgrund kontingenter und vielleicht sogar gewaltsamer Umstände mit einem instruierten Teil zusammengeschüttelt wurde, dann erscheint es erfolgversprechend, das eine vom anderen abzuscheiden. Erforderlich ist diese Absonderung deshalb, weil sich andernfalls eine falsche und tendenziell moralitätsgefährdende Vorstellung in den Vordergrund drängt, wie der Mensch Gott dienen soll. Der Autor spricht diesbezüglich auch von einem ‚Afterdienst‘, den die Menschen praktizieren. Die einzelnen Teile und Unterabschnitte des vierten Stücks orientieren sich nun im Wesentlichen an diesen systematisch-begrifflichen Unterscheidungen: Der erste Teil handelt „[v]om Dienst Gottes in einer Religion überhaupt“ 507 , in dem er am Beispiel des Christentums erläutert, inwiefern eine gegebene Religion einerseits als ‚rational-natürlich‘, andererseits als ‚gelehrt‘ und abhängig von den zufälligen Festlegungen durch religiöse Autoritäten bestimmt werden muss. Der zweite Teil bezieht sich hingegen auf das zweite Element und diskutiert den „Afterdienst Gottes in einer statutarischen Religion“ 508 . Der erste Teil stellt dar, dass eine geschichtliche überlieferte Religion wie das Christentum sowohl rational-natürliche als auch übernatürlich-geoffenbarte Anteile enthält. Der zweite Teil zeigt auf, was geschieht, wenn die Ordnung zwischen den Anteilen verkehrt wird. 509 506 B 234/ AA VI 156 17f . 507 B 229/ AA VI 153 27 . 508 B 167/ AA VI 167 31 . 509 Vgl. Flikschuh 2011, 197. <?page no="318"?> 318 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Der erste Unterabschnitt des ersten Teils ist dem ‚natürlichen‘ Anteil in der christlichen Religion gewidmet. Er zählt einige Gesichtspunkte auf, die das Urteil rechtfertigen sollen, dass das Christentum - zumindest in diesen Teilen - eine natürliche Religion darstellt. Die Aufzählung stützt sich vor allem auf das Evangelium nach Matthäus und insbesondere auf die Bergpredigt. Kants Auslegung geht dabei von der Gegenüberstellung zwischen äußerer Gesetzeserfüllung und innerer Haltung in den dort genannten Imperativen aus, was für ihn beweist, dass Jesus die Heiligkeit der Gesinnung zum Ziel menschlichen Strebens erklärt habe. 510 Außerdem wird das bei Matthäus und Lukas erzählte Gleichnis von den Talenten als Aufforderung dazu gedeutet, das moralische Handeln bzw. die Komplettierung der eigenen Unvollkommenheit nicht passiv als göttlich-gnadenhafte Gabe zu erwarten. 511 Der zweite Unterabschnitt präzisiert den Terminus der ‚gelehrten Religion‘ und illustriert ihn anhand der Geschichte des Christentums. Demnach wurde das Christentum dadurch zur ‚gelehrten Religion‘, dass dasjenige, was in der Anfangszeit als ein äußeres Mittel zur propagandistischen Verbreitung fungierte, zum Bestandteil der eigentlichen Religion selbst gemacht wurde. Hier schlägt sich erneut Kants kritische Sicht auf das Judentum nieder, da seines Erachtens nur durch diesen Vorgang die Tora in das Christentum inkorporiert wurde und das „heilige Buch dieses Volks“ deshalb auch im Christentum „als göttliche für alle Menschen gegebene Offenbarung gläubig“ 512 angenommen werden muss. Zwar umfasst der Anteil des ‚Gelehrten‘ im Christentum noch weitere Lehren und Elemente. Das Alte Testament stellt aus Kants Sicht jedoch eine besonders schwere Hypothek dar, da es nicht unter den Bedingungen eines gelehrten Publikums entstand, die in ihm dargestellte Geschichte daher der Glaubwürdigkeit entbehrt und diese überdies nur mittels hebräischem Spezialwissen ausgelegt werden kann. 513 510 Vgl. B 239-243/ AA VI 159 1 -161 12 , insbesondere die Auslegung von Mt 5,48 („Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist“) auf B 240/ AA VI 159 16 : Der Stifter will, dass „Heiligkeit das Ziel sei, wohin er [sc. der Mensch] streben soll“. Die Seligpreisungen und die eschatologischen Reden Jesu belegen aus Kants Sicht, dass dem ‚Lehrer des Evangeliums‘ zufolge moralisches Handeln ausschließlich aus Pflicht, nicht aus Erwartung einer jenseitigen Belohnung durchgeführt werden darf (vgl. B 243-245/ AA VI 161 12 -162 13 ). 511 Vgl. B 243/ AA VI 161 3-11 . 512 B 252/ AA VI 166 5f . 513 Vgl. B 252-255/ AA VI 165 36 -167 29 , z. B. B 254f/ AA VI 167 18-25 : „Aber die ersten Stifter der Gemeinden fanden es doch nötig, die Geschichte des Judentums damit zu verflechten, welches nach ihrer damaligen Lage, aber vielleicht auch nur für dieselbe, klüglich gehandelt war, und so in ihrem heiligen Nachlaß mit an uns gekommen ist. Die Stifter der Kirche aber nahmen diese episodischen Anpreisungsmittel unter die wesentlichen <?page no="319"?> 4.4 Zwischen ‚Religion‘ und ‚Afterdienst‘ 319 Im zweiten Teil werden die ‚gelehrt-statutarischen Elemente‘, die in allen geschichtlich überlieferten Religionen und so auch im Christentum vorliegen, einer scharfen Kritik unterzogen. Es ist von „Religionswahn“ und „Afterdienst“ die Rede. Letzteres wird einer mehrfachen Definition unterzogen: Im Afterdienst geht der Offenbarungsglaube der moralisch-natürlichen Religion voraus und es wird das, was nur als Mittel fungieren sollte, als eigentlicher Zweck aufgefasst. 514 Wer Afterdienst praktiziert, meint außer dem guten Lebenswandel etwas tun zu können, um Gott wohlgefällig zu werden. 515 Der Afterdienst steht deswegen auch dem wahren Gottesdienst gegenüber; es handelt sich um eine vermeintliche und wahnhafte Gottesverehrung. Die Eigenschaft des unechten, ja betrügerischen Vollzuges des Gottesdienstes dürfte auch erklären, warum die Vorsilbe ‚After‘ verwendet wird. So bezeichnet beispielsweise die unabhängig von Kant belegte Verbindung ‚Afterkind‘ die zweifelhafte oder unechte Herkunft eines Kindes aus einem Elternhaus. In der Einleitung zum vierten Stück wird der Afterdienst mit dem lateinischen Terminus cultus spurius gleichgesetzt. 516 Der spurius bezeichnet einen Bastard, d. h. ein Kind, das nicht tatsächlich oder nur halb von seinen angegebenen Erzeugern abstammt. Es besteht eine Verbindung zu den Eltern, diese ist aber unecht und Ergebnis einer Verunreinigung der moralisch legitimen Fortpflanzung. Daneben gibt es spärliche Belege, die darauf hindeuten, dass die Silbe auch in der Sprachästhetik des späten 18. Jahrhunderts Assoziationen zu einem gewissen Körperteil herstellt. 517 Sachlich diskutiert wird der Afterdienst dann in mehreren Artikeln. Zuerst stellt Kant seine Theorie zur Genese des Afterdienstes vor. Demnach wird diese falsche religiöse Praxis ausgebildet, um Gott - bzw. der anthropomorphistischen Zerrform des vollkommenen Wesens - auf andere als moralische Weise zu dienen und dadurch Gottes Wohlgefallen hervorzurufen. Dabei gilt: „Je unnützer solche Selbstpeinigungen [sc. Büßungen, Kasteiungen, Wallfahrten, aber auch Feierlichkeiten] sind, je weniger sie auf die allgemeine moralische Besserung des Menschen abgezweckt sind, desto heiliger scheinen sie zu sein; weil sie […] lediglich zur Bezeugung der Ergebenheit gegen Gott abgezweckt zu sein schei- Artikel des Glaubens auf, und vermehrten sie […] mit Tradition […] oder Auslegungen, die von Konzilien gesetzliche Kraft erhielten“. 514 Vgl. B 250/ AA VI 165 8-12 . 515 Vgl. B 260-262/ AA VI 170 15 -171 19 . 516 Vgl. B 229/ AA VI 153 18f . 517 Vgl. Leiner 2004, 175-177 (allerdings bringt Leiner auch Argumente dafür, dass der Terminus möglicherweise durch Kant selbst gebildet wurde). Winter (2000, 122) und Flikschuh (2011, 197) gehen bei ihren Bestimmungen zum ‚Afterdienst‘ hingegen vor allen von textimmanenten Erläuterungen aus. Für sie steht das Moment der Verkehrung von Mittel und Zweck im Vordergrund. <?page no="320"?> 320 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung nen.“ 518 Der zweite Artikel führt gegen den Afterdienst eine ganze Reihe von Angriffen an. So wird der Afterdienst zunächst darauf zurückgeführt, dass die Menschen den Geheimnischarakter des göttlichen Gnadenwirkens nicht beachten, sondern dieses Wirken zu einem Gegenstand des Glaubens und des Lobpreises machen, um gerade dadurch die moralische Besserung auf übernatürlichem Wege zu erwirken. Des Weiteren bezieht Kant insofern eine indifferentistische Position, als für ihn kein Unterschied zwischen den religiösen Bräuchen besteht, sobald sie eine falsch-religiöse Praxis darstellen - ganz gleich, wie primitiv oder feingeistig, wie beiläufig oder aufwändig sie auch immer erscheinen mögen. 519 Eine besonders unsinnige und schädliche Variante des Religionswahnes liegt schließlich in der Schwärmerei vor, in der die Vorstellung vorherrscht, über eine unmittelbare, gefühlsmäßige Wahrnehmung des Göttlichen zu verfügen oder direkt auf Gottes Handeln einwirken zu können. 520 Letzteres wird im dritten Artikel als ‚Fetischmachen‘ bezeichnet, das aus Kants Sicht für die Religionsverfassung des ‚Pfaffentums‘ typisch ist. Der Artikel etabliert überdies die Unterscheidung zwischen einem nur als Mittel fungierenden und einem eigentlichen Gottesdienst. Wie in den Vorlesungen wird der nichtmoralische Gottesdienst zum Mittel für den moralischen Gottesdienst erklärt. Im vierten Artikel ist „[v]om Leitfaden des Gewissens in Glaubenssachen“ 521 die Rede. Indem Material aus dem Gewissenstraktat der Vorlesungen wiederaufgenommen wird, bestimmt Kant das Gewissen hier als Gewissenhaftigkeit, nämlich als selbstreflexives Urteil darüber, dass die Vernunft die moralische Beurteilung einer Handlung sorgfältig durchgeführt hat. 522 Die Ausführungen zum Gewissen sollen die Behauptung begründen, dass die konfessorische Zustimmung zu Glaubenssätzen, die über den Vernunftglauben hinausgehen, und erst recht die Aufforderung zum Bekenntnis dieser Sätze der dargestellten Gewissheit entbehren. Das Bekenntnis und die Aufforderung stellen religiöse Weisungen dar, hinsichtlich derer keine Gewissheit zu erreichen ist und die daher 518 Vgl. B 258f/ AA VI 169 17-22 . 519 Vgl. B 263-266/ AA VI 172 17 -173 27 u. 270f/ 176 10-27 , bes. 270/ 176 10-17 : „Von einem tugendhaften Schaman, bis zu dem Kirche und Staat zugleich regierenden Prälaten, oder […] zwischen dem ganz sinnlichen Wogulitzen, der die Tatze von einem Bärenfell sich des Morgens auf sein Haupt legt, mit dem kurzen Gebet: ‚Schlag mich nicht tot! ‘ bis zum sublimierten Puritaner und Independenten in Connecticut ist zwar ein mächtiger Abstand in der Manier, aber nicht im Prinzip zu glauben“. 520 Vgl. B 266-269/ AA VI 174 9 -175 15 , bes. B 268f/ AA VI 175 12-15 : „[D]agegen ist der schwärmerische Religionswahn der moralische Tod der Vernunft, ohne die doch gar keine Religion, als welche, wie alle Moralität überhaupt, auf Grundsätze gegründet werden muß, statt finden kann.“ 521 Vgl. B 287/ AA VI 185 13 . 522 Vgl. Schmidt/ Schönecker 2014, 230-239. <?page no="321"?> 4.4 Zwischen ‚Religion‘ und ‚Afterdienst‘ 321 besser nicht befolgt oder vermittelt werden sollten. Die durch das Pfaffentum geforderten, spezifischen Pflichten der statutarischen Religion sind folglich moralisch fragwürdig. Die allgemeine Anmerkung beschäftigt sich abschließend mit einem sehr speziellen Element des statutarischen Glaubens der Christen, nämlich mit den ‚Gnadenmitteln‘, sprich: den Sakramenten. Sie stellen aus Kants Sicht überwiegend unlautere und vergebliche Versuche dar, durch ‚natürliche‘ Hilfsmittel Gott zu einer positiven Einflussnahme auf die eigene Sittlichkeit zu bewegen. Zugleich legt der Text eine eigene, moralitätskonforme Theorie der einschlägigen religiösen Praktiken vor, nämlich über das Gebet, den Kirchgang, die Taufe und die Kommunion. Offensichtlich knüpft er damit an die religiösen Handlungen im Christentum an, was auch illustrieren soll, dass das praktizierte Christentum seiner Systematik zufolge eine gelehrt-natürliche Mischreligion darstellt, weil die in ihm angelegte Religionspraxis leicht in solche Handlungen überführt werden könnten, die der Moralität zuträglich und vernunftgemäß sind. Im Vergleich zu den vorhergehenden Teilen der Religionsschrift beschäftigt sich das vierte Stück recht intensiv mit den Bräuchen, Andachtsformen und liturgischen Riten, wie sie das Christentum reformatorisch-pietistischer Prägung zu Kants Zeiten praktizierte und wie sie von dem Königsberger Philosophen wahrgenommen wurden. Weshalb eine solche Beschäftigung mit dem Christentum notwendig ist, wird im einleitenden Abschnitt zum vierten Stück erklärt: Der Text knüpft an RGV III an, indem er den Begriff der ‚Kirche‘ aufgreift und diese als sinnlich wahrnehmbare, zwischenmenschliche Organisationsform des ‚ethisch gemeinen Wesens‘ bzw. des ‚Reichs Gottes‘ bestimmt. Daraus ergibt sich die Verpflichtung, eine ‚Kirche‘ zu errichten bzw. sich ihr anzuschließen. Zwar ist die Errichtung der eigentlichen Gottes-Herrschaft kollektiv-menschlichen Anstrengungen kategorisch entzogen. Es bleibt den Menschen aber immerhin die Möglichkeit, die kirchliche Gemeinschaft so zu organisieren, dass sie die Gottes-Herrschaft als ihr Ziel verfolgt. Der Überblick über die Themen und die Argumentation in RGV IV macht deutlich, dass einige Textpassagen des vierten Stücks in besonderem Maße dazu geeignet sind, den in der Schrift dargestellten Begriff von Religion präziser zu charakterisieren. Es soll gezeigt werden, dass auch der normative Religionsbegriff der RGV insofern eine Doppeldeutigkeit impliziert, als er Religion zwar primär mit der moralischen Praxis gleichsetzt - wer das Moralgesetz erfüllt, tut allen wahrhaft religiösen Pflichten Genüge -, zugleich aber auch dasjenige bezeichnet, was der Schrift zufolge beim Menschen mit der moralischen Praxis verknüpft ist, nämlich das Bewusstsein, dass die moralischen Pflichten zugleich göttliche Gebote darstellen und Gott der moralischen Unvollkommenheit durch seinen Beistand abhelfen wird. Die rechte Vorstellung vom göttlichen Beistand <?page no="322"?> 322 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung bildet eine zentrale Voraussetzung für die Einsichtigkeit und die Kultivierung des normativen Religionsbegriffes (Kap. 4.4.2). Als weiteres Element kommen zu diesem Religionsbegriff die Riten und Frömmigkeitshandlungen hinzu, die allerdings nur als ‚Mittel‘ fungieren können. In Kap. 4.4.3 wird untersucht, wie sich Kant die Funktionalität dieser subsidiären Handlungen vorstellt. Dabei stößt man unter anderem auf die Vorstellung einer diskursiven Vollzugsweise, die sich bereits bei der Beispielfunktion des Gottwohlgefälligkeitsideales und mehrfach im Zusammenhang des Beistandsargumentes zeigte. Gerade an diesen eigenwilligen Charakteristika des Religionsbegriffes wird deutlich, dass sich hier Überzeugungen und Vorstellungen niederschlagen, die auch in Kants Vorlesungen zur Ethik zur Sprache kamen. 4.4.2 Das Beistandsargument als Religionskriterium Mitunter hat man den Eindruck, dass Kant Religionen recht unbefangen als Phänomene der gesellschaftlichen Wirklichkeit akzeptiert. An einer historischen Rekonstruktion der Religionsgeschichte scheint er kein ernsthaftes Interesse zu haben, und insbesondere in Bezug auf berichtete Offenbarungsereignisse betont er immerzu, dass er sich jedes Urteiles über deren Tatsächlichkeit enthalte. Was den Autor vielmehr interessiert, ist der Sachgrund dafür, dass die Menschen zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedener ‚Manier‘ Religionen ausgebildet haben. Ähnlich wie bei der Frage nach dem Bösen geht es dem Philosophen nicht um den geschichtlichen Ursprung, sondern um das zugrundeliegende Prinzip, das zur Ausbildung der Religionen führt. Und daraus, dass die (problematische) Genese der gegebenen Phänomene aufgeklärt wird, ergeben sich auch Anhaltspunkte für deren Kritik und Veränderung. Einen wichtigen Ausgangspunkt für die Entstehung nicht-moralischer Religionsformen sieht die Schrift im Bewusstsein des Menschen von dessen eigener Mangelhaftigkeit. Das lässt sich beispielsweise einer Formulierung entnehmen, welche die Unvernünftigkeit derjenigen religiösen Praktiken behauptet, die Kants Einschätzung nach eine falsche Schlussfolgerung aus diesem Bewusstsein ziehen: „Von dem Bösen, was im menschlichen Herzen liegt, […] von der Unmöglichkeit, durch seinen Lebenswandel sich jemals vor Gott für gerechtfertigt zu halten, und gleichwohl [von] der Notwendigkeit einer solchen vor ihm gültigen Gerechtigkeit […] kann sich ein jeder Mensch durch seine Vernunft überzeugen“; unvernünftig ist es jedoch „kirchliche Observanzen und fromme Frondienste“ als „Ersatzmittel[] für die ermangelnde Rechtschaffenheit“ zu verwenden. 523 Die zuletzt genannte Formulierung ist aufschlussreich dafür, wie 523 B 248/ AA VI 163 18-35 . <?page no="323"?> 4.4 Zwischen ‚Religion‘ und ‚Afterdienst‘ 323 Kant die Genese nicht-moralischer Religionsformen erklärt: Demnach gibt es einen Zusammenhang zwischen der mangelnden, moralisch aber geforderten Rechtfertigung und gewissen ‚Ersatzmitteln‘ in Form religiöser Praktiken. Weil der Mensch um seine unvermeidlichen Mängel weiß und zugleich der höchsten Gerechtigkeit genügen möchte, bittet er Gott in Gebeten um sein Erbarmen oder unternimmt den weitergehenden Versuch, Gott mittels schmeichelnder Verehrungen zur Milde und zu einer übernatürlich gewirkten Heiligung zu bewegen. An anderer Stelle ist von der Suche nach einem ‚Schleichweg‘ die Rede, um der Erfüllung des Moralgesetzes zu entgehen. Diese Suche führt dem Text zufolge zur Ausbildung vermeintlicher ‚Gnadenmittel‘. 524 Die RGV verwendet hier das Stichwort ‚Favorit‘ 525 : Die fälschliche Verwendung der ‚Gnadenmittel‘ resultiert aus Kants Sicht daraus, dass der Mensch lieber ein ‚Favorit‘ sein möchte, der auf nicht-moralischem Wege eine Günstlingsbeziehung zum absolutistischen Gott-Herrscher aufbaut und daher von diesem verschiedene Begünstigungen erhält, als ein pflichtbewusster Diener des Moralgesetzes. Negativ akzentuiert schlägt sich hier eine weitere Schlagseite der kantischen Religionswahrnehmung nieder, die darin besteht, religiöse Handlungen vorwiegend nach Nützlichkeitsgesichtspunkten zu interpretieren. Dass Menschen sich ohne eine Nutzenerwartung Gott zuwenden und sich religiös betätigen, kommt Kant überhaupt nicht in den Sinn. Die Unterstellung, den göttlichen Beistand mittels religiöser Handlungen erwirken zu wollen, fungiert daher vielleicht auch als Lückenfüller, um das Vorhandensein weit verbreiteter Religionsphänomene zu erklären. Das Erklärungsmuster beschränkt sich jedoch nicht nur auf die religiösen Handlungen. Es wird darüber hinaus verwendet, um die Ausbildung gewisser religiöser Überzeugungen zu erklären, nämlich insbesondere die Verbreitung eines Gottesbildes, wonach Gott und sein Handeln in Analogie zum menschlichen Verhalten bestimmt werden können. Das bereits in den Vorlesungen kritisierte Gottesbild korreliert den Ausführungen in RGV IV zufolge mit dem sog. ‚Religionswahn‘. Denn ein solches Gottesbild dient in praktischer Hinsicht dazu, sich einen Gott zu „machen […], wie wir ihn am leichtesten zu unserem Vorteil gewinnen zu können […] glauben“. 526 Im religiösen ‚Favoritentum‘ geschieht dies beispielsweise dadurch, dass die Eigenschaften absolutistisch herrschender 524 Vgl. B 300f/ AA VI 193 25-35 . 525 Vgl. B 311/ AA VI 200 11-20 : „Alle dergleichen erkünstelte Selbsttäuschungen in Religionssachen haben einen gemeinschaftlichen Grund. […] Es ist mühsam, ein guter Diener zu sein […], er möchte daher lieber ein Favorit sein, wo ihm vieles nachgesehen, oder, wenn ja zu gröblich gegen Pflicht verstoßen worden, alles durch Vermittlung irgend eines im höchsten Grade Begünstigten wiederum gut gemacht wird“. In den Vorlesungen war vom Versuch des ‚Gunsterwerbes‘ die Rede (AA XXVII 1 26 [Herder], Stark 2004 129/ XXVII 1 314 [Kaehler-Collins]). 526 B 257/ AA VI 168 18 -169 3 . <?page no="324"?> 324 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Menschen auf die göttliche Herrschaft übertragen werden und auch von Gott erwartet wird, die gesetzgeberische Strenge und die Gerechtigkeit durch die gnädige Berücksichtigung von Unterwerfungsgesten zu korrigieren. 527 Die Verzerrung des Gottesbildes kann daher auf eine falsche und eigennützige Ansicht darüber zurückgeführt werden, wie Gott die erforderliche Hilfe bei der Bewältigung von Moralitätsdefiziten leistet. Umgekehrt folgt aus dieser Korrelation: Eine Korrektur dieser Ansicht - wie sie in Kants Vorlesungen und der RGV geleistet wird und wie sie diesen Ausführungen zufolge dem gemeinen Menschenverstand entspricht - müsste auch zu einer Veränderung der Religionspraxis führen. Dass die gnadentheoretischen Überlegungen auf eine Veränderung der Religionsauffassung und -praxis abzielen, darauf deutet auch eine Stelle aus dem zweiten Paragrafen des zweiten Teils von RGV IV hin. Im Zusammenhang der Diskussion um das „dem Religionswahne entgegengesetzte moralische Prinzip der Religion“ 528 wird der Religionswahn der Schwärmerei gegenübergestellt und vergleichsweise milde beurteilt: „Der abergläubische Wahn […] ist doch mit der Vernunft […] verwandt, und nur zufälligerweise dadurch, daß er das, was bloß Mittel sein kann, zum unmittelbar Gott wohlgefälligen Gegenstande macht, verwerflich“. 529 Kant gesteht dieser falschen Religionsausübung folglich immerhin eine gewisse ‚Verwandtschaft‘ mit der (praktischen) Vernunft zu. Das Problem des ‚Religonswahnes‘ ergibt sich aus einer verkehrten Ordnung. Ähnlich wie sich nach RGV I der böse vom guten Willen durch eine Verkehrung der Maximen unterscheidet, besteht das Problem des Religionswahnes darin, Mittel und Zweck zu verkehren. Eine solche Diagnose der Problematik zeigt daher bereits den Ansatz ihrer Überwindung auf - nämlich durch eine Richtigstellung des problematischen Ordnungsverhältnisses. Das Mittel als eigentlichen Gottesdienst zu begreifen, wird aber nicht nur als Verkehrung, sondern auch als hinterlistiger Betrug charakterisiert. 530 Diejenigen, die auf nichtmoralische Weise Gott zu gefallen suchen, stehen in ei- 527 Vgl. B 312/ AA VI 200. Vgl. auch Winter 2000, 132-137. 528 B 260/ AA VI 170 13f . 529 B 268/ AA VI 175 7-12 . 530 Vgl. B 260/ AA VI 169 26 -170 11 : „Hier ist nun der Hang zu einem Verfahren sichtbar, das für sich keinen moralischen Wert hat […]; welches Verfahren mithin ein bloßer Religionswahn ist, […] der aber […] nicht eine bloß unvorsätzliche Täuschung, sondern sogar eine Maxime ist, dem Mittel einen Wert an sich statt des Zwecks beizulegen, da denn vermöge der letzteren [sc. Täuschung? ] dieser Wahn […] als verborgende Betrugsneigung verwerflich ist.“ Daher ist die Charakterisierung des von Kant kritisierten Vorganges als „Anthropomorphismus“ (Flikschuh 2011, 198) insofern missverständlich, als dies auch ein bloß kognitives Defizit bezeichnen kann. Wie B. Nonnenmacher (2011, 218 f.) ausgehend von einer parallelen Überlegung in der allgemeinen Anmerkung festhält, geht es nicht nur um eine „Schwäche des Wissens“, sondern auch um eine „Schwäche des Wollens“, in der einer problematischen Selbstüberredung Raum gegeben wird. <?page no="325"?> 4.4 Zwischen ‚Religion‘ und ‚Afterdienst‘ 325 nem ambivalenten Verhältnis zum Moralgesetz: Einerseits wird es als gültig anerkannt und die Nicht-Kongruenz des sonstigen Verhaltens gegenüber den Forderungen des Gesetzes als zu behebender Mangel eingeschätzt, weshalb es gemäß den Überlegungen zur Religionsgenese überhaupt zu dieser Religionsausübung kommt. Andererseits wird dem Moralgesetz nicht Folge geleistet, da sonst die pseudo-religiöse Praxis unterlassen und Gott allein durch moralgesetzkonformes Verhalten zu dienen versucht würde. Bei der Ausbildung einer ‚rein-moralischen‘ Religion geht es für die Menschen also darum, das Moralgesetz gänzlich in Kraft zu setzen und Hindernisse gegen eine vollständige und handlungswirksame Akzeptanz des Moralgesetzes abzubauen. Die Überwindung der falschen und unmoralischen Religionsformen erscheint folglich vor allem als eine Frage der Richtigstellung einer verkehrten Ordnung und der damit zusammenhängenden unbedingten Geltung des Moralgesetzes. An mehreren Stellen aus RGV IV lässt sich zeigen, dass hierfür die rechte Vorstellung bezüglich der Wirksamkeit der göttlichen Gnade für maßgeblich erklärt wird. Bereits bei der Untersuchung des dritten Stücks konnte der Sinn der herausgestellten Verschränkung zwischen Kirchenlehre und Antinomie-Diskussion dahingehend erhellt werden, dass die Vorstellung eines konditionierten Beistandes die Etablierung eines ethischen Gemeinwesens ermöglicht. Das vierte Stück drückt dies in mehreren Überlegungen aus, die an verschiedenen Stellen im Laufe des Textes zur Sprache kommen. Eine erste Überlegung entwickelt der Text anhand des Begriffspaares ‚Natur‘ und ‚Gnade‘. ‚Natur‘ soll dieser Begriffsverwendung zufolge das bezeichnen, was der Mensch „für sich selbst tun kann“, während die ‚Gnade‘ die „übernatürliche Beihilfe“ benennt, die dem mangelhaften moralischen Vermögen des Menschen entgegenkommt. 531 Die Gegenüberstellung könnte auf einen Gedanken zurückgehen, den Kant in seinen Ethikvorlesungen vortrug. Denn wie in Kap. 3.4 anhand einer längeren Passage aus der Kaehler-Collins-Vorlesung erläutert wurde, entwirft der Professor dort eine Gegenüberstellung zwischen dem ‚Natürlichen‘, unter dem er ein Handeln des Menschen versteht, und dem ‚Übernatürlichen‘, nämlich dem ergänzenden Beistandshandeln Gottes. Da wir es hier mit einem ähnlichen Grundgedanken zu tun haben, kann man folgern, dass die ‚übernatürliche‘ Hilfe ebenfalls als eine Unterstützung gedacht werden muss, die nur ergänzend und unter der Bedingung eines möglichst weitgehenden Wohlverhaltens hinzukommt. Kant fügt der Gegenüberstellung in RGV IV allerdings eine weitere Betrachtungsweise hinzu, in der auf die Erkennbarkeit der jeweiligen Wirkungsgesetze abgehoben wird: Im Bereich der ‚Natur‘ kennen wir die Gesetze, nach denen 531 Vgl. B 266f/ AA VI 173 28 -174 26 . <?page no="326"?> 326 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung gehandelt werden soll. Deshalb ist unter ‚Natur‘ in diesem Fall auch nicht eine „physische, von der Freiheit unterschiedene Beschaffenheit“ zu verstehen, sondern das Handeln des Menschen und zwar dasjenige, das dem Gesetz der Tugend gehorcht, aber als ‚Natürliches‘ einen unvermeidlichen Mangel an moralischer Qualität aufweist. 532 Und aus dem gleichen Grund bemüht sich Kant, die Freiheit aus dem Bereich des ‚Übernatürlichen‘ auszuschließen, da ihre Wirkweise zwar ebenfalls unbegreiflich, das Moralgesetz aber durchaus bekannt ist. 533 Im Bereich der ‚Gnade‘ liegen die Verhältnisse hingegen vollkommen anders. Die Wirkweise der Gnade - ebenso wie das Sich-Einstellen des erwünschten Wirkungsergebnisses - entzieht sich unserer Kenntnis ganz und gar: „[O]b, wenn und was, oder wie viel die Gnade in uns wirken werde, [bleibt] uns gänzlich verborgen […] und die Vernunft [ist] hierüber, so wie beim Übernatürlichen überhaupt (dazu die Moralität, als Heiligkeit, gehört), von aller Kenntnis der Gesetze, wonach es geschehen mag, verlassen“. 534 Und damit nicht genug. Dem Text zufolge handelt es sich beim Gnadenwirken nicht nur um einen Vorgang, der erfahrungstranszendent ist und sich daher jedem darauf aufbauenden Urteil entzieht. Vielmehr gilt die Vorstellung einer Unterstützung beim moralischen Bemühen auch in praktischer Hinsicht als problematisch, da moralische Qualität Imputabilität einschließt und sich daher eigentlich nicht einem übernatürlichen Einfluss verdanken darf. 535 Dementsprechend wird Kant auch im vierten Stück nicht müde zu erwähnen, dass die gnadenhafte Mithilfe ein ‚Geheimnis‘ bilde, das für den Menschen nicht erfasst, geschweige denn zum Gegenstand einer kirchlichen Lehre oder durch eine religiöse Praxis nutzbar gemacht werden kann. Die Mystifizierung der Annahme eines übernatürlichen Beistandes verfolgt das Ziel, jeden Versuch, den Beistand anzurufen oder durch irgendwelche Praktiken zu erwirken, als absurdes Unterfangen darzustellen. Denn wenn die Gewährung der Gnade ebenso wie die Art und Weise der Gnadenwirkung grundsätzlich unerkennbar ist und in ihren Gesetzmäßigkeiten nicht durchschaut werden kann, macht es wenig Sinn, sich mittels (vermeintlich) religiöser Praktiken um diesen Beistand zu bemühen. Was allein als sinnvolle Möglichkeit verbleibt, ist der Dienst Gottes im Erfüllen der Pflichten gegen sich selbst und gegen Andere - sowie der vage Glaube, dass es Gnadenwirkungen geben kann und sie das menschliche Tugendstreben auf unerfindliche Weise ergänzen können. 532 Vgl. B 296/ AA VI 190 10 -191 4 , Zitat: Z. 14. 533 Vgl. B 297/ AA VI 191 20-25 . 534 B 296/ AA VI 191 1-4 . 535 Vgl. B 296f/ AA VI 191 9-13 . Kant räumt an den betreffenden Stellen lediglich ein, dass auch die Unmöglichkeit eines Gnadenwirkens nicht bewiesen werden kann (Z. 13-15). <?page no="327"?> 4.4 Zwischen ‚Religion‘ und ‚Afterdienst‘ 327 Die gewundenen Ausführungen zur ‚Natur‘-‚Gnade‘-Gegenüberstellung stellen daher insgesamt ein profundes Argument für den normativen Religionsbegriff dar. Allerdings fällt die hierfür herangezogene Mystifizierung der übernatürlichen Unterstützung derartig gründlich aus, dass die darin vorausgesetzte Vorstellung vom Gnadenhandeln Gottes mit der Regel vom streng konditionierten Beistand in Spannung zu geraten droht. Obgleich auch in RGV IV vorwiegend von einer ergänzenden Hilfe Gottes die Rede, lässt die Argumentation offen, sich diesen Beistand als bloß nachfolgende Ergänzung oder synergistisches Mitwirken vorzustellen. Wenn der Geheimnischarakter des göttlichen Beistandes missachtet wird, führt dies regelmäßig in die sog. Zauberei, wie ein zweiter Argumentationszusammenhang darlegt. Die ‚Zauberei‘ wird als Verzerrung des moralischen Selbstbewusstseins beschrieben, in der sich eine letztlich mechanistische Auffassung von der Rechtfertigung des Menschen vor dem durch Gott repräsentierten Moralgesetz manifestiert. Der ‚Zauberei‘ betreibende Mensch vertritt Kants Ansicht nach die Auffassung, „daß, ob er gleich für dieses Übernatürliche weder ein physisches Vermögen, noch eine moralische Empfänglichkeit hat, er es doch durch natürliche, an sich aber mit der Moralität gar nicht verwandte Handlungen […] bewirken, und so den Beistand der Gottheit gleichsam herbeizaubern könne“. 536 Eine solche Auffassung ist irrig; denn zwischen physisch-mechanischen Vorgängen und der moralischen Rechtfertigung kann es keine Verknüpfung geben. Und darüber hinaus konterkariert sie das moralische Mühen des Menschen; denn sie gibt vor, dass Handlungen, die „der ärgste Mensch […] eben sowohl, als der beste […] ausüben“ 537 kann, eine von Gott bewirkte Rechtfertigung erzeugen. Die Alternative zu dieser wahnhaften und moraldestruktiven Beistandsvorstellung besteht darin, zwar auch mit einer übernatürlichen Ergänzung des menschlichen Unvermögens zu rechnen, diese aber nicht selbst erwirken zu wollen, sondern sich durch einen guten Lebenswandel für deren Empfang zu qualifizieren. 538 Wie das mechanistische Gnadenkalkül mit der Praxis der Zauberei korrespondiert, so bildet die richtige Ansicht davon, wie das moralisch vollkommene Wesen den Beistand leistet, die überzeugungsmäßige Grundlage für die Religion des guten Lebenswandels. Eine dritte Argumentationsweise lässt sich in der häufig wiederkehrenden Zuordnung von ‚Mittel‘ und ‚Zweck‘ ausmachen. Kant greift damit eine Prämisse auf, die dem Leser bzw. den Leserinnen bereits in der Antinomie-Diskussion in RGV III begegnete. Wenn zwei oder mehrere Sachverhalte gleichermaßen gel- 536 B 274/ AA VI 178 20-27 . 537 Z. 24 f. 538 Vgl. B 273f/ AA VI 178 4-16 . <?page no="328"?> 328 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung ten, so besagt die ausdrücklich benannte Prämisse 539 , dann können diese nicht als gleichwertige Zwecke konjungiert werden, sondern das eine fungiert lediglich als Mittel für das andere. Die Mittel-Zweck-Zuordnung wird im Verlauf von RGV IV in doppelter Weise verwendet, nämlich zum einen beim Verhältnis zwischen äußerlicher Frömmigkeit und Moralität und zum anderen in Bezug auf die Frage, was die eigentliche Bedingung für das Eintreten des göttlichen Beistandes darstellt. Was das zuletzt genannte Verhältnis anbelangt, wiederholt Kant immer wieder seine Grundregel: „Nun sind Mittel alle Zwischenursachen, die der Mensch in seiner Gewalt hat, um dadurch eine gewisse Absicht zu bewirken, und da gibt’s, um des himmlischen Beistandes würdig zu werden, nichts anderes […] als ernstliche Bestrebung, seine sittliche Beschaffenheit nach aller Möglichkeit zu bessern“. 540 Das Mittel des moralischen Handelns wird als Herstellung einer solchen Disposition verstanden, die den Menschen für die Unterstützung überhaupt ‚empfänglich‘ macht. Hinsichtlich der Wirkung bleibt auch hier vieles im Ungefähren. Der Text scheint davon auszugehen, dass der Beistand als willentliches Unterstützungshandeln Gottes ausschließlich auf die Herstellung moralisch vollkommener Zustände gerichtet ist und daher - ‚ergänzend‘ - diejenige vollständige Passung zum göttlichen Wohlgefallen herstellt, auf die sich auch das Handeln des moralisch gesinnten Menschen richtet, durch dieses Handeln aber nicht erreicht werden kann. 541 Aus dieser Theorie des ergänzenden Beistandhandelns zieht der Text die Konsequenz, dass der wahre Gottesdienst nicht in der Ausführung äußerlich-frömmigkeitlicher Handlungen oder religiöser Sonderpflichten, sondern allein in der moralischen Gesinnung und der Beachtung aller moralischen Pflichten besteht. 542 Allein schon aus diesem Grunde können frömmigkeitliche Handlungen nicht den eigentlichen Zweck der religiösen Praxis bilden. Wie in der Antinomie-Diskussion in RGV III begründet der Autor seine Position dadurch, dass die heterogenen Bestandteile sinnvollerweise nur als Mittel-Zweck-Zusammenhang verbunden sein können: Weil die tatsächlich praktizierten Religionen sowohl aus frömmigkeitlichen Handlungen und Glaubensbekenntnissen als auch aus dem moralischen Dienst Gottes bestehen, muss der erste Bestandteil das Mittel, der zweite Bestandteil den Zweck darstellen, da ansonsten ungewiss wäre, welcher 539 Vgl. B 272/ AA VI 177 9-12 . 540 B 298/ AA VI 192 1-5 . 541 Vgl. die Fortführung des soeben zitierten Satzes (Z. 5-8): „… und sich dadurch der Vollendung ihrer Angemessenheit zum göttlichen Wohlgefallen, die nicht in seiner Gewalt ist, empfänglich zu machen, weil jener göttliche Beistand, den er erwartet, selbst eigentlich doch nur seine Sittlichkeit zur Absicht hat.“ 542 Vgl. B 298f/ AA VI 192 18-24 . <?page no="329"?> 4.4 Zwischen ‚Religion‘ und ‚Afterdienst‘ 329 Bestandteil die erwünschte Gottwohlgefälligkeit nach sich zieht. 543 Dass allein der zweite Bestandteil von Gott mit Wohlgefallen aufgenommen wird, erscheint an dieser Stelle als selbstevident. Die analysierten Stellen und Überlegungen dürften deutlich gemacht haben: Da Gottes Hilfe nicht durch irgendeine außermoralische Praxis hervorgerufen, sondern nur als ergänzender Beistand beim moralischen Bemühen des Menschen gedacht werden kann, besteht der einzige Ausweg aus dem Unvermögen des Menschen in der Erfüllung des Moralgesetzes. Dies führt jedoch in die in Kap. 4.3 herausgearbeiteten Aporien. Ungeachtet dieser ungelösten Problematik wird der sonstigen ‚religiösen‘ Praxis jedoch lediglich die Funktion zugesprochen, ein ‚Mittel‘ zu sein, das die Erfüllung des Moralgesetzes und die Ausbildung einer moralischen Gesinnung befördert. Was hat man sich nun hierunter genau vorzustellen? - Im nachfolgenden Unterkapitel 4.4.3 wird anhand der kantischen Kritik an den ‚Gnadenmitteln‘ eine Antwort auf diese Fragen gesucht. Zuvor soll jedoch ein weiterer Aspekt erhoben werden, der im vierten Stück in die Argumentation um Gottes Beistand und die rechte Religionsausübung eingeschlossen ist. Gegen Ende einer der bereits zitierten Textpassagen zur pseudo-religiösen Zauberei schließt ein weiterer Gedanke an. Kant bezeichnet dort denjenigen Gottesdienst, der seines Erachtens stattfindet, wenn die Annahmen von der göttlichen und der menschlichen Aktivität in der rechten Ordnung zueinander stehen, als ‚ freien , mithin moralischen Dienst‘. 544 Aus dem Zusammenhang der nachfolgenden Sätze erhellt, dass eine solche Attribuierung sich gegen den Zwang richtet, Glaubenssätze annehmen und bekennen zu müssen, derer sich der Mensch nicht gewiss sein kann. Doch die Rede vom ‚freien‘ Gottesdienst hat m. E. noch einen weiteren Sinn. Die richtige Auffassung bezüglich des Beistandsglaubens ist für Kant nicht nur mit einer adäquaten religiösen Praxis, sondern auch mit einem gewissen ‚religiösen‘ Selbstbewusstsein verknüpft. Wenn der Mensch von der nur bedingt wirksamen göttlichen Mithilfe überzeugt ist, bildet er im Verbund damit auch ein Selbstverständnis aus, demzufolge er sich seine Stellung vor Gott nicht als die eines nichtswürdigen Bittstellers, sondern als Beziehung mündiger Subjekte vorstellt. 545 543 Vgl. B 272/ AA VI 177 12-20 . 544 Vgl. B 275/ AA VI 179 5-7 : „In dieser Unterscheidung aber besteht die wahre Aufklärung; der Dienst Gottes wird dadurch allererst ein freier, mithin moralischer Dienst.“ 545 Die problematische Vermenschlichung Gottes, die Winter (2000, 132-137) und Flikschuh (2011, 198) als eine Grundlage des Afterdienstes beschreiben, muss daher um einen weiteren Aspekt ergänzt werden: Im Afterdienst wird nicht nur Gott, sondern auch der Mensch herabgesetzt. <?page no="330"?> 330 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Besonders deutlich bringt der Text diesen Gedanken an folgender Stelle zum Ausdruck: „Dieser Mut, auf eigenen Füßen zu stehen, wird nun selbst durch die darauf folgende Versöhnungslehre gestärkt, indem sie, was nicht zu ändern ist, als abgetan vorstellt, und nun den Pfad zu einem neuen Lebenswandel für uns eröffnet.“ 546 Dem Zitat geht die Behauptung voraus, dass die Einsicht in den Tugendbegriff und das Bewusstsein der Fähigkeit zur moralischen Lebensführung der Vorstellung eines gebietenden Gottes vorangehen muss. Ansonsten drohen Entmutigung und die unaufrichtige Unterwerfung unter eine despotisch aufgefasste göttliche Herrschaft. Die Versöhnungslehre verstärkt dem Zitat zufolge die moralische Mündigkeit und Selbstaktivität positiv, indem sie die Überzeugung bereithält, dass das unvermeidliche moralische Ungenügen der Vergangenheit einer Entsprechung gegenüber dem Moralgesetz nicht notwendigerweise entgegenstehen muss und daher das weitere moralische Bemühen kein sinnloses Unterfangen darstellt. Aber auch die Versöhnungslehre kann nur dann das Subjekt und dessen Bemühen stärken, wenn die Überzeugung von der göttlichen Unterstützung angesichts des menschlichen Unvermögens nicht den Anfang macht. Andernfalls führt sie nämlich dazu, dass „die Furcht wegen der Zueignung [sc. der Versöhnung], die Vorstellung unseres Unvermögens […] und die Ängstlichkeit wegen des Rückfalls ins Böse dem Menschen den Mut benehmen[] und ihn in einen ächzenden moralischpassiven Zustand […] versetzen muss.“ 547 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass allein die Lehre vom konditionierten göttlichen Beistand, der das moralische Bemühen begleitet und voraussetzt, zum Selbstverständnis des Menschen als mündiges und moralisch handlungsfähiges Subjekt passt und dieses Selbstverständnis positiv unterstützt. In einer angehängten Fußnote schreckt der Text nicht davor zurück, den Zusammenhang zwischen religiösen Überzeugungen und Mündigkeitsbewusstsein auch unter ethnologischer Perspektive auszubuchstabieren. Demnach zeigen die christianisierten Völker aufgrund einer falschen Vorstellung von der Angewiesenheit des Menschen auf einen übernatürlichen Beistand mitunter eine ‚knechtische‘ Gemütsart. Sie tendieren vor allem in moralischer Hinsicht zu einem Mangel an Selbstvertrauen und zur Selbstverachtung. Offenbar haben sich bei diesen Völkern diejenigen Prediger durchgesetzt, die gemäß den Vorlesungen die Verdorbenheit und das Unvermögen des Menschen betonen, um die Gnade der göttlichen Zuwendung herauszustreichen. 548 Der in der Tat ernüchternde Vergleich mit der ‚Heiligkeit des Gesetzes‘ sollte jedoch gerade umge- 546 B 284/ AA VI 183 37 -184 3 . 547 B 284f/ AA VI 184 5 -185 2 . 548 Siehe oben Kap. 3.5. <?page no="331"?> 4.4 Zwischen ‚Religion‘ und ‚Afterdienst‘ 331 kehrt die Entschlossenheit bewirken, sich der Angemessenheit zum Moralgesetz immer mehr anzunähern, und den Mut zur tugendhaften Lebensführung freisetzen, wie es unter Voraussetzung der ‚rein-vernünftigen‘ und aus Kants Sicht eigentlich christlichen Gnadenlehre auch geschähe. Und nur in einem solchen Selbstbewusstsein kann es eine echte Liebe gegenüber Gott geben, die sich nicht einer abhängigen Unterwerfung unter einen in jeder Hinsicht übermächtigen Despoten, sondern der freien Wahl eines mündigen menschlichen Partners und dessen aufrichtigem Wohlgefallen am Moralgesetz verdankt. 549 Im einseitigen Appell an Gottes Gnade und den darauf aufbauenden Religionsformen sieht Kant folglich auch ein falsches Bild des Menschen von sich selbst impliziert. Sowohl in den Vorlesungen als auch in RGV IV steht einer solchen Qualität des Gott-Mensch-Verhältnisses die Einschätzung gegenüber, dass die Menschen Ende des 18. Jahrhunderts lieber ‚Favoriten‘ sein möchten, die sich auf nichtmoralischem Wege darum bemühen, damit der absolutistisch gedachte Gottherrscher seinen macht- und rechtlosen Untertanen gewogen sein möge. Dennoch äußert sich Kant im Laufe des vierten Stückes zuversichtlich: Obgleich zuerst die Gelehrten und die Weisen angesichts der Widersprüche und Probleme des geschichtlich vermittelten Glaubens zu zweifeln beginnen, verfügt auch der einfältigste Mensch über die praktische Erkenntnis der Moralität. Diese Erkenntnis führt zum Glauben an Gott und leitet zu einem „reinen Religionsglauben, der jedem Menschen nicht allein begreiflich, sondern auch im höchsten Grade ehrwürdig ist“. 550 Die aufgezeigte Verknüpfung zwischen der ‚vernunftgemäßen‘ Beistandskonzeption und dem Selbstbewusstsein des Menschen inkludiert daher ein durchaus emanzipatorisches Moment, nämlich das der Befreiung aus entmündigenden religiösen Überzeugungen und der Selbstetablierung als vollwertige moralische Persönlichkeiten. Solche Erwägungen sprechen dafür, dass die Definition der Religion ‚als Erkenntnis unserer Pflichten als göttliche Gebote‘ mehr besagt als dass die moralgesetzlichen Obliegenheiten mit den Geboten eines moralisch vollkommenen Wesens identifiziert werden. Freilich, wie in der kommentierenden Auseinandersetzung mit Baumgartens Ethica richtet sich auch die RGV-Definition gegen die Lehre von den spezifisch religiösen Pflichten und darüber hinaus gegen die wahnhafte Vorstellung, den mangelhaften Lebenswandel durch eine vermeintlich gottwohlgefälligere Frömmigkeit kompensieren zu können. Die Erwägungen zeigen aber m. E. auch an, dass bei einem Menschen, welcher der praktisch-vernünftigen Religion folgt und vielleicht das ein oder andere Hilfsmittel gebraucht, mehr als nur ein moralisches Handeln und Verhalten gegeben 549 Vgl. B 282/ AA VI 182 29f . 550 B 280/ AA VI 182 1-2 . <?page no="332"?> 332 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung ist: Der oder die Praktisch-Religiöse im kantischen Sinne hat auch ein Bewusstsein davon, als moralisches Subjekt vor dem höchsten Wesen zu stehen. Ein solcher Mensch kann von sich behaupten, dass er sich nach besten Kräften bemüht hat, dem Moralgesetz Folge zu leisten. Und was den unvermeidlichen Rest anbelangt, wo die Entsprechung gegenüber der Heiligkeitsforderung des Moralgesetzes nicht verwirklicht wurde - diesbezüglich trägt die betreffende Person die praktisch-vernünftige Annahme in sich, dass Gott das Fehlende auf geheimnisvolle Weise ergänzen wird! Eine derartig komplexe Charakterisierung des kantischen Religionsbegriffes ist wichtig, weil sie auf dessen inhaltliches Profil aufmerksam macht: Es ist nicht nur so, dass Kant das komplexe Phänomen ‚Religion‘ auf die praktisch-handlungsbezogenen Aspekte und auf die Erfüllung derjenigen Weisungen reduziert, die sich gemäß seiner Moralphilosophie als praktisch-rational erweisen lassen. Der Philosoph verfolgt in seinem Religionsbegriff auch eine Überzeugung davon, wie Mensch und Gott sich zueinander verhalten, nämlich als moralische Subjekte, die sich wechselseitig mit Achtung und Gerechtigkeit behandeln. Von dieser tief in Kants moralisch-religiösem Wertesystem verwurzelten Überzeugung dürfte es auch herrühren, dass Kant sowohl in den Vorlesungen als auch in der Religionsschrift die biblische Botschaft von der Zuwendung Gottes zu den moralisch unwürdigen Sündern für undenkbar hielt und daher das Selbstverständnis der christlichen Religionspraxis, wonach Religion wesentlich die Vergegenwärtigung und die Feier eines solchen Gnadenereignisses meint, nicht nachvollziehen konnte. 4.4.3 Die moralförderliche Funktion ‚religiöser Mittel‘ Die meisten einschlägigen Formulierungen aus RGV IV beschränken sich auf die schlichte Behauptung, dass all das, was neben dem moralisch guten Lebenswandel an religiöser Praxis vollzogen wird, nur als Mittel anzusehen sei. Die Betonung liegt dabei auf dem ‚ nur ‘. Allerdings handelt es sich immerhin um Mittel, welche die moralische Gesinnung irgendwie ‚ befördern ‘ können. 551 Den Formulierungen wie der Sache nach stellt die Charakterisierung der frömmigkeitlichen Handlungen als moralförderliche Mittel einen Anwendungsfall der generellen Mediatisierung dar, die Kant in Bezug auf die geschichtlich überlieferten Religionen annimmt. Wie in Kap. 4.3.3 aufgezeigt, betrachtet er diese als Mittel, die der Einführung, Vermittlung und Bestärkung der moralischen Vernunftreligion dienen. Während die Ausführungen zur Religionsgeschichte und zum ethischen Gemeinwesen jedoch wenigstens ein paar detailliertere Er- 551 Vgl. die bereits in Kap. 4.4.2 zitierten Stellen, bes. B 272/ AA VI 177 u. B 274/ AA VI 178. <?page no="333"?> 4.4 Zwischen ‚Religion‘ und ‚Afterdienst‘ 333 läuterungen bereithalten, beschränken sich die analogen Erklärungen zu den frömmigkeitlichen Handlungen auf die Nennung verschiedener Stichworte. Sie deuten unterschiedliche Arten an, wie Kant sich die moralförderliche Wirksamkeit der religiösen Mittel vorstellt. Zum einen werden manche Mittel dem Text zufolge dadurch wirksam, dass sie „das sinnliche Vorstellungsvermögen zur Begleitung intellektueller Ideen des Zwecks […] erhöhen“ bzw. „wenn es [sc. das sinnliche Vorstellungsvermögen] den letzteren etwa zuwider wirken könnte, es nieder[]drücken“ 552 . Der Verweis auf das ‚sinnliche Vorstellungsvermögen‘, das durch den Vollzug der Mittel entweder verstärkt oder unterdrückt wird, um die ‚intellektuellen‘ Ideen zu begleiten, lässt vermuten, dass Kant zum einen an eine erkenntnispsychologisch zu deutende Wirksamkeit denkt. Auch die angehängte Fußnote stellt zwar zunächst fest, dass es keinen direkten Einfluss vom ‚Sinnlichen‘ auf das ‚Intellektuelle‘, wozu auch die moralische Selbstbestimmung des Menschen gehört, geben kann. Für möglich erklärt sie aber eine wiederum nicht näher spezifizierte Parallelwirkung, die die intellektuell-noumenalen Vorgänge im Bereich des Phänomenal-Sinnlichen unterstützt, indem sie ‚dem Gesetz zu Gunsten‘ wirkt. 553 Möglicherweise stehen diese Ausführungen mit den Überlegungen zur ‚Sinnlichkeit‘ in Zusammenhang, die sich in den Vorlesungen finden und wiederum einen Reflex auf Baumgartens Lehre von der viva cognitia darstellen könnten. 554 In eine anders akzentuierte Richtung dürfte hingegen ein Stichwort deuten, demzufolge religiöse Feierlichkeiten als Mittel zur ‚Belebung‘ moralischer Gesinnungen fungieren. Bewegungs- und Lebendigkeitsmetaphern verwendet die RGV auch in Bezug auf das Gefühl der Achtung und die moralförderliche Funktion des Vollkommenheitsideales. M. E. spricht das dafür, dass Kant in der Wirkung religiöser Mittel daher auch ein emotionales Moment inhäriert sieht, obgleich die spärlichen Hinweise in der RGV keine präzise emotionspsychologische Verortung dieses Momentes erlauben. 555 552 B 259/ AA VI 169 28 -170 1 . 553 Vgl. B 259f/ AA VI 170 15-30 , sowie B 268/ AA VI 175 7-12 (Hervorhebung: Reich): „Der abergläubische Wahn, weil er ein an sich für manches Subjekt taugliches und diesem zugleich mögliches Mittel , wenigstens den Hindernissen einer Gott wohlgefälligen Gesinnung entgegen zu wirken , enthält, ist doch mit der Vernunft sofern verwandt, und nur zufälligerweise dadurch, daß er das, was bloß Mittel sein kann, zum unmittelbar Gott wohlgefälligen Gegenstande macht, verwerflich.“ 554 Siehe oben Kap. 3.1 und 3.2. 555 Vgl. B 312/ AA VI 201 19-22 (Hervorhebung: Reich): „und so macht er [sc. der für gewöhnlich faule Mensch] sich von den Feierlichkeiten, im Gebrauch gewisser Mittel zur Belebung wahrhaft praktischer Gesinnungen , den Begriff als von Gnadenmitteln an sich selbst“. Vgl. hierzu Dierksmeier (2001, bes. 211-213), der Belege aus der KdU heranzieht. <?page no="334"?> 334 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung Ein weiteres Bild von der Wirksamkeit nichtmoralischer religiöser Handlungen zeichnet sich dagegen in der Diskussion der sog. Gnadenmittel ab. Zwar lassen die einschlägigen Ausführungen aus der finalen ‚Allgemeinen Anmerkung‘ ebenfalls in puncto Klarheit und Detailreichtum zu wünschen übrig. Andererseits findet sich hier eine Reihe von instruktiven Hinweisen. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, deuten diese Hinweise m. E. darauf hin, dass die moralförderliche Wirksamkeit bei der allgemeinen Beschreibung sowie bei den Erläuterungen zu drei der vier Gnadenmittel auf deren Veranschaulichungsfunktion zurückgeführt werden kann. Die umfängliche Erörterung zum Gebet lässt sich hingegen so interpretieren, dass in ihr auch eine diskursive Wirksamkeit dieses Gnadenmittels vorausgesetzt wird. Insgesamt dominieren in den Ausführungen zu den Gnadenmitteln die kritischen Töne. Neben den bereits rekonstruierten Argumenten bringt der Text ganz am Ende einen neuen Kritikpunkt vor, in dem die Aufnahme von Gnadenmitteln unter die eigentlichen Religionsbestandteile aufgrund des Zusammenhangs mit dem Pfaffentum problematisiert wird. Denn weil das Pfaffentum sich als Besitzer der vermeintlichen Gnadenmittel ausgibt, würde hierdurch „die usurpierte Herrschaft der Geistlichkeit über die Gemüter“ 556 zementiert. Dementsprechend führt der Text den praktisch-vernünftigen Gebrauch der legitimen Gnadenmittel nur sehr zögerlich ein, indem er sie von den ‚wahnhaften‘ Handlungen eines nur scheinbaren Gottesdienstes abhebt und die Erörterung ihrer positiven Funktionalität als eine weitere Auseinandersetzung mit dem ‚Wahnglauben‘ darstellt. 557 Wenn der „angebliche Dienst Gottes[] auf seinen Geist und seine wahre Bedeutung“ zurückgeführt wird, lassen sich Kant zufolge vernünftigerweise „vier Pflichtbeobachtungen“ identifizieren, denen wiederum „gewisse Förmlichkeiten, die mit jenen nicht in notwendiger Verbindung stehen“, beigeordnet werden. 558 Gemeint sind: die feste Gründung der Gesinnung im Privatgebet, die öffentliche Zusammenkunft in der Teilnahme am Gottesdienst, die Initiation neuer Mitglieder durch die Taufe und die Erhaltung der Gemeinschaft in der Kommunion. Die subtilen Begriffsverkettungen zwischen den einzelnen Erläuterungen zeigen an, dass die vier vernunftgemäß praktizierbaren Gnadenmittel in einem abgestuften Verhältnis zur praktischen Rationalität stehen: Einerseits beabsichtigen sie durchaus, die Moralität zu befördern, und stellen Mittel dar, die ‚nicht wohl entbehrlich‘ sind, was so zu verstehen sein dürfte, dass das moralisch geforderte Subjekt besser nicht auf sie verzichten sollte. 559 Andererseits haben zumindest 556 B 311/ AA VI 200 8-10 . 557 Vgl. B 299-301/ AA VI 192 18 -194 8 . 558 B 299/ AA VI 192 33 -193 1 . 559 Vgl. B 299/ AA VI 192 28-32 : „[W]elches [sc. das sinnlich wahrnehmbare Gnadenmittel], obzwar ein nicht wohl entbehrliches […] Mittel ist, uns unsere Pflicht im Dienste Gottes <?page no="335"?> 4.4 Zwischen ‚Religion‘ und ‚Afterdienst‘ 335 die konkreten ‚Förmlichkeiten‘ kontingenten Charakter, sie wurden lediglich ‚von alters her‘ für gut erachtet. 560 Und vor allem haben sie keinerlei direkte Auswirkung auf das Sein des Menschen vor Gott. Ihre Wirksamkeit besteht allein darin, den Menschen zu verändern. Dass die gegebenen Gnadenmittel eine sinnvolle Hilfe für den Menschen abgeben, um den Forderungen des Moralgesetzes gerecht zu werden, wird im Text folgendermaßen begründet: „Allein das Unsichtbare bedarf doch beim Menschen durch etwas Sichtbares (Sinnliches) repräsentiert, ja, was noch mehr ist, durch dieses zum Behuf des Praktischen begleitet, und, obzwar es intellektuell ist, gleichsam […] anschaulich gemacht zu werden.“ 561 Im Falle des Menschen ist es notwendig, dass das ‚Unsichtbare‘ und das ‚Intellektuelle‘ durch eine sinnlich wahrnehmbare Veranschaulichung begleitet werden, und das insbesondere dann, wenn es handlungsleitend werden soll. Die Feststellung wiederholt, was in RGV II in Bezug auf die Veranschaulichung der Tugend im ‚Ideal der gottwohlgefälligen Menschheit‘ ausgeführt wurde. 562 Im Zusammenhang der weit gestreckten Argumentation zur Rechtfertigung der Gnadenmittel kann sie als Obersatz gelesen werden kann. Als Mittelsatz kommt hinzu, dass - wie von alters her die Erfahrung zeigt - die vier Gnadenmittel als ‚Schemata‘ geeignet sind, um die erforderliche Veranschaulichungsleistung zu erbringen. Hieraus lässt sich konkludieren, dass die Gnadenmittel geeignet und hilfreich sind, um „unsere Aufmerksamkeit auf den wahren Dienst Gottes zu erwecken und zu unterhalten“. 563 Die moralförderliche Funktion der Gnadenmittel beruht diesem Argument zufolge also auf deren Eigenschaft, dasjenige, was den Menschen in seiner ‚unsichtbaren‘ Existenz als moralfähiges und moralisch gefordertes Wesen ausmacht, zu veranschaulichen. Im Falle der Feier des Gottesdienstes besteht die Veranschaulichung darin, dass hierdurch die Gemeinschaft der Bürger des ethischen Gemeinwesens eine sinnlich wahrnehmbare Darstellung findet. 564 Die Aufnahme in die kirchliche Gemeinschaft ist die feierliche Inszenierung davon, dass der Mensch der Verbindlichkeit ausgesetzt wird, sich durch eigenes Bemühen oder unterstützt durch das erzieherische Wirken der Taufzeugen zu einem ‚Bürger im göttlichen Staate‘ zu entwickeln. 565 Das gemeinschaftliche Mahl in der Kommunion versinnbildnur vorstellig zu machen, durch einen uns über schleichenden Wahn doch leichtlich für den Gottesdienst selbst gehalten und auch gemeiniglich so benannt wird.“ 560 Vgl. B 299/ AA VI 193 3 . 561 B 299/ AA VI 192 24-28 . 562 Siehe Kap. 4.2.4. 563 Vgl. B 299/ AA VI 193 1-3 . 564 Vgl. B 308f/ AA VI 198 15-20 . 565 Vgl. B 310/ AA VI 199 16-23 . <?page no="336"?> 336 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung licht die „Erneuerung, Fortdauer und Fortpflanzung“ dieser Gemeinschaft von Gleichen und ist daher geeignet, die „enge, eigenliebige und unvertragsame Denkungsart der Menschen […] zur Idee einer weltbürgerlichen moralischen Gemeinschaft“ zu erweitern und die Gemeinde zur „sittlichen Gesinnung der brüderlichen Liebe zu beleben“. 566 Die beschriebenen Veranschaulichungsvorgänge hängen vor allem mit dem öffentlichen Charakter dieser religiösen Handlungen zusammen. Denn wie insbesondere in Bezug auf die ‚erbauliche‘ Wirkung des Kirchengangs betont wird, besteht diese nicht in der privaten Rührung des Einzelnen, sondern darin, dass im gemeinsamen Gebet, im Glaubensbekenntnis und in der Predigt eine feierlich-zeichenhafte Vereinigung desjenigen Wunsches stattfindet, der alle Menschen verbindet, nämlich der moralische Wunsch nach der Realisation der Gottesherrschaft. 567 Dahingegen kann beim Gebet, dem ersten der vier Gnadenmittel, die moralförderliche Wirkung nicht auf dem öffentlichen Charakter des Vollzuges beruhen. Denn der Autor versteht unter dieser religiösen Handlung ausschließlich das ‚Privatgebet‘ des bzw. der Einzelnen. Des Weiteren wird das Gebet als „bloß erklärtes Wünschen“ 568 bestimmt, was auf eine zusätzliche Eingrenzung auf das Bittgebet hindeutet. Mit der Näherbestimmung des vergleichsweise ausführlich diskutierten Phänomens werden sogleich zwei Kritikpunkte verbunden: Zum einen ist es unsinnig, einem allwissenden und auch das Innere des Menschen kennenden Wesen die eigenen Wünsche vorzutragen. Und zum anderen wird im Gebet „nichts getan“, und zwar in dem Sinne, dass hierdurch keines der eigentlichen, moralischen Gebote Gottes erfüllt wird. 569 Kant wendet sich damit erneut gegen die Lehre von den religiösen Pflichten gegenüber Gott. Denn bei Baumgarten betreffen diese Pflichten vorrangig den cultus Dei internus - oder wie es in RGV IV heißt: einen „innere[n] förmliche[n] Gottesdienst“ -, zu dem auch die preces internae gehören. 570 Dem persönlichen Gebet gegenüber steht der sog. ‚Geist des Gebetes‘. Nach der im Text gegebenen Definition handelt es sich dabei um den inneren Wunsch, dass der eigene Lebenswandel Gott gefallen möge. Kant identifiziert dies mit 566 B 310f/ AA VI 199 30 -200 3 . 567 Vgl. B 306f/ AA VI 196 39 -197 38 . Flikschuh sieht in diesem Öffentlichkeitscharakter, welcher der kantischen Konzeption der kirchlichen Gemeinschaft und ihrer Vollzüge inhäriert, eine besonders markante Differenz zum Pietismus (2011, 196). - Nicht anders als in den Vorlesungen (vgl. bspw. Stark 2004, 136 18 -137 5 / AA XXVII 1 318) bedeutet für Kant die ‚Erbauung‘ durch den Gottesdienst und die Predigt, dass eine praktische wirksame Neugründung des ‚Gebäudes‘ Mensch stattfindet, auf festen Grundsätzen und einer gesicherten Gesinnung (vgl. RGV B 308f/ AA VI 199 21-38 ). 568 B 302/ AA VI 194 31 . 569 Vgl. B 302/ AA VI 194 33f . 570 Vgl. B 302/ AA VI 194 29 , sowie Baumgarten, Ethica §§ 93-99. <?page no="337"?> 4.4 Zwischen ‚Religion‘ und ‚Afterdienst‘ 337 einer ‚Gesinnung‘, unter der er offenbar ein handlungsbegleitendes Bewusstsein versteht, demzufolge die Handlungen gleichsam als Erfüllung der göttlichen Gebote ausgeführt werden. 571 Im Unterschied zum ‚Wunsch-Gebet‘ stellt der ‚Gebets-Geist‘ keine distinkte religiöse Handlung dar. Er wird ständig vollzogen und geschieht wortlos. Der allergrößte Teil der weiteren Argumentation bezieht sich nun auf dieses zweite Unterscheidungsmerkmal: den ‚Buchstaben‘ eines Betens als distinkte religiöse Einzelhandlung im Gegensatz zum lediglich handlungsbegleitenden Bewusstsein, dass die Befolgung des Moralgesetzes zugleich die Gebote des moralisch vollkommenen Wesens erfüllt. Einige der Argumente, die Kant gegen das ‚buchstäbliche‘ Gebet vorbringt, wurden auch in den Ethikvorlesungen verwendet. So wird die Erfahrung angeführt, dass es Menschen oftmals unangenehm ist, wenn sie beim lauten Privatgebet überrascht werden. Kant deutet dies als Peinlichkeit, die sich einstellt, weil in dieser Situation dem bzw. der Betenden durch die Mitmenschen eine Schwäche oder ein Wahn unterstellt wird. 572 Des Weiteren wird diskutiert, unter welchen Bedingungen ein Gebet erhört werden kann. Von der Gebetserhörung können wir ausgehen, wenn um moralische Gegenstände gebetet wird, und das auf solche Art und Weise, dass das Gebet das Erbetene selbst hervorbringt. Das ist dann der Fall, wenn das Gebet im Geist des Gebetes besteht, denn dieser bildet ja eine Gesinnung, in der das Moralgesetz als göttliche Gebote erfüllt wird. 573 Und nicht zuletzt hält Kant das wortlose Gebet auch für die evangeliumsgemäße Weise des Betens genauso wie er eine recht gezwungene Auslegung des Vater Unser und der darin enthaltenen Bitte um das tägliche Brot vornimmt. 574 Angesichts dieser zahlreichen Einwände und Umdeutungen übersieht man leicht, dass das Gebet hier im Zusammenhang der legitimen Gnadenmittel behandelt wird, die das Sittlich-Gute im Menschen befördern sollen. 575 Mehrere Signale sprechen dafür, dass Kant auch das Gebet als moralförderliches Mittel 571 Vgl. B 302/ AA VI 194 35 -197 1 . 572 Vgl. B 303/ AA VI 195 16-28 . 573 Vgl. B 304f/ AA VI 195 41 -196 22 . 574 Vgl. B 303f/ AA VI 195 28-41 , bes. Z. 35-41: „Selbst der Wunsch des Erhaltungsmittels unserer Existenz (des Brotes) für einen Tag, da er ausdrücklich nicht auf die Fortdauer derselben gerichtet ist, sondern die Wirkung eines bloß tierischen gefühlten Bedürfnisses ist, ist mehr ein Bekenntnis dessen, was die Natur in uns will, als eine besonders überlegte Bitte dessen, was der Mensch will: dergleichen die um das Brot auf den anderen Tag sein würde, welche hier deutlich genug ausgeschlossen wird.“ 575 Vgl. die entsprechenden Interpretationen von Winter (2000, 154-159) u. Nonnenmacher (2011, 220-224), die ebenfalls darauf hinweisen, dass die kantische Gebetslehre das Beten nur als Mittel ansieht und den ‚Geist‘ vor dem ‚Buchstaben‘ bevorzugt, aber nicht weiter untersuchen, worin die moralförderliche Wirksamkeit des Gebetes gesehen wird. <?page no="338"?> 338 4 Die Religionsschrift und die Theorie von Gottes Beistand bei der Besserung ansieht: Bei der ersten Aufzählung der Gnadenmittel wird ausdrücklich das ‚Privatgebet‘ genannt und behauptet, dass es (zumindest in seiner legitimen Variante) die Absicht verfolge, „die Gesinnung desselben [sc. des Sittlich-Guten] wiederholentlich im Gemüt zu erwecken“. 576 Außerdem wird die Bezeichnung als Mittel auch für die distinkte Gebetshandlung verwendet, bei dem - laut hörbar oder auch nur in einem inneren Monolog - Worte oder Formeln geäußert werden. 577 Und nicht zuletzt findet in Bezug auf diese Gebetsart die übliche emphatische Abgrenzung statt, wonach dieses ‚Gnadenmittel‘ zwar keine direkte Wirkung auf Gott hat, aber den Menschen bei seinem moralischen Gottesdienst unterstützen kann. 578 Wenn also das Beten als ein sinnvoll zu gebrauchendes Mittel aufgefasst wird, lohnt es sich den Text zu befragen, wie sich Kant die moralförderliche Wirksamkeit des Gebetes genau denkt. Nebst dem allgemeinen Hinweis auf die ‚Belebung der Gesinnung‘ kann man den bereits genannten Zitaten insofern einen Fingerzeig abgewinnen, als dort als wesentliche Eigenschaft des Gebetes die Sprachlichkeit genannt wird. Wenig später argumentiert Kant, dass das Beten nur für denjenigen Pflicht sei, der es zu einem gewissen Zweck nötig hat. Das Mittel, das diesen Zweck erfüllt und mit dem folglich das Gebet gemeint ist, bestimmt er als „in und eigentlich mit sich selbst […] reden “ 579 , d. h. als Gespräch des Menschen mit sich selbst. In Verbindung mit dem ‚Worte und Formeln‘-Zitat dürfte dies so zu interpretieren sein, dass das Gebet deshalb als Hilfe fungieren kann, weil es denjenigen Wunsch, der im ‚Geist des Gebetes‘ den gesamten Lebenswandel begleiten sollte und der die Gottwohlgefälligkeit des Lebenswandels zum Inhalt hat, in einem distinkten Selbstgespräch ausdrücklich zur Sprache bringt: Im moralförderlichen Gebet reflektiert der Mensch über sein Wollen als praktisch-vernünftiges Wesen und überzeugt sich von seinem daraus resultierenden Wunsch; mittels ‚Worten und Formeln‘ wird der Wunsch gefasst und bestärkt. Gestützt wird eine solche Interpretation durch die Gebetslehre der Vorlesungen. Aus den in Kap. 3 analysierten Quellen geht hervor, dass das worthafte Gebet (im Gegensatz zum Geist des Gebetes) dort ebenfalls als Hilfsmittel bestimmt wurde, um die Gesinnung zu ‚deklarieren‘ oder zu ‚erwecken‘. 580 Es gehört folg- 576 B 299/ AA VI 193 5f . 577 Vgl. B 302/ AA VI 195 3 -196 1 : „Diesen Wunsch aber (es sei auch nur innerlich) in Worte und Formeln einzukleiden, kann höchstens nur den Wert eines Mittels zu wiederholter Belebung jener Gesinnung in uns selbst bei sich führen […]“. 578 So fährt das soeben (vorhergehende Fußnote) angeführte Zitat fort: „… unmittelbar aber keine Beziehung aufs göttliche Wohlgefallen haben“. 579 B 304f/ AA VI 197 4 (Hervorhebung: Reich). 580 Vgl. Stark 2004, 149 12-19 / AA XXVII 1 323 u. bes. 143 9 -144 7 / ebd., Zitat: 143 20 -144 7 : „Die Gebethe sind aber subjectiv nöthig, nicht damit Gott, der der Gegenstand ist, zu dem man <?page no="339"?> 4.4 Zwischen ‚Religion‘ und ‚Afterdienst‘ 339 lich zu Kants moralphilosophischen Ansichten, dass die durch ‚Gebets-Rede‘ erzeugte ‚Belebung der Gesinnung‘ 581 mittels eines Selbstgespräches realisiert wird, in dem der Mensch Überzeugungsarbeit an sich selbst leistet. Die moralförderliche Wirksamkeit des Gebetes beruht nicht nur wie im Falle der anderen Gnadenmittel darauf, dass in ihm moralische Ideale veranschaulicht werden, sondern auch auf einem argumentativen und rhetorischen Diskurs, auch wenn dieser nur monologisch vollzogen wird. Die Art und Weise, wie die Moralität durch das ‚Beten‘ unterstützt wird, erinnert daher stark an die in Kap. 4.2.4 erhobene Funktionalität des exemplum der Gottwohlgefälligkeit. Auch in Bezug auf die kantische Lehre vom göttlichen Beistand konnte man feststellen, dass die moralförderliche Funktion der Beistandsvorstellung unter anderem darin gesehen wird, dass sie eine Einrede, ja ein Argument in einem inneren Monolog bildet, das den Menschen davon abhält, aus Frustration über seine unvermeidlichen Unzulänglichkeiten das moralische Bemühen einzustellen. 582 In funktionaler Hinsicht haben die Beistandsvorstellung und das religiöse Mittel des Gebetes folglich eine bedeutende Gemeinsamkeit: Sie vollziehen sich auf diskursivem Wege und helfen dem Menschen sich davon zu überzeugen, dass das Streben nach moralischer Heiligkeit für ihn ein notwendiges und sinnvolles Unterfangen darstellt. sich richtet, etwas erfahre und dadurch bewogen werde, solches zu ertheilen, sonderm um unseres Subjects willen. Wir Menschen können unsere Begriffe nicht anders faßlich machen als sie in Worte einzukleiden, wir kleiden also unsere frommen Wünsche und unser Zutrauen in Worte ein, damit wir sie uns lebhafter vorstellen können.“ Vgl. auch AA XXVII 1 179-181 (Powalski) u. XXVII 2,1 728 f. (Vigilantius). 581 Vgl. auch den weiteren Beleg in B 308/ AA VI 198 6-11 . 582 Diesbezüglich auffällig ist auch eine Formulierung aus der Powalski-Vorlesung (AA XXVII 1 179 f.): „Der Geist des Gebeths macht das Wesentliche des Gebeths aus. Die Wörter sind nur vehicula der Gedanken. Der Geist des Gebeths besteht im moralischen unbedingten Zutrauen auf den Göttlichen Beystand.“ <?page no="341"?> 5.1 Zu den Vorlesungen und zur Religionsschrift 341 5 Zusammenfassung Zum Ende der Studie werden nun die wichtigsten Erträge aus den Interpretationen zusammengefasst. Die Ergebnisse stellen auch wertvolle Anregungen für die moraltheologische Auseinandersetzung mit Kant dar. Die Begründung für die im Ergebnis kritische theologische Stellungnahme zur Kants Beistandslehre wurde in den vorangegangenen Kapiteln erarbeitet. Ziel dieses Kapitels ist es, die wichtigsten Punkte pointiert herauszustellen und aufzuzeigen, dass die differenzierte Beschäftigung mit Kants Ansichten zum Ideal der Heiligkeit und zu Gottes Beistand auch heute noch Anregungen für die theologisch-ethische Theoriebildung bietet. 5.1 Zu den Vorlesungen und zur Religionsschrift Aus der Lektüre der Ethik-Vorlesungen geht hervor, dass Kant Theorien dazu vorgetragen hat, welche Bedeutung dem Gottesbegriff in der Ethik zukommt und inwiefern die Religion für das moralische Handeln wichtig ist. Die äußeren Ausgangspunkte für diese Überlegungen bilden die Lehrbücher Baumgartens, die neben den Prinzipienfragen auch eine moralphilosophische Religionslehre, die ‚Pflichten gegen Gott‘, traktieren. Die überlieferten Mitschriften lassen erkennen, dass Kants eigener Standpunkt in der Frage nach dem Moralprinzip Wandlungen unterworfen war. Im Gegensatz zur älteren Herder-Mitschrift (1762-1764) vertritt er allerdings ab Mitte der 1770er Jahre (Mitschriften Kaehler-Collins) eine moralphilosophische Prinzipienlehre, die der Position der GMS und der KpV sehr nahe kommt. Auffällig ist nun, dass trotz dieser Veränderungen in der Prinzipienlehre die Grundaussagen der Theorie über die ethische Bedeutsamkeit von Religion gleich bleiben: Der Gottesbegriff muss aus der Moralbegründung ausgeschlossen werden. Zugleich ist Kant jedoch davon überzeugt, dass der Gottesbegriff und andere religiöse Vorstellungen moralisch relevant sind. Auch der dabei formulierte Religionsbegriff, der Religion als eine das moralische Handeln begleitende Erkenntnis bestimmt und besondere Pflichten gegenüber Gott ausschließt, wird über die Jahrzehnte hinweg durchgehalten. Die moralische Relevanz religiöser Vorstellungen wird in den Vorlesungen anhand zweier Reflexionsstränge dargelegt, wie sich insbesondere anhand der Überlieferungen Kaehler-Collins, Powalski und Mrongovius II zeigen lässt: Der eine Reflexionsstrang kreist um die Vorstellung des höchsten Guts ( summum <?page no="342"?> 342 5 Zusammenfassung bonum ), d. h. um die Hoffnung, dass ein vollkommen moralisches und zugleich allmächtiges Wesen die moralisch Handelnden der Glückseligkeit teilhaftig werden lässt. Der andere Reflexionsstrang geht von der Idee eines göttlichen Beistandes aus, der angesichts eines unvermeidlichen Zwiespaltes im Menschen angenommen werden muss. Denn einerseits ist der praktischen Rationalität des Menschen das Moralgesetz eingeschrieben, das unbedingte Befolgung fordert. Andererseits kann der Mensch diese Forderung aufgrund seiner Schwäche und Gebrechlichkeit nicht erfüllen. Wenn das Moralgesetz nicht als unerfüllbar erscheinen soll (was die Gefahr eines resignativen Abbruchs der moralischen Bemühungen mit sich brächte), müssen wir daher eine von Gott gewährte Unterstützung annehmen, die sicherstellt, dass der Mensch trotz seiner Mängel dem Moralgesetz gerecht zu werden vermag. Die Religionsschrift, so wurde im Durchgang durch die Abschnitte und Stücke erhoben, befasst sich ebenfalls an vielen Stellen mit der religiösen Vorstellung des göttlichen Beistandes: Erwähnungen der Beistandsthematik findet man am Ende des ersten Stücks. Ausführliche Erörterungen liegen in RGV II und RGV III vor. Im vierten Stück wird ein Zusammenhang zwischen der religiösen Praxis und der Vorstellung des göttlichen Beistandes hergestellt. An allen Stellen steht das Problem zur Debatte, ob und inwiefern der Mensch bei seinen Bemühungen um einen moralischen Lebenswandel auf die Mithilfe Gottes bzw. die Vorstellung einer solchen Mithilfe angewiesen ist. Über weite Teile hinweg bearbeitet die Religionsschrift folglich eine Fragestellung, die seit der Antike zur Ethik hinzugehört: die nach dem Erwerb der Tugend. Ein zentraler Problempunkt, der durch die Schrift erörtert wird, beschäftigt sich folglich mit der Frage, wie der Mensch moralisch gut werden kann - das heißt für Kant: wie er einen moralischen Lebenswandel und eine moralische Gesinnung ausbilden kann. Die RGV lässt sich daher als moralphilosophische Schrift lesen. Freilich, Kant sucht in ihr die Auseinandersetzung mit Lehren und Riten des Christentums. Ein wichtiger Grund dafür, dass diese Auseinandersetzung aufgenommen wird und zu den herausgearbeiteten Ergebnissen führt, ist jedoch moralphilosophischer Natur. Er basiert auf der Eigenheit der kantischen Auffassung von Moralität, wonach ‚moralisch gut‘-Sein das Ideal der Heiligkeit impliziert und man angesichts eines solch anspruchsvollen Ideals annehmen kann, dass das Handeln und die Gesinnung der meisten Menschen diesem Ideal nicht gerecht werden. Das Streben nach diesem Ideal ist daher mit einem bestimmten Bewusstsein verbunden, das den Gedanken einschließt, dass ein moralisch vollkommenes Wesen durch seinen Beistand die Erfüllbarkeit des Ideals gewährt. Wie die Vorlesungen und die Religionsschrift belegen, gehören das Ideal der Heiligkeit und der Beistandsgedanke zu den ältesten und kontinuierlich bedachten Grundannahmen in Kants ethischem Nachdenken. Sie weisen auf ei- <?page no="343"?> 5.1 Zu den Vorlesungen und zur Religionsschrift 343 nige bemerkenswerte Charakteristika der kantischen Ethik hin, die unter dem Eindruck der GMS und der KpV leicht übersehen werden können. Kants Ethik umfasst demnach auch ein insofern perfektionistisches Element, als sie eine objektive Vorstellung eines zu realisierenden ‚guten Lebens‘ beinhaltet. Dieses Element steht der perfice te -Forderung der vorhergehenden Moralphilosophie, wie sie beispielsweise bei Baumgarten formuliert ist, nahe. Bei Kant bezieht sich diese Perfektionierungsforderung jedoch allein auf die Realisation der Heiligkeit, d. h. die Erfüllung des moralgesetzlichen Anspruches an das Handeln und die Gesinnung. Sie zielt nicht auf eine Meliorisierung des bereits erreichten Vervollkommnungsgrades, sondern weist darauf hin, dass der Mensch seiner Verpflichtung zur Moralgesetzbefolgung nur in einem andauernden Streben, in einem Kampf gegen nicht-moralgesetzliche Handlungsregeln nachkommen kann. Aus Kants Sicht ist es wahrscheinlich, dass man diesen Kampf nicht immer erfolgreich besteht. Es gehört daher zum moralphilosophisch aufgeklärten und aufrichtigen Selbstbewusstsein, das je eigene moralische Versagen und den daraus resultierenden Bedarf an Unterstützung durch ein höheres Wesen anzuerkennen. Kants Ethik schließt an dieser Stelle folglich auch ein spezifisches religionsphilosophisches Element ein. Die Identifikation dieser Elemente haben Konsequenzen für das Verhältnis zwischen der Religionsschrift und den kritischen Schriften ab den 1780er Jahren. Der Vergleich der RGV mit den Vorlesungsmitschriften hat gezeigt, dass Kant in seiner späten Schrift an die Inhalte seiner Vorlesungen, die er in manchen Teilen bereits in den frühen 1760er Jahren und vor allem in den 1770er Jahren gehalten hat, anknüpft. Als ausgearbeitete Publikation weist die Religionsschrift zwar eine sehr eigenständige Komposition auf. Sie umfasst auch Themen, die von der Vorlesungstätigkeit her nicht erklärbar sind (wie bspw. die Verweise auf andere Veröffentlichungen, die erkenntnistheoretische Terminologie und die Anspielungen auf die Rechtfertigungslehre), und lässt den Einfluss anderer Quellen als der philosophischen Religionslehre Baumgartens erkennen. Das sollte jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass sowohl in den Vorlesungen als auch in der Religionsschrift die dargestellte systematische Problemstellung präsent ist. Auch die Hochschätzung des Christentums, insbesondere des Neuen Testaments, beruht sowohl in Vorlesungen als auch in der Religionsschrift darauf, dass nach Kants Dafürhalten in der christlichen Religion das Ideal der Heiligkeit und die damit zusammenhängende Idee eines göttlichen Beistandes überliefert werden. Wichtige Indizien sind darüber hinaus die zahlreichen begrifflichen Kontinuitäten sowie die damit verbundenen Argumente, die die jeweiligen Begriffe inhaltlich bestimmen. Hiervon sollen die wichtigsten noch einmal aufgerufen werden: der Begriff des ‚Lasters‘ mi