Péter Nádas’ Parallelgeschichten
Lektüren, Essays und ein Gespräch
1214
2020
978-3-7720-5682-6
978-3-7720-8682-3
A. Francke Verlag
Wolfgang Müller-Funk
Gábor Schein
Der Monumentalroman von Péter Nádas, "Parallelgeschichten", ist eine der großartigsten Zumutungen der neuesten europäischen Literatur. Er ist 2005 auf Ungarisch erschienen und wurde seitdem in viele Sprachen übersetzt. Péter Nádas sucht keine übergeordneten Prinzipien für die textliche Gestaltung der geschichtlichen, räumlichen und psychologischen Komplexität der Welt. Im Hinblick auf die ästhetische Ideologie der Erzählung erweist sich diese Komplexität als schwer durchschaubar. Im vorliegenden Band werden die Beiträge eines Symposiums veröffentlicht. Im Januar 2018 kamen in Wien Literatur- und Kulturwissenschaftler, Historiker sowie Theoretiker der Psychologie aus Österreich, Ungarn und Deutschland zu Wort, um die verschiedene Perspektiven von Nádas' Werk zu erläutern. Im Band ist auch ein Gespräch mit Péter Nádas zu seinem Roman zu lesen.
<?page no="0"?> Lektüren, Essays und ein Gespräch K U LT U R - H E R R S C H A F T - D I F F E R E N Z 26 Wolfgang Müller-Funk / Gábor Schein (Hrsg.) Péter Nádas’ Parallelgeschichten <?page no="1"?> Péter Nádas’ Parallelgeschichten <?page no="2"?> KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ Herausgegeben von Milka Car, Moritz Csáky, Endre Hárs, Wolfgang Müller-Funk, Clemens Ruthner, Klaus R. Scherpe und Andrea Seidler Band 26 • 2020 Kultur - Herrschaft - Differenz ist eine peer-reviewed Reihe (double-blind). Kultur - Herrschaft - Differenz is a double-blind peer-reviewed series. <?page no="3"?> Wolfgang Müller-Funk / Gábor Schein (Hrsg.) Péter Nádas’ Parallelgeschichten Lektüren, Essays und ein Gespräch <?page no="4"?> Mit der Unterstützung von: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung Aktion Österreich-Ungarn OeAD-GmbH Agentur für internationale Mobilität und Kooperation in Bildung, Wissenschaft und Forschung © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1862-2518 ISBN 978-3-7720-8682-3 (Print) ISBN 978-3-7720-5682-6 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0124-6 (ePub) Umschlagabbildung: Péter Nádas, © Gáspár Stekovics Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 7 11 21 33 43 55 67 75 99 107 119 Inhalt Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Károly Kókai Péter Nádas’ Parallelgeschichten. Der historische Hintergrund . . . . . . . . . . . Gábor Schein Ein gescheitertes Schiff ? . Geschichtliche Kontexte der bürgerlichen Kultur in den Parallelgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Huber Die Frage, wer spricht. Modernes Geschichtsdenken im Licht der Parallelgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mária Bartal Revealing and Subversive Laughter in Péter Nádas’s Parallel Stories . . . . . Orsolya Rákai Gneis. Ein Experiment zum korporalen Lesen des Daseins ohne narrative und axiomatische Kratone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . László F. Földényi Im Schnittpunkt der Horizonte. Ein Essay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Müller-Funk Multiperspektivität. Zur narrativen Konstruktion und Schreibweise in Péter Nádas’ Parallelgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tibor Gintli Das Verhältnis zwischen Stimmen und der narrativen Struktur im Roman Parallelgeschichten von Péter Nádas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursula Knoll Damengeplauder am anderen Ufer. Die Parallelgeschichten und ihr verstörendes Supplement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zsolt Bagi Nádas and Realism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 129 157 Alfred Springer Sexualität und Körperlichkeit in Nádas’ Parallelgeschichten. Ein Essay . . . . Péter Nádas im Gespräch mit Wolfgang Müller-Funk und Gábor Schein (Wien, 22. Jänner 2018) … also mit ethischen Maßstäben komme ich nicht sehr weit. Ich muss die einzelnen Personen verstehen … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Vorwort der Herausgeber Zwischen Literatur und Reflexion Der vorliegende Band geht auf eine Tagung des Literarischen Quartiers - Alte Schmiede im Jahr 2018 zurück. Zu Wort kommen Experten aus Österreich, Ungarn und Deutschland, Literatur- und Kulturwissenschaftler, Historiker, Theoretiker der Architektur und der Psychologie. Die verschiedenen Perspek‐ tiven sind dabei mit Nádas’ Text und miteinander verwoben. Im Mittelpunkt steht weniger der philologische Aspekt, sondern vielmehr der Gedanke des Dialogs mit dem Werk. Die Bandbreite der Beiträge umfasst Themen wie Archi‐ tektur, Geschichte, Sexualität und Geschlecht, Bürgertum und Bürgerlichkeit, der Ort des Romans in der europäischen Literatur und Kultur, aber auch Fragen der narrativen Konstruktionsweise von Nádas’ Roman. Es handelt sich um insgesamt elf Lektüren, die jeweils von einem ganz bestimmten Themenschwer‐ punkt ihren Ausgang nehmen und diesen dann vertiefen. Was sie verbindet, ist der Verzicht auf eine lückenlose philologische Inbesitznahme oder eine geschlossene Interpretation. Abgeschlossen wird der Band mit einem Beitrag, in dem der Autor nach einer Lesung aus dem Roman, in dessen Mittelpunkt der deutsche Handlungsstrang stand, zu Wort kommt, als eine Stimme, die zum ‚eigenen Roman‘ spricht. Das Gespräch zwischen den beiden Herausgebern und dem Autor fand im Rahmen des Symposions statt und wird hier in seiner gesamten Länge dokumentiert. Das Symposium und der Band beschränken sich mit Bedacht auf ein einziges Werk, auch wenn andere Werke des Autors und Texte anderer Schriftsteller von Dante bis Flaubert Erwähnung finden. Es ging den Organisatoren des Projekts darum, ein Werk, vermutlich das Opus ultimum Nádas’, literarisch und theoretisch zu erschließen Der Monumentalroman von Péter Nádas, Parallelgeschichten (Párhuzamos történetek), ist eine der großartigsten Zumutungen der neuesten europäischen Literatur. 2005 auf Ungarisch erschienen, wurde er seitdem in viele europäische Sprachen übersetzt. Seit 2012 liegt das Werk auch in deutscher Übersetzung vor. Die Rezensenten haben einhellig hervorgehoben, dass dieses Werk die tradi‐ tionellen Gattungserwartungen unterläuft und zugleich übertrifft. Der Roman reflektiert auf überaus paradoxe Weise die Unmöglichkeit der Wiederherstel‐ lung einer zerbrochenen Totalität und er verzichtet dabei auf die Idee einer <?page no="8"?> kausalen Gesamtschau. Indem er die Brüchigkeit des geschichtlichen Daseins selbst zum Thema und zum Ausgangspunkt der narrativen Komposition macht, treten die äußerst komplexen poetischen, räumlichen, sozialen, psychologi‐ schen, geschichtlichen usw. Erzählbezüge zutage. Die mikro-realistische Dichte ist keine Substitution, kein Ersatz für die verlorene Ganzheitlichkeit. Nádas gibt uns eine Lektion, die Welt nicht durch vertikale Unterordnungen in den Griff bekommen zu wollen, die leicht theoretisierbar sind, sondern die unendliche Horizontalität der Sinneswahrnehmungen immer wieder zu bewundern und ohne Urteilsbildung zu reflektieren. „Nicht die Sexualität ist bei Nádas mystisch, auch nicht die Erotik, sondern die Sinneswahrnehmung“, hat Viktória Radics, eine der wichtigsten ungarischen Kritikerinnen des Romans, bemerkt. Die Sinneswahrnehmungen stoßen bei Nádas ans Unendliche. Die Wahrnehmung, so hatte Nádas in seiner faszinierenden Geschichte „Der eigene Tod“ schon geschrieben, geht über die Zeitlichkeit hinaus und ist nicht an die Räumlichkeit gebunden. Es geht Nádas um eine Schicksalsverstrickung jenseits traditioneller Meta‐ physik oder historischer Determination, um eine Kausalität „außerhalb der sichtbaren Kausalität“. Und diesen „verborgenen und rätselhaften Zusammen‐ hang“, der ihm so wichtig sei, habe er, so der Autor, in einer „geschlossenen Erzählform“ mit Anfang und Ende und säuberlich durchgehaltener Perspektive nicht angemessen ausdrücken können. Er musste nicht nur Angst, Scham, falsche Rücksicht auf Konventionen, notwendige Lügen und eingeschliffene Heucheleien hinter sich lassen. Es war vor allem unverzichtbar und notwendig, die wahrheitshinderlichen formalen Zwänge der Romangattung beiseite zu räumen und, lange nach den entsprechenden Versuchen Prousts und Joyces sowie - mit Blick auf den österreichischen Kontext - Brochs und Musils, den Roman, eine literarische Gattung, die die europäische Identität zutiefst mitgeprägt hat, regelrecht nochmals neu erfinden. Péter Nádas sucht nicht nach übergeordneten Prinzipen für die textliche Ge‐ staltung der geschichtlichen, räumlichen und psychologischen Komplexität der Welt, die in faszinierenden Partialgeschichten wahrnehmbar wird. Im Hinblick auf die ästhetische Ideologie der Erzählung erweist sich diese Komplexität als undurchschaubar, und das erschwert natürlich auch die „Arbeit“ des Lesers. Die langen, oft orgiastischen Umschreibungen der wahrnehmbaren Erschei‐ nungen verleihen allen Objekten, egal, ob es sich um psychologische Prozesse, Eindrücke, räumliche Gestaltungen oder um die Erzählstruktur des Romans handelt, einen lebendigen, körperlichen Charakter, der sich nie fix begreifen lässt. Das vermeintliche Übergewicht, das diesen lokalen Umschreibungen zuzukommen scheint, relativiert sich im Laufe der Erzählung immer mehr. 8 Vorwort der Herausgeber <?page no="9"?> Die Akteure erfahren, was sie in Aktionen erlebt haben, erst im Nachhinein. Dieses Meisterwerk korporaler Narrativität macht Interpretationen nicht nur notwendig, sondern erschließt sich auch erst durch die Reflexion des Lesers. Der Roman kann sich in dieser Hinsicht als modellhaft erweisen und diese Mo‐ dellhaftigkeit beinhaltet ein großes Reservoir an Optionen für neue Sichtweisen der europäischen Geschichte. Diese Optionen gilt es durch Interpretationen, die dialogisch an den Text anschließen, herauszuarbeiten. Die Geheimgänge, die die Parallelgeschichten verbinden, durchlaufen alle ein klar erkennbares Zentrum: die totalitäre Erfahrung des 20. Jahrhunderts als ein Kernstück eines kollektiven, unabschließbaren Erinnerungsprozesses im europäischen Kontext. Alle Figuren des Romans stammen aus Familien, die als Opfer oder als Täter in den Nationalsozialismus oder in den Stalinismus verstrickt waren. Wir danken allen, die uns bei diesem Vorhaben ideell und finanziell unter‐ stützt haben, Dr. Kurt Neumann von der Alten Schmiede, der Abteilung für Finno-Ugristik an der Universität Wien, der Kulturabteilung der Stadt Wien, Herrn Bernhard Heiller für das Lektorat und der Aktion Österreich-Ungarn, die den Druck des Werkes finanziell unterstützt hat. Wolfgang Müller-Funk Gábor Schein Budapest/ Wien im November 2020 9 Vorwort der Herausgeber <?page no="11"?> 1 Im Ungarischen gibt es zwei Wörter für die zwei Bedeutungen des deutschen Wortes „Geschichte“. „Történet“ steht für die Geschichte als Erzählung und „történelem“ für die Geschichte als Gegenstand der Geschichtswissenschaften. Péter Nádas’ Parallelgeschichten Der historische Hintergrund Károly Kókai Die Struktur von Péter Nádas’ Parallelgeschichten scheint klar zu sein. Der Titel gibt diese Struktur ja vor. In den Parallelgeschichten laufen aber nicht nur einzelne Erzähllinien nebeneinander, einmal der einen und das andere Mal der anderen Raum gebend, sondern es läuft eine Erzähllinie sozusagen im Hintergrund ständig mit. Die Geschichte Mitteleuropas im 20. Jahrhundert bildet insofern eine von diesen parallel gestellten Geschichten, weil Nádas mit „der Geschichte“ auf eine spezifische Weise umgeht. 1 Die Geschichte bekommt eine besondere Bedeutung. Schlüsselereignisse der Erzählung, bestimmende Entwicklungen der Protagonisten lassen sich nur verstehen, wenn der Leser die geschichtliche Dimension mitberücksichtigt. Zweitens zeichnet sich der spezifische Umgang von Nádas mit der Geschichte dadurch aus, dass er - er schreibt ja kein wissenschaftliches Werk - bestimmte geschichtliche Zusam‐ menhänge überdeutlich macht und andere ausblendet. So erscheint es immer dringlicher, den geschichtlichen Hintergrund von Parallelgeschichten etwas genauer anzuschauen. Erschwert wird dieser Zugang dadurch, dass der Roman auf langen Strecken im Geschichtlichen stehenzubleiben scheint. Es werden aus dem Fluss der Geschichte gewisse Momente herausgegriffen und zwar auch solche, die in der Ereignisgeschichte - die aus der politischen Geschichte sogenannte zentrale Ereignisse herausgreift und sie als isolierte Schlüsselstellen aneinanderreiht - keinen besonderen Stellenwert haben. So 1961 und 1938. Das dritte Jahr, das im Zeitregime des Romans großen Raum einnimmt, ist 1989, auch Wendezeit genannt. Bezogen auf den Umgang mit Geschichte ist der nächste interessante <?page no="12"?> Punkt, wie diese Geschichtsmomente in der Romanstruktur untergebracht werden. Eröffnet wird die Erzählung mit 1989. Was wir dann lesen, ist gleichsam eine Vorgeschichte der Anfangsszene in einem Berliner Park der Wendezeit. Wichtig ist dabei auch festzuhalten, dass Geschichte zwar die ständig anwesende Parallelgeschichte ist, das Thema, der zentrale Aspekt des Romans aber nicht die Geschichte selbst ist, sondern der Versuch, die Identität des - wieder in mehreren parallelen Lebensläufen multiperspektivisch gebrochenen - ge‐ schichtlichen Individuums fassbar zu machen. Worum geht es in den Parallelgeschichten? Die These dieses Aufsatzes ist: Es geht um den Beweis, dass man unendlich nachdenken, sich mit den Details des Körpers, mit den Geschichten anderer, so insbesondere der eigenen Vorfahren beschäftigen kann, dies alles aber über die Frage, ob man bereit ist, Verantwor‐ tung zu übernehmen, nicht hinweghilft. Eine Verantwortung natürlich nicht für Taten, die man nicht selbst begangen hat, aber eine Verantwortung für die Folgen von Geschichten, die die Gegenwart, unsere Identität prägen. Denn wir stehen vor der Wahl, unsere Identität und unsere Gegenwart in der Entropie von Kausalketten aufzulösen oder aber die Worte zu finden, die die Logik des Schreckens verständlich machen. Péter Nádas’ 2005 publizierter Monumentalroman Parallelgeschichten ist nicht nur in der Hinsicht monumental, dass die ungarische Version 1500 Seiten lang ist, sondern in seinem Anspruch, nicht nur umfassend, sondern auch erschöpfend zu sein. Bestimmte Themen oder Themenkomplexe wie Körperlichkeit oder Raum‐ ordnungen werden im Buch so oft wiederholt und derart ausführlich besprochen, dass der Leser den Eindruck gewinnt, dass sie den Autor über die Grenzen hinaus bis zum Exzess interessiert haben müssen. Umfassend und bis zur Besessenheit detailliert ist das Werk auch in der Darstellung von ausgewählten, historisch genau verortbaren Geschehnissen, so etwa von Einzelheiten der Vorbereitungen der Deportation der jüdischen Bevölkerung Ungarns, der Vorbereitungen und der Vollziehung von sogenannten rassenhygienischen Maßnahmen während des Nationalsozialismus in Deutschland oder des Aufstands im Oktober und November 1956 in Budapest betreffend. Nádas reiht dabei Episoden aneinander, in denen sich die Geschichte Zentraleuropas im 20. Jahrhundert verdichtet. Diese Verdichtungen - in flüchtigen Begegnungen wie einem Geschlechtsakt, einer Taxifahrt, einem Telefonanruf - werden dann wieder jeweils in ihre einzelnen Momente zerlegt und diese Momente aus den Perspektiven der einzelnen handelnden oder das Handeln anderer erleidenden Akteure dargestellt. Was auf diese Weise entsteht, sind die parallel gestellten Schicksale, die den Roman ausmachen. Aus einer bestimmten Perspektive betrachtet, ist der Roman ein rundes, geschlossenes Ganzes. Alle Parallelgeschichten werden zu Ende erzählt, alle 12 Károly Kókai <?page no="13"?> Fäden werden verwoben. Indem nämlich die Geschichten sich wiederholen (etwa: als Kind politisch exponierter Eltern in Internate zu kommen) und die Figuren ähnliche Schicksale erleben. So schließt sich die Geschichte, indem wir erfahren, wer der Riese von der Margareteninsel war. Oder, indem wir erfahren, wer der Gefängniswärter unter Horthy, Rákosi und Kádár war, der, wenn es sein musste, zuschlug. Oder, indem wir sehen, wie Carl Maria Döhring und Kristóf Demén die gleiche Laufbahn durchlaufen; indem wir László Bellardi als Kind, als Schiffskapitän und als Taxifahrer erleben; indem wir die kartenspielenden Damen Dr. Irma Szemző, geborene Arnót, Margit (Mádi) Huber, Izabella (Bella) Dobrovan und Mária Szapáry sowie die im Rollstuhl sitzende Elisa Koháry, geschiedene Bellardi, als 20-jährige in Paris und Wien sehen und dann in den späten 30ern, 1944-45 und wieder 1957 und zuletzt 1961, als sie sterben. Das sind ja komplette Leben. Das Buch fängt mit einem Toten im Park an (der wenige Minuten davor noch lebte) und endet mit etwas Erschreckendem in einem Wohnwagen. Wir kommen also von Schrecken zu Schrecken. Wir bewegen uns im Kreis. Wir lesen dieselbe Geschichte immer wieder in Fortsetzungen und Variationen. Dabei bietet das Buch zahlreiche mögliche Lesarten an. Eine davon besteht darin, den Titel Parallelgeschichten nicht allzu wörtlich zu nehmen. So gesehen, handelt das Buch nicht von mehreren Geschichten, sondern nur von einer. Der Autor führt den Leser in diese Geschichte hinein, indem er eine Vielzahl von Episoden, Situationen, Figuren aufreiht, die, wie der Titel andeutet, parallel gesetzt werden und in wenigen Grundsituationen und in wenigen Figuren verschmelzen: im Kind politisch exponierter Eltern, inmitten von politisch extremen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts; in der Vatergestalt - sei es „der Riese“ von der Margareteninsel, sei es Gyula Bartler senior, der seinen Sohn prügelt und einen geistig Behinderten erschlägt; seien es Hermann und Gerhard Döhring in der Ortschaft Pfeilen; sei es Othmar Schuer beim Familienessen mit Gästen oder sei es der im Roman nie auftretende István Lehr. Die dritte Grundfigur ist die Frau bzw. sind die Frauen. Diese sind auffal‐ lend undifferenziert dargestellt. Wir erfahren aus der Geschichte Gyöngyvér Mózes’ wesentlich weniger an Bruchstücken als aus der von Ágost Lippay. Irma Szemző, Imola Auenberg oder Erna Demén erscheinen trotz ihrer zig Seiten umfassenden Beschreibung eindimensional. Sie scheinen bloß um die Männer zu kreisen. Imola Auenberg kann beispielsweise zwischen Mihály Horthy, Othmar Schuer, Albert Speer und Arno Breker nicht unterscheiden. Während wir die Männer in der Figur des Vater-Sohnes verstehen, verstehen wir die Frauen trotz seitenlanger und auch aus Frauenperspektive geschilderter Geschlechtsakte nie. Die eine Geschichte, die hier erzählt wird, handelt also 13 Péter Nádas’ Parallelgeschichten <?page no="14"?> von der Determiniertheit von Kindern systemtragender Verbrecher, und wie sich die Geschichte im Generationsrhythmus, ganz schematisch und zugleich von jeweils verschiedenen akzidentiellen Ereignissen mitgeformt, wiederholt. Deshalb ist im Roman jeder homo- oder zumindest bisexuell, jeder könnte mit jedem Sex haben, weil es eben nur zwei Gestalten sind: Vater/ Sohn einerseits und Mutter/ Schwester/ Liebhaberin andererseits. Diese Figuren nehmen im Lauf der Geschichte verschiedene Persönlichkeiten an. Wenn die im Roman erzählten Geschichten nicht parallel, sondern oft wun‐ dersamerweise miteinander vernetzt sind, was für ein Bild der Geschichte entsteht für den Leser? Was erfahren wir über die Dynamik, die Erfahrbarkeit der Geschichte? Was wir erfahren, sind extrem intensiv und extensiv darge‐ stellte Kreuzungsmomente. Dass sich also Menschen an bestimmten zeitlich und örtlich genau angegebenen Punkten begegnen. Diese aneinandergereihten Konstellationen machen den Roman aus. Ein weiteres romankonstituierendes Verfahren ist das In-den-Mittelpunkt- Stellen des Körpers. Nádas beschäftigt seinen Leser mit Geruch und Ausschei‐ dung und Oberfläche und Pigment und Haar der Romanfiguren. Das erweckt den Anschein, es wäre das Verdrängte jetzt an die Oberfläche geholt worden. In Wirklichkeit war der Körper aber in der westlichen Zivilisation, um die es Nádas geht, nie verschwunden. Man nennt es Kultur, wie man mit ihm, mit seinen verschiedenen Funktionen, Formen und Darstellungen umgeht. Es gibt dazu zahllose Kulturtechniken von der Hygiene über die Psychoanalyse und Bekleidungsindustrie bis zur Medizin. Und auch natürlich die Künste wie die Bildhauerei oder die Literatur. Der historische Hintergrund von all dem ist das 20. Jahrhundert, das hier auch natürlich nur nach gewissen Prinzipien selektiert erscheinen kann. So ist es eine interessante Frage, auf welche Perioden Nádas sich konzentriert: Was berücksichtigt er? Wo fängt seine Geschichte an und wo endet sie? Eine Kontinuität, die die Geschichte der handelnden Figuren betrifft, ist ab dem Ende des Ersten Weltkriegs gegeben, ab Othmar Schuers Jugend, als dieser sich an einer antikommunistischen Racheaktion beteiligt. Das späteste Ereignis, das insofern hervorgehoben wird, als der Roman mit diesem anfängt, ereignet sich im Jahr 1989, um die Zeit der sogenannten Wende. Nádas konterkariert natürlich diese einfache Interpretation - ein gestalterisches Mittel des Autors ist ja das Spiel mit Lesererwartungen - und fügt Ereignisse ein, die diesen Rahmen sprengen. Etwa die Geschichte des Hauses der Familie Demén in Budapest, die sich irgendwann im späten 19. Jahrhundert abgespielt haben dürfte. Ein zweites Ereignis liegt Jahrhunderte zurück, passt aber logisch in die Geschichte, da es die antisemitische Tradition in Deutschland aufzeigt, nämlich die Geschichte von 14 Károly Kókai <?page no="15"?> 2 Laut Eric Hobsbawm umfasst Das Kurze 20. Jahrhundert die Periode zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Ende des Kalten Krieges. Das suggeriert nicht nur eine Geschichtsdynamik, sondern auch einen ursächlichen Zusammenhang. Die Entstehung „Rabbi Ammon aus Cleve“. Die Geschichte fängt also „eigentlich“ im Mittelalter an. Und es gibt auch einen über 1989 hinaus liegenden weiteren Zeitpunkt, der als „eigentliches“ Ende angegeben werden kann, nämlich den Zeitpunkt des Abschlusses der Arbeit, den Zeitpunkt der Veröffentlichung, weil der Autor ja gar nicht anders kann, als zu berücksichtigen, was während des Schreibens um ihn stattfindet. Welche Perioden der Text auch immer behandelt, untilgbar bleibt die Perspektive der Periode, in der der Autor ihn verfasst, also die zwanzig Jahre von 1985 bis 2005. Zumindest ebenso interessant wie das, was aus der Geschichte des 20. Jahr‐ hunderts im Roman sichtbar gemacht wird, ist das, was unsichtbar bleibt. Wenn Karakas im Lukács-Bad mit András Rott den Einsatz von Ágost Lippay bespricht, dann muss Karakas ein Staatssicherheitsdienst-Offizier sein, da niemand außer Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes die Identität anderer Offiziere kennt. Doch Karakas, Rott und Lippay gehörten wohl nicht nur dem Staatssicherheits‐ dienst an, sondern waren auch Parteimitglieder. So stellt sich die Frage: Warum fällt im Buch kein Wort über die kommunistische Partei Ungarns? Auf den historischen Hintergrund bezogen lautet die Frage daher: Was von diesem Hintergrund erscheint im Roman? Alles beginnt mit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Othmar Schuer und István Lehr kommen von dort. Der eine ist Rassenbiologe, der andere offener und dann geheimer Nationalist. Ihre Kinder wachsen in den späten 1930ern, während der 40er- und beginnenden 50er-Jahre auf, also während des Nationalsozialismus und des Stalinismus von 1933 bis 1953. Das verbindende Zentrum wäre so gesehen die Person Erna Demén, die mit István Lehr verheiratet ist und deren Bruder Miklós Demén stalinistischer Politiker war. Sie müsste also am direktesten mit beiden politischen Systemen in Verbindung stehen, wäre sie nicht als Frau den Männern bloß beigestellt. Eine zweite verbin‐ dende Figur wäre János Kovach/ Wolkenstein, Sohn einer nationalsozialistischen Wissenschaftlerin und eines ungarischen Kommunisten, doch auch er ist keine Hauptfigur. Die Hauptfigur ist Kristóf Demén, zu dessen vielen Gesichtern etwa Carl Maria Döhring gehört, bzw. jene Gesichter, die wir durch Schilderung von Figuren wie Carl Maria Döhring verstehen lernen. Was bedeutet es nun, dass das Geschehen um Othmar Schuer im Jahr 1919 das früheste Ereignis in diesem historischen Panorama und jenes um Carl Maria Döhring im Jahr 1989 das späteste ist und beide in Deutschland stattfinden? Offenbar orientiert sich Nádas an der Periode des sogenannten Kurzen 20. Jahr‐ hunderts. 2 Und es sagt aus, dass die dargestellten ungarischen Geschichten 15 Péter Nádas’ Parallelgeschichten <?page no="16"?> von Nationalstaaten in Mitteleuropa hätte durch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts zur Wende geführt. Siehe Eric Hobsbawm, Age of Extremes. The short twentieth century 1914-1991, 1994. und Ereignisse nicht nur in vielfachen Gesichtspunkten mit den deutschen in Verbindungen stehen, sondern dass jene von diesen umrahmt werden. Das suggeriert, dass das, was in Ungarn passierte, eine Reaktion auf bzw. eine Reflexion der deutschen Geschichte sei. Das wäre aber angesichts des geschicht‐ lichen Hintergrundes - wenn unter diesem die große, durch die Wissenschaft erforschte Geschichte verstanden wird - eine deutliche Vereinfachung. Ungarn konnte im 20. Jahrhundert innerhalb gewisser, natürlich wiederholt sehr eng gesteckter Rahmen immer seine eigenständige Politik machen. Und vor allem: Jede geschichtlich, also etwa politisch, aber auch kulturgeschichtlich agierende Figur konnte und kann sich entscheiden. Als Erwachsener ist jeder verantwort‐ lich dafür, was er damit anfängt, was ihm als Kind widerfahren ist. Das gilt für jede im Roman auftretende Figur gleichermaßen. So muss man nicht in politisch exponierten Kreisen verkehren. Und wenn jemand die Entscheidung trifft, zur Zeit einer Gewaltherrschaft sich an der Gewalt zu beteiligen oder sich den Gewalttätigen anzubiedern, dann ist das eben seine Entscheidung. Nádas’ Roman Parallelgeschichten legt mit einer faszinierenden Intensität dar, wie Verbrechen und das Umfeld von Verbrechen funktionieren. Ob sich ein Wissenschaftler, Gefängniswärter, Künstler, Übersetzer etc. arrangiert, ob er mitläuft oder selbst lenkt, ob er aus Gründen der Gewinnsucht oder damit er zur Elite gehört, egal, wofür diese Elite steht, dabei sein will: Jeder wird Teil des Systems, das er mitgestaltet. Seinem Roman stellt Péter Nádas ein Parmenides-Zitat über den Kreislauf der Geschichte voran. Es scheint also auch im Roman selbst darum zu gehen, dass dieser Kreislauf nicht durchbrochen werden kann: Carl Maria Döhring verübt aufs Neue das Familienverbrechen, und Ágost Lippay wiederholt die Involvierung seines Vaters in die Strukturen der Staatsgewalt. Das gilt insbesondere auch für die Frauenfiguren, denen zwar ein mehr oder weniger schillerndes Leben, wie das einer Balletttänzerin oder der Ehepartnerin von berühmten Wissenschaftlern, aber keine eigenständige Entwicklung zugebilligt wird. Es scheint aber im Roman auch eine andere Möglichkeit auf. So beim Kommissar Kienast, der an hereditärer Epilepsie leidend im Kindesalter in eine NS-Anstalt gesperrt wurde, aber als Polizist am Ende des Romans gerade unterwegs ist, das Verbrechen Carl Maria Döhrings, mit dem das Buch begonnen hat, aufzuklären. Kienast ist ein Beispiel dafür, dass man aus dem Kreislauf ausbrechen kann. Ein anderer Ausweg ist die Emigration, wie jene des Architekten Alajos Madzar. Wobei Emigration nicht als Scheitern, 16 Károly Kókai <?page no="17"?> sondern eben als Chance angesehen werden muss - eine Interpretation, die in diktatorischen Regimen gern in Verruf gebracht wird. Die Frage, um welche Geschichte es bei Nádas geht, lässt sich auch ein‐ schränken, indem man danach fragt, wie die Gesellschaftsschicht heißt, deren Geschichte hier entfaltet wird. Welcher Gesellschaftsschicht gehören die Fi‐ guren des Romans an? Es ist ohne Zweifel das Bürgertum, und zwar in der Vielschichtigkeit dieser Kategorie. Es sind Staatsbeamte, die gewillt sind, die Vorgaben der jeweils etablierten Politik zu exekutieren, es sind Staatsbürger, also Citoyens, die die politischen Weichenstellungen nicht nur passiv über sich ergehen lassen, sondern vielfach aktiv mitgestalten, motiviert durch die Hoff‐ nung auf persönliche Karrieremöglichkeiten, und es sind auch Kulturbürger, die als Wissenschaftler „etwas voranbringen“ und ihre moralischen Wertvor‐ stellungen verwirklicht sehen wollen. Sie verstehen sich als die Mehrheit, die daher ein demokratisches Recht habe, ihre Mehrheitsposition als politisch Bestimmendes durchzusetzen. Sie fühlen sich als diejenigen, deren Zeit nun gekommen ist. Daher werden die relevanten Kämpfe innerhalb der Gruppe selbst geführt. Sie sind genauso Täter wie Opfer, wobei durchaus auch der Fall vorstellbar ist, dass die Tat durch erlittenes Leid gerechtfertigt wird. Nádas’ Figuren repräsentieren das ungarische Bürgertum. Es sind ein Architekt, eine Psychoanalytikerin, ein Politiker, ein Wissenschaftler, ein Holzhändler, ein Schiffskapitän, ein Übersetzer und ihre jeweiligen Familienangehörigen. Das Bürgertum der Zwischenkriegszeit war nach 1945 zunächst Objekt stalinisti‐ scher Säuberungen und ab Ende der 1950er-Jahre Mitträger des Systems. Die kommunistischen Funktionäre stammten aus ihm oder wuchsen in es hinein. Das prägte die Schicht, und diese Schicht ist es, die in Nádas’ Buch seziert wird. Die Träger der Geschichte sind bei Nádas die Bürger. Und zwar, indem das Bürgertum eine spezifische - ungarische, mitteleuropäische - Bedeutung bekommt. Und diese Schicht kann auch bei Nádas nicht scheitern, weil sie sich im Kreislauf perpetuiert. Falls wir den Vorschlag, uns auf die Geschichte des Kurzen 20. Jahrhunderts zu konzentrieren, lediglich als romangestalterisches Prinzip ansehen, das die Interpretation des Romans anregen und nicht einschränken soll, lässt sich die Frage stellen: Was sagen Nádas’ Parallelgeschichten über ihre Entstehungszeit 1985-2005 aus? Was waren also die letzten fünf Jahre des ungarischen Staatssozialismus und die ersten fünfzehn der Nachwendezeit bis zum Eintritt Ungarns in die Europäische Union? Es war eine Neuorientierung, oder zumindest ein Versuch der Neuorien‐ tierung. Merkwürdigerweise arbeitet sich die Nádas’sche Neuorientierung am Verhältnis Ungarn-Deutschland ab. Alles andere - insbesondere die Sowjetunion - kommt lediglich am Rande vor. Interessant ist auch, dass 1989 zwar als Ausgangs‐ 17 Péter Nádas’ Parallelgeschichten <?page no="18"?> punkt gesetzt wird, es aber doch um die Periode der 1930erbis 1960er-Jahre geht, wenn Momente aus dieser Periode extensiv entfaltet werden. Alles andere ist Vorgriff und Nachhall. Dieser Vorgriff und dieser Nachhall erklären oder erhellen aber nichts. Sie blitzen irgendwo auf, wohl auch im Gedankenlabyrinth der handelnden Figuren, gehen aber in der Flut der Körperwahrnehmungen und Umweltbeschreibungen gleich wieder unter. Sie stehen als Chiffre für die zeitliche Anfangslosigkeit und Unabgeschlossenheit. Dafür also, dass die Geschichte nicht nur parallel, sondern auch offen ist. Nádas erlebte 1985-2005 eine Umbruchzeit. Er hatte die Chance, das litera‐ risch zu fassen, wofür er in der Periode des Staatssozialismus - seine Schrift‐ stellerlaufbahn fing nämlich 1965 an - keine Möglichkeiten sah. Er hatte somit die Chance, seine unmittelbare Gegenwart literarisch zu beschreiben: die Wende von 1989 und was ihr vorausging. Doch anstatt dieser 30 Jahre ab 1960, wählte er die 30 Jahre zwischen 1930 und 1960. Dabei würden die ca. dreißig Jahre vor der Wende das erklären, was diese war, wohingegen die Periode 1930-1960 nicht „1989“, sondern die Zeit 1960-1990 erklärt. Offenbar geht es Nádas um die Generationen, und Generationen werden üblicherweise mit dreißig Jahren gemessen. All das sagt aber: Nádas gibt auf die Frage des Romans keine direkte, sondern eine indirekte Antwort. Zentrale gestalterische Momente von Nádas sind erstens das zeitliche Zu‐ rückgreifen und zweitens die Konzentration auf Ungarn-Deutschland. Beides fordert den Leser heraus, lenkt von direkten Zusammenhängen ab und hebt die Problematik ins Allgemeine. Das ist die eine Seite. Andererseits aber: Einmal wird die direkte Vergangenheit ausgeblendet und eine indirekte und vergangene eingeblendet, noch dazu, indem diese in einer Überfülle von körperlichen oder topographischen Details aufgelöst wird. Das andere Mal wird mit der Betonung Deutschlands das Eigene abgeschwächt. Die Frage von 1989 muss sich aber jedes Land und jedes Individuum selbst stellen. So lautete eine der Fragen im Jahr 2005: Was heißt es, dass Ungarn der EU beitritt? Welche Geschichte endet damit? Wann erfolgte die Trennung des Kontinents, die mit der EU-Osterweiterung beendet werden sollte? Wie wir wissen, war dieser Beitritt begleitet von einer Nichtbereitschaft, für das Eigene einzustehen, mit einer Beschwörung des Ahistorischen in der Maske des Historischen. Das Problem der ungarischen Literatur zwischen 1947 und 1989 und auch seither, falls man nämlich diese Periode aufarbeitet, ist ihr Umgang mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Musste es so sein, wie es war? Viel zu viele waren im Trüben fischende Trittbettfahrer des Staatssozialismus, sie dünkten sich kritisch, waren aber mit ihm verwachsen. War das nun Determination? Wenn man die kleinen Dinge, die einzelnen Determinationsreihen betrachtet: 18 Károly Kókai <?page no="19"?> unbedingt. Wenn man sich aber nicht den Geschichten, sondern der Geschichte stellt, dann: nein. Die Grundprinzipien des Systems waren jedem bekannt, dafür hat dieses ohne Mühen und Mittel zu scheuen gesorgt. Je stärker man im System als Schriftsteller im Kulturbetrieb integriert war, desto genauer wusste man, was vor sich geht. Die entscheidende Frage ist aber natürlich, wie man damit als Literat umgehen soll. Ausweichen kann man ihr nicht, ist sie doch die zentrale Frage. Beantworten kann man sie auch nicht, weil man dann auch vor 1989 die Antwort hätte geben können. Péter Nádas kommt das große Verdienst zu, diese Problematik, die eine der zentralen unserer Region und unserer Gegenwart ist, angenommen und daraus einen großen Roman gemacht zu haben. 19 Péter Nádas’ Parallelgeschichten <?page no="21"?> 1 http: / / konyves.blog.hu/ 2017/ 06/ 11/ nadas_peter_a_magyar_irodalomban_en_a_polgar i_valtozat_vagyok http: / / konyves.blog.hu/ 2017/ 06/ 11/ nadas_peter_a_magyar_iroda‐ lomban_en_a_polgari_valtozat_vagyok (Letzter Zugriff am 02.03.2020) 2 Gábor Gyáni, Az urbanizáció társadalomtörténete, Korunk, Kolozsvár, 2012, S. 11. Ein gescheitertes Schiff? Geschichtliche Kontexte der bürgerlichen Kultur in den Parallelgeschichten Gábor Schein Péter Nádas nannte sich in einem Interview, das er nach dem Erscheinen seines Memoirenromans Aufleuchtende Details gegeben hatte, die „bürgerliche Version der ungarischen Literatur“. 1 Bürger und Bürgertum sind vieldiskutierte Begriffe des ungarischen historischen Bewusstseins und des erinnerungspolitischen Diskurses. Das Wort „polgár“ stammt im Ungarischen vom deutschen „Bürger“ und seine Bedeutung blieb in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch sehr nah an der Bedeutung des deutschen Wortes. Der „Bürger“ ist keine Klassenkategorie. 2 Bürgerliche Berufsgruppen, wie Unternehmer, Intellektuelle und Beamte, lassen sich zwar klar unterscheiden, doch eine quantitative Be‐ schreibung des gesellschaftlichen Phänomens „Bürger“ wäre dennoch nicht ausreichend. Die Definierbarkeit des „Bürgers“ bezieht sich in den deutschen und in den ost-mitteleuropäischen Gesellschaften vor dem Zweiten Weltkrieg nicht auf die gesellschaftliche Aktivität der Einzelfiguren, die in den verschie‐ denen Bereichen der politischen und kulturellen Öffentlichkeit ihre Wirkung ausübt. Sie bezieht sich vielmehr - und vor allem - auf Wohlstand, auf Privateigentum, auf eine bestimmte materielle Qualität des städtischen Lebens, die dem äußeren Rahmen der Individuation und des familiären Gefüges ziemlich große Standhaftigkeit verleiht, und sie bezieht sich nicht zuletzt auch auf eine Mentalität, in der auch die Loyalität gegenüber dem Staat und der Nation ganz wichtige Merkmale sind. Quantitative Charakteristika gehen also in qualitativen Bestimmtheiten der Mentalität auf. <?page no="22"?> 3 ebenda, S. 5. 4 Hana Wirth-Nesher, City-Codes, Cambridge University Press, New York, 1996, S. 10. Seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts trat in der ungarischen Geschichts‐ wissenschaft die Erforschung der Vergangenheit von einzelnen Städten und ihres Bürgertums mehr und mehr in den Vordergrund. Die marxistische Theorie widmete der Geschichte der Städte früher nur wenig Aufmerksam‐ keit. Deshalb konnte sich eine soziologisch, später auch eine anthropologisch gefärbte Geschichtsschreibung zu diesen Themen relativ frei entwickeln. 3 Es sind in den letzten 40 Jahren viele Städtebibliografien und mikrogeschichtliche Erzählungen entstanden. Es fehlen aber sowohl grundsätzliche analytische Forschungen, die die Ergebnisse dieser Fallstudien kontextualisieren, als auch Beschreibungen bürgerlicher Institutionen und deren konkreter Handlungs‐ felder in den größeren und kleineren Städten. Wir wissen auch sehr wenig über bestimmte bürgerliche Großgruppen bzw. über deren unterschiedliche Strategien zur Bewältigung von Krisen und über die Ausdifferenzierung unter‐ schiedlicher Lebens-Milieus. Im Vergleich zu den deutschen und den tschechischen Regionen Mitteleuropas war das ungarische Bürgertum zahlenmäßig viel kleiner. Es lebte im Land eher innerhalb von inselhaft verstreuten, sehr engen städtischen Räumen und die Repräsentanz von deutschen und jüdischen Familien, die sich zwischen 1867 und 1930 weitgehend magyarisiert hatten, war in ihnen sehr groß. Nach 1948 vollzog sich im Sinne der Ziele der Kommunistischen Partei eine weitgehende Angleichung der Wohnsituationen und eine Egalisierung und Verwischung von Schichtenstruk‐ turen. Bürgerliche Ideale, die Sehnsucht nach Komfort, privater Häuslichkeit und Konsummöglichkeiten waren plötzlich Erscheinungsformen einer reaktionären Haltung. Haben wir aber eine längere Zeitphase vor Augen und verlängerte man die Problematik der bürgerlichen Ideale bis ins Heute, könnten wir nicht nur mit ihrer geschichtlichen Auflösung, sondern auch mit einer Standhaftigkeit und Kontinuität in der Dimension der familiären Modelle rechnen. Die großen Romane von Péter Nádas, sowohl das Buch der Erinnerungen und die Parallelgeschichten als auch Aufleuchtende Details, spielen in Großstädten - in Budapest und Berlin. Ihre Handlung und die Figuren sind nur im großstädti‐ schen Milieu denkbar. Wenn Autoren Aspekte von real existierenden Städten in ihre Romane implementieren, wenn sie die Karte mit Straßennamen und mit in der Wirklichkeit auffindbaren Gebäuden beleben, gehen sie davon aus, dass die gebauten Elemente der Stadt „ein ganzes Repertoire von Bedeutungen für den Leser innerhalb einer bestimmten Kultur“ signalisieren. 4 Eine Großstadt ist für ihre Bewohner und auch für ihre Besucher immer nur als eine gegenseitige, in 22 Gábor Schein <?page no="23"?> 5 Georg Simmel, Der Raum und die räumliche Ordnung der Gesellschaft, in: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Gesellschaft, Duncker & Humblot, Leipzig, 1908, S. 691. 6 Dieter Läpple, Essay über den Raum, in: Hartmut Häußermann (Hrsg.), Stadt und Raum. Soziologische Analysen, Centaurus, Pfaffenweiler, 1991, S. 198. 7 ebenda, S. 196. 8 ebenda. räumlichen Formen erfahrbare Wirkungsgeschichte von lokal- und welthisto‐ rischen Bedeutungen, als Interaktion von Texten und Gebäuden, von alltäglicher Raumbenutzung und Politik wahrnehmbar, die sich nie als ein Ganzes äußert. Die Komplexität der räumlichen Konfigurationen in den Parallelgeschichten ist also von den historischen Vergesellschaftungsformen des städtischen Raumes, die durch die Projektion sozialgeschichtlicher Prozesse entstehen, nicht unabhängig. Beim Konzept der Raumgebilde geht es Simmel, dessen Ansätze nicht nur für die Raumsoziologie, sondern auch bei der Untersuchung literari‐ scher Raumformen unentbehrlich sind, nicht um die „Wirksamkeit einer beson‐ deren Raumkonfiguration“, sondern umgekehrt, um die „Einwirkung, die die räumlichen Bestimmtheiten einer Gruppe durch ihre eigentlich soziologischen Gestaltungen und Energien erfahren“. 5 In das Konzept des gesellschaftlichen Raumes müssen die gesellschaftlichen „Kräfte“ einbezogen werden, die das materiell-physische Substrat dieses Raumes und damit auch die Raumstrukturen „formen“ und „gestalten“. 6 Dieses gesellschaftlich „produzierte“ Substrat besteht aus menschlichen, vielfach ortsgebundenen Artefakten, den materiellen Nut‐ zungsstrukturen der gesellschaftlich angeeigneten und kulturell überformten Natur sowie den Menschen in ihrer körperlich-räumlichen Leiblichkeit. 7 Die gesellschaftliche Praxis und die materielle Struktur der Raumbenutzung können aber nur unter dem Aspekt der klassenmäßigen, gender- und altersbezogenen Differenzierung und mit der Analyse der jeweiligen Machtverhältnisse be‐ trachtet werden, die vielfach durch lokale Traditionen, geschichtliche Erfah‐ rungen und Identitäten geprägt werden. Zwischen dem materiellen Substrat des gesellschaftlichen Raumes und der gesellschaftlichen Praxis seiner Produktion, Aneignung und Nutzung fungiert nach Dieter Läpple ein Regulationssystem, das „aus Eigentumsformen, Macht- und Kontrollbeziehungen, rechtlichen Re‐ gelungen, Planungsrichtlinien und Planungsfestlegungen, sozialen und ästheti‐ schen Normen besteht“. Im Wesentlichen ist dieses System für die Kodifizierung und Regelung des Umgangs mit den raumstrukturierenden Artefakten (z. B. Arbeitsstätten, Behausungen, Verkehrswege, Kommunikationssysteme etc.) verantwortlich. 8 Es muss aber auch berücksichtigt werden, dass die einzelnen 23 Ein gescheitertes Schiff? <?page no="24"?> 9 „Mit dem Bau der Häuser in der Pozsonyi-Straße war Ende der zwanziger Jahre begonnen worden, noch gemäß der hauptstädtischen Zonenplanung aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, die in diesem Stadtviertel Atriumhäuser vorsah. Gebaut wurde mit den neuesten und manchmal teuersten Materialien, unter anderem mit Bauxitbeton, der sich nicht nur als leicht zerstörbares, sondern auch äußerst kaltes Material erwies und in den Wohnungen ein unangenehmes Echo verursachte.“ Péter Nádas, Parallelgeschichten, Rowohlt, Hamburg, 2012, S. 359-360. Übersetzung von Christina Viragh. 10 Gábor Gyáni, Az utca és a szalon, Új Mandátum, Budapest, 1999, S. 114-115. Figuren immer schon zuvor strukturierte, oft auch mit einem symbolischen Wert ausgestattete Räume betreten. Die Budapester Szenen der Parallelgeschichten umfassen den Zeitraum zwi‐ schen 1938 und 1961. Die Hauptfiguren dieser Szenen leben in ganz bestimmten Teilen der Pester Innenstadt. Aufgrund der raumbezogenen Passagen könnte man leicht die Karte des Romans entwerfen, wie man es im Fall der Dubliner Texte von Joyce gemacht hat. Die Szenen spielen auf der Margareteninsel, in Neu-Leopoldstadt, in der benachbarten Theresienstadt und in der etwas ferner liegenden Aréna-Straße, wo ganz viele Villen stehen. Die beiden benachbarten Bezirke innerhalb der Ringstraße wurden erst in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aufgebaut. Charakteristische Bau‐ formen sind die das Baugrundstück von drei Seiten umgebenden vierstöckigen Mietshäuser mit Laubengang, in denen zur Mittelklasse und zu den reicheren Schichten der Gesellschaft gehörende Familien lebten. Die Neu-Leopoldstadt ist dabei ein typischer Wohnort des jüdischen Bürgertums. Diese Mietshäuser haben in ihrem Äußeren vieles von der Repräsentativität der prunkvollen Fassaden der früheren, in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts erbauten städtischen Mietspaläste beibehalten. Sie verliehen den inneren Bezirken der Stadt einen einheitlichen historistischen und eklektischen Stil. Die Qualität des Baumaterials wurde während der 20er- und 30er-Jahre schlechter 9 , aber die Lebensbedingungen auch in den mittelbürgerlichen Wohnungen verbesserten sich durch den Einbau von Badezimmer und Wasser-Toilette. 10 In beiden Bezirken lebten überwiegend Händler, Unternehmer und Intellektu‐ elle, unter ihnen viele assimilierte, mehr oder weniger wohlhabende jüdische Fa‐ milien. Die Beschäftigung einer Bediensteten gehörte zu den gesellschaftlichen Erwartungen an einen bürgerlichen Haushalt. Solche Dienstmädchen lebten in ganz kleinen Zimmern, hinter der Küche. Sie blieben räumlich abgesondert. Sie durften im Haus nur die Hintertreppe und einen kleineren Eingang benutzen, der zur Küche führte. Ihre billige Arbeit sicherte den bürgerlichen Familien ein langfristiges und steuerfreies Einkommen. 24 Gábor Schein <?page no="25"?> 11 Nádas, Parallelgeschichten, S. 60. 12 Siehe die Unterscheidung der Fassaden- und hinteren Bereiche von Anthony Giddens. Anthony Giddens, The Constitution of Society, Outline of the Theory of Structuration, Polity Press, Cambridge, 1984, S. 177. 13 „Das Entree war übrigens die einzige Räumlichkeit der Wohnung, die einiges von den veränderten Zeiten und der unangenehmen Enge der Verhältnisse verriet. Ursprünglich hatte es keine andere Funktion gehabt, als den Zugang zu den Nebenräumen zu gestatten, zu den beiden Schlafzimmern, zum Esszimmer und zur Küche, als eine Art Korridor, wenn auch um etliches geräumiger. Gemäß einer früheren Ordnung hatten hier die großen Wäscheschränke zu stehen, und hier wurde gebügelt. Seit einigen Jahren aber stand hier eine alte Kredenz ansehnlichen Ausmaßes und der dazu gehörige große Esstisch samt strengen Stühlen. […] Trotz Seidendraperien, trotz Milchglas ging das Fenster des Raums doch nur auf einen engen Lichthof, und wenn es auch immer geschlossen blieb, war die Luft hin und wieder von durchdringendem Kanalisationsgestank oder dem nicht weniger aufdringlichen Geruch fremder Küchen durchgezogen; ganz zu schweigen von den peinlichen Geräuschen aus fremden Aborten und Badezimmern.“ Nádas, Parallelgeschichten, S. 62. So sah etwa die Wohnung der Familie Lehr an der Grenze der Neu-Leopold‐ stadt und der Theresienstadt folgendermaßen aus: „Aus vier Zimmern der in der zweiten Stock gelegenen Wohnung sah man auf den bleifarben aufleuchtenden und sich wieder verdunkelnden Oktogonplatz hinaus, zwei weitere Zimmer sowie das nur aus der Küche zugängliche Dienstbotenzimmer gingen auf den zu jeder Jahreszeit dämmerigen Innenhof.“ 11 Obwohl diese Wohnungen viel zugunsten der äußeren Repräsentativität opferten, widmen die territorialisierten Beschreibungen von Péter Nádas den sogenannten „hinteren Regionen“ 12 besondere Aufmerksamkeit. Dieses Inter‐ esse entspricht seiner tiefen Überzeugung, dass das eigentliche Drama eines menschlichen Lebens viel mehr an dem verborgenen Umgang mit den Genita‐ lien und an den Gewohnheiten beim Geschlechtsverkehr ablesbar ist, als an der zur Schau gestellten Soziabilität. 13 Der Wohlstand der Pester Bürgerfamilien gab in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre immer mehr nach. Das Vermieten eines Zimmers an einen Unter‐ mieter wurde gängige Praxis. Das Zusammenleben der Generationen wurde in den 4-, 5- und 6-Zimmer-Wohnungen immer komplizierter. Die Regelung der Raumbenutzung, die Fremdheitserfahrungen mit der physischen Existenz, die Sicherung der eigenen Grenzen und die Irritationen der inneren Machtver‐ hältnisse übten eine grundlegende Wirkung auf die Prozesse der Individuation aus. C. E. Clark hat anhand von Grundrissen in New York gebauter Häuser gezeigt, dass die Familie, die früher als eine organische Einheit funktionierte, sich zwischen 1840 und 1870 zu einem Zusammenleben von isolierten Figuren wandelte, d. h. zu einer Gemeinschaft, die die Individuation ihrer Mitglieder 25 Ein gescheitertes Schiff? <?page no="26"?> 14 C. E. Clark, Domestic Architecture as an Index to Social History the Romanic Revival and the Cult of Democracy in America, 1840-1870, in: Journal of Interdisciplinary History, 1976, 1, S. 52. 15 Giddens, Constitution of Society , S. 177. 16 Nádas, Parallelgeschichten, S. 79. antrieb. 14 Die bürgerlichen Familien in Pest erlangten im Laufe der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eine ähnliche Gestalt. Der Roman von Péter Nádas reflektiert in zwei Figuren auf die Probleme der bürgerlichen Architektur in Budapest. Obwohl die beiden Architekten Samu Demén und Alajos Madzar in verschiedenen Zeiten, unter unterschiedlichen sozialgeschichtlichen Umständen lebten, war ihre Einstellung in gleicher Weise kritisch gegenüber Geschmack und Repräsentationsbedürfnis der Baunehmer. Samu Deméns massives und großzügig gebautes Haus an der Einmündung der Großen Ringstraße war mit seiner puritanischen Fassade weniger auffällig als alle anderen Mietshäuser in der Umgebung. Trotz seiner Unausgewogenheit und seinem Eigensinn, mit dem er doch nicht entscheiden konnte, „ob er kämpfen, abseits stehen oder sich im Gegenteil jeder gewöhnlichen, dummen Norm anpassen sollte“, trugen die Gebäude von Samu Demén, der mit allen Schwierigkeiten der ersten Generation der jüdischen Assimilation in einem letzten Endes hoffnungsvollen liberalen Zeitalter tätig war, keine Spur der Radikalität. Er entwickelte andere Ideen davon, wie man in der scheinbar bürgerlichen Umgebung der Stadt bauen sollte, als das damals üblich war. Er nahm die Relationen der inneren und äußeren Bedürfnisse der Bewohner anders wahr als die konkurrierenden Architekten. Die Bequemlichkeit und großzügige Ausgestaltung der hinteren Bereiche 15 und der von anderen Architekten für unwichtig gehaltenen Räume, etwa das Vor- und Badezimmer oder die Küche, lagen ihm am Herzen und nur daraus ergibt sich bei ihm die Proportion von Fas‐ sade und repräsentativen Räumen. 16 Seine architektonischen Ideen enthielten im Sinne von Nádas ein Angebot zur Korrektur der bürgerlichen Entwicklung in Budapest, die nicht imstande war, die Strukturen der Ständegesellschaft und deren Verfestigung im Rahmen des Nationalstaates zu durchbrechen. Sie gab sich mit der äußerlichen Nachahmung der städtischen Prachtbauten der Aris‐ tokratie und der Übernahme ihrer gesellschaftlichen Normen zufrieden. Die aus dem Gemeinadel stammende liberale Reformintelligenz, deren Anstrengungen die assimilierten, ungarisch-national eingestellten jüdischen und deutschen Stadtbewohner mit allen Mitteln unterstützten, erwies sich als unfähig, den Kern eines für die Modernisierung des Landes eintretenden und für die Emanzipation der armen und völlig machtlosen Schichten engagierten Bürgertums zu bilden. Im Sinne von István Bibó war das der Grund für die Enge und letztendlich für 26 Gábor Schein <?page no="27"?> 17 Nádas, Parallelgeschichten, S. 320. 18 „Alles, was er plante, wäre durchaus bequem, beschaulich, solid und heiter geworden, bloß war es mit dem Zeitgeist nicht vereinbar, und so konnte er es nicht ausführen; das meiste blieb auf dem Papier.“ Nádas, ebenda. 19 Éva Forgács, Bauhaus, Jelenkor, Pécs, S. 213. 20 János Bonta, Mies van der Rohe, Akadémiai Kiadó, Budapest, 1978, S. 13. das Versagen der bürgerlichen Entwicklung in Ungarn im 19. Jahrhundert. Es ist kein Zufall, dass Ágost Lippay-Lehr, der spätere Nachfahre des Architekten auch noch in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts mit der fixen Idee leben konnte, „dass in diesem Land ausschließlich Bedienstete und Gentry lebten, dazwischen niemand.“ 17 Mit dem unauffälligen Haus an der Ringstraße, in dessen zweitem Stock der Architekt selbst eine Wohnung hatte, zog Samu Demén keine weiteren Bauaufträge an Land. Seine Ideen erwiesen sich als unvereinbar mit dem Zeitgeist. 18 Der andere Architekt in den Parallelgeschichten ist Alajos Madzar, ein Schüler von Ludwig Mies van der Rohe, welcher im August 1930 die Leitung des Bauhauses in Dessau übernahm. Der von vielen Lehrlingen wie auch Kollegen mit ziemlicher Ablehnung empfangene neue Direktor wurde für einen Formalisten und Elitären gehalten, weil er schon damals angeblich keine billigen Volkshäuser plante, sondern eher Familienhäuser und Villen für reiche Kunden baute. 19 Die Lage war tatsächlich viel komplizierter. Mies van der Rohe, der 1926 ein eindrucksvolles Denkmal für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht errichtet hatte, das dann von den Nazis abgerissen wurde, hatte zwei Jahre später die Aufgabe übernommen, mit einem aus sehr teuren Materialien aufgebauten Objekt an der Internationalen Ausstellung in Barcelona das „Weimarer Deutsch‐ land“ zu repräsentieren. Die innere Struktur dieses Gebäudes in Barcelona hat Mies van der Rohe zur selben Zeit auch in Brünn für ein bürgerliches Haus, das sogenannte Tugendhat-Haus, angewandt, wo er von der Strukturierung der inneren Räume bis zu den letzten Details der Möbelstücke eine suggestive Harmonie und Integrität mit höchster Materialqualität entworfen hat. Walter Gropius meinte dazu ironisch, dass das Tugendhat-Haus in Wirklichkeit ein „Sonntagshaus“ sei. 20 Obwohl Mies van der Rohe seine Ideen später in Richtung einer umwelt‐ freundlichen Architektur (Gericke-Haus, 1930; Hubbe-Haus, 1935) bzw. einer industriellen Massenarchitektur (Illinois Institute of Technoogy, 1939-1958) weiterbildete, blieb Alajos Madzar, der jüngere Architekt der Parallelgeschichten, bei einer funktionellen Exklusivität. Es fehlte bei ihm an jeglichen emanzipato‐ rischen Ideen. Die innere Architektur, die den bürgerlichen Idealen von Madzar entspricht, muss davon ausgehen, dass diese funktionelle Exklusivität sogar 27 Ein gescheitertes Schiff? <?page no="28"?> 21 Nádas, Parallelgeschichten, S. 668. 22 „Madzar brauchte Frau Szemző nicht lange zu erläutern, was er meinte und was ihm verhasst war.“ Nádas, Parallelgeschichten, S. 669. 23 Nádas, Parallelgeschichten, S. 670. noch in der wohlhabendsten Gegend auf der Pester Seite eine Weltfremdheit vertritt, die während der Therapie sowohl die Patienten als auch die Therapeutin aus den Gefügen der sozialgeschichtlichen Umgebung heraushebt. Auf die Baupläne in der zierlichen Pozsonyi-Straße, in der Frau Szemző der Arbeit in ihrer analytischen Praxis nachgeht, üben die vernünftig-funktionalen Bau‐ haus-Gesichtspunkte ohnehin schon eine eher formelle Wirkung aus. Es wird im Roman vom Erzähler gründlich erklärt, dass auch für das Gebäude, in dem Frau Szemző in dem sechsten Stock ihre Wohnung hatte, gar nicht „die an sich be‐ scheidenen individuellen Bedürfnisse den Maßstab für die inneren Proporzionen […] geliefert hatten, […] sondern die Gewinnsucht anspruchsloser, kleinlicher Architekten und Ausstatter“. 21 Als reichte nicht allein schon diese Erklärung der Weltfremdheit von Madzars Bauplänen aus, kann man auf derselben Seite eine längere theoretische Passage über das sich „unter den schweren Ruinen seines Zusammenbruchs windende, selbsterfüllt feudale Ungarn“ und seine verantwortungslose, gescheiterte Aristokratie lesen. Alajos Madzar entdeckt in der Wohnung eine Menge von funktionalen Fehlern und sein Anliegen ist es, diese mit kleinen Kunstgriffen möglichst zu korrigieren. Seine bescheidene Auffassung seiner Arbeit stimmt mit den analytischen Idealen von Frau Szemző völlig überein. Ihre Gedanken werden im Roman durch den Wortschatz von Alajos Madzar wiedergegeben und damit ent‐ steht eine Achse nicht nur zwischen den beiden Geistesverwandten 22 , sondern auch zwischen der Architektur und der Psychoanalyse, die im erzählerischen Duktus maßgebliche Perspektiven zur Therapie der geschichtlich-psychischen Beschaffenheit der menschlichen Natur vertreten: Frau Szemző hingegen sah ihre Arbeit so, dass sie zwar die historischen Gegeben‐ heiten nicht verändern konnte, aber zuweilen ein Kunstgriff genügte, die inneren Funktionsvoraussetzungen zu ändern, und dass solche Veränderungen dann stark auf die Umgebung zurückwirkten, zumindest im Prinzip. 23 Im Hintergrund des architektonischen Selbstverständnisses von Madzar steckt aber auch ein anderes Problem, nämlich der unauflösbare Konflikt zwischen Technik und Handwerkertum, oder anders ausgedrückt, die historisch schwer‐ beladene Gegenseitigkeit von Psyche und Techne, die auf vielen Ebenen ein theoretisches und praktisches, zu schweren Entscheidungen führendes Kern‐ problem des Bauhauses war. Das Thema wird auch in der Essayistik von Péter 28 Gábor Schein <?page no="29"?> 24 Nádas, Parallelgeschichten, S. 669. 25 Nádas, Parallelgeschichten, S. 1289. 26 Gyula Kornis, Mi a középosztály? (1928), in: Tibior Huszár (Hrsg.), Értékszociológiai írások Magyarországon 1900-1945, Budapest, 1981, S. 95-103. Nádas oft diskutiert. Madzar besteht eindeutig auf dem Handwerklichen, der eigenen Verantwortung und letzten Endes auf der Psyche, die imstande sei, der Technik einen Rahmen vorzugeben: Die meisten Gebäude in der Neuleopoldstadt hatten etwas Improvisation an sich, wie ein Echo der Baracken des Ersten Weltkriegs. Es fehlte die elementare Freude des individuellen, einfühlsamen Handwerks. Als sagte in einer Symbolsprache fast jedes Gebäudeteil, ja, es ist Friede, hinter uns liegt der verlorene Krieg, aber das Gewerbe hat sich noch nicht erholt, seine Modernisierung ist unterblieben, und so wird eben minderwertige Ware produziert. 24 Die Einstellung der Analytikerin und des Architekten, die sogar kleine Kor‐ rekturen der historischen Voraussetzungen in Aussicht stellen, geht deutlich darüber hinaus, was Erna Lehr als die eigentliche Aufgabe bürgerlicher Bildung würdigt. Sie denkt an seinen Großvater, den Errichter des Hauses an der Einmündung der Großen Ringstraße und ein grausames Monster, und meint, die gutbürgerliche Erziehung bestünde darin, „alle Umstände und Situationen zu durchschauen, zu verstehen, zu akzeptieren und mit dem Wissen gewappnet dem Chaos zu widerstehen“ 25 . Gemäßigter therapeutischer Optimismus und der Geist der Stoa würden hier durch die beiden Frauenfiguren aufeinander prallen, wenn sie in einer Szene zusammengebracht werden könnten. Trotz des Unterschieds zwischen den beiden Auffassungen bedeutet „das Bürgerliche“ im Diskurs des Romans keinen sozialen Zustand und es ist auch nicht mit dem mittelständischen vornehmen Lebensstil und Lebensverständnis zu verwechseln. Das Lebensverständnis des vornehmen Mittelstandes zeichnete sich nach Gyula Kornis, einem der führenden ungarischen Soziologen vor dem zweiten Weltkrieg, durch einen bestimmten Grad der Bildung („man muss mindestens vier Klassen in der Mittelstufe absolvieren“) und die Kohärenz der traditionsbewussten, nationalistischen Weltanschauung aus, die das jüdische Element ebenso sehr ausschließt, wie sie auch dem deutschen Einfluss wider‐ steht. 26 Diese Auffassung wird im Roman von dem älteren Bellardi verkörpert, der sich in der gesellschaftlichen Komplexität mit Hilfe seiner auf die Ebene der körperlichen Triebe verschobenen Vorurteile zurechtfindet. In den Szenen, die am Anfang der 60er-Jahre spielen, gehört auch die Last der verdrängten Erinnerungen zu den historischen Gegebenheiten. Die Häuser gewinnen einen unheimlichen, sogar gespenstischen Charakter. „Es gibt 29 Ein gescheitertes Schiff? <?page no="30"?> 27 Nádas, Parallelgeschichten, S. 973. 28 Viktória Radics, Statt einer Kritik, in: Daniel Graf, Delf Schmidt (Hrsg.), Péter Nádas lesen, Rowohlt, Hamburg, 2012, S. 170. 29 Radics, ebenda, S. 174. solche Nächte“, kommentiert der Erzähler die Szene, in der Gyöngyvér Mózes merkwürdiger Weise die Stimmen vom Einfall der Pfeilkreuzler ins Haus von Frau Szemző in der Nacht des zweiten Weihnachtstags hören kann, „in denen die Wände der Budapester Miethäuser die einmal in ihnen erstarrten Töne ausstrahlen“. 27 Das ist die Nacht, in der die von Alajos Madzar entworfenen Möbelstücke, diese vernünftigen Liebesgeschenke, aus dem Fenster geworfen werden. Diese Episode nennt Viktória Radics mit Recht „Schicksalsgrimasse“. 28 Auch zum Haus, in dem die Klavierlehrerin von Kristóf wohnte, stellt der wieder‐ kehrende Junge fest, dass es einmal ein „Sternhaus“ gewesen ist, d. h. dass hier jüdische Staatsbürger zwangsweise einziehen mussten und dann von hier aus verschleppt wurden. Kristóf wagte es als Kind nie, sich bei den Erwachsenen zu erkundigen, was das Wort „Sternhaus“ bedeutete. Er konnte aus ihrem Ton erahnen, dass dieses Wort zu dem nur knapp überlebten Entsetzen gehören mochte. Und nicht nur die Töne und die Wörter vertuschen etwas, das sowohl die Akzeptierbarkeit des Gegebenen als auch die Möglichkeit der kleinen Korrekturen untergräbt. Auch die gestaltenden Entscheidungen der Romanwelt führen den Leser immer wieder zu Schicksalsgrimassen. Ármin Gottlieb verkauft verlässliche, massive Balken für genau jenen Bahnbau, der auch seine eigene Deportation ermöglichen wird. Mária Szapáry muss mit dem Wrack ihrer wunderbaren Geliebten Jahr um Jahr zusammenleben, bis sie ihr und dann sich selbst mit dem Einverständnis von Frau Szemző am 15. März 1961 das Leben nimmt. Solche Knotenpunkte, „Schickalsgrimassen“, stehen im Roman dem Chaoti‐ schen gegenüber. Eine der großen Fragen der Parallelgeschichten ist, wie man als Erzähler, Autor oder Leser mit der unüberschaubaren Struktur und dem gähnenden Abgrund des Chaos umgehen soll. Die aufklärerische Mentalität des Architekten Alajos Madzar ist ein seltsamer Spiegel der Romanstruktur. Er „sucht nach Verbindungspunkten, verknüpft Elemente, Einheiten, Funktionen miteinander, will die Relationen klären“ 29 , d. h. er baut eine neue, geschlossene Ordnung aus den ungeordneten Elementen. Die Tradition des realistischen Romans im 19. Jahrhundert bestimmte sich durch eine Aporie. Obwohl die reale Struktur der Welt und des Lebens der Einzelnen offen und chaotisch ist, musste ein Roman eine geschlossene, durchschaubare Form gewinnen und die Autoren versuchten die aporetische Beschaffenheit des Mimetischen zu verheimlichen. 30 Gábor Schein <?page no="31"?> 30 Nádas, Parallelgeschichten, S. 769. 31 Das mittelalterliche ungarische Königreich brach im Jahre 1526 durch die verlorene Schlacht gegen die Osmanen bei Mohács zusammen. Der große Roman von Péter Nádas bezieht sich auf diese Aporie, er unterstellt aber das Mimetische nicht mehr einer von vornherein gegebenen Geschlossen‐ heit mit Anfang und Ende. Die Geschlossenheit der Form wird radikal aufgelöst und der Roman bleibt prinzipiell unbeendet. Eine Ordnung des Mimetischen, die dem Roman eine formale Struktur verleiht, muss aber entstehen. Dabei ergibt sich die Frage, welches Ausmaß an Chaotischem die Ordnung erträgt, ohne auseinanderzufallen. Die Frage stellt sich sowohl für die Erzähler als auch für den Autor, der für die Reihenfolge der Kapitel verantwortlich ist. Seine Antwort ist offenbar ganz anders als die von Alajos Madzar. Madzar kann sich mit Unerklärtem nicht zufriedengeben, das übrig bleibt, wenn die Relationen des Geschehenen, des Vorgestellten und des Riesenbereichs des Nicht-Geschehenen aus dem Gesichtspunkt der Erzähler nur fragmentarisch zu klären sind. Aus der Perspektive der Romanstruktur erweisen sich die Ideen des Architekten als unhaltbar. Bei ihm konstatiert der Erzähler sogar eine Art von Blindheit, die sich aus der gefühlsmäßigen Identifizierung mit seiner Geburtsstadt Mohács ergibt. Das Trauma, die Erschütterung verstellten die Sicht auf die Voraussetzung der Katastrophe. Deshalb war die Stadt selbst nach so vielen Jahrhunderten sämtlichen Erschütterungen ausgeliefert. Das war eine Erkenntnis, mit der sich Madzar fast selbst erschreckte. Er spürte, dass er die Eigenschaften seiner Geburtsstadt schon immer in sich getragen hatte, und zwar nicht nur das Gefühl der Zerstörung, sondern auch die unbewussten Voraussetzungen dafür. 30 Der Name von Mohács gilt bis heute als Inbegriff der geschichtlichen Kata‐ strophe im ungarischen historischen Bewusstsein. 31 Die verstellte Sicht, die geschichtliche Blindheit, die sich aus der Zugehörigkeit zu einem Ort, zum Land, ergibt, gestattet den beiden Geliebten nicht, die erschütternde geschicht‐ liche Niederlage der bürgerlichen Gesinnung wahrzunehmen. Sie arbeiten bis zum letzten Augenblick an einer Korrektur der historischen Gegebenheiten. Madzar verlässt das Land noch rechtzeitig. Frau Szemző wird nach Buchenwald deportiert. Sie bleibt am Leben, ihre Kinder sterben. Nach ihrer Rückkehr nach Budapest wird sie ihre therapeutische Praxis nicht mehr fortsetzen. Was wäre die bürgerliche Variante der ungarischen Literatur ohne ein geschichtlich tatkräftiges Bürgertum, das sein Fiasko schon vor Jahrzehnten hinnehmen musste? Man denke nur an Sándor Márais Roman Die Bekenntnisse eines Bürgers, in dem er den endgültigen Schiffbruch der bürgerlichen Gesin‐ nung in Ungarn so prägend darstellte. Vielleicht nur so viel. Das vernünftige 31 Ein gescheitertes Schiff? <?page no="32"?> 32 http: / / 168ora.hu/ itthon/ megfeneklett-hajo-vagyok-ennyi-nadas-peter-kormanyt-valtani-pr aktikusan-nagyon-is-lehet-interju-14278 http: / / 168ora.hu/ itthon/ megfeneklett-hajo-va‐ gyok-ennyi-nadas-peter-kormanyt-valtani-praktikusan-nagyon-is-lehet-interju-14278 (Letzter Zugriff am 02.03.2020) Diagnostizieren, die Durchleuchtung der grundsätzlichen Triebe und Fehler, ohne die Hoffnung noch etwas Ganzheitliches aufbauen zu können, ohne Hoffnung auf eine Korrektur. Am Buchcover der ungarischen Ausgabe der 2017 erschienenen Autobiographie von Péter Nádas, Aufleuchtende Details, ist ein altes gestrandetes Schiffswrack zu sehen. In einem seiner Interviews sagte Péter Nádas mit einem direkten Verweis auf diese Abbildung: „Ich bin ein gescheitertes Schiff, nicht mehr“. 32 So etwas kann natürlich nicht jedermann sagen. Nur einer, der viel, viel mehr ist als nur das. 32 Gábor Schein <?page no="33"?> 1 Deutschlandfunk Kultur: „Nádas zu übersetzen ist eine ‚große Herausforderung‘“. Christina Viragh im Gespräch mit Susanne Burg. Beitrag vom 14.03.2012. www.deutschland funkkultur.de/ nadas-zu-uebersetzen-ist-eine-grosse-herausforderung.954.de.html? dra m: article_id=147084 (Letzter Zugriff am 01.05. 2019) 2 Péter Nádas, Parallelgeschichten, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2012, S. 31. Die Frage, wer spricht Modernes Geschichtsdenken im Licht der Parallelgeschichten Florian Huber 1. Standortbestimmungen Zweifellos stellt die Lektüre der 2005 auf Ungarisch veröffentlichten Parallelge‐ schichten aufmerksame Leserinnen vor besondere Herausforderungen, die ihre Übersetzerin Christina Viragh 2012 in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur folgendermaßen beschreibt: [I]n diesem Text ist es hin und wieder schwierig, sich zurechtzufinden. Also, man weiß nicht, wer spricht wo, wann. Dazu hilft das Ungarische, weil das Ungarische das Subjekt nicht nennt. Also, man kann damit spielen, dass man das ein bisschen vertuscht, wer jetzt gerade am Sprechen ist, und Péter tut das absichtlich. 1 Diese Einschätzung bestätigt auch ein Blick in die deutsche Fassung des Romans, die 2012 im Hamburger Rowohlt Verlag erschienen ist. Permanent schiebt sich die Frage nach dem Subjekt in den Vordergrund der Lektüre, wie folgende Passage aus dem Kapitel „Der Schöpfer hat es bestimmt so gewollt“ im Ersten Buch der Parallelgeschichten illustriert: Interessant, dass sich so schwer neurotische Figuren in Psychologie und Philosophie einschreiben. Was ihre Aussichten eher verschlechtert als verbessert. Nach ein paar Jahren wissen sie zwar mehr, aber nicht unbedingt über ihre eigenen Probleme. 2 Wer mit wem spricht, bleibt hier unbeantwortet. Orts- und Zeitangaben, die im unübersichtlichen Stimmengewirr des Textes für Orientierung sorgen könnten, <?page no="34"?> 3 Vgl. Péter Nádas, Ein zu weites Feld, in: Heimkehr. Essays, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1999, S. 49 f. fehlen. Auch bleibt unklar, in wessen Namen hier überhaupt gesprochen wird. Fragen nach der Legitimation des Gesprochenen bleiben ebenso unbeantwortet wie jene nach möglichen literarischen Vorbildern. Tatsächlich erinnern zahlreiche Passagen des Romans in formaler und stilis‐ tischer Hinsicht an Gustave Flaubert, dessen Poetik Péter Nádas bereits 1992 in seinem Aufsatz „Ein zu weites Feld“ 3 diskutiert. Die Lektüre ruft insbesondere Assoziationen zum 1881 erschienenen Romanfragment Bouvard und Pécuchet hervor, das wie die Parallelgeschichten nicht allein einer Erzählung persönlicher Schicksale, sondern auch der Darstellung ihrer jeweiligen gesellschaftlichen und historischen Bedingtheit gewidmet ist. Auf der Suche nach Selbsterkenntnis gehen die beiden Pariser Kopisten Bouvard und Pécuchet in die Provinz und bei bedeutenden Wissenschaftlern und Künstlern ihrer Zeit in die Lehre, um doch nicht klüger zu werden. Anstatt dem Individuum neue Sicht- und Handlungsweisen zu eröffnen, so die bitterböse Pointe des Romans, verstellen die modernen Wissenschaften letztlich den Zugang zur Lebenswelt und ihrer Interpretation. Zu Recht denkt man an dieser Stelle wohl auch an die kritischen Bemerkungen zum Wert von Philosophie und Psychologie am Beginn der Parallelgeschichten. Akademische Konventionen, wie sie etwa ein Studium der Psychologie vermittelt, geben kaum Aufschluss über die Zumutungen moderner Lebensentwürfe, denen Flaubert wie Nádas mit ihren Erzählprojekten Kontur verleihen wollen. Die Einsicht in die Grenzen und Möglichkeiten (wissenschaftlicher) Selbst‐ erkenntnis bestimmt aber nicht nur den Inhalt beider Romane, sondern prägt auch seine Inszenierung im literarischen Text. Diese Verwobenheit von Inhalt und Form wird im Folgenden anhand des Begriffs der Geschichte und seiner Be‐ deutung für die Parallelgeschichten thematisiert. Mit der Vielzahl an Deutungs‐ mustern und Handlungsmöglichkeiten, die mit dem Begriff des Historischen verbunden sind, stehen damit auch die unterschiedlichen Möglichkeiten zur Be‐ schreibung und Interpretation geschichtlicher Ereignisse im wissenschaftlichen und literarischen Kontext zur Disposition. Dies erklärt vielleicht die Skepsis, mit der Péter Nádas den akademischen Geschichtswissenschaften begegnet, wie folgende Bemerkung zu Beginn seines Romans demonstriert: Ich beeile mich zu versichern, dass die Leserin, der Leser kein geschichtliches Werk, sondern einen Roman in der Hand hält und dass also sämtliche scheinbar der Wirklichkeit 34 Florian Huber <?page no="35"?> 4 Nádas, Parallelgeschichten, S. 8. 5 Daniel Graf, Delf Schmidt, (Hrsg.), Péter Nádas lesen. Bilder und Texte zu den Parallel‐ geschichten, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2012, S. 85. 6 Dominick LaCapra, Geschichte und Kritik, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1987, S. 109. 7 Nádas, Parallelgeschichten, S. 9. entlehnten Namen, Gestalten, Ereignisse und Situationen einzig der schriftstellerischen Phantasie entsprungen sind. 4 Trotz dieses Dementi bleibt Nádas’ Text als historischer Roman erkennbar, zumal seine erdachten Motive und Handlungsstränge vor dem Hintergrund konkreter geschichtlicher Ereignisse und ihrer gesellschaftlichen Rezeption entfaltet werden. Dabei formen die einzelnen Episoden der Parallelgeschichten auch retrospektiv kein Ganzes. Vielmehr handelt es sich um Bruchstücke his‐ torischer Geschehnisse, die weder von den an ihnen beteiligten Romanfiguren noch ihren Leserinnen vollständig überblickt oder geordnet werden können, wie der Autor selbst retrospektiv über sein Vorhaben notiert: Wenn wir das Gefühl haben […], warum gerade jetzt, warum nicht einem anderen, warum gerade uns, dann stehen wir vielleicht unter Wirkung eines Geschehens, dessen Akteure und treibende Kräfte wir gar nicht kennen. 5 Diese Beobachtung bestätigt auch die titelgebende Rede von Parallelgeschichten anstelle einer einzigen Parallelgeschichte, die als Kritik gegenüber einem bis heute weit verbreiteten historischen Einheitsdenken gelesen werden kann, das der amerikanische Literaturtheoretiker Dominick LaCapra folgendermaßen charakterisiert: Relativ unbefangen hat man [in den Geschichtswissenschaften, F. H.] mit dem Problem der Erzählstimme oder des Erzählstandpunktes hantiert. Der Erzähler bean‐ sprucht Allwissenheit und stützt sich auf die Regel der Einheit, der Einheit der Stimme der Erzählung ebenso wie der von Erzählung und Stimme des Autors. Und es ist bezeichnend, daß die Geschichte stets nach dem chronologischen Schema (Anfang, Mittelteil, Ende) aufgebaut wird. 6 Dem bereits im Titel formulierten Misstrauen gegenüber Chronologien als his‐ torischem Ordnungsprinzip korrespondiert das Parmenides entliehene Motto des Romans: „Es ist mir das Gleiche, woher ich ausgehe; denn dort werde ich auch ankommen.“ 7 Wie Bouvard und Pécuchet entpuppen sich die Parallelgeschichten im Fort‐ schreiten der Lektüre als negativer Entwicklungsroman, dessen Geschichten 35 Die Frage, wer spricht <?page no="36"?> 8 Graf, Schmidt, Péter Nádas lesen, S. 95. kaum Entwicklung und dessen Figuren kein erreichbares Ziel zu kennen scheinen. Die erzählerische Absage an eine teleologische Einheit der Geschehnisse prägt dabei auch die Form meiner weiteren Ausführungen, die Romanaus‐ schnitte, poetologische Aussagen des Autors und Zitate aus der geschichtstheo‐ retischen Forschungsliteratur ohne eine abschließende Deutung gleichberech‐ tigt nebeneinanderstellen. Die Montage der Textmaterialien, die jeweils anderen Zeiten, Ansprüchen und Disziplinen verpflichtet sind, soll zugleich darauf ver‐ weisen, dass sich historisches Denken nicht auf die Geschichtswissenschaften beschränkt. Vielmehr gilt es, in seinem Nachvollzug auch Vorstellungen und Gegenstände zu adressieren, die akademisch verbürgten Denk-, Sprech-, und Schreibweisen bisweilen entgegenstehen. Die Darstellung beansprucht zudem keinerlei Vollständigkeit, sondern möchte geschichtliche Problemhorizonte identifizierbar machen, die zu einer weiterführenden Lektüre der Parallelge‐ schichten motivieren. 2. Quellen lesen Folgt man der Lesart ihres Autors, basieren die Parallelgeschichten nicht allein auf einer Auseinandersetzung mit schriftlichen Zeugnissen der Vergangenheit. Stattdessen nimmt sein Erzählen ausdrücklich auch Phänomene in den Blick, die nicht ausschließlich sprachlich verfasst und daher nur bedingt zitierfähig sind: Zu meinem Vorhaben gehörte es auch, bestimmten historischen und philosophischen Zusammenhängen nachzugehen und bestimmte Fragen zur Zeitgeschichte in Bezug auf Architektur und Mode und zur Kriminologie zu klären. Diese Zusammenhänge bleiben zwar im Hintergrund, bilden aber das Gerüst des Buchs. 8 Neben „Architektur und Mode“ macht vor allem die ausführliche Darstellung von Körper- und Gewalterfahrungen innerhalb der Parallelgeschichten deutlich, dass schriftliche Zeugnisse lediglich einen Ausschnitt der Historie repräsen‐ tieren, deren Verwendung wiederum Historikerinnen wie Schriftstellerinnen vor besondere Probleme stellt. Geschichtliche Ereignisse lassen sich niemals vollständig in Begriffe übersetzen und können zudem nicht zeitgleich zu ihrem Geschehen zu Papier gebracht werden. Darüber hinaus erscheint die Sprache historischer Quellen bisweilen ähnlich fremd und entfernt wie die durch sie repräsentierten Ereignisse, da ihr Gebrauch und ihre Bedeutung einem 36 Florian Huber <?page no="37"?> 9 LaCapra, Geschichte und Kritik, S. 34. 10 Gustave Flaubert, Bouvard und Pécuchet. Aus dem Französischen neu übersetzt, anno‐ tiert und mit einem Nachwort versehen von Hans-Horst Henschen, Eichborn Verlag, Die Andere Bibliothek, Frankfurt am Main, 2003, S. 177. 11 Leopold von Ranke, Aus Werk und Nachlass, Band IV: Vorlesungs-Einleitungen. Hrsg. von Volker Dotterweich und Walther Peter Fuchs, Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München, Wien, 1975, S. 72. geschichtlichen Wandel unterliegen, der nicht selten für Verständnisschwierig‐ keiten und Zitationsprobleme sorgt. In der Lektüre historischer Zeugnisse wird somit eine Kluft zwischen Ver‐ gangenheit und Gegenwart erfahrbar, deren Konsequenzen Dominick LaCapra beschreibt: Ein Problem für die Geschichtsschreibung ist offenkundig das Verhältnis zwischen sympathetischer Beschäftigung mit der Vergangenheit, was eine gewisse Identifika‐ tion erfordert, und kritischer Distanz zur Vergangenheit im Interesse sowohl der Objektivität wie des Urteils. 9 Der Versuch, Geschichte zu schreiben verlangt vom Schreibenden eine Positio‐ nierung, die von der Perspektivität des Quellenmaterials in der Regel deutlich unterschieden ist. Eine zu große Nähe zum historischen Geschehen und Quel‐ lenmaterial mündet letztlich in sentimentale Erzählungen der Vergangenheit à la Walter Scott, die bereits Flaubert mit Spott überzieht: Allen diesen Werken gegenüber erhoben sie den Vorwurf, sie sagten nichts über das Milieu, die Epoche, die Sitten und Gewohnheiten der betreffenden Figuren aus. Nur die Herzensangelegenheiten seien wichtig, immer nur das Gefühl! Als ob es auf der Welt nichts anderes gäbe! 10 Doch nicht nur die Literatur, auch die Geschichtsschreibung ringt bereits zu ihren professionellen Anfängen im 19. Jahrhundert um die richtigen Ansprüche und Standpunkte, die einer ihrer prominentesten Vertreter folgendermaßen beschreibt: Die Historie unterscheidet sich dadurch von anderen Wissenschaften, daß sie zugleich Kunst ist. Wissenschaft ist sie: indem sie sammelt, findet, durchdringt; Kunst, indem sie das Gefundene, Erkannte wieder gestaltet, darstellt. Andere Wissenschaften begnügen sich, das Gefundene schlechthin als solches aufzuzeichnen: bei der Historie gehört das Vermögen der Wiederhervorbringung dazu. 11 37 Die Frage, wer spricht <?page no="38"?> 12 Nádas, Parallelgeschichten, S. 187. Der Wille zur „Wiederhervorbringung“ geschichtlicher Ereignisse rückt für Leopold von Ranke Methode und Gegenstand der Historie in die Nähe der Literatur. Die geforderte Imaginationsleistung bedingt eine bewusste Gestaltung historischen Quellenmaterials durch den Historiker (Sammeln-Finden-Durch‐ dringen), der so von einem objektiven Entdecker zum Erfinder historischer Wirklichkeit mutiert. 3. Geschichts-Bilder Für die Gründungsväter moderner Geschichtswissenschaften wie Ranke bildet das aufgeklärte Subjekt kein Hindernis, sondern die Grundbedingung schlechthin für historisches Erkennen. Diese Idee wird in den Parallelgeschichten vor allem anhand der Rede vom Bild und seinen unterschiedlichen Gebrauchs‐ weisen verfolgt: Im Esszimmer der Tante hing an der leeren Wand ein einziges Ölbild von Bedeutung und ansehnlichem Ausmaß, ein Leistikow, der zuweilen in Ausstellungen, Alben und Katalogen zu sehen war. 12 Zweifellos handelt es sich bei dem Gemälde um ein (kunst-)historisch bedeut‐ sames Objekt. Für diese Einschätzung bürgt neben der Prominenz des Urhebers, eines wichtigen deutschen Vertreters des bildnerischen Impressionismus, auch die Tatsache seiner Repräsentation in „Ausstellungen, Alben und Katalogen“. Dementsprechend rücken in den Parallelgeschichten nicht allein (historische) Bilder, sondern auch das Problem ihrer Entstehung, Erhaltung und Zirkulation und die Rolle der daran beteiligten Subjekte in den Fokus: Selbstverständlich enthielten die Kataloge die wesentlichen Angaben zum Bild, seine Maße, seinen Titel, die Tatsache, dass das Werk signiert war, aber auf Verlangen der Tante hieß es jeweils nur, dass es sich in Privatbesitz befinde. Döhring hatte als Kind oft und lange über dieses Wort nachgedacht. Da gab es auf der Welt einen wertvollen Gegenstand, für Fremde meist unzugänglich, und sogar sein Ort wurde geheim gehalten. Die Reproduktion des Kunstwerks in Katalogen bietet nicht nur Informationen zu seiner Provenienz, sondern dient auch einer Bewahrung des Bildes, das unabhängig vom Ort seiner Entstehung und Ausstellung betrachtet und mit anderen Menschen geteilt werden kann. Trotzdem legt der Kontakt mit dem 38 Florian Huber <?page no="39"?> 13 ebenda, S. 201. 14 ebenda, S. 187. 15 ebenda, S. 188. Originalgemälde vermutlich andere Gebrauchsweisen und Interpretationen nahe als seine Reproduktion. Die Differenz zwischen Original und Abbildung mündet schließlich in grundlegende Fragen nach dem Ort der Bilder und ihrer Bedeutung für das kulturelle und individuelle Gedächtnis: Das war ihm sehr wichtig, er kultivierte Bilder. Bilder begleiteten ihn, besser, er begleitete Bilder und bewahrte sie in sich auf. 13 In diesem Zusammenhang erzählen die Parallelgeschichten nicht allein von Bildern in ihren unterschiedlichen materiellen Verfasstheiten und ihrer ge‐ schichtlichen Bedeutung. Sie handeln auch von Bildern der Imagination und ihrer Wirkungen auf Individuum und Gesellschaft. Ihre Aussagekraft beziehen die Bilder nicht allein aus ihrer Historizität, sondern auch aus ihrer Unergründ‐ barkeit, wie sie in folgender Passage beschworen wird: Bestimmt hätte er später nicht Philosophie belegt, wenn sich in seinem Denken nicht solche Fragen festgesetzt hätten. Das Bild war rätselhaft genug, seine Phantasie anzuregen. 14 Die Bilder geben ihren Betrachterinnen zu denken und werden geradezu körperlich erfahrbar. Ihre Erscheinung wirkt direkt auf die Selbstwahrnehmung des Individuums und seine Erkenntnisfähigkeit: Es tat weh, ein scharfer Schmerz, doch hatte er fast vor Erstaunen aufgeschrien; er stand mitten in Leistikows Gemälde. Immer hatte er gemeint, es sei bloß ein Bild. Nie hätte er gedacht, dass es auf der Welt wirklich einen solchen Himmel, eine solche Spiegelung, ein solches Helldunkel gab. 15 Das Bild mutiert zum Symptom, die Bildbetrachtung mündet in einen Kontroll‐ verlust, vor dem man buchstäblich nicht die Augen verschließen kann. Der Zusammenfall der so genannten wirklichen Welt mit ihrer Repräsentation auf der Leinwand vermag feststehende Gewissheiten zu erschüttern. Wer in Bildern lediglich Abbilder historischer Wirklichkeit erkennen mag, geht darum fehl. Vielmehr bringen die Bilder ihre eigene Realität hervor, deren Betrachtung gerade deshalb die geschichtliche Wirklichkeit zu erhellen vermag. So wenig das Individuum über seine Geschichte verfügt, kann es über die mit ihr verbun‐ denen, bisweilen nur unbewusst beschworenen Bilder gebieten: 39 Die Frage, wer spricht <?page no="40"?> 16 ebenda, S. 202 f. 17 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1977, S. 253. 18 Nádas, Parallelgeschichten, S. 43 f. 19 Graf, Schmidt, Péter Nádas lesen, S. 85. Schon am Abend desselben Tags konnte Döhring diese Bilder nicht mehr heraufbe‐ schwören. Er hörte noch das brüllende Gähnen, sah es aber nicht mehr. 16 Trotz ihrer existenzerschütternden Wirkung erweisen sich die Bilder als flüchtig und schwer fassbar. Darin gleichen sie Walter Benjamins Idee einer Historie im ständigen Entzug: Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwie‐ dersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten. […] [E]s ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte. 17 Wie im Fall des Bildes wird auch der Sinn historischer Ereignisse maßgeblich von den Erkenntnissinteressen einer in ständigem Wandel begriffenen Gegen‐ wart bestimmt: Sie sammelte nur bestimmte Maler, und ausschließlich Bilder von lebenden Zeitge‐ nossen. Wer gestorben war, existierte für sie nicht mehr, mit ihm starb ja auch die Möglichkeit eines aufregenden Austausches. 18 Das Historische und seine bildlichen Repräsentationen erweisen sich als dy‐ namischer und letztlich unbeherrschbarer Gegenstand, der mit jedem Blick in die Vergangenheit dem Vergessen entrissen und neu geschaffen werden muss. Insofern erscheint Geschichte in den Parallelgeschichten auch als Summe verworfener Ideen und Handlungsmöglichkeiten, wie ihr Autor selbst bemerkt: Mich hat der Gedanke nicht mehr losgelassen, dass sich die Prosa als Magd des kausalen Denkens ausschließlich mit dem befasst, was geschieht, obwohl doch auch das, was nicht geschieht, in unserem Leben einen riesigen Platz einnimmt. 19 Geschichtsbilder und die mit ihnen verbundenen Akteure werden nicht allein durch tatsächliche Ereignisse, sondern auch durch nicht ergriffene Handlungs‐ möglichkeiten und Utopien geprägt. Der Blick zurück gestattet auch eine Re‐ flexion über mögliche alternative Verlaufsformen und Deutungen vergangener Geschehnisse. Neben Kontinuitäten werden dabei auch Bruchlinien erkennbar, die das Historische unwiderruflich von der jeweiligen Gegenwart abschneiden: 40 Florian Huber <?page no="41"?> 20 Nádas, Parallelgeschichten, S. 189. 21 Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, S. 258. 22 Péter Nádas, Wort und Strich, in: Heimkehr, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1999, S. 7. 23 Benjamin, S. 254. Leistikow musste das Bild genau von der Stelle aus gemalt haben, an der Döhring jetzt stand. Vielleicht zur gleichen Stunde des gleichen Tages des gleichen Monats, auch wenn man nicht sagen konnte, dass sich in den dazwischen vergangenen hundert Jahren nichts geändert hatte. 20 Einmal mehr entlarvt die Frage nach der korrekten Position zur Anfertigung und Betrachtung des längst vergangenen Bildes im Roman die Vorstellung einer historischen Ganzheit als Utopie, der bereits Benjamin eine deutliche Absage erteilt: „Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.“ 21 4. Geschichten von unten Die dem Bild abgerungenen Perspektiven verweisen auf die Schwierigkeiten einer adäquaten Repräsentation historischer Ereignisse und der an ihnen beteiligten Akteurinnen in Geschichtsschreibung und Literatur. Indem der Romantext bestimmte Standpunkte formuliert und der Kritik seiner Leserinnen darbietet, bringt er zugleich andere Positionen zum Verschwinden, wie Péter Nádas bereits in seinem Essay „Wort und Strich“ selbstkritisch notiert: Wäre es nicht richtiger zu sagen, in meinem Satz sprechen die, die nicht reden? Und daß ich nicht mehr und nicht weniger sagen kann als das, was ihr Schweigen umfaßt? 22 Diese Problematik betrifft neben dem eigenen Schreiben wohl auch die histori‐ ographische Darstellung und spiegelt sich dementsprechend im historischen Quellenmaterial wider, wie Walter Benjamin festhält: Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist. 23 Weil Geschichte traditionell von Siegerinnen geschrieben wird, sind die ihr Unterlegenen ständig von der Gefahr bedroht, aus dem kulturellen Gedächtnis getilgt zu werden. Im Gegensatz dazu rückt in den Parallelgeschichten die Erinnerung an die Opfer und Marginalisierten des historischen Prozesses in den Fokus der Erzählung. Geschichte erscheint als Fülle bislang negierter 41 Die Frage, wer spricht <?page no="42"?> 24 Nádas, Parallelgeschichten, S. 777. oder zu wenig beachteter historischer Details und Deutungsmöglichkeiten. Anhand von Figuren, Ereignissen und Schauplätzen wird eine Geschichte von unten entworfen, die als Korrektiv zur herkömmlichen, national geprägten Heldengeschichtsschreibung fungiert: Wo sich die Strömung ein hohes Ufer ausgewaschen hatte, hingen aus den Sand‐ wänden in einer dicken Schicht Knochen, Schädel, Schienbeine, Becken, Zehenknö‐ chelchen heraus, die erstaunlich heil geblieben waren, aber in der Hand mit dem Sand zusammen zerbröselten. Südlich der Stadt, ungefähr zwei Kilometer von der Spitze der Zigeunerinsel entfernt, hatten sie diese mehrere Jahrhunderte vergessene Stelle entdeckt, obwohl sie wussten, dass laut Geschichtsschreibung die schicksalsträchtige Schlacht gegen die Türken an einem ganz anderen Ort, am Fuß der Hügel von Majs stattgefunden hatte. 24 Die Lektüre des Romans gerät zum Plädoyer, der offiziellen Geschichtsschrei‐ bung zu misstrauen, um der historischen Erkenntnis buchstäblich neue Wege des Denkens, Fühlens und Handelns zu ebnen. 42 Florian Huber <?page no="43"?> 1 Simon Critchley, On Humor, Routledge, New York, 2002, pp. 6-7. 2 Slavoj Žižek, Event: Philosophy in Transit, London: Penguin Books, 2014, p. 3 3 Alfie Bown, In the Event of Laughter. Psychoanalyses, Literature and Comedy, Blooms‐ bury Academic, New York, 2019, pp. 81-82. 4 See Stephen Crocker, Man Falls Down: Art, Life and Finitude in Bergson’s Essay on Laughter, in: Michael R. Kelly (ed.), Bergson and Phenomenology, Palgrive Macmillan, London, 2010, p. 80. Revealing and Subversive Laughter in Péter Nádas’s Parallel Stories Mária Bartal This essay is an attempt to explore the multiple narrative-dramaturgical func‐ tion of laughter in the novel of Péter Nádas, to emphasize its doubleness of manipulating the interlocutors and allowing the readers access to the sphere of the unknown and of the unforeseeable through the characters. The temporal structure of laughter oscillates between a point and a continuum, the humorous pleasure is produced by the disjunction between duration and instantaneity. 1 The situations penetrated by laughter are approximately five hundred in this novel, their network is coordinated by the accurate, quasi-theoretical interpre‐ tations of the narrator highlighting the convergence of similar motivations and reactions and the residue in laughter that leaves the characters feeling troubled. As Alfie Bown rightly explored, the two dominant ways of thinking about laughter, either as liberating or as controlling, can be negotiated by a third hypothesis, as an event in the Žižekian sense 2 : laughter is never merely an effect or a pre-existing cause but instead has a power to modify and change the very things which cause it, and brings the person involved into new ideological structures which are produced, entrenched, naturalized and enforced by the process of laughter. 3 Georges Bataille, left unsatisfied by Bergson’s simplistic, moral conception of the comic, and developing the Bergsonian idea that the basic cell of all humor is the broken schema, 4 pointed out, that the sudden invasion <?page no="44"?> 5 Georges Bataille, Nonknowledge, Laughter, and Tears, in: Stuart Kendall (ed.), The Un‐ finished System of Nonknowledge, trans. Michelle Kendall and Stuart Kendall, University of Minnesota, Minneapolis, 2001, p. 135. 6 „Le kell vetkőzni, föl kell öltözni…“. Nádas Péterrel Németh Gábor beszélget, in: Gábor Csordás (ed.), Párhuzamos olvasókönyv. Nádas Péter regényének forrásai és visszhangja, Jelenkor, Pécs, 2012, p. 145. 7 István Margócsy, Nádas Péter: Párhuzamos történetek, in: 2000, 2005, 12, p. 50. 8 Mikkel Borch-Jacobsen, The Laughter of Being, trans. T. Thomas, in: Fred Botting, Scott Wilson (ed.), Bataille: A Critical Reader, Blackwell, Oxford, 1998, pp. 162-163. 9 Charles Eubé, Le Fond tragique du rire, in: Critique 68, 1953, 1, 46. p. 10 Bataille, p. 146 11 Jacques Derrida, From Restricted to General Economy: a Hegelianism without Reserve, trans. A. Bass, in: Fred Botting, Scott Wilson (eds.), Bataille: A Critical Reader, Blackwell, Oxford, 1998, p. 107. 12 Dorrit Cohn, Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction, Princeton University Press, Princeton, New Jersey, 1978, p. 168. of laughter was a conversion into a world where our assurance is suddenly overthrown and unveiled as deceptive. 5 I would like to underline the humor in Paralell Stories as a tool surpassing irony, and in making this assumption I will cast a critical eye over a cliché in the novel’s Hungarian reception, that denies the presence of humor in the novel 6 , and I also intend to challenge the statement that the pleasure principle, the joy and the liberating laughter is totally absent in this novel, and the narrator doesn’t use humor or irony at all, moreover, the characters laugh very rarely. 7 In my view, the laughter and the numerous comical situations and their complex interpretation in the narrative discourse are unavoidable components of this book. Laughter as a highlighted textual event, as the readers’ re-action, produces and transforms the characters, provides for them a break from their “self-sameness” in the paradox of recognizing themselves in the other 8 , of placing or displacing abjection and of exceeding dialectics and the dialectician. Laughing implies, according to Charles Eubé, the refusal to accept our well-known beliefs 9 , we rejoice in something that puts the equilibrium of life in danger, and that’s why, for Bataille it is comparable to negative theology. 10 As Derrida argues, laughter bursts out only based on the absolute renunciation of meaning, the absolute risking of death. 11 In the following I will focus on one scene of the third volume in the chapter ‘Only Inches from Each Other’ and on its textual correlations. This flirtation scene in the third volume is a self-narrated monologue in the first person, 12 a retrospective narration of the Klára and Kristóf ’s date, which is thematically, structurally and dynamically connected to several similar episodes in the novel (for example to the dialog between Szemző and the 44 Mária Bartal <?page no="45"?> 13 Péter Nádas, Parallel Stories, trans. Imre Goldstein, Farrar, Straus and Giroux, New York, 2011, p. 905. architect, and that between Gyöngyvér and Ágost or Erna and Gyöngyvér). The elaborated descriptions of the face-to-face interactions are constructed by dialogs in free indirect discourse, the characters’ banal conversation is dominated and contrasted by the narrator’s evaluation of the verbal and corporal interactions and his accurate self-reflections. The characters are created in and through couples’ interaction as a process of exchange of impressions or self-presentations between ritually enacted selves, where each participant relies on others to complete their picture of their own self. Repeatedly, having collapsed the free indirect discourse and the overcontrolled narration, the text passes to a tense quoted dialogue without any description or annotation of the characters’ behavior. The personal, intimate nature of this chapter is signaled by shifting the narration in third person to the self-narrated monologue, and by its contrast with the extended dialogue speech, and even by the alternated subject of the focalization and their closed, limited, incongruous points of view in the subsequent chapters. The careful and restrained verbal communications quickly become more intensive when the narrator’s furrier uncle is mentioned: She interrupted to say that my uncle must have been a Jew. Indeed he was, I said. Actually, he still is, but that wasn’t the reason I couldn’t stand him. We both laughed hard at this and our mingling laughs echoed for a while, but that did not please me much. My jocular mood began to dissipate. It seemed we were offending this miserable dark building with our echoing laughter. Our laughter probably disturbed her a little too. Hurt a little. 13 From the above-cited passage on, laughter gradually plays a more and more decisive part in this scene; laughing and interpreting it are crucial in the outcome of the characters’ flirting strategies. Is laughter a response only, a retrospective reflection of an already existing tension, or a process which qualifies the interlocutor? Before interpreting the dynamic changes of laughter’s contextual significance, it is useful to summarize the three main traditional theories of humor, with much overlap among them. The oldest, and probably still the most widespread theory of laughter is that laughter is an expression of a person’s feelings of superiority over others. The superiority theory goes back at least as far as Plato and Aristotle, and was given its classic statement in Hobbes, who said that laughter expresses “a sudden glory arising from some conception of 45 Revealing and Subversive Laughter in Péter Nádas’s Parallel Stories <?page no="46"?> 14 Thomas Hobbes, Leviathan, Hackett, Indiana, 1994, p. 34. 15 John Morreal, A New Theory of Laughter, in: Philosophical Studies, 1982, 42, p. 245. 16 John Morreal, Ibid, 1982, p. 244. some eminency in ourselves, by comparison with the infirmity of others, or with our own formerly”. 14 In the 20th century many adopted some versions of the superiority theory. Albert Rapp, for example, claims that all laughter developed from one primitive behavior in early humans, “the roar of triumph in an ancient jungle duel”. Konrad Lorenz and others treat laughter as a controlled form of aggression; for them the baring of the teeth in laughing is a way of asserting one’s bravery. The second one, the incongruity or resolution theory has its beginnings in some scattered comments in Aristotle but did not come into its own until Kant and Schopenhauer. When we experience something that doesn’t fit our patterns, that violates our expectations, we laugh. As Pascal said, “Nothing produces laughter more than a surprising disproportion between that which one expects and that which one sees” or in Kant’s terminology, “Laughter is an affection arising from the sudden transformation of a strained expectation into nothing”. Schopenhauer explained the incongruity behind laughter as a mismatch between our concepts and the real things that are supposed to be instantiations of these concepts. 15 In fact, with proper refinement it can account for all cases of humorous laughter. The Relief Theory is an hydraulic explanation according to which laughter is the equivalent in the nervous system of a pressure-relief valve in a steam boiler. The theory was sketched in Lord Shaftesbury’s 1709 essay “An Essay on the Freedom of Wit and Humor”, the first publication in which humor is used in its modern sense of funniness. Spencer’s explanation in his essay “On the Physiology of Laughter” (1911) is based on the idea that emotions take the physical form of nervous energy. Unlike emotions, laughter does not involve the motivation to do anything. The movements of laughter, Spencer says, “have no object”: they are merely a release of nervous energy. In his Jokes and Their Relation to the Unconscious Freud distinguishes three kinds of laughter situations, which he calls “jokes”, “the comic”, and “humor”. The core of the theory is that in all laughter situations we save a certain quantity of psychic energy, energy that is usually employed for some psychic purpose, but which turns out not to be needed. In joking, the energy saved is that which is normally used to repress aggressive and sexual feelings. In the comic, the energy saved is for some cognitive processing that is perceived to be unnecessary. In humor, the energy saved is that of an emotion like anger or fear, which we realize is no longer required. The discharge of this superfluous energy is laughter. 16 In joking, he says, we save energy that is normally used to suppress forbidden feelings and thoughts; in reacting to the comic we save an expenditure 46 Mária Bartal <?page no="47"?> 17 John Morreal (ed.), The Philosophy of Laughter and Humor, SUNY Press, New York, 1987, p. 111. 18 Shaun May, A Philosophy of Comedy on Stage and Screen: You Have to Be There, Bloomsbury, London, 2016, p. 26. 19 Julia Kristeva, The Powers of Horror: An Essay on Abjection, trans. L. Roudiez, Columbia University Press, New York, 1982, p. 8. 20 Nádas, p. 388. 21 Ibid, p. 393. of energy in thought; and in humor we save an expenditure of energy in emotion. For Freud, humor has a “heroic function in the sense of liberation it achieves in allowing us to stand aloof from the trials and tribulations of life.” As John Morreall notes 17 a comparison of these theories suggests two general features of situations producing laughter which can form the basis for a comprehensive theory. The first one is the change of psychological state involved in laughter situations that may be primarily cognitive, as the incongruity theory shows from a serious state of perceiving and thinking about things that fit into our conceptual patterns, to a non-serious state of being amused by some incongruity. The change may be primarily affective too, as in certain cases described by the superiority and relief theories in which laughter accompanies a boost in positive feelings, a cessation of negative feelings, or the release of suppressed feelings. Or the change may be both cognitive and affective, as in cases of hostile humor. Freud’s account of jokes builds on the foundations of a straightforward distinction between innocent jokes and tendentious ones. We normally cannot be overly aggressive or sexual due to social constraints, but in the tendentious joke we can express such intent in a socially acceptable way. 18 The narrator’s mechanical laughing and joking-together is a kind of cooperation in treating his uncle as abject, and the admission of his own motivation his jocular mood begins to dissipate. As Kristeva argues, the abject one is “thus a deject, who places himself, separates himself, situates himself, and therefore strays instead of getting his bearings, desiring, belonging, or refusing.” 19 He is becoming a situationist in a sense, and not without laughter since laughing is a way of placing or displacing abjection. In the scene quoted above from Nádas’s novel the feminine laughter of superiority is interpreted by the narrator as a kind of lure and manipulation connected to her animal costume (she is wearing black antelope shoes with incredibly high heels and a fur coat 20 ) that reinforces her predatory aspect and his role of victim: “Between her sparkling wet, beautiful teeth I would have crawled into the dark hollow of her mouth. She had teeth like a wild animal’s.” 21 But this situation is more complex, because the fur coat isn’t hers, instead borrowed from his ex-piano teacher, and rather annoying to him. In the 47 Revealing and Subversive Laughter in Péter Nádas’s Parallel Stories <?page no="48"?> 22 Nádas, p. 394. 23 Ibid, p. 399. 24 Ibid, p. 399. 25 Mihail M. Bakhtin, Rabelais and His World, trans. Helene Iswolsky, Indiana University Press, Bloomington, 1984, p. 70. 26 Ibid, p. 62. narration the fur coat results in a mixed sensation of familiarity, sexual affection and repugnance, becoming the metaphor of the complexity of their feelings and of their laughter (“…actually we were looking out, searching for whatever it was in each other that was causing our inability to endure each other’s words for another moment. This was something neither she nor I could give up, let alone terminate.” 22 ). But a few moments later the fur coat is interpreted as a prop of her perpetual metamorphosis 23 , and the text underlines the metonymical connection between the laughing mouth and the woman in fur and the carnivalesque aspects of both: It was straining forth from the opened shell of animality. I couldn’t tell how many transformations she had gone through that night. The wind blew her fragrance into me with renewed strength, her new indecipherable fragrance. Almost nothing kept me from slipping my arms under the shiny lining of the shiny fur coat and pulling her body against mine. Now she was flirting with me, inviting me, luring me, opening herself up like a seashell, like a deep-brown chestnut. We were shouting and screaming in the wind, which felt especially good because it was as if we were throwing sounds into each other’s laughing mouth. Not to let the wind blow them away. She asked, actually she screamed whether I’d dare trust her with my life. 24 This passage is a variation of the Lucianic image of the laughing Menippus, it stresses the relation of laughter to the underworld and to death, to the freedom of the spirit, and to the freedom of speech. 25 , and it presents the contradictory and double-faced fullness of life. As Bakhtin notes, in the essence of the grotesque the negation and destruction (death of the old) are included as an essential phase, inseparable from affirmation, from the birth of something new and better. The material, bodily lower stratum of this grotesque image bears a deeply positive character, but the final result is abundance, increase. 26 The wild and inordinate wind-pressures in this scene cause and enhance the mixture of their loud laughing and screaming, moreover, the force of their laughter homogenizes the representation and demonstrates the universal character of 48 Mária Bartal <?page no="49"?> 27 Ibid, p. 84. 28 Brian Boyd, Laughter and Literature: A Play Theory of Humor, in: Philosophy and Literature, 28, 2004, p. 5. 29 D. Diane Davis, Breaking Up (at) Totality: A Rhetoric of Laughter, Southern Illinois University Press, 2000, p. 18. 30 Jacques Derrida, From Restricted to General Economy: A Hegelianism Without Reserve, trans. Alan Bass, in: Writing and Difference, trans., introd., notes A. Bass, Routledge, London, New York, [1978] 2002, p. 259. 31 Nádas, p. 400. 32 “The thought torments me sore, lest I / Upon a pillowed couch should die, -“ (Sándor Petőfi, “The Thought Torments Me”, translated by William N. Loew). The literal translation of the second verse would be: “by dying, in bed, among pillows”, so the joke of the source text has been lost in translation. laughter explored by Bakhtin in the parodies of the Middle Ages. 27 Like many social signals, laughter and sobbing have evolved as a contrasted pair: laughter is produced by exhalation, which we also use in producing speech, and sobbing, by inhalation. Laughter makes the most of the relaxed effortlessness of our vocalizing while exhaling. 28 Reason is rendered powerless in the face of these polymorphously perverse “rhythms,” which echo from the “noise” of physis (nonrational) rather than the melodies of nomos (rational), the (saving) power of rationality and, therefore, human agency becomes suspect. To be possessed by this movement of energy, 29 overriding rational self-control is dangerous, it can provoke a violent reaction. The laughter that Aristotle attributes to Gorgias opposes meaninglessness to meaning (On Rhetoric 3.18). It’s a laughter that shatters what Jacques Derrida calls the very “fabric of meaning”. 30 Such meaninglessness comes to operate as the dirty underside (the negated) of meaning, in Foucault’s words laughter is an ex-plo-sion of the border zones of thought. She turned the words back toward me, yelling them into my open mouth; yes, she too would be happy to die, in bed, among pillows, but not on the street. Her fragrance I caught not with my nose, her screaming not with my ears; they assaulted my groin directly. I had nothing to defend myself with. Because now it turned limp, now it hardened a little, sperm kept dripping from the constant pulsing. Don’t, please don’t talk like that, I beg you, and my screams no longer vibrated in my vocal cords or touched my throat but burst straight from the rising and falling depth of my chest, from the throbbing flesh of my heart. 31 The complexity and humor of her pun (“happy to die, in bed, among pillows”) is built on a twisted quote from an iconic poetry of the Hungarian Revolution of 1848. 32 Sándor Petőfi’s The Thought Torments Me has a coherent metaphorical system for the power of transformative revolution and for mass mobilization 49 Revealing and Subversive Laughter in Péter Nádas’s Parallel Stories <?page no="50"?> 33 Just a few examples: “She’d rather surrender; she’d give up the game.” (p. 907.); “…we had become like a defeated army.” (p. 908); “I asked if she’d noticed that she had already used the word deadly twice this evening.” (p. 909). “…my screams no longer vibrated in my vocal cords or touched my throat but burst straight from the rising and falling depth of my chest, from the throbbing flesh of my heart.” (p. 910). 34 Sigmund Freud, Jokes and Their Relation to the Unconscious, trans. J. Strachey, Norton Library, New York, 1963, p. 172. 35 See Jean-Luc Nancy, Corpus, trans. Richard A. Rand, Fordham, New York, 2008, p. 109. 36 Nádas, p. 910. 37 Boyd, Ibid, p. 7. 38 Nádas, p. 402. that is consistently and ironically reinterpreted in this scene for intensifying the ambiguous sexual fantasies of the narrator. 33 In Freud’s words, “nothing distinguishes jokes more clearly from all other psychical structures than this double-sidedness and this duplicity in speech”. 34 Freud assumed that there were three psychical processes that take place in our unconscious, which dreams share with jokes, namely, condensation, displacement, and representation. Much like in the case of dreams, the displacement in jokes involves the censor‐ ship of ideas that are not allowed to enter into consciousness. Compared to dreams, in jokes displacement does not involve replacing one idea with another; rather it consists of creating ambiguities through the use of play upon words and multiplicities of meanings. The novel’s pun correlating with her increasingly pervasive bodily presence and the fantasy of threatening incorporation result in the onset of an intolerable convulsion of his thought and the unarticulated statement of the speaking body, shaken with no way, thought 35 : “‘I am scared’, I screamed. And that put an end to the laughter”. 36 The ping-pong strategy of their previous conversation rapidly escalates into a continuous interchange of screaming and laughter when they exit. In certain cases, laughter is used by the characters as a ritualized behavior that does not emerge simply as an expression of some internal state, but as a well-defined and learned social signal. 37 The laughing of superiority waggles as a seesaw in the communication of the characters. The superiority of the partly borrowed beauty yields to the hidden lie of the narrator. His simile for the situation (“it was as if we’d both stumbled and fallen over each other” 38 ) stresses the incongruity and comic nature of misunderstanding, the humorous oscillation between two frames of reference and the shift of his satisfying advantage because of his deferred and unpleasant admission. The mechanical behavior that Bergson suggests is at the heart of much comic performance, but according to the above-mentioned examples, laughter can be mechanical too 50 Mária Bartal <?page no="51"?> 39 Boyd, Ibid, p. 15. 40 Nádas, pp. 910−911. 41 Maria Kli, EROS AND THANATOS: A Nondualistic Interpretation: The Dynamic of Drives in Personal and Civilizational Development From Freud to Marcuse, in: Psychoanalytic Review, 2018, 2, pp. 67, 71. and therefore loses its superiority. Humor can also be used at the group level to promote cooperation — by its self-rewarding nature and by reinforcing the recognition of shared expectations 39 , but in this scene laughter, repeatedly, only prepares and facilitates an insight into the characters’ mirrored positions. ‘I am scared’, I screamed. And that put an end to the laughter; she nodded that of course she was scared also. […] She could see everything, both my future and past. […] I saw everything too; it made me dizzy. I saw how forlorn I had been for close to twenty years without her, and now this would end. […] I didn’t want to, I did not understand why I was remembering an experience that did not belong here at all. And why is it interfering now. Why did I go limp because of it. She too needed to lean on something, and that made everything even more improbable. What I felt inside I could see on her. 40 The recognized fusion of the erotic and death drive creates the borders of common laughter in the above quotation. The description and the self-inter‐ pretation of Kristóf ’s reactions are built on the central concept of Freud’s metapsychology, namely, on the narcissistic libido. Progressing his previous study on sadomasochism (On Narcissism: An Introduction), Freud restricts the erotic element, opposed to the instincts of life represented by the Ego, to only an aspect of libidinal current, the self-preserving narcissistic libido. In order to subjugate the libido, the Ego supports the urges of the death drive within the Id and therefore narcissism is charged with the mission to resist the death drive. Herbert Marcuse’s interpretation on Freud’s metapsychology bridges the Freudian dual and the Jungian nondualistic concepts of libido, and demonstrates that, the individual psyche as an embodied being, it is subject to dynamic mental and environmental processes, and is not considered a cut-off entity restricted to several inherent tendencies. 41 The illusion of Kristóf ’s transparency (“She could see everything, both my future and past.”) is provoked by the reflection of their defenselessness and corporal, mental and psychic instability, uncertainty and serves to intensify his overwhelming fear to leave desolation. The narration connects his death drive, highlighted by the joke, to his infant anxiety created by the sense of being replaced or disposable, and it is presented as a process from being initially unavailable then gradually revealing. Klára’s joke turns on the uninterpretable “long-ago moment” (910.) retrievable from the previous, 51 Revealing and Subversive Laughter in Péter Nádas’s Parallel Stories <?page no="52"?> 42 Nádas, p. 955. 43 Nádas, p. 956. repeated, increasingly specified passages. The story of the relationship with Ilonka Weisz and the circumstances and causes of Kristóf ’s faint are intimately related in the previous chapter (This Sunny Summer Afternoon). His enthusiasm for the chanteuse, the maids’ dismissal and his desire for identification with them, establish the context of his collapse. From the systematic visit of his childhood’s places three main destinations are emphasized by the narration: the restaurant garden where Hedda Hiller used to sing and the scenes of his mother’s then his father’s loss. The accelerated rhythm and the dynamics of their periodic laughter, becoming more conspicuous for this point, introduce the temporary revealing, and then the separated, even more reserved narrated monologues. Amid the busy pointing, their faces touched, perhaps accidentally, and there was her scent, her shoulders and her breasts. The contact was so light and accidental, their bodies taut as bows, that they both burst into laughter and then laughed in each other’s face. In which act there was enough death-defying courage to make them recoil. Their future became heavy and their past threatening; they said nothing. 42 Laughing in each other’s face is enacted like one of the central metaphors of the whole chapter In Full Swing, condenses their communication mixed by involuntary self-revelations and concealments, manipulations. The narrator’s strategy consists in this constantly shifting the focalization of the narrative and the relevant context of their polyvalent metaphors and phrases. “The stormy events of the city’s living history and […] the story of its compulsive destructions and compulsive reconstructions” 43 becomes the cause and at the same time the medium of their limits and limitations, laughter in this scene is functioning like the “light barrier”: threatens, reveals and demarcates. The venue of his father’s deportation provokes the sentences which he would have taken back later, and which are in the place of the current real question: “why a new love if everything ends like this, if everything is so brittle and every story is destruction and devastation”. They are standing “in the middle of the deserted, glimmering roadway” (956.) and the father’s former room is illuminated but curtained off. The tension and the contrast between their stories, between her tone, borrowed from the chatty dramas featured in boulevard theaters, and the selling out of his family’s stories are balanced by the releasing laughter at his great-grandfather. Anyway, he ruined everything at the right time, when everything was still in its heyday. At least they could have a laugh at something: that the great-grandfather had 52 Mária Bartal <?page no="53"?> 44 Nádas, p. 958. managed to ruin things. There was no inheritance. As if they were saying that nothing could be more uplifting than penury, when one is free of the dread of ownership. And one has to have a certain talent for ruining things, a sense of rhythm. They too will become worthy of their own doom, they too will squander and ruin everything in good time. He has nobody and never has had anybody. And why does he lie so shamelessly. 44 This scene presents a further variation of their superior, released laughter at the male family members. The focus here is on possession and property, shifting between their different forms, meanings and connotations, where ownership inspires fear while “penury is uplifting” (958.). Their apparently liberating laughter is secretly controlling, its reterritorializing aspect is targeted for dissipating the inheritance, erasing his dividing history and partly, their ancestry. Their laughter together is creating a sense of community, denying their hidden and irreplaceable lovers whose existence becomes evident for the readers by the second part of the chapter. It develops and manages the strategy to babbling about cover stories, reciting a pseudo-saga of heroes and reversing the former victims of laughter to his death-drive (962.), namely to the third male members of his family. The literal translation of the last word of the quote above would be “facelessly”. The sense of rhythm for ruining things in these chapters is connected to laughter, which makes faces. 53 Revealing and Subversive Laughter in Péter Nádas’s Parallel Stories <?page no="55"?> Gneis Ein Experiment zum korporalen Lesen des Daseins ohne narrative und axiomatische Kratone Orsolya Rákai Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass der - auch in seinem Umfang - mächtige Roman von Péter Nádas nicht erst bei seiner Veröffentlichung vor zwölf Jahren zu einem herausragend wichtigen Referenzpunkt der ungarischen Literatur geworden ist, sondern bereits viel früher. Die Erwartungen der Leser und das Rätseln der Kritiker haben mehrfach den Rezeptionsraum für das entstehende Werk vorbereitet, in dem es dann seinen Platz einnehmen konnte, wobei die Lebendigkeit und Fülle der Rezeption, die Diskussionen und Ratlo‐ sigkeiten gerade dem Umstand zu verdanken sind, dass die Fragen, die sich während der langen Zeit des Wartens entwickelten, und die zu verschiedenen kontextuellen Möglichkeiten verwobenen Stränge der Rezeptionsgeschichte des Nádas-Œuvres schon bereitstanden. Selbstverständlich wurden diese Erwartungen nur teilweise erfüllt, teils aber nicht: Während der langen Zeit des Schreibens verwies Nádas in mehreren Interviews und Essays darauf, dass er sich selbst über die helfende sowie hem‐ mende Macht des Erwartungshorizonts im Klaren sei, zugleich wolle er sich aber die Freiheit des künstlerischen Prozesses (und seinen Bedarf an Zeit) auf jeden Fall bewahren. Außer dem kritischen Prestige der gattungsspezifischen und thematischen Besonderheiten des Romans an sich trug auch ein positioneller Wesenszug zur Bewahrung dieser Dualität bei. Dem Roman werden in der europäischen, genauer gesagt mittelbeziehungsweise osteuropäischen Tradi‐ tion der literarischen Moderne epistemologisch-hermeneutische Erwartungen entgegengebracht: Er soll unser Schicksal in diesem chaotischen 20. Jahrhundert „erklären“, soll kritisch sein, soll statt uns aussprechen, was wir nicht können oder wagen, soll uns freisprechen, eine gültige Selbstbeschreibung liefern, unseren diskursiven Erinnerungen Kohärenz und Sinn verleihen, zugleich aber sehr vorsichtig und selektiv deren verdrängte, ins Unbewusste verbannte <?page no="56"?> 1 Csaba Károlyi, Mindig más történik. Interjú Nádas Péterrel, Élet és Irodalom, 4.11.2005. www.es.hu/ cikk/ 2005-11-06/ karolyi-csaba/ mindig-mas-tortenik.html (Letzter Zugriff am 21.05.2020) Grundlagen berühren, und nur so tief graben, wie die Gültigkeit der (jeweiligen und detailliert nicht bestimmbaren) kollektiven Identität noch zu bewahren bleibt. Der mehr oder weniger stillschweigende Vertrag zwischen Schriftsteller, Kritiker und dem sogenannten gebildeten Publikum garantiert den Erhalt der gattungsspezifischen und thematischen Hierarchie, oder, wenn man so will, für diesen Kanon: dieses fragile, sich ewig in Bewegung befindliche System, das also auch darüber entscheidet, welche Bedeutung wir einem neuen Werk im Voraus zusprechen, und wie viel Aufmerksamkeit, Deutungsversuche, Kommentare es „verdienen“ wird. Nádas selbst formuliert in einem Interview mit Csaba Károlyi, dass er sich im Fall von Ende eines Familienromans beziehungsweise vom Buch der Erinnerung bewusst entschieden habe, diese Konventionen zu akzeptieren: Unter den Bedingungen der Diktatur stellte sich diese Frage so, ob der Roman ethische Verpflichtungen habe oder nicht. Ich habe entschieden, er hat sie. Unter den Bedingungen der Demokratie jedoch nicht. […] Am Stoff der früheren Romane habe ich gesehen, dass dies auf Kosten der Ästhetik ging, zugleich war es aber eine überaus interessante Aufgabe, die ästhetischen Komponenten der ethischen Gesten zu suchen. In ,Ende eines Familienromans‘ oder dem ,Buch der Erinnerung‘ habe ich diese Arbeit, meiner Meinung nach, auch ordentlich ausgeführt. Ich habe genau die Arbeit ausgeführt, vor die mich die Diktatur gestellt hat. […] Ich habe mich bemüht, an bestimmten Punkten die Grundregeln des allgemeinen osteuropäischen Unabhängig‐ keitskriegs einzuhalten und vor allem seinen Optimismus ernstzunehmen, das heißt den Menschen als Wesen für ein vielversprechendes Phänomen zu erachten, trotz all seines Elends, seines Leides, seiner Unfähigkeit und Bösartigkeit. 1 Doch gleich nach Beendigung des Buchs der Erinnerung begann Nádas mit etwas, aus dem dann die Parallelgeschichten wurden, und in dessen Zusammen‐ hang er diese Erwartungen nicht mehr akzeptierte, obwohl der Endpunkt der osteuropäischen Diktaturen, als er 1985 mit dem Schreiben begann, noch nicht abzusehen war: Das Ende der Diktatur sah niemand, auch ich nicht, doch gerade deshalb begann ich wie ein Wahnsinniger sofort mit einem anderen Roman, der die Selbsteinschränkung jetzt auch aus ethischen Gründen nicht mehr auf sich nimmt. So rückt der Stoff des Romans, wenn du so willst, näher an eine anthropologische oder ethologische Beschreibung heran, ist sachlicher, antwortet eher auf die Frage, wenn er denn 56 Orsolya Rákai <?page no="57"?> 2 ebenda 3 ebenda antworten will, was für ein Wesen der Mensch ist. Und er wird so antworten, dass er die Meinungen anderer und ihre Irrglauben nur als Stoff berücksichtigen wird, so wie auch ein Arzt die Empfindlichkeiten oder die Scham einer Person unter Narkose nicht berücksichtigt. […] In dieser Arbeit […] habe ich mich von der ethischen Verpflichtung verabschiedet. In solchen Momenten drohen einem Skepsis, frühe Resignation oder eine Art mieser Zynismus. 2 Nádas verortet den künstlerischen Prozess des Romanschreibens also möglichst genau, bis in die Ebene der poetischen, romantechnischen Besonderheiten und der Satzstrukturen hinein, im politischen Raum: Auch die aufgeworfenen philo‐ sophisch-ethischen Fragen werden dezidiert in diesem Raum formuliert, in dem die enge Beziehung von Identität und Macht eine zentrale organisierende und erklärende Kraft darstellt. Er erteilt der zentralen Bedeutung des Verhältnisses von Individuum und Kollektiv sowie der Postulierung der Möglichkeit einer an das Individuum geknüpften Freiheit auch dann keine Absage, wenn diese Möglichkeit als wesentliches Element des europäischen Gedankensystems nur als Mangel, als negativer Raum bereitsteht. In gewissem Sinne sind (wie er in dem zitierten Abschnitt der Eigeninterpretation formuliert) das Buch der Erinnerung und die Parallelgeschichten der positive beziehungsweise negative Teil eines Paares, es wird dieselbe Frage auf den Seiten des späteren Romans weitergedacht, weitergeführt, und im Prozess des Schreibens stellt sich heraus, dass die menschliche Gesellschaft sehr tief in die Person eindringt. Der kollektive Be‐ wusstseinsinhalt funktioniert dann nicht nur als kulturelles Bindemittel, sondern auch als zerstörerische und vernichtende Kraft. Wieder stellt sich die Frage, ob es das Individuum überhaupt gibt, wo kollektive Kräfte dieser Art in einem einzigen Menschen wüten. Wo ist in mir die Person, wenn ich in einem solchen Maße Herdentier bin? Das war die Frage der ,Parallelgeschichten‘. 3 Derart unter dem Mikroskop vergrößert hat es jedoch den Anschein, das Indi‐ viduelle und das Kollektive ließen sich nicht voneinander unterscheiden, diese Differenzierung habe einfach keinen Sinn mehr - und dieser mikroskopische Blick mit seiner so hohen Auflösung wird in erster Linie durch die überaus konsequente und bewusste Fokussierung auf den Körper gewährleistet. Das aber geht mit der Kündigung des oben erwähnten Vertrags einher: Die Arbeit dringt tiefer, als es dieser erlauben würde. Nádas hinterfragt die größt‐ möglichen Begriffe der literarischen Moderne (wie Wirklichkeit, Geschichte, 57 Gneis <?page no="58"?> 4 István Margócsy, Nádas Péter: Párhuzamos történetek, in: 2000, 2005, 12, S. 52. 5 Gábor Németh, Hassliebe. Nádas Péter: Párhuzamos történetek, in: Jelenkor, 2006, 4, S. 463. Sagbarkeit, Fremdheit, Körper, Vater usw.), während er weiß - und das muss auch der Leser bald erkennen -, dass die kanonisierten Interpretationen dieser Begriffe diese Vivisektion vermutlich nicht überleben werden. Einen bedeu‐ tenden Teil der Reaktionen auf den Roman machen die Meinungen aus, die ihm das auch nicht verzeihen - sie sind nicht bereit, dem Ruf des Romans ins Chaos, hinter die diskursiven Kulissen, in den Identitätsverlust und darüber hinaus zu folgen. István Margócsy begann seine Kritik des Romans beispielsweise damit, dass er ihn nach einem heftigen, erschöpfenden, erregenden und im Stich lassenden, freud‐ vollen und verbitterten, aufregenden und grotesken Kampf, der teils von deprimie‐ render, dann wieder von ironischer Stimmung war, mit einem gemischten Gefühl von Empörung und Verzweiflung niedergelegt habe; er sei zu einer Schlussfolgerung gekommen, die er eigentlich nicht glauben wollte, und las den überaus umfangreichen Roman deshalb noch einmal - leider mit demselben Endergebnis: Dieser Roman ist ein Fiasko, das riesige Fiasko eines großen Schriftstellers. 4 Sein Text versucht danach mit aller Kraft „zu verstehen, warum er verfehlt ist“ - und dabei hält er bis zum Äußersten an der Gültigkeit jenes Vertrags- und Erwartungssystems fest, von dem er als Ausgangspunkt gerade selbst behauptet, es sei zum Verstehen des Romans unbrauchbar. Wenn auch scheinbar mit sehr viel größerer Anerkennung, so kommt Gábor Németh doch zu einem ähnlichen Schluss. Der Roman setze die angesehene Tradition des europäischen Romans fort, beginne „mit der Stimme der All‐ wissenden“, der Stimme der „Großschriftstellerei“, die offensichtlich unglaub‐ würdig sei, denn Németh hebt hervor, dass der Text nicht deswegen, sondern trotz dessen erreiche, dass der Leser dabei bleibe. Seines Erachtens sei dies dem Umstand zu verdanken, dass gerade der Text dieses Nebelbild auflöst. Der Tod des Zauberers. Der sprechende Mund zerkaut das Zentrum des Egos, dekonzentriert es, zerpflückt es in kleine Stücke. […] Das Buch wimmelt von Sätzen, die man nicht mit einer jeden Zweifel ausschließenden Eindeutigkeit einem Sprecher zuordnen kann. Aussagen, die ebenso vom Erzähler stammen können, wie auch die innere Rede einer der Figuren sein können. […] Als bilde der Text nicht den Erzähler ab, sondern die wabernde Geistergestalt der Erzählung, als wandere diese aus dem Autor in den Erzähler, in die Figur. 5 58 Orsolya Rákai <?page no="59"?> Németh verfolgt diesen Gedankengang allerdings nicht weiter, demzufolge das Ego verschwindet, sich das sprechende Subjekt dekonstruiert und sich die Grenze zwischen „Literatur und Leben“, Sprache und Körper verflüchtigt. Ganz im Gegenteil: Indem er das Werk als einen Versuch deutet, Zugang zum „Unsagbaren“ zu finden, beklagt er seltsamerweise gerade die Überschreitung, genauer gesagt die Ekstase der Überschreitung, die Ekstase, die eine eindeutige Spur in der Sprache hinterlassen habe. Seine Konklusion ist bei aller scheinbaren Anerkennung niederschmetternd: Der Erzähler hat „selbst mit dieser derart übermenschlichen Arbeit nicht geleistet, was er auf sich genommen hat“, was unter dem Gesichtspunkt der Ästhetik der Moderne das negativste Urteil überhaupt ist. Dieses unwiderruflich klingende ästhetische Werturteil scheint dazu berufen zu sein, das kritisch-ästhetisch nicht interpretierbare Vergehen der Tabuverletzung indiskutabel zu machen: „der Mensch“, jenseits von Erzähler und Autor, sei aus seinem, für ihn bestimmten Kreis herausgetreten, und es sei, als versuche er das literarische Werk zur Beeinflussung der öffentlichen Rede jenseits der Literatur zu benutzen. Dies ist im Übrigen auch der andere zentrale Vorwurf Margócsys, den er mit der Bezeichnung „Lehrroman“ umschreibt. In den Interpretationsversuchen dieser Art ist die ständige Präsenz der Sexualität in einer Weise, dass sie nicht außer Acht gelassen werden kann, ein wichtiges Merkmal dafür, dass sich der Roman in eine Sphäre jenseits der Lite‐ ratur begebe, oder eine Begründung für seine Einordnung als „lehrromanhaft“: Der Autor gebe sich nicht mit Andeutungen zufrieden, redundant, zwanghaft, geradezu einbläuend wiederhole er „dasselbe Postulat“, das wir schon längst verstanden haben - „Lass uns weitergehen! “, das suggerieren diese Kritiken. „Lass uns zum Kopf zurückkehren! “ - obwohl die Parallelgeschichten gerade diese Konklusion aus dem künstlerischen Prozess des Buchs der Erinnerung zu entfalten beabsichtigen, der zufolge nur mithilfe der ständigen Reflexion auf die Funktion des Körpers die Zusammenhänge zwischen der Makro- und Mikro‐ struktur der Macht, das ständige Oszillieren zwischen dem Kollektiven und dem Individuellen offengelegt werden können. Dass die erotische Lust und die Lust der Macht, die Libido und die (mit den Worten Bourdieus) „Libido dominandi“ in einer überaus engen Beziehung stehen, das ist eine der grundlegendsten Thesen der kritischen Theorien im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Doch mindestens ebenso eindeutig ist, dass diese Erkenntnis bis zum heutigen Tage nicht zu einem Organisationsprinzip unserer Selbsterkenntnis, Selbstbeschreibung und damit unseres Gesellschafts- und Politikverständnisses geworden ist. Nádas’ Frage ist in gewissem Sinne entwaffnend einfach: Warum in aller Welt ist die ständige Thematisierung von Folter, Mord, Krieg und Leid eigentlich kein Tabu, und 59 Gneis <?page no="60"?> 6 Károlyi, Mindig más történik, 2005. 7 Peter Nádas, Parallelgeschichten, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2012, S. 1741. warum ist es jene der sexuellen Motivationen? Warum kann nicht die zweifellos sehr schwerwiegende Frage ins Zentrum gestellt werden, ob jene Väter annehmbar sind, die mich eher zum Mord anspornen als zum Lieben, obwohl sie selbst ständig Liebe machen, nur eben ihre Fantasien vor mir verschweigen, auch vor sich selbst, und daher fortwährend aufs Morden und Rauben aus sind. 6 Selbstverständlich könnten wir diese Zusammenhänge auch außer Acht lassen - das ist, wie er weiter formuliert, „der mörderische Grundzug der europäi‐ schen Verhaltensformen“ -, doch damit beträten wir sehr unsicheren Boden: „Unkenntnis und Unbewusstsein sind effektiv gefährlich“, sehr viel mehr als die Reflexion. Wir müssen, indem wir uns eine zentrale, das Verständnis geologisch beschreibende Metapher entleihen, auf jeden Fall bis zur entferntesten, der „ersten Abkühlungsschicht“ gelangen, bis zum Gneis, der vielleicht noch das Modell eines irgendwie gearteten Prozesses des (Selbst-)Verständnisses, der Epistemologie sein kann, denn dazu boten die weiter oben lagernden Schichten keine Möglichkeit. 1. Körperfarbener Stein: Der Gneis als Metapher der Eigeninterpretation Für mehrere Interpretationen des sich absichtlich nach dem Muster des Chaos organisierenden, schwer zugänglichen Romans bedeutete das geologische Motiv des Gneises, dieses für Annaberg und seine Umgebung charakteristischen Gesteins, das im Kapitel „Hans von Wolkenstein“ des ‚dritten Buches‘ der Parallelgeschichten immer wieder als Kontrapunkt auftaucht, einen wichtigen Anhaltsbeziehungsweise Ausgangspunkt. Die Parallelität im Interpretations‐ prozess wird auch dadurch bestärkt, dass die andere Stimme von der minutiösen, scheinbar wissenschaftlichen Untersuchung lebender Körper handelt, während der Stein aus vielerlei Sicht „organisch“ scheint. In dem einige Seiten langen Abschnitt wird er sogar dreimal als „körperfarben“ bezeichnet und personifi‐ ziert: „Dieser Stein, der Gneis, benimmt sich in jedem Fall seltsam. Einen Augenblick vorher war er von der Sonnenwärme noch lauwarm gewesen, jetzt auf einmal war er eiskalt.“ 7 Oder nur er (das heißt Hans) habe es so empfunden, fügt der Erzähler hinzu, womit er die Personifizierung zu einem Mittel narra‐ tiver Fokalisierung macht und damit die beiden Gegenstimmen miteinander verbindet. Der Gneis erscheint als eine Anhäufung paradoxer, unvereinbarer 60 Orsolya Rákai <?page no="61"?> 8 Sarolta Deczki, A testbe íródó történelem, in: Magyar Lettre Internationale, 2014, 3, S. 66. Wesenszüge: Er ist kalt und warm, von wechselnder Farbe, leicht sprengbar und spaltbar, dennoch hart wie Granit, scharf, aber durch Reibung abgerundet, dem Anschein nach gepolstert, voller Glimmer. Viktória Radics sieht in ihm geradewegs die Metapher für die Struktur der Parallelgeschichten, Sarolta Deczki aber formuliert, der Gneis sei als eine Art „metaphysisch-geologisches Prinzip“ gleichsam die Möglichkeitsvoraussetzung jeglicher Narration: Dies ist die erste Schicht der Abkühlung, diese große und dicke Kruste, die das form‐ lose Magma durch seinen „strukturellen Riss“ prägt und machen Geschichten davon. Geschichten, die in manchen Fällen unvorstellbar sind: Es gibt keine Geschichte, nur Geschichten im Plural und in der größtmöglichen Vielfalt. Aber inmitten der größten Vielfalt bleibt ihre strukturelle Parallelität jedoch ein permanentes Merkmal. Wie es im Roman steht: „in jedem Fall aber ist der Stein den Parallelen entlang spaltbar“ - und daraus folgt das Prinzip der Parallelität von Geschichten. Jede Geschichte ist ein Pendant einer anderen Geschichte, jede Geschichte zieht eine andere an, bis wir schließlich eine riesige und dicke Schicht von Geschichten bekommen, die den ganzen Globus (sowohl den Lebendigen als auch den Toten) bedecken, ist aber keine erstarrte Kruste, sondern ist in ständiger Bewegung. 8 Durch diese Metapher scheint die Struktur des Romans demnach in der Weise verständlich zu werden, dass wir dabei auch klassische Begriffe wie Mimesis‐ anspruch oder Realitätsprinzip wiedererlangen. Damit lassen sich die Parallel‐ geschichten in jene Tradition des großen Romans, ja sogar des historischen Romans, einfügen, dessen Möglichkeitsvoraussetzung sie gerade anzweifeln. Man könnte auch sagen, dass wir, indem wir uns auf den Gneis als unterste feste Kruste „stützen“, die Position des Beobachters erlangen, des Beobachters jenes Diskurses, der auch uns formt und dessen Teil wir sind. Diese Beobachtung ist detailliert, die Bestandteile sind nur aus einer derart mikroskopischen Nähe sichtbar, in der die Identifizierung als Einheit, als Bekanntes bereits unmöglich ist: Wir treten in die Größenordnung der Fremdheit des Eigenen hinüber. Doch diese Beobachtung vollzieht auf diese Weise nicht mehr die Bestätigung, die Affirmation der diskursiven Kratone der großen Erzählungen, sondern gerade im Gegenteil: Sie zeigt, wie zufällig, wie instabil und ausgeliefert dieser Boden ist. Ein in seinem Wesen umgewandeltes, (vorübergehend) verfestigtes Feuer, das sich jederzeit einen Weg durch die Risse bahnen kann: „Der Gneis bedeckt die Erdkugel in einer dicken und mächtigen Schicht. Auf ihm ruhen die verschiedenen Sedimente, und wenn das Magma darunter in Bewegung gerät 61 Gneis <?page no="62"?> 9 Nádas, Parallelgeschichten, S. 1748. und die bestehenden Spalten öffnet, brechen die Eruptionsgesteine durch diesen stellenweise bis zu dreitausend Meter dicken Gesteinsmantel.“ 9 2. Körper als (Bau)Steine Wie in dem oben genannten Kapitel explizit ausgesprochen wird, muss man, damit Dasein/ Leben/ Wirklichkeit/ Mensch beobachtbar sind, bis zur „ersten Abkühlungsschicht“ hinabsteigen und zur Untersuchung der Schichten und Prozesse eine mikroskopische Aufmerksamkeit aufbringen. Die körperlichen Prozesse erlangen auf diese Weise eine erzähltechnisch herausragende Rolle, ihr Sichtbarmachen aber geschieht mithilfe jener Stimme, die Nádas dem reflexiven, stummen Körperbewusstsein, Körpergefühl verleiht: mithilfe des „eisigen Ichs“. Wir sehen die Körper nicht von außen, sondern gleichsam „durch sich selbst erzählt“, was ohne Zweifel eine fremdartige Erfahrung bedeutet, denn die sub‐ jekt- und identitätsformende Episteme der Moderne (mit den Worten Foucaults) ist gerade durch das Zum-Schweigen-Bringen des Körpers, seinen Ausschluss aus dem Diskurs und seine disziplinarisierte Überwachung gekennzeichnet, was zugleich die Quelle der Macht bedeutet. Den Roman aber interessiert vor allem diese Beziehung: Die Macht ist das Medium, durch das die Beziehungen und Geschichten erzählbar (zum Teil des Diskurses) werden, die Ausübung der Macht hingegen realisiert sich im Verhältnis der Körper zueinander. Mit diesem Roman berührt Nádas in der Tat einen Punkt, an dem sich die Frage stellt: „wo ist in mir die Person, wenn ich in einem solchen Maße Herdentier bin“, das heißt, die Identität jenes Subjekts wird grundlegend in Frage gestellt, das sich in diesem durch die Macht gestalteten Raum vertraut bewegt. Deshalb scheint einigen Literaturwissenschaftlern jene obsessive Kon‐ sequenz inakzeptabel zu sein, mit der Nádas die körperlichen Empfindungen, die sexuellen Motivationen und Erlebnisse beim Namen nennt, ihnen eine Stimme verleiht und sie fortlaufend sichtbar auf der Bühne zeigt. Die körperlichen Empfindungen dürften in dieser Form nicht auf die Bühne gehören, müssten als obszön gelten, stattdessen bilden sie nicht nur die Bühne, sondern im Grunde auch die Konflikte, die für die Dynamik des Stücks verantwortlich sind. Das „eisige Ich“ ist daher die (stumme) Selbstreflexions-Position, in der sich der Akteur als dritte Person sehen kann, aber es kann auch darauf hinweisen, dass diese Spaltung des (als Atom der Gesellschaft gesehenen) Subjekts die enormen, inhumanen, die Geschichten formenden bzw. schaffenden Energien sichtbar macht. Geschichten, die die Mikrocodes der Macht wieder in die chaotische 62 Orsolya Rákai <?page no="63"?> 10 Enikő Darabos, A saját mássága mint az individualitás kritériuma Nádas Péter Párhu‐ zamos történetek című regényében, in: Jelenkor 2007, 4, 439-462. 11 Viktória Radics, Kritika helyett. Nádas Péter: Párhuzamos történetek, in: Holmi, 2006, 5, S. 663-695. 12 Radics, S. 672. Lava der Gesellschaft einschreiben und die scheinbar unzerbrechliche, absurde Ordnung der Subjekte neu konsolidieren. Scheinbar ist der Körper jene „gemeinsame menschliche Basis“, die - ähnlich wie der Gneis - einen festen Boden und die Möglichkeit des Verständnisses gewährleistet, und gerade aus diesem Grund erscheint der Roman einigen Literaturwissenschaftlern (wie beispielsweise Margócsy) als eine Feier der zynischen Sinnlosigkeit, die zeigt, wie allerlei wert- und sinngebende Akte zum Scheitern verurteilt sind. Die mikroskopische, langsame Beobachtung führt allerdings nicht unbedingt zu diesem Bild, wie etwa Enikő Darabos 10 oder insbesondere Viktória Radics 11 aufgezeigt haben. Radics zögert nicht, das Feld der Ethik in ihre machtkritische Interpretation einzubeziehen (was übrigens auch die Eigeninterpretation des Autors anbietet), und betont dabei, dass die Körper nicht eingeschlechtlich sind, nicht „allgemein menschlich“: Sie sind als Frauen und Männer geschaffen und implizieren aufgrund des abweichenden Charakters ihrer Sexualität sehr unterschiedliche Bedeutungsnetze. Beide sind ausgeliefert, doch die Muster ihres Ausgeliefertseins sind sehr verschieden. Die Verstrickung der Fäden in der großen Politik mit sexuellen Spielen und Vergnügen gestaltet sich im Allgemeinen nicht wegen der Homöostase „des Menschen“ so, wie sie sich eben gestaltet: Radics spricht bei der Interpretation dieser Stellen explizit von einer Männersexualität und untermauert mit einer Vielzahl an Beispielen, was sie dazu veranlasst. Am plausibelsten ist vielleicht der Abschnitt, in dem sie die losgehende Kanone während der Revolution 1956 als ein Bild deutet, das diese diskursive Macht, die Libido und das Politische miteinander verbindet: Dieser geschichtliche Modus des Mordes, das humane Ebenbild des Todes, das der Mann nach seinem eigenen Bild und seiner Ähnlichkeit geschaffen hat, schwingt in dem gesamten Werk die Sense. 12 Enikő Darabos sieht es ebenfalls so: Auch die radikalsten Feministinnen gehen in der Kritik an der phallozentrischen Gesellschaftsordnung selten so weit, in den Parallelgeschichten können wir nämlich in unglaublich vielen narrativen Variationen beobachten, wie es ist, wenn der Phallos 63 Gneis <?page no="64"?> 13 Darabos, S. 453. 14 Károlyi, Mindig más történik, 2005. die symbolische Ordnung gestaltet. Und dabei wird einem nicht wirklich warm ums Herz. 13 Sogar Nádas selbst formuliert - wie ich bereits zitiert habe -, dass die unter‐ drückte, als Verbot verbannte Libido der „Väter“ dazu führt, dass sie nicht nur „fortwährend aufs Morden und Rauben aus sind“, sondern der Mord, die Folter und die Brutalität salonfähigere und explizit akzeptablere Objekte, Ziele und Motivationsgrundlagen sind, als sexuelle Lust. Die heroischen und gönnerhaften Lügen, die sie von ihren eigenen Vätern tischfertig geerbt haben, sollten sie doch wohl nicht weitergeben. Die politische Philosophie der Fußball- und Schlachtfelder sollten sie doch wohl von ihrer Libido trennen. Auch für sie wäre das besser. 14 - schreibt Nádas, und man kann sich nur schwer des verblüffenden Gefühls entledigen, dass die Parallelgeschichten auch als eine genderorientierte, diskurs‐ kritische Dekonstruktion der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts gelesen werden können. Die erzähltechnische Realisierung dieser Zielsetzung lässt sich vielleicht mithilfe der korporalen Narratologie am leichtesten unter‐ suchen. 3. Körper als Erzähltechnik: Annäherungen mit Hilfe der korporalen Narratologie Die durch eine neuere Generation kritischer Theorien beeinflussten postklas‐ sischen Narratologien untersuchen häufig die Frage nach der Präsenz des Körpers in der Erzählung, die sogenannte korporale Narratologie aber stellt die Körperlichkeit der Akteure als grundlegende Kategorie des Verstehens in den Vordergrund und kann aufzeigen, wie narrative Texte quasi automatisch die kontinuierliche Reproduktion von Machtverhältnissen unterstützen. Nach dem Ansatz, der mit dem Namen von Daniel Punday verbunden ist, wird der Körper in der Narration jedoch keineswegs nur durch die Beschreibungen wahrnehmbar. Sehr viel wichtiger sind nämlich jene Momente, in denen die Körper durch ihre Bewegungen, ihre Berührungen des anderen und der Gegenstände ihrer Umgebung sowie ihre Beziehungen für den Leser eine korporale Atmosphäre schaffen, denn dadurch wird für uns einerseits die erzählte Realität wahrnehmbar, andererseits können wir eine Beziehung zu den Figuren aufbauen. Dieser sinnliche Prozess der Wahrnehmung schafft 64 Orsolya Rákai <?page no="65"?> 15 Tímea Jablonczay, A test narratológiája, in: Helikon, 2011, 1-2, S. 102. 16 Daniel Punday, Narrative Bodies. Toward a Corporeal Narratology, Palgrave Macmillan, New York, 2003, S. 13. auch jenen metaleptischen Raum, in dessen Verlauf sich der Text in Richtung des gesellschaftlichen Kontextes öffnet und ihn zugleich erschafft, indem er den Leser gewissermaßen in das Universum des Textes miteinbezieht. Die durch die korporale Narratologie ermöglichte Interpretation konstruiert sich so ausgesprochen „aus einer politischen und gesellschaftlichen Verortung“; „Nach den Lesarten der Dekonstruktion, die in einem fort auf die textuelle Verzögerung und das textuelle Spiel, auf die eigene Ortslosigkeit achtete, kommt in der narrativen und korporalen Wendung dem Körper, der sich in den textuellen Konstruktionen in Bewegung befindet, und damit der physischen Interaktion zwischen Text und Welt eine wichtige Rolle zu.“ 15 Punday ist der Ansicht, dass der Grad der Verkörperung der Figuren und Erzähler unter dem Gesichtspunkt der Interpretation von entscheidender Be‐ deutung ist. 16 Es erleichtert die Identifikation, wenn der Erzähler schwächer verkörpert ist, während die gegebene Figur stark verkörpert wird. Bedeutung, Macht- und Relevanzpositionen beeinflussen grundlegend jene Konflikte, die die Grundlage für die Struktur der Erzählung bilden. Somit hilft der Grad der Verkörperung dabei, das Gefühl des Fortschreitens von irgendwo nach irgendwo, der Lösung und des Verstehens in uns zu entwickeln. Nádas’ Roman ist ein außergewöhnliches Experiment: Unter diesem Ge‐ sichtspunkt gibt es praktisch keine Hierarchie - jede Person des Romans ist in jeder ihrer körperlichen Funktionen stark verkörpert, was den Leser verunsichert, der so keine funktionale Reihenfolge unter den Protagonisten und Nebenfiguren, den wichtigen und weniger wichtigen Ereignissen aufstellen kann. Zudem konzentriert sich der Erzähler stark auf die jeweils beschriebene, beobachtete Figur: Während in einer Erzählung meist ein Fokalisator oder mehrere Fokalisatoren deutlich identifizierbar sind, durch die wir einen Einblick in die Textwelt gewinnen, funktioniert hier praktisch jeder auf die gleiche Weise und beständig als Fokus. Die multi-fokale Perspektive des Romans macht die eindeutige Abgrenzung der narrativen Stränge unmöglich und fördert die Erfüllung jener quasi realistischen Ansprüche, die Nádas so formulierte, dass wir die Stränge auch in der „Wirklichkeit“ nicht eindeutig identifizieren könnten, dass es Dinge gebe, die sich abheben würden, als freie Valenz erhalten blieben und nicht in eine gegebene Geschichte eingefügt werden könnten. All dies führt dazu, dass sich innen und außen, Hintergrund und Vordergrund im Roman nicht voneinander trennen können - öffentlich und privat, kollektiv und individuell nur Bestandteile sind, „Quarz, Feldspat und Glimmer“ in jenem 65 Gneis <?page no="66"?> 17 Radics, S. 680. komplexen metamorphen Material, das der Roman mithilfe der Fokussierung auf die sinnliche Erfahrung unter den diskursiven Ablagerungsschichten he‐ raufbefördern will. Daher kann Viktória Radics in der vielleicht interessantesten und empathischsten Interpretation des Romans schreiben: Nicht die Sexualität ist bei Nádas mystisch, auch nicht die Erotik, sondern die Sinneswahrnehmung. […] Die vertrackten oder leichter durchschaubaren Persönlich‐ keitsstrukturen sind von einem dichten Pflaster von Lügen bedeckt, und der „Atem der Freiheit“ macht das zu einem strahlenden Wesen, was in seltenen Momenten zwischen zwei Menschen, nicht unbedingt zwei lebenden Menschen, und egal welchen Geschlechts, erfahrbar werden kann, in einer Gemeinschaft, nicht unbedingt im Au‐ genblick des geschlechtlichen Verkehrs. Mehr noch, zwischen Mensch und Landschaft (der organischen Welt), für einen Augenblick der Zeitlosigkeit. Das Schöne und das Grauenhafte gleiten ineinander, trennen sich - es zeigen sich „Schönheit und Ironie des ewigen Versprechens“ und darüber hinaus auch eine Art Unversöhnlichkeit. 17 66 Orsolya Rákai <?page no="67"?> Im Schnittpunkt der Horizonte Ein Essay László F. Földényi Im Jahr ihres Erscheinens, 2005, las ich die Parallelgeschichten zwei Mal, dann sechs Jahre später noch ein drittes Mal. Und im letzten Jahr, als Nádas’ Auto‐ biographie, Aufleuchtende Details, veröffentlicht wurde, nahm ich den Roman erneut in die Hand. Da begegneten mir die meisten Figuren bereits wie lange nicht gesehene alte Bekannte. Aber auch an einige der anderen Figuren konnte ich mich noch genau erinnern, konnte mir bisweilen Sätze, die sie sprachen oder die mit ihnen assoziiert wurden, wörtlich in Erinnerung rufen. Wieder andere tauchten eher wie Traumgestalten vor mir auf, die ich kannte, ohne dass ich gewusst hätte, woher. Und es gab natürlich auch solche, an die ich mich überhaupt nicht mehr erinnern konnte. Jedenfalls waren mir nach diesen Lektüren viele Figuren vertrauter als manche meiner Bekannten aus Fleisch und Blut. Bisweilen stellte ich mir - auf Geheiß irgendeines heimlichen Systematisierungszwanges - vor, wie gut es wäre, sie alle in einer Reihe aufzustellen, hinter- oder nebeneinander, um über jeden von ihnen gleichzeitig, in einem Atemzug, all das zu erfahren, was sonst über mehr als anderthalb tausend Seiten ausgebreitet ist. Auf diese Weise ließen sich viele kleine Romane (oder Kurzromane) zusammenstellen. Der eine hätte Ballardi zur Hauptfigur, der andere Elemér Vay - von dem wir so wenig erfahren -, der dritte Peix, dessen Vorleben mich interessieren würde, der vierte Kristóf, der fünfte Döhrings Tante. Und so weiter. Jeder von ihnen stünde vor mir wie der Held eines Romans von Balzac, bei dem der Leser gewöhnlich die Illusion hat, alles über ihn zu wissen. Das setzte freilich voraus, dass man auch ihre Geschichte abrundet, wie Balzac es tut, indem er die meisten seiner Figuren in den Rahmen einer Karrieregeschichte im weitesten Sinn des Wortes hineinzwängt. Was ihn nicht daran hindert, die unterschiedlichen Hauptfiguren später auch in anderen Romanen oder in den Geschichten anderer Figuren auftauchen zu lassen, gegebenenfalls auch als <?page no="68"?> Nebenfiguren. Hinzu kommt, dass Balzac die unterschiedlichen Geschichten wie Zahnräder ineinandergreifen lässt. So setzt sich schließlich jenes große Ganze zusammen, das keinen treffenderen Titel haben könnte als Die menschliche Komödie. Mein Drang, die Parallelgeschichten für mich im Sinne der Dramaturgie der Menschlichen Komödie umzukonstruieren, war bei meiner dritten Lektüre des Romans noch stärker als zuvor. Ein unstillbares Verlangen abzuschließen und abzurunden veranlasste mich, über die einzelnen Figuren zu fantasieren und ihre Geschichten in meinem Kopf weiterzuspinnen, wo sie auf meiner inneren Bühne einmal eine dramatische Wende nahmen, ein andermal ein natürliches Ende fanden, oder auch einfach in Nichts zerrannen. Doch stets führte ich Unter- und Überordnungen durch und stellte mir zu diesem Zweck sogar Verbindungen vor, die im Roman in keiner Weise angedeutet werden. Auf diese Weise begegneten einander bei mir Bellardi und Döhring, Karakas und Hans von Wolkensteins Vater, der im Roman, soweit ich mich erinnere, gar nicht erscheint, oder auch Simon und Gyöngyvér. Und so weiter. Aus ihnen allen entstünde ein großer Haufen, den man gut und gern ebenfalls Die menschliche Komödie nennen könnte. Wenn ich mir aber Kristóf in dem auf der Margareteninsel spielenden Teil vor‐ stelle, dann gewinnt diese menschliche Komödie metaphysische Dimensionen, die den Rahmen des noch Menschlichen sprengen. Diese Dimensionen deuten bereits auf die Göttliche Komödie hin. Denn die Art und Weise, wie Kristóf hier in die Mannesliebe eingeweiht wird, entspricht uralten Initiationen. Kristóf steigt hier, ohne sich dessen bewusst zu sein, nicht nur in die dunklen Abgründe der Aborte, sondern auch in die Abgründe der Kultur hinab, in jenes Ursprüngliche, in dem alle zivilisatorischen Hüllen fallen und der Mensch des Erlebnisses des Heiligen teilhaftig wird. Der Riese und sein Gehilfe halten Kristóf so in ihren Armen, wie auf einer Pièta-Darstellung Maria den toten, ohnmächtigen Christus in ihren Armen hält. Hier tun sich metaphysische Horizonte auf, die bereits über die menschliche (und gesellschaftliche) Komödie hinaus verweisen. Ich las den Roman also im Banne Balzacs, doch am Ende führte er mich in ganz andere Richtungen. Während ich im Geiste mit den Figuren Schach spielte, machte ich die Beobachtung, dass es zwar unmöglich ist, die Geschichten der einzelnen Figuren abzuschließen, das Ganze jedoch eine beruhigende Abge‐ schlossenheit aufweist. Zwar scheint der Verfasser seine sadistische Freude daran zu haben, Figuren bisweilen vor dem Leser zu verstecken oder ohne jede Erklärung endgültig abtreten zu lassen, ihre Geschichte zu unterbrechen, um sie dann an ganz anderer Stelle wieder aufzunehmen, oder Figuren nur vorübergehend auf die Bühne zu stellen, ohne jedes Vorspiel oder Nachspiel. 68 László F. Földényi <?page no="69"?> Also daran, alles „ungelöst“ zu lassen. Doch stellt das kein Hindernis für ein „großes, rundes Ganzes“ dar - für eine Abgerundetheit, die allerdings nicht mehr nach den Regeln der herkömmlichen realistischen Tradition entstanden ist. Wenn ich nach Parallelen suche, kommt mir statt Balzacs Konstruktionsweise als erstes die mittelalterliche Epik in den Sinn. Die Werke Chrétien de Troyes’, der Beowulf, Sir Gawain und der grüne Ritter, oder die Legenden um König Artus: allesamt Werke, in denen weniger die Handlung als deren Muster bestimmend ist. Der heutige Leser vermag diese Werke eigentlich erst bei der zweiten Lektüre zu verstehen, denn die Betonung liegt weniger auf den einzelnen Geschichten als auf jenen verborgenen Fäden, die die rational kaum begreiflichen Zusammenhänge erschaffen. Natürlich spielen Raum und Zeit in diesen Geschichten eine genauso wichtige Rolle wie in den realistischen Erzählungen, doch lässt sich dieser Raum in keine Landkarte übertragen, diese Zeit mit keiner mechanischen Uhr messen. Beiden fehlt die Linearität, für eine zuverlässige Orientierung gibt es kaum einen Anhaltspunkt - das hat jedoch nicht zur Folge, dass die Figuren oder der Leser sich verirren, und natürlich geraten auch die Erzählstränge nicht durcheinander. Die einzelnen Figuren treten aus der Irrealität hervor und verschwinden ebendort - was auch ihr Leben in der sogenannten Realität gehörig verändert und phantastisch werden lässt. Das garantiert auch, dass alle Figuren einen spürbaren Bezug zu allen anderen haben, selbst wenn sich viele von ihnen auf der Ebene der konkreten Ereignisse gar nicht begegnen. In der mittelalterlichen Epik steht die alles durchdringende Irrealität für jene unsichtbare und doch spürbare Dimension, die sich als gewaltiges Fragezeichen über das menschliche Leben wölbt. Damals assoziierte man sie mit dem Mysterium Gottes. Später bezeichnete man sie - je nach Epoche, Bildung, Geschmack - als Unbegreiflichkeit des Kosmos, Unendlichkeit der Natur, Unergründlichkeit der Schöpfung, wieder später als Sein oder als Nichts, bis man dies im Banne des sogenannten Realismus vergaß und das menschliche Leben auf das Begreifliche, Verständliche, Nachvollziehbare zu reduzieren versuchte, auf das, was in den Rahmen einer abgerundeten und in sich geschlossenen Geschichte hineingezwängt werden konnte. Die Art und Weise, wie die Figuren in Parallelgeschichten aus dem Nichts auftauchen, um dann wieder irgendwohin zu verschwinden, wie sie in den un‐ erwartetsten Augenblicken in Erscheinung treten und eine alles beherrschende Stellung einnehmen, um dann genauso unerwartet wieder zu Randfiguren zurückgestuft zu werden - das alles erinnert mich auch an die Struktur der mittelalterlichen Epik. Parallelgeschichten brach mit der Praxis des linearen Erzählens - in ähnlicher Weise übrigens, wie Aufleuchtende Details mit dem perspektivischen Sehen brach. Was die narrative Struktur von Nádas’ Autobio‐ 69 Im Schnittpunkt der Horizonte <?page no="70"?> graphie betrifft, gibt es eine starke Parallelität zwischen ihr und dem Roman: Aufleuchtende Details ist genauso wenig eine traditionelle Autobiographie, wie Parallelgeschichten ein traditioneller Roman ist. Auch hier dehnt Péter Nádas die Grenzen der Gattung so lange aus, bis sich die unterschiedlichen Horizonte übereinander schieben wie Eisschollen beim Eisstoß. Auch in Aufleuchtende Details kreuzen sich die Schicksale - meist die Schicksale der Familienmitglieder -, und während das eine im Vordergrund steht, setzt das andere seinen Weg als unterirdischer Bach fort und umgekehrt. Statt von der Chronologie wird die Erzählstruktur vom assoziativen Mechanismus der Erinnerung bestimmt. Deshalb wirkt das Buch wie ein Universum ohne Mittelpunkt. Genauer gesagt bildet stets das, wovon gerade die Rede ist, seinen Mittelpunkt. Von diesem Mittelpunkt gehen mehrere Kraftlinien aus, und jede, die Nádas zu verfolgen beginnt, führt ihrerseits zu einem neuen Mittelpunkt. Nádas arbeitet in seiner Autobiographie - ähnlich wie in seinem Roman - mit einem doppelten, ja mehrfachen Fokus. Als Leser sehe ich sein Gesicht immer schärfer, gleichzeitig sehe ich aber auch den Hintergrund immer schärfer. Was bei einer Fotografie von vornherein ausgeschlossen ist, funktioniert hier sehr wohl. Die Figuren sind - im Gegensatz zu ihren vorher erwähnten mittelalterlichen Entsprechungen - auch mit so viel Gründlichkeit und Detailliertheit ausgear‐ beitet, ihre Taten und Gedanken mit so viel Umsicht und Logik gewappnet, dass kein Realismus der Welt bei alledem etwas vermissen könnte. Nur zeigt die Logik des Ganzen - der einzelnen Schicksale sowie der Geschichte als Ganzes - eben in eine völlig andere Richtung. Um auf die vorigen Beispiele zurückzugreifen: Parallelgeschichten spielt in der Welt Balzacs, hier, in diesem uns allen vertrauten Alltag, den wir auch als Geschichte zu bezeichnen pflegen - und doch struktu‐ riert sich das Ganze nach der Logik Dantes. Damit meine ich nicht Dantes hierar‐ chische Bauweise, denn die widerspricht gerade der Methode des zerstörenden Bauens, die in Parallelgeschichten vorherrscht, sondern die Tatsache, dass Dante alles, was real, also irdisch ist, im Spiegel des Nicht-Realen, Nicht-Irdischen, also der Metaphysik betrachtet. Erst vor dem Richtstuhl des Nicht-Realen und Unbegreiflichen gewinnt man ein gültiges und wahres Bild des Realen und Konkreten. Dieses Prinzip kommt in Parallelgeschichten konsequent zur Geltung, und deshalb halte ich das Buch für eines der bedeutendsten Kunstwerke der europäischen Literatur in den vergangenen hundert Jahren. Indem Nádas den Horizont des Daseins anderswo festlegt, als wir das vom bürgerlichen Roman gewohnt sind, versetzt er die Romangattung in eine Grenzsituation. In Parallelgeschichten sind die Lebenswege der Figuren ineinander verkeilt „wie ein Haufen gespaltenes Holz“. Sie scheinen parallel zueinander zu verlaufen, und doch mischt jeder kräftig mit, wenn es darum geht, welche Richtung die jeweils 70 László F. Földényi <?page no="71"?> anderen einschlagen. Und Nádas tut das nicht nur dadurch, dass er Ereignisse und Handlungen erzählt, sondern indem er in jeder Szene auch die banalsten Handlungen der Figuren aus einer metaphysischen Perspektive beobachtet. Und diese Perspektive, so scheint es, ist mit der traditionellen Konstruktion des neuzeitlichen Romans nicht mehr vereinbar. Vielleicht erklärt das, warum ich bei meiner Lektüre von Parallelgeschichten nicht nur meine Erwartungen an den traditionellen realistischen Roman enttäuscht sah, sondern tatsächlich das Gefühl hatte, dass mir der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Und das wiederum bestätigt meinen Verdacht, dass wir etwas dann als wirkliche Kunst bezeichnen können, wenn es auch sich selbst zu unterminieren beginnt. Als ich Parallelgeschichten zum letzten Mal las, tauchte neben den mittelal‐ terlichen Mustern auch ein Bild wiederholt vor mir auf: Antonello da Messinas in Dresden ausgestelltes Gemälde Der Heilige Sebastian. Vielleicht deshalb, weil - ähnlich wie Parallelgeschichten - auch dieses Gemälde nicht nur als Kunstwerk in meinem Leben präsent ist, sondern gleichsam ein Teil meiner Lebensgeschichte zu sein scheint. Ich war zwölf Jahre alt, als ich dieses Bild zum ersten Mal sah - ich verbrachte den Sommer damals als Austauschschüler in Dresden. Ich hatte von dem Maler bis dahin ebenso wenig gehört wie vom Heiligen Sebastian. Ich hatte keine Ahnung, wen das Bild darstellte. Also besah ich in der Gemäldegalerie des Zwingers jedes Detail des Bildes aufs Gründlichste, und sie peitschten meine Phantasie auch gründlich auf. Nicht zuletzt auch deshalb, weil ich die zahlreichen Details nicht zu einer einzigen Geschichte verknüpfen konnte. Sie blieben rätselhaft und geheimnisvoll. Und was sah ich? Ich sah zum Beispiel einen Mann in einem blauen Mantel mit einem weißen Turban auf dem Kopf, wie er in Gesellschaft eines anderen Mannes irgendwohin aufbricht, dabei aber einen Mann ansieht, der hinter einer nahegelegenen Mauer hervortritt. Sein Blick wirkt gerade deshalb bedeu‐ tungsvoll, weil ihn der andere nicht erwidert. Der Gefährte des Mannes im blauen Mantel bemerkt von alledem nichts, sondern schreitet weiter. An einem Flussufer unterhalten sich zwei Männer - aber derart vertieft, dass sich sofort die Frage aufdrängt: Worüber? Eine Frau drückt ein kleines Kind an sich. Es wäre eine unschuldige Szene, würde zu ihren Füßen nicht ein Mann liegen, der mit offenem Mund schläft, als wäre er betrunken. Etwas weiter entfernt unterhalten sich zwei Pagen, der eine zeigt auf etwas in der Ferne - man weiß aber nicht, worauf, weil der Maler darauf Wert gelegt hat, dass es nicht zu sehen ist. In der Höhe, auf einem Balkon, stehen ein linkisch gestikulierender Mann und eine Frau, die in eine ganz andere Richtung blickt - sichtlich gestört durch die Gegenwart des Mannes. In dem sonst geordneten städtischen Raum liegt eine nicht wirklich hierher gehörende, gebrochene Säule. Hinter einer Mauer 71 Im Schnittpunkt der Horizonte <?page no="72"?> unterhalten sich zwei Männer mit Turban, halb verborgen - als würden sie etwas im Schilde führen. Und dann ist da natürlich der fast nackte Mann mit dem weiblichen Gesicht in der Mitte, sein Körper von Pfeilspitzen durchbohrt - in seinem Gesichtsausdruck spiegelt sich dasselbe unbeantwortbare Rätsel wie in der Körperhaltung und dem Benehmen aller anderen Figuren auch. Er ist unverkennbar die Hauptfigur - obwohl ihn die vielen Figuren auf dem Bild gar nicht zur Kenntnis nehmen. Jeder von ihnen hat seine eigenen Sorgen - jeder ist die Hauptfigur seines eigenen Lebens. Nur gehen die einzelnen Leben eben nicht zusammen. Jedenfalls nicht so, dass man sie auf die Kette einer gemeinsamen Geschichte auffädeln könnte. Es lässt sich aber auch nicht behaupten, dass sie in keiner Beziehung zueinander stünden. Wenn nichts anderes, so schafft ihre gemeinsame Gegenwart im Raum des Bildes eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen - etwa so wie Menschen, die zur selben Zeit leben, unabhängig davon, wo sie sich auf dem Erdball aufhalten, mehr miteinander gemeinsam haben als mit einem Menschen, der am selben Ort wie sie gelebt hat oder leben wird, doch in einer anderen Zeit. Das Leiden der zentralen Figur bringt zudem all jene auf einen gemeinsamen Nenner, die dieses Leiden sonst nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Dieser Heilige Sebastian erinnert mich an Kristóf in den Parallelgeschichten, der ebenfalls in einer betriebsamen, ihn nicht zur Kenntnis nehmenden Welt lebt. Hinzu kommt, dass der Heilige Sebastian seit dem frühen Mittelalter der Schutzheilige der Homosexuellen ist, eine Rolle, die er bis heute verkörpert - denken wir nur an Derek Jarmans Film Sebastiane von 1976. Die Hauptfigur von Antonello da Messinas Gemälde gemahnt aber auch an Christus - wie die Homoerotik denn auch in Parallelgeschichten über die Sexualität hinausweist und eine universelle (metaphysische) Dimension erlangt. Ähnlich dem Heiligen Sebastian des Gemäldes gewinnt auch der Roman dadurch einen im weitesten Sinn des Wortes christlichen Charakter, dass das Leiden, wenn es in der Welt erscheint, seine Kraft nach Art des Schmetterlingseffekts entfaltet und selbst dort nach Erlösung schreit, wo es in keiner Weise wahrnehmbar ist. Jedenfalls allem Anschein nach. Wie auf Antonello da Messinas Gemälde, in dem die Welt in Bruchstücke zerfällt, in voneinander unabhängige, einander gleichgültige Entitäten, die allein durch das unsichtbare Leiden miteinander verbunden sind, von dem alle glauben, dass es jenes der anderen sei, obschon es auch das ihre ist. Wie dieses Gemälde erfüllt mich auch Parallelgeschichten sowohl mit einem Gefühl tiefen Mangels als auch tiefer Zufriedenheit. Ich hätte gern, dass sich das Schicksal der einzelnen Figuren unendlich fortsetzt, obwohl es klar ist, dass gerade diese Nicht-Fortsetzbarkeit der Beweis für die echte Abgeschlossenheit ist. Ungefähr so funktioniert auch das Leben. Stets kommt es uns kurz vor, und 72 László F. Földényi <?page no="73"?> je bedrohlicher das Ende herannaht, umso mehr möchten wir, dass es noch nicht zu Ende gehen möge. Und wenn der Tod eintritt, endet zwar dieses bestimmte Leben, und zwar in der allerendgültigsten Weise, und doch: das Leben, das damit zu Ende gegangen ist, bleibt unvollendet. Der Tod kommt immer zum falschen Zeitpunkt, aber er kommt dennoch. Er schließt etwas ab, obwohl alles unabgeschlossen bleibt. (Aus dem Ungarischen von Akos Doma) 73 Im Schnittpunkt der Horizonte <?page no="75"?> 1 Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, hrsg. von Rainer Grübel, Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1979, S. 251: „Der Roman suspendiert nicht nur von gründlicher und subtiler Kenntnis der Hochsprache, sondern er verlangt zusätzlich die Kenntnis der Sprachen der Redevielfalt.“ 2 ebenda, S. 195: „Wir nennen diejenige Äußerung eine hybride Konstruktion, die ihrem grammatischen (syntaktischen) und kompositorischen Merkmal nach zu einem einzigen Sprecher gehört, in der sich in Wirklichkeit aber zwei Äußerungen, zwei Redeweisen, Multiperspektivität Zur narrativen Konstruktion und Schreibweise in Péter Nádas’ Parallelgeschichten Wolfgang Müller-Funk 1. Theoretischer Rahmen: Perspektivität und Perspektivismus Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Frage nach der Eigenart, der Dynamik und der Bedeutung von multipler Perspektivensetzung als einer Form der Pluralisierung von moderner, okzidental bestimmter ‚Lebenswelt‘. Dabei ist eine Diskussion von Bachtins Ansätzen, die sich ja ungebrochener Aufmerksamkeit in Literatur- und Kulturwissenschaften erfreuen, wiederum unvermeidlich. Wie bestimmt nun Bachtin in seinem durchaus heterogenen und von Zensur und Überwachung bestimmten Werk Perspektivität? Ganz eindeutig im Sinne der Redevielfalt und der stimmlichen Polyphonie, also durch ein Nebeneinander von verschiedenen Soziolekten, die - von Rabelais bis zu Döblins Berlin Alexanderplatz - vom obszönen Unterschichtenslang bis zur modernen Wissenschaftssprache reichen. 1 Aber auch durch ein unaufgelöstes Nebeneinander ideologischer An‐ schauungen - Bachtins Lieblingsbeispiel ist Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow - oder das, was man heute als Intertextualität und Intermedialität bezeichnet, gehört in diese scheinbar miteinander nicht verbundene Vielheit, die sich offenkundig nicht auflösen lässt. Insofern ist der Roman, den Bachtin als eine hybride Gattung bestimmt 2 , Medium und Produkt einer modernen Gesellschaft, <?page no="76"?> zwei Stile, zwei ‚Sprachen‘, zwei Horizonte von Sinn und Wertung vermischen.“ Zur gattungsmäßigen Hybridität des Romans vgl. ebenda, S. 210. 3 ebenda, S. 251: „Der Roman ist Ausdruck des galileischen Sprachbewußtseins, das sich vom Absolutismus der einheitlichen und einzigen Sprache losgesagt hat, das heißt vom Bekenntnis zur eigenen Sprache als dem einzigen verbal-semantischen Zentrum der ideologischen Welt, und stattdessen die Vielzahl der nationalen und, was die Hauptsache ist, sozialen Sprachen anerkennt, die alle im gleichen Maß befähigt sind, ‚Sprachen der Wahrheit‘ zu sein […]“[…] 4 Gerard Genette, Die Erzählung, Fink/ UTB, München 2010. die nicht mehr auf einem scheinbar ‚objektiven‘ Fundament gründet. In Gegensatz zu einem so linken wie zugleich konservativen Kulturpessimismus wird der Roman nicht so sehr als das Epos von Entfremdung, Auraverlust und Heimatlo‐ sigkeit gesehen (wie beim frühen Lukács, und in seinem Gefolge bei Benjamin, Anders und Adorno) 3 , sondern als eine der modernen kulturellen condition humaine angemessene literarische Form. Sie deplatziert zugleich die Autorität jener narrativen Instanz, die Bachtin etwas undifferenziert als „Autor“ bezeichnet und die wir seit Genette als heterodiegetischen oder homodiegetischen ‚Erzähler‘ bezeichnen. 4 Bachtin geht davon aus, dass dessen Autorität durch die Vielfalt der Figurenrede ersetzt bzw. beiseite geschoben wird. Es gibt keine Erzählerrede mehr, die im Namen eines zentralen Wertesystems ein Machtwort spricht bzw. das letzte Wort behält. Gerade aus einer postmodernen Perspektive lässt sich dieser Befund affirmieren, positiv wenden und der Verlust jener scheinbar ‚objektiven‘ Welt als ein perspektivischer Zugewinn interpretieren, der einen wenn auch nicht unriskanten ‚Weg ins Freie‘ ermöglicht. Aus heutiger Warte lässt sich freilich sagen, dass Bachtin weder zwischen dem biographischen Autor und der fiktiven Autorrolle, noch zwischen Fokus (Blickwinkel) und Stimme (Redesituation) gebührend unterschieden hat. Beides hängt natürlich miteinander zusammen, ist aber keineswegs identisch, wie das vor allem die niederländische Narratologin und Kulturtheoretikerin Mieke Bal und schon zuvor, wenn auch mit anderem Akzent, Gerard Genette hervorge‐ hoben haben. Die Redevielfalt, die im Zentrum von Bachtins Überlegungen steht, folgt der Frage: Wer spricht in einem Roman? Wem wird das Wort erteilt? Der Fokalisierung liegt eine andere zugrunde: Wer sieht und wer sieht nicht? Als Beispiel wählt Bal eine Szene aus einem Relief des Borobudur-Tempels in Indonesien, das sie in Zeichenform präsentiert: Der Held des indischen Epos, Arjuna, steht in einer Yoga-Stellung, dem Baum, und hält dabei die Augen geschlossen. Vor ihm befindet sich in aufrechter Haltung eine Katze, die die Stellung nachzuahmen versucht, um sie herum tummeln sich fröhlich die Mäuse. Nun ist klar, dass Arjuna, der seine ganze Aufmerksamkeit nach innen lenkt, die Außenwelt nicht sieht, während die Katze nur den indischen Helden betrachtet. 76 Wolfgang Müller-Funk <?page no="77"?> 5 Mieke Bal, Narratology. Introduction to the Theory of Narrative, TUP, Toronto, 2nd edition, S. 144-146. Die Mäuse sind deshalb fröhlich, weil sie sehen, dass die Katze sie nicht sieht und sie sich deshalb in Sicherheit fühlen. Der nicht im Bild befindliche Betrachter wiederum sieht alle drei Akteure und er sieht vielleicht etwas ad futurum, was die Mäuse nicht sehen, dass nämlich der ganze Zauber in dem Moment auffliegt, wenn Arjuna und daraufhin auch die Katze ihre Übung beenden und die Mäuse abermals in Gefahr geraten. 5 Diese Form von Fokalisierung, wonach jemand sieht, was der andere nicht sieht, findet sich auch im europäischen Roman. Ich denke etwa an einen der Prototypen des neuzeitlichen okzidentalen Romans, an Miguel de Cervantes’ Don Quichotte, in dem der Blickwinkel des ‚Helden‘, seines Dieners und des Lesepublikums divergieren. Komisch ist dieser Held nämlich wegen seines eingeschränkten Blickfeldes, das wiederum an eine ideologisch überkommende Sichtweise seines kulturellen Umfeldes geknüpft ist. Nur deshalb kann er in den Flügeln der Windmühle ein feindliches Heer erblicken, dem er sich entschlossen, im Sinne des - überkommenen - ritterlichen Heeres entgegenstellt. Sein Diener und seine Umgebung hingegen teilen diese Perspektive ebenso wenig wie die Leserschaft: Aus dieser Differenz resultiert auch die Komik des ganzen Buches, die den ‚Helden‘ ungeachtet seines eingeschränkten Blickfeldes als liebenswürdig erscheinen lässt. Zu dieser Multiperspektivität gehört indes auch ein intertextuelles Moment, sind doch in den Roman all jene aus der Sicht des Erzählers überkommenen spätmittel‐ alterlichen Heldenromane eingeschrieben. Gesteigert wird der Perspektivismus des Romans durch ein narratives Verwirrspiel um die Autorfunktion. Ein anderes Beispiel für eine doppelte Fokalisierung ist Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Während sich nämlich die Figuren der Handlung in einer sicheren Situation wähnen, wissen der Erzähler und seine Leserschaft, dass die Tage des Habsburgischen Imperiums gezählt sind, und dass all ihre Anstrengungen und Aktionen, die in der Parallelaktion kulminieren, vergebens und vergeblich sind. Die beiden Beispiele machen klar, dass Perspektivismus und Redevielfalt nicht dasselbe sind, auch wenn man im Falle Musils auf den Pluralismus der weltanschaulichen Positionen verweisen kann, die im Verlauf des Romans aufgeboten werden: Humanismus, Realpolitik, völkisches Denken, naturwissen‐ schaftlich-mathematisches Denken, Sozialismus, Frauenbewegung, Pazifismus und Mystik. Aber jene Redevielfalt, die im Zentrum von Bachtins Überlegungen steht, die verschiedenen Binnensprachen einer Kultur und damit verbunden die 77 Multiperspektivität <?page no="78"?> 6 Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, S. 338-348. 7 Vgl. Gunter Anders, Über Kafka, in: Mensch ohne Welt. Schriften zur Kunst und Literatur, C. H. Beck, München, 1984, S. 59f. Northrop Frye hat die Modernität von Cervantes darin gesehen, dass er eine Figur geschaffen hat, die weniger von der Welt weiß als die Leserschaft. (Northrop Frye, Anatomy of Criticism. Four Essays, Princeton UP, Princeton, 1957.) Vermeidung einer eigenen, durchgängig verwendeten dichterischen Sprache, findet sich bei Musil viel weniger als etwa in James Joyce’ Ulysses. Mit Rabelais’ Gargantua e Pantagruel, für Bachtin mehr noch als Don Quichotte der Prototyp des modernen Romans, hat das Werk des Iren die Vorliebe für eine so plastische wie obszöne Sprache gemeinsam. 6 Zwischen der Pluralisierung der Sichtweisen und jener der Sprache bestehen signifikante Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede. Das lässt sich an einer Gattung veranschaulichen, die sich im 18. Jahrhundert beträchtlicher Beliebt‐ heit erfreute. Die Briefromane Richardsons oder Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos’ Les Liaisons dangereuses spalten die Erzähler- und die Figurenrede auf und perspektivieren sie. Aber sie müssen nicht zwangsläufig eine Diversifizierung der sprachlichen oder ideologischen Homogenität mit sich bringen. Nicht selten führt der Briefroman, um ein Beispiel aus der deutschen Literatur zu nehmen, in Ludwig Tiecks frühem Werk Die Geschäfte des Herrn William Lovell, zu einem Nebeneinander homodiegetischer Erzählerinnen und Erzähler. Beide unterminieren die klassische Vorstellung vom dichterischen Werk, das in einer Sondersprache verfasst ist und das zumeist aus einer gesi‐ cherten Perspektive erzählt ist. Ganz signifikant ist das im ersten Teil von E. T. A. Hoffmanns, durch Freuds Interpretation berühmt gewordene Erzählung Der Sandmann, in der es unentscheidbar bleibt, was ‚reales‘ Geschehen und was wahnhafte Erfahrung ist. Ich bin mir im Übrigen nicht sicher, ob etwa das Werk von Franz Kafka oder auch jenes von Thomas Bernhard in dem einen oder anderen Sinne multiperspektivisch ist. Weder operieren die Texte mit einer Polyphonie der Sprache (Stimme) noch mit einem radikalen Blickwechsel, also jenen narrativen Momenten, die Mehrdeutig‐ keit und Unentscheidbarkeit generieren und somit die Vorstellung von der einen unerschütterlichen objektiven Realität in Frage stellen. Im Unterschied zum Don Quichotte - und das hat Günther Anders in seiner kongenialen Kafka-Interpretation gezeigt -, weiß der Erzähler nicht mehr und nicht weniger als der Held. 7 Die Anlage der kafkaschen Texte zwingt die Leser‐ schaft gleichsam, das absurde Geschehen aus dem Blickwinkel und nur aus dem Blickwinkel seiner Protagonisten (Franz K., Gregor Samsa, K. oder Roßmann) zu betrachten. Dieser radikale Mono-Perspektivismus besteht nun gerade darin, dass 78 Wolfgang Müller-Funk <?page no="79"?> 8 Odo Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Reclam, Stuttgart, 1981, S. 98. er nicht polyphon oder poly-fokal wäre. Wir erfahren niemals, was die anderen Figuren in den Romanen in ihrem Inneren denken und fühlen. Oder anders ausgedrückt: Kafkas Romane sind, ihrer ganzen Struktur nach, monologisch und monoperspektivisch. Das gilt übrigens auch, wenn auch unter anderen Vorzeichen, für einen anderen namhaften österreichischen Autor, für Thomas Bernhard und sein episches Werk, lässt sich doch etwa sein letzter Roman Die Auslöschung auch als ein einziger Monolog lesen. In seiner ganzen Struktur ist er nichts anderes als die Mimesis mündlicher Rede, deren Übertreibungen kein Korrektiv durch eine andere narrative Instanz finden, was nebenbei bemerkt die ganze Komik der Rede des homodiegetischen Erzählers, Franz Joseph Murau, unterminieren würde. Der indirekte Perspektivismus besteht hier wohl darin, dass die monologische Perspektive auf die Spitze getrieben und damit selbst ad absurdum geführt wird. Es ist auch hier das Spiel mit dem fiktiven Autor, das zum Bruch mit traditionellen Erzählweisen führt und Bernhard dann bis zu einem gewissen Grad in die Nähe des Postmodernen rückt. Aber zugleich sind Bernhards Schreibweisen und Gestus meilenweit von der Postmoderne entfernt, von jenem scheinbar leichtfüßigen und zugleich skeptischen Spiel, das Kontexte hin und herschiebt und die narrative Zentral‐ perspektive auflöst (Marías, Kundera, Nádas, de Moor). Das, was man als Postmoderne bezeichnet, ist durch das Signum der Polyphonie, des Pluralismus, das Ende der großen Geschichten und ihrer autoritativen Erzähler und damit verbunden durch einen ideologisch unbestimmten Liberalismus geprägt. Philosophisch passt es zu jenem Lob auf den Polytheismus, der ein Zentrum der Philosophie von Odo Marquard und seiner Schule bildet. Gefeiert wird der Zusammenbruch all jener Zentralperspektiven, der den hier durchaus auch christlich gedachten Monotheismus zerstört und an seiner Stelle Freiräume etabliert, die Marquard einem neuen Polytheismus zuschreibt: Der Verlust au‐ toritativer und autoritärer Verbindlichkeit hat zur Folge, dass wir Differenz und Vielfalt nicht nur ertragen, sondern auch affirmieren können. Marquard plädiert für eine aufgeklärte „Polymythie, das heißt für eine Vielfalt von Narrativen und Geschichten“: Gefährlich ist immer und mindestens der Monomythos; ungefährlich hin‐ gegen sind die Polymythen. Man muß viele Mythen - viele Geschichten - haben dürfen, darauf kommt es an; nur wer - zusammen mit allen anderen Menschen - nur einen Mythos nur eine einzige Geschichte hat und haben darf -, ist schlimm dran. Darum gilt: Bekömmlich ist Polymythie, schädlich ist Monomythie. 8 79 Multiperspektivität <?page no="80"?> 9 ebenda, S. 96. 10 Günther Anders, Mensch ohne Welt, München 1984, S. XV. 11 ebenda, S. XVII. 12 ebenda, S. XX ff. Um den Titel von Nádas’ großem Roman zu variieren, bedeutet das, einem Parallelismus von Geschichten zum Durchbruch zu verhelfen und ihn als ästhe‐ tisches Prinzip vorzuführen, und genau dies ist im Fall der Parallelgeschichten strukturell der Fall. Wir können nicht ohne Mythos und ohne, dass wir erzählen, leben. Marquard lehnt deshalb das, was er als Mythen-Striptease bezeichnet, die Vorstellung nämlich, dass der aufgeklärte Mensch die Mythen nach und nach ablegt, bis am Ende die nackte Wahrheit zum Vorschein kommt, kurzerhand ab. Demgegenüber nimmt er eine skeptische Position ein: Es ist die Vielheit und die Parallelität von Geschichten, die den symbolischen Raum öffnet und Geschichten reflektierbar macht. 9 Ganz anders hat Günther Anders, Philosoph einer klassischen Moderne, diesen Pluralismus als Entfremdung und als eine sanfte Form des Totalitarismus beschrieben. In seinem Vorwort zu seinen literaturtheoretischen Schriften, die den bezeichnenden, das Entfremdungsnarrativ aufrufenden Titel Mensch ohne Welt (1984) tragen, bezeichnet Anders streitlustig den „Mensch[en] ohne Welt“ als „den Menschen im Zeitalter des kulturellen Pluralismus; denjenigen Menschen, der, weil er an vielen, an zu vielen Welten gleichzeitig, teilnimmt, keine bestimmte, und damit auch keine Welt hat.“ 10 Dieser Pluralismus, der von den modernen Medien wie dem Radio angetrieben werde, sei die „wohl heutige Hauptbedeutung“ der modernen Weltlosigkeit des Menschen. „Wer aber an dieser kulturellen Promiskuität Anstoß nimmt, der gilt als kulturell prüde, stur, provinziell, unaufgeschlossen, intolerant, undemokratisch, und unkultiviert - und eng sogar auch in moralischer Hinsicht.“ 11 Anders geht sogar so weit, diese Vielfalt unter Verweis auf ihre kapitalistische Natur, die auf der Struktur des Mediums Geld beruht, als einen sanften Totalitarismus zu bezeichnen. 12 Darin ist er sich ungeachtet unübersehbarer Unterschiede - tendenziell einig mit einem Autor, dem er durchaus skeptisch gegenüberstand, mit Herr‐ mann Broch, der die historische Katastrophe des 20. Jahrhunderts, die in der Shoah gipfelt, als Resultat des Zusammenbruchs eines zentralen Wertsystems gesehen hat und den Pluralismus demgemäß als ein Krisensymptom. Broch, kein eigenwilliger Marxist wie der späte Anders, argumentiert freilich aus einer ganz anderen, nämlich ethischen Perspektive. Ausgangspunkt ist dabei ein Verlust von zentralen, für alle verbindlichen Werte, wie sie etwa im Mittelalter 80 Wolfgang Müller-Funk <?page no="81"?> 13 Vgl. Wolfgang Müller-Funk, The Architecture of Modern Culture, de Gruyter, Boston, 2012, S. 182. 14 Milan Kundera, Die Unsterblichkeit. Deutsch von Susanna Roth, Hanser, München, 1990, S. 152. gegebenen waren. Er kann sich nicht eine pluralistische Welt vorstellen, in der es für alle verbindliche Werte gibt. 13 Ich möchte nun die Hypothese riskieren, dass sich Moderne und Postmoderne tendenziell und idealtypisch - mein Argument tendiert keinesfalls zu einer binären Opposition - im Hinblick auf den Perspektivismus unterscheiden, und zwar im Hinblick auf Stimmlichkeit wie auf Fokalisierung. Oder vorsichtiger formuliert: Was sich in der Moderne etwa bei Musil und Joyce anbahnt, literarisch-sprachliche Mimesis der modernen Erfahrung von Fragmentiertheit und Pluralität, das wird in der postmodernen Literatur gesteigert und nicht mehr nur als ein Symptom einer unheilvollen Entfremdung beklagt, sondern bis zu einem gewissen Maße affirmiert. Die programmatischen Auslassungen von Paul in Milan Kunderas Roman Nesmrtelnost (Die Unsterblichkeit) lesen sich wie eine knappe, abschlägige Antwort auf Anders: Das Zeitalter der Tragödie kann nur durch eine Revolte der Frivolität beendet werden. Von Beethovens Neunter kennt man nur noch die vier Takte an die Freude, die man täglich in der Werbung für das Parfüm ‚Bella‘ hört. Darüber kann ich mich nicht aufregen. Die Tragödie wird aus der Welt getrieben wie eine alte, schlechte Schau‐ spielerin, die sich ans Herz greift und mit heiserer Stimme deklamiert. Die Frivolität ist eine radikale Abmagerungskur. Die Dinge verlieren neunzig Prozent ihres Sinns und werden leicht. Aus einer solchen Schwerelosigkeit wird der Fanatismus verschwinden. Der Krieg wird unmöglich werden. 14 Der Erfahrungshintergrund von Kundera und Nádas hat beträchtliche Über‐ lappungen; die Erfahrung dessen, was seit Neumann und Arendt als Formen totalitärer Herrschaft bezeichnet wird, wobei Nádas diesen Befund zuspitzt, wenn er in seinem Werk Nationalsozialismus, Faschismus und Stalinismus mit Hilfe seiner ungarischen, deutschen und europäischen Parallelgeschichten eng führt. Kunderas Romane tun dies explizit, jene von Nádas verankern sie indes in ihrer narrativen Architektur. Denn sein Multifokalismus ist die skeptische Antwort auf jene symbolische Disposition, die Marquard als Monomythie bezeichnet hat. Diese Pluralität geht nicht nur weit über die programmatischen und ideologischen Bestände in den okzidentalen Kulturen hinaus, sondern kommt etwa auch in der geschlechtlichen Mehrdeutigkeit zum Ausdruck: Auch bei Kundera, einem genauen und aufmerksamen Leser Brochs, gibt es bei der Beschreibung von intimen Szenen einen Bifokalismus und die Auflösung der 81 Multiperspektivität <?page no="82"?> 15 Milan Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Deutsch von Susanna Roth, Hanser, München, 1984, S. 84: „Sabina war wieder allein. Sie stellte sich noch einmal vor den Spiegel. Sie war noch immer in Unterwäsche. Sie setzte sich wieder die Melone auf und betrachtete sich lange. Sie wunderte sich, daß sie schon so lange einem einzigen verlorenen Augenblick nachjagte.“ Die Szene wird zuvor aus der Perspektive von Sabinas neuem Liebhaber Franz aus beobachtet und erlebt, Sabina spielt die Szene, die sie früher mit Tomáš ausprobiert hat noch einmal nach, als ihr Freund das Zimmer verlassen hat. 16 Durchwegs hymnische Rezensionen hat der Roman insbesondere im deutschsprachigen Feuilleton erfahren, vgl. Andreas Isenschmid, Péter Nádas erfindet den Roman neu als ein Sinnbild Europas, in: Die Zeit Nr. 35/ 2012 23. August 2012 https: / / www.zeit.de/ 2012/ 35/ Peter-Nadas-Parallelgeschichten, (Letzter Zugriff am 9.5.2018). László Földényi, Péter Nádas’ Jahrhundertwerk ‚Parallelgeschichten‘, in: NZZ vom 13.10.2012. www.nzz.ch/ peter-nadas-jahrhundertwerk-parallelgeschichten-1.17678257, (Letzter Zugriff am 9.5. 2018). Sandra Kegel, Péter Nádas: ‚Parallelgeschichten‘. Der Koch, der Dieb und der Lieb‐ haber oder so ähnlich, in: FAZ, 7.3.2012. www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ buecher/ rezensi onen/ belletristik/ peter-nadas-parallelgeschichten-der-koch-der-dieb-und-der-liebhaber-ode r-so-aehnlich-11676088-p3.html, (Letzter Zugriff am 9.5.2018) Vgl. auch den Rezensionsbe‐ richt in www.perlentaucher.de/ buch/ peter-nadas/ parallelgeschichten.html, (Letzter Zugriff am 9.5.2018). 17 Umberto Eco, Im Wald der Fiktionen, dtv, München, 1996. 18 Eine andere Position vertritt in diesem Band Tibor Gintli. Zentralperspektive, etwa, wenn eine intime Szene nicht nur aus der Perspektive des Mannes, sondern auch aus jener der Frau gesehen wird, etwa jener Sabina, die im Zustand ihrer Nacktheit vor dem Mann, dem Liebhaber, einen Zylinder, Signum von Ironie und Frivolität, trägt. 15 2. Narrative Strukturen und Verfahren in Péter Nádas’ Parallelgeschichten Peter Nadas’ Roman 16 trägt das ästhetisch Mulitiple bereits im Titel: Párhuzamos történetek (Parallelgeschichten). Er breitet verschiedene Handlungsstränge aus und beinhaltet extreme, kaum plausible Perspektivierungswechsel. Er zerstört die zeitliche Abfolge und die kausale Kohärenz. Der Leser, die Leserin muss den komplexen Geschehenszusammenhang selbst herstellen. Der literarische Text ist die Eco’sche faule Maschine, die die fleißige Leserschaft, die Co-Autorin, in Gang setzt. 17 Er bedient sich der Techniken, die wir aus der klassischen Moderne kennen: Montage, Ortswechsel, ubiquitäres und allgegenwärtiges Erzählen, erlebte Rede, innerer Monolog. Aber der eben postmoderne Gestus differiert nachhaltig von dem pathetischen Ernst, der uns bei Broch und, ironisch gebrochen, bei Musil oder Thomas Mann begegnet. 18 82 Wolfgang Müller-Funk <?page no="83"?> In Péter Nádas’ Werk, in dem sich Spuren sowohl von Proust wie von deutschen und zentraleuropäischen Romantraditionen wiederfinden, tritt diese Absage an die Pathetik des Monomythischen offen zutage. Mit Thomas Mann, Hermann Broch und Robert Musil hat er den Anspruch gemeinsam, im Medium der hybriden Gattung Roman das Bild einer ganzen Epoche in einem bestimmten Raum zu entwerfen, mit Proust hat er die Idee gemeinsam, in die jeweils gegenwärtigen Handlungen Spuren der Erinnerung einzubauen, die in eine andere Zeit und auch in einen anderen Raum führen. Insofern ist der Roman ein Mittel einer komplexen Mnemosyne mit traumatischen Dimensionen. Zugleich finden sich Elemente, die wir bei den obengenannten Autoren in dieser konsequenten Ausformung nicht finden: 1. Transnationaler europäischer Kontext mit kulturell, sozial und ge‐ schlechtlich völlig heterogenen Menschen und ihren ganz eigenen Ge‐ schichten. 2. Narrative Versatzstücke werden scheinbar ohne Rücksicht auf kausale Zusammenhänge und auf die zeitliche Abfolge, die von den Jahren nach der Revolution von 1848 bis fast in die Gegenwart reicht, dargeboten. 3. Narration: Es gibt keinen ‚Erzähler‘ in einem performativen Sinn, wohl aber eine Erzählerrede, die Hybridisierungen der Rede (Koppelung von Erzählerrede und Figurenrede) und eine extreme Multifokalisierung er‐ laubt. Diese lebensweltlich betrachtet extrem unmögliche Erzählweise ist es, die in einem durchaus intentionalen narrativen Manierismus eine neue Form literarisch formatierter historischer und kultureller Wirklichkeit generiert. So konnte Gustave Flaubert noch sagen: Ich bin Madame Bovary oder vielleicht auch: Ich bin Salammbô. Aber bei Nádas ist das vollständig pluralisiert: Er ist programmatisch letztendlich jede seiner Figuren, Mann wie Frau, Deutsche/ r wie Ungar/ in. Wenden wir uns einem der Anfangskapitel - es gibt deren mehrere, weil es ja mehrere ‚Geschichten‘ (Stories, Fabeln) gibt - zu, nämlich jenem, das die Buda‐ pest-Geschichte eröffnet. Mit ihm beginnt ein zentrales Narrativ, das vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, im Ungarn der 1960er-Jahre spielt. Es ist Morgen - und in der Wohnung eines herrschaftlichen Hauses aus dem 19. Jahrhundert erfolgt ein Anruf. Eine filmähnliche Szene, die den Telephonapparat und die Beschaffenheit der Wohnung ins Blickfeld rückt, steht gekoppelt mit den epischen Unmöglichkeiten des Romans, den Beschreibungen der Innenwelten der in der Wohnung befindlichen Figuren. Die Fremd- und Selbstporträtierung der Figuren wechselt mit einer filmähnlichen Sequenz, die die Wohnung beschreibt und später im Sinne unwillkürlicher Erinnerung in die Entstehungsgeschichte des 83 Multiperspektivität <?page no="84"?> Hauses kippt. Der epische Anlass ist ein Anruf aus dem Spital am ungarischen Nationalfeiertag, dem 15. März 1961. Die Besichtigung der Wohnung des Hauses und des großen Rings und die Darstellung des Hauses eines aufsteigenden, nonkonformistischen jüdischen Architekten erfolgen überwiegend aus externer Fokalisierung, jene der Lebensgeschichten der Akteure aus der Binnenperspektive, wird aber vom Erzähler gelegentlich korrigiert. Die Parallelgeschichten können (zunächst) zeitlich nicht linear miteinander verbunden werden. Oder anders gesagt: Es besteht eine tiefgreifende Differenz zwischen Story (Geschichte) und Plot (Fabelkonstruktion). Die Story, das ge‐ samte Handlungsgeschehen, wird selbst am Ende des narrativen Diskurses nicht vollständig von diesem eingeholt. Hier zunächst statt einer Inhaltsangabe eine auszugsweise strukturelle Be‐ schreibung der wichtigsten Parallelgeschichten und ihrer Perspektivik: P 1: Handlungsstrang 1 in Deutschland: Der junge Student Döhring findet anno 1989 beim Jogging einen unbekannten Toten, der ebenso wie er aus der Schwulenszene stammt. Der Kommissar Kienast versucht den Fall zu klären. P 2: Die Geschichte des Vaters des jungen Langzeitstudenten, eines KZ-Aufsehers, der in Naziverbrechen verwickelt ist. Zeitpunkt der Handlung ist der drohende Untergang des Dritten Reiches, in einem kleinen Ort in Nordrhein-Westfalen. P 3: Die Geschichte des „rassenhygienischen“ Instituts in Berlin im Dritten Reich taucht zum ersten Mal auf. P 4: Die Geschichte der halbjüdischen Familie Demén-Lippay-Lehr in Budapest, die sich in verschiedene Geschichten verzweigt (Geschichte der Eltern, des Sohnes Ágoston und des adoptierten Neffen Kristóf, die in dem vom Großvater entworfenen und erbauten Jahrhundertwende-Haus leben Es gibt verschiedene Zeitschnitte ( Jahr‐ hundertwende, Zwischenkriegszeit, Diktatur, Kommunismus 1956 und 1961 ff.) P 4/ 1: Geschichte des Agenten Ágoston, der Drittes Reich und Diktatur im französi‐ schen Ausland überlebt hat, davon zweigen die Lebensgeschichten seiner Freunde André und Jancsi/ Hans ab. Die drei treffen sich später in einem schicken alten Hallenbad in Budapest, dem Lukács-Bad. P 5: Die Geschichte der Kindergärtnerin Gyöngyvér Mózes, der Geliebten von Ágoston (P 4), die später eine bekannte Sängerin wird (Die Beschreibung ihrer Adoptivfamilie erfolgt als weitere Parallelgeschichte im letzten Kapitel des Romans). P 6/ 1: Davon zweigt die Geschichte der Psychoanalytikerin Irma Szemző und ihrer Damenrunde ab, in deren Wohnung, genauer in einem untervermieteten Zimmer, sich die junge Frau (Gyöngyvér) und ihr Geliebter Ágoston treffen. P 7: Der Gestalter dieser Geschichte ist der funktionalistische Architekt Madzar, der auf der Fahrt in seine Geburtsstadt Mohács einen alten Jungendfreund, den Kapitän 84 Wolfgang Müller-Funk <?page no="85"?> des Reiseschiffs, Bellardi, trifft, der augenscheinlich mit dem autoritären und mit Hitler verbündeten Regime sympathisiert. P 8: Die Geschichte des Hauswarts der Familie Demén, nachdem er in den Ruhestand getreten ist. P 9: Die Geschichte der Adoptiveltern von Gyöngyvér, ganz einfachen Menschen, die außerhalb von Budapest, donauabwärts leben. Nun zu den Parallelitäten der Ereignisse: 1. Deutschland und Ungarn sind anders und doch zugleich, miteinander verbunden, in das katastrophale Geschehen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingebunden. Gegen die im Ungarn der 2010er-Jahre so beliebte Geschichte, wonach Ungarn das Opfer des 20. Jahrhunderts gewesen sei, wird im Roman auf die Kooperation des Regimes des „Reichs‐ verwesers“ in der Zeit des Dritten Reiches verwiesen, auf der privaten und familiären Ebene geht es dabei um die in Nationalsozialismus und Faschismus verstrickten Väter. 2. Rechte und linke Diktatur, Faschismus und Kommunismus, werden trotz aller Brüche als ein unheilvolles Kontinuum beschrieben, das für die Söhne der Opfer wie der Täter traumatisierende Effekte zeitigt, für den jungen Döhring, für Kommissar Kienast wie für Kristóf, das Kind einer Familie, in der es Juden, aber auch Helfer des Nationalsozialismus gibt. Es handelt sich um Parallelitäten und Gegenläufigkeiten der Generationen. 3. Die parallelen Frauengeschichten, die Damenrunde in Budapest, das Überleben Ernas, das Verhalten von Döhrings Tante Isolde. 4. Parallelitäten der männlichen und weiblichen Bibzw. Homosexualität (Kristóf, Ágoston und die Männerrunde im Lukács-Bad, Döhring). All diese Geschichten werden im Fortlauf des narrativen Diskurses kunstvoll miteinander vernäht und verflochten. Sie sind so miteinander verbunden, dass eine Art von narrativer Familienähnlichkeit entsteht. 1. Gyöngyvérs Geschichte verbindet die Familiengeschichte ihres Geliebten und jene ihrer Vermieterin, Frau Szemző. 2. Ágostons Geschichte ist durch seine Freundschaft mit Hans mit jener des rassenhygienischen Instituts verbunden. 3. Diese ist wiederum mit der Lebensgeschichte von Ágostons Vater und jener von Bellardi verbunden, die beide an der ‚Endlösung‘ in Ungarn mitgewirkt haben. 4. Der Vater des Kommissars, der den Tod des unbekannten Mannes, vermutlich Ágostons, zu klären hat, war auch ein Opfer der rassenbiolo‐ 85 Multiperspektivität <?page no="86"?> gischen Versuche, die wiederum mit dem KZ, in dem Döhrings Vater ‚tätig‘ war, verbunden sind. 5. Schließlich gibt es auch noch zwischen der Geschichte der Damenrunde und der Geschichte der beiden ungleichen Freunde, des funktionalisti‐ schen Architekten Madzar und seines faschistischen Freundes Bellardi einen Zusammenhang, weil beide jeweils einer der Frauen zuordenbar sind. Madzar ist der Architekt des Hauses, in dem Frau Szemző und später Gyöngyvér als Untermieterinnen leben. Er würde gerne mit der modernen emanzipierten Frau zusammenleben, aber es kommt nicht dazu; Bellardi wiederum ist der Ehemann von Elsa, der späteren Geliebten der Gastgeberin der Frauenrunde. Damit stiftet der Roman für den subtil lesenden Rezipienten ein Netzwerk von Abhängigkeiten, zugleich mit jener Parallelität, von der oben schon die Rede war. Dabei dürfen sich die Parallelgeschichten auch überschneiden und überlagern. Der Roman bevorzugt die Technik unvermittelter Zeit- und Perspektive‐ sprünge, etwa von der intimen Szene zwischen Ágoston und Gyöngyvér zu ganz anderen Erinnerungen ganz anderer Menschen, die auch einmal in dieser Wohnung gewesen sind. Dieser Bruch wäre einer auf der Zeitachse. Es gibt aber auch räumliche Wechsel, die von der Wohnung in andere Domizile oder sogar nach Mohács führen. Diese werden durch folgende Techniken bewerkstelligt: 1. Erlebte Rede (Hybridität der Stimme: Erzähler- und Figurenrede). 2. Erzählerrede, die die Figurenrede kommentiert und zuweilen auch parodiert. 3. Homodiegese. 4. Kristóf erzählt viele seiner Erlebnisse in der Budapester Schwulenszene bzw. seine unglückliche Liebesgeschichte mit Clara Vay mit ‚Ich‘). 5. Instabiles Erzählen (ständiger Wechsel von Fokus bzw. Perspektive wie jener der Redeform). 6. Radikale Schwenks von Außenbetrachtung zur Beschreibung innerer Vorgänge. Vorweg gesprochen werden durch diese kombinatorischen Erzähltechniken Eindeutigkeit und Identitätsangebote aufgelöst. An deren Stelle tritt ein skepti‐ scher Pluralismus des Relationalen. Beides, die diskontinuierliche Anordnung der jeweiligen Handlungsstränge wie auch die Rhetorik des Erzählens, bewirkt eine eigentümliche Mischung von traditionellen und avantgardistisch-modernistischen Techniken: 86 Wolfgang Müller-Funk <?page no="87"?> 19 Ich zitiere das Werk Parallelgeschichten, in deutscher Ausgabe, in der Folge mit der Sigle PG. 1. Die Handlungen sind so konstruiert, dass sie eine Totalität ausbilden, diese wird aber nur ansatzweise hergestellt und durch die Kombination der Handlungsfragmente unterminiert. 2. Die Geschehnisse sind radikal perspektiviert und doch gibt es eine autoritative Instanz, die alles zusammenhält und zuweilen auch eingreift. Wie steht es nun mit der sprachlichen Vielfalt im Sinne Bachtins? Ganz offenkundig kommen zwei Sprachen kontrastiv zu Wort: 1. Eine gehobene Sprache (im Hinblick auf die Schilderung von historischen Sachverhalten und der ‚offiziellen‘ Situation der Protagonistinnen und Protagonisten). 2. Eine obszöne und unanständige Körpersprache (das kleine und das große F-Wort, um bei der deutschen Übersetzung zu bleiben), die mit der Foka‐ lisierung auf die Sexualität und die detailliert beschriebenen körperlichen Vorgänge der Protagonistinnen und Protagonisten einhergeht. 3. Close Reading: Ein herrschaftliches Haus Beginnen wir nun mit der Lektüre eines weiteren Anfangskapitels des Romans, das mit einer chronikalischen Aussage in einer ‚objektiven‘ sachlichen Erzähler‐ rede einsetzt und zugleich die deutsche Parallelgeschichte im nordrhein-west‐ fälischen Pfeilen en passant erwähnt: Viele Jahre zuvor, etwa neunzehnhunderteinundsechzig, in dem Jahr, als im fernen Pfeilen auch auf andere undurchsichtige Angelegenheiten Licht zu fallen begann, geriet in der ungarischen Hauptstadt der Nationalfeiertag gründlich daneben. 19 (PG, S. 58) Sehr musilianisch nimmt sich auch die folgende Passage der Erzählerrede aus: „Die Quecksilbersäule des Thermometers fiel plötzlich um acht Grad, es fror schon fast wieder…“ (PG, S. 59). Darauf folgt ein Filmbild: „Im Verband fuhren die Ambulanzen auf der ausgestorbenen Großen Ringstraße.“ (ebd.), um dann in den Innenraum einer Wohnung zu schwenken: „Warum geht nicht endlich jemand ran, war fast zur gleichen Zeit eine herrische Frauenstimme aus den Tiefen der riesigen Ringstraßenwohnung zu hören.“ (ebd.) Ein Telephon läutet in einer Wohnung, in der sich in diesem Augenblick, wie das Lesepublikum nach und nach erfährt, vier Figuren befinden, Erna, „Nino“, 87 Multiperspektivität <?page no="88"?> die Herrin des Hauses, die Haushälterin Ilona, Gyöngyvér, die Geliebte des abwesenden Ágoston, des Sohnes von Erna, sowie Kristóf, deren Neffe und Adoptivsohn. Während das Gerät wieder und wieder läutet, werden Geschichte und Architektur des auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgehenden Hauses vom Erzähler, aus dessen Blickwinkel und mit seiner Stimme, erklärt. Vom zweiten Stock aus, von jener Wohnung, in der das Klingeln ertönt, kann man auf den Theresienbzw. Lenin-Ring sowie auf den „Oktogonplatz“, einen zentralen Ort des Budapests seit der Jahrhundertwende, hinausblicken. Dieser Platz ist wie das Haus ein kulturgeschichtliches Dokument dieser Zeit, übrigens einer Parallelgeschichte oder mehr noch eine Parallelaktion zum Wien der Jahrhundertwende. Der Raum der Architektur verbindet sich mit dem Narrativ der jüdischen Großbürgerfamilie, deren Leben sich infolge der Zeiten - Horthy-Diktatur und Realsozialismus - nachhaltig verändert hat. Der Erbauer des Hauses, der unkonventionelle klassizistische Architekt und Bauherr Sámuel Demén, ist der Begründer dieser jüdischen Großbürgerfamilie, deren Geschichte mit der Architektur der Wohnung verbunden ist. Die Familie Demén-Lippay-Lehr lebt gleichsam im selbstgebauten Haus, so wie später die Psychoanalytikerin Irma Szemző, die sich ihre Praxis von einem funktionalistischen Architekten in ihrer Wohnung gestalten lässt: So macht sich der Roman die Architektur auch narrativ zunutze. Diese Zentralperspektive wird aber immer wieder, oft unvermittelt und übergangslos, durch die Figurenperspektive aufgelöst. Das Originelle liegt dabei nicht so sehr darin, dass in der Narration Außenbeschreibung (externe Fokalisie‐ rung) und Innenbeschreibung (interne Fokalisierung) miteinander verbunden sind, sondern dass die singulären Perspektiven der Figuren einander wiederum unvermittelt ablösen. Die Fokalisierung, der Blickwechsel, erfolgt durch eine im modernen Roman weitverbreitete Technik, die erlebte Rede, in der die Fokalisierung durch eine ‚hybride‘ Rede erfolgt, in der die Stimme der Figur mit der des Erzählers verschwimmt, eine Redesituation, die in Nádas’ Roman freilich immer wieder getrennt und aufgelöst wird, etwa wenn der Erzähler die Perspektive seiner Figur, nicht selten auch dialogisch gewendet, korrigiert: Die Kühle des Sommermorgens hauchte sie an, voller Vogelgezwitscher. Nie schöner und gefährlicher. Gyöngyvérs Vorstellungskraft reichte nicht aus für den Gedanken, dass es nie so sein würde, so nicht, nie mehr, dieses Nie-Mehr, das wie ein offener Abgrund vor ihnen lag, dass es mit ihnen nie mehr geschehen würde. (PG, S. 1258) 88 Wolfgang Müller-Funk <?page no="89"?> Während Erna, die Matriarchin der Familie, im Badezimmer über ihren wel‐ kenden Körper nachsinnt, erfährt die Leserschaft die Überlegungen, Empfindungen und Lebensgeschichte der Hausangestellten beim zeitgleichen Feuermachen. Zur selben Zeit befindet sich Gyöngyvér noch in dem Bett einer unerfreulich verlau‐ fenen Liebesnacht, in der ihr Liebhaber Hals über Kopf entflohen ist, und wir erfahren abermals nicht nur ihre ärmliche Kindheit als Waisenkind, ihre attraktive Körperlichkeit, die etymologische Bedeutung ihres Namens (‚Blutperle‘) und ihren Alltag als Kindergärtnerin, sondern werden in ihre Innenwelt gestoßen, in die ihrer Empfindungen zu den anderen Menschen in der Wohnung und in die ihrer persönlichsten Regungen gegenüber ihrem Geliebten und in die der misslichen Situation, dass ihr Intimverhältnis akustische Spuren für die anderen hinterlässt, was sie zu dem erotischen Spiel verführt, für den Neffen ihres Geliebten, ihren sexuellen Höhepunkt akustisch zu verstärken (PG, S. 68). Dieser melancholische junge Mann, der sehnsüchtig aus dem Fenster auf den Oktogon und den There‐ sienring blickt und dessen (bi-)sexuelle Irrungen und Wirrungen im Budapest zwischen 1956 und 1961 einen eigenen Handlungsstrang bilden, ist wiederum eine zentrale Figur im Roman, dessen Außen- und Innenwelt erzähltechnisch ähnlich wie die der anderen Figuren ausgeleuchtet wird. Zudem erfahren wir noch vom Leben des politisch einflussreichen Hausherren, eines ewigen Mitläufers, der sich schwerkrank in einem Hospital befindet, und von jenem des Hauswarts Balter, der seit einer Generation seinen Dienst im Haus versieht. Anders als bei der musikalischen Polyphonie, die sich zeitgleich einstellt, ist jene im Roman auf einen narrativen Diskurs verwiesen, der die zeitgleichen inneren und äußeren Geschehnisse nacheinander erzählt. So enthält der Roman also nicht nur eine Multiperspektivität in dem Sinne, dass es verschiedene Fokalisierungen und Narrationen gibt, sondern dass die Figuren selbst aus verschiedenen Perspektiven, in Selbst- und Fremdfokalisierungen beschrieben werden. Insgesamt sind es etwa 20 Akteure, die in dieser heterogenisierten Perspek‐ tive ausgeleuchtet werden, neben den Figuren in der Wohnung am Theresi‐ enring sind das die Psychoanalytikerin Szemző und ihre Freundinnen sowie Architekt Madzar, Ágoston und seine Freunde und Kollegen im Spionagedienst, Hans und André, der depravierte Adlige und spätere Taxifahrer Bernardi; in den deutschen Handlungssträngen sind das die Gruppe deutscher Rassenforscher (Freiherr von Schuer und Baronin Wolkenstein), der junge Döhring und seine Tante Isolde, der Kriminalinspektor Dr. Kienast, der Sohn jenes Mannes, der einen Teil seiner Adoleszenz im rassenbiologischen Internat der Nazis zubringen musste und nur durch einen Zufall nicht kastriert wurde. 89 Multiperspektivität <?page no="90"?> Nádas übertrifft Proust darin, dass er eine einzige Szene von insgesamt etwa fünf Minuten Dauer - das Telefon läutet mehrmals hintereinander, bis die Hausangestellte den Anruf aus einem Spital abhebt und verkündet, dass sich der Hausherr in einem kritischen Zustand befindet - auf fünfzig Seiten schildert. Die Fahrt mit dem Taxi vom Pester Bezirk Leopoldstadt (PG, S. 221- 282, S. 1250-1350) in das Krankenhaus in Buda, also auf der anderen Seite der Donau, die in der ‚Realität‘ etwa 20, maximal 30 Minuten dauert, wird auf insgesamt hundertsechzig Seiten ausgebreitet, was einer Vorlesezeit von mehr als fünf Stunden entspricht. Und die beiden zentralen intimen Szenen zwischen Gyöngyvér und Ágoston, Höhepunkte und kurze Ausschnitte ihrer komisch-ernsten sexuellen Verklammerung, ihres eigenartigen Geschlechter‐ kampfes - der eine in der Familienwohnung des Mannes (PG, S. 307-351), der andere im Untermietzimmer der Frau (PG, S. 351-427, S. 579-601) -, die Nádas in der Literaturkritik in einen literarischen Weltrekord rückten (der angeblich längste Geschlechtsverkehr der Weltliteratur), dauern insgesamt hundertvierzig Seiten. Viel entscheidender als das quantitative Moment sind aber die Qualität und Intensität, mit der im Roman die intime Begegnung ausgelotet wird. Nahezu alle klassischen Intimszenen der Literatur der klassischen Moderne - ich nenne exemplarisch Musil, D. H. Lawrence, Hermann Broch - zeichnen sich dadurch aus, dass wir die inneren und äußeren Geschehnisse jeweils nur aus einer Perspektive erfahren, und zwar aus der männlichen. Was für eine Geschichte ergäbe sich zum Beispiel, wenn Ulrichs auf Sieghaftigkeit und kühle Analyse ausgerichtetes sexuelles Agieren aus der Perspektive und mit der Stimme seiner Liebespartnerinnen (Bonadea, Gerda, Leona usw.) erzählt würde? Es ist diese monologische Perspektive, die in Nadás Roman konsequent aufgelöst wird zugunsten eines keineswegs immer gelingenden Dialogs, an dem die Figuren aber auch der Erzähler teilhaben. Die erste Schilderung ihrer sexuellen Begegnung findet sich im Kapitel 9 des Ersten Buchs Durch den Eingang seines heimlichen Lebens. Sie beginnt folgendermaßen: Einen Augenblick hatte sie gemeint, Ágoston sei verrückt geworden. Der ist ja übergeschnappt. Was machst du da, hatte sie gerufen, als sie aus dem Badezimmer kommend, das Zimmer betreten hatte. Noch jetzt im Taxi konnte sie das Bild von gestern Abend nicht vertreiben. (PG, S. 307) Fokus und Stimme sind hier raffiniert übereinander gelagert. Der erste Satz erfolgt eindeutig aus dem Blickwinkel der Frau. Ihrem intimen Ritual entspre‐ 90 Wolfgang Müller-Funk <?page no="91"?> chend, hat sich die Frau vor dem Geschlechtsverkehr ins Bad begeben. Sie kommt zurück und sieht etwas, das sie verstört - wir, die Leserinnen und Leser, wissen es noch nicht. Dann steigert die Narration, der narrative Diskurs, diese Bezüglichkeit, indem nun auch die Stimme ausschließlich der erschreckten Frau zuzuordnen ist („Der ist ja übergeschnappt“), während der dritte Satz im Gestus der Erinnerung die Worte Gyöngyvérs wiedergibt. Diese Szene wird mnemotechnisch an die Situation gebunden, als die junge Frau mit Erna, der Mutter ihres Geliebten, ihrer Intimfeindin, mit dem Taxi in das Kútvölgyi-Spital unterwegs ist. Dieses spätere Ereignis wird ebenso wie der Anruf vom Kran‐ kenhaus vor der intimen Szene im Zimmer des jungen Mannes erzählt. An der Fiktion, es sei die Erinnerung der Frau im Taxi, wird im Folgenden auch nicht weiter festgehalten, denn der Zeitpunkt des Erzählens ist so unbestimmt wie so manche Handlungsfragmente, die sich durch die systematische Arbeit des Lesers zu einem Ganzen fügen, das freilich Leerstellen lässt. Was die junge Frau in besagter Szene sieht, ist ein Tableau männlicher Selbstbefriedigung: Dass der Mann ausführlich und scheinbar genussvoll vor ihren Augen masturbiert und sich selbst genügt, bedeutet auch einen Entzug ihr gegenüber, der Ekel, Verachtung und Scham auslöst, Empfindungen, von denen sich die Sexualität des modernen westlichen Menschen offenkundig nicht lösen kann. Gyöngyvér verachtet sich, weil sie sich abgelehnt fühlt und nicht die Stärke besitzt, das unwürdige Spiel zu beenden. Dieser narzisstisch arrangierte Bezug hat aus der Perspektive der Frau eine doppelte Bedeutung: dass ihr Gegenüber sich prinzipiell nicht öffnen kann, was sowohl mit einem traditionellen männlichen Habitus, aber auch von Kindheitstraumata in einem Internat im Exil sowie mit einer gewissen homosexuellen Präferenz zu tun haben mag und, dass ihr Geliebter sich ihr gegenüber insbesondere verschließt, weil er in der Angst lebt, sich zu verlieren, und dazu noch an eine Frau, die ihm - und das ist ihm, wenn auch höchst beschränkt unter den Bedingungen des kommunistischen Regimes geblieben - an Bildung und Stand unterlegen ist. Dass er sich ihrem Schoß verweigert, schlägt in diesem Spiel scheinbar zu seinen Gunsten um: Sie winselte, jaulte, durfte sich aber nichts anmerken lassen, die leiseste Gefühls‐ schwelgerei löste bei ihm Befremden aus. Nicht nur, dass er Leidenschaftlichkeit nicht ertrug, er lehnte auch die geringste Gefühlsäußerung als übertrieben ab. Sie hätte am liebsten alle seine Glieder, seine Fußgelenke, seine Handgelenke, seinen Schwanz, ja seinen Schwanz und alle seine kleinsten Knöchelchen geliebt und angebetet. (PG, S. 307) 91 Multiperspektivität <?page no="92"?> Sie fühlt sich zurückgestoßen, was ihr Begehren aber auch das Gefühl der Aus‐ sichtslosigkeit ihrer Liebe steigert. Was die Erzählkunst von Nádas ausmacht, ist, dass er das äußere sexuelle Geschehen pedantisch genau mit den inneren gedanklichen und affektiven Abläufen korreliert. So werden die Bewegungen der Körper nicht nur zu einer Sprache erotischer Liebe, sondern zugleich zu einer der Angst, der Unsicherheit, des Kampfes und der Ambivalenz des in die Sexualität verstrickten Paares. Selbstredend ist die Auto-Perspektive der Figuren der Ausgangspunkt für jene unwillkürliche Form des Erinnerns, wie sie Henri Bergson beschrieben und Marcel Proust sie literarisch umgesetzt hat. Die frustrierte und beschämte Frau erinnert sich an die vorangegangenen glücklicheren Vereinigungen mit jenem Mann, den zu halten und zu behalten sie entschlossen ist. Deshalb will sie auch auf den einsamen autosexuellen Mann zugehen und ihn berühren. Zugleich tauchen Bilder früherer Liebhaber vor ihren Augen auf, in denen männliche Brutalität, mangelnde Sensibilität und Egoismus dominieren, die wie wild an ihr „ziehen“ und „zerren“, […] wobei sie ihr krampfhaft die Zunge in den Mund klebten oder ihre Brustwarzen bearbeiteten, sie einsaugten, bissen oder ihr die Zunge in die Schamlippen hakten, auf der Suche nach ihrem Kitzler. Sie konnte jetzt das Bild dieser mit sich selbst ringenden und auf Ablenkungsmanöver verfallenden Männer nicht vertreiben. (PG, S. 329) Aus einem bestimmten Blickwinkel schlägt das Glücksversprechen, das mit Sexualität einhergeht, - „Nach einem guten Fick fühlt man sich im Universum zu Hause“, meint Kommissar Kienast, der Sohn jenes unglückseligen Mannes, den die Nazis zum Versuchskaninchen gemacht hatten, in einem späteren Kapitel (PG, S. 1398) - ins schiere Gegenteil um, in ein komisches und groteskes Ballett. Im Gegensatz zu diesen Erlebnissen, erweist sich Ágoston in der zweiten, zeitlich aber wohl früheren Intimszene, immerhin als ein guter und raffinierter Sexual-Techniker, auch wenn er ihr das letzte, seinen Samenerguss, verweigert, was aber im historischen Fall einen zutiefst praktischen Aspekt hat. Die in den frühen 1960er-Jahren spielenden Sexualszenen kennen noch keine bioche‐ mische Verhütungsmethode, weshalb die sexuell durchaus aktive, promiskuitive junge Frau es nicht zu diesem Letzten kommen lassen möchte - will sie, die so‐ ziale Aufsteigerin, doch nicht von irgendeinem beliebigen sexuellen Abenteuer schwanger werden. Wohl aber von Ágoston, dem gut aussehenden, sexuell attraktiven und gebildeten Mann, der freilich den entschiedenen Nachteil hatte, dass er „weder Entgegnung noch Gegenseitigkeit wünschte.“ (PG, S. 331) Dass diese Situation Fremdheit erzeugt, liegt auf der Hand, aber im Hinblick auf die Erotik ist sie zumindest ambivalent. „Für ihn“, heißt es in einer unbestimmten Figurenrede, „ist die Verweigerung der Höhepunkt.“ (PG, S. 347) 92 Wolfgang Müller-Funk <?page no="93"?> Während der Frau also Szenen anderer sexuellen Begegnungen in den Sinn kommen, wird der Mann von Bildern der Vergangenheit, von kindlichen Demütigungen in einem Internat heimgesucht. In der zweiten langen narrativen Sequenz, die eine vorhergegangene Szene wiederum aus dreifacher Perspektive festhält (Erzähler, Mann, Frau), liegen die Dinge anders. Hier wird nicht nur einsam gedacht, gefühlt und erinnert, sondern vielmehr unterhält sich das Paar miteinander, was die Physiologie des Sexualaktes und der minutiös geschil‐ derten sexuellen Operationen zwischen ihren beiden Geschlechtsorganen, die zuweilen wie Medien, wie kommunizierende oder auch nicht-kommunizierende Röhren funktionieren, immer wieder in den Hintergrund drängt und zugleich in die Länge zieht. Dominierte in der ersten Szene der Entzug, der am Ende mit einer für die Frau unbefriedigenden Penetration endet, so spielt in der zweiten ein anderes Moment eine entscheidende Rolle: wer den Rhythmus der sexuellen Bewegungen bestimmt, der Mann oder die Frau. Im Sinn der oben erwähnten Tatsache, dass die sexualisierten Körper eine Sprache entfalten, geht es dabei nicht so sehr um die Frage maximaler Lust (für beide), sondern um die Frage der Macht. Für den Mann ist es unerträglich, noch im höchsten Stand der Erregung sexuell von der Frau bestimmt zu werden: Tatsächlich ging es in diesem Augenblick um Unabhängigkeit. Darum, sich nicht dem Rhythmus der Frau auszuliefern, damit es nicht in eine verheerende Monotonie um‐ kippte, damit es nicht, so wie die Frau es wollte, mit einer gewöhnlichen, unbedachten Ejakulation endete, damit es nicht endete. (PG, S. 375) Und an anderer Stelle, nach einer mehr oder minder gelungenen und glücklichen Vereinigung, heißt es: Als hätte er beschlossen, dass es genug war. Schon bis dahin hatte er zu viel von sich gegeben. Es war für ihn bedrückend, dass er der Frau nicht nur physisch nicht ausweichen konnte, sich nicht recht über sie aufschwingen konnte, sondern auch physische und seelische Schädigungen ertragen musste. Und ein so reichhaltiger und gewaltsamer Samenerguss war sowieso nichts für ihn. Jedenfalls erlaubte er ihn sich nur selten. Er war überzeugt, dass seine Depressionen von den zu starken Ergüssen ausgelöst wurden. (PG, S. 419) Die Sexualität macht die Liebesbeziehung der Figuren zueinander plastisch, die Anziehungen und die Distanzierungen, die Ambivalenzen und die Identi‐ fikationen. Die Bewegungen der Körper sind als Signifikanten wirksam, die auf ein Signifikat, die psychischen Prozesse im Kopf, verweisen. Die äußeren Bewegungen der Leiber sind dabei nicht einfach ‚Ausdruck‘ innerer seelischer Prozesse, sondern konstituieren diese zugleich. So erfährt Ágoston die Weib‐ 93 Multiperspektivität <?page no="94"?> lichkeit seines Körpers in der sexuellen Anforderung, die an ihn gestellt wird. (PG, S. 333) Umgekehrt erfährt Gyöngyvér sich, genauer ihr „anderes Ich“, durch das sexuelle Agieren des Mannes: „Der will mich nicht.“ (PG, S. 334) Aber in diesen scheinbar endlosen Bewegungen wird keine Endgültigkeit hergestellt, kommt es doch kurze Zeit später dazu, dass der Mann sein autoerotisches Spiel beendet, sich ihr zuwendet und schließlich doch noch, wie von ihr ersehnt und gefordert, in ihren Schoß eindringt. Das defensive und trotzige Agieren des Mannes hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass er die erotische und emotionale Überlegenheit seiner Geliebten nicht hinnehmen will, zumal diese ihm an sozialem Status, Wohlstand und Bildung unterlegen ist, was er sie im Gespräch der beiden während ihres höchst ambivalenten sexuellen Zusammenkommens und parallel zu den Bewegungen seines Körpers spüren lässt. Er verwendet französische Ausdrücke und prahlt damit, wo überall auf der Welt er schon gewesen ist (wogegen sie doch eine kleine dumme Provinzlerin von ganz weit unten ist), was aber nichts daran ändert, dass er sich zuletzt dem körperlichen Rhythmus der Frau und ihrem Wunsch nach einem überwältigenden Orgasmus fügen muss. Was er ganz offenkundig als Niederlage erfährt. Sein innerlicher Entzug, der auch mit einem homosexuellen Begehren in ihm zu tun zu haben scheint, stellt eine Art von Betrug dar, ohne dass dabei eine dritte Person ins Spiel zu kommen braucht, mit deren Anwesenheit die Frau in der ersten intimen Szene kokettiert, wenn sie die Akustik ihrer Lust steigert, womit der Cousin des Mannes im Zimmer nebenan in das sexuelle Spiel mit einbezogen wird. Ágoston wiederum bereitet mit seinem Betrug - dem Verschweigen seiner anderen, homosexuellen Seite - jenen späteren handfesten Betrug vor, wenn er die mittlerweile mit ihm verheiratete Frau am Flughafen von Athen sitzenlässt und sie so zu einem Instrument seiner Spionagetätigkeit macht. Der Überhang an Fokalisierung und geteilter Figurenrede auf Seiten der weiblichen Figur hat rezeptionsästhetisch zur Folge, dass der implizite Leser, männlich wie weiblich, ihr mehr Gewicht verleiht. Die weibliche Figur ist zuweilen wie eine Sonde wirksam, die eine Reflexion männlicher Sexualität ermöglicht. In der sexuellen Begegnung tritt eine doppelte Spaltung des Ich zutage, denn dieses andere, ‚eigentliche‘ Ich befindet sich haarscharf an der Stelle zwischen Bewusstheit und Unbewusstheit, während das erste, offizielle Ich sich in einem rational kontrollierten Raum bewegt. Zugleich sind aber dadurch zwei Welten beschrieben, die des gesellschaftlichen, das sich im Raum von Konventionen bewegt, und die jenes anderen Ich, in dem sich die Obsessionen zu Wort melden. Dem entspricht eine gedoppelte Sprache: der gehobenen Sprache steht eine 94 Wolfgang Müller-Funk <?page no="95"?> obszöne gegenüber, die die Dinge und Wünsche derb beim Namen nennt, was, wie schon gesagt, in der deutschen Übersetzung im häufigen Gebrauch des großen und kleinen F-Wortes seinen Niederschlag findet. Der Blick des Romans auf die Sexualität ist zutiefst skeptisch, sie ist jene existenzielle Dimension, die überwältigendes Glück und tiefes Unglück zugleich bescheren kann. Beide, der Mann wie die Frau, schämen und ekeln sich, aber nicht so sehr wegen der radikalen Körperlichkeit sexueller Vorgänge, sondern wegen jener beschämenden „Positionen“, in die die sexuelle Begegnung den Menschen zu bringen vermag. Gyöngyvér schämt sich dafür, dass die Abweisung ihres Begehrens dieses bis ins Unerträgliche steigert und sie zur Bitt‐ stellerin macht - sie will und kann sich von diesem Mann nicht trennen; Ágoston wiederum schämt sich dafür, dass er der Frau gleichsam zu Diensten sein soll. Es sind nicht zuletzt die in die Sexualität eingeschrieben Machtkonstellationen, die diese immer wieder zu überschatten drohen. Dadurch wird bedroht, was doch auch ein Ziel sexueller Vereinigung ist: Begegnung auf allen möglichen Ebenen, Anerkennung, dass mein Körper attraktiv ist, dass das Liebesspiel Bestätigung ist, geliebt zu sein bzw. zu werden, und dass ich als Person von dem/ der Anderen anerkannt und ausgewählt bin. Gerade in dieser Hinsicht verfehlen sich die beiden Figuren, auch wenn sie sich fast ohne Unterbrechung vier Tage zu lieben versuchen. Die dunklen Seiten der Sexualität sind bei Nádas unübersehbar, das gilt auch für die Homosexualität, die im Roman einen breiten Raum einnimmt, etwa wenn Kristóf, wie sein älterer Cousin Ágoston bisexuell, seine ersten homoerotischen Abenteuer an diversen Treffpunkten in Budapest, etwa auf der Margareteninsel, durchläuft - es ist ein menschliches Desaster für den jungen Mann, eine Art von Missbrauch, eine Kette von rohen, halböffentlichen Demütigungen, auf die er aber anscheinend nicht verzichten kann - verstörend angesichts einer Korrektheit, die der Homosexualität den Status einer möglichen Normalität (neben anderen) zuerkennen will. Aufschlussreich ist dabei, dass der Roman die Figurenrede hier verselbstständigt und die Romanperson selbst erzählen lässt und auch den fokalen Wechsel unterläuft. Dadurch wird die sexuelle Welt, in die Kristóf eintritt, dunkel, intransparent und unheimlich. Durch diese Konstellation wird unsere Empathie für diese Figur aktiviert, während die oft groben Liebespartner gleichsam draußen bleiben. Naheliegend die Frage, ob nicht beide, der vaterlose Waise und der junge Mann, der in seiner Kindheit von seinen Internatskameraden drangsaliert worden ist und der Sohn eines faschistischen und nunmehr stalinistisch gewen‐ deten Vaters ist, traumatisiert sind. Überhaupt bildet die Schuld der Väter, 95 Multiperspektivität <?page no="96"?> 20 Die schmerzhafte Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte, den Eltern, die dem Regime als loyale Funktionäre dienen, und ihren mehr und mehr sich eintrüb‐ enden Zukunftshoffnungen hat Péter Nádas in folgendem Werk beschrieben: P. N., Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh, Rowohlt, Reinbek, 2017. Originalausgabe: Világló részletek, Jelenkor, Budapest 2017. 21 Wolfgang Müller-Funk, Theorien des Fremden, Francke/ UTB, Tübingen, 2016. die persönliche wie die politische, ein durchgängiges Thema im Roman. 20 Die Parallelitäten zwischen Ágoston und seinen Freunden im Lukács-Bad, Kristóf, dem jungen Döhring und dem Kriminalisten Kienast sind unübersehbar. Ganz offenkundig gibt es ein Moment in ihrer Homosexualität, das mit dem Fehlen des Vaters als symbolische Instanz zu tun hat und das es ihnen beinahe unmöglich macht, ein positives Selbstverständnis von sich als Mann zu entwickeln. Insofern ist die dunkle Geschichte im Zentrum des Kontinents, des Nationalsozialismus, der Diktatur und des Stalinismus, ‚nachhaltig‘ in die Körper der Menschen eingeschrieben. In dieser Einschreibung spielt natürlich auch das Thema von Judentum und Antisemitismus eine nicht unbeträchtliche Rolle, ist doch die Familie am Theresienring, von der mütterlichen Seite her, jüdisch, während der Vater jenem Regime dient, das Hitler bei der Judenvernichtung dienstbereit zur Seite steht, um dann später zum Parteigänger des Stalinismus zu avancieren. Dieses Thema, diese Geschichte, hat im ‚realen Sozialismus‘ zwischen 1956-1961 keine offizielle Sprache, ist aber unterirdisch wirksam, etwa, wenn Klara, die Tochter jenes Mannes, der in Ungarn die Endlösung organisiert hatte, sich in eine sadomasochistische Beziehung zu einem jungen jüdischen Mann begibt. 4. Conclusio Diese radikale Perspektivierung, die alle Komponenten des Narrativen (Hand‐ lung, Diskurs, Performanz/ Sprachspiel) umfasst und durchdringt, die sich frei‐ lich nicht, wenigstens nicht vollständig, mit Bachtins Konzept der Redevielfalt deckt, sondern vor allem auf das Phänomen der Fokalisierung im Sinne Bals zielt, zeitigt mehrere Effekte und konstituiert fragile Formen von Bedeutung: 1. Das Dialogische und damit Empathie, Offenheit, Reflexion. Der, die, das Andere 21 bekommen einen privilegierten Platz im Roman. Die Leser‐ schaft betrachtet die meisten Figuren aus unterschiedlicher Perspektive, wodurch diese vieldeutig werden und sich einem simplen binären Schema entziehen. 2. Nádas’ Technik der Parallelgeschichten ermöglicht ein Eindringen in die Körperlichkeit und in das Unbewusste seiner Figuren. 96 Wolfgang Müller-Funk <?page no="97"?> 22 Jonathan Littell, Die Wohlgesinnten, Berlin-Verlag, Berlin, 2008. 3. Die Funktion der chronikalischen Erzählerrede stellt wiederum ein Kor‐ rektiv der Plurifokalisierung dar, vermehrt aber zugleich den Perspekti‐ vismus. 4. Nádas huldigt, um noch einmal Marquard ins Spiel zu bringen, keinem Mythen-„Striptease“, das heißt hinter den Geschichten tritt keine nackte Wahrheit zutage. Sein Roman erklärt nichts, er stellt allenfalls Zusam‐ menhänge her. 5. Das binäre Schema von Täter und Opfer wird in Frage gestellt. Das Interesse gilt nicht nur den Opfern oder Mitläufern, sondern prominent auch den Tätern. Damit folgt der Roman einem Trend in der Literatur, erwähnen möchte ich hier nur pars pro toto Jonathan Littles ominösen Roman Die Wohlgesinnten, in dessen Zentrum ja ein durchaus vielschich‐ tiger Täter steht. 22 In Nádas’ Roman, einem Kompendium skeptischer Anthropologie im Medium des Literarischen, kommt es, ungeachtet aller Skepsis und Neugierde, zu keinem frivolen Werterelativismus. Der kulturelle Kontext, in dem diese Parallelge‐ schichte als Teil der katastrophischen und katastrophalen Geschichte des 20. Jahrhunderts gesehen wird, wird nicht aufgelöst, sondern vorausgesetzt. Der Roman selbst liefert nicht, etwa durch diverse Binnendialoge einen analytischen Schlüssel. Das ist nicht seine Aufgabe, sondern jene der Geschichte, der Philoso‐ phie oder der Kulturanalyse, die Nádas’ Roman als Medium und Ausgangspunkt ihres Tuns verwenden könnten: Es bietet sich an, um nur drei Namen ins Spiel zu bringen, Nádas mit Hannah Arendt, Jacques Lacan oder Jacques Derrida zu lesen. Literarische Parallelgeschichten bewirken freilich eines: Sie machen das historische Geschehen auf eine Weise plastisch und intellektuell anschaulich, wie das weder die Historiographie noch die Kulturanalyse vermag. In diesem Sinne mag man auch das Eingangsmotto verstehen, den Satz des Parmenides: „Es ist mir das Gleiche, woher ich ausgehe; denn dort werde ich auch ankommen.“ (PG, S. 7) Es ist auffällig, dass die historische Bühne, die den Hintergrund des Ge‐ schehens bildet und die zugleich für das Verständnis der Akteure und ihrer Motive maßgeblich ist, gleichsam verschwommen bleibt. Insofern liest sich Nádas’ Lebensgeschichte „Aufleuchtende Details“ wie ein Kommentar zum Roman. Zur unbestechlichen literarischen Qualität des Autors gehört dabei, dass die Autobiographie den Gestus des Opus magnum nicht einfach wiederholt, sondern ästhetisch völlig anders einsetzt, mit einem gebrochenen Ich, das sich im eigenen Erinnerungstheater abarbeitet und zu orientieren sucht. 97 Multiperspektivität <?page no="99"?> 1 Vgl. z. B. István Margócsy, Nádas Péter: Párhuzamos történetek, in: 2000, 2005, 12, S. 45; Sándor Radnóti, Az egy és a sok, in: Holmi, 2006, 6, S. 784-785. Das Verhältnis zwischen Stimmen und der narrativen Struktur im Roman Parallelgeschichten von Péter Nádas Tibor Gintli Der Roman von Péter Nádas ist ein anspruchsvolles Unterfangen, nicht nur hinsichtlich seines Umfangs, sondern auch hinsichtlich des Versuchs, die Er‐ wartungen der Leser umzustimmen. Das Buch ruft seinen Leser auf, seine bisher erworbenen, gewohnten Lesestrategien und traditionellen Erwartungen aufzugeben. Dies geschieht, indem die narrative Struktur ausgehend von gut erkennbaren traditionellen Formen aufgebaut wird, dabei aber diese Formen aufgeweicht und in Frage gestellt werden. Der Roman greift mithilfe von Verfahren der Moderne auf die Tradition der modernisierten realistischen Erzählweise zurück - aus diesem Grund können auch mehrere Interpretationen mit Recht auf Tibor Dérys Unvollendeten Satz als Vorläufer verweisen 1 -, um dann, diese dem Leser bekannten Verfahren einsetzend, den Rahmen dieses narrativen Modells anzufechten. Durch diese eigenen poetischen Regeln im Prozess des Schreibens verändert sich die Erzählweise - ein Problembereich, dem ich mich in meinem Beitrag durch eine Untersuchung der erzählerischen Stimmen annähern werde. Untersucht man die Struktur der Stimmen, scheint die Struktur des Textes transparent und problemfrei zu sein. Der Roman setzt einen anonymen, hetero‐ diegetischen Erzähler ein, dem eine allwissende Kompetenz zugeschrieben wird. Der allwissende Erzähler kann in das Bewusstsein seiner Figuren hineinsehen, er kennt ihre Gedanken und Intentionen, sein Wissen erstreckt sich gleichzeitig auch auf die sich an den verschiedensten Orten und in verschiedenen Zeitebenen abspielenden Ereignisse. Dieses Wissen übertrifft die Gesamtheit der Kenntnisse aller Figuren des Romans, insofern die Erzählerrede interpretierende Bemer‐ kungen enthält, die sich den gegebenen Figuren aus einer vertieften, analyti‐ <?page no="100"?> schen Sicht annähern, eine Sicht, die alle Fähigkeiten der Figuren übertrifft. Der Narrator enthält sich auch nicht der Kundgabe seiner eigenen Weltanschauung. Obwohl er keine umfangreichen essayistischen Ausführungen macht, verheim‐ licht er seine Auffassung über den menschlichen Charakter nicht, der durch die Disharmonie der miteinander unvereinbaren Dimensionen von Körper, Moral und Geist bestimmt wird. Dieser allwissende Erzähler verkörpert offensichtlich nicht die im 19. Jahrhundert anzutreffende Variante dieser Rolle, da seine Sichtweise von subversiver Art ist. Die Erzählweise der Parallelgeschichten zeigt eine bestimmte Beziehung zum Enthüllungsnarrativ des realistischen Romans, das die gesellschaftliche Moral kritisiert, doch der unauflösbare Gegensatz wird hier als anthropologisches und nicht als gesellschaftliches Phänomen dargestellt. Die Beschränktheit des erzählerischen Wissens taucht im Zusammenhang damit auf, dass der Erzähler über bestimmte Sachverhalte nicht berichtet. So bleibt der Leser mit Fragen, die sich ihm durch die Erzählung stellen, allein gelassen. Ein Teil dieser Fragen erweist sich als beantwortbar, z. B. die Frage, wer der Mann ist, der auf der Bank im Tiergarten tot aufgefunden wurde: Die Feinheit der pflaumenblauen Unterhose sowie die geäußerte Angst vor seiner Verfolgung weisen auf den in Athen verschwundenen Ágoston hin. Doch das ist nur eine Annahme des Lesers, der Erzähler äußert sich dazu eben nicht, und so ist sein Status in der diegetischen Welt ambivalent. Was soll der Leser denken? Weiß der Erzähler, wer der Tote ist, doch überlässt er es dem Leser, es zu erraten? Oder soll der Leser diese fehlende Information einfach als die Grenze des Wissens des Erzählers auffassen? Der Erzähler teilt die Informationen, die er zu besitzen scheint, bei zahlreichen Gelegenheiten nicht mit dem Leser. Wenn es an manchen Stellen des Werkes zu einem Informationsmangel für den Leser kommt, so erhält der Leser die diesbezüglichen Aufklärungen häufig erst viele Seiten, ja bis zu mehrere hundert Seiten später. Auch eine rätselorientierte Lesestrategie ist unter den denkbaren Möglichkeiten nicht auszuschließen. Andererseits ist es auch vorstellbar, dass der Narrator selbst unsicher darüber ist, wer der Mann ist, d. h. dass die Erzählung selbst das angewandte Schema hinterfragt. Das andere Beispiel bezüglich des Objekts der Erzählung ist die fehlende Information darüber, in welchen Situationen die autodiegetische Er‐ zählung von Kristóf in der 1. Person Einzahl erscheint, an wen diese gerichtet ist, bzw. wie die Zeit des Erzählens in den Zeitebenen des Romans verortet werden kann. Charakteristisch für die Erzählweise des anonymen, heterodiegetischen Nar‐ rators ist im ganzen Roman, dass darin kürzere Äußerungen der Figuren, Dialoge zwischen ihnen sowie ihre inneren Monologe enthalten sind. Diese 100 Tibor Gintli <?page no="101"?> - besonders letztere - lassen frühere Ereignisse kurz aufscheinen. In diesem Sinne wird das narrative Verfahren der eingebetteten Erzählung ziemlich oft eingesetzt. In diesen Fällen ist das homodiegetische Erzählen fast in jedem Fall konkret, es taucht in Situationen auf, die vom Narrator detailliert beschrieben werden, und es kann auch geklärt werden, welcher Zeitebene die Äußerung des Protagonisten zugeordnet werden kann. Unter den Figuren des Romans ist Kristóf Demén in einer außerordentlichen Situation: sein Erzählen weicht sowohl im Umfang als auch hinsichtlich seiner Position von der erzählerischen Tätigkeit der übrigen Figuren ab. Kristóf übernimmt erstmals im dritten Kapitel des ‚Zweiten Buchs‘ („Gruß von der eigenen Existenz“) die erzählerische Aufgabe und behält diese bis zum Ende des gesamten Kapitels bei, um dann der ausschließliche Narrator weiterer 9 Kapitel („Ilonas Reishuhn“; „Anders konnte es sich nicht austoben“; „Es reißt alles auf “; „Im Sommer siebenundfünfzig dann“; „Mir bleibt keine Zeit mehr“; „Diese verschreckte Befriedigung“; „In diesem Haus bin ich schon gewesen“; „Dieser sonnengrelle Sommernachmittag“; „Kaum einen Zoll voneinander entfernt“) zu werden. Von den 39 Kapiteln sind es 10, in denen ausschließlich seine erzählerische Stimme zu vernehmen ist. Diese Kapitel machen mit insgesamt ca. 280 Seiten nur fast 16 % des Romans aus. Neben diesem Umfang ist auch seine Position eigenartig. Im Laufe der vorangehenden Äußerungen der Figuren wechseln einander nämlich die direkte Rede der 1. Person Einzahl, die freie indi‐ rekte Rede sowie die Stimme des heterodiegetischen Erzählers ab, doch in diesen Kapiteln wird ausschließlich die Narration in der 1. Person Einzahl eingesetzt. Die Ausschließlichkeit der der Figur zugeschriebenen, ständigen sekundären Erzählposition könnte vielleicht auch damit erklärt werden, dass Kristóf die Hauptfigur des Romans ist. Gleichzeitig wird durch die Handlungsstruktur, die Struktur des Nebeneinanders der parallelen Geschichten die Gültigkeit dieser Kategorie in Frage gestellt. Als Frage taucht hier nicht nur auf, warum eben die sekundäre Erzählrolle so ausdauernd und ausschließlich an die Figur von Kristóf gebunden ist, sondern auch die Frage, wie diese Absätze als Ganzes im Narrativ verortet werden können, bzw. was für ein Verhältnis zwischen der Erzählrede des heterodiegetischen Narrators und des Figurentextes von Kristóf anzunehmen ist. Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen: Kristófs Erzählnarrativ ist eine eingebettete Erzählung, die im Erzähltext des heterodiegetischen Narrators enthalten und von ihm umrahmt ist. Doch entfällt eben dieser Akt der Rahmung, jenes Moment, das bei den erwähnten, kürzeren Äußerungen der anderen Figuren mit erzählerischem Charakter immer vorhanden ist. Wir wissen nicht, wann, in welchen Situationen und an wen Kristóf seine Worte richtet. Es 101 Das Verhältnis von Stimmen und narrativer Struktur im Roman Parallelgeschichten <?page no="102"?> 2 Péter Nádas, Parallelgeschichten, Rowohlt Verlag, Reinbeck bei Hamburg, 2012. S. 687. (Hervorhebungen vom Verfasser.) ist auch gar nicht gewiss, ob er seine Worte an jemanden richtet, d. h. ob wir uns eine mündliche Erzählung oder ein geschriebenes Memoire vorstellen sollen. Will vielleicht der Roman die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass er die Leseerwartungen derartiger Bestimmungen als ungültig betrachtet? Es ist nicht einfach, eine Entscheidung zu treffen, denn die narrativen Verfahren des Romans resultieren eindeutig aus den realitätsnahen narrativen Schemata der Fiktion. Die Beibehaltung des Prinzips der Realität gibt im Falle der autodiege‐ tischen Erzählung den Hinweis auf die Umstände der Stimmen der Figuren, denn die erzählende Tätigkeit des Protagonisten ist selbst Teil der Handlung. Die aktuelle Tätigkeit des Protagonisten ist das Erzählen. Die sekundäre auto‐ diegetische Erzählung ist auf einer anderen Ebene der Narrative verortet als die primäre Erzählung, der allwissende Narrator weiß um die Umstände seiner selbst vorgetragenen, eingebetteten Erzählung. Natürlich kann auch der Figurentext die eigene Erzähltätigkeit in die Zeit‐ verhältnisse der Geschichte platzieren, die vom primären Erzähler vorgetragen wird, falls der Protagonist in seiner Rede Hinweise versteckt, die seine Erzähl‐ tätigkeit in die Geschichte verortet, oder seine Position zumindest in diesem Gefüge festlegen. Doch dazu kommt es in der Erzählung von Kristóf nicht, denn es bleibt bis zum Ende ungeklärt, wem und in welchen Situationen er das mit ihm Geschehene erzählt. Über die Zeit seines Erzählens kann lediglich gesagt werden, dass es höchstwahrscheinlich um eine Nachzeitigkeit, eine retrospektive Erzählung geht, um eine Narration, die aus einer beachtlichen zeitlichen Entfernung auf die vergangenen Ereignisse zurückblickt. Darauf verweisen keine bestimmten Zeitangaben, sondern nur einige sporadische Hinweise: Der Satz war schlecht, aber ich sprach ihn trotzdem aus. Ich möchte Sie gern treffen. Es klang, als würde die Stimme eines anderen Menschen in mein Leben herüberrufen. Mag sein, dass die jungen Leute heutzutage das nicht mehr auf die Art sagen, sondern ganz anders, aber damals machte man es so. 2 Die Ausdrücke „heutzutage“ und „damals“ lassen auf eine größere zeitliche Entfernung schlussfolgern, sie positionieren sozusagen die Erzählzeit als eine andere Epoche im Vergleich zur aktuellen Zeit der Erzählung. An einer anderen Textstelle der originalen ungarischen Ausgabe wird auch der Begriff der Epoche erwähnt. Die Erzählung blickt auf die erwähnte Zeit als eine historische Epoche zurück, was wiederum vermuten lässt, dass diese zur Zeit der Erzählung 102 Tibor Gintli <?page no="103"?> 3 ebenda, S. 1167. In der originalen ungarischen Version: „[M]indent átszőtt […] a tehetet‐ lenség érzete, átitatott és áthatott a korszak uralkodó érzése, a tökéletes reménytelenség […]” Péter Nádas, Párhuzamos történetek, Jelenkor Kiadó, Pécs, 2006, III. S. 211. 4 Vgl. hierzu István Margócsy, Nádas Péter, S. 43. Péter Szirák, A test végtelenbe nyíló könyve, in: Alföld, 2006, 10, S. 91. 5 Péter Nádas, Le kell vetkőzni, föl kell öltözni…, in: Jelenkor, 2006, 2, S. 168. schon abgeschlossen war: „Denn obwohl alles vom Gefühl der Hilflosigkeit durchwoben war, und ich war durchtränkt und durchdrungen von den Gefühlen der damaligen Zeit […]“ 3 Eine nähere Bestimmung bleibt aus, es ist höchstens anzunehmen, dass die erwähnte Zeit von dem als symbolisch zu betrachtenden Datum 1989, das die Zeitebene der Handlung in Verbindung mit Döhring bringt, nicht so weit entfernt sein kann. Mit dieser Annahme können wir darauf schließen, dass die dem heterodiegetischen Erzähler zur Verfügung stehende Zeitperspektive und die Rückblicksperspektive der Protagonisten nicht so weit voneinander entfernt sein können. Selbstverständlich verlangt das die Wirklichkeit präferierende Fiktions‐ schema nicht in jedem Fall die Rahmung der autodiegetischen Erzählung zweiter Stufe. Im Falle der Parallelgeschichten stellt die Spannung zwischen der Omnipotenz des heterodiegetischen Erzählers und dem Fehlen der Rahmung der metadiegetischen Erzählung den Leser vor neue Interpretationsprobleme. Warum wird vom primären Narrator die eingebettete metadiegetische Erzäh‐ lung nicht mit in die Struktur aufgenommen? Soll etwa die Situation der Verlautbarung vom Leser als ein zu lösendes Rätsel behandelt werden? Auch diese Strategie erweist sich als nicht von Grund auf unberechtigt, denn die Erzählung verzögert oft Informationen, die vom Leser bereits erfragt wurden, bzw. werden diese verstreut und oft nur so nebenbei erwähnt. 4 Eine weitere Annäherungsmöglichkeit wäre, anzunehmen, dass in diesem Roman die Situierung der metadiegetischen Erzählung eigentlich nicht so wichtig ist. Neben der Unpersönlichkeit der Perspektive des auktorialen Er‐ zählers erscheint eine betont personale Perspektive. 5 Kristófs Stimme ist in diesem Kontext eine andere Erzählperspektive, die in einem gewissen Sinne den Charakter des sekundären autodiegetischen Erzählers verliert und als die Verwirklichung einer anderen, gleichrangigen Erzählerfunktion aufgefasst werden kann. Der Protagonist übertrifft damit seinen Status als Protagonist und wird als Repräsentant einer alternativen Annäherungsweise zu einem Erzähler auf gleicher Ebene mit dem auktorialen Erzähler. Eine Metalepse dieser Art würde den Leser auch nicht in Verlegenheit bringen, wenn es im Rahmen einer die Fiktionalität betonenden Erzählweise dazu käme. Aus diesem Grunde hält der Leser bei so einer Interpretationsmöglichkeit der Parallelgeschichten 103 Das Verhältnis von Stimmen und narrativer Struktur im Roman Parallelgeschichten <?page no="104"?> inne, weil das Narrativ bisher durchgängig das epische Prinzip der Realität als gültig beließ und die daran geknüpften narrativen Schemata bislang nicht aufzuweichen versuchte. Wie oben bereits angedeutet, verstehe ich unter der Poetik der Aufweichung, dass im Roman die Gültigkeit der angewandten epischen Verfahren gleichzeitig angewendet wie auch in Frage gestellt wird. D.h. es wird der Versuch unternommen, die eigenen zeitweilig akzeptierten Regeln im Schreibprozess selbst zu unterminieren. Die Effizienz dieser Strategie wird im Rezeptionsprozess durch mehrere Fak‐ toren beeinflusst. Einer dieser Faktoren ist die Häufigkeit dieses Regelverstoßes, man könnte wohl sagen, die Regelmäßigkeit des Regelverstoßes. Falls dieser Verstoß regelmäßig funktioniert, ist der Leser dazu geneigt, in all dem eine gewisse erzählerische Strategie zu sehen, wohingegen bei einem einmaligen Regelverstoß der Rezipient leicht vor dem Dilemma steht, die Auflösung der bisher angewandten Schemata als poetische Invention oder als Fehler zu werten. Die einmalige oder regelhafte Auflösung der narrativen Struktur kann eine effektive Überprüfung der Leseerwartungen herbeiführen. Wenn dieser Regelverstoß bestimmt und gut sichtbar wird, können wir sagen, dass er radikal ist, und selbstverständlich können auch die selbstreflexiven Gesten des Textes zur Entstehung einer neuen Lesestrategie verhelfen. Die Effizienz der Aufhebung früherer Erwartungen kann auch beeinflusst werden, wenn sich das umgeschriebene narrative Schema auch in anderen Bezügen zeigt. Bei unserem konkreten Objekt bleibend: Wie häufig sind jene poetischen Impulse, die die Prinzipien des Realismus anfechten, die mit der Metamorphose der autodiegetischen Erzählung eine Parallele zeigen? Der Roman bietet relativ wenige Lösungsstrategien an, die sichtlich die epischen Konventionen des Realismus anfechten. Eines dieser Momente ist die Figur von Gyöngyvér, die im Vorraum ihrer Untermiete in der Pozsonyi Straße Stimmen und Geräusche zu hören vermag, die einst tatsächlich dort erklungen waren. Der Lärm während der Verschleppung der jüdischen Bewohner des Hauses im Jahre 1944 klingt ihr auch im Jahr 1960 noch in den Ohren, trotz der Tatsache, dass sie weder Augenzeugin dieser Ereignisse war noch von anderen davon gehört hatte. Diese Wahrnehmung kann offensichtlich nicht in den Rahmen der den Realismus bevorzugenden Erzählweise eingeordnet werden. Derartige Perzeptionen der Protagonisten, die innerhalb des fiktionalen Schemas der geschehenen Ereignisse keine rationale Erklärung haben, erweisen sich als eine einmalige Grenzüberschreitung und nicht eine wiederkehrende Lösung, obwohl wir auch im Traum des jüngeren Döhring eine ähnliche Erscheinung erkennen können. 104 Tibor Gintli <?page no="105"?> 6 Vgl. Sándor Radnóti, Az egy…, S. 777; Péter Szirák, A test…, S. 94-95; Sarolta Deczki, A legkülönbözőbb dolgok együttállása, in: Alföld, 2010, 7, S. 87. 7 István Margócsy, Nádas Péter, S. 49; Sándor Radnóti, Az egy…, S. 782; Enikő Darabos, A néma test diskurzusa, in: Jelenkor, 2007, 4, S. 439-462. Der häufigsten Aufhebung des Realismusprinzips begegnen wir in der Form eines Verfahrens, das in der Zeit des Realismus und in den englischen Romanen des 19. Jahrhunderts mit Vorliebe eingesetzt wurde: Es geht um die Verknüpfung der verschiedenen Rollen der Protagonisten. 6 Während im klassischen Roman die zu Beginn scheinbar voneinander unabhängigen, in verschiedenen Fäden laufenden Geschehen und deren Verzweigungen letztlich in einem Knoten‐ punkt zusammentreffen, somit der Strukturiertheit, d. h. der abgerundeten, geschlossenen Form dienen, trägt dies hier eben durch die Auflockerung des Realitätsrahmens zur Schaffung einer Offenheit bei. Obwohl in einem Teil die Handlungen eine Erklärung zur Beziehung der verschiedenen Figuren unterein‐ ander liefern, erhält das Wiederauftreten der Figuren bzw. die Verbindung von gewissen Figuren keine im Rahmen der Realität interpretierbare Begründung. Die eigenartige Vernetzung der Protagonisten, die Häufigkeit der Zufälle ist dermaßen groß, dass das narrative Schema der Realität angefochten wird. Am Anfang kann der Leser diese Technik als ein den Romanzusammenhalt erzielendes Mittel verstehen, wird sie jedoch sehr häufig angewandt, kann dies als ein Prinzip des Regelverstoßes gegen die poetischen Prinzipien verstanden werden. Das Narrativ, das scheinbar am Prinzip der Wahrscheinlichkeit festhält, ironisiert durch die Inszenierung der unwahrscheinlich vielen Zufälle quasi über das eigene narrative Regelsystem. Der Grund dafür, dass ein Teil der Interpretationen mit der Anerkennung der poetischen Neuerungen des Romans bzw. von deren Methodik zögert, kann auch darin zu suchen sein, dass der Roman wesentlich radikaler und sichtbarer den literarischen Diskurs über den Körper erneuert 7 als die angewendeten epischen Strukturen selbst. Wenn wir die Erwartung hätten, dass der Roman unbedingt darüber Rechen‐ schaft zu geben hat, in welchen Situationen Kristófs rückblickende Erzählung stattfindet, würden wir wahrscheinlich dem Text gegenüber eine Erwartung stellen, in dem eine aus der Regelbefolgung in die Regelverletzung wechselnde narrative Poetik entsteht, die dem Text fremd wäre. Aus diesem Grund können wir die auf die Ebene der primären Erzählerrede erhobene, von ihr aber gleichsam unabhängige Erzählposition der autodiegetischen Erzählung für eine mögliche und gültige narrative Technik halten. 105 Das Verhältnis von Stimmen und narrativer Struktur im Roman Parallelgeschichten <?page no="107"?> Damengeplauder am anderen Ufer Die Parallelgeschichten und ihr verstörendes Supplement Ursula Knoll Gin Fizz, Bridge und ein breites Lachen gegen die Scherben, das ist das Motto der illustren Damengesellschaft, die sich im Nachkriegsungarn von 1961 viermal in der Woche in der Wohnung der roten Gräfin Mária Szapáry im siebenten Stock eines Gebäudes am Szent-István-Park in Budapest trifft. Die allabendlich stattfindende Bridgepartie ist ein schillerndes Versatzstück in Péter Nádas’ 2005 auf Ungarisch, 2012 auf Deutsch erschienenem Monumentalroman Parallelgeschichten, der das 20. Jahrhundert mit seinen Gräueln und totalitären Experimenten mehrfach durchquert, vom Ersten Weltkrieg durch die dreißiger und die sechziger Jahre bis in die Zeit nach 1989, von Berlin über Budapest und die Schweiz bis in eine ungarische Kleinstadt. Die jüdische Psychoanalytikerin und KZ-Überlebende Irma Szemző, die Tänzerin Isabella Dobrovan sowie die Gesangslehrerin Margit Huber bilden mit der Gastgeberin Mária Szapáry über die Brüche des 20. Jahrhunderts und ihren unauslöschlichen Konsequenzen in den jeweiligen Biografien hinweg eine eingeschworene Frauengruppe, in der einmal mehr das Kompositionsprinzip des gesamten Textes vorgeführt wird, geschichtliche Großerfahrungen über körperliche Naherfahrungen narrativ erfahrbar zu machen. In der Architektur des Romans erweist sich die täglich wiederholte Bridgepartie als eine tragende Säule, die aber, als Teil der Grundkon‐ struktion, nur an wenigen Stellen zum Vorschein kommt. Erst in dem Moment, in dem im reibungslosen Ablauf der allabendlichen Selbstvergewisserung dieser vier ungewöhnlichen, starken Frauenfiguren etwas ins Stocken gerät, sich eine Irritation, eine Störung ereignet, tritt die Damenrunde in den Strom der erzählten Ereignisse ein. Es ist jener Moment in den Parallelgeschichten, die dem Erzähler auf kaum hundert Seiten komprimiert die Möglichkeit gibt, wie die Übersetzerin ins Deutsche, Christina Viragh, in ihren Bemerkungen ausführt, <?page no="108"?> 1 Christina Viragh, Das Buch, sein Autor, der Akanthus und die Übersetzerin, in: Daniel Graf, Delf Schmidt, Péter Nádas lesen. Bilder und Texte zu den Parallelgeschichten, Rowohlt Verlag, Hamburg, 2013, S. 12. 2 Sarah Kofman, Derrida lesen, Passagen, Wien, 1988, S. 13. „die persönlichen Schicksale mit der ungarischen und europäischen Geschichte vor, während und nach dem Krieg zu verknüpfen.“ 1 Im Verlauf des Erzählprozesses erscheint die Damenrunde im ersten Drittel, am Ende des Kapitels Die stillen Argumente der Vernunft, mit dem das Erste Buch In stummen Gefilden schließt. Die in beiden Titeln anklingenden Motive des Schweigens (still und stumm) sind konstitutiv für den ungeschriebenen Sozialkodex der vier Frauen, sich auf das Spiel zu konzentrieren, um die be‐ drohliche Möglichkeit eines Gesprächs gleich von vornherein auszuhebeln und das Gleichgewicht in ihrem fein gesponnenen Beziehungsgeflecht zu schützen, das geprägt ist von unterdrücktem Begehren, Neid, trotziger Lebensbejahung und der sie trennenden und vereinenden Gewaltgeschichte des Faschismus. Im Zweiten Buch reicht das kurze Kapitel Das andere Ufer schließlich den Ausgang des schiefgelaufenen Bridgeabends nach. Im Gesamtumfang des Romans mit seinen 1700 Seiten wirken die zusammengenommenen 100 Seiten, die die Damenrunde einnimmt, sowie ihr schemenhaftes Auftreten in verschiedenen Erzählsträngen wie eine knappe Randnotiz. Als Nebenschauplatz im großen Tableau der Gewaltgeschichten des 20. Jahrhunderts, das der Roman aufspannt, lässt sich das Damengeplauder am anderen Ufer mit Sarah Kofman hingegen als Supplement lesbar machen, das für das Verständnis des gesamten Romans zentral ist. In Übernahme der Derrida’schen Figur des Supplements auf ein Schreiben und Denken nach der Erfahrung des nationalsozialistischen Massen‐ mords erläutert Kofman: Die befremdliche Struktur des Supplements erzeugt nachträglich das, woran dieses sich angeblich anfügt. Was scheinbar am Rand des eigentlichen Körpers liegt, unten oder ans Ende gedrängt, und was für die Öffnung nach draußen sorgt, ist manchmal wichtiger als der sogenannte Haupttext. 2 In meinem Beitrag möchte ich in einem close reading ausgewählter Stellen aus der Begegnung der vier Damen dieses Verhältnis näher beschreiben und an Nádas’ Romantext entlang aufzeigen, was über das Supplement des Damen‐ kränzchens im strukturellen Kontext des erzählerischen Gefüges nachträglich in der Poetologie des Textes erzeugt wird. Im Zentrum der Freundschaft der vier Frauen, alle nun in ihren Sechzigern, steht die ungelebte Liebesbeziehung zwischen der Adeligen Mária Szapáry und der Psychoanalytikerin Irma Szemző. Ihre intime Begegnung im Badezimmer, 108 Ursula Knoll <?page no="109"?> 3 Péter Nádas, Parallelgeschichten, Rowohlt, 2012. S. 456. bei der Frau Szemző die Gräfin verarztet, gehört zu jenen Höhepunkten im Roman, in denen so etwas wie authentische gegenseitige Zuneigung zwischen zwei Menschen spürbar wird, wenngleich die Liebesbeziehung, wie so viele andere im Roman auch, aufgrund der geschichtlichen Verwerfungen nicht gelebt werden kann. Die Szene ist eingebettet in die Erzählung des gemeinsamen Abends, über dessen Grundkonsens der Erzähler folgende Auskunft gibt: Sie waren nunmehr unerträglich eigensinnige, betrogene, hereingelegte, verlassene, von vielem enttäuschte Frauen, aber mit keinem Wort hätten sie ihre Enttäuschung voreinander oder vor sonst jemandem zugegeben. Nur vor sich selbst. Und das war schon genug, um der anderen alles anzusehen, sich über sie zu amüsieren, ihre tief innen noch vorhandene Lustigkeit zu spüren. […] Über die Wechselfälle ihres Lebens orientierten sie einander eher nur mit halben Worten und Andeutungen, während sie ein wenig zögernd, am zutiefst liberalen Anspruch auf Distanz festhaltend, wieder in die Gefühlsgemeinschaft eintraten, an der sich nichts geändert hatte. 3 An diesem Abend aber passiert Ungewöhnliches. Während sich Frau Szemző gerade auf den Weg zur Bridgerunde begibt, diskutieren die drei anderen, ob sie dem von Erna Lehr über ihre Schwiegertochter Gyöngyvér an die Gesangslehrerin Margit Huber herangetragenen Wunsch nachkommen sollen, Irma Szemző auf ihre Lagererfahrung anzusprechen, um herauszufinden, ob sie etwas über den Verbleib der nach Ravensbrück deportierten Tochter von Erna Lehr bezeugen kann. Die drei Frauen einigen sich darauf, die Anfrage zu ignorieren und sich an ihren Schweigekodex zu halten. Doch schon der beim Versuch, aus dem Berg von schmutzigem Geschirr saubere Gläser herauszufi‐ schen ausgelöste Unfall, bei dem sich die Gräfin den Finger blutig schneidet und die Küche ein Meer an Scherben ist, deutet proleptisch auf die Verstörung des Abends hin, wenn alle vier Figuren in unterschiedlichem Ausmaß mit ihrem eigenen Ungesagten konfrontiert werden. Irma Szemző „liebte die groben und verzeichneten Züge dieses vertrauten Gesichts so sehr, dass es ihr zuweilen den Atem verschlug“, teilt der Erzähler Frau Szemzős Innensicht mit, während diese die Wunde der Gräfin untersucht und reinigt, und die beiden Frauen einen ungestörten Moment im Badezimmer teilen. In einer Assoziationskette, die bei Szapárys blutendem Finger ihren Ausgang nimmt, Erinnerungen an das Ausbleiben der Regelblutung während Szemzős Lagerzeit bzw. in Szapárys Ge‐ stapohaft heraufbeschwört und zu Frau Szemzős aufgeregten Versuchen führt, die unberechenbare Annäherung zwischen ihnen durch Rationalisierungen zu unterbinden, verlieren sie sich ineinander in einem Blickregime, das ihr 109 Damengeplauder am anderen Ufer <?page no="110"?> gegenseitiges Begehren für einen Augenblick lebbar macht. Unterbrochen wird diese Nähe durch ein Wimmern aus dem Nebenzimmer. Frau Szemző ist es, die „sich aus einem unnennbaren Schamgefühl zuerst von den weit offenen Augen der anderen abwenden musste. Sie wollte die nebenan wimmernde Elisa nicht mit Mária betrügen, nicht einmal symbolisch.“ (461) Um den Moment der Nähe aufrechtzuerhalten und den Raum noch nicht für ihre von einer Gehirnblutung gezeichnete Partnerin Elisa Koháry zu öffnen, verstößt die Gräfin gegen die Abmachung mit den Freundinnen und bricht mit dem Schweigegebot. Mit ihrer Frage, was Frau Szemző 1945 dazu bewogen habe, nach der Ermordung ihres Mannes und ihrer beiden Söhne doch wieder nach Budapest zurückzukehren, hält sie den Raum des Intimen über das für beide gefährliche Unterfangen des Überlebendenberichts aufrecht. Die Szene veranschaulicht auf sehr charakteris‐ tische Weise, wie Péter Nádas in seinem Roman die historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts als Körpergeschichte zu erzählen weiß und wie präzise die Verschränkung der historischen Erzählung mit der zutiefst persönlichen, sinnlichen Wahrnehmung seiner Figuren gearbeitet ist. In drei Anläufen, in denen Frau Szemző vom Todesmarsch nach Flossenbürg, von ihrer Befreiung und den ersten Frühlingstagen in einem Spital bei Ceské Budejovice erzählt, umkreist Frau Szemző die Frage nach der Entscheidung für die Rückkehr, ohne eine Antwort zu finden. Deutlich wird im Erzählen, dass das Erlebte nicht teilbar ist, entgegen Mária Szapárys Intention hebt der Versuch, über das Erzählen Nähe herzustellen, die Intimität zwischen ihnen auf. Gleichzeitig vollziehen sich in diesem kurzen Augenblick der Erzählung zwei weitere bedeutsame Dinge, die über die Spaltung hinausgehend zwei für beide Figuren einschneidende biographische Details als Konsequenz aus dieser Erfahrung mitverhandeln, einen Vor- und einen Rückgriff in der Chronologie der Ereignisse darstellen und über diese Verschränkung einen zentralen Hinweis auf die Grundaussage des Textes geben. Den Vorgriff stellt der Mord an Elisa Koháry dar, die von Mária Szapáry knappe tausend Seiten später, in der zeitlichen Ordnung ein Jahr nach dem Bridgeabend, am 15. September 1961, dem Schlüsseltag des Romans, in den Liftschacht gestoßen wird, woraufhin sich Szapáry auch selbst umbringt. Die Nachricht über dieses Ereignis erfährt die Leserin aus zweiter Hand, sie wird dem ranghohen Genossen Karakas, einer der zwielichtigsten Figuren des Romans, bei seinem täglichen Jour fixe im Lukacs-Bad als eine der Neuigkeiten des Tages zugetragen. Die im intimen Gespräch der beiden Frauen nur undeutlich vernehmbare Komplizinnenschaft, ein Wissen um die andere und ihre Entscheidungen, sei es Mord, zu teilen, wird dem Leser beiläufig in der Nachricht an Karakas als Gewissheit nachgereicht: „Aber ein Jahr zuvor, als sie der Irma Szemző zum ersten Mal gesagt hatte, bis hierher und nicht weiter, sie 110 Ursula Knoll <?page no="111"?> habe keine seelischen Reserven mehr, nichts mehr, hatte Irmuschka nicht gesagt, sie solle es nicht tun.“ (1349) Die doppelte Verneinung gibt schon einen Hinweis darauf, dass die von der Gräfin gewünschte Absolution durch die Verweigerung einer klaren Antwort von Szemző nur bedingt ausgestellt worden ist und erst nachträglich durch die Vehemenz der Behauptung hergestellt werden muss. Was sich im Gespräch der beiden Frauen tatsächlich abspielt, ist um eine weitere Drehung ambivalenter: Lass uns tief durchatmen, sagte Mária mit ihrem schönsten Lächeln, vergiss, dass ich gefragt habe, und was ich gefragt habe, Schwamm drüber, verzeih mir. Jetzt gehen wir schön zu Elisa hinein. Auch das weiß ich nicht, warum ich es dir sage, aber glaub mir, Irma, ich empfinde Hass. […] Aber natürlich, antwortete Irma leichthin, obwohl sie eigentlich hätte sagen sollen, Mária solle nicht so viel Hass auf sich empfinden, dafür habe sie keinen Grund. Es ist peinlich, so etwas zu hören. Sie hatte wirklich keine Gründe, sich zu hassen, oder nur wenige. Aber Irma konnte es trotzdem nicht aussprechen. Wegen der Toten war es ihr unmöglich, Mária freizusprechen, auch wenn sie jetzt wirklich nicht an ihre Söhne dachte. Nein. Und auch Mária konnte keinen Schritt weitergehen. (471) Irma Szemzős abwimmelndes „Aber natürlich“, dem kein weiterer Nachsatz folgt, ermöglicht einen Raum der Unschärfe, in dem sich die Floskel nachträglich als Zustimmung interpretieren lässt. Die nicht verhandelbare Forderung, auf ein Weiterleben zu bestehen, wie es Frau Szemző als Vermächtnis der Ermor‐ deten für sich übernimmt, wird in ihrem inneren Monolog sehr vehement dargelegt, sie unterliegt aber dem Schweigegebot, gegen das die beiden Frauen auch an diesem Abend, entgegen der vordergründigen Offenheit, dann doch nicht verstoßen. Hier wird das über die gesamte Episode verhandelte Spiel von Schweigen und Offenlegen, Wissen und Nichtwissen nochmals an eine weitere Grenze getrieben. Denn es ist gerade die Figur der Elisa Koháry, die ihr Leben lassen muss, eine Figur, die die Grenzen des Sagbaren über ihre Behinderung körperlich in den Text einführt und über die der Erzähler berichtet: „Wahrscheinlich konnte sie die in einem Zusammenhang stehenden Dinge je für sich bestimmen, das sah man ihrem Gesicht an, doch dann brachte sie den Zusammenhang nicht zustande.“ (483) Viktória Radics macht auf diesen Umstand in ihrer dichten, klugen Besprechung des Romans aufmerksam, indem sie auf die Bedeutung des einzigen Satzes, den Elisa Koháry von sich geben kann, hinweist. „I don’t know“ antwortet Elisa Koháry auf jede ihr gestellte Frage, und Radics nimmt diese Aussage in ihrer Buchstäblichkeit ernst: Wenn jemand nicht weiß, dass er sagt, er wisse nicht, dann drückt sich darin gewissermaßen die authentischste Form des Nichtwissens aus - und in der Tat, 111 Damengeplauder am anderen Ufer <?page no="112"?> 4 Viktória Radics, Statt einer Kritik, in: Daniel Graf, Delf Schmidt, Péter Nádas lesen. Bilder und Texte zu den Parallelgeschichten, Rowohlt Verlag, Hamburg, 2013. S. 168f. 5 ebenda, S. 169. Nichtwissen ist bei Nádas kein Kunstgriff, keine Verstellung oder Geziertheit, sondern das, was es ist, und es gibt keine Metapher, die Zugang zu diesem Nichtgewussten hätte. Höchstens die Wort-Bilder der Laute, der Lichter, der Schatten und der Düfte. 4 Für Radics also verkörpert die Figur Elisa Koháry eine der zentralen poetologischen Aussagen des Romans: den unentrinnbaren Zustand, ständig ein Verstehen der Dinge und Zusammenhänge zum Greifen nahe zu haben, den Zusammenhang dann aber doch nicht formulierbar machen zu können, sodass sich das, was heu‐ ristisch für einen kurzen Moment einen Zusammenhang ergibt und eine plausibel erscheinende Kohärenz in kontingente Ereignisse einschreibt, wieder ins Chaos abiträrer Schicksale und Ereignisketten verläuft, das sich jedem geschlossenen Sinn und Zusammenhang verweigert - I don’t know. Denn, so argumentiert Radics, es ist eben diese Beschreibung von Kohárys Geisteszustand, der sich als eine metaphorische Umschreibung des Nichtwissens, als eine poetische Anatomie‐ lektion und als eine Landkarte verstehen [lässt], auf der die irreparabel beschädigten Teile des Wissens, die unsicheren Durchgänge und die unterbrochenen Verbindungen sichtbar werden.[…] Elisas verletztes Wesen verkörpert die schmerzenden Zeichen des „etwas ist nicht da, etwas funktioniert nicht“, des „Leerraum[s] in einem durch‐ sichtigen Mechanismus“, der Quintessenz des Romans. 5 Ebenso lässt sich das wiederholte „I don’t know“, das das Gespräch der vier Damen als Ergänzung und als Störung rhythmisch begleitet, als etwas verstehen, was Sarah Kofman in ihrem Essay zur Shoahliteratur als Erstickte Worte meta‐ phorisiert, einer Art der Repräsentation der Erfahrung der Shoah, die sich jeder Form von kohärenter Sinnstiftung verweigert und die Folgen des Subjekt-, Sinn- und damit einhergehenden Sprachverlustes als grundsätzliche Unmöglichkeit kohärenten Erzählens theoretisiert. Ausgehend von der Prämisse, dass über und nach Auschwitz keine Erzählung möglich ist, „wenn man unter Erzählung versteht: eine Geschichte von Ereignissen [zu] erzählen, die Sinn ergeben“, rhythmisieren, zerhacken und unterteilen erstickte Worte, unvollständige Zu‐ sammenhänge und Auslassungen die vordergründige Textkohärenz und ma‐ chen sichtbar, dass es, so Kofman, „immer ein Moment der Inkompatibilität der Erzählung gegenüber dem Erzählten“ gibt, „in dem Sinne, daß ihre Mittel nie völlig ausreichend sind, und sogar das genaue Gegenteil dessen, was sie 112 Ursula Knoll <?page no="113"?> 6 Hans Werner Zerrahn, Der Holocaust und die Aporien des Erzählens. Zu Sarah Kofmans Essay Erstickte Worte, in: Elisabeth Weber, Georg Christoph Tolen (Hrsg.), Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren, Turia und Kant, Wien, 1997, S. 249. aussagen sollen.“ 6 Die erstickten Worte speichern das, was sich in den Text selbst nicht übertragen lässt und erzählen von jenem ausgeschlossenen Anderen, in dem sich der Sprachverlust und die Zerstörung des Ichs manifestieren. Von Elisa Koháry selbst gibt es folgerichtig keine einzige Selbstaussage im Roman, die Le‐ serin erfährt nur durch den Erzähler und durch die Figurenrede ihres Ex-Manns, des Pfeilkreuzlers Bellardi etwas über sie. Ebenso bleibt lesbisches Begehren eine Art Leerstelle im Roman, der schwule Sexualität in den Szenen auf der Margareteninsel seitenweise beschreibt, der lesbischen Sexualität hingegen nur eine kurze Szene zwischen Erna Lehr und der Holländerin Grete widmet. Die nebulöse leidenschaftliche Verbindung zwischen Elisa Kóhary und Mária Sza‐ páry belegt beide Figuren mit einer Aura der Ruchlosigkeit ebenso wie mit der Zuschreibung einer starken, emanzipierten Weiblichkeit, der es gelingt, sich den Zwängen der bürgerlichen, patriarchalen Vorstellungen, denen beispielsweise Erna Lehr oder auch die NS-Rasseforscherin Gräfin Karla von Wolkenstein unterliegen, zu entziehen, freilich um den Preis, dass die Verbindung einem Bilderverbot unterliegt und tragisch endet. Emanzipierte Frauen haben auch in diesem Text den ihnen zugewiesenen Platz am Rand. Dennoch entwickelt auch diese Leerstelle einen Sog, das Geheimnishafte am Nichterzählten macht einen weiteren Schauplatz in diesem Tableau auf, der sich mit den Zuschreibungen und Phantasien der Leserin füllen lässt. Damit wird das Kränzchen aber zu einer ebenso wirkmächtigen Triebkraft für die Erzählung, wie es die faschistische Geheimgesellschaft um Professor Lehr ist, dem zweiten einem Schweigekodex unterstehenden, nicht ganz fassbaren Kollektiv der ungarischen Erzählung, in dem die Damengesellschaft verschoben gedoppelt ist. Der unbarmherzigen Logik der gesellschaftlichen Machtverhältnisse des 20. Jahrhunderts folgend stellt das Kränzchen jedoch eine im Schatten existierende Welt am anderen Ufer dar, ebenso wie jene schwule Welt auf der Margareteninsel, die der Wohnung Szapáry in der konkret geographischen Landkarte des Romans genau gegenüberliegt. Auch diese beiden Pole bilden zueinander Gegenwelten, ebenso wie zur faschistischen Geheimgesellschaft, sie bleiben aber in sich geschlossen und greifen nicht hegemonial in das politische und damit Welt konstituierende Geschehen ein, das Leben ermöglicht oder vernichtet. Es sind keine utopischen Gegenentwürfe, keine Orte eines besseren Lebens, sondern eher Schauplätze einer inneren Emigration der Davongekommenen. In seiner Romanbesprechung mit Gábor Németh macht Péter Nádas auf die Wichtigkeit der Positionen und Gewichtungen der Erzählstränge, dieser wie 113 Damengeplauder am anderen Ufer <?page no="114"?> 7 Gábor Németh, Péter Nádas, „Man muss sich ausziehen, man muss sich anziehen…“, in: Daniel Graf, Delf Schmidt, Péter Nádas lesen, S. 111f. 8 ebenda, S. 112f. er es nennt „stummen poetischen Struktur“ des Textes aufmerksam, die in der Verschachtelung der gegenseitigen Bezüge der Figurengruppen und der Leerstellen angelegt ist: Es geht um Umfang und Intensität der einzelnen Handlungsstränge und um ihre jeweilige Proportion […]. Es geht um die Gewichtungen von Symmetrie und Asym‐ metrie im Text, um Proportionen im Kleinen. Das alles führt zu statischen Problemen, denn Umfang, Gewichtung und Akzent müssen innerhalb des ganzen Strukturgefüges festgelegt werden. Es geht ferner […] um Methoden mit Fehlendem und Abwesendem, mit begrifflichen und thematischen Lücken umzugehen, darum, wie man fehlende Figuren im Roman vergegenwärtigt, auffällig oder unauffällig. 7 In dieser Konzentration auf die Architektur des Textes liegt, folgt man Nádas’ Kommentar weiter, ein Schlüssel zu seinem Grundverständnis, oder anders gesprochen, die in seiner Poetizität angelegte Selbstaussage des Romans, dass nämlich, […] die Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen wichtiger erscheinen als die Elemente selbst. Weil die Welt anscheinend nicht auf Materie beruht, sondern auf Konstruktionsprinzipien, die die verschiedenen stofflichen Elemente miteinander in Verbindung bringen. 8 Bedeutsam wird dieser aus den Naturwissenschaften entlehnte Netzwerkge‐ danke gerade darin, dass sich der Roman thematisch der Gewalt kollektivisti‐ scher Gesellschaften widmet und das über die Erzählung von Einzelschicksalen und deren zufälligen Berührungspunkten tut, mithilfe der genuin literarischen Techniken des inneren Monologs und der Fokalisierung über die einzelnen Figuren, Formen also, die der Selbstaussage und einer damit verbundenen Vorstellung von Individualität Raum geben, die gerade das Gegenstück zum Netzwerk darstellt. Damit formuliert der Roman in seiner Struktur eine Frage an ein Mitteleuropa des 21. Jahrhunderts, in dem vor dem Hintergrund neoli‐ beraler Individualitätszwänge und erstarkender nationalistischer kollektivisti‐ scher Überschreibungsversuche die Unentschiedenheit des Verhältnisses von Vorstellungen von Individuellem und Kollektivem und deren Gewichtung zu‐ einander deutlich wird. Péter Nádas bemerkt dazu: Gegenwärtig bewegen wir uns an der Grenze unserer Möglichkeiten, was Individua‐ lität sowie eine individuelle Gesellschaft betrifft. Der Individualität sind offensichtlich 114 Ursula Knoll <?page no="115"?> 9 ebenda, S. 117. die Reserven ausgegangen, während wir uns verzweifelt mit dem grauenhaften Erbe der kollektivistischen Gesellschaften herumschlagen, sodass sich heute ein anderer Blick auf diese Thematik aufdrängt. 9 Vor diesem Hintergrund lässt sich das zweite Ereignis, das sich in der intimen Begegnung zwischen Frau Szemző und der Gräfin Szapáry abspielt, in seiner gesamten tragischen Dimension verstehen. Während Frau Szemző dabei ist, der Freundin zu beschreiben, was sie 1945 nach Budapest zurückgetrieben hat, kommt sie an einen Punkt, an dem für sie selbst nachträglich aus ihrem Entrinnen aus dem industriellen Massenmord formulierbar wird, warum sie ihre Arbeit als Psychoanalytikerin in den Nachkriegsjahren aufgibt, um sich stattdessen als Sprechstundenhilfe in einer Arztpraxis über Wasser zu halten. Ich dachte, und das ist meine dritte Antwort, obwohl es merkwürdig ist, sehr merkwürdig, dass es erst die dritte ist. […]. Die beiden Jungen, dass ich sie irgendwo finden muss. Als lägen sie vor dem Haus und man müsste sie ermahnen aufzustehen, weil die Erde noch kalt ist. Als würde ich mich an nichts erinnern. […] Ich wusste schon, dass sie nicht mehr da waren. […] Doch das ist bloß die Logik der Dinge. […]Stell es dir nicht so vor, dass du dich an den einen oder an den anderen, oder an beide oder an sonst wen erinnerst. […] Aber es gibt ein Wort, meine Söhne, diese zwei nackten Wörter, das Possessivpronomen und das Substantiv in der Mehrzahl, die gleichzeitig irgendwie dein ganzes Wissen umfassen. Oder noch eher ist es ein Ort, der nicht leer ist, auch wenn du seine Leere spürst. Aber Erinnerung, nein, das gibt es nicht, auch wenn das aus meinem Mund sehr seltsam klingt, aber es gibt sie nicht, […] ich erinnere mich nicht, das ist die nackte Wahrheit. […] Diese Arbeit kann man nur machen, wenn man daran glaubt, dass es Erinnerung gibt, aber es gibt sie eben nicht, ja es ist besser, dass es sie nicht gibt. (469 f) Diese entschiedene Absage an die Möglichkeit des Erinnerns, die in derselben Logik auch eine Absage an die Möglichkeit des Vergessens ist, bringt Frau Szemző nicht nur zur Aufgabe ihres Berufes. Wie ihr Liebhaber Alajos Madzar mit seiner Bauhaus-Utopie scheitert, verabschiedet sich Frau Szemző durch die Erfahrung des kollektiven Mordens von ihrem Glauben an die Psychoanalyse als einer der Großtheorien der Individualität und ihrer Prämisse einer grundsätzli‐ chen Verstehbarkeit, d. h. nachträglichen Kohärentmachung von psychischen Prozessen und menschlichen Verhaltensweisen. Madzars Bauhausmöbel, die er als eine Art Liebesgabe für die psychoanalytische Praxis von Frau Szemző 115 Damengeplauder am anderen Ufer <?page no="116"?> aus „imprägnierten Schwellen“ herstellt, die eigentlich für den Ausbau einer Eisenbahnstrecke zur Deportation von Jüdinnen und Juden vorgesehen waren, werden von den Nazis schließlich aus dem Fenster der Praxis geworfen. Die Zerstörung auf der Ebene der Dinge (die kaputten Möbel) doppelt sich in der Un‐ möglichkeit der Beziehung zwischen Szemző und Madzar (eine unlebbare Liebe) und kulminiert in der Absage an die theoretischen Prämissen der von ihnen verkörperten Denksysteme selbst (die utopische Erwartung, dass Psychoanalyse oder Architektur etwas zur Verbesserung gesellschaftlichen Zusammenlebens beizutragen hätten). Madzar und die Damenrunde teilen vor dem Krieg eine liberal progressive Haltung zur Welt, sie fragen in ihren jeweiligen Feldern (Psy‐ choanalyse, Architektur, Mode, Tanz) nach dem Verhältnis von Individuellem und Kollektivem und suchen mit den diesen Feldern genuinen Mitteln nach Ausdrücken, die einer ihnen vage vorschwebenden neuen, besseren Zivilisation eine Wirklichkeit geben könnten. Alle vier scheitern nicht nur in diesem Anspruch, sie kommen gerade einmal mit dem Leben davon. Aufgeräumt, wie Frau Szemző in ihren Selbstaussagen wirkt, stellt sich darüber nicht wirklich Bitterkeit ein. Was bleibt, ist ein Nebeneinander der Widersprüchlichkeiten. Wie alle anderen Figuren führt auch Frau Szemző ein Tages- und ein Nachtleben, das sie zwar auseinanderhalten kann, das sich aber zu keinem kohärenten Ganzen fügen lässt. In ihrer Wohnung, so erfährt die Leserin von Szemzős Untermieterin Gyöngyver, brennt die ganze Nacht das Licht aus den von Madzar angebrachten Lampen, deren Beleuchtungskonzept einer „illusionsfernen Nüchternheit“ (663) nach der Entfernung der eigens dafür entworfenen Möbel nicht mehr aufgeht und das sich in eine kalte Ärmlichkeit gewandelt hat, die die Erinnerungen an die Deportation fernhalten soll. Denn Frau Szemző kann das von ihr angesammelte, in ihrer analytischen Betrachtung „unnötige“, lediglich für „Pathologen oder Gerichtsmediziner“ bedeutsame Wissen darüber, wie „es lebendige Körper [schaffen], die Körper von Ohnmächtigen oder Toten, die nach gängiger Mei‐ nung nichts mehr empfinden, sich unter die Füße zu manövrieren“ (662), nicht abstreifen, es kehrt im Dunkeln als Versatzstück der traumatischen Erfahrung in den Transporten 1944 wieder und muss vom Licht der Bauhauslampen abgewehrt werden: Sie musste vor sich selbst verschweigen, was ihre Füße, zusammen mit den Füßen der anderen, in der höllischen Hitze und dem Stimmengewirr tagelang getan hatten. […] Um nicht mehr zu spüren und zu hören, wie ihre festen Schuhe mit den halbhohen Absätzen auf den Toten herumtrampelten, um nicht dauernd Gewissensqualen zu leiden […]. Sie hörte Geräusche von fremdem Leben, das Knirschen schleimiger Muskelfasern, Sehnen und Knorpel, wie man sie in dem dauernden Lärm, dem Rattern, 116 Ursula Knoll <?page no="117"?> dem Weinen, dem Klirren der Puffer und den wahnsinnigen Streitereien eigentlich gar nicht hören konnte. (662 f) Ihr eigenes, in der Dunkelheit der Nacht lebendig werdendes Körperwissen, das als unmögliches Geräusch und sensorische Wahrnehmung in den Füßen gespeichert ist, auch das ein ersticktes Wort, bannt sie über Madzars Beleuch‐ tungskonzept, das sich in einer der vielen Volten dieses Romans nachträglich doch als wirksam erweist, und macht es zu einer weiteren Erfahrung einer „illusionsfernen Nüchternheit“, von der sie vor sich behaupten kann, sie hätte die detaillierte, zerstörerische und völlig unnütze Antwort auf die Frage nach den Vorgängen in diesen Todes- und Tötungsmomenten nur gelesen, nicht erlebt. Damit ermöglicht sie sich ein Weiterleben, freilich um den Preis der Aufgabe ihrer psychoanalytischen Lebenspraxis. Vorgeführt an dem kleinen Detail eines Beleuchtungskonzepts und einer auch innerhalb der Shoahliteratur selten so eindringlich verdichteten, physisch beinah greifbaren Szene des bru‐ talen Sterbens in den Deportationszügen wird hier die große Verschiebung, die der nationalsozialistische industrielle Massenmord nicht nur für die konkreten Figuren, sondern auch für das durch sie vertretene Ideal einer gerechteren Gesellschaft bedeutet, in wenigen Sätzen in ein Bild gefasst, das sich einbrennt. Die ursprünglich utopisch gedachte „illusionsferne Nüchternheit“ wird zu einem Werkzeug der psychischen Abwehr der titelgebenden Stillen Argumente der Vernunft. Die Bauhausprämisse überlebt, in einer verstümmelten Form, ein historischer Treppenwitz. Den vier Damen bleibt die allabendliche Bridgerunde als ein letzter Ort, an dem sich Reste der aufgegebenen Utopie mit dieser neuen Art der „illusionsfernen Nüchternheit“ lebbar machen lassen. So lässt sich die Episode der Damenrunde als Versuch beschreiben, die Shoah als Geschichte der Auslöschung und als Geschichte einer unumkehrbaren Verschiebung fassbar zu machen. Wenn das Supplement, wie Sarah Kofman es bestimmt, auch „für eine Öffnung nach draußen [sorgt]“, dann kommt dem verstörenden Bridgeabend also die Funktion zu, das in der Lebenserfahrung der vier Frauen enthaltene Wissen darüber, wie in der Logik des Netzwerkes Menschen, Bewegungen und Versprechen emanzipatorischer Theoriebildung auf der Strecke bleiben oder verfremdet wiederkehren, in seiner Brutalität und Unumkehrbarkeit wi‐ derzuspiegeln und den Parallelgeschichten aufzudrücken. Mit diesem Wissen grundiert das Damenkränzchen die gesamte Erzählung auf dem Boden einer Wirklichkeit, in der die Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen keine neutralen Netzwerktätigkeiten darstellen, sondern den Konsequenzen der Er‐ fahrung des 20. Jahrhunderts unterstellt sind: jeder Kontinuität ist dieser Bruch der Shoah eingeschrieben. 117 Damengeplauder am anderen Ufer <?page no="119"?> 1 The research was supported by the ÚNKP-18-4-… New National Excellence Program of the Hungarian Ministry of Human Capacities and Bolyai Fellowship of the Hungarian Academy of Science. 2 I have demonstrated it elsewhere that is not the case; the narrator’s knowledge is strictly coextensive with the knowledge that is possibly available to the characters present in in any given context. See Zsolt Bagi: A tekintet. Még egyszer test és írás fenomenológiájáról, in: Jelenkor, 10 (2012), S. 55. The narrator is embedded in the context of the narration. It is not part of it, not a single perspective in the fictional world, but a general pont of view on and of the world, thus it is constrained by the available information. 3 Zsolt Bagi: A körülírás. Nádas Péter: Emlékiratok könyve, Pécs, Jelenkor, 2005. Nádas and Realism 1 Zsolt Bagi The Parallel Stories is a shocking work. A vast description of details from the history of the 20 th century, ranging from modernist architecture to concentration camps, discussing subjects from psychoanalysis to criminology; there are uncomfortably long descriptions of sexual intercourses even sexual abuse; long descriptions of family meetings of Nazi scientists discussing eugenics and so on. On the other hand, - from narratological point of view - it is seemingly very traditional. There is a narrator, who seems to be all-knowing; 2 we have stories that are sometimes as banal as a spy story or a crime investigation; most importantly, we are presented by a panoramic view of two regimes of central-European state politics, Fascism and Communism. This picture of the 20 th century Central Europe feels almost like a complete tableau, like those of the nineteenth century novels. Realist novels. In fact, this novel could hardly be characterized as post-modern. Especially if we oppose it to another great Hungarian writer, Peter Esterházy, the difference is plainly visible. While Esterházy thinks that literary language can construct an independent and indeed an autonomous world, Nádas thinks that the literary language has to struggle with the constraints of the reality. Writing a book-long analysis 3 on the Book of Memories, I have tried to grasp the new kind of realism Nádas has worked out. A realism like no other, because <?page no="120"?> - like in the case of any great modernist prose - it is an essential form of a unique novel. At the same time a realism comparable to other forms of realisms and well distinguishable in its uniqueness. The subject matter of the Book of Memories was the human body. According to that book the essence of the body can only be presented together with other bodies, in other words a body is always an interconnection of bodies. There are always synecdoche’s of bodies: a body implied in another body. We carry other bodies on the surface of our own bodies in the form of a kiss, a touch, a gaze. Moreover, we also carry the body of the society, the impressions of politics, of repression, of freedom and so on. To express this, Nádas needed a narrative technique I call circumscription. Long phrases circumscribing the reality of the bodies, always presenting more than just one body by featuring within them a warp, a certain textual event, break and connection at the same time. The long phrases warp where the bodies meet each other. Realism in this case is a presentation of the reality of the bodily world, its givenness prior to any language. In fact, the literary language has to struggle for the presentation of this reality, its main goal is to achieve an adequate expression, an expression that is able to represent the synecdoche’s of bodies. Clearly, the Paralell stories has some similarities with the earlier novel, but in its own uniqueness has a very different realism. Bodies do not play so exclusive role in it, nor does circumscription as the primary tool for the presentation. What remains nonetheless the same is Nádas’s commitment to find an adequate language to reality. The nature of reality - as in most cases in Nádas’s work - is sensibility. Reality is sensible. It means first and foremost that reality is not discursive and even more interestingly: not narrative. To find an adequate language to reality one has to question the very basis of the novel, narrativity itself. To present a (diegetic) example for this anti-discursive sensibility let us consider the famous four days long sexual intercourse between Gyöngyvér and Ágost. They had been keeping each other captive like this for four days; they barely slept, hardly ate or drank anything; parted only for hours, and then continued as if in the next moment, against their will, they’d have to leave each other forever. They left not a single moment unfulfilled. Still, Gyöngyvér had not had time to go on a journey of exploration across the man’s body. For that she’d have had to let go of him, if only for a little while, and be at some distance from him. She could not afford to—on the contrary. The man, however, wanted to do a number of things simultaneously with her but had to be content with only one, which he found not enough. They could not tear themselves away from each other’s proximity. With their kisses they kept 120 Zsolt Bagi <?page no="121"?> 4 Péter Nádas: Parallel Stories, translated by Imre Goldstein, 2011 5 From Philip Hamon to Svetlana Alpers the literature of this disruption is quite extensive. Here I try to map a specific - realist - version of this disruptive discourse. wrestling each other down, falling or dropping somewhere on the table or bed if they couldn’t stay on their feet; they would plop into a chair or onto the floor, even in the kitchen, and regain their full bodily security only when the man entered her again. 4 In this case, sensuality means lack of distance. The relation between Gyöngyvér and Ágost exemplifies a genuinely sensual experience: a bodily experience without mediation. It is perhaps also the most basic of sensual experiences, for other forms of sensuality are certainly mediated. Nádas returns to this experience in his works from time to time: it is the same kind of experience that one can find in one of the chapters of the Book of Memories, called We are Sitting in God’s palm. Sexual phantasy is discursive and thus requires mediation, this is why it is completely useless in case of this form of sensuality. Ágost finds himself unable to use his sexual phantasy, he is forced to do “one thing” instead of a number of different things mediated by his phantasy. However, while in the Book of Memories the unmediatedness of the sensual experience results in silence - the description or circumscription of the scene ends when the purely sensual experience starts - here we find a very different kind of presentation. A description counting dozens of pages, continuing in a number of chapters. A description that is attentive to every detail, even the least essential ones equally. It is the dialectical opposite of a pornographic description, because pornography is only interested in the essence. Here one can find the detailed description of a penis in erection but also the childhood experiences shared by the protagonists with each other - among a myriad of other inessential details. Thus, instead of silence, one finds here a different form of presentation: a quasi-descriptive mediation of reality. Description is in many ways can be opposed to narration or even can be regarded as opposite to narration, as a discourse that is disruptive in regard of narration. 5 Only Nádas’s later work simply cannot be characterized simply as description. Nádas, in the early years of his career was experimenting with description extensively. Even the title of his first collection of short stories was Description [Leírás]. But he has left descriptive style when started to publish longer stories. One could also say that he even theoretized the necessity to go beyond description in his short stories. In the Parallel Stories we find “stories”, not destriptions. At the same time these stories are overflowed with details. Details that are resistant to the hierarchical structure of the narration in similar way as description is resistant to it. The details are equal. This equality of the details (the lack of their hierarchy) is one of 121 Nádas and Realism <?page no="122"?> 6 Péter Nádas, A dolgok állása, in: Péter Nádas. Fantasztikus utazáson, Jelenkor, Pécs, 2011. the most definitive characteristics of Nádasian style and we will deal with it later. For now, we are interested in the nature of “reality” in this description. Reality (in this kind of sensual experience) is the relation of the bodies without the mediation of a discourse, the sexual phantasy. Reality in this case is sensuality, pure unmediated sensual experience mediated in a disruptive discourse, one that is descriptive as far as we call descriptive a discourse that is not subject to narrative hierarchy. Narrative silence is described, not showed in Parallel Stories. Silence reigned. They held their breath. At most, their blood was circulating. They had no previous practice or experience with each other and oddly they did not gain anything like it now. Which made them lose not only their sense of time but also any interest in relating to the outside world. They became the only possible external world for each other and thus could not be, in and of themselves, so important to each other that they might, for some trivial reason, interfere with the time of the total occurrence. In such a reality even speech becomes sensual. Words are just as important for their corporal reality as for their meaning. ‘You’re a very smart girl, Gyöngyvér. Say that again. Wanting to hear it twice is a sign not of being smart but of being stupid. Who’s interested in being smart. I want my name to roll off your lips.’ The sensual reality has its own structure. In this extreme case, this structure is unmediatedness, or at least the disruption of mediation. At the same time, the discourse of the novel aims to elaborate the mediation of this reality. This mediation is more interested in the disruption than to correspondence. The main characteristic of reality is that it disrupts narrative hierarchy. In fact, in Nádas’s essays and in his autobiography the concept of “reality” plays a major role. Sometimes he differentiates between the Hungarian words “valóság” and “realitás” preferring the later over the former. This is something we cannot really translate to English, but luckily, we have something similar in German with “Wirklichkeit” and “Realität”. The difference is slim but important. “Valóság” means usually the empirical reality while “realitás”, deriving its meaning from the latin “res” means more like “thingness”, a reality in a broader sense that includes things of the consciousness or even the things of the cultural world too. For example the title of his major political essay, “A dolgok állása” 6 can be translated as “The state of affairs” but literally it means “the state of the things” or more precisely “the standing of things”. The aim of this essay 122 Zsolt Bagi <?page no="123"?> 7 In a famous interview right after the publication of the Parallel Stories Nádas stated he was about to establish a prose of the chaotic world. See Csaba Károlyi, „Mindig más történik.“ Nádas Péterrel beszélget Károlyi Csaba, in: Élet és irodalom, 44 (2005). november 4. 8 Georg Lukács, Narrate or Describe, in: G. Lukács: Writer and Critic and Other Essays Edited and Translated by Arthur Kahn, London: Merlin Press, 1970. is to present the state of the post-communist east European cultural logic as a “simulation” (as opposed to the western cultural logic that is dissimulative according to Nádas). And simulation is precisely the cultural construction of a world that is ignorant of the state of the things, the reality. Simulation presents a pseudo-world, a world where everything is transformable, everything can be presented by the force of the fake discourse as something other. The cultural logic of Eastern Europe is that of the simulation where reality is lost, stolen by the discourse. His goal as essayist just like as a novelist is to oppose the state of the things to simulation, that is to make visible the things behind the curtain of simulation. “Things” are always in the focus of a prose educated in French nouveau roman or its Hungarian deviation, the prose of Miklós Mészöly. Thus the reality is a world of the things, their standing that is their relative position to each other, their interconnection. This is why Nádasian reality differs also from another definitive reality concept of the Hungarian 20 th century, that of Georg Lukács, where “valóság” is not the empirical reality but rather the totality of the society. Reality as thingness and as social totality are not unrelated but they have different accent. According to Nádas’s work reality can be as brute as unmediated sensuality, or as sophisticated as a network of interconnected bodies regulated by the structure of the synecdoche’s of bodies. Reality is not totality, it is a chaos. 7 The concept of realism according to Georg Lukács has two defining moments. The first one is Hegelian Expression: the “form” of the presentation has to correspond to the “content” of the presentation (that is it have to “mirror” it as Lukács have put it). Without this correlation the form would be “abstract”. A realist novel has an essential content, (social) reality, and a corresponding essential form: narration. It is essentially narrative and not descriptive. 8 Narra‐ tion is a totality that corresponds to the totality of the social reality. The second moment of the concept is the consequence of the first one and the nature of reality according to Lukács: realism is totalizing, since reality is a totality. Thus emerges another danger of the abstraction of the form: every part has to be part of the same totality. Every detail has to be mediated by the whole. Details that are not mediated by the whole, those that so to say do not move forward 123 Nádas and Realism <?page no="124"?> the narration, are superfluous or even wrong. The ones that do not fit into the totality of narration are abstract details. Prime example for these details are descriptions. This scheme does not correlate to any of Nádas’s novels. Nevertheless it is essential to recognize, that it’s not because of the first characteristic (the famous “mirror theory”) but because of the second one. That is to say according to Nádas the literary language has to express its subject, in the Hegelian way, but in his novels no detail is part of a totality (because reality itself is not a totality either). Nádas, following his master, Miklós Mészöly, handles the details in a non-hi‐ erarchical way. Details are equal in every possible way: they are not part of the same totality, not hierarchized by the totality (of narration), they are juxtaposed. Let’s take the fictional time for example. In a traditional form of narrative fiction, time of the history, the subject of the novel, is structured according to the narration, it has a hierarchical structure. The present has a different hierarchical value than the past. Past time causes the present, the present is an effect of the past. Thus, there is a strict causal relation between them resulting in a strict succession: there is a causal hierarchy in narration. On the other hand, the present usually gives form to the past, you can only see the past through the eyes of the present. The present is primordial in the hierarchy of the perception and interpretation: there is also hermeneutical hierarchy that works in the opposite direction. This particular system of representation characterizes time in traditional forms of narrative fiction. In the Paralell Stories one can encounter a different system of representation. Different moments of historical time has equal value, they are on the same hierarchical level (both causally and hermeneutically). They sometimes appear in a single phrase without any indication of the discontinuity between them. One of the characters sits on a chair in the fifties made by another character in the early thirties and she listens to the noises of the corridor where the bullies of the Hungarian Nazi party, the Arrow Cross party break up the doors during the war. Three different moments of historical time submerges in single detail. That night of the second day of Christmas when a group of Arrow Cross thugs broke into this building and rousted everybody just as they found them out to the snow‐covered street, Mrs. Szemző and her two sons had been long gone from their apartment. Alajos Madzar had placed very few objects in any given space, and with Mrs. Szemző he had a very easy time when it came to minimizing the need for objects. He put very simple, etched‐glasscovered sconces with matte chromium‐plated armatures on the rustically splattered walls. And in that space Gyöngyvér Mózes heard many notes shecould not possibly have heard. 124 Zsolt Bagi <?page no="125"?> 9 Miklós Mészöly, Hagyomány és forradalom, in: M. Mészöly, A tágasság iskolája, Budapest, Szépirodalmi, 1977, p. 72. 10 Lukács, Narrate …, p. 130. Perhaps her heart pounded so loudly in fear. Somebody was shouting in the stairwell, imploring others that if they knew any kind of god, if you have any soul in you, you would not do this. Do this, it echoed. At least have mercy on my elderly mother. My elderly mother, derly mother, mother, other, it echoed. Then everything fell silent in the stairwell. If it had been Mrs. Szemző coming up in the elevator, Gyöngyvér would have left the piano and quickly returned via the bathroom to the maid’s room, which Madzar had turned into an office for Mrs. Szemző’s assistant. It would not have been the first time for her. No, they would have no mercy. This is what Miklós Mészöly has called an “insulting presence” of the past. 9 The past has to be presented as a living thing, as if it were happening now and here. The novelist should not neutralize the past by presenting it as if it were something dead, something that already passed away. This is true of the details and of course true of the novel as whole as well. The Parallel Stories represents the past century as present, not as something that has passed but something that is happening now, we cannot escape our grim past by thinking that we are free of it. Our past is still a thing to deal with. It is the narration that usually gives hierarchy to the fictional time. To return for a moment to Georg Lukács, he opposed narration to description on the basis that while the first offers a mediation through (temporal) totality the later does not. The description de-totalize the temporality. Descripition contemporizes everything. Narration recounts the past. One describe what one sees, and the spatial “present” confers a temporal “present” on men and objects. But an illusory present, not the present of immediate action of the drama. The best modern narrative has been able to infuse the dramatic element into the novel by transferring events into the past. But the contemporaneity of the observer making a description is the antithesis of the contemporaneity of the drama. 10 The narration of the Parallel Stories is precisely a de-totalized narration that clearly does not satisfy the standards laid down by Lukács. For Nádas - contrary to Lukács - the contemporarity of the insulting presence does not result in a still-life lacking any possibility for action. It is an action itself. It is the breaking 125 Nádas and Realism <?page no="126"?> through of the past into the present; it is a de-totalizing force itself that questions the credibility of the narration or more precisely of any narration in general. Narration always lies or at least simulates: it establishes a hierarchy in the events according to an implicit ideology (the goal of the narration, the end of the story). Description or de-totalized narration is an insult to this hierarchy. It is reality claiming its rights over simulation. One can find the same principle of the equality of the details in every possible aspect of the novel. For example, the different forms of consciousnesses are equal. Perception, imagination, remembering are not treated in a hierarchical way, they are unanimously or even unrecognizably melded together. Places play a special non-hierarchical structuring role in the novel as well. Unlike time, space is juxtaposition: it does not confer an a priori hierarchy to the details it relates. The Danube links together at least three different places in the Hungarian storylines: Lipótváros (a part of Pest, beside the river), the Margit island and Mohács, a southern town in Hungary. Also a place relates different moments of time, like in the above mentioned detail, the apartmenet of Mrs. Szemző. All of this of course could be seen as some nouveau nouveau roman, Robbe-Grillet has treated details in a similar way. But contrary to Robbe-Grillet and contrary to Mészöly, this principle serves an essentially realistic goal: to oppose the equality of “things” (details) to the simulation. That is to oppose reality to narrations, beliefs, collective imaginations, common places, in general to any preconceptions. All of these social constructs are hierarchical. The task of the novelist is to oppose them all. Not this one of them or that one of them but all of them, every possible one of them. By writing a novel on the 20 th century Central Europe in a non-hiarchical way Nádas opposes every possible preconception and creates a new picture, a picture of his own but a picture without preconceptions. His aim is not to present a supposedly “objective” picture, one without any perceiving subject behind it. His aim is to present a non-hierarchical picture instead of the hierarchical one. At the same time this task requires a certain mediation, it is the reality that has to be shown, not the pure, unmediated things: unmediated sensuality is the extremity of reality, not reality itself. The reality according to all of Nádas’s novels including the Parallel Stories is the reality of senses and bodies: the bodies interlink with each other in a sensualistic mediation. They have a system, they are not individuals. Therefore, their presentation cannot be purely symbolical as if the body had been a transcendent realm that could be reached only by a figure of speech. Its own language has to be elaborated. Just like in old realism, a mediation is needed for the presentation of reality. Mediation in 126 Zsolt Bagi <?page no="127"?> the Parallel Stories is juxtaposition, parallelism and insulting presence of one parallel line juxtaposed to another. The equality of the details reign among every possible structure of these parallelisms. Their aim is to mediate without hierarchy, without a pre-established narration or totality. Totality proves to be a simulation, the reality, the sensual world is not presentable through totality only through “chaos”, that is through the equality of the details. We can summarize in four points the new concept of realism that we can gain from Nádas’s novel: 1. Literary language has to express the “standing of things”. For the realist the subject is not the language itself. Reality surpasses the language. In a general way we can speak of realism whenever the presentation (here the literary language) confronts the presentation to the presented. When the presented becomes an insult for the presentation 2. The presentation has to be mediated by a specific poetic structure. There is no realism without mediation, but mediation does not have to be a Hegelian or Lukácsian totality. A mediation among equal elements is needed. 3. Realism is a specific system, not a mimesis without system. It is a system built on the confrontation of the two sides of presentation. For the realism the presentation is a problem: “things” are not like they appear. The structures of presentation do not correspond to them, thus they collide. 4. Realism is not about the impossibility of presentation, but about a struggle for presentation. It struggles to give voice to things themselves. It struggles for the emancipation of the presentation not by making it independent of the things but by making it the language of the things themselves. Nádas’s realism is all about confronting the reader with reality, with the system of reality. Confronting her with the reality of her own body, of its interconnection with other bodies, its own complexity where urination, sex, pain and pleasure, politics and privacy does not stand peacefully beside each other but interconnect or even collide in a complex and generally tragic way. In a way where harmony is unachievable, where every story is parallel with the others and can never reach them or at least never join them in a unification. Reality is chaotic. Not because reality would lack patterns but because these patterns are parallel to each other. Old realism presented a totality of the world and writers like Flaubert and Zola opposed this totality the their de-totalizing descriptions. Nádas’s realism is de-totalizing in in itself. He uses virtually every possible narrative technique 127 Nádas and Realism <?page no="128"?> literary high modernity ever used to construct a language adequate for a chaotic world. Realism is not about representing a totality, it is about providing a voice to the standing of things. 128 Zsolt Bagi <?page no="129"?> Sexualität und Körperlichkeit in Nádas’ Parallelgeschichten Ein Essay Alfred Springer „Die Couch des Analytikers ist der einzige Ort, an dem der Gesellschaftsvertrag ausdrück‐ lich eine - freilich private - Suche nach Liebe gestattet“ Julia Kristeva, Geschichten von der Liebe, 1989 Einleitung Das Romanwerk Parallelgeschichten des ungarischen Autors Péter Nádas er‐ schien 2012 im Rowohlt-Verlag. Der Rezeption des Buches gilt die Präsenz des Sexuellen und des Körpers mit all seinen Funktionen als auffälliger Aspekt. Eine Basis für diese Zuschreibung lieferte der Verlag selbst, indem er im Klappentext „die Geschichten der Körper“ in diesem Werk als „Die eine große Metaerzählung des Romans“ bezeichnete. „Der männliche und weibliche Körper und seine Sexualität prägen die Lebenswirklichkeit der Personen, sie sind das „glühende Magma“, das „in der Tiefe ihrer Seele oder ihres Geistes ruhende Zündmaterial“, das die „Parallelgeschichten zur Explosion bringt.“ Tatsächlich nehmen sexuelle Akte, sexuelle Fantasien, sexualwissenschaft‐ liche Erklärungen und Hinweise einen stattlichen Anteil des umfangreichen Buches ein. Manche Kritiker des Werkes wissen mit dieser seiner speziellen Seite nicht immer so recht zurande zu kommen und stellen die Frage, ob man das alles so genau wissen wolle. Die Darstellung und die Bedeutung der Sexualität in diesem Werk gehen weit über das hinaus, was als erotisches Genre gilt. Die Berichte aus der Welt des Sexus machen aus den Parallelgeschichten keinen erotischen Roman. Die Beschreibung der sexuellen Akte dient der Durchleuchtung vieler (körper‐ licher/ psychischer, sozialer/ gesellschaftlicher/ politischer) Aspekte der Lebens‐ welten und der Erfahrung der Protagonisten. Nádas lässt sich jenen Autoren <?page no="130"?> zuordnen, die die Sexualität eines Individuums als Summe körperlicher und seelischer Reifungsprozesse im Spannungsfeld zwischen biologischem Prinzip und Einflüssen gesellschaftlicher, kultureller, historischer, sozialer und ideeller Bedingungen und Prozesse erkennen: zu Sartre etwa, zu Joyce, zu Henry Miller, zu Georges Bataille, auch zu Elfriede Jelinek und Robert Musil, vor allem aber auch zu den RepräsentantInnen einer gesellschaftlich ausgerichteten Psychoanalyse. Der Körper tritt in den Parallelgeschichten nicht lediglich als sexueller Leib in Erscheinung. Er ist stets präsent, mit seinen Funktionen, seinen Krankheiten, als junger Leib, als alternder, beschädigter, verstümmelter, zerstörter und verwesender Leib. Er und seine Funktionalität ist autoerotisches Objekt, zieht Menschen an, verbindet sie, trennt sie. Und vor allem ist er ein Ort des Gedächtnisses, denn: „Der Körper vergisst nie.“ Körperliches nutzt Nádas auch, um die Geschehnisse und ihre Auswirkungen sinnlich spürbar zu machen. Über optische und gefühlsmäßige Eindrücke und Erinnerungen hinaus spielt der archaische Geruchssinn in diesem Kontext eine bedeutsame Rolle. Ganz am Beginn des Romans bereits nimmt der Kommissar Dr. Kienast am Genital einer unbekannten Leiche einen speziellen Parfumduft wahr. Im weiteren Verlauf des Parallelgeschehens werden die Geruchsqualitäten der Erfahrungen, die die Protagonisten der Geschichten machen, drastisch dargestellt, ebenso die Bedeutung der Gerüche hinsichtlich der Beziehung zum Körper, zum Erotischen, zum Selbst, zur persönlichen Historie. Ein breites Duftspektrum wird eröffnet, wobei die Gerüche bisweilen miteinander in Verschränkung treten: Parfums, Mundgeruch, Sexualsekret, Urin, Darmgase und Fäkalien, nach Teer riechender Männerschweiß im Pissoir bis hin zu Brand und Rauch, dem Geruch verbrennender Menschenleiber, Modergeruch, Verwesungs- und Leichengeruch. Den Gerüchen sind historische und politische Konnotationen angeheftet, sie begleiten und evozieren Erinnerungen und Trau‐ matisierungen. Neben visuell-bildhaften, szenischen Erinnerungen durchziehen jene Geruchsqualitäten, die die Zerstörungen des Nationalsozialismus und des kommunistischen Regimes hinterlassen haben, konstant die Erinnerungen der handelnden Personen. Die Parallelgeschichten erzählen eben nicht nur von individuellen und kollektiven Schicksalen im geschichtlichen Raum, sondern sie reflektieren auch den ideologischen/ geistig kulturellen Rahmen, die Parallelität kultureller Entwicklungen. Dieser Beitrag stellt einen Versuch dar, die Repräsentation des Körperlichen und des Sexuellen in den Parallelgeschichten aus psychoanalytischer Perspektive zu verstehen. Dabei soll es nicht darum gehen, dass ein pathographischer Zugang gewählt wird, oder dass das Werk selbst einer psychoanalytischen 130 Alfred Springer <?page no="131"?> Literaturkritik unterzogen würde. Vielmehr geht es darum, Nádas mit Freud zu lesen. Und nicht nur mit dem Begründer der psychoanalytischen Theorie und Praxis, sondern auch mit seinen Mitstreitern, Kontrahenten, Renegaten, Nachfolgern und Exegeten, die für unser Vorhaben wertvolle Beiträge geliefert haben. Das Spektrum dieser Autoren reicht von Wilhelm Stekel und Otto Gross bis zu C. G. Jung, Robert Stoller, Joyce McDougall und Julia Kristeva. Es soll nachgezeichnet werden, wie die Psychoanalyse in die Alchemie des Textes verwoben ist, wie sich die psychoanalytische Methode und bestimmte Aspekte der psychoanalytischen Theorie in dem Werk spiegeln bzw. einen Niederschlag gefunden haben und zur Charakterisierung der fiktiven Gestalten - mit Schwerpunkt auf den sexuellen Bereich - beigetragen haben. Diese Vorgangsweise liegt nahe: die Psychoanalyse erfasst, beschreibt und behandelt in Theorie und Praxis Parallelgeschichten. Die psychoanalytische Theorie ist körperbezogen und baut auf der Erkenntnis der interaktiven Paral‐ lelität der Entwicklung des Körpers und psychischer Prozesse auf. Außerdem schließt die Psychoanalyse auch eine Kulturtheorie ein. Vom Beginn ihrer Entwicklung an, galt das Interesse bestimmter Psychoanalytiker und psycho‐ analytisch orientierter Sozialwissenschaftler und Philosophen dem Einfluss kultureller Verhältnisse, Entwicklungen und Mechanismen auf die Schicksale von Individuen und Gruppen, wobei in diesem Kontext das Interesse in spezi‐ eller Weise der „sexuellen Frage“ galt und gilt. Dementsprechend müssen in Ergänzung zum vorhin Gesagten, die Parallelgeschichten auch mit den Reprä‐ sentanten dieser Strömung gelesen werden: etwa mit (dem frühen) Wilhelm Reich, Geza Roheim, Herbert Marcuse. Vor allem aber auch mit den Repräsentanten und Repräsentantinnen der Ungarischen Psychoanalyse. War doch Sándor Ferenczi der erste Psychoanaly‐ tiker, der eine Sexualtheorie entwarf, die auch eine Analyse des Koitus selbst einschloss. Exkurs: Psychoanalyse in Ungarn Budapest war neben Wien ein bedeutendes Zentrum der Psychoanalyse, schöp‐ ferische ungarische Persönlichkeiten trugen maßgeblich zur Entwicklung der Theorie und Praxis der Disziplin bei. In dem historischen Zeitraum, in dem die Parallelgeschichten ablaufen, wurde sie zu einem wichtigen Referenzsystem für verschiedene literarische Bereiche: für diverse Spielarten der Belletristik bis hin zur Avantgarde ebenso wie für den Film und Sozial- und Kulturwissenschaften. Nicht anders als in Wien war auch in Budapest die Geschichte der Psychoanalyse 131 Sexualität und Körperlichkeit in Nádas’ Parallelgeschichten <?page no="132"?> mit der Geschichte des intellektuellen und aufgeklärten Judentums verwoben, die ein prominenter thematischer Strang der Parallelgeschichten ist. In Budapest wurde 1919 während der kurzlebigen Räterepublik der erste Lehrstuhl für Psychoanalyse gegründet. Sándor Ferenczi, dem er zuerkannt wurde, war somit der erste Psychoanalytiker, der eine universitäre Professur ausübte. Als 1919 das Horthy-Regime an die Macht kam, wurde er, wohl im Gefolge des 1920 verabschiedeten Hochschulgesetzes (Numerus clausus), das die Zahl der Juden an ungarischen Hochschulen massiv beschränkte, aus der Ärztekammer ausgeschlossen, all seiner öffentlichen Ämter enthoben und musste sich in seine Privatpraxis zurückziehen. Wegen der immer deutlicher werdenden antisemitischen Strömung emigrierten viele ungarische Analytiker und Analytikerinnen nach Deutschland. Dazu zählten so namhafte Persönlich‐ keiten wie Melanie Klein, Therese Benedek, Margaret Mahler, Michael und Alice Balint, Franz Alexander, Jenő Hárnik und Sándor Radó. Nach einer kurzlebigen Entspannung kehrten etliche wieder nach Budapest zurück, auch wenn sie weiterhin unter den antisemitischen politischen Verhältnissen zu leiden hatten. Zwischen den beiden Weltkriegen entstand trotz der widrigen Verhältnisse neben Budapest ein weiteres Zentrum in Kolozsvár (Klausenburg). 1930 wurde in Budapest eine psychoanalytische Erziehungsberatungsstelle eingerichtet und 1931 wurde in einer privaten Villa das Institut der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung angesiedelt sowie eine von Ferenczi geleitete psychoanalytische Poliklinik für Erwachsene und Kinder eröffnet. Zwischen 1938 und 1941 erließ die Horthy-Regierung eine Reihe von Ge‐ setzen gegen jüdische Bürger, die von Berufsverbot und Arbeitsdienst bis zum Verbot von Mischehen reichten. Die Ungarische Psychoanalytische Vereinigung war bereits 1932 unter die Aufsicht der politischen Polizei gestellt worden und fühlte sich 1941 genötigt, ihre Führung zu „arisieren“. Ein Jahr später stellte die Vereinigung zum Schutz ihrer Mitglieder öffentliche Zusammenkünfte weitgehend ein und traf sich nur noch in Privatwohnungen. Die massenhafte Deportation und Ermordung ungarischer Juden, darunter auch prominenter Psychoanalytiker, setzte mit dem Einmarsch der Deutschen 1944 in Ungarn und der Herrschaft der faschistischen Pfeilkreuzler unter Ferenc Szálasi ein. In dieser Periode kam es zur erneuten Diaspora. Psychoanalyse im Sozialismus Nachdem zunächst unter dem kommunistischen Regime an der Budapester Universität erneut ein Lehrstuhl für Psychoanalyse eingerichtet worden war, geriet die Psychoanalyse bald wieder unter Beschuss: Freuds Lehre wurde 132 Alfred Springer <?page no="133"?> von den Kommunisten als „Hauspsychologie des Imperialismus“ bekämpft, die Ungarische Psychoanalytische Vereinigung 1949 offiziell für aufgelöst erklärt. Hinsichtlich der therapeutischen Praxis führte die Psychoanalyse eine Art geduldeten Untergrunddaseins; die psychoanalytische Methode wurde nicht verboten, und so konnten ungarische Psychoanalytiker und Psychoanalytiker‐ innen - in den 1950er-Jahren übten vor allem Frauen den Beruf aus - in ihren Privatpraxen weiterarbeiten und Lehranalysen durchführen. Die Theorie hingegen wurde abgelehnt, galt als subversiv, vor allem wegen der Bedeutung, die dem Sexuellen zugeschrieben wurde. Obwohl die Entstalinisierung, die der Niederschlagung des Volksaufstands von 1956 folgte, eine gewisse Abschwä‐ chung der feindseligen Haltung gegenüber der Psychoanalyse mit sich brachte, stufte noch Mitte der 1970er-Jahre die Ungarische Akademie der Wissenschaften die Psychoanalyse - in Übereinstimmung mit dem sowjetischen Feldzug gegen den Freudismus - als eine „besonders gefährliche“ Disziplin ein. Kritisiert wurde vor allem ihr angeblicher Irrationalismus und ihre demoralisierende Überbetonung der Sexualität. Psychoanalyse, Eros, Sexus Mit und nach Freud gilt für die psychoanalytische Interpretation der menschli‐ chen Sexualität, dass sie als etwas individuell Gewordenes im Spannungsfeld von Triebentwicklung, körperlicher Reifung und kulturellen und sozialen Ein‐ flüssen im Mikro- und Makrobereich zu verstehen ist. Aus dieser Sicht gibt es keine „kranke Sexualität“. Jede gelebte Sexualität, jede sexuelle Orientierung entspricht einer individuellen Entwicklung, die ihre eigenen Normen setzt. Mit „aller Entschiedenheit“ trat Freud dementsprechend jeglichem Versuch entgegen, die Homosexuellen als eine besonders geartete Gruppe abzugrenzen. Er stellte dar, dass die Psychoanalyse erbringt, dass alle Menschen der gleich‐ geschlechtlichen Objektwahl fähig sind und sie regelmäßig im Unbewussten vollzogen haben. Die Bindungen libidinöser Gefühle an Personen des gleichen Geschlechtes spielen daher aus psychoanalytischer Sicht als Faktoren im nor‐ malen Seelenleben keine geringere Rolle als die, die dem entgegengesetzten Geschlecht gelten. Die Unabhängigkeit der Objektwahl vom Geschlecht des Objektes gilt Freud als das „Ursprüngliche“, aus dem sich durch Einschränkung nach der einen oder der anderen Seite der normale wie der Inversionstypus entwickelt. Für Freud war das ausschließliche sexuelle Interesse „des Mannes für das Weib“ ein der Aufklärung bedürftiges Problem und keine Selbstverständ‐ lichkeit, die auf einer Art chemischen Anziehung beruht. Die Entscheidung über das endgültige Sexualverhalten fällt erst nach der Pubertät und ist dann das 133 Sexualität und Körperlichkeit in Nádas’ Parallelgeschichten <?page no="134"?> Ergebnis einer unübersehbaren Reihe von Faktoren, die teils konstitutioneller, teils aber „akzidenteller“ Natur sind. Die Erziehung des Kindes zu kulturell adäquatem Umgang mit dem Körper und seinen Funktionen und in der Folge beschränkende Regulierungen der Ausübung sexueller Bedürfnisse (die „kulturelle Sexualmoral“, wie Freud dieses Kontrollsystem nannte) bedingen psychische Leiden, die die sexuelle Einstel‐ lung beeinflussen und jene sexuellen Haltungen und Bedürfnisse akzentuieren können, die anstößig erscheinen und klinisch dem Katalog der „Perversionen“ zugeordnet werden. Freud erkannte, dass die Symptome der Neurotiker den konvertierten Ausdruck von Trieben darstellen, die man, würden sie sich manifest äußern, als perverse (im weitesten Sinne) bezeichnen würde. Nicht anders als die Perversionen sind in Freuds früher Theorie die neurotischen Symptome ein Schicksal der anstößigen und tabuierten Bereiche der infantilen Sexualität - wodurch es ihm gerechtfertigt erschien, die Neurose als das Negativ der Perversion zu erkennen. Dieses Verständnis leitete er von der Beobachtung ab, dass der Sexualtrieb und das von ihm motivierte Verhalten bei Psychoneurotikern in vielfältigen Kombinationen alles einschließt, was als Variationen eines normalen und als Äußerung eines krankhaften Sexuallebens gilt: ▸ die Fixierung libidinöser Strebungen auf Personen des gleichen Ge‐ schlechts im unbewussten Seelenleben ▸ Neigung zu somatischen Überschreitungen ▸ voyeuristische und exhibitionistische, sowie sadistische und masochisti‐ sche Tendenzen. Vermittels dieser Grausamkeitsverknüpfung der Libido geht auch die Verwandlung von Liebe in Hass, von zärtlichen in feindse‐ lige Regungen vor sich, die für eine große Reihe von neurotischen Fällen charakteristisch ist. Für das Verständnis der in den Parallelgeschichten zur Darstellung gebrachten Sexualitäten der Protagonisten und Protagonistinnen scheint diese Perspektive wesentlich: manches krankhaft Erscheinende wird aus ihr als individuelles Triebschicksal verständlich. Die Bedürfnisse und Handlungen sind aus Situa‐ tionen bzw. aus der Lebens-Lerngeschichte ableitbar, aus Erfahrungen, aus Erinnerungen an Schlüsselsituationen. Sie sind im subjektiven Normgefüge der Charaktere nicht abweichend, sondern entsprechen einer inneren Notwen‐ digkeit. Selbst die sadistische Masturbationsfantasie des Kriegsverbrechers Döhring imponiert als subjektiv begründbare Eigenheit der Persönlichkeit; hilft aber auch mittels der damit verbundenen Triebanalyse, die exzessive Grausamkeit des Verbrechens zu verstehen. 134 Alfred Springer <?page no="135"?> Nach Freud Unter den psychoanalytischen Konzeptualisierungen, die die Freud’sche Posi‐ tion aufgriffen und den heute aktuellen Rahmen für das Verständnis eines breiten Spektrums sexueller Orientierungen bieten, kommt für unsere Interpre‐ tation den Entwürfen von Robert S. Stollers und von Joyce McDougall besondere Bedeutung zu. Stoller vertrat in seinem Werk Perversion. Die erotische Form von Hass (1986) die These, dass sexuelle Perversionen als Rache für Kindheitswunden aufzufassen sind. Sein Slogan „Perversion ist sexualisierter Hass“ wurde oftmals als negative Bewertung sexueller Überschreitungstendenzen missverstanden. Stoller meinte, ganz im Gegenteil, dass Pornographie, ritualisierte sexuelle Akte und Phantasien Mittel wären, um Kindheitstraumata wie z. B. Verlassenheit symbolisch in sexuelle Triumphe zu verwandeln. Wer gekränkt und verletzt wurde, entwickelt daraus manchmal sexuelle Phantasien, die ihm helfen, mit der erlebten Erniedrigung klarzukommen. Insofern stellen diese sexuellen Phantasien den Versuch einer Selbstheilung dar, die als emotionale Rache an erlittenen Erniedrigungen imponiert. McDougall zeigte in einer Verschränkung von psychoanalytischer und sys‐ temischer Theorie auf (1979: Plaidoyer pour une certaine anormalité, 1982: Théâtre du je, 1989: Théâtres du corps), welch weitreichende Folgen unbewusste Probleme der Eltern für die Entwicklung ihrer Kinder haben können. Ihr zufolge sind Kinder, deren Eltern ihre Körper oder Seele dazu nutzten, mit der eigenen Vergangenheit fertig zu werden und um eigene narzisstische Bilder oder beschädigte libidinöse Beziehungen wiederherzustellen, in der Folge nicht imstande, die entwicklungsbedingt unvermeidlichen Traumatisierungen zu verarbeiten. Sie werden zu Gefangenen der unbewussten Ängste und Wünsche der Eltern. Aufgrund dieser Konstellation erfolgt die psychosexuelle Entwick‐ lung nach speziellen Mustern. Mit dem Ziel der Selbstheilung entwickeln die Kinder individuelle „Neosexualitäten“, kreative Inszenierungen von Konflikten und Konfliktlösungen im Dienste einer Wiederherstellung der libidinösen und narzisstischen Homöostase. In der Adoleszenz dient dann dieses neosexuelle Szenarium dem Ziel, die traumatisierenden Verhaltensweisen der Eltern während der Kindheit zu neu‐ tralisieren und gleichermaßen die Wut und die Destruktivität, mit der das Kind auf die Traumatisierungen reagierte. Diese Wut kann im neosexuellen Szenario beherrschbar werden, solange Gewaltsamkeit spielerisch eingesetzt werden kann. Insofern schützen diese Szenarien auch die bedrängenden Elternbilder und ihre Repräsentationen. Anhand zahlreicher Beispiele zeigte Joyce McDou‐ 135 Sexualität und Körperlichkeit in Nádas’ Parallelgeschichten <?page no="136"?> gall auf, in welcher Weise das erwachsene Leben der traumatisierten Kinder von der Wiederholung komplexer unbewusster Szenarien geprägt ist. Auch aus dieser relativ rezenten psychoanalytischen Perspektive kann erneut jedes sexuelle Verhalten, sei es noch so befremdlich, ein Mechanismus des psychischen Überlebens sein. Sonst als pervers klassifizierte Handlungen sind innerhalb der Neosexualität eine Erscheinungsform eines komplexen psychi‐ schen Zustands, in dem Ängste, Depressionen, Hemmungen und narzisstische Störungen eine Rolle spielen. Die Erniedrigungen und Traumatisierungen, denen Kinder und Jugendliche unterliegen, finden einerseits im privaten Raum, innerhalb des intimen Netz‐ werks statt, entstammen aber auch den Bedingungen des gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Raums. Schon Freud erkannte, dass die Hysterie und verwandte seelische Leidenszustände letztlich als kulturelle Krankheiten wesenhaft von den Einschränkungen der bürgerlichen Sexualmoral mitbedingt sind. Psychoanalyse, Tod, Horror Für die Analyse eines weiteren wesentlichen Aspekts der Parallelgeschichten, der Spur des Horriblen, die die politischen Geschehnisse hinterlassen haben, in ihrer Auswirkung auf Gefühlsleben und Sexualität, bieten sich bestimmte Vorstellungen und Interpretationen der französisch/ bulgarischen Semiotikerin, Literaturwissenschafterin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva an, die sich der Bedeutung und den Auswirkungen einer Konfrontation mit der Zerstörbarkeit und Zerstörung des Leibes aus psychoanalytischer Perspektive widmete. In ihrem Text Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection (1980) entwickelte sie die Grundlagen für den heute in Psychoanalyse, Kulturwissenschaften und Gender Studies gleichermaßen relevanten Begriff der Abjektion, dessen Konzeption sie auf Sigmund Freuds Schriften zu Angst, Phobie und Psychosen zurückführt. Unter Abjekt versteht sie zunächst alles, was in einem Menschen Ekel und Aver‐ sion hervorrufen kann: Aas, Leichen, Eiter, Ekel vor bestimmten Lebensmitteln wie z. B. der Haut der Milch und Ähnlichem mehr. Das „Abjekte“ ist „Über‐ schussmaterial“ und das „Verwerfbare“: Blut, insbesondere Menstruationsblut, Urin, Speichel und andere Körpersekrete, die vom erwachsenen zivilisierten Betrachter sowohl in ihrer konkreten, stofflichen Gestalt, wie auch als Symbole, als abstoßend und anstößig erlebt werden. Kristeva führt diese Reaktion auf ihr Verhaftetsein in der primären Entwicklungsperiode zurück, den Zustand vor der Abgrenzung der Identität und vor der Entwicklung der sprachlichen Fähigkeit. Das Abjekt symbolisiert die Grenze zwischen semiotischer (rein körperlicher) 136 Alfred Springer <?page no="137"?> und symbolischer (sprachlicher) Phase der frühkindlichen Entwicklung; in ihm sind die negativen Aspekte des Un-/ Vordenklichen und des Nicht-Sprachlichen gebündelt. Wenn wir mit seinem Reich konfrontiert werden, wird das Abjekt bedrohlich: es lösen sich die imaginären Grenzen auf, Identität und die Konzep‐ tion der Ordnung zerfallen. Dementsprechend erregt es Abscheu, Grauen und Zorn. Es bildet im Untergrund des Symbolischen eine Art überdauernden Abgrund der Bedeutung und des Sinns. Obwohl der Urverdrängung verfallen, bleibt das Abjekt als aktives Residuum erhalten, das unter bestimmten Umständen aktiviert werden kann. Als exquisites Beispiel für diese Aktivierung führt Kristeva den Horror an, von dem man angesichts eines Leichnams befallen wird. Abjektion und die Mütter Kristeva geht davon aus, dass aufgrund ihres Involvements in die Pflege des Kleinkindes und der Präokkupation dieses Kindes mit seinen Exkrementen die Mutter in dieser kritischen Periode zu einem „Abjekt aufgrund von Asso‐ ziationen“ prädestiniert ist. Verhilft sie doch dem Kind nicht nur dazu, zur Selbstregulation zu finden, sondern übernimmt sie auch die machtvolle Rolle der „Entsorgung des Abjekten“. Die abjekt-besetzten Mutterfantasmen werden nicht als nährend, sondern als widerwärtig, versagend, kontrollierend, die Autonomie des Kindes beeinträchti‐ gend wahrgenommen. Auf Geschehnissen in dieser Phase kann es beruhen, dass die Muttergestalt und damit das weibliche Geschlecht als gefährlich, versagend, bedrohlich wahrgenommen wird. Hierin liegt auch die prominente Position von Müttern, Mutterschaft und Reproduktion in der Literatur des Horrors begründet: „Da die Ablösung von der Mutter nie ganz vollständig glücken kann, bleibt die mütterliche Instanz Quell des Grauens vor dem Verlust des Selbst“ (S. 64.) - ein Zwiespalt zwischen Ablösung und Bindung, Grauen und Faszination, der das Abjekte konstituiert. Barbara Creed leitete aus diesen Überlegungen das Fantasma des „Monströs-Weiblichen“ ab und spürte ihm in ihren Studien zum Horrorfilm nach. Die soziokulturelle Bedeutung der Abjektion Aus sozio-psychoanalytischer Sicht ist der Grenzzustand, den die Konfrontation mit dem Abjekten bewirkt, bedeutsam, da er allgemeinere psychosoziale und kulturelle Probleme und Verhältnisse erklären hilft. Kann das Abjekte doch mit 137 Sexualität und Körperlichkeit in Nádas’ Parallelgeschichten <?page no="138"?> unterschiedlichen Bedeutungen (Frauen, Juden, Fremde, Homosexuelle, schlicht dem „Anderen“) verbunden werden. In einer Filmtheorie, die Konzepte der Psychoanalyse und der Gender-Studien aufgreift, wird die psychoökonomische Funktion des Abjekten oft in Bezug gesetzt zur Darstellung von Gewalt, Folter, Verstümmelung, Vergewaltigung und dergleichen. Dabei wird die Annahme verfolgt, dass sich in der kunstver‐ mittelten Konfrontation von Zuschauern und als abjekt verstandenen Inhalten eine Auseinandersetzung mit Verdrängtem und Verworfenem, Bedrohlichem und unzulässig Ersehntem einstellt. Wie ein Horrorfilm, der Bilder von Blut, Sekreten und Körpern in differenten Auflösungszuständen überliefert, kann auch ein literarischer Text die frühe semiotische Periode evozieren; auch er kann sowohl Abscheu und Ekel als auch die Erinnerung an eine Periode bewirken, die noch nicht von Scham und Ekel gekennzeichnet war, in der Mutter und Natur in eins gefallen waren. Kristeva selbst hat ursprünglich ihr theoretisches Konstrukt entworfen, um sich mit Lacanianischen Positionen auseinanderzusetzen und literarische Analysen durchführen zu können. Sie analysierte Texte von Baudelaire, Laut‐ réamont, Kafka, Celine, Bataille, Genet, Becket und Sartre und zeichnete dabei nach, wie kollektive Angstphantasien, die der Blick auf den Leichnam, Zer‐ setzungsprozesse, oder Körperflüssigkeiten eröffnet, sich in einer Literatur manifestieren, deren grauenhafte Bilder, die zugleich abstoßen und faszinieren, aus gesellschaftlichen Krisen entstehen. Julie Kristeva meint, dass diese Li‐ teratur einen bedeutsamen Wesenszug des Ausdruckswillens dieser Periode repräsentiert. Ihr gilt eine Literatur, die sich der Schilderung von Grauenhaftem und Ekelerregendem widmet, nicht als Phänomen, das sich auf ein marginales literarisches Genre beschränken lässt, sondern als eine Literaturgattung die die „letztgültige Chiffre/ Darstellungsform unserer Krisen, unserer intimsten und schwerwiegendsten Apokalypsen“ repräsentiert. Die traumatischen Hintergründe und das Abjekt in den Parallelgeschichten Nádas’ Text beinhaltet vergleichbare Horrorelemente. Der Handlungsbogen ist zwischen zwei Ereignissen ausgespannt, die einen Blick auf den Leichnam eröffnen: Ganz am Anfang steht die Wahrnehmung einer unbekannten Leiche und die Beschreibung der sinnlichen Prozesse, die von dieser Konfrontation ausgelöst werden, am Ende des Romans wird der Blick auf ein horribles Szenario gerichtet, die Toten und Verstümmelten, die deutsche Soldaten in einem Lazarett zurückgelassen haben. Und auch zwischendurch vermittelt der Text vergleich‐ 138 Alfred Springer <?page no="139"?> bare Erfahrungen. Kristóf, der Hauptcharakter des Romans, der auf seiner todessehnsuchts-getriebenen Identitätssuche in die Homosexuellenszene auf der Margareteninsel eintaucht, fühlt sich als Opfer eines Horrorgeschehens. Er imaginiert, dass seine anonymen Geschlechtspartner ihn erbarmungslos foltern, mit scharfen Zähnen seine Muskelstränge zerfetzen und im Handumdrehen sein Fleisch verschlingen würden und, am Ende der homosexuellen Orgie, dass sie wie Vampire in der Nacht verschwinden, nachdem sie ihm das Blut und das Rückenmark ausgesaugt hätten. Das Vampirthema nimmt prinzipiell einen Platz in Kristófs Gefühlsleben ein. Es scheint auch in einer heterosexuellen Variante auf. Die Protagonisten und Protagonistinnen der Parallelgeschichten sind massiv traumatisierte, erniedrigte und in ihrer Identität gestörte Persönlichkeiten. Sie leiden auf der individuellen Ebene unter den Bedingungen der familiären Sozialisierung und der transgenerationellen Traumatisierung gleichermaßen, wie unter den Bedingungen des Heranwachsens in ihren jeweiligen Peer Groups, als Objekte wissenschaftlicher Forschung und unter den Auswirkungen der Erfahrung kollektiver Gewalt in Erziehungsprogrammen und -institutionen, die bis zur Identitätsdiffusion aufgrund einer erzwungenen Veränderung des Familiennamens reichen. Darüber hinaus steht das innere Szenario der handelnden Personen unter dem mächtigen Eindruck der Geschehnisse der Abfolge politischer Gewalt und der mörderischen Akte, denen sie selbst ausgesetzt waren oder deren Folgen sie beobachten konnten, und die in ihrem Gedächtnis und tief in ihrem Unbewussten unlöschbare Spuren hinterlassen haben. Viele von ihnen wurden Zeugen davon - oder waren selbst in entsprechende Geschehnisse und Handlungen involviert - wie und auf welch mannigfaltige Weise menschliche Körper malträtiert und zerstört werden können: im Ersten Weltkrieg, im Bürgerkrieg, im Zweiten Weltkrieg, in der Deportation der ungarischen Juden 1944, in der ersten Nachkriegsperiode, im Kontext der ungarischen Revolution 1956, in der nachrevolutionären Zeit, als spontanes Geschehen aus Anlässen wie dem ungarischen Nationalfeiertag am 15. März 1961 und in den späteren Aufstandsbewegungen. Dass diese Erfahrungen stets auch einen dynamisch wirksamen Hintergrund des emotionellen, affektiven und sexuellen Lebens bedeuten und immer wieder als Erinnerungen - gedanklicher oder sinnlicher Natur - aufsteigen und das Handeln und Empfinden mit-bestimmen wird von Nádas wieder und wieder exemplifiziert, gleichermaßen an Opfern und an Tätern. Bestimmend für den traumatisierten Zustand ist auch der Zustand der Herkunftsfamilien und die Qualität der Elterngestalten. Nádas gestaltet ein 139 Sexualität und Körperlichkeit in Nádas’ Parallelgeschichten <?page no="140"?> Panoptikum dysfunktionaler Familien, die gezeichnet sind von Doppelmoral, se‐ xueller Inkompatibilität, Rassen- und Klassenkämpfen. Die Mütter imponieren in spezieller Weise dysfunktional und zerstörerisch. Sie sind entweder distant, wie Frau Erna in ihrer Beziehung zu Ágost, verräterisch und sich entziehend, wie die Mutter Kristófs, verweigernd und verwerfend, wie die Mutter Gyöngyvérs. Sie gaben ihr Kind eventuell gleich nach der Geburt an Fremde ab, oder standen den Kindern zwar in den frühen problematischen Phasen der wechselseitigen Verführungssituation zur Verfügung, ließen sie aber später allein, wodurch die Konflikte, die aus dieser frühen Beziehung resultieren, nicht verarbeitbar waren. Ein für diese Situation interessanter Aspekt ist Frau Ernas Leiden an der Körperlichkeit der Stillperiode und die damit verbundene Stimulation ho‐ moerotischer Bedürfnisse. Die drastische Darstellung dieser Missempfindungen legt den Schluss nahe, dass ihr Sohn Ágost in der semiotischen, prä-sprachli‐ chen, rein körperlichen Phase, einer speziell ambivalenzbesetzten, den Körper problematisierenden frühen Verführung ausgesetzt war, um dann verlassen zu werden, den Konflikt nie zur Lösung bringen konnte und sich das psychische Überleben durch Verstärkung narzisstischer Qualitäten sichern musste. An Kristóf wird exemplifiziert, dass Kinder derartige reale Verhältnisse nicht ertragen können und einen Familienroman entwickeln, in dem diese auf den Kopf gestellt werden: in dessen Lesart des Schicksals der Eltern geht die Mutter, die ihn in der Realität verließ, um ein neues Leben mit einer Frau zu beginnen, nicht verloren. In Kristófs Umgestaltung dieser Erfahrung rettete sie zunächst den Vater, der in den politischen Auseinandersetzungen schwer verletzt, verstümmelt worden war, bevor beide den Wirren zum Opfer fielen. In halluzinatorischer Umgestaltung der Wirklichkeit spinnt Kristóf diesen Roman weiter: die Elterngestalten tauchen immer wieder auf, in unkenntlicher, deformierter Gestalt. Als wesentliche Bedingung der Dysfunktionalität der Familien imponiert in den Parallelgeschichten eine Unschärfe der geschlechtlichen Orientierung bei den Muttergestalten. Krystofs Mutter verlässt die Familie und geht eine Lebensgemeinschaft mit einer Frau ein, Ágosts Mutter, Erna Lehr-Damas ist emotionell an eine gleichgeschlechtliche Erfahrung gebunden und bedauert über Jahrzehnte hinweg, dass sie ihren Mann nicht verlassen hat, um mit der lesbischen Geliebten und beider Kinder ein neues Leben beginnen zu können. Sexualität und Bewusstsein Die Psychoanalyse dient in den Parallelgeschichten als theoretischer Bezug, eventuell auch als Schablone, um die unbewussten, dynamischen Wurzeln des 140 Alfred Springer <?page no="141"?> geschlechtlichen Verhaltens und der sexuellen Bedürfnisse der Charaktere, die sie bevölkern, zu verstehen. Nádas exploriert darüber hinaus aber auch den Zusammenhang zwischen den Zuständen sexueller Begierde und konkreter sexueller Handlung mit der Bewusstseinslage und deren Verschränkung mit der unbewussten Matrix. Die Beschreibung der entsprechenden Situationen gemahnt an Jean-Paul Sartres existentiell-psychoanalytische Reflexionen über den Bewusstseinszu‐ stand, den sexuelle Begierde bewirkt. Im entsprechenden Kapitel seines Werks Das Sein und das Nichts bezeichnete er ihn als „Eintrübung“, als „Trübe-Werden“. In der Darstellung der sexuellen Spannung und erotischen Interaktion seiner Charaktere widmet sich Nádas in vielfältiger Weise diesem Bewusstseinsphä‐ nomen. Die Verdeutlichung dieser Prozesse im Rahmen der geschlechtlichen Begeg‐ nung zwischen Ágost und Gyöngyvér scheint repräsentativ für die Lösung der komplizierten stilistischen Herausforderung, die sich aus diesem Vorhaben er‐ gibt. Nádas beschreibt die Auswirkung des langen und intensiven Geschlechts‐ verkehrs auf das Bewusstsein und die Interaktion zwischen Bewusstsein und Unbewusstem als psychosomatisches Geschehen und als einen dynamischen „altered state of consciousness“, der nicht unähnlich einem drogenbeeinflussten Zustand abläuft (wobei die Situation des dopaminergen Systems und der Endorphine wohl auch bei diesem Marathon der Ich- und Fremdwahrneh‐ mung ohnehin eine Rolle spielt). Er entspricht aber auch einem regressiven Couch-Zustand, in dem vor- und unbewusstes Material, verdrängte Bedürfnisse, Begierden und Ängste, wie auch das Begehren nach einem frühen narzisstischen Gratifikationszustand vor und außerhalb der Ordnung anfluten. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Nádas diesen 4 Tage und Nächte lang anhaltenden exzessiv-ek‐ statischen geschlechtlichen Vollzug auf der Couch des Dienstbotenzimmers der Psychoanalytikerin Irma Szemző ansiedelt. Dass Nádas derartigen sexuellen Erfahrungen einen „bewusstseinserwei‐ ternden“ Effekt zuordnet, wird daraus deutlich, dass er explizit die Erfahrung transgressiver Erotik bei dem Paar Ágost und Gyöngyvér, sowie bei dem Paar Erna und Geerte van Groot als Pforten zu neuen Erfahrungswelten beschreibt. Die Psychoanalyse in den Parallelgeschichten Die Position der Psychoanalytikerin, Irma Szemző Mit der ‚Psychoanalytikerin‘ Dr. Irma Szemző und ihren Reflexionen bringt Nádas die psychoanalytische Perspektive in das Narrativ der Parallelgeschichten direkt ein. 141 Sexualität und Körperlichkeit in Nádas’ Parallelgeschichten <?page no="142"?> Das wäre an sich nicht so interessant, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, dessen Denken und Benehmen vom dauernden Wunsch nach Kopulation durch‐ drungen ist, mit sämtlichen daran haftenden Fantasien, interessant ist vielmehr, dass für den Menschen Bild, Fantasie oder Erinnerung wahrscheinlich viel wichtiger sind als der Akt selbst. Dieses Phänomen macht deutlich, wie wenig der reale Akt individualisierbar ist. […] Ein jeder strebt danach, den Geschlechtsakt zu etwas Individuellem zu machen, sonst käme er nicht zur vollen Lust, und ein jeder erleidet damit eine Schlappe, denn der Akt selbst existiert ja nur in der Gegenseitigkeit. Wenn er zu genügend gemeinsamer Lust kommt, dann findet er im Akt seine eigene Person nicht mehr, sucht er im Gegenteil das Persönliche, läuft er auf der Persönlichkeit des Andern auf, und die Lust wird bruchstückhaft oder unbefriedigend. Diese Suche wird also nicht allein vom Instinkt gelenkt, sondern vom Bedürfnis nach Individuation, und mindestens ebenso von der damit einhergehenden Niederlage. (S. 647) Das Fleisch selbst ist das Fremde. Das eigene „Fleisch ist unpersönlich, nur die Vorstellung ist persönlich.“ (ebd.) Diese Überlegungen, die davon ausgelöst werden, dass die Psychoanalyti‐ kerin unfreiwillige Beobachterin des Geschlechtsaktes zwischen Ágost und Gyöngyvér wird, der im Bett ihres „Dienstbotenzimmers“ stattfindet, das sie an die junge Frau vermietet hat, können sowohl als theoretischer Rahmen für die Darstellung der ambivalenten sexuellen Beziehung, die sich in diesem Raum abspielt, verstanden werden, als auch darüber hinaus generell als die Eröffnung eines Raums für einen psychoanalytischen Subtext, der in besonderer, aber nicht ausschließlicher Weise für die Interpretation der geschlechtlichen Vollzüge in den Parallelgeschichten herangezogen werden kann. Der Standpunkt der Romanfigur Irma steht grundsätzlich in Einklang mit Darstellungen, die aus der psychoanalytischen Literatur vertraut sind. Auch die Auffassung von seelischer Gesundheit bzw. Krankheit, die Irma im Gespräch mit dem Architekten Madzar vorbringt, entspricht den traditionellen Freud’schen Vorstellungen und Definitionen, die einleitend wiedergegeben wurden: Zu mir kommen Menschen, und das müssen Sie einberechnen, Herr Architekt, die sich nicht so benehmen, wie man es der Konvention gemäß von ihnen erwartet. Aber das ist noch keine Krankheit. Oder im Gegenteil, sie halten so starr an den Konventionen fest, dass sie davon tatsächlich krank werden. Doch dann ist es klar, dass die Krankheit als Konsequenz zu betrachten ist. (S. 750) 142 Alfred Springer <?page no="143"?> Der Erzähler und die Psychoanalyse Aus einer langen Reflexion des „Erzählers“ der Parallelgeschichten, einer Art kommentierender Stimme aus dem Off, geht hervor, dass Nádas’ erkenntnis‐ theoretische Position bzgl. der Zusammenhänge zwischen Erfahrung, Emotion und Gedächtnis unter dem Einfluss des Instinkts jener der Psychoanalyse sehr nahesteht: Zu jeder Empfindung gehört ein Urereignis, in dem der Instinkt ruht […] Der Instinkt funktioniert bei jedem auf die gleiche Weise. Die Urereignisse hingegen, zu denen man immer wieder zurückkehrt, sind sich zuweilen nicht einmal ähnlich. Manchmal ist es ein einzelnes Erlebnis, an das man sich nicht einmal wirklich erinnert oder das man am liebsten vergessen würde. Einigen gelingt das Vergessen so gut, das das an die Stelle des Erlebnisses eine Leere getreten ist, und man nur deshalb weiß, dass man etwas absichtlich vergessen hat, weil die Leere nicht zu füllen ist. Sie wird zu einem brennenden Mangel, den man nicht mehr zu benennen vermag. Bei anderen hingegen besteht das Urereignis aus einer Kette ineinander verschlungener, miteinander verklammerter Erlebnisse, die sich nicht auseinander haken lässt. Und ob man sich erinnert oder nicht, welche Empfindung aus welcher stammt, das Urereignis manifestiert sich in den Bedürfnissen der Instinkte. […] Der Instinkt lässt sich nicht lenken. Wenn er sich auf seinem stinkenden Lager einmal rührt, lässt er wenigstens ein paar Augenblicke lang, eins der Urerlebnisse aufblitzen, selbst wenn er nicht gleich sein ganzes Sortiment ausbreitet… (S. 345) Nádas expliziert diese These in der Liebesszene, die er zwischen Gyöngyvér und Frau Erna im Taxi ablaufen lässt, das die beiden Frauen zum Sterbelager des Prof. Lehr bringt, indem er als die „akzidentellen Einflüsse“ auf sexuelle Orientierungen im Freud’schen Verständnis, das „Urerlebnis“ der jungen Frau und das einzelne Erlebnis, das die unbewusste Motivation der älteren Frau steuert, die gleichzeitig die Mutter des Geliebten ist, identifiziert. Die Erinnerungen, die in den beiden Frauen aufblitzen, erhellen sowohl den breiten traumatischen Erfahrungshintergrund der jungen Frau als sie auch nachvollziehbar machen, welch starke Bindungen bei der älteren Frau zwischen Schwanger-/ Mutterschaft, Stimulation der Brust im Stillakt und der einzigen lesbischen Erfahrung bestehen. Die erotische Spannung beider Frauen beruht auf der gemeinsamen Beziehung zu Ágost, dem Geliebten der jungen und Sohn der älteren Frau und folgt einer komplizierten Formel, die als Gedanke in Gyöngyvér entsteht, als sie Frau Ernas Gesicht verdoppelt wahrnimmt: „Es blickten Mutter und Sohn auf sie, und da der Sohn zu ihr gehörte, gehörte sie zur Mutter.“ (S. 348) 143 Sexualität und Körperlichkeit in Nádas’ Parallelgeschichten <?page no="144"?> Dass der affektive Hintergrund der Verführbarkeit Frau Ernas wohl auch darin besteht, dass sie die mit ihrem sterbenden Mann assoziierte Sexualität verabscheut, wird erst wesentlich später verdeutlicht. Einige Charaktere der Parallelgeschichten, psychoanalytisch revidiert Professor Lehr Die Geschichte des Prof. Lehr imponiert als Fallgeschichte aus dem Freud’schen Repertoire. Er zählt zu jenen Menschen, die aufgrund ihrer kulturell mitbe‐ dingten ödipalen Konstellation jenen Typus der „allgemeinen Erniedrigung des Liebeslebens“ repräsentieren, der zwischen Sinnlichkeit und Zärtlichkeit spaltet und als Grundlage der sexuellen Erregung und Begierde eines „ernied‐ rigten/ niedrigen“ Objektes bedarf. Freud hat diesen Typus, seine Bedürfnisse und seine Triebkonstellation in seinem Aufsatz Über die allgemeine Erniedrigung des Liebeslebens (1912) vorgestellt: Einen vollen sexuellen Genuss gewährt es ihm nur, wenn er sich ohne Rücksicht der Befriedigung hingeben darf, was er zum Beispiel bei seinem gesitteten Weibe nicht wagt. Daher rührt dann sein Bedürfnis nach einem erniedrigten Sexualobjekt, einem Weibe, das ethisch minderwertig ist, dem er ästhetische Bedenken nicht zuzutrauen braucht, das ihn nicht in seinen anderen Lebensbeziehungen kennt und beurteilen kann. Diese Beschreibung erfasst das Bedürfnis und das Verhalten des Prof. Lehr, den Nádas als einen „Mann alten Zuschnitts, einen geistig höchst anspruchs‐ vollen, echten Herrn“ (S. 1831) bezeichnet. Lehr verhält sich seiner Gemahlin gegenüber im Allgemeinen äußerst höflich, zuvorkommend, liebevoll. Ande‐ rerseits treibt ihn die Suche nach sexueller Befriedigung zu Frauen, die weit unter seinem gesellschaftlichen Niveau liegen und die sich prostituieren. Wenn sein Bedürfnis steigt, sucht er verrufene und hochriskante Begegnungsstätten auf. Dieses Verhalten bleibt geheim, wird nicht besprochen, bezieht aber die Ge‐ mahlin indirekt mit ein, wenn sie die Kleidung versorgen muss, der Spuren der nächtlichen Abenteuer anhaften, aber auch direkt, indem er sie mit Filzläusen infiziert. Über die Darstellung der individuellen sexuellen Orientierung und Getrieben‐ heit hinaus nutzt Nádas diese Gestalt zu einer Dekonstruktion der Sexualtheo‐ rien, die in der Zwischenkriegszeit in der bürgerlich-konservativen Anthropo‐ logie entwickelt wurden und damals den psychoanalytischen Erkenntnissen entgegengestellt wurden. In ihnen galt, nicht anders als bestimmten Repräsen‐ tanten der katholischen Seelenkunde, die Freud’sche Lehre als rationalistisch, atomistisch, relativistisch, alles in allem als zersetzend (R. Allers, Psychotherapie der Psychopathien, 1931; W. Salewski, Die Psychoanalyse Sigmund Freuds. 144 Alfred Springer <?page no="145"?> Grundfragen und Konsequenzen,1931; W. Schmidt, Der Ödipuskomplex der Freudschen Psychoanalyse und die Ehegestaltung des Bolschewismus, 1929; J. Donat, Über Psychoanalyse und Individualpsychologie, 1932). Dieses historische Faktum der konservativen, antisemitisch gestützten Ab‐ wehr der Psychoanalyse wird von Nádas zusammen mit Aspekten sexualpoliti‐ scher Entwürfe mit der Gestalt und den Theorien des Prof. Lehr in die Parallelge‐ schichten eingebracht, der in seiner Rolle als universitärer Lehrer die Freud’sche Triebtheorie verwirft und der „jüdischen Libido“ sein Konzept der „inhärenten Kopulation“ entgegenstellt. Wohl anerkennt er, dass „der Jude“ zu Recht die Libido als Eckstein der Individualität bezeichnet, da sie untrennbar an die Person geknüpft ist, aber, denunziert er, wie es in jener Zeit der antisemitischen Tönung der akademischen Wissenschaft entsprach, aus völkischer Sicht verwendet der Jude diese Theorie als Mittel seine Weltherrschaftsansprüche zu befriedigen, die Nation zu zerschlagen und die menschliche Gesellschaft auf ihre Individuen hin aufzulösen. (vgl. S. 1835. ) Seine Fantasie einer „inhärenten Kopulation“ hingegen versteht er als „antiatomistisches“ Konstrukt, nach dem Sexualität dem Ziel dienen soll, jedes Individuum die „Weltgemeinschaft“ erleben zu lassen. Nádas reproduziert in der Lehr’schen Ideologie geläufige Vorstellungen der faschistischen und präfaschistischen Rassentheorie sowie der katholischen Kritik an der Psychoanalyse in der Zwischenkriegszeit und entlarvt diese Denk‐ systeme mit den Mitteln des sexualpolitisch-psychoanalytischen Diskurses als Schutztheoreme gegen Lehrs eigene Verhaftung an das „Scheußliche, Schmut‐ zige, Dunkle, Niedrige, Hinterhältige, Dreckige und Ordinäre“ und an das se‐ xualmystische Fantasma einer zunächst geschlechtsambivalenten ekstatischen „wahnsinnigen Nymphe, heidnischen Priesterin“, die ihn entgegen seiner Ide‐ alvorstellung von männlicher Reinheit wie einen Quartalsäufer zu nächtlichen Abenteuern treibt. Lehrs Antisemitismus, der von seinem Karrierismus akzentuiert wird, ver‐ schont auch seine Familie nicht. Er nennt seine beiden Kinder in einer Ausein‐ andersetzung mit seiner Frau „Judenkinder, die sie ihm eingebrockt habe“, die seine Position gefährden. Ágost und Gyöngyvér Die über 100 Seiten umfassende Beschreibung der inneren und äußeren Vor‐ gänge, die im Verlauf der sich über vier Tage und Nächte erstreckenden sexuellen Begegnung zwischen Ágost und Gyöngyvér ablaufen, ist gleichzeitig eine Exegese bekannter, weiter oben dargestellter, theoretischer Überlegungen zur Sexualität. Nádas zeichnet die Schwankungen des Bewusstseins, das Os‐ zillieren zwischen Bewusstem und Vorbewusstem, ebenso nach, wie das Auf‐ 145 Sexualität und Körperlichkeit in Nádas’ Parallelgeschichten <?page no="146"?> tauchen prägenitaler Triebansprüche, die Entkoppelung autoerotischer und präödipaler Fantasiewelten und Bedürfnisse, die Gestalt und Ausprägung der psychosexuellen Grundkonflikte, grundsätzliche Ambivalenzen, den ständigen Wechsel zwischen Objektivierungslust und Objektivierungsangst, die Angst vor Subjektverlust und Begehren nach gerade diesem und die Angst, zu viel von sich zu verraten. Der anhaltende Erregungszustand, die anhaltende „Trübung“ versetzen die beiden zuletzt in einen gemeinsamen Regressionszustand. Der Sexualakt wird zu einer Art Selbsterfahrungs-Marathon. Die inneren Monologe und die Erinnerungen, die in diesem Zustand evoziert und kommuniziert werden, lassen uns Art und Ausmaß der Traumatisierungen erkennen, denen die beiden Beteiligten an dem ekstatischen erotischen Vollzug im Lauf ihrer Entwicklung unterlegen waren. Die traumatischen Erfahrungen schließen jene Erniedrigungen ein, die mit dem Heranreifen in den gesellschaftlichen Strukturen und Milieus verbunden waren, darüber hinaus aber auch jene Traumatisierungen, die die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse mit sich brachten. Beide sind verstoßene Kinder. Ágost beschreibt Gyöngyvér die große schmerzhafte seelische Verletzung, die ihm damit widerfuhr, dass sein eigener Vater ihn als „Judenkind“ ablehnte und dass der Teil, den er von der Mutter geerbt hatte, illegal geworden war und dem Vater das Leben versauerte: „das ist entsetzlich, weil es meine Schuld ist“. (S. 485) Getreu der seit Freud aktuellen Interpretation entspricht die psychische Sexualität dieser Personen und damit auch die Gestaltung ihrer sexuellen Aktivität dem Niveau ihrer Neurose. Im Fall von Ágost liefert Nádas eine exakte Darstellung eines narzisstischen Charakters und der mit diesem Typus verbundenen „perversen Beziehungsstruktur.“ Gyöngyvér nimmt diesen Sach‐ verhalt wahr, sie erkennt, dass ihr Geliebter nur in sich selbst verliebt ist, nur sich selbst begehrt. Nádas zeichnet nach, wie diese Beziehungsstruktur es zunächst nicht duldet, dass die Verschmelzung der Körper ein irgendwie geartetes Ziel von Gemeinsamkeit erreicht. Indem der Autor beschreibt, wie in Ágosts innerem Szenarium die Aktualität des Geschehens von der Vergan‐ genheit beeinflusst wird, lässt er uns die Abwehr- und Schutzfunktion dieses Narzissmus gegenüber den Erniedrigungen der Kindheit und der Adoleszenz erkennen. Die entsprechenden Erinnerungen, die im Kontext des Geschlechts‐ verkehrs evoziert werden, schließen die väterliche emotionale Brutalität und die Fremdheit der Mutter ebenso ein, wie die sklavische Abhängigkeit, in die er im Kreis der Gleichaltrigen in einem Internat geriet, wie er lernte, seinen Körper zu verkaufen, um Freiheit zu gewinnen und wie er diesen Körper sekundär narzisstisch besetzte, besetzen musste und seither in seinen eigenen Geruch und 146 Alfred Springer <?page no="147"?> seine Körpersekrete verliebt ist und sein zentrales Interesse seinem Glied, als wesentlichem Faktor seiner Identität, gilt. Seine Partnerin, die Kindergärtnerin und Gesangstudentin Gyöngyvér, die ebenfalls in den Geruch, den Ágost ausströmt, vernarrt ist, wird von ihren inneren Bildern vom Mann getrennt. Obwohl befriedigt, tauchen in ihr Er‐ innerungen an ambivalent besetzte homoerotische Erfahrungen auf, an Er‐ niedrigungen sexueller und nicht-sexueller Art, an Situationen, die den Tod umkreisen; auch in ihr gewinnen oszillierend prägenitale Triebwünsche die Oberhand. Obwohl sie einander unter heftigen affektiven Aufwallungen vieles aus ihrer Vergangenheit mitteilen, sind die beiden im Verlauf des sexuellen Vollzugs phasenhaft mit sich selbst beschäftigt, mit ihren inneren Bildern, die selbst‐ ständig sind, nicht aufeinander bezogen, ja einander ausschließen. Der Erzähler, die Stimme aus dem Off, diagnostiziert, dass die beiden letztlich voneinander getrennt bleiben und außer den wenigen körperlichen Berührungspunkten fast nichts miteinander gemein haben, obwohl gleichzeitig ihre Selbstbestimmung zerstört ist. Er analysiert, dass sie das Geschehen mit dem Bewusstsein ver‐ folgen, das aber die Geschehnisse diesem vorausgehen, als ob sie ein bisher unbekanntes Ich besäßen und letztlich erkennen müssen, dass sie beide einen jeweils selbstständigen, zur Vereinigung weitgehend unfähigen Körper besitzen - und etwas ganz anderes, das sich von ihnen unabhängig vereinigt. Ágost flieht den gemeinsamen Orgasmus, er ist ihm wie auch sonst jegliche übertriebene menschliche Nähe widerlich. Der post-orgasmische Zustand löst in ihm Tristesse aus. Wenn in ihm die Vision aufkeimt, aus der Frau das Sperma, das sie seinem Körper geraubt hatte, zurückzuholen und es herunterzuschlucken, erkennt die psychoanalytische Erfahrung die Bedeutung des männlichen Kast‐ rationskomplexes, in Gestalt der Angst vor Samenraub, für seine psychosexuelle Konstitution. Nach tagelangem Verkehr sind die beiden, „jene 2“, wie das entsprechende Kapitel betitelt ist, allerdings aufgelöst, befinden sich in einem verbindenden regressiven Zustand. Ihr Unbewusstes ist stimuliert, sie „träumen einander in ihre Träume hinüber“. (S. 828) Wasser in seiner symbolischen Vielfalt, jegliche Flüssigkeit, gewinnt Bedeutung. Die gemeinsame Regression führt zur Aktualisierung prägenitaler Wünsche und Begierden, zur Aufwallung sado-ma‐ sochistischer und ödipaler Impulse, zur Freisetzung des affektiven Ausdrucks (Ágosts Weinen) und zur schlussendlichen urolagnen Transgression, der sich Ágost und Gyöngyvér ausliefern. Gemäß der Interpretation, die Péter Nádas selbst anbietet, übertreten sie damit gemeinsam eine Schwelle, von der beide früher nichts gewusst hatten und vereint diese Grenzüberschreitung sie mehr 147 Sexualität und Körperlichkeit in Nádas’ Parallelgeschichten <?page no="148"?> als alles, das sie vorher in Szene gesetzt hatten. Nádas versucht auch hinsichtlich dieser sehr komplexen und schwierigen Trieb- und Gefühlskonstellation, die unbewussten Vorstellungen, die dynamisch wirksam sind, nachzuvollziehen bzw. nachvollziehbar zu machen. Aus der Perspektive des analytisch-theoretischen Bezugssystems, das wir für unsere Interpretation nutzen, lässt sich die spezielle Qualität der Erfahrung daraus verstehen, dass eine Versöhnung mit der prä-ödipalen „verworfenen“ Muttergestalt eintritt, die eine geteilte lustvolle Regression auf das narzisstische Niveau des Kindes vor der Tabuierung des Exkrementalen ermöglicht. Dieser intrapsychische Prozess wird unter anderem dadurch in Gang gesetzt, dass Gyöngyvér erzählt, wie sie den Knaben im Kindergarten beibringt, zu urinieren und wie sie dabei den Penis der Kinder manipuliert. Du „verdirbst sie fürs Leben“ (S. 846), sagt Ágost und bringt damit die ambivalente Lust der frühen Erotisierung zum Ausdruck. Ágosts Narzissmus wird durch die Vorgänge in Bedrängung gebracht. So sehr, dass er die Gefährtin in der Ausschweifung heiraten möchte, wobei diese Hochzeit allerdings auch im Rahmen eines politischen Auftrags inszeniert werden muss. In Gyöngyvér hingegen bricht ihre ambivalente Einstellung durch, sie gebärdet sich zunächst ablehnend. Sie umwirbt Kristóf, verführt ihn zu einem (durchaus unbefriedigenden) Geschlechtsakt, diffamiert Ágost, um letztlich doch sein Angebot anzunehmen, mit ihm auf Hochzeitsreise zu gehen - und ihn zu verlieren. Kristóf Kristóf erscheint als kontinuierlich adoleszente Persönlichkeit, als „offenes System“ (Kristeva, 1990). Auch er ist ein verlassenes Kind. Beide Eltern kamen früh abhanden. Fast gleichzeitig verließ ihn die Mutter mit einer französischen Freundin und wurde der (jüdische) Vater verschleppt und getötet. Ein erzwun‐ gener Aufenthalt in einem Umerziehungsheim beraubte ihn vorübergehend seiner sozialen Identität. Auch seine geschlechtliche Identität ist brüchig. Er empfindet, dass er als Mädchen geboren wurde. In seiner Kindheit fühlte er sich weiblich, wenn er sich mit (erniedrigten) Frauen identifizierte. In seiner Jugend durchlebte er einen homoerotischen „Adoleszenzroman“ mit einem Jungen, mit dem es zu keinen direkten sexuellen Kontakten kam. Er fühlt sich von Frauen angezogen, bleibt aber zunächst im Umgang mit ihnen kalt, kann sich nicht öffnen und mit ihnen in Beziehung treten. Mit der Vision von Gyöngyvér, die Wand an Wand mit ihm ihr Geschlechtsleben mit seinem Halbbruder in provokanter Weise ausagiert, verbindet er koprophile Fantasien. Gleichzeitig fühlt er homoerotisches Begehren, wobei von Anfang an auffällig ist, wie 148 Alfred Springer <?page no="149"?> sehr seine homoerotischen Bedürfnisse und Wahrnehmungen sich mit einem Todesmotiv verweben. Für die Darstellung der psychosexuellen Lage Kristófs nutzt Nádas die stilistischen Möglichkeiten des inneren Monologes und der Rückblenden im Zustand der „Getrübtheit“, aus dem er die Geschichte bildhaft, filmartig, sinnlich erfassbar auftauchen lässt. In der langen Exploration seiner fragmentierten Identitäten taucht Kristóf in die offene homosexuelle Szene auf der Margareteninsel ein, gleichzeitig wählt er diese Lokalität auch als Ort für die Umsetzung seines suizidalen Bedürfnisses. Er ist in ambivalenter Weise fasziniert von den Vorgängen in dieser mar‐ ginalen Teilkultur. Die realen Erfahrungen, die ihm die Begegnung mit der homosexuellen Welt vermittelt, sind, ebenso wie die Phantasiewelten und inneren Szenarien, die von ihnen evoziert werden, gleichzeitig erregend und verstörend, ekelerregend. Auf seiner Reise durch die Nacht empfindet er tief gesunken zu sein, schilt sich selbst, dass er sich gezwungen fühle, „im Gestank von Kacke, Urin, Schweiß und Menstruation, zwischen scheisseverschmierten Papieren und blutigen Wattebäuschen herumzuirren, um seiner eigentlichen unverhüllten Realität ins Auge zu blicken“. (S. 720) Die Stimme aus dem Off weist uns darauf hin, dass diese Gedanken lediglich der Konvention entspringen und dass Kristóf sich in Wirklichkeit seiner eigenen Brutalität aussetzt: „sein tierisches Ich funktioniert parallel zu seinem sentimentalen“. (S. 721) Zwei Gedanken- und Vorstellungsstränge werden als miteinander ver‐ schränkte unbewusste Motive erkennbar, die gemeinsam durch die Konfronta‐ tion mit den Vorgängen in der homosexuellen Szene stimuliert werden: die zentrale Position des männlichen Gliedes in seiner Bedeutungsvielfalt in dieser verschworenen Gemeinde, sowie die Vorstellung von Tod und Suizid. Wie bei Ágost und Gyöngyvér evozieren die aktuellen Erfahrungen im Zu‐ stand der „Trübung“, dem halbbewussten Zustand des Begehrens, Erinnerungen an die Traumatisierungen, die von Kindheit und Jugend an Kristófs Entwicklung überschatteten und erhellen die Grundlage seiner geschlechtlichen Ambivalenz und seiner eigenen Bindung an den Phallus und den Tod. Kristóf leidet darunter, dass das Schicksal es mit sich brachte, dass er als Jude diskriminiert ist, ohne wirklich Jude zu sein, und zusätzlich schwul ist. Aus der Darstellung des familiären Hintergrunds wird deutlich, wie sehr dieser in die unbewusste Matrix seiner sexuellen Ambivalenz verwoben ist und sein inneres Szenario dirigiert. Abgesehen davon, dass er einer Mischehe entstammt, in der die Mutter den christlichen Part verkörpert, hat noch dazu die Mutter den Vater wegen einer lesbischen Beziehung verlassen. Kristófs inneres Drama spiegelt seine 149 Sexualität und Körperlichkeit in Nádas’ Parallelgeschichten <?page no="150"?> Ambivalenz gegenüber den Elterngestalten wider: er verflucht seine Mutter, die ihn wegen einer „knochigen großen aschblonden Französin“ verlassen hat und er verflucht den Vater, weil er sie nicht zurückhalten konnte, nachdem er „blöd genug gewesen war, mit ihr ein Kind zu zeugen“. (S. 777) Folgerichtig verwirft er seine eigene gleichgeschlechtliche Begierde als Wieder‐ holung der mütterlichen Verfehlung; dennoch ist wohl die Identifikation mit der Mutter, neben der mutter-inzestuösen Komponente der homosexuellen Lösung ein wesentliches unbewusstes Motiv seines Verhaltens. Parallel zu diesem mütter‐ lich bedingten Motiv für geschlechtliche Ambivalenz verläuft eine Motivstruktur, die auf der Erotisierung der Beziehung zum einst als perfekt erlebten Leib des Vaters und der Traumatisierung durch die Konfrontation mit dem toten Körper seines Vaters - und speziell mit dem toten väterlichen Penis beruht. Der ödipale Hass auf die zeugende Funktion des Vaters und das damit verbun‐ dene Schuldgefühl wird egalisiert durch das Trauma, den phantastischen Körper des erschlagenen Vaters gesehen zu haben, und ganz besonders dessen Glied. Kristóf erinnert sich, die Vorstellung entwickelt zu haben, dass sein eigenes Glied dem dieses ermordeten Mannes glich. Allerdings entstand dadurch auch das Gefühl einen wildfremden Schwanz an sich zu tragen, da sonst nichts an seinem Körper an den Körper des Vaters gemahnte. Er schickt sich drein, einen jüdischen Schwanz zu haben, obwohl er sich immer damit zu trösten versucht hatte, dass sein eigener Körper dem der Mutter glich und völlig christlich war. Der kleine, aber wesentliche Unterschied zum Glied des Vaters besteht obendrein darin, dass es nicht beschnitten ist. Damit wird es zum kulturellen Signifikanten, zum Repräsentanten der Nicht-Zugehörigkeit und definiert ihn als Verfluchten. Die Erinnerungen, Vorstellungen und Interpretationen implizieren für Kristóf den Schluss, selbst zu einem schrecklichen Tod verurteilt zu sein. Diese psychodynamische Matrix steuert seine geschlechtliche Ambiguität, seine homosexuellen Impulse und die Interpretation der Qualität der homo‐ sexuellen Erfahrung. Das tote Glied feiert seine Auferstehung in den massen‐ haften Erektionen in der Schwulenszene (vergleichbar hat Sartre in seiner Flaubert-Analyse die Orgie als „Wiederauferstehung“ bezeichnet (L’Idiot de la famille, Tome 2 : Gustave Flaubert de 1821 à 1857, 1971. 372). Ebenso entspricht es dieser Motivstruktur, dass sich Kristóf sich vor allem von der Erscheinung eines „Riesen“ angezogen fühlt, dem er auf der Margareteninsel folgt (wohl eine Spiegelung und Wiederbelebung des riesenhaften perfekten väterlichen Körpers in der Kindheit). Die Bedeutung des Riesen als überdau‐ erndes Fantasma in der Funktion eines Widerparts zu anderen, beschädigten, Vater-Repräsentationen (Verstümmelten, einem schwarzen Hund) geht später aus seinem verrätselten Geständnis Klára gegenüber hervor: „… der Riese, war 150 Alfred Springer <?page no="151"?> ja tatsächlich das Einzige, noch mehr einzig konnte niemand sein, das stand fest“ und: „er lebte ja eigentlich in der Vorstellungswelt des Riesen, so wie der Riese in der seinen, und sie würden einander nie finden, ebenso wenig ihren Platz unter den Menschen, nur die Illusion dieses Platzes“ (S. 1465). In der Fantasiewelt, die durch die Erfahrungen auf der Margareteninsel ausgelöst wird, verschränken sich erneut Eros und Thanatos: die Männer, die offen ihre Sexualität ausleben, agieren auf einem Kriegsschauplatz der Triebe. Sie sind „Stammeskrieger“ (S. 575), an einer Pisswand stehen sie aufgereiht wie „düstere römische Krieger“ (S. 626). Ganz gemäß dieser Metaphorik ist der Boden der Lokalität übersät von allen denkbaren Formen menschlichen Abfalls und Unrats. Auch der Körper Kristófs wird benutzt/ beschmutzt, mit Sperma übersät dem Boden vermählt. Die Anderen, einschließlich des Riesen, verschwinden in der Nacht, auf der Suche nach anderen Befriedigungen. Sie erscheinen Kristóf, wie schon angesprochen, als Vampire, die ihm das Blut und das Rückenmark ausgesaugt hatten. Aus der Vampirmetapher in Verschränkung mit der homosexuellen Initiation ergibt sich die Nähe zum Todesthema: „Von jetzt an muss man ein ganzes langes Leben im Tod zubringen.“ (S. 921) Neben dem Phantasma des toten Vaters und seines Gliedes bestimmt das Phantasma einer unerfüllten Zuneigung und unklaren Schuld aus der Adoles‐ zenz das innere Szenario des äußeren Geschehens auf der Margareteninsel. Kristóf imaginiert „den Pisti“ als „Platzhirsch“, als geheimen Star, wenn nicht Drahtzieher dieser Inszenierung. Der junge Mann ist der Held von Kristófs Adoleszenzroman; dieser war und ist verliebt in diesen Jungen, der ihm sei‐ nerzeit die Mädchen weggeschnappt hatte und an den ihn die Fantasie von einer Schuld bindet. Die Ambivalenz, der er selbst ausgesetzt ist, schlägt in der projektiven Fantasie des ehemaligen Freundes durch: Pisti bezeichnet ihn in seinem inneren Monolog als Judenjungen, möchte aus seinem Schuldgefühl der homosexuellen Orientierung gegenüber heraus, Kristóf vor der Homosexualität bewahren, bleibt aber dennoch der Verführer und Ausnutzer. Kristóf und Abjektion Kristófs individueller Bezug zur Abjektion gestaltet/ entfaltet sich auf vielfältige Weise: 1. Er empfindet sich prinzipiell in einer kulturell abjekten Position: als Jude und als Homosexueller. 2. Sein Mutterbild ist abjekt konnotiert. Als Kind erfuhr er, dass sie in einem Sündenpfuhl lebe. „Was mir zwangsläufig das Bild einer Pfütze vor Augen brachte, in der sich lustvoll grunzende Schweine wälzen.“ (S. 1775) 151 Sexualität und Körperlichkeit in Nádas’ Parallelgeschichten <?page no="152"?> 3. Mit dem Blick auf den ausgelieferten, der Vernichtung preisgegebenen Körper des Vaters wurde er mit dem Abjekten direkt konfrontiert; seiner Erinnerung hat sich ein Bild des toten Vaters und das Bild des „toten väterlichen Gliedes“ (S. 777) eingeschrieben. 4. „Ich scheine zu existieren, aber in Wirklichkeit bin ich nicht, war ich nicht und werde ich erst sein, wenn ich mich umbringe.“ (S. 1778) Kristófs Narzissmus steht in bedrohlicher Allianz mit dem Todestrieb. Sein gleichgeschlechtliches Begehren, das eingespannt scheint in eine Selbstmordvorstellung, bringt ihn, über die gesellschaftliche Positionie‐ rung hinaus, in eine gespaltene Situation. Sie kann, wie vorhin expliziert, sowohl als Rettungsversuch des Vaters als auch des eigenen Narzissmus interpretiert werden und daher als restitutiver Akt erscheinen, kann aber gleichzeitig die selbstzerstörerische Tendenz stärken. Auch die Rettung des Vaters bleibt bedroht, da die homosexuelle Lösung durch die Infragestellung der Geschlechtsdifferenz - im Falle Kristófs aber auch hinsichtlich der speziellen biographischen Bedeutung, dass er die Mutter nicht wiederholen will -, einen Verrat am Vater und einen Einbruch in die „väterliche Geschlechter-Ordnung“ mit sich bringt. Nádas beschreibt die Erfahrung Kristófs auf der Margareteninsel als Reise durch das vom kastriert/ kastrierenden Vaterbild dominierte Unheimliche, aber auch als kontinuierliche Begegnung mit der mütterlich-semiotischen Welt der Abjektion und der Vorstellung vom Sündenpfuhl: am Ende der homoerotischen Inszenierung/ Imagination liegt Kristóf analog dem Vater als leibhaftes - lebendiges - Abjekt am Boden, umgeben von den toten abjekten Produkten des Leibes. Die Chance in der Begegnung mit dem Abjekt Kristófs komplexes Abenteuer auf der Margareteninsel zeigt, dass er gleichzeitig unter dem Einfluss des Wiederholungszwangs, der energetischen Kraft des Todestriebes, aber auch der restitutiven Kraft des erotischen Prinzips steht. Er taucht tief in den traumatischen Raum ein, nähert sich dem Trauma, um es in symbolisierter Form kurzschlüssig zur Lösung zu bringen. In der Szene, in der Nádas Kristóf erstmals in Erscheinung treten lässt, weigert dieser sich, seine Ziehmutter ans Sterbelager des gehassten Ziehvaters/ Onkels zu begleiten. Sein Argument lautet, für ihn selbst zunächst unverständlich „Ich habe genug vom Tod“. (S. 136) Erinnerungen, die später in anderen Kontexten auftauchen, helfen ihn zu verstehen. Seine Großmutter, bei der er untergebracht worden war, nachdem die Mutter die Familie verlassen hatte, hatte es ihm 152 Alfred Springer <?page no="153"?> erlaubt, die Deportation des Vaters durchs Fenster zu beobachten und damit die Todesvorstellungen in ihrer Koppelung mit dem männlichen Glied gebahnt, die uns bei unserer Analyse der Geschehnisse auf der Margareteninsel begegnet sind. Mit seiner abwehrenden Haltung verweigert er auch, diese Situation zu reproduzieren. Allerdings resultiert Kristófs Verhalten darüber hinaus wohl auch daraus, dass er durch sein neues, dem Leben zugewandtes Begehren nach der von ihm idolisierten Klára unter der Steuerung des erotischen Prinzips steht. Die junge Frau und die an sie gebundenen Fantasien sind an seiner abwehrenden Haltung, die Tante zu begleiten, beteiligt. Er möchte nicht ins Spital zu seinem sterbenden Onkel, wohl aber möchte er sich auf den Weg machen, Klára zu suchen. Später, nach dem Begräbnis des Onkels, verlässt er die Familie, um das Krankenhaus zu finden, in dem Klára nach einer Fehlgeburt zur Aufnahme gekommen war. In Kristófs Unbewusstem vertritt die Gestalt dieser Frau von Anfang an eine Art alternatives Konzept; sie repräsentiert eine Gegenbewegung zur Verhaftung an die Todesthematik. Er erlebt den Zwiespalt, sich entweder für die homosexuelle Lösung, symbolisiert durch „den Riesen“, oder für die junge Frau entscheiden zu müssen. Die Beziehung zu ihr entfaltet sich über weite Strecken als Suche. Bei aller Ambivalenz, die Klára und Kristóf in die zwischen ihnen aufkeimende Beziehung einbringen, bleibt diese doch positiv getönt; im Gegensatz zur gleichfalls ambivalenten sado-masochistischen Beziehung zwischen Klára und ihrem aktuellen Lebensgefährten Simon. Schließlich bewirken die Erlebnisse im Kontext einer Trinkorgie, an der er mit der jungen Frau teilnimmt, eine tiefgreifende Veränderung. Im Verlauf dieser Fete erleidet Klára eine öffentlich sichtbare, dramatische Fehlgeburt. Sie verschwindet zunächst, wird in ein unbekanntes Krankenhaus verbracht. Kristóf begibt sich auf die Suche nach ihr, getrieben von einem ununterdrückbaren Bedürfnis, sie zu sehen und sie zu umsorgen. Als er sie endlich, geschwächt, findet, erkennt er, dass er sie wahnsinnig liebt. Kristóf und Klára empfinden ein „stilles, aber großes Glück, das sie miteinander und wegen einander erleben.“ (S. 2284) „Ich habe genug vom Tod“: Diese Einstellung scheint sich in seiner Wandlung im Verhältnis zu Klára durch- und umzusetzen. Ergibt sie sich doch als Respons auf eine neuerliche Konfrontation mit dem Abjekt. Weibliches Blut, Menstrua‐ tion, Fehlgeburt spielten in der Auseinandersetzung zwischen Kristóf und Klára eine Zeitlang vor Kláras öffentlichem Abortus eine erhebliche thematische Rolle. In einer paradoxen Wendung bewirkt die schockierende Konfrontation mit der massiv blutenden Frau, der tödlichen Muttergestalt, dem Urbild der Abjektion, eine progressive Bewegung in die Richtung des erotischen Prinzips. 153 Sexualität und Körperlichkeit in Nádas’ Parallelgeschichten <?page no="154"?> Melanie Klein hat in einer Auseinandersetzung mit der Todestrieb-Theorie Freuds darauf hingewiesen, dass die Begegnung mit der Energie des Todestriebs Angst um das Leben auslösen und den Willen zum Leben stimulieren kann. Möglicherweise trägt dieser Triebmechanismus dazu bei, dass es Kristóf ge‐ lungen zu sein scheint, die schockhafte Konfrontation mit dem Bedrohlichen als Anreiz für Anpassung und Wandlung zu nehmen und eine Versöhnung mit der psychischen Bisexualität einzugehen, die ihn zur Empathie befähigt und eine Art „therapeutischer Mütterlichkeit“ (R. R. Greenson, Psychoanalytische Erkundungen, 1982; Julia Kristeva Das weibliche Genie - Melanie Klein. Das Leben, der Wahn, die Wörter, 2008. S. 152-153) zur Entfaltung bringt. Erleichtert wird dieser Prozess wohl auch dadurch, dass im Verlauf der Trinkorgie Kristóf von seinem dumpfen Schuldgefühl dem Pisti gegenüber entlastet wird und dass sich zwischen ihm und dem betrunkenen, seine Homosexualität offen kommunizierenden Jugendfreund kurzfristig eine nahezu zärtliche Situation entwickelt, die allerdings durch die ambivalente Aggressivität Pistis nur rudi‐ mentär bleiben kann. Zusammenfassung Das Zeitfenster, in dem sich die Parallelgeschichten abspielen, umfasst etwa 70 Jahre: der Rückblick bezieht sich auf die Epoche ab dem Ersten Weltkrieg, die aktuellen Geschehnisse finden 1989 statt. In diesen Jahrzehnten liefen bedeutsame gesellschaftliche Veränderungen ab, viele davon wiesen in eine progressive Richtung. Letztlich brachte die Epoche eine schwere Erschütterung des Menschenbildes, einen Zivilisationsbruch, mit sich. Die Persönlichkeiten, die in den Parallelgeschichten portraitiert werden, repräsentieren das Leben in dieser zivilisatorischen Krise. Zu den Auswirkungen dieser Krise und zu den Versuchen, sie zu bewältigen, zählt es, dass der Körper mit neuen Bedeutungen besetzt wurde und immer mehr ins Zentrum des ästhetischen Diskurses und der kulturellen Produktivität rückte. In der bildenden Kunst und der Performance wurde und wird seit den frühen Tagen des Wiener Aktionismus die neue Bedeutung des Körpers, des Kreatürlichen in seinen Funktionen und in seiner Verletzlichkeit in stets neuen Variationen zur Darstellung gebracht. In der „direkten Kunst“ in verschiedenen Brechungen und in so verschieden gearteten Projekten wie bei Yves Klein oder Otto Mühl wurde der menschliche Körper zum Ausdrucksmittel. Entwicklungen wie Abject Art und die Tendenz zur Body Modification erweitern, vor allem in der AIDS- und Post-AIDS-Periode das Spektrum dieser körperbezogenen künst‐ lerischen Ausdrucksformen. Die Auseinandersetzung mit dem Themenkreis Sex 154 Alfred Springer <?page no="155"?> and Gender spielt in der aktionistischen Kunst eine große Rolle. Namhafte Vertreterinnen der feministischen Kunst haben das Konzept entwickelt und ausgebaut (Export, Abramowitsch). Die Spielarten sexueller Bedürfnisse und Verhaltensweisen wurden und werden in der aktionistischen Kunst ebenfalls direkt zum Ausdruck gebracht (O. Mühl, ZOCK - Manifest, 1987; B. Flanagan, Supermasochist. ReSearch People Series No 1, 1995; SICK: The Life and Death of Bob Flanagan. Film, 1997; R. Athey, Hallelujah! Ron Athey: A Story of Deli‐ verance. Film/ DVD, 1998) und werden in diesem Sinne ästhetisch normalisiert. Der bildenden Kunst analog kommen auch in der Literatur entsprechende Tendenzen zum Ausdruck. Nádas klinkt sich in diese Entwicklung ein und nutzt in seinem Text die Beschreibung der geschlechtlichen Suche, der geschlechtli‐ chen Begierde und des sexuellen Vollzugs dazu, die dynamischen Prozesse, denen die Protagonisten ausgeliefert scheinen, zu evozieren und zu analysieren und die Charaktere fassbar zu machen. Das literarische Kunststück besteht darin, dass auf diese Weise der Leser auch umfassend über die Sozialisierung und die sozio-kulturelle und historische Verankerung dieser Personen informiert wird. Die Beschreibung der Muster der Begierde, der Geschlechtsakte und der sie begleitenden Fantasien beinhaltet Information über die soziale Position der handelnden Personen und ihrer Partner, sie bringt den Klassen- und Rassenkampf zum Ausdruck, die grundsätzliche Bewertung der Triebhaftigkeit; diese soziokulturellen Inhalte und Haltungen bedienen sich der Partialtriebe und diese wieder bedingen bestimmte Aspekte sexuell motivierten Verhaltens. Die Psychoanalyse tritt im Romanwerk sowohl als historisches Faktum in verschiedenen Ausprägungen und Funktionen wie auch als kontinuierliches theoretisches Referenzsystem in Erscheinung. Der Gestalt der Psychoanalyti‐ kerin Irma Szemző wird von Nádas eine zentrale Position zugewiesen. Sie repräsentiert sowohl die kulturhistorischen und politischen Aspekte der von ihr vertretenen Lehre und Praxis innerhalb der Kulturgeschichte Ungarns als auch die individuelle Lage der Vertreterinnen der Psychoanalyse. Damit, dass er Reflexionen der Psychoanalytikerin breiten Raum gewährt und diese sich auch mit den Überlegungen des „Erzählers“ vermischen lassen, verleiht Nádas der Psychoanalyse einen hohen Rang für das Verständnis der Geschehnisse in seinem Roman. Stilistisch schlägt Nádas einen Weg ein, der versucht, die Menschen, die den Roman bevölkern, von innen heraus verständlich zu machen. Dafür bricht er mit der zeitlichen Kontinuität und lässt jegliche Grenzen zwischen „innerem Monolog“, Bewusstseinsprozess bezüglich der aktuellen Situation und realen Geschehnissen, manipulativen Impulsen und deren Umsetzung, Beobachtungen und nüchternen, wissenschaftlich basierten Erklärungen zu einer Art oszillie‐ 155 Sexualität und Körperlichkeit in Nádas’ Parallelgeschichten <?page no="156"?> rendem Bewusstsein verschwimmen. Die Grenzen zwischen Wahrnehmung, Empfindung und Vorstellung werden durchlässig. Dass begreiflich wird, dass all diese Prozesse einerseits miteinander verwoben sind, stets aber auch parallel ge‐ schichtet ablaufen, ist eine Tiefendimension des Prinzips „Parallelgeschichten“. Die Darstellung der psychosexuellen Situation und des geschlechtlichen Um‐ gangs erweist sich als besonders gut geeignet, diese Technik der Textgestaltung und den damit verbundenen Auftrag zu verwirklichen. 156 Alfred Springer <?page no="157"?> 1 Péter Nádas las eine längere Traumepisode des deutschen KZ-Manns Döring vor. … also mit ethischen Maßstäben komme ich nicht sehr weit. Ich muss die einzelnen Personen verstehen … Péter Nádas im Gespräch mit Wolfgang Müller-Funk und Gábor Schein (Wien, 22. Jänner 2018) Müller-Funk: Wir sind jetzt am Höhepunkt des ersten Tages und die Auswahl, die Sie getroffen haben, ist natürlich überraschend. 1 Wir haben im Rahmen des Symposiums sehr viele Themen besprochen, wir haben über Körperlichkeit, Architektur, das Bürgertum, das „Kurze 20. Jahrhundert“, über Bilder, über Narrative gesprochen. Aber über Traumnarrative haben wir nicht gesprochen. Ein sehr merkwürdiger Traum - vielleicht kommen wir in einer Frage noch auf die Stelle, die Sie jetzt gelesen haben, zurück. Aber zunächst möchte ich dich bitten, Gábor, die erste Frage zu stellen. Schein: Ja es hat mich auch überrascht, was du gelesen hast, was du ausgewählt hast und ich freue mich sehr darüber und ich möchte meine Frage beiseite legen und bei einem der letzten Wörter stecken bleiben. Opfertum und Unschuld: Mir scheint, dass deine Erzählung das Ethische natürlich gar nicht aufhebt, aber die Frage nach der Unschuld und Schuldigkeit vielleicht schon, oder es werden nicht so strenge Urteile getroffen, wie sie in der ungarischen Prosa oft vorkommen. Und meine Frage wäre dann: Wie bist du darauf gekommen, durch welche Erfahrungen, dass du eben diese Frage, die auch im ungarischen historischen Bewusstsein so tief verankert ist: Wer ist schuldig und wer ist unschuldig, wer ist der Täter und wer ist das Opfer - nicht so scharf stellst, wobei das Ethische aber sehr stark lanciert wird? Nádas: Das kommt aus zwei Quellen, aus zwei ganz verschiedenen Erfahrungen mit Diktaturen: Die eine ist die, die sozialistisch oder kommunistisch genannt wird, die war weder sozialistisch noch kommunistisch, aber das war eine <?page no="158"?> Diktatur, das ist sicher. Und man erfuhr: auch wenn man nicht mitmachen möchte, macht man mit. In der Diktatur sind die Grenzen ziemlich verflossen. Wenn man lebt, auch wenn man ein Aussteiger ist - ich bin ein Aussteiger gewesen, seit dem Einmarsch in die Tschechoslowakei, das war 1968. Ich bin aus der Gesellschaft gegangen, ich konnte mich jedoch auch nicht ganz unbeeinflusst fühlen, auch deshalb, weil ich jede Nacht um drei Uhr von meinem Schrei oder von meiner Verzweiflung geweckt wurde. Ich habe lange Reden gegen diese Diktatur gehalten, obwohl es mich unglaublich störte, dass ich nicht neutral bleiben konnte, sondern soviel Emotion hinein legte. Gerade deswegen, vor dem Hintergrund dieser Diktatur hat es mich sehr betroffen gemacht, wie die jüngere Generation, die in Deutschland aufgewachsen ist, wie die ganze Problematik diese Generation in einer Wohlstandsgesellschaft erreichte. Dass sie eigentlich Mitläufer, also Söhne und Enkel von Mitläufern, Tätern, Nazis sind - auch hier am Heldenplatz und auf allen Heldenplätzen in Europa -, sie haben damals mitgemacht. Und wiederum sind die Grenzen fließend. Also mit ethischen Maßstäben komme ich nicht sehr weit. Ich muss verstehen, ich muss die einzelnen Personen verstehen. Deswegen war mir dieser Döring, der mit dieser Problematik an der Grenze der Schizophrenie balanciert, unglaublich wichtig. Und die Dörings. Müller-Funk: Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie sagen, dass das Spezifi‐ sche an autoritären, totalitären Regimen ist, dass sie die Menschen zerstören, dass sie sozusagen auch ethische Maßstäbe im Grunde genommen zerstören? Niemand bleibt unschuldig? Wir haben heute Nachmittag darüber diskutiert, dass viele der Personen, die männlichen, aber zum Teil auch die weiblichen, sehr verstört, ja traumatisiert sind. Das gilt ja für diesen Döring auch. Also sowohl die Enkel der Opfer, aber auch die Enkel der Täter: manchmal sind sie Opfer und Täter zugleich, wie der todkranke Professor in Buda im Spital. Ich habe mich gefragt, wie Sie diese beiden Ebenen miteinander verbinden, d. h. also die Erfahrung einer nicht gelungenen, traumatisierten Kindheit und die eines Regimes, die Ungarn und Europa erlebt hat, die auf einer kollektiven Ebene verstörend und traumatisierend waren. Nádas: Die westlichen Gesellschaften, die Gesellschaften, die im Kapitalismus leben, erleben einen enormen Druck. Es gibt kein Vergangenes, es gibt nur heute, es gibt morgen und heute. Im Gegensatz zu den Diktaturen, vom östlichen Teil Europas, wo es nur Vergangenheit gibt, aber: nur Lügen über die Vergangenheit. Denn die Gegenwart ist nichts wert und es gibt keine Zukunft. 158 Péter Nádas im Gespräch mit Wolfgang Müller-Funk und Gábor Schein <?page no="159"?> Ich gehörte zu denen, die keine Ahnung hatten, ich habe 1989 gespürt, dass hier irgendwelche Veränderungen stattfinden werden. Aber welche? Dass dieses Regime, dieses große russische Reich, zusammenbricht, damit habe ich nicht gerechnet. Also in meinen Augen war das für die Ewigkeit gemacht. Ich habe bei Tisch meine Frau ständig damit belästigt, dass ich das nicht aushalte, weil das alles gegen die Vernunft gerichtet ist und ich diese unvernünftige Welt nicht aushalte. Aber ich habe sie ausgehalten. Man hält es aus und man freut sich nicht, dass man es aushält. Und in diesem westlichen Teil Europas hat man den 2. Weltkrieg und die Folgen des 2. Weltkriegs weggewischt, weggefegt, in Deutschland mit der Adenauer-Zeit, in Österreich mit Kreisky, also man hat eine Art Methodik entwickelt, wie man das verdrängt. Müller-Funk: Aber das ist ja dann aufgebrochen in den 1970ern in Deutschland, in den 1980er-Jahren, in diesen Diskursen. Nádas: Ja, aufgebrochen, richtig, aber das waren Diskurse und darüber hat man nicht diskutiert, dass alle Generationen, auch die Nachkriegsgenerationen von diesen beiden verdammten Weltkriegen regelrechte Beschädigte sind. Alle. Wir sind alle beschädigt, also nicht nur in Osteuropa. Ich schreibe darüber offen, aber Sie sind auch alle beschädigt. Auch die ärzte sind beschädigt und deswegen können die nicht richtig heilen. Diese Beschädigung geht dann weiter in der jungen Generation, die darüber sehr wenig weiß und dies dann als Schizophrenie oder als irgendwelche seelische Störung darstellt. Es ist meine Überzeugung, dass wir alle schwer beschädigt sind, diese Beschädigungen weitergeben, und nicht reflektieren, weder die Weitergabe, noch die Quellen. Diese ganz kleinen familiären Quellen, die weggewischt werden, verschwiegen werden […] und tja, ich folge dieser Überzeugung, oder, das ist keine Überzeu‐ gung, das ist eher eine Erfahrung, eine Grunderfahrung. Ich kann bis heute - darüber habe ich nicht in diesem Buch, sondern in Aufleuchtende Details geschrieben -, unterscheiden zwischen einer ruinierten Stadt und zwischen Scheißegeruch, der entsteht, weil die Kanäle, die Kanalisation gebrochen ist. Die Scheiße bleibt da und wird vertrocknen und von diesem Geruch kann man sich ganz leicht befreien, wenn man über die Straße geht, aber von Leichengeruch nicht, Leichengeruch bleibt. Das ist ein bleibendes Erlebnis und Gerüche sind nicht nachvollziehbar, die bleiben nicht nur als ein Vergleich in Erinnerung, obwohl man sie ab und zu doch fast spüren kann, aber nur fast. Alle diese Vergleiche bleiben, und wenn ich Kinder hätte, und wenn ich unreflektiert wäre, 159 … also mit ethischen Maßstäben komme ich nicht sehr weit … <?page no="160"?> würde ich auch das weitergeben. Unbewusst und auf heimlichen Kanälen. Ja, das ist sehr pessimistisch. Müller-Funk: Und trotzdem lachen wir. Nádas: Ja, was sollten wir machen? Schein: Ich denke gerade darüber nach, dass dein Roman auf Ungarisch 2005 erschienen ist, auf Deutsch ein bisschen später, also eben zu einer Zeit, als sich eigentlich Leute noch an den Ursprung des Scheißegeruches oder noch eher an den Ursprung des Geruches des toten Körpers erinnern konnten. Und da bleib’ ich beim Ethischen: Wenn ich es richtig verstehe, dann ist die Grundlage des Ethischen für dich das „Sich-Erinnern-Können“ an die Leichen. Nádas: Nicht ausschließlich, nein. Das wäre zu einfach und überhaupt nicht literarisch. Meine Arbeit besteht aus den Details, aus den kleinsten Details und aus der Aufrichtigkeit des Details, aus der Stimmigkeit des Details. Obwohl es heute so etwas nicht mehr gibt, aber in meinem Vokabular gibt es das noch. Und gerade das sage ich ja, dass der Wirkungskreis der menschlichen Geschichte viel größer ist, als wir uns das überhaupt vorstellen können. Also persönliches Erinnern, das ist zu wenig. Zum persönlichen Erinnern braucht man auch noch Wissen. Schein: Sicher, aber eine Projektion ist schon immer da. Also Erinnern und Projizieren nehmen den gleichen Faden auf, glaube ich. Und wie gehst du damit um, mit der eigenen Projektion bei der Wahrnehmung von Gerüchen? Nádas: Aber was meinst du mit Projektion? Schein: Ich meine eigentlich die verschiedenen, die unterschiedlichen Genera‐ tionserfahrungen oder persönlichen Erfahrungen. Deine persönlichen Erfah‐ rungen, mit denen du an die Details herangehst, sind dann natürlich deine Erfahrungen, aber in einem Roman werden sie irgendwie verallgemeinert, oder? Nádas: Nein, nein, nein, das ist meine Arbeitsmethode, oder mein Weg ist ein ganz anderer. Beim Schreiben eines Familienromans dauerte das ziemlich lang, weil ich viele Skizzen weggeworfen habe, oder ich habe Anfänge, an denen ich gescheitert bin, nicht nur weggeworfen, einige habe ich auch verbrannt. Ich konnte mit diesen Versuchen nicht in einem Haus und nicht in einem Raum 160 Péter Nádas im Gespräch mit Wolfgang Müller-Funk und Gábor Schein <?page no="161"?> leben. Und ich habe sie verbrannt. Einige auf diese Weise beiseite geschoben. Und vor dem Schreiben und während des Schreibens habe ich mit einer unerlaubten, verbotenen Selbstanalyse angefangen und sie auch beendet. Müller-Funk: Was heißt verboten? Nádas: Freud ist damit nicht einverstanden, obwohl er das selbst gemacht haben musste, denn ohne seine Selbstanalyse wäre keine Psychoanalyse entstanden. Er wusste, was er uns verboten hat. Es ist vernünftig, das nicht zu machen, ich habe aber keine andere Wahl gehabt. Es gab Analytiker, die insgeheim Analyse gemacht haben, aber man durfte keine machen, das war verboten, von der Diktatur verboten. Aber ich wollte auch keine Analytiker, ich kannte einige - zwei Analytiker, aber ich wollte keinen Analytiker, weil ich der Überzeugung war, dass ich das ästhetisch und philosophisch lösen muss oder auch psycho‐ logisch - aber mit mir selber und nicht mit einer fremden Person. Ich stand unter Beobachtung einer Psychologin, die wiederum unter der Beobachtung einer anderen Analytikerin stand, also alle beiden wussten darüber und alle beiden waren analytisch ausgebildet und haben mich beobachtet, das, was ich trieb. Ich habe zum Teil gelogen, die beiden belogen, die wussten es natürlich [Lachen in der Runde], aber das gehörte dazu, denn ich habe entdeckt, dass die Psychologin nicht unvoreingenommen gegenüber gewissen Dingen war. Und mit dieser Arbeit und mit der Arbeit an der griechischen Mythologie, an Jung, bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass ich nicht ich bin, sondern ich bin von dem „Wir“, von der Mehrzahl, getragen; also ich muss literarisch ein „Ich“ finden, das von der Mehrzahl getragen ist. Meine persönlichen Eigenschaften sind zweitrangig, ich suche in der Literatur nicht mich, sondern diese Person, die zwischen den beiden steht, oder zwischen den beiden kaputtgeht, oder vergeht, oder vernichtet wird, von dem „Wir“, von dem „Gemeinsamen“. Müller-Funk: Das „Wir“ ist eine Art Erinnerungsgemeinschaft, ein kultureller oder sozialer Rahmen? Nádas: Beides. Sozialer Rahmen, kultureller Rahmen, mythologischer Rahmen. Wir tragen auch die europäischen Mythologien, nicht eine, sondern mehrere in uns. Die bestimmen fast alles und das ist auch eine ständige […], das sind keine Projektionen, sondern ein ständiges Hin und Her zwischen Person, vor‐ gestellter Person, Vorstellung und Realität, Fantasie und Realität, eine ständige Pendelbewegung. Der eine wird von den anderen gemessen und kontrolliert, ohne Halt, ständig. 161 … also mit ethischen Maßstäben komme ich nicht sehr weit … <?page no="162"?> Müller-Funk: Sie haben vorher gesagt, Sie haben natürlich die Analytiker angelogen und das bringt mich dazu, Sie zu fragen: Wie ist denn das Verhältnis für Sie zwischen „Erinnern“ und „Erzählen“? Braucht das Erinnern das Erzählen oder konstruiert die Erzählung die Erinnerung? Ich komme deshalb auf die Erzählung, weil die Erzählung ja strukturell sozusagen unter dem Verdacht der Lüge steht, vielleicht wollen Sie dazu etwas sagen? Nádas: Ja, das ist schwierig, das ist ein schwieriges Kapitel. Müller-Funk: Ich weiß. Nádas: Ab und zu weiß man nicht, ob man das erdacht hatte oder ob es in meinem Leben wirklich passierte. Also Fabulieren, das ist eine schöne Kunst, aber eine sehr gefährliche. Müller-Funk: Das sehe ich auch so. Nádas: Also als Beruf ist es ziemlich gefährlich. Es gibt unglaublich gefährliche Phasen, wenn ich zum Beispiel eine Frau bin, dann wird das wirklich gefährlich, für meine Frau zum Beispiel. Aber wenn ich ein Macho bin, das wird auch gefährlich. Also für die Umwelt, für die direkte Umwelt, das ist ein ziemlich gefährlicher Betrieb. Das Gefährlichste war, eine Frau zu sein, also langfristig eine Frau zu sein und […] alles umzustellen - es geht nicht, natürlich. Aber bis zu einer Grenze geht es, wo man sich ansonsten üblicherweise nicht bewegt. Und dann ist man in dieser Person unsicher, am Rande des Verrücktseins. Müller-Funk: Wie ist das mit den Traumgeschichten? - Ich möchte jetzt doch nochmal auf das Kapitel, das Sie heute gelesen haben, zu sprechen kommen. Nádas: Also Träume sind für die Literatur auch sehr gefährlich, weil projizierte oder fantasierte Träume sich gänzlich von den realistischen Träumen unter‐ scheiden. Ich versuchte, diesen Traum nach dem Muster des doppelten Traums zu machen. Wir träumen, dass wir aufgewacht sind und träumen weiter und dann wachen wir auf oder nicht. Also diese Verdoppelung des Traums, damit habe ich gespielt. Und ich habe verschiedene Traummuster. Träume dürfen nicht geschrieben werden, also regelrechte richtige Träume, weil dann werden sie zerstört. Ich habe keine Notizen über meine eigenen Träume, aber ich habe mich mit meinen Träumen ungefähr viereinhalb Jahre lang sehr ausführlich und sehr 162 Péter Nádas im Gespräch mit Wolfgang Müller-Funk und Gábor Schein <?page no="163"?> eindringlich befasst. Deswegen weiß ich darüber etwas. Also das sind keine Fantasien, sondern sie haben ihre eigenen Muster in meinen Träumen, die nicht festgehalten worden sind, sondern die bis heute schweben. Teilnehmerin aus dem Publikum: Darf ich eine Frage stellen? Kennen Sie von Miklós Erdély den Film „Traumkopien“? Nádas: Nein. Teilnehmerin: Álommásolatok. [1977] Nádas: Nein, den kenne ich nicht. Teilnehmerin: Das ist ein psychoanalytischer Film und zeigt die filmischen Möglichkeiten, im Film ein Geschehnis wieder zu drehen, also das ist natürlich eine filmische Möglichkeit, aber auf der Basis des Traums. Nádas: Auch im Film ist es sehr, sehr waghalsig, einen Traum darzustellen. Man kann es eigentlich nicht. Weil Träume sind geschnitten, wie Filme, aber auf eine andere Weise. Der Schnitt ist viel, viel fließender, als beim Film. Auch die anderen Streifen bleiben oder geben einen Hintergrund, einen emotionalen Hintergrund, und beim Film ist das weg. Dann ist der Schnitt ein Schnitt. Schein: Es ging jetzt um Erinnerung, dann um Traumverarbeitung, wenn ich es so nennen darf, und da sehe ich einen Unterschied. Also wenn Träume und der Inhalt der eigenen Person so analytisch verarbeitet wird, gibt es da eigentlich eine Vergangenheit, oder wird alles gegenwärtig auf den Tisch gelegt? Und dann würde ich gerne fragen, ob es eigentlich eine Vergangenheit für Europa, also für uns gibt oder nur eine Gegenwart, die wir entweder auf den Tisch legen wollen oder nicht. Nádas: Auf den Tisch legen kann man nichts. Also man kann nichts auf den Tisch legen, die Welt oder das Leben besteht […] nur aus Übergängen. Alles ist Übergang. Und Zustände, das sind Projektionen, auch historische Zustände sind Projektionen. Und Erinnerung im allgemeinen Sinn gibt es nicht. Es gibt Verantwortung und die ist auch persönlich, das gibt es, wenn man im Nachkriegs-Deutschland ständig über Verantwortung gesprochen hat. Diese Verantwortung wurde nicht gefunden, weil es sie nicht gibt. In Österreich - und 163 … also mit ethischen Maßstäben komme ich nicht sehr weit … <?page no="164"?> in Ungarn noch weniger - wurde danach gesucht, aber auch hier und da wurde wenig gefunden. Aber diese Gegenüberstellung ist wichtig. Müller-Funk: Was ich so erschreckend finde, ist dieser Traum, wie ausgeliefert Döring diesem Traum eigentlich ist. Das bringt mich jetzt darauf, weil du, Gábor, eigentlich gesagt hast, Traumverarbeitung und so weiter, nicht? Zur Beschädigung gehört auch dieses „Ausgeliefert-Sein“, das ja fortdauert, und die Frage, europäisch oder ungarisch gefragt, wir wissen schon: Es ist ein europäischer Roman aus einer ungarischen, aber auch deutschen Perspektive - gibt es sozusagen die Chance, mit dieser Beschädigung anders umzugehen, sie zu transformieren? Sie haben sich als Pessimist deklariert, aber auf der anderen Seite […] Nádas: Nein, nein, ich bin es nicht. Ich habe die Stimme des Volkes zitiert. (Lachen) Müller-Funk: Noch besser! (Lachen) Müller-Funk: Also haben wir hier eine Chance … Nádas: Das ist auch eine Sackgasse: Pessimisten und Optimisten. Das ist eine Sackgasse. Das sind Stempel, das sind moralische oder ethische Stempel. Man darf in einer aufgeklärten, auch in einer christlichen Gesellschaft nicht Pessimist werden oder sein. In einer christlichen, aufgeklärten Gesellschaft darf man nicht Pessimist sein. Man muss Optimist sein. Dann ist dieser Optimismus eine Scheiße. Wohin gelange ich mit diesem Optimismus, wenn der Gegensatz verboten ist? Also dann lieber den Gegensatz, um den Bürger zu emphatieren, zu beeindrucken. Müller-Funk: Ist es eine Art von zweiter Aufklärung, die Sie mit ihrem Medium des Romans machen? Nádas: Darin habe ich sehr große Hoffnung, dass es noch möglich ist. Aber wir spielen mit der Zeit, aber ich hoffe, dass es noch möglich ist. Denn das ist ein furchtbarer Gegensatz, dass man sich eine Gesellschaft, eine unaufgeklärte Gesellschaft wünscht und macht, aber wenn man zum Arzt geht oder wenn man Brücken baut, dann braucht man doch diese Aufgeklärtheit, weil von dem Arzt erwarte ich, dass er im Namen der Aufklärung meine Krankheit aufklärt und heilt. Also der eine Teil der Gesellschaft betreibt eine anti-aufklärerische Sicht 164 Péter Nádas im Gespräch mit Wolfgang Müller-Funk und Gábor Schein <?page no="165"?> und der andere Teil versucht, daran doch festzuhalten, und ich gehöre zu denen, die sich daran noch festhalten, krampfhaft festhalten. (Lacht.) Müller-Funk: Eine Kollegin aus Budapest hat heute über das Lachen gesprochen. Und jetzt frage ich Sie, was hat für Sie das Lachen für eine Funktion - als ästhetisches Moment, aber vielleicht auch als lebensweltliches Moment? Nádas: Als ich aus Budapest emigrierte, nach den Einmarsch der War‐ schauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei konnte ich das wirklich nicht mehr aushalten, ich konnte/ wollte kein Journalist mehr sein, das war sowieso kein Journalismus, sondern nur ein vergeblicher Kampf, . . . also alles aufge‐ geben und hinausgegangen, und nach einer Zeit, nach einer Weile haben mich hinter meinem Rücken die alten Bauernfrauen - das ist fast nicht zu übersetzen - „mosolygós ember“ genannt. Ich war der „mosolygós ember“, der Mann mit dem Lachen. Weil ich lachte angeblich ständig oder ich schmunzelte. Der schmunzelnde Mensch. (Lacht.) Man lacht, schmunzelt, auch aus Verzweiflung. Sie haben auch aufgelacht, wenn man etwas Schreckliches sagt, dann lacht man auf. Das ist, ja, merkwürdig. Aber mir war Alles nicht nach Lachen, nicht nach Schmunzeln. Ich habe diese gutbürgerliche Verhaltensregel auch in dem Dorf beibehalten und das war dort auffallender, als in der Stadt. In einem Dorf lacht man nicht, schmunzelt man nicht. Die Gesichter bleiben unbeweglicher. Schein: Haben sich die Gesichter, seitdem du auf dem Lande lebst, verändert oder sind sie gleichgeblieben? Nádas: Einigermaßen. Wenn ich zuhause bin in diesem kleinen Dorf, dann schmunzle oder lache ich nicht so viel, das wird dort nicht verstanden. Das wird nicht verstanden, weil in dieser Gegend lacht man noch weniger, als in diesem anderen Dorf. Wenn man in den Laden kommt, dann begegnet man unbeweglichen Gesichtern und man denkt, das sind mir gegenüber ir‐ gendwelche Emotionen, aber nein, sie sind sehr lieb, sie haben keine Mimik. Bäuerliches Leben war ein hartes Leben, ein sehr hartes Leben. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts einen Winter zu überleben, das war eine Kunst. In den Städten ist es umgekehrt, man muss mit dem anderen, mit dem Nachbarn zusammenleben, also man versucht alles Mögliche, auch mit falscher Mimik, um etwas zu zeigen. Als ich das erste Mal in den Westen kam, dann dachte ich im Lebensmittelladen wirklich, dass mich diese Frauen, die mich so lieb anlächeln, für sympathisch halten. Aber Gott sei Dank bin ich kein Macho, und bin ihnen nicht auf diesen Leim, diesen konsumorientierten Leim, gegangen. Ansonsten 165 … also mit ethischen Maßstäben komme ich nicht sehr weit … <?page no="166"?> hätte ich sofort eine Ohrfeige bekommen. In Berlin, bei Aldi oder bei Meier, so hieß dieser Laden, es waren süße junge Frauen und sie haben mich so süß angelacht, alle haben mich mit dieser Süßlichkeit angelacht. Also in der Stadt ist das anders, in der bürgerlichen Stadt ist dieses Mimetische ganz anders. 2. Teilnehmerin aus dem Publikum: Darf ich was fragen? Nádas: Natürlich. 2. Teilnehmerin: Also Ihr Nachbar mit der Mähmaschine, das war eine echte Begegnung? Nádas: In „Lebensläufe“, in „Évkönyv“, im „Jahrbuch“? Ja, das ist eine Beschrei‐ bung. 2. Teilnehmerin: Ja, aber da gibt es schon aufrichtige Nachbarschaft. Nádas: Natürlich gibt es die. Aber das sind schon zwei verschiedene Sprachen. Die städtische und die ländliche, die dörfliche, das sind zwei verschiedene Sprachen, die müssen übersetzt werden. Wir hatten auch in den ersten Jahren in diesem Dorf sehr große Übersetzungsschwierigkeiten. Auch, weil das die Sprache am Land ist, also wir haben eine Menge missverstanden und die haben eine Menge missverstanden. Fremdwörter dürfen wir nicht verwenden, weil die nicht verstanden werden, nur als eine Kränkung verstanden werden. Aber zum Beispiel die lateinischen Lehnwörter sind in dieser Gegend geblieben, verdreht, aber geblieben. Und eine Menge lateinischer Wörter haben wir gefunden. Sehr schön. Müller-Funk: Verraten Sie, an welchem Buch Sie im Augenblick arbeiten? Nádas: Nein, ich arbeite jetzt an nichts. Ich bin ein Rentner geworden. (Lachen.) Nádas: Ich sammle. Was sammle ich? Ich sammle Briefmarken. (Lachen.) 3. Teilnehmerin: Herr Nádas, darf ich noch einmal nachfragen: Sie haben vorher gesagt, und ich glaube es sind sich alle einig und das wissen wir inzwischen, dass sozusagen diese Verheerungen des 20. Jahrhunderts über Generationen weiter getragen werden und völlig unbewusst, und sich irgendwo, wo auch immer, festsetzen; und inzwischen weiß man ja: Neuronen-Strukturen ändern sich und 166 Péter Nádas im Gespräch mit Wolfgang Müller-Funk und Gábor Schein <?page no="167"?> die Epigenetik beweist da ja auch auf einer biotischen Ebene ziemlich viel und sehen sie da irgendeine Chance, dass das irgendwann unterbrochen werden kann? Nádas: Nein, nein. 3. Teilnehmerin: Weil sie vorher gesagt haben: „Wenn ich kein reflektierter Mensch wäre und ein Kind hätte, dann hätte ich etwas weitergegeben.“ Da hätte ich jetzt den Schluss daraus gezogen, dass Sie meinen, wenn ich damit reflektiert umgehe, kann ich das unterbrechen. Nádas: Ich kann das im Rahmen meiner Romane oder meiner Bücher unterbre‐ chen. Diese Abstammungslinie der verschiedenen Schrecknisse, aber das gehört zur menschlichen Natur - leider - muss ich sagen. Also entweder gibt es einen großen Sprung in der Geschichte der Menschheit oder des Mensch-Werdens und dieser Sprung betrifft unser Bewusstsein, oder, wenn es den nicht gibt, dann die ewige Wiederkehr desselben. Und das ist sehr langweilig, sehr langweilig, aber das gibt doch dieser Menschengeschichte eine Art Halt, dass wir, wenn wir Livius oder Ovidius oder Shakespeare oder ich weiß nicht was lesen, damit keine Schwierigkeiten haben, weil die Umstände sind etwas anders, die zivilisatorische Ebene ist eine andere, aber die Menschen sind die gleichen, ihre Hassinhalte bleiben, ihre Mordlust bleibt, ihre konfliktuösen Situationen bleiben, weil sie immer wieder neu entstehen. Und das sind wir, also das ist anthropologisch, das ist nicht fremdgesteuert, nur wenn es einen großen Sprung gäbe - und das könnte nur kollektiv geschehen, und wahrscheinlich aus einer Katastrophe - nur die Katastrophen helfen, beziehungsweise auch die nicht, weil die Katastrophen haben bisher immer nur das Zivilisationsniveau etwas erhöht und dadurch diese Schere zwischen Zivilisation und Anthropologie menschlicher Gegebenheiten noch größer gemacht. Was ich mit meinem Telefon mache, das weiß ich nur wie ein Affe. Aber was da passiert und wie, an welche Kräfte ich mich damit ausliefere, darüber weiß ich nichts oder sehr wenig, oder meine Vermutungen sind falsch. Also das ist unglaublich schwierig. Müller-Funk: Ich schlage vor, dass wir provisorisch schließen. Wir danken Ihnen ganz, ganz herzlich für dieses sehr intensive Gespräch. 167 … also mit ethischen Maßstäben komme ich nicht sehr weit … <?page no="168"?> KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ Herausgegeben von Milka Car, Moritz Csáky, Endre Hárs, Wolfgang Müller-Funk, Clemens Ruthner, Klaus R. Scherpe und Andrea Seidler Bisher sind erschienen: Band 1 Wolfgang Müller-Funk / Peter Plener / Clemens Ruthner (Hrsg.) Kakanien revisited Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie 2002, VIII, 362 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-3210-3 Band 2 Alexander Honold / Oliver Simons (Hrsg.) Kolonialismus als Kultur Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden 2002, 291 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-3211-0 Band 3 Helene Zand Identität und Gedächtnis Die Ausdifferenzierung von repräsentativen Diskursen in den Tagebüchern Hermann Bahrs 2003, 207 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-3212-7 Band 4 Helga Mitterbauer Die Netzwerke des Franz Blei Kulturvermittlung im frühen 20. Jahrhundert 2003, 165 Seiten €[D] 38,- ISBN 978-3-7720-3213-4 Band 5 Klaus R. Scherpe / Thomas Weitin (Hrsg.) Eskalationen Die Gewalt von Kultur, Recht und Politik 2003, XV, 215 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8006-7 Band 6 Amália Kerekes / Alexandra Millner / Peter Plener / Béla Rásky (Hrsg.) Leitha und Lethe Symbolische Räume und Zeiten in der Kultur Österreich-Ungarns 2004, X, 297 Seiten €[D] 39,90 ISBN 978-3-7720-8063-0 Band 7 Vera Viehöver Diskurse der Erneuerung nach dem Ersten Weltkrieg Konstruktionen kultureller Identität in der Zeitschrift Die Neue Rundschau 2004, 352 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8072-2 Band 8 Waltraud Heindl / Edit Király / Alexandra Millner (Hrsg.) Frauenbilder, feministische Praxis und nationales Bewusstsein in Österreich-Ungarn 1867-1918 2006, VIII, 273 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8131-6 <?page no="169"?> Band 9 Endre Hárs / Wolfgang Müller-Funk / Ursula Reber / Clemens Ruthner (Hrsg.) Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn 2006, VI, 295 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8133-0 Band 10 Telse Hartmann Kultur und Identität Szenarien der Deplatzierung im Werk Joseph Roths 2006, XI, 213 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8170-5 Band 11 Wladimir Fischer / Waltraud Heindl / Alexandra Millner / Wolfgang Müller-Funk (Hrsg.) Räume und Grenzen in Österreich-Ungarn 1867-1918 Kulturwissenschaftliche Annäherungen 2010, 409 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8239-9 Band 12 Marijan Bobinac / Wolfgang Müller-Funk (Hrsg.) Gedächtnis - Identität - Differenz Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raumes und ihrem deutschsprachigen Kontext 2008, VIII, 293 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8301-3 Band 13 Gerald Lind Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ Gerhard Roths Landläufiger Tod und Die Archive des Schweigens 2011, 447 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8366-2 Band 14 Daniela Finzi / Ingo Lauggas / Wolfgang Müller-Funk / Marijan Bobinac/ Oto Luthar / Frank Stern (Hrsg.) Kulturanalyse im zentraleuropäischen Kontext 2011, 257 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8434-8 Band 15 Emilija Man č i ć Umbruch und Identitätszerfall Narrative Jugoslawiens im europäischen Kontext 2012, 198 Seiten €[D] 45,- ISBN 978-3-7720-8466-9 Band 16 Angelika Baier „Ich muss meinen Namen in den Himmel schreiben“ Narration und Selbstkonstitution im deutschsprachigen Rap 2012, 348 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8467-6 Band 17 Daniela Finzi Unterwegs zum Anderen? Literarische Er-Fahrungen der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens aus deutschsprachiger Perspektive 2013, 326 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-7720-8475-1 Band 18 Thomas Grob / Boris Previ š i ć / Andrea Zink (Hrsg.) Erzählte Mobilität im östlichen Europa (Post-)Imperiale Räume zwischen Erfahrung und Imagination 2013, 308 Seiten €[D] 54,- ISBN 978-3-7720-8484-3 <?page no="170"?> Band 19 Daniel Romuald Bitouh Ästhetik der Marginalität im Werk Joseph Roths Ein postkolonialer Blick auf die Verschränkung von Binnen- und Außerkolonialismus 2016, 354 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8520-8 Band 20 Boris Previ š i ć / Svjetlan Lacko Viduli ć (Hrsg.) Traumata der Transition Erfahrung und Reflexion des jugoslawischen Zerfalls 2015, 230 Seiten €[D] 52,- ISBN 978-3-7720-8526-0 Band 21 Matthias Schmidt / Daniela Finzi / Milka Car / Wolfgang Müller-Funk / Marijan Bobinac (Hrsg.) Narrative im (post)imperialen Kontext Literarische Identitätsbildung als Potential im regionalen Spannungsfeld zwischen Habsburg und Hoher Pforte in Zentral- und Südosteuropa 2015, 264 Seiten €[D] 64,99 ISBN 978-3-7720-8547-5 Band 22 Vahidin Preljevi ć / Clemens Ruthner (Hrsg.) „The Long Shots of Sarajevo“ 1914 Ereignis - Narrativ - Gedächtnis 2016, 706 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8578-9 Band 23 Clemens Ruthner Habsburgs ‚Dark Continent‘ Postkoloniale Lektüren zur österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jahrhundert 2018, 401 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8603-8 Band 24 Clemens Ruthner / Tamara Scheer Österreich-Ungarn und Bosnien-Herzegowina, 1878-1918 Annäherungen an eine Kolonie 2018, 560 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8604-5 Band 25 Marijan Bobinac / Johanna Chovanec / Wolfgang Müller-Funk / Jelena Spreicer (Hrsg.) Postimperiale Narrative im zentraleuropäischen Raum 2018, 263 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8649-6 Band 26 Wolfgang Müller-Funk / Gábor Schein (Hrsg.) Péter Nádas’ Parallelgeschichten Lektüren, Essays und ein Gespräch 2020, 170 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8682-3 <?page no="171"?> ISBN 978-3-7720-8682-3 Mit Beiträgen von Zsolt Bagi, Mária Bartal, László F. Földényi, Tibor Gintli, Florian Huber, Ursula Knoll, Károly Kókai, Wolfgang Müller-Funk, Orsolya Rákai, Gábor Schein und Alfred Springer. Der Monumentalroman von Péter Nádas, Parallelgeschichten, ist eine der großartigsten Zumutungen der neuesten europäischen Literatur. Er ist 2005 auf Ungarisch erschienen und wurde seitdem in viele Sprachen übersetzt. Péter Nádas sucht keine übergeordneten Prinzipien für die textliche Gestaltung der geschichtlichen, räumlichen und psychologischen Komplexität der Welt. Im Hinblick auf die ästhetische Ideologie der Erzählung erweist sich diese Komplexität als schwer durchschaubar. Im vorliegenden Band werden die Beiträge eines Symposiums veröffentlicht. Im Januar 2018 kamen in Wien Literatur- und Kulturwissenschaftler, Historiker sowie Theoretiker der Psychologie aus Österreich, Ungarn und Deutschland zu Wort, um die verschiedenen Perspektiven von Nádas’ Werk zu erläutern. Im Band ist auch ein Gespräch mit Péter Nádas zu seinem Roman zu lesen.
