Der Teufel im Gesangbuch
Eine hymnologisch-satanologische Studie über das Evangelische Gesangbuch und ausgewählte Lieder
1007
2019
978-3-7720-5691-8
978-3-7720-8691-5
A. Francke Verlag
Heiko Herrmann
Die Studie stellt die Frage nach dem satanologischen Gehalt evangelischer Kirchenlieder am Beispiel des Evangelischen Gesangbuchs, ergänzt durch Betrachtungen des Gesamtliederwerkes von Martin Luther und Paul Gerhardt. Sie verfolgt damit eine hymnologisch wenig beachtete Spur und möchte zu einem bewussten Umgang mit der eigenen Tradition und der darin bewahrten Theologie bzw. Satanologie führen. Gefragt wird nach den Eigenschaften und Handlungen des Teufels, wie sie in den Gesangbuchtexten sichtbar werden, außerdem werden sie in Beziehung gesetzt zum biblischen Zeugnis und dem der Bekenntnisschriften. Dabei kommen mithilfe linguistischer Methoden auch pragmatische Gesichtspunkte wie Kommunikationssituationen, Sprecherhandlungen und Sprechereinstellungen in den Blick: Wer spricht wo, wann, wie, was mit wem? Wie gehen die Sänger mit dem Teufel als dem personal verstandenen Bösen um: Reden sie den Teufel an? Bitten sie Gott um Hilfe? Berichten sie über den Satan? Die Untersuchung führt zu ersten Überlegungen, inwieweit Gesänge, die das Sprachbild des Teufels beinhalten, gezielt in liturgischen und poimenischen Kontexten eingesetzt werden könnten.
<?page no="0"?> Die Studie stellt die Frage nach dem satanologischen Gehalt evangelischer Kirchenlieder am Beispiel des Evangelischen Gesangbuchs, ergänzt durch Betrachtungen des Gesamtliederwerkes von Martin Luther und Paul Gerhardt. Sie verfolgt damit eine hymnologisch wenig beachtete Spur und möchte zu einem bewussten Umgang mit der eigenen Tradition und der darin bewahrten Theologie bzw. Satanologie führen. Gefragt wird nach den Eigenschaften und Handlungen des Teufels, wie sie in den Gesangbuchtexten sichtbar werden, außerdem werden sie in Beziehung gesetzt zum biblischen Zeugnis und dem der Bekenntnisschriften. Dabei kommen mithilfe linguistischer Methoden auch pragmatische Gesichtspunkte wie Kommunikationssituationen, Sprecherhandlungen und Sprechereinstellungen in den Blick: Wer spricht wo, wann, wie, was mit wem? Wie gehen die Sänger mit dem Teufel als dem personal verstandenen Bösen um: Reden sie den Teufel an? Bitten sie Gott um Hilfe? Berichten sie über den Satan? Die Untersuchung führt zu ersten Überlegungen, inwieweit Gesänge, die das Sprachbild des Teufels beinhalten, gezielt in liturgischen und poimenischen Kontexten eingesetzt werden könnten. www.narr.de Heiko Herrmann Der Teufel im Gesangbuch Band 29 Der Teufel im Gesangbuch Eine hymnologisch-satanologische Studie über das Evangelische Gesangbuch und ausgewählte Lieder Heiko Herrmann ISBN 978-3-7720-8691-5 38691_Umschlag_NEU.indd 1,3 21.11.2019 12: 21: 00 <?page no="1"?> MAINZER HYMNOLOGISCHE STUDIEN Band 29 · 2019 Herausgegeben von Hermann Kurzke in Verbindung mit dem Interdisziplinären Arbeitskreis Gesangbuchforschung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie <?page no="2"?> Heiko Herrmann Der Teufel im Gesangbuch Eine hymnologisch-satanologische Studie über das Evangelische Gesangbuch und ausgewählte Lieder <?page no="3"?> Umschlagabbildung: Duccio di Buoninsegna, Versuchung Christi auf dem Berg. Altarretabel des Sieneser Doms. Quelle: The Yorck Project (2002): 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM). https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Duccio_di_ Buoninsegna_040.jpg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Die Tabellen zu dieser Studie sind online verfügbar unter www.meta.narr.de/ 9783823386915/ Tabellenband.pdf Die vorliegende Arbeit stellt eine leicht überarbeitete Fassung einer 2018 von der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig als Dissertation angenommenen Studie dar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Union Evangelischer Kirchen sowie der Ev.-Luth. Kirche in Norddeutschland und der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens. © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1862-2658 ISBN 978-3-7720-8691-5 (Print) ISBN 978-3-7720-5691-8 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0170-3 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="4"?> Inhaltsverzeichnis 5 Inhaltsverzeichnis A. Ausgangslage und Vorgehen 1. Motivation und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 3. Literatur- und Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 4. Grundentscheidungen, Methodik, Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . 41 5. Forschungsmaterial: Vom EKG zum EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Historische Entwicklungen bis zum Evangelischen Gesangbuch . . . . 67 Redaktionsprozess und Gestaltungsgrundlagen des Evangelischen Gesangbuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Neue Impulse und Traditionskontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Ökumene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Gerechte Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Juden und Christen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Umgang mit Archaismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Kritik am Evangelischen Gesangbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Luthers Liederschaffen und Musikanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Lutherlieder und ihre Teufelsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Textbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Rubriken/ Themenfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Teufelsnamen und weitere Textgegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Pragmatische Einsichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Wesen und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Detailbetrachtung - „Ein neues Lied wir heben an“ . . . . . . . . . . . . . 146 Der Teufel in Luthers Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Konklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Zeitgeschichtliche Aspekte zu Paul Gerhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Musikkultur, Kirchenlied und Gesangbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Poesie und Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 <?page no="5"?> 6 Inhaltsverzeichnis Paul Gerhardt, der Teufel und die lutherische Orthodoxie . . . . . . . . . 185 Theologische Gerhardt-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Paul Gerhardt und die Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Der Teufel in Hutters Compendium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Paul Gerhardts Lieder und ihre Teufelsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Textbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Rubriken/ Themenfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Teufelsnamen und weitere Textgegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Pragmatische Einsichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Wesen und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Detailbetrachtung - „Auf den Nebel folgt die Sonn“ . . . . . . . . . . . . 247 Konklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Textbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Rubriken/ Themenfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Teufelsnamen und weitere Textgegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Pragmatische Einsichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Wesen und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Detailbetrachtung - „Ihr lieben Christen, freut euch nun“ . . . . . . 297 Konklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Textbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Rubriken/ Themenfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Teufelsnamen und weitere Textgegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Pragmatische Einsichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Wesen und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Detailbetrachtung - „O Tod, wo ist dein Stachel nun“ . . . . . . . . . . 353 Konklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 10. Der Teufel in Bitt-, Lob- und Trostgesängen (EG 316-420) . . . . . . . . 363 Textbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Rubriken/ Themenfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 Teufelsnamen und weitere Textgegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Pragmatische Einsichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Wesen und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 Detailbetrachtung - „Jesu, hilf siegen, du Fürste des Lebens“ . . . 430 Konklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 <?page no="6"?> Inhaltsverzeichnis 7 11. Der Teufel in Tageslaufliedern (EG 437-493) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Textbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Rubriken/ Themenfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 Teufelsnamen und weitere Textgegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Pragmatische Einsichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Wesen und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 Detailbetrachtung - „Werde munter, mein Gemüte“ . . . . . . . . . . . . 502 Konklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 D. Bündelung 12. Gesamtbetrachtung der Rede vom Teufel im EG - Ergebnisse, Thesen, Desiderate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 13. Bedeutung der gefundenen Sprachformen für Liturgie und Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 E. Anhang 14. Bibelstellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 15. Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 16. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 <?page no="8"?> Die vorliegende Arbeit stellt eine leicht überarbeitete Fassung meiner im März 2018 an der Theologischen Fakultät in Leipzig eingereichten und mit der öffentlichen Verteidigung im Oktober 2018 von der Fakultät als solche angenommenen Promotionsschrift dar. Über die Motivation zu dieser speziellen Thematik geben meine ersten Seiten Auskunft. An dieser Stelle soll vielmehr ein Ort des Dankes sein. Zu danken ist v. a. der Universität Leipzig, die mir durch das Gewähren eines Doktorandenförderplatzes die Möglichkeit gab, ohne materielle Not meine Studie zu erarbeiten. Für die Möglichkeit, die Bibliothek des Liturgiewissenschaftlichen Institutes der VELKD in Leipzig zu nutzen, muss ebenfalls gedankt werden. Danken möchte ich aber auch den vielen Gesprächspartnern und Begleitern meiner Arbeit, meinem Doktorvater Alexander Deeg und meinem Zweitgutachter Jochen Arnold, den Mitgliedern der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie (IAH) und unzähligen kundigen Experten aus nah und fern. Mit großer Akribie hat Annekathrin Böhner sich beim Korrekturlesen meinen Dank erworben. Danken möchte ich für Zuschüsse zur Drucklegung meiner Arbeit, die von der UEK und der EKD sowie der Ev.-Luth. Kirche in Norddeutschland und der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens gewährt worden sind. Wer den langen Weg zu einer Doktorarbeit abgeschritten ist, der weiß, dass es neben dem Geist manchmal auch einen Kaffee und ein gutes Wort und v. a. viel Humor braucht - danke dafür Albrecht, Annelie, Pfarrer Christian Schreier, Christoph, Carena, David, Doro, Ephraim, Fanny, Ferenc, Felix, Friedemann, John, Judith, Hendrik, Julia, Karin, Maria, Monik, Norman, Philipp, Samuel, Pfarrer Sebastian Führer, Svenja, Thea und Tobias. Ertragen und getragen haben mich in der Zeit der Abfassung und danach neben allen Vorgenannten v. a. aber meine Familie und meine Frau, Luise Herrmann, denen ich danke und die es stets verstanden Zweifel und Sorgen zu zerstreuen. Meine Hoffnung ist, dass ich neben allem, was meiner menschlichen Begrenztheit entspringt, doch einige Punkte in meiner Arbeit herausstellen konnte, die als wahr und gut in Gottes Augen bestehen können und dem Weg der Kirche auf Erden nützen werden. Gott, der mich beim Bewegen dieses Themenkomplexes behütet und begleitet hat, gilt mein größter Dank. Gewidmet ist dieses Buch allen, die den Mut aufbrachten und aufbringen, Zeugnis von Jesus Christus abzulegen, der Sünde, Tod und Teufel besiegt hat. Durch ihr Zeugnis fand ich den Grund meines Lebens. Durch ihr Zeugnis darf ich selbst Zeuge sein. Heiko Herrmann, Leipzig im April 2019 <?page no="10"?> A. Ausgangslage und Vorgehen <?page no="12"?> 1. Motivation und Struktur „Wollen Sie sich wirklich Jahre mit einem so düsteren Thema beschäftigen? “ - so das klanggewordene Stutzen eines mir mit Rat zur Seite stehenden Theologen. „Sie müssen aufpassen, dass er nicht zu viel Raum in Ihrem Leben und Denken einnimmt - denken Sie an Barth: ein kurzer scharfer Blick genügt! “ - so die Mahnung eines anderen kundigen theologischen Lehrers. Und doch, ich wollte nicht davon lassen. Am Anfang stand die schlichte Frage, worum sich meine wissenschaftliche Qualifikationsarbeit drehen soll, was würdig, wichtig und feurig genug ist, dass ich mich Jahre daran abarbeiten kann. Schnell kam mir ein Themenbereich in die Hände, der zwar in der Lektüre vieler Klassiker (Augustin, Thomas, Luther u.a.) immer wieder begegnete, aber über dessen aktuelle Relevanz und theologische Einordnung ich eigenartig auskunftsunfähig war. Rasch war ein Themenbereich vor meinen Augen, der zwar einerseits in der Bibel und in liturgischen Kontexten vielfach von sich reden macht und doch mit meinem theologischen Denken, Glauben und Leben nur unklare, diffuse Berührungspunkte aufweist. Ich spreche vom großen Drachen, der alten Schlange, dem Teufel, dem Satan (Offb 12‚9). Es ist besonders, lässt aufhorchen, wenn theologische Fakultäten, evangelische wie katholische, sich eigens in Lehrveranstaltungen diesem Sujet zuwenden. Hier war ein Gegenstand gefunden, der mich schaudernd neugierig machte, ein Gegenstand, der mich ob meiner Unkenntnis beschämte und mich gleichsam zum Studium herausforderte. Der Teufel forderte zum Duell, mir blieb die Wahl der Waffen. Wie sollte ich dieses Thema angehen, welcher Zugangsweg ist diesem Forschungsgegenstand angemessen? Durch popkulturelle Gruselerscheinungen und vielfältige cineastische Verarbeitung war das Phänomen des Exorzismus als spannendes Forschungsfeld bald präsent. Allerdings haben Protestanten im Grunde kaum nennenswerte Darstellungen dazu herausgebracht, zumindest in der Gegenwart‚ 1 noch liegen 1 Dass lutherische Pfarrer sich als Exorzisten betätigten, war in früheren Zeiten keine Seltenheit. Rieger konnte aufzeigen, dass insbesondere im 17. Jh. im Luthertum ein breiter Teufelsglaube, einschließlich zugehöriger Vertreibungspraktiken, bestand (Rieger, Der Teufel im Pfarrhaus [2011]) und Stenzig weiß davon zu berichten, dass in der Zeit nach Luther wahre Exorzismen-Wettstreite zwischen katholischen und lutherischen Geistlichen abliefen (Stenzig, In der Schule des Teufels [2006]). Die Aktivitäten von Johann Christoph Blumhardt und sein Ringen um die Seele der Gottliebin Dittus dürften ohnehin ob ihrer Sonderbarkeit bekannt sein (Blumhardt, Gesammelte Werke. Bd. 1: Der Kampf in Möttlingen [1979]). <?page no="13"?> 14 A. Ausgangslage und Vorgehen eigene liturgische Formulare dazu vor. 2 Empirische Erhebungen schienen aufgrund der Tabuisierung des Themas schwierig. Geeigneter - da zugänglich und in täglichem Gebrauch - kam mir ein Forschungsbereich vor, der schon während meines Studiums große Faszination auf mich ausübte, das Gesangbuch. Kaum etwas prägt den Glauben einer Gemeinschaft und Kirche mehr als ihre Lieder, hier bewährt sich Theologie in der Praxis Pietatis, trifft Lehre auf das Leben der Menschen und muss zeigen, ob sie sich zu plausibilisieren vermag. Meistenteils beschäftigt sich die „hohe“ Theologie mit der Bibel und den Bekenntnissen und ferner deren Entfaltung in der Liturgie, das gesungene Wort gerät dabei in den Hintergrund und damit ein Schatz an Theologie und Lehre, der mehr unbewusst als bewusst bewahrt wurde, aber ungeahnte Formkraft auf den Glauben der Kirche ausübt. 3 Gesungene Theologie verdient Beachtung, sie ist in vielerlei Hinsicht spannend und anregend. Sollte sich in den Liedern neben einer Theologie auch eine Lehre vom Satan ausmachen lassen? Es zeigte sich schon auf den ersten Blick ein nahezu unerschöpflicher Fundus an Quellen, die einer Untersuchung harrten, und ich musste mich und meine theologischen Lehrer hinterfragen, musste mich dem Vorwurf aussetzen, einen zentralen Gegenstand christlicher Theologie und Frömmigkeit grundlos und stillschweigend übergangen zu haben. 4 Natürlich liegt es im 2 Diese Aussage ist nur insofern zutreffend, wie man sich auf die klassischen „evangelischen Amtskirchen“ bezieht. Diese Begrifflichkeit ist gewiss ungenau - geeigneter wäre ein m. E. nicht vorhandenes deutsches Äquivalent für den amerikanischen Begriff der „Mainline Church“, der bei aller Pluralität innerhalb der einzelnen Denominationen dennoch für eine moderate Haltung gegenüber bibelkritischen Methoden, Bekenntnistexten und ethischen Fragen steht. Betrachtet man den evangelikalen und charismatischen Bereich, liegen sehr wohl Publikationen zum Thema Besessenheit und dem Kampf dagegen vor - hier spricht man weniger von Exorzismus, sondern von „Befreiungsdienst“ (z.B.: Dow, Sonderbeitrag: Befreiungsdienst, 107-135; Hollenweger, „Erlöse uns von dem Bösen! “, 129-136; Charismatische Erneuerung in der Katholischen Kirche in Deutschland, Gebet um Befreiung [2011]). 3 Es muss in diesem Zusammenhang klargestellt werden, dass die Lehre, die im Gesangbuch enthalten bzw. mitgegeben wird, Lehre anderer Art ist. Natürlich ist sie nicht in der Weise Bekenntnistext wie Katechismen - und doch enthalten Lieder Dogmatik, enthalten Theologie, die normativen Anspruch erhebt. In den 1950ern wies Karl Hauschildt in seiner Dissertation auf diese besondere Form liedgebundener Lehre mit dem Begriff des „latenten dogmatischen Gehaltes“ des Gesangbuches und seines Gebrauches durch die Gemeinde hin. Hauschildt meint damit, dass das Zeugnis eines geistlichen Liedes weder in starrer Dogmatik noch in künstlerischem Subjektivismus aufgeht, sondern durch seine doxologische Grundrichtung Teil elementarer Theologie ist (vgl. Hauschildt, Die Christusverkündigung im Weihnachtslied unserer Kirche, 13-18). 4 Dieser selektive Umgang mit der theologischen Tradition ist nicht nur mir bewusst geworden. Der Dortmunder Systematische Theologe Thomas Ruster hat, mit Hinweis auf den Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann, darauf hingewiesen, dass dem theologischen System ohne den Teufel letztlich sogar eine gewisse Plausibilität verloren gehe, da <?page no="14"?> 1. Motivation und Struktur 15 Charakter eines Liedes, eine „Zweieinigkeit“ aus Text und Melodie zu bilden, was berücksichtigt werden muss. Ferner gilt es zu entscheiden, welche Lieder, welches Gesangbuch, schlicht, was meine materiale Grundlage darstellen soll. Über diese Fragen und meine Antworten wird unten Rechenschaft abgelegt. Diese Arbeit ist das Werk eines Praktischen Theologen, darin liegt die Struktur meiner Studie begründet. Praktische Theologie im guten Sinne macht weltläufige Beobachtungen, nimmt Zeit und Umgebung, in der sie Theologie treibt, wahr. In dieser Weise wird zu Beginn in einem kurzen Abschnitt nach Spuren des Satans in der Gegenwart gefragt (Kap. 2.). Hier werden gleichermaßen Fragen nach dessen Relevanz im kulturellen wie akademischen Leben beleuchtet. Daran anschließend wird der gegenwärtige Literatur- und Forschungsstand zum Thema dargestellt (Kap. 3.). Aufbauend auf den bisherigen Arbeiten, Beiträgen und Erkenntnissen lege ich meine Forschungsfragen dar und gebe Rechenschaft über arbeitstechnische und theologische Grundentscheidungen, sowie Hinweise zur konkreteren methodischen Arbeitsweise am Gesangbuch und seinen Liedern (Kap. 4.). Als Abschluss meiner „Prolegomena“ biete ich einige Informationen zur zugrundeliegenden Quelle, dem Evangelischen Gesangbuch von 1993, seiner Entstehungsgeschichte und seinen Grundlagen (Kap. 5.). Nach Kenntnis von Kapitel 4. ist ohne weiteres jedes Kapitel solitär lesbar, da diese einem weithin ähnlichen Analysemuster folgen und nur wenige Kenntnisse aus evtl. vorangegangenen Kapiteln voraussetzen. Im Hauptteil meiner Studien wende ich mich zuerst den Gesangbuchfürsten Luther (Kap. 6.) und Gerhardt (Kap. 7.) zu. Hier wird jeweils der gesamte Werkumfang betrachtet und damit eine autorenbezogene „Satanologie“ 5 zu erheben versucht. Dieses Vorgehen bietet sich in zweierlei Weise an. Zum einen sind beide Vertreter von ungebrochener Bedeutung bis heute, zählen zu den meistgesungenen und meistvertretenen Autoren im Gesangbuch, und sind Referenzgrößen für alle weiteren Dichtungen nach ihnen. Zum anderen haben dem Glauben mit dem Teufel als Gegenspieler Gottes eine lebensweltlich wie gedanklich größere Fülle zu eigen ist: „Nicht nur, dass er [sc. Niklas Luhmann] der Theologie vorhält, auf Teufel und Hölle verzichtet zu haben und somit kaum mehr in der Lage zu sein, Gott zu charakterisieren, weil sie den Negativwert zum Positivwert Transzendenz gestrichen hat. […] Der Teufel, der sein will wie Gott, ist der Beobachter Gottes, er zieht eine Grenze in der Einheit und löst damit die Einheit auf. Er ist es, der überhaupt eine Differenz in die Schöpfung einführt. […] Wenn alles, was es gibt, nur in Unterscheidung existiert, dann ist das teuflische Prinzip das Prinzip der Welt schlechthin.“ (Ruster, Von Menschen, Mächten und Gewalten, 63). 5 Wenn ich an dieser Stelle den Begriff der Satanologie einführe, bin ich mir der Problematik dessen durchaus bewusst - Satanologie im eigentlichen Sinne kann und darf es nicht geben. Der Teufel ist kein theologischer Lehrgegenstand im üblichen Sinne, sondern immer nur als eingebunden in eine größere Lehre von Gott zu verstehen (vgl. Scheffczyk, Art. Dämonologie, Sp. 6-7). <?page no="15"?> 16 A. Ausgangslage und Vorgehen wir es mit dem Vater der lutherischen Theologie selbst und damit dem vorzüglichsten Theologen lutherischer Konfession im 16. Jahrhundert, sowie einem herausragenden Bekenner der lutherischen Orthodoxie im 17. Jahrhundert zu tun. Beide sind Exponenten klassischer lutherischer Lehre, an ihnen lässt sich ein weitreichender Eindruck traditioneller lutherischer Satanologie gewinnen, welche später unerreicht sein wird und als Folie dienen kann, vor der weitere Gesänge in selbigem Jahrhundert und mehr noch den folgenden Jahrhunderten analysiert werden. Zu beiden Autoren und ihrem Liederwerk existieren unzählige Studien und Einzelbetrachtungen, die einen vollständigen Überblick verunmöglichen - Ziel dieser Kapitel ist lediglich die Satanologie der Zeit in ihren Liedern zu untersuchen. An diese personenbezogenen Kapitel schließen sich die Kernkapitel meiner Studie an; in ihnen werden systematisch Rubriken des Gesangbuches untersucht. Es erwies sich im Laufe der Arbeit als sinnvoll bzw. dispensabel, nicht jede Rubrik einzeln zu erläutern, sondern die hauptsächlich relevanten Rubriken zu analysieren, welche sich im Bereich des Weihnachtsfestkreises (Kap. 8.), Osterfestkreises (Kap. 9.), der Trost- und Anfechtungsgesänge (Kap. 10.) und der Tageslauflieder (Kap. 11.) zeigen. Jedes Kapitel bietet einen detaillierten Überblick über die Rede vom Teufel in diesen Rubriken und schließt mit einer Detailanalyse eines besonders prominenten Gesanges der Gesangbuchabschnitte. Daneben kommt der Teufel natürlich noch in weiteren Gesängen des Gesangbuches vor. Diese werden mit entsprechenden Textpassagen, zusammen mit allen schon genannten Gesängen, in einer tabellarischen Übersicht erfasst (Tabellenband online unter www.meta.narr.de/ 9783823386915/ Tabellenband. pdf) und zusätzlich mit in meine Abschlussbetrachtung (Kap. 12.) über das Vorkommen des Satans im Evangelischen Gesangbuch einbezogen. Diese enthält neben einer Bündelung der Ergebnisse, dem Blick auf Desiderate und künftige Forschungsarbeit, sowie der Setzung einiger persönlicher Thesen, zugleich besonders eindrückliche Liedpassagen. Als Praktischer Theologe betreibe ich, wie beschrieben und wie der Gegenstand Gesangbuch beweist, keine Forschung im luftleeren Raum, sondern versuche, Theologie zu betreiben, die in Kontakt mit praktischen Vollzügen kirchlichen Lebens bleibt. So finden sich in einem weiteren Kapitel Perspektiven für eine poimenische und liturgische Praxis (Kap. 13.), die den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten nachgehen, die sich aus meinen hymnologisch gewonnenen Erkenntnissen für pastorales Handeln eröffnen. 6 6 Es folgen im Aufriss der Arbeit noch die üblichen Verzeichnisse: Bibelstellenverzeichnis (Kap. 14.), Abkürzungsverzeichnis (Kap. 15.), Literaturverzeichnis (Kap. 16.). <?page no="16"?> 2. Hinführung 17 2. Hinführung Der Teufel ist erledigt! Insbesondere die theologische Aufklärung unternahm den Versuch, den Teufel zu verabschieden. In einer wissenschaftlichen Theologie, die um Vermittlung zwischen überkommenem Glauben und der wiederentdeckten leuchtenden Vernunft bemüht war, erschien der Kirchenglaube und seine Teufelsanschauung mehr und mehr als nicht vermittelbar - zu wenig plausibel wirkte ein pferdefüßiges Ungeheuer in einer Zeit, die zunehmend in der Lage war, lange durch Aberglauben erklärte Phänomene nun durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse verständlich zu machen. 1 Auf den Gefechten der neueren Theologiegeschichte aufbauend und sie zugleich überschreitend, äußert sich auch der Kirchenvater des 19. Jahrhunderts, Friedrich D.E. Schleiermacher, der die Vorstellung von guten Engeln wie bösen Teufeln als dem christlichen Lehrgebäude fremd einstuft und sie allein liturgischem Gebrauch zugesteht. 2 Der Gedanke eines bösen Feindes sei der Lehre nicht nur fremd, sondern in keiner Weise glaub- und vermittelbar. 1 Wichtige Stationen, v. a. anhand historischer Lexikonartikel aus der Feder namhafter Theologen und Philosophen ihrer Zeit, stellt Heinz D. Kittsteiner zusammen. Kittsteiner zeigt eine Doppelstrategie der Aufklärung im Umgang mit dem Bösen auf, indem einerseits das Böse nach innen verlagert, anthropologisch subjektiviert wird, andererseits geschichtsphilosophisch das Böse zum guten Weltenziel nötigen temporären Malum umgedeutet wird (vgl. Kittsteiner, Die Abschaffung des Teufels im 18. Jahrhundert, 55- 56). Aufschlussreich sind die von Dirk Fleischer zusammengestellten Quellentexte zum sogenannten ersten und zweiten Teufelsstreit im 18. Jh., bei dem späte Vertreter der altprotestantischen Orthodoxie aufgeklärten und progressiven Theologen gegenüber standen, die sich scharfsinnige intellektuelle Gefechte lieferten (Fleischer, Quellenband zum Teufelsstreit der Spätaufklärung [2013]). 2 „Vielmehr bleibt der Gegenstand [sc. Engel] für das eigentliche dogmatische Gebiet völlig problematisch, und es ist nur anzuerkennen ein Privatgebrauch von dieser Vorstellung und ein liturgischer. […] Bei dem liturgischen Gebrauch hat man von jeher vorzüglich darauf Bedacht genommen, daß Gott vorgestellt werden soll als von reinen und unschuldigen, endlichen Geistern umgeben.“ (Schleiermacher, Der christliche Glaube, 211). Im Gesamtsystem der Glaubenslehre sind Engel und Teufel der Schöpfungslehre beigegeben, allerdings ganz ausdrücklich als 1. und 2. Anhang derselben in den §§. 42-45 (vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube, VII). <?page no="17"?> 18 A. Ausgangslage und Vorgehen „§ 44. Die Vorstellung vom Teufel, wie sie sich unter uns ausgebildet hat, ist so haltlos, daß man eine Überzeugung von ihrer Wahrheit niemandem zumuten kann; aber unsere Kirche hat auch niemals einen doktrinalen Gebrauch davon gemacht.“ 3 „§ 45. Da nun auch in den neutestamentischen Schriften der Teufel zwar häufig vorkommt, aber doch weder Christus noch die Apostel eine neue Lehre über ihn aufstellen, noch weniger diese Vorstellung irgend in unsre Heilsordnung verflechten: so dürfen wir über diesen Gegenstand nicht anderes für die christliche Glaubenslehre festsetzen, als daß, was auch über den Teufel ausgesagt werde, dadurch bedingt ist, daß der Glaube an ihn auf keine Weise als eine Bedingung des Glaubens an Gott oder an Christus aufgestellt werden darf, und daß von einem Einfluß desselben innerhalb des Reiches Gottes nicht die Rede sein kann.“ 4 Trotz dieser deutlichen Verabschiedung vom Teufel im dogmatischen Sinne, lässt Schleiermacher diesem einen kleinen Bereich im privaten und liturgischen Gebrauch, sofern sich die Vorstellung im Rahmen der biblischen Redeweise bewegt, da jeder Schritt darüber hinaus den ohnehin schwierigen Gegenstand noch mehr ins Mythologische abdriften ließe. Seinen ureigensten Ort - hier endet Schleiermacher mit seinen Ausführungen - findet der Teufel in einem für meine Studie zentralen Feld, womit diese Untersuchung sich fast eines „Imprimaturs“ Schleiermachers rühmen kann. 5 „Am freiesten ist daher und auch am unbedenklichsten der dichterische Gebrauch; denn in der Poesie ist die Personifikation ganz an ihrer Stelle, und daher kann aus einem kräftigen Gebrauch dieser Vorstellung in frommen Gesinnungen an und für sich nicht leicht ein Nachteil zu besorgen sein. Es wäre daher nicht nur unzweckmäßig, sondern möchte in mancher Hinsicht nicht leicht zu verantworten sein, wenn 3 Schleiermacher, Der christliche Glaube, 211. „Nun kann man aber von niemand fordern, dieses anzuschauen, wenn man ihm nicht über eine Menge von Schwierigkeiten hinweghelfen kann.“ (Schleiermacher, Der christliche Glaube, 211). Schwierigkeiten ergeben sich nach Schleiermacher v. a. in logisch-argumentativer Hinsicht, da es ihm schlicht unvermittelbar erscheint, wieso Geschöpfe von höherer Vollkommenheit und Verstandeskraft als Menschen, dazu Gott angesichtig, sich freiwillig aus dieser Position wegbewegen und dauerhaft darin verharren wollen sollten und v. a. warum, wenn alle diese geistigen Wesen gleiche Voraussetzungen hätten, dies nur einige und nicht alle taten (vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube, 211-215). 4 Schleiermacher, Der christliche Glaube, 215. Schleiermacher führt aus, dass sämtliche Erwähnungen des Teufels in den Briefen und Evangelien keine neue Lehre liefern, sondern vielmehr jüdisches und orientalisches Denken aufnehmen und in die eigene Glaubenswelt aufnehmen. Die Absicht Christi war keinesfalls eine Teufelslehre zu entwickeln, alles was Christus in seiner Umwelt an dämonologischen Gedanken begegnete, war außerdem nicht genuin jüdischen Ursprunges, sondern ein bunter Strauß persisch-altorientalischer Weltbilder (vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube, 215-223). 5 Ob dies ein Grund des Rühmens sein kann, überlasse ich der Meinung des Lesers. <?page no="18"?> 2. Hinführung 19 jemand auch aus unserm christlichen Liederschatz die Vorstellung des Teufels verdrängen wollte.“ 6 Was Schleiermacher durch seinen Angriff auf die traditionelle Lehre nicht zu beseitigen vermochte, wurde ein Jahrhundert später mit Macht durch das Entmythologisierungsprogramm Rudolf Bultmanns angegangen. In dem wegweisenden Aufsatz, „Neues Testament und Mythologie“ [1941], schreibt Bultmann zu den Resten dämonologischer Vorstellungen, die sich über die Aufklärung hinüberretten konnten: „Erledigt ist durch die Kenntnis der Kräfte und Gesetze der Natur der Geister- und Dämonenglaube. Die Gestirne gelten uns als Weltkörper, deren Bewegung eine kosmische Gesetzlichkeit regiert; sie sind für uns keine dämonischen Wesen, die den Menschen in ihren Dienst versklaven. Haben sie Einfluß auf das menschliche Leben, so vollzieht sich dieser nach verständlicher Ordnung und ist nicht die Folge ihrer Bosheit. Krankheiten und ihre Heilungen haben ihre natürlichen Ursachen und beruhen nicht auf dem Wirken von Dämonen bzw. auf deren Bannung. […] Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“ 7 Was Bultmann als unhintergehbare Gewissheit erschien und manchen seiner Schüler zum Schibboleth des redlichen Theologen wurde, konnte sich allerdings nur als scheinbare Plausibilität erweisen. Wenige Jahre später sah sich von katholischer Seite der Alttestamentler Herbert Haag herausgefordert, zur vorgezeichneten, aber immer noch nicht vollzogenen Wende im Weltbild seinen Beitrag zu leisten. Durch breite öffentliche Diskussion dürfte vielen noch das 1969 erstmals erschienene Buch Haags, „Abschied vom Teufel“, bekannt sein, welches bis in die Gegenwart hinein die kritischen Stimmen im Nachgang Schleiermachers und Bultmanns anführt. Haag stieg insbesondere in den 1970er Jahren zum letzten „Exorzisten“ auf, indem er den Teufel gänzlich als kirchengeschichtliches Relikt beerdigte - zumindest versuchte er es. 8 Geglückt 6 Schleiermacher, Der christliche Glaube, 223-224. 7 Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 17-19. 8 „Nach allem, was wir bisher gesehen haben, dürfte uns klar geworden sein, daß die Satansaussagen des Neuen Testaments nicht zu den Wahrheiten des Heils, sondern nur zur zeitbedingten Vorstellungswelt der Bibel gehören können [! ; HH]. […] Satan ist die Personifikation des Bösen, der Sünde. An allen Stellen des Neuen Testaments, an denen der Satan oder der Teufel vorkommt, könnten wir ebensogut ‚die Sünde‘ oder ‚das Böse‘ einsetzen. Die Personifizierung soll nur das Gemeinte anschaulicher und eindrucksvoller machen.“ (Haag, Abschied vom Teufel, 61-62). Diese und ähnliche Ansichten Haags, die sich deutlich gegen die bis heute gültige katholische Lehrmeinung stellen (vgl. DH <?page no="19"?> 20 A. Ausgangslage und Vorgehen ist es ihm nicht. Zum einen ist offenbar die Vorstellung viel zu tief im Denken und Glauben der Menschen verwurzelt, als dass sie sich durch ein paar logische Schlüsse beseitigen ließe, zum anderen wurden, neben dem maßregelnden Lehrprüfungsverfahren gegen Haag, zeitgleich von Paul VI. deutliche Aussagen getroffen, wonach der Satan gerade im 20. Jahrhundert sein Unwesen treibe, womit für das katholische Kirchenvolk die Lehre vom Teufel bis auf weiteres bekräftigt war. 9 Mit Blick auf die Gegenwart muss man den genannten theologischen Kapazitäten und „Exorzisten“, Schleiermacher, Bultmann und Haag, mit ihren akademisch weithin gewonnenen Scharmützeln, entgegenhalten: Professores, Sie haben geirrt - man kann in gegensätzlichen Weltbildern leben, denken, fühlen und glauben! Der Mensch tut es, tagtäglich! Elektrisches Licht und Pferdefüße sind gleichzeitige Elemente heutiger Lebenswelten - der Teufel hält sich hartnäckig, allen akademischen Exorzismen zum Trotz! Es scheint, als behielte Ernst Bloch mit der Beschreibung einer durch die Aufklärung weitreichenden Weltentzauberung und Verbreitung des Atheismus recht, wobei dem Anwachsen des intellektuellen Atheismus, kein parallel verlaufender und ebenso engagiert geführter intellektueller „Asatanismus“ entsprochen habe, weshalb auf diesem Feld bis heute ein geistesgeschichtliches Vakuum bestehe. 10 Das Denken der Gegenwart ist voll von Geistern und En- §. 800; ebs. vgl. Katechismus der Katholischen Kirche §. 2850-2854), führten nachträglich zu einem Lehrprüfungsverfahren durch zuständige Kirchenbehörden, welches aber später eingestellt wurde (vgl. Leimgruber, Kein Abschied vom Teufel, 303). Neben diesem, die Diskussion anführenden Bändchen, legten Haag und seine Tübinger Schülerschaft weitere Bücher vor, die das Thema in Breite und Tiefe weiter verhandelten und auf die zahlreichen Widersprüche eingingen (z.B.: Haag, Vor dem Bösen ratlos? [1989]; Haag/ Elliger, Teufelsglaube [1974]). 9 In einer längeren Rede führt Paul VI. 1972 aus, dass eine, wie von Haag (nicht eigens erwähnt) postulierte Lehre vom Schlechten im Menschen nicht ausreiche, um das Böse zu erklären, sondern ein intelligentes und personhaftes Wesen angenommen werden müsse. Wer sich dieser Lehre verweigere, der verweigere sich der Lehre der Bibel und der katholischen Kirche (vgl. Di Nola, Der Teufel, 424-425; ebs. vgl. Maslowski, Das theologische Untier, 250-253). 10 Vgl. Bloch, Experimentum Mundi, 233. Etwas anders beurteilt die gegenwärtige geistesgeschichtliche Lage um den Satan der wohl wichtigste Aphoristiker des 20. Jh., der kolumbianische Privatgelehrte und Nahezu-Eremit Nicolas Gomez Davila: „Der größte moderne Irrtum besteht nicht in der These vom toten Gott, sondern im Glauben, dass der Teufel tot ist.“ (Davila, Einsamkeiten, 25). Wenngleich sich kaum jemand seinen kultur- und modernekritischen Analysen entziehen kann, so muss an dieser Stelle wohl widersprochen werden - wenn der Teufel tot sein soll, dann nur in seiner banalsten Form als pferdefüßiges Schreckgespenst. Mit dieser fehlerhaften Analyse befindet Davila sich in honoriger Gesellschaft; schon am Übergang vom 19. zum 20. Jh. hatte der italienisch-deutsche Literaturwissenschaftler und Dichter Arturo Graf in seinem Werk, <?page no="20"?> 2. Hinführung 21 geln, guten wie bösen, ist voll, hier in der nachaufklärerischen westlichen Welt, mehr noch in Ländern der südlichen Erdhalbkugel. 11 Der Teufel ist nicht aus den Gedanken der Menschen getilgt, wie ein kurzer Blick auf Beschreibungen pastoraler Praxis zeigt. Der evangelische Pfarrer, Peter Busch, berichtet von nicht solitären Situationen seines Alltags, die von ganz expliziten Formen des Dämonenglaubens zeugen: „Sollen wir heutzutage theologisch von einer ‚personalen Macht des Bösen‘ reden? Was heißt hier: ‚Sollen wir …‘? Ich stelle fest: Die Menschen tun dies. […] Sie benutzen — um gegen Bultmanns berühmtes bon mot zu polemisieren — ihren Radioapparat und glauben dabei gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments.“ 12 Die Diskussion um Mächte und Gewalten, guter wie böser Art, ist mitnichten überwunden, sondern voll im Gange, oder wieder im Gange‚ 13 so sind in den letzten Jahrzehnten immer häufiger Veröffentlichungen wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Art zum Thema auf Neuerscheinungslisten zu finden. 14 Ute Leimgruber resümiert die geistesgeschichtliche Gegenwart mit folgenden Worten: „Il diavolo“, feierlich die Anschauung des Teufels für vollends und bis in die Tiefe als aufgelöst erklärt (vgl. Di Nola, Der Teufel, 422-424). 11 Thomas Ruster bemerkt ironisch: „Mit der theologischen Satanologie ist also auch heute noch etwas anzufangen, und sei es nur, dass man einen bei Bastei-Lübbe verlegten Erfolgsroman schreibt.“ (Ruster, Paradoxe Bestimmungen des Teufels in der katholischen Dogmatik, 135). 12 Busch, Personale Erfahrungen des Bösen, 45. Körtner bemerkt: „70 Jahre später [sc. nach Bultmann] scheint der Befund ganz anders zu lauten. Vom Absterben ‚mythischer Religion‘, des Engel- und Dämonenglaubens kann keine Rede sein. […] In einer Welt, in der die darwinsche Evolutionstheorie angezweifelt und über ‚intelligent design‘ diskutiert wird, ist eben auch für Engel und Dämonen Platz.“ (Körtner, Dämonen und Dämonisierung in Gegenwartsdiskursen, 56). 13 Leimgruber weist darauf hin, dass wissenschaftlich-theologische Diskussionen und damit auch Fachpublikationen der 1980er und frühen 1990er Jahre zum Teufel etwas weniger breit erscheinen, eine Kehrtwende erkennt sie in den seitenstarken und systematisch-theologisch vieldiskutierten Dissertationen von Claret (Claret, Geheimnis des Bösen [1997]) und Bründl (Bründel, Masken des Bösen [2002]). 14 „Des ungeachtet [sc. der Entmythologisierung] macht der Teufel bis heute von sich reden, auch unter Akademikern. […] Wir prügeln in dieser Kontroverse also keinen toten Hund.“ (Vogel, Das Böse ist böse genug, 56). Wichtig scheint in diesem Zusammenhang die spätestens seit Heiko A. Obermans Beitrag (Oberman, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel [1982]) einsetzende Beschäftigung mit Luther als großem Satanologen. Zwar lagen schon vorher Studien von Hans-Martin Barth (Barth, Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers [1967]) und Harmannus Obendiek (Obendiek, Der Teufel bei Martin Luther [1931]) vor, aber mit der stark biographisch angelegten Monographie Obermans wird in überzeugender Weise verdeutlicht, dass Luther keinesfalls jener neu- <?page no="21"?> 22 A. Ausgangslage und Vorgehen „Enorme Konjunktur erfährt […] der Themenkomplex Teufel und Dämonen, was sich daran erkennen lässt, dass in den letzten Jahren von verschiedenen Seiten eine ‚Wiederverzauberung der Welt‘ eine ‚Renaissance des Bösen‘ oder ein ‚Comeback der Teufel‘ postuliert worden ist. In vielen theologisch motivierten Büchern wird […] von Dämonen und Teufel geredet […]. Die Wiederbelebung des Glaubens an Engel, Teufel, Dämonen und andere übermenschliche Geister besonders im Bereich religiöser Bewegungen steht scheinbar im Gegensatz zu einem säkularisierten, aufgeklärten Zeitgeist - ein Hang zum Irrationalen ist nicht übersehbar.“ 15 Der Teufel will sich nicht durch akademische Exekutionen hinrichten lassen, das immer neu spürbare Übel im Leben des Einzelnen verlangt nach Verbalisierungs- und Verständnismöglichkeiten und gibt sich nicht mit schlichten moralischen Imperativen zur Überwindung anthropologischer Schwächen und Fehler zufrieden. 16 Sicher ist fraglich, ob dieses personal behandelt werden muss oder nicht‚ 17 ob man in Anlehnung an die Tradition den Teufel als gefallene und eigentlich gut geschaffene Kreatur Gottes bezeichnen sollte‚ 18 oder eher als eine, mit Karl Barth gesprochen, von der Schöpfung abgewandten Seite, dem zeitliche Humanist war, den manche aus ihm machen möchten, sondern er in einer breit von Geistern und Mächten durchdrungenen mittelalterlichen Weltsicht beheimatet war und seine Theologie im Kern nicht anders als ein fortwährender Kampf zwischen Gott und Teufel um die Macht über den Menschen zu verstehen ist (vgl. Oberman, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, 163-166). 15 Leimgruber, Kein Abschied vom Teufel, 15; ebs. vgl. Di Nola, Der Teufel, 9. 16 Einen anderen Grund, m. E. intellektuell nur mäßig anregend, findet Gerard Messadie für die immer noch in der Kirche postulierte Existenz des Satans. Nach Messadie ist der Satan Kontrollinstanz der sexuellen Lust des Menschen. Nachdem fast alle Bereiche durch Wissenschaft und Aufklärung dem Eingriff der Kirche entzogen seien, versuche sie durch Verknüpfung von Sex und Teufel, Geschlechtlichkeit negativ und dem Menschen fremd zu konnotieren und sich damit als Kämpferin und Helferin gegen teuflischen Triebe dem Menschen anzuempfehlen, um sich eine letzte Bastion des Einflusses auf das menschliche Leben zu sichern (vgl. Messadie, Teufel, Satan, Luzifer, 388-389). 17 Diskurse zur Personalität des Bösen sind weitreichend und führten in der Vergangenheit nicht selten zur Verteilung von Ketzerhüten. V.a. von katholischer Seite wurde der Personbegriff vermehrt im 20. Jh. neu zu interpretieren gesucht. Joseph Ratzinger macht den Vorschlag, den Begriff des Personalen für den Teufel in Uneigentlichkeit anzuwenden. Diese Uneigentlichkeit findet unter Aufnahme der Person-Terminologie Niederschlag im neuen Begriff der Un-Person (vgl. Ratzinger, Der Teufel, 109-116). Mit der Formel Un-Person wird zugestanden, dass der Personbegriff, nicht eine Überhöhung, sondern vielmehr eine sinnvolle Erklärung für das Phänomen des Bösen im Sinne von Begrenzung gegenüber Gott darstellt (vgl. Lehmann, Der Teufel - ein personales Wesen, 72-98). 18 Maßgebliches Dokument zur Lehre vom Teufel, wenngleich nicht als Lehrdokument zur Satanologie gedacht, stellt ein kurzer Abschnitt aus den Entscheiden des IV. Laterankonzils (1215) dar (vgl. DH §. 800). <?page no="22"?> 2. Hinführung 23 sogenannten „Nichtigen“. 19 Ob man die Personalität bejaht oder verneint, die die Diskussion gelehrter Theologie bis heute bewegt - die weltanschaulich plurale Gesellschaft und ihre jeweiligen universitären Reflexionsinstanzen lassen sich nicht davon abhalten, sondern formulieren je und je auf ihre Weise, was sie vom Teufel und dem Bösen halten: 20 „‚Unautorisierte‘ Biographien gibt es viele über ihn [sc. den Teufel]: Theologen und Philosophen versuchten ihn zu enträtseln, Soziologen und Psychologen ihn zu erklären. Er wurde ausgetrieben, gebannt und wegrationalisiert - und aus den dunklen Tiefen menschlicher Existenz stets aufs Neue wieder geboren.“ 21 Es wäre müßig, alle Dimensionen und Spuren satanologischer Vorstellungen unserer Zeit aufzuführen, dies trüge für vorliegende Arbeit wenig aus und wurde schon vielfach unternommen. 22 So genügt ein kurzer Blick auf die Kinolandschaft vergangener Jahrzehnte - ein Abklingen der Faszination am Bösen und ihrer personalen und figürlichen Darstellung (Monster, Dämonen, Fabelwesen) ist nicht im Geringsten zu erkennen. 23 Als besonderes Genre, das sich diesem 19 Insbesondere „das Nichtige“, welches Barth im dritten Teil der Kirchlichen Dogmatik verhandelt (vgl. KD III/ 3, §. 50), hat seit den 1950er Jahren bis heute breite Rezeption und Folgearbeit erfahren. Mallinkrodt-Neidhardt merkt an: „Gleichzeitig [sc. zur Entmythologisierung und Säkularisierung] hat Karl Barths Wort vom ‚Nichtigen‘, mit der der katholischste unter den evangelischen Dogmatikern den Teufel bezeichnet, in protestantisches Denken Einzug gehalten“ (Mallinkrodt-Neidhardt, Satanische Spiele, 27). Barths Ansatz war insofern anregend für viele ihm nachfolgende Theologen, da er ermöglicht die Erfahrung des Bösen ernst zu nehmen und dessen Macht anzuerkennen, ohne zugleich die Gottheit Gottes teilen oder eingrenzen zu müssen und zugleich ohne Gott selbst zum Schöpfer und Urheber des Bösen erklärt zu haben (vgl. Schwarz, Im Fangnetz des Bösen, 138-144). 20 Leimgruber, die die Rede vom Teufel unter katholischen Christen untersuchte, schreibt: „Keine einzige Person, der ich von dem Thema erzählte, wusste nichts dazu zu sagen. […] Bereits daran ist erkennbar, welche Faszination die Rede vom Teufel nach wie vor ausübt - und wie vielstimmig der Chor der Assoziationen ist.“ (Leimgruber, Kein Abschied vom Teufel, 10). 21 Mallinkrodt-Neidhardt, Satanische Spiele, 19. 22 Leimgruber stellt ihrer Dissertation ein weitverzweigtes Panorama zum Teufel in Wissenschaft, Kultur und Kirche voran (vgl. Leimgruber, Kein Abschied vom Teufel, 13-32). Obgleich diese Zustandserhebung ein Jahrzehnt zurückliegt, trifft diese m. E. immer noch in weiten Teilen zu. Eine ähnliche Hinführung bietet Claret, der mehr unter systematisch-theologischem Gesichtspunkt Kultur und gegenwärtige Geistesgeschichte zu überblicken sucht (vgl. Claret, Geheimnis des Bösen, 21-59). Ein Panorama im Sinne einer Materialsammlung ohne tiefere Systematik stellt das Buch von Mallinkrodt-Neidhardt dar (Mallinkrodt-Neidhardt, Satanische Spiele [2002]). 23 Studien zum Exorzismus im Film haben Monika Scala und Sven Großhans vorgelegt, allerdings beziehen sich beide Untersuchungen hauptsächlich auf den Klassiker, „Der Exorzist“ [1973], und populärere Werke der 2000er Jahre (Scala, Der Exorzismus in der Katholischen Kirche [2012]; Großhans, Das Schauspiel der Besessenheit [2010]). Eine <?page no="23"?> 24 A. Ausgangslage und Vorgehen angliedert, darf das Thema Exorzismus gelten. 24 Dieses Thema gewann medial v. a. in Deutschland Präsenz, flankierend zu Haags Programmschrift, durch den Fall der in Folge exorzistischer Praktiken 1976 gestorbenen Studentin Anneliese Michel im sogenannten „Fall Klingenberg“‚ 25 welcher zu regen Diskussionen innerhalb und außerhalb der Kirche führte. 26 Der Teufel ist daneben nicht nur Thema in unzähligen Filmen, sondern ebenso in musikalischen Werken der Gegenwart - zu breit wäre auch hier der Befund entsprechender Textstellen, Studie zum Teufel im Film liegt von Verena Bach vor (Bach, Im Angesicht des Teufels [2006]). Weitere Anmerkungen mit zusätzlichen fremdsprachigen Titeln zum Thema bietet Reinhold Zwick (Zwick, Die siebente Kunst und der Teufel, 135-151). 24 Filme, die sich dem Exorzismus zuwenden sind zahlreich, insbesondere in den 2000er Jahren erschienen die vielbeachteten Filme „Der Exorzismus von Emily Rose“ [2005], „Requiem“ [2006], daneben aber auch Werke wie „Der Exorzismus der Anneliese M. — Der Film“ [2011] und „Exorzist: Der Anfang“ [2004] sowie „Dominion: Exorzist — Der Anfang des Bösen“ [2005] als Fortsetzung des genrebegründenden Klassikers „Der Exorzist“ [1973]. 25 Der Fall Klingenberg wird in Literatur zum Exorzismus bis heute als Paradebeispiel für dessen Gefährlichkeit und die Notwendigkeit, diesen grundsätzlich zu hinterfragen, angeführt. So wies der Rechtsmediziner Ernst Schulz auf die charakteristischen Krankheitsmerkmale von Epileptikern und Psychotikern hin, die durch hinreichende ärztliche Kenntnisse hätten erkannt werden müssen (vgl. Schulz, „Besessenheit“ und Exorzismus im Jahre 1976, 313-321). Versuche, sich dem Phänomen bzw. der Konstruktion der Besessenheit wissenschaftlich unter Offenheit für geistige und übernatürliche Wirklichkeiten zu nähern, wie es am Freiburger Lehrstuhl für Parapsychologie seit den 1970er Jahren unternommen wurde, blieben die Seltenheit (vgl. Mischo, Zwanzig Jahre nach Klingenberg, 79-122; ebs. vgl. Mischo, „Dämonische Besessenheit“, 99-146). 26 Der für die Öffentlichkeit erschreckende Ausgang des Klingenberger Exorzismus führte zu einer selbstkritischen Überprüfung der eigenen Praxis im Umgang mit als dämonisch charakterisierten Phänomenen durch zuständige kirchenleitende Organe der katholischen Kirche. Die Aufarbeitung und Neuordnung führte, auch in Folge weiterer internationaler verstörender Beispiele, ebenso beeinflusst durch liturgische Freiheiten, die im II. Vaticanum eröffnet worden waren, zu einer Überarbeitung des bis dahin gängigen Exorzismusformulares aus dem Rituale Romanum von 1614. Wie genau in deutschen Bistümern allerdings der Exorzismus geübt wurde, lässt sich nicht in Gänze rekonstruieren, da das Rituale Romanum mehrfach Revisionen erlebte und in deutschen Bistümern neben dem Rituale eigene Ritualbücher bestanden (vgl. Reifenberg, Art. Rituale, Sp. 1207- 1209). Das erneuerte Exorzismusformular wurde 1999 nach dem II. Vaticanum als letzter Teil des überarbeiteten Rituale Romanum herausgegeben und zeichnet sich v. a. durch Vorsicht im Umgang mit dem Ritual selbst aus. So ist eine unbedingte Prüfung durch Ärzte geboten, die dem Ritual selbst beiwohnen sollen, die Erteilung eines Exorzismus liegt ausschließlich in der Hand des Diözesanbischofs und wird von ihm an geeignete Priester delegiert, v. a. aber ist obligatorisch nur eine deprekative Bittform vorgesehen, die imprekative sollte mit Vorsicht und nur fakultativ verwendet werden. Eine deutsche Einführung und Übersetzung liegt von Klemens Richter und Manfred Probst vor (Probst/ Richter, Exorzismus oder Liturgie zur Befreiung vom Bösen [2002]). <?page no="24"?> 2. Hinführung 25 man erinnere sich nur kurz an „Sympathy for the Devil“ [1968] von den Rolling Stones nebst unzähliger Cover-Versionen. 27 Wie lebendig der Teufel und seine Dämonen sind, zeigen auch Beobachtungen, die sich in der Sprache von Gegenwartsdiskursen machen lassen. Eine weitgehende Unbefangenheit ist darin feststellbar, Teufel/ Satan/ Dämonisches/ Diabolisches als Chiffre für allerlei Übel in der Gegenwart zu verwenden‚ 28 seien es politische Akteure („Achse des Bösen“), menschliche Despoten und Tyrannen, Krankheiten, Rauschmittel, Gesellschaftssysteme - 29 der Satan scheint eine salonfähige Weise der Beschreibung von Nöten und Schrecken zu sein. Spätestens mit den paradigmenbeschreibenden Worten „Auschwitz“ und „11. September (2001)/ nine-eleven“ sind Worte notwendig geworden, bzw. scheinen Mechanismen unbewusst zu greifen, die das Unerklärbare und Unsagbare im Rückgriff auf Transzendenzakteure beschreibbar zu machen suchen. „In Zeiten terroristischer Bedrohung wird propagiert, die Welt befinde sich im Kampf zwischen Gut und Böse; weltweit wird zu einer ‚Vernichtung des Bösen‘ aufgerufen. In der desillusionierten Postmoderne ist es leicht, neue Teufel und somit auch neue Feinde zu kreieren oder die Zukunftsängste großer Bevölkerungsteile apokalyptisch auszuweiden. Die nicht nur wörtliche Verteufelung Andersdenkender hat Hochkonjunktur - der ‚gerechte‘ oder gar ‚heilige‘ Krieg gegen die Dämonisierten ebenso.“ 30 Diese dämonisierende Art der Beschreibung bewahrheitet sich einmal mehr, wenn man die nahezu weltuntergangsartig vorgetragenen Positionsbeschrei- 27 Eine Studie zum Vorkommen des Teufels in Rockmusik und v. a. der sie umrahmenden Rock-Kultur liegt von Manuel Trummer vor (Trummer, Sympathy for the Devil? [2011]). Trummer bietet neben profunder Kenntnis popkultureller Musiktexte ein Literaturverzeichnis, das weit darüber hinaus viele Titel zum Thema Teufel in der Gegenwartskultur bereitstellt (vgl. Trummer, Sympathy for the Devil? , 381-399). Natürlich sind Personifikationen des Bösen auch in gegenwärtiger Literatur zu beobachten, man betrachte unter diesem Aspekt nur einmal die millionenfach verkauften Harry-Potter-Bände mit ihren lichten wie dunklen Hauptakteuren (vgl. Ritter, „Das Böse ist immer und überall …“, 225- 228; ebs. vgl. Grübel, Die Hierarchie der Teufel, 16-20). 28 Dass die Verwendbarkeit eigentlich religiös besetzter Terminologien in diesem Maße möglich wurde, liegt nicht zuletzt in der durch die Theologie selbst erzeugten „Säkularisierung“ dieser Begriffe begründet. Hans Schwarz hat in einem Überblick zur theologischen Landschaft, insbesondere der systematisch-theologischen, aufzeigen können, wie flankierend zu den eher publizistischen Äußerungen Herbert Haags innerhalb der theologischen Wissenschaft eine Neubesetzung herkömmlicher satanologischer Termini erfolgte. Insbesondere die strukturell denkenden befreiungs- und prozesstheologischen Ansätze versuchten, inhaltliche Aspekte des Satans in als solchen beschriebenen dämonischen und diabolischen Systemen wiederzukennen (vgl. Schwarz, Im Fangnetz des Bösen, 144-165). 29 Vgl. Messadie, Teufel, Satan, Luzifer, 11. 30 Leimgruber, Kein Abschied vom Teufel, 19. <?page no="25"?> 26 A. Ausgangslage und Vorgehen bungen im Rahmen der Flüchtlingsbewegungen der nähesten Vergangenheit beobachtet. Für Manuel Trummer geht die Verwendung des Begriffes Teufel und seiner Derivate noch deutlich weiter, wenn er dieses vielmehr als neues sprachliches Alltagsphänomen versteht: „Satan, der in unserer zunehmend säkularen Welt leicht als Anachronismus erscheinen mag, ist überraschend vital. Er begegnet uns keineswegs nur als Sujet obskurer, potentiell deliquenter Randmilieus, okkulter Phantasten oder rebellischer Jugendszenen. Der Teufel reüssiert als kollektives kulturelles Alltagsphänomen breiter Bevölkerungsteile.“ 31 Nachdem diese kurzen Annotationen den Teufel als in der akademischen Theologie verbrämt, für Popkultur zugleich höchst präsent erweisen, muss die kirchliche und pastorale Gegenwart in den Blick kommen, die sich ebenso ambivalent darstellt und einen wichtigen Hintergrund meiner Studie bildet. Betrachtet man gegenwärtige Katechismen lutherischer und katholischer Prägung in Deutschland, könnte man den Eindruck gewinnen, der Satan hätte sich gänzlich aus Christentum und kirchlichem Leben verabschiedet, ja wäre dort nie am Platze gewesen. 32 Der Evangelische Erwachsenenkatechismus der VELKD weiß bei reichlich 1000 Seiten auf einer halben Seite vom Teufel zu berichten und ist deutlich bemüht, auch die letzten Reste des Unbequemen daran zu nehmen: „Wenn Christen sich schrecklichen und dunklen Ereignissen gegenübersehen, die mit vernünftigen Gründen nicht erklärt werden können, reden sie gelegentlich auch vom ‚Teufel‘, weil sie ahnen: Es geht um mehr als um die bloße Summe aller bösen Taten und üblen Erfahrungen. […] Das Nicänische Glaubensbekenntnis nennt deshalb Gott den Schöpfer ‚alles Sichtbaren und Unsichtbaren‘ und spricht - ebenso wie das ältere Apostolische Credo - nirgends vom Teufel! Damit drückt es aus: Auch die unsichtbare böse Macht ist kein Gegengott, aber sie kann sich gegen ihn wenden.“ 33 31 Trummer, Sympathy for the Devil? , 13. Mit dem Aufstieg des Satans in der Gegenwartskultur geht nach Trummer ein Wandel in der Definitionshoheit des Begriffes einher: „Mit der Bindung der modernen Popkultur an massenmediale Distribution, […] hat die Definitionsmacht der Kirche enorme Konkurrenz erhalten. Maßgeblich für das populäre Teufelsbild der Gegenwart scheint nicht mehr allein der Katechismus, sondern in mindestens ebenso hohem Maße die Pop-Industrie in all ihren Ausprägungen“ (Trummer, Sympathy for the Devil? , 16). 32 Ich beziehe mich hier nicht auf Bekenntnistexte selbst. An den Bekenntnisschriften des Konkordienbuches kommen lutherische Kirchen nicht vorbei und der katholische Weltkatechismus (Katechismus der Katholischen Kirche [1993]) bleibt offizielle Norm. 33 Brummer/ Kießig, Evangelischer Erwachsenenkatechismus, 228-229. Diese wenigen und informationsmageren Zeilen sollten in der Kleinausgabe des Erwachsenenkatechismus auf das Wesentliche fokussiert werden. Stattdessen haben die Autoren einen folgen- <?page no="26"?> 2. Hinführung 27 Im katholischen Parallelwerk finden sich durchaus einige Fundstellen mehr, auch der Duktus ist weit weniger entschuldigend, vielmehr wird kurz und knapp das biblische Weltbild und die kirchliche Lehre dargeboten, womit sich ein Christ aber nicht weiter beschäftigen solle. 34 Neben diesen Minderungen und Verdrängungen des traditionellen Verständnisses des Teufels zeigt sich eine zweite gegenläufige Bewegung innerhalb der Kirchen und christlichen Bewegungen. Gegenwärtig lassen sich erstarkende und nach öffentlicher Geltung strebende christliche Milieus beobachten, in denen der Satan zu einem der Hauptlehrinhalte zu avancieren scheint, v. a. in pfingstkirchlichen und charismatischen Richtungen nimmt er großen Raum ein. „Innerhalb pfingstlich-charismatischer Bewegungen ist nicht nur eine neue Wahrnehmung des Geistwirkens lebendig, sondern auch ein im Vergleich mit der kirchlichen Normalfrömmigkeit intensives Rechnen mit den Mächten des Bösen. Die Kehrseite enthusiastischer Ergriffenheit ist dämonische Besessenheit. Beides steht für charismatisch geprägte Christinnen und Christen in engster Beziehung zueinander: Das Heraustreten des göttlichen Geistwirkens aus seiner Verborgenheit und das Sichtbarwerden der Mächte der Finsternis.“ 35 schweren dogmatischen Fehler begangen, indem sie einen Halbsatz einfügten, mit dem Gott zum Schöpfer des Bösen wird: „Das Nizänische Glaubensbekenntnis nennt deshalb Gott den Schöpfer ‚alles Sichtbaren und Unsichtbaren‘ und drückt damit aus: Auch die unsichtbare böse Macht ist kein Gegengott, sie ist von Gott geschaffen [! ; HH], aber sie kann sich gegen ihn wenden.“ (Rothgangel, Kleiner Evangelischer Erwachsenenkatechismus, 131). 34 Vgl. Deutsche Bischofskonferenz, Katholischer Erwachsenenkatechismus, 111-112. Einen Katechismusvergleich bietet Ebner (vgl. Ebner, „Das Böse“ und „der Böse“ in den neuen evangelischen und katholischen Katechismen, 203-216). Katholische Katechismen im 20. Jh. vergleicht Kaliner und merkt an: „Die […] Katechismen überblickend wird man sagen können: Die Lehre vom Teufel ist für die Katechese natürlich ein Rahmen- und Randthema, aber ein wichtiges, um die Heilstaten Gottes - Schöpfung und Erlösung - verständlich zu machen.“ (Kaliner, Der Teufel im Katechismus, 199). 35 Hempelmann, Die Rolle des Satans im pentekostalen Christentum, 260. Reinhard Hempelmann führt in diesem Zusammenhang aus, dass im pentekostalen Christentum, wenn auch nicht in historischer Abhängigkeit, doch wohl geistige Verbindungen zwischen den alten Formeln und Gedanken des Exorzismus im Rituale Romanum und gegenwärtigen Praktiken pfingstkirchlichen Umgangs mit dem Bösen zu erkennen sind (vgl. Hempelmann, Die Rolle des Satans im pentekostalen Christentum, 261-263). In diesen Gruppen wird allerdings eher von „Befreiungsdienst“, „Geistlicher Kriegsführung“ oder auch von „Heilungsdienst“ gesprochen, da Krankheiten dem biblischen Weltbild folgend häufig mit dämonischer Belastung erklärt werden (vgl. Hempelmann, Die Rolle des Satans im pentekostalen Christentum, 262-268). <?page no="27"?> 28 A. Ausgangslage und Vorgehen Ebenso lässt sich in erzkonservativen Gruppen innerhalb historischer Großkirchen eine Konjunktur des Teufelsglaubens erkennen. Pater Martin Ramm von der altrituellen Petrusbruderschaft etwa schreibt: 36 „In einer Zeit, in der sogar manche Christen den Teufel leugnen und andererseits der Satanismus in erschreckendem Ausmaß ständig neue Blüten treibt, ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass sowohl die Existenz des Satans als auch einer ewigen Hölle sicheres katholisches Glaubensgut ist […]. Im Leben Jesu spielt der Kampf gegen die Mächte der Finsternis von Anfang an eine wichtige Rolle […]. Diesen Kampf wollte er fortsetzen in seiner Kirche, indem er zwölf Apostel erwählte und ihnen die Vollmacht gab, wie er […] Dämonen auszutreiben“ 37 . All dies erweist den Teufel und seine Dämonen als hochgradig diffiziles und fluides Phänomen, das sich in Wissenschaft, Kultur und Religion in ganz gegensätzlichen Weisen darstellt und immer neu entfaltet. Eine Beschäftigung mit diesem Zeitgenossen kann folglich niemals nicht lohnenswert sein. Um so erfolgsverheißender erscheint vor diesem Panorama die Forschungsaufgabe, Spuren des Satans im das Weltbild der Gläubigen prägenden Gesangbuch zu untersuchen. 36 Vgl. Gertler, Ist der Teufel noch zu retten? , 85. Es ist auffällig, dass Bewegungen am Rande der katholischen Kirche gegenwärtig breiten Zulauf haben, die für ein eher antimodernistisches Weltbild stehen. Die 1988 gegründete Priesterbruderschaft St. Petrus („Petrusbruderschaft“), ist eine zur Einheit mit dem Papst zurückgekehrte Abspaltung der Priesterbruderschaft St. Pius X. („Piusbruderschaft“), beide können auf einen kontinuierlichen Zulauf an Neuzugängen in ihren Priesterseminaren in den letzten 30 Jahren zurückblicken (http: / / www.fssp.org/ de/ chiffres.htm [Zugriff: 28.02.2018]; http: / / fsspx. org/ de/ content/ 7276 [Zugriff: 28.02.2018]). Beiden Gruppen ist eine ausgeprägte Lehre vom Teufel zu eigen, entsprechend legen beide Gruppen viel Wert auf Beibehaltung und Vollzug niederer Weihen, zu denen auch jene zum Exorzisten gehört. 37 Ramm, Heilige Berufung, 37-38. Gewaltig ist der Graben zwischen diesen Worten eines konservativen (vorkonziliaren) Katholiken und Gedanken des katholischen Dogmatikers Gisbert Greshake: „So gesehen ist der Teufel der Sache nach identisch mit der im Vorangehenden vorgestellten Konzeption der ‚Erbsünde‘ als jener vom Menschen geschaffene Unheilszusammenhang sich verfehlender und gegenseitig zu Verfehlung anstiftender Freiheiten.“ (Greshake, Die Freiheit und das Böse, Gott und der Teufel, 35). <?page no="28"?> 3. Literatur- und Forschungsstand 29 3. Literatur- und Forschungsstand Ein Literatur- und Forschungsstand zum hier verhandelten Thema, einer Satanologie in Liedern, ist, kurz gesagt, nicht vorhanden. Es sollte freilich das Wesen einer Dissertationsschrift sein, ein bislang wenig untersuchtes Feld zu erkunden und der Wissenschaft damit neue Bereiche zu erschließen - bei meiner Recherche erschien es mir allerdings, als würde ich Fragen aufwerfen, die überhaupt noch nicht oder nicht in dieser Konkretion gestellt worden sind. Dies mag einerseits der Nischenexistenz theologischer Hymnologie innerhalb der akademischen Theologie geschuldet sein, hängt sicher aber auch mit der nicht abzuweisenden Konnotation, die die Nennung dieses Themas mit sich bringt, zusammen. Zwar ist der Teufel und das Böse, wie beschrieben, en Vogue in populärwissenschaftlichen Publikationen, kulturellen Gegenwartszeugnissen, auch mancher geisteswissenschaftlicher Qualifikationsschrift, dennoch ist die Scheu vor einer erstmal beobachtenden, nicht-wertenden Beschäftigung mit dem Phänomen des personalen Bösen spürbar, wenngleich selten eigens ausgedrückt. Bei Recherchen zu meiner Arbeit musste von Anfang an gefragt werden, welche Literatur aus der unüberblickbaren Fülle zu rezipieren sinnvoll und angemessen ist, welche Fachrichtungen berücksichtigt werden sollten, innerhalb der Theologie, aber auch der Geisteswissenschaften insgesamt. Gefragt werden musste zusätzlich, ob es sinnvoll sein könnte, populärwissenschaftliche Werke ergänzend heranzuziehen. Ich habe mich dem Phänomen konzentrisch anzunäheren versucht und traf dabei zuerst auf eine Literaturgattung, die man am ehesten als „Universalgeschichte des Bösen“ 1 bezeichnen könnte. 2 Darunter verstehe ich Werke, die eine Art kulturgeschichtliches Propyläen darstellen und das radikale und/ oder personale Böse in verschiedensten Epochen, Lebenssowie Kulturbereichen und geographischen Regionen beleuchten. Aus der Vielzahl solcher Werke sollen 1 Diese Bezeichnung übernehme ich vom Untertitel des Buches von Gerard Messadie (Messadie, Teufel, Satan, Luzifer. Universalgeschichte des Bösen [1999]). 2 Paul Metzger verweist unter dem Begriff „Gesamtdarstellungen“ auf Leimgruber (Leimgruber, Der Teufel [2010]), Di Nola (Di Nola, Der Teufel [2004]), Russell (Russell, Biographie des Teufels [2000]) und mit Roskoff (Roskoff, Geschichte des Teufels [1869]) auf die Grundlegung all dieser Werke (vgl. Metzger, Der Teufel, 218). Die Liste ließe sich ohne Probleme nach vorne wie nach hinten an Erscheinungsdaten erweitern, z.B. um Flasch (Flasch, Der Teufel und seine Engel [2016]) und Safranski (Safranksi, Das Böse [1997]). Diesen Werken gemein ist die fast assoziative Auswahl der beschriebenen Topoi, die sich um das Thema Teufel gruppieren. <?page no="29"?> 30 A. Ausgangslage und Vorgehen hier nur wenige exemplarisch genannt sein, da sie zwar zur Weiterarbeit an meiner Fragestellung motivieren, aber nur wenig mit weiterführenden Erkenntnissen zu bereichern vermögen. 3 Diese Literaturgattung erlebt unter der Sammelleidenschaft des 19. Jahrhunderts in dem zweibändigen Klassiker von Gustav Roskoff einen wichtigen und immer noch mit Gewinn lesbaren Meilenstein. 4 Nachdem Roskoff im ersten Band die Entwicklungen des Satans ausgehend von dualistischen Weltdeutungssystemen in Nordafrika, der arabischen Halbinsel, Kleinasien, dem vorderen Orient bis hin nach Indien eingehend dargelegt hat, daran anschließend alt- und neutestamentliche Vorstellungen des Teufels untersucht, wendet er sich der alten Kirche und dem rabbinischen Judentum zu, um dann die Entwicklungen der Satansvorstellung durch das Mittelalter hindurch bis auf die Reformationszeit darzustellen. Im Rahmen der Reformationsgeschichte im zweiten Band weist er unter der Überschrift „Der Teufel im Gesangbuch“ auf einen entscheidenden Punkt hin: 5 „Der protestantische Christ gedachte des Teufels nicht nur in seinen Gebeten täglich und in jeder Lebenslage, die Dichter geistlicher Lieder des 16. und 17. Jahrhunderts ließen ihn den Namen des Teufels auch fleißig singen. Luther, der bekanntlich den Teufel gern im Munde führte, ging auch in dieser Beziehung voran.“ 6 Roskoff listet dann schlicht Strophen aus Luthers Liederwerk auf, dem folgen Stellen bei Paul Gerhardt und Johann Rist, nach sechs Seiten schließt diese Auflistung ohne ein einziges erläuterndes oder interpretierendes Wort. Auf der Linie dieser mal mehr mal weniger interpretierenden Darstellung der Entwicklung der Teufelsvorstellung mit dem Hinweis, dass Luther seine Teufelsanschauung 3 Habermehl bemerkt zur Arbeit von Russell, was m. E. für alle vergleichbaren Werke gilt, dass diese zwar viel Material ansammle, aber in der Folge nicht mehr in der Lage ist, differenziert damit zu hantieren, sondern sich in Verallgemeinerungen ergehen muss (vgl. Habermehl, Rezension - Jeffrey Burton Russell, 195-202). Die Sammelleidenschaft, die sich um das Phänomen des Bösen ergibt, ist historisch gesehen keine neue Erscheinung. Spätestens im 16. Jh. gab es eine ausgeprägte Teufelsliteratur, die ebensowenig zu einer näher reflektierenden Betrachtungsweise ob der Stofffülle in der Lage war, wie die gegenwärtigen Universalgeschichten (vgl. Brückner, Forschungsprobleme der Satanologie und Teufelserzählungen, 394-416). 4 Roskoff, Geschichte des Teufels [1869]. Roskoff möchte als Wiener Theologieprofessor eine dezidiert christliche Teufelsgeschichte schreiben, bekennt aber schon im Vorwort, dass es sich bei der Fülle des Materials allenfalls um einen Versuch handeln kann (vgl. Roskoff, Geschichte des Teufels. Bd. 1, VIII) - bei annähernd 1000 Seiten! 5 Roskoff handelt auf den ersten Blick sehr weitschweifig von Luthers Teufelsvorstellungen, bei genauem Hinsehen zeigt sich aber, dass das Kapitel zu Luther zu großen Teilen aus dem kapitelweisen Abschreiten des „Theatrum Diabolorum“ besteht, einer Schrift, die viele Autoren der Reformationszeit und ihre Teufelsanschauungen aufnimmt, nicht aber Luther selbst (vgl. Roskoff, Geschichte des Teufels. Bd. 2, 365-436). 6 Roskoff, Geschichte des Teufels. Bd. 2, 473. <?page no="30"?> 3. Literatur- und Forschungsstand 31 hier besonders prominent zum Ausdruck brachte, liegen auch die Arbeiten von Di Nola 7 und Russell 8 oder neuerdings Metzger 9 . 10 Neuere Arbeiten geben zusätzlich noch Beobachtungen von Satansbildern in Kunst und Kultur breiteren Raum. 11 All diesen Werken gemein ist die implizite, gelegentlich explizite Überzeugung, dass die Darlegung historischer Genese eine Art Verständnis und ferner eine Entmystifizierung leisten könne, da damit der Teufelsglaube als menschliches Konstrukt entlarvt werde. 12 Neuere philosophische Erörterungen zum Bösen scheinen den Sinn des Bösen nicht mehr ergründen zu wollen‚ 13 bzw. 7 Die Bemerkung zu Luther und der Reformation fallen schmal aus (vgl. Di Nola, Der Teufel, 245-250); überhaupt überzeugt dieses Buch - ohne Übertreibung - nur in einem Punkt, nämlich der konsequenten Schmälerung aller christlicher Errungenschaften sowie der derben Beschimpfung jeglichen kirchlichen Akteurs aus radikalhumanistischer/ kommunistischer Gesinnung. 8 Die Ausführungen Russells zu Luthers Teufelsverständnis sind in ihrer Kürze durchaus lesenswert und verweisen eigens auf dessen Liedgut (vgl. Russell, Biographie des Teufels, 164-170). 9 Metzgers Arbeit sticht bei aller Popularwissenschaftlichkeit (im guten Sinne) heraus, da sie den Leser tief mit in Quellenlektüre hineinnimmt und zusätzlich am Ende noch einen eigenen Textanhang mit antiken Belegen bietet (vgl. Metzger, Der Teufel, 201-212). Die Ausführungen zu Luther sind kurz, aber von beachtenswerter Güte, da sie Luther nicht als Exponat eines theologischen Gruselkabinettes darstellen, sondern den Teufel als zentrale Figur im Glaubenskampf neben Christus theologisch einordnen (vgl. Metzger, Der Teufel, 96-98). 10 Zu dieser Auswahl ließe sich auch das Buch von Mallinkrodt-Neidhardt zählen (Mallinkrodt-Neidhardt, Satanische Spiele [2002]), wenngleich dieses keinen Selbstanspruch im Sinne einer Universalgeschichte erhebt. Dennoch findet sich auch hier ein Hinweis auf Luther und seine im Kirchenlied niedergelegte Teufelsanschauung (vgl. Mallinkrodt-Neidhardt, Satanische Spiele, 25-27). 11 Eine umfassende Darstellung/ Universalgeschichte, die nicht mit dem Stempel „popularwissenschaftlich“ verabschiedet zu werden verdient hat, findet sich in der anregenden Arbeit vom Mittelalterforscher Kurt Flasch. Goethe und andere große Literaten kommen bei ihm zu Wort - betrachtet man das Namensregister eingehender, fallen einige Namen der Erwähnungsfülle wegen aus dem Rahmen: Aristoteles, Augustinus, Luther, Origenes und Thomas von Aquin (vgl. Flasch, Der Teufel und seine Engel, 453-459). Luther ist für Flasch mehr Satanologe als Theologe, was sich auch an dessen Liedern zeige (vgl. Flasch, Der Teufel und seine Engel, 98-99). 12 Besonders heraus sticht das Vorwort Di Nolas: „Der Teufel ist damit nicht nur eine Ausgeburt der Fantasie, […] sondern er wird zum Vehikel ideologischer Gewalt, wie uns die Geschichte gelehrt hat. Die Tatsache […] legt dem bekenntnislosen, kritischen Denker die ethische Pflicht der Entmystifizierung auf. Es geht darum, die subtile Zersetzung des öffentlichen Bewußtseins aufzuzeigen und zur bewußten Wahrnehmung von Geschichte und Realität aufzufordern, die geschickt hinter dem Mythos verborgen werden. Dieser ethischen Aufgabe fühlt sich das vorliegende Buch verpflichtet.“ (Di Nola, Der Teufel, 15). Mit Karl Barths Römerbrief kann man nur fragen, warum die selbsternannten Kritiker nicht kritischer sind. 13 Annemarie Pieper merkt an, dass v. a. in den 2000er Jahren diverse philosophische Bücher zum Bösen erschienen sind, die allesamt den Leser in einer gewissen Ahnungslosig- <?page no="31"?> 32 A. Ausgangslage und Vorgehen beschreiben gerade in diesem Sich-Entziehen von Sinnhaftigkeit dessen Proprium. 14 Safranski etwa leitet seinen Beitrag ein mit der offen eingestandenen Unmöglichkeit der Konstruktion einer Logik des Bösen: „Das Böse ist kein Begriff, sondern ein Name für das Bedrohliche […]. Es begegnet ihm [sc. dem Menschen] in der Natur dort, wo sie sich dem Sinnverlangen verschließt, im Chaos, in der Kontingenz, in der Entropie, im Fressen und Gefressenwerden. In der Leere draußen im Weltraum ebenso wie im eigenen Selbst, im schwarzen Loch der Existenz. […] Das Böse gehört nicht zu den Themen, denen man mit einer These oder einer Problemlösung beikommen könnte.“ 15 Auf einer ähnlichen Linie versteht Neiman ihre Erörterungen zum Bösen, welches für sie die grundlegende Motivation allen Philosophierens der Neuzeit überhaupt darstellt, weshalb sie die Behandlung des Bösen zum Strukturprinzip ihrer alternativen Philosophiegeschichte erhebt. 16 Dennoch führt sie auf ca. 500 Seiten dazu aus, dass bei aller Unmöglichkeit des Verstehens der Versuch dennoch nötig sei, um überhaupt in der Welt existieren zu können: „Dostojewski betont [sc. bei den Brüdern Karamasow], daß das Problem des Bösen nicht bloß ein Rätsel unter anderen ist. Für unser Leben ist es so zentral, daß, wenn die Vernunft darüber strauchelt, nur noch der Glaube bleibt. Läßt sich unmöglich verstehen, warum Kinder gefoltert werden, ist alles andere, was wir verstehen, nicht viel wert. Doch schon allein der Versuch, das zu verstehen, setzt voraus, daß wir es zumindest als Teil der Welt hinnehmen, die es zu untersuchen gilt. Manch einem geht dieses Zugeständnis zu weit. Und so wird denn aus der Ablehnung der Theodizee die Ablehnung des Begreifens selbst.“ 17 keit zurücklassen, da sie die Frage des Unde Malum nicht stellen oder stellen wollen (vgl. Pieper, Das Böse, 140-144; ebs. vgl. Krause, Neiman, Susan, 383-385). 14 Man muss Russell zu Gute halten, dass er wenigstens versucht, historische Genese nicht mit einer Erklärung umfassender Art gleichzusetzen: „Die historische Theorie bildet ein gewisses Fundament für begrenztes menschliches Wissen, aber wie die Naturwissenschaft läßt auch sie keinen Platz für Aussagen über die metaphysische Wirklichkeit.“ (Russell, Biographie des Teufels, 14). Eine Seite weiter scheint Russell allerdings sein Urteil dennoch treffen zu können: „Die jüdisch-christlich-muslimischen Traditionen haben die Vorstellung des Teufels im Grunde geschaffen […]. Die Spannung zwischen Determinismus und Freiheit war schon immer eine Quelle großer intellektueller und spiritueller Kreativität und Kraft. Die Spannung, die aus der Gegenüberstellung von Gottes Macht und Existenz des Bösen entsteht, ist letztlich der Ursprung des Teufels.“ (Russell, Biographie des Teufels, 14-15). 15 Safranski, Das Böse, 14. 16 Vgl. Neiman, Das Böse denken, 32-33.39. 17 Neiman, Das Böse denken, 472. <?page no="32"?> 3. Literatur- und Forschungsstand 33 Nennenswerte Einblicke in die hymnologische Darstellung des Satans können alle diese gelehrten und ausufernden „Materialschlachten“ nicht liefern. Fragt man dezidiert hymnologische Literatur nach dem Thema Teufel, dann fällt ebenfalls der Befund ausgesprochen dürftig aus, wenngleich wenige kurze Texte das Thema zumindest als dem Gesangbuch Zentrales benennen. Paul Kohler etwa weiß um die besondere Bedeutung, die der Teufel in Abend- und Morgengesängen einnimmt. Er listet eine ganze Anzahl bedeutsamer Stellen aus dem Reformierten Gesangbuch der Schweiz auf und ergänzt diese um einige weitere Belege. Eine weitere Interpretation über diese Auflistung hinaus erfolgt nicht, einzig ein markanter Satz Kohlers kann zumindest die Notwendigkeit meiner Untersuchungen bestätigen: „Dem Teufel wird also alles zugeschrieben, was unser Leben bedroht.“ 18 Dietrich Kuessner hat in seinem kurzen Beitrag aus persönlicher Sicht zu dem häufigen Erscheinen des Satans in Morgenliedern des EG Stellung genommen - ihm bleiben diese fremd und bildeten nicht den Glauben der Gegenwart ab, weshalb das Ziel des Gesangbuches, ein Hausbuch sein zu wollen, verfehlt worden sei. 19 Diese Lieder heute noch zu singen, setzt nach Kuessner ein Präfamen voraus: „Der Morgenanfang mit dem überhäufigen Rückblick auf die böse Nacht ließe sich mit einem literaturgeschichtlichen Präfamen ‚erklären‘ etwa dergestalt: ‚Also wir singen ein euch allen bekanntes Morgenlied. Aber das stammt aus dem 16./ 17. Jahrhundert, und damals zur Zeit von Luther und der frommen Orthodoxie hatte man noch ein anderes Verhältnis zur Nacht. Die war meist gräßlich und scheußlich. Stört euch bitte nicht daran. Im Lied gibt es auch noch anderes, ‚Schöneres‘.“ 20 18 Kohler, Teufel, Satan, Böser Feind in den Morgen- und Abendliedern des Reformierten Gesangbuches, 1. Eine solche nicht interpretierende Aufzählung von Belegstellen bietet auch die Dissertation von Leimgruber, die allerdings vor allem nach den konkreten Vorstellungen vom Teufel im deutschen Katholizismus fragt. „Im dem gesamten deutschen Sprachraum gemeinsamen ersten Teil des Gotteslobs [sc. Gotteslob, 1975] kommt der Begriff Teufel/ Satan genau 14 mal vor, davon achtmal in Gebeten, sechsmal in Liedern. Die Bitte, vor der List des Satans bzw. dem Teufel / Satan selbst bewahrt zu werden, findet sich viermal in Liedern, einmal im Gebet. Zudem kommt die Bitte vor der Bewahrung vor dem ‚bösen Feind‘ (im Sinne von Teufel): zweimal im Gebet und zweimal im Lied, insgesamt also viermal im allgemeinen Teil des Gotteslobs. […] Es fällt auf, dass der Satan/ Teufel/ böse Feind im Vergleich zum Stundenbuch in den Gebets- und Liedtexten relational öfter Verwendung findet.“ (Leimgruber, Kein Abschied vom Teufel, 80-81). Leimgruber stellt die These auf, dass dieser Befund Ausdruck von Rücksichtnahme der Amtskirche gegenüber dem vorkritischen Deutungsrahmen des Kirchenvolkes sei (vgl. Leimgruber, Kein Abschied vom Teufel, 81-82). 19 „Gott, was erwartet mich denn nun in den nächsten Stunden? Sowas Dramatisches und Gefährliches [sc. wie der Teufel]? Also: mir ist es zu dicke. […] Es tut mir leid, das entspricht nicht meiner Gemütslage. Dabei ist das neue Gesangbuch als Hausbuch gedacht“ (Kuessner, Der Satan schon am frühen Morgen, 67-68). 20 Kuessner, Der Satan schon am frühen Morgen, 68. <?page no="33"?> 34 A. Ausgangslage und Vorgehen Der Teufel als bedenkenswerte Gestalt der Poesie und des Glaubens ist für Kuessner undenkbar - mehr als diese Erwähnungen und undifferenzierten Kritiken bietet sein Beitrag zu den Morgenliedern nicht. 21 Erstaunlich wenig über den Satan erfährt man in einer Monographie, deren Titel andere Befunde erwarten lässt, schließlich benennt Guido Fuchs in seiner Dissertation über das Psalmlied Nikolaus Selneckers explizit den „Feind“, der bekanntlich ein Synonym für den Teufel darstellt. 22 Fuchs weist nur kurz auf eine wichtige Funktion des Satans in der menschlichen Anfechtung hin: „Und wenn nicht psychische oder körperliche Verfassung des Menschen bedroht sind, dann ist vielleicht die Seele in Gefahr, weil einem der Teufel gefährliche Gedanken ‚einblest‘, so daß man in Traurigkeit und Verzweiflung fällt, der Verheißung nicht glaubt und das ewige Leben verliert.“ 23 Im Folgenden geht Fuchs darauf kaum ein, sondern führt im Ganzen gesehen v. a. die Feinde der Glaubenskämpfe zwischen Gnesiolutheranern und Philippisten auf. 24 Der Teufel bleibt eine blasse Randgestalt dieser Studie. Im Laufe meiner Arbeit wende ich mich spezielleren Bereichen, einzelnen Autoren und thematisch bezogenen Liedtexten zu, damit erhöht sich die Trefferquote für Literatur, die das verhandelte Thema mal beiläufig, mal mehr zentral behandelt. Hilfreich und als Referenzgröße rezipierbar war in meinem Lutherkapitel (s. Kap. 6.) die Arbeit von Patrice Veit, welcher wortstatistische Untersuchungen unternahm und damit erste Aussagen über Häufigkeit und Begrifflichkeit machte und den Teufel damit als Zentralthema in Luthers Theologie andeuten konnte. 25 Daneben wurde ebenfalls die große Arbeit von Wichmann von Meding rezipiert, die eine Gesamtdarstellung der Theologie Luthers im Lied unternimmt und dabei z.B. auf das Larvenspiel des Teufels zu sprechen kommt. 26 21 Positiv scheinen Kuessner hingegen die Morgengebete des EG, die „die Nacht als Zeit der Erholung und des Erstarkens“ (Kuessner, Der Satan schon am frühen Morgen, 69) zu würdigen wissen. 22 Fuchs, Psalmdeutung im Lied. Die Interpretation der „Feinde“ bei Nikolaus Selnecker [1993]. 23 Fuchs, Psalmdeutung im Lied, 93. 24 Vgl. Fuchs, Psalmdeutung im Lied, 130-152. 25 Veit ermittelte alle Begriffe, die in den Lutherliedern verwandt worden sind und ordnet sie in einer Tabelle nach Häufigkeit, wobei Feind und Teufel die Hauptformeln bilden (vgl. Veit, Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers, 189). Auf drei Seiten stellt Veit dann die Dämonologie als für Luthers Lieder prägendes Element vor, wobei er v. a. auf die List als eigentliche Handlung des Satans zu sprechen kommt (vgl. Veit, Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers, 140-142). 26 Vgl. Meding, Luthers Gesangbuch, 344-347. Natürlich habe ich zur Einordnung des Teufels in die Theologie Luthers weitere Werke zu dessen Dämonologie rezipiert - für den Forschungsstand in Bezug auf dessen Liedgut, sind diese aber sehr dürftig aufgestellt. <?page no="34"?> 3. Literatur- und Forschungsstand 35 In meinem Gerhardtkapitel (s. Kap. 7.) konnte ich auf Arbeiten verschiedenster Autoren zurückgreifen, die sich mit der Theologie Gerhardts auseinandergesetzt haben, weniger allerdings mit dem Teufel darin. Eine fruchtbringende Lektüre in diesem Zusammenhang stellte das Buch von Ryszard Ziaja dar, das während der Verschriftlichung meines Kapitels erschien. 27 Wenngleich Ziaja linguistisch arbeitet und v. a. das Anliegen verfolgt, die kognitive Metapherntheorie für Sakraltexte fruchtbar zu machen‚ 28 so fördert er doch vielfach Ergebnisse zutage, die von satanologischem Interesse sind, wenngleich ihnen häufig eine theologische Einordnung fehlt. Ziaja unterscheidet nicht zwischen einem neutrischen Konzept des Bösen und dem Teufel als personaler Gestalt, womit eine gewisse Unschärfe auftritt und nahezu die ganze Arbeit von Beschreibungen und Einflüssen des Bösen handeln muss. Dennoch unterstreicht er damit die weitreichende Bedeutung, die das Böse in Gerhardts Theologie besitzt. Ziaja kann darlegen, dass sich die Theologie Gerhardts in einer Art Kampf- und Kriegsgeschehen zwischen Gott und dem Bösen darstellt. Beide Parteien verfügen über diverse Kriegsmittel, -strategien und kämpfende Stellvertreter, wobei der Krieg zugunsten Gottes und damit für den Menschen zum Heil trotz aller Widrigkeiten als entschieden zu gelten hat. 29 Diese dichterbezogenen Studien waren für meine Arbeit insofern von Bedeutung, da die Werke Luthers und Gerhardts für die Autoren nach ihnen als bekannt und stilbildend vorausgesetzt werden können. Ihre hymnische Theologie kann als wegweisend gelten und zeigt damit zugleich Wege für eine hymnische Satanologie an. Neben diesen größeren Arbeiten liegen natürlich kleinere Aufsätze zu einzelnen Liedern vor, die den Satan beleuchten, insbesondere zum prominenten Lutherchoral „Ein feste Burg“‚ 30 diese werden im Verlauf der Arbeit herangezogen, brauchen hier aber nicht erwähnt zu werden, da sie aufgrund ihrer Begrenzung keine Aussagen über den Teufel im Kirchenlied zu unternehmen versuchen. Zum Schluss muss ein Aufsatz genannt werden, der sich in vielfacher Weise von allen vorgenannten Veröffentlichungen abhebt, denn es ist der einzige mir bekannte Text, der das aufgeworfene Thema zentral und auf akademisch weiterführendem Niveau zu verhandeln sucht. Da dieser Aufsatz als Referenzgröße in der hymnologischen Literatur erscheint, zeige ich gegen Ende auch die 27 Ziaja, Paul Gerhardts Kirchenlieder [2015]. 28 Vgl. Ziaja, Paul Gerhardts Kirchenlieder, 27-64. 29 Vgl. Ziaja, Paul Gerhardts Kirchenlieder, 124-142. Ziajas Arbeit zeichnet sich durch vielfältige Übersichten aus, die immer wieder auf die Gegenüberstellung von Gott und Bösem eingehen (vgl. Ziaja, Paul Gerhardts Kirchenlieder, 140). 30 Z.B.: Mehl, „Ein Wörtlein kann ihn fällen“, 3-18; Hirsch, Das Wörtlein, das den Teufel fällen kann, 93-98. <?page no="35"?> 36 A. Ausgangslage und Vorgehen Leerstellen auf, die gleichsam die Notwendigkeit meiner Studie untermauern. Der Zürcher Praktische Theologe, Ralph Kunz, und die reformierte Pfarrerin und Hymnologin, Ute Nürnberg 31 haben im Jahr 2007 einen Aufsatz vorgelegt‚ 32 der viele der von mir dargestellten Ergebnisse und Erkenntnisse thetisch andeutet. Mittelbar bestätigt der Aufsatz meine Aussagen zur Forschungslage, da die Literaturangaben, neben den genannten eher popularwissenschaftlichen oder allgemeinverständlichen, auf keine weiteren Referenzen zum Thema verweisen können. 33 Für ihren exemplarischen Zugang wählen die Verfasser je fünf Gesänge aus fünf Jahrhunderten aus dem EG unter weitreichendem Einbezug des EG-Regionalteiles für Rheinland, Westfalen, Lippe, zusätzlich auch noch aus dem Reformierten Gesangbuch der Schweiz. 34 Wenig überraschend stellen Nürnberg und Kunz Luther als maßgeblichen Liederdichter dar, der nicht nur Lieder geschaffen, sondern auch über diese reflektiert hat, und kommen dabei auf die Trias Sünde, Tod und Teufel zu sprechen. 35 Die Grundthese der Autoren besteht darin, dass mit einer sogenannten „Typologie“ von Sünde, Tod und Teufel Leiden interpretierbar werde: „Der Sinn solcher Unterscheidungen ist es, das Leiden - kontingente Erfahrung des Bösen - interpretierbar zu machen.“ 36 Diese These verbindet sich mit der Folgethese, dass Formeln, je unkonkreter und abstrakter sie erscheinen, wirkungsvoller rezipiert werden können: „Wenn gegen das Böse angesungen werden soll, muss es in den Liedern unkonkret bleiben. Denn die Beschreibungen fungieren als textliche Leerstellen: Jede Sängerin oder jeder Sänger muss sie für sich selbst füllen […]. Begriffe wie ‚Leid‘, ‚Elend‘, ‚Streit‘, ‚Schuld‘ und ‚Sünde‘ können, […] ganz unterschiedlich verstanden und gefüllt 31 Nürnberg wurde 2014 mit einer erkenntnisreichen hymnologischen Arbeit in Zürich promoviert (Nürnberg, Der Jahreswechsel im Kirchenlied [2016]). 32 Kunz/ Nürnberg, Sünde, Tod und Teufel. Das Böse im Kirchenlied, 113-144. 33 Auf persönliche Nachfrage, bestätigte mir Prof. Kunz, den vorliegenden Befund, der ein großes Desiderat der Satanologie im Gesangbuch belegt. Der Aufsatz selbst benennt dies deutlich: „In der Hymnologie fehlen bislang Forschungsarbeiten über Sünde, Tod und Teufel in Kirchenliedern. Und dies, obwohl das Böse in dieser Dreiheit ein viel besungenes Thema ist.“ (Kunz/ Nürnberg, Sünde, Tod und Teufel, 116). 34 Mir ist nicht bekannt, wie die Auswahl konkret erfolgte - ich vermute einen Zugang über die Konkordanz, wobei die Suchbegriffe über die Trias hinaus erweitert sein müssen, denn nicht in jedem findet sich ein Element derselben -, aber es zeigte sich ein häufiges Auftreten in den Rubriken Weihnachten, Ostern, Bußtag, Morgen, Abend, Sammlung und Sendung, Angst und Vertrauen, Rechtfertigung und Zuversicht sowie Geborgen in Gottes Liebe (vgl. Kunz/ Nürnberg, Sünde, Tod und Teufel, 116-119). 35 „Die drei Bezeichnungen [sc. Sünde, Tod und Teufel] lassen eine Typologie des Bösen erkennen. Mit der Sünde ist das Böse im zwischenmenschlichen Bereich, mit dem Tod eine Schicksalsmacht und mit dem Teufel die Gott widerstrebende Gegenmacht gemeint. Alle drei Mächte verursachen Leiden.“ (Kunz/ Nürnberg, Sünde, Tod und Teufel, 114). 36 Kunz/ Nürnberg, Sünde, Tod und Teufel, 114. <?page no="36"?> 3. Literatur- und Forschungsstand 37 werden. Dadurch gewinnen Lieder, die diese deutungsoffenen Begriffe für Wahrnehmungen und Erfahrungen des Bösen verwenden, eine gewisse permanente Aktualität im Sinne einer ‚Allgemeingültigkeit‘.“ 37 Wichtig neben dieser Differenzierung von Sünde, Tod und Teufel scheint eine weitere Beobachtung - christliches Leben wird als Kampf aufgefasst, gegen eigentlich schon besiegte böse Mächte. 38 Kunz und Nürnberg kommen bei der Durchsicht der Lieder zur Einsicht, dass das Böse im Kirchenlied Wandlungen unterworfen ist, der Teufel in seinen diversen Synonymen‚ 39 welcher in enger Verbindung mit Finsternis und Hölle steht‚ 40 mit den Jahrhunderten eher verschwindet. „Der Teufel hingegen verliert spätestens im 20. Jahrhundert an Terrain. Auch sein natürliches Habitat, die Hölle, wird weniger erwähnt. Die Entdiabolisierung des Bösen hat wohl verschiedene Ursachen. Sie hängt zum einen mit der Entzauberung der Welt und der Entmythologisierung des Weltbildes zusammen. Zum anderen ist eine generelle Entkonkretisierung des Symbolik festzustellen.“ 41 Neben dem Weichen des Teufels in den Liedern wird ein ungebrochenes Interesse und eine Sympathie für Engelswesen behauptet. „Es zeigt sich, dass Engel im Gegensatz zu den Figuren des Teufels und seiner Helfershelfer im Kirchenlied ungebrochen beliebt sind. Eigentlich ist es doch verwunderlich, 37 Kunz/ Nürnberg, Sünde, Tod und Teufel, 140. 38 „In den drei unterschiedlichen Anwendungsbereichen der Kampfmetaphorik sind fundamental verschiedene Ebenen der Kontingenzbewältigung angesprochen, die gleichwohl miteinander verknüpft sind: der apokalyptische Kampf ist das Symbol der kosmischen Auseinandersetzung von Licht und Finsternis, die einerseits Leiden verursacht und andererseits dem Bösen den Spielraum der Versuchung lässt, die wiederum in der Heiligung überwunden wird. Teufel, Tod und Sünde fechten den Glauben an und fordern ihn heraus.“ (Kunz/ Nürnberg, Sünde, Tod und Teufel, 115). 39 „Der Teufel wird oft umschrieben […]. In Kirchenliedern ist von ihm als dem Satan, dem Fürst der Welt, Versucher, Drachen und der alten Schlange die Rede. Die Motive sind durchweg biblisch. […] Neben dem Teufel erscheinen weitere böse Personen im Kirchenlied: Feinde und kriegerische Rotten, Diebe und Räuber, die Welt (obwohl ein Kollektiv doch als eine handelnde Person gedacht) und schließlich auch ‚Zwischenwesen‘, nämlich düstere Mächte und Trauergeister“ (Kunz/ Nürnberg, Sünde, Tod und Teufel, 125-126). 40 Vgl. Kunz/ Nürnberg, Sünde, Tod und Teufel, 126. 41 Kunz/ Nürnberg, Sünde, Tod und Teufel, 128. „Es lässt sich beobachten, dass im Kirchenlied durch die Jahrhunderte die konkrete Vorstellung von einem Teufel als Person einer diffuseren Wahrnehmung des Bösen weicht. An Stelle der Person findet man bildlich gesprochen nur noch deren ‚Schatten‘. Wo (Trauer-)Geister existieren und böse Mächte walten, da wird der Teufel durch eine Gruppe nebulöser Wesen ersetzt.“ (Kunz/ Nürnberg, Sünde, Tod und Teufel, 139). <?page no="37"?> 38 A. Ausgangslage und Vorgehen dass in einer entmythologisierten Welt den Engeln weiterhin eine Daseinsberechtigung eingeräumt wird.“ 42 Dieses Fazit (Weichen des Satans/ Beliebtheit der Engel) muss in mehrerlei Hinsicht mit Vorsicht genossen werden. Vorsicht ist auch geboten und deutet Wege für meine Studie aufgrund der Auswahl, an der geforscht worden ist. Ein klares Auswahlkriterium wird nicht benannt und die Menge von 25 Liedern ist bei einem EG-Stamm von 535 überaus begrenzt - 43 zumal das EG selbst schon eine Auswahl ist. Untersucht worden sind nicht allein der Begriff Satan und Synonyme, sondern viele Begriffe, die auf irgendeine Weise Böses benennen, womit der Begriff völlig ins Diffuse abzudriften droht. Eigen ist der wertende Ton, der auf vielen Seiten des Aufsatzes vorherrscht. Diese Wertungen beziehen sich z.B. auf heutige Fragestellungen der Geschlechter- und Gendergerechtigkeit, die an historische Textzeugen herangetragen werden. 44 Wertungen werden auch in Bezug auf die gegenwärtige Relevanz der Satansvorstellungen im Kirchenlied vorgenommen. 45 „Für die zeitgenössische Glaubenspraxis fragt sich andererseits, wie ‚aktuell‘ die barocken Vorstellungen des Bösen sind, die das Kirchenlied gespeichert hat. Kann man angesichts globaler Umweltkatastrophen und ökonomischer Ausbeutung von ‚Teufels List und Wüten‘ (443) singen? “ 46 Wer dürfte im Stande sein, diese Frage zu beantworten? Die Aussagen der Autoren generieren sich aus der Berufung auf Schleiermachers Glaubenslehre (§ 44/ 45) und dessen Ablehnung jeder Teufelsannahme mit Ausnahme für die religiöse Poesie. 47 Wie Schleiermacher, aufgrund scheinbarer biblischer Widersprüche, den Teufel zu einer Jesu Verkündigung fremden und logisch nicht haltbaren Vorstellung erklärt, dessen Wirken wegen der Gefahr menschliches Fehlverhalten bzw. Sünde auf einen transzendenten Akteur zu verlagern, ohnehin nicht bejaht werden kann, so halten die Autoren von vornherein die Vorstellung eines transzendenten Bösen für nicht statthaft und verorten dieses im menschlichen 42 Kunz/ Nürnberg, Sünde, Tod und Teufel, 135. 43 Man muss den Autoren zugute halten, dass sie um diese Auswahlsituation wissen und selbst ihre Ergebnisse als nicht aussagekräftig bezeichnen (vgl. Kunz/ Nürnberg, Sünde, Tod und Teufel, 129). 44 Vgl. Kunz/ Nürnberg, Sünde, Tod und Teufel, 116-117.129.139.143-144. 45 „Gleichwohl ist klar, dass die Spurensuche im Textbuch der Kirchenmusik Wahrnehmungsweisen des Bösen zu Tage fördert, die, bei Lichte betrachtet, nicht mehr zeitgemäß sind.“ (Kunz/ Nürnberg, Sünde, Tod und Teufel, 141). 46 Kunz/ Nürnberg, Sünde, Tod und Teufel, 129. 47 Vgl. Kunz/ Nürnberg, Sünde, Tod und Teufel, 141-143. <?page no="38"?> 3. Literatur- und Forschungsstand 39 Bereich‚ 48 bzw. interpretieren selbst barocke Dichtungen, die vom Satan handeln, als Beschreibungen menschlichen Handelns. 49 So wichtig die Untersuchung und damit der Hinweis auf ein zentrales Thema des Gesangbuches ist, so unnötig sind m. E. Bewertungen historischer Texte und so hinderlich die daraus resultierenden Konzentrationen der Arbeit auf das abstrakte Böse gegenüber dem Teufel als personaler Gestalt. Das personale Böse tritt bei Kunz und Nürnberg trotz expliziter Nennung in den Hintergrund und harrt nach wie vor einer Untersuchung. Darüber hinaus muss eine Typologie des Bösen, wie sie angedeutet wurde, anhand von weit mehr Texten erhärtet werden, v. a. muss das Verhältnis der Trias Sünde, Tod und Teufel viel weiter im dogmatischen und nicht nur ethischen Sinne eingeordnet und interpretiert werden. Allein durch die Erhebung des Forschungsstandes, der im Grunde nicht existent genannt zu werden verdient, ist Sinnhaftig- und Notwendigkeit dieser Studie erwiesen. Bislang wurde zwar das Phänomen in Texten registriert, gelegentlich benannt, untersucht im umfassenden Sinne, hat es niemand. Weder bei einzelnen Autoren sind umfassende Betrachtungen zu finden, noch gibt es Querschnittstudien durch die Gesangbuchgeschichte oder einen bestimmten Gesangbuchkorpus. Alle verfügbare Literatur zum Thema listet entweder auf, dies aber auch nur in kleinerer Auswahl, oder aber stellt nur einzelne kurze Beobachtungen dar. Eine umfassendere und belastbare Auflistung und darüber hinaus eine Interpretation dieser Auflistung liegt in keinem der mir bekannten Texte vor. Völlig unklar bleibt auch die Frage, wie die eingängige Trias Sünde, Tod und Teufel, die allewege auftaucht, auch weithin als bon mot bekannt ist, eigentlich innerlich strukturiert ist, ob und welcher Zusammenhang zwischen diesen Begriffen besteht. 48 Die tabellarische Übersicht von Kunz und Nürnberg legt Zeugnis vom ethischen Interesse der Autoren ab, der Teufel wird eher marginal neben der Sünde in ihren sozialen und innerweltlichen Dimensionen berücksichtigt. Fast scheint es, als wollten sich die Autoren gar nicht mit dem Teufel beschäftigen, denn von den 11 unterschiedlichen Aspekten des Bösen, die in eigenen Zeilen verhandelt werden, widmet sich nur eine dem personifizierten Bösen (vgl. Kunz/ Nürnberg, Sünde, Tod und Teufel, 120-124). 49 Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum Kunz und Nürnberg zu wissen meinen, dass Johann Franck in „Jesu, meine Freude“ nicht wirklich von transzendenten Mächten singen wollte. „Wird durch die Diabolisierung und Personalisierung des Bösen das, was eigentlich böse genannt werden muss, nicht gerade kaschiert? Es sind doch Kriegsherren aus Fleisch und Blut, die das Heilige Römische Reich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts an den Rand des Abgrunds getrieben haben. Es waren Soldaten, die brandschatzten, vergewaltigten und mordeten. Franck wusste das auch.“ (Kunz/ Nürnberg, Sünde, Tod und Teufel, 131). <?page no="40"?> 4. Grundentscheidungen, Methodik, Forschungsfragen Ich habe im Titel, wie auf den vorangegangenen Seiten, meinen Erschließungsprozess als einen hymnologischen ausgewiesen. Die Hymnologie der Gegenwart ist eine Wissenschaft zwischen den Wissenschaften. „Die Germanistik und die Volkskunde, die Theologien beider Konfessionen, die Musik-, Buch- und Geschichtswissenschaft wetteifern um Innovationen in dieser Disziplin. Heute könnte sie Paradigma einer interdisziplinären Kulturwissenschaft sein […]. [Dennoch, wer dieses Fach; HH] ergreift, stellt sich ins akademische Abseits. Anstatt alle angesprochenen Fächer in ein Boot zu bekommen, landet man zwischen allen Stühlen.“ 1 Ich hoffe, mir ist dieses von Hermann Kurzke beschriebene Schicksal nicht beschieden, wenngleich diese Empfindung durchaus Anhalt an der Wirklichkeit haben dürfte. Interdisziplinarität als akademisches Allheilmittel bringt nicht selten eine Überforderung der Beteiligten mit sich - dort wo man sich als fachfremder Autodidakt von eigenen Kernkompetenzen entfernt und ins Freiwasser eines pluralen Methodenkanons hinauswagt, ist ein gewisses Belächeln der Ergebnisse durch Fachkollegen, ob der Unbedarftheit in der Anwendung von Methoden mit komplexen Voraussetzungsgeflechten, unausweichlich. Andreas Marti hat dieses Dilemma so ausgedrückt: „[Es; HH] wird sich unvermeidlicherweise zeigen, dass ein Hymnologe ein multipler Dilettant ist. Er benutzt mit einer gewissen eklektischen Zufälligkeit Instrumentarien aus Fachgebieten, die er zu einem schönen Teil nicht auf professionellem Niveau beherrscht, so dass das Vorgehen den wirklichen Fachleuten wohl dann und wann die Haare zu Berge stehen lassen wird.“ 2 1 Kurzke, Zwischen allen Stühlen, 259. Es ist interessant, dass die Interdisziplinarität und gewisse Vereinzelung, die aus der Wahl des Stoffes hervorgeht, in ganz ähnlichem Maße dem Forscher zukommt, der sich mit Satanologie beschäftigt (vgl. Flasch, Der Teufel und seine Engel, 43-44). 2 Marti, Versöhnung mit Lücken, 50. Obgleich Marti sich dieser Problemlage bewusst ist, stellt er heraus, dass an der Multiperspektivität kein Weg vorbeiführt; er regt explizit auch noch die Einbeziehung empirischer und rezeptionsorientierter Verfahren an (vgl. Marti, Das Kirchenlied als Ort kritischer Begegnung, 172-173). <?page no="41"?> 42 A. Ausgangslage und Vorgehen Noch in der Mitte des letzten Jahrhunderts gingen hymnologische Arbeiten aus theologischer Perspektive an Liedtexte mit einer nicht näher beschriebenen theologischen und interpretenabhängigen Auslegungskunst heran - 3 eine weiter zu bestimmende Methodik war weniger zu beobachten‚ 4 was allerdings die gewonnenen Erkenntnisse besonders in ihren theologiehistorischen Dimensionen keinesfalls schmälert. V.a. durch die im 20. Jahrhundert erfolgte Wende zur Sprache („linguistic turn“) in den Geistes- und Sozialwissenschaften‚ 5 der sich auch Theologie und Hymnologie nicht entziehen konnten, hielten nach und nach neue Betrachtungsweisen auf Kirchenlieder Einzug in den Instrumentarienkatalog der Kirchenliedforschung 6 - bzw. durch den „linguistic turn“ und seine Auswirkungen weitete sich die Hymnologie überhaupt erst zum interdisziplinär arbeitenden Fach. In Germanistik und Sprachwissenschaft entstanden seit den 1960er Jahren Arbeiten‚ 7 die die neuen seit Anfang des 20. Jahrhunderts sich herausbildenden Methoden auf Kirchenlieder anwandten und Anstoß für weitere Vertie- 3 Britta Martini weist darauf hin, dass die Linguistik selbst in dieser Zeit erst auf der Suche nach einem konsensfähigen Methodenkanon war (vgl. Martini, Ziele und Methoden der Hymnologie im 21. Jh., 177-178). 4 Ohne im Weiteren auf diese Arbeiten einzugehen, möchte ich exemplarisch auf einige hinweisen. In Klaus Burbas Dissertation (Burba, Die Christologie in Luthers Liedern [1956]) wird nicht nur auf Nennung oder Beschreibung eines methodischen Vorgehens verzichtet, sondern die Arbeit lässt zugleich jede Form von Grundlegung, Hinführung, Bündelung oder ähnliche der Leserfreundlichkeit dienende Elemente vermissen - dafür ist der Leser nach knappen 70 Seiten am Buchende angelangt. Die Dissertation von Karl Hauschildt (Hauschildt, Die Christusverkündigung im Weihnachtslied unserer Kirche [1952]), wenngleich theologisch sehr reflektiert, ist in methodischer Hinsicht ebenso eine Erklärung schuldig geblieben. Genauso verhält es sich mit dem Band von Armin-Ernst Buchrucker (Buchrucker, Theologie der evangelischen Abendmahlslieder [1987]), der die Ergebnisse seiner 1949 vorgelegten Dissertation auf den aktuellen Forschungsstand gebracht, wiedergibt. 5 Vgl. Strube, Art. Linguistik, Sprachwissenschaft, Sp. 340-343. 6 Hymnologie und Kirchenliedforschung setze ich hier gleich. Grundsätzlich halte ich an der Definition von Christoph Albrecht fest, der Hymnologie schlicht als „Lehre vom Kirchenlied“ (Albrecht, Einführung in die Hymnologie, 7) definiert. 7 Eine wegweisende Arbeit wurde in diesem Zusammenhang von Winfried Ulrich vorgelegt (Ulrich, Semantische Untersuchungen zum Wortschatz des Kirchenliedes im 16. Jahrhundert [1969]). Er untersucht unter semantischer Perspektive Wörter im Sinnbereich zwischen Schuld/ Sünde und Liebe/ Gnade, also im weiteren Sinn Worte im Bereich der Rechtfertigungslehre. Methodisch bezieht er sich etwa auf die Wortfeldtheorie im Anschluss an Jost Trier, aber auch auf die in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik vermehrt rezipierte strukturelle/ strukturalistische Semantik, wenngleich er schon damals gegen einen synchron-verengenden Strukturalismus das Wort ergreift (vgl. Ulrich, Semantische Untersuchungen zum Wortschatz des Kirchenliedes im 16. Jahrhundert, 8-11). Es ist dezidiert Ulrichs Absicht, Bedeutungsgehalte des 16. Jh. im Vergleich zu Bedeutungsgehalten selbiger Worte im 20. Jh. zu untersuchen. <?page no="42"?> 4. Grundentscheidungen, Methodik, Forschungsfragen 43 fung der Methoden gaben. 8 Folge dieser Entwicklung waren Studien, welche die verschiedenen Methoden zusammenzuführen versuchten. Die Dissertation von Britta Martini darf in diesem Zusammenhang als Meilenstein betrachtet werden. 9 In ihrer Arbeit werden in profunder Weise Methoden der Germanistik mit empirischen und rezeptionsorientierten Instrumentarien verbunden. 10 Der Verdienst von Martinis „Detailstudie“ (es wird im Grunde ein einziges Lied untersucht) besteht darin, aufgezeigt zu haben, was mit der konsequenten Anwendung linguistischer Analysehilfsmittel für beachtliche Erkenntnisse den Kirchenliedtexten zu entnehmen sind. Darüber hinaus macht sie deutlich, dass es ein Gebot wissenschaftlicher Redlichkeit ist, in nachvollziehbarer und strukturierter Weise auch danach zu fragen, wie wir eigentlich Texte, die wir beurteilen, lesen. Linguistische Methoden helfen, einen kritisch-produktiven Abstand zum Analysegegenstand herzustellen - 11 nichts anderes bewog seit Jahrzehnten die Bibelwissenschaften bei der Anwendung der historisch-kritischen Exegese. Meine Arbeit konnte in vielerlei Hinsicht auf die vorangegangenen Sensibilisierungen für die Unterschiedlichkeit von theologischen Textsorten durch Alex Stock zurückgreifen. 12 Als einer der ersten deutschen Theologen machte Stock im Zusammenhang seines theologischen Großprogramms einer „Poetischen Dogmatik“ in den 1970ern darauf aufmerksam, dass es innerhalb der Theologie einen Mangel an Verfahren zur Textanalyse, abseits der historisch-kritischen Bibelexegese, gibt. Er machte in diesem Rahmen aus der vom Strukturalismus beeinflussten Sprachwissenschaft herkommende Methoden für die Auswertung theologischer Texte fruchtbar und konnte zeigen, dass sich damit aus theologischen Texten vorher methodisch nicht greifbare theologische Einsichten nachvollziehbar beschreiben lassen. 13 Neben Stock konnte Martini, wie ihre 8 Beeinflusst von Ulrich legte in den 1980er Jahren Patrice Veit eine Detailstudie zu Lutherliedern vor (Veit, Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers [1986]). Veit erhebt den gesamten Wortbestand in Luthers Liedern mit dem methodischen Instrument der quantitativen Semantik (vgl. Veit, Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers, 1-9). Es gelingt Veit durch wortstatistische Beobachtungen, sowie thematische Gruppierungen, auch für die theologisch motivierte Hymnologie neue Blickwinkel auf das Liederwerk Luthers und den engen Zusammenhang zu seinen sonstigen Schriften zu werfen. 9 Martini, Sprache und Rezeption des Kirchenliedes [2002]. 10 Daneben bringt Martini als Kirchenmusikerin auch immer wieder theologische und musikwissenschaftliche Perspektiven in ihre Ausführungen ein. 11 Vgl. Martini, Sprache und Rezeption des Kirchenliedes, 14-19. Vielleicht kann man am ehesten den Sinn linguistischer Methoden in der strukturierten Verlangsamung der Textlektüre erkennen (vgl. Schweizer, Textlinguistik und Theologie, 792). 12 Stock, Umgang mit theologischen Texten [1974]; Stock/ Sauter, Arbeitsweisen Systematischer Theologie [1976]. 13 Stock geht besonders ein auf die vom französischen Strukturalisten und Mitbegründer der „Pariser Schule“, Algirdas Julien Greimas (vgl. Stock/ Sauter, Arbeitsweisen Syste- <?page no="43"?> 44 A. Ausgangslage und Vorgehen rezipierte Literatur beweist‚ 14 auch auf die zu ihrer Zeit schon teilweise erschienenen Publikationen und Arbeiten aus dem Umkreis des 1996-2006 bestehenden DFG-Graduiertenkollegs „Geistliches Lied und Kirchenlied interdisziplinär“ an der Universität Mainz zurückgreifen. 15 Zu den beteiligten Professoren gehörten u.a. die namenhaften Hymnologen Hermann Kurzke, Albrecht Greule, Christa Reich und Ansgar Franz. Innerhalb dieses interdisziplinären Forschungskreises entstanden durch gegenseitiges Prüfen und Sichten methodische Leitfäden zur Analyse geistlicher Lieder, die einen multiperspektivischen Ansatz verfolgen. 16 Auf diese erprobten Analyseverfahren kann ich im Folgenden dankenswerterweise Bezug nehmen und muss die Methodenfrage nicht in Gänze neu stellen. Dennoch muss eine Methode immer auch zu den eigenen forschungsleitenten Fragehorizonten in Beziehung gesetzt werden - schlicht: sie muss zum Gegenstand der Studie passen! Das heißt in meinem Fall, dass überlegt werden muss, womit an Liedern die Frage nach einer Satanologie des Gesangbuches beantwortet werden kann. Ich habe mich in diesem Zusammenhang dafür entschieden, mich weniger mit Melodien zu beschäftigen, sondern mich gänzlich den Texten der Lieder zu widmen. Es darf kritisiert werden, wenn ich trotz des untrennbaren Ineinanders von Text und Melodie die Wahl getroffen habe, mich auf den Text zu beschränken‚ 17 dennoch beruht dieses Vorgehen auf einer klaren theologischen matischer Theologie, 64-86; ebs. vgl. Stock, Umgang mit theologischen Texten, 27-35), aufgezeigten semantischen Strukturen von Texten, die sich unterhalb der Wortebene, in den sogenannten „Isotopieebenen“, herausarbeiten lassen und womit nach Greimas im eigentlichen Sinn Textkohärenz hergestellt wird (vgl. Greimas, Strukturale Semantik, 60-92). Außerdem geht Stock auf das von Greimas für die Analyse von Erzähltexten entwickelte „Aktantenmodell“ ein, mit welchem sich Funktionen der jeweiligen Handlungsträger von Erzähltexten sichtbar machen lassen (vgl. Greimas, Strukturale Semantik, 157-177). 14 Vgl. Martini, Sprache und Rezeption des Kirchenliedes, 320-333. 15 Mainz darf als hymnologisches Zentrum im deutschen Sprachraum gelten. Dort ist, neben dem seit 1992 bestehenden interdisziplinären Arbeitskreis Gesangbuchforschung, das wohl größte deutsche Gesangbucharchiv untergebracht (https: / / www.blogs.unimainz.de/ gesangbuchforschung/ interdisziplinaerer-arbeitskreis-gesangbuchforschung/ [Zugriff: 23.01.2018]). 16 Am umfangreichsten dürfte der Analysekanon von Siri Fuhrmann sein, der theologische, musikwissenschaftliche, sprachwissenschaftliche, historische und rezeptionsbezogene Fragestellungen an Lieder gleichermaßen zu integrieren versucht (vgl. Fuhrmann, „Mehr als Worte sagt ein Lied“, 10-22). Dieser Analyseleitfaden wurde in verschiedenen Zusammenhängen von Fachkollegen erprobt und für sachdienlich befunden, insbesondere für NGL (vgl. Fuhrmann, „Mehr als Worte sagt ein Lied“, 10). 17 Die benannte Problemanzeige ist so alt wie die Hymnologie selbst. Waltraut Ingeborg Sauer-Geppert hatte schon in ihrer Habilitationsschrift in den 1970er Jahren auf die Problematik jener musikalisch-poetischen Doppelgestalt hingewiesen. Dennoch kommt auch sie in Ermangelung von Vorarbeiten zu ihrer Thematik schlussendlich zu einer Begren- <?page no="44"?> 4. Grundentscheidungen, Methodik, Forschungsfragen 45 Grundeinsicht. Ohne Zweifel lässt erst die Gesamtheit mit der Melodie manche Bedeutung eines Textes zur vollen Blüte kommen, bzw. kann dessen mögliche Brisanz ebenso in erheblichem Maße abmildern oder gar gänzlich nichten. 18 Dennoch scheint mir die Entscheidung für eine alleinige Betrachtung des Textes angemessen, denn mir geht es um die Lehre, die die Lieder vermitteln und diese Lehre findet sich im Wortlaut! 19 Die theologische Dimension der Musik wird nicht bestritten, wohl postuliere ich aber einen für den Kirchengesang (! ) notwendigen dogmatischen Primat des Textes - 20 dieser Vorrang muss nicht zung auf den Text: „Für diese Arbeit gilt, daß der völlige Verzicht auf die musikalische Seite der Problematik als Mangel hingenommen wird. Er wäre nur zu umgehen gewesen, wenn man die Thematik in einer Gemeinschaftsarbeit gleichzeitig von der musikwissenschaftlichen Seite angegangen wäre. So erfolgsversprechend ein solches Vorgehen wäre, so wenig läßt es sich erzwingen, solange es zunächst darum geht, eine These zur Diskussion zu stellen. Dagegen wurde den theologischen Aspekten Raum gegeben“ (Sauer-Geppert, Sprache und Frömmigkeit im deutschen Kirchenlied, 3). 18 Albrecht Greule bemerkt: „Eine mich bedenklich stimmende Erfahrung […] ist die, daß für die Wahl eines bestimmenden Liedes im Gottesdienst immer wieder - oft resignierend - das Argument vorgebracht wird, das Lied sei so beliebt wegen seiner schönen Melodie und die Leute sängen es halt so gerne. Konsequenz: Der Text des Liedes spielt eigentlich keine Rolle“ (Greule, So sie’s nicht verstehen, so sollten sie’s nicht singen? , 48). 19 Wie sehr Glaube von Gesangbuchtexten beeinflusst ist, oder aber Glaube die Texte beeinflusst, konnte in beachtenswerter Weise Friedrich Niebergall aufzeigen (Niebergall, Das Gesangbuch als kirchliches Bekenntnis [1931]). Er kommt nach Auswertung diverser Lieder und dem Abgleich mit protestantischen Kerntheologumena zu der Bestimmung des Gesangbuches als Quasi-Credo. Im Gesangbuch findet sich eine Auswahl subjektiver Glaubenszeugnisse, die durch den Prozess ihrer kirchlichen Zusammenstellung in den Rang einer objektiv-lehrhaften Größe erhoben worden sind (vgl. Niebergall, Das Gesangbuch als kirchliches Bekenntnis, 37-44). Für das EKG war dieses Verhältnis noch völlig selbstverständlich: „Der Frage nach den Bekenntnisschriften im Liedgut der Kirche wird nur gerecht, wer das Kirchenlied theologisch zu werten und zu messen bereit ist, aber auch das theologisch und literarisch eigentümliche Gefüge des Kirchenliedes ernst nimmt […]. Bekenntnisbindung ist Tatsache und Maßstab für die Lieder im Evangelischen Kirchengesangbuch“ (HEKG III/ 1, 88). 20 Wie wichtig, trotz der Untrennbarkeit von Text und Melodie, eine getrennte Betrachtung ist, macht Edmund Schlink in einem wenig beachteten Aufsatz deutlich (Schlink, Zum theologischen Problem der Musik [1945]). Die Gedanken, die Schlink ausgehend von der Antike bis auf seine Zeit aufzeigt, mahnen zu einem kritischen Abstand gegenüber allen ästhetischen Überformungen theologischer Inhalte. Musik bleibt nach Schlink immer Teil der natürlichen Theologie und muss als solche durch das Kreuz gebrochen werden, ehe sie als erneuerte Gestalt ihm untergeordnet zu Dienste sein darf. Aufwändige Musik, die das Wort in den Hintergrund treten lässt, wortlose um so mehr, berge die kaum zu verantwortende Gefahr, als ästhetisches Ereignis - womöglich mit ekstatischen Elementen - zum Freiheits- und Selbsterlösungsprogramm zu werden und dabei die wahre Erlösung im Kreuz und Auferstehung verkündenden Wort zu überhören (vgl. Schlink, Zum theologischen Problem der Musik, 22-31). Scheitler gibt Schlink indirekt Recht mit dem Generalverdacht gegen die Musik, indem sie die Musikgeschichte und Rezeption des 19. Jh. nachzeichnet, die insbesondere in Nachfolge Schleiermachers im Protestantismus <?page no="45"?> 46 A. Ausgangslage und Vorgehen (und wird meist nicht) als ein solcher empfunden werden, ist aber theologisch - insbesondere der evangelischen Theologie, als der dem Wort zugewandten - in höchstem Maße angemessen. 21 Evangelische Theologie ist radikal wortbezogen, hat im Wort ihre radix/ Wurzel, und kann von keinem anderen Grund her unternommen werden - folglich verdienen auch die Worte des Gottesdienstes, wenngleich vertont, ihre eigene Betrachtung. „Aber ich glaube, wir sind uns einig, daß am Primat des Textes [sc. im Kirchenlied] festgehalten werden muß und daß es nicht gleichgültig oder unwichtig ist, welche Inhalte von einer Melodie - sei sie noch so schön und beliebt - transportiert und in den Gottesdienst eingebracht werden.“ 22 Ob Einigkeit im Sinne Greules über den Textprimat besteht, möchte ich bezweifeln; mir dient dieser dogmatische Primat allerdings als Prämisse und hinreichende theologische Rechtfertigung, um mich mit der Betrachtung des Textes zu bescheiden. Mein Vorgehen ist aber auch unter historischen Gesichtspunkten legitim. Natürlich liegen die Klassiker des Gesangbuches mit ihren je eigenen „Klassikermelodien“ vor, allerdings sind dies in der Regel Wahlverwandschaften. 23 Viele Texte wurden über Jahrzehnte oder Jahrhunderte neu und anders vertont, Melodien zwischen verschiedenen Texten getauscht, bis sich die tragfähigste und weitertradierte Verbindung zwischen Texte und Melodie herausgebildet hatte. 24 Christa Reich weist darauf hin, dass die Einheit von Text und Melodie immer nur situativ im Singen selbst erfahrbar ist. einen Weg hin zur Ästhetikreligion beschritt und den Konzertsaal zur Kirche erkor (vgl. Scheitler, Von Arndt bis Spitta, 15). 21 Ob Lieder in ein Gesangbuch kommen, ist in der Gegenwart sicher zu großem Teil von der textlich-melodischen Einheit und der damit einhergehenden Bekanntheit, Eingängigkeit, Beliebtheit abhängig. Beliebtheit darf aber nur ein sekundäres Gütekriterium sein. Wenn die Formel des Prosper von Aquitanien („lex orandi - lex crendendi“) sich als Grundverhältnis zwischen Frömmigkeit und Glaube der Kirche erweist, liturgische Vollzüge also eine eigene glaubensformende Dimension haben (vgl. Arnold, Theologie des Gottesdienstes, 40-46), dann können ihre Texte nicht weniger als kirchenstiftend bezeichnet werden und müssen folglich schärfsten Prüfungen unterzogen werden. 22 Greule, So sie’s nicht verstehen, so sollten sie’s nicht singen? , 49. 23 Vgl. Smets, Das Endgericht in der Endzeitrede Mt 24-25 und im Evangelischen Gesangbuch, 44. 24 Noch bei der Arbeit am EKG war es für die Kommission schwierig, bei den Nutzern ein Bewusstsein für die historisch älteste Melodie zu wecken, stattdessen hatten sich Lehnmelodien an viele Texte über die Jahrzehnte angelagert, die man im Rahmen der EKG-Konzeption rückzubauen versuchte (vgl. Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 43). <?page no="46"?> 4. Grundentscheidungen, Methodik, Forschungsfragen 47 „Erst durch eine singende Stimme entsteht ein Gesang als Klanggeschehen in der Zeit, in dem Wort, Ton und Person gleichzeitig beieinander sind. Im Vollzug sind sie ungetrennt, bleiben aber trotzdem unterscheidbar. Wort und Ton können sich in glücklicher Weise unterstützen, können im gleichzeitigen Erklingen aber auch einander widersprechen: ein Friedenslied im Marschrhythmus; Wohlfühlklänge, die den Worten die Widerständigkeit entziehen.“ 25 Zugleich gilt es zu bedenken, dass selbst Lieder, die nur mit einer Vertonung vorliegen, nicht grundsätzlich für die Vertonung bzw. genau diese Vertonung gedacht waren. Insbesondere im Barock war es beliebte Schulaufgabe und später allgemeine Freizeitbeschäftigung der höher Gebildeten, Verse zu dichten. Ein Pfarrer, der etwas auf sich hielt, betätigte sich poetisch, textete für die jeweiligen Sonntage oder Kasualanlässe Gebrauchstexte auf schon im Gesangbuch befindliche Melodien. 26 Außerdem muss vergegenwärtigt werden, dass nicht wenige Texte ursprünglich Gedichte waren und erst später zu Liedtexten umfunktioniert wurden. Bei aller theologischer und historischer Apologie gilt es zu bedenken, dass Hymnologie und Kirchenliedforschung immer noch Felder mit großen zu bearbeitenden Leerstellen sind, weshalb Dispens gegenüber der Doppelbetrachtung von Text und Melodie mehr als genug begründet sein sollte. 27 Diesen Dispens nimmt in überzeugender Weise u.a. Elke Axmacher für sich in Anspruch, die in wiederholten Äußerungen betont hat, dass die Interdisziplinarität der Kirchenliedforschung nicht dazu führen dürfe, dass Werke, bei denen es sich um Theologie in poetischer Form handele, nur noch unter poetologischen Aspekten betrachtet würden, bzw. der Text gegenüber der musikalischen Gestalt vollends aus dem erkenntnisleitenden Interesse verschwinde. 28 Axmacher tritt 25 Reich, Brauchen wir ein neues evangelisches Gesangbuch? , 345. 26 Wie weitreichend dieses dichterische Schaffen gehen konnte, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der evangelische Barockdichter und Geistliche Benjamin Schmolck an die 1200 Lieder dichtete (vgl. Albrecht, Art. Schmolck, 277-278). 27 Vgl. Greule, So sie’s nicht verstehen, so sollten sie’s nicht singen? , 47-50; ebs. vgl. Ziaja, Paul Gerhardts Kirchenlieder, 56-57. 28 Axmacher fragt mit Blick auf Paul Gerhardt pointiert die unter dem ästhetischen Paradigma stehende Hymnologie kritisch an: „Kann aber eine theologische Untersuchung […] einem Kirchenlieddichter überhaupt gerecht werden? Unterwirft sie ihre Werke nicht Kriterien, die ihnen nicht angemessen sind, ja sie von vornherein verfehlen müssen? Meine Behauptung lautet im Gegensatz dazu: Der Verzicht auf eine theologische Betrachtung dieser Texte wird ihnen nicht gerecht. Ihre Anwendung macht sie erst wirklich verständlich.“ (Axmacher, Vorwort, XIII; ebs. vgl. Koch, Paul Gerhardts Heilsrealismus dargelegt anhand zweier Lieder, 57). <?page no="47"?> 48 A. Ausgangslage und Vorgehen demgegenüber für eine dezidiert theologische Kirchenliedforschung ein. 29 An einer ähnlich theologischen Behandlung von Kirchenliedern ist mir in dieser Studie gelegen. Vollzieht man diese theologische Grundentscheidung nach, so ergeben sich weitreichende Folgen für die Untersuchung. Für mich und meine Fragestellung ist damit unwichtig und zu vernachlässigen, wie die tatsächliche Rezeption der Lieder meines Untersuchungskorpus (EG) aussieht, ebenso rücken damit alle weiteren empirisch-gebrauchsbezogenen Aspekte in den Hintergrund - von Bedeutung ist das gedruckte, „kanonisierte“ Wort. 30 Mit dem Kanonbegriff ist ein weiterer wichtiger Punkt und Grundsatz meiner Arbeit benannt. Will man die Satanologie im Kirchenlied untersuchen, böten sich unzählige Herangehensweisen an. Es wäre vorstellbar, die meistgesungenen Lieder, die meistgedruckten Lieder zu erheben und zu analysieren. Es wäre vorstellbar, durch die Geschichte hindurch die wichtigsten Gesangbücher eines Territoriums oder einer Konfession zu studieren. Ebenso könnte man Theologen einer bestimmten theologischen Schule oder Gruppe zusammenfassen und ihnen eine andere Gruppe gegenüberstellen. Diese Wege, die gut und sinnvoll sind, wähle ich nicht - die vorgenannten Kriterien sind in der Praxis kaum einzulösen, bzw. bedeuten unbefriedigende Beschneidungen oder arten zum Lebensprojekt aus. Eine Begriffsgeschichte des Teufels im Kirchenlied zu unternehmen, ist in dieser Studien weder versucht, noch ansatzweise gegeben, semantische Wandlungen durch die Geschichte lässt meine Studie außen vor. Ich habe stattdessen entschieden, mich dem Gesangbuch der Gegenwart zuzuwenden und dieses als synchrones Werk aufzufassen, wohl wissentlich, dass ich dabei theologische Epochen und Schulen nivellieren könnte. 31 Ich verwende das 29 „Sie [sc. die theologische Lehre] ist es, die den Liedern ihre Substanz verleiht und sie bis heute im Gemeindegesang der evangelischen Kirche bewahrt hat“ (Axmacher, Vorwort, XIV). 30 Überhaupt ist die Frage nach dem tatsächlichen Gebrauch eines Gesangbuchliedes, sofern man von einem so weit verbreiteten Buch wie dem EG ausgeht, kaum zu erhellen (vgl. Smets, Das Endgericht in der Endzeitrede Mt 24-25 und im Evangelischen Gesangbuch, 384). Es muss bedacht werden, dass es nicht nur um die begrenzte Auswahl des Kantors und Pfarrers für den Sonntagsgottesdienst gehen kann, sondern durch das heimische Gesangbuch ein stilles Lesen und ziellos-zweckfreies Blättern im Gesangbuch ebenso von Belang sein könnte (vgl. Sauer-Geppert, Sprache und Frömmigkeit im deutschen Kirchenlied, 9-10). 31 Christian-Erdmann Schott hat diese Einebnung ebenfalls deutlich vor Augen, sieht aber gute Gründe für dieses Verfahren: „Die Problematik derartiger systematisch-thematischer Versuche besteht dabei allerdings darin, daß auf diese Weise Dichter und Lieder nicht nur individuell unterschiedlicher Art, sondern auch von ganz unterschiedlichen theologischen Haltungen und aus verschiedenen Zeiten zusammengebracht und auf ein Thema hin abgehört werden […]. Es besteht die Gefahr der Verwischung von Nuancen, <?page no="48"?> 4. Grundentscheidungen, Methodik, Forschungsfragen 49 gegenwärtige „Evangelische Gesangbuch“ 32 im Stammteilbereich (Nr. 1-535) 33 , einerseits aufgrund seiner hohen Verbreitung und damit verbundenen Relevanz, aber auch, da es in langen Prozessen unter theologischer und kirchlicher Aufsicht konzipiert worden ist - der Begriff des Kanons, einer Richtschnur und Regel‚ 34 ist dem Werk in diesem Sinne nicht fremd. Solange dieses Kanonverständnis implizit gegeben ist, ist eine synchrone Lesart grundsätzlich zulässig, zumal der gottesdienstliche Gebrauch dieses Verständnis ohnehin verstärkt, indem auf Bibeltexte mit 2000 Jahren Geschichte mit nicht selten 500jährigen Gesängen geantwortet wird, als wären sie auf gleicher Höhe. Mittelbar erreicht man mit der Analyse des EG dennoch die meistgedruckten und meitgesungenen Lieder, denn das EG ist wie sein Vorgänger, das EKG, nicht weniger als eine Sammlung von in Jahrhunderten im Leben und Lehren der Kirche bewährten Gesängen. 35 die Gefahr der Undifferenziertheit, die schon in der Methode angelegt und begründet ist. […] Völlig wird sich der Einwand, daß durch ein solches Verfahren Akzente auch verwischt werden, nicht aus der Welt schaffen lassen. Er wird aber erträglich, wenn man in diesem Mangel den Preis für das Positivum sieht, daß durch ein solches Verfahren auch die Einheit und der zeit- und generationenübergreifende Zusammenhang von Glaubenserfahrung und geistlicher Dichtung, wie er sich im EKG niederschlägt, deutlich wird. Das ist ein Vorteil, der die Problematik der Methode zuletzt dann doch bei weitem überbietet.“ (Schott, Der Glaube an die Führung Gottes im Evangelischen Kirchengesangbuch, 160). 32 Weitere Ausführungen zur Konzeption des EG und seiner Vorgeschichte finden sich unten (s. Kap. 5.). Mit dem Bezug auf ein „offizielles“ Gesangbuch umgehe ich eine weitere Problematik, die schon Sauer-Geppert angedeutet hatte, nämlich die Frage, was eigentlich ein Kirchenlied sei und wo die Grenzen zum geistlichen Volkslied u. ä. verlaufen (vgl. Sauer-Geppert, Sprache und Frömmigkeit im deutschen Kirchenlied, 7-10) - wenn sich die Lieder nebeneinandergestellt in einem durchnummerierten Korpus finden, ist eine Verwendung als Lied in und für die Kirche grundsätzlich vorstellbar. 33 Ich beschränke mich ausschließlich auf den Stammteil - viele Landeskirchen ergänzen den Stamm um Regionalteile, womit eine große Unüberschaubarkeit meiner Studie eingetreten wäre. 34 Es soll nicht verschwiegen werden, dass der Kanonbegriff in seiner Geschichte weit mehr Bedeutungen aufwies, als nur jenen einer abgeschlossenen Sammlung autoritativer Texte. Vielmehr hatte der Kanon in seiner ursprünglichen antiken Wortbedeutung den Sinn einer moralischen oder ethischen Kategorie - Kanon stand für das rechte Maß und lagerte sich an bei Begriffen des Wahren, Guten und Schönen (vgl. Szabo, Art. Kanon, 688- 690). 35 Sauer-Geppert, die an einer historischen Arbeit zum Kirchenlied interessiert ist, hat statt auf viele Editionen, die ohnehin sinnvoll nur bis ins 17. Jh. zu nutzen sind, weitgehend auf Editionstexte verzichtet, sondern als eingestandenen Notbehelf auf das EKG zurückgegriffen, welches zu großen Teilen im EG aufgegangen ist. Sie weist darauf hin, dass die Verwendung dieses Korpus von großem Vorteil sei, da hier tatsächlich geschätzte und in Gebrauch befindliche Lieder abgedruckt seien und somit eine sinnvolle Auswahl aus der Fülle der historischen Liedersammlungen gegeben ist. Daneben sei auch die Urtextnähe, die durch umfangreiche Quellenstudien in der Konzeptionsphase erreicht wurde, zu beachten; diese Urtextstudien wären bei persönlicher Suche und Einzelauswahl jedes <?page no="49"?> 50 A. Ausgangslage und Vorgehen Ich bin mir bewusst darüber, dass dieses Vorgehen Anlass zur Kritik bereitet, wie auch Kunz und Nürnberg, die ähnlich verfahren, sich eingestehen mussten. „Die folgende Übersicht ist unter der Einschränkung zu betrachten, dass aktuelle Gesangbücher eine Auswahl repräsentieren, aus der wir wiederum Lieder ausgewählt haben. Wir sind uns bewusst, dass eine Liedersammlung das Ergebnis eines komplexen Rezeptions- und Redaktionsprozesses ist, in dem Lieder aufgenommen oder ausgeschieden, in dem Texte verändert und Strophen gestrichen wurden oder wieder hinzu kamen. Ein Gesangbuch der Gemeinde berücksichtigt die Tradition und muss dem Zeitgeschmack Stand halten. Es liegt daher nahe, dass ‚das Böse‘, das in ihnen beschrieben wird, auch nicht zu konkret sein darf. Gewisse Typen des Bösen aus vergangenen Jahrhunderten werden aus heutiger Sicht anders beurteilt.“ 36 Trotz vieler berechtigter Einsprüche gegen dieses Vorgehen bietet es m. E. ebensoviele Vorteile. V.a. sollte bedacht werden, dass Querschnittstudien zu einem bestimmten Thema an einem konkreten Gesangbuch grundsätzlich sinnvoll sind, wie Christian-Erdmann Schott betont, denn um eine Beheimatung der Gemeinde in ihrem Gesangbuch zu ermöglichen und umgekehrt, scheint ein gründliches Studium impliziter Lehre unumgänglich; erst durch Querschnittzugänge wird dem Einzelnen mit seinen persönlichen Präferenzgesängen das Gesangbuch als innere theologische und nicht nur äußere kanonische Einheit vor Augen gestellt. „Zur hymnologischen Forschung wird es immer auch gehören, querschnittartig grundsätzlichen Aussagen des EKG nachzugehen. Dies vor allem deshalb, weil es notwendig ist, der Gemeinde das GB, aus dem sie singt und betet, von möglichst verschiedenen Seiten und unter möglichst vielen Aspekten zu erschließen. Das GB kann zu einem wirklichen Besitz der Gemeinde nur werden, wenn sie die Texte, die sie singt, auch versteht. Dazu müssen sie ihr nicht allein unter inhaltlich-werk- oder liedimmanenten, auch nicht allein unter historischen, biographischen oder melodiegeschichtlichen, sondern auch unter grundsätzlich-thematischen Gesichtspunkten verständlich gemacht werden. Das heißt unter Gesichtspunkten, die Zugänge zu übergreifenden Glaubens- und Lebenserfahrungen, die im GB ihren Niederschlag gefunden haben, eröffnen, die sie helfen aufzuschlüsseln, zu neuer Sprache zu bringen und so für unseren eigenen Glauben nachvollziehbar werden zu lassen.“ 37 Liedes nicht zu leisten gewesen (vgl. Sauer-Geppert, Sprache und Frömmigkeit im deutschen Kirchenlied, 11-12). 36 Kunz/ Nürnberg, Sünde, Tod und Teufel, 117. Die Kritik am EG müsste so stark nicht ausfallen, durch Abgleich vieler Lieder mit ihren Editionsfassungen zeigte sich eine erhebliche Urtexttreue. Wenn man dieses Ergebnis auf alle nicht untersuchten EG-Gesänge überträgt, muss das EG als relativ ursprungsnah charakterisiert werden. 37 Schott, Der Glaube an die Führung Gottes im Evangelischen Kirchengesangbuch, 159-160. <?page no="50"?> 4. Grundentscheidungen, Methodik, Forschungsfragen 51 Auf dem Hintergrund dieser Prämissen können konkretere methodische Konzepte im Weiteren zur Anwendung gebracht werden. Als Mentor meines handwerklichen Vorgehens darf ich Albrecht Greule 38 in diesem Zusammenhang anführen, dessen „Kategorien der sprachwissenschaftlichen Analyse von Kirchenliedern“ 39 für meine Untersuchung zu den Hauptreferenzen zählen. Der Methodenkatalog Greules ist für die Analyse einzelner Texte entwickelt - da ich flächig arbeite und einen ganzen Gesangbuchkorpus unter der Perspektive der Rede vom Teufel analysiere, muss eine Auswahl aus seinen vorgeschlagenen Schritten getroffen werden, die Gegenstand und Fragerichtung meiner Studie Rechnung trägt. Ausgangspunkt meiner Untersuchung muss, das wird bei einer grundsätzlich nicht vorhandenen Forschungsgeschichte zur Satanologie im Gesangbuch deutlich, die Grundsatzfrage sein, in welchen Liedern des EG überhaupt der Teufel vorkommt, d. h., wo das konkrete Wort oder synonyme Worte anzutreffen sind. Bislang liegen im Grunde mehr als einige Konkordanzeinträge zum Teufel/ Satan im Gesangbuch nicht vor - die zu leistende Arbeit betritt folglich Neuland und findet darin nicht wenig zu bearbeitenden Stoff vor. So wenig inspirierend eine Auflistung erscheinen mag, sie ist als erste Forschungsleistung Voraussetzung für alle weiteren Fragen in dieser Hinsicht. Diese Fragerichtung ist gleichsam mit einer weiteren arbeitsökonomischen Grundsatzentscheidung verbunden, denn wollte man den Teufel auch synonym mit „das Böse“ (neutrisch) setzen, wäre nahezu jedes Lied durch 38 Albrecht Greule ( Jg. 1942) ist studierter Altphilologe, Germanist und Indogermanist. Seit 1992 hatte er den Lehrstuhl für deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Regensburg inne, seit 2007 ist er Seniorprofessor ebenda (https: / / www.uni-regensburg.de/ sprache-literatur-kultur/ germanistik/ institut/ emeriti/ prof-dr-albrecht-greule/ index.html [Zugriff: 23.01.2018]). Er hat zahlreiche Veröffentlichungen zur Methodendiskussion der Hymnologie und Liturgiewissenschaft, mehr noch zum Methodentransfer der Philologie in diese Fächer, vorgelegt. Versammelt finden sich viele Beiträge im Band „Sakralität“ (Greule, Sakralität [2012]). Greule hat vorgeschlagen, für Arbeiten, die sich an der Schnittstelle zwischen Theologie und Linguistik bewegen, den Begriff der „Theolinguistik“, der sonst eher im englischsprachigen Bereich bekannt ist, zu verwenden (vgl. Greule/ Kucharska-Dreiß, Theolinguistik, 11-18). Für hilfreichen Austausch bei der Suche nach geeigneten methodischen Zugängen und für Beantwortung meiner dem sprachwissenschaftlichen Autodikatentum geschuldeten Fragen, bleibe ich Albrecht Greule mit Dank verbunden. 39 Vgl. Greule, Die Sprache im neuen geistlichen Lied, 97-98; ebs. vgl. Greule/ Meyer, „Ich geh durch Ödland“, 63-64. Dieser sprachwissenschaftliche Katalog steht für die meisten textbezogenen Fragen auch im Hintergrund vom Katalog Siri Fuhrmanns (vgl. Fuhrmann, „Mehr als Worte sagt ein Lied“, 11). Viele Überlegungen und Perspektiven auf Kirchenlieder, die Greule hier eröffnet, hat er auch vorher an anderen Textsorten gewinnbringend aufzeigen können. Greule selbst sieht sein methodisches Vorgehen v. a. vom Verständnis des Textes als strukturiertem kommunikativem Großkomplex her ausgehend und benennt sein Konzept als „Textgrammatik“ (vgl. Greule, Möglichkeiten und Grenzen der textgrammatischen Analyse, 55-58). <?page no="51"?> 52 A. Ausgangslage und Vorgehen irgendein Synonym (z.B.: Übel, Leid, Not, Arges etc.) im Untersuchungsbereich eingeschlossen. Ich beschränke mich auf personales Böses‚ 40 bzw. Böses, das diesen Eindruck vermittelt oder zumindest dieses Verständnis zulässt, also Vorstellungen und Beschreibungen, die ein autonomes Aktzentrum beschreiben. Konkret durchleuchte ich in Volltextsuche den EG-Stammteil (Grundlage ist eine digitalisierte Fassung des EG 41 ) nach den Begriffen „Teufel“, „Satan“ und weiteren Begriffen, die unzweifelhaft als Teufel aufgefasst werden können. Um zu weiteren Synonymen zu gelangen, wende ich einen Methodenschritt an, der von Greule zu den „Textologischen Kriterien“ gerechnet wird und im eigentlichen Sinne den Zusammenhang eines Textes/ die Textkohärenz nachweisen soll. 42 Dazu ist zu fragen: „Gibt es ‚Koreferenzketten‘? (Koreferenzketten entstehen durch mehrfaches Sich-Beziehen auf ein und dasselbe Referenzobjekt. Durch jede Referenzkette wird ein zentraler Textgegenstand installiert.)“ 43 Ich suche also Worte die kata- oder anaphorische 44 Beziehungsgeflechte zum Teufel aufspannen. Bei Anwendung dieser Methode gehe ich etwas freier zu Werke, als gelegentlich damit umgegangen wird und rechne neben Personalpronomen, die als „referenzidentisch“ eingestuft werden können, auch andere Arten von Pronomen (z.B. Possessivpronomen) mit in die Ketten ein. 45 Außerdem 40 Wie problematisch der Begriff der Person ist, wird oben angedeutet (s. Kap. 2.). 41 Die digitalisierte Fassung ist eine eigens angefertigte PDF-Datei, die ich der elektronischen EG-Ausgabe aus der Reihe „bibel digital“ vorziehe, da ich in der PDF-Datei in völlig freier Form Pfeile, Symbole, Texte und Hervorhebungen einfügen kann. Überhaupt ist die elektronische EG-Ausgabe sperrig zu handhaben und bedarf der Überarbeitung (vgl. Reinke, Neue Lieder in altem Gewand, 45). 42 Vgl. Greule, Die Sprache im neuen geistlichen Lied, 98. 43 Greule, Die Sprache im neuen geistlichen Lied, 98. Die Schülerinnen Greules, Kessel und Reimann, führen zur Koreferenz aus: „Beziehen sich zwei Ausdrücke auf dasselbe Referenzobjekt, nennt man dieses Phänomen Koreferenz. Dabei ist […] der erste autosemantische Ausdruck - ein Pronomen beispielsweise scheidet hier aus - der Bezugsausdruck […]. Einen später folgenden dazu koreferenten Ausdruck bezeichnet man als Verweisausdruck“ (Kessel/ Reimann, Basiswissen Deutsche Gegenwartssprache, 209). 44 Mit kataphorisch und anaphorisch wird linguistisch die Verflechtungsrichtung zwischen Bezugs- und Verweisausdruck angegeben. Bei kataphorischer Verflechtung geht der Verweisdem Bezugsausdruck voraus, bei anaphorischer Verflechtung verhält es sich umgekehrt (vgl. Kessel/ Reimann, Basiswissen Deutsche Gegenwartssprache, 220). 45 Damit werden sogenannte „kombinierte Verweisausdrücke“ mitbedacht, welche aus einem referenzidentischen und nicht-referenzidentischen Element bestehen (vgl. Kessel/ Reimann, Basiswissen Deutsche Gegenwartssprache, 215). Bspw. kann beim kombinierten Verweisausdruck „seine [sc. des Teufels] List“ das Pronomen „seine“ für die Referenzkette „Teufel“ von Belang sein. In Liedtexten handelt es sich außerdem nicht selten um „kombinierte Verweisausdrücke“, die etwa mit dem Phänomen der Partialität einher gehen, worunter man Teil-Ganzes-Referenzen (z.B. „seine [sc. des Teufels] Klauen“) ver- <?page no="52"?> 4. Grundentscheidungen, Methodik, Forschungsfragen 53 gehe ich weniger streng bei der Anwendung des „transphrastischen Prinzips“ 46 vor, das besagt, dass Koreferenz und damit auch Kohärenz innerhalb eines Textes erst durch zwei Sprachzeichen mit Referenz zum selben Referenzobjekt in verschiedenen Sätzen untersucht werden kann. Da ich allerdings poetische Texte untersuche, deren Satzstrukturen oftmals aufgebrochen sind, gelangt man bei zu strenger Anwendung des transphrastischen Prinzips an Grenzen - wenngleich die konkrete Analysepraxis auf Grund der gegebenen Texte meist im Rahmen der satzübergreifenden Ebene stattfindet. Mit jedem Wort, das auf diese Weise als Synonym aufgezeigt werden kann - hier sind aus nicht weiter erläuterungsbedürftigen Gründen Pronomen nicht mehr von Interesse - wird in gleicher Weise wieder eine Volltextsuche unternommen. In den aufgefundenen Liedern wird erneut eine Referenzkette erstellt. Beim Erarbeiten von Referenzketten mit vorher erarbeiteten Synonymen zeigt sich schnell, ob die Synonyme auch in diesen weiteren Liedern Teufels-Synonyme darstellen. So kann etwa der „alt böse Feind“ in EG 362 als Synonym für Teufel erscheinen, wohingegen der Feind/ die Feinde in vielen Psalmliedern schlicht auf Menschen verweisen, wie durch das Aufstellen der jeweiligen Referenzkette aufgezeigt werden kann. 47 Nicht in allen Fällen ist eindeutig zu klären, was hinter dem einen oder anderen Ausdruck als außersprachlichem Referenzobjekt zu verstehen ist. Meist läuft meine Entscheidung für die Interpretation als „Teufel“ über die Suche nach Explikationen im jeweiligen Text, dann über naheliegende Interpretationsangebote und über den Abgleich etwa mit den Konkordanzen zum EG/ EKG 48 , die bei strittigen Fragen ebenfalls Interpretationsangebote geben. Die Ergebnisse dieses Vorgehens habe ich, wie auch die folgenden noch zu erläuternden Schritte, Übersichten/ Tabellen zugeführt (s. Tabellenband, online). 49 Mit gleicher Methode, also dem Aufstellen von Referenzketten, habe ich weitere zentrale Textgegenstände im Umfeld der Verse, die den Teufel benennen, steht. Außerdem tauchen in meinen Referenzketten gelegentlich Begriffe auf, die in den Bereich der Referenzerweiterung oder -verkürzung (z.B. der Teufel …, die Feinde [Referenzerweiterung]) zu rechnen sind (vgl. Kessel/ Reimann, Basiswissen Deutsche Gegenwartssprache, 18). 46 Dieses Prinzip „besagt, dass verbale Kohärenz oberhalb der Satzebene zu untersuchen ist“ (Kessel/ Reimann, Basiswissen Deutsche Gegenwartssprache, 208; ebs. vgl. Greule, Möglichkeiten und Grenzen der textgrammatischen Analyse, 61). 47 Da dies bei Psalmliedern häufig der Fall ist und es im EG kein Lied in der Rubrik der „Biblischen Gesänge“ (EG 270-310) gibt, das zweifelsfrei bestimmt (etwa durch Nennung von Satan oder Teufel), auf wen sich die Feinde beziehen, fallen diese in meiner ganzen Untersuchung aus. Dass diese Unklarheit in der Referenz klassisch zu sein scheint, wird durch den oben genannten Befund aus der Untersuchung von Guido Fuchs deutlich, in der der Teufel eine Marginalität darstellt (s. Kap. 3.). 48 HEG I [1995]; HEKG I/ 1 [1954]. 49 Vgl. Tab. Sp. „Koreferenzkette Teufel (Synonyme)“. <?page no="53"?> 54 A. Ausgangslage und Vorgehen ermittelt - Vollständigkeit ist dabei nicht intendiert und geboten. 50 Allerdings, und deshalb habe ich diese aufgeführt, verraten sogenannte „Kollokationen“ 51 einiges über die theologischen Zusammenhänge und Gedankenkomplexe, mit denen der Teufel verbunden ist. Dem Leser wird schnell bei der Lektüre auffallen, dass es sich bei diesen wichtigen Textgegenständen neben dem Teufel überwiegend um Personen, seien es Menschen oder Personen der Trinität, handelt, gelegentlich kommen noch besondere durch vielfache Erwähnung festinstallierte Bedeutungsträger des Textes hinzu, die keine Personalität in Anspruch nehmen können, z.B. Welt oder Tod. Die Suche nach Synonymen und das Aufstellen von Korefenzketten über den Teufel habe ich für das ganze Gesangbuch und die in Frage kommenden Gesänge unternommen, entsprechend dürfte eine Vollständigkeit erreicht sein. Die weiteren zu erläuternden Analyseschritte habe ich nur für die eigens ausgewiesenen person- und rubrikbezogenen Kapitel (s. Kap. 6.-11.) unternommen, da hier das hauptsächliche Vorkommen liegt und arbeitsökonomische Zwänge nicht völlig vernachlässigt werden konnten. Auf einen von Greule vorgeschlagenen und an die Koreferenzketten anschließenden Methodenschritt, die Bestimmung der Isotopieebenen‚ 52 der durch das Aufzeigen gemeinsamer semantischer Merkmale in verschiedenen Wörtern eines Textes ebenfalls die Kohärenz des Textes herausstellt und wichtige Textinhalte deutlich macht‚ 53 verzichte ich. M.E. ist dieses Verfahren methodisch im Zugriff nicht befriedigend geklärt. 54 50 Vgl. Tab. Sp. „Wichtige Textgegenstände“. 51 „Unter Kollokation wird das auf Grund der Bedeutung der Wörter mögliche Vorkommen bestimmter Wörter im selben Kontext verstanden.“ (Kocsany, Grundkurs Linguistik, 162). 52 Vgl. Greule/ Meyer, „Ich geh durch Ödland“, 64. 53 Das Isotopiekonzept, das maßgeblich von Algirdas Julien Greimas (1917-1992) entwickelt wurde, beruht auf der Annahme, dass man die Gesamtheit des semantischen Materials (Semem) eines Wortes in einzelne Einheiten (Seme) zerlegen kann. Beobachtet man gemeinsame Seme bei unterschiedlichen Wörtern in einem Text, sind dadurch semantische Fäden erwiesen, die Textkohärenz in entscheidendem Maße mitbegründen (vgl. Kallmeyer/ Klein, Lektürekolleg zur Textlinguistik. Bd. 1, 143-148). 54 Die methodische Problematik bei der Bestimmung der Isotopie hat Greule selbst formuliert (vgl. Greule, Möglichkeiten und Grenzen der textgrammatischen Analyse, 62) und in persönlicher Erörterung dieser Fragerichtung mit mir nicht geleugnet. Dennoch wurde dieses Konzept etwa von Siri Fuhrmann bereitwillig angewendet (vgl. Fuhrmann, Der Abend in Lied, Leben und Liturgie, 20) und auch in ihrem Analyseleitfaden für weitere Liedanalysen anempfohlen (vgl. Fuhrmann, „Mehr als Worte sagt ein Lied“, 14). Fuhrmann geht m. E. in ihren Einzelinterpretationen bei der Isotopiebestimmung in nicht immer vollends nachvollziehbarer Weise vor. Dass sie und Greule an diesem Konzept festhalten, obwohl innerhalb der Linguistik relativ früh (1970er Jahre) diese methodische Unschärfe bekannt war, ist mir nicht erklärbar (vgl. Heinemann, Das Isotopiekonzept, 55-58). <?page no="54"?> 4. Grundentscheidungen, Methodik, Forschungsfragen 55 Um den Nachvollzug und das Auffinden der in den Referenzketten verzeichneten Teufelssynonyme zu erleichtern, sind jeweils die Verse einzeln in meiner tabellarischen Übersicht in eigener Spalte aufgeführt. 55 Durch diese Auflistungen ist für meine tiefere theologische Fragestellung nach Wesen und Werk des Teufels in Liedern des Gesangbuches schon reiches Material zusammengetragen. Um keine Aussage, in der der Teufel etwa als internes Subjekt oder Objekt (also explizit erst vor oder nach dem jeweiligen Vers) vorhanden ist, auszublenden, werden auch diese Aussagen gesondert in meiner Auflistung erfasst. 56 Dieses aufwändige und kleinteilige Vorgehen scheint mir angemessen, da eine möglichst breite und detaillierte Betrachtung von Wesen und Werk des Teufels erreicht werden soll. Mit der Klärung nach dem Vorkommen des Teufels nebst Synonymen ist aber mein Forschungsinteresse keinesfalls erschöpft. In weiteren Schritten beschäftigt mich die Forschungsfrage, wie die Singenden mit dem Teufel umgehen, in welcher Weise die Gemeinde versucht, sich einen Weg im Gegenüber zu diesem Feind zu bahnen. In welchen personellen, zeitlichen und örtlichen Konstellationen tritt der Teufel auf ? Welchen Eindruck und welche Verfassung gibt die singende Kirche zu erkennen? Dafür untersuche ich im Anschluss an Greule sprachliche Elemente, die in seinem Analysekanon unter der Kategorie „Pragmatische Analyse“ verzeichnet sind. 57 Darunter fallen die Betrachtung der „Simulierten Kommunikationssituation“ 58 , der „Sprecherhandlung“ 59 und der „Sprechereinstellung“ 60 , die jeweils mit eigenen Spalten in meine Übersicht eingegangen sind. Zum Ermitteln der „Simulierten Kommunikationssituation“ fragt Greule: „Simulierte Kommunikationssituation (nicht identisch mit ‚Sitz im Leben‘): Wer spricht wo wann zu wem? (Sprachliches Mittel: Deiktika: ICH - DU - HIER - JETZT).“ 61 Die Deiktika, die vor allem den Wortarten Pronomen und Adverb angehören, lassen sich, wie das Beispiel 55 Vgl. Tab. Sp. „Phrase mit Teufel“. 56 Vgl. Tab. Sp. „Weitere mit Teufel verbundene Verben“. 57 Vgl. Greule, Die Sprache im neuen geistlichen Lied, 97. Greule ist an dieser Stelle dem Leitfaden von Siri Fuhrmann deutlich vorzuziehen, da er wesentlich ausführlicher erklärt, wie er diese Fragestellungen verstanden wissen möchte (vgl. Fuhrmann, „Mehr als Worte sagt ein Lied“, 13-14). 58 Vgl. Tab. Sp. „Simulierte Kommunikationssituation“. 59 Vgl. Tab. Sp. „Sprecherhandlungen“. 60 Vgl. Tab. Sp. „Sprechereinstellungen“. 61 Greule, Die Sprache im neuen geistlichen Lied, 97. Dass es nicht um den „Sitz im Leben“ geht, ist ein wichtiger Hinweis, um die Fragerichtung, die dem Liedinternen gilt, nicht aus dem Blick zu verlieren. Fuhrmann macht deutlich, was hingegen die Frage nach dem „Sitz im Leben“ eines Liedes wäre: „Welche liturgische bzw. außerliturgische Verwendung sieht der Text vor? Wie wurde er ursprünglich verwendet? Wie wird das Lied derzeitig eingesetzt? “ (Fuhrmann, „Mehr als Worte sagt ein Lied“, 22). Fuhrmann fasst unter dem Oberbegriff „Textpragmatik“ anders als Greule alle drei genannten Einzelaspekte zu- <?page no="55"?> 56 A. Ausgangslage und Vorgehen von Greule zeigt, nach den Fragewörtern wer, wo, wann und wem noch einmal eigens differenzieren: „Zu unterscheiden sind Personaldeixis (der Sprecher referiert auf sich selbst oder den Empfänger: ich, du, wir, ihr, sie), Lokaldeixis (der Sprecher referiert auf einen Ort und verstärkt dies häufig durch eine Zeigegeste: hier, dort) und Temporaldeixis (der Sprecher referiert auf einen Zeitpunkt: jetzt, gestern, heute).“ 62 Der simulierten Kommunikationssituation kommt erhebliches Gewicht zu, denn durch diese kann während des Singens eine Identifikation des Sängers mit dem liedinternen Sender des Liedes hergestellt werden und so das Ich/ Wir des Liedes, das z.B. hymnisch den Teufel vertreibt, zum Stimmgeber für das eigene exorzierende Handeln werden. 63 Die simulierte Kommunikationssituation entscheidet also maßgeblich darüber, ob Gesänge in einer Gemeinde und ihrem Gedächtnis und Kult beheimatet werden können und in welcher Weise der Teufel als Gegenstand katechetischer Unterweisung den Singenden entgegentritt. Grob lassen sich nach Greule fünf Arten von Kommunikationssituationen unterscheiden (neben unzähligen Mischformen derselben): eine euchologische (Sprecher wendet sich an Gott), eine narrative (Sprecher spricht über Gott), eine paränetische (Sprecher fordert zu Handlung auf), eine gruppenbezogene (Sprecher spricht zu Gruppe, der er zugehörig ist) und eine offene (ohne erkennbare Kommunikationssituation). 64 Es zeigt sich, dass die Zuordnung zu einem der Muster nur selten in Klarheit gelingt, sondern vielmehr Mischformen die Regel sammen: „Wer spricht wo wann wie und warum zu wem? “ (Fuhrmann, „Mehr als Worte sagt ein Lied“, 13). 62 Kessel/ Reimann, Basiswissen Deutsche Gegenwartssprache, 217. 63 Ich verzichte, ähnlich wie Martini (vgl. Martini, Sprache und Rezeption des Kirchenliedes, 59), in meiner Studie darauf, den textinternen Sender (bzw. Textautor) vom aktuellen Sänger zu unterscheiden, da diese Differenzierung m. E. nur durch eine eigens rezeptionsorientierte Untersuchung sinnvoll dargestellt werden kann, die ich allerdings in meiner Studie nicht unternehmen kann. Ich setze vielmehr eine Identifikation aus methodischen Gründen voraus: „Der Begriff der Identifikation bezeichnet hierbei in einem engen Sinn (vor allem für Literatur mit Lehrtendenz) das ‚Miterleben‘ des Erzählten, also eine Rezeption, die für eine gewisse Zeit quasi in die Rolle einer werkimmanenten Figur schlüpft und das Geschehen sowie die anderen Figuren aus der Sicht dieser Identifikationsfigur beurteilt.“ (Gebel, Die Welt und ihre Kinder, 12). 64 Vgl. Greule, Die Sprache im neuen geistlichen Lied, 93-94. Greule übernimmt diese Gedanken, wie er selbst erwähnt, von Hermann Ühlein, der u.a. in seiner Dissertation (Ühlein, Kirchenlied und Textgeschichte [1995]) die Vielgestaltigkeit von simulierten Kommunikationssituationen aufzeigt. Die fünf von Greule gebündelten Muster beziehen sich im zitierten Aufsatz zwar auf NGL, allerdings kann Greule an anderer Stelle auch die Einsatzmöglichkeit der Methode an reformatorischem und barockem Liedgut erweisen (vgl. Greule, Textgrammatische Analysen zu Luthers „Mitten wir im Leben sind“, 181- 184; ebs. vgl. Greule, Textstruktur und Texttradition, 193-195). <?page no="56"?> 4. Grundentscheidungen, Methodik, Forschungsfragen 57 darstellen, wobei es sogar oft sehr komplexe Mischformen gibt, die ich eigens unter „Komplexe Kommunikationssituation“ zu verzeichnen gesucht habe. 65 Einer der wichtigsten Punkte für die Beantwortung der Frage, wie in Liedern und damit durch die singende Gemeinde mit dem Teufel umgegangen wird, versuche ich durch die Analyse der Sprecherhandlung zu ermitteln. Unter der Überschrift Sprecherhandlung wird an den Liedtext folgende Frage gerichtet: „Was bezweckt der SENDER mit dem Text (z.B. mitteilen, bekennen, bewerten, bitten)? “ 66 Es ist die große Leistung des „linguistic turn“ herausgestellt zu haben, dass sprachliche Äußerungen selbst Handlungen darstellen, die es zu untersuchen gilt. 67 Das Forschen und Verstehen dessen, was Sprechakte 68 sind und unter welchen Bedingungen sie verlaufen, gelingen oder misslingen, ist bis heute ein unabgeschlossenes Forschungsfeld der Linguistik. Besondere Schwierigkeit bereitet die Einteilung der Sprechakte in Klassen, was nicht weiter verwundert, wenn man sich die eigentlich unbegrenzte Zahl an möglichen Sprecherhandlungen zwischen bitten, drohen, fragen, erlauben, beleidigen etc. vor Augen führt. 69 So sind auch die Beispiele, die in der Frage nach dem Zweck, den der Sender mit seiner Äußerung verfolgt, nur mögliche Hinweise auf die Fülle an 65 Diese Spezialform der Kommunikationssituation findet sich in meiner Übersicht in der letzten Spalte (vgl. Tab. Sp. „Sonstige Bemerkungen“). 66 Greule/ Meyer, „Ich geh durch Ödland“, 63. Es ist innerhalb der Linguistik üblich, aber nicht unumstritten, die Sprechakte in Versalien (Großbuchstaben) zu schreiben, um auszudrücken, dass es sich dabei nicht um konkrete Verben, sondern um das, was mit ihnen gewirkt werden soll, handelt. In diesem Zitat verzichtet Greule, wie an vielen anderen Stellen, auf dieses Verfahren. Ich verzichte darauf gänzlich, da m. E. durch dieses Verfahren wenig bis gar nichts an Zugewinn erreicht wird. Peter von Polenz bemerkt zu dieser Frage: „Die Gewohnheit der Versalienschreibung ist […] vorwissenschaftlich, stark intuitiv und ungenau.“ (Polenz, Deutsche Satzsemantik, 205). 67 Vgl. Kocsany, Grundkurs Linguistik, 200-201. Die entscheidenden und heute noch grundlegenden Referenzwerke wurden durch John Austin (Austin, Zur Theorie der Sprechakte [2007]) und seinen Schüler John Searle (Searle, Sprechakte [2013]) in den 1960er Jahren geschaffen. 68 Die Begriffe Sprecherhandlung, Sprachhandlung und Sprechakt sind in der linguistischen Fachsprache gleichermaßen verbreitet und werden von mir synonym verwendet (vgl. Polenz, Deutsche Satzsemantik, 195). 69 Searle unterschied in seinem zum Klassiker gewordenen Buch (engl. Original 1969) noch etwas experimentell die illokutionären Akte: Auffordern, Behaupten, Fragen, Danken, Raten, Warnen, Grüßen und Beglückwünschen (vgl. Searle, Sprechakte, 100-106). Erst mit der Weiterentwicklung des Klassifikationsmodells kommt Searle zur bis heute in unterschiedlichen Modifikationen noch gebräuchlichen Einteilung in: assertiv, direktiv, kommissiv, expressiv, deklarativ (vgl. Maibaum, Pragmatik, 95-96; ebs. vgl. Brinker/ Cölfen/ Pappert, Linguistische Textanalyse, 102). Dennoch ist die Klassifikation von Sprechakten immer noch ein offenes Feld. So folgt Peter von Polenz bei seiner Einteilung anderen Akzenten, indem er ichorientierte, partnerorientierte und kooperative Sprachhandlungen voneinander unterscheidet (vgl. Polenz, Deutsche Satzsemantik, 207-209). <?page no="57"?> 58 A. Ausgangslage und Vorgehen Sprecherhandlungen, die sich in menschlicher Kommunikation ereignen können. Erschwerend kommt hinzu, dass ich es in meiner Untersuchung mit längeren Äußerungen (mehrstrophige Lieder) zu tun habe, in denen theoretisch jede einzelne Passage auf ihren Sprechaktgehalt hin einzeln analysiert und betrachtet werden müsste. 70 Dass dies für eine großflächige Untersuchung wenig sinnvoll sein kann, ist evident. Entsprechend gehe ich davon aus, dass einzelne Sprechakte, die in größeren Einheiten zusammen stehen, sich in Ober- und Unterordnung auf eine Gesamthandlung hin strukturieren. D.h., ich analysiere Gesangbuchtexte unter der Grundannahme, dass: „in der Regel eine bestimmte illokutive Handlung die übrigen dominiert; diese bezeichnet das Gesamtziel […]. Die anderen illokutiven Handlungen dienen dazu, diese dominierende illokutive Handlung zu stützen, d. h. ihren Erfolg zu sichern“ 71 . Ich beziehe mich bei den verzeichneten Sprechakten in meiner Tabelle vor allem auf diese dominierenden Sprechakte. 72 Daneben verzeichne ich vor allem jene Sprechakte, die sich im Umfeld der Verse, die vom Teufel handeln, ereignen. Nicht selten sind mehrere Sprechakte in einer Zelle vermerkt, was entweder tatsächlich mehreren verschiedenen dominierenden Sprechakten, die nahezu gleichartig zu gewichten sind, geschuldet ist, oder aber, wie es häufiger der Fall ist, mit der Struktur religiöser Sprache generell zusammenhängt. Religiöse Sprache, mehr noch die Sprache im rituellen Vollzug, ist nicht gleichzusetzen mit profaner und intersubjektiv-kommunizierbarer Sprache - rituelle Sprache deutet Wirklichkeit und Gegenwart unter der Prämisse, dass Gott alles in allem sei. Außerdem ist es ein Spezifikum religiöser Sprache, dass sie überwiegend als Form der Antwort gegenüber der ergangenen Anrede durch das Transzendente 70 Die Sprechakttheorie nach Austin und Searle war v. a. an elementaren kommunikativen Formen entwickelt worden. „Einfache sprachliche Handlungen überschreiten in grammatischer Hinsicht in der Regel nicht den Umfang eines sog. vollständigen Satzes. Es stellt sich also die Frage, in welcher Form die an einfachen sprachlichen Handlungen gewonnenen Erkenntnisse auf Texte angewendet werden können, die doch nach unserer Definition in der Regel mehr als einen Satz umfassen, also komplexer strukturiert sind.“ (Brinker/ Cölfen/ Pappert, Linguistische Textanalyse, 94). 71 Brinker/ Cölfen/ Pappert, Linguistische Textanalyse, 95. Der Begriff der Illokution ist in Pragmatik Searlscher Richtung gegenüber der Perlokution, dem Äußerungsakt und dem Propositionalen Akt zu unterscheiden. Die lllokution (Zweck) meint die eigentliche Tätigkeit, die mit der Äußerung (Formulieren von Lauten und Silben) und der Proposition (Inhalt der Äußerung) erreicht werden soll. Ob die Illokution erfolgreich ist, zeigt sich demgegenüber an der Perlokution (Wirkung), die beim Empfänger der Nachricht erkennbar wird (vgl. Ehrhardt/ Heringer, Pragmatik, 59-63). 72 Die Suche nach dem dominierenden Sprechakt ist auch bei Greule die eigentliche Aufgabe der Fragestellung nach der Sprecherhandlung (vgl. Greule, So sie’s nicht verstehen, so sollten sie’s nicht singen, 61). <?page no="58"?> 4. Grundentscheidungen, Methodik, Forschungsfragen 59 zu verstehen ist. 73 Die Sprache der Religion erweist sich bei genauer Betrachtung als hochgradig komplex. Dies drückt sich aus: „in einer Art von Sprechakthäufung, in einer Ballung von Illokutionen in einer einzigen Äußerung: […]. So ist die Feststellung des religiösen Sachverhalts, etwa das ‚Jesus ist Gott! ‘ der frühchristlichen Predigt, zugleich eine wirkungsvolle Ankündigung, indem sie die religiöse Situation der Anwesenden neu definiert; darüber hinaus ist sie eine Aufforderung, wenn nicht ein Befehl, das Festgestellte zu glauben, eine Warnung vor den Folgen des möglichen Unglaubens, ein Ausdruck des Glaubens und das Versprechen, entsprechend der religiösen Situation und der aus ihr folgenden Verpflichtung zu handeln.“ 74 Aufgrund dieser Sprechakthäufungen verzichte ich in meinen Ausführungen auf genaue Klassifikationen der von mir herausgestellten Sprechakte, sondern bleibe eine Abstraktionsstufe darunter bei den m. E. dominanten Sprecherhandlungen in den Liedtexten und v. a. in der näheren Textumgebung der „Teufelsverse“. 75 Um noch genauer den Umgang mit dem Teufel beschreiben zu können, verzeichne ich noch einmal eigens die Art und Weise, wie die Gemeinde ihm entgegen tritt (imprekativ, deprekativ, berichtend). 76 73 Vgl. Kuße, Kulturwissenschaftliche Linguistik, 151-155. 74 Bayer, Religiöse Sprache, 40. 75 In der Dissertation von Udo Hildenbrand werden Sprechakte innerhalb des Gotteslobes [1975] analysiert und auf wenige Grundakte hin zusammengefasst (vgl. Hildenbrand, Das Einheitsgesangbuch Gotteslob, 1-13). Damit erreicht Hildenbrand den Eindruck großer Übersichtlichkeit, geht damit m. E. aber an dem Spezifikum religiöser Sprache einschließlich der ihr eigenen Sprechakthäufung vorbei. Anders und m. E. sachgemäß hat Martini das Phänomen der Sprechakthäufung behandelt, indem sie zwar Klassen bildet, aber bei mehrdeutigen Versen dennoch auf diese Mehrdeutigkeit explizit hinweist (vgl. Martini, Sprache und Rezeption des Kirchenliedes, 56). Bei aller vermeintlicher Objektivität durch Anwendung linguistischer Methoden sollte spätestens beim Hinweis auf Sprechakthäufungen in religiösen Texten klar sein, dass „Sprechaktermittlungen […] ein hohes Maß an subjektiven Entscheidungen“ (Simmler, Textsorten des religiösen und kirchlichen Bereichs, 683) enthalten. 76 Vgl. Tab. Sp. „Sonstige Bemerkungen“. Diese Spalte stellt allerdings keine vollständige Erfassung des benannten Themas dar. Dass gerade Formen von Kommunikation, die postulieren die Grenze vom Dieszum Jenseits überschreiten zu können (z.B. imprekative, deprekative Gebetsformeln), und deshalb nur im uneigentlichen Sinne als Kommunikation, wie sie diesseitig verläuft, bezeichnet werden kann, den linguistisch arbeitenden Theologen in Kernfragen wissenschaftlicher Redlichkeit stürzt, muss Niklas Luhmann zugestanden werden (vgl. Luhmann, Läßt unsere Gesellschaft Kommunikation mit Gott zu? , 232-234). Die Annahme „Gottes als Kommunikationspartner“ ist und bleibt ein wissenschaftstheoretischer Reizpunkt, den ich hier nicht zu lösen im Stande bin. Ziaja führt aus: „Zu diesen [sc. Merkmalen religiöser Sprache] gehört vornehmlich die Ausweitung des kommunikativen Aktes um die Person Gottes. Dieser kann als Sender, Empfänger oder Zeuge beteiligt sein. Die Einbeziehung Gottes in den kommunikativen Akt mittels <?page no="59"?> 60 A. Ausgangslage und Vorgehen Die noch ausstehende und zu erläuternde Fragerichtung nach der Sprechereinstellung versucht nach Greule Folgendes zu klären: „Welche Einstellung zum Aussagegehalt gibt der SENDER zu erkennen (z.B. Gewissheit, Vermutung, Distanzierung)? “ 77 Bei dieser Untersuchung gelangt man an ähnliche Methodengrenzen wie bei den Sprecherhandlungen, denn dem Wesen des Glaubens und seiner Sprache ist eine kaum fassbare Komplexität in seinen Formen und den damit transportierten Inhalten zu eigen. 78 Dennoch ist gerade diese Perspektive auf den Text von großer Relevanz, wenn es darum geht, zu erörtern, wie die christliche Gemeinde mit dem Teufel in ihren Liedern umgeht. Befindet sich die Gemeinde etwa in einer Haltung der festen Überzeugung, dass die Attacken des Teufels ihr nicht schaden können und Gott seine schützende Hand über sie hält? Oder drückt die gläubige Sängerschaft mit ihren Texten Besorgnis ob des Teufels und Zweifel an der allgegenwärtigen Hilfe Gottes aus? Peter von Polenz unterscheidet vier Grundmuster von Sprechereinstellungen 79 (nebst diverser Unterkategorien): Für-Wahr-Halten, Verneinen, Bewerten, Wollen. 80 Zu ermitteln ist diese Sprechereinstellung nicht selten durch die, in Peter von Polenz’ Buch, im Untertitel genannte Kunst „des Zwischen-den-Zeilen-Lesens“ 81 . Auf die Sprechereinstellung können etwa der sprachliche Modus (Indikativ/ Konjunktiv/ Imperativ), bestimmte färbende Sprachzeichen (z.B. modale Adverbien: gewiss, fälschlicherweise; Partikel: bloß, eben)‚ 82 Konnotationen von bestimmten Lexemen‚ 83 aber auch bestimmte geprägte Wendungen im Text hindeuten (z.B. Hosianna für die Einstellung „Begeisterung“) 84 . Besonders wichtig ist dabei das Wissen darum, dass: einer alltäglichen zwischenmenschlichen Sprache wäre wegen ontologischer Unterschiede überaus diffizil. Deshalb ist die religiöse Sprache, mittels der man mit Gott in Kontakt treten kann, so einzigartig und signifikant.“ (Ziaja, Paul Gerhardts Kirchenlieder, 53). 77 Greule/ Meyer, „Ich geh durch Ödland“, 63. 78 Klaus Bayer weist darauf hin, dass man Aussagen, die man im profanen Bereich mit der Sprechereinstellung „Für-wahr-Halten“ kennzeichnet, im religiösen Bereich keinesfalls so leicht klassifizieren kann, da Glauben und „Für-wahr-Halten“, wenn auch auf der sprachlichen Ebene kaum unterscheidbar, völlig verschiedene kognitive und emotionale Zustände beim Sender voraussetzen (vgl. Bayer, Religiöse Sprache, 38). 79 Für den Begriff der Sprechereinstellung wird gelegentlich auch der Ausdruck „propositionale Einstellung“ (vgl. Polenz, Deutsche Satzsemantik, 212) verwendet. 80 Vgl. Polenz, Deutsche Satzsemantik, 212-222. 81 Polenz, Deutsche Satzsemantik, III. 82 Vgl. Kessel/ Reimann, Basiswissen Deutsche Gegenwartssprache, 46.68.83. 83 Vgl. Kocsany, Grundkurs Linguistik, 56. 84 Vgl. Greule, Die Sprache im neuen geistlichen Lied, 87. An der Einstellungsbezeichnung „Begeisterung“ zeigt sich, dass die von Polenz aufgewiesenen vier Grundmuster der Sprechereinstellung, auf die sich auch Greule bezieht (vgl. Greule, So sie’s nicht verstehen, so sollten sie’s nicht singen, 61), nicht ausreichend sind, um den konkreten Liedtexten gerecht zu werden. Die Schwierigkeiten, durch jene Komplexität, die in Kirchenliedern <?page no="60"?> 4. Grundentscheidungen, Methodik, Forschungsfragen 61 „zu bestimmten Sprecherhandlungstypen bestimmte Sprechereinstellungen so selbstverständlich dazu [gehören; HH], daß sie nicht ausgedrückt zu werden brauchen (propositionale Teilregeln des Handlungstyps). Wenn man etwas BEHAUPTET oder ERWÄHNT, wenn man jemanden auf etwas HINWEIST oder jemandem etwas MIT- TEILT, so ist regelhaft mitgemeint, daß man den dazugehörigen Aussagegehalt FÜR WAHR HÄLT (handlungstypspezifische Sprechereinstellung).“ 85 Wenn ich in meiner Tabelle mehrere Sprechereinstellungen ausweise, so gilt hier selbiges wie für die Sprecherhandlungen. Es ist völlig richtig, dass auch hier viele Einstellungen über- und ineinanderliegen - in einem Gebet sind z.B. auf besondere Art Dimensionen des Für-Wahr-Haltens mit dem des Wollens verbunden. Auch hier habe ich unter der Maßgabe, dass es zwischen diesen Dimensionen Hierarchien gibt, nur die wichtigsten ausgewiesen und daneben v. a. jene, die sich in der Nähe der „Teufelsverse“ befinden. 86 Durch diese sprachwissenschaftlichen Methoden, die zu einem verlangsamten Lesen führen sollen, ist m. E. ein erster sinnvoller Zugang zu den theologischen Gehalten der Liedtexte eröffnet worden, denn eben die Frage nach Wesen und Werk, sowie der Bewältigung des Teufels ist meine vordergründige erkenntnisleitende Motivation. Die ältere Linguistik, besonders jene, die sich ausgehend vom Strukturalismus her entwickelt hat, musste sich viele Jahre den Vorwurf der Geschichtsfeindlichkeit gefallen lassen, da sie kaum die Frage nach Entstehungsgeschichte und weiteren historischen Aspekten bewegte. 87 Entsprechend wird es auch gegeben ist, eine klare Sprechereinstellung herauszuarbeiten, sind auch bei Martini sichtbar, die als Sprechereinstellung den „GUTHEISSENDEN APPELL“ (Martini, Sprache und Rezeption des Kirchenliedes, 64) benennt, was m. E. weit über eine Einstellungsbeschreibung hinausgeht. 85 Polenz, Deutsche Satzsemantik, 213. Dieser Zusammenhang zwischen Handlung und psychischer Einstellung zum Aussageinhalt wurde auch von Searle benannt, der bei assertiven Sprechakten von einhergehendem Glauben, bei direktiven von Wunsch, bei kommissiven von Absicht, bei expressiven von variablen Zuständen, bei deklarativen von bedeutungslosem psychischen Zustand ausging (vgl. Meibauer, Pragmatik, 96). Dennoch darf hier natürlich kein 1: 1 Verhältnis von Sprecherhandlung und Sprechereinstellung angenommen werden, da die Sprechereinstellung so multifaktoriell konstruiert ist, dass sie gegenwärtig ein noch unabgeschlossenes Forschungsfeld darstellt (vgl. Brinker/ Cölfen/ Pappert, Linguistische Textanalyse, 99-100). 86 Vgl. Tab. Sp. „Sprechereinstellung“. 87 Mit Recht weist m. E. Jörn Albrecht darauf hin, dass dieser Vorwurf zu kurz greift. Was nützt es, historische Erkenntnisse zu produzieren, wenn doch das Erkenntnisinteresse in einer konkreten Untersuchung in den textimmanenten Strukturen zwischen den einzelnen Textelementen besteht - Abstimmung von Forschungsfrage, Untersuchungsgegenstand und Methode sollte eher als Ausdruck wissenschaftlicher Notwendigkeit gelten (vgl. Albrecht, Europäischer Strukturalismus, 167-171). <?page no="61"?> 62 A. Ausgangslage und Vorgehen Kollegen aus der hymnologischen Forschung geben, die mir vorwerfen werden, dass es für eine theologisch verantwortete Betrachtung der kirchenliedspezifischen Satanologie, bei einem Werk, wie dem kirchlichen Gesangbuch, das Zeugnisse aus Jahrhunderten versammelt, noch anderer Perspektiven bedürfe, die über die gegenwärtige Textgestalt hinausgehen. 88 Ohne Zweifel wären historische Erforschungen zum Wandel des Satansbildes im Kirchenlied interessant, insbesondere in der Zeit der Aufklärung. Ich habe bewusst diese Perspektive zu großen Teilen ausgeklammert. In den Kapiteln zu Luther und Gerhardt wird natürlich auf ihre Hintergründe und ihre Zeit eingegangen und auch in den jeweiligen Detailbetrachtungen zu einzelnen Liedern am Ende der weiteren Kapitel. Natürlich zeigt auch mittelbar meine Übersicht (s. Tabellenband, online) etwas von der Geschichte des Gesangbuches, wenn eigens die Autoren und die Erstdrucke mit Daten beigegeben sind. 89 Es geht mir aber in dieser Erstuntersuchung im Bereich einer hymnologischen Satanologie vor allem anderen um eine synchrone Betrachtung des Textkorpus EG, wenngleich ich dennoch auf zweierlei Weise diachrone Wünsche bediene. Eine kleinere diachrone Perspektive auf die Texte des EG wird in meiner Studie durch den Vergleich von EG und dem Vorgängergesangbuch EKG eröffnet. 90 Strophen und Lieder, die den Teufel thematisieren und beim Übergang vom einen zum anderen Gesangbuch teilweise oder ganz ausgefallen sind, lassen Rückschlüsse auf die jeweiligen verantwortlichen Gremien und ihre theologischen Prämissen zu. Insgesamt ist die Texttreue vom EG gegenüber dem EKG aber ausgesprochen groß. Eine weitergehende diachrone Perspektive hält in meiner Arbeit in allen Detailkapiteln (s. Kap. 6.-11.) Einzug, indem ich sämtliche untersuchte Texte entweder direkt aus ihren Ursprungsversionen heraus analysiert habe, wie bei Luther und Gerhardt, oder indem ich in meiner Tabelle auf textkritische Editionen verweise und bei Abweichungen in Strophenzahl oder aber im Wortlaut (soweit sie die Satanologie betreffen) eigens verweise und entsprechende Texte beigebe. 91 Hier lassen sich implizit leitende Kri- 88 Entsprechend führt Fuhrmann über Greule hinausgehend in ihrem Analyseleitfaden die Kategorie „Theologische Aspekte“ (vgl. Fuhrmann, „Mehr als Worte sagt ein Lied“, 17-18) und die Kategorie „Liedhistorische Aspekte“ (vgl. Fuhrmann, „Mehr als Worte sagt ein Lied“, 18-20) ein. 89 Vgl. Tab. Sp. „Alter Text“; Sp. „Dichter“. 90 Vgl. Tab. Sp. „Veränderungen von EKG zu EG“. Dieser Vergleich der Textgestalten kann auf die Publikation von Dieter Frahm zurückgreifen (Frahm, Synopse zum Evangelischen Gesangbuch [1996]), der in seiner Synopse selbst kleinste Textveränderung nebst der von der Kommission angegebenen Begründung verzeichnet. 91 Vgl. Tab. Sp. „Verhältnis EG/ EKG und Original“. Ich beziehe mich v. a. auf die maßgeblichen Editionen von Wackernagel (Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zum Anfang des XVII. Jahrhunderts. Bd. I-V [1864-1877]) und Fischer/ Tümpel <?page no="62"?> 4. Grundentscheidungen, Methodik, Forschungsfragen 63 terien bei der Textaufnahme auch und gerade satanologisch relevanter Verse durch die Kommission erkennen. Deutlich wird dabei eine relativ hohe Treue zu den Ursprungswerken in den relevanten Liedern. Wenn in diesen Liedern, wo Veränderungen aus theologischer Erwägung verständlich erscheinen, schon unterblieben, so lassen sich mit gewissem Recht diese Ergebnisse auch auf das Gesangbuch im Ganzen extrapolieren, womit wiederum deutlich wird, dass mittelbar sehr wohl Aussagen über Sprachbilder und Vorstellungen des Teufels in der Gesangbuchgeschichte möglich scheinen. Neben der zeitlichen Einordnung ist es m. E. für eine theologische Einordnung der Teufelsvorstellungen sinnvoll, nach den dahinterstehenden Traditionen zu fragen. Mir scheint es deshalb geboten, eigens den biblischen Bezügen, die sich in den Liedern nachzeichnen lassen, nachzugehen‚ 92 um Erkenntnisse darüber zu erhalten, welche biblischen Bücher und Bezugsstellen besonders häufig hinter den Liedtexten aufscheinen, bzw. um herauszustellen, ob eine bestimmte Aussage in den Liedern eben keinen biblischen Anhalt hat. Interessant ist daneben die Frage, inwieweit auch andere traditionsbildende Elemente (z.B.: Credo, Katechismustexte, „Theologische Klassiker“) Eingang in die Lieder gefunden haben. Unter dieser Perspektive betrachte ich v. a. die Lieder von Luther und Gerhardt (s. Kap. 6.-7.) in eigenen theologiegeschichtlichen Exkursen, sowie die jeweiligen Einzellieder an den Kapitelenden. Die traditions- und zeitgeschichtlichen Fragestellungen bilden aber, wie beschrieben, nicht den Kern meiner synchron gelagerten Arbeit. Neben diesen unmittelbar vom Lied oder dessen Autor abhängenden Forschungsfragen lässt sich noch ein weiterer Bereich auftun, der zu vertieftem Verständnis des Satans und v. a. seiner Bedeutung im theologischen Gesamtzusammenhang beitragen kann. Innerhalb der hymnologischen Forschung ist immer auch der Aufbau eines Gesangbuches, seine einzelnen Rubriken, von Bedeutung - wozu ich eigens Stellung nehme (s. Kap. 5.). Neben der Betrachtung der Liedtexte selbst, ist auch ihr Standort, ihre Rubrikzuweisung im konkreten (Fischer/ Tümpel, Das deutsche evangelische Kirchenlied des siebzehnten Jahrhunderts. Bd. I-VI [1904-1916]). Für Gesänge, die nach dem 17. Jh. entstanden sind und für die keine einschlägigen Editionen angegeben werden können, habe ich soweit möglich die Ursprungswerke, die ich aus Liederkommentaren entnehmen konnte, zu sichten gesucht und entsprechend die Fundorte angegeben. Änderungen in Orthographie und Interpunktion habe ich nicht weiter beachtet und verzeichnet. 92 Vgl. Tab. Sp. „Traditionsbezüge“. Bei der Erstellung dieser Spalte konnte ich auf die Liederkunde zum EG zurückgreifen (HEG III [diverse Einzelhefte seit 2000]), mehr noch auf die Fleißarbeit von Rudolf Köhler, der für das EKG sämtliche Lieder auf ihre biblischen Spuren untersucht hat (HEKG I/ 2 [1964]). <?page no="63"?> 64 A. Ausgangslage und Vorgehen Gesangbuchkanon, nicht unbedeutsam. 93 Rubriken sind oftmals Leseanweisungen, die helfen, das Thema des Liedes grob einzuordnen und damit auch die Rede vom Teufel darin. Es kann in dieser Hinsicht gefragt werden, welche Situationen oder Lebenswie Kirchenjahreszeiten den Satan mehr thematisieren, welche weniger. Wenn etwa Weihnachtslieder (Inkarnation Christi) oder Osterlieder (Tod und Auferstehung Christi) vermehrt den Teufel erwähnen, Trinitatislieder aber weniger, scheint damit z.B. ein Zusammenhang mit der Christologie und der von Christus her bestimmten Phase der Heilsgeschichte zu bestehen - der Teufel findet sich also in der Umgebung, die v. a. von Christusbetrachtung bestimmt ist. In einem ersten Schritt sind die Rubriken, die im Zusammenhang einer Satanologie von Bedeutung sind schon in der Gliederung meiner Arbeit sichtbar (s. Kap. 8.-11.), daneben verweise ich noch einmal eigens auf meine Übersichten (s. Tabellenband, online). 94 Theologische Erkenntnisse oder Neubestimmungen lassen sich darüber hinaus beim Vergleich der Rubrizierungen von EG und EKG gewinnen, wenngleich diese recht konstant sind. 95 Weitaus interessanter sind die gelegentlichen Zuweisungen und Rubrikennamen, die manche Gesänge in den Originaldrucken hatten bzw. die Titel mit denen die Gesänge versehen waren. Nicht selten trifft man auf Rubriken oder Titel, die es heute in dieser Form nicht mehr gibt, die aber für das Verständnis eines Textes entscheidende Schlüssel sein können. 96 93 „Außerdem ist zu bedenken, daß ein Gesangbuch fast so etwas wie ein Korpus, ein in sich geschlossenes Ganzes darstellt, das schon in seiner Anlage und in seinem Aufbau Wesentliches von seinem Charakter verrät. Wir […] sehen, wie die Frage nach dem Aufbau der Gesangbücher und nach der Einteilung ihrer Lieder unter bestimmten Hauptabteilungen und Einzelrubriken bereits reiches Material für unser Thema liefert. So ist also eine Betrachtung notwendig, die das Gesangbuchganze und das Einzellied […] in ihrer gegenseitigen Bezogenheit und Bedingtheit in der Blick nimmt.“ (Röbbelen, Theologie und Frömmigkeit im deutschen evangelisch-lutherischen Gesangbuch des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, 9-10). Es ist insbesondere ein Verdienst der Dissertation von Ingeborg Röbbelen aufgezeigt zu haben, dass zumindest für ältere Gesangbücher Aufbau und Gliederung nicht zufällig sind, sondern häufig einem System folgen, das zunehmend beabsichtigt das gesamte Gebiet der Dogmatik und Ethik abzubilden (vgl. Röbbelen, Theologie und Frömmigkeit im deutschen evangelisch-lutherischen Gesangbuch des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, 30-50). 94 Vgl. Tab. Sp. „Rubrik EG“. 95 Dieser Vergleich wird im Fließtext eigens geführt. Ein erster Überblick ergibt sich aus den entsprechenden Spalten in meiner Übersicht (vgl. Tab. Sp. „Rubrik EG“; Sp. „Rubrik EKG“). Dass Rubrikenwechsel ausgesprochen selten sind, da etwa De tempore-Lieder meist klar gesetzt sind, dürfte evident sein, einzig in den hinteren Rubriken kommt es zu gelegentlichen Verschiebungen. 96 In meiner Übersicht sind diese ursprünglichen Rubrizierungen entweder wie bei Luther und Gerhardt eigens ausgewiesen (vgl. Tab. Sp. „Klassische Zuweisung“) oder bei Angaben zum Original vermerkt (vgl. Tab. Sp. „Verhältnis EG/ EKG und Original“). <?page no="64"?> 4. Grundentscheidungen, Methodik, Forschungsfragen 65 Grundsätzlich wende ich diese multiperspektivische Methodenauswahl an, um in nachvollziehbarer und intersubjektiv-kommunizierbarer Weise meine Lesart der Gesangbuchtexte zu rechtfertigen und so meine Fragen nach dem satanologischen Gehalt Texten des gegenwärtigen Gesangbuches beantworten zu können. Nicht alle Informationen aus der großen Zahl zusammengetragener Daten, die in meiner tabellarischen Übersicht enthalten sind, werden im Fließtext ausgeführt. Ebenso werden theologische Perspektiven auf die Texte und das Gespräch mit der theologischen Fachliteratur, das im Fließtext und in Fußnoten erfolgt, nicht in der tabellarischen Übersicht verhandelt. Tabelle und Haupttext verstehe ich als sich wechselseitig erschließende Elemente meiner Studie, die in einem komplementären Verhältnis zu sehen und mitzuverfolgen sind. Dem aufmerksamen Leser bin ich bislang die Antwort auf eine Frage schuldig geblieben, die ich selbst für irrelevant halte, der ich aber in Begegnungen und Gesprächen über mein Arbeitsthema immer wieder begegnete und zu der ich an dieser Stelle kurz Stellung nehmen möchte. Immer wieder stellt sich in Diskussionen die Frage, wie ich denn zu dem dogmatischen Topos „Teufel“ stehe, ob eine Studie darüber nicht auch eine persönliche Verortung dazu enthalten müsse - welche freilich nicht anders als in einer klaren Ablehnung dieser Vorstellung bestehen könne. M.E. kann, soll und darf in einer Arbeit wie der meinigen nicht Platz und Ort sein, Entscheidungen irgendwo zwischen malum naturale, physicum und metaphysicum zu treffen. 97 Ob es einen Teufel „gibt“ oder nicht, wie er ist, was er mit mir als Autor zu tun hat, ist nicht Gegenstand dieser Studie, hat für die Untersuchung keine weitere Bedeutung, sondern würde deren Verlauf und Ergebnisse behindern und belastend vorprägen. 98 Es ist nicht Absicht und Aufgabe dieser Studie, Werke vergangener Tage schulmeisterlich zu maßregeln. Natürlich ist mit dem Phänomen Teufel und den daraus gewonnenen Welterklärungen und Handlungsmustern in der Geschichte des Christentums entsetzliches Leid über viele Menschen gekommen, aber nachträgliche Urteile darüber sollte ein ernstzunehmender Wissenschaftler m. E. vermeiden. 99 Den- 97 Zu weit würde es an dieser Stelle führen, die Unterscheidung dieser drei Arten von Übeln und die damit einhergehende Frage nach dem Teufel eingehend zu erläutern, die v.a durch die Behandlung des Theodizeeproblems bei Leibniz bekannt gemacht wurde, aber der Sache nach antiken Ursprungs ist (vgl. Leonhardt, Grundinformation Dogmatik, 251- 257). Grundsätzlich lässt sich nach den obigen Zeitbeschreibungen aber festhalten, dass sich die Diskussionen um das Malum überwiegend auf den Bereich des Moralischen verschoben haben und das Diabolische mehr und mehr zum dem Menschen innewohnenden Bösen erklärt wird, als zu einem externen Versuchungsmotor. 98 Eine kurze dogmatische Problemskizze zum Thema des Teufel zeichnet Thomas Ruster (vgl. Ruster, Paradoxe Bestimmungen des Teufels in der katholischen Dogmatik, 135-153). 99 „Das Hexenthema [einschließlich des Teufels; HH] birgt heute die Gefahr, sich im Gefühl ethischer Überlegenheit mit ostentativer Empörung zu brüsten; es ermöglicht den <?page no="65"?> 66 A. Ausgangslage und Vorgehen noch wird dem Leser nicht entgehen, dass ich Forscher unter vielen und neben anderen, sowie Christ und Theologe mit eigener Genese und in Abhängigkeit vorgegebener Tradition bin. Dies habe ich soweit als möglich versucht, außen vor zu lassen. 100 Neben dieser persönlichen Entscheidung möchte ich jene, die sich aufgrund historisch nachzeichenbarer Teufelsgeschichten eine deutlichere Ablehnung der Teufelsvorstellung vom Autor gewünscht hätten, an eine Aussage des Schweizer Philosophen und Publizisten Denis de Rougemont (1906-1985) erinnern: „‚Nichts ist klarer als die Geschichte: die Menschen haben den Teufel erfunden, dieses Phantom hat sie die Jahrhunderte der Unwissenheit hindurch gequält, und schließlich hat die siegreiche Vernunft unsere krankhafte Illusion zerstreut.‘ Das ist der Standpunkt des Historikers. Er ist richtig, solange er nichts erklärt und sich darauf beschränkt, aus schriftlichen Dokumenten bezogene Tatsachen aufzuzählen. Aber er ist falsch und des Interesses bar, wenn er behauptet, bezüglich der Wirklichkeit des Teufels etwas zu beweisen. Denn all das will besagen, der Teufel sei ein mythisches Wesen, eine geistige Realität. Wenn man mir daher sagt: ‚Der Teufel ist nur ein Mythos, daher existiert er nicht‘ - eine rationalistische Formel -, antworte ich: ‚Der Teufel ist ein Mythos, daher existiert er und hört nicht auf zu wirken.‘ Und hier ist der Kern der Debatte. Ein Mythos ist eine Geschichte, die in einer dramatisierten Form gewisse tiefe Strukturen des Wirklichen beschreibt und illustriert.“ 101 Diese Bescheidenheit im Umgang mit dem Phänomen, das Sich-Begnügen mit dem Untersuchbaren und Sichtbaren auf der Textoberfläche, war mir Leitspruch. Alles weitere hat hier m. E. nicht seinen Ort, wäre Selbstüberhöhung des forschenden Theologen. Der suchende Leser wird freilich rasch genügend Werke finden können, die diese Selbstüberhöhung in Formvollendung bedienen…. wohlfeilen Gestus, sich nachträglich auf die Seite der Guten, gar der Opfer zu stellen. Anständig und professionell verhält er [sc. der Forscher] sich, indem er nach Gründen der Frauenverachtung sucht und sich fragt, wo er sie heute bekämpfen kann. Denn der Eifer, in der Vergangenheit auf der Seite der Gerechten gewesen sein zu wollen, ergibt nur einen Show-Effekt. Er erzeugt eitle, also un-ethische Rhetorik.“ (Flasch, Der Teufel und seine Engel, 60-61). 100 Anders als Flasch, der erst Gott, zumindest im christlichen Sinne, verabschiedet hat und dann konsequent den Satan ins Reich der Spekulation verschiebt (vgl. Flasch, Der Teufel und seine Engel, 63), bleibe ich dem Leser dieses Bekenntnis in Bezug auf den Teufel bewusst schuldig. 101 Rougemont, Der Anteil des Teufels, 24. <?page no="66"?> 5. Forschungsmaterial: Vom EKG zum EG Historische Entwicklungen bis zum Evangelischen Gesangbuch Der Weg zum Evangelischen Gesangbuch (EG) ist von einer längeren Vorgeschichte begleitet‚ 1 zu dieser gehört unbedingt das Vorgängergesangbuch, das Evangelische Kirchengesangbuch (EKG). 2 Dieses Gesangbuch, das ab 1950 in der kurz zuvor gegründeten EKD eingeführt wurde, stellte ein Novum in der deutschen protestantischen Gesangbuchgeschichte dar, denn erstmals war es gelungen, dass die verschiedenen evangelischen Landeskirchen sich auf einen gemeinsamen Liederstamm einigten, dem dann auf landeskirchlicher Ebene Regionalteile angehängt wurden. Die Idee einer Vereinheitlichung des deutschen evangelischen Liedgutes war allerdings wesentlich älter. Schon im 19. Jahrhundert, u.a. angeregt durch Ernst Moritz Arndt, gab es immer wieder Bestrebungen, zu gemeinsamen christlichen Liederbeständen und -sammlungen zu gelangen - ganz im Sinne der nationalen Einheitsbestrebungen nach den Befreiungskriegen -, 3 die allerdings keine 1 Eine eingehende Monographie zur EG-Vorgeschichte liegt m.W. nicht vor. Im Folgenden betrachte ich v. a. Selbstdarstellungen der an der Erarbeitung des EG Beteiligten (v.a.: Kirchenamt der EKD, „Auf dem Weg zum neuen Evangelischen Gesangbuch“ [1990]) und die bis heute kritischen Voten in einschlägigen Publikationen (v.a.: „Musik und Kirche“; „Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie“). 2 Der Entstehungsprozess des EKG war lange nur von unmittelbar Beteiligen, Christhard Mahrenholz und Oskar Söhngen, eingehend dargestellt worden (Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch [1950]; Söhngen, Die Zukunft des Gesangbuches [1949]). Neue Erkenntnisse liegen bei Cornelia Kück vor, die detailliert Entwicklungen vom Deutschen Evangelischen Gesangbuch (DEG) hin zum EKG beschreibt (Kück, Kirchenlied im Nationalsozialismus [2003]). Kück gelangt zur Einsicht, dass Söhngen und v. a. Mahrenholz ihre Positionen während der NS-Zeit in ihren Darstellungen zu wenig differenziert und kritisch beleuchten. Gerade in der Selbstdarstellung von Mahrenholz ließe sich eine „Gleichschaltung“ im Bereich der protestantischen Kirchenmusik ab 1933 kaum entnehmen - tatsächlich war Mahrenholz aber als führende Gestalt innerhalb des deutschen Kirchenmusikwesens ganz maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt (vgl. Kück, Kirchenlied im Nationalsozialismus, 265-272). Wesentliche Einsichten ihrer Untersuchungen finden sich in ihrem Aufsatz zu gleichem Thema (vgl. Kück, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 67-78). 3 Arndt zeichnet in seiner Programmschrift (Arndt, Von dem Wort und dem Kirchenliede nebst geistlichen Liedern [1819]) nicht nur das Projekt eines einheitlichen protestantischen Gesangbuches vor, sondern denkt mit ökumenischer Weite sogar an eine Verein- <?page no="67"?> 68 A. Ausgangslage und Vorgehen Breitenwirkung entfalten konnten. 4 Ab 1915 wurde in einigen Landeskirchen - ursprünglich entworfen für deutsche evangelische Auslandsgemeinden - das Deutsche Evangelische Gesangbuch (DEG) als erster Teil eines gemeinsamen Gesangbuches eingeführt. 5 Dieses Konzept unter dem Einheitsgedanken des deutschen Protestantismus konnte sich ebenfalls in der wechselvollen Zeit zwischen Weimarer Republik und Drittem Reich nicht vollends durchsetzen. Nach Cornelia Kück liegt der Grund für das Scheitern des DEG als Einheitsgesangbuch allerdings nicht so sehr in der politischen Situation begründet, sondern „in der sich Bahn brechenden ‚Revolution der jungen Generation‘“ 6 . Diese „junge Generation“ steht für die um die Jahrhundertwende Geborenen, die sich Singbewegung, Orgelbewegung oder Liturgischer Bewegung zugehörig fühlten und die die Impulse aus ihren Reihen auch im breiteren kirchlichen Leben einzubringen versuchten. Diese Zeit wird in der Kirchenliedgeschichte häufig mit dem Begriff des „Liederfrühlings“ in Verbindung gebracht. 7 Vor allem in der Singbewegung suchte man nach Einfachheit und Ursprünglichkeit, daher die große Begeisterung für Natur- und Wandererlebnisse im Kreise bündischer Gleichgesinnter 8 und das besondere Interesse an Liedern des 16. und 17. Jh., vor allem in den rekonstruierten historischen Sing- und Begleitweisen. 9 Karl Ferdinand Müller hält es für legitim, diese heterogenen Gruppierungen insgesamt unter dem Begriff „Neobarock“ zu fassen. 10 Führende Köpfe dieser Bewegungen waren u.a. Konrad Ameln (Orgelbewegung), Christhard Mahrenholz (Singbeweheitlichung mit anderen deutschsprachigen Kirchen (vgl. Arndt, Von dem Wort und dem Kirchenliede nebst geistlichen Liedern, 49-53). 4 Vgl. Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 11-12. 5 Vgl. Kneitschel, Kirchenlied und Gesangbücher, 37. 6 Kück, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 69. 7 Vgl. Thust, Das Kirchen-Lied der Gegenwart, 16.43. Der Begriff des „Liederfrühlings“ wird auch wieder für die Zeit seit den 1950er Jahren im Zusammenhang mit dem Neuen Geistlichen Lied (NGL) populär - nicht rückwärtsgewandt, sondern unter Anlehnung an die bisher verpönte U-Musik, entstehen neue christliche Lieder in großer Zahl (vgl. Bohren, Bemerkungen zu neuen Liedern, 147; ebs. vgl. Schmidt, Das künftige Evangelische Kirchengesangbuch, 27). 8 Dass sich in der Singbewegung eine Idealisierung des völkischen und nationalen Gedankens, sowie eine Affinität zu strikter Ordnung und Hierarchie zeigt, an die der Nationalsozialismus in fruchtbarer Weise anschließen konnte, ist die Kehrseite dieser Blütezeit der Liedgeschichte (vgl. Riehm/ Bubmann, Das 20. Jahrhundert, 267-298). Christa Reich kommt bei ihrer Betrachtung dieser Zeit zu dem Urteil, dass mancher Vertreter aus diesen Bewegungen ganz deutlich „im Dunstkreis des Nationalsozialismus“ (Reich, Das Evangelische Gesangbuch, 94) arbeitete. 9 Mahrenholz beurteilt im Rückblick die Zeit dieser Aufbrüche als Zeit, die Aufbruch durch Kraft aus der Tradition suchte (vgl. Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 15). 10 Vgl. Müller, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 94-95. <?page no="68"?> 5. Forschungsmaterial: Vom EKG zum EG 69 gung) und Karl Bernhard Ritter (Berneuchener Bewegung). 11 Ziel war es, die angestoßenen Prozesse vorerst weiter ins kirchliche Leben hineinwirken zu lassen, um dann zu einem späteren Zeitpunkt aus den gewonnenen Erfahrungen zur Konzeption eines neuen praxisgeerdeten Gesangbuches zu schreiten. Vor allem Mahrenholz stemmte sich gegen ein verfrühtes neues Gesangbuch, wobei ihm seine führende Stellung, die er sich über die 1930er und 1940er Jahre hinweg im deutschen Kirchenmusikwesen erworben hatte, sehr dienlich war. Nach dem Ende des Krieges war Mahrenholz der entscheidende Ansprechpartner zur Neukonzeption des Gesangbuches und so wurde in der Folge durch Landesbischof Theophil Wurm 1947 auf der zweiten Kirchenkonferenz von Treysa ein maßgeblich von Mahrenholz erarbeiteter Gesangbuchentwurf für ein künftiges Einheitsgesangbuch zur Begutachtung vorgelegt. 12 Die Konferenz bekundete ihr Gefallen und empfahl es allen Landeskirchen als neues Einheitsgesangbuch zur Annahme. An der Vorlage von Mahrenholz wurde allerdings von vielen Seiten Kritik geübt, besonders aus östlichen Landeskirchen im Bereich der altpreußischen Union kamen Gegenstimmen. Dort wurde v. a. von Oskar Söhngen eine Weiterarbeit am DEG als Weg zum Einheitsgesangbuch favorisiert - der Vorschlag von Mahrenholz war damit nicht mehr durchsetzbar. Nach Klärungen arbeiteten Söhngen, Mahrenholz und die um sie entstandenen Fachgruppen gemeinsamen an der Erstellung eines Gesangbuches, das ab 1950 als „Evangelisches Kirchengesangbuch“ in den deutschen Landeskirchen eingeführt wurde. 13 Dass man so rasch nach dem II. Weltkrieg und noch in der Gründungs- und Aufbauphase der EKD zu einem gemeinsamen Gesangbuch finden konnte, wird vor dem Hintergrund verständlich, dass durch Flucht und Vertreibung eine denkbar schlechte Ausgangslage für den sonntäglichen Gottesdienst gegeben war. 14 Viele konnten in der neuen Heimat ihr gewohntes regionales Gesangbuch, wenn sie überhaupt ein solches „durchgebrachtes“ Gesangbuch besaßen, wegen Uneinheitlichkeit nicht verwenden, liturgische Ordnungen in den Gesangbüchern waren ebenfalls obsolet geworden. Die Vereinheitlichung 11 Vgl. Kück, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 69-71. Genauere Systematisierungen dieser Gruppen sind unnötig und schwerlich möglich, da zwischen ihnen nur flüchtige Trennlinien verliefen (vgl. Hofmann, Vom EKG zum neuen Gesangbuch, 274). 12 Vgl. Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 18. 13 Vgl. Riehm/ Bubmann, Das 20. Jahrhundert, 295-297. Wenn ich von Einführung schreibe, ist keine juristische Anordnung durch die EKD angedacht - tatsächlich oblag die Einführung den Landeskirchen, die dem gemeinsamen Stammteil einen eigenen Anhang zufügen konnten. 14 Vgl. Kneitschel, Kirchenlied und Gesangbücher, 37. Oskar Söhngen bezeichnet die Zeit nach 1945 als eine Zeit „im Zeichen der Völkerwanderung, die alle früheren Maßstäbe weit hinter sich läßt“ (Söhngen, Die Zukunft des Gesangbuches, 80). <?page no="69"?> 70 A. Ausgangslage und Vorgehen des Gesangbuches, wie auch der Agende (Lutherische Agende I [1955]), sollte dieser veränderten Situation Rechnung tragen und die entstehende EKD auch im gottesdienstlichen Leben formieren. 15 Das EKG wurde vielfach gelobt, es setzte neuere hymnologische Erkenntnisse um Texte, Melodien und Notationsprinzipien in nie da gewesener Qualität um, erstmals gab es einen für alle deutschen Landeskirchen einheitlichen Liederstamm (EKG 1-394), wobei durch landeskirchlich-verantwortete Regionalteile die Tradition der jeweiligen Landeskirche gewahrt wurde. 16 Die Kritik, die dem EKG dennoch widerfuhr, war dem Umstand geschuldet, dass es v. a. das Werk einiger weniger hymnologischer Experten war, die ihre am reformatorischen und barocken Liedgut orientierte Restauration den Gemeinden aufnötigten. Christa Reich schreibt mit einigem Abstand zur proportionalen Verteilung der Lieder aus den unterschiedlichen Kirchenliedepochen im EKG: „Mit einer gewissen Rigorosität räumt es [sc. EKG] dem reformatorischen Kirchenlied und dem Lied der lutherischen Orthodoxie den ersten Platz ein. Auch das pietistische Liedgut erhält Raum, ebenso mittelalterliche Lieder und einige aus dem 20. Jahrhundert. Aber das ungeliebte 19. Jahrhundert und auch das spätere 18. Jahrhundert kommen schlecht weg. Viele bei älteren Gemeindegliedern beliebte Lieder sind entfallen, das markanteste Beispiel für eine Streichung ist ‚Stille Nacht‘. Der weiche und der volkstümliche Ton im Gesangbuch sind zurückgedrängt“ 17 . 15 Vgl. Krummacher, Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, 9-10; ebs. vgl. Schmidt, Das künftige Evangelische Kirchengesangbuch, 41. 16 Söhngen war in der Frage der Anhänge grundsätzlich anderer Auffassung, für ihn bedeutete das Anhängen eines zweiten Teiles zum einen halbherzige Einheit des Protestantismus und zum anderen Herabwürdigung wichtiger Lieder zu Kirchenliedern zweiter Klasse. „Wir meinen, es sei an der Zeit, über die halbe Lösung eines zweiteiligen Gesangbuches zu der ganzen Lösung eines wirklichen Einheitsgesangbuches vorzustoßen. Selbstverständlich müßte den reformierten Kirchen die Möglichkeit vorbehalten bleiben, daneben ihren überkommenen Psalter zu gebrauchen. Aber die anderen Kirchen sollten sich bereit finden, auf einen Sonderanhang zu verzichten.“ (Söhngen, Die Zukunft des Gesangbuches, 80). Mahrenholz will Anhänge nicht als zweiten Teil im pejorativen Sinne verstanden wissen, sonders als Mittel zur regionalen Verwurzelung und damit in großer Kontinuität zur Gesangbuchgeschichte, da durch jene Zweiteilung stets versucht wurde Tradition und Neuheit gerecht zu werden (vgl. Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 116). 17 Reich, Das Evangelische Gesangbuch, 94-95. Mit dem „weichen und volkstümlichen Ton“ spielt Reich auf die Entscheidung im EKG an, das geistliche Volkslied des 18. und 19. Jh. deutlich zu verringern. Vielen hymnologischen Fachkollegen, allen voran Mahrenholz, galt die Lyrik dieser Zeit als Kitsch, der keinen Platz im Gesangbuch haben könne. „Aber das geistliche Volkslied muß sich den gleichen Bewertungsgrundsätzen unterwerfen wie jedes andere Kirchenlied, nämlich daß es theologisch verantwortbar ist und nicht einen verdünnten Aufguß christlicher Lehre und Ethik für Leute darstellt, deren christliche Vorstellung auf Puppenstubenformat verkümmert ist.“ (Mahrenholz, Das Evangelische <?page no="70"?> 5. Forschungsmaterial: Vom EKG zum EG 71 Profiliert äußert sich 1976 auch Karl Christian Thust zum EKG und lobt die damit gewonnene Einheit, besonders mit Blick auf die durch die deutsch-deutsche Teilung erzwungene getrennte Entwicklung der evangelischen Kirche auf dem Gebieten von BRD und DDR. Dennoch erscheint ihm in den 1970er Jahren das EKG veraltet. „Dieses sehr bedauerliche Auseinanderleben [sc. von Ost und West] darf jedoch nicht zur Rechtfertigung reaktionärer Tendenzen angeführt werden. Oft bequemes, unkritisches Festhalten an auch noch so schöner Vergangenheit ist sowohl unrealistisch als auch Ausdruck unlebendigen Glaubens.“ 18 Thust spitzt in Bündelung verschiedener weiterer kritischer Voten zum EKG zu: 19 „Das EKG ist zu einseitig reformatorischem und barockem Erbe verhaftet, auch in den neuesten Liedern, die einen viel zu kleinen Prozentsatz bilden. Theologie, Themen, Sprache und Form sind von daher weitgehend überholt, zu schwer verständlich, zu dogmatisch und objektivistisch, ohne missionarische Kraft. […] Alles ist zu stark vom Verstand her bestimmt, zu gefühlsarm und ausdruckslos, zu sehr aus wissenschaftlicher Forschungsarbeit statt gemeindlicher Praxis erwachsen. […] Man ist verlegen und ratlos, wenn es gilt, für den Gottesdienst, geschweige denn außergottesdienstliche Gelegenheiten brauchbare Lieder auszusuchen […]. Man will auch mit dem Lied den Menschen von heute ansprechen bzw. ihm entsprechen, somit den neuen Strömungen in Theologie, Musik, Dichtung, auch einer veränderten gesellschaftlichen Situation u.a. Rechnung tragen.“ 20 Kirchengesangbuch, 28). Regionale Anhänge zum EKG, die diese beliebten geistlichen Volkslieder dann doch wieder aufnahmen, konnte Mahrenholz freilich nicht verhindern. 18 Thust, Das Kirchen-Lied der Gegenwart, 3. 19 Insbesondere die Kritik Thusts über den Mangel an neuerem Liedgut - Thust nennt die Zahl 2-2‚5% für Lieder aus dem 20. Jh. (vgl. Thust, Das Kirchen-Lied der Gegenwart, 18) - verdient Beachtung. Diese Zahl wird bestätigt durch die Auflistung bei Schmidt: 16. Jh. 42 %; 17. Jh. 39‚5%; 18. Jh. 12 %; 19. Jh. 4 %; 20. Jh. 2‚5% (vgl. Schmidt, Das künftige Evangelische Kirchengesangbuch, 46). 20 Thust, Das Kirchen-Lied der Gegenwart, 17-20. Neben aller verständlichen Kritik, möchte ich auf eine wichtige Bemerkung zum historischen Hintergrund der Redaktionsprozesse von Christoph Krummacher hinweisen: „Der Kirchenkampf hatte dort, wo Gemeinden und Landeskirchen den kultischen Irrwegen der Deutschen Christen widerstanden, zu einigen sehr praktischen Veränderungen im Gottesdienst geführt, zum gemeinsamen Sprechen des Credo und Vaterunser, zur häufigeren Feier des Abendmahles und ganz grundsätzlich zur Erfahrung der ‚Bekenntniskraft‘ reformatorisch-gottesdienstlicher Traditionen und Lieder.“ (Krummacher, Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, 10). Nicht nur die Singbewegung hat die Liedauswahl massiv bestimmt, sondern auch die Zeit der Bekennenden Kirche hat großen Einfluss auf die Redaktionsentscheidungen gehabt. Welche Lieder hätten den Vätern des EKG weniger verdächtig erscheinen können als jene <?page no="71"?> 72 A. Ausgangslage und Vorgehen Das, was die „junge Generation“ gewollt hatte, nämlich eine Erneuerung des kirchlichen Lebens aus der Gemeinde heraus, wurde von ihren Vertretern nur bedingt eingelöst. Immer mehr Menschen empfanden das EKG als Buch, das unter Ignoranz gegenüber der veränderten Lebenswelt und dem Musikgeschmack der Gemeinden, der kirchlichen und gottesdienstlichen Wirklichkeit sowie den Entwicklungen der Theologie seit der Aufklärung, konzipiert worden ist. 21 Pointiert äußert sich 1976 Karl Ferdinand Müller: „So blieb das EKG auch ein Gesangbuch, das im Grunde von oben her aus der Vergangenheit anvisiert wurde, eine bewundernswerte Arbeit von Fachleuten und Experten. […] Das Kirchenvolk wurde erst befragt als das Gesangbuch fertig und alles unter Dach und Fach war. […] Vielleicht ist dieses Gesangbuch, das literarisch zu den besten gehört, die je entstanden sind, ein zu spät geborenes Kind, das, wie so vieles im Leben der Kirche, den inneren Anschluß an die Stunde der Gegenwart nicht finden konnte.“ 22 Mit dieser Kritik darf das Ziel bei der Erarbeitung des EKG, wie es Mahrenholz in seiner Darstellung des Entstehungsprozesses beschreibt, als gescheitert angesehen werden: „Es ging um die Wiedergewinnung eines Liedkanons für die evangelischen Kirchen deutscher Zunge, der das auf eine längere Zeit hin gemeinsam verbindende und verpflichtende Liedgut enthält.“ 23 Mit dem EKG und seiner Kritik geht seit den 1960ern das Erscheinen kleinerer gruppenspezifischerer Liederhefte einher, seit 1970 folgt dann die offizielle Publikation landeskirchlicher Beihefte zum EKG. 24 Die empfundene Antiquiertheit und Rückwärtsgewandtheit sowie der Wunsch nach zeitgemäßem Liedgut gewannen mit dem Entstehen zahlreicher Liedersammlungen neben dem EKG Gestalt. der Reformationszeit, in der es modernes nationalstaatliches Denken nicht gab, wohl aber ein Bewusstsein dafür, dass mit dem Kirchenlied immer auch ein Bekenntnis zur Freiheit in geistlicher und politischer Dimension verbunden ist? Eberhard Schmidt erinnert sich 1980 an die Zeit nach 1945: „Das einzige, was uns geblieben war, auch in den Jahren tiefster Nacht, war das Gespräch mit den Vätern. Nach den Liedern und Bekenntnissen der Väter, nach den Zeugnissen eines früher gelebten Glaubens griffen wir wie Hungernde.“ (Schmidt, Das künftige Evangelische Kirchengesangbuch, 12). 21 Vgl. Müller, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 95-96. 22 Müller, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 97. 23 Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 21. 24 Eine Auflistung diverser Beihefte bietet Schmidt (vgl. Schmidt, Das künftige Evangelische Kirchengesangbuch, 43). <?page no="72"?> 5. Forschungsmaterial: Vom EKG zum EG 73 Mit diesen Liedersammlungen und Beiheften ging zugleich die Entwicklung eines neues Kirchenmusikstiles einher; in den fünfziger Jahren tritt langsam das „Neue Geistliche Lied“ (NGL) auf den Plan. Mit Liedern wie dem berühmten „Danke“ von Martin Gotthard Schneider, das 1962 den Liederwettbewerb der Evangelischen Akademie Tutzing gewann‚ 25 entstehen Gesänge, die von einer breiteren Öffentlichkeit geschätzt und gern gesungen wurden, womit gleichsam der Spalt zwischen kirchlich-verordnetem Liedgut des EKG und gemeindlich-zeitgenössischem Musikgeschmack immer deutlicher wurde. Vorbei am offiziellen Gesangbuch rezipierten Gemeinden und Gruppen Lieder mit afro-amerikanischen Einflüssen, Chanson-Anklängen, Musik der Taizé-Bewegung, aber auch Werke mit Wurzeln im Jazz oder Rock/ Pop-Bereich. 26 Der Widerstand gegen diese neue Musik war in einigen Kreisen kirchenmusikalischer und theologischer Theorie und Praxis immens - Rudolf Bohren greift 1979 z.B. sowohl Theologie (steiler Moralismus; Unkenntnis der Rechtfertigungslehre) als auch dichterisches Handwerk (platte Reime und Alliterationen) scharf an. NGL ist nach Bohren in weiten Teilen religiöser Kitsch, mit der der übermütige Mensch seine selbsterschaffene Religion dekoriert und Gott zum „Nebendarsteller“ subordiniert. 27 25 Vgl. Bubmann, Danke für dieses Danke, 211-214. 26 Dass mit dem Begriff des „Neuen Geistlichen Liedes“ begriffliche Unschärfe eingebracht wird, ist mir bewusst. Das NGL wird in der Forschung gelegentlich kriteriologisch enger, gelegentlich sehr weit gefasst. Einheitlichkeit in der Definition dessen, was das NGL kennzeichnet, ist nicht zu verzeichnen - im Gegenteil, es gibt verschiedene Versuche das NGL gerade in und durch diese Unschärfe zu definieren. Peter Hahnen, der als Kennzeichen des NGL vor allem seine Verwandtschaft zum Volkslied (leicht erlernbar, nicht mit kommerziellem Interesse geschaffen) beschreibt, geht der Begrifflichkeit des NGL mit weitem Quellenstudium nach (vgl. Hahnen, Das „Neue Geistliche Lied“ als zeitgenössische Komponente christlicher Spiritualität, 209-230). Die begriffliche Problematik beschreibt auch Werner Horn, er versteht NGL „als Sammelbezeichnung für Lieder, die etwa nach 1960 entstanden sind und zu einem neuen Singen in der Gemeinde geführt haben“ (Horn, Die Theologie der neueren Lieder unserer Kirche, 61). Von Bedeutung für NGL ist auch die zunehmende Würdigung der damals für würdige Anlässe noch verpönten U-Musik, welche in den 1950er Jahren aufgewertet und damit neue Musikstile im Gottesdienst möglich macht (vgl. Jaschinski, Liturgische und kirchenmusikalische Aufbrüche nach 1960, 25-26). 27 „Kitsch ist Ausdruck eines Glaubens an der Wahrheit vorbei. Kitsch ist Praxis von Häresie, Manifestation von Irrlehre, Verlogenheit kommt zum Vorschein. […] Die Orthodoxie ist in der Regel nicht kitschig.“ (Bohren, Bemerkungen zu neuen Liedern, 156). Ebenfalls deutliche Worte zum NGL findet Kornemann: „Skurriler Enthusiasmus hat Überlegungen zum Verständnis von Kirche überwuchert und kommerzielle Volksverdummung Anpassung statt Kompetenz verursacht.“ (Kornemann, Das künftige Evangelische Kirchengesangbuch, 73). <?page no="73"?> 74 A. Ausgangslage und Vorgehen „Man weiß von dem, was Gott heute tut, konkret nichts zu singen und zu sagen. Der Gott Israels wird zu einem Prinzip und dieses Prinzip wird zur Garantie für menschliches Gelingen. Aus dem Gott der Bibel ist ein Gartenzwerg höherer Ordnung geworden. Ein Hüter des Schrebergartenglücks, dem homo faber zugeordnet, der ihn erdacht und gemacht hat.“ 28 Dass viele NGL-Werke ursprünglich nicht für den Gottesdienst vorgesehen waren, wurde in der gottesdienstlichen Verwendung wie in der Kritik selten mitbedacht. 29 Dass die „kirchliche Basis“ 30 trotz aller Kritik nicht auf dieses neue Singen verzichten wollte‚ 31 ist nicht zu verstehen, ohne die geistesgeschichtliche Großwetterlage nach 1945. Peter Hahnen versteht das Aufkommen des NGL als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Pluralisierung des kulturellen Lebens im jungen Nachkriegsdeutschland. „Als vielfältig und uneinheitlich stellt sich jenes Liederschaffen dar, welches gegen Ende der 50er Jahre - nach wirtschaftlicher Beruhigung des deutschen Gesellschaftslebens und im erstarkenden Interesse an politischer Gestaltung dem Sog zu kultureller Innovationen folgte und in allmählicher Pluralisierung der Lebensstile - die kirchenmusikalische Landschaft anzureichern begann.“ 32 Ähnlich weist Michael Fischer auf Zusammenhänge zwischen Kritik am kirchlich verordneten Gesangbuch/ Liedgut, Entstehen des NGL und Veränderungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit hin‚ 33 er versteht das NGL als Teil und Re- 28 Bohren, Bemerkungen zu neuen Liedern, 156. Da die Kirche diese Form von Selbstermächtigung des Menschen unterstützt und Gott klein macht, kommt Bohren zum Schluss, dass die Kirche sich in der Zeit des Gerichtes befinde - nicht aber ohne die Hoffnung, dass auf das Gericht eine Erneuerung und Bekehrung komme (vgl. Bohren, Bemerkungen zu neuen Liedern, 156). 29 Vgl. Thust, Das Kirchen-Lied der Gegenwart, 25. 30 Der Begriff ist unscharf, meint hier und folgend aber das engagierte und institutionell-gebundene aktive Kirchenmilieu. 31 Selbstverständlich sind das NGL und neue Gottesdienstformen (z.B. politisches Nachtgebet) nicht nur aus der kirchlichen Basis erwachsen, dennoch muss hier wohl der entscheidende Motor dafür gesehen werden. So haben vor allem die Kirchentage als dezidierte Laienbewegung zur Etablierung des NGL und experimenteller liturgischer Formen beigetragen (vgl. Jaschinski, Liturgische und kirchenmusikalische Aufbrüche nach 1960, 27-28). 32 Hahnen, Das „Neue Geistliche Lied“ als zeitgenössische Komponente christlicher Spiritualität, 209. 33 In Anlehnung an mentalitäts- und sozialgeschichtliche Erkenntnisse gliedert Fischer die Entwicklungen der Christen in der BRD zwischen Kriegsende und Wiedervereinigung in drei Phasen: „Phase 1: Renaissance und Stabilisierung im kirchlich verfassten Christentum (1949-1968); Phase 2: Enttraditionalisierung und Transformation der christlichen <?page no="74"?> 5. Forschungsmaterial: Vom EKG zum EG 75 aktion auf Herausforderungen, die in gegenwärtigen Gesellschaftstheorien vielfach unter den Begriffen Ausdifferenzierung der Lebensstile, Säkularisierung, Privatisierung und Individualisierung gefasst werden. 34 Unter Rekurs auf diese soziologischen und kulturphilosophischen Modelle konstatiert Fischer „eine Veränderung von traditionellen Werten hin zu Lebensqualität und Selbstverwirklichung“ 35 , was gleichsam mit einem Akzeptanzsowie Plausibilitätsverlust gegenüber Kirche als Institution, als auch dem traditionellen kirchlichen Gesangbuch/ Liedgut mit seinen „expliziten Glaubensaussagen im Sinne herkömmlicher Dogmatik“ 36 verbunden sei - das alte Lied/ Gesangbuch konnte nur noch als eine kirchlich-verordnete Verweigerung gegen die Moderne verstanden werden. 37 Mit der Abkehr der Basis vom „dogmatischen Christentum“ ging der Wunsch nach mehr gelebter und sichtbarer Einheit unter Christen verschiedener Kulturen und Konfessionen einher. Entgegen vieler verhärteter konfessioneller Fronten in Theologie und Kirche, gab die kirchliche Basis dem Wunsch nach Gemeinschaft verstärkt in Form der „gesungenen Ökumene“ Ausdruck. Gesungene Ökumene findet in der Folgezeit Niederschlag in vielen kleineren Publikationen, die fremdsprachliche Lieder oder solche anderer Konfessionen enthalten. 38 So lässt sich die Entwicklung einer gesungenen Ökumene schon früh auf den von der kirchlichen Basis getragenen Kirchentagen nachzeichnen, Religion (1968-1978); Phase 3: Die 80er Jahre: Pluralisierung und Individualisierung“ (Fischer, Zwischen Modernisierung und Traditionalisierung, 100). 34 Vgl. Fischer, Zwischen Modernisierung und Traditionalisierung, 95-116. Fischer bezieht sich in seiner Darstellung auf katholische Milieus innerhalb der BRD, dennoch halte ich seine Einsichten für plausibel und analog anwendbar auf die protestantischen Entwicklungen, zumal von Anfang an die Musikerszene um das NGL in ökumenischem Miteinander und Austausch agierte. 35 Fischer, Zwischen Modernisierung und Traditionalisierung, 97-98. 36 Fischer, Zwischen Modernisierung und Traditionalisierung, 104. 37 Diese Einschätzung teilt Ende der 1970er Jahre selbst die Lutherische Liturgische Konferenz: „Wir teilen […] die Sorge, daß den Kirchen und Gemeinden der Gegenwart das EKG aus sehr unterschiedlichen Gründen so fremd werden könnte, daß wir es nur noch als Zeugnis der Kirche der Vergangenheit verstehen können.“ (LLK, Stellungnahme der Lutherischen Liturgischen Konferenz, 9). Kornemann spricht zeitgleich vom EKG als „einer Art von exotischer Pflanze“ (Kornemann, Das künftige Evangelische Kirchengesangbuch, 58). Die Kritik an der Art und Weise der Gesangbücher findet sich analog als Kritik an den Nachkriegsagenden, besonders an Agende I und ihren landeskirchlichen Ausführungsbestimmungen (vgl. Krummacher, Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, 14-15). Auch diese waren von den Erfahrungen und Erkenntnissen aus Liturgischer Bewegung, Bekennender Kirche und vor allem der herausragenden liturgischen Forschung seit den 1920er Jahren erwachsen und wurden v. a. vom theologisch-liturgischen Fachpublikum geschätzt, weniger von der feiernden Gottesdienstgemeinde. 38 Vgl. Thust, Das Kirchen-Lied der Gegenwart, 3-4. <?page no="75"?> 76 A. Ausgangslage und Vorgehen die in den 1960er Jahren Liederhefte mit einem vergleichsweise hohen Anteil an NGL und ökumenischem Lied herausgaben. 39 Verstärktes Interesse am christlichen Einheitsgedanken schlägt sich auch in der Arbeitsweise innerhalb der Hymnologie nieder, die seit den 1960ern verstärkt interkonfessionell arbeitete. Ein wichtiger Schritt in dieser Hinsicht war die Einrichtung der „Arbeitsgemeinschaft für ökumenisches Liedgut“ (AÖL) 1969, an der katholische, landeskirchliche und freikirchliche Vertreter, aber auch Abgesandte der Altkatholiken und von Kirchen aus Österreich und der Schweiz beteiligt waren. 40 Durch die AÖL wurden für Texte und Melodien gemeinsame Fassungen erarbeitet, die 1973 in das 102 Lieder fassende Gesangbuch „Gemeinsame Kirchenlieder. Gesänge der deutschsprachigen Christenheit“ (GKL) eingingen. 41 Zur Bildung der AÖL hatte mittelbar auch das II. Vatikanum und seine Wirkung auf den deutschen Katholizismus beigetragen. In der „Konstitution über die heilige Liturgie/ Sacrosanctum Concilium“ 42 (SC) von 1963 wurde der Kirchenmusik ein eigenes Kapitel (Caput VI: De musica sacra; SC 112-121) gewidmet, auffällig sind die vielen Parallelen zwischen dem Grundlagenkapitel (SC I.) und dem Unterkapitel über die Kirchenmusik. 43 Es wird z.B. besonders die „participatio actuosa“ der Gläubigen betont (SC 113‚1; 114‚1; 121‚2); die Volkssprache wird neben Kirchenlatein aufgewertet und liturgie- und liedfähig (SC 113‚2); kulturell gewonnene musikalische Traditionen (z.B. in Missionsgebieten) sollen gewürdigt werden (SC 119); der gregorianische Choral bleibt privilegiert, aber neue Formen der Mehrstimmigkeit (SC 116) und der religiöse Volksgesang sollen hinzutreten (SC 118); neuere elektronische Instrumente im Gottesdienst 39 Vgl. Thust, Das Kirchen-Lied der Gegenwart, 32-33. Harsche Kritik ernten diese Liederbücher bei Kornemann, der sie als „Wegwerfhefte“ bezeichnet und von ihrer Aufnahme in ein neues GB abrät (vgl. Kornemann, Das künftige Evangelische Kirchengesangbuch, 75). „Ich konstatiere […], daß ich die zur Konsummusik verkommene Popmusik für zeugnisunfähig halte, auch wenn sie der Kirchentag favorisiert - und jede kirchliche Annäherung daran als […] Volksverdummung empfinde.“ (Kornemann, Das künftige Evangelische Kirchengesangbuch, 75). 40 Vgl. Kneitschel, Kirchenlied und Gesangbücher, 39. 41 Ein Zeugnis der Arbeit der AÖL sind ins GL und EG eingegangene Marginalien für ökumenische Fassungen oder teilweise ökumenische Fassungen, die mit „Ö“ oder „(Ö)“ gekennzeichnet sind. Nach dem Erscheinen des EG 1993 und v. a. des neuen GL (GL2) 2013 sind diese Bezeichnungen irreführend, da sie gemeinsame Fassungen suggerieren, die so nicht gegeben sind. Die Dokumentation von Heinrich Riehm zeigt dies in vielfältiger Weise auf (vgl. Riehm, Das Kirchenlied am Anfang des 21. Jahrhunderts, 19-140). 42 Beim Text von SC richte ich mich nach der lat.-dt. Studienausgabe von Hünermann und Hilberath (vgl. Hünermann/ Hilberath, Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Bd. I, 47-51). 43 Vgl. Jaschinski, Liturgische und kirchenmusikalische Aufbrüche nach 1960, 24. <?page no="76"?> 5. Forschungsmaterial: Vom EKG zum EG 77 (SC 120‚2) werden ermöglicht. Der Geist, in dem das Kapitel über die Kirchenmusik entstand, zeigt sich am deutlichsten im Einleitungsartikel (SC 112): „Die musikalische Überlieferung der Kirche stellt einen unschätzbaren Wert dar, der sich unter den übrigen Ausdrucksformen der Kunst vor allem dadurch auszeichnet, dass er als heiliger Gesang, der mit Worten verbunden ist, einen notwendigen und wesentlichen Bestandteil der feierlichen Liturgie [lat.: necessariam vel integralem liturgiae sollemnis partem; HH] ausmacht. […] Die Kirche aber billigt alle Formen wahrer Kunst, die mit den gebührenden Eigenschaften ausgestattet sind, und lässt sie zum Gottesdienst zu.“ 44 Schon im Eröffnungsjahr des II. Vatikanums 1962 entschloss sich die Deutsche Bischofskonferenz, das Projekt eines Einheitsgesangbuches zu verfolgen - zwischen 1969 und 1972 erschienen verschiedene Vorschläge. Um dem Wunsch nach Gemeinschaft in der deutschen Christenheit Rechnung zu tragen, wurden auf konfessionsübergreifender Ebene im Rahmen der AÖL gemeinsame Liedfassungen erarbeitet, die dann auch in andere zukünftige konfessionelle Liederbücher eingehen sollten. 45 Nachdem 13 Jahre an einem katholischen Einheitsgesangbuch gearbeitet worden war, übergab 1975 Kardinal Döpfner das nun entstandene „Gotteslob“ (GL) den deutschen Katholiken zum Gebrauch. 46 Mit großer Dankbarkeit wurde die Entscheidung der Konzilsväter im Sinne des „Aggiornamento“ über die Aufwertung des Volksgesanges und neuer Musikformen und Instrumente aufgenommen und regten zu vielfältigen Neuerungen im GL an - nicht wenige empfanden allerdings die Umsetzung der Möglichkeiten, die in der Liturgiekonstitution angelegt waren, als zu zaghaft angewandt. Michael Fischer moniert: „Dieses Buch steht für die gemäßigte Modernisierung innerhalb der katholischen Kirche […], [für; HH] Changieren […] zwischen zaghafter Modernisierung und gemäßigter Traditionalisierung“ 47 . Hermann Kurzke hingegen gehen die Modernisierungen viel zu weit, das GL ist seiner Einschätzung 44 Hünermann/ Hilberath, Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Bd. I, 47-48. Das Kirchenmusikkapitel von SC eröffnet viele Möglichkeiten und erweckt Hoffnungen auf weitreichende und damals mutig empfundene Veränderungen - in den konkreten Ausführungsbestimmungen, die die regionalen Bischofskonferenzen erließen, wurde relativ schnell nach Beendigung des Konzils eine deutliche Begrenzung der neuen Möglichkeiten (vor allem in der Stilistik) spürbar (vgl. Jaschinski, Liturgische und kirchenmusikalische Aufbrüche nach 1960, 24-27). 45 Vgl. Scheitler, Gotteslob, 79-80.88-89. Von den 102 Liedern des GKL sind in das GL nach Scheitlers Recherche etwa 89 Lieder eingegangen. 46 Über die Entwicklungen hin zum GL informiert Hildenbrand (vgl. Hildenbrand, Das Einheitsgesangbuch Gotteslob, 79-104). 47 Fischer, Zwischen Modernisierung und Traditionalisierung, 108-109. <?page no="77"?> 78 A. Ausgangslage und Vorgehen nach Teil einer „geschichtsvergessenen Zeitgeistanpassung“ 48 auf dem Boden des Gesangbuches. Diese Einschätzung geht einher mit den kulturellen Wellenbewegungen im Nachkriegsdeutschland mit dem Jahr 1975 fällt das GL genau in jene Zeit, die Fischer als „Phase 2: Enttraditionalisierung und Transformation der christlichen Religion (1968-1978)“ 49 bezeichnet. Erst mit der Aufnahme der Arbeit am EG ab 1978 zeigt sich ein gewandeltes Bild. Die folgenden Jahre stehen unter einer neuen Überschrift: „Bewusstsein für konfessionelle Identität […]. Zum anderen wird […] deutlich, dass sich der Umgang mit Texten wandelte. Gemeinsame Kirchenlieder und Gotteslob fielen in eine Zeit der unbefangenen Modernisierungen. Sprachliche Vergegenwärtigungen altvertrauter Texte waren relativ problemlos möglich. Das Evangelische Gesangbuch bietet dagegen nur leichte Korrekturen an Liedern aus dem 16. bis 18. Jahrhundert.“ 50 Mit dem GL, seiner Kritik und den im GL aufgenommenen AÖL-Fassungen war an die EKD die Frage gerichtet, wie sie dieses ökumenische Ansinnen weitertragen wollte und ob die Zeit für ein neues Gesangbuch reif wäre. 51 Redaktionsprozess und Gestaltungsgrundlagen des Evangelischen Gesangbuches Mit der sich immer mehr abzeichnenden Entscheidung der EKD für ein gänzlich neues Gesangbuch‚ 52 war den Verantwortlichen bewusst, dass sie sich in einer nach hinten und vorne offenen Gesangbuchgeschichte bewegen. D.h., aus- 48 Kurzke, Das Evangelische Gesangbuch, 172. 49 Fischer, Zwischen Modernisierung und Traditionalisierung, 100. 50 Kneitschel, Kirchenlied und Gesangbücher, 45. 51 Vgl. Rößler, Prospekt eines Projekts, 7-8. Im März 1978 urteilt die Lutherische Liturgische Konferenz darüber, ob eine leichte Textrevision des EKG ausreichend sei, gegenüber dem Vorschlag einer Neukonzeption: „Mit den Gesangbuchveröffentlichungen der AÖL und dem römisch-katholischen Einheitsgesangbuch ‚Gotteslob‘ liegen Arbeiten am geistlichen Lied im ökumenischen Bereich vor, die von den evangelischen Kirchen und Gemeinden künftig stärker und ernsthafter beachtet werden müssen.“ (LLK, Stellungnahme der Lutherischen Liturgischen Konferenz, 9). Ähnlich äußerte sich Eberhard Schmidt (vgl. Schmidt, Das künftige Evangelische Kirchengesangbuch, 18-19). 52 Das EG darf nicht als EKD-Projekt verstanden werden. Von Anfang an waren auch die evangelischen Kirche in Österreich (A.B. und H.B.) sowie in Elsaß-Lothringen an der Kommissionsarbeit beteiligt. Sie waren vorher schon Nutzer des EKG und bekannten sich durch ihre Mitarbeit zur Tradition eines deutschsprachigen Einheitsgesangbuches (vgl. Horn, Der österreichische Weg, 90). Die evangelische Schweiz ging mit großer ökumenischer Weite eigene Wege (vgl. Kneitschel, Kirchenlied und Gesangbücher, 47-48). <?page no="78"?> 5. Forschungsmaterial: Vom EKG zum EG 79 gehend von den Erfahrungen und Kritiken der vorangegangenen Jahrzehnte, den Fortschritten der hymnologischen Forschung, den vorgezeichneten Bahnen durch die Arbeit der AÖL, den Gebrauchseindrücken zum GL, sowie den vielfach in der Kirche sich darstellenden Gegenwartsfragen und von der kirchlichen Basis geäußerten Gestaltungswünschen (u.a.: neue musikalische und lyrische Stile; weltweite und konfessionelle Ökumene; theologische Entwicklungen; Relevanz der Tradition; politische Zeitgenossenschaft; Kirche und Israel; Geschlechtergerechtigkeit) 53 , war ein großer Teil von Gestaltungsgrundsätzen für die Arbeit am EG gesetzt. 54 Reich beschreibt den Start der konkreten Arbeit am neuen Gesangbuch wie folgt: „1978 ging die Verantwortung für das Gesangbuch vom VeK auf die EKD über. Rat und Kirchenkonferenz der EKD beschließen, durch einen Gesangbuchausschuss ein neues Gesangbuch erstellen zu lassen. Die Kirchen des Kirchenbundes der DDR beschließen ebenso. Im November 1979 tagt dieser Ausschuss zum ersten Mal in Berlin. Er wird in der Zeit der deutschen Teilung eine kontinuierliche glückliche Verbindung zwischen evangelischen Kirchen in Ost und West sein.“ 55 53 Einen ausführlichen Überblick über Gestaltungswünsche und zu beachtende Wandlungen in Geistesgeschichte und Kirche bietet Reich (vgl. Reich, Das Evangelische Gesangbuch, 95.97). Rößler weist ebenfalls auf große Umbruchsprozesse nach 1945 hin, insbesondere in der wissenschaftlichen Theologie: Theologie der Hoffnung, Theologie der Befreiung, Gott-ist-tot-Theologie, nichtreligiöse Interpretation etc. (vgl. Rößler, Prospekt eines Projekts, 6). Die Breite der bedachten Themenkreise verzeichnen die „Grundsätze zur Erarbeitung eines künftigen Gesangbuches“ [1980] (im Folgenden: eingeklammerte Ordnungszahl) unter „Themen eines künftigen Gesangbuches“ (2.). 54 Diese Gestaltungsperspektiven waren ebenfalls leitend bei der Neuordnung der Agenden, die für unierte und lutherische Kirchen im Evangelischen Gottesdienstbuch (EGb [1999]) ihren Niederschlag fand. Betrachtet man die Kriterien, über die das Einleitungskapitel des EGb Rechenschaft gibt, zeigt sich große Kongruenz: „2. Der Gottesdienst folgt einer erkennbaren, stabilen Grundstruktur, die vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten offen hält. […] 3. Bewährte Texte aus der Tradition und neue Texte aus dem Gemeindeleben der Gegenwart erhalten den gleichen Stellenwert. […] 4. Der evangelische Gottesdienst steht in einem lebendigen Zusammenhang mit den Gottesdiensten der anderen Kirchen in der Ökumene. […] 5. Die Sprache darf niemanden ausgrenzen; vielmehr soll in ihr die Gemeinschaft von Männern, Frauen, Jugendlichen und Kindern sowie von unterschiedlichen Gruppierungen in der Kirche ihren angemessenen Ausdruck finden. […] 7. Die Christenheit ist bleibend mit Israel als dem erstberufenen Gottesvolk verbunden.“ (EGb, 15-16). 55 Reich, Das Evangelische Gesangbuch, 96; vgl. Drömann, Der Verband evangelischer Kirchenchöre Deutschlands und seine Verantwortung für das evangelische Gesangbuch, 72- 83. Als Zeitzeugen berichten Blankenburg und Drömann über die Entscheidung gegen eine weitere Revision des EKG und für die Erstellung eines neuen Gesangbuches (vgl. Blankenburg, Aufbruch zu einem neuen Gesangbuch, 213-215; ebs. vgl. Drömann, Unterwegs zu einem neuen Gesangbuch, 54-57). Dass man sich auf ein neues Gesangbuch <?page no="79"?> 80 A. Ausgangslage und Vorgehen Ein erster Schritt für die Weiterarbeit am EG lag in der Erstellung von Arbeitsleitlinien, die sich aus den genannten Themenfeldern ergaben - im Juni 1980 erschienen die „Grundsätze für die Erarbeitung eines zukünftigen Gesangbuches“, die gemeinsam vom Gesangbuchausschuss der EKD und dem Gesangbuchausschuss des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR erarbeitet und verabschiedet worden waren und den Landeskirchen zur Beurteilung übergeben wurden. 56 Die Grundsätze fanden in Ost und West allgemeine Zustimmung. 57 Die Gesangbuchausschüsse erstellten bis 1984 eine vorläufige Liederliste, die ebenfalls zur Beurteilung vorgelegt wurde und in deren Folge von Gliedkirchen wie Einzelpersonen bis zu 6000 weitere Liedvorschläge gemacht wurden. Analog wurde mit dem 1986 vorgelegten Entwurf eines Textteiles mit Bekenntnistexten, Gebeten und Gottesdiensterklärungen verfahren. 58 1988 konnte ein vollständiger erster Vorentwurf (VE) den Kritikern zu Sichtung übergeben werden. 59 Nach der Berücksichtigung der Voten aus Landeskirchen und Fachkollegien mündete einigt, ist insofern erwähnenswert, da nicht alle Beteiligten in dieser Frage in den vorangegangenen Jahren einig waren. So gab es im Vorfeld die Diskussion, ob nicht auch mit leichter Revision des EKG die Anfragen der Gegenwart zu beantworten gewesen wären (vgl. Rößler, Prospekt eines Projekts, 5.13). Gegen Einführung eines neuen Gesangbuches sprach auch die erst Ende der 1960er erfolgte Einführung des EKG in der westfälischen Kirche, dort war es quasi noch das „frische“ Gesangbuch (vgl. Kornemann, Das künftige Evangelische Kirchengesangbuch, 58). In den weiteren Ausführungen wird mal von den Ausschüssen oder dem Ausschuss gesprochen; dies ist legitim, da sich die beiden Ausschüsse aus Ost und West praktisch - nicht juristisch - stets als einer begriffen haben, weshalb „alle wichtigen Plenartagungen und Ausschusssitzungen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stattgefunden [haben; HH]“ (Drömann, Das Evangelische Gesangbuch, 185). 56 Ich danke dem damaligen Geschäftsführer des Gesangbuchausschusses der EKD, Günter Vogelsang, der mir die nicht breit publizierten Grundsätze freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Dem Fachpublikum wurden die Grundsätze komprimiert 1980 von Hans-Christian Drömann dargelegt (vgl. Drömann, Grundsätze für die Arbeit an einem neuen Gesangbuch, 166-175). Etwa in dieselbe Zeit fällt die Publikation „Das künftige Evangelische Kirchengesangbuch“ [1980] der LLK, die mehrere maßgebliche Beiträge für die weitere Arbeit aus explizit lutherischer Perspektive bietet. 57 Die Erarbeitung solcher Grundlinien ist in einer immer pluraler werdenden Gesellschaft und Kirche mehr denn je eine Mammutaufgabe. Für das neue Gotteslob (GL2) von 2013 beschreibt einer der Verantwortlichen, Franz Karl Praßl, die Arbeit an den leitenden Grundsätzen als „Konstruktion einer eierlegenden Wollmilchsau“ (Praßl, Der Weg zum neuen katholischen Gebet- und Gesangbuch „Gotteslob“, 237). 58 Vgl. Riehm/ Bubmann, Das 20. Jahrhundert, 320-321; ebs. vgl. Rößler, Prospekt eines Projekts, 10-11. 59 „Evangelisches Gesangbuch. Vorentwurf “ (künftig: VE). Die zeitlichen Abläufe bis zum VE werden dort zusammenfassend so dargestellt: „1. Stellungnahme zu den Grundsätzen für das neue Evangelische Gesangbuch (1980/ 81); 2. Stellungnahme zur Vorläufigen Liederliste (1984-86); 3. Stellungnahme zum Entwurf für den Textteil (1986/ 87)“ (VE, Erläuterungen, 1). <?page no="80"?> 5. Forschungsmaterial: Vom EKG zum EG 81 dieser in die verabschiedete Endfassung des EG im Frühjahr 1991, welches dann zwischen dem 31.10.1993 und dem Jahr 1996 eingeführt wurde. 60 Im Folgenden sollen einige wichtige Aspekte aus den Grundsätzen zur Gestaltung herausgestellt und kurz dargelegt werden, inwieweit sich diese Grundsätze im Endprodukt (EG) wiederfinden. Neue Impulse und Traditionskontinuität Wie beschrieben, war das EKG wenig experimentierfreudig bei der Liedauswahl, der Schwerpunkt lag auf dem 16. und 17. Jahrhundert - mit dem EG wurde Liedgut neueren Datums deutlich mehr Platz eingeräumt (98 Texte und 46 Lieder aus der Zeit nach 1950). 61 Darüber hinaus wurden Themen, die vor allem nach dem II. Weltkrieg gesellschaftlich relevant geworden waren, für den Liederstamm als wichtig erachtet, etwa Kernenergie, diesseitige Eschatologie, Friedensethik - 62 das EG verzeichnet deshalb z.B. die Rubrik „Erhaltung der Schöpfung, Frieden und Gerechtigkeit“ (EG 421-436). 63 Die im Umfeld des NGL entstandenen Lieder wurden bei der Arbeit am EG eingehend auf ihre Verwendbarkeit geprüft‚ 64 wobei die Kommission in den 1980er Jahren bei der Auswahl der Lieder sehr viel kritischer urteilte, als es noch in den 1970er Jahren zu erwarten gewesen wäre - die Einsprüche Rudolf Bohrens und anderer Kritiker hatten im Vorfeld sensibel gemacht für platte Poesie und schiefe Logik. 65 Vom Grundsatz her galt nun, wenn ein neues Lied in den Liederkanon aufgenommen werden soll, muss es sprachlich, inhaltlich und 60 Die Zeitspanne entstand v. a. durch unterschiedlich aufwändige Arbeiten an den Regionalteilen. Besonders lang brauchte es bis zur Einführung des EG in der reformierten Kirche (1. Advent 1996), hier musste ein eigener Singpsalter, unter Berücksichtigung der traditionellen Bereimungen, geschaffen werden (vgl. Riehm/ Bubmann, Das 20. Jahrhundert, 327). Von der unbestrittenen Notwendigkeit eines Singpsalters für die reformierten Gemeinden abgesehen, war die Schaffung von Regionalteilen nicht unumstritten unter Fachkollegen. Frieder Schulz weist darauf hin, dass Regionalteile durch ihre eingebundene Form eigentlich in ähnlich kanonischem Rang stehen wie der Stammteil. Er wünscht stattdessen anstelle eines Regionalteils separate Bücher, die von Zeit zu Zeit neue oder andere Lieder für die Gemeinden bereitstellen (vgl. Schulz, Zur Funktion von Regionalteilen, 96). 61 Vgl. Reich, Das Evangelische Gesangbuch, 100. 62 Vgl. Schuberth, Neue Lieder des neuen Gesangbuches, 66. 63 Eine genaue Gegenüberstellung der Rubriken von EKG und EG bietet Reich (vgl. Reich, Das Evangelische Gesangbuch, 102). 64 Vgl. Rößler, Prospekt eines Projekts, 8-9. 65 Schwere Kritik am NGL äußert Hellmann: „In unseren Tagen bietet man der Kirche - oder bietet mitunter die Kirche selber Lieder an, die sprachlich und musikalische Qualität vermissen lassen, deren Aussage nicht mehr im Zentrum des Verkündigungsauftrages angesiedelt ist, sondern sich von allgemeinen Geschehnissen des Alltags oder von politi- <?page no="81"?> 82 A. Ausgangslage und Vorgehen musikalisch als wertvoll anzusehen sein. Dass das in den Augen der Ausschussmitglieder möglich war, zeigen Lieder wie „Der Himmel, der ist“ (EG 153) von Kurt Marti‚ 66 wobei sich dennoch die Tendenz abzeichnete, sich an bewährte Gesänge zu halten. „Das Gesangbuch wird also nur ein paar Innovationen bieten können, immerhin mit einem wesentlich größeren Anteil als es der im EKG war. Für die weitere und wiederholte Prüfung neuer Lieder, den Umgang mit ihnen und das Leben mit ihnen wird es weiterhin die landeskirchlichen Beihefte und andere Liedersammlungen geben müssen“ 67 . Eindrücklich waren die Rückmeldungen auf die Liederliste von 1984 und den VE von 1988, in denen viele Streichungsvorschläge gerade für neues Liedgut vorgebracht wurden, andere wiederum wollten dieses noch vermehrt aufnehmen. 68 Mit Textanpassungen verfuhr das EG gegenüber dem GL deutlich zurückhaltender und achtete die Poesie der jeweiligen Entstehungszeit. 69 In den Voten der Gliedkirchen wurde vermehrt geäußert, dass schon die Eingriffe, die zur EKG-Textgestalt geführt hätten, zu weit gingen, woraufhin tatsächlich einige EKG-Fassungen im EG noch weiter an die Urtexte angeglichen wurden. 70 Eine Neuerung gegenüber dem EKG stellte die Berücksichtigung des geistlichen Volksliedes des 19. und 18. Jahrhunderts dar (etwa 100 Lieder), welches in den Regionalteilen des EKG ohnehin vielfach seinen Platz erhalten hatte, nun aber in den regulären Stammteil des EG überführt wurde. 71 Demgegenüber steht die Zahl von 310 EKG-Liedern (von insgesamt 394), die ins EG aufgenommen wurden‚ 72 ausgeschieden waren v. a. zu schwülstig empfundene Barockchoräle und schen Parolen bestimmen läßt. […] Die verlorene Qualität ist Folge des verlorenen Standortes und des Weges in die Profanität.“ (Hellmann, „Das Kirchenlied in der Zeit“, 138). 66 Vgl. Schuberth, Neue Lieder des neuen Gesangbuches, 67. 67 Schuberth, Neue Lieder des neuen Gesangbuches, 67-68. 68 Vgl. Drömann, Vom Vorentwurf zum Gesangbuch, 98-101. 69 Vgl. Lippold, Ökumenisch singen, 74. 70 Vgl. Drömann, Vom Vorentwurf zum Gesangbuch‚101. 71 Vgl. Schuberth, Neue Lieder des neuen Gesangbuches, 67; ebs. vgl. Lippold, Theologische und musikalische Leitlinien, 63. 72 Vgl. Reich, Das Evangelische Gesangbuch, 99. Rößler schreibt zum Auswahl- und Aussonderungsprozess am EKG: „Das Beharrungsvermögen auf dem bislang und dem jetzt gewohnten Liedgut im EKG und seinen Regionalteilen war erdrückend stark. Heilige Kühe schlachtet man nicht! “ (Rößler, Prospekt eines Projekts, 17). <?page no="82"?> 5. Forschungsmaterial: Vom EKG zum EG 83 einige ins Süßliche abgleitende Lieder des Pietismus. 73 Nach Aussondern und Aufnehmen ergab sich für den Stamm des EG ein Umfang von 535 Liedern. 74 Die m. E. bedeutendste Neuerung gegenüber dem EKG muss aber in der Ausweitung der Singformen gesehen werden; 75 nicht mehr das Strophenlied allein soll der Kommunikationsmodus der Gemeinde im Gottesdienst sein, sondern daneben sind sogenannte Singsprüche, die durch das GL angeregt wurden, hinzugekommen (insgesamt vier), Kanones wurden aufgenommen (36), vierstimmiges Singen wird durch abgedruckte Sätze ermöglicht (37)‚ 76 Refrainlieder und nicht-liedartige Gesänge fanden ihren Weg in den Stammteil. Zusätzlich wollte die Kommission die Möglichkeit eröffnen, nicht nur mit Orgel zu begleiten, sondern situative Wege in der Instrumentalisierung und Ausgestaltung des gemeindlichen Singens zu gehen. 77 Trotz des grundsätzlichen Begrüßens neuer Arten der Liedbegleitung sollte es weiterhin möglich sein, Lieder ohne jegliche Begleitung zu singen. 78 Eine Neuerung durch Tradition wurde mit den in vielen Anhängen abgedruckten Formularen für Tagzeitengottesdienste und der Aufnahme von Hymnen mit gregorianischer Melodieführung versucht. 79 Ökumene 80 Dass das EG ein Buch von ökumenischem Geist in bisher ungekanntem Ausmaß ist, lässt schon der Arbeitsprozess selbst erkennen. Zwar war auch der Stammteil des EKG über die EKD-Grenzen hinaus (z.B. DDR oder Österreich) in 73 „Die eingehende Prüfung der möglichen Lieder [sc. des Pietismus] aber ergab ein anderes Bild: zu zeitgebunden ist die Innerlichkeit, zu esoterisch die Sprache Kanaans, zu mystisch oder chiliastisch gefärbt die Gedankenwelt“ (Rößler, Prospekt eines Projekts, 21). 74 Wenngleich 535 Lieder ausufernd klingt, so sind dies im Vergleich zu Barockliederbüchern, die leicht über 1000 Lieder enthalten konnten, immer noch übersichtliche Dimensionen für ein Gesangbuch (vgl. Blume, Das Zeitalter des Konfessionalismus, 159). 75 Neue Singformen waren dezidiertes Anliegen der Grundsätze: „Sowohl in Singformen als auch in Stilfragen sollte im neuen Gesangbuch eine größere Öffnung erfolgen“ (5). 76 Vgl. Reich, Das Evangelische Gesangbuch, 100. Ursprünglich waren mehr Singsprüche für das Gesangbuch vorgesehen, trafen im VE aber häufig auf ablehnende Rückmeldung, so dass die Zahl reduziert und die Notwendigkeit einer Erklärung dieser Gattung angemahnt wurde (vgl. Drömann, Vom Vorentwurf zum Gesangbuch, 103; ebs. vgl. Rößler, Prospekt eines Projekts, 40-47). 77 Vgl. Fischer, Singformen, 69-71. 78 Vgl. Lippold, Theologische und musikalische Leitlinien, 63. „Bei der Auswahl von neuen Liedern sollten auch Melodieformen, die das traditionelle Liedgut nicht kennt, Aufnahme finden, jedoch möglichst solche, die auch ohne instrumentale Begleitung singbar sind.“ (6.3). 79 Vgl. Lippold, Theologische und musikalische Leitlinien, 61. 80 „Ökumene“ fasse ich weit und verstehe darunter ein Bewusstsein und Bemühen um gemeinsames Christsein über eine Vielzahl von Grenzen (Deutsch-deutsche Teilung; Kon- <?page no="83"?> 84 A. Ausgangslage und Vorgehen Gebrauch, dennoch war die Erarbeitung vor allem ein Werk von zwei Personen gewesen, nämlich Christhard Mahrenholz und Oskar Söhngen. Diese Aufgabe wurde beim EG grundsätzlich anders verteilt, indem etwa 50 Personen zur Erarbeitung der Grundsätze, Liederlisten, Textteile und des VE von den beteiligten Kirchen, Fachverbänden und Instituten delegiert wurden. 81 Damit ergab sich zuerst einmal eine innerprotestantische deutsche Ökumene (EKD, Kirchenbund in der DDR, Ev. Kirche A.B. und H.B. in Österreich, Ev. Kirche im Elsaß und in Lothringen; SELK und Alt-luth. Kirche in der DDR als Gäste anwesend). 82 Durch die von der AÖL erarbeiteten Fassungen wurde die weitere interkonfessionelle Ebene eingeholt, wobei für die Bestimmung der EG-Liedfassungen je und je neu überlegt werden musste, welche Bedeutung man der AÖL-Vorlage zumisst: „Was im ‚Gotteslob‘ gedruckt ist, hat höheren Rang, als das, was sonst in den AÖL-Veröffentlichungen steht. […] Eine Übernahme des gesamten AÖL-Angebotes lag nicht im Sinn der AÖL-Arbeit, vielmehr war eine sinnvolle Auswahl zu treffen, wie es auch im ‚Gotteslob‘ geschehen ist.“ 83 Insgesamt sind rund ein Drittel der Lieder im EG als ökumenisch im weiteren Sinne anzusehen (130 mit „Ö“, 65 mit „(Ö)“, 66 identisch mit GL)‚ 84 denn nicht immer wollten und konnten die Ausschüsse den vorliegenden GL-Fassungen in Gänze folgen. 85 fessionen innerhalb der EKD und darüber hinaus; Kirchen verschiedener Sprachen in aller Welt) hinweg (vgl. Stalmann, Gotteslob evangelisch, 23). 81 Vgl. Rößler, Prospekt eines Projekts, 9-10. 82 Vgl. Lippold, Ökumenisch singen, 72; ebs. vgl. Rößler, Prospekt eines Projekts, 10. Innerdeutsche protestantische Ökumene zu verwirklichen war in der Präambel der Grundsätze als Ziel und Funktion des Gesangbuches benannt: „Das Gesangbuch nimmt die Hauptströmungen der Reformation im deutschen Sprachraum auf, es öffnet sich aber auch dem Lied der Weltchristenheit.“ (0). Der Einfluss der östlichen Landeskirchen auf Auswahl und Ausrichtung des EG muss gewürdigt werden. Obwohl - oder vielleicht gerade weil - das Liederschaffen unter widrigen Bedingungen stattfand (Einschränkung von Papierkontingenten etc.), entfaltete sich ein Stil, der Einflüsse von Gegenkulturen aufnahm und oft in politischer Dimension dachte. Wichtige Namen sind hier Jürgen Henkys oder Walter Schulz (vgl. Giering, Beiträge der Gegenwart aus östlichen Gliedkirchen, 86-87). 83 Lippold, Ökumenisch singen, 73. 84 U.a. im EG-Anhang der sächsischen Landeskirche findet sich eine Auflistung zu unterschiedlichen Übereinstimmungsmöglichkeiten der aufgenommenen Lieder unter „Ökumenische Lieder“ (EG/ Sachsen 958). 85 Problematisch erschien den Verantwortlichen, dass manche Fassungen, die im GL mit „Ö“ verzeichnet werden, wichtige Momente der lutherischen Rechtfertigungslehre getilgt hätten, u.a. bei über Jahrhunderte eingesungenen Lutherliedern (vgl. Lippold, Ökumenisch singen, 73-74; ebs. vgl. Drömann, Vom Vorentwurf zum Gesangbuch, 101). <?page no="84"?> 5. Forschungsmaterial: Vom EKG zum EG 85 Ökumenischer Geist im EG zeigt sich ebenfalls im Vorhandensein der neu hinzugekommenen Rubrik „Ökumene“ 86 (EG 262-269) und an der Aufnahme fremdsprachlicher Texte (v. a. in der Rubrik „Ökumene“). 87 Auch die Ostkirche wurde im EG auf Verwendbares hin befragt, woraus sich z.B. ein aus der orthodoxen Tradition herkommendes Kyrie (EG 178.9) ableitet. Gerechte Sprache Besonderes Anliegen bei der Arbeit am EG war die Berücksichtigung von Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, welche durch Textpassagen wie „Liebe Brüder … [nicht aber Frauen! ? ; HH]“ aufgeworfen waren. 88 Macht man sich die in Fachkreisen heftig und nicht selten polemisch geführten Debatten um die „Bibel in gerechter Sprache“ in den 2000er Jahren bewusst, so ist zu erahnen, wie schmerzvoll für manchen traditionsbewussten Gesangbuchnutzer in den 1980er Jahren Veränderungen waren, bei denen „Brüder“ im vertrauten Text zu „Christen“, „Kindern“ oder „Menschen“ wurden. 89 Der Gesangbuchausschuss hat sich hier für einen moderaten Mittelweg entschieden. „Gewaltsame Neuerungen setzen sich nicht durch […]. Chancen hat […], was dem Leben und Fühlen der Sprachgemeinschaft entspricht und als gut und vorbildlich empfunden wird. […] Manche Vorschläge der feministischen Linguistik gehören […] nicht dazu, solche nämlich, die steil und gewaltsam sind und Sprache als etwas behan- 86 Vgl. Blankenburg, Aufbruch zu einem neuen Gesangbuch, 213. 87 „75 Lieder und 20 Gesänge aus anderen Ländern und Sprachen […]; 19 Lieder und Gesänge, bei denen einzelne Strophen in einer oder mehreren Fremdsprachen wiedergegeben werden“ (Reich, Das Evangelische Gesangbuch, 100). U.a. im sächsischen EG-Anhang findet sich eine Auflistung über „Lieder aus anderen Ländern und Sprachen“ (EG/ Sachsen 959). Viele Lieder transportieren das weltweite Christentum daneben durch die ihnen eigenen Rhythmen und Stile (vgl. Schuberth, Neue Lieder des neuen Gesangbuches, 67). Der Befund an Liedern, die stilistische und sprachliche Ökumene abbilden, erweitert sich durch Regionalteile beträchtlich. So wurde im österreichischen Regionalteil auch Liedgut aus Nachbarkirchen (Italien, Ungarn, Tschechien, Slowakei) für das EG fruchtbar gemacht (vgl. Horn, Der österreichische Weg, 92). 88 In den Grundsätzen wird die Thematik nur angedeutet, so heißt es bei den zu berücksichtigenden Themen: „Kirche als Gemeinschaft, Kirche als Familie; Einheit und Vielfalt der Kirche; […] Trauung und Ehe im Blick auf die Partnerschaft von Mann und Frau“ (2.3). Auch am GL ging die Thematik nicht vorüber - bei einer vorsichtigen Revision 1996 wurden Fragen der Geschlechtergerechtigkeit wichtig (vgl. Kneitschel, Kirchenlied und Gesangbücher, 43). 89 Lippold listet Beispiele auf, in denen exkludierende Sprache Grund für Textrevisionsvorschläge war (vgl. Lippold, „Ihr Christen alle, Frau und Mann“, 78). Lippold bezieht sich auf den VE, genauer können Veränderungen an übernommenen EKG-Liedern bei Dieter Frahm nachgeprüft werden (vgl. Frahm, Synopse zum Evangelischen Gesangbuch, 12- 84). <?page no="85"?> 86 A. Ausgangslage und Vorgehen deln, das man nach vorgefaßten Grundsätzen […] reglementieren kann: fiat iustitia, pereat lingua! “ 90 Die Kommission zeigte Verständnis für Anfragen an ausschließend wirkende Texte‚ 91 führte aber nur im Einzelfall Änderungen an den überkommenen Texten herbei, da man nicht die Sprach- und Vorstellungswelt früherer Zeiten mit heutigen Maßstäben schulmeistern könne. 92 „Ziel der Bearbeitung kann nicht sein, z.B. einen Luthertext klingen zu lassen, als ob er 1980 geschrieben worden wäre. […] Mit dem Umschreiben hat es seinerzeit der Rationalismus versucht. Seine Spuren in der Liedgeschichte sind erschreckend.“ 93 Hans Seidel mahnt, dass bei aller guten Absicht im Sinne einer Gerechtigkeit, natürlich auch Gerechtigkeit „gegenüber dem Wortlaut der Texte gelte“ 94 . Konkret wurde bei noch lebenden Autoren Anfrage auf Änderung gestellt, bzw. vom Autor selbst eine neue Fassung vorgelegt. Dieses behutsame Eingreifen wurde v. a. in den Rückmeldungen auf den VE gutgeheißen - Hessen-Nassau und Württemberg hingegen befürworteten einen schärferen Eingriff zugunsten der inklusiven Sprache oder aber die grundsätzliche Streichung allzu problembeladener Lieder. 95 90 Lippold, „Ihr Christen alle, Frau und Mann“, 76. 91 Vgl. Lippold, „Ihr Christen alle, Frau und Mann“, 77.79-80. 92 Die EG-Verantwortlichen sind mit großem Respekt gegenüber Poesie und Sprache der Tradition umgegangen, ganz im Gegensatz zu den GL-Verantwortlichen der 1970er. „Wir gehen heute mit alten Texten, noch dazu, wenn es sich um Poesie handelt, respektvoller um als die reformfreudigen 1970er Jahre. Ein Signal dafür sind die jüngsten Bibelrevisionen. So war der Text des Neuen Testamentes der Lutherbibel 1975 einer tiefgreifenden Modernisierung, der Anpassung an die Gegenwartssprache, unterworfen worden. Dieser Text hatte keinen Bestand. 1984 wurde erneut revidiert, mit sehr viel größerem Respekt vor der geprägten Sprache Martin Luthers.“ (Lippold, Ökumenisch singen, 74; ebs. vgl. Blankenburg, Aufbruch zu einem neuen Gesangbuch, 217; ebs. vgl. Kornemann, Das künftige Evangelische Kirchengesangbuch, 61). 93 Lippold, „Ihr Christen alle, Frau und Mann“, 77. Rößler weist, mit Blick auf die Grundsätze [1980], auf das Recht zeitgebundener Eigenarten eines jeden Textdichters der Kirchenliedgeschichte hin (vgl. Rößler, Prospekt eines Projekts, 15-16). 94 Seidel, Singen von deiner Gerechtigkeit, 198. 95 Vgl. Drömann, Vom Vorentwurf zum Gesangbuch, 97.102. <?page no="86"?> 5. Forschungsmaterial: Vom EKG zum EG 87 Juden und Christen Das Thema „Gerechte Sprache“ ist eng mit dem Thema „Juden und Christen“ verbunden - 96 auf dem Hintergrund einer neuen und weiteren Lesart u.a. von Röm 9-11, durch ein wiedergewonnenes Bewusstseins für Abraham als gemeinsamen Stammvater, sowie den Versuch einer Theologie nach Auschwitz, war der Gesangbuchausschuss zur kritischen Durchsicht einiger EKG-Texte aufgerufen. Besondere Beachtung erfuhren Lieder, die die Frage der Schuld am Tod Jesu stellen, bzw. das Judentum als „Christusmörder“ identifizieren. Unter den neuen theologischen Voraussetzungen kommen die EG-Verantwortlichen zu dem Schluss: „Man wird das Passionsleiden weder im ganzen noch im einzelnen unterstellen können, daß sie die These von der Alleinschuld oder gar einer Kollektivschuld der Juden am Tode Jesu verträten. Jesus, ein Jude, ist von den Römern hingerichtet worden.“ 97 In diesem Sinne wurden einige Texte in weniger das Judentum anklagende und dem biblischen Bild entsprechende Fassungen gebracht. 98 Verbundenheit zum Judentum soll darüber hinaus durch Lieder jüdischer Tradition oder mit Anklängen daran ausgedrückt werden, z.B. „Schalom chaverim“ (EG 434). 99 Theologie Wenngleich die genannten neueren ethischen Themen wichtig waren, so wurde dennoch auf einen Ausgleich gegenüber klassischen dogmatischen Topoi und v. a. gegenüber der Vielzahl an unterschiedlichen theologischen und kirchlichen Strömungen innerhalb des Gesangbuches geachtet. 100 96 Dieser Zusammenhang wird u.a. im Vorwort des der „Bibel in gerechter Sprache“ nachfolgenden „gerechten Gesangbuches“ betont (vgl. Domay/ Jungcurt, Singen von deiner Gerechtigkeit, 5). Dass die Thematik „Juden und Christen“ für gottesdienstliche Zusammenhänge, in denen äußerst selten Juden zugegen sind, eher einer virtuellen theologischen Diskussion gleicht und man fragen muss, ob das Gesangbuch Austragungsort dieses Diskurses sein sollte, merkt Hans Seidel mit Blick auf das „gerechte Gesangbuch“ an (vgl. Seidel, Singen von deiner Gerechtigkeit, 198). Ein m. E. ausgleichendes Element in diesem Spannungsfeld wäre das vermehrte Singen von Psalmliedern und deren Aufnahme in die Gesangbücher, denn diese sind, wie Jochen Arnold bemerkt, der wahre Schatz einer mit Israel verbundenen Kirche (vgl. Arnold, Ein kirchenmusikalischer Aufbruch, 175). 97 Lippold, Juden und Christen im neuen Evangelischen Gesangbuch, 83. 98 Vgl. Lippold, Juden und Christen im neuen Evangelischen Gesangbuch, 83-84. 99 Vgl. Rößler, Prospekt eines Projekts, 28. 100 Vgl. Lippold, Theologische und musikalische Leitlinien, 59. In den überwiegend ethischen Implikationen, die durch Lieder aus dem Bereich des NGL gegeben werden, ist auch der Grund dafür genannt, warum es nicht deutlich mehr dieser Lieder in den Stamm <?page no="87"?> 88 A. Ausgangslage und Vorgehen „Das alles [sc. diverse theol. und kirchl. Strömungen] hat sein relatives Recht, aber nur sein relatives. Das Gesangbuch ist ein Buch für die ganze Kirche. Allen alles recht zu machen, kann es nicht und soll es auch nicht versuchen. Schließlich erwartet man ja auch, daß das neue Evangelische Gesangbuch ein Profil hat. Durch Addition von Vorschlägen und Forderungen entsteht kein Profil.“ 101 Was aber das Profil des EG gegenüber anderen Gesangbüchern der Gesangbuchgeschichte ausmacht, ist nur schwer zu bestimmen. Die Ausschussmitglieder kamen nicht umhin, zuzugeben, dass in einem Gesangbuch Glaubenszeugnisse verschiedenster Zeiten und theologischer Epochen versammelt sind. Die theologische und stilistische Vielfalt aus Jahrhunderten muss, wenn ein Gesangbuch nicht traditionslos erscheinen will, auch im Kanon des EG erkennbar enthalten sein. 102 Martin Rößler sieht die „Mitte aller Überlegungen […] im Prinzip der Pluralität, in der vitalen Vielfalt.“ 103 Trotz Vielfalt versteht man das EG aber als Teil langer protestantischer Gesangbuchtradition und als „Instrument und Fundament der Frömmigkeit“ mit christologischem Zentrum. 104 Zum Verständnis des EG aufschlussreich sind die Zuschreibungen, die in den Grundsätzen [1980] genannt sind: „Laienagende“(1.2)‚ 105 „Laiendogmatik“‚ 106 „Gebrauchsbuch des Christen für den Alltag“ des EG geschafft haben. Die Kommission sah durch ein mehr an NGL die Ausgewogenheit von „Ethik“ und „Dogmatik“ in Gefahr (vgl. Rößler, Prospekt eines Projekts, 32). 101 Lippold, Theologische und musikalische Leitlinien, 55. 102 Vgl. Lippold, Theologische und musikalische Leitlinien, 56. 103 Rößler, Prospekt eines Projekts, 11. Rößler führt den Pluralitätsgedanken weiter aus: „Ich kann es auch biblisch begründeter sagen: Pluralität als Spiegel der Universalität des Glaubens. Christus als das Haupt der Gemeinde, welche sein Leib ist […]: dieser Satz umschreibt das Gemeindeideal, die entsprechende Ekklesiologie in jenen neutestamentlichen Briefen, die uns die Einsetzung der Liedformen und den Imperativ des Singens so nachdrücklich überliefern“ (Rößler, Prospekt eines Projekts, 12). Wird hier mit biblischen Worten die Not im Wirrsal der Lieder und Vorstellungen zur Tugend verklärt? Rößler würde dieser Anfrage widersprechen mit Berufung auf den Heiligen Geist: „Pluralität und Integration - ein hochgestecktes Ziel, eine steile Forderung, gar eine Überforderung […]. Die Arbeit an diesem Buch hat es mit dem Wirken des Heiligen Geistes zu tun“ (Rößler, Prospekt eines Projekts, 12). 104 Vgl. Rößler, Prospekt eines Projekts, 11. 105 Reich merkt zu diesem Begriff kritisch an, dass Trennung des Leibes Christi in Laien und Kleriker für ein „evangelisches“ Gesangbuch eigenartig anmutet (vgl. Reich, Das Evangelische Gesangbuch, 98). 106 Rößler schreibt dem Gesangbuch eine umfassende dogmatische Bildungsaufgabe zu: „In seinen Liedtexten schon und dann darüber hinaus stell es [sc. EG] eine Laiendogmatik in besonders griffiger Weise dar. Nach welchem anderen Buch sollte der Nichtfachmann, der zentrale Bekenntnisse und Glaubensformulierungen aus Geschichte und Gegenwart finden will, denn greifen, wenn nicht zum Gesangbuch? Ein Kompendium also für Information und Meditation“ (Rößler, Prospekt eines Projekts, 50). <?page no="88"?> 5. Forschungsmaterial: Vom EKG zum EG 89 (1.3), Lebensbegleiter‚ 107 „Handbuch des Christen für den Gottesdienst“ (1.2), 108 Beitrag zur Einheit der deutschen Christen und der Weltchristenheit (1.5), kulturelles Gedächtnis der Kirche (1.7), Hinführung zur Bibel (1.7)‚ 109 Zeuge und Bewahrer von Glaubens- und Frömmigkeitsgut vergangener Zeiten (6.1). Bei all dem beschreibt Rößler eine Grenze: „auf Verschiedenheit der Aussagen, gewiß im biblisch-bekenntnismäßigen Rahmen, wird sorgsam geachtet“ 110 . Ernst Lippold resümiert ähnlich: „Die einzige wirklich festgeschriebene Norm der Grundsätze heißt: ‚Das Gesangbuch darf nur Texte bieten, die dem biblischen Glauben entsprechen.‘ (1.6.) Unterhalb dieser Norm ist Vielfalt geboten und erlaubt. […] Für ein Kirchenlied heißt das, daß es im letzten Grunde aus der Wahrheit des Evangeliums lebt, sich dieser verdankt, diese reflektiert und in der jeweiligen Brechung durch Autor und Situation ausspricht.“ 111 Dass dieses Kriterium ohne eine autoritative Auslegungsinstanz nur den Anschein von Reglementierung erweckt, braucht kaum näher erläutert zu werden, obgleich das Thema Bibel von besonderer Bedeutung im Entstehungsprozess des EG war. Die Rubrik der biblischen Gesänge, Psalm- und Erzähllieder (EG 270-315) wurde bewusst erweitert, um Menschen, die die Bibel nur noch fragmentarisch kennen, durch das Gesangbuch und die gesungenen Lieder eine 107 In der Präambel der Grundsätze heißt es: „Das Gesangbuch ist Begleiter für die versammelte Gemeinde, die Gemeindegruppe, die Familie und für jeden einzelnen Christen im täglichen Leben.“ (0). Dass ein Gesangbuch all diese Bereiche unmöglich bei einer noch vertretbaren Größe abdecken kann und deshalb die Konzentration des Gesangbuches auf seine Gottesdienstfunktion sinnvoll wäre, gibt Kornemann zu bedenken (vgl. Kornemann, Das künftige Evangelische Kirchengesangbuch, 70.79). 108 Drömann sieht in der Funktion für den Gottesdienst die eigentliche Aufgabe des Gesangbuches: „Die gottesdienstliche Funktion sollte an erster Stelle stehen.“ (Drömann, Unterwegs zu einem neuen Gesangbuch, 59). 109 „Das künftige Gesangbuch soll auch auf Menschen ausgerichtet sein, denen die Bibel fremd geworden ist und die elementare biblische Information brauchen.“ (2.1). 110 Rößler, Prospekt eines Projekts, 14. Dass das EG Bekenntnisbindung beanspruchen könne, ist m. E. aus den Grundsätzen [1980] nicht abzuleiten, vielmehr ist die große Offenheit allenfalls durch gemeinsame altkirchliche Bekenntnisse begrenzt. Dass die ausufernde Weite die Gefahr birgt, das Bekenntnis geradezu zu verschleiern, scheint Rößler nicht entgangen zu sein: „Im Grundsätzlichen bleiben einige Fragen offen: ist es zu viel an Pluralität im global-ökumenischen und national-volkstümlichen Horizont, sodaß das Gefühl der Fremdheit überwiegt? Ist nicht zu befürchten, daß unsere eigene Identität und unsere spezifische Glaubenshaltung überschattet wird? “ (Rößler, Prospekt eines Projekts, 28-29). 111 Lippold, Theologische und musikalische Leitlinien, 56-57. In den Grundsätzen wird dies weiter ausgeführt: „Das Gesangbuch soll das Zeugnis der Erfahrungen mit der Heiligen Schrift in Geschichte und Gegenwart widerspiegeln. Damit soll auch dem kulturell interessierten Zeitgenossen das Kirchenlied und seine Geschichte im Zusammenhang der allgemeinen Literatur- und Musikgeschichte eröffnet werden“ (1.7). <?page no="89"?> 90 A. Ausgangslage und Vorgehen „Eiserne Ration“ mitzugeben. 112 Besonders bei der Auswahl von NGL für den EG-Stamm wurde der biblische Bezug zum kritischen Gegenüber, zur „norma normans“ und versperrte nicht selten den Eingang von beliebten und eingesungenen geistlichen Schlagern. 113 In den Rückmeldungen zum VE wurde angeregt, um die Nähe von Lied- und Bibeltext zu verdeutlichen, in Marginalien oder Apparaten die Bezugstexte anzugeben. 114 Dass die Bibel die eigentliche Gestaltungskraft darstellen sollte, zeigt sich besonders an der in den Grundsätzen (3.5) vorgeschlagenen Stoffgliederung: „Die biblischen Gesänge stehen an erster Stelle. Damit soll angezeigt werden, daß die Bibel Ausgangspunkt und Grundlage des christlichen Glaubens ist.“ 115 Dieses Vorziehen, noch vor die De tempore-Lieder, konnte sich allerdings nicht bis zum VE durchhalten und so stehen die biblischen Gesänge im EG wie schon im EKG - damit traditionsverbunden - hinter den gottesdienstlichen Gesängen. Umgang mit Archaismen Die Gesangbuchgeschichte des 20. Jahrhunderts hat gewaltige Wandlungen im Verständnis und Umgang mit poetischen Texten erlebt. Das DEG war ein erster Schritt um Textveränderungen („Verschlimmbesserungen“) der Aufklärung an überliefertem Liedergut rückgängig zu machen, welcher mit dem EKG weitergeführt wurde unter breiter Rezeption neuerer Erkenntnisse der hymnologischen Textkritik. 116 V.a. die Singbewegung der 1920er Jahre hatte sich für die Wiedergewinnung der alten und möglichst unveränderten Texte eingesetzt. Zwar sahen Mahrenholz und Söhngen, dass viele Lieder archaische und schwer verständliche Formulierungen enthielten, dennoch entschieden sie, Umdichtungen, wie sie der Rationalismus wegen vermeintlich logischer Brüche oder gedanklicher Inkonsistenzen durchführte, zu vermeiden. 117 Im Einzelfall wurden anstößige, übersalbungsvolle oder redundante Strophen eher ausgelassen, als sie schulmeisterlich durch Ein- 112 Vgl. Lippold, Theologische und musikalische Leitlinien, 58. 113 Vgl. Rößler, Prospekt eines Projekts, 38. 114 Gegen dieses Verfahren sprach v. a. die Vielzahl möglicher Bezugstexte schon innerhalb eines einzelnen Liedes. Diese Aufgabe sollte wie beim EKG ein Band des begleitenden und erläuternden Handbuches übernehmen (vgl. Drömann, Vom Vorentwurf zum Gesangbuch, 105). 115 Drömann, Grundsätze für die Arbeit an einem neuen Gesangbuch, 170. 116 Kurzke verwendet hier den Begriff der „Restauration“ (vgl. Kurzke, Das Liedgut der Tradition, 156). 117 Vgl. Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 71. <?page no="90"?> 5. Forschungsmaterial: Vom EKG zum EG 91 griffe zu maßregeln. 118 Der Grund dafür lag im neuen Respekt gegenüber den alten Gesangbuchautoritäten (Luther, Gerhardt u.a.) und ihrem poetischen Werk - je älter ein Lied, desto seltener griffen die EKG-Verantwortlichen in Texte ein. 119 Darüber hinaus scheinen die Mitwirkenden zu der Einsicht gelangt zu sein, dass alte Texte nicht unbedingt schwerer zu verstehen sind, sondern jüngere aus der Romantik und der Zeit des Pietismus der Zeitgebundenheit wegen oft wesentlich unzugänglicher sein können. Weiter wird das seltene und vorsichtige Umdichten damit begründet, dass große Kraft in diesen alten Formeln und theologischen Denkmodellen liege - ein Text müsse nicht immer gleich alles offenbaren und sich dem Rezipienten erschließen, sondern gerade Fremdheit, Eigenart oder ärgerniserregende Sperrigkeit machten diese Lieder zu Schätzen, die es Gemeinden anzubieten gelte. 120 Zu diesen sperrigen Formeln zählten Söhngen und Mahrenholz insbesondere die Rede vom Teufel. „Der Satan ist schon in der Aufklärung weitgehend aus dem Gesangbuch ausgeschieden, und manche Lieder sind dadurch recht verharmlost worden. Das DEG hat dies weithin rückgängig gemacht und das EKG ist ihm darin gefolgt.“ 121 118 Vgl. Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 80. Für schwer verständliche Worte und solche, die im Laufe der Geschichte einen Bedeutungswandel erfahren haben, war von Mahrenholz die Beigabe eines Glossars im EKG vorgeschlagen worden, stattdessen einigte man sich auf die Kompromisslösung von gelegentlichen Fußnoten (vgl. Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch‚69). Erstaunlicherweise traut das EG den Nutzern im Verständnis alter Texte mehr zu - in den „Grundsätzen“ heißt es: „Fußnoten und Erklärungen sind nach Möglichkeit zu vermeiden.“ (9.10). In der Tat zeigt z.B. der Vergleich von „Nun ruhen alle Wälder“ (EKG 361/ EG 477) beim ersten Vers von Str. 7 („Mein Augen stehn verdrossen“) im EKG für „verdrossen“ noch eine Erklärung („müde, des Sehens überdrüssig“), wohingegen das EG dieses nicht für nötig hält. 119 Vgl. Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 63. 120 Vgl. Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 73.78. Mit offiziellem Arbeitsbeginn am EG gibt Blankenburg zu bedenken: „Auch ist es in einer so tastenden Zeit wie der unsrigen, zu deren Merkmalen Entartung und Verfall der Sprache gehören, wohl nötig, daß wir das Gegenüber der alten Kirchenlieder zu unserem eigenen geistlichen Gewinn nicht abbauen, sondern so weit wie möglich erhalten, ja verstärken. […] Wenn ein Lied schwer verständlich ist, […] dann behandle man es im Unterricht und in Gemeindekreisen und predige darüber! “ (Blankenburg, Aufbruch zu einem neuen Gesangbuch, 217-218). Ähnlich in Bezug auf archaische und sperrige Kirchenliedtexte hat sich vor einigen Jahren Kurzke zu Wort gemeldet und auf die für eine dauerhafte Rezeption notwendige Fremdheit und rezeptionsästhetische Offenheit hingewiesen (vgl. Kurzke, Poetik und Metaphorik in der Geschichte des Kirchenliedes, 28; ebs. vgl. Kurzke, Das Liedgut der Tradition, 150-151; ebs. vgl. Franz, Das „schöne Blut“, 26-27). 121 Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 70. Dies ist die einzige dezidierte Erwähnung des Themenbereiches „Teufel“ als Herausforderung für die Arbeit am EKG in dem 120 Seiten zählenden Bericht zum Arbeitsprozess am EKG. <?page no="91"?> 92 A. Ausgangslage und Vorgehen Dieses Urteil ist ebenfalls in den Vorüberlegungen zum EG leitend‚ 122 in den Grundsätzen [1980] hieß es zum Thema Archaismen in Theologie und Sprache: „Theologische Aussagen und Inhalte alter Kirchenlieder bezeugen die Frömmigkeit und die besondere Situation des Glaubenden vergangener Zeiten und bilden ein Überlieferungsgut, das im Leben der Gemeinde an anderer Stelle nicht in Erscheinung tritt. Sie sollten in ihrer theologischen Grundaussage nicht revidiert werden. Einzelne Strophen können, wenn sie den Nachvollzug des Liedes erschweren, ausgelassen werden unter der Voraussetzung, dass das Gesamtverständnis der Aussage keine Einbuße erleidet“ (6.1). 123 Grundsätzlich sind die EG-Gremien äußerst behutsam vorgegangen; betrachtet man etwa den kritischen Apparat zum VE oder die von Frahm erarbeitete Synopse, zeigt sich, wie selten zum Mittel der Textänderung gegriffen wurde. 124 Die EG-Kommission steht für „eine radikale Absage an die rationalistischen Tendenzen einer konsequenten Vereinheitlichung nach Maßgabe des modernen Vorverständnisses“ 125 . Mit Abschluss der Arbeit am Stammteil des EG, bemerkt Drömann zu den Rückmeldungen gegenüber den ohnehin wenigen Textrevisionen im VE: 122 In den Thesen zur Gesangbuch-Revision der LLK wird zu einem sachten Gebrauch von Textrevisionen aufgerufen. „Oft wird eine Aussage weniger durch rationales Verstehen als durch innere Anteilnahme erfahrbar.“ (LLK, Das künftige Gesangbuch, 83). Eine erhellende Bemerkung aus der dem EG vorangegangenen EKG-Revision bietet Schmidt. Er berichtet davon, dass die EKG-Revisoren in „Oh komm, du Geist der Wahrheit“ (EKG 108/ EG 136) ersatzlos die fünfte Strophe streichen wollten - sie ist im EG immer noch enthalten. Interessant ist, dass Schmidt den Grund nicht in Vers 3 („sie werfen Satans Bande“) vermutet, sondern in der heidenmissionarischen Ausrichtung des Liedes (vgl. Schmidt, Das künftige Evangelische Kirchengesangbuch, 32). Scheinbar ist den Textverantwortlichen ein theologischer Archaismus weniger anstößig als ein missionarisches Christentum. 123 „Die theologische Konzeption des Liedes soll durch eine Revision nicht verändert werden“ (6.5.3). 124 Vgl. Frahm, Synopse zum Evangelischen Gesangbuch, 12-84. 125 Rößler, Prospekt eines Projekts, 15. Auf Grund dieser und anderer Aussagen von EG-Verantwortlichen kann die Kritik Steigers m. E. nicht mehr als den Status einer überzogenen Verallgemeinerung beanspruchen: „Offenbar jedoch, hat man es nicht für nötig gehalten, sich mit der Problematik von Gesangbuch-Revisionen, die zumal in der Aufklärungszeit bis ins 19. Jh. hinein zuhauf stattgefunden haben, historisch auseinander zu setzen.“ (Steiger, Die unaufgeklärte Gesangbuch-Revision, 204). <?page no="92"?> 5. Forschungsmaterial: Vom EKG zum EG 93 „Zahlenmäßig fallen […] die Voten ins Gewicht, die vorgenommene Änderungen eher als zu weitgehend empfinden. Sie plädieren für die Beibehaltung der archaischen Sprache, soweit sie verständlich ist.“ 126 Neben den angesprochenen Bereichen „Gerechte Sprache“ und „Juden und Christen“ gab es aber nach Rößler einen Bereich im Revisionsprozess, der trotz aller Vorbehalte gegen Textrevisionen besonderes Augenmerk gefunden hat und in meiner Arbeit nicht unerwähnt bleiben darf: „Neu kommt eine besondere Sensibilität in drei Bereichen hinzu: in der martialischen Redeweise von Waffen und Rüstung, Kampf und Sieg, in den minnesüßen Ausdrücken der verniedlichenden Anrede der göttlichen Personen und in der allzu gegenständlichen Ausmalung von Sünde, Hölle und Teufel [! ; HH]. Hier wurden die meisten Umformungen erwogen [nur „erwogen“! ? ; HH]. Es bleibt aber die bedrängende Frage, ob man mit der veränderten Sprachgestalt nicht doch den Sinngehalt preisgegeben hat, den man eigentlich festhalten wollte.“ 127 Damit zeigt sich, dass die Fragestellung der vorliegenden Studie eines der wichtigsten und zentralsten Themenfelder für die Gestaltung und Revision neuer Gesangbücher berührt. Inwieweit die Erwägungen zu Textkorrekturen in diesem Bereich vom EKG zum EG hin durchgeschlagen haben, wird den weiteren Verlauf vorliegender Arbeit beschäftigen. 128 126 Drömann, Das Evangelische Gesangbuch, 190. Dieses Vorgehen beklagt v. a. Kuessner in einer persönlichen Wortmeldung, da er die archaischen Texte in Morgenliedern für nicht zumutbar hält - sie würden seiner Glaubens- und Lebenswelt nicht entsprechen. Für Kuessner soll ein Morgenlied für die Ruhe und Erholung der Nacht danken, nicht aber für die Bewahrung vor der satanischen Macht (vgl. Kuessner, Der Satan schon am frühen Morgen, 67-69). 127 Rößler, Prospekt eines Projekts, 15. Diese Erwähnung ist die einzige der Thematik „Teufel“ in der Gesamtpublikation „Auf dem Weg zum neuen Evangelischen Gesangbuch“ [1990]! Dass die von Rößler benannten Felder die häufigsten und beliebtesten für Textrevisionen waren, deckt sich mit Beobachtungen Hermann Kurzkes, der ebenfalls bei Kriegs- und Feindesmetaphorik auffällige Veränderungen ausmacht (vgl. Kurzke, Poetik und Metaphorik in der Geschichte des Kirchenliedes, 28). Ähnlich beschreibt diesen Sachverhalt Alex Stock mit Blick auf das GL (vgl. Stock, Und die alten Lieder singen, 30-31). 128 Claudia Hoffleit formuliert zum EG und seinen Archaismen m. E. viel zu undifferenziert, wie in dieser Arbeit noch weiter ausgeführt werden wird: „Unter der Tarnung der Allgemeinverständlichkeit tritt die Rede und Lehre von Sünde, Hölle, Teufel, Zorn und Strafe Gottes zurück. Aber auch das eschatologische Theologumenon von der ecclesia militans wurde wegen seiner vermeintlichen unerträglichen Kriegsmetaphorik ausgehöhlt.“ (Hoffleit, Gesangbuchrevision, 226). <?page no="93"?> 94 A. Ausgangslage und Vorgehen Kritik am Evangelischen Gesangbuch Die aufgezeigten Spannungsfelder, zwischen denen sich das EG zu entwickeln und bewähren hatte, führten während der Erarbeitung, bei der Einführung und andauernd bis heute - mit Blick auf das Reformationsjubiläum verstärkt - zu massiver Kritik. 129 Die Diskussionen in ihrer Breite darzustellen, ist weder möglich noch nötig‚ 130 da sich die Problemfelder kaum verschoben haben. 131 Es bleibt die eine große Frage nach dem Verhältnis zwischen Innovation und Tradition, sowohl im sprachlichen, musikalischen und buchgestalterischen Sinne‚ 132 als auch mit Blick auf die inhaltlich-theologische Ausrichtung der Texte. Grundsätzlich stellt Reich dennoch in der Bündelung der Kritiken fest: „Insgesamt hat das EG eine gute Aufnahme gefunden und ist von vielen Seiten gelobt worden. Auch ist es in den Gemeinden überwiegend positiv aufgenommen worden […]. Allerdings hängt diese Akzeptanz in der jüngeren Theologengeneration zu einem großen Teil an der Tatsache, dass dem Stammteil in vielen Kirchen ein Regionalteil 129 Zeugnis von dieser neuerlichen Kritik gibt die durch die verstrichene Nutzungsdauer des EG und die Reformationsjubiläen, damit auch der Jubiläen evangelischer Gesangbucharbeit, motivierte empirische Studien zu Nutzungsverhalten und Veränderungswünschen bei kirchlichen Mitarbeitern und Gemeindegliedern, die durch die Abteilung für Religions- und Kirchensoziologie an der Universität Leipzig durchgeführt wurde (vgl. Jaeckel/ Pickel, Das Evangelische Gesangbuch, 6-32). Die Ergebnisse dieser Studie sind ebensowenig hilfreich wie die vor dem EG zum EKG durchgeführten. Dass Menschen das EG v. a. im Gottesdienst verwenden, dass häufige Kirchgänger mehr Lieder kennen als weniger häufige und die Jugend Veränderungswünsche hat, die die Alten nicht teilen, sind wenig überraschende Erkenntnisse (vgl. Jaeckel/ Pickel, Das Evangelische Gesangbuch, 12-15.22-28). Julia Koll bemerkt zutreffend, dass ein aufgrund dieser Wünsche und Zahlen herbeigeführter neuer Gesangbuchkorpus nicht automatisch mehr Kirchgänger und Gesangbuchkundige generiere - Empirie ist nur retrospektiv (vgl. Koll, Ein Kommentar zur empirischen Studie zum Evangelischen Gesangbuch aus praktisch-theologischer Sicht, 35-36). 130 Eine Schneise durch die Unmenge rezensierender Literatur zum EG schlagen Neufeld, Hoffleit, Steiger und Reich (vgl. Neufeld, Das Bild der Kirche im Singen der Gemeinde, 28-37; ebs. vgl. Hoffleit, Gesangbuchrevision, 215-226; ebs. vgl. Steiger, Das Evangelische Gesangbuch und seine unevangelischen Schwachstellen, 303-318; ebs. vgl. Reich, Das Evangelische Gesangbuch, 93-110). 131 Vgl. Reich, Das Evangelische Gesangbuch, 105-110; ebs. vgl. Neufeld, Das Bild der Kirche im Singen der Gemeinde, 28-37. 132 Ein vielfach empfundener Mangel am EG der „analogen Zeit“ gegenüber dem GL2 wird im breiten digitalen Unterstützungsangebot dieses neuen Werkes gesehen und als Maßstab für ein neues GB formuliert (vgl. Walter, Brauchen wir ein neues evangelisches Gesangbuch? , 177). Hartmut Naumann hält die Arbeit an einer Papierausgabe gegenüber einem Cloud-Format ohnehin für fragwürdig (vgl. Naumann, Brauchen wir ein neues evangelisches Gesangbuch? , 308-309). <?page no="94"?> 5. Forschungsmaterial: Vom EKG zum EG 95 beigegeben ist und dass diese Regionalteile weithin von dem deutlichen Bemühen geprägt sind, Defizite des Stammteils auszugleichen. Besonders gut ist das am EG für die EKHN zu erkennen: Der Regionalteil setzt den Akzent auf neue Lieder.“ 133 Neue Lieder als innovatives Element sind nach Reich der entscheidende Punkt in der Bewertung des EG. 134 Der Streit um neuere Lieder war bereits mit der vorläufigen Liederliste seit 1984 gegeben. Der Ausschuss musste einen Kompromiss zwischen widerstreitenden Parteien herbeiführen und so findet sich trotz massiver theologischer Einwände gegen das neue Liedgut im EG z.B. ein Tauflied (EG 211), das sich mit Recht die Frage stellen lassen muss: „Darf man so leichtfertig mit der christlichen Lehre umgehen? “ 135 Kristlieb Adloff meinte gar, dass mit Aufnahme von NGL u. v. a. m. ein „geistlicher Offenbarungseid“ geleistet würde‚ 136 denn die gesamte Anlage des EG sei ein weiterer Beweis für eine geist- und kraftlose Kirche und Theologie, der es nicht mehr um die rechte Lehre und Bekenntnis ginge, sondern um offen eingestandene Anpassung an gegenwärtiges Gottesdienstpublikum, welches nicht die „Kirche des Volkes der Angefochtenen, der Mühseligen und Beladenen, sondern eines einigen Volkes 133 Reich, Das Evangelische Gesangbuch, 105. 134 Ähnlich lobt Kurzke 1993 das EG und empfiehlt es als Hausbuch dem evangelischen Christen an, dennoch stellt auch er einen kritikwürdigen Mangel an neuerem Liedgut fest (vgl. Kurzke, Das Evangelische Gesangbuch, 176). 135 Kemper, Kritische Anmerkungen zu den neuen Liedern der Vorläufigen Liederliste, 140. Kemper kommt zu dieser harschen Kritik, da das Lied in seiner Urform (im EG nicht alle Strophen abgedruckt) eine erhebliche Anzahl Fragen aufwirft, ohne diesen mit angemessenen Antworten zu begegnen - etwa die Frage, wovon Gott denn den Täufling befreie. Neben grundsätzlichen theologischen Anfragen stellt Kemper eine stattliche Anzahl von dezidiert sprachlichen und musikalischen Qualitätsanfragen (vgl. Kemper, Kritische Anmerkungen zu den neuen Liedern der Vorläufigen Liederliste, 139-141). Noch schärfere Kritik am neueren Liedgut übt Hans-Georg Fabian, da mit diesem jegliche missionarische Chance vertan würde und es sich keinesfalls mit zeitgleichem populären und säkularen Liederschaffen messen lassen könne (vgl. Fabian, Die Kluft, mit der wir leben können? , 142-144; ebs. vgl. Krummacher, Das Evangelische Gesangbuch, 770). 136 Vgl. Adloff, Auf ein neues Lied! ? , 181. „Die Verantwortlichen, die ihr Handeln wie die Politiker an Umfragen orientieren, werden jeden das ganze Unternehmen Gesangbuchreform mit dem Hinweis auf Mangel an Vollmacht in Frage stellenden Protest erwartungsgemäß mit Unverständnis quittieren. Die Jugend verlangt’s! Und die neuen Medien! “ (Adloff, Auf ein neues Lied! ? , 184). Drömann reagiert als EG-Mitarbeiter auf diese Kritik und weist darauf hin, dass zwar eine statistische Erhebung in den Jahren 1982/ 1983 die Liedbekanntheit untersuchte, dass aber ebenso durch historische Arbeit eruiert wurde, ob dieses oder jenes Lied in der Gesangbuchgeschichte einmal zum Kernbestand des evangelischen Kirchenliedes gehört habe. In jedem Fall wehrt Drömann dem Vorwurf der bloßen Zeitgeistanpassung (vgl. Drömann, Die Arbeit am neuen Gesangbuch, 167). <?page no="95"?> 96 A. Ausgangslage und Vorgehen von Konsumenten“ 137 darstelle. Kritik an einer an Konsumlogik orientierten Ausschussarbeit übte auch Hanswolf Scriba: „[Es stimmt; HH] gar nicht, daß die Gemeinden ‚die schweren Lieder aus dem Gesangbuch nicht annehmen‘ - die Pfarrer nehmen sie nicht an! […] Nicht so viele Umfragen veranstalten! […] Rauf mit dem Niveau! “ 138 Neben platten Reimen und banalen Melodien wurde immer wieder an einer Verflachung der theologischen Inhalte Kritik geübt - aus Rückmeldungen zur vorläufigen Liederliste berichtete Drömann: „Eine nicht geringe Anzahl neuer Lieder [wird; HH] kritisch hinterfragt. Ihre Texte werden vielfach als flach empfunden.“ 139 Dennoch betont Karl Christian Thust während der Arbeit am EG: „Wir brauchen sowohl neue Lieder als auch ein neues Gesangbuch.“ 140 Er beklagt allerdings, dass es nicht verantwortbar sei, dass die Liederliste zwar Themen des 20. Jahrhunderts aufnäme, aber dann nur in eigentlich kindlicher Naivität und ohne mit ganzem Ernst z.B. menschlich verursachte Umweltschäden als solche zu benennen. 141 Andere weisen auf Probleme hin, die mit Streichungen vieler alter Choräle zugunsten neuerer Lieder einhergehen - vielen Werken großer Meister, wie Bach oder Reger, die auf dem Grund von tradierten Kirchenliedern entstanden sind, werden durch Streichung aus dem Liederkanon die unmittelbaren Verständnisdimensionen entzogen. Bei mehr als zwanzig Liedern aus dem EKG-Stamm galt Friedhelm Krummacher „die Notwendigkeit ihrer Bewahrung geradezu zwingend“ 142 . Eine der meistbeachteten Kritiken legte Claudia Hoffleit vor, sie stellt sich klar in die Linie von Adloff und zieht das Fazit: „Trotz einiger positiver Aspekte und Novitäten, die das neue Gesangbuch aufzuweisen hat, stellt es sich nicht als ‚nagelneu‘, nicht als das gewünschte Gesangbuch des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts heraus. […] Eine Erstellung von Beiheften zum EKG sowie eine Anhangsrevision, […] wären sinnvoller […] gewesen“ 143 . 137 Adloff, Auf ein neues Lied! ? , 181. 138 Scriba, Abschiedspredigt an meine Kirche, 273. 139 Drömann, Die Arbeit am neuen Gesangbuch, 169. 140 Thust, Wert und Funktion neuer Lieder, 175. Thust bekennt zugleich, dass die Vielzahl neuerer Lieder (ca. 95 %) mangelhaft und nicht für das EG zu empfehlen sei (vgl. Thust, Wert und Funktion neuer Lieder, 177). 141 Vgl. Thust, Wert und Funktion neuer Lieder, 181. 142 Krummacher, „Mit dem Choral ist nicht zu spaßen“, 156; ebs. vgl. Hoffleit, Gesangbuchrevision, 223; ebs. vgl. Krummacher, Das Evangelische Gesangbuch, 771. „Mit jedem Lied, das gestrichen wird, entfällt nicht nur ein Stück der Überlieferung, mit jedem eliminierten Lied vielmehr wird zugleich auch eine Chance der künftigen Rezeption eliminiert.“ (Krummacher, „Mit dem Choral ist nicht zu spaßen“, 154). 143 Hoffleit, Gesangbuchrevision, 217. Dieses Zitat, dass sich wie ein mutiger Aufruf für mehr Neuerungen im EG liest, hält im Aufsatz nicht durch, sondern wird von stark kon- <?page no="96"?> 5. Forschungsmaterial: Vom EKG zum EG 97 Dieses vernichtende Urteil fällt Hoffleit aufgrund vieler Gründe‚ 144 der Hauptgrund ihrer Kritik soll aber, wie sie es im Titel ihres Aufsatzes benennt, ein theologischer sein. Sowohl an Tauf-, Abendmahls- und Sterbe-/ Ewigkeitsliedern weist sie auf theologische Verflachungen hin, entweder durch Ausscheiden von allzu dogmatisch empfundenen Liedern‚ 145 oder durch Auslassung von einzelnen mit Theologie durchdrungenen Strophen. 146 Deutlicher als im Umgang mit altem Liedgut wird die „Entdogmatisierung“ für Hoffleit in den neuaufgenommenen Taufliedern des 20. Jahrhunderts, die „so gut wie keine Tauftheologie voraussetzen, dogmatisch recht unbekümmert, platt, inhaltslos sind.“ 147 Zu den traditionellen und neuen Abendmahlsliedern schreibt sie entsprechend: „Dogmatische Aussagen werden umgangen, konfessionell-dogmatische Unterscheidungen nicht mehr vorgenommen. […] Der Gesamtduktus wurde also entstellt, der theologische Gehalt geglättet und […] verkürzt.“ 148 servierenden Wünschen konterkariert - diese Inkonsistenz, die es schwer macht, Hoffleits Anliegen im Ganzen zu verstehen, wird auch in den Reaktionen auf ihren Aufsatz angemerkt (vgl. Krummacher, Kritik einer Kritik, 21-26). 144 Sie legt etwa dar: keinesfalls sind so viele neue Lieder und Themen, wie angekündigt, aufgenommen; die neuen Rubriken sind nur mit alten EKG-Beständen befüllt; die Ö-Lieder und der gesamtökumenische Anstrich des EG seien nur vordergründig; Traditionsgut erster Güte wird qualitativen Stümpereien geopfert etc. (vgl. Hoffleit, Gesangbuchrevision, 218-224; ebs. vgl. Steiger, Das Evangelische Gesangbuch und seine unevangelischen Schwachstellen, 304-305). 145 So wurde etwa das in der Konkordienformel und damit in Bekenntnisnähe stehende Lied „Durch Adams Fall ist ganz verderbt“ (EKG 243), das die Erbsündenlehre thematisiert, ausgesondert (vgl. Steiger, Das Evangelische Gesangbuch und seine unevangelischen Schwachstellen, 303). 146 Vgl. Hoffleit, Gesangbuchrevision, 225. Steiger bezeichnet das Verfahren der Streichung einzelner Strophen als „Zerhacken“ (Steiger, Das Evangelische Gesangbuch und seine unevangelischen Schwachstellen, 314). 147 Hoffleit, Gesangbuchrevision, 219. 148 Hoffleit, Gesangbuchrevision, 220. Ähnlich Steiger: „Da wird mit einer liberalistischen Unbekümmertheit gestrichen und nicht darüber reflektiert, daß Verschweigen oder Verschleiern konfessioneller Gegensätze nichts mit einer interkonfessionellen Konsensfindung zu tun hat.“ (Steiger, Das Evangelische Gesangbuch und seine unevangelischen Schwachstellen, 306). Gegen diese harsche Kritik springt von Schweizer Seite ein am EG Unbeteiligter dem Werk mit ironischem Tonfall zur Seite: „Vermutlich ist es meiner dogmatischen Deformation als reformierter Theologe zuzuschreiben, daß ich weder den Unterschied von Communio und Agape so recht zu würdigen, noch die Akzentverschiebung von Lehre auf Gemeinschaft zu beklagen weiß.“ (Marti, Ist das EG wirklich so mies? , 19). Lob findet z.B. Krummacher für die neue EG-Rubrik der Abendmahlslieder: „die gelegentlichen Verengungen der altprotestantischen Abendmahlslieder auf den Aspekt individueller Sündenvergebung werden ergänzt durch den Aspekt der communio. Diese Rubrik ist gewiß brauchbarer als im EKG.“ (Krummacher, Das Evangelische Gesangbuch, 767). <?page no="97"?> 98 A. Ausgangslage und Vorgehen Diese Verflachung theologischer Topoi bleibt nach Hoffleit nicht folgenlos, sondern führe in die prekäre Situation, dass die Kirche des Wortes, die das Wort mit dem Gesangbuch stets in hymnischer Form zur Hand hatte, dies nicht mehr in uneingeschränkter Form für sich in Anspruch nehmen kann: „Gemeindepädagogisch wichtig ist, daß viele neuaufgenommene Choräle wegen ihrer biblischen und inhaltlichen Unbedarftheit nicht mehr Anspruch darauf erheben können, als christliche Lehre vermittelnde Stücke in katechetischer Hinsicht zu gelten. […] Durch solche Streichungen und revidierende Eingriffe in altbekannte Choräle, […] wird dem ursprünglichen Anspruch des Gesangbuches, eine gesungene Auslegung der Bibel und ein gesungenes Compendium locorum theologicorum zu sein, Abbruch getan.“ 149 In einer weiteren Wortmeldung Johann Anselm Steigers wird kritisiert‚ 150 dass die eingebrachten Diskussionsfelder Hoffleits in keiner Weise auf sachliche Richtigkeit geprüft worden seien‚ 151 sondern mit Hinweis vorher eingeholter Umfragen abgewiesen würden. Nach Steiger sind gerade diese Umfragen aber kein adäquates Entscheidungsinstrumentarium, denn natürlich müsse ein gro- 149 Hoffleit, Gesangbuchrevision, 222. Die Kritik Hoffleits ist heute vielfach vergessen - in Folge der Rezeptionsstudie zum EG (2016) flammt erneut die Forderung nach theologisch neuen Texten im Gesangbuch auf. Insbesondere Nachfolgelieder, die zur Lebenshingabe aufrufen, Passionslieder, die den Sühnetod besingen (vgl. Alpermann, Das Gesangbuch und der Gottesdienst der Zukunft, 51) oder aber Sakramentslieder (Taufe, Abendmahl), die allzu materialistisch und realistisch von den heiligen Geheimnissen handeln, geraten wegen ihrer als archaisch empfundenen Theologie in die Kritik (vgl. Jaeckel/ Pickel, Das Evangelische Gesangbuch, 21-22). 150 In Steigers Kritik in „Kerygma und Dogma“ erreicht der Zeitschriften-Schlagabtausch einen Gipfel der Polemik. Es ist kaum zu verkennen, dass Steiger als Orthodoxieexperte sich von der damaligen Schmährhetorik hat lehren lassen, so dass es dem heutigen Leser nur schwer möglich ist, den schmalen Grad zur Misanthropie sachgemäß und differenziert zu beschreiben - Steiger zur Rubrik der Abendmahlslieder im EG: „Die sich aus der Warnung 1.Kor 11‚29 […] ergebende Ernsthaftigkeit paßt nicht so recht in die Mentalität inzwischen verbreiteter Abendmahls-Frömmelei, die oft im gegenseitigen Anfassen meist klebriger [! ; HH] Hände den Höhepunkt der Abendmahlsfeier zu sehen scheint.“ (Steiger, Das Evangelische Gesangbuch und seine unevangelischen Schwachstellen, 315). 151 Steiger bezieht sich v. a. auf einen Aufsatz von Stalmann, der durch Hoffleits Wortmeldung motiviert war (vgl. Stalmann, Gotteslob evangelisch, 19-29). In der Tat ist es bezeichnend, wie lapidar m. E. über bedenkenswerte Sätze Hoffleits hinweggegangen wird. Im Grunde zeichnet Stalmann noch einmal die Grundsätze [1980] und ihre mehr oder minder gelungene Umsetzung im EG nach. Man muss mit Hoffleit fragen: Welche Güte kann dieses Werk beanspruchen, wenn Verantwortungsträger für dieses gesamtkirchliche Gesangbuch, auf Kritik an der Qualität neuer Lieder nicht mehr zu entgegnen haben, als das Sprichwort: „Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren.“ (Stalmann, Gotteslob evangelisch, 21.27)? Wenn es keine guten neuen Lieder gibt, muss doch die Frage Hoffleits nach der Notwendigkeit eines neuen Gesangbuches legitim erscheinen. <?page no="98"?> 5. Forschungsmaterial: Vom EKG zum EG 99 ßer Teil der Lieder bei Befragungen mit dem Stempel des „Unbekannten/ Unbeliebten“ versehen werden, da weder in der ersten noch in der zweiten Ausbildungsphase von Pfarrern Hymnologie eine erwähnenswerte Rolle spiele - die meisten Pfarrer seien hymnologische Laien. 152 „Darum ist es höchst fragwürdig, solche Umfragen zur Norm für die Einrichtung eines neuen Gesangbuches zu erheben oder sie - wie es nun geschieht - nachträglich zur Rechtfertigung für das EG zu bemühen, weil dadurch ein in der Pfarrerschaft herrschendes hymnologisches Defizit unter dem Schein sich für wissenschaftlich ausgebender ‚Empirie‘ als Norm verabsolutiert wird.“ 153 V.a. versucht Steiger in seiner Kritik aber aufzuzeigen, dass sich die EG-Verantwortlichen belügen, wenn sie wie Stalmann behaupten, es gäbe keine eigene Theologie des Gesangbuches - 154 vielmehr sei eine solche Aussage ein Zeugnis einer bestimmten Theologie und Dogmatik, nämlich Zeugnis eines „herabsetzenden Verständnisses von Lehre und Dogmatik […], [bei dem; HH] die Wahrheitsfrage offensichtlich keine Rolle“ 155 mehr spiele. Dieser Zustand müsse für mehr als bedenklich erachtet werden, da jedes Gesangbuch nach reformatorischem, mehr noch nach lutherischem Verständnis „an seiner Schriftgemäßheit 152 Leider ist Steiger immer noch voll zuzustimmen und das, obwohl schon 1980 die LLK in ihren Thesen für ein künftiges Gesangbuch auf diesen Missstand aufmerksam machte und „mangelnde hymnologische Kenntnisse der Theologen“ (LLK, Das künftige Gesangbuch, 82) konstatierte. In der Rezeptionsstudie zum EG hat sich gezeigt, dass Pfarrer noch mehr Änderungswünsche und Bedürfnis nach neuen Liedern haben als viele Gemeindeglieder - oft geht dieser Wunsch mit theologischen Begründungen einher (vgl. Goldschmidt, Ist die Zeit reif ? , 58-60; ebs. vgl. Jaeckel/ Pickel, Das Evangelische Gesangbuch, 26-27). Vielleicht sind manche Pfarrer nicht nur hymnologische Laien? 153 Steiger, Das Evangelische Gesangbuch und seine unevangelischen Schwachstellen, 305. Dass Umfragen die protestantische Ekklesiologie ernst nehmen, die von der Gemeinde her denkt und auf Beteiligung angelegt ist, womit dieser Vorgang auch durch Bekenntnisschriften gedeckt sei, merkt Hartwig Niemann an (vgl. Niemann, Ein kirchenleitender Akt, 278-279). 154 „Ein Gesangbuch ist keine Dogmatik, keine Darstellung der christlichen Lehre […; ] ein Gesangbuch kann keine Systematik darstellen, oder es ist kein wirkliches Gemeindegesangbuch mehr.“ (Stalmann, Gotteslob evangelisch, 20). Stalmann merkt an, dass eine Systematik „keineswegs wünschenswert“ (Stalmann, Gotteslob evangelisch, 28) wäre. Stalmann wirkt hier geschichtsvergessen, denn die Geschichte der Gesangbücher ist voll von Beispielen, die gerade das zum eigentlichen Gestaltungsfaktor eines Gesangbuches erhoben haben. Ich erinnere an die klare heilsgeschichtliche Systematik, die etwa das Freylinghausensche Gesangbuch [1704] durch sein Inhaltsverzeichnis darbietet. 155 Steiger, Das Evangelische Gesangbuch und seine unevangelischen Schwachstellen, 307; ebs. vgl. Steiger, Das Evangelische Gesangbuch und seine unevangelischen Schwachstellen, 310. Im Sinne einer beabsichtigten Vielstimmigkeit des EG ist dieses Urteil für Stalmann selbst wohl gar nicht als pejorativ zu verstehen (vgl. Stalmann, Gotteslob evangelisch, 28-29). <?page no="99"?> 100 A. Ausgangslage und Vorgehen und daher auch an seiner Bekenntnisgemäßheit zu messen“ 156 sei. Unter Anlegen dieser Kriterien stellt Steiger dem EG das Zeugnis der Häresie aus: „[Die Gesangbuchredaktion; HH] hat eine ganz bestimmte Theologie, und zwar eine solche, die der […] ins Feld geführten Schrift als kanonischer Norm nicht entspricht und zudem Gefahr läuft, ein Lehramt aufzurichten, weil sie der Schrift nicht die ihr anstammende Funktion als Lehrinstanz zugesteht.“ 157 Schlichtend gegenüber diesen Fundamentalangriffen rief Christoph Krummacher in Erinnerung, dass Kritiken ihr Recht haben, aber dass auch dieses Gesangbuch nur eines in einer langen und wechselvollen Geschichte sei, und nur weil nun die Arbeit mit dem Gesangbuch im Gange sei, ja die Arbeit am Gesangbuch nicht enden werde. 158 Nachdem sich Ende der 1990er die Arbeit mit dem EG zur Routine entwickelte, flachte auch die Kritik ab. Mit dem Erscheinen des neuen Gotteslobes 159 (GL2) Ende 2013 und mit Blick auf die Reformationsdekade und die Herausgabe der ersten reformatorischen Gesangbücher (1523/ 1524) ist aber auch wieder die Diskussion um das Gesangbuch aufgebrochen. Ansgar Franz vergleicht das EG und das neue Gotteslob (GL2) und beurteilt das EG nach über 20 Jahren „Dienstzeit“ sehr viel milder als frühere Kritiker. 160 Franz lobt (als Katholik) v. a. die Traditionskontinuität des EG 161 gegenüber dem GL2, da im EG 156 Steiger, Das Evangelische Gesangbuch und seine unevangelischen Schwachstellen, 307. 157 Steiger, Das Evangelische Gesangbuch und seine unevangelischen Schwachstellen, 310. Steiger schreibt dezidiert, dass das EG nicht den Titel „evangelisch“ verdiene, da Glaubensbestände verwässert und aufgelöst worden seien (vgl. Steiger, Das Evangelische Gesangbuch und seine unevangelischen Schwachstellen, 314). „Das Prinzip heißt: Allein aus der Schrift [und zwar nur das! ; HH], was unsere Minimaltheologie zu bestätigen scheint.“ (Steiger, Die unaufgeklärte Gesangbuch-Revision, 212). Dieses Urteil Steigers über die Geltung der norma normans für die Gesangbuchausschüsse kann sich auf Aussagen Stalmanns berufen, der die Bibel für eine vielstimmige Sammlung hält, aber dennoch betont, dass die Bibel natürlich norma normans sei und bleibe (vgl. Stalmann, Gotteslob evangelisch, 20-23). 158 Vgl. Krummacher, Das Evangelische Gesangbuch, 778. 159 Das GL2 hat eine ähnlich lange Vorgeschichte wie das EG, schon 2001 wurde mit den ersten Überlegungen, ob eine Revision oder ein neues Projekt begonnen werden solle, zu Gunsten des Letzteren entschieden. Es folgen Grundlinien zur Erarbeitung 2002, Erprobungsphasen und Umfragen 2007-2008, bischöfliches Imprimatur 2012 und zum 1. Advent 2013 in vielen Gemeinden die Einführung (ca. 4 Millionen Exemplare wurden gedruckt bis dahin) (vgl. Praßl, Der Weg zum neuen katholischen Gebet- und Gesangbuch „Gotteslob“, 236-240; ebs. vgl. Praßl, Gotteslob ante portas, 20-25; ebs. vgl. Walter, Vielstimmige Chancen, 406-410). 160 Vgl. Franz, Das Evangelische Gesangbuch (1993) und das neue Gotteslob (2013), 282. Einen ähnlichen Vergleich bietet Christian Finke (vgl. Finke, Das „Gotteslob“ in evangelischer Sicht, 242). 161 Franz ist merklich mit seiner eigenen Tradition unzufrieden, da katholische Gesangbücher seit dem 18. Jh. immer auch Andachtsbücher mit großem Textteil sind. Auch das <?page no="100"?> 5. Forschungsmaterial: Vom EKG zum EG 101 vom Vorgängergesangbuch wesentlich mehr Liedgut übernommen wurde als im GL2. 162 Durch die Arbeit am GL2 ist darüber hinaus die Erkenntnis gewachsen, dass ein Gesangbuch, das den Ansprüchen der Gegenwart nur ansatzweise genügen möchte, eine utopische Vorstellung sei. Ein Gewöhnungsprozess wird einkalkuliert, überhaupt wird aus der Erfahrung mit dem EG für das GL2 der Rat gegeben, dass der Inhalt des Gesangbuches zwar wichtig, aber die Arbeit damit in der Gemeinde das Entscheidende sei. 163 Besonders Michael Heymel sieht hier bei aller Kritik am EG eine entscheidende Aufgabe für Kirche und Kirchenmusik. Die Kenntnis des evangelischen oder christlichen Liederschatzes ist nur noch so rudimentär vorhanden‚ 164 dass die Produktion und Arbeit an einem neuen Gesangbuch allein nicht zur Belebung des christlichen Singens beitragen GL2 ist in drei bis vier Teile gegliedert, von denen nur einer einen Liedteil darstellt. Reizvoller dagegen findet Franz evangelische Gesangbücher, die große Mengen an Liedern verschiedener Zeiten bieten. „Im Vergleich […] vermittelt das EG mit seinem beneidenswert prall gefüllten Liedteil den Eindruck, in einer langen Tradition zu stehen, die nicht regeln und erklären muss, was wann warum gesungen wird, für die das Singen eine fraglose Selbstverständlichkeit ist.“ (Franz, Das Evangelische Gesangbuch (1993) und das neue Gotteslob (2013), 283). Dass dies mehr dem Wunsch als der Wirklichkeit entspricht, muss Heymel m. E. zu Recht anmerken (vgl. Heymel, Die Schätze der kirchlichen Tradition weitergeben, 296). Neben der kleinen Liederanzahl kritisiert Franz auch Kürzung der Strophenanzahl im GL2: „blättert man das EG durch, so bemerkt man schon auf den ersten Blick, dass die Lieder länger sind als im GL, auch die, die in beiden unter dem selben Incipit stehen […]. Nun beschädigen Textkürzungen in den meisten Fällen (wobei es Ausnahmen gibt) nicht nur die poetische Gestalt, sondern auch den geistlichen Gehalt der Lieder.“ (Franz, Spiritueller Reiseproviant, 293). 162 Im EG (gesamt 535 Lieder) wurden ca. 310 Lieder vom EKG übernommen, im GL2 (gesamt ca. 290 Lieder) wurden 160 Lieder des GL übernommen (vgl. Franz, Das Evangelische Gesangbuch (1993) und das neue Gotteslob (2013), 286). 163 „Ein Gesangbuch bewährt sich […] nicht bloß im Heute, sondern im Leben der Generationen. Die Erfahrungen mit dem inzwischen 20 Jahre alten EG haben uns Protestanten gelehrt, wie viel daran liegt, den Gebrauch des Gesangbuchs in den Gemeinden beständig zu kultivieren.“ (Heymel, Eindrücke und Beobachtungen zum neuen Gotteslob aus evangelischer Sicht, 292; ebs. vgl. Schneider, Brauchen wir ein neues evangelisches Gesangbuch? , 201). Der Kultivierung soll nach neueren Überlegungen auch die Bildung von Kernliederlisten dienen, die Generationen und Landeskirchen verbinden sollen und so einen Kanon traditioneller Lieder bewahren (vgl. Alpermann, Das Gesangbuch und der Gottesdienst der Zukunft, 49). 164 Ob jemals ein Gesangbuch von ca. 500 Liedern in Breite bekannt war, mag bezweifelt werden. Kantor Heinz-Walter Schmitz merkt an, dass ein Kennen von Liedern (im Sinne eines Mitsingenkönnens vom Blatt) bei etwa 130 Liedern eine Grenze in normalen Gemeinden erreicht habe (vgl. Schmitz, Das neue Gesangbuch kommt, 145). Das Gesangbuch erfüllt daneben aber immer auch die Funktion eines historischen „Asyls“ (vgl. Krummacher, Das Evangelische Gesangbuch, 771; ebs. vgl. Finke, Das „Gotteslob“ aus evangelischer Sicht, 245). <?page no="101"?> 102 A. Ausgangslage und Vorgehen könne. 165 Vielmehr plädiert Heymel für die Arbeit mit dem EG in immer neuen Situationen, von der Seelsorge bis zur Predigt oder dem Gemeindekreis. 166 Unter der allgemein-hymnologischen Grundregel, dass ein Gesangbuch etwa eine Lebensdauer von 30 Jahren habe‚ 167 sind aber doch auch ein paar kleinere Wünsche, motiviert durch die spürbaren Neuerungen im GL2, an ein zukünftiges evangelisches Gesangbuch gerichtet worden, wenngleich eine Notwenigkeit zum baldigen Beginn daran kaum spürbar ist. 168 Antje Wissemann hofft, dass ein neues evangelisches Gesangbuch die noch zaghaften Versuche des GL2 um Integration und Diversifizierung von Singformen weiter voran treiben wird. 169 Peter Bubmann lobt die kleinen Einführungen und Erklärungen, sowie den breiten Textteil, der das Buch zum Lehrbuch („Kurzkatechismus“ 170 ) des katholischen Glaubens mache. Er ist auch angetan von der deutlichen Führungsrolle des Themas „Wort Gottes“, denn das erste Kapitel des GL2 behandelt die Schriftlesung und -meditation und der Liederteil wird von Psalmen eröffnet. 171 165 Kaiser mahnt, dass Singen nicht in erster Linie mit neuen Büchern, sondern mit einer engagierten Singehaltung beginne, die besser heute mit dem EG anfange, als auf eine terminlich unbestimmte Einführung eines neuen GB verschoben zu werden (vgl. Kaiser, Brauchen wir ein neues evangelisches Gesangbuch? , 41). 166 Vgl. Heymel, Das Gesangbuch als Lebensbegleiter, 77. Bei „Kreuz- und Trostliedern“ rät Heymel zum parallelen Gebrauch des EKG, da dort unerreichte und vielfach benötigte Sprachformen für den Umgang mit Tod und Schuld aufbewahrt sind (vgl. Heymel, Das Gesangbuch als Lebensbegleiter, 73-75). 167 Vgl. Praßl, Der Weg zum neuen katholischen Gebet- und Gesangbuch „Gotteslob“, 236. 168 Die Rezeptionsstudie zum EG beweist ebenfalls, dass Handlungsbedarf einerseits empfunden und benannt wird, im Konkreten ein neues EG aber dem alten mit ein paar anderen Gewichtungen relativ nahe käme und folglich der Handlungsbedarf doch geringer ist (vgl. Reinke, Neue Lieder in altem Gewand, 46-47; ebs. vgl. Jaeckel/ Pickel, Das Evangelische Gesangbuch, 22-27). Etwas anders formuliert Jochen Arnold mit Blick auf das GL2: „Theologisch angeregt halten wir ein reiches Gesangbuch in den Händen, das uns Protestanten ermutigt, hymnologisch weiterzugehen und ein neues EG nicht mehr allzu lange hinauszuschieben.“ (Arnold, Gotteslob en detail, 270). 169 Vgl. Wissemann, Gotteslob en detail, 265. 170 Vgl. Bubmann, Gotteslob en detail, 266. 171 „Höchst erfreulich (und für evangelische Gesangbücher zur Nachahmung empfohlen) ist der prominente Einstieg mit Hinweisen zum Hören auf die Heilige Schrift“ (Bubmann, Gotteslob en detail, 266; ebs. vgl. Arnold, Gotteslob en detail, 268). Eigentlich war diese Führungsrolle auch beim EG angedacht, war durch die erste Gliederung in den Grundsätzen [1980] vorgesehen (3.5), wurde dann aber um der üblichen Einteilung, wie sie in evangelischen Gesangbüchern seit Valentin Babst [1545] (vgl. Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 47) gegeben war, wieder verworfen und die De tempore-Lieder an die erste Stelle gerückt. Auch die Rezeptionsstudie zum EG (2016) scheint diese Aufwertung für ein künftiges Gesangbuch nahezulegen, da etwa die Psalmen von vielen häufig genutzt werden und eine Ausweitung dieser EG-Rubrik gewünscht wird (vgl. Jaeckel/ Pickel, Das Evangelische Gesangbuch, 16-19). <?page no="102"?> 5. Forschungsmaterial: Vom EKG zum EG 103 Festzuhalten bleibt, dass das EG auf langem Weg entstanden ist, breitem Kritikstrom ausgesetzt war und gegenwärtig die Frage einer Neukonzeption im Raum steht, wozu noch Genaueres wird entwickelt werden müssen, v. a. theologisch tragfähige Leitlinien. <?page no="104"?> B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten <?page no="106"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 107 Luthers Liederschaffen und Musikanschauung 107 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers Luthers Liederschaffen und Musikanschauung Über Luthers Musikanschauung, im Allgemeinen oder zur Kirchenmusik im Speziellen, liegen unzählige Untersuchungen vor - stets mit dem Fazit, dass er nie eine systematische Musiktheologie entworfen habe. 1 Die ohnehin nicht abgeschlossene Musikanschauung Luthers in Gänze zu beschreiben, ist hier nicht möglich und zielführend; mir geht es um das Kirchenlied, welches insbesondere in Gesangbuchvorreden vom Wittenberger Reformator reflektiert worden ist. Diese Vorreden sind zur Reformationszeit nicht weniger als Leseanweisung und theologische Präfamina zu folgenden Liedtexten und stellen damit vorzügliche Quellen dar‚ 2 die vor dem Studium der Lieder unbedingt eigene Beachtung verdienen. Das 16. Jahrhundert war in vielerlei Hinsicht (z.B.: Politik, Weltbild, Technik) eine Wendezeit, deren Gunst Luther zu nutzen wusste. 3 Die Reformation als breite Singbewegung hätte das Evangelium nicht singen und sagen können, wenn nicht mit Buchdruck seit 1492 und Notendruck mit beweglichen Typen seit 1520 günstige Rahmenbedingungen gegeben gewesen wären - technische 1 Vgl. Söhngen, Theologie der Musik, 81; ebs. vgl. Wetzel, Studie zur Musikanschauung Martin Luthers, 238-239. „Martin Luther hat kein großes, systematisch geordnetes Werk über Musik geschrieben, wie er ja überhaupt kein Mann des philosophischen Denkens war. Vielmehr hat er sich hier und da immer wieder zur Musik geäußert und kundgetan, wie er sie versteht und was sie ihm bedeutet.“ (Rödding, Ein neues Lied wir heben an, 30). 2 Dass dem EG keine Vorrede, nicht mal ein Grußwort vorangestellt ist, wirft mit Blick auf die Tradition Fragen auf. War kein Geistlicher in der Lage, in diesem Werk eine theologische Linie zu erkennen? Will das EG gar nicht mehr verstanden werden als Ausdruck einer theologischen Tradition? 3 Vgl. Arnold, Das Zeitalter der Reformation, 211-212; ebs. vgl. Küster, Musik im Namen Luthers, 13-14. Der Buchdruck im 15. und 16. Jh. war eine Revolution für Texte; wenig beachtet wird daneben, dass Notensysteme und damit viele Gesangbücher weitaus komplexere Druckprozesse verlangen. In dieser Zeit konkurrierten verschiedene Druckverfahren miteinander - zum einen druckte man Notenlinien und Noten in zwei Schritten, zum anderen stellte man für Notenseiten komplette Seitenstiche her oder aber man setzte Einzeleinheiten, die zugleich Note und Notensystem enthielten, nebeneinander. Befriedigend waren diese Ergebnisse für längere Kompositionen allesamt nicht, bzw. zu aufwendig, stattdessen war es bis ins 18. Jh. üblich, auf händisch vervielfältigte Notenausgaben zurückzugreifen (vgl. Küster, Musik im Namen Luthers, 14-15). <?page no="107"?> 108 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Revolution und geistliche Reformation sind nicht zu trennen! 4 Dass Musik und Kirchengesang einen solchen Aufschwung erlebten, ist eng mit den Wandlungen im gottesdienstlichen Leben der Wittenberger Reformation verbunden, deren grundsätzliche Zielrichtung in der Zentrierung auf das Wort Gottes, damit eng verknüpft, in der Ermöglichung des Verständnisses und der Beteiligung aller versammelten Glieder gesehen werden kann. 5 Die reformatorischen Exklusivpartikel (sola scriptura, sola gratia, sola fide, solus Christus) finden damit gleichsam ein Echo im liturgischen Vollzug. „Insgesamt zeigt die Beschäftigung mit Luthers Theologie, dass Gottesdienstverständnis und -praxis sowie Sakramententheologie und Rechtfertigungslehre nicht voneinander trennbar sind: Immer geht es darum, dass das Evangelium als Wortver- 4 Vgl. Möller, Das 16. Jahrhundert, 69. Auf die komplexen Gesangbuchentwicklungen im 16. Jh. einzugehen, führt hier zu weit. Zu allererst waren einzelne Flugblätter im Umlauf, die die neuen Lieder unter das Volk bringen sollten, z.B. das als kleine Sammlung konzipierte „Achtliederbuch“ [1523/ 1524] (vgl. Stalmann, Gesangbücher im Reformationsjahrhundert, 236-237). Diesem Achtliederbuch folgten unzählige größere und kleinere Gesangbücher, die der Reformation zu Klang verhalfen (vgl. Möller, Das 16. Jahrhundert, 69-70). Stilbildend wurde bis heute das Babstsche Gesangbuch [1545] - Gesangbuchstruktur sowie viele Lieder, die sich in EG und EKG wiederfinden, sind dort angelegt (vgl. Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 47-50). 5 Vgl. Arnold, Liturgische Reformen, 230; ebs. vgl. Wetzel, Studie zur Musikanschauung Martin Luthers, 274. Eine Spur, die in meiner Arbeit nicht weiter behandelt werden kann, ist die immer wieder angemerkte dürftige Quellenlage über das tatsächliche Singen der Gemeinde in Wittenberg in den 1520er und 1530er Jahren. Zwar wird fast alles im Gottesdienst, einschließlich Lesungen, gesungen, aber diese Gesänge, wenngleich oft mit einem Wir oder ähnlichem eingeleitet, stellen sich in folgenden Anordnungen meist als Schola oder Chor heraus. Konrad Küster bündelt die gottesdienstlichen Anweisungen Luthers: „Doch wie man die Dinge auch dreht und wendet, an keiner Stelle kommt ein vielfältiger ‚lutherischer Liedgesang der Gemeinde‘ zum Vorschein. Luther verfolgte offensichtlich fundamental andere Ziele. Bisweilen werden Lieder als Ersatz für die alten lateinischen Propriumsgesänge vorgeschlagen, dann aber (wie im Introitus) einer Sängergruppe zugewiesen. Und wenn die Gemeinde dennoch Anteile am Singen hat, dann sehen diese anders aus als in späteren Zeiten.“ (Küster, Musik im Namen Luthers, 22-23). Eindrücklich sind in diesem Zusammenhang die Gottesdienstverläufe, die Wolfgang Musculus aus Augsburg 1536 bei Besuchen in Eisenach und Wittenberg aufzeichnete, um damit Anregungen für den heimischen Gottesdienst gewinnen zu können. „Auch mit Musculus doppeltem Praxistest also verfestigt sich das Bild. Die Rolle der Musik in der lutherischen Messe leitet sich aus deren spätmittelalterlichem Vorgänger her und wurde nur punktuell anders gestaltet (Credo-Lied, Musik im Umkreis des Abendmahls). Ein veritables ‚Gemeindelied‘ ist nicht in Sicht. Besonders wertvoll sind Musculus’ Hinweise auf Anteile der Orgel, die […] nirgends erwähnt sind; stets spricht er von Solospiel.“ (Küster, Musik im Namen Luthers, 28). Dennoch ist zu beachten, dass eine Vielzahl lokaler agendarischer Sondertraditionen existierte und die Lieder Luthers neben der Verwendung auf den „Märkten und Gassen“ sehr wohl Einzug in Gottesdienste, auch in den 1520er und 1530er Jahren, gehalten haben könnten. <?page no="108"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 109 kündigung oder Sakrament den sündigen Menschen trifft und freispricht, tröstet und vergewissert, mithin, dass Gottes Handeln dem des Menschen vorangeht.“ 6 Die liturgischen Neuordnungen und ihre theologischen Prämissen, die in der sogenannten „Torgauer Formel“ von 1544 Gestalt gewinnen‚ 7 charakterisieren lutherischen Gottesdienst vor allem anderen als Wortereignis. Dieses Wortereignis wird von Alexander Deeg, Luther extrapolierend, als „Wort-Wechsel“ zwischen Mensch und Gott beschrieben: „Wird eigentlich das Wagnis und Unerhörte gegenwärtig noch deutlich, das in dieser Beschreibung der Feier eines Gottesdienstes steckt? Gottesdienst ist - pathetisch formuliert - das größte Wagnis unter der Sonne. Gottesdienst feiern heißt, einzutreten in den Wort-Wechsel mit dem lebendigen Gott! “ 8 Das neu ins Zentrum gerückte Wort Gottes und Evangelium, vom heiligen Gott ausgehend und von der Gemeinde in Lied und Gebet beantwortet, meint nach Luther kein statisches Bibelbuch, sondern einen lebendige Sinn und Gehalt hinter den Worten der Heiligen Schrift, der je und je in zeitgemäßen Worten und angemessener Form ausgerichtet werden muss in Verkündigung und Leben der Kirche. 9 „Evangelium ist nicht in den toten Buchstaben der Schrift verschlossen, sondern erweist sich als viva vox, dort wo es als lebendige Rede an den Menschen der Gegenwart ergeht. […] Geistliche Lieder sind eine Gestalt der öffentlichen Aktualisierung des Wortes.“ 10 6 Arnold, Das Zeitalter der Reformation, 212; ebs. vgl. Arnold, Liturgische Reformen, 229- 230. 7 „das nichts anders darin geschehe, denn das unser lieber Herr selbs mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir widerumb mit im reden durch Gebet und Lobgesang“ (WA 49, 588). 8 Deeg, Ein liturgischer Aufbruch, 92. 9 Vgl. Hofmann, Psalmrezeption in reformatorischem Liedgut, 42-46. Luther an Spalatin: „Libere itaque hic agendum et acceptu sensu, verbis relictis, per alia verba comoda vertendum.“ (WA.B 3, 698 [1523]). Übersetzungen fast aller lateinischen Zitate des Kapitels bietet Möller (vgl. Möller, Das 16. Jahrhundert, 69-127). In einer Predigt vom 24. Januar 1529 tadelt Luther, dass die Gemeinde gern „zceuterliedleyn“ (vermutlich „Gossenlieder“) hört und lernt, aber innerhalb zweier Jahre keine Kirchenlieder gelernt habe, die eine schlichte Bibel darstellten: „Vos patres familiae studeatis vestros informare, sunt enim tales cantilenae quasi Biblia rudium, eciam doctorum“ (WA 29, 44). 10 Krummacher, Musik als praxis pietatis, 21-22. Dass Evangelium viva vox und nicht zuerst geschrieben sei, ist für Luther schon durch die biblische Einsicht erwiesen, dass Christus kein Buch geschrieben, sondern zu seinen Jüngern gesprochen habe und Paulus besonders die fides ex auditu betone (vgl. Söhngen, Theologie der Musik, 82-83). <?page no="109"?> 110 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Luther versteht neben der Predigt gerade seine und seiner Mitstreiter Lieder als dieses Gotteswort in polyphoner Gestalt. 11 Wenn aber Gesänge Wort Gottes, klingendes Evangelium, sind, muss eine enge theologische Verbindung zwischen dogmatischer Lehre und Lied bestehen, denn zumindest dem Anspruch nach kann es eigentliche „lutherische Theologie“ nicht geben, sondern nur Theologie, die sich ganz dem Wort Gottes verpflichtet weiß und so nicht mehr als einen Kommentar zur Schrift selbst darstellen will - Lehre, die sich vom Wort her aufbaut und immer neu zur Korrektur führen lässt. 12 Friedrich Blume schreibt mit Blick auf die Verhältnisbestimmung von Schrift, Lehre und Lied, dass Luthers Liedtexte „ganz aus der Lehre […] gedichtet sind und diese Lehre am reinsten im Lied“ 13 ausgesagt wird. Besonders deutlich wird diese Verbindung von Lied und Lehre an den Katechismusliedern‚ 14 wie Luther selbst in der Einleitung zum Abschnitt der Katechismuslieder im Klugschen Gesangbuch 15 von 1543 unterstreicht: „folgen geistliche Gesenge / dar in der Catechismus kurtz gefasset ist / Denn wir ja gern wolten / das die Christliche Lere auff allerley weise / mit predigen / lesen / singen vleissig getrieben […] würde.“ 16 11 „id est spirituales cantilenas, quo verbum dei vel cantu inter populos maneat.“ (WA.B 3, 698). 12 Luther lehnte „lutherische“ Theologie ab: „Tzum ersten bitt ich, man wolt meynes namen geschweygen und sich nit lutherisch, sonder Christen heyssen. […] last uns tilgenn, die parteysche namen unnd Christen heyssen, des lere wir haben. […] Ich byn unnd wyll keynitz meyster seyn. Ich habe mitt der gemeyne die eynige gemyne lere Christi, der alleyn unszer meyster ist.“ (WA 8, 685 [1522]). 13 Blume, Das Zeitalter der Reformation, 22. „Aus seinem begeisterten Herzen quollen die Lieder in starkem Strom, die evangelische Wahrheit verkündend und der Lehre eine Bresche schlagend, wie es keine Predigt und kein Schriftwerk tat […]. [Die Lieder; HH] waren gedichtetes Schriftwort, […] in ihnen wurde dem Laien das Bibelwort selbst und der außerbiblische liturgische Text zu unverlierbarem Eigentum geschenkt. Die Psalmlieder sind nicht nur Anlehnungen und Paraphrasen, sondern wirkliche Psalmen selbst, so daß man sie mit Recht einfach ‚deutsche Psalmen‘ nannte“ (Blume, Das Zeitalter der Reformation, 27). 14 Mit Recht werden in der neuesten Ausgabe der BSELK [2014] als Material zu den Katechismen Luthers Katechismuslieder angehängt (vgl. BSELK QuM1, 911-922). 15 Darüber, was und ab welchem Umfang etwas ein Gesangbuch ist, besteht v. a. für die Anfangszeit der reformatorischen Liedersammlungen Uneinigkeit. Stalmann schlägt eine weite Definition vor: „Als ‚Gesangbücher‘ bezeichnet man gedruckte Quellen, die überwiegend Kirchenlieder, aber auch liturgische Gesänge, Gebete, Andachts-, Bekenntnis- und Lesetexte enthalten. Handschriftliche Liedersammlungen, Andachtsbücher und Kombinationen beider könnte man zwar ebenfalls als Gesangbücher ansehen - wäre da nicht der wesentliche, nur durch den Druck gegebenen Gesichtspunkt der weiten Verbreitung und Verfügbarkeit, also einer ‚Veröffentlichung‘.“ (Stalmann, Gesangbücher im Reformationsjahrhundert, 236). 16 HahnL 63. <?page no="110"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 111 Mit dem katechetischen Impetus der Reformation rückte die Verständlichkeit gottesdienstlichen Geschehens in den Fokus, die Gemeinde sollte durch die Heilige Schrift die Kirche, ihre Liturgien und Amtsträger, deren Predigt und Lehre, selbstständig prüfen und beurteilen können. Luther beabsichtigte mittelfristig, eine deutsche und den neuen theologischen Einsichten konforme Übertragung des Messtextes zu erstellen, dazu sollten sukzessive deutsche Psalmen und Lieder gedichtet werden. 17 Dass der Wittenberger Professor selbst zur Feder griff, um deutsche Gesänge zu schaffen, ist - wenn man ihm glauben möchte - wider Willen geschehen. Er selbst hielt sich für einen mäßig begabten Dichter, bzw. fand er bei anderen deutlich mehr poetische Gabe; anfangs ließen sich allerdings nur wenige Begabte zur Schaffung deutscher Gesänge gewinnen. 1523 schreibt er an den Beichtvater Friedrichs des Weisen‚ 18 Georg Spalatin, mit inständiger Bitte um Mithilfe bei der Dichtung deutscher Psalmen: 19 „Ego non habeo tantum gratiae, ut tale quid possem, quale vellem. Itaque tentabo, si tu vel Hemon vel Assaph vel Iedithun sis. Idem peterem a Iohanne Doltzicko qui et ipse copiosus et elegans est“ 20 . Die Jahre 1523/ 1524 waren für Luthers Liederschaffen die produktivsten, etwa zwei Drittel seiner Gesänge entstehen in dieser Zeit - danach beteiligen sich andere Dichter, während er zunehmend in den Hintergrund treten konnte. 21 17 In der „Formula Missae“ [1523] ging Luther von wechselnden deutschen und lateinischen Liedern und Messteilen aus, wenngleich perspektivisch eine vollständige landessprachliche Messe erarbeitet werden sollte: „Possent vero ista cantica sic per Episcoporum ordinari, ut vel simul post latinas cantiones, vel per vices dierum nunc latine, nunc vernacula cantarentur, donec tota Missa vernacula fierit.“ (WA 12, 218). Er lehnte nicht generell Latein in Liturgie und Lied ab, vielmehr war ihm an einem „zielgruppengemäßen“ Gottesdienst und Liederschatz gelegen. So erinnert sich Johann Walter an die Entstehungszeit der „Deutschen Messe“ [1526] und den Wunsch des Reformators, dass die Kurrende auch lateinische Gesänge erlernen soll (vgl. Möller, Das 16. Jahrhundert, 121-122). 18 Hahn hält die Jahreszahl 1523 für fraglich (vgl. HahnL 65; ebs. vgl. WA.B 3, 220). 19 Die schwierige Suche nach deutschen Dichtern klingt auch in der „Formula Missae“ [1523] an: „Sed poetae nobis desunt, aut nondu cogniti sunt, qui pias et spirituales cantilenas (ut Paulus vocat) nobis concinnent, quae dignae sint in Ecclesia dei frequentari.“ (WA 12, 218). 20 WA.B 3, 698. Bei Hans von Doltzig (1485-1551) handelt es sich um einen kursächsischen Hofmarschall aus dem Umkreis Luthers (vgl. Möller, Das 16. Jahrhundert, 72). 21 Vgl. Rößler, Luther, Martin, 206; ebs. vgl. Schilling, „… weil sie die Menschen fröhlich macht“, 349-350. In der Vorrede zum Wittenberger Chorgesangbuch [1524] versteht Luther seine Lieder als Anreiz für bessere Dichtungen: „zum gutten anfang un ursach zugeben denen die es besser vermügen / etliche geystliche lieder zu samen bracht“ (HahnL 56). In der Vorrede zum Klugschen Gesangbuch [1529] scheint dies verwirklicht: „Nu habe sich etliche wol beweiset / und die lieder gemehret / also das sie mich ubertreffen / und inn dem wol meine meister sind“ (HahnL 57). <?page no="111"?> 112 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Die älteste bekannte Gesangbuchvorrede Luthers stammt aus dem 1524 vom Torgauer Kantor Johann Walter (1496-1570) herausgegebenen Wittenberger Chorgesangbuch‚ 22 das 43 Lieder zählt, davon 24 von Luther. 23 In der Vorrede wird deutlich die erwähnte Orientierung am Wort Gottes sichtbar, welche mit den liturgischen Reformen intendiert war und den Liedern zu eigen sein soll. Der Reformator führt zu Anliegen und Ziel der Lieder aus: „Auff das da durch Gottes wort und Christliche leere / auff allerley weyse getrieben und geübt werden. […] das heylige Euangelion / so itzt von Gottes gnaden widder auff gangen ist / zu treyben und ynn schwanck zu bringen“ 24 . Evangelium, wie es Lieder vermitteln und verkünden, ist somit ein hochgradig dynamisches Geschehen, das darauf angelegt ist, Kreise zu ziehen und missionarisch wirksam zu werden. 25 Besonders sind die Lieder der Jugend anempfohlen, damit sie die biblische Lehre auf diese Weise schnell lernen möge. Musik wird in dieser Vorrede von 1524, in späteren Vorreden noch deutlicher, eine Herkunft vom göttlichen Schöpfer zugeschrieben. 26 Diese schöpfungstheologische Begründung vokaler wie rein instrumentaler [! ] Musik führt beim Reformator zur grundsätzlichen Hochschätzung von Musik in all ihren Formen und prädestiniert sie zum Dienst gegenüber ihrem Schöpfer in Lobpreis oder Verkündigung. 27 Mit dem Fortschreiten der reformatorischen Bewegung ging die Notwendigkeit einer Lehrvermittlung und -überprüfung insbesondere unter Pfarrherren einher, welche von Wittenberg ausgehend mit dem Mittel der Visitation wahrgenommen wurde. 28 Die erschreckende Unkenntnis bei Pfarrern wie Gläubigen über basalste Glaubensinhalte führte zur Konzeption der lutherischen Katechis- 22 Das „Geystliche gesangk Buchleyn“ [1524] Walters legt den Grundstein reformatorischen Gemeindegesangs, v. a. der späteren mehrstimmigen evangelischen Kirchenmusik (vgl. Brusniak, Art. Walter, 1370). Walter gilt als Urbild des lutherischen Kantors, der in symbiotischer Weise mit Pastor Luther die Neuordnung des evangelischen Gottesdienstes vorantrieb (vgl. Rempe, Johann Walter, 24). 23 Vgl. Möller, Das 16. Jahrhundert, 75-76. 24 HahnL 56. 25 Vgl. Arnold, Das Zeitalter der Reformation, 218. „Liturgisch wesentlich ist, dass das Singen hier essentiell zur Verkündigung selbst gerechnet wird, also nicht nur als atmosphärische Begleitung der Verkündigung betrachtet wird“ (Arnold, Ein kirchenmusikalischer Aufbruch, 164). 26 „ich wollt alle künste / sonderlich die Musica gerne sehen ym dienst / des der sie geben und geschaffen hat“ (HahnL 56-57). 27 „Er [sc. Luther] ist in der Tat fest davon überzeugt, daß die Musik nach Gottes Willen auch ohne die ausdrückliche Bindung an Gottes Wort ein wichtiges Amt zu verrichten hat“ (Söhngen, Theologie der Musik, 88). 28 Vgl. Herbst, „Lasst uns nach unseren Brüdern schauen“, 96-97. <?page no="112"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 113 men, die 1529 erschienen. Zeitgleich, und damit in enger Verbindung und als Reaktion auf die lehrmäßigen Missstände zu verstehen, erschien beim Drucker Josef Klug das von Luther selbst zusammengestellte Gesangbuch „Geistliche Lieder auffs new gebessert zu Wittemberg“. 29 Mit dieser Ausgangslage kann ein ausgeprägtes Wechselverhältnis zwischen Lied und Lehre angenommen werden‚ 30 worin die vielleicht erste „theologische Copyright-Begründung“ in der Vorrede des „Klugschen Gesangbuches“ begründet ist. Über weite Strecken ist der Text eine Klage über viele Drucker der Reformationszeit, welche Luthers Lieder in ihre Bücher aufnahmen, aber nach Gutdünken umschrieben. 31 Dem will der Reformator in Zukunft wehren, indem er Liedern Verfasserangaben beigibt, was er zuvor ob des Demutideals abgelehnt hatte. 32 Verfasserangaben haben für Luther nicht nur die Funktion, Änderungen an den Texten zu verhindern, sondern zugleich soll verhindert werden, dass die postulierte „evangelische“ Sinnentsprechung von Lied- und Bibeltext aufgelöst wird. 33 Die Autorennamen sollen m.a.W. Rechtgläubigkeit verbürgen. 34 29 Die Ausgabe von 1529 gilt als verschollen (vgl. WA 35, 320; ebs. vgl. HahnL X). 30 Vgl. Möller, Das 16. Jahrhundert, 77. 31 „Un weil ich sehe / das des teglichen zuthuns on allen unterscheid / wie es einen iglichen gut dunckt / wil keine masse werden / uber das / das auch die ersten unser lieder je lenger je felscher gedruckt werden“ (HahnL 57). 32 „un der unsern lieder zusamen nacheinander / mit ausgedrücktem namen gesetzt / welchs ich zuvor / umb rhumes willen vermidden / aber nu aus not thun mus“ (HahnL 57). Scheinbar versteht Luther dieses Gesangbuch als eine Art Normtext für die enthaltenen Lieder. Das Thema bleibt weiterhin relevant, in der Vorrede des Babstschen Gesangbuches [1545] weist der Reformator auf ein bislang fälschlich ihm zugeschriebenes Lied hin (vgl. HahnL 59). Die Nennung von Verfassern war stilbildend für protestantische Liederbücher, v. a. gegenüber katholischen Liedersammlungen (vgl. Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 58). Interessante Entdeckungen zu Lutherliedern in katholischen Gesangbüchern ab dem 16. Jh. hat Christiane Schäfer gemacht. Sie stellt dar, dass grundsätzlich wenige Lutherlieder aufgenommen worden sind, wenn aber, so geschah dies statt mit Namen nur mit dem Vermerk des Zeitraumes (z.B. 16. Jh.) oder aber, um die Lieder als Lutherlieder unauffindbar zu machen, wurden den Liedern neugedichtete Kopf- oder Mantelstrophen vorangestellt. Dieses Vorgehen ändert sich allmählich in den 1950er Jahren, im GL [1975] wird der Name des Reformators dann korrekt genannt (vgl. Schäfer, Verworrene Pfade, 104-107). 33 „hab ich sorge / es werde diesem büchlein die lenge gehen / wie es alle zeit guten büchern gangen ist / das sie durch ungeschickter köpffe zuletze / so gar uberschüttet und verwüstet sind / das man das gute darunter verloren / […] Bitte und vermane alle / die das reine wort lieb haben / wolten solchs unser büchlin hin furt / on unser wissen un willen / nicht mehr bessern odder mehren.“ (HahnL 57). Luther bezeichnet die Lieder als „das reine wort“, also als eins mit der Schrift! 34 Die Nennung der Autoren als Autoritätsbeweis wurde in Folge zum Formalismus, indem v. a. im 17. Jh. mit bloßer Nennung von Luthers Namen auf Gesangbuchdeckblättern ganze Gesangbücher in orthodoxen Rang erhoben wurden (vgl. Dremel, Sammeln und Sichten, 49-61). <?page no="113"?> 114 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Wiederum um reine Lehre geht es Luther in einer verhältnismäßig langen Vorrede zu einer Sammlung von Begräbnisliedern aus dem Jahr 1542. Er macht darauf aufmerksam, dass Melodien für sich allein gefallen mögen oder nicht, und ermutigt hier Gemeinden zur pragmatischen Gestaltung nach eigenem Belieben; 35 die theologisch entscheidende Dimension hingegen liege im Text. „Darumb wir solche abgöttlische todte und tolle Text entkleidet / und inen die schöne Musica abgestreifft, und dem lebendigen heiligen Gottes wort angezogen / daselbst damit zu singen / zu loben und zu ehren. Das also solcher schöner schmuck der Musica in rechtem Brauch irem lieben Schepffer und seinen Christen diene / Das er gelobt und geehret / wir aber durch sein heiliges wort / mit süssem Gesang ins hertz getrieben“ 36 . Per se gute Musik kann durch falsche und „unevangelische“ Texte missbraucht und in Dienst des Widerchristlichen gestellt werden. Der „evangelische“ Liedtext hat nach dieser Vorrede mindestens zwei wichtige Funktionen: zum Ersten wird damit hymnische Doxologie betrieben, die Gott den Schöpfer ehrt; zum Zweiten wird durch die hymnische Doxologie, die mit Gottes lebendigem und v. a. verständlichem Wort den Schöpfer preist, eine missionarische und mittelbar pädagogische Dimension eröffnet. 37 Dass die theologisch entscheidende Dimension im Text liegt, heißt aber für Luther nicht, dass „Frau Musica“ deshalb gering geachtet wäre. 38 In der „Vorrede auff alle güte Gesangbücher / Fraw Musica“ 39 [1538] drückt er seine Hochachtung gegenüber der Musik aus. Neben der Musik als Freude und Kunst „kan niemand kein feiner werden“ 40 , heißt es dort, unter allen Künsten nimmt nach 35 „Ein igliche Kirche halte ire Noten nach irem Buch und Brauch.“ (HahnL 60). Freiheit in der musikalischen Gestalt des Gottesdienstes war für Luther und die Wittenberger Reformation (vgl. CA VII) ebenso bei sonstigen Zeremonien leitend (vgl. Arnold, Liturgische Reformen, 230-231). 36 HahnL 60. Auf Musik als wirksames Transportmittel des Evangeliums, ebenso als Transportmittel dämonischer Dichtung, weist Anttila hin (vgl. Anttila, Luther’s Theology of Music, 101-103). 37 Vgl. Arnold, Ein kirchenmusikalischer Aufbruch, 161-162. 38 Die breiteste Hymne Luthers auf die Musik dürfte in der Vorrede der Symphoniae Iucundae [1538] vorliegen: „Und ist in Summa unmüglich, das man diese edle Kunst gnugsam loben und erheben könne oder möge.“ (WA 50, 369; zitiert nach Johann Walters paraphrasierter Übersetzung). 39 Das Verschriftlichungsdatum bleibt unklar, erstmals greifbar ist der Text als Vorwort zu einer Schrift ähnlichen Inhalts von Johann Walter im Jahr 1538 - vorher dürfte er Klugschen Gesangbuchausgaben vorangestellt worden sein (vgl. Möller, Das 16. Jahrhundert, 84). 40 HahnL 62. Ähnlich Johann Walter: „Die Music mit Gott ewig bleibt / Die andern künst sie all vertreibt“ (Walter, Lob und Preis der löblichen Kunst Musica, 21 [eigene Paginierung]). <?page no="114"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 115 Luther Musik den ersten Rang an. 41 Außerdem besitzt Musik die Fähigkeit, auf den himmlischen Schöpfer zu verweisen‚ 42 denn die Welt ist - so die mittelalterliche Musiktheorie - von Anfang an ein einziges großes Klanggebilde, klingende Schöpfung, die vom Schöpfer kündet. 43 Daneben wird die Musik als ancilla theologiae geadelt: 44 „Zum Göttlichen wort un warheit / Macht sie das Hertz still un bereit.“ 45 Durch die Vorbereitung des Herzens bahnt Musik dem Wort des Evangeliums, damit auch der Theologie, den Weg. 46 Die Nachordnung der Melodie gegenüber dem Wort bedeutet einen entscheidenden Unterschied zwischen Luther und dem ihm verbundenen Kantor Johann Walter und ist die konsequente Fortschreibung einer gewichtigen reformatorischen Grundentscheidung. 47 Johann Walter ordnete in seiner Dichtung, „Lob und Preis der löblichen Kunst Musica“ [1538], Musik der Theologie gleich: „Er [sc. Gott] hat 41 Luther an Ludwig Senfl (1490-1543): „post theologiam esse nullam artem, quae musicae possit aequari“ (WA.B 5, 639 [1530]). Senfl gehörte zu den angesehensten Musikern seiner Zeit, stand der reformatorischen Bewegung positiv gegenüber, war aber bis zum Tode am altgläubigen Hof in München tätig (vgl. Lodes, Art. Senfl, 569-571; ebs. vgl. Rödding, Ein neues Lied wir heben an, 26-27). Rödding sieht einen Grund für die Hochstellung der Musik gegenüber anderen Künsten in der damaligen akademischen Gesellschaft. Musik, die über das Gauklerhandwerk hinausging, war Lehrfach innerhalb der artes liberales und damit Sache der akademisch Gebildeten, alle anderen Künste (Bildhauerei, Malerei) waren Handwerke, die im Rahmen von Meisterwerkstätten, wie etwa der von Cranach in Wittenberg, vermittelt wurden (vgl. Rödding, Ein neues Lied wir heben an, 49-51). 42 „Viel mehr der liebe HErre Gott / Der sie also geschaffen hat.“ (HahnL 63). Die Schöpfung bezieht sich zwar auf die Nachtigall, damit aber mittelbar auf die Musik. Ähnlich Johann Walter: „Gott hat die Music fein bedeckt“ (Walter, Lob und Preis der löblichen Kunst Musica, 11). Der göttliche Ursprung von Musik wird ebenso in Luthers „Skizze über die Musik“ ausgesagt: „Dei donum non hominum est“ (WA 30/ II, 696 [1530]). Walter Reindell sieht im Aspekt des Donum Dei die entscheidende Begründung für Verwendung von Musik im reformatorischen Gottesdienst (vgl. Reindell, Das De tempore-Lied des ersten Halbjahrhunderts der reformatorischen Kirche, 4-10). 43 Vgl. Arnold, Das Zeitalter der Reformation, 214-215; ebs. vgl. Arnold, Ein kirchenmusikalischer Aufbruch, 157-159. „In der durch Augustin maßgeblich vorgeprägten Traditionslinie ist für Luther die Musik zuerst gute Schöpfungsgabe und als solche ein veritables göttliches Gnadengeschenk an die ganze Menschheit. Luther akzentuiert […] den kosmologischen [sc. Aspekt], indem er von ihr in superlativischer Weise sagen kann, die Musik sei das ‚wertvollste Geschenk Gottes‘.“ (Adolph, „Ein wunderliche Creatur und Gabe Gottes“, 84). 44 Gegen die Interpretation der Musik als ancilla theologiae bei Luther wendet sich Krummacher (vgl. Krummacher, Musik als praxis pietatis, 17-18). 45 HahnL 62. 46 Ähnlich Johann Walter: „Sie [sc. Musik] macht das hertz zu Gott geschickt / Das sichs an Gottes wort verstrickt“ (Walter, Lob und Preis der löblichen Kunst Musica, 18). 47 Vgl. Brusniak, Art. Walter, 1370; ebs. vgl. Arnold, Das Zeitalter der Reformation, 213. Die Nachordnung der Musik bei Luther kehrt m. E. unzulässig Wolfram Adolph um: „Der Musik eignet folglich der Charakter echter ‚theologia prima‘ […] in Ergänzung und Überbietung der uns heute weitaus selbstverständlicheren Nomenklatur primär wissen- <?page no="115"?> 116 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten sie beid im fried geschmuckt / Das kein der andern ehr verruckt / Sie sind inn freundschafft nahe verwandt / Das sie fur schwestern wern erkandt“ 48 . In Reflektionen über Gesangbuchvorreden Luthers wird m. E. dieser Unterschied zu Walter sowie die theologische Unterscheidung von revelatio generalis und revelatio specialis mit Blick auf Melodie und Text unzureichend deutlich gemacht. Musik und Theologie/ Wort Gottes in Luthers Gesangbuchvorreden als gleichrangige Offenbarungsmedien zu verstehen, ist m. E. schwerlich möglich. 49 Zwar kann, wem durch die viva vox die Christusbotschaft erschlossen, auch in Musik der Schöpfer als Vater Jesu Christi sichtbar werden - ohne die viva vox aber bleiben Melodien hohe Kunst mit Potential, einen Schöpfergott zu erahnen, Heil können sie hingegen nicht eröffnen: 50 „Seiner im Glauben möglichen Sicht der Schöpfung geht die Offenbarung Gottes im Wort, in Person und Verkündigung Christi voraus. Dem Glauben wird die Schöpfung schaftlich orientierter ‚theologia secunda‘“ (Adolph, „Ein wunderliche Creatur und Gabe Gottes“, 84). 48 Walter, Lob und Preis der löblichen Kunst Musica, 11. „Einerseits blieb Johann Walter ein kompromissloser Anhänger und Verfechter der lutherischen Lehre, andererseits vertrat er in seinen musikalischen Lehrgedichten ‚Lob und Preis der löblichen Kunst Musica‘ (1538) und ‚Lob und Preis der himmlischen Kunst Musica‘ (1564) ebenso standhaft gegenüber Luther seine Überzeugung, dass die Musik nicht der Theologie nachgeordnet, sondern dass beide gleichberechtigt seien.“ (Brusniak, „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“, 363). 49 Arnold schreibt hingegen mit Blick auf die Symphoniae Iucundae [1538], dass Luther „die Musik gleich nach der heiligen Schrift bzw. auf Augenhöhe mit der Theologie“ (Arnold, Ein kirchenmusikalischer Aufbruch, 154) setze. Allerdings muss er diese Interpretation aufgrund des Briefes an Senfl [1530] relativieren, denn dort liege „eine subtile ‚Subordination‘ der Musik unter die Theologie“ (Arnold, Ein kirchenmusikalischer Aufbruch, 154) vor. Man kann das Verhältnis gottgegebener Künste (Natur) zum Wort Gottes (übernatürliche Gnade) modifiziert mit einer in der aristotelisch-thomistischen Tradition verbreiteten Vorstellung verdeutlichen: „gratia perficit naturam“ (vgl. Raffelt, Art. Gratia (prae)supponit naturam, 986-988). So positiv, wie Thomas natürliche Theologie betrachtet, kann Luther dies freilich nicht - nur die vom Licht der Gnade Getroffenen können in der Naturordnung den wahren Gott, nämlich den Vater Jesu Christi, erkennen. In Söhngens Interpretation strebt Musik nach Verbindung mit dem Schöpfer, der selbst das Wort ist: „Da die Musik schon als solche nicht nur im Schöpfungsglauben, sondern auch im Glauben an Jesus Christus begründet ist als dem ‚Wort‘, in dem alle Dinge beschlossen sind, so findet sich ihre eigentliche Sinnerfüllung erst dort, wo sie in den Dienst des Evangeliums tritt.“ (Söhngen, Theologie der Musik, 91). 50 Eine Interpretation von Luthers Musikanschauung, nach der Musik nahezu heilspendend erscheint, bietet Adolph: „Die ‚wunderbarliche‘ Gottesgabe der Musik ist für Luther indes nicht ausschließlich ‚theologia prima‘ - dies war sie für die Alte Kirche bzw. für Augustinus ja immer schon -, sondern zugleich ‚theologia ultima‘. Als ein durch und durch unbegreifliches göttliches ‚Wunderwerk‘ transzendiert ihr dem Diesseitigen enthobenes geistliches Wesen die endliche Sphäre alles Gegensätzlichen und Begrenzten auf wirkmächtige, ja heilsame Weise.“ (Adolph, „Ein wunderliche Creatur und Gabe Gottes“, 87). <?page no="116"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 117 zum Ort der allmächtigen Gegenwart Christi. […] Die Gaben der Schöpfung, zu denen auch die Künste gehören, sind also keine eigenständigen Offenbarungsquellen.“ 51 In einem Brief an Ludwig Senfl [1530] wird das Verhältnis klar subordinierend bestimmt: „post theologiam nulla artem, quae musicae possit aequari“ 52 . Neben der Hinführung zum Wort würdigt Luther in der „Vorrede auff alle güte Gesangbücher“ [1538] auch die therapeutische Dimension der Melodie‚ 53 denn sie mache Herzen ruhig und vertreibe Schwermut. 54 Musik entfaltet in dieser Hinsicht eine „exorzistische“ Wirkmächtigkeit: 55 „Dem Teuffel sie [sc. Musica] sein werck zerstört und verhindert viel böser Mörd.“ 56 Dass von Gott geschaffene Klänge von Ewigkeit her in die Zeit dringend von Gottes Menschenfreundlichkeit künden und damit apotropäische Kraft besitzen, sah Luther 51 Krummacher, Musik als praxis pietatis, 15. 52 WA.B 5, 639; ebs. vgl. WA 30/ II, 696. Musik eine umfängliche Offenbarungsmittlerschaft zuzuschreiben ist m. E. nur in einer überdehnten Lesart der Vorrede der Symphoniae Iucundae [1538] möglich. Musik wird dort zwar als Gottes hervorragendes Geschöpf dargestellt und scheint der göttlichen Weisheit (Spr 8) zu ähneln, dennoch kann man den „Klang“ - so die dortige Formulierung - nicht im Sinne eines vollumfänglichen Offenbarungsmediums verstehen. Luther betont in der Vorrede eigens, dass es Spezifikum menschlicher Musik sei, dass sie mit dem Wort verbunden werden könne, im Gegensatz etwa zu Tieren, die dies nicht vermögen (vgl. WA 50, 371-372). Natürlich kennt Luther eine revelatio generalis im „Buch der Natur“, welche klingende Schöpfung ist: „Darnach das sie [sc. die Jugend] sich auch gewehnen, Gott den Schöpffer in dieser Natur zu erkennen“ (WA 50, 373). Die revelatio generalis kann aber niemals die revelatio specialis im Christusereignis und abgeleitet der Heiligen Schrift ersetzen (vgl. Barth, Die Theologie Martin Luthers, 195-196.201-202). Das erste Amt der Theologie besteht im Bezeugen der revelatio specialis (vgl. Holm, Zur Funktion der Lehre bei Luther, 17), deshalb bleibt und muss Theologie/ Wort der Melodie vorgeordnet bleiben. 53 Vgl. Arnold, Ton der Tiefe, 11; ebs. vgl. Röhring, Frau Musica und die Wittenbergisch Nachtigall, 161-163. 54 „Weichen mus alles hertzeleid. Geitz / sorg und was sonst hart anleit / Fert hin mit aller trawrigkeit.“ (HahnL 62). Ähnlich Johann Walter: „Sie ist ein artzt inn leid und qual“ (Walter, Lob und Preis der löblichen Kunst Musica, 19). Diese therapeutische Dimension wird später in breiter Weise in der barocken Affektenlehre verhandelt (vgl. Arnold, Das Zeitalter der Reformation, 213-214; ebs. vgl. Arnold, Ein kirchenmusikalischer Aufbruch, 155-157; s. Kap. 7.). 55 „Die Erwähnung des Teufels mag den heutigen Leser - wie oft bei Luther - befremden, doch ist es ein sehr humaner Exorzismus, den er hier vorschlägt. Um den Teufel der Lebensangst und Gottesverzweiflung in die Flucht zu schlagen, bedarf es keiner magischen Zwangsmaßnahmen, sondern der Musik: […] Es ging also Luther weniger um einen mittelalterlichen Exorzismus als um eine christliche Vorform der Musiktherapie.“ (Claussen, Gottes Klänge, 83; ebs. vgl. Steiger, „Wider den melancholischen Teufel“, 250). 56 HahnL 62. Auch Deeg weist auf die apotropäische Fähigkeit von Musik hin, wenn er zum Sonntag Invokavit anmerkt: „Musik [tut; HH] das, was der Wochenspruch von Christus sagt: die Werke des Teufels zerstören (1Joh 3‚8b)“ (Deeg, Der Gottessohn, der Teufel und ich, 166). <?page no="117"?> 118 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten schon bei David und Saul (1Sam 16) belegt. 57 Sowohl im erwähnten Brief an Ludwig Senfl [1530] („diabolus […] ad vocem musicae paene similiter fugiat“ 58 ) als auch in der „Skizze über die Musik“ (eigentlich: „Περὶ τῆς μουσικῆς“) [1530] findet sich der Zusammenhang zwischen Frohstimmen der Seele und Weichen des Satans: „2. Quia facit letos animos / 3. Quia fugat diabolum / 4. Quia innocens gaudium facit“ 59 . Dass es nicht abwegig ist, Luthers kirchenmusikalisches Schaffen mit dem Bereich des „exorzistischen Wirkens“ in Verbindung zu bringen, wird in einem Seelsorgebrief Luthers an den offenbar schwermütigen und angefochtenen Musiker Matthias Weller [1534] deutlich. Grundsätzlich geht der Reformator davon aus, dass ein Christ aufgrund der Gnadenerfahrung ein fröhlicher Zeitgenosse sein müsse, anderenfalls müssten Anfechtungen Satans vorliegen: „so laßt Euer Gedanken fahren, und wisset, daß Euch der Teufel damit plaget, und sind nicht Euer Gedanken, sondern des leidigen Teufels Eingeben, der nicht leiden kann, daß wir einen fröhlichen Gedanken haben. So höret nu, was wir in Gottes Namen zu Euch sagen, nämlich, daß Ihr sollet fröhlich sein in Christo“ 60 . Der Teufel selbst ist Verursacher von dunklen Gedanken und Schwermut; 61 wirksame Waffe gegen diese Trübsal, welche Luther Weller anempfiehlt, ist das Singen und Musizieren. 62 Dieses Musizieren soll aber ein wortgebundenes sein, dezidiert bezogen auf Texte, die den Heilswillen Gottes und mittelbar den glorreichen Sieg über den Teufel und alle Mächte herausstellen: 57 Vgl. HahnL 62. Hentschel spricht bei dieser Perikope explizit von „Musiktherapie“, die David mit der Harfe am vom bösen Geist geplagten König Saul übe (vgl. Hentschel, Die Samuelbücher, 232). 58 WA.B 5, 639. Die Trostfunktion und die damit einhergehende Wappnung gegen den Teufel bildet das eigentliche Proprium aller Theologie bei Luther, wie Bo Holm herausstellt: „Die Lehre ist vor allem consolatio. Sie zeigt dem Glauben seinen Gegenstand und vermittelt eben dadurch das Heil.“ (Holm, Zur Funktion der Lehre bei Luther, 22). 59 WA 30/ II, 696. 60 WA.B 7, 105. 61 „Die melancholische Krankheit ist daher eine Manifestation der dem alten Äon angehörenden satanischen Verderbensmacht, die bis zum jüngsten Tag noch zur Wesensbestimmung des Menschen gehört.“ (Steiger, „Wider den melancholischen Teufel“, 248). „It is necessary to understand that for Luther, sadness was not primarily a state of mind, a blue mood, or something psychologically explicable. tristitia is an affect contrary to gaudium and reflects one’s position before God (coram Deo). The work of the devil is to make one doubt the goodness of God and lose one’s joy. In short, the devil tries to annul the work of God.“ (Anttila, Luther’s Theology of Music, 122). 62 Söhngen benennt ebenfalls die exorzierende Kraft der Musik: „Wie der Satan das Wort Gottes meidet, so ist er auch der Musik meilenfern […]. Die Musik hat exorzierende Macht […] und steht auch darum ganz nahe bei der Theologie“ (Söhngen, Theologie der Musik, 90). <?page no="118"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 119 „Darumb, wenn Ihr traurig seid, und will uberhand nehmen, so sprecht: Auf! ich muß unserm Herrn Christo ein Lied schlagen auf dem Regal (es sei Te Deum laudamus oder Benedictu etc.); […] Und greift frisch in die Claves und singet drein, bis die Gedanken vergehen […]. Kommet der Teufel wieder und gibt Euch ein Sorge oder traurige Gedanken ein, so wehret Euch frisch und sprecht: Aus, Teufel, ich muß itzt meinem Herrn Christo singen und spielen. Also müßt ihr Euch wahrlich wider ihn setzen lernen, und nicht gestatten, wie er Euch Gedanken mache.“ 63 Luther scheut sich keineswegs den Teufel konkret anzureden und ihm das Weichen zu befehlen. Es wird deutlich: Christen singen fröhlich, denn sie leben vom Christusgeschehen her in beständiger Freude - Verlust der Freude und Einzug der Schwermut sind Teufelswerk, wenngleich der Gläubige in Christo Macht und Stärke wider den Satan besitzt. Dennoch bleibt der Kampf mit dem Teufel Teil christlicher Existenz, solange der Christ lebt. In erwähnter Vorrede zu der Sammlung der Begräbnisgesänge [1542] kommt der Teufel ebenfalls zur Sprache. Luther entfaltet lang, dass hoffnungsloses Klagen an Gräbern der Christen unnötig sei, da der Zentralartikel des Glaubens die Auferstehung sei - von der Hoffnung auf dieselbe zu singen und zu sagen ist Amt der zur Begräbnisfeier versammelten Gemeinde. Wo aber die Botschaft der Auferstehung erklingt, ist viva vox evangelii und damit machtvolles Trostwort‚ 64 welches den Teufel dämpft oder gleich ganz und gar in die Flucht schlägt. „Es ist alles zuthun umb diesen Artickel von der aufferstehung, das er feste in uns gegründet werde, Denn er ist unser endlicher, seliger, ewiger trost und freude wider den Tod, Helle, Teuffel und alle traurigkeit. Zu dem haben wir auch, zum guten Exempel, die schönen Musica und Gesenge“ 65 . Die wirkmächtigste Waffe gegen teuflische Anfechtung ist die Vergegenwärtigung des Heiles in Christo, gerade im Lied der Gemeinde. Diesem Lob der Auferstehungshoffnung als Trost wider Teufel, Tod und Hölle dient auch das für 63 WA.B 7, 105. Obwohl Arnold mehrfach in seinen Ausführungen auf diesen Text hinweist, übergeht er eigenartigerweise vollends die exorzierende Dimension (vgl. Arnold, Das Zeitalter der Reformation, 211-227; ebs. vgl. Arnold, Ein kirchenmusikalischer Aufbruch, 153-177). 64 „Denn es auch billich und recht ist, das man die Begrebnis ehrlich halte und volbringe, zu lob und ehre dem fröhlichen Artickel unsers Glaubens, nemlich von der auffersstehung der Todten, und zu trotz dem schrecklichen Feinde, dem Tode, der uns so schendlich dahin frisset, on unterlas mit allerley scheuslicher gestalt und weise.“ (WA 35, 479). 65 WA 35, 479. <?page no="119"?> 120 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten lutherische Gesangbücher stilbildende Babstsche Gesangbuch [1545]‚ 66 dessen Deckblatt eine großgedruckte Überschrift, „Geystliche Lieder“, zeigt, worauf ein kleiner Hinweis auf die Vorrede Luthers folgt. 67 Mittig, etwa in identischer Druckgröße wie die Überschrift, stehen die Worte „Warnung / D. M. L.“, es folgt ein gereimter Vierzeiler: „Viel falscher Meister itzt Lieder tichten / Sihe dich für, und lern sie recht richten / Wo Gott hin bawet sein kirch und sein wort / Da wil der Teuffel sein mit trug und mord.“ 68 Noch bevor der Nutzer sich der viva vox in den Liedern zuwenden kann, wird eine grundsätzliche Verhältnisbestimmung von Gemeinde unter dem Wort und dem Wirkbereich der Verderbensmächte vorgenommen. Inwieweit Luther selbst in die Deckblattgestaltung involviert war, ist nicht sicher‚ 69 man darf aber annehmen, dass enger Kontakt zum Drucker Valentin Babst bestand, wie nachfolgende Vorrede erkennen lässt. Wenn auf dem Deckblatt der Teufel in großen Lettern erscheint, dann ist in jedem Fall die Wichtigkeit der Thematik ausgedrückt. 70 Mit dem dritten und vierten Vers des Vierzeilers wird in nuce eine fundamental-ekklesiologische Denkfigur Luthers benannt - Kirche ist creatura verbi, Gott selbst erschafft die congregatio sanctorum, indem er sein Wort in die Welt sendet. 71 Dort, wo jene Inkarnation des Wortes (z.B. als Gesang) stattfindet und Kirche als „die Versammlung aller Glaubigen“ (CA VII) 72 Gestalt gewinnt, tritt zugleich der Feind der Kirche auf, der Teufel mit „trug und mord“. Peter Steinacker beschreibt das Auftreten des Wortes Gottes einerseits und das Erscheinen der Verderbensmächte andererseits als reziprokes Verhältnis - je intensiver das Heil im Wort vor Augen der Gläubigen steht, umso mehr ficht der Satan die Christen an und will die Rechtfertigungsbotschaft in Zweifel zie- 66 Stilbildende Elemente liegen v. a. in der Struktur und beeindruckend reichen Gestaltung (Zierrahmen auf jeder Seite; biblische Bildszenen). Luther selbst würdigt den Druck mit den Worten: „dieser druck Valtin Babst / sehr lustig zugericht ist“ (HahnL 59). 67 Ich beziehe mich auf einen Faksimiledruck von Konrad Ameln (Ameln, Das Babstsche Gesangbuch von 1545 [2004]), auch Möller bietet das Deckblatt (vgl. Möller, Das 16. Jahrhundert, 100). 68 HahnL XXXI. Die Warnung mit folgendem Vierzeiler ist schon beim Klugschen Gesangbuch von 1543 auf dem Deckblatt, allerdings in anderer drucktechnischer Umsetzung - Babst hebt durch eine der lateinischen Schrift nahestehende Gestaltung den Vierzeiler hervor (vgl. HahnL XXX-XXXI; ebs. vgl. WA 35, 331). 69 Vgl. Ameln, Das Babstsche Gesangbuch von 1545, 3. 70 Schon Gustav Roskoff wies in seinem Standardwerk zum Teufel [1869] auf die Bedeutung des Vierzeilers hin (vgl. Roskoff, Geschichte des Teufels. Bd. 2, 473). 71 Vgl. Dembowski, Martin Luther, 130-131. CA VII: „Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta. Et ad veram unitatem ecclesiae satis est“ (BSLK 61). 72 BSLK 61. <?page no="120"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 121 hen. 73 Den Menschen zu täuschen, v. a. über den Heilswillen Gottes, ist einer der wichtigsten Aspekte im Teufelsbild Luthers! 74 Wenn der Teufel im vierten Vers mit „trug und mord“ in Verbindung gebracht wird, ist das netzartige Verhältnis zwischen Sünde, Tod und Teufel nebst weiterer Begriffe angedeutet, welches meine gesamte Arbeit beschäftigen wird und von weitreichender Bedeutung für Luthers Theologie und Lieder ist. 75 Ebenso deutet sich ein Zusammenhang zwischen dem ersten und dem vierten Vers an - nicht selten beschreibt der Reformator seine theologischen Gegner direkt als Teufel, bzw. nimmt an, die Gegner seien dessen Marionetten und Larven. 76 Der Teufel ist nach diesem Vierzeiler ein Gegner von Kirche und Wort Gottes, die durch geistliche Lieder Gestalt gewinnt, er ist eingewoben in ein Netz aus Mord/ Tod und Trug/ List und wirksam in allerlei irdischen Helfershelfern. Die dem Deckblatt folgende Vorrede gilt als Luthers letzte Äußerung zum Kirchenlied und überträgt die lutherische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium auf Gottesdienst und Kirchengesang. 77 „Also ist nu im newen Testament ein besser Gotts dienst / davon hie der Psalm sagt / Singet dem HERRN ein newes lied / Singet dem HERRN alle welt. Denn Gott hat unser hertz un mut frölich gemacht / durch seinen lieben Son / welchen er für uns gegeben hat zur erlösung von sunden / tod und Teuffel. Wer solchs mit ernst gleubet / der kans nicht lassen / er mus frölich und mit lust davon singen und sagen / das es andere auch hören und herzu komen. Wer aber nicht davon singen un sagen wil / das ist ein zeichen / das ers nicht gleubet / un nicht ins new fröliche Testament / Sondern unter das alte / faule / unlustige Testament gehöret.“ 78 73 „[…] mit dem Wachsen und Reifen im Glauben wächst die Gewalt der Anfechtung, weil es im Bösen jene Entsprechung zum Guten gibt, derzufolge die Kraft des Bösen mit der Potenz des Guten zugleich wächst.“ (Steinacker, Luther und das Böse, 140). Zu ähnlichen Erkenntnissen kommt Hans-Martin Barth: „Luther begegnet dem Teufel dort, wo er Christus begegnet.“ (Barth, Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers, 208). 74 Vgl. Barth, Zur inneren Entwicklung von Luthers Teufelsglauben, 204. 75 Vgl. Buchrucker, Die Bedeutung des Teufels für die Theologie Martin Luthers, 389. 76 Martin Rade weist darauf hin, dass für Luther die Identifikation von Teufel und theologischen Gegnern logische Konsequenz sein muss - der Teufel verfälscht das klare Evangelium, wo Menschen selbiges als Irrlehrer tun, muss der Teufel sie leiten, folglich werden sie (z.B. Bucer, Zwingli und Münzer) als Teufel tituliert (vgl. Rade, Zum Teufelsglauben Luthers, 7-8). 77 Vgl. Ameln, Das Babstsche Gesangbuch von 1545, 3; ebs. vgl. Möller, Das 16. Jahrhundert, 82. 78 HahnL 58. Die häufig anzutreffende Wendung „Singen und Sagen“ ist zu Luthers Zeit eine geprägte Formel (sog. Spielmannformel), welche sich schon in der Vorrede zum Septembertestament [1522] findet. Mit dieser Formel soll die Eigenart des Evangeliums als viva vox, als je und je lebendiges Wortereignis, verdeutlicht werden (vgl. Arnold, Ton der <?page no="121"?> 122 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Luther bestimmt in dieser Vorrede den „Gottesdienst unter dem Vorzeichen des Gesetzes“ als formalistisch und v. a. mit Traurigkeit ob der nie zu bewältigenden Schuld sich vollziehendes Geschehen. Der „Gottesdienst unter dem Vorzeichen des Evangeliums“ hingegen ist die Feier der Erlösten - dort wo Kreuz und Auferstehung existentiell be- und ergriffen werden, Befreiung von Sünde, Tod und Teufel erfahren wird, muss der Gläubige jubeln und singen. Die erwähnte Vorrede der Symphoniae Iucundae [1538] verdient wegen ihres summarischen Charakters nochmals Beachtung. Luther würdigt das erwähnte Herkommen des Tons und Klanges von Gott‚ 79 ebenso erneuert er die subordinierende Verhältnisbestimmung gegenüber dem Wort („das nach dem heiligen wort Gottes nichts nicht so billig und so hoch zu rhuemen und zu loben, als eben die Musica“ 80 ). Musik wird außerdem in ihren therapeutischen 81 und apotropäisch/ exorzistischen 82 Dimensionen sowie als Werkzeug des Heiligen Geistes 83 beschrieben. Eine satanologisch relevante Passage steht am Ende der Vorrede - obwohl Musik per se gute Gabe Gottes ist, muss Vorsicht gelten, denn Musik kann von Poeten und rezipierenden Sängern missbraucht und pervertiert werden. 84 Hinter dieser Perversion steht nach Luther der Satan, welcher Poeten Tiefe, 12-13; ebs. vgl. Möller, Das 16. Jahrhundert, 71). „Das Singen und Sagen ist kein bloßes Lesen eines papiernern Schriftwortes oder einer Partitur, sondern beschreibt eine lebendige ‚Performance‘, die auf die Freude derer zielt, die davon hören.“ (Arnold, Das Zeitalter, der Reformation, 218). 79 „So befindet man, das diese Kunst von anfang der Welt allen und iglichen Creaturen von Gott gegeben, und von Anfang mit allen geschaffen“ (WA 50, 369). Luther weiter: „diese köstliche, nützliche und fröliche Creatur Gottes“ (WA 50, 373). 80 WA 50, 370. Besonders hat Luther die wortgebundene Musik hervorgehoben (vgl. WA 50, 371-372), was v. a. von Krummacher (u.a. gegen Mahrenholz und Söhngen) bestritten wird, der darauf verweist, dass Luther meist allgemein von Musik schreibe (vgl. Krummacher, Musik als praxis pietatis, 18-19). Für Krummachers Position sprechen Luthers Ausführungen zu Josquin Deprez (vgl. Krummacher, Musik als praxis pietatis, 23-25), auch soll nicht verschwiegen werden, dass Luther der instrumentalen Musik (gegen Zwingli und Calvin) Platz im Gottesdienst zugestand (vgl. Söhngen, Theologie der Musik, 30-31; ebs. vgl. Rödding, Ein neues Lied wir heben an, 45-46). 81 „durch welcher erkentnis und vleissige ubung sie zuzeiten böse gedancken vertreiben und auch böse Geselschafft und andere untugend vermeiden können“ (WA 50, 373). 82 „das durch die Musica der Sathan, welcher die Leute zu aller untugend und laster treibet, vertrieben werde, Wie denn im Könige Saul angezeigt wird“ (WA 50, 371). 83 „Ja der heilige Geist lobet und ehret selbs diese edle Kunst als seines eignen ampts Werckzeug“ (WA 50, 371). 84 „und die ienigen, so durch unzucht verderbt und dieser schönen Natur und Kunst (wie denn die unzüchtigen Poeten auch mit irer Natur und Kunst thun) zu schendlicher, toller, unzüchtiger liebe missbrauchen, mit allem vleis fliehen“ (WA 50, 373). Eine Perversion der Musik als göttlichem Geschöpf wird auch bei Walter benannt (vgl. Walter, Lob und Preis der löblichen Kunst Musica, 20). Die Möglichkeit Musik als Reizmittel zur Unzucht <?page no="122"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 123 in das Dichten von Aftermusik treibt und die Jugend dieses Teufelswerk eifrig singen lässt. „[Christen, v. a. die Jugend; HH] gewis wissen sollen, das solche [sc. unzüchtige Poeten] der Teuffel, wider die Natur, also treibet, welche Natur, dieweil sie allein Gott, den Schöpffer aller Creaturn, mit solcher edlen Gabe sol und wil ehren und loben, so werden diese ungeratene Kinder unnd Wechselbelge durch den Satan dazu getrieben, das sie solche Gabe Gott dem HERRN nemen und rauben und damit den Teuffel, welcher ein Feind Gottes, der Natur und dieser lieblichen Kunst ist, ehren und damit dienen.“ 85 Musik steht latent in Gefahr, trotz göttlicher Herkunft teuflisch missbraucht zu werden, insbesondere durch ihre Kraft, Herz und Sinn zu bewegen, Affekte zu generieren und so vom schlichten Wort der Schrift wegzuführen. 86 Die wenigen Äußerungen Luthers zur Musik verdeutlichen: Musik ist Geschöpf Gottes, Darstellungsmittel der viva vox und therapeutisches Mittel. Vor allem aber ist Musik für den Reformator medium exorcizans diabolum! 87 Schon instrumental hat sie dieses Potential, effektiv wird dies aber, wenn sie verbunden mit Gottes Wort die Heilstaten Christi heraufführt und damit Heilsgewissheit und Seelentrost spendet - sie ist medium exorcizans diabolum, indem sie consolatio animarum fidelium ist. 88 zu missbrauchen hat, bei anderen Konsequenzen als Luther, besonders Calvin seinen Anhängern eingeschärft (vgl. Arnold, Das Zeitalter der Reformation, 222). 85 WA 50, 373-374. 86 Vgl. Anttila, Luther’s Theologie of Music, 101-103. Die Angst vor Perversion nimmt der Reformator im Großen und Ganzen eher gelassen zur Kenntnis. Augustin hingegen, später v. a. aber Zwingli standen deshalb mit großen Vorbehalten der Musik im Gottesdienst gegenüber (vgl. Söhngen, Theologie der Musik, 86-87; ebs. vgl. Rödding, Ein neues Lied wir heben an, 32-33). 87 Diese Begrifflichkeit habe ich bei Luther so nicht gefunden, führe sie aber in seinem Sinne ein. Anttila bekräftigt: „Music is a tool to be used against the devil. The devil wants people to lose faith and become insecure and sad.“ (Anttila, Luther’s Theology of Music, 97). „Begegnet er [sc. Luther] aber dem Teufel, so greift er auch im gleichen Augenblick zur Waffe. Die tägliche Erfahrung seines Kampfes mit den Dämonen einer dem Satan verhafteten Welt in und um ihn, die sein Leben nicht nur an den markanten Wendepunkten, sondern ständig in Spannung hält, muß auch die musica in diese Kampflinie einordnen: er sieht in ihr den siegreichen Waffengenossen, der fugat Diabolum.“ (Reindell, Das De tempore-Lied des ersten Halbjahrhunderts der reformatorischen Kirche, 6). 88 Schlink bestimmt die Kraft der Musik bei Luther ebenfalls in dem von mir aufgezeigten Sinn - Musik bringt das Evangelium zum Gläubigen und ist darin Feindin Satans (vgl. Schlink, Zum theologischen Problem der Musik, 25-26). „[Musik ist; HH] Waffe im Kampf gegen den Satan“ (Schlink, Zum theologischen Problem der Musik, 4). <?page no="123"?> 124 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Lutherlieder und ihre Teufelsbilder Textbasis Diese Studie richtet sich aus auf den Liedbestand des EG, ferner des EKG. Im EKG lag der Schwerpunkt beim Liedgut des 16. und 17. Jahrhunderts, weshalb es nicht verwundert, dass von 36 89 bekannten deutschen Lutherliedern (Autor, oft zugleich Melodist) in den EKG-Stammteil 30 90 übernommen wurden (bei 394 Gesängen ca. 8 %). Der EG-Stamm bietet 28 91 Gesänge, die mit Texten Luthers verbunden sind (bei 535 Gesängen ca. 5 %). Da Luther in seiner Bedeutung für das Kirchenlied kaum zu überschätzen ist, scheint an dieser Stelle eine Gesamtschau seiner deutschen Lieder sinnvoll, zumal ein Großteil ohnehin durch das Vorkommen im EG/ EKG-Stamm in Betracht kommt und die Gesamtschau nur wenig Mehrarbeit bedeutet. Um Vollständigkeit zu erreichen und keine ausgefallenen Strophen oder Details zu übersehen, habe ich die Analyse am „Urtext“ begonnen. 92 Von den 37 Gesängen Luthers (einschließlich Litanei) berühren - bei Beschränkung auf personales Böses - zwölf Gesänge die Thematik des Teufels (s. Tab. 1), wobei zehn der zwölf relevanten Gesänge sowohl im EKG wie EG stehen, die übrigen zwei in keinem der Stämme. Gleicht man entsprechende zehn Gesänge mit dem Urtext ab, lässt sich feststellen, dass diese ohne Einbußen bei Strophenanzahl in den 89 Einschließlich deutscher Litanei erhöht sich die Zahl auf 37 Stücke, wie sie vollständig Bapst [1545] bietet (vgl. Rößler, Luther, Martin, 207; ebs. vgl. AWA 4, V-VIII). Neben 36/ 37 deutschen Gesängen wären weitere Fragmente und liturgische Stücke analysierbar, die ich hier aber ausklammere, z.B. die letzte Strophe von „Nun legen wir den Leib ins Grab/ Nun lasst uns den Leib begraben“ (EG 520/ EKG 174) (vgl. Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 7-8). Zusätzlich umfasst Luthers poetisches Schaffen auch profane oder nur entfernt geistliche Werke; Akerboom zählt insgesamt 63 Lieder/ Gesänge (vgl. Akerboom, „Ein neues Lied wir heben an“. Über die ersten Märtyrer, 63). 90 EKG 1.15.16.17.76.77.97.98.99.109.132.135.137; (138 - Litanei nicht gezählt); 139.142.146. 154.163; (174 - nicht gezählt, nur Str. 8); 177.182.192.195.201.239.240.241.309.310.352 (vgl. HEKG II/ 1, 33). 91 EG 4.23.24.25.101.102.124.125.126.138.183.191; (192-Litaneinichtgezählt); 193.202.214.215. 231.273.280.297.299; (319 - nicht gezählt, vertonte Vorrede); 341.344.362.421.470.518.519; (520 - nicht gezählt, nur Str. 7) (vgl. Rößler, Luther, Martin, 204-205). Einschließlich EG-Regionalteile ergäben sich weitere Gesänge (vgl. Rößler, Luther, Martin, 205). 92 Zur Gesamtsichtung habe ich die kritische Ausgabe von Gerhard Hahn (Hahn, Martin Luther. Die deutschen geistlichen Lieder [1967]) verwendet, die zwar nicht die neueste, aber eine übersichtliche, ziemlich genaue und leicht greifbare Studienausgabe darstellt (im Folgenden: HahnL Seite). Die maßgebliche und neueste textkritische Edition stellt die von Markus Jenny bestellte (AWA 4 [1985]) dar und löst damit den veralteten Band der Weimarana ab (WA 35 [1923]). <?page no="124"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 125 Gesangbuchkanon von EG und vorher EKG aufgenommen worden sind. 93 Bedenkt man den von den verantwortlichen Gesangbuchkommissionen benannten Handlungsbedarf beim Thema Teufel‚ 94 dann ist erstaunlich, dass weder Lieder noch Strophen in diesem Bereich geglättet oder verändert wurden. Man könnte einwenden, dass zwei Gesänge, die diese Vorstellungswelt bedienen, nicht ins Gesangbuch gekommen seien, allerdings handelt es sich hier um Texte, die deshalb nicht im Kanon auftauchen, weil eine konkrete gottesdienstliche Verwendung nicht gegeben scheint. Dies betrifft einerseits Luthers vermutlich erstes Lied, „Ein neues Lied wir heben an“, das einen Bericht über den Märtyrertod zweier Ordensbrüder in Brüssel (1523) darstellt und dessen gegenwärtige gottesdienstliche Relevanz und Zuordnung fraglich ist. 95 Andererseits betrifft dies „Sie ist mir lieb die werte Magd“, welches einen Gesang darstellt, der auf dem Hintergrund von Offb 12 die biblische Perikope von der Frau und dem Tier hymnisch umsetzt und für das Markus Jenny festhält, dass es „für den Gottesdienst […] bestimmt nicht gedacht“ 96 sei. Vergleicht man die EG-Textgestalt (ebs. EKG) konkreter mit dem Urtext, fällt auf, dass es im Bereich Teufelsmotivik keinerlei bedeutsame Veränderung gegeben hat. Natürlich wurden Texte gegenüber Orthographie und Grammatik Luthers behutsam modernisiert, manches unverständliche Wort vorsichtig heutigem Deutsch angepasst - Umdichtungen aber, die den Teufel tilgen, mildern oder unschärfer zeichnen, sind m. E. an keiner Stelle auszumachen. Die Synopse von Dieter Frahm weist minutiös aus‚ 97 dass bei Lutherliedern vom EKG hin zum EG mit Textmodernisierungen oder -veränderungen äußerst restriktiv verfahren wurde, gelegentlich sind Texte sogar auf ältere Stufen zurückgebaut worden. 98 Veränderungen hat es im Bereich Teufelsmotivik nur bei EG 138 und EG 192 gegeben. 99 In „Gott der Vater steh uns bei“ (EG 138), welches im EKG mit „Gott der Vater wohn uns bei“ (EKG 109) 100 betitelt war, heißt es: „entfliehen 93 Vgl. Tab. 1 Sp. „Verhältnis EG/ EKG und Original“. 94 Vgl. Rößler, Prospekt eines Projekts, 15. 95 Im von Luther selbst bestellten Klugschen Gesangbuch [1529] ist der Gesang der Gruppe der Katechismuslieder hintenangestellt, da nach Jenny dort beispielhaft der Kampf zwischen altem Glauben und dem neuen Glauben reformatorischer Prägung dargestellt werde (vgl. Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 101). 96 Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 144. 97 Frahm, Synopse zum Evangelischen Gesangbuch [1996]. 98 Hier kann nicht jegliche textkritische Frage erörtert werden, da es mir ausschließlich um die Teufelsthematik geht. Bei Detailfragen sind textkritische Editionen oder die Synopse von Dieter Frahm zu konsultieren, welcher u.a. die Beweggründe der EG-Kommission (z.B. Rückanpassung an Original) verzeichnet. 99 Vgl. Tab. 1 Sp. „Veränderungen von EKG zu EG“. 100 „Gott der vater won uns bey“ (HahnL 37). <?page no="125"?> 126 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Teufels Listen, / mit Waffen Gotts uns fristen“ (EKG 109/ 1.2.3) 101 - im EG ist aus dieser Stelle „entfliehen Teufels Listen, / mit Gottes Kraft uns rüsten“ (EG 138/ 1.2.3) geworden. Offenbar sollte das Kriegsvokabular abgeschwächt werden‚ 102 wenngleich fraglich bleibt, was semantisch gewonnen ist, wenn „Waffen“ gestrichen und durch „rüsten“ die Kriegssemantik erneut eingetragen wird. In der „deutsche[n] Litanei“ 103 [1529] - auch „[Die] Litanei“ (EG 192/ EKG 138) - sind zahlreiche kleinere Änderungen im Text feststellbar, die ich nicht weiter verhandle‚ 104 besonders Anpassungen im Bereich zeitbedingter staatlich-politischer Strukturen sind im Vergleich zum Urtext auffällig. Wo ursprünglich von Kaiser, Fürst, König und Landesherr die Rede war‚ 105 kommen in EKG 138/ EG 192 Obrigkeiten oder nur noch Regierende als Fürbittbegünstigte vor. Für meine Fragestellung bedeutsam ist eine Veränderung in EG 192/ 40 106 - statt „Allen Ärgernissen wehren“ (EG 192/ 40) wurde in der Urfassung „Allen Rotten und ergernissen wehren“ 107 geschrieben, was angepasst noch im EKG stand. Die Litanei im Ganzen ist voller Zeitbezüge, v. a. die Bedrohung durch das Osmanische Reich, welches seit 1526 auf dem Vormarsch nach Zentraleuropa war, findet im Text ihren Niederschlag‚ 108 was den Rezipienten für die textlich installierten „Rotten“, „Feinde“, „Verfolger“ und „Lästerer“ auch ein Identifikationsangebot im Sinne der Türkengefahr eröffnet. 109 Daneben ist m. E. auch die Identifikationsmöglichkeit als Teufel und Satan intendiert, denn die Rotten/ Feinde erscheinen einerseits in unmittelbarer textlicher Nähe zum Teufel und können problemlos als Teil von dessen Referenzkette verstanden werden, andererseits 101 „entfliehen teuffels listen / mit waffen Gotts und fristen“ (HahnL 37). 102 In VE 139 wird explizit zum Vers ein „a“ vermerkt, das für „Änderung aufgrund anderer Gesichtspunkte der Ausschußarbeit“ (VE, Erläuterungen) steht. 103 Vgl. Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 134. 104 Vgl. Frahm, Synopse zum Evangelischen Gesangbuch, 53-54. 105 Zum Nachvollzug der ursprünglichen Litanei sei auf die leicht zugängliche, aber orthographisch angepasste Ausgabe von Jenny (vgl. Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 138) verwiesen oder auf den Faksimiledruck des Klugschen Gesangbuchs (vgl. Ameln, Das Klug’sche Gesangbuch 1533, 66). 106 Die Verszählung der Litanei ist uneinheitlich und führt folglich zu Irritationen. Ich zähle nach einer Systematik, die davon ausgeht, dass der erste Chor die Gebetsblöcke gesammelt vorträgt und der zweite Chor erst auf das Gesamte antwortet, wie in EKG 138 vorgeschlagen - im Ursprungstext ist dies nicht vorgesehen (vgl. Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 134-141). 107 Ameln, Das Klug’sche Gesangbuch 1533, 64. „Allen Rotten und Ärgernissen wehren, / Alle Irrigen und Verführten wiederbringen, / Den Satan unter unsere Füße treten“ (EKG 138/ 40-42). 108 Vgl. Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 140. 109 „unserm Kaiser steten Sieg wider seine Feinde gönnen […] aller Menschen dich erbarmen, unsern Feinden, Verfolgern und Lästerern vergeben und sie bekehren“ ( Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 138). <?page no="126"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 127 ist z.B. durch Luthers zeitgleiche Schrift „Vom Kriege wider die Türken“ [1529] hinlänglich bekannt, dass er die Türken als Werkzeug und Rute Gottes, gelenkt durch Teufels Hand, deutete. 110 Die Verbindung und Identifikation vom Teufel und seinen Rotten darf für damalige Rezipienten vorausgesetzt werden und war potentiell unter den Worten bis zur späteren EG-Veränderung enthalten. Dass unter dem Begriff Rotten für kundige Gesangbuchnutzer späterer Zeiten Teufelsreferenz mitschwingt, lässt sich m. E. durch intertextuelle Bezüge bzw. eine kanonische Interpretation des Gesangbuches stark machen. Im wesentlich populäreren Gerhardt-Lied „Ist Gott für mich so trete“ (EG 351) heißt es: „was kann mir tun der Feinde / und Widersacher Rott? “ (EG 351/ 1). Eine Identifikation mit dem Teufel wird zwar nicht explizit gemacht, durch das Beschreiben des geistlichen Kampfes (Eph 6) aber ist ein Ausschließen dieser Identifikationsvariante mit dem transzendenten Bösen schwierig. Eine weitere Veränderung liegt in „Erhalt uns Herr bei deinem Wort“ (EG 193) vor, wo es „und steure deiner Feinde Mord“ (EG 193/ 1) heißt, dem gegenüber im Original: „Und steur Bapst und Türcken Mord“ 111 . Diese Anpassung kann als nachträgliches Eintragen des Teufels in das Gesangbuch erscheinen, bedenkt man aber erwähnte Äußerungen Luthers über Antichristen und Teufel, dann scheint es nur folgerichtig, diesem zeitbedingten von der Türkengefahr motivierten Lied eine Weitung der Identifikationsmöglichkeiten auf eine Vielzahl von Feinden zuzuschreiben - im Übrigen wurde eine ähnlich lautende Anpassung, motiviert durch Osiander, schon 1548 in Nürnberg herausgegeben. 112 Auf Grundlage der aufgezeigten Erkenntnisse über Textveränderungen im Bereich der Satansthematik, die sich im Bereich marginaler Veränderungen 110 „Denn sintemal der Türcke ist unsres herr Gottes zornige rute und des wütenden Teuffels knecht“ (WA 30/ II, 116). Wenige Zeilen weiter heißt es explizit, der Teufel sei der Türken Gott (vgl. WA 30/ II, 116). Kurt Victor Selge weist besonders auf die Verbindung von Teufel, Papst, Türken und Juden in der Theologie Luthers hin: „Der Teufel will Gottes Werk zunichtemachen und die christliche Kirche in die Hölle ziehen - zuerst indem er die Masse der Christen zu sich zieht und gerade die Frömmsten, die Mönche, verführt, dann indem er seine Herrschaft als Antichrist in der Kirche aufrichtet, in der widerchristlichen Herrschaft des Papsttums als des falschen Vicarius Christi, dann unter dem wechselnden falschen Namen des neuverfälschten Evangeliums, dann in der Verführung zum Abfall unter dem Türken und schließlich in der christlichen Verharmlosung der Lästerung Christi, die die Juden, die ersten Feinde Christi […] begehen“ (Selge, Luther und die Macht des Bösen‚168). 111 HahnL 53. 112 In Folge des Interims von 1548 entstanden verschiedene Fassungen, die entweder Feind/ Feinde oder direkt Teufel/ Satan druckten (vgl. Schlißke, Handbuch der Lutherlieder, 133- 135). Dies dürfte in Luthers Sinne gewesen sein, denn schon die Ursprungsüberschrift des Liedes „Ein Kinderlied / Zu singen / wider die zween Ertzfeinde Christi und seiner heiligen Kirchen / den Bapst un Türcke / etc“ (HahnL 53) legt diese Identifikation nahe. <?page no="127"?> 128 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten bewegen, halte ich es der leichteren Nachvollziehbarkeit wegen für legitim, in weiteren Ausführungen überwiegend aus dem EG zu zitieren - bei Details konsultiere ich selbstverständlich ergänzend Quelleneditionen. 113 Rubriken/ Themenfelder Für ein umfassendes Bild vom Standort des Teufels im theologischen Denken Luthers ist es von Bedeutung, die rubrizistische Einordnung und somit unmittelbare Leseanweisung der Lieder zu berücksichtigen. 114 In den betrachteten zehn Gesängen des EG/ EKG und den beiden darin nicht enthaltenen, finden sich zur Hälfte De tempore-Gesänge, die das Kirchenjahr abschreiten - hier ist natürlicherweise hohe Stabilität in der Rubrizierung bis heute zu verzeichnen. Der Teufel begegnet Weihnachten in „Vom Himmel kam der Engel Schar“ (EG 25), Ostern bei „Christ lag in Todesbanden“ (EG 101)‚ 115 Pfingsten in „Nun bitten wir den Heiligen Geist“ (EG 124) und „Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist“ (EG 126) und zu Trinitatis mit „Gott der Vater steh uns bei“ (EG 138). Diese De tempore-Lieder gehören allesamt, abgesehen vom 1542/ 1543 entstandenen „Vom Himmel kam der Engel Scharr“ (EG 25), in die produktive erste Schaffensperiode Luthers (1523/ 1524). 116 In diese Zeit fällt zugleich eine intensive theologische Auseinandersetzung mit der Teufelsanschauung, die nicht einfach im spätmittelalterlichen ängstlichen Dämonenglauben aufgeht, sondern den Teufel als Wesen charakterisiert, welches das Christusereignis und dessen Wirksamkeit zum Heil der Menschen zu verdunkeln und in Zweifel zu ziehen versucht. Nach Auffassung des Reformators führt der Teufel unter Zulassung Gottes in Anfechtung, damit der Mensch umso mehr zu Gott flüchte. In den Jahren zuvor, die von Luthers Klosterkämpfen und dem Ringen um Gottes Gerechtigkeit gekennzeichnet waren, sowie den 1530er und 1540er Jahren, treten ältere v. a. plastisch-spätmittelalterliche Beschreibungen des Teufels in den Vordergrund. 117 113 Bei „Litanei“, „Ein neues Lied wir heben an“ und „Sie ist mir lieb die werte Magd“ beziehe ich mich v. a. auf die modernisierten Fassungen Jennys (vgl. Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 97-101.134-144). 114 Vgl. Tab. 1 Sp. „EG Rubrik“; „EKG Rubrik“; „Klassische Zuweisung (nach HahnL)“. Vertiefte theologische Betrachtung erfahren die einzelnen historisch gewachsenen Rubrizierungen in den EG-basierenden Kapiteln (s. Kap. 8.-11.). 115 Ostern könnte evtl. auch „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“ (EG 341) zugeordnet werden, denn in den ersten Gesangbüchern finden sich dazu unterschiedlichste Überschriften. Im Färbefaßenchiridion [1524] wird es als Lied „so man auffs Osterfest zusynge pflegt“ (HahnL 17) bezeichnet, stattdessen heißt es im Malerschen Enchiridion [1524]: „Folget eyn hubsch Evangelisch lied / welchs man singt vor der Predig“ (HahnL 17). 116 Vgl. Rößler, Luther, Martin, 206. 117 Vgl. Barth, Zur inneren Entwicklung von Luthers Teufelsglauben, 204-207. <?page no="128"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 129 Dass Luther in den 1520er Jahren gerade Lieder zum Kirchenjahr dichtet, ist theologisch betrachtet nicht unwichtig, sondern verdeutlicht, dass der Teufel nicht als willkürlich verwendeter Textbaustein, sondern in konkreten theologischen Zusammenhängen seinen Platz zugewiesen bekommen hat. Hans-Martin Barth formuliert in seiner umfassenden Studie: „Vielmehr hat der Teufel bei Luther einen konkreten, klar zu bestimmenden theologischen Ort, der von Luthers gesamtem theologischen Denken gefordert wird und der seinerseits das gesamte theologische Denken Luthers verdeutlicht. Luther begegnet dem Teufel dort, wo er Christus begegnet.“ 118 Das Kirchenjahr ist Christusjahr, bildet dessen Leben, Sterben und Auferstehung ab, feiert dessen Himmelfahrt und die Ausgießung des Geistes, folglich erscheint der Teufel gerade in den Rubriken, die diese Christus-Hochfeste hymnisch begehen. In dieselbe Zeit (1523/ 1524) fällt auch das erste Lied des Wittenberger Reformators, „Ein neues Lied wir heben an“, das keiner klassischen Rubrik zugeordnet ist, sondern den zeitabhängigen Gelegenheitsliedern zugerechnet wird. 119 Der Gedanke, dass der Teufel die Gnadenbotschaft zu verschleiern und gegen Gottes Wort zu kämpfen sucht, ist darin ebenfalls ausgeführt. Als Christuslied schlechthin kann „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“ (EG 341) gelten‚ 120 welches die These Barths in Reinform belegt, indem der Streit zwischen Christus und Satan elf Strophen lang beschrieben wird. 121 In das Jahr 1529 fällt die deutsche Litanei, die den liturgischen Stücken zugerechnet wird‚ 122 sowie „Ein feste Burg ist unser Gott“, das eigentlich als Psalmlied (Ps 46) betitelt in EKG 201 unter „Die Kirche“, in EG 362 unter „Angst und Vertrauen“ eingeordnet ist. 123 Nachdem „Ein feste Burg ist unser Gott“ über 118 Barth, Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers, 208. 119 Im Babstschen Gesangbuch [1545] steht das Lied zum Abschluss des ersten Teiles, es folgen die sog. „Lieder der Unsern“. Voran geht dem Lied die lateinische Litanei, womit scheinbar damals die Einordnung schon Schwierigkeiten bereitete (vgl. Ameln, Das Babstsche Gesangbuch von 1545, XXXIX). 120 „zweifellos [ist „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“; HH] das Hauptlied der Reformation und eigentliche Christus-Lied“ (Burba, Die Christologie in Luthers Liedern, 21). 121 Diese Verbindung von Christologie und Satanologie, besser die Einordnung Letzterer in Erstere hat schon Buchrucker für „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“ herausgestellt (vgl. Buchrucker, Die Bedeutung des Teufels für die Theologie Martin Luthers, 393). 122 Vgl. Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 140-141. 123 Vgl. Tab. 1 Sp. „EG Rubrik“; „EKG Rubrik“. Die Diskussionen um Entstehung und Intention des Liedes ist so breit geführt worden, dass ich sie nicht ansatzweise darlegen kann. Jenny vermutet eine Entstehung für das Jahr 1527, welches für den Reformator viele persönliche Schmerzen und Belastungen bedeutete (vgl. Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 110). <?page no="129"?> 130 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten lange Zeit Trutz- und Bekenntnislied war, soll es nach der heutigen Einordnung und Leseanweisung weniger vom kämpfenden Bekenntnis, sondern von seiner wahrscheinlichen Ursprungsverortung her als Trostlied gelesen werden. 124 Weitere Rubriken oder Themenfelder meiner Auswahl sind Kirche bei „Sie ist mir lieb die werte Magd“ 125 [ca. 1525], Katechismus 126 bei „Vater unser im Himmelreich“ (EG 344 [1539]) und das von Luther selbst als „Kinderlied“ 127 bezeichnete „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ (EG 193 [1543]). „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ wird in EKG 142 und EG 193 jeweils unter „Wort Gottes“ eingeordnet, womit es dem Komplex der Katechismuslieder zugeordnet werden könnte, wenngleich sich EG 193 in seiner Ursprungsform und mit seinen klaren Zeitanklängen der Einordnung entzieht. 128 Teufelsnamen und weitere Textgegenstände Eine Bestandserhebung zu Bezeichnungen des Teufels in den Liedern Luthers unter dem Blickwinkel der quantitativen Semantik hat vor rund drei Jahrzehnten der Germanist Patrice Veit unternommen. 129 Er kam zu dem Ergebnis, dass der „Grundbegriff: Feind“ 130 , nebst Synonymen (Teufel, Satan, böser Geist, Fürst 124 Vgl. Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 110. Eine ausführliche Rezeptionsgeschichte dieses Liedes seit der Romantik hat Michael Fischer vorgelegt (Fischer, Religion, Nation, Krieg [2014]). 125 Eine Ursprungsüberschrift lautet „Ein lied von der Heiligen Christlichen Kirchen / aus dem xii. capitel Apocalypsis“ (HahnL 43). Denkbar, aber durch die Überschrift weniger plausibel, wäre Luthers Versuch, eine protestantische Mariologie bieten zu wollen (vgl. Schlißke, Handbuch der Lutherlieder, 281-282). 126 Die Katechismusliederrubrik ist im 16. Jh. zum Liedersammelplatz geworden, in dem alle Stoffe untergebracht wurden, die mehr oder weniger mit einem der Hauptstücke in Beziehung gesetzt werden konnten. In der Folgezeit gliederte sich die Rubrik immer weiter bis zu ihrer Auflösung auf (vgl. Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 48). Im EG kommt Luthers Vaterunser-Lied unter „Rechtfertigung und Zuversicht“, in EKG 241 bei „Christlicher Glaube und christliches Leben“ zu stehen. Ob mit diesen Zuweisungen mehr gewonnen ist, als es unter „Gottesdienst“ einzuordnen, bleibt fraglich. 127 HahnL 53. Kinderlied meint hier v. a., dass es mit erstrebenswerter Einfalt der Kinder Gottes gesungen und gebetet werden sollte (vgl. Kulp, Die Lieder unserer Kirche, 231- 232). 128 Im Babstschen Gesangbuch [1545] ist das Lied zwischen dem deutschen Sanctus ( Jesaja dem Propheten das geschah) und „Verleih uns Frieden gnädiglich“ eingeordnet, was m. E. gewisse Unentschlossenheit in der Zuordnung erkennen lässt (vgl. Ameln, Das Babstsche Gesangbuch 1545, XXX). 129 Vgl. Veit, Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers, 189. Veits Untersuchung gründet auf WA 35 (vgl. Veit, Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers, 4). 130 Warum Veit über den „Teufel“ referiert, dann aber „Feind“ zum Hauptbegriff erhebt, welcher in vielen Fällen offen zur Identifikation mit anderen Akteuren wäre, leuchtet nicht ein. Er schreibt rechtfertigend: „Der Feind - so wird er oft in den Liedern genannt (7 <?page no="130"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 131 dieser Welt, Würger, alter Drache) in den Gesängen des Reformators 19-mal erwähnt wird. 131 Durch meine eigene Untersuchung, unter Auslassung der Litanei und der veränderten Fassung von „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“, wird dieses Ergebnis untermauert. 132 Der Teufel in Luthers Liedern wird eingeführt als Feind, Satan, böser Geist, Fürst dieser Welt, Würger und alter Drachen, wobei der Schwerpunkt auf den Begriffen Feind und Teufel liegt (je 8x - inkl. EG 192.193) und alle weiteren Begriffe als Hapaxlegomena erscheinen. 133 Vorab soll bedacht sein, dass keinesfalls immer eindeutig ist, wie dieser oder jener Begriff im Einzelfall interpretiert werden muss; v. a. bei Liedern, in denen der Teufel im textlichen Umfeld böser Menschen lokalisiert ist, bleibt die Referenz vieler Pronomen auf Mensch oder Teufel unklar. 134 Dennoch habe ich durch Bildung von Referenzketten erklären können, warum ich es für möglich halte, einzelnen Termini das Potential zuzuschreiben, auf den Teufel zu verweisen. Gegenüber Veit wird damit viel eindrücklicher die durchgängig feste Einbindung des Teufels in Luthers Lieder in Form eines zentralen Textgegenstandes sichtbar gemacht, verschiedenste Pronomen gelangen zusätzlich als Referenzträger zum Referenzobjekt „Teufel“ in den Blick und erweisen den Satan als bedeutsamen Akteur der analysierten Lieder. Unter dieser erweiterten Perspektive, einschließlich Pronomen, sind 46 Verweisausdrücke zum Satan auszumachen. Ein nicht unwichtiger Aspekt dabei ist das Verhältnis von Singularzu Pluralausdrücken innerhalb meiner Auflistung. Abgesehen vom Weihnachtsgesang, „Vom Himmel kam der Engel Schar“ (EG 25)‚ 135 liegen ausschließlich Formeln mal) - ist vor allem der Teufel (ebenfalls 7 mal erwähnt).“ (Veit, Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers, 140). 131 Veit listet Feind (7x) und Teufel (7x) als Hauptbegriffe, sowie Satan, böser Geist, Fürst dieser Welt, Würger, alter Drache als Hapaxlegomena in Luthers Liederwerk auf (vgl. Veit, Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers, 189). 132 Eine Differenz entsteht durch die Angabe des Untersuchungsumfangs von elf Liedern bei Veit und zehn in meiner Studie - bei gleichen 19 Belegen (vgl. Veit, Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers, 140). Nach Durchsicht aller Belegstellen Veits liegen m. E. Ungenauigkeit/ Zählfehler auf seiner Seite vor. Der Teufel erscheint in zehn Lutherliedern! 133 Vgl. Tab. 1 Sp. „Koreferenzkette Teufel“. Durch Einbeziehung von Litanei (EG 192) und gegenwärtiger Fassung von „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ (EG 193) wird das Ergebnis von Veit bei Teufel/ Satan/ Feind jeweils um eine Fundstelle vermehrt. 134 Besonders „Ein neues Lied wir heben an“ zeigt enge Verflechtungen von Teufel und menschlichen Helfern (s. u. Detailbetrachtung), die eine genaue Zuordnung erschweren. „Ein feste Burg ist unser Gott“ bereitet ähnliche Schwierigkeiten, da relativ offen ist, wie das Verhältnis von Str. 3 und Str. 4 und deren Übergang aufzufassen ist (vgl. Mehl, „Ein Wörtlein kann ihn fällen“, 3-18; ebs. vgl. Hirsch, Das Wörtlein, dass den Teufel fällen kann, 93-98). 135 „laßt zürnen Teufel und die Höll, / Gotts Sohn ist worden eu’r Gesell. / Er will und kann euch lassen nicht, / setzt ihr auf ihn eu’r Zuversicht; / es mögen euch viel fechten an: / <?page no="131"?> 132 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten im Singular für den Teufel vor‚ 136 was v. a. die Interpretation des Begriffes Feind als Teufel plausibilisiert gegenüber dem abstrakteren und interpretationsoffeneren Plural. Betrachtet man zusätzlich zu expliziten Verweisausdrücken noch Textpassagen, in denen der Teufel als internes Subjekt oder Objekt vorhanden ist - d. h. nicht eigens genannt, sondern in früheren oder späteren Passagen expliziert wird - erweitert sich der Befund wiederum. 137 Hinter den von Luther verwendeten Begriffen deuten sich breite biblische Spuren an. 138 Eine Spur ins Alte Testament legt der Reformator in „Christ lag in Todesbanden“ mit dem „Würger“ (EG 101/ 5)‚ 139 der von Ex 12 her verstanden werden kann und mit dem Blut Christi, des Opfer- und Osterlammes der Kirche (1Kor 5‚7), besänftigt wird. 140 Die Identifikation vom „Verderber/ Zerstörer“ 141 aus Ex 12‚23 mit dem Teufel ist auf Grundlage der entsprechenden alttestamentlichen Perikope nicht unproblematisch‚ 142 offenbar versteht der Reformator aber das Passa Israels und den Auszug aus Ägypten als Vorschattung, die erahnend einen Schein auf die Ereignisse von Tod und Auferstehung Christi und jedes Christen vorauswirft. Eine emanzipatorische Wende hat der „böse Geist“ aus „Vater unser im Himmelreich“ (EG 344/ 7) erlebt, der sich v. a. vom Quälgeist dem sei Trotz, der’s nicht lassen kann“ (EG 25/ 4.5). 136 Einzuwenden ist, dass in „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ (EG 193) Feinde im Plural stehen, wobei m. E. diese Formel gegenüber dem Ursprungstext (s. o.) zu vernachlässigen ist. 137 Vgl. Tab. 1 Sp. „Weitere mit Teufel verbundene Verben“. 138 Vgl. Tab. 1 Sp. „Traditionsbezüge“. 139 „Des Blut zeichnet unsre Tür, / das hält der Glaub dem Tod für, / der Würger kann uns nicht rühren“ (EG 101/ 5). 140 Vgl. HEKG I/ 2, 146-149. 141 Die Bedeutung des תיחשמ ist strittig, wie der einschlägige Gesenius-Artikel zeigt - dort wird er zumindest als Dämon charakterisiert (vgl. Gesenius, Art. תיחשמ, 751). 142 In einem sekundären Sinn halte ich das Einordnen des Würgeengels in die Satanologie für möglich. Unter diesem sekundären Sinn verstehe ich den grundsätzlichen Gedanken, der für Luther mit dem Ostergeschehen verbunden scheint, nämlich der Sieg über die Trias Sünde, Tod und Teufel (vgl. Schlißke, Handbuch der Lutherlieder, 39-43). Dieser Sieg ist der Endpunkt des duellum mirabile, des „wunderlich Krieg“ (EG 101/ 4) zwischen Leben und Tod und gegen die Dreifaltigkeit des Verderbens (vgl. Hahn, Evangelium als literarische Anweisung, 177-178). Eine interessante Spur lässt sich verfolgen, wenn man den Teufel in Luthers „De servo“ [1525] mit der Figur des Würgeengels aus Ex 12 vergleicht. Peter Steinacker kann an „De servo“ aufzeigen, dass der Teufel dort v. a. eine Gott völlig untergeordnete Dienstfigur darstellt - der starke Gottesbegriff von „De servo“ zeichnet demgegenüber einen Gott, der selbst den Satan antreibt (vgl. Steinacker, Luther und das Böse, 143-146). Ähnlich lese ich die Erzählung in Ex 12, in der Gott selbst von Haus zu Haus schreitet. Gott selbst ist es, der dem Verderber das Eintreten gestattet bzw. verwehrt (Ex 12‚3). <?page no="132"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 133 Gottes ableitet‚ 143 welcher König Saul überfällt und von David musikalisch vertrieben wird (1Sam 16); 144 in 1Sam 16 ist er Geist Gottes, bei Luther verselbstständigt er sich und tritt in einer Referenzkette mit dem vorher genannten Satan auf, der gegen den offenbarten Gotteswillen (was nichts über den deus absconditus aussagt) die Kirche bedroht. 145 Daneben erinnert der böse Geist bzw. die bösen Geister an die „bösen Geister unter dem Himmel“ (Eph 6‚12) oder den „Geist, der zu dieser Zeit am Werk ist“ (Eph 2‚2), die dämonische Akteure bei Paulus bezeichnen. Der „alte Drache“ aus „Sie ist mir lieb die werte Magd“ ist durch die ursprüngliche Überschrift selbst auf Offb 12 bezogen‚ 146 wenngleich Luther aus dem Kapitel nur den Drachen als Bezeichnung aufnimmt, obwohl sich weitere Begriffe angeboten hätten. 147 „Und es ward ausgeworffen der gros Drach, die alte Schlange, die da heisst der Teufel und Satanas, der die gantze Welt verfüret, unnd ward worffen auff die erden, und seyne Engel wurden auch worffen“ 148 (Offb 12‚10). „Der Fürst dieser Welt“ aus „Ein feste Burg ist unser Gott“ (EG 362/ 3) bezieht sich auf eine Teufelsanschauung, die im Johannesevangelium prominent dargestellt ist ( Joh 12‚31; 14‚30; 16‚11); 149 insbesondere den Gedanke des ergangenen Gerichtes über den Satan‚ 150 nimmt das Lied wieder auf. 151 143 „Führ uns, Herr, in Versuchung nicht, / wenn uns der böse Geist anficht; / zur linken und zur rechten Hand“ (EG 344/ 7). 144 Dass Luther diese Geschichte präsent war, ist durch „Frau Musica“ [1538] belegbar und als Interpretationsrahmen mitzubedenken (vgl. HahnL 62; ebs. vgl. Veit, Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers, 140). In der Lutherbibel von 1984 täten sich für böse Geister diverse Stellen auf, z.B. erteilt Jesus den Jüngern Auftrag und Vollmacht, Geister auszutreiben (Mt 10‚8) - Luther selbst übersetzte die δαιμόνια dort mit „Treibet die Teufel aus“ (WA.DB 6, 49). 145 „des Satans Zorn und groß Gewalt / zerbrich, vor ihm dein Kirch erhalt“ (EG 344/ 3). Der Satan erscheint in Luthers Liederkorpus daneben nur noch einmal mit einem fast wörtlichen Zitat nach Röm 16‚20 („Der Gott des Friedens aber wird den Satan unter eure Füße treten in Kürze“) in der Litanei (vgl. Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 136). 146 „Das thut dem alten Trachen zorn / und wil das kind verschlingen“ (HahnL 44). 147 Obwohl Luther explizit Offb 12 erwähnt, gibt es nicht eine einzige Erwähnung des Synonymes Schlange in Luthers Liedern. 148 WA.DB 7, 449-450. Bezüge bestehen daneben zu 2Kor 4‚4 („Gott dieser Welt“) und Eph 6‚12 („Herren der Welt“). 149 „Der Fürst dieser Welt, / wie sau’r er sich stellt, / tut er uns doch nicht; / das macht, er ist gericht“ (EG 362/ 3). 150 Joh 12‚31: „Jtzt gehet das gerichte uber diese Welt, Nu wird der Fürst dieser welt ausgestossen werden“ (WA.DB 7, 379); Joh 16‚11: „Umb das gericht, das der furst diser wellt gerichtet ist“ (WA.DB 7, 392). 151 „Der Fürst dieser Welt, / wie sau’r er sich stellt, / tut er uns doch nicht; / das macht, er ist gericht“ (EG 362/ 3). <?page no="133"?> 134 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Bei „Feind“ und „Teufel“, Luthers häufigsten Teufelssynonymen, verhält sich die Suche nach biblischen Spuren komplizierter, weshalb weitere Aspekte wie dessen Werk oder Beziehungsgeflechte herangezogen werden müssen (z.B. Trias aus Sünde, Tod und Teufel). Ein wichtiger Aspekt nicht nur bei Luther, sondern meiner ganzen Arbeit, besteht in der List des Teufels, welche v. a. in der paulinischen Perikope über die geistliche Waffenrüstung ihren Anhalt hat (Eph 6‚11: „zihet an den harnisch Gottis, das yhr bestehen kundt gegen den listigen anlaufft des teuffels“ 152 ), aber schon vom Anfang der Bibel her bekannt ist, wenn die Schlange als listigstes aller Tiere (Gen 3‚1) und als Betrügerin der Eva vorgestellt wird (Gen 3‚13: „Die Schlange betrog mich, sodass ich aß“). Eine weitere Facette in Luthers Liedern ist der Zorn des Teufels, welcher in Offb 12‚12 („Denn der Teufel kommt zu euch hinab und hat einen großen Zorn“) grundgelegt ist und sich in „Vom Himmel kam der Engel Schar“ niedergeschlagen hat; 153 außerdem erscheint der Satan in Anlehnung an den „Verkläger unserer Brüder“ (Offb 12‚10) in Luthers Pfingstlied „Nun bitten wir den Heiligen Geist“ (EG 124/ 4: „Du höchster Tröster in aller Not, / hilf, daß wir nicht fürchten Schand noch Tod, / daß in uns die Sinne nicht verzagen, / wenn der Feind wird das Leben verklagen“). Eine Perikope, die aus Tagzeitengebeten bekannt ist (1Petr 5‚8)‚ 154 findet Widerhall in „Sie ist mir lieb die werte Magd“ („Das thut dem alten Trachen zorn / und wil das kind verschlingen / Sein toben ist doch gantz verlorn / es kan im nicht gelingen“ 155 ). Neben dem Teufel begegnen in dessen textlicher Nähe weitere Referenzketten, die als Indikator für zentrale Textgegenstände fungieren. 156 Bei der Analyse solcher Referenzketten wird deutlich, dass dort, wo der Teufel in Erscheinung tritt, er nie Gegenstand selbstständiger Betrachtung ist, sondern stets in engem Beziehungsgeflecht weiterer Akteure menschlicher wie göttlicher Art erscheint. Auf der menschlichen Seite findet sich in den untersuchten zwölf Gesängen in acht Fällen als zentraler Textgegenstand ein Wir ausgedrückt, in zwei Fällen ein Ich‚ 157 in weiteren zwei Fällen bleibt der Sprecher, der sich durch diese 1. Person 152 WA.DB 7, 206. List als Merkmal des Teufels, z.B.: EG 192.125.138.362; „Ein neues Lied wir heben an“. 153 „laßt zürnen Teufel und die Höll, / Gotts Sohn ist worden eu’r Gesell“ (EG 25/ 4). Der Zorn des Teufels erscheint u.a. in „Sie ist mir lieb die werte Magd“ und „Ein neues Lied wir heben an“. 154 „Seid nüchtern und wacht; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge“ (1Petr 5‚8). 155 HahnL 44. 156 Vgl. Tab. 1 Sp. „Wichtige Textgegenstände“. 157 EG 341; „Sie ist mir lieb die werte Magd“. Die Frage, ob in „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“ ein Ich singt, ist vielfach diskutiert worden, wobei auffällt, dass in Str. 1 noch ein Wir vorausgesetzt wird, das in den folgenden Strophen gegenüber einem „exempla- <?page no="134"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 135 Singular/ Plural ausdrückt, im Hintergrund und stattdessen wird in 3. Person über Menschen berichtet. 158 Eindrücklich ist, dass in keinem der Gesänge Überschneidungen oder Wechsel zwischen Ich- und Wir-Passagen vorliegen, wie es in späteren Jahrhunderten vielfach der Fall sein wird, womit die Klarheit und Verständlichkeit der Lutherchoräle unterstrichen ist. 159 Die häufige Verwendung der 1. Person ist, wie noch zu zeigen sein wird, v. a. für die Identifikation der singenden Gemeinde mit im Text vorfindlichen Akteuren von Bedeutung. Theologisch relevanter ist aber das Überwiegen des Plural - der Reformator konstruiert eine Situation, in der der Mensch nicht allein mit der alten Schlange ringt, sondern in Gemeinschaft mit anderen Gliedern der irdischen kämpfenden Kirche. Dem Teufel begegnen Christen nicht im Vier-Augen-Duell, sondern an der Seite des Christen steht zugleich ein ganzes Heer an Gläubigen. 160 Diesen menschlichen Akteuren tritt aber noch ein göttlicher Partner hinzu. Von den zwölf untersuchten Gesängen sind zwei trinitarisch konzipiert (EG 138.193), zwei Pfingstlieder haben erwartbar als zentralen Textgegenstand den Geist (EG 124.126), drei installieren Gott Vater und Sohn (EG 25.362; „Sie ist mir lieb die werte Magd“). Lieder, in denen v. a. Christus als zentraler Textgegenstand erscheint, liegen mit EG 101.341.192 vor, der Vater hingegen allein nur in „Ein neues Lied wir heben an“. Rechnet man das Auftreten des Sohnes Gottes in diesen Konstellationen zusammen, erscheint er in acht von zwölf Gesängen, der Vater in sieben von zwölf. Deutlich wird daran, dass Lutherlieder Christuslieder sind, wobei Christus in engster Beziehung zum Vater und in dessen Sendung steht, bzw. als Glied der Trinität in Erscheinung tritt - Mensch und Gott, der Christ und sein Christus, sind in den Gesängen des Reformators auf das Engste miteinander verzahnt. Wie engmaschig die Referenz auf Gott und die Gläubigen gestaltet sein kann, zeigt Strophe 7 von „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“: rischen Ich“ völlig in den Hintergrund tritt (vgl. Hahn, Evangelium als literarische Anweisung, 106). 158 „Ein neues Lied wir heben an“; EG 25. 159 Drei Gesängen werden dennoch der komplexen Kommunikationssituation (EG 25.101.362) zugeordnet, was unten ausgeführt wird. 160 Betrachtet man alle 36 Lutherchoräle unter dem Aspekt der Bezeichnung der Gläubigen, lässt sich zeigen, dass in rund 55 % aller Erwähnungen der Gläubigen ein Wir auftritt, zählt man noch andere Pluralbezeichnungen (ihr; sie) hinzu, steigt der Befund auf knapp 2/ 3 (vgl. Veit, Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers, 64-65). Luthers Lieder stellen zu großen Teilen nicht das religiöse Subjekt und seine Privaterbauung in den Mittelpunkt, sondern sind ganz bewusst auf eine gemeinschaftlich-ekklesiologische Dimension hin angelegt. <?page no="135"?> 136 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten „Er [sc. Sohn] sprach zu myr halt dich an mich / Es soll dyr itzt gelingen / Ich geb mich selber gantz fur dich / Da will ich fur dich ringen / Denn ich byn deyn und du bist meyn / Und wo ich bleyb da soltu seyn / Uns soll der feind nicht scheyden“ 161 . Diese Referenzdichte auf den Gläubigen wie seinen Erlöser im Angesicht des Feindes ist auch für Luthers Lieder herausragend, zugleich steht die Strophe beispielhaft für die Verhältnisstruktur zwischen den Akteuren Satan, Christus und Mensch. Der Mensch steht nicht allein dem teuflischen Feind gegenüber, denn Christus selbst, bzw. durch den Vater gesandt, eilt dem Angefochtenen zur Hilfe. Der Teufel versucht, den Menschen vom himmlischen Vater zu entfremden und durch Verdunkelung der Heilsbotschaft das Gottesverhältnis zu trüben, sich zwischen Gott und Mensch zu setzen, wohingegen der Sohn den Blick auf den Heilsbeschluss des Vaters immer neu im Kampf für den Menschen gegen Sünde, Tod und Teufel erringt. 162 Pragmatische Einsichten Inwieweit Luthers Lieder eine Art „protestantischen Exorzismus“ darstellen‚ 163 ist nicht ohne Betrachtung der pragmatischen Gehalte der Gesänge zu beurteilen. Wie dargelegt, ist der dominierende zentrale Textgegenstand das Wir, was ein starker Indikator für Kommunikationssituationen ist, die von einer Gruppe als Sender ausgehen. 164 In neun der zwölf analysierten Texte bestätigt sich dies, indem deutlich eine Gruppe als Sprecher in Erscheinung tritt. 165 Bei „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“ (EG 341) ist die Situation komplizierter, da in Strophe 1 eine Gruppe erkennbar ist, dann aber ein Einzelner in den folgenden neun Strophen von seinem persönlichen Heilsweg berichtet; wenngleich Strophe 1 deutlich macht, dass dieser Weg der Weg aller Teile der Gruppe ist und der Gesang mittelbar auch als Wir-Gesang verstanden werden kann. 166 161 HahnL 19. 162 „Der Teufel steht nach Luther primär nicht neben Gott über dem Menschen, sondern zwischen Gott und dem Menschen, an der Stelle, die ihm von dem ‚Mittler‘ Christus abgerungen wird und um deren Wiedergewinnung er sich immer neu bemüht.“ (Barth, Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers, 208). 163 Vgl. Claussen, Gottes Klänge, 83. 164 Vgl. Veit, Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers, 63-65. 165 Vgl. Tab. 1 Sp. „Simulierte Kommunikationssituation“. 166 Christa Müller referiert zur Einteilung in Ich- und Wir-Gesänge m. E. theologisch treffend: „Wo das ‚Ich‘ mit dem ‚Wir‘ denselben Grund seines Lobliedes hat, da muß eben dieser Grund, nämlich der löbliche und gelobte Gott, so im Mittelpunkt stehen, daß sein heiliger Geist und sein heiliges Wort Ich und Gemeinschaft der Iche zu einer Einheit schafft, die alle Unterschiede zwar nicht aufhebt, wohl aber gemeinsam hinstellt in das Geschehen Gottes, das allen Menschen gilt.“ (Müller, Luthers Lieder, 14). <?page no="136"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 137 „Nun freut euch, lieben Christen g’mein, / und laßt uns fröhlich springen, / daß wir getrost und all in ein / mit Lust und Liebe singen, / was Gott an uns gewendet hat / und seine süße Wundertat; / gar teur hat er’s erworben“ (EG 341/ 1). Ein einzelner Sprecher wird ausschließlich in „Sie ist mir lieb die werte Magd“ in den untersuchten Gesängen simuliert; ebenfalls nur ein einziges Mal wird ein im Hintergrund stehender Sprecher in „Vom Himmel kam der Engel Schar“ (EG 25) darstellt. In keinem der analysierten Gesänge gibt es Wechsel in der Perspektive der Sänger; deutlich werden die eingeführten Akteure durchgehalten, womit neben der wichtigen 1. Person Singular/ Plural ein weiterer wichtiger Punkt gegeben ist, der die Identifikation der singenden Gemeinde mit den textinternen Akteuren erleichtert. Neben den menschlichen Sendern gehören zur Kommunikationssituation auch Empfänger. In der Hälfte der Fälle ist dies ein göttliches Gegenüber, ein euchologischer Modus, welcher - obwohl der Sohn der häufigste zentrale Textgegenstand ist - nie allein Christus darstellt, sondern in einem Gesang wird der Geist angeredet (EG 124), in einem anderen der Vater (EG 344) und in vier Fällen entweder gesammelt oder durch das Lied sukzessive die Trinität‚ 167 womit der Sohn eingebunden ist in innertrinitarische Relationen. Diesen an Gott gewandten Gesängen (euchologischer Modus) gemein ist eine bittende Sprecherhandlung. 168 So singt das „Wir“ in „Gott der Vater steh uns bei“: „Vor dem Teufel uns bewahr, / halt uns bei festem Glauben / und auf dich laß uns bauen, / aus Herzensgrund vertrauen, / dir uns lassen ganz und gar, / mit allen rechten Christen / entfliehen Teufels Listen“ (EG 138). Die Sprecherhandlungen reichen neben dem klassischen Bitten und Flehen aber auch vom Berichten und Bekennen bis zum Loben und Verehren. Die Lieder im euchologischen Modus werden dominiert von einer dem Gebet eigenen Sprechereinstellung, die zwischen Hoffnung und Wunsch, gepaart mit gläubiger Gewissheit, changiert, gelegentlich auch Freude oder Leid mittransportiert. 169 Diese sechs Gesänge setzen allesamt eine gegenwärtige Situation voraus und versuchen, konkrete Ortsbezeichnungen zu vermeiden. 170 Wenige Lokalisationen finden sich in „Vater unser im Himmelreich“, wo sich der Sprecher „auf Erden“ (EG 344/ 4) wiederfindet, und in „Nun bitten wir den Heiligen Geist“, das 167 EG 126.138.192.342. Bei der Litanei könnte man fast einen Christus-Gesang ausmachen, aber es gilt zu bedenken, dass anfänglich nach Kyrie und Christe eleison eine trinitarischen Anrufung erfolgt (vgl. Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 134-135). 168 Vgl. Tab. 1 Sp. „Sprecherhandlung“. 169 Vgl. Tab. 1 Sp. „Sprechereinstellung“. 170 „Luthers theologisches Anliegen [gilt; HH] der Gegenwart. Der ewige Gott […] hilft mitten im Leben“ (Meding, Luthers Gesangbuch, 344-345). <?page no="137"?> 138 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten von „diesem Elende“ (EG 124/ 1) berichtet. Diese Beschreibungen sollten, ähnlich wie die temporalen Verortungen „zu dieser Zeit“ (EG 344/ 3) und „in Leidenszeit“ (EG 344/ 4), hinreichend offen zur Identifikation für die Rezipienten sein. 171 Die weiteren Gesänge, die keinen euchologischen Modus simulieren, sind überwiegend in einer narrativen Kommunikationssituation gehalten, in der ein Einzelner (EG 341; „Sie ist mir lieb die werte Magd“) oder eine Gruppe (EG 101; „Ein neues Lied wir heben an“) über vergangene oder noch im Verlauf befindliche Geschehen einem unbekannten (EG 25) oder konkreten (EG 362) menschlichen Gegenüber berichtet. Wenngleich sich diese Gesänge überwiegend auf Vergangenes beziehen, sind sie dennoch in einer gegenwärtigen Perspektive mit allgemeiner örtlicher Bestimmung konstruiert, womit Identifikation für die singende Gemeinde weithin gewährleistet ist. Die narrative bzw. gruppenbezogene Kommunikationssituation - letztere auch in Verbindung mit paränetischen Momenten (EG 362.341) - ist in den analysierten Gesängen überwiegend von Sprecherhandlungen begleitet, die sich zwischen Berichten/ Bezeugen und dem religiös umfassenderen Bekennen/ Verkündigen bewegen. Daneben lassen sich aber insbesondere in den gruppenbezogenen und paränetischen Passagen Sprecherhandlungen aus dem Bereich des Ermutigens ausmachen. 172 Besonders in „Vom Himmel kam der Engel Schar“ (EG 25), dessen Kommunikationssituation schwierig zu bestimmen ist, was v. a. den Anführungsstrichen der wörtlichen Rede der Weihnachtsengel geschuldet ist‚ 173 lässt sich dieses Nebeneinander von Bekennen und Ermutigen aufzeigen: 171 Dass Luther die Gegenwart simuliert, um den Sängern die Identifikation mit den liedinternen Akteuren zu vereinfachen, ist nicht nur poetisches Gestaltungsmittel, sondern entspringt einem theologischen Grundgedanken. Klaus Röhring schreibt mit Blick auf Luthers Weihnachtsgesänge, was für sein gesamtes Liederwerk gelten darf: „Dabei darf man das kleine Wort ‚heut‘ […] nicht übersehen. Es meint das ‚Heute‘ der damaligen Zeit und unser Heute, denn ‚immer wird Christus geboren zur Welt‘ […], immer, d. h. wenn jene Verkündigung erinnert und damit wiederholt wird. […] Darum erfolgt wieder eine Zeitangabe: ‚nun und ewiglich.‘ ‚Nun‘, das Griechische νῦν, meint das Jetzt, den Augenblick, in dem man diese Botschaft hört. Das ‚ewiglich‘ bezieht sich auf die jetzt beginnende Ewigkeit: […] Jesu Gleichnisse, Jesu Wunder, Jesu Abendmahl sind dieses ‚Nun‘ und ‚ewiglich zugleich.‘“ (Röhring, „Vom Himmel hoch“, 356-357). Jesu Kampf und Sieg über den Teufel ist in diesem Sinne geschehen und geschieht doch alle Tage im Leben der Christen. 172 Z.B.: EG 25.101; „Ein neues Lied wir heben an“; „Sie ist mir lieb die werte Magd“. 173 EG 25/ 1 beginnt mit wörtlicher Rede des Engels und lässt diese mit Str. 2 enden (ebs. EKG 17), danach scheint es, als würde die singende Gemeinde selbst angeredet - Jenny setzt das Ende der wörtlichen Rede nach Str. 6 (vgl. Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 52-53), im Urtext hingegen finden sich keinerlei Interpunktionszeichen, die eine wörtliche Rede ein- oder ausleiten (vgl. HahnL 50). Ich tendiere dazu, die wörtliche Rede der Engel bis zum Ende zu lesen, obgleich die Sprecherhandlungen so intensiv und partnerbezogen er- <?page no="138"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 139 „Was kann euch tun die Sünd und Tod? / Ihr habt mit euch den wahren Gott; / laßt zürnen Teufel und die Höll, / Gotts Sohn ist worden eu’r Gesell. / Er will und kann euch lassen nicht, / setzt ihr auf ihn eu’r Zuversicht; / es mögen euch viel fechten an: / dem sei Trotz, der’s nicht lassen kann“ (EG 25/ 4.5). Diese Sprecherhandlungen gehen einher mit Sprechereinstellungen wie Gewissheit/ Vertrauen/ Glaube, daneben, u.a. bei Ermutigungen der eigenen Gruppe oder anderer, aber auch mit Freude (z.B.: „Ein neues Lied wir heben an“). Eine komplexe Kommunikationssituation, wie sie später häufiger in dieser Arbeit erscheinen wird, findet sich in den untersuchten Gesängen ausgesprochen selten, bzw. in Relation zu vielen anderen Autoren gar nicht - nur sehr wenige Unklarheiten oder Wechsel bei Sender und Empfänger der Kommunikation lassen sich ausmachen. 174 Betrachtung verdient die Art und Weise, wie der Satan in den vorliegenden Gesängen behandelt wird. 175 Nicht die Gemeinde befiehlt dem Satan zu weichen, sondern Gott wird angerufen, um den Feind zu vertreiben - es wird nicht imprekativ in direkte Interaktion mit dem Satan getreten, sondern deprekativ befiehlt sich die Gemeinde Gott an. 176 Damit ist der „Exorzismus“ in Liedern Luthers einer, der die Reform des katholischen Exorzismusformulars schon vorweg genommen hat. 177 Die deprekativ gestalteten Gesänge betrachten den Satan als gegenwärtiges und zukünftiges Übel, gegen das Gott um Hilfe angerufen wird; demgegenüber stehen die berichtenden Passagen über den Teufel, welche ebenfalls den Teufel als eine aktuelle Bedrohung verstehen. Nur in zwei Gesängen scheinen, dass man sie fast zwangsläufig auf sich selbst bezieht, womit ein Endenlassen der wörtlichen Rede in EG 25/ 2 erklärbar wird. 174 In meiner Übersicht ist die komplexe Kommunikationssituation nur dreimal (EG 25.101.362) vermerkt (vgl. Tab. 1 Sp. „Sonstige Bemerkungen“), wobei diese Belege zu relativieren sind. EG 25 erscheint hier, aufgrund der beschriebenen Schwierigkeiten zur wörtlichen Rede, EG 101 ist m. E. komplex durch seine Zeitebenen, die konsequent zwischen Vergangenheit und Gegenwart changieren, EG 362 trägt dieses Prädikat aufgrund der Unklarheit über den Empfänger. 175 Vgl. Tab. 1 Sp. „Sonstige Bemerkungen“. 176 Hier liegt ein Unterschied zu sonstigen Äußerungen Luthers vor. Im Taufbüchlein als Teil der lutherischen Bekenntnisschriften wird sehr wohl vom Liturgen imprekativ gehandelt: „Fahr aus, Du unreiner Geist, und gib Raum dem heiligen Geist. […] Ich beschwere Dich, Du unreiner Geist, bei dem Namen des Vaters + und des Sohns + und des heiligen Geistes +, daß Du ausfahrest und weichest von diesem Diener Jesu Christi, N., Amen.“ (BSLK 538-539). 177 In der nachkonziliaren Fassung des Exorzismus [1999] werden deprekative Formeln den imprekativen vorgezogen, bzw. letztere dürfen nach den neuen Regularien überhaupt nur verwendet werden, wenn sie mit ersteren verbunden sind, um einem naiven Dualismus bei den Gläubigen zu wehren (vgl. Probst/ Richter, Exorzismus oder Liturgie zur Befreiung vom Bösen, 132-137). <?page no="139"?> 140 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten wird der Eindruck vermittelt, als sei die Gestalt des Teufels ein abgelegtes und überwundenes Wesen. In „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“ berichtet ein Einzelner vom Gottessohn und seinem stellvertretenden Todeskampf, womit der Teufel letztlich besiegt sei, und „Ein neues Lied wir heben an“ beschreibt die nicht weit zurückliegende Vergangenheit, bzw. das Fortfahren der am Geschehen Beteiligten. 178 Wesen und Werk An dieser Stelle muss unter Aufnahme des Vorherigen das Wesen und Werk des Teufels, wie es sich in Luthers Liedern darstellt, weiter betrachtet werden. Dazu sind, neben den jeweiligen Synonymen und ihren theologischen und biblischen Hintergründen, v. a. Tätigkeiten, Regungen und weitere Aussagen über den Feind zu untersuchen. 179 Veit hatte in seiner Arbeit eine Verbindung des Satans mit dem Begriff List feststellen können‚ 180 in meiner Untersuchung bestätigt sich diese Beobachtung - List ist eine der häufigsten Zuschreibungen, die der Teufel bei Luther erfährt. Die List ist biblisch eng mit Kriegssemantik verbunden (u.a. Eph 6) und findet in „Ein feste Burg ist unser Gott“ prominente Fortsetzung: „Ein feste Burg ist unser Gott / ein gute Wehr und Waffen. / Er hilft uns frei aus aller Not, / die uns jetzt hat betroffen. / Der alt böse Feind / mit Ernst er’s jetzt meint; / groß Macht und viel List / sein grausam Rüstung ist, / auf Erd ist nicht seinsgleichen“ (EG 362/ 1). 181 Dass Macht und List des Teufels auf Erden unübertroffen sind, ist einerseits eine Anspielung auf Hiob 41‚25‚ 182 wo die furchterregende Gestalt des Leviathan beschrieben wird, andererseits wird damit ausgesagt, dass der Satan keine harmlose Sagengestalt am Rande christlichen Lebens darstellt, sondern als bedrohlicher 178 In der vorletzten Strophe (Str. 11) heißt es: „Noch lassen sie ihr Lügen nicht, den großen Mord zu schmücken“ ( Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 99). Weiter berichtet die letzte Strophe: „Die laß man lügen immerhin“ ( Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 100). Die Beteiligten gehen zwar immer noch ihren Machenschaften nach, aber durch die vorherigen Strophen wird deutlich, dass die entscheidende Schlacht gegen den Feind geschlagen ist. 179 Vgl. Tab. 1 Sp. „Phrase mit Teufel“; „Weitere mit Teufel verbundene Verben“. 180 Vgl. Veit, Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers, 140-142. 181 „List: gehört sprachlich zu dem germanischen Wortstamm ‚lis‘ = ‚wissen‘. Die Verengung des Wortes ‚List‘ auf den heutigen Begriff war zur Zeit Luthers noch nicht eingetreten, es heißt hier ‚viel Wissen‘“ (Schlißke, Handbuch der Lutherlieder, 90). 182 „Auf Erden ist nicht seinesgleichen; er ist ein Geschöpf ohne Furcht“ (Hiob 41‚25). Veit schreibt irrtümlich Hiob 41‚35 (vgl. Veit, Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers, 141). <?page no="140"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 141 Akteur mit „groß Gewalt“ (EG 344/ 3) 183 Einfluss auf die Geschicke von Christ und Kirche nimmt. Worte wie List und Macht, Wehr und Waffen, die in den Bereich der Kriegs- und Kampfmotivik gehören und ein Bedrohungsszenario entwerfen, sind in Lutherliedern, v. a. jenen, die vom Satan handeln, charakteristisch und finden sich neben „Ein feste Burg ist unser Gott“ auch in weiteren mit großer Zahl. 184 Demgegenüber begegnet in „Ein neues Lied wir heben an“ neben der List in Strophe 3 der Begriff des Spieles‚ 185 das der Teufel mit dem Menschen in der Welt treibe, aber dieses Spiel bleibt, wie jede Teufelsbegegnung bei Luther, „todernst“ und endet für die Hauptakteure des Liedes (Augustinermönche) auf dem Scheiterhaufen. Des Teufels List ist also hochwirksam und stellt eine lebensverneinende Macht dar, was die Gemeinde zu deprekativen Wendungen an Gott treibt: 186 „Vor des Teufels Trug und List, / behüt uns, lieber Herre Gott“ (EG 192). 187 In den Gesängen wird die List noch konkreter ausgemalt, u.a. durch den Aspekt der Anfechtung. In der liedhaften Vaterunser-Auslegung, in der dieser Aspekt aufgenommen ist, wird jener eigenwillig mit der Versuchung Gottes verzahnt, als wirkten Gott und Teufel in unbestimmter Weise zusammen am 183 „des Satans Zorn und groß Gewalt zerbrich, / vor ihm dein Kirch erhalt“ (EG 344/ 3). 184 Weit ausgeführt wird das Kämpfen in „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“ (EG 341/ 5-8), in „Christ lag in Todesbanden“ wird gar vom „wunderlichen Krieg, / da Tod und Leben rungen“ (EG 101/ 4) berichtet, in der Litanei darüber hinaus über „Krieg und Blutvergießen“ (EG 192). Das Bild des wunderlichen Krieges (Duellum mirabile) ist ein Vorstellungskomplex, der sich schon bei Origenes, Augustin und Gregor dem Großen aufzeigen lässt und Luther bekannt war, wenngleich er ihn nicht in allen Facetten rezipierte (vgl. Rieske-Braun, Duellum mirabile, 176-177). Eng verbunden mit dem Duellum ist der Gedanke der Überlistung des Teufels. Das „arme Menschlein“, Christus, wird in Menschengestalt vom nichtsahnenden Teufel verschlungen, doch dieser kann jenen sündlosen Gott-Mensch nicht vertragen, verdauen und ihn in seinem Reich und Rachen behalten, sondern muss ihn samt Menschheit wieder freigeben (vgl. Rieske-Braun, Duellum mirabile, 175.253). Wichmann von Meding geht soweit, zu behaupten: „Im entfernteren Sinn scheinen alle Lieder dem Drama nahezustehen, die von Kampf und Ringen singen.“ (Meding, Luthers Gesangbuch, 347). 185 „[Str. 3] Der allte feynd sie fangen lies / erschreckt sie lang mit drewen / Das worrt Gotts er sie leucken hies / mit list auch wollt sie toben / von Louen der Sophisten viel / mit yhrer kunst verloren / Versamlet er zu disem spiel / der geyst sie macht zu thoren / Sie kundten nichts gewynnen […; Str. 5] Des teuffels larven spiel und spott / darynn durch falsche berden / Die wellt er gar betreuget“ (HahnL 8-9). 186 Vgl. Tab. 1 Sp. „Sprecherhandlung“; „Simulierte Kommunikationssituation“. 187 „Des Feindes List treib von uns fern, / den Fried schaff bei uns deine Gnad, / daß wir deim Leiten folgen gern / und meiden der Seelen Schad“ (EG 126/ 5); „Vor dem Teufel uns bewahr, / halt uns bei festem Glauben / und auf dich laß uns bauen, / aus Herzensgrund vertrauen, / dir uns lassen ganz und gar, / mit allen rechten Christen / entfliehen Teufels Listen, / mit Gottes Kraft uns rüsten“ (EG 138). <?page no="141"?> 142 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten menschlichen Leid, was m. E. aber keine tiefere Theorie Luthers dahinter vermuten lassen sollte. 188 „Führ uns, Herr, in Versuchung nicht, / wenn uns der böse Geist anficht; / zur linken und zur rechten Hand / hilf uns tun starken Widerstand / im Glauben fest und wohlgerüst’ / und durch des Heilgen Geistes Trost“ (EG 344/ 7). Offenbar verbalisiert der Reformator eine empirische Beobachtung des christlichen Lebens - eine Not kommt selten allein. Anfechtung ist neben einer dämonischen Grundtätigkeit aber auch eine Reaktion auf das den Menschen verkündigte Heil. In „Vom Himmel kam der Engel Schar“ wird die Geburt des Heilandes vom Engelchor angesagt und damit die Heilsbotschaft den Hirten, proleptisch der ganzen Welt. Dieses Heils- und Gotteswort aber bleibt nicht ohne Antwort auf Seiten der bösen Mächte, sondern löst massive Anfechtungen durch die Feinde des Heilswortes aus: 189 „Er [sc. Gott] will und kann euch lassen nicht, / setzt ihr auf ihn eu’r Zuversicht; / es mögen euch viel fechten an: / dem sei Trotz, der’s nicht lassen kann“ (EG 25/ 5). Neben der Anfechtung findet die List auch eine Konkretisierung im Betrügen‚ 190 v. a. aber im Verklagen: „Du höchster Tröster in aller Not, / hilf, daß wir nicht fürchten Schand noch Tod, / daß in uns die Sinne nicht verzagen, / wenn der Feind wird das Leben verklagen“ (EG 124/ 4). Verklagen bedeutet in diesem Zusammenhang nicht weniger als das Gesetz und dessen Nichteinhaltung, die Sünde, groß und das Evangelium von der Gnade in Christus klein zu machen, bedeutet, den Glauben an Christus und sein Heilswerk zu verdunkeln und den armen Sünder in Angst und Verzweiflung zu treiben. Das Ziel dieses Verklagens hat Luther in „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“ ausgedrückt, es besteht im Gefangennehmen und im Scheiden von Gott und Christus. 191 „Dem Teufel ich gefangen lag, / im Tod war ich verloren, / mein Sünd mich quälte Nacht und Tag, / darin ich war geboren. / Ich fiel auch immer tiefer drein, / es war kein Guts am Leben mein, / die Sünd hatt’ mich besessen […] Er [sc. Christus] sprach zu mir: Halt dich an mich, / es soll dir jetzt gelingen; / ich geb mich selber ganz für dich, 188 Im Kleinen Katechismus sind Gott und Teufel wie gewohnt klar geschieden: „Die sechste Bitte. Und fuhre uns nicht in Versuchung. Was ist das? Antwort. Gott versücht zwar niemand, aber wir bitten in diesem Gebet, daß uns Gott wollt behüten und erhalten, auf daß uns der Teufel, die Welt und unser Fleisch nicht betriege und verführe in Mißglauben, Verzweifeln und ander große Schande und Laster und, ob wir damit angefochten würden, daß wir doch endlich gewinnen und den Sieg behalten.“ (BSLK 514). 189 Vgl. Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 54. 190 Z.B.: „Ein neues Lied wir heben an“. 191 Ähnlich: „Ein neues Lied wir heben an“. <?page no="142"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 143 / da will ich für dich ringen; / denn ich bin dein und du bist mein, / und wo ich bleib, da sollst du sein, / uns soll der Feind nicht scheiden“ (EG 341/ 2.7). Dieses Scheiden von Gott führt hinein in die letzte Dimension allen dämonischen Wirkens, der Teufel bezweckt den ewigen Tod des Sünders, was vom Reformator nicht selten als ein Einverleiben, bzw. Verschlingen/ Fressen dargestellt wird. „Vergießen wird er mir mein Blut, / dazu mein Leben rauben; / das leid ich alles dir zugut, / das halt mit festem Glauben. / Den Tod verschlingt das Leben mein, / mein Unschuld trägt die Sünde dein, / da bist du selig worden“ (EG 341/ 8). 192 Der Teufel ist, obgleich er gezielt und listig agiert, überaus gefühlsgeladen in Luthers Gesängen dargestellt, v. a. ansichtig der Heilstaten Christi und des eigenen erfolglosen Mühens wird er als zorniges Wesen beschrieben. Dieses Mühen und Versagen gegenüber Christi Macht ist farbenreich in Strophe 3 von „Sie ist mir lieb die werte Magd“ ausgeführt, in welcher die Frau mit dem neugeborenen Kinde dem wütenden und zürnenden Tier begegnet: „Das tut dem alten Drachen Zorn; / er will das Kind verschlingen. / Sein Toben ist doch ganz verlorn; / es kann ihm nicht gelingen. / Das Kind ist doch gen Himmel hoch / genommen hin und lässet ihn / auf Erden gar sehr wüten“ 193 . Der Teufel greift die Kirche und ihren Herrn an‚ 194 aber es gelingt ihm nicht, dauerhafte Schadwirkung zu entwickeln, so dass Toben, Wüten und Zürnen sukzessive zunehmen und immer mehr dessen Wesen bestimmen. 195 „Ein feste Burg ist unser Gott“ weist ebenfalls darauf hin, dass der Teufel sich zwar vor Wut gebärdet, aber dass dies Gebärden eines Verlierers sind: „Der Fürst dieser Welt, / wie sau’r er sich stellt, / tut er uns doch nicht; / das macht, er ist gericht’: / ein Wörtlein kann ihn fällen“ (EG 362/ 3). 196 Insbesondere das Inkarnationsgeschehen als Beginn der Satansentmachtung und Heilsverkündigung treibt den Teufel zu größtem Zorn: „Was kann euch tun die Sünd und Tod? / Ihr habt mit euch den wahren Gott; / laßt zürnen Teufel und die Höll, / Gotts Sohn ist worden eu’r Gesell“ (EG 25/ 4). Wieder ist es das Evangelium, das Wort vom Heil, das zugleich Anfechtung und Zorn Satans gebiert. 192 Ähnlich: EG 101.193; „Sie ist mir Lieb die werte Magd“; „Ein neues Lied wir heben an“. 193 Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 143-144. 194 Diese Deutung legt die ursprüngliche Überschrift im Urtext nahe: „Ein lied von der Heiligen Christlichen Kirchen“ (HahnL 43). 195 „[Str. 4] den allten feynd das seer verdros / das er war uberwunden / von solchen iungen / er so gros / er ward voll zorn / von stunden / Gedacht sie zuversprennen“ (HahnL 9). 196 Ähnlich: EG 344. <?page no="143"?> 144 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Die entscheidende Erkenntnis über den Teufel in Luthers Liedern ist m. E., dass dieser nicht als Einzelkämpfer auftritt, sondern sich einreiht in eine unheilige Trias von Sünde, Tod und Teufel, eine dämonische Dreieinigkeit. Nicht immer stehen die Begriffe so rhythmisch nebeneinander im Text, aber wo einer der Begriffe textlich installiert ist, tritt mit erwartbarer Wahrscheinlichkeit mindestens ein weiterer der Begriffe hinzu. Eng verbunden wird das „dämonische Dreigestirn“ z.B. in „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“ dargestellt: „Dem Teufel ich gefangen lag, / im Tod war ich verloren, / mein Sünd mich quälte Nacht und Tag, / darin ich war geboren. / Ich fiel auch immer tiefer drein, / es war kein Guts am Leben mein, / die Sünd hatt’ mich besessen“ (EG 341/ 2). 197 In den folgenden Strophen dieses Gesanges wird es wegen der engen Vernetzung dieser Akteure immer weniger möglich, zu bestimmen, ob vom Tod, der Sünde oder dem Teufel gesungen wird. 198 Der Teufel ringt mit Christus auf Leben und Tod und wäre offenbar im Stande, sofern er siegte, Christus und seine Gläubigen zu trennen, wenngleich Christus siegesgewiss zum Gläubigen spricht: „uns soll der Feind nicht scheiden“ (EG 341/ 7). Der Kampf und Krieg Christi mit Teufel, Tod und Sünde ist in Luthers Liedern der letzte Kampf um die Herrschaft über die Seelen der Gläubigen und die Welt. Entsprechend ist das Anliegen der unheiligen Trinität damit erfasst, dass sie „Jesus Christus, deinen [sc. Gottes] Sohn, wollen stürzen von deinem Thron“ (EG 193/ 1) 199 . Tod und Teufel werden, wie beschrieben, als verzehrende Schlünde vorgestellt, die Christus und das Leben zu verschlingen suchen. 200 Der Gottessohn wendet die Stoßrichtung ins Entgegengesetzte: „Den Tod verschlingt das Leben mein, / mein Unschuld trägt die Sünde dein, / da bist du selig worden“ (EG 341/ 8). Die Vorstellung vom Tod verschlingenden Gottessohn ist 1529 in Luthers Großen Katechismus eingegangen: „Und dies alles darümb, daß er mein HERR würde. Denn er fur sich der keines getan noch bedurft hat. Darnach wieder aufgestanden, den Tod verschlungen und gefressen 197 Ähnlich enge Verbindungen z.B.: EG 25.138.192.344. 198 EG 341/ 7.8: „uns soll der Feind nicht scheiden. […] / Vergießen wird er mir mein Blut, / dazu mein Leben rauben; / das leid ich alles dir zugut, / das halt mit festem Glauben. / Den Tod verschlingt das Leben mein, / mein Unschuld trägt die Sünde dein, / da bist zu selig worden.“ 199 Die Feinde in „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ sind eine nachträgliche Änderung gegenüber der ursprünglichen Lesart „die zween Ertzfeinde Christi und seiner heiligen Kirchen / den Babst un Türcke“ (HahnL 53). 200 In „Sie ist mir lieb die werte Magd“ heißt es: „Das thut dem alten Trachen zorn / und wil das kind veschlingen / Sein toben ist doch gantz verlorn / es kan im nicht gelingen“ (HahnL 44). Neben Christus will der Teufel auch die Gläubigen verschlingen: „Und wenn die Welt voll Teufel wär / und wollt uns gar verschlingen“ (EG 362/ 3). <?page no="144"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 145 und endlich gen Himmel gefahren und das Regiment genommen zur Rechten des Vaters, daß ihm Teufel und alle Gewalt muß untertan sein und zu Füßen liegen, solang bis er uns endlich am jüngsten Tage gar scheide und sondere von der bösen Welt, Teufel, Tod, Sunde etc.“ 201 Dass Teufel, Sünde und Tod eng verbunden agieren, wird auch in „Christ lag in Todesbanden“ beschrieben, denn der „Würger“ (EG 101/ 5) als „Todesengel und Exekutionsvollstrecker“ Gottes, wird durch das Blut Christi im übertragenen Sinne an den Türen der Gläubigen vorbeigeleitet, wie einst der Würgeengel in Ex 12: „Hier ist das recht Osterlamm, / davon wir sollen leben, / das ist an des Kreuzes Stamm / in heißer Lieb gegeben. / Des Blut zeichnet unsre Tür, / das hält der Glaub dem Tod für, / der Würger kann uns nicht rühren“ (EG 101/ 5). Christi Blut ist hier das Mittel, das die Sündenschuld der Gläubigen zudeckt und abwäscht und damit die Todesfolge abwendet. Ganz im biblischen Denken gebunden, geht Luther davon aus, dass Sünde den Tod zum Sold hat (Röm 6‚23), der Teufel wiederum aber zur Sünde reizt und letztendlich als Herr des Todes eingesetzt ist (Hebr 2‚14) 202 - die Trias bildet ein dämonisches Netz und Relationsgefüge. Trotz der Wirkmächtigkeit und Engmaschigkeit ist die Trias der Verderbensmächte gegenüber Tod und Auferstehung Christi beim Reformator erfolglos, wie eindrücklich „Vom Himmel kam der Engel Schar“ ausmalt: „Was kann euch tun die Sünd und Tod? / Ihr habt mit euch den wahren Gott; / laßt zürnen Teufel und die Höll, / Gotts Sohn ist worden eu’r Gesell. / Er will und kann euch lassen nicht, / setzt ihr auf ihn eu’r Zuversicht“ (EG 25/ 4.5). Sünde, Tod und Teufel haben zwar immer noch in der Gegenwart eine Wirkung auf die Welt und ängstigen in ihrem Wüten die Gemeinde, dennoch ist durch das Christusgeschehen der Krieg und Kampf zwischen Tod und Leben der Sache nach zugunsten des Letzteren entschieden. 203 201 BSLK 652-653. Das Verschlingen des Todes ist als eschatologische Erwartung schon in Jes 25‚8, Hos 13‚14 und 1Kor 15‚54 vorgezeichnet. 202 Hebr 2‚14: „Weil nun die Kinder von Fleisch und Blut sind, hat auch er’s gleichermaßen angenommen, damit er durch seinen Tod die Macht nähme dem, der Gewalt über den Tod hatte, nämlich dem Teufel“. 203 Spitta erwähnt ebenfalls die breite gegenwärtige Wirksamkeit des Satans in Luthers Liedern, beachtet aber m. E. zu wenig den Sieg über den Teufel: „Während der Teufel in der vorreformatorischen Dichtung nur als Herr der Hölle in Betracht kommt, dem diejenigen überliefert werden, die nicht selig gestorben sind, so erscheint er bei Luther als der, gegen dessen Versuchungen ‚zu Mißglauben und Verzweiflung‘ man zu kämpfen hat, seine Listen mit den Waffen Gottes, von denen Paulus Eph. 6 spricht, besiegend und also <?page no="145"?> 146 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten „Der Teufel kommt also zum Christen als einer, der aus der Macht Christi schon gerichtet ist. Er ist daher in dem gleichen Augenblick ein Nichts, das nicht Grauen, sondern nur Spott und Verachtung wecken kann, wo ihm der Mensch aus dem Glauben an das Evangelium heraus zu begegnen vermag.“ 204 Sünde und Tod haben ihren Schrecken verloren, die Gemeinde kann vertrauensvoll zu Christus rufen: „Jesus Christus steh uns bei / […] mach uns aller Sünden frei / und helf uns selig sterben. / Vor dem Teufel uns bewahr, / halt uns bei festem Glauben / und auf dich lass uns bauen, / aus Herzensgrund vertrauen“ (EG 138/ 2). Der Tod ist zwar ein mit Angst verbundener Zeitpunkt, doch ist in Christus die Macht, trotz der Anfeindungen durch Sünde, Tod und Teufel, den Gläubigen vor unvorbereitetem „bösem, schnellem Tod“ sowie „vor dem ewigen Tod“ (EG 192) zu bewahren. 205 Luther macht durch seine Lieder deutlich, dass die Verheißung von Gen 3‚15 und dem Schlangentritt mit Christus erfüllt ist‚ 206 er ist der Überwinder von Sünde, Tod und Teufel‚ 207 er gibt der alten Schlange den finalen Todestritt. 208 Detailbetrachtung - „Ein neues Lied wir heben an“ Der Gesang ist der wohl Umfassendste, was die gedankliche Entfaltung einer hymnischen Satanologie bei Luther betrifft‚ 209 wenngleich eher unbekannt - weder fand er im EKG noch im EG einen Platz und zählte auch vorher nicht zu in festem Glauben, Trauen, Bauen, Verlassen auf die Gnade zur Seligkeit bewahrt wird.“ (Spitta, „Ein feste Burg ist unser Gott“, 271-272). 204 Hirsch, Das Wörtlein, das den Teufel fällen kann, 96. 205 Die Bewahrung vor einer unvorbereiteten Todesstunde war für Luther ein sehr wichtiges Anliegen - der Kleine Katechismus erläutert dazu: „Die siebende Bitte. Sondern erlöse uns von dem Ubel. Was ist das? Antwort. Wir bitten in diesem Gebet als in der Summa, daß uns der Vater im Himmel von allerlei Ubel Leibs und Seele, Guts und Ehre erlöse und zuletzt, wenn unser Stündlin kommpt, ein seliges Ende beschere und mit Gnaden von diesem Jammertal zu sich nehme in den Himmel.“ (BSLK 514-515). 206 Gen 3‚15: „Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen“. 207 Z.B.: EG 362; „Ein neues Lied wir heben an“. 208 „Allen Ärgernissen wehren, / alle Irrenden und Verführten wiederbringen, / den Satan unter unsere Füße treten, / erhör uns, lieber Herre Gott“ (EG 192). 209 „Eyn newes lyed wyr heben an enthält die meisten dieser Ausdrücke [sc. zum Teufel] und kann als Beispiel dafür dienen“ (Veit, Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers, 141). <?page no="146"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 147 im Gesangbuchkanon notwendig vertretenen Lutherliedern. 210 „Ein neues Lied wir heben an“ gilt mit Leerstellen als das älteste Lutherlied: 211 „Es ist nur soviel sicher, daß diese Ballade nach dem Bekanntwerden des Ereignisses vom 1. Juli 1523, etwa Anfang August 1523, entstanden sein muß. Luther folgt hier dem Brauch der Zeit, welche es liebte, bedeutsame Ereignisse in der Form des später so genannten historischen Volksliedes bekannt zu machen.“ 212 Das besagte Ereignis wird durch die ursprüngliche Überschrift benannt: „Eyn new lied von den zweyen Merterern Christi / zu Brussel von den Sophisten zu Louen verbrand.“ 213 Es geht um den Tod der ersten lutherischen Blutzeugen, der Antwerpener Augustiner-Eremiten und Ordensbrüder Luthers, Henricus Vos und Johannes van den Esschen. 214 „The execution of adherents of his views left a deep impression on Martin Luther. […] He was well aware that others had undergone what his enemies wished to see happen to him.“ 215 Als Zeitlied wird in freudigen Tönen vom Anbrechen der neuen Zeit unter dem rechten Wort Gottes berichtet. 216 Es darf im Ganzen als Lobpreis Gottes gelesen werden: 217 „Das Lied zeigt eindeutige Parallelen mit den Märtyrer-Hymnen der ersten Jahrhunderte der Kirche.“ 218 „[Str. 8] Mit freuden sie sich gaben dreyn [sc. ins Feuer] / mit Gottes lob und singen / Der mut ward den Sophisten kleyn / fur disen newen dingen / Da sich Gott lies so mercken“ 219 . 210 Im Klugschen Gesangbuch von 1529 beschloss der Gesang die Gruppe der Katechismusgesänge (vgl. Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 101). 211 Friedrich Spitta bestreitet, dass es das älteste Lutherlied sei: „Dieses Lied […] hat nichts, was darauf hinweisen könnte, daß wir hier das erste Lied Luthers vor uns hätten“ (Spitta, „Ein feste Burg ist unser Gott“, 276). 212 Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 100-101. Das Incipit „Ein newes lied wir heben an“ gilt zu Luthers Zeit als volkstümliche Textphrase in Erzählliedern (vgl. Akerboom, „Ein neues Lied wir heben an“. Über die ersten Märtyrer, 71). 213 HahnL 8. Einige Frühdrucke fügen an: „Geschehen im iar 1523“ (HahnL 8). 214 Vgl. Akerboom, „Ein neues Lied wir heben an“. Over de eerste martelaren, 43. 215 Akerboom, „Ein neues Lied wir heben an“. Over de eerste martelaren, 43. 216 „[Str. 12] Der Sommer ist hart vor der Tür, der Winter ist vergangen“ ( Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 100). 217 „[Str. 1] Zu singen was Gott hatt gethan / zu seynem lob und ehre“ (HahnL 8). 218 Akerboom, „Ein neues Lied wir heben an“. Über die ersten Märtyrer, 76. 219 HahnL 10. Schlißke deutet „Gottes lob und singen“ als Te Deum und Credo (vgl. Schlißke, Handbuch der Lutherlieder, 116). <?page no="147"?> 148 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Dass Luther das besungene Ereignis neben der Trauer um seine Ordensbrüder v. a. in diesem hymnisch-freudigen Sinn als Märtyrergeschichte verstanden hat, beweist v. a. ein zeitgleicher Brief des Reformators. 220 Viele Diskussionen kreisen um die ursprüngliche Textfassung (zehn oder zwölf Strophen) - ich beziehe mich im Folgenden auf die zwölfstrophige Fassung‚ 221 zu der Dick Akerboom eine m. E. sinnvolle Gliederung und kurze Inhaltsangabe eingerichtet hat: „Die erste Gruppe des ersten Teils (der erste und der zweite Vers) stellt die Helden des Liedes vor; die zweite Gruppe (der dritte und vierte Vers) beschreibt ihre Befragung. Die erste Gruppe des zweiten Teils (der fünfte und sechste Vers) berichtet von der Ausstoßung der beiden jungen Mönche aus dem Augustiner-Orden; die zweite Gruppe (der siebente und achte Vers) vom schriftlichen Bekenntnis der beiden exkommunizierten Männer und von ihrer Verurteilung zum Scheiterhaufen. Die erste Gruppe des dritten Teils (der neunte und zehnte Vers) berichtet vom Scheitern des Versuchs, die Ereignisse herabzuwürdigen; die zweite Gruppe (der elfte und der zwölfte Vers) vom Scheitern des Versuchs, das Ereignis durch falsche Behauptungen zu rechtfertigen.“ 222 Der Hinweis, dass es sich um ein „Zeitlied“ 223 , einen aktuellen Ereignisbericht, handelt, nimmt einige Analyseergebnisse der pragmatischen Betrachtung vorweg. Zu Ereignisbeschreibungen gehören Sprecherhandlungen, die berichten 220 In „Ein Brief an die Christen in Niederland. 1523“ preist Luther die Kraft und Gewalt des Evangeliums und wertet, wie in der letzten Strophe des Liedes, dieses Ereignis als Heraufziehen einer neuen Zeit unter dem Wort Gottes: „Lon und danck sey dem vatter aller barmhertzickeyt, der uns zu dißer zeyt widderumb sehen lesst seyn wunderbares liecht, wilchs bis her umb unser sund willen verborgen gewest, uns der grewlichen gewallt der finsternis hat lassen unterworfen seyn und so schmelichen yrren und dem Antichrist dienen. Aber nun ist die zeyt widder komen, das wir der dordel tauben stym hören und die blimen auffgehen ynn unserm land. […] Er [sc. Gott] hat uns da frissch newe exempel seyns lebens fur gebildet. Nu ists zeyt, das das reych gotts nicht ynn wortten sondern ynn der krafft stehe.“ (WA 12, 77-78). 221 Jenny geht davon aus, dass das Lied ursprünglich nicht über Str. 9 und 10 verfügte und jene Strophen eigentlich als Ersatz für Str. 11 und 12 gedacht waren (vgl. Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 101; ebs. vgl. Schlißke, Handbuch der Lutherlieder, 117-118). Ich folge dennoch Dick Akerboom, der m. E. einleuchtend zeigt, dass die Widersprüche zwischen Str. 9.10 und Str. 11.12 nach Meinung Jennys nicht zwangsläufig Widersprüche sein müssen, sondern als bewusste Gesamtkomposition gelesen werden können - auch Johann Walter nahm die zwölfstrophige Fassung 1524 in sein Chorgesangbuch auf (vgl. Akerboom, „Ein neues Lied wir heben an“. Über die ersten Märtyrer, 76-78). Die Zitation erfolgt nach der Fassung von Hahn (vgl. HahnL 8-12) und ergänzend der modernisierten von Jenny (vgl. Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 97-101). 222 Akerboom, „Ein neues Lied wir heben an“. Über die ersten Märtyrer, 78. 223 Die Begrifflichkeit „Zeitlied“ findet v. a. bei Gerhard Hahn Anwendung (vgl. Hahn, Evangelium als literarische Anweisung, 106-109), Christa Müller ordnet das Lied unter Streit- und Bekenntnislieder (vgl. Müller, Luthers Lieder, 86-87). <?page no="148"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 149 und bekennen/ verkünden, daneben finden sich in diesem Fall aber auch tröstende und ermutigende. Dies korrespondiert mit Sprechereinstellungen, die eine Überzeugung und ein Vertrauen/ Glauben auf die Wahrheit der beschriebenen Ereignisse erkennen lassen - wo eine Ermutigung beim Empfänger bezweckt ist, lassen sich zusätzlich Aspekte von Freude und Hoffnung als Einstellung erkennen. 224 Die Kommunikationssituation ist relativ einfach gehalten, eine Gruppe teilt das vergangene Ereignis mit („[Str. 1] Ein neues Lied wir heben an, das walt Gott unser Herre“ 225 ), das aufgrund seines kurzen zeitlichen Abstandes noch eine Wirkung bis in die Gegenwart hinein entfaltet („[Str. 11] Noch lassen sie ihr Lügen nicht […; Str. 12] Die laß man lügen immerhin“ 226 ). Neben dem narrativen Modus sind in der ersten und letzten Strophe paränetische Dimensionen enthalten, indem sich die Sprecher dort an ein unbestimmtes „man“ und die eigene Gruppe richten mit dem Aufruf zum Bericht und Lob Gottes. 227 Aufgrund der Retrospektive ist der Teufel nicht Gegenstand exorzistischen Wirkens der singenden Gemeinde, sondern Teil einer heilsgeschichtlichen Reflexion und des Vergangenheitsberichtes. 228 Dennoch weiß die singende Gemeinde, dass jeder einer dieser Mönche hätte sein können: „Christen singen […] in der Rolle der Zuschauer, um die es doch bei dem Kampfe geht.“ 229 Hauptakteure und zentrale Textgegenstände sind entsprechend nicht die Sänger selbst (Str. 1.12), sondern die Ordensbrüder ( Johannes und Heinrich) und Gott auf der einen Seite, auf der 224 Vgl. Tab. 1 Sp. „Sprecherhandlung“; „Sprechereinstellung“. Es mag verwundern, dass der Reformator trotz der bedrückenden Nachrichten aus Brüssel und der Perspektive, dass ihm selbiges droht, mit Freude und ermutigenden Worten singen lässt. Krummacher weist darauf hin, dass Luther schon 1519 auf der Leipziger Disputation eine bemerkenswerte Bestimmung dessen trifft, was unter dem neuen Lied, zu dem die Psalmen (z.B.: Ps 40.96) aufrufen, zu verstehen sei, nämlich eben kein Lied eines Gläubigen, der sich in allen Lebensbereichen als sorgenfrei empfindet, sondern das Lied eines Angefochtenen, der die frohe Gewissheit der Rechtfertigung mit in diese Anfechtungen hineinnimmt - bis hinein in den Märtyrertod (vgl. Krummacher, „Ein neues Lied wir heben an“, 166-168; ebs. vgl. Weymann, Was macht ein Lied zum „neuen Lied“? , 165). 225 Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 97. 226 Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 99-100. 227 „[Str. 12] Die laß man lügen immerhin; sie haben’s keinen Frommen. Wir sollen danken Gott darin; sein Wort ist wiederkommen“ ( Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 100). 228 Vgl. Tab. 1 Sp. „Sonstige Bemerkungen“. 229 Meding, Luthers Gesangbuch, 355. <?page no="149"?> 150 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten anderen die „Sophisten“ 230 und der Teufel‚ 231 welche jeweils als Prototypen für die reformatorische Bewegung sowie Kaiser und Papstkirche stehen. 232 Die enge Verknüpfung von Teufel und Sophisten bereitet beim Aufstellen der Referenzkette Schwierigkeiten; nicht unbedingt grammatisch, wohl aber logisch fällt es schwer, die Akteure im Einzelnen zu trennen. Ein Erklärungsansatz für diese Verbindung liegt im religiösen und volkstümlichen Theater und Schauspiel des Spätmittelalters am Übergang zur frühen Neuzeit, das auch terminologisch in „Ein neues Lied wir heben an“ Aufnahme gefunden hat. Die Begriffe „Spiel“ (Str. 3), „Larvenspiel und Spott“ (Str. 5), „Bärden“ (Str. 5), aber auch Passagen wie „Sie sangen süß, sie sangen sauer“ (Str. 4) oder „Sie geben vor ein falsch Gedicht“ (Str. 11) deuten nach Wichmann von Meding darauf hin, dass das Lied als spätmittelalterliches Schauspiel zu verstehen ist. „[Der; HH] Fundamentalvorgang heißt ‚spiel‘, das Spiel des alten Feindes gegen den ‚zu thoren‘ machenden Geist (Str. 3). Dieses Spiel ist nach damaliger Begrifflichkeit eine Komödie (gut ausgehend). Wenig später wird ausdrücklich von ‚des Teuffels larven spiel und spot‘ gesungen (5.7). Larve ist die Theatermaske. […] Die Komödie ist ein Gaunerstück. Das Tribunal zu Brüssel und seine beiden Feuer (8.1) bilden Bühne und Dekoration für des Teufels Larvenspiel, das mit Gott Spott treibt. Gottes Geist aber stellt die Inszenierung auf den Kopf (3.8). Er macht die Knaben zur unüberwindlichen Mauer (4.3 u. 6), er wandelt die verurteilten Ketzereien in ein amtlich verkündetes Credo (Str. 7). Das Spottheater des Teufels (5.7) gerät unter Gottes Regie und wird zum Freudenfest ‚mit Gottes lob und singen‘ (8.6).“ 233 Der Teufel selbst hat sich die Sophisten („Löwener Larven“ 234 ) zu Helfershelfern erwählt und lenkt sie an unsichtbaren Fäden nach seinen Zwecken - hinter den Sophisten, die in der gesamten Angelegenheit mit List und Lüge operieren, steht im Letzten die List des Feindes. 235 Dass der Feind die Sophisten, Vertreter von 230 Schlißke erinnert daran, dass der Begriff „Sophisten“ zu Luthers Zeit und in konfessioneller Polemik verbreitet war: „In den Bekenntnisschriften werden als Sophisten diejenigen bezeichnet, welche die Lehre verfälschen (114‚7 und 227‚26), die nichts von der Erbsünde verstehen (153‚32 und 864‚60) und den rechten Glauben nicht kennen (225‚214; 250‚59 und 396‚68)“ (Schlißke, Handbuch der Lutherlieder, 120). 231 Vgl. Tab. 1 Sp. „Koreferenzkette Teufel“; „Wichtige Textgegenstände“; ebs. vgl. Akerboom, „Ein neues Lied wir heben an“. Über die ersten Märtyrer, 79-80). 232 Vgl. Schlißke, Handbuch der Lutherlieder, 114-116. Dies steht auch Luther in erwähntem Brief von 1523 vor Augen: „Und ob wol die widersacher diße heyligen werden hussitisch, Viglephisch und Lutherisch aus schreyen, und sich yhres mors rhumen, soll uns nicht wundern, sondern deste mehr stercken, denn Christus Creutz muss lesteres haben.“ (WA 12, 79). 233 Meding, Luthers Gesangbuch, 345. 234 Meding, Luthers Gesangbuch, 346. 235 Vgl. Meding, Luthers Gesangbuch, 354. <?page no="150"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 151 Theologie und Kirche, dirigiert, ist eine bei Luther häufige Denkfigur: „Teufel sind […] nicht nur in der ‚Welt‘, sondern auch in der ‚Kirche‘, nicht nur in den Gedanken der ‚Gottlosen‘, sondern auch bei den sogenannten Christen […] wirksam.“ 236 Dieses Verständnis ist für die Gesamtheit der Lieder bedeutsam - zwar gibt es menschliche Feinde, aber der eigentliche Feind, der hinter den „zween Ertzfeinde Christi und seiner heiligen Kirchen / […] Bapst un Tuercke etc.“ 237 steht, ist und bleibt Satan. „Menschliche Christusgegner an sich sind unwichtig, da sie nur die ‚groß Macht und viel List‘ repräsentieren, mit denen der alt böse Feind grausam gerüstet ist“ 238 . Die enge Verbindung zwischen Teufel und Sophisten wird besonders deutlich, wenn man deren Wesen und Werk genauer betrachtet. In Anlehnung an Offb 12‚12 werde diese transzendenten wie immanenten Akteure mit dem Zorn in Verbindung gebracht. Diese Regungen des alten Feindes, sein Zorn und Verdruss, schlagen voll in Handlungsweisen seiner Helfer durch, weshalb die wutgetriebenen Sophisten die beiden Mönche lebendig den Flammen übergeben: „[Str. 4] Sie sungen sus sie sungen saur / versuchten manche listen / die knaben stunden wie eyn maur / verachten die Sophisten / Den allten feynd das seer verdros / das er war uberwunden / Von solchen iungen / er so gros / er ward voll zorn / von stunden / Gedacht sie zuverprennen“ 239 . Der Zorn des Teufels und seiner Helfer kommt nicht von ungefähr, sondern generiert sich aus der Darstellung der reformatorischen Bewegung in Gestalt der Mönche, welche Gottes Wundermacht vertrauen („[Str. 1] wohl durch zwei junge Knaben hat er sein Wunder macht bekannt“ 240 ) und seinem Wort gehorsam und mit Glaubensheiterkeit bis in den Tod hinein folgen. Das „Wort“ ist der entscheidende Punkt der lutherischen Satanologie‚ 241 auf den ich beim Deckblatt des Babstschen Gesangbuches [1545] hingewiesen habe: „Viel falscher Meister itzt Lieder tichten / Sihe dich für, und lern sie recht richten / Wo Gott hin bawet sein kirch und sein wort / Da wil der Teuffel sein mit trug und mord.“ 242 Der 236 Müller, Luthers Lieder, 89. 237 HahnL 53. 238 Meding, Luthers Gesangbuch, 355. 239 HahnL 9. Der Zorn des Teufels drückt sich auch in seinem Schrecken und Toben aus: „[Str. 3] Der alte feynd sie fangen lies / erschreckt sie lang mit drewen / Das wortt Gotts er sie leucken hies / mit list auch wollt sie toben“ (HahnL 8-9). 240 Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 97. 241 „[Str. 2] recht wie die frommen Gotteskind für sein Wort sind gestorben; […; Str. 3] Das Wort Gotts er [sc. Satan] sie leugnen hieß, mit List auch wollt sie täuben; […; Str. 12] Wir sollen danken Gott darin; sein Wort ist wiederkommen“ ( Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 97-100). 242 HahnL XXXI. <?page no="151"?> 152 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Teufel wird dort aktiv, wo das reine Wort des Evangeliums hörbar wird: „Wo immer sich ein Mensch zu Gottes Sache bekennt, da wird, ja, da kann er nicht unangefochten bleiben. […] An Gottes Wort scheiden sich die Geister“ 243 . Das gesamte Werk und Wesen des Satans in „Ein neues Lied wir heben an“ ist darauf ausgerichtet, diese Botschaft in Zweifel zu ziehen und zu verdunkeln. Der Vierzeiler berichtet vom „Trug“ als Waffe des Feindes - Trug und List sind auch die Methode und Haupttätigkeit des Feindes gegen das offene Bekenntnis der Ordensmänner. 244 Das ganze Lied durchzieht eine Spur von List, Lug und Trug, die vom „alten Feind“ (erste Erwähnung in Referenzkette) 245 initiiert ist und in den durch ihn geführten Sophisten Gestalt gewinnt: „[Str. 3] Das Wort Gotts er [sc. Teufel] sie leugnen hieß, mit List auch wollt sie täuben […; Str. 4] Sie [sc. Sophisten] sangen süß, sie sangen saur, versuchten manche Listen […; Str. 5] des Teufels Larvenspiel und Spott, darin durch falsche Bärden die Welt er gar betrüget […; Str. 7] der Mensch lügt und trügt immerdar, dem soll man nichts vertrauen […; Str. 11] Noch lassen sie ihr lügen nicht, den großen Mord zu schmücken; Sie geben vor ein falsch Gedicht […; Str. 12] Die laß man lügen immerhin“ 246 . Luther bleibt mit seinen Beschreibungen der satanischen Tätigkeiten ganz am biblischen Text, denn List, Lüge und Trug sind nach Joh 8‚44 Abkömmlinge vom „Vater der Lüge“, des Teufels. Der gleiche Vers, in dem der Teufel als „Mörder von Anfang an“ benannt wird, deutet zugleich die enge Verbindung von Lüge und Mord an, den die Bekenner schlussendlich erleiden - das Ziel aller Teufelswerke ist der leibliche und ferner der ewige Tod. „[Str. 10] Die aschen will nicht lassen ab / sie staubt ynn allen landen / […] sie macht den feynd zu schaden / Die er ym leben durch den mord / zu schweygen hat gedrungen / Die mus er tod an allem ort / mit aller stym und zungen / gar frolich lassen singen“ 247 . Der ewige Tod wird in diesem Fall als Ziel verfehlt, stattdessen bewirkt der Tod das völlige Gegenteil. Das Sterben der Mönche bedeutet das Leben, ihr Sterben ist die fröhliche Proklamation der Rechtfertigung und Auferstehung allen Verderbensmächten zum Trotz. 243 Müller, Luthers Lieder, 86. „Gottes Wort bringt auch als frohe Botschaft immer ein Kreuz, eine Anfechtung, ein Leiden mit sich. Denn wo Gott spricht, da versucht auch der Teufel sogleich, seine Stimme zu erheben; es hat der der auf Gott hören will, immer zugleich mit dem Teufel zu tun.“ (Müller, Luthers Lieder, 92). 244 Vgl. Meding, Luthers Gesangbuch, 342. 245 Vgl. Tab. 1 Sp. „Koreferenzkette Teufel“. 246 Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 98-101. 247 HahnL 11. <?page no="152"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 153 Was die Ordensbrüder im Leben wie im Sterben trägt, ist die wirkungsvollste Waffe gegen den Feind, das Wort des Evangeliums, das angreifende Wort. 248 „Der unumstößliche Triumph des Gotteswortes gegenüber allen drohenden Feinden ist […] für Luther die tiefste Glaubensgewissheit.“ 249 In „Ein neues Lied wir heben an“ wird eine Dramatik aufgebaut, in der die Gegner des Wortes immer eifriger gegen die Ordensmänner und ihr Evangelium anstürmen und doch ihre andauernde völlige Erfolglosigkeit einsehen müssen, endlich in Scham ob der eigenen Tat und des eigenen Versagens kleinlaut von der Bühne des theatrum Dei weichen. „[Str. 3] Von Löwen der Sophisten viel mit ihrer Kunst verloren […] sie konnten nichts gewinnen […; Str. 8] Der Mut ward den Sophisten klein von diesen neuen Dingen, daß sich Gott ließ merken […; Str. 9] Der Schimpf sie nun gereuet hat, sie wollten’s gern schön machen. Sie tun nicht rühmen sich der Tat; sie bergen fast die Sachen. Die Schand im Herzen beißet sie […; Str. 12] Die laß man lügen immerhin; sie haben’s keinen Frommen“ 250 . Dem gegenüber stehen in heiliger Einfalt die Augustiner-Eremiten, die ihr Schicksal „[Str. 5] yhrem vater Gott“ 251 anheimstellen: „[Str. 2] recht wie die frommen Gotteskind für sein Wort sind gestorben […; Str. 4] Die Knaben standen wie ein Maur, verachten die Sophisten. Den alten Feind das sehr verdroß, daß er war überwunden von solchen Jungen, er so groß […; Str. 5] Die Knaben waren des bereit; sie sprachen fröhlich Amen […; Str. 7] Der höchste Irrtum dieser war: Man muß allein Gott glauben […; Str. 8] Mit Freuden sie sich gaben drein“ 252 . Die Treue der Brüder zum Wort Gottes und ihr Vertrauen auf den rechtfertigenden Glauben entlarvten die Löwener Larven und Teufelsknechte und offenbarten, wes Geistes Kind sie sind. 253 Das freimütige Bekennen ohne jede List lässt die Gegner „voll Zorn“ 254 und immer rasender beim Errichten ihrer Truggebäude werden. Die siebente Strophe strotzt vor heiterer Komik, denn die Sophisten schreiben ein Schuldbekenntnis, welches die Ordensbrüder vorzulesen haben und nach welchem ihre todeswürdige Schuld im alleinigen Glauben an Gott bestehe: 248 Vgl. Meding, Luthers Gesangbuch, 342-344. Christa Müller stellt die These auf, dass Gott den Menschen „gerade darum in der Anfechtung [erhält; HH], damit wir auf sein Wort merken lernen und im Hangen an seinem Wort […] bleiben“ (Müller, Luthers Lieder, 12). 249 Schlißke, Handbuch der Lutherlieder, 87. 250 Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 98-100. 251 HahnL 9. 252 Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 97-99. 253 Vgl. Meding, Luthers Gesangbuch, 354. 254 Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 98. <?page no="153"?> 154 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten „[Str. 7] Man schreyb yhn fur eyn briefflin kleyn / das hies man sie selbst lesen / Die stuck sie zeichten alle dreyn / was yhr glaub war gewesen / Der hochste yrthum diser war / Man mus alleyn Gott glauben / Der mensch leugt und treugt ymer dar / dem soll man nichts vertrawen / Des musten sie verprennen“ 255 . M.E. enthält der Prozessbericht Anklänge an den Prozess Jesu: das offene Bekenntnis zum Glauben (Mk 14‚61-62; 15‚2-5), das freimütige Hineingeben in die Geschicke (Mk 14‚36.41), die offensichtliche Schuldlosigkeit (Mk 14‚55; 15‚14) und die Notwendigkeit, falsche Zeugen aufzuführen (Mk 14‚57-59). Es ist denkbar, dass Luther eine imitatio Christi zu stilisieren versucht‚ 256 dies zeigt z.B. eine Gleichsetzung der Brüder mit dem Hohepriester aus Hebr 7‚27‚ 257 der das Selbstopfer vollzieht: „[Str. 6] Das schickt Gott durch sein Gnad also, daß sie recht Priester worden, sich selbst ihm mußten opfern da und gehn im Christenorden“ 258 . Anklänge an Jesu Tod und Auferstehung zeigen sich auch in den Nachwirkungen zu Prozess und Tod der Märtyrer. So wie die Auferstehung von Hohem Rat und Soldaten in Zweifel gezogen wird mit der Behauptung der Grabesleerung durch die Jünger (Mt 28‚11-15), wird nach dem Tod gegen die Brüder gestritten und gelästert. Ein „[Str. 11] falsch Gedicht“ 259 wird verbreitet, nach welchem „die Knaben noch auf der Erden sich sollen han umkehret“ 260 . Dass diese schadensbegrenzende Maßnahme des Teufels keinen Erfolg haben kann, da das Wort Gottes nun unaufhaltsam im Gange und die neue Zeit angebrochen ist (Str. 10-12), leuchtet nach vorherigen Erklärungen selbstverständlich ein. „Ein neues Lied wir heben an“ zeigt exemplarisch, in welchen Spannungen christliche Existenz sich darstellt: Gottes Nähe bringt teuflische Anfechtungen; das Wort Gottes trifft auf Lug und Trug des Satans; die Gemeinschaft der Hei- 255 HahnL 10. 256 Berndt Hamm versucht an Luthers „Sermon von der Bereitung zum Sterben“ [1519] aufzuzeigen, dass der Reformator weniger eine imitatio christi des Menschen als vielmehr eine imitatio hominis des Christus vertritt - nicht der Mensch erfährt Christi Leidensweg, sondern Christus den des Menschen (vgl. Hamm, Der frühe Luther, 150). Nach Grosse ist diese Verhältnisbestimmung heilsrelevant: „Nicht die Nachahmung, in welcher der Mensch Christus nachahmt, sondern die Nachahmung, in welcher Christus den sündigen Menschen nachgeahmt hat, bringt für ihn Erlösung.“ (Grosse, Anfechtung und Verborgenheit Gottes bei Luther und Paul Gerhardt, 17). 257 Vgl. Dietz, Martin Luther. Geistliche Lieder, 56. 258 Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 98. Mit dem biblischen Bezug geht eine antikatholische Polemik einher, die Priesterweihe und Mönchsleben als teuflisches Truggebäude darstellt: „[Str. 5] Sie raubten yhn das kloster kleyd / die weyh sie yhn auch namen […] Sie danckten yhrem vater Gott / das sie los sollten werden / Des teuffels larven spiel und spott / darynn durch falsche berden / Die wellt er gar betreuget. […; Str. 6] die heycheley ablegen […] die moncherey ausfegen / Und menschen thand“ (HahnL 9). 259 Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 99. 260 Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 99. <?page no="154"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 155 ligen begegnet der Gemeinschaft der Feinde Gottes; fromme friedfertige Kindlichkeit erntet brachiale Gewalt, Zorn und Wut; der innere Friede des Glaubens geht mit Anfeindung und Krieg von außen einher. Dennoch bleibt in aller Spannung eine große Gewissheit: „[Str. 12] Die laß man lügen immerhin; sie haben’s keinen Frommen. Wir sollen danken Gott darin; sein Wort ist wiederkommen. […] Der das hat angefangen, der wird es wohl vollenden“ 261 . Der Teufel in Luthers Theologie Wenn anhand kirchenmusikalischer Äußerungen Luthers und mit Blick auf dessen Liedtexte die breite Bezeugung des Teufels beim Wittenberger Reformator aufgezeigt wurde, so ist damit freilich eine Facette neben anderen dargestellt. Außerdem prägt nicht zuletzt die eigene theologische Epoche, die sich als „Renaissance des Bösen“ darstellt‚ 262 das jeweilige Lutherverständnis. „Luther wurde ge- und missbraucht. […] Allein die Fülle der Texte, die von dem Wittenberger Reformator überliefert ist, bietet für alle […], genügend Möglichkeiten, die eine oder auch eine ganz andere These und Überlegung mit Luther zu begründen.“ 263 In diese Reihe von zeitbedingten Lutherbildern stelle ich mich mit einer „exorzistischen Lesart“, die nicht mehr als einen Aspekt in dessen Denken stark machen möchte, um in Zukunft von anderen Lesarten ergänzt zu werden. Dennoch baut diese Lesart keinesfalls auf einem Kleinstthema in Luthers Theologie auf, wie die folgende Einordnung in dessen Gesamtwerk verdeutlichen möchte. „Wir brauchen bei Luther nicht mühsam nach Einzelaussagen zu suchen, sondern wir stehen vor einer Überfülle von Aussagen. Bezeichnend ist für Luther schon jene Legende, nach der Luther auf der Wartburg den Teufel mit dem Tintenfaß vertrieben habe.“ 264 Dass Luther zeitlebens mit dem Teufel rang und dieses Ringen konstitutives Element der Kirche in der Welt ist‚ 265 beweist allein ein kurzer Blick ins Werks- 261 Jenny, Luther, Zwingli, Calvin, 100. 262 Vgl. Track, Art. Teufel VI., 134. 263 Deeg, Einleitung, 11. Luther wurde z.B. als Sozialrevolutionär, Kirchenreformer oder als Urvater der Existenzphilosophie gelesen und gedeutet (vgl. Lau, Luther, 5-12). 264 Obendiek, Der alt böse Feind, 50. Dass es sich bei dieser Episode um eine hagiographisch anmutende Legende handelt, ist mittlerweile allgemein anerkannt - durch eine Vielzahl von Regionalvarianten ist weder der Ort gesichert, noch ist die Dramatik der Erzählung in Grundzügen als einheitlich zu bestimmen, sondern bisweilen als völlig gegenläufig (vgl. Leppin, „Der alt böse Feind“, 291-292). 265 Vgl. Oberman, Luther, 108-111. <?page no="155"?> 156 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten register - Leben und Theologie des Reformators bleiben ohne die Überlegungen zum Teufel unverständlich. 266 „Der Teufel ist bedrohend und allgegenwärtig […]. Es gibt keinen Zugang zu Luthers Glaubenserfahrung, wenn man diese Situation der christlichen Existenz zwischen Gott und Teufel nicht wahrnimmt.“ 267 Trotz der großen Fülle an Erwähnungen soll nicht der Eindruck entstehen, als wäre bei Luther eine systematische Satanologie nachzuzeichnen. 268 Um wenigstens aber einen Einblick in Luthers Denken vom Teufel zu erhalten, müssen zwei Linien in der Teufelsdarstellung unterschieden werden, wenngleich sich diese oft auf untrennbare Weise überlagern. Zum Ersten gilt es, Luther aus seiner Zeit heraus zu verstehen; hineingeboren in die Schwellenzeit zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit, wuchs er in einem von Bergmannsfrömmigkeit geprägtem Umfeld auf, das über ausgeprägte Dämonen- und Teufelsangst verfügte. 269 Zwar hatte die Scholastik eine Subordination des Teufels unter Gott mit viel gedanklicher Anstrengung unternommen‚ 270 aber diese intellektuelle Begrenzung des teuflischen Machtbereiches half wenig, um in der Volksfrömmigkeit eine Einschränkung des Satans zu erwirken. Stattdessen flammte im 16. Jahrhundert die Beschäftigung mit dem Satan im Volk verstärkt auf, wovon die Teufelsliteratur der Zeit reiches Zeugnis ablegt. 271 266 Betrachtet man das deutsche Sachregister (WA 1-60), ist die Fülle der verzeichneten Fundstelle zu Teufel und Synonymen erdrückend (vgl. WA 72, 318-320.766-785) - lateinische Erwähnungen, Briefbände und Tischreden bieten eigene Register und vermehren den Befund erheblich. Schon Zeitgenossen Luthers zählten etwa beim Marburger Abendmahlsstreit (1529) die Anzahl der Erwähnungen des Teufels in Luthers Ausführungen (vgl. Barth, Zur inneren Entwicklung von Luthers Teufelsglauben, 201). Für Details und Vertiefungen sei auf die Arbeiten von Harmannus Obendiek und Hans-Martin Barth verwiesen (Obendiek, Der Teufel bei Martin Luther [1931]; Barth, Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers [1967]), sowie eine neuere Betrachtung von Carsten Rentzing (Rentzing, Die Rede vom Bösen bei Karl Barth und Martin Luther [2000]). 267 Oberman, Luther, 109-110. 268 Vgl. Barth, Zur inneren Entwicklung von Luthers Teufelsglauben, 201; ebs. vgl. Buchrucker, Die Bedeutung des Teufels für die Theologie Martin Luthers, 387. 269 Oberman weist darauf hin, dass v. a. Luthers Mutter, Margarete Luder, dessen Teufelsglauben Vorschub geleistet habe (vgl. Oberman, Luthers, 109). 270 Vgl. Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, 157. 271 Vgl. Obendiek, Der alt böse Feind, 50. Besonders bekannt im 16. Jh. war das „Theatrum diabolorum“. In dieser 1569 von Sigmund Feyerabend erstmals herausgegebenen Schrift werden allerlei Lüste und Laster, mit denen die damaligen Menschen geplagt oder beschäftigt waren, beschrieben und in den Zusammenhang mit dem Teufel gebracht (vgl. Maslowski, Das theologische Untier, 113-118). Dort finden sich z.B. Hoffartteufel oder Neidteufel, neben Eidteufeln und Schmeicheleiteufeln. Die Gattung der Teufelsliteratur, für die das Werk von Feyerabend stilbildend wirkte, wird bis zur beginnenden Aufklä- <?page no="156"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 157 „Der Reformator stand hier offensichtlich in jener während des späten Mittelalters noch weiter angewachsenen Diskrepanz, bei der trotz aller theologischer Entdämonisierung die Teufelsrealistik weiter zunahm und sich dann in den Hexenverfolgungen entlud.“ 272 Besonders die Tischreden des Wittenberger Reformators sind voll von Vorstellungen und Anekdoten, die ein konkretes Rechnen mit Wirkungen des Teufels im alltäglichen Leben beschreiben. 273 „Zum dritten, kam ich mal aus der metten und kucket zu meiner zellen aus in den garten, da sahe ich eine große schwartze sawe umbher im garten lauffen […]; das war auch der Teuffel. […] Auch ein hundt lagk ein mal in meinem beth […]. So war es der Teuffel“ 274 . „darum sind noch in viel Landen Örter, da die Teufel wohnen. […] In meinem Vaterlande, […] auf eim hochen Berge, der Poltersberg genannt, ist ein Teich, wenn man ein Stein hinein wirft, da erhebt sich ein groß Wetter, und wird die ganze Gegend herum erreget und bewegt. Es sind Wohnungen der Teufel, da sie gefangen liegen.“ 275 „Alle Nacht, wenn ich erwache, so ist der Teufel da und will an mich mit dem Disputiren; da hab ich erfahren, wenn das Argument nicht hilft, quod Christianus est sine lege et supra legem, so weise man ihn flugs mit einem Furz ab.“ 276 rung, v. a. für protestantische Gebiete, eine im Volk beliebte Textgattung bleiben (vgl. Sachse, Der Alamodeteufel, 603-606). Immer diffiziler werden einzelne Lüste und Laster speziellen Teufeln zugeordnet, im 17. Jh. werden z.B. „Fluch-Teufel, Atheisten-Teufel, Sauf-Teufel, Pracht-Teufel, Huren-Teufel, Geiz-Teufel, Neid-Teufel“ (Holtz, Der Fürst dieser Welt, 39) identifiziert. 272 Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, 159. Die Hexenprozesse im 16. Jh. stehen mit den plastischen Teufelsvorstellungen der Zeit in enger Verbindung und wurden von Luther befürwortet (vgl. Haustein, Martin Luthers Stellung zum Zauber- und Hexenwesen, 142-144). Mit Bezug auf Ex 22 spricht der Reformator davon, dass Hexen den Tod verdient hätten - er verwendet mehrfach „occidantur“ (vgl. WA 16, 551-552). 273 Die Bilder und Anekdoten in den Tischreden changieren zwischen Bedrohung und Spott, v. a. scheinen sie aber unerschöpflich - eine Auswahl unterschiedlicher Aspekte bietet Alsheimer (vgl. Alsheimer, Katalog protestantischer Teufelserzählungen des 16. Jahrhunderts, 431-436). 274 WA.TR 5, 87-88 [1540]. 275 WA.TR 3, 654 [1538]. 276 WA.TR 2, 148 [1533]. „In diesem Zusammenhang finden wir bei Luther eine die Nach-Knigge-Generation befremdende Fäkalsprache. […] Fäkalsprache wurzelt in einer alten bis auf Augustin zurückgehenden Tradition, derzufolge die Toilette ein beliebter Aufenthaltsort von Dämonen und Teufeln sei. Und diesen Teufeln begegnet man am besten mit der höchstmöglichen Verachtung: auf sie zu scheißen.“ ( Joestel/ Schorlemmer, Und wenn die Welt voll Teufel wär, 21). Ähnlich Steiger: „Glauben heißt nach Luther, den Teufel verlachen, weil er am Karfreitag und Ostern durch den Tod des Sohnes Gottes lächerlich gemacht worden ist, keine Macht mehr an den zwar sündigen, doch bereits <?page no="157"?> 158 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass in Tischreden und sonstigen Aussagen über satanisches Wirken nicht immer zweifelsfrei zu entscheiden ist, ob Luther tatsächlich den Teufel oder nur schlechte Dinge oder Personen meint. 277 Dennoch wird in diesen exemplarischen Zitaten deutlich, dass menschliches Leben stets mit dem real empfundenen Einbrechen des Teufels rechnen muss, womit Luther sich in keiner Weise von seiner Umwelt abhebt: 278 „[wo; HH] der Teufel auftritt, ist es Luther bitter ernst.“ 279 Eine neuzeitliche und nachaufklärerische Kritik an Luthers Aberglaube/ Glaube greift zu kurz, denn was heute als Aberglauben bezeichnet wird, ist Teil einer geschichtlichen Entwicklungslinie und sollte an Normalvorstellungen der jeweiligen Zeit gemessen werden - unter dieser Perspektive ist der Wittenberger Professor keinesfalls ein abergläubischer Mensch. 280 Neben diesen zeitabhängigen Äußerungen lässt sich eine zweite Ebene der Beschäftigung mit dem Teufel ausmachen, die ich in den Liedern versuchte herauszuarbeiten, jene, die den Teufel als elementaren Bestandteil der Christologie begreift. 281 Grundsätzlich nimmt die Betrachtung des Teufels mit fortschreitendem Alter Luthers zu‚ 282 was bedeutet, dass mit Entfaltung der reformatorisch-theologischen Einsichten nicht notwendig ein Zurückdrängen des spätmittelalterlichen Aberglaubens verbunden ist. 283 Entscheidend beim Entstehen dieser zweiten Reflexionsebene scheinen die 1520er Jahre; in diese Zeit fallen handfeste Auseinandersetzungen mit theologischen Gegnern und damit die Profilierung der eigenen Position. 284 In dieser Periode entstehen zwei Drittel gerechtfertigten Menschen hat und dadurch zur Witzfigur geworden ist. Glauben heißt deswegen, den Teufel ‚verarschen‘“ (Steiger, „Wider den melancholischen Teufel“, 257). 277 Vgl. Barth, Zur inneren Entwicklung von Luthers Teufelsglauben, 209. 278 Vgl. Barth, Zur inneren Entwicklung von Luthers Teufelsglauben, 203-204. 279 Rade, Zum Teufelsglauben Luthers, 4. Ähnlich Buchrucker: „Der Teufel bei Luther ist ernsthafter, gewaltiger, grausamer. Was im Mittelalter weithin bloß farbige Fabulierung war, bei der der Teufel oft der Geprellte ist, wird bei Luther furchtbarer Ernst, wird totale Existenzbedrohung.“ (Buchrucker, Die Bedeutung des Teufels für die Theologie Luthers, 387). 280 Vgl. Barth, Die Theologie Martin Luthers, 88. 281 „Luthers Satanologie bewegt sich auf zwei Ebenen. Auf der einen hat sie eine klare Funktion und einen eindeutig bestimmbaren theologischen Ort im Zusammenhang mit […] seiner Christologie; auf der anderen Seite präsentiert sie sich ganz im Kontext spätmittelalterlicher Teufels- und Dämonen-Vorstellungen.“ (Barth, Die Theologie Martin Luthers, 94). 282 Vgl. Barth, Die Theologie Martin Luthers, 94. 283 „Jedenfalls konnte sich der werdende Reformator offensichtlich nicht Schritt um Schritt von ererbten oder ihn umgebenden Teufelsvorstellungen frei machen. Die Kurve von Luthers Interesse am Teufel verläuft genau umgekehrt“ (Barth, Die Theologie Martin Luthers, 94). 284 Vgl. Barth, Zur inneren Entwicklung von Luthers Teufelsglauben, 205. <?page no="158"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 159 der Lieder Luthers, bei denen eine Relation von Lied und Lehre angenommen werden kann. Nach dieser Phase tritt die spätmittelalterliche Teufelsanschauung wieder mehr in den Vordergrund, in welcher der Satan als Übelwirker aller Art dargestellt ist - war Gott vorher Urheber aller Dinge und Herr über Satan, so „scheint dort [sc. 1530 ff.] der Teufel in gewisser Weise ‚selbstständiger‘ geworden zu sein“ 285 . Dass die Rede vom Teufel in den 1520er Jahren auf einer theologisch motivierteren Ebene verläuft, lässt sich z.B. an den Bezeichnungen des Satan verifizieren. Am Ende der 1520er Jahre und danach sukzessive zunehmend werden die Begriffe aus dem Bereich der Wehr- und Sperrteufel verwendet‚ 286 d.h.: „[eine; HH] Vorstellung von einer grundsätzlichen Zerstörungswut des Teufels, die nicht mehr nur als Anfechtung für den Menschen verstanden werden kann“ 287 . Dem gegenüber sind in den 1520er Jahren Termini verwandt worden, die eher der theologischen Systematik nahestehen. „In den erbaulichen Schriften bis etwa 1521 nennt Luther den Teufel vornehmlich ‚bösen Geist‘; in der Auseinandersetzung mit Rom gibt er ihm die Namen ‚angelus lucis‘ und ‚Antichristus‘; die Schwärmerei und der Aufruhr der folgenden Jahre zeichnen den Teufel als ‚mendax et homicida‘“ 288 . Diese Beobachtungen an Teufelsbenennungen decken sich mit den Ergebnissen in den Liedern, denn die Verse der 1520er Jahre handeln weder wörtlich noch sinngemäß vom Thema der Wehr- und Sperrtätigkeit Satans sowie seiner umfassenden Zerstörungswut. Diese Lieder handeln vom Teufel im Rahmen der Christologie, wenngleich in plastischer Sprache, die Luthers bild- und emotionsreichen Rhetorik zu eigen ist. Innerhalb dieser christologischen Verortung kulminieren Wesen und Werk Satans in der Grundformel: gegen Christus/ Wahrheit/ Leben. 289 Der Teufel hat dabei nicht gleichen Rang wie Gott und Christus, denn er ist durch Tod und Auferstehung Christi als Todesmeister endgültig 285 Barth, Zur inneren Entwicklung von Luthers Teufelsglauben, 205. 286 Vgl. Barth, Die Theologie Martin Luthers, 95. Luther in einer Predigt über Wehr- und Sperrteufel: „‚Satan‘ est Ebraicum nomen, Schender, qui alles ding zu schand und schendlich macht, si etiam optima. Est deinde ein widersteher, quia obstat omnibus, legt sich in weg, spert und wert. Si est malum, quod feci, macht ein helle draus, si bonum, schendets. Si volo quid boni facere, obstat, ut nihil omnino possim facere, spert und wheret. Ein wher und spher Teufel, der nichts guts wil lassen geschehen sive in domo, politia, Ecclesia.“ (WA 45, 142 [1537]). 287 Barth, Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers, 145. 288 Barth, Zur inneren Entwicklung von Luthers Teufelsglauben, 202; ebs. vgl. Obendiek, Der Teufel bei Martin Luther, 211-113). 289 Vgl. Barth, Zur inneren Entwicklung von Luthers Teufelsglauben, 210; ebs. vgl. Buchrucker, Die Bedeutung des Teufels für die Theologie Luthers, 386-387. <?page no="159"?> 160 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten entmachtet und „gericht“ (EG 362/ 3)‚ 290 obgleich er in der Welt weiter zürnt und wabert mit beträchtlicher Schadenswirkung. „Denn der Teufel, weil er nicht allein ein Lügner, sondern auch ein Todschläger ist, ohn Unterlaß auch noch unserm Leben trachtet und sein Mütlin kühlet, wo er uns zu Unfall und Schaden am Leib bringen kann. […] Darum haben wir auf Erden nichts zu tuen, denn ohn Unterlaß wider diesen Häuptfeind zu bitten. […] Darnach will er [sc. Gott] uns endlich fur Sunden und Schanden behüten, darneben von allem, was uns wehe tuet und schädlich ist.“ 291 Das Hauptziel des Teufels besteht darin, die Sünde und Schuld des Menschen groß und das Wort des Evangeliums, Gnade und Freiheit, Christus selbst, klein zu machen. 292 Der Teufel sät Zweifel an der grenzenlosen Macht und Wirkung der Versöhnungstat Christi, er verklagt den Menschen unablässig (EG 124/ 4: „der Feind wird das Leben verklagen“) und stürzt den Menschen zielsicher in Anfechtung (EG 344/ 7: „wenn uns der böse Geist anficht“). V.a. auf dem Sterbebett des Christen greift der Satan mit diesen Anfechtungen im Widerstreit zwischen Sünde und Rechtfertigung an. „Die sund wechst und wirt groß auch durch yhr zuvill ansehen und zu tieff bedencken. […] Da hatt der teuffell dan eyn bad funden, das er gesucht, da treybt er, da macht er die sund ßo vill und groß, da soll er alle die für halten, die gesundet haben, und wie vil mit wenigern sunden vordampt seyn, Das der mensch aber muß vorzagen odder unwillig werden zusterben, und alßo gottis vorgessen und ungehorsam erfunden bleyben biß yn todt, […]. Am todt, da wir solten nur das leben, gnad und selickeit voraugen haben, thut er unß dan aller erst die augen auff und engstet unß mit den unzeitigen bilden, das wir der rechten bilden nit sehen sollen.“ 293 Der böse Feind gebraucht beim Versuch, Zweifel an der Rechtfertigung zu säen, alle zur Verfügung stehenden Mittel - die Heilige Schrift wendet der Satan so, 290 Steinacker weist auf das übermächtige Gottesbild von „De servo“ hin, in dem die Allwirksamkeit Gottes so sehr herausgestellt wird, dass selbst der Teufel ein von Gott angetriebenes Wesen ist (vgl. Steinacker, Luther und das Böse, 146-149; ebs. vgl. Joestel/ Schorlemmer, Und wenn die Welt voll Teufel wär, 14-15). Luther in „De servo“: „Quando ergo Deus omnia movet et agit, necessario movet et agit in Satana et impio.“ (WA 18, 709 [1525]). 291 BSLK, 689-690 [GrKat]. 292 Vgl. Buchrucker, Die Bedeutung des Teufels für die Theologie Luthers, 387. Hans-Martin Barth beschreibt den Teufel als denjenigen, der den Christen letztlich in Prädestinationsanfechtung stürzt (vgl. Barth, Zur inneren Entwicklung von Luthers Teufelsglauben, 204- 205). 293 WA 2, 687 [1519]. Das rechte Bild ist demgegenüber das Kreuz, das von Macht und Sieg über Tod und Sünde kündet - darauf soll der Sterbende voll Vertrauen seinen Blick in den letzen Stunden richten (vgl. WA 2, 689-690). <?page no="160"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 161 dass Gottes Heilswort vom „pro nobis“ in ein „contra nobis“ verkehrt wird. Dies erklärt u.a., warum Luther den Teufel häufig mit Bezug auf Joh 8‚44 als Mörder/ Lügner bezeichnet: „[Der; HH] Teufel tritt ihm [sc. Luther] stets als Disputator und Seelsorger, sozusagen mit der Bibel in der Hand und an das Gewissen sich wendend, gegenüber (der Teufel ist Gottes Affe, und seine Waffe ist das verbum dei depravatum).“ 294 Der Teufel ist ein „Tausendkünstler“ 295 , dessen höchste Kunst die List darstellt, welche es ermöglicht, die Heilige Schrift derart zu verzerren, ihre claritas zu verdunkeln oder den Blick darauf so sehr zu verstellen‚ 296 dass der Mensch an seiner Schuld und Sünde, letztlich an sich selbst, verzweifelt. „Nicht darin, daß der Mensch eine konkrete Sünde begeht, sieht der Teufel nach Luther sein Ziel, sondern darin, daß der Mensch über seine Sünde verzweifelt. […] Der 294 Hirsch, Ein Wörtlein kann ihn fällen, 95. 295 Die Bezeichnung „Tausendkünstler“ findet sich immer wieder in Luthers Schriften und bezeichnet v. a. die Fähigkeit des Teufels, in jeder Art und Weise schreckliche Attacken mit bester Tarnung gegen den Menschen zu unternehmen: „Also pflegt der neidische, listige, giftige Böswicht auch rechte, gute und göttliche Werk, so ein gottfürchtiger, frommer Christ durch Gnad, Wirkung und Hülf des heiligen Geists thut, zu verkehren und lästern. Daher er auch diabolus, das ist ein Verkehrer und Lästerer, heißet. Denn er kann nicht allein als ein Tausendkünstler die Sünde, so auch den Gläubigen und rechten Christen für und für anklebt bis in die Grube, aufmutzen und groß machen, sondern auch das, so gut, nöthig, nützlich und heilsam ist uns und Andern, lästerlich verkehren“ (WA.TR 1, 462 [1530]). In Luthers Galatervorlesung wird der Teufel daran anknüpfend „optimus artifex“ genannt (vgl. WA 40/ I, 316 [1531]). 296 „Die schriefft und Gottes wordt, wen man das predigt, hat es so bald vorfolgung, domit mans wil nider drucken, wilß bewgen und brechen. Nun hat es die art, das sichs nit lessit drucken, und wen man dye gantzs welt darauff leget. Der Tewffel kan es mit keynner gewaldt drucken und dempffen, er thue es dan mit liest, also das er die augen von der schriefft wendet, wie er itzund than hat.“ (WA 9, 638). „Des Teufels hoheste Kunst ist, daß er aus dem Euangelio kann lauter Gesetz machen. Wenn ich den Unterscheid beider Lehre wol könnte fassen, so wollt ich alle Stunde zum Teufel sagen, er sollt mich […] lecken. Denn wenn er mir gleich aufrückete meine Sünde, so spreche ich zu ihm: Wie denn, soll man darüm das Euangelium verleugnen? Noch lange nicht! Aber disputire ich mit dem Teufel davon, was ich gethan und gelassen hab, so bin ich schon dahin und verloren. […] Wenn man alleine bei dem Gesetz bleibt, so ist man bald dahin, denn der Teufel schläget einem das Verbum auf den Kopf; aber diese Distinction die thuts alleine, daß man sage: Gottes Wort ist zweierlei; eins, das schrecket, und das ander, das da tröstet. Da spricht denn der Teufel: Gott spricht, daß du verdammet sollt sein, denn du hast das Gesetz nicht gehalten. Darauf sollt du wieder antworten, daß Gott auch gesagt hab: ‚Er wolle nicht den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe.‘“ (WA.TR 1, 268-269 [1533]). <?page no="161"?> 162 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Teufel verwehrt einem den Blick auf die Gnade Gottes, die sich in Christus offenbart“ 297 . Satan vollführt sein dämonisches Werk, indem er dunkle Stellen der Schrift und Gottes Verborgenheit in einer Weise aufbläht, dass Gott selbst dem Menschen als Teufel erscheinen kann‚ 298 vor dem er Furcht und Zittern empfindet und fliehen will. Zwischen Heiliger Schrift und Teufel besteht eine Form von Wechselbeziehung, dergestalt, dass das Wort selbst den Feind auf den Plan ruft: „Darum muß man aber auch darauf gefaßt sein, daß da, wo das Evangelium rein verkündet wird, der Teufel los ist“ 299 . Gegen diesen Angriff empfiehlt der Reformator den Angefochtenen wiederum eine Waffe - selbige nämlich, wie die des Teufels - Gottes Wort. 300 Die Waffe der Christen ist nicht das Wort eines verborgenen Gottes, sondern des offenbarten, das Wort Christi, welches dem Sünder in aller Klarheit mit Gottes „pro me“ entgegentönt. „Damit ist angezeygt, wie unser hertz stehet ynn der anfechtung. Wie sichs fület, so stellet sich hie Christus. Es meynet nicht anders, es sey eytel neyn da und ist doch nicht war. Drumb mus sichs von solchem fülen keren und das tieffe heymliche Ja unter 297 Barth, Zur inneren Entwicklung von Luthers Teufelsglauben, 204. „Der Teufel […] macht aufs Erste die Leute sicher und kühne, daß sie ohn alle Scheu, Furcht und Schrecken Unrecht thun und sündigen; und nicht allein in Sünden verharren, sondern Freude und Lust daran haben, und denken, sie richtens wol aus. Zu letzt aber, wenns ubel zugehet, oder Streckbein kömmet, da betrübt und schrecket er ohn alle Maße; schüret zu, daß entweder der Mensch fur großem Leid stirbet, oder des bösen Gewissens halben endlich sich selber umbringet, und ohn allen Trost gelassen wird, an Gottes Gnade verzweifelt.“ (WA.TR 1, 603). 298 Vgl. Buchrucker, Die Bedeutung des Teufels für die Theologie Luthers, 390-391. Für Luther besteht kein Zweifel daran, dass der Teufel der Motor hinter den Streitigkeiten von Marburg zum Abendmahl (1529) ist, er lässt die Theologen aus Oberdeutschland und der Schweiz die Worte nicht im eigentlichen Sinne verstehen, sondern verstellt ihnen das Schriftverständnis (vgl. Rade, Zum Teufelsglauben Luthers, 4-8). 299 Ebeling, Luther, 69. 300 „Der Teufel ist ein geschwinder, listiger Geist, der auch die besten Werk, so fromme Christen aus Gnade und Kraft des heiligen Geists thun, schändlich lästern und verkehren kann. Damit gehet der Teufel furnehmlich um und befleißiget sich aufs Höchste, daß er uns den Artikel von Vergebung der Sünden aus dem Herzen reiße, der uns ein starker Fels wider alle seine Anfechtung ist, sonderlich wenn er kömmt und uns beginnet fürzuhalten: Wer hat euch befohlen, das Euangelium zu predigen? Wer hat euch dazu berufen, daß ihrs eben auf diese Weise prediget, als in viel hundert Jahren sichs kein Bischof noch Heilige je unterstanden hat? Wie, wenn Gott keinen Gefallen dran hätte und ihr aller Seelen schüldig wäret, so durch euch verführt sind? […] Darum muß einer wahrlich durch Gottes Wort und Gebet ihm widerstehen und seiner Sache gewiß sein.“ (WA.TR 1, 462 [1530]). <?page no="162"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 163 und uber dem Neyn mit festem glauben auff Gotts wort fassen und hallten, […] und Gotte recht geben ynn seynem urteyl uber uns“ 301 . Es gehört zur theologischen Größe und Genialität Luthers, gedankliche Gegensätze auszuhalten und zum Prinzip zu erheben, Gott in seiner Heiligkeit als den „deus absconditus“ im Dunkel wohnen zu lassen, zugleich sich diesem Gott aber mit aller Gewissheit im Wort Gottes, Jesus Christus, als dem „deus revelatus“ nahen zu können. In den Ausführungen zu den Stufenpsalmen gipfelt dieser Gedanke im Spitzensatz: „Iam extra Iesum quaerere est diabolus, ibi desperatio sequitur, si accedat angustia conscientiae, praesumptio, si accedat vana religio.“ 302 Christus als und im Wort ist das Sichtfenster des Menschen in die sonst verborgene Tiefe der Gottheit; genau dieses will der Satan dem Menschen rauben, indem der die Klarheit der Schrift verstellt und sich an Christi statt zwischen Gott und Mensch schiebt. „Solange Christus nicht geglaubt wird, solange nicht er in der Mitte zwischen Gott und dem Menschen steht, solange steht der Teufel an seiner Stelle. Gott, der zum Menschen hinab schaut, bekommt dann den vom Teufel beherrschten Menschen zu sehen: die Sünde. Umgekehrt kann der Mensch, der zu Gott hinaufschaut, nur den vom Teufel verdeckten und vermummten Gott erkennen: den zornigen Gott.“ 303 Darin liegt begründet, warum der Wittenberger Professor besonderen Wert auf gründliches Studium der ganzen Schrift legt und diese Anker und Grund seiner Theologie und pastoralen Praxis ist. 304 „Am Anfang der Reformation stand die intensive Auseinandersetzung Luthers mit der Heiligen Schrift. Der reformatorische ‚Durchbruch‘ war zuallererst eine exegetische Befreiungserfahrung. Luther […] übernahm von der spätmittelalterlichen Frömmigkeit den Anspruch, die Heilige Schrift als persönliche Anrede zu verstehen […]. Er 301 WA 17/ II, 203. 302 WA 40/ III, 337 [1532/ 1533]. „Die Gotteserkenntnis, wie sie in Jesus Christus gegeben ist, betrifft also nicht ein bestimmtes zusätzliches Lehrstück zur allgemeinen Gotteserkenntnis […], sondern eröffnet überhaupt erst wahre Erkenntnis Gottes und des Menschen.“ (Ebeling, Luther, 269-270). 303 Barth, Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers, 209. 304 Vgl. Holm, Zur Funktion der Lehre bei Luther, 21. In einer Predigt über Exodus: „Also gehet es dem, der da Gottes wort hat und Gottes Son ist, der hat gewalt uber alles, Denn ein Christ ist ein solcher gewaltiger Man, das im alle Creaturn müssen gehorsam sein, wiewol solches nicht scheinet, so ist es doch in der warheit also. Was ist auff erden krefftiger denn der tod, erschrecklicher denn die sünde und bitterer denn das böse gewissen? Dennoch spricht ein Christ, das er uber diese alle ein Herr sey.“ (WA 16, 108 [1524]). <?page no="163"?> 164 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten hörte die Stimme Christi ganz unmittelbar aus der Heiligen Schrift: als befreiendes Evangelium.“ 305 Das Wort führt zu Christus, Christus ist selbst das Wort; nur durch eine tiefe wortgegründete Lehre kann es eine Kirche geben, in der Christus zugegen ist, in der Heil und Trost der Rechtfertigungsbotschaft ausgeteilt werden. Kirchliche Praxis und theologische Lehre sind bei Luther keine Gegensätze, sondern untrennbar verknüpft, Theologie ist selbst Seelsorge, denn sie richtet rein und klar das Evangelium auf und schafft damit erst den Seelentrost. „Die Lehre soll dem Menschen einen klaren und festen Gegenstand geben, weil nur ein klarer und fester Gegenstand das Herz zu beruhigen und das Gewissen zu trösten vermag. Hier geht es mehr um Ergreifen als um Begreifen.“ 306 Der Teufel hingegen entwirft eine Theologie vom versklavenden Gesetz her und ist damit oberster Irrlehrer und Vater der Lüge. 307 Er zieht durch Aufrichten des Gesetzes den Menschen ob seiner Sünde in den Tod, anstatt ihn der Gnade Gottes zu überstellen. 308 Die Lieder hatten das Triumvirat von Sünde, Tod und Teufel angedeutet; der weitere Horizont verdeutlicht, dass es sich um ein Quadrumvirat handelt, das das Gesetz miteinschließt und zum dämonischen Viergestirn des Todes wird. 309 In einer Predigt beschreibt Luther dieses Verhältnis genauer und stellt zugleich das Überwunden-Sein des Satans heraus: „Ist nu unser sunde, wie gesagt, durch Christum gefangen und weggenomen, so kan uns das Gesetz nicht verdamnen, so hat der Tod auch kein recht und macht weiter uber uns, denn das Gesetz kan uns nicht uberzeugen, das wir Sünder sind, weil Christus dieselbige gecreutziget und weggenomen hat. Weiter folget, das auch der Teufel nichts wider uns schaffen kan, denn durch Christum sind wir von des Teufels gewalt und Reich erlöset, welchs ein Reich der finsternis, irthums, der sunde und des todes 305 Hein, Zur Freiheit befreit, 343. 306 Holm, Zur Funktion der Lehre bei Luther, 31; ebs. vgl. Ebeling, Luther, 68-69. 307 Die Verbindung von Gesetz und Teufel scheint der entscheidende Punkt für Luthers Haltung gegenüber dem Judentum zu sein, denn da Juden das Gesetz stark machten, müssten sie folglich als mit dem Teufel in gewisser Nähe stehend betrachtet werden (vgl. Leppin, „Der alt böse Feind“, 316-317). Auf den engen Bezug von Gesetz und Teufel ist auch anderweitig hingewiesen worden (vgl. Steiger, „Wider den melancholischen Teufel“, 249). 308 Vgl. Buchrucker, Die Bedeutung des Teufels für die Theologie Luthers, 389. Rieske-Braun konstatiert: „Er [sc. Teufel] handhabe das Gesetz des Mose geschickt, daß es immer neu das Gewissen anfechte und benutze hierfür auch Worte Christi ‚contra peccatores‘, bis die conscientia sich vor Christus selbst als dem künftigen Richter fürchte.“ (Rieske-Braun, Duellum mirabile, 83). 309 „Das sind lauter Verderbensmächte, die aus dem unerfüllten Anspruch des göttlichen Gesetzes den Zorn Gottes auf Grund der Sünde wachrufen und in den Tod hineinführen, der nur das Durchgangstor zur Hölle ist.“ (Obendiek, Der Teufel bei Martin Luther, 214). <?page no="164"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 165 ist, weil Er uns in sein Reich versetzt hat, das ein Reich des liechts, rechten verstands, der gerechtigkeit und des lebens ist. […] Das Christus in die Höhe gefaren ist und hat das Gefengnis gefangen, das ist, Er hat Sünd, Tod, Teufel, Helle und alles unglück uberwunden und uns, die wir gleuben, das es uns zu gut geschehen sey, den weg zum Himel eröffnet. […] Das wird wol bleiben, das dich die Sünde anfechten, der Tod erschrecken, Gottes gericht deinem gewissen angst und bang machen wird, so lang du lebest. Wie soltu aber hie thun? Da mustu bey leib dich nicht darnach richten, wie du fülest, Du must nicht sagen: O weh, der Tod wil mich fressen, O zetter, die Helle spert den rachen weit auff und wil mich verschlingen, sondern fasse einen mut und zuversicht auff Christum und trit solche gedancken mit füssen und sprich: Es heisst nicht: O weh, der Tod wil mich fressen, sondern es heisst: Mein Herr Christus ist in die Höhe gefaren und hat das gefengnis gefangen, Das in die Höhe faren wird dirs, du leidiger Tod, wol verbieten, das du mich wol unverschlungen und ungefressen lassen must, Ich sol frey sein und bin auch frey umb des Mans willen, der in die Höhe gefaren ist.“ 310 Die Rechtfertigungsbotschaft propter Christum ist der entscheidende Ruf, der den Teufel erweckt und den er jeden Moment bekämpft und in Zweifel ziehen möchte, indem er das Gesetz verkündet. Durch die Gesetzespredigt gegenüber der Kreuzes- und Gnadenpredigt offenbaren sich zugleich die Larven und Helfershelfes Satans, v. a. das Papsttum als eigentlicher Antichrist/ Endchrist. 311 Luther erkennt im Papst den angekündigten Vorsteher im Tempel Gottes (2Thess 2‚4); 312 im Aufstellen kirchlicher Gesetze und der Verdunkelung der Rechtfertigung erscheint er in einer Reihe mit dem unheiligen Quadrumvirat der Verderbensmächte und als deren Erfüllungsgehilfe. 313 Auf Verdunkelung der Rechtfertigungsbotschaft und Aufrichten des Gesetzes kann nicht anders als durch mutiges fortwährendes Bekennen des Wortes reagiert werden - Christus 310 WA 23, 716-718 [1527]. Der Text bezeugt in besonderer Weise, wie machtlos der Teufel ist, wenn ein Mensch sich dem Wort Gottes, Jesus Christus, aussetzt und im Glauben das Heil in Christo ergreift. „Wie gros und mechtig ding ists umb einen Christen, der da gleubt. Dem mus auch der Tod, Sünde und Teufel weichen. Und er fehet auch hie in dieser zeit das ewige Leben an. Das macht Christus Gottes son, an welchs Wort er gleubt“ (WA 48, 159). 311 Vgl. WA 30/ II, 162. Neben dem Papst können bei Luther u.a. Bauern, Ketzer und Sektierer als vom Teufel in Dienst genommene Larven erscheinen (vgl. Rieske-Braun, Duellum mirabile, 83). 312 „An den früchten solt man ia den baum kennen: Ich und die meinen halten und leren friede, Der Bapst mit den seinen kriegt, mordet, raubet nicht allein seine widderwertigen, sondern brennet, verdampt und verfolget auch die unschuldigen, frumen, rechtgleubigen, als ein rechter Endechrist. Denn er thut solchs sitzend ym tempel Gottes als ein heubt der kirchen, welchs der Türck nicht thut.“ (WA 30/ II, 125-126 [1529]). 313 Vgl. Leppin, Luthers Antichristverständnis, 49; ebs. vgl. Dembowski, Martin Luther, 130. <?page no="165"?> 166 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten spricht: „Den Tod verschlingt das Leben mein, / mein Unschuld trägt die Sünde dein, / da bist du selig worden“ (EG 341/ 8). Konklusion Auf vorherigen Seiten habe ich dargestellt, dass Luther Theologe, Kirchenmusiker, nicht zuletzt aber auch Satanaloge war. Der Teufel und sein Wesen und Werk sind eminent wichtig für das gesamte theologische Denken des Wittenberger Reformators sowie für das Verständnis von dessen Glaubenswelt. Luther war in seiner Teufelsanschauung kein Sonderling, sondern Kind seiner Zeit am Übergang vom Spätmittelalter zur Neuzeit, welche von plastischen Darstellungen des bösen Feindes geprägt war. Zugleich war der Reformator ein theologischer und satanologischer Denker, der dieses spätmittelalterliche Erbe neu zu interpretieren versuchte und ihm eine theologische Systematik verlieh. Der Verdienst dieses Neuansatzes besteht in einer Deutung des Teufels im Rahmen der Christologie - der Teufel ist nicht Betrachtungsgegenstand um seiner selbst willen, sondern eingezeichnet in eine Struktur, in der er deutlich hinter den allmächtigen Gottessohn zurücktritt. Diese Struktur lässt sich an den meisten Lutherliedern nachzeichnen; der Satan tritt v. a. in Erscheinung in Liedern, die als De tempore-Gesänge die Heilsgeschichte und damit die Geschichte von Christi Inkarnation, Sterben und Auferstehen - Christusgeschichte - darstellen. Der Gottessohn erscheint dabei meist nicht allein, sondern in Union mit dem Vater oder der gesamten Trinität. Christi Geschick ist das Geschick einer Sendung, wie das Gespräch von Gott Vater mit dem Sohn in „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“ (EG 341/ 5-7) zeigt. Demgegenüber ist der Teufel ebenfalls nicht allein, sondern eingebunden in eine unheilige Trias aus Sünde, Tod und Teufel, die eine unüberschaubare Zahl innerweltlicher Helfershelfer besitzt. In der Mitte zwischen beiden Parteien findet sich bei Luther der Mensch als das umkämpfte Reittier. Der sündige Mensch unter dem Gesetz muss ob seiner Sünde verzweifeln, doch Christus und ferner das äußere Wort der Schrift spricht ihn frei und führt ins Leben wider allen verdienten Sündentod. Der Teufel versucht nach Luther, diese Christusbotschaft und das davon kündende Wort des Evangeliums durch seine Haupttat, die List, und durch unerbittliches Toben und Zürnen klein zu machen, damit der Sünder an seiner Sünde verzweifle, Christi Gnade misstraue und letztlich den ewigen Tod ernte. Der Teufel ist in dieser List ein Tausendkünstler und übt diese mit großer Macht und Kraft aus und gebärdet sich umso stärker, je mehr das Wort erschallt. Doch der von List und Anfechtung geplagte Mensch ist in diesem Kampf nicht auf sich gestellt, sondern in der überwiegenden Zahl der Lieder in eine Ge- <?page no="166"?> 6. Der Teufel im deutschen Liedgut Martin Luthers 167 meinschaft eingebunden. Die Gesänge des Reformators sind Gruppengesänge, angestimmt vom Wir der kämpfenden Kirche, die sich an Gott, seinen Sohn oder den Heiligen Geist mit der Bitte wenden, den Satan und seine Anfechtungen zurückzuschlagen. Nie wird der Satan selbst angeredet, sondern immer werden deprekative Formeln an eine göttliche Person gerichtet, womit sich einerseits tiefes Vertrauen und Hoffnung zeigen, die als dominierende Haltungen hinter der Kommunikation erkennbar sind; zugleich ist aber die Weisheit des Reformators ausgedrückt, der damit unnötiger Spekulation und Beschäftigung mit dem Bösen wehrt. Der gesamte Liederbestand besitzt trotz häufigen Vorkommens des Satans inhaltlich eine große Zurückhaltung gegenüber ontologischen oder sonstigen Spekulationen; es geht um die Werke des Teufels und dies im Gegenüber zum siegreichen und allesüberragenden Herrn und Gott, nie um den Satan als Betrachtungsgegenstand um seiner selbst willen. Möglicherweise ist diese Ausgewogenheit in der Rede vom Teufel und die vielfach ermutigende und fröhliche Haltung der Gesänge der Grund dafür, warum die Gesänge fast ausschließlich in Originalformen und dazu noch in für das Gesangbuch signifikant großer Anzahl in die Gesangbuchstämme von EKG und EG gelangen konnten. Dass Christus der Sieger auch über den Teufel ist, wird vorausgesetzt, da er in seinem Tode den Satan längst besiegt habe und die gegenwärtigen Schmerzen und Kämpfe nur Nachbeben eines eigentlich Besiegten sind. Das ändert allerdings nichts an der dargestellten Bedrohlichkeit, die sich heute und jetzt auf Erden in der simulierten Kommunikationssituation darstellt. Entscheidend in den Gesängen Luthers bleibt entsprechend der Blick auf Christus und das immer neue Singen und Sagen allen Anfechtungen und Regungen des Feindes zum Trotz. Es geht darum, dass trotz aller realer Not- und Leidenserfahrung die Gemeinde Gottes das Wort nicht wanken und sinken lässt, sondern es hochhält und ausbreitet - dies nicht zuletzt durch die dazu vorzüglich geeignete und von Gott gegebene Musik. Der Satan streitet um die Herrschaft über die Menschenseele, aber Luther schärft ein, dass er gegenüber der Heilsbotschaft im Wort Gottes keinen Erfolg haben kann, sondern gegenüber dem vollmächtigen Wort die Flucht ergreifen muss: „das macht er [sc. Teufel] ist gericht’ / ein Wörtlein kann ihn fällen […]. Nehmen sie [sc. Feinde] den Leib, / Gut, Ehr, Kind und Weib: / laß fahren dahin, / sie haben’s kein’ Gewinn, / das Reich muß uns doch bleiben“ (EG 362/ 3.4). <?page no="168"?> Zeitgeschichtliche Aspekte zu Paul Gerhardt 169 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts Zeitgeschichtliche Aspekte zu Paul Gerhardt Eine Betrachtung der Rede vom Teufel in den geistlichen Dichtungen 1 Paul Gerhardts scheint im Rahmen dieser Arbeit unerlässlich, bedenkt man, dass er neben Luther der wohl bekannteste protestantische deutsche Kirchenlieddichter ist, bislang aber Behandlungen dieses Topos in seinen Liedern nur rudimentär vorhanden sind. 2 Kaum ein Dichter neben Gerhardt konnte über Jahrhunderte von Gesangbuchentwicklung hinweg in ähnlicher Weise seinen Platz in Liedersammlungen neben der Vielzahl an Neudichtungen behaupten und verfügt im EG über eine so hohe Liedanzahl. Abgesehen von der Beliebt- und Bekanntheit sind Gerhardts Lieder aber auch inhaltlich von herausragender Bedeutung für die Frage nach dem Teufel im Gesangbuch. Schon Karl Barth hat in seinen Betrachtungen zum Nichtigen auf die dominante Stellung des Satans in der Dichtung Gerhardts hingewiesen und damit die Notwendigkeit eingehenderer Betrachtung herausgestellt. 1 Ich verwende im Folgenden die Begriffe Dichtungen, Lieder und Gedichte weitgehend synonym und vernachlässige bewusst die Frage, ob die Texte schon im Entstehungsprozess zur Verbindung mit Melodien bestimmt waren. Ich folge darin der weitgefassten Bezeichnung für Werke Gerhardts, die die Gesamtausgabe von Cranach-Sichart (Cranach-Sichart, Paul Gerhardt [2007]) verwendet und die aus unten genannten Gründen diesem Kapitel als Arbeitstext zugrunde liegt (im Folgenden: CS Liednummer). Daneben gibt es durchaus plausible Argumente dafür, dass Gerhardt im Bewusstsein einer beabsichtigten Verbindung mit Musik dichtete. Bunners schreibt zur Verbindung von Musik und Text: „Die konstitutive Verbindung von Text und Melodie für Gerhardts Lieder ergibt sich ferner aus dem häufigen Vorkommen des Begriffes ‚Singen‘, seiner Derivate und Synonyme.“ (Bunners, So laß die Englein singen, 42). 2 Am Ergiebigsten zum Thema sind die bis heute wichtige Darstellung von Hermann Petrich und die jüngere Monographie von Sven Grosse (Petrich, Paul Gerhardt. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes [1914]; Grosse, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts [2001]). Jüngst erschienen ist eine germanistisch-linguistische Arbeit von Ryszard Ziaja (Ziaja, Paul Gerhardts Kirchenlieder [2015]), die auf Grundlage eines kognitiv-linguistischen Methodenansatzes viele Ergebnisse zu Tage fördert, die ich in meiner theologischen Betrachtungsweise in ähnlicher Weise herausgearbeitet habe. Dennoch bleibt Ziaja im Rahmen seiner fachspezifischen Beschränkung der größere theologische Systemzusammenhang verborgen, bzw. er wird nicht weiter ausgeführt, v. a. geht er auf neutrisch Böses, nicht aber konkret den Teufel ein. Auch bezieht Ziaja sich nur auf etwa zwei Drittel des Liederwerkes und geht wenig auf pragmatische Fragestellungen ein (vgl. Ziaja, Paul Gerhardts Kirchenlieder, 90-94). <?page no="169"?> 170 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten „Was diese [sc. Gerhardts] Texte so stark macht, ist offenbar dies, daß sie dem, was das Vertrauen auf Gottes Vorsehung und den Trost ihrer Erkenntnis zerstören oder doch stören und schmälern könnte, nämlich dem ganzen Komplex der Sünde, der Schuld und der Strafe, der ganzen Realität des Ungemachs, des Leides und des Todes im Weltlauf und also eben dem Faktor des Nichtigen nicht ausweichen, sondern ins Gesicht sehen. Sie bezeugen die Herrschaft Gottes nicht unter Verschweigung, sondern offener Anerkennung der schrecklichen Tatsache, daß dieser Faktor auf dem Plane ist“ 3 . Ganz im Gegensatz zur Popularität der Lieder Gerhardts steht es mit der Kenntnis über dessen Leben am Beginn der frühen Neuzeit. 4 Für ein vertieftes Verständnis von dessen Liederwerk ist es aber unerlässlich die Biographie, insbesondere die Bildungskarriere als gedankenprägendes Element, auch in Bezug auf den Teufel, sowie dessen Zeitgeschichte zur Kenntnis zu nehmen - dem sollen dieser und der folgende Abschnitt dienen. Gesicherte Informationen über den barocken Dichtertheologen Gerhardt liegen nur in Rudimenten vor. 5 Mangels Quellen zeichneten sich in der Vergangenheit Biographien nicht selten durch einen Stil aus, der am ehesten mit „Evangelischer Hagiographie“ betitelt werden kann. 6 Beispielhaft für diesen huldigenden Stil kann Hermann Petrich mit seinem im Jubiläumsjahr 1907 erschienen Buch stehen. „Wir beklagen so oft, daß das Bild seines [sc. Gerhardts] Lebens ihn uns nur so lückenhaft darstellt. Hier in seinen Liedern lebt er ohne Lücke so, wie er ist. Seine Lieder sind seine Persönlichkeit selbst. Er gibt nicht etwas, das er gemacht, von anderen gelernt 3 KD III/ 3, 329. „Die Auseinandersetzung mit den ‚Feinden‘ bestimmt das gesamte dichterische Werk Paul Gerhardts.“ (Meier, Paul Gerhardt und die Anfechtung, 231). 4 Während Allgemeinhistoriker meist den Begriff der „Frühen Neuzeit“ verwenden, deren Beginn schon mit der Reformation angesetzt werden kann, verwenden kunst- und musikhistorische Betrachtungen eher den Begriff „Barock“; aus kirchen- und theologiehistorischer Sicht wäre die Zeit Gerhardts mit dem Begriff der „Konfessionalisierung“ zu bezeichnen (vgl. Bunners, Die politische und religiöse Situation zu Beginn der Neuzeit, 11-12). 5 Es sind ausgesprochen wenige Quellen aus Gerhardts Hand bekannt und erhalten - die Forschung muss sich weitgehend auf rund 140 deutsche und wenige lateinische Dichtungen, das sogenannte Testament an seinen Sohn, einige Leichenpredigten, ausgewählte Briefe und die für das konfessionell geprägte Gerhardtbild bedeutsamen Schriftsätze, die im Berliner Kirchenstreit entstanden sind, beschränken (vgl. Krummacher, Paul Gerhardt, 536; ebs. vgl. Ziaja, Paul Gerhardts Kirchenlieder, 81). 6 Fischer hat die zum Paul-Gerhardt-Jahr 1907 erschienenen Schriften, die v. a. vom um die Jahrhundertwende (19./ 20. Jh.) entstandenen protestantischen Verlagswesen herausgebracht wurden, untersucht und kann zeigen, dass Lebensbilder Gerhardts erhebliche Parallelen zu katholischen Heiligenviten aufweisen. So werden etwa Berichte beigegeben, nach denen Lieder dieses heroischen lutherischen Bekenners wahre Wunder an Seelen ihrer Rezipienten wirkten (vgl. Fischer, „Er ist gestorben und lebet noch“, 16-18). <?page no="170"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 171 oder nach Regeln erfunden hat, sondern er gibt sein eigenes inneres Leben ungeschminkt und wahr, und weil er ein reiches inneres Leben führt, darum hat er etwas zu geben. Dieselbe Treuherzigkeit, Innigkeit und Wärme, die aus seinem Antlitz mit den schlicht zurückfallenden weißen Locken, dem sinnend nach innen gerichteten Auge und der breiten Stirne sprechen, blicken uns auch überall aus seinen Dichtungen an.“ 7 Dennoch ist Petrich bis heute der bedeutendste Gerhardt-Biograph, v. a. durch sein um viele bis zu seiner Zeit unbeachtete Quellen ergänztes Buch aus dem Jahr 1914; 8 neben diesem und teilweise darauf beruhend kann allenfalls Christian Bunners Werk eingeordnet werden. 9 Eine historisch-kritische biographische Darstellung Gerhardts bildet nach wie vor ein Forschungsdesiderat‚ 10 welches an dieser Stelle nicht bearbeitet werden kann, vielmehr sollen folgende Punkte einige zeitgeschichtliche Wegmarken setzen, auf deren Hintergrund die Ausführungen zur Satanologie der Orthodoxie und des Dichters verständlicher werden. Musikkultur, Kirchenlied und Gesangbuch Der Bereich musikalischen und besonders kirchenmusikalischen Wirkens kann zu Beginn des 17. Jahrhunderts unter den Begriffen „Kontinuität und Wandel“ verhandelt werden. Ein Wandel lässt sich v. a. in zunehmender Internationalisierung musikalischer Kultur erkennen, was ebenso auf Literatur und andere Künste übertragbar ist. 11 Sukzessive kommt es zum Austausch zwischen Künstlerkreisen verschiedener europäischer Gebiete, was zur Folge hat, dass die bis 7 Petrich, Paul Gerhardt, seine Lieder und seine Zeit, 179. Barnikol betont, dass manchem die spärliche Quellenlage recht käme: „Fast möchte man dies [sc. Fakten zu Gerhardt] nicht wissen, heute sogar begrüßen: Individuum est ineffabile! Das Geheimnis der Individualität bleibt unaussprechbar.“ (Barnikol, Paul Gerhardt, 430). 8 Petrich, Paul Gerhardt. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes [1914]. Zu dieser Gewichtung kommt u.a. Johannes Ruschke (vgl. Ruschke, Paul Gerhardt und der Berliner Kirchenstreit, 22-25). 9 Bunners, Paul Gerhardt [2007]. Dieses Buch stellt eine umfangreiche Überarbeitung dar von: Bunners, Paul Gerhardt [1993]. Wenn nicht anders verzeichnet, beziehe ich mich im Folgenden auf die Ausgabe von 1993, da hier einige Quelltexte und Informationen bereitgestellt werden, die 2007 leider nicht geboten werden. 10 Vgl. Stegmann, Bibliographie und Literatur zu Paul Gerhardts Leben, 333-341. Diese für die Paul-Gerhardt-Forschung lähmende Lücke wurde in Detailfragen unlängst von Niemann und Ruschke versucht zu schließen (Niemann, Paul Gerhardt ohne Legende [2009]; Ruschke, Paul Gerhardt und der Berliner Kirchenstreit [2012]). 11 Vgl. Saalfeld/ Kreidt/ Rothe, Geschichte der Deutschen Literatur, 95. Bunners spricht gar von einer kirchenmusikalischen Ökumene für diesen Zeitraum, da der Kulturaustausch Länderwie Konfessionsgrenzen überschritt (vgl. Bunners, Die politische und religiöse Situation zu Beginn der Neuzeit, 15). <?page no="171"?> 172 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten dahin in Deutschland 12 üblichen Formen und Stile, v. a. durch italienische Einflüsse, ergänzt und bereichert werden. Die Zeit ab 1600 wird vielfach mit dem Begriff des Generalbasszeitalters beschrieben, womit eine verstärkte Betonung von Vokalstimmen und damit des Textes selbst in musikalischen Werken verbunden war. 13 „Text erklang mit einer Deutlichkeit und Verständlichkeit, wie dies nur im einstimmigen Kirchengesang möglich gewesen war - der freilich in puncto Rhythmik, Klanglichkeit und Mehrstimmigkeit weit hinter der komponierten Musik zurückstand.“ 14 Weiter entstehen die neuen Gattungen des geistlichen Konzertes; Arie und Rezitativ bilden sich heraus; mit der Violine tritt Mitte des 17. Jahrhunderts ein neues Melodie- und Soloinstrument im Diskant seinen Siegeszug an; neben Aufwertung der Vokalstimmen werden immer mehr für bestimmte Instrumente komponierte reine Instrumentalwerke geschrieben. 15 Die musikalischen Entwicklungen gingen an Gerhardt nicht vorüber, schon in seiner Geburtsstadt Gräfenhainichen, erhielt er an der städtischen Schule die erste musikalische Ausbildung und übernahm, was für Schüler üblich war, regelmäßige Aufgaben im örtlichen Schülerchor bei der Durchführung der Werktags- und Sonntagsgottesdienste. 16 Die finanziellen Möglichkeiten der Familie erlaubten, dass er und sein älterer Bruder Christian, obgleich sie seit 1621, nach dem Tod der Mutter, Vollwaisen waren, die Grimmaer Fürstenschule St. Augustin, besuchen konnten. 17 An dieser lutherischen „Eliteschule“ kam er durch 12 Dass es „Deutschland“ im heutigen nationalstaatlichen Sinne noch nicht gab, bedarf keiner Erläuterung. Vielmehr beschreibt die frühe Neuzeit eine Epoche, die vom zeitgleich entwickelnden Absolutismus und einer Vielzahl an souveränen Territorialfürsten geprägt ist (vgl. Lehmann, Art. Absolutismus, Sp. 86-87) - erst sukzessive bahnt sich der Weg zur Staatenbildung (vgl. Bunners, Die politische und religiöse Situation zu Beginn der Neuzeit, 11). In diesem Sinne steht Deutschland im Folgenden für den Kulturraum, demgegenüber spielte sich Gerhardts Leben territorial in Brandenburg und Sachsen ab, welche zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation als politischer Großeinheit gehörten (vgl. Schilling, Deutschland zur Zeit Paul Gerhardts, 1). 13 Vgl. Werbeck, Alte und neue Stile, 39-40. Die Theorie und Praxis des Generalbassspiels lässt sich schon im 16. Jh. in Italien nachweisen, von dort breitete sich die Satztechnik, die „für die instrumentale Bassstimme […] Spielern sogenannter Fundamentalinstrumente (Orgel, Regal, Cembalo, Laute, Chitarrone u. ä.) für eine extemporierte Ausführung des vom Komponisten intendierten Satzes Anhalt bot“ (Morche, Art. Generalbass, 407), nach Deutschland und etwas später nach Frankreich aus. 14 Werbeck, Alte und neue Stile, 40. 15 Vgl. Blume, Das Zeitalter des Konfessionalismus, 127-131; ebs. vgl. Werbeck, Alte und neue Stile, 41-47. 16 Vgl. Degenhardt, Paul Gerhardt - ein treuer Zeuge und großer Tröster, 223. 17 Vgl. Schilling, Deutschland zur Zeit Paul Gerhardts, 4; ebs. vgl. Bunners, Paul Gerhardt, 28-31. <?page no="172"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 173 ambitionierte breitangelegte Arbeit der dortigen Kantoratsinhaber noch sehr viel mehr mit den sich wandelnden Stilen in Berührung. 18 Die Fürstenschulen waren seit ihrer Gründung im 16. Jahrhundert immer auch Orte musikalischer Bildung in Tradition Luthers, ohne welche die Persönlichkeitsentwicklung Gerhardts nicht verstehbar wird. „So sehr die drei sächsischen Landesschulen in erster Linie gedacht waren als ‚Pädagogien‘, d. h. als vorbereitende Akademien für die beiden lutherischen Landesuniversitäten Leipzig und Wittenberg, so sehr sie also Wissenschafts- und Bildungsprogramme verfolgten, so sehr spielte, von Luthers Theologie und Anthropologie her definiert, die Musik als ‚donum Dei‘, als Gabe Gottes und als sittigendes Element in der Pädagogik - jedenfalls nicht als ein ‚Adiaphoron‘- auch an den Landesschulen im Zusammenhang mit der christlichen Religion eine bedeutende Rolle, im Alltag genauso wie in den öffentlichen, vor allem sonntäglichen Gottesdiensten.“ 19 V.a. die Musikanschauung Luthers (s. Kap. 6.) darf als Grundlage für das weitere Schaffen Paul Gerhardts angesehen werden - auch wenn dieser Barockpoet keine musiktheoretischen Schriften hinterlassen hat, zeigen seine Lieder doch jene schöpfungstheologischen Elemente, die v. a. die Musiktheorie Luthers auszeichnete. 20 Schöpfung wird - das antike Verständnis aufnehmend - als klingende und harmonische Wirklichkeit aufgefasst, der Mensch stimmt mit seiner Musik quasi nur in die ohnehin tönende Schöpfung ein. Gerhardts Sommerlied „Geh aus mein Herz“ kann auf diesem Hintergrund verstanden werden. „Ich selber kann und mag nicht ruhn; / Des großen Gottes großes Tun / Erweckt mir alle Sinnen; / Ich singe mit, wenn alles singt, / Und lasse, was dem Höchsten klingt, / Aus meinem Herzen rinnen“ (CS 40/ 8). Gegenüber der Harmonie der Schöpfung kennt auch Gerhardt den antiken, über das Mittelalter, bis in seine Zeit bewahrten Gedanken‚ 21 dass Teufel samt hölli- 18 Dank akribischer Arbeit einiger Hymnologen des 19. Jh. lässt sich die Notenbibliothek der Grimmaer Fürstenschule weithin rekonstruieren und gibt Zeugnis von der gut ausgestatteten und neue Stile wahrnehmenden Arbeit der dortigen Kantoren (vgl. Steude, Kantorat, Kantoren und Musikrepertoire der Fürstenschule zu Grimma, 112-116). Die Offenheit in St. Augustin scheint exemplarisch für die Fürstenschulen insgesamt zu stehen, denn in Porta lassen sich ähnliche Wege nachzeichnen (vgl. Blume, Das Zeitalter des Konfessionalismus, 127-128). 19 Steude, Kantorat, Kantoren und Musikrepertoire der Fürstenschule Grimma, 112. 20 Vgl. Bunners, So laß die Englein singen, 52. 21 In den musiktheoretischen Reflexionen der Karolingerzeit lassen sich deutliche Identifikationen von harmonischer Musik mit der Wohlordnung Gottes sowie einer unharmonischen und nicht den Regeln der antiken ars entsprechenden Unordnung des Diabolus/ Durcheinanderwerfers herausarbeiten (vgl. Walter, Der Teufel in der Kunstmusik, 73-74). Entsprechend werden dem Teufel in ikonographischen Darstellungen allerlei ohrenbe- <?page no="173"?> 174 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten scher Gefolgschaft Harmonie nicht kennen, sondern nur lärmen und donnern. 22 Der Dichter bezeichnet den Teufel z.B. als „Kläffer“ (CS 113/ 6) oder schreibt ihm „groß Geschrei“ (CS 26/ 2) zu. An die Verbindung von Dissonanz und Teufelsmusik erinnert das im Barock noch verbreitete Verbot innerhalb der kompositorischen Satzregeln für den Tritonus (Beiname „diabolus in musica“). 23 Wie für Luther und Melanchthon, war auch für Gerhardt die Verbindung von Bibelwort und Musik von entscheidender Bedeutung. Man unterbestimmt die Bedeutung der Musik, wenn man sie als bloßes Vehikel für das Wort Gottes bezeichnet, dennoch war für die Reformatoren deutlich, dass Musik v. a. unter pädagogischem Aspekt Beachtung verdient. 24 Im Barock gilt gleichermaßen, was Melanchthon formulierte: „Ohne Zweifel gibt es einen besonderen Grund dafür, daß dem Menschengeschlecht durch Gott die Anfänge der Musik eingesät wurden, und daß später daraus eine Kunst entstehen konnte, so daß die himmlische Lehre weiter verbreitet und länger dem Gedächtnis der Nachwelt überliefert wurde, weil sie in Harmonien und Lieder eingebunden ist.“ 25 täubende Instrumente, wie etwa die Fistula (Klasse von Flöten/ Blasinstrumenten) oder das Tympanum (Klasse von Schlaginstrumenten) zugeschrieben, die die wohlklingende und geordnete Musik pervertieren sollen (vgl. Hammerstein, Diabolus in musica, Abb. 12.14.16). 22 Bunners weist darauf hin, dass es barocker Musikanschauung entspricht, die Harmonie der Dreiklänge mit der Liebeseinheit und Harmonie der immanenten Trinität in Verbindung zu bringen (vgl. Bunners, So laß die Englein singen, 54). Demgegenüber habe auch „der Teufel […] zwar Musik, sie stehe aber der Ordnung Gottes entgegen und spiegele nicht deren Harmonie.“ (Bunners, So laß die Englein singen, 54). 23 Innerhalb der musiktheoretischen Diskussion findet sich diese Satzregel v. a. zwischen dem 9.-16. Jh. (vgl. Ruhnke, Art. Intervall, Sp. 1070-1072); auch später wurde der sukzessive oder gleichzeitig erklingende Intervall von drei Ganztonschritten als unangenehme Hörerfahrung empfunden, wie der Gebrauch des Intervalls beim textlichen Auftreten von Verderbensmächten in Werken Bachs, Mozarts und Wagners beweist (vgl. Hammerstein, Diabolus in musica, 8-11). 24 Vgl. Rohmer, Martin Luthers Lieder im 17. Jahrhundert, 588-589. 25 Möller, Das 16. Jahrhundert, 122-123. Das lateinische Original findet sich in: Mundhenk, Melanchthons Briefwechsel, Nr. 3771. Das Zitat entstammt einer Vorrede Melanchthons auf eine Festtagsliedersammlung Georg Rhaus [1545]. Diese Gedanken Melanchthons aufnehmend, findet sich in einer Vorrede Ebelings auf Lieder Gerhardts folgende Äußerung: „Die klugen Heiden hatten nicht allein ihren Gottesdienst in Vers und Gesänge beschlossen, sondern es ward bey ihnen auch, […], durch Melodeyen der Jugend fürgetragen, so wohl daß sie durch solche Belustigung des Gemüthes das jenige desto leichter fassen, also auch desto angenehmer behalten und durch stete Wiederholung nimmer vergessen möchten. Und ist das Gesinge und künstliche Gethöne der Menschen ein sonderlicher Griff, […], alles heilsame, Sprüche, Gebethe auch gantze Cathechisme einzubringen.“ (Kemp, Paul Gerhardt, Geistliche Andachten [Berlin 1667], 221). <?page no="174"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 175 Musik ist Schöpfungsgabe Gottes, gelangt aber nach barocker Ansicht zur eigentlichen Vollendung erst durch Verbindung mit dem unzweifelhaften und eindeutigen Wort Gottes. 26 In dieser Verbindung liegt eine weitere durch die Reformation ererbte Facette barocker Musiktheorie, denn wie die Reformatoren geht auch das 17. Jahrhundert von einer therapeutischen und damit verbundenen exorzierenden Dimension der Musik aus. 27 In systematisierenden Werken zur Musiktheorie in der unmittelbaren Folgezeit der Reformatoren lassen sich immer wieder Belege dafür finden, wie bedeutsam der Glaube an die therapeutische/ exorzierende Wirkung von Musik war. 28 Schon die harmonische Ordnung der Musik war nach Ansicht damaliger Theoretiker für Teufelsohren ein „kakophonisches Hörerlebnis“ 29 - dieses Hörerlebnis wurde durch das Bibelwort zur wirksamen Waffe und zum qualvollen Folterwerkzeug für den Satan. 30 Diese Überzeugung von der Kraft einer mit dem biblischen Wort verbundenen Musik lässt sich explizit bei Gerhardts kongenialem Kantor, Georg Ebeling, herausarbeiten, womit in Ermangelung einer Musiktheorie des Dichters zumindest aus dessen Umfeld musiktheoretische Äußerungen greifbar sind. 31 26 Vgl. Bunners, So laß die Englein singen, 55. 27 Luther schrieb in Erinnerung an 1Sam 16, eine auch für Gerhardts Zeit prominente Überzeugung nieder: „Denn dem bösen geist ist nicht wol dabey, wo man Gottes wort im rechten glauben singet oder predigt. Er ist ein geist der traurigkeit, und kan nicht bleiben, wo ein hertz Geistlich (das ist, in Gott und seinem wort) frölich ist, Davon auch S. Antonius sagt, das geistliche freude dem Teuffel wehe thue.“ (WA 54, 34 [1543]). 28 Steiger kann aufzeigen, dass der Lutheraner Simon Musäus u.a. anhand der Äußerungen Luthers eine erste Musikseelsorge/ Musiktherapie entwirft (vgl. Steiger, „Wider den melancholischen Teufel“, 250-254.257-265). Simon Musäus (1521-1576) war einer der streitbarsten Theologen seiner Zeit - er musste häufig (14 mal! ), v. a. wegen konfessioneller Streitigkeiten, seine Anstellungen wechseln. Unter seinen Schriften finden sich zwei Schriften die sich explizit mit dem das Gemüt belastenden Teufel und dessen Vertreibung beschäftigen (vgl. Dorchenas, Art. Musäus, Simon, Sp. 376-380). 29 Steiger, „Wider den melancholischen Teufel“, 254. 30 Vgl. Steiger, „Wider den melancholischen Teufel“, 254-255. Besonders Johann Olearius (1611-1684) scheint in dieser Richtung gedacht zu haben; nach dessen Ansicht es Aufgabe der Musik sei, das Reden zu lernen, um so eine Funktion in der antimelancholischen Seelsorge zu übernehmen (vgl. Steiger, „Wider den melancholischen Teufel“, 265-266). Olearius war ein besonders für die Hymnologie wichtiger Theologe, der zeitgleich zu Gerhardt den lutherischen Kirchengesang mit Dichtungen bereicherte und durch weitere Erbauungsschriften zu Bekanntheit gelangte (vgl. Dienst, Art. Olearius, Johannes, Sp. 1191-1992). 31 Vgl. Bunners, So laß die Englein singen, 54. Es muss um der Redlichkeit willen betont werden, dass sich zwischen Ebeling und Gerhardt ähnliche Unterschiede in der Bewertung der Instrumentalmusik auftun, wie sie bei Johann Walter und Luther erkennbar sind. Ebeling sieht die therapeutische Funktion auch in Instrumentalmusik allein gegeben (vgl. Bunners, Zur Theologie der Musik bei Georg Ebeling, 131-134). <?page no="175"?> 176 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Die Wirksamkeit gegenüber Satan und der teuflischen Schwermut weist auf einen weiteren Rahmen hin, in den sowohl Musik als auch Poesie des Barock eingezeichnet werden können. Seit der Antike waren Affekte und Seelenzustände immer wieder Gegenstand theoretischer Reflexion gewesen, ebenso die Frage nach Beeinflussungsmöglichkeiten derselben. 32 Schon die Reformation wusste um die Macht der Affekte und deren Beeinflussung durch Künste, stand den Künsten aufgrund eines potentiellen Missbrauchs jedoch skeptisch gegenüber. In Barock und Humanismus mit ihren epochalen Entwicklungen auf allen künstlerischen Gebieten wurde diese Macht deutlicher herausgestellt und im Rahmen einer sich entwickelnden Affektlehre zu nutzen versucht. 33 In der Rhetorik und der Poesie als einer davon abgeleiteten gebundenen Form galt: „Ein guter Redner mußte in dieser Richtung auf seine Zuhörer zu wirken suchen, um in ihnen diejenige Leidenschaft zu erwecken, die seinen beabsichtigten Zwecken dienlich war. Eine einmal rege gemachte Leidenschaft läßt so leicht keine ihr entgegengesetzte Meinung gelten; die ist das beste Mittel, die Zuhörer zu überreden oder im höheren Sinne zu überzeugen.“ 34 Entsprechendes erwartete man von Musik und ihren Wirkungen auf melancholische und vom Teufel geplagte Gemüter. Es wundert nicht, dass Singen seit der Reformation zentraler Bestandteil und Kennzeichen lutherischer Frömmigkeitspraxis geworden ist - Lebensbilder, wie sie klassische Leichenpredigten am Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert bieten, stilisieren das Singen geradezu zum Wesenskern des deutschen Luthertums. 35 Singen war seit der Reformation Amt und Auftrag der Gemeinde, allerdings wurde dieses Amt meist an Schülerchöre delegiert, was bei den Rah- 32 Innerhalb der antiken Philosophie waren Affekte immer wieder Diskussionsgegenstand, v. a. die Frage, wie Affekte zu bewerten seien, bzw. ob man sie grundsätzlich zu vermeiden suchen sollte, wie es z.B. die Stoa erstrebte (vgl. Krieger, Art. Affekt: I, Sp. 188-189). 33 „Hierüber [sc. Affektlenkung durch Musik] werden in den Schriften des Boetius […] wahre Wunderdinge erzählt. Der Humanismus, der so viele antike Vorstellungen zu neuem Leben erweckte, bemächtigte sich auch dieses Gebietes der Musiklehre, und es entstanden eine ganze Reihe von Schriften über die Musik der Antike, in denen besonders die Kapitel über die seelische Macht einen breiten Raum einnahmen.“ (Unger, Die Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik im 16.-18. Jahrhundert, 99). Dass der Humanismus in lutherischen Gebieten zu dieser positiven Bewertung der Affekte kommen konnte, hängt nicht zuletzt mit Melanchthon als Vordenker zusammen, der unter Bezug auf Aristoteles davon ausgeht, dass Affekte durch andere Affekte bewegt werden (vgl. Bader, Art. Affekt: I, Sp. 134-135) - entsprechend wird die Disharmonie des Teufels durch die reine Harmonie Gottes vertrieben. 34 Unger, Die Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik im 16.-18. Jahrhundert, 99. 35 Vgl. Veit, Kirchenlieder und lutherisches „Privatleben“, 594-595. <?page no="176"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 177 menbedingungen der Barockzeit notwendig erscheint. 36 Der Großteil der Gottesdienstgemeinde war des Lesens nicht mächtig, d. h. Gemeindelieder mussten auswendig rezitiert werden und verlangten entsprechend vorher eine Phase des Erlernens. 37 Hier halfen Chöre, wie z.B. der Gerhardts; die Schüler konnten mit den Kantoren Lieder im schulischen Unterricht einstudieren und diese dann als Vorsänger im Gottesdienst vortragen, die Gemeinde sang die Lieder dann sukzessive nach. 38 Neben dem Analphabetismus muss die Verbreitung von Gesangbüchern bedacht werden. Zwar gestalten sich gegen Ende des 16. und im Laufe des 17. Jahrhunderts die Anschaffungskosten für Gesangbücher günstiger, aber für breite Schichten der ärmeren Bevölkerung stellten Gesang- und Erbauungsbücher ebenso wie die Bibel ein Luxusgut dar. 39 Unter diesen Voraussetzungen werden die Ergebnisse Veits zum Liedrepertoire des beginnenden Barock nachvollziehbar. „Als ein erstes Ergebnis dieses Repertoires läßt sich seine tiefe Verankerung im 16. Jahrhundert festhalten. 32 % der Lieder stammen aus der Epoche der Reformation, 40 % aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, 25 % aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts und nur 3 % aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.“ 40 36 Vgl. Grosse, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, 20. 37 Vgl. Scheitler, Geistliches Lied und persönliche Erbauung im 17. Jahrhundert, 134; ebs. vgl. Bunners, So laß die Englein singen, 43. Scheitler weist darauf hin, dass die Gemeinde im Gottesdienst ausgesprochen wenig sang, mitunter nur einen De tempore-Gesang als Graduallied (vgl. Scheitler, Geistliches Lied und persönliche Erbauung im 17. Jahrhundert, 135). 38 Vgl. Bunners, Kirchenlied und Gesangbücher, 25. 39 Bis weit ins 17. Jahrhundert hinein hatten in ländlichen Gemeinden fast ausschließlich Pfarrer und Kantor ein eigenes Gesangbuch (vgl. Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 41). Wo sich ärmere Familien mühsam ein Gesangbuch abgespart hatten, wurde dieses nicht selten zur Familienreliquie, die von Generation zu Generation vererbt wurde und der man gelegentlich magische Kräfte und Segenswirkungen oder Orakeleigenschaften zuschrieb (vgl. Veit, Das Gesangbuch als Quelle lutherischer Frömmigkeit, 218-222). Die magere Verbreitung von Gesangbüchern steht mit einer Beobachtung zur Kirchenausstattung in Verbindung - die heute gebräuchlichen Anstecktafeln für die Liednummer sind erst gegen Anfang des 18. Jh. flächig belegbar, vorher war es schlicht unüblich, ein Gesangbuch im Gottesdienst bei sich zu führen (vgl. Bunners, Kirchenlied und Gesangbücher, 35; ebs. vgl. Veit, Das Gesangbuch als Quelle lutherischer Frömmigkeit, 217). 40 Veit, Kirchenlieder und lutherisches „Privatleben“, 597. Veit wertete in seiner stichprobenartigen Untersuchung über 400 Leichenpredigten zwischen 1580-1700 und die darin gemachten Angaben zur musikalischen Kultur und geistlichen Praxis aus (vgl. Veit, Kirchenlieder und lutherisches „Privatleben“, 593). <?page no="177"?> 178 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Es wurden zwar kontinuierlich Lieder gedichtet und gedruckt, aber durch die langsame Aneignung über den Weg des Auswendiglernens blieb der Schwerpunkt des Liedgutes in Gottesdienst und Hausandacht am Beginn des Barocks beim Reformationsjahrhundert. Unter diesen Liedern nahmen Lieder Luthers eine geradezu sakrosankte Stellung ein, die Lieder galten per se als rechtgläubig und waren durch stete Wiederholung im Gottesdienst fest im Gedächtnis verankert. 41 Ab Mitte des 17. Jahrhunderts kann für Berlin mit den rührigen Kantoren Johann Crüger und Georg Ebeling, aber auch von vermehrter Aufnahme neuerer Dichtungen, u.a. Gerhardts, in den gottesdienstlichen Ablauf ausgegangen werden. 42 Diese Entwicklung lässt sich an den Gesangbüchern selbst nachzeichnen, die immer umfangreicher werden - so auch die „Praxis Pietatis Melica“ Johann Crügers und die darin enthaltenen Gerhardt-Dichtungen. 43 41 Vgl. Scheitler, Geistliches Lied und persönliche Erbauung im 17. Jahrhundert, 137. Zur Untermauerung kann ein sächsisches Synodaldekret von 1624 dienen, in welchem verboten wird, „andere als die 32 Lieder des Luther’schen Gesangbuches zu singen“ (Graff, Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen, 255). Diese sächsische Anordnung lässt sich ähnlich für weitere Territorien nachweisen (vgl. Scheitler, Geistliches Lied und persönliche Erbauung im 17. Jahrhundert, 136; ebs. vgl. Graff, Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen, 255-257). Allerdings bewahrte dieser Status die Lieder nicht vor weitreichenden Eingriffen in die Texte, bis hin zu Nachdichtungen (vgl. Rohmer, Die Lieder Martin Luthers im 17. Jahrhundert, 585-592; ebs. vgl. Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 59). Eine Problematik stellte auch das Memorieren und Auswendigsingen selbst dar, bei dem sich durch die orale Überlieferung eigene und recht verschiedene Textvarianten regional herausbildeten. Gerade diese Variantenbildung, derer viele nicht als theologisch orthodox galten, führten später zum Wunsch eine approbierte Textfassung zu haben und damit zur Nutzung des Gesangbuches im Gemeindegottesdienst (vgl. Graff, Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen, 255). 42 Bunners geht davon aus, dass neuere Lieder in St. Nicolai in Berlin, Gerhardts Predigtstätte, v. a. sub communione Platz fanden (vgl. Bunners, Kirchenlied und Gesangbuch, 29). 43 „Die meisten Lieder wurden in dem geistliche Lieder enthaltenden Gesangbuch ‚Praxis pietatis melica‘ veröffentlicht. Dieses wurde von Johann Crüger, Kantor an der St. Nicolai-Kirche in Berlin, an der Gerhardt später Pastor werden sollte, herausgegeben. […] Dieses Gesangbuch war erstmals 1640 unter dem Titel ‚Newes vollkömliches Gesangbuch, Augspurgischer Confession …‘, erschienen. 1647 brachte Crüger es unter dem Titel ‚Praxis pietatis melica‘ heraus. Diese Ausgabe enthielt die ersten Veröffentlichungen von Liedern Paul Gerhardts. In den folgenden Ausgaben kamen weitere hinzu, am meisten in derjenigen von 1653, in der 82 Lieder von Gerhardt enthalten sind. Mit dieser Ausgabe hatte Paul Gerhardts dichterische Produktivität ihren Höhepunkt erreicht, in der Folgezeit ließ sie allmählich nach. In den Jahren 1666-67 gab schließlich Johann Georg Ebeling, der Nachfolger Crügers als Kantor von St. Nicolai, eine mit 120 Liedern fast erschöpfende Gesamtausgabe des gerade abgesetzten Pastors heraus: ‚Pauli Gerhardi Geistliche Andachten …‘“ (Grosse, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, 19; ebs. vgl. Barnikol, Paul Gerhardt, 431). <?page no="178"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 179 Lutherische Gesangbücher des Barocks sind zugleich Hausbuch für familiäre Andacht, geistliches Lese-, Erbauungssowie Lehrbuch‚ 44 was sich an der vielfältigen Mischung aus Liedern, Gebeten, Katechismustexten und prominenten Schriftperikopen zeigt. 45 Die Hausandacht war der Ort, an dem neuere Lieder meist zuerst Platz fanden und durch zunehmenden Gebrauch und Beliebtheit Raum im öffentlichen Gottesdienst beanspruchen konnten. Vielfach ist damit die enge Verknüpfung von „Geistlichem Lied“ und „Kirchenlied“ zu erklären, welche viele Liedersammlungen schon durch ihre Titel zum Ausdruck bringen. 46 So heißt es z.B. auf der Titelseite des „Praxis Pietatis Melica [Ed. V., 1653]“: „PRAXIS PIETATIS MELICA. Das ist: Übung der Gottseligkeit in Christlichen und trostreichen Gesängen […]: Auch zur Beforderung des so wol Kirchen= als auch Privat=Gottesdienstes“ 47 . Paul Gerhardts Lieder erscheinen also zuerst in einem Gesangbuch, das bewusst offen lässt, in welchem Kontext sie sich in Zukunft bewähren werden. Was tatsächlich aus diesen Sammlungen gesungen wurde, lag dann in den Händen von Kantor und Pfarrer. „Im Luthertum gab es Gesangbücher, die vorwiegend den überkommenen Liedbestand präsentierten, und zunehmend auch solche, die ältere Lieder mit Neuschöpfungen vereinten. Traditionalistisch gesonnene lutherische Theologen und Kantoren bevor- 44 Wie tief das Leben derjenigen, die es sich leisten konnten, mit dem Gesangbuch verzahnt ist, lässt sich an dem Zustand vieler Gesangbücher zeigen. Es ist üblich, Unterstreichungen, Annotationen und anderes mehr in seinem Gesangbuch unterzubringen; das Gesangbuch war alltäglicher Begleiter barocker bürgerlicher und adeliger Kreise, vergleichbar nur mit der persönlichen Bibel (vgl. Veit, Kirchenlieder und lutherisches „Privatleben“, 599). 45 Vgl. Veit, Das Gesangbuch als Quelle lutherischer Frömmigkeit, 207. Die Mischung dieser Stoffe entsprach dem Bedürfnis der jeweiligen Käufer; daneben hat der kompendienhafte Aufbau aber auch direkte Auswirkungen auf das gottesdienstliche Leben gehabt. Für Leipzig lassen sich in der Barockzeit Gottesdienste von drei bis vier Stunden Dauer belegen, in denen auch größere musikalische Stücke aufgeführt wurden, die viele Besucher offenbar überforderten. Entsprechend gab es offizielle Hinweise, welche Teile in dieser Zeit im Gesangbuch still gelesen werden sollten (vgl. Krummacher, Gottesdienstliches Leben im 17. Jahrhundert, 21-23). 46 Scheitler ging in den 1980er Jahren noch von einer scharfen Trennlinie zwischen Gesangbüchern mit approbierten Kirchenliedern einerseits und andererseits mit für den Privatgebrauch gedachten geistlichen Liedern aus (vgl. Scheitler, Geistliches Lied und persönliche Erbauung im 17. Jahrhundert, 137-140). Diese Sichtweise gilt als überholt, zwar gibt es Deckblätter von Gesangbüchern, die deutlich Orte des Gebrauches zuweisen, dem können allerdings andere Druckerzeugnisse entgegengestellt werden, die diese Orte deutlich zu verbinden suchten (vgl. Rohmer, Martin Luthers Lieder im 17. Jahrhundert, 581-582; ebs. vgl. Bunners, Kirchenlied und Gesangbücher, 29). 47 Praxis Pietatis Melica [Ed. V.], 1. <?page no="179"?> 180 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten zugten für den Gottesdienst das überkommene Liedgut und verwiesen neue Lieder gerne in die private Andacht.“ 48 Poesie und Dichtung Die Poesie der Zeit Gerhardts erlebte ähnliche Wandlungen wie die Musikkultur der Epoche. Thematisch ist das 17. Jahrhundert, geschunden vom 30jährigen Krieg, von großer Ambivalenz geprägt, die sich auch beim Dichtertheologen Gerhardt aufzeigen lässt - „auf der einen Seite das Bewußtsein von Todesnähe, Vergänglichkeit und Sinnlosigkeit, auf der anderen Seite das Ausleben von Sinnenfreude, Lebensgenuß und pathetischer Pose“ 49 . Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern war Deutschland etwas hinterher mit der Entwicklung einer deutschen Hochsprache, die Grundlage für qualitativ hohe landessprachliche Dichtung bilden konnte. 50 Während in anderen Ländern die heimischen Sprachen sich neben dem Latein mittelalterlicher Dichtung ihren Rang schon erstritten hatten, musste dieser für das Deutsche in den ersten Jahren von Gerhardts Leben noch errungen werden. Maßgeblichen Anteil daran hatte der vielgereiste und dadurch inspirierte schlesische Dichter und Sprachtheoretiker Martin Opitz (1597-1639), der mit seinem „Buch von der Deutschen Poeterey“ [1624] entscheidende Wege für eine gehobene deutsche Dichtkunst wies, wodurch andere ihm nachfolgend theoretische Schriften zur Poetik vorlegten. 51 Seine Hauptanliegen waren: „unterschiedene Gelegenheiten der Dichtung und entsprechend verschiedene Stillagen der Sprache, akzentuierend alternierendes Metrum, regelmäßiger Wechsel von Hebung und Senkung, natürliche Wortbetonung im Vers, reiner Endreim, Ächtung des meistersingerlichen Knittelverses und der mundartlich verkürzten Silben“ 52 . Im weiteren 17. Jahrhundert wird es zur Ehrensache namenhafter deutscher Dichter, eigene muttersprachliche Verse zu schaffen, welche vielfach in den sich formierenden Sprachgesellschaften erörtert wurden. 53 48 Bunners, Kirchenlied und Gesangbücher, 28-29. 49 Rößler, Das 17. Jahrhundert, 128. 50 Vgl. Saalfeld/ Kreidt/ Rothe, Geschichte der Deutschen Literatur, 95. 51 Opitz war einer jener jungen Dichter, die in Briefkontakt und durch Reisen (z.B. nach Holland) die Entwicklungen anderer europäischer Länder zu ergründen suchten (vgl. Luchterhandt, Art. Opitz, Martin, Sp. 1223-1225). Der sich entwickelnde Stand des niederen Beamtenadels, zu dem auch die höfischen Dichter und Musiker zählten, verstand sich vielfach selbst im Sinne einer paneuropäischen Künstlerrepublik (vgl. Saalfeld/ Kreidt/ Rothe, Geschichte der Deutschen Literatur, 96-100). 52 Rößler, Das 17. Jahrhundert, 130. 53 Vgl. Rößler, Das 17. Jahrhundert, 129-130. <?page no="180"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 181 Gerhardt genoss von frühester Kindheit an Bildung in lateinischer Dichtung und Literatur, welche sich an der Grimmaer Fürstenschule zunehmend vervollkommnete. 54 Kenntnis antiker Vorbilder, ihrer Rhetorik und Poetik, war nach humanistischem Bildungsideal notwendige Voraussetzung, um sich dem eigentlichen Bildungsziel, der Nachahmung ebenjener, stückweise anzunähern. 55 Mit dem Studium in Wittenberg gerät der Lateingeübte in Kreise jener Poeten und Poetologen, die sich um die Verbreitung der Ideen von Opitz bemühten, allen voran August Buchner. Zwar lässt sich nicht klären, inwieweit Gerhardt mit Buchner als Professor für Rhetorik und Poetik und Mitglied einer bedeutenden Sprachgesellschaft („Fruchtbringende Gesellschaft“) bekannt war, aber bei einer überschaubaren Größe von weniger als 500 Studenten in der Kleinstadt Wittenberg dürften Gerhardt die Gedanken Buchners und durch dessen Vermittlung auch diejenigen von Opitz im Groben vertraut gewesen sein. 56 Als Teil des Triviums war die rhetorische Ausbildung und das Lernen zielgerichteten Sprachgebrauchs für Studenten nicht nur Kür, sondern selbstverständliche Pflicht auf dem humanistischen Bildungspfad. 57 Das Dichten, für das der Dichtertheologe heute bekannt und berühmt ist, war keinesfalls persönliches Spezifikum, sondern für barocke Theologen eine weitverbreitete Beschäftigung, die von erster Schulbildung an exerziert wurde. Dass Einflüsse des Humanismus nach Opitz und Buchner sich im Dichtwerk Gerhardts vielfach wiederfinden, ist hinreichend belegt worden‚ 58 v. a. der häufig betonte niedere oder mittlere Stil seiner 54 „Wer in Grimma aufgenommen werden wollte, mußte die lateinischen Erklärungen zu Luthers Katechismus beherrschen und auch in der Lage sein, ‚eine ziemliche (d. h. ordentliche) lateinische Epistel schreiben‘ zu können“ (Bunners, Paul Gerhardt, 31). Latein war die übliche Verkehrs- und Unterrichtssprache an den meisten Bildungseinrichtungen. 55 Vgl. Krummacher, „Geist und Kunst / Krafft und Zierligkeit“, 70. Zeugnisse der Nachahmung lateinischer Klassiker haben sich in den zu Gelegenheiten gedichteten lateinischen Poemen erhalten (vgl. CS I-XV). 56 Vgl. Petrich, Paul Gerhardt. Ein Beitrag, 50-51; ebs. vgl. Bunners, Paul Gerhardt, 40-45. August Buchner (1591-1661) war seit 1616 Professor für Poetik und seit 1632 auch für Rhetorik; seit 1641 war er Mitglied der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ und mit vielen Dichtern der Zeit bekannt. Zu seinen Freunden zählte v.a Opitz, dessen Gedanken aufgreifend er seine eigene Poetik verfasste (vgl. Bautz, Art. Buchner, August, 792). 57 Vgl. Krummacher, „Geist und Kunst / Krafft und Zierligkeit“, 68. 58 Wie Opitz den Gebrauch von fremdsprachlichen Wörtern ablehnte, so lassen sich auch bei Gerhardt nur ausgesprochen wenige Fremdwörter finden, außerdem verzichtet Gerhardt auf mundartliche Ausdrucksweisen (vgl. Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, Cap VI.). „Die vielseitige, das Experiment nicht scheuende Gestaltung wird exemplarisch durch die Tatsache belegt, dass in Paul Gerhardts überlieferten 139 deutschen Liedern und Gedichten allein 53 verschiedene Strophenformen vorkommen, davon mindestens sieben, die vom Dichter neu geschaffen worden sind.“ (Bunners, Kirchenlied und Gesangbücher, 27; ebs. vgl. Krummacher, Paul Gerhardt, 537). <?page no="181"?> 182 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Dichtung. 59 Nicht aus Unfähigkeit, sondern aus wohlbedachter Beobachtung des Rezipientenkreises resultiert ein Stil, der Metaphern selten, wenn aber pointiert und mit Verständlichkeit verwendet, die heute noch erfasst werden kann. „So durfte der auf religiöse Wirkung bedachte Dichter sich nicht zu weit vom mot propre entfernen, keinen zu dichten Schleier zierender und verhüllender Metaphern zwischen Objekt und Betrachter ziehen. Die sparsame Verwendung der Bilder erklärt zum Teil Gerhardts dauernde Beliebtheit […]. Die Metapher ist nur in einem Falle häufig bei ihm: Die Gottheit wird mit Sichtbarem verglichen. Das lehrte nicht nur das biblische Vorbild, dazu trieb auch die Notwendigkeit, Ungreifbares mit konkreten Worten zu umschreiben.“ 60 Dieses Wissen um behutsamen Gebrauch bildhafter Rede, um das Meiden von Metaphern, ist von entscheidender Bedeutung für die Rede vom Teufel in Gerhardts Liedern; heutige Interpretatoren gehen fehl, wenn sie diese „teuflischen Stellen“ pauschal als metaphorische Rede abtun. Es wurde darüber hinaus darauf hingewiesen, dass trotz häufigen Ich-Gebrauchs in den Liedern, keine Erlebnislyrik gelesen werden darf, sondern eine eigene Form religiöser Gedankenlyrik vorliegt. „Man nennt das, was er dichtete Gedankenlyrik. Das heißt: der Dichter gibt sich, […], angeregt durch einen Gegenstand oder ein Ereignis, z.B. aus der Bibel oder der Natur, eigenen, in unserem Falle rein religiösen Betrachtungen hin [nicht persönlich-subjektiven! ; HH], die es nun gilt, künstlerisch in Worte zu fassen.“ 61 Der Begriff der Gedankenlyrik ist mittlerweile in der Germanistik umstritten‚ 62 weist aber auf eine spezifisch barocke Perspektive gegenüber dem poetischen 59 Während andere Dichter dieser Zeit heute nur noch Literaturhistorikern bekannt sind und wegen ihres schwülstigen barocken Bilderreichtums den Spott späterer Generationen ernteten (vgl. Saalfeld/ Kreidt/ Rothe, Geschichte der Deutschen Literatur, 94), hat Gerhardt eine bis heute zeitlos empfundene Sprache gefunden (vgl. Türck, Paul Gerhardt entwicklungsgeschichtlich, 23-25). „Alle Künstlichkeit im Gedanklichen ist Gerhardt fremd; Form und Regel befolgt er zwar genau, aber sie bleiben ihm untergeordnetes und selbstverständliches Beiwerk.“ (Cranach-Sichart, Einleitung, 20). „Paul Gerhardts Einfachheit ist die Einfachheit des sermo humilis, des einfachen Stils, der als beherrschende, wenn auch nicht ausschließliche Stilform vieler Arten von geistlicher Literatur eine lange Tradition seit Augustin und dessen Anweisungen zur christlichen Anwendung der antiken Rhetorik hat.“ (Krummacher, Paul Gerhardt, 544; ebs. vgl. Krummacher, „Geist und Kunst / Krafft und Zierligkeit“, 80-81). 60 Türck, Paul Gerhardt entwicklungsgeschichtlich, 26. 61 Cranach-Sichart, Einleitung, 23; ebs. vgl. Axmacher, Dichtung und Dogma, 46. 62 Der Begriff der Gedankenlyrik ist gegenwärtig hochumstritten, da er kaum eine eigene Definition vorweisen kann und stattdessen oft nur über das vermeintliche Oppositum, der eher selbstmitteilenden Erlebnislyrik, näher bestimmt wird. Brandmeyer definiert <?page no="182"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 183 Schaffen hin, welche schon die Antike kannte und von Martin Opitz in seiner Grundlagenschrift reformuliert wurde. „Die Poeterey ist anfanges nichts anders gewesen als eine verborgene Theologie und unterricht von Göttlichen Sachen. Dann weil die erste und rawe Welt gröber und ungeschlachter war als sie hette die lehren von der weißheit und himmlischen dingen recht fassen und verstehen können und so haben weise Männer was sie zu erbawung der Gottesfurcht gutten sitten und wandels erfunden in reime und fabeln […] verstecken und verbergen mussen“ 63 . Die geistliche Barocklyrik, v. a. jene Paul Gerhardts, ist keine zweckfreie Kunst, keine dichterische Selbstentfaltung, sondern verfolgt, wie ich im Rahmen der Affektlehre andeutete, ein klar bestimmbares Ziel. Die Poesie soll analog zur Musik in pädagogischem Sinne das Wort Gottes kräftig und kunstvoll zur noch bereitwilligeren Aufnahme zurichten. 64 „Es [sc. das geistliche Lied] ist nicht bloß Kunstwerk, sondern es soll auch voll Geist und Kraft sein, also voll Heiligen Geistes und voll der Kraft, zum Glauben zu bewegen oder im Glauben zu bestärken. Das lutherische geistliche Lied hat dazu sogar noch mehr Kraft als Folianten voll gelehrter Kontroverstheologie. Dies ist ein theologischer Vorzug.“ 65 Grosse versteht Gerhardts Dichtung ganz von der humanistischen Trias „docere, delectare, movere“ 66 her und macht auf den Zusammenhang mit dem orthoentsprechend unscharf: „Der Ausdruck ‚Gedankenlyrik‘ ist ein Sammelbegriff für eine an keine spezifische Gattung gebundene Lyrik der Reflexion.“ (Brandmeyer, Gedankenlyrik, 297). Entschieden gegen die Verwendung des Begriffes wendet sich Grosse (vgl. Grosse, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, 171). Neuerdings ist als Ersatz der Begriff der philosophischen Lyrik vorgeschlagen worden (vgl. Lamping/ Schwarz, Philosophische Lyrik, 140). 63 Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, Cap. II. 64 Dieses pädagogische Interesse, das alle Kunstbereiche erfasst hatte, zeigt sich auch in den Emblemen, die vielfach in Gesangbüchern erschienen. Diese Wort-Darstellungs-Kombinationen waren ein klassisches barockes Pädagogikinstrument (vgl. Harms, Art. Emblem/ Emblematik, 552-555). 65 Grosse, Geistliche Poesie und geistliche Poetik zwischen Poesie und Theologie, 307. Grosse weist darauf hin, dass Fragen nach dem Idiom geistlicher Poetik in barocken Poetiklehrbüchern nur beiläufig behandelt werden, stattdessen sei dazu ein Blick in Vorreden von geistlichen Liedersammlungen angeraten (vgl. Grosse, Geistliche Poesie und geistliche Poetik zwischen Poesie und Theologie, 295-298). 66 Vgl. Penzenstadler, Frühe Neuzeit, 349; ebs. vgl. Axmacher, Dichtung und Dogma, 46-47. Im Barock verschiebt sich die antike Trias sogar noch zugunsten des docere: „Rede ist demnach in erster Linie scharfsinnige Argumentation“ (Penzenstadler, Frühe Neuzeit, 349). <?page no="183"?> 184 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten doxen Lehrsystem aufmerksam. 67 Aufgabe der Poesie ist, der mitunter bitteren Seelenmedizin des Wortes Gottes und der aus ihr erwachsenen lutherischen Theologie eine liebliche Süßigkeit zu verleihen. 68 „Die Lehre wird dann besser aufgenommen, wenn sie durch die Poesie eine angenehme Gestalt gewonnen hat, so wie auch eine Heilung bringende Medizin vom Kranken eher genommen wird, wenn sie süß schmeckt. Die sprachliche Schönheit, die Süßigkeit der Dichtung wird hier, vermittelt über das Erfreuen als movere, als Hilfsmittel für das docere gesehen.“ 69 Der Dichtertheologe legt von diesem Verständnis als einer in Verse gebrachten biblischen Lehre Zeugnis ab - er weiß wohl, dass delectare und movere von vielen Poeten beherrscht wird, aber dennoch sieht er in seinen Dichtungen einen Vorrang, der in der biblisch-theologischen Erdung besteht. In einem Widmungsgedicht auf Michael Schirmers „Biblische Lieder und Lehrsprüche“ [1650] heißt es: „Weltskribenten und Poeten / Haben ihren Glanz und Schein, / Mögen auch zu lesen sein, / Wenn wir leben außer Nöten; / In dem Unglück, Kreuz und Übel / Ist nichts Bessers als die Bibel“ (CS 57/ 1). Schlussendlich ist mit dem docere, ganz im Sinne der orthodoxen Predigtstruktur von explicatio und applicatio, auf eine persönliche Aneignung hin abgezielt; 70 Theologie wird nie nur um ihrer selbst willen, sondern um der praktischen Frömmigkeit und damit um der Seelen Seligkeit mitgeteilt. 67 „Die Zweckbestimmung einer auf solche Weise gestalteten Rede ist dreifach: erstens soll sie von etwas berichten oder lehren, zweitens das Gemüt bewegen, drittens soll sie erfreuen. […] Wird die Rede vor allem als ein Vorgang verstanden, beim Hörer eine bestimmte Überzeugung zu schaffen, dann ist auch die Bewegung der Affekte wiederum auf das Ziel der Belehrung hingeordnet. Was die Dichtung nun auszeichnet, ist die besondere Akzentuierung des delectare. Obgleich man es auch in der Dichtung als auf das movere und vermittelt über dieses auf das docere hingeordnet betrachten kann, wird es jedoch auch als eigener Zweck der Poesie aufgeführt.“ (Grosse, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, 195-197). 68 In diesem Sinne versteht Johann Heinrich Feustking geistliche Lieder, der 1707 die erste „kritische“ Edition der Werke Gerhardts, herausgab. „Es sind die Vorzüge lutherischer geistlicher Lieder auf den Ebenen der sprachlichen Schönheit und der Kraft, das Gemüt zu bewegen, die ihnen, vereint mit ihrem Lehrgehalt, eine größere Kraft verleiht, den lutherischen Glauben auszubreiten als die trockenen und weitläufigen Ausführungen der Schultheologie.“ (Grosse, Geistliche Poesie und geistliche Poetik zwischen Poesie und Theologie, 309). 69 Grosse, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, 198. 70 „An Paul Gerhardt und Johann Meyfarth läßt sich zeigen, daß manche ihrer Lieder auch als Predigtdispositionen aufgefasst werden können.“ (Müller, Homiletik, 80-81). <?page no="184"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 185 Paul Gerhardt, der Teufel und die lutherische Orthodoxie Theologische Gerhardt-Forschung Dass die Dichtung Gerhardts eine Betrachtung unter dem Aspekt der in ihr enthaltenen und durch sie vermittelten Theologie verdient, ist durch die Gerhardt-Forschung der letzten hundert Jahre eindrücklich belegt worden. „Sie [sc. theologische Fundierung] ist es, die den Liedern ihre Substanz verleiht und sie bis heute im Gemeindegesang der evangelischen Kirche bewahrt hat.“ 71 „Nicht nur als Teilmoment und Korrektiv innerhalb interdisziplinärer Bemühungen, sondern als ein in der Sache selbst liegender primärer Aspekt läßt sich die theologische Fragestellung von der Poetik der geistlichen Dichtung des 17. Jahrhunderts her einsichtig machen.“ 72 Dieses Urteil überrascht nicht, denn von Beginn des lutherischen Protestantismus an war das Singen ein konfessorisches und damit in hohem Maße theologisch relevantes Ereignis; selbstverständlich konnte auch in der Epoche der Konfessionalisierung die Kirche ihr Singen als Bekenntnisakt sehen. 73 Lieder sind nicht Wort für Wort Theologie im dogmatischen Sinne, können aber „latent-dogmatisch“ erscheinen. 74 Dass diese dogmatische Latenz im 17. und 71 Axmacher, Vorwort, XIV. „Wohl haben einige von Gerhardts Liedern den Charakter einer Lehrdisputation, und durchgehend liegen ihnen, wie gezeigt worden ist, die begrifflichen Gliederungen der lehrhaften Theologie zugrunde.“ (Grosse, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, 199). 72 Axmacher, Konfessionalismus und Frömmigkeit, 79-80. Ähnlich Hauschildt: „Der Glaube, der sich in den Kirchenliedern dokumentiert, darf und muß theologisch gemessen werden.“ (Hauschildt, Die Botschaft der Reformation in den Liedern Paul Gerhardts, 74). 73 „In den konfessionell geprägten Kulturen ist das Liedersingen häufig als Bekenntnisakt verstanden worden. Es diente der Aneignung und Vertiefung des konfessionell bestimmten Glaubens und der spirituellen Stabilisierung gegenüber Zeitereignissen und privaten Nöten.“ (Bunners, Kirchenlied und Gesangbücher, 25; ebs. vgl. Veit, Das Gesangbuch als Quelle lutherischer Frömmigkeit, 207; ebs. vgl. Hauschildt, Das Bekenntnis im Kirchenlied, 75-82). 74 „Seine Dichtung ist bekenntnisbestimmt, aber sie zitiert die Bekenntnisschrift nicht wörtlich. Die Lieder sind aber wohl bekenntnistreu, die Liedverkündigung ist latent-dogmatisch. Dieser Zug spricht für das künstlerische Urteil des Dichters und die dichterische Qualität seiner Lieder.“ (Hauschildt, Die Botschaft der Reformation in den Liedern Paul Gerhardts, 66). Den Begriff dogmatischer Latenz hatte Hauschildt schon in seiner 1952 erschienenen Dissertation eingeführt, in der er das Zeugnis geistlicher Lieder weder als Dogmatik noch als künstlerischen Subjektivismus auffasst, sondern als Teil elementarer Theologie beschreibt (Hauschildt, Die Christusverkündigung im Weihnachtslied unserer Kirche, 13-19). <?page no="185"?> 186 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten 18. Jahrhundert Gesangbuchherausgebern und den mit ihnen verbundenen Dichtern vor Augen stand, lässt sich mit zwei ausgewählten Beobachtungen verdeutlichen. So zeigt z.B. der Aufbau von Gesangbüchern, dass zunehmend eine Kongruenz zwischen Themen und Loci der orthodoxen Standarddogmatiken mit den Rubriken der Gesangbücher angestrebt wurde. 75 Diese Angleichung der Gesangbuchstruktur wurde allerdings aufgrund der weitreichenden Prägekraft des Babstschen Gesangbuches erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts wirkmächtig umgesetzt, vorher zeigte sich diese Tendenz v. a. in den eher für Privatgebrauch gedachten Anhängen und der sich zunehmend aufblähenden Rubrik der Katechismusgesänge. 76 Grundsätzlich lässt sich aber eine Entwicklung der „Gesangbücher als ‚compendia locorum theologicorum‘“ 77 nachzeichnen. Zum Anderen verdient eine aufschlussreiche Quelle zur Paul-Gerhardt-Forschung besondere Beachtung. Johann Heinrich Feustking konnte 1707 den Liedern Gerhardts ohne Einwände Schriftgemäßheit bescheinigen, da diese vorher durch theologische Experten bestätigt worden war; 78 die theologische Fakultät in Greifswald wurde noch zu Lebzeiten Gerhardts von seinem Kantor Georg Ebeling mit der Sichtung der „Rechtgläubigkeit“ der Dichtungen beauftragt und kommt nach gründlicher Prüfung zu folgendem Urteil: „welches wir denn in diesen Geistlichen Liedern in der Tat erspüren, da alles nach dem Wort Gottes wohl eingerichtet, und dabei kein synkretistisch Wesen, so viel wir davon gelesen, eingemischt, maßen denn auch solches von dem rechtschaffenen Mann nicht zu vermuten, der wegen Verwerfung des Synkretismus (wie man glaubwürdig berichtet) sein Predigtamt hat quittieren und verlassen müssen.“ 79 75 Vgl. Bunners, Kirchenlied und Gesangbücher, 30; ebs. vgl. Scheitler, Geistliches Lied und persönliche Erbauung im 17. Jahrhundert, 139-140. 76 Vgl. Röbbelen, Theologie und Frömmigkeit im deutschen evangelisch-lutherischen Gesangbuch des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, 33. 77 Röbbelen, Theologie und Frömmigkeit im deutschen evangelisch-lutherischen Gesangbuch des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, 41; ebs. vgl. Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 52. 78 In der Vorrede zu seiner Gerhardt-Ausgabe schreibt Feustking über dessen deutsche Reime: „Also sind sie auch absonderlich im Gerhard recht auserwehlet / leicht / und auserlesen schön / die Redensarten sind schriftmäßig / die Meynung klar und verständig“ (zitiert nach: Grosse, Geistliche Poesie und geistliche Poetik zwischen Poesie und Theologie, 316). 79 „Gutachten für Johann Georg Ebeling über die Lieder Paul Gerhardts, erstellt von der Theologischen Fakultät Greifswald (1669)“ (zitiert nach: Bunners, Paul Gerhardt, 360- 361). Gutachten über Gesangbücher waren keine Seltenheit - immer wieder haben Fakultäten und Konsistorien sich zu Inhalten der Gesangbücher geäußert, da „doch die öffentlichen Gesangbücher gleichsam ein ‚Anhang der symbolischen Bücher‘ seien“ (Graff, Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen, 255). Die Aussage Röbbelens, dass keine Fakultät Gesangbücher beurteilt hätte, ist als unzutreffend abzuwei- <?page no="186"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 187 Paul Gerhardt und die Orthodoxie Vielfach wurde Gerhardt als unbeugsamer Theologe nach Art des vermeintlich erstarrten Dogmatismus lutherischer Orthodoxie gezeichnet. 80 Dass dieses Bild der Orthodoxie nicht deren eigentliche Natur beschreibt, ist mittlerweile vielfach dargestellt und die über Jahrzehnte kolportierte Mär von den harten Grenzen zwischen Reformatoren, Orthodoxie und Pietismus längst als eine solche entlarvt. Es gilt als Konsens, dass Paul Gerhardt, obgleich im Berliner Kirchenstreit (seit 1657 bis in die 1660er) als Konfessor an vorderster Stelle aufgetreten‚ 81 nicht zu jenen polemisch-streitbaren Stereotypen der Orthodoxie zu zählen ist - vielmehr wird vorgeschlagen, ihn in den Bereich der Reformorthodoxie einzuordnen. 82 Hans-Henrik Krummacher versteht unter der Reformorthodoxie eine Bewegung‚ „für die die reine Lehre so wichtig ist wie ein reines Leben, Rechtgläubigkeit und Frömmigkeit, Kontroverstheologie und Erbauungsschrifttum und geistliche Dichtung keine Gegensätze sind, sondern einander notwendig ergänzen.“ 83 sen (vgl. Röbbelen, Theologie und Frömmigkeit im deutschen evangelisch-lutherischen Gesangbuch des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, 53). Kirchenlieder haben gelegentlich sehr wohl nahe den „institutionell abgesicherten Lehrverlautbarungen“ (Krummacher, Denken und Fühlen, 263) gestanden. 80 Barnikol z.B. schreibt: „Aber eines unterscheidet ihn von so vielen andern Theologen und Kandidaten: Er hat den Biblizismus und die unkritische Bekenntnistheologie seiner Zeit, er hat dieses Bibel-Dogma - mehr Dogma als Bibel - ehrlich, ja ungeheuer ernst genommen, für sein Denken, Leben und Lehren.“ (Barnikol, Paul Gerhardt, 435). 81 Die klare Positionierung Gerhardts sollte aber nicht mit dogmatischer Engstirnigkeit verwechselt werden, denn durch die anzuerkennenden Revers von 1662 und 1664 wäre es für den Lutheraner Gerhardt quasi zu einer Ausserkraftsetzung der Konkordienformel und damit faktisch zu einer Aufgabe des Bekenntnisses gekommen (vgl. Ruschke, Paul Gerhardt und der Berliner Kirchenstreit, 149-152). Gerhardt selbst verstand sein Vorgehen hier nicht nur als konfessorischen Akt, sondern auch als Verteidigung der Gewissensfreiheit im weiteren Sinne. Gerhardt verzichtet deshalb schlussendlich auf sein Berliner Amt, um sein Gewissen nicht zu beschweren und schreibt 1667 an den Kurfürsten: „Den eben darum, gnädigster Kurfürst und Herr, habe ich bis anhero mit der Unterschreibung der besagten Reverse an mich halten müssen, weil ich […], sag ich, hochgedachter kurfürstlicher Edikten ohne Verletzung meines armen Gewissens nicht Genüge tun kann.“ (zitiert nach: Bunners, Paul Gerhardt, 358). Dass der Kirchenstreit auch eine Relevanz für den Fragenkomplex um den Satan entfaltet, wird daran deutlich, dass Edikte des Kurfürsten von lutherischen Theologen eine/ n Verzicht/ Milderung auf den Taufexorzismus verlangten (vgl. Bunners, Paul Gerhardt, 91). 82 Vgl. Boor, Theologie, Frömmigkeit und Zeitgeschichte im Leben und Werk Paul Gerhardts, 29; ebs. vgl. Krummacher, Paul Gerhardt, 542. 83 Krummacher, Paul Gerhardt, 535. <?page no="187"?> 188 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Mitunter wird der Dichtertheologe aber auch dem Pietismus im weiteren Sinne zugeordnet. 84 Die Problematiken, die diesen Charakterisierungen anhaften, können hier nicht weiter behandelt werden‚ 85 gemein ist ihnen allerdings die Absicht, auf einen besonderen Bezug zur pietas neben der doctrina hinzuweisen. M.E. ist es unnötig, Gerhardt mit der Aura des Sonderlings zu umgeben, wenn man sich mit Wallmann den eigentlichen Wesenszug der klassischen Orthodoxie vor Augen führt. „Für die klassische Zeit der Orthodoxie des 17. Jahrhunderts ist vielmehr kennzeichnend, daß in allen bedeutenden Theologen die Spannung zwischen dem Kampf um die reine Lehre und dem Streben nach einer Besserung des Lebens ausgehalten und durchgehalten wird, auch wenn man - mit Luther - die puritas doctrinae für wichtiger hält als die puritas vitae.“ 86 Dass Gerhardt in besonderer Weise mit der verstärkten Sorge um die pietas in Verbindung gebracht wird, hängt nicht zuletzt mit seiner besonderen Hochschätzung für einen Anbahner des späteren Pietismus, Johann Arndt (1555- 1621), zusammen. 87 Explizit betont Feustking in der Vorrede auf seine Gerhardt-Ausgabe [1707] dessen Verhältnis zu Arndt: „Worbey ich nicht umhin kan / von eben dieses theuren Mannes Religiosität / und seiner Vertrauligkeit mit GOtt / ein ander Zeugniß abzustatten. Selbiges gehet dahin / daß ich sage / er habe sehr fleißig gebetet / so andächtig als einer / der mit GOtt / und so Hoffnungs- und Glaubens-voll / als einer / der mit seinem Vater geredet. Zu solchem Ende hatte er des frommen Arnds Gebet- und Paradieß-Gärtlein ohn Unterlaß für sich / das hielte er so hoch und werth / daß er über dessen Inhalt auch unterschiedene herrliche Lieder verfertiget.“ 88 84 Vgl. Slenczka, Paul Gerhardt und Martin Luther, 142-143. 85 Dass der Begriff Reformorthodoxie kaum als konsensual definierte Größe dargestellt werden kann, macht Johannes Wallmann eindrücklich durch seine Anmerkung zu dessen Begriffsgeschichte deutlich. Im Grunde lässt sich je nach Definition kaum mehr eine Abgrenzung zu anderen Gruppen erkennen, womit sich die Frage stellt, wer denn eigentlich nicht zur Reformorthodoxie zählt, bzw. wer noch zur angeblichen klassischen Orthodoxie (vgl. Wallmann, Pietismus und Orthodoxie, 7-12). 86 Wallmann, Pietismus und Orthodoxie, 11. 87 Vgl. Anetsberger, Tröstende Lehre, 376. Über die Frage, inwieweit Arndt als Vater/ Großvater des Pietismus oder doch als unauffälliger lutherischer Normaltheologe verstanden werden kann, ist die Forschung uneins (vgl. Anetsberger, Tröstende Lehre, 28-63). 88 Zitiert nach: Grosse, Geistliche Poesie und geistliche Poetik zwischen Poesie und Theologie, 319. <?page no="188"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 189 Mehrere Lieder sind Nachdichtungen Arndt’scher Vorlagen aus dessen „Paradiesgärtlein“ 89 [1612] (CS 59.60.64.65.78.79), oder sind von diesem mittelbar beeinflusst. 90 Die Verbindung von Lehre und Leben, Frömmigkeit und Theologie, ist keine Sonderheit, wie ein Blick auf einen der wichtigsten Dogmatiker der Orthodoxie, Johann Gerhard (1582-1637), verdeutlicht. Dieser hat neben seinen Loci Theologici eines der wichtigsten Erbauungsbücher (Meditationes Sacrae [1606]) neben Arndts Paradiesgärtlein geschaffen, welches ebenfalls als prägendes Werk im Hintergrund der Entwicklung Gerhardts stehen dürfte. 91 Die theologische Bildung vieler einflussreicher Theologen begann an der Lateinschule mit Katechismuskunde und setzte sich an den Fürstenschulen fort. Auf Grundlage der damaligen Schulverordnungen war an den Fürstenschulen aber noch ein anderes Buch als theologisches Vademecum vorgesehen - Leonhard Hutters „Compendium Locorum Theologicorum“. 92 Seit 1610 lernten die Schüler intensiv die einzelnen Artikel vom Compendiums Hutters (1563-1616) auswendig, der damit ein etwa 150 Jahre beliebtes Standardlehrbuch klassischer 89 Dass Arndt keinesfalls als Kontrast zur konfessionell orientierten Orthodoxie zu verstehen ist, zeigt sich schon im Aufriss des Paradiesgärtleins: „Das 1612 veröffentlichte und als Anhang zu den Büchern vom wahren Christentum verstandene Paradiesgärtlein ist eine umfangreiche Gebetssammlung Arndts, in der die Gebete den Katechismusstücken gemäß angeordnet sind: Wie eine Stufenfolge sind zunächst die Gebete zu den Zehn Geboten zusammengestellt, dann zum Vaterunser und schließlich zum Glaubensbekenntnis. Das Bemühen Arndts, lutherisches Bekenntnis und Praxis pietatis in Einklang zu bringen, ist unverkennbar.“ (Lexutt, Johann Arndt und das lutherische Bekenntnis, 122). 90 Vgl. Axmacher, Anhang, 314-315; ebs. vgl. Grosse, Geistliche Poesie und geistliche Poetik zwischen Poesie und Theologie, 304; ebs. vgl. Ihlenfeld, Huldigung für Paul Gerhardt, 140. Axmacher gibt zu bedenken, dass Gerhardt die Aufnahme Arndt’scher Gedanken immer unter Perspektive lutherischer Orthodoxie unternahm: „Bei Vergleichen zwischen Gerhardt und Arndt ist immer genauso auf das zu achten, was Gerhardt ignoriert, wie auf das, was er (und wie er es) aufnimmt. Die Vermutung scheint nicht zu kühn, daß Gerhardt Arndt orthodox gelesen, d. h. seine eigene Orthodoxie in ihn hineingelesen hat.“ (Axmacher, Lutherische Rechtfertigungslehre in dichterischer Gestalt, 150; ebs. vgl. Bunners, Zur Theologie der Musik bei Georg Ebeling, 130). 91 „Nun ist Paul Gerhardt in seiner biblisch-mystischen Frömmigkeit des damaligen Luthertums offenkundig der dankbare Schüler des lutherischen Mystikers Johann Arndt (1555 bis 1621) und seines maßgeblichen Erbauungsbuches ‚Vom wahren Christentum‘ (seit 1605) und ‚Paradiesgärtlein voller christlicher Tugenden‘ (1612), ferner in Theologie und mystischer Frömmigkeitsart gleichfalls Schüler des führenden Theologen des Luthertums Johann Gerhard (1582 bis 1637), der in seinen ‚Meditationes sacrae da veram pietatem excitandam‘ (1606) Johann Arndt gefolgt war.“ (Barnikol, Paul Gerhardt, 440; ebs. vgl. Anetsberger, Tröstende Lehre, 38). 92 Vgl. Petrich, Paul Gerhardt. Ein Beitrag, 34-35. Leonhard Hutter (verschiedene Schreibweisen), gebürtig aus Nellingen bei Ulm, war seit 1596 Professor der Theologie in Wittenberg und galt als einer der größten Verfechter auf dem Weg zu einer vom Philippismus gereinigten Theologie und Kirche in Kursachsen (vgl. Sparn, Art. Hütter, Sp. 1967-1968). <?page no="189"?> 190 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten lutherischer Dogmatik geschaffen hatte. 93 Als Fürstenschüler in Grimma darf bei Gerhardt von einer tief ins Gedächtnis geschriebenen Kenntnis dieses Werkes ausgegangen werden. 94 Das Buch war derart beliebt, dass schon ein Jahr nach Erscheinen eine nicht autorisierte deutsche Übersetzung eines Lübecker Pastors vorlag, die allerdings den Ansprüchen des kritischen und auf genaue Wortlaute und Nähe zu den Formeln der Bekenntnisse bedachten Hutter nicht genügte, woraufhin 1613 eine von ihm selbst bestellte deutsche Fassung seines Compendiums in den Druck ging. 95 Ziel dieses Compendiums war es, auf Grundlage von Schrift und Konkordienbuch den Grundbestand lutherischer Lehre zu bündeln - so lautet der vollständige Titel: „Compendium Locorum Theologicorum ex scripturis sacris et libro concordiae.“ 96 Die Güte dieses Werkes besteht u.a. in der knappen und pädagogisch sinnvollen Bündelung der einzelnen dogmatischen Inhalte. „Diese Quelle vermittelt bestechend klar, knapp und eindrücklich in 34 Loci, die more catechetico im Frage-Antwort-Wechsel (in drei Schwierigkeitsstufen) abgehandelt werden, einen Einblick in das Gesamte der lutherischen Theologie des 17. Jahrhunderts (von der Schriftlehre bis hin zur Eschatologie) und kann zugleich als Einführung in das Konkordienbuch, mithin in die Bekenntnisschriften der Lutherischen Kirche gelesen werden.“ 97 93 Aus den Lehrvorgaben der Leipziger Nikolai- und Thomasschule ist zu erheben, dass Hutters Lehrbuch noch in den 80er und 90er Jahren des 18. Jh. fester Unterrichtsbestandteil war (vgl. Steiger, Leonhard Hutters Compendium Locorum Theologicorum, 114). Hutters Buch war so wirkmächtig für die folgenden Generationen, dass Karl von Hase sein Dogmatiklehrbuch nach ihm benannte, wenngleich Steiger dazu bemerkt: „Das heute wohl bekannteste dogmatische Handbuch, das Hütter im Titel führt, der Hutterus Redivivus Karl von Hases (1800-1890), zwischen 1829 und 1883 in immerhin zwölf Auflagen erschienen, hat mit Hütters Compendium so gut wie gar nichts zu tun.“ (Steiger, Leonhart Hütter, 237). 94 Vgl. Axmacher, Konfessionalismus und Frömmigkeit, 86; ebs. vgl. Barnikol, Paul Gerhardt, 430. 95 Vgl. Steiger, Leonhart Hütter, 234-235. 96 Hütter, Compendium Locorum Theologicorum, 11. Ich zitiere im Folgenden aus der aktuellsten kritischen lateinisch/ deutsch/ englischen Edition, die Anselm Steiger besorgt hat (im Folgenden: HutterC Seite). Sie verzeichnet den Text einer 1661 in Braunschweig gedruckten zweisprachigen Ausgabe (vgl. HutterC 11). Die deutsche Übersetzung von Wolfgang Schnabel (Hutter, Compendium locorum theologicorum [2000]), die einen Mischtext aus der lateinischen Übersetzung durch Schnabel und der deutschen Fassung bietet, werde ich vernachlässigen. 97 Steiger, Leonhart Hütter, 231. „Es gibt, von der Heiligen Schrift und Luthers Katechismen abgesehen, kein einziges Buch, das das religiöse Denken der evangelischen Christenheit allgemeiner und länger beeinflusst hat, als Hutters Kompendium.“ (Petrich, Paul Gerhardt. Ein Beitrag, 35). <?page no="190"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 191 Die pädagogische Qualität wird nicht zuletzt deshalb erreicht, da schon in der Entstehung reger Austausch zwischen Hutter und den Fürstenschulen, die er vorab visitiert hatte, sowie den sächsischen Universitäten, bestand, die jeweils Verbesserungsvorschläge anregten, die von Hutter bereitwillig aufgenommen wurden. 98 Als Grundlage und Prüfstein galten dabei immer die bekannten Autoritäten: „Den historischen Hintergrund dieser Theologie [sc. des Compendiums] bilden zunächst einmal Philipp Melanchthon und die Konkordienformel, aber auch, […] Martin Luther.“ 99 Die Konkordienformel stand zu Gerhardts Zeit in herausgehobener Position, jeder Student der Alma Mater Leucorea musste bei Immatrikulation eine Verpflichtung auf die Konkordienformel ablegen, sie galt damaligen Theologen zugleich als Bündelung, Endpunkt und Krone lutherischer Lehre und Bekenntnisbildung. 100 In diesem Sinne verwundert es nicht, warum im späteren Berliner Kirchenstreit so sehr auf diese Bekenntnisschrift beharrt wurde. „Der Einfachheit halber hätte der Kurfürst gleich auf einen Übertritt zur reformierten Konfession dringen können, denn wer die Konkordienformel nicht mehr gelten läßt, der verzichtet auf die Bekenntnisschriften der lutherischen Reformation im Ganzen.“ 101 Um diese Bekenntnisschrift in Herz und Rang zu halten, war das Compendium Hutters an der Universität Wittenberg Begleiter von Studenten aller Fakultäten, nicht nur der Theologen. Von Theologiestudenten und Kandidaten des geistlichen Amtes jener Zeit berichtet Petrich: „Viele Kandidaten des geistlichen Amtes brachten zu ihrer Prüfung nichts mit als eine dürftige Kenntnis des kleinen Hutterus und lenkten auch als Prediger später gern in die dort gelernten Gedankengänge ein.“ 102 Was Hutters Buch mit Arndt vereint, ist die Symbiose von Lehre und Leben; Hutter schreibt im Vorwort der lateinischen Ausgabe, dass das eine ohne das andere leer und nichtig sei. „Hujus autem informationis finis ac scopus praecipuus esse debaet pietas, sive vera veri DEI agnitio. Quemadmodum enim inutilis est pietas si scientiae discretione careat: ita nulla est scientia, si utilitatem pietas non habeat“ 103 . 98 Vgl. Steiger, Leonhart Hütter, 233-235. 99 Grosse, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, 28. Die gelegentlich behauptete Ablehnung Melanchthons ist am Compendium nicht nachweisbar, sondern dieser stellt mit Abstand die meist zitierte Autorität dar (vgl. Steiger, Leonhart Hütter, 235). 100 Vgl. Krummacher, Paul Gerhardt, 535. 101 Meier, Paul Gerhardt und die Anfechtung, 230. 102 Petrich, Paul Gerhardt. Ein Beitrag, 36. 103 HutterC 18. <?page no="191"?> 192 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Die geistliche Dimension theologischer Arbeit deutet sich im Compendium auch in dessen nachgestelltem Gebet an. 104 Die Vorrede von Kurfürst Christian II. zeigt ein Verständnis des gesamten Compendiums quasi als Teil der geistlichen Waffenrüstung und zwar explizit im Kampf gegen den Teufel, der durch falsche Lehre das Heil zu gefährden sucht. „Da übrigens die Tugend, das Erworbene zu wahren nicht geringer ist, als die, es zu suchen; und uns auch nicht verborgen sein kann, mit welchen und mit wie viel verschiedenen Nachstellungen, Künsten und Trügereien jener tausendkünstlerische Feind des menschlichen Heils, der Teufel, diesen heiligen Grundstein der reinen Religion umzustürzen, oder wenigstens zu verunstalten begehret: haben wir geachtet, daß auch diesem Übel durch ein geeignetes Mittel müsse begegnet werden.“ 105 Dass Gerhardt von diesem Buch geprägt wurde, wie von kaum keinem anderen, ist in der theologischen Gerhardt-Forschung in den letzten Jahrzehnten immer mehr ins Blickfeld geraten. 106 Folglich möchte ich daraus einige Stellen zum Satan als Hintergrund für folgende Betrachtung der Gerhardt-Lieder darbieten; zugleich ist mit den Ausführungen im Compendium Hutters die reformatorische und nachreformatorische Schultheologie mit ihrem dezidierten Bibel- und Bekenntnisbezug in nuce eingeholt und dargestellt. Der Teufel in Hutters Compendium Wie beschrieben, ist das Compendium Hutters in 34 Loci unterteilt - diese Loci lassen sich im Sinne der klassischen Dogmatiktraktate in Untergruppen einordnen. Das Compendium beginnt mit den Prolegomena (I-II), in denen Schrift- und Gotteslehre behandelt werden; dem folgt der an Textmenge umfangreichste Locus zur Christologie (III); daran schließen sich Schöpfungs- und Vorsehungslehre an (IV-VII); weiter verhandelt Hutter Sünde und Erlösung 104 Vgl. HutterC 633-635. 105 HutterC 654. Bei diesem Textabschnitt handelt es sich um eine Übersetzung aus einer deutschen Ausgabe des Compendium aus dem 19. Jh. (vgl. HutterC 652). Die lateinische Fassung ist inhaltlich nicht gravierend verschieden, aber das Druckbild verdient eine Randbemerkung - der sogenannte „tausendkünstlerische Feind“, der auch bei Luther auftrat, erscheint in der lateinischen Vorrede nämlich als einzelnes Wort in Griechisch: „μυροτεχνίτης“ (HutterC 15). Ich konnte nach Konsultation einschlägiger altsprachlicher Lexika keine Belegstelle in der klassischen Literatur erheben; entsprechend handelt es sich m.W. um ein humanistisches Kunstwort. In jedem Fall wird der Teufel durch die optische und sprachliche Hervorhebung in der Vorrede Christians II. als besonderer „Adressat“ des Compendiums gewürdigt. 106 Vgl. Grosse, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, 28-30. Schon Petrich wies vor einem Jahrhundert auf den Einfluss von Hutters Compendium hin (vgl. Petrich, Paul Gerhardt. Ein Beitrag, 34-36). <?page no="192"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 193 nebst Gesetz und Evangelium (VIII-XV); es folgen die Ekklesiologie und die Lehre vom christlichen Leben (XVI-XXVIII); das Compendium schließt mit der Eschatologie (XXIX-XXXIV). 107 Es ist nicht unerheblich für das Verständnis der orthodoxen Lehre vom Teufel, in welchen Traktaten der Satan erscheint. Vorab ist festzustellen, dass sich nach Auswertung aller Belegstellen der Teufel in jedem Traktat (nicht jedem Locus) nachweisen lässt. 108 Seinen ureigensten Ort findet die Satanologie/ Angelologie in der Schöpfungs- und angeschlossenen Providenzlehre (IV-VII), speziell im „Locus Quintus. De angelis bonis et malis“, welcher in 18 Fragen nebst Antworten gegliedert ist. 109 Der erste Teil des Locus beschreibt das Wesen der Engel (Frage 1-7)‚ 110 die grundsätzlich gut von Gott geschaffen sind, „ut Deo ministrent et electos custodiant“ 111 , wenngleich sie, da sie „ihren freyen Willen mißbrauchen“ 112 können, als „Zweyerlei / Gute und Böse“ 113 unterschieden werden können. Die Engel sind weder aus Materie noch göttlicher Substanz „sed ex nihilo“ 114 geschaffen. Wie für das Compendium leitend, wird im Locus „De angelis“ stets nach dem Grundsatz verfahren, dass biblisch Belegbares gelehrt wird, über Anderes, eventuell Spekulatives, aber geschwiegen werden muss: „An welchem Tage aber eigentlich die Engel seyen geschaffen worden / wird in heiliger Schrift nicht vermeldet / und bringt uns solche unwissenheit keinen Nachtheil.“ 115 Ebenfalls Schweigen ist nach Hutter in der Frage der Hierarchien der Engel geboten, zwar benennt die Schrift Erzengel, Throne und Gewalten etc., aber eine drei mal drei gestaltete Struktur, „prout Scholastici finxerunt“ 116 , ist nicht klar erkennbar im biblischen Zeugnis. Was Vollkommenheit, Wissen und Machtfülle der Engel 107 Vgl. HutterC 32-35. Ich folge in der Einteilung einem Vorschlag Wolfgang Schnabels (vgl. Schnabel, Grundwissen zur Theologie- und Kirchengeschichte, 17-31). 108 Ich beziehe mich auf die im Stichwortregister gegebenen Einträge zu diabolus, daemon und Satan (vgl. HutterC 693-698) und eine eigenständige Lektüre der umgebenden Loci. Außerdem habe ich in der lateinischen Edition von Trillhaas (Hutter, Compendium Locorum Theologicorum [1961]) alle Deklinationsformen von diabolus, Satanas, daemon in digitaler Form nachvollzogen. Der Redlichkeit wegen muss noch zugegeben werden, dass im Locus II. zur Gotteslehre der Satan nur innerhalb eines Schriftzitates (Apg 5‚3.4) genannt wird (vgl. HutterC 60). 109 Vgl. HutterC 116-133. 110 Vgl. HutterC 116-123. 111 HutterC 116. 112 HutterC 119. 113 HutterC 119. 114 HutterC 118. 115 HutterC 117. Schnabel annotiert, dass der Schöpfungszeitpunkt schon Augustin umtrieb und zu Spekulationen im 11. Buch des Gottesstaates verleitete, aber letztlich unentschieden bleiben musste (vgl. Hutter, Compendium locorum theologicorum [2000], 72-73). 116 Hutter spielt auf eine Traditionslinie an, die schon bei Pseudo-Dionysius Areopagita und Thomas von Aquin greifbar ist (vgl. HutterC 122). <?page no="193"?> 194 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten betrifft, was dann auch von Bedeutung für die Macht des Satans ist, so lehrt das Compendium eine klare Begrenzung gegenüber der Unbegrenztheit der Eigenschaften in Gott. „Solche [sc. Vollkommenheit] ist zwar groß / aber viel und weit geringer / als Gottes Vollkommenheit ist. […] Also ist zwar ihre Weißheit unaußsprechlich / aber doch also bewand / daß sie hat können vermehret und vollkommener werden / durch die Offenbarung und Erkändtniß der Geheimnissen des Evangelii / welche / auch den Engeln verborgen waren. Dergestalt haben sie zwar eine grosse Gewalt / aber dermassen umbschrieben / daß sie […] durchaus mit Gottes Gewalt nicht zuvergleichen seyn.“ 117 Damit ist die oft ins Feld geführte und als problematisch beschriebene Vorstellung einer weiteren Macht neben Gott, eines Dualismus, schon durch die Wesensbeschreibung der himmlischen Geister ausgeschlossen. Daran schließt sich eine kurze Betrachtung des Werkes guter Engel und der Möglichkeit ihrer Anrufung an (Frage 8-9). 118 Das Werk der guten Engel kann von Hutter kurz umrissen werden, da ihr Wesen zu weiten Teilen ihrem Werke entspricht - sie loben Gott und dienen ihm und seinen Menschen; eine Anrufung soll nach Offb 19‚10 unterbleiben. Im zweiten Teil des Locus V. wird Wesen und Werk der bösen Engel betrachtet (Frage 10-18). 119 Eine wichtige Klärung des Verhältnis der bösen Engel zum Teufel gibt Hutter gleich zu Beginn: „Angeli mali sive diaboli sunt“ 120 - es gibt also keinen sachlichen Unterschied zwischen Teufel und bösen Engeln, weshalb es das Wort Teufel bei Hutter im deutschen Text, im lateinischen ohnehin, auch in der Mehrzahl gibt (anders als den Begriff Satan, der stets im Singular als Eigenname auftritt). Möglich wäre es allerdings, im Teufel nicht dem Wesen, wohl aber der Funktion nach, einen Vorsteher unter den bösen Engeln zu erkennen. „Dann eben durch diese seiner selbsten Verwunderung / hat er den gebührenden Gehorsam seinem Schöpffer entzogen / unnd also sich selbst / unnd einen großen Hauffen mit sich / in gleiche Sünde gestürtzet / und von GOtt abgerissen.“ 121 Der Erschaffung nach sind sie den guten Engeln gleich‚ 122 „aber hernach von GOTT ihrem Schöpffer freywillig abgefallen / desselben Feinde worden / unnd 117 HutterC 121. 118 Vgl. HutterC 122-125. 119 Vgl. HutterC 124-133. 120 HutterC 124. 121 HutterC 129. 122 Gleichheit im Zustand ihrer Erschaffung war seit der Alten Kirche orthodoxer Konsens. So schreibt Papst Leo der Große (Leo I., 440-461) an Turribus von Astorga: „denn Gott, der der Schöpfer von allem ist, hat nichts gemacht, was nicht gut ist. Daher wäre der <?page no="194"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 195 deßwegen von Gott in ewige Verdammniß gestürzet.“ 123 Der Grund, dass die Engel zum Abfall von Gott durch Gebrauch ihres freien Willens sich verleiten ließen, besteht nach Hutter in deren Hochmut und im Unwillen, Gehorsam zu leisten. 124 Die Werke der bösen Engel beschreibt Hutter wie folgt: „Malorum Angelorum studia et opera in omnibus sunt contraria studiis atque operibus bonorum Angelorum. Nam 1. Deum non laudant, sed calumniantur. 2. Jussa et voluntatem Dei perverunt, vel saltem, quo minus ab hominibus fiant, impediunt. 3. Cursum Evangelii inhibere student 4. Piis insidiantur. 5. Impiorum sceleribus et aeterna damnatione exultant.“ 125 Dem Wesen der Engel entsprechend, verfügen auch die bösen nicht über unbegrenztes Wissen‚ 126 ebensowenig über unbegrenzte Macht, welche nur Gott allein besitzt. „Sie [sc. die Teufel] haben zwar eine grosse Macht: Welche aber an die Vorsehung unnd Regierung GOTTes also gebunden / daß sie auch / ohne Göttliche Verhängniß [d. h. Anordnung; HH] / nicht in die Schwein fahren / Matth. 8. vers 31.“ 127 Zum Abschluss des Locus „De angelis“ wendet sich Hutter der Frage nach der Apokatastasis Panton zu, spezieller der Frage, ob es eine Hoffnung auf Erlösung für abgefallene Engel geben kann - Antwort: „Nullam prorsus.“ 128 Die Ablehnung der Erlösungshoffnung für die Engelswelt wird wiederum biblisch mit dem Wirksamkeitsbereich Christi für den Samen Abrahams (Hebr 2‚16) und mit dem für die abgefallenen Engel zugesagtem Gericht begründet ( Jud 6; Mt 8‚29; 25‚41; 2Petr 2‚4). 129 Eine persönliche Beobachtung bei der Lektüre dieses Locus Teufel gut, wenn er in dem, als was er gemacht wurde, verbliebe.“ (DH §. 286). Diese Lehrmeinung wurde auf dem vierten Laterankonzil (1215) festgeschrieben (vgl. DH §. 800). 123 HutterC 125. „Diaboli non ex insitia aliqua […] peccarunt: […] sed ex propriis peccavit Satanas, Johan. 8‚44.“ (HutterC 126). Joh 8‚44 wird in Hutters Compendium als klassische Belegstelle für den Hang des Teufels zum Bösen und als Gegner der Lauterkeit angeführt (vgl. HutterC 127). 124 Vgl. HutterC 126. Hutter sieht als Belegstelle für die These von der zum Abfall verführenden Hoffart auch Gen 3‚5 gegeben, in der die Schlange/ Teufel zu derselben Sünde - der ersten Menschensünde überhaupt - nämlich der Selbsterhebung auf Gottes Stufe zu verleiten sucht (vgl. HutterC 129). 125 HutterC 128. 126 Zukünftiges oder Herzensgedanken des Menschen sind dem Erkenntnisbereich böser Engel entzogen, einzig Vermutungen kann der Satan anstellen (vgl. HutterC 130). 127 HutterC 131. 128 HutterC 132. 129 Vgl. HutterC 133. Dass es eine Wiederbringung der Dämonen und Teufel nicht geben könne, ebensowenig wie eine in der Zukunft liegende Erlösungstat Christi für jene, wurde schon 543 von Kaiser Justinian durch seine Verwerfungen Origines festgeschrieben (vgl. DH §. 403-411). <?page no="195"?> 196 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten scheint erwähnungswürdig - entgegen der reichen Anmerkungen und Verweise auf die Bekenntnisschriften in den weiteren darzustellenden Loci, findet sich in diesem Locus keinerlei Verweis auf das Konkordienbuch. 130 Die orthodoxe Schultheologie hat demnach die Erwähnungen des Teufels in Bekenntnisschriften und Bibel nicht als Erwähnungen um seiner selbst willen verstanden, sondern ihn eingeordnet in andere Traktate und als untergeordnetes Element des Lehrgebäudes neben der strahlenden Herrlichkeit Gottes gesehen. Dass es nach Hutter keinerlei Dualismus geben kann, wird auch in den Ausführungen über die Christologie (Locus III.) deutlich. 131 Er führt aus, dass die Schrift in Gen 3‚15 (dem Protoevangelium) lehre‚ 132 dass Christus der Zertreter des Schlangenkopfes und Zerstörer der Werke des Teufels (1Joh 3‚8) sei. 133 Dieser Christus hat in seiner Höllenfahrt die Herrschaft über die Sünder vom Teufel abgerungen‚ 134 der Teufel und alle Mächte müssen die Universalgewalt des Erlösers anerkennen‚ 135 der am Ende aller Tage auch vom unheiligen Triumvirat aus Sünde, Tod und Teufel befreien wird. Die Höllenfahrt Christi als ultimatives Siegesereignis über das Verderben nimmt im Compendium eine besondere, wenngleich dem gedanklichen Nachvollzug weitestgehend entzogene, Position ein. 136 Über Grund und Nutzen der Höllenfahrt schreibt Hutter: „Und zwar solches darümb / daß er [sc. Christus] den Teuffel überwinde / der Höllen Gewalt zerstöre / und dem Teuffel seine Macht wider die Gläubigen nehme: Das ist 130 Diese Urteil trifft sowohl auf die Ausgabe von Steiger (vgl. HutterC 116-133), die von Trillhaas (vgl. Hutter, Compendium Locorum Theologicorum [1961], 19-24) als auch die von Schnabel (vgl. Hutter, Compendium locorum theologicorum [2000], 71-78) zu. 131 Vgl. HutterC 64-107. 132 Unter dem Begriff des Protoevangeliums, der, v. a. ab dem 17. Jh., dem Gedanken nach aber seit der Zeit der Apologeten, belegt ist, wird eine christologisch-messianische Lesart des „Samens“ aus Gen 3‚15 verstanden. In christologischer Interpretation liegt hier der erste Hinweis auf die in Christus ergangene Rettung des sündigen Menschen durch Gottes vorauseilende Gnade (vgl. Petri, Art. Protoevangelium, Sp. 666-668). 133 1Joh 3‚8 wird auch als Belegstelle im Rahmen der Rechtfertigungslehre (Locus XII.) für die Macht und Gewalt des Christusereignisses wider die Verderbensmächte angeführt (vgl. HutterC 259). 134 „nosque ab omni et peccati, et mortis, ac Diaboli captivitate, in libertatem adoptionis suae assertuit“ (HutterC 104) - es handelt sich um eine wörtliche Übernahme aus dem GrKat (vgl. BSLK 652). 135 „CHristus gen Himmel gefahren / und das Regiment genommen zur Rechten des Vaters / daß ihm alle Teufel und alle Gewalt muß unterthan seyn / und zu Füßen ligen / so lang / biß er uns endlich am jüngsten Tag gar scheide unnd sondere von der bösen Welt / Teuffel / Todt / Sünde / unnd mit ewiger Glori und Herrligkeit ziere“ (HutterC 105-107; ebs. vgl. BSLK 652-653). 136 „[…] dieser [sc. Höllenfahrt Christi] Artikel […], nicht mit den Sinnen noch mit der Vernunft begriffen werden kann, sondern muss allein mit dem Glauben gefaßt werden“ (BSLK 813). <?page no="196"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 197 / nach Außlegung des Apostels / daß er außzöge die Höllische Fürstenthüm und Gewaltigen / und einen Triumph auß ihnen machte / Col. 2. v. 15. Ose. 13 / 14. I. Corinth. 15 / 54. Ephs. 4. vers 9.“ 137 Hutter geht davon aus, dass der sündige Mensch vor dem Sieg Christi bzw. vor der persönlichen Applikation dessen Gnadenwerkes unter der Captivitatis Diaboli steht. Dieser Gedanke hat im Großen Katechismus seine Entsprechung: „Das ist’s, daß er [sc. Christus] mich erlöset hat von Sunde, vom Teufel, vom Tode und allem Unglück. Denn zuvor habe ich keinen Herrn noch König gehabt, sondern unter des Teufels Gewalt gefangen, zu dem Tod verdammpt“ 138 . Im Locus IX. über den freien Willen beschreibt Hutter, dass eine Befreiung aus dem Eigentumsverhältnis (Eph 2‚2; 2Tim 2‚26) gegenüber dem Teufel durch Menschen selbst nicht erbracht werden kann, da das Wirken zur Bekehrung hin vollends Gottes Handeln sei. 139 Die eigentliche Aneignung des Gnadenwerkes Christi und damit das Ende der Herrschaftsgewalt Satans über den Menschen wird im rechtfertigenden Glauben und der Taufe vollzogen (Locus XX. De baptismo). 140 Dieser Glaube muss mehr als bloße Kenntnis der Glaubensinhalte, sondern ein tiefes Vertrauen in Gottes Barmherzigkeit in Christo sein. „Denn solches gläuben auch die gottlose Weltkinder / ja die Teuffel selbsten / welche doch nicht gerecht nach selig werden / welches sonderlich der Spruch Jacob. 2. v. 19 bezeuget. Du gläubest daß ein einiger GOTT sey / du thust wohl daran / die Teuffel glaubens auch und zittern.“ 141 Die Herrschaft des Teufels wird im Traktat über die Rechtfertigung (Locus XII.) klarer bestimmt als Herrschaft des Todes (Hebr 2‚14), Knechtschaft unter das 137 HutterC 619. Ganz ähnlich ist dies in der Konkordienformel beschrieben (vgl. BSLK 813.1053). 138 BSLK 651. 139 Vgl. HutterC 190-193. Dass es sich beim Verhältnis zum Teufel um eine wirtschaftliche und vertragsrechtliche Relation handelt, lässt sich v. a. im lateinischen Text nachweisen: „sed homo sit peccati Servus, et mancipium Satanae, a quo agitatur“ (HutterC 192). Mancipium wird nach Menges Wörterbuch ausschließlich mit Kaufrecht und Vertragsrecht assoziiert und in dieser Weise übersetzt als „Kaufkontrakt“ oder „Kaufsklave“ (vgl. Menge, Langenscheidts Größwörterbuch Lateinisch, 457). Mancipium ist auch die Begrifflichkeit, die in der Konkordienformel in selbiger Thematik für die Relation vor der Bekehrung verwendet wird (vgl. BSLK 889). 140 „Was nützet die Tauffe? Sie wircket Vergebung der Sünden / erlöset vom Tode und Teuffel / und gibt die Ewige Seeligkeit / allen / die es gläuben / wie die Wort und Verheissung Gottes lauten.“ (HutterC 431; ebs. vgl. BSLK 515-516 [KlKat]). 141 HutterC 263. Die Ablehnung des bloßen Wissens um Ereignisse mit Verweis auf selbiges Wissen der Teufel findet sich auch in CA XX (vgl. BSLK 79). <?page no="197"?> 198 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Gesetz (Gal 4‚5) und Gebundenheit an die Macht der Hölle (Hos 13‚14). 142 Wer in Glaube und Taufe aus dem Besitz des Teufels unter Gottes Herrschaft gestellt ist, befindet sich im Stand der christlichen Freiheit (Locus XVIII: De libertate), welche die Freiheit vom unheiligen Triumvirat/ Quadriumvirat darstellt. „DIe Christliche Freyheit ist das Recht der Gläubigen in CHRIsto / durch welches sie von der Sünden Knechtschaft / von des Teuffels Tyranney / vom Fluch des Gesetzes / und vom ewigen Todt / […] befreyet worden.“ 143 Durch die unterschiedlichen Herrschaftsbereiche, in denen die Menschen sich befinden, entsteht im augustinischen Sinne eine Trennung zwischen dem Reich Gottes und seinen Heiligen und dem Reich des Teufels mit den zu ihm gehörigen Gottlosen, wie es das Compendium in Locus XVII. über die Kirche beschreibt. „Quia enim Ecclesia vera est regnum Christi, distinctum contra regnum Diaboli: certum autem est impios in potestate Diaboli, et membra regni Diaboli esse, sicut docet Paulus Eph. 2‚2. cum ait: Diabolum efficacem esse in incredulis“ 144 . Die Folge dieser Trennung bedeutet für die noch in der Welt stehende ecclesia militans, dass sie sich als kämpfende Gemeinschaft im andauernden Streit mit dem Satan wiederfindet. 145 Ein Mittel der kämpfenden Kirche sowie des einzelnen Christen gegen Nachstellungen und Anfechtungen des Satans findet die Kirche im vertrauensvollen Gebet zu Gott, wie es Locus XXV. (Von der Anrufung Gottes) beschreibt. „Denn wir sind dem Teuffel viel zu schwach / sampt seiner Macht und Anhang […]. Darüm thut solches einig und allein das Gebet / welches uns stärcker machet / als da sind der Teuffel und alle sein Anhang.“ 146 Die unverkennbare Linie des Compendiums besteht in der alles begleitenden Providenz (Locus VII.) und Prädestination (Locus XIII.) Gottes. „Das Gute gebeut [d. h. gebietet; HH] / schaffet und fortsetzet: Das Böse aber verbeut [d. h. verbietet; HH] und hasset / uund solches entweder gar verhindert / oder doch also und dieser Gestalt geschehen lässet / daß es auch / wider allen der Teuffel und 142 Vgl. HutterC 255; ebs. vgl. BSLK 918-919. 143 HutterC 391. 144 HutterC 372; ebs vgl. BSLK 237.241. 145 „Und die streitende Kirche / welche in sich begreiffet die Außerwehlten in diesem Leben / welche unter dem Fähnlein Christi wider den Teuffel / Welt und Fleisch / immer zu Felde liegen / und streiten müssen.“ (HutterC 375). 146 HutterC 523. Hutter bezieht sich auf einen Ratschlag Luthers (vgl. BSLK 669 [GrKat]). <?page no="198"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 199 Gottlosen Willen / endlich zu seinen Ehren / unnd seiner Außerwehlten Seeligkeit dienen sol und muß.“ 147 Gott steckt den Raum ab, innerhalb dessen der Teufel wirken darf und verwendet selbst dessen böse Taten für seine Zwecke. Dabei aber erhält er den Verheißungen gemäß die durch Glauben Gerechtfertigten wider alle Anfeindung; ohne Anfeindungen nämlich verläuft christliches Leben nicht. 148 Die Wirksamkeit des Teufels, von der auch Christen nicht verschont bleiben, besteht in der Reizung zur Sünde und zum Verlassen gottgewiesener Wege. In Locus VIII. über die Sünde heißt es zu deren Ursprung: „Sondern zum theil der Teuffel / welcher zu erst gesündiget / uund auch unsere Eltern zu sündigen angereizet / Joh. 8 / 44. Der Teuffel ist ein Lügener uund ein Vater der Lügen: Zum theil aber die Menschen selbst / welche des Teuffels eingeben / und ihrs Fleisches bösen Lüsten freywillig folgen“ 149 . Der Satan setzt v. a. bei den Schwächen und Trieben/ Lüsten des Menschen an, um sie in Versuchung zu führen‚ 150 er gebraucht den freien aber schwachen Willen des Menschen in Dingen des Lebens (Locus IX.: De libero arbitrio): „Und der Teuffel / […] reitzet ohne unterlaß die arme schwache Natur zu allen Sünden.“ 151 Die Versuchung des Menschen kann bis zur Verstockung führen: „Wie verhärtet denn der Teuffel die Menschen? Mit Abtreibung / anreizung / und Beredung / ja mit Anweisung guter Gelegenheit zu sündigen / 1. Chron. 21 / 1.“ 152 Ausgeschlossen ist nach Hutter eine Sündenursächlichkeit Gottes - zwar ist es nach dem Artikel zur Providenz (Locus VII.: De providentia) möglich, dass Gott Menschen verlässt, seinen Geist entzieht und so ihren Sünden und dem Teufel überlässt, dies aber nur als nachgängiges gerechtes Gerichtshandeln: 153 „Und 147 HutterC 143. 148 „Quid de Conservatione? Idem Deus in aeterno suo consilio proposuit, se justiicatos in multiplici et varia ipsorum infirmitate, adversus Diabolum, mundum et carnem defensurum, et in viis suis gubernaturum, et si lapsi fuerint, manum suppisiturum, ut in cruce atque tentationibus solidam consolationem percipiant, atque ad vitam conserventur.“ (HutterC 284-286). 149 HutterC 155. Entsprechendes lehrt auch CA XIX (vgl. BSLK 75) und die Konkordienformel (vgl. BSLK 847). 150 Hutter empfiehlt im Traktat über die christliche Freiheit (Locus XVIII.) ein gelegentliches Fasten, um das schwache Fleisch in Zaum zu halten gegen teuflische Anstürme (vgl. HutterC 399), allerdings sei besondere Sorgfalt geboten, denn nach 1Tim 4‚1-4 könne der Teufel auch Kirchenzeremonien, die zu neuen Gesetzlichkeiten und scheinbaren verdienstvollen guten Werken werden, für seine Zwecke missbrauchen (vgl. HutterC 399), wie es schon CA XXVI formulierte (vgl. BSLK 104-105). 151 HutterC 189; ebs. vgl. BSLK 311. 152 HutterC 151. 153 Vgl. HutterC 149-151. <?page no="199"?> 200 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten also reitzt der Teuffel: Der Mensch bewilliget: GOtt verläst.“ 154 Das Reich Satans hat letztendlich keinen Bestand, wie die Passagen zum Jüngsten Gericht (Locus XXXII.) und zur Hölle (Locus XXXIII.) erläutern. Nach biblischem Zeugnis ist eine letztgültige Scheidung und Verwerfung/ Verdammung zur Hölle für den Teufel und seine Gefolgschaft ausgesagt (Mt 25‚34.41; Mt 13‚49.50). 155 „Dann unser HErr Jesus Christus wird am Jüngsten Tage kommen zu richten / und alle Todten aufferwecken / […] Die Gottlosen Menschen aber / und die Teuffel in die Hölle und ewige Straff verdammen / da sie ewige Quaal und Pein haben werden.“ 156 Eine Wiederbringung oder ein Ende der Höllenqualen ist nach Hutter mit Bibel und Bekenntnisschriften nicht vereinbar und muss als Irrlehre verworfen werden. 157 Im Ganzen zeigt sich ein Bild, das den Teufel als gefallenen Engel darstellt, der einzig in dem Raum wirken kann, den Gott ihm zuweist. Christen stehen unter Gottes Herrschaft und Schutz, wenngleich sie in ihrer irdischen Existenz nicht von Anfechtungen des Teufels verschont bleiben, der stets versucht, Menschen vom Heil zu entfernen. Der Teufel ist durch Christus besiegt, dieses ultimative Ereignis wird sich am Jüngsten Tag deutlich offenbaren, wenn der Teufel nebst Gefolgschaft in die Hölle zur ewigen Strafe verbannt wird. „Diese unbestrittene Vorrangstellung [sc. als Standardlehrbuch] büßte das Compendium erst zu dem Zeitpunkt ein, als Johann Andreas Quenstedt (1617-1688) in Wittenberg damit begann, seinen Vorlesungen das im Jahre 1664 erstmals erschienene dogmatische Lehrbuch seines Rostocker Kollegen Johann Friedrich König (1619-1664) mit dem Titel Theologia positiva acroamatica (erstmals 1664 gedruckt) zugrunde zu legen.“ 158 Dieses Buch lehrt zur Satanologie in ähnlichen Bahnen wie Hutters Compendium. König versucht, biblische und bekenntnismäßige Lehre zusammen zu binden und metaphysische Spekulationen, die außerhalb dessen liegen, zu ver- 154 HutterC 151. 155 Vgl. HutterC 606-607. 156 HutterC 601.613. Entsprechende Vorstellung findet sich in CA XVII (vgl. BSLK 72) und ApolCA (vgl. BSLK 310). 157 Vgl. HutterC 613. Die Apokatastasislehre war davon ausgegangen, dass es eine letztendliche Rettung auch für den Teufel geben würde. Offenbar war zur Entstehungszeit der CA diese Frage wieder virulent. So heißt es in CA XVII wortgleich mit Hutter: „Derhalben werden die Wiedertaufer verworfen, so lehren, daß die Teufel und verdammte Menschen nicht ewige Pein und Qual haben werden.“ (BSLK 72). 158 Steiger, Leonhard Hutters Compendium Locorum Theologicorum, 116. <?page no="200"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 201 meiden. 159 Wenngleich König weniger eng als Hutter am Wortlaut der Bekenntnisse bleibt, ist doch inhaltlich im Traktat „De angelis“ (§. 169.-232.) eine weitestgehende Übereinstimmung mit dem Vorgängerlehrbuch zu verzeichnen. 160 Eine Besonderheit besteht in einem gesonderten Abschnitt „Von der geistigen und körperlichen Besessenheit“ (§. 220.-232.)‚ 161 wobei dieser v. a. die auch bei Hutter genannten Fragen der Eigentumsverhältnisse von Gott und Teufel an einzelnen Menschen behandelt. Besessenheit im Sinne der „Einwohnung des Satans selbst im menschlichen Körper“ 162 findet sich kurz in §. 230.-232. und wird als seltenes und klar gegen medizinische Indikationen abzugrenzendes Phänomen beschrieben. Der Grundgedanke, dass die Lehre vom Teufel gedanklich schwer fassbar, aber dem biblischen Zeugnis zu entnehmen und daher unverzichtbar ist, hält sich durch Hutter und König noch Jahrzehnte weiter im Lehrgebäude der orthodoxen Theologie. Obwohl alles andere als orthodox geltend, kommt nicht einmal der Namenserbe Karl von Hase in seinem „Hutterus Redivivus“ umhin zuzugeben, dass die Lehre vom Teufel und den bösen Engeln eine durch Schrift bedingte Anerkennung verlangt, wenngleich sie gedanklich in allerlei Unstimmigkeiten hineinführt. 163 159 „Sunt etiam ordines certi inter angelos, at, qui et quales, incertum, Eph. 1‚21. Col. 1‚16.“ (König, Theologia positiva acromatica, 84). 160 Vgl. König, Theologia positiva acromatica, 80-93. Auch bei König ist der Teufel in das schon mehrfach aufgezeigte Quadriumvirat eingezeichnet: „[…] durch die Zahlung des Lösegeldes des vollkommenen Gehorsams für alle und jeden einzelnen vom Zorn Gottes, vom Gesetzesfluch, von der Sünde, vom Teufel, vom Tod und von der Hölle befreit“ (König, Theologia positiva acromatica, 279). 161 Vgl. König, Theologia positiva acromatica, 90-93. 162 König, Theologia positiva acromatica, 93. 163 Entsprechende Passage (De angelis bonis et malis) findet sich in Locus X (vgl. Hase, Hutterus Redivivus, 176-186). „Aber das aufgeklärte Verleugnen des Teufels selbst, da seine Existenz u. Wirksamk. doch kraft der H.S. gewiss ist, muss für den stärksten Beweis sr. Gewalt u. List gehalten werden, um uns in fleischl. Sicherh. zu wiegen, da ein Feind nirgends gefährlicher ist, als wenn seine Existenz u. Macht verkannt wird. Man hat oft damit angefangen den Teufel zu leugnen, u. mit der Verleugnung Xti aufgehört.“ (Hase, Hutterus Redivivus, 185). <?page no="201"?> 202 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Paul Gerhardts Lieder und ihre Teufelsbilder Textbasis Vordergründig richtet sich meine Untersuchung auf den EG-Stamm und dessen Vorgänger (EKG-Stamm). Gerhardt war mit 30 164 Liedtexten, neben Luther (ebenfalls 30 Texte), der meistvertretene Dichter im 1950 veröffentlichten EKG- Stamm (ca. 8 % bei 394 Liedern) mit seiner deutlichen Konzentration auf das 16. und 17. Jahrhundert. 165 Im EG-Stamm entfallen auf Gerhardt immer noch 26 166 Dichtungen (ca. 5 % bei 535 Liedern), unter Einbezug der Regionalteile ließe sich die Anzahl deutlich erhöhen. 167 Ähnlich wie bei Luther (s. Kap. 6.) scheint mir im Falle Gerhardts eine breitere Untersuchung angezeigt, entsprechend wende ich mich über den EG-Stamm hinausgehend dem gesamten deutschen dichterischen Werk Gerhardts zu‚ 168 um damit eine bisher nicht geleistete Aussage zur Satanologie in Gerhardts Opus 164 EKG 10.27.28.29.30.42.62.63.64.86.105.172.185.197.230.231.232.250.294.295.296.297.326.346. 347.348.361.371.384.392 (vgl. HEKG II/ 1, 192). 165 Dieser Befund verwundert wenig, wenn man die Abhängigkeit des EKG vom DEG [1915] mit seinen 32 Gerhardt-Dichtungen bei einem Stamm von 342 Liedern bedenkt (9 %)! Bunners hat das Vorkommen von Gerhardtliedern in Gesangbüchern des 20. Jh. untersucht und kann herausstellen, dass er nicht nur in regulären Liederbüchern stark vertreten ist, sondern auch in Kinder- und Jugendsammlungen beachtlichen Anteil hat (vgl. Bunners, Paul Gerhardt, 266-267). 166 EG11.36.37.39.58.83.84.85.112.133.283.302.322.324.325.351.361.370.371.446.447.449.477.497. 503.529 (vgl. Bunners, HEG II, 110). 167 Vgl. Bunners, HEG II, 110. 168 Eine Gesamtausgabe der bekannten Dichtungen, die gegenwärtigen Editionsrichtlinien entspricht, liegt bislang nicht vor und entfacht damit breite Diskussion darüber, welche Ausgabe Grundlage einer Untersuchung sein dürfe (vgl. Stegmann, Bibliographie und Literatur zu Paul Gerhardts Leben, 333-334). Ein Grund für die ausstehende Edition ist in der komplexen Art der Überlieferung und der noch zu Gerhardts Lebzeiten von ihm selbst vorgenommenen Änderungen zu sehen (vgl. Bunners, Paul Gerhardt, 255-265; ebs. vgl. Reinitzer, Bibel, Gesetz und Evangelium in Liedern von Paulus Gerhardt, 33-34). Wie beschrieben, verwende ich die unkritische, in Orthographie modernisierte, einen Mischtext bietende Fassung Cranach-Sicharts von 2007 (im Folgenden: CS Liednummer). Im persönlichen Austausch mit Günter Balders als ausgewiesenem Gerhardtexperten, bin ich zur Einsicht gelangt, dass für meine Forschungsfragen diese Textfassung ausreichend ist, da inhaltlich keine für mich relevanten Veränderungen vorgenommen wurden. Ähnlich verfährt Grosse, obwohl er eine dezidiert kirchenhistorische Arbeit vorgelegt hat (vgl. Grosse, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, 16-17). Bei Texten, die das EG bietet und die zu CS keine relevante Veränderung aufweisen, werde ich auch daraus zitieren. Anmerkungen zur Pragmatik bei EG-Gesängen beziehen sich, wie in der Tabelle ersichtlich, auf die Ursprungsfassungen. <?page no="202"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 203 tätigen zu können. Das Werk des Barockpoeten ist mit 139 deutschen Gedichten überschaubar und eignet sich entsprechend für eine Gesamtbetrachtung. Von den 26 EG-Liedern kommen für meine Fragestellung 9 Gesänge (ca. 35 %) in Betracht‚ 169 da sie explizit das personale Böse benennen - für Böses im Allgemeinen wäre die Zahl natürlich höher. Die entsprechenden Lieder sind identisch mit denen, die schon der EKG-Stamm bot, einzig „Schwing dich auf zu deinem Gott“ (EKG 296) ist im EG nicht mehr vertreten als Gesang, der den Teufel explizit und weitläufig beschreibt. 170 Vergleicht man die Textfassungen der entsprechenden EG- und EKG-Gesänge, besteht große Übereinstimmung in Bezug auf die Thematik des Teufels - einzig in EG 39 ist moderat geändert worden zu „uns, die Satan hat betrogen“ (EG 39/ 4) gegenüber der EKG-Formulierung „uns, die Satanas betrogen“ (EKG 29/ 4). 171 Auch die Strophen sind in ihrer Anzahl vom EKG ins EG ohne weitere Veränderungen übernommen worden - ausgenommen „Sollt ich meinem Gott nicht singen“ (EG 325), bei dem gegenüber EKG 232 die achte Strophe entfallen‚ 172 wobei diese keinerlei Bezug zum Teufel hatte und damit zu vernachlässigen ist. EG 325 kommt ohnehin mit seinem abgedruckten Text aus EG/ EKG nicht in Betracht, sondern nur in Originalgestalt einschließlich Strophe 8. 173 Damit zeigt sich bei Gerhardts Dichtungen, ähnlich wie bei Luther, dass die Fachkommissionen bei der EG-Erstellung entgegen selbstbenannter Problematisierung der Teufelsvorstellungen sich vor Eingriffen in die überkommenen Fassungen scheuten. 174 Vergleicht man die Textgestalten im EG/ EKG mit den originalen, leicht modernisierten Fassungen bei Cranach-Sichart, gelangt man zu etwas anders gelagerten Ergebnissen. Dass allerdings bei Liedern, die in der Regel deutlich länger an Strophen sind als z.B. jene des Reformators, nicht alle übernommen wurden, kann kaum verwundern - zumal man im Gerhardtschen Liedgut häufig einen an den Parallelismus Membrorum hebräischer Psalmen erinnernden Stil vor- 169 Vgl. Tab. 2 Sp. „EG Nr.“. 170 Vgl. Tab. 2 Sp. „EKG Nr.“. 171 Vgl. Tab. 2 Sp. „Veränderungen von EKG zu EG“. Andere Fragen, die Textveränderungen betreffen, sind, wie erwähnt, mit der Synopse von Dieter Frahm eingehender zu klären (Frahm, Synopse zum Evangelischen Gesangbuch [1996]), allerdings zeigt sich für die in meiner Übersicht verzeichneten Gesänge kaum eine Veränderung, abgesehen von gelegentlichen Anpassungen der alten lateinischen Kasusendungen an modernen Sprachgebrauch. 172 Vgl. Frahm, Synopse zum Evangelischen Gesangbuch, 70. 173 Vgl. Tab. 2 Sp. „Verhältnis EG/ EKG und Original“. 174 Vgl. Rößler, Prospekt eines Projekts, 15. <?page no="203"?> 204 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten findet‚ 175 was nicht selten Kommissionen dazu verleitet haben dürfte, inhaltlich ähnliche Strophen gegenüber der Vorlage zu reduzieren. 176 Eine Reduktion der Strophen findet daneben aber auch bei expliziten Erwähnungen des Satans statt. So ist bei „Auf, auf, mein Herz, mit Freuden“ (EG 112) die plastisch formulierte Strophe 3, die vom Schlangentreter Christus (Gen 3‚15; Röm 16‚20) berichtet und damit die Strophe 2, die schon den Sieg benennt, inhaltlich noch triumphaler weiterführt, ausgelassen. 177 „Sollt ich meinem Gott nicht singen“ (EG 325) ist durch den Ausfall der ursprünglichen Strophe 8 „satansfrei“ geworden. 178 „Ist Gott für mich, so trete“ (EG 351) scheint ebenfalls von bösen Mächten übernatürlicher Art unberührt zu sein (die Engel in Strophe 12 ausgenommen), doch die eliminierte Strophe 11 des Originals berichtet, dass „Satan fleucht und haßt“ (CS 82/ 11). In „Wach auf, mein Herz, und singe“ (EG 446) hat sich die Kommission ebenfalls entschlossen die auf den Satan referierende Strophe 3 auszulassen, in welcher der Teufel als fressender Schlund (1Petr 5‚8) dargestellt ist. 179 Für die Benennungen des Teufels relevant ist eine Veränderung in „Die güldene Sonne voll Freude und Wonne“ (EKG 346/ EG 449), bei der aus „Luzifers Banden“ (CS 37/ 5) „Satanas Bande“ (EG 449/ 5) geworden sind. Ausgesprochen weit in die Strophenanzahl wurde bei „Schwing dich auf zu deinem Gott“ (EKG 296, nicht im EG) eingegriffen, bei dem nicht nur diverse Strophen entfallen sind, sondern zugleich inhaltlich ganz massive Formulierungen zu Wesen und Werk des Teufels. 180 Das trotz der Eingriffe immer noch häufige Auftreten des Teufels in den EG-Texten ist allerdings keiner schiefen und das Gesamtbild Gerhardts verzerrenden Auswahl geschuldet, sondern entspricht dem Befund, der sich auch 175 „Im einzelnen beruht diese rhetorische Langatmigkeit und Ausführlichkeit der Lieder Paul Gerhardts […], auf einer großen Vorliebe des Dichters für Wiederholungen und Erweiterungen mittelst bekannter Wendungen und Verbindungen.“ (Aellen, Quellen und Stil der Lieder Paul Gerhardts, 39). V.a. in Psalmliedern, bei denen sich der Poet eng an biblische Vorlagen anlehnt, ist dieser Zug besonders ausgeprägt (vgl. Brodde, Zur Typologie der Paul-Gerhardt-Lieder, 338-339). Dass die Dichtungen überhaupt so zahlreich an Strophen werden konnten (CS 64 z.B. mit 25 Str.) liegt auch in der beabsichtigten sekundären Aufgabe dieser Dichtungen begründet, nämlich neben Gesang zugleich Erbauungstext zum stillen Lesen zu sein (vgl. Henkys, Die Lieder Paul Gerhardts, 36-37). 176 Zum Nachvollzug der ausgefallenen Strophen sei auf meine Übersicht verwiesen (vgl. Tab. 2 Sp. „Verhältnis EG/ EKG und Original“). Ein gutes Beispiel für inhaltlich kaum voranschreitende und deshalb ausgeschiedene Strophen ist mit „Zieh ein zu deinen Toren“ (EG 133) gegeben. Die Str. 9-11 (CS 29) behandeln das erbetene Wirken des Heiligen Geistes als Friedensstifter und Sündenüberführer, bzw. Bußanleiter, allerdings sind diese Gedanken weniger ausführlich schon in Str. 7.8 eingeführt. 177 Vgl. CS 29. 178 Vgl. CS 99. 179 Vgl. CS 35. 180 Vgl. CS 81. <?page no="204"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 205 aus der Untersuchung des Gesamtwerkes erheben lässt. Im EG lag ein Verhältnis von 9/ 26 (satanslastige Texte/ Gesamtanzahl) vor, betrachtet man das Gesamtwerk zeigt sich ein Verhältnis von 41/ 139 (ca. 29 %) - womit sowohl in der EG-Auswahl als auch im vollständigen Werk in etwa einem Drittel der Liedtexte wenigstens einmal der Teufel auftritt. Allein dieses Ergebnis sollte die Bedeutung des Teufels für die Theologie und Glaubenswelt des Dichterpfarrers verdeutlichen, aber auch die Zeiten der jeweiligen Erstveröffentlichungen der Lieder lassen eine Übereinstimmung meiner EG-Auswahl mit dem Gesamtwerk Gerhardts erkennen. Relevant sind v. a. die zweite Ausgabe des Praxis Pietatis Melica (1647), deren fünfte Auflage (1653) und die Ebelingsche Ausgabe der Geistlichen Andachten (1666/ 1667) als entscheidende Zeiten zur Sammlung und Veröffentlichung der Gerhardtschen Dichtungen - gelegentlich finden sich auch in späteren Ausgaben noch Erstveröffentlichungen. 181 Sowohl bei den im EG gefundenen Gesängen als auch im Gesamtkorpus kann von einer Kumulation um ein bestimmtes Datum herum - etwa im Sinne einer für Gerhardt besonders dunklen bzw. depressiven Phase - keine Rede sein, vielmehr ziehen sich Lieder, die vom Teufel handeln, wie selbstverständlich durch das gesamte Werk durch. 182 Es ist deutlich, dass mit dem Teufel in Gerhardts Liedern eine Zentralfigur bestimmt ist, wie sie sich zeitgleich auch im orthodoxen Lehrgebäude zeigt. Rubriken/ Themenfelder Mit dem Ergebnis, dass Erwähnungen des Teufels die gesamte dichterische Schaffenszeit Gerhardts umfassen, drängt sich die Frage auf, in welchen thematischen Zusammenhängen der Teufel erscheint. Es ist durchaus von Bedeutung, in welchen Rubriken der Satan als Element auftaucht, denn die Zuordnung zu 181 Die drei genannten Bücher versammeln 1647 erstmals einige Gedichte Gerhardts, dann 1653 schon über 80, Ebeling erweitert diese Sammlung auf 120 (vgl. Grosse, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, 19; ebs. vgl. Barnikol, Paul Gerhardt, 431; ebs. vgl. Bunners, Paul Gerhardt, 382-385). 182 Vgl. Tab. 2 Sp. „Alter Text“. Natürlich gibt die Erstveröffentlichung eines Werkes nicht vollends Kunde über dessen tatsächliche Produktionszeit. „1653 erschien die fünfte Auflage der ‚Praxis Pietatis Melica‘ - nunmehr schon mit 82 Liedern Gerhardts statt 18 im Jahre 1647. Zu dieser Zeit hielt Gerhardt sich bereits in Mittenwalde auf. Wann die meisten der vorgelegten Lieder entstanden sind, ob noch in Berlin bis 1651, ob gar schon vor 1647 oder erst in Mittenwalde - das bleibt in den meisten Fällen unaufklärbar. In der Forschung wird im allgemeinen die Mittenwalder Zeit für besonders produktiv gehalten.“ (Bunners, Paul Gerhardt, 57). Für Gerhardts erste Berliner Zeit (1643-1651) sind nur vereinzelte Gelegenheitsgedichte für den Bekanntenkreis im Berliner Bürgertum bekannt (vgl. Bunners, Paul Gerhardt, 57). <?page no="205"?> 206 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten bestimmten Tagen oder Zeiten im Kirchenjahr gibt gleichsam ein Interpretationsangebot und eine Leseanweisung mit. 183 Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Gerhardt bewusst Beiträge leisten wollte zu üblichen Gesangbuchrubriken‚ 184 wie sie seit Babst [1545] weithin Konsens waren‚ 185 wenngleich zu Gerhardts Zeit weiter aufgefächert. Allerdings hat der Dichtertheologe nie selbst Lieder veröffentlicht, womit ursprüngliche Intentionen und Rubrikenzuweisungen zum Teil spekulativ bleiben müssen. 186 Sinnvoll scheint mir der Vorschlag Grosses, der empfiehlt, sich v. a. an der Ausgabe von Cranach-Sichart zu orientieren, da deren Rubrizierung auf der zu Gerhardts Mittenwalder Zeit entstandenen fünften Auflage der Praxis Pietatis Melica [1653] aufbaut - wenngleich Cranach-Sichart die darin nicht enthaltenen bzw. noch nicht geschriebenen Lieder entsprechend selbstständig zuordnete. 187 Dieser Rubrikenzuweisung folgt meine Übersicht und ergänzt gelegentlich Aspekte aus der Auflistung über Liedzuweisungen zum liturgischen Jahr, die Bunners verantwortet hat. 188 Für die satanologisch relevanten Gerhardt-Lieder des EG/ EKG lässt sich eine erstaunliche Kontinuität gegenüber den Zuweisungen in den Erstveröffentlichungen ausmachen. 189 Bei drei der neun Gesänge in EG/ EKG erscheint der Teufel im Bereich der De tempore-Lieder. Bei Weihnachten findet sich „Kommt und laßt uns Christus ehren“ (EG 39)‚ 190 das von der Menschwerdung Gottes 183 „Die frühen Gesangbuch- und Gerhardt-Gesamtausgaben enthalten oft Angaben darüber, welche Lieder sich für einzelne Sonn- und Feiertage im Ablauf des Kirchenjahres eignen. Solche Vermerke dienten dem einzelnen Gläubigen bei seiner Andacht zur Orientierung […]. Da jeder Sonn- und Feiertag durch seine festliegenden biblischen Lesungen ein spezielles Gepräge trug, stellen diese frühen liturgischen Zuordnungen wichtige Interpretationshinweise für Gerhardts Lieder dar.“ (Bunners, Paul Gerhardt, 376). 184 Vgl. Grosse, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, 90. 185 Vgl. Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 45-50. 186 Vgl. Grosse, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, 90. 187 Vgl. Grosse, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, 91-92. 188 Vgl. Tab. 2 Sp. „Klassische Zuweisung (nach CS)“. Bunners hat anhand der frühesten Sammlungen (u.a. Crüger, Ebeling, Feustking) Lieder entsprechenden Sonntagen mit ihren je klassischen Evangelien zugeordnet (vgl. Bunners, Paul Gerhardt, 376-382). Interessant ist dabei die durchaus vielfache Zuordnung, die einzelne Lieder erfahren haben - „Warum sollt ich mich denn grämen“ (CS 83/ EG 370) findet sich z.B. am 2. Advent, am 1. Sonntag nach Trinitatis, aber auch am 1. Sonntag nach Epiphanias zugeordnet (vgl. Bunners, Paul Gerhardt, 377-380). 189 Vgl. Tab. 2 Sp. „EG Rubrik“; „EKG Rubrik“; „Klassische Zuweisung (nach CS)“; ebs. vgl. Bunners, Paul Gerhardt, 376-382. 190 Dieses Lied war ursprünglich wohl für Epiphanias vorgesehen (vgl. Bunners, Paul Gerhardt, 377), was allerdings im Kirchenjahr stets in enger Verbindung mit Weihnachten steht. So feiert noch heute die armenische Kirche am 6. Januar das Geburtsfest Christi (vgl. Bieritz, Das Kirchenjahr, 109). <?page no="206"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 207 singt, was der Entmachtung von Hölle, Tod und Teufel gleichkommt. 191 Zu Ostern begegnet „Auf, auf, mein Herz, mit Freuden“ (EG 112) und zu Pfingsten „Zieh ein zu deinen Toren“ (EG 133). Damit findet sich zu den hohen Christusfesten je ein Gesang Gerhardts im EG und ebenso zum mittelbar mit Christus verbundenen Pfingstfest. Scheinbar besteht eine spezifische Nähe der Satansthematik zu Christusfesten - dort wo Christi Macht und Herrschaft über Welt und Menschen proklamiert wird, wird auch die Herrschaft und der Sieg über den Teufel verkündet. Die Nähe des Teufels zu Christusfesten lässt sich auch am Gesamtwerk nachweisen. Unter den 41 von mir aufgefundenen Gesängen (inklusive EG), entfallen 14 auf De tempore-Lieder - eines auf den Advent (CS 2), drei auf Weihnachten‚ 192 vier auf die Passion‚ 193 drei auf Ostern 194 und drei auf Pfingsten 195 . Das einzige belegte Trinitatislied Gerhards überhaupt, „Was alle Weisheit in der Welt“ (CS 32), hat keinen Eingang ins EG erhalten, noch handelt es vom bösen Feind und erscheint folglich nicht in meiner Übersicht. Neben dem Befund, den die EG-Auswahl bot, kommt durch Sichtung des Gesamtwerkes eine weitere Rubrik hinzu - auch die Passion Jesu steht in engem Zusammenhang mit dem Satan, das Ringen des leidenden Gottmenschen ist gleichsam Ringen mit dem Satan. Aber bei nur 14/ 41 Liedern, die zu den Kirchenjahresgesängen zu rechnen sind, wird ebenso deutlich, dass der Schwerpunkt der Lieder bei anderen Rubriken liegen muss - nur ein Drittel der Befunde ist den De tempore-Gesängen zugeordnet, sowohl im Gesamten als auch im EG. 196 Im EG verteilen sich die anderen sechs Gesänge auf zwei Morgen- und einen Abendgesang‚ 197 zwei auf die Rubrik „Angst und Vertrauen“‚ 198 sowie einer auf „Rechtfertigung und Zuversicht“ (EG 351) 199 . Der Teufel ist demnach eine Gestalt, welche im Tageslauf ebenso wie im Lebenslauf der Christen von großer Bedeutung ist. Dieses Ergebnis lässt sich auch am Gesamtwerk erhärten; dort 191 „Sünd und Hölle mag sich grämen, / Tod und Teufel mag sich schämen“ (EG 39/ 2). 192 CS 4.7.8. 193 CS 15.19.21.25. 194 CS 26.27.28. 195 CS 29.30.31. 196 Dies korrespondiert mit der grundsätzlichen Feststellung, dass von den 139 bekannten Dichtungen nur 32 direkt dem Kirchenjahr zugerechnet werden (CS 1-32). 197 „Wach auf, mein Herz, und singe“ (EG 446); „Die güldene Sonne voll Freude und Wonne“ (EG 449); „Nun ruhen alle Wälder“ (EG 477). 198 „Befiehl du deine Wege“ (EG 361); „Warum sollt ich mich denn grämen“ (EG 370). Die Rubrik „Angst und Vertrauen“ findet im EKG eine Entsprechung in „Gottvertrauen / Kreuz und Trost“, worin vorgenannte Lieder eingruppiert sind. 199 „Ist Gott für mich, so trete“ (EG 351) war im EKG (EKG 250) noch in „Christlicher Glaube und christliches Leben“ eingeordnet. <?page no="207"?> 208 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten zeigen sich neben einem weiteren Abendlied (CS 39) 200 , vor allem Lieder aus dem Bereich „Gebet und christliches Leben“ (5x) 201 , „Kreuz und Trost“ (7x) 202 sowie „Lob und Dank“ (5x) 203 . Zu diesen Gesängen, die den Lebens- und Tageskreis des Christen in seinen Ambivalenzen umfassen und darzustellen suchen, lassen sich noch ein Lied über „Tod und ewiges Leben“ (CS 129) und eines zur „Rückkehr von der Reise“ (CS 43) stellen. Komplettiert wird dieser Durchgang durch für meine Untersuchung relevante Dichtungen Gerhardts mit Berücksichtigung der einzigen beiden Sakramentenlieder, eines zum Abendmahl (CS 34) und eines zur Taufe (CS 33), sowie eines Bußliedes (CS 51). 204 Dieser Überblick macht v. a. sichtbar, dass, ähnlich wie in Hutters Compendium, der Teufel bei Gerhardt ein allgegenwärtiger und alle Bereiche seines Werkes durchziehendes Element ist. Schon anhand der bisher dargestellten Rubriken ist es möglich, die bei Hutter erarbeiteten Dogmatiktraktate, in denen der Satan eine Rolle spielt, wiederzuerkennen (z.B.: Christologie, Schöpfungs- und Vorsehungslehre, Pneumatologie, Ekklesiologie, Sakramentenlehre, Eschatologie). Wäre das Ordnungsraster bei Cranach-Sichart differenzierter, wäre es durchaus möglich, weitere katechetische Inhalte, die an Hutters Compendium herausgestellt wurden, darzulegen. Es wird unten zu zeigen sein, dass auch die Lehre von der Schrift und von Sünde und Erlösung in Gerhardts Liedern ihre eigene Ausprägung erfahren hat. Mit diesen Einsichten beim Abschreiten des Werkes kann auch ein vorauseilendes Generalurteil über Gerhardt untermauert werden. „Das Vertrauenslied ist eigentlich der Liedertypus unter Paul Gerhardts Liedern, der des Dichters einzigartige Stellung in der Geschichte des Kirchenliedes ausmacht. Würden Gerhardts Tagzeitenlieder unserm Singen fehlen, entstünde eine Lücke, die sich durch andere Lieder etwa beheben ließe. Würden Gerhardts Lieder zum Kirchenjahr fehlen, so wäre die Lücke schon empfindlicher. Würden Gerhardts Vertrauenslieder fehlen, so wäre die entsprechende Lücke kaum auszufüllen! Denn Paul Gerhardt ver- 200 Zu „Der Tag mit seinem Lichte“ (CS 39) ist zu bemerken, dass nicht wortwörtlich vom Teufel gesprochen wird, sondern vom Feind: „So wird mich nicht erschrecken / Der Feind mit tausend Listen / Der mich und alle Christen / Verfolget Tag und Nacht“ (CS 39/ 6). Der Feind in Abendliedern ist allerdings eine bekannte und erwartbare Figur, die potentiell auf den Satan verweist. 201 CS 56.57.59.60.62. 202 CS 68.81.82.83.84.90.91. 203 CS 99.102.105.111.113. 204 Der Vollständigkeit halber ist noch ein nicht eigens rubriziertes Gelegenheitsgedicht (theologisches Streitgedicht) zu nennen: CS 138. <?page no="208"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 209 tritt in einzigartiger Weise den Liedtypus, den man vielleicht als seelsorgerliche Anamnese bezeichnen kann.“ 205 Kaum eine Darstellung oder Beschäftigung mit diesem Dichter kommt umhin, ihn gleichsam als begabten Seelsorger zu beschreiben, bei dem ein Großteil seines Werkes Trost und Vertrauen in Kreuz und Anfechtung spenden wollen. 206 Von den aufgefundenen 41 Liedern im Gesamtwerk Gerhardts beziehen sich 23 (56 %) auf den Lebens- und Tageslauf der Christen - man könnte anders formulieren, dass der Teufel nicht nur in klassischen dogmatischen Traktaten, sondern in den Höhen und Tiefen der schlichten Alltäglichkeit sein Haupthabitat zugewiesen bekommen hat. Bei dieser Feststellung wundert es ein wenig, dass kein einziges Lied aus dem Bereich Ehe/ Freundschaft (CS 44-49) in meiner Auflistung erscheint, zumal es nach Hutter gerade der Satan ist, der die Lüste anreizt und somit eine Gefährdung für den Ehestand darstellt. Die grundsätzliche Verteilung der Teufelsthematik auf die gesamte Schaffensperiode findet auch in der Rubrizierung ihren Widerhall; eine zeitliche Kumulation auf konkrete Rubriken/ Thematiken lässt sich in den 41 aufgefundenen Liedern nicht nachweisen. Einzig die Sakramentslieder (CS 33.34) stechen mit ihrer Einordnung am Ende der Schaffensperiode (1666/ 1667) des Dichters hervor - wobei aufgrund ihrer Singularität im Werk daraus noch keine belastbare These abgeleitet werden kann. Allerdings liegt die Vermutung nahe, dass Gerhardt gerade in den Jahren, in denen er sich verstärkt mit lutherischer Lehre 205 Brodde, Zur Typologie der Paul Gerhardt Lieder, 340. Brodde entwickelt eine eigene Einteilung/ Klassifizierung zu Gerhardts Werk. Dabei beschreibt er das Reformationsjahrhundert als Primärschicht, die sich in liturgischen Liedern, Lehrliedern und evangelistischen Liedern darstellte, im Zeitalter der Gegenreformation hingegen hätte sich eine Sekundärschicht darüber ausgebildet, die sich in Vertrauensliedern, Liedern von Tod, Gericht und ewigem Leben sowie perikopenbezogenen Liedmeditationen ausdrückt (vgl. Brodde, Zur Typologie der Paul Gerhardt Lieder, 333-336). Das Vertrauenslied beschreibt Brodde als die sekundäre Schicht des ursprünglichen Lehrliedes: „Zukunftsweisend - und für Paul Gerhardt geradezu ein Grundtypus - wurde ein anderer Liedtypus, der auch aus dem Lehrlied entstand: das Vertrauenslied.“ (Brodde, Zur Typologie der Paul Gerhardt Lieder, 334). 206 „Den breitesten Raum nehmen in den 134 [139! ; HH] Liedern Gerhardts die ein, die von Kreuz und Trost handeln (29). Das ist für die auch nach dem Kriege noch lange nicht beruhigte Zeit, in der sie geschrieben wurden, nicht verwunderlich. An zweiter Stelle stehen die zu Lob und Dank (24), an dritter, die sich mit Tod und ewigem Leben befassen (19). Tod und ewiges Leben ist für Gerhardt ein einziger, untrennbarer Begriff. Die Gebets- und Bußlieder schließen sich an (16); alle übrigen, und das sind neben den genannten verhältnismäßig wenig, verteilen sich auf das Kirchenjahr und die Tageszeiten.“ (Cranach-Sichart, Einleitung, 22; ebs. vgl. Hauschildt, Die Botschaft der Reformation in den Liedern Paul Gerhardts, 65). Sparn versteht Lieder zu Kreuz und Trost gar das Spezifikum des 17. Jh. (vgl. Sparn, Vom Wir zum Ich, 93). <?page no="209"?> 210 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten beschäftigte und sie gegen fürstliche und reformiert orientierte Anfeindungen im Berliner Kirchenstreit behaupten musste, auch dogmatischere Themen in den Gesang der Gemeinde und zu deren Bekenntnis einbringen wollte. 207 Teufelsnamen und weitere Textgegenstände Für ein vertieftes Verständnis der Teufelsanschauung Gerhardts ist eine Untersuchung der konkreten Teufelsbenennungen und ihrer Umgebung sowie Traditionsbezüge unerlässlich. Bei Betrachtung der EG-Texte stößt man in den analysierten neun Liedern auf die Bezeichnungen Satan (6x), Teufel (2x), Schlange (1x), Feind (2x), Rotten (4x), böser Geist (1x), Fürsten (1x), Engel (1x) und dunkle Schatten (1x). Diese 19 Belege verteilen sich relativ gleichmäßig auf die neun verschiedenen Bezeichnungen. Nimmt man in den Betrachtungsrahmen noch ausgefallene Strophen auf, vermehrt sich der Befund um je zwei weitere Stellen mit Satan und Feind, sowie eine Belegstelle, die ursprünglich Luzifer statt Satan schrieb. 208 Betrachtet man das Gesamtwerk Gerhardts, findet sich eine Vielzahl weiterer Begriffe, die auf den Satan verweisen. So begegnen der bekannte Satan (23x), der Feind/ Seelenfeind (23x), Teufel/ Feldteufel (14x) und Heer/ Schar/ Rott (14x; in diversen Verbindungen), daneben trifft man auf Schlange/ Otter (7x) und Drache (4x); aber auch Leue/ Löwe (3x) und böser Geist (3x) sind belegt, als Hapaxlegomenon finden sich darüber hinaus Fürst, Tausendkünstler, Larven, Fürst der Welt, Bär, Wolf, Kläffer, Peste, Engel, dunkle Schatten, Höllenhund 209 - damit 207 Ruschke betont zwar, dass es keine spezifisch antireformierte Polemik in den Liedern gebe, wohl aber eine klare Darstellung der lutherischen Postion, die ein reformiertes Tauf- und Abendmahlsverständnis ausschließe (vgl. Ruschke, Paul Gerhardt und der Berliner Kirchenstreit, 516). 208 Vgl. Tab. 2 Sp. „Verhältnis EG/ EKG und Original“. Wo „des Satanas Bande“ (EG 449/ 5) steht, standen in der ursprünglichen Fassung hingegen „des Luzifers Bande“ (CS 37/ 5). 209 Die Bezeichnung Höllenhund mutet sonderbar an. Der Kerberos ist bekannt aus antiker Literatur als jener Bewacher der Unterwelt, der vom übermächtigen Heroen Herakles im Rahmen seiner zwölf Heldentaten bezwungen werden musste (vgl. Burkert, Art. Griechische Religion, 241-242). Betrachtet man „Schwing dich auf zu deinem Gott“ (CS 81) näher, ergibt sich eine m. E. sinnvolle Möglichkeit, Referenz auf den Teufel anzunehmen, zumindest aber ihn zum höllischen Heer zu zählen, das den Satan wie einen Hofststaat umgibt. Im vorderen Teil des Liedes wird explizit auf den Teufel verwiesen (CS 81/ 6), er wird als den Menschen anklagender Feind charakterisiert (CS 81/ 3), darauf aufbauend ist es entsprechend der Höllenhund aus Str. 12, der Lügen gegen den Menschen dichtet und versucht nach Röm 8‚38 den Menschen das Heil zu entreißen: „Ich bin Gottes, Gott ist mein: / Wer ist der uns scheide? “ (CS 81/ 13). Der Teufel wird auch andernorts mit einem Hund (oder ähnlichem) verglichen: „Den Kläffer, der mit Lügen / Gleich als mit Waffen kämpft / Und nichts kann als betrügen / Den hast du oft gedämpft / Wenn er, gleich einem Drachen“ (CS 113/ 6). <?page no="210"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 211 hat man bei gröberer Zusammenfassung 18 verschiedene Titel für den Teufel in Gerhardtliedern bei insgesamt 102 Belegen. Eine signifikante Verteilung einzelner Begriffe gegenüber bestimmter Schaffensperioden lässt sich m. E. nicht erhärten, vielmehr ist die bunte Sprachwelt vom Satan quer über das gesamte Werk des Autors verteilt. Wenn man zusätzlich die Referenzketten und die darin verzeichneten Pronomen verschiedenster Art mit einbezieht, lassen sich 211 Verweise auf den Satan in den 139 Dichtungen Gerhardts ausmachen. 210 Damit lässt sich in nachvollziehbarer Weise belegen, dass Lieder Paul Gerhardts von einem geradezu „teuflischen Netz“ überzogen sind. Die Referenzketten eines Textes stellen die über einen einzigen Beleg hinaus sich kata- und anaphorisch ausbreitenden zentralen Textgegenstände heraus, die damit fest im Textzusammenhang verankert sind. Schon die klassischen Synonyme (Substantive/ Eigennamen) haben das eindrucksvoll in Paul Gerhardts Werk verdeutlicht, aber durch Bildung von Referenzketten und der damit deutlich erweiterten Perspektive auf Teufelsreferenzen wird dieser Befund untermauert - zusätzlich bestärkt auch die Perspektive, den Teufel als internes Subjekt oder Objekt zu verstehen, dieses Ergebnis. 211 Natürlich lässt sich nicht immer klären, ob hinter jedem der aufgelisteten Wörter (einschließlich Pronomen) ein einheitliches Referenzobjekt zu verstehen ist. Gerade in Texten, in denen Satan und böse Menschen eng nebeneinander verhandelt werden und im Verlauf z.B. durch Pronomen substituiert werden, ist kaum zu entscheiden, auf wen jeweils verwiesen ist. 212 In der gegenwärtigen Fassung von „Ist Gott für mich, so trete“ erscheint u.a. die Passage „kein Zorn der großen Fürsten“ (EG 351/ 11), der Terminus des „große[n] Fürsten“ aber bringt unweigerlich die Assoziation zu Kurfürst Friedrich Wilhelm (Regierungszeit: 1640-1688) hervor, der auch den Beinamen „Der Große Kurfürst“ trägt und mit dem Gerhardt bekanntlich in zunehmende Auseinandersetzungen geriet. 213 Dass dahinter dennoch ein transzendentes geistiges Wesen vermutet werden kann, wird deutlich, wenn man sich mit der Erstveröffentlichung [1653] vor Augen hält, dass der Kirchenstreit in dieser Zeit noch keine wesentliche Brisanz entfaltet hatte und sich der Dichtertheologe in Mit- 210 Vgl. Tab. 2 Sp. „Koreferenzkette Teufel“. 211 Vgl. Tab. 2 Sp. „Weitere mit Teufel verbundene Verben“. 212 Dies ist insofern nicht verwunderlich, da die Welt (als regnum diaboli) und ihre Menschen in engem Verhältnis zu sehen sind. Bei Luther führte ich den Begriff der Larven an, Gerhardt kennt jenes Larvenverhältnis als Beziehungsraum zum Teufel ebenfalls: „Vors erste, zeuch die Larven ab / Der alten roten Schlange / Sieh an, daß sie kein Gift mehr hab / Es ist ihr abgefangen“ (CS 129/ 2). Der Teufel nutzt in Gerhardts Dichtung menschliche und weltliche Kräfte als Larven in seinem Kampf gegen Gott und erweist sich darin oftmals als hinter den immanenten Feinden stehender transzendenter Marionettenspieler (vgl. Petrich, Paul Gerhardt. Ein Beitrag, 254). 213 Vgl. Bunners, Paul Gerhardt, 47. <?page no="211"?> 212 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten tenwalde befand. 214 Mehr noch wird dies deutlich, wenn man im Ursprungstext eine Referenzkette aufspannt - in der originalen Strophe 11 wird explizit der Teufel benannt‚ 215 der dann in Strophe 13 mit „Fürsten“ wieder aufgenommen wird. Dies wird in der EG-Fassung nicht deutlich, denn die Strophen 11 und 12, die maßgeblich in der Referenzkette hervortreten, lassen es im Unklaren, wer hier besungen wird, wenn von Feinden, der Widersacher Rott, den Fürsten und Engeln berichtet wird. 216 Die Feinde, die neben Satan am häufigsten im Gesamtwerk verwendet werden (23x), bilden eine grundsätzliche Schwierigkeit, will man sie konkreter identifizieren. „Diese Feinde sind: die Sünde, der alle Menschen unterworfen sind, der Teufel in Person, der uns allenthalben Fallstricke legt, die arge Welt mit ihren Listen und Verführungskünsten und schließlich der Tod, dem jedermann untertan ist und der gleichwohl nur die Brücke abgibt, auf der wir zum ewigen Leben hinüberschreiten. Indessen ist auch nicht zu bestreiten, daß es für ihn auch ‚Feinde‘ im buchstäblichen Sinne des Wortes gab, genauso wie für die Sänger des Psalters; das kommt in den Psalm-Nachdichtungen immer wieder zum Ausdruck.“ 217 Da die Lieder Gerhardts etwa zur Hälfte auf biblischen Stoffen aufbauen, von denen wiederum rund die Hälfte aus den Psalmen gespeist sind‚ 218 stellt sich schon aufgrund dieser Vorlagen eine gewisse Schwierigkeit in der Konkretisierung des Feindbegriffes dar. 219 Im EG habe ich Psalmlieder aus methodischen Gründen ausgeklammert (s. Kap. 4.), wobei ohnehin in ihnen keinerlei Explikation im Sinne des Satans/ Teufels zu finden waren. Bei Gerhardt ist die Situation insofern anders, als in seinen 214 Dass mit dem „Fürsten“ hier nicht der Kurfürst gemeint sein kann, konstatiert u.a. Ruschke; überhaupt geht er davon aus, dass in der Dichtung Gerhardts der Kirchenstreit kaum zu erkennen ist. Aus diesem Grunde deutet Ruschke den „Tyrann“ in „Was trotzest du, stolzer Tyrann“ (CS 70) auch nicht als weltlichen Herrscher, sondern als „‚Satan‘ bzw. das erfahrene Leid im 30jährigen Krieg“ (Ruschke, Paul Gerhardt und der Berliner Kirchenstreit, 514). 215 „Den Satan fleucht und haßt“ (CS 82/ 11). 216 Vgl. Tab. 2 Sp. „Koreferenzkette Teufel“. Allenfalls die Engel (EG 351/ 12), nach Röm 8, lassen auf böse Engel und damit einen dämonischen Hofstaat schließen. 217 Cranach-Sichart, Einleitung, 25. Die Offenheit bei der Indentifizierung zeigt sich auch in der Darstellung Ziajas, der Feind und das Böse als zwei nicht gänzlich kongruente, sich aber weit überlappende Metaphernkonzepte begreift (vgl. Ziaja, Paul Gerhardts, Kirchenlieder‚133-135). 218 Vgl. Krummacher, Paul Gerhardt, 537-538; ebs. vgl. Barnikol, Paul Gerhardt, 440. 219 Ähnlich betont Siegfried Meier, dass die Feinde bei Gerhardt gerade in Psalmliedern unbestimmt und offen bleiben, z.B. für Teufel, widergöttliche Mächte, Verdunkelung Gottes, menschliche Feinde u.a.m. (vgl. Meier, Paul Gerhardt und die Anfechtung, 234-235). <?page no="212"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 213 Psalmliedern durchaus der Satan oder potentiell auf ihn verweisende Begriffe neben den in biblischen Vorlagen enthaltenen „Feinden“ auftreten. 220 In meiner Liste habe ich versucht, nur jene Psalmlieder zu integrieren, die zumindest ein nachvollziehbares Potential, auf den Satan zu verweisen, bieten. 221 In CS 90 (Ps 91) z.B. ist, nah an der biblischen Vorlage orientiert, von Löwen und Drachen die Rede, auf die die von Gott behütete Schar der Gläubigen treten werde. 222 Dieses Trittmotiv (Gen 3‚15; Röm 16‚20) ist in Gerhardts Liedern immer wieder präsent‚ 223 so dass sich für den bibelkundigen Sänger ganz selbstverständlich eine intertextuelle Bezugnahme nahelegt. Dass bei Löwen und Drachen auch andere Bibelstellen mitklingen, in denen explizit der Teufel mit diesen Begriffen in Verbindung gebracht wird, ist bei der Bibelnähe und Traditionskenntnis des Dichters als impliziert anzunehmen. 224 Entsprechend wundert es nicht, dass Drache und Löwe eigene Spuren in der Dichtung Gerhardts hinterlassen haben. 225 Die erwähnte Stelle aus CS 90 (Ps 91) ist noch unter einem weiteren Aspekt der näheren Betrachtung würdig: „Du wirst auf wilden Leuen stehn / Und treten auf die Drachen / Du wirst ihr Gift und scharfe Zähn / In deinem Sinn verlachen“ (CS 90/ 6). Wenn von Löwen und Drachen die Rede ist, sind dies plurale Formen, wie sie auch sonst in meiner Übersicht häufig verzeichnet sind. Es ist daran zu erinnern, dass nach orthodoxer Lehre nicht nur der Teufel, sondern die Teufel (Plural) Handlungsträger menschlicher Anfeindung sind. Dies ist der Grund, warum ich z.B. in „Warum sollt ich mich denn grämen“ bei „Satan, Welt und ihre Rotten“ (EG 370/ 6) die Rotten auch zu den Teufeln rechne - Analoges gilt für die Begriffe Heer und Schar in anderen Versen. 226 Den Teufeln (Plural) 220 Z.B. tritt das „Höllenheer“ in CS 56 (Ps 121) auf, oder „die böse Rott […] Satan“ in CS 105 (Ps 34). 221 Dass diese Entscheidung Streitpotential bietet, ist mir bewusst, wird aber um einer beherrschbaren Reduktion des Stoffes in Kauf genommen. Ein bekanntes Beispiel für „Feinde“, die z.B. deshalb nicht in meiner Übersicht erscheinen, aber durchaus als Sünde, Tod, Teufel und Hölle ausgelegt werden können, findet sich in EG 11/ 9 (vgl. Koch, Paul Gerhardts Heilsrealismus dargelegt anhand zweier Lieder, 62) - die EG-Konkordanz verzeichnet, dass es sich bei den Feinden um Menschen handele (vgl. HEG I, 115). 222 „Du wirst auf wilden Leuen stehn / Und treten auf die Drachen / Du wirst ihr Gift und scharfe Zähn / in deinem Sinn verlachen“ (CS 90/ 6). 223 Z.B.: CS 28/ 6 („Und weil des Teufels Macht und List / Gedämpft, sein Kopf zertreten ist“); CS 81/ 2 („ Flieh, du alte Schlange! / Was erneust du deinen Stich / machst mir angst und bange / Ist dir doch der Kopf zerknickt“). 224 Ich sehe Bezüge v. a. zum brüllenden Löwen aus 1Petr 5‚8, zum Niedertreten der Löwen und Drachen in Ps 91‚13 und zur Reihung von Drache, Schlange, Teufel, Satan aus Offb 12‚9, sowie dem Drachenkampf des Michael (Offb 12‚7). 225 Drachen (Singular/ Plural) finden sich z.B. in CS 90/ 6 (Ps 91‚13); 113/ 6; 43/ 7; 2/ 8 (Offb 12), Löwen (Singular/ Plural) u.a. in CS 129/ 9; 21/ 5; 90/ 6 (Ps 91‚13). 226 Ähnliche von mir angenommene Verbindungen von Rott/ Schar/ Heer mit Teufeln (Plural) z.B.: EG 112/ 4 („Die Höll und ihre Rotten“); CS 60/ 4 („Vor den Scharen / Die wider uns mit <?page no="213"?> 214 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten steht der Singular des Satans gegenüber, der in den Texten mit 23 Belegen den meistverwendeten Terminus neben dem gleichoft verwendeten Feind darstellt. Würde man Feind und Feinde oder den Teufel (Singular) und die Teufel (Plural) eigens auflisten, dann würden von den 102 Belegen aus den erarbeiteten Referenzketten etwa ein Drittel auf plurale Formen entfallen; womit deutlich wird, dass für den Dichter die orthodoxe Meinung, welche von einem Heer an bösen Engeln ausging, eine präsente Vorstellungswelt war. Würden Pronomen und einige weitere unbestimmte Begriffe (z.B. „alles“ in CS 31/ 7) in diesen Befund eingerechnet, fiele die Zahl noch erheblich höher aus. Es ist in diesem Fall interessant, die Korrelation zwischen Rubriken und Benennungen zu betrachten - plurale Formen finden sich signifikant häufig in Liedern der Rubrik „Gebet und christliches Leben“. 227 Eine abschließende Deutung des Befundes ist hier nicht zu erbringen, aber es spricht vieles dafür, hier einen Ausdruck der besonderen Nähe von Gerhardt-Dichtungen zur alltäglichen Lebens- und Glaubenswelt wiederzufinden. 228 Gerhardt geht es darum, Dichtungen zu schaffen, die die stete Anfechtung und den sich darin zu bewährenden Glauben beschreiben - diese Anfechtung ist aber vielgestaltig und deshalb am ehesten als geistlicher Kampf gegen eine differenzierte Teufelsschar/ -rott/ -heer zu charakterisieren. 229 Wie dargelegt, sind die Bilder, die der Barockdichter verwendet, vermittelt u.a. durch Hutter und Bekenntnisschriften, ein Versuch, den biblischen Glauben zu reformulieren. 230 Dass Gerhardt eifriger Leser der Lutherbibel war, bis hinein in die Annotationen von Luthers eigener Hand, ist nachgewiesen worden. 231 Macht / Aus Satans Reiche fahren“); CS 68/ 3 („Und kann nicht sehen, daß das Heer / Der Höllen dich betrübe“). Meine Ergebnisse bestätigen eine Beobachtung, die Maria Gebel gemacht hat: „Der Satan als Widersacher Gottes hat einen Begleitstaat, zu dem Gerhardt in personifizierender Weise Hölle und Dämonen, Tod und Sünde zählt.“ (Gebel, Die Welt und ihre Kinder, 14). 227 Z.B.: CS 56.57.59.60.62. Vgl. Tab. 2 Sp. „Klassische Zuweisung (nach CS)“. 228 Vgl. Aellen, Quellen und Stil der Lieder Paul Gerhardts, 97. 229 „Die Auseinandersetzung mit den ‚Feinden‘ [Plural! ; HH] bestimmt das gesamte dichterische Werk Paul Gerhardts.“ (Meier, Paul Gerhardt und die Anfechtung, 231; ebs. vgl. Ziaja, Paul Gerhardts Kirchenlieder, 126-127). Während ich in lutherischer Tradition den Anfechtungsbegriff bewusst in weitem Sinne verwende, kommt die linguistische Analyse Ziajas zu der deutlich militärischeren Bezeichnung „Krieg“, der zwischen dem Reich Gottes und des Bösen tobe, aber von Gott siegreich entschieden werde (vgl. Ziaja, Paul Gerhardts Kirchenlieder, 124-142). 230 Petzold versteht die Lieder Paul Gerhardts grundsätzlicher als Bibelauslegung mit dichterischen Mitteln (vgl. Petzold, Akzente der Theologie Paul Gerhardts nach seinen Liedern, 43-44). 231 Henkys hat nachgewiesen, dass Paul Gerhardt eine Lutherbibel verwendet haben muss, die auch über die Randglossen Luthers verfügte (vgl. Henkys, Die Rückbindung der Lieder Paul Gerhardts an Luther und die Bekenntnisschriften, 58). Ich schließe mich im Folgenden für wörtliche Bibelzitate dem Vorgehen von Henkys an und verwende eine <?page no="214"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 215 Neben schon benannten biblischen Anklängen sollen noch einige nicht sofort zugängliche Bezüge sichtbar gemacht werden‚ 232 was bei der Fülle an intertextuellen Bezügen nur exemplarisch erfolgt. 233 In den Gesängen tritt bei genauerer Betrachtung der Begriff der Schlange hervor - 234 dieser erscheint aber nicht nur im Sinne der bekannten Reihung aus Offb 12‚9‚ 235 sondern eingebunden in die innerbiblische Vorgeschichte dieses Satansynonyms. In „Kommt und laßt uns Christus ehren“ heißt es: „Seine Seel ist uns gewogen, / Lieb und Gunst hat ihn gezogen, / uns, die Satan hat betrogen, / zu besuchen aus der Höh. / Jakobs Stern ist aufgegangen, / stillt das sehnliche Verlangen, / bricht den Kopf der alten Schlangen / und zerstört der Höllen Reich“ (EG 39/ 4.5). Die Schlange erscheint hier als jene aus Gen 3 bekannte Gestalt, welche „listiger denn alle Thier auff dem felde“ (Gen 3‚1) sei. Stammmutter Eva wird von ihr betrogen: „Die Schlang betrog mich also / das ich ass“ (Gen 3‚13). Gott verflucht daraufhin die Schlange: „UND Ich wil Feindschaft setzen zwischen Dir und dem Weibe / und zwischen deinem Samen und irem Samen / Der selb sol dir den Kopff zutretten / Und Du wirst In in die Verschen stehen“ (Gen 3‚15). Als Luthers Glosse findet sich neben diesen Versen Diverses über den Teufel, v. a. aber: „Christus verheissen.“ Christus ist es, von dem es in 1Joh 3‚8 heißt: „Dazu ist erschienen der Son Gottes / das er die werck des Teufels zurstöre“. 236 Faksimile-Ausgabe der Biblia Germanica von 1545, die letzte Ausgabe von Luthers eigener Hand (Biblia Germanica [1545]). 232 Für meine Recherchen (vgl. Tab. 2 Sp. „Traditionsbezüge“) beziehe ich mich wie bei Luther v. a. auf Bibelstellenzuweisungen aus HEKG I/ 2, einige spärliche Angaben zu biblischen Bezügen bei CS, sowie eigene Konkordanzarbeit. Dass es bei intertextuellen Bezügen andere Auffassungen geben kann, wird nicht bestritten. Die häufigsten Bibelstellen zum Teufel, die in den Liedern auftauchen, finden sich im Anhang (s. Kap. 14.). 233 Vgl. Tab. 2 Sp. „Traditionsbezüge“. 234 U.a.: EG 39/ 5; CS 51/ 2; 81/ 2; 21/ 3; 129/ 2.9. Unter Schlange verzeichne ich auch den Begriff „Otter“ (CS 129/ 9). 235 „Und es ward ausgeworffen der gros Drach / die alte Schlange / die da heisst der Teufel und Satanas / der die gantze Welt verfüret“ (Offb 12‚9). Dieser Vers ist aufgrund seines Bilderreichtums einer der bekanntesten Verse zum Thema Teufel und zugleich Belegstelle für vier verschiedene Synonyme, die in den Poemen immer wieder genannt werden. Die breite Spur die dieser Vers in Gerhardts Liedern hinterlassen hat, kann anhand meiner Auflistung leicht nachvollzogen werden (vgl. Tab. 2 Sp. „Koreferenzkette Teufel“). 236 Dieser Vers ist in mehrerlei Hinsicht beim Thema Teufel wichtig, da er im ersten Teil von der seit Beginn seiner Existenz währenden Neigung zur Sünde (ähnlich Joh 8‚44) und im zweiten Teil von der Entmachtung durch Christus berichtet. In meiner Übersicht ist dieser Vers zwar nur eigens für EG 39 vermerkt, allerdings gilt hier, m. E. ähnlich wie <?page no="215"?> 216 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Diese Macht über den Teufel wird mittelbar auch dem Leib Christi zuteil, der nach Röm 16 die Erfüllung jener Verheißung aus Gen 3 erfährt: „Aber der Gott des friedens zutrette den Satan unter ewre Füsse in kürtzen“ (Röm 16‚20). Die Verwendung dieses Topos (Christus als „Schlangentreter“) 237 begegnet im Gesamtkorpus Gerhardts mehrfach implizit und explizit. 238 Ebenfalls prominent sind Anklänge an Eph 6 und die geistliche Waffenrüstung: „Ziehet an den harnisch Gottes / Das ir bestehen künd gegen die listigen anlauff des Teufels. Den wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kempffen / Sondern mit Fürsten und Gewaltigen / nemlich mit den Herrn der Welt / die in der finsternis dieser Welt herrschen / mit den bösen Geistern unter dem Himel“ (Eph 6‚11-12). In diesen zwei Versen wird eine Vielzahl von Motiven mitgeliefert, die sich in den Dichtungen wiederfinden lassen und mit anderen Bibelstellen in enger Verbindung stehen. 239 Zum einen wird die List als Kennzeichen des Teufels dargestellt, die sich insgesamt als wichtiges Element des Teufelsbildes Gerhardts bestimmen lässt; 240 in „Warum willst du draußen stehen“ dichtet der Theologe z.B.: „Dazu kommt des Teufels Lügen / Der mir alle Gnad absagt“ (CS 2/ 3). Zum anderen gerät der Begriff der Fürsten und Herren der Welt in den Blick, der von Gerhardt u.a. in „Gott Vater, sende deine Geist“ aufgenommen worden ist: „Und wenn auch gleich der Fürst der Welt / Selbst wider uns sich legt ins Feld / So kann er doch nichts schaffen“ (CS 31/ 6). 241 Mit dem Fürst der Welt klingen Forbei Offb 12 und Joh 8‚44, dass er stets im Sinne einer Hintergrundfolie mitgelesen und -bedacht werden kann. 237 In „Schaut, schaut, was ist für Wunder dar“ eigens genannt: „Den Schlangentreter haben wir“ (CS 7/ 14). 238 „Der Feind liegt und legt aber / Gift, Gall und Ungestüm / Er wirft zu Christi Fuß / Sein Höllenreich und muß“ (CS 26/ 3); „Du bist, wie die Menschen alle / Angesteckt mit Sündengift / Welches Adam mit dem Falle / Samt der Schlangen hat gestift’t“ (CS 51/ 2); „Fleuch, du alte Schlange! / Was erneust du deinen Stich / Machst mir angst und bange? / Ist dir doch der Kopf zerknickt“ (CS 81/ 2); „Den Schlangentreter haben wir“ (CS 7/ 14); „Das alles hebt auf einmal auf / Und schlägt und drückt es nieder“ (CS 33/ 5); „Hier bricht die Höll, und all ihr Heer / Muß uns zu Füßen liegen“ (CS 33/ 7); „Und weil des Teufels Macht und List / Gedämpft, sein Kopf zertreten ist / Mag er ihm auch nicht schaden“ (CS 28/ 6); „Und heilst das Gift der Schlangen“ (CS 21/ 3); „Tritt den Feinden allzumal / Ihren Kopf mit Füßen“ (CS 15/ 13). 239 Erinnert sei an Joh 8‚44: „IR seid von dem Vater dem Teufel / und nach ewers Verters lust wolt ir thun. Derselbige ist ein Mörder von anfang / und ist nicht bestanden in der Warheit / Denn die warheit ist nicht in im. Wenn er die Lüge redet / so redet er von seinem eigen / Denn er ist ein Lügener und ein Vater derselbigen“. Damit ist zugleich eine Spur zu 1Joh 3‚8 gelegt: „Wer sunde thut / der ist vom Teufel / denn der Teufel sündiget von anfang. Dazu ist erschienen der Son Gottes / das er die werck des Teufels zurstöre“. 240 U.a.: EG 446/ 3; CS 2/ 3; 81/ 1; 91/ 8; 138/ 5. 241 EG 351/ 11: „kein Zorn der großen Fürsten / soll mir ein Hindrung sein“. <?page no="216"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 217 meln des Johannesevangeliums ( Joh 12‚31; 14‚30; 16‚11) und des zweiten Korintherbriefes (2Kor 4‚4) an. 242 Der böse Geist (1Sam 16)‚ 243 der in Luthers Liedern nachweisbar war, hat im Werk des barocken Dichtertheologen Niederschlag gefunden, in „Zieh ein, zu deinen Toren“ heißt es: „Vertreib den bösen Geist, / der sich dir widersetzet“ (EG 133/ 11). 244 Zwei der drei Belege für den bösen Geist finden sich in Pfingstliedern - 245 offenbar wird dem guten Geist Gottes der böse Geist Satans entgegengestellt. 246 Mit den Gewalten aus Eph 6‚11-12 wird zugleich eine Linie in den Römerbrief gezogen, denn im achten Kapitel finden sich ebenfalls Mächte, Engel und Gewalten (Röm 8‚38), die Christen zuzusetzen und gegen Gott zu streiten versuchen. Diese Gewalten hat Gerhardt mit dem Teufel in Verbindung gebracht, wenn er in „Ist Gott für mich, so trete“ schreibt: „Kein Engel, keine Freuden, / kein Thron, kein Herrlichkeit […] / was man nur kann erdenken, / es sei klein oder groß: / der keines soll mich lenken / aus deiner Arm und Schoß“ (EG 351/ 12). Weniger biblisch, dafür bei Luther und in Hutters Compendium vorgezeichnet, ist der Titel Tausendkünstler, der sich wörtlich in „Nun geh frisch drauf “ findet: „Es zeucht der heilgen Engel Schar / Mit Waffen ausgerüst / Und wehren fleißig hie und dar / Des Tausendkünstlers List“ (CS 43/ 10). Nicht substantivisch, aber gedanklich findet sich das Motiv auch an anderer Stelle: „So wird mich nicht erschrecken / Der Feind mit tausend Listen / Der mich und alle Christen / Verfolget Tag und Nacht“ (CS 39/ 6). Gerhardt malt mit diesem Begriffsreichtum ein vielfarbiges, wenngleich schattig düsteres Teufelsbild. Der Dichter entwirft diese Szenerie allerdings nie um des Teufels selbst willen, vielmehr ist der Satan ein Textelement, welches in weitergespannten Konstellationen eine spezielle Funktion und Rolle einnimmt; der böse Feind steht in einem strukturierten Gefüge anderen Textelementen gegenüber. 247 Anders als bei Luther lässt sich aus den aufgelisteten Textgegenständen nicht sofort die 242 „ISt nu unser Evangelium verdeckt / So ists in denen / die verloren werden / verdeckt / bey welchen der Gott dieser welt der ungleubigen sinn verblendet hat / das sie nicht sehen das helle Licht des Evangeliu von der klarheit Christi / welcher ist das Ebenbild Gottes“ (2Kor 4‚4). 243 „Der Geist aber des HERRN weich von Saul / und ein böser Geist vom HERRN macht in seer unrügig. Da sprachen die knechte Saul zu im / Sihe ein böser Geist von Gott macht dich seer unrügig“ (1Sam 16‚14.15). 244 Weitere Belege für den bösen Geist z.B.: CS 43/ 6 („Wie mancher böser schwarzer Geist“); CS 31/ 3 („Des bösen Geistes leider bracht“). 245 Der dritte Gesang steht unter der Rubrik „Rückkehr von einer Reise“ (CS 43). 246 In 1Sam 16 wird der Geist eigentlich als Geist Gottes bezeichnet, allerdings hat dieser böse Geist sich m. E. in EG 133 deutlich emanzipiert und erscheint nun in einer Referenzkette mit dem Satan (EG 133/ 11.12). 247 Vgl. Tab. 2 Sp. „Wichtige Textgegenstände“. <?page no="217"?> 218 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten gesamte Struktur und Kommunikationssituation eines Liedes ableiten, da die Gesänge einen meist erheblich größeren Strophenumfang aufweisen als jene des Reformators. 248 Dennoch zeigt sich in einer ersten Durchsicht, dass es einen Konnex zwischen Kirchenjahreszeit und dem Beziehungsgeflecht innerhalb der Dichtungen gibt. Die Advents- und Weihnachtsgesänge zeugen z.B. in besonderer Weise von einem Gegenüber des Teufels zum menschgewordenen Gottessohn und nicht etwa zu Gott Vater‚ 249 wie es in Gerhardts Lieder mindestens ebenso häufig der Fall ist. 250 Ähnlich der Weihnachtsgeschichte (Lk 2) mit ihren Engelschören ist die Figurenkonstellation in „Warum willst du draußen stehen“ (CS 2) gestaltet - wie Christus in die Welt kam, kommt er nun ins fromme Herz und stellt seine heiligen Engel als Schild gegen den Satan auf. „Seines Himmels güldne Decke / Spannt er um dich ringsherum / Daß dich fort nicht mehr erschrecke / Deines Feindes Ungestüm. / Seine Engel stellen sich / Dir zur Seiten, wann du dich / Hier willst oder dorthin wenden / Tragen sie dich auf den Händen“ (CS 2/ 10). Diese Korrelation zwischen bösem Feind und dem in der Umgebung positionierten Sohn Gottes lässt sich ebenfalls beim Osterfest 251 und der vorangehenden Passion 252 nachzeichnen. Das Leiden Christi ist gleichsam Leiden an der Teufelsherrschaft über die durch Sünde in dessen Knechtschaft geratene Menschheit - der Sieg Christi ist folglich zugleich Sieg über jene satanische Verderbensmacht. Kaum ein Lied beschreibt diesen Sieg so plastisch wie „Auf, auf, mein Herz, mit Freuden“: „Er war ins Grab gesenket, / der Feind treib groß Geschrei; / eh er’s vermeint und denket, / ist Christus wieder frei / und ruft Viktoria“ (EG 112/ 2). 253 Zum Pfingstfest als dem Fest der Geistausgießung ist der Teufel (als böser Geist) 248 Vgl. Tab. 2 Sp. „Simulierte Kommunikationssituation“. 249 Z.B.: CS 2.4.7.8. 250 Ich habe in diesem Fall nicht eigens nachgerechnet für das gesamte Dichtwerk, aber auch Petrich scheint der besondere Bezug zu Gott Vater aufgefallen zu sein: „Man hat berechnet, daß der Erlöser längst nicht in allen, kaum in der Hälfte seiner Lieder genannt wird und daß die meisten sich mit den Gnaden des ersten Artikels beschäftigen.“ (Petrich, Paul Gerhardt, seine Lieder und seine Zeit, 182; ebs. vgl. Petrich, Paul Gerhardt. Ein Beitrag, 236; ebs. vgl. Barnikol, Paul Gerhardt, 444). Zu den Liedern meiner Liste sei nur angemerkt, dass gesamt 23 Lieder den Satan im Umfeld Christi, 26 im Umfeld Gott Vaters aufweisen - diese Belege mit einbezogen habe ich neun Lieder erhoben, die den Teufel sowohl im Umkreis von Vater und Sohn zeigen. 251 Z.B.: CS 26.27.28. 252 Z.B.: CS 15.19.21.25. 253 Die wesentlich siegesproklamatorischere Str. 3 ist ausgefallen: „Der Held steht auf dem Grabe / Und sieht sich munter um / Der Feind liegt und legt abe / Gift, Gall und Ungestüm, / Er wirft zu Christi Fuß / sein Höllenreich und muß / Selbst in des Siegers Band / Ergeben Fuß und Hand“ (CS 26/ 3). <?page no="218"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 219 Antipode des Heiligen Geistes und findet sich in dessen Umgebung wieder: 254 „Was ist doch Satans Reich und Stand? / Wann Gottes Geist erhebt die Hand / Fällt alles übern Haufen“ (CS 31/ 7). Die Nähe zu Christus wird auch an den Sakramentsliedern (CS 33.34) deutlich, was nicht verwundert, da Sakramente nach orthodoxer Lehrmeinung eine Bestärkung im Glauben und damit Nähe zu Christus vermitteln, welche den Satan vertreibt. Wichtig und weiter zu entfalten ist der Befund, dass mehr als drei Viertel der Lieder den Teufel in der Nähe von menschlichen Akteuren in der 1. Person Singular/ Plural erscheinen lassen. 255 Entsprechend entfaltet der Satan in der Dichtung Gerhardts nicht nur als zufällig auftretendes Element Relevanz, sondern ist von Bedeutung für die jeweilig singende Gemeinde. Im Ich/ Wir und entsprechend zugeordneten Pronomen werden Identifikations- und Rezeptionspotenziale eröffnet, die letztendlich darüber entscheiden, ob die singende Gemeinde diese Lieder zu ihren Liedern, diese Gebete zu ihren Gebeten machen kann. 256 An der Möglichkeit, ob der Sänger „für eine gewisse Zeit quasi in die Rolle einer werkimmanenten Figur schlüpfen“ 257 kann, entscheidet sich, ob die bittenden Formeln der Gesänge zu deprekativen Exorzismen werden. Im Ergebnis zeigt sich eine Personenkonstellation beim Teufel, die Christus, Gott Vater, Heiligen Geist auf der einen Seite, das singende Ich/ Wir der Gemeinde auf der anderen verzeichnet und somit den Satan in eine dreipolige Beziehung einbindet. „Im Gesamtwerk lassen sich […] eine Anzahl von agierenden Figuren […] identifizieren: Zwischen Gott und dem Satan als transzendenten Mächten steht die Welt oder der Mensch; in diesem Dreiergeflecht entfaltet sich ein Kampf und vollzieht sich eine Entwicklung, die man in der Theologie mit dem Begriff der Heilsgeschichte fasst.“ 258 254 Z.B.: CS 29.30.31. 255 Meine Auflistung verzeichnet den Satan in 22 Gesängen bei der 1. Person Singular, in 15 Gesängen bei der 1. Person Plural, diese Belege eingerechnet fünfmal bei 1. Person Singular und Plural. Sieben Gesänge verzeichnen keine Formen der ersten Person im Umfeld des Satans (EG 361; CS 25.56.62.68.111.138). Auffällig ist, dass die Gesänge relativ häufig eine 2. Person (Du oder Ihr) simulieren (u.a.: EG 477; CS 4.33.27.105), die sich auch auf Körperteile beziehen kann (u.a.: CS 2.51.81.90). Daneben liegen auch Gesänge mit der 3. Person Singular/ Plural vor (z.B.: CS 31.62.91), die allerdings gegenüber der dominierenden 1. Person zu vernachlässigen sind. 256 Vgl. Gebel, Die Welt und ihre Kinder, 12; ebs. vgl. Petrich, Paul Gerhardt. Ein Beitrag, 265. 257 Gebel, Die Welt und ihre Kinder, 12. 258 Gebel, Die Welt und ihre Kinder, 11. <?page no="219"?> 220 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Pragmatische Einsichten Betrachtet man die pragmatischen Aspekte der Dichtungen Paul Gerhardts, macht man eine Vielzahl von Entdeckungen, die aufgrund der Liederfülle nur ausschnittartig dargestellt werden können. 259 Wie angedeutet, ist in der Diskussion um die Gesänge dieses Barockdichters wiederholt die Problematik vom Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft aufgeworfen worden. Petrich schrieb 1914: „Die Kirche findet in seinen Liedern nirgends einen Platz. […] Gerhardts Lieder sind die edelste Blüte des protestantischen Individualismus im 17. Jahrhundert.“ 260 Dieses Pauschalurteil, nachdem das Gruppenlied der Reformation im 17. Jahrhundert durch voranschreitende Individualisierung vom persönlichen Erbauungslied abgelöst wird, hält sich hartnäckig‚ 261 muss heute aber wesentlich differenzierter ausfallen. Notger Slenczka z.B. bestätigt zwar das Urteil über ein häufig auffindbares Individuum, aber dieses sei eines, das weniger als Konkretum, sondern vielmehr als Exemplum aufzufassen sei, weshalb vielmehr der Begriff der „Entindividualisierung“ zutreffend sei. 262 „Dieses Ich ist aber nicht unverwechselbar individuell, sondern das individuelle Erleben wird so aufgenommen, daß es in einem exemplarischen, damit aber allgemeinen Ich und seiner Bewältigung des Leides untergebracht wird.“ 263 Ähnlich hatte sich viele Jahre zuvor bereits Karl Hauschildt über die Dichtung Gerhardts geäußert: „Das Ich in dem Lied Paul Gerhardts ist nicht abgetrennt von dem Du Gottes und deshalb zumindest bei Paul Gerhardt nicht subjektivistisch und individualistisch. Es kann auch bei ihm das Ich stellvertretend für das Ich der Gemeinde stehen. Bestimmend 259 Vgl. Tab. 2 Sp. „Wichtige Textgegenstände“; „Simulierte Kommunikationssituation“; „Sprecherhandlung“; „Sprechereinstellung“; „Sonstige Bemerkungen“. 260 Petrich, Paul Gerhardt. Ein Beitrag, 265. 261 Vgl. Röbbelen, Theologie und Frömmigkeit im deutschen evangelisch-lutherischen Gesangbuch des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, 64. 262 Vgl. Slenczka, Paul Gerhardt und Martin Luther, 150-151. 263 Slenczka, Paul Gerhardt und Martin Luther, 155. Eine ähnliche Differenzierung zur Individualisierung im Lied bietet Sparn: „Hatte Luther die Gattung des Psalmliedes für die Gemeinde erfunden, so wurde sie im Barock mit neuen Liedern fortgeführt, die das repräsentative Ich gegenwärtig hielten, es aber für das expressiv-fromme Ich öffneten.“ (Sparn, Vom Wir zum Ich, 78). Ähnlich Traugott Koch: „Immer, in allen Liedern P. Gerhardts, ist das ‚Ich‘, das da spricht, ein individuelles, einzelnes ‚Ich‘ und doch zugleich ein allgemeines: eines, das alle, jeder und jede für sich sprechen können.“ (Koch, Paul Gerhardts Heilsrealismus dargelegt anhand zweier Lieder, 60). <?page no="220"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 221 ist aber dieses, daß seine Dichtung immer wieder den anbetenden und meditativen Charakter hat und von daher notwendigerweise stärker persönlich wird.“ 264 Diese Einschätzungen decken sich voll und ganz mit meinen Beobachtungen, können allerdings noch ergänzt werden. Ich hatte darauf aufmerksam gemacht, dass bei Untersuchung der Kollokationen des Teufel häufig ein Ich (22x), aber fast ebenso häufig ein Wir (15x) und gelegentlich beides zugleich (5x) zu erheben ist. 265 Betrachtet man zusätzlich die Kommunikationssituation der Lieder näher, stellt sich ein ungleich komplexeres Bild dar. 266 Es ist geradezu Kennzeichen der Gesänge, dass sie sich kaum in ihrer Kommunikationssituation klar bestimmen lassen, vielmehr findet sich als Normalfall in den untersuchten Gesänge eine Konstellation, die Greule mit „kompliziert“ tituliert und die ich als komplexe Kommunikationssituation benenne. 267 Immer wieder liegen Texte vor, die sich einer Bestimmung im Sinne der fünf benannten Grundkonstellationen entziehen (s. Kap. 4.); 268 oft beginnen die Lieder mit einer Konstellation und wandeln sich im Strophenverlauf in eine mitunter völlig andere. 269 Sprecher, Adressaten und Kommunikationstypen geraten bei Gerhardt in einen dynamischen Reigen. 270 Ein Beispiel für diese liedimmanenten Wandlungen der Kommunikationssituation liegt im 15-strophigen Weihnachtsgesang „O Jesu Christ, dein Kripplein ist“ (CS 4) vor. Ein einzelner Sprecher (CS 4/ 1: „Mein Paradies“) beginnt und erweist sich kurz darauf als Teil einer Gruppe (CS 4/ 1: „unserm Fleisch“); die/ der Sprecher wenden sich direkt an Christus (euchologischer Typ: Str. 1-3); dann reflektiert das Wir/ Ich über sich und seinen Heilsweg (gruppenbezogener/ narrativer Typ: Str. 4); die Gruppe/ Ich befiehlt nun direkt dem Teufel mit einer imprekativen Wendung (CS 4/ 5: „Schweig arger Feind! “) und bekennt demgegenüber das Heilswerk Christi (nar- 264 Hauschildt, Die Botschaft der Reformation in den Liedern Paul Gerhardts, 68. „Aber es ist weder in einem positiven noch in einem negativen Sinne so, daß hier ein individuell empfindliches Ich sich in Vorwegnahme einer späteren Phase der Lyrikgeschichte verselbstständigte. […] Auch in Paul Gerhardts Liedern spricht ein überpersönliches Ich, das Ich jedes Gläubigen, wie schon in der Gebetsliteratur und im Kirchenlied des 16. Jahrhunderts.“ (Krummacher, Paul Gerhardt, 541). 265 Vgl. Tab. 2 Sp. „Wichtige Textgegenstände“. Nur siebenmal (EG 361; CS 25.56.62.68.111.138) findet sich keine Nachbarschaft zu Formen von Wir/ Ich. 266 Vgl. Tab. 2 Sp. „Simulierte Kommunikationssituation“. 267 Vgl. Greule, „Ich geh durch Ödland“, 66.73. 268 Vgl. Greule, Die Sprache im neuen geistlichen Lied, 93-94. 269 Für Kommunikationssituationen, die sich an verschiedene Empfänger/ Adressaten wenden und evtl. von verschiedenen Sprechern (z.B. Ich/ Wir) initiiert werden, nutzt Greule auch den Terminus „mehrfach adressiert“ (Greule, Die Sprache im neuen geistlichen Lied, 87). 270 Neben diesen unspezifischen Kommunikationssituationen gibt es wenige Gesänge, die sich einem Modus zuordnen lassen - dem euchologischen z.B.: CS 19.21.29.30.60.113. <?page no="221"?> 222 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten rativer Typ: Str. 5.6); ein Einzelner (Str. 9) ermahnt und ermutigt einen anderen aus der eigenen Gruppe (CS 4/ 7: „frommer Christ / Wer du auch bist“; CS 4/ 11: „Kann unser Leid“), sich vertrauensvoll dem siegreichen Christus zu überlassen (paränetischer/ narrativer Typ: Str. 7-15). Dieses Lied beweist eindrücklich, dass es innerhalb der Lieder nicht nur exemplarische Ich-Figuren gibt, sondern, dass auf der Textebene oftmals ein Schwanken zwischen der 1. Person Singular und Plural zu erkennen ist. 271 Die Lieder Gerhardts sind zugleich Lied des Einzelnen und der Gemeinde, zugleich Lied der häuslichen Andacht und stillen Betrachtung wie des öffentlichen Gottesdienstes. 272 Statt des vermeintlichen Gegensatzes zwischen Gruppen- und Individuallied in Reformation und nachfolgendem Barock‚ 273 kann man m. E. bei Gerhardt eine konsequente Aufnahme und Weiterführung der reformatorischen Lehre, statt eines Gegensatzes, erkennen. Auch Luther sah den Heilsweg eröffnenden Glauben als individuelle geistliche Bewegung an, die keine Stellvertretung durch die Kirche erlaubt - 274 eben dieser Glaube des Einzelnen führt hin zur communio fidelium und entfaltet ausgehend vom Individuum eine ekklesiologische Dimension. Neben diesen gewohnten Sendern (Ich/ Wir) kommen aber auch Gott Vater und der Gottessohn zu Wort - die singende Gemeinde leiht in diesen Fällen quasi den göttlichen Personen die Stimme. Im 6-strophigen Gesang „Was soll ich doch, o Ephraim“ (CS 68) ist es Christus (CS 68/ 4: „Denn ich bin Gott, der treue Gott“; CS 68/ 5: „Für meine Feinde in den Tod / Und in des bittern Kreuzes Not / Mich als ein Lamm gegeben“), der die Treulosigkeit des Volkes mit aller Klarheit benennt (Hos 11) und dennoch seine Vergebungsbereitschaft und Barmherzigkeit zusagt (Str. 1-5), worauf in Strophe 6 die Umkehr des Beters und eine Heiligungsbitte an Christus erfolgt (CS 68/ 6: „Ach, heilge mich und laß mich teil / In, bei und an dir finden! “). 275 Noch ungewöhnlicher ist die Konstellation in 271 Z.B.: EG 112.133.361.370.449 - also 5/ 9! 272 Vgl. Sparn, Vom Wir zum Ich, 77. 273 Vgl. Veit, Das Gesangbuch als Quelle lutherischer Frömmigkeit, 211. 274 Vgl. Slenczka, Paul Gerhardt und Martin Luther, 153. Dass Glaube keine Stellvertretung zulässt, wird z.B. im Tauftraktat deutlich, in welchem er einen Glauben unmündiger Kinder postuliert, womit der stellvertretende Glaube der Paten relativiert wird (vgl. BSLK 700-702 [GrKat]; ebs. vgl. Brandt, Ob die jungen Kinder ohne eigenen Glauben getauft werden, 60-65). Ähnlich urteilt die gegenwärtige Lutherforschung: „einen stellvertretenden Glauben gibt es bei Luther nicht, auch nicht in dem Zusammenhang der Taufe“ (Slenczka, Paul Gerhardt und Martin Luther, 153). 275 Bei Gerhardt lassen sich weitere Reden Christi finden, z.B.: CS 28/ 4 („Der fröhlich spricht: Ich leb, und ihr“); CS 34/ 4 („Komm, sprichst du, komm und nahe / Dich ungescheut zu mir“); CS 129/ 12 („Der Herr empfänget seine Braut / Und spricht: Sei mir willkommen! “); wobei die wörtliche Rede Christi in Form von Zitaten aufgenommen ist und nicht unmittelbar einsetzend wie in CS 68. <?page no="222"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 223 „Merkt auf, merkt, Himmel, Erde“ (CS 111), wo Mose (nach Dtn 32) der eigentliche Sprecher ist, welcher ihm offenbarte Worte Gottes in Form einer wörtlichen Rede kundtut (CS 111/ 18: „Ich will mich, sprach er, wenden“). 276 Dass Gerhardt mit dieser Darstellungsweise Einblicke in Gedanken und Gefühlsregungen Gottes zulässt, ist ein Grund für die viel diskutierte These einer die biblische Grundlage verlassenden Vermenschlichung Gottes und damit einhergehenden Vergottung des Menschen, welche Susanne Türck in den 1940er Jahren Gerhardt unterstellte. „Noch weiter gehen jene Dichtungen, die […] mit freier Phantasie unmittelbar seine [sc. Gottes] Regungen nachzuempfinden versuchen. Hierfür war die Bibel nicht Autorität: Die Propheten verkünden dem Volke nicht von sich aus den Willen des Herrn, sie interpretieren auch nicht eigentlich, sondern beginnen: ‚Dies ist das Wort des Herrn, das geschehen ist zu …‘. Sie sind Sprachrohr. Gerhardt dagegen nimmt an, daß er selbst und jeder Gläubige in den Denkprozeß Gottes sich hineinzufinden imstande sei […]. Das heißt, das Denken Gottes ist so eindeutig-einfach, daß es für jeden durchsichtig ist. Es muß also als ein dem menschlichen Denken sehr verwandtes betrachtet werden. Ist es aber so leicht zu erfassen, so kann man sogar herausfinden, was Gottes verborgene Absichten sind.“ 277 Dieser These wurde u.a. von Grosse widersprochen, der darauf hinweist, dass bei Gerhardt keine Vermenschlichung Gottes, sondern vielmehr eine Neuartikulation des Skandalons der Inkarnation stattfindet - Gott ist menschlichem Denken zugänglich, da es sein Wunsch und Wille war, Menschengestalt anzunehmen und sich darin zu offenbaren. 278 Richtig bleibt aber die Beobachtung, 276 Eine unmittelbar einsetzende Gottesrede findet sich in CS 15/ 2: „Hoch am Kreuze wird mein Sohn / Große Marter leiden“. 277 Türck, Paul Gerhardt entwicklungsgeschichtlich, 39-40. Türck sieht bei Gerhart die emanzipatorischen Tendenzen des Menschen gegenüber Gott, wie sie sich u.a. in Goethes Werther zeigen, vorgezeichnet (vgl. Türck, Paul Gerhardt, entwicklungsgeschichtlich, 23.28; ebs. vgl. Türck, Paul Gerhardt entwicklungsgeschichtlich. II, 137). 278 „Türck hat in ihrem einfallsreichen Aufsatz ‚Paul Gerhardt, entwicklungsgeschichtlich‘ verkannt, daß die Menschlichkeit Gottes bei Paul Gerhardt nicht eine Stufe einer Entwicklung zu einer Vermenschlichung und Entgöttlichung Gottes ist, sondern ihren Grund in der Menschwerdung Gottes bzw. in seiner Fähigkeit und Absicht hat, Mensch zu werden.“ (Grosse, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, 188). Früher schon Barnikol gegen Türck: „Sie macht in philosophisch überlasteter Weise Paul Gerhardt nolens volens, d. h. weltanschaulich faktisch, aber persönlich unschuldig und ahnungslos, verantwortlich für die bei ihm schon vorhandene Vermenschlichung der Gottesvorstellung, die dann in der wachsenden Aufklärung rapide erweitert und vergröbert worden sei.“ (Barnikol, Paul Gerhardt, 439). <?page no="223"?> 224 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten dass die Dichtung eine Affinität zum deus revelatus gegenüber dem deus absconditus aufweist. 279 Eine weitaus größere Diversität als bei den Sprechern offenbart die Adressatenseite der Kommunikationssituationen. Schon das obige Beispiel (CS 4) zeigte, dass Empfänger die Trinität bzw. ein Teil derer sein kann‚ 280 ein menschliches Gegenüber‚ 281 sogar der Teufel selbst. Mit direkten Wendungen an den Teufel finden sich bei Gerhardt - wenn auch nicht häufig - neben vielen weithin erwartbaren Stellen, die schlicht über den Teufel berichten (im EG 6/ 9) 282 , oder aber Gott in deprekativen Formeln zum Schutz wider den Satan anrufen (im EG 3/ 9) 283 , Belegstellen, in denen die Gemeinde imprekativisch gegenüber dem Feind auftritt. 284 In „O Jesu Christ, dein Kripplein ist“ steht der auf Christus vertrauende Gläubige dem Satan gegenüber und gebietet imperativisch: „Schweig arger Feind! / […] Was du gefällt, / Das hat der Held / Aus Jakobs Stamm zu großer Ehr erhoben“ (CS 4/ 5). 285 Drastisch und ebenfalls auf das Schweigen des listigen Feindes zielend, befiehlt ein Einzelner in „Auf den Nebel folgt die Sonn“: 279 Vgl. Gebel, Die Welt und ihre Kinder, 11. 280 Vgl. Tab. 2 Sp. „Simulierte Kommunikationssituation“. Im EG findet sich als Adressat z.B. der Vater (EG 361/ 3: „Dein ewge Treu und Gnade, / o Vater, weiß und sieht“), der Sohn (EG 39/ 6: „glauben und mit unserm Munde / danken dir, o Jesulein“), aber auch der Geist (EG 133/ 1: „der du, da ich geboren, / mich neu geboren hast, / o hochgeliebter Geist“). 281 Als menschliches Gegenüber kommen Einzelne oder Gruppen in Frage, z.B. eine einzelne Person (EG 361/ 6: „o du arme Seele“); die ganze Heidenwelt (CS 62/ 1: „Hört an, ihr Völker, hört doch an, / Hört alle, die ihr lebet“); die getauften Glieder der Kirche (CS 33/ 1: „Du Volk, das du getaufet bist“). 282 EG 39.112.351.361.370.446. 283 EG 133/ 11 („Vertreib den bösen Geist, / der sich dir widersetzet / und, was dein Herz ergötzet, / aus unsern Herzen reißt“); EG 449/ 5 („Laster und Schande, / des Satanas Bande, / Fallen und Tücke / treib ferne zurücke; / laß mich auf deinen Geboten bestehn“); EG 477/ 8 („Breit aus die Flügel beide, / o Jesu, meine Freude, / […] Will Satan mich verschlingen, / so laß die Englein singen“). 284 Im Gesamtwerk erscheint ein deprekativer Umgang mit dem Teufel nur sechsmal, ist also eine untergeordnete Erscheinung, ebenso wie der dreimalige imprekative Umgang. Der Hauptteil entfällt auf betrachtende und berichtende Äusserungen über den bösen Feind (vgl. Tab. 2 Sp. „Sonstige Bemerkungen“). 285 Etwas dunkel bleibt die Lage in „Schwing dich auf zu deinem Gott“ (CS 81; EKG 296 - stark gekürzt) - dort ergeht eigentlich eine Art guter Rat an die „betrübte Seele“ (CS 81/ 1), sich nicht irre machen zu lassen von den Anfechtungen Satans, sondern zu widerstehen (CS 81/ 2: „Schüttle deinen Kopf und sprich: / Fleuch, du alte Schlange! / Was erneust du deinen Stich, / Machst mir angst und bange? “). Durch die Länge der Passage (Str. 2 bis evtl. Str. 9) wird es allerdings kaum mehr möglich, Distanz zu halten, die Fragen und Befehle werden mehr und mehr jene der singenden Gemeinde und können im imperativischen Sinne aufgefasst werden. Es verwundert nicht, dass das schon für die Aufnahme in den EKG-Korpus weitreichend „entschärfte“ Lied, im EG nicht mehr enthalten ist. <?page no="224"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 225 „Heb dich weg, verlogner Mund! / Hie ist Gott und Gottes Grund“ (CS 102/ 7). 286 Hier wird die Gemeinde ausgerüstet mit der Kraft Gottes, indem sie sich die Worte Gerhardts aneignet und die eröffneten Identifikationsangebote annimmt, quasi zum Kollektivexorzisten! Eine Besonderheit der Dichtung Gerhardts besteht in Formulierungen, die eine Art Selbstgespräch inszenieren, wobei in diesen Konstellationen v. a. das eigene Herz zum prominenten Adressaten von Glaubensaussagen und damit verbundenen Ermutigungen/ Tröstungen wird. 287 „Auf, auf, mein Herz, mit Freuden“ trägt diese Selbstanrede und -tröstung schon im Incipit; zwar ist man versucht, das mehrfache „uns“ (z.B. EG 112/ 1: „Mein Heiland war gelegt / da, wo man uns hinträgt, / wenn von uns unser Geist / gen Himmel ist gereist“) als Hinweis auf eine Gruppe, bzw. eine andere Person, die als „mein Herz“ angeredet wird, zu lesen, aber genaugenommen ist dies nicht zu entscheiden und kann ebensogut als innere Betrachtung und Meditation des individuellen Heilsweges, dessen sich der Sprecher im Austausch mit dem Herzen neu vergewissert, verstanden werden. Ein ähnliches Incipit zeigt „Wach auf, mein Herz, und singe“ (EG 446), das dann aber schnell eine Wendung zu Gott vollzieht (Str. 3). In „Nun ruhen alle Wälder“ wendet sich der Sprecher darüber hinaus an seine Sinne (EG 477/ 1: „ihr aber, meine Sinnen, / auf, auf, ihr sollt beginnen“) 288 . Zu den wohl sonderbarsten Personifikationen, die zum Gegenüber der Kommunikation werden, zählen der Tod und das Taufwasser. 289 In „Sei fröhlich alles weit und breit“ (CS 28) wird der personifizierte Tod in Aufnahme von 1Kor 15‚55 angeredet: „Wie schön hast du durch deine Macht, / Du wilder Feind des Lebens, / Den Lebensfürsten umgebracht: / Dein Stachel ist vergebens“ (CS 28/ 2). Dass in diesem Lied die Differenz von Teufel und Tod gegen Ende völlig verschwimmt (Str. 6-7) 290 ist ein bekanntes Phänomen auch aus anderen Poemen. Im Sakramentslied „Du Volk, das du getaufet bist“ (CS 33) wird mit innigster Verbundenheit das Wasser der Taufe besungen (CS 33/ 9.10: „O großes Werk! O 286 CS 4.81.102 sind alle erstveröffentlicht in der Praxis Pietatis von 1653 (vgl. Tab. 2 Sp. „Alter Text“). 287 EG 112/ 1 („Auf, auf, mein Herz, mit Freuden“); EG 446/ 1 („Wach auf, mein Herz, und singe“); CS 43/ 16 („Mein Herz, sei wohlgemut“); CS 51/ 1 („Weg mein Herz, mit den Gedanken“); CS 56/ 3 („Er nimmt deiner Füße Tritt, / O mein Herze, wohl in Acht“); CS 90/ 2 („Frisch auf mein Herz! Gott stärket dich“). 288 Ein ähnlicher Beleg, der sich an das Angesicht wendet, in CS 129/ 1: „Was trauerst du, mein Angesicht“. 289 In die Reihe von Kuriositäten gehört auch die Geduld in „Geduld ist euch vonnöten“ (CS 91), welche personifiziert wird und eigens zu Gott spricht: „Geduld setzt ihr Vertrauen / Auf Christi Tod und Schmerz, / Macht Satan ihr ein Grauen, / So faßt sie hier ein Herz / Und spricht: Zürn immerhin, / Du wirst mich doch nicht fressen“ (CS 91/ 6). 290 CS 28/ 7: „Erworben, der die Sünd und Tod, / Welt, Teufel, Höll und was in Not / Uns stürzet, überwunden“. <?page no="225"?> 226 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten heiliges Bad / […] kein Sinn kann dich erreichen! / […] Du bis kein schlichtes Wasser nicht, / Wies unsere Brunnen geben“). Bei allen Personifikationen ist zu bedenken, dass dies uneigentliche Sprachspiele sind, über deren Ontologie an dieser Stelle nur wenig gesagt werden kann, sondern die zuerst einmal auf die tragende Bedeutung innerhalb der konstruierten Glaubenswelt des Werkes hinweisen - nichtsdestotrotz würde ich beim Begriff Tod nicht nur von metaphorischem Sprachgebrauch ausgehen. Die Kommunikationssituationen entfalten über ihre Sender und Empfänger hinaus ein Identifikationspotential durch den Grad der Offenheit in ihren zeitlichen und räumlichen Bezügen. Je weniger konkret Lieder auf Zeit und Ort festgeschrieben sind, desto leichter gelingt es den Sängern sich die Worte anzueignen. Ihlenfeld hat genau in dieser großen Offenheit der Lieder Gerhardts einen Grund für die bleibende Beliebtheit ausgemacht. 291 Tatsächlich kann für meine untersuchten Lieder eine Zeitstruktur festgehalten werden, die so offene Formulierungen darbietet, dass sie eine Verknüpfung zwischen universaler und persönlicher Heilsgeschichte herstellt. Dies darf als bewusstes Anliegen Gerhardts aufgefasst werden, wie Grosse zu den De tempore-Gesängen bemerkt: „Mit den meist zu den Kirchenfesten zu singenden heilsgeschichtlichen Liedern verhält es sich entsprechend. Auch hier wird eine sprachliche Darstellung der Geschehnisse gegeben. Doch die Absicht des Dichters ist, daß der Mit-Sänger des Liedes das Dargestellte auf sich selbst anwendet, sich selbst appliziert. Vor allem handelt es sich darum, daß der Sänger und Beter des Liedes Jesus, wie er ihm in diesen Liedern vorgestellt wird, gläubig und in Liebe annimmt und umgekehrt sich selbst Jesus zueignet, wovon später noch zu sprechen sein wird“ 292 . Die Offenheit im zeitlichen Rahmen und die damit verbundenen Rezeptionsmöglichkeiten sind so groß, dass problemlos auch heutige Rezipienten diese persönliche Aneignung der Heilsgeschichte vollziehen können - die Konstruktion der Zeitebenen in Gerhardts Liedern erschafft geradezu einen Kulminationspunkt von Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart des singenden Subjektes. 293 Ausgesprochen eindrücklich sind die Zeitebenen in „Ist Gott für 291 Vgl. Ihlenfeld, Huldigung für Paul Gerhardt, 120. 292 Grosse, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, 203. 293 Bunners hat darauf hingewiesen, dass die meisten Gerhardtlieder darin geeint sind, dass sie mit einem Ausblick auf die Ewigkeit schließen (vgl. Bunners, So laß die Englein singen, 61) - m. E. handelt es sich mitunter gar um einen Blick „in der“ (nicht in die! ) Ewigkeit, ganz der Zeit enthoben. Bunners versteht das Singen bei Gerhardt als proleptische Heilserfahrung: „Das Verhältnis von Dann und Jetzt bedeutete, dass die Glaubenden sich jetzt auf ihre Zukunft hin ‚einsingen‘. […] In umgekehrter Perspektive bedeutete diese Auffassung, dass bei Singen und Musik bereits jetzt die Ewigkeit als vorweg tönend erfahren wurde.“ (Bunners, So laß die Englein singen, 64). <?page no="226"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 227 mich, so trete“ (EG 351) miteinander verwoben, hier singt ein Ich, das zwar den existentiellen Problemkreis spürt, der zwischen dem Reich Gottes, das schon da ist, aber noch der Vollendung hart, besteht, aber trotzdem im Glauben die Schranke des eschatologischen Vorbehaltes überwindet. 294 „Hier [sc. EG 351] spricht ein Ich, das in sich, in seiner Gegenwart, das Rechtfertigungsgeschehen und seine Lebenswirklichkeit versammelt, konzentriert - vergegenwärtigt. […] Das glaubende Ich nimmt das Geschehen als gegenwärtiges wahr; dessen Realität ist das Gegenwärtig-Sein des Heils und muß nicht erst durch vermittelnde Akte werden. Das ‚Ich glaube‘ als Voraus-Setzung vor jeder Aussage hebt die Verschiedenheit der Zeitebenen der beiden Teile in Bezug auf das Heilsgeschehen auf. […] Jetzt, in diesem Sprechen (Beten und Singen), ‚ist‘ Gott für mich, darf ich vor Gottes Augen stehen, habe ich einen Heldenmut, deckt mich Christus mit seinen Flügeln, spricht mir der Geist tröstlich zu und zeigt mir mein Erbe im Himmel, läßt mich die Feindschaft Satans und die Lockungen der Welt überwinden. Was ‚war‘ - die Erlösungstat Christi - und was ‚sein wird‘ - das Schauen der ‚neue(n) Stadt‘ -, ist Jetzt im Geistesgegenwärtigen Glauben und Beten.“ 295 Ein Großteil der Lieder Gerhardts stellt eine Situation vor, die in der Gegenwart verortet ist, auch der Kampf mit dem Teufel ist einer, der sich in der Gegenwart vollzieht, wie sich an der Art und Weise aufzeigen lässt, in der vom Satan geredet wird. 296 In der Jetzt-Zeit singt das Ich/ Wir über seine Anfeindungen und zugleich über das Heil im Glauben. 297 Diese Ergebnisse zum Zeitverständnis korrespondieren mit den überaus offen gehaltenen Angaben zur Lokation der Kommunikation - meist liegt soviel Offenheit vor, dass auch heutige Rezipienten die Lieder und Worte problemlos 294 Vgl. Axmacher, Lutherische Rechtfertigungslehre in dichterischer Gestalt, 145. V.a. drückt dies „Warum sollt ich mich denn grämen“ aus: „Wer will mir den Himmel rauben, / den mir schon Gottes Sohn / beigelegt im Glauben? “ (EG 370/ 1). 295 Axmacher, Lutherische Rechtfertigungslehre in dichterischer Gestalt, 153. 296 Zur Art und Weise, wie der Satan zeitlich gegenüber der Gemeinde beschrieben wird, gibt die Übersicht Auskunft - wobei durch Zerfließen der Zeitebenen eindeutige Zuordnungen oft kaum möglich sind (vgl. Tab. 2 Sp. „Sonstige Bemerkungen“). Es zeigt sich, dass der Satan v. a. als Gefahr der Gegenwart gesehen wird, die aber in dieser Gegenwart überwunden, bzw. als beherrschbar eingestuft wird und sich damit zugleich Teil der Vergangenheit darstellt (z.B.: EG 39.112.351.361.370). Daneben gibt es Formeln, die den Satan als schon überwundene Gestalt der Vergangenheit malen (z.B.: EG 447), aber auch jene, die den Kampf und letzten Sieg noch in der Zukunft erwarten (z.B.: CS 34). Dass imprekative und deprekative Formeln eine gegenwärtige/ zukünftige Gefahr voraussetzen, ist selbsterklärend. 297 Ziaja beschreibt das Kriegsgeschehen als eigentlich für Gott entschiedenes und damit der Vergangenheit angehörendes, wenngleich es sich auf der Textebene als gegenwärtig darstellt (vgl. Ziaja, Paul Gerhardts Kirchenlieder, 142). <?page no="227"?> 228 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten zu ihren eigenen werden lassen können. Gerhardts Lieder sind Lieder im Hier und Jetzt! 298 Neben der Kommunikationssituation verdienen auch die Sprecherhandlungen weitere Beachtung, die über die Anmerkungen zu imprekativen und deprekativen Formeln gegenüber dem Satan hinausgehen. 299 Dass Lieder im deprekativen Modus mit bittenden Sprechakten einhergehen, ist einleuchtend‚ 300 ebenso notwendig begleitet den imprekativen Modus ein Akt des Befehlens und Gebietens (CS 102.4.81). Betrachtet man die Sprecherhandlungen eingehender, finden sich im Umfeld des Teufels fast immer Akte, die im Bereich des Berichtens, Verkündens, bis hin zum kräftigeren Bekennen zu verorten sind. 301 Wie erwähnt, sind die meisten Kontexte der Lieder Gerhardts, in denen der Teufel erscheint, von erzählendem, gelegentlich klagendem Charakter. Exemplarisch berichtet nüchtern das singende Ich in „Hört an, ihr Völker, hört doch an“ (CS 62) vom Sold der Sünde: „Die Bösen sind des Teufels Beut / Und müssen Marter leiden“ (CS 62/ 8). 302 Eine Auffälligkeit des Gesamtwerkes besteht in einer Handlung, die ich als Spotten bzw. als tollkühnes Verlachen der bösen Mächte bezeichnen würde. Gerhardt lässt die Gemeinde kampfeslustig und siegesgewiss z.B. anstimmen: „Es tobe, was da kann, / mein Haupt nimmt sich mein an“ (EG 112/ 7). „Sünd und Hölle mag sich grämen, / Tod und Teufel mag sich schämen“ (EG 39/ 2). „was kann mir tun der Feinde und Widersacher Rott? “ (EG 351/ 1). „Laß Höll und Teufel böse sein, / Was schad’ts? sie müssen dennoch mein / Und meiner Seele schonen“ (CS 19/ 3). „Stürme, Teufel und du Tod, / Was könnt ihr mir schaden? “ (CS 81/ 6). Wer über den Teufel spotten kann, muss sich seiner Sache sicher sein. Schon das Verkünden und Berichten setzt im Regelfall ein Für-Wahr-Halten voraus - in unserem Fall ist der Modus des Glaubens wohl die passendere Bezeichnung für die entsprechende Sprechereinstellung. Dort wo Glaube ist, geht dieser wenig trennscharf in die Begriffe Überzeugung, Vertrauen und Gewissheit über. Das 298 Z.B.: EG 39/ 6 („O du hochgesegnete Stunde, / da wir das von Herzensgrunde“); EG 112/ 1.6 („was heut geschicht […] Er reißet durch den Tod / durch Welt“); EG 133/ 9.13 („dem Herzleid auf der Erd […] wenn’s mit uns hier wird aus“); EG 351/ 2.3 („Nun weiß und glaub ich feste […] ist nichts auf dieser Erd“); EG 361/ 5 („hier wollten widerstehn“); EG 370/ 2.5 („wenn ich werd von der Erd […] sollt ich jetzt“); EG 446/ 2.5 („Heut, als die dunklen Schatten […] hier bring ich meine Gaben“); EG 449/ 1.2 („aber nun steh ich […] aus dieser Erden“); EG 470/ 1.5 („Nun ruhen alle Wälder […] vom Elend dieser Erden“). 299 Vgl. Tab. 2 Sp. „Sprecherhandlung“; „Sprechereinstellung“; „Sonstige Bemerkungen“. 300 U.a.: EG 133/ 11; 449/ 5; 477/ 8; CS 59/ 16; 60/ 4. 301 Vgl. Tab. 2 Sp. „Sprecherhandlung“. 302 Ähnlich: EG 325/ 8; CS 99/ 8; 111/ 15. <?page no="228"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 229 schier unendliche Vertrauen, besonders im Gegenüber zu den Verderbensmächten, ist von verschiedenen Seiten als spezifisches Kennzeichen dieses Barockpfarrers herausgestellt worden. Man will bei Gerhardt nicht mehr die bangende Gewissheit Luthers erkennen, sondern vielmehr eine unumstößliche Sicherheit in Bezug auf den Sieg Christi und das damit errungene Heil, sowie eine plastische Christologie, die fast die Verborgenheit Gottes verdrängt - womit der Dichter eine Neuerung in den Protestantismus eintrug. 303 „Die Gotteserfahrung ist sehr viel stärker als bei Luther in aller Selbstverständlichkeit von vornherein durch die Christologie moderiert, die Ambivalenz der Gotteserfahrung in der Dialektik von deus absconditus und deus revelatus, die es erlauben würde, die Schöpfungserfahrung als ambivalent zu erfassen, wie Luther das in seiner Genesisvorlesung tut, spielt kaum eine Rolle.“ 304 Wesentlich drastischer formuliert Susanne Türck, die explizit den Sicherheitsbegriff verwendet: „Abgesehen von trivial wirkenden Flickwörtern wie ‚ohne Zweifel‘ atmen Gerhardts Verse eine Sicherheit, die sich von dem Gottvertrauen Luthers unterscheidet. Die Dynamik ist geschwunden; der Feind ist keine Realität mehr, jedenfalls braucht der Mensch nicht selbst in den Kampf gegen ihn einzugreifen. An die Stelle von Luthers Glaubensmut, der auf das Ewige, Unwandelbare vertraut, tritt bei Gerhardt das Vertrauen auf die Weisheit dessen, der das in der Zeit ablaufende Geschehen lenkt“ 305 . 303 Der Eindruck von Sicherheit hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Gerhardt das für unsere Zeit gesetzlich klingende Wort „müssen“ häufig in seine Dichtung einschreibt. Er stellt dabei Gottes Heilsbeschluss für die Menschen mit unumstößlicher Gewähr dar: „Drum frommer Christ, / Wer du aus bist, / Sei gutes Muts und lass dich nicht betrüben; / Weil Gottes Kind / Dich ihm verbind’t, / So kann’s nicht anders sein, Gott muss dich lieben“ (CS 4/ 7); „und was er haben will, / das muss doch endlich kommen“ (EG 361/ 5); „Das kann mir fehlen nimmermehr, / Mein Vater muss mich lieben! “ (CS 73/ 2); „Nun kehrt zu mir mein Ephraim, / Sucht Gnad in meinen Armen, / Drum bricht mein Herze gegen ihm / Und muss mich sein erbarmen“ (CS 67/ 7). Auch der Teufel ist an dieses Muss gebunden: „Nun, auf diesen heilgen Grund / Bau ich mein Gemüte, / Sehe, wie der Höllenhund / Zwar dawider wüte; / Gleichwohl muss er lassen stehn, / Was Gott aufgerichtet, / Aber schändlich muss vergehn, / Was er selber dichtet“ (CS 81/ 12). 304 Slenczka, Paul Gerhardt und Martin Luther, 158. 305 Türck, Paul Gerhardt entwicklungsgeschichtlich, 40-41. Dagegen wendet sich Petrich, der weiter von Gewissheit spricht, wenngleich diese sich kaum mehr zu bewähren hat, da der Sieg ausgemacht sei: „Die von Gerhardt vertretene Frömmigkeit beweist nun ihre Eigenart darin, daß sie, ohne die Gefährlichkeit dieser Feinde einen Augenblick zu leugnen, doch von vornherein die Gewißheit des Sieges über sie in sich trägt. Die Sünde, die die Seele in die Verdammnis hinunterzieht […], hat seit dem Sühnopfer Christi ihre verdammende Kraft schon verloren.“ (Petrich, Paul Gerhardt. Ein Beitrag, 253). <?page no="229"?> 230 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Neben eher proklamierend-konfessorischen Modi, gibt es natürlich auch bei Gerhardt - oft in denselben Liedern - den Gebets- und Bittmodus, wie es dem Kirchenlied, das u.a. Gebet sein will, notwendig zu eigen ist. 306 Mit der Bitte als einer an die Zukunft gerichteten Erwartung, geht die Sprechereinstellung der Hoffnung und des Wunsches einher. 307 Man stellt allerdings bei der Durchsicht der Lieder fest, dass nicht jede Wendung an Gott automatisch in eine Bitte mündet, sondern durchaus ein Fall vorliegen kann, bei welchem dem göttlichen Gegenüber im Rahmen der euchologischen Kommunikationssituation mitgeteilt wird, wie der Mensch Gott betrachtet und seine Lebenssituation im Angesicht Gottes beurteilt. 308 Ähnlich wie beim berichtenden Handeln schwingt auch dabei nicht selten eine lobende/ dankende Dimension mit, was wiederum von Einstellungen der Freude und Dankbarkeit begleitet sein kann. Ein Beispiel für diese Art pragmatischer Gestaltung ist der Gesang „Ich danke dir mit Freuden“ (CS 113), der durchgängig eine lobende und dankende Handlungsrichtung beibehält und in einer freudig enthusiastischen Einstellung vorgebracht wird. 309 Für dieses, das eigene Leben ausbreitende Erzählen im Angesicht Gottes, gibt es in Psalmen Vorlagen, denn auch dort berichtet der Psalmist häufig in direkter Anrede Gottes davon, wie er dessen Wirken freud- und leidvoll erlebt, ohne zugleich konkrete Erwartungen an Gott zu richten. 310 Ein Paradebeispiel dazu ist die Dichtung Gerhardts zum 121. Psalm: 306 Dieses Bitten ist v. a. bei den deprekativen Formeln zu finden, aber auch darüber hinaus im weiteren Kontext des Teufels davor oder danach. Z.B. fleht im „Abendsegen“ (CS 39) ein Beter zu Gott, ihm zur nächtlichen Ruhe Engel ums Bett zu stellen (Str. 5), worauf voller Gewissheit und Vertrauen nüchterne Aussagen über die vergeblichen Anschläge des Satans gemacht werden (Str. 6). Das Bitten zu Gott kann sich sogar derart vertrauensvoll darstellen, dass der Beter den Anschlägen des Teufels zustimmt: „Laß Höll und Teufel böse sein / Was schad’ts? die müssen dennoch mein / Und meiner Seele schonen“ (CS 19/ 3). 307 Z.B.: CS 21; EG 133. 308 In „Ist Gott für mich, so trete“ (EG 351/ CS 82) liegt u.a. eine Situation vor, in der bei völliger Selbstverständlichkeit ein Einzelner das Wort an Gott ergreift und diesem mitteilt, wie sehr er von dessen Beistand und Hilfe in allen gegenwärtigen wie kommenden Widrigkeiten überzeugt ist, ohne aber diesen um Hilfe zu bitten: „Die Welt, die mag zerbrechen, / du stehst mir ewiglich; / kein Brennen, Hauen, Stechen / soll trennen mich und dich; / kein Hunger und kein Dürsten, / kein Armut, keine Pein, / kein Zorn der großen Fürsten / soll mir ein Hindrung sein“ (EG 351/ 11). Ähnlich: EG 361/ 3.4. 309 Str. 1 soll als Beispiel genügen: „Ich danke dir mit Freuden / Mein König und mein Heil, / Daß du manch schweres Leiden, / So mir zu meinem Teil / Oft häufig zugedrungen / Durch deine Wunderhand / Gewaltig hast bezwungen / Und von mir abgewandt“ (CS 113/ 1). 310 So findet sich z.B. in Ps 2 erst im 8. Vers eine ausdrückliche Bitte, wenngleich von Anfang an Gott das Gegenüber der Rede darstellt. <?page no="230"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 231 „Ich erhebe, Herr, zu dir / Meiner beiden Augen Licht, / Mein Gesicht ist für und für / Zu den Bergen aufgericht’t, / Zu den Berg, da herab / Ich mein Heil und Hilfe hab. / Meine Hilfe kommt allein / Von des Höchsten Händen her, / Der so künstlich, hübsch und fein / Himmel, Erde, Luft und Meer, / und was in dem allen ist, / Uns zum Besten ausgerüst’t“ (CS 56/ 1.2). Neben Spotthandlungen gegenüber bösen Feinden, zeigt sich im Gesamtwerk auch noch in Bezug auf menschliche Kommunikationsteilnehmer eine häufige Sprecherhandlung, nämlich jene des Tröstens, eng damit verbunden des Ermutigens/ Zusagens. 311 Dass hier für die Sprechereinstellung ähnliches wie für den Spottmodus zu gelten hat, leuchtet ein - wer andere zum Glauben und Vertrauen auf Gottes Hilfe und Barmherzigkeit in aller Not und Anfeindung reizen will, der muss selbst über Vertrauen und Gewissheit verfügen. Zumindest aber singt derjenige sich mit seinem vielleicht auch von Zweifeln geplagten Überzeugungen hinein in den Glauben der Kirche und der singenden Gemeinschaft. Das bekannteste Werk Gerhardts in dieser Hinsicht dürfte das Akrostichon „Befiehl du deine Wege“ (EG 361) sein, wo voller Vertrauen in geschwisterlicher Verbundenheit dem anderen zugesagt wird: „Und ob gleich alle Teufel / hier wollten widerstehn, / so wird doch ohne Zweifel / Gott nicht zurücke gehn; / was er sich vorgenommen / und was er haben will, / das muss doch endlich kommen / zu seinem Zweck und Ziel“ (EG 361/ 5). Wesen und Werk Bei der Fülle aufgefundener Aspekte zu Wesen und Werk Satans in der Dichtung Gerhardts, kann, wie im Vorangegangenen, auch hier nur eine Auswahl an Gedanken dargelegt werden, dennoch gilt unter Bündelung der vorherigen Überlegungen, dass der Dichter ganz im Rahmen des orthodoxen Lehrgebäudes bleibt - zwar handelt er oft vom Gegenspieler Gottes und der Christen, tut dies aber nie um des Teufels selbst willen. Die Bilder und Darstellungen Gerhardts sind keine schwärmerischen Privatansichten bzw. Spekulationen eines sprachbegabten lutherischen Barockpfarrers, sondern an der Bibel gewonnene Aspekte des damaligen dogmatischen Lehrgebäudes‚ 312 in dem der Teufel einen Lehrinhalt neben vielen anderen darstellt. Da Spekulationen fehlen, liegen folgerichtig in den Liedern keine entfalteten Gedanken zur Ontologie des Feindes vor, vielmehr muss der Teufel v. a. in seiner Funktion und Wirkung gegenüber 311 U.a.: EG 39.112.361.449.477. 312 Vgl. Tab. 2 Sp. „Traditionsbezüge“. <?page no="231"?> 232 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Gott und Mensch verstanden werden - es ist nicht abwegig von einem Ineinanderfallen von Wesen und Werk des Teufels zu sprechen. Klarer als zum Wesen des Teufels geben die Lieder Antwort auf dessen Lokation. Der Teufel ist als Anfechter dort zugegen, wo Christen sind (CS 43/ 7.8: „Doch allzeit ohne Ruh, / Wohin wir gehn, da geht er nach / […] Er sucht zu Haus, er sucht zu Feld; / Er sucht zur See und Land; / Er sucht uns in der ganzen Welt“). 313 Dieses Zitat zeigt die Beharrlichkeit des Verfolgers der Christen an, die nicht nur an allen Orten, sondern auch zu allen Zeiten spürbar wird: 314 „Der Feind mit tausend Listen, / Der mich und alle Christen / Verfolget Tag und Nacht“ (CS 39/ 6). 315 Daneben steht der Feind in einer besonderen Beziehung zur Hölle, welche zugleich eingebunden ist in einen weiteren Gedankenkomplex - die Hölle ist „sein Reich“ (CS 33/ 4), dort ist er Herrscher. 316 Bei der Darstellung von Hutters Compendium habe ich darauf hingewiesen, dass der Teufel nicht als dämonischer Solist wirkt, sondern eine eigene Stimme in der Polyphonie (Kakophonie) des Bösen spielt, er wirkt mit am unheiligen Triumvirat/ Quadriumvirat von Teufel, Tod, Sünde und Gesetz. 317 Diese Begriffsverbindungen und -nachbar- 313 Die allgegenwärtige Anfechtung (CS 39/ 6: „Verfolget Tag und Nacht“) findet in Gottes Schutz eine unüberbietbare Antwort: „Es zeucht der heilgen Engel Schar, / […] Und wehren fleißig hie und dar“ (CS 43/ 10). 314 Die permanente Wirksamkeit des Teufels ist auch in der Predigtliteratur der Zeit häufiger Topos (vgl. Holtz, Der Fürst dieser Welt, 43-44). 315 Bei CS 39 handelt es sich um ein Abendlied, welches eine Liedgattung mit großer Affinität (z.B.: CS 38.39) zum Thema Teufel darstellt. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass das Tagesende eine gedankliche Nähe zum Lebensende besitzt. Lorbeer hat z.B. auf die enge thematische Verbindung von Lebensabend und dem darin erscheinenden zum Zweifel reizenden Teufel im Liedgut des 17. Jh. hingewiesen (vgl. Lorbeer, Die Sterbe- und Ewigkeitslieder in deutschen lutherischen Gesangbüchern des 17. Jahrhunderts, 300-314). Bunners weist ebenfalls in Abendgesängen bei Gerhardt auf eine existentielle Glaubenserfahrung hin: „es bleibt ein Singen in letzten Horizonten, ein Singen zwischen Hölle und Himmel“ (Bunners, So laß die Englein singen, 67). Dennoch weitet sich bei Gerhardt der Blick auf eine ganztägige Anfeindung: „Er emsig und bemühet ist“ (CS 34/ 2); „Und schützt sich früh und späte / […] Vor Satans List und Gift“ (CS 91/ 8). 316 Ähnlich: „Immanuel / Schlägt Teufel, Höll und all ihr Reich darnieder“ (CS 4/ 6); „Er wirft zu Christi Fuß / Sein Höllenreich und muß“ (CS 26/ 3). Die „Höll“ kann auch zu „seiner [sc. Satans] Höhl“ (CS 43/ 6) werden. 317 Die Wörter stehen nicht immer in dieser Reihung, aber wo eines der Wörter erscheint, findet sich häufig eines der anderen, z.B.: EG 112/ 4 („Die Höll und ihre Rotten / die krümmen mir kein Haar; / der Sünden kann ich spotten, / bleib allzeit ohn Gefahr. / Der Tod mit seiner Macht / wird nichts bei mir geacht’: / er bleibt ein totes Bild, / und wär er noch so wild“); 82/ 1; 133/ 2.3.11-13; 351/ 5.6; CS 25/ 5; 16/ 10-13; 129/ 1-6; 125/ 1-6. Ein Beispiel für die Verknüpfung von Gesetz, Teufel und Hölle findet sich in „Warum willst du draußen stehen“ (CS 2), wo zuerst der Mensch dargestellt wird, der unter dem Gesetz in Seelennot <?page no="232"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 233 schaften gehen nicht selten mit einer Substitution einer der Begriffe durch den Höllenbegriff einher‚ 318 wie z.B. in „Gegrüßet, seist du meine Kron“: „Du [sc. Christus] rettest mich durch deinen Tod / Von mehr als eines Todes Not / Und machst mich sicher wohnen. / Lass Höll und Teufel böse sein, / Was schad’ts? Sie müssen dennoch mein / Und meiner Seele schonen“ (CS 19/ 3). Dies ist möglich, da Hölle nicht nur örtlich aufzufassen ist, sondern im Sinne eines „Höllenheeres“ (CS 68/ 3), ähnlich wie der Tod, personale Züge annimmt. 319 Die Hölle ist im Weiterdenken der Reformatoren außerdem zur Zeit der Orthodoxie zugleich Örtlichkeit und erfahrbare Zuständlichkeit. „Die überlieferten Vorstellungen von den Ereignissen nach dem Tod des einzelnen Menschen und am Ende der Welt- und Menschheitsgeschichte ( Jüngstes Gericht und Wiederkunft Christi, Auferstehung der Toten, ewiges Leben und ewige Verdammnis) gehen auch in die reformatorische Theologie als selbstverständlicher eschatologischer Horizont ein. […] Diese Erfahrung der Trennung von Gott, ja des Gegensatzes und der Feindschaft ihm gegenüber, ist die eigentliche Hölle, die sich somit im Menschen selbst ereignet, und nicht wie im Mittelalter als ein Ort unterhalb der Erde angenommen werden muß. Gegenwärtige Höllenerfahrung in solchen Anfechtungen und Erwartung einer zukünftigen endgültigen Entscheidung im Gericht bedingen sich einander, so daß der gegenwärtige und zukünftige Aspekt […] nicht verselbständigt werden darf.“ 320 Die Hölle, Teufel, Sünde, Tod bilden bei Gerhardt ein Verhältnis in engster Vernetzung, ein dämonisches Geflecht. 321 Die Verhältnisbestimmungen Luthers (s. Kap. 6.) über dieses Netz aus Sünde, Tod und Teufel lassen sich grundsätzlich in Gerhardts Dichtung nachzeichnen, weshalb ich mich hier auf Spezifizierungen konzentriere. Die enge Verbindung und Zuordnung dieser Begrifflichkeiten ist bei Luther, in den Bekenntnisschriften, bei Hutter sowie bei diesem Barockgerät (Str. 3) und dann in dieser Not vom Teufel weiter verwirrt wird, indem er ihm die Gnade Gottes auszureden versucht. 318 U.a.: EG 39/ 2 („Sünd und Hölle mag sich grämen, / Tod und Teufel mag sich schämen“); CS 7/ 15 („Es hat mit uns nun keine Not, / Weil Sünde, Teufel, Höll und Tod / Zu Spott und Schanden sind gemacht“); CS 28/ 7. Die enge Verbindung der Begrifflichkeiten stellt v. a. Ziaja heraus (vgl. Ziaja, Paul Gerhardts Kirchenlieder, 101-102). 319 Ein v. a. örtliches Höllenverständnis bietet Ziaja, indem er darstellt, dass dies ein Ort unterhalb des Menschen ist, im Gegenüber zum oben verorteten Bereich Gottes, zwischen dem sich der Mensch in auf- oder absteigender Richtung bewegt (vgl. Ziaja, Paul Gerhardts Kirchenlieder, 147-15). 320 Sommer, Der Untergang der Hölle, 181. 321 Die Rede vom Netz ist nicht nur meine persönliche Beschreibung des Denkens Gerhardts, sondern findet sich wörtlich (CS 102/ 4: „Du hast wahrlich mich mit Macht / In dein Netz zu ziehn gedacht“). <?page no="233"?> 234 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten poeten aus biblischen Wurzeln erwachsen. 322 Die Hölle ist Ort/ Erfahrung des Gebundenseins‚ 323 Ort der Knechtschaft Satans für den in Erbsünde geborenen, immer wieder durch Sünde und Unglauben in die gefühlte Gottverlassenheit fallenden Menschen, es ist der Zustand des ewigen Todes, wenngleich er zu Lebzeiten nicht für jeden spür- und wahrnehmbar ist. 324 „Die schwerste [sc. Sündenfolge] und von Gerhardt besonders betonte endlich ist die, daß der Mensch durch die Sünde in ‚Satans Kerker‘ beschlossen ist“ 325 . Die Schwierigkeit in der Definition der Hölle und deren Verhältnis zu Teufel, Sünde und Tod spiegelt sich auch in der Verwendung von Worten aus dem Bereich des Verschlingens/ Fressens wider, wie sie in 1Petr 5‚8 präfiguriert sind: „Will Satan mich verschlingen, / so laß die Englein singen: / ‚Dies Kind soll unverletzet sein.‘“ (EG 477/ 8). 326 Gelegentlich lassen entsprechende Stellen die Interpretation zu, die Hölle sei als Bauch und Leib Satans und des Todes aufzufassen. Die Verflechtung von Satan und Hölle und die sündenbedingte Bindung des Menschen beschreibt eindrucksvoll Gerhardts Tauflied: „Dein Leib und Seel war mit der Sünd / Als einem Gift durchkrochen, / Und du warst nicht mehr Gottes Kind / […] Der Zorn, der Fluch, der ewge Tod, / […] Das war auf dich gefallen; / Du warst des Satans Sklav und Knecht, / Der hielt dich fest nach seinem Recht / In seinem Reich gefangen. / Das alles hebt auf einmal auf / […] Das Wasserbad der heilgen Tauf, / Ersetzt dagegen wieder, / Was Adam hat verderbt gemacht / Und was wir selbsten durchgebracht / Bei unserm bösen Wesen. / Es macht dies Bad von Sünden los / […] Die Satans Kerker vor beschloss, / Die werden frei und 322 Sünde hat den Tod zum Lohn (Röm 6‚23), Befehlshaber über den Tod ist der Teufel (Hebr 2‚14). Die Sünde selbst hat keine Macht, sondern nur durch das sie überhaupt erst aufrichtende Gesetz (1Kor 15‚56). 323 „Satans Bande“ (EG 449/ 5); „Du hast mich aus dem Brande / Und aus dem Feur gerückt, / Und wenn der Höllen Bande / Mich um und um bestrickt“ (CS 113/ 5). Ähnlich: CS 28/ 3; 27/ 31; 31/ 8; 107/ 1; EG 11/ 4. 324 Wie in den Bekenntnisschriften bezeugt (CA II), lehrt auch Gerhardt eindeutig die Erbsünde (z.B.: CS 721/ 1; 51/ 2; 125/ 4) und die damit einhergehende Knechtung unter den Satan (CS 31/ 3: „Durch Adams Fall gefallen. / Durch dieses Fallen ist die Macht / Des bösen Geistes leider bracht / Auf ihn und auf uns allen“). Daneben besteht eine Versklavung in der Folge persönlicher Sünden (CS 62/ 8: „Die Bösen sind des Teufels Beut“; CS 18/ 3: „Und den ganzen Schaden hin, / Den mir Adams Fall gebracht / Und ich selbsten mir gemacht“; CS 111/ 4.5). Die Unterscheidung von Erbsünde und konkreter eigener Sünde hat ebenfalls Petrich herausgestellt (vgl. Petrich, Paul Gerhardt. Ein Beitrag, 238). 325 Petrich, Paul Gerhardt. Ein Beitrag, 238. 326 Beispiele für diesen höllischen und satanischen Schlund lassen sich in der Dichtung zuhauf ausmachen: „Aus Satans Reich und Rachen“ (CS 51/ 7); „Daß er mich fressen möchte“ (CS 35/ 3); „Will Satan mich verschlingen“ (CS 38/ 8); „und risse, was schon lag im Sarg, / Dem Tod aus seinem Rachen“ (CS 14/ 1); „Du springst in Todes Rachen, / Mich frei und los zu machen / Von solchem Ungeheur“ (CS 13/ 8). <?page no="234"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 235 Söhne / […] Hier stirbt der Tod und würgt nicht mehr, / Hier bricht die Höll, und all ihr Heer“ (CS 33/ 3-7). 327 Diese Taufwirkung hat ihren Grund in der damit einhergehenden Vermittlung des heilsschaffenden Sieges Christi - durch den Sieg Christi, in Kreuz, Höllenkampf und Auferstehung ist die Freiheit aufgerichtet und die geknechtete, versklavte Seele aus dem teuflisch-höllischen Band erlöst (EG 11/ 4: „Ich lag in schweren Banden, / du kommst und machst mich los; / ich stand in Spott und Schanden, / du kommst und machst mich groß“). 328 Der Sieg Christi, v. a. in Osterliedern thematisiert, lässt keinen Zweifel an der Übermacht Gottes gegenüber dem Teufel. „Er war ins Grab gesenket, / Der Feind trieb groß Geschrei; / Eh er’s vermeint und denket, / Ist Christus wieder frei / Und ruft Viktoria, / Schwingt fröhlich hier und da / Sein Fähnlein als ein Held, / Der Feld und Mut behält. / Der Held steht auf dem Grabe / Und sieht sich munter um, / Der Feind liegt und legt abe / Gift, Gall und Ungestüm, / Er wirft zu Christi Fuß / Sein Höllenreich und muss / Selbst in des Siegers Band / Ergeben Fuß und Hand“ (CS 26/ 2.3). 329 Der Sieg Christi ist die wirksame und umfassende Entmachtung des Triumvirates/ Quadriumvirates von Tod, Teufel, Sünde, Gesetz und Hölle. 330 327 Die enge Verzahnung, die als Viererherrschaft von Sünde, Tod, Teufel und Gesetz erscheint, steht in großer Nähe zu Bekenntnisschriften und deren Aufnahme bei Hutter (vgl. HutterC 255; ebs. vgl. BSLK 918-919). 328 In den Liedern, die die erwähnten Bande von Sünde, Tod, Teufel und Hölle beschreiben, finden sich zugleich unzählige Belege für die Befreiungstat Christi, weshalb ich diese nicht eigens verzeichne. 329 Die glorreiche Siegesbeschreibung Christi erinnert an die Vorstellung des Teufelsbetruges, wie sie im Denken der lutherischen Orthodoxie verbreitet war. Sie geht davon aus, dass der Teufel in der Annahme, einen Menschen zu verschlingen, Christus in sein Reich ließ, welcher sich dann als übermächtiger Gottessohn offenbart. Bei Wilhelm Sarcerius z.B., einem lutherischen Theologen des 16. Jh., wird Christus als ein Würmlein am Angelhaken Gottes beschrieben, an dem sich der unaufmerksame Teufel verfängt (vgl. Steiger, „Wider den melancholischen Teufel“, 255-256). 330 „Dem entspricht es, daß er [sc. Gerhardt] nun auch das Werk des Gottessohnes vornehmlich als Befreiung aus einem Gefängnis veranschaulicht […]. Im einzelnen sind es vier Mächte, aus deren Banden wir herausgeführt sind. Erstlich vom Teufel. Luther hatte aus der alten Kirche die Vorstellung vom Erlösungswerk als einem siegreichen Kampf mit dem Teufel herübergenommen, während Anselm die Behauptung von einem Anrecht des Teufels an den Sünder ausdrücklich zurückwies. Gerhardt blieb mit der lutherischen Kirche bei den Gedanken ihres Lehrers […]. Aber ebenso häufig stellen seine Lieder die Erlösung als eine Befreiung von den drei anderen Mächten, der Sünde und der Schuld […], dem Tod als ihrer Straffolge […] und dem Gericht oder der Verdammnis […], dar.“ (Petrich, Paul Gehardt. Ein Beitrag, 241-242). <?page no="235"?> 236 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Dem Eindruck eines Dualismus in Gerhardts Liedern muss klar widersprochen werden; der Satan hat eine Funktion und darf in einem Handlungs- und Zeitraum wirken, den Gott gestattet, zu keinem Moment aber besteht Unklarheit über die Allmacht Gottes. Damit bewegt sich der Dichter ganz auf dem Boden orthodoxer Schultheologie: „Gleichwohl darf und kann nicht von einem Dualismus von Gut und Böse ausgegangen werden. Axiom aller Überlegungen der lutherisch-orthodoxen Theologen zum Thema ist, daß es keinen Dualismus von Gut und Böse gibt. […] Aber in diesem Kampf ist letztlich Gott der Herr der Geschichte, der aber zum Vollzug seines Zornes den Teufel zeitweilig gewähren läßt“ 331 . Die Allmacht Gottes, gegen welche der Teufel vergeblich anstürmt, ist ihm, anders als dem geplagten Menschen, vollends bewusst: „Und den, an dessen Macht / Die Teufel selbst nicht zweifeln, / Den ließ er [sc. der Gottlose] aus der Acht“ (CS 111/ 15). 332 Für den dramaturgischen Verlauf ist in den Liedern Gerhardts der Aufbau von Gegensätzen und -spielern nicht unerheblich‚ 333 aber dies ändert nichts an der grundsätzlich von Gott geführten Heilsgeschichte mit den Menschen. „Am Ende, so die [sc. altprotestantischen] Theologen, trage eben Gott, trotz aller Teilerfolge des Teufels in der Geschichte, den Sieg über die Mächte des Bösen davon.“ 334 Die Dichtung gebraucht, was den Eindruck des Dualismus verstärken mag, mehrfach den Begriff des Widersachers für den Satan, allerdings ist der Name Widersacher (1Petr 5‚8) biblischen Ursprungs und kann deshalb nicht ohne Weiteres zum Titel eines gleichmächtigen Antipoden Gottes erhoben werden. Vielmehr drückt der Titel die grundsätzliche Handlungsrichtung des Feindes aus: Gott zuwider (EG 133/ 11: „Vertreib den bösen Geist, / der dir sich widersetzt“). 335 Als Folge des offenbaren Sieges Christi auf Golgatha und des mageren Erfolges widerstrebender Gebaren Satans, zeigt sich mehrfach ein spezieller Charakterzug des Feindes, nämlich ein immenses Potential für Zorn, Wut und Grimm. Im Osterchoral „Auf, auf, mein Herz, mit Freuden“ (EG 112) steigt Christus zum Teufel in die Hölle hinab, worauf dieser in rasenden 331 Holtz, Der Fürst dieser Welt, 31-32. 332 Wie in Jak 2‚19 angelegt und bei Hutter ausgeführt, ist der Glaube des Teufels v. a. Wissen um Gottes Herrschaft, kein vertrauender Fiduzialglaube. 333 Vgl. Aellen, Quellen und Stil der Lieder Paul Gerhardts, 28-29. 334 Holtz, Der Fürst dieser Welt, 33. 335 Das Zuwiderhandeln des Teufels ist sowohl durch Nomen als auch Verbalformen ausgedrückt: „Widersacher“ (EG 351/ 1); „Hinderung“ (EG 351/ 11); „Und ob gleich alle Teufel / hier wollten widerstehn“ (EG 361/ 5); „Und wenn auch gleich der Fürst der Welt / Selbst wider uns sich legt ins Feld“ (CS 31/ 6); CS 2/ 8; 62/ 8; 60/ 4. <?page no="236"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 237 Ärger ob Christi Sieg gerät: „der Feind trieb groß Geschrei“ (EG 112/ 2); „und wär er noch so wild“ (EG 112/ 4); „Es tobe, was da kann“ (EG 112/ 7). 336 Aufgrund der deutlichen Allmacht Gottes kann - ganz entgegen eines Dualismuses - auch der Eindruck statischer und theologisch fragwürdiger Sicherheit gegenüber allen Feinden Gottes entstehen. 337 Der Eindruck täuscht, bei Gerhardt ist der Sieg errungen, der Glaube an das in Christo eröffnete Heil muss allerdings in der Taufe (CS 33) ergriffen werden und sich im täglichen Glaubenskampf bewähren. 338 Reich Gottes und Heil sind schon da und doch noch nicht vollendet - Paul Gerhardts Lieder beschreiben in diesem Sinne beispielhaft das, was christliche Gewissheit (gegenüber falscher Heilssicherheit) unter eschatologischem Vorbehalt und endzeitlicher Anfechtung meint. 339 Entscheidend ist die Gnadenperspektive, von der aus das Kampfgeschehen betrachtet wird. 336 Beispiele für zorniges und aufbrausendes Wüten gibt es reichlich, u.a.: „Ei, wie läßt der große Drach / All sein Tun und Toben nach! “ (CS 2/ 8); „Macht Satan ihr ein Grauen, / […] Zürn immerhin, / du wirst mich doch nicht fressen“ (CS 91/ 6); „Durch den grimmen Seelenfeind“ (CS 51/ 6). 337 Vgl. Türck, Paul Gerhardt entwicklungsgeschichtlich, 40-41. Türck erklärt in historischer Verflachung und Verkennung des theologischen Gegenstandes die angebliche Sicherheit mit einer zu Gerhardts Zeit nicht mehr ernstgemeinten und naturwissenschaftlich überwundenen Rede vom Teufel: „Für Luther ist der ‚Fürst dieser Welt‘ noch der Teufel, nicht Gott. Daß diese Vorstellung im siebzehnten Jahrhundert schwindet und der Analogie zwischen Gott und dem Souverän Platz macht, hat mancherlei Gründe. Es wurde bereits angedeutet, daß der Teufel an Realität verlor, nicht nur bei friedlichen, zu tiefgehendem Haß unfähigen Seelen wie Gerhardt. lm außerdeutschen Calvinismus hielt sich der Teufelsglaube länger, aber auch dort ist Milton der letzte, der im Satan eine Großmacht sieht. Das Aufblühen der empirischen Naturwissenschaften, die für jedes physische Phänomen eine logisch faßbare Ursache fordern, bekämpfte die Ansicht, daß die bösen Gewalten dauernd störend in das Weltgetriebe eingreifen.“ (Türck, Paul Gerhardt entwicklungsgeschichtlich. II, 120). 338 Vgl. Petrich, Paul Gerhardt. Ein Beitrag, 243. „Täglich bietet er dem Frommen den Streit an […], führt Verfolgungen und Drangsale über ihn herauf […], sucht ihn listig in Sünden und dadurch in seine Herrschaft zu locken […] und reizt sein Herz gegen Gott auf […], indem er ihn ängstigt […]. Gleichwohl, auch über diesen furchtsamen Feind hat Christus in seinem Leiden und Auferstehen schon völlig gesiegt […]. Das weiß der Fromme und bringt sich darum zuversichtlich in die ihm wiedererworbene Gottesgnade […], überläßt die Sache getrost Gott […], der mit seinem oder seines Engels Flügel vor dem Feinde ihn deckt […], und trotzt und triumphiert siegesgewiß in allen Anläufen […]. Nichts hat er selber dabei zu tun, als sich Gotte zu eigen zu schenken […], von seinem heiligen Geiste sich leiten zu lassen […] und die Waffen des Wortes […] und des Gebets […] zu gebrauchen.“ (Petrich, Paul Gerhardt. Ein Beitrag, 253-254). 339 Es ist festzuhalten, dass die Anfechtung in der Orthodoxie und v. a. in ihrer Frömmigkeit ein Kernthema, vielleicht das Thema schlechthin war. Bei Gerhardt und in der Orthodoxie wird immer wieder herausarbeitet, dass die Notwendigkeit steter Bewährung erst am Lebensende ihren Schlusspunkt erhält. „Der lutherischen Orthodoxie stellte sich offenbar das Thema der Anfechtung nicht in einem Durchbrechen vom Stand des Sünders zum Stand des durch den Glauben Gerechten, sondern als Gefährdung des schon erreichten <?page no="237"?> 238 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten „Während Heermann u.a. ihre Bußlieder und Rist seine Höllenlieder ausschließlich der Sünde und ihren verderblichen Wirkungen widmen und immer erst die Befreiung von ihr bei Gott sich erbitten, verkennt Gerhardt zwar keineswegs die Schwere des Fluches, den der Abfall von Gott in sich trägt und nach sich zieht, aber noch viel weniger verkennt er die Größe der Gnade, die über die Sünde gesiegt hat. Der Standort, von dem aus er alle Dinge und auch das Böse betrachtet und abschätzt, ist […] der der vollbrachten Erlösung und der angenommenen Gotteskindschaft.“ 340 Den Menschen von diesem Glauben abzuhalten und wegzureißen, ihn von der Gewissheit in die Ungewissheit, noch schlimmer in völlige Verzweiflung hinabzureißen, ist Hauptabsicht des Satans. Der Teufel geht dabei äußerst geschickt vor, er ist ein Tausendkünstler (CS 43/ 10: „Des Tausendkünstlers List“)‚ 341 womit auf die Wandlungsfähigkeit des Feindes hingewiesen wird. Der Teufel bedient sich diverser Werkzeuge in der Welt, um seine Ziele voranzutreiben, er gleicht einem Marionettenspieler, der sich Larven (z.B.: CS 129/ 2) wählt, durch die er allerorten sein Unwesen treibt. 342 An dieser Stelle muss noch einmal auf eine, durch meine Analysen nur teilweise erfasste Verbindung zwischen immanenten und transzendenten, geistlichen und in der Welt physisch-fassbaren Feinden hingewiesen werden. 343 Der Teufel und seine Anfechtungen sind nicht abzutrennen von Feinden, die z.B. in Psalmliedern als unbestimmte, oft als menschliche Bedrücker zu interpretierende Gestalten erkennbar werden. 344 Die Wandlungsfähigkeit und Marionettenspielerei ist aber nur eine Form des eigentlichen Ausdruckes, durch den der Teufel zu charakterisieren ist, nämlich Tücke und List, welche sich in unzähligen Texten wiederfindet (z.B. CS 81/ 1: Standes des Gerechten. Um die Begriffe des ‚ordo salutis‘ zu benutzen, wie sie in der Konkordienformel gewählt wurden: es geht nicht um die iustificatio, sondern um die conservatio electorum, wobei im Durchstehen der Anfechtung gerade die iustificatio von neuem erfahren und bekräftigt wird.“ (Grosse, Anfechtung und Verborgenheit Gottes bei Luther und Paul Gerhardt, 28-29). 340 Petrich, Paul Gerhardt. Ein Beitrag, 238. 341 Das tausendkünstlerische Handeln beschreibt u.a.: CS 34/ 2; 39/ 6. 342 Schon Petrich hat diese Art der Feinddarstellung bei Gerhardt benannt, indem er auf die Untrennbarkeit dieser Ebenen hinweist, zugleich aber deutlich macht, dass im Regelfall der Teufel hinter die in der Welt materiell fassbaren Feinde zurücktritt und jene trotz innerer Beziehung zum Satan eigens benannt sind (vgl. Petrich, Paul Gerhardt. Ein Beitrag, 253-254). 343 Auf diese Verflechtung weist v. a. Axmacher für „Ist Gott für mich, so trete“ (EG 351/ CS 82) hin, welche leider wegen Strophenausfalls nur im ursprünglichen Text deutlich wird (vgl. Axmacher, Lutherische Rechtfertigungslehre in dichterischer Gestalt, 157). In Str. 11 wird noch vom Satan berichtet als von einer Christen verfolgenden Gestalt, in Str. 13 hingegen wird vom Brennen, Hauen und Stechen der Welt und spezieller der Fürsten berichtet. 344 Vgl. Meier, Paul Gerhardt und die Anfechtung, 230-235. <?page no="238"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 239 „merkst du nicht des Satans List? “). 345 Die List hat nach Darstellung Gerhardts eine brennend-stechende Wirkung, ist eine in der Welt und Seele des Menschen sich ausbreitende Seuche, ein tödliches Gift. 346 Besonders deutlich benennt dies „Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt“, wo der Satan als „Die Peste, die im Finstern schleicht / Und des Mittags umherkreucht“ (CS 90/ 3) bestimmt wird. Es wundert nicht, dass in der Dichtung der Teufel und seine Anfeindungen als stetes und entmutigendenes Kränken, Plagen und Zusetzen beschrieben werden (CS 43/ 15: „Uns zu umlagern, wenn uns plagt / Des Satans Neid und Streit“). 347 Aus dieser Leben und Heil anfechtenden Handlungsrichtung Satans und seiner Helfershelfer folgt fast notwendig beim angefochtenen Menschen eine entsprechende Stimmungslage; er ist gegenüber dem transzendent-immanenten Feindesgeflecht von Schrecken, Angst und Grauen erfüllt. 348 Aus Perspektive des Sieges Christi kann demgegenüber ein Gläubiger den anderen in seelsorgerlich-ermutigender Hinsicht fragen: „Du siehest ja / Vor Augen da / Dein Fleisch und Blut die Luft und Wolken lenken; / Was will doch sich - / Ich frage dich - / Erheben, dich in Angst und Furcht zu senken? / Dein blöder Sinn / Geht oft dahin, / Ruft Ach und Weh, lässt allen Trost verschwinden. / Komm her und richt / Dein Angesicht / Zum Kripplein Christi, da, da wirst du’s finden“ (CS 4/ 9.10). Die negativen Gemütszustände führen in die oft beschriebene teuflische Betrübnis und Schwermut‚ 349 welche man im Barockzeitalter bösen Mächten zuschrieb und durch Wohlklang gottgegebener musikalischer Harmonien zu kurieren suchte. 350 Das giftende listige Plagen Satans erreicht seinen Höhepunkt aber erst in dem Moment, wo der Feind versucht, dem Menschen das Vertrauen auf den Sieg von Golgatha zu nehmen und so die Liebeseinheit mit dem Gottessohn zu erschüttern. Der Teufel ist dennoch machtlos gegenüber dem Niedertreter und den mit diesem Treter verbundenen Gläubigen. Erst wenn es dem Feind 345 Vgl. Tab. 2 Sp. „Phrase mit Teufel“; „Weitere mit Teufel verbundene Verben“. 346 Z.B.: CS 21/ 3; 26/ 3; 129/ 2 („Der alten roten Schlangen; / Sieh an, daß sie kein Gift mehr hab, / Es ist ihr abgefangen“). Interessant ist die Anmerkung Ziajas, dass das Böse im Allgemeinen in den Liedern Gerhardts mit dem Begriff bitter/ Bitterkeit verbunden ist, Jesus hingegen mit süß/ Süßigkeit (vgl. Ziaja, Paul Gerhardts Kirchenlieder, 170-171). 347 Ähnlich: CS 39/ 2. 348 EG 351/ 6 („Nichts, nichts kann mich verdammen, / nichts nimmt mir meinen Mut: / die Höll und ihre Flammen / löscht meines Heilands Blut. / Kein Urteil mich erschrecket, / kein Unheil mich betrübt, / weil mich mit Flügeln decket / mein Heiland, der mich liebt“); CS 81/ 2 („Was erneust du deinen Stich; / Machst mir angst und bange? / Ist dir doch der Kopf zerknickt“); CS 34/ 2; 39/ 6; 43/ 6; 138/ 5. 349 CS 68/ 3: „Und kann nicht sehen, daß das Heer / Der Höllen dich betrübe“. 350 Vgl. Steiger, „Wider den melancholischen Teufel“, 254. <?page no="239"?> 240 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten gelingt, dem Menschen das Vertrauen zu nehmen, erst wenn der Glaube an die aus Liebe geschehene Rechtfertigung des Sünders im von Vernunft getriebenen menschlichen Geist zu wanken beginnt, findet der Widersacher eine Angriffsfläche gegenüber der menschlichen Seele. Deutlich beschreibt „Herr Jesu, meine Liebe“ (CS 34) diesen Kampf des Menschen um das Vertrauen auf das allezeit genügsame Opfer - der Satan flüstert dem Menschen Nöte in das schuldbeladene Gewissen und versucht, Zweifel an der Wirksamkeit des Todes Christi im Verhältnis zur Masse eigener immer neuer Sünden zu säen, um so den Christen an Gott und Christus verzweifeln zu lassen und ihn in sein Verderbensreich zu ziehen. „Herr Jesu, meine Liebe, / Ich hätte nimmer Ruh und Rast, / Wo nicht fest in mir bliebe / Was du für mich geleistet hast; / Es müsst in meinen Sünden, / Die sich sehr hoch erhöhn, / All meine Kraft verschwinden / Und wie ein Rauch vergehn, / Wenn sich mein Herz nicht hielte / Zu dir und deinem Tod, / Und ich nicht stets mich kühlte / An deines Leidens Not. / Nun weißt du meine Plagen / Und Satans, meines Feindes, List. / Wenn meinen Geist zu nagen, / Er emsig und bemühet ist, / Da hat er tausend Künste, / Von dir mich abzuziehn: / Bald treibt er mir die Dünste / Des Zweifels in den Sinn, / Bald nimmt er mir dein Meinen / Und Wollen aus der Acht / Und lehrt mich ganz verneinen, / Was du doch fest gemacht“ (CS 34/ 1.2). 351 Die mit Vernunft nicht fassbare Botschaft der Rechtfertigung und des Evangeliums wird durch den vom Satan angeregten Vernunftgebrauch, der völlig nachvollziehbar die Schlechtigkeit des Sünders herausstellt, verdunkelt. „Wirfst du mir mein Sünden für? / Wo hat Gott befohlen, / Daß mein Urteil über mir / Ich bei dir soll holen? / Wer hat dir die Macht geschenkt, / Andre zu verdammen, / Der du selbst doch liegst versenkt / In der Höllen Flammen? / Hab ich, was nicht recht, getan, / Ist mirs leid von Herzen; / Dahingegen nehm ich an / Christi Blut und Schmerzen. / Das ist der bezahlte Lohn / Meiner Missetaten. / Bring ich dies vor Gottes Thron, / Ist mir wohl geraten“ (CS 81/ 4.5). Der Teufel legt dem Menschen eigene Sünden vor, klagt an und verunsichert gegenüber der Heilsbotschaft. 352 Dieses Anklagen gegenüber dem aufgerichteten Heil, aller Vernunft zum Trotz, wird in den Dichtungen als Lügen und Betrügen benannt (CS 2/ 3: „Dazu kommt des Teufels Lügen, / Der mir alle Gnad 351 Eine ähnliche Lage wird in „Weltskribenten und Poeten“ beschrieben: „Wenn die Scharen aller Teufel / Sich empören und bemühn, / Dich von Christo abzuziehn / Und zu stürzen in den Zweifel, / Und du sprichst nur: So spricht Gott! / Werden sie zu Schand und Spott“ (CS 57/ 5). 352 Z.B.: CS 57/ 5. <?page no="240"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 241 absagt“); 353 das Leugnen der Gnade Gottes ist die größte Spott- und Lästertat des Feindes‚ 354 und jene mit der größten Auswirkung auf das Leben des Menschen, sein ewiges nämlich. Leicht könnte bei aller List des Feindes der Eindruck entstehen, als sei der Mensch mehr auf Seite des Unheiles, statt des Heiles anzutreffen, bzw. dessen Wohl gänzlich abhängig von der Entscheidung Gottes oder des Teufels, den Menschen in Anfechtung zu führen. 355 Wenn Christi Sieg feststeht, muss nach Gerhardt aber der Sieg als Macht über Sünde, Tod und Teufel für die Gläubigen spürbar werden und dem Anfechtungsmoment etwas entgegenzusetzen sein. Der Dichtertheologe hat unter Kenntnis der Bibel (u.a. Eph 6) und der lutherischen Bekenntnisschriften wenig Mühe, adäquate Antworten auf die Frage nach geeigneten Waffen gegen Anfechtungen zu geben - wie bei Hutter (Locus XX.) 356 findet sich v. a. in der Taufe ein erstes Mittel gegen den Feind. Das zitierte Tauflied „Du Volk, das du getaufet bist“ (CS 33) zeigt plastisch, wie Christus Teufel und Erbsünde überwindet und das Heil durch das Taufwasser im sakramentalen Akt an die Gläubigen übereignet: 357 353 EG 39/ 4 („uns, die Satan hat betrogen“); 446/ 3 („trotz dem, der dich betrüge“); CS 113/ 6 („Den Kläffer, der mit Lügen / Gleich als mit Waffen kämpft“). 354 U.a.: EG 370/ 6; CS 27/ 32. Die Begriffe Lästern und Spotten scheinen eng verbunden mit dem Teufel und seiner vielgestaltigen Gefolgschaft - falsches Dichten und Reden, das Gottes unüberbietbaren Rettungswillen gegenüber dem Menschen klein macht, ist das Ergebnis. Dennoch ist dies nur ein vorübergehendes Aufbegehren von schon besiegten bösen Mächte: „Nimm nicht zu Herzen, was die Rotten / Deiner Feinde von dir dichten; / Lass sie nur immer weidlich spotten, / Gott wird’s hören und recht richten. / Ist Gott dein Freund und deiner Sachen, / Was kann dein Feind, der Mensch, groß machen? / Gib dich zufrieden“ (CS 94/ 11). 355 Paul Gerhardt ist in der Frage des Agens der Anfechtung ganz auf der Linie der lutherischen Orthodoxie - Anfechtung und Melancholie können sowohl vom Teufel als auch von Gott kommen, wenngleich ich Letzteres vernachlässige. „Der Teufel und Gott affizieren den Menschen mit melancholischer Traurigkeit, ersterer, um ihn in seine, dem Teufel, ewig anhaftende und endlose Melancholie hineinzuziehen und sozusagen in seiner Melancholie Gesellschaft zu haben, letzterer aber, um ihn durch die nur zeitweilige herrschende Traurigkeit zur wahren göttlichen Freude einzuführen.“ (Steiger, „Wider den melancholischen Teufel“, 262). 356 Vgl. HutterC 431. 357 Eine der Forschung harrende Frage stellt sich in Bezug auf die Erwähnung eines Glaubensbades in Anlehnung an Offb 7. Ist im Lied „Johannes sahe durch Gesicht“ eine Bluttaufe/ Märtyrertaufe intendiert (CS 134/ 5: „Dieselben haben all ihr Kleid, / als treue Leut, / Im Glaubensbad erkläret; / Sie haben sich der Höllen List, / So viel der ist, / Mit starkem Mut erwehret / Und nicht geacht / Der Erden Pracht, / Des Lammes Blut / Zu ihrem Gut / Erwählet und begehret“)? Nach Recherche und Gesprächen mit Dr. Michael Beyer (Universität Leipzig) konnte ich zumindest die Kenntnis eines Taufersatzes durch den Märtyrertod, wie ihn die Alte Kirche lehrte, auch bei Luther auffinden (vgl. WA.TR 3, 586; ebs. vgl. Jetter, Die Taufe beim jungen Luther, 220-221). <?page no="241"?> 242 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten „Der Zorn, der Fluch, der ewge Tod, / […] Das war auf dich gefallen; / Du warst des Satans Sklav und Knecht, / […] Das alles hebt auf einmal auf / Und schlägt und drückt es nieder / Das Wasserbad der heilgen Tauf, / Ersetzt dagegen wieder, / Was Adam hat verderbt gemacht / […] Es macht dies Bad von Sünden los […]. / Die Satans Kerker vor beschloss, / Die werden frei und Söhne / […] Was von Natur vermaledeit / […] Das wird hier in der Tauf erneut, / […] Hier stirbt der Tod und würgt nicht mehr, / Hier bricht die Höll, und all ihr Heer / […] Hier ziehn wir Jesum Christum an / Und decken unsre Schanden / Mit dem, was er für uns getan / Und willig ausgestanden; / Hier wäscht uns sein hochteures Blut / Und macht uns heilig, fromm und gut“ (CS 33/ 4-8). 358 Scheinbar kann das in der Taufe vermittelte Heil aber in Anfechtungen verschüttet und verschleiert werden - das Hauptwerk des Satans -, weshalb in Strophe 12 die Adressaten des Liedes zur treuen Bewahrung und steten Vergegenwärtigung der Taufgnade aufgerufen werden (CS 33/ 12: „Brauch alles wohl, und weil du bist / Nun rein in Christo worden, / So leb und tu auch als ein Christ / Und halte Christi Orden, / Bis dass dort in der ewgen Freud“). Für Gläubige stellt sich das Leben als stetig angefochten dar, weshalb es Stärkung des Glaubens und Vergegenwärtigung der Gnade Christi bedarf, wobei das Abendmahl als wirksamer sakramentaler Akt wider Verderbensmächte eine herausgehobene Stellung einnimmt. 359 In „Herr Jesu, meine Liebe“ ist es der Gläubige, der sich voller Dank der Stiftung Christi erinnert und dann Christus selbst zu Wort kommen lässt, der die Kraft der Gaben betont. „Solch Unheil [sc. teuflische Glaubenszweifel] abzuweisen, / Hast du, Herr, deinen Tisch gesetzt. / […] Du reichst mir zu genießen / Dein teures Fleisch und Blut / Und lässest Worte fließen, / Da all mein Herz auf ruht. / Komm, sprichst du, komm und nahe / Dich ungescheut zu mir, / […] Hier ist beim Brot vorhanden / Mein Leib, der dargegeben wird / Zum Tod und Kreuzesbanden / Für dich, der sich von mir verirrt. / Beim Wein ist, was geflossen / Zu Tilgung deiner Schuld, / Mein Blut, das ich vergossen / […] Herr, ich will dein gedenken, / […] So hast du auch befohlen, / Dass, was den Glauben stärken kann, / Ich bei dir solle holen, / Und soll doch ja nicht zweifeln dran, / Du habst für alle Sünden, / Die in der ganzen Welt / Bei Menschen je zu finden, / Ein völligs Lösegeld / […] Bezahlet und erlegt“ (CS 34/ 3-6). 358 Ähnlich CS 29/ 3: „Ich war ein wilder Reben, / Du [sc. Heiliger Geist] hast mich gut gemacht; / Der Tod durchdrang mein Leben, / Du hast ihn umgebracht / Und in der Tauf erstickt / Als wie in einer Flute / Mit dessen Tod und Blute, / Der uns im Tod erquickt“. 359 Die Überzeugung von der Wirkung des Abendmahls gegen Anfeindungen des Teufels kann als orthodoxer Gemeinplatz gelten (vgl. Holtz, Der Fürst dieser Welt, 41). <?page no="242"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 243 Dass solche Kraft wider den Teufel entfaltet werden kann, hängt nach reformatorischem Verständnis mit der Macht des Wortes in den Sakramenten zusammen; 360 sowohl im Tauf-, wie im Abendmahlslied wird explizit auf dieses Konstitutivum lutherischer Sakramentstheologie hingewiesen. 361 In den Handlungen wird das Wort Gottes, welches Gewissheit über Gottes Heilswillen herzustellen vermag, nicht nur hör-, sonder zugleich seh- und spürbar. Wo das Wort des Evangeliums, das Wort der gnadenvollen Rechtfertigung des Sünders, erklingt, flieht der Teufel. Zugleich beschwört das Evangeliums den Teufel aber auch herauf, da Angriffe auf Gewissheiten des Glaubens sein Hauptwerk darstellen - Ungläubige nennt der Satan ohnehin schon sein Eigen. 362 Die rechte Darlegung der Rechtfertigungslehre aus dem Worte Gottes ist Hauptaufgabe aller Theologie und Dichtung nach Luther wie lutherischer Orthodoxie. „Der Artikel der Rechtfertigung […] lehrt, woran der Mensch sich halten soll, wenn Tod und Finsternis ihn umgeben. Wenn wir hier nicht unterrichtet sind, kann der Teufel uns in alle Verzweiflungen treiben. Wenn wir hier hingegen gewiß sind, können wir ihm in jeder Art von Versuchung widerstehen.“ 363 Immer wieder ist bei Gerhardt das Wort erwähnt, das tiefe Gewissheit schenkt, die letztlich kein Lügenteufel mit seinen Lästerungen nehmen kann und welches deshalb die zuverlässigste Waffe gegen ihn ist. 364 Die Unüberbietbarkeit 360 Luther führt diesen Gedanken im GrKat aus: „darümb gehen wir zum Sakrament, daß wir da empfahen solchen Schatz, durch und in dem wir Vergebunge der Sunde überkommen. Warümb das? Darümb daß die Wort dastehen […]. Denn darümb heißet er mich essen und trinken, daß es mein sei und mir nütze als ein gewiß Pfand und Zeichen, ja eben dasselbige Gut, so fur mich gesetzt ist wider meine Sunde, Tod und alle Unglück. […] Denn durch die Taufe werden wir erstlich neu geboren, aber darneben […] ist soviel Hindernis und Anfechtung vom Teufel und der Welt, daß wir oft müde und matt werden und zuweilen auch strauchlen. Darümb ist es gegeben zur täglichen Weide und Futterung, daß sich der Glaube erhole und stärke, daß er in solchem Kampf nicht zurückfalle, sondern immer je stärker und stärker werde.“ (BSLK 711-712). Das Abendmahl stellt nach Luther also Kraft des Wortes und der wahrnehmbaren Abendmahlselemente neue Gewissheit über die Sündenvergebung her, allen zweifelsäenden Feinden zum Trotz. Ähnliche Anmerkungen finden sich zur Taufe (vgl. BSLK 693-694). 361 CS 33/ 9.10 („O großes Werk! O heilges Bad, / […] Du hast recht eine Wunderkraft, / […] Dir durch sein Wort geschenket. / […] Was Gott mit seinem Munde spricht, Das hast du in dir leben“); CS 34/ 3 („Du reichst mir zu genießen / Dein teures Fleisch und Blut / Und lässest Worte fließen, / Da all mein Herz auf ruht. / Komm, sprichst du, komm und nahe“). 362 CS 62/ 8: „Die Bösen sind des Teufels Beut“. 363 Grosse, Anfechtung und Verborgenheit Gottes bei Luther und Paul Gerhardt, 13. 364 Vgl. Petrich, Paul Gerhardt. Ein Beitrag, 233-234; ebs. vgl. Knipfer, Paul Gerhardt. Zum Gedächtnis, 10. U.a.: EG 449/ 8 („Alles vergehet, / Gott aber stehet / […] sein Wort und Wille hat ewigen Grund“); CS 51/ 1 („Weg, mein Herz, mit den Gedanken, / Als ob du verstoßen wärst; / Bleib in Gottes Wort und Schranken“); CS 81/ 11.12 („Was sind der Propheten Wort / Und Apostel Schreiben / Als ein Licht am dunklen Ort, / Fackeln, die <?page no="243"?> 244 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten des Wortes stellt mit proklamatorischem Eifer das Gedicht „Weltskribenten und Poeten“ heraus‚ 365 welches die vordergründige Ästhetik antiker Dichter und barocker Imitatoren anerkennt‚ 366 zugleich aber deren Wertlosigkeit für existentielle Anfechtungssituationen in Heilsdingen benennt. „Weltskribenten und Poeten haben ihren Glanz und Schein, / Mögen auch zu lesen sein, / Wenn wir leben außer Nöten: / In dem Unglück, Kreuz und Übel / Ist nichts Bessers als die Bibel. / […] Gottes Wort, das ist’s vor allen, / So uns, wenn das Herz erschrickt, / Wie ein kühler Tau erquickt, / Dass wir nicht zu Boden fallen. / Wenn die ganze Welt verzagt, / Steht und siegt, was Gott gesagt. / Wenn die Scharen aller Teufel / Sich empören und bemühn, / Dich von Christo abzuziehn / Und zu stürzen in den Zweifel, / Und du sprichst nur: So spricht Gott! / Werden sie zu Schand und Spott. / Darum liebt, ihr lieben Herzen, / Gottes Schriften, die gewiss / In der Herzensfinsternis / Besser sind als alle Kerzen“ (CS 57/ 1.4-6). 367 Das Wort ist eine Speise, die den Gläubigen zum Himmel geleitet; 368 die aus dem Wort entströmende Kraft ist nicht weniger als der Geist Gottes selbst, der Stärkung des angefochtenen Menschen bewirkt. 369 Pointiert lässt sich das Wort als das exorzierende Mittel schlechthin beschreiben! Durch das lebendige Wort Gottes, das vom Evangelium kündet, wird der Teufel zwar zu bösen Aktivitäten gereizt, aber indem die Gemeinde sich des Wortes bedient und dieses ausruft, wird der Satan zugleich wirksam vertrieben. In diesem Sinne sind nicht Menschen Exorzisten, sondern das Wort ist Exorzist, das dem Menschen Stimme vertreiben / Meines Herzens Finsternis / Und in Glaubenssachen / Das Gewissen fein gewiss / Und recht grundfest machen? / Nun, auf diesen heilgen Grund / Bau ich mein Gemüte, / Sehe, wie der Höllenhund / Zwar dawider wüte; / Gleichwohl muss er lassen stehn, / Was Gott aufgerichtet“); CS 102/ 7; 91/ 5; 31/ 12; 106/ 6.7; 90/ 2; 138/ 2. 365 „Bibel und Bibeldichtung mildern aber auch seelisches Leid und schützen vor Anfechtung teuflischer Mächte. Bibel, aber auch Bibeldichtung, sind unmittelbar Gottes Wort […]. Der wie beschwörend gesprochenen Zauberformel […] wird die Macht zugetraut, alle Teufel zu vertreiben und ihre Macht zu zerstören.“ (Reinitzer, Bibel, Gesetz und Evangelium in Liedern von Paulus Gerhardt, 37). 366 CS 57/ 3: „Was Homerus hat gesungen / Und des Maro hoher Geist, / Wird gerühmet und gepreist / Und hat alle Welt durchdrungen“. 367 Genaugenommen handelt es sich bei dem Gedicht um ein Enkomion zu einem Buch mit biblischen Dichtungen von Michael Schirmer. Der Lobpreis der Bibel und der biblischen Dichtungen ist keine Sonderheit Gerhardts, sondern steht in langer Tradition, die bis hin zur Alten Kirche zurück reicht (vgl. Reinitzer, Bibel, Gesetz und Evangelium in Liedern von Paulus Gerhardt, 36-37.47-56). 368 EG 446/ 9: „Mich segne, mich behüte, / mein Herz sei deine Hütte, / dein Wort sei meine Speise, / bis ich gen Himmel reise“. 369 CS 99/ 4: „Seinen Geist, den edlen Führer, / Gibt er mir in seinem Wort, / […] Daß er mir mein Herz erfülle / Mit dem hellen Glaubenslicht, / Das des Todes Macht zerbricht / Und die Hölle selbst macht stille“. <?page no="244"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 245 gibt. Die Überzeugung von der Wirksamkeit des Wortes wurde, wie bei den Reformatoren, auch in der Orthodoxie und bei Gerhardt mit Musiktheorie in Verbindung gebracht und Melodien als Transportmittel des göttlichen Wortes empfohlen. 370 Neben Wort und Sakrament kennt Gerhardt auch die schlichteste Äußerung des gläubigen Menschen überhaupt, das Gebet, als Mittel wider alle Feinde. 371 „Geduld kann lange warten, / Vertreibt die lange Weil / In Gottes schönem Garten, / Durchsucht zu ihrem Heil / Das Paradies der Schrift / Und schützt sich früh und späte / Mit eifrigem Gebete / Vor Satans List und Gift“ (CS 91/ 8). 372 Dennoch kann man in Beschreibungen von Hoffnungen und Gewissheiten gegenüber Wort und Sakrament eine gewisse Vorrangstellung vor dem Gebet erkennen; mit Wort und Sakrament hat der Dichter die orthodoxen Heilsmittel und notae ecclesiae der ecclesia vera (CA VII) als die wirksamsten Instrumente im geistlichen Kampf hervorgehoben. Dies verwundert kaum, denn der Weg zum Heil ist der Weg der Entmachtung aller Glieder des dämonischen Netzes aus Sünde, Tod und Teufel - jede Art und Weise dem ultimativen Sieger über die Verderbensmächte im Glauben nahe zu sein und weiter in stilles Vertrauen zu ihm einzustimmen, kommt einer neuerlichen persönlichen Siegesaneignung und proleptischen Heilserfahrung gleich. Stilles Einstimmen in den Chor der das Heil in all seiner Angefochtenheit Schmeckenden, ist eigentliches Ziel der Theologie und Dichtung Gerhardts. Dieses Einstimmen in das vertrauende Mitgehen mit dem göttlichen Herrn beschreibt in frommer Einfalt der Gesang „Gib dich zufrieden und sei stille“: 370 Dass Gerhardt darin kein Einzelfall war, konnte Anselm Steiger stichhaltig erweisen - die Orthodoxie kannte den Teufel als Wirker allerlei seelischer Nöte und kannte gleichsam die wortgebundene Musik als mächtiges Therapeutikum (vgl. Steiger, „Wider den melancholischen Teufel“, 254-264; ebs. vgl. Krummacher, Paul Gerhardt, 538). 371 Z.B.: CS 51/ 2 („Du bist, wie die Menschen alle, / Angesteckt mit Sündengift, / Welches Adam mit dem Falle / Samt der Schlangen hat gestift’t; / Aber so du kehrst zu Gott / Und dich besserst, hats nicht Not! / Sei getrost! Gott wird dein Flehen / Und Abbitten nicht verschmähen“); CS 58/ 15 („Wer fleißig betet und dir traut, / Wird alles, davor sonst ihm graut, / Mit tapferm Mut bezwingen“); CS 107/ 1; 114/ 12; EG 133/ 5; 361/ 2. 372 Hier zeigt sich eine Verbindung zwischen Befestigung in der Gewissheit durch das Wort und dem hilfesuchenden Gebet zum Vater. Diese Verbindung von Schriftstudium und Gebet ist beim Dichter kein Einzelfall: „Gib, dass mir nicht des Glaubens Zier / Durch Trübsal werd entnommen! / Erhalte mich, o starker Hort! / Befestge mich in deinem Wort, / Behüte mich vor Murren! / Bin ich ja schwach, lass deine Treu / Mir an die Seite treten, / Hilf, dass ich unverdrossen sei / Zum Rufen, Seufzen, Beten! / So lang ein Herze hofft und gläubt / Und im Gebet beständig bleibt, / So lang ist’s unbezwungen“ (CS 78/ 7.8). <?page no="245"?> 246 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten „Er hört die Seufzer deiner Seelen / und des Herzens stilles Klagen, / Und was du keinem darfst erzählen, / Magst du Gott gar kühnlich sagen. / Er ist nicht fern, steht in der Mitten, / Hört bald und gern der Armen Bitten. / Gib dich zufrieden! / Laß dich dein Elend nicht bezwingen, / Halt an Gott, so wirst du siegen; / Ob alle Fluten einher gingen, / Dennoch musst du oben liegen. / Denn wenn du wirst / Zu hoch beschweret, / hat Gott, dein Fürst, / Dich schon erhöret. / Gib dich zufrieden! “ (CS 94/ 5.6). 373 Es geht um Einheit mit dem siegreichen Christus, denn diese Einheit, unio mystica‚ 374 in der Christ und Christus in Liebe ineinander verschlungen sind, macht jeden Angriff des Teufels zwecklos; wo Christus als Sieger und Pantokrator Herrschaftsbanner und Siegesfahne aufgerichtet hat, kann Satan kein Feld behalten. 375 „Ich hang und bleib auch hangen / an Christus als ein Glied; / wo mein Haupt durch ist gangen, / da nimmt er mich auch mit. / Er reißet durch den Tod, / durch Welt, durch Sünd, durch Not, / er reißet durch die Höll, / ich bin stets sein Gesell“ (EG 112/ 6). 376 373 Das Thema der Providenz ist in Gerhardts Liedern von großer Bedeutung und verdient eigene Betrachtung, die hier nicht zu leisten ist. Dennoch ist es nicht unerheblich für das Verständnis der Ruhe, die der Gläubige im Glauben findet, dass Weltenlauf und Handlungsraum des Satans vom himmlischen Vater geordnet und zum Ziel geführt werden. Der Mensch findet Ruhe im Anerkennen der Realität des immer schon als vorgegeben Erlebten (vgl. Koch, Paul Gerhardts Heilsrealismus dargelegt anhand zweier Lieder, 73). 374 Ich verwende diesen Begriff aus der Theologie des geistlichen Lebens nicht grundlos. Die Mystik gilt seit Langem in der Gerhardt- und Orthodoxie-Forschung als wichtiger Einfluss, der zur spezifischen Art einer nach Herzenseinheit mit Christus strebenden Frömmigkeit geführt hat (vgl. Petzoldt, Akzente der Theologie Paul Gerhardts nach seinen Liedern, 49-50; ebs. vgl. Sparn, Vom Wir zum Ich, 82). „Nun ist Paul Gerhardt in seiner biblisch-mystischen Frömmigkeit des damaligen Luthertums offenkundig der dankbare Schüler des lutherischen Mystikers Johann Arndt (1555-1621) und seines maßgeblichen Erbauungsbuches ‚Vom wahren Christentum‘ (seit 1605) und ‚Paradiesgärtlein voller christlicher Tugenden‘ (1612), ferner in Theologie und mystischer Frömmigkeitsart gleichfalls Schüler des führenden Theologen des Luthertums Johann Gerhard (1582 bis 1637), der in seinen ‚Meditationes sacrae da veram pietatem excitandam‘ (1606) Johann Arndt gefolgt war.“ (Barnikol, Paul Gerhardt, 440). 375 Erinnert sei an „Gegrüsset seist du, meine Kron“, in dem das Vertrauen so weit geht, dass der Singende voller Hoffnung auf Christus den Anschlägen des Satans zustimmt: „Laß Höll und Teufel böse sein, / Was schad’ts? sie müssen dennoch mein / Und meiner Seele schonen. / Vor großer Lieb und heilger Lust, / Damit du mich erfüllet, / Drück ich dich an mein Herz und Brust, / So wird mein Leid gestillet“ (CS 19/ 3.4). 376 Der Aspekt der Einheit mit Christus ist v. a. in Adventsgesängen explizit gemacht - Advent ist Ankunft, mehr noch Einwohnung im Herzen des Menschen (vgl. Reinitzer, Bibel, Gesetz und Evangelium in Liedern von Paulus Gerhardt, 42). <?page no="246"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 247 Die Verbindung von Christ und Christus ist es letztendlich, die die gesamte Welt- und Wirklichkeitsdeutung neu bestimmt, die alles Leiden und alle Anfechtung unter neuen Vorzeichen erscheinen lässt. „Sie [sc. die Erfahrungen der unio] bestätigen, daß auch das Ganze gut und das Leid, überhaupt das Übel, in diesem Gesamtzusammenhang für den gläubigen Menschen gar nicht schädlich ist. Dieser Umgang Paul Gerhardts mit bestimmten Argumenten ist dadurch gesteuert, daß er durch Gottes Offenbarung in Jesus Christus weiß, daß der Gesamtzusammenhang für den mit Christus Vereinigten ein guter ist.“ 377 Vielleicht kann diese Liebeseinheit Antwort darauf geben, warum Gerhardt die Sänger solche schweren und existentiellen Nöte durchleben lässt, die Lieder aber nicht ob der bedrückenden Stimmung verhasst und ungeliebt sind, sondern sich durch jene trost- und hoffnungsvollen Momente bleibender Rezeption erfreuen. 378 Dazu gilt es zu bedenken, dass Zeitgenossen Gerhardts die Beschreibungen teuflischer Nachstellungen bis zum gläubigen Ende durchaus als Beschreibungen eines Dichters lesen konnten, der nicht nur fromme Verse schuf, sondern jene Erfahrungen persönlich durchlitt und durchbetete - auf einem Gemälde Gerhardts in der Lübbener Kirche steht bis auf den heutigen Tage: „PAULUS GERHARDUS Theologus / in cribro Satanae tentatus / devotus postea obiit“ 379 (Der im Siebe des Satans gepeinigte Theologe, treu ergeben danach aber abberufen zu Lübben im Jahre 1676 im 70. Lebensjahr; HH). Detailbetrachtung - „Auf den Nebel folgt die Sonn“ Die Verdunkelung der Gnade Gottes und Rechtfertigungsbotschaft durch den Satan, sowie viele weitere Aspekte des dämonischen Wirkens, werden v. a. im Gesang „Auf den Nebel folgt die Sonn“ (CS 102) herausgestellt. 380 Die Entstehungszeit ist heute nicht mehr restlos zu erhellen, allerdings ist die erste Drucklegung für die Praxis Pietatis Melica von 1653 bezeugt. 381 Dort war es unter „Lob- und Dankliedern“ 377 Grosse, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, 324. 378 Vgl. Petrich, Paul Gerhardt, seine Lieder und seine Zeit, 188-190. 379 Das HEKG verzeichnet fälschlich statt tentatus „versatus“ (vgl. HEKG II/ 1, 190). Das Gemälde, welches etwa um 1700 entstanden ist, sowie die erwähnte Bildunterschrift, lassen sich Dank moderner Vergrößerungsfunktion gut lesbar machen (https: / / upload.wikimedia.org/ wikipedia/ commons/ b/ b0/ Pauk-Gerhardt-03.jpg [Zugriff: 28.02.2018]). 380 Ich verwende auch an dieser Stelle die Ausgabe von Cranach-Sichart, bei textkritischen Fragen kann auf Fischer-Tümpel zurückgegriffen werden (vgl. FT III/ 422) - inhaltlich und v. a. in Bezug auf den Satan ist allerdings kein nennenswerter Unterschied gegeben. 381 Vgl. CS 102; ebs. vgl. Petrich, Paul Gerhardt, seine Lieder und seine Zeit, 97. In der Praxis Pietatis von 1653 sind die meisten der Gerhardt-Lieder enthalten bzw. neu hinzugekommen. Bei der Menge an neu hinzugekommenen Poemen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, <?page no="247"?> 248 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten als Nummer 336 eingeordnet und mit der Überschrift und Melodiezuweisung „Ein schönes Dancklied / Welches nach überstandenem Kummer zu singen. Mel. Singen wir aus Hertzen“ 382 versehen. „Auf den Nebel folgt die Sonn“ ist nicht das unbekannteste Lied Gerhardts, wenngleich es nicht im EKG oder EG vertreten ist. 383 Entsprechend dieser Ausgangslage sind moderne Liedkommentare zu diesem Gedicht in einschlägigen Werken nicht enthalten und auch Festgaben zum Paul-Gerhardt-Jahr (2007) gehen an dem Lied vorüber. Die hilfreichste Kommentierung, wenngleich sie textkritische Fragen weitestgehend unbeachtet lässt, liegt in der „Ausführlichen Lieder-Erklärung“ [1749] von Gabriel Wimmer vor‚ 384 der auf beachtlichen 16 Seiten das Gedicht in seinen biblischen Hintergründen und theologischen Motiven erläutert und nicht zuletzt die Struktur des Liedes diffizil aufzuschließen vermag. 385 Die Gliederung Wimmers ist von derart scharfer Analytik, dass ich sie in ihrer Länge ganz wiedergebe und damit zugleich eine kurze Inhaltsangabe darbiete. Den Ausführungen bleibt wenig hinzuzufügen, bzw. folgende Ausführungen können bei gebotener Kürze allenfalls einzelne Elemente vertiefen. dass Gerhardt auf einen Fundus an bereits fertiggestellten oder in Rohform vorliegenden Gedichten zurückgriff. Petrich vermutet bei „Auf den Nebel folgt die Sonn“, dass dieses schon 1648 oder noch davor entstanden sein könnte (vgl. Petrich, Paul Gerhardt, seine Lieder und seine Zeit, 98). 382 Praxis Pietatis Melica [Ed. V.], 454. Falsch ist die Nummernangabe im kritischen Anhang von Cranach-Sichart, wo die Nummer mit 249 angegeben ist (vgl. CS 102). Obwohl zur Reimgestalt und Melodie keine weiteren Ausführungen gemacht werden, so sei dennoch auf die Ausführungen Kohlers verwiesen: „15 Strophen à 7 Zeilen, trochäisch 7.7. 7.7. 7.7.7., aa bb ccc / […] Melodie gemäss PPM 1653, PPM 1656 und E 1666/ 7: „Singen wir aus Herzensgrund“ (aus Michael Weisses Gesangbuch der böhmischen Brüder 1544; PPM 1656 Nr. 278; Zahn 4816c) / Melodie von Nicolaus Hasse 1659 (Zahn 4821). So im ChB / Melodie von Ebeling 1667, Nr. 115 (Zahn 4822)“ (Kohler, Lieder von Paul Gerhardt, 10). 383 Das Lied ist in gegenwärtigen Sammlungen eher vernachlässigt, wenngleich es gelegentlich, u.a. im Gemeinschaftsliederbuch, nachweisbar ist (vgl. Bunners, Paul Gerhardt, 266- 267). 384 Über Gabriel Wimmer konnte ich nur wenig in Erfahrung bringen. Das sächsische Pfarrerbuch (http: / / pfarrerbuch.de/ sachsen/ ? s=gabriel+wimmer [Zugriff: 28.02.2018]) verrät seine Lebensdaten (1671-1745) und seinen Stand als lutherischen Pfarrer. Das genannte Werk schreibt auf der zweiten ausführlichen Titelseite: „Gabriel Wimmern, Sagano-Silesio, Pastore weiland zu Alten=Mörbitz unter der Inspection Borna“ (Wimmer, Ausführliche Lieder-Erklärung. Bd. 1, 3). In der Vorrede eines Familienmitgliedes, die nach Wimmers Tod dem Buch beigegeben wurde, erfährt man, dass Wimmer 48 Jahre in Alten Mörbitz seinen Dienst versah und am 14. März heimgerufen wurde (vgl. Wimmer, Ausführliche Lieder-Erklärung. Bd. 1, 5). Sucht man nach weiteren Werken Wimmers, finden sich verschiedene hymnologische Arbeiten, z.B. auch ein Buch, das sich speziell Gerhardt zuwendet. 385 Vgl. Wimmer, Ausführliche Lieder-Erklärung. Bd. 2, 425-441. <?page no="248"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 249 „Inhalt und Eintheilung. Eine nach dem Heulen und Weinen mit Freuden überschüttete Seele‚ Wie dieselbe I. Ihr Vergnügen freudig entdecket‚ 1. Worin es bestehe, v.1. Auf den Nebel etc. 2. Wem sie es zu dancken, v.2. Der, für dem die etc. 3. Wovon die dadurch befreyet wird, v.3. Hab ich vormahls etc. II. Dem Trauer=Geist freudig begegnet‚ α) mit Vorhaltung seiner schädlichen Tücke, v.4. Nun erfahr ich schnöder Feind etc. β) Mit Widerlegung seiner schändlichen Lügen‚ 1. Worinn dieselben bestehen: a) Gott meyne es nicht gut, v.5. Ich erkenne deine List etc. b) Gott sey von ihr gewichen, v.6. Hoff und wart ich alles etc. 2. Womit sie solche widerleget: a) mit dem empfindlichen Troste Gottes in ihren Hertzen, v.7. Heb dich weg etc. b) mit der unfehlbaren Erbarmung Gottes gegen die Gläubigen, v.8. Gott läßt keinen etc. c) mit der unausbleiblichen Hülfe Gottes nach dem Verzug, v.9. Wobey sie ihr Exempel vorstellet‚ 1) Wie sie aus langwieriger Noth errettet, v.10. Ach wie offte etc. v.11. Aber Gott etc. 2) Wie sie Gott nach langwieriger Traurigkeit getröstet, v.12. Als ich furchtsam etc. III. Sie einen guten Vorsatz freudig fasset‚ 1. Gott fröhlich zu loben, v.13. Nun so lang ich etc. 2. frölich zu leiden, v.14. Allen Jammer etc. 3. frölich zu sterben, v.15. Ich will gehn etc.“ 386 386 Wimmer, Ausführliche Lieder-Erklärung. Bd. 2, 431-432. Entgegen sonstiger Zitationspraxis habe ich hier mit entsprechenden Absätzen und Einzügen der Vorlage zitiert, um die Gliederung in ihrer ganzen Reflexionstiefe abzubilden. Wie aus dieser Strukturerörterung sichtbar wird, ist Wimmer zu allererst an der Theologie der Lieder interessiert - diesen Eindruck untermauernd finden sich einige Bemerkungen zu diesem Anspruch in der Vorrede auf das Gesamtwerk. Darin schreibt er, dass im Werk nur Lieder verhandelt werden, die als orthodox gelten können, denn, „sie so wohl von alten als auch neuen Lehrern, bald Loci Communes Laicorum, eine Layen=Bibel, bald tessera Ecclesiae, eine Losung der Kirche, bald Seminarium Religionis Christianae […] genennet, denen symbolischen Büchern unserer Kirche gewisser massen gleich geachtet, und für das wahrhaftige Gottes=Wort […] und solcher Gestalt gehalten werden, weil sie sich auf dasselbe gründen, und damit übereinstimmen.“ (Wimmer, Ausführliche Lieder-Erklärung. Bd. 1, 8). <?page no="249"?> 250 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Wimmer bleibt in seiner Darstellung ganz in der von Gerhardt vorgegebenen Zeitstruktur und Deutungsperspektive. Das Lied muss, wie Wimmers Überschrift andeutet, unter Berücksichtigung des ursprünglichen Titels der Praxis Pietatis als gedankliches Durchleben aller vorstellbaren Abgründe, jedoch unter Perspektive bereits geschehener Befreiung daraus, verstanden werden. 387 Strophe 1 zeigt diese Perspektive klar an (CS 102/ 1: „Meine Seele, die zuvor / Sank bis zu dem Höllentor, / Steigt nun bis zum Himmelschor“) - hier wird in rückschauender Erleichterung gesungen (CS 102/ 2: „Hat mir meinen Geist erquickt“; CS 102/ 3: „Ei, so bin ich nunmehr frei“). Aus dem überwundenen Leid, das in den Jubel der himmlischen Heerscharen einmündet, erklärt sich m. E. auch der Konnex zum 19. Sonntag nach Trinitatis, dem das Lied bei Ebeling zugewiesen war. 388 Damals war die Geschichte vom Gichtbrüchigen (Mt 9‚1-8) Evangelium des Sonntags - 389 auch hier mündet die Heilungserfahrung in Lobpreis, nicht nur des Geheilten, sondern des umstehenden Volkes. 390 Die Kommunikationssituation und damit in Beziehung stehend auch die Sprechereinstellung und die Sprecherhandlung sind recht komplex angelegt, stellen damit aber ein treffendes Beispiel für ein generelles Merkmal von Gerhardts Dichtung dar. 391 In den ersten drei Strophen berichtet ein Einzelner ohne genaue Adressierung von seiner glorreichen Rettungserfahrung (narrativer Modus); anschließend beginnt eine der interessantesten Kommunikationssituationen in Gerhardts Gesamtwerk, denn der Sänger richtet sich an den Teufel selbst (CS 102/ 4: „Nun erfahr ich, schnöder Feind / Wie dus habst mit mir gemeint, / Du hast wahrlich mich mit Macht / In dein Netz zu ziehn gedacht“). Wo vorher ein narrativer Modus dominierte, mit Sprecherhandlungen im Bereich des Berichtens, Verkündens, damit verbunden auch des Bekennens, die in Haltungen zwischen Vertrauen und Dank vorgebracht wurden, wird nun (Str. 4-6) ein Anklageton gegen den Feind angeschlagen, der von gegenwärtiger Sorge zeugt (CS 102/ 4.5: „Nun erfahr ich, schnöder Feind, / Wie dus habst mit mir ge- 387 Bunners erinnert an die in Ebelings Sammlung gegebene Überschrift, die in ähnliche Richtung weist: „In seinem ‚Danklied nach ausgestandenem großen Kummer und Betrübnis‘ erzählt Gerhardt, wie er gegenüber der versucherischen Verzweiflung durch den Teufel sich lobend an Gottes Heil erinnert habe und wie dadurch die Kehre vom Leid zur Freude geschah“ (Bunners, Paul Gerhardt, 196-197). 388 Vgl. Bunners, Paul Gerhardt, 381. 389 Gegenwärtig liegt auf diesem Sonntag als Evangelium Mk 2‚1-12 (Paralleltext Mt 9), worin immer noch Kontinuität in der Thematik von Heilung und Lob erkennbar ist, die den gesamten Sonntag charakterisiert (vgl. EGb 388). 390 Mt 9‚8: „Als das Volk das sah, fürchtete es sich und pries Gott, der solche Macht den Menschen gegeben hat“. 391 Vgl. Tab. 2 Sp. „Simulierte Kommunikationssituation“; „Sprechereinstellung“; „Sprecherhandlung“; „Sonstige Bemerkungen“. <?page no="250"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 251 meint […] Ich erkenne deine List“). Dies gipfelt in einer imprekativen Passage, in der mit Vertrauen dem bösen Feind befohlen wird (CS 102/ 7: „Heb dich weg, verlogner Mund! “) - für die gesamte Kirchenlieddichtung eine beachtenswerte Seltenheit! Der Befehl an den Satan mündet in eine bekennende Passage, in der einem unbekannten Adressaten (CS 102/ 9: „Sei man nur ein wenig still“) geraten wird, sich der vertrauenden Einstellung des Sprechers anzuschließen. In Strophe 9 offenbart sich das Gegenüber als Gruppe oder zumindest Einzelner, dem sich der Sprecher verbunden fühlt (CS 102/ 9: „Wann die kommt, kommt unsre Bitt“) und dem er nun ausführlicher von seiner Rettungserfahrung in dankbarer Einstellung berichtet. Schließlich wendet sich der Sprecher an Gott (CS 102/ 12: „Tratst du, mein Gott, selbst ins Spiel“), der wenig später als Vater identifiziert wird (CS 102/ 14: „Den des ewgen Vaters Herz“). Mit der Wendung an den Vater kehrt die Perspektive wieder zum Sprecher zurück und geht in eine Selbstverpflichtung zum gläubigen Vertrauen über, die in einer dankbaren und entschlossenen Weise kundgetan wird (CS 102/ 13: „Ich will all mein Leben lang / Meinem Gott mit Lobgesang / Hierfür bringen Lob und Dank“). Die wichtigsten Textgegenstände und Personen sind das singende Ich (als Teil eines Wir - Str. 9), Gott Vater (Str. 14) und der Teufel. 392 Es zeigt sich erneut jenes Ich, das zugleich das Ich jedes Einzelnen sein kann und die Potenz zum Wir in sich trägt; 393 die Kommunikationssituation kann theologischen Rang beanspruchen, denn der Kampf gegen den Teufel ist nicht Kampf des frommen Einzelkämpfers, sondern der glaubenden Gemeinschaft, die sogar dem Satan gebietet. Strophe 1 beruht auf einer Vorlage von Martin Opitz‚ 394 geht aber bei Gerhardt schnell in ein völlig eigenes Werk über. 395 Die Naturbilder, die beim Dichtertheologen keine Seltenheit darstellen‚ 396 werden nicht um ihrer selbst Willen, 392 Vgl. Tab. 2 Sp. „Koreferenzkette Teufel“; „Wichtige Textgegenstände“. 393 Vgl. Slenczka, Paul Gerhardt und Martin Luther, 153-155. 394 Foss weist darauf hin, dass ebenso Simon Dach das Motiv aus der 1. Str. vom Opitz-Gesang „Auff Leyd kompt Freud“ (FT I/ 290) verarbeitet (vgl. Foss, Paul Gerhardt, 172). Das Gedicht wird von Gerhardt jedoch ausgesprochen frei verwendet, wenn man Str. 1 gegenliest: „Sey wolgemuth, laß tawren sein! / Auff Regen folget Sonnenschein; / Es gibet endtlich doch das Glück / Nach toben einen guten Blick“ (FT I/ 290). 395 Vergleicht man „Auf den Nebel folgt die Sonn“ mit Opitz Dichtung, zeigt sich, dass es zur Erbauung der christlichen Existenz bei Opitz deutlich schmalere Anknüpfungsflächen gibt. Zwar rät auch Opitz zum Vertrauen auf Gott (vgl. FT I/ 290, Str. 7.12), aber grundsätzlich soll das Aufgehen der Saat allein als Anschauungsobjekt menschlicher Hoffnung dienen. 396 Es ist darauf hingewiesen worden, dass die Naturdichtung in einer direkten Linie mit Opitz und seinen Vorschlägen zur Dichtung zu verstehen ist, Gerhardts Dichtung gilt folglich als Dichtung eines „Normalopitzianers“ (Foss, Paul Gerhardt, 30). <?page no="251"?> 252 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten sondern mit Blick und Wendung zur transzendenten Ebene hin eingesetzt. 397 Grosse weist darauf hin, dass in Strophe 1 ein sprachliches Emblem vorliege. „In der Anschauung der Natur kann - vermittelt durch diese Übertragung - der Mensch eine Struktur erkennen, deren Einsicht dem Trost seiner Seele dient. Nun ist aber dieses Eine zu bedenken: die Natur, die da angeschaut bzw. imaginiert wird, ist keine reine Natur, als solche ohne Beziehung zu einer höheren, geistigen oder geistlichen Ebene. Die […] Bilder, die Gerhardt […] entwirft, sind sprachliche Embleme.“ 398 Strophe 1 als Emblem gelesen, wird dann in den folgenden Strophen mehr und mehr in seiner tieferen Bedeutung ausgeführt. In Strophe 1.2 wird mit „Höllentor“ und „Höllenband“ schon auf Glieder des bekannten Triumvirates verwiesen; 399 die Begriffe verdeutlichen die Hölle als Gedankenkomplex, der für Bindung und Gefangenschaft des in Sünde geborenen und gefangenen Menschen steht. In Strophe 3 erscheint erstmals der Satan als den Menschen betörende und in subjektiv empfundene Unfreiheit treibende Gestalt, welche dennoch als abgelegt betrachtet wird (CS 102/ 3: „Ei, so bin ich nunmehr frei, / Heil und Rettung, Schutz und Treu / Steht mir wieder treulich bei“). Strophe 4 führt in direkten Wendung an den Satan aus, mit welcher Taktik er gewirkt hat - dabei ist interessant, dass Gerhardt den Teufel als Vogelfänger stilisiert (CS 102/ 4: „Du hast wahrlich mich mit Macht / In dein Netz zu ziehn gedacht. / […] Mir zu Fall ein Sieb gebaut“ 400 ). „Der Ausdruck kommt vom Vogelstellen, wo unter ein Sieb Futter gestreut wird; wenn der Vogel Futter pickt, wird vermittels einer Schnur das Stäbchen das das Sieb hält, weggezogen; das Sieb (oder Netz) fällt, und der Vogel ist gefangen“ 401 . 397 Dieses Schema ist vertraut aus „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ (EG 503), wenngleich die Transzendenzebene in „Auf den Nebel folgt die Sonn“ schon in Str. 1 selbst expliziert wird (CS 102/ 1: „Auf den Nebel folgt die Sonn […] meine Seele, die zuvor / Sank bis zu dem Höllentor, / Steigt nun bis zum Himmelschor“). 398 Grosse, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, 122. Ähnlich Foss: „in Auf den Nebel folgt die Sonn […] wird das Frühlingsmotiv in die seelische Sphäre transportiert“ (Foss, Paul Gerhardt, 172). 399 Das gesamte Lied, v. a. die Erfahrung der persönlichen Hölle ob eigener Sünde, führt auf eine intertextuelle Spur zu Luthers „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“: „die Angst mich zu verzweifeln trieb, / daß nichts denn Sterben bei mir blieb, / zur Höllen mußt ich sinken“ (EG 341/ 3). 400 Wimmer erkennt im Sieb eine Verbindung zu Lk 22‚31: „Der Satanas hat euer begehret, daß er euch möchte sichten, wie den Weizen“ (Wimmer, Ausührliche Lieder-Erklärung. Bd. 2, 428). 401 CS 102. Wimmer, der in zeitlicher Nähe zum Dichter steht, deutet das Sieb bewusst um, oder aber ihm ist die Vogelstellpraxis nicht vertraut: „In einem Siebe wirft man die Körner hin und her: Und in dem Siebe der Anfechtung der Teufel die Kinder Gottes“ (Wimmer, Ausführliche Lieder-Erklärung. Bd. 2, 434). <?page no="252"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 253 In dieser Darstellung ist deutlich, dass satanische Anfeindungen nicht mit dem in der Taufe erfolgten Exorzismus und Herrschaftswechsel aufhören, sondern der Teufel weiterhin bestrebt ist, den Menschen in seinen Bauch, das Totenreich, zu ziehen. Das zuschnappende Netz/ Sieb ist Teil der teuflischen List (Str. 5), die darin besteht Gottes wohlwollende Gedanken gegenüber dem Menschen zu verschleiern - der Teufel stellt sich in die Kommunikationslinie zwischen Gott und Mensch und verfälscht die heilbringende Botschaft. „Du belügst mir meinen Gott / Und machst seinen Ruhm zu Spott: / Wann er setzt, so wirkst du um. / Wann er spricht, verkehrt dein Grimm / Seine süße Vaterstimm. / […] Gott ist, sprichst du, fern von dir, / Alles Unglück bricht herfür, / Steht und liegt vor deiner Tür“ (CS 102/ 5.6). 402 Die Behauptung Satans, dass die Gnade Gottes gegenüber der Sünde des Einzelnen an Grenzen komme, wird von Grosse und Wimmer als „These des Satans“ 403 bezeichnet, die im Lied gleich einer Disputation durchkämpft werde. „Das ist des Teufels proprium in quarto modo, und sein Haupt=Werk, davon hat er ein Meister=Stück im Paradieß abgelegt. Aber ach! wie viel Schüler hat er in seiner Schule. Bald soll Gott nicht so sehr auf die Lehre sehen, als auf das Leben, damit wir glauben was wir wollen; Bald soll er nicht so zornig seyn, als er ist, daß wir sündigen mögen, wie wir wollen; Bald soll er nicht so gnädig seyn, als er ist, damit wir verzagen mögen, wir mögen rufen, beten und es angreiffen, wie wir wollen. So schreibet Lutherus: ‚Wie der Teufel Gottes Lehre und Werck umkehret (denn er ist ein Mörder und Lügen=Vater, Joh 8‚44) Also verdammet die Welt der Christen Lehre und Leben, hält sie für die giftigsten Ketzer und Zustörer des gemeinen Friedens.“ 404 402 Das „setzt“ aus Str. 5 ist möglicherweise eine Anspielung auf ein zu Gerhardts Zeit gebräuchliches Kegelspiel (vgl. CS 102). Dies wäre insofern interessant, als damit eine Betrachtungsweise gegenüber dem Satan eingenommen ist, in welcher er als „Satanas ludens“ darstellt wird, wie ihn das Hiobbuch der Sache nach kennt und womit er an Bedrohlichkeit deutlich eingebüßt hätte. 403 Grosse, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, 145. 404 Wimmer, Ausführliche Lieder-Erklärung. Bd. 2, 434-435. In meiner Zitation, durchweg in lateinischen Buchstaben, fällt das im Original herausgehobenen „Proprium in quarto modo“ kaum auf. Inwieweit dies eine geprägte Verbindung ist, konnte ich kaum erhellen. Es lässt sich zumindest festhalten, dass nach der „Logik“ des Albert von Sachsen (verfasst ca. 1350-1360), als einem der verbreitetsten spätscholastischen Lehrbücher zu diesem Thema, eine vierfache Unterscheidung der Eigentümlichkeiten/ propria bekannt war, wobei die vierte Weise wie folgt definiert wird: „Auf die vierte Weise heißt ‚Eigentümlichkeit‘, was einer Art allein zukommt und jedem Exemplar dieser Art und zu jeder Zeit.“ (Albert von Sachsen, Logik, 155). Damit definiert Wimmer im Anschluss an Gerhardt das Verdunkeln des Heiles als die grundlegende Eigentümlichkeit des Teufels, die er zu jeder Zeit auszuführen fähig und bestrebt ist. <?page no="253"?> 254 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Durch Lüge hat sich der Teufel im Paradies (Gen 3‚1.13) in seiner ersten Tat hervorgetan und wird als „Vater der Lüge“ ( Joh 8‚44) später im Johannesevangelium bezeichnet. Der Teufel will den Menschen durch Anklagen und Vorhalten eigener Sünden in Verzweiflung gegenüber Gott und dem unerfüllbaren Gesetz treiben (CS 102/ 6: „Bin ich froh und gutes Muts, / Rückst du mir aus meinem Sinn / Alles gute Sinnen hin“). 405 Der Teufel schneidet den in Christus gewiesenen Ausweg aus Hoffnungslosigkeit und Sündentod ab, entweder durch Verstellung der Gnadenbotschaft oder deren Schmälerung und In-Zweifel-Ziehen. 406 Die Anfechtung durch den Teufel ist die Proklamation des unerträglichen Lebenmüssens mit unhintergehbarer und unvergebbarer Schuld und dem Sturz in Gottesferne. 407 Doch ganz im Sinne Jesu (Mt 4‚10) schreit der Angefochtene dem Satan einen kurzen und scharfen Befehl entgegen: „Heb dich weg, verlogner Mund! “ (CS 102/ 7). 408 Ein wahrhaft exorzistischer Moment der Kirchenlieddichtung! Was in Strophe 7 nachfolgt, kann entweder weiter gegen den Satan gerichtet gelesen werden, oder aber als Proklamation der Herrschaft Gottes zur Selbst- und Fremdermutigung, die sich in den folgenden Strophen fortsetzt. Gerhardt macht als lutherischer Theologe in seinem Lied auf die Waffe schlechthin im geistlichen Krieg aufmerksam, das Wort ist Heilsgewissheit stiftende Bastion der angefochtenen lutherischen Christenheit. „Hie ist Gott und Gottes Grund, / Hie ist Gottes Angesicht / Und das schöne helle Licht / Seines Segens, seiner Gnad; / All sein Wort und weiser Rat / Steht vor mir in voller Tat“ (CS 102/ 7). 409 405 Deutlicher als in CS 102 wird dies in „Schwing dich auf zu deinem Gott“: „Wirfst du mir mein Sünd’gen für? / Wo hat Gott befohlen, / Daß mein Urteil über mir / Ich bei dir soll holen? “ (CS 81/ 3). 406 „uns der Teufel Gottes Gnade will disputierlich machen“ (Wimmer, Ausführliche Lieder-Erklärung. Bd. 2, 432). M.E. ist Lk 8‚12 und der das Wort aus den menschlichen Herzen raubende Teufel mit intendiert. 407 „Ist die höchste Anfechtung, da der Teufel einem Menschen die Gedanken eingiebt, er müsse verzweifeln, es sey ihm weder an Leib noch Seele zu helffen“ (Wimmer, Ausführliche Lieder-Erklärung. Bd. 2, 433). 408 Es ist erstaunlich, dass trotz vorher schon an den Teufel gerichteter Rede, die nahe Kommunikation, die konkrete Handlungen beim Gegenüber zu erwirken beabsichtigt, auf diese Zeile beschränkt ist. Gerhardt hat möglicherweise über ein Erfahrungswissen verfügt, welches auf die Problematik imprekativer Formeln hinwies. Wimmer kommentiert: „Treibe den Teufel von dir weg, mit so wenig Worten […]. Das ist besser, als wenn man lange mit ihm disputieren will.“ (Wimmer, Ausführliche Lieder-Erklärung. Bd. 2, 435). 409 „In vollen That) d. i. In seiner Erfüllung. Ich erfahre es in der That und Wahrheit, daß er mir gnädig ist, daß sein Wort mein Trost ist, das sein Rath meine Seligkeit ist“ (Wimmer, Ausführliche Lieder-Erklärung. Bd. 2, 435). <?page no="254"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 255 Der Beter/ Sänger nimmt Worte der Schrift, Worte Jesu, lässt sie in seiner Anfechtungssituation durch seinen Mund neu wider die Verderbensmächte ergehen. Dieses Wort wankt nicht, sondern ist ein sich den Weg bahnendes, schaffendes und machtvolles Wort - Gerhardt setzt auf lyrische Weise das „sine vi, sed verbo“ um. Das Lied selbst hat mit dem Auftritt des mächtigen Wortes den dramatischen Zenit erreicht, denn der den Blick auf Gottes Gnade verstellende Teufel hat mit dem Auftritt des Wortes und damit Christus selbst, den Platz als Blickversteller verloren. Christus ist wieder vollmächtiger Zeuge des Willens Gottes über den Menschen, nämlich dessen Heil. Im weiteren Verlauf wird Mut und Vertrauen jenen zugesprochen, die keine baldige Befreiung aus der Anfechtung erfahren (CS 102/ 9: „Kommt’s nicht heute wie man will, / Sei man nur ein wenig still: / Ist doch morgen noch ein Tag, / Da die Wohlfahrt kommen mag“), Gerhardt schwört außerdem die Befreiten auf mögliche Leidenszeiten ein und rät, treu auf Gottes Weltenlenkung zu vertrauen. 410 M.E. kann die 13. Strophe als eine erneute Aufnahme des Wortes („Wunderschein“) verstanden werden - 411 der zur Weisheit durch Glaubenserfahrungen und zum Vertrauen auf Gottes Wort gelangte Mensch gibt eine Selbstverpflichtung ab, sich sein Leben lang jenes kraftvollen Mittels immer neu zu bedienen. „Nun, so lang ich in der Welt / Haben werde Haus und Zelt, / Soll mir dieser Wunderschein / Stets vor meinen Augen sein. / Ich will all mein Leben lang / Meinem Gott mit Lobgesang / Hierfür bringen Lob und Dank“ (CS 102/ 13). Wimmer deutet die 13. Strophe anders, aber auch er kommt nicht umhin, das ganze Lied unter der Perspektive des sich Bahn brechenden Wortes zu verstehen, indem er in der Einleitung seiner Liedauslegung anmerkt: „Stellt sich Trost und Labsal ein) Gott lässet die Angefochtenen nicht ohne Trost und Erquickung. […] Sonderlich hat man in den hohen geistlichen Anfechtungen, da uns der Teufel Gottes Gnade will disputierlich machen, einen gewaltigen Trost, wenn man sich schlechterdings an Gottes Wort hält.“ 412 Die Verbindung mit dem Wort und die Erfahrung seiner Kraft und Wirksamkeit führt am Schluss des Liedes zu einer neuen Perspektive auf die Anfechtung und 410 Das Thema der Providenz, wie es u.a. „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ (EG 369) behandelt, ist in CS 102 in jedem Fall mitbedacht. 411 Der „Wunderschein“ regt zu Spekulationen an: „Dieser Wunder=Schein) d. i. Diese Erscheinung mit deiner wunderbaren Hülfe und Errettung“ (Wimmer, Ausführliche Lieder-Erklärung. Bd. 2, 437). M.E. ist das Lichtmotiv aber geprägt (z.B. „dein Wort ist meines Fußes Leuchte“ - Ps 119‚105) und mit „dieser Wunderschein“ auf etwas schon Eingeführtes verwiesen, womit das bereits genannte Wort als sinnvolles Ziel der Referenz erscheint. 412 Wimmer, Ausführliche Lieder-Erklärung. Bd. 2, 432. <?page no="255"?> 256 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten das Wirken des Satans - dort wo der Satan vorher contra Deum verstanden wurde, ist er nun scheinbar eingeordnet in Gottes Vorsehung und wird entsprechend mit innerem Einverständnis und Geduld angenommen. 413 „Allen Jammer, allen Schmerz, / Den des ewgen Vaters Herz / Mir schon jetzo zugezählt / Oder künftig auserwählt, / Will ich hier in diesem Lauf / Meines Lebens allzuhauf / Frisch und freudig nehmen auf“ (CS 102/ 14). Dieses neue Selbstbild, durch Erleben der letztlich zum Heil des Gläubigen führenden guten Vorsehung Gottes, deutet darauf hin, dass Grosse recht zu geben ist - je tiefer das Vertrauen in Gott und Christus wird und je mehr sich der Mensch sukzessive in die unio mystica hineinglaubt, desto weniger werden Leid und Anfechtung Themen der Klage gegen Gott, sondern können verstanden werden als Züchtigungen des erhöhten Herrn hin zum Guten und dem Himmel entgegen. 414 Was Gerhardt dem Sänger und seinem Glauben in der Anfechtung zumutet, ist nicht unpassend als „kühne geistliche Poesie“ 415 beschrieben. Die Theologie und den Weg im geistlichen Kampf, den der Dichter weist, muss der Glaube selbst erfahren - gedanklich ist er kaum zu erfassen. 416 Umfassend und pointiert ist mit „Auf den Nebel folgt die Sonn“ der Kern der Theologie Gerhardts benannt, der im für die Erdenzeit kennzeichnenden Kampf um die Klarheit der Rechtfertigungsbotschaft wider alle teuflische Verdunkelung mit den geistlichen Waffen des Glaubens und der Heilsmittel geführt wird. 417 Konklusion Im Vorangegangenen habe ich zeigen können, wie wichtig der Teufel als Element innerhalb der Theologie und Dichtung Gerhardts ist; ebenso ist die grundsätzliche Bedeutung der Theologie für dessen Werk deutlich geworden‚ 418 welche v. a. durch die bereits zu Schulzeiten vermittelte Lehre Luthers und der 413 Durch die Einordnung in die Vorsehung wird auch der Aspekt, der vorher durch das Spielmotiv eingetragen wurde, verständlicher (Str. 5). 414 Vgl. Grosse, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, 322-325. 415 Bunners, Paul Gerhardt, 196. 416 Vgl. Exner, Paul Gerhardt, 138. 417 Vgl. Knipfer, Paul Gerhardt, 10-11. 418 Es ist erstaunlich, wie selbst bewährte Gerhardt-Forscher wie Reinitzer bemüht sind, die Theologie der Lieder als Randerscheinung darzustellen, um einen gefälligen Poeten-Gerhardt zu kreieren. In Bezug auf die Schrifttheologie Gerhardts schreibt Reinitzer entschuldigend: „Gewiß: Diese Kraft [sc. wider Sünde, Tod und Teufel] können wir der Bibel heute nicht mehr zusprechen und es ist gut, Gerhardts lehrhaft-trockenes Widmungsgedicht [sc. CS 57] bis in den Buchstaben hinein als abständig zu begreifen.“ (Reinitzer, Bibel, Gesetz und Evangelium in Liedern von Paulus Gerhardt, 37). <?page no="256"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 257 Bekenntnisschriften in der Gestalt von Hutters Compendium auf den Dichter gekommen ist. Zwischen Gerhardt und Luther besteht ein theologisches Schüler-Lehrer-Verhältnis, nicht aber in der Dichtung und dem nachfolgenden Umgang mit dieser. Gegenüber der Kürze und strukturellen Klarheit Luthers dichtete Gerhardt vielstrophige Lieder, ersann eine große Menge eigener Strophenformen, erschuf ein breites Werk, womit in heutigen Gesangbüchern eine Auswahl nicht nur der Lieder selbst, sondern auch der jeweiligen Strophen meist unvermeidlich ist. Gerhardts Lieder sind von satanologischer Relevanz; über alle Rubriken und Schaffensperioden hinweg und zugleich mit Gewicht auf den Trost- oder Vertrauensliedern, dichtet er auch unter Einbezug dieses theologischen Aspektes. Leitend war für Gerhardt in Abhängigkeit von Hutter die völlige Abwegigkeit eines Dualismus und der Verzicht auf ontologische Spekulationen. Das Werk des Satans und seiner Engel hingegen, die, wie von Luther bekannt, in enger Verknüpfung mit Tod, Sünde, Gesetz und Hölle erscheinen, wird vielfach betrachtet und besteht letztlich im contra Deum, dem Hindern und Stören des Werkes Gottes. Dieses Werk Gottes, das sich im Christusgeschehen als Heilswille Gottes für die Menschheit offenbart, ist einerseits universal und unhintergehbar, andererseits aber nach dem altprotestantischen ordo salutis persönliches Ereignis, bei dem der vom Gesetz ob Sünde zu Tod und Hölle verurteilte Mensch, durch Aneignung der Erlösungstat Christi im Glauben gerechtfertigt wird; dieses persönliche Ereignis fängt Gerhardt v. a. durch seine als Individualdichtung betitelten Gesänge ein. Individualdichtungen sind dies aber nur vordergründig, denn zum einen ist es in den Gesängen schwierig, eine einheitliche Kommunikationssituation zu bestimmen, da sich in den meisten Dichtungen diese mehrfach ändert und sich z.B. an eigene Sinne und Herzen, unbekannte und bekannte Gegenüber, sowie Gott - als Besonderheit der Kirchenlieddichtung sogar den Teufel! - wenden kann; zum anderen wird beim weiteren Studium der Gesänge deutlich, dass das im Hier und Jetzt situierte Ich zugleich das Ich der gesamten Gemeinde über alle Zeiten und Orte hinweg meint. Die Verzahnung von universaler und persönlicher Heilsgeschichte ist ein Grund für die bleibende Beliebtheit der Lieder; es gelingt ihnen, die Christusbegegnung der Bibel bis auf die eigene Zeit auszuweiten und die in Christus vermittelte Heilsgewissheit (nicht Heilssicherheit) dem Sänger zugänglich zu machen. Der Heilsgewissheit durch die Rechtfertigungsbotschaft entspringen Freude und Frieden, was das dämonische Netz zum Widerstand reizt. Mit List und wütendem Zorn streiten der Teufel und seine irdischen wie transzendenten Helfer gegen die Rechtfertigungsbotschaft, wollen sie verschleiern, säen Zweifel an ihr und der sie bezeugenden Heiligen Schrift. Das teuflische Triumvirat will den Menschen glauben machen, dass kein Opfer der Welt, selbst das des <?page no="257"?> 258 B. Der Teufel bei den Gesangbuchfürsten Gottessohnes, fähig ist, die Sündenmenge zu überwinden. Entsprechend ist der Teufel stets versucht, die Menge konkreter Tatsünden zu erweitern und reizt zu neuen Sünden, die vor dem Gesetz den Tod des Sünders und Höllenknechtschaft verlangen. Gerhardt will den Christen hingegen Vertrauen und Glauben an Gottes Gnade und Barmherzigkeit lehren. Dieses Vertrauen gewinnt der Christ immer neu durch die von der Rechtfertigung zeugende Schrift und die sie sichtbar machenden Sakramente - die Schrift und die in ihr geborgene Botschaft des Evangeliums ist der wahre Exorzist! Der Kern von Gerhardts Theologie liegt damit im Kampf um die Klarheit der Rechtfertigungsbotschaft. „Auf dem Grunde der Rechtfertigung, wie er dem Worte Gottes gemäß in dem Bekenntnis der lutherischen Kirche bezeugt und in den Gnadenmitteln vorhanden ist, erbaut Gerhardt sein Gemüte. […] Aus der auf dem Grunde der Rechtfertigung durch den Glauben beruhenden unerschütterlichen Gewißheit der Gotteskindschaft und des Heils erklärt sich endlich das kindliche Vertrauen, das Gott seine Wege befiehlt, das geduldige Stillehalten unter dem Kreuz, der friedvolle Demutssinn, der lieber duldet als beschwert, der unverzagte Glaubensmut im Kampf mit Sünde, Welt und Teufel“ 419 . Wo die Rechtfertigung in Wort und Sakrament hör- und sichtbar wird, dort muss der Satan ebenso schnell wieder weichen, wie er erschien und der Gläubige findet erneut zur Gewissheit zurück, obgleich das Schwanken zwischen Gewissheit und Unsicherheit christliches Leben bis zum Tode auszeichnen wird. Die Gesänge Gerhardts bleiben, wenngleich sie das Ich in den Mittelpunkt stellen, nicht Gesänge eines Einzelkämpfers, sondern stets verbindet sich der Gläubige im Gebet oder im Bekenntnis mit seinem Gott, dessen Sohn und deren Geist. Dieses Beziehungsgefüge gibt dem Gläubigen die Kraft, in Anfechtung nicht zu verzweifeln, sondern in neuerlicher Gewissheit gegenüber allen Nöten aufzutreten; es gibt die Kraft, sich in deprekativen Wendungen Gott zu überlassen oder voller Geduld angesichtig Gottes weiser Vorsehung eigenes Leid nüchtern anzusehen und auszuhalten. Bisweilen steigert sich die Gewissheit bis zum Spott oder der direkten Herausforderung des Teufels, der gegenüber der in Christus und durch den Vater vermittelten Kraft und Gnade über keinerlei Macht verfügt. Das Evangelium ist somit auch bei Gerhardt letztes Therapeutikum gegen die tausendkünstlichen Anfechtungen und Schwermütigkeiten, die die Feinde dem Gläubigen bereiten wollen. 419 Knipfer, Paul Gerhardt, 10-11. <?page no="258"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 259 „Ist Gott für mich, so trete / gleich alles wider mich; / sooft ich ruf und bete, / weicht alles hinter sich. / Hab ich das Haupt zum Freunde / und bin geliebt bei Gott, / was kann mir tun der Feinde / und Widersacher Rott? “ (EG 351/ 1). <?page no="260"?> 7. Der Teufel im deutschen Liedgut Paul Gerhardts 261 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken <?page no="262"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 263 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) Textbasis Vor einem Durchgang des EG-Abschnittes zum Kirchenjahr (EG 1-154) und darin des Weihnachtsfestkreises (EG 1-74) ist es m. E. sinnvoll und notwendig, einzelne Festtage und -zeiten zu größeren Einheiten zu bündeln. Dieses Verfahren ist v. a. beim Weihnachtsfest angezeigt, denn die die Geburt Christi umgebenden Zeiten und Feierlichkeiten sind historisch, wie theologisch, in engstem Zusammenhang mit dieser selbst zu verstehen und lassen sich so zum Weihnachtsfestkreis zusammenfassen. 1 Beginnend mit den vier Sonntagen im Advent, pendelnd zwischen freudiger Erwartung und innerer Buße, über den Heiligen Abend und das verbundene Christfest, schreitet der Weihnachtsfestkreis, eng verknüpft mit dem säkularen Kalendarium, zum Altjahrsabend, weiter zum Neujahrsfest, das genau genommen das Fest der Beschneidung und Namensgebung Jesu darstellt‚ 2 bis zum Epiphaniasfest nebst folgenden Sonntagen und endet traditionell mit Mariä Lichtmess am zweiten Februar. 3 Innerhalb dieser kurzen Zeitspanne findet sich also eine enge Folge von Festtagen und -zeiten, die für das Kirchenjahr im Ganzen die Eröffnung darstellen - zugleich wird damit der erste Teil des dem Menschen offenbarten Christusmysteriums zwischen Kondeszendenz und Transzendenz nachgebildet, sowie auf den letzten Advent Christi und sein Kommen zum Ende 1 Vgl. Harnoncourt, Art. Weihnachtsfestkreis, Sp. 1023; ebs. vgl. Harnoncourt, Art. Weihnachtszeit, Sp. 1024. 2 Gegenwärtig ist ein Wissensverlust um die christliche Festbedeutung des 1. Januars zu konstatieren: „Wir wissen kaum noch, worum es beim 1. Januar christlich gesehen geht. Es geht nämlich nicht um den Beginn des neuen Jahres. Sondern es geht um den achten Tag nach der Geburt Jesu, ganz unabhängig davon, ob an diesem Tag der Beginn eines neuen Jahres begangen wird oder nicht.“ (Brandt, Was feiern Christen am 1. Januar? , 79-80). Dass der Inhalt dieses Festtages in Vergessenheit gerät, kann aber nicht als Entwicklung der letzten Jahrzehnte dargestellt werden, sondern lässt sich schon zu Bachs Zeiten sukzessive beobachten (vgl. Brandt, Was feiern Christen am 1. Januar? , 85-87). 3 Da es historisch und konfessionell bei der Vielzahl von Festen und Festinhalten zu divergierenden liturgischen und kalendarischen Entwicklungen kam, ist das Ende des Weihnachtsfestkreises mit dem zweiten Februar keinesfalls Konsens. Folgt man z.B. den liturgischen Farben, endet der Weihnachtsfestkreis schon mit der Woche nach Epiphanias, da mit folgendem Sonntag im lateinischen Christentum wieder grün statt weiß Verwendung findet (vgl. Bieritz, Das Kirchenjahr, 147-160). <?page no="263"?> 264 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken der Welt hinausgeblickt. „Der W. [sc. Weihnachtsfestkreis] dient im Gesamtgefüge des Herrenjahres (circulus anni) dem Gedächtnis der Menschwerdung u. der Wiederkunft des Herrn (SC 102).“ 4 Der dichten Folge von Festinhalten nachgehend, stehen hinter den gesichteten Liedern (EG 1-74) die Rubriken Advent (EG 1-22), Weihnachten (EG 23-57), Jahreswende (EG 58-65) und Epiphanias (EG 66-74). Dass eine gemeinsame Betrachtung dieser historisch gewachsenen Rubriken sinnvoll und richtig scheint, ist eine Einsicht, die alle größeren Monographien zum Weihnachts- und Adventskirchenlied teilen. 5 Zu eng sind die Feste des Weihnachtsfestkreises miteinander verwandt und verknüpft und deren Inhalte in der Liturgiegeschichte vom einen zum anderen hinübergewechselt, als dass man ein Fest und dessen Inhalt scharf abgegrenzt ohne die umgebenden beschreiben könnte. Entsprechend wundert es nicht, dass viele heute fest rubrizierte Lieder in ihrer Historie keinesfalls immer unter jenen Zuweisungen zu finden waren, sondern oftmals Wechsel feststellbar sind, ebenso bestanden nicht zu jeder Zeit die heutigen ausdifferenzierten und scharf geschiedenen Gesangbuchrubriken. 6 Mit den hier untersuchten 74 Liedern (EG 1-74), gegenüber 80 Liedern, die auf das ganze restliche Kirchenjahr entfallen (EG 75-154), gewinnt auch die herausragende Fülle an Liedgut zu diesem Hochfest numerisch Gestalt - es besteht Einigkeit darüber, dass Vielfalt und Fülle des Liedgutes zu Christfest und rahmender Zeit weit größer ist als jene der anderen Hauptfeste. 7 Dies hängt nicht zuletzt mit dem Umstand zusammen, dass das Weihnachtsfest, mehr noch die Adventszeit, sich bereits im 18., v. a. aber im 19. Jahrhundert, auch außerhalb des „engeren 4 Harnoncourt, Art. Weihnachtsfestkreis, Sp. 1023. „Das ganze Mysterium Christi aber entfaltet sich im Kreislauf des Jahres, von der Fleischwerdung und Geburt bis zur Himmelfahrt, zum Pfingsttag und zur Erwartung der seligen Hoffnung und der Ankunft des Herrn.“ (SC 102‚2). 5 V.a. Hauschildt macht darauf aufmerksam, dass die Thematik der Weihnachtslieder nur sinnvoll durch den Einbezug der eng verwandten Adventslieder beschrieben werden kann (vgl. Hauschildt, Die Christusverkündigung im Weihnachtslied unserer Kirche, 16; ebs. vgl. Schuberth, Ante adventum Domini, 370). Werthemann bemerkt in ihrer Studie, dass das Adventslied „in vielen Aussagen mit dem Weihnachtslied übereinstimmt“ (Werthemann, Studie zu den Adventsliedern des 16. und 17. Jahrhunderts, 9). Zu bedenken ist daneben die Verknüpfung von Christi Geburt und Neujahrstag, der lange Zeit noch unbestimmt in seiner Festlegung war und im 16. Jh. durchaus als identisch mit dem Weihnachtsfest gedacht werden konnte (vgl. Rößler, Da Christus geboren war…, 21-22). Reindell kann unter breiter Betrachtung von Schriften Luthers zeigen, wie sehr das Kirchenjahr im Reformationsjahrhundert noch mit dem bürgerlichen als identisch gedacht wurde (vgl. Reindell, Das De tempore-Lied, 28-38). 6 Vgl. Brandt, Was feiern Christen am 1. Januar? , 87; ebs. vgl. Nürnberg, Verheißungsvolle Synchronisation, 524. 7 Vgl. Ameln, Das deutsche Weihnachtslied der Reformation, 184; ebs. vgl. HEKG III/ 1, 149. <?page no="264"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 265 kirchlichen Milieus“ 8 großer Beliebtheit erfreute und bis heute erfreut, wodurch sich eine eigene Parallelfestkultur neben der kirchlich geordneten herausbildete. 9 Weihnachen kennt heute neben dem kirchlichen auch ein nichtkirchliches Eigenleben. „Unter den christlichen Festen bildet […] das Weihnachtsfest eine Ausnahme. […] Auch Ostern als das höchste christliche Fest ist im Hinblick auf seine Volkstümlichkeit mit Weihnachten nicht zu vergleichen. Weihnachten unterscheidet sich von den anderen christlichen Festen dadurch, daß es nicht so sehr ein kirchliches, sondern mehr noch ein Familienfest ist.“ 10 Dieses volkstümliche Advents- und Weihnachtsbrauchtum hat in Aufnahme und Abgrenzung zu kirchlichen Festinhalten eine eigene Liedkultur herausgebildet‚ 11 die je nach Nähe zum christlichen Bekenntnis und nach Beliebtheit Eingang in kirchliche Gesangbücher finden konnte, in jedem Fall aber den Bestand an untersuchungsrelevantem Liedgut erheblich gesteigert hat. 12 8 Unter dem „engeren kirchlichen Milieu“ verstehe ich bei aller Unschärfe Menschen, die ihr Leben vom Leben der Kirche her bestimmen und definieren - jene aktiven Glieder, die in heutiger Terminologie unter Kerngemeinde gefasst und die „häufig zu Unrecht als borniert, eng und konservativ abgewertet“ (Hauschildt/ Pohl-Patalong, Kirche, 287; ebs. vgl. Preul, Kirchentheorie, 187) werden. 9 Vgl. Ameln/ Thomas, Ursprung und Reichtum des deutschen Weihnachtsliedes, 261. Ameln weist explizit darauf hin, dass beim Weihnachtsbrauchtum die Grenze zwischen Volkstümlichkeit und kirchlicher Ordnung so fluid ist, wie bei keinem anderen Fest der Kirche (vgl. Ameln, Weihnachten in der Musik, 130). 10 Pannenberg, Das Fest, 56. Pannenberg bemerkt weiter, dass schon Schleiermacher in seiner „Weihnachtsfeier“ [1806] deutlich erkannt hatte, dass das Christfest vermutlich mehr durch volkstümliche Bräuche die Erinnerung an Christus lebendig hält, als durch die zum Fest gehörenden Schriftperikopen (vgl. Pannenberg, Das Fest, 57). 11 Interessant ist hier die Untersuchung von Friederike Lepetit, die den Umgang des sozialistischen DDR-Regimes mit überkommenen christlichen Festinhalten und ihrer geprägten Liedgestalt untersuchte und feststellen konnte, dass die Prägekraft der alten Gesänge einerseits immens hoch war und sie deshalb nicht zu beseitigen waren. Andererseits wurden aber sukzessive textliche Änderungen unternommen bzw. christliche Symbole unter sozialistisch-kommunistischer Ideologie uminterpretiert. So konnte u.a. der Stern über Bethlehem unter staatskonformer Lesart als roter Stern der egalitären Arbeiter- und Bauernbewegung interpretiert und das Weihnachtsfest als Rubrik zugunsten einer säkularen Winter- und Schneerubik beseitigt werden (vgl. Lepetit, „Sind die Lichter angezündet“, 428-431; ebs. vgl. Lepetit, Weihnachten - ein sozialistisches Friedensfest? , 125-132). 12 Zu den Inhalten des Weihnachtsfestkreises und dem zugehörigen Brauchtum entstanden in der Zeit der Romantik bis weit ins 20. Jh. hinein eine Unzahl an geistlichen Volksliedern. Zwar sei nach Hauschildt deren theologischer Gehalt kaum mehr nachzuzeichnen ob der weitreichenden dogmatischen Schrumpfungsprozesse dieser Zeit (vgl. Hauschildt, Die Christusverkündigung im Weihnachtslied unserer Kirche, 128-129), dennoch haben einige dieser Lieder im Gegensatz zum EKG im EG einen Platz erobern können, wie z.B. das lange Zeit für das offizielle Gesangbuch als nicht genügend empfundene „Stille <?page no="265"?> 266 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken Die folgenden Erkenntnisse basieren auf Untersuchung der Lieder EG 1-74 (parallel EKG 1-53). Bei meiner Grundentscheidung, nur Lieder zu untersuchen, die den Teufel personal explizieren, ergibt sich eine Auswahl von 14 Liedern, was rund einem Fünftel am Umfang des Rubrikenkomplexes entspricht (im EKG ebenfalls 14 Lieder, was etwa ein Viertel ausmacht). 13 Innerhalb der aufgefundenen Lieder ist ein deutliches Gewicht bei Liedern aus dem Reformationsjahrhundert (3x) und dem 17. Jahrhundert (8x) zu erkennen - darunter finden sich Namen wie Martin Luther (EG 25: „Vom Himmel kam der Engel Schar“), Paul Gerhardt (EG 39: „Kommt und laßt uns Christus ehren“) oder Johann Rist (EG 33: „Brich an, du schönes Morgenlicht/ Ermuntre dich, mein schwacher Geist“). Da Liedgut dieser Zeit ohnehin den Schwerpunkt des EG- und verstärkt des EKG-Stammes ausmacht‚ 14 verwundert dieses Ergebnis nicht, sondern bestätigt, dass das Weihnachtsfest in enger Weise mit der Tradition verknüpft ist bzw. dieser Rubrikenkomplex leichter den Wandel von Ästhetik und Zeitgeschmack zu überdauern im Stande ist, als andere Themenfelder. 15 Für Luther und andere Dichter des 16. Jahrhunderts war Rückbezug auf die Festtradition und Weiterarbeit an lateinischen Vorlagen im Rahmen der Weihnachtslieddichtung selbstverständlich‚ 16 im liturgischen Leben der Kirche während der Weihnachtszeit blieben auch weiterhin lateinische Gesänge oder deutsch-lateinische Mischdichtungen in Gebrauch, wie z.B. beim lange bewahrten Quempas-Singen. 17 Die konservatorische Wirkung der gepflegten Tradition überkommener Werke hat beim Weihnachtsliedgut dazu geführt, dass, lange nachdem weite Teile der Theologie die Botschaft des Christfestes rationalisiert und damit das Skandalon Nacht“ (EG 46) von Joseph Mohr oder das „O du fröhliche“ (EG 44) von Johannes Daniel Falk. 13 Im EKG ergibt sich ebenfalls eine Auswahl von 14 Liedern, was etwa ein Viertel am Rubrikenkomplex ausmacht (vgl. Tab. 3 Sp. „EG Nr.“; „EKG Nr.“). 14 Vgl. Reich, Das Evangelische Gesangbuch, 100. 15 Betrachtet man die Rubriken im Ganzen unter dem Aspekt des Textalters, dann zeigt sich, dass unter Advent, Weihnachten, Jahreswende und Epiphanias die Texte grob überschlagen etwa zur Hälfte aus dem 16. und 17. Jh. entnommen sind (vgl. EG 1-74; ebs. vgl. Tab. 3 Sp. „Alter Text“; „Dichter“). 16 Vgl. Hauschildt, Das Christuszeugnis in Luthers Weihnachtslied, 115; ebs. vgl. Ameln, Das deutsche Weihnachtslied der Reformation, 184; ebs. vgl. HEKG III/ 1, 149. 17 Das Quempas-Singen (von lat. quem pastores laudavere) hatte zu Luthers Zeit eine derart etablierte Position im kirchlichen Weihnachtsbrauchtum, dass es dem Reformator trotz mancher Bedenken unmöglich war, dieses zu beseitigen (vgl. Ameln, Das deutsche Weihnachtslied der Reformation, 188). Der Quempas, als überwiegend von Kinderchören, die sich in den vier Ecken der Kirche postierten, im Wechsel mit der Gemeinde gesungene deutsch-lateinische Mischkomposition, ist kaum in gedruckter Form greifbar; meist wurde er von Schüler zu Schüler weitergegeben, bis er im 18. Jh. durch Konsistorial- und Kirchenleitungsanweisungen stückweise verdrängt wurde (vgl. Ameln/ Thomas, Ursprung und Reichtum des deutschen Weihnachtsliedes, 260-261). <?page no="266"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 267 der Menschwerdung Gottes relativiert hatten, die orthodoxe Lehre im gemeindlichen Gesang bewahrt wurde. 18 Dennoch zeigt auch dieser Rubrikenkomplex tiefe Spuren rationalistischer Einwirkungen auf die Gesangbucharbeit, indem nämlich der Teufel und sein Heer sich in Liedern aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert in meiner Übersicht nur je einmal für das EG findet. 19 Dieses Ergebnis korreliert mit der angesprochenen grundsätzlichen Gewichtung bei der Auswahl aus den Kirchenliedepochen, hat aber auch mit dem zunehmenden Relevanzverlust der theologischen Christfestinhalte seit der Aufklärung zu tun. Für das Weihnachtslied bis weit ins 17. Jahrhundert hinein galt: „Es kündet die großen ‚objektiven‘ Wahrheiten von Weihnachten: die Überwindung von Sünde, Tod, Teufel, Hölle, die Liebe, die Gott bewegt, und den Anbruch der himmlischen Freude, ergriffen durch den Glauben der Gemeinde.“ 20 Orthodoxie war Voraussetzung für die Aufnahme in die Gesangbücher und damit notwendig, um Teil gepflegter Tradition zu werden, demgegenüber verfolgte der Rationalismus andere Ziele. „Die Degeneration des Weihnachtsliedes begann im aufklärerischen 18. Jahrhundert. Die Verkümmerung wurde dadurch gefördert, daß die Weihnachtslieder ihren Boden in Gottesdienst und Brauchtum verloren. Hinzu kam, daß die alten, beliebten Weihnachtsmelodien vielfach als Vorspann zu neuen, nicht weihnachtlichen Texten benutzt wurden, wodurch sie ihren ursprünglichen Charakter einbüßten. […] In anderen Liedern dieser Zeit werden die ursprünglich bedeutungsstarken Sinnbilder Nacht, Stern, Licht, Mutter, Kind u.a. bar und bloß genommen, ohne weihnachtlichen Bezug. Manche Lieder sprechen von der Mutter schlechthin; so fand denn auch das Wiegenlied unbekümmert Platz unter den Weihnachtsliedern.“ 21 18 In breiter Untersuchung von Gesangbüchern des 18. Jh., jener Zeit, die durch Umdichtungen bekannter Lieder im Sinne des Rationalismus oder durch Neudichtungen Kirchenlied und Gesangbuch nachhaltig beeinflussten, konnte Hans-Bernhard Schönborn herausarbeiten, dass v. a. in östlichen Regionen Deutschlands noch bis ins 18. Jh. hinein lateinische und deutsch-lateinische Mischgesänge in Gebrauch waren und damit vielfach von Theologenseite abgelegte dogmatische Vorstellungen ein Exil im Lied fanden (vgl. Schönborn, Das Weihnachtslied in den evangelischen Gesangbüchern des 18. Jahrhunderts, 59-63). 19 EG 66.14.19. Im EKG findet sich kein einziges Lied aus dem 20. Jh. in meiner Übersicht (vgl. Tab. 3 Sp. „Alter Text“). Für EG 14 und EG 19 soll nicht verschwiegen werden, dass hier die Maßgabe, nur personales Böses aufzulisten, weit ausgelegt worden ist und man nachvollziehbar an der Aufnahme Kritik üben könnte. 20 HEKG III/ 1, 152. 21 Ehmann, Das alte und das neue Weihnachtslied, 230-231. Die im Zitat angesprochene Verwendung von Weihnachtsliedmelodien für andere Texte und Themen, die heute selbstverständlich erscheint, galt in früheren Zeiten als anstößige Praxis; vielmehr waren Melodien für Festzeiten reserviert und man fürchtete die Auflösung der Festzeit durch <?page no="267"?> 268 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken Die Aufklärung und ihr Wirken auf die Kirche führte zur Ausdünnung der Weihnachtsliederrubrik und Schaffung von Texten mit für damaliges Empfinden theologischer Richtigkeit bzw. rationalistischer Nüchternheit; 22 dies stellte sich allerdings gegenüber traditionellen Liedern als nicht adäquater Ersatz heraus - die Lieder wurden wenig aufgenommen in spätere Gesangbücher und bereits mit der Restauration des Gesangbuches im 19. Jahrhundert wurde wieder an dogmatisch gehaltvollere Lieder früherer Zeiten angeknüpft. 23 Werke des 19. Jahrhunderts sind in der Übersicht dennoch nur selten vertreten, da sie wegen Zugehörigkeit zum „geistlichen Volkslied“ im 20. Jahrhundert als nicht gesangbuchtauglich galten und sich deshalb in den Sammlungen nicht halten konnten. 24 Erst mit dem vertieften Fragen nach dem Wort Gottes im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden wieder so hochwertige Arbeiten - biblisch fundiert und theologisch orthodox bis innovativ - vorgelegt, dass sie Eingang in den EG-Stamm fanden, etwa die deutsche Übersetzung einer englischen Vorlage von Otmar Schulz „O komm, o komm, du Morgenstern“ (EG 19). Mit EG 19 und EG 14 liegen bei genauerem Hinsehen Lieder vor, die den Begriff des personalen Bösen weit ausdehnen‚ 25 was die Frage aufwirft, ob die Gesangbuchkommission keine Lieder mit personalem Bösen aus dem 19. und 20. Jh. auswählen wollte, oder aber wegen deren Nichtvorhandensein nicht auswählen konnte - Letzteres dürfte wohl zutreffen. 26 unachtsame Übernahme der Melodien in andere Rubriken (vgl. Werthemann, Studie zu den Adventsliedern des 16. und 17. Jahrhunderts, 17). Sensibilität für die Bindung von Melodie und Kirchenjahr fordert, im Versuch das christliche Weihnachtslied neu zu beleben, auch Ameln (vgl. Ameln/ Thomas, Ursprung und Reichtum des deutschen Weihnachtsliedes, 260). 22 Vgl. Schönborn, Das Weihnachtslied in den evangelischen Gesangbüchern des 18. Jahrhunderts, 57. 23 HEKG III/ 1, 113-114.152-154; ebs. vgl. Schönborn, Das Weihnachtslied in den evangelischen Gesangbüchern des 18. Jahrhunderts, 57. 24 Der Umgang mit dem geistlichen Volkslied des 19. Jh. bot bei der Arbeit am EKG einiges an Konfliktpotential für die Kommission, wie Mahrenholz erkennen lässt: „Aber das geistliche Volkslied muß sich den gleichen Bewertungsgrundsätzen unterwerfen wie jedes andere Kirchenlied, nämlich daß es theologisch verantwortbar ist und nicht einen verdünnten Aufguß christlicher Lehre und Ethik für Leute darstellt, deren christliche Vorstellung auf Puppenstubenformat verkümmert ist“ (Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 28). 25 „Macht der Finsternis“ (EG 14/ 6); „Bösen Tyrannei“ (EG 19/ 2). Beide Belegstellen lassen sich kaum in eine Koreferenzkette einzeichnen und sind nicht eindeutig als Verweis auf den Teufel identifizierbar, dennoch teilt z.B. die EG-Konkordanz meine Einschätzungen (vgl. Tab. 3 Sp. „Phrase mit Teufel“; „Koreferenzkette Teufel“). 26 Dieser Schluss legt sich aus mindestens zweierlei Gründen nahe - Hartmut Handt hat bei Durchsicht deutscher wie fremdsprachiger Liedersammlungen die aufschlussreiche Entdeckung gemacht, dass neuere Adventslieder ein weitgehendes Desiderat darstellen. Weder lassen sich in der Adventsrubrik, sofern es diese überhaupt gibt, größere Aus- <?page no="268"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 269 Erstaunlich an den Ergebnissen ist die Konstanz im Liedbestand, die sich nachweisen lässt. Obwohl in den Kommissionsüberlegungen zur Auswahl der Lieder deutlich das Thema „Teufel“ als kritisch zu bedenkender Topos benannt wird‚ 27 der evtl. zur Aussonderung manchen Liedes gegenüber dem EKG hätte führen können, lässt sich eine Umsetzung dieser Problematisierung nicht am EG nachweisen. Von 14 Liedern im EKG sind zehn ohne jede Veränderung in das EG übernommen worden‚ 28 bei drei weiteren Liedern (EG 12.33.66) hat es Veränderungen in Strophenzahl und/ oder Strophenreihenfolge gegeben, wobei nur in EG 12 eine satanologisch relevante Veränderung auszumachen ist. 29 Mit „Gott sei Dank durch alle Welt“ (EG 12) ist gegenüber EKG 11 ein Lied ohne konkreten Bezug auf den Teufel entstanden, da Strophe 6 (EKG 11/ 6: „Tritt der Schlange Kopf entzwei“) ausgefallen ist. Das einzige Lied mit Explikation des personalen Bösen, das keinen Eingang ins EG gefunden hat, liegt in „Jesu nun sei gepreist“ (EKG 39) vor, wenngleich der Befund sich dort auf die kurze Bitte „die Teufel mach zuschanden / hier und an allem Ort“ (EKG 39/ 2) beschränkt. Demgegenüber findet sich das erwähnte Lied von Otmar Schulz, „O komm, o komm, du Morgenstern“ (EG 19), neu im EG-Kanon. Neben der Konstanz zwischen EKG und EG lässt sich auch eine Treue gegenüber den Ursprungsfassungen erheben - von den 15 untersuchten Gesängen wurden neun in vollständigem Umfang ins EKG/ EG aufgenommen, in zwei weiteren Gesängen (EG 33.39) gab es Strophenausfälle, die allerdings keine wahlmöglichkeiten an NGL feststellen, noch wird durch Liederwettbewerbe dieses Thema angeregt und vorangetrieben (vgl. Handt, Neue geistliche Lieder für die Adventszeit, 408-413). Wo also keine neuen Lieder sind, darf das ohnehin schwierige Thema des Bösen noch weniger im Text erwartet werden. Ob sich dieser Befund für Weihnachten in ähnlicher Weise darstellt, müsste eigens überprüft werden. Trotz allem darf man aber für die Rubrik Advent und Weihnachten im EG festhalten, dass die Kommission sich um Lieder aus dem 20. Jh. bemüht hat (gesamt 16 Gesänge). Wichtig scheint noch einmal der Hinweis, dass neuere Lieder, so sie denn diesen Teil des Kirchenjahres betrachten, dennoch von einer weithin „bürgerlichen Wohligkeit“ und gleichzeitigen „theologischen Flachheit“ geprägt sind, die nicht selten, wie in der Romantik geschehen, durch die Festsymbole selbst ausgelöst werden (vgl. Ehmann, Das alte und das neue Weihnachtslied, 231). Ein treffendes Beispiel in diesem Zusammenhang ist „Wir sagen euch an den lieben Advent“ (EG 17), das den bürgerlichen Adventskranz strophenweise abschreitet, dabei Licht um Licht entzündet, auf dass es in den Herzen der Singenden leuchte und damit gleichsam in die Welt scheine. Jochen Klepper muss aus dieser Reihe der „Familienfestdichter“ klar ausgenommen werden. 27 Vgl. Rößler, Prospekt eines Projekts, 15. 28 Minimal ist die sprachliche Anpassung in „Kommt und laßt uns Christus ehren“ (EG 39/ EKG 29), wo aus „die Satanas betrogen“ (EKG 29/ 4) „die Satan hat betrogen“ wird (vgl. Frahm, Synopse zum Evangelischen Gesangbuch, 53). 29 Vgl. Tab. 3 Sp. „Veränderungen von EKG zu EG“. <?page no="269"?> 270 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken Ausführungen zum Teufel enthielten. 30 In vier Gesängen (EG 6.12.60.66) sind durch Auslassungen gegenüber dem Ursprungstext Textpassagen entfallen, die den Satan weiter beschreiben. Schmerzlich ist die Veränderung gegenüber dem Original v. a. in EG 12, da dieses nun keinerlei Aussage mehr über den Satan tätigt, obwohl es ursprünglich vom bekannten Motiv der teuflischen List und des Schlangentretens berichtete: „Und des Satans schlaue List / Sich für mir zu hoch vermisst / […] Trit den Schlangen Kopff entzwey“ (FT I/ 411). „Freut euch, ihr lieben Christen all“ (EG 60) erwähnte in der ausgefallenen Originalstrophe 4 den Aspekt der Anklage Satans und das Miteinander des Teufels und weiterer Akteure: „Sünd Teufel, Tod, hin ist eur Macht / umsonst ist wüt, umsonst anklagt“ (AfMw 1, 236). In „Jesus ist kommen“ (EG 66) ist das Ausscheiden von einigen Originalstrophen wohl nicht grundsätzlich als Aussonderung theologisch problematischer Vorstellungen zu werten, sondern bei 23 ursprünglichen Strophen als drucktechnische Notwendigkeit zu sehen, die satanologische Relevanz der Verluste ist gering und geht kaum über die Benennung des Feindes hinaus. 31 In „Ihr lieben Christen freut euch nun“ (EG 6) hingegen sind die Verluste massiv, da das Lied über ganze Strophen hinweg vom Teufel singt, worauf ich in der Detailbetrachtung zurückkomme (s.u.). 32 Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass die Textbasis, die für eine Betrachtung des Teufels von Bedeutung ist, im Weihnachtsfestkreis relativ konstant zwischen den Originaltexten und dem EKG/ EG verläuft und einen klaren Schwerpunkt auf Liedgut des 16. und 17. Jahrhunderts legt. Rubriken/ Themenfelder Der angedeutete enge Zusammenhang der im Weihnachtsfestkreis versammelten Rubriken muss an dieser Stelle einige Anmerkungen erfahren. Es lässt sich beim Betrachten jener Lieder, die den Teufel explizieren, feststellen, dass sie sich nicht völlig gleichmäßig auf die Rubriken verteilen; 33 erwartbar wäre, weil es zur Rubrik Weihnachten die größte Liedauswahl gibt (34 im EG)‚ 34 dass sich dort entsprechend mehr satanologisch relevante Dichtungen ausmachen lassen als z.B. in Liedern, die zur eher mageren Adventsrubrik (22 im EG) gezählt 30 Vgl. Tab. 3 Sp. „Verhältnis EG/ EKG und Original“. 31 Originalstr. 7: „Feindesmacht vor ihm erzittert und bebet“; Originalstr. 18: „Starker Schuz wider des feindes anfallen“ (Einige gantz neue Lieder zum Lobe des Dreyeinigen Gottes [1736]; zugänglich war mir nur die 2. Aufl.: Die ehedeß eintzeln gedruckte Cöthnische Lieder [1738]). 32 Vgl. W III/ 1032; ebs. vgl. Tab. 3 Sp. „Verhältnis EG/ EKG und Original“. 33 Vgl. Tab. 3 Sp. „EG Rubrik“; „EKG Rubrik“. 34 „Von den drei großen Festen der Christenheit ist Weihnachten das an Liedern reichste.“ (Ameln, Das deutsche Weihnachtslied der Reformation, 184; ebs. vgl. HEKG III/ 1, 149). <?page no="270"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 271 werden. 35 Die Analyse zeigt ein anderes Bild, indem auf die Adventslieder sechs Fundstellen entfallen‚ 36 auf die Weihnachtslieder, obwohl größer an Umfang, aber nur fünf Belege. 37 Die Jahreswende als thematisch schwer fassbare Rubrik kann einen Gesang (EG 60) zum Befund beitragen (plus EKG 39) und die Epiphaniasrubrik vermehrt das Ergebnis um zwei weitere Lieder (EG 66.71). Der Teufel scheint im gegenwärtigen Gesangbuch also eine überproportional große Affinität zur Adventsrubrik aufzuweisen. Dieser Ergebnis mag überraschen, ist m. E. aber im Nachvollzug der theologischen Schwerpunkte einzelner Rubriken erklärbar. Der Advent ist eine Zeit, die zwar im Festkreis schon die Freude des Christfestes atmet, traditionell aber eine Zeit der Einkehr‚ 38 des Fastens, der Buße und Entsagung. 39 Advent war zu Luthers Zeit häufiger mit dem Terminus der „Zukunft Christi“ (von zu-kommen, an/ herkommen) 40 oder der „Menschwerdung Christi“ beschrieben und meinte die Zeit bis zu Christi Kommen ins Fleisch. 41 „Mit der Menschwerdung Jesu Christi ist - nach dem exakten Sprachgebrauch der Reformationszeit - nicht die Geburt gemeint, sondern ein Geschehen, das in der Zeit 35 Vgl. Münden, Adventssingen mit Atmosphäre, 373; ebs. vgl. Handt, Neue geistliche Lieder für die Adventszeit, 408. 36 EG 5.6.9.12.14.19. 37 EG 25.33.38.39.40. 38 Dieses Pendeln zwischen bußfertiger Bereitung und proleptischer Freude ist keine neuzeitliche Erscheinung, sondern lässt sich seit dem Mittelalter, etwa ab dem 8. Jh., nachweisen. „So läßt sich gerade in ihnen [sc. Adventsliedern] ein gewisses Hin und Her zwischen Bußernst und Freude erkennen, und es konnte deshalb zu so unterschiedlichen Liedern kommen“ (Werthemann, Studie zu den Adventsliedern des 16. und 17. Jahrhunderts, 16). Komplex verlief die kirchlich-liturgische Entwicklung zur heutigen Gestalt und Ordnung dieser kurzen Zeitspanne des Kirchenjahres. Keinesfalls war es immer eine Zeit, die sich durch die klassischen vier Sonntage im Advent ausdrückte, vielmehr gewann sie erst seit der Feier des Christfestes im 4. Jh. sukzessive ihre spätere Ausprägung. Deutlich wird u.a., dass es Interesse an der durch Passionszeit und Bibel gesetzten Zahlensymbolik der 40 Tage gab, der man im Weihnachtsfestkreis eine Parallele beigeben wollte (vgl. Kunze, Die gottesdienstliche Zeit, 469-470). 39 Das Entsagen dürfte einer der Hauptgründe dafür sein, dass es erheblich mehr Dichtungen zum Weihnachtsfest als zum Advent gibt. Musizieren mit zur Buße gesenktem Haupt scheint in der Tradition ebenso wie heute als gewisser Widerspruch empfunden worden zu sein, weshalb in einigen Gebieten u.a. der Brauch bestand, die Orgel in dieser Bereitungszeit schweigen zu lassen (vgl. Münden, Adventssingen mit Atmosphäre, 373-376; ebs. vgl. Schuberth, Ante adventum Domini, 365). 40 „Adventus heißt Ankunft. Luther übersetzt es mit Zu-Kunft.“ (Kunze, Die gottesdienstliche Zeit, 467). 41 Eine gesonderte Rubrik „Advent“ lässt sich in Gesangbüchern mit Regelmäßigkeit erst ab dem 17. Jh. nachweisen, vorher findet sich allerdings häufiger die Rubrik „Menschwerdung“ (vgl. Werthemann, Studie zu den Adventsliedern des 16. und 17. Jahrhunderts, 25). <?page no="271"?> 272 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken vor der Geburt stattfindet. Der konkrete Moment der Mensch-Werdung ist das Ereignis der Verkündigung an Maria. Darüber hinaus kann nun aber der Entschluß Jesu Christi, Mensch werden zu wollen, auch als grundlegender Ausgangspunkt für die ganze Heilsgeschichte angesehen werden.“ 42 Diese An-/ Zukunft Christi wird in Aufnahme biblischer Spuren aber nicht nur als die historische Menschwerdung Christi in Jesus von Nazareth verstanden, sondern als triplex adventus Christi, nämlich ins Fleisch, ins Herz (z.B. im Gottesdienst/ Sakrament) und dermaleinst zum Gericht. 43 Advent ist die eigentlich liminale Zeit im Kirchenjahr, auch Passion, Karfreitag und v. a. Karsamstag sind mit liminalen Momenten angereichert, aber mit Christi Geburt, dem Christfest, ist das Kreuz präfiguriert - das Holz der Krippe ist das Holz des Kreuzes. 44 Vor 42 Werthemann, Studie zu den Adventsliedern des 16. und 17. Jahrhunderts, 23. Neben der Verkündigung Mariens wurden z.B. alttestamentliche Verheißungen als Teil der Menschwerdung aufgefasst (vgl. Werthemann, Studie zu den Adventsliedern des 16 und 17. Jahrhunderts, 23). „Gottes Sohn ist kommen“ (EG 5), das im EG Advent zugeordnet ist, war im Original noch unter der Rubrizierung Menschwerdung Christi eingeordnet (vgl. Tab. 3 Sp. „Verhältnis EG/ EKG und Original“). 43 Vgl. Werthemann, Studie zu den Adventsliedern des 16. und 17. Jahrhunderts, 81-85. „Vom Kommen des Herrn kündet die Adventszeit, mit der die Ordnung des Christusjahres beginnt. Dreifach deuteten die Alten dieses Kommen: als ein Kommen in carnem, in mentem, ad judicium - ins Fleisch, ins Herz, und zum Gericht.“ (HEKG III/ 1, 111). Christa Reich macht darauf aufmerksam, dass diese weit aufgespannte Erwartung eines dynamischen Gottes v. a. an alttestamentlichen Gottesbildern partizipiert, da der Gott Israels ein immer neu Kommender und keine statische Gestalt sei (vgl. Reich, Vom Warten auf den Kommenden, 402-407). Das dreifache Kommen lässt sich verschiedentlich in Dichtungen nachzeichnen, etwa in Gerhardts „Wie soll ich dich empfangen“ (EG 11). Das Kommen ins Herz, als Kommen zum Gläubigen, durchzieht fast das gesamte Lied und mündet in dem Blick auf das Gericht: „Er kommt zum Weltgerichte: / zum Fluch dem, der ihm flucht, / mit Gnad und süßem Lichte / dem, der ihn liebt und sucht“ (EG 11/ 10). Werthemann sieht bei Bezügen zum 2. und 3. Advent in späteren Liedern Individualisierungstendenzen (vgl. Werthemann, Studie zu den Adventsliedern des 16. und 17. Jahrhunderts, 85). Hier verweise ich auf meine Bemerkungen zum angeblichen Subjektivismus bei Gerhardt, in denen ich darlegte, dass dieses Phänomen auf der Textebene differenzierter zu betrachten ist (s. Kap. 7.). 44 „Das Weihnachtslied beschränkt sich nicht auf einen Teil der Christusbotschaft. Es bietet kein Vorläufiges und Bruchstück. Von der Entfaltung der Fleischwerdung als Zentrum her umfaßt es das gesamte Heilswirken Christi. Es fügt den weihnachtlichen nicht nur karfreitagliche Strophen hinzu, sondern sieht Krippe und Kreuz zusammen.“ (Hauschildt, Die Christusverkündigung im Weihnachtslied unserer Kirche, 208). Das Wissen um den Zusammenhang von Menschwerdung, Geburt und Kreuz lässt sich in vielen Adventsliedern des 16. und 17. Jh. herausstellen. Ein treffendes Beispiel stellt „Nun jauchzet, all ihr Frommen“ (EG 9) dar - in Str. 1 werden die gleichzeitige Schwachheit und Stärke andeutungsweise verzahnt (EG 9/ 1: „zwar ohne stolze Pracht, / doch mächtig, zu verheeren / und gänzlich zu zerstören / des Teufels Reich und Macht“), was in Str. 2 wesentlich drastischer weitergeführt wird (EG 9/ 2: „für uns zum Opfer ein. / Er bringt kein zeitlich Gut, / <?page no="272"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 273 der Geburt des Herrn, in der Zeit adventlichen Wartens, sind die Weltgeschicke noch unentschieden, das machtvolle Wort noch nicht in Gestalt, ins Fleisch, gekommen, noch lebt die Welt im Glauben aus Verheißungen und auf Hoffnung, die der Vollendung harrt. „Bedeutsam ist dabei das ‚Noch nicht‘, das über der Adventszeit steht: Weihnachten ist noch nicht da mit seinem Jubel, wir gehen ihm erst entgegen und bereiten uns darauf vor; der Wiederkommende ist noch nicht da mit Gericht und Erlösung, wir haben erst zu warten und zu wachsen. Das gibt dem Advent seinen doppelten Charakter: die Spannung sehnsüchtiger Erwartung, die schon in der heimlichen Vorfreude lebt auf das, was kommen soll, und den Ernst der Einkehr, der weiß, daß man nur durch gründliche Buße und Hingabe des gesamten Lebens dem hohen Gast den Weg bereiten kann“ 45 . Aus dem Gerichtsgedanken ergibt sich die Verbindung zum Kirchenjahresende, die ebenfalls beim Advent mitgedacht werden muss. 46 In dieser erwartungsvollen Spannung steht der Advent und tönen dessen Lieder mit einer Polyphonie aus Finsternis 47 und kleinen Lichtstrahlen, dämonischer Anfechtung und leisen er will allein erwerben / durch seinen Tod und Sterben, / was ewig währen tut“). Dass es zwischen dem Stall/ der Krippe und dessen Holz, sowie dem Kreuzesholz eine Beziehung gibt, war ein Gedanke, den schon die Kirchenväter beschrieben; meisterlich wird diese mystisch anmutende Linie in Rembrandts „Anbetung der Hirten“ [1646] (http: / / www. hansgruener.de/ docs_d/ krippen/ anbetung.htm [Zugriff: 28.02.2018]) ausgezogen, in dem sich über der anbetenden Krippenszenerie, gleich einem schweigenden Menetekel, das gekreuzte Gebälk erhebt (vgl. Zerfaß, Der Ernst des Glaubens, 324). 45 HEKG III/ 1, 111. 46 Der dreifache Advent, der in 3. Gestalt (Weltgericht) besonders mit dem Kirchenjahresende korrespondiert (vgl. HEKG III/ 1, 112; ebs. vgl. Smets, „… zu richten Bös’ und Fromme“, 44; ebs. vgl. Smets, Das Endgericht in der Endzeitrede Mt 24-25 und im Evangelischen Gesangbuch, 236), schlägt sich u.a. im Proprium der Sonntage und der zugeordneten Perikopen nieder. So wird mit dem Einzug in Jerusalem (1. Sonntag im Advent) und dem marianischen Sonntag (4. Sonntag) das Kommen Jesu ins Fleisch den Menschen zum Opfer und Heil betont, mit dem Täufersonntag (3. Sonntag) wird das Kommen ins Herz und zum einzelnen Büßer verdeutlicht, mit den Gerichtstexten (2. Sonntag) die dritte Ankunft des Herrn zum Weltgericht (vgl. Schuberth, Ante adventum Domini, 369-370; ebs. vgl. EGb 242-251.681-685). 47 Stolze weist auf den Zusammenhang des Adventes mit dem Naturrhythmus hin, der von kurzen Tagen und langen Nächten, also mehr Schatten als Licht, bestimmt ist (vgl. Stolze, Advent, 12). <?page no="273"?> 274 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken Engelsstimmen‚ 48 dem deutlichen Bezug zum Tod 49 und dem fernen Klang neuen Lebens. Der Charakter dieser Zeit ist deutlich unterschieden vom Jubel zu Christi Geburt, trotz aller inhaltlichen Überschneidungen, welche Rubriken und Lieder aufweisen. 50 Auf dem Hintergrund dieser Symbolik und Klanggestalt wird das erhobene Vorkommen Satans im Advent plausibler - dort wo Tod und Finsternis vorherrschen, wo das Wort der Hoffnung nur leise hörbar und allein im Glauben gegenwärtig wird, ist der Teufel als in Einheit mit Tod und Finsternis agierender Teil des dämonischen Geflechts, mit dem die Christenheit auf Erden ringt, einschließlich seiner Anfechtungen, ein erwartbares Übel. Das Weihnachtsfest als Geburtsfest Christi ist vom Advent durch eine unhintergehbare und in Zeit und Ewigkeit belastbare Siegesbotschaft unterschieden; neben dem Sieg, den die Geburt bedeutet, verblassen Erfahrungen von Sünde, Tod und Teufel - der Jubel über die sichtbare Menschwerdung nach der bisher nur verheißenen wird zum inhaltlichen Schwergewicht der Gesänge. „Das Thema des Weihnachtsliedes ist die Menschwerdung Gottes, der Beginn jener besonderen ‚Heilsgeschichte‘, die in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi ihre Krönung und in Erlösung der Welt ihr letztes Ziel erhält. […] Immer wieder neu werden die großen Paradoxe, die Gegensätze, die sich hier vereinigt haben, nebeneinander gestellt: das ewig Gut - in vergänglichem Fleisch und Blut, der Unendliche - im engen Schoß Mariens, der Schöpfer aller Dinge - auf dürrem Gras, das ewige Licht - mitten in der Nacht, der alle Welt bekleidet - nackt und bloß.“ 51 Diese Struktur der Paradoxie lässt zwar noch Raum für Verse, die vom Teufel handeln, aber er wird insgesamt zum entmachteten Nebendarsteller auf der Weltenbühne des Liedtextes, die Geschichte von Weihnachten ist die Entmach- 48 Vgl. Engelsberger, Bilder vom Kommen Gottes, 156-158. Offenbar empfinden Gläubige und Dichter aller Zeiten eine Verbindung von Teufel, Dämonen und Finsternis, die in Liedern immer wieder anklingt, in „Dein König kommt in niedern Hüllen“ (EG 14) heißt es: „O laß dein Licht auf Erden siegen, / die Macht der Finsternis erliegen“ (EG 14/ 6). 49 Ute Nürnberg weist darauf hin, dass Advent, Weihnachten und Jahreswende gegenwärtig v. a. unter dem Blickwinkel der Verzahnung mit dem bürgerlichen Jahr, bzw. dessen Ende betrachtet werden. Der Weihnachtsfestkreis steht in Verbindung zum Thema Zeit im Allgemeinen - wo das Jahr endet, rückt zugleich das eigene Ende in den Fokus (vgl. Nürnberg, Verheißungsvolle Synchronisation, 527-529; ebs. vgl. Nürnberg, Der Jahreswechsel im Kirchenlied, 323-324). Daneben reiht sich die Adventszeit in eine Folge von weiteren liturgischen Feiern ein (Bußtag, Volkstrauertag, Ewigkeitssonntag), die ebenfalls Tod und Sterben intensiv bedenken (vgl. Stolze, Advent, 12). 50 „Advent und Weihnachten sind nicht einfach identisch, so wenig wie Menschwerdung und Geburt es sind, sondern sie haben beide ihre besonderen inhaltlichen Merkmale.“ (Werthemann, Studie zu den Adventsliedern des 16. und 17. Jahrhunderts, 26). 51 HEKG III/ 1, 149. <?page no="274"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 275 tungsgeschichte von Sünde, Tod und Teufel. 52 Dies drückt sich v. a. auf pragmatischer Ebene aus, denn in Adventsliedern liegen häufig deprekative Formeln vor, in Weihnachtsliedern hingegen meist berichtende - der Kampf ist entschieden, ein Flehen um Jesu Hilfe nicht nötig‚ 53 oft zeigen sich Äußerungen, die sogar als Spott über den Teufel interpretierbar wären. 54 Nach reformatorischem Verständnis offenbart sich der Sieg des Gottessohnes dennoch nur im Paradoxon der scheinbaren Niederlage eines schwachen und gemarterten Menschen. 55 „Sah die alte Kirche auch im Kind von Bethlehem gern schon den König, dem alle Macht gegeben ist, so betonte die Reformation von der theologia crucis her viel stärker die Niedrigkeit und Schwachheit des Gottessohnes, sein wirkliches Menschsein, seine Knechtsgestalt: So tief neigt sich der erbarmende Gott zu uns herab, so groß ist seine Liebe! Diese Tat Gottes schildern unsere [sc. EKG] Lieder als die große Wende, die in mächtigem Bogen überirdische und irdische Welt umspannt und sich bis tief ins einzelne Menschenleben hinein auswirkt: Teufel und Hölle, Sünde und Tod sind entmächtigt, die Paradiespforten wieder geöffnet, den Menschen Freude, Trost und Leben wiedergebracht.“ 56 Diese theologische Kernbestimmung und christozentrische Themensetzung ist dem Weihnachtslied durch die gesamte Gesangbuchgeschichte zu eigen gewesen. 57 52 Vgl. Müller, Luthers Weihnachtslieder, 297. 53 Vgl. Tab. 3 Sp. „Sonstige Bemerkungen“. Ehmann resümiert die Thematik des Weihnachtsliedes: „Es ist in seinem Kern ein Christus-Lied.“ (Ehmann, Das alte und das neue Weihnachtslied, 225). 54 Z.B.: „Was kann euch tun die Sünd und Tod? / Ihr habt mit euch den wahren Gott; / laßt zürnen Teufel und die Höll, / Gotts Sohn ist worden eu’r Gesell“ (EG 25/ 4). 55 Die Wahrnehmung dieser Paradoxien hat sich bis in die Benennung von Gesangbuchrubriken fortgesetzt, gelegentlich findet sich für die Weihnachtsrubrik der Titel „Wohltaten der Geburt Jesu Christi durch lauter Paradoxa“ (Ehmann, Das alte und das neue Weihnachtslied, 225). 56 HEKG III/ 1, 149. Das Weihnachtsverständnis von der theologia crucis her zeichnet v. a. Luthers Lieder aus: „sie [sc. Luthers Weihnachtsgesänge] malen und predigen und singen den 2. Artikel aus. Vielfach im Gegensatz zu den Weihnachtsliedern späterer Jahrhunderte sieht Luther im Kind in der Krippe, im Stall in Bethlehem nicht zuerst ein liebliches Bild, das jedes Menschen Herz ohne weiteres tief bewegen muß […], sondern Luther sieht hier das Kreuz aufgerichtet“ (Müller, Luthers Weihnachtslieder, 292; ebs. vgl. Hauschildt, Das Christuszeugnis in Luthers Weihnachtslied, 118). Bei Untersuchung von Gesangbüchern des 18. Jh. stellte Schönborn fest, dass der reformierte Protestantismus gegenüber dem lutherisch geprägten eine größere Nähe zu Liedern aufweist, die v. a. die Menschheit Christi im Inkarnationsgeschehen betonen (vgl. Schönborn, Das Weihnachtslied in evangelischen Gesangbüchern des 18. Jahrhunderts, 54). 57 Vgl. HEKG III/ 1, 150. <?page no="275"?> 276 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken „Die Erkenntnis, daß das Kind in der Krippe das Heil bringt, löst die starken Freudenklänge im Lied aus. Der doxologische Zug ist dem Weihnachtslied aller Zeiten eigen, aber nirgends sonst ist der Lobpreis so eng verbunden mit der Heilserkenntnis.“ 58 Dass sich auf die Rubriken Epiphanias und Jahreswende nur wenige Lieder meiner Auswahl verteilen, hängt mit deren inneren theologischen und liturgiegeschichtlichen Verflechtung zusammen, welche allerdings nicht mehr vollends rekonstruierbar ist, noch hier dargestellt werden kann. Deutlich ist, dass mit dem Fest der Beschneidung und Namensgebung am achten Tag nach der Geburt ( Jahreswende) und dem Fest der Taufe Jesu (Epiphanias) das eine Christusfest durch weitere biblische Kindheitsgeschichten Jesu ausgedeutet und der Jubel über das Wunder der Kondeszendenz damit eine zeitliche Verlängerung in der Liturgie erfährt. 59 Die Jahreswende ist erst einmal ein Festtag, der durch eine bei Hochfesten übliche Festoktav entsteht; der Gedanke an ein neues Jahr hingegen war in den ersten Jahrhunderten der Christenheit weitestgehend unbekannt, bzw. konnte sich an verschiedene andere Daten anlagern. 60 Es bleibt aber bei einer durch liturgiegeschichtliche Wirren und zunehmende Wechselwirkung mit dem bürgerlichen Kalenderjahr erkennbaren Unschärfe in der thematischen Bestimmung der zugehörigen Gesangbuchrubriken, die v. a. späte barocke und nachbarocke Bildungen darstellen. 61 Die Verantwortlichen des EKG fragten auf- 58 Hauschildt, Die Christusverkündigung in Luthers Weihnachtslied, 123. 59 Vgl. Kunze, Die gottesdienstliche Zeit, 469-473. In der westlichen Liturgiegeschichte fand die Taufe Jesu ihren Ort am 1. Sonntag nach Epiphanias (vgl. Perikopenbuch, 90). 60 Vgl. Kunze, Die gottesdienstliche Zeit, 472. Der Tag, den die Kirche mit Neujahr verband, war konfessionell, regional und zeitlich sehr unterschiedlich bestimmt. Nürnberg zeigt, dass Neujahr von Luther z.B. mit Weihnachten (25. Dezember) verbunden wurde; es konnte aber ebenso mit dem Beschneidungstag (1. Januar), Mariä Verkündigung (25. März), mit Ostern oder nach altrömischer Rechnung mit dem 1. März beginnen. Eine eigenständige Rubrik von Neujahrsliedern, die den Jahresbeginn zum Thema erhebt, war eine anfänglich reformierte Tradition, da der reformierte Protestantismus weniger um Anschluss an geprägte liturgische Termine bemüht war (vgl. Nürnberg, Verheißungsvolle Synchronisation, 522-523). Eine Neujahrsdichtung gab es allerdings schon in der Antike, weshalb das Neujahrslied von zwei eng miteinander verbundenen Traditionsströmen ausgeht, einem weltlichen und einem geistlichen (vgl. Nürnberg, Der Jahreswechsel im Kirchenlied, 68-69). 61 Epiphanias als gesonderte Rubrik bildet sich im 17. Jh. heraus, wobei trotzdessen die Zahl ausdrücklich auf Epiphanias gedichteter Lieder relativ gering bleibt (vgl. HEKG III/ 1, 234). Die Rubrik zur Jahreswende ist ebenfalls seit dem 17. Jh. belegbar. Nürnberg wirbt in ihrer Studie neben den genannten Aspekten für eine Neuentdeckung der Jahreswende als einer Quasi-Kasualie, die zwar das kalendarische Jahr begleiten möchte, daneben aber auch als Ort verstanden werden könnte, der persönliche Wenden und Übergänge integriert: „Erinnerung und Erwartung sind die beiden Pole, zwischen denen sich das geistliche Kraftfeld des Jahreswechsels entfaltet. Es ist ein Fest, das dem Menschen von heute Gelegenheit gibt, seine eigene Lebenszeit, die Lebenszeit seiner Mitmenschen, die Welt- <?page no="276"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 277 grund der thematischen Unbestimmheit der Jahreswende kritisch an: „Warum erscheinen mitten im Kirchenjahr, das doch ein Christusjahr ist, die Lieder zur Jahreswende, mit denen ein rein bürgerlich-kalendarischer Tag begangen wird? “ 62 Sie antworteten selbst, indem sie nochmals die Vieldeutigkeit des liturgischen Ortes formulierten‚ 63 können damit aber einen erklärungsbedürftigen Rest nicht ausräumen. „Andere verbinden die Neujahrsgedanken mit dem Tagesevangelium von der Beschneidung Jesu, wobei vor allem der Name Jesu thematisch ausgewertet wird. Daneben tritt aber […] das Lied, das inhaltlich unabhängig von Weihnachten den bürgerlichen Akt der Jahreswende in den Mittelpunkt stellt. Es nimmt ihn zum Anlaß der Rückschau und des Dankes und verknüpft damit die Bitte um neuen Schutz und Segen. Merkwürdig ist dabei, daß die uns heute beim Jahreswechsel so stark bewegenden Gedanken von der Flucht der Zeit und der Vergänglichkeit alles Irdischen in den Liedern unseres Gesangbuches erst mit dem Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts hervortreten.“ 64 zeit und Gottes Zeit bzw. Ewigkeit zu bedenken und miteinander in Einklang zu bringen - alles sozusagen zu synchronisieren. Dazu können Neujahrslieder Erinnerungs-, Glaubens- und Sprachhilfen sein.“ (Nürnberg, Der Jahreswechsel im Kirchenjahr, 326). Demgegenüber plädieren Deeg und Misterek dafür, den Neujahrstag nicht, sondern den Tag der Beschneidung und Namensgebung zu begehen, da die Beschneidung als Bundesgeschehen, in welches Christen durch die Taufe hineingenommen sind, das eigentliche Verheißungsereignis ist. Die Erinnerung an die Beschneidung und Gottes damit verbundene Verheißung könnte weitaus mehr Hoffnung stiften als das bloße Wissen um einen kalendarischen Neubeginn (vgl. Deeg/ Misterek, Ein neues Jahr in der Taufe, 1-8). 62 HEKG III/ 1, 206. 63 Nürnberg hat die Vieldeutigkeit der Jahreswende schematisch dargestellt, indem sie ausgehend vom ehemaligen Fest der Beschneidung und Namensgebung den 1. Januar als Neujahr mit den Motiven Altes (Rückschau, Buße), (Lebens-)Zeitbetrachtung (Vergänglichkeit), Neues (Vorausschau, Hoffnung, Segen), Lob und Dank, Fürbitte (Gebet, Mitmenschen) verbindet (vgl. Nürnberg, Der Jahreswechsel im Kirchenlied, 264). 64 HEKG III/ 1, 206. In früherer Zeit existierten eigene Gesangbuchrubriken zur „Beschneidung“, welche aber durch zunehmende Tabuisierung von Sexualität und verwandten Themen aus religiöser Lyrik verdrängt wurden (vgl. Nürnberg, Verheißungsvolle Synchronisation, 531; ebs. vgl. Kurzke, Purifizierung und Re-Erotisierung, 39-42). Der Pietismus hat unter Federführung v. a. Zinzendorfs mit Aufnahme der Namensgebungstradition für diesen Tag eine mystisch anmutende Form der Namensverehrung ausgebildet, indem der Proklamation des Namens Jesu allein schon Wirkmächtigkeit zugeschrieben wurde und in dessen Folge eine eigene Rubrik vom „Name Jesu“ entstand. Das Ausrufen des Namens Jesu in der Welt galt einigen der Namensverehrer als exorzistisches Handeln (vgl. Brandt, Was feiern Christen am 1. Januar? , 87-89), womit Lieder vom Namen Jesu in besonderer Beziehung zur hier verhandelten Thematik gesehen werden müssen. Brandt bündelt die hymnologische Entwicklung des 1. Januar: „Aufs Ganze gesehen verläuft die Entwicklung also weg vom Evangelium der Beschneidung und Namensgebung Jesu hin <?page no="277"?> 278 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken Diese Vieldeutigkeit findet sich entsprechend im aufgelisteten Gesang „Freut euch, ihr lieben Christen all“ (EG 60), indem einerseits Namen wie „liebsten Sohn / […] herzliebstes Jesulein / […] recht Nothelfer“ (EG 60/ 2.3), dann aber der Aspekt der zukünftigen Zeit mit „dies angehend Jahr“ (EG 60/ 4) und „zu aller Zeit“ (EG 60/ 5) benannt wird. 65 Ähnlich verhält es sich mit dem liturgisch schwer fassbaren und durch die zugeordneten Schriftperikopen kaum an Vielgestaltigkeit zu übertreffenden Epiphaniasfest; die thematische Einordnung der Gesangbuchkommentatoren gleicht dem Eingeständnis einer nicht einholbaren Diversität. „Das Epiphaniasfest, dessen Name auf die ‚Erscheinung‘ oder ‚Offenbarung‘ Gottes in dieser Welt hindeutet, hat seinen Ursprung im Orient und wurde von den östlichen Kirchen einst als das eigentliche Weihnachtsfest begangen. Man begrenzte freilich die ‚Erscheinung‘ nicht allein auf das Ereignis von Bethlehem, sondern feierte in umfassender Weise die Offenbarung der göttlichen Herrlichkeit in Jesus Christus. Eine nicht geringere Rolle als die Geburt spielte dabei die Taufe Jesu als der Akt, durch den sich Gott zu seinem Sohn bekannte und ihn für sein Heilandsamt ausrüstete. Aber auch die Geschichte von der Hochzeit zu Kana pflegte man an diesem Tag zu lesen, weil das dort geschehene Wunder nach dem Bericht des Johannesevangeliums das erste Zeichen war, durch das Jesus ‚seine Herrlichkeit offenbarte‘ ( Joh. 2‚11).“ 66 Epiphanias steht dem Weihnachtsfest sehr viel näher als der 1. Januar, da es historisch betrachtet in den ersten Jahrhunderten noch mit dem 25. Dezember um den liturgischen Ort der Geburtsfeier konkurrierte, auf welchen das Geburtsfest letztlich terminiert wurde - allein die Armenische Kirche feiert die Geburt am Epiphaniasfest. 67 Das Proprium des „Festes der Erscheinung des Herrn: Epizu einer Isolierung des Jesusnamens in den Neujahrsliedern.“ (Brandt, Was feiern Christen am 1. Januar? , 91). 65 Ähnlich EKG 39, in dem in allen drei Strophen vom Jahr die Rede ist, dieses dann aber mit dem Namen verbunden wird: „Laß uns das Jahr vollbringen zu Lob dem Namen dein“ (EKG 39/ 2). 66 HEKG III/ 1, 233. Fokussierter in der Bestimmung des liturgischen Ortes ist das EGb: „Steht zu Weihnachten der Gedanke der Menschwerdung - und damit der Selbstentäußerung Gottes - im Vordergrund, so betont das Fest der Erscheinung stärker den herrscherlichen Aspekt dieses Vorgangs. Es ist wirklich Gott, der Herr, der sich in Jesus der Menschheit zuwendet und seine Königsherrschaft über die Welt aufrichtet“ (EGb 688). 67 „Für das Weihnachtslied wurde es bedeutsam, daß mit dem 4. und 5. Jahrhundert die Geburt Christi in der Gemeinde festlich begangen wird. Der Kampf zwischen dem orientalischen Geburtsfest am 6. Januar und dem römischen Weihnachtsfest am 25. Dezember mit dem Ergebnis, daß sich beide Feste durchsetzten und Weihnachten den Festinhalt der Geburt übernahm, Epiphanias aber die Anbetung durch die Magier sowie die Taufe Christi und das Weinwunder von Kana, wirkte auf das Weihnachtslied bereichernd.“ (Hauschildt, Die Christusverkündigung im Weihnachtslied unserer Kirche, 35). Irrtüm- <?page no="278"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 279 phanias“ 68 liegt auf der Betonung der Gottheit Jesu und dies nicht zuletzt im Gegenüber zum Teufel. „Jesus ist kommen“ (EG 66) ist ein klassisches Beispiel, indem es als „Triumphlied über den gekommenen Heiland der Welt“ 69 dessen Stärke und Macht betont - die singende Gemeinde ist von des „Stärkeren“ Herrlichkeit derart berauscht, dass sie sich zur direkten Anrede des Teufels ermächtigt sieht: „Fühlst du den Stärkeren, Satan, du Böser? “ (EG 66/ 3). 70 Obwohl die Rubriken in EG/ EKG historisch gewachsen sind und in fast untrennbarem inneren Zusammenhang stehen, zeigen die untersuchten Lieder in ihrer Rubrizierung gegenüber den Erstveröffentlichungen Migrationsbewegungen. 71 Einziger Beleg für erkennbaren Rubrikenwechsel ist „Ihr lieben Christen, freut euch nun“ (EG 6), welches ursprünglich dem Ende des Kirchenjahres bzw. dem Thema des Jüngsten Tages zugeordnet war, nun aber im Advent aufzufinden ist. Nach obigen Ausführungen ist diese Bewegung aber keine Überraschung, sondern verdeutlicht den im Advent enthaltenen Nebenklang vom Gericht als drittem Advent. 72 Innerhalb des Weihnachtsfestkreises besteht somit das hauptsächliche Habitat des Teufels in der noch auf den Sieg in der Geburt des Gottmenschen harrenden Adventszeit. lich wird gelegentlich von der Feier des Weihnachtsfestes am 6. Januar in der Orthodoxie gesprochen - vergessen wird dabei die unterschiedliche kalendarische Grundlage, die dazu führt, dass die Orthodoxie sehr wohl nach ihrem Kalender am 25. Dezember die Geburt Christi feiert (vgl. Kunze, Die gottesdienstliche Zeit, 466-467). 68 So die Bezeichnung im Evangelischen Gottesdienstbuch (vgl. EGb 270). 69 So die ursprüngliche Einordnung (vgl. Tab. 3 Sp. „Verhältnis EG/ EKG und Original“). 70 EG 66 schreitet in 23 Strophen akrostichonartig das Alphabet ab (vgl. HEG III/ 3, 26-27). Unter dem Aspekt der Namensverehrung könnte das Lied ebenso sinnvoll in die Rubrik zur Jahreswende eingeordnet werden. 71 Vgl. Tab. 3 Sp. „Verhältnis EG/ EKG und Original“. 72 Smets erläutert, dass das Gericht zwar Thema des Kirchenjahresendes wie des Adventes ist, in den Liedern zu Letzterem aber mit anderer Konnotation erscheint. „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass viele Adventslieder des EG zwar auf Texte der Endzeitrede Bezug nehmen, jedoch vorwiegend mit Blick auf den ‚positiven Ausgang‘ des Gerichts, der Teilhabe am ewigen Leben. Ihr gilt die Hoffnung, die sich mit dem erwarteten Gottessohn Jesus verknüpft. Ansonsten liegt im Advent der thematische Schwerpunkt auf dem Kommen Jesu in die Welt. Mit ihm verbindet sich die Hoffnung auf ein Zurechtbringen der Welt, auf die fundamentale Veränderung der gegenwärtigen, als leidvoll erfahrenen Verhältnisse. Diese Hoffnung ist immer auch eine eschatologische; sie erfüllt sich im Kommen Jesu in die Welt immer nur partiell und ‚auf Hoffnung hin‘.“ (Smets, Das Endgericht in der Endzeitrede Mt 24-25 und im Evangelischen Gesangbuch, 249). <?page no="279"?> 280 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken Teufelsnamen und weitere Textgegenstände Um differenzierte Aussagen über das Teufelsbild im Weihnachtsfestkreis tätigen zu können, ist es unerlässlich, sich die konkreten Teufelsbezeichnungen, deren biblische Anleihen, sowie die Einbindungen in den Kontext und das Gegenüber zu weiteren zentralen Textgegenständen zu vergegenwärtigen. Innerhalb der aufgelisteten Lieder lassen sich zehn verschiedene Bezeichnungen für den Satan herausarbeiten. 73 Auffindbar sind bekannte Synonyme wie Teufel (7x)‚ 74 Satan (3x), Feind (3x) und Böser (4x), daneben aber auch weniger gebräuchliche, die für den Weihnachtsfestkreis im EG/ EKG als Hapaxlegomena zu betrachten sind: Drache, Schlange‚ 75 Starker und die Verbindungen „Macht der Finsternis“, „Hölle Macht“, sowie „Erden Herren“. Es gilt hier v.a bei einmaligen Belegen, was ich schon zur Frage eineindeutiger Referenz ausführte - abschließende Klarheit darüber, worauf oder auf wen die Begriffe verweisen, kann meist nicht erreicht werden. Dennoch ist es möglich, gerade durch Einzeichnen der Begriffe in Koreferenzketten, Plausibilität für die angenommene Referenz auf das personifizierte Böse herzustellen. Wie in der Übersicht erkennbar, habe ich in Zweifelsfällen die EG-Konkordanz zur Einordnung der aufgeführten Worte und Wortverbindungen konsultiert‚ 76 was zu gelegentlich schwer nachvollziehbaren Ergebnissen gegenüber den meinigen geführt hat. 77 Zählt man die genannten Belegstellen zusammen, erhält man 23 Fundstellen in den Rubriken des Weihnachtsfestkreises, die auf den Satan verweisen - würde man noch Pronomina hinzuzählen, ergeben sich 32 verweisende Ausdrücke. 78 Damit zeigt sich, dass der Teufel ein entscheidender Akteur in den Liedern des ersten Festkreises im Kirchenjahr ist. 79 Bei Betrachtung der Verteilung einzelner Begriffe lässt sich erkennen, dass der Terminus Teufel v. a. im 16. und in 73 Vgl. Tab. 3 Sp. „Koreferenzkette Teufel“. 74 Einschließlich des einen Beleges für Teufel in EKG 39. 75 Der Befund zu Schlange ließe sich durch eine Belegstelle in EKG 11/ 6 erweitern, welche in EG 12 nicht mehr enthalten ist (vgl. Tab. 3 Sp. „Veränderungen von EKG zu EG“). 76 HEG I [1995]. 77 Als Beispiel sei „O König aller Ehren“ genannt, in dessen Str. 5 es heißt: „Mein’ Feinden wollst du wehren, / dem Teufel, Sünd und Tod, / daß sie mich nicht versehren“ (EG 71/ 5). In der EG-Konkordanz werden die Feinde als Menschen identifiziert (vgl. HEG I, 115), wohingegen die Vorgängerkonkordanz meine Einschätzung teilt (vgl. HEKG I/ 1, 154). M.E. kann kein Zweifel bestehen, dass durch die nachklappende Erläuterung „dem Teufel, Sünd und Tod / daß sie mich nicht versehren“ (EG 71/ 5), die Identifikation der EG-Konkordanz abwegig ist. 78 Vgl. Tab. 3 Sp. „Koreferenzkette Teufel“. 79 Unter Beachtung der Passagen, in denen der Teufel als internes Objekt oder Subjekt verhandelt wird, wäre der Befund weitaus größer (vgl. Tab. 3 Sp. „Weitere mit Teufel verbundene Verben“). <?page no="280"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 281 der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts erscheint, danach nicht mehr; 80 ähnlich verhält es sich mit dem Begriff Drachen, der nur einmal im 16. Jahrhundert erscheint, sowie der Schlange, die zweifach in der Mitte des 17. Jahrhunderts auftaucht. Demgegenüber stehen die abstrakteren Verbindungen „Macht der Finsternis“ (EG 14/ 6) und „Bösen Tyrannei“ 81 (EG 19/ 2) aus dem 19. und dem 20. Jahrhundert. Damit wird im nur bedingt repräsentativen EG-Kanon eine Entwicklung nachzeichenbar, die sich in Theologie und Kirchenlied im Allgemeinen beschreiben lässt - die nachaufklärerische Zeit ist durch eine Zunahme an Abstraktion in Sprache und Denken gekennzeichnet, was sich auf den Satan und die Hölle sowie weitere Themenkomplexe übertragen lässt. Verfolgt man die Verteilungen der Titel des Teufels entlang der Rubriken, lassen sich kaum signifikante Häufungen ausmachen; allein erkennbar ist, dass im Advent der Begriff Satan kein einziges Mal nachweisbar ist, wohl findet sich aber in dieser Rubrik der Begriff „Macht der Finsternis“ (EG 14/ 6). Die Erklärung für dieses Sprachspiel aus dem Bereich Licht/ Finsternis ergibt sich aus den vorherigen Erläuterungen zum Kirchenjahr - keine Zeit im liturgischen wie profankalendarischen Jahr ist so eng mit Licht und Finsternis verknüpft, geradezu folgerichtig wird demnach der böse Feind in den Liedern mit Finsternis verwoben. Innerhalb der 32 aufgefundenen Ausdrücke können sieben Formeln plural aufgefasst werden - eine Lokalisierung in bestimmten Rubriken bzw. Zeitepochen lässt sich weniger erkennen. Dennoch kann man bestimmte theologiegeschichtliche Abhängigkeiten ausmachen, wenn u.a. Johannes Herman von „die Teufel“ (EKG 39/ 2) singen lässt und damit beschriebene orthodoxe Vorstellung eines Teufels im Plural hymnisch einfängt (s. Kap. 7.). Prominent ist der Plural v. a. beim Begriff Feind, dessen Referenz grundsätzlich schwer (z.B. in Psalmen) zu bestimmen ist, im Plural den Versuch der Identifikation aber noch zusätzlich erschwert. Ich halte in EG 71/ 5 („Mein’ Feinden wollst du wehren, / dem Teufel, Sünd und Tod“) die Identifikation von Feind und Satan entgegen der EG-Konkordanz für sehr plausibel. 82 Strittiger verhält es sich bei „deiner Feinde Schar“ (EG 38/ 2), welche ich zumindest potentiell für einen Referenzausdruck auf den Teufel halte, denn im Zusammenhang steht dort: „Du wirst klein, du großer Gott, / und machst Höll und Tod zu Spott. / Aller Welt wird offenbar, / ja auch deiner Feinde Schar, / daß du, Gott, bist wunderbar“ (EG 38/ 2). Erkennbar ist die innere Verbindung mit Hölle und Tod als gebräuchlichen Kollokationsbegriffen 80 Einzig EG 39 ist mit 1666 später datiert (vgl. Tab. 3 Sp. „Alter Text“). 81 Anders als man es hätte erwarten können, wird hier von der Konkordanz eine Eindeutigkeit der Referenz auf den Teufel suggeriert, die m. E. nicht gegeben ist, wenngleich ich potentiell den Verweis auf „bösen Feind, Geist, Satan“ (HEG I, 55) annehme und das Lied folglich aufführe. 82 Die EG-Konkordanz identifiziert die Feinde als „Menschen“ (vgl. HEG I, 115)! <?page no="281"?> 282 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken zum Satan. 83 Noch diskussionswürdiger ist die Aufnahme von EG 14 in meine Übersicht, denn mit den Passagen „Es wollen dir der Erde Herren“ (EG 14/ 2) und „die Macht der Finsternis erliegen“ (EG 14/ 6) liegen Ausdrücke vor, deren Potential auf den Teufel zu verweisen wenigstens einer Erklärung bedarf. Wer sind der „Erde Herren“, die „den Weg zu deinem [sc. Christi] Throne sperren“ (EG 14/ 2)? Denkbar wäre im Advent König Herodes mit dem durch Angst vor Machtverlust motivierten Kindermord (Mt 2), aufs Lebensende Jesu gesehen aber auch die jüdische und römische Aristokratie im Prozess Jesu (Mt 26.27). 84 Wären der Erde Herren der einzige referierende Ausdruck, hätte ich das Lied nicht in den Untersuchungsbereich aufgenommen; durch den in Strophe 6 folgenden Ausdruck „die Macht der Finsternis“ (EG 14/ 6) wird m. E. aber eine geistige Welt im Kontext des Teufels angedeutet‚ 85 was den vorangegangenen Ausdruck in neuem Licht erscheinen lässt und weitere Referenzpotentiale eröffnet. Die biblischen Spuren, die sich in den Liedern und ihren Teufelsbeschreibungen nachzeichnen lassen, verdienen weitere Beachtung. Neben den angedeuteten Schriftbezügen zu der „Erde Herren“ (EG 14/ 2), sind weitere Stellen als Hintergrund zu vermuten und erhärten zugleich das von mir postulierte Referenzpotential auf den bösen Feind. Wenngleich nicht vordergründig, dürfte eine weitere Interpretationsspur beim „Fürsten der Welt“ ( Joh 14‚40; 16‚11) aus dem Johannesevangelium liegen - 86 die folgende „Macht der Finsternis“ (EG 14/ 6) schließt m. E. an die mit Christus vergangene Finsternis und das von ihm heraufgeführte Licht aus 1Joh 2‚8 an‚ 87 die naheliegende Perikope Eph 6‚12, die „Herren“ mit „Finsternis“ verbindet‚ 88 erhärtet mein Interpretationsangebot zusätzlich. Das eigentliche Proprium Satans, das unter Wesen und Werk weiter betrachtet wird, ist in den Liedern im Anschluss an die Schrift mit den Begriffen List und Betrug umrissen, weshalb sich mehrfach Aufnahmen von Gen 3‚1.13 83 Die Konkordanz lässt die Frage, auf wen verwiesen wird, mit „Feinde Gottes“ offen (vgl. HEG I, 114). 84 Die Kommentarwerke zu EG/ EKG schweigen zur Bedeutung der „Erde Herren“ (vgl. HEG III/ 5, 23-24; ebs. vgl. HEKG III/ 1, 143-145) - die Konkordanz scheint in beschriebener Richtung zu denken, wenn sie diese unter „Menschen“ einordnet (vgl. HEG I, 224). 85 Hier geht die Konkordanz mit meiner Einschätzung konform, indem sie den Ausdruck unter „Tod, Hölle“ einordnet (vgl. HEG I, 319). 86 Im Kommentar wird daneben verwiesen auf Ps 2‚2: „Die Könige der Erde lehnen sich auf, / und die Herren halten Rat miteinander wider den HERRN und seinen Gesalbten“ (vgl. HEKG I/ 2, 42-43). 87 Vgl. HEKG I/ 2, 42-43. 88 „Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel“ (Eph 6‚12). Den Kommentaren scheint dieser Vers fremd zu sein (vgl. HEKG I/ 2, 42-44; ebs. vgl. HEG III/ 5, 22-27). <?page no="282"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 283 und Eph 6‚11 in den Texten nachweisen lassen. 89 Eine biblische Grundlegung zum Begriff Teufel ist kaum darstellbar, da die Belege hierzu Legion sind. Weitere im Weihnachtsfestkreis aufgenommene Vorstellungen scheinen vom Auferstehungskapitel des 1. Korintherbriefes auszugehen, in dessen Schlussversen die enge Beziehung von Sünde, Tod und Gesetz entfaltet wird (1Kor 15‚54-56); diese Gedanken werden am profiliertesten im Brief an die Hebräer aufgenommen und mit dem Mysterium der Inkarnation und dem bösen Feind ins Verhältnis gesetzt. „Weil nun die Kinder von Fleisch und Blut sind, hat auch er’s gleichermaßen angenommen, damit er durch seinen Tod die Macht nähme dem, der Gewalt über den Tod hatte, nämlich dem Teufel, und die erlöste, die durch Furcht vor dem Tod im ganzen Leben Knechte sein mussten“ (Hebr 2‚14.15). In Strophe 3 und 4 von Luthers „Vom Himmel kam der Engel Schar“ wird eigens auf diese Verse Bezug genommen: 90 „Des sollt ihr alle fröhlich sein, / daß Gott mit euch ist worden ein. / er ist geborn eu’r Fleisch und Blut, / eu’r Bruder ist das ewig Gut. / Was kann euch tun die Sünd und Tod? / Ihr habt mit euch den wahren Gott; / laßt zürnen Teufel und die Höll, / Gotts Sohn ist worden eu’r Gesell“ (EG 25/ 3.4). Impliziert ist die Verknüpfung von Inkarnation, Tod und Teufel allerdings wesentlich öfter auszumachen in den aufgelisteten Gesängen. 91 Die Begriffe Schlange (EKG 11; EG 39) und Drache (EG 6) als Bezeichnungen für den Teufel beruhen zuerst auf dem bekannten Wort aus Offb 12‚9‚ 92 welches beide Termini mit dem Teufel zusammenstellt, beim Motiv Schlange lagern sich allerdings weitere Vorstellungskomplexe an. Die betreffenden Passagen „Tritt der Schlange Kopf entzwei“ (EKG 11/ 6) und „bricht den Kopf der alten Schlangen“ (EG 39/ 5) kommen nämlich nicht allein auf die alte Schlange zu sprechen, sondern behandeln dieses Bild im Gegenüber zu Christus als dem Überwinder derselben, sprechen von Christus dem Schlangentreter, der im Protoevangelium (Gen 3‚15) präfiguriert und in Röm 16‚20 wieder aufgenommen wird. Eine ungewöhnliche Satansbenennung, die innerhalb des EG kein weiteres Mal zu erheben ist, besteht in der Verbindung „gewappneten Starken“ (EG 89 Z.B.: EG 39/ 4 („uns, die Satan hat betrogen“); EG 6. 90 Vgl. HEKG I/ 2, 53-54. 91 U.a.: EG 39/ 2 („Tod und Teufel mag sich schämen“); 60/ 2 („zu tilgen Teufel, Sünd und Tod“); 71/ 5 („dem Teufel, Sünd und Tod“); 25/ 4.5. 92 Offb 12‚9: „Und es wurde hinausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt: Teufel und Satan, der die ganze Welt verführt, und er wurde auf die Erde geworfen, und seine Engel wurden mit ihm dahin geworfen“. Für den Begriff des Drachen sind neben Offb 12‚9 weitere Verse in Offb 12 von Bedeutung (z.B.: Offb 12‚7). <?page no="283"?> 284 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken 66/ 3). 93 Das sonst eng mit Gott verbundene Attribut der Stärke wird hier, als m. E. einziges Beispiel für das EG, auf den Teufel angewandt. Allerdings steht dem Starken ein weiterer Akteur gegenüber: „Jesus ist kommen, der starke Erlöser, / bricht dem gewappneten Starken ins Haus, / sprenget des Feindes befestigte Schlösser, / führt die Gefangenen siegend heraus. / Fühlst du den Stärkeren, Satan, du Böser? / Jesus ist kommen, der starke Erlöser“ (EG 66/ 3). Dem Starken tritt der Stärkere entgegen, der das Reich des Teufels erobert und siegreich die Seinigen herausführt. Damit deutet sich an, was ebenso in anderen Liedern meiner Auflistung erkennbar ist - der Teufel wird im Text nicht um seiner selbst willen erwähnt und nicht solitär betrachtet, er hat eine Rolle im Kontext der Verkündigung des Gottessohnes und dessen Retterwerkes. 94 Als zentraler Textgegenstand lässt sich in allen Liedern meiner Übersicht der Sohn Gottes, der in den Liedern des Weihnachtsfestkreises als ins Fleisch Kommender und Gekommener gepriesen wird, herausstellen. Gott-Vater lässt sich zusätzlich zum Sohn in vier Gesängen in Nachbarschaft des Satans erheben. 95 Was oben als theologischer Rahmen dieser Kirchenjahreszeit umrissen wurde, bestätigt sich - das Weihnachtslied, nebst verwandter Rubriken, ist vollends Christus-Lied! 96 Die Menschwerdung Gottes vollzieht sich aber nicht grund- und ziellos, sondern um der Menschen willen, weshalb die aufgeführten Gesänge nicht nur ein Gegenüber von Christus und Satan darstellen, sondern zugleich von Menschen singen und handeln, womit ein dreiseitiges Beziehungsgeflecht entsteht. Diese Menschen - das ist für die Identifikation der jeweiligen Sänger entscheidend - werden meist nicht im Modus der Betrachtung (3. Person Singular/ Plural) verhandelt‚ 97 sondern die singenden Menschen selbst sind in das Beziehungsgefüge aus Teufel und Sohn eingewobene Handlungsträger (1. Person Singular/ Plural). Die Untersuchungsergebnisse lassen sich unter dem Aspekt des Numerus der involvierten Menschen noch konkretisieren - es 93 Betrachtet man das Vorkommen der Wörter stark/ stärker/ stärken/ Stärke im EG, zeigt sich, dass diese im Regelfall ein Attribut Gottes oder einzelner trinitarischer Personen darstellen, weitere Verbreitung zeigt Stärke daneben als Gabe an mit Gott verbundene Gläubige (vgl. HEG I, 421-422). 94 Vgl. Tab. 3 Sp. „Wichtige Textgegenstände“. 95 EG 12.25.60; EKG 39. 96 Vgl. Ehmann, Das alte und das neue Weihnachtslied, 225; ebs. vgl. Müller, Luthers Weihnachtslieder, 292. 97 Es gibt diesen Modus des Beschreibens zwar, aber nur in drei (EG 71.25.5) von analysierten 15 Gesängen, wobei ein Gesang neben der 3. Person zugleich einen Sänger in Ich-Form kennt (EG 71). <?page no="284"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 285 überwiegt ein Wir (7/ 15)‚ 98 das, von Christus begleitet, mit dem bösen Feind umzugehen versucht. Dem stehen nur zwei Belege gegenüber, in denen ein Ich neben Christus und dem Teufel installiert ist‚ 99 sowie vier Belege, in denen die menschlichen Akteuere zwischen Wir- und Ich-Form schwanken. 100 Die Lieder des Weihnachtsfestkreises gleichen in ihrer Personenkonstellation folglich der einstmaligen Weihnachtsgeschichte - die Menschwerdung Gottes wird nicht nur von einzelnen Eingeweihten erlebt, sondern es ist ein Erlebnis von und für viele (Hirten, Weise aus dem Morgenland, Engel etc.). Pragmatische Einsichten Wie beschrieben, finden sich bei den analysierten Liedern im Kontext des Teufels als zentrale Textgegenstände der Sohn Gottes, dessen Geburt am Christfest gedacht wird, v. a. aber Pronomen bzw. Wendungen, die in der 1. Person Singular/ Plural stehen, womit sich die Frage nach der simulierten Kommunikationssituation der Gesänge anschließt. 101 Betrachtet man zuerst die simulierten Sprecher, so sind diese in den meisten Fällen kenntlich gemacht und erweisen sich nach vorangegangenen Ausführungen als Gruppe (Wir) oder Einzelner (Ich) bzw. schwanken zwischen beiden Möglichkeiten; 102 ersteres stellt allerdings klar die Hauptkonstellation dar. Durchgängig als Gesang eines Einzelnen entworfen ist in meiner Übersicht einzig „Dies ist die Nacht, da mir erschienen“ (EG 40) des Coburger Pfarrers Kaspar Friedrich Nachtenhöfer (1624-1685); 103 im Verlauf der meisten anderen Lieder wird demgegenüber mindestens zwischenzeitlich erkennbar, dass sich eine Gruppe mitteilt. Das Weihnachtsfest und der umgebende Festkreis ist eine Feier der Gemeinschaft, der Kirche, des Leibes Christi - in Bezug auf die satanologische Fragestellung bedeutet das, dass die 98 EG 6.9.14.19.39.66; EKG 39. Exemplarisch lässt sich „Dein König kommt in niedern Hüllen“ anführen: „O laß dein Licht auf Erden siegen, / die Macht der Finsternis erliegen / und lösch der Zwietracht Glimmen aus, / daß wir, die Völker und die Thronen, / vereint als Brüder wieder wohnen / in deines großen Vaters Haus“ (EG 14/ 6). 99 EG 40.71. V.a. in „O König aller Ehren“ zeigt sich diese Dreierkonstellation: „Du [sc. Christus] wollst dich mein erbarmen, / in dein Reich nimm mich auf, / dein Güte schenk mir Armen / und segne meinen Lauf. / Mein’ Feinden wollst du wehren, / dem Teufel, Sünd und Tod, / daß sie mich nicht versehren; / rett mich aus aller Not“ (EG 71/ 5). 100 EG 12.33.38.60. 101 Vgl. Tab. 3 Sp. „Simulierte Kommunikationssituation“. 102 Die Sender in Luthers Weihnachtsgesang „Vom Himmel kam der Engel Schar“ (EG 25) bleiben im Hintergrund, Str. 1 steigt in erzählendem Ton ein, der zu keinem Zeitpunkt verlassen wird: „Vom Himmel kam der Engel Schar, / erschien den Hirten offenbar; / sie sagten ihn’: Ein Kindlein zart, / das liegt dort in der Krippen hart“ (EG 25/ 1). Anfangs unbestimmt, dann aber als Gruppe identifizierbar, ist der Sender in EG 14. 103 Vgl. HEG II, 221-222. <?page no="285"?> 286 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken Auseinandersetzung mit dem Feind keine Beschäftigung religiöser Individualisten, sondern Bemühung einer sich tragenden und glaubenden Gemeinschaft ist. Diese Formeln der 1. Person Singular/ Plural sind für die konkrete Rezeption der singenden Gemeinde von entscheidender Bedeutung, sie erlauben sich Sprechhandlungen anzueignen und die Klagen und Bitten gegen den Teufel und dessen Gefolge zu eigenen Gebeten werden zu lassen. Die Aneignung wird weiter durch die örtliche und zeitliche Offenheit der Gesänge befördert. Als klassisch für die meisten Lieder können Passagen wie „Nun jauchzet all ihr Frommen, / zu dieser Gnadenzeit“ (EG 9/ 1) und „Kein Zepter, keine Krone / sucht er auf dieser Welt; / im hohen Himmelsthrone / ist ihm ein Reich bestellt. / Er will hier seine Macht“ (EG 9/ 3) gelten. 104 Die lokalen und temporalen Verortungen der Liedtexte decken sich weitestgehend mit einer Bemerkung Hauschildts zu Luthers Weihnachtsliedern. „Luthers Weihnachtslied singt nicht im Präteritum, sondern im Präsens, grammatikalisch und heilsgeschichtlich. […] Das ‚jetzt‘, ‚heute‘ und ‚nun‘ meint im reformatorischen Lied nicht nur das Heute der Stunde von Bethlehem, sondern das Heute des Singens, des Zeugnisses und des Glaubens.“ 105 Die Lieder des verhandelten Weihnachtsfestkreises sind Lieder im Hier und Jetzt‚ 106 zugleich sind sie aber gesungene Horizontverschmelzung zwischen dem auf Erfüllung prophetischer Verheißungen harrenden Israel und der die 104 Ähnlich: „hier auf diese Erden“ (EG 5/ 1); „auch noch heute“ (EG 5/ 2); „freut euch nun“ (EG 6/ 1); „Dein Reich ist nicht von dieser Erden“ (EG 14/ 3); „o komme du auch jetzt aufs neue“ (EG 14/ 5); „und hast die Welt bezwungen; / hilf, daß ich deine Gütigkeit / stets preis in dieser Gnadenzeit“ (EG 33/ 3); „wollst uns auch dies angehend Jahr“ (EG 60/ 4); „auf daß dein Wort in diesem Land“ (EG 60/ 5). 105 Hauschildt, Das Christuszeugnis in Luthers Weihnachtslied, 122. Entgegen der richtigen Beobachtung Hauschildts fällt in meiner Übersicht gerade Luthers „Vom Himmel kam der Engel Schar“ aus der Regel, denn dieses Lied ist zu weiten Teilen in der Kommunikationssituation unbestimmt und erzählt im Vergangenheitstempus vom einmal geschehenen Inkarnationsereignis (vgl. Tab. 3 Sp. „Simulierte Kommunikationssituation“). In den vorangehenden Lutherliedern (EG 23.24) finden sich hingegen sehr wohl Tempusmarker wie „jetzt“ (EG 23/ 2) und „heut“ (EG 24/ 2), die das Christusgeschehen von Bethlehem in die Gegenwart ziehen. 106 „Den Weihnachtsliedern ist außerdem eine starke Betonung des ‚Heute‘ eigen, und es herrscht in ihnen die Freude vor, die sich gerne in Aufforderungen zum Danken, Loben und Singen kundtut.“ (Werthemann, Studien zu den Adventsliedern des 16. und 17. Jahrhunderts, 26). Ähnlich verhält es sich mit Adventstexten, die oft den Gedanken des Jüngsten Tages mitbewegen - dieser einstmalige Jüngste Tag ist zugleich Jetzt und Heute (vgl. Reich, „… leg auf dies Jetzt dein Nun und Ewig“, 88). <?page no="286"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 287 Erfüllung besingenden Engeln und Hirten in der Nacht zu Bethlehem mit der singenden Christenheit aller Zeiten und Orte. 107 Neben den simulierten Sprechern sind die Adressaten der sprachlichen Äußerungen zu betrachten. Oben wurde auf die Allgegenwart Christi auf Textebene gegenüber anderen Personen der Dreieinigkeit hingewiesen, folglich stellt sich im Weihnachtslied als Christuslied der Gottessohn als vornehmlicher Adressat dar. 108 Fast durchweg münden die Lieder des Festkreises in eine euchologische, an Christus gerichtete, Kommunikationssituation. 109 Ein Beispiel für diese gegen Ende an Christus gewendete Bewegung ist zur Jahreswende „Freut euch, ihr lieben Christen all“ (EG 60), dessen erste Strophe den Sender im Unklaren lässt und sich an „ihr lieben Christen all“ (EG 60/ 1) wendet. Diese Christen stellen eine Gruppe dar, der der unbekannte Sender angehört, wenn er in Strophe 2 singt: „zu helfen uns aus aller Not, / zu tilgen Teufel, Sünd und Tod“ (EG 60/ 2). Strophe 1 und 2 schwanken zwischen dem verkündenden Nacherzählen und der Aufforderung zum Lob; entsprechend kann die Kommunikation als gruppenbezogen/ paränetisch charakterisiert werden, in Strophe 3 wendet sich der Sender aber an „Du mein herzliebstes Jesulein“ (EG 60/ 3) und geht damit zum euchologischen Modus über. 110 Mit diesem Gesang ist eine zweite Adressaten- 107 Blankenburg weist zusätzlich auf die Horizontverschmelzung mit den jubelnden Scharen der himmlischen Herrlichkeit hin, die sich im Gesang mit der lobpreisenden Gemeinde verbinden (vgl. Blankenburg, Weihnachten und die musica sacra, 131-133). 108 Thomas und Ameln haben diese Beobachtung, wenngleich pathetischer, ebenfalls beschrieben: „Es ist uns an dem Beispiel des […] deutschen Weihnachtsliedes klargeworden, daß das echte Weihnachtslied ein Anbetungslied ist. Betende Menschen haben in ihnen innerlich aufgenommen, was ihnen aus dem Priestermund verkündigt wurde, haben es, indem sie ihre Stimmen und Lippen bewegten, in ihren Herzen bewegt - sie haben bei alledem vor Gottes Angesicht gehandelt, nicht gefragt nach Menschen oder nach Wirkungen, die sie auf Menschen mit ihrem Singen ausüben konnten“ (Thomas/ Ameln, Über das Weihnachtssingen, 255). 109 Grundsätzlich gilt, dass der euchologische Modus Normalfall in den analysierten Liedern des Weihnachtsfestkreises ist. Euchologische Liedschlüsse liegen in EG 5.6.12.14.33.38.39.40.60.71 vor (rund 2/ 3 des Gesamtbefundes). Vollends im euchologischen Modus, dazu allein an Christus gerichtet, sind zwei Gesänge gehalten (EKG 39; EG 38). Nürnberg hat in ihren Studien über Lieder zur Jahreswende - die, wie beschrieben, am wenigsten vom Weihnachtsfest beeinflusst sind - herausarbeiten können, dass diese ebenfalls meist als Gebete (euchologischer Modus) gestaltet sind, um das alte Jahr zu resümieren und Segen für das neue zu erbitten: „Am Anfang steht der gute Wunsch zum Neuen Jahr und die Besinnung auf christliche Tugenden. Dann nimmt es klassische Gebetsformen auf, wie die Bitte und Fürbitte bezogen auf die neu anbrechende Zeit.“ (Nürnberg, Der Jahreswechsel im Kirchenlied, 322; ebs. vgl. Nürnberg, Verheißungsvolle Synchronisation, 532). 110 Im Original ist EG 60 zwei Strophen länger, da Str. 3.4 der Urfassung entfallen sind. Diese sind für eine satanologische ebenso wie für eine pragmatische Fragestellung relevant, da diese dezidiert den Teufel erwähnen (vgl. Tab. 3 Sp. „Verhältnis EG/ EKG und Original“). <?page no="287"?> 288 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken richtung auch weiterer Gesänge angezeigt, nämlich die der eigenen Gruppe und jene einer gegenüberstehenden Gruppe. 111 Beide Richtungen lassen sich im Adventsgesang „Nun jauchzet, all ihr Frommen“ (EG 9) herausarbeiten, in Strophe 1 ergeht die Aufforderung „Nun jauchzet, all ihr Frommen, / zu dieser Gnadenzeit“ (EG 9/ 1), im folgenden Halbsatz zeigt sich, dass Sender dieses Appells die eigene Gruppe ist (EG 9/ 1: „weil unser Heil ist kommen, / der Herr der Herrlichkeit“) - eine paränetische Kommunikationssituation. Die paränetische Form ist im Übrigen für die meisten Passagen, die sich an die eigene Gruppe wenden, charakteristisch und oft eng verknüpft mit narrativen Momenten - das paränetische wie das narrative Element haben ihren Ausgangspunkt in der Jubelstimmung über die Inkarnation, welche weitergetragen werden soll. 112 In EG 9 folgen zwei Strophen, die überwiegend dem narrativen Modus zuzuordnen sind, in Strophe 4 und 5 treten dann weitere gegenüberliegende Akteure auf den Plan, welche direkt angesprochen werden (EG 9/ 4.5: „Ihr Mächtigen auf Erden, / nehmt diesen König an, / […] Ihr Armen und Elenden / zu dieser bösen Zeit“). Neben göttlichen und menschlichen Adressaten ist der Satan selbst Empfänger von Kommunikation, besonders ist die erwähnte Passage aus „Jesus ist kommen“ (EG 66) hervorzuheben (EG 66/ 3: „Fühlst du den Stärkeren, Satan, du Böser? “). Als imprekativ kann man die Formel nur bedingt bezeichnen, da kein Befehl an den bösen Feind ergeht, eher wird ein Bekenntnis zur Macht und Stärke Jesu mit drohendem Unterton vor dem Satan proklamiert. Listet man die Ergebnisse der untersuchten Gesänge des Festkreises auf, dann zeigen Man könnte in Originalstr. 4 („Sünd, Teufel, Tod, hin ist eur’ Macht“) eine direkte Anrede des Satans erkennen, ansonsten bleibt die simulierte Kommunikationssituation wie in den vorangegangenen Strophen. 111 An die eigene Gruppe gewandte Passagen z.B.: EG 6.9.33.39.60.66. An die gegenüberliegende Gruppe gewandte Passagen z.B.: EG 5.9.12.19.40. In EG 40 wird zusätzlich die eigene Seele angesprochen: „Laß dich erleuchten, meine Seele, / versäume nicht den Gnadenschein“ (EG 40/ 2). EG 66 fordert selbst die Schöpfung zum Christuslob: „Himmel und Erde, erzählet’s den Heiden: / Jesus ist kommen, Grund ewiger Freuden“ (EG 66/ 1). Die Frage der Zugehörigkeit zur Gruppe ist nicht immer klar entscheidbar, mancher Interpret wird zu anderen Ergebnissen kommen. 112 Beispielhaft ergeht in EG 66 eine aus Jubel gespeiste Aufforderung an die eigene Gruppe: „Jesus ist kommen, sagt’s aller Welt Enden. / Eilet, ach eilet zum Gnadenpanier! / Schwöret die Treue mit Herzen und Händen. / Sprechet: wir leben und sterben mit dir. / Amen, o Jesu, du wollst uns vollenden. / Jesus ist kommen, sagt’s aller Welt Enden“ (EG 66/ 9). Der narrative und verbundene paränetische Modus wurde u.a. bei Adventsliedern von Smets herausgestellt: „Die Rollenangebote, die die Lieder den Singenden vermitteln, sind vielfältig und häufig mehrdeutig; die Singenden sind oft Verkündigende und Adressat_innen zugleich. Sie kündigen das Kommen Jesu zum Gericht an und nehmen damit die Rolle von Predigerinnen und Lehrern ein.“ (Smets, Das Endgericht in der Endzeitrede Mt 24-25 und im Evangelischen Gesangbuch, 381). <?page no="288"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 289 sich sowohl deprekative (5x), beschreibende (8x) als auch verbundene (1x) 113 Formeln. 114 Bei der Betrachtung der Korrelationen mit Rubriken kann ein theologisch gewichtiger Punkt herausgearbeitet werden - in keinem Weihnachtslied wird eine deprekative Formel verwendet. Damit hat sich sprachlich der theologische Gehalt der Inkarnation ausgedrückt, nämlich die bereits erfolgte Entmachtung des Teufels - im Advent fleht die Gemeinde mit deprekativen Formeln nach Überwindung des Bösen; im Christfest ist die Überwindung Wirklichkeit geworden! 115 Vollzieht man daneben die häufigsten Sprecherhandlungen und -einstellungen in den aufgeführten Liedern nach, erhärtet und komplettiert sich dieses Bild. 116 Man kann konstatieren, dass durch alle Rubriken hindurch eine gewisse Homogenität vorhanden ist, welche sich v. a. darin äußert, dass die Texte von einer Einstellung des Glaubens, des Vertrauens und der Hoffnung geprägt sind. Die Wundertat der Menschwerdung stellt die singende Gemeinde in eine Situation glaubender Gewissheit, dass Gott sowohl über Teufel als auch Mächte die letzte Gewalt besitzt und behält. Die Adventslieder mit ihren deprekativen Formeln lassen oft zugleich Aspekte der Sorge erkennen, die dennoch in eine Perspektive von Hoffnung/ Wünschen auf das Eingreifen Gottes münden - 117 der Einstellung des Wunsches folgend finden sich dort Handlungen im Bereich des Bittens und Aufforderns. In fast allen Liedern finden sich daneben Handlungen aus dem Bereich des Berichtens oder in religiöser Form des Verkündens/ Bekennens, die im Regelfall mit Sprechereinstellungen des Glaubens/ Vertrauens verbunden sind. 118 Ein Beispiel, das als charakteristisch gelten kann, findet sich in dem erwähnten Gesang von Nachtenhöfer: 113 In „Ihr lieben Christen, freut euch nun“ wendet sich der Blick vom Klagen über den Satan zur Bitte um Befreiung von dessen Anfechtungen: „Der Teufel brächt uns gern zu Fall / und wollt uns gern verschlingen all; / er tracht’ nach Leib, Seel, Gut und Ehr, / Herr Christ, dem alten Drachen wehr“ (EG 6/ 4). 114 Vgl. Tab. 3 Sp. „Sonstige Bemerkungen“. 115 Dennoch folgen zwei der fünf Fundstellen für deprekative Formeln noch nach dem Christfest - EKG 39 ist der Jahreswende zugeordnet, EG 71 dem Epiphaniasfest. Die Kernbotschaft der Geburt Jesu bleibt aber auch in diesen Gesängen erkennbar: Sieg und Jubel. 116 Vgl. Tab. 3 Sp. „Sprechereinstellung“; „Sprecherhandlung“. 117 Einen solchen Übergang von Sorge zu Hoffnung zeigt z.B. EG 6. In Str. 4 wird von Satan berichtet und Jesu Hilfe erbeten, daran schließt sich in Str. 5 der Wunsch und die Hoffnung auf die baldige Wiederkunft Christi zum Gericht an. 118 Es wurde in der Forschung darauf hingewiesen, dass das Lied des 17. Jh. weniger verkündend erscheine als das des 16. Jh., sondern vielmehr eine individuelle Meditation des Christusereignisses vollziehe (vgl. HEKG III/ 1, 151; ebs. vgl. Hauschildt, Die Christusverkündigung in Luthers Weihnachtslied, 117-118). Wenngleich meditative Aspekte im Allgemeinen zunehmen, muss für meine Auswahl konstatiert werden, dass in der Kommunikationssituation kaum nennenswerte Individualisierungen korrelierend zu <?page no="289"?> 290 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken „Dies ist die Nacht, da mir erschienen / des großen Gottes Freundlichkeit; / das Kind, dem alle Engel dienen, / bringt Licht in meine Dunkelheit, / und dieses Welt- und Himmelslicht / weicht hunderttausend Sonnen nicht“ (EG 40/ 1). Eine häufig beobachtete Einstellung, insbesondere in Weihnachtsliedern, ist die aus dem Jubel geborene Freude‚ 119 welche Christa Müller als das eigentliche Charakteristikum der Lieder bezeichnet. „Und diese Freude, die sich niemand nehmen kann, sie werde ihm denn gegeben, und zu der dennoch jeder aufgefordert ist und wird, diese Freude, die eine Gabe und ein Befehl Gottes zugleich ist, klingt auch durch die Lieder […]. Wenn die Weihnachtsbotschaft das nicht bei mir ausrichtet, daß ich ein Dennoch-gutes-Gewissen, einen Dennoch-Mut, eine Dennoch-Freude habe, dann ist Christi Geburt auch nicht mein geworden.“ 120 Mit der Freude gehen Sprecherhandlungen aus dem Bereich des Lobens/ Preisens und Verehrens einher. 121 Die Freude und das gläubige Vertrauen führen v. a. in Weihnachtsliedern zu einer weiteren prominenten Sprecherhandlung, nämlich dem Ermutigen/ Zusagen - 122 dort wo der Sieg über Sünde, Tod und Teufel errungen wurde, ist bei den simulierten Sprechern eine so gereifte Gewissheit entstanden, dass man die Botschaft des Christfestes auch anderen vorträgt. So sagt sich das „Volk der Christenheit“ (EG 49/ 1) in Gerhardts „Kommt und laßt uns Christus ehren“ gegenseitig zu: „Sehet, was hat Gott gegeben: / seinen Sohn zum ewgen Leben. / Dieser kann und will uns heben / aus dem Leid ins Himmels Freud. / Seine Seel ist uns gewogen, / Lieb Kirchenliedepochen erkennbar sind, ebensowenig ist ein Abnehmen verkündigender Gehalte durch die Jahrhunderte in den untersuchten Liedern festzustellen. 119 Z.B.: EG 5.9.12.14.19.33.39. Vgl. Hauschildt, Die Christusverkündigung in Luthers Weihnachtslied, 125. 120 Müller, Luthers Weihnachtslieder, 303-304. 121 Vgl. Werthemann, Studien zu den Adventsliedern des 16. und 17. Jahrhunderts, 26-27. Z.B.: EG 6.33.19. Ein weiteres Beispiel dieses freudigen Verehrungsmodus liegt in EG 12 vor: „Sei willkommen, o mein Heil! / Dir Hosianna, o mein Teil! / Richte du auch eine Bahn / dir in meinem Herzen an“ (EG 12/ 4). Freude als charakteristisches Merkmal weihnachtlicher Dichtung benennt auch Rößler, wobei er dies geradezu als kritisches Moment wahrnimmt: „Die Größe und das Geheimnis des Wunders Gottes können nur verkündigt, geglaubt und angebetet werden. […] In gleicher Weise rufen viele Lieder, in Form der Selbstermunterung oder des zu Gott gewandten Gebets, zu Lob und Dank auf, und sie artikulieren die vielfältigen Reaktionen der Freude. Doch die Gefahr ist deutlich, und besonders die Lieder sind ihr oft erlegen: sie malen auf Goldgrund. Sie singen aus dem Gegenwärtigen in ein Zukünftiges, vom Kreuz in die Glorie.“ (Rößler, Da Christus geboren war…, 29). 122 Z.B.: EG 5.9.33.39.40.66. <?page no="290"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 291 und Gunst hat ihn gezogen, / uns, die Satan hat betrogen, / zu besuchen aus der Höh“ (EG 39/ 3.4). Selbiger Gesang wagt mit tiefem Gottvertrauen in einer m. E. durchaus als Spott benennbaren Handlung das dämonische Geflecht zu verlachen: „Sünd und Hölle mag sich grämen, / Tod und Teufel mag sich schämen; / wir, die unser Heil annehmen, / werfen allen Kummer hin“ (EG 39/ 2). Damit geht unter pragmatischen Gesichtspunkten der Rubrikenkomplex konform mit der von Licht und Freude der Inkarnation gezeichneten theologischen Linie dieser Kirchenjahreszeit - das Christfest ist ein Fest in Erinnerung an ein geschehenes Ereignis, welches allerdings im Fest immer neu vergegenwärtigt wird und in dessen Gesängen die Gemeinde zu den preisenden Hirten im Stall von Bethlehem hinzutritt und mit denen die Schädelstätte und das leere Grab schon ihre Schatten vorauswerfen. Wesen und Werk Die bisher verhandelten Einzelaspekte bedürfen einer Bündelung unter der Perspektive von Wesen und Werk des Satans in der das Christfest umgebenden Kirchenjahreszeit. Grundsätzlich lässt sich wie in anderen Kapiteln dieser Arbeit herausstellen, dass sich in den Texten eine Art Triumvirat/ Quadriumvirat, bzw. ein dämonisches Netz aus Sünde, Tod und Teufel, nebst Hölle und diversen Erweiterungen, erkennen lässt, welches über der Welt und den darauf befindlichen Menschen liegt. Dort, wo in Weihnachts- und Adventsliedern einer dieser Begriffe des Bösen (Sünde, Tod, Teufel, Hölle) erscheint, ist einer der anderen meist nicht fern. 123 Paradigmatisch steht für diese Verbindung der Formeln die Dichtung von Johann Olearius: „Du wirst klein, du großer Gott, / und machst Höll und Tod zu Spott. / Aller Welt wird offenbar, / ja auch deiner Feinde Schar, / daß du, Gott, bist wunderbar. […] Gott, mein Gott, verlaß mich nicht, / wenn mich Not und Tod anficht“ (EG 38/ 2.3). 124 123 „Daneben ist die Trias Sünde, Tod und Teufel in der Liedverkündigung [sc. im Weihnachtslied] sehr beliebt und mannigfache andere Verbindungen: Sünde und Tod, Tod und Teufel, Tod und Hölle, Not und Tod, Sünde und Schande, Tod und Elend, Fluch, Jammer und Tod, Hölle, Sünde und Kreuz. Alle diese Aussagen betonen, wie der Fleischgewordene die Herrschaft der Mächte zerbricht, uns zum Heil. Verhältnismäßig selten wird das Gesetz den Mächten beigestellt durch die Liedverkündigung.“ (Hauschildt, Die Christusverkündigung im Weihnachtslied unserer Kirche, 211). 124 Ähnliche Verbindung: „Mein’ Feinden wollst du wehren, / dem Teufel, Sünd und Tod, / daß sie mich nicht versehren“ (EG 71/ 5); „zu helfen uns aus aller Not, / zu tilgen Teufel, Sünd und Tod“ (EG 60/ 2). <?page no="291"?> 292 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken Das innere Verhältnis der Begrifflichkeiten zueinander ist näher zu bestimmen, was m. E. erst durch die mit den Begriffen verbundenen Tätigkeiten bzw. weitere Informationen möglich wird. Offenbar verfügt der Teufel über ein verstärktes Interesse an der Seele des Menschen und ist bestrebt, sich diese einzuverleiben; dieses Einverleiben greift aber weit über die Seele des Menschen hinaus auf seine gesamte Existenz und wird bildhaft durchaus als nahrungsartiges Verschlingen beschrieben: „Der Teufel brächt uns gern zu Fall / und wollt uns gern verschlingen all; / er tracht’ nach Leib, Seel, Gut und Ehr“ (EG 6/ 4). 125 Der theologisch geprägte Begriff für dieses Wirken ist Anfechtung, welche Luther eigens in EG 25 benennt: „Er will und kann euch lassen nicht, / setzt ihr auf ihn eu’r Zuversicht; / es mögen euch viel fechten an: / dem sei Trotz, der’s nicht lassen kann“ (EG 25/ 5). 126 Die Anfechtung Satans, sein Versuch, die Seele des Menschen in seinen Einflussbereich zu ziehen, wird v. a. durch das ureigenste Proprium des Teufels, nämlich List und Trug, seit der Paradieserzählung (Gen 3) voran getrieben (EG 39/ 4: „Lieb und Gunst hat ihn gezogen, / uns, die Satan hat betrogen, / zu besuchen aus der Höh“). 127 Das Betrügen geht einher mit der grundsätzlichen Ausrichtung contra deum in Form von Hindern des Evangeliums und Wortes‚ 128 sowie dem unablässigen Lästern Gottes. 129 Hindern des Gotteswortes stellt in 125 Der Gedanke des Verschlingens ist im Folgevers mit dem „alten Drachen“ (EG 6/ 4) weitergeführt, womit die Assoziation eines gefräßigen Ungeheuers genährt wird. Das Einverleiben bedeutet den Übergang der Seele in den Machtbereich des Bösen, aus dem Christus sie durch seinen Sieg herausführt: „da wird er vom Bösen / ihre Seel erlösen / und sie mit sich führen / zu der Engel Chören“ (EG 5/ 6); „Du bist arm und machst zugleich / uns an Leib und Seele reich“ (EG 38/ 2). In „Jesus ist kommen“ wird die Macht des Bösen mit Bindung und Gefangenschaft verknüpft: „Jesus ist kommen, nun springen die Bande, / Stricke des Todes, die reißen entzwei. / […] er, der Sohn Gottes, der machet recht frei, / bringet zu Ehren aus Sünde und Schande; / […] der starke Erlöser, / bricht dem gewappneten Starken ins Haus, / sprenget des Feindes befestigte Schlösser, / führt die Gefangenen siegend heraus“ (EG 66/ 2.3). Diese Seele scheint im Machtbereich des Bösen von Dunkelheit umgeben (EG 40/ 2). 126 Ähnlich: EG 6/ 4; 71/ 5; Originalstr. 18 EG 66; 38/ 3 („Gott, mein Gott, verlaß mich nicht, / wenn mich Not und Tod anficht“). 127 Z.B.: Originalstr. 3 EG 6 („sein Heucheley und argelist“); Originalstr. 7 EG 12 („Und des Satans schlaue List“). 128 Die Hinderung des Gotteswortes gestaltet sich so massiv, dass die Ausbreitung des Wortes hymnisch erbeten werden muss: „auf daß dein Wort in diesem Land / zunehm und wachs ohn Widerstand, / auch Friede, Treu, Gerechtigkeit / befördert werd zu aller Zeit“ (EG 60/ 5). 129 „Verrhaten ist der Widder Christ / sein Heucheley und argelist […] Der alle welt ermordet hat / und kan nicht liegens werden sat / Den nim sampt seiner lester schul / und wirdd sie in den feurign pful […] Er ists, der deinen Namen schendt / und der die arme leut verblent […] Was du befiehlst, das lestert er / und tobt dawider grewlich ser […] Der Satan lest nicht ab zu wehrn / das sich so wenig leut bekern / Er wendt die leute von deinem wort / und richtet an hass, neidt und mordt“ (Originalstr. 3-12 EG 6). <?page no="292"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 293 diesem Rubrikenkomplex das Werk von Teufel und dessen Schergen schlechthin dar und geschieht auf vielerlei Arten und durch diverse Akteure. „Es gibt vieles, das uns anficht. Da ist nicht nur unsere eigene Taubheit und Vergeßlichkeit gegenüber Gottes Wort, da ist nicht nur unsere Sünde mit ihrem Gefolge von Tod und Höllenmächten, nicht nur Welt und Teufel, die uns von Gottes Wort trennen wollen: da sind auch andere Menschen, Menschen mitten in der christlichen Kirche, die uns Gottes Wort rauben wollen, indem sie es mit geistlicher Gewalt verfälschen oder fälschlich verwalten wollen.“ 130 In Rückerts „Dein König kommt in niedern Hüllen“ heißt es: „Es wollen dir der Erden Herren / den Weg zu deinem Throne sperren“ (EG 14/ 2). Die Anfechtung Satans hat in der Welt, die in den Liedern konstruiert wird, aus Perspektive des Teufels immer wieder Erfolg - der Mensch wird angefochten (EG 25/ 5) und besteht in jener Anfechtung nicht, sondern verstrickt sich als semper peccator in Sünde und erleidet den persönlichen Sündenfall (EG 6/ 4). Folgt man der biblischen Spur, führt die Sünde in den Tod (Röm 6‚23); die Seele des Menschen, wenngleich nicht sichtbar, gerät in eine Gefangenschafts- und Knechtschaftssituation gegenüber dem Teufel - entsprechend singt die Gemeinde in „O komm, o komm, du Morgenstern“: „Von Schuld und Knechtschaft mach uns frei / und von des Bösen Tyrannei“ (EG 19/ 2). 131 Die Knechtschaft ist für die Textwelten keine Kleinigkeit, sondern eine ernstzunehmende Bedrohungsmacht. 132 Sucht man nach einer Örtlichkeit für die geknechtete und eingekerkerte Seele, geht, einer weiteren biblischen Spur folgend, der Blick zur Hölle. Sie ist Wohnort und Heimstadt Satans und seiner dämonischen Gesellen und zugleich Gefängnis der in Tod gesunkenen und der Befreiung harrenden Seelen, welche Christus vom Dunkel zum Licht herausführen wird. 133 „Sünd und Hölle mag sich grämen, / Tod und Teufel mag sich schämen; / wir, die unser Heil annehmen, / werfen allen Kummer hin. / Sehet, was hat Gott gegeben: / 130 Müller, Luthers Weihnachtslieder, 299. 131 Thematisierungen von Befreiung/ Freiheit z.B.: „daß er uns von Sünde / freie und entbinde“ (EG 5/ 1); „der Glanz in dieser kleinen Höhle / streckt sich in alle Welt hinein; / er treibet weg der Höllen Macht, / der Sünden und des Kreuzes Nacht“ (EG 40/ 2); „bricht den Kopf der alten Schlangen / und zerstört der Höllen Reich“ (EG 39/ 5); „zu helfen uns aus aller Not, / zu tilgen Teufel, Sünd und Tod“ (EG 60/ 2); „Unser Durchbrecher ist nunmehr vorhanden; / er, der Sohn Gottes, der machet recht frei, / bringet zu Ehren aus Sünde und Schande; / Jesus ist kommen, nun springen die Bande“ (EG 66/ 2); EG 5/ 1.6; 14/ 6; 39/ 3. 132 EG 9 besingt eigens die Bedeutung der Inkarnation, um die Macht des Teufels zu brechen: „Nun jauchzet, all ihr Frommen, / in dieser Gnadenzeit, / weil unser Heil ist kommen, / der Herr der Herrlichkeit, / zwar ohne stolze Pracht, / doch mächtig, zu verheeren / und gänzlich zu zerstören / des Teufels Reich und Macht“ (EG 9/ 1). 133 EG 25/ 4; 38/ 2 („und machst Höll und Tod zu Spott“). <?page no="293"?> 294 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken seinen Sohn zum ewgen Leben. / Dieser kann und will uns heben / aus dem Leid ins Himmels Freud“ (EG 39/ 2.3). Die Hölle wird pars pro toto für weitere Begrifflichkeiten des dämonischen Geflechtes als Reich betitelt. 134 Daneben ist die Hölle häufig als Ort der Dunkelheit beschrieben und deshalb die Befreiung von ihr mit Bildern aus dem Komplex Licht/ Schatten dargestellt. Exemplarisch beschreibt diese Befreiung „Dies ist die Nacht, da mir erschienen“, wo jede der Strophen reich mit semantischem Material von Licht und Schatten angefüllt ist: „Dies ist die Nacht, da mir erschienen / des großen Gottes Freundlichkeit; / das Kind, dem alle Engel dienen, / bringt Licht in meine Dunkelheit, / […] Laß dich erleuchten, meine Seele, / versäume nicht den Gnadenschein; / der Glanz in dieser kleinen Höhle / streckt sich in alle Welt hinein; / er treibet weg der Höllen Macht, / der Sünden und des Kreuzes Nacht“ (EG 40/ 1.2). 135 Sünde, Tod und Teufel stehen in so untrennbarer Verbindung, dass die Begriffe auf der Textebene häufig miteinander verschwimmen‚ 136 denn nicht nur der Teufel ist handelndes Aktzentrum, sondern sowohl Hölle, Sünde, als auch Tod können als personale Wesenheiten interpretiert werden. 137 Das „höllische Viergestirn“ ist damit aber nicht erschöpfend dargestellt, denn, wie bei Luther der Teufel als Larvenspieler Fäden in der Welt zieht (s. Kap. 6.), lässt sich auch im Weihnachtsfestkreis eine enge Verbindung zu irdischen und menschlichen Akteuren erkennen; bis dahin, dass bei Synonymen für den Satan 134 EG 39/ 5: „Jakobs Stern ist aufgegangen, / stillt das sehnliche Verlangen, / bricht den Kopf der alten Schlangen / und zerstört der Höllen Reich“. Diese Hölle besitzt große Macht (EG 40/ 2). Dies korrespondiert ebenfalls mit dem Reich des Teufels (EG 9/ 1). 135 Ähnliche Bildbereiche: „Macht der Finsternis“ (EG 14/ 6); „O komm, o komm, du Morgenstern, / laß uns dich schauen, unsern Herrn. / Vertreib das Dunkel unsrer Nacht / durch deines klaren Lichtes Pracht“ (EG 19/ 1); EG 33/ 1; 39/ 5; 71/ 2.4.6. 136 Diffizil bestimmt Hauschildt das Verhältnis der einzelnen Elemente des Bösen: „Wo der Widersacher herrscht, da ist die Hölle. Eben die Herrschaft der Mächte Sünde, Tod und Teufel ist die Hölle, die Gottferne und Gottfremde. Das Christkind bringt die Gemeinschaft mit Gott, und neben ihr hat die Hölle keinen Platz mehr. Er macht die Hölle leer […]. Durch die Verbindung von Sünde, Tod und Teufel legt sich in der älteren Liedverkündigung als 4. die Hölle nahe“ (Hauschildt, Die Christusverkündigung im Weihnachtslied unserer Kirche, 211). 137 Z.B.: EG 25/ 4; 66/ 2; 71/ 5. Neben Handlungen, die von Tod und Hölle ausgehen, kann jenen auch gespottet werden (EG 38/ 2: „Du wirst klein, du großer Gott, / und machst Höll und Tod zu Spott. / Aller Welt wird offenbar, / ja auch deiner Feinde Schar, / daß du, Gott, bist wunderbar“). Darüber hinaus können jene Elemente des Quadriumvirates Emotionen empfinden (EG 39/ 2: „Sünd und Hölle mag sich grämen, / Tod und Teufel mag sich schämen“). Wird eines der Elemente beschädigt, scheinen die anderen Elemente unmittelbar mit beschädigt (EG 60/ 2). <?page no="294"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 295 nicht immer klärbar ist, ob von transzendenten oder innerweltlichen Mächten und Personen die Rede ist - 138 erinnert sei an die interpretationsbedürftigen „Erden Herren“ (EG 14/ 2). 139 Alle immanenten wie transzendenten dämonischen Gesellschafter unter Führung des Satans arbeiten Christus entgegen, mit dessen Erscheinen aber, seiner Geburt, erleiden sie ihre Niederlage. „Die Welt und die in ihr wirksamen Mächte der Sünde, des Todes und der Hölle haben durch Christi Geburt einen ‚Stoß‘, d. h. einen Todesstoß erhalten. Noch ist die Welt aber nicht vernichtet, noch leben Menschen in ihr, noch übt sie auch ihre Mächtigkeit aus über die Menschen. Noch ist das Reich Christi für uns nicht anders da als verborgen mitten im Reich der Welt.“ 140 In allen untersuchten Texten des Weihnachtsfestkreises wird der Teufel nicht als Darsteller um seiner selbst Willen eingeführt, sondern begegnet dem Sohn Gottes, der ihn durch das Skandalon der Inkarnation ultimativ in die Schranken weist; der Begriff des Kampfes/ Krieges ist hier angemessen‚ 141 immer aber unter Perspektive des vorausgesetzten Sieges. 142 Wo vorher der Tod/ Teufel ein Verschlingender war, ist er nun in Christus verschlungen worden: „Jesus ist kommen, der Fürste des Lebens, / sein Tod verschlinget den ewigen Tod. / […] Jesus ist kommen, die Ursach zum Leben, / Hochgelobt sei der erbarmende Gott, / der uns den Ursprung des Segens gegeben; / dieser verschlinget Fluch, Jammer und Tod“ (EG 66/ 4.8). 143 138 Vgl. Tab. 3 Sp. „Koreferenzkette Teufel“. 139 Interpretationsbedürftige Akteure in Verbindung mit dem Bösen stehen Christus und den Gläubigen vielfach gegenüber, z.B.: EG 5/ 8; 14/ 3; 25/ 5; 38/ 2; 71/ 5. 140 Müller, Luthers Weihnachtslieder, 297. 141 Krieg scheint ein Grundthema in Kirchenliedern zu sein - Ziaja bündelt seine Beobachtungen v. a. zu Osterliedern unter der Perspektive der kognitiven Metapherntheorie: „Das KRIEGS-Schema ist eines der ausschlaggebenden Schemata in der kognitiven Metapherntheorie. Seine Grundstruktur beinhaltet eine antagonistische Aktivität mindestens zweier Parteien. Die jeweiligen Parteien haben Territorien, Anführer und Krieger. Die Territorien können angegriffen oder verteidigt werden. Kriegsteilnehmer können getötet oder gefangen genommen werden. Sie können auch ihre Parteien verraten. Ziel des Krieges ist allgemein der Sieg. Es gibt also einen Gewinner und einen Verlierer.“ (Ziaja, GLAUBE IST KRIEG, 137-138). Für menschliche Kriegsteilnehmer gilt aber: „Der Mensch greift das Böse und sein Territorium nicht an, er nimmt es nicht gefangen, er verteidigt sich nur.“ (Ziaja, GLAUBE IST KRIEG, 143). Dieses Ergebnis muss hier um die Möglichkeit erweitert werden, mit der Waffe des Wortes in den Krieg einzutreten. 142 Die Kriegs- und Siegessemantik zeigt sich u.a. in „Dein König kommt in niedern Hüllen“: „O mächt’ger Herrscher ohne Heere, / gewalt’ger Kämpfer ohne Speere, / o Friedefürst von großer Macht! / Es wollen dir der Erde Herren / den Weg zu deinem Throne sperren, / doch du gewinnst ihn ohne Schlacht“ (EG 14/ 2). 143 Christus hat daneben die Macht, Sünde und Tod in Fesseln zu legen (EG 14/ 4: „Du kommst, daß auf empörter Erde / der neue Bund gestiftet werde, / und schlägst in Fessel <?page no="295"?> 296 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken Darin wird das Wort aus Gen 3‚15 erfüllt, das Christus als Schlangentreter voraussieht‚ 144 der den Teufel unter seine Füße tritt (EG 39/ 5: „Jakobs Stern ist aufgegangen, / stillt das sehnliche Verlangen, / bricht den Kopf der alten Schlangen“) - 145 zugleich tritt er damit den Teufel unter die Füße der Gläubigen (Röm 16‚20). 146 In Verbindung mit dem Sohn Gottes partizipieren die Gläubigen an dessen Sieges- und Rettungstat über den bösen Feind - Christus ist für die Kirche der „recht Nothelfer“ (EG 60/ 3) und tritt für sie ein: „Du bist arm und machst zugleich / uns an Leib und Seele reich. / Du wirst klein, du großer Gott, / und machst Höll und Tod zu Spott. / […] Laß mir deine Güt und Treu / täglich werden immer neu. / Gott, mein Gott, verlaß mich nicht, / wenn mich Not und Tod anficht“ (EG 38/ 2.3). 147 Neben dem direkten Eintreten Christi für die Gemeinde ist den Gläubigen auch im Wort der Schrift eine Waffe wider die Mächte der Finsternis gegeben - nicht nur als Verteidigungswaffe. Das Wort ist bereits in der geistlichen Waffenrüstung (Eph 6‚17) unter den verschiedenen Kriegsinstrumenten als einzige Angriffswaffe gegen die Feinde beschrieben und wird in EG 14 entfaltet: „Dein Reich ist nicht von dieser Erden, / doch aller Erde Reiche werden / dem, das du gründest, untertan. / Bewaffnet mit des Glaubens Worten / zieht deine Schar nach allen Orten / der Welt hinaus und macht dir Bahn“ (EG 14/ 3). 148 Sünd und Tod“) und ihnen zu spotten (EG 38/ 2). 144 Vgl. Hauschildt, Die Christusverkündigung im Weihnachtslied unserer Kirche, 211. 145 EKG 11/ 6: „Tritt der Schlange Kopf entzwei“. Die Macht Christi, als des schwachen Knäbeleins, reicht so weit, dass selbst der Begriff des Zwanges verwendet wird: „daß dieses schwache Knäbelein / soll unser Trost und Freude sein, / dazu den Satan zwingen / und letztlich Frieden bringen. / […] Dank, Herr Jesu Christ, / sei dir von mir gesungen, / daß du mein Bruder worden bist / und hast die Welt bezwungen“ (EG 33/ 1.3). 146 „Der Menschgewordene tritt der Sünde und dem Tode, dem Teufel und der Hölle entgegen und besiegt sie. Wir haben Anteil an seinem Sieg. Wir haben den Stärkeren auf unserer Seite. Sünde, Tod, Teufel und Hölle sind nicht religiöse Vokabeln, sondern erlebte Realitäten, von deren spürbaren Macht Christus befreit.“ (Hauschildt, Das Christuszeugnis in Luthers Weihnachtslied, 122-123). 147 Ähnliche Konstellationen der Partizipation: „dein Güt allzeit regieret / und dein Gerechtigkeit. / Du wollst die Frommen schützen / durch dein Macht und Gewalt, / daß sie im Frieden sitzen […] Mein’ Feinden wollst du wehren, / dem Teufel, Sünd und Tod, / daß sie mich nicht versehren; / rett mich aus aller Not“ (EG 71/ 4.5); EG 66. 148 Ähnlich zur Wirkmacht des Wortes: „Du wollst in mir entzünden / dein Wort, den schönen Stern, / daß falsche Lehr und Sünden / sein meinem Herzen fern. / Hilf, daß ich dich erkenne / und mit der Christenheit / dich meinen König nenne / jetzt und in Ewigkeit“ (EG 71/ 6); „Er kommt auch noch heute / und lehret die Leute, / wie sie sich […] wenden, / von Irrtum und Torheit / treten zu der Wahrheit“ (EG 5/ 2). <?page no="296"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 297 Die Menschwerdung Christi und sein machtvolles Eintreten für die Gläubigen führen zu heftigen Affekten auf Seiten Satans und dessen Reiches, welches ob Unfähigkeit gegenüber dem Stärkeren nicht bestehen kann - Christus lehrt den Teufel und sein Gefolge das Fürchten, das dämonische Triumvirat muss die Gottheit Christi anerkennen. 149 Daneben wird der Satan angesichts der Übermacht Christi zum zornig tobenden Wesen: „Was kann euch tun die Sünd und Tod? / Ihr habt mit euch den wahren Gott; / laßt zürnen Teufel und die Höll, / Gotts Sohn ist worden eu’r Gesell. / […] dem sei Trotz, der’s nicht lassen kann“ (EG 25/ 4.5). 150 Insgesamt lässt sich zum Weihnachtsfestkreis festhalten, dass die Inkarnation und die damit verbundenen Lieder eine Siegesgeschichte über Sünde, Tod und Teufel erzählen, die letztgültig entschieden ist. „Diese Welt mit ihrem Fürsten hat durch die Geburt des Herrn Christus die Macht verloren an den neugeborenen König der Niedrigkeit und sein Reich.“ 151 Detailbetrachtung - „Ihr lieben Christen, freut euch nun“ Einer der eindrücklichsten Gesänge im vorab betrachteten Gesangbuchabschnitt (EG 1-74) ist mit „Ihr lieben Christen, freut euch nun“ (EG 6) gegeben. 152 Fast alle oben angesprochenen Themen und Facetten vom Wesen und Werk des Teufels finden sich darin wieder - nicht in der fünfstrophigen Fassung aus EG/ EKG, wohl aber in der ursprünglichen 18-strophigen Form, die über ganze Strophen hinweg vom bzw. wider Satan singt. 153 Das Lied entstammt der Re- 149 „Du wirst klein, du großer Gott, / und machst Höll und Tod zu Spott. / Aller Welt wird offenbar, / ja auch deiner Feinde Schar, / daß du, Gott, bist wunderbar“ (EG 38/ 2) - die enge Verbindung zu Jak 2‚19 ist unverkennbar. Noch deutlicher: „Feindesmacht vor ihm erzittert und bebet“ (Originalstr. 7 EG 66). 150 Ähnlich Originalstr. 4 EG 66: „Sünd Teufel, Tod, hin ist eur Macht / umsonst ist wüt, umsonst anklagt“. 151 Hauschildt, Die Christusverkündigung im Weihnachtslied unserer Kirche, 209. 152 EKG 3 ist in EG 6 ohne Strophenausfall oder nennenswerte Eingriffe übernommen worden (vgl. Frahm, Synopse zum Evangelischen Gesangbuch, 47; ebs. vgl. Tab. 3 Sp. „Veränderungen von EKG zu EG“). Eine Übersicht zu Literatur über EG 6 bis 2006 bietet Thust (vgl. Thust, Bibliographie über die Lieder des Evangelischen Gesangbuchs, 17-18). Auf Fragen zur musikalischen Gestalt gehe ich hier nicht ein, wenngleich die Geschichte der Melodien zum Text einer Betrachtung würdig wäre (vgl. Bill, Erasmus Alber, 35-37). 153 Ins EG sind sind die Originalstrophen 1.2.4.13.18 in modernisierter Schreibweise übernommen (vgl. HEG III/ 4, 3) - im Folgenden beziehe ich mich auf die EG-Fassung oder auf die Edition von Wackernagel (vgl. W III/ 1032). <?page no="297"?> 298 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken formationsepoche und ist erstmals 1546 154 nachweisbar als ein von Erasmus Alber‚ 155 einem Vertrauten und Schüler Luthers, verfasster Gesang. 156 1546 war für die reformatorische Bewegung ein überaus wechselvolles und den dauerhaften Bestand der neuen Lehre in Frage stellendes Jahr, entsprechend ist die Datumsangabe 24. Oktober 1546 wohl mehr als Initialdatum zur Dichtung aufzufassen, denn als Druckdatum. „Nicht der Zeitpunkt, sondern der Anlaß, aus dem es erschienen ist, ist hier offenbar gemeint, und dieser kann - sonst wäre er auf dem Titel ausdrücklich genannt - nur in einem außergewöhnlichen Ereignis zu suchen sein, das damals in aller Munde war und dessen Erinnerung für jedermann mit dem Datum des 24. Oktober unauflöslich verbunden war. Welcher Art dieses Ereignis war, wissen wir nicht, aber es ist zu vermuten, daß es eine ungewöhnliche Himmelserscheinung war, die in diesem dunklen Jahr die Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Weltendes hervorrief. Es war ja das Todesjahr Luthers, der Schmalkaldische Krieg war ausgebrochen, die Sache des Evangeliums war aufs äußerste bedroht.“ 157 Im Original ist der Gesang überschrieben mit „Ein Lied von der Zukunft des Herrn Christi: am Jüngsten Tag“ 158 . Dass mit der Zukunft im Sprachgebrauch der Reformationszeit etwas anderes gemeint ist, als das in der Gegenwart formulierte Bild von nachzeitigen Ereignissen, wurde oben dargelegt - Advent/ Zukunft ist in der Vergangenheit als dreifaches Zukommen/ Herkommen des Christus verstanden worden. „Ihr lieben Christen, freut euch nun“ betont v. a. 154 Der Gesang ist erstmals als Einzeldruck belegt und mit der Unterschrift „24. Octobris Wittenbergae“ (W III/ 1032) versehen. Das konkrete Datum hat die Forschung zu Spekulationen angeregt - am wahrscheinlichsten scheint eine Himmelserscheinung an diesem Tage (vgl. Thust, Die Lieder des Evangelischen Gesangbuchs. Bd. I, 17). 155 Erasmus Alber (1500-1553) hat an vielen Orten Spuren hinterlassen, ausgebildet in Wittenberg bei Karlstadt und Luther, konnte er im weiteren wechselvollen Lebenslauf an kaum einem Ort längerfristig wirken, da dessen geachteter wie gefürchteter Bekennermut gegenüber dem unverfälschten Luthertum nicht überall auf Gegenliebe stieß (vgl. Engelsberger, Bilder vom Kommen Gottes, 31-32; ebs. vgl. Thust, Die Lieder des Evangelischen Gesangbuchs. Bd. I, 16-17). Alber hinterließ etwa 40 Kirchengesänge, die meist erst als Einzeldrucke herauskamen, dann aber alsbald in Liedersammlungen der Reformation aufgenommen wurden (vgl. Stalmann, Alber, Erasmus, 19-20; ebs. vgl. Kulp, Die Lieder unserer Kirche, 16-17). 156 Vgl. HEG III/ 4, 3-8. 157 HEKG I/ 2, 29-30. Auf die Bedeutung des Schicksalsjahres 1546 als Hintergrund wird in der Forschungsliteratur häufig hingewiesen (vgl. HEKG III/ 1, 125; ebs. vgl. Thust, die Lieder des Evangelischen Gesangbuchs. Bd. I, 16-17; ebs. vgl. Kulp, Die Lieder unserer Kirche, 16-17), allerdings ist das Lied schon 1542 in einer niederdeutschen Fassung nachweisbar, womit dem Jahr 1546 nicht allzuviel Gewicht beigemessen werden kann (vgl. Bill, Erasmus Alber, 30-31). 158 W III/ 1032. <?page no="298"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 299 den dritten Aspekt des Adventes - das Kommen zum Gericht und Ende; 159 es übersteigt damit die gewöhnliche Perspektive adventlichen Liedgutes. „Albers Lied, auch in der gekürzten Gesangbuchfassung, sprengt ein weit verbreitetes Adventsverständnis. Es repräsentiert dringliche Naherwartung. Wird es [z.B. in Gottesdiensten; HH] eingesetzt, sollte diese Fremdheit zur gängigen Auffassung bewusst sein.“ 160 Andere Kommentatoren stellen die Zuordnung zur Adventsrubrik grundsätzlicher in Frage. „Die in dem 1546 erschienenen Liedblatt benutzte Überschrift weist das Lied dem Gedankenkreis vom Ende der Welt und dem Gericht zu. Es ist aber kein Adventslied im engeren Sinne, wie überhaupt die Frage offen bleibt, ob Alber ein Kirchenlied hat schaffen wollen oder ob er vielmehr eine in Verse gebrachte Interpretation seines eigenen Welt-, Geschichts- und Gegenwartsverständnisses formuliert hat.“ 161 In der Gegenwart ist EG 6/ EKG 3 Wochenlied/ Graduallied zum 2. Sonntag im Advent und korrespondiert so mit dem thematischen Schwerpunkt des Gerichtes, welcher dem Sonntag eigen ist. 162 159 „Wie Str. 2-5 deutlich machen, ist das ‚bald‘ in Str. 1 nicht als Hinweis auf das bevorstehende Weihnachtsfest zu verstehen. An Weihnachten denkt der Verfasser hier so viel und so wenig wie das vorangegangene Lied seines Zeitgenossen Michael Weiße. Das Gedächtnis der Geburt Christi ist nur die dankbar erwähnte Voraussetzung für den Adventsappell, um den es Alber in der Hauptsache geht: die Bereitung und Bereitschaft auf Christi dereinstiges Kommen.“ (HEKG III/ 1, 123). Das erwähnte vorherige Lied Weißes in EKG 2/ EG 5 („Gottes Sohn ist kommen“) enthält in der Tat wenig Anklänge an das Thema Menschwerdung und Geburt Christi. 160 HEG III/ 4, 8. 161 HEG III/ 4, 3-4. „Die Verwendung des Liedes in der Adventszeit wirft Fragen auf. Die Lieder des Adventskreises reden von der Zukunft des kommenden Herrn, Albers Lied hingegen von der bedrängenden, von der apokalyptischen Gegenwart.“ (HEG IIII/ 4, 7). „Unser Lied läßt keinen Raum für eine naiv-harmlose Adventsstimmung, es verbindet den Gedanken an die Schrecknisse mit dem Gedanken an die Wiederkunft des Herrn zum Gericht und ist dabei ganz auf den Ton freudiger Erwartung gestimmt“ (Kulp, Die Lieder unserer Kirche, 17). 162 Es wurde darauf hingewiesen, dass der Text durch Aufnahme verschiedener biblischer Gerichtstexte gut die gelesenen Schriftperikopen des Sonntags aufgreift (vgl. HEKG III/ 1, 124; ebs. vgl. HEG I/ 2, 29-30; ebs. vgl. EGb 246). Mit dem Gericht besteht auch ein Bezug zum Ewigkeitssonntag und dem Ende des Kirchenjahres, weshalb Detlef Block seine Nachdichtung des Gesanges auch diesem Sonntag zuordnete und nicht dem 2. Sonntag im Advent (vgl. Block, In deinen Schutz genommen, 75). Nach der neuen „Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder“ [2018] ist EG 6 nicht mehr Wochenlied, stattdessen ist am 2. Sonntag im Advent EG 7 vorgesehen. <?page no="299"?> 300 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken Wie in meiner Übersicht erkennbar, handelt es sich bei dem Gesang um einen im bittenden Modus gestalteten. 163 Es ist das Lied einer Gruppe, die sich gegenseitig zu Lob/ Freude ermuntert und aufruft (EG 6/ 1: „Ihr lieben Christen, freut euch nun“), um dann in den folgenden Strophen (EG 6/ 2-5) dieses Lob und diese Freude Christus selbst zuzusingen (EG 6/ 2: „Der Jüngste Tag ist nun nicht fern. / Komm, Jesu Christe, lieber Herr! “) - insgesamt eine eher einfache Kommunikationssituation. Dem bittenden Modus gemäß finden sich Einstellungen, die von Glaube/ Vertrauen und Wunsch/ Hoffnung zeugen, die Einstellung der Freude wird von Handlungen des Verehrens und Lobens begleitet. 164 Dort, wo der Teufel verhandelt wird (Str. 4), kommt Sorge zum Ausdruck, die durch eine Bitte an Christus (deprekativ) bewältigt wird (EG 6/ 4: „er tracht’ nach Leib, Seel, Gut und Ehr. / Herr Christ, dem alten Drachen wehr“). Damit bestehen die zentralen Textgegenstände im singenden Wir, dem angesungenen Christus und dem besungenen Satan. 165 Die pragmatische Gestalt verändert sich unter Einbezug der restlichen Strophen des Originaltextes nur unerheblich, gelegentlich finden sich beschreibende Strophen (z.B.: Str. 14.15) 166 , die allerdings nur Fortführungen der gesetzten Kommunikationssituation sind. Entscheidender für die satanologische Thematik sind die mit Strophenausfall erfolgten Verluste an Beschreibungen Satans und die damit verbundenen Einbußen an Dramatik. „Ihm [sc. dem Liedtext] ist die ganze Schärfe genommen in unserem Gesangbuch. Die brisanten Strophen sind gestrichen. […] Sicherlich, sie sind angrifflich, zum Teil auch polemisch. Doch ohne sie hat Albers Lied doch sehr viel an Originalität verloren.“ 167 Die im EG/ EKG abgedruckten Strophen 1.2.3.5 behandeln allesamt das nahende Gericht, den Teufel benennt nur Strophe 4 eigens: „Der Teufel brächt uns gern zu Fall / und wollt uns gern verschlingen all; / er tracht’ nach Leib, Seel, Gut, und Ehr. / Herr Christ, dem alten Drachen wehr“ (EG 6/ 4). Detlef Block höhlt 163 Vgl. Tab. 3 Sp. „Simulierte Kommunikationssituation“; „Sprechereinstellung“; „Sprecherhandlung“; „Sonstige Bemerkungen“. 164 Bereits mit dem Incipit („Ihr lieben Christen, freut euch nun“) ist ein zentrales Thema und eine Leseanweisung mitgegeben - es geht um Freude, die vielleicht paradoxe Freude auf das Endgericht (vgl. HEKG I/ 2, 30). Die Liederkunde zum EG weist dem Lied als Ganzem fünf Themenkreise (Apokalyptik, Ende der Welt, Gericht, Gemeinde, Trost) zu (vgl. HEG III/ 4, 4-6), wobei m. E. fraglich ist, wie die Aspekte sinnvoll voneinander geschieden betrachten werden sollen. 165 Vgl. Tab. 3 Sp. „Wichtige Textgegenstände“. 166 W III/ 1032 Str. 14: „Die welt kan nun nicht lenger stehn, / ist schwach und alt, sie mus vergehn, / Sie kracht an allen orten sehr / und kan die last nicht tragen mehr“. 167 Engelsberger, Bilder vom Kommen Gottes, 32. Die ausgefallene Polemik dürfte auf die Erwähnung der Türken und des Papstes als Parteigänger Satans anspielen (W III/ 1032 Str. 15.16). <?page no="300"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 301 die Dramatik in seiner Nachdichtung weiter aus und verabschiedet den bösen Feind gänzlich, wenn er überträgt: „Der Zweifel bringt uns leicht zu Fall / und lauert auf uns überall; / er trachtet nach des Glaubens Gut. / Verleih uns Festigkeit und Mut“ 168 . Geht man im Folgenden dem 18-strophigen Original und dessen Spannungsbogen nach, zeigt sich ein ungleich farbenreicheres und dramatischeres Bild. Strophe 1 und 2 benennen das Thema des Liedes (EG 6/ 1.2: „bald wird erscheinen Gottes Sohn […] Der Jüngste Tage ist nun nicht fern. / […] Kein Tag vergeht, wir warten dein“) - es geht um den Jüngsten Tag und das getreue Warten darauf. 169 Dieser Jüngste Tag wird dann, biblischen Spuren folgend, entfaltet. In Strophe 3 tritt der Antichrist auf und wird mit dem bekannten Attribut List versehen‚ 170 er ist bereits deutlich als entmachtet zu erkennen und klagt unablässig darüber. 171 In Strophe 4.5.6 werden Gestalten der Heilsgeschichte (Daniel, Simeon) genannt, um deren Situation des Erwartens eines Messias (Dan 7; Lk 2) als Deuterahmen des eigenen Wartens auf den Jüngsten Tag zu bestimmen. 172 Strophe 7 bündelt: „So warten wir nun auch der stund / und bitten dich von hertzen grund, / Du wöllest nicht ausbleiben lang, / und straff einmal die alte schlang“ 173 . Das Warten auf Christi letztes Kommen wird erneut ins Zentrum gerückt - dieses Kommen ist ein letzter Kampf mit der alten Schlange, dem Satan. Dem folgt eine breit ausgeführte Satanologie (Str. 8-13) - fast wird mein Ergebnis zweifelhaft, nach dem der Satan nie um seiner selbst willen verhandelt wird. Der Kommunikationssituation nach ist es zwar weiter Christus, dem über teuflische Angriffe berichtet bzw. der dagegen angerufen wird, der Hauptgegenstand ist aber der Teufel - faktisch spielt in diesen Strophen Christus eine Statistenrolle. Strophe 8 steht hier beispielhaft: „Der alle welt ermordet hat / und kan nicht liegens werden sat, / Den nim sampt seiner lester schul / und wirff die in den feurign pful“ 174 . Die Strophen bieten vielfältige und bildreiche Vorstellungselemente vom bösen Feind; 175 er wird als Mörder dargestellt, der, einem gefräßigen Drachen gleich, die Gläubigen zu verschlingen bemüht ist, was de- 168 Block, In deinen Schutz genommen, 75. Es verwundert, dass Block eine Notwendigkeit zur Entschärfung im Bereich „Teufel, Tod und Sünde“ empfand, wo er doch dem traditionellen Michaelisgesang EKG 116 noch einiges an Schärfe in seiner Übertragung (EG 143) zufügte. 169 Vgl. HEKG 1/ 2, 30. 170 W III/ 1032 Str. 3: „Verrhaten ist der Widder Christ, / sein Heucheley und argelist“. 171 W III/ 1032 Str. 3: „des fürt er teglich grosse klag“. 172 Vgl. HEKG I/ 2, 30. Eigens benannt wird in Str. 4 (EG 6/ 3) auch „Immanuel“, womit der Bezug zu Jes 7 gegeben ist. 173 W III/ 1032 Str. 7. 174 W III/ 1032 Str. 8. 175 Vgl. Tab. 3 Sp. „Verhältnis EG/ EKG und Original“. <?page no="301"?> 302 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken ren gesamte Existenz mit „leib, seel, gut und ehr“ (Str. 13) einschließt. 176 Der Feind findet ausgehend vom Begriff des Antichristen 177 (Str. 3) sein Proprium im Gott-zuwider-Handeln und ist dabei von einem Hofstaat, einer dämonischen „lester schul“ (Str. 8) umgeben. 178 Schon in Strophe 3 war der Widerchrist als Teil dieser Lästerschule eingeführt worden, im Verlauf des Liedes zeigen sich diverse weitere Einflussmöglichkeiten gegenüber den Gläubigen durch weltimmanente Faktoren - dem Freund und Reformator Luther folgend, dürfte Alber Papst und Türke (Str. 15.16) 179 als Helfershelfer des bösen Feindes auffassen. 180 Der Satan und seine irdischen Larven sind aber, daran lässt der Gesang keinen Zweifel, entmachtet und werden zuletzt im Gericht (Str. 18; EG 6/ 5) dem höllischen Pfuhl (Str. 8) zugeführt (Mt 25). Der Teufel und sein dämonisches Netz, lokalisiert in der Hölle‚ 181 werden in Strophe 9 als Reich benannt‚ 182 wobei dieses Reich nach Strophe 10 dem Reich Jesu/ Gottes entgegengesetzt ist. 183 Strophe 10 nimmt den Gedanken des Lästerns wieder auf, wenn es heißt: „Er 176 Worte aus dem Bereich des „Einverleibens“ legen sich wie eine Klammer um den Abschnitt zur Satanologie (Str. 8-13) - in Str. 8 ist vom unstillbaren „Hunger“ die Rede („und kan nicht liegens werden sat“), Str. 13 greift dies auf mit „und wolt uns gern verschlingen all, / […] dem rotten Trachen wehr“ (W III/ 1032 Str. 8.13). Ob mit der alten Schlange (Str. 7) ein gefräßiger Schlund gemeint sein soll, ist schwer zu entscheiden, wenngleich sich dies durch die Parallelisierung zu Offb 12‚9 nahelegt. 177 Der Widerchrist/ Antichrist ist biblisch nicht gleichzusetzen mit dem Teufel; wohl steht dieser aber im Dienste des Feindes und zählt damit zum über der Welt liegenden dämonischen Netz (vgl. Haeusler, Art. Antichrist, Sp. 745-746). 178 Das Gott-zuwider-Handeln ist als Hintergrund des Gesamtwirkens zu verstehen, wird aber auch explizit gemacht: „Der böse Geist sücht seinen rhum / und hindert, das dein Reich nicht kum“ (Str. 10); „und tobt dawider grewlich ser“ (Str. 11); „Der Satan lest nicht ab zu wehrn“ (Str. 12). 179 Vgl. Thust, Die Lieder des Evangelischen Gesangbuchs. Bd. I, 17. 180 „Und wolt gern wider werden frey / vons Türcken mord und heucheley. / Der Babst hat sie so hart beschwert / und all gut ordenung verkert“ (W III/ 1032 Str. 16.17). Außerdem kann die Welt in Gesamtheit zum Einflussbereich des Satans gerechnet werden (Str. 9: „Dein lieben kinder warten all, / wann doch en mal die welt zurfall / Und wann des Teuffels Reich verghe“), daneben wird die Welt durch teuflische Einflüsse bedrückt und harrt der Befreiung (Str. 14: „Die Welt kan nun nicht lenger stehn, / […] und kann die Last nicht tragen mehr“). Bill spricht in diesem Zusammenhang von „Erscheinungsformen teuflischer Gewaltherrschaft. Deren Ende, das Ende von Lüge, Heuchelei und Eitelkeit, wird herbeigesehnt und herbeigebetet.“ (HEG III/ 4, 5). 181 Es muss eingeräumt werden, dass die Lokalisierung bis zu gewissem Grad Deutung bleibt, explizit findet sich die Hölle nur in Str. 8 („und wirff sie in den feurign pful“) und Str. 11 („des nehm uns gern der hellenbrandt“). 182 W III/ 1032 Str. 9: „Und wann des Teuffels Reich verghe“. 183 W III/ 1032 Str. 10: „Der böse Geist sücht seinen rhum / und hindert, das dein Reich nicht kum“. Bedenkenswert ist der Hinweis, dass die Str. 10-13 als „Vaterunser-Pervertierungen“ (HEG III/ 4, 5; ebs. vgl. Bill, Erasmus Alber, 33-34) zu verstehen seien, da hier u.a. der Name geschändet, das Reich gehindert, in Versuchung/ Fall geführt werde. <?page no="302"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 303 ist’s, der deinen Namen schendt“ 184 . Das Schänden des Namens Christi ist im umfassenden Sinne verstehbar als Schänden der Botschaft und des Heilswerkes Christi. Ich habe u.a. bei Luther (s. Kap. 6.) sinngemäß das Wort „Evangelium vocat Satanam“ eingeführt - dieses wechselvolle Verhältnis von Proklamation des Evangeliums und widerstreitendem Auftreten des Teufels findet sich auch bei Alber (Str. 10-12): „Er ists, der deinen Namen schendt / und der die arme leut verblent; / […] Was du befihlst, das lestert er / und tobt dawider grewlich ser; / Was uns beschert dein milte hand, / das nehm uns der hellenbrandt. / Der Satan lest nicht ab zu wehrn, / das sich so wenig leut bekern, / Er wendt die leute von deinem wort / und richtet an hass, neidt und mordt“ 185 . Der Satan ist bestrebt, das Evangelium in dessen ganzer Kraft und Gnadenfülle nicht zur Geltung kommen zu lassen, sondern versucht durch Einwände das Vertrauen in Gottes Gnade zu erschüttern - die Anspielungen auf den Teufel als Vater der Lüge ( Joh 8‚44) sind unüberhörbar. Das Ziel der Lästerbemühungen ist in Strophe 13 benannt, welche den eingeführten Gedanken des Mordens (Str. 8.12) wieder aufnimmt und damit das letzte Ziel Satans im Abbringen des Menschen vom ewigen Heil, dem ewigen Mord, beschreibt: „Der Teuffel brecht uns gern zu fall / und wolt uns gern verschlingen all, / Er tracht nach leib, seel, gut und ehr: / Herr Christ, dem rotten Trachen wehr! “ 186 Gebündelt stellt sich das Werk des Teufels in folgenden Handlungen dar (Str. 3-16): heucheln, listig sein, klagen, morden, lästern, schänden, verblenden, eigenen Ruhm suchen, hindern, toben, wehren, abwenden, zu Fall bringen, verschlingen, Ordnung verkehren, beschweren. Interessant sind daneben die Formeln für den Satan und sein Reich (Str. 3-16): Widerchrist, alte Schlange, Lästerschule, Teufelsreich, böser Geist, Satan, Teufel, roter Drache, Türke, Papst. Nachdem im Mittelteil des Gesanges die ganze Breite teuflischer Anfechtungsmöglichkeiten dargestellt und im Flehen vor Christus getragen ist, an dessen 184 W III/ 1032 Str. 10. 185 W III/ 1032 Str. 10.11.12. 186 W III/ 1032 Str. 13. Interessant ist die Änderung, die in EKG/ EG vorgenommen worden ist; aus dem originalen „rotten Trachen“ ist „alten Drachen“ geworden (vgl. HEG III/ 4, 6; ebs. vgl. HEKG I/ 2, 30). Damit ist die ursprünglich direkte Bezugnahme auf Offb 12‚3 („Und es erschien ein anderes Zeichen am Himmel, und siehe, ein großer, roter Drache, der hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Häuptern sieben Kronen“) verlorengegangen, eine weniger sperrige Strophe ist m. E. durch die Änderung aber nicht entstanden. Ob in EG 6/ 4 mit Erwähnung des Leibes eine Anspielung auf „Ein feste Burg ist unser Gott“ (EG 362/ 4) gegeben ist, wie der Kommentar erwägt (vgl. HEKG 1/ 2, 30), halte ich für mindestens zweifelhaft. <?page no="303"?> 304 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken Macht, diese zu überwinden, kein Zweifel besteht‚ 187 geht das Lied in den letzten fünf Strophen (Str. 14-18) in ein intensives Herbeisehnen und -flehen des Gerichtes über, wie das EG noch ansatzweise erkennen lässt: „Ach lieber Herr, eil zum Gericht! / Laß sehn dein herrlich Angesicht, / das Wesen der Dreifaltigkeit. / Das helf uns Gott in Ewigkeit“ (EG 6/ 5; Str. 18). Oswald Bill bündelt pointiert die Hauptlinien des Liedes und weist auf die wenngleich drastische, so doch nicht schwärmerisch-spekulative Güte des Werkes hin. „Ziel und Hoffnung ist die Schau des herrlichen Angesichts des Herrn und des Wesens der Dreifaltigkeit (Str. 5 = Str. 18 orig.). Alber versagt sich jede Spekulation darüber, wie dieser Zustand beschaffen sein könnte. Seine Gedanken kreisen nicht um eschatologische Dinge, sondern handeln von der Sehnsucht, die Schrecken der von der pervertierenden Kraft des Teufels beherrschten Welt bald hinter sich zu lassen, damit die Gemeinde der lieben Christen das Wirken Gottes, in welcher Gestalt auch immer, ungeschmälert erfahre. Die als Bedrängnis erfahrene Gegenwart liefert keinen Anhaltspunkt für die Zukunft.“ 188 Konklusion Nach der Untersuchung der Lieder des Weihnachtsfestkreises (Advent, Weihnachten, Jahreswende, Epiphanias) halte ich die Entscheidung von größeren hymnologischen Monographien zu einem der Teilbereiche, alle Teilbereiche des Festkreises in gebotenem Maße mitzubetrachten, für sinnvoll. 189 Meine Untersuchung unter satanologischer Perspektive erhärtete den Eindruck, dass nicht nur historisch, sondern auch inhaltlich die Übergänge der Teilrubriken fließend sind und noch weitere Bereiche im Gesangbuch mit den Themen des Weihnachtsfestkreises korrelieren, z.B. die Gerichtsperspektive mit dem Ende des Kirchenjahres und die Inkarnation in Schwachheit mit der Schwäche Jesu bei Passion und Kreuz. 187 Wenn in den Sprachformen die endgültige Vernichtung Satans noch zukünftig klingt, ist der Sieg doch in der Menschwerdung bereits ausgemacht - von einem Dualismus, wie er gelegentlich behauptet wird, ist an keiner Stelle die Rede. Selbst in gegenwärtiger Bedrängung ist der Freudenklang des Liedes nicht unverständlich, denn „er [sc. Alber] ruft die Menschen, unter denen der Teufel umhergeht wie ein brüllender Löwe (1. Petr. 5‚8), zur Freude, weil er den Drachentöter und Höllenstürmer Christus und den nahen Tag seines Endsieges“ (HEKG III/ 1, 124) voraussieht. 188 HEG III/ 4, 7. 189 U.a.: Hauschildt, Die Christusverkündigung im Weihnachtslied unserer Kirche [1952]; Werthemann, Studie zu den Adventsliedern des 16. und 17. Jahrhunderts [1963]; Rößler, Da Christus geboren war… [1981]; Nürnberg, Der Jahreswechsel im Kirchenlied [2016]. <?page no="304"?> 8. Der Teufel im Weihnachtsfestkreis (EG 1-74) 305 Die Thematik des Teufels beim Christfest in hymnischer Entfaltung zeigt einen Schwerpunkt im 16. und 17. Jahrhundert, wobei dieses Gewicht auch durch die EG-Auswahl mit besonderer Berücksichtigung dieses Zeitraumes beeinflusst ist. Wie für das gesamte EG leitend, liegt große Kontinuität zum EKG und Treue zu den Ursprungsfassungen in Text- und Strophenverlauf vor. Aufschlussreich ist die Untersuchung der Sprecherhandlungen und -einstellungen, die in den Liedern dieses Festkreises sichtbar werden. V.a. an Adventsgesängen und deren sprachlichen Umgang mit dem Teufel lässt sich eine theologische Erkenntnis herausarbeiten - Adventslieder bitten Christus um Beistand wider den bösen Feind. Dieser Christus ist im Advent noch der verheißene Retter und die Welt ist in Erwartung der Erlösung von Sünde, Tod und Teufel - Weihnachten wird aus dem Verheißenen ein Gegenwärtiger und ins Fleisch Gekommener. Am Christfest muss nicht mehr gefleht werden, denn mit der Inkarnation ist die Entmachtung des Teufels vollzogen, der Sieg offenbar. Zwar bleibt der Teufel Gegenstand der Vorstellungswelt, aber dann in beschreibender Form. Der Teufel ist besiegt und mit ihm das dämonische Netz von Tod, Sünde und Hölle - Freude ist die resultierende Haltung, die sich durch die meisten der Gesänge im Weihnachtsfestkreis zieht. Diese Freude ist nicht nur die Freude der damals Jubelnden in Bethlehem, sondern sie ist durch die zeitliche und örtliche Offenheit der Kommunikationssituation zugleich Freude, in welche die Christenheit aller Zeiten und Orte einstimmen kann. Mit der Freude einher geht gelegentlich ein fast übermütiges Vertrauen auf Christus und dessen Macht. Da die meisten Lieder Gruppenlieder sind, fühlt sich die Gemeinschaft nicht nur ermächtigt, von Christi Taten zu berichten und sie zu verkünden, sondern sagt auch anderen den Sieg zu als tröstendes Wort, daneben beginnt die Gemeinde sogar dem Teufel zu spotten. Wesen und Werk des Satans sind auch in diesem Kapitel als contra deum bestimmt, was u.a. durch die teuflische List und ein Hindern und Sperren des Wortes Gestalt gewinnt. „Evangelium vocat Satanam“ - das Wort ruft den Teufel auf den Plan, zugleich ist das Evangelium und Wort Gottes aber auch die mächtigste Waffe wider den bösen Feind, weshalb immer wieder die Zuflucht zu diesem Wort als Trost in aller Anfechtung geraten wird. Vor dem Wort müssen Sünde, Tod und Teufel nebst ihrer irdischen und transzendenten Parteigänger fliehen, die den Menschen wie in vorangegangen Kapiteln hier ebenfalls mit Anfechtungen zu schrecken suchen. Der Teufel und seine Larven agieren im Weihnachtsfestkreis vor allem als Mächte des Finsternis, Christus aber bringt demgegenüber das Licht in die Welt und erleuchtet letztendlich die Hölle, um die versklavte und geknechtete Schar der Gläubigen aus der Hand Satans zu befreien. Der Weihnachtsfestkreis in seiner hymnischen Ausprägung kann kaum besser gebündelt werden als im erwähnten Urteil des Kommentars: <?page no="305"?> 306 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken „Es [sc. das Weihnachtsliedgut] kündet die großen ‚objektiven‘ Wahrheiten von Weihnachten: die Überwindung von Sünde, Tod, Teufel, Hölle, die Liebe, die Gott bewegt, und den Anbruch der himmlischen Freude, ergriffen durch den Glauben der Gemeinde.“ 190 190 HEKG III/ 1, 152. <?page no="306"?> 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) 307 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) Textbasis Wie beim Weihnachtsfestkreis ist es m. E. beim Osterfestkreis zweckmäßig, keine gesonderte Betrachtung des Auferstehungsfestes Christi zu unternehmen, sondern dieses nebst umgebender Feste und Festzeiten und deren zugeordneten EG-Rubriken zu betrachten. Im Osterfestkreis liegen diverse Festtage in enger zeitlicher Nähe zueinander, v. a. aber stehen sie in unmittelbarem thematischen Zusammenhang, welcher eine Scheidung mit starren Grenzen weder sinnvoll noch möglich macht. 1 Die gegenwärtige Verteilung einzelner Evangelienabschnitte für Passion, Kreuz, Auferstehung, Himmelfahrt und Pfingsten auf besondere Festtage ist in der Alten Kirche erst sukzessive entwickelt worden, ferner die Verteilung von Gesängen auf ebendiese Rubriken, und wurde vorher gesammelt in einer - dieses universale heilsgeschichtliche Drama umfassenden - Osternacht begangen. 2 Im EG-Stamm zum Osterfestkreis (EG 75-137) finden sich die Rubriken Passion (EG 75-98), Ostern (EG 99-118), Himmelfahrt (EG 119-123) und Pfingsten (EG 124-137); 3 insgesamt liegen damit für das EG 63 (EKG 55) Gesänge in diesem Bereich vor. Nach Maßgabe nur Gesänge mit nachvollziehbarem Verweis auf den Satan zu betrachten, schränkt sich der Untersuchungsbereich auf 20 Gesänge im 1 Zu Luthers Liedern ist häufig angemerkt worden, dass er kein einziges Passionslied gedichtet habe, dafür aber mehrere Ostergesänge. Als Grund dafür wird vermutet, dass in Luthers Verständnis eines vom anderen nicht zu trennen ist - Ostern immer nur in Einheit von Kreuz und Auferstehung, von Karfreitag und Ostersonntag bestehen kann und eines ohne das andere unverständlich bleibe (vgl. Müller, Luthers Osterlieder, 81-83). 2 „Mehr als 300 Jahre lang kannte die Kirche kein Himmelfahrtsfest. Das Mysterium von Tod, Auferstehung und Erhöhung Christi und die Erwartung seiner Wiederkunft wurde als Einheit in der einen Feier begangen, nämlich in der im Pascha Israels wurzelnden, als Transitus verstandenen Vigil von Karsamstag auf Ostersonntag, die die feiernde Gemeinde zusammen mit Christus vom Weinen zum Lachen, von der Sklaverei zur Freiheit, vom Tod zum Leben führte. […] Mitte des 4. Jahrhunderts kommt es zu einem in seiner Bedeutung kaum zu überschätzenden Umbruch dieses Grundverständnisses von Liturgie. In der nachnizänischen Kirche vollzieht sich ein Historisierungsprozess, in dem es darum geht, das Leiden, Sterben und die Verherrlichung des Herrn chronologisch und lokal möglichst genau nachzuleben und nachzuvollziehen“ (Franz, „O zieh uns immerdar zu dir“, 74-75). 3 Im EKG parallel die Rubriken Passion (EKG 54-72), Zum Gedächtnis der Grablegung (EKG 73-74), Ostern (EKG 75-89), Himmelfahrt (EKG 90-96) und Pfingsten (EKG 97-108). <?page no="307"?> 308 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken EG (17 im EKG) ein, was etwa einem Drittel am Bereich des Osterfestkreises entspricht. 4 Innerhalb der 20 bzw. 17 relevanten Gesänge liegt deutliches Gewicht bei der Verteilung auf der Osterrubrik. Bei der zeitlichen Verteilung zeigt sich eine breitere Streuung als in anderen Rubriken, es finden sich viele Lieder aus dem Reformationsjahrhundert (7x) 5 und dem 17. Jahrhundert (3x), drei aus dem 18. Jahrhundert (mit EKG 95 um eins vermehrt) 6 , eines aus dem 19. Jahrhundert, aus dem 20. Jahrhundert liegen drei weitere Gesänge vor. 7 Unter den Dichtern der Lieder findet man große Namen wie Luther (EG 124.126), Paul Gerhardt (EG 112.133), Benjamin Schmolck (EG 135), aber auch Christian Fürchtegott Gellert (EG 115) sowie Philipp Spitta (EG 136.137). 8 Obgleich ich einen vorausgewählten Korpus untersuche, kann doch behauptet werden, dass viele Lieder des Korpus als die über Jahrhunderte im protestantischen Gemeindegesang beliebtesten und meistgesungenen gelten dürfen. 9 Auf dieser relativen Basis lässt sich für das 16. und 17. Jahrhundert eine breite Dichtung unter Verwendung der Begriffe Satan und Teufel erkennen, was in folgenden Jahrhunderten abnimmt bzw. sich zu interpretationsoffeneren Begrifflichkeiten hin bewegt (z.B. Feind). 10 Der Vergleich von EKG und EG zu Explikationen personalen Bösens zeigt weitgehende Deckung, hinzugekommen sind drei Lieder aus dem 20. Jahrhundert (EG 93.94.116) 11 und eines aus dem 16. Jahrhundert (EG 104). Daneben ist der satanologisch relevante Liedbestand vom EKG zum EG übernommen 4 Vgl. Tab. 4 Sp. „EG Nr.“; „EG Rubrik“; „EKG Nr.“; „EKG Rubrik“. 5 Strittig ist die Einordnung von „Nun bitten wir den Heiligen Geist“ (EG 124), da es zwar unter Luthers Namen verhandelt wird, Str. 1 aber aus dem 13. Jh. stammt, evtl. aus dem 12. Jh. (vgl. Thust, Die Lieder des Evangelischen Gesangbuchs. Bd. I, 214). 6 EKG 95 ist das einzige Himmelfahrtslied meiner Übersicht (vgl. Tab. 4 Sp. „EG Rubrik“; „EKG Rubrik“)! 7 Vgl. Tab. 4 Sp. „Alter Text“. 8 Vgl. Tab. 4 Sp. „Dichter“. 9 Vgl. Sauer-Geppert, Sprache und Frömmigkeit im deutschen Kirchenlied, 11. 10 Vollzieht man das Alter der Texte und der Verbalisierungen zum Satan darin nach, ist feststellbar, dass Gesänge im 16. und 17. Jh. eindeutige Referenz zum Satan herstellen (vgl. Tab. 4 Sp. „Alter Text“; „Koreferenzkette Teufel“), Gesänge des 20. Jh. lassen diese Eindeutigkeit vermissen, Gesänge des 18. und 19. Jh. verwenden eher offene Formeln - z.B. „Macht der Finsternis“ (EG 115/ 5). 11 Ob man diese Gesänge nach meiner Grundentscheidung in der Liste führen kann, ist strittig, da der Teufel nicht explizit benannt wird, wohl aber ein Begriff, der klassisch zur Referenz auf ihn steht, nämlich Feind. Die EG-Kommentatoren sehen in EG 93.116 durch Feind zumindest „Feinde Gottes“ ausgedrückt, was Raum für ein Verständnis im Sinne des Satans öffnet (vgl. HEG I, 114-115). Bei Ihlenfelds Lied „Das Kreuz ist aufgerichtet“ finden sich in Str. 5 Todesmächte (EG 94/ 5: „Wir sind nicht mehr die Knechte / der alten Todesmächte / und ihrer Tyrannei“), welche nach Thust auf Mächte der Welt aus Gal 4‚3 anspielen (vgl. Thust, Die Lieder des Evangelischen Gesangbuchs. Bd. I, 162; ebs. vgl. HEG III/ 11, 55). <?page no="308"?> 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) 309 worden, einzig „Siegesfürste, Ehrenkönig“ (EKG 95) ist ausgefallen. 12 Zum einen ist durch Aufnahme zeitgenössischer Gesänge dem Wunsch nach neuen Versprachlichungen des Glaubens Rechnung getragen‚ 13 zum anderen ist eine hohe Konstanz im Liedgut zum Kirchenjahr zu beobachten; die ausgeprägte Repräsentation des 16. und 17. Jahrhunderts am Stamm von EG/ EKG ist auch in diesem Rubrikenkomplex gegeben. 14 Mit Übernahme fast aller Lieder von satanologischem Interesse vom EKG zum EG, ist das Kommissionsanliegen, theologisch problematische Vorstellungen bei der Erarbeitung zu bedenken, auch im Osterfestkreises des EG wenig spürbar. 15 Allerdings wundert dies nicht, denn Ostern, nebst umgebender Themenbereiche, stellt das älteste Fest der Christenheit dar, womit der älteste und breiteste Strom an Festtradition anzunehmen ist. 16 Wenn bei Weihnachtsdichtungen der Reformationszeit eine enge Verknüpfung mit mittelalterlichen und gelegentlich antiken Gesänge charakteristisch war, gilt dies umso mehr für das wichtigste Hochfest der Christenheit und dessen vorbereitende Fastensowie nachgehende Jubelzeit. 17 12 Vgl. Tab. 4 Sp. „Veränderungen von EKG zu EG“. 13 Es sei an die Grundsätze zum EG erinnert: „Das Gesangbuch soll das Zeugnis der Erfahrungen mit der Heiligen Schrift in Geschichte und Gegenwart widerspiegeln.“ (1.7.). 14 Vgl. Reich, Das Evangelische Gesangbuch, 100. Betrachtet man die EG-Rubriken, stellen sich innerhalb der Rubriken folgende Verhältnisse von Liedern des 16. und 17. Jh. gegenüber dem Gesamtumfang der Rubrik dar: Passion 14/ 19; Ostern 14/ 23; Himmelfahrt 4/ 5; Pfingsten 11/ 14. 15 Die Haltung gegenüber dem EKG-Stamm, dass „Heilige Kühe“ nicht geschlachtet werden, sondern auch im EG-Stamm vorkommen müssen, zeigt sich in diesem Rubrikenkomplex erneut (vgl. Rößler, Prospekt eines Projekts, 15-17). 16 Der Entwicklung des Weihnachtsfestes seit dem 4. Jh. ging schon eine mindestens zwei Jahrhunderte lange Festkultur des Osterfestes voran (vgl. Kunze, Die gottesdienstliche Zeit, 460-461; ebs. vgl. Bieritz, Gedächtnis des Glaubens, 257-258) - dem Alter des Festes entspricht ein hohes Alter der wichtigsten Gesänge, wie Albert-Zerlik bei einer Untersuchung zu Osterliedern herausstellt. Sie kann zeigen, dass in EG/ EKG der Anteil der Lieder des 16. Jh. oder früher in der Osterrubrik bei circa 60 % liegt (Albert-Zerlik, Wandlungen in Glaubensverständnis und Spiritualität, 52-55). 17 Dass trotz der inhaltlich-theologischen Zentralstellung das Osterfest in persönlicher und gemeindlicher Frömmigkeit, welche sich u.a. im Gesang niederschlägt, keinesfalls an das Weihnachtsfest heranreicht, stellte Plath 1938 bis heute gültig heraus: „Es gehört zur Verarmung unserer Evangelischen Kirche und ihrer Gottesdienste, daß der wertvolle Schatz ihrer Osterlieder weithin ungehoben ist, d. h. in unseren Gesangbüchern begraben liegt. Während der evangelische Durchschnittschrist eine ganze Reihe Weihnachtslieder aufzählen, etliche sicher auswendig, und auch singen kann, versagt er in der Regel bei den Osterliedern. Hinzu kommt eine wiederholt gemachte Beobachtung: In christlichen Häusern und Familien werden zur Osterzeit - wenn überhaupt noch - mehr Frühlingslieder als Osterlieder gesungen, während den ganzen Winter hindurch das Weihnachtslied die unbestrittene Vorherrschaft vor jedem anderen Liede hat.“ (Plath, Er ist erstanden, 3). <?page no="309"?> 310 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken „Die Anfänge des deutschen Osterliedes liegen im Mittelalter. Mit dem Beginn des Mittelalters treten die germanischen Völker nördlich der Alpen in die Geschichte ein. Sie übernehmen den gregorianischen Choral, aber sie müssen sich ihn erst aneignen, so daß sich textliche Erweiterungen und musikalische Neuschöpfungen von selbst ergeben. […] Die Ostersequenz ‚Victimae paschali laudes‘ ist für die Anfänge des deutschen Osterliedes von grundlegender Bedeutung geworden. Sie wurde in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts von dem Historiker und Dichter Wipo von Burgund verfaßt, der unter den Kaisern Konrad II. und Heinrich III. als Hofkaplan gewirkt hat. Sie begreift das österliche Ereignis als ein Ringen zwischen Leben und Tod, das von Maria Magdalena bezeugt ist und uns zum Glauben ruft.“ 18 Diese Traditionslinien sind kaum mehr bekannt oder rekonstruierbar, dennoch ist eine Beeinflussung, z.B. bei Luther durch mittelalterliche Hymnen, Sequenzen und weitere Gesänge, vorauszusetzen, welche er unter Perspektive der reformatorischen Theologie neu zusammenstellte und weiterschrieb. „Luther setzt die mittelalterliche Erbfolge fort, wenn er in seinem Osterlied ‚Christ lag in Todesbanden‘ die Sequenz und die Leise mit dem reformatorischen Verständnis der Osterbotschaft erfüllt, das von dem Apostel Paulus geprägt ist. […] Das sieht im einzelnen so aus, daß Luther der Sequenz das Bild vom Ringen zwischen Tod und Leben und das Bild vom Osterlamm entnimmt. Die Passion Christi wird im Osterlied entfaltet.“ 19 Da nur wenige Rubrikenkomplexe aufgrund vermeintlich antiquierter theologischer Begrifflichkeiten und Vorstellungen (z.B. Sühnopfertheologie oder Antijudaismus in Passionsliedern) 20 derart in der Kritik stehen wie der Oster- 18 Kappner, Die Anfänge des deutschen Osterliedes, 125-126. Siewers hat darauf hingewiesen, dass als Hintergrund vieler Osterlieder nicht nur Hymnen und Sequenzen in Betracht kommen, sondern zusätzlich die Untersuchung mittelalterlicher Antiphonen als gedanklicher Quelle angezeigt ist (vgl. Siewers, Das Osterlied ‚Erschienen ist der herrlich Tag‘ und seine gregorianische Vorlage, 73-78). 19 Kappner, Die Anfänge des deutschen Osterliedes, 126. 20 Schon bei der Arbeit am EG wurde der vermeintliche Antijudaismus vieler Passionslieder angemahnt und Texteingriffe für gerechtfertigt erachtet (vgl. Lippold, Juden und Christen, 81-85). Der mit Passion verbundene Antijudaismus ist tief in kirchenmusikalische Werke, seien es Choräle oder größere Formen, eingeschrieben. Walter hält Textänderungen für kaum zu bewerkstelligen ohne Gesamtkompositionen zu zerstören und empfiehlt situative Kommentierungen der Texte: „Diese antijüdische Erblast findet sich unter anderem in der Passionsmusik (und in Passionsspielen). Fraglich ist, wie dem begegnet werden kann: ignorierend (weil die Musik ja so schön ist und der Text weniger wichtig), zensierend (aus den genannten Gründen) - oder, wie es hier angedeutet werden soll, aufklärend, damit Missverständnissen vorgebeugt wird und nicht Musik zum leicht passierbaren Einfallstor von Antijudaismus wird.“ (Walter, Antijudaismus in der Passionsmusik, 109). <?page no="310"?> 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) 311 festkreis‚ 21 scheint ein Blick auf Veränderungen unterhalb der Liedebene angeraten. Erwartbar wären Elidierung oder Umdichtung von inhaltlich problematischen Stellen im EG gegenüber EKG - dieser Befund ist nicht zu erheben. 22 Von insgesamt 16 gemeinsamen Liedern aus EKG und EG wurden nur in sechs Liedern satanologisch relevante Veränderungen vorgenommen‚ 23 wobei diese nicht alle von gleichrangiger Bedeutung sind, sondern sich mitunter nur auf marginale Anpassungen in Grammatik und Orthographie beziehen. 24 Eine Änderungstendenz wird darin erkennbar, dass Worte aus dem Bereich Kampf/ Militär, die dem Osterlied häufig zu eigen sind, herausgeschrieben oder abgeschwächt werden - 25 „Komm, o komm, du Geist des Lebens“ änderte man von „schenk uns Waffen in dem Krieg“ (EKG 106/ 6) zu „wappne uns in diesem Krieg“ (EG 134/ 6)‚ 26 womit das Ansinnen spürbar, dessen Umsetzung aber doch als bemüht bezeichnet werden muss. Interessant ist die Veränderung im Osterlied „O Tod, wo ist dein Stachel nun“ (EG 113), in dem „durch Christi Sieg gedämpfet seind“ (EKG 87/ 4) zum Ausdruck „durch Christi Sieg bezwungen seind“ (EG 113/ 4) geändert wurde - die zuvor unentschiedene und noch gegenwärtige Bedrohungslage durch teuflische Anfechtungen ist zum vollends entschiedenen Sieg hin geändert und damit eine beachtliche Verschiebung herbeigeführt wor- 21 Als Randbemerkung soll ein interessantes Untersuchungsergebnis von Katharina Vollmer Mateus beigegeben werden, welche im Nachgang von Gottesdiensten der Osterzeit Interviews mit Besuchern zu persönlichen Empfindungen beim Singen von Osterliedern durchführte. Es zeigte sich, dass Unbehagen nicht, wie oft vermutet, durch vielleicht sperrige und theologisch antiquierte Texte entsteht, sondern vielmehr durch das sich beim Singen generierende Gefühl, einer Gruppe ohne Distanzmöglichkeit ausgeliefert zu sein (vgl. Vollmer Mateus, Bewusster Umgang mit Gemeindegesang, 232). Damit erfährt die theologische Mahnung, dass man alte Metaphern bei aller Missverständlichkeit nicht ersetzen solle, da sie Schätze bewahren, die sonst verloren gehen, eine empirische Rückendeckung (vgl. Rößler, Das Gesangbuch - Fundament und Instrument der Frömmigkeit, 124), denn scheinbar wird ihre Missverständlichkeit von Sängern nur bedingt als Problem empfunden. 22 Vgl. Tab. 4 Sp. „Veränderungen von EKG zu EG“. 23 EG 109.113.114.115.134.135. Veränderungen gab es daneben in „Jauchz, Erd, und Himmel, juble hell“ (EG 127), wobei die relativ weitreichenden Eingriffe in den Strophenverlauf nicht dazu geführt haben, dass den Teufel betreffende Stellen geändert wurden. 24 Z.B. wird in „Heut triumphieret Gottes Sohn“ aus „zerstört, verheert in aller Gestalt“ (EKG 83/ 2) „zerstört, verheert ihm all Gestalt“ (EG 109/ 2), außerdem wird „ob er gleich murrt, ists ohn Gefähr“ (EKG 83/ 4) zu „ob er gleich murrt, ist’s ohn Gefahr“ (EG 109/ 4). In ähnlicher Weise ist in „Jesus lebt, mit ihm auch ich“ „und den Lüsten widerstreben“ (EKG 89/ 4) sprachlich geglättet worden zu „bösen Lüsten widerstreben“ (EG 115/ 4). 25 Sensibilität in diesem Bereich war bereits in den Grundsätzen zur Arbeit am EG intendiert (vgl. Rößler, Prospekt eines Projekts, 15). 26 Die Kommission verfolgte damit eine Anpassung an heutigen Sprachgebrauch - es ist fraglich, ob der neue Text dem Anspruch gerecht wird (vgl. Frahm, Synopse zum Evangelischen Gesangbuch, 52). <?page no="311"?> 312 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken den. 27 In „Wach auf, mein Herz, die Nacht ist hin“ wurde nur die Endung von „die Feinde schaugetragen“ (EKG 88/ 6) zu „den Feind zur Schau getragen“ (EG 114/ 6) geändert - 28 ein satanologisch großer Unterschied, der Feind ist gegenüber dem Plural ein wesentlich bekannterer und damit deutlicherer Verweisbegriff für Satan. Der einzige Textverlust an satanologisch relevanten Ausführungen liegt in „Schmückt das Fest mit Maien“ (EG 135) vor, bei dem gegenüber EKG 107 Strophe 5 ausgefallen ist, wo es hieß: „und das Böse fliehen“ (EKG 107/ 5) - 29 wenngleich diese Stelle für eine weitere Kenntnis zu Wesen und Werk des Teufels wenig ergiebig ist. Neben der Erkenntnis, dass Beharrungskräfte beim Übergang der Lieder von einem Gesangbuch zum Nachfolgebuch (u.a. von EKG zu EG) hoch sind, soll zusätzlich ein Abgleich mit den Erstveröffentlichungen erfolgen. In meiner Übersicht von 21 Liedern in EKG/ EG finden sich zwölf Gesänge‚ 30 die vollständig im originalen Strophenumfang abgedruckt sind; demgegenüber sind neun Gesänge ursprünglich mit anderen Strophenkonstellationen erschienen‚ 31 wobei dies v. a. Gesänge mit hoher bis sehr hoher Strophenzahl sind, was Kürzungen für das Gesangbuch fast zwangsläufig erforderlich machte. 32 Von diesen gekürzten Gesängen sind für die Betrachtung dämonologischer Aussagen allerdings nur fünf Gesänge von tieferer Bedeutung‚ 33 alle anderen haben zwar Tilgungen zu verzeichnen, beziehen sich darin aber nicht direkt auf den Teufel. Die relevanten ausgefallenen Strophen stellen hingegen tatsächlich Verluste dar - in „Erschienen ist der herrlich Tag“ (EG 106) wird nämlich erst durch die Originalstrophe 7 eindeutig, wer sich hinter „Feind“ (EG 106/ 1) und „alte Schlang“ (EG 106/ 2) verbirgt, da es dort explizit heißt: „Unser Simon, der trewe held, / Christus, 27 Die Kommission bezweckt damit eine Anpassung an gegenwärtigen Sprachgebrauch (vgl. Frahm, Synopse zum Evangelischen Gesangbuch, 65) - die Begründung scheint mir bei der gravierenden theologischen Verschiebung nicht der einzige Grund gewesen zu sein, denn das Deutsche bietet genügend Begriffe, die modernem Deutsch näher als „dämpfen“ stehen und dennoch in der Lage sind, die ursprüngliche Spannung des Originals zu bewahren. 28 Hier soll ebenfalls eine Anpassung an modernen Sprachgebrauch bezweckt gewesen sein (vgl. Frahm, Synopse zum Evangelischen Gesangbuch, 73). 29 Eine Referenz auf den Teufel ist hier fraglich. Die EKG-Konkordanz lässt eine Entscheidung nicht zu, da sie nicht unter Substantiven gliedert, sondern meist unter Verben und somit für entsprechende Stelle als Gliederungsüberschrift „Bitte: hilf, das Böse überwinden“ (HEKG I/ 1, 19) wählt. 30 EG 86.93.94.104.109.114.115.124.126.127.134.136. 31 Vgl. Tab. 4 Sp. „Verhältnis EG/ EKG und Original“. 32 Drastischste Einschnitte hatten „Erschienen ist der herrlich Tag“ (EG 106 - orig. 14 Str., jetzt 5), „Mit Freuden zart zu dieser Fahrt“ (EG 108 - orig. 13 Str., jetzt 3) und „Frühmorgens, da die Sonn aufgeht“ (EG 111 - orig. 19 Str., jetzt 15) zu verzeichnen, alle weiteren Lieder haben zwischen ein bis drei Strophen eingebüßt. 33 EG 106.108.111.112.113. <?page no="312"?> 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) 313 den starcken Lewen felt / Der Hellen pforten er hin trägt / dem Teuffel all sein gwalt erlegt“ 34 . Ähnlich verhält es sich mit den drastischen Texteinbußen bei „Mit Freuden zart zu dieser Fahrt“ (EG 108), womit die Referenz auf den Teufel bei „unsre Feind“ (EG 108/ 2) erklärungsbedürftig ist. 35 Durch die ursprüngliche Strophe 3 ist die Referenz der Feinde in Strophe 2 hingegen völlig klar, denn in Strophe 3 wird gesungen: „Daher ir trost, / das sie erlöst / sind vons Teufels strick und banden / Aus seinem raub / verfügt irm haubt / und entledigt aller schanden“ 36 . In „Frühmorgens, da die Sonn aufgeht“ (EG 111) finden sich ebenfalls die Begriffe Schlange (EG 111/ 9) und Feind (EG 111/ 10.11), die durch Strophe 11 der Ursprungsfassung eindeutig identifiziert werden können. 37 Beklagenswert sind daneben die beiden ausgeschiedenen Strophen von „O Tod, wo ist dein Stachel nun“ (EG 113), das zwar ohnehin in fünf von acht abgedruckten Strophen den Teufel erwähnt, aber für Wesen und Werk mit den ursprünglichen Strophen 4.9 manche Ergänzung bereithält, wie z.B. den Gedanken der immerwährenden Anklage. 38 Breitere Ausführungen über die Gefangenschaft des Teufels nach Christi Sieg sind in „Auf, auf, mein Herz, mit Freuden“ (EG 112) mit der ursprünglichen Strophe 3 verloren gegangen. 39 Eine kleine Textänderung ohne Strophenausfall liegt in „Heut triumphieret Gottes Sohn“ (EG 109) vor, wo es „wie pflegt zu tun ein großer Held, / der seinen Feind gewaltig fällt“ (EG 109/ 2) heißt, ursprünglich aber pointierter lautete „Wie pflegt zu thun ein grosser Held / der seinen Feind mit Listen felt“ 40 . Für die zu untersuchenden Lieder des Osterfestkreises ist festzuhalten, dass diese nahezu unverändert vom EKG zum EG übernommen wurden und nur in einigen Fällen Eingriffe in Strophenverlauf oder Textgestalt von satanologi- 34 W III/ 1374. 35 Durch den Kampfzusammenhang in EG 108/ 2 sollte deutlich sein, dass es um mehr als Menschen gehen muss, denn diese können kaum Gegner des Gottessohnes darstellen; dennoch identifiziert die EG-Konkordanz an dieser Stelle Menschen (vgl. HEG I, 115). Die EG-Kommentatoren stimmen mit Berücksichtigung des Originals meiner Interpretation zu (vgl. HEG III/ 10, 66). 36 W IV/ 632. 37 Originalstr. 11: „Tod, Teuffel, Hell nichts an ihm schafft“ (FT I/ 335). 38 „Wenn satan auch noch ungern läst / Von wüten und von morden / Und, da er sonst nichts schaffen kan, / Nur tag und nacht uns klaget an, / So ist er doch verworffen. […] Der alte drach mit seiner rott / Hingegen wird zu schanden, / Erlegt ist er mit schimpff und spott, / […] Drümb kan mit aller macht und list / Uns satan nicht mehr schaden“ (FT II/ 431). 39 „Der Held steht auf dem Grabe / und sieht sich munter um, / der Feind liegt und legt abe / Gift, Gall und Ungestüm, / er wirft zu Christi Fuß / sein Höllenreich und muss / selbst in des Siegers Band / ergeben Fuß und Hand“ (CS 26/ 3). 40 W V/ 629. Möglicherweise erschien den EG/ EKG-Verantwortlichen der Gedanke an einen Jesus mit dem Attribut List, welches sonst dem Teufel zu eigen ist, zu anstößig. <?page no="313"?> 314 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken scher Relevanz getätigt wurden; dennoch sind diese Eingriffe als Verlust für ein Gesamtbild um Wesen und Werk des Teufels zu beklagen und werden im Folgenden gelegentlich ergänzend herangezogen. Rubriken/ Themenfelder Rubrikenbezeichnungen sind auch Leseanweisungen, wenngleich die Allgemeinheit gegenwärtiger Bezeichnungen gegenüber vorangegangenen diese Funktion nur in abgeschwächter Weise erfüllt. 41 Mit dem Osterfestkreis und den zugeordneten Rubriken ist die Rubrizierung einzelner Gesänge weitgehend durch den jeweiligen Festinhalt vorgegeben, folglich lassen sich kaum Migrationsbewegungen zwischen Rubriken vom EKG zum EG oder gegenüber den Erstveröffentlichungen ausmachen. 42 Der Osterfestkreis (EG 75-137) ist gegliedert in Passion (EG 75-98), Ostern (EG 99-118), Himmelfahrt (EG 119-123) und Pfingsten (EG 124-137). 43 Damit sind die Feste, die den Kern des christlichen Glaubens bilden, mit 62 Gesängen (EKG 54) weniger reich angefüllt, als die des Weihnachtsfestkreises mit 74 Gesängen (EKG 53) - 44 trotz dessen finden sich mehr Belegstellen für den Teufel im Osterfestkreis als im Weihnachtsfestkreis‚ 45 womit der Satan offenbar größere Nähe zu den Themen des Osterfestkreises besitzt. Unter den EG-Rubriken im Osterfestkreis ist Passion mit 24 Gesängen die größte, gefolgt von Ostern mit 20, womit annehmbar wäre, dass sich bei Passion die meisten Belegstellen für den bösen Feind finden lassen müssten - die Vermutung wird allerdings nicht durch die Ergebnisse gedeckt, vielmehr zeigt sich ein klarer Schwerpunkt auf Ostern. Im EG verteilen sich die relevanten Lieder auf Passion (3x), Ostern (10x), Pfingsten (7x) - 46 damit ergibt sich ein Verhältnis von rund einem Achtel an Gesängen mit Teufelsexplikationen in 41 Während die Orthodoxie noch an der eigentlich schlichten Gliederung der reformatorischen Gesangbücher festhielt, begann der Pietismus mit einer weitgehenden Neugestaltung der Rubriken; der Rationalismus baute, wenngleich mit anderer Zielsetzung diese Aufgliederung noch deutlich aus. So ist etwa im Neuen Bremischen Psalm- und Gesangbuch [1767] bei den Passionsliedern nicht nur das Leiden Jesu allgemein betrachtet, sondern die Lieder werden gesondert nach Liedern vom Leiden des Leibes und vom Leiden der Seele unterschieden (vgl. Mahrenholz, Das Evangelische Kirchengesangbuch, 45-54). 42 Vgl. Tab. 4 Sp. „EG Rubrik“; „EKG Rubrik“; „Verhältnis EG/ EKG und Original“. 43 Parallel die EKG Rubriken Passion (EKG 54-72), Zum Gedächtnis der Grablegung (EKG 73-74), Ostern (EKG 75-89), Himmelfahrt (EKG 90-96), Pfingsten (EKG 97-108). 44 Vgl. Ameln, Das deutsche Weihnachtslied der Reformation, 184; ebs. vgl. HEKG III/ 1, 149. 45 Im Osterfestkreis wurden 20 Gesänge (EKG 17) gezählt, im Weihnachtsfestkreis hingegen nur 14 (EKG 17). 46 Parallel die EKG Rubriken Passion (1x), Ostern (8x), Himmelfahrt (1x), Pfingsten (7x). <?page no="314"?> 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) 315 der Passionsrubrik und rund der Hälfte in Ostersowie Pfingstliedern. 47 Trotz des Vorkommens von fünf Himmelfahrtsliedern im EG erscheint keines in der Übersicht - EKG 95 steht dort zum Vergleich mit dem Vorgängergesangbuch. Eine Besonderheit des EKG - ohne Fundstelle - ist die getilgte Rubrik „Zum Gedächtnis der Grablegung“ (EKG 73-74). 48 Die EKG-Kommentatoren vermerken zur Bedeutung dieser Kleinstrubrik: „Anhangsweise sind uns unter der Überschrift ‚Zum Gedächtnis der Grablegung‘ zwei weitere, thematisch begrenzte Passionslieder angeboten […]. Ihre liturgische Herkunft wurzelt in dem Brauch, am Karfreitagabend das Kruzifix zum ‚Heiligen Grab‘ in einer Seitenkapelle der Kirche zu tragen, um es dort ruhen zu lassen.“ 49 Die satanologisch relevante Fundstellenhäufung zu Ostern und Pfingsten ist m. E. nicht zufällig, sondern folgt dem theologischen Gehalt der zugeordneten Feste. Dass die Passion in der Rubrikengröße heraussticht, ist kaum verwunderlich, denn protestantisches Christentum ist v. a. „Passionschristentum“, mehr noch „Karfreitagschristentum“. „Die im 17. Jahrhundert sich anbahnende Hervorhebung des Karfreitages als des ‚höchsten Feiertages‘ der evangelischen Kirche hatte auf Kosten des Osterliedes ein gewaltiges Anschwellen der Passionslieder in den Gesangbüchern zur Folge. […] Erst die theologische und liturgische Neubesinnung der Gegenwart hat begonnen, dem Osterfest, und damit auch dem Osterlied, wieder die ihm gebührende Stellung zurückzugewinnen.“ 50 Karfreitag gilt gemeinhin als wichtigster protestantischer Feiertag; seit dem 19. Jahrhundert waren für viele Evangelische Buß- und Bettag sowie Karfreitag die einzigen Abendmahlstage. 51 Diese Hochschätzung hat tiefe Spuren in Kirchenliedern und größeren musikalischen Formen hinterlassen; die Passion 47 EKG: Passion 5 %, Zum Gedächtnis der Grablegung 0 %, Ostern 53 %, Himmelfahrt 14 %, Pfingsten 58 %. 48 „O Traurigkeit, o Herzeleid“ (EKG 73) ist in EG 80 unter Passion mit Ausfall der Str. 4 enthalten, EKG 74 ist im EG nicht enthalten. 49 HEKG III/ 1, 266. „[sc. Wenn das Abfassungsdatum 1628 zu EKG 73 korrekt ist] dann ist vielmehr der Ritus der Grablegung, bei dem man am Karfreitagabend die Monstranz oder das Kruzifix in eine Seitenkapelle zum ‚heiligen Grab‘ brachte, in der katholischen Kirche des 17. Jahrhunderts noch so lebendig gewesen, daß er das geistliche Lied befruchtete. Er war ein Trauerritus, Teil des Dramas von Passion, Ostern, den Triumph von Ostern wirkungsvoll vorbereitend“ (HEKG III/ 1, 314-315). 50 HEKG III/ 1, 319; ebs. vgl. Schmidt-Lauber, Das Pascha-Mysterium im Osterlob, 127. 51 Vgl. Bieritz, Das Kirchenjahr, 123-128; ebs. vgl. EGb 699.719-720. „In der Frömmigkeit evangelischer Christen kommt dem Karfreitag ein besonderer Rang zu. Er gilt vielfach als höchster Feiertag des Kirchenjahres und als einer der wichtigsten Abendmahlstage. Der Hauptgottesdienst am Vormittag des Karfreitrags wird darum in den meisten evan- <?page no="315"?> 316 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken ist das bevorzugte Arbeitsfeld evangelisch geprägter Komponisten seit dem 17. Jahrhundert, viele dieser Werke bewegen bis heute Menschen weit über das christlich geprägte Milieu hinaus. 52 Die Genese der Passionszeit ist kaum rekonstruierbar, die Länge war historisch schwankend und divergiert bis heute zwischen den Konfessionen - 53 Kern der Passion ist aber der Modus innerer Bereitung, welche durch äußere Vollzüge, z.B. Fasten und spezifische Liturgien, verstärkt werden soll. 54 Dass das Wechselspiel zwischen Bereitung und Fest, vorheriger Entbehrung und endlichem Jubel, von ähnlichem gesamtgesellschaftlichen Schicksal wie Advent und Christfest ereilt wurde, bemerkt pointiert Klek: „Analogie und Differenz zur heutigen Weihnachtskultivierung sind zu bedenken. Die Festkultur wird vor dem Fest abgewickelt. Mit dem Festtag aber beginnt die kulturelle Öde - sozusagen das Fasten.“ 55 Dem Sinn des Kirchenjahres folgend, ist der Fokus der Passion dennoch ein bereitend-betrachtender und zwar der menschlichen Seite des göttlichen Erlösers. Jesus wird in den Passionsliedern nicht als Triumphator über Mächte und Gewalten, Teufel und Dämonen gemalt, sondern ist als ohnmächtiges und schweigendes Opferlamm dargestellt. 56 Die Beliebtheit der Passion dürfte vergelischen Kirchen als Abendmahlsgottesdienst begangen“ (Bieritz, Das Kirchenjahr, 125- 126). 52 Für Bachs Zeit ist im mitteldeutschen Raum nachweisbar, dass Passionsmusiken einfacherer Art nicht nur in städtischen Hauptkirchen stattfanden, sondern selbst kleine Dorfkirchen mit ihren Chören leichtere Choralpassionen aufführten (vgl. Braun, Elementare Choralpassionen im Umfeld Johann Sebastian Bachs, 151-155). Wie weitreichend z.B. Bachs Passionen bis heute sind, zeigen Mitmach-Passionen in den Niederlanden, bei denen sich Menschen verschiedener gesellschaftlicher Hintergründe jährlich versammeln. Bei diesen Musikprojekten treffen einander fremde Menschen, keine Profimusiker, sich für ein Wochenende, um gegen Bezahlung an Proben mit einem professionellen Chorleiter und Orchester teilnehmen zu können und schließlich das Werk gemeinsam, meist vor Publikum, aufführen zu können (vgl. Klomp, Die „Passion - Zum Mitsingen“, 98-110). 53 Maßgeblich dürfte für die heutigen 40 Tage die 40tägige Bereitung Jesu auf sein öffentliches Wirken gewesen sein (Mt 4). Die Zahl war lange sehr umstritten, ebenso wie die Frage, was konkret das Fasten umschließt und ob Sonntage oder auch weitere Tage dem Fasten enthoben sind (vgl. EGb 692-694). In der Ostkirche gelten z.B. Samstage nicht als Fastentage, womit eine Vorverlagerung des Fastenbeginns notwendig wird, um 40 Tage einhalten zu können - die Fastenzeit der Orthodoxie beginnt entsprechend um Sexagesimae (vgl. Kunze, Die gottesdienstliche Zeit, 453-460). 54 Vgl. Kunze, Die gottesdienstliche Zeit, 453-454. 55 Klek, Was ist mit Ostern los? , 265. 56 Z.B. EG 86 - Christi Überlegenheit wirkt alles andere als triumphal: „Du, ach du hast ausgestanden / Lästerreden, Spott und Hohn, / Speichel, Schläge, Strick und Banden, / du gerechter Gottessohn, / nur mich Armen zu erretten / von des Teufels Sündenketten. / Tausend-, tausendmal sei dir, / liebster Jesu, Dank dafür“ (EG 86/ 2). <?page no="316"?> 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) 317 mutlich hier ihren Grund haben, denn Leid, Verlassenheit, Schmerz und Angst liegen dem Menschen häufig näher als das Bild des erhöhten Pantokrators, welcher spottend auf die Feinde herabblickt. 57 Die Passionslieder und -musiken bieten Anknüpfungspunkte und Identifikationsmomente, die das Bild des siegreichen Todesüberwinders dem leidgeplagten Menschen nicht zu bieten vermag. 58 Die verstärkte Betrachtung Karfreitags und der Passion in Chorälen hat sich v. a. im 17. Jahrhundert entwickelt - in größeren Formen sogar erst im 18. Jahrhundert; 59 das 16. Jahrhundert schuf hingegen verhältnismäßig wenig Passionslieder. 60 Das Passionsinteresse des 17. Jahrhunderts geht mit zeitgleicher Wendung zur Mystik einher, die sich meditierend den Leiden und Wunden Jesu zuwandte, und führte zu einer tiefgehenden Entwicklung. 61 „Einfach ausgedrückt geht diese Entwicklung von der reform. Rechtfertigungslehre zum barocken Blut- und Wundenkult, oder anders: vom protestantisch-dogmatischen Gehalt zum katholisch-mystischen Erleben. Als neue Elemente kommen ins ev. Passionslied hinein: eine Betonung des kath. Willensmomentes und der tätigen Buße (gegenüber dem prot. Buchstabenglauben), ferner die Leidensausmalung und die Kontemplation.“ 62 57 Dies erklärt das ungebrochene Interesse an Passionsmusik u.a. in Krisen- und Notzeiten. Kurt von Fischer erklärt, dass im 30jährigen Krieg und in der kriegs- und entbehrungsreichen ersten Hälfte des 20. Jh. vermehrt Passionsmusiken komponiert und rezipiert wurden (vgl. Fischer, Die Passion im 20. Jahrhundert, 30). Diese Beobachtung lässt sich am EG nachzeichnen, da unter Passion allein aus der Zeit des 30jährigen Krieges fünf Gesänge enthalten sind. 58 Vgl. Schuberth, Resurrexit tertia die, 79. 59 Eine reichhaltigere Musik, die über schlichten evtl. unbegleiteten Gemeindegesang hinausging, war in der Fastenzeit lange undenkbar; Passion war ein tempus clausum. Erst das neue Selbstbewusstsein der Musiker und die sukzessive Entmachtung der Kirche über öffentliches Leben, machte konzertante Musik seit Mitte des 18. Jh. möglich (vgl. Klek, Was ist mit Ostern los? , 264). 60 Im EG entstammen von 23 Gesängen nur vier dem 16. Jh., zehn aber dem 17. Jh. Prominent aus dem 16. Jh. sind v. a. „Da Jesus an dem Kreuze stund“, „Christus, der uns selig macht“ und „O Mensch, bewein dein Sünde groß“. „Es sind dies die einzigen Passionslieder, die im 16. Jahrhundert detempore-Charakter bekommen.“ (Blankenburg, Die deutsche Liedpassion, 18). Vielleicht profiliertester Dichter und Sammler von Passionsliedern im 16. Jh. ist Michael Weiße; in seinem Gesangbuch [1531] finden sich diverse Passionsgesänge, v. a. sogenannte Liedpassionen - in Choralform gebrachte Nacherzählungen der Leidensgeschichte (vgl. Blankenburg, Die deutsche Liedpassion, 13). 61 „Der Schritt zum evangelischen Passionslied des 17. Jahrhunderts bedeutet eine ähnliche Wendung wie der vom Hymnus der alten Kirche zum Lied der Mystik. Es handelt sich hier nicht nur um einen zufälligen Gleichklang, vielmehr bestehen direkte Beziehungen zwischen den beiden geschichtlichen Perioden. Von der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts an drang die mittelalterliche Mystik auf dem Weg über die Erbauungsliteratur in breitem Strom in die evangelische Frömmigkeit ein.“ (HEKG III/ 1, 263). 62 Werthemann, Geschichte des evangelischen Passionsliedes, 198. <?page no="317"?> 318 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken Bekanntes Beispiel für die Aufnahme mystischer Traditionen ist Gerhardts „O Haupt voll Blut und Wunden“ (EG 85) - Dichtungen wie diese führten aber auch zu einer gelegentlich gegenwärtigen Reserviertheit gegenüber Passionsliedern. „Die Kreuzeszentrierung der lutherischen Theologie bereitet derzeit allenthalben Unbehagen, die musikalisch vielfach kultivierten Passionslieder stehen im Kreuzfeuer der Kritik. Plausibilität hat heute nur, was als unmittelbar lebensförderlich sich erschließt.“ 63 Passionslieder sind drastisch, malen Leiden farbenreich aus, aber sie handeln - das ist entscheidend für diese Untersuchung - nicht vom Teufel, sondern bleiben beim physischen Leiden Christi. 64 Gedanken von satanologischem Interesse sind in den drei aufgelisteten Passionsgesängen (EG 86.93.94) spärlich - 65 EG 94 ist zwar aufgeführt, aber letztlich bleibt der Teufel kurz erwähnter Statist: „Wir sind nicht mehr die Knechte / der alten Todesmächte / und ihrer Tyrannei. / Der Sohn, der es erduldet, / hat uns am Kreuz entschuldet. / Auch wir sind Söhne und sind frei“ (EG 94/ 5). Das 16. Jahrhundert war gegenüber dem 17. am Osterlied interessiert. 66 Wie erwähnt, dichtete z.B. Luther kein Passionslied; für ihn ist das Leiden Christi ein Leiden, welches notwendig dem Ostersieg vorangeht und deshalb in Osterliedern seinen Platz findet. 63 Klek, Was ist mit Ostern los? , 266. „An dieser Stelle liegt für viele Gläubige ein Knackpunkt: Religion ist da modern, wo sie blut- und gewaltfreie Mahl- und Verkündigungspraxis suggerieren kann, bei der dann jedoch das Ausmaß der Bedeutung des Kreuzesgeschehens unvollständig bleibt. Der Teil von Ostern, der Leid, Gewalt und Tod beinhaltet, wird gerne aus der Auferstehungsfreude außen vor gelassen. Schwierigkeiten entstehen oft dort, wo der Zwiespalt zwischen Tod und Auferstehung und dem Gewaltaspekt, der in diesem Geschehen liegt, erklärt werden soll.“ (Reiling, „… Am Stamm des Kreuzes geschlachtet …“, 81). 64 Das Ausmahlen der Leiden darf bis heute als dominierende Art des Passionsliedes gelten und baut auf Passionsberichten der Evangelien auf, daneben existiert als weitere Richtung ein auf neutestamentlicher Briefliteratur aufbauender Typus, der das Leiden zu deuten versucht (vgl. HEKG III/ 1, 260). Auch die aufgelisteten Gesänge zeigen diese Spuren, EG 86 erstere und EG 94 eher letztere. Diese Leidensmeditation zieht sich durch alle Perioden der Dichtung: „Im Blick auf das Ganze der Passionslieder wird man sagen dürfen, daß bei aller Verschiedenheit der einzelnen Perioden der Dichtung doch die entscheidenden Grundzüge evangelischer Passionsbetrachtung durch die Jahrhunderte hindurch gewahrt bleiben: das erschütternde Geständnis der eigenen Schuld angesichts des Gekreuzigten […], das große Staunen über das Wunder der Liebe, durch das diese Schuld bedeckt wird […], und endlich der Dank für diese Liebe und der Entschluß zur Nachfolge in Leben, Leiden und Sterben […].“ (HEKG III/ 1, 266). 65 Vgl. Tab. 4 Sp. „Phrase mit Teufel“. 66 Vgl. HEKG III/ 1, 262. <?page no="318"?> 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) 319 „Luthers Osterlieder enthalten oder sind zugleich seine Passionslieder. Denn für Luther ist Ostern überhaupt nicht anders da als mit Karfreitag zusammen, für Luther gehören Auferstehung und Kreuz unlöslich zusammen. Das, was sich in unsern Gesangbüchern heute im allgemeinen unter der Überschrift ‚Passion‘ zusammenfindet, ist tatsächlich nicht ohne Grund von Luther nicht gedichtet worden. Denn Passion ohne Ostern, ein Besingen des Leidens Christi ohne ausdrücklichen Hinweis auf seine Auferstehung, gibt es bei Luther nicht. Passionslieder im engeren Sinn, d. h. ohne Hinweis auf Ostern, […] sind in der Tat undenkbar bei Luther.“ 67 Reformatorische Osterlieder sind implizit fast immer auch Passionsgesänge, da sie vom Sieg über vorangegangene Leiden und den Tod handeln und dieses in vorderen Strophen oftmals eigens ausführen. 68 Darin knüpft das 16. Jahrhundert mit den Osterliedern an das altkirchliche Verständnis an, nach welchem Kreuz und Auferstehung nur wechselseitig interpretierbar sind - 69 es darf als Verdienst der Reformation gelten, den mittelalterlichen triumphalen Christus wieder neu in Beziehung zum leidenden Gottesknecht ( Jes 53) gesetzt zu haben. 70 Dieses untrennbare Wechselspiel zwischen Kampf und Sieg, Leben und Tod, Passion und Ostern, schlägt sich deutlich im reformatorischen und darauf aufbauenden Osterliedgut nieder. 71 Liturgiegeschichlich war dieser theologische Zusammenhang in den ersten Jahrhunderten noch klarer herausgestellt - Ostern war das Hauptfest, alle weiteren Feste und Zeiten waren Vorbereitung oder nachbereitende Explikation 67 Müller, Luthers Osterlieder, 81; ebs. vgl. Kappner, Die Anfänge des deutschen Osterliedes, 126; ebs. vgl. Blankenburg, Die deutsche Liedpassion, 14-15. 68 Vgl. Albert-Zerlik, „Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden“, 143. Albert-Zerlik hat bei Untersuchung gegenwärtiger Gesangbücher ermitteln können, dass in älterem Liedgut (16.-19. Jh.) rund 60 % der Osterlieder zugleich Bezug auf Passion nehmen (vgl. Albert-Zerlik, Wandlungen in Glaubensverständnis und Spiritualität, 102). Wie eng Tod und Leben im Osterlied verbunden sein können, zeigt z.B. EG 111, wo mit dem Tod ein jubelndes Halleluja verknüpft ist: „Am Kreuz lässt Christus öffentlich / vor allem Volke töten sich; / […] Halleluja“ (EG 111/ 6). 69 HEKG III/ 1, 259-263. Die ersten überlieferten Hymnen binden Kreuz und Auferstehung, ähnlich wie die Liturgie, zusammen - mit Differenzierung einzelner Festtage und ihrer Inhalte entstehen gesonderte Passionsgesänge, in denen die Frohbotschaft in den Hintergrund rückt (vgl. HEKG III/ 1, 260). 70 Vgl. Brodde, Kleine Geschichte der Passion, 94. Jes 53 war in der Passionsdichtung des 16. und 17. Jh. populärer Bezugsmoment (vgl. Fischer, Die Passion im 20. Jahrhundert, 32; ebs. vgl. Axmacher, Johann Heermanns Passionslied, 180), daneben war in der lutherischen Orthodoxie v. a. Joh 1‚29 von weitreichendem Einfluss (vgl. Koch, Drei Passionslieder Paul Gerhardts, 5). 71 Zu ergänzen ist, dass die Passionslieder immer auch aus der Perspektive überstandener Leiden geschrieben sind, weshalb in ihnen ein Osteraspekt und eine daraus gespeiste Dankbarkeit mitgehört werden können (vgl. HEKG III/ 1, 260). <?page no="319"?> 320 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken dessen. Die Alte Kirche zeichnete diese universale Bedeutung von Ostern in der die Heilsgeschichte betrachtenden Osternachtsliturgie nach. 72 „Die Feier der Osternacht ist die zentrale Feier der alten christlichen Liturgien aller Überlieferungszweige in Ost und West. In ihr gipfelt das ‚paschale mysterium‘, das österliche Geheimnis der Erniedrigung und Erhöhung Christi in Leiden, Tod, Auferstehung und Himmelfahrt. Ihre Gestalt hat sich im Lauf mehrerer Jahrhunderte entwickelt, wobei die seit dem späten 4. Jh. bezeugte Tradition Jerusalems richtungweisend war. Die gemeinsame Grundstruktur besteht aus Lichtfeier, Lesegottesdienst, Initiationsfeier und Eucharistie.“ 73 Dieser liturgische Weg von Schöpfung, über Fall, zu Neuschöpfung, ein Kampfgeschehen von kosmischem Ausmaß zwischen Leben und Tod, zwischen dem, der selbst das Leben ist, und dem Teufel, der Herr über den Tod ist (Hebr 2‚14), mündet im, in der Fastenzeit verstummten, nun aber jubelnd dargebrachten Halleluja, dem Idiom der Osterlieder schlechthin. 74 Das Exsultet‚ 75 die die ganze Welt- und Heilsgeschichte durchschreitenden Lesungen, die Symbolik von Osterkerze 76 und Taufwasser etc., spannten zugleich einen Bogen zum erst von der Auferstehung her verstehbaren Festinhalt der Himmelfahrt und Geistaus- 72 So alterwürdig die Osternacht auf den heutigen Besucher auch wirkt, sie ist eine nach Jahrhunderten erst durch die liturgischen Erneuerungen in der ersten Hälfte des 20. Jh. auf evangelischer und katholischer Seite rückgewonnene Einrichtung (vgl. Schuberth, „Resurrexit tertia die“, 85; ebs. vgl. Schmeisser, „O wahrhaft seelige Nacht! “, 89). Seit dem Mittelalter wurde die Bedeutung der Osternacht als wichtigstem Gottesdienst des Jahres zunehmend vergessen; vor dem II. Vatikanum war es üblich, die Osternacht am Karsamstagmorgen [! ] zu feiern (vgl. Schmidt-Lauber, Das Pascha-Mysterium im Osterlob, 126). 73 Gerhards, Das Exsultet - die Ouvertüre der Osternachtsliturgie, 10; ebs. vgl. Kunze, Die gottesdienstliche Zeit, 451; ebs. vgl. Schütz, „Was habe ich dir getan, mein Volk? “, 37. 74 Das Halleluja und die pragmatische Haltung des Jubels sind eines der wichtigsten Kennzeichen v. a. älterer Osterlieder. Im EG enthalten 8/ 20 Gesängen mindestens einmal Halleluja (vgl. HEG I, 196-198). Für Luther war Halleluja, oft in Einheit mit dem als Ostermodus geltenden dorischen Ton, das Kennzeichen wahrer Kirche, eine perpetua vox ecclesiae (vgl. Kappner, Die Anfänge des deutschen Osterliedes, 127). U.a. greift Luthers „Christ lag in Todesbanden“ den Kampf zwischen Leben und Tod auf und mündet ins Halleluja: „Es war ein wunderlich Krieg, / da Tod und Leben ’rungen; / das Leben behielt den Sieg, / es hat den Tod verschlungen. / Die Schrift hat verkündet das, / wie ein Tod den andern fraß, / ein Spott aus dem Tod ist worden. / Halleluja“ (EG 101/ 4). 75 Obwohl das Exsultet der vielleicht bedeutendste Gesang der Christenheit ist, v. a. einer der ältesten, sind dessen Themen Nacht oder Wasser/ Flut wenig im Osterlied vernehmbar (vgl. Stock, Kleines Motivregister christlicher Ostergesänge, 204). 76 Vielen kaum mehr bewusst ist neben der Christus-Symbolik der Osterkerze die alttestamentliche Deutung, die die säulenhafte Vortragekerze mit der Israel vorangehenden Feuer-/ Wolkensäule (Ex 13) identifiziert (vgl. Schmidt-Lauber, Das Pascha-Mysterium im Osterlob, 139; ebs. vgl. Schuberth, Über Ursprung und Sinn der Osterkerze, 94-100; ebs. vgl. Franz, Licht in der Liturgie, 154-157). <?page no="320"?> 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) 321 gießung. 77 Eigene Festtage für Himmelfahrt und Pfingsten sind Bildungen, die erst mit weiterer Entwicklung des Kirchenjahres entstanden und vom chronologisierenden Interesse gegenüber biblischen Berichten im Nachgang der Auferstehung motiviert waren. 78 „In einem ersten Schritt kam es zur Ausgliederung der Heiligen Drei Tage (Triduum Sacrum): Karfreitag als Sterbetag, beginnend mit dem Vorabend, Karsamstag als Tag der Grabesruhe, Ostersonntag als Tag der Auferstehung. Das bedeutete eine Lockerung und Entfaltung der ursprünglichen Einheit der Osterfeier. Bald wurde die ganze Woche vor Ostern als Heilige Woche begangen und am Palmsonntag mit der Feier des Einzugs Jesu in Jerusalem eröffnet. Eine entsprechende Ausgestaltung erfuhr auch die österliche Freudenzeit: Der 50. Tag nach Ostern (Pentekoste, eingedeutscht Pfingsten), ursprünglich wohl festlicher Abschluss der Osterfeier, erhielt jetzt durch den Bezug auf die Ausgießung des Heiligen Geistes - als Erfüllung und Besiegelung der österlichen Geheimnisse - einen eigenen Zuschnitt. Ebenfalls gemäß der lukanischen Chronologie beging man nun am 40. Tag nach Ostern das Gedächtnis der Himmelfahrt Christi.“ 79 77 „Das Geheimnis von Kreuz und Auferstehung wurde als das eine umfassende neue Pascha-Mysterium des Übergangs vom Tod zum Leben gesehen und auch als untrennbare Einheit, zu der die Erhöhung und auch die Geistausgießung gehörten, gefeiert.“ (Schmidt-Lauber, Das Pascha-Mysterium im Osterlob, 127). 78 Vgl. Franz, „O zieh uns immerdar zu dir“, 93; ebs. vgl. Boeckh, Die Entwicklung der altkirchlichen Pentekoste, 7. Überlegungen zur Aufgliederung dürften zwischen Ende des 2. und dem 4. Jh. begonnen haben, wobei Pfingsten seit Ende des 2. Jh. in Nordafrika, Himmelfahrt nicht vor dem 4. Jh. belegt sind (vgl. Boeckh, Die Entwicklung der altkirchlichen Pentekoste, 12.18; ebs. vgl. Bieritz, Gedächtnis des Glaubens, 257). Neben der Frage nach chronologischer Differenzierung einzelner Festinhalte, war für die ersten Jahrhunderte die Frage nach dem rechten Termin des Gedenkens vom Leiden und Sterben des Herrn von Brisanz, hinzu kam die Frage einer einheitlichen Berechnungsgrundlage, um den Termin zu bestimmen. Wollte man eher die Verbindung mit dem jüdischen Festkalender herstellen, bedeutete dies eine Feier am 14. Nisan, die mehr den Tod Jesu abbildete, wohingegen eine Feier am 16. Nisan eher Auferstehung und Neuschöpfung betonte. Schließlich einigte sich die Alte Kirche in Nicäa 325 auf den ersten Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond für das Osterfest (vgl. Müller, Zum Gespräch um den Ostertermin, 112-118; ebs. vgl. Kunze, Die gottesdienstliche Zeit, 449-452). 79 Bieritz, Gedächtnis des Glaubens, 258. „Mit dem Übergang von der Trauer zur Freude in der Ostervigil, dem Fastenbrechen, beginnt die Pentekoste, die 50tägige Freuden- und Hoch-Zeit der Kirche. Sie wird für Kleinasien erstmals bezeugt in den Paulusakten um 200 n. Chr., für Nordafrika von Tertullian […]. Es sind sozusagen 50 Herrentage in ununterbrochener Folge, abgeschlossen mit dem 50. Tage […], woraus unser Wort Pfingsten entstanden ist. Pfingsten ist also kein selbstständiges Fest neben Ostern und (später) Weihnachten, sondern gehört völlig zu Ostern, es schließt die Zeit ab, die in der Osternacht mit dem Fastenbrechen angebrochen ist. […] Dieser Höhengrat wurde auch weder unterbrochen noch überhöht vom Himmelfahrtsfest. Uns ist es selbstverständlich, diesen Tag 40 Tage nach Ostern zu begehen, gemäß dem Bericht des Lukas in der Apostelge- <?page no="321"?> 322 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken Unter Beachtung dieser inneren, von Ostern ausgehenden und darauf zulaufenden Beziehungen, wird die Vielgestaltigkeit von Themen und Motiven der Ostergesänge verständlich. Albert-Zerlik hat die häufigsten Motive statistisch erfasst und fand in mindestens 50 % älterer Osterlieder (bis 19. Jahrhundert) die Motive Auferstehung, Erlösung, Sieg, Passion, Freude, Vollendung; bei weniger als 50 % der Lieder zeigten sich zusätzlich die Motive Verbundenheit mit Jesus, Grabauffindung, ethisches Handeln, Frühling, Verklärung, Erscheinung, Reich Gottes und Aufbruch. 80 Bei vielen der ermittelten Themen ist der Bezug zum Teufel offensichtlich - Karfreitag, Karsamstag und Ostern sind nach biblischem Zeugnis, wie in Osterliedern, der Ort, an dem der Teufel sein letztes - aber entscheidendes - Gefecht zu kämpfen hat. Christus ringt am Kreuz und in der Höllenfahrt 81 mit den dämonischen Mächten von Sünde, Tod und Teufel, Gesetz, Hölle sowie deren Verbündeten - und er siegt in diesem Kampf für Zeit und Ewigkeit dem menschlichen Sünder zugute. Nicht immer erscheinen alle diese Begriffe in den Dichtungen, aber das Kampfmotiv ist allgegenwärtig. 82 Die Fülle an Bezügen kann exemplarisch in „Auf, auf, mein Herz, mit Freuden“ beobachtet werden: schichte 1‚3; die alten Christen dachten daran nicht. Die Evangelien enthalten ja auch keinen eindeutigen Hinweis auf einen 40. Tag, im Gegenteil. Zwei Überlieferungen gehen nebenher: Christus ist am Auferstehungstage oder am 50. Tag gen Himmel gefahren, vielmehr: man hat an diesen Terminen das Gedächtnis der Himmelfahrt liturgisch begangen, ohne aber ein Fest daraus zu machen.“ (Kunze, Die gottesdienstliche Zeit, 452). 80 Vgl. Albert-Zerlik, Wandlungen in Glaubensverständnis und Spiritualität, 126-127. Viele der von Albert-Zerlik herausgearbeiteten Motive hatte schon Stock, wenngleich nicht auf statistischer Basis, aufgezeigt (vgl. Stock, Kleines Motivregister christlicher Ostergesänge, 201-224). Dramatisch mutet das Ergebnis an, dass in neueren Werken (v. a. zweite Hälfte des 20. Jh.) die theologisch zentrale Botschaft der Auferstehung weniger häufig expliziert wird, daneben der Leidensaspekt als Voraussetzung verdrängt wird, dazu eine Banalisierung des Auferstehungsbekenntnisses spürbar wird, nach welcher Auferstehung vergleichbar mit Genesung nach Krankheit sei (Vgl. Albert-Zerlik, Auferstehungsverständnis im Wandel, 73-79). In neueren Osterliedern (20. Jh.) hat sich der Schwerpunkt vom Leiden verabschiedet und betont stärker den auf ethisches Handeln zielenden Aspekt (vgl. Albert-Zerlik, Wandlungen in Glaubensverständnis und Spiritualität, 128-129). Zugegeben ist diese Tendenz am EG weitgehend vorbeigegangen, da die Beharrungskräfte so stark waren, dass Lieder des 20. Jh. ohnehin rar sind (EG 116.117.118) und vermutlich nur eines (EG 116) wirklich aus dem 20. Jh. stammt und nicht auf ältere Vorlagen zurückgeht. 81 Wenngleich die Höllenfahrt durch das biblische Zeugnis nur zu erahnen ist, hat sie doch in christlicher Ikonographie und Liedern zum Osterfest eine eigene Wirkungsgeschichte erfahren (vgl. Schulz, Singen wir heute mit einem Mund, 47-54). 82 Viele Osterlieder gehen von 1Kor 15 aus, wo der Teufel nicht benannt ist, dennoch wird dieser in kanonischer Lesart als Herr über den Tod (Hebr 2‚14) oft neben jenen geordnet: „O Tod, wo ist dein Stachel nun? / Wo ist dein Sieg, o Hölle? / Was kann uns jetzt der Teufel tun, / wie grausam er sich stelle? “ (EG 113/ 1). <?page no="322"?> 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) 323 „Er war ins Grab gesenkt, / der Feind trieb groß Geschrei; / eh er’s vermeint und denket, / ist Christus wieder frei / und ruft Viktoria, / schwingt fröhlich hier und da / sein Fähnlein als ein Held, / der Feld und Mut behält“ (EG 112/ 2). 83 Da mit Christi Sieg alle Verderbensmächte entmachtet und unter Christi Herrschaft gestellt sind, verstand die Alte Kirche nach Röm 8‚21 den Sieg als kosmisches Ereignis und Neuschöpfung‚ 84 die in Osterliedern oft mit Frühlingsbildern verdeutlicht wird. 85 Im EG findet die Frühlingsmetaphorik z.B. in „Die ganze Welt, Herr Jesu Christ“ Niederschlag: „Jetzt grünet, was nur grünen kann, / Halleluja, Halleluja, / die Bäum zu blühen fangen an. / Halleluja, Halleluja“ (EG 110/ 3). Dieses kosmische Ereignis der Auferstehung hat liturgiegeschichtlich eine nachfolgende Freudenzeit erhalten, womit sich eine Erklärung für das häufige Vorkommen des Teufels in Pfingtsliedern auftut. 86 Pfingsten feiert das eine Osterereignis und den damit verbundenen Sieg über Sünde, Tod und Teufel weiter - 87 die Alte Kirche betrachtete die 50 Tage nach Ostern nicht als Feiertage verschiedener Inhalte, sondern als einen zusammenhängenden Festtag. 88 Jesus 83 Die Höllenfahrt als Teil des Osterjubels findet sich u.a. in „Singen wir heut mit einem Mund“: „Lob sei dir für und für, Jesus Christ, / daß du bist sünd’ger Welt Heil und Held, / der das Feld im Kampf mit Tod und Höll behält“ (EG 104/ 1). 84 Die kosmische Dimension wird u.a. in „Erschienen ist der herrlich Tag“ besungen: „Die Sonn, die Erd, all Kreatur, / alls, was betrübet war zuvor, / das freut sich heut an diesem Tag, / da der Fürst der Welt darniederlag. / Halleluja“ (EG 106/ 4). 85 „Die Auferstehung Christi kann als ein auch die Natur betreffendes (und nicht bloß metaphorisch nutzendes) Ereignis verstanden werden, weil die Position des auferstandenen Christus als äquivalent zu der des Schöpfers angesehen wird. […] Ostern ist in diesen Frühlingsliedern nicht bloß spirituelles Ereignis, das sich von der vergänglichen Natur die schönsten Sinn-Bilder entwirft, sondern selbst auch Naturereignis ‚auf die Hoffnung hin, daß auch das Geschaffene selbst befreit werden wird von der Knechtschaft des Verderbens‘ (Röm 8‚21).“ (Stock, Kleines Motivregister christlicher Ostergesänge, 215; ebs. vgl. Albert-Zerlik, Wandlungen in Glaubensverständnis und Spiritualität, 107; ebs. vgl. Schmeisser, Widerschein des Göttlichen, 148). 86 Es existieren kaum längere wissenschaftliche Betrachtungen über Pfingstlieder, die deren theologischen Gehalt zu erfassen versuchen - was den Geist in der Hymnologie betrifft, scheint es sich parallel zur Dogmatik zu verhalten. Seit Luther, mehr noch in der Orthodoxie, gelangte die lutherische Theologie zu einer Betonung der Christologie und versuchte, den schwer zu systematisierenden Geist in der Trinität zu verorten und zu beschreiben (vgl. Petzoldt, Das Thema des Geistes und der Trinität bei Bach, 80-89). 87 Dennoch erfolgt ein Rückblick auf Kreuz und Auferstehung in Pfingstliedern äußerst selten, außerdem ist Christus im Text selten installiert (vgl. Tab. 4 Sp. „Wichtige Textgegenstände“; ebs. vgl. HEKG III/ 1, 378). 88 „Die ganze Pentekoste [sc. 50tägige Festzeit], der dies festus, ist ein großer Tag des Herrn, der […] den gleichen Sinn, die gleiche Bedeutung wie der Herrentag hat. […] Wie der Ostersonntag Himmelfahrt und Geistsendung einschließt, ist umgekehrt jeder Tag der Pentekoste Ostersonntag, ein Tag der Auferstehung. Erst, nachdem die 50 Tage zu einem <?page no="323"?> 324 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken geht zum Vater, aber er lässt die Seinen nicht als Waisen zurück, er sendet den Geist, der bei den Gläubigen wohnt und sie ebenfalls zu Siegern über Sünde, Tod und Teufel macht. Heinrich Held dichtete: „O du Geist der Kraft und Stärke, / du gewisser, neuer Geist, / fördre in uns deine Werke, / wenn des Satans Macht sich weist; / wappne uns in diesem Krieg / und erhalt in uns den Sieg. / Herr, bewahr auch unsern Glauben, / daß kein Teufel, Tod noch Spott / uns denselben mögen rauben“ (EG 134/ 6.7). Der Sieg ist Ostern errungen und dessen Erhaltung und Bewährung durch das Leben hindurch wird mit Pfingsten entfaltet. Vielfach wurde bemerkt, dass Pfingstlieder meist Bittlieder sind‚ 89 man denke exemplarisch an die Incipits „Komm, Heiliger Geist, Herre Gott“ (EG 125) oder „Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist“ (EG 126) - auch darin wird ein Traditionsstrang der Alten Kirche aufgenommen. War der Festinhalt von Himmelfahrt ursprünglich verbunden, sowohl mit Ostern als auch mit Pfingsten‚ 90 so war die Zeit der Pentekoste nach der Auffahrt des Herrn eine Zeit der Erwartung auf ein erneutes Erscheinen zur letzten Wiederkunft des Herrn am Ende der Tage. Dabei wurde zugleich um die verheißene Ankunft des Herrn als bzw. im Geist gebeten (2Kor 3‚17), wie es Pfingstgesänge zum Ausdruck bringen. 91 großen Sonntag geworden waren, wurde es möglich, die Heilsereignisse auf verschiedene Tage in dieser Zeit festzulegen und dabei den Ostersonntag auf die Feier der Auferstehung zu beschränken.“ (Boeckh, Die Entwicklung der altkirchlichen Pentekoste, 40-41). 89 „Was hat diese bis ins Mittelalter zurückgehende Tradition zu bedeuten? Sie will uns sagen, daß es nicht so wichtig ist, über das Wunder des Heiligen Geistes geschichtlich berichtend oder dogmatisch zu reden. Vom Heil. Geist recht reden heißt: um ihn bitten. […] Darum ist der Cantus firmus aller unserer Bitten in unsern Liedern das ‚Komm! Kehr ein! Besuche! “ (HEKG III/ 1, 377). Die Bitthaltung ist stark präsent im EG (vgl. Tab. 4 Sp. „Sprecherhandlung“). 90 Der Himmel und seine Welt hat aber auch einen Bezug zur Passion, denn dort ereignet sich ein spiegelbildliches Geschehen zur vorherigen Niederfahrt des Menschensohnes zur Erde und damit zu seiner Passion - für die Alte Kirche war dieser innere Zusammenhang zwischen Kommen ins Fleisch sowie Auferstehung und Himmelfahrt sehr deutlich (vgl. Schmidt-Lauber, Das Pascha-Mysterium im Osterlob, 140). Die Heilsgeschichte spielt sich im Wechselspiel zwischen Himmel und Erde ab, wie es z.B. „Holz auf Jesu Schulter“ ausgedrückt: „Denn die Erde klagt uns / an bei Tag und Nacht. / Doch der Himmel sagt uns: / Alles ist vollbracht! “ (EG 97/ 3; ebs. vgl. Arnold, „Himmlische Grüße“, 165). 91 „Wir können sie [sc. die Pentekoste], wenn auch in einem anderen als dem uns geläufigen Sinne, als Adventszeit der Alten Kirche bezeichnen, denn in ihr wurde der adventus des Herrn im Geist erlebt und sein letzter Advent erwartet. Gegenwärtige und zukünftige Eschatologie sind in der Pentekoste miteinander verbunden.“ (Boeckh, Die Entwicklung der altkirchlichen Pentekoste, 40). Im Osterfestkreis haben nicht nur Pfingstlieder einen adventlichen Klang, daneben muss bedacht werden, dass Palmarum und Advent vielfach Texte und Lieder teilen, die vom Einzug des Königs handeln (vgl. HEKG III/ 1, 265). „Tochter Zion“ (EG 13) ist z.B. im Ursprung ein Palmarumsgesang (vgl. HEG III/ 5, 17). <?page no="324"?> 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) 325 Obwohl die Himmelfahrtsrubrik im EG kein satanologisch relevantes Lied (im EKG eines! ) bietet, soll kurz der spezifische Klang des Festes aufgezeigt werden, der ursprünglich dem Osterfest selbst zu eigen war und in dessen Liedern immer noch vernehmbar ist. „So wie das Himmelfahrtsfest mitten in der österlichen Freudenzeit steht, so kann auch seine Botschaft nicht ohne Ostern verstanden werden. Die ältere Christenheit sah in Höllenfahrt und Himmelfahrt Jesu die beiden Seiten eines Vorgangs, in dem Christus sein Erlösungswerk vollendet und die Herrschaft an sich nimmt über alles, was ‚im Himmel und auf Erden und unter der Erde‘ ist (Phil. 2‚10; vgl. auch Wendungen wie ‚fuhr hinunter zu der Höll und wieder zu Gottes Stuhl‘ 1‚3). Aber auch mit Pfingsten ist die Feier der Himmelfahrt verbunden, weil ja Christi Rückkehr zum Vater die unmittelbare Voraussetzung für die Sendung des Geistes war.“ 92 Himmelfahrt ist die konsequente Fortführung des Sieges über Tod und Teufel‚ 93 der glorreiche Sieger fährt auf und nimmt seinen Thron als König des Himmels und der Erden ein‚ 94 worin sich die zukünftig verheißene Herrschaft der Gläubigen mit Christus ankündigt. 95 Insofern ist Himmelfahrt daneben die Voraussetzung für das katholisch begangene Christkönigsfest. 96 Die Herrschaft 92 HEKG III/ 1, 361. 93 Enge Beziehungen zwischen Ostern und dem Himmel bestehen u.a. in den Osterliedern „Auf, auf, mein Herz, mit Freuden“ (EG 112/ 7: „Er dringt zum Saal der Ehren, / ich folg ihm immer nach / und darf mich gar nicht kehren / an einzig Ungemach“) und „Heut triumphieret Gottes Sohn“ (EG 109/ 5: „Dafür wir danken all zugleich / und sehnen uns ins Himmelreich. / Halleluja, Halleluja“). 94 In der Himmelfahrt verbinden sich die biblischen Linien der Auffahrt (Apg) mit jener der Erhöhung (Phil) zu einem gemeinsamen Festinhalt (vgl. Franz, „O zieh uns immerdar zu dir“, 86-87). 95 „Er ist der ‚König der Ehren‘, den die irdische und die himmlische Gemeinde samt allen Mächten und Herrschaften der unsichtbaren Welt rühmt […]. So wird der Himmelfahrtstag zum eigentlichen ‚Christkönigsfest‘. Die andere Gedankenreihe geht davon aus, daß durch Christi Himmelfahrt nun auch uns die Pforten zum Himmel geöffnet sind und wir als die ‚Nachfahrenden‘ dorthin gelangen dürfen.“ (HEKG III/ 1, 361). Himmelfahrt muss gesamtgesellschaftlich zu den verdrängten Festen gezählt werden, was nicht zuletzt damit zusammen hängt, dass der Begriff Himmel für viele nicht mehr verstehbar ist, bzw. er sich mit einer Fülle „süßlicher“ Assoziationen verbunden hat und dadurch den eigentlichen Inhalten des Himmelfahrtsfestes kaum gerecht wird (vgl. Franz, „Weißt du, wo der Himmel ist? “, 401-409). Insofern konnte das Bemühen der Aufklärungsgesangbücher, süßliche Jesuserotik aus den Liedern herauszuschreiben (vgl. Ühlein, Kirchenlied und Textgeschichte, 226-243), eher als Gewinn für das Fest gesehen werden - weniger sinnvoll war das Tilgen militärischer Passagen, die durch Kampf- und Siegbilder die Herrschaft Jesu verdeutlichten und zugleich seine Überlegenheit über alle dämonischen Mächte herausstellten (vgl. Ühlein, Kirchenlied und Textgeschichte, 34-53). 96 Ühlein hat darauf hingewiesen, dass die Inhalte von Christkönigsfest und Himmelfahrt kaum zu unterscheiden sind, weshalb Himmelfahrtslieder für das weit später geschaffene <?page no="325"?> 326 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken Christi über alle Gewalten, einschließlich des Teufels, stellt u.a. „Jesus Christus herrscht als König“ heraus: „Fürstentümer und Gewalten, / Mächte, die die Thronwacht halten, / geben ihm die Herrlichkeit; / alle Herrschaft dort im Himmel, / hier im irdischen Getümmel / ist zu seinem Dienst bereit“ (EG 123/ 2). Dass Ostern und Himmelfahrt und Pfingsten vom selben Freudenereignis herkommen, zeigt auch das in Himmelfahrtsliedern vorfindliche Halleluja (EG 119.120.121) sowie die in Himmelfahrtsgesängen eingeschlossene Geistsendung: „Christ fuhr gen Himmel. / Was sandt er uns hernieder? / Den Tröster, den Heiligen Geist, / zu Trost der ganzen Christenheit. / Kyrieleis“ (EG 120) 97 . Wie dargestellt, strahlt das Osterfest auf umliegende Vorbereitungs- und Freudenzeiten aus; nur von Ostern her werden diese Festtage und -zeiten verständlich und erhalten einen inneren Zusammenhang. Dieser Zusammenhang ist in den Liedern der den Festen zugeordneten Rubriken vernehmbar, womit eine gemeinsame Betrachtung angeraten erscheint. Teufelsnamen und weitere Textgegenstände Um den Satan im Osterfestkreis genauer beschreiben zu können, ist es sinnvoll, sich die Bezeichnungen und deren biblische Bezüge zu vergegenwärtigen, außerdem scheint ein Blick auf weitere Textgegenstände geboten. In den aufgelisteten Liedern finden sich überwiegend bekannte Synonyme‚ 98 kaum ein Begriff, der nicht bereits in vorherigen Kapiteln Betrachtung erfahren hätte - insgesamt verweisen 40 Ausdrücke (42 mit EKG) in Form eines Substantives auf den Teufel; addiert man die aufgelisteten Pronomen hinzu, wird die Zahl auf 62 Verweisbegriffe vermehrt. Würde man zu diesen 62 Verweisen noch jene Subjekte oder Objekte hinzurechnen, die nur intern in Verben enthalten sind, vermehrte sich der Befund um einige Belegstellen zusätzlich. 99 Konkret zeigen sich in den Liedern die Begriffe Teufel (7x) 100 , Satan (4x), Schlange (3x). Spitzenposition nimmt der Begriff Feind ein, der 20 Mal 101 genannt wird, mit hälftiger Verteilung in Singular- und Pluralausdrücke. Als Christkönigsfest oft einfach übernommen wurden (vgl. Ühlein, Kirchenlied und Textgeschichte, 157-159). 97 EG 120 ist auf den vielleicht bekanntesten Ostergesang zu singen, nämlich „Christ ist erstanden“ (EG 99) - enger können Rubriken- und Themenverknüpfung kaum gefasst werden. 98 Vgl. Tab. 4 Sp. „Koreferenzkette Teufel“. 99 Vgl. Tab. 4 Sp. „Weitere mit Teufel verbundene Verben“. 100 Mit EKG 95 plus 1. 101 Mit EKG 95 plus 1. <?page no="326"?> 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) 327 Hapaxlegomenon erscheinen die Begriffe und Verbindungen Lügenmächte, Todesmächte, Fürst der Welt, Rotten, böser Geist und „Macht der Finsternis“. Insgesamt liegen zehn verschiedene Ausdrücke vor, die auf den Satan verweisen, wobei die gewohnten Begriffe, Teufel und Feind, die Mehrheit ausmachen. Betrachtet man neben dem im EG nachzeichenbaren Befund die Strophenausfälle gegenüber dem EKG, dann ist in EKG 107/ 5 zusätzlich der Begriff des Bösen (neutrisch) genannt. Unter Einbezug der Originalfassungen zeigen sich erheblich mehr Verweisausdrücke, die durch Strophentilgungen verlorengegangen sind‚ 102 wenngleich diese nur wenig weitere Begriffe gegenüber den beschriebenen bieten. Zwei Ausdrücke sind aber zusätzlich vorhanden - in der Originalstrophe 7 von EG 106 „Christus, den starcken Lewen felt“ 103 und in Originalstrophe 9 von EG 113 „Der alte drach mit seiner rott“ 104 . Sucht man nach prominenten Begriffen in Korrelation zu einzelnen Rubriken, wird deutlich, dass Passionslieder andere Begriffe verwenden als Osterlieder - in Passionsliedern treten die unkonkreten bzw. abstrakten Formeln Lügenmächte und Todesmächte auf‚ 105 im Vergleich zum konkreten Teufel oder Satan. Dies deckt sich mit beschriebenem Befund, dass Passionslieder ohnehin kaum vom Feind singen, da das schmerzvolle Leiden des Menschen Jesus im Mittelpunkt steht. Die Unkonkretheit hat darüber hinaus eine aus der Entstehungszeit abgeleitete Begründung - es handelt sich um Lieder des 20. Jahrhunderts, die neben den Feinden des Heils ganz menschliche Feinde kannten. 106 In der Übersicht lässt sich ein allgemeiner theologiegeschichtlicher Trend nachzeichnen, wonach im Zuge der Aufklärung der Teufel sukzessive sprachlich vermieden wird - 107 nicht zufällig erscheint, zeitlich betrachtet, der erste Abstraktbegriff, „Macht der Finsternis“ (EG 115/ 5), beim Aufklärungsdichter Gellert. Wie in vorangegangenen Kapiteln bleibt es v. a. bei Abstrakta fraglich, ob sie überhaupt in meiner Auflistung erscheinen sollten. Ich lasse mich bei dieser Entscheidung von der Maßgabe leiten, ob neben den Begriffen weitere Formeln für eine Interpretation in Sinne des Teufels auffindbar sind, ob der Begriff kataphorisch oder anaphorisch ausgreift und eine Referenzkette erkennbar wird. Ein Interpretationsspielraum ist nicht zu bestreiten und 102 Vgl. Tab. 4 Sp. „Verhältnis EG/ EKG und Original“. 103 W III/ 1374. 104 FT II/ 431. 105 Todes- und Lügenmacht sind im EG-Stamm nur je einmal belegt und entsprechend in der Konkordanz nicht weiter charakterisiert oder klassifiziert (vgl. HEG I, 314.447). 106 Vgl. HEG III/ 3, 54. 107 Ostern ist in neuerem Liedgut nicht mehr Sieg über Sünde, Tod und Teufel, sondern eher ein Fest des friedvollen und freundlichen Jesus, der auch die Menschen zu Weltfrieden und Völkerverständigung reizt (vgl. Albert-Zerlik, Wandlungen in Glaubensverständnis und Spiritualität, 306-308). <?page no="327"?> 328 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken eine Erwartungshaltung, die dem theologischen Ort Ostern entspringt, bzw. durch Kollokation von Tod und Hölle entsteht - in „Nun gehören unsere Herzen“ erscheint z.B. der Teufel nicht, sondern „Lügenmächte“ (EG 93/ 3), jedoch sind diese in der Hölle lokalisiert und stehen in enger Verbindung mit Sünde und Tod: 108 „als der Freie ward zum Knechte / und der Größte ganz gering, / als für Sünder der Gerechte / in des Todes Rachen ging. / Doch ob tausend Todesnächte / liegen über Golgatha, / ob der Hölle Lügenmächte / triumphieren fern und nah, / dennoch dringt als Überwinder / Christus durch des Sterbens Tor; / und die sonst des Todes Kinder, / führt zum Leben er empor. / Schweigen müssen nun die Feinde / vor dem Sieg von Golgatha“ (EG 93/ 2-4). Zweifelhaft mag im ersten Moment die Auflistung der „Todesmächte“ (EG 94/ 5) aus „Das Kreuz ist aufgerichtet“ erscheinen, dennoch lässt das Verhältnis zu Sünde (Str. 1), Gericht (Str. 3) und Tod (Str. 4.5) den Schluss zu, dass es sich um geistliche Mächte handelt. 109 Aufgrund der biblischen Spur durch die Formel „Macht der Finsternis“ (EG 115/ 5) in „Jesus lebt, mit ihm auch ich“ ist Referenz auf den Teufel anzunehmen. „Jesus lebt! Ich bin gewiß, / nichts soll mich von Jesus scheiden, / keine Macht der Finsternis, / keine Herrlichkeit, kein Leiden“ (EG 115/ 5) - deutlich sind die Mächte und Gewalten aus Röm 8 eingeschrieben, wie das EG eigens mit Stellenangabe betont. 110 108 Stalmann sieht in den Begriffen ebenfalls einen Interpretationsspielraum: „Wer mögen die Feinde in der letzten Strophe [sc. von EG 93] sein, die nun zum Schweigen verurteilt sind? Schon der Hölle Lügenmächte (Str. 3), welche hier als Feinde näher bestimmt erscheinen, sind doch wohl nicht nur umfassend im Sinne der Paulusbriefe als finstere metaphysische Weltmächte zu deuten, sondern auch aktuell zu verifizieren. Als v. Bodelschwingh 1938 sein Lied veröffentlichte, lag für ihn eine solche konkrete Aktualisierung wohl nahe.“ (HEG III/ 3, 54). 109 „Wir sind nicht mehr die Knechte / der alten Todesmächte / und ihrer Tyrannei. / Der Sohn, der es erduldet, / hat uns am Kreuz entschuldet. / Auch wir sind Söhne und sind frei“ (EG 94/ 5). Die Interpretation von Eberhard Schmidt geht m. E. an dieser Stelle aber zu weit: „In der fünften Strophe befindet sich der Dichter in gedanklicher Nähe zum Galaterbrief (Gal 3‚13 u. 4‚3-7), wenn er davon spricht, dass wir Christen durch sein Erdulden, d. h. doch durch sein stellvertretendes Leiden aus der Sklaverei der Verderbensmächte und ihrer Tyrannei freigekauft worden sind (5‚1-3). Ihlenfeld verwendet hier eine biblische Bildsprache, die uns Deutschen aus der Zeit der deutschen Teilung nicht unbekannt ist. Damals wurden vom Westen politische Häftlinge aus DDR-Gefängnissen mit erheblichen finanziellen Mitteln freigekauft.“ (HEG III/ 11, 55). 110 Auch Thust erkennt unzweifelhaft den Satan: „Strophe 6 unterstreicht die vorangehende Selbstverpflichtung, zu der Christus Kraft gibt. Das ‚Jesus lebt! ‘ führt zur Glaubensgewissheit, dass nach Röm 8‚38f. ‚gewiss nichts soll mich von Jesus scheiden‘; weder ‚Macht der Finsternis‘ als Macht des Satans (siehe Eph 6‚12) noch ‚Herrlichkeit‘ noch ‚Leiden‘. Das wiederholte ‚nicht(s)‘ und dreimalige ‚kein‘ verstärken zusätzlich die Aus- <?page no="328"?> 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) 329 Abgesehen von einer Abstraktionszunahme in neueren Werken lassen sich kaum Kumulationen erkennen, vielmehr verteilen sich die diversen Begriffe relativ gleichmäßig über Rubriken und Epochen. Erwähnenswert ist eine Häufung vom Begriff Feind in Pfingstliedern; in fünf von sieben Liedern tritt Feind entweder allein oder aber in Begleitung des Begriffes Teufel/ Satan auf. Dabei dürfte die „Mutter aller Pfingstlieder“ 111 , der Hymnus „Veni creator spiritus“, eine Rolle gespielt haben, denn dort erscheint explizit nicht der Teufel, wohl aber der Feind. U.a. Luther nimmt diese Spur auf‚ 112 während er den Hymnus zum volkssprachlichen Gemeindegesang umbildet: „Des Feindes List treib von uns fern, / den Fried schaff bei uns deine Gnad, / daß wir deim Leiten folgen gern / und meiden der Seelen Schad“ (EG 126/ 5). 113 Aufgrund der geprägten Terminologie im Pfingstkontext nehme ich für die Pfingstgesänge (EG 124.126.127) an, welche sonst keine Koreferenzkette erkennen lassen, dass sie sich beim Feind auf den Satan beziehen. 114 Interessant ist der Begriff des bösen Geistes, der ein einziges Mal in einem Pfingstlied erscheint: „Vertreib den bösen Geist, / der dir sich widersetzet / und, was dein Herz ergötzet, / aus unsern Herzen reißt“ (EG 133/ 11). Gottes Geist, der sage.“ (Thust, Die Lieder des Evangelischen Gesangbuchs. Bd. I, 201). Die Macht der Finsternis ist bereits aus dem Weihnachtsfestkreis bekannt, wo in Rückerts „Dein König kommt in niedern Hüllen“ (EG 14) ebenfalls die Formel als Teufelsreferenz gedeutet wurde und in Verbindung zu Eph 6‚12 stehen dürfte (vgl. Tab. 3 Sp. „Traditionsbezüge“). Die Konkordanz verzeichnet EG 115 und EG 14 unter „von Tod, Hölle“ (vgl. HEG I, 319). 111 Die Terminologie ist m. E. gerechtfertigt, denn die Wirkungsgeschichte des Hymnus auf den Gemeindegesang ist nicht groß genug einzuschätzen. Lohnend ist eine Durchsicht der Pfingstlieder unter dem Aspekt der Strophenanzahl - die Siebenzahl, die eng mit dem Geist verbunden ist ( Jes 11‚1-3 LXX) und den Hymnus in seiner Strophenzahl bestimmte, schlägt sich vielfach in Pfingstliedern nieder (z.B.: EG 126.127.128.130.135.136). 112 Vgl. HEG III/ 12, 70-71. In den Erfurter Enchiridien [1524] wird das Lied mit „Der H[ymnus] Veni creator [spiritus]“ (HEG III/ 12, 70) überschrieben. 113 Der Hymnus in textkritisch-rekonstruierter Form lautet in Str. 5: „Hostem repellas longius, pacemque dones protinus, ductore sic te praevio, vitemus omne noxium“ (Cantalamessa, Komm, Schöpfer Geist, 20-21). Die exorzierende Macht des Geistes zeigt sich ebenfalls in der Anrede in Str. 3: „dexterae Dei tu digitus“ (Cantalamessa, Komm, Schöpfer Geist, 20-21). Der Finger der Rechten Gottes ist eine Bezeichnung, welche dem Geist durch altkirchliche Evangelienharmonie aus Lk 11‚20 und Mt 12‚28 zugewachsen ist - Jesus treibt dort einmal mit dem Geist, ein anderes Mal mit dem Finger an Gottes Rechter, den Dämon aus. 114 Dass es sich nicht um irgendeinen Feind handelt, sondern um eine konkrete Wesenheit, wird schon durch Verbindung mit dem maskulinen Artikel im Singular deutlich. Die Konkordanz klassifiziert den Feind in EG 124.126.127 ebenfalls unter Teufel (vgl. HEG I, 115). <?page no="329"?> 330 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken zu Pfingsten die Herzen der Gläubigen entflammen soll, wird damit dem bösen Geist gegenüber gestellt. 115 Unter Bezugnahme auf den Feindbegriff wurde das hälftige Verhältnis zwischen Plural- und Singularausdrücken erwähnt; betrachtet man den Gesamtbestand aller Ausdrücke, Substantive wie Pronomen (62 Verweise), dann entfallen 38 Ausdrücke auf Singular- und 24 auf Pluralformeln. Grundsätzlich verteilen sich die Formeln im Singular und Plural relativ gleichmäßig auf Epochen wie Rubriken, daneben zeichnet sich aber eine zeitliche Abstraktionszunahme ab, nach der Mehrzahlformeln eher in Texten in Folge der Aufklärung auftreten. Diese Tendenz wurde bei den Lügen- (EG 93) und Todesmächten (EG 94) angedeutet, zeigt sich aber ebenso bei der Macht der Finsternis (EG 115) und diversen Stellen, die von den Feinden (Plural) singen. In pluralen Formeln ist die Möglichkeit für verschiedene außersprachliche Bezugselemente angelegt bzw. bewusst mitgegeben - die „neue Theologie“ verdrängte den alten Drachen und spricht vermehrt von abstrakten Feinden, die auch mit Menschen identifiziert werden können. Z.B. gehen die Kommentatoren in „O komm, du Geist der Wahrheit“ bei den Feinden von Menschen aus‚ 116 wo durch Bildung einer Referenzkette Potential zur Identifikation mit dem Teufel gegeben wäre‚ 117 zumal es sich um ein Pfingstlied handelt. Ähnlich verhält es sich mit dem barocken „Schmückt das Fest mit Maien“, bei dem Feinde ebenfalls als Menschen gedeutet werden: 118 „Laß die Zungen brennen, / wenn wir Jesus nennen, / führ den Geist empor; / gib uns Kraft zu beten / und vor Gott zu treten, / sprich du selbst uns vor. / Gib uns Mut, du höchstes Gut, / tröst uns kräftiglich von oben / bei der Feinde Toben“ (EG 135/ 3). Unter Berücksichtigung der Rubriken sind Feinde im Plural häufig in Osterliedern anzutreffen, was bei Vergegenwärtigung des theologischen Festgehaltes wenig wundert, denn Christus besiegt nicht nur den Feind, sondern alle Feinde - Christus ist Sieger über Sünde, Tod und Teufel, das dämonische Netz. 115 Vgl. HEKG III/ 1, 378-379. Nach Ansicht der Kommentatoren ist, obwohl im Singular vom bösen Geist gesprochen wird, nicht ein Bezug auf 1Sam 16, sondern auf Lk 11‚20 („Wenn ich aber durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen“) intendiert (vgl. HEKG II/ 1). 116 Vgl. HEG I, 115. 117 Im Gesamtkontext ist m. E. das Potential, auf den Satan zu verweisen, plausibel: „Es gilt ein frei Geständnis / in dieser unsrer Zeit, / ein offenes Bekenntnis / bei allem Widerstreit, / trotz aller Feinde Toben, / trotz allem Heidentum / zu preisen und zu loben / das Evangelium. / In aller Heiden Lande / erschallt dein kräftig Wort, / sie werfen Satans Bande / und ihre Götzen fort“ (EG 136/ 4.5). Allein intertextuelle Bezüge legen ein Verständnis im vorgeschlagenen Sinne nahe, denn es ist nicht nur im Osterfestkreis ein Kennzeichen des Teufels, dass er erzürnt über Christi Macht, z.B.: „der Feind trieb groß Geschrei“ (EG 112/ 2). 118 Vgl. HEG I, 115. <?page no="330"?> 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) 331 Dieses umfassende Siegesgeschehen wird beispielhaft in „Erschienen ist der herrlich Tag“ dargestellt: „Erschienen ist der herrlich Tag, / dran niemand gnug sich freuen mag: / Christ, unser Herr, heut triumphiert, / sein Feind er all gefangen führt. / Halleluja. / Die alte Schlange, Sünd und Tod, / die Höll, all Jammer, Angst und Not / hat überwunden Jesus Christ, / der heut vom Tod erstanden ist. / Halleluja“ (EG 106/ 1.2). Die Verbindung „alle Feinde“ findet sich in Osterliedern häufiger. 119 Unter den Feinden nimmt der Tod eine exponierte Stellung ein, wie eine Betrachtung von dessen Vorkommen und Kollokationen in den Liedtexten verdeutlicht. 120 Der Tod ist allgegenwärtiger Begleiter des Satans‚ 121 was neutestamentliche Spuren aufnimmt, nach welchen der Teufel Herr über den Tod ist (Hebr 2‚14), bzw. der Tod selbst als Ausprägung Satans erscheint (1Kor 15‚26) 122 - in vielen Liedern erscheint der Tod öfter als Satan selbst. Exemplarisch drückt dies „Christ lag in Todesbanden“ aus, das ich ob der schwierigen Bestimmung des Würgers (EG 101/ 5) in diesem Kapitel nicht weiter betrachtet habe (s. Kap. 6.). In diesem Lied ist in fünf von sieben Strophen der Tod erwähnt, der im „wunderlich Krieg, da Tod und Leben ’rungen“ (EG 101/ 4) besiegt wird. 123 Das Gegenüber 119 U.a.: „all unsre Feind hat bezwungen“ (EG 108/ 2); „ich werde sehn, wie alle Feind“ (EG 111/ 10); „Tod, Teufel, Höll und alle Feind“ (EG 113/ 4); „all seine Feind gefangen er führt“ (EG 116/ 1). Die Verbindung erscheint auch im Himmelfahrtslied EKG 95/ 5 („alle Feinde legen sich“) und im Pfingstlied EG 136/ 4 („trotz aller Feinde Toben“). 120 In der Konkordanz erhält man der Fülle wegen beim Eintrag zu Tod nicht Auskunft im klassischen Sinne zum Vorkommen, sondern Belegstellen zu allerlei Verbindungen sowie zu einer Unzahl an Komposita, unter denen Lieder des Osterfestkreises einen erheblichen Anteil haben (vgl. HEG I, 444-447). 121 Als Substantiv, Adjektiv oder Kompositum erscheint der Tod, z.B.: EG 86.93.94.104.106. 108.109.111.112.113.114.115.116.124.126.133.134.135. In den meisten Liedern tritt der Tod sogar in derselben Strophe wie der Teufel oder zumindest direkt in der Strophe davor oder danach auf. Damit ist in meiner Auflistung einzig bei EG 127 und EG 136 der Tod nicht eigens benannt. Mit diesem Befund bildet das Gesangbuch eine Gegenkultur zur gegenwärtigen Tabuisierung des Todes in der Öffentlichkeit (vgl. Albert-Zerlik, Wandlungen in Glaubensverständnis und Spiritualität, 305; ebs. vgl. Stock, Kleines Motivregister christlicher Ostergesänge, 207-209). Zwar ist nach Albert-Zerlik für neueres Liedgut eine Verdrängung des Todes aus Osterliedern feststellbar, womit Ostern zum reinen Freudenfest stilisiert wird (vgl. Albert-Zerlik, Wandlungen in Glaubensverständnis und Spiritualität, 304-305), für meine Liedauswahl ist dies kaum nachzeichenbar. 122 1Kor 15‚26: „Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod“. 123 „Was Christus gelungen ist, ist allen Menschen unmöglich. Der Tod kann nicht bezwungen werden. Auch der Tod wird inszeniert: er kommt und nimmt. […] Hier tritt […] das Kampfmotiv auf. Es ist der Zweikampf des Menschen mit dem personifizierten Tod. Das Zwingen steht im Kontrast zum Tod, dem selbst die Rolle des Zwingherren zukommt.“ (Grasmück, „Christ lag in Todesbanden“, 125). Grasmück weist darauf hin, dass das Kampfmotiv zwischen Christus und dem Tod klassisch ist und v. a. in mittelalterlichen <?page no="331"?> 332 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken von Tod und Leben findet sich häufiger (z.B. EG 116/ 1: „Laßt uns lobsingen vor unserem Gott, / der uns erlöst hat vom ewigen Tod. / Sünd ist vergeben, Halleluja! / Jesus bringt Leben, Halleluja! “). 124 Nicht nur die bloße Erwähnung des Todes verdient Beachtung, sondern ebenso die Art der Inszenierung, denn in einigen Gesängen ist - vermutlich in Anlehnung an 1Kor 15‚55 („Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel? “) - 125 eine Personifikation des Todes feststellbar. Daneben kann der Tod Bindungen erzeugen‚ 126 nach „Singen wir heut mit einem Mund“ sogar Trotz empfinden: „Christus hat alle Schrift erfüllt / und dadurch Todes Trotz gestillt, / und sein Wort auf dem Berg / hat zerstört des Teufels Werk. / Sünd und Schuld bleiben ohne Kraft […]. Lob sei dir für und für, Jesus Christ, / daß du bist sünd’ger Welt Heil und Held, / der das Feld im Kampf mit Tod und Höll behält“ (EG 104/ 2). 127 Neben Bezeichnungen Satans verdienen weitere zentrale Textgegenstände gesonderte Beachtung‚ 128 denn in der Art, wie Sprecher textlich installiert sind, liegt Potential für die Aneignung textlicher Sprecher durch die singende Gemeinde geborgen. Die Lieder des Osterfestkreises sind überwiegend als Lieder einer Gemeinde simuliert, d. h. in Wir-Form gedichtet - v. a. trifft dies innerhalb der Übersicht auf Lieder des 16. Jahrhunderts zu‚ 129 aber auch im Lied des 20. Jahrhunderts‚ 130 welches durch Erfahrungen vielfältiger Art von Leid motiviert ist, zeigt sich eine Gruppendimension. Im 17. und 18. Jahrhundert lassen sich Lieder ausmachen, in denen ein Ich agiert‚ 131 aber auch Lieder bei denen Ich und Wir abwechselnd von zentraler Bedeutung sind. 132 Neben dem Ich/ Wir kann und reformatorischen Osterspielen Vorlagen fand (vgl. Grasmück, „Christ lag in Todesbanden“, 126-128). 124 Ähnlich: EG 115. 125 Explizit auf die Stelle spielt der gleichnamige Gesang an: „O Tod, wo ist dein Stachel nun? / Wo ist dein Sieg, o Hölle? / Was kann uns jetzt der Teufel tun / wie grausam er sich stelle? / Gott sei gedankt, der uns den Sieg / so herrlich hat in diesem Krieg / durch Jesus Christ gegeben! “ (EG 113/ 8). 126 Der Gedanke der Todesbande ist bereits in vorreformatorischen Osterspielen belegt (vgl. Grasmück, „Christ lag in Todesbanden“, 124-125) und wird in Osterchorälen prominent weiter geführt, z.B.: EG 101; 114/ 9 („Ach mein Herr Jesu, der du bist / vom Tode auferstanden, / rett uns aus Satans Macht und List / und aus des Todes Banden, / daß wir zusammen insgemein / zum neuen Leben gehen ein“). 127 Der Tod kann scheinbar eigene Besitzstände haben - EG 106/ 3: „Sein’ Raub der Tod mußt geben her, / das Leben siegt und ward ihm Herr, / zerstöret ist nun all sein Macht. / Christ hat das Leben wiederbracht. / Halleluja“. 128 Vgl. Tab. 4 Sp. „Wichtige Textgegenstände“. 129 EG 104.106.108.109.126.127. 130 EG 93.94.116. 131 EG 86.111.112.115; EKG 95. 132 EG 114.133. <?page no="332"?> 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) 333 auch das Herz zum Textgegenstand werden, der z.B. in „Wach auf, mein Herz, die Nacht ist hin“ angeredet und über acht Strophen hinweg durch die Osterbotschaft ermutigt wird. 133 Demgegenüber tritt das bloße Berichten über eine Gruppe, bei dem die Singenden im Hintergrund bleiben, in meiner Auswahl nur vereinzelt auf - Menschen treten in der 1. Person in Erscheinung, viel seltener in der beschreibenden 3. Person. 134 Daraus lässt sich folgern, dass Ostern sowie dessen Vorbereitungs- und Entfaltungszeit zur persönlichen Positionierung herausfordern - Ostern will geglaubt und gefeiert werden, nicht nur reflektiert und betrachtet. Zugleich zeigt sich, dass das Besingen der Entmachtung Satans meist im Kollektiv geschieht; nicht als Individualisten treten die Sänger den Verderbensmächten entgegen, sondern als Gemeinschaft und geistlicher Leib unter dem siegreichen Haupt Christus. Christus ist neben den Menschen und dem Satan der wichtigste Textgegenstand - Passion, Ostern, Himmelfahrt müssen dem jeweiligen Festinhalt entsprechend v. a. von Christus handeln. 135 Im 16. Jahrhundert findet sich ein Verhältnis, bei dem das singende Wir in Gemeinschaft mit dem Sohn Gottes dem Teufel gegenübersteht, im 17. Jahrhundert ist es entweder ein Ich und/ oder Wir, das mit Christus dem Satan entgegentritt‚ 136 im 20. Jahrhundert dann wieder eher ein Wir und Christus. Gelegentlich begegnet neben Christus zusätzlich der Vater, der in Einheit mit Christus, bzw. als dessen Sendungsgeber erscheint. 137 Häufig tritt der Vater allerdings nicht auf, was sich mit der Beobachtung deckt, dass Osterlieder fast nur die Auferstehung (aktiv), nicht aber die Auferweckung (passiv) durch den Vater besingen - dessen „Auftritt“ ist schlicht unnötig. 138 133 Es bleibt die Frage, ob unter „mein Herz“ nicht einfach die Anrede eines Vertrauten zu verstehen ist - Thust sieht „mein Herz“ auf das singende Ich bezogen (vgl. Thust, Die Lieder des Evangelischen Gesangbuchs. Bd. I, 198-199). 134 Vgl. Tab. 4 Sp. „Wichtige Textgegenstände“; „Simulierte Kommunikationssituation“. 135 Die ausgedehnte Rede von Christus ist in Untersuchungen zu Liedern des Osterfestkreises häufiger festgehalten worden. Albert-Zerlik kann herausarbeiten, dass auch neuere Lieder exponiert von Christus handeln, aber im Gegensatz zu älteren, die die Passion meist mitbenennen, den erhöhten und siegreichen Christus betrachten (vgl. Albert-Zerlik, „Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden“, 152-154). 136 V.a. Passionslieder machen dies deutlich - die altprotestantische Orthodoxie betrachtete Passion in einem Zweischritt, der aus Nacherzählung und persönlicher Aneignung des Gläubigen (des Einzelnen) besteht (vgl. Axmacher, Johann Heermanns Passionslied, 179- 180). 137 EG 94.109.113.115. 138 „Die meisten Gesänge […] enthalten mehr oder weniger wörtlich das Bekenntnis ‚Christus ist erstanden‘, wobei für das Subjekt ‚Christus‘ auch andere Bezeichnungen verwendet werden (z.B. ‚Herr‘, ‚Heiland‘, ‚Todesüberwinder‘, ‚Er‘ usw.). In der Regel erscheint als Prädikat das Verb ‚(auf)erstehen‘, überwiegend im Perfekt Aktiv, das abgeschlossene Auferstehungsgeschehen ausdrückend. Damit zitiert die Mehrheit der Lieder die älteste biblische Auferstehungsformel, die - übereinstimmend mit einer Gruppe neutestament- <?page no="333"?> 334 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken Dem Sohn in den Osterliedern steht der Geist in den Pfingstliedern gegenüber. So, wie Christus durch seinen Sieg die Gläubigen vor Anfeindungen des Satans behütet, ist es der Geist, welcher sie nach Christi Himmelfahrt erfüllt und zum geistlichen Kampf rüstet, sowie des Feindes List vertreibt. 139 Diverse Bibelstellen, die als Traditionsbezug hinter den aufgelisteten Gesängen stehen, wurden bereits aufgeführt - diese müssen gebündelt und ergänzt werden, wenngleich die meisten Begriffe und Vorstellungen nicht einem einzigen Vers entspringen, sondern einem Konglomerat verschiedener Verse. 140 Die Synonyme und deren biblische Quellen sind begrenzt, weshalb einerseits nicht alle Begrifflichkeiten eigens wiederholt betrachtet werden; 141 andererseits können manche Teufelsnamen (u.a.: Satan, Teufel, Feind) besser über das Tun als über den Namen erschlossen werden. 142 Das Todesbild, v. a. in Verbindung mit Sünde und Gesetz, wird vom häufig rezipierten paulinischen Auferstehungskapitel beeinflusst (1Kor 15‚54-56). 143 In 1Kor 15 findet sich der Teufel zwar nicht in der Reihung, er lässt sich aber gedanklich gut durch Hebr 2‚14 144 anschließen. 145 Die paulinische Perikope (1Kor licher Bekenntnissätze - zu noch größerer Komplexität ausgestaltet sein kann. Ein wichtiger Unterschied zum biblischen Befund ist allerdings die in allen Texten ausschließlich zu verzeichnende aktivische Formulierung (vgl. z.B. 1Thess 4‚14; Lk 24‚34). Die passivische Form, ‚Jesus ist auferweckt worden‘ (vgl. z.B. 1Kor 15‚12.20; Röm 6‚4.9; 7‚4), begegnet in den analysierten Gesängen überhaupt nicht.“ (Albert-Zerlik, „Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden“, 142). 139 Vgl. Jenny, Pfingsten im Gesangbuch, 106. Es wundert nicht, da der Geist nach westkirchlicher Bekenntnisformel von Vater und Sohn ausgeht, dass er in meiner Auswahl in Beziehung zum Vater (EG 134.136), oder gar zur ganzen Trinität (EG 127.135) gesehen wird. 140 Vgl. Tab. 4 Sp. „Traditionsbezüge“. 141 Zu erinnern ist an den Fürst der Welt ( Joh 14‚30 - EG 106), die Schlange (Gen 3‚1.15; Röm 16‚20 - EG 106.111.113), den bösen Geist (Lk 11‚20; Eph 6‚12 - EG 133). 142 Auch in diesem Kapitel sind als loci classici Gen 3, Joh 8, Offb 12 und Eph 6 von herausgehobener Bedeutung. Die List, das in Zweifel ziehen des göttlichen Wortes, die Synonyme Drache, Schlange, Satan und Teufel ziehen häufig ihre Begründung aus diesen Quellen. 143 Diese Schriftstelle steht z.B. hinter: EG 94.106.108.111.112.113. 144 Hebr 2‚14: „Weil nun die Kinder von Fleisch und Blut sind, hat auch er’s gleichermaßen angenommen, damit er durch seinen Tod die Macht nähme dem, der Gewalt über den Tod hatte, nämlich dem Teufel“. 145 Alber-Zerlik erklärt, dass hinter der Zufügung des Satans zu diesen Begriffen auch apokryphe und mythische Texte gesehen werden können: „Ein großer Anteil der Lieder verwendet das mehr oder weniger ausgestaltete Bild vom Kampf bzw. Sieg. In unterschiedlicher Akzentuierung und Intensität wird die Auferstehung als Christi Selbstbefreiung aus dem Grab, Sieg über Sünde, Tod, Teufel und Hölle, außerdem häufig als Überwindung von Bedrängnis, Not und Angst dargestellt. Im Hintergrund steht dabei vor allem 1Kor 15‚54-57. Die in der paulinischen Stelle nicht erwähnten Begriffe, Teufel und Hölle, sind zurückzuführen auf die mythologische Erzählung des apokryphen Nikodemus-Evangeliums, in der Hades, der Herrscher des Totenreichs, und Satan machtlos zusehen müssen, <?page no="334"?> 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) 335 15‚54-56) ist insbesondere für Osterlieder relevant, da dort explizit der Sieg über die alten Zwingherren des Menschen (Tod, Sünde, Gesetz) ausgesprochen ist. Häufig geht dieser Abschnitt mit einem Vers aus dem Kolosserbrief einher: „Er hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und hat einen Triumph aus ihnen gemacht in Christus“ (Kol 2‚15). Diese Versverbindung ist die vermutlich häufigste Quelle für den Abstraktbegriff Feind bzw. Feinde‚ 146 außerdem ist Kol 2‚15 häufig mit einem Vers aus dem Römerbrief verbunden (Röm 8‚38) 147 - Christus ist Kraft der siegreichen Auferstehung Herr über Mächte und Gewalten und wacht über die irdische Gemeinde. Sieg und Herrschaft Christi bedeuten zugleich die Sprengung aller Stricke und Bande des Satans gegenüber Mensch und irdischer Kreatur (2Tim 2‚26). 148 Da Teufel, Sünde und Tod nicht zu trennen sind, existieren zudem Stellen, die in Anlehnung an Ps 116‚3 149 von Todesbanden reden. Insgesamt darf der Osterfestkreis im Textbestand rund um den Satan als konventionell gelten. Neue Bezugsstellen lassen sich kaum erkennen, einzig die starke Betonung des Todes und die Christuszentrierung lassen sich als Charakteristika herausarbeiten. Pragmatische Einsichten Mit den benannten Konstellationen zwischen Mensch, Trinität und bösem Feind ist die simulierte Kommunikationssituation bereits teilweise mitverhandelt und wird nun vertieft. 150 Zuerst müssen Sender/ Sprecher der Kommunikation betrachtet werden, welche durch die zentralen Textgegenstände Ich und Wir angedeutet sind. Da es sich in beiden Fällen um die 1. Person Singular/ Plural handelt, ist für die singende Gemeinde die Möglichkeit gegeben, sich die geschriebenen Worte anzueignen, die „vertexteten Exorzismen“ zu eigenen Vertreibungen des Satans zu machen - die 1. Person öffnet den Weg zur Identifikation. 151 Die Lieder wie Christus als König einzieht, um Adam und die anderen Vorväter aus der Unterwelt zu befreien“ (Albert-Zerlik, „Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden“, 143-144; ebs. vgl. Stock, Kleines Motivregister christlicher Ostergesänge, 201). 146 Häufig ist Kol 2‚15 im Hintergrund der Verbindung „alle Feinde“ zu sehen (z.B.: EG 93.106.108.111.114.116). 147 Röm 8‚38: „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges“. 148 2Tim 2‚26: „und wieder nüchtern zu werden aus der Verstrickung des Teufels, von dem sie gefangen sind, zu tun seinen Willen“. Diese Bande sind erwähnt z.B. in: EG 86.136. 149 Ps 116‚3: „Stricke des Todes hatten mich umfangen, / des Totenreichs Schrecken hatten mich getroffen; ich kam in Jammer und Not“. 150 Vgl. Tab. 4 Sp. „Simulierte Kommunikationssituation“. 151 Albert-Zerlik hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Kommunikationssituation nicht genug beachtet werden kann, da sich daran entscheidet, ob die Botschaft von Ostern den <?page no="335"?> 336 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken des Osterfestkreises, die als Wir-Gesänge verfasst sind, überwiegen in meiner Übersicht (u.a. EG 113/ 1: „O Tod, wo ist dein Stachel nun? / Was kann uns jetzt der Teufel tun, / wie grausam er sich stelle? “) 152 , nur wenige Lieder aus dem 17. und 18. Jahrhundert (EG 86.115) bleiben demgegenüber vollends in einer Perspektive des Ichs (EG 86/ 1: „Jesu, meines Lebens Leben, / Jesu, meines Todes Tod, / der du dich für mich gegeben / in die tiefste Seelennot“). 153 Dass im 17. Jahrhundert das Ich an Bedeutung zunimmt, hat nicht zuletzt mit der in der Orthodoxie herausgebildeten Lehre vom ordo salutis zu tun - die Heilsaneignung ist durch Gott motiviert, aber sie ist nicht pro multis, sondern pro me bestimmt, d. h. das Heil gilt je und je dem Einzelnen. 154 Darüber hinaus scheint es einen Unterschied in den Kommunikationssituationen nach Rubriken zu geben, da die Passion, die ohnehin im 17. Jahrhundert erst zur wirklichen Beachtung und Produktion gelangte, eine Affinität zum Ich aufweist, während Ostern mehr das Wir und Pfingsten dieses nahezu komplett bevorzugt. 155 Daneben gibt es diverse Lieder, welche zwischen einem Ich und einem Wir schwanken, wobei diese meist mit einer Ich-Passage beginnen und in eine Wir-Passage münden. 156 Ein unbestimmter Sprecher, der im Hintergrund verbleibt, ist ebenfalls als Möglichkeit in den Texten zu erheben, wenngleich dies nicht die durchgängige Perspektive darstellt, sondern die Lieder häufig in eine Gruppenperspektive einmünden. Z.B. beginnt EG 135 mit einem unbestimmten Sprecher, der eine Gruppe anredet: „Schmückt das Fest mit Maien, / lasset Blumen streuen, / zündet Opfer an; / Herzen der Menschen persönlich zugänglich wird (vgl. Albert-Zerlik, „Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden“, 141-142). 152 Ähnlich: EG 93.104.106. Das häufige Wir der Osterlieder hängt auch mit der breiten Aufnahme mittelalterlicher Vorlagen zusammen, welche überwiegend als Gruppenlieder konzipiert waren (vgl. Kothe, Die deutschen Osterlieder des Mittelalters, 95-98). 153 Dass diese Konstellation über meinen Untersuchungsrahmen hinaus als gängig zu gelten hat, ist u.a. durch Weismann beschrieben worden, der das Wir als Normalfall des reformatorischen Passions- und Osterliedes bezeichnet und erst ab dem 17. Jh. allmählich den Aspekt des Zuspruches und damit des einzelnen Ich und Du aufkommen sieht (vgl. HEKG III/ 1, 322). 154 Vgl. Koch, Drei Passionslieder Paul Gerhardts, 6-14; ebs. vgl. Albert-Zerlik, Wandlungen in Glaubensverständnis und Spiritualität, 259-262. 155 Vgl. HEKG III/ 1, 261-263.322.377. 156 Dieser Weg wird u.a. in „Zieh ein zu deinen Toren“ abgebildet - ein Einzelner beginnt (EG 133/ 1: „Zieh ein zu deinen Toren, / sei meines Herzens Gast, / der du, da ich geboren, / mich neugeboren hast“) und weitet sich zu pluraler Perspektive (EG 133/ 6: „Du bist ein Geist der Freuden, / von Trauern hältst du nichts, / erleuchtest uns im Leiden / mit deines Trostes Licht. / Ach ja, wie manches Mal / hast du mit süßen Worten / mir aufgetan die Pforten“) und geht ganz in der Gemeinschaftsperspektive auf (EG 133/ 13: „Richt unser ganzes Leben / allzeit nach deinem Sinn; / und wenn wir’s sollen geben / ins Todes Rachen hin, / wenn’s mit uns hier wird aus, / so hilf uns fröhlich sterben / und nach dem Tod ererben / des ewgen Lebens Haus“). <?page no="336"?> 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) 337 denn der Geist der Gnaden / hat sich eingeladen, / machet ihm die Bahn“ (EG 135/ 1). Die Gruppe reagiert entsprechend mit Verehrung des Geistes: „Tröster der Betrübten, / Siegel der Geliebten, / Geist voll Rat und Tat, / starker Gottesfinger, / Friedensüberbringer, / Licht auf unserm Pfad: / gib uns Kraft und Lebenssaft, / laß uns deine teuren Gaben / zur Genüge laben“ (EG 135/ 2). 157 Fragt man demgegenüber nach Adressaten der Lieder, stehen die Trinität und deren Glieder an erster Stelle. In Liedern zu Passion und Ostern erscheint v. a. Christus als Kommunikationspartner, in Pfingstliedern hingegen fast ausschließlich der Geist Gottes. 158 Zum göttlichen Gegenüber kommt aber noch ein menschliches Gegenüber, welches gelegentlich unbestimmt bleibt. Neben dem unbestimmten Empfänger gibt es weitere Konstellationen, bei denen der Sender als Teil der angesprochenen Gruppe erscheint und zum Lob und Preis der göttlichen Heilstaten aufruft, z.B. ebenfalls EG 135/ 1: „Schmückt das Fest mit Maien, / lasset Blumen streuen, / zündet Opfer an; / denn der Geist der Gnaden / hat sich eingeladen, / machet ihm die Bahn! / Nehmt ihn ein, so wird sein Schein / euch mit Licht und Heil erfüllen / und den Kummer stillen“ 159 . Neben diesen intersubjektiven Bewegungen lässt sich selbstreflexive Kommunikation nachweisen, wenn u.a. das eigene Herz zum Empfänger wird. 160 Ein ungerichtetes Verkünden der Geschehnisse des Osterfestes ist in den Liedern der Übersicht nicht nachweisbar - die Osterbotschaft ist eine, die zum Sich-Verhalten nötigt, der Jubel des Osterfestes soll zum eigenen Jubel werden. Aufgrund der angezeigten Kommunikationsakteure ergibt sich fast immer, wenigstens in einzelnen Strophen, eine ans göttliche Gegenüber gerichtete euchologische Kommunikationssituation. Oftmals geht diese aus einer vorherigen paränetischen oder narrativen Kommunikationssituation hervor. „Erschienen 157 Ähnliche Konstellationen: EG 94.108.111.112.114.116.127.133.135. 158 Weit über das EG hinaus, lässt sich für Osterlieder nachweisen, dass in traditionellem Liedgut etwa 40-50% Gott als Kommunikationspartner haben, in neueren Werken hingegen der Prozentsatz auf unter 25 % sinkt (vgl. Albert-Zellik, Wandlungen in Glaubensverständnis und Spiritualität, 274-275). 159 Die Anrede des menschlichen Gegenübers in Osterliedern ist von Albert-Zerlik ebenfalls untersucht worden - nichtreflexive Verhältnisse sind in neueren Liedern (ca. 40 %) gegenüber älteren (ca. 30 %) angewachsen, demgegenüber scheint das selbstreflexive Verhältnis in neueren Liedern (ca. 10-20%) gegenüber älteren (ca. 30 %) abgesunken zu sein (vgl. Albert-Zerlik, Wandlungen in Glaubensverständnis und Spiritualität, 267-271). 160 Z.B.: „Auf, auf, mein Herz, mit Freuden“ (EG 112); „Wach auf, mein Herz, die Nacht ist hin“ (EG 114). In beiden Gesängen zerfließen diese Perspektiven auf das eigene Herz zunehmend, vielmehr tritt eine Gruppenperspektive in den Vordergrund. <?page no="337"?> 338 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken ist der herrlich Tag“ beschreibt einen derartigen Bogen vom narrativen zum euchologischen Modus exemplarisch: „Die Sonn, die Erd, all Kreatur, / alls, was betrübet war zuvor, / das freut sich heut an diesem Tag, / da der Welt Fürst darniederlag. / Halleluja. / […] Drum wollen wir auch fröhlich sein, / das Halleluja singen fein / und loben dich, Herr Jesu Christ“ (EG 106/ 4.5). 161 Narrative Passagen in Passionsliedern sind zahlreich‚ 162 das Leiden Jesu wird vor Augen gemalt und damit eine Perspektive erzeugt, bei der das Leiden zwar präsent, aber unter dem Licht von Ostern als eigentlich überwunden und damit in der unmittelbaren Vergangenheit erscheint. 163 Ostern hingegen ist von selbst- und gruppenermahnenden Passagen gekennzeichnet (paränetischer Modus)‚ 164 die aus der Jubelstimmung der Auferstehung gespeist werden und darin münden - Ostern singt und jubelt zuerst dem Gottessohn, gelegentlich der heiligen Dreifaltigkeit zu (euchologischer Modus). 165 Dieses Bild setzt sich zu Pfingsten fort, der Geist ist nicht anders als im Gebetsmodus ansprechbar - fast ausschließlich ist in Pfingstliedern die euchologische Konstellation zu erkennen. „Es ist schon oft bemerkt worden, daß die Pfingstlieder in unsern Gesangbüchern fast alle Gebetslieder sind. […] Vom Heil. Geist recht reden heißt: um ihn bitten. Denn nur der Geist Gottes selbst kann die Ohren öffnen zum rechten Verständnis und die Lippen lösen zum Lobpreis. Darum ist der Cantus firmus aller unserer Bitten in unsern Liedern das ‚Komm! Kehr ein! Besuche! ‘“ 166 161 Derartige Wechsel gibt es häufiger, z.B.: EG 104.106.109.111.114. 162 Das narrative Element gilt nach Weismann als Charakteristikum des Passionsliedes - insbesondere im 17. Jh. (vgl. Axmacher, Johann Heermanns Passionslied, 179) - und bildet damit das Zeugnis der Evangelien ab; daneben existiert noch ein deutender Passionsliedtypus, der sich eher an den neutestamentlichen Briefen orientiere (vgl. HEKG III/ 1, 260). Eine duale Beschreibung erkennt Weismann auch für Osterlieder (vgl. HEKG III/ 1, 319-320) - dies deckt sich mit meinen Ergebnissen, die auch Ostergesänge mit narrativen Passagen zeigen (z.B.: EG 108.109.112.113). 163 Die Passionsgesänge EG 93.94 zeichnen beide eine Situation, in der erst das unmittelbar vergangene Passionsgeschehen dargestellt wird, worauf euchologische Passagen folgen. 164 Exemplarisch für diese paränetisch/ gruppenbezogene Richtung kann EG 116 stehen: „Er ist erstanden, Halleluja! / Freut euch und singet, Halleluja! / Denn unser Heiland hat triumphiert, / all seine Feind gefangen er führt“ (EG 116/ 1). Ähnlich: EG 108.114.116.135. 165 Neuere Osterlieder lassen eine Veränderung erkennen, indem sie Wendungen an ein göttliches Gegenüber sukzessive vermeiden und stattdessen in horizontaler Kommunikation berichten, ermutigen oder ermahnen (vgl. Albert-Zerlik, „Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden“, 147; ebs. vgl. Albert-Zerlik, Wandlungen in Glaubensverständnis und Spiritualität, 253). 166 HEKG III/ 1, 377. <?page no="338"?> 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) 339 Der Gebetsmodus gegenüber dem Geist wird darüber hinaus in jedem Lied meiner Aufstellung, zumindest final von einer Gruppe - nicht einem Einzelnen - vorgetragen. 167 Eigene Beachtung muss der Satan als Kommunikationsakteur erfahren. 168 In anderen Rubriken wurde auf die seltene Möglichkeit der direkten Anrede hingewiesen - dieser imprekative Modus findet sich in keinem der untersuchten Gesänge. Demgegenüber erscheint aber der deprekative Modus häufig, z.B. heißt es in „Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist“: „Des Feindes List treib von uns fern, / den Fried schaff bei uns deine Gnad, / daß wir deim Leiten folgen gern / und meiden der Seelen Schad“ (EG 126/ 5). Dies allerdings geschieht in den Texten bis auf eine Ausnahme (EG 114) 169 nur in Pfingstliedern, dort aber konsequent - der Geist ist der bevorzugte Adressat, welcher angefleht wird, um den Satan zu vertreiben. 170 In Oster- und Passionsliedern wird der Satan hingegen nicht als gegenwärtige Bedrohung beschrieben, die eines göttlichen Beistandes bedarf, sondern als vergangene, gelegentlich auch gegenwärtige aber jämmerliche Gestalt, die gegenüber der Macht und Herrlichkeit des Sieges von Golgatha nur mit spottendem Blick betrachtet werden kann. 171 Mehr als kurze berichtende Passagen sind dem Satan in Osterliedern nicht gestattet, vom Sieg Christi ist alles Leid überstrahlt. Diese Perspektive geht eng einher mit dem ebenfalls als Kommunikationspartner eingeführten personifizierten Tod - Albert-Zerlik versteht die Anrede des Todes als symbolische Kommunikation und schreibt: „Das direkte Ansprechen des Todes und der Hölle ist in hohem Maße wirkungsvoll. Der Sänger wird in die unmittelbare Konfrontation mit den dunklen Mächten hineinversetzt und tritt diesen in Nachahmung des siegreichen Christus selbstbewusst und siegesgewiss entgegen. Auf diese Weise bekommt er quasi als Übung Gelegenheit, die Haltung des bereits erlösten Menschen, vor allem im Vorgriff auf die Situation des Todes, zu übernehmen.“ 172 167 Die EKG-Kommentatoren weisen darauf hin, dass Bitten um ein neues Pfingsten Gruppenbitten sind (vgl. HEKG III/ 1, 377). 168 Vgl. Tab. 4 Sp. „Sonstige Bemerkungen“. 169 EG 114/ 9: „Ach mein Herr Jesu, der du bist / vom Tode auferstanden, / rett uns aus Satans Macht und List / und aus des Todes Banden“. 170 Vgl. HEKG III/ 1, 378-379. 171 Z.B.: EG 104.106.108.109. 172 Albert-Zerlik, Wandlungen in Glaubensverständnis und Spiritualität, 274. Personifizierungen und Anreden des Todes finden sich z.B.: „Jesus lebt, mit ihm auch ich! / Tod, wo sind nun deine Schrecken? / Er, er lebt und wird auch mich / von den Toten auferwecken“ (EG 115/ 1); „O Tod, wo ist dein Stachel nun? / Wo ist dein Sieg, o Hölle? / Was kann uns jetzt der Teufel tun, / wie grausam er sich stelle? “ (EG 113/ 1); EG 104.106. <?page no="339"?> 340 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken Die persönliche Aneignung der Lieder wird nicht nur durch die 1. Person Singular/ Plural ermöglicht, sondern auch durch zeitliche und räumliche Offenheit. Die Lieder des Osterfestkreises sind Lieder im Jetzt und Heute‚ 173 sie beschreiben die eigene Gegenwart als verzahnt mit dem einstmaligen Heilsereignis. 174 In „Wach auf, mein Herz, die Nacht ist hin“, wird dieses Heute gleich mehrfach ausgedrückt: „Wach auf, mein Herz, die Nacht ist hin, / die Sonn ist aufgegangen. / Ermuntre deinen Geist und Sinn, / den Heiland zu umfangen, / der heute durch des Todes Tür / gebrochen aus dem Grab herfür […] / Geh mit Maria Magdalen / und Salome zum Grabe, / die früh dahin aus Liebe gehn / mit ihrer Salbungsgabe, / so wirst du sehn, daß Jesus Christ / vom Tod heut auferstanden ist […] / Es hat der Löw aus Judas Stamm / heut siegreich überwunden, / und das erwürgte Gotteslamm / hat uns zum Heil erfunden“ (EG 114/ 1.5.6). 175 Die Lieder bilden damit die altkirchliche Theologie ab, die die Ostervigil als Vergegenwärtigung des einmal ergangenen Dramas von Passion, Auferstehung, Himmelfahrt und Geistsausgießung verstand. 176 Oft sind die Lieder zugleich im 173 Die Jetzt-Zeit ist Charakteristikum der jubelnden Osterlieder und zugleich der Himmelfahrts- (vgl. HEKG III/ 1, 362) sowie Pfingstlieder (vgl. HEKG III/ 1, 377). 174 „Viele Lieder stellen die Auferstehung auf zeitlicher Ebene als gerade eben geschehen dar. In der Konsequenz werden die Sänger unmittelbar in die österliche Situation hineinversetzt. Um dies zu verstärken, verwenden einige Texte die adverbiale Bestimmung ‚heute‘, die die Vergegenwärtigung des österlichen Geschehens als jeweils aktuell ermöglicht. Sie verhindert die Vorstellung, die Auferstehung sei ein im historischen Sinn vergangenes Ereignis, und das dadurch entstehende Problem der Kluft zwischen dem Heilsgeschehen und den Gläubigen der Gegenwart“ (Albert-Zerlik, „Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden“, 146). 175 Ähnlich: EG 93.104.106.109.111.112. 176 „Indem wir Gott für sein befreiendes Handeln mit den Vätern des Alten Bundes und für unsere Erlösung durch Christi Kommen, Tod, Auferstehung und Erhöhung danksagend preisen, bleibt dies nicht weit zurückliegende Vergangenheit, sondern erfaßt uns und nimmt uns hinein, verwandelt und erneuert uns. Unser Gedenken wird zur repraesentatio der großen Taten Gottes und anticipatio der noch ausstehenden Vollendung des Reiches Gottes. Diese Nacht ist die Nacht heißt: Heilsvergangenheit und Heilszukunft verdichten sich im Osterlob der Kirche zur gewißmachenden und Hoffnung stiftenden Heilsgegenwart.“ (Schmidt-Lauber, Das Pascha-Mysterium im Osterlob, 133). Die Lieder des Osterfestkreises zeigen oft dieses die Zeitebenen verbindende Element, sie lassen Passion und Ostern hinter sich und ziehen zugleich die Ereignisse in die Gegenwart hinein: „Die andern Lieder (es ist die Mehrzahl) deuten das Ostergeschehen, sie sprechen in immer neuen Variationen von dem, was in der Auferstehung Jesu Christi für den Glauben sich ereignet hat: Ein gewaltiger Sieg ist errungen; der Herr, dem sich alles auf dieser Erde beugen muß, der Tod, ist entmachtet, verschlungen, außer Kraft gesetzt; das Leben, einst durch die Schuld der ersten Menschen im Paradies verloren, ist ‚wiedergebracht‘. Das alles sind für unsere Lieder nicht nur geistige oder geschichtlich vergangene <?page no="340"?> 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) 341 Hier konstruiert, die singende Gemeinde steht auf Erden und mit den Frauen auf Golgatha oder am leeren Grab. 177 Eindrücklich wird die singende Gemeinde durch Friedrich von Bodelschwingh auf die Schädelstätte geführt: „Nun in heilgem Stilleschweigen / stehen wir auf Golgatha. / Tief und tiefer wir uns neigen / vor dem Wunder, das geschah, […] / Doch ob tausend Todesnächte / liegen über Golgatha, […] / Schweigen müssen nun die Feinde / vor dem Sieg von Golgatha. / Die begnadigte Gemeinde / sagt zu Christi Wegen: Ja! “ (EG 93/ 2.3.4). Zu diesen Aspekten, die für die Kommunikation von entscheidender Bedeutung sind, kommen weitere der Sprechereinstellung und Sprecherhandlung‚ 178 welche in engem Wechselverhältnis zueinander stehen. Die Passion ist, wenngleich drei Lieder (EG 86.93.94) kaum als beweiskräftig gelten, in meiner Auswahl von einer Haltung des Vertrauens und Glaubens gekennzeichnet; zu diesem Vertrauen gegenüber dem leidensbereiten Christus kommt oft zusätzlich das Moment des Dankes des freiwilligen Leidens wegen. 179 Diese Sprechereinstellungen sind meist verbunden mit Sprecherhandlungen, die sich im Bereich des Berichtens/ Erzählens oder des stärkeren Verkündens/ Bekennens bewegen, Dank wird zusätzlich durch eigens ausgesprochene Dankesformeln ausgedrückt bzw. durch die aus Dankbarkeit resultierenden Handlungen des Lobens/ Preisens. Diese Dankbarkeit, die zum Loben hinstrebt, wird u.a in Homburgs Passionslied deutlich, welches als Schlusswendung jeder Strophe den Dank immer wieder betont: „Jesu, meines Lebens Leben, / Jesu, meines Todes Tod, / der du dich für mich gegeben / in die tiefste Seelennot, / in das äußerste Verderben, / nur daß ich nicht möchte sterben: / tausend-, tausendmal sei dir, / liebster Jesu, Dank dafür. […] / Nun, ich danke dir Ereignisse, sondern fortwirkende Realitäten, die unser Leben bis heute bestimmen. […] Christus steigt in die Totenwelt hinunter, er zerbricht ihre Pforten, er ringt mit dem Tod und jagt ihm den Raub ab, er führt die Gefangenen heraus. Das ist nur möglich, weil auch der, der ‚des Todes Gewalt hat‘ (Hebr. 2‚14), der Teufel, als der letzte Gegenspieler Gottes überwunden und ausgeschaltet wird. Mit ihm ist die Macht der Hölle, die ihren Rachen weit aufgesperrt hat, endgültig gebrochen (dabei wird unter ‚Hölle‘ teilweise noch wie im Apostolischen Glaubensbekenntnis einfach der Ort der Toten, dann aber auch der Ort der Qual und die Zusammenballung aller gottfeindlichen Mächte verstanden).“ (HEKG III/ 1, 319-320). 177 U.a.: EG 111.112.113.114.115.124.127. Die Einbindung der Singenden in das Osterereignis, als eines örtlich und zeitlich gegenwärtigen, ist v. a. für Lieder der Böhmischen Brüder (z.B.: EG 104) nachweisbar (vgl. Reich, „Durch dein Auferstehn lass uns dein Wort zu Herzen gehn“, 50-52). 178 Vgl. Tab. 4 Sp. „Sprechereinstellung“; „Sprecherhandlung“. 179 Koch konnte Dankbarkeit v. a. bei Paul Gerhardt herausarbeiten (vgl. Koch, Drei Passisonslieder Paul Gerhardts, 16), Axmacher erkennt in der Nacherzählung und folgenden Dankbarkeit ein Charakteristikum der Dichtung des 17. Jh. (vgl. Axmacher, Johann Heermanns Passionslied, 179). <?page no="341"?> 342 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken von Herzen, / Herr, für alle deine Not: / für die Wunden, für die Schmerzen, / für den herben, bittern Tod; / für dein Zittern, für dein Zagen, / für dein tausendfaches Plagen, / für dein Angst und tiefe Pein / will ich ewig dankbar sein“ (EG 86/ 1.8). In Osterliedern wird die bereits zur Passion vorweggenommene Dankeshaltung vollendet und mit der zu Ostern dominierenden Einstellung der Freude verbunden; 180 Halleluja und Ostern, Auferstehung und Freudenrufe stehen in einem nahezu untrennbaren Verhältnis. 181 „Grundsätzlich sind nahezu alle Lieder geprägt von Freude bis hin zum Jubel über die Auferstehung. Dabei sind zwei Weisen zu unterscheiden: Einerseits erscheint die Freude als spontan durch das österliche Ereignis hervorgerufene Stimmung, die die Menschen bzw. die gesamte Schöpfung erfasst. Andererseits […] ist sie eine Haltung, zu der die Menschen erst gerufen werden“ 182 . Diese Einstellungen sind begleitet von Sprecherhandlungen des Berichtens/ Bekennens, meist gehen sie aber darüber hinaus und preisen/ jubeln dem Gottessohne zu. 183 Passagen, in denen andere Menschen angeredet werden, bieten zu- 180 Freudenjubel hat vermutlich immer zum Wesen des Osterfestes gehört - nicht grundlos gibt es noch heute in Anlehnung an altkirchliche Traditionen das sogenannte Osterlachen. Die Lieder und Gesänge des Mittelalters waren ebenfalls von der Haltung der Freude und glaubenden Gewissheit bestimmt (vgl. Kothe, Die deutschen Osterlieder des Mittelalters, 91-92). 181 Ich habe bereits auf das häufige Vorkommen des Halleluja hingewiesen, das über meine Auswahl hinaus ein wichtiges Element österlicher Freudenlieder darstellt (vgl. HEKG III/ 1, 318-322). Albert-Zerlik konnte für ältere Osterlieder ein Vorkommen dieses Freudenrufes bei über 50 % ausmachen, bei neueren in immerhin noch einem Viertel (vgl. Albert-Zerlik, Wandlungen in Glaubensverständnis und Spiritualität, 249). 182 Albert-Zerlik, „Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden“, 146. Insgesamt hat der Aspekt des österlichen Jubels abgenommen, während in älteren Liedern zwei Drittel Freude ausdrückten, geschieht dies in neueren wesentlich seltener (vgl. Albert-Zerlik, Wandlungen in Glaubensverständnis und Spiritualität, 114). 183 Ähnliche Entdeckungen lassen sich in Osterliedern der Böhmischen Brüder machen: „Alle Osterlieder machen das Singen und Loben selbst zum Thema, und viele lassen beides den Rahmen des ganzen Textes bilden: Gelobt sey Gott ymm höchsten trohn … frey mügen singen alletzeyt. Oder: Mit frewden wollen wyr singen / reden von fröhlichen dingen. Immer ist es ein singendes Wir - mehrmals wird die Eintracht betont und erbeten: singen wir heut mit gleichem mund / eintrechtig und aus hertzen grund. Alle Lieder münden - spätestens in der letzten Strophe - in ein Gebet. Nie werden dogmatische Aussagen gemacht, ohne dass sie mit einem Gebet verbunden werden. Sprachlich ist ein hoher Prozentsatz an wörtlicher Rede festzustellen: nicht nur in den - durch die Tradition vorgegebenen - Osterdialogen in erzählender Rede, sondern auch sonst: Anrede an die Singenden, an den Auferstandenen, an Gott. Christus spricht, Gott spricht.“ (Reich, „… durch dein Auferstehn lass uns dein Wort zu Herzen gehn“, 51-52). <?page no="342"?> 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) 343 gleich Akte der Ermutigung/ Zusage, während der Satan mit Spott bedacht wird. Eine bekannte Spottpassage findet sich in „Auf, auf, mein Herz, mit Freuden“: „Die Höll und ihre Rotten / die krümmen mir kein Haar; / der Sünden kann ich spotten, / bleib allzeit ohn Gefahr. / Der Tod mit seiner Macht / wird nichts bei mir geacht’: / er bleibt ein totes Bild, / und wär er noch so wild. / Die Welt ist mir ein Lachen / mit ihrem großen Zorn, / sie zürnt und kann nichts machen, / all Arbeit ist verlorn“ (EG 112/ 4.5). 184 Die Pfingstgesänge entfalten den Jubel Osterns und sind doch zugleich von der Realität des Erdenlebens mit Anfechtungen und Anfeindungen gezeichnet. Die Gesänge sind mit ihrer Einstellung des Vertrauens Festlieder, zeigen daneben aber den Wunsch/ die Hoffnung, dass immer neu der Herr durch seinen Geist in den Erschwernissen des Erdenlebens zu Hilfe kommen möge. Mit dieser Hoffnung korrespondiert die Sprecherhandlung des Bittens/ Flehens. Darüber hinaus finden sich auch in den Pfingstliedern viele Momente des Preisens/ Verehrens und des vertrauensvollen Berichtens. Die Lieder des Osterfestkreises bieten viel konventionelles Sprachmaterial, weisen allerdings in Bezug auf den Teufel eine Besonderheit auf. Erwartbar wäre gewesen, dass der völlig entmachtete Satan mutig direkt angeredet wird - dies geschieht nicht. Neben der Freude über Christi Sieg ist offenbar kein Platz für dunkle Gedanken über den Satan, glorreiches Siegen über Verderbensmächte scheint sich auszudrücken durch Nichtbeachtung und Nichtkommunikation. Wesen und Werk Die vorangegangenen Einzelaspekte bedürfen einer Bündelung unter dem Aspekt von Wesen und Werk des Teufels - vieles gleicht dabei Ausführungen vorangegangener Kapitel, weshalb nicht jede Aussage zum Teufel erneut betrachtet und erläutert wird. U.a. lassen sich auch in diesem Rubrikenkomplex keine ontologischen Spekulationen über den bösen Feind ausmachen, vielmehr stehen dessen Taten bzw. Funktionen im großen Welt- und Heilsdrama im Zentrum. Die Beschreibungen dieser Taten bleiben im Rahmen der durch Bibel und Bekenntnisschriften gesteckten Grenzen. Die Haupttat des Satans ist mehrfach in vorherigen Kapiteln beschrieben worden, wird aber in keiner Rubrik so deutlich, wie in der Osterrubrik und deren umgebenden Rubriken - der Satan kämpft und streitet wider Christus, 184 Andere Spottpassagen z.B.: EG 109.113.115. Der Spott geht häufig mit einer triumphalistischen Haltung einher - Christus ist Sieger und führt die Kirche, welche Satan und Hölle überwunden hat, als triumphierender Herr an (vgl. Schulz, „Singen wir heute mit einem Mund“, 47.54). <?page no="343"?> 344 C. Der Teufel in den Gesangbuchrubriken gegen sein Sterben und Auferstehen, sein Wort und seine Gemeinde in der Welt. Dieser Krieg und Kampf bildet das Proprium im Osterfestkreis: 185 „Ein großer Anteil der Lieder verwendet das mehr oder weniger ausgestaltete Bild vom Kampf bzw. Sieg. In unterschiedlicher Akzentuierung und Intensität wird die Auferstehung als Christi Selbstbefreiung aus dem Grab, Sieg über Sünde, Tod, Teufel und Hölle, außerdem häufig als Überwindung von Bedrängnis, Not und Angst dargestellt. Im Hintergrund steht dabei vor allem 1Kor 15‚54-57. Die in der paulinischen Stelle nicht erwähnten Begriffe, Teufel und Hölle, sind zurückzuführen auf die mythologische Erzählung des apokryphen Nikodemus-Evangeliums, in der Hades, der Herrscher des Totenreichs, und Satan machtlos zusehen müssen, wie Christus als König einzieht, um Adam und die anderen Vorväter aus der Unterwelt zu befreien.“ 186 Das abstrakte contra deum obiger Kapitel wird mit dem Kampfbegriff plastischer und fassbarer. Ein „wunderlich Krieg, / da Tod und Leben ’rungen“ (EG 101/ 4) lässt z.B. Luther die Gemeinde singen und beleuchtet damit die Dramatik dieses Kampfgeschehens näher - ähnlich Weissel: „Was kann uns jetzt der Teufel tun, / wie grausam er sich stelle? / Gott sei gedankt, der uns den Sieg / so herrlich hat nach diesem Krieg / durch Jesus Christus gegeben“ (EG 113/ 1). 187 In diesem Krieg zeichnet den Satan v. a. eine Eigenschaft aus, die ihm seit dem Paradies zu eigen ist und als dessen erste Eigenschaft überhaupt in der Bibel in Erscheinung tritt, nämlich Trug und List (Gen 3‚1.13). Bei Lorenz Lorenzen singt der Einzelne von „Satans Macht und List“ (EG 114/ 9) und Weissel dichtet dramatisch „Wie sträubte sich die alte Schlang, / da Christus mit ihr kämpfte! / Mit List und Macht sie auf ihn drang“ (EG 113/ 2). 188 In der List scheint einiges Bedrohungspotential zu liegen, denn beide Zitate zeigen sie verbunden mit Macht bzw. Gewalt‚ 189 wobei diese Gewalt über den Menschen nicht nur in 185 Albert-Zerlik konnte ermitteln, dass in rund 70 % der traditionellen Osterlieder die Motive Kampf und Sieg nachweisbar sind, in neueren nur in etwa 30 % (vgl. Albert-Zerlik, Wandlungen in Glaubensverständnis und Spiritualität, 104-106). V.a. im Liedgut der Böhmischen Brüder ist das Kampfmotiv von großer Bedeutung (vgl. Schulz, Singen wir heute mit einem Mund, 38-44). Diese Verminderung wird auch damit begründet, dass gegenwärtig Begriffe des Krieges und Kampfes kaum mehr in das propagierte Jesusbild eines pazifistischen Wanderpredigers passen (vgl. Albert-Zerlik, Wandlungen in Glaubensverständnis und Spiritualität, 307-309). 186 Albert-Zerlik, „Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden“, 143-144. 187 Kampf- und Kriegsmotive z.B.: „der das Feld im Kampf mit Tod und Höll behält“ (EG 104/ 1); „Hilf kämpfen ritterlich, / damit wir überwinden“ (EG 133/ 12); „wenn des Satans Macht sich weist; / wappne uns in diesem Krieg“ (EG 134/ 6); EG 112.116. 188 Eng mit der List verbunden bzw. deren konkrete Ausprägung ist das Lügen - in EG 93/ 3 wurde dies in die Bezeichnung der Feinde als „Lügenmächte“ aufgenommen. 189 Macht und List, z.B.: „Drümb kan mit aller macht und list / Uns satan nicht mehr schaden“ (Originalstr. 9 EG 113); EG 126. Macht und Gewalt als Attribute des Satans, z.B.: <?page no="344"?> 9. Der Teufel im Osterfestkreis (EG 75-137) 345 Anmaßung, sondern mit Recht (EG 101) 190 besteht - aufgrund dieses Rechtes betrachtet der Satan den Menschen als Besitz und Knecht. 191 Durch Sünde ist der Mensch in eine dem Tod unterworfene Existenzweise und vollkommene Satansknechtschaft geraten, dahinter steht eine aus Kol 2‚13-15 192 abgeleitete altkirchliche Vorstellung, nach welcher der Teufel einen Schuldbrief des sündigen Menschen besäße. „Gott hat alle Sünden vergeben und den Schuldbrief gelöscht, wie man heute noch davon spricht, daß eine Hypothek gelöscht wird (2‚12ff.). Dieses Bild ist nun aber bei den Kirchenvätern mit dem Mythos verbunden worden, daß der Mensch einen Schuldvertrag mit dem Teufel abgeschlossen und diesem darin für Leistungen, die Satan erbringt, die Verpfli