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Lesen in Antike und frühem Christentum

Kulturgeschichtliche, philologische sowie kognitionswissenschaftliche Perspektiven und deren Bedeutung für die neutestamentliche Exegese

0830
2021
978-3-7720-5729-8
978-3-7720-8729-5
A. Francke Verlag 
Jan Heilmann

Die Studie zeichnet ein überraschend neues Bild der griechisch-römischen Lesekultur. Sie untersucht anhand der Leseterminologie, wie Menschen in der Antike ihr eigenes "Lesen" verstanden haben, und bezieht diese Ergebnisse auf die materiellen und sozialgeschichtlichen Zeugnisse über Leseverhalten und -bedingungen. Es werden verbreitete Annahmen widerlegt, z. B. über das grundsätzlich "laute" Lesen, über die Verbreitung einer performativen Vorlesekultur oder über den Gottesdienst als Ort der Erstrezeption neutestamentlicher Schriften. Ein differenziertes Modell zur Beschreibung von Lesepraktiken eröffnet neue Wege für die (historische) Leseforschung auch in anderen Bereichen. Vor allem wird deutlich, dass sich die neutestamentlichen Schriften im Rahmen dieser Lesekultur verstehen lassen und z. T. für die individuell-direkte Lektüre konzipiert wurden. Damit werden auch elaborierte Lektürekonzepte plausibel, wie sie etwa das Markusevangelium voraussetzt.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-7720-8729-5 www.narr.de T A N Z T A N Z T A N Z TEXTE UND ARBEITEN ZUM NEUTESTAMENTLICHEN ZEITALTER Die Studie zeichnet ein überraschend neues Bild der griechischrömischen Lesekultur. Sie untersucht anhand der Leseterminologie, wie Menschen in der Antike ihr eigenes „Lesen“ verstanden haben, und bezieht diese Ergebnisse auf die materiellen und sozialgeschichtlichen Zeugnisse über Leseverhalten und -bedingungen. Es werden verbreitete Annahmen widerlegt, z. B. über das grundsätzlich „laute“ Lesen, über die Verbreitung einer performativen Vorlesekultur oder über den Gottesdienst als Ort der Erstrezeption neutestamentlicher Schriften. Ein differenziertes Modell zur Beschreibung von Lesepraktiken eröffnet neue Wege für die (historische) Leseforschung auch in anderen Bereichen. Vor allem wird deutlich, dass sich die neutestamentlichen Schriften im Rahmen dieser Lesekultur verstehen lassen und z. T. für die individuell-direkte Lektüre konzipiert wurden. Damit werden auch elaborierte Lektürekonzepte plausibel, wie sie etwa das Markusevangelium voraussetzt. Jan Heilmann Lesen in Antike und frühem Christentum Jan Heilmann Lesen in Antike und frühem Christentum Kulturgeschichtliche, philologische sowie kognitionswissenschaftliche Perspektiven und deren Bedeutung für die neutestamentliche Exegese <?page no="1"?> Lesen in Antike und frühem Christentum <?page no="2"?> T A N Z TEXTE UND ARBEITEN ZUM NEUTESTAMENTLICHEN ZEITALTER 66 herausgegeben von Matthias Klinghardt, Günter Röhser, Stefan Schreiber und Manuel Vogel <?page no="3"?> Jan Heilmann Lesen in Antike und frühem Christentum Kulturgeschichtliche, philologische sowie kognitionswissenschaftliche Perspektiven und deren Bedeutung für die neutestamentliche Exegese <?page no="4"?> © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0939-5199 ISBN 978-3-7720-8729-5 (Print) ISBN 978-3-7720-5729-8 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0149-9 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. ORCID iD Jan Heilmann: 0000-0003-2815-6827 Die Studie wurde gefördert durch: www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 15 17 1 19 1.1 22 1.1.1 23 1.1.2 32 1.1.3 38 1.2 41 1.3 56 1.3.1 59 1.3.2 60 1.3.3 61 1.3.4 70 1.3.5 71 1.3.6 72 1.4 78 1.5 86 95 2 97 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präliminarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesen im frühen Christentum - Zum Forschungsstand . . . . . Lesen im „Gottesdienst“ bzw. in der „Gemeindeversammlung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biblical Performance Criticism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Public Reading/ Communal Reading . . . . . . . . . . . . . . . Die lange Debatte um die Frage nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen in der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschriebenes als Abbild des Gesprochenen? . . . . . . . . Die Frage nach dem Zusammenhang von Schriftsystem und Lesepraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Frage nach der Literalität antiker Gesellschaften . Die Frage nach der Alterität antiker und zeitgenössischer Lesekultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Frage nach der „Oralität“ antiker Gesellschaften . . Engführung der Forschung auf die Fragen nach einem vermeintlichen „Normalmodus“ des Lesens in der Antike und auf reading communities . . . . . . . . . . . . . . . . Fragestellung, methodischer Ansatz und Vorgehen . . . . . . . . Beschreibungssprache und weitere terminologische Klärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil I Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick über die Vielfalt der Lesemedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 3 105 3.1 105 3.1.1 105 3.1.2 117 3.1.3 120 3.1.4 121 3.1.5 127 3.1.6 128 3.2 134 3.3 144 3.4 159 3.5 168 3.6 180 3.7 186 3.8 198 3.9 209 4 215 4.1 216 4.2 226 4.3 239 4.4 268 5 271 6 291 6.1 292 6.2 300 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesen als (Wieder)Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ἀναγιγνώσκω . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ἀναγιγνώσκω mit zusätzlichen Präfixen . . . . . . . . . . . . Ἀναγνωστικός . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ἀνάγνωσις . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ἀνάγνωσμα . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ἀναγνώστης . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesen als Hören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesen als Sammeln: λέγω und Derivate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesen als Begegnung und Kontakt mit dem Text . . . . . . . . . . . Lesen als haptischer Umgang mit dem Medium . . . . . . . . . . . Lesen als Suchen bzw. Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesen als Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesen als Sehen des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesen als Essen und Trinken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . P. Saengers These zum Lesen von scriptio continua vor dem Hintergrund der modernen kognitions- und neurowissenschaftlichen Leseforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Lesen von scriptio continua im Spiegel antiker Quellen . . Weitere „typographische“ Gestaltungsmerkmale antiker Handschriften und die Frage nach „Lesehilfen“ . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit und die Frage nach der Repräsentation von Klang in der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Publikation in der Antike und Verfügbarkeit von Literatur . . . . . . . . Zwischenertrag: Die Vielfalt antiker Lesepraktiken und -kontexte . Kollektive Rezeption und Lesen beim Gemeinschaftsmahl . . . Individuelle Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 311 7 313 7.1 313 7.1.1 313 7.1.2 323 7.1.3 328 7.1.4 332 7.1.5 342 7.2 346 7.2.1 349 7.2.2 352 7.2.3 355 7.2.4 358 7.3 359 7.4 364 7.5 376 8 381 8.1 381 8.2 383 8.2.1 383 8.2.2 396 8.3 411 8.3.1 412 8.3.2 418 8.3.3 441 8.3.4 446 8.4 447 8.4.1 447 8.4.2 464 Teil II Anwendung der erarbeiteten Grundlagen zur Analyse spezifischer Textcorpora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesen im antiken Judentum - Exemplarische Fallstudien . . . . . . . . . Hebräische Bibel, LXX und außerkanonische Schriften . . . . . ארק als hebräisches Hauptleseverb . . . . . . . . . . . . . . . . . הגה und individuell-direkte Lektüre im AT . . . . . . . . . . Lesepraktiken in der Henochliteratur . . . . . . . . . . . . . . . Das Lektürekonzept im Buch Jesus Sirach . . . . . . . . . . . Antizipation unterschiedlicher Rezeptionsgewohnheiten im 2Makk . . . . . . . . . . . . . . . . Philon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesesozialisation bei Philon am Beispiel von agr. 18 . . Die Lektüre des Königs - Philons Interpretation von Dtn 17,18 f . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuell-direkte Lektüre der Therapeuten vs. communal reading . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qumran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesen in der Synagoge bzw. am Sabbat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesen im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick über kleinere Leseszenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesen des Alten Testaments im Neuen Testament . . . . . . . . . . Lesen des Alten Testaments im Corpus Paulinum . . . . Lesen der Hebräischen Bibel/ des Alten Testaments in den Erzähltexten des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . Zur Lektüre der Paulusbriefe und Paulus’ Brieflektüre . . . . . Die Brieflektüre des historischen Paulus . . . . . . . . . . . . Die anvisierte Rezeptionsform der Paulusbriefe in den paulinischen Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesen in den Deuteropaulinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ansprache der Rezipienten als Leser in Erzähltexten des NT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mk 13,14 und das Lesekonzept des MkEv . . . . . . . . . . . Zur anvisierten Rezeptionsweise der Apokalypse . . . . 7 Inhalt <?page no="8"?> 9 483 9.1 483 9.2 490 9.3 496 9.4 503 9.5 511 9.5.1 511 9.5.2 522 9.6 533 9.7 538 10 541 10.1 541 10.2 542 10.3 543 10.4 544 11 549 11.1 549 11.2 550 11.3 551 11.4 552 11.5 553 11.5.1 553 11.5.2 555 11.5.3 581 11.5.4 582 11.5.5 583 Rückblick und Ausblick: Lesen im frühen Christentum . . . . . . . . . . . Zusammenfassender Rückblick und methodologische Implikationen für die Exegese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Stellenwert des Lesens im frühen Christentum: Mündlichkeit und Skeptizismus gegenüber dem geschriebenen Wort? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesen im Kontext der Komposition sowie der Abschreibepraxis neutestamentlicher Texte . . . . . . . . . . . . . . . Ein Vorleser/ Lektor in den frühchristlichen Schriften als Evidenz für gottesdienstliche Lesungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vielfalt frühchristlicher Lesepraxis: Zum Charakter kollektiv-indirekter Leseanlässe im frühen Christentum und individuell-direkte Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kollektiv-indirekte Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuell-direkte Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsequenzen für die Frage nach der Entstehung des neutestamentlichen Kanons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liste mit Belegen für nicht-vokalisierendes Lesen . . . . . . . . . . Quellensprachliche Bezeichnungen antiker „Leseobjekte“ (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exemplarische Übersicht über griechische (und lateinische) Lesetermini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen und Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wörterbücher, Lexika und weitere Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . Philologische Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konkordanzen und elektronische Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . Epigraphische und papyrologische Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biblische Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Papyri, Ostraka u. a. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Münzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 11.5.6 583 11.5.7 584 12 585 13 673 673 674 678 679 686 687 692 705 Ikonographische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen aus der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Altes Testament, LXX, Pseudepigraphen des Alten Testaments Qumran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neues Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Außerkanonische Pseudepigraphen des Neuen Testaments . . Antike Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswahl an lateinischen und griechischen Lexemen . . . . . . . . . . . . . 9 Inhalt <?page no="11"?> CLAVDIAE·VXORI·CARISSIMAE· ET·ANTONIO·ERASMO·FILIO·N OSTRO·ANNO·DOMINI·MMXX <?page no="13"?> ICHHALTEJEDOCHDASVORANGESCHRIEBENEFÜREINENÜTZLICHESACH EDAESDIEJENIGENDIEESINTENDIERTLESENWOLLENORIENTIERTDIEJENI GENDIEZUFÄLLIGAUFDASBUCHSTOSSENZUMLESENERMUNTERTUNDEN DLICHDENJENIGENDIENURETWASNACHSCHLAGENWOLLENBEIMSCHNE LLENAUFFINDENHILFT ἐγὼ δὲ κρίνω χρήσιμον μὲν εἶναι καὶ τὸ τῶν προγραφῶν γένος καὶ γὰρ εἰς ἐπίστασιν ἄγει τοὺς ἀναγινώσκειν θέλοντας καὶ συνεκκαλεῖται καὶ παρορμᾷ πρὸς τὴν ἀνάγνωσιν τοὺς ἐντυγχάνοντας, πρὸς δὲ τούτοις πᾶν τὸ ζητούμενον ἑτοίμως ἔνεστιν εὑρεῖν διὰ τούτου. Polybios 11 prooem. 2 <?page no="15"?> Vorwort Die vorliegende Studie entstand im Wesentlichen in den Jahren 2014-2018 und wurde im Wintersemester 2019/ 2020 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum als Habilitationsschrift angenommen. Das Manuskript wurde für die Publikation geringfügig überarbeitet sowie um Quellen und Literatur ergänzt. Danken möchte ich zunächst Prof. Dr. Matthias Klinghardt nicht nur für seinen kollegialen Rat und seine vielfältige Unterstützung, sondern auch dafür, dass er mir großartige Entfaltungsmöglichkeiten am Institut für Evangelische Theologie in Dresden eröffnet hat. Außerdem danke ich Prof. Dr. Reinhard von Bendemann und Prof. Dr. Peter Wick für die Übernahme der Gutachten, die auf sorgfältiger Lektüre basierenden, unverzichtbaren Hinweise für die Überarbeitung und die Begleitung des Verfahrens. Danken möchte ich außerdem den übrigen TANZ-Herausgebern, Prof. Dr. Günter Röhser, Prof. Dr. Stefan Schreiber und Prof. Dr. Manuel Vogel für die Aufnahme in die Reihe. Dr. Valeska Lembke, Corina Popp und Elena Gastring danke ich für die gute Betreuung von Seiten des Verlags. Große Teile dieses Buches sind im Rahmen eines Forschungsprojektes entstanden, das vom Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus durch die Sächsische Aufbaubank gefördert wurde. Für die großzügige finanzielle Unterstützung sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Daneben ist zahlreichen weiteren Personen vielfältiger Dank abzustatten: Prof. Dr. Christina Hoegen-Rohls, für den fortdauernden diskursiven Austausch über meine Forschungsthemen, und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ihres Oberseminars im SoSe 2019; Prof. Dr. Hermut Löhr stellvertretend für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Ökumenischen Neutestamentlichen So‐ zietät in Bonn, in deren Rahmen ich mein Projekt im April 2018 vorstellen durfte; Prof. Dr. Jörg Frey stellvertretend für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des VIII. Colloquium Iohanneum im Februar 2019 in Zürich; Dr. David Trobisch, Prof. Dr. Andrew McGowan und Prof. Dr. Susan Marks für die zahlreichen inspirierenden Gespräche und Diskussionen über das Thema; Prof. Dr. Dennis Pausch, Prof. Dr. Martin Jehne, Prof. Dr. Maria Häusl und Ute Meyer für die konstruktive Begleitung des Projekts von Seiten der Dresdner Altertumswis‐ senschaften; nicht zuletzt allen Kolleginnen und Kollegen des Instituts für Evangelische Theologie in Dresden und insbesondere der Institutssekretärin, Eva-Maria Kaminski, die mit ihrer liebenswürdigen Art stets den Überblick <?page no="16"?> über die Finanzmittel meiner Projekte behalten und mich im administrativen Dickicht der Universität vielfältig unterstützt hat. Auch viele Freunde und Kolleginnen/ Kollegen haben Anteil am Gelingen des Projektes, die Teile der Habilitationsschrift z. B. im Dresdner Oberseminar und darüber hinaus kritisch diskutiert, mir wertvolle Hinweise gegeben, mich in Bezug auf Methoden der Digital Humanities beraten und/ oder sich durch die Übernahme des Korrekturlesens hervorgetan haben: Adriana Zimmermann, Christine Hoffmann, Dr. Nathanael Lüke, Dr. Daniel Pauling, Dr. Tobias Flem‐ ming, Dr. Alexander Goldmann, Dr. Juan Garcés, Dr. Eric Pilz, Stefan Zorn, Dr. Benedikt Eckhardt, Dr. Johannes F. Diehl, PD Dr. Thomas Wagner und Dr. Mat‐ thias Braun. Besonders hervorzuheben ist der Beitrag von Kevin Künzl, der mit seinem altphilologischen Sachverstand als SHK/ WHK und später als Doktorand an der kritischen Sichtung und Übersetzung zahlreicher Quellen mitgewirkt hat. Neben den vielen Studierenden in meinen Dresdner Lehrveranstaltungen ist namentlich weiteren Studentischen Hilfskräften für ihren unermüdlichen Arbeitseinsatz herzlich zu danken: Lea Herrfurth, Fridolin Wegscheider, Johann Meyer, Frank Wagner, Jakob Brügemann, Ulrike Meinhold und Tobias Reintzsch. Danken möchte ich außerdem meinen Eltern, Doris und Pfr. Bernd Schäfer, für die vielfältige Unterstützung meiner wissenschaftlichen Tätigkeit, sowie meiner Schwester und ihrem Mann, Lena und Stefan Schäfer, für ihre Unter‐ stützung und die Übernahme von Korrekturarbeiten. Dieses Buch ist meiner Frau Claudia, meiner kritischsten Leserin und lieben Partnerin, und meinem Sohn Anton, der stets für eine lebendige Arbeitsatmosphäre sorgt, gewidmet. Dresden, im Juli 2020 Jan Heilmann 16 Vorwort <?page no="17"?> 1 Ähnlich verfährt man auf dem Portal Trismegistos: www.trismegistos.org/ . Einführend zu diesem Portal D E P A U W / G H E L D O F , Trismegistos. 2 Bzw. Sammlungspublikation. 3 Dem Vf. ist bewusst, dass Perseus aus lizenzrechtlichen Gründen z. T. auf nicht ganz aktuellen Editionen basiert. Präliminarien - Entgegen älteren Konventionen wird u. a. wegen der besseren elektronischen Verarbeitbarkeit 1 bei der Angabe von Quellen weitgehend auf die Verwendung von Römischen Zahlen verzichtet. - Papyri werden wie folgt zitiert: • [Edition 2 ][ggf. Band][Textnummer], [ggf. Fragment/ Kolumne], [Zeile] P.Oxy. 3 405, col. 2,19 P.Oxy. 9 1175, fr. 7,8 • Wenn nur ein Fragment mit einer Kolumne vorhanden ist, wird die Zeilenangabe direkt hinter der Textnummer angeführt. P. Mich. 2 130,10 … - Kodizes werden wie folgt zitiert: • [Edition][Folium recto/ verso],[Zeile] P.Oxy. 4 657, f. 47v o ,21 - Soweit die zitierten Quellen online zur Verfügung stehen, sind sie im E-Book mit einem Hyperlink versehen, damit sie von den Leserinnen und Lesern schneller eingesehen werden können. Generell werden Papyri mit der Datenbank „Trismegistos“ verlinkt, literarische Quellen aus lizenz‐ rechtlichen Gründen und der allgemeinen Zugänglichkeit willen mit der Perseus Digital Library bzw. - für Texte, die dort nicht enthalten sind - mit dem neuen Scaife Viewer von Perseus. Diese Links enthalten jeweils stabile CTS-URNs (vgl. dazu http: / / cite-architecture.org/ ). Inschriften werden mit diversen digital verfügbaren Korpora verlinkt. - Die Verlinkungen implizieren jedoch keine Aussage über die zitierten Editionen. 3 Die Quellen sind i. d. R. in den gängigen historisch-kritischen Editionen kontrolliert worden (v. a. BSGRT usw.). - Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, vom Verfasser. - Griechische und lateinische Verben werden aus pragmatischen Gründen in der Wörterbuchform angegeben, auch wenn dies wegen der Gewohn‐ <?page no="18"?> heit im Deutschen, Verben mit dem Infinitiv zu benennen, für einige Leserinnen und Leser ungewöhnlich erscheinen mag. - Römische Zahlen werden in Tabellen und Klammern z. T. zur verein‐ fachten Datierung nach Jahrhunderten verwendet, wobei Römische Zahlen ohne die Angabe „v. Chr.“ eine Datierung „n. Chr.“ implizieren. - Um den Fußnotenapparat zu entlasten, werden Wörterbuchartikel z. T. unter Verwendung eines Kürzels im Haupttext ohne Seitenangabe zitiert. - Die Abkürzung „Lit.“ steht im Fußnotenapparat für „mit weiterführenden Hinweisen auf die Forschungsliteratur“. 18 Präliminarien <?page no="19"?> 1 Vgl. zum terminologischen Befund v. a. K I N Z I G , Καινὴ διαθήκη. 2 Und zwar sowohl im Hinblick auf die Erzähltexte als auch auf die Briefliteratur. Vgl. exempl. für viele M A L B O N , Echoes, passim; K L U M B I E S , Rede, 166; F R E N S C H K O W S K I , Epiphanie II, 150; M Ü L L E R , Schluß, 129; S C H M I T T , Paroikie, passim; W E I D E M A N N , Tod, 194; Z I M M E R M A N N , Christologie, 106; R O S E , Theologie, 59; F R I T Z E N , Gott, 100; L U Z , Hermeneutik, 188; K L U M B I E S , Markusevangelium, 67.110.213; R Ü G G E M E I E R , Poetik, 64. Zu finden auch in der altertumswissenschaftlichen Literatur für andere antike Texte. Vgl. z. B. O ’ S U L L I V A N , Xenophon, 125.128. 3 Vgl. exempl. für viele E B N E R , Philemon, 167; L U Z , Hermeneutik, 185; H E I L M A N N , Wein, passim; J A N T S C H , Jesus, 34. 1 Einleitung In dieser Studie wird die Frage gestellt, wie die Texte des späteren Neuen Testaments 1 (im Folgenden: neutestamentliche Texte) in ihrem unmittelbaren Entstehungskontext und im Rahmen der frühen Rezeptionsgeschichte gelesen wurden. Es klingt zunächst banal, wenn man die selbstverständliche Annahme formuliert, dass die neutestamentlichen Texte geschrieben wurden, um gelesen zu werden. Kategorien wie die (Erst-)Leser, die historische Rezeptionssituation, die gottesdienstliche Verlesung (Wortgottesdienst/ liturgische Lesung usw.) u. ä., aber auch das Verb „lesen“ und das Substantiv „Lesen“ gehören zum Standard‐ repertoire der exegetischen Beschreibungssprache. Demgegenüber bleibt die Reflexion darüber, was „Lesen“ im frühen Christentum konkret bezeichnet, aber zumeist unbestimmt. Auf der einen Seite umgehen viele Exegetinnen und Exegeten durch geläufige Formulierungen wie „Leser bzw. Hörer“ 2 und „Erstrezipienten“ 3 die Herausforderung, die historischen Lesesituationen neu‐ testamentlicher Texte präzise zu beschreiben. Auf der anderen Seite steht die weit verbreitete monosituative Verortung der Lesepraxis als eine gottesdienst‐ liche Verlesung der neutestamentlichen Schriften im frühen Christentum, die meist mit der Annahme einer Kontinuität zur Praxis des Vorlesens in der Synagoge verbunden wird. Die Rede von der gottesdienstlichen Lesung läuft jedoch Gefahr, kirchengeschichtlich identifizierbare, liturgische Lesepraktiken in die neutestamentliche Zeit hineinzuprojizieren. Denn liturgische Lektionen neutestamentlicher Texte sind, so der Stand in der liturgiewissenschaftlichen Forschung, frühestens ab dem 3. Jh. bezeugt. In den ostsyrischen Kirchen wird <?page no="20"?> 4 Vgl. dazu B U C H I N G E R , Origenes; R O U W H O R S T , Liturgical Reading; L E O N H A R D , Liturgical Need, insb. 90-94.103 f, mit Verweis u. a. auf M E S S N E R , Synode; R O U W H O R S T , Reading. Bezüglich Messners These, der sich entwickelnde Wortgottesdienst sei von der rabbi‐ nischen Sabbatliturgie beeinflusst worden, kommt C. Leonhard zum Fazit: „Rabbinic services of Torah reading neither provide a structural model for the Christian sequence of a Liturgy of the Word followed by the Eucharist (or the other way round) nor for the internal staging of a hierarchy of importance between different corpora of texts. There is no reason to assume any interdependence between the development of the typically Christian and rabbinic ritualization of the reading of sacred texts. Serious studies cannot reach firmer conclusions than ‘It is not unreasonable to assume some historical relationship …’ between the rabbinic Sabbath morning liturgy and analogous performances in Christianity“ (L E O N H A R D , Liturgical Need, 104; Zitat im Zitat R O U W H O R S T , Reading, 323). 5 Vgl. B U L T M A N N , Art. ἀναγινώσκω. S. dazu Anm. 7, S. 106. 6 Vgl. F R I E D R I C H , Art. κῆρυξ, κηρύσσω, 695-714. 7 Im Übrigen findet sich auch in Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswis‐ senschaft kein Lemma „Lesen“ oder „Lektüre“. die Praxis liturgischer Lesungen vor der Feier der Eucharistie sogar erst im frühen 5. Jh. übernommen. 4 Die frühchristliche Lesepraxis und der Leseakt selbst stehen nur selten im Zentrum des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses in der neutesta‐ mentlichen Forschung. Es ist bezeichnend, dass im ThWNT der Artikel zu ἀναγιγνώσκω (32mal im NT belegt; 65mal in der LXX)/ ἀνάγνωσις (dreimal im NT/ viermal in der LXX) nicht einmal eine Seite lang ist (und den Befund unzulässig verkürzt darstellt), 5 dagegen aber z. B. der Artikel zum Verb κηρύσσω (61mal im NT belegt; 32mal in der LXX) 19 Seiten umfasst. 6 Hinzu kommt, dass sich weder im Reallexikon für Antike und Christentum (RAC), noch im Hand‐ wörterbuch RGG 4 , noch in der TRE ein Artikel zum Stichwort „lesen“ o. ä. findet. 7 Dies lässt mutmaßen, dass Lesen eine Selbstverständlichkeit ist, die wegen der eigenen Leseerfahrung für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unmit‐ telbar evident zu sein scheint; ein notwendiger, aber sonst wenig interessanter Prozess, um die Botschaft des Textes zu Gehör zu bringen. Doch die Frage nach dem Lesen im frühen Christentum ist eben nicht nur eine technische Frage. Ein genaueres Wissen über das Lesen im frühen Christentum hat Implikationen für wichtige Forschungsfelder der neutestamentlichen Wissenschaft, wie etwa: - die Kommunikationsbeziehungen zwischen Paulus und seinen Ge‐ meinden und zwischen den Gemeinden untereinander; - die frühchristliche Ritualgeschichte (also die Frage nach der Entstehung und Vorgeschichte des christlichen Gottesdienstes und von Liturgien); - die rezeptive Arbeitsweise der Autoren der neutestamentlichen Texte und damit z. B. auch für das Synoptische Problem; 20 1 Einleitung <?page no="21"?> 8 Vgl. dazu weiterführend und einschlägig in systematischer Perspektive H U I Z I N G , Homo legens; H U I Z I N G , Mensch; B A D E R , Lesekunst. 9 S C H N E L L E , Bildung, 114, mit Verweis auf Nietzsches Antichrist und das vor allem von A. Deissmann und Overbeck geprägte Paradigma des unliterarischen Charakters neutes‐ tamentlicher Texte als Kleinliteratur (vgl. D E I S S M A N N , Licht; O V E R B E C K , Anfänge, 16-37), das bis über das 20. Jh. hinaus in der Forschung gewirkt hat. Vgl. z. B. T H E I S S E N , Literatur‐ geschichte, 129; T H E I S S E N , Entstehung, passim. Vgl. weiterführend zur Diskussion C A N C I K , Gattung, 91 f; B E R G E R , Art. Form- und Gattungsgeschichte, 439-441; und ausführlich S C O R N A I E N C H I , Jesus, 66 ff; ferner zur sozialgeschichtlichen Diskussion auch M E E K S , First; S T I L L / H O R R E L L , First Urban Christians; W E I S S , Elite; Ö H L E R , Elend. - in methodischer Hinsicht für die Diskussion um formgeschichtliche Einordnungen der neutestamentlichen Texte sowie v. a. für die Diskussion um die Anwendbarkeit moderner literaturwissenschaftlicher Methoden und Theorien auf die neutestamentlichen Texte usw.; - Modelle zur Konzeptualisierung der Entstehung des neutestamentlichen Kanons. Die Frage nach dem Lesen im frühen Christentum ist zuletzt aber gerade auch von hermeneutischer und theologischer Bedeutung, da Heilige Schriften bzw. als offenbarte und schriftgewordene Worte Gottes interpretierte Texte schlicht und einfach zuallererst gelesen werden müssen. 8 Das Ziel dieser Studie liegt darin, Lesen im frühen Christentum im Horizont der antiken Lesekultur zu untersuchen und damit ein neues Forschungsfeld für die neutestamentliche Exegese zu erschließen. Dabei ist im Folgenden zunächst herauszuarbeiten, inwiefern die existierenden Ansätze in der neutestamentli‐ chen Forschung, die das Phänomen Lesen im frühen Christentum beschreiben, von einer Debatte in den Altertumswissenschaften beeinflusst und von einem problematischen Grundnarrativ geprägt sind. Dieses Grundnarrativ lässt sich komplexitätsreduziert wie folgt reformulieren: a) Da Bücher in der Antike teuer waren, konnten sich nur wenige Menschen Bücher leisten und damit lesen. b) Texte wurden grundsätzlich „laut“ vorgelesen. Und zwar weil man c) Texte in scriptio continua nicht „leise“ lesen konnte und d) die Literalitätsrate in der Antike insgesamt, und im frühen Christentum insbeson‐ dere, äußerst gering war. Daraus wird geschlussfolgert: Die neutestamentlichen Schriften seien für das Vorlesen bestimmt gewesen. Dieses Narrativ setzt nicht nur ein problematisch gewordenes, auf das 19. Jh. zurückführbares Modell des frühen Christentums „als überwiegend ökonomischer, literarischer und bildungsmäßiger Unterschicht“ 9 voraus. Vielmehr unterstellt das Narrativ auch, dass Lesen in Antike und frühem Christentum ein rein auditives Phänomen war, gegenüber dem gesprochenen Wort nur eine sekundäre Rolle spielte bzw. eine Hilfsfunktion 21 1 Einleitung <?page no="22"?> 10 Vgl. T H A T C H E R / K E I T H / P E R S O N , JR./ S T E R N , Dictionary. hatte und von der heutigen Lesekultur fundamental zu unterscheiden ist. Im Sinne eines umfassenderen Verständnisses, das insb. auch den direkten Zugang zum Schriftmedium einschließt, habe Lesen nur eine marginale Rolle gespielt. Ein gutes Beispiel für die aus diesem Narrativ folgende Marginalisierung und funktionale Unterordnung des Phänomens „Lesen“ ist das 2017 erschienene Dictionary of the Bible and Ancient Media. 10 Es enthält zwei lange Artikel zu den Stichworten „Performance Criticism (Biblical)“ und „Performance of the Gospel (in antiquity)“ (insg. zehn Seiten), aber nur eine halbe Seite zum Stichwort „Reading culture“ und keinen Eintrag zum Stichwort „Reading“. Demgegenüber wird in dieser Studie anhand einer umfassenden Auswertung der Quellen herauszuarbeiten sein, dass Lesen in der Antike deutlich differen‐ zierter zu beschreiben ist und auch als ein elaboriertes und eigenständiges Phänomen wahrgenommen wurde. Für die Schriften des antiken Judentums und des antiken Christentums wird zu zeigen sein, dass die anvisierte Rezeptionssi‐ tuation nicht generell auf den Modus des Vorlesens in einer Gruppe reduziert werden kann, sondern sich auch andere Formen der anvisierten Rezeptionsweise eindeutig nachweisen lassen. Im ersten Kapitel ist zunächst der Forschungsstand zu diskutieren. Dabei wird in einem ersten Schritt der Forschungsstand zum Lesen im frühen Christentum behandelt, in einem zweiten Schritt ist die alter‐ tumswissenschaftliche Debatte um das „laute“ und „leise“ Lesen in der Antike zu problematisieren, und in einem dritten Schritt werden die methodischen Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung systematisiert. Davon ausgehend werden unter 1.4 und 1.5 die Fragestellung und der Forschungsansatz sowie das methodische Vorgehen der vorliegenden Studie erläutert. 1.1 Lesen im frühen Christentum - Zum Forschungsstand Eine Forschungsgeschichte zum Lesen im frühen Christentum zu schreiben, ist nicht möglich, da wir mit der paradoxen Situation konfrontiert sind, dass es keine umfassenden Spezialuntersuchungen zum hier zu erschließenden Forschungsfeld gibt und ein relativ geringes Interesse am Leseakt als solchem festzustellen ist, wie oben bereits ausgeführt wurde. Allerdings ist das Thema mit zahlreichen etablierten Forschungsfeldern und -diskursen verwoben und berührt unzählige exegetische Einzelfragen. Zu den etablierten Forschungsfel‐ dern und -diskursen gehören z. B.: 22 1 Einleitung <?page no="23"?> 11 Vgl. D E I S S M A N N , Licht; O V E R B E C K , Anfänge. Vgl. dazu G A M B L E , Books, 11-20. 12 Es ist bezeichnend und weist auf die Dringlichkeit des Desiderats hin, dass in neueren rezeptionsästhetischen Arbeiten etwa zu den Evangelien Reflexionen über antike Lesepraktiken weitgehend fehlen. Vgl. exempl. die Arbeit von M. B. Dinkler zur Repräsentation von Rede und Stille im LkEv (D I N K L E R , Silent Statements), für die eine solche Reflexion m. E. essentiell gewesen wäre, um die Auslegung historisch zu fundieren. - liturgiegeschichtliche Fragen nach der Genese des christlichen Gottes‐ dienstes; - die alte Frage über den literarischen Charakter der neutestamentlichen Texte, der z. B. einflussreich von Overbeck und Deissmann vehement in Frage gestellt wurde, 11 bzw. die Frage nach der literaturgeschichtlichen Einordnung und den intendierten Adressaten neutestamentlicher Texte; - die Frage nach Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie der Lesefähigkeit in Antike und frühem Christentum; - die Frage nach der Angemessenheit von methodischen Zugängen zum NT aus den Literaturwissenschaften, insbs. die Rezeptionsästhetik (reader response criticism). 12 Die Situation wird zusätzlich dadurch verkompliziert, dass einige dieser For‐ schungsdiskurse in einem besonderen Maße interdisziplinär mit anderen alter‐ tumswissenschaftlichen Disziplinen vernetzt sind. Diese Diskurse und ihr Bezug zum Thema „Lesen“ können hier im Einzelnen nicht dargestellt werden. Im Folgenden werden wichtige Forschungsbeiträge zum Thema entlang von drei Kontextualisierungsparadigmen diskutiert, in denen unterschiedliche Zugänge gewählt werden, um Lesen im frühen Christentum zu beschreiben. Weil diese Kontextualisierungsparadigmen von der in den Altertumswissenschaften umfang‐ reich diskutierten Frage nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen abhängig sind, ist darauffolgend diese Debatte ausführlicher darzustellen, bevor dann systematisch die methodischen Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung darzulegen sind. Abschließend wird die Fragestellung und der Forschungsansatz der vorlie‐ genden Studie entfaltet und die Beschreibungssprache eingeführt. 1.1.1 Lesen im „Gottesdienst“ bzw. in der „Gemeindeversammlung“ Das Thema „Lesen im frühen Christentum“ ist forschungsgeschichtlich eng ver‐ bunden mit der liturgiegeschichtlichen Frage nach Entstehung und Entwicklung des christlichen Gottesdienstes und insbesondere mit der Frage nach einem „Wortgottesdienst“, der als Gegenüber zum „eucharistischen Gottesdienst“ kon‐ struiert wird. Es ist hier weder zielführend noch möglich, diese umfangreiche 23 1.1 Lesen im frühen Christentum - Zum Forschungsstand <?page no="24"?> 13 Vgl. dazu S A L Z M A N N , Lehren, 3-22, u. W I C K , Gottesdienste, 27-36, neben den einführenden Darstellungen M E T Z G E R , Geschichte; W A I N W R I G H T / W E S T E R F I E L D T U C K E R , Worship. 14 Vgl. T H E I S S E N , Texte, 424, der den Begriff hier jedoch nicht näher definiert. 15 S. zur Forschungsgeschichte des unscharfen und zu wenig reflektierten Gebrauchs der Kategorie „Wortgottesdienst“ und zu notwendigen Differenzierungen aus liturgiewissen‐ schaftlicher Perspektive weiterführend M E S S N E R , Wortgottesdienst, der in Weiterführung von Z E R F A S S , Schriftlesung, und Anknüpfung an B R A D S H A W , Use, als Grundtypen den „anamnetischen“, den „katechetischen“ und den „latreutischen“ Wortgottesdienst einführt, die später zu Hybriden verschmelzen. Diese Kategorien sind freilich für die nachkonstan‐ tinische Zeit entwickelt worden und verdeutlichen, dass auch in der späteren Kirchenge‐ schichte die Schriftlesung verschiedene Funktionen hatte. Für den Hinweis auf diesen Beitrag danke ich H. Buchinger. 16 Vgl. z. B. S A L Z M A N N , Lehren, passim; K O L L M A N N , Ursprung, 151. S. dazu J O N A S , Mikroli‐ turgie, 5. 17 Vgl. dazu u. a. K L I N G H A R D T , Gemeinschaftsmahl; S M I T H , Symposium; W I C K , Gottesdienste; H E I L M A N N , Wein, 9-20. 18 Vgl. zur Terminologie W I C K , Gottesdienste, 21-26 [Zitat 21]. 19 S. neben G L A U E , Vorlesung, 1-30; B A U M S T A R K , Werden, 15-21, z. B. L I E T Z M A N N , Messe, 258: „Daß dieser [Gottesdienst bestehend aus Bibellesung, Predigt und Gebet] einfach aus der Synagoge übernommen ist, darf als feststehend angenommen werden. Schriftlesung und Auslegung folgt dort der Rezitation des Morgengebets am Sabbath.“ S. außerdem exempl. H E C K E L , Schrift, 42. Eine Gegenposition zu diesem Ableitungsparadigma nimmt W. Bauer ein, der bezweifelt, dass es Schriftlesungen von alttestamentlichen Texten in „heidenchristlichen“ Gemeinden gegeben hätte und entsprechend seines Paradigmas Forschungsgeschichte ausführlich darzustellen. 13 Im Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Studie ist jedoch relevant, dass der Gebrauch von Termini wie „gottesdienstliche Lektüre“, „liturgische Lesung“, „Wortgottesdienst“ etc. (G. Theißen spricht diesbezüglich sogar vom „kultischen Gebrauch“) 14 in vielen Publikationen durch eine deutliche definitorische Unschärfe gekennzeichnet ist. 15 Was Schriftlesung bedeutet und in welche sozialen und kulturgeschichtlichen Kontexte sie einzubetten ist, wird im Grunde als selbstverständlich gegeben voraus‐ gesetzt. Vielfach bekommt man den Eindruck, spätere liturgische Lesepraxis werde in die Zeit des frühen Christentums zurückprojiziert. Dies zeigt sich z. B. schon an der fragestellungsleitenden Unterscheidung zwischen einem Wortgottesdienst auf der einen Seite und einem „eucharistischen“ Gottesdienst auf der anderen Seite, 16 die angesichts neuerer Forschungen zum Mahl im frühen Christentum und zur Ent‐ stehung des Gottesdienstes im frühen Christentum hochproblematisch geworden ist. 17 Eine grundsätzliche Schwierigkeit besteht z. B. schon in der Verwendung des deutschen Gottesdienst-Begriffs, der für viele quellensprachliche Lexeme „zu unspezifisch und zu weit ist“ bzw. deren Bedeutungsfülle nicht abdeckt 18 und daher als metasprachlicher Terminus klar definiert werden müsste. Außerdem zeichnen sich viele Arbeiten durch ein genealogisches Ableitungsmodell der frühchristlichen Lesepraxis aus dem „jüdischen Synagogengottesdienst“ aus. 19 Dies 24 1 Einleitung <?page no="25"?> von der Entstehung des Christentums aus einer Vielfalt heraus (vgl. dazu B A U E R , Recht‐ gläubigkeit) die Vielfältigkeit frühchristlicher „Wortgottesdienste“ betont. Vgl. B A U E R , Wortgottesdienst, 42-47.63 f. Gegen das Ableitungsparadigma wird auch in der modernen Liturgiewissenschaft argumentiert. Vgl. R O U W H O R S T , Liturgical Reading, 159. 20 S. u. 8.3.2. 21 S. u. 8.4.2. 22 So formulierte schon Herder 1796: „[D]as Evangelium Markus ist ein kirchliches Evangelium aus lebendiger Erzählung zur öffentlichen Verlesung in der Gemeinde geschrieben“ (H E R D E R , Erlöser, 210). S. dazu weiterführend F R E Y , Herder. 23 H E N G E L , Probleme, 256 [Herv. im Original], mit Verweis u. a. auf K L E I S T , Gospel, 91-127; T R O C M E , Passion. S. auch H A R T M A N , Markusevangelium, der angesichts seiner Überlegungen zur Gattung des MkEv zu der Schlussfolgerung kommt, es sei „für eine gottesdienstliche Verlesung abgefaßt worden, die auch mit Unterricht verbunden war“ (168). S. außerdem G I L F I L L A N U P T O N , Hearing, insb. 65-78, die auf der Grundlage von Beobachtungen stilistischer, rhetorischer und struktureller Merkmale eine intendierte Verlesung annimmt. Vgl. ferner B A U E R , Wortgottesdienst, 54; M Ü L L E R , Beginning, 112- 114. wird unter 7.4 weiter zu thematisieren sein. Wenn im Rahmen dieser Studie Begriffe wie „Gottesdienst“, „Liturgie“, „Ritual“ (resp. die zugehörigen Adjektive) dennoch verwendet werden, dann beziehen sie sich auf die unspezifischen und weitgehend definitorisch unterbestimmten Kontextualisierungsmodelle, die sich in der Forschungsliteratur finden. Die definitorische Unschärfe der Begriffe „gottesdienstliche Lektüre“, „litur‐ gische Lesung“, „Wortgottesdienst“ etc. ist forschungsgeschichtlich besonders deswegen relevant, da das vorausgesetzte Konzept eines frühen christlichen „Gottesdienstes“ und der darin implizierten Lesepraxis vielfach als Kontext für die Erstrezeption neutestamentlicher Schriften vorausgesetzt wird. Dieses Kontextualisierungsmodell wird z. B. für die Erstrezeption der Paulusbriefe 20 und der Apc 21 verwendet und ist insbesondere für die Markusforschung von Relevanz. In Bezug auf Markus findet es sich schon Ende des 18. Jh. bei J. G. Herder. 22 Der Rezeptionskontext des MkEv wird maßgeblich aus dem sprachlichen Stil abgeleitet, wie exemplarisch bei M. Hengel deutlich wird, der aus dem sprachlichen Stil sogar Rückschlüsse auf den Produktionskontext zieht: „Wahrscheinlich ist das Evangelium aus dem lebendigen mündlichen Vortrag heraus‐ gewachsen und für die lectio sollemnis im Gottesdienst abgefaßt worden. Die kurzen, oft rhythmisch geformten Kola weisen auf die mündliche Rezitation in der Gemeinde‐ versammlung hin. Das Evangelium ist für das Ohr des Hörers geschrieben, und darum alles andere als ein künstliches literarisches Schreibtischprodukt, das aus obskuren schriftlichen Quellen, aus zahlreichen Zetteln und Flugblättern zusammengestückelt wurde.“ 23 25 1.1 Lesen im frühen Christentum - Zum Forschungsstand <?page no="26"?> 24 S. z. B. die Kritik an dem Kontextualisierungsmodell bei G U T T E N B E R G E R , Gottesvorstel‐ lung, 42, Anm. 212; W I S C H M E Y E R , Forming, insb. 365.377; W I S C H M E Y E R , Kanon, 641, Anm. 87; B E C K E R , Evangelist, 46, Anm. 41; L E O N H A R D , Liturgical Need. S. auch insgesamt Vorbehalte in der Liturgiewissenschaft, Rückschlüsse auf die liturgische Praxis der ersten zwei Jahrhunderte zu ziehen. 25 B U C H A N A N , Questions, 159. S. auch schon A. Schweitzers Verdikt: „Jeder Versuch, für die Urgemeinde ein Nebeneinander von Mahlfeier und Wortgottesdienste anzunehmen, führt zu einem Gefasel, bei dem zur Erklärung der der uns erhaltenen Nachrichten über den ältesten christlichen Kult die unsinnigsten Behauptungen gewagt werden müssen.“ (zit. n. K L I N G H A R D T , Gemeinschaftsmahl, 334, Anm. 4.). 26 Vgl. dazu die Verortung Zahns in der Forschungsgeschichte zum neutestamentlichen Kanon bei M A R K S C H I E S , Epochen, 587 f. 27 Vgl. Z A H N , Geschichte I, insb. 85-150.463 ff.; Z A H N , Grundriss, 11 ff. Zum Begriff „kirchliche Vorlesebücher“ s. z. B. Z A H N , Geschichte II, 110. 28 Vgl. H A R N A C K , Neue; S. weiterführend zur sog. Zahn-Harnack-Kontroverse M A R K ‐ S C H I E S , Epochen, 588-591. Insbesondere die Verwendung der Kategorie lectio sollemnis zeigt hier deutlich, dass das spätere Konzept einer festlichen liturgischen Verlesung biblischer Texte im Gottesdienst anachronistisch in den Befund hineinprojiziert wird. Es handelt sich eindeutig um einen späteren liturgiegeschichtlichen Terminus. Aus den frühen Quellen lässt sich dessen Gebrauch weder in quellensprachlicher noch in metasprachlicher Hinsicht rechtfertigen. So ist das Kontextualisierungsmodell „Gottesdienst“/ „liturgische Lesung“ für die Frühzeit insgesamt mehrfach zu Recht kritisiert worden. 24 Anschaulich formuliert C. Buchanan: „To inspect the liturgical evidence of the first and second centuries is like flying from Cairo to the Cape in order to get a picture of Africa, only to find that there is thick cloud cover all the way, with but half a dozen gaps in it.“ 25 Andererseits spielt die Kategorie „Verlesung im Gottesdienst“ eine entschei‐ dende Rolle bei vielen Rekonstruktionen der Entstehung des neutestamentli‐ chen Kanons. Am wirkmächtigsten war in dieser Hinsicht wohl die monumen‐ tale Arbeit T. Zahns, der zwar nicht als erster, aber doch prominent - und in Frontstellung gegen die dogmengeschichtlichen Zugänge Baurs und Semlers 26 - die Interdependenz zwischen der Verlesung im Gottesdienst auf der einen Seite und der Sammlung von Schriften sowie der prozesshaft konzeptualisierten Entstehung des Kanons auf der anderen Seite postuliert. Im neutestamentlichen Kanon sieht er also von Beginn an eine Sammlung „kirchlicher Vorlesebücher“. 27 Diese These ist zwar schon früh kritisiert worden - insbesondere die Spannung zwischen dem Postulat eines ideell bereits vorhandenen Kanons auf der einen Seite und dem postulierten Prozesscharakter bzw. der nicht physischen Einheit dieses Kanons auf der anderen Seite 28 - aber hat doch die weitere Forschung 26 1 Einleitung <?page no="27"?> 29 Vgl. z. B. C A M P E N H A U S E N , Entstehung, 197, der bezüglich Iust. mart. apol. 1,67,3 von „einer Art Vorstufe für die kommende Kanonisierung“ spricht. H. v. Lips sieht in der „Verwendung zur gottesdienstlichen Lesung“ ein wichtiges Kriterium der Bestimmung von Kanonizität, das aber allein nicht ausreiche. Vgl. L I P S , Kanon, passim [Zitat 111]. Für G. Theißen umfasst der Kanon „die Bücher, die im Gottesdienst gelesen werden“ (T H E I S S E N , Religion, 367; s. auch T H E I S S E N , Texte). Auch Hengel sieht in der „liturgischen Lesung im Gottesdienst“ das entscheidende Movens der Sammlung und Kanonisierung der neutestamentlichen Schriften. Vgl. H E N G E L , Evangelien, 97, Anm. 282 [Zitat ebd.]. Vgl. programmatisch auch S T U H L M A C H E R , Paulusschule, 289: „Das Neue Testament ist eine zur Verlesung in den christlichen Gemeinden bestimmte normative Auswahlsammlung aus dem urchristlichen Schrifttum der Zeit zwischen 30 und 120 n. Chr.“, [Herv. im Original]. 30 Die gängigerweise angeführten Quellen (1Thess 5,27; Kol 4,16; Iust. Mart. apol. 1,67), sind aus vielerlei Gründen ungeeignet, die Institution einer liturgischen Lesung im frühen Christentum zu belegen, wie im Rahmen dieser Studie noch ausführlich zu zeigen sein wird. 31 So deutet C. Markschies zu Recht an, dass Zahns Kirche der frühen Zeit „aus einer gottesdienstlichen Gemeinde und ihrer liturgischen Ordnung“ bestehe, wobei „hier spezifische Elemente eines Erlangener Luthertums sichtbar werden“ (M A R K S C H I E S , Epochen, 591). 32 S. z. B. B A U E R , Wortgottesdienst, 42  f, der hier T. Birts Arbeit zum antiken Buchwesen sehr selektiv rezipiert. 33 So finden sich z. B. bei L I P S , Kanon, 28 f die Kategorien „Lesung außerhalb des Gottesdienstes“ (Unterrichtskontexte, private Verwendung) und „Literarische Verwendung durch theologische Schriftsteller.“ 34 Vgl. H A R N A C K , Gebrauch; W A L C H , Untersuchung. Vgl. dazu M A R K S C H I E S , Septuaginta, 139. zum neutestamentlichen Kanon maßgeblich geprägt. 29 Dies ist insofern proble‐ matisch, als das Konzept der Verlesung im Gottesdienst in der Diskussion um die Entstehung des Kanons vielfach definitorisch unterbestimmt bleibt, 30 mit der Gefahr einer anachronistischen Rückprojektion moderner Vorstellungen vom Gottesdienst verbunden ist 31 und als gleichsam feste Konstante ohne weitere Begründung vorausgesetzt wird. Insgesamt ist der Großteil der Forschung des 20. Jh. davon geprägt, dass Lesen im frühen Christentum weitgehend monosituativ im „Gottesdienst“/ der „Gemeinde‐ versammlung“ verortet wird - zum Teil mit der Begründung der vermeintlich hohen Kosten von Handschriften (Hss.), der unterstellten leseunfreundlichen Gestaltung derselben und der angenommenen geringen Lesefähigkeit. 32 Zum Teil wird aber auch die Möglichkeit anderer Rezeptionsweisen, insb. der Kontext der Katechese angedeutet; 33 systematische Untersuchungen fehlen jedoch. Eine Ausnahme einer solchen monosituativen Verortung des Lesens im frühen Christentum bildet allerdings Harnacks 1912 erschienene Studie „Über den privaten Gebrauch der heiligen Schriften in der Alten Kirche“, die maß‐ geblich auf einer noch älteren Arbeit von C. W. F. Walch aufbaut. 34 Harnack 27 1.1 Lesen im frühen Christentum - Zum Forschungsstand <?page no="28"?> 35 H A R N A C K , Gebrauch, 101. 36 H A R N A C K , Gebrauch, 23. 37 Vgl. H A R N A C K , Gebrauch, 101 f 38 H A R N A C K , Gebrauch, 25. 39 Nicht überzeugend ist der Versuch von C. Markschies, die Evidenzen, die Harnack vorbringt, zu relativieren. Markschies spricht davon, Harnack befördere die Illusion, „jedes halbwegs wohlhabende christliche Haus habe eine Bibel besessen und auch darin gelesen“ (80 f). Markschies warnt hier zwar zu Recht vor der Gefahr, moderne Vorstellungen von christlichen Haushalten des beginnenden 20. Jh. anachronistisch für die Antike vorauszusetzen. Als Gegenargument formuliert er allerdings auch rein thetisch in Bezug auf einen der Belege, die Harnack anführt und den er exempl. diskutiert (und zwar Orig. hom. 2 in Num. 1, wo Origenes empfiehlt, den Predigttext zuhause erneut ausführlich, d. h. für mehrere Stunden, zu lesen): „Man muß sich freilich klarmachen, daß dieses Ideal für einen durchschnittlichen Einwohner der Hafenstadt Caesarea überhaupt nicht zu erfüllen war; man hätte - wie Origenes selbst - in einer wissenschaftlichen Schule leben müssen oder in einem Kloster, um so viel Zeit des Tages für die Lektüre der Bibel aufzuwenden“ (M A R K S C H I E S , Lesen, 81). Markschies’ Argument impliziert, dass der „durchschnittliche Einwohner“ seines Erachtens weder Zugang zu Schriften noch Zeit zum Lesen gehabt hätte. Beides wird im Rahmen dieser Studie zu thematisieren sein. 40 H A R N A C K , Gebrauch, 23. wendet sich in dieser Studie gegen die maßgeblich von Lessing vertretene These, dass in der Alten Kirche das Lesen der Bibel Laien vorenthalten worden wäre. Dazu untersucht Harnack die Zeugnisse bis Theodoret, die Rückschlüsse auf „privaten Gebrauch“ biblischer Texte zulassen. Harnack kommt zu dem Ergebnis, dass die biblischen Texte (zuerst die alttestamentlichen und dann auch die neutestamentlichen) in der Alten Kirche prinzipiell „jedermann zugänglich und in den Händen vieler Christen“ 35 waren. Für die Zeit der paulinischen Briefe, vermutet er jedoch, „wird - einfach infolge eines Mangels an Exemplaren - anfangs und eine geraume Zeit hindurch der private Gebrauch seltener gewesen sein.“ 36 Schon für Lukas nimmt er aber an, dass dieser auch außerhalb der „gottesdienstlichen Verlesung“ biblische Texte privat studiert habe. 37 Aus der Literatur des 2. Jh. schlussfolgert er sodann, „daß das Alte Testament, die Evangelien und die Paulusbriefe eine sehr große Publicität besessen haben müssen und von zahlreichen Christen studiert worden sind.“ 38 Schon wegen der zusammengetragenen Quellen bildet die Studie einen wichtigen Ausgangspunkt für die Frage nach der Lesepraxis im frühen Christentum. 39 Allerdings stellt sich die Frage, ob die Kategorie „privater Gebrauch“, die eine dichotome Unterschei‐ dung von einem offiziellen (öffentlichen) kirchlichen Gebrauch (also eine feste Institution der „gottesdienstlichen Vorlesung“ 40 ) voraussetzt, in heuristischer Hinsicht nicht zu allgemein ist, um die Lesepraxis im frühen Christentum angemessen und differenziert genug beschreiben zu können. 28 1 Einleitung <?page no="29"?> 41 G A M B L E , Books, 39 f [Herv. im Original]. S. z. B. auch im weitgehend rezeptiven Beitrag M I T C H E L L , Papyri: „Early Christians overcame this cultural barrier [ JH: of mass illiteracy] by publicly reading their texts during worship gatherings.“ 42 Das gilt, obwohl er die entsprechenden Studien zur Sozialstruktur rezipiert (vgl. G A M B L E , Books, 248), und zwar insofern, als er auf der Grundlage der These des grundsätzlich „oralen“ Charakters der antiken und frühchristlichen Literatur sowie der problematischen Thesen zum geringen Literalitätsgrad in der Antike insgesamt (vgl. G A M B L E , Books, 4-10.28-39; s. dazu 1.3.3) ohne weitere Evidenzen in den Quellen im Hinblick auf die gesamte Antike - und damit auch für das frühe Christentum geltend - formuliert: „Certainly, the capacity to read, the interest and leisure to do so, and the financial means to procure texts, belonged to few“ (G A M B L E , Books, 39). 43 S. o. Anm. 9, S. 21. Zwei Arbeiten aus den 1990er Jahren, die sich dezidiert mit dem Lesen im frühen Christentum bzw. im NT beschäftigen, sind hier etwas ausführlicher zu besprechen. Bis heute einflussreich, besonders in der anglophonen Exegese, ist H. Y. Gambles 1995 erschienene Monographie „Books and Readers in the Early Church: A History of Early Christian Texts“. Wie schon der Titel sagt, handelt es sich bei Gambles Buch weniger um eine Studie zum Lesen selbst. Er formuliert jedoch gleich zu Beginn dem oben skizzierten Grundnarrativ entsprechend die These: „Remember, however, that all ancient reading was reading aloud and that much of it occurred in public, quasi-public, and domestic settings where those listening might include the semiliterate and illiterate as well as the literate. […] Most early Christian texts were meant to speak to the whole body of the faithful to whom they were read. These writings envisioned not individual readers but gathered communities, and through public, liturgical reading they were heard by the whole membership of the churches.“ 41 Gamble wählt einen vierfachen Zugang, um die frühchristliche Lesekultur zu kontextualisieren, und zwar über die Frage nach dem Literalitätsgrad (Kapitel 1), nach der Materialität (Kapitel 2), nach der Publikation und Zirkulation von Texten (Kapitel 3) sowie nach „christlichen“ Bibliotheken (Kapitel 4). Dies kann hier nicht im Einzelnen detailliert besprochen werden, im Laufe der Untersuchung werde ich aber auf einzelne problematische Thesen Gambles bezüglich der genannten Fragen zurückkommen. Seine Schlussfolgerungen zum Lesen basieren z. T. auf dem alten, sozialromantisch verzerrten und v. a. aus dem 1Kor und Thesen zum historischen Jesus abgeleiteten Bild des frühen Christen‐ tums als Gruppe, die sich vor allem aus den illiteraten und unterprivilegierten Schichten zusammensetzte. 42 Ein solches Bild des frühen Christentums ist in der jüngeren Forschung mit Recht in Frage gestellt worden. 43 29 1.1 Lesen im frühen Christentum - Zum Forschungsstand <?page no="30"?> 44 Vgl. G A M B L E , Books, 151. 45 Vgl. G A M B L E , Books, 211. 46 G A M B L E , Books, 212 [Herv. JH]. 47 G A M B L E , Books, 213. 48 Vgl. neben den schon genannten Ausführungen zu christlichen Gemeindebibliotheken G A M B L E , Books, insb. 208-211.214-231. 49 Vgl. G A M B L E , Books, 231-237. Angesichts fehlender früherer Zeugnisse umfasst Gambles Kapitel zu früh‐ christlichen Bibliotheken eine Epoche, die üblicherweise als patristische Zeit bezeichnet wird, sodass keine Schlussfolgerungen bezüglich liturgischer Le‐ sepraxis für die Zeit des 1./ 2. Jh. möglich sind. Seine Argumentation hat dahingehend etwas Zirkuläres, als er auf der einen Seite liturgische Lesepraxis neutestamentlicher Texte, die er faktisch aus der Praxis des synagogalen Wort‐ gottesdienstes ableitet, von Beginn an voraussetzt und auf der anderen Seite die frühe Existenz gemeindlicher Bibliotheken auf Basis dieser liturgischen Le‐ sepraxis postuliert. 44 Er leitet die Praxis des liturgischen Lesens faktisch aus dem synagogalen Wortgottesdienst ab, insofern er zwar die Limitationen der Quellen für die Rekonstruktion synagogaler Lesepraxis in vorrabbinischer Zeit genauso wie die Schwierigkeiten der Rekonstruktion frühchristlicher Lesepraxis in den Gemeinden (auch angesichts der Diversität des frühen Christentums) konzediert, 45 aber dann daraus, dass Paulus bei den Rezipienten seiner Briefe umfangreiche Kenntnisse der Tora voraussetzt, ableitet, „that the scriptures of Judaism were publicly read in the Pauline churches.“ 46 Freilich kann dies nur ein Indiz dafür sein, dass die Tora in den paulinischen Gemeinden rezipiert worden ist, aber nicht in welcher genauen Form. Zusätzlich formuliert er: „The fact that Paul expected his own letters to be read in the liturgical assembly shows that he envisioned the Christian gathering for worship as an appropriate setting for public reading.” 47 An dieser Stelle mag der Hinweis genügen, dass Gamble diesen fact nicht am Text belegt, sondern rein thetisch postuliert. Zudem bleiben Termini wie liturgical assembly, liturgical readings in der gesamten Arbeit unterbestimmt bzw. speisen sich implizit durch Rückprojektionen aus späterer Zeit, die in der Gefahr stehen, anachronistisch zu sein. 48 Zuletzt konzediert Gamble zwar, dass „christliche Bücher“ auch „privat“ gelesen worden wären, führt dazu relevante Quellen an und macht wichtige Beobachtungen. 49 In der Gesamtausrichtung des Buches bleiben diese Ausfüh‐ rungen jedoch ein Appendix, deren Implikationen nicht weiter bedacht werden. Insgesamt bleiben in Gambles Buch Quellenstellen, an denen Lesepraktiken sowohl in der griechisch-römischen Literatur im Allgemeinen als auch in der frühjüdischen sowie frühchristlichen Literatur im Speziellen (bis auf die 30 1 Einleitung <?page no="31"?> 50 M Ü L L E R , Lesen, 7 [Herv. im Original]. 51 M Ü L L E R , Lesen, 6. 52 M Ü L L E R , Lesen, 158 [Herv. im Original]. traditionell als Beleg für einen „Wortgottesdienst“ im frühen Christentum zi‐ tierten Quellen), weitestgehend unbeachtet. Nicht zuletzt wegen des besonderen Einflusses von Gambles Buch in der anglophonen Exegese, der weitgehenden Übernahme der Logik seines Zugangs und der scheinbar selbstverständlichen Richtigkeit der These liturgischer Lesungen als Kontext der Rezeption neutes‐ tamentlicher Schriften, ist die systematische Auswertung dieser Quellen bisher ein schwerwiegendes Desiderat geblieben. Die einzige deutschsprachige Monographie, die das Lesen im frühen Chris‐ tentum in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stellt, ist P. Müllers Monographie „‚Verstehst du auch, was du liest? ‘. Lesen und Verstehen im Neuen Testament“, die 1994 erschienen ist. Müllers Untersuchung fragt da‐ nach, „ob es vom Lesen im Neuen Testament etwas zu lernen gibt für das Lesen des Neuen Testaments“, 50 womit sein Erkenntnisinteresse im Hinblick auf literaturwissenschaftlich-rezeptionsästhetische Perspektiven und Impulse für den gegenwärtigen Bibelgebrauch (Kapitel 5) schon angedeutet ist. Sein Untersuchungskorpus besteht aus den Stellen im NT, an denen Lesen explizit thematisiert wird und an denen er „Erkenntnisse über den Lesevorgang und seine Bedeutung“ 51 zu gewinnen sucht. Ausgehend von Act 8,26 ff spitzt er die Leitfrage der Arbeit noch einmal zu auf den Aspekt des aus dem Lesen erwachsenden Verstehens der Texte (Kapitel 2), womit der Schwerpunkt der Arbeit eher als lesehermeneutisch charakterisiert werden kann. So kommt Müller dann auch zu dem Ergebnis, dass Verstehen biblischer Texte an Lese- und Interpretationsgemeinschaften gebunden ist und es die „eine Lese- und Verstehensweise der biblischen Schriften nicht gibt.“ 52 Die Untersuchung der einzelnen Lesestellen selbst, deren wichtige Ergebnisse unten im Einzelnen aufzunehmen sein werden, wird geleitet durch ein Modell des Lesens „in der griechisch-römischen Antike und im antiken Judentum“ (Kapitel 3), in dem Müller verschiedene kultur- und sozialgeschichtliche Aspekte vornehmlich zusammenfassend aus der Forschungsliteratur aufarbeitet. Genau dieser Ansatz steht aber wegen des unten zu problematisierenden Forschungsstandes zum Lesen in der Antike insgesamt in der Gefahr, einzelne Stellen in den falschen Kontext zu stellen. Der Ansätze von Gamble und Müller unterscheiden sich grundsätzlich im Hinblick darauf, wie sie die Relation der frühchristlichen Lesepraxis zur griechisch-römischen Welt bestimmen. So hebt Gamble die weitgehenden Dif‐ ferenzen zwischen dem Lesen in der griechisch-römischen Welt und dem frühen 31 1.1 Lesen im frühen Christentum - Zum Forschungsstand <?page no="32"?> 53 Vgl. G A M B L E , Books, passim. 54 Vgl. M Ü L L E R , Lesen, 52 f. 55 z. B.: „Reading was therefore oral performance whenever it occurred and in whatever circumstances. Late antiquity knew nothing of the ‚silent, solitary reader‘“ (A C H T E M E I E R , Verbum, 17 [Herv. im Original]; Zitat im Zitat H A V E L O C K , Literate, 203); „The most important thing to be said is that in the Greco-Roman world virtually all reading was reading aloud; even when reading privately the reader gave audible voice to the text“ (G A M B L E , Books; s. auch G A M B L E , Literacy, 31); „Reading was always aloud“ (R I C H A R D S , Paul); „Reading in antiquity was not experienced as a silent scanning, mainly mental activity. It was a performative, vocal, oral-aural event. Reading aloud while others listened is a practice that cements sociability, adding distinct elements to the social functions of writing and publishing“ (B O T H A , Orality, 127). 56 K A R R E R , Instrument, 404. Vgl. exempl. für viele auch B E A V I S , Mark, 19 f.80; M Ü L L E R , Beobachtungen, 169 f; A U N E , Revelation 1-5, 20 f; C L A R K , Christianity, 81. Diese Position ist freilich nicht neu. Vgl. z. B. B A H N , Reading, 433. Ferner für das alte Israel prominent Christentum hervor. Das vorherrschende Medium der griechisch-römischen Buchkultur sei die Rolle gewesen, das frühe Christentum habe dagegen Kodizes verwendet; die griechisch-römische Lesekultur sei die von literaten Eliten, im frühen Christentum sei den illiteraten Unterschichten vorgelesen worden; Bü‐ cher seien in der griechisch-römischen Welt publiziert und über den Buchmarkt vertrieben worden, im frühen Christentum zirkulierten Bücher dagegen in privaten Netzwerkstrukturen u. ä. 53 Müller geht hingegen von grundsätzlichen Übereinstimmungen in Bezug auf die Lese- und Rezeptionsbedingungen der hellenistisch-römischen Antike sowie dem Judentum aus, die vor allem im „lauten“ Lesen, der Öffentlichkeit des Lesens und dessen Bindung an eine Lesegemeinschaft bestehe. Es seien nur unterschiedliche Akzentuierungen feststellbar, die vor allem durch die schulische und „gottesdienstliche“ Verortung des Lesens im Judentum bedingt und auf griechisch-römischer Seite durch den öffentlichen Aufführungscharakter im Kontext der privilegierten Schichten gekennzeichnet sei. 54 Diese Perspektive der Verortung der frühjüdischen und frühchristlichen Lesepraxis in der Lesekultur der griechisch-römischen Welt ist auch ein prägnantes Kennzeichen der sogenannten Performanzkritik (Biblical Performance Criticism). 1.1.2 Biblical Performance Criticism Weit verbreitet in der neutestamentlichen Wissenschaft ist das Postulat, dass in der Antike grundsätzlich „laut“ gelesen wurde. Teilweise wird es sogar in der extremen Form der Ausschließlichkeit vorgetragen 55 und a) dahingehend erweitert, dass Texte in der Antike (u. a. wegen des geringen Literalitätsgr‐ ades) „normalerweise durch Vorleser und in Gruppen“ 56 rezipiert wurden, 32 1 Einleitung <?page no="33"?> vertreten durch B O Y A R I N , Placing. Vgl. in Bezug auf die Rollen vom Toten Meer z. B. M I L L E R , Media, 19 f, passim. 57 Vgl. M C G U I R E , Letters, 150; G E R H A R D S S O N , Memory, passim; B E A V I S , Mark, passim; K E L B E R , Gospel, 13; A C H T E M E I E R , Verbum, passim; M O U R N E T , Oral, 133-141; M I T C H E L L , Emergence, 4 f; H E A R O N , Implications, 4 f; B R I C K L E , Aural Design, passim; O E F E L E , Evangelienexegese, 5-10. 58 Vgl. „Equally dominated by the oral environment was the practice of reading. It is apparent that the general […] practice was to read aloud“ (A C H T E M E I E R , Verbum, 15). 59 „The normal mode of composition of any writing was to dictate it to a scribe“ (A C H T E M E I E R , Verbum, 12). 60 „It was from this kind of environment, then, that the NT documents emerged and within which they were intended to communicate. That means that […] they are oral to the core, both in their creation and in their performance“ (A C H T E M E I E R , Verbum, 19). Vgl. auch J A F F E E , Torah, insb. 25 f; B E C K E R , Schreiben, 45.53-56; G I L F I L L A N U P T O N , Hearing, passim. 61 „It is doubtless superfluous to say that in the beginning the written word or book merely preserved a record of that which had once been spoken. For the words and sentences of this record to recover life and meaning, it was necessary that they be reanimated by the voice of someone who understood the significance of the written characters“ (H E N D R I C K S O N , Reading, 184). 62 Vgl. z. B. H E N D R I C K S O N , Reading, 184; C A R R , Schrift, 13. Diese Annahme bildet außerdem die Grundlage der Studie O E F E L E , Evangelienexegese. 63 J A F F E E , Torah, 26. 64 Besonders einflussreich in der neutestamentlichen Forschung war diesbezüglich die ur‐ sprünglich Anfang der 1980er Jahre erschienene Monographie K E L B E R , Gospel, die vom Paradigma der mündlichen Überlieferung in der Homerforschung beeinflusst wurde (vgl. P A R R Y , Oral Verse-Making I; P A R R Y , Oral Verse-Making I; L O R D , Singer) und die abhängig ist von der Kultur- und Medientheorie W. Ongs und dessen Unterscheidung mündlicher und schriftlicher Kulturen. Vgl. O N G , Orality. Forschungsliteratur, die sich an der paradigmatischen Unterscheidung Oralität/ Literalität orientiert, ist Legion. Vgl. sowie häufig b) mit der These einer primär durch Oralität geprägten Kultur verbunden, in der die neutestamentlichen Schriften entstanden seien. 57 Sowohl das Lesen 58 als auch der Prozess der Textproduktion 59 seien primär mündlich konzeptualisiert gewesen. 60 Dies wiederum führt zu der verbreiteten Sicht, dass antike Texte, insbesondere die neutestamentlichen, nichts anderes seien als das gesprochene Wort transformiert in ein anderes Medium. 61 In Analogie zu modernen Aufnahmemedien wird daher die Schrift gerne als Speichermedium für das Wort verstanden bzw. werden antike Schriftsysteme in Analogie zu Notationssystemen in der Musik beschrieben und analysiert. 62 Die Rezeptions‐ situation sei daher umgekehrt zu verstehen als „restoration of the book to its pristine moment of oral origin.” 63 Aufbauend auf diesem Theoriegebäude, das ich hier nur in wenigen Pinsel‐ strichen angedeutet habe und das beeinflusst ist durch das Paradigma, die antike Welt und Literatur primär unter der Kategorie „Oralität“ zu beobachten, 64 sowie 33 1.1 Lesen im frühen Christentum - Zum Forschungsstand <?page no="34"?> nur A L K I E R / C O R N I L S , Bibliographie; für die Evangelienforschung I V E R S O N , Orality. Zu den Problemen der Metasprache vgl. R O D R Í G U E Z , Reading (Lit.). 65 Dazu einführend B A C H M A N N -M E D I C K , Cultural Turns, 104 ff. 66 Vgl. zur Übersetzung den Buchtitel von O E S T R E I C H , Performanzkritik. 67 R H O A D S , Performance Criticism I; R H O A D S , Performance Criticism II; R H O A D S , Research; R H O A D S , Performance. Vgl. auch T R O B I S C H , Performance. 68 Vgl. R H O A D S / D E W E Y , Paradigm Shift. 69 Vgl. z. B. M I L L E R , Performances; M I L L E R , Media (Lit.). 70 Vgl. R H O A D S , Art. Performance Criticism, 282. im größeren wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang des sog. performa‐ tive turns in den Kulturwissenschaften zu sehen ist, 65 hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten v. a. in der anglophonen Forschung eine zunehmend mehr Anhänger findende Sichtweise auf die neutestamentlichen Texte im frühen Christentum entwickelt. Diese Sichtweise geht vom Folgenden aus: Die neutes‐ tamentlichen Texte wurden im Rahmen ihrer Erst- und frühen Folgerezeption nicht einfach gelesen bzw. vorgelesen, sondern performed. Darunter verstehen die Vertreterinnen und Vertreter dieser Sichtweise eine Vortragspraxis, die in Analogie zu antiken Dramenaufführungen und zur Vortragsweise von Reden aufzufassen sei. Der Fokus liegt dabei auf dem Versuch, z. B. die genaue Vortrags‐ weise und Stimmführung im Hinblick auf den Klang der Rede/ die Rhetorik, die stimmliche Realisierung von einzelnen Rollen, die Mimik und Gestik und v. a. die möglichen Reaktionen des Publikums zu untersuchen. In mehreren program‐ matischen Artikeln wurde dieser Ansatz von D. M. Rhoads als neue Methode der Biblischen Performanzkritik 66 (Biblical Performance Criticism) vorgeschlagen. 67 Mittlerweile verkündet er den Ansatz sogar als Paradigmenwechsel, mit dem ein aus dem Druckzeitalter stammendes Paradigma (Autor - geschriebener Text - individueller „leiser“ Leser) abgelöst würde. 68 Der Ansatz wurde ferner auch in der judaistischen Forschung adaptiert. 69 Seit 2008 existiert auch eine eigene Reihe (BPCS), in der das Ziel des Ansatzes programmatisch folgendermaßen zusammengefasst wird: „to reframe the biblical materials in the context of traditional oral cultures, construct [imaginative] 70 scenarios of ancient performances, learn from contemporary perform‐ ances of these materials, and reinterpret biblical writings accordingly.“ Zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter der Biblischen Performanzkritik nehmen an, die neutestamentlichen Texte seien nicht auf der Grundlage eines Schriftmediums vorgelesen, sondern auswendig vorgetragen worden. Damit wird die Existenz von Lesen im frühen Christentum im eigentlichen Sinne negiert - abgesehen von der Nutzung von Manuskripten zum Auswendiglernen durch das „laute“ Sich-selbst-Vorlesen. P. J. J. Botha geht sogar so weit, nicht nur 34 1 Einleitung <?page no="35"?> 71 Vgl. B O T H A , Orality, 90-104. 72 Vgl. z. B. explizit ausgeführt bei B O T H A , Reading; B O T H A , Book, 17; B O T H A , Orality, 104-109. 73 Vgl. D E W E Y , Gospel; W I R E , Case; D E W E Y , Oral Ethos; H O R S L E Y , Text, 246 ff. Vgl. in Bezug auf das Verhältnis von Q und Mt ferner K I R K , Q. Sehr viel vorsichtiger zu Spuren mündlicher Performanz im MkEv B R E Y T E N B A C H , Verschlüsselte Performanz? 74 „Incidentally, these practices remind us forcibly of the fluidity of all manuscript traditions in antiquity. What we would call an edition simply did not exist in antiquity: ἔκδοσις (usually translated with ‘publish’) merely indicated the stage at which the author let a version out of his own hands.“ B O T H A , Publishing, 347 [Herv.en im Original]. Redaktionelle Textvarianten auf das Phänomen einer ungeordneten Praxis der Zirkulation von Hss. zurückzuführen ist angesichts der doch recht stabilen hss. Überlieferung methodisch fragwürdig. Vgl. weiterführend zur Frage nach der Entste‐ hung von Varianten H E I L M A N N / W I C K , Varianten; G O L D M A N N , Textgeschichte. 75 Vgl. u. a. B O T H A , Publishing; B O T H A , Orality, 113-131. S. dazu u. 5. das „leise“ Lesen für die gesamte Antike in Frage zu stellen, sondern auch alle Formen von lesenden Zugriffen auf Schriftmedien, die einen Text nicht linear „oral“ re-realisieren 71 - also z. B. einen nachschlagenden, selektiven Zugriff, das Überspringen von Passagen usw. Die vielfältigen denkbaren Möglichkeiten werden im Rahmen dieser Studie v. a. unter 3 und 6 thematisiert und an den Quellen untersucht werden. Das Memorieren hätte die Funktion gehabt, einen Text entweder vor einer Gruppe zu „performen“ oder für eine nachfolgende durch rein mentale Verarbeitung entstehende Komposition zu nutzen, die dann wiederum „oral“ (d. h. in Form eines Diktats) zu Papyrus gebracht worden wäre. 72 Hier zeigt sich der Einfluss aus der Oralitätsforschung (s. o.): In überlie‐ ferungskritischer Hinsicht (und bei faktischer Negierung der Literarkritik, da Komposition auf der Grundlage schriftlicher Quellen mit diesem extremen An‐ satz faktisch ausgeschlossen wird) wird postuliert, dass etwa das MkEv (in einem zeitlich ausgedehnten Prozess) in performance komponiert und geschrieben worden sei. 73 Überhaupt wird vielfach negiert, dass es in der Antike so etwas wie vom Autor verbindlich herausgegebene Editionen gegeben habe und Botha sieht darin den entscheidenden Grund für die Entstehung von Textvarianten in der hss. Überlieferung antiker Texte. 74 Publikation sei in der Antike und im frühen Christentum nichts anderes gewesen als der Akt des performativen Vortrags in einer Gruppe. Schriftliche Kopien seien lediglich mehr oder weniger zufällig durch Mitschriften oder das Herausgeben von Kopien an Freunde in Umlauf gekommen. 75 Die Grundannahmen und die historische Rekonstruktion antiker und früh‐ christlicher Lesepraxis im Rahmen der sog. Performanzkritik und die zuweilen zu findende Überbetonung von orality/ aurality in Bezug auf die Produktion und Rezeption frühchristlicher Literatur hat L. Hurtado in einem wegweisenden 35 1.1 Lesen im frühen Christentum - Zum Forschungsstand <?page no="36"?> 76 Vgl. H U R T A D O , Oral Fixation. Vgl. weiterführend I V E R S O N , Oral Fixation, und Hurtados Reaktion H U R T A D O , Correcting. S. jetzt auch die ausführliche Kritik bei K E I T H , Manusc‐ ript, passim. 77 Vgl. B I N G , Scroll, insb. 106-115, gegen C A M E R O N , Callimachus. 78 H U R T A D O , Correcting, 327. 79 Vgl. H U R T A D O , Correcting, 325, mit Verweis auf Quint. inst. or. 10,3,19; 10,7,21 f. 80 Vgl. H U R T A D O , Correcting, 335 f. 81 S. z. B. S H I E L L , Delivering, 11-38; S H I N E R , Proclaiming, passim; S H I E L L , Reading, insb. 34-101; W A R D / T R O B I S C H , Bringing, passim. 82 Vgl. H U R T A D O , Correcting, 335. Artikel zu Recht und mit überzeugenden - zuweilen allerdings angesichts des begrenzten Raumes nur angerissenen - Argumenten kritisch diskutiert und weitestgehend als crucial claims, highly dubious inferences und historical over‐ simplifications zurückgewiesen. 76 (Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass ähnliche Thesen in Bezug auf die hellenistische Poesie in der klassischen Philologie kritisch gesehen werden.) 77 Wissenschaftstheoretisch ist dies als not‐ wendige Gegenbewegung zu verstehen, die auf die durch das neue Paradigma des sog. performative turns entstandenen blinden Flecken aufmerksam macht, die maßgeblich durch ein weitgehendes Zurückdrängen von philologischen De‐ tailfragestellungen und eine, dem Durchsetzen von Paradigmenwechseln häufig inhärenten, zunächst einseitige Heuristik bedingt sind. Prägnant formuliert Hurtado bezüglich des weit verbreiteten Grundnarrativs (und die nachfolgende Untersuchung wird dies auf einer viel breiteren Quellenbasis bestätigen): „[I]t is simply misinformed to assert that texts [in the Roman era] were only (or even dominantly) read aloud and in groups, and were, thus, merely appendages to ‚orality‘.“ 78 Er verweist zudem u. a. darauf, dass die Rolle des Diktierens im Prozess der Entstehung insb. literarischer Texte nicht überschätzt werden darf 79 und weist entschieden die These zurück, das MkEv oder irgendein anderer Text sei in performance komponiert worden. 80 Der entscheidende Einwand gegen die sozialgeschichtliche Rekonstruktion der Performanzkritik ist aber ein methodologischer, den auch Hurtado an‐ deutet: Die Quellen, die der Rekonstruktion performativer Präsentationen der neutestamentlichen Texte sowie der Reaktionen des Publikums zugrunde liegen, stammen fast ausnahmslos aus dem Bereich der (meist narrativen, z. T. theoretischen) Reflexion antiker Dramenaufführungen und der Rhetorik bzw. sind ikonographische Darstellung von Dramenaufführungen oder Rednern. 81 Schauspieler und Redner sollten aber nicht mit den Vorlesenden von Texten verwechselt werden, wie Hurtado es formuliert. 82 Oder anders gesagt: Es fehlt eine historische Begründung, die m. E. auch nur schwer möglich ist, inwiefern die Quellen, die sich auf das Theater und die Rede beziehen, für die Rekon‐ 36 1 Einleitung <?page no="37"?> 83 Dabei ist es symptomatisch, dass Quellen- und Metasprache nicht sauber getrennt werden, letztere nicht differenziert genug definiert und z. B. das englische Wort recitation in einem sehr breiten, heuristisch nicht zielführenden Sinn gebraucht wird. S. z. B. S H I E L L , Reading, insb. 102-136; W A R D / T R O B I S C H , Bringing, 17-23; L O U B S E R , Oral, passim. 84 S. dazu ausführlich u. Anm. 21, 22, 24, S. 275. 85 Auch nicht für das Verlesen von Briefen beim Zielpublikum, wie B E C K E R , Activity, 94, es im Hinblick auf die Paulusbriefe formuliert. Becker distanziert sich allerdings von einigen Engführungen und Verkürzungen der Performanzkritik (vgl. ebd. 89). Das Verlesen eines Briefes ist zwar eine Form der „Öffentlichmachung“, sollte aber nicht mit dem in der Antike durchaus spezifisch zu fassenden Akt der Publikation verwechselt werden. Gegen B E C K E R , Activity, 94. 86 P A R K E R , Books, 213. S. zum antiken Konzept von Publikation sowie zur Institution der recitatio die Ausführungen unter 5. 87 So auch H U R T A D O , Oral Fixation, 205: „I reiterate that it is right to emphasise that literary texts were typically composed with a view to their oral effect (whether read silently or in groups).“ Aus meiner Sicht ist in diesem Kontext der Begriff oral bzw. mündlich unpräzise und könnte in die Irre führen. Stattdessen sollte man formulieren, dass sowohl die neutestamentlichen Erzähltexte als auch die Briefe nach Regeln der antiken Rhetorik gestaltet worden sind. S. dazu u. 8.3.2. 88 H U R T A D O , Oral Fixation, 338. 89 Vgl. H U R T A D O , Oral Fixation, 336-340 (s. u. auch Anm. 96, S. 240). Er verweist zwar in diesem Kontext auch auf rein visuell wahrnehmbare Elemente in den Hss. (z. B. die struktion von diversen Vorlesesituationen herangezogen werden könnten. Es kommt hinzu, dass es sich bei der vielfach belegten recitatio, auf die sich nicht nur die Vertreterinnen und Vertreter der Performanzkritik beziehen, 83 um eine Institution handelt, die fest mit der Präsenz des Autors verknüpft ist und zeitlich vor der eigentlichen Publikation eines Werkes angesiedelt ist. 84 Die recitatio ist daher kein beliebig verallgemeinerbarer Rahmen für die Rezeption literarischer und poetischer Werke. 85 „Going to a recitation was not a substitute for reading. It was a (sometimes tedious and socially obligatory) prelude to reading.“ 86 Insgesamt ist zu kritisieren, dass durch die extreme Fokussierung auf den Aspekt der Mündlichkeit der Quellenbefund nur selektiv wahrgenommen wird und viele, in dieser Studie zu besprechende, Facetten antiker Lesepraxis unbe‐ obachtet bleiben. Bei aller Kritik insbesondere an der sozialgeschichtlichen Rekonstruktion antiker Lesepraxis im Rahmen der Performanzkritik ist schon hier zu betonen, dass damit nicht in Frage gestellt wird, die Rhetorik neutesta‐ mentlicher Texte zu untersuchen. 87 Zuletzt schlussfolgert aber auch Hurtado aus dem handschriftlichen Befund (v. a. aus den sog. readers’ oder reading aids) wie aus dem NT (insb. Mk 13,14 par; Lk 4,16-21; Act 13,15; 15,21; 17,10 f; 1Thess 5,27; Kol 4,16; Apc 1,3), dass im frühen Christentum Texte „most often in group-settings“ 88 gelesen, d. h. vorgelesen worden wären. 89 Damit setzt er gegen die These besonderer perfor‐ 37 1.1 Lesen im frühen Christentum - Zum Forschungsstand <?page no="38"?> Nomina sacra), darauf, dass der Leser etwa in Mk 13,14 par. direkt angesprochen wird, und auf den Beleg einer Sammlung von Paulusbriefen in 2Petr 3,15 f, verortet diese jedoch weitestgehend in den Rahmen eines public reading im frühen Christentum. Er betont jedoch in H U R T A D O , Correcting, 205, deutlich expliziter: „in the earliest extant Christian manuscripts, we have physical evidence that the texts they contain were studied carefully, probably in sustained close attention by individual readers. But this is not at all to deny that the reading aloud of texts was a frequent (or even typical) feature in earliest Christian circles. I simply note that this was not the only way in which texts were read in the Roman period, by Christians or others.“ 90 Vgl. N Ä S S E L Q V I S T , Reading, insb. 2-12; s. auch N Ä S S E L Q V I S T , Conventions. 91 Vgl. N Ä S S E L Q V I S T , Reading, insb. 12 f.54.322. 92 Vgl. W R I G H T , Reading, 4-10 [Zitat 8]. mativer Lesungen, die ohne Textmedium ausgekommen wären, eine andere (allerdings nicht mehr weiter entfaltete) monosituative Verortung frühchristli‐ cher Lesekultur, an denen sich auch die Monographien von D. Nässeqvists (2016 erschienen) und B. J. Wrights (2017 erschienen) orientieren. 1.1.3 Public Reading/ Communal Reading D. Nässelqvists Studie setzt sich zwar insofern von der Biblischen Performanz‐ kritik ab, als er die Kritik Hurtados aufnimmt, die einseitige These der Perfor‐ manz auswendiggelernter Texte problematisiert und die Materialgebundenheit frühchristlicher Lesepraxis betont. 90 Sein Erkenntnisinteresse liegt aber zuletzt auch darin, oral delivery im Rahmen von public reading events zu rekonstru‐ ieren. 91 Dazu untersucht er zunächst die materiellen Überreste antiker und frühchristlicher Lesepraxis in Relation zur Pragmatik des Lesens (Kap. 2), betont die Wichtigkeit von auf das Lesen spezialisierter Lektoren im Rahmen der antiken und frühchristlichen Lesepraxis (Kap. 3) und führt im Anschluss an M. E. Lees und B. B. Scotts Sound Mapping und zusätzlich gestützt auf Aussagen der antiken Rhetoriktheorie eine Methode zur Analyse des Klangs griechischer Texte ein (Kap. 4), die er dann exemplarisch an Joh 1-4 vorführt (Kap. 5-8). Ganz ins Zentrum des Forschungsinteresses rückt B. J. Wright das Thema Lesen im frühen Christentum in seiner 2017 erschienenen Studie „Communal Reading in the Time of Jesus“. Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist die m. E. sehr richtige Feststellung, dass Lesen insbesondere durch den starken Fokus der Forschung auf Oralitätsfragen weitestgehend vernachlässigt worden ist. Dem‐ gegenüber fordert er mit communal reading events eine neue control category und schreibt sich damit in einen Diskurs bezüglich bestimmter „‚quality controls‘ that must have been in place […] in order to account for the transmission of the earliest Jesus movement“ ein. 92 Sein Erkenntnisinteresse liegt also vor allem 38 1 Einleitung <?page no="39"?> 93 Vgl. W R I G H T , Reading, 10. 94 Vgl. W R I G H T , Reading, 10. 95 So verweist er z. B. auf den Fehler, die ökonomischen Bedingungen des Schreibens und Erwerbens von Büchern zu hoch zu schätzen und vor der Gefahr der Anwendung der einfachen dichotomen Kategorie arm/ reich (W R I G H T , Reading, 29-31), auf die hohe Mobilität, welche den Austausch von Literatur beförderte (W R I G H T , Reading, 34-38), auf die vielen Hinweise der weiten Verbreitung von Büchern (vgl. W R I G H T , Reading, 43 f) und auf Evidenzen, dass römische Literatur des 1. Jh. nicht nur ein Elitenphänomen war und durchaus auch von Plebejern gelesen werden konnte (die Quelle, die er hier zitiert, ist Ov. trist. 3,1,81 f, nicht 1,1,82! ). Vgl. W R I G H T , Reading, 45-47 (s. u. weiterführend Anm. 108, S. 133). 96 W R I G H T , Reading, 208. 97 Vgl. N Ä S S E L Q V I S T , Reading, 77-96. darin, communal reading events als einen wichtigen Faktor in der Formierung und (textlichen) Überlieferung der Jesus-Tradition zu plausibilisieren, wobei er jedoch betont, dass das Ziel seiner Studie zunächst darin liegt, zu belegen, dass communal reading events ein weit verbreitetes Phänomen im ersten Jh. n. Chr. gewesen seien. 93 Weiterführende (und die eigentlich spannenden) Fragen, wie genau communal reading events die Transmission christlicher Traditionen im 1. Jh. steuerten u. ä., könnten dann erst auf der Grundlage der Beantwortung dieser Frage bearbeitet werden. 94 Die Untersuchung selbst besteht dann aus einem Teil (Kap. 3 f), in dem er die politischen, wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Rahmenbedingungen im Hinblick auf die Bedingungen von communal reading events auswertet und auf einige sehr wichtige Punkte hinweist, die, insbesondere in der anglophonen neutestamentlichen Forschung, ein primär an „Oralität“ ausgerichtetes Paradigma verfolgt, zuweilen nicht beachtet werden. 95 Darauf folgt ein umfangreicher Teil, in dem er Quellen zu communal reading events in der paganen, jüdischen und christlichen Literatur, die er in das erste Jh. datiert, zusammenträgt (Kap. 5 f). Am Ende resümiert er: „Overall, the findings show that communal reading events were more common and widespread geographically in the first century CE than the current academic consensus assumes.“ 96 Das zentrale methodische Problem der beiden Studien besteht darin, dass sie durch ihren Fokus auf communal reading events ihre Heuristik enorm einschränken und ihre Thesen weitestgehend nur auf solchen Quellen basieren, die auf Vorleseszenen verweisen. Evidenzen für Lesepraktiken jenseits von communal reading events bleiben hingegen völlig (bei Nässelqvist größtenteils) ausgeblendet. Schwierig ist außerdem, wie im Laufe der Untersuchung deutlich werden wird, Nässelqvists These einer ubiquitären Verbreitung (und gleich‐ samen Notwendigkeit) sog. Lektoren, die für das Lesen bzw. die performativen Lesungen zuständig gewesen wären. 97 Auch seine Thesen zum Zusammenhang 39 1.1 Lesen im frühen Christentum - Zum Forschungsstand <?page no="40"?> 98 Vgl. W R I G H T , Reading, 43. 99 Mit P A R K E R , Books, 221 f, gegen W R I G H T , Reading, 227. 100 Gegen W R I G H T , Reading, 215. 101 Gegen W R I G H T , Reading, 216. 102 Gegen W R I G H T , Reading, 230. 103 Vgl. W R I G H T , Reading, 217. zwischen dem hss. Befund und der Lesepraxis werden im Rahmen dieser Arbeit zu problematisieren sein. Zudem wird zu fragen sein, ob die von ihm unter‐ suchten „phonologischen“ Strukturen eines Textes zwingend in ausschließlicher Relation zu public reading events stehen müssen. Bei der Arbeit von Wright kommt hinzu, dass er sämtliche Quellen, auch solche, in denen sehr unspezi‐ fisch von Lesen die Rede ist, konsequent seiner Kontrollkategorie zuordnet. Dabei missachtet er z. T. argumentative oder literarische Kontexte; zudem fehlt eine methodologische Reflexion der Schwierigkeiten, von literarischen Darstellungen von Lesepraktiken auf die sozial-historische Wirklichkeit zu schließen. So belegen einige Quellen, die er anführt, wahrscheinlich bzw. sicher keine communal reading events: P. Oxy. 31 2592 ist keine Einladung zu einem communal reading event, wie Wright suggeriert, 98 sondern zu einem Gemeinschaftsmahl im Serapeion. Ob dort gelesen wurde, geht aus dem Papyrus nicht hervor. Wenn in Prop. 2,24,1 f geschrieben steht, Properz’ Schrift Cynthia werde überall auf dem Forum gelesen (toto Cynthia lecta foro), ist hier kein communal reading event und keine Rezitation gemeint, sondern viele individuell Lesende, wie u. a. Prop. 3,3,19 f zeigt. 99 Diog. 12,1 ist nicht nur wegen der Diskussion um den sekundären Charakter der letzten beiden Kapitel des Diognetbriefes (communis opinio), schwierig; auch geht aus der Formulierung (selbst wenn man die literarische Einheit annehmen würde) keinesfalls hervor (s. u. Anm. 392, S. 468), dass ein communal reading event vorauszusetzen wäre. 100 Inwiefern Pap 2[! ],3 (Eus. h. e. 3,39,8) ein communal reading event belegen sollte, bleibt mir völlig schlei‐ erhaft. 101 Der dort in ungenauer englischer Übersetzung angegebene Text, der allem Anschein nach nicht im Griechischen geprüft wurde, gehört zudem zum einleitenden Rahmen Eusebs und nicht zum Wortlaut von Papias, sodass eine Datierung ins 1./ 2. Jh. falsch ist. Diese Kritik gilt auch für das als Fragment 7 aus dem Ebionäerevangelium angegebene Zitat, das aus dem einleitenden Rahmen bei Epiphanius stammt (Epiph. panar. 30,22,4) und das definitiv nicht auf gemeinschaftliches Lesen verweist. 102 Auch seine Interpretation von Ps.-Apollod. bibl. 3,5,8 (52) als Beleg für ein communal reading event  103 basiert auf der ungenauen englischen Übersetzung durch J. G. F R A Z E R . Die auf S. 215 zitierte Stelle aus den Oracula Sibyllina belegt definitiv kein communal reading event (s. u. Anm. 75, S. 126) und ist auch nicht ins 2 Jh. v.-1. Jh. n. Chr. zu datieren. Der zitierte Satz stammt aus dem (eindeutig christlichen) redaktionellen Prolog (Sib. prol.), 40 1 Einleitung <?page no="41"?> 104 Vgl. G A U G E R , ed., Sibyllinische Weissagungen, Einführung, 333. 105 Gegen W R I G H T , Reading, 208.219. 106 Vgl. W R I G H T , Reading, 18-21 [Zitat 18]. der nicht vor dem 6. Jh. n. Chr. entstanden ist. 104 Wenn Fronto in einem seiner Briefe an Antoninus Pius schreibt, dieser würde im Theater oder beim Bankett (convivium) wiederholt lesen (lectito; Front. ep. 4,12), so ist hier vermutlich eher gemeint, dass er für sich selbst liest. 105 Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen. Konkret wird seine enge Heuristik etwa daran deutlich, dass er einerseits sowohl ἀναγιγνώσκω als auch ἐντυγχάνω als „common markers of communal reading events“ versteht. 106 Hier zeigt sich als Desiderat das Fehlen einer eingängigen lexikologischen und semantischen Analyse der griechischen und lateinischen Leseterminologie. Zahlreiche andere Termini, die Lesen bzw. die Rezeption von Texten anzeigen, werden andererseits überhaupt nicht berücksichtigt. Wie schon bei den zuvor diskutierten Ansätzen handelt es sich daher bei Nässelqvists und Wrights Ansatz ebenfalls um eine monosituative Verortung des Lesens im frühen Christentum, wobei die Kategorie Wortgottesdienst/ liturgische Lesung o. ä. durch das public/ communal reading event ersetzt, dabei aber freilich breiter in der griechisch-römischen Welt kontextualisiert wird. Den meisten der skizzierten Forschungsbeiträge, die das Lesen im frühen Christentum monosituativ verorten, ist gemein, dass sie im Rahmen eines breiteren Diskurses in den altertumswissenschaftlichen Fächern stehen und davon beeinflusst sind. Dieser Diskurs und dessen problematische Implikationen sind im Folgenden zu beleuchten. 1.2 Die lange Debatte um die Frage nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen in der Antike Die Erforschung des Phänomens „Lesen“ ist in der altertumswissenschaftlichen Forschung v. a. im 20. Jh. maßgeblich von der Frage nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen dominiert worden. Da hier wichtige methodische Implikationen und hermeneutische Grundfragen des Zugangs zum Thema deutlich werden, sind an dieser Stelle einige Bemerkungen zu dieser Debatte notwendig. Den locus classicus, von dessen Interpretation die Diskussion maßgeblich geprägt ist, bildet ein Bericht von Augustinus über die Lesepraxis von Ambrosius in seinen Confessiones. Ein Auszug daraus sei zur besseren Verständlichkeit der Debatte vorweg abgedruckt: 41 1.2 Die lange Debatte um die Frage nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen in der Antike <?page no="42"?> 107 B A L O G H , Voces Paginarum, 220. 108 Vgl. B A L O G H , Voces Paginarum, 85 f. S. auch S T O C K , Augustin, 61 f. „Ich [scil. Augustinus] seufzte noch nicht im Gebet, dass du mir zur Hilfe kommst, sondern mein Geist strengte sich an zu forschen und sehnte sich nach Disputation. […] Auch wußte er [scil. Ambrosius] nichts von meinen Unruhen noch von dem Abgrunde meiner Gefahr, weil ich ihn nicht nach Wunsch fragen konnte. Denn von seinem Ohr und Munde war ich abgesperrt durch ganze Haufen geschäftiger Leute […]. Und war er einmal von diesen Leuten nicht umgeben, was immer nur sehr kurze Zeit der Fall war, so stärkte er seinen Leib […] oder erquickte durch Lektüre [lectio] seine Seele. Wenn er aber las, ziehen seine Augen über die Seiten hin, und das Herz drang in ihr Verständnis, Stimme und Zunge jedoch ruhten. (sed cum legebat, oculi ducebantur per paginas et cor intellectum rimabatur, uox autem et lingua quiescebant.) Oft, wenn ich zugegen war - denn niemandem war verboten, einzutreten, und es war nicht Brauch, ihm die Besuchenden zu melden -, hab ich ihn so gesehen, und nie anders, als schweigend lesend (sic eum legentem uidimus tacite). Dann saß ich lange schweigend bei ihm - denn wer hätte es gewagt, dem so in sich Versunkenen zur Last zu werden? - und ging wieder weg und dachte mir, in jener kurzen Spanne Zeit, die er […] für sich und zur Erholung seiner Seele gewinnen könne, wolle er nicht zu anderen Dingen hingezogen werden. Und leise las er, wohl deshalb, daß nicht ein wißbegieriger und aufmerksamer Hörer ihn zwingen könne, eine dunkle Stelle, die er eben las, ihm aufzuklären und ihm in irgendwelcher schwierigen Frage Rede zu stehen. Darüber wäre so viel Zeit verloren gegangen, dass er das Buch nicht so weit hätte auseinanderrollen [also lesen] können (voluminum evolveret), wie er gewollt hätte. Auch wenn er durch das schweigende Lesen nur seine Stimme, die leicht heiser wurde, hätte schonen wollen, so wäre dies ein billiger Grund gewesen. In welcher Absicht er es auch getan, sicher tat er immer gut.“ (Aug. Conf. 6,3; Üb. angelehnt an H E F E L E ). Die bis heute vorherrschende, maßgeblich auf der Grundlage dieser Quelle gebildeten communis opinio lässt sich mit dem folgenden Satz aus dem Aufsatz von J. Balogh, der die Grundlage für die Debatte legte, zusammenfassen: „Der Mensch des Altertums las und schrieb in der Regel laut; das Gegenteil war zwar nicht unerhört, doch immer eine Ausnahme.“ 107 „Leises“ Lesen sei sogar als etwas Ungewöhnliches wahrgenommen worden. 108 Diese These ist in den altertumswissenschaftlichen Fächern in vielfältigen Varianten wiederholt und zur Bildung verschiedenster Hypothesen (insb. im Hinblick auf die Orality-Li‐ teracy-Debatte) herangezogen worden, wie im Rahmen dieser Arbeit noch an 42 1 Einleitung <?page no="43"?> 109 Vgl. die direkte Weiterarbeit an der These von Balogh bei H E N D R I C K S O N , Reading; W O H L E B , Beitrag; M C C A R T N E Y , Notes; D I C A P U A , Osservazioni; S T A N F O R D , Sound; vgl. exempl. für die Übernahme dieser These auch R O H D E , Lesen, 294: „Der antike Mensch hat bis in die späteste Zeit […] laut gelesen, auch wenn er allein las.“; L A K M A N N , Platoniker, 36, Anm. 43: „Entweder hat er [scil. ein Sklave Plutarchs] es selbst gelesen, oder er hatte, da man in der Antike gewöhnlich laut las, beim Lesen mitgehört“; einflussreich auch K E N N E Y , Books, 12: „In general it may be taken for granted that throughout antiquity books were written to be read aloud and that even private reading often took on some of the characteristics of a modulated declamation.“; vgl. außerdem zur Verknüpfung des Paradigmas der generell „lauten“ Lektüre mit der primären Oralität griechischer Literatur T H O M A S , Literacy, insb. 91-93; s. ferner zur Übernahme der These in der altorientalischen Forschung G R A Y S O N , Murmuring. 110 So auch der Hinweis bei B U S C H , Lesen, 42. Vgl. ausführlich zur Abhängigkeit der Aussagen zum „lauten“ und „leisen“ Lesen von den geistesgeschichtlichen Diskursen des 18. und 19. Jh.s B I C K E N B A C H , Möglichkeiten, insb. 21-54.174-247. 111 S. dazu u. S. 230. 112 Sämtliche Werke, Sechster Teil, 35, Anm. 3: Vgl. auch N I E T Z S C H E , Jenseits, 207: „Der Deutsche liest nicht laut, nicht für’s Ohr, sondern bloss mit den Augen: er hat seine Ohren dabei in’s Schubfach gelegt. Der antike Mensch las, wenn er las - es geschah selten genug - sich selbst etwas vor, und zwar mit lauter Stimme.“ N I E T Z S C H E , Werke, 382: „man kann sich so das Bild des griech. Lesers aus Isocr. Zeit [bilden] vorstellen; einen langsamen Leser, der Satz für Satz einschlürft, mit verweilendem Auge und Ohre, der eine Schrift wie einen köstlichen Wein zu sich nimmt, alle Kunst des Autors nachfühlt.“ N O R D E N , Kunstprosa, 6: „Eine vielleicht wenig bekannte Thatsache ist es, dass man im Altertum laut zu lesen pflegte.“ Vgl. forschungsgeschichtlich weiterführend R O H D E , Lesen; B I C K E N B A C H , Möglichkeiten. Vgl. zum Hintergrund der medialen Veränderungsprozesse im 19. Jh. und deren Auswirkungen auf die Lesepraxis K I T T L E R , Aufschreibesysteme. unterschiedlicher Stelle deutlich wird. 109 Und auch in der neutestamentlichen Wissenschaft ist diese Sicht weit verbreitet, wie oben gezeigt wurde. Vor dogmatischen Vorfestlegungen, es habe in der Antike kein „leises“ Lesen gegeben, warnt jedoch der geistesgeschichtliche Kontext der Forschungstradi‐ tion, aus der diese These stammt: Baloghs Forschungsfrage, die ihn zu oben zitiertem Urteil führt, ist nämlich von einer kulturkritischen und z. T. modern‐ itätskritischen Tradition des 18. und 19. Jh. beeinflusst, die normativ am Vorbild der Antike ausgerichtet ist. 110 Beispielhaft formuliert C. M. Wieland in seiner Übersetzung zu Lukian. adv. ind. 2: 111 „Diese Stelle beweiset […], daß die Alten (wenigstens die Griechen) alle Bücher, die einen Werth hatten, laut zu lesen pflegten, und daß es bey ihnen Regel war, ein gutes Buch müsse laut gelesen werden. Diese Regel ist so sehr in der Natur der Sache gegründet, und daher so indispensabel, daß sich mit diesem Grunde behaupten lässt, alle Dichter […] von Talent und Geschmack müssen laut gelesen werden, wenn nicht die Hälfte ihrer Schönheit für den Leser verlohren gehen sollen.“ 112 43 1.2 Die lange Debatte um die Frage nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen in der Antike <?page no="44"?> 113 H E N D R I C K S O N , Reading, 183. 114 Seine Thesen zum Lesen im antiken Griechenland hat er in zahlreichen Publikationen dargelegt und weiterentwickelt. Vgl u. a. S V E N B R O , Interior; S V E N B R O , Greece; S V E N B R O , Griechenland; S V E N B R O , Ameisenwege; S V E N B R O , Stilles Lesen; S V E N B R O , Phrasikleia. 115 S V E N B R O , Phrasikleia, 49. Vgl. dazu ausführlich mit Bezug auf die jeweiligen Inschriften, die er häufig auch übersetzt, S V E N B R O , Phrasikleia, 49-63. 116 Vgl. S V E N B R O , Phrasikleia, 158-162. Die Fortschreibung dieser kulturkritischen, an die Kulturkritik der Antike anknüpfenden Sicht im Zeitalter des industriellen Buchdruckes wird auch in einem ebenfalls in den 20er Jahren des 20. Jh. erschienenen, englischsprachigen Artikel deutlich: „… from Homer - a world without books and written records - down to Plato, where books are still new, though plentiful, is but a step, and so to our own day which groans beneath their burden. Almost within the memory of men now living the printed page has brought about the decline, if not the death, of oratory, whether of the parliament, the bar, or the pulpit; the newspaper and the review, anticipating every subject of comment, have killed conversation and debate; the learned archive or scientific journal renders the gatherings of scholars insignificant for purposes other than convivial; and books have in large degree displaced the living voice of the teacher. Books have created, as Plato prophesied, an art of forgetfulness, in that no one longer gives his mind to remembrance of that which can be consulted at leisure. The art of writing was to be sure in Plato’s time nothing new; but the Greek book, the accessible and convenient repository of other men’s thought, was scarcely yet a century old.“ 113 Stutzig macht zudem, schaut man Disziplinen übergreifend auf die Forschungs‐ literatur zur Geschichte des Lesens, die in aller Regel als Fortschrittsgeschichte geschrieben wird, dass das „leise“ Lesen in der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte mindestens fünfmal „erfunden“ wird. (1) So vertritt der klassische Philologe J. Svenbro 114 die These, das „leise“ Lesen sei im 5. Jh. v. Chr. entstanden. Die Entwicklung vom „lauten“ zum „stillen“ Lesen kann Svenbro in diachroner Hinsicht an Veränderungen im Selbstverständnis von Inschriften zeigen. Während die früheren Inschriften, insbesondere aus der archaischen Zeit, darauf angewiesen waren, dass der Leser „seine Stimme der stummen Inschrift leiht“ 115 , findet man seit dem 5. Jh. das Phänomen von sprechenden Objekten oder Gegenständen sowohl in Bezug auf Inschriften als auch in der Reflexion dieses Phänomens in den Quellen: 116 Insbesondere die Korrelation dieses Wandlungsprozesses mit der Entwicklung in der Theorie der visuellen Wahrnehmung im 5. Jh. v. Chr., die bei Empedokles, Leukipp und Demokrit deutlich wird, ist ein sehr starkes Argument. So wird hier 44 1 Einleitung <?page no="45"?> 117 S V E N B R O , Phrasikleia, 158. 118 Vgl. S V E N B R O , Phrasikleia, 147 f; S V E N B R O , Griechenland, 78 f, mit Bezug auf Plat. Krit. 54d; soph. 263e-264a; Tht. 189e-190a; Phaid. 241b-c; apol. 31d. Es ist unvollständig die innere Lesestimme bloß als „mental repetition of the voice perceived in the text“ (E D M U N D S , Intertextuality, 66) zu beschreiben, da aus kognitionspsychologischer Sicht auch die Wahrnehmung der eigenen Stimme des jeweiligen Lesers eine Rolle für die innere Lesestimme spielt. Vgl. weiterführend z. B. F I L I K / B A R B E R / A L E M A N , Inner Speech; V I L H A U E R , Characteristics (Lit.). 119 Vgl. K N O X , Reading. 120 S V E N B R O , Griechenland, 79. 121 Dieses Argument wird aufgenommen von R Ö S L E R , Lesen. 122 Vgl. S V E N B R O , Phrasikleia, 153-156.161-168. Vgl. dazu aber die kritischen Bemerkungen R Ö S L E R , Rez. Svenbro, Phrasikleia, 3. die Vorstellung, dass das Sehen durch einen Strahl aus dem Auge möglich wird, durch die atomistische Theorie ersetzt, in der die Möglichkeit des Sehens auf die Emission von kleinsten Teilchen durch den gesehenen Gegenstand zurückge‐ führt wird - in Bezug auf die Frage nach dem Lesen also „das Geschriebene seine Bedeutung zum Auge hin aussendet.“ 117 Zudem findet Svenbro im kulturellen Kontext des 5. Jh. die Vorstellung einer inneren Stimme, einer Stimme im Kopf; 118 also eine Vorstellung die eine notwendige Voraussetzung für das „stille“ Lesen darstellt. Auf diese innere Stimme, die in der neueren Leseforschunginner reading voice genannt wird, wird später zurückzukommen sein. Svenbro zeigt damit, dass sowohl die Inschriften als auch die direkten Zeugnisse für das „leise“ Lesen im 5. Jh. v. Chr., die schon B. Knox gegen die maßgeblich von J. Balogh geprägte communis opinio in Stellung gebracht hatte, 119 „ein und dieselbe Interiorisierungsbewegung [belegen], die im Verlauf des 5. Jahrhunderts vollzogen wurde […] [-] die Interiorisierung der Stimme des Lesers, der nunmehr in der Lage ist, ‚in seinem Kopf zu lesen‘.“ 120 Die Grundlage für die Entwicklung hin zum „stillen“ Lesen sei in pragmatischer Hinsicht die Notwendigkeit größere Textmengen zu bewältigen; 121 stärker wiege aber noch eine qualitative Veränderung in der Haltung gegenüber Geschriebenen, die maßgeblich durch die Erfahrungen im Theater induziert gewesen sei. Denn durch die Transformation des dramatischen Textes auf der Bühne entsteht eine größere Differenz zwischen dem dramatischen Text, der „vokalen Kopie“ auf der Bühne und dem hörenden und sehenden (! ) Publikum als zwischen dem selbst oder anderen vorgelesenen Text in der lautlichen Realisierung beim „lauten“ Lesen. Durch diese Trennungserfahrung zwischen Geschriebenem und Leser sei die neue Haltung gegenüber Texten und damit das „leise“ Lesen ermöglicht worden. 122 45 1.2 Die lange Debatte um die Frage nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen in der Antike <?page no="46"?> 123 S V E N B R O , Griechenland, 84. 124 S T R O U M S A , Reading, 187. „Der traditionelle Leser, der seine Stimme braucht, um die graphische Sequenz ‚wie‐ derzuerkennen‘ [=ἀναγιγνώσκω], unterhält mit dem Geschriebenen auf der Ebene der Verlautlichung eine spürbar aktive Beziehung (obwohl er gegenüber dem Schreiber, dessen Programm er ausführt, die Rolle des ‚passiven Partners‘ einnehmen kann). Um seine instrumentelle Funktion auszuüben, muß er eine geistige und physische Anstrengung vollziehen, sonst blieben die Buchstaben ohne Bedeutung. […] Die Aktivität des still Lesenden wird nicht als eine Anstrengung zur Dechiffrierung erlebt, es ist eine Aktivität, die als solche nicht bewußt ist (so wie die interpretative Aktivität des ‚Ohrs‘, das eine bedeutungstragende Lautsequenz hört, eine sich als solche igno‐ rierende Aktivität ist […]). Ihre ‚Wiedererkennung‘ des Sinns ist unmittelbar; ihr geht kein opaker Moment voraus. Der in seinem Kopf Lesende braucht das Geschriebene nicht durch seine Stimme zu aktivieren oder zu reaktivieren. Die Schrift scheint ganz einfach zu ihm zu sprechen. Er hört seine Schrift - so wie der Zuschauer im Theater die Vokalschrift der Schauspieler hört. Das visuell ‚(wieder)erkannte‘ Geschriebene scheint die gleiche Autonomie zu besitzen wie die Theateraufführung. Die Buchstaben lesen sich - oder vielmehr: sagen sich - von selbst. […] Die Buchstaben, fähig zu ‚sprechen‘, können auf das Eingreifen einer Stimme verzichten. Sie besitzen bereits eine. Es ist am Leser, bloß ‚zuzuhören‘ - im Inneren seiner selbst.“ 123 (2) Laut G. A. G. Stroumsa liegt der Ursprung des „leisen“ Lesens, dessen Durchsetzung allerdings einen langen Zeitraum in Anspruch genommen habe, in der Bibellektüre christlicher Mönche in der Spätantike, stehe auch im Zusammenhang mit dem Medienwechsel von der Rolle zum Kodex und habe erstmals zu einer Internalisierung der heiligen Schrift geführt und ein neues religiöses System etabliert: „Side by side with the passage from roll to Codex, our period saw the development of silent reading, a development (rather than a discovery) for which Augustin offers our best testimony […; ] the development of silent reading, which would take a very long time, as it is not before the thirteenth century that it is well established […] seems to be directly linked to private reading of the Bible in the monastic milieus (in particular of the Psalms […]), in meditation and oration. The ability to read the holy text in silence and to memorize it brought to its internalization. […] In other words, the development of silent reading among early Christian elites reflect the transformed status of the individual in the new religious system, and it must have been as closely related to it as was the use of the codex.“ 124 46 1 Einleitung <?page no="47"?> 125 Vgl. S A E N G E R , Silent Reading, 370-373; S A E N G E R , Space, 4-13. 126 Vgl. M C L U H A N , Gutenberg. 127 Hergestellt wird der Zusammenhang zwischen der Erfindung des Buchdrucks und der Entwicklung des „leisen“ Lesens aber schon von H E N D R I C K S O N , Reading, 193; C H A Y T O R , Medieval Reader; C H A Y T O R , From, 5-21. Vgl. zur Übernahme dieser These z. B. G I E S E C K E , Buchdruck; G Ö T T E R T , Problemgeschichte, 104. 128 Vgl. S C H Ö N , Verlust. 129 Vgl. K N O X , Reading. 130 Vgl. Athen. deipn. 4,16 f (139c); Sen. ep. 88,37. (3) P. Saenger führt in seinem viel zitierten Buch „Space between Words“ die Möglichkeit der Entwicklung des „leisen“ Lesens auf die Innovation von Worttrennung und Wortzwischenräumen in den Texten zurück, die erstmals in den Handschriften von iroschottischen Mönchen im 7./ 8. Jh. belegt sind. Saenger entwickelt seine Entwicklungstheorie vor dem Hintergrund der unhinterfragten Interdependenz von scriptio continua und der generellen Praxis in der Antike, laut bzw. vokalisierend oder subvokalisierend zu lesen, wobei er die Argumente und Quellenbelege aus dem hier skizzierten altertumswissenschaftlichen For‐ schungsdiskurs übernimmt. 125 Die Annahme eines kausalen Zusammenhangs zwischen der Verwendung von scriptio continua in den antiken Manuskripten und der Praxis des „lauten“ bzw. vokalisierenden Lesens wird unten unter 4 ausführlich zu problematisieren sein. (4) Sodann findet sich nicht nur in der Frühneuzeitforschung noch immer die maßgeblich durch M. McLuhans These einer primär oral geprägten mittelalter‐ lichen Kultur 126 forcierte Sicht, dass der Übergang vom „lauten“ zum „leisen“ Lesen mit der Erfindung des Buchdrucks zusammenhänge. 127 (5) V. a. in der germanistischen Forschung wird der Übergang ins 18. Jh. da‐ tiert, wie z. B. in der Kapitelüberschrift „Das Ende des lauten Lesens“ in E. Schöns „Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers“ anschaulich zum Ausdruck kommt. 128 Diese Übersicht verdeutlicht, dass die Quellen einer linearen Fortschrittsge‐ schichte des Lesens entgegenstehen. So ist dann die maßgeblich von J. Balogh geprägten Sichtweise, in der Antike habe man generell laut gelesen, das „leise“ Lesen sei eine Abnormität gewesen, im altertumswissenschaftlichen Diskurs des 20. Jh. dann auch nicht unwidersprochen geblieben. Wie schon oben angedeutet, hat B. M. Knox 1968 in einem profilierten Aufsatz die allgemeine Gültigkeit der Schlussfolgerungen Baloghs angezweifelt. 129 Seine Gegenargumente lassen sich wie folgt zusammenfassen: a) Die Menge an Werken und Büchern/ Rollen, die z. B. Aristarchos, Kallimachos oder der produktive griechische Gramma‐ tiker Didymos Chalkenteros, dessen Gesamtwerk 3000-4000 Rollen umfasst haben soll, 130 für die Abfassung ihrer Werke gelesen haben müssen, macht es 47 1.2 Die lange Debatte um die Frage nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen in der Antike <?page no="48"?> 131 Vgl. K N O X , Reading, 421 f. 132 Vgl. K N O X , Reading, passim. 133 Vgl. C L A R K , Reading, 699 f. Clark verweist außerdem noch auf Plin. ep. 5,5,5 - eine Stelle, auf die Knox nicht eingeht, die aber in mehrfacher Hinsicht und nicht nur in Bezug auf die Implikation, dass man sich Nero hier als „leisen“ Leser vorstellen kann, interessant ist. 134 Die Quellenstellen nennt er nicht. 135 Vgl. zum Folgenden K N O X , Reading, 428-435. 136 Vgl. dazu meine Ausführungen in Anm. 180, S. 151. unwahrscheinlich, dass diese nicht das effizientere nicht-vokalisierende Lesen praktiziert hätten. 131 Die Liste der antiken Autoren, die eine Vielzahl von Büchern für die Abfassung ihrer Werke gelesen haben, ließe sich noch um eine große Anzahl vermehren. b) Die Quellen, die Balogh als positive Evidenz für seine These anführe, seien vor allem römisch bzw. aus der Spätantike; aus dem griechisch-sprachigen Bereich bringe er hingegen wenig Evidenz vor. Zudem reichte c) die Evidenz der angeführten Quellen nicht aus, eine generalisierende Schlussfolgerung im Sinne Baloghs abzuleiten, wie er anhand einer Einzelbesprechung der einzelnen Quelle deutlich macht. 132 Knox führt dann d) zahlreiche Belege an, die zeigen, dass man in der Antike nicht nur literarische Texte „leise“ lesen konnte, sondern dass vor allem nicht-literarische Texte „leise“ gelesen wurden. Der Übersicht halber seien die bisher diskutierten Quellen an dieser Stelle kurz aufgeführt: Knox verweist zunächst auf eine Szene in den Tusculanae disputationes, auf die 1931 schon W. P. Clark in einem kurzen Artikel aufmerksam gemacht hat: 133 Im Zusammenhang eines Diskurses über Taubheit wird hier festgestellt, dass das Lesen von Liedtexten (cantus) mit größerer Lust verbunden ist als das Hören derselben (deinde multo maiorem percipi posse legendis his quam audiendis voluptatem; Cic. Tusc. 5,116); „leises“ Lesen sei hier eindeutig vorauszusetzen. Knox betont, dass Caesar definitiv „leise“ lesen konnte und insb. Briefe „leise“ gelesen hat; 134 zudem dekonstruiert er den Versuch von Balogh, einzelne Stellen, an denen „leises“ Lesen explizit in den Quellen erwähnt wird, „wegzudiskutieren“ und sieht in ihnen umgekehrt Belege dafür, dass „leises“ Lesen durchaus praktiziert wurde: 135 Aus Suet. Aug. 39, wo dokumentiert ist, dass Augustus als Ehrmahnung Schreibtafeln in der Öffentlichkeit „leise“ lesen lies (quos taciti et ibidem statim legerent), lasse sich nicht schlussfolgern, dass es sich hier um eine Ausnahme des „leisen“ Lesens handle. 136 Bezüglich Hor. sat. 2,5,51-55; 66-69 wirft Knox Balogh zu Recht vor, dass er hier zwei Leseszenen in unzulässiger Weise vermische - an der ersten Stelle ginge es darum, dass ein Testament „leise“ mit den Augen gelesen wird, weil es unbemerkt geschehen muss; tacitus legere (2,5,68) an der zweiten Stelle meine nicht wörtlich das „leise“ 48 1 Einleitung <?page no="49"?> 137 S. dazu u. Anm. 62, S. 230. 138 Vgl. zu diesen Quellen auch B U R F E I N D , Philippus, 139-141. 139 Vgl. S L U S S E R , Reading. Lesen, sondern sei zu verstehen im Sinne von by himself, in peace. Auch die Inschrift auf dem Apfel in der Geschichte von der Liebe des Akontios zu Kydippe (vgl. Aristain. 1,10,35-42), die Kydippe (bis auf das letzte Wort! ) „laut“ liest und damit schwört, Akontios zu heiraten, sei gerade kein Beleg dafür, dass man generell „laut“ gelesen habe - das „laute“ Lesen ist hier der Inszenierung geschuldet, also eine narrative Notwendigkeit, zudem wird Kydippe explizit zum Vorlesen aufgefordert (λέγε μοι, φιλτάτη, τί τὸ περίγραμμα τοῦτο Aristain. 1,10,35 f); dass sie dann das letzte Wort nicht vollständig stimmlich realisiert, belegt die Fähigkeit, Texte auch ohne stimmliche Realisierung verstehen zu können. 137 Vielmehr zeige gerade die Verarbeitung dieser Erzähltradition bei Ovid (vgl. insb. epist. 20,1-5; 21,1-5.109-114.145-155), dass die Kompetenz, Briefe „leise“ zu lesen (sine murmure legi, Ov. epist. 21,3), durchaus nicht ungewöhnlich war. Für methodisch höchst problematisch hält Knox zu Recht die Schlussfolgerung Baloghs, Plut. Brut. 5 belege, dass Briefe selbst in Versammlungen laut vorgelesen worden seien. Nichts in der Geschichte deutet darauf hin, dass es das „leise“ Lesen des kleinen Briefes (… τὸν μὲν ἀναγινώσκειν σιωπῇ) ist, den Caesar zugesteckt bekommt, was Cato in Aufruhr bringt. Plut. Cat. min. 24, wo die gleiche Szene ohne die Information des „leisen“ Lesens geschildert wird, zeige zudem, dass es sich um ein narrativ nicht entscheidendes Detail handle. Sodann führt Knox noch einige Beispiele aus attischen Dramen aus dem 5. u. 4. Jh. v. Chr. an, die eindeutig „leises“ Lesen implizieren: Eur. Hipp.856-890; Aristoph. Eq. 117-128 (s. u. S. 202); Antipanes, Sappho (fr. 194): Athen. deipn. 10,73 (451a/ b). 138 Daneben hat M. Slusser die Diskussion um eine weitere Quelle bereichert: Kyrill von Jerusalem spricht in seinen Katechesen von einer Gruppe Frauen, die bei ihrem Treffen (σύλλογος) „still“ lesen (ἢ ἀναγινώσκων ἡσυχῇ), weil sie ἐν ἐκκλησίᾳ nicht reden dürfen, wenn sich hingegen Männer treffen, liest der eine ein nützliches Buch (βιβλίον χρήσιμον) vor, während ein anderer zuhört (καὶ ὁ μέν τις ἀναγινωσκέτω, ὁ δέ τις ἀκουέτω; Kyr. Hier. Procatechesis 14). 139 Hier ist eindeutig belegt, dass „leises“ Lesen möglich war. Da es sich um eine normative Aussage handelt, ist es schwierig zu entscheiden, ob die Ausführungen zu den Männern die Regel darstellte oder ob die Normativität nicht dafür spricht, dass auch Gegenteiliges vorauszusetzen ist. Wie im Folgenden zu besprechen sein wird, gab es allerdings durchaus die soziale Erwartung, dass Texte in Gemeinschaft nicht „leise“ gelesen werden sollten, um die Partizipation aller zu gewährleisten. Insofern kann man vorsichtig vermuten, dass „leise“ Lektüre in Gemeinschaft mit einem spezifischen Bedürfnis, in diesem Fall spezifischen 49 1.2 Die lange Debatte um die Frage nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen in der Antike <?page no="50"?> 140 K N O X , Reading, 435. 141 R Ö S L E R , Entdeckung, 316, Anm. 92: „Nun wirkte zwar in der Antike die originäre Mündlichkeit pragmatischer wie poetischer Kommunikation insofern dauerhaft nach, als lautes Lesen immer gebräuchlich blieb […]; doch ist damit kaum, wie oft unterstellt wird, die alltägliche Praxis der Textaufnahme zumal bei einem geübten Leser erfaßt. […] [Es] scheint […] auch aufgrund sachlicher Erwägungen unvorstellbar, daß sich bei einiger Leseroutine nicht von selbst eine Tendenz hin zu stillem Lesen ergab: zunächst die Zwischenstufe der sogenannten Subvokalisation […], schließlich Lesen als rein visuell-mentaler Vorgang. Die natürlichen Vorzüge waren ja evident genug: variables, freilich auch absolut schnelleres Lesetempo […] bis hin zu selektivem Überfliegen […], lange zusammenhängende Lesedauer (die Vorstellung eines stundenlangen, sich gar über den ganzen Tag erstreckenden lauten Lesens mutet nahezu absurd an). Insofern ist es dann wohl kaum anachronistisch, sich zumal jenen kreativen, die Impulse der Fiktionalität produktiv nutzenden Leseakt, wie er im folgenden umrissen wird, auch in der Antike vornehmlich in stiller Lektüre realisiert zu denken“, [Herv.en JH]. 142 Vgl. G I L L I A R D , More. Gilliard, der den Forschungsstand seiner Zeit zusammenfasst und von der grundsätzlichen Fähigkeit antiker Leser, „leise“ lesen zu können auch unab‐ hängig von ihrer sozialen Herkunft, ausgeht, warnt angesichts des Quellenbefundes davor, „that the predominance of orality does not mean exclusivity, either in writing or in reading“ (G I L L I A R D , More, 690). 143 Vgl. G A V R I L O V , Techniques, 58, mit Verweis u. a. auf G R A Y , Teaching. Vorgaben, verknüpft war; das „laute“ Lesen hingegen den Zweck erfüllte, andere partizipieren zu lassen. Aber auch Knox bleibt am Ende seines Aufsatzes bei der quantifizierenden Feststellung: „Ancient books were normally read aloud, but there is nothing to show that silent reading of books was anything extraordinary exept the famous passage from Augustine’s Confessions“ 140 - eine Stelle, die im Forschungsdiskurs auch nach dem Aufsatz von Knox einen zentralen Kristallisationspunkt gebildet hat. Gegen den Forschungskonsens haben sich dann W. Rösler 141 und F. D. Gilliard mit Bezug auf das frühe Christentum, 142 aber vor allem A. K. Gavrilov gestellt. Letzterer hat eine bedenkenswerte Neuinterpretation der Leseszene in Augustins Confessiones vorgeschlagen. Diese Neuinterpretation stellt die Beweiskraft dieser Hauptbelegstelle für die communis opinio einer generellen „lauten“ Lesepraxis in der Antike infrage. Ausgehend von den Ergebnissen der psychologischen Leseforschung der 2. Hälfte des 20. Jh. stellt Gavrilov zunächst fest, dass das „leise“ Lesen in transkultureller Perspektive ein anthropologisches Phänomen ist, das durch die Kompetenz des jeweiligen Lesers und weniger durch das jeweilige Schriftsystem determiniert wird. 143 Gavrilov übernimmt aus der modernen Leseforschung für die Beschreibung antiker Lesetechniken die Unterscheidung von a) lautem (=vokalisierendem) Lesen, b) subvokalisierendem Lesen (Lippen-, Zungen- und Kehlkopfbewegung ohne Lauterzeugung und „leisem“ (nicht-vokalisierendem) Lesen, wobei nur letzteres als visuell-mentaler 50 1 Einleitung <?page no="51"?> 144 Vgl. G A V R I L O V , Techniques, 58. S. zu den Unterscheidungen 1.5. 145 G A V R I L O V , Techniques, 59, mit Verweis auf L E V I N / A D D I S , Eye-Voice Span. Die Kategorie selbst ist schon viel länger in der Lesepsychologie etabliert. Vgl. z. B. B U S W E L L , Experi‐ mental. 146 S. zu den beiden genannten Quellen u. 4.2. 147 Vgl. G A V R I L O V , Techniques, 60 f, mit Verweis u. a. auf S O K O L O V , Speech, 211.263; G I B S O N / L E V I N , Psychology, 304 ff.389 f. 148 Vgl. G A V R I L O V , Techniques, 70-73. S. die Weiterführung dieser Liste unter 10.1. Prozess den Vorteil der schnelleren und diskontinuierlichen Lektüre habe. 144 Es sei falsch, diese Lesetypen als sich einander ausschließende Alternativen zu verstehen, vielmehr sei ein geübter Leser in der Lage, diese unterschiedlichen Typen je nach Bedarf zu variieren. Diesbezüglich rekurriert Gavrilov auf die in der experimentellen Lesepsychologie etablierten Kategorie der sog. eye-voice span (EVS), mit der die Lesekompetenz von Individuen in Bezug auf zusammen‐ hängende Texte beschrieben werden kann. Die EVS bestimmt den Abstand zwischen dem gerade lautlich realisierten Wort und der vorausliegenden Fixa‐ tion des Auges im Text. Sehr kompetente Leser können mit einer deutlich größeren eye-voice span lesen als weniger geübte Leser. 145 Lukian. adv. ind. 2 und Quint. inst. or. 1,1,33 f 146 zeigen, dass in der Antike das Phänomen ante nomen zumindest punktuell reflektiert wurde. Die EVS sei auch für das „leise“ Lesen relevant, da ein Zusammenhang zwischen einer Art inneren Stimme und den Fixationspunkten der Augen bestünde. Für das „leise“, schnellere Lesen (insb. von Texten geschrieben in scriptio continua) sei lediglich ein geübterer Leser mit einer größeren eye-voice span notwendig. 147 Statt einer ausführlichen Beweisführung seiner vor allem durch die moderne Leseforschung gewonnenen Sicht, nutzt er diese in heuristischer Sicht exem‐ plarisch zur Analyse des locus classicus bei Augustin - eine offene Flanke, die ihm im weiteren Forschungsdiskurs freilich angekreidet worden ist (s. u.), aber dem Format eines Aufsatzes geschuldet ist. Hingewiesen sei auf die sehr nützliche und entsprechend seiner Typologie von Lesepraktiken sortierte Zusammenstellung von Quellenverweisen, die Gavrilov als Appendix beifügt. 148 Gavrilov zeigt bei seiner ausführlichen Analyse der berühmten Beobach‐ tungen Augustins zur Lesepraxis des Ambrosius (Aug. Conf. 6,3; s. o.), dass der Text nicht als Beschreibung eines singulären Phänomens zu deuten sei und dass die gängige Schlussfolgerung, Augustin habe zum ersten Mal jemanden bei der „leisen“ Lektüre gesehen, methodisch problematisch ist. Der Bericht lasse sich kohärenter lesen und passe besser in den Kontext, wenn man annimmt, dass Augustinus weniger durch Ambrosius’ Lesetechnik irritiert worden wäre als vielmehr durch das Faktum, dass Ambrosius in seiner Anwesenheit daran festhalte und Augustinus sich als derjenige, der Belehrung sucht, exkludiert 51 1.2 Die lange Debatte um die Frage nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen in der Antike <?page no="52"?> 149 Vgl. zu dieser Interpretation von Aug. Conf. auch B U R F E I N D , Philippus, 139. 150 Vgl. K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 218-220. 151 Vgl. G A V R I L O V , Techniques, 61-66. Vgl. ausführlich z. den St., zum weiteren Kontext und zur Bedeutung des Lesens für Augustinus insgesamt, insb. für seine Spiritualität und Theologie, die unübertroffene Studie S T O C K , Augustin. fühlt. 149 Unabhängig von Gavrilov bestätigt H. Krasser 150 diese Interpretation vor dem Hintergrund seiner Analyse der antiken Physiologie des Lesens und kommt zu dem Fazit, dass die Stelle im Kontext „intellektualer Rezeptionsformen“ in der Antike zu verstehen ist. Besonders deutlich wird die soziale Erwartung, dass ein Gelehrter bei Anwesenheit anderer diese in seine Lektüre einzubeziehen habe, an einer Stelle in den Noctes Atticae von Aulus Gellius. Dort nimmt der Ich-Erzähler das Buch eines Freundes in die Hand, zieht sich in die Verborgen‐ heit zurück, um es ohne (störende) Zeugen zu lesen: et recondo me penitus, ut sine arbitris legam (Gell. 14,6,2). Es wäre ein methodischer Fehlschluss, aus der Verwendung des Lexems arbiter abzuleiten, dass der Ich-Erzähler auch alleine laut gelesen hätte. Schon an dieser Stelle ist zu ergänzen, dass die Erwartung schon bei dem Komödiendichter Platon reflektiert wird (vgl. Athen. deipn. 1,8 [5b; Plato Comicus]; s. u. 3.7) und sich auch in rabbinischen Quellen findet (s. u. S. 378 f). Die Deutung Gavrilovs und Krassers passt insofern besser in den Kontext, als es Augustin in dem gesamten Abschnitt darum geht, zu erklären, warum er mit seinem Anliegen (u. a. zu forschen und zu disputieren) nicht zu Ambrosius vor‐ dringen könne, und als sie sich mit Augustinus Rechtfertigungsversuchen von Ambrosius’ Verhalten deckten: Ambrosius will Rückfragen von Anwesenden vermeiden, die ihn durch eine Diskussion von der Lektüre abhalten; er wolle sein Lesepensum schaffen; er will seine Stimme schonen. Die vermeintliche Singularität der „leisen“ Lektürepraxis wird sodann sogar im Rahmen des Gesamtwerkes der Confessiones relativiert, wozu Gavrilov auf zwei Stellen verweist: 151 1) Aug. Conf. 8,13-15 enthält eine Erzählung des Ponticianus über das Leben des ägyptischen Mönchs Antonius. Im Rahmen dieser Erzählung berichtet Ponticius exkursartig von einem Gartenspaziergang mit drei Freunden in Trier, bei dem sie in einer Hütte einen Kodex mit der Vita des Antonius gefunden haben. Einer der Begleiter von Ponticius habe darin zu lesen begonnen, wodurch ein Bekehrungser‐ lebnis ausgelöst worden sei; sein Lesen ist eindeutig als „leises“ Lesen markiert: „er heftete die Augen wieder auf die Seiten (reddidit oculos paginis); und er las und ward innerlich umgewandelt, da Du es sahst …“ (Aug. Conf. 8,15). Bevor Ponticius dies erzählt, hat er auf dem Spieltisch vor Alypius und Augustinus einen Kodex gefunden, 52 1 Einleitung <?page no="53"?> 152 Vgl. Balogh, Konfessionen, 266, der allerdings hier - entsprechend seiner Vorannahmen - in diachroner Hinsicht das plötzliche Auftreten des „stummen“ Lesens konstatiert. 153 Zu den Lexemen, die den haptischen Umgang mit dem Medium bezeichnen, vgl. H O L T Z , mots, 110 f. 154 S. u. Anm. 37, S. 302. 155 G A V R I L O V , Techniques, 68. 156 G A V R I L O V , Techniques, 69. 157 Vgl. B U R N Y E A T , Letter; B U R N Y E A T , Postscript. den er geöffnet und darin den Apostel Paulus gefunden hat (tulit, aperuit, invenit apostolum Paulum [Aug. Conf. 8,14]). Die Formulierung quod eas et solas prae oculis meis litteras repente comperisset (Aug. Conf. 8,14) deutet auf „leises“ Lesen hin. 2) In der berühmten Gartenszene in Conf. 8,29 sagt Augustinus explizit, dass er den Kodex des Apostels öffnete und das Kapitel „leise“ las, 152 auf das seine Augen zuerst fielen (ibi enim posueram codicem apostoli, cum inde surrexeram. arripui, aperui, et legi in silentio capitulum, quo primum coniecti sunt oculi mei). 153 3) Neben diesen beiden Stellen kann man auch noch weitere aus den Confessiones anführen, die „leises“ Lesen implizieren. Vgl. Aug. Conf. 6,6 und das Motiv des „inneren Ohres“ (auris interior). 154 Anders als Knox geht Gavrilov in seiner Beurteilung des Befundes noch weiter und konstatiert in Opposition zur communis opinio: „[S]ilent reading was a quite ordinary practice for wide circles of the free population of classical Athens, and possibly for earlier periods too.“ 155 Die von Knox angeführten Quellen, seine Analyse des locus classicus bei Augustinus und die in seinem Appendix genannten Quellen zeigten: „first, the ordinariness of reading to oneself from the classical Greek to the late Roman periods, and second, the idea that such reading is more concentrated and quicker.“ 156 Diese Sicht wurde dann auch von F. M. Burnyeat übernommen, 157 der die Diskussion um einige weitere Quellen bereichert - u. a. mit dem Hinweis auf eine Stelle aus dem Werk des Mathematikers Ptolemaios (2. Jh. n. Chr.), der in Ptol. krit. 5,1 f eine generelle Aussage über die Praxis des „leisen“ Lesens (zumindest in Bezug auf ein Lesen mit Forschungsinteresse) macht. Die entscheidenden Sätze in der englischen Übersetzung von H U B Y und N E A L lauten: „… it tends to be in states of peace and quiet that we discover the objects of our inquiry, and why we keep quiet when engaged in the readings themselves [… ἔν τε ταῖς ἠρεμίαις καὶ ταῖς ἡσυχίαις μᾶλλον εὑρίσκομεν τὰ ζητούμενα καὶ κατὰ τὰς ἀναγνώσεις αὐτάς; scil. die Lektüren als Gegenstand der Forschungen] if we are concentrating hard on the texts before us. What talk is useful for, by contrast, is passing on the results of our inquiries to other people.“ 53 1.2 Die lange Debatte um die Frage nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen in der Antike <?page no="54"?> 158 Vgl. B A T T E Z Z A T O , Techniques, 10 f. 159 B U R F E I N D , Philippus, 144. 160 „Die dichtende Statue klagt, dass sie gezwungen wird, ihrem Herrn zuzuhören, wenn der bei ihr im Garten den Homer liest (rudis hic dominum totiens audire legentem cogor, Carm.Priap. 68,3 f), so dass sie nun die Vokabeln aus Homer auswendig kennt.“ (B U R F E I N D , Philippus, 144). 161 Verba leges digitis, verba notata mero (Ov. am. 1,14,20). 162 Vgl. B E N E D I K T S O N , Reader, mit zus. Verweis auf Ov. ars 1,571 f: „Leichte Schmeicheleien schreibe dünn mit Wein, dass auf dem Tische sie liest, deine Liebhaberin zu werden (blanditiasque leves tenui perscribere vino ut dominam in mensa se legat ilia tuam)“; s. auch Tib. elegiae 1,6,19 f. Außerdem weist er darauf hin, dass auch Stellen, an denen auf ein unbewusstes Lesen rekurriert wird, implizieren, dass diese Leser „leise“ gelesen haben müssen. Vgl. insb. Plot. enn. 1,4,10: „So braucht der Lesende kein Bewusstsein davon zu haben, dass er liest, namentlich dann, wenn er angespannt liest.“ (Üb. M ÜL L E R ; Οὐ γὰρ τὸν ἀναγινώσκοντα ἀνάγκη παρακολουθεῖν ὅτι ἀναγινώσκει καὶ τότε μάλιστα, ὅτε μετὰ τοῦ συντόνου ἀναγινώσκοι·); diese Stelle ist insofern aufschlussreich, als Plotinos hier ausgerechnet das Lesen als Beispiel für eine unbewusste Handlung heranzieht, zudem impliziert die Formulierung μετὰ τοῦ συντόνου eine hohe Intensität der ko‐ gnitiven Aufmerksamkeit, semantisch kann es auch den Aspekt von Geschwindigkeit enthalten; 158 vgl. außerdem Plut. soll. an. 3 (mor. 961a; s. u. S. 196 f); Aug. trin. 11,8,15 (s. u. Anm. 356, S. 197). Daneben vertritt auch C. Burfeind in einer Miszelle in der ZNW die These, dass einsame Leser in der Antike „für gewöhnlich leise und nicht gewohnheitsmäßig laut“ 159 lasen. Er führt zusätzlich zu den schon von Knox und Burnyeat diskutierten Quellen ins Feld, dass die Stellen, die vom „lauten“ Vorlesen handeln, keine Lesekultur des einsamen Lautlesers zeigten, sondern von einer Kultur des Vorlesens. Dies versucht er exemplarisch v. a. an Carm. Priap. 68,3 f 160 und Act 8,28-30 zu belegen. Beide Stellen seien so zu verstehen, dass sowohl der Kämmerer als auch der Herr der Priapenstatue nicht selbst laut lasen, sondern dass ihnen laut vorgelesen worden sei. Schon hier sei darauf hingewiesen, dass Burfeinds Interpretation von Act 8,28-30 unten kritisch zu diskutieren sein wird (s. u. 8.2.2). Darüber hinaus hat D. T. Benediktson auf einige Mahlszenen hingewiesen, bei der mit Liebesbotschaften „mit den Fingern, mit Wein notiert“ (vgl. Ov. am. 1,4,19 f) 161 ohne stimmliche Realisierung gelesen werden, 162 und damit die Quellenbasis der Diskussion etwas verbreitert. Trotz bedenkenswerter Argumente und einer breiten Quellenevidenz sind die Po‐ sitionen von Knox (es wurde nicht grundsätzlich nur „laut“ gelesen), aber vor allem von Rösler, Gavrilov, Burnyeat und Burfeind (der einsame Leser hat in der Regel 54 1 Einleitung <?page no="55"?> 163 Paradigmatisch erscheint mir die Kritik der Arbeit von Knox durch Vertreter des SFB 321 „Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“. Statt sachlicher Auseinandersetzung ist deren Kritik durch pauschalisierende und polemische Zurückweisung gekennzeichnet, die wiederum zu erkennen gibt, dass man die Infragestel‐ lung der communis opinio als eine Gefahr für das eigene Forschungsprogramm verstanden hat. G. Vogt-Spira weist Knox’ Kritik an Balogh lediglich in einer Fußnote mit dem Hinweis zurück, dass sie „überzogen“ (V O G T -S P I R A , Vox, 295, Anm. 2) sei, und verweist auf die Ausführungen von E. Lefèvre in einem von ihm herausgegebenen Sammelband. Lefèvre wiederum, der Knox’ Artikel als polemischen Feldzug gegen Balogh versteht, versucht die Position von Knox allein dadurch zu entkräften, dass er in Form eines sehr selektiven Zugriffs die Stichhaltigkeit von Knox’ Interpretation von Cic. Tusc. 5,116 hinterfragt, über die man sicherlich diskutieren kann. Vgl. L E F È V R E , Literatur, 14  f. Der von ihm im direkten Kontext angeführte Quellenbeleg - die Metapher im Erechtheus von Euripides, „ich möchte die Stimme der Schreibtafel aufschlagen (δέλτων τ’ ἀναπτύσσοιμι γῆρυν)“ (TrGF, Fr. 363,6), sei „erst auf dem Hintergrund des lauten Lesens […] voll verständlich“ (L E F È V R E , Literatur, 14) - kann gerade nicht als Evidenz für die generelle Praxis des „lauten“ Lesens herangezogen werden, da sie keinesfalls impliziert, dass der Leser der Schreibtafel die Stimme der Schreibtafel mit der eigenen Stimme vokalisieren muss. Mit der gleichen Logik könnte man z. B. aus dem Namen der 1890 gegründeten sozialdemokratischen Tageszeitung „Volksstimme“ eine ähnliche Schlussfolgerung für das ausgehende 19. Jh. ziehen. 164 Vgl. schon R A I B L E , Raible, Entwicklung, 8: „Es ist klar, daß man vor allem solche Texte in Scriptio continua, die man schon gut kennt, auch leise lesen kann.“; vgl. aber v. a. D O R A N D I , Autographie, 80-82; J O H N S O N , Sociology, 618 f; J O H N S O N , Constructing, 328; J O H N S O N , Readers, passim. Im Vergleich zu seinen älteren Publikationen (vgl. z. B. J O H N S O N , Performance; J O H N S O N , Function) ist eine ausdifferenzierende Distanzierung zur communis opinio zu erkennen. Vgl. auch die hilfreiche Übersicht bei D I M A Z A , Silentium, und gegen die These, dass „in nicht-typographischen Gesellschaften grundsätzlich laut gelesen wurde“, B E R T I / H Aẞ / K R Ü G E R / O T T , Entziffern, 644. Sie konstatieren allerdings ebd. zu Recht: „Eine räumlich wie zeitlich weit ausgreifende Untersuchung der Modi lauten und leisen Lesens steht indes noch aus.“ 165 B U S C H , Lesen, 34. 166 B U S C H , Lesen, 34. „leise“ gelesen) Außenseiterposition geblieben. 163 Zwar zeichnet sich mittlerweile ab, dass die Extremposition, in der Antike habe man grundsätzlich „laut“ gelesen, von der sich Knox und die anderen distanziert haben, in einigen Publikationen ebenfalls kritisch gesehen wird. 164 Aber vor allem die Pendelbewegung in das andere Extrem, in der Antike habe der einsame Leser prinzipiell „leise“ gelesen, hat großen Widerstand ausgelöst. So hat S. Busch in einem 2002 veröffentlichen Artikel auf einer Durchsicht der bekannten und einiger, der Diskussion neu hinzugefügten Quellen ausführlich zu zeigen versucht, dass „[d]as laute Lesen […] der Antike als Normalfall gegolten“ 165 hat, wobei „in der Antike jeder Leser grundsätzlich in der Lage [war], beim Lesen das Sprechen zu unterdrücken.“ 166 Szenen des „leisen“ Lesens seien aber immer eine situationsgebundene und aus einer spezifischen Notwendigkeit 55 1.2 Die lange Debatte um die Frage nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen in der Antike <?page no="56"?> 167 Vgl. B U S C H , Lesen, 34-40. Ähnlich auch die Argumentation bei V A L E T T E -C A G N A C , lecture, 29-71. 168 So zitiert auch B U S C H , Lesen, 34, im Schlussteil seines Artikels die wesentlichen Schluss‐ folgerungen aus Baloghs berühmtem Artikel (s. o.). Vgl. ferner exempl. P A R K E S , Pause, 1.9; B L A N C K , Buch, 71 f; U S E N E R , Isokrates, 74 (mit Verweis auf den Unterschied zwischen Vorlesen und subvokalisierendem individuellen Lesen). 169 Dies erfolgt aber dann meist ohne konkreten statistischen Beleg. So behauptet z. B. B U S C H , Lesen, 13, dass die Fälle, in denen das griechische „Normalwort für ‚lesen‘ ἀναγιγνώσκειν […] durch Adverbien wie ἡσυχῇ und σιωπῇ […] [spezifiziert würden,] freilich abermals rar“ seien. Das mag zwar stimmen - eine kurze Suche in der TLG bringt allerdings schon ein paar Treffer (vgl. eindrücklich v. a. Lukian. philops. 31) - angesichts der großen Anzahl griechischer Lesetermini, -metonymien und -metaphern (s. u. 3) erscheint die statistische Ausgangsbasis allerdings wenig valide. Zudem basiert die Argumentation zuletzt auf einem Zirkelschluss, da Busch a priori davon ausgeht, dass alle anderen Stellen, an denen ἀναγιγνώσκω vorkommt, die „laute“ Lektüre meint, da man es ja sonst nicht markieren müsste. Zu seiner Argumentation bezüglich des Verbes legere s. unten mehr (s. u. 3.3). 170 Vgl. z. B. R A I B L E , Raible, Entwicklung, 8 f; B U S C H , Lesen, passim. erwachsene Abweichung vom Regelfall. 167 Es bleibt festzuhalten, dass sich an der communis opinio, das „laute“ Lesen wäre in der Antike der Normalfall, das „leise“ Lesen die markierte Ausnahme gewesen, eigentlich nichts geändert hat. 168 An der Argumentation von Busch lassen sich im Folgenden anschaulich die methodischen Grundprobleme der Debatte um das „laute“ und „leise“ Lesen aufzeigen. 1.3 Methodische Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung Das Hauptproblem der skizzierten Debatte um das „laute“ und „leise“ Lesen ist das dahinterliegende Erkenntnisinteresse, den Normalmodus der antiken Lesepraxis zu rekonstruieren. Methodisch ist die Debatte maßgeblich dadurch gekennzeichnet, dass diejenigen, die für den „Normalmodus“ der „lauten“, voka‐ lisierenden Lektüre plädieren, die Quellen, in denen „leise“ Lektüre bezeugt ist, als quantitativ nicht relevante Ausnahme 169 bzw. als bewusst markierte Sonder‐ fälle 170 interpretieren und die „Vielzahl“ der Belege für das „laute“, vokalisierende lesen demgegenüber quantifizierend gegenüberstellen, um ihre Position zu bekräftigen. Die Minderheitenposition versucht hingegen, die Belege für das vokalisierende Lesen kontextuell zu erklären und ihrerseits quantifizierend zu zeigen, dass insbesondere nicht-literarische Texte im Normalfall „leise“, nicht-vokalisierend gelesen wurden. Von Seiten der Mehrheitsposition wird diesem Verfahren dann wiederum vorgeworfen, Einzelfälle in unzulässiger 56 1 Einleitung <?page no="57"?> 171 Vgl. z. B. B U S C H , Lesen, 6.22. 172 Vgl. M C C U T C H E O N , Silent, 14, der darauf hinweist, dass nicht nur „leises“ Lesen selten bezeugt sei, sondern auch „lautes“ Lesen in den Quellen nicht häufig explizit vorkommt. 173 Vgl. dazu die klugen Beobachtungen zu den methodischen Absurditäten der Debatte bei M C C U T C H E O N , Silent, 13 f. 174 B U S C H , Lesen, 9, Anm. 19. 175 B U S C H , Lesen, 9. Weise zu verallgemeinern. 171 Diesen Vorwurf kann man der Mehrheitsposition hingegen auch machen. 172 Aus methodologischer Sicht ist der zugrundeliegende Ansatz zu hinterfragen, auf der Basis quantifizierender Quellenauswertungen (Welcher Lesemodus ist häufiger belegt? ) eine Antwort auf die Frage zu erhalten. 173 Auch wenn mehr Leseszenen der vokalisierenden Lektüre überliefert sind - was m. E. überhaupt nicht sicher ist -, so kann daraus noch lange kein „Normalfall“ rekonstruiert werden, da z. B. ein Übergewicht von Quellen, die das soziale Phänomen „Vorlesen“ thematisieren, aus Gründen des Darstellungsinteresses erwartbar ist. Hinzu kommt, dass zahlreiche der von der Mehrheitsposition angeführten, vermeintlich sicheren Belege für den Normalmodus des „lauten“ Lesens im Hinblick auf ihren Quellenwert für die gestellte Forschungsfrage kritisch diskutiert werden können, wie nicht zuletzt die Diskussion um den locus classicus bei Augustinus und die Diskussion der von J. Balogh angeführten Quellen durch B. M. Knox (s. o.) schon gezeigt haben. Aber auch aus Quint. inst. or. 10,3,28 kann nicht geschlossen werden, dass die „nächtliche einsame Lektüre laut gedacht“ 174 wird. Zunächst erscheint es mir unsicher, ob sich Quintilians Ausführungen in 10,3,28 überhaupt noch auf das das Thema Nachtarbeit (lucubrationes; vgl. Quint. inst. or. 10,3,25-27) oder nicht viel eher auf das Thema Ablenkung beim Arbeiten allgemein beziehen. Gegen ersteres spricht die Formulierung deplorandus dies, für letzteres sprechen Quintilians Ausführungen in 10,3,29 f, die sich nahtlos anschließen und das Arbeiten bei Tag thematisieren. Zudem ist in 10,3,28 von Lektüre überhaupt nicht die Rede: Die Formulierung „was uns vor die Augen und Ohren kommt“ ist nicht auf eine vermeintliche Lektüretätigkeit bezogen, bei der das „laut“ Gelesene mit den Augen und Ohren rezipiert würde, wie Busch die Stelle missversteht. Vielmehr meint es im Satzzusammenhang das, was einen potentiell ablenken könnte, bei konzentrierter Arbeit jedoch gerade nicht ins Innere gelangt und bei der Arbeit stört: „wenn man sich mit voller geistiger Kraft nur auf die Aufgabe konzentriert, wird nichts von dem, was uns vor die Augen oder Ohren kommt (quae oculis vel auribus incursant), in unser Inneres gelangen“ (10,3,28; Üb. R A H N ). Auch ergibt es sich m. E. keinesfalls „zwingend aus dem Zusammenhang“, 175 dass Cicero in Cic. fam. 9,20,3 bei seinen Lese- 57 1.3 Methodische Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung <?page no="58"?> 176 Freilich kann man den Beleg auch nicht für „leises“ Lesen anführen. Gegen G A V R I L O V , Techniques, 70. 177 Vgl. B U S C H , Lesen, 28; auch S E I B E R T , Exilwelt, 20, Anm. 38. 178 Eindeutig vokalisierende Lektüre ist in Ov. ars 3,340-346 vorausgesetzt, wobei hier aller‐ dings an das Rezititieren vor der Geliebten gedacht sein dürfte. 179 Vgl. B U S C H , Lesen, 28.30 f. 180 B U S C H , Lesen, 28. 181 B U S C H , Lesen, 28. und Schreibstudien nach der Morgensalutatio generell „laut“ lese und schreibe. 176 So ist es hier weder syntaktisch noch inhaltlich eindeutig, ob diejenigen, die zum Zuhören kommen (ueniunt etiam qui me audiunt quasi doctum hominem quia paulo sum quam ipsi doctior), ihm bei seinen Morgenstudien „zuhören“ oder ob sich dieser Satz vielleicht auch auf ein leicht modifiziertes Programm nach der Morgensalutatio bezieht, bei dem Cicero sich als Intellektueller inszeniert, falls Leute anwesend sind. Aus dem Hinweis Ovids (Pont. 3,5,7-14), er habe eine Rede seines Freundes Cotta „viele Stunden hindurch mit eilender Zunge gelesen (lingua mihi sunt properante per hora lecta satis multas)“, geht gerade nicht hervor, dass er eindeutig „laut“ gelesen habe, wie Busch schlussfolgert. 177 Vielmehr kann diese Stelle ebenso gut, wegen des Hinweises auf die Schnelligkeit sogar wahrscheinlicher, auf subvokalisierendes Lesen hindeuten. Theoretisch kann auch die Formulierung „ich werde im Mund des Volkes gelesen“ (ore legar populi, Ov. met. 15,878) subvokalisierende Lektüre meinen, wobei allerdings das „laute“ Lesen aus ästhetischen Gründen ebenso denkar wäre. 178 Auch wenn Horaz von Gedichten spricht, „die die Augen und Ohren (oculos aurisque) des Kaisers fesseln könnten“ (Hor. ep. 1,13,17 f), können damit ebenso zwei Rezeptionsmodi - das selbständige Lesen und das Hören der Lektüre durch einen Vorleser - gemeint sein; auch ein Verweis auf das innere Ohr ist denkbar, aber weniger wahrscheinlich (s. dazu u. mehr). Gleiches gilt für Ov. Pont. 4,5,1 f. Interessant sind Buschs Verweise auf die fingierten Gespräche zwischen dem Toten und dem antizipierten Leser der Inschrift sowie das Motiv des Leihens der Stimme, das sich zuweilen auf Grabinschriften findet. 179 Dass diese Grabsprüche nur ‚funktionierten‘, „wenn laut gelesen wird“ 180 bzw. dass sie „geradezu mit dem Brauch des lauten Lesens“ 181 spielten, ist jedoch aus dem Befund nicht zwingend zu schließen. Vielmehr scheint mir dieses Gestaltungscharakteristikum von antiken Grabinschriften ein Topos zu sein, der mehr über den Verstorbenen als über die antike Kultur des Lesens sagt. Die Vorstellung, dass die Menschen angesichts der Vielzahl der Inschriften, mit denen sie alltäglich konfrontiert waren, diese laut gelesen haben, mutet schon ein wenig absurd an und steht in einer Spannung zur weiten Verbreitung der Rezeption von Inschriften mit dem Lesekonzept der visuellen Wahrnehmung (s. u. 3.8). Moderne Werbeplakate sind im Übrigen auch häufig als Dialog mit der antizipierten Zielgruppe gestaltet; und aus dem Topos des Stimme-Leihens spricht die Hoffnung des Verstorbenen auf eine aktive Erinnerung bzw. auf eine posthume Bedeutung im Diesseits. 58 1 Einleitung <?page no="59"?> 182 Vgl. B U S C H , Lesen, 15-19. Dieses Paradigma findet sich auch in exegetischer Fachlite‐ ratur. Vgl. z. B. H E A R O N , Mapping, 58. 183 Intensiv untersucht z. B. im Freiburger SFB 321 „Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“. 184 Auch gegen V O G T -S P I R A , Vox, 295, der in Quint. inst. or. 1,1,34 eine allgemeine Definition des „lauten“ Lesens sieht, m. E. aber geleitet durch die communis opinio die Frage nach einer Differenzierung zwischen Vorlesen und dem individuellem Lesen, die zumindest in analytischer Hinsicht zunächst geboten wäre, unterlässt. Auch gegen C H R I S T E S , Elemente, der einen Zusammenhang von konzeptioneller Mündlichkeit bei Tacitus und dem „lauten“ Vorlesen herstellt; sowie gegen die unzulässigen Pauschalur‐ teile bei E R R E N , Lesen. Vgl. zu dem hier besprochenen Problem meine Ausführung unten zu den Lesetermini unter 3.3. Zudem sind einige weitere Vorannahmen zu nennen, die der Mehrheitsposition zugrunde liegen und zum Teil thetisch gegen die Minderheitenposition in Stellung gebracht werden, aber aus meiner Sicht eben keine sichere methodische Grundlage dafür liefern, um die Frage nach einem „Normalmodus“ des Lesens in der Antike zu beantworten. Dies ist im Folgenden exemplarisch für viele am Beitrag von Busch in gebotener Kürze zu verdeutlichen, um auf dieser Grundlage dann den neuen Ansatz und die Fragestellung der vorliegenden Studie herauszuarbeiten. 1.3.1 Geschriebenes als Abbild des Gesprochenen? In der Antike sei das Geschriebene generell als Abbild des Gesprochenen verstanden worden. Schreiben sei der Prozess, bei dem das Gesprochene festgehalten, also aufgezeichnet würde, beim Lesen würde das gespeicherte Gesprochene wieder hörbar gemacht. 182 So richtig es ist, dass man aus der Antike zahlreiche Quellen findet, in der Geschriebenes in verschiedensten Formen mit einer engen Relation zur Stimme, zum Gesprochenen gestellt wird, 183 eine generalisierende Schlussfolgerung zum „lauten“ oder „leisen“ Lektüremodus lässt sich daraus aber gerade nicht sicher ziehen. Die Quellen, die Busch heranzieht, um zu zeigen, dass legere generell das Wieder-Hör‐ barmachen des Gesprochenen, also die Re-realisierung von Klang meint, bzw. die Verknüpfung von Lesen und der richtigen Aussprache, stammen aus rhetorischen Lehrbüchern (Quint. inst. or. 1,7,24-35 u. ö.; Cic. orat. 44,150) und beziehen sich auf das Vorlesen, das freilich mit der vokalen Re-Oralisierung des Textes verknüpft ist. Eine allgemeine Lesedefinition wird damit jedoch nicht gegeben. 184 Denn prinzipiell erscheint auch bei einer individuellen, „leisen“ Lektüre ein solches „Wieder-Hörbarmachen“ der durch die Schrift repräsentierte mensch‐ 59 1.3 Methodische Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung <?page no="60"?> 185 Vgl. dazu M A A S , Schrift; H E N N I G F E L D , Geschichte; S C H L I E B E N -L A N G E , Geschichte, 104- 107; ausführlich zu Arist. int. 1 [16a3-18] N O R I E G A -O L M O S , Psychology. 186 S. dazu weiterführend W I L L E , Akroasis, 1101-1111. Zum Vorrang des Sehens gegenüber dem Hören s. außerdem die Quellen bei M A Y R , Art. Hören, passim. 187 Vgl. B U S C H , Lesen, 19-21. liche Stimme (Quint. inst. or. 1,7,30 f als locus classicus) denkbar - dann aber im Kopf des Lesers. Dass diese Möglichkeit überhaupt nicht bedacht wird, führt dazu, dass man auch nicht nach den entsprechenden Quellenbelegen sucht. Eine feste Interdependenz zwischen dem, was Schrift aus der Sicht antiker Sprachphilosophie repräsentierte, und einem Normalmodus des Lesens sollte man in jedem Fall nicht a priori postulieren. Zudem müsste man weiter fragen, ob Schrift (insbesondere in Texten) in der Vorstellung der antiken Menschen ausschließlich Gesprochenes repräsentierte oder ob das Repräsentationsver‐ ständnis nicht doch mehrdimensionaler war. Hinzuweisen ist diesbezüglich auf die differenzierte und durchaus kontrovers diskutierte Schriftauffassung in der Antike. Kristallisationspunkt der Debatte ist die Frage, ob das Schriftverständnis von Aristoteles (vgl. insb. Aristot. int. 1 [16a3-18]) phonographisch zu verstehen oder semiotisch konzeptualisiert ist bzw. ob er die Schrift der Stimme hierar‐ chisch unterordnet oder gleichwertig zugeordnet. 185 Zudem ist Folgendes zu bedenken: Der Seh- und Hörsinn war für die griechische Kultur gleichermaßen wichtig, wobei jedoch dem Sehen in der philosophischen Diskussion grosso modo ein leichter (erkenntnistheoretischer) Vorzug zugebilligt wird. 186 Daher sollte gerade die Frage nach dem Zusammen‐ hang zwischen Lesen und Sehen unbedingt bei der Erforschung des Lesens in der Antike berücksichtigt werden. Daraus ergibt sich als erste Teilfrage für die vorliegende Studie, welche Rolle Verben der visuellen Wahrnehmung für die Beschreibung von Lesen in den Quellen hatte. 1.3.2 Die Frage nach dem Zusammenhang von Schriftsystem und Lesepraxis Eng verbunden mit der These, dass Geschriebenes in der Antike Gesprochenes repräsentiere, wird sodann postuliert, dass die ohne Worttrennungen und Satz‐ zeichen geschriebenen antiken Texte (scriptio continua) wegen der erschwerten visuellen Dekodierung für die „laute“ Lektüre vorgesehen waren; also auch das Schriftsystem den „Normalmodus“ des lauten Lesens belegte. 187 Hier besteht die methodische Gefahr, die Schwierigkeiten bzw. visuellen Dekodierungsherausforderungen, die ein moderner Leser mit dem Lesen von lateinischen und griechischen Texten (also nicht seiner Muttersprache) in scriptio continua 60 1 Einleitung <?page no="61"?> 188 Davor warnt auch T H O M A S , Literacy, 93. 189 Ein besonders eindrückliches Beispiel bietet H. Y. Gamble, der in einem englischen Text zu Anschauungszwecken die Wortzwischenräume entfernt hat und dies folgen‐ dermaßen kommentiert: „If a familiar text is surprisingly difficult, an unfamiliar one would present a far greater challenge. The relentless march of characters across the lines and down the columns required the reader to deconstruct the text into its discrete verbal and syntactical components. The best way to decipher a text written in this way was phonetic: sounding the syllables as they were seen and organizing them as much by hearing as by sight into a pattern of meaning.“ (G A M B L E , Books, 203 f). Diese Form von Scheinevidenzerzeugung und rein thetischer Argumentation, die ohne Anhaltspunkte in den Quellen auskommt, ist methodisch fragwürdig. Ähnlich argumentieren E R R E N , Lesen, 117 f; S M A L L , Wax Tablets, 17 f; S H I N E R , Proclaiming, 12 f. 190 Vgl. dazu die Kritik an P. Saengers Sicht auf die Antike bei B A T T E Z Z A T O , Techniques, 5 f. 191 Vgl. B U S C H , Lesen, 22-28. 192 Diese Schlussfolgerung findet sich zwar nicht bei Busch, der von einer weit verbreiteten basalen Lesefähigkeit ausgeht, gerade in Forschungsbeiträgen, die sich der sog. Performanz‐ kritik zuordnen, ist dieser Begründungszusammenhang jedoch häufig zu finden (s. o. 1.1.2; s. außerdem Anm. 41, S. 29). hat, in die antiken Leser hineinzuprojizieren, 188 wie es in der Forschungsli‐ teratur zum Teil sogar explizit getan wird. 189 So sind die modernen Leser kulturell mit Worttrennungen aufgewachsen und haben die Leseweise mit Worttrennungen habitualisiert; für einen modernen Leser ist es nicht möglich, den Lesesozialisationsprozess eines antiken Lesers, der von Beginn an mit in scriptio continua geschriebenen Texten aufgewachsen ist, nachzuempfinden, geschweige denn aufzuholen. Zudem basiert die These - insbesondere in der Ausformulierung P. Saengers - auf zahlreichen unzulässigen Generalisierungen und übergeht sowohl wichtige handschriftliche Evidenz als auch den Charakter vieler Publikationen aus der Antike - insbesondere großer wissenschaftlicher Nachschlagewerke oder anderer sehr umfangreicher Werke, die einen anderen Rezeptionsmodus voraussetzten. 190 Diese forschungsgeschichtliche Ausgangs‐ lage macht es notwendig, im Rahmen dieser Studie den Zusammenhang zwi‐ schen Schriftsystem und Lesepraktiken erneut zu untersuchen (s. u. 4). 1.3.3 Die Frage nach der Literalität antiker Gesellschaften Der Normalmodus der lauten Lektüre wird damit in Verbindung gebracht, dass in der Antike von einem eher geringen Grad an Literalität auszugehen sei. Einerseits seien viele Leser auf einer nur relativ vokalisierenden Lektüre anzusiedeln, für die das Lesen von scriptio continua erst recht erschwert gewesen sein müsse; 191 vor allem aber hätten viele Menschen in der Antike überhaupt nicht lesen können und waren darauf angewiesen, dass jemand ihnen vorliest. 192 Daraus leitet sich dann auch die oben besprochene These ab, dass Texte im frühen Christentum 61 1.3 Methodische Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung <?page no="62"?> 193 So auch zu Recht K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 7. 194 So auch das Urteil von H U R T A D O , Oral Fixation, 331. 195 Vgl. dazu K E I T H , Literacy; und den Überblick H E I L , Analphabet, insb. 276-282. 196 Vgl. H E I L , Analphabet, 286-289 (Lit.). 197 Diesbezüglich ist anzumerken, dass sowohl im LkEv als auch im JohEv der Hinweis auf den handwerklichen Beruf Jesu bzw. seines Vaters (τέκτων; vgl. Mk 6,3; Mt 13,55) fehlt. 198 Vgl. S C H N E L L E , Bildung, 117, Anm. 16, mit Verweis auf H A T C H , Griechentum, 25-35; M A R R O U , History. An den interessanten Studien von E. Best (B E S T , Attitudes; B E S T , Soldier; B E S T , Readers; B E S T , Cicero), wird deutlich, dass die Diskussion um einen sehr geringen Literalitätsgrad in der Antike schon älter ist. 199 So K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 7, Anm. 11. in der „gottesdienstlichen“ Versammlung vorgelesen werden mussten. Die Frage nach dem Grad der Literalität in antiken Gesellschaften für die Frage nach einem Normalmodus des Lesens ins Feld zu führen, ist m. E. in methodischer Hinsicht mit Schwierigkeiten verbunden, die insbesondere in der Diskussion um zahlenmäßige Quantifizierungen der Lesefähigkeit in der antiken Welt deutlich wird, die zuletzt in eine Aporie führt. 193 Die mit Sicherheit einflussreichste Studie ist in dieser Hinsicht die 1989 erschienene Monographie „Ancient Literacy“ von W. V. Harris, dessen Ergebnis v. a. in weiten Teilen der anglophonen Forschung zu Oralität und der Frage nach dem Lesen usw. als sicheres Wissen (häufig deutlich weniger differenziert als Harris das Ergebnis selbst darstellt) rezipiert wird. 194 Die Studie von Harris spielt auch eine wichtige Rolle im Rahmen der immer noch breit geführten Diskussion um die Frage nach der Lese- und Schreibfähigkeit des historischen Jesus; und zwar bildet die von Harris geprägte Sicht das entscheidende Argument für die Vertreterinnen und Vertreter, die die Lese- und Schreibfähigkeit des historischen Jesus anzweifeln. 195 Als weitere Argumente wird auf den redaktionellen Charakter des lesenden Jesus in Lk 4,16 und des schreibenden Jesus in Joh 8,6.8 verwiesen. 196 Diese beiden Stellen haben tatsächlich keinen Quellenwert für die Frage nach dem historischen Jesus, zeigen aber, dass das Bild eines lesenden und schreibenden Juden aus Galiläa zumindest für die intendierten Rezipienten des Lukasevangeliums bzw. der pericope adulterae eine gewissen Plausibilität gehabt haben muss. 197 Während einige ältere Studien noch zuversichtlicher bezüglich der Lesefähig‐ keit der Menschen in der griechisch-römischen Welt waren, 198 zeichnet Harris ein pessimistisches Bild. Er kommt auf der Grundlage einer materialreichen Untersuchung, die aber als ausgesprochen restriktiv zu charakterisieren ist, 199 zu der abschließenden Schätzung, dass in klassischer Zeit (d. h. für den Unter‐ suchungszeitraum irrelevant) in Athen 15 % der männlichen Bevölkerung und 5 % der Bevölkerung insgesamt lesen konnten. Für Städte wie Teos kommt er 62 1 Einleitung <?page no="63"?> 200 Vgl. H A R R I S , Literacy, 327-330. 201 Insgesamt geht er für die Prinzipatszeit von einer Illiteralitätsrate von über 90 % aus. Bezüglich der Stadt Rom und Italien formuliert er: „All this evidence might lead us to conclude that the level of male literacy was well below the 20-30% range which prevailed in, say, England of the period 1580-1700. And the evidence we have so far encountered about Roman women suggests that their literacy was below, perhaps far below, 10%“ (H A R R I S , Literacy, 259). Bezüglich der westlichen Provinzen konstatiert er eine Literalitätsrate von 5-10%. Vgl. H A R R I S , Literacy, 272. 202 H A R R I S , Literacy, 330. 203 H A R R I S , Literacy, 330. 204 H A R R I S , Literacy, passim. 205 So auch das Urteil bei S E E L I G E R , Litteratulus, 298; H I L T O N , Illiterate Apostles, 15-17, der trotz seiner Vorbehalte an Harris’ Methodologie dessen grundsätzlich pessimistischen Einschätzung des Literalitätsgrades in der griechisch-römischen Welt zustimmt. Harris selbst ist dies freilich bewusst: „it is it is only with the aid of comparative statistics drawn from other better-known cultures that it is possible to reason quantitatively about ancient literacy. They can start with nineteenth-century Italy and Russia.“ (H A R R I S , Muddles, 728). Das hiermit verbundene methodische Problem der Übertragbarkeit von Daten aus dem 19. Jh. und 20. Jh. in die antike Mittelmeerwelt (vgl. H A R R I S , Literarcy, 22-24) ist allerdings nicht zu unterschätzen. jedoch in hellenistischer Zeit zu einer Schätzung von 30-40% Lesefähigen unter den freien Männern, deren Fundament im Bildungssystem allerdings s. E. im 1. Jh. v. Chr. durch die Ägäische Krise weggebrochen und auch in römischer Zeit nicht wieder aufgebaut worden wäre. 200 Hier wird deutlich, dass seine Kartierung der antiken Literalität zuweilen von einen Geschichtsverständnis geleitet ist, das sich an einem Verfallsmodell orientiert. Für das Römische Reich selbst nennt Harris ebenfalls einige Schätzzahlen 201 und fasst zusammen, dass in Städten eine höhere Lesefähigkeit vorauszusetzen und von einer regionalen Variation auszugehen sei. Für die griechische Welt des Römischen Reiches müsse man davon ausgehen, dass außer „a man of property […] or a man with any claim to distinction in city life“ 202 , die sicher Lese- und Schreibfähigkeiten besessen haben, die Masse der Bevölkerung illiterat gewesen sei oder lediglich eine Grundschulausbildung gehabt hätten. „There are hints in the evidence that literacy was limited, at best, among artisans. Small farmers and the poor will generally have been illiterate.“ 203 Es ist hervorzuheben, alle quantitativen Schätzungen bleiben hochgradig hypothetisch; aus der Quellenlage (insbesondere bezüglich der „Bildungsinsti‐ tutionen“) lassen sich m. E. keine großflächigen quantitativen und statistisch validen Daten ableiten. So gibt es zwar zahlreiche Quellen, die Illiteralität für spezifische Personen belegen. 204 Angesichts der Verstreutheit des Befundes, lassen diese aber keine quantifizierbaren Schlussfolgerungen zu, 205 sondern sie zeigen, dass es Illiteralität in der Antike gab und dass diese sich über 63 1.3 Methodische Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung <?page no="64"?> 206 Vgl. dazu weiterführend die Beiträge in B E A R D / B O W M A N / C O R B I E R / C O R N E L L / et. al, Lite‐ racy; aber v. a. T H O M A S , Writing; W O O L F , Literacy; v. a. auch W O O L F , Illiteracy? . 207 Vgl. Y O U T I E , ΑΓΡΑΜΜΑΤΟΣ, 161-163, mit sehr aussagekräftigen Belegen; C L A R K , Lector. Dazu weiterführend K R A U S , (Il)literacy, 330-332. Dies trifft vielleicht auch für Bischof Theodorus aus Gadara zu, der in einer Unterschriftenliste des Konzils von Ephesus im Jahr 431 n. Chr. als ἀγράμματος bezeichnet wird (vgl. M A R K S C H I E S , Manusc‐ ripts, 199 f). Er war womöglich nur in seiner semitischen Muttersprache literarisiert und daher auf Hilfe eines Erzdiakons bei der Unterschrift angewiesen. Möglichweise meint das Wort auch in manchen Fällen, dass jemand ein bestimmtes Schwierigkeitsniveau von Texten nicht verstehen kann (also nicht auf dem Niveau eines γραμματεύς liest bzw. aus der Perspektive kultureller Eliten ungebildet ist). Dies müsste freilich im Einzelnen im jeweiligen Kontext begründet werden. S. z. B. die Charakterisierung einer Stadt als ἀγράμματος in Plut. Adv. col. 31 (mor. 1125e); auch die Formulierung in Plut. Adv. Col. 26 (mor. 1121 f) könnte in diese Richtung deuten. Wenn man Ps.-Lukian. Halcyon 7 so versteht, dass „es ist für die Illiteraten unmöglich, in gelehrter Weise vorzulesen“ (ἀναγνῶναι ἢ γράψαι τοῖς ἀγραμμάτοις γραμματικὸν τρόπον ἀδυνατώτερόν ἐστιν), dann ist impliziert, dass sie trotzdem lesen können, nur eben nicht γραμματικὸν τρόπον. S. dazu u. Anm. 234, S. 69. 208 Vgl. weiterführend K R A U S , Uneducated, der auf S. 440-442 u. a. genau darauf hinweist. In diesem Zusammenhang ist außerdem erwähnenswert, dass ein ἰδιώτης durchaus als Leser angesprochen werden konnte. Vgl. Gal. san. tuend. ed. K Ü H N 6, p. 449. 209 G E M E I N H A R D T , Christentum, 7. Zum „Ideal des litteratus als soziales Regulativ“ vgl. ebd., 57-61. verschiedene Bevölkerungsgruppen erstreckte. Zudem muss man auch in der Antike verschiedene Level von Lesefähigkeit differenzieren und in Rechnung stellen, dass Lesekompetenz immer in Relation zum Schwierigkeitsgrad von Texten zu bestimmen ist. 206 Dies muss auch für die quellensprachliche Ebene in Rechnung gestellt werden. z. B. muss die Charakterisierung ἀγράμματος nicht immer eine vollständige Illiteralität meinen. So ist es sicher bezeugt, dass das Adjektiv in dokumentarischen Papyri aus Ägypten meint, dass jemand des Griechischen nicht mächtig ist, aber sehr wohl der ägyptischen Sprache. 207 Dies bedeutet im Hinblick auf Act 4,13, dass hier vermutlich auch nur die fehlende griechische Bildung der erzählten Figuren Petrus und Johannes im Blick ist, sich die Leserinnen und Leser aber vorstellen konnten, dass diese ihre Muttersprache auch in der Schrift beherrschten. 208 Laut P. Gemeinhardt liegt gerade darin die Pointe: „Wenn in Apg 4,13 Petrus und Johannes mit ihrer freimütigen Rede (παρρησία) deshalb Eindruck machen, gerade weil sie als ἄνθρωποι ἀγράμματοί εἰσιν καὶ ἰδιῶται gelten, bedeutet das nach antikem Verständnis nicht, dass sie Analphabeten waren […], sondern dass sie nach den Maßstäben […] keine Inhaber von παιδεία waren - und deshalb gar nicht zu kunstgerechter und wirkmächtiger öffentlicher Rede befähigt sein dürften! “ 209 64 1 Einleitung <?page no="65"?> 210 Vgl. z. B. die Ausführungen bei M I L L A R D , Reading, 154 ff; M A R C O N E , Forme. Vgl. au‐ ßerdem weiterführend die Außeinandersetzung mit der neueren Literatur in H A R R I S , Epigraphy II; H A R R I S , Ancient Life. 211 Vgl. B O W M A N , Roman. Vgl. zur Provinz Britannia außerdem H A N S O N / C O N O L L Y , Language, mit dem wichtigen methodischen Einwand gegen Harris: „absence of evidence is not evidence of absence.“ (153) 212 Vgl. T O M L I N , Voices; T O M L I N , Literacy. 213 Vgl. S P E I D E L , Soldiers (s. dort auch die weiteren Verweise auf die Forschung). 214 Vgl. S C H M I D T H H E I D E N R E I C H , Soldats. 215 Vgl. F R A N K L I N , Literacy; C O U R R I E R / D E D I E U , Écrire; M I L N O R , Literary; ausführlich zu den Implikationen der Graffiti bezüglich der literary landscape in Pompeji M I L N O R , Graffiti; weiterführend zu den kommunikativen Implikationen L O H M A N N , Graffiti. 216 Vgl. Epp, Codex. 217 Beide Zitate K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 7; s. u. insb. Anm. 245 u. 246, S. 73f. 218 Vgl. H A R R I S , Literacy, 284, Vgl. dazu auch M O R G A N , Literate, 63 f; ferner zur weiten Verbreitung von Schreibfähigkeiten, die implizieren, dass das Geschriebene auch gelesen werden musste, B A G N A L L , Writing. An Harris’ Bild einer weitgehend illiteraten Gesellschaft über die gesamte Antike hinweg ist in unterschiedlicher Form Kritik geübt worden. 210 A. K. Bowmanns Auswertung der Funde von Vindolanda bezüglich der Literalität in der römischen Armee in der nördlichsten Peripherie des Reiches verdeutlichen, dass Literalität für Offiziere und Unteroffiziere anzunehmen, aber selbst für niedrigere Ränge belegt ist, und dass die Größe des Befundes ein breites Netzwerk lesefähiger Menschen über die Schichtengrenzen hinaus voraussetzt. 211 Auch die in den 2010er Jahren in London gefundenen „Bloomberg-Tablets“ lassen eine etwas optimistischer Sicht auf die Literalität in der Provinz Britannien zu. 212 Die große Bedeutung von Lesen und Schreiben in der römischen Armee wird durch weitere Quellen bestätig, u. a. durch Funden aus Nubien 213 und Ägypten. 214 Zu verweisen ist außerdem auf die mehr als 11.000 in Pompeji gefundenen Graffiti, die eine höhere Literalitätsrate vermuten lassen und auch Lese- und Schreibfä‐ higkeit in unteren Schichten belegen. 215 E. G. Epp fragt angesichts des Papyrusbefundes von Oxyrhynchos, ob für diese Stadt die Schätzungen von 10-20% Literalitätsrate wirklich ausreiche. 216 Die Untersuchungsergebnisse von H. Krasser, der auf „die immense Zunahme der Informationen zu Büchern und Lesern“ in der Kaiserzeit hinweist, dass in dieser Zeit „eine Bewußtseinsveränderung im Umgang mit Bildungsgütern nahe[liegt], die mit einiger Wahrscheinlichkeit über den engen Kreis der kulturellen Eliten hinausgreift“. 217 In Harris’ Studie findet sich dazu nur der Hinweis, es sei wahrscheinlich, dass angesichts des epigraphischen Befundes seit der augusteischen Zeit im Römischen Reich der Anteil an der Gesamtbevölkerung derjenigen, die lesen und schreiben konnten, leicht gestiegen wäre. 218 Selbst die pessimistische Einschätzung der Schreib- und Lesefähigkeit auf dem Land ist aus der Perspektive von unzähligen Kleininschriften und der Bedeutung von schriftlicher Kommunikation für die Wirtschaft im ländlichen Raum (insb. in den Grenzprovinzen) zu 65 1.3 Methodische Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung <?page no="66"?> 219 Vgl. S C H O L Z , Bauern [Zitat: 83], der eine beeindruckende Übersicht über die germanischen Provinzen und Raetien zusammengestellt hat. Freilich besteht hier noch viel Forschungsbe‐ darf - auch im Hinblick auf die Übertragbarkeit auf andere Provinzen. Die systematische Erforschung der Kleininschriften und deren Berücksichtigung für statistische Fragen nach der Literalität steht, wie Scholz ausführt (ebd. 69), noch am Anfang. Vgl. zur Literalität in ländlichen Regionen z. B. außerdem Todisco, alfabetismo (und die Reaktion H A R R I S , Muddles, 724 f). 220 Vgl. die Zusammenstellung der Belege bei S T E R N , Jewish Books, 178, Anm. 44. 221 Vgl. exempl. Plat. leg. 7,810b (Fähigkeit zu lesen und schreiben wird als Lernziel benannt); Xen. oik. 15,7; Chrysipp. SVF 2, Fr. 99; Philo agr. 18 (s. u. 7.2.1); Philo somn. 1,205; Philo congr. 148; Dion. Dem. 52; Dion. Hal. comp. 25 (s. dazu S. 227); Dion Chrys. or. 10,28; Gal. AA ed. K Ü H N 2, p. 280,5; Apollon. Dysk. synt. 3,57 (ed. U H L I G p. 323,7 f); 3,67 (ed. U H L I G p. 333,7 f); 3,70 (ed. U H L I G p. 335,3 f); Artem. on. 1,53; M. Aur. 11,29; P.Oxy. 4 724 (Vertrag zur Ausbildung); P.Oxy. 41 2989 (Vertrag zur Ausbildung). Vgl. dazu weiterführend V Ö S S I N G , Schreiben, der m. E. zu Recht gegen C R I B I O R E , Writing, 129-152 ausführt, dass im antiken Elementarunterricht Lesen und Schreiben parallel in mehreren Schritten erlernt wurde. hinterfragen. „Es deutet sich […] an, dass die Schriftlichkeit auf dem Lande nicht weniger verbreitet war als in Städten, Vici und Militärlagern.“ 219 Auch der statistische Befund mahnt zur Vorsicht, das Phänomen Illiteralität nicht überzubewerten: So stehen im Corpus des TLG (bis zum 4. Jh. n. Chr.) knapp 100 Belegstellen für das Adjektiv ἀγράμματος mehr als 4200 Belegstellen allein für das griechische Hauptleseverb ἀναγιγνώσκω gegenüber. Zusätzlich sei auf eine Stelle bei Lukian hingewiesen, der die Lese- und Schreibfähigkeit als das Allgemeinste (τὸ κοινότατον) bezeichnet und damit die vollständige Illiteralität als Ausnahme markiert (vgl. Lukian. rh. pr. 14). Auch die These, in der griechisch-römischen Antike stellten Lesen und Schreiben zwei unterschiedliche Lernziele und Spezialisierungen dar und das Können der einen Kulturpraxis impliziere noch nicht die Fähigkeit auch der anderen, 220 ist insbesondere angesichts der häufigen gemeinsamen Nennung der beiden Praktiken kritisch zu hinterfragen. 221 Da das Verhältnis zwischen Lesen und Schreiben jedoch nicht in den Untersuchungsbereich dieser Studie fällt, kann dies hier nicht weiter ausgeführt werden. Für das frühe Christentum hat sich U. Schnelle in einem 2015 erschienenen Aufsatz ausführlich mit der Frage nach der Literalität des frühen Christentums befasst. Er weist u. a. auf folgende Aspekte hin, die es wahrscheinlich machen, dass man für die griechisch-römische Welt des 1./ 2. Jh. n. Chr. insgesamt, aber auch für das frühe Christentum, einen höheren Grad an Literalität annehmen müsse: 1) Die Allgegenwart von Schriftlichkeit in den Städten des Römischen Reiches in der Kaiserzeit setzt zumindest eine elementare Schreib- und Lesefä‐ 66 1 Einleitung <?page no="67"?> 222 Vgl. S C H N E L L E , Bildung, 118. S. dazu exempl. weiterführend zum Beispiel Ephesos B U R R E L L , Reading. 223 Zur großen Bedeutung und alltäglichen Omnipräsenz von schriftlichen Dokumenten im antiken Wirtschaftsleben vgl. R U F F I N G , Schriftlichkeit 224 Vgl. S C H N E L L E , Bildung, 113.119, mit Verweis auf Epikt. diatr. 1,9,19 und einen unveröf‐ fentlichten Beitrag von A. Weiß. Vgl. dazu ausführlich W E I S S , Elite, passim. S. außerdem auch das Fazit von Y O U T I E , ΑΓΡΑΜΜΑΤΟΣ, 173, der deutlich macht, dass in den dokumentarischen Papyri sowohl die ἀγράμματοι als auch diejenigen, die Dokumente in deren Namen (unter)schreiben aus derselben unteren Mittelschicht stammen. Vgl. auch K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 164 f, der u. a. auf Gell.15,30 verweist, wo belegt ist, dass ein Spätberufener nach seinem Berufsleben mit dem Studium anfängt. 225 Exemplarisch gegen H A R R I S , Literacy, passim; K R A U S , (Il)literacy, 333 f; K R A U S , Slow Writers, 116 f; K E I T H , Urbanization. Insbesondere sollte dem Fall des weitgehend illiteraten Dorfschreiber Petaus (und auch seinem Kollegen Ischyrion) nicht eine zu große Beweislast zugemutet und v. a. nicht übergeneralisiert werden, wie dies allerdings von den genannten Autoren tun. Wir wissen nicht, ob dieser nicht des Ägyptischen mächtig war, wie auch K R A U S , (Il)literacy, 336, der sich der fehlenden Repräsentativität der Befunde sehr bewusst ist (ebd. passim), konzediert. Auch wissen wir nicht, ob sich das Problem mit Ischyrion (vgl. K R A U S , (Il)literacy, 329 f [Lit.]), nicht auch nur auf die griechische Literalität bezieht und er im Amt bleiben konnte, weil er eben seine Muttersprache beherrschte. 226 Vgl. S C H N E L L E , Bildung, 123-125.136-138. 227 Vgl. S C H N E L L E , Bildung, 119 f. Vgl. auch H U R T A D O , Oral Fixation, 334, der mit Verweis auf die Analyse der Sozialstruktur der paulinischen Gemeinden von M E E K S , First, 51-73, ebenfalls vermutet, dass die Literalitätsrate in den christlichen Stadtgemeinden höher war, als zuweilen angenommen wird. higkeit bei einem Großteil der Bevölkerung voraus. 222 Hier wäre zu ergänzen, dass insbesondere die Beteiligung der Menschen an Wirtschaft und Handel, ausweislich der zahlreichen, damit in Zusammenhang stehenden schriftlichen Überreste, Lese- und vielfach auch Schreibkenntnisse notwendig machte. 223 2) Der Zusammenhang zwischen Bildung und sozialer Stellung war nicht so groß, wie vielfach angenommen wird, 224 sodass man keine Rückschlüsse von der sozialen Stellung auf den Grad an Literalität ziehen kann. 225 3) Speziell in Bezug auf das Christentum verweist Schnelle auf den städtischen Kontext der meisten bekannten Gemeinden der Abfassungszeit, auf die expliziten Belege in den paulinischen Briefen über Lese- und Schreibfähigkeit (Rezeption des AT, Sekretär [Röm, 16,22], Lesen mit eigenen Augen [Gal 6,11: 1Kor 16,21; Phlm 19]; Tätigkeit von Lehrern [1Kor 12,28; Gal 6,6; Röm 12,7b; Act 13,1]; argu‐ mentativer Anspruch der Briefe, der aus ihrer literarisch-rhetorischen Qualität und philosophischer Denkfiguren erwächst 226 ) und auf die Mehrsprachigkeit vieler Gemeindemitglieder. 227 Zudem betont er, dass die Evangelien von einer schnellen Literarisierung von Jesus berichten, und er hebt den hohen Grad an Literaturproduktion und die innovative sprachschöpferische Kraft hervor, 67 1.3 Methodische Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung <?page no="68"?> 228 Vgl. S C H N E L L E , Bildung, 125-130. 229 Beide Zitate S C H N E L L E , Bildung, 141. 230 S C H N E L L E , Bildung, 119. 231 S. die Zusammenstellung des Forschungsstandes bei H E Z S E R , Jewish Literacy, 27-36. Vgl. ferner die Ergebnisse des sehr interessanten Ansatzes der algorithmengestützen Analyse von Inschriften bei F A I G E N B A U M -G O L O V I N / S H A U S / S O B E R / L E V I N / N A ’ A M A N / S A S S / T U R K E L / P I A S E T Z K Y / F I N K E L S T E I N , Handwriting Analysis, die für die Zeit um 600 v. Chr. einen recht hohen Literalitätsgrad zu belegen versuchen; außerdem B L U M , Wandin‐ schriften, der von altaramäischen Inschriften auf ein recht hohes Literalitätsniveau um 800 v. Chr. im geographischen Raum Israel schließt. Vgl. ferner weiterführend die neueren optimistischer ausgerichteten Studien in der Assyrologie, die eine deutlich weitere Verbreitung von Literalität vermuten als die ältere Forschung. S. dazu die Verweise auf die Literatur bei G R U N D -W I T T E N B E R G , Literalität, 233. 232 So hat z. B. S T E M B E R G E R , Judaica, 27-37, zwar Recht, dass eine für alle Juden zugänglicher „Wortgottesdienst“ in der Synagoge für die vorrabbinsche Zeit nicht belegbar ist, in der „das Volk“ in Kontakt mit der Tora hätte kommen können. Seine Aussage, die Tora sei nur im Elitenbesitz gewesen, bleibt aber rein thetisch und wird in Form eines Suggestivarguments präsentiert. Er unterstellt zudem, ohne weitere Belege dafür anzuführen, eine vollständige Sammlung heiliger Schriften habe es nur am Jerusalemer Tempel gegeben. Es ist zwar richtig, dass Jesus sich mit der Formel „habt ihr nicht gelesen“ ausschließlich an mutmaßlich literarisch Gebildete richtet (s. dazu u. 8.2.2), draus weiterführende Schlussfolgerungen über den Literalitätsgrad und den Buchbesitz zu ziehen, ist jedoch methodisch nicht gestattet (argumentum e silentio; zudem ist der Anteil der genannten Gruppen an der Gesamtbevölkerung schwer zu quantifizieren). die überall in den Texten des NT zu finden sind. 228 Dies zeige, dass neue Mitglieder „schon relativ früh in eine bereits ausgebildete Lehr- und Sprachwelt“ eintraten und daher in den Gemeinden „ein relativ hohes intellektuelles Niveau vorauszusetzen“ 229 ist. Schnelle argumentiert außerdem, dass ein großer Teil der frühen Christen „aus dem Einflussbereich des Judentums [kam], das eine höhere Alphabetisie‐ rungsrate als der Durchschnitt des Römischen Reiches aufwies.“ 230 Die mit Schnelles Argument verbundene, weit verbreitete These eines besonders hohen Literalitätsgrades im antiken Judentum ist in den vergangenen Jahren in der Forschung allerdings in Frage gestellt worden. 231 Diese neue pessimistische Sicht auf den Literalitätsgrad im antiken Judentum korrespondiert mit der These, dass weite Teile der jüdischen Bevölkerung keinen direkten Zugang zu Torarollen hatten bzw. diese nur für die Priester und Eliten zugänglich waren. Diese These basiert nicht nur weitgehend auf argumenta e silentio. Auch dass die Textfunde vom Toten Meer als abseitige Ausnahme interpretiert werden müssen, ist aus methodischer Sicht problematisch. 232 Insbesondere die Argumentation von C. Hezser (ferner auch von anderen in dieser neueren Forschungstradition stehenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern) bezüglich einer niedrigen Literalitätsrate im antiken Judentum ist durch das 68 1 Einleitung <?page no="69"?> 233 Vgl. H E Z S E R , Jewish Literacy; H E Z S E R , Use. Ähnlich auch S A T L O W , Bible, passim. Hezsers Argumentation bezüglich des geringen Literalitätsgrades basiert in weiten Teilen auf dem Schweigen der Quellen. Zudem richtet sie ihren Fokus lediglich auf den geogra‐ phischen Raum „Palästina“ und nicht auf die v. a. für das frühe Christentum wichtige Diaspora. Zu hinterfragen ist außerdem ihre These, dass der Befund von Qumran nicht auf andere Bereiche des frühen Judentums übertragbar ist. Diese These ist abhängig von umstrittenen Thesen zu Qumran. Es fehlen überzeugende Argumente, warum die Funde vom Toten Meer nicht auf andere Gruppen übertragen werden könnte, von denen wir aus klimatischen Bedingungen keine schriftlichen Zeugnisse überliefert haben. Vgl. ferner W O L L E N B E R G , People, passim, deren Ausführungen und einzelnen Analysen, die zuweilen den Anschein erwecken, eine spezifische Oralitäts-Agenda gegen eine alte Sichtweise zu verfolgen und ausführlicher diskutiert werden müssten, was hier nicht geleistet werden kann (s. u. aber die knappen Hinweise in Anm. 24, S. 318 u. auf S. 378 f). Allerdings bezieht sich ihre Untersuchung auf rabbinische Texte aus der Spätantike und ihre Ergebnisse dürfen nicht zurückprojiziert werden. 234 Freilich ist der Satz ambigue und lässt sich theoretisch auch so verstehen, als die Illiteraten selbst Subjekt des Lesens sind: „es ist für die Illiteraten unmöglich, in gelehrter Weise vorzulesen“ (s. die Übersetzung von M. D. M A C L E O D in der LCL). Die hier gebotene erste Deutung hat allerdings mehr Wahrscheinlichkeit für sich, da die Adressaten von etwas Vorgelesenem gängigerweise im Dativ angegeben werden (s. u.) und die Deutung der Illiteraten als Subjekte des Lesens durch einen Akkusativ hätte eindeutig ausgedrückt werden können. restriktive Auswertungsverfahren der Befunde durch Harris (s. o.) sowie durch Thesen zum „oralen“ Charakter der antiken Kultur insgesamt beeinflusst. 233 Abgesehen davon wird die Relevanz des Literalitätsgrades für die Frage nach Lesepraktiken und -modalitäten m. E. in weiten Teilen der Forschung überschätzt. Zunächst müsste ja der Nachweis erbracht werden, dass die zur Dis‐ kussion stehende Literatur sich tatsächlich vorrangig an illiterate Rezipienten richtete bzw. dass Vorlesen von Texten in Gruppen als notwendig angesehen worden wäre, um illiterate Schichten mit den Texten zu erreichen. Schon hier sei darauf hingewiesen, dass bei den Darstellungen in den Quellen aus der griechisch-römischen Welt, in der Vorlesen in Gruppen thematisiert wird, das Publikum mit Sicherheit zu einem großen Teil selbst aus literarisch Gebildeten bestand. Zudem wäre doch zu vermuten, dass das Verstehen der in Betracht kommenden antiken Texte eine gewisse literarische Vorbildung voraussetzt. So formuliert etwa Pseudo-Lukianos, dass es aussichtslos sei, den Illiteraten bzw. Ungebildeten etwas in gelehrter Weise vorzulesen, solange sie ohne Wissen sind (ἀναγνῶναι ἢ γράψαι τοῖς ἀγραμμάτοις γραμματικὸν τρόπον ἀδυνατώτερόν ἐστιν τέως ἂν ὦσιν ἀνεπιστήμονες; Ps.-Lukian. Halcyon 7). 234 Die Beweislast liegt m. E. bei denjenigen, die einen Zusammenhang zwischen Illiteralität und Vorlesen in Gruppen postulieren, ein solches Setting (also einem Kreis von Menschen, die nicht lesen können, wird Literatur vorgelesen) 69 1.3 Methodische Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung <?page no="70"?> 235 Darauf verweist auch C L A R K , Reading, die im Anschluss an H O P K I N S , Conquest, 134 f, eine Zahl von minimal 2 Millionen Lesern im Römischen Reich nennt, wenn die berühmten 10 % stimmten. Nur zur Illustration seien einige Schätzwerte aufgeführt: M. H. Hansen kommt mit seiner Shotgun Method auf 7, vermutlich 8-10 Millionen Einwohner in den griechischen Poleis in frühhellenistischer Zeit. Vgl. H A N S E N , Shotgun; H A N S E N , Update. Die Zahlen für das gesamte Römische Reich in augusteischer Zeit schwanken zwischen 50 und 80 Millionen Einwohnern. Vgl. D U R A N D , Estimates, 269. Für die Stadt Rom liegen die meisten Schätzzahlen zwischen einer halben und etwas mehr als einer Million Einwohner in augusteischer Zeit. Vgl. S T O R E Y , Population (Lit.); S C H E I D E L , Roman Population (Lit.). Die Schätzungen für Jerusalem vor der Zeit der Tempelzerstörung liegen zwischen 60.000 und 100.000 Einwohner, Extremschätzungen gehen von 250.000 Einwohnern aus. Vgl. dazu R O C C A , Herod, 332 f. auch in den Quellen nachzuweisen. Die Arbeitshypothese, die mit weniger Vorannahmen auskommt, ist dagegen zunächst diejenige, dass man davon aus‐ zugehen hat, dass literarische Texte zunächst an Rezipienten gerichtet waren, die lesen konnten. D. h. ganz unabhängig von der exakten zahlenmäßigen Quantifizierung von potentiellen Leserinnen und Lesern in der Antike, ist die Forschung nicht davon dispensiert, die Lesepraktiken der lesekundigen Menschen in der Antike insgesamt und frühem Christentum im Speziellen näher zu untersuchen. Und selbst wenn man die pessimistischen Schätzungen der Literalitätsrate in antiken Gesellschaften zugrunde legte, handelte es sich bei niedrigen zweistelligen Prozentzahlen in absoluten Zahlen ja immer noch um eine beträchtliche Menge von Menschen, die lesen und Literatur rezipieren konnten. 235 Die behauptete Interdependenz des Vorlesens in Gruppen und der geringen Literalitätsrate in der Antike führt in Bezug auf vorliegende Studie zu der Frage, inwieweit sich nachweisen lässt, dass nicht-literalisierte Personen in der Antike überhaupt als Adressaten in den Blick genommen worden sind oder umgekehrt eindeutig literalisierte Rezipienten als intendierte Adressaten plausibel zu machen sind. 1.3.4 Die Frage nach der Alterität antiker und zeitgenössischer Lesekultur Die genannten Punkte gehen sodann in hermeneutischer Hinsicht mit der emphatischen Aufforderung einher, dass die grundsätzlichen Unterschiede zwi‐ schen der modernen und der antiken Lesepraxis in Rechnung zu stellen seien. Damit eng verbunden sind die Vorwürfe gegenüber der Minderheitenposition, sie würden die moderne Art zu Lesen in die Verhältnisse der Antike projizieren bzw. sie nutzten Erkenntnisse und Modelle des Lesens, die an eben der modernen Lesepraxis gewonnen seien und ihre Passfähigkeit für die antike Situation 70 1 Einleitung <?page no="71"?> 236 Vgl. exempl. die Kritik von B U S C H , Lesen, 6, an Gavrilovs Ansatz, den ich oben skizziert habe. S. auch A L L E N / D U N N E , Reading, 245. 237 Vgl. exempl. R O B E R T S , Books, 49; Q U I N N , Poet, insb. 83, Anm. 23; H A V E L O C K , Muse, 47; A L E X A N D E R , Production, 86; B O T H A , Publishing, passim. 238 Vgl. exempl. G A M B L E , Books, 83-93. 239 B U S C H , Lesen, 3, der freilich selbst dazu beiträgt, das Netz fester zu knüpfen, wie oben deutlich geworden ist. nicht nachgewiesen worden bzw. fraglich seien. 236 Es ist natürlich nicht zu bestreiten, dass die Suche nach Alteritäten eine zentrale Aufgabe der altertums‐ wissenschaftlichen Forschung ist. Das bloße Postulat von Alterität darf jedoch nicht zum Beleg für eine bestimmte Sicht der antiken Gegebenheiten werden. So ist zunächst vor allem in analytischer Hinsicht auch mit der Möglichkeit zu rechnen, dass durchaus auch Parallelen bzw. Kontinuitäten zwischen der Lesepraxis in der Moderne und in der Antike festzustellen sein könnten, seien sie anthropologisch oder auch kulturell bedingt. 1.3.5 Die Frage nach der „Oralität“ antiker Gesellschaften Verknüpft ist dieses Alteritätspostulat sodann in produktionsorientierter Perspek‐ tive sehr häufig mit der Betonung der großen Bedeutung von „Oralität“ für die antike Textkultur und insbesondere mit der Emphase, dass Publikation in der Antike in erster Linie bedeute, dass ein Text erstmals „laut“ vorgelesen und damit in den Umlauf gebracht worden sei (entweder über Abschrift des Vortrages oder über das Manuskript, das der Autor aus seinen Händen gibt). 237 Es ist erstaunlich, dass vor allem letzteres Postulat zumeist mit nur sehr selektiven Belegen aus den Quellen untersetzt wird und die Forschungen zum antiken Buchmarkt gänzlich ignoriert bzw. die Evidenzen in den Quellen marginalisiert 238 werden. Die genannten Einzelaspekte haben dazu geführt, dass „ein Netz einander stützender und ergänzender Informationen geknüpft [worden ist], das [nicht nur] die Vorstellung vom lauten Lesen als vermeintlich sicheres Wissen von den Zuständen in der Antike verbuchen läßt“ 239 , sondern auch bezüglich der anderen Punkte dieses Netzes: - die antike Schrift als Abbild des Gesprochenen; - die Schwierigkeiten der visuellen Dekodierung von scriptio continua; - ein relativ geringer Grad an Literalität; die grundsätzliche Alterität der antiken Lesepraxis; die große Bedeutung von Oralität für die Produktion und Publikation von antiken Texten; - und in Bezug auf die neutestamentlichen Texte: die mündliche Tradie‐ rung, welche den „mündlichen“ Charakter der Texte geprägt habe. 71 1.3 Methodische Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung <?page no="72"?> 240 Vgl. P A R K E R , Books. 241 Vgl. z. B. C H A N T R A I N E , verbes; A L L A N , ΑΝΑΓΙΓΝΩΣΚΩ; aber auch V A L E T T E -C A G N A C , lecture, 19-71, die in ihren Kapiteln „Le vocabulaire latin de la lecture” und „Les ambiguïtés de la lectio tacita“ lediglich die Verben lego und recito bespricht. Ferner verweist sie auf das Verb audio, das sie allerdings (m. Ε. fälschlicherweise) lediglich auf das passive Zuhören vorgelesener Texte bezieht (s. u. Anm. 114, S. 134). Weitere Lexeme Das in diesem Netz erkennbare Grundnarrativ ist variantenreich auch in den Forschungsdiskurs über die Produktion und Rezeption von Literatur im frühen Christentum eingeflossen und fungiert in Form von scheinbar gesichertem und nicht mehr zu hinterfragendem Wissen für eine Vielzahl von Forschungs‐ fragen als hermeneutischer Rahmen. Exemplarisch war dieses Grundnarrativ in den Publikationen der Vertreterinnen und Vertreter des sog. Biblical Perfor‐ mance Criticism zu sehen (s. o. 1.1.2). An dieser Stelle sei auf Stimmen in der klassisch-philologischen Forschung verwiesen, welche die Betonung der Bedeutung von Oralität für die antike Literatur bzw. die generalisierende These einer oral culture und die These mündlicher Tradierung von Literatur in der klassisch-philologischen Forschung mit guten Argumenten in Frage gestellt haben und eine klarere Differenzierung verschiedener Phänomene fordern, die gängiger Weise unter dem Label „oral“ subsumiert werden. 240 Da das antike Konzept von Publikation für die vorliegende Studie von einiger Relevanz ist, wird das antike Publikationswesen und seine Relation zum mündlichen Vortrag und zur Frage nach dem Lesepublikum unter 5 zu besprechen sein. 1.3.6 Engführung der Forschung auf die Fragen nach einem vermeintlichen „Normalmodus“ des Lesens in der Antike und auf reading communities Blickt man nun noch einmal zurück auf die lang und umfassend diskutierte Frage nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen, das die Debatte im 20. Jh. um das Lesen in der Antike maßgeblich geprägt und dadurch eine sehr eigenwil‐ lige Dynamik des Forschungsdiskurses befördert hat, so ergibt sich aus den bisherigen Ausführungen, dass man eigentlich eine viel zu eng geführte Frage nach einem vermeintlichen „Normalmodus“ diskutiert hat. Deshalb bekommt man nach über 100 Jahren den Eindruck, dass sich die Diskutanten im Kreis gedreht haben. Die einseitige Fokussierung auf diese eine Unterscheidung hat dazu geführt, dass man viele andere Facetten der komplexen Kulturtechnik des Lesens weitgehend unberücksichtigt gelassen oder nur am Rande erforscht hat. Insbesondere die lexikologische Konzentration auf einige Hauptbegriffe des Lesens, 241 die noch dazu nur im Hinblick auf die zu eng geführte Forschungsfrage 72 1 Einleitung <?page no="73"?> im Lateinischen, die Lesen konzeptualisieren, werden lediglich in einer Klammerbe‐ merkung genannt (vgl. V A L E T T E -C A G N A C , lecture, 25), im Laufe der Untersuchung aber nicht tiefer greifend ausgewertet. Auch A. K. Garvrilov nennt zwar am Ende seines Beitrages einige wichtige Lesetermini, die Auswahl erscheint aber recht zufällig, scheint nicht das Ergebnis eines systematischen Forschungsansatzes zu sein und ist v. a. durch die Frage nach dem Stimmeinsatz geleitet. Vgl. G A V R I L O V , Techniques. 242 Vgl. K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 169-221; J O H N S O N , Sociology, 593-600; J O H N S O N , Constructing, 328; J O H N S O N , Readers, 3-9.104. S. außerdem auch W E R N E R , Literacy, 337. 243 K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 96.169-221. 244 Diesbezüglich wäre weiterführend zu überlegen, welche Bedeutung die Entstehung bzw. die Existenz eines anonymen Lesepublikums für den Autorenbegriff auf der einen Seite und für die Selbstwahrnehmung von Schriftstellern auf der anderen Seite hat. 245 Bei dieser Kennzeichnung der spätrepublikanischen Lesewelt als Umbruchssituation „geht es nicht so sehr um Fragen des Paradigmenwechsels von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, als vielmehr um Aspekte der graduellen Ausbreitung literarischer Kommunikation in einer existierenden Schriftkultur. Ciceros Beobachtungen zur Ver‐ breitung historischer Schriften läßt bereits erahnen, daß ein Leserpotential existiert, das sich nicht mehr ohne weiteres auf eine kulturelle Elite eingrenzen läßt“ (K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 42). ausgewertet wurden, und das Fehlen einer systematischen Erfassung antiker Leseterminologie wiegt schwer. Dies wiederum hat gewichtige Implikationen für die weiterführenden Oralitätshypothesen, die maßgeblich auch auf der vermeintlich eindeutigen Antwort des Normalmodus der „lauten“ Lektüre basieren. Auf die Defizite der Fragestellung weisen auch schon die klassischen Philo‐ logen H. Krasser und W. A. Johnson hin; beide beurteilen die Debatte sehr kritisch. 242 Allerdings kommen sie bezüglich des ähnlichen Untersuchungsge‐ genstandes zu divergenten Ergebnissen. Krasser untersucht in seiner unpubli‐ zierten Habilitationsschrift die Darstellungen von Leseszenen, die literarische Reflexion von Lesern, Lesepraktiken und -techniken sowie literarische Wahr‐ nehmungsgewohnheiten in Rom zwischen dem ausgehenden 1. Jh. v. Chr. und dem 2. Jh. n. Chr. Dabei kann er zeigen, dass sich in der Kaiserzeit (erstmals fassbar bei Ovid) ein größer werdender literarischer Markt etablierte, der mit veränderten Distributionsformen, mit einem Bedeutungsgewinn des Buchhan‐ dels sowie mit einer großen Steigerung des Angebots und der Verfügbarkeit von Lesestoffen einherging. Krasser stellt u. a. „eine Entfremdung zwischen Autor und Leser“ 243 fest, die sich z. B. darin zeigt, dass Autoren über unterschied‐ liche Leseerwartungen reflektierten und sich an ein anonymes und breites Lesepublikum richten. 244 Dabei ist zu erkennen, dass sich publizierte Literatur - anders als noch im Rom in der Zeit der späten Republik, die er allerdings auch schon als Umbruchssituation beschreibt 245 - an einen breiteren Leserkreis 73 1.3 Methodische Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung <?page no="74"?> 246 Vgl. zum letztgenannten Aspekt K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 7.98-103.136.161-169. Vgl. außerdem auch K R A S S E R , Lesekultur. Auch C A V A L L O , Volume, 76-83 verweist auf die Entstehung eines durchschnittlichen von den Autoren als vulgus, plebs, media plebs oder plebeiae manus bezeichneten, sozial inhomogenen und anonymen Lesepublikums in der Kaiserzeit, „[that] was made up of a middle social stratum of people of some schooling (some might even be very well educated) that included technicians, government functionaries, high-ranking military men, merchants, relatively cultivated craftspeople and agriculturists, wealthy parvenus, well-off women and faciles puellae“ (C A V A L L O , Volume, 77). 247 K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 206. 248 Vgl. K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 177-206. Krasser weist darauf hin, dass Lesen seit hellenistischer Zeit in der diätetischen Literatur beachtet wird, „wobei die ersten ein‐ schlägigen Zeugnisse in die beginnende Kaiserzeit fallen“ (Ebd., 226). Er schlussfolgert außerdem richtig, dass die Zusätze clare lectio, clare legere (Celsus), clare et intente legere (Plinius) zeigten, dass nicht markierter Gebrauch von lectio und lego nicht automatisch „lautes“ Lesen implizieren. Vgl. K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 204 f. 249 K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 220. 250 Vgl. K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 220 f. 251 Vgl. K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 222-270. 252 Vgl. z. B. J Ä G E R , Lese(r)forschung. richtete, der weit über den Kreis der Eliten hinausreichte. 246 Krasser zweifelt darüber hinaus überzeugend die „ausschließliche Dominanz des Ohrs bei der Rezeption von Literatur“ 247 an und zeigt einerseits differenziert die Leseanlässe auf, die im kaiserzeitlichen Rom mit stimmlicher Realisierung einhergegangen sind (v. a. die recitatio durch Autoren als Bestandteil des Redaktionsprozesses; Unterhaltung beim Mahl; die Nutzung eines Vorlesers im privaten Kontext; das kunstvolle Vorlesen vor Publikum; die Realisierung des Textes als ästhetisches Klangerlebnis bei der individuellen Lektüre; als gesundheitsförderliche Tätig‐ keit im Rahmen der antiken Diätetik). 248 Andererseits stellt er heraus, dass „vor allem im Bereich der vornehmlich intellektuell orientierten Leseakte die leise Lektüre aller Wahrscheinlichkeit nach sogar die Regel war.“ 249 Zuletzt präsen‐ tiert er erste Ansätze zur Systematisierung unterschiedlicher Lektüreformen, 250 die unten wieder aufgenommen wird, und untersucht, welche Tageszeiten im kaiserzeitlichen Rom (im Ideal und in der Wirklichkeit) zum Lesen genutzt wurden und inwiefern das Alter eines Menschen nach seinem Berufsleben als Lesezeit galt. Dabei kann er eine enge Verbindung der intellektuellen Lektüre mit der Nachtarbeit (lucubratio) aufzeigen. 251 Johnsons Arbeiten hingegen prägen einen neuen, kultur- und sozialge‐ schichtlichen Ansatz in der Erforschung des Lesens in der Antike, der analog zu ähnlichen Paradigmenwechseln in der historischen Leseforschung 252 primär an der Kultur der Leser bzw. in differenzierender Perspektive an unterschiedlichen Leserkulturen und weniger an Fragen der Lesetechnik und der Wahrnehmung 74 1 Einleitung <?page no="75"?> 253 Vgl. programmatisch J O H N S O N , Sociology, 602 f: „Reading is not, in my view, exclusively or even mostly a neurophysiological, cognitive act - not in fact an individual pheno‐ menon, but a sociocultural system in which the individual participates.” (602) 254 Vgl. J O H N S O N , Sociology, 600-606.624 f; J O H N S O N , Readers, 9-16. Johnsons Ansatz ist in einen Trend der soziologisch und kulturwissenschaftlich orientierten Leseforschung einzuordnen, der auch die historische Leseforschung beeinflusst. Vgl. exempl. P H I L L I P S / P A T T E , Reading; C O L C L O U G H , Consuming; S C A S E , Reading Communities; R E H B E R G S E D O , Reading Communities; H E A D Y , Victorian; S A N D W I T H , World. 255 Diese Anfragen und der enge Fokus auf römische Eliten stellen sehr wohl auch ein Problem der Adaptierbarkeit von Johnson’s Ansatz für das antike Judentum und frühe Christentum dar, der in der neueren Forschung sehr beliebt ist. Vgl. exempl. für viele F E W S T E R , Ancient; P O P O V IĆ , Reading; K E I T H , Manuscript. 256 Johnson geht sogar ausführlich auf individuelle Lese- und Exzerptpraktiken ein. Vgl. dazu J O H N S O N , Readers, passim Diesbezüglich ist ihm auch recht zu geben, dass die literarische Reflexion der nächtlichen Studien (lucubratio) genauso wie mit den Aus‐ führungen zum otium auf bestimmte soziale Erwartungen reagiert und sich die Autoren damit im Rahmen eines kulturellen Konstrukts bewegen. Vgl. J O H N S O N , Constructing, mit Verweis auf K E R , Nocturnal Writers. 257 Dadurch kommt es in der Rezeption von Johnsons Thesen zu stark verkürzenden Zusammenfassungen, die eigentlich Johnsons eigenem Ansatz, generalisierende Aus‐ sagen zu vermeiden, zuwiderlaufen. So formuliert z. B. M. D. Larsen die von Johnson selbst thematisierte individuelle Lektüre und das Faktum, dass auch nicht-vokalisierend gelesen wurde, übergehend: „[F]ollowing William Johnson’s research on reading des Lese- und Verstehensprozesses interessiert ist. 253 Johnson fokussiert dem‐ gegenüber vor allem auf die Kultur des Lesens als „Elitenphänomen“ in der Römischen Kaiserzeit. So richtig sein Ausgangspunkt ist, dass einzelne Lese‐ szenen immer in Relation zu einem spezifischen soziokulturellen Kontext stehen und generalisierende Aussagen über „das“ Lesen in der Antike dies zu berück‐ sichtigen haben, und so hilfreich sein Modell der Konstruktion einzelner reading communities für soziologische Fragen bezüglich des Lesens auch sein mögen, 254 einige Schlussfolgerungen Johnsons sind zu hinterfragen. 255 Insbesondere die Fokussierung auf performative Vorleseszenen und der weitgehende Verzicht auf Fragen nach der physiologischen Dimension des Lesens bzw. auf Fragen nach der Reflexion kognitiver Prozesse beim Lesen sind m. E. problematisch. Es ist hier nicht möglich, die theoretischen Überlegungen Johnsons, seine Quellenauswertungen und seine vielfältigen Schlussfolgerungen im Einzelnen zu diskutieren und die vielen wichtigen Einzeleinsichten sowie sein Paradigma sozialer und ideologischer Konstruiertheit des Phänomens Lesen zu würdigen, möglich sind nur einige generelle Beobachtungen: Auch wenn Johnson weder die Möglichkeit stiller Lektüre noch die individuell-direkte Lektüre im kai‐ serzeitlichen Rom negiert, 256 so spricht er dennoch von einer quantitativen Dominanz des performativen Vorlesens in Zirkeln der elitären römischen Oberschicht, 257 was er als grundsätzlichen qualitativen Unterschied zur eigenen 75 1.3 Methodische Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung <?page no="76"?> culture in the Roman Empire, it seems clear that reading was almost always a social event. Reading a book was not the privatized experience of the modern world. Instances of silent reading were certainly outliers and worthy of note to the ancient mind. One read aloud, even to oneself. Most often, reading occurred around others and with the social in mind“ (L A R S E N , Listening, 450). Ähnlich auch die Rezeption bei F E W S T E R , Ancient. 258 z. B.: „I have already remarked that in Gellius, reading and other text-centered events commonly occur within deeply social contexts, much more so than in our own culture“ (J O H N S O N , Readers, 120; s. auch J O H N S O N , Constructing, 324). 259 Es ist bezeichnend, dass er die von Krasser beschriebenen Veränderungs- und Ent‐ wicklungsprozesse bezüglich der literarischen Öffentlichkeit (s. o.) nicht in den Blick bekommt. 260 S. o. 1.3.3. 261 Vgl. J O H N S O N , Readers, 53.204, mit Verweis und nicht näher begründeter Übernahme der Positionen von S T A R R , Circulation. S. dazu unten 5. 262 Über die ästhetische Beschaffenheit der Rollen hinaus führt er keine weiteren Belege dafür an, dass Rollen sehr teure, elitäre Produkte gewesen wären. Vgl. J O H N S O N , Readers, 21. modernen Kultur markiert. 258 Es ist allerdings - und das gilt gleichermaßen für die unter 1.1.2 und 1.1.3 skizzierten Ansätze - vor dem methodischen Fehlschluss zu warnen, dies aus einer (im Übrigen noch zu beweisenden) quantitativen Übermacht von literarischen Darstellungen von Vorleseszenen in Gruppen bei bestimmten kaiserzeitlichen Autoren bzw. in der antiken Literatur zu schließen. Denn performative oder gemeinschaftliche Leseszenen in der Li‐ teratur sind z. B. institutionell verankert (Gericht, politische Versammlung o. ä.) oder im Zusammenhang mit dem Darstellungsinteresse der jeweiligen Autoren zu sehen: Soziale Konflikte, Diskussionen usw. im Kontext gemeinschaftlicher Lektüre sind mutmaßlich deutlich interessanter darzustellen und zu lesen als individuell-direkte Lektüren. Individuell-direkte Lektüre ist für den Beobachter von außen zumeist gar nicht zugänglich oder muss, wenn sie doch beobachtet werden kann, z. B., wenn jemand individuell in der Öffentlichkeit liest, relativ gleichförmig unspektakulär erscheinen. Neben dem undefinierten Gebrauch des Elitenbegriffs basieren Johnsons Schlussfolgerungen zum Lesen in der Kaiserzeit als Elitenphänomen 259 a) auf den zu hinterfragenden quantitativen Schätzungen von Harris zur geringen Literalität in antiken Gesellschaften, 260 b) auf einer Skepsis in der neueren Forschung gegenüber der älteren Forschung zum antiken Buchhandels- und Publikationswesens, die demgegenüber private Zirkulationsmechanismen pos‐ tuliert, 261 c) auf nicht näher belegter Schätzung des hohen Preises für antike Bücher 262 und d) auf einem Cognitive Model for Ancient Reading, das nicht aus den Quellen (d. h. aus Leseprozessen beschreibenden oder reflektierenden Texten) deduziert wurde, sondern allein aus hypothetischen Annahmen bezüglich der 76 1 Einleitung <?page no="77"?> 263 Vgl. J O H N S O N , Sociology, 610-612; außerdem J O H N S O N , Readers, 17-25. S. dazu meine problematisierenden Ausführungen unter 4.3. 264 S. auch Johnson: „There is, in short, much that remains to be done on the topic of reading, both in the high empire and in antiquity more generally, and it is with considerable humility before the largeness of the task that I offer here what I have been able to pull together“ (J O H N S O N , Readers, 207). 265 Z E D E L M A I E R , Lesegeschichte, 84 [Herv. getilgt]. 266 Vgl. Z E D E L M A I E R , Lesegeschichte, 93, gegen B I C K E N B A C H , Möglichkeiten, passim. 267 Z E D E L M A I E R , Lesegeschichte, 84. physischen Gestalt antiker Manuskripte (insb. Rollenform, scriptio continua und Zeilenbreite) gewonnen wurde. 263 Nicht zuletzt die relativ konträren Ergebnisse von Krasser und Johnson zeigen, dass die Forschungsdiskussion zum Lesen in der Antike jenseits der alten Frage nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen gerade erst angefangen hat und wichtige Grundlagen noch aufzuarbeiten sind. 264 Auf einer Metaebene zeigt sich an der Diskussion um das „laute“ und „leise“ Lesen - besonders an der mehrfachen „Erfindung“ des „leisen“ Lesens in der Geschichte - eine Einsicht, die in der historischen Leseforschung schon von anderen gemacht worden ist - nämlich, „[d]aß die Geschichte des Lesens im Blick auf die Modalitäten der Lektüre nicht eine lineare Geschichte ergibt.“ 265 Dies gilt nicht nur für das Paradigma der Entwicklung vom „lauten“ zum „leisen“ Lesen, sondern z. B. auch für ein anders klassisches Paradigma, nämlich der Entwicklung von statarischer zu kursorischer Lektüre im 18. Jh. 266 Gegen ein sol‐ ches idealisiertes Entwicklungsparadigma sprechen frühneuzeitliche Quellen, „in denen Lesetechniken zur schnellen und effektiven Wissensaneignung pro‐ pagiert werden.“ 267 Im Rahmen dieser Arbeit wird zu zeigen sein, dass auch in der Antike schon Lektüretechniken angewandt worden sind, die traditionell (und m. E. zu undifferenziert; vgl. dazu 1.5) als „kursorisch“ bezeichnet werden. Anhand der Modalitäten des Lesens lässt sich also definitiv keine globale, vermutlich aber auch nur schwer eine auf einen bestimmten kulturellen Raum wie der griechisch-römischen Welt beschränkte, lineare Geschichte schreiben. Die Modalitäten des Lesens sind im Wesentlichen zunächst als prinzipiell anzusehen, müssen also für jedes Schriftsystem und jede Schrift- und Lesekultur als analytische Möglichkeit zunächst in Betracht gezogen werden. Ob sie jeweils im vollen Umgang realisiert werden, hängt von ganz verschiedenen Faktoren ab; d. h. die Modalitäten des Lesens in spezifischen kulturhistorischen Räumen sind jeweils einzeln anhand der Quellen zu untersuchen. 77 1.3 Methodische Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung <?page no="78"?> 268 B L U M B E N E R G , Lesbarkeit, 2. 269 Häufig findet sich die Beschreibung des Lesens (als Komplement des Schreibens) als zentrale Kulturtechnik. (Zum Terminus Kulturtechnik vgl. z. B. die Publikationen im Rahmen der Reihe Kulturtechnik.) Dabei handelt es sich allerdings offensichtlich nicht um eine Definition, sondern um die Wertung der kulturellen Bedeutung des Phänomens. Es stellt sich die Frage, ob „Lesen“ (selbst eine lexikalisierte Metapher) überhaupt anders als metaphorisch und metonymisch beschrieben werden kann. Sicher ist, metaphorische oder metonymische Beschreibungen des Phänomens Lesen sind immer nur Annäherungen, die bestimmte Aspekte des komplexen Phänomens beschreiben. 270 Vgl. dazu R A U T E N B E R G / S C H N E I D E R , Lesen, VII. 271 K Ö R F E R , Kaiser Konstantin, 23-25, betont bei ihrer Diskussion der Definition des Lese‐ begriffs im Anschluss an die moderne Literatur- und Kulturwissenschaft, dass Lesen „ein produktiver verkörperter Akt verstanden werden kann, der einem hierarchisch ge‐ gliederten Prozess unterliegt und selbst Ausgangs- und Zielpunkt von Kommunikation ist“ (25). Allerdings ist zu fragen, ob ein Leser in den Kommunikationsakt tatsächlich immer „aktiv und bewusst“ (24) einsteigt. Gerade das Lesen von Alltagstexten, wichtig im Hinblick auf Inschriften (insb. Kleininschriften) in der Antike, geschieht zumeist nicht aktiv und ist ein unbewusster Vorgang. 1.4 Fragestellung, methodischer Ansatz und Vorgehen „Erforschung der Metaphern hält inne im Vorfeld der Einsichten, um den Ansichten ihr Recht widerfahren zu lassen.“ 268 Das Ziel dieser Studie ist es, genauer als bisher zu konturieren, wie die neu‐ testamentlichen Texte in ihrem unmittelbaren Entstehungskontext und im Rahmen der frühen Rezeptionsgeschichte gelesen bzw. für welche Leseanlässe sie konzipiert worden sind. Dabei wird die skizzierte, weitgehend monosi‐ tuative Verortung frühchristlicher Lesepraxis in gottesdienstlichen Versamm‐ lungskontexten (oder performativen Lesungen in Gruppen) zur Diskussion gestellt. Es wird dabei angesichts der notorischen und der Sache inhärenten Schwierigkeiten, den Lesebegriff exakt und eng zu definieren, 269 und, um das heuristische Raster nicht unnötig einzuengen, bewusst auf einen solchen der Untersuchung vorausgehenden Definitionsversuch verzichtet. Die Komplexität des Phänomens Lesen und seine Multidimensionalität (physiologisch, kogniti‐ onspsychologisch, neurologisch, semiotisch, kulturell, [kultur]historisch, sozial, politisch, medien- und kommunikationstheoretisch, usw.) kommt treffend bei U. Saxer zum Ausdruck, der Lesen, anknüpfend an M. Mauss, als Totalphänomen beschreibt. 270 Unter dem Stichwort „Lesen“ werden in dieser Studie im Rahmen eines breiten Verständnisses in den Quellen sichtbare Formen der Interaktion mit (geschriebenen) Texten untersucht, 271 wobei nicht der Anspruch erhoben 78 1 Einleitung <?page no="79"?> 272 R. S. Wollenberg hat ein solches Konzept von Lesen als „ritual reading practice“ für das rabbinische Judentum als ausschließlich gültiges zu beweisen versucht. Vgl. W O L L E N B E R G , People; W O L L E N B E R G , Dangers. Schon hier sei darauf verwiesen, dass ihre dreistellige Typologie von Lesepraktiken a) „informational reading practices“, b) „ritual reading practices“ und c) „practical literacy“ (vgl. W O L L E N B E R G , Dangers, 712 f) zu grob ist und verschiedene Kategorien mischt, die bei der Beschreibung antiker Lesepraktiken differenziert werden sollten. S. meine Ausführungen unter 1.5. Vgl. außerdem meine freilich vorläufigen kritischen Bemerkungen zu Wollenbergs Analysen in Anm. 24, S. 318 u. auf S. 378 f. 273 D A R N T O N , Schritte, 102. Unter der „externen Geschichte des Lesens“ hat man z. B. die Entwicklung der Buchproduktion und des Verlagswesens, des Buchbesitzes, der institutionellen Bedingungen des Lesens und andere Daten, die mit Hilfe quantitativer Verfahren erschlossen werden, zu verstehen. Vgl. Z E D E L M A I E R , Lesegeschichte, 79. Da der Gegenbegriff „interne Geschichte“ des Lesens für das „Warum“ und „Wie“ m. E. heuristisch nicht zielführend ist (vgl. den argumentativen Aufwand, den B I C K E N B A C H , Möglichkeiten, 1 f, betreiben muss, weil er die Kategorie des „Inneren“ verwendet, um die Historizität des Leseaktes gegenüber einem universellen Verständnis von Lesen zu betonen), wäre über eine präzisere Beschreibung dessen nachzudenken, was Darnton als „interne und externe Geschichte des Lesens“ bezeichnet. wird, die Multidimensionalität im historischen Kontext der Antike auch nur annähernd vollständig zu beschreiben. Um der analytischen Genauigkeit willen wird jedoch, wenn Texte in Gruppen oder von Individuen nicht direkt über das Auge, sondern über das Ohr rezipiert werden, von indirekter Rezeption gespro‐ chen (s. u. 1.5). Zudem ist bei der Analyse antiker Quellen auch in Betracht zu ziehen, dass Lexeme, die an anderer Stelle das Phänomen „Lesen“ referenzieren, theoretisch auch bezeichnen kann, dass jemand etwas Auswendiggelerntes „vorliest“, ohne dabei ein Schriftmedium zu konsultieren. Um eine solche Praxis zu belegen, müssten allerdings klare Textsignale vorliegen. Und - so viel ist vorwegzunehmen - der Beleg einer weiten Verbreitung eines solchen Konzepts fällt für die griechisch-römische Antike schwer. 272 Doch wie kann man Lesen in historischer Dimension beobachten, um die skizzierten Verkürzungen der bisherigen Forschung zu überwinden? Während die moderne Leseforschung empirisch arbeiten kann, ist die Untersuchung vergangener Lesekulturen auf die geschichtswissenschaftliche Auswertung von Quellen angewiesen. R. Darnton hat in einem programmatischen Aufsatz (erstmals 1986 erschienen) als Ordnung für eine historische Untersuchung des Lesens die Fragen nach dem Wer, Was, Wo, Wann, Warum und Wie vorgeschlagen, wobei er konstatiert, dass es für die ersten vier Fragen, die sich auf die „externe Geschichte des Lesens“ 273 bezögen, schon zahlreiche Antworten gäbe, das „Warum“ und „Wie“ des Lesens, also der Leseakt selbst und seine Wahrnehmung und Reflexion durch antike Leser, aber noch weitgehend 79 1.4 Fragestellung, methodischer Ansatz und Vorgehen <?page no="80"?> 274 Vgl. D A R N T O N , Schritte, 99-116. 275 Vgl. D A R N T O N , Schritte, 116-134. 276 Die Funde von Oxyrhynchos, die regional begrenzte statistische Untersuchungen und damit einen Beitrag im Sinne einer „externen Geschichte des Lesens“ zulassen, sind die absolute Ausnahme für die antike Welt. Die Oxyrhynchos-Funde waren in den letzten Jahren Gegenstand zahlreicher, v. a. sozialgeschichtlicher Untersuchungen, die vielfach auch Fragen in Bezug auf frühchristliche Lesepraxis adressierten. Vgl. z. B. J O H N S O N , Literary; E P P , Literacy; E P P , Oxyrhynchus; J O H N S O N , Bookrolls; O B B I N K , Readers; B O W M A N / C O L E S / G O N I S , Oxyrhynchus; L U I J E N D I J K , Scriptures; B L U M E L L , Chris‐ tians. Ferner zeigen die kontroverse Forschungsdiskussion um die Funde vom Toten Meer, wie schwierig es ist, aus den materiellen Überresten eine „externe Geschichte“ des Lesens in der Antike und im frühen Judentum und im frühen Christentum zu schreiben. unerforscht sei. 274 Darnton schlägt daraufhin fünf Wege vor, um das „Wie“ des Lesens zu untersuchen: 1) Die Analyse von zeitgenössischen Darstellungen des Lesens in Fiktion, Autobiographien, Bildern etc.; 2) Die Untersuchung der „Art und Weise, wie das Lesen erlernt wurde“ bzw. die Untersuchung von Literalität (auch unabhängig von der Schreibfähigkeit); 3) historische Zeugnisse des Leseaktes in Form von Marginalnotizen; 4) rezeptionsästhetische Ansätze; 5) Die Untersuchung von physischen Büchern und deren Typographie. 275 Dieser programmatische Ansatz weist eine Lücke auf. Und zwar besteht ein großes, bisher von der historischen Leseforschung ungenutztes Potential darin, die Sprache selbst, mit der über das Lesen kommuniziert und reflektiert wird, zu untersuchen. An dieser Stelle setzt die vorliegende Studie an. Für die antike griechisch-römische Welt ist dieser Ansatz nicht zuletzt deshalb vielversprechend, weil die Quellensituation insbesondere auf die von Darnton genannten Aspekte 2, 3 und 5 sowie für die Rekonstruktion einer „externen Geschichte des Lesen“ sehr viel schlechter ist als für die Zeit seit der frühen Neuzeit, 276 auf welche sich die historische Leseforschung maßgeblich bezieht. Der Ansatz der Studie besteht darin, zunächst die Leseterminologie im Griechischen zu untersuchen, mit Seitenblicken auf das Lateinische und später auf das Hebräische. Es werden also Lexeme, die Lesen entweder direkt benennen oder indirekt charakterisieren, lexikologisch und semantisch zu untersuchen sein. Dabei wird deutlich werden, dass die Leseterminologie im Wesentlichen metaphorisch und metonymisch konzeptualisiert ist. Entsprechend neuerer metapherntheoretischer Ansätze, die trotz ihrer Unterschiede in der Beschrei‐ bungssprache gemeinsame Linien aufweisen, wird die Metapher hier nicht einfach als rhetorisches Stilmittel bzw. ein Mittel poetischer Sprache aufgefasst. Vielmehr ist die Metapher als das sprachliche Zusammenwirken von zwei Größen zu verstehen, die unterschiedlichen Ordnungssystemen angehören. Die wichtige Einsicht neuerer metapherntheoretischer Ansichten besteht darin, 80 1 Einleitung <?page no="81"?> 277 Vgl. dazu ausführlich mit den entsprechenden Verweisen auf die Literatur H E I L M A N N , Wein, 184-186. 278 Vgl. weiterführend z. B. die Beiträge in B A R C E L O N A , Metaphor and Metonymy; D I R V E N / P Ö R I N G S , Metaphor and Metonymy. 279 Vgl. B I C K E N B A C H , Möglichkeiten, 12. Zumindest einige physiologische Komponenten des Lesens, also die Haltung beim Lesen, die Bewegung der Augen, Pausen, Schnellig‐ dass durch das dynamische Zusammenwirken der beiden Größen in der Metapher diese etwas beschreiben, das mehr ist als die Summe der beiden Einzelgrößen. Damit nimmt die Metapher eine ganz eigene Perspektive auf das zu Beschreibende ein. Dies wiederum bedeutet im Umkehrschluss, dass sich aus der Analyse von konkreten Metaphern in Relation zum von diesen beschriebenen Referenten Erkenntnisse über diesen generieren lassen (s. u.). Diese beiden Größen, für die in der Forschung sehr unterschiedliche Bezeich‐ nungen zu finden sind, werden in dieser Studie Bildspende- und Bildempfangs‐ bereich genannt. Zudem wird berücksichtigt, dass Metaphern in vielfältigen grammatisch-syntaktischen Formen auftreten können, in einem jeweils spezi‐ fischen Verhältnis zu vorgegebenen sprachlichen Konventionen stehen, in ihrer Bedeutung situations- und kontextabhängig sind und in diachroner Hinsicht Wandlungsprozessen unterliegen (beschrieben z. B. als innovative, usuelle, konventionalisierte, lexikalisierte Metaphern). 277 Der Unterschied zwischen Metapher und Metonymie wird in dieser Studie folgendermaßen bestimmt: Im Gegensatz zur Metapher ist der Bildspende- und der Bildempfangsbereich im Falle einer Metonymie durch eine Beziehung der Kontiguität charakterisiert, wobei dem Verfasser die Abgrenzungsprobleme von Metapher und Metonymie wohl bewusst sind. 278 Im Hinblick auf die Lesemetaphern und -metonymien lässt sich das Kriterium jedoch in analytischer Hinsicht pragmatisch recht gut anwenden, da sich die Kontiguitätsbeziehung zwischen Lesemetonymie und Lesevorgang in den meisten Fällen recht genau beschreiben lässt (z. B.: „ein Buch durchblättern“ ist eine Lesemetonymie, „ein Buch verschlingen“ ist eine Metapher). Eine systematische Aufarbeitung der Sprache, der Metaphern und Metony‐ mien, die in der antiken Welt das Lesen konzeptualisiert, ist bisher nicht geleistet worden. Die Erschließung der Lese-Metaphern und -Metonymien in der antiken Literatur (aber auch in Inschriften und dokumentarischen Papyri) bietet daher einen bisher nicht genutzten Zugang zur antiken Lesekultur. Durch die Untersuchung der Leseterminologie wird eine große Fülle bisher nicht berücksichtigter Daten erschlossen, die als Selbstzeugnisse für den Lesevorgang gelten können. Insofern ist etwa auch das Diktum Bickenbachs nur teilweise richtig, dass Lesen prinzipiell unbeobachtbar sei. 279 Lesen ist zwar ein flüchtiger 81 1.4 Fragestellung, methodischer Ansatz und Vorgehen <?page no="82"?> keit, die Realisierung oder Nicht-Realisierung des Gelesenen mit der Stimme usw. lässt sich von außen sehr wohl beobachten. (Die genaue Beobachtung der Augenbewegung ist auf technische Hilfsmittel angewiesen: das sog. Eye-Tracking-Verfahren.) Nicht direkt zugänglich sind freilich die kognitiven Verarbeitungsprozesse, die zwar bei modernen Lesern mit Verfahren der neurowissenschaftlichen Forschung zum Teil vi‐ sualisiert werden können, bei antiken Lesern aber tatsächlich von außen unbeobachtbar sind. Es ist zwar richtig, dass diese Prozesse, wie Bickenbach ausführt, auch für den Leser selbst zum Teil unbewusst ablaufen, und daher nicht beobachtet werden; es ist aber davon auszugehen, und es wird im Rahmen der Untersuchung deutlich werden, dass die individuelle Metareflexion antiker Leserinnen und Leser sich auch in der Le‐ seterminologie und in den Texten, in denen Lesen thematisiert wird, niedergeschlagen hat. 280 Der Ansatz der Studie basiert hier maßgeblich auf den Einsichten aus der kognitiven Linguistik und der Theorie von konzeptuellen Metaphern. Vgl. dazu L A K O F F / J O H N S O N , Metaphors; F A U C O N N I E R , Mental Spaces; L A K O F F / T U R N E R , More; F A U C O N N I E R / S W E E T S E R , Spaces; F A U C O N N I E R / T U R N E R , Blending; F A U C O N N I E R , Mappings; G R A D Y , Foundations; L A K O F F / J O H N S O N , Philosophy; F A U C O N N I E R / T U R N E R , Way. Vgl. auch die semiotische Reformulierung bei B R A N D T , Spaces; B R A N D T / B R A N D T , Making Sense. Vgl. aber auch die kritische Evaluation bei H A S E R , Metaphor, die allerdings das heuristische Potential der kognitionslinguistischen Metapherntheorien nicht dekonstruiert. Vgl. P A N T H E R / T H O R N ‐ B U R G , Metonymy, u. M A T Z N E R , Rethinking Metonymy, für eine kognitiv-linguistische Perspektive auf Metonymien. 281 Vgl. z. B. C A I R N S , Vêtu; C A I R N S , Mind; C A I R N S , Clothed; C A I R N S , Metaphors; C A I R N S , Zorn; C A I R N S / N E L I S , Emotions; C A I R N S , Tripartite. 282 C A I R N S , Mind, 1. und momentaner Akt, hat aber in der Dokumentation der Selbstwahrnehmung und der Selbstreflexion Spuren in der Sprache hinterlassen. Dem methodischen Ansatz liegt die Einsicht zugrunde, dass Metaphern und Metonymien aus kog‐ nitionswissenschaftlicher Sicht eine besondere Bedeutung für die menschliche Wahrnehmung haben. 280 Diese Einsichten aus der kognitiven Linguistik sind in den Altertumswissenschaften schon für die Erforschung von Emotionen fruchtbar gemacht worden, wie die Arbeiten von D. Cairns zeigen. 281 Seine Ana‐ lysen antiker Emotionskonzepte basieren auf der folgenden Grundannahme: “[P]roperties of emotions […] depend not just on objective processes in the body, the brain, and the world, but on the representation of the phenomenology of such processes in the intersubjective system that is language. […] Though they [i. e. the properties of emotions] exist in the shared and intersubjective system of language.” 282 Daher können antike Emotionskonzepte durch die Erschließung und Analyse von Metaphern, die Emotionen konzeptualisieren, rekonstruiert werden. Um dementsprechend der Selbstwahrnehmung des eigenen Leseprozesses auf die Spur zu kommen, ist also die metaphorisch und metonymisch konzeptuali‐ sierte Leseterminologie zu untersuchen. Die zu erwartende Heterogenität der 82 1 Einleitung <?page no="83"?> 283 Eine systematische und auf Vollständigkeit abzielende Anwendung dieser Verfahren waren aus Gründen der Bearbeitbarkeit im Rahmen dieser Studie nicht möglich. antiken Beschreibungssprache, in der sich die Selbstwahrnehmung antiker Leser kondensiert hat, reflektiert dabei die Vielfalt antiker Lesepraxis, von Lese- und Verstehensgewohnheiten bis hin zu Lesetechniken. In methodischer Hinsicht ist zwischen lexikalisierten Metaphern, bei deren Verwendung die Metaphorizität in den meisten Fällen nicht mehr im Bewusstsein ist, und innovativen Meta‐ phern zu unterscheiden. Das größte Erkenntnispotential im Hinblick auf die Selbstwahrnehmung des Lesens haben freilich innovative Metaphern, da diese mutmaßlich einen spezifischen Aspekt des Lesens betonen wollen. Aber auch die lexikalisierten Metaphern (insbesondere, wenn sie nicht das Hauptleseverb einer Sprache bilden) lassen Rückschlüsse auf die Selbstwahrnehmung antiker Lesepraxis zu, und zwar dann, wenn sie in Relation zu direkten Beschreibungen und Reflexionen antiker Lesepraxis und in Relation zur materiellen Dimension antiker Lesepraxis gesetzt werden. Die Sprache, mit der über das Lesen kommuniziert wird, kann also auch nicht ohne den Bezug zur materiellen Dimension antiker Lesepraxis untersucht werden. Daher beginnt der erste Hauptteil der Studie (II) mit einem Überblick über die Vielfalt von Lesemedien in der Antike (2), zu denen die Lesetermini in Relation zu setzen sind. Darauf folgt die Darstellung der Ergebnisse der lexikologischen und semantischen Untersuchung der antiken Beschreibungs‐ sprache des Lesens, die entlang der Bildspendebereiche der metaphorischen und metonymischen Konzepte strukturiert ist. Für die Untersuchung der antiken Leseterminologie selbst, deren Ergebnisse in der vorliegenden Studie dargelegt werden, wurde eine semi-automatisierte Heuristik angewandt. Und zwar bestand die Erschließung der Lexeme, Wen‐ dungen und Konzepte aus einem Wechselspiel unsystematisch explorierender Zugänge zu den Quellen und der systematischen Anwendung von Methoden der digitalen Korpusanalyse. Das bedeutet, es wurden erstens zunächst zahlreiche Quellen gelesen und Lesetermini identifiziert, sowie zweitens Übersetzungen nach modernen Lesetermini digital durchsucht, um die übersetzten griechischen (und lateinischen) Lexeme und Wendungen zu finden, die „Lesen“ konzeptu‐ alisieren. Diese Form der Heuristik wurde ergänzt durch digitale Verfahren der Kookkurrenzanalyse und der Nutzung von Vektorisierungsverfahren zur Suche von Synonymen. 283 Kombiniert mit den Lexemen für Lesemedien konnten mit Hilfe dieser erschlossenen Lesetermini und Wendungen dann durch die proximity search im Thesaurus Linguae Graecae (TLG) und in der Library Latin 83 1.4 Fragestellung, methodischer Ansatz und Vorgehen <?page no="84"?> 284 S. o. Anm. 241, S. 72. Für das Lateinische sind die entsprechenden lexikographischen Daten freilich im Thesaurus linguae Latinae (TLL) leichter verfügbar als für das Altgriechische. 285 Vgl. die berechtigte Kritik an der gängigen Vorgehensweise bei der Erstellung von Wörterbüchern von L E E , Brill Dictionary (weiterführend L E E , History). Das größte Problem der altgriechischen Lexikographie liegt in der überwältigenden Menge der zu analysierenden Daten. Vgl. A U B R E Y , Issues, 163 f. Der TLL ist von dieser Kritik freilich ausgenommen. Texts (LLT) eine große Anzahl von Quellen neu erschlossen werden, in denen Lesen in der Antike thematisiert wird. Der skizzierte Ansatz hat daher gegenüber Forschungsansätzen, die entweder die Lautstärke des Lesens, die materiellen Zeugnisse oder Fragen der Litera‐ litätsrate als „äußere Bedingungen“ des Lesens in der Antike ins Zentrum gerückt haben, den Vorteil, dass das Phänomen Lesen in einer breiteren Per‐ spektive in den Blick kommen kann. Die oben skizzierte Ausgangslage der Forschung hängt mit einem drängenden Desiderat zusammen, nämlich der grundlegenden Erschließung der überhaupt in Betracht kommenden Quellen. Denn die bisherigen Engführungen der Forschung haben dazu geführt, dass die zur Diskussion stehende Quellenbasis viel zu klein ist. Dies zeigt sich symptomatisch daran, dass das Vokabular des Lesens im Griechischen (und Lateinischen) bei weitem nicht vollständig erschlossen ist, 284 geschweige denn sämtliche Quellen, die in der antiken Literatur auf Leseszenen oder Lesen als Kulturtechnik im Allgemeinen verweisen, und die Einträge in den gängigen Lexika (aus nachvollziehbaren Gründen) defizitär sind. 285 Vorab ist allerdings schon darauf hinzuweisen: Angesichts der Fülle von Daten ist eine vollständige Erschließung aller Stellen, an der Lesen in den Quellen thematisiert wird, im Rahmen dieser Studie nicht zu leisten. Die Erschließung der Lesetermini zeigt, dass es sich um ein historisches Thema handelt, bei dem einmal nicht über das Fehlen von Quellen geklagt werden muss - vielleicht ein Grund, warum die systematische Untersuchung über die Disziplinengrenzen hinweg bisher nicht realisiert worden ist. Zur Veranschauli‐ chung: Allein für die am weitesten verbreiteten Lexeme, die das Phänomen Lesen im Griechischen beschreiben, ἀναγιγνώσκω und ἐντυγχάνω (hier aller‐ dings nur als eine Bedeutung des Verbes unter vielen), finden sich im TLG für die Zeit vom 8. Jh. v. Chr. bis zum 5. Jh. n. Chr. rund 8800 bzw. 6400 Einträge. Um der Materialfülle zu begegnen, musste daher ein pragmatischer Weg gewählt werden. Bei der Analyse habe ich mich darauf beschränkt, so viele Stellen für die jeweiligen Verben zu begutachten, bis sich ein quantitativ relativ valides Bild ergeben hat. Das bedeutet, dass die Suche dann abgebrochen werden konnte, wenn die gefundenen Belegstellen lediglich schon Bekanntes wieder und wieder 84 1 Einleitung <?page no="85"?> bestätigten. Für das Verb ἀναγιγνώσκω wurden dazu z. B. weit mehr als 3500 Belegstellen geprüft (die Belegstellen zu den Derivaten von ἀναγιγνώσκω konnten angesichts der deutlich geringeren Anzahl größtenteils vollständig durchgesehen werden). Auch bei der Interpretation der Quellen im Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit musste eine exemplarische Auswahl der aussagekräftigsten Stellen getroffen werden. Als aussagekräftige Stellen gelten solche, die differenzierte Aussagen über Lesepraktiken im Hinblick auf die unter 1.5 zu entwickelnden Kategorien ermöglichen. Methodisch ist bezüglich der Interpretation der Quellen Folgendes anzu‐ merken: Es wird davon ausgegangen, dass literarische Texte, in denen Lese‐ szenen vorkommen, Weltwissen reflektieren und im Hinblick auf die antike Lesekultur ausgewertet werden können, selbst wenn es fiktionale Gehalte sind, die erzählt werden. Diese Voraussetzung gilt auch für die weiteren Hauptkapitel (s. u.) und wird bei der Analyse der jeweiligen Texte nicht mehr im Einzelnen erwähnt. Trotz dieser Beschränkungen bietet der im Rahmen dieser Studie gewählte methodische Ansatz ein großes Potential nicht nur zur Erforschung der an‐ tiken Lesekultur, der mit dem Anspruch auf Vollständigkeit allerdings nur im Rahmen eines großen Forschungsprojektes realisiert werden könnte. Diese Studie versteht sich daher als Ansatz, der gleichsam ein neues Forschungsfeld für die altertumswissenschaftlichen Fächer sowie für die neutestamentliche und patristische Forschung aufzeigt, umreißt und zu etablieren versucht. Im Anschluss an die lexikologische und semantische Analyse wechselt der Fokus wieder zur materiellen Dimension antiker Lesekultur. Auf der Grundlage der Untersuchung der Lesetermini und der dadurch gewonnenen Erkenntnisse widmet sich die Studie dann unter Punkt 4 dem Zusammenhang zwischen dem griechischen Schriftsystem, das durch die scriptio continua gekennzeichnet ist, und anderen „typographischen“ Merkmalen der griechischen Schriftkultur auf der einen Seite und dem Lesen auf der anderen Seite. Um das Bild bezüglich der antiken Lesekultur weiter zu vervollständigen, folgen darauf kurze Hinweise zum Thema Publikation und Verfügbarkeit von Literatur und der Frage nach dem Lesepublikum (5). Unter Punk 6 wird dann der Ertrag der Untersuchung des ersten Hauptteils festzuhalten und einen systematischen und zusammen‐ fassenden Überblick über die Vielfalt antiker Lesepraktiken und -kontexte zu geben sein. Die im ersten Hauptteil (2-6) gewonnenen Ergebnisse werden sodann in zwei Schritten für die Untersuchung von Texten aus dem antiken Judentum (7) und dem NT (8) fruchtbar gemacht, in denen Lesen thematisiert, oder Lesepraktiken (implizit oder explizit) reflektiert werden. Ein besonderer Fokus 85 1.4 Fragestellung, methodischer Ansatz und Vorgehen <?page no="86"?> 286 So jüngst formuliert von A L L E N / D U N N E , Reading, 244. wird auf solche Stellen gelegt, an denen selbstreferenziell die Rezeption the‐ matisiert wird. Leitend bei der Analyse ist die Frage, inwiefern die Texte Aufschluss geben können über Lesepraktiken im Hintergrund der Texte bzw. auf die intendierte Rezeptionsweise des jeweils vorliegenden Textes. In exege‐ tisch-methodischer Hinsicht bedeutet dies, dass der Hauptschwerpunkt der Analyse, unter vereinzelter Berücksichtigung diachroner und v. a. traditions‐ geschichtlicher Fragen und textkritischer Perspektiven, im Hinblick auf die biblischen Texte synchron orientiert ist, wobei die konkreten linguistischen (und narratologischen) Zugänge zu den Texten durch das vorher entwickelte Modell (sozial- und medien-)geschichtlich kontextualisiert werden. Den Abschluss der Arbeit bildet ein Ausblick auf die Lesekultur in der Alten Kirche. Hier sind die Implikationen der Ergebnisse der Studie für die Frage nach dem Stellenwert des Lesens im frühen Christentum und der Frage nach dem Lesen im Kontext der Abschreibepraxis neutestamentlicher Texte knapp zu skizzieren. Weiterführend werden die Hinweise auf Vorleser bzw. für das „Lek‐ torenamt“ als Evidenz für „gottesdienstliche“ Lektüre kritisch zu diskutieren sein. Sodann ist ein Überblick über die Vielfalt früchristlicher Lesepraktiken anhand exemplarisch ausgewählter und aussagekräftiger Quellen aus der Zeit der frühen Kirche zu geben. Zuletzt sind die Implikationen der Ergebnisse der Studie für die Frage nach der Entstehung des neutestamentlichen Kanons anzudeuten. 1.5 Beschreibungssprache und weitere terminologische Klärungen „The conceptual basis of reading as a diverse and omnipresent operation in [Greco-Roman,] Jewish and Christian antiquity is in need of a more robust theoretical underpinnings.“ 286 Um Lesen entsprechend des skizzierten Ansatzes in historischer Dimension beschreiben zu können, bedarf es einer differenzierten Beschreibungssprache, die nicht schon durch die Verwendung geprägter Termini bestimmte, diachron orientierte Hypothesen zur historischen Entwicklung des Lesens in den Befund hineinprojizieren. Hier ist angesichts der skizzierten Desiderate und der Eng‐ 86 1 Einleitung <?page no="87"?> 287 Vgl. zum Folgenden K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 220 f; B I C K E N B A C H , Möglichkeiten, passim; R A U T E N B E R G / S C H N E I D E R , Historisch, 96 f. 288 Verglichen mit dem Modell, das J. A. Howley seiner Untersuchung von „Lesen“ in Gellius’ Noctes Atticae zugrunde legt, entsprechen die Kategorie 1 (ferner auch die Kategorie 2) der Frage nach dem „how“, die Kategorie 3 dem „why“ und dem „what then“ (vgl. H O W L E Y , Aulus Gellius, 70 f). Dem Modell fehlt allerdings eine Ausdifferen‐ zierung der einzelnen Fragen. Dadurch und durch den Verzicht auf die Unterscheidung zwischen Leseweise und Lesesituation ist die Beschreibungsgenauigkeit zu gering. führung der Forschung auf die Fragen nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen, nach Oralität und communal reading bzw. performativen Lesepraktiken ein Neuansatz notwendig, der sich freilich an der Metasprache der Leseforschung zu orientieren hat. Die moderne Leseforschung und insbesondere die jüngere historische Leseforschung nutzt ein breites Spektrum von z. T. aus der Didaktik stammenden Beschreibungskategorien, die hier selektiert, systematisierend zusammengefasst und zusammengeführt, sowie um zahlreiche Aspekte ergänzt werden. 287 Es ist zu betonen, dass die folgenden Kategorien zunächst aus Gründen der Heuristik eingeführt werden, also um das Phänomen Lesen in den antiken Quellen multiperspektivisch beobachten zu können. Die Verwendung der Kategorien steht allerdings unter dem methodischen Vorbehalt, dass sie vor allem an der Beobachtung und Selbstbeobachtung von Leserinnen und Lesern in der Neuzeit gewonnen wurden und nicht einfach auf die antiken Verhältnisse projiziert werden dürfen. Die Anwendungsmöglichkeit der Kategorien auf das Phänomen Lesen in der Antike ist daher im Rahmen dieser Studie im Einzelnen am Quellenmaterial zu erweisen. In dieser Studie werden zu analytischen Zwecken drei Dimensionen der Praxis des Lesens unterschieden; oder anders formuliert. Der von Zedelmaier verwendete Terminus der Modalität des Lesens (s. o.) wird dreistellig bestimmt: 1) die Leseweise, 2) die Lesesituation, 3) das Ziel bzw. der Zweck eines Lese‐ aktes/ einer Lesepraxis. 288 87 1.5 Beschreibungssprache und weitere terminologische Klärungen <?page no="88"?> Dimensionen der Praxis des Lesens Ziel/ Zweck Vortrag ... Autorenlesung Selbstdarstellung Wettbewerb Offizieller Akt (z.B. vor Gericht, in einer politischen Versammlung) Informationsweitergabe Meditation/ geistliche Übung Unterhaltung ästhetischer Genuss Evaluation/ Korrektur vollständiges Erfassen Konsultation/ Suche Studium/ Lernen ... rhetorische Bildung Inspiration Aneignung für eigene Textproduktion Wissenserwerb Lesesituation Zeit nachts abends nachmittags morgens Ort ... öffentlicher Platz Wagen Villa Natur Gericht Speiseraum/ Triklinium Versammlungsraum- Bett Privatraum Bibliothek Intentionalität intentional zufällig Grad der Inszenierung inszeniert < alltäglich Diskursivität ohne Unterbrechung unterbrechend - Denk-/ Exzerpt-/ Schreibpausen unterbrechend - Gesprächspausen- Öffentlichkeit nicht-öffentlich öffentlich Haltung laufend stehend liegend sitzend Verhältnis des/ der Rezipienten zum Lesemedium kollektiv-direkt kollektiv-indirekt individuell-direkt individuell-indirekt Lesemedium ... Stein Kodex Holztafel Rolle Leseweise Umfang selektiv vollständig Kontinuität diskontinuierlich sequentiell Frequenz singulär iterativ Grad der Aufmerksamkeit vertieft/ intensiv > oberflächlich Geschwindigkeit langsam < schnell Stimmeinsatz nicht-vokalisierend (aber: innere Stimme) subvokalisierend vokalisierend Lautstärke/ akustische Wahrnehmbarkeit still/ nicht-hörbar laut > leise Abb. 1: Dimensionen der Praxis des Lesens 88 1 Einleitung <?page no="89"?> 289 G A V R I L O V , Techniques, 58. 290 Vgl. G A V R I L O V , Techniques, 58, im Anschluss an G I B S O N / L E V I N , Psychology, Kapitel 10. 291 Zu unpräzise ist m. E. die Unterscheidung von oralisiertem und nicht-oralisiertem Lesen (vgl. z. B. S V E N B R O , Griechenland, passim; D R O N S C H , Bedeutung, 359), da hier der Mund verkürzend für den gesamten Stimmerzeugungsapparat steht und insbesondere die Differenzierung zwischen verschiedenen Arten des Stimmeinsatzes unberücksichtigt bleiben. 292 Diese Verwendungsweise findet sich insbesondere in der unüberblickbaren Ratgeberli‐ teratur zur Beschleunigung und Optimierung der eigenen Lesepraxis. Die gängige These (die sich schon bei S T E V E N S / O R E M , Characteristic, findet) lautet, dass das Ausschalten der „Subvokalisation“, gemeint ist das innere Mitsprechen, zu einer quantitativen Effizienzsteigerung des Lesens führe. Vgl. z. B. K O C H , Speed, 51-54. Vgl. dazu in kritischer Perspektive z. B. M I C H E L M A N N / M I C H E L M A N N , Effizient, 183 ff, ferner auch B U Z A N , Speed, 168 f, leider ohne Belege. Vgl. außerdem Anm. 295, S. 90. 293 Vgl. dazu V I L H A U E R , Inner Reading Voices. 294 Vgl. dazu etwa mit weiterführenden Hinweisen auf die Forschung K U R B Y / M A G L I A N O / R A P P , Voices; Y A O / B E L I N / S C H E E P E R S , Silent Reading; P E R R O N E -B E R T O L O T T I / K U J A L A / V I D A L / H A M A M E u. a., How Silent Is Silent Reading? ; M O B E R G E T / H I L L A N D / A N D E R S S O N / L U N D A R / Ad 1) Die Leseweise lässt sich anhand mehrerer Parameter differenziert be‐ schreiben: Die Parameter Stimmeinsatz, Lautstärke, Geschwindigkeit stehen zwar in einem engen Relationsgefüge, sollten aber aus Gründen der Präzision differenziert werden. Im Forschungsdiskurs werden die Aspekte häufig ver‐ mischt. A. K. Gavrilov führt, wie oben angedeutet, die Kategorien a) reading aloud, b) subvocalization („movement of the lips, tongue, and throat without the production of audible sounds“ 289 ) und c) silent reading in die Diskussion um das Lesen in der Antike ein. 290 Die Kategorien a) und c) beschreiben dabei die Parameter Lautstärke/ Hörbarkeit, die Kategorie c) gemäß Gavrilovs Definition den Einsatz des Stimmerzeugungsapparates. Demgegenüber sollte der Einsatz der Stimme in a) vokalisierendes, b) subvokalisierendes und c) nicht-vokalisierendes 291 Lesen differenziert werden. Dabei wird die Definition des subvokalisierenden Lesens von der weit verbreiteten Praxis abgegrenzt, das innere Mitlesen damit zu bezeichnen, 292 und dahingehend erweitert, dass auch Fälle eingeschlossen sind, bei denen durchaus hörbare, aber für den Außenstehenden nicht vollständig erkennbare Laute durch den Stimmapparat (Murmeln) erzeugt werden. Nicht-vokalisierend beschreibt - in Anknüpfung an Gavrilov - Lesen als rein visuell-mentalen Prozess ohne Einsatz der Stimm‐ erzeugungsorgane. Damit ist allerdings noch keine Aussage über die mentale Repräsentation der inneren Lesestimme gesagt. 293 Ob es nämlich überhaupt ein Lesen ohne die Aktivierung der inneren Lesestimme bzw. ohne die Aktivierung des phonologischen Verarbeitungssystems im Gehirn (auditory cortex) gibt, ist vor dem Hintergrund der neurowissenschaftlichen Leseforschung fraglich. 294 89 1.5 Beschreibungssprache und weitere terminologische Klärungen <?page no="90"?> D U E -T O N N E S S E N u. a., Silent Reading; K E L L / D A R Q U E A / B E H R E N S / C O R D A N I / K E L L E R / F U C H S , Phonetic; sowie die Angaben in Anm. 20, S. 219). 295 Vgl. dazu die kritische Metastudie M U S C H / R Ö S L E R , Schnell-Lesen. Das Problem der Studien ist insbesondere die Möglichkeit einer validen Messbarkeit des Leseverständ‐ nisgrades. Nichtsdestoweniger können auch Musch und Rösler nicht ausschließen, dass es durchaus vereinzelt außergewöhnliche Schnell-Leser (mehr als 1500 Worte/ Min.) mit einem hohen Grad an Leseverständnis gibt, worauf einzelne Studien hindeuten. Fraglich sei allerdings, ob es eine Möglichkeit des Trainings zum außergewöhnlichen Schnell-Lesen bei Beibehaltung der Verstehensleistung gebe. 296 Vgl. dazu mit den entsprechenden Verweisen die Ausführungen unter 4.1. 297 Vgl. stellvertretend den Titel des Aufsatzes B U S C H , Lesen. Und die Studien zu den Grenzen des Schnell-Lesens, auf denen basierend vor allem die Ratgeberliteratur zur Technik des extremen speed-reading propagiert, man müsse seine innere Lesestimme abschalten, um schneller zu lesen, genügen jedoch grosso modo nicht den wissenschaftlichen Standards der empirischen Forschung. 295 Die empirisch-psychologische Leseforschung ist zudem mit dem Problem konfrontiert, dass sich nicht alle Leserinnen und Leser der inneren Lesestimme bewusst sind. Denn auch beim schnellen, überfliegenden Lesen kann die innere Lesestimme den Text vor dem inneren Ohr realisieren, da sie a) nicht zwingend jedes Wort (vollständig) ausartikulieren muss und b) schneller sein kann, da sie nicht an die physiologische Begrenztheit des menschlichen Artikulationsapparates gebunden ist. 296 Während in der anglophonen Forschung bezüglich der Lautstärke und Hörarbeit vom silent reading als Gegensatz zum reading aloud gesprochen wird, findet sich im deutschsprachigen Forschungsdiskurs die unpräzise Gegenüber‐ stellung von „lautem“ und „leisem“ Lesen. 297 Das Adjektiv „leise“ ist im Deut‐ schen semantisch mit „immer noch hörbar“ konnotiert und eignet sich daher nicht dazu, das nicht-vokalisierende Lesen zu beschreiben. In dieser Studie wird bezüglich der Lautstärke eine dreistellige Unterscheidung eingeführt, die impli‐ ziert, dass es sich wie bei der Geschwindigkeit um Pole einer Skala handelt. Denn sowohl beim vokalisierenden als auch beim subvokalisierenden Lesen kann die Lautstärke variieren. Die Geschwindigkeit kann bei allen drei Formen des Stimmeinsatzes variieren, wobei subvokalisierendes Lesen potentiell schneller sein kann, als ausartikulierendes, vokalisierendes Lesen. Nicht-vokalisierendes Lesen hat dann noch einmal einen potentiellen Geschwindigkeitsvorteil gegen‐ über dem subvokalisierenden Lesen. In Abgrenzung von Teilen der historischen Leseforschung, die bezüglich der Leseweisen intensive von extensiver Lektüre unterscheidet, und damit in diachroner Perspektive einen Veränderungsprozess im 18. Jh. beschreibt - vom wiederholten, andächtigen (langsamen und auf Wiedererkennung sowie 90 1 Einleitung <?page no="91"?> 298 Hauptvertreter dieser klassischen These einer Leserevolution im 18. Jh. ist R. Engelsing, der die Unterscheidung von Intensivlektüre und Extensivlektüre in den Diskurs einge‐ führt hat. Vgl. E N G E L S I N G , Analphabetentum; E N G E L S I N G , Bürger; E N G E L S I N G , Sozialge‐ schichte. Die These (und damit auch die Unterscheidungskategorien) wurde vielfach übernommen (vgl. z. B. M A R T I N O , Leihbibliothek, 9 ff), aber auch kritisch diskutiert und differenziert (vgl. z. B. Z E D E L M A I E R , Lesetechniken, 12; S C H Ö N , Geschichte; W I T T M A N N , Leserevolution; C A V A L L O / C H A R T I E R , Einleitung, 42-44, weisen darauf hin, dass es vor und nach der von Engelsing postulierten „Leserevolution“ beide Lektüreformen gab). 299 Vgl. weiterführend die kritische Auseinandersetzung insbesondere mit den impliziten Wertungen, die der beschreibungssprachlichen Unterscheidung von Intensivlektüre und Extensivlektüre zugrunde liegen bei K Ö N I G , Geschichte, 136 f; W I T T M A N N , Leserevolution, 423; S C H Ö N , Geschichte, 23. 300 Die Kategorien „diskontinuierlich“ und „selektiv“ sind von B A U M A N N , Bilder, 126 f, übernommen. Memoration zielenden) Lesen einer geringen Anzahl (v. a. religiöser) Texte hin zu einem Leseverhalten, das durch die singuläre (kursorische und schnellere) Lektüre einer großen, abwechslungsreichen Vielfalt von Lesestoffen gekenn‐ zeichnet ist 298 - muss m. E. zwischen dem Aspekt Grad der Aufmerksamkeit und der Lesefrequenz präziser unterschieden werden. 299 Der Grad der Aufmerk‐ samkeit, mit denen sich Leserinnen und Leser dem Text widmen, kann mit den raummetaphorischen Adjektiven vertieft vs. oberflächlich beschrieben werden. Sprachlich wird damit durchaus an die von außen erkennbare habituelle Form unterschiedlicher Grade von Aufmerksamkeit bei Leserinnen und Lesern angeschlossen. Dies gilt auch für den synonym verwendeten Terminus der intensiven Lektüre, womit in dieser Studie eine Form von besonders gründlichem, aufmerksamem Lesen bezeichnet wird. Diese Form von Lektüre zielt auf einen besonders hohen Grad an Textverstehen. In Bezug auf antike Leser ist der Grad an Aufmerksamkeit freilich nur an der in Texten kondensierten Beobachtung von Leserinnen und Lesern oder an bildlichen Darstellungen zu erheben. Als Lesefrequenz wird hier die Unterscheidung zwischen iterativer Lektüre, dem mehrfachen Lesen eines Textes oder Textabschnittes, und der sin‐ gulären Lektüre eines Textes (bzw. mehrerer Texte hintereinander) bezeichnet. Zudem sind vom Grad der Aufmerksamkeit und von der Lesefrequenz die Kontinuität und der Umfang des gelesenen Textes in Bezug auf den Gesamttext zu unterscheiden. Ein Text kann sequentiell (linear entlang des Textes) oder diskontinuierlich gelesen werden; zudem kann ein Text vollständig oder selektiv rezipiert werden. 300 Diese zusätzliche vierfache Unterscheidung ist notwendig, da eine diskontinuierliche Lektüre z. B. durchaus auf Vollständigkeit hin ausge‐ richtet sein kann, die Lektüre sich aber nicht an die Linearität des Textes hält. Diese Form der Lektüre ist z. B. in der Gegenwart typisch für wissenschaftliche Texte. 91 1.5 Beschreibungssprache und weitere terminologische Klärungen <?page no="92"?> 301 So spricht z. B. H Ö S C H E L E , Muse, 111-122, im Hinblick auf die Rezeption von Inschriften von einem accidental reader, der die Inschrift nur liest, weil er zufällig auf seinem Weg daran vorbeikommt. Ad 2) Mit der Lesesituation soll die Verortung eines Leseaktes in Zeit und Raum beschrieben werden, wobei der konkrete Ort, die konkrete Tageszeit, die Länge des Leseaktes, die Haltung, die beim Lesen eingenommen wird, und das Lesemedium sehr unterschiedlich determiniert sein können. Eine Übersicht über die verschiedenen Möglichkeiten findet sich in Abb. 1. Die in der Forschung gängige Unterscheidung privat vs. öffentlich wird hier zugunsten einer differen‐ zierteren Terminologie erweitert. Unter privater Lektüre wird in der Forschung zumeist verstanden, dass eine Person ein Lesemedium direkt liest; das Adjektiv „öffentlich“ beschreibt dagegen Vorlesesituationen (communal/ public reading), in der ein Vorleser einem Hörpublikum vorliest. Dieser Begriffsgebrauch ist insofern unpräzise, als so verstandene „private“ Leseakte je nach Ort auch in der Öffentlichkeit stattfinden bzw. so verstandene Situationen gemeinschaftlicher Lektüre in einer Gruppe durchaus einen privaten Rahmen haben können. Daher ist zu unterscheiden zwischen öffentlicher und nicht-öffentlicher Lesepraxis auf der einen Seite und dem Verhältnis des/ der Rezipienten zum Lesemedium auf der anderen Seite. Letzteres kann direkt oder indirekt sein. Individuell-direkte Lektüre beschreibt Lesesituationen eines einzelnen Rezipienten, der ein Lese‐ medium direkt mit seinen Augen liest, dies kann im privaten oder öffentlichen Rahmen stattfinden. Individuell-indirekte Lektüre ist z. B. dann gegeben, wenn ein Vorleser jemandem individuell einen Text vorliest. Kollektiv-direkte Lektüre bezeichnet Situationen, in denen mehrere Rezipienten in einem Raum ein oder mehrere Lesemedien rezipieren. Kollektiv-indirekte Rezeption beschreibt die Vorlesesituation, die in der anglophonen Forschung als communal reading oder public reading bezeichnet wird. Während kollektiv-indirekte Rezeption auf den Akt der Rezeption durch Hörer verweist, soll der Terminus Vortragslesen den komplementären Akt des Vorlesens bezeichnen. Darüber erscheinen zwei weitere Kategorien sinnvoll: Der Grad der Inszenierung kann zwischen alltäg‐ lich und inszeniert skaliert werden, um gängige, aber unscharfe Kategorien wie performative Leseakte oder liturgische Lesungen zu präzisieren. Unter der Kategorie Diskursivität wird angegeben, ob ein Text ohne Unterbrechung gelesen wird oder ob das Lesen durch Gesprächspausen (bei kollektiver Lektüre) oder durch Denk-, Exzerpt-, oder Schreibpausen unterbrochen wird. Hilfreich erscheint es sodann zwischen zufälligen und intendierten Leseakten zu unter‐ scheiden. 301 Ad 3) Das Ziel bzw. der Zweck eines Leseaktes können sehr vielfältig sein. Unterschieden werden in dieser Studie: a) Studium und Lernen, das jeweils 92 1 Einleitung <?page no="93"?> 302 Zum PISA-Kompetenzmodell vgl. N A U M A N N / A R T E L T / S C H N E I D E R / S T A N A T , Lesekompe‐ tenz. Vgl. exempl. aus der unüberblickbaren Vielfalt der Literatur S C H I E F E L E / A R T E L T / S C H N E I D E R / S T A N A T , Struktur; G R O E B E N / H U R R E L M A N N , Lesekompetenz; G A R B E / H O L L E / J E S C H , Texte; L E N H A R D , Leseverständnis. wieder mit anderen Zielen verbunden sein kann (Wissenserwerb, Aneignung für die eigene Textproduktion, Inspiration, rhetorische Bildung usw.), b) die Konsultation eines schriftlichen Textes, um gezielt nach einer Information zu suchen oder eine Frage zu beantworten, c) das vollständige Erfassen eines schriftlich verfassten Textes, d) die sprachliche und/ oder inhaltliche Korrektur eines Textes bzw. evaluatives Lesen, das dazu dient, einen Text zu bewerten; Lesen als e) rein ästhetischer Genuss oder f) zu Unterhaltungszwecken oder g) zur Meditation bzw. als geistliche Übung. Zuletzt h) das Lesen zu Vor‐ tragszwecken, das wiederum mit unterschiedlichen Zielsetzungen, wie der Informationsweitergabe oder der Selbstdarstellung verbunden sein bzw. einen offiziellen Akt (z. B. vor Gericht) darstellen kann. Als eine besondere Form des Vortragslesens muss außerdem die Autorenlesung unterschieden werden, bei der ein Text entweder im Rahmen des Redaktionsprozesses oder nach Abschluss eines Werkes vorgelesen werden kann. Zum Beobachtungsbereich Ziel/ Zweck von Leseakten gehört zuletzt auch das Verhältnis von Lesen und Verstehen, also der kognitiven Verarbeitung und Wei‐ terverarbeitung des Gelesenen. Das Leseverstehen spielt in der modernen Lese- und Lernforschung spätestens seit den PISA-Ergebnissen zu Beginn der 2000er und der darauffolgenden Kompetenzdebatte eine zentrale Rolle. Wegen feh‐ lender empirischer Untersuchungsmöglichkeiten tragen jedoch die modernen, stark ausdifferenzierten Modelle zur Beschreibung von Lesekompetenzen 302 nur wenig zur Untersuchung der antiken Lesekultur bei. Zu berücksichtigen gilt jedoch einerseits die banale Einsicht, dass der Grad des Leseverstehens vom Schwierigkeitsniveau des gelesenen Textes abhängt. Andererseits muss man sich im Hinblick auf die Quellensprache des Verstehens bewusst machen, dass Leseverstehen skaliert werden muss. Wenn jemandem die Buchstaben eines Schriftsystems nicht bekannt sind, kann er diese Schrift nicht lesen, also auch nicht verstehen. Aber auch, wenn jemand die Buchstaben lesen und die Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln einer Sprache beherrscht, aber etwa die Vokabeln und Grammatik nicht, kann er einen Text in dieser Sprache zwar lesen, aber nicht verstehen. Auf der anderen Seite des völligen Nicht-Verstehens liegt auf der Skala, mit welcher der Grad des Verstehens zumindest theoretisch beschrieben werden könnte, des Verstehen der eigentlichen, tieferen, allego‐ rischen, übertragenen o. ä. Bedeutungsdimension eines Textes, das hier als interpretatorisches Verstehen bezeichnet werden soll. 93 1.5 Beschreibungssprache und weitere terminologische Klärungen <?page no="94"?> 303 H O W L E Y , Aulus Gellius, 70, nennt dies die Frage nach dem „what then“. Ferner können im Rahmen dieser Kategorie auch nicht-intendierte „Folgen“, die „Effekte“ von Leseerfahrungen bzw. die Reaktionen von Lesern auf Texte, beschrieben werden. 303 Dies systematisch zu untersuchen, würde aber in dieser Studie zu weit führen. Eine vierte Dimension der Praxis des Lesens ist darüber hinaus die Beschaf‐ fenheit des gelesenen Textes, worunter z. B. die Frage nach der Gattung, text‐ linguistische Fragen nach Syntax, Textkohärenz und -kohäsion, Intratextualität und Intertextualität usw., aber auch narratologische Fragen gehören. Diese Aspekte stehen jeweils in einem komplexen interrelationalen Verhältnis zu den anderen Kategorien. Auf Grund der daraus resultierenden Komplexität, können diese Fragen im Rahmen dieser Studie ebenfalls nicht systematisch untersucht werden und nur als Problemanzeige für zukünftige Studien zur antiken Lesepraxis markiert werden. 94 1 Einleitung <?page no="95"?> Teil I Grundlagen <?page no="97"?> 1 Zum Thema „Schreiben in der Antike“ s. z. B. B L A N C K , Buch, 64-71. 2 Vgl. dazu und zum Folgenden G A R D T H A U S E N , Griechische, 24-182; B I R T , Kritik, 247-283; B L A N C K , Buch, 40-63; B Ü L O W -J A C O B S E N , Materials; die Beiträge in S C H O L Z / H O R S T E R , Lesen; die Beiträge mit altertumswissenschaftlichem Bezug in M E I E R / O T T / S A U E R , Textkulturen (Lit.); mit Bezug auf die rabbinische Literatur H E Z S E R , Jewish Literacy, 126-144. 3 Vgl. z. B. Polyain. strat. 4,20. Eine brutale Form findet sich bei Polyain. strat. 1,24, der davon berichtet, dass Histaios einem Sklaven mit punktförmigen Wunden eine Nachricht auf die geschorene Kopfhaut einritzt, damit diese, nachdem die Haare wieder gewachsen waren, unentdeckt transportiert werden konnte. 2 Überblick über die Vielfalt der Lesemedien Schon die Vielfalt an schrifttragenden Medien bzw. Lesemedien in der antiken griechisch-römischen Welt warnt vor einer einseitigen, allgemeingültigen Kon‐ zeptualisierung antiker Lesepraxis und damit auch monosituativen Verortung frühchristlicher Lesepraxis. Da schrifttragende Medien a) in der Antike sehr gut erforscht sind, es in dieser Studie b) primär um die Praxis des Lesens selbst gehen soll und es c) methodologische Gründe gibt, die direkte Evidenz schrifttragender Medien für Lesepraktiken nicht zu überschätzen (s. u.), mögen hier einige allgemeine Bemerkungen ausreichen. Geschrieben wurde in der griechisch-römischen Antike 1 auf ganz unter‐ schiedlichen Materialien in verschiedenen Größen und Formaten. Dies zeigen nicht nur die materiellen Überreste aus der Antike, sondern wird auch vielfältig in literarischen Quellen reflektiert. Eine Liste mit einer Auswahl quellensprach‐ licher Lexeme für antike Lesemedien, die im Rahmen meiner Quellenrecherche die wichtige heuristische Funktion hatten, die jeweiligen Lesetermini zu finden (s. o. 1.4), kann im Anhang eingesehen werden. Neben der Ubiquität von Inschriften insbesondere auf Stein in der griechisch-römischen Welt, haben die Menschen der Antike auf Papyrus, Pergament, Leder, Metall, Holz, Leinen, Flachs, Ton und in holzgefassten Wachstäfelchen sowie in Stein/ Putz (Graffiti) geschrieben bzw. geritzt, eingeschlagen, eingebrannt, punziert. 2 Auch Schrift auf der Haut konnte als Kommunikationsmittel verwendet werden. 3 Als konkretes Beispiel sei auf die bezeugte weite Verbreitung von Holztafeln (πίναξ, δέλτος, δελτίον, tabula, tabella, pugillaris) als Schreib- und Leseme‐ dium verwiesen, die schon im klassischen Griechenland verwendet wurden. Diese Tafeln bestanden aus dünnen, mittig leicht vertieften Holzbrettchen, in die Wachs hineingefüllt war. Daher wurden sie auch einfach nur als cera be‐ <?page no="98"?> 4 Vgl. z. B. Plaut. Pers. 4,3,59; Mart.14,4 f und die Belege im LSJ. 5 Mart. 14,4 verweist auf fünflagige Tafeln (quinquiplices). 6 S. u. 6.2. 7 Vgl. insb. die Hinweise zur schriftlichen Vorarbeit der Komposition des ersten Satzes von Plat. pol. 1,327a bei Dion. Hal. comp. 25; Quint. inst. or. 8,6,64; Diog. Laert. 3,37. Bei Ovid findet sich reflektiert, dass er seine Texte auf Tafeln schriftlich konzipierte (vgl. Ov. Pont. 4,2,24-33). 8 S. zu antiken Schreibgeräten G A R D T H A U S E N , Griechische, 182-202; B L A N C K , Buch, 65 f. 9 Eur. I. Aul. 35-40: „Schreibst einen Brief, denselben, den du in Händen hältst. Dann verwischst du wieder die Zeichen, siegelst das Schreiben, entsiegelst das Schreiben, wirfst zu Boden die Tafel“ (Üb. B U S C H O R ). 10 Ed. B O W M A N / T H O M A S . 11 Vgl. dazu insgesamt J Ö R D E N S / O T T / A S T , Wachs; S A R R I , Letter Writing, 79-84. 12 Vgl. Mart. 16,5; in Nimrud auch archäologisch bezeugt vgl. W I S E M A N , Writing-Boards; H O W A R D , Description. 13 Vgl. H U R S C H M A N N / R Ö L L I G , Art. Schreibmaterial. 14 Vgl. dazu einschlägig S C H E N D A , Volk. zeichnet. 4 Als zweilagige (δίπτυχον), dreilagige (τρίπτυχον/ triplex) oder mehr‐ lagige (πολύπτυχον), 5 mit einem Faden zusammengeheftete Medien wurden diese „Bücher“ für verschiedenste ephemere Alltagstexte (auch für Briefe [s. u.], für Exzerpte 6 und im Rahmen von Kompositionsprozessen 7 ) verwendet. Durch die Verwendung von Wachs waren die Tafeln wiederverwendbar, da die hineingeritzten Texte leicht durch Glättung des Wachses mit der Rückseite des Griffels 8 wieder getilgt werden konnten. Dies ist in Bezug auf einen Brief eindrück‐ lich in einem Euripides-Drama literarisch bezeugt. 9 Durch die Vindolanda-Tafeln, 10 von denen die meisten keine Wachstafeln waren, ist aber auch bezeugt, dass mit Tinte direkt auf das Holz geschrieben wurde. 11 Daneben gab es auch Tafeln aus geweißtem Holz (λεύκωμα/ album) - insb. für öffentliche Bekanntmachungen -, und aus Elfenbein, 12 die mit dunkler Tinte beschrieben wurden. 13 Man sollte - zumindest solange es für den Einzelfall keine gegenteilige Evi‐ denz gibt - zunächst davon ausgehen, dass die meisten dieser Schriftzeugnisse in irgendeiner Form einem kommunikativen Zweck gedient haben, also zum Lesen verfasst worden sind. Das bedeutet freilich nicht, dass jeder Text tatsächlich gelesen wurde, schon gar nicht ist bekannt, wie oft verschiedene Texte gelesen worden sind. Es ist eine zentrale Einsicht der historischen Leseforschung des 20. Jh., dass die reine Existenz von Büchern/ Schriftmedien keine zuverlässigen Rückschlüsse auf die tatsächliche Lesepraxis zulässt. 14 Das Hauptmedium für literarische Texte waren bis in die Spätantike hinein Rollen, vorrangig aus aneinandergeklebten Papyrusblättern, aber auch aus Pergament. Nach dem Beschreiben (generell in Kolumnen) wurden diese um einen Stab (ὀμφαλός/ umbilicus) gewickelt. Da der Titel innerhalb des 98 2 Überblick über die Vielfalt der Lesemedien <?page no="99"?> 15 Vgl. dazu Cic. Att. 4,4a,1; 4,8,2; Ov. trist. 1,1,105-111 (das Lesen der Titel ist eindeutig visuell konzeptualisiert). 16 Vgl. zur Aufbewahrung von Buchrollen in privaten und öffentlichen Bibliotheken die Beiträge in H O E P F N E R , Bibliotheken, die auch zahlreiche Abbildungen enthalten. Wie man aus Augenzeugenberichten von J. J. Winckelmann und C. Paderni weiß, waren Mitte des 18. Jh. bei der Ausgrabung der Villa dei Papiri die Schränke/ Regale aus Holz noch erhalten. Wegen austretender Grubengase musste die Villa aber wieder zugeschüttet werden, bei der Wiederergrabung im 20. Jh. waren die Möbel nicht mehr erhalten. Vgl. dazu K N Ü V E N E R , Private Bibliotheken, 81. Umstritten ist hingegen, was auf dem berühmten verschollenen Neumagner Relief zu sehen ist. Vgl. die (z. T. nicht mehr berücksichtigte) Kritik an der gängigen Deutung als Buchrollen bei B R I N K M A N N , Relief, der angesichts der Größenverhältnisse, der Struktur und des Durchbiegens beim Herausnehmen annimmt, es handle sich um Tuchrollen. B I N S F E L D , Lesepulte, 203-206, plädiert wiederum für die Interpretation als Bibliothek. 17 Vgl. neben den Belegen im LSJ v. a. B I R T , Buchwesen, 89-93, der ausführt, inwiefern τεῦχος in Analogie zum vollen Rollenbehälter später als Bezeichnung für den Kodex werden konnte. Eine analoge semantische Verschiebung kann auch im administrativen Sprachgebrauch in dokumentarischen Texten nachgewiesen werden. Vgl. S Ä N G E R , Überlegungen. 18 Vgl. Mart. 1,2; 14,37; Ov. trist. 1,1,106 f. 19 Vgl. Iuv. 3,206. 20 Vgl. dazu insgesamt B I R T , Buchwesen, 33 f.93; B I R T , Buchrolle, 244-268; B L A N C K , Buch, 179-214; vgl. weiterführend zu den Buchtiteln S C H I R O N I , ΒΙΒΛΙΟΝ. Vgl. zu Abbildung von Rollen in der attischen Vasenmalerei, die freilich für die hellenistisch-römische Zeit wenig Aussagewert haben, weiterführend I M M E R W A H R , Book Rolls; I M M E R W A H R , More Book Rolls; G L A Z E B R O O K , Reading. 21 Vgl. dazu weiterführend E L L I O T T , Manuscripts; S T A N T O N , Preference; H U R T A D O , Ar‐ tifacts, 43-93; N I C K L A S , Christentum; B A G N A L L , Books, 70-90; S E E L I G E R , Buchrolle; W A L L R A F F , Kodex, 13-15; L A R S E N / L E T T E N E Y , Christians. 22 Vgl. die statistische Re-Evaluation des Befundes bei H A R N E T T , Diffusion. Buches (meist als subscriptio) von außen nicht erkennbar ist, wurde dieser auf einem kleinen Schildchen (σίλλυβος) angebracht 15 oder z. T. auch außen auf die Rolle geschrieben. Gelagert wurden Bücher entweder liegend in Re‐ galen/ Schränken (armarium) 16 in dafür vorgesehenen Behältnissen (κιβωτός, κιβώτιον, τεῦχος, 17 scrinium,  18 cista,  19 capsa), in denen sie auch transportiert werden konnten, oder in zusammengebundenen Bündeln. 20 Hinlänglich be‐ kannt ist die Präferenz für den Kodex im frühen Christentum, 21 die aus dem statistischen Befund der gefundenen Hss. abgeleitet wird. 22 Bei den statistischen Daten ist allerdings eine gewisse methodologische Vorsicht angezeigt, da der Befund nur die Situation in der ägyptischen Provinz widerspiegelt. Freilich ist eine Bibliothek mit Rollen in Herculaneum (Villa dei Papiri) bekannt, die allerdings wegen der dort gefundenen Texte als (vermutlich nicht repräsenta‐ 99 2 Überblick über die Vielfalt der Lesemedien <?page no="100"?> 23 Vgl. dazu D O R A N D I , Report; K N Ü V E N E R , Private Bibliotheken, 81-83; G I G A N T E , Philo‐ demus; und die Beiträge in Z A R M A K O U P I , Villa. 24 Vgl. allerdings die skeptische Einschätzung des Quellenwerts der im Folgenden ge‐ nannten Stellen in Bezug auf deren Existenz als reale Objekte bei B L A K E , Text, 88-91. Dass Martial hier ein literarisches Spiel betreibt, sollte tatsächlich zur Vorsicht bei der Interpretation mahnen, allerdings ist das Argument, dass die Sammlung von Apopho‐ reta einige phantastische Dinge enthält, nicht stichhaltig, da unter den Apophoreta eben auch zahlreiche real existierende Objekte genannt sind. 25 „Ilias und Odysseus […] auf vielfach geschichteter Haut sind hier gemeinsam verwahrt (multiplici pariter condita pelle latent)“ (Mart. 14,184, Üb. B A R I É / S C H I N D L E R ). Gemessen an der Anzahl der Worte der Epen Homers (200.000 Wörter; zum Vergleich: das gesamte NT hat knapp 140.000 Wörter [TLG Statistik]) handelt es sich um einen umfangreichen Kodex. Da aber Martial betont, dass sich diese Pergamentkodizes für die Reise eignen (s. Mart. 14,188, s. u.), kann davon ausgegangen werden, dass sie noch handhabbar waren, also recht eng und klein beschrieben sein mussten. Es ist davor zu warnen, Schriftgröße und Zeilenabstand der großen neutestamentlichen Kodizes in den Befund zu projizieren. 26 „Welch kleines Pergament fasst den gewaltigen Maro (quam brevis inmensum cepit membrana Maronem)! “ (Mart. 14,186; Üb. B A R I É / S C H I N D L E R ). 27 „Zusammengedrängt auf winzigen Häuten ist der gewaltige Livius (pellibus exiguis artatur Livius ingens), den vollständig kann meine Bibliothek nicht fassen“ (Mart. 14,190; Üb. B A R I É / S C H I N D L E R ). 28 „Hier das Riesenpaket, für dich aus zahlreichen Blättern geschichtet (haec tibi multiplici quae structa est massa tabella), enthält fünfzehn Gesänge Nasos“ (Mart. 14,192; Üb. B A R I É / S C H I N D L E R ). Dass es sich um jeweils einen Kodex mit Homers Epen, mit dem Werk Vergils und mit Ovids Metamorphosen handelt und nicht um gekürzte Ausgaben, haben bereits R O B E R T S / S K E A T , Birth, 25, betont. Gegen B I R T , Kritik, 373-375; K E N Y O N , Books, 94. Zweifel wurden insbesondere angemeldet, ob Mart. 14,190 tatsächlich meinte, dass sich alle 142 Bücher von Livius’s monumentalem Werk in einem Kodex befunden hätten. Die Verwendung des Verbs artare könnte hier meinen, dass es sich um eine gekürzte Fassung handelt (s. Cic. de orat. 1,163; Sen. ep. 94,27; s. dagegen aber Hier. ep. 53,8, wo das Zusammenstellen von zwei Büchern in einem Buch gemeint ist). Vgl. die Diskussion bei R O B E R T S / S K E A T , Birth, 26 f, die zuletzt in Anknüpfung an O L I V E R , Titulature, 248 f, und J O H N S O N , Role, 77 f, mit Hinweis auf den narrativen Zusammenhang zu dem Fazit kommen: „In short, there are no good reasons for thinking that the Livy was anything other than a complete unabridged text“ (27). 29 Vgl. Mart. 14,188: „Wenn dies Pergament dein Begleiter ist, dann stelle dir vor, daß du eine weite Reise mit Cicero unternimmst“ (Üb. B A R I É / S C H I N D L E R ). Hier ist nicht klar, welchen Umfang von Ciceroschriften Martial voraussetzt. Vgl. R O B E R T S / S K E A T , Birth, 25 f. tive) Spezialbibliothek/ Studienbibliothek zu interpretieren ist. 23 Daneben belegt Martial aber Pergamentkodizes, die jeweils große Mengen Text umfassten: 24 Homers gesamte Ilias und Odyssee zusammen in pugillaribus membraneis, in einem[! ] Kodex, 25 das Werk Vergils, 26 der gesamte Livius 27 und Ovids Metamor‐ phosen jeweils in einem Kodex, 28 daneben Texte von Cicero in Kodexform als Reisebegleiter. 29 Zudem gibt es, wenn auch wenige, Hinweise auf weitere 100 2 Überblick über die Vielfalt der Lesemedien <?page no="101"?> 30 Vgl. die in P.Petaus 30 (P.Köln inv. 376) belegten Pergamentkodizes im 2. Jh. n. Chr., auf die W A L L R A F F , Kodex, 12, hinweist, und das Fragment des Werkes de bellis Macedonis, das aus einem paläographisch in das 2. Jh. datierbaren Pergamentkodex (P.Oxy. 1 30) stammt. S. zur Datierung R O B E R T S / S K E A T , Birth, 28, Anm. 2. 31 So z. B. W A L L R A F F , Kodex, 17 f; s. jetzt auch L A R S E N / L E T T E N E Y , Christians. 32 Vgl. z. B. B E C K E R , Schreiben, 82-89; W A L L R A F F , Kodex, 16-18. 33 Vgl. Mart.1,2,3 f. Vgl. dazu W A L L R A F F , Kodex, 10. 34 Die Kodexform als Buchform für die Reise wird auch im schon zitierten Brief von Kaiser Iulian an seinen Onkel belegt. Darin versichert Iulian ihm, dass er, abgesehen von Homer und Platon, keine weiteren Kodizes (πύκτια) mitnehme, und zwar weder philosophische noch rhetorische noch grammatische, noch historische Literatur. Vgl. Iul. ep. 29. 35 S. schon die kritisch abwägende Zusammenfassung bei R O B E R T S / S K E A T , Birth, 45-52; vgl. außerdem z. B. M C C O R M I C K , Birth, 157; E P P , Perspectives, 526-530; G L A S E R , Paulus, 316 f; zur Preisberechnung s. S K E A T , Length, 173-175. Die Preisberechnungen stehen allerdings unter dem methodischen Vorbehalt, die für die meisten wirtschaftsgeschicht‐ lichen Berechnungen antiker Preise gelten - die Quellengrundlage ist dürftig, selektiv, und da Faktoren wie v. a. Inflation und regionale wie saisonale Preisunterschiede eine Rolle spielen, für eine konkrete Berechnung aber die Forschungsdaten fehlen, sind die Berechnungen hoch spekulativ. Vgl. dazu z. B. B E Y E R , Geldpolitik, insb. 16-20, sowie die entsprechenden Beiträge in H A H L B O H M / W E B E R / Z S C H A L E R , Fluch. Es kommt bei dieser konkreten Berechnung hinzu, dass unterschiedliche Qualitäten der Beschreibmateria‐ lien in Betracht zu ziehen sind und sich Skeats Berechnungen auf Papyruskodizes und Pergamentkodizes ab dem 2. Jh. 30 Homer (und Platon) in einem Kodex für die Reise ist auch in einem Brief Iulians an seinen Onkel belegt (vgl. Iul. ep. 29). Es existieren keine sicheren Forschungsdaten, um den Anteil der Kodizes für literarische Texte im Vergleich zu Rollen z. B. im kaiserzeitlichen Rom (aber auch in anderen Städten des Römischen Reiches) zu bestimmen. Die Frage nach dem Grund für die Kodexpräferenz der frühen Christen wird kontrovers diskutiert und eine eindeutige Antwort wohl schwer zu finden sein. Vermutlich spielten verschiedene Faktoren eine Rolle. 31 Es ist nicht notwendig, die Diskussion hier vollständig zu rekapitulieren, da es zahlreiche, gut aufgearbeitete Überblicke über den Forschungsstand gibt. 32 Aufschlussreich für das hier verhandelte Thema der Lesepraxis sind allerdings diejenigen Antworten, die auf die Prakti‐ kabilität des Kodex als Lesemedium rekurrieren. Im Anschluss an die Form antiker Notiz- und Gebrauchsbücher in Tafelform (s. o.), die vor allem von Berufsgruppen wie Medizinern, Architekten, Lehrern usw. verwendet wurden, und an Martial, der auf einige praktische Vorzüge der Kodexform in Bezug auf seine Epigrammata explizit hinweist, 33 wird in der Forschung angenommen, dass der Kodex im Vergleich zur Rolle einfacher zu handhaben sei, nämlich mit einer Hand, wegen des geringeren Platzbedarfs besser zum Transport und für die Reise geeignet ist, 34 und mit geringeren Kosten verbunden sei, da beide Seiten beschrieben werden. 35 Zudem hat die 101 2 Überblick über die Vielfalt der Lesemedien <?page no="102"?> nicht auf Pergamentkodizes beziehen, die laut Martial ja durchaus günstiger gewesen sind (s. o.). 36 Angedeutet bei R O B E R T S / S K E A T , Birth, 50 f; G L A S E R , Paulus, 316 f. 37 Vgl. z. B. G A M B L E , Corpus, 276; F A N T H A M / H E I N Z E , Leben, 202. 38 Vgl. J O H N S O N , Sociology, 620; J O H N S O N , Education, 15. 39 Vgl. H O L Z B E R G , Horaz. 40 Vgl. G R A D L , Offenbarung, 450-452 [Zitat 450], mit Verweis auf F A U L S T I C H , Medium, 245 f, der seine Position rein thetisch postuliert. 41 Zu Vorteilen der Rolle s. B I R T , Buchwesen, 324. S K E A T , Notes, 62 f, arbeitet heraus, dass das Zurückrollen einer Buchrolle, genauso wie das Lesen einer Buchrolle, für antike Leser wahrscheinlich ohne großen Schwierigkeiten möglich war. Vgl. auch S K E A T , Origin, 265. S. dazu, dass die Buchrolle gerade nicht das eindimensionale, sequentielle Lesen determiniert, L U Z , Buchrolle, 269. Kodexform zumindest das Potential, eine Form der Lektüre zu beschleunigen, die diskontinuierliche und selektive Zugriffe auf Texte im Vergleich zur Rolle erleichtert - vor allem solche, bei denen häufiger größere Textmengen in Leserichtung oder auch gegen die Leserichtung übersprungen werden. 36 Umgekehrt bedeuten diese positiven Seiten des Kodex aber nicht automatisch ein gravierendes Defizit der Buchrolle. So wird zuweilen angenommen, dass Buchrollen unpraktisch waren und nur eine sequentielle, kontinuierliche Lek‐ türe zugelassen hätten. 37 W. A. Johnson versteht antike Buchrollen daher als performance scripts und negiert explizit, dass antike Bücher nur auszugsweise konsultiert bzw. etwas darin nachgeschlagen wurde. 38 Die Vorannahme der durch die Buchrolle determinierten sequentiellen Lektüre wird dann z. B. von N. Holzberg zum leitenden Kriterium der Interpretation erhoben. 39 Auch in der neutestamentlichen Forschungsliteratur findet sich die These der Determi‐ nation einer einzig möglichen Rezeptionsweise durch die Rollenform, und zwar z. B. bei H.-G. Gradl in Bezug auf die Apc: Die Buchrolle erzwinge eine bestimmte Nutzung, Johannes setze voraus, wenn er sein Werk als idealtypische Buchrolle konzeptualisiere, dass der Inhalt „nur als fließende Abfolge und organisches Nacheinander“ und zwar in Form oraler Performanz zu rezipieren wäre. Auch Gradl schließt ein Um- oder Vorausblättern und damit konsultierende und nachschlagende Zugriffe kategorisch aus. 40 Sowohl Johnson als auch Gradl verifizieren die These eines Zusammenhangs zwischen der Buchrolle und se‐ quentieller, kontinuierlicher Lektüre in performativen Kontexten nicht anhand von literarischen Quellen, sondern leiten sie lediglich aus der materiellen und „typographischen“ Beschaffenheit der überlieferten Papyrusfragmente bzw. einzelnen Abbildungen von Schriftrollen ab. Zudem übersehen sie Positionen in der Forschung, die ganz im Gegenteil die einfache Handhabung und die Vorzüge des Rollenformats hervorheben. 41 Etwas anderes ist die These von Skeat, der darauf hinweist, dass beim Lesen der Rolle das kein Umblättern der 102 2 Überblick über die Vielfalt der Lesemedien <?page no="103"?> 42 Vgl. S K E A T , Roll. 43 So auch die Warnung bei H A R N E T T , Diffusion, 228 f. 44 Vgl. dazu M R O C Z E K , Thinkink, die die Verknüpfung von Rollenformat und einem linearen Textverständnis problematisiert und auf die Gefahren eines materiellen De‐ terminismus hinweist („the dangers of naturalizing certain modes of text production and reading as inherent to particular materialities“ [244, Herv. i. Orig.]). Seiten den Leseprozess unterbricht. 42 Freilich bleibt eine Unterbrechung durch den Kolumnenwechsel bestehen, sodass die These eines panoramic aspect beim Lesen einer Rolle als Unterschied zum Lesen eines Kodex nicht überbewertet werden sollte. Die folgende Analyse der Leseterminologie wird zeigen, dass die Buchrolle vielfältige Lesepraktiken zuließ. Es ist unbedingt zu vermeiden, unsere Ge‐ wohnheiten im Umgang mit Lesemedien bzw. unsere Schwierigkeiten mit den Überresten antiker Schriftkultur in den Befund zurückzuprojizieren. 43 In methodischer Hinsicht ist daraus zu schlussfolgern, dass allein auf der Grundlage der Materialität antiker Schriftmedien keine sicheren Schlussfolge‐ rungen im Hinblick auf die (intendierten und historisch tatsächlich realisierten) Rezeptionsweisen möglich sind. 44 Vielmehr unterstehen alle am Material ge‐ wonnenen Hypothesen dem Vetorecht der literarischen und dokumentarischen Textquellen. 103 2 Überblick über die Vielfalt der Lesemedien <?page no="105"?> 1 Vgl. zum Folgenden C H A N T R A I N E , verbes, 115-121; A L L A N , ΑΝΑΓΙΓΝΩΣΚΩ. 2 S. dazu weiterführend (auch zur Etymologie) den aufschlussreichen Eintrag im korpus‐ linguistisch fundierten Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, der auf weitere wichtige Wörterbücher, wie etwa das Grimm’sche, verlinkt: www.dwds.de/ wb/ lesen (zuletzt eingesehen am 24.10.2018). 3 Vgl. den Eintrag im LSJ. In diesem Sinne wird ἀναγιγνώσκω in jedem Fall bei Artem. on. 1,53 verwendet; als Objekt des Wiedererkennens/ Lesens werden hier Buchstaben (γράμματα) genannt. Allerdings lässt sich dies nicht verallgemeinern, da es sich hier um eine sehr spezifische Lexemverwendung handelt, wie im Folgenden deutlich wird. Vgl. auch C H A N T R A I N E , verbes, 115. 4 So L U Z , Buchrolle, 265, die sagt, dass der durch die Buchstaben verschlüsselte Sinn „wiedererkannt“ werde. Vgl. ferner auch S V E N B R O , Griechenland, 69 f. 5 Angedeutet bei S V E N B R O , Ameisenwege, 15 f. 6 Vgl. K A R R E R , Instrument, 404. 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische 3.1 Lesen als (Wieder)Erkennen 3.1.1 Ἀναγιγνώσκω Ἀναγιγνώσκω gilt als das gängigste Verb, das im Griechischen das Phänomen „Lesen“ bezeichnet. 1 Im Vergleich etwa zum Deutschen ist dies interessant, da die Grundbedeutung dieses präfigierten Verbes, „wiedererkennen“, sich in se‐ mantischer und etymologischer Hinsicht deutlich vom deutschen Verb „lesen“ 2 und von den äquivalenten Lexemen in den semitischen Sprachen (z. B. die Wurzel ארק [rufen] im Hebräischen; s. u. 7.1.1) und in den romanischen Sprachen (leggere, lire, leer, ler) unterscheidet, die etymologisch auf das lateinische legere zurückzuführen sind. Allerdings ist sich die Forschung keineswegs einig, worauf sich das „Wiedererkennen“ im Lesevorgang bezieht: Werden die Buchstaben 3 oder die einzelnen Silben wiedererkannt? Geht es um den Moment des Verste‐ hens („Wiedererkennens“) des aus den Buchstaben, Wörtern und Sätzen, also aus dem Text zu erhebenden Sinnes? 4 Oder womöglich sogar der in den Text „eingeschriebenen“ Stimme? 5 M. Karrer rekonstruiert in Bezug auf Apc 1,3 aus der Semantik des Präfixes ἀνά- und des Verbes γιγνώσκω die Bedeutung die Erkenntnis (γιγνώσκω) des Textes hinaufheben (ἀνά) vor die Ohren. 6 Eine vor‐ schnelle Entscheidung dieser Fragen, die ein bestimmtes Verständnis der durch <?page no="106"?> 7 Gegen B U L T M A N N , Art. ἀναγινώσκω: ἀ. „wird meist in der Bedeutung von lesen bzw. vorlesen (beides fällt im Altertum zusammen) gebraucht“ [Herv. im Original]. Entsprechend der Kritik an der Konzeption des THWNT von B A R R , Semantics, insb. 206-219, ist zu konstatieren, dass es sich bei dem Artikel nicht um eine primär linguistisch orientierten Beschreibung eines griechischen Lexems handelt, sondern ein vorausgesetztes Konzept ‚Vorlesen im antiken Christentum‘ knapp skizziert wird. Ferner auch gegen S V E N B R O , Griechenland, 70, der das Verb mit der mündlichen Realisation der scriptio continua durch die Stimme verknüpft: „Der entscheidende Moment, der Moment der (Wieder-)Erkennung ist jener, wo sich die auf den ersten Blick hinsichtlich ihres Sinns undurchsichtigen und folglich immer zufällig ausgewählten Buchstaben dank der lesenden Stimme als Buchstaben mit Sinn erweisen“ (S V E N B R O , Griechenland, 69). Vgl. dazu meine Ausführungen unter 4. 8 Auch wenn der Gebrauch von ἀναγιγνώσκω im Sinne von „lesen“ in Relation zur Grund‐ bedeutung des Verbes nicht im eigentlichen Sinne ein metaphorisch konzeptualisiertes Phänomen ist, bietet es sich hier doch aus analytischen Gründen an, auf metaphorologische Metasprache zurückzugreifen. 9 Es handelt sich wohl um die meroitische Schrift. Vgl. BGrL 34, 320. das Paradigma der primär durch Mündlichkeit geprägten antiken (Lese-)Kultur voraussetzt, sollte aus methodologischen Gründen vermieden werden. 7 Denn es ist unklar, inwiefern der etymologische und semantische Gehalt des Lexems in der Kommunikation über und Reflexion des Lesens in der Antike im Bewusstsein war oder - was m. E. nach der Durchsicht des Quellenbefundes am wahrscheinlichsten ist - schon vollkommen verblasst war und das Verb als terminus technicus verwendet wurde. 8 Diesbezüglich sei an dieser Stelle exemplarisch auf die Ausführungen Diodors zu einer Hieroglyphen-Schrift 9 verwiesen. „Damit wir nichts von den Altertümern auslassen, müssen wir von den äthiopischen Buchstaben noch einmal sprechen, die die Ägypter Hieroglyphen nennen. Die Schrift‐ zeichen gleichen Lebewesen, menschlichen Gliederung und Werkzeugen, und zwar besonders denen von Zimmerleuten. Ihre Bedeutung aber beruht nicht darin, daß etwa die Aneinanderreihung von Silben ein Wort ergibt, sondern dies geschieht aus dem Bilde selbst und dessen übertragenem Sinne, den man sich durch Übung ins Gedächtnis eingeprägt hat. So zeichnet man Habichte, Krokodile, dazu Schlangen, von den menschlichen Körperteilen Auge, Gesicht, Hand und ähnliches. […] Man geht vom Symbolgehalt aus, der jedem der Zeichen zugrunde liegt, und trainiert durch langjährige Übung und Auswendiglernen die Geistesfähigkeiten, dass man das Geschriebene leicht bzw. schnell zu lesen vermag (καὶ μελέτῃ πολυχρονίῳ καὶ μνήμῃ γυμνάζοντες τὰς ψυχάς, ἑκτικῶς ἕκαστα τῶν γεγραμμένων ἀναγινώσκουσι)“ (Diod. 3,4; Üb. W I R T H ; modifiziert JH). Diodor verwendet ἀναγιγνώσκω hier eindeutig als terminus technicus, mit dem er in kognitionspsychologischer Perspektive das geübte und schnelle Lesen 106 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="107"?> 10 Das Motiv des „Trainierens“ der ψυχή ist z. B. auch bei Philo sacr. 85 bezeugt. 11 Die Verwendung von ἀναγιγνώσκω bei Isokrates ist von S. Usener untersucht worden (vgl. insb. U S E N E R , Isokrates, 74-97). Sie kommt zu dem Ergebnis: Der größte Teil der Belegstellen für das Verb ἀναγιγνώσκειν hat „die Bedeutung ‚vorlesen‘. Ἀναγιγνώσκειν in dieser Bedeutung ist in der Hälfte der Fälle Gerichtsredeterminus und bezieht sich auf das Verlesen unterschiedlicher Textzeugnisse (Gesetze, Eide, Briefe). […] Die andere Hälfte ist auf das Vorlesen von Isokrates’ Schriften vor einem Publikum bzw. auf das Vorlesen von Texten allgemein bezogen“ (U S E N E R , Isokrates, 75). Dabei ist zu beachten, dass die Beurteilung der Stellen, die sie für letzteres heranführt, von ihrem Ergebnis im vorhergehenden Kapitel abhängig ist, dass die Schriften von Isokrates „für die Rezeption vor einem Hörerpublikum konzipiert sind“ (U S E N E R , Isokrates, 75, Anm. 7) und sich ihre Schlussfolgerungen aus einer vereindeutigenden Interpretation der verba audiendi im Hinblick auf die Rezeption eines in einer Gruppe vorgelesenen Textes der fremden Schriftzeichen aus der Außenperspektive bezeichnet. Die hier gemeinte Form des Lesens setzt die kognitive Internalisierung der Bedeutungen der Schriftzeichen und langjähriger Übung der ψυχή voraus. 10 Die Stelle ist insofern aufschlussreich, als es hier nicht um das Wiedererkennen von Buch‐ staben und Wörtern geht, auch nicht um die einzelnen Zeichen, sondern um das Geschriebene (Partizip von γράφω) insgesamt, womit Diodor mutmaßlich auf einen zusammenhängenden Hieroglyphen-Text rekurriert. Diodor hat also einen kompetenten Leser vor Augen, der Hieroglyphen-Texte flüssig lesen kann. Der Unterschied zu den Hauptleseverben in den semitischen und romani‐ schen Sprachen ist insofern bedeutsam, als es sich bei dem Verb eindeutig um einen Kognitionsbegriff handelt und damit anders als beim metaphorischen Hin‐ tergrund des lateinischen Hauptleseverbs lego ein ganz anderer Schwerpunkt gelegt wird. Im Deutschen kann man m. E. am ehesten die durchaus geläufige Umschreibung des Lesevorgangs „einen Text o. ä zur Kenntnis nehmen“ äqui‐ valent zu ἀναγιγνώσκω verstehen. Zum konkreten Verwendung des Verbes im Sinne von „lesen“ lässt sich aus dem breiten Quellenbefund das Folgende sicher sagen: ἀναγιγνώσκω bezeichnet sowohl a) das Vorlesen vor einer anderen Person oder b) vor einer Gruppe (häufig einer politischen Versammlung), wobei der Adressat/ die Adressaten des Vorlesens meist im Dativ angegeben werden, aber auch häufig c) die individuell-direkte Lektüre. Ad a) vgl. z. B. Xen. Kyr. 4,5,26; Aristoph. Eq. 1011; Plut. Alex. 46; Dion 14; Dion Chrys. or. 18,21: καὶ εἰ ἀναγιγνώσκειν με δέοι σοῦ ἀκροωμένου …; 30,7 f); Epikt. diatr. 2,1,30; 3,23,6; Est 6,1 LXX; äthHen 13,4; Herm. vis. 1,2,1-1,3,2; Mak. apokr. 3,5,5; Ios. bell. Iud. 1,25,2 (502); Athen. deipn. 13,1 (555a); SB 14 12139,3,14 f. Ad b) vgl. z. B. Thuk. 7,10; Xen. hell. 5,1,30; 7,1,37.39; Plat. Tht. 143b; Plat. Parm.127c/ d; Isokr. passim; 11 Diod. 14,3,6; 18,8,3 f (Subjekt des Vorlesens ist hier ein κῆρυξ); Dion 107 3.1 Lesen als (Wieder)Erkennen <?page no="108"?> ergeben (s. dazu die Ausführungen unter 3.2). Zudem stellt sie nicht in Rechnung, dass auch eine publizierte Rede, die in der Realität niemals als solche gehalten wurde, die Fiktion der Kommunikationssituation einer prototypischen Rede enthalten sollte, um von den Rezipienten als Rede wahrgenommen zu werden. Es ist zwar richtig, dass einige Belegstellen nahelegen, dass Isokrates auch mit dem Vorlesen seiner Reden rechnete, die Rezeptionsweise in der Form individuell-direkter Lektüre setzt er mindestens gleichwertig voraus (s. die Diskussion weiterer Belege im Rahmen dieser Studie). Daraus erklärt sich dann auch die scheinbar widersprüchliche Bezeugung, die Usener mehrfach konstatiert (vgl. v. a. U S E N E R , Isokrates, 81 f). Chrys. or. 44,12; 45,15; Plut. symp. 1,4,3 (mor. 621c/ d); Pomp. 59; Ant. 78; Cato min. 51; conv. sept. sap. 8 (mor. 152 f); Ios. bell. Iud. 1,33,8 (667 f); Polyain. strat. 8,17; Athen. deipn. 4,65 (168b); Charit. Cal. 4,6,5; App. civ. 2,19,142; Cass. Dio 54,25,5 (Augustus spricht im Senat aufgrund von Heiserkeit nicht selbst, sondern lässt einen Quästor sein Manuskript vorlesen); Chaniotis, Verträge, Nr. 32,1 f.5; Nr. 50,12 f; Nr. 59,30-35; IG II 3 1 292,48; IG II 3 1 306,10; IG II 3 1 1273,14; P.Oxy. 1,59, Z. 8. Erwartbarerweise findet sich diese Lexemverwendung sehr häufig in Reden: vgl. exemplarisch Demosth. or. 12,2; 20,94 u. v. ö.; Lys. or. 1,28 ff u. ö.; Isa. or. 3,43; App. civ. 2,20,144; als Vorleser tritt hier häufig ein Gerichtsredner (γραμματεύς) auf. Vgl. exemplarisch Aischin. Tim. 2.11.34 u. ö.; Isa. or. 3,53; 5,3; Men. Rhet. epideikt. 2,391; 2,400. Vgl. außerdem in der LXX exempl. Ex 24,7; 1Makk 14,19; 1Bar 1,3.14; Ps.-Hek 6.8. Ad c) Vgl. aus der Vielzahl der potentiell aufzuzählenden Quellen z. B. die eindrück‐ lichen Belegstellen Isokr. or. 2,55; 12,216.231.268; Ps.-Aristot. probl. 18,1.7; Plut. de Alex. fort. 2,7 (mor. 340a); Alex. 19; 23 u. ö.; Cato min. 16.70; Brut. 36; Caes. 65; symp. 1,5,2 (mor. 623a); 3,7,2 (mor. 656a); Pomp. 79; reg. et imp. 92,5 (mor. 207b); de garr. 5 (mor. 504c); resp. ger. 12 (mor. 790d) Epikt. diatr. 4,6,11-15; impliziert auch bei Plat. Tht. 152a (vgl. A L L A N , 1980, hier 244.); Epikt. diatr. 1,25,6 u. ö.; Demosth. or. 28,14; Ios. c. Ap. 2,37; Epikt. diatr. 1,4; Lukian. Herm. 82; Ael. var. hist. 14,12 (hier zeigt der Kontext eindeutig, dass ἀναγιγνώσκω auf individuell-direkte Lektüre referenziert, da der Perserkönig, wenn er unterwegs war, in seinen Händen kein Buch, sondern ein Lindenholzbrettchen und ein Messer hatte, um jenes zu glätten). Vgl. ferner Gal. PHP 7,8,13; 8,5,39; Dion. Hal. comp. 4; Hld. 4,9,1; Orig. Cels. 1,16; 1,62; 3,33 u. ö.; Ps.-Ign. Maria 3,2; Iohan. Ant., fr. 212. Eindeutige Belegstellen finden sich auch in den dokumentarischen Papyri. Vgl. z. B. den Brief (41 n. Chr.), in dem Serapion schreibt: „Schließlich erhielt ich nun von dem Araber den Brief, las ihn und wurde betrübt (… καὶ ἀνέγνων καὶ ἐλυπήθην)“ (BGU 4 1079,6-9). Vgl. auch BGU 2 531,4. Bezüglich der individuell-direkten Lektüre kann aus dem Lexemgebrauch ohne sichere Markierungen im Kontext nicht geschlossen werden, ob mit stimmlicher Realisierung oder ohne stimmliche Realisierung gelesen wurde. Ein eindeutiger und früher Beleg (4. Jh. v. Chr.) dafür, dass ἀναγιγνώσκω nicht-vokalisierende, 108 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="109"?> 12 Das Adjektiv φανερός (s. dazu ferner auch das Verb φαίνω in Aen. Tact. 31,16) gehört eindeutig in den Bereich der visuellen Wahrnehmung. Würde die These stimmen, dass in der Antike auch „laut geschrieben“ (s. Anm. 107, S. 42) worden wäre, hätte man hier eigentlich einen Begriff der auditiven Wahrnehmung (etwa „vor seinem Ohr“) erwartet. Die gewählte Formulierung hier deutet allerdings darauf hin, dass der Brief ohne Vokalisierung geschrieben worden ist. Diesbezüglich ist ferner auf das sog. Schweigegedicht Greg. Naz. carm. 2,1,34A 1 f (vgl. K U H N , Schweigen), in dem Schreiben als Alternative zum Sprechen konzeptualisiert ist. 13 Nicht-vokalisierend muss man sich auch das Lesen des Briefes des Königs in Alki. 4,19 vorstellen, da Glykera, die Briefempfängerin, ihn beim Beten im Tempel las: „Den Brief des Königs, den Du mir mitgeschickt hast, habe ich auf der Stelle gelesen (εύθύς άνέγνων). Bei Kalligeneia, in deren Tempel ich jetzt bete, Menander, ich war außer mir vor Freude und konnte sie den Anwesenden nicht verbergen“ (Üb. P L A N K L ). Erstens hätte Glykera die anderen Personen im Tempel mit vokalisierender Lektüre gestört, zweitens ist die Informa‐ tion, dass sie ihre Freude nicht zurückhalten konnte ein deutliches Indiz dafür, dass die Umstehenden den Inhalt des Briefes gerade nicht gehört haben. Auch wenn Ps-Aristoteles darüber reflektiert, dass Menschen beim individuell-direkten Lesen einschlafen, und er in seiner Begründung vor allem auf kognitive Prozesse der Verarbeitung des Gelesenen individuell-direkte Lektüre bezeichnen kann, findet sich in Antiphanes’ Sappho (fr. 194: Athen. deipn. 10,73 [451a/ b]): ἕτερος δ᾽ ἂν τύχῃ τις πλησίον ἑστὼς ἀναγιγνώσκοντος οὐκ ἀκούσεται. Ebenfalls im 4. Jh. v. Chr. findet sich bei dem Militärschriftsteller Aineias Taktikos die Behandlung der Nutzung von Geheimbriefen und Verschlüsselungs- und Verbergungsmöglichkeiten (Aen. Tact. 31,1-23). Eine Möglichkeit bestehe darin, einen kleinen Brief im Leder einer Sandale unbemerkt vom Träger der Sandale zu verstecken und wenn dieser am Zielort schläft, den Brief zu lesen (καὶ ἀναπαυομένου ἐν τῇ νυκτί, ἀναλυέτω τὰς ῥαφὰς τῶν ὑποδημάτων, καὶ ἐξελὼν καὶ ἀναγνούς; Aen. Tact. 31,4). Damit dies unbemerkt vom Boten geschieht, muss der Leser diesen nicht-vokalisierend lesen. Ein weiterer, thematisch verwandter und eindrücklicher Beleg findet sich bei Plutarch in seiner Lysandros-Biographie: Der spartanische Feldherr Lysandros überbringt den Ephoren einen Brief des persischen Feldherren Pharnabazos, von dem Lysandros meint, es handle sich um den Brief, den Pharnabazos vor seinen Augen (φανερός) 12 geschrieben habe. In Wahrheit überbringt er allerdings einen anderen Brief, den Pharnabazos beim Versiegeln heimlich ausgetauscht hat. Die Ephoren lesen den Brief in seiner Anwesenheit (ἐπεὶ δὲ ἀναγνόντες οἱ ἔφοροι τὴν ἐπιστολὴν), aber erst als sie ihm den Brief gezeigt haben (ἔδειξαν αὐτῷ) - hier wird eine optische Wahrnehmung des Schriftstücks vorausgesetzt -, erkennt er, dass Pharnabazos ihn betrogen hat (vgl. Plut. Lys. 20,1-4; s. auch Polyain. strat. 7,19). Sie müssen den Brief also zuvor (ob nacheinander oder gleichzeitig auf das Schriftstück schauend, kann nicht erschlossen werden) ohne Vokalisierung gelesen haben. 13 109 3.1 Lesen als (Wieder)Erkennen <?page no="110"?> rekurriert (vgl. Ps.-Aristot. probl. 18,1 [916b]), ist dies einfacher vor dem Hintergrund einer nicht-vokalisierender Form nachvollziehbar. 14 Vgl. exempl. Plut. Cato min. 19, der berichtet, dass Cato im Senat, während die anderen Senatoren sich langsam auf ihre Plätze begaben, nicht-vokalisierend las und dabei seine Toga vor dem Buch hielt (ἀνεγίνωσκεν ἡσυχῇ, τὸ ἱμάτιον τοῦ βιβλίου προϊσχόμενος); ähnlich soll Antonius erotische Briefe von Kleopatra bei Gerichtsversammlungen gelesen haben (vgl. Plut. Ant. 58); vgl. außerdem Plut. poet. aud. 3 (mor. 18c); 14 (mor. 36e); de fortuna 6 (mor. 100a); Alex. 23; Epikt. diatr. 2,18,2; 3,5,11. 15 Häufig in Verbindung mit der Fähigkeit zu schreiben. Vgl. exempl. Xen. mem. 4,2,20; oec. 15,7; Plat. leg. 7,810b; Jes 29,11 f LXX; Philo agr. 18 (s. u. 7.2.1); congr. 148; Clem. Al. paid. 3,78,2 (ohne Verbindung zum Schreiben); Muson. diatr. 16; Dion Chrys. or. 10,28; M. Aur. 11,29. 16 Vgl. z. B. Aristoxenos fr. 132; Plut. Alex. 4 (Angabe eines Quellenverweises); Non. Dion. 12,69 (Zitateinleitung); v. a. im griechischen AT und NT: Dtn 17,19 LXX; Neh 8,3.8.18 LXX u. ö.; Jer 43,6 LXX; 43,8.10 u. ö.; Mt 12,5; 21,42; vgl. auch TestJud 18,1; TestDan 5,6; TestNaph 4,1; TestAss 7,5. 17 Vgl. z. B. Xen. oik. 15,7; Plat. polit. 2,368d; Demosth. or. 20,78; γράμμα (Plut. Pyrrh. 2,6; 1Esr 3,14 LXX); σύγγραμμα; (Plut. symp. 1,4,3 [mor. 621c/ d]) γραμματεῖον (Demosth. or. 28,14; Aristoph. Nub. 19); ἀπογραφή (Lys. or. 17,9; 19,27); ἀντίγραφος (Aischin. Tim. 1,115); γραμματείδιον μικρόν (Plut. Brut. 5); Jer 43,21 ff LXX erzählt, dass Jehudi einzelne Spalten (σελίς) eines Textes liest und danach von dem Schriftstück in Rollenform abschneidet und nacheinander verbrennt. Galen berichtet von einer Szene in einem Buchladen, in der jemand die ersten beiden Zeilen eines fälschlicherweise als eine Schrift Galens ausgegebenen Buches liest: καὶ δύο τοὺς πρώτους στίχους ἀναγνοὺς … (Gal. lib. prop. ed. K Ü H N 19, p. 9). Zusätzlich zu den in der Einleitung beschriebenen methodischen Problemen, zeigen die individuell-direkten Lektüreszenen, die potentiell mit nicht-vokali‐ sierendem Lesen verbunden sein können, dass eine generelle Übersetzung des Verbes mit „vorlesen“ unzulässig ist. Dies lässt sich zusätzlich an einer Szene in Lukians Symposion (Lukian. symp. 21), in der ein Brief vorgelesen wird, verdeutlichen. Und zwar hat hier ein Haussklave (οἰκέτης) die Aufgabe, einen Brief ἐν τῷ κοινῷ zu lesen, und zwar „zum Hören für alle“ (εἰς ἐπήκοον ἅπασιν). Die letzte Bestimmung wäre redundant, wenn das Verb generell „vorlesen“ bedeuten würde. Eine Vorleseszene muss also (zumeist durch die Angabe der Adressaten, s. o.) ebenfalls kontextuell eindeutig markiert sein. Das Verb kann absolut den Akt des Lesens 14 an sich oder die Lesefähigkeit 15 bezeichnen. Einen Bedeutungswandel des Verbs in diachroner Hinsicht festzu‐ stellen, erscheint mir nach der Durchsicht der Quellen angesichts der breiten Bezeugung der meisten Bedeutungsnuancen nicht möglich. In den meisten Fällen ist das Objekt des Lesens in Form einer Akkusativ-Ergänzung (sporadisch ἐν mit Dativ 16 ) eindeutig etwas Geschriebenes  17 - z. B.: 110 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="111"?> 18 Aus dem Zusammenhang kann nicht geschlossen werden, dass jemand Alexander die Inschrift „laut“ vorgelesen hat. Gegen S T R O B A C H , Sprachen, 158; R I C H A R D S , Secre‐ tary, 10, Anm. 57; R I C H A R D S , Paul, 184 f. Dass Alexander nach der Erstlektüre der fremdsprachlichen Inschrift auf dem Grabmal Kyros’ II. befahl, den Text der Inschrift in „griechischen Buchstaben“ (also vermutlich als Übersetzung) darunter zu meißeln, und Plutarch erst dann beschreibt, welche Reaktion der Inhalt bei Alexander auslöste, könnte lediglich darauf hindeuten, dass er den Text vorher zwar lesen - möglicherweise ist an ein rein visuelles Erfassen gedacht (s. zum engen Verknüpfung der visuellen Wahrnehmung und der Rezeption von Inschriften die Ausführungen unter 3.8) -, aber nicht verstehen konnte. Zudem ist es nicht ausgeschlossen, dass sich Alexander d. Gr. im Rahmen seiner Akkulturationsbemühungen die persische Sprache (zumindest Grundkenntnisse) angeeignet hat; immerhin ist überliefert, dass der „Leibwächter“ Alexander d. Gr., Peukestas, eine persische Lebensweise angenommen und auch die Sprache erlernt hat, wofür ihn, wie Arrian bezeugt, Alexander d. Gr. lobte. Vgl. Arr. an. 6,30,2 f (vgl. z. St. L I O T S A K I S , Alexander, 147 f) außerdem Diod. 19,14,4-19,15,2. Eine weitere Lesezsene einer Inschrift mit einer Reihe von Lebensmitteln im Palast von Kyros findet sich bei Polyain. strat. 4,3,32. Hier ist eindeutig, dass die Inschrift zunächst von Alexander selbst (Ἀλέξανδρος ἐν τοῖς Περσῶν βασιλείοις ἀνέγνω τὸ βασιλέως ἄριστον καὶ δεῖπνον ἐν κίονι χαλκῷ γεγραμμένο …) und dann erst von den übrigen Makedonen gelesen wird (ταύτην τοῦ δείπνου τὴν παρασκευὴν οἱ μὲν ἄλλοι Μακεδόνες ἀναγνόντες ἐθαύμασαν ὡς εὐδαίμονα). Briefe: überrepräsentiert in den Quellen: vgl. z. B. Thuk. 4,50; 7,10; Xen. Kyr. 4,5,26; Xen. an. 1,6,4; 3,1,5; (Ps.)-Plat. epist. 2,314c (Aufruf zur iterativen Lektüre eines Briefes, bevor er verbrannt werden soll); Demosth. or. 12,2; 18,21; 19,35 f.187; 23,115 u. ö.; Aischin. Leg. 50; Polyb. 8,18,2; Diod. 2,18,2; 5,28,6 (Hier ist ein interessantes Ritual bezeugt, bei der Feuerbestattung einen Brief ins Feuer zu werfen, damit der Verstorbene diesen lesen kann.); Plut. Pomp. 59; Plut. Alex. 39; Plut. Ant. 10 u. ö.; Plut. Caes. 30,2; Plut. Cic. 15; Plut. curios. 15 (mor. 522d); Plut. resp. ger. 11 (mor. 790a); Epikt. diatr. 1,9,28; P.Eleph. 9,4 f; SB 18 13867,1 [=P.Mich. 14 679]; P.Oxy. 16 1837, 2; IG 14 830,22; 1Esr 2,26 LXX; 1Makk 10,7; ParJer 7,21.36; TestSal A 22,6; Ios. ant. 8,2,7 (53); bell. Iud. 1,32,6 (643); Iul. ep. 5 [425c/ c]. Vgl. im NT 1Thess 5,27; Kol 4,16 (in Act 15,31 u. 23,34 elliptisch). Inschriften: Vgl. z. B. Demosth. or. 19,270; 20,112; Aischin. Ctes. 119; Plut. Pomp. 27; Lyk. 20,5 (deutet auf die Selbstverständlichkeit hin, Inschriften wahrzunehmen und zu kommentieren); Alex. 69; 18 de tranq. anim. 6 (mor. 467e); de Pyth. or. 15 (mor. 401c); de mul. vir. 17 (mor. 254d), hier auf einem Metallplättchen; Plut. de tranq. anim. 6 (mor. 467e); curios. 11 (mor. 520d/ e); Lukian. Alex. 34 (Wandinschrift in einem Haus in goldenen Buchstaben); Lukian. rh. pr. 18; dial. meretr. 4,2; dips. 6; Anarch. 22 (Größe der Buchstaben wird hervorgehoben); Ael. var. hist. 13,3; bei Diod. 1,27,6 geht es um die Lesbarkeit des auf zwei Grabstelen Geschriebenen: „So viel, so sagen sie, könne man von den Inschriften noch lesen, das übrige sei bei der Länge der Zeit 111 3.1 Lesen als (Wieder)Erkennen <?page no="112"?> 19 Vgl. zur schlechten Lesbarkeit einer verwitterten Grabinschrift ferner Lukian. Scyth. 2. verdorben“ (Üb. W I R T H , modifiziert JH). 19 Hier meint αναγιγνωσκω eindeutig das visuelle Wahrnehmen des Geschriebenen. Gesetze, Beschlüsse, Verträge, Petitionen, Dokumente in Gerichtskontexten u. ä.: Vgl. z. B. Thuk. 3,49; ψήφισμα (Demosth. or. 13,32; 18,28.118 u. ö.; Lys. or. 13,33.35 u. ö. Ai‐ schin. Leg. 2,50; Lykurg. 1,36.114 u. ö.; Plut. Phoc. 35); πρόκλησις (Demosth. or. 29,50; 30,36); προβούλευμα (Demosth. or. 19,35); νόμος (Demosth. or. 20,27.88.94.102 f.153; 21,8.10 u. ö.; Lys. or. 1,28.30 f; 10,14 f u. ö.; Aischin. Tim. 1,11.34 u. ö.; Isa. or. 10,10; 11,1 u. ö.; Plut. Cato min. 16; Plut. apophth. lac. 34,1 (mor. 221b), hier ist ein didaktischer Zweck des Lesens im Blick; App. civ. 1,1,11; vgl. in der LXX Dtn 31,11); δόγμα (Demosth. or. 25,62; Aischin. Ctes. 69); eine Auflistung [ἀριθμός] als Anhang eines Dekrets (Demosth. or. 18,305); ἐντευξίδιον (Epikt. diatr. 1,10,10); μαρτυρία (Demosth. or. 18,267; 27,8.17.22.26.28 u. ö.; Aischin. Tim. 1,65.69.100 u. ö.; Isa. or. 2,16; 11,46 u. ö.; Lykurg. 1,19.23 u. ö.; Plut. Cato min. 48; ἐκμαρτυρία (Aischin. Leg. 2,19); δοκιμασία (Polyb. 3,9); διαθήκη (Plut. Brut. 20); ἐπίλεγμα (P.Grenf. 1 37,15); κεκριμ]ένα (P.Oxy. 41 2955,10); ἐπίσταλμα (P.Oxy. 1 59,8); βιβλίδιον (SB 5 7558,13 f); τὰ κεκελευσμένα (BGU 1 15 col 1,14 f). Berichte oder Befehle: Vgl. z. B. Ios. bell. Iud. 2,2,4 (25); 2,16,1 (333 f). Verschiedenste Alltagstexte: Vgl. z. B. ein Schuldbuch in Plut. mor. 829e; die Auf‐ schriften auf einer Wasseruhr für die Fernkommunikation (vgl. Polyain. strat. 6, 16,2); Aufschrift auf den Seitenwänden von Schiffen (vgl. Polyain. strat. 1,30,7); handschriftliche Notizen (χειρόγραφος) z. B. in TestHiob 11,11 (hier ein Schuldschein); ein pittacium in IG 14 830,38; ein Testament in P.Cair.Goodsp. 29,3,1. Memoiren/ Aufzeichnungen: ὑπομνήματα (Demosth. or. 21,130; Diod. 17,4,5; App. Mac. 1,6; Athen. deipn. 3,25 (83a/ b) Gal. Thras. 4 [ed. K ÜH N 5, p. 810]). Bücher: Dies kann ganz unterschiedlich angegeben werden. Vgl. z. B. σύνταξις (Werk, Komposition) bei Epikt. diatr. 1,4,6; 2,19,10; aber συγγράμματα (vgl. z. B. Polyain. strat. 5 praef.; Gal. PHP 6,3,30). Häufig findet sich die (allerdings mehrdeutige) Bezeichnung βιβλίον. Vgl. z. B. Plut. Cato min. 70; Artem. on. 3,66 [ed. Pack, p. 235,7]; Gal. san. tuend. ed. KÜHN 6, p. 347. Aus dem Kontext wird deutlich, dass es sich um Platons Phaidon handelt, den Cato vor seinem Tod zweimal liest: ἔλαβεν εἰς χεῖρας τῶν Πλάτωνος διαλόγων τόν περὶ ψυχῆς (Plato. Cato min. 68,2; vgl. dagegen die Varianten dieser Geschichte bei App. civ. 2,14,98 f; Plut. non posse suav. 10 (mor. 1093a). Gelesen werden aber z. B. auch τὰ Ὁμήρου ποιήματα (Lukian. Gall. 2; s. auch Iupp. conf. 1). 112 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="113"?> 20 Vgl. z. B. Dio Chrys. or. 66,20; Plut. symp. 3,6,1 (mor. 653c); Plut. de Alex. fort. 1,5 (mor. 328e); Plut. de garr. 21 (mor. 513b); 22 (mor. 514c); Plut. Adv. col. 19 (mor. 1118a); Epikt. diatr. 2,12,15; Gal. meth. med. ed. K Ü H N 10, p. 26,8 f; Athen. deipn. 1,10 (6d); 9,65 (402a). Vgl. ferner 4Makk 18,11, wo die Kurzzusammenfassung des Inhalts, die einer Perikopenüberschrift gleicht, für den gelesenen Text steht. Zum Lesen eines Titels s. auch Lukian. hist. congr. 32. 21 Vgl. exempl. Plat. Tht. 143b; Epikt. diatr. 1,4,9; 1,20,14; 3,2,12 f; 4,9,6; Clem. Al. strom. 5,48,1. 22 Vgl. S C H E N K E V E L D , Prose, 134 mit Verweis u. a. auf Apollon. Dysk. synt. 3,182 (ed. U H L I G , p. 425,5; Epikt. diatr. 1,4,9; 3,2,13-15; Dion. Hal. Lys.11 (ed. U S E N E R / R A D E M A C H E R 5, p. 19,6 f); imit. 6,4 (ed. U S E N E R / R A D E M A C H E R 6, p. 210,11 f). 23 Vgl. z. B. Gal. foet. form. 1 [ed. K Ü H N , p. 653]: „wobei er nicht einmal die von Hippokrates gemachten Ausführungen, […] gelesen hatte (μηδὲ τὰ πρὸς Ἱπποκράτους εἰρημένα […] ἀνεγνωκώς)“ (Üb. N I C K E L ). 24 Protagoras und Prodikos von Keos sollen Geld mit dem Vorlesen von Reden verdient haben. Vgl. Diog. Laert. 9,8,50. Vgl. die eindrückliche Formulierung „viele tausend Zeilen herplärren“ (deblateratis versuum [= στίχος] multis milibus) bei Gell. 9,15,10. Aufschlussreich ist zudem, dass die antiken Rhetoriker die Länge einer Rede nicht mit einem Zeitmaß angeben, sondern mit der Länge der Stichen. Vgl. dazu weiterführend mit Verweise auf die Quellen L A N G , Schreiben, 51-53. 25 Vgl. dazu den Kommentar R O T H , Panathenaikos, 252. Bücher werden außerdem häufig durch ihren Titel angegeben. 20 Weniger häufig steht der Name des Autors metonymisch für den gelesenen Text. 21 In dieser spe‐ zifischen Verwendungsweise schwingt sehr häufig die Bedeutung von „(genau) studieren“ (LSJ: to study, to pore over) mit. 22 Aber auch nicht primär schriftlich konzipierte Kommunikationsakte, die durch den Kontext eindeutig als schrift‐ gebunden markiert sind, werden gelesen, 23 wobei gerade Reden durchaus als schriftlich konzipiert gedacht worden sind: 24 Orakelsprüche oder Eide: vgl. z. B. μαντεία (Demosth. or. 19,297; 21,25; Aischin. Ctes. 112.119); ὅρκος (Demosth. or. 24,148; Lykurg. 1,80; App. civ. 2,20,145); ἀντωμοσία (Isa. or. 5,4); χρησμός (Aristoph. Eq. 115-120; Plut. Phoc. 8,3 [Z I E G L E R , p. 7,14]). Reden: vgl. einschlägig Isokr. 12,231 f, der berichtet, dass er eine diktierte Rede mit kritischer Distanz nach einigen Tagen noch einmal gründlich durchliest (τριῶν γὰρ ἢ τεττάρων ἡμερῶν διαλειφθεισῶν ἀναγιγνώσκων αὐτὰ καὶ διεξιών …); Isokr. 12,216 über einen Schüler, der eine Rede von Isokrates liest. In Isokr. 12,246 wird auf die zukünftigen Rezipienten der Panathenaikos vorausgeblickt und angemerkt, dass sie bei oberflächlicher Lektüre leicht und verständlich erscheine (ἀλλὰ τοῖς μὲν ῥᾳθύμως ἀναγιγνώσκουσιν ἁπλοῦν εἶναι δόξοντα καὶ ῥᾴδιον καταμαθεῖν), sich bei genauem Hindurchgehen (s. dazu 3.7) aber als schwierig und schwer verständlich herausstelle (τοῖς δ᾽ ἀκριβῶς διεξιοῦσιν αὐτόν […] χαλεπὸν φανούμενον καὶ δυσκαταμάθητον). 25 Bei Plut. Dem. 11,4 findet sich die Gegenüberstellung des Hörens und des Lesens von Reden. Plut. Pomp. 79 erzählt, wie Pompeius auf einem Schiff in seinem Manuskript 113 3.1 Lesen als (Wieder)Erkennen <?page no="114"?> 26 Iterative Lektüre eines noch unpublizierten Manuskripts, das den Teil einer unfertigen Rede enthält, ist belegt bei Isokr. or. 12,268. 27 Vgl. Polyb. 3,31,11. 28 Vgl. z. B. Polyb. 23,11,1 f; Ios. ant. 11,1,2 [5]; Act 8,30 f; Ael. var. hist. 13,3; Theoph. Autol. 2,1; Orig. Cels. 4,28; s. außerdem insb. die Belege u. in Anm. 313, S. 452, u. in Anm. 314, S. 452. einer Rede liest, die an Ptolemaios adressiert ist: ὁ Πομπήϊος ἔχων ἐν βιβλίῳ μικρῷ γεγραμμένον ὑπ᾽ αὐτοῦ λόγον Ἑλληνικόν, ᾧ παρεσκεύαστο χρῆσθαι πρὸς τὸν Πτολεμαῖον, ἀνεγίνωσκεν; Plut. de garr. 5 (mor. 504c) erzählt von einem Klienten von Lysias, der das Manuskript einer für ihn geschriebenen Rede mehrfach liest; 26 Agesilaos liest ein Redemanuskript von Kleon von Halikarnassos aus dem Nachlass von Lysander individuell-direkt und möchte die Rede daraufhin veröffentlichen (vgl. Plut. Ages. 20,3); vgl. zur Lektüre eines Redemanuskriptes auch Iul. ep. 53 [382d]; Plut. apophth. lac. 54,14 (mor. 229e/ f), bezeichnet ein βιβλίον γεγραμμένον τῷ Λυσάνδρῳ als ὁ λόγος, der vorgelesen würde; Ps.-Plut. X orat. 3 (mor. 836d): ἀνέγνω δὲ καὶ ἐν τῇ Ὀλυμπιακῇ πανηγύρει λόγον μέγιστον; Ps.-Plut. X orat. 6 (mor. 840d): ἀνέγνω τε τοῖς Ῥοδίοις τὸν κατὰ Κτησιφῶντος λόγον [vgl. Aischin. Ctes.] ἐπιδεικνύμενος. Bei Diodor findet sich dagegen eine Stelle, an der das Vorlesen einer Rede vor Publikum gemeint ist: „Zugleich las er [Lysias] eine Rede mit dem Titel Olympiakos vor“ (Diod. 14,109,3). Daneben können auch Abstrakta wie „Geschichte“ (ἱστορία) 27 metonymisch für den zu lesenden Text stehen. Es lässt sich aus dem Quellenbefund nicht ableiten, dass ἀναγιγνώσκω bloß in einem technisch physiologischen Sinne Lesen als Transformation von Buchstaben in realisierten oder mental wahrgenommenen Klang/ Sprache, die kognitiv nicht weiterverarbeitet würde, konzeptualisierte. Es gibt zwar Quel‐ lenstellen, an denen von einem Lesen ohne Verstehen gesprochen wird bzw. der Akt der kognitiven Verarbeitung explizit erwähnt wird. 28 An Stellen, wo ἀναγιγνώσκω mit einem Nicht-Verstehen verbunden ist, kann es theoretisch einen bloß technisch-physiologischen Vorgang bezeichnen. Allerdings ist an allen Stellen, an denen die kognitive Verarbeitung oder Nicht-Verarbeitung explizit thematisiert wird, jeweils in Rechnung zu stellen, dass der jeweilige Verstehens-Begriff unterschiedliche Bedeutung haben kann. Man kann Ver‐ stehen nämlich von einem völligen Unverständnis (wenn man altgriechische Buchstaben zwar lesen kann, aber die Vokabeln und die Grammatik nicht kennt, kann man einen griechischen Text zwar lesen, aber nicht verstehen) bis hin zu einem interpretatorischen Verstehen, also eines Verstehens der eigentlichen, tieferen, allegorischen, übertragenen o. ä. Bedeutungsdimension eines Textes, 114 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="115"?> 29 Eine aufschlussreiche Stelle für ein Verstehen im letzteren Sinne bietet Plat. ep. 2,312d: „So muß ich es dir in Rätselrede (αἰνιγμός) ausdrücken, damit, falls dem Schreiben in des Meeres oder Landes Schluchten etwas zustoßen sollte, der Leser es nicht versteht (ὁ ἀναγνοὺς μὴ γνῷ).“ Ebenfalls ein Verstehen auf einer höheren Ebene ist z. B. in Demosth. or. 20,103 im Blick. 30 Vgl. z. B. Polyb. 16,14,10; Dion. Hal. Dem. 53; Gal. meth. med. ed. K Ü H N 10, p. 86,8; san. tuend. ed. K Ü H N 6, p. 397; diff. feb. ed. K Ü H N 7, p. 370 u. ö.; Artem. on. 3,66; Orig. hom. in Jer. 1,15; u. ö.; Diog. Laert. 4,9,62. 31 Vgl. z. B. Gal. ars medica, ed. K Ü H N 9, p. 620 u. ö.; M. Aur. 1,7; Cass. Dio 66,26,3. 32 Vgl. exempl. für viele Diod. 15,8,5; 17,101,6 u. ö.; Philo legat. 254; Plut. Alex. 19; Cic. 15; Ios. ant. 16,10,9 (355); 18,6,4 (164); Ios. bell. Iud. 2,16,1 (333 f); Iust. Mart. dial. 10,3; Orig. Cels. prooem. 6; 2,37; 4,49 (Motiv des unvoreingenommenen Lesens); 4,50.72. 33 Vgl. dazu weiterführend R E I T Z , Mündlichkeit. skalieren. 29 Auch dass die besondere Aufmerksamkeit beim Lesen durch Lexeme wie ἐπιμελής 30 oder ἀκριβής 31 hervorgehoben werden kann, macht deutlich, dass das Verb nicht nur die Transformation von Buchstaben in realisierten oder mental wahrgenommenen Klang meint. Zudem finden sich zahlreiche Stellen, an denen der Vorgang der kognitiven Weiterverarbeitung, also das Verstehen des Gelesenen eindeutig impliziert ist, ohne dass dies eigens hervorgehoben wird. 32 Eine aufschlussreiche Stelle im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Lesetech‐ niken und kognitiver Verarbeitung findet sich in Platons Phaidon. Der Sokratesschüler Kebes berichtet hier von seiner Lektüreerfahrung der Schriften von Anaxagoras: „Vielmehr nahm ich mit Feuereifer seine Schriften und las sie durch, so schnell es ging, um möglichst schnell das Zweckentsprechendste und auch das Minderwertigere zu erkennen (ἀλλὰ πάνυ σπουδῇ λαβὼν τὰς βίβλους ὡς τάχιστα οἷός τ᾽ ἦ ἀνεγίγνωσκον, ἵν᾽ ὡς τάχιστα εἰδείην τὸ βέλτιστον καὶ τὸ χεῖρον). Da war es mir, mein Freund, ein Sturz aus hochgesteigerter Erwartung, als ich beim fortschreitenden Lesen sehen mußte (ἐπειδὴ προϊὼν καὶ ἀναγιγνώσκων ὁρῶ) …“ (Plat. Phaid. 98b; Üb. D I R L M E I E R , leicht mod. JH). In dieser Leseszene ist eindeutig individuell-direkte Lektüre voraus‐ zusetzen, die mit dem Ziel verbunden ist, in möglichst kurzer Zeit einen Überblick über mehrere Bücher zu bekommen. Dabei wird explizit hervorgehoben, dass das Ziel darin liegt, die Inhalte kritisch zu evaluieren. Die kognitive Verarbeitung bei diesem überfliegenden Lesen zu Evaluationszwecken wird mit dem Verb ὁράω angezeigt. Eine weitere Stelle aus dem Werk Platons, an der die kognitive Verarbeitung bei der individuell-direkten Lektüre impliziert ist, findet sich in der Gegenüberstellung des Rechnens durch den Arithmetikers und des Lesens durch den literarisch Gebildeten in Plat. Tht. 198e-199a. 33 Exemplarisch für viele ähnliche Leseszenen sei auf Xen. Eph. 2,5,3 hingewiesen. Hier erhält Habrocomes einen Brief, „nahm ihn, las ihn und wurde betrübt durch das Geschriebene (ὁ δὲ ἔλαβε καὶ ἀνέγνω καὶ πᾶσι μὲν ἤχθετο 115 3.1 Lesen als (Wieder)Erkennen <?page no="116"?> 34 Vgl. B L U M E N B E R G , Lesbarkeit, 35. 35 Vgl. aus der Vielzahl der Quellen exempl. Polyb. 3,32,4 (aus Polyb. 3,32,1 f geht eindeutig hervor, dass individuell-direkte Leser gemeint sind); 30,6,1; Diod. 1,3,2; 1,3,5; 4,1,1; u. ö.; Plut. symp. 2, praef. [mor. 629d]; Alex. 1; Ios. bell. Iud. 7,11,5 (455); Artem. on. 3,66 [ed. Pack, p. 235,9 f]; Gal. PHP 6,3,30; Sib. prol.; Charit. Cal. 8,1,4; vgl. auch das Partizip im Singular bei Aen. Tact. 31,19, mit dem der Leser einer Geheimbotschaft bezeichnet wird; im Sg. spricht auch Origenes seine intendierten Leser an (vgl. Orig. Cels. prooem. 6; s. auch 6,46); vgl. ferner Polyb. 3,31,11; Demetr. eloc. 3,152. Philo Abr. 177 spricht von den Lesern der Heiligen Bücher; vgl. dazu z. B. auch Orig. Cels. 8,48. 36 Vgl. exempl. IGR I,5 1345,13 (85 n. Chr.); IGR I,5 1370,11 f; MAMA 9 115,1 (viell. 2. Jh. n. Chr.); SEG 31 1096 (=ICG 2325); SEG 43 908, 17 f; MAMA 4 33 (=ICG 1094); MAMA 8 204,2 (=ICG 645); MAMA 7 565 (=ICG 73); ICG 109; MAMA 9 557,4 (=ICG 1307). 37 Vgl. U S E N E R , Isokrates, 78 f. Useners Überlegungen, dass durch das Pluralpartizip hier eine Gruppe von Rezipienten gebraucht werde, die den Text gemeinsam läsen (d. h. einer läse den anderen vor), ist reine Spekulation. Das Futur Passiv von ἐρῶ verweist in Isokr. 15,55 nicht eindeutig darauf, dass das Folgende vorgetragen wird (gegen U S E N E R , Isokrates, 79), sondern erklärt sich sehr gut vor dem Hintergrund, dass verba dicendi häufig zur Anzeige von Voraus-, Rück- oder Querverweisen verwendet werden (s. u. 3.2). Der Verweis auf diejenigen, die Isokrates’ Schriften schon oft gelesen haben (τῶν πολλάκις ἀνεγνωκότων; ebd.), legt hier die Annahme einer individuell-direkten Lektüre der publizierten Reden nahe. τοῖς ἐγγεγραμμένοις).“ Vgl. außerdem die Gegenüberstellung von Lesen und Hören als zwei unterschiedliche Kanäle der kognitiven Aneignung von Wissen bei Clem. Al. paid. 3,78,2, der hervorhebt, dass das Lesen gelehrt wird, das Hören aber nicht gelehrt wird. Aus dem Kontext geht eindeutig hervor, dass die individuell-direkte Lektüre zur Wissensaneignung gemeint ist (s. u. 9.5). Aufschlussreich ist ferner eine Stelle im Roman Joseph und Aseneth, an der mit ἀναγιγνώσκω bezeichnetes Lesen gleichsam im Sinne einer Metapher zweiten Grades 34 verwendet wird: „Levi aber sah die Regung seines Herzens, denn Levi war ein Prophet und sah genau mit seinen Gedanken und seinen Augen und las das im Herzen des Menschen Geschriebene (<ἀν>εγίνωσκε <τὰ γεγραμμένα> ἐν τῇ καρδίᾳ <τοῦ> ἀνθρώπο<υ>)“ ( JosAs 23,8; Üb. R E I N M U T H ). Das durch hinzutretenden Artikel substantivierte Partizip wird häufig zur Reflexion über bzw. zur direkten Ansprache der Leser verwendet; 35 dies ist auch inschriftlich belegt (v. a., aber nicht nur, in spätantiken, christlichen Inschriften). 36 Es ist bemerkenswert, dass selbst Isokrates in seinem Brief an Alexander, eine Einzelperson, gleich zu Beginn die Leser im Plural (ὃ ποιήσει τοὺς ἀναγνόντας μὴ νομίζειν ἤδη με παραφρονεῖν διὰ τὸ γῆρας μηδὲ παντάπασι ληρεῖν …; Isokr. ep. 5,1) in den Blick nimmt, was impliziert, dass der Brief (zumindest in der überlieferten Form) zur Publikation bestimmt war. 37 Aufschlussreich ist auch das papyrologisch bezeugte „Edikt über das aurum coronarium“ (P.Fay. 20) von Alexander Severus, in dem am Ende bestimmt wird, dass in jeder Stadt Abschriften zu veröffentlichen seien, und zwar dort, wo 116 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="117"?> 38 Vgl. weiterführend S C H U B A R T , Edikt. 39 Vgl. exempl. Vitr. 1,1,18; 2,2,9; 5 praef. 1-3.5 u. ö.; Plin. nat. passim; Tac. ann. 4,33,3; 6,8,5 (im Futur); Lact. epit. praef. 1; Ov. trist. 1,1,21; 1,7,25. 40 S. unten Anm. 135, S. 139. Vgl. außerdem Plut. Luc. 39. 41 Vgl. zu einer vermeintlichen Ausnahme in der LXX Anm. 12, S. 315. 42 Vgl. z. B. Lukian. ind. 7, wo die Formulierung „er soll dir vorlesen“ (ἀναγνώτω σοί) verwendet wird, also das Subjekt des Vorlesens eigens genannt wird; oder auch die Passivkonstruktion in Lukian. sat. 2,14; vgl. auch Lukian. pr. im. 28, wo das Vorlesen-Lassen in Form einer Wendung mit ἀκρόασις zum Ausdruck gebracht wird, oder die Verwendung von ἀκροάομαι bei Ps.-Lukian. 25. Zur Verwendung dieser Lexeme in Lesekontexten besteht noch Forschungsbedarf. 43 Vgl. G E O R G E S , Handwörterbuch, 964. 44 Vgl. z. B. Cic. de orat. 1,34,158; 2,12,52 (hier eindeutig visuell konnotiert); Plin. ep. 9,11,2; Aulus Gellius verwendet cognosco, um ein intensiveres, studierendes Lesen zum Ausdruck zu bringen, wie Gell. praef. 14 und insb. 11,17,1 f zeigen. sie den Lesern am besten sichtbar seien (… μάλιστα ἔστα̣[ι] | σύνοπτα τοῖς ἀναγινώσκουσ<ιν>. P.Fay. 20 col. 2, Z. 23 = SB 14 11648). 38 Analog dazu wird in lateinischen Quellen das Partizip von legere verwendet, um den Leser direkt anzusprechen bzw. über ihn zu reflektieren. 39 Seltener, aber dennoch vorkommend, wird das Verb im Griechischen dazu verwendet, Verweise auf andere Schriften oder Zitate anzugeben bzw. eine Lesefrucht wiederzugeben (s. u.). 40 Dagegen konnten keine eindeutigen Belege gefunden werden, dass das Verb regelmäßig (und jenseits konzeptioneller Über‐ tragungen individuell-direkter Leseakte auf indirekte Rezeption) auch direkt die hörende Rezeption eines Textes beschreibt, der vorgelesen wird. 41 Diese negative Beobachtung wiegt umso schwerer, als sich in den Quellen eindeutige Formulierungen auch mit anderen Lexemen finden lassen, welche eine solche Rezeptionssituation des Vorlesen-Lassens eindeutig markieren. 42 Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass das lateinische Äqivalent cognosco, 43 auch wenn im Lateinischen mit lego ein anderes Hauptleseverb verwendet wird (s. u. 3.3), ebenfalls sporadisch im Sinne von „lesen“ zu finden ist. 44 3.1.2 Ἀναγιγνώσκω mit zusätzlichen Präfixen Durch Präfigierung kann die Wortsemantik des Verbes spezifiziert werden: διαναγιγνώσκω (durchlesen) wird verwendet, um anzuzeigen, dass ein Text, ein Brief bzw. ein Buch oder Werk vollständig gelesen wird. Vgl. Cass. Dio. 58,10,7: καὶ τέλος διαναγνωσθείσης τῆς ἐπιστολῆς πάντες …; Isokr. or. 12,201.241, u. Diog. Laert. 2,5,40 verwenden dieses Wort zur Beschreibung des individuellen und evaluierenden Durchlesens eines Redemanuskripts; Polyb. 3,32,1 f 117 3.1 Lesen als (Wieder)Erkennen <?page no="118"?> 45 Vgl. Plut. Cic. 19.27. Auch wenn an beiden Stellen eine Vorlesesituation vorausgesetzt ist, wird dies dort nicht durch die Verbsemantik angezeigt. 46 Vgl. Plut. Cato min. 68; Athen. deipn. 3,25 (83b): … δι᾽ αὐτὸ τοῦτ᾽ ἐξαναγνοὺς αὐτοῦ πάντα τὰ ὑπομνήματα … Die im Benseler und Gemoll angegebene Bedeutung „heraus‐ lesen“ kann m. E. an den Quellen nicht verifiziert werden. S. auch P A S S O W , 756. 47 Isokr. or. 4,20 verweist auf die Möglichkeit des Vergleichs von Verträgen aus verschie‐ denen Zeiten (εἰ παραναγνοίη τὰς συνθήκας τάς τ᾽ ἐφ᾽ ἡμῶν γενομένας καὶ τὰς νῦν ἀναγεγραμμένας). εἰ παραναγνοίη τὰς συνθήκας τάς τ᾽ ἐφ᾽ ἡμῶν γενομένας καὶ τὰς νῦν ἀναγεγραμμένας; vgl. außerdem 12,17: „Solange sie bloß meine Reden (τοὺς λόγους μου) misshandelten, indem sie sie so schlecht wie möglich parallel zu dem eigenen lasen [παραναγιγνώσκοντες ὡς δυνατὸν κάκιστα τοῖς ἑαυτῶν]“ (Üb. R O T H ; modifiziert JH); vgl. außerdem Aischin. Ctes. 250; Ios. vita 260; I.Magnesia 93c, 26 f (= Syll 3 679.IV). 48 Vgl. exempl. Aischin. Leg. 2,61; Aischin. Ctes. 188.201. An einigen Stellen wird kein zweites Schriftstück genannt bzw. wird das Vergleichsmoment nicht durch den Kontext markiert. Vgl. z. B. Polyb. 2,12,4; 3,21,5; 15,25,5; 2Makk 8,23; 3Makk 1,12; Ios. bell. Ind. 4,10,6 (617); ferner die beiden Szenen, bei denen dem König heilige Schriften vorgelesen werden, bei Diod. 1,73,4 u. Ios. ant. 10,4,2 (58), woraus LSJ u. a. ableiten, das Verb würde auch bloß im Sinne von read publicly gebraucht. Diese Schlussfolgerung ist aber m. E. angesichts des dünnen Quellenbefundes und des semantischen Gehalts des Präfixes nicht sicher. Vielmehr kann auch für diese Stellen vermutet werden, dass die Bedeutung „neben“, „hinzu“ oder ein anderes Vergleichsmoment mitschwingen soll. Dies wird etwa bei Basil. Caes. ep. 160,4 deutlich, wo das Verb gebraucht wird, um das Einbringen eines Schriftzitats in eine Diskussion zu bezeichnen: ἐὰν δέ μοι παραναγινώσκῃ (wörtl. „wenn mir jemand hinzuliest …“). hebt die Länge und Anzahl seines Werkes verteidigend hervor. Es sei leichter, seine 40 Bücherdurchzulesen (πόσῳ γὰρ ῥᾷόν ἐστι καὶ κτήσασθαι καὶ διαναγνῶναι βύβλους τετταράκοντα …), in denen Geschichte in einem Stück und komprimiert präsentiert sei, als sich die Informationen aus den verschiedensten Quellen episodischer Ge‐ schichtsschreibung selbständig zusammenzutragen. Bei Polyb. 21,11,3 scheint zudem die Sorgfalt beim Durchlesen hervorgehoben zu sein. Vgl. ferner Polyb. 31,14,1; Ael. var. hist. 14,43; Athen. deipn. 3,60 (102b). Bei Diog. Laert. 3,1,66 hat das Verb eher die Konnotation „einsehen, konsultieren“ von spezifischen Handschriften mit kritischen Randbemerkungen. Die Vergleichsbasis für ἐξαναγιγνώσκω (LSJ: read through) ist vergleichsweise gering. Zwei Stellen bei Plutarch, an denen keine spezifische Bedeutung ein‐ deutig gesichert werden kann, 45 stehen zwei Stellen ebenfalls bei Plutarch und Athenaios gegenüber, an denen es offensichtlich zur Betonung der Vollständig‐ keit des Lesens einer Schrift bzw. im Sinne von „ausgelesen“ gebraucht wird. 46 Das Verb παραναγιγνώσκω wird allgemein dazu genutzt, den Vergleich bzw. das vergleichende/ parallele Lesen von zwei Schriftmedien 47 oder - häufig in Reden - das kontrastierende Vorlesen eines zweiten Textes 48 anzuzeigen; oder es wird 118 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="119"?> 49 Als Kontext ist vermutlich Plutarchs Philosophenschule in Chaironeia anzunehmen. Vgl. T E O D O R S S O N , Commentary III, 34. In einer textkritisch feststellbaren Variante zu dieser Stelle fehlt das Präfix συν-, was auf die im Folgenden zu thematisierende Ambiguität des Sub‐ stantives ἀνάγνωσις hindeutet. Nikomachos von Gerasa verwendet das Verbalabstraktum interessanterweise zweimal in Kombination mit dem Präfix συν- und verweist damit auf das Studium von klassischen Werken. Vgl. Nikom. Ar. 2,21,1; 2,24,11. 50 M O N T A N A R I , BDAG, 736. Vgl. z. B. Plut. resp. ger. 12 (mor. 790e), Cass. Dio 38,2,1; Arist. 308 (hier die Übersetzung [ἑρμηνεία] der Tora). passend zur allgemeinen Bedeutung im Sinne von „überprüfend konsultieren“ verwendet. So nutzt Ps.-Plut. X orat. 7 (mor. 841 f) das Verb im Kontext eines Gesetzes, das vorsah, (autorisierte) Abschriften der Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides aufzubewahren, damit die Stadtschreiber diese konsultieren können, um eine Abwei‐ chung der Aufführung vom Original zu verhindern (… καὶ τὰς τραγῳδίας αὐτῶν ἐν κοινῷ γραψαμένους φυλάττειν καὶ τὸν τῆς πόλεως γραμματέα παραναγινώσκειν τοῖς ὑποκρινομένοις: οὐκ ἐξεῖναι γὰρ παρ᾽ αὐτὰς ὑποκρίνεσθαι). Das v. a. von Plutarch verwendete Verb συναναγιγνώσκω (mitlesen) kenn‐ zeichnet das gemeinsame Lesen (aus) einer Schrift. Vgl. v. a. die aufschlussreiche Szene, die eindeutig kollektiv-direkte Rezeption belegt, bei Plut. de Alex. fort. 1,11 (mor. 332e-333a), in der Alexander nicht-vokalisierend einen Brief seiner Mutter liest und dabei merkt, dass Hephaistos über seiner Schulter mitliest. Vgl. auch Plut. de Alex. fort. 2,7 (mor. 340a); reg. et. imp. 27,14 (mor. 180d); ferner de Amic. 11 (mor. 97a) sowie den Verweis auf die Gemeinschaftslektüre von Schriften Platons (ἐν ταῖς Πλατωνικαῖς συναναγνώσεσιν …) in symp. 7,2 (mor. 700c). 49 Vgl. außerdem den Verweis auf das gemeinsame Lesen eines Werkes von Hippokrates bei Gal. Hipp. fract., ed. K ÜH N , 18b, p. 321. P A S S O W , 1668, führt noch weitere, allerdings sehr späte Belege an. Interessant ist ferner ein Fragment aus dem Werk von Johannes von Antiochia, der das Partizip im Sinne von „Mitstudenten“, d. h. Kommilitonen verwendet. Vgl. Iohan. Ant., fr. 218. Dazu passt, dass Marinus von Neapolis sich im 5. Jh. beklagt, er habe es innerhalb von zwei Jahren nicht geschafft, Aristotelesschriften gemeinsam zu lesen: Ἐν ἔτεσι γοῦν οὔτε δύο ὅλοις πάσας αὐτῷ τὰς Ἀριστοτέλους συνανέγνω πραγματείας, λογικάς, ἠθικάς, πολιτικάς, φυσικάς, καὶ τὴν ὑπὲρ ταύτας θεολογικὴν ἐπιστήμην. (Marin. v. Proc. 13) Dies klingt nach einer Art Philosophenkolloquium, bei dem gemeinsam Aristotelesschriften gelesen und diskutiert wurden. Προαναγιγνώσκω bedeutet einerseits vorlesen (to read [ahead] in a loud voice), 50 wird aber andererseits auch häufig im temporalen Sinne verwendet, um anzu‐ 119 3.1 Lesen als (Wieder)Erkennen <?page no="120"?> 51 Vgl. exempl. Plut. poet. aud. 14 (mor. 36e); Ios. vita 224; bell. Iud. 2,2,4 (25); Gal. HVA, ed. K Ü H N 15, p. 745. 52 Vgl. z. B. die Aufforderung bei Epikt. ench. 49,1: „Lies mir aus Chrysippos vor! (ἐπανάγνωθί μοι Χρύσιππον)”; vgl. auch Demosth. or. 7,19; Cass. Dio 59,16,3; Arist. 26; Philostr. soph. 2,549; Mak. apokr. 3,5,5. 53 Vgl. etwa Polyb. 31,13,10. Vgl. M O N T A N A R I , BDAG, 736: read in full. Vgl außerdem Colloquia Monacensia-Einsidlensia 2u (ed. Dickey), wo das Verb als Äquivalent zu perlego angegeben wird und zeigt hier offensichtlich an, dass der Lehrer in der Mittagspause etwas individuell-direkt durchgelesen hat. 54 Epiktet betont hier die Notwendigkeit der dauerhaften Übung. 55 So aber etwa die Übersetzung von C. Rapp. 56 Vgl. A L L A N , ΑΝΑΓΙΓΝΩΣΚΩ, 244-246, insb. auch Anm. 17. 57 LSJ: easy to make intelligible. Die Übersetzung C. R A P P S „gut aussprechbar“ ist misslich und trifft nicht die Semantik des Adjektivs, das von φράζω (LSJ: u. a. perceive, observe, watch) abgeleitet sein dürfte. zeigen, dass jemand zuvor/ zuerst ein Schriftstück/ ein Werk etc. (individuell[! ]) gelesen hat. 51 Ἐπαναγιγνώσκω wird genutzt, um das Verlesen, das Lesen aus etwas zu benennen. 52 Daneben kann das Verb anzeigen, dass jemand einen Text in voller Länge gelesen hat. 53 3.1.3 Ἀναγνωστικός Das selten bezeugte Adjektiv ἀναγνωστικός hat nach LSJ die folgenden Bedeu‐ tungsnuancen: a) capable of reading, a good reader (Epikt. diatr. 2,18,2: lesefähig, gut im Lesen); 54 b) fond of reading (Plut. de garr. 22 [mor. 514a]: das substantivisch gebrauchte Adjektiv verweist bei Plutarch auf jemanden, der viel und gerne liest, also eine Leseratte, der in diesem Fall Geschichten, narrative Texte [ἱστορίαι] liest); c) suitable for reading (Aristot. rhet. 3,12,2 [1413b12]: zum Lesen geeignet). Während die ersten beiden Belege recht eindeutig sind, hat D. J. Allan gezeigt, dass die Interpretation der ἀναγνωστικοί bei Aristoteles im Sinne von „Dichter, die zum Lesen geeignet sind“ 55 , also deren Texte gut aussprechbar wären (λεκτικός), aus philologischer Sicht falsch ist. Vielmehr spreche Aristoteles ganz im Sinne der beiden anderen Stellen davon, dass Autoren, die selbst gute Leser oder Vielleser sind, populär seien, weil sie leserorientiert schreiben, wobei an dieser Stelle offen bleibe, ob Aristoteles auf kollektive oder individuelle Formen der Rezeption abzielt. 56 Einen gut lesbaren Text beschreibt Aristoteles hingegen mit dem Adjektiv εὐανάγνωστος (Aristot. rhet. 3,5,6 [1407b12]). Ein gut lesbarer Text ist nach der weiteren Spezifikation an dieser Stelle ein solcher, der gut erfassbar (εὔφραστος) 57 ist, Konjunktionen (σύνδεσμοι) sparsam verwendet, der leicht 120 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="121"?> 58 Vgl. Aristot. rhet. 3,5,6 [1407b12-18]. Als Negativbeispiel führt er die Schriften Heraklits an. 59 Vgl. B O R N E M A N N / R I S C H , Grammatik, § 302,2; vgl. aber zur Mehrdeutigkeit der Suffixe K Ü H N E R / B L A S S , Grammatik, § 328,11. 60 Ἡ μὲν οὖν ἐπιδεικτικὴ λέξις γραφικωτάτη: τὸ γὰρ ἔργον αὐτῆς ἀνάγνωσις. 61 A L L A N , ΑΝΑΓΙΓΝΩΣΚΩ, 247. Ebenfalls ambigue z. B. Plat. Euthyd. 279e; Dion. Hal. Dem. 7 (? ); Diog. Laert. 9,7,41. punktiert (διαστίζω) werden kann und wenig Ambiguität in den Bezügen aufweist. 58 Es geht ihm hier also stärker um das kognitive Erfassen als um die lautliche Realisierung. Das Adjektiv εὐανάγνωστος kommt außerdem bei Demetr. eloc. 4,193 vor. Hier legt der Kontext - die Gegenüberstellung von Stilen (λέξεις), die sich entweder besser zum Aufführen (ὑποκρίνομαι) oder zum Lesen (ἀναγιγνώσκω) eignen - eine der Aristotelesstelle analoge Verwendung des Lexems nahe. Als Beispiele führt Demetrios an, Menander sei besser für die Aufführung geeignet, Philemon besser für die Lektüre. Die Ausführungen von Demetrios gleichen im Übrigen denjenigen von Aristoteles (Aristot. poet. 1462a10-1462b5), die unten noch zu diskutieren sind. Ferner wird dieses Lexem von Konstantin in seinem Brief an Euseb verwendet, in dem er den Auftrag zur Beschaffung von Bibelausgaben gibt, um die Beschaffenheit der Schrift der Pergamentkodizes zu beschreiben (vgl. Eus. vita Const. 4,36,2). 3.1.4 Ἀνάγνωσις Das entsprechende Verbalabstraktum ἀνάγνωσις verweist aus morpholo‐ gisch-semantischer Sicht (Suffix -σις) auf den Prozess bzw. den Vorgang des Lesens. 59 Die genaue Bedeutung dieses Lexems ist jedoch nicht in jedem Fall klar. So fragt D. J. Allan im Hinblick auf Aristot. rhet. 3,12,5 (1414a17 f) 60 : „Which type of reading is meant - public or private? Or is the point intentionally left undetermined? This is hard to decide“ 61 Einen Hinweis darauf, dass ἀνάγνωσις auch die individuell-direkte Lektüre bezeichnen kann, findet sich in Aristot. poet. 1462a10-17. Hier stellt er Lektüre und Aufführung der Tragödie als zwei unterschiedliche Rezeptionsmodi gegenüber; bei beiden hätte man die gesamte Tragödie vor Augen: „Außerdem erfüllt die Tragödie genauso wie die epische Dichtung auch ohne (kör‐ perliche) Aktion ihre Wirkung. Denn schon durch das Lesen (ἀναγιγνώσκω) wird offenbar, wie (gut oder schlecht) sie ist. […] Ein weiterer Grund für ihren höheren Rang [der Tragödie gegenüber dem Epos] […] ist ein musikalisches und visuelles Element. Dass dieses ästhetisches Vergnügen bereitet, ist völlig evident. Außerdem hat man (die ganze Tragödie) klar vor Augen - sowohl bei der Lektüre als auch, wenn 121 3.1 Lesen als (Wieder)Erkennen <?page no="122"?> 62 Der Versuch, diese Evidenz dieser Quelle rein thetisch wegzudiskutieren, um die eigene These nicht zu gefährden (K I V Y , Performance, 12), ist m. E. ideologieverdächtig. Vgl. weiterführend zu „vor Augen haben“ bei Aristoteles S C H M I T T , Poetik, Kommentar, 546 f.550-553. 63 Plut. poet. aud. 1 (mor. 14 f): ἄν γε δι᾽ ἀκοῆς λάθῃ προέμενος αὑτόν. 64 G U G G E N B E R G E R , Primat, spricht sogar unter Verweis auf Arist. poet. 1453b1-6 vom „Primat des Hörens“. Dort formuliert Aristoteles, dass der Mythos so konstruiert sein müsse, dass er auch ohne das Sehen einer Inszenierung auf der Bühne nur durch das Hören (ἀκούω) die gewünschten Affekte hervorrufen müsse. Diese Stelle kann m. W. nicht als einziger hermeneutischer Schlüssel für Aristot. poet. 1462a10-17 dienen. Genau dies tut jedoch Guggenberger, wenn er schlussfolgert, dass ἀναγιγνώσκω vor‐ lesen bedeute, ἀνάγνωσις die Vorlesung/ Rezitation meine, Aristoteles als Rezeptions‐ form (gegen den theaterwissenschaftlichen Konsens) also eine öffentliche Rezitation, vielleicht sogar mit verteilten Rollen voraussetzte (G U G G E N B E R G E R , Primat, 228-232). An dieser und an anderen entscheidenden Stellen des Gangs seiner Untersuchung bleiben die Argumente Guggenbergers jedoch rein thetisch bzw. bloße Vermutungen. So formuliert er selbst „Ob Aristoteles ein (Vor)lesen von Tragödien so verstanden haben könnte, dass mehrere Stimmen zu hören waren,[…] ist nicht belegt“ (G U G G E N ‐ B E R G E R , Primat, 229, Anm. 20). Zudem basiert seine Argumentation auf der in der Einleitung problematisierten communis opinio zum „lauten“ Lesen in der Antike. Folgende Argumente sind gegen Guggenbergers Sicht in Stellung zu bringen: 1) Warum verwendet Aristoteles in poet. 1462a12 anstatt des Verbes ἀναγιγνώσκω nicht das Verb ἀκούω, wenn er hier die rein akustische Rezeption des Zuhörers einer Vorlesung meinte? 2) Auch in poet. 1453b5 f muss sich ἀκούω nicht zwingend auf den Zuhörer einer Vorlesung beziehen. Bei der vokalisierenden individuell-direkten Lektüre „hört“ ein Leser den Text auch (G U G G E N B E R G E R , Primat, 231, selbst hält diese Option ohne Argumente für „unwahrscheinlich“), ja sogar beim nicht-vokalisierenden Lesen eines Textes wird der Text mit der inneren Lesestimme akustisch realisiert und mit dem inneren Ohr wahrgenommen (s. dazu die Ausführungen unter 3.2). Y U N I S , Writing, 192, bezieht die Stelle auf individuell-direkte Lektüre. 3) Die oben besprochene Dimension der visuellen Wahrnehmung in Aristot. poet. 1462a10-17 lässt Guggenberger außen vor. Wenn auch deutlich später, spricht Dion Chrys. or. 52,1-4 - er thematisiert eindeutig die innere Aufführung von Tragödien beim individuell-direkten Lesen (s. u.) - gegen Guggenbergers Position. sie zur Aufführung kommt [… εἶτα καὶ τὸ ἐναργὲς ἔχει καὶ ἐν τῇ ἀναγνώσει καὶ ἐπὶ τῶν ἔργων].“ (Üb. S C H M I T T , leicht modif. JH) 62 Mit dieser Aussage - das Adjektiv ἐναργής bedeutet laut LSJ visible, palpable, in bodily shape, aber auch manifest to the mind’s eye - ist impliziert, dass man die Tragödie bei einer (Vor)Lesung dagegen allenfalls „im/ vor dem Ohr“ hätte. 63 Bei der Aufführung (ἔργον) hat man die Tragödie auf der Bühne sichtbar, bei der Lektüre der Rolle im Kopf des Lesers, wobei freilich die akustische Dimension hier nicht ausgeklammert werden darf. 64 Auch Diod. 20,1,4 f, der betont, es sei gerade eine reizvolle Lektüre (ἀνάγνωσις), wenn man die gesamte Komposition lese, rekurriert eher auf die individuell-direkte Lektüre als auf das Vorlesen 122 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="123"?> 65 H U N T E R / R U S S E L , Plutarch, 73, weisen darauf hin: „ἀκροατής is a standard term in Homeric scholia for ‚the audience‘ (through whatever mode of reception“. 66 Individuell-direkte Lektüre ist ebenfalls vorauszusetzen bei: Polyb. 3,57,9; Epikt. diatr. 4,4,40; Lukian. ver. hist. 1,1f (weiterführend zur Interaktion zwischen Autor und Leser in diesem Text P I N H E I R O , Dialogues); Alex. 21; vgl. ferner Syb 1.9 (Prolog); Iohan. Ant., fr. 237,6. 67 Vgl. B I R T , Buchwesen, 141. 68 Vgl. zum antizipierten Leser von Polybios M I L T S I O S , Shaping, 140-146 (Lit. Anm. 43). - wieso sollte jemand beim Vorlesen die doch gerade für die Aufführung wichtigen τὰς ῥητορείας überspringen (ὑπερβαίνω)? Wenn Plut. poet. aud. 1 (mor. 14e) differenzierend vom Maßhalten beim Hören und Lesen spricht (… ἐν ταῖς ἀκροάσεσιν καὶ ἀναγνώσεσιν …), verweist dies auch eher auf die individuell-direkte Lektüre. 65 Auch innerhalb der Aufzählung individueller Tä‐ tigkeiten wie Ruhe (σχολή), Spazierengehen (περίπατος) und Schlafen (ὕπνος) in Plut. de exil. 12 (mor. 604c/ d) ist wohl individuell-direkte Lektüre im Blick. 66 Wenn Artemidor von Daldis ἀποδημίαι δὲ καὶ ἀναγνώσεις als beste Möglichkeit nennt, um Wissen über Orte und die Eigenheiten von Orten zu erlangen, meint er damit Reisen und die Lektüre von Büchern (vgl. Artem. on. 4,4 [ed. Pack, p. 247,1-5]). Polybios antizipiert im ganz zu Beginn dieser Studie zitierten Prooe‐ mium des elften Buches seiner Historien verschiedene Leseinteressen (Polyb. 11 prooem. 2): a) diejenigen, die es intendiert lesen wollen (τοὺς ἀναγινώσκειν θέλοντας); b) diejenigen, die zufällig darauf stoßen; c) diejenigen, die nur etwas nachschlagen (ζητέω; s. u.) wollen. 67 Dabei soll das Prooemium diejenigen, die (zufällig) auf sein Buch treffen, zur Lektüre auffordern (καὶ παρορμᾷ πρὸς τὴν ἀνάγνωσιν τοὺς ἐντυγχάνοντας). Die Motive, mit denen Polybios hier rechnet, sind allesamt Motive von Indivi‐ duen. Er setzt also individuell-direkte Lektüre des Buches voraus und nicht das Hören oder Veranstalten einer Vorlesung. 68 Einen ähnlich tiefen Einblick in die antizipierte Rezeptionsweise antiker His‐ toriographie bietet Diodor am Beginn seiner Universalgeschichte (Βιβλιοθήκη ἱστορική). In Kapitel 3 des ersten Buches legt er die Vorzüge seiner umfassenden Aufbereitung des historischen Stoffes dar, den man sich sonst mühsam aus einer großen Masse von historiographischen Schriften zusammensuchen müsste, und formuliert: „Doch die Darstellung in einem einzigen Werke, die alle Ereignisse miteinander verknüpft, macht die Lektüre (ἀνάγνωσις) leicht und das Begreifen mühelos“ (Diod. 1,3,8, Üb. W I R T H ). 123 3.1 Lesen als (Wieder)Erkennen <?page no="124"?> 69 Vgl. P A R K E R , Books, 198, Anm. 39. 70 Vgl. außerdem die Lektürehaltung, die Dion Chrys. or. 18,9 f beschreibt. Aus dem Kontext ist eindeutig ersichtlich, dass Diodor eine Rezeptions‐ situation individuell-direkter Lektüre voraussetzt. Die Leser müssen nicht selbständig durch die gesamten historiographischen Schriften hindurchgehen (διέξειμι; Diod. 1,3,8). Diese schwere Arbeit hat Diodor den Lesern abgenommen und alles in seinem Gesamtwerk aufgearbeitet, „das bei einem Höchstmaß an Nutzen den Lesern ein Mindestmaß an Belastung versprach“ (Diod. 1,3,5; Üb. G. W I R TH ). Der Nutzen besteht aber nicht darin, dass die Leser das Werk zwingend sequentiell und vollständig zu lesen hätten. Vielmehr formuliert Diodor explizit: „Aus ihm steht es jedem frei, nach Belieben wie aus einer gewaltigen Quelle zu schöpfen (ὥσπερ ἐκ μεγάλης ἀρυόμενον πηγῆς), was ihm für seine Zwecke von Nutzen scheint“ (Diod. 1,3,7, Üb. W I R T H ). Aus dieser Formulierung wird deutlich, dass Diodor es den Lesern überlässt, wie sie das Werk gemäß ihrer Bedürfnisse nutzen. Insbesondere die Metapher des Schöpfens (ἀρύω) aus einer gewaltigen Quelle (i. e. sein gesamtes Werk) besagt eindeutig, dass er durchaus eine selektive und diskontinuierliche Lektüre seines Werkes antizipiert. An anderer Stelle setzt ἀνάγνωσις bei Diodor eindeutig individuell-direkte Lektüre voraus (vgl. Diod. 20,4,4 f). Darauf deutet einerseits das Motiv des Überspringens (ὑπερβαίνω), andererseits die Reflexion der Erfahrung, dass Leser die Lektüre abbrechen, wenn die Länge des zu lesenden Textes sie ermüdet. Hier ist also das Phänomen selektiver Zugriffe auf historiographische Texte eindeutig bezeugt. Zudem ist die Lektüre eines historiographischen Werkes für Diodor dann mit Vergnügen (ἐπιτερπής) und Klarheit (σαφής) verknüpft, wenn sie den notwendigen Zusammenhang der historischen Ereignisse bewahrt und die Darstellung der historischen Ereignisse nicht zum Beiwerk der Rhetorik verkommt (vgl. Diod. 20,4,1-3). Das Ziel der Lektüre historiographischer Werke besteht also für Diodor sowohl in der Unterhaltung als auch in der Aneignung von historischem Wissen. Ein empirischer Beleg für eine solche Lektürehaltung bietet Plut. Caes. 11, der historiographische Literatur über Alexander den Großen in einer Mußestunde individuell-direkt, nicht-vokalisierend 69 und in Anwesenheit von Freunden in Spanien liest. 70 Aufschlussreich ist sodann auch der Hinweis im sog. Aristeasbrief (Arist. 127), dass eine gute Lebensführung bzw. Einhaltung der Gesetze viel eher durch Hören als durch Lesen (… διὰ τῆς ἀκροάσεως πολλῷ μᾶλλον ἢ διὰ τῆς ἀναγνώσεως) erreicht werde. Ἀνάγνωσις bezieht sich mit größter Wahrschein‐ 124 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="125"?> 71 Vgl. z. St. C R O M , Letter, 152-154, der die Bedeutungsdimension „direct access to the text“ (152 [Herv. im Orig.) hervorhebt. 72 Vgl. dazu B E R D O Z Z O , Götter, 11-20. 73 Vgl. B U T T , Progymnasmata, 105; B E R D O Z Z O , Götter, 11-20. Vgl. außerdem Theon. prog. p. 65,23 f: τῇ δὲ ἀναγνώσει καὶ τῇ ἀκροάσει καὶ τῇ παραφράσει χρησόμεθα ἀπ’ ἀρχῆς. 74 Vgl. exempl. Theons Auführungen zur Bedeutung des Übens von προσωποποιία (LSJ: the putting of speeches into the mouths of characters) u. a. für die Geschichtsschreibung im unmittelbaren Kontext. Vgl. Theon. prog. p. 60,22 ff. lichkeit auf eine individuelle Lektüre. 71 Ἀνάγνωσις als individuell-direktes Lesen ist ebenfalls in der Antwort eines der 72 Gelehrten auf die Frage des ägyptischen Königs Ptolemaios impliziert, womit sich die Könige die meiste Zeit beschäftigten: „Mit dem Lesen (ἐν ταῖς ἀναγνώσεσι) und der Beschäftigung mit Reiseberichten …“ (Arist. 283). Vor diesem Hintergrund erscheint es dann auch sicher, dass ἀνάγνωσις in der folgenden Passage in Theons Progymnasmata nicht das Vorlesen meint, sondern vielmehr die Wichtigkeit von individueller Lektüre von mythischen Erzählungen im Rahmen der rhetorischen Vorbildung hervorhebt. 72 „‚Die Lektüre aber‘, wie einer der Älteren sagt - Apollonius von Rhodos meine ich - ‚ist die Nahrung des Stils/ der Ausdrucksweise (τροφὴ λέξεώς ἐστι)‘. Denn wir formen die Geistesfähigkeit von den schönen Beispielen her (τυπούμενοι γὰρ τὴν ψυχὴν ἀπὸ καλῶν παραδειγμάτων) und die schönsten werden wir auch imitieren.“ (Theon prog. p. 61,28-31 [Ed. S P E N G E L ]) Diese Stelle ist mindestens in zweifacher Hinsicht aufschlussreich: a) Theon grenzt die ἀνάγνωσις analog zu den oben diskutierten Quellen von der ἀκρόασις ab, wobei letztere hier aber nicht ein akustisches Aufnehmen, sondern den mündlichen Vortrag im Unterrichtskontext meint. 73 b) Die Perzeption des Gelesenen wird nicht mit dem Gehör, sondern mit der Seele, also mit einer Instanz, die man eher dem Inneren des Menschen zuordnen würde, in Verbindung gebracht, aus der sich wiederum das Ausdrucksvermögen (vor allem auch in schriftlich produktionsorientierter Form 74 ) speist. Ferner ist wohl auch der bei Diogenes Laertios überlieferte Titel einer Schrift von Thrasylos (Τὰ πρὸ τῆς ἀναγνώσεως τῶν Δημοκρίτου βιβλίων; Diog. Laert. 9,41) nicht auf eine Vorlesung bezogen. Kaiser Iulian schreibt in einem Brief an Libanios (Iul. ep. 53 [382d]), er habe dessen Rede vor dem Mittagessen fast ganz gelesen (individuell-direkt! ), konnte seine Lektüre (ἀνάγνωσις) aber erst danach, aber noch vor dem Mittagsschlaf, beenden. Darüber hinaus verweist häufig auch 125 3.1 Lesen als (Wieder)Erkennen <?page no="126"?> 75 Vgl. z. B. Sir Prol 17 (s. u. 7.1.4); Ios. c. Ap. 2,147 ( Josephus fordert seine Leser (τοὺς ἐντευξομένους) dazu auf, „die Lektüre ohne Vorurteil zu betreiben [μὴ μετὰ φθόνου ποιεῖσθαι τὴν ἀνάγνωσιν]); S. Emp. adv. math. 1,298; Ioh. Chrys. in Gen. hom. 1-67, PG 53, p. 323,42 (Aufforderung der individuell-direkten Lektüre der heiligen Schriften). Vgl. auch die Formulierung „das Praktizieren der Lektüre der griechischen Schriften“ (τὸ περὶ τὴν ἀνάγνωσιν τῶν Ἑλληνικῶν γραφῶν ἐκπονεῖν; Sib. prol.). Interessant ist ferner, dass hier im Prolog der Oracula Sibyllina ἀνάγνωσις mit dem Partizip von συγχέω attribuiert wird: Vor der Redaktion und Herausgabe hielten die nur zerstreut zu findenden Sibyllinischen Weissagungen eine „verwirrende Lektüre“ bereit. 76 Vgl. z. B. Plut. adv. Col. 2 [mor 1107 f]; Lukian. Lex. 16; vermutlich Diog. Laert. 5,2,37; P.Lond. 6 1912 1,2; Athen. deipn. 10,40 (432b, hier im Sinne der lateinischen recitatio). 77 Vgl. D I B E N E D E T T O , Dionysius, 395 f, mit Verweis u. a. auf Dion. Thrax fr. 4-9; S. Emp. adv. math. 1,59. Vgl. auch den Vergleich des Nacheinander-Zuhörens und -Redens mit der Verbindung von Silben bei der ἀνάγνωσις bei Ptol. krit. 10,11-16 und die polemisch wertende Wiedergabe der Teilgebietssystematik der griechischen Grammatik (im umfassenden Sinne als Sprachwissenschaft verstanden) bei S. Emp. adv. math. 1,43 u. 1,250 (hier mit direktem Bezug auf Dionysios Thrax), im Vergleich zum allgemeineren Gebrauch des Verbes ἀναγινώσκειν bei S. Emp. adv. math. 1,49. 78 Gegen R A I B L E , Raible, Entwicklung, 6 f; B U S C H , Lesen, 16. 79 D I B E N E D E T T O , Dionysius, 396. 80 D I B E N E D E T T O , Dionysius, 396. Vgl. außerdem K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 194-198. die Formulierung τὴν ἀνάγνωσιν ποιέω („ich betreibe die Lektüre“) auf indivi‐ duell-direkte Lektüre. 75 Daneben existieren aber auch Kontexte, in denen ἀνάγνωσις eindeutig im Sinne von „(Vor-)Lesung“ verwendet wird. 76 Ἀνάγνωσις wird sodann bei den antiken Grammatikern spezifisch als gleichsam phonologischer Fachter‐ minus betreffs der Prosodie verwendet. 77 Daher und vor allem angesichts des gerade besprochenen, eindeutigen Befundes sollte man auch die dionysische Erläuterung des ersten von sechs Teilen der Grammatik - ἀνάγνωσίς ἐστι ποιημάτων ἢ συγγραμμάτων ἀδιάπωτος προφορά (Dion. Thrax 2) - nicht als allgemeingültige Definition des Lexems bzw. als Beschreibung des Leseaktes generalisieren. 78 „In conclusion we may say that the usual interpretation of Dionysian ἀνάγινωσις, according to which this notion meant for Dionysius the act of reading by the use of one’s own voice (thus also Pfeiffer 1968: 268 f), is mistaken.“ 79 Die als ἀνάγνωσις bezeichnete Domäne der alexandrini‐ schen Grammatik beschäftigt sich mit der fehlerfreien Aussprache (ἀδιάπωτος προφορά) bzw. dem den verschiedenen Gattungen angemessenen Ton (vgl. Dion. Thrax 2); „ἀνάγνωσις ἐντριβὴς κατὰ προςῳδίαν [Dion. Thrax 1] refers to the determination of the correct accent of a word.“ 80 126 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="127"?> 81 Vgl. Bornemann-Risch § 302,3; BDR § 109,2. 82 Vgl. z. B. Siebenthal § 362,2 f. 83 Vgl. z. B. Epikt. diatr. 2,14,1; Eus. h. e. 10,4,5. Ferner vermutlich auch in einem pseude‐ pigraphen Brief, der Justin zugeschrieben wird, wo im Kontext von der Beurteilung desjenigen die Rede ist, der liest: „Zu bedenken sind noch die Ordnungen (διαθέσεις) einiger bei der Beschäftigung mit den Lektüren/ Lesungen (ἐπὶ τῆς τῶν ἀναγνωσμάτων ἐπιτηδεύσεως): Denn in dem Moment wenn jemand liest (ἅμα γάρ τις ἀναγινώσκει), wird auch die Art und Weise seiner Einstellung (αὐτοῦ τῆς φρονήσεως) offenkundig für eifrige Beurteiler (τοῖς ἐῤῥωμένοις κριτικοῖς)“ (Ps.-Iust., ep. ad Zenam et Serenum 510d [CorpAp 4]). Die individuell-direkte Lektüre ist hingegen bei Iul. ep. 50 [446b] gemeint. 84 Vgl. auch Lukian. ver. hist. 1,2. 85 Ἀλλ᾽ Ἀλεξάνδρου τὴν Ἀσίαν ἐξημεροῦντος Ὅμηρος ἦν ἀνάγνωσμα … Plut. de Alex. fort. 1,5 (mor. 328d). Vgl. ferner Dion. Hal. ant. 1,8,3, der im Hinblick auf sein Werk von der ungestörten Beschäftigung mit historischen Lektüren (εἴ τισιν ἀοχλήτου δεήσει διαγωγῆς ἐν ἱστορικοῖς ἀναγνώσμασιν) spricht. 86 Vgl. z. St. E G E L H A A F -G A I S E R , Tischgespräche, 309. Dass Plutarch eine individuell-direkte Lektüre dieses Werkes voraussetzt, zeigt der direkte Kontext. S. u. S. 163. Vgl. außerdem Plut. Dem. 2,1, wo eindeutig materiell vorhandene Lektüren gemeint sind, auf deren Grundlage Geschichte geschrieben werden kann. 3.1.5 Ἀνάγνωσμα Das viel seltener vorkommende Lexem ἀνάγνωσμα müsste aus morpholo‐ gisch-semantischer Sicht demgegenüber eigentlich das Ergebnis oder Resultat einer Handlung bezeichnen, 81 wobei die Grenzen zwischen diesen nomina rei actae und den o. g. Verbalabstrakta (nomina actionis) in den Grammatiken jedoch als fließend bezeichnet werden. 82 Neben wenigen Belegen, die eine gleichsam synonyme Verwendung mit ἀνάγνωσις im Sinne einer Vorlesung aufweisen, 83 zeigt sich in den Quellen, dass das Lexem, ganz ähnlich wie der Lektüre-Begriff im Deutschen, in seiner Bedeutung changiert. Dies zeigt sich ganz deutlich in Plutarchs Schrift Quomodo adolescens poetas audire debeat (poet. aud. 14 [mor. 35 f]), in der er u. a. die Lehren Platons und Pythagoras’ Jugendlektüren (παιδικά ἀναγνώσματα) gegenüberstellt. Die παιδικά ἀναγνώσματα sind hier sowohl ein Sammelbezeichnung für die schulische Lektürepraxis als auch eine Bezeichnung für die Lesestoffe selbst. 84 Ähnlich ambigue gebraucht wird ἀνάγνωσμα, wenn Plutarch die Kultivierung Asiens u. a. daran festmacht, dass Homer zur Lektüre wurde. 85 Das Lexem ἀνάγνωσμα kann aber ebenso eindeutig in einem potentiellen Sinne, also zur Bezeichnung einer Lektüre gebraucht werden, die sich konkret materiell in einem Buch manifestiert. So wird z. B. bei Plutarch Akesanders Schrift Περὶ Λιβύης als eher ungewöhnliche, nicht gebräuchliche Lektüre charakterisiert: καὶ τοῦτο μέν’ ἔφην ‘τὸ ἀνάγνωσμα τῶν οὐκ ἐν μέσῳ ἐστί (Plut. symp. 5,2 [mor. 675b]). 86 Die Wendung ἀναγνώσμασιν 127 3.1 Lesen als (Wieder)Erkennen <?page no="128"?> 87 Eine sehr ähnliche Verwendung von ἀνάγνωσμα findet sich bei Plut. Phil. 4,4. 88 Das gilt auch für die in Cic. Sest. 51 genannten attischen anagnostes. 89 Freilich haben diese anagnostes auch vorgelesen. Vgl. Corn. Nep. Att. 14,1. Aber schon aus wirtschaftlichen Gründen erscheint es abwegig anzunehmen, dass diese nur zum Vorlesen eingesetzt worden wären. ἐντυγχάνειν (begegnen, d. h. lesen von Lektüren [s. u.]) an einer anderen Stelle (Plut. symp. 5,3,2 [mor. 676c]) hat dagegen eher eine resultative Bedeutung, da dadurch im Kontext die herausragende Belesenheit eines Redners hervorge‐ hoben wird. 87 Analog formuliert Nikomachos von Gerasa in seiner Einführung in die Arithmetik: „Dies also über die drei Proportionen, die bei den Alten ständig behandelt werden (θρυλλουμένων), die wir auch ausreichend klar und breit ausgeführt haben, weil man ihnen oft und vielfältig in den Lektüren (ἐν τοῖς ἀναγνώσμασι) begegnet (ἐντυγχάνειν)“ (Nikom. Ar. 2,28,1). 3.1.6 Ἀναγνώστης Zuletzt muss auch noch das ebenfalls zur gleichen Wortfamilie wie ἀναγιγνώσκω gehörende Lexem ἀναγνώστης untersucht werden. Der LSJ gibt als Hauptbedeutungen reader und slave trained to read mit Verweis auf vier Quellen und als Nebenbedeutung secretary mit Verweis auf einige Inschriften an. Das englische Lexem reader lässt freilich offen, ob ein Vorleser oder allgemein der Rezipient von Texten im Blick ist. Die erste Quelle, die im LSJ für die Hauptbedeutung angeführt wird, ist eine Notiz in einem Brief von Cicero an Atticus, dem er berichtet, dass ihn der Tod eines Sklaven mit dem Namen Sositheus emotional belaste, dessen Funktion er mit dem griechischen Lehn‐ wort anagnostes bezeichnet (Cic. Att. 12,4). Was der genaue Aufgabenbereich dieses Sklaven war, geht aus der Stelle selbst nicht hervor. 88 Cornelius Nepos hebt hervor, dass unter den Sklaven des Atticus literarisch sehr gebildete Sklaven gewesen seien - und zwar anagnostae optimi et plurimi librarii (Corn. Nep. Att. 13,3). Diese Differenzierung könnte dahin gehend gedeutet werden, dass erstere eher für die Textrezeption, 89 letztere für Produktion bzw. das Abschreiben von Texten zuständig gewesen sind. Eine ähnliche Differenzierung findet sich bei Plutarch: Dieser (Crass. 2,6) führt unter den Haushaltssklaven (οἰκέτης) von Crassus neben Edelmetallprüfern für Silber (ἀργυρογνώμων), Schatzmeistern/ Verwaltern (διοικητής) und Tischbediensteten (τραπεζοκόμος) auch ἀναγνῶσται und ὑπογραφαί auf. Mit ὑπογραφεύς ist hier aber vermutlich nicht nur ein Schreiber gemeint, vielmehr verweist die Vorsilbe auf eine spezielle 128 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="129"?> 90 Vgl. den entsprechenden Eintrag im LSJ. 91 So aber exempl. für viele S T A R R , Reading. 92 Vgl. S E Y L A Z / K E I L , Ehreninschrift, 123 f. 93 H U P F L O H E R , Kulte, 117, identifiziert fünf öffentliche Ämter in der Liste. Die schon zitierten Inschriften lassen es möglich erscheinen, dass es sich bei dem ἀναγνώστης auch um eine Art Sekretärsamt handeln könnte, das im Gegensatz zum kurz zuvor genannten Sekretär (γραματεύς; IG V/ I, 209,26) eher Rezeptionsaufgaben innehatte. Zumindest spricht sich B O R I N G , Literacy, 88, dagegen aus, dass es sich hier um einen Sklaven handelt. Funktion - entweder auf jemanden der unter der Leitung eines anderen schreibt oder jemand der zur Unterschrift autorisiert ist. 90 Keine dieser Stellen zwingt jedoch zu der Annahme, dass es sich bei den genannten Personen um nur für das Vorlesen ausgebildete Spezialisten handelt. 91 Vielmehr deutet der Quellenbefund des Lexems insgesamt darauf hin, dass literarisch gebildete Spezialisten im Blick sind, in deren Aufgabenbereich auch das Vorlesen von Texten lag. Dafür spricht a) der Inschriftenbefund, der schon LSJ zur Formulierung der Nebenbedeutung secretary bewogen hat. Ein Epitaph von der Insel Cos bezeugt für das 2. Jh. die Funktion eines ἀναγνώστης γερουσίας (I.Cos 238) also ein spezifisches Sekretärsamt im Ältestenrat. Eine Ehreninschrift, die in der Nähe von Smyrna bei Bel Kave gefunden wurde und vermutlich auf die zweite Hälfte des 2. Jh. v. Chr. zu datieren ist, belegt die Ehrung eines Strategen und seiner Familie durch Umhängen goldener Kränze - unter den Bekränzten befindet sich auch ein ἀναγνώστης τοῦ δήμου (eine Art Stadtsekretär; I.Smyrn. 609,13 f). 92 Ein Ehrenbeschluss für einen Krates in Priene aus dem 1. Jh. listet unter den in sein Haus eingeladenen Amtsträgern auch einen ἀναγνώστης auf (I.Priene 56,190-194 [= I.Priene 111, ed. Hiller]). Ob sich das Attribut τῆς πόλεως, das eigentlich zum nachfolgend genannten κῆρυξ gehört, jedoch auch auf ἀναγνώστης zurückbezieht, wie LSJ meinen, muss offen bleiben. Interessant vor allem im Hinblick auf die Frage nach einem Lektorenamt in den späteren christlichen Gemeinden (s. u. 9.4) ist sodann die Nennung eines ἀναγνώστης in einer Vereinsinschrift aus Sparta aus dem 1. Jh. v. Chr. (IG V/ I, 209,28). Darüber, ob es sich hierbei um eine Berufsbezeichnung, um ein öffentliches Amt oder um einen Verweis auf die Funktion innerhalb des Vereins oder sogar beim Vereinsmahl handelt, gibt die Inschrift allerdings keine Auskunft. 93 In mindestens den ersten drei genannten Inschriften handelt es sich nicht um zum Vorlesen ausgebildete Sklaven, sondern um öffentliche Ämter, die mit Lese- und vielleicht auch mit Schreibaufgaben sowie einem gewissen sozialen Ansehen verbunden waren. Im Rahmen der antiken Buchproduktion und -vervielfältigung wird ihnen zudem, wie K. Dziatzko im Hinblick auf die für Atticus und Crassus belegten ἀναγνῶσται (s. o.) ausführt, die Funktion 129 3.1 Lesen als (Wieder)Erkennen <?page no="130"?> 94 Vgl. D Z I A T Z K O , Beiträge, 13; D Z I A T Z K O , Art. Buch, 961 f. 95 Für diesen Hinweis bedanke ich mich bei Prof. Dr. Maria Häusl. 96 Vgl. T A L S H I R , Esdras, 394 f.405.485.488.495; B ÖH L E R , 1 Esdras, 170-173. 97 So auch das Urteil von B Ö H L E R , 1 Esdras, 172 f. 98 Vgl. außerdem die Charakterisierung von Baruch als ⲉⲉ ϥ ⲉ ϣ (reader) im koptischen Jeremia-Apokryphon (8,5.7), worauf A L L I S O N , 4Bar, 240, hinweist. Vgl. zur Diskussion des Verhältnisses zu den ParJer H E R Z E R , Paralipomena, 87 f. 99 Im hebräischen Text wird er in Jer 36,32 als ר ֵ פֹ ס bezeichnet. Der Text der LXX weicht hier vom MT ab und verzichtet auf jedwede Erläuterung des Namens. des Korrekturlesens (ἀκριβόω, διορθόω, emendo, relgo etc.) und Vergleichens der geschriebenen Texte mit der Vorlage und mit älteren Textfassungen zuge‐ kommen sein. 94 Aufschlussreich ist zudem b) die Übersetzung des hebräischen Lexems ר ֵ פֹ ס (Schreiber, Sekretär [auch in hoher Stellung; vgl. z. B. 1Kön 2,11]) in 1Esdr 8,8 f.19; 9,39.42.49 mit ἀναγνώστης als exklusive Bezeichnung für die Rolle von Esdras - dabei handelt es sich um die Übersetzung des Esrabuches, aus der Josephus eben diese Informationen über Esdras rezipiert (vgl. Ios. ant. 11,123.12 7). Diese Übersetzung ist singulär in der LXX; hebr. ר ֵ פֹ ס/ aram. ר ַ פ ָ ס wird übli‐ cherweise mit γραμματεύς übersetzt (vgl. z. B. 2Kön 18,37; 19,2; Jer 8,8; 52,25). An anderen ר ֵ פֹ ס / ר ַ פ ָ ס -Stellen in 1Esdr wählt der Übersetzer eben dieses Lexem (Esr 4,8 f.17.13 || 1Esdr 2,15 f.21.25); 95 interessanterweise wird auch Esdras in 1Esdr 8,3 (ר ֵ פֹ ס in Esr 7,6) als γραμματεύς bezeichnet. In der Schwesterüberset‐ zung des hebräischen Esrabuches findet sich die Bezeichnung ἀναγνώστης für Esdras überhaupt nicht, vielmehr wird ר ֵ פֹ ס als Bezeichnung von Esdras durch‐ gehend mit γραμματεύς übersetzt (vgl. u. a. 2 Esdr 7,11 f.21). Da es unstrittig ist, dass dem Übersetzer an dieser Stelle der bekannte hebräische Text vorlag, 96 handelt es sich also hierbei um eine bewusste Übersetzerentscheidung, die da‐ durch motiviert gewesen sein könnte, die Rolle von Esdras kontextuell bedingt besonders hervorzuheben, die u. a. in 1Esdr 8,3 (γραμματεὺς εὐφυὴς ὢν ἐν τῷ Μωυσέως νόμῳ) pointiert zusammengefasst und durch die Lehr- und Vorlese‐ tätigkeit Esdras in 1Esdr 9,37b-54 narrativ entfaltet wird, und ihn damit insge‐ samt als politisch wirkmächtigen, literarisch gebildeten und torakundigen Mann mit Auftrag zur Lehre zu präsentieren. 97 Eine analoge Verwendung findet sich in ParJer (4Bar) 5,17, wo Baruch als ἀναγνώστης bezeichnet wird, 98 dessen Auf‐ gabenumfang im AT eher demjenigen eines Sekretärs gleicht (vgl. v. a. Jer 36,4.17 f.32 99 = 43,4.17 f.32 LXX; 51,1 = 51,31 LXX; vgl. ferner Bar 1,1), den Jose‐ phus γραμματεύς (Ios. ant. 10,6,2 [94 f]) und Schüler (μαθητής) von Jeremia (Ios. ant. 10,9,1 [158]; 10,9.6 [178]) nennt und der sich in ParJer (4Bar) 6,16 ff vor allem als Briefschreiber hervortut. Es ist ganz offensichtlich, dass seine Vorlesetätig‐ keit in Jer 36,6-11.13-15. (= 43,6-11.13-15 LXX) nur einen Teil von Baruchs 130 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="131"?> 100 Vgl. zur überzeugenden Rekonstruktion der Lücken im Manuskript G I G O N , Vita, 44. Für den Hinweis auf diese Quelle und für die Unterstützung bei der Auswertung bedanke ich mich sehr herzlich bei K. Künzl. 101 Vgl. dazu G I G O N , Vita, 45, der zeigt, dass es sich hier um einen terminus technicus handelt. 102 Es ist aufschlussreich, dass in Suet. Claud. 42 - eine dauerhaft institutionalisierte Verlesung von spezifischen Texten wird referenziert (s. u. Anm. 11, S. 295) - das Wort gerade nicht verwendet wird, sondern unspezifisch von a singulis gesprochen wird. Diese Stelle kann daher auch nicht als Belegstelle für Lektoren als Vorlesespezialisten angeführt werden. Gegen N Ä S S E L Q V I S T , Reading, 109. Das gilt auch für Gell. 3,1, wo ungenannt bleibt, wer den Catilina des Sallust vorliest. Gegen N Ä S S E L Q V I S T , Reading, 83, Anm. 90. Da Favorinus das Buchin manu amici erblickt (Gell. 3,3,1), kann vermutet werden, dass einer dieser Freund das Buch für alle während eines Spaziergangs vorlesen soll. Interessant ist diese Stelle ferner, weil nicht das ganze Buch vorgelesen wird, sondern nur die ersten elf Kapitel (Gell. 3,1,2), woran sich eine philosophische Diskussion anschließt, wobei die zur Diskussion stehende Stelle iterativ gelesen wird (Gell. 3,1,11). 103 Vgl. dazu K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 52-60; P A U S C H , Livius, 65. 104 Vgl. dazu weiterführend P A U S C H , Livius, 59 ff. Aufgabenspektrum abdeckt und hier zu einer Erzählsequenz gehört, welche die Entstehung des Jeremiabuches selbstreferenziell kommentiert. c) Es gibt außerdem eindeutige Belege dafür, dass ἀναγνώστης auch den individuellen Leser meinen kann, der gerade nicht anderen vorliest. So wird Aristoteles in der Vita Aristotelis Marciana als ἀναγνώστης bezeichnet. „Häufig [sagte] Platon nämlich: ‚Lasst uns 〈weggehen〉 zum Haus des Lesers! (εἱς τὴν τοῦ ἀναγνώστου οἰκίαν)‘, und wenn er [d. h. der Leser] bei der Vorlesung abwesend war (ἀπόντος τῆς ἀκροάσεως), rief er [d. h. Platon] laut auf: ‚Der Verstand ist ab〈wesend〉 und 〈stumpf ist die Hörer〉s〈chaft〉! ‘“ (Vit. Arist. Marc. 42-44). 100 Vor allem durch die Gegenüberstellung zur Vorlesung (ἀκρόασις) 101 wird deutlich, dass mit der Bezeichnung ἀναγνώστης, die man umgangssprachlich vielleicht mit „Leseratte“ wiedergeben könnte, seine kommende Gelehrsamkeit hervorge‐ hoben werden soll, die vor allem darin zum Ausdruck kommt, dass er tugendhaft viel liest. Es ist aufschlussreich, dass sich das Bedeutungsspektrum des lateinischen Le‐ xems lector von der Verwendung von ἀναγνώστης in den Quellen unterscheidet. An der Mehrzahl der Belegstellen ist der lector gerade nicht ein Vorleser, 102 sondern der Leser bzw. Rezipient, der in der lateinischen Literatur im 1 Jh. zum anonymen Gegenüber des Autors wird: 103 Cicero schreibt in einem Brief an L. Lucceius, es gäbe nichts Besseres zur Unterhaltung des Lesers (ad delectationem lectoris), als in Ereignissen und Schicksalen zu variieren (vgl. Cic. fam. 5,12,4). 104 In den Tusculanae disputationes polemisiert Cicero gegen unbedacht geschriebene, lateinische Bücher der Epikureer, deren Rezipientenkreis aus 131 3.1 Lesen als (Wieder)Erkennen <?page no="132"?> 105 K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 52-60.99 106 Vgl. dazu K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 52-60.98-103. diesem Grund begrenzt seien: „daß aber einer seine Gedanken niederschreibt und sie weder zu ordnen noch gut auszudrücken, noch den Leser durch irgendeine gefällige Form anzuziehen vermag (nec delectatione aliqua allicere lectorem), das beweist einen unerlaubten Mißbrauch der eigenen Freizeit und der Sprache. So werden denn auch ihre Bücher nur von ihnen selbst und ihren Anhängern gelesen, und keiner rührt sie an außer denen, die sich dieselbe Zügellosigkeit im Schreiben gestatten möchten“ (Tusc. 1,6; Üb. G I G O N ). Auch wenn Cicero die rhetorische Frage stellt, welchen Leser er fürchten bräuchte (ego autem quem timeam lectorem …? fin. 1,8), hat er hier die Rezipienten seines philosophischen Werkes De finibus bonorum et malorum im Blick. Cornelius Nepos nutzt das Lexem zur Ansprache seiner Rezipienten. Explizit als Vorbemerkung an den Leser markiert (de hoc priusquam scribimus), schreibt er z. B. am Anfang der Kurzbiographie über Epaminondas: „Bevor wir über ihn schreiben, scheint es ratsam, die Leser davor zu warnen (haec praecipienda videntur lectoribus), fremde Sitten nach ihren eigenen Maßstäben zu beurteilen“ (Corn. Nep. Epamin. 1,1; Üb. F Ä R B E R ); die Auswahl nur eines Beispiels, das die Grausamkeit Lysanders zum Ausdruck bringen soll, begründet er damit, dass er den Leser nicht langweilen möchte: ne de eodem plura enumerando defatigemus lectores (Corn. Nep. Lys. 2,1). Vgl. außerdem Corn. Nep. Pelop. 1,1; Attic. 19,1. Interessant ist, wie Phaedrus gegen Cato polemisiert: Quid ergo possum facere tibi, lector Cato, Si nec fabellae te iuvant nec fabulae? Noli molestus esse omnino litteris, Maiorem exhibeant ne tibi molestiam (Phaidr. 4,7). Wenn Columella am Ende von Buch 8 seines Hauptwerkes das Ende der Ausführungen damit begründet, er wolle den Leser (lector) nicht durch die Länge des Buches erschöpfen (Colum. 8,17,16), hat er hier nicht einen Vorleser, sondern den individuellen Leser im Blick. Diesen hat auch eindeutig Horaz im Blick, wenn er Maecenas in einem Brief die Frage stellt: „Möchtest du wissen, warum mein Werkchen vom Leser zwar zu Hause geschätzt, auch gelobt (mea cur ingratus opuscula lector laudet ametque domi), doch draußen geschmäht wird? “ (Hor. ep. 1,19,34 f; Üb. angelehnt an H E R M A N N ). Vgl. außerdem die Gegenüberstellung von Lesern und Publikum in einem Brief an Augustus: Hor. ep. 2,1,214 f; Martial führt das Gespräch mit seinen Lesern in vielen Fällen ebenfalls unter Verwendung des Lexems lector (vgl. Mart.1,1; 1,113; 2,8; 5,15f; 7,12; 9 praef.; 9,49; 10,1 f u. ö.), wobei er verschiedene Lesertypen, angezeigt durch verschiedene qualifizierende Attribute, imaginiert: z. B. lector studiosus als Bezeichnung eines Lesers mit „eifriger Gespanntheit und literarischer Begeisterung“ 105 ; delicate lector (Mart. 4,55); lectore guloso (Mart. 10,59); lector amicus (Mart. 5,16). 106 Besonders seine Unterscheidung zwischen Lesern und Hörern in Mart. 9,81 macht deutlich, dass Martial unterschiedliche Rezeptionsmodi seiner Epigramme antizipiert und der lector für den Rezeptionsmodus der individuellen Lektüre steht. 132 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="133"?> 107 K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 80. 108 Vgl. zu den Stellen bei Ovid weiterführend K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 54-58, der zeigt, dass Ovid sich an ein breites, anonymes Lesepublikum, an die plebs urbana richtet, woraus zu schließen ist, dass sowohl eine entsprechende Lesekultur als auch ein funktionierender Buchhandel in der Stadt Rom zu dieser Zeit existiert. 109 Dagegen gibt es auch wenige Stellen, an denen in lateinischen Texten der lector eindeutig einen Vorleser/ Rezitator referenziert. Dazu S T A R R , Reading, der, wie N Ä S S E L Q V I S T , Re‐ ading, u. S H I E L L , Reading, dessen Bedeutung für die römische Lesekultur aber m. E. überschätzt und die Unterschiede im Gebrauch zwischen dem griechischen und lateini‐ schen Lexem unzulässigerweise nivelliert. Vgl. z. B. Plin. ep. 1,15,2; 3,5,12; 9,17,3 (jeweils beim Mahl); ferner 9,34; Quint. inst. or. 6,3,44 (im Gerichtsprozess). Plinius schreibt in einem Brief an Septicius (Plin. ep. 8,1), dass sich sein lector Encolpius eine Halsentzündung zugezogen und Blut ausgeworfen habe, sodass er die Studien von Plinius nicht länger vortragen könne. (Vgl. aber auch den scriptor und lector von Crassus in Cic. de orat. 1,30,136, der offenbar mehr Augfgaben hatte als nur vorzulesen.) Sueton erzählt von Augustus, dieser habe zuweilen nachts einen lector kommen lassen, um ihm vorzulesen, damit er wieder einschlafen kann. Vgl. Suet. Aug.78. Vgl. ferner Suet. Claud. 41. 110 Bei Gell. 18,4,2 ist hingegen der faktische Rezipient (lector) von Sallusts Werken im Blick. Valerius Maximus, der seine Leser ebenfalls unter der Verwendung des Lexems lector anspricht (vgl. Val. Max. 8,2), kündigt seinen Lesern an, ihnen einige Bilder vor Augen zu stellen (… quasdam imagines non sine maxima ueneratione contemplandas lectoris oculis subiciam … Val. Max. 4,6), womit entweder die visuelle Dimension des Lesens oder das innere Auge des Lesers im Blick ist. Plin. ep. 3,13,2 reflektiert über den Leser (lector) von Redemanuskripten, der diese wegen der besonderen Qualität des Textes genau liest. Aus dem Kontext geht hervor, dass deutlich „zwischen Erstrezeption und eingehender Weiterbeschäftigung unterschieden“ 107 wird. Vgl. außerdem Plin. ep. 4,14,7; 4,26,3 (… tu lector …); 5,4,4. Vitruv reflektiert im Vorwort seines fünften Buches in rezeptionsorientierter Perspektive über die Unterschiede des Schreibens über Architektur im Vergleich zur Geschichtsschreibung oder zur Poesie: historiae per se tenent lectores; habent enim novarum rerum varias expectationes. poematorum vero carminum metra et pedes ac verborum elegans dispositio et sententiarum inter personas distinctas versuum pronuntiatio prolectando sensus legentium perducit sine offensa ad summam scriptorum terminationem. (Vitr. 5 praef. 1). Apuleius stimmt seine Leser in seinem Roman Metamorphoseon programmatisch am Beginn ein: lector intende: laetaberis (Apul. met. 1,1,6). Vgl. ferner Apul. met. 10,2,4; 11,23,5. Diese Liste ließe sich fortführen: Vgl. z. B. Phaedr. 2 prol.; Sen. de ira 2,2; Hor. ars. 344; Hor. sat. 1,10,74; Catull. 14b; Ov. trist. 1,7,32; 1,11,35; 3,1,2.19; 4,1,1 f (! ); 4,10,132 u. ö.; 108 Pont. 3,4,43 u. ö. 109 Die aufgeführten Stellen belegen eindeutig, dass der (intendierte) Rezipient eines Textes im Blick ist, 110 da z. B. sein emotionales Empfinden oder sein Urteil adressiert bzw. er direkt als Rezipient angesprochen wird - und es sich dabei nicht um Vorlese- oder Regieanweisungen handelt. Diese Verwendungsweise von lector in 133 3.1 Lesen als (Wieder)Erkennen <?page no="134"?> 111 Vgl. dazu einschlägig S C H E N K E V E L D , Prose. Nicht systematisch untersucht wurden in dieser Studie vom Stamm ἀκροαabgeleitete Lexeme wie ἀκροάομαι, ἀκροατής, ἀκρόασις, ἀκροατικός, welche meinem ersten Eindruck nach durchaus auch dafür verwendet werden, das Hören eines vorgelesenen Textes zu beschreiben (s. z. B. Ps.-Lukian. Dem. enc. 25 f), allerdings - anders als ἀκούω - nicht zur Bezeichnung für das innere Hören bzw. Verstehen verwendet werden. Dies müsste allerdings eine ausführliche komparatistische Untersuchung zeigen, die hier nicht geleistet werden kann. 112 Vgl. z. B. Plat. Phaid. 97b/ c (der Kontext gibt leider eine genauere Einordnung nicht her; es wäre möglich, dass der Sokratesschüler Kebes hier jemandem zuhört, der intendiert für andere vorliest, z. B. in einem philosophischen Lernkontext, oder dass er eher beiläufig etwas von jemandem aufschnappt, der ein Buch individuell-direkt und vokalisierend liest.); Isa. or. 3,42; Andokides de myst. 47; Plat. Phaidr. 230e; Demosth. or. 20,94; 45,32; u. ö.; Aischin. Ctes. 34 u. ö.; Ios. ant. 10,6,2 (94 f); 11,5,5 (155); Lukian. apol. 3; Athen. deipn. 1,8 [5b]; Kyr. Hier. Procatechesis 14. Vgl. ferner die Wendung ἀναγινώσκειν εἰς κοινὴν ἀκοὴν bei Synes. Dio 18,2. Vgl. zum lateinischen audio exempl. Plin. ep, 1,13 (Autorenlesung). Zum lateinischen Äquivalent audio als Bezeichnung zu Rezeption eines vorgelesenen Textes vgl. exempl. Gell. 3,18,3. 113 Vgl. z. B. Plut. de fac. 26 (mor. 942c). Vermutlich auch vorausgesetzt bei der expliziten Abgrenzung des Zuhörens vom Lesen (ἐντυγχάνω s. u. 3.4) stoischer Schriften in Plut. adc. Stoic. 36 (mor. 1077c). 114 Gegen M O R G A N , Literate, 27 f: „L’essential est l’oralisation du texte, et sa transmission à l’auditoire. De lá, sans doute, l’utilisation épisiodique d’un autre verbe significant lire: audire, l’équivalent exact du verbe ἀκούειν utilisé par Plutarque pour désigner les destinataires de ses œuvres. À proprement parler, ces étranges lecteures ne lisent rien: lateinischen Quellen ist für das Lexem ἀναγνώστης im Griechischen gerade nicht belegt; für analoge pragmatische Zwecke werden in den griechischen Texten v. a. substantivierte Partizipien von ἀναγιγνώσκω (s. o.) und ἐντυγχάνω (s. u.) genutzt. Am nächsten an die besprochene Verwendungsweise des Lexems lector kommt noch die diskutierte Stelle (Vit. Arist. Marc. 42-44), an der Aristoteles als Vielleser charakterisiert wird - hier unterscheidet sich jedoch der Kommunikationszusam‐ menhang, da hier die Außenwahrnehmung auf Aristoteles dokumentiert ist, und nicht die Kommunikation zwischen Autor/ Text und Leser. 3.2 Lesen als Hören Auf das Phänomen „Lesen“ wird im Griechischen jedoch vielfach auch mit dem Lexem ἀκούω (Grundbedeutung: hören) verwiesen. 111 Als Terminus zur Rezeption von Geschriebenem wird das Verb zur Kennzeichnung der hörenden Rezeption eines vorgelesenen Textes 112 oder einer Rede/ eines Vortrages 113 ver‐ wendet. Aber für zahlreiche Belegstellen kann die Rezeptionssituation (jemand liest jemandem vor) nicht a priori vorausgesetzt werden; 114 genauso wenig kann 134 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="135"?> ils se contenent d’écouter une lecture. Mais par rapport au texte qui est ecrit pour eux, se sont de lecteurs.“ 115 Gegen M E Y E R , Inszeniertes Lesevergnügen, 6 f; B O T H A , Orality, 92 f, die genau dies aus dem Vorkommen von verba dicendi und verba audiendi schlussfolgern. 116 So etwa die Übersetzung von H. N. Fowler: „he had read something in a book“. 117 H E N D R I C K S O N , Reading, 188 f, geht von letzterem aus. 118 Vgl. exempl. Quint. inst. or. 3,3,4: Nec audiendi quidam, quorum est Albutius … 119 Gegen K A R R E R , Instrument, 405. 120 S. zu dieser Quelle die Ausführungen auf S. 148 f. Vgl. zum Motiv des Sprechens von Texten z. B. auch Plat. Lys. 214b. daraus geschlossen werden, dass in der Antike grundsätzlich vokalisierend gelesen wurde, 115 wie zu zeigen sein wird. So lässt Platon den Phaidros in seinem Dialog mit Sokrates abfällig über einen Menschen sprechen, der sich für einen Arzt hielte, „weil er aus irgendeinem Buch hörte/ in einem Buch las  116 (ἐκ βιβλίου ποθὲν ἀκούσας)“ (Plat. Phaidr. 268c). Hier ist es nicht eindeutig zu entscheiden, ob an eine Vorlesesituation oder an individuell-direkte Lektüre gedacht ist. 117 Letzteres ist zumindest sehr gut vorstellbar angesichts der Quellenevidenz im Folgenden. Das gilt im Übrigen auch für die analoge Verwendung von audire im Lateinischen. 118 Eine eindrückliche Belegstelle findet sich bei Herodot, an der eindeutig eine Szene individualisierten Lesens voraussetzt wird (Hdt. 1,48). Ob vokalisierend oder nicht-vokalisierend kann aus dem Text heraus nicht eindeutig entschieden werden: 119 Im Kontext einer Probe der griechischen Orakel durch den Lyder‐ könig Kroisos erhält dieser die schriftlich fixierten Orakelsprüche in Form von Rollen (ἀναπτύσσω), die er einzeln inspiziert (ἐποράω), wobei ihm bis auf einen keiner der Sprüche gefällt. „Aber als er die Antwort aus Delphi hörte (ὡς τὸ ἐκ Δελφῶν ἤκουσε), verehrte er sie unverzüglich und akzeptierte sie“ (Hdt. 1,48,1). Analog wird ἀκούω auch in Hdt. 1,125,1 als Leseterminus verwendet. An dieser Stelle ist aus dem Kontext eindeutig zu erschließen, dass die Buchstaben zum Leser sprechen (τὰ δὲ γράμματα ἔλεγε; Hdt. 1,124,1). 120 Eine ebenfalls eindeutige individuell-direkte Leseszene, im Rahmen derer ἀκούω als Leseterminus gebraucht wird, findet sich in Heliodors Aithiopika: Der Ich-Erzähler Theagenes liest den äthiopischen Text auf einem Band (ταινία; vgl. Hld. 4,8,1), das der ausgesetzten Chariklea beigegeben worden war (vgl. Hld. 4,7), und hört den Namen ihrer Mutter Persina: Ἐπάγην, ὦ Κνήμων, ὡς τοῦ Περσίννης ὀνόματος ἤκουσα (Hld. 4,8,2). Aus dem Kontext kann man erschließen, dass der Ich-Erzähler die Stimme des Textes hört; als Lesetermini werden Lexeme (ἐπέρχομαι, εὑρίσκω) verwendet, die eher darauf hindeuten, dass nicht-vokalisierende Lektüre zu imaginieren ist: „Beim Begehen fand ich die Schrift Folgendes erzählend … (καὶ ἐπερχόμενος τοιάδε ηὕρισκον τὸ γράμμα 135 3.2 Lesen als Hören <?page no="136"?> 121 Vgl. zu dieser Interpretation U S E N E R , Isokrates, 81. 122 Vgl. dazu M E T T E , Sphairopoiia, 60 f (dort zur „Quelle“ der Emendation); R O M M , Edges, 180; J A N K O , Iliad IV, 190; N A G Y , Comments, 51. 123 Zu unpräzise ist die Formulierung von N A G Y , Comments, 51, der meint ἀναγιγνώσκω würde hier „laut lesen“ im Sinne eines editorischen Sprechaktes bedeuten. διηγούμενον … Hld. 4,8,1). Bei Isokrates (or. 12,252) findet sich die Aussage, dass viele die von ihm aufgeschriebenen Taten und Schlachten lesen und durchgehen wollten (πολλοὺς ποθεῖν ἀναγνῶναι καὶ διελθεῖν αὐτάς), nicht weil sie die Taten an sich hören wollen (ἀκοῦσαι πράξεις), sondern weil sie lernen (μανθάνω) wollten, wie Isokrates diese bewertet bzw. darstellt. 121 Die Kombina‐ tion aus ἀναγιγνώσκω und διέρχομαι zeigt, dass hier keine Vortragssituation, sondern eine Form individuell-direkter und intensiver Lektüre im Blick ist. Es ist daher m. E. auch wahrscheinlicher, dass ἀκούω hier nicht das tatsächliche Hören des mit der eigenen Stimme vorgelesenen Textes meint, sondern die kognitive Verarbeitung des Gelesenen benennt. In Plutarchs Schrift De facie in orbe lunae formuliert Lamprias gerichtet an einen der Gesprächsteilnehmer, Theon: „Weil du aber nun den Aristarch schätzt und bewunderst, gibst du dem Krates kein Gehör, wenn er liest (οὐκ ἀκούεις Κράτητος ἀναγινώσκοντος): ‚Vater Okeanos, welcher den Ursprung Allem gegeben [Hom. Il. 14,246], Menschen und Göttern, der weit sich ausstreckt über die Erde,‘“ (Plut. de fac. 25 [mor. 938d]; Üb. O S I A N D E R / S C H W A B ). Es handelt sich bei dieser Schrift um ein Gespräch, das aus der Perspektive von Plutarchs Großvater, Lamprias, geschildert wird und dessen erzählte Zeit in die zweite Hälfte des 1. Jh. n. Chr. fällt. Die Formulierung von Lamprias verweist auf die konkurrierende Homer-Interpretation des stoischen Grammatikers Krates von Pergamon und dem Alexandriner Aristarch im 2. Jh. v. Chr. Daraus wird unmittelbar ersichtlich, dass Krates hier nicht selbst liest, sondern Lamprias sich auf den Homertext von Krates bezieht. Denn die erste Hälfte des Zitats ist ein Zitat aus der Ilias, die zweite Hälfte stellt eine Emendation im Ilias-Text von Krates dar, die bei Aristarch fehlt. 122 Das Verb ἀναγιγνώσκω wird hier also im Sinne des modernen textkritischen Lesebegriffes gebraucht, 123 das Verb ἀκούω bezieht sich darauf, dass Theon sich nicht mit der Interpretation bzw. dem Ilias-Text des Krates beschäftigt, also dessen Ilias-Text bzw. dessen Schriften nicht liest. 136 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="137"?> 124 Zum Gebrauch des durch hinzutretenden Artikel substantivierten Partizips von ἐντυγχάνω als feststehende Formel für den/ die Leser s. u. 3.4. 125 Vgl. die Zusammenfassung der Datierungsdebatte bei K Ö H N K E N , Licht, 569, Anm. 1. 126 S. dazu die Ausführungen unter 3.5 u. 3.6. 127 Für dieses Weiterverarbeiten verwendet der Autor ferner die Wendung εὖ τὸ συνεχὲς ἐπισκοπῇς (Ps.-Long. 7,3), die mit einer visuellen Semantik konnotiert ist. Exemplarisch sei auch noch auf Origenes verwiesen, der ἀκούω in seiner Apologie gegen Celsus im Sinne von „lesen“/ „rezipieren“ verwendet: „Dennoch wünschte ich mir, dass jeder, der die dreiste Behauptung des Celsus gehört hat (ἀκούσαντα δεινολογοῦντος Κέλσου), ‚die Schrift über Christus mit dem Titel ‚Streitgespräch zwischen Papiskos und Jason‘ verdiene nicht Gelächter, sondern Ab‐ scheu,‘ diese kleine Schrift zur Hand nimmt und die Geduld und Ausdauer aufbringt, ihren Inhalten Aufmerksamkeit zu schenken (λαβεῖν εἰς χεῖρας τὸ συγγραμμάτιον καὶ ὑπομεῖναι καὶ ἀνασχέσθαι ἀκοῦσαι τῶν ἐν αὐτῷ), um mit ihr Celsus zu verurteilen, weil er nichts in dem Buch findet, was ‚Abscheu‘ verdient“ (Orig. Cels. 4,52; Üb. B A R T H O L D ). Wenig später fordert Origenes den Leser (… τὸν ἐντυγχάνοντα 124 τῇ ἀπολογίᾳ ταύτῃ πρὸς τὴν Κέλσου …) unter Verwendung eines Derivats von ἀκούω auf, er möge „unserer Schrift Aufmerksamkeit schenken“ (καὶ ἐπακοῦσαι τῶν συγγραμμάτων ἡμῶν; Orig. Cels. 4,53). Einen außergewöhnlichen Einblick in die antike Selbstwahrnehmung der kognitiven Verarbeitung von Gelesenem, der die oben stehenden Quellenzeug‐ nisse einzuordnen hilft, gewährt uns der Autor der Schrift Περὶ ὕψους („Über das Erhabene“), die vermutlich ins 1. Jh. n. Chr. zu datieren ist. 125 Im Kontext der Diskussion um die Qualität von Literatur (Ps.-Long. 7,1-3) verwendet er ἀκούω als Leseterminus, und zwar für die Benennung von Mehrfachlektüre (Ps.-Long. 7,3). Bei der beschriebenen Lektüre handelt es sich um eine prüfende, die mit dem Adjektiv visueller Wahrnehmung ἐπισκεπτέος sowie mit den Verben ἀναπτύσσω und εὑρίσκω im Kontext (Ps.-Long 7,1) näher spezifiziert wird. 126 Aufschlussreich ist nun, dass der an dieser Stelle vorgestellte Leser nicht mit dem Ohr hört, sondern vielmehr die ψυχή explizit als Subjekt des Hörens gekennzeichnet wird (Ps.-Long. 7,2; impliziert auch in 7,3). Das Gelesene wird mit der διάνοια weiterverarbeitet, 127 wobei Literatur minderer Qualität dieser „nicht mehr zum Betrachten (ἀναθεωρέω) zurücklässt als den bloßen Wortlaut“ (Ps.-Long. 7,3; Üb. angelehnt an S C HÖN B E R G E R ), qualitätsvolle Lite‐ ratur demgegenüber zu ausgiebiger Reflexion (οὗ πολλὴ μὲν ἡ ἀναθεώρησις; Ps.-Long. 7,3) und damit auch zu erneuter analysierender und reflektierender 137 3.2 Lesen als Hören <?page no="138"?> 128 Vgl. dazu K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 213-220, der mit guten Gründen vermutet, dass die hier vorausgesetzte analysierende und reflektierende Lektüre (mit den Augen) auf vokale Realisierung verzichten konnte. Die im Kontext vorkommenden, visuell konnotierten Lexeme (ἐπισκεπτέος; ἐπισκοπή; ἀναθεωρέω; ἀναθεώρησις) beziehen sich zwar nicht direkt auf das Lesen mit den Augen, der Lektürevorgang wird aber auch nicht streng von der mentalen Weiterverarbeitung getrennt. Die Stelle impliziert, dass Lesen und Reflexion über das Gelesene als zeitgleich ablaufende Vorgänge vorzustellen sind. Zur visuellen Dimension des Lesens in der Antike s. 3.8. 129 Vgl. das Fazit bei S C H E N K E V E L D , Prose, 136, der die Lexemverwendung als Katachrese beschreibt. 130 Dies entspricht dem in der Antike verbreiteten mentalen Konstrukt der Präsenz der Autorstimme in den Figuren seines Textes. Vgl. dazu T I L G , Autor, 69-73. 131 Vgl. auch Demetr. eloc. 4,216. Vom Kontext ist es ferner auch nicht ausgeschlossen, dass Galen mit τοῖς ἀκούσιν (Gal. alyp. 27) weniger das Publikum im Blick hat, sondern vielmehr allgemein auf die Leserschaft der Alten Komödie verweist - in Gal. alyp. 24 verweist er explizit auf Redner und Grammatiker als Adressaten -, für die er ein Lexikon verfasst hat. Eine sichere Schlussfolgerung lässt sich aus dieser Stelle allerdings nicht ziehen. Lektüre anregt, die durchaus auch mit Unterbrechungen für die kognitiven Weiterverarbeitungsprozesse zu denken ist. 128 Das bisher Gesagte lässt vermuten, ἀκούω werde in Lesezusammenhängen häufig nur noch usuell gebraucht. 129 Diese Schlussfolgerung lässt sich weiter er‐ härten: Ein eindrückliches Indiz für einen solchen usuellen Gebrauch findet sich bei Diog. Laert. 2,5,18, der mit einem verbum dicendi (im Sinne von „schriftlich mitteilen“) auf Plat. Tht. 149a verweist: „Sokrates war der Sohn des Steinmetzes Sophroniskos und von der Hebamme Phaenarete, wie auch Platon [in Form der Dialogfigur Sokrates! ] im Theaitetos sagt (ὡς καὶ Πλάτων ἐν Θεαιτήτῳ φησίν).“ Es ist hier völlig eindeutig, dass Platon eben nicht selber gesprochen hat, sondern Sokrates hat sprechen lassen. 130 Auch wenn Demetrios von Phaleron schreibt, Thukydides erlaube durch die Form der Komposition weder sich noch dem Rezipienten eine Pause (καὶ ἐκ τοῦ μόγις ἀναπαῦσαι αὐτόν τε καὶ τὸν ἀκούοντα; Demetr. eloc. 2,45), könnte hier gut der individuelle Leser im Blick sein - ein Urteil, das auch der Übersetzter W. R. Roberts gefällt hat, der das Partizip mit reader wiedergibt. 131 Galen zitiert in seiner 2005 wiederentdeckten Schrift „Über die Unverdrossenheit“ Euripides und leitet das Zitat für seinen Leser folgendermaßen ein: „Was Euripides irgendwo dem Theseus in den Mund legt, ist vor allem wahr, wie du erkennen wirst, wenn Du die Worte hörst (ἀκούσας δὲ τῶν ἐπῶν εἴσει)… [Es folgt das Zitat: Eur. fr. 964 Nauck]“ (Gal. alyp. 52; Üb. angelehnt an B R O D E R S E N ). Als stärkste Evidenz für einen usuellen Gebrauch von ἀκούω als Leseterminus ist auf die bei den antiken Schriftstellern verbreitete Praxis zu verweisen, ihre Quellen mit der Phrase ἤκουσα xy(Gen.) λέγοντος anzugeben bzw. Zitate 138 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="139"?> 132 Vgl. S C H E N K E V E L D , Prose, 133 ff, mit zahlreichen Verweisen u. a. auf Ael. nat. 7,7 (Ἀριστοτέλους ἀκούω λέγοντος ὅτι …) u. ö.; Strab. 1,2,3 (! ); Dion. Hal. Dem. 26: ἀκούσωμεν δὲ αὐτοῦ (scil. Platon), πῶς λέγει … (s. ferner auch Ach. Tat. 2,36,3: ἄκουσον Ὁμήρου λέγοντος …; und ohne verbum dicendi Cass. Dio 58,11,7.) Schenkeveld weist darauf hin, dass die Verwendung der 1. Pers. Pl. hier nicht auf eine Vortragssituation hindeutet, also implizierte, dass die Zuhörer angesprochen würden. Vielmehr ist das Traktat Dion. Hal. Dem. „composed for a private reader“ (S C H E N K E V E L D , Prose, 134 [Herv. JH). Dies sollte man auch für den Gebrauch dieser Wendung zum Anzeigen eines Zitats bei anderen Schriftstellern voraussetzen. Vgl. z. B. die Einführung zweier Zitate bei Clem. Al. strom. 5,110,1 (ἀκούσωμεν οὖν πάλιω Βακχυλίδου τοῦ μελοποιοῦ περὶ θείου λέγοντος …) und 5,110,2 (… γεγραφόντος). In beiden Fällen bezieht sich Clemens auf schriftliche Vorlagen oder die Einführung eines Zitats. Vgl. das analoge Phänomen bei Eus. h. e. 4,22,1. Vgl. außerdem die synonyme Verwendung von „hast du nicht gelesen“ und „hast du nicht gehört“ bei Plut. de tranq. anim. 6 (mor. 467e/ f). 133 Vgl. z. B. Thuk. 1,20,1; Lukian. Bacch. 4. 134 Vgl. z. B. Quint. inst. or. 2,4,8; Apul. met. 7,16,5; apol. 25. Vgl. exempl. auch sicuti inquit legimus (mit der Lesart sicuti scribendum est legimus) in Fort. Aquil. com. 1397 oder legimus in evangelio ipsum dominum dixisse in Fort. Aquil. com. 1579. Umgekehrt ist der Befund für die Phrase audivi xy dicentem weitgehend negativ für das Lateinische. S C H E N K E V E L D , Prose, 134, Anm. 29, kennt lediglich eine eindeutige Belegstelle: Cic. fin. 2,90. 135 Vgl. S C H E N K E V E L D , Prose, 134-137. einzuleiten. 132 Dabei sei am Rande auf das analoge Phänomen verwiesen, dass das Substantiv ἀκοή nicht nur das Ohr, sondern auch abstrakt die Information oder Tradition bezeichnen kann. 133 D. M. Schenkeveld hat eindrücklich gezeigt, dass die Wiedergabe einer Lesefrucht mit „gehört haben, dass xy gesagt hat …“ ausgedrückt wird, während im Lateinischen die Phrase legere apud xy aliquid gängig ist. 134 Für die auch im Griechischen erwartbare Phrase „in xy gelesen haben, dass …“, die mit dem Verb ἀναγιγνώσκω gebildet wird, sei der Befund hin‐ gegen weitgehend, jedoch nicht gänzlich negativ. 135 Seine Liste von Ausnahmen kann allerdings noch ergänzt werden: Diod. 14,47,2: „darin [in einem Schreiben von Dionysios, Tyrann von Syrakus] war zu lesen, … (ἧς ἀναγνωσθείσης ἔν …)“; Plut. symp. 3,7,2 [mor. 656a]; Plut. symp. 8,4,3 [mor. 724a]: „Und doch habe ich, wie ich mich zu erinnern glaube, neulich in der attischen Geschichte gelesen [ἐν τοῖς Ἀττικοῖς ἀνεγνωκὼς], daß …“ (Üb. O S I A N D E R / S C H W A B ); Plut. Alex. 4: … ἀνέγνωμεν ἐν ὑπομνήμασιν Ἀριστοξενείοις; Plut. Adv. col. 14 (mor. 1115d): ἡμεῖς γὰρ ἐν πᾶσιν ἀναγινώσκομεν …; Iust. Mart. dial. 11,2: Νυνὶ δὲ ἀνέγνων γάρ, ὦ Τρύφων, ὅτι … (Zitatmarkierung); 11,3: Ἢ σὺ ταῦτα οὐκ ἀνέγνως ἅ φησιν Ἠσαίας … (Zitatmarkierung); 10,3: Ἢ οὐκ ἀνέγνως ὅτι … (Zitatmarkierung); TestDan 5,6: ἀνέγνων γὰρ ἐν βίβλῳ Ἑνώχ τοῦ δικαίου ὅτι …; TestNaph 4,1: … ἀνέγνων ἐν γραφῇ ἁγίᾳ Ἑνὼχ ὅτι …; TestAss 7,5: ἀνέγνων γὰρ ἐν ταῖς πλαξὶ τῶν οὐρανῶν ὅτι …; Gebet des Joseph Fr. B: ‘Ἀνέγνων γὰρ ἐν ταῖς πλαξὶ τοῦ οὐρανοῦ … (Eus. pr. 139 3.2 Lesen als Hören <?page no="140"?> 136 Eine sehr aussagekräftige Belegstelle findet sich bei Gal. fac. nat. 2,9, der sich direkt an seinen Leser (τοὺς ἐντυγχάνοντας; s. dazu unten mehr) wendet und λέγω und γράφω gleichsam synonym nebeneinander verwendet: τοσοῦτον δὲ μόνον ὑπὲρ ἑκάστου εἶπον, ὅσον ἐξορμήσει τε τοὺς ἐντυγχάνοντας, εἰ μὴ παντάπασιν εἶεν σκαιοί, τοῖς τῶν παλαιῶν ὁμιλῆσαι γράμμασι καὶ τὴν εἰς τὸ ‘Ρᾷον αὐτοῖς συνεῖναι βοήθειαν παρέξει. γέγραπται δέ που καὶ δι᾽ ἑτέρου λόγου περὶ τῶν κατὰ Πραξαγόραν τὸν Νικάρχου χυμῶν. Die Nutzung von λέγω im Sinne von „schreiben” findet sich z. B.auch bei Plut. Phok. 34, vielfach bei Philo (z. B. Abr. 13), Euseb (exempl. h. e. 4,23,11) u. a. Vgl. für die lateinische Literatur z. B. Quint. inst. or. 2,21,24; 3,6,59; 3,11,28; 8,5,35. 137 Vgl. z. St. T E O D O R S S O N . Commentary I, 152 f. ev. 6,11,64); siehe zu diesem Text weiterführend (S I E G E R T , 2016, hier 291-293.); Porph. vit. Plot. 15: … ἀνέγνω ὑπὲρ Ἀλκιβιάδου τοῦ ἐν τῷ «Συμποσίῳ» τοῦ Πλάτωνος …; Basil. Caes. ep. 150,2: ἀνέγνων γάρ που ἐν Ψαλμοῖς, ὅτι …; Iul. Afr. D 18: ἀνέγνων ἐν τοῖς Νεπτουνιανοῦ ‚Φυσικοῖς‘ ὅτι …; vgl. im NT auch Mt 19,4; 21,16; vgl. ferner auch die Formulierung τὴν δὲ Ἀφροδίτην ἀνέγνωμεν mit anschließender Paraphrase von Hom. Il. 3,424 f bei Clem. Al. prot. 2,35,2 sowie die häufige Kennzeichnung von Zitaten mit in seinem Werk mit ἀναγιγνώσκω (z. B. aus der Ilias in Clem. Al. paid. 2,121,5 und eines Platonzitats in Clem. Al. paid. 2,89,2); zur Kennzeichnung von Zitaten oder Paraphrasen mit ἀναγιγνώσκω vgl. z. B. auch Orig. Cels. 1,26; 1,59; 4,28 f; 4,72; 5,38; comm. in Ioh. 1,21,130; 1,29,203; 1,35,257 u. ö. In diesen Befund passt auch die gängige Praxis antiker Autoren, verba dicendi (also z. B. Formen von λέγω bzw. φημί im Griechischen bzw. dico im Lateini‐ schen) zu verwenden, um in ihren Texten Querverweise im Sinne von „wie ich geschrieben habe/ schreiben werde“ o. ä. einzufügen 136 oder Querverweise auf andere Werke bzw. Zitate mit verba dicendi zu markieren. Vgl. exempl. Strab. 1,2,3 mit Verweis auf Erathostenes’ Geographika: „Er sagt (ἔφη), dass die Poeten …“; Quint. inst. or. 2,21,5 mit Verweis auf Cic. de orat.: „Auch Cicero nennt an einer Stelle als Stoff der Rhetorik die Gegenstände (Cicero quodam loco … vocat), die sich ihr darbieten …“ (Üb. R A H N ); in Plut. symp. 1,9,4 [mor. 627d], verweist Theon auf die ps.-aristot. Schrift Problemata Physica, in der Aristoteles sagte, nach dem Seebad werde man in der Sonne schneller trocken als nach einem Flussbad (Ἀριστοτέλης γὰρ ἐν ταὐτῷ βιβλίῳ φησὶ …), worauf der Ich-Erzähler versucht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, wovon Homer sagt: ’ἀλλ᾽ ᾤμην σε μᾶλλον Ὁμήρῳ τἀναντία λέγοντι πιστεύσειν. Als Beleg folgen im Text zwei Zitate aus der Odyssee; Plutarch zitiert Hermippos von Smyrna (3. Jh. v. Chr.), der sagt (d. h. schreibt), er habe in anonymen Memoiren gelesen, Demosthenes sei ein Schüler von Platon gewesen und habe von diesem Hilfe bei seinen rhetorischen Studien erhalten ( Ἕρμιππος δέ φησιν ἀδεσπότοις ὑπομνήμασιν ἐντυχεῖν ἐν οἷς ἐγέγραπτο τὸν Δημοσθένην συνεσχολακέναι Πλάτωνι καί πλεῖστον εἰς τοὺς λόγους ὠφελῆσθαι …). 137 Arrian 140 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="141"?> 138 Vgl. exempl. die Verweise aus der „Qumran-Literatur“ bei S TÖ K L B E N E Z R A , Bücher‐ lesen, 77, Anm. 4; seine These, hier werde auf „mündliche Worte“ verwiesen, ist unpräzise, da es sich bei den Prophetenworten zwar um konzeptionelle Mündlichkeit handelt, aber doch analog zu Zitationsformeln, die verba scribendi enthalten, auf Bücher verwiesen wird. 139 Vgl. zur Ansprache seiner Leser mit dem Partizip von ἐντυγχάνω die Quellenbelege in Anm. 246, S. 166. Besonders deutlich wird das „Gespräch“ mit seinen Lesern z. B. in Polyb. 3,34,3: Hier legitimiert er die Auswahl der Themen im vorhergehenden Buch damit, dass „die Leser mitgenommen werden, was nun im Begriff ist, gesagt zu werden“ (… χάριν τοῦ συμπεριφέρεσθαι τοὺς ἐντυγχάνοντας τοῖς νῦν μέλλουσι λέγεσθαι.). Am Anfang von Buch 4 (4,1,4) möchte er seine Leser erinnern (ἀναμιμνήσκω), die er am Beginn von Buch 9 (9,1,6) mit einem Präsenspartizip von ἀκούω als Zuhörer anspricht. beginnt seine Geschichte über Alexander mit dem passivischen λέγεται (Wie ge‐ sagt/ berichtet wird … [Arr. an. 1,1]), nachdem er im Vorwort seine schriftlichen Quellen erläutert hat. Unzählige Belegstellen könnten aus den Deipnosophistai von Athenaios angeführt werden. Besonders aufschlussreich im Hinblick auf die Frage‐ stellung dieser Studie sind vor allem diejenigen Stellen, an denen der Autor, der etwas „sagt“, eindeutig nicht mit den sprechenden Personen auf der Ebene der erzählten Welt übereinstimmt. Athen. deipn. 16,62 (650a): καὶ Εὐριπίδης ἐν Κύκλωπί φησι … (es folgt ein Zitat aus Eur. Cycl. 394, auf der Ebene des Satyrspiels spricht Odysseus); Athen. deipn. 12,16 (518 f) sogar mit exakter Angabe der Rolle des Werkes, aus dem zitiert wird: … ὥς φησι Πτολεμαῖος ἐν ὀγδόῳ ῾Υπομνημάτων … (es folgt ein Spruch des mauretanischen Königs Massanassa). Bei Cicero findet sich hingegen der Beleg, dass durchaus zwischen Autor und Sprecher auf der Ebene der erzählten Welt unterschieden werden konnte. Vgl. die Phrase ut ait apud Xenophontem Socrates (Cic. nat. 2,18) zur Angabe eines Zitats aus Xen. mem. 1,4,8. In lateinischen Texten verbreitet ist die Zitatmarkierung ut ait + Autorname. Vgl. exemplarisch Plin. ep. 4,7,6; 4,18,1 (weitere Stellen bei Plinius verzeichnet S C H W E R D T N E R , 2015, 36, Anm. 41.); Cic. Att. 1,20,3; 2,7,4; 7,1,6; 9,17,4; 10,8,7; nat. 3,27.41; div. 1,24.74; 2,57.128; rep. 1,49 u. ö. Tert. Apol. 48,1. Vgl. außerdem Strab. 2,1,5; Plut. de stoic. rep. 10 (mor. 1036 f-1037b); Plut. adv. Col. 30 [mor. 124d]; Plut. Art. 13,3; u. ö.; Diog. Laert. 2,5,18 (s. o.); 3,1,66; Mak. apokr. 3,3,1; 3,18,1 u. ö. Pomponius Mela verweist rückblickend auf das bereits Geschriebene mit dem Partizip Perfekt Passiv dictum est … (Mel. de chorogr. 1,25). Zitationsformeln mit verba dicendi finden sich ferner auch in hebräischen Texten. 138 Einen eindrücklichen Beleg für die dadurch erzeugte Fiktion eines Dialogs mit seinen Lesern, der Teil einer durchdachten Leserlenkungsstrategie ist, findet sich z. B. beim Werk von Polybios. 139 Aufschlussreich ist es ferner, wenn Clemens von Alexandria seinen Leser im Singular(! ) auffordert, den folgenden Bericht über den Apostel Johannes zu hören: ἄκουσον μῦθον οὐ μῦθον, ἀλλὰ ὄντα λόγον περὶ Ἰωάννου τοῦ ἀποστόλου … (Clem. Al. Quis div. salv. 42). Euseb als 141 3.2 Lesen als Hören <?page no="142"?> 140 Vgl. insgesamt S C H E N K E V E L D , Prose, 139 f. 141 Vgl. Lib. epist. 978,2: δι’ ἐπιστολων ἀκούσας. In Lib. epist. 1518,5 bezieht sich ἤκουον γὰρ ἄλλα τε οἷάπερ ἐβουλόμην eindeutig auf den Inhalt des Briefes von Ausonios (1518,1), den Libanios gelesen hat (1518,4: ἀναγιγνώσκω), seine Fragen (vermutlich aus einem vorherigen Brief) beantwortet fand und nun wiederum ein Antwortschreiben verfasst. S. außerdem Lib. epist. 344,3 (ἐπεὶ οὖν ἐξεῦρες ἴασιν ἀκοῦσαι διὰ γραμμάτων ἃ διὰ φωνἠς οὐκ ἦν …). Vgl. ferner die Art, wie Euseb mit dem abgeleiteten Verb ἐπακούω die wörtliche Wiedergabe von Briefen, in diesem Fall einer griechischen Übersetzung der Abschrift (ΑΝΤΙΓΡΑΦΟΝ) eines Briefwechsels zwischen Abgar und Jesus aus dem Syrischen (wörtlich: „aus der syrischen Stimme“), einleitet: „Es gibt keinen besseren Weg, als die Briefe selbst zu Gehör [d. h. zur Kenntnis] zu nehmen (ἐπακοῦσαι τῶν ἐπιστολῶν), die wir aus den Archiven erhalten haben und dann was gesagt ist aus der syrischen Stimme (ῥήμασιν ἐκ τῆς Σύρων φωνῆς) in folgender Weise übersetzt haben.“ (Eus. h. e. 1,13,5). Vgl. weiterführend zur Überlieferung des Briefwechsels, der weit verbreitet war, D O B S C H Ü T Z , Briefwechsel. Dass das Verb ἐπακούω im übertragenen Sinne von „zur Kenntnis nehmen“ von Gelesenem verwendet werden kann und nicht zwingend eine stimmliche Realisierung impliziert, zeigt die folgende Formulierung in den Pseudo-Klementinen: Ἐπακούσας δὲ ὁ Ἀππίων τῆς ὑποκρίτου ἀντιγραφῆς ἔφη („als Appion den fingierten Antwortbrief zur Kenntis genommen hatte, sagte er …“ Ps.-Clem. Hom. 5,27 [GCS 42, p. 103,13; Üb. W E H N E R T ]). 142 Vgl. z. B. EpSenPl 4 mit Rekurs auf den Anwesenheitstopos: „Jedesmal, wenn ich deine Briefe lese, denke ich an deine Anwesenheit (Quotienscumque litteras tuas audio, praesentiam tui cogito)“. Vgl. außerdem exempl. aus der Vielzahl von möglichen Belegen Cic. Att. 6,1,21; 11,8,1; 12,11. Cicero nutzt das Verb außerdem im Imperativ für „lies“, wie die folgenden Einleitungsphrasen zeigen sed extremum audi … (Cic. Att. 6,1,24); nunc audi reliqua … (Cic. Att. 7,1,2). 143 Vgl. z. B. die Einstiege in die Briefe in Lib. epist. 414,1: Ἀκούω σου κεκρατηκέναι τὴν λύπην …; vgl. außerdem Lib. epist. 501,2: τὸν δὲ Ἄλκιμον ἀκοὺω …; 731,5; 879,1; 904,1; 1320,1; 1533,1; 1543,2.7 (analog verwendet Libanios hier das Verb πυνθάνομαι, um seine Kenntnisnahme der Bischofsweihe von Amphilochios auszudrücken) u. ö. S C H E N K E V E L D , Prose, 130, ist zu Recht der Auffassung, dass die meisten dieser Stellen im empirischer Leser dieser Schrift von Clemens fordert seine Leser wiederum dazu auf, diese Schrift zur Hand zu nehmen und den Bericht zu lesen, den er dann jedoch zitiert: λαβὼν δὲ ἀνάγνωθι ὧδέ πως ἔχουσαν καὶ αὐτοῦ τὴν γραφήν … (Eus. h. e. 3,23,5). Auch in antiken Briefen findet sich (zumeist am Anfang) das Verb ἀκούω, um auf das Schriftstück zu verweisen, auf das man antwortet. 140 In vielen Fällen ist eindeutig, dass ἀκούω sich auf Gelesenes bezieht 141 (gleiches gilt für das lateinische audio), 142 nur selten ist es nicht eindeutig entscheidbar, ob auf etwas Schriftliches Bezug genommen wird; ein Bezug auf eine mündlich konzeptualisierte Kommunikation ohne Schriftbezug ist bei der Verwendung von ἀκούω am Briefanfang zwar möglich (z. B. bei Bericht durch einen Brief‐ boten) allerdings wegen des brieflichen Kommunikationskontextes nur durch kontextuelle Marker festzustellen. 143 Denn die Belege fügen sich ein in das 142 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="143"?> Sinne von „lesen“ zu verstehen sind. Eindeutig ohne einen Bezug auf eine schriftliche Grundlage hingegen z. B. Lib. epist. 947,2; 1224,9; bezüglich der lateinischen Verwen‐ dung z. B. Cic. fam. 3,5,1 (eindeutiger Bezug auf den Bericht des Briefboten). 144 Vgl. zu dieser Kategorie F Ö L L I N G E R , Mündlichkeit, 279 f. 145 Vgl. ausführlich und mit zahlreichen Quellenbelegen zum Anwesenheitstopos und zur Konzeptualisierung des antiken Briefes als Gespräch T H R A E D E , Grundzüge, passim [Zitat 148 f.182]. Vgl. weiterführend B A U E R , Paulus, passim (vgl. die Registereinträge „Briefthe‐ orie/ -topik: -Anwesenheit; -Gesprächscharakter“); K L A U C K , Briefliteratur, 149-156 (Klauck spricht von der „Fiktion einer Gesprächssituation im Brief und durch den Brief“ [153]); H O E G E N -R O H L S , Augenblickskorrespondenz, insb. 19-39; K O S K E N N I E M I , Studien, insb. 172- 186; L I E U , Letters, 170-174; G U T T E N B E R G E R , Medienwandel, 264 f. Bild, dass briefliche Kommunikation in der Antike mehrheitlich als durch ein Schriftmedium vermitteltes Gespräch konzeptualisiert ist, also die Anwesenheit der Kommunikationspartner suggeriert und treffend mit der Kategorie der „imaginierten Mündlichkeit“ 144 charakterisiert werden kann. Cicero bezeichnet die private Briefkommunikation in einem Kontext (Cic. Phil. 2,7), in dem er M. Crassus vorwirft, er habe gegen die Konvention einen Privatbrief von ihm öffentlich vorgelesen (recito), ein „Gespräch unter Freunden in Abwesenheit (amicorum conloquia absentium)“, das durch die öffentliche Rezitation zerstört worden sei. An anderer Stelle formuliert er: „Aber weil ich meine, Dich reden zu hören, wenn ich Deine Briefe lese (lego), und mit Dir zu sprechen, wenn ich Dir schreibe, deshalb habe ich so unbändige Freude gerade an Deinen längsten Briefen und werde selbst häufig ein wenig zu langstielig beim Schreiben“ (Cic. ad Brut. 1,1,45; Üb. K A S T E N ); Basilius von Caesarea schreibt in seinem Brief an den Philosophen Eustathius (Basil. ep. 1,1) angesichts des verhinderten Wiedersehens, er sei durch seinen Brief „überhaupt wundervoll erquickt und getröstet worden (θαυμαστῶς πως ἀνεκαλέσω καὶ παρεμυθήσω τοῖς γράμμασι).“ Ps.-Liban. ep. char. 2 beschreibt einen Brief als schriftliche Unterhaltung: Ἐιστιλῆ μὲν οὖν ἐστιν ὁμιλία τις ἐγγράμματος ἀπόντος πρὸς ἀπόντα γινομένη … ἐρεῖ δέ τις ἐν αὐτῇ ὥσπερ παρών τις πρὸς παρόντα. In dokumentarischen Briefen findet sich die Wendung γράφεις μοι λέγων, vgl. P.Mil.Vogl. 1 24,6; O.Did. 323,2. K. Thraede spricht daher von der „Illusion des Beisammenseins“ und bezeichnet das briefliche Anwesenheitstopos in Anknüpfung an Symmachus (ep. 1,84), Ambrosius (ep. 46,1; 47,4; 66,1) und Hieronymus (ep. 3,1) als imago praesentiae. 145 Ein weiteres relevantes Indiz für diese Konzeptualisierung der schriftbasierten brieflichen Kommunikation besteht in der Verwendung des Verbes σιγάω (still bleiben, schweigen) im Sinne von nicht-schreiben. Vgl. z. B. die Einleitungsphrase im Brief von Libanios an Akakios, mit der er begründet, warum er so lange nicht geantwortet hat: Πολὺν ἐσίγησα χρόνον ὑπ’ αἰσχύνης, ὅτι … (Lib. epist. 1514,1). Es sei zuletzt auch an dieser Stelle noch einmal betont, dass aus dem Vorkommen des Lexems ἀκούω nicht geschlussfolgert werden darf, dass Privatbriefe in 143 3.2 Lesen als Hören <?page no="144"?> 146 So aber z. B. F Ü R S T / F U H R E R / S I E G E R T / W A L T E R , 43. 147 Vgl. aus der Vielzahl von möglichen Belegen zur Veranschaulichung K. Twardowski an A. Meinong, Lemberg, 1. V. 1898: „Ich wäre nun sehr begierig zu hören, ob Sie mit der von mir gelieferten Lösung sich einverstanden erklären würden“ (Ed. R A S P A , 101); K. Twardowski an A. Meinong, Lemberg, 25. I. 1903: „Gegenwärtig muss ich ganz unerwartet mich mit - hören und staunen Sie - Didaktik befassen“ (Ed. R A S P A , 117 f); Karl Barth an Carl Zuckermayer, Basel, 16. März 1968: „Seit dem 1. November [Rückbezug auf einen Brief] haben Sie nichts Direktes von mir gehört.“ 148 Vgl. zur Bedeutungsdimension von ἀκούω im Sinne von „verstehen“ die Belege im LSJ unter II.3 u. IV. 149 Vgl. dazu K A K L A M A N O U / E L E N I / P A V L O U , Reading. der individuell-direkten Rezeption vokalisierend gelesen wurden. 146 Unter den gleichen methodischen Voraussetzungen, könnte man ja sonst aus modernen Briefwechseln, die ebenfalls als Gespräch unter Abwesenden konzipiert sind und in denen konventionell verba dicendi sowie verba audiendi im Sinne von „schreiben“ und „lesen“ verwendet werden, 147 ableiten, dass Briefe noch im 19./ 20. Jh. vokalisierend gelesen worden wären. Es bleibt festzuhalten, dass die Verben ἀκούω und audio in der brieflichen Kommunikation der Antike und an zahlreichen der oben diskutierten Stellen in der Literatur vor allem im Sinne von „zur Kenntnis nehmen“ verwendet werden, also nicht das physische Hören, sondern die kognitive Verarbeitung im Blick ist. 148 Ohne kontextuelle Markierungen darf also beim Vorkommen des Verbes im Kontext der Rezeption von Texten nicht auf die mediale Form bzw. Art der sinnlichen Wahrnehmung rückgeschlossen werden. 3.3 Lesen als Sammeln: λέγω und Derivate Während lego im Lateinischen als Standardverb für lesen zu gelten hat (s. u.), gibt es für das auf den gleichen Stamm zurückgehende griechische Verb λέγω nur relativ wenige Belege für die Verwendung als Leseterminus, die vor allem aus dem 5./ 4. Jh. v. Chr. stammen. Bei Aineias Taktikos findet sich die Formulierung „aus dem Buch sagen“, d. h. vorlesen: ῥηθήσονται δὲ ἑξῆς αἱ ἐπιβουλαὶ ἐκ τῆς βίβλου παραδείγματος ἕνεκεν (Aen. Tact. 11,2). Platon lässt Eukleides in der Rahmenhandlung seines Theaitetos 149 sagen: „Junge, nimm das Buch und lies (παῖ, λαβὲ τὸ βιβλίον καὶ λέγε)! “ (Plat. Tht. 143c). Er verwendet hier λέγω synonym mit ἀναγιγνώσκω, wie eine Stelle kurz zuvor zeigt, an der Eukleides vorschlägt: „Und während wir ruhen, soll der Junge vorlesen (… ὁ παῖς ἀναγνώσεται)“ (Plat. Tht. 143b). Die gleiche Synonymität findet sich bei Demosth. or. 21,8: ἀναγνώσεται δὲ πρῶτον μὲν ὑμῖν τὸν νόμον … λέγε τὸν νόμον. Diese Formel „lies 144 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="145"?> 150 Vgl. zur Etymologie B E E K S , EDG, 842. 151 S V E N B R O , Griechenland, 67, fragt ähnlich in Bezug auf die Übernahme des Verbes ins Lateinische. 152 Vgl. exempl. Cic. Att. 4,3,3; fam. 10,9(13),1; Planc. 74; Fort. rhet. 11. 153 Vgl. exempl. Suet. Claud. 15. 154 S. der Hinweis bei V A L E T T E -C A G N A C , lecture, 25. 155 Vgl. S V E N B R O , Phrasikleia, 146, Anm. 2. 156 Vgl. dazu die Belege bei S V E N B R O , Griechenland, 64, Anm. 3-6. 157 S V E N B R O , Griechenland, 64. 158 S V E N B R O , Griechenland, 64. das Gesetz“ ist häufig belegt. Vgl. neben zahlreichen Stellen bei Demosthenes (z. B. or. 21,10; 38,4; 43,62) Aischin. Tim. 11.15 u. ö.; Ctes. 32. Philon nutzt diese Wendung zur Einleitung von zwei Zitaten aus der Tora, vgl. Philo Fug. 53; somn. 1,92. Zumindest in der publizierten Form von Philons Texten gilt diese Aufforderung den Rezipienten, das im Folgenden geschriebene Zitat zu lesen. Anders als das griechische Standardleseverb ἀναγιγνώσκω (s. o.) scheint λέγω zumindest in klassischer Zeit exklusiv die vokalisierende Realisierung von Text (vor‐ lesen, rezitieren) zu bezeichnen. Schwer zu entscheiden ist nicht zuletzt deshalb, ob die etymologische Grundbedeutung des in vielen Sprachen zu findenden Stammes „sammeln“, „(auf)lesen“ 150 bei der Verwendung bewusst war bzw. eine Vorstellung des Auflesens von Buchstaben, Bedeutung oder Klang mit dem Verb konnotiert werden konnte 151 oder ob die Verwendung als Leseterminus nicht vielmehr durch die Bedeutung „sagen“, „sprechen“ initiiert worden ist. Im Lateinischen können analog die Verben enuntio, dico und pronuntio mit entspre‐ chenden adverbialen Bestimmungen, die Lesemedien anzeigen, z. B. de scripto, 152 ex tabella  153 u. ä. verwendet werden, um Vorlesen zu markieren. 154 Deutlich häufiger und in der Semantik differenzierter werden präfigierte Formen von λέγω als Leseterminus verwendet. Dabei findet man ἀναλέγω in frühen Quellen noch im Aktiv als Leseterminus, später ist es vor allem die mediale Form ἀναλέγομαι, die lesen bedeutet. J. Svenbro verweist bezüglich der aktivischen Form auf eine Inschrift aus der ersten Hälfte des 5. Jh. v. Chr. aus Teos und versteht es als Synonym zum Leseverb ἀνανέμω (verteilen), 155 das ebenfalls in aktivischer Form im dorischen Dialekt lesen bedeutet hat, 156 wobei das Aktiv „den Leser zum Instrument im Dienst des Geschriebenen“ 157 macht. Demgegenüber habe die mediale Form ἀνανέμομαι, die im ionischen Dialekt lesen bedeutet, „eine viel subtilere Bedeutung als ‚verteilen‘. Tatsächlich bedeutet sie ‚verteilen, indem man sich der Verteilung mit einschließt‘.“ 158 Svenbro verweist in diesem Zusammenhang auf die Mnesitheos-Stele aus Eretria auf Euböa aus dem 5. Jh., auf der geschrieben steht: 145 3.3 Lesen als Sammeln: λέγω und Derivate <?page no="146"?> 159 CEG 108,1-8 [Üb. G E B L E ]. Vgl. zu dieser Inschrift die ausführliche Auswertung bei S V E N B R O , Phrasikleia, 50-63. Vgl. zum Thema „sprechende Steine“ weiterführend M E Y E R , Inszeniertes Lesevergnügen, 25-95 und C H R I S T I A N , Steine, für die Inschriften seit hellenistischer Zeit. 160 S V E N B R O , Griechenland, 65. 161 Dies ist nicht zuletzt aus Svenbros eigenen Überlegungen zur „inneren“ Stimme ableitbar. Vgl. S V E N B R O , Interior; S V E N B R O , Stilles Lesen; S V E N B R O , Phrasikleia, 146-168. 162 Vgl. C H R I S T I A N , Steine, 85-87. 163 C H R I S T I A N , Steine, 86. 164 Πλάτωνος ἓν τὸ περὶ ψυχῆς γράμμ’ ἀναλεξάμενος (Kall. epigr. 23; zit. bei S. Emp. adv. math. 1,48). F. Jürß übersetzt es in seiner Übersetzung sogar mit „studieren“. Der LSJ gibt als Übersetzung read through an. 165 Vgl. Dion. Hal. ant. 1,89,1. „Seid gegrüßt, ihr, die ihr vorübergeht; ich aber liege tot in der Erde. Tritt hierher und lies (ἀνάνεμαι), wer hier begraben ist: ein Fremdling aus Aigina, mit Namen Mnesitheos.“ 159 Es ist m. E. nicht nur ein Grenzfall, dass „ein solcher Leser den Inhalt des Geschriebenen ‚verteilen‘ kann, ohne daß er [andere] Hörer hat“ 160 ; vielmehr ist der Leser selbst sein eigener Zuhörer (lesen im Sinne von „auf sich selbst verteilen“), wobei ohne sichere Textsignale im Kontext schwer eindeutig zu entscheiden ist, ob beim Gebrauch des Verbes jeweils an das Hören der eigenen Stimme oder aber der internalisierten Stimme, der inneren Lesestimme, gedacht ist. 161 Dies zeigen nicht zuletzt einige Inschriften aus hellenistischer Zeit, in denen ein nicht-vokalisierendes Lesen wahrscheinlich ist oder sogar explizit vorausgesetzt wird. T. Christian 162 nennt instruktive Beispiele von Inschriften, in denen verba vivendi als Leseverben verwendet werden (s. dazu 3.8) und verweist auf Inschriften, die den Leser auffordern, „etwas zu lernen oder zu erfahren, was keinen mündlichen Dialog voraussetzt.“ 163 Außerdem nennt er eine Inschrift aus Kallatis (2./ 3. Jh.), die mit dem Motiv der Stille spielt und dieses in Verbindung mit der visuellen Wahrnehmung setzt: „Schau mich an, den stummen ([δ]έρκεο τὴν ἀγέγωνον ἐμέ), Fremder, schau den Stein an, wie ich bejammert auf dem Felsbrocken liege“ (GVI 1279,1 f). Ganz explizit ist nicht-vokalisierende Lektüre vorausgesetzt in einer Inschrift aus Kaisareia Hardrianopolis aus der Mitte des 3. Jh. n. Chr.: „lies, während Du in Stille atmest (σιγῇ πνεύσας ἀνάγνωθι)“ (SEG 33 1110); außerdem in IGUR III 1336, Cl. 1,7 und GVI 1342. Diese Überlegungen gelten analog für die mediale Form ἀναλέγομαι (wörtlich für sich selbst sagen bzw. für sich selbst [auf]sammeln), die als Leseterminus eine facettenreiche Semantik aufweist. Schon in den Epigrammata des Kallima‐ chos wird ἀναλέγομαι im 3. Jh. v. Chr. verwendet, um die individuell-direkte Lektüre einer Schrift Platons zu bezeichnen. 164 Dionysios von Halikarnassos verwendet das Partizip Medium im Sinne von Leser/ Rezipient; 165 an anderer Stelle bezeichnet er damit die Rezeption seiner Quellen (Historien namenhafter 146 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="147"?> 166 Τὰ δ’ ἐκ τῶν ἱστοριῶν ἀναλεξάμενος, ἃς οἱ πρὸς αὐτῶν ἐπαινούμενοι Ῥωμαίων συνέγραψαν Πόρκιός τε Κάτων καὶ Φάβιος Μάξιμος … (Dion. Hal. ant. 1,7,3). Vgl. zur Bezeichnung des Lesens historiographischer Texte mit dem Verb auch Plut. De Genio 12 (hier ist vermutlich vokalisierende Lektüre vorauszusetzen). 167 Vgl. z. B. Plut. de prof. virt. 7 (mor. 78 f); Gal. AA 2,220.223 (s. auch Gal. meth. med ed. K Ü H N , p. 26,6 f); Ptol. fr. 3,5; Philostr. v. Apoll. 2,30; Orig. Cels. 3,43. Eindrücklich aber auch Clem. Al. Paid. 2,91,1 mit anschließendem Zitat aus Lev 18,20: „Ebenso gab auch der treffliche Platon, der aus der göttlichen Schrift schöpfte (ἐκ τῶν θείων ἀναλεγόμενος γραφῶν), den Rat, man solle sich von dem Mutterschoß jeder Frau außer dem der eigenen fernhalten …“ (Üb. S T Ä H L I N ). 168 Vgl. z. St. S T R O B A C H , Sprachen, 167-169. 169 So auch nicht die Verwendung von ἀναλέγομαι als Leseverb bei Plut. de gen. 12 (mor. 582a), wo die Semantik eindeutig durch den Aspekt des Verstehens geprägt ist, wie O S I A N D E R / S C H W A B mit ihrer Übersetzung „herauslesen“ deutlich machen. römischer Geschichtsschreiber), aus denen er „aufgesammelt“ habe. 166 Die Bedeutungsnuance „rezipieren“ im Sinne von „aufnehmen“ (das Lesen der jeweiligen Schrift[en] ist damit impliziert) und „in eigenen Schriften weiterver‐ arbeiten“ ist häufig belegt. 167 Aufschlussreich ist zudem eine Stelle bei Plutarch. Im Kontext eines Gesprächs über die Bedeutung von alten Schriftzeichen (γράμματα) einer Inschrift aus dem Grab der Alkmene, das von Agesilaos geöffnet worden sei (vgl. Plut. de gen. 5 [mor. 577e/ f]), gibt Pheidolaos den Bericht von Simmias wieder: „der Spartaner Agetoridas brachte von Agesilaos eine Menge Schriften nach Memphis zu dem Propheten Chonuphis […]. Er war vom König (von Ägypten) hergeschickt, der dem Chonuphis befahl, wenn er etwas von der Schrift verstehe, solle er schleu‐ nigst in Übersetzung zurückschicken. Nachdem dieser dann drei Tage lang für sich allein Schriftzeichen aller Art in alten Büchern durchgesehen [wörtl. für sich selbst aufgesammelt] hatte (πρὸς ἑαυτὸν δὲ τρεῖς ἡμέρας ἀναλεξάμενος βιβλίων τῶν παλαιῶν παντοδαποὺς χαρακτῆρας), schrieb er dem König zurück […], dass diese Schrift den Befehl enthalte, die Hellenen sollen zu Ehren der Musen einen Wettkampf veranstalten; die Schriftzeichen aber gehören zu dem Alphabet, das unter der Regierung von König Proteus im Gebrauch gewesen, und welches auch Herakles, des Amphitryon Sohn, gelernt habe“ (Plut. de gen. 5 [mor. 578 f-579a; Üb. O S I A N D E R / S C H W A B ; leicht modifiziert JH]). 168 Die Angabe πρὸς ἑαυτόν zeigt zusammen mit der Zeitangabe eindeutig, dass eine Form intensiver individuell-direkter Lektüre zu philologischen For‐ schungszwecken vorauszusetzten ist, die mit ἀναλέγομαι bezeichnet wird. Eine mündliche Realisierung der Schriftzeichen zu imaginieren, liegt vom Kontext her nicht nahe. 169 Und obwohl Plutarch eine fiktive Begebenheit beschreibt, so ist doch anzunehmen, dass hier an sozialgeschichtlich reale Lesepraktiken 147 3.3 Lesen als Sammeln: λέγω und Derivate <?page no="148"?> 170 Vgl. z. B. Clem. Al. Paid. 1,103,2: „Alle Gebote […], die für das vollkommene Leben geeignet sind […], können wir wie in einem Grundriß sehen, wenn wir sie aus den Schriften selbst aufsammeln (ἐξ αὐτῶν ἀναλεγομένοις τῶν γραφῶν)“ (Üb. S T Ä H L I N ; leicht modifiziert JH). Vgl. außerdem Orig. hom. in Jer. 18,6. 171 Vgl. S V E N B R O , Griechenland, 68. angeknüpft wird. Analog definiert Galen die mit ἀναλέγομαι bezeichnete Lese‐ praxis von Fachtexten weitergehend mit dem Verb ἐντυγχάνω als „gründliches Lesen“, indem er sie durch das Adverb σαφῶς spezifiziert (vgl. Gal. comp. med. loc. 6 praef., K ÜHN 12,894). Ferner findet sich das Verb als Leseterminus auch bei den Kirchenvätern. 170 Ebenfalls nur im Medium als Leseterminus gebraucht wird das Verb ἐπιλέγομαι. Für J. Svenbro impliziert das Medium zusammen mit der Vorsilbe, dass der Leser für sich selbst oder ggf. für andere laut liest, und präzisiert die Semantik des Verbs als Leseterminus mit der wörtlichen Übersetzung „ein Sagen hinzufügen zu“. Daraus leitet er ab, dass die Schrift bzw. das Geschriebene ohne die Hinzufügung der Stimme durch den Leser unvollständig bliebe, das Lesen folglich das Geschriebene als „Epi-log“ ergänze. 171 Dies mag möglicherweise für den nicht mehr rekonstruierbaren Ursprung der Verwendung des Verbs als Leseterminus zutreffen, ob diese Bedeutungsdimension für die Verwendung von ἐπιλέγομαι in den erhaltenen Quellen seit der klassischen Zeit noch eine Rolle spielt, wäre jedoch erst zu belegen. Hingegen erschweren schon bei Herodot, bei dem ἐπιλέγομαι als Leseter‐ minus erstmals belegt ist, einige Details die Interpretation Svenbros. Im ersten Buch seiner Historien schildert Herodot zwei aufschlussreiche Leseszenen: Der Meder Harpagos will dem späteren Perserkönig Kyros II. im Geheimen einen Brief zukommen lassen, mit dem er ihn zu einer Verschwörung gegen den medischen König Astyages überreden will. Damit der Brief unentdeckt bleibt, näht er ihn in einen Hasen ein und trägt einem ihm vertrauten Boten auf, den Hasen dem Kyros zu bringen und betont, dass Kyros ihn eigenhändig und ohne Anwesenheit anderer zerlege (ἐντειλάμενὸς οἱ ἀπὸ γλώσσης διδόντα τὸν λαγὸν Κύρῳ ἐπειπεῖν αὐτοχειρίῃ μιν διελεῖν καὶ μηδένα οἱ ταῦτα ποιεῦντι παρεῖναι; Hdt. 1,123,4). Die eigentlichen Leseszenen beschreibt Herodot folgendermaßen: „Tatsächlich kam dieser Plan zur Ausführung; Kyros erhielt den Hasen und schnitt ihn auf. Er fand den Brief darin, nahm und las ihn (εὑρὼν δὲ ἐν αὐτῷ τὸ βυβλίον ἐνεὸν λαβὼν ἐπελέγετο). Dieses sagte das Schriftstück (τὰ δὲ γράμματα ἔλεγε τάδε): … Als Kyros dies gehört [d. h. gelesen] hatte (ἀκούσας ταῦτα ὁ Κῦρος), überlegte er, wie er die Perser am geschicktesten zum Abfall überreden konnte. Schließlich fand er folgenden Weg am passendsten und ging ihn: In einem Brief schrieb er seine Absicht 148 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="149"?> 172 Hdt. 1,124,1.1,125,1 f (Üb. F E I X , modifiziert JH). 173 Vgl. Hdt. 2,125,6. 174 So auch G A V R I L O V , Techniques, 70. 175 S. z. B. die Verwendungsweise des Verbes im Mithridates-Brief (H E R C H E R , Epistolographi Graeci, p. 177,1), der Einleitung zur Edition der griechischen Brutus-Briefe. S. dazu C A L H O U N , Letter. Diese Bedeutungsdimension des Verbes in Bezug auf die Rezeption von etwas Schriftlichem ist z. B. auch bei Clem. Al. strom. 3,71,2 zu finden: „Der Verständige wird die jeder einzelnen der Irrlehren in besonderer Weise widerspre‐ chende Schriftstelle herausfinden (ἐνισταμένην γραφὴν ὁ συνίων ἐπιλεγόμενος) und zur rechten Zeit zur Widerlegung derer verwenden, die den Geboten widersprechende Lehrsätze aufstellen“ (Üb. S T Ä H L I N ). 176 Vgl. K A M P T Z , Art. lego. nieder. Dann berief er eine Versammlung der Perser. Nach dem Entfalten des Briefes sagte er also lesend (μετὰ δὲ ἀναπτύξας τὸ βυβλίον καὶ ἐπιλεγόμενος ἔφη): … “. 172 Es ist bezeichnend, dass sich die Verwendungsweise von ἐπιλέγομαι in der individuell-direkten Leseszene (Hdt. 1,124,1), bei der eindeutig keine Zuhörer vorauszusetzen sind (1,123,4), deutlich von der Vorleseszene unterscheidet (1,12 5,1 f). Bei der Vorleseszene sah sich Herodot - wie bei einer anderen, eindeutigen Vorleseszene 173 - genötigt, mit φημί ein zusätzliches verbum dicendi zu ergänzen, was angesichts Svenbros Interpretation der Semantik von ἐπιλέγομαι als „ein Sagen hinzufügen zu“ redundant erschiene. M. E. zeigt die Stelle jedoch eher, dass sich Herodot einer solchen semantischen Dimension des Verbes hier nicht bewusst gewesen ist und ἐπιλέγομαι stattdessen als konventionalisierten Leseterminus verwendet hat. Bei der individuellen Leseszene verzichtet Herodot dann auch auf ein weiteres verbum dicendi. Außerdem nutzt er das Bild vom sprechenden Schriftstück, das der Leser Kyros (möglicherweise nur in seinem Kopf) hört (1,125,1). 174 Diese Bildlichkeit konterkariert Svenbros These einer Unvollständigkeit des Geschriebenen ohne die Stimme des Lesers. Gegen Svenbro kann man festhalten, dass möglicherweise für die Verwendung von ἐπιλέγομαι als Leseterminus eher die Bedeutungsdimension des Verbes „für sich auslesen“/ to pick out leitend ist. 175 Da lego im Lateinischen im Gegensatz zum Griechischen λέγω, das etymolo‐ gisch auf die gleiche Wurzel zurückgeht, als Standardverb für lesen fungiert, sind abschließend einige ausblickende Bemerkungen zu diesem Verb notwendig. Eine ausführliche Analyse der Lexemverwendung kann im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht geleistet werden. Allerdings ist mit dem Eintrag im TLL 176 das Material insgesamt deutlich besser aufgearbeitet als bei den griechischen Hauptleseverben ἀναγιγνώσκω und ἐντυγχάνω. Zudem kann an Buschs Ana‐ lyse der Semantik und der Lexemverwendung von lego angeknüpft werden, die 149 3.3 Lesen als Sammeln: λέγω und Derivate <?page no="150"?> 177 Vgl. B U S C H , Lesen, 8-14. 178 Vgl. B U S C H , Lesen, 8. 179 Vgl. S V E N B R O , Griechenland, 67. er im Kontext der Diskussion um das „laute“ und „stille“ Lesen in der Antike vorgelegt hat. 177 Zunächst verweist Busch darauf, dass die Verwendung als Leseterminus etymologisch auf die Grundbedeutung „sammeln“, also über die Vorstellung des „Auflesens“ einzelner Buchstaben und dem anschließenden Zusammensetzen zu Worten und Sinneinheiten zurückzuführen sein könnte. 178 Diesbezüglich hat J. Svenbro angemerkt, dass es aber auch durchaus vorstellbar wäre, dass es sich um eine Übernahme eines schon geprägten terminus technicus aus dem Griechischen handele und die Erklärungen der antiken Etymologie eine Konstruktion der Entwicklungsgeschichte aus der Retrospektive darstelle. 179 M. E. kann diese Frage nicht sicher entschieden werden. Immerhin zeigen aber die Ausführungen Varros, dass im 1. Jh. v. Chr. durchaus ein Zusammenhang zwischen der Semantik von lego und dem Leseprozess hergestellt werden konnte. So formuliert Varro in seinem Werk De lingua Latina: „‚Sammeln‘ wird gesagt, weil die Buchstaben von den Augen ‚gesammelt‘ werden“ (legere dictum quod leguntur ab oculis litterae; Varro ling. 6,66). Buschs Hinweis ist zwar richtig, dass auf der Grundlage der Etymologie und Semantik von lego nicht entschieden werden kann, ob generell vokalisierend oder nicht-vokalisierend gelesen wurde. Allerdings ist es doch bezeichnend, dass Varro auf den Aspekt der visuellen Wahrnehmung der Buchstaben beim Lesen rekurriert, aber die vermeintlich vokalisierende Weiterverarbeitung außen vor lässt. Dies stellt zwar ein argumentum e silentio dar, die Beweislast, dass lego per se vokalisierende Lektüre impliziere, liegt jedoch angesichts dieses Befundes bei den Vertretern dieser These. Aus meiner Sicht ist die Stichhaltigkeit der Argumente für die These zu hinterfragen, dass diese Verwendungsweise von lego in den Quellen eindeutig zeige, unmarkiertes lego bezeichne den normalen Modus „lauter“ Lektüre. Buschs Hauptargumente für diese These sind a) Belege, die aus seiner Sicht eindeutig Fälle von vokalisierender, individueller Lektüre zeigten. Dass diese Belegstellen (Busch selbst verweist exemplarisch nur auf Cic. fam. 9,20,3 und sonst auf die in der bisherigen Forschungsdiskussion herangezogenen Belegstellen) aber eben nicht eindeutig sind, habe ich oben schon ausgeführt (1.3). Die dort ausführlich diskutierten methodischen Probleme, welche den Diskurs um die These des generell vokalisierenden Lesens in der Antike prägen, brauchen hier nicht noch einmal wiederholt zu werden. Es sei schon hier betont, dass damit freilich nicht in Frage gestellt wird, dass es zahllose Belege gibt, an denen lego im Sinne von „vorlesen vor anderen“ gebraucht wird. Busch zeigt b) am 150 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="151"?> 180 B U S C H , Lesen, 11, führt a) Belege an, die nach dem Muster tacitum legere gebildet werden und nicht-vokalisierendes Lesen markierten (vgl. Hor. sat. 2,5,68; Suet. Aug. 39; Suet. Nero 15,1; Aug. Conf. 6,3; ferner in silentio legere in Aug. Conf. 8,29 und sine murmure legere [Ov. epist. 21,3]. Bei der genannten Stelle bei Horaz hat die explizite Markierung des nicht-vokalisierenden Lesens eine leserpragmatische Bewandtnis. Es geht darum, beson‐ ders deutlich zu machen, dass die Lektüre für andere unbemerkt geschieht. Das Motiv des Schweigens ist hier nicht nur mit der Abwesenheit von Klang konnotiert, sondern auch mit dem Aspekt der Unauffälligkeit. Nicht überzeugend ist Buschs Interpretation des Befehls in Suet. Aug. 39, den Inhalt der pugillares nicht-vokalisierend zu lesen, um ein Ausplaudern durch reflexhaftes Vorlesen zu verhindern. Es ist nicht das vermeintliche Faktum, dass in der Antike generell „laut“ gelesen worden wäre, das den expliziten Hinweis auf das nicht-vokalisierende Lesen erfordert, sondern vielmehr der soziale Kontext (jemand reicht jemandem einen Text unter Anwesenheit der Öffentlichkeit), der provozieren würde, dass man einen Text laut vorliest. Überzeugender ist daher Knox’ Deutung, die davon ausgeht, dass dem Getadelten erspart bleiben sollte, den Tadel auch noch öffentlich zu verkünden - darin liegt ja gerade die milde Form der Strafe. Diese Deutung setzt entgegen der Annahme von Busch keine Institution eines öffentlichen „Sündenbekenntnisses“ voraus. Vgl. dazu K N O X , Reading, 428; gegen B U S C H , Lesen, 36 f. Die explizite Nennung eines Aktes nicht-vokalisierender Lektüre bei Suet. Nero 15,1 wäre nicht redundant, nähme man an, dass nicht-vokalisierendes Lesen zum Standardrepertoire antiker Leser gehörte, sondern hebt in besonderer Weise Neros Willkür hervor - es geht eben nicht nur um die Lautstärke, sondern darum, dass er andere bei seiner Lektüre explizit ausschließe (tacitus ac secreto legens). Die von Busch angeführten Stellen weisen ein explizites Darstellungsinteresse auf und sind kein Reflex auf eine generelle Praxis des vokalisierenden Lesens in der Antike. b) Zudem verweist er auf eine Bandbreite von Bestimmungen, die lautes Lesen markieren, wobei nach seiner Auslegung nur besonders lautes Lesen hervorgehoben würde. Dazu verweist er auf Cic. de orat. 3,56,213; Petr. sat. 59,3 Plin. ep. 9,36,3. An der genannten Stelle bei Petronius geht es jedoch nicht um die Lautstärke, vielmehr verweist das verwendete Lexem canorus in einem satirischen Kontext (Trimalchio liest homerische Verse in lateinischer Übersetzung) auf den Klang der Stimme bzw. die Vortragsweise. Auch bei Cicero geht es nicht nur um die Lautstärke, sondern auch um den Klang der Stimme (cum suavissima et maxima voce legisset). Desgleichen liegt auch bei der Pliniusstelle der Fokus der Darstellung weniger auf der Lautstärke der Stimme. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine besondere Lesesituation, nämlich bei dem von Plinius beschriebenen klaren und deutlichen Lesen von Reden um eine Art Stimm- und Lesetraining für den Bauch (clare et intente non tam vocis causa quam stomachi lego). Die Stelle impliziert ein Bewusstsein der Stützfunktion des Körpers für das Sprechen. Für die Fragestellung Buschs nach dem Normalmodus des Lesens haben die Stellen daher wenig Relevanz. Gleiches gilt z. B. auch für App. civ. 3,10,73, wo die besondere Lautstärke des vokalisierenden Lesens eine wichtige narrative Funktion hat. Befund, dass die adverbialen Bestimmungen von lego entweder „stummes“ oder „besonders“ lautes Lesen markierten 180 und leitet daraus ab, dass der adverbial unmarkierte Gebrauch generell lesen in Normallautstärke impliziere. Dies ist ein methodischer Fehlschluss, da aus einem negativen Befund eine positive Schlussfolgerung gezogen wird, und dabei narrative und leserpragmatische Gründe im Kontext der jeweiligen Stellen missachtet werden, die eine adverbiale 151 3.3 Lesen als Sammeln: λέγω und Derivate <?page no="152"?> 181 S. meine Bemerkungen in Anm. 180, S. 151. 182 Vgl. dazu und weiterführend zu Inschriften in antiken Romanen S L A T E R , Reading. 183 B U S C H , Lesen, 12. 184 So auch das Urteil bei P A R K E R , Books, 196, Anm. 29. Vgl. die eindrückliche Belegstelle Tac. dial. 1,2-3,4, wo eindeutig zwischen dem Vorlesen (recitare) von Curiatius Ma‐ ternus’ „Cato“ in einer Autorenlesung und dem Lesen (legere) des durch den Autor überarbeiteten Werkes unterschieden wird (s. u. Anm. 24, S. 275). Vgl. aus der Vielzahl der Belege außerdem exempl. Sall. Iug. 24,1; Caes. civ. 1,1,1; Ov. Pont. 3,5,37‒42; Tac. ann. 1,11,3; 3,58,2; 3,68,1 u. ö.; Corn. Nep. fr. 11 (= Gell. 4,18,10); Gell. 4,18,10; Orig. hom. in Ex. 12,1: lectio nobis Exodi recitata est. 185 Vgl. dazu mit den entsprechenden Belegen B U S E T T O , legere, 305 f. 186 Vgl. Quint. inst. or. 2,5,4: „Und tatsächlich muß man das Vorlesen (praelectio), das des‐ halb stattfindet, damit die Knaben mit ihren Augen leicht und deutlich dem Geschrieben folgen können (ut facile atque distincte pueri scripta oculis sequantur), und auch noch die Stufe, die jede weniger geläufige Wortbedeutung, auf die man beim Lesen stößt, erklärt, für weit unter der Würde des Rhetorikunterrichts halten“ (Üb. R A H N ). Vgl. außerdem Quint. inst. or. 1,2,15; 1,5,11; 1,8,8.13. Insbesondere die zuerst zitierte Belegstelle spricht gegen die generalisierende Aussage bei V Ö S S I N G , Schule, 373, der davon ausgeht, dass Bücher im Unterricht nur in den Händen der Lehrer waren. Bestimmung begründen. 181 c) Es ließen sich laut Busch keine Belege anführen, an denen unmarkiertes lego definitiv „stilles“ Lesen meint. Dies ist nicht nur ein argumentum e silentio, sondern stimmt m. E. auch nicht. So lässt z. B. Petronius Trimalchio in seinem Roma Satyricon verfügen, dass in der Mitte seines Grabsteins eine Sonnenuhr angebracht werden solle, „damit jeder, der nach der Stunde sieht - ob er will oder nicht - meinen Namen liest (ut quisquis horas inspiciet, velit nolit, nomen meum legat)“ (Petron. sat. 71,12). 182 In diesem Kontext kann mit lego eigentlich nur die visuelle Wahrnehmung des Namens in der Grabinschrift gemeint sein. Vor diesem Hintergrund ist die Schlussfolgerung Buschs, dass die Grund‐ bedeutung von lego „die lautliche Realisation des Gelesenen im Begriff “ 183 einschließt, zu hinterfragen - nicht zuletzt auch deshalb, weil im Lateinischen mit recito ein präziseres Verb zur Verfügung steht, um die lautliche Realisation, das Vorlesen, eindeutig zu kennzeichnen. 184 Daneben wird - allerdings selten belegt - auch das Derivat praelego für das Vorlesen verwendet. Und zwar bezeichnet es einmal allgemein das Vorlesen vor Publikum, 185 kann aber auch eine ganz spezifische Vorlesesituation in Bildungskontexten meinen, in welcher der Lehrer den Schülern einen Text vorliest, während sie ihn selbst vor den Augen haben und mitlesen können, wie bei Quintilian deutlich wird. Der Zweck dieses Vorlesens ist bei Quintilian jedoch nicht die Ausbildung einer guten Vorlesepraxis - die Schüler lesen nur mit den Augen mit(! ) -, sondern eine basale Lese- und Verstehensfähigkeit, was vor allem dadurch deutlich wird, dass auf einer zweiten Stufe unbekannte Wortbedeutungen erläutert werden. 186 152 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="153"?> 187 Gegen V A L E T T E -C A G N A C , lecture, 25, die - vermutlich rückführbar auf das Lexikon von E. Forcellini - als Bedeutung angibt: „lire à la hâte“, „parcourir“. 188 B U S E T T O , legere, 299. 189 Vgl. exemplarisch Gell. 19,10,12 f. 190 Vgl. Quint. inst. or. 1,7,17. 191 Vgl. z. B. Gell. 17,2,27. 192 Sehr eindrücklich ist diesbezüglich eine Passage in einem Brief Ciceros an Lucceius (fam. 5,12), der die Freuden bei der Lektüre eines individuellen Lesers (lector; s. o. 2.2.3) thematisiert: expletur animus iucundissima lectionis voluptate (fam. 5,12,5). S. dazu auch Gell. 18,4,1 und den Antitypos bei Gell. 11,7,7. 193 Vgl. z. B. Cic. de orat. 3,13,48; Brut. 17,69; Plin. nat. praef. 17; Petron. sat. 4; Plin. ep. 7,21,1 (Plinius unterscheidet hier eindeutig die individuelle Studienlektüre vom Vorlesenlassen); Quint. inst. or. 10,1,16-23 (vergleichende Diskussion der zwei Rezeptionsmodi einer Rede: live hören oder selbst lesen; s. dazu unten mehr); Gell. 12,2,12 Nur einmal in einer Komödie von Plautus findet sich das Derivat translego als Leseverb (vgl. Plaut. Asin. 4,1,5). Im Kontext scheint es dort - als zweite Aufforderung, einen Vertrag (syngraphus) durchzulesen - einen besonderen Nachdruck mit der Leseaufforderung zu verbinden - etwa: „lies darüber“. Wegen der geringen Anzahl von Belegen sind weitergehende Schlussfolgerungen zur Semantik des Verbes jedoch nicht möglich. 187 Bei lego handelt es sich demgegenüber um einen polyvalenten Leseterminus, der gleichsam als allgemeiner und neutraler Oberbegriff das Phänomen „Lesen“ in seiner ganzen Breite bezeichnen kann, wie A. Busetto treffend zusammen‐ fasst: „Lego è anche il verbo più ‚neutro‘ per indicare l’atto del leggere. Esso può essere riferito non solo a qualsiasi tipologia di documento, ma anche a qualunque modalità e finalità della lettura: da quella privata di una lettera a quella pubblica di un testo letterario o giuridico, da quella scolastica del maestro a quella critica ed ecdotica dei grammatici; tali letture contemplano una nutrita varietà di fruitori (lo stesso lettore, una singolo uditore, un pubblico più o meno vasto), sedi, ‚gradi di oralizzazione‘.“ 188 Und als ein solcher Oberbegriff kann lego auch sporadisch kollektiv-indirekte Formen der Rezeption benennen, wobei es sich in diesen Fällen dann um eine konzeptionelle Übertragung individuell-direkter Lektüre handelt, 189 die uns aus dem deutschen Gebrauch von „Lektüre“ und „lesen“ ebenfalls bekannt ist. Ähnlich polyvalent (vgl. den Eintrag im TLL) ist das von lego abgeleitete Verbalsubstantiv lectio, das gleichsam als Oberbegriff „das Lesen“ das gleich‐ namige Phänomen umfassend bezeichnet und durch die jeweiligen Verwen‐ dungskontexte ganz unterschiedliche spezifische Bedeutungen (das Lesen als Fähigkeit, 190 das Durchlesen eines Schriftstücks, 191 das Lesen zu Unterhaltungs‐ zwecken 192 oder zur Bildung bzw. zur Vorbereitung eigener Textproduktion, 193 153 3.3 Lesen als Sammeln: λέγω und Derivate <?page no="154"?> (die Formulierung lectio ac studium könnte hier tautologisch gemeint sein). Vgl. auch die Bestimmung eines Freundes als homo lectione multa exercitus bei Gell. 1,7,4, der sich dadurch qualifiziert hat, dass er in Nachstudien annähernd die ganze alte Literatur erforscht (quaerere) hat. 194 Vgl. z. B. Quint. inst. or. 10,1,44 f; Gell. 14,16,1; Amm. Res gestae 30,4,2. Vgl. ferner den Diminutiv lectiuncula in Cic. fam. 7,1,1. 195 Vgl. z. B. Gell. 2,23,5-8. 196 Vgl. z. B. Gell. 4,17,1; 9,6,2. 197 Vgl. Plaut. Pseud. 25. 198 Vgl. z. B. Gell. 2,23,3. 199 Vgl. dazu G E O R G E S , Handwörterbuch, 2845. Vgl. v. a. den Verweis bei Gell. 1,6,2 auf den Titel Lectionum Antiquarum eines Buches von Caesellius Vindex (s. auch Gell. 2,16,4; 3,16,11; 6,2,1 u. ö.), und den Verweis auf den Titel De Usu Antiquae Lectionis von Velius Longus. 200 Vgl. Colum. 2,2,12; Arnob. 5,24. 201 Vgl. z. B. Cic. Phil. 5,16,6. Eine Auswahl steckt auch hinter dem, was Hieronymus in seinen Excerpta de psalterion kommentiert: Im Prolog reflektiert er für seine Leser, er referiere in diesem kleinen Kommentar das, was er für lesenswert hielte (vel ergo digna arbitror lectione; Hier. com. in Psal. prol.). Es ist an dieser Stelle ausgeschlossen, dass er mit dem Lexem lectio eine gottesdienstliche Lesung im Blick hätte. die Lektüre als metonymische Bezeichnung des Lesestoffes, 194 das Vorlesen 195 , die Aussprache eines Buchstabens/ Wortes 196 , aber auch nur das visuelle Er‐ kennen/ Entziffern von Buchstaben 197 usw.) annehmen kann. Das Verbalsub‐ stantiv bezeichnet aber gleichsam auch das Resultat eines Leseprozesses (das Gelesene oder die Lesart 198 ), der Plural lectiones wird daher als Buchtitel für Sammlungen von Lesefrüchten sowie für Kommentare verwendet. 199 Es lässt sich anhand der in den Fußnoten genannten Quellen nicht belegen, dass eine stimmliche oder lautliche Realisierung generell impliziert wäre. Die Stellen, an denen das Substantiv im Sinne von „Lesung“ gebraucht wird, um das Vorlesen vor anderen zu bezeichnen, sind kontextuell determiniert und zeigen eine besondere Verwendungsweise des Wortes. Als Bildspendebereich der Metapher wird man analog zu lego annehmen können, dass dieser durch die Tätigkeit des Sammelns, Zusammenlesens, 200 bzw. Auslesens, Auswählens 201 geprägt ist, auch wenn es freilich schwierig ist zu erheben, ob diese Bedeutungsdimension bewusst wahrgenommen wurde. Einige Stellen zeigen im Übrigen eindeutig, dass eine individuelle, vermutlich auch nicht-vokalisierende Lektüre mit lectio bezeichnet werden konnte: So verweist z. B. Cicero in einem Brief an Rufus (fam. 5,20,2) auf das Durchlesen bzw. Durchsehen eines in seiner Abwesenheit erstellten Schriftstücks (liber) mit einer Abrechnung (ratio), das er von seinem Sklaven in die Hand bekommen hat. Ammianus Marcellinus (res gestae 15,8,16) verwendet lectio zur Beschreibung einer in‐ 154 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="155"?> 202 Zu scrutor als Leseterminus s. u. Anm. 334, S. 186. 203 Vgl. dazu K Ü H N E R , Grammatik, § 17,4; B U R K A R D / S C H A U E R , Lehrbuch, § 129,2. 204 In Plin. ep. 7,17,3 f ist es nicht eindeutig zu entscheiden, ob lectitio sich auf die im Kontext thematisierten recitationes bezieht (so die Deutung im TLL) oder sich (m. E. wahrscheinlicher) auf das Lesen publizierter Reden bezieht, das ebenfalls im Kontext diskutiert wird (Plin ep. 7,17,5-7). Freilich kann das Verb auch das wiederholte Vorlesen bezeichnen, wobei dies jeweils durch den Kontext angezeigt wird. Vgl. z. B. Gell. 11,13,5. dividuell-direkten Lesepraxis, die er mit dem Verb scrutor (durchsuchen, durchwühlen, durchforschen, untersuchen) spezifiziert. Vgl. auch Quint. inst. or. 10,1,20: per partes modo scrutanda omnia (s. u. bzgl. perlego). 202 Hieronymus hat vermittelt durch einen gewissen Paulus Kunde von Cyprians Sekretär (notarius) über dessen Lektürepraxis erhalten: und zwar, „dass Cyprian gewöhnlich keinen Tag ausließ ohne die Lektüre Tertullians und er häufig zu ihm sagt ‚gib mir den Meister‘, was selbstverständlich Tertullian bezeichnet“ (solitum numquam Cyprianum absque Tertulliani lectione unum diem praeterisse, ac sibi crebro dicere, Da magistrum, Tertullianum videlicet significans; Hier. vir. ill. 53). Diese Stelle ist insofern aufschlussreich, als Cyprian seinen Sekretär auffordert, ihm den Meister zu geben (dare magistrum). Dies impliziert, dass er anscheinend für die Verwaltung der Bücher zuständig ist, also eine Art Hilfskrafttä‐ tigkeit übernimmt und gerade nicht die Funktion hat, ihm aus Tertullians Schriften vorzulesen. Das Derivat lectito, das zu den wenigen sog. verba frequentativa bzw. iterativa gehört, hebt entsprechend des erstarrten Iterativ/ Intensiv-Morphems ita  203 die Häufigkeit oder die Intensität von individuellen Leseprozessen hervor, impliziert jedoch nicht zwingend stimmliche Realisierung beim Lesen. 204 Plinius hat in seiner Bibliothek in seiner Villa Laurentinum bei Ostia ein armarium, „das keine Bücher zum Lesen, sondern zum intensiven Studium enthält“ (quod non legendos libros sed lectitandos capit; Plin. ep. 2,17,8). In einem Brief an Pomponius Bassus unterscheidet er als Aktivitäten der Muße (otium), Bassus diskutiere viel, höre viel und lese viel intensiv, wodurch er trotz seines reichen Wissens täglich etwas Neues hinzulerne (multum disputare, multum audire, multum lectitare, cumque plurimum scias, cotidie tamen aliquid addiscere; Plin. ep. 4,23,1). Vgl. außerdem Plin. ep. 3,5,1. Ganz eindeutig ist auch Sidon. epist. 2,10,5: opus est, ut sine dissimulatione lectites, sine fine lecturias. Vgl. außerdem exemplarisch Cic. Brut. 31,121; Plin. ep. 3,5,1; 4,19,2; Gell. 2,23,1 f; Arnob. 2,9. Interessant ist ferner die Verwendung bei Tacitus (ann. 14,50), der bezeugt, dass die Bücher des durch Nero verbannten Senators Fabricius Veiento, solange sie verboten und nur unter Gefahr beschafft werden konnten, gesucht und viel gelesen waren (conquisitos lectitatosque), durch die spätere Besitzerlaubnis dann allerdings an Attraktivität verloren hätten. 155 3.3 Lesen als Sammeln: λέγω und Derivate <?page no="156"?> 205 Für diesen Hinweis danke ich K. Künzl. Ferner kann die Sorgfalt beim Lesen oder das wiederholte Lesen eines Textes auch durch eine adverbiale Bestimmung angezeigt werden. Vgl. z. B. Cic. Brut. 43,161: … quam te saepe legisse certo scio (bezieht sich hier auf eine publizierte Rede von Crassus, die individuell-direkt gelesen wird); Tac. ann. 14,22,3: … curatius leguntur; Hor. sat. 1,10,72 f: … iterum quae digna legi sint scripturus. 206 Die folgenden Ausführungen zu Derivaten des Verbes lego führen die Überlegungen von B U S E T T O , legere, fort. Auf die weiteren Quellenverweise dort sei ausdrücklich hingewiesen. 207 Vgl. z. B. Mart. 2,29,9; 11,52,9 (hier eindeutig „wieder vorlesen“); Ov. Pont. 3,5,11; Arnob. 6,13. Vgl. aber Ov. Pont. 1,5,15, wo Ovid in einer Metareflexion das Lesen des vorher mit eigener Hand geschriebenen Briefes benennt. Vgl. ferner die Reflexion über den Zusatz des Präfixes rebei Gell. 2,19. 208 Der Neue G E O R G E S (Sp. 3602) gibt als Grundbedeutung „durchmustern“, „genau be‐ trachten“ an. Diese Lexemverwendung findet sich z. B. in Verg. Aen. 6,34; Ov. fast. 1,591. Vgl. aber Ov. Pont. 2,2,6 f, wo eher eine temporale Dimension (trotz der Verbannung) „weiterhin lesen“ im Blick ist. 209 Vgl. etwa Sall. Cat. 47,3; Suet. Aug. 85,1. Auch bei Plaut. Bacch. 4,9,986 ff wird es im Kontext einer Vorleseszene benutzt, wobei das Vorlesen jedoch nicht direkt durch das Verb markiert wird, sondern es um ein individuelles Durchlesen eines Briefes geht, bei dem der Leser Nicobulus wünscht, dass Chrysalus bei ihm bleibt und mithört (988). Nach einer Diskussion um den Wunsch von Nicobulus (989-993) fordert Chrysalus ihn dann mit einem anderen Verb, nämlich mit recito (994), auf, mit dem Vorlesen zu beginnen. Die Stelle kann nicht dahingehend ausgewertet werden, dass auch individuell-direkte Brieflektüre ohne die Anwesenheit von Zuhörern ein vokalisierendes Lesen implizierte. Analoges gilt für Plaut. Pers. 495b-528 (aufschlussreich ist insb. die explizite Auffor‐ derung zum vokalisierenden Lesen at clare recitato [500b]). Bei den Leseszenen in dramatischen Texten ist zudem in Rechnung zu stellen, dass die vokalisierende Lektüre aus dramaturgischen Gründen notwendig ist, und diese Stellen daher nur begrenzten Quellenwert für die sozial-historische Realität haben. 210 Vgl. z. B. Cic. div. 1,8; Lact. inst. 3,18,8 (jeweils individuell-direkte Studienlektüre); Quint. inst. or. 12,8,12 (Gerichtsakten vollständig lesen anstatt nur hineinzuschauen); Aug. c. acad. 2,2,5 (Lektüre der gesamten Paulusbriefsammlung; vgl. z. St. W Y R W A , Zugänge, 59-62). Die erstarrte Stammmodifikation in lectito deutet darauf hin, dass wiederho‐ lendes und intensives Lesen als grundlegendes kulturelles Konzept in der römischen Welt zu verstehen ist, das sich lexikologisch in der Sprache nieder‐ geschlagen hat. 205 So hat in ähnlicher Weise auch das Derivat 206 relego einen iterativen Sinn und kann dadurch die Intensität eines Leseprozesses betonen. 207 Die Lexemverwendung des Derivats perlego zeigt deutliche Konnotationen zur (genauen) visuellen Wahrnehmung, 208 eine Implikation eines vermeintlichen Normalmodus vokalisierender Lektüre legt die Lexemverwendung jedoch nicht nahe. Zwar wird das Verb zuweilen auch in einem Kontext verwendet, in dem vorgelesen wird, 209 hauptsächlich betont das Verb aber die Vollständigkeit des Lesens in Bezug auf den Gesamtumfang des gelesenen Textes, 210 wird häufig im 156 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="157"?> 211 So weist B U S E T T O , legere, 301, unter Angabe der entsprechenden Belege, darauf hin, dass das Verb v. a. in republikanischer Zeit überwiegend das Durchlesen von Briefen (privat, z. T. aber auch öffentlich) bezeichnet. 212 Vgl. zu dieser Stelle weiterführend M Ä N N L E I N -R O B E R T , Longin, 286 (Lit.). Zusammenhang der Lektüre von Briefen verwendet, 211 bezeichnet vielfach eine individuelle Lektüreform (z. T. eindeutig ohne stimmliche Realisierung), und ist meistens sinnvoll mit dem deutschen Wort „durchlesen“ zu übersetzen: Bei Apuleius findet sich z. B. die folgende Formulierung: totam sodes epistulam cedo: sine omnia inspiciam, a principio ad finem perlegam (Apul. apol. 82). Diese Stelle ist insofern aufschlussreich, als das Durchlesen „vom Anfang bis zum Ende“ im Kontext dadurch spezifiziert wird, dass jemand den gesamten Brief, dessen kompletter Inhalt ihm vorher vorenthalten wurde, inspizieren, d. h. (mit eigenen Augen) einsehen möchte. Bestätigt vor dem Hintergrund der antiken Leserealien findet sich diese Be‐ deutungsdimension bei Martial in polemischer Zuspitzung: „Aufgerollt bis zu seinen Hörnern (ad sua cornua) und so, als ob es durchgelesen wäre (et quasi perlectum), bringst du mir das Buch zurück, Septicianus“ (Mart. 11,107; Üb. B A R I É / S C H I N D L E R ). In der praefatio von Vitruvs siebtem Buch seines Werkes über die Architektur findet sich ein aussagekräftiges Beispiel für den Lexemgebrauch von perlego: Im Kontext seiner Überlegungen zur Praxis andere Autoren zu plagiieren (Vitr. 7 praef. 3) erzählt Vitruv eine (freilich legendarisch ausgeschmückte) Geschichte, die sich in Alexandria zugetragen haben soll (Vitr. 7 praef. 4-7). Ptolemaois (Philopator) hat im Zusammen‐ hang mit Spielen zu Ehren der Musen und Apollons einen Literaturwettbewerb eingerichtet, für dessen Jury noch eine Person fehlt. Man empfiehlt ihm Aristophanes (von Byzanz), „der mit größtem Eifer und höchster Gründlichkeit Tag für Tag, ohne Pause alle Bücher durchlas“ (qui summo studio summaque diligentia cotidie omnes libros ex ordine perlegeret; Vitr. 7 praef. 5). Diese Stelle ist nun in Bezug auf die Semantik von perlego insofern aufschlussreich, als hier a) nicht der Vortrag, sondern die inhaltliche Qualität der Wettbewerbsbeiträge begutachtet werden soll, und b) die inhaltliche Tiefe der Auseinandersetzung der Bücher seitens Aristophanes betont wird. So ermöglicht es ihm nämlich seine genaue Kenntnis der Bibliotheksbestände, den Publikumsliebling des Plagiats zu überführen, was ihm laut Vitruv die Leitung der Bibliothek eingebracht habe. 212 Perlego meint also hier eine besonders gründliche, individuelle Studienlektüre - vollständig sowohl im Hinblick auf den Umfang der einzelnen Werke als auch im Hinblick auf den Buchbestand einer Bibliothek. So betont auch Quintilian bezüglich der von ihm empfohlenen Lektüren, dass diese „nicht nur Teil für Teil zu durchforschen sind (per partes modo scrutanda omnia), sondern, ist ein Buch durchgelesen, so ist es unbedingt von neuem vorzunehmen (sed perlectus liber utique ex integroresumendus)“ (Quint. inst. or. 10,1,20; Üb. R A H N ), wobei er im 157 3.3 Lesen als Sammeln: λέγω und Derivate <?page no="158"?> 213 Analog liest auch Alexander einen Brief von Dareios erst individuell-direkt und beruft dann eine Versammlung der Truppen ein. Vgl. Ps.-Kall. 2,17. An anderer Stelle im Alexanderroman ist nicht klar, ob Alexander die Briefe, die auch den Truppen vorgelesen werden, zunächst individuell-direkt gelesen hat. Vgl. z. B. Ps.-Kall. 3,2. S. zur individuell-direkten Lektüre eines Feldherren und dem anschließenden Teilen der Botschaft mit anderen z. B. auch Polyain. strat. 4,11,2; Liv. 45,12,5. 214 So auch B U S E T T O , legere, 301 f, mit Verweis auf V A L E T T E -C A G N A C , lecture, 214, Anm. 168. 215 Vgl. dazu B U S E T T O , legere, 304 f, die außerdem auf Curt. 3,6 verweist. 216 Ov. am. 1,11,17-19 (Üb. H O L Z B E R G ). Kontext außerdem betont, dass das Lesen hier der Sorgfalt (sollicitudo) beim Schreiben entsprechen soll. Als Begründung für Mehrfachlektüre führt er an, dass viele Texte sich wegen ihres rhetorischen Aufbaus erst vollständig erschließen, wenn man sie einmal komplett gelesen hat (vgl. Quint. inst. or. 10,1,21). Bei Petronius (sat. 34,6) wird das Durchlesen des titulus auf dem Etikett (pittacium) eines Weingefäßes mit perlego beschrieben. Plinius verwendet das Verb als Gegenbegriff zum Hören (Plin. ep. 8,20,2). Eine Szene, in der ein Brief eindeutig nicht-vokalisierend durchgelesen wird, findet sich bei Sall. Iug. 71: Der curator des numidischen Generals Nabdalsas findet auf dem Lager seines schlafenden Dienstherren einen achtlos liegengelassenen Brief mit einem Plan für ein Attentat auf König Jugurtha. Die Szene impliziert, dass der curator den Brief nicht-vokalisierend durchliest, da eine vokalisierende Lektüre den schlafenden Nabdalsa geweckt hätte. Eine weitere aufschlussreiche Brieflektüreszene findet sich in Caesars comentarii zum Gallischen Krieg (Caes. gall. 5,48,8): Und zwar wird Cicero hier ein Brief gebracht, den Caesar ihm in griechischer Sprache geschrieben hat. Diesen liest er erst für sich durch, wie das Partizip Perfekt Passiv zeigt (ille perlectam), und gibt den Inhalt dann rezitierend in conventu militum bekannt. 213 Der hier beschriebene zweistufige Rezeptionsprozess deutet darauf hin, dass das zunächst individuelle Durchlesen des Briefes ohne lautliche Realisierung vorzustellen ist. Denn Cicero ging es wohl zunächst darum, den Inhalt des Briefes wahrzunehmen, um dann zu entscheiden, ob er auch für eine weitere Öffentlichkeit bestimmt war. 214 Besonders hervorgehoben werden müssen drei weitere Belegstellen für defi‐ nitiv nicht-vokalisierende Lektüre, die mit dem Verb perlego zusammengefasst werden; 215 und zwar findet sich a) in einem Liebesgedicht von Ovid (am. 1,11) die Aufforderung des lyrischen Ichs an Nape, eine Sklavin der geliebten Corinna, dieser von ihm beschriebene Täfelchen (tabellae) zu geben und ihr bei der Lektüre des Textes zuzusehen: Während sie liest, betrachte - das sag ich dir! - Augen und Stirne: Auch aus der Miene, die schweigt, lässt sich ersehn, was dann kommt. Las sie’s (perlectis), lasse sofort eine lange Antwort sie schreiben. 216 158 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="159"?> 217 Vgl. zum Verb τυγχάνω (treffen, erlangen, erreichen, eintreffen u. ä.) B A U E R N F E I N D , Art. τυγχάνω, 238-243. 218 Vgl. z. B. Philostr. v. Apoll. 2,43 (in diesem Fall Ältäre mit Inschriften; vgl. B Ä B L E R / N E S S E L R A T H , Apollonios, 36 f). 219 Vgl. z. B. Xen. an. 6,1,4: ein Becher; 6,6,38; Plut. de mul. vir. 17 (mor. 254d): ein Bleiplättchen; Plut. Pomp. 37: Hier ist tatsächlich zunächst das „Auffinden“ von schriftlichen Dokumenten gemeint, die Pompeius im Folgenden durchgeht, also liest (s. u. zu διέρχομαι 3.7); vgl. ferner Paus. 4,21,1. 220 Vgl. z. B. Thuk. 4,40,2; Plut. Marcellus 16,1; Plut. Ant. 45. 221 Vgl. Xen. mem. 4,3,14. 222 Vgl. z. B. Hdt. 1,134,1 (Aufeinandertreffen auf dem Weg mit Begrüßungskuss); Thuk. Bei Petronius findet sich b) eine motivisch verwandte Szene. Chrysis gibt dem Ich-Erzähler einen Brief von seiner Herrin zur Lektüre, der auf Tafeln (codicilli) geschrieben ist. Chrysis, der ja als Adressat des Briefes den Inhalt kennt, spricht zu dem Ich-Erzähler, nachdem er wahrgenommen(! ) hat, dass jener den Brief komplett durchgelesen hat (ut intellexit Chrysis perlegisse me totum convicium … inquit …; Petron. sat. 129). c) Seneca bezeichnet mit dem Verb das Lesen/ Wahrnehmen von Buchtiteln, die außen an den im Bücherregal lagernden Rollen angebracht waren. Er kritisiert die Praxis, Bücher nur als Ausdruck kulturellen Kapitals im Speisezimmer oder an anderer exponierter Stelle und in Bücherwänden bis zur Decke zur Schau zu stellen und mit den Buchtiteln und gesammelten Gesamtausgaben Gelehrsamkeit vorzugaukeln und zu prahlen (vgl. Sen. tranq. 9). Diese Belegstellen sind nicht nur für die Verwendung des Verbes perlego aufschlussreich, sondern zeigen auch, dass nicht-vokalisierendes Lesen gerade nicht die große Ausnahme darstellte, wie in der Forschung gemeinhin ange‐ nommen wird. Vielmehr setzen die drei Stellen voraus, dass in einer alltäglichen Lesesituation die Lektüre eines Textes ohne stimmliche Realisierung auskam. 3.4 Lesen als Begegnung und Kontakt mit dem Text Die Semantik des Kompositums ἐντυγχάνω ist noch stärker von der Dimension des physischen Aufeinandertreffens/ -stoßens geprägt als die Semantik des Verbes τυγχάνω selbst. 217 Es bedeutet auf etwas stoßen, 218 auch im Sinne von „in die Hände fallen“ von Gegenständen 219 , es kann verwendet werden, um das „Aufeinandertreffen“ mit Steinen oder Wurfgeschossen, 220 mit einem Blitz 221 o. ä. zu bezeichnen, was letale Folgen nach sich zieht. Außerdem bezeichnet es häufig das physische Aufeinandertreffen, die Begegnung von Menschen in den unterschiedlichsten Kontexten. 222 Besonders deutlich ist die Dimension des 159 3.4 Lesen als Begegnung und Kontakt mit dem Text <?page no="160"?> 5,5,2; Xen. Kyr. 3,367; an. 1,2,27 u. ö.; Xen. hell. 5,4,21; mem. 2,2,12 u. ö.; Eur. Hel. 1217; Plat. polit. 1,329b u. ö.; symp. 174a; Parm. 126a; Polyb. 21,16,5; 23,5,11; Strab. 14,5,4; Plut. de gen. 25 (mor. 594c); Plut. de Pyth. or. 24 (mor. 406 f); App. Ib. 12,74; Paus. 8,42,13.; Philo Jos. 164; häufig in Inschriften: z. B. IG II 945; IG XI/ 4 542,8 f; FD III/ 3 157,2. 223 Vgl. exempl. Hdt. 4,110,2 u. ö.; Aristoph. Av. 1490; Thuk. 4,127,2; 7,29,4; 7,43,5; Xen. Kyr. 2,4,23 u. ö.; an. 2, 5,32; hell. 7,2,19; Diod. 11,9,4; 11,61,3 u. ö.; Paus. 9,33,4. 224 Vgl. Plat. symp. 191c; Plut. Sol. 20,3; Plut. qu. R. 65 (mor. 280e). Satirisch gespielt wird mit der Doppeldeutigkeit Lesen/ Geschlechtsverkehr in Alki. 4,16: „Du bist ein so großer König und gestattest auch einer Hetäre, Dir zu schreiben, und findest es nicht unter Deiner Würde, Briefe von mir zu lesen, da Du mich ja ganz nimmst (ἐντυγχάνειν τοῖς ἐμοῖς γράμμασιν ὅλῃ μοι ἐντυγχάνων)“ (Üb. P L A N K L , leicht mod. JH). 225 Vgl. ferner: den Kontakt eines Krokodils, das gefangen werden soll, mit einem Köder bei Hdt. 2,70,2; die Tiere, die Menschen wegen ihrer Freiheit auf der Straße anrempeln, wenn sie auf diese Treffen bei Plat. pol. 5,463c usw. 226 Vgl. z. B. Hdt. 7,50,4; Soph. Aj. 433; Plut. Demetr. 19,2. 227 Zahlreiche Belegstellen für die Bedeutung „studieren“ finden sich schon bei S C H M I D , Atticismus I, 141 f.300; S C H M I D , Atticismus IV, 651, mit Verweis auf weitere Stellen‐ sammlungen. physischen Kontakts im kriegerischen Kontext 223 oder wenn das Verb gebraucht wird, um sexuellen Kontakt 224 zu beschreiben. 225 Sodann wird ἐντυγχάνω im übertragenen Sinne gebraucht, dass einer Person oder einer Personengruppe Unheil u. ä. droht oder sie auf Schwierigkeiten trifft. 226 Als Leseterminus 227 verwendet ist das Objekt des Lesens zumeist im Dativ angegeben, wobei zumeist aus der Semantik des Leseobjekts oder dem Kontext deutlich hervorgeht, dass es um etwas geht, das auf einem Medium schriftlich fixiert ist. Als Lesemedien werden etwa genannt: ἀρχαιολογίαι: Vgl. z. B. Ios. c. Ap. 2,136. βιβλίον: Vgl. z. B. Plat. symp. 177b; Dion Chrys. or. 4,30; Plut. de mul. vir. prooem. (mor. 243e); Plut. Art. 13,4; Athen. deipn. 14,62 (650b); Philo virt. 17 (Querverweis auf das Lesen früherer Bücher); Ios. c. Ap. 1,205; 1,216 f; 2,45 (… καὶ ταῖς τῶν ἱερῶν γραφῶν βίβλοις ἐντυχεῖν); mit Verweis auf den Titel Athen deipn. 15,18: ἐνέτυχον ὀψέ ποτε Πολυχάρμου Ναυκρατίτου ἐπιγραφομένῳ βιβλίῳ Περὶ Ἀφροδίτης, ἐν ᾧ ταυτὶ γέγραπται …; Philostr. v. Apoll. 1,3: ἐνέτυχον δὲ καὶ Μαξίμου τοῦ Αἰγιέως βιβλίῳ ξυνειληφότι …; Cass. Dio 58,11,7. γράμματα: Vgl. Ios. c. Ap. 2,37; Philo sacr. 79; legat. 253; Ach. Tat. 5,19,5; Charit. Cal. 4,5,8; Orig. comm. in Ioh. 1,2,9; Iul. ep. 29 (396c); Basil. Caes. Ep. 194 u. ö. γραφή: Vgl. z. B. Philo Mos. 2,40; Tat. orat. 29. Vgl auch Eus. h. e. 7,32,2, der von Kyrillos von Antiochia berichtet, er habe die hebräische Sprache gelernt, um die hebräischen Schriften lesen zu können: … ὡς καὶ αὐταῖς ταῖς Ἑβραϊκαῖς γραφαῖς ἐπιστημόνως ἐντυγχάνειν; bzw. ὑπογραφή: Vgl. z. B. App. Lib. 20,136. 160 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="161"?> 228 Vgl. z. B. Plut. symp. 8,10,1 (mor. 734c): προβλήμασιν Ἀριστοτέλους φυσικοῖς ἐντυγχάνων …; Theon Smyrn. exp. rer. math. 1; Albin. 5,4; 5,20.23 u. ö. 229 Vgl. z. B. Iul. or. 6 [200b]: ἐντυχὼν δὲ τῷ Χαιρωνεῖ Πλουτάρχῳ …; Dion Chrys. or. 18,6.11 f; vgl. ferner die Wendung ταῖς προφητείαις ἐντυγχάνειν bei Iust. Mart. apol. 1,50,12; Porph. adv. Christ. Fr. 38 (= Theod. Graec. affect. cur. 7). ἱστορίαι: Vgl. z. B. Polyb. 12,25,2; Ios. c. Ap. 1,220; vita 345; Dion. Hal. ant. 4,6,1; Orig. Cels. 1,42; Ps.-Iust. Mart. cohort. 12b u. ö.; (Ps.? )-Basil. Caes. enarr. 3,113. λόγος: Vgl. Plut. symp. 3,5,1 (mor. 652a): Ἀριστοτέλους ἐντυχὼν οὐ νεωστὶ λόγῳ περὶ ….; Plut. de Pyth. or. 23 (mor. 406a), führt als Gegenargument an, die Akademie, Sokrates und Platon seien ἀνέραστος gewesen: … ὧν λόγοις μὲν ἐρωτικοῖς ἐντυχεῖν ἔστι … Eindeutig in hss. Form fixierte und vermutlich publizierte Reden sind bei Men. Rhet. epideikt. 2,386,29 ff im Blick, der im 3./ 4. Jh. dazu auffordert, Reden u. a. von Aristides (2. Jh.) und Hadrian (1./ 2. Jh.) als Vorlage zur Konzeption eigener Reden zu lesen. Vgl. ferner Dion Chrys. or. 18,16-18 (hier ist v. a. aufschlussreich, dass emotionale Reaktionen im Blick sind, die durch das Lesen ausgelöst werden); Plut. de animae 29 (mor. 1027b); Plut. Phil. 4,3. πραγματεία: Vgl. z. B. Dion Chrys. or. 18,15, der damit Xenophons Anabasis be‐ zeichnet. Vgl. außerdem Polyb. 4,1,4; 6,2,3. στιχίδια: Plut. de E 1 (mor. 384d). συγγράμματα: Vgl. z. B. Plat. min. 316c (συγγράμματι περὶ ὑγιείας τῶν καμνόντων); Plat. Lys. 214b (τοῖς τῶν σοφωτάτων συγγράμμασιν); Plut. Phil. 4,3 (συγγράμμασι φιλοσόφων); mit Verweis auf den Titel Athen. deipn. 15,12 (672a): ἐγὼ δ᾽ ἐντυχὼν τῷ Μηνοδότου τοῦ Σαμίου συγγράμματι, ὅπερ ἐπιγράφεται Τῶν κατὰ τὴν Σάμον ἐνδόξων ἀναγραφή …; Philo Aet. 12; Diog. Laert. 9,1,11; Men. Rhet. epideikt. 2,393; Theon exp. rer. math. 1. συντάγματα: Vgl. Plut. adv. Col. 14 (mor. 1115a); der (fehlende) physische Kontakt von Kolotes mit den genannten Büchern wichtiger Philosophen wird im nachfolgenden Satz deutlich hervorgehoben: μηδ᾽ ἀναλάβῃς εἰς χεῖρας Ἀριστοτέλους τὰ περὶ Οὐρανοῦ καὶ … τραγῳδίαις: Dion Chrys. or. 52,1. ὑπομνήματα: Vgl. z. B. Strab. 2,1,5; Plut. Dem. 5,5; M. Aur. 1,7; Ios. c. Ap. 1,56; Plut. Marcellus 5,1, verwendet zusammen mit ἐντυγχάνω außerdem εὑρίσκω (finden) als Leseterminus, der in einem weiten Sinne ebenfalls dem Bildbereich des physischen Kontakts zugeordnet werden kann: ἱερατικοῖς ὑπομνήμασιν ἐντυχὼν εὗρεν …; vgl. dazu z. B. ferner auch Cass. Dio 39,15,2; Iren. adv. Haer. 1, prooem., 1; Eus. h. e. 2,25,4 (s. u.); 7,25,21 (dort in einem Brief von Dionysius von Korinth; s. u.). Als Objekt des Lesens steht aber auch der Titel eines Werkes 228 bzw. der Name des Autors 229 . Der schriftliche Charakter des Leseobjektes wird z. B. sehr 161 3.4 Lesen als Begegnung und Kontakt mit dem Text <?page no="162"?> 230 Vgl. dazu z. B. auch Iul. ep. 12 [389c]. S. ferner zum Syntagma ἀναγνώσμασιν ἐντυγχάνειν (Plut. symp. 5,3,2 [mor. 676c]) die Ausführungen zu ἀνάγνωσμα unter 3.1.5. Vgl. ferner Plut. de def. or. 3 (mor. 410d). 231 Vgl. z. B. die Aufforderung bei Plut. adv. Stoic. 25 (mor. 1070e), ein Buch von Chrysippos zu lesen: ἔντυχε δὲ τῷ πρώτῳ τῶν πρὸς Πλάτωνα γεγραμμένων περὶ Δικαιοσύνης. 232 Eindeutig individuell-direkte Lektüre eines Briefes ist auch bei Alki. 4,18 vorausgesetzt (vgl. Alki. 4,19). 233 So verweist z. B. Plut. Pomp. 49, auf so etwas wie Flugblätter, bei denen Auffinden und Lesen in eins fallen: ἦν δὲ γράμμασιν ἐντυχεῖν διερριμμένοις κατ᾽ ἀγορὰν καί παρὰ τὸ βουλευτήριον ὡς δὴ Πτολεμαίου δεομένου Πομπήϊον αὐτῷ στρατηγὸν ἀντὶ τοῦ Σπινθῆρος δοθῆναι. Vgl. außerdem Plut. Ant. 26; Plut. Lyk. 4,4, schildert, dass Lykurg die Schriften Homers materialiter findet und liest (τοῖς Ὁμήρου ποιήμασιν ἐντυχὼν), bevor er sie abschreibt und zusammenstellt (συνάγω). S. dazu ferner auch das Zitat von Timon bei Diog. Laert. 9,12,113, der auf die Qualität älterer, noch nicht überarbeiteter Hss. von Homers Werken hinweist. gut deutlich bei der Formulierung ε. οἷς xy γέγραφε περὶ … bei Plut. Agis 15,2. 230 Sehr selten steht das Objekt des Lesens hingegen im Genitiv. 231 An dieser Stelle ist ferner darauf hinzuweisen, dass Athenaios semantisch analog zur Lesemetapher ἐντυγχάνω, aber vermutlich innovativ, das Verb ἀπαντάω (treffen) als Lesemetapher im Sinne von „auf ein Buch stoßen“ verwendet (vgl. Athen. deipn. 4,54 [162e]: s. auch 8,15 [336d]). Bei Plutarch kommt das Verb ἐντυγχάνω an der berühmten Stelle vor, an der er schildert, wie Octavian von Kleopatras Selbstmord erfährt, indem er auf einer Wachstafel ihre Bitte liest, neben Antonius begraben zu werden: Καῖσαρ δὲ λύσας τὴν δέλτον, ὡς ἐνέτυχε λιταῖς καὶ ὀλοφυρμοῖς δεομένης αὐτὴν σὺν Ἀντωνίῳ θάψαι, ταχὺ συνῆκε τὸ πεπραγμένον (Plut. Ant. 85). 232 Bei manchen Belegstellen kann zwischen dem Auffinden eines Textes o. ä. und dem Akt des Lesens nicht unterschieden werden; in der jeweiligen Darstellung wird beides mit dem Verb ἐντυγχάνω zusammengefasst. 233 Vielfach, auch bei den schon oben genannten Belegstellen, kann jedoch deutlich zwischen dem Akt des Lesens (ausgedrückt durch ἐντυγχάνω) und dem Auffinden unterschieden werden. Besonders eindrücklich ist in dieser Hinsicht eine Visionsstimme in einem bei Euseb (h. e. 7,7,3) überlieferten Brief von Dionysius an den römischen Priester Philemon, die ihm, Dionysius, mit klaren Worten befohlen habe, er solle alles lesen, was er in die Hände nähme, da er in der Lage sei, alles zu prüfen und zu beurteilen: πᾶσιν ἐντύγχανε οἷς ἂν εἰς χεῖρας λάβοις· διευθύνειν γὰρ ἕκαστα καὶ δοκιμάζειν ἱκανὸς εἶ … Kaiser Iulian teilt dem Philosophen Maximus in einem Brief (Iul. ep 12 [383a/ b]) mit, dass er analog zu Alexander d. Gr., der mit Homer unter dem Kopfkissen geschlafen haben soll, mit den Briefen von Maximus schlafe und diese immer wieder so lese, als hätte er sie zum ersten 162 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="163"?> 234 Vgl. Plat. pol. 7,529e. S. auch Diod. 1,49,2 (hier ein Relief mit Inschrift). 235 Vgl. Plut. adv. Col. 5 (mor. 1109d). Vgl. ferner Plut. Demetr. 1,2. 236 T E O D O R S S O N , Commentary II, 158, vermutet, dass es sich um vielgelesene Bücher handelt. 237 Vgl. auch Artem. on. 2,70 [ed. Pack, p. 202,12 f], der diejenigen Leser zur eingehenden Lektüre seines Prooemiums auffordert, die ihm vorwerfen könnten, er habe plagiiert. Vgl. aber z. B. auch Dion Chrys. 18,15; Orig. princ. 4,1,6 mit Bezug auf das AT; Greg. Naz. or. 31,26 (De spiritu sancto) mit Bezug auf die Evangelien. 238 S. o. Anm. 30, S. 115. 239 Dionysius in einem Brief bei Eus. h. e. 7,25,21: ὁ δὲ προσεχῶς ἐντυγχάνων εὑρήσει ἐν ἑκατέρῳ πολλὴν τὴν ζωήν … Die Dimension des überprüfenden Lesens von etwas Geschriebenem steckt auch in der gleichsam tautologischen Verwendung von ἐντυγχάνω und ἀναγιγνώσκω in Philp spec. 4,161. Mal in die Hand bekommen: … καὶ οὐ διαλείπομεν ἐντυγχάνοντες ἀεὶ καθάπερ νεαραῖς ἔτι καὶ πρῶτον εἰς χεῖρας ἡκούσαις. Bei Platon wird das Verb auch verwendet, um das Betrachten von Bildern anzuzeigen. 234 Plutarch verwendet das Verb ebenfalls im Sinne von „wahr‐ nehmen“, wenn er die individuellen Voraussetzungen und die Selektivität der Sinneswahrnehmung diskutiert. 235 Dass ἐντυγχάνω tatsächlich als lexikalisierte Lesemetapher gebraucht wurde, also die ursprüngliche Bedeutung des Verbes im kommunikativen Akt nicht zwingend bewusst wahrgenommen werden musste, wird deutlich, wenn die bei Plutarch (symp. 5,2 [mor. 675b]) mit ἐντυγχάνω gekennzeichnete Lektüre von Polemons Beschreibung der Schatzhäuser in Delphi 236 durch das Lexem ἐπιμελής (sorgsam, sorgfältig, intensiv) spezifiziert wird, 237 das auch im Zusammenhang mit ἀναγιγνώσκω eine sorgfältige, auf‐ merksame, intensive, individuell-direkte Lektüre bezeichnen kann. 238 Dionysius von Korinth verwendet analog προσέχης (aufmerksam, sorgfältig, achtsam), wie Euseb bezeugt. 239 Das damit verbundene raummetaphorische Konzept - προσέχης bedeutet eigentlich daran stoßend, nah, closely connected u. ä. - könnte dadurch entstanden sein und seinen sozialgeschichtlichen Ausdruck darin haben, dass jemand, der aufmerksam liest, auch in der Antike beim Lesen den Abstand zwischen Augen und Text verringert, indem er sich dem Text durch Vorbeugen des Kopfes nähert, d. h. sich in ihn vertieft. Auch der entgegengesetzte Lesemodus kann durch Spezifizierung von ἐντυγχάνω mit einem Adverb beschrieben werden. Dies bezeugt Dion Chrysostomos (or. 18,6), der rät, Menander und Euripides nicht nebenbei bzw. oberflächlich zu lesen (… μὴ παρέργως ἐντυγχάνειν …). Die Gründlichkeit der Lektüre wird sodann häufig unter Verwendung des Lexems ἀκριβής hervorgehoben. So sagt z. B. Plutarch über die Peripatetiker, sie hätten die Schriften von Aristoteles und Theophrast weder viel noch genau gelesen (… οὔτε πολλοῖς οὔτε ἀκριβῶς ἐντετυχηκότες … Plut. Sull. 26). Theodoret bescheinigt ferner Porphyrios, er 163 3.4 Lesen als Begegnung und Kontakt mit dem Text <?page no="164"?> 240 Vgl. außerdem exempl. Athenag. suppl. 9,3; Albin. 6,9; Theoph. Autol. 3,30; Orig. princ. 4,3,5; Orig. comm. in Ioh. 6,8,53; Epiph. Ancor. 74,2. habe „die Propheten genau gelesen“ (Τοῖς προφήταις ἀκριβῶς ἐντυχὼν … [Theod. Gr. aff. cur. 7,36]). 240 Justin bietet den postulierten Lesern seiner Apologie aus dem römischen Kaiserhaus (vgl. Iust. Mart. Apol. 1,1) an, ihnen eine Schrift gegen alle bisher entstandenen Häresien zu geben (σύνταγμα κατὰ πασῶν τῶν γεγενημένων αἱρέσεων …), wenn sie diese lesen wollten (… ᾧ εἰ βούλεσθε ἐντυχεῖν … Iust. Mart. Apol. 1,26,8). Auch bei Origenes ist es eindeutig, dass individuell-di‐ rekte Lektüre bei der Verwendung des Verbes als Leseterminus vorausgesetzt ist (vgl. z. B. Orig. Cels. 4,52, wo er im Kontext die Lese-Metonymie des „in-die-Hand-Nehmens“ verwendet). Das metaphorische Konzept der physischen Begegnung steht im Hinter‐ grund, wenn bei Plutarch περιπίπτω im Sinne von Lesen gebraucht wird; hier scheint er allerdings das Verb bewusst als Metapher zu verwenden. Plutarch verweist nämlich explizit auf die bei Epikur niedergeschriebenen Äußerungen (wörtl. Stimmen) von Sokrates: εἰ δὲ τοιαύταις, ὦ Κωλῶτα, Σωκράτους φωναῖς περιέπεσες, οἵας Ἐπίκουρος γράφει πρὸς Ἰδομενέα … (adv. Col. 18 [mor. 1117d]). Diese metaphorische Verwendung von περιπίπτω ist auch schon im 2. Jh. beim alexandrinischen Astronomen und Mathematiker Hypsikles belegt, der mitteilt, er sei in ein anderes Buch von Apollonios gefallen, also darauf gestoßen: ἐγὼ δὲ ὕστερον περιέπεσον ἑτέρῳ βιβλίῳ ὑπὸ Ἀπολλωνίου … (Hyps. dodek. eikos. prooem. [=Eukl. elem. 14]). Euseb übersetzt die Aufforderung Tertullians, die Aufzeichnungen zu befragen (consulite commentarious vestros …), in denen man finden (reperio), also lesen könne, dass Nero der erste Verfolger der Christen in Rom gewesen sei (Tert. Apol. 5), folgenermaßen: ἐντύχετε τοῖς ὑπομνήμασιν ὑμῶν, ἐκεῖ εὑρήσετε … (Eus. h. e. 2,25,4). Das lateinische Verb consulo (befragen) ist als Leseterminus erst bei spätantiken christlichen Autoren bezeugt. Bei Augustinus findet man das Konsultieren von Bü‐ chern (ego consulens libros; Aug. mus. 6,52) oder der apostolischen Schriften (scripturas apostolicas consulamus; Aug. ep. ad cath. 7,16). Orosius spricht von der Konsultation der sibyllinischen Bücher (vgl. Oros. hist. 3,22,5). Das dahinterliegende metaphorische Konzept, Lesen als Dialog mit dem Text zu verstehen, findet sich allerdings schon bei den klassischen Autoren: Cicero schreibt in einem Brief an Atticus, dass in der von ihm sehr geschätzten Einsamkeit (solitudo) sein einziges Gespräch mit Geschriebenem sei (in ea mihi omnis sermo est cum litteris; Cic. Att. 12,15). Ähnlich unterhält sich Plinius in seiner Villa Laurentinum nur mit sich selbst und mit seinen Büchern (mecum tantum et cum libellis loquor; Plin. ep. 1,9,5). Aus diesen Stellen zu schließen, Cicero und Plinius 164 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="165"?> 241 Vgl. aus der Vielzahl der Quellen exempl. Polyb. 11 prooem. 2 (dazu S. 123); 3,34,3; 12,23,2; Diod. 1,2,8; Plut. de stoic. rep. 10 (mor. 1037a); Ps.-Plut. de Hom. 113; 218; Vett. Val. 3,9; 4,11; Artem. on. 1, prooem. [ed. Pack, p. 2,9 f]; 1,75 [ed. Pack, p. 81,11-14]; 2,70 [ed. Pack, p. 202,10.25]; 3,66 [ed. Pack, p. 235,7 f]; Lukian. Alex. 21; Orig. Cels. 6,23; Ps.-Long. 1; Iul. ep. 61.; Iul. or 1 [4a]; Basil. Caes. ep. 160; Sib. prol. 242 Philon spricht z. B. davon, dass den Lesern der Heiligen Schriften etwas klar sei: … σαφές ἐστι τοῖς ἐντυγχάνουσι ταῖς ἱεραῖς γραφαῖς … (Philo her. 286). Das Perfektpartizip in Philo sobr. 17 ist resultativ zu verstehen und meint die „in den Heiligen Büchern Belesenen (… τῶν ἐντετυχηκότων ταῖς ἱερωτάταις βίβλοις …)“ (vgl. eine ähnliche Formulierung zum Topos der Belesenheit in Dion Chrys. or. 4,30). Vgl. ferner auch Philo Mos. 2,11; decal. 37; spec. 1,28; 1,214; 2,104; legat. 195; somn. 2,301; migr. 177; Abr. 4; u. ö. Zum Leser der biblischen Schriften vgl. z. B. auch Orig. princ. 4,3,5; com. in Ioh. 6,8,53. Clemens Alexandrinus bezeichnet die von ihm antizipierten Leser seine Schriften ebenfalls mit dem Partizip von ἐντυγχάνω. Vgl. z. B. Clem. Al. strom. 1,9,2; 1,14,3; 4,4,1. 243 ἀλλὰ τῆς τῶν ἀναλαμβανόντων τὰς ἐκείνου βύβλους ὑπομνήσεως, ἵνα μὴ πρὸς τὴν ἐπιγραφὴν ἀλλὰ πρὸς τὰ πράγματα βλέπωσιν. Polyb. 3,9,3. 244 Diese Bezeichnung seiner Leser findet sich z. B. auch in Polyb. 1,2,8: 3,1,6 u. ö. 245 Vgl. Polyb. 5,56,10 f. Dass Polybios an anderer Stelle, an der argumentativ gerade kein Gegensatz vorliegt (Polyb. 2,57,11; 2,59,5; 2,61,11; 3,36,5 u. ö.), die Leser eines Historikers auch in Variation als Publikum/ Zuhörer (τοὺς ἀκούοντας) bezeichnet, stellt angesichts der Verwendung des Verbes ἀκούω als Leseterminus, wie unter 3.2 herausgearbeitet worden ist, keine argumentative Grundlage dafür bereit, dass er sein Werk für das Vorlesen konzipiert hat, wie vor allem die direkte Anrede seiner Leserschaft als „In-Kontakt-Kommende“ deutlich macht (vgl. Anm. 246, S. 166). Dementsprechend übersetzt H. Drexler das Partizip auch mit „Leser“. hätten vokalisierend gelesen, wäre methodisch verfehlt, da es sich eindeutig um eine metaphorisch konzeptualisierte Beschreibung ihrer Lesepraxis handelt. Zudem betont Plinius im Kontext gerade die Ruhe in seiner Villa, wo er nichts hören (nihil audio; Plin. ep. 1,9,5) muss. Das Gespräch mit sich selbst muss ebenfalls nicht zwingend als Selbstgespräch unter Einsatz der Stimme verstanden werden, sondern kann im Kontext durchaus allein auf das Denken bezogen sein. Das durch hinzutretenden Artikel substantivierte Partizip von ἐντυγχάνω dient als Sammelbezeichnung für Leser/ Rezipienten 241 und findet sich in dieser Bedeutung auch vielfach in den Schriften Philons und bei den Kirchenvätern. 242 Dass ein physischer Kontakt mit Büchern in vielen Fällen vorausgesetzt werden kann, zeigt eine Stelle bei Polybios (3,9,1-3), der von den Lesern (Partizip von ἐντυγχάνω) der Annalen von Fabius spricht und diejenigen, die seine Bücher in die Hand nehmen, davor warnt, nur auf den Titel zu achten statt die Fakten zu beurteilen. 243 Auffällig ist außerdem seine Konstruktion eines Gegensatzes zwischen den Lesern (τοὺς ἐντυγχάνοντας) bzw. Lernbegierigen (τοὺς φιλομαθοῦντας) 244 eines Historikers (συγγραφεύς) und dem Publikum bzw. den Zuhörern (τοὺς ἀκούοντας) eines Tragödienschreibers (τραγῳδιογράφος). 245 An einer bekannten Stelle bei Dion 165 3.4 Lesen als Begegnung und Kontakt mit dem Text <?page no="166"?> 246 Vgl. z. B. Polyb. 1,3,10; 1,4,1; 1,15,13; 1,35,6; 1,41,7; 2,40,5 (! ); 2,61,3; 3,5,9, 3,34,3; 10,32,8; 14 prooem.; Strab. 13,1,1; Plut. Rom. 12,6; Plut. Demetr. 1,5; Epikt. diatr. proem.; Gal. nat. fac. 2,9; Eus. h. e. 2,5,6; 3,5,7; 5,3,1; 6,43,4; 8,6,1; 8,13,8; im Sg.: Strab. 1,1,21; z. T. sogar mit Possessivpronomen: Plut. Nic. 1,1: … παρακαλεῖν ὑπὲρ ἐμοῦ τοὺς ἐντυγχάνοντας τοῖς συγγράμμασι τούτοις … Vgl. ferner Arr. an. proem 3. 247 Vgl. außerdem Vett. Val. 2,36.38; 3,9 f; 6,8[! ]; 7,3[! ] u. ö. 248 Vgl. insb. die listenartigen Ausführungen in Vett. Val. 4,10, die er mit einem Hinweis an seine Leser einleitet. Chrysostomos wird deutlich, dass zumindest beim Infinitiv ἐντυγχάνειν nicht aus‐ geschlossen werden kann, dass auch die indirekte Rezeption durch Vorlesenlassen mit dem Verb bezeichnet werden kann. „Bezüglich der Dichter würde ich dir raten, dass du auf Menander von den Komödi‐ endichtern und Euripides von den Tragikern nicht nebenher triffst, und auf diese diese solltest du nicht so [treffen], sie selbst zu lesen, sondern durch einen Geübten, gut und angenehm, zumindest aber ohne Schmerzen, vorzutragen.“ (Dion Chrys. or. 18,6) Die indirekte Form der Rezeption erscheint mir bei dem Verb aber nicht vor‐ rangig zu sein. Denn hier bei Dion Chrysostomos steht das „Aufeinandertreffen“ mit dem Inhalt und der Schönheit der Sprache im Fokus. Der ästhetische Genuss sei bei Dramen groß, wenn der Rezipient von der Belastung der individuell-di‐ rekten Lektüre entlastet sei: πλείων γὰρ ἡ αἴσθησιςἀπαλλαγέντι τῆς περὶ τὸ ἀναγιγνώσκειν (Dion Chrys. or. 18,6). Für die Einschätzung des Quellenwertes für die Fragen der Lesesituation ist zudem entscheidend, dass es sich um eine normative Quelle handelt. Gerade dass Dion hier Regelungsbedarf sieht, zeigt, dass er das individuell-direkte Studium als Normalform der intensiven Studien‐ lektüre vor Augen hat. Dies wird auch in den folgenden Ausführungen zur Beschäftigung mit nicht-dramatischer Texte deutlich (vgl. Dion Chrys. or. 18,9- 17), bezüglich derer er individuell-direkte Lektüre voraussetzt, wie insbesondere aus der retrospektiven Reflexion in Dion Chrys. or. 18,20 f hervorgeht. Das Partizip wird im Speziellen (häufig im Plural) auch dazu verwendet, den bzw. die Leser direkt als solche anzusprechen. Von den vielen Belegstellen, die dies zeigen, 246 ist eine Formulierung bei Vettius Valens besonders erhellend. Und zwar erklärt er leserlenkend, dass die Beispiele, die er im Folgenden anführt, dem Verständnis des Lesers dienen: Ἔστω δὲ πάλιν ἐπὶ ὑποδείγματος, ἵνα σαφέστερον οἱ ἐντυγχάνοντες τὴν ἐπίγνωσιν λαμβάνωσιν … (Vett. Val. 1,21). 247 Der technische und Zahlen lästige Inhalt 248 dieses neunbändigen astrologischen Werkes Anthologiae aus dem 2. Jh. n. Chr. deutet darauf hin, dass es sich nicht um ein Buch für das Vorlesen handelt, οἱ ἐντυγχάνοντες hier also individuell-direkt lesende Adressaten sind. 166 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="167"?> 249 Vgl. Ios. c. Ap. 1,1; 2,296; ant. Iud. 1,8; 9,242; 15,379; vita 430. S. zur Schwierigkeit der historischen Identifikation B A R C L A Y , Against Apion, 3 f. 250 Vgl. Ios. c. Ap. 1,10; 2,147; ant. Iud. 1,15.129; 3,81.198; 4,196; 8,26.56, 12,59. Das gleiche Phänomen findet sich z. B. auch bei Artemidor von Daldis, der seine Bücher einem gewissen Cassius Maximus widmet, dabei aber wechselweise sowohl ihn als auch seine Leser anspricht. Vgl. z. B. Artem. on. 1 prooem.; 2,70; 4 prooem. 251 Vgl. B A R C L A Y , Against Apion, 128 mit Verweis auf Ios. c. Ap. 1,16. 252 Gegen die (zugegebenermaßen vorsichtigen) Vermutungen bei F E L D M A N , Antiquities, XVII; B A R C L A Y , Against Apion, XLV, Anm. 100. 253 S. o. Anm. 75, S. 126. S. außerdem die Hinweise darauf, dass Josephus seine Werke verkauft hat. S. u. S. 278 zu Ios. c. Ap. 1,50-55. 254 Vgl. z. B. Theoph. Autol. 1,14. 255 Vgl. außerdem G E O R G E S , Handwörterbuch, 2709. Interessant ist außerdem nicht zuletzt im Hinblick auf Lk 1,3 f und Act 1,1 f, dass z. B. Josephus in seinen Schriften Contra Apionem und Antiquitates samt der Vita, obwohl sie einem gewissen Epaphroditos gewidmet sind, 249 die Leser im Plural anspricht. 250 An einer anderen Stelle verweist Josephus mit der Formulierung τοὺς πλέον ταῖς ἱστορίαις ἐντυγχάνοντας (Ios. c. Ap. 1,220) darüber hinaus auf einen gut gebildeten 251 Rezipientenkreis, der schon viele historiographische Werke gelesen hat; mehrfach spricht er mit dem Partizip explizit solche Leser an, die auch seine Antiquitates gelesen haben: οἱ ταῖς ἡμετέραις ἀρχαιολογίαις ἐντυγχάνοντες (Ios. c. Ap. 2,136; siehe auch 1,1). Dass Josephus unter den mit dem Partizip von ἐντυγχάνω bezeichneten Rezipienten nicht ein Hörpublikum im Blick hat, 252 sondern ein Lesepublikum, zeigt die Formulierung in Ios. c. Ap. 2,147 - die Leser sind hier eindeutig das aktiv handelnde Subjekt des Betreibens der Lektüre und nicht die passiven Zuhörer. 253 Ferner findet man auch in Origenes’ Contra Celsum eindeutig die Leser im Plural angesprochen, obwohl die Bücher an den reichen Hofbeamten Ambrosius von Alexandrien, der Mäzen und Freund von Origenes, an ein Individuum, adressiert sind (vgl. Orig. Cels. 8,76); z. B. wenn er am Ende des vierten Buches um Gnade bittet, das fünfte Buch zum Nutzen der Leser (ἐπ’ ὠφελείᾳ τῶν ἐντευξομένων) zu finalisieren (vgl. Orig. Cels. 4,99); aber auch im Schlusskapitel ist Ambrosius deutlich von „dem Leser“ unterschieden (vgl. Orig. Cels. 8,76). Das Derivat ἐπιτυγχάνω in seiner Verwendung als Leseterminus 254 wurde im Rahmen dieser Arbeit nicht eingehender untersucht. Ferner sei auch darauf hingewiesen, dass im Lateinischen das Verb invenio (auf etwas kommen/ stoßen, etwas finden, antreffen, entdecken) als Lesemetapher des Kontakts verwendet wird (vgl. z. B. Plin. nat. praef. 26, wo individuell-direkte Lektüre vorausgesetzt wird). 255 167 3.4 Lesen als Begegnung und Kontakt mit dem Text <?page no="168"?> 256 Vgl. z. B. Xen. equ. mag. 4,2; Plat. Polit. 298d; Ios. bell. Iud. 7,4,2 [69]. 257 Vgl. z. B. Polyb. 1,78,2; 5,103,1; Philo sacr. 35; Plut. Pomp 1; Ael. var. hist. 4,20. 258 Vgl. z. B. Isokr. or. 1,20; Aristot. Rhet. 1,1,12 [1355a]; Plut. Alex. 59. 259 Vgl. z. B. Polyb. 2,8,6; 3,15,4; Plut. Demetr. 42,2. 260 Vgl. z. B. Diod. 11,54,4; 16,55,3 u. ö. 261 Vgl. z. B. Plut. Caes. 9,2. 262 Vgl. außerdem Eus. h. e. 6,2,9. 263 Iust. Mart. apol. 1,1,1; vgl. auch Eus. h. e. 4,12,1. 264 Vgl. B I R T , Buchrolle; vgl. außerdem P F U H L , Buchrollen. Das stammverwandte Substantiv ἔντευξις, das sowohl allgemein das Zusam‐ mentreffen 256 , die Zusammenkunft 257 , aber auch die Unterredung 258 sowie im Speziellen die Audienz 259 oder die Bitte/ Anfrage 260 bezeichnet, findet sich analog zum Befund von ἐντυγχάνω in den Quellen ebenfalls als Bezeichnung für Geschlechtsverkehr 261 und als Metapher für die Lektüre oder das Studium von Texten. So wirbt etwa Polybios (1,1,4) am Beginn seiner Historien für sein Werk, indem er die Außerordentlichkeit der von ihm vorzustellenden Begebenheiten hervorhebt, die Jung und Alt zur Lektüre bzw. zum Studium der Abhandlung (πρὸς τὴν ἔντευξιν τῆς πραγματείας) anspornen. Eindeutig in diesem Sinne wird das Lexem auch von Clemens von Alexandria benutzt, wenn er die Praxis der Schriftlektüre der Gnostiker beschreibt (vgl. Clem. strom. 7,49,3 f). Euseb verwendet das Substantiv, um auf die Konsultation von Hss. zu verweisen (vgl. Eus. mart. pal. 11,4). 262 Es wird in den Quellen aber nicht nur dazu verwendet, den Leseakt zu be‐ zeichnen, sondern kann auch auf etwas Geschriebenes verweisen. So wirft Cato Caesar während einer Senatssitzung fälschlicherweise vor, Caesar erhalte ἐντεύξεις καὶ γράμματα παρὰ τῶν πολεμίων (Plut. Brut. 5), als dieser ein kleines Schriftstück, einen Brief von Catos Schwester Servilia, zugesteckt bekommt. Justin bezeichnet seine Apologie als Anrede (προσφώνησις) und Bittschrift (ἔντευξις). 263 3.5 Lesen als haptischer Umgang mit dem Medium Die im Folgenden zu besprechenden Lesetermini stehen im Wesentlichen in Zusammenhang mit der ursprünglichen Rollenform antiker Bücher und bilden die breit bezeugte ikonographische Repräsentation von Lesenden in der Antike sprachlich ab. Zur Illustration sei diesbezüglich auf die instruktive Aufarbeitung des ikonographischen Quellenmaterials durch T. Birt hingewiesen. 264 Das Verb ἀνελίσσω hat vermutlich weniger den punktuellen Akt des „Auf‐ schlagens“ als stärker den beim Lesen eines Schriftstücks notwendigen Pro‐ zess im Blick, die Schriftrolle stetig zu entrollen und gleichzeitigen wieder 168 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="169"?> 265 Vgl. exempl. auch Arist. 177, wo erzählt wird, dass der König vor den Pergamentrollen, auf denen die Tora in goldener Schrift geschrieben steht (Arist. 176) und die aus ihrem Umschlag geholt und entrollt worden sind (ὡς δὲ ἀπεκάλυψαν τὰ τῶν ἐνειλημάτων καὶ τοὺς ὑμένας ἀνείλιξαν), eine lange Zeit verharrt. Diese Stelle belegt im Übrigen, dass ἀνελίσσω tatsächlich das Entrollen des aufgerollten Schriftmediums meint und nicht das Herausnehmen aus dem Umschlag (ἐνείλημα). 266 Vgl. auch Greg. Naz. or. 5,31 (PG 35, p. 704,16 f), der fordert, dass nur noch die Propheten und Apostel „aufgeschlagen“ (αἱ προφητικαὶ δὲ καὶ ἀποστολικαὶ μόναι ἀνελιττέσθωσαν), d. h. gelesen werden sollen. Laut der Übersetzung von P. Haeser aufzurollen - eine alltägliche kulturelle Praxis in der Antike, die von den Quellen eher selten als Vorgang an sich thematisiert wird. Diese eigentliche Verwendungsweise von ἀνελίσσω im Kontext von Schriftmedien findet sich z. B. in einer Gerichtsszene in Philostrats Vita Apollonii, im Rahmen derer Tigellinus eine Schrift mit einer Anklage gegen Apollonios entrollt, dem Asebie gegen Nero vorgeworfen wird, aber auf wundersame Weise statt der Anklageschrift nur eine unbeschriebene Rolle vorfindet (vgl. Philostr. v. Apoll. 4,44). 265 Im übertragenen Sinne beschreibt das Verb unterschiedliche Facetten des Lesens und Umgangs mit Texten, wobei diese übertragene Verwendung des Verbs nicht als Metapher, sondern als Metonymie zu kategorisieren ist, da eine Kontiguitätsbeziehung zwischen dem Prozess des Auseinanderrollens oder Ent- und gleichzeitigen Aufrollens und dem eigentlich Bezeichneten (lesen, interpretieren, auslegen) vorliegt. So wird ἀνελίσσω zuweilen in polemisch-abgrenzender Weise ge‐ braucht, um z. B. die Lektüre eines anderen als reines Statussymbol zu entlarven (vgl. Lukian. adv. ind. 27), oder um jemanden dadurch zu diskreditieren, dass seine Lektüre als bloßes „Durchblättern“ abgewertet wird, das allein noch nicht bildet (vgl. z. B. Iul. or. 6,187d). Im Werk von Josephus ist das Lexem nicht zu finden, Philon verwendet es nur einmal in Mos. 1,48. Dort schreibt er über Mose, dieser habe kontinuierlich die „Dogmata der Philosophie ‚entrollt‘“ (… ἐπονεῖτο φιλοσοφίας ἀνελίττων ἀεὶ δόγματα …), d. h. er ist sie immer wieder durchgegangen, er hat sie studiert. Eindeutig als Metonymie für das individuelle Lesen verwendet auch Kaiser Iulian das Verb in seiner satirischen Schrift Misopogon aus der zweiten Hälfte des 4. Jh., um die große Anzahl der Bücher hervorzuheben, die er schon gelesen habe: … ὡς ἐμαυτὸν πείθω, βιβλία ἀνελίξας οὐδενὸς ἀριθμὸν ἐλάττω (Iul. mis. 347a; vgl. auch Iul. or. 6,203b). Auch wenn es nicht ganz sicher ist, ob Basilius von Caesarea die alttestamentlichen Geschichten in Rollen- oder Ko‐ dexform rezipiert hat, könnte ep. 2,3 (… τὴν περὶ τοῦ Ἰωσὴφ ἱστορίαν συνεχῶς ἀνελίσσει …) darauf hindeuten, dass ἀνελίσσω in der Spätantike als gleichsam usuelle Metonymie auf die Lektüre von Texten in Kodizes übertragen wurde. 266 169 3.5 Lesen als haptischer Umgang mit dem Medium <?page no="170"?> verwendet Greg. Naz. or. 4,155 (PG 35, p. 653) ἀνελίσσω hier vermutlich im Sinne von „nachschlagen”. 267 Der erzählte Sokrates teilt Antiphon hier mit, dass er mit Freunden zusammen liest und über interessante Stellen spricht. Der Kontext (Xen. mem. 1,6,11-14) - die Dialogsitu‐ ation entzündet sich an der Beobachtung von Antiphon, dass Sokrates kein Geld für den Umgang mit sich selbst verlangt, andere Dinge seines Besitzes aber wohl nicht ohne Bezahlung teilen würde - legt nahe, dass es sich um Schriften handelt, die Sokrates besitzt (also mutmaßlich auch individuell-direkt liest) und mit seinen Freunden teilt, ohne eine monetäre Gegenleistung dafür zu verlangen. 268 Vgl. exempl. Ps.-Plut. cons. ad Apoll. 14 (mor. 109d) = FPG 3 Crantor, Fr. 10; Phryn. 21; Poll. on. 8,143; Hld. 10,31,1 f; Phot. lex. 1539. Eher in den Hintergrund tritt die Kontiguitätsbeziehung zwischen Entrollen und Lesen an Stellen, an denen ἀνελίσσω gleichsam in raummetaphorischem Sinne das Interpretieren bzw. Auslegen meint - das Öffnen (im Deutschen würde man die Raummetapher „Heben“ verwenden) eines Schatzes (θησαυρός), der in einem Text verborgen wurde, wie es der erzählte Sokrates bei Xenophon im Hinblick auf eine kollektiv-indirekte Rezeptionssituation ausdrückt (vgl. Xen. mem. 1,6,14, 267 vgl. ferner Plat. Phil. 15e; Prokl. theol. plat. 1, p. 16; parm. p. 1080,22 u. ö.). Das etymologisch verwandte Lexem ἀνειλέω (entrollen), das u. a. in der LXX in Ez 2,10 vorkommt, muss hier nicht ausführlich besprochen werden, da es, vergleichbar mit ἀνελίσσω in Bezug auf Schriftmedien, das der Lektüre vorausgehende Entrollen derselben bezeichnet. 268 Ohne Präfix findet sich das Verb in einem bei Diogenes Laertios überlieferten Epigramm: „Sei nicht eilig, das ephesische Buch des Heraklitos zum Stab zu rollen (μὴ ταχὺς Ἡρακλείτου ἐπ’ ὀμφαλὸν εἴλεε βίβλον τοὐφεσίου). Denn der Weg ist schwierig zu gehen“ (Diog. Laert. 9,1,16). Das Epigramm verknüpft hier die Lesemetonymie „bis zum Stab rollen“ mit der Metapher des Lesens als Reise, die als Unterkategorie der konzeptuellen Metapher B E W E G U N G I S T L E S E N analysiert werden kann (s. u. 3.7), und warnt damit vor einer oberflächlichen individuell-direkten Lektüre von Heraklit. Und zwar - wie im Folgenden deutlich wird - weil der Weg dunkel (ὀρφνὴ καὶ σκότος ἐστὶν ἀλάμπετον), also der Inhalt schwer verständlich ist und daher die Führung durch einen Eingeweihten notwendig erscheint (… μύστης εἰσαγάγῃ), man beim Lesen also angeleitet werden sollte. Wegen der geringen Vergleichsbasis kann man über das bei Sextus Empiricus belegte, verwandte Lexem διατυλίσσω (durchrollen) nicht viel mehr sagen, als dass er es in adversus mathematicos verwendet, um auszudrücken, dass Pyrrhon Homers Dichtung aus Interesse an poetischen Figuren und Charakteren durch‐ gelesen hat (vgl. S. Emp. adv. math. 1,281). 170 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="171"?> 269 Vgl. exempl. neben den im LSJ aufgeführten Quellen: Arr. an. 2,7,3; 2,8,2; Cass. Dio 49,29,4. 270 Neben den im LSJ aufgeführten Quellen besonders häufig bei Galen: z. B. Gal. AA 2,521.581.622 (K Ü H N ). 271 Vgl. dazu S A R R I , Letter Writing, 79-84. A. Sarri weist aber auch darauf hin, dass großformatige Papyrusblätter vor dem Rollen auch gefaltet wurden. Vgl. S A R R I , Letter Writing, 122. 272 Vgl. z. B. Hdt. 1,48,1; 1,125,2; TestAbr B 10,11; KerPetr Fr. 9,10 (Clem. Al. strom. 6,15,128); Theod. com. in Jes. 19,611. Vgl. ferner auch Polyain. strat. 8,36; Theod. hist. eccl. 2,33 (P A R M E N T I E R / S C H E I D W E I L E R p. 174). 273 Eindeutig auf einen Vierevangelienkodex bezieht sich z. B. Ioh. Chrys. in Ioh. hom. 53,3 (PG 59, p. 296,1-9), der im Kontext seiner Aufforderung, den Evangelien große Sorgfalt entgegenzubringen und sie in der Hand zu halten (μεταχειρίζω), darauf hinweist, dass, wenn man das Buch öffnet, man den Namen Jesu Christi findet und jemanden sagen hört … (Εὐθέως γὰρ, ἀναπτύξας τὸ βιβλίον, τοῦ Χριστοῦ τὸ ὄνομα ὄψει ἐγκείμενον, καὶ ἀκούσῃ εὐθέως λέγοντος). Es folgt ein Zitat aus Mt 1,8. Dadurch, und da im vorhergehenden Satz τὰ εὐαγγέλια im Plural genannt werden, wird deutlich, dass es sich um einen Vierevangelienkodex handeln muss, an dessen Beginn, wie auch die Hss. zeigen, das MtEv stand. Vgl. außerdem Marc. Diac. vit. Porph. 45. 274 Vgl. die ausführliche Besprechung der Quellen bei B A G N A L L , Jesus, 578-586. 275 Vgl. z. B. TestSal A 22,6, wo Salomo sagt, er habe einen Brief individuell-direkt gelesen, zusammengefaltet und einem Sklaven gegeben. Vgl. neben Lk 4,10 außerdem Ios. ant. 10,1,4 [16]; 15,6,2 [171]. Nur bei Clemens Alexandrinus, soweit ich den Befund richtig überblicke, ist das Verb κυλί(νδ)ω (rollen) als Lesemetonymie gebraucht (vgl. Clem. Al. 1,14,4). Dies korrespondiert mit der (selten bezeugten) Bezeichnung einer Buchrolle als κύλινδρος (vgl. z. B. Diog. Laert. 10,26). Im Kontext von Lesemedien benennt das Verb ἀναπτύσσω (auf- oder ent‐ falten), das etwa auch als militärischer Fachterminus gebraucht wird 269 oder das Aufschneiden von menschlichen oder tierischen Körpern oder Körperteilen bezeichnet 270 , den notwendigen Schritt, Schriftstücke (vermutlich v. a. gefaltete Papyrusblätter oder Holzbzw Wachstafeln, die z. B. auch für Briefe verwendet wurden 271 ) vor der Lektüre zu öffnen 272 oder einen Codex aufzuschlagen. 273 Es gibt keine sicheren Hinweise darauf, dass es im Hinblick auf die Rollenform gebraucht wurde. 274 (Ohne Vorsilbe meint πτύσσω in jüdischen und christlichen Texten mit einem Lesemedium als Objekt das Zusammenfalten o. ä. des Schrift‐ mediums.) 275 Es finden sich auch Belegstellen, an denen das Verb nicht (nur) das Auffalten, sondern als Metonymie auch das Lesen eines Textes selbst bezeichnet. In VitProph 2,11 bezeichnet das Verb zugleich Lesen und Verstehen der Tafeln (πλάξ), das nur Mose vergönnt ist. In Ios. vita 223 werden Öffnen und Lesen eines Briefes mit diesem Verb zusammengefasst, der Akt des schnellen Verstehens (συνίημι) aber noch einmal davon abgehoben. Der Kontext (Ios. vita 219-223) zeigt eindeutig, dass Josephus den Brief im Rahmen des Symposions ohne stimmliche Realisierung gelesen 171 3.5 Lesen als haptischer Umgang mit dem Medium <?page no="172"?> 276 Vgl. z. B. Eur. Herc. 1256; Aischyl. Pers. 254; Philo gig. 36; LA 1,99; congr. 20; Orig. princ. 3,1,1; Mak. apokr. 3,6,1; vgl. auch das Motiv des Entfaltens der göttlichen Schrift bei Sokr. hist. eccl. 1,6. 277 Vgl. außerdem Polyain. strat. 5,2,8: τοῦ δὲ γραμματέως τὴν ἐπιγραφὴν ἀναγνόντος καὶ τὴν ἐπιστολὴν ἀνοίξαντο … Das Verb ἀνοίγω ist hier ebenfalls als Lesemetonymie zu verstehen, wobei allerdings nicht eindeutig erschlossen werden kann, ob der Grammateus den Brief zunächst individuell-direkt rezipiert und dann vorliest oder von nur einem Vorlesevorgang auszugehen ist. Für ersteres spricht, dass das Verlesen des Briefes im Folgenden noch einmal extra erwähnt wird: τούτων ἀναγνωσθέντων … 278 Vgl. dazu z. B. Lukian. Alex. 21, wo beschrieben steht, wie man Sigel unbemerkt aufbrechen und wieder verschließen kann, um den Inhalt des versiegelten Textes heimlich zu lesen. haben muss, weil die verbliebenen engsten Freunde es nicht mitbekommen sollten. Ps.-Long. 7,1 adressiert mit dem Verb die genaue Prüfung von Stellen in der Dichtung und Prosa, die vorher mit dem Adjektiv ἐπισκεπτέος (zu betrachten) spezifiziert wird und die den Schein und den Prunk der vermeintlichen Erhabenheit finden (εὑρίσκω) lässt. Vgl. außerdem die Formulierung „die Bücher der alten Weltweisen entfaltend hindurchgehen (… καὶ τὰ βιβλία τῶν πάλαι παρ’ αὐτοῖς φιλοσοφησάντων ἀναπτύξας ἐπέλθῃς …)“ bei Ioh. Chrys. ad populum Antioch. hom. 19,1 (PG 49, p. 189,49 f). Daneben wird das Verb auch als lexikalisierte Metonymie im Sinne von „erklären, explizieren, ausführen“, also analog zu „entfalten“ im Deutschen gebraucht. 276 Bei Diodor findet sich eine Belegstelle, an welcher der Befehl, ein Schriftstück zu öffnen (ἀνοίγω), zugleich „lesen“ bedeutet (vgl. Diod. 14,55,1). Auch Plutarch verwendet ἀνοίγω als Lese-Metonymie, wenn er schreibt: „der Statthalter […] zeigte, nachdem er die Tafel geöffnet [d. h. auch gelesen] hatte, die darin geschriebene Frage (τὴν δέλτον ἀνοίξας ἐπεδείκνυεν ἐρώτημα τοιοῦτον γεγραμμένον)“ (Plut. de def. or. 45 [mor. 434e]; Üb. O S IAN D E R / S C HWA B , leicht mod. JH). Die Stelle impliziert durch die Konnotation mit der visuellen Wahrneh‐ mung (s. dazu 3.8) eindeutig individuell-direkte, nicht-vokalisierende Lektüre des auf der Tafel enthaltenen Textes. 277 Bei Plutarch findet sich im Kontext der Neugier, die jemanden dazu treibt, Briefe von Freunden unerlaubt zu lesen, die Formulierung „ein Briefchen entbinden“: ἐπιστόλια παραλύουσιν οὗτοι φίλων (Plut. curios. 15 [mor. 522e]). Das Verb παραλύω, das sich wohl auf den Faden bezieht, mit dem das Briefchen zusammengeschnürt ist und das typischerweise gesiegelt wird, 278 benennt hier metonymisch das Lesen des Briefes. Im Lateinischen findet sich das Verb revolvo (zurückrollen), das spezifisch den haptischen Umgang mit dem Rollenmedium benennt und als Lesemetonymie verwendet werden kann. 172 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="173"?> 279 Vgl. zur Übersetzung Hieronymus’ aus dem Hebräischen B R O W N T K A C Z , Labor, 49-52. 280 Vgl. ferner auch die Formulierung iam pervenimus usque ad umbilicos (schon sind wir bis zum Stab gelangt) bei Mart. 4,89. 281 Vgl. dazu ausführlich S C H I R O N I , ΒΙΒΛΙΟΝ. Möglicherweise lässt sich so auch der folgende Satz im Schlusswort von Origenes’ Schrift De oratione erklären (so sie in Rollenform veröf‐ fentlicht wurde), der ganz am Ende formuliert: „Jedoch für jetzt mögt ihr die vorliegenden Ausführungen mit Nachsicht lesen (πλὴν ἐπὶ τοῦ παρόντος μετὰ συγγνώμης τούτοις ἐντεύξεσθε)“ (Orig. de orat. 34; Üb. K O E T S C H A U ). Origenes rechnete vielleicht damit, dass die intendierten Rezipienten das Schlusswort zuerst lasen. Revolvo steht etymologisch und semantisch den griechischen Verben ἀνελίσσω und ἀνειλέω näher, die ebenfalls den Vorgang des Rollens im Blick haben, als dem Verb ἀναπτύσσω (auffalten). In der Vulgata wird auch das Verb ἀναπτύσσω in Bezug auf das Öffnen von Schriftmedien in Lk 4,17 mit revolvo übersetzt, obwohl mit expando auch ein analoges Lexem zur Verfügung gestanden hätte. Vgl. z. B. 2Kön 19,14; aber vor allem Ez 2,10, wo eindeutig nicht das „Auslegen“, sondern das physische „Ausbreiten“/ „Auseinan‐ derrollen“ gemeint ist. Hier übersetzt die LXX das hebräische Verb פ ר שׂ mit ἀνειλέω, die Vulgata mit expando. Diese Unterschiede rühren möglicherweise daher, dass Hier‐ onymus hier iuxta Hebraeos übersetzt hat. 279 Plinius verwendet revolvo ganz eindeutig metonymisch für die individuelle Lektüre von Büchern, wobei er bei der Wiedergabe einer Vision von C. Fannius die Vollständigkeit im Sinne von „ganz durchlesen“/ „bis zum Ende durchlesen“ betont: mox imaginatus est venisse Neronem, in toro resedisse, prompsisse primum librum, quem de sceleribus eius ediderat, eumque ad extremum revolvisse, idem in secundo ac tertio fecisse, tunc abisse. (Plin. ep. 5,5,5) Die Metonymie ist insofern eindeutig, als Plinius librum … ad extremum revolvisse eindeutig als Lesen (… qui fuisse illi legendi) kennzeichnet. Eine sehr enge Parallele findet sich bei Seneca d. Ä., bei dem das vollstän‐ dige Durchlesen durch das physische Ende der Buchrolle gekennzeichnet ist. So findet sich in seinen Suasorien die Formulierung librum … usque ad umbilicium revolvere (ein Buch bis zum Stab zurückrollen; Sen. Rhet. suas. 6,27). 280 Möglicherweise spricht dieser Beleg in Kombination mit dem Präfix reaußerdem dafür, dass Buchrollen üblicherweise im aus‐ gelesenen Zustand gelagert und erst bei erneuter Lektüre „vom Stab weg“ bis zum An‐ fang gerollt wurden, um dann wieder zum Ende zurückgerollt zu werden. Dies würde im Übrigen damit korrespondieren, dass Titelangaben häufig als subscriptio in den Hss. an‐ gebracht wurden. 281 In einer Rede von L. Valerius in der Römischen Geschichte von Livius steht das Verb metonymisch für das Zitieren aus Catos Werk Origenes: tuas adversus te Origines revolvam (Liv. 34,5,8). Vgl. ferner die metonymische Verwendung bei Quint. inst. or. 11,2,41. Allerdings kann von dem Vorkommen des Verbes nicht auf die Form des Mediums geschlossen werden (Kodex oder Rolle), auf dem ein Text geschrieben ist. Denn schon mit dem Aufkommen des Kodex wird das Verb dazu verwendet, den Kodex „aufzuschlagen“, wie in Martials Epigrammen deutlich wird. Vgl. Mart. 6,64; 173 3.5 Lesen als haptischer Umgang mit dem Medium <?page no="174"?> 282 Vgl. zur Bezeichnung volumen, die ebenfalls auf Kodizes übertragen wurde, bei B I R T , Buchwesen, 14 f. Es sei z. B. auf den digitalen Ordner verwiesen, der als wichtiges Strukturmerkmal der Benutzeroberflächen der gängigen Betriebssysteme fungiert. Dieser Ordner wird (wie ein traditioneller Ordner) „geöffnet“. 283 Vgl. weiterführend zum Zusammenhang zwischen Kodexform, Origenes Hexapla und der Rezeptionsform des selektiven Nachschlagens W A L L R A F F , Kodex, 30-34. Vgl. außerdem Aug. cons. evang. 2,42. 284 Vgl. Cic. Att. 5,12,2 (hier Lektüre mit einer anderen Person). 285 Vgl. Cic. de orat. 1,34,158, wo Crassus als Teil seines Bildungsideals formuliert: „Lesen muss man auch Dichter, kennenlernen Episoden aus der Geschichte, die Lehrer und Schriftsteller in allen edlen Wissenschaften auswählen (omnium bonarum artium doctores atque scriptores eligendi et pervolutandi), immer wieder durchlesen, zur Übung loben, auslegen, verbessern, tadeln, widerlegen“ (Üb. N Üẞ L E I N ). Im Kontext geht es zuvor eindeutig um das häusliche Studium. Vgl. Cic. de orat. 1,33,149 ff. 11,1. Das Verb wurde vermutlich als feststehender Terminus auf das neue Medium übertragen, ein Phänomen, das bei Medienwechseln häufig zu finden ist. 282 Auch in der patristischen Literatur wird das Verb verwendet, um das Öffnen bzw. das Lesen eines Kodex zu bezeichnen. Vgl. exemplarisch Hier. com. in Psal. 4,8, der eine Textvariante in den Hss. beschreibt: „‚Und ihres Öles‘, was in den meisten Kodizes zu finden ist (id quod in plurimis codicibus invenitur), habe ich, als ich das alte Psalterium der Hexapla des Origenes aufschlug (cum vetustum origenis hexaplum psalterium revolverem), das von seiner eigenen Hand verbessert war, weder im Hebräischen noch in den übrigen Editionen und auch nicht bei den Siebzig Übersetzern gefunden“ (Üb. R I S S E ). 283 Catull verwendet das Verb pervolvo (herumwälzen, -rollen) als Leseterminus und prophezeit, die Zmyrna des Cinna, die nach neun Jahren erschienen ist, werde sehr weit verbreitet werden, und man werde sie „durch Jahrhunderte herumwälzen (diu saecula pervolvent)“; die Annalen des Volusius hingegen würden „oft Makrelen als reichlich bemessenes Einpackpapier dienen“ (Cat. 95; Üb. H O L Z B E R G ), womit Catull sicher nicht nur metaphorisch die prophezeite Nicht-Rezeption eines anderen Werkes zum Ausdruck bringt. Möglicherweise meint Catull hier, dass die Zmyrna nicht nur eine lange Zeit von mehreren Generationen rezipiert, sondern auch iterativ gelesen wird - ob individuell oder kollektiv kann nicht erschlossen werden. Deutlicher wird diese Bedeu‐ tungsnuance bei dem abgeleiteten verbum intensivum/ iterativum pervoluto, das die mehrfache, intensive Beschäftigung mit Texten ausdrücken kann, 284 wobei der Kontext einer Belegstelle bei Cicero eindeutig individuell-direkte Lektüre impliziert. 285 Als weitere Lexeme für die Beschreibung des haptischen Umgangs mit dem Medium Rolle finden sich im Lateinischen noch die Verben evolvo (auseinan‐ derrollen), verto (drehen, wenden), explicio (entfalten) und contrecto (betasten, 174 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="175"?> 286 Dass es sich um eine wiederholte Lektüre schon beantworteter Briefe handelt, wird nicht nur durch den Hinweis Ciceros am Beginn desselben Briefes deutlich, er habe schon alle Briefe von Atticus beantwortet (vgl. Cic. Att. 9,10,1). Vielmehr zeigen dies auch die Datierung und der zeitliche Umfang der von ihm zitierten Atticusbriefe. Er geht fast zwei Monate zurück (vgl. Cic. Att. 9,10,4-10), woraus zu schlussfolgern ist, dass die hier genannte Rolle, in der die Briefe wohl hintereinander geklebt worden sind, einen größeren Umfang gehabt haben muss. 287 Vgl außerdem Sen. ep. 2,4 (s. u. S. 194 f); Plin. ep. 1,13,2 (ex magna parte evolverit librum als Metonymie für ein zu einem großen Teil schon vorgelesenes Manuskript); ferner Suet. Galba 21. 288 Vos exemplaria Graeca / nocturna versate manu, versate diurna, Hor. ars. 268 f. Vgl. dazu auch die Formulierung, dass Vergil täglich durchgeblättert, durchsucht o. ä. (cotidie excutitur) wird, bei Sen. ep. 58,5. befühlen). Auch für diese Lexeme lässt sich nachweisen, dass sie als Lesemeto‐ nymien verwendet worden sind. Wenn Cicero an Atticus schreibt, „an diesem Punkt [scil. des Briefes] angekommen, rolle ich die Rolle mit deinen Briefen auseinander“ (Cic. Att. 9,10,4), und anschließend aus diesen Briefen zitiert, steht das Auseinanderrollen metonymisch für eine erneute Lektüre dieser Briefe. 286 Cicero verwendet das Verb auch in der Leseszene, mit der er sein Werk Topica beginnen lässt: Gaius Trebatius, dem das Werk gewidmet ist, und er sind gemeinsam auf seinem tusculanischen Landgut und „in der Bibliothek rollte jeder von uns separat, für sein eigenes Studium, Bücher, die er wollte, auseinander (et in bibliotheca separatim uterque nostrum ad suum studium libellos, quos vellet, evolveret)“ (Cic. top. 1,1). Diese Szene ist insofern aufschlussreich, als hier die Möglichkeit einer kollektiv-direkten Studienlektüre belegt ist, bei der die beiden Anwesenden je für sich in unterschiedlichen Büchern, mutmaßlich nicht-vokalisierend lesen. Sowohl die Betonung der separaten Lektüre (separatim) als auch die verwendete Lesemetonymie könnten darauf hindeuten, dass beide ohne Vokalisierung gelesen haben. Quintilian führt gegen solche an, die eine falsche Auffassung vom Wesen der Rhetorik hätten, dass sie sich mit dem Wenigen begnügt hätten, das „schon andere vor ihnen voll Unverstand aus Platons ‚Gorgias‘ herausgepickt hatten, ohne diesen selbst ganz oder andere Schriften Platons auseinandergerollt zu haben (neque hoc totum neque alia eius volumina evolvunt)“ (Quint. inst. 2,15,34; Üb. angelehnt an R A H N ); d. h., ohne die Schriften selbst gelesen zu haben, hätten die hier Kritisierten aus zweiter Hand Platons Rhetorikverständnis referiert oder zitiert. Auch an der berühmten Stelle in den Confessiones von Augustin (conf. 6,3) wird das Verb als Lesemetonymie verwendet (s. o. 1.2). 287 Das Verb verto (drehen, wenden) findet sich bei Horaz als metonymische Beschreibung der individuell-direkten Lektüre der Klassiker aus der griechischen Literatur: „Die griechischen Vorbilder dreht sie mit der Hand bei Nacht, dreht sie bei Tag.“ 288 Das 175 3.5 Lesen als haptischer Umgang mit dem Medium <?page no="176"?> 289 Vgl. außerdem Gell. 14,6,1, ferner Mart. 11,107, wo allerdings keine Lesemetonymie vorliegt. 290 S. dazu oben schon einige der Belege unter 3.4. 291 Auch Origenes verwendet das Verb λαμβάνω als Leseterminus. Vgl. Orig. Cels. 8,24; 4,44 (hier ohne Nennung der Hände). 292 Vgl. auch Plut. Cic. 49; Vgl. Plut. Adv. Col. 14 (mor. 1115a). Verb explicio findet sich z. B. bei Cicero als Lesemetonymie. So formuliert er in seiner Rede für Sextus Roscius, ein gewisser Capito „solle nur kommen [und] jene Rolle entfalten (explicet suum volumen), von der ich beweisen kann, dass Erucius sie für ihn zusammengeschrieben hat“ (Cic. S. Rosc. 35). Der Kontext impliziert, dass an ein Vorlesen dieses Textes vor Gericht gedacht ist. 289 Das Verb contrecto wird bei Ammianus Marcellinus (res gestae 28,4) eindeutig synonym zu lego - spezifiziert als Lesen mit sorgfäliger Aufmerksamkeit (curatiore studio) - verwendet. Auch das Motiv „ein Buch in die Hand nehmen“ bzw. „in der Hand halten“ kann umschreiben, dass jemand etwas liest. 290 Ps.-Aristoteles verwendet das Syntagma λαμβάνω τὸ βιβλίον eindeutig synonym zu ἀναγιγνώσκω (vgl Ps.-Aristot. probl. 18,1 [916b1-5]). Polybios gibt seinen Lesern zu bedenken, um das zuvor über L. Aemilius Paullus Gesagte (Polyb. 31,22,1-7) zu bekräf‐ tigen, dass sein Werk insbesondere auch von Römern in die Hand genommen (… μάλιστα Ῥωμαίους ἀναληψομένους εἰς τὰς χεῖρας τὰ βυβλία ταῦτα … Polyb. 31,22,8), also gelesen werden würde. An anderer Stelle warnt Polybios potentielle Leser von Fabius’ Annalen davor, sie sollten sich nicht von dessen Namen blenden lassen. Dabei bezeichnet er sie zunächst mit dem Partizip von ἐντυγχάνω und dann metonymisch als diejenigen, die seine Bücher auf‐ nähmen (… τῶν ἀναλαμβανόντων ἐκείνου τὰς βύβλους, Polyb. 3,9,3), also in die Hand nähmen. Analog könnte auch das Verb ἀναλαμβάνω in 1Clem 47,1 als Lesemetonymie verstanden werden. Das Verb λαμβάνω impliziert auch bei Diod. 1,70,4 lesen: 291 ἕωθεν μὲν γὰρ ἐγερθέντα λαβεῖν αὐτὸν ἔδει πρῶτον τὰς πανταχόθεν ἀπεσταλμένας ἐπιστολάς. Dass der ägyptische König am Morgen, direkt nach dem Aufstehen, Briefe nimmt (und liest), zielt darauf ab, ihn als besonders arbeitsam darzustellen, wobei die Stelle am einfachsten dahingehend zu verstehen ist, dass er die Briefe individuell-direkt rezipiert. Plutarch schreibt über den älteren Cato, dass dieser erst in späten Jahren mit dem Lesen von griechischen Büchern begonnen hätte: ἄλλως δὲ παιδείας Ἑλληνικῆς ὀψιμαθὴς γενέσθαι λέγεται, καὶ πόρρω παντάπασιν ἡλικίας ἐληλακὼς Ἑλληνικὰ βιβλία λαβὼν εἰς χεῖρας … (Plut. Cato mai. 2). 292 Kaiser Iulian hält Platons Bücher auf der Reise bei der Rast im Schatten einer Pflanze in den Händen, liest sie also individuell-direkt in der Natur (vgl. Iul. ep. 83). Plinius bedauert in einem Brief an Ursus, dass er seit langem kein Buch mehr in die Hand genommen (olim 176 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="177"?> 293 Vgl. Plin. ep. passim. Dass dies für Plinius eine mühsame Tätigkeit ist, teilt er in Plin ep. 9,14 mit. 294 Vgl. auch Plin. ep. 1,16,7, wo Plinius beschreibt, dass er ihn, also Manuskripte von Saturninus, den ganzen Tag bei sich hat, und außerhalb seiner Schreibarbeit liest. Vgl. außerdem die weitere Verwendung der Wendung in manus sumo bei Plin. ep. 8,3,3 (Redemanuskript); 9,22,2 (Elegien des Passennus Paulus). 295 Allerdings meint der Satz est in manibus laudatio in Cic. Cato 12 nicht das Lesen der Leichenrede des Fabius auf seinen Sohn, sondern verweist darauf, dass die Rede in publizierter Form für die potentielle Lektüre vorliegt (s. z. B. auch Cic. Lael. 96). Die Formulierung septimus mihi liber Originum est in manibus (Cic. Cato 38) meint dagegen, dass Cicero an diesem Buch arbeitet. 296 Vgl. dazu und zur Villa als Ort der Lektüre der Oberschicht K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 9-24 [Zitat: 22]. Analog dazu sei auf einen Besuch Ciceros in der Bibliothek des Lucullus verwiesen, in der er überraschenderweise Cato findet: „ich sah ihn in der Bibliothek sitzend, von stoischen Büchern rings umgeben (vidi in bibliotheca sedentem multis circumfusum Stoicorum libris)“ (Cic. fin. 3,7). An dieser Stelle verwendet er im Übrigen non librum in manus … Plin. ep. 8,9,1), also gelesen habe, wobei der Kontext des gesamten Briefes eindeutig zeigt, dass er auf die studierende Lektüre zu Unterhaltungszwecken verweist. Erucius schreibt von den Reden des Pompeius Saturninus, die sowohl beim ersten Hören Eindruck machten, aber auch wenn man sie wieder vornähme (… placent, si retractentur, Plin. ep. 1,16,2). Dass retracto (im Kontext von schriftlichen Medien eigentlich das Wiedervornehmen und schriftliche Überarbeiten, das freilich die wiederholte Lektüre impliziert) 293 hier die individuell-direkte Lektüre der (vermutlich publizierten) Redemanus‐ kripte meint, kann durch andere Stellen gestützt werden: „Du wirst dieselbe Empfindung haben wie ich, wenn Du seine Reden zur Hand nimmst (cum orationes eius in manus sumpseris), die Du ohne weiteres jedem beliebigen Klassiker, in denen er sein Vorbild sieht, an die Seite stellen wirst“ (Plin. ep. 1,16,3, Üb. K A S T E N ). 294 Ähnlich verwendet übrigens Quintilian (inst. or. 10,1,20) das Verb resumo, wenn er dazu auffordert, dass ein durchgelesenes Buch (perlectus liber) erneut vorzunehmen, also zu lesen sei. Cicero schreibt in einem Brief an Atticus, er habe die Verfassung Pel‐ lenes in der Hand (Πελληναίων in manibus tenebam) 295 und einen großen Haufen von Dicaearchs Büchern vor seinen Füßen aufgeschichtet (vgl. Cic. Att. 2,2,2). Diese selbstporträtierende und literarisch inszenierte Leseszene impliziert eindeutig das Konzept individuell-direkter Lektüre der genannten Schriften und suggeriert den (zumindest für die römische Oberschicht der Kaiserzeit und für antike Maßstäbe weitgehend zutreffenden) „Eindruck nahezu unbegrenzter Bücherressourcen“ 296 . Lukian berichtet von einem Besuch bei dem Platonischen 177 3.5 Lesen als haptischer Umgang mit dem Medium <?page no="178"?> die Formulierung „Bücher benutzen“ (libris utor) metonymisch für „lesen“. S. ferner die Rückprojektion des Topos vieler Bücher in den Mythos bei Alexis, Linus fr. 140: Athen. deipn. 4,57 (164b/ c). 297 „Du hältst also ein Buch in der Hand und liest es beständig (καὶ σὺ τοίνυν βιβλίον μὲν ἔχεις ἐν τῇ χειρὶ καὶ ἀναγιγνώσκεις ἀεί), aber du verstehst nichts von dem, was du liest (τῶν δὲ ἀναγιγνωσκομένων οἶσθα οὐδέν), sondern du gleichst einem Esel, der die Ohren bewegend die Lyra hört“ (Lukian adv. ind. 4). Es ist zu betonen, dass der bildliche Vergleich (im Griechischen als erweiterte Metapher in der 2. Person Sg. formuliert) mit dem Esel, der einer Lyra zuhört, nicht impliziert, dass der Büchernarr, den Lukian vor Augen hat, seine Bücher vokalisierend liest. Denn verglichen wird ja die Rezeptionshaltung, die im bildlichen Vergleich gegenübergestellt wird, wobei die beiden Hälften des bildlichen Vergleichs klar voneinander getrennt bleiben müssen: Der Esel steht auf der einen Seite passiv vor dem/ der Lyraspieler/ in, kann die erzeugten Klänge mutmaßlich sinnlich wahrnehmen, aber versteht diese nicht als Musik; der ungebildete Büchernarr hat auf der anderen Seite (vielleicht sitzend vorzustellen) seine Rolle in der Hand (das Buch in der Hand entspricht im Vergleich der Lyraspieler/ in) und nimmt das Gelesene (zunächst in jedem Fall über das Auge) auf, versteht aber nichts von dem, was er liest (ἀναγιγνώσκω [! ]). Vgl. außerdem Lukian. adv. ind. 18. Philosophen Nigrinus, den er vor einem Tisch mit geometrischen Figuren und umgeben von Büsten weiser Männer mit einem Buch in der Hand, also lesend vorfindet: καὶ παρελθὼν εἴσω καταλαμβάνω τὸν μὲν ἐν χερσὶ βιβλίον ἔχοντα (Lukian. Nigr. 2). Sowohl diese Formulierung als auch die Tatsache, dass Lukian trotz der sehr detaillierten Beschreibung der Leseszene keine Angaben über eine vermeintliche stimmliche Realisierung des Gelesenen macht, lässt darauf schließen, dass Nigrinus nicht-vokalisierend gelesen hat. Diese Szene hat eine gewisse Ähnlichkeit zum eingangs zitierten locus classicus bei Augustinus (conf. 6,3), nur dass Nigrinus nicht wie Ambrosius (still) weiterliest, sondern ein Gespräch mit Lukian anfängt. Lukian verwendet das Motiv des „Buch-in-der-Hand-Haltens“ an anderer Stelle ähnlich wie ἀνελίσσω (s. o.), um die Lektüre des „ungebildeten Büchernarrens“ zu diskreditieren. 297 Tacitus berichtet, dass er von älteren Leuten gehört habe, diese hätten „öfters zwischen den Händen Pisos eine Sammlung von Briefen gesehen, die er selbst nicht habe bekannt werden lassen (inter manus Pisonis libellum quem ipse non vulgaverit); aber seine Freunde hätten wiederholt behauptet, ein Brief des Tiberius mit Aufträgen gegen Germanicus sei darin enthalten“ (Tac. ann. 3,16,1; Üb. angelehnt an H E L L E R ). Die Formulierung inter manus impliziert, dass Piso bei der individuellen Lektüre der Briefe beobachtet worden ist; die Negation von vulgo (nicht zum Gemeingut machen) deutet an, dass er dabei seine Stimme zumindest für die Zusehenden nicht wahrnehmbar eingesetzt hat. Dass die Freunde wissen, dass ein Brief des Tiberius in der Sammlung enthalten gewesen ist, kann darauf zurückzuführen 178 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="179"?> 298 Vgl. zu diesem spezifischen Wortgebrauch Quint. inst. or. 1 prooem. 7; Mart. 10,93; Suet. vir. ill. 8,2. 299 S. aber auch Plin. ep. 7,30,4 f. S. zur Stelle N E G E R , Adressaten, 246. 300 Vgl. z. B. Athen. deipn. 4,57 (164b): CAF 3, Anaxippos Fr. 1; 9,68 (404b) u. ö.; 14,81 (662c): CAF 3, Bato Fr. 4; Diog. Laert. 7,7,180: SVF 2, Chrysippus Fr. 1; Orig. Cels. 4,52 f; Aug. c. Iulian. praef.; retract. 2,42; Conf. 4,16; Greg. Naz. or. 2,48 (PG 35, p. 456); Ioh. Chrys. in Mt. hom. 2,6 (PG 57, p. 30,51 f); Tac. dial. 3; bei Quint. inst. or. 10,4,3, auch als Metonymie für das Schreiben. sein, dass Piso dieses Wissen mit ihnen geteilt hat oder möglicherweise die Texte sogar zusammen mit ihnen gelesen hat. Letzteres würde aber zwingend bedeuten, dass vulgo an dieser Stelle tatsächlich im Sinne von einer Veröffent‐ lichung für eine breite politische Öffentlichkeit stünde. 298 Dies kann hier jedoch nicht weiter verfolgt werden. Besonders deutlich auch im Hinblick auf die Aneignung von Texten bezüglich der Produktion neuer Texte wird die metonymische Verwendung dieses Motivs z. B. in der praefatio der Attischen Nächte von Aulus Gellius, 299 der bei seiner Reflexion der Anordnung seiner Stoffe die lesende Rezeption vom Hören abgrenzt und seine Exzerptpraxis erläutert: „Wenn ich nun also gerade ein griechisches oder lateinisches Buch las (… ut liberum quemque in manus ceperam seu Graecum seu Latinum) oder irgendetwas Wissens‐ wertes hörte (uel quid memoratu dignum audieram), so zeichnete ich mir nach Gutdünken alles nur mögliche ohne Ordnung und Unterschied auf und speicherte mir zur Unterstützung des Gedächtnisses eine Art Wissensvorrat (litterarum penus) in der Absicht ab, damit, wenn ich irgend einmal einen Gegenstand oder ein Wort brauchen sollte, was meinem Gedächtnis nicht gleich gegenwärtig und die Bücher, aus denen ich schöpfte, nicht gleich zur Hand sein sollten, ich doch das Nötige sofort auffinden und hervorholen könnte.“ (Gell. praef. 2; Üb. W E I S S [leicht modifiziert JH]). Die Liste mit Belegstellen ließe sich weiter fortsetzen. 300 Zuletzt sei noch eine Stelle aus Plautus’ Pseudolus angeführt, die sehr eindrücklich den haptischen Umgang mit einem Schriftstück illustriert und verschiedene Rezeptionsmodi impliziert. Im Prolog stellt der Sklave Pseudolus seinem Herren Calidorus die folgende Frage, weil er wahrnimmt, dass Calidorus etwas bekümmert: quid est quod tu exanimatus iam hos multos dies gestas tabellas tecum, eas lacrumis lavis, neque tui participem consili quemquam facis? „Warum denn trägst die letzten Tage so verstört den Brief du bei dir stets und badst in Tränen ihn, gönnst Anteil niemandem an dem, was dich bewegt? “ (Plaut. Pseud. 9-11; Üb. K L O T Z ) 179 3.5 Lesen als haptischer Umgang mit dem Medium <?page no="180"?> 301 Vgl. B E E K S , EDG, 500 f. Das Verb gesto (tragen) fungiert in Verbindung mit der hyperbolischen Metapher des „Badens in Tränen“ (V. 10) als Umschreibung einer individuell-direkten Leseszene, die Pseudolus beobachten konnte: Sein Herr hat einen Brief (auf Wachstafeln) in der Hand und liest ihn mehrfach mit Tränen in den Augen, wobei er seinen Kopf gebeugt über das Schriftstück hält. Die Negation bezüglich des Verbes participo in V. 11, aber auch die Tatsache, dass Pseudolus der Inhalt trotz des Leseaktes vor seinen Augen noch unbekannt ist (vgl. Plaut. Pseud. 13- 19), impliziert eindeutig, dass Calidorus den Brief ohne stimmliche Realisierung gelesen hat. Im Folgenden (Plaut. Pseud. 20) gibt Calidorus den Brief dann an seinen Sklaven. Bevor dieser ihn vokalisierend vorliest (Plaut. Pseud. 41), macht er sich zunächst über das schlechte und unleserliche Schriftbild lustig (Plaut. Pseud. 22-30) und diskutiert mit seinem Herrn (Plaut. Pseud. 31-39). Die Wortbeiträge von Pseudolus in dieser Diskussion zeigen, dass er zumindest Teile des Briefinhalts vor dem Verlesen schon rein visuell wahrgenommen hat (vgl. Plaut. Pseud. 35 f). Die vokalisierende Lektüre liegt nicht in der Notwendigkeit begründet, dass die stimmliche Realisierung für das Verstehen des Textes not‐ wendig gewesen wäre, sondern hat die dramaturgische Funktion, das Publikum vom Inhalt des Briefes nach dem Spannungsaufbau in den vorhergehenden Versen in Kenntnis zu setzen. 3.6 Lesen als Suchen bzw. Fragen Es existieren auch zahlreiche weitere Verben im Griechischen, mit denen die Rezeption von Texten bezeichnet wird und die - verstanden in einem weiten Sinne - in heuristischer Hinsicht einer Kategorie zugeordnet werden können, die sich grob mit dem Konzept Suchen und Finden bzw. Fragen und Antworten beschreiben lässt. So impliziert das erste hier zu betrachtende Lexem ζητέω, das durchaus ein breites Bedeutungsspektrum aufweist ([unter]suchen, [er]forschen, fragen, aufspüren, sich bemühen, verlangen), dass man dem zu Untersuchenden, also z. B. dem Sachverhalt oder eben dem Text, mit einem bestimmten Erkenntnisinteresse bzw. einer Frage entgegentritt. Aus Gründen der Komplexitätsreduktion wird im Folgenden nur die Verwendungsweise in Bezug auf Schriftmedien/ Texte untersucht. Das Verb ζητέω, dessen Etymologie nicht eindeutig ist, 301 gilt als altgrie‐ chischer terminus technicus für das/ die philosophische Untersuchen/ Untersu‐ 180 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="181"?> 302 Vgl. G R E E V E N , Art. ζητέω, 894-989. Aristot. top. 1,100a zeigt exempl., dass es auch die schriftgebundene Untersuchung meinen kann. Unklar beibt dagegen z. B., ob die Formulierung ζ. τι τῶν ἐν τοῖς ἱεροῖς γράμμασιν (Philo cont. 75) voraussetzt, dass das Schriftmedium in der erzählten Welt des Textes vorauszusetzen ist. 303 Vgl. z. B. die Suche nach Buchtiteln bei Polyb. 12,11,8. 304 Vgl. neben den im Folgenden aufgeführten Beispielen exempl. P.Oxy. 2 237,6,40 f: „Der [scil. Stratege] aber war nicht nachlässig, sondern untersuchte die Sache sorgfältig in Übereinstimmung mit den Verantwortlichen für die Archive [der Land‐ verpachtung] und erstattete der politischen Führung über jede Sache durch einen Brief Bericht (… ἐ[ζ]ήτησεν ἀκρειβ[ῶ]ς [τὸ πρ]ᾶγμα ἐκ τῶν βιβλιοφ[υ]λάκ[ω]ν καὶ τῇ ἡγεμονίᾳ περὶ παντὸς διʼ ἐπιστολῆς ἀνήνεγκεν); “ Men. Rhet. epideikt. 1,336: „Investigation (ζητῶν) will confirm that this practice is maintained in the poets“ (Üb. R U S S E L L / W I L S O N ). Vgl. außerdem Ios. ant. 11,4,6 (98); Hippol. de Antichristo 1; adv. haer. 5,17,8. 305 Vgl. außerdem Clem. Al. strom. 1,29,182: „Suchet ihn [scil. den Bund] nicht in einer Schrift (μὴ ζητεῖν αὐτὴν ἐν γραφῇ).“ 306 Zu Polyb. 11 prooem. 2 s. o. S. 123. chung, das/ die auch schriftgebunden sein kann. 302 Philosophisches Untersuchen ist nicht zwingend mit Lesen verbunden und es finden sich Belegstellen, an denen das Verb eindeutig und ausschließlich die „Suche“ im Kopf meint. 303 Das Verb wird aber genauso eindeutig dazu verwendet, um die Suche oder das Forschen nach etwas zu bezeichnen, wofür etwas Schriftliches konsultiert werden muss. 304 In Demosthenes’ Rede gegen Timotheos ist formuliert, in einer Art Schuldenregister bei einer Bank, die Einträge von Timotheos’ Schulden zu suchen und abzuschreiben (… ζητεῖν τὰ γράμματα καὶ ἐκγράφεσθαι …; Demosth. or. 49,43). Bei Aristot. pol. 3,1287a beschreibt das Verb Phänomen, dass Patienten medizinische Behandlungen in Büchern konsultieren, wenn sie dem Arzt misstrauen. In 1Esdr 5,38 geht es darum, dass bestimmte Personen, die Anspruch auf das Priestertum erhoben haben, des‐ halb von der Ausübung desselben ausgeschlossen wurden, weil „deren Ab‐ stammungsschrift im Verzeichnis gesucht (ζητηθείσης τῆς γενικῆς γραφῆς ἐν τῷ καταλοχισμῷ) und nicht gefunden wurde“. 305 Im Prooemium des elften Buches von Polybios’ Historien meint das Verb das suchende „Nachschlagen“ in der Rolle, also ein informationsentnehmendes Leseinteresse. 306 Einer der Teilnehmer des Gelehrtengesprächs bei Athenaios formuliert, er habe nach Diskussionen über die menschliche Natur in den Werken Brysons von Herakleia gesucht (ζητέω), aber nur Beschreibungen von Symposien und unangemessene erotische Dialoge gefunden (εὑρίσκω), welche eine Gering‐ schätzung zukünftige Leser zum Ausdruck brächten (vgl. Athen. deipn. 11,118 [508d]). Aufschlussreich ist sodann eine Bemerkung im Vorwort von Kyrills Johanneskommentar, der im Vorwort direkt vor dem Kapitelverzeichnis des 181 3.6 Lesen als Suchen bzw. Fragen <?page no="182"?> 307 G O L D M A N N , Textgeschichte (Lit.). 308 z. B. in Barn 11,1: „Lasst uns aber untersuchen (ζητήσωμεν …), ob dem Herrn daran gelegen war, über das Wasser und über das Kreuz im Voraus etwas zu offenbaren.“ Es folgen zahlreiche Schriftzitate, anhand derer diese Frage untersucht wird. Vgl. auch Barn 16,6. 309 Vgl. außerdem Orig. Cels. 6,7; princ. 4,2,5 u. ö. Eindeutig nicht im Sinne von „lesen“ verwendet Origenes das Verb in Cels. 8,76, wenn er Ambrosius dazu auffordert, er möge das von Celsus angekündigte zweite Buch suchen und ihm zuschicken (ζήτησον καὶ πέμψον τὸ σύγγραμμα), wenn dieses erschienen sei. 310 Vgl. Clem. Al. strom. 7,15,92. 311 Vgl. Eus. h. e. 2,18,1, der exegetische Schriften Philons unter Verwendung des Präsenspar‐ tizips von ζητέω als „schriftliche Untersuchungen“ - zugleich ein schriftlich fixiertes Leseergebnis als auch eine Leseanweisung - bezeichnet. Vgl. bei Philo exempl. schon cont. 75. ersten Buches deren Funktion erklärt: Sie seien dafür da, den Lesern zu ermöglichen, das Gesuchte sehr einfach zu finden (πρὸς τὸ καὶ λίαν ἑτοίμως ἀνευρίσκεσθαι τοῖς ἐντευξομένοις τὸ ζητούμενον; Kyr. Alex. com. in Ioh. prooem. [Ed. P U S E Y , p. 7,19 f]). Ein gutes Beispiel für Kapitellisten findet sich z. B. im Codex Amiatinus. 307 Dort sind die kurzen Kapitelzusammenfassungen (die sog. Capitula Amiatina) mit Zahlen versehen, die wiederum auf eine Sektionszahl verweist, die an derjenigen Stelle im Text angebracht ist, auf welche der jeweilige Eintrag verweist. Das Verb findet sich analog auch in leserlenkenden Anmerkungen. 308 Besonders hervorzuheben sind solche Querverweise innerhalb von Werken, die mehrere Rollen umfassen, und eine nicht sequentielle Lektüre erfordern. Beispielhaft zu verweisen ist auf eine leserlenkende Formulierung „wie im ersten Buch zu finden“ (ὡς … ἐν τῷ πρώτῳ βιβλίῳ ζητηθὲν; Gal. dig. puls. 3,74 [ed. K ÜHN 8, p. 903,7 f]) bei Galen. Ganz eindeutig wird das Verb ζητέω auch im Sinne von „einen Text/ ein Buch etc. intensiv studieren/ lesen“ verwendet. So findet man schon beim Athener Dichter der neuen Komödie, Anaxippos, den folgenden Satz: „Am frühen Morgen wirst du sehen, wie ich Bücher in den Händen halte, und das untersuche, was mein Handwerk betrifft“ (τὸν ὄρθρον ἐν ταῖς χερσὶν ὄψει βιβλία ἔχοντα καὶ ζητοῦντα <τὰ> κατὰ τὴν τέχνην; Athen. deipn. 9,68 (404b): CAF 3, Anaxippos Fr. 1). Wenn Origenes mit Verweis auf den griechischen Titel des Sprüchebuches (ἐπιγέγραπται γὰρ τὸ βιβλίον Παροιμίαι; Orig. Cels. 4,87), den er gleichsam als Leseanweisung versteht, sagt, er untersuche diese wie Rätsel (ζητῶ ταῦτα ὡς αἰνίγματα; Orig. Cels. 4,87) und damit Worte aus dem Sprüchebuch meint, dann liegt es nahe, ein intensives Studium des Textes vorauszusetzen. 309 Im Sinne eines exegetischen Untersuchens verwenden z. B. auch Clemens von Alexandria 310 , Euseb 311 und Chrysostomos das Verb. So schreibt letzterer bezüglich 2Tim 4,9-13: „Es lohnt sich, zu untersuchen, warum 182 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="183"?> 312 Μετ’ ἐκείνην ἐν τῇ δευτέρᾳ ἡμέρᾳ ἐζητήσαμεν τίς ἦν ὁ τὸ βιβλίον γράψας·καὶ εὕρομεν τῇ τοῦ Θεοῦ χάριτι Λουκᾶν τὸν εὐαγγελιστὴν … (PG 51, p. 91,5-8). Wie genau Chrysostomos das gesamte NT nach Querverweisen auf Lukas durchsucht hat, zeigt z B. Ioh. Chrys. in Act. hom. 1 (PG 60, p. 1, 5). 313 Vgl. B E E K S , EDG, 455 f. 314 Vgl. dazu mit Verweisen auf die Quellen D E L L I N G , Art. ἐρευνάω. 315 An den meisten Belegstellen bedeutet das Verb bei Philon allgemein „untersuchen“, ohne dass ein konkreter Bezug zu Schriftmedien hergestellt wird. 316 Vgl. Philo det. 13: „Wenn du, oh mein Denkvermögen, in dieser Weise sowohl die als heilig geoffenbarten Worte Gottes als auch die Gesetze gottgeliebter Menschen untersuchst, …“ Vgl. auch Philo det. 141. 317 Vgl. z. B. Philo congr. 44: „Wenn wir die Namen [i. e. von Nachor und seinen Frauen] in unsere Sprache übersetzen, werden wir erkennen, daß sich die Verheißung bewahr‐ heitet. Laßt uns nun jeden einzelnen Namen untersuchen (φέρ᾽ οὖν ἕκαστον αὐτῶν ἐρευνήσωμεν).“; vgl. auch Philo Cher. 14; sacr. 52 u. ö. der Apostel den Timotheus zu sich ruft …“ (Ἄξιον ζητῆσαι πῶς καλεῖ τὸν Τιμόθεον πρὸς ἑαυτὸν …; Ioh. Chrys. in 2 Tim. hom. 10,1 [PG 62, p. 655]). Auch wenn er in Act. princ. hom. 3 sagt, er habe am zweiten Tag untersucht, wer das Buch (scil. Act) geschrieben habe, und er Lukas als Autor identifizieren konnte, 312 wird er dafür wohl mindestens die beiden Prologe des lukanischen Doppelwerkes gelesen haben. Das Verb ἐρευνάω ist etymologisch verwandt mit ἔιρομαι (fragen; *indoeuro‐ päisch: h 1 reu-) 313 und ist daher dem semantischen Feld „Frage-Antwort-Dialog“ mit dem Text zugeordnet worden. Für ἐρευνάω hat G. Delling im ThWNT vier Bedeutungsdimensionen herausgearbeitet: a) nachspüren, erschnüffeln; b) durchsuchen, durchstöbern; c) einem Sachverhalt nachspüren, durch Verhör untersuchen (besonders im gerichtlichen Kontext), ausforschen; d) genau prüfen, einer Frage bis ins Detail nachgehen (besonders in wissenschaftlichen Kontexten). 314 Im Rahmen der Bedeutungsdimension d) kann das Lexem auch ein durch ein bestimmtes Erkenntnisinteresse gesteuertes Lesen bezeichnen. Besonders eindrücklich ist eine Stelle bei Philon, 315 an der er mit dem Lexem ἐρευνάω die kognitive Verarbeitung des Lesens der Schrift mit dem Denkvermögen/ Verstand (διάνοια) präzise benennt. 316 Philon verwendet das Verb ferner auch zur Leser‐ lenkung. 317 In Joh 5,39 sagt Jesus über die Ioudaioi, sie erforschten die Schrift (ἐραυνᾶτε τὰς γραφάς), weil sie meinten, in ihnen das ewige Leben zu haben (s. auch Joh 7,52). In der patristischen Literatur wird ἐρευνάω schon im 2. Jh. als Leseterminus verwendet (s. u. S. 524 f). 183 3.6 Lesen als Suchen bzw. Fragen <?page no="184"?> 318 Vgl. dazu B E E K S , EDG, 473. 319 Vgl. die Belege im LSJ und bei M O N T A N A R I , BDAG, 722. 320 Vgl. neben den im Folgenden genannten Stellen z. B. Orig. Cels. 7,30. 321 S. o. Anm. 240, S. 164. 322 Vgl. z. B. Dion. Hal. ant. 5,8,2 (s. dazu u. S. 205); Ps.-Long. 7,1 (s. dazu o. S. 137); Hld. 4,8,1 (s. dazu o. S. 135 f); 1Makk 12,21; Dan 12,1 LXX; Cass. Dio 55,25,6; Lukian. Alex. 32; Herm. 38 f; Athen. deipn. 11,118 [508d; s. o. S. 181]. Josephus schreibt am Ende des zehnten Buches seiner Antiquitates Judaicae, er habe alles so aufgeschrieben, wie er es in der Schrift gefunden und gelesen habe (ὡς εὗρον καὶ ἀνέγνων; Ios. ant. 10,11,7 Das Verb ἐξετάζω ist als Derivat von ἐτάζω, das wiederum eine denominale Ableitung von ἐτός darstellt, etymologisch verwandt mit ἀληθής und ἀγαθός und hat als Grundbedeutung „die Wahrheit herausfinden“. 318 In zwischen‐ menschlichen Relationen bezieht sich ἐξετάζω auf ein verbales Geschehen oder ein visuelles Mustern/ Inspizieren/ Untersuchen. 319 Aber auch als Leseterminus (einen Text untersuchen, erforschen, ausforschen) ist das Verb breit bezeugt. Einige Stellen können dies exemplarisch verdeutlichen. Schon in Platons Phaidros wird das Verb an einer Stelle als Leseterminus gebraucht, an der Sokrates vorschlägt: „Wie verhält es sich also mit dem Schön- und Un‐ schön-Schreiben? Phaidros, wir sollten einmal den Lysias in dieser Sache überprüfen, und wer immer sonst etwas geschrieben hat (… Λυσίαν τε περὶ τούτων ἐξετάσαι καὶ ἄλλον ὅστις πώποτέ τι γέγραφεν) …“ (Plat. Phaidr. 258d; Üb. B U C H W A L D ), worauf hin Phaidros antwortet: „Du fragst, ob wir sollten? Weswegen lebt man denn, sozusagen, wenn nicht um solcher Genüsse willen? “ (Plat. Phaidr. 258e; Üb. B U C H W A L D ). Der Kontext belegt eindeutig, dass der Name Lysias metonymisch für die durch Lektüre zu überprüfenden Reden steht, die schriftlich vorliegen. Als Leseterminus ist es auch in antiken christlichen Schriften gut bezeugt: 320 Athenagoras überlässt es seinem postulierten Adressaten, „diese Schriften [Propheten des AT] zu konsultieren und die Aussprüche jener Propheten genau zu überprüfen (… τῶν βιβλίων γενομένοις ἀκριβέστερον τὰς ἐκείνων ἐξετάσαι προφητείας)“ (Athenag. suppl. 9,3). Wie schon bei anderen Stellen 321 deutet die Verwendung des Adjektivs ἀκριβής auf eine vertiefte, intensive Lektüre zu Studienzwecken hin. Ähnlich argumentiert auch Origenes: „Für denjenigen, der den Geist unserer Schriften ganz untersucht (… ῷ ἐξετάζοντι ὅλον τὸ βούλημα τῶν ἡμετέρων γραμμάτων …), ist klar, dass Celsus … Pseudobehauptungen ohne Prüfung (ἀνεξέταστος) erhebt.“ (Orig. Cels. 3,53). Das Adverb ἀνεξέταστος meint in diesem Kontext ohne Lektüre der christlichen Schriften. In Iul. ep. 25 [428b] ist ein genaues, auf Fehler hin prüfendes Lesen gemeint. Ebenfalls zum Bereich „Lesen konzeptualisiert als Suchen“ zuzuordnen ist das Verb εὑρίσκω, das, als Leseterminus gebraucht, gleichsam das Ergebnis bzw. Resultat suchender Zugänge zu Texten beschreibt, 322 im Sinne von „verstehen“ 184 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="185"?> [281]). Die beiden Verben εὑρίσκω und ἀναγιγνώσκω werden hier zwar nicht synonym gebraucht, bezeichnen aber unterschiedliche Aspekte der Lektüre von Josephus, die er studierend als Grundlage für seine eigene Textproduktion durchgeführt hat. S. außerdem Ios. ant. 11,4,7 [104]. 323 Vgl. z. B. Arist. apol. 16,4 [SC 470] (s. u. S. 524); Orig. Cels. 2,20; 4,52. 324 Vgl. Diod. 6, fr. 9: „Dieser nahm den Brief entgegen und fand darin geschrieben (εὑρεῖν ἐν αὐτῇ γεγραμμένον), …“; s. außerdem: Acesander: FGrH 3b 469 F 7; Plut. Dem. 30,1; Ps.-Plut. X orat. 8 (mor. 847a); u. ö.; App. Mithr. 5,31 [123]; Esdr 2 17,5; 18,14; 21; Gal. alim. fac. ed. Kühn 6, p. 514,2; plen. ed. Kühn 7, p. 530,4 u. sehr viel öfter; Clem. Al. strom. 5,14,122; 6,6,5. 325 Vgl. z. B. Demosth. or. 18,218; Ios. ant. 11,4,7 [105]; BGU 2 615,21.; Polyain. strat. 5,2,12; s. außerdem die Verwendung von καταμανθάνω in Polyain. strat. 7 praef. 326 Vgl. z. B. Ios. ant. 12,2,12 [100]; Iust. Mart. apol. 1,28,1 (s. o. in diesem Abschnitt); Iul. ep. 50 [444b]; v. a. Lib. or. 1,148, der mit dem Verb beschreibt, wie er in einer schönen und leichten Ausgabe von Thukydides Historien mit kleiner Schrift immer wieder gelesen hat. 327 Vgl. TestAbr B 10,11 f (hier eindeutig in einem Buch; z. St. weiterführend A L L I S O N , Abraham, 254 ff). 328 Plutarch formuliert, dass „die zuerst Rezipierenden und Untersuchenden“ (οἱ πρώτως ἐντυγχάνοντες καὶ ἱστοροῦντες) den Historikern für die Schönheit ihrer Darstellung historischer Taten zu Dank verpflichtet sind. Vgl. Plut. de glor. Ath. 3 (mor. 347d/ e). (Es sei darauf hingewiesen, dass im nachfolgenden Text an dieser Stelle durch eine Kon‐ jektur, die von J. N. Madvig stammt, auch in den Übersetzungen von O S I A N D E R / S C H W A B und von G O O D W I N eine Vorlesesituation hineinprojiziert wird, die vom griechischen Text nicht gedeckt sind. Gerade die Verwendung des Verbes ἱστορέω deutet m. E. darauf hin, dass an individuell-direkt Rezipierende gedacht ist, bei der die Taten entweder durch vokalisierende Lektüre real mit dem Ohr [ἀκοή] wahrgenommen werden, oder Plutarch ἀκοή hier sogar im übertragenen Sinne für die Wahrnehmung bzw. die kognitive Verarbeitung des Gelesenen nutzt. Für eine sichere Entscheidung ist der griechische Text jedoch zu korrupt.) 329 Vgl. z. B. Ios. ant. 10,10,4 [210] (s. dazu u. S. 375). 330 Vgl. z. B. Philo spec. 1,214; Ios. ant. 11,2,2 (27). verwendet wird, 323 aber auch einfach dazu genutzt wird, eine Lesefrucht einzu‐ führen bzw. ein Zitat zu markieren. 324 Ähnlich kann im Übrigen auch μανθάνω das Ergebnis eines Rezeptionsaktes (z. B. aus einem Brief), 325 v. a. aber selektiver und intensiver Zugriffe auf Texte, 326 also die Inhaltsentnahme, das Verstehen, die kognitive Verarbeitung beim Lesen bezeichnen. Weitere Verben müssten im Hinblick auf das unter diesem Punkt be‐ sprochene Konzept weitergehend angeschaut werden: ἀναζητέω (aufsuchen, durchforschen), 327 ἐκζητέω (untersuchen), ἐπιζητέω (aufsuchen), ἱστορέω (er‐ forschen, erkunden, untersuchen), 328 πολυπραγμονέω (genau erforschen), 329 ἐπισκέπτομαι (etw. untersuchen, prüfen), 330 μαστεύω (suchen, aufspüren, for‐ 185 3.6 Lesen als Suchen bzw. Fragen <?page no="186"?> 331 Xen. symp. 4,27: „Habe ich dich doch selbst dabei gesehen […], wie ihr beide beim Griechischlehrer im selben Buch etwas suchtet und du, Kopf an Kopf mir Kristobulos, mit deiner bloßen Schulter die seine berührtest“ (Üb. S T Ä R K ). 332 Vgl. z. B. Aug. de Gen. ad litt. 8,2; Conf. 6,11; in Joh. tract. 112,1 (hier formuliert er, man müsse „nicht in diesen Reden suchen, sondern in anderen viel mühsameren Schriften“ [non in his sermonibus, sed in aliis laboriosis litteris quaerat]; vermutlich spielt er auf den Schwierigkeitsgrad der Texte an). 333 Z. B. verwendet Aulus Gellius quaero und reperio als Lesetermini und bezeichnet damit das „Nachschlagen“ einer bestimmten Stelle in einem Buch, setzt also einen selektiven Zugriff darauf voraus. Vgl. Gell. 18,4,11. 334 Amm. res gestae 15,8,16; Quint. inst. or. 10,1,20 (s. zu diesen beiden Quellen 3.3); Columella rät, „die Fachliteratur der Alten eifrig zu studieren (commentarios antiquorum sedulo scrutetur) und genau zu erwägen, was jeder von ihnen denkt und vorschreibt“ (Colum. 1,1,3), verwendet hier also scrutor eindeutig als Leseverb und setzt intensive und mehrere Texte vergleichende individuell-direkte Studienlektüre voraus. 335 Vgl. dazu V A L E T T E -C A G N A C , lecture, 34 ff; H Ö S C H E L E , Traveling; H Ö S C H E L E , Muse, 100- 146. S. oben schon die Ausführungen zu Diog. Laert. 9,1,16, unter 3.5 (S. 170). 336 Vgl. z. B. H Ö S C H E L E , Muse, 100 f.104 u. ö. 337 Schon für Martial, auf den R. Höschele sich maßgeblich bezieht, ist ja belegt, dass er seine Epigrammata in Kodexform publiziert hat (s. o. Anm. 33, S. 101). Für die spätantike Verwendung im Hinblick auf Kodizes vgl. die entsprechenden Quellen in Anm. 338, S. 187. schen) 331 und die lateinischen Lexeme quaero, 332 reperio, 333 scrutor, 334 u. v. m. Dies kann aber im Rahmen dieser Studie nicht geleistet werden. 3.7 Lesen als Bewegung Lesen wird in der antiken Mittelmeerwelt sodann vielfach mit dem Konzept „Bewegung“ konzeptualisiert, wobei das in der Forschung bekannte Konzept des Lesens als Reise darunter zu subsumieren ist. 335 Im Folgenden ist die weite Verbreitung des Konzepts, seine Spezifika und seine Implikationen für antike Lesepraktiken anhand einiger wichtiger Verben und aussagekräftiger Quellen herauszuarbeiten. Vorab sei aber schon darauf hingewiesen, dass sich die These eines kausal-relationalen Verhältnisses der Bewegungsmetaphorik und dem Medium der Rolle 336 in den Quellen schwer nachweisen lässt. Diese These einer Korrelation ist außerdem v. a. deshalb zu hinterfragen, weil das Konzept (in der Spätantike) definitiv auch im Zusammenhang mit Kodizes verwendet wird 337 und auch in der heutigen Beschreibungssprache des Lesens noch zu finden ist (überspringen, überfliegen usw.). Ein gängiges Verb, das im Griechischen (vielfach auch für die Literatur der Alten Kirche bezeugt) Lesen als Bewegung konzeptualisiert, ist διέρχομαι 186 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="187"?> 338 Vgl. neben den im Folgenden zu besprechenden Quellen exempl. Artem. on. 2,45; Pappos Synagoge 4,52 [ed. H U L T S C H , p. 298,5]; Eus. h. e. 5,24,7 (die ganze Heilige Schrift gelesen zu haben); Epiph. Panar. 30,11,5 (individuelle Lektüre der Evangelien, die zum Lesen vom Bischof ausgeliehen wurden [30,11,3] im Haus). In kollektiv-indirekten Rezeptionssituationen kann das Verb auch das gemeinsame Durcharbeiten/ Besprechen bezeichnen. Vgl. z. B. Xen. mem. 1,6,14; Plat. Tht. 143a-c. (hindurchkommen, durchgehen/ -laufen, bis ans Ende kommen). 338 Dionysios von Halikarnassos beschreibt in seiner äußerst aufschlussreichen Reflexion des Leselernprozesses in der Antike das geübte Lesen oder Vorlesen als stolperfreies Hindurchgehen durch einen Text mit Leichtigkeit und Schnelligkeit (vgl. Dion. Hal. comp. 25; diese Stelle wird unten unter 4.2 ausführlich zu besprechen sein). Eine sehr aufschlussreiche Stelle findet sich in einem bei Athenaios überlieferten Fragment des Komödiendichters Platon (Athen. deipn. 1,8 [5b]), der eine Szene bei einem Gemeinschaftsmahl darstellt, bei dem jemand in der Einsamkeit des Gemeinschaftsmahls ein Buch für sich selbst durchgehen will (ἐγὼ δ᾽ ἐνθάδ᾽ ἐν τῇ ἐρημίᾳ τουτὶ διελθεῖν βούλομαι τὸ βιβλίον πρὸς ἐμαυτόν). Dann wird er aber von einer anderen Person gefragt, um was für ein Buch es sich handle und liest daraufhin aus „einem neuen Kochbuch von Philoxenus“ exemplarische Passagen vor. Die Szene impliziert eindeutig das Konzept nicht-vokalisierender individuell-direkter Lektüre (freilich reflektiert ironisch gebrochen; in einem Kontext, in dem diese Form von Lektüre eigentlich nicht möglich ist), da der Fragende sonst zumindest erkannt hätte, um was für eine Art Buch es sich handelt, und da außerdem das folgende Vorlesen von Ausschnitten (sequentiell-selektiv; vgl. Athen. deipn. 1,8 [5b / c]) aus dem Buch sonst redundant wäre. Plutarch berichtet, dass Pompeius nach dem Sieg über Mithridates VI. im 3. Mithridatischen Krieg dessen private Geheimdokumente in einer Festung am Lykos fand und diese „nicht ohne Vergnügen durchging (διῆλθεν οὐκ ἀηδῶς), da sie vieles enthielten, das den Charakter des Königs offenbarte“ (Plut. Pomp. 37). Unter den Schriftstücken waren u. a. Aufzeichnungen von seinen Träumen und erotische Korrespondenz mit Monime, auch Kopien von den Briefen an sie. Pompeius hat diese Texte offenbar nicht nur aus dienstlichem Interesse gelesen, sondern sich damit auch unterhalten. Dass Plutarch mit dem Verb individuell-direkte Lektüre zum Ausdruck bringt, zeigt sich eindeutig in der Biographie des jüngeren Cato, der vor seinem Selbstmord nach dem Essen allein in seinem Schlafgemach Platons Phaidon „schon zum Großteil durchgegangen war“ (διελθὼν τοῦ βιβλίου τὸ πλεῖστον καὶ ἀναβλέψας; Plut. Cato min. 68), als 187 3.7 Lesen als Bewegung <?page no="188"?> 339 Er wendet sich im Folgenden dem Buch wieder zu (πάλιν ἦν πρὸς τῷ βιβλίῳ; Plut. Cato min. 68) und liest es bis zum Ende (ἐξαναγιγνώσκω; ebd. S. o. Anm. 46, S. 118). Rezipiert bei Lact. inst. 3,18,8 unter der Verwendung des Verbes perlego. 340 Plutarch hat anscheinend einen Vortrag in der σχολή über die Schrift von Kolotes gehalten und darüber mit seinen Schülern eine philosophische Unterredung geführt. Plutarchs Schrift selbst stellt die Fortsetzung der Unterredung zwischen ihm und seinen Schülern beim Spaziergang im Gymnasion und später im Sitzen auf Bänken (Plut. non posse suav. 20 [mor. 1100e]) dar. 341 Vgl. Arist. 322, wo eindeutig individuell-direkte Lektüre vorausgesetzt ist, die man wohl auch auf die anvisierte Rezeptionsweise des Aristeasbriefes selbst beziehen darf: „Ich will aber versuchen, auch sonst noch Denkwürdigigkeiten aufzuschreiben, damit Du beim Hindurchgehen den schönsten Lohn für deinen Eifer erhälst“ (Üb. K. Brodersen). Vgl. weiterführend zur Diskussion der Frage nach den intendierten Adressaten des pseudepigraphen Aristeasbriefes W R I G H T III, Letter, 62-74 (Lit.). er bemerkte, dass sein Schwert nicht mehr an seinem Platz hing. 339 An anderer Stelle begründet Plutarch die Abfassung seiner Schrift Non posse suaviter vivi secundum Epicurum in Frontstellung gegen eine Schrift von Kolotes damit, dass er zeigen wolle, „dass man […] die Schriften derer, die man widerlegt, nicht bloß beiläufig durchgeht (τὰ γράμματα μὴ παρέργως διελθεῖν) und da oder dort Äußerungen herausreißen oder Aussprüche, die nicht in ihren Schriften stehen, angreifen darf, um den Unerfahrenen Sand in die Augen zu streuen“ (Plut. non posse suav. 1 [mor. 1086d]; Üb. angelehnt an O S I A N D E R / S C H W A B ). Plutarch unterstellt Kolotes hier mit polemischem Impetus eine oberflächliche und selektive Lektüre der von ihm zitierten Schriften. Dies bringt er mit der Metapher des beiläufigen Durchgehens zum Ausdruck. Im folgenden Dialog 340 sagt Aristodem, er sei kürzlich zufällig durch die Briefe Epikurs über den Tod des Hegesianax hindurchgegangen (ἔναγχος γὰρ κατὰ τύχην τὰς ἐπιστολὰς διῆλθον αὐτοῦ) - d. h. er hat sie individuell-direkt gelesen - und bereichert mit seinen Lesefrüchten die Diskussion (Plut. non posse suav. 20 [mor. 1101b]). Nicht das Lesen eines schriftlich in einem Medium fixierten Textes, sondern ein rein mentaler Prozess ist gemeint, wenn der Philosoph Athenodorus Au‐ gustus als Rat gibt, er solle, wenn er zürne, nichts sprechen und tun, als bis er die vierundzwanzig Buchstaben für sich durchgegangen sei (τέτταρα γράμματα διελθεῖν πρὸς ἑαυτόν)“ (Plut. mor. 207c). Der Kontext impliziert das Fehlen hörbarer stimmlicher Realisation. Vergleichbar zur Verwendung von διέρχομαι finden sich auch die Verb διαπορεύω, 341 διέξειμι (durchgehen, hindurchziehen) und ἔπειμι (durchgehen, 188 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="189"?> 342 Plutarch benennt mit dem Verb ἔπειμι die Praxis eines individuell-direkten Lesers, der Stilblüten, Fehler und unzüchtige Passagen aus Homer, den Tragikern und Gedichten sammelt bzw. „herausnimmt“ (ἐκλαμβάνω), um diese selbst in einem Buch zusammenzustellen. Vgl. Plut. curios. 10 (mor. 520a/ b). 343 P. Roth weist bei seiner Übersetzung in einer Fußnote (S. 59, Anm. 46) darauf hin, dass αὐτά so zu lesen ist „als ob vorher nicht τὸν λόγον, sondern τὰ γεγραμμένα gesagt wäre“, also die schriftliche Verfasstheit hervorgehoben wird. 344 So R O T H , Panathenaikos, 172 f. durchwandern) 342 als Lesemetaphern in den Quellen. Isokrates bietet in seinem Panathenaikos (Isokr. or. 12,231) eine eindrucksvolle Beschreibung des Vorgehens bei der Ausarbeitung seiner Reden, in der ferner auch zum Ausdruck kommt, wie sich unterschiedliche Gemütszustände auf die Darstel‐ lungs- und Rezeptionsweise auswirken. Und zwar diktiert er eine Rede einem Sklaven, nachdem er durch diese mit Freude durchgegangen sei (ὃν ὀλίγῳ μὲν πρότερον μεθ᾽ ἡδονῆς διῆλθον). Vermutlich bezieht sich letzteres auf die Lektüre (und Überarbeitung) einer Vorfassung, die er womöglich auf Tafeln schriftlich vorkonzipiert hat. Beim diktierten Text handelt es sich um eine vermutlich auf Papyrusrolle ausgearbeitete Fassung der Rede, die er einige Tage später erneut liest und durchgeht (τριῶν γὰρ ἢ τεττάρων ἡμερῶν διαλειφθεισῶν ἀναγιγνώσκων αὐτὰ 343 καὶ διεξιών). Mit diesem zeitlichen Abstand fällt ihm einiges Negatives in der Darstellungsweise auf, was in ihm den Impuls auslöst, das Manuskript zu zerstören, woran ihn nur die viele Arbeit hindert, die er in die Ausarbeitung hineingesteckt hat (vgl. Isokr. or. 12,232). Die Verben ἀναγιγνώσκω und διέξειμι meinen hier denselben individuell-direkten Lesevorgang, wobei durch letzteres Verb eine gewisse evaluative und womöglich auf Korrekturen und Überarbeitung ausgerichtete Rezeptionshaltung zum Ausdruck gebracht wird. Dies wird im Folgenden dadurch bestätigt, dass Isokrates in or. 12,246 den oberflächlichen Lesern (τοῖς μὲν ῥᾳθύμως ἀναγιγνώσκουσιν) einer Rede die sorgfältig Hindurchgehenden (τοῖς δ᾽ ἀκριβῶς διεξιοῦσιν) gegenüberstellt. Und zwar sind dies solche, die nach „ihrem eigenen Ermessen, gerade so viel davon lesen und durchgehen (διέρχομαι), wie sie jeweils selber wollen“ (Isokr. 12,136; Üb. R O TH , leicht modifiziert JH), d. h. die den Text abschnittsweise durchgehen und mit zeit‐ licher Unterbrechung (z. B. zum Nachdenken) nur Portionen lesen. Dies ist wegen der von Beginn an von Isokrates angedachten besonderen Länge und planvoll gestalteten Gesamtkonzeption der Rede notwendig. 344 Diese drei Stellen zeigen im Übrigen, dass die von einigen Wissenschaftlerinnen und 189 3.7 Lesen als Bewegung <?page no="190"?> 345 Vgl. H U D S O N -W I L L I A M S , Isocrates; U S E N E R , Isokrates, insb. 28 f. Denn an der Kardi‐ nalstelle in der Antidosis (Isokr. or. 15,12), die von ihnen angeführt, wird ebenfalls διέξειμι als Rezeptionsterminus verwendet: χρὴ δὲ τοὺς διεξιόντας αὐτὸν πρῶτον μὲν ὡς ὄντος μικτοῦ τοῦ λόγου καὶ πρὸς ἁπάσας τὰς ὑποθέσεις ταύτας γεγραμμένου ποιεῖσθαι τὴν ἀκρόασιν … Useners Interpretation, diese Stelle als Anweisung an einen vermeintlichen Vorleser zu verstehen, ist mit mehreren Schwierigkeiten verbunden. Die gravierendste Schwierigkeit besteht darin, dass in pragmatischer Hinsicht ein zweifacher Adressatenwechsel im Übergang von Isokr. or. 15,11 zu 15,12 und dann wiederum zu 15,13 anzunehmen wäre und, damit verbunden, zu fragen wäre, warum die Anweisung sich im Plural an „die Durchgehenden“ richtet, wo doch ein einzelner Vorleser im Blick sein müsste, und als Teil der (Vor)Rede mit vorzulesen wäre, die an dieser Stelle endet. (Angesichts der Formulierungen in 15,1.13 kann man auch nicht davon ausgehen, dass die eigentliche Vorlesung erst nach den Präliminarien zu beginnen wäre.) Die Formulierung ποιεῖσθαι τὴν ἀκρόασιν ist nicht so zu verstehen, dass „die Vorlesung abzustimmen“ sei auf die Mischform der Rede (so U S E N E R , Isokrates, insb. 28). Vielmehr soll derjenige, der den Text durchgeht, sein Hören, d. h. seine Aufmerksamkeit, darauf aufwenden. Die Elemente des Hörens bzw. diejenigen, die eine Situation des Vorlesens der Rede suggerieren, sind so zu verstehen, dass Isokrates seine lesenden Rezipienten in eine fiktive Vorlesebzw. Publikumssituation versetzt, wie dies schon G. Norelin in der Einleitung zu seiner Übersetzung für die LCL ausführt (191 ff) und auch von Teilen der Forschung vertreten wird. Vgl. K U R C Z Y K , Inszenierung, 45 (Lit.). Es kommt ferner hinzu, dass Belege dafür fehlen, Rezitationen, die auch in den Quellen aus dem klassischen Griechenland an die Präsenz des Autors gebunden sind (s. u. S. 276), als eigentliche und einzige Form der Publikation zu verstehen. Vgl. weiterführend F U N A I O L I , Art. Recitationes. Wissenschaftlern vertretene These, die publizierten Reden von Isokrates seien für die Rezitation vor Publikum bestimmt, kritisch zu diskutieren wäre. 345 Eine weitere aufschlussreiche Stelle findet sich in Eusebs Kirchengeschichte, der mit dem folgenden Satz ein längeres Zitat (Ios. bell. Iud. 5,12,3 f [512-519]) einleitet. „Hole das fünfte Buch der Geschichte des Josephus und nimm es wiederum zur Hand (μετὰ χεῖρας αὖθις ἀναλαβών), dann gehe die damaligen traurigen Ereignisse durch (δίελθε τὴν τραγῳδίαν)“ (Eus. h. e. 3,6,1). Auch wenn es sich hier um eine Zitateinleitung handelt und der Leser der Kirchengeschichte das Zitat im Folgenden aus dem ihm vorliegenden Text lesen kann, spiegelt sich in der Formulierung eine spezifische individuell-direkte Lesepraxis wieder, bei der (schon einmal gelesene) Bücher zu spezifischen Fragen in die Hand genommen und selektiv konsultiert werden. Da Euseb hier seine Leser mit imperativischen Formulierungen anspricht, kann man schlussfolgern, dass auch sein eigenes Werk für die individuell-direkte Lektüre konzipiert war. 190 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="191"?> Diodor nutzt das Verb διέξειμι an oben schon besprochener Stelle (Diod. 1,3,8; s. o. S. 124) zur Beschreibung individuell-direkter Lektüre von historiographischen Texten. Das Verb findet sich sodann als Leseterminus beim antiochenischen Astrologen Vettius Valens, der im 2. Jh. n. Chr. in seiner neunbändigen Schrift Anthologiae, im neunten Buch folgendermaßen über die anvisierte Rezeption reflektiert: „All of the preceding methods are effective and easily understandable to those who study them (χρηματιστικαὶ καὶ εὐκατάληπτοι τοῖς ἐντυγχάνουσίν) […]. I have set a table rich in learning and I have invited guests to the banquet (πλουσίαν οὖν μαθημάτων τράπεζαν αρασκευασάμενος συνεστιάτορας ἐπὶ τὸ σύνδειπνον ἀνακέκληκα.). Let those who wish to feast act with the physical assistance of the body, which helps them to use the nourishment not in a greedy or insatiable way, but only in so far as the victuals can provide reasonable pleasure. (What is consumed beyond the bounds of nature usually causes harm.) Now if any of the guests should wish to continue living unharmed, let him eat one or two courses, and he will be happy. […] if anyone spends some time on one or two of the preceding methods, he will find his goal to be easily grasped, and he will spend his time in pleasure and delight and will enjoy great repute. If, however, anyone is slow to understand what he reads, yet wishes in one day to run through two or three books, he will not discover the truth (εἰ δέ τις εἴη μὲν εἰς τὸ ἀναγινώσκειν δυσνόητος, θέλοι δὲ εἰς μίαν ἡμέραν δύο καὶ τρεῖς βίβλους διεξιέναι, τὴν μὲν ἀλήθειαν οὐκ ἐξιχνεύσει). Instead, he will be like a storm-fed river, rolling its burden along, worthless and profitless to the onlookers, and sinking back quickly to its useless state. Nor does a racehorse running in a desert place, outside of a stadium or a battle, win any prizes“ (Vett. Val. 9,9; Üb. M. R I L E Y ; Herv. JH). Vettius Valens führt hier zunächst aus, dass seine Methoden (ἀγωγή) für die Leser prinzipiell kognitiv gut zu verarbeiten (εὐκατάληπτος) sind. Mit einer eindrucksvollen Kombination aus verschiedenen Essens- und Bewegungsmeta‐ phern erläutert er dann die Bedingungen für das Verstehen. (Auch wenn die Lesemetaphern des Essens und Trinkens erst unter 3.9 besprochen werden, ist diese Stelle wegen der Metaphernkombination schon hier anzuführen.) Seine Darlegungen gleichen einem reichen „Tisch des Lernens“ und seine Leser sind Gäste, die sich beim Mahl (d. h. bei ihrem Rezeptionsprozess) daran bedienen können. In Analogie zu allgemeinen Ansichten antiker Diätetik spezifiziert er, dass beim Lesen maßzuhalten ist, damit die Speise für den Körper ohne Schaden verdaut, also das Gelesene gut kognitiv verarbeitet werden kann. Die hier verwendete Metaphorik spiegelt eindeutig eine individuell-direkte Lektüresituation, bei welcher der Leser sich selbstbestimmt für seine Leseweise entscheidet. Insbesondere legt Vettius Valens den Lesern mit der Metaphorik 191 3.7 Lesen als Bewegung <?page no="192"?> 346 Das ergab eine Durchsicht der 17 Belegstellen des Verbes (TLG) vor dem 1. Jh. n. Chr. 347 Diese Semantik kommt explizit zum Ausdruck, wenn das Verb mit einem Lexem wie λάκκος (Zisterne/ Grube; vgl. exempl. BelDr 40) oder βάθος (Tiefe; vgl. exempl. 1Clem 40,1; Clem. Al. stom. 4,110,3) verwendet wird. des Essens eine intensive selektiv-diskontinuierliche Form der Mehrfachlektüre nahe. Diese Form der anvisierten Rezeption führt er sodann explizit aus: Derjenige, der einige Zeit investiert und sich eine oder zwei Methoden aus dem Vorhergehenden herausgreift, wird Freude und großen Nutzen davon haben. Mit Hilfe der Bewegungsmetaphorik bringt er sodann zum Ausdruck, wie seine Bücher nicht zu lesen seien - und zwar insbesondere von solchen, die langsam bei der kognitiven Verarbeitung beim Lesen sind (εἰς τὸ ἀναγινώσκειν δυσνόητος). Insbesondere solche Leser sollen nicht versuchen, in einem Tag durch zwei oder drei Bücher durchzugehen (διέξειμι). Die weitere Ausarbeitung der Bewegungsmetaphorik in den folgenden Sätzen zeigt, dass mit διέξειμι hier durchaus an ein relativ schnelles, oberflächliches Lesen gedacht ist. Diese Konnotation der Bewegungsmetaphorik war oben schon bei Plutarch (Plut. non posse suav. 1 [mor. 1086d], s. o. S. 188) zu sehen und wird uns im Folgenden insbesondere bei Seneca (Sen. ep. 2,2-6) wieder begegnen. Lesen wird in den Quellen sodann mit dem Verb ἐγκύπτω (wörtlich: „hinein‐ beugen“; den Kopf vorbeugen, vornüberbeugen, sich bücken) beschrieben. Als Leseterminus gebraucht, steht hier das Einnehmen der Haltung des Lesenden pars pro toto für den Gesamtprozess des Lesens. Deutlich wird dies z. B. bei Sextus Empiricus, der im Kontext von Ausführungen über die Farbwahrnehmung der Augen die Wahrnehmung von Geschriebenem, nachdem man in die Sonne geschaut hat, als Beispiel heranzieht: „Ferner, wenn wir uns über ein Buch beugen (ἐγκύψαντες βιβλίῳ), nachdem wir lange in die Sonne geschaut haben, scheint es so, als seien die Buchstaben golden und tanzten herum.“ (S. Emp. P. H. 1,45). Es ist nun interessant, dass das Verb vor dem 1. Jh. n. Chr. weder im Kontext von Leseszenen noch als Leseterminus im engeren Sinne gebraucht wird und die Belege bis auf einige Ausnahmen überwiegend christlich sind. 346 Inwiefern eine Interdependenz zur Kodexform besteht, lässt sich nur schwer sagen. In vielen Quellen, in denen ἐγκύπτω metonymisch für Lesen steht, ist es konnotiert mit einem intensiven Lesemodus bzw. einem Studienlesemodus. Die Semantik des Verbes kann zugleich die Haltung, den Grad der Aufmerksamkeit und die Intensität der Lektüre zum Ausdruck bringen. Ein gutes Äquivalent im Deutschen ist das Motiv des „In-ein-Buch-vertieft-Seins“, da es die vertikal nach unten gerichtete Dimension der Semantik von ἐγκύπτω 347 treffend zum Ausdruck bringt. 192 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="193"?> 348 Vgl. B O W I E , Readers, 87. 349 Vgl. dazu weiterführend H Ä G G , Novel; B O W I E , Readers, 87; die Beiträge in P A S C H A L I S / P A N A Y O T A K I S / S C H M E L I N G , Readers. Zur Frage der Bedeutung des antiken Romans für das frühe Judentum und das frühe Christentum vgl. die Beiträge in P I N H E I R O / P E R K I N S / P E R V O , Ancient Novel; speziell für die Frage nach der Bedeutung für die apokryphen Apostelgeschichten vgl. B R E M M E R , Authors (Lit.). 350 Vgl. P O K O R N Y , IEW 2, 588-592. Aufschlussreich ist eine Episode (Ach. Tat. 1,6,6) im Roman Leukippe und Kleitophon von Achilleus Tatios: Der liebestrunkene Kleitphon nimmt, während er im Haus herumläuft, ein Buch in die Hand, beugt sich darüber und liest (βιβλίον ἅμα κρατῶν, καὶ ἐγκεκυφὼς ἀνεγίνωσκον); aber immer, wenn er an der Tür von Leukippe vorbei‐ geht, späht er zu ihr hinüber, indem er nur die Augen hebt (τὸν δὲ ὀφθαλμόν … ὑπείλιττον κάτωθεν). Dies impliziert, dass Kleitophon heimlich zu ihr hinüberspät, also der Leseprozess aus der Außenperspektive allein an seiner Haltung erkannbar sein muss. Damit ist deutlich, dass Kleitophon auf der Ebene der erzählten Welt des Romans nicht-vokalisierend liest, da die Konstellation sonst wenig Sinn machen würde: Beim Heben der Augen wäre es Kleitophon ja nicht möglich gewesen, den Text weiter lautlich zu realisieren, und ein abruptes Abbrechen der Vokalisation hätte Leukippes Aufmerksamkeit auf Kleitphon gezogen. Der in sein Buch/ seine Schriftrolle vertiefte Kleitophon ist unverdächtig und unauffällig. In der Forschungsliteratur findet sich die These, dass die hier bei Achilleus Ta‐ tios erzählte Rezeptionshaltung durchaus selbstreferenziell verstanden werden kann, 348 Romane also zur individuell-direkten Lektüre gedacht waren, die Frage nach der sozialen Stellung der intendierten und tatsächlichen Leserschaft antiker Romane ist hingegen umstritten. 349 Analog zu ἐγκύπτω kann im Lateinischen das wurzelverwandte 350 Verb incumbo verwendet werden, wie eine Stelle bei Tertullian zeigt, an der er im Kontext der Thematisierung der geistlichen Dimension einer keuschen Lebensführung das Lesen der Heiligen Schrift thematisiert: „Wenn er [scil. der Mensch] sich in die Schrift hineinbeugt, ist er ganz in jener“ (si scripturis incumbit, totus illic est, Tert. exhort. cast. 10,2). Es ist aufschlussreich, dass Tertullian hier allgemein vom Menschen redet, der in die Schrift vertieft ist. Damit setzt er eine generelle (allerdings nicht näher zu quantifizierende) Praxis der individuell-direkten Lektüre der Schrift voraus. Die konzeptuelle Metapher B E W E G U N G I S T L E S E N kommt aber z. B. auch in folgenden Formulierungen zum Ausdruck: „Einige junge Leute, die erst seit kurzem regelmäßig zu den alten Worten [scil. Schriften der alten Philosophen] gehen, tadelten Epikur …“ (Νεανίσκοι τινὲς οὐ πάλαι τοῖς παλαιοῖς λόγοις προσπεφοιτηκότες ἐσπάραττον τὸν Ἐπίκουρον … Plut. symp. 3,6,1 [mor. 193 3.7 Lesen als Bewegung <?page no="194"?> 351 Dass προσφοιτάω hier als Äquivalent für „lesen“ verwendet wird, geht aus dem unmittelbaren Kontext hervor. So wirft der in den Schriften Epikurs bewanderte Arzt Zopryos den jungen Leuten vor, „sie müssen das Gastmahl des Epikurus nicht mit Aufmerksamkeit gelesen haben“ (οὐκ ἔφη προσέχοντας αὐτοὺς ἀνεγνωκέναι τὸ Ἐπικούρου Συμπόσιον; Plut. symp. 3,6,1 [mor. 653c; Üb. O S I A N D E R / S C H W A B ). 352 P A U S C H , Livius, 121. 353 H Ö S C H E L E , Muse, 128, mit Verweis auf Mart. 6,56,6; 10,59,1; 11,106,4 (transire); 1,25,4; 13,3,8 (praetire). 653b]); 351 „damit die Leser mitgenommen werden (συμπεριφέρεσθαι)“ (Polyb. 3 ,34,3). Äquivalent finden sich in den Quellen auch Formulierungen, die zeigen, dass das Konzept auch aus der Autorenperspektive verwendet werden konnte. So formuliert z. B. Josephus leserlenkend im Hinblick auf die Komposition seines Buches, er werde das „was aber vor meiner Zeit geschah, auf kurzem Wege durcheilen (ἐπιτρέχω)“ (Ios. bell. Iud. 1 prooem. 6 [18]). Das metaphorische Konzept B E W E G U N G I S T L E S E N findet sich auch in lateini‐ schen Quellen und ist z. B. impliziert in einer Aussage der praefatio des vierten Buches von Livius’ Geschichtswerk, dass er nicht daran zweifle, „daß den meisten Lesern (legentium) die ersten Anfänge […] weniger Freude machen wird, da sie es eilig haben (festinantibus), zu unserer Neuzeit zu kommen“ (Liv. 4 praef.; Üb. P A U S C H ). Diese Aussage ist deshalb interessant, da der Autor hier im Hinblick auf eine individuell-direkte Lesesituation antizipiert, dass seine Leser den Text nicht gleichbleibend sequentiell entlang des Textes lesen, wobei allerdings nicht sicher zu entscheiden ist, „ob mit festinare hier eine in höherer Geschwindigkeit erfolgende, aber vollständige Lektüre oder eine selektive Form der Rezeption, in der auch Teile vom Leser ausgelassen werden können, gemeint ist.“ 352 Eindeutiger mit selektiven Zugriffen verknüpft ist das Konzept B E W E G U N G I S T L E S E N dagegen bei Martial, der mehrfach „die Verben transire und praetire [verwendet], um damit zu beschreiben, wie Leser ein oder mehrere Gedichte nicht beachten bzw. ‚übergehen‘.“ 353 Diese beiden Verben müssten im Hinblick auf das Konzept B E W E G U N G I S T L E S E N weiterführend untersucht werden. Dies kann im Rahmen dieser Studie jedoch nicht geleistet werden. Weil er eine detaillierte Einsicht in Lesepraktiken in der Antike bietet, ist jedoch im Folgenden noch der ausführliche Rat Senecas zur Lektüretätigkeit und -auswahl zu besprechen, den er Lucilius in einem seiner Briefe gibt: „2 Gib aber darauf acht, daß Deine Lektüre vieler Autoren und aller möglichen Werke nicht eine gewisse Oberflächlichkeit und Unbeständigkeit mit sich bringt (ne ista lectio auctorum multorum et omnis generis voluminum habeat aliquid vagum et instabile)! Man muß sich an bestimmte große Geister halten und an ihnen wachsen, wenn man etwas gewinnen will, das tief im Herzen Wurzel schlägt. Nirgends ist, wer überall 194 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="195"?> ist. So ergeht es Leuten, die ihr Leben auf Reisen verbringen: Sie sind viel zu Gast, aber niemands Freund. Und dasselbe muß unweigerlich denen widerfahren, die sich nicht vertrauensvoll an einem der Großen orientieren, sondern durch alles hastig und schnell hindurcheilen (sed omnia cursim et properantes transmittunt). 3 Eine Speise (cibus) ist nutzlos und schlägt nicht an, die man, kaum daß man sie zu sich genommen hat, wieder von sich gibt. Nichts verhindert so sehr die Genesung, als häufiger Wechsel der Heilmittel. Keine Wunde vernarbt, an der man Medikamente ausprobiert. Keine Pflanze gedeiht, die man häufig versetzt - kurz: Nichts ist so nützlich, daß es schon bei flüchtiger Berührung nützen könnte (ut in transitu prosit). Nur Verwirrung kommt aus einer Überzahl von Büchern (distringit librorum multitudo.). Da Du nicht alles zu lesen vermagst, was Du hast, genügt es, soviel zu haben, wie du lesen kannst (itaque cum legere non possis, quantum habueris, satis est habere, quantum legas). 4 ‚Aber‘, wendest Du ein, ‚ich möchte bald dieses Buch auseinanderrollen (evolvo), bald jenes! ‘ Es verrät einen übersättigten Magen, wenn man von vielem nur kostet (fastidientis stomachi est multa degustare). Sobald es viele verschiedene Speisen sind, machen sie nur Beschwerden und sind nicht nahrhaft. Lies also stets anerkannte Autoren, und wenn es Dich einmal lockt, Dich anderen zuzuwenden, dann kehre zur früheren Lektüre zurück (ad priores redi). Verschaffe Dir täglich ein wenig von dem, was Dir in der Armut oder beim Sterben helfen kann, desgleichen bei den übrigen Übeln. Und wenn Du durch vieles hindurchgerannt bist, greife Dir einen Satz heraus (o. exzerpiere einen Satz), den Du an diesem Tag weichkochst (et cum multa percurrens, unum excerpe, quod illo die concoquas). 5 Ich halte es selbst ebenso: Aus recht vielem, das ich lese, suche ich mir etwas zu eigen zu machen (ex pluribus, quae legi, aliquid adprehendo). Heute ist’s der folgende Satz, den ich zufällig bei Epikur gefunden habe - ich gehe (transeo) nämlich gern auch einmal ins gegnerische Lager, nicht als Überläufer, sondern als Kundschafter. ‚Ehrenwert‘, sagt Epikur, ‚ist heitere Armut.‘ (6) Doch es ist gar keine Armut, wenn sie heiter ist: Nicht, wer zu wenig hat, sondern wer zu viel begehrt, ist arm“ (Sen. ep. 2,2-6; Üb. F I N K , mod. JH). Dieser Brief gehört wohl zu den bildreichsten Reflexionen antiker Lesepraxis, in denen verschiedene Bildfelder (u. a. Bewegung/ Reise, Kontakt/ Berührung, Krieg) interagieren, wobei aber die Bewegungs- und Speisemetaphorik do‐ minieren. Die Quelle belegt idealtypisch zwei verschiedene Konzepte indivi‐ duell-direkter Lektüre. Zum einen singulären, schnelle und oberflächliche Lektüre vieler Bücher, die hier vor allem durch Bewegungsmetaphern (vagum et instabile; sed omnia cursim et properantes transmittunt [Sen. ep. 2,2]; et cum multa percurrens [Sen. ep. 2,4]) konzeptualisiert ist. Insbesondere das Verb percurro (durchlaufen, durcheilen) scheint eine gängige Lesemetapher im Lateinischen 195 3.7 Lesen als Bewegung <?page no="196"?> 354 Vgl. z. B. Liv. 9,8,12: „Es steht einem frei, in den Geschichtswerken und den Magist‐ ratslisten die Seiten mit den Konsuln und Diktatoren zu durcheilen (paginas in anna‐ libus magistratuumque fastis percurrere licet consulum dictatorumque).“ Da Livius hier durchaus einen umfangreichen Textbestand vor Augen hat, soll percurro hier durchaus das Lesen als „überfliegendes“ spezifizieren. Zu unterscheiden ist allerdings einerseits die hier belegte Metapher „ein Leser durcheilt einen Text“ und das eher metonymische Motiv „mit den Augen durch einen Text hindurcheilen“ (s. u. 3.7 zu diesem Abschnitt). 355 Das Verb redeo findet sich z. B. auch bei Gell. 16,8,4 als Lesemetapher, dessen Lesepraxis eindeutig durch die genannten Aspekte geprägt war. zu sein und ein eher oberflächliches, „überfliegendes“ Lesen zu bezeichnen. 354 Eine solche Lektürepraxis bewertet Seneca kritisch und begründet dies unter anderem speisemetaphorisch: Verschiedene Speisen, von denen man nur kostet, sind nicht nahrhaft (Sen. ep. 2,4). Damit bringt Seneca eine Erfahrung der Begrenztheit kognitiver Verarbeitbarkeit von Gelesenem bei einer solchen oberflächlichen Form von Lektüre zum Ausdruck. Entsprechend ist auch sein Rat zu früheren Lektüren zurückzukehren (redeo), also wiederholt zu lesen bzw. einzelne Lesefrüchte für sich selbst festzuhalten, möglicherweise durch ein schriftliches Exzerpt, und sich anzueignen, also das intensiv zu Verarbei‐ tende zu selektieren, wofür die Lektüre vermutlich auch unterbrochen werden muss. 355 Interessant ist ferner noch, dass Seneca die Auswahl seiner Lektüren ebenfalls durch eine innovative Bewegungsmetapher zum Ausdruck bringt: das Hinübergehen (transeo) ins feindliche Lager (Sen. ep. 2,5). In einem anderen Buch verwendet er für die von ihm kritisierte Leseweise das Verb erro, um das ziellose Umherirren in den Büchern vieler Autoren zum Ausdruck zu bringen (Sen. tranq. 9,4). Zuletzt und überleitend zum nächsten Punkt sei noch auf eine besondere Form der Bildlichkeit der Bewegung hingewiesen und zwar auf solche Fälle, wo sich nicht - wie in den meisten bisher besprochenen Quellen - der Leser durch den Text bewegt, sondern explizit die Augenbewegung thematisiert wird. Besonders aufschlussreich im Hinblick auf die vorliegende Studie ist in dieser Hinsicht ein Redebeitrag von Aristobulos in Plutarchs Dialog über den Verstand von Land- und Wassertieren: „Wir können oft Schriften mit den Augen durchlaufen, und es können Reden in das Ohr fallen, ohne daß wir etwas davon auffassen und behalten, weil wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas Anderes gerichtet haben (καὶ γὰρ γράμματα πολλάκις ἐπιπορευομένους τῇ ὄψει καὶ λόγοι προσπίπτοντες τῇ ἀκοῇ διαλανθάνουσιν ἡμᾶς καὶ διαφεύγουσι πρὸς ἑτέροις τὸν νοῦν ἔχοντας). So wie aber diese zum Gegenstand zurückkehrt, gehen wir denkend alles Vorbeigelassene noch einmal durch. Daher heißt es auch: ‚Der Verstand sieht, der Verstand hört; alles andere ist taub und blind 196 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="197"?> 356 „Auch beim Lesen (legentibus) kommt es ja vor - mir widerfährt es sehr oft - daß ich, wenn ich eine Seite oder einen Brief durchgelesen habe, nicht weiß, was ich gelesen habe, und es nochmals lesen muß (ut perlecta pagina uel epistula nesciam quid legerim et repetam). Wenn nämlich die Neigung des Willens sich auf etwas anderes hinwendet, dann ist das Gedächtnis nicht in der Weise auf den Leibessinn hingerichtet, wie der Sinn selbst auf die Buchstaben hingerichtet ist (quomodo ipse sensus adhibitus est litteris)“ (Aug. trin. 11,8,15; Üb. S C H M A U S ). 357 Dass in Aristain. 1,10,35-42 das Motiv der Augenbewegung und die Lesemetapher der Bewegung mit vokalisierender Lektüre verbunden wird, ist der Inszenierung, also einer narrativen Notwendigkeit geschuldet (s. o. S. 49; s. u. Anm. 62, S. 230). (νοῦς ὁρῇ καὶ νοῦς ἀκούει, τἄλλα κωφὰ καὶ τυφλά),‘ [Epicharmos, PCG 1 214]. Denn der Eindruck auf Augen und Ohren bringt, wenn nicht das Denken dabei ist, keine Empfindung hervor“ (Plut. soll. an. 3 [mor. 961a]; Üb. O S I A N D E R / S C H W A B ) Autobulos siniert hier eindrucksvoll über den Zusammenhang zwischen Lesen und kognitiver Verarbeitung. Seine Ausführungen beruhen allem Anschein nach nicht nur auf der Selbstwahrnehmung seiner eigenen Lesepraxis, son‐ dern spiegeln ein in der Antike weiter verbreitetes Bewusstsein wider. Zur Beschreibung des Lesens verwendet er das Motiv „Buchstaben mit den Augen durchmarschieren/ -reisen“ (ἐπιπορεύομαι τῇ ὄψει), womit eindeutig ein (un‐ bewusster) individuell-direkter Leseprozess gemeint ist. Und zwar verweist er damit spezifisch auf die physiologischen Prozesse des Lesens, die darauf angewiesen sind, dass auch der Verstand auf das Gelesene gerichtet wird. Denn wenn die Aufmerksamkeit des Lesers auf etwas anderes gerichtet ist, kann der Leser den Inhalt des Textes kognitiv nicht weiterverarbeiten, was etwa auch Augustinus reflektiert. 356 Allerdings scheint der zweite Satz „So wir aber …“ auf eine Erfahrung hinzudeuten, dass auch bei einem Leseprozess, bei dem der Leser gedanklich abschweift, unterbewusst doch etwas wahrgenommen werden kann, das einem im Nachhinein durch Zurücklenkung der Aufmerksamkeit auf den Gegenstand, bewusst gemacht werden kann. Dass hier außerdem zwischen dem Auge als primärem Rezeptionsorgan für das Lesen und dem Ohr als primärem Rezeptionsorgan für die Rede unterschieden wird, deutet in diesem Kontext außerdem eher darauf hin, dass er nicht-vokalisierendes Lesen voraussetzt. 357 Im Zitat von Epicharmos zeigt sich zudem ein Bewusstsein für das „innere Auge“ und das „innere Ohr“ als Beschreibungskategorien für die kognitiven Verarbeitungsprozess beim Lesen, die schon an anderer Stelle angesprochen wurden. Bei Horaz (sat. 2,5,51-55) findet sich eine eindrucksvolle Szene, in der es um das Lesen eines Testamentes geht. In einem Dialog mit Teiresias rät Odysseus diesem, er möge, wenn jemand ihm sein Testament zu lesen geben wolle, es 197 3.7 Lesen als Bewegung <?page no="198"?> 358 Prominent an der schon mehrfach oben zitierten Stelle Lukian. adv. ind. 2: τοῖς ὀφθαλμοῖς ὁρᾷς τὰ βιβλία. 359 Vgl. z. B. CVA 16,2, Tafel 67,1 = BAPD 211550 (ein Jüngling liest in leicht gebückter Haltung mit dem Blick nach unten die Inschrift auf einer Stele; Kylix, attisch, 5. Jh. v. Chr., heute im Museum Schloss Fasanerie, Eichenzell/ Fulda, Inv. 134); BAPD 208981 ( Jüngling lehnt sich auf einen Stock und schaut in leicht gebückter Haltung nach unten auf eine Stele mit Inschrift; Lekythos, 5. Jh. v. Chr., Bologna, Museo Civico Archeologico, 1446). Vgl. außerdem das Votivrelief von der Akropolis in Athen, das Athena auf einen Stock lehnend und nach unten auf einen Stein schauend abbildet, das B I N G , Scroll, 124, Fig. 4, abbildet. 360 Vgl. weiterführend zur Diskussion um das Lesen von inschriftlichen Epigrammen B I N G , Scroll, 116-146. 361 Vgl. H Ö S C H E L E , Muse, 111-122. dankend zurückweisen. Dabei möge er sich jedoch bemühen, unbemerkt einen Seitenblick auf die zweite Zeile der ersten Seite (der tabulae) zu werfen (ut limis rapias, quid prima secundo cera velit versu; Hor. sat. 2,5,53 f), in der die Erben namentlich erwähnt werden. Mit schnellem Auge solle man dabei rennen (veloci percurre oculo), um zu schauen, ob er allein oder mit anderen erbt (Hor. sat. 2,5,54 f). Hier ist eindeutig eine beiläufige individuell-direkte Lektüre im Blick, die schnell und unbemerkt ablaufen muss und eindeutig rein visuell konzeptualisiert ist. Die weite Verbreitung der Wahrnehmung des Lesens als visuelles Phänomen wird nun im Folgenden zu thematisieren sein. 3.8 Lesen als Sehen des Textes Es finden sich zahlreiche Belege in den Quellen, die zeigen, dass Lesen in der Antike als visuell orientiertes Phänomen wahrgenommen und beschrieben wurde. 358 Dies spiegelt sich darin wider, dass zahlreiche Verben der visuellen Wahrnehmung (im Folgenden: verba vivendi) zur Beschreibung von Leseakten verwendet werden konnten. Im Folgenden wird eine Auswahl der aussagekräf‐ tigsten Quellenstellen exemplarisch besprochen. Die auffälligste Beobachtung am Quellenbefund besteht darin, dass das Lesen von Inschriften, das auch ikonographisch dargestellt wird, 359 eng mit der visu‐ ellen Wahrnehmung verknüpft ist. 360 Dies zeigen a) sowohl selbstreferenzielle Verweise in den Inschriften selbst als auch b) literarische Quellen, in denen in unterschiedlicher Form das Lesen von Inschriften reflektiert wird, das in den meisten Fällen wohl eine Form des zufälligen Lesens darstellt. 361 198 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="199"?> 362 Üb. und Erläuterungen C H R I S T I A N , Steine, 85. 363 Vgl. weiterführend zum Motiv des vorbeigehenden Lesers T S A G A L I S , Sorrow, 219-224. 364 Weitere Beispiele für verba vivendi in Inschriften, die metonymisch den Lesevorgang bezeichnen, finden sich bei C H R I S T I A N , Steine, 86, Anm. 202. 365 S. o. Anm. 38, S. 102. ad a) Eine außerordentlich detailreiche Reflexion des Lesevorgangs von Inschriften findet sich in einer Inschrift aus Alexandria aus dem 3./ 2. Jh. v. Chr.: „… der Stein wird dir den Toten bezeichnen (σημανεῖ), als wer und wessen Sohn er in den Hades ging. Aber beuge mir, Freund, das totengeleitende Knie [d. h. das dich zu den Toten/ zur Inschrift führt? ] auf den Boden und beschaue mit beiden Pupillen die gravierte Inschrift (ἄθρει γράμμα διπτύχοις κόραις)“ (GVI 1620,1-5). 362 Die Haltung des Kniens, die Verwendung des Verbes ἀθρέω und der Hinweis auf die Pupillen zeigen eindeutig, dass der Leseakt visuell konzeptualisiert ist. Dies korrespondiert damit, dass der Stein selbst nicht spricht, sondern durch das Verb σημαίνω eher der visuelle Charakter des Geschriebenen hervorgehoben wird. Die eindeutig indivi‐ duell-direkte Rezeption des in der Inschrift enthaltenen Textes ist also mutmaßlich nicht-vokalisierend zu denken. Es finden sich zahlreiche weitere Grabinschriften, in denen der intendierte Leser der Inschrift direkt im ersten Satz aufgefordert wird, das Grabmal zu beschauen, wahrzunehmen bzw. darauf zu sehen (ἀθρέω). Aus dem Befund geht eindeutig hervor, dass nicht nur ein Sehen des materiellen Steins gemeint ist, sondern das Verb metonymisch zum Lesen der Inschrift selbst auffordert. Ein schönes Beispiel findet sich in einer Inschrift aus Telos, die ins 1. Jh. v. Chr. datiert wird: „Reisender, beschaue dieses Grabmal Philons aus Kallipolis …“ (σῆμα Φίλωνος ἄθρησον ὁδοιπόρε, Καλλιπο[λ]εί[ας] …; IG XII 3 48,1 f). 363 In einer christlichen Inschrift aus der ersten Hälfte des 3. Jh. n. Chr. aus Lykaonien findet sich analog: „Wenn du dieses Grabmal beschaust, wirst du wissen, wen das Grab festhält: den edlen Sohn des Photinos, den vortrefflichen Diomedes, der mit seinem Tod sein Vaterland betrübte.“ (σῆμα τόδ’ ἀθρήσας εἴσῃ τίνα τύνβος ἐρύκι· Φωτινοῦ τέκος ἐσθλὸν ἀρίζηλον Διομήδην …; MAMA 7 560,1-4 = ICG 349, Üb. H U T T N E R [leicht modifiziert JH]). Aus der syntaktischen Konstruktion geht eindeutig hervor, dass ἀθρέω hier bedeuten muss, dass der Betrachter die Inschrift liest, damit er wissen (οἶδα) kann, wer hier begraben liegt. S. die ganz ähnliche Formulierung in SEG 6 297,1 f = ICG 352. Vgl. außerdem exemplarisch SEG 40 1105,2 f; MAMA 7 553,1 f (=ICG 345); MAMA 7 558,1 (=ICG 347). 364 S. ferner außerdem die oben schon besprochene Bestimmung zur Veröffentlichung im Edikt über das Aurum Coronarium in P.Fay. 20 col. 2, Z. 23, in der mit σύνοπτος ein Adjektiv der visuellen Wahrnehmung verwendet wird. 365 199 3.8 Lesen als Sehen des Textes <?page no="200"?> 366 Vgl. ferner Cic. Tusc. 5,64-66, wo Cicero das mühsame Auffinden einer Inschrift mit einem Epigramm beschreibt. Hier handelt es sich freilich nicht um einen zufälligen, sondern um einen intendierten Leseakt. 367 So C H R I S T I A N , Steine, 86, Anm. 202. 368 Vgl. auch Lukian. Alex. 36, der auf einen apotropäischen Spruch verweist, der über vielen Eingängen zu sehen, d. h. zu lesen war: τοῦτο ἦν ἰδεῖν τὸ ἔπος πανταχοῦ ἐπὶ τῶν πυλώνων γεγραμμένον. 369 Vgl. außerdem exempl. Lukian. ver. hist. 1,7. ad b) Schon bei Herodot findet sich ein verbum vivendi in Bezug auf eine Inschrift: „Ich selbst habe gesehen solche Buchstaben aus der Zeit des Kadmos [scil. phönizische Buchstaben] (εἶδον δὲ καὶ αὐτὸς Καδμήια γράμματα) im Tempel des Apollon Ismenios im boiotischen Theben“ (Hdt. 5,59). 366 Es ist zwar richtig, dass Herodot hier in erster Linie auf das archaische Aussehen der Schrift verweist. Wie das nachfolgende Zitat einer der auf einem Dreifuß eingeritzten Inschriften zeigt, impliziert das Sehen allerdings auch das Lesen derselben. 367 In Aristophanes’ Σφήκες sagt Xanthias über seinen Herren: „Wenn er irgendwo an einer Tür geschrieben sieht ‚Schön ist Demos, der Sohn Pyrilampes’ (ἢν ἴδῃ γέ που γεγραμμένον υἱὸν Πυριλάμπους ἐν θύρᾳ Δῆμον καλόν), wird er darunter schreiben ‚Schön ist Cemos,‘“ (Aristoph. Vesp. 97). Das Sehen impliziert hier eindeutig, dass das Graffito auch gelesen wird. 368 In den Mimiamben des Herodas aus dem 3. Jh. v. Chr. findet sich eine Szene, in der zwei Frauen ein Opfer in das Asklepieion von Kos bringen und während der Opferung über die Kunstwerke sprechen. Dabei fällt der Freundin Kynnos zunächst ein großes Marmorwerk ins Auge und sie fragt, wer es geschaffen und wer es aufgestellt habe. Darauf antwortet Kynno: „Die Söhne des Prexiteles; siehst Du nicht jene Inschrift auf dem Sockel? (οὐκ ὀρῆις κεῖνα ἐν τῆι βάσι τὰ γράμματ’) Euthies aber hat es aufgestellt, der Sohn des Prexon“ (Herodas 4,23-25; Üb. M E I S T E R ). Das Verb ὁράω meint hier so viel wie: „Hast Du noch nicht gelesen? “ Denn Kynno geht anscheinend selbstverständlich davon aus, dass ihre Freundin die Inschrift potentiell lesen kann, diese bisher aber offensichtlich nur noch nicht wahrgenommen hat. Dies ist insofern aufschlussreich, als es sich bei den Frauen - wie insgesamt in den Mimiamben - um Personen aus den mittleren und unteren Schichten handelt, wie in diesem Fall an der Opfergabe sichtbar wird (vgl. Herodas 4,10-19). 369 Auch die bemerkenswerte Kombination aus Bewegungsbildlichkeit und visueller Wahrnehmung (s. o. 3.7) findet sich in Bezug auf das Lesen von Inschriften in den Quellen. So finden sich die folgenden Ausführungen in Plutarchs Περὶ πολυπραγμοσύνης: „Ein Hauptmittel, sich von dieser Leidenschaft [der Neugier] zu befreien, liegt in der Gewöhnung, wenn wir schon von früh her anfangen, uns selbst zu dieser Enthaltsamkeit zu üben und anzuleiten; […] Wir wollen erst mit den geringsten und unbedeutendsten Dingen den Anfang machen. Ist es etwas Schweres, auf den Wegen die Inschriften an den Gräbern nicht zu lesen? (τί γὰρ χαλεπόν ἐστιν ἐν ταῖς ὁδοῖς τὰς ἐπὶ τῶν τάφων ἐπιγραφὰς μὴ ἀναγιγνώσκειν) 200 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="201"?> 370 Vgl. dazu weiterführend die explizite Formulierung bei Theokr. eid. 18: „Und Buch‐ staben werden in der Rinde eingeritzt sein, daß einer sie beim Vorbeigehen auf Dorisch liest (ὡς παριών τις ἀννείμῃ Δωριστί): …“ 371 Vgl. außerdem Plin. ep. 8,8,7: „Insgesamt wird es nichts geben, woran Du nicht Vergnügen findest. Denn Du wirst auch Studien betreiben können; an allen Säulen, an allen Wänden wirst du zahlreiche Inschriften vieler Menschen lesen (leges multa multorum omnibus columnis omnibus parietibus inscripta), durch die jene Quelle und ihr Gott gepriesen werden. Mehrere wirst Du loben, über einige wirst Du lächeln“ (Üb. u. weiterführend E G E L H A A F -G A I S E R , Einer); Plin. nat. 34,9,17; Cic. Cato 21; Philostr. v. Apoll. 5,4 f (Philostrat bezieht sich mit einer Aussage auf Inhalt einer fremdsprachlichen Inschrift, deren Text er offensichtlich ohne Vokalisierung visuell erfasst hat und die sonst keiner lesen kann; s. z. St. B Ä B L E R / N E S S E L R A T H , Apollonios, 44); Xen. Eph. 5,10,7. Vgl. überdies die Diskussion bei P A L L A R E S , Reading of Monuments. 372 Vgl. H Ö S C H E L E , Muse, 113 f, die als „Ausnahme“ auf eine Szene im Äsop-Roman (78,1) verweist. Oder ist es schwierig, bei Spaziergängen mit dem Blick über die Schriften an den Mauern herüberzulaufen? (ἢ τί δυσχερὲς ἐν τοῖς περιπάτοις τὰ κατὰ τῶν τοίχων γράμματα 2 τῇ ὄψει παρατρέχειν) Wir brauchen nur daran zu denken, dass nichts Nützliches und Angenehmes darauf geschrieben steht“ (Plut. curios. 11 [mor. 520d/ e]; Üb. O S I A N D E R / S C H W A B , mod. JH). Gerade weil hier das Nicht-Lesen der Inschriften mit der Bewegung des Blickes konzeptualisiert ist, erscheint diese Stelle interessant und belegt indirekt das Konzept V I S U E L L E W A H R N E H M U N G V O N S C H R I F T I S T L E S E N . Die Stelle impliziert außerdem, dass es nicht selbstverständlich ist, Inschriften am Wegesrand zu ignorieren, sondern einer (wenn auch leichten) Übung bedarf. Dies deutet darauf hin, dass es durchaus gängig war, Inschriften im „Vorbeigehen“ 370 wahrzunehmen und zumindest mit einem flüchtigen Blick das Geschriebene (teilweise) zu lesen (ἀναγιγνώσκω). Vgl. ferner Plin. nat. 35,3,12. Die ikonographischen Darstellungen sowie die angegebene Auswahl an lite‐ rarischen Reflexionen der Wahrnehmung von Inschriften zeigt - zusammen mit den oben schon angegeben Belegen zum Lesen von Inschriften (vgl. 3.1.1, S. 111 f) 371 -, dass die Einschätzung von R. Höschele zu revidieren ist, die Rezeption von Inschriften würde in der antiken Literatur kaum thematisiert. Zusätzlich zu hinterfragen ist dann ihre daraus abgeleitete Schlussfolgerung, die Menschen in der Antike hätten Texte auf Inschriften nicht gelesen bzw. weitgehend ignoriert. 372 Die weitere exemplarische Durchsicht durch den Quellenbefund ist, soweit dies sinnvoll darstellbar ist, chronologisch orientiert, wobei auf später erneut zu findende, analoge Formulierungen vorgezogen verwiesen wird und zuletzt summarisch solche Quellen genannt werden, an denen zwar das Lesen selbst 201 3.8 Lesen als Sehen des Textes <?page no="202"?> 373 So auch A N D E R S O N / D I X , Λάβε, 80 f; G R I E P , Geschichte, 73, der auf die Selbstverständ‐ lichkeit hinweist. nicht direkt metonymisch als Sehen konzeptualisiert ist, aber der enge Zusam‐ menhang zwischen Sehorgan und Lesen deutlich wird. Schon im 5. Jh. v. Chr. findet sich eine aufschlussreiche Szene in Aristophanes’ Ἱππῆς, in welcher der Sklave des Demos Demosthenes seinen Mitsklaven Nikias darum bittet, ihm das entwendete Schriftstück (vgl Aristoph. Eq. 110-115) mit einem Orakel (χρησμός) zu geben: „Gib’ es mir, damit ich es lese (φέρ᾽ αὐτὸν ἵν᾽ ἀναγνῶ)! Schenk mir fleißig ein inzwischen! Gib’, damit ich sehe, was darin steckt (φέρ᾽ ἴδω τί ἄρ᾽ ἔνεστιν αὐτόθι). [Anm. JH: Lesepause] Oh Prophezeiungen (ὦ λόγια)! Gib mir, gib den Becher schnell“ (Aristoph. Eq. 118-120). Das individuell-direkte Lesen (ἀναγιγνώσκω) - Demosthenes bekommt das Schriftstück in die Hand - ist hier eindeutig visuell konzeptualisiert, εἶδον wird gleichsam synonym zu ἀναγιγνώσκω verwendet. Der Ausruf ὦ λόγια bezieht sich auf das Gelesene. Es ist also eine Lesepause impliziert. Sodann geht aus dem Kontext eindeutig hervor, dass Demosthenes das Schriftstück nicht-vokalisierend liest. 373 Denn in der Fortsetzung des Dialogs fragt Nikias mehrfach nach dem Inhalt des Orakels (vgl. Aristoph. Eq. 121 ff). In einem andern Stück von Aristophanes, den Νεφέλαι, bittet Strepsiades nach dem Aufstehen einen Sklaven darum, Licht (es ist noch dunkel) und sein Geschäftsbuch (γραμματεῖον) zu holen. „[D]amit ich es nehme und lese (ἵν᾽ ἀναγνῶ λαβὼν), wem ich etwas schulde und die Zinsen berechne. Gib’, dass ich sehe, was ich schulde. (φέρ᾽ ἴδω τί ὀφείλω) [Anm. JH: liest] Zwölf Minen dem Pasias. [Anm. JH: blickt auf und spricht nicht mehr lesend: ] Zwölf Minen dem Pasias? …“ (Aristoph. Nub. 19-22). Wie schon bei der vorhergehenden Stelle, wird εἶδον hier gleichsam synonym zu ἀναγιγνώσκω verwendet, wobei Strepsiades das Geschäftsbuch aus dramaturgischen Gründen vokalisierend liest und seinen Leseprozess für kommentierende Anmerkungen jeweils unterbricht. Eine ähnliche Szene findet sich bei Demosthenes, der ebenfalls εἶδον ver‐ wendet, um die Einsicht in Geschäftsbücher zu beschreiben. Und zwar berichtet Demosthenes, dass Kallipos in einer Bank um Einsicht in die Geschäftsbücher bittet, um zu überprüfen, ob der gestorbene Phormion Geld hinterlassen habe (ἀξιῶ δή σε δεῖξαί μοι τὰ γράμματα, ἵν᾽ εἰδῶ εἴ τι καταλέλοιπεν ἀργύριον; Demosth. or. 52,5). Die Bücher werden ihm auf der Stelle gebracht. Als er sie gelesen und einen bestimmten (für ihn unangenehmen) Eintrag gesehen hat (ἀναγνοὺς αὐτὸς καὶ ἄλλος οὐδείς, καὶ ἰδὼν γεγραμμένον ἐν αὐτῷ …; Demosth. 202 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="203"?> 374 Vgl. außerdem Demosth. or. 52,19. 375 S. o. in Bezug auf Inschriften. Vgl. außerdem exempl. (Ps.)-Plat. ep. 7,344c: „Wenn man jemandes schriftlich niedergelegte Gedanken zu sehen bekommt (ὅταν ἴδῃ τίς του συγγράμματα γεγραμμένα) …“ (Üb. N E U M A N N ), bedeutet hier eindeutig etwas Schriftliches individuell-direkt zu lesen; vgl. ferner Polyb. 8,8,5; Plut. adv. Col. 25 (mor. 1120 f); Paus. 10,38,13; JosAs 22,9; Gal. Hipp. aph., ed. K Ü H N 17b, p. 387,10; Hipp. off. med., ed. Kühn 18b, p. 654,7; Vett. Val. fr., CCAG 5,3, p. 117,32 f; Hippol. adv. haer. 13,1. 376 Vgl. Artem. on. 3,44 zum Lesen eines Briefes im Traum: „Wenn jemand einen Brief sieht und das, was darin geschrieben ist (Ἐπιστολὴν εἰ μέν τις ἴδοι καὶ τὰ ἐν αὐτῇ γεγραμμένα), so wird das Traumgesicht den Inhalt entsprechend sich erfüllen; wenn nicht, bringt er doch in jedem Fall Glück; jeder Brief enthält ja ein ‚Sei gegrüßt‘ und ein ‚Leb wohl! ‘“ (Üb. B R A C K E R T Z , leicht mod. JH). Da konkret auf das Geschriebene eingegangen wird, ist deutlich, dass es hier nicht nur um das Schauen des Inhalts im Traum, sondern tatsächlich auch um das Lesen des Textes geht. 377 S. u. u. a. Anm. 224, S. 434. 378 Gegen U S E N E R , Isokrates, 170; M A R I S S , Alkidamas, 273. or. 52,6), verlässt er die Bank ohne einen Ton zu sagen. 374 Die individuell-direkte Lektüre der Geschäftsbücher - Kallipos hat sie selbst in der Hand - ist hier eindeutig visuell konzeptualisiert. Nichts im Kontext deutet auf vokalisierende Lektüre hin. Die hier zu findende Wendung „etwas Geschriebenes sehen“ findet sich spätestens seit dem 5./ 4. Jh. v. Chr. vielfach als Metonymie für Lesen, 375 etwa auch im Hinblick auf das Lesen von Briefen 376 und ist für die Interpretation einiger Stellen im NT relevant (vgl. insb. den eigenhändigen Briefgruß von Paulus, der eindeutig für visuell wahrgenommen werden musste). 377 Schon im 4. Jh. v. Chr. findet sich auch eine Stelle, an der θεωρέω im Sinne von „lesen“ verwendet wird, und zwar bei Alkidamas, dem Gegner von Isokrates. Dieser gibt in seiner (schriftlich publizierten; s. u.) Rede „Über die Schreiber von geschriebenen Reden oder über die Sophisten“ zu bedenken, dass „die geschriebene Rede (ὁ γεγραμμένος λόγος), […] wenn sie aus einem Buch heraus betrachtet wird (ἐκ βιβλίου <μὲν> θεωρούμενος), Ehrfurcht hervorruft“ (Alkid. Soph. 28) aber sonst keinen wirklichen Nutzen habe. Die Formulierung „aus einem Buch heraus betrachten“ impliziert m. E. ganz eindeutig individuell-di‐ rekte Lektüre einer in einer Rolle aufgeschriebenen Rede, wie sie z. B. auch bei Isokr. 12,216.246, Plut. Pomp. 79 oder Plin. ep. 1,16,3 (s. o.) vorausgesetzt wird, und nicht eine vermeintliche Situation, in der die Rede vor einem Publikum vorgelesen wird. 378 Dies zeigt insbesondere der argumentative Kontext (vgl. Alkid. Soph. 27), in dem Alkidamas geschriebene Reden, die für ihn eher den Charakter eines Abbildes, eines Musters oder einer Imitation von Reden hätten, mit Bronzestatuen, Steinmonumenten und der Darstellung von Lebewesen vergleicht, die eben von Individuen visuell wahrgenommen werden und, wie er selbst betont, beim Betrachten Vergnügen bereiten (καὶ τέρψιν μὲν ἐπὶ τῆς 203 3.8 Lesen als Sehen des Textes <?page no="204"?> 379 Vgl. V A H L E N , Alkidamas. 380 Dagegen spricht auch nicht, dass er die Defizite schriftlicher Reden zuvor (z. B. in Alkid. Soph. 12.18) daran festmacht, dass auswendiggelernte Vorträge auf der Grundlage von verschriftlichten Reden unflexibel seien. Dies richtet sich mutmaßlich gegen eine Praxis, die sich zu seiner Zeit finden lässt und die vielleicht auch durch publizierte Reden z. B. von Isokrates und durch die rhetorische Ausbildung in seiner Schule befördert wurde; dass schriftlich publizierte Reden allein für die Vortragssituation geschrieben worden sind, lässt sich daraus nicht ableiten. S. dagegen auch die ausführlichen Ausführungen von Crassus bei Cic. de orat. 1,33,149-34,159. 381 V A N H O O K , Alcidamas, 90. θεωρίας ἔχει). Dieser Vergleich zeigt, dass Alkidamas die von ihm kritisierten geschriebenen Reden in Rollenform in seiner Zeit - er hat die Reden von Isokrates im Blick 379 - nicht (primär) als Vorlagen für den performativen Vortrag versteht, 380 sondern als Werke für die fortlaufende, individuelle Rezeption. Dies entspricht im Übrigen dem, wie etwa L. van Hook die Intention von Isokrates’ Reden charakterisiert: „It was his aim in written discourse, which was to be read, to produce work of lasting value, to be thorough, and to be honest; not merely to educate youths as speakers and litigants, but to prepare them for actual life and as leaders of public opinion.” 381 Da Alkidamas in der vorliegenden Rede selbst auf das Format der schriftlichen Publikation einer Rede zurückgreift, muss er angesichts seiner Kritik an Iso‐ krates einigen argumentativen Aufwand zur Selbstrechtfertigung betreiben (vgl. Alkid. Soph. 29-32). Er selbst nutze das Format der schriftlichen Rede, damit seine Darlegungen zu den Massen herausgetragen werden kann (εἵνεκα τῶν εἰς τοὺς ὄχλους ἐκφερομένων; Alkid. Soph. 31), d. h. er hat einen breiten Rezipientenkreis im Blick, der über den eines Auditoriums weit hinausgeht und den er ebenfalls in Alkid. Soph. 31 nicht mit einem Partizip eines verbum dicendi, sondern mit dem Partizip von ἐντυγχάνω als „meine Rezipienten/ Leser“ (s. o. 3.4) anspricht. In diesem Kontext verwendet er mit der Formulierung „Hinabsehen in das Geschriebene“ (εἰς δὲ τὰ γεγραμμένα κατιδόντας; Alkid. Soph. 32) im Übrigen eine weitere, visuell konnotierte Umschreibung einer Form individuell-direkter Lektüre, bei welcher der Leser auf das in der Rolle Geschriebene hinabschaut. Eine weitere eindrückliche Szene findet sich im Hauptwerk von Dionysios von Halikarnassos, in der er die Geschichte Roms erzählt. In Buch 5 beschreibt Dionysios, wie die Konsuln aus der Frühzeit der Römischen Republik eine Verschwörung aufdecken und Briefe der Verschwörer finden (vgl. Dion. Hal. ant. 5,7,2-4). Nach der nächtlichen Aufdeckung der Konspiration setzt sich der Konsul Brutus am Morgen auf den Richterstuhl (καθίσας ἐπὶ τὸ βῆμα). 204 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="205"?> 382 S. zur Verwendung dieses Verbes als Leseterminus ferner exempl. Gal. dig. puls. 3,79 [ed. K Ü H N 8, p. 931,6]; Cass. Dio 55,25,4. Das Verb σκοπέω wird auch ohne Präfix als Leseterminus verwendet. Vgl. z. B. Ps.-Aristot. de plantis 821b31 f: ἐὰν ἐπιμελῶς σκοπήσωμεν τὰς βίβλους αὐτῶν ἃς ἔγραψαν …; Athen. deipn. 9,29 (383b). 383 Vgl. zu diesem Brief weiterführend H E S S L E R , Korrespondenz, 40 f. 384 S. dazu und zur Verbreitung von Skytalen weiterführend D Z I A T Z K O , Beiträge, 5-8. „Und er sah die Briefe der Verschwörer durch (καὶ τὰς ἐπιστολὰς τῶν ἐν τῇ συνωμοσίᾳ διασκεπτόμενος), wobei er fand (εὑρίσκω), dass diese von seinen Söhnen geschrieben worden waren, was er jeweils an den Siegeln erkannte“ (Dion. Hal. ant. 5,8,2). Das Verb διασκοπέω (durchsehen, genau betrachten, untersuchen) 382 zeigt an, dass die individuell-direkte Lektüre im Sitzen eindeutig visuell konzeptualisiert ist. Zudem geht aus dem Kontext hervor, dass Brutus die Briefe nicht-vokali‐ sierend liest. So befiehlt er im Folgenden, dass die Briefe vorgelesen würden (ἀναγιγνώσκω), damit auch den anderen Anwesenden der Inhalt zu Gehör gebracht wird. Sehr ähnlich ist eine Szene in der in der ersten Hälfte des 3. Jh. geschriebenen Vita des Apollonios von Tyana von Philostrat. Der Ich-Erzähler vermutet hier, dass der König keine Nahrung zu sich genommen hätte, weil er Gerichtsakten durchgesehen habe (διοράω). „Er habe nämlich eine Schriftrolle in der Hand gehabt und bald mehr, bald weniger Zorn gezeigt“ (Philostr. v. Apoll. 8,1; Üb. M U M P R E C HT ). Auch hier erscheint es plausibler anzunehmen, dass der König die Gerichtsakten nicht-vokalisierend durchsieht. Das Verb wird außerdem in einem Fragment von Alexis Stück Linos eindeutig zur Kennzeichnung von nicht-vokalisierendem Lesen verwendet. In einer Szene fordert Linus Herakles dazu auf die an den Rollen außen angebrachten Titel der großen Menge seiner Bücher mit Ruhe und Muße durchzusehen (διασκοπῶν ἀπὸ τῶν ἐπιγραμμάτων ἀτρέμα τε καὶ σχολῇ. Alexis, Linus fr. 140: Athen. deipn. 4,57 [164c]). Epikur verwendet in seinem Brief an Herodot das Verb διαθρέω (durchsehen), um das individuelle Studium seiner umfangreichen Fachbücher zu bezeichnen, wenn er schreibt, er habe eine Epitome erstellt „für diejenigen […], die nicht alles genau erforschen (ἐξακριβόω) können, was ich über die Natur geschrieben habe, oder die längeren Bücher der Werke durchsehen zu können (μηδὲ τὰς μείζους τῶν συντεταγμένων βίβλους διαθρεῖν)“ (Diog. Laert. 10,35). 383 Plutarch kommt in seiner Biographie des spartanischen Feldherrn Lysandros auf ein Verschlüsselungssystem für schriftliche Botschaften in der Kommunika‐ tion mit Militärs zu sprechen - die sog. Skytale (vgl. Plut. Lys. 19; s. auch Polyain. strat. 7,19). 384 Dabei kommen auf der Sender- und Empfängerseite zwei identische Rundhölzer zum Einsatz, um die herum ein Papyrus- oder Lederstreifen gewickelt und mit einer Nachricht beschrieben wird. Die Nachricht auf dem Streifen wird ohne das Rundholz an den Empfänger geschickt. 205 3.8 Lesen als Sehen des Textes <?page no="206"?> 385 Das Motiv des Lesens in der Natur und in der Stille findet sich auch im griechischen Alexanderroman. Dort liest Philipp in einem Garten des Palastes, dessen Idylle aus‐ giebig ausgeschmückt wird, πρὸς τὴν ἡσυχίαν ἐν φιλολόγοις βιβλίοις (Ps.-Kall. 1,11,1 [rec. α]). Eine Situation der absoluten Ruhe sieht z. B. auch Dion Chrysostomos für die genussvolle Lektüre von Herodot vor. Vgl. Dion Chrys. or. 18,10. 386 Vgl. z. B. auch Basil. ep. 138,1. „Er nimmt also die bei ihm befindliche Skytale und wickelt den Briefstreifen um sie, so dass, wenn nun die Wickelung in die gleiche Lage kommt, wie zuvor, das zweite an das erste schließt, das Auge im Kreise herumführt und es so den Zusammenhang auffinden lässt (κύκλῳ τὴν ὄψιν ἐπάγειν τὸ συνεχὲς ἀνευρίσκουσαν)“ (Plut. Lys. 19,7; Üb. Z I E G L E R ). Das Lesen der Botschaft ist hier eindeutig visuell konzeptualisiert, wie sprach‐ lich-syntaktisch vor allem daran deutlich wird, dass der Blick (ὄψις) Hauptbe‐ teiligter des Lesevorgangs ist, der wiederum als Auffinden des Zusammenhangs beschrieben wird (τὸ συνεχὲς ἀνευρίσκω). Interessant ist außerdem, dass der Herausgeber im Prolog der Oracula Sibyl‐ lina formuliert, er habe die vorher zusammenhangslosen Weissagungen als ein einheitliches und zusammenhängendes Ganzes herausgegeben, „damit sie für die Lesenden leicht einzusehen sind (ὡς ἂν εὐσύνοπτοι τοῖς ἀναγιγνώσκουσιν)“ (Sib. Prol.). Die Semantik des Adjektivs εὐσύνοπτος hat eine eindeutig visuelle Konnotation. In Kombination mit der zuvor zu findenden Metapher A R B E IT I S T L E S E N (ἐκπονέω/ πονέω) ist es eindeutig, dass der Herausgeber eine intensive individuell-direkte Lektüre seiner Sammlung antizipiert. Kaiser Iulian formuliert in einem Brief an den Rhetor Euagrios: „Tiefe Stille herrscht rings um den Ort, wenn du dich niederläßt, um in ein Buch zu sehen (ἡσυχία δὲ πολλὴ κατακλινομένῳ καὶ εἴς τι βιβλίον ἀφορῶντι). Willst du dazwischen einmal dein Auge ausruhen lassen, so ist es überaus wohltuend, auf die Schiffe und das Meer hinauszuschauen“ (Iul. ep. 25 [427b]; Üb. W E I S ). Diese Stelle bietet zahlreiche interessante Einsichten im Hinblick auf Leseweise und Lesesituation. Iulian imaginiert eine Lesesituation auf einem Stückchen Land, das er Euagrios zum Geschenk macht, in der Euagrios draußen in der Natur, im Liegen (κατακλίνω) und in großer Stille (ἡσυχία δὲ πολλὴ) liest. 385 Die Verwendung von ἀφοράω als Leseverb 386 konzeptualisiert die individuell-di‐ rekte Lektüre eindeutig visuell und zeigt in Verbindung mit der Betonung der Stille, dass diese nicht-vokalisierend vorzustellen ist. Der Verweis auf das Ausruhen der Augen zeigt sodann ferner, dass es sich um eine längere Lektüresequenz handeln muss, welche die Augen anstrengt, sodass Erholungs‐ unterbrechungen notwendig erscheinen. 206 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="207"?> 387 Vgl. neben den Einträgen in den gängigen Lexika insb. die Ausführungen bei Aristot. Ath. pol. 54,3-5, welche den Tätigkeitsumfang von γραμματεῖς anschaulich zeigen. S. weiterführend Anm. 74, S. 504. 388 Vgl. z. B. Cic. de orat. 1,34,154: Das Verb propono meint hier, dass Cicero sich Reden in Form von Manuskripten vornimmt (vor die Augen); Cic. fam. 3,7; Hor. ep. 1,19,34-40 (ingenuis oculisque legi manibusque teneri); Plin. ep. 5,10,3; Ov. am. 1,11,21 f; Val. Max. 4,6; Quint. inst. or. 11,2,32; 12,8,12 (hier ist ein überfliegendes Hineinschauen in Gerichtsakten gemeint); Mart. 2,6,3 (spectas eschatocollion); Serv. Aen. 2,57 (ante oculos lectoris induco; s. die analoge griechische Formulierung bei Hipp. de Antichristo 1; Aug. de dial. 5,7 (s. dazu u. S. 238 f.); Aug. Conf. 8,6.14 f; Hier. ep. 125,11. 389 Vgl. dazu K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 206-211. Eine sehr wichtige Belegstelle stellt Gell. 19,1,13-15 dar (s. ebd., 208, Anm. 100): „Weil Du Verlangen trägst, den Grund zu hören, so lass’ Dir erklären, wie über einen […] Schrecken unsere alten Stifter der stoischen Sekte geurteilt haben, oder lies es lieber [selbst], denn wenn Du es liest, […] wirst Du es leichter glauben und eher behalten (lege; nam et facilius credideris, si legas, et memineris magis). Darauf holte er sofort aus seinem Bündelchen das fünfte Buch von Epiktets gelehrten Untersuchungen hervor […]. In diesem Buch las ich nun, in griechischer Sprache, wie sich von selbst versteht, folgende geschriebenen Gedanken …“ (Üb. W E I S S , leicht modernisiert JH). Ferner sei noch auf einen Eintrag im spätantiken, aber nicht eindeutig datierbaren Lexikon von Hesychios verwiesen, der einen γραμματεύς definiert als „der Leser; ein Buchstaben gut Sehender (ὁ ἀναγνώστης. γράμματα εἰδὼς καλῶς)“ (Hesych. 891). Angesichts des unter 3.1.6 besprochenen semantischen Befundes sollte man den Bedeutungsgehalt von ὁ ἀναγνώστης hier keinesfalls auf „der Vorleser“ einengen. Bei einem γραμματεύς handelt es sich in den Quellen ja eindeutig um jemanden der sowohl mit dem Schreiben als auch mit der individuell-direkten Rezeption als auch mit dem Vorlesen von Texten betraut ist. 387 Entsprechend erklärt er das Verb γραμματεύειν mit den Verben γράφειν und ἀναγινώσκειν (Hesych. 890). Auch in der lateinischsprachigen Literatur finden sich zahlreiche Stellen, an denen Lesen visuell konzeptualisiert ist, 388 sogar explizit die Reflexion, dass visuell orientiertes Lesen dem Zugang über das Ohr überlegen ist. 389 Im Folgenden soll aber nur noch eine dieser Stellen exemplarisch besprochen werden. Seneca thematisiert in einem seiner Briefe an Lucilius den Unterschied zwischen der Rezeption eines Textes beim mündlichen Vortrag auf der einen Seite und dem Lesen eines Textes in schriftlicher Form: „und fast immer bereitet das, was im mündlichen Vortrag aufgrund seiner Lebendig‐ keit gefällt, weniger Vergnügen, wenn es schriftlich vorliegt; aber auch das ist schon viel, wenn die Lektüre auf den ersten Blick fesselt, auch wenn man beim genauen Hinsehen etwas findet, woran man Anstoß nehmen kann (Sed illud quoque multum 207 3.8 Lesen als Sehen des Textes <?page no="208"?> 390 „Du schreibst, Du hättest die Bücher des Fabianus Papirius, mit dem Titel Civilia mit größter Leidenschaft gelesen (legisse te cupidissime), aber sie hätten Deinen Erwar‐ tungen nicht entsprochen“ (Üb. F I N K ). 391 Vgl. G E O R G E S , Handwörterbuch, 1231 f. 392 Als Spezifizierung der individuell-direkten Lektüre z. B. auch bei Apul. apol. 64. 393 Vgl. außerdem Cic. ad Brut. 2,15,1; Philo congr. 20 (s. u. S. 346 f). est primo aspectu oculos occupasse, etiam si contemplatio diligens inventura est quod arguat)“ (Sen. ep. 100,3, Üb. F I N K ). Die Lexeme aspectus und oculus zeigen eindeutig, dass das Lesen hier visuell konzeptualisiert ist und damit auch das Lesen (lego) der Bücher des Fabianus Pa‐ pirius mit großer Begierde in Sen. ep. 100,1 390 rückblickend näher als ein solches bestimmt wird. Darüber hinaus meint in diesem Kontext das Verb contemplatio (das Hinrichten des Blickes auf etwas) 391 - v. a. in Zusammenhang mit diligens (aufmerksam, gründlich, gewissenhaft) 392 - eine intensive, individuell-direkte Auseinandersetzung mit einem Redemanuskript. Vorausgesetzt ist dabei auch, dass der Text iterativ gelesen wird. Zuletzt sei nun noch auf einige Quellen verwiesen, in denen Lesen zwar nicht mit einem verbum vivendi benannt wird, die aber eindeutig zeigen, dass das Auge als Leseorgan verstanden wurde. Bei Platon findet sich eine Stelle, an der Buchstaben wie beim Augenarzt als eine Art Sehtest gelesen werden (Plat. polit. 2,368d). Bei Plutarch findet sich ein ausführliches Gespräch darüber, warum ältere Menschen Texte weit von den Augen weghalten, um sie lesen zu können (Plut. symp. 1,8,1-4 [insb. mor. 625d/ e]). Plinius d. Ä. zitiert, „damit es überall [scil. in seiner Naturgeschichte] gelesen wird“ (Plin. nat. 31,3,7), ein Epigramm von Ciceros freigelassenem Sklaven Laurea Tullus. Darin finden sich die folgenden Zeilen: „Der Ort hat wahrlich zu Ciceros Ehre dies gespendet/ als er die kräftige Wirkung der Quelle erschloß/ damit, da er von der ganzen Welt ohne Ende gelesen wird (quoniam totum legitur sine fine per orbem),/ es an Wasser nicht mangelt, welche die Augen heilen“ (Plin. nat. 31,3,8; Üb. R. K ÖNI G ). Plinius d. J. gibt als Grund dafür an, dass er sich der Lektüre (lectio) enthalte und nur mit den Ohren studiere (solis auribus studeo, vermutlich mit Hilfe eines Vorlesers), weil er Rücksicht auf seine schwachen Augen nehme (Plin. ep. 7,21,1). Diese Stelle zeigt eindeutig, dass die Nutzung eines Vorlesers nicht der Normalfall beim Lesen war, sondern mit spezifischen Bedürfnissen zusammenhing. Martial thematisiert das Ermüden der Augen in Zusammenhang mit der Farbe des Schrifthintergrundes (Mart. 16,5). Bei Aulus Gellius findet sich das (hier freilich nur als Vorwand angeführte) Motiv, dass die Augen vom ununterbrochenen Studium in der Nacht (lucubratio) verderben, wobei aus dem Kontext deutlich wird, dass es ums Lesen geht (Gell. 13,31,10-12). 393 Porphyrios bezeugt, dass die 208 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="209"?> 394 Er habe seine selbstgeschriebenen Texte nicht noch einmal gelesen διὰ τὸ τὴν ὅρασιν μὴ ὑπηρετεῖσθαι αὐτῷ πρὸς τὴν ἀνάγνωσιν (Porph. vit. Plot. 8). 395 S. dazu auch Ps.-Plut. de Hom. 113, wo mit der Wendung αἴσθησις τῶν ἐντυγχανόντων die sinnliche Wahrnehmung der Leser benannt wird. S. dazu H I L L G R U B E R , De Homero 2, 249 f. 396 Vgl. zur individuell-direkten Lektüre von einer großen Anzahl dramatischer Texten (800 Komödien) außerdem Athen. deipn. 8,15 (336d). 397 K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 79. Sehfähigkeit Plotins für die Lektüre seiner eigenen Texte zu stark eingeschränkt war. 394 Ferner ist im Rahmen dieses Unterkapitels noch darauf hinzuweisen, dass entsprechend des inneren Hörens auch das innere Sehen im Kontext von Leseprozessen in der Antike belegt ist. 395 Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht eine Leseszene bei Dion Chrysostomos, dem es nach seinen morgendlichen Verrichtungen nach dem Frühstück danach ist, Tragödien zu lesen (καὶ μικρὸν ἐμφαγὼν ἐνέτυχον τραγῳδίαις τισίν; Dion Chrys. or. 52,1), die er explizit benennt und vergleichend liest: 396 Philoktetes von Sophokles, Aischylos und Euripides (vgl. Dion Chrys. or. 52,2 f). Seine Leseerfahrung reflektiert er dabei wie folgt: “So I was feasting my eyes on the spectacle portrayed by these dramas (Οὐκοῦν εὐωχούμην τῆς θέας) and figuring to myself that, even if I had been in Athens in those days, I could not have witnessed such a contest as this of those distinguished poets. […] Accordingly, I played choregus for myself in very brilliant style and tried to pay close attention, as if I were a judge passing judgement on the premier tragic choruses“ (Dion Chrys. or. 52,3 f; Üb. C O H O O N ). Bei Dion läuft während der individuell-direkten Lektüre eine innere Aufführung der genannten Tragödien ab. Er lässt ein „Bewußtsein der ubiquitären und überzeitlichen Verfügbarkeit der Texte“ 397 erkennen, die er als großen Vorteil der Lektüre gegenüber der Rezeption im Theater hervorhebt. Als Verb verwendet er hier mit εὐωχέω (Akt.: gut bewirten; Med.-Pass.: sich sättigen, schmausen) eine innovative und ausdrucksstarke Speisemetapher. Damit ist ein weiteres, in der Antike variantenreich und breit bezeugtes metaphorisches Konzept benannt, das Lesen konzeptualisiert und nun im Folgenden zu besprechen ist. 3.9 Lesen als Essen und Trinken Verbreitet sind zuletzt Metaphern des Essens und Trinkens, auf die an der einen oder anderen Stelle schon hingewiesen wurde und mit denen das Lesen bzw. 209 3.9 Lesen als Essen und Trinken <?page no="210"?> 398 Vgl. dazu H E I L M A N N , Wein, 189-200. 399 Vgl. exempl. Plat. Phaidr. 227b (ἑστιάω); 236e (θοίνη); Alk. 1,114a (γεύω); außerdem Quint. inst. or. 2,4,5; Plaut. As. 649; Aul. 537 f; Poen. 967 f (vgl. dazu S H O R T , Eating, mit weiteren Quellenbelegen). 400 Vgl. exempl. Jer 15,16; Jes 55,1-3.10 f; Ps 33,9 LXX; Spr 9 LXX; Sir 1,16; 15,3; 24 LXX; Mk 7; 1Kor 3,1 f; Kol 4,6; Hebr 5,1-14; 6,4 f; 1Petr 2,2 f; Apc 2,17; Philo post. 86; congr. 170-174 u. ö.; Barn 11,11; EvThom 28; ActPaul P.Bod. 41,3,14 f; ActPaul P.Hamb. 4,5; Iust. Mart. dial. 120,2; Clem. Al. strom. 1,1,8; bHag 3a, mAv 1,4.11; 2,8; BerR 70,5. 401 Vgl. exempl. IgnTrall 6,1. die Rezeption von Texten konzeptualisiert wird - metasprachlich lässt sich dieses weit verbreitete Konzept konventionalisiert als E S S E N / T R IN K E N I S T L E S E N beschreiben. 398 Speise- und Trankmetaphorik ist allerdings nicht dem Lesen von Texten exklusiv vorbehalten, sondern wurde schon seit klassischer Zeit, 399 aber vor allem in jüdischer (insbesondere rabbinischer) und christlicher Literatur auch für die Rezeption mündlicher Lehre verwendet; 400 z. T. ist die Abgrenzung schwierig, da der Kontext der jeweiligen Quelle keine Schlussfolgerungen zulässt. 401 Dies muss im Rahmen dieser Studie jedoch nicht weiter vertieft werden. Es ist im Rahmen dieser Studie auch nicht möglich, die Lesemetaphern des Essens und Trinkens in der griechisch- und lateinischsprachigen Literatur systematisch und vollständig zu erfassen und auszuwerten. Angesichts der Vielzahl von möglichen Lexem- und Motivkombinationen sowie der Vielfalt von grammatikalischen Konstruktionen, denen das Konzept E S S E N / T R IN K E N I S T L E S E N zugrunde liegt, wäre dies Aufgabe für eine eigene Studie. Im Folgenden werden daher lediglich ausgewählte, aussagekräftige Quellenbelege anzuführen sein, die exemplarisch im Hinblick auf die Frage hin auszuwerten sind, welche Rückschlüsse sie auf antike Lesepraktiken zulassen. Schon in Aristophanes’ Die Acharner (Ἀχαρνῆς) meint die Formulierung καταπιὼν Εὐριπίδην (Aristoph. Acharn. 484) wohl die Rezeption seiner Tragö‐ dien. Analog findet sich bei Lukian in seinem Stück Der tragische Jupiter (Ζεὺς Τραγῳδός) die Formulierung „den ganzen Euripides ausgetrunken/ herunterge‐ stürzt zu haben“ (τὸν Εὐριπίδην ὅλον καταπεπώκαμεν; Lukian. Iupp. trag. 1,20). Damit wird im Kontext ausgedrückt (resultativer Aspekt des Perfekts), dass man die Stücke des Euripides nicht vollständig ausgetrunken, d. h. „ausgelesen“ haben kann, weil er mutmaßlich zu gehaltvoll dazu ist. In der für unecht gehaltenen Platonschrift Hipparchos wird das Lesen der Sprüche des Hipparchos, die in inschriftlicher Form am Wegesrand stehen und von den Vorbeigehenden mutmaßlich individuell-direkt gelesen werden (παριόντες ἄνω καὶ κάτω), mit dem Kosten seiner Weisheit parallelisiert (καὶ ἀναγιγνώσκοντες καὶ γεῦμα λαμβάνοντες αὐτοῦ τῆς σοφίας; [Ps.]-Plat. Hip‐ parch. 228e). In einem bei Athenaios überlieferten Fragment einer Komödie des 210 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="211"?> attischen Dichters Baton (3. Jh. v. Chr.) wird mit der Metaphorik E S S E N / T R IN K E N I S T L E S E N ironisch gespielt: „Gut, Sibyne, schlafen wir die Nächte gewiss nicht, auch sind wir nicht gut ernährt/ ge‐ bildet (οὐδ’ ἀνατετράμμεθ’), sondern wir zünden eine Lampe an, und [halten] ein Buch in den Händen (καὶ βυβλίον ἐν ταῖς χερσί), und denken darüber nach (φροντίζω), was Sophon hinterlassen hat, oder was Simonaktides von Chios, oder Tyndarichos von Sikyon, oder Zopyrinos“ (Athen. deipn. 14,81 [662c]: CAF 3, Bato Fr. 4). Die Speisemetapher steckt in diesem Fragment im Verb ἀνατρέφω (auffüttern, aufziehen), was hier zunächst bedeutet, dass diejenigen, die in der 1. Pers. Pl. sprechen sich für nicht gebildet halten und daher des Nachts lesen. Lesen wird hier mit der weit verbreiteten Lesemetonymie „ein Buch in der Hand halten“ konzeptualisiert (s. o.); die kognitive Verarbeitung beim Lesen wird mit dem Verb φροντίζω angezeigt. Vorausgesetzt ist also das Konzept individuell-di‐ rekter Nachtstudien (s. o. zum Motiv der lucubrationes), bei denen die auditive Dimension des Textes keine Rolle zu spielen scheint. Die Stelle zeigt vielmehr, dass gefüttert, d. h. gebildet zu sein, an der Belesenheit eines Individuums hängt. Die Ironie der Stelle liegt nun aber darin, dass die genannten Personen allesamt Autoren von Kochbüchern sind, wodurch sowohl das Motiv der Nachtstudien ironisch gebrochen wird als auch das Verb ἀνατρέφω eine Doppeldeutung erhält. Polybios vergleicht das Kosten von vielen Speisen beim Mahl, das schlecht für den Genuss und später für die Verdauung und für die Ernährung ist mit der Lektüre (Polyb. 3,57,7-9). „Ebenso finden die, die beim Lesen (περὶ τὴν ἀνάγνωσιν) ähnlich verfahren, weder für den Augenblick wirkliche Unterhaltung, noch erzielen sie für die Zukunft den gebührenden Gewinn“ (Polyb. 3,57,9; Üb. D R E X L E R ). Aus dieser Stelle lassen sich folgende Einsichten gewinnen: 1) Polybios scheint eine verbreitete Praxis zu kritisieren. 2) Es ist eine selektive, oberflächliche und nicht-iterative Leseweise, also die Lektüre vieler Werke ohne eingehende Beschäftigung vorauszusetzen. 3) Daher kann ἀνάγνωσις hier auch nur die individuell-direkte Lektüre meinen, da bei einer kollektiv-indirekten Rezeption die durch den speisemetaphorischen Vergleich vorausgesetzten Zugriffsweisen nicht realisierbar wären. 211 3.9 Lesen als Essen und Trinken <?page no="212"?> 402 Vgl. Ez 3,3; Apc 10,9 f (s. dazu u. 8.4.2.3). 403 S. dazu mit Verweis auf die Quellen B R A M B L E , Persius, 48-54. Bei Makarios Magnes, der hier zus. angeführt sei, bewertet der Grieche die Passionserzählungen in den Evangelien angesichts der Widersprüche als „ungenießbare (ἕωλος) und ungereimte Geschichten“, aus denen man keinen Sinn entnehmen könne. Das Adjektiv ἕωλος (abgestanden, fad, schal) wird häufig im Zusammenhang mit alten Lebensmitteln verwendet. Vgl. z. B. Aristot. probl. 927b; Hippokr. aff. 52. 404 Morgentliche individuell-direkte Lektüre (nicht-vokalisierend! ) zur Unterhaltung ist z. B. auch belegt bei Hor. sat. 1,6,122 f. 405 Faustus, der Sohn Sullas, war der Erbe dieser Bibliothek, die Sulla bei der Eroberung Athens im Mithridatischen Krieg erbeutete. Vgl. dazu weiterführend K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 10, Anm. 7; W I L K E R , Irrwege; ausführlich zur Geschichte der Bibliothek von Aristoteles B L U M , Kallimachos, 109-134. 406 Vgl. außerdem die Verwendung von satio und aviditas in Cic. fin. 3,7. Artemidor von Daldis verwendet in seinen Traumdeutungen die - freilich hier geträumte - Metapher des Essens von Büchern, die sich auch in den biblischen Schriften findet, 402 um das Lesen derselben auszudrücken: „Das Verzehren von Büchern (ἐσθίειν δὲ βιβλία) bringt Erziehern, Sophisten und allen, die durch Reden oder Bücher ihr tägliches Brot verdienen, Nutzen; allen anderen Menschen prophezeit es jähen Tod“ (Artem. on. 2,45; Üb. B R A C K E R T Z ). Artemidor unterscheidet hier zwei Rezipientengruppen: Solche, die berufs‐ mäßig Bücher lesen, und alle übrigen. Die Formulierung impliziert, dass das Lesen von Büchern auch bei nicht-berufsmäßigen Lesern durchaus verbreitet war. Daneben basiert auch die weite Verbreitung in griechischen und lateini‐ schen Quellen, das Urteil über Gelesenes als Geschmack zu konzeptualisieren, auf der hier diskutierten Metaphorik. 403 Entsprechend lässt sich die Metaphorik häufig auch bei lateinischen Autoren finden. Cicero antizipiert in einem Brief an M. Marius aus dem Jahr 55 v. Chr., dieser habe in den Morgenstunden in seinem Schlafzimmer mit schönem Ausblick auf das Meer „kleine Lektüren konsumiert“ (per eos dies matutina tempora lectiunculis consumpseris; Cic. fam. 7,1,1), was hier tatsächlich meint, er habe aus ästhetischem Genuss gelesen. 404 In einem seiner Briefe an Atticus berichtet er (Cic. Att. 4,10), dass er sich in seiner Villa am Lucriner See an „der Bibliothek des Faustus sättigt“ (ego hic pascor bibliotheca Fausti) - also an den Schriften aus der Bibliothek des Apellikon, die auch Aristotelesmanuskripte enthielt, 405 - und nicht nur an den Delikatessen aus dem See. Diese Lesetätigkeit, die er im Sitzen in einem kleinen Sitz (sedecula) ausführt, beschreibt er selbst als „Studien“ (litterae). 406 Bei Ovid findet sich Lesen dann metaphorisch als Trinken konzeptualisiert. 212 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="213"?> 407 Vgl. auch Ov. ars 1,1 f. Vgl. weiterführend S E I B E R T , Exilwelt, 17. 408 So auch die Übersetzung von A. L. W H E E L E R gegen die Übersetzung v. W. W I L L I G E . Auch in Ov. ars 1,1 f ist individuell-direkte Lektüre vorausgesetzt. 409 Vgl. außerdem die Metaphorik des Nährens durch Bücher bei Ov. trist. 3,14,37 f. 410 Sen. ep. 46,1: accepi et tamquam lecturus ex commodo adaperui ac tantum degustare volui. „Dass andere Dichtungen vom großen Triumph um die Wette geschrieben schon längst vom Mund des Volkes gelesen, vermute ich (iam pridem populi suspicor ore legi). Jene trinkt der dürstende Leser (lector) und nur der satte [Leser] von meinem Becher; jenes Getränk ist frisch, mein Wasser wird schal sein, “ (Ov. Pont. 3,4,53-56) Aus dieser Stelle lassen sich mehrere wichtige Einsichten gewinnen: 1) Ovid geht davon aus, dass lyrische Texte sich nicht nur an die Oberschicht richteten, sondern von einer breiteren Bevölkerungsgruppe (populus) rezipiert wurden. 407 2) Die Texte werden dem Volk nicht vorgelesen, 408 sondern der „Mund des Volkes“ liest sie individuell-direkt. Dies zeigt auch die Ov. Pont. 3,4,55, wo der Leser (lector) im Singular als die Texte Trinkender dargestellt wird. 3) Dass Ovid hier den „Mund“ (os) als Leseinstanz benennt, impliziert vokalisierende (mögli‐ cherweise auch nur subvokalisierende) Lektüre. Dies ist angesichts lyrischer Texte erwartbar, die - wie auch die Ausgestaltung der Metaphorik verdeutlicht - vorrangig aus Gründen des ästhetischen Genusses rezipiert werden. 409 Seneca macht ebenfalls reichen Gebrauch der hier diskutierten Metaphorik. Neben der eindrücklichen, oben schon besprochenen Stelle (S. 194 f), formuliert er in einem anderen Brief, dass er ein Buch erhalten habe und es zunächst nur aufgeschlagen habe, so als würde er es später lesen wollen - und zwar um einen Vorgeschmack zu bekommen. 410 Diese Stelle belegt einen eher oberflächlichen, selektiven und diskontinuierlichen Zugriff auf die Buchrolle. Eine aufschlussreiche Stelle findet sich bei Quintilian. Dieser schreibt im Kontext einer ausführlichen Gegenüberstellung des Hörens von Reden und der eigenen Lektüre: „Die Lektüre ist unabhängig (lectio libera est) und läuft nicht mit dem Ungestüm der vorgetragenen Rede ab, sondern sie kann immer wieder zurückgreifen (sed repetere saepius licet), falls man Zweifel hat oder man es dem Gedächtnis fest einprägen möchte. Zurückgreifen aber wollen wir und grundsätzlich es immer wieder neu vornehmen (repetamus autem et tractemus), und wie wir die Speisen zerkaut und fast flüssig herunterschlucken, damit sie leichter verdaut werden, so soll unsere Lektüre nicht roh, sondern durch vieles Wiederholen mürbe und gleichsam zerkleinert unserem Gedächtnis und Vorrat an Mustern (zur Nachahmung) einverleibt werden“ (Quint. inst. or. 10,1,19; Üb. R A H N ). 213 3.9 Lesen als Essen und Trinken <?page no="214"?> 411 Möglicherweise meint auch das Verb ἐπισιτίζομαι bei Lukian. rh. pr. 17 eine schriftliche Form des Festhaltens der Lesefrüchte aus dem im Kontext genannten Lektüren. Quintilian sieht einen Vorteil der Lektüre darin, dass man beim Lesen auf Vor‐ angegangenes zurückgreifen (repeto) kann. Die Gegenüberstellung von repeto und retracto deutet darauf hin, dass ersteres Regressionen beim Lesen reflektiert und letzteres eine erneute Lektüre meint. Quintilian reflektiert hier also, dass der selbstbestimmte Umgang mit dem Medium bei der individuell-direkten Lektüre es erlaubt, zurückzublicken oder auch (teilweise bzw. ganz) zurückzu‐ rollen. Die Vorteile diskontinuierlicher und mehrfacher Zugriffsweisen sind für Quintilian dabei mnemotechnischer Art - sowohl im Hinblick auf inhaltliches Auswendiglernen als auch im Hinblick auf das Lernen von stilistischen Mustern. Die kognitiven Verarbeitungsprozesse bei dieser Form von Lektüre konzeptua‐ lisiert Quintilian hier mit der Metaphorik des Essens und Verdauens. Einfach Gelesenes ist Rohkost, mehrfach Gelesenes ist mürbe und zerkleinert und kann daher besser mit dem Gedächtnis verdaut und einverleibt werden, d. h. steht dem Lesenden zukünftig für die eigene Produktion von Reden oder Texten zur Verfügung. Wenn Apuleius die Bediensteten in der Bibliothek als „Kellermeister der Bücher“ (promus librorum; Apul. apol. 53) bezeichnet, steht auch hier die zur Diskussion stehende konzeptuelle Metaphorik im Hintergrund. Etwas anders gelagert nennt Aulus Gellius (Gell. praef. 2) seinen Wissensspeicher, die Ex‐ zerpte und Notizen von Lektüren und Gehörtem, „Proviant an Buchstaben“ (litterarum penus). 411 Hier wird also mit der gleichen Metaphorik das auch in der Antike gebräuchliche mnemotechnische Hilfsmittel von schriftlichen Aufzeichnungen thematisiert, die bei der Weiterverarbeitung dann als Proviant verzehrt, also gelesen werden müssen. 214 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische <?page no="215"?> 1 Die Verwendung dieses aus dem Druckzeitalter stammenden Terminus ist nicht im Sinne einer anachronistischen Rückprojektion zu verstehen. Vielmehr sollen damit im griechischen Wortsinne (τύπος u. γράφω: Form des Geschriebenen) die relative Einheitlichkeit bzw. die gemeinsamen Merkmale der Gestaltung insb. von Majuskelhandschriften (v. a. literarischer Texte) in der griechisch-römischen Welt zum Ausdruck gebracht werden, die auf eine starke Konventionalisierung hindeutet. Auf den hohen Grad an Standardisierung weist z. B. auch K N O X , Books, 20, hin. 2 Zur Diskussion um Worttrennungen im Hebräischen vgl. weiterführend G L E N N Y , Finding, 115-117. 4 Scriptio Continua und „typographische“ 1 Merkmale antiker Handschriften Griechische Texte sind in der antiken Mittelmeerwelt unabhängig vom Schrift‐ medium ohne Wortzwischenräume geschrieben (scriptio continua oder scriptura continua) worden. 2 Aus diesem allgemein bekannten „typographischen“ Gestal‐ tungsmerkmal antiker Texte ergibt sich die Frage, welche Bedeutung die scriptio continua für antike Lesegewohnheiten hatte. In methodischer Hinsicht stellen sich verschiedene weitere Fragen: Kann man von der „typographischen“ Textgestaltung Rückschlüsse auf die Lesepraxis ziehen? Inwiefern bestimmt das Leseverhalten/ die Lesepraxis die „typographische“ Gestaltung von Texten auf antiken Schriftmedien bzw. welche anderen Faktoren spielen diesbezüglich eine Rolle? Kompliziert werden diese Fragen sodann, weil die Frage des Zusammenhangs zwischen scriptio continua und Lesepraxis nicht losgelöst von anderen „typographischen“ Gestal‐ tungsmerkmalen der Texte behandelt werden können, da das visuelle Erfassen von Schrift - so viel darf aus der Grundlage der modernen Typographie postuliert werden - im Zusammenhang mit anderen „typographischen“ Gestaltungsmerk‐ malen untersucht werden muss: insbesondere die Zeilenbzw. Spaltenlänge, ferner aber auch die Zeilenabstände und die Schriftgröße. Die hier aufgeworfenen Fragen können aus Gründen der Komplexität des Problems im Rahmen dieser Studie nicht umfassend bearbeitet werden. Ausgehend von der gängigen Sicht des Zusammenhangs zwischen scriptio continua und der antiken Lesepraxis sind allerdings einige problematisierende Überlegungen notwendig: Wie schon in der Einleitung deutlich geworden ist, wird in den verschiedenen altertumswissenschaftlichen Fächern gemeinhin angenommen, dass ein festes Interdependenzverhältnis zwischen der Praxis des vokalisierenden Lesens und der Praxis, Texte in scriptio continua zu schreiben, besteht. <?page no="216"?> 3 Vgl. z. B. die rein thetischen Überlegungen bei G A M B L E , Books, 203 f (s. o. Anm. 189, S. 61). 4 Vgl. B A L O G H , Voces Paginarum, 228 f. Vgl. ebenfalls rein thetisch S C H U B A R T , Buch, 80 f; S E D G W I C K , Reading, 93; M A R R O U , History, 134; M A V R O G E N E S , Reading, 693. 5 Vgl. z. B. R A I B L E , Raible, Entwicklung, der auf der Grundlage von Saengers Arbeit schlussfolgert, die Praxis der generell „lauten“ Lektüre in der Antike sei eine „Folge der Eigenschaften eines Schreibsystems“ (5). Quellenbelege für seine Hypothese, „solche Texte [i. e. in scriptio continua geschrieben] sind so schwer zu lesen, daß sie laut gelesen werden müssen“ (8), führt er jedoch nicht an. Vgl. außerdem exempl. M A Y R , Art. Hören, 1027 f; P A R K E S , Pause, 10 f; F R A N K , Textgestalt, 36-42; U S E N E R , Isokrates, 96; S T A N D H A R ‐ T I N G E R , Studien, 35; S M A L L , Wax Tablets, 21.53 u. ö.; C A V A L L O , Volume, 74 f; H E Z S E R , Jewish Literacy, 463 f; E H L E R S , Rezitator, passim; C A R R , Writing; H E L L M A N N , Scriptio continua, 153-156; C R I B I O R E , Gymnastics, 198 f; V E G G E , Paulus, 345; G I L F I L L A N U P T O N , Hearing, 47; M O S E R , Subjektivität, 129-131; H E L L H O L M , Universalität, 256 f; A L I K I N , History, 148; C H A R L E S W O R T H , Public, 148; O E S T R E I C H , Performanzkritik, 67.123.174; L U Z , Hermeneutik, 164; C A R R , Schrift, 12 f. Für die Übernahme der These in der altorientalischen Forschung vgl. G R A Y S O N , Murmuring, 304. Selbst in der Psychologie findet man die Rezeption dieses Paradigmas. Vgl. z. B. L A U B R O C K / K L I E G L , Eye, 2. So ist in der Forschungsliteratur häufig das Postulat zu finden, dass scriptio continua im Vergleich zur scriptio discontinua schwerer zu lesen wäre; antike Texte in scriptio continua daher vorrangig „laut“ vorgelesen werden mussten, um dekodiert und verstanden zu werden. 3 Die Verknüpfung des Paradigmas des „lauten“ Lesens mit der scriptio continua findet sich schon im eingangs zitierten Aufsatz von J. Balogh, 4 eine prominente Stellung nimmt es sodann in P. Saengers berühmten Buch „Space between Words“ ein und wird in der altertumswissen‐ schaftlichen und exegetischen Forschung als gesichertes Wissen rezipiert. 5 Die Argumente, die Saenger und andere für die These anführen, dass in scriptio continua geschriebene Manuskripte grundsätzlich für vokalisierende Lektüre vorgesehen gewesen seien, können jedoch die Beweislast der zu beweisenden Interdependenz nicht tragen. Vielmehr setzen sie das zu beweisende Junktim zwischen vokalisierender Lektüre und scriptio continua schon voraus. Dies wird im Folgenden anhand einer kurzen Diskussion der einzelnen Argumente herauszuarbeiten sein. 4.1 P. Saengers These zum Lesen von scriptio continua vor dem Hintergrund der modernen kognitions- und neurowissenschaftlichen Leseforschung Saengers These einer Verbreitung der nicht-vokalisierenden Lektüre im Mit‐ telalter basiert weniger auf Beobachtungen an repräsentativen Quellen als auf grundlegenden Beobachtungen zur Textorganisation in mittelalterlichen 216 4 Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften <?page no="217"?> 6 Vgl. S A E N G E R , Space, 55.83-99. 7 Vgl. S A E N G E R , Silent Reading, 378. 8 Man vergleiche nur die durchschnittliche Zeilenlänge des Codex Alexandrinus’ (ca. 20-24 Buchstaben) und des Vaticanus’ (ca. 15 Buchstaben). 9 Vgl. dazu D I C K E Y , Divisions [Zitat 159]. 10 Vgl. S A E N G E R , Space, insb. 18-30.44-48.314, Anm. 93-95, mit Verweis u. a. auf R A Y N E R / M C C O N K I E , Guides; O ’ R E G A N , Moment; R A Y N E R , Eye; R A Y N E R / P O L L A T S E K , Psychology; T A Y L O R / T A Y L O R , Psychology. Ebenfalls auf älteren Arbeiten basieren die Ausführungen zur kognitiven Dimension des Lesens von scriptio continua bei S M A L L , Wax Tablets, 19-21. Manuskripten. So geht Saenger davon aus, dass maßgeblich die Einführung von Worttrennungen die Voraussetzung für die Verbreitung der nicht-vokali‐ sierenden Lektüre bildete. Diese Innovation findet sich laut Saenger erstmals belegt in den Manuskripten iroschottischer Mönche aus dem 7./ 8. Jh., die unter dem Einfluss syrischer Manuskripte, aber vor allem aus der Schwierigkeit heraus, lateinische (und griechische) Texte, also Texte in einer Fremdsprache, lesen zu müssen, die Worttrennungen in ihre Manuskripte einführten. 6 Zudem sei die Zeilenlänge etwa in Evangelienmanuskripten seit dem 9. Jh. auf 10-15 Buchstaben gesunken, was er als Zeichen des Wechsels von der Kopie durch Diktat zur „leisen“ visuellen Kopie deutet. 7 Die Innovationen in der Gestaltung von Manuskripten seit dem 7. Jh. seien die Voraussetzung dafür gewesen, dass Texte und deren Sinn nun rein visuell mit dem Auge erfasst worden sein könnten, ohne den „Umweg“ über die orale Realisation gehen zu müssen. Die Grundthese von Saenger ist in mehrfacher Hinsicht zu hinterfragen: a) So ist der handschriftliche Befund in einer breiteren diachronen Perspek‐ tive keinesfalls so eindeutig, als dass einem Sinken der durchschnittlichen Zeilenlänge im 9. Jh. eine Signifikanz zukommen könnte, wie Saenger sie postuliert. 8 b) Außerdem finden sich schon in antiken Hss. Worttrennungen, wie unten ausführlich zu zeigen sein wird. Schon jetzt ist darauf hinzuweisen, dass insbesondere antike bilinguale Texte durchaus Worttrennungen kannten. Daher schlussfolgert Deckey, die diese Handschriften untersucht hat, m. E. vollkommen zu Recht: „The ancients were fully aware of the possibility of word divisions and, on the whole, chose not to use it.“ 9 b) Saengers Überle‐ gungen zur Signifikanz von Worttrennungen und Überlegenheit für die Öko‐ nomie des Leseprozesses basieren auf älteren, mittlerweile überholten kognitionspsychologischen Lesemodellen, in denen die unmittelbare Wahrnehmung von Wortgrenzen anhand der äußeren Umrisse (Bouma-shape) eine entscheidende Rolle für die Worterkennung gespielt hat („Wortüberlegenheitstheorien“). 10 Zudem geht Saenger d) im Anschluss an das sog. Zwei-Wege-Modell zur Konzeptualisierung der Worterkennung davon aus, dass verschiedene Schrift‐ 217 4.1 P. Saengers These zum Lesen von scriptio continua <?page no="218"?> 11 Vgl. S A E N G E R , Space, insb. 1-6, der das Zwei-Wege-Modell vor allem indirekt über - z. T. vom Zwei-Wege-Modell beeinflussten - Studien zum Lesen verschiedener Schriftsysteme aus den 1980er Jahren (u. a. chinesische Schriftzeichen und die verschie‐ denen Schriftsysteme im Japanischen) rezipiert. Vgl. zum Zwei-Wege-Modell, seiner Vorgeschichte und Weiterentwicklung, das Ende der 1970er Jahre unter Aufnahme einer Idee von F. de Saussure u. a. maßgeblich von M. Coltheart entwickelt wurde, C O L T H E A R T , Lexical Access; C O L T H E A R T , Defence; C O L T H E A R T / C U R T I S / A T K I N S / H A L L E R , Models; C O L ‐ T H E A R T / R A S T L E / P E R R Y , Processing; C O L T H E A R T / R A S T L E / P E R R Y / L A N G D O N / Z I E G L E R , Mode‐ ling; C O L T H E A R T , Overview; C H R I S T M A N N , Ansätze, 26. 12 Vgl. dazu C O S T A R D , Störungen, insb. 38 ff. 13 Dieser Effekt beschreibt das Phänomen, dass inkonsistente Wörter langsamer erkannt werden als konsistente Wörter. 14 Vgl. C H R I S T M A N N , Ansätze, 27, mit Verweis auf J A R E D , Spelling; H A R L E Y , Psychology, 167 ff.; E Y S E N C K / K E A N E , Cognitive Psychology, 353-402 [Aufl. aktualisiert JH]. systeme mit unterschiedlichen kognitiven Verarbeitungsprozessen verbunden sind: Die Dekodierung von Schriftzeichen funktionierte über einen visuellen oder lexikalischen Weg, der einen direkten Zugang zu den im mentalen Lexikon gespeicherten Wörtern ermögliche. Bei Alphabet- und Silbenschriften hingegen müssten die Wörter zunächst unter Anwendung von Phonem-Graphem-Korres‐ pondenzregeln phonologisch realisiert werden, damit das Gehirn die Bedeutung eines Wortes erkennen könne. Der visuelle Weg gilt dabei als effizienterer Weg, während der nicht-lexikalische Weg über das phonologische System als Umweg interpretiert wird, den vor allem ungeübte Leserinnen und Leser bzw. Lernende einsetzten. 11 Zwei-Wege-Modelle sind zwar in der empirischen Lese-Lern-Forschung und vor allem in der Dyslexieforschung sehr einflussreich und vor allem für das Englische, an denen die Zwei-Wege-Modelle entwickelt worden, heuristisch hilfreich. 12 Allerdings enthalten die Zwei-Wege-Modelle auch gravierende Schwächen, die insbesondere ihre Übertragbarkeit auf andere Sprach- und Schriftsysteme - und damit auf die hier besprochene Problematik - in Frage stellen: Neben a) der fehlenden Generalisierbarkeit des an der englischen Sprache - einer Sprache mit vielen unregelmäßig ausgesprochenen Wörtern - entwickelten Modells, die wohl das größte methodische Problem für die Anwendung auf das Lesen antiker Sprachen darstellt, kann es b) den sog. Konsistenzeffekt 13 nicht erklären, arbeitet c) mit einer begrenzten Anzahl von Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln und unterstellt d) eine zu langsame Geschwindigkeit der Arbeit des phonologischen Systems. 14 Für das Chinesische, das Saenger als Beispiel einer Nicht-Alphabet/ Silbenschrift für den lexikalischen Weg heranzieht, ist sogar experimentell ausführlich gezeigt worden, dass 218 4 Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften <?page no="219"?> 15 Vgl. V A T R I , Physiology, 636, mit Verweisen auf die entsprechenden Studien (u. a. J O N G / B I T T E R / V A N S E T T E N / M A R I N U S , Recording). Entsprechend lernen chinesische Schü‐ lerinnen und Schüler ihre nicht-alphabetische Schrift unter Berücksichtigung der phonetischen Dimension. Vgl. dazu V A T R I , Physiology, 636. 16 Vgl. V A T R I , Physiology, 636, mit Verweis u. a. auf J O N G / B I T T E R / V A N S E T T E N / M A R I N U S , Recording. Vgl. auch J A R E D / L E V Y / R A Y N E R , Role, S P A R R O W / M I E L L E T , Activation. 17 Vgl. P A A P / N E W S O M E / N O E L , Word Shape’s. 18 Vgl. P O L L A T S E K / L E S C H , Perception, 961. Vgl. auch C H R I S T M A N N / G R O E B E N , Psychologie, 149. 19 P E R E A / R O S A , Whole-Word Shape: „To conclude, the present experiments provide evidence against models of visual word recognition that assume that word-level codes (via a word’s overall shape) are computed by the reading system. In this light, eye movement research has failed to obtain empirical evidence to suggest that visual information is combined across saccades during reading in an integrative visual buffer (see R A Y N E R , 20 Years).“ (792 [bibliogr. Angabe im Zitat angepasst]). 20 Vgl. dazu den Überblick bei B R E M / M A U R E R , Ansätze (Lit.); C H R I S T M A N N , Ansätze, 27-33 (Lit.); ferner auch B R E M / M A U R E R , Lesen. 21 Vgl. G L A U C H / G R E E N , Lesen, 384-386; R A U T E N B E R G / S C H N E I D E R , Historisch, 100. beide Wege zusammenarbeiten. 15 Für Alphabetschriften konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass auch beim nicht-vokalisierenden Lesen ein phonologischer Dekodierungsprozess ablaufe (s. u. die Überlegungen zur inner reading voice), obwohl laut des Zwei-Wege-Modells lediglich auf Phonem-Graphem-Korres‐ pondenzregeln zurückgegriffen werden dürfte. 16 Die „Wortüberlegenheitstheorien“ wurden sogar schon in den 1980er Jahren experimentell als insuffizient zur Erklärung der kognitiven Prozesse der Erken‐ nung von Wörtern im Leseprozess herausgestellt: 17 „These results [i.e., of the cited experimental studies] also point to the inadequacy of template theories in dealing with the written word recognition since they indicate that overall word shape plays no important role in visual word recognition“. 18 Auch in jüngeren Untersuchungen ist diese Sichtweise bestätigt worden. 19 An‐ stelle von „Wortüberlegenheitstheorien“ und „Zwei-Wege-Modellen“ sind in der modernen kognitionspsychologisch und neurowissenschaftlich ausgerichteten Leseforschung komplexere Modelle entwickelt worden, die die Identifikation von Buchstaben und den lexikalischen Zugriff im Leseprozess als ein Zusam‐ menspiel von phonologischem, morphologischem und semantischem Verarbei‐ tungssystem im Gehirn konzeptualisieren. 20 Daher wird in der Forschung zu Recht konstatiert, dass die Thesen Saengers zum Zusammengang zwischen Worttrennungen und der Entstehung des nicht-vokalisierenden Lesens aus kognitions- und neurowissenschaftlicher Sicht zu relativieren sind. 21 219 4.1 P. Saengers These zum Lesen von scriptio continua <?page no="220"?> 22 V A T R I , Physiology, 636 (Lit.). 23 Die Fixationsdauer und Häufigkeit der Regressionen variiert u. a. in Abhängigkeit vom Schwierigkeitsgrad des Textes, der Lesekompetenz und dem Lesemodus: die Dauer der Sakkaden steht in einer Relation zur Entfernung, die das Auge durch einen Sprung überwindet. Vgl. dazu mit weiterführenden Hinweisen zu den verschiedenen Einflussfaktoren als auch zum Phänomen des skipping die Zusammenfassung bei G R O S S , Lesezeichen, 8-15; S C H O T T E R / A N G E L E / R A Y N E R , Parafoveal, 6.8 f. 24 G R O S S , Lesezeichen, 15. 25 Vgl. S T A R R / R A Y N E R , Controversies, 159. „In conclusion, in all graphic systems, both alphabetic and logographic, lexical (visual/ orthographic) and non-lexical (phonological) processes interact in word recognition, with the lexical route leading the way. Things are not as clear-cut as Saenger believes.” 22 Eine besonders profilierte und innovative Gegenposition nimmt A. Vatri in einem 2012 erschienenen Aufsatz ein, der auf der Grundlage aktueller und schriftsystemvergleichender Blickbewegungsmessungen überzeugend zeigen kann, dass die Worterkennung altgriechischer scriptio continua analog zum Thailändischen durch bestimmte Häufungen von Wortkombinationen funk‐ tioniert haben muss und gerade nicht auf die phonologische Realisierung angewiesen war. Wegen der besonderen Relevanz für die hier diskutierte Frage, beziehe ich mich im Folgenden ausführlich auf seine Argumentation. Zuvor sind allerdings noch einige grundsätzliche Bemerkungen zu den physiologischen und kognitionspsychologischen Grundlagen des Lesens notwendig. Die Blickbewegung des Auges beim Lesen ist nicht kontinuierlich, sondern strukturiert sich aus einer abwechselnden Abfolge von schnellen Vorwärts‐ bewegungen (Sakkaden; Ø ca. 200-250 ms) und Momenten des Anhaltens (Fixationen; Ø ca. 20-40ms) an einem bestimmten Punkt, der preferred viewing location (PVL) genannt wird, wobei dieser Prozess durch schnelle Rückwärts‐ bewegungen (Regressionen; etwa 10-15 % der Sakkaden) unterbrochen wird und durchschnittlich etwa 30 % der Wörter überhaupt nicht fixiert werden (skipping). 23 Daher kann man den Leseprozess auf der visuell-kognitiven Ebene zwar als unstetig charakterisieren, „diese Unstetigkeiten des Leseprozesses werden zeitlich integriert und bleiben beim Lesen undbzw. vorbewußt.“ 24 Die hohe Frequenz der Sakkaden hängt u. a. mit den physiologischen Limitationen des Blickfeldes zusammen, 25 wobei das Konzept der perceptual span den Bereich beschreibt, aus dem ein Leser/ eine Leserin während der Fixation Informationen verarbeiten kann. Die Größe der perceptual span steht insbesondere in einem Zusammenhang mit der Lesekompetenz (so können etwa Leserinnen und Leser 220 4 Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften <?page no="221"?> 26 Vgl. R A Y N E R / S L A T T E R Y / B E L A N G E R , Eye; R A Y N E R , Gaze. 27 Vgl. R A Y N E R , 20 Years. M I E L L E T / O'D O N N E L L / S E R E N O , Parafoveal, zeigen, dass die per‐ ceptual span auch 14-15 Buchstaben umfasst, wenn die Buchstaben in Relation zur Entfernung von der Fixation graduell vergrößert werden; die perceptual span kann also nicht nur mit physiologischen Limitationen des periphären Sehens zusammenhängen. Bei Leserinnen und Lesern in Schriftsystemen, die von rechts nach links gelesen werden (z. B. Hebräisch, Arabisch) ist die perceptual span gespiegelt nach links verschoben, wobei die durchschnittliche perceptual span bei Leserinnen und Lesern des Hebräischen wegen der größeren Informationsdichte der Konsonantenschrift nur etwa elf Buch‐ staben links der Fixation umfasst. Vgl. P O L L A T S E K / B O L O Z K Y / W E L L / R A Y N E R , Asymmet‐ ries; J O R D A N / A L M A B R U K / G A D A L L A / M C G O W A N / W H I T E / A B E D I P O U R / P A T E R S O N , Reading. 28 Vgl. V A T R I , Physiology, 638. Vgl. dazu und zum folgenden auch die instruktive Zusam‐ menfassung bei S T A R R / R A Y N E R , Controversies. 29 Vgl. zur großen Bedeutung des parafoveal processing insbesondere für das nicht-voka‐ lisierende Lesen A S H B Y / Y A N G / E V A N S / R A Y N E R , Eye Movements. 30 Vgl. die Zusammenfassung des Forschungsstandes zu Beginn des neuen Jahrtausends bei S T A R R / R A Y N E R , Controversies, 161 f. Während die Studienlage kontrovers blieb (für ein serielles Verarbeitungsmodell plädieren etwa D R I E G H E / R A Y N E R / P O L L A T S E K , Mislo‐ cated; für die parallele Verarbeitung K E N N E D Y / P Y N T E , Effects), deuten neuere Untersu‐ chungen, die Blickbewegungsmessungen mit elektrophysiologischen Untersuchungen (Elektroenzephalographie [EEG] und Elektromyographie [EMG]) kombinieren, darauf hin, dass Worte in der parafovealen Wahrnehmung parallel zu fixierten Worten (auch schon in semantischer Hinsicht) verarbeitet werden. Vgl. L Ó P E Z -P E R É Z / D A M P U R É / H E R N Á N D E Z -C A B R E R A / B A R B E R , Effects (Lit.). Hilfreich ist außerdem der instruktive und mit einer großen perceptual span schneller lesen); 26 für geübte Leserinnen und Leser des Englischen gelten 3-4 Buchstaben links und bis zu 14-15 Buchstaben rechts der Fixation als durchschnittliche Größe für die perceptual span. 27 Die PVL liegt üblicherweise links neben der Wortmitte. Die Blickbewegung wird durch Wortgrenzen geleitet, die parafoveal wahrgenommen werden. Parafoveal meint einen Bereich des visuellen Feldes, der bis zu 5° um das Zentrum der visuellen Wahrnehmung (foveale Wahrnehmung durch Lichtreize, die auf die fovea centralis treffen) liegt und von der peripheren Wahrnehmung zu unterscheiden ist. 28 Dabei beschreibt der sog. parafoveal preview das Phänomen, dass beim Lesen nicht nur das gerade fixierte Wort wahrgenommen und kognitiv verarbeitet wird, sondern auch Buchstaben und Wörter rechts der Fixation. Die aus der parafovealen Wahrnehmung erhaltenen Informationen steuern die Augenbewegung - insbesondere die Fixationspunkte. 29 Das bedeutet, beim Lesen wird nicht nur das gerade fixierte Wort wahrgenommen und verarbeitet, sondern auch schon die vorausliegenden Worte. Dabei wird in der Kognitions‐ forschung allerdings kontrovers diskutiert, wie viele Informationen ein Leser aus der parafovealen Wahrnehmung extrahieren kann und ob Worterkennung im Leseprozess seriell oder parallel funktioniert. 30 221 4.1 P. Saengers These zum Lesen von scriptio continua <?page no="222"?> systematisierende Forschungsüberblick zum parafoveal processing S C H O T T E R / A N G E L E / R A Y N E R , Parafoveal. 31 Vgl. dazu S C H O T T E R / A N G E L E / R A Y N E R , Parafoveal, 12 f (Lit.). 32 So auch die Problematisierung der Studienlage bei S A I N I O / H Y O N A / B I N G U S H I / B E R T R A M , Spacing, 2576: „Most spacing studies conducted in Roman script suffer from the fact that readers are unaccustomed to reading unspaced text. Thus, the disruption effects in reading due to the removal of spaces may at least in part be ascribed to a non-familiar text format.“ 33 Vgl. E P E L B O I M / Booth, J. R., Steinman, R. M., Reading; E P E L B O I M / B O O T H / A S H K E N A Z Y / T A L E G H A N I / S T E I N M A N , Fillers. In diesen Studien konnte verglichen mit den in Anm. 31, S. 222 genannten Studien ein deutlich geringerer Effekt der Entfernung von Wort‐ trennungen auf die Effektivität des Leseprozesses festgestellt werden. Vgl. weiterfüh‐ rend die Debatte zwischen E P E L B O I M / R. B O O T H / S T E I N M A N , Much; R A Y N E R / P O L L A T S E K , Reading. Diese Debatte zeigt, dass man mit der Übertragung von empirischen Unter‐ suchungsergebnissen, die an spezifisch sozialisierten Leserinnen und Lesern gewonnen worden sind, auf andere Schriftsysteme und v. a. auf in der Antike sozialisierte Leserinnen und Leser, die das Lesen von scriptio continua gewöhnt sind, vorsichtig sein muss. Bei modernen „westlichen“ Schriftsystemen geht die gängige Schulmeinung davon aus, dass Leserinnen und Leser die Wortgrenzen anhand der Wortzwi‐ schenräume identifizieren: Dies wird daraus geschlossen, dass englische Texte in scriptio continua nicht nur langsamer gelesen werden, sondern sich die PVL auch von der Wortmitte auf den Anfang des Wortes verlagert. 31 Interessant ist nun aber die Frage, inwiefern sich dieses Phänomen durch ausgiebiges Lesen von deutschen oder englischen Texten in scriptio continua verändern würde, also ob man das Lesen von scriptio continua üben und zu welchen Lesegeschwindigkeiten man gelangen kann. Mit diesen Fragen ist das metho‐ dische Problem verbunden, dass empirische Vergleichsuntersuchungen von Texten in „westlichen“ Schriftsystemen (also z. B. dem Englischen) a) mit Probanden gearbeitet haben, die nicht geübt waren im Lesen von Texten ohne Wortzwischenräume, 32 und b) nur mit Probanden arbeiten können, deren Lesesozialisation von einem Schriftsystem mit Wortzwischenräumen bestimmt ist; die Simulation des Lesens dieser Schriftsysteme ohne Wortzwischenräume also notwendigerweise defizitär bleiben muss. Zu solchen Fragen liegen m. W. keine umfassenden Studien vor. Allerdings deuten Studien von J. Epelboim u. a. zumindest in die Richtung, dass das Lesen von Texten in scriptio continua möglicherweise „antrainiert“ werden kann. Sie haben schon in den 1990er Jahren die Mehrheitsmeinung hinterfragt und aus ihren experimentellen Daten geschlossen, dass Wortzwi‐ schenräume die Sakkaden gerade nicht steuern, sondern dass das Wiederer‐ kennen von Worten die entscheidende Rolle spiele. 33 Bezüglich der Frage, wie die Worterkennung dann aber genau funktioniert, bleiben die Studien jedoch 222 4 Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften <?page no="223"?> 34 Vgl. P I T C H F O R D / L E D G E W A Y / M A S T E R S O N , Effect. 35 Vgl. dazu und zum Problem, dass die Ergebnisse der Leseforschung bisher vor allem auf der Untersuchung der englischen Sprache basieren, W I N S K E L , Writing. 36 Vgl. V A T R I , Physiology, 638 f, mit Verweis auf K A J I I / N A Z I R / O S A K A , Eye; S A I N I O / H Y O N A / B I N G U S H I / B E R T R A M , Spacing, B A I / Y A N / L I V E R S E D G E / Z A N G / R A Y N E R , Reading. Vgl. au‐ ßerdem zu Untersuchungsergebnissen von Studien, die nach der Veröffentlichung von Vatris Artikel erschienen sind, B A S S E T T I / L U , Effects. Bei deutschen Leserinnen und Lesern führt ferner das Hinzufügen von Worttrennungen bei langen Komposita dazu, dass die Erfassung der Wortbedeutung erschwert wird. Vgl. dazu I N H O F F / R A D A C H / H E L L E R , Complex. 37 V A T R I , Physiology, 639. 38 Vgl. S A E N G E R , Space, 4. vage. Neuere Studien deuten darauf hin, dass die unbewusste Sensibilität für die Frequenz bestimmter Buchstabenkombinationen am Anfang und am Ende von Worten eine entscheidende Funktion bei der Worterkennung habe 34 (s. dazu unten mehr), wobei entsprechend der oben skizzierten Modelldiskussion komplexe kognitive Prozesse vorauszusetzen sind. Aufschlussreich sind bezüglich der hier verhandelten Fragen Studien zu Schriftsystemen, die keine Wortzwischenräume aufweisen, die - wie vor allem die Sprachen Südostasiens - erst in der letzten Zeit verstärkt in den Fokus der Leseforschung gerückt worden sind. 35 Bei Schriftsystemen ohne Wortzwischen‐ räumen wirkt die Hinzufügung von Wortzwischenräumen redundant und hat keinen positiven Einfluss auf die Effizienz des Leseprozesses. Die Hinzufügung von Worttrennungen bei einem Schriftsystem ohne Wortzwischenräume kann sogar zu einer Unterbrechung des flüssigen Leseprozesses führen. 36 Es ist zu vermuten, dass durch die Einfügung von Wortzwischenräumen in einem Schriftsystem, das eigentlich keine Wortzwischenräume kennt, die gewohnte Sakkadenlänge gestört wird. So formuliert Vatri m. E. völlig zu Recht: „The readers’ deep-rooted habits play a major role, and this must also have applied to the ancient readers of scriptura continua.” 37 Als Vergleichsbasis für das klassische altgriechische Schriftsystem bezieht sich Vatri auf die Thailändische Schrift, die, als alphasyllabische Schrift ohne Wortzwischenräume geschrieben, den antiken Gegebenheiten viel näherkomme als die von Saenger 38 herangezogene westafrikanische Vai-Schrift (eine reine Silbenschrift). Aufschlussreich ist nun der empirisch anhand von Blickbewe‐ gungsuntersuchungen gewonnene Befund der Lesepraxis thailändischer Lese‐ rinnen und Leser, dass diese sich trotz fehlender Wortzwischenräume im nicht-vokalisierenden Lesemodus nicht von der Praxis englischer Leserinnen und Leser unterscheidet. Thailändische Leserinnen und Leser können genauso schnell lesen wie englisch-sprachig; die Blickbewegung ist deckungsgleich; die 223 4.1 P. Saengers These zum Lesen von scriptio continua <?page no="224"?> 39 Vgl. V A T R I , Physiology, 639, mit Verweis auf W I N S K E L / R A D A C H / L U K S A N E E Y A N A W I N , Eye Movements. Diese Ergebnisse wurden auch in Untersuchungen, die nach der Publika‐ tion von Vatris Artikel enstanden sind, noch einmal eindrucksvoll bestätigt. Vgl. K A S I ‐ S O P A / G. R E I L L Y / L U K S A N E E Y A N A W I N / B U R N H A M , Eye Movements; W I N S K E L / P E R E A / P E A R T , Testing; K A S I S O P A / R E I L L Y / L U K S A N E E Y A N A W I N / B U R N H A M , Child. Vgl. außerdem den Über‐ blick bei W I N S K E L , Thai. Die älteren Studienergebnisse von K O H S O M / G O B E T , Adding, die eine geringfügige Beschleunigung des Lesens von thailändischen Muttersprachlern bei der Hinzufügung von Worttrennungen gemessen hatten, sind in mehrfacher Hinsicht methodologisch höchst problematisch. So handelte es sich bei den Probanden um in einem englischsprachigen Bildungssystem sozialisierte Studenten von der Universität in Pittsburgh, die es aus dem Englischen gewöhnt sind, scriptio discontinua zu lesen, und die Studie untersuchte weder das nicht-vokalisierende Lesen noch wurden eye-tra‐ cking-Verfahren eingesetzt. Auf der Grundlage der neueren Studienergebnisse müssen deren Schlussfolgerungen revidiert werden. 40 V A T R I , Physiology, 639. 41 V A T R I , Physiology, 640, mit Verweis auf W I N S K E L / R A D A C H / L U K S A N E E Y A N A W I N , Eye Mo‐ vements, 349 f. 42 Vgl. dazu ausführlich und mit den entsprechenden Zahlen V A T R I , Physiology, 340-346. Sakkaden landen analog zu englisch-sprachigen Leserinnen und Lesern auf den gängigen PVL (links von der Mitte des Wortzentrums). 39 Daraus schlussfolgert Vatri: „[T]here is no reason to assume that reading unspaced text is a particular demanding cognitive task in itself, and Saenger’s model must be rejected.” 40 Statt durch die Wortzwischenräume erkennen Leserinnen und Leser der Thailändischen Schrift die einzelnen Wörter wahrscheinlich anhand bestimmter Buchstabenkombinationen am Beginn und am Ende der Worte, wie eine statis‐ tische Erhebung der Häufigkeitsverteilung in einem Korpus von 2.300 Wörtern nahelegt: „10 out of 74 characters occur at 76,4% of word endings and at 54,2 of word beginnings.“ 41 Basierend auf diesem methodischen Ansatz untersucht Vatri anhand eines Korpus altgriechischer Texte aus dem TLG (Thuk.; Isokr.; Plat. apol.), ob sich hier ähnliche statistische Häufigkeitsphänomene finden lassen. Und tatsächlich zeigt seine quantitative Analyse von 278.000 altgriechischen Wörtern, dass sich eine Auswahl an Kombinationen extrapolieren lässt, welche bei der Worterkennung eine wichtige Rolle gespielt haben könnten. 42 Daraus lässt sich ableiten, dass gerade die übersichtliche Anzahl an relativ häufig vorkommenden, markanten Wortendungen im System der griechischen Grammatik bei der Worterkennung in der scriptio continua eine wichtige Rolle gespielt hat. Der relativ regelmäßige Gebrauch von Partikeln wie δέ, γάρ usw. könnte eine Markierungsfunktion von Satzanfängen gehabt haben. Insgesamt resümiert Vatri gerichtet gegen das vielfach zu findende Postulat, scriptio continua sei schwerer zu lesen und hätte daher phonologisch realisiert 224 4 Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften <?page no="225"?> 43 V A T R I , Physiology, 646 f. 44 So paradigmatisch J U N A C K , Abschreibpraktiken, 283: scriptio continua „kann nicht gelesen werden, wie wir es tun, d. h. kann nicht durch ausschließlich optisches Erfassen der deutlich gegliederten Worteinheiten aufgenommen und verstanden werden.“ 45 Vgl. dazu B A D D E L E Y / L E W I S , Processes; V I L H A U E R , Inner Reading Voices (Lit.); V I L H A U E R , Characteristics (Lit.). 46 Vgl. dazu und zum Folgenden L A U B R O C K / K L I E G L , Eye. 47 Vgl. L A U B R O C K / K L I E G L , Eye, mit Verweis auf R A Y N E R / P O L L A T S E K / A S H B Y / C L I F T O N J R ., Psychology, 92; I N H O F F / R A D A C H , Parafoveal Preview. werden müssen, m. E. völlig zu Recht: „No physiological constraints prevent the Greeks from reading silently.“ 43 Die These, scriptio continua könne nur adäquat dekodiert werden, wenn sie vokalisierend realisiert würde, ist mit zwei weiteren Schwierigkeiten verbunden: a) mit einem reduktionistischen Verständnis der kognitiven Herausforderungen des lauten Vortragslesens, das in den antiken Quellen reflektiert wird (s. u.); b) mit einer falschen Vorstellung der kognitiven Prozesse beim nicht-vokalisierenden Lesen. 44 Und zwar wird insbesondere die in der neueren kognitionspsychologi‐ schen Leseforschung „wiederentdeckte“ inner reading voice  45 übersehen. Die Unterschiede zwischen vokalisierendem und nicht-vokalisierendem Lesen sollten also nicht zu grundsätzlich konstruiert werden. Auch wenn die aktuellen Studien, die die kognitiven Prozesse beim vokali‐ sierenden Vorlesen und nicht-vokalisierenden Lesen vergleichen, an modernen Schriftsystemen gewonnen worden sind und eine Übertragbarkeit auf die Antike unter einem methodologischen Vorbehalt steht, so sind die Ergebnisse trotzdem aufschlussreich: So zeigen diese Studien, dass die Muster beim voka‐ lisierenden und nicht-vokalisierenden Lesen generell sehr ähnlich aussehen, sich aber in Nuancen, die durchaus bedeutsam sind, unterscheiden. 46 So ist das nicht-vokalisierende Lesen etwa schneller und verbunden mit einem effek‐ tiveren parafoveal preprocessing des noch nicht fixierten, folgenden Wortes. Der Geschwindigkeitsvorteil des nicht-vokalisierenden Lesens resultiert vor allem daraus, dass beim vokalisierenden Vorlesen jedes Wort ausartikuliert werden muss, während die inner reading voice nicht durch die physiologischen Grenzen des menschlichen Artikulationsapparates beeinträchtigt wird und nicht zwingend jede Silbe eines Wortes vollständig artikulieren muss. Einige der empirisch festgestellten Unterschiede deuten darauf hin, dass die kognitiven Anforderungen der Verarbeitungsprozesse beim Vorlesen etwas größer sind: So ist a) die durchschnittliche Fixationsdauer beim vokalisierenden Lesen länger, b) die durchschnittliche Länge der Sakkaden kürzer, c) die Größe der perceptual span kleiner, außerdem sind d) häufigere Regressionen beim vokalisierenden Lesen feststellbar. 47 Letzteres könnte mit der Notwendigkeit zusammenhängen, 225 4.1 P. Saengers These zum Lesen von scriptio continua <?page no="226"?> 48 Vgl. I N H O F F / R A D A C H , Parafoveal Preview; A S H B Y / Y A N G / E V A N S / R A Y N E R , Eye Move‐ ments. Vgl. jetzt außerdem P A N / L A U B R O C K / Y A N , Parafoveal, die zeigen, dass beim lauten Lesen des Chinesischen „readers more efficiently process parafoveal phonological information in oral reading“ (1257). 49 L A U B R O C K / K L I E G L , Eye. 50 Spannend wäre m. E. die Frage nach dem Verhältnis von inner reading voice und Lesestimme beim lauten Vorlesen. Hierzu konnte der Verfasser keine Angaben in der aktuellen Forschungsliteratur finden, wobei er keinen Anspruch darauf erhebt, das große Forschungsfeld komplett zu überblicken. beim vokalisierenden Lesen einzelne Phrasen, Satzteile und Sätze überblicken zu müssen, um diese verstehensfördernd und zusammenhängend lautlich zu realisieren. Zudem zeigt sich, e) dass die Informationen aus der parafovealen Wahrnehmung später verarbeitet werden, 48 so dass J. Laubrock und R. Kliegl resümieren: „Thus although more time is available due to the longer fixations in oral reading, apparently this time is not used in the same way for parafoveal pre‐ processing.” 49 Insbesondere beim Vorlesen in performativen Kontexten ergeben sich mutmaßlich zusätzliche kognitive Anforderungen, die aus der fortlaufend notwendigen Reflexion und der Notwendigkeit der Beobachtung von Raumwir‐ kung, Wirkung auf das Publikum etc. resultieren. Diese Parameter werden in den während der Forschungsarbeit konsultierten Studien nicht einbezogen, da die Versuche gleichsam unter „Laborbedingungen“ durchgeführt werden. In jedem Fall deutet aber nichts darauf hin, dass vokalisierende Lektüre einen generellen Verstehensvorteil bietet; so kann nicht zuletzt die Geschwindigkeit des nicht-vokalisierenden Lesens variabel angepasst werden, wenn ein Text oder Textteile kognitiv besonders herausfordernd sind. Es kann also festgehalten werden, dass aus kognitionspsychologischer und neurowissenschaftlicher Sicht das Lesen von antiker scriptio continua nicht auf die phonologische Realisierung durch die Lesestimme angewiesen war, sondern potentiell eine Realisation durch die inner reading voice völlig ausreichend gewesen sein muss. 50 Im Umkehrschluss könnte man sogar vermuten, dass die scriptio continua einen Effizienzvorteil gegenüber Schriftsystemen mit Spatien hat, insofern sie Lesern potentiell eine größere perceptual span ermöglicht, da mehr Buchstaben parafoveal wahrgenommen werden können. Diese Hypothese müsste freilich empirisch erst überprüft werden. 4.2 Das Lesen von scriptio continua im Spiegel antiker Quellen Dem Fazit Vatris, dass es für antike Leserinnen und Leser keine physiologi‐ schen Einschränkungen beim nicht-vokalisierenden Lesen von scriptio continua 226 4 Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften <?page no="227"?> 51 Angeführt z. B. bei P A R K E S , Pause, 10 f; M U G R I D G E , Copying, 71, Anm. 4. Vgl. z. B auch O E S T R E I C H , Performanzkritik, 67; M I T C H E L L , Papyri, 187 f. 52 Athen. deipn. 1,18f (11b) reflektiert eine Ambiguität in Hom. Il. 24,476, die dadurch zustande kommt, dass der Bezug des Adverbs ἔτι syntaktisch nicht eindeutig ist. Seine Ausführungen zeigen aber auch, dass der Bezug mit kulturellem Wissen eigentlich sicher erschlossen werden kann. Der Grammatiker Maurus Servius Honoratius wirft Aelius Donatus (beide 4. Jh.) in seinem Vergilkommentar vor, er würde in Verg. Aen. 2,289 statt ‚collectam exsilio pubem‘ „gegen das Metrum verstehen, er [Vergil] sagt (contra metrum sensit, dicens)“ (Serv. Aen. 2,798) ‚collectam ex Ilio pubem‘. Vgl. auch Pomp. (Gram.) zu Verg. Aen. 8,83 (GL 5, ed. K E I L , p. 132). Insbesondere die Stelle bei Servius zeigt, dass der Text wegen des eindeutigen Metrums eigentlich nicht ambigue ist; eine grundsätzliche Schwierigkeit des Lesens von scriptio continua lässt sich aus diesen Stellen nicht ableiten. Vgl. außerdem schon die umfangreiche Besprechung von Beispielen, deren Ursprung aber häufig in der mittelalterlichen Schreiberpraxis zu suchen ist, bei B R I N K M A N N , Scriptio continua. Ähnliche Phänomene sind (freilich seltener) auch in modernen lateinischen Schriftsystemen mit Wortzwischenräumen möglich; z. B. die Ambiguität der Phrase „einen ‚Poller‘ umfahren oder umfahren“. 53 B A T T E Z Z A T O , Techniques, 9, hat diese Quelle in die Diskussion eingebracht. 54 Vgl. zum Lernen der Buchstaben schon Plat. Pol. 402a/ b. Vgl. für das antike Christentum außerdem die Schilderung in EvInfThom (13)14. Der Lehrer versucht Jesus hier zunächst die Buchstaben und deren Bedeutung beizubringen, scheitert aber an der Fortgeschritten‐ heit von Jesu Fähigkeiten und Weisheit (s. dazu auch EvInfThom 14[15]). gegeben habe, stehen scheinbar Quellenstellen gegenüber, die immer wieder herangezogen werden, um die Hypothese zu belegen, dass antiken Leserinnen und Lesern das Lesen von scriptio continua Schwierigkeiten bereitet hätte. 51 Sammelt man die Angaben aus den Ausführungen und Fußnoten zusammen, er‐ gibt sich - ohne die Belege, die zeigen, dass durch die fehlenden Wortzwischen‐ räume gelegentlich Ambiguitäten und insbesondere Fehler beim Abschreiben entstehen 52 - die folgende Liste: Dion. Hal. comp. 25; Gell. 13,31,5; Arist. Rhet. 3,5,6; Quint. inst. or. 1,1,34; Petron. sat. 75,4 und Iren. adv. haer. 3,7,1. Diese Quellen lassen jene Schlussfolgerung aber keinesfalls zu, sondern sind allgemein im Kontext des Lesenlernens zu interpretieren und legen sogar gegenteilige Schlussfolgerungen nahe. So handelt es sich bei Dion. Hal. comp. 25 53 um eine bemerkenswerte Reflexion des eigenen Lesesozialisationsprozesses aus der zweiten Hälfte des 1. Jh. v. Chr., die zudem eine interessante Einsicht in die Selbstwahrnehmung der kognitiven Prozesse beim Lesen bietet: „Wenn wir die Buchstaben [τὰ γράμματα, i. e. Lesen und Schreiben] beigebracht bekommen, lernen wir zuerst sorgfältig ihre Namen, danach die Formen und die Bedeutungen [von ihnen], 54 dann genauso die Silben und die Flexion in diesen und danach bereits die Wörter und das mit ihnen Zusammenhängende, ich meine sowohl Dehnungen [ἔκτασις] als auch Kontraktionen [συστολή], Akzentuationen und Quan‐ 227 4.2 Das Lesen von scriptio continua im Spiegel antiker Quellen <?page no="228"?> 55 Vgl. außerdem die analogen Ausführungen Dion. Dem. 52. 56 Vgl. zur weiten Verbreitung dieser Didaktik des Schriftspracherwerbs (Buchstaben, Silben, Wörter) in der Antike, die auch in den patristischen Quellen reflektiert wird, B O N N E R , Education, 165-180; V Ö S S I N G , Schule, 367; G E M E I N H A R D T , Das lateinische Christentum, 36, Anm. 50, u. a. mit Verweis auf Orig. hom. in Numeros 27,13 (SC 461, 342,862-344,866); Hier. ep. 107,4,2 (CSEL 55, 294,4-6 H.) ep. 128,1,3 (CSEL 56, 156,1-3 H.); Aug. ord. 2,7,24. 57 So auch die Schlussfolgerung bei M C C U T C H E O N , Silent, 6 f. titäten [προσῳδία] und diesen ähnliche Dinge. Wenn wir das Wissen über diese Dinge erlangt haben, dann beginnen wir zu schreiben und zu lesen [γράφειν τε καὶ ἀναγινώσκειν], zuerst zwar nach Silben und langsam [κατὰ συλλαβὴν καὶ βραδέως]; wenn aber die rechte Zeit gekommen ist und sich die Formen der Wörter fest in unseren Geist (ἐν ταῖς ψυχαῖς ἡμῶν) implementiert haben, dann ist unser Umgang mit ihnen von Leichtigkeit gekennzeichnet, und wann immer uns irgendein Buch in die Hand gegeben wird, gehen wir ohne Stolpern hindurch - mit Leichtigkeit und [unglaublicher] Schnelligkeit [ἀπταίστῳ διερχόμεθα ἕξει τε καὶ τάχει {ἀπίστῳ}].“ 55 Neben den äußerst interessanten Einsichten in die antike Didaktik des Schrift‐ spracherwerbs, die hier nicht weiter thematisiert werden kann, 56 zeigen diese Ausführungen von Dionysios von Halikarnassos, dass die Dekodierung einzelner Silben über die phonologische Realisierung nur ein Schritt im Leselernprozess ist, auf die geübte Leser nicht mehr angewiesen sind. Diese haben vielmehr die Wörter so umfassend internalisiert, dass sie sie problemlos in der scriptio continua erkennen können, sodass ihr Leseprozess flüssig und schnell ist. 57 Zwar denkt Dionysios hier womöglich an das flüssige und schnelle vokalisierende Lesen; sicher zu schlussfolgern ist dies jedoch nicht und ein Bezug auf schnelle inhaltsbezogene individuell-direkte Lektüre ist ebenfalls möglich. Denn einerseits verwendet Dionysios das Verb an anderer Stelle eindeutig im Sinne von inhaltsbe‐ zogener individuell-direkter Lektüre, wenn er in seiner Schrift über Thukydides formuliert: „Beispiele anzuführen, ist im Hinblick auf diejenigen unnötig, die durch die Historien selbst hindurchgegangen sind (τοῖς διεληλυθόσιν)“ (Dion. Hal. Thuk. 8). Andererseits ist das Motiv des Stolperns kongruent zum Leseterminus διέρχομαι, der, wie oben gezeigt, eben auch metaphorisch individuell-direkte Lektüre konzeptualisieren oder sich metonymisch auf die Augenbewegung be‐ ziehen kann und nicht zwingend metaphorisch auf den Gang des Vorleseprozesses bezogen ist. Das Stolpern meinte dann weniger eine Pause im flüssigen Vorlesen als eine Unterbrechung der sakkadischen Augenbewegung durch eine längere Fixations- oder Regressionsdauer, die Dionysios reflektiert, aber freilich nicht mit der modernen Metasprache der Leseforschung beschreibt. Deutlich wird aus seinen Ausführungen in jedem Fall, dass die Worterkennung unabhängig von der Frage, ob er an das vokalisierende oder nicht-vokalisierende Lesen denkt, visuell und 228 4 Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften <?page no="229"?> 58 So auch das Urteil von K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 193. 59 Vgl. dazu weiterführend K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 193 f. nicht über den Umweg der phonologischen Realisation über das Ohr abläuft; also das vokalisierende Lesen keineswegs die Voraussetzung darstellt, um einen Text in scriptio continua zu dekodieren. Auch die satirische Szene in den Noctes Atticae (Gell. 13,31), in der ein „aufgeblasener Mensch“ (Gell. 13,31,1), der in einem Buchladen sitzt, der Hoch‐ stapelei überführt wird, thematisiert nicht die angeblichen Schwierigkeiten, die antike Leser mit der scriptio continua hatten, sondern die Schwierigkeiten eines Menschen, der nahezu Analphabet ist (aber etwas anderes vorgibt), einen ihm unbekannten Text vorzulesen. Die schlechte Lesefähigkeit des Hochstaplers wird dadurch hervorgehoben, dass er noch schlechter lese als ein Junge, der neu in die Schule gekommen ist (vgl. Gell. 13,31,9). Darüber hinaus ist überhaupt nicht klar, ob der Autor dieser fiktiven Szene seinen Lesern einen lateinischen Text ohne Worttrennungen vor Augen stellen wollte. Schließlich ist es sehr wahrscheinlich, für das 2. Jh. einen Text der Satiren Varros (1. Jh. v. Chr.) anzunehmen, der noch Worttrennungen aufwies (siehe zu Worttren‐ nungen in lateinischen Hss. unten mehr), 58 wo Gellius doch das Alter und die Zuverlässigkeit der Hss. besonders betont: accipit a me librum veterem fidei spectatae, luculente scriptum (Gell. 13,31,6). Der Zusatz luculente scriptum (klar, prächtig geschrieben) hebt sodann die gute Lesbarkeit der Schrift hervor. 59 Damit kontrastiert Gellius erneut die schlechte Lesefähigkeit des Hochstaplers, der noch nicht einmal ein Prachtexemplar lesen kann. Das Lesen von scriptio continua thematisiert diese Quelle in jedem Fall nicht. „Denn nach rechts vorauszuschauen (prospicere in dextrum), was alle anraten, und im Voraus das Folgende zu überschauen (providere), ist nicht mit dem Verstand allein zu leisten, sondern auch eine Sache der praktischen Erfahrung; denn man muß ja schon auf das Folgende blicken, während man das Vorhergehende ausspricht und, was das Schwierigste ist, seinen Geist gleichzeitig auf zweierlei konzentrieren: die Betätigung der Stimme und die der Augen.“ (Quint. inst. or. 1,1,34; Üb. R A H N ). Auch für diese Stelle bei Quintilian gilt, dass er und seine anvisierten Adressaten im 1. Jh. n. Chr. überhaupt keine lateinischen Texte in scriptio continua vor sich liegen hatten, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach Texte, die Worttren‐ nungen durch Mittelpunkte aufwiesen. Der materielle Befund zeigt, dass es sich um einen methodischen Fehlschluss handelt, die scriptio continua der spätantiken und mittelalterlichen lateinischen Hss. in die Zeit vor dem 2. Jh. 229 4.2 Das Lesen von scriptio continua im Spiegel antiker Quellen <?page no="230"?> 60 S. schon die Kritik bei M Ü L L E R , Interpunktion, 35, Anm. 3. Dieser Fehlschluss findet sich z. B. schon bei M A R R O U , History, 375, und K E N Y O N , Books, 67, und ist bis heute weit verbreitet, wie nicht zuletzt das Anführen der hier diskutierten frühen lateinischen Quellen für die vermeintlichen kognitiven Schwierigkeiten des Lesens von scriptio continua zeigt (z. B. in den in Anm. 51, S. 227, gen. Forschungsbeiträgen). 61 Grundlegend definiert und untersucht von B U S W E L L , Experimental, der für College-Stu‐ dierende eine eye-voice span von 10-15 Buchstaben bzw. 2-3 Wörter festgestellt hat; auch wenn er sie mit einer einfachen Methode, bei der das Licht beim Vorlesen ausgeschaltet wird und die Wörter gezählt, die noch oral realisiert werden, ermittelt hat, kommen moderne Untersuchungen, die die Blickbewegung einbeziehen, auf einen durchschnittlichen Normalwert von knapp 14 Buchstaben. Vgl. z. B. L U C A / P O N T I L L O / P R I M A T I V O / S P I N E L L I / Z O C C O L O T T I , Eye. 62 Vgl. Aristain. 1,10,35-42 [Zitat 40 f]. zurückzuprojizieren. 60 Sodann fokussiert Quintilian hier nicht auf das Lesen als Gesamtphänomen, sondern, wie der Makrokontext (Rhetorikausbildung), aber auch der Mikrokontext in inst. 1,1 (Grundlagen für die Rhetorikausbildung) eindeutig zeigt, auf die Schwierigkeiten, die mit der spezifischen Situation des Vorlesens vor anderen verbunden ist. Quintilians Curriculum des Lesenlernens steht ganz im Dienst der Ausbildung eines guten Redners. Die Augen müssen beim Vorlesen nach rechts vorausschauen (prospicere in dextrum) und den kommenden Text vorausschauend wahrnehmen (providere), damit die münd‐ liche Realisation des Textes zusammenhängend, flüssig und damit (für die Zuhörer) verständlich wird (vgl. Quint. inst. or. 1,1,31). Das, was Quintilian hier beschreibt, umfasst m. E. nicht nur das Phänomen beim vokalisierenden Lesen, das man in der Leseforschung als eye-voice span bezeichnet, 61 sondern könnte sehr gut auch den sog. parafoveal preview (s. o.) und Lesestrategien implizieren, die kurze Pausen nutzen, um im Text vorauszublicken und den Text dann erst stimmlich zu realisieren. Das Bewusstsein für diese Phänomen beim vokalisierenden Lesen findet sich auch in griechischen Quellen; kann also auch für das Lesen von scriptio continua vorausgesetzt werden. „Du liest einige [scil. Bücher] recht flüssig, während du deine Augen vor deiner Stimme hältst“ (ἀναγιγνώσκεις ἔνια πάνυ ἐπιτρέχων, φθάνοντος τοῦ ὀφθαλμοῦ τὸ στόμα; Lukian. adv. ind. 2). Auch dass Kydippe beim Lesen des Schwurs „Ja, bei Artemis, ich werde Akontios heiraten“, den letzterer auf einen Apfel geritzt hatte, das letzte Wort, das sich auf eine Hochzeit bezieht, nicht mehr stimmlich realisiert, es aber vorher erkannt haben muss (ἡμίφωνον καταλέλοιπε λέξιν τὴν ἐπ’ ἐσχάτῳ κειμένην ἅτε διαμνημονεύουσαν γάμον), 62 erklärt sich durch den parafovealen Vorausblick. 230 4 Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften <?page no="231"?> 63 So auch H. Krasser, der betont, dass sich das „laute“ Lesen am Vergnügen des Zuhörers orientiert und im Hinblick auf die oben schon behandelte ἀνάγνωσις-Definition bei Dionysios Thrax formuliert: „Dies heißt nichts anderes, als daß man einen Text, um ihn im Sinne des Dionysius lesen zu können, bereits durchgearbeitet und verstanden haben muß“ (K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 196); und weiter in Bezug auf Gell. 13,31: „Vorlesen steht für Gellius, und dies und nichts anderes meint auch die Definition des Dionysius, nicht am Anfang, sondern am Ende des Reflexionsprozesses, dessen eigentliches Ziel die Vermittlung des maximalen Hörgenusses ist“ (K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 198). Ferner verweist Krasser bezüglich der besonderen Fähigkeiten, die mit dem professionellen Vorlesen von Texten verbunden sind, auf Plin. ep. 5,19,2 f; Auson. ep. 22,45-50; CIL VI 9447. 64 Vgl. C R I B I O R E , Writing, 8 f.47 f.148 f. Insbesondere Quintilians Ausführungen verdeutlichen: Qualitätsvolles Vor‐ tragslesen, dem vorbereitende individuell-direkte Lektüre vorausgeht, 63 impli‐ ziert die Fähigkeit, im Leseprozess eine größere Menge Text nur mit den Augen wahrnehmen zu können, da man ihn sonst nicht sinngemäß und flüssig vorlesen kann - und das gilt unabhängig von der Frage nach Wortzwischenräumen. Die höheren kognitiven und physiologischen Anforderungen, die das qualitätsvolle Vorlesen an die Leserinnen und Leser stellt, spiegelt sich in den Ergebnissen empirischer Untersuchungen in der kognitionspsychologischen Leseforschung zumindest für Leserinnen und Leser der zeitgenössischen Schriftsysteme (s. o.). Insgesamt führen die kognitiv und physiologisch höheren Anforderungen des qualitätsvollen Vorlesens die These ad absurdum, dass man scriptio continua nur vokalisierend lesen konnte; bzw. die dahinterliegende Annahme, dass die Silben in der scriptio continua mit der Stimme phonologisch realisiert werden mussten, damit die scriptio continua dekodiert werden konnte. Sowohl im Lateinischen als auch im Griechischen ist das Auge der Stimme voraus; die Verarbeitung des Geschriebenen beim Vorlesen läuft also vor der lautlichen Realisierung. Dies gilt dann genauso für Formen der individuell-direkten Lektüre und hier unabhängig davon, ob der Text mit der Lesestimme oder der inner reading voice realisiert wird. R. Cribiore schlussfolgert mit Bezug auf die genannten Quellen differen‐ zierter, dass scriptio continua besonders für Anfängerinnen und Anfänger des Lesens eine besondere Herausforderung dargestellt hätte. 64 Der diskutierte Quellenbefund reicht aber m. E. für eine solche Schlussfolgerung, dass das Lesenlernen in einem Schriftsystem mit scriptio continua schwerer sei als in einem Schriftsystem, das Wortzwischenräume aufweist (hier gelten die methodischen Vorbehalte, die sich aus den Ausführungen unter 4.1 ergeben), insgesamt nicht aus; die Quellen lassen m. E. höchstens die Schlussfolgerung zu, dass Unterschiede zwischen der antiken und modernen Didaktik des Schrift- 231 4.2 Das Lesen von scriptio continua im Spiegel antiker Quellen <?page no="232"?> 65 Vgl. dazu R Ö B E R -S I E K M E Y E R , Leistungen. 66 Vgl. C R I B I O R E , Writing, 49. Zu Worttrennungen nach Silben vgl. z. B. das eindrückliche Beispiel P.Lond. Lit 255 (3./ 4. Jh.) mit einem Auszug aus einer Isokratesrede. 67 Vgl. dazu z. B. weiterführend auch L A M B E R T , alphabets, zusammengefasst bei S C H O L Z / H O R S T E R , Einleitung, XIIf. 68 Er kann von insgesamt gut 400 Texten nur 13 mit Wortzwischenräumen (zwei davon mit Trennungen der Silben) identifizieren. spracherwerbs bestehen. Allerdings weisen die in den Quellen durchschei‐ nenden Leselernmethoden (insb. Dion. Hal. comp. 25 [s. o.]: erst Buchstaben, dann Silben, dann Wörter) äußerst interessante Analogien zum Prinzip der „Silbenanalytischen Methode“ auf. Dieser Ansatz, der in der modernen Didaktik des Schriftspracherwerbs dezidiert linguistisch fundiert ist, versteht sich als Reaktion auf die Defizite der gängigen analytisch-synthetischen Ansätze, die entsprechend der Phonem-Graphem-Korrespondenz-Regeln den Leselernpro‐ zess zu strukturieren versuchen (Methoden, die mit Fibel und Anlauttabellen arbeiten). 65 Außerdem korrespondiert er mit den oben schon skizzierten kogni‐ tionspsychologischen Einsichten zur Schriftsprachenverarbeitung. Als zusätzliche Evidenz verweist er auf Papyri aus Schulkontexten, auf denen Worttrennungen oder Trennungen nach Silben zu finden sind. 66 Die von Cribiore angeführten Papyrusbeispiele mit Worttrennern oder mit Trennungen von Silben können allerdings auch nicht als Beleg für die These herhalten, dass das Lesen von scriptio continua eine größere Herausforderung für Lerner dargestellt hätte als ein hypothetisches altgriechisches Schriftsystem mit scriptio discontinua. Vielmehr lassen sich die Übungen präzise in das aus den Quellen herausscheinende Curriculum einordnen. 67 Zum anderen weist die überwälti‐ gende Mehrzahl der Papyri, die Cribiore als Schulmaterial aufführt, Texte in scriptio continua auf. 68 Auch die Aussagekraft der weiteren, angeführten Quellen, die als Evidenz für vermeintliche Schwierigkeiten des Lesens von scriptio continua, angeführt werden, hält einer genaueren Überprüfung ebenfalls nicht stand. Aristot. rhet. 3,5,6 [1407b12] wurde bereits oben bei der Besprechung des Lexems εὐανάγνωστος besprochen (s. o. insb. Anm. 57, 58, S. 120 f): Ob ein Text εὐανάγνωστος (gut lesbar) ist, steht bei Aristoteles nicht mit dem Schriftsystem in Zusammenhang; ihm geht es hier rein um syntaktische und lexikalische Aspekte. Die Charakterisierung des Sklaven des Trimalchio, der ein Buch ab oculo liest (Petron. sat. 75,4), kann die Beweislast nicht tragen, die ihr damit aufgebürdet wird, dass hier auf einen vermeintlichen Lesesklaven rekurriert werde, der die Kunst des „Vom-Blatt-Lesens“ 232 4 Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften <?page no="233"?> 69 Gegen B A L O G H , Voces Paginarum, 229, Anm. 80; V O G T -S P I R A , Indizien, 183 f; C A V A L L O , Volume, 73; E H L E R S , Rezitator, 17, Anm. 16; B U S C H , Lesen, 26; H E L L H O L M , Universalität, 257 u. a. 70 K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 174. 71 Vgl. K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 173 f. 72 Vgl. D I C K E Y (Hg.), Colloquia, passim; D I C K E Y , Learn Latin, passim. 73 Gegen B R I N K M A N N , Scriptio continua, 619 f. beherrschte. 69 Eine solche Interpretation setzt in zirkulärer Weise voraus, dass Lesen in der Antike kognitiv besonders herausfordernd gewesen wäre und dass die Literalität insgesamt nur schwach ausgeprägt war. Aus der Stelle selbst geht nicht hervor, ob die Lesetechnik, die mit ab oculo angedeutet wird, so herausragend war, wie üblicherweise unterstellt wird. Der satirische Kontext bei Petronius, der „dem Leser die Halbbildung des Trimalchio vor Augen“ 70 führen möchte, und die anderen Charakterzüge, mit denen Trimalchio seinen Sklaven beschreibt, lassen doch eher Zweifel an dieser Interpretation aufkommen: Dass der Sklave z. B. die recht einfache Rechenoperation beherrscht, durch zehn teilen zu können (decem partes dicit) - aber etwa nicht durch sieben -, spricht gerade nicht für eine besonders hohe kognitive Begabung, die für das Lesen ab oculo als notwendig vorauszusetzen wäre. Es handelt sich also bei der Fähigkeit ab oculo legere um eine Fähigkeit, die im schulischen Elementarunterricht gelehrt wird, wie auch H. Krasser betont. 71 Bestätigt wird diese Interpretation durch einen expliziten Verweis auf diese Lesefähigkeit in den Hermeneumata Pseudodosi‐ theana, anonyme, vermutlich irgendwann in der Kaiserzeit entstandene, 72 bilinguale Handreichungen für den Schulunterricht, die neben Glossaren und kurzen Übungs‐ texten sozialgeschichtlich in vielerlei Hinsicht aufschlussreiche Schilderungen des Tagesablaufs eines Schülers aus dessen Perspektive enthalten. In einem dieser sog. Colloquia, dem Colloquium Stephania, findet sich die Formulierung: „Dann [lese ich] ἀπὸ τοῦ ὀφθαλμοῦ/ ab oculo, schnell (ταχέως/ citatim), einen unbekannten Text und einen, der wenig gelesen wird“ (Colloqiua Stephania 17d, ed. D I C K E Y ). Aus dem Kontext geht dabei hervor, dass die Schüler dies im Unterricht jeweils individuell (καθ’ ἕνα/ per singulos) und mit binnendifferenziertem Schwierigkeitsgrad (καθ’ ἑνὸς ἑκάστου δυνάμεις καὶ προκοπήν/ iuxta unius cuiusque vires et profectum) zur gleichen Zeit tun (vgl. Colloqiua Stephania 18a/ b, ed. D I C K E Y ). Zusammen mit dem Verweis auf die Geschwindigkeit in 17d impliziert dies, dass hier sogar nicht-vokalisierende individuell-direkte Lektüre im Blick ist. Ferner adressiert auch Ptol. krit. 10,11-16 nicht das Lesen von scriptio continua; ἀνάγνωσις wird hier vielmehr als phonologischer Fachterminus verwendet (s. o. 3.1.4). 73 Irenäus diskutiert in haer. 3,7,1 f Ambivalenzen in den Paulusbriefen, die durch missliche syntaktische Konstruktionen (v. a. Hyperbata) entstehen und bei der lectio zu theologisch problematischen Verstehensmöglichkeiten führen können, wenn 233 4.2 Das Lesen von scriptio continua im Spiegel antiker Quellen <?page no="234"?> 74 Vgl. Sen. de ira 2,2, der als Beispiel für den Zorn gegenüber unbelebten Dingen ein Buch anführt, das wegen seiner winzigen Schrift schon oft fortgeworfen wurde (liber, quem minutioribus litteris scriptum saepe proiecimus). 75 Vgl. Ps.-Aristot. de Mel. Xen. Gorg. 980b7-10: „For, to begin with, no one speaks a sound or a colour, but only a word; so that it is not possible to think a colour but only to see it, nor to think a sound, but only to hear it. Granting, then, that it is possible to know and read a word (εἰ δὲ καὶ ἐνδέχεται γιγνώσκειν τε καὶ ἀναγιγνώσκειν λόγον), how can the hearer be conscious of the same thing? “ (Üb. H E T T ) Es ist aufschlussreich, dass diese Überlegungen im Kontext einer umfangreicheren Gegenüberstellung von Sehen und Hören stehen, also Lesen hier dem Sehsinn zugeordnet wird. 76 Zum Vorteil des Geschriebenen als Gedächtnisstütze vgl. exempl. auch Gal. CAM praef. 2 (ed. K Ü H N . p. 226). Galen ist sich aber auch der Begrenztheit der Behaltensleistung von Gelesenem sehr wohl bewusst. Vgl. Gal. Thras. 4 (ed. K Ü H N 5, p. 810): οὔτε πάντων τῶν γεγραμμένων μνημονεύειν δυνάμενον. derjenige, der vorliest, nicht aufpasst und nicht genügend Atempausen macht (Si ergo non adtendat aliquis lectioni nec per interualla aspirationis manifestet in quo dicitur …). Dies hat zwar indirekt mit der scriptio continua - präziser: mit fehlender Interpunktion zur Markierung der syntaktischen Struktur - zu tun, sagt aber nichts über höhere kognitive Fähigkeiten aus, die vermeintlich notwendig wären, um scriptio continua zu lesen. Die zitierte Stelle deutet vielmehr darauf hin, dass derjenige, der vorliest, die Atempausen nutzen soll, um sich einen Überblick über das Folgende zu verschaffen, um dieses richtig vorzulesen. Nirgendwo in den Quellen lässt sich also fassen, dass antike Leser Probleme mit in scriptio continua geschriebenen Texten gehabt hätten, wohl lässt sich demgegenüber festhalten, dass zu kleine Buchstaben ein Ärgernis für die visu‐ elle Wahrnehmung des Textes darstellten. 74 Zudem sei darauf verwiesen, dass in der antiken Philosophie die grundlegenden Unterschieden der Perzeption und kognitiven Verarbeitung beim Lesen auf der einen und dem Hören auf der anderen Seite durchaus reflektiert wurden 75 - die Aufnahme von Gelesenem ist also im antiken Denken nicht einfach auf auditive Verarbeitung reduziert worden. Dies spiegelt auch eine Stelle bei Laktanz wider; und zwar verweist dieser im Kontext seiner Reflexion über das Verhältnis von Lernen und Zeit auf die perzeptuellen Vorteile des Lesens gegenüber dem Hören sowie der Begrenztheit des Gedächtnisses. „Diese allgemeine Bildung ist zu erwerben auf der Basis von Lesepraxis (discendae istae communes litterae propter usum legendi); denn bei einer so großen Vielfalt der Gegenstände kann sie weder dadurch erworben werden, dass man alles hört (nec disci audiendo possunt omnia), noch dadurch, dass man es im Gedächtnis behält“ (Lact. inst. 3,25,9). 76 234 4 Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften <?page no="235"?> 77 Selbst wenn sich Laktanz mit seinen Ausführungen nur auf lateinische Texte beziehen sollte, wovon im Kontext allerdings eher nicht auszugehen ist, so werden diese im 3./ 4. Jh. n. Chr. schon in scriptio continua geschrieben worden sein. S. u. 78 Vgl. zu Worttrennungen in mykenischen und in archaisch-griechischen Inschriften W I N G O , Punctuation, 14; T U R N E R , Greek, 57. Auf kretischen Inschriften finden sich Worttrennungen bis ins 6. Jh. hinein. Vgl. G A G A R I N / P E R L M A N , Laws, 51. 79 Vgl. O L I V E R , Titulature. 80 Vgl. zur Echtheitsfrage S I M O N E , Fibula. 81 Allerdings sind aus dem 7.-5. Jh. v. Chr. auch Beispiele frühlateinischer Inschriften bekannt, die in scriptio continua geschrieben sind. Vgl. W A L L A C E , Latin, 22. Vgl. weiterführend zu den frühlateinischen Inschriften H A R T M A N N , Inschriften. Dies berührt aber nicht das hier besprochene Problem, da Worttrennungen seit der republikanischen Zeit Standard sind. So auch W A L L A C E , Latin, 23. 82 Ein bekanntes Beispiel ist die Inschrift auf dem Sarkophag von Scipio Barbatus aus dem 3. Jh. v. Chr. (CIL I 2 7). 83 Oliver verweist auf die folgenden Beispiele: P.Iand. 5 90 (CLA 8 1201; Cic. Verr. 2 2,3 f; 1. Jh. v./ 1. Jh. n. Chr.); P.Herc. 817 (CLA 3 385; Carmen de bello Actiaco; 1. Jh. v./ 1. Jh. n. Chr.); P.Oxy. 1 30 (CLA 2 207; fr. de bellis Macedonicis; 1./ 2,. Jh.). Vgl. insb. die Auflistung von Papyri und Inschriften bei W I N G O , Punctuation, 15: 134-163. Vgl. weiterführend zu den literarischen Papyri klassischer Autoren mit Worttrennungen S E I D E R , Paläographie II,1, 31-53. Man könnte diese Liste um zahlreiche weitere Beispiele ergänzen. Vgl. z. B. BGU II 611 (Rede von Claudius; 1. Jh. n. Chr.). Zu ergänzen sind außerdem die Fragmente der Elegien von Gallus (1. Jh. v. Chr.), die erst 1979 publiziert wurden und in denen die Wörter durch Mittelpunkte getrennt sind. Vgl. dazu A N D E R S O N / P A R S O N S / N I S B E T , Elegiacs. Vgl. exempl. außerdem die folgenden dokumentarischen Papyri/ Ostraka mit Worttrennern: SB 16 12609 [! ] (Schuldurkunde; 27. n. Chr.); ChLA 10 424 (privates Die Argumentation von Laktanz würde keinen Sinn ergeben, wenn die indi‐ viduell-direkte Lektüre (von Texten in scriptio continua) 77 nur bzw. primär auf den auditiven Kanal angewiesen gewesen wäre. Vielmehr lässt Laktanz durchblicken, dass er den auditiven Kanal für Bildungszwecke nicht zuverlässig genug hält. Gegen eine besondere kognitive Schwierigkeit, die mit dem Lesen von scriptio continua in der Antike verbunden gewesen sein sollte, spricht auch die Tatsache, dass es sowohl im griechisch- 78 als auch im lateinisch-sprachigen Bereich eine Entwicklung von der scriptio discontinua zur scriptio continua gab. Aufschlussreich ist vor allem die sehr späte Aufgabe von Worttrennungen im Lateinischen. Darauf aufmerksam gemacht hat schon R. P. Oliver 1951; 79 ausführlich ist die lateinische Worttrennung in den 1970er Jahren von E. O. Wingo untersucht worden: „The practice of word-division was standard in Etruscan and it was probably from this source that it entered into Latin, where it is found in the very earliest inscriptions such as the lapis niger [CIL I 2 .1] and the fibula Praenestina  80 [CIL I 2 .3]. 81 The word-divider is regularly found on all good inscriptions, 82 in papyri, 83 on wax tablets, and even in 235 4.2 Das Lesen von scriptio continua im Spiegel antiker Quellen <?page no="236"?> Empfehlungsschreiben; 1. Jh.); P.Oxy. 44 3208 (Privatbrief; 1. Jh. v./ 1. Jh. n. Chr.); P.Berol. 7428 (Veteranenliste, 140 n. Chr.) oder auch die zahlreichen, 2012 von A. Bülow-Jacobsen publizierten Privatbriefe aus Didymoi aus der zweiten Hälfte des 1. Jh.: z. B. O.Did. 326; O.Did. 334; O.Did. 362; O.Did. 429. 84 W I N G O , Punctuation, 15. Der Übergang vom Schreiben mit regelmäßigen Worttrennungen zur scriptio continua ist eindrücklich dokumentiert im uneinheitlichen Befund der Vindo‐ landa-Tafeln (um die Jahrhundertwende vom 1. zum 2. Jh.). So auch A D A M S , Language, 95 f. Während z. B. in T. Vindol. II 297; 315; 323; 345 so gut wie alle Wörter durch einen Mittelpunkt getrennt werden, bei vielen die Wörter durch Spatien [! ] abgetrennt werden (z. B. in T.Vindol. II 296; 299; 301; 316; 343), sind wenige (z. B. T. Vindol. II 292) schon in scriptio continua geschrieben, wobei sich analoge Phänomene bezüglich der Abtrennung von Abkürzungen durch Spatien und Mittelpunkte (vgl. z. B. T.Vindol. 291, Z. 1) wie bei den Papyri aus Dura Europos finden lassen (s. u.). Vgl. zum Übergang weiterführend M Ü L L E R , Interpunktion. Vgl. ferner die zahlreichen, v. a. ins 1. Jh. n. Chr. zu datierenden „Bloomberg-Tablets“ mit Wortzwischenräumen (s. T O M L I N , Voices, passim). 85 Z. B. FrA, r, Z. 2: quidscribserimMinicioMartialiproc(uratori) · Aug(ustorum) n(ostrorum). 86 Vgl. etwa P.Dura 56 A-C (vgl. dort z. B. FrA,r, Z. 6.7). graffiti from the earliest Republican times through the Golden Age and well into the Second Century.” 84 Aus den zahlreichen Quellenbeispielen, die Oliver und Wingo aufführen, ist der Papyrus PSI 7 743 aus dem 1./ 2. Jh. besonders hervorzuheben, der einen griechi‐ schen Text in lateinischer Transkription mit Worttrennern bietet. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine griechische Inschrift mit Worttrennern in Kom Ombo in Ägypten: SB 5 8905 (88 n. Chr.). Es liegt nahe, eine Projektion der lateinischen Konvention zu vermuten, da die Weihinschrift durch eine Römerin gestiftet worden ist. Als Beispiele für den neuen Stil ohne Worttrennungen, der sich ab dem 2./ 3. Jh. in den Hss. findet, führen sie P.Ryl. Gr. 3 473, eine griechisch-lateinische Bilingue (Fragment von den Historiae von Sallust), und P. Mich. 7 429 (die Kopie eines grammatischen Traktats) an. Scriptio continua findet sich darüber hinaus auch in den lateinischen Papyri aus Dura Europos. Beispielhaft verwiesen sei auf P.Dura 54, eine kalendarische Liste (225-235 n. Chr.), und P.Dura 60, ein Brief, der auf den Beginn des 3. Jh. datiert wird. Die scriptio continua wird in P.Dura 60 allerdings an den Stellen durch einen Wortzwischenraum (mit oder ohne Mittelpunkt) unterbrochen, an denen Abkürzungen verwendet werden. 85 Dieses Phänomen ist auch noch in weiteren Papyri aus Dura Europos erkennbar. 86 Es spricht für die These, die Vatri für das klassische Griechisch formuliert hat (s. o.), dass Worterkennung in der scriptio continua durch signifikante Buchstabenkombinationen (in diesem Fall eben auch im Lateinischen) am Wortbeginn und -ende geleitet wird, was bei der Verwendung von Abkürzungen jedoch nicht möglich ist. 236 4 Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften <?page no="237"?> 87 Vgl. K R A S S E R , „sine fine lecturias“, 175, Anm. 13. Interessant ist ferner, dass Augustus gerade diese Notizen ohne Worttrennungen als Hilfe für Reden und für Gespräche sogar mit seiner Frau Livia verwendete (vgl. Suet. Aug. 84), woraus zu schließen ist, dass diese von ihm in der jeweiligen Situation ohne Schwierigkeiten visuell erfasst werden konnten. 88 Dass interpungo bei Seneca die Wortinterpunktion meint, legt auch die Formulierung interpuncta verborum bei Cic. de orat. 3,181 sowie die Verwendung an den anderen Belegstellen in Ciceros Werk nahe. Er verwendet das Wort nämlich im übertragenen Sinne der Funktion des Punktes zu „unterbrechen“ als rhetorischen terminus technicus. Vgl. Cic. de orat. 2,177.328; 3,173; orat. 16,53. Vgl. auch Quint. inst. or. 9,4,108. 89 Vgl. dazu ausführlich M Ü L L E R , Interpunktion, 34-45: „Das Verschwinden des Worttren‐ nungspunktes ist die Voraussetzung für die Satzinterpunktion durch den Punkt [in mittlerer Höhe]; diese taucht vereinzelt schon neben der Wortinterpunktion auf und ist die wichtigste Interpunktionsweise in den Handschriften seit dem 4. Jahrhundert“ (M Ü L L E R , Interpunktion, 2). Die Unterschiede in den Konventionen des Schriftsystems vor dem 2. Jh. werden in der frühen Kaiserzeit auch in literarischen Quellen reflektiert. So ist es für Sueton (Aug. 87,3) eine Besonderheit, dass Augustus in seinen handschriftlichen Texten die Wörter nicht trennt (non dividit verba). 87 Seneca wiederum nimmt Überlegungen zum Stil einer bedächtigen philosophischen Rede (weder zu langsam noch zu schnell; vgl. auch Sen. ep. 40,8.13 f) zum Anlass, eine Analogie zum Schreiben bei Römern und Griechen zu ziehen: „Freilich, den Redestrom des Quintus Haterius […] möchte ich einem vernünftigen Menschen als völlig unpassend nicht wünschen: Nie zögerte er, nie hielt er ein; nur einmal hob er an, nur einmal schloß er. Mancherlei paßt, glaube ich, mehr oder weniger zu bestimmten Völkern. Bei Griechen mag man diese Schrankenlosigkeit [licentia] hinnehmen; wir Römer haben uns sogar beim Schreiben angewöhnt zu interpungieren. Selbst unser großer Cicero, mit dem die römische Beredsamkeit einen gewaltigen Sprung nach vorn tat, ging schrittweise (gradarius) vor. Die lateinische Sprache ist bedächtiger, wägt ab und stellt sich der Nachprüfung“ (Sen. ep. 40,10 f; Üb. F I N K ; modifiziert JH). Aus der Perspektive des skizzierten materiellen Befundes meint Seneca hier die Wortinterpunktion - also Punkte in den Wortzwischenräumen der latei‐ nischen Texte und keine syntaktische oder rhetorische Interpunktion. 88 Erst das Verschwinden der Wortinterpunktion im 2. Jh. schuf die Voraussetzung dafür, dass Punkte Sinnpausen o. ä. bezeichnen konnten oder zur syntaktischen Abgrenzung verwendet wurden. 89 Bemerkenswert an Senecas Analogie ist also, dass er das griechische Schrift‐ system nicht etwa mit Schwierigkeiten bei der Entzifferung der scriptio continua, sondern mit Schnelligkeit in Verbindung bringt und die Worttrenner im Latei‐ 237 4.2 Das Lesen von scriptio continua im Spiegel antiker Quellen <?page no="238"?> 90 Das Argument von P. Saenger bezüglich der Worttrennungen im Lateinischen bis zum 2. Jh., der Abstand sei deutlich kleiner gewesen als in den Manuskripten im Mittelalter - damit sagt er implizit sie seien also noch nicht wirklich eine „Erfindung“ der scriptio discontinua, sondern stünden in Kontinuität zur griechischen scriptio continua (vgl. S A E N G E R , Space, 28 f) -, ist eine Verlegenheitslösung, die im Rahmen seines Entwicklungsmodells notwendig erscheint. Diese Verlegenheitslösung ist angesichts der neueren kognitionspsychologischen und neurowissenschaftlichen Einsichten als überholt anzusehen. 91 Vgl. O L I V E R , Titulature, 242: Seine Formulierung, die Römer hätten hier „even the worst characteristic of Greek book“ (242), übernommen, ist allerdings ein gutes Beispiel für die hier diskutierte unzulässige Projektion moderner Lesegewohnheiten auf die antiken Gegebenheiten. 92 Vgl. W I N G O , Punctuation, 15. Auch H U R T A D O , Oral Fixation, 328, verweist auf die Ästhetik von scriptio continua, zeigt aber keinerlei Kenntnis von der bis spät in die Kaiserzeit verbreitete Praxis, lateinische Texte in scriptio discontinua zu schreiben. Zu anderen, wenig befriedigenden Erklärungsversuchen vgl. F R A N K , Textgestalt, 38-40. nischen als Gegenteil von licentia, also als eine Art Zügel betrachtet, in dem sich nicht nur die Bedächtigkeit der Rede, sondern der Sprache und damit auch des Lesens von lateinischen Texten widerspiegelt. In jedem Fall ist es geboten, hier die Perspektive Senecas auf die Fremdsprache und deren Leser in Rechnung zu stellen; also womöglich die Tendenz, dass er vorgelesenes Griechisch als rasanter wahrnimmt als vorgelesenes Latein. Angesichts dieser Perspektive in der frühen Kaiserzeit ist die Einführung der scriptio continua umso erstaunlicher. Daraus folgt also: Wenn das Lesen von scriptio continua mit besonderen kognitiven Schwierigkeiten verbunden gewesen wäre, widerspräche die recht späte Aufgabe von Worttrennungen im Lateinischen im 2. Jh. auf eklatante Weise dem Ökonomieprinzip, das sich an zahlreichen anderen kulturellen Entwicklungen im römischen Reich zeigt (z. B. in der Landwirtschaft, im Militär usw.). 90 Eine Erklärung der Einführung der scriptio continua in das lateinische Schriftsystem sieht P. R. Oliver darin, dass man sich hier an der griechischen Buchkultur orientiert hat 91 - die Übernahme hatte also vorwiegend ästhetische und kulturelle Gründe und kann als Phänomen des Zeitgeschmacks verstanden werden. 92 Es kommt hinzu, dass bei Augustinus (wie in der Einleitung ausgeführt), das nicht-vokalisierende Lesen von lateinischen Texten in scriptio continua explizit belegt ist. Zudem reflektiert Augustinus die kognitionspsychologischen Vorgänge beim Lesen in seiner Schrift de Dialectica. „Jedes Wort tönt. Wenn es nämlich geschrieben steht, ist es nicht ein Wort, sondern das Zeichen eines Wortes (cum enim est in scripto, non verbum sed verbi signum est); denn nachdem die Buchstaben vom Lesenden angeschaut worden sind, begegnet dem Geist das, was sich im Laut äussern soll (quippe inspectis a legente litteris occurrit animo, 238 4 Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften <?page no="239"?> 93 Vgl. dazu weiterführend L I N D E , Zeichen, 276 ff (Lit.). 94 Zur Verwendung des Terminus s. o. Anm. 1, S. 215. quid voce prorumpat). Was zeigen nämlich die geschriebenen Buchstaben anderes als sich selbst den Augen und ausser sich selbst dem Geist die Laute (quid enim aliud litterae scriptae quam se ipsas oculis et praeter se voces animo ostendunt, et paulo ante diximus signum esse quod se ipsum sensui et praeter se aliquid animo ostendit.)? Was wir lesen, sind daher nicht Worte, sondern die Zeichen der Worte (quae legimus igitur non verba sunt sed signa verborum). Aber wie wir, obschon der Buchstabe selbst das kleinste Element von artikuliertem Laut ist, dennoch diese Vokabeln im übertragenen Sinn brauchen, indem wir auch von ‚Buchstaben‘ sprechen, wenn wir ihn geschrieben sehen - obschon dieser ganz und gar stumm ist und nicht als ein Lautelement, sondern als Zeichen eines Lautelements erscheint - so wir auch ein geschriebenes Wort ‚Wort‘ genannt, obschon es als das Zeichen eines Wortes, das heisst, als das Zeichen eines bedeutenden Lautes, nicht als Wort, in Erscheinung tritt. Deshalb, wie ich zu sagen begonnen habe, tönt jedes Wort“ (Aug. de dial. 5,7, Üb. R U E F , 1981, hier 22). Es ist hier nicht möglich, die dichten semiotischen Ausführungen Augustins ausführlich zu analysieren. 93 Die entscheidende Einsicht, die sich aus dieser Stelle gewinnen lässt, ist, dass das geschriebene Wort, das nur Zeichen eines Wortes ist, gerade nicht tönt. Lesen wird hier von Augustin eindeutig visuell konzeptualisiert (inspicio), womit er in der Antike nicht allein ist (s. o. 3.8). Der Leser sieht nur die geschriebenen Buchstaben, hört sie also nicht, und sie, die geschriebenen Buchstaben, zeigen dem Geist die Laute. Die Artikulation der Laute (mit der inneren Lesestimme oder stimmlich ausartikuliert) ist dann ein zweiter Schritt nach der kognitiven Verarbeitung des Gelesenen. Dies impliziert eindeutig die Fähigkeit der kognitiven Worterkennung beim nicht-vokalisier‐ enden Lesen von Texten, die in scriptio continua geschrieben sind. 4.3 Weitere „typographische“ 94 Gestaltungsmerkmale antiker Handschriften und die Frage nach „Lesehilfen“ Neben der scriptio continua weisen antike Hss. noch eine ganze Reihe weiterer Merkmale auf, die in Relation zur Lesepraxis zu interpretieren sind. Ein Großteil dieser Merkmale - z. B. Diakritika, Interpunktion, Dikola, Paragraphoi - werden üblicherweise als „Lesehilfen“ verstanden, wobei implizit an Hilfen für das Vorlesen gedacht wird. In diesem Zuge abzuhandeln ist auch die Frage nach der durchschnittlichen Zeilenlänge in literarischen Papyri mit Prosa aus der Kaiserzeit, die nach W. A. Johnson in einem Zusammenhang zu konkreten Lese‐ 239 4.3 Weitere „typographische“ Gestaltungsmerkmale antiker Handschriften <?page no="240"?> 95 J O H N S O N , Sociology, 616. 96 L. Hurtado hat die schon von C. H. Roberts aufgestellte These ausführlich vorgetragen, dass die (primären) scribal features in den neutestamentlichen Hss. zeigten, dass die Manuskripte, die diese Charakteristika aufwiesen, für die Lesung im „Gottesdienst“ bestimmt gewesen seien. Neben dem Hinweis auf Kolumnen und die durchschnitt‐ liche Zeilenlänge (vgl. H U R T A D O , Artifacts, 171-177) verweist er insbesondere auf „Lesehilfen“ in den frühen neutestamentlichen Papyri. Vgl. dazu H U R T A D O , Artifacts, 177-185. Beides wird unten zu diskutieren sein. Vgl. außerdem A L A N D , Rezeption, 29 f; A L A N D , Significance, 109; K R U G E R , Manuscripts, 27, Anm. 69. S. außerdem H U R T A D O , What; H U R T A D O , Sociology, wo er zus. als These formuliert, dass die readers’ aids es auch Lesern aus sub-elitären sozialen Schichten ermöglichten, diese Texte zu lesen. Angesichts der im Folgenden zu präsentierenden Evidenzen, ist diese These zurückzuweisen. 97 So explizit z. B. bei H U R T A D O , Artifacts, 179 f; H U R T A D O , Early, 78. 98 So richtig H U R T A D O , Early, 78. anlässen gestanden hätten: „Bookrolls were not, in gross terms, conceptualized as static repositories of information (or of pleasure), but rather as vehicles for performative reading in high social contexts.“ 95 Insbesondere in der Forschung zu den neutestamentlichen Papyri werden diese sog. „Lesehilfen“ in den frühen Papyri, die traditionellerweise auf das 2. Jh. datiert werden, als Evidenz dafür herangezogen, dass diese Hss. für die Lesung im „Gottesdienst“ geschrieben worden wären. 96 Interpretationen, die „typographischen“ Merkmale antiker und antik-christ‐ licher Hss. in der Summe als Hilfen für das Vorlesen interpretieren, stehen in der Gefahr eines Zirkelschlusses, da sie die schwierigere Lesbarkeit der scriptio continua a priori voraussetzen. 97 Dies ist allerdings angesichts der obigen Ausführungen nicht mehr zu rechtfertigen. Es kommt hinzu, dass zwischen primären und sekundären (daher auch schwer zu datierenden) „Lesehilfen“ zu unterscheiden ist 98 - also solchen „typographischen“ Gestaltungsmerkmalen, die in der ursprünglichen Anlage der Handschrift vorgesehen waren, und solchen Eintragungen, die Benutzer in die Texte eingetragen haben, die eine Hs. dann für einen Vortrag verwendet haben. In methodischer Hinsicht ist zu formulieren: Nur aus primären „typographischen“ Gestaltungsmerkmalen, die sich eindeutig nur dem Vortragslesen zuordnen ließen, könnte eine sichere Aussage über die primäre Verwendungsweise einer Hs. getroffen werden. Ein Problem, insbesondere der Debatte um die Merkmale neutestamentlicher Papyri, ist die einheitliche Kategorisierung von unterschiedlichen Phänomenen in den Hss. als „Lesehilfen“ oder lectional signs, die m. E. getrennt voneinander besprochen werden müssen. Und zwar: 240 4 Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften <?page no="241"?> 99 Vgl. jetzt aber den sehr umfangreichen, aber nur mit Hindernissen nachnutzbaren, Datenbestand bei M U G R I D G E , Copying, 83-91. 100 So auch A S T , Signs, 153: “[E]ditors do not always record these marks, and even when they do, databases and interested readers do not always pick up on them.“ a. Markierungen auf der Buchstabenbzw. Wortebene; b. Markierungen, die eine Bedeutung für die Syntax haben bzw. größere Texteinheiten strukturieren; c. Paratextuelle Elemente, die insofern von a) und b) zu unterscheiden sind, als es um textliche Elemente (Überschriften, Verfasserangaben, Seitenzahlen etc.) und Verzierungen geht; d. die Breite der Kolumnen. Die paratextuellen Elemente c) werden zwar zumeist nicht unter „Lesehilfen“ gezählt, gehören aber in den Kontext der hier zu besprechenden Merkmale der Hss. In diesem Zuge müssen auch andere, primär für die visuelle Rezeption ge‐ dachte, Elemente wie Nomina sacra u. ä. kurz besprochen werden. Hinzu kommt das Problem, dass m. W. bisher keine umfassende, Handschriften übergreifende und systematische Untersuchung der als „Lesehilfen“ interpretierten Merkmale antiker Hss. existiert. Im Rahmen dieser Studie sind einige exemplarische Beobachtungen zu den frühen Papyri (bis zum 3. Jh.) angezeigt, die auch dazu dienen, den Befund der neutestamentlichen Papyri in den Kontext antiker Hss. insgesamt zu stellen. Vorab ist auf ein gravierendes Erschließungsproblem der Forschungsdaten hinzuweisen. 99 So werden insbesondere diakritische Zeichen und Wortzwischenräume in den Editionen von Handschriften nicht konsequent erfasst. 100 In analogen Transkripten werden sowohl Worttrennungen als auch diakritische Zeichen (gemäß den späteren grammatischen Regeln) hinzugefügt. Auch in digitalen Transkripten werden Informationen über diese Aspekte nicht konsequent in die Metadaten aufgenommen. Ein Beispiel dafür sind die digitalen Transkripte, die im Rahmen der Erstellung der Edito Critica maior hergestellt werden. Hier wird in den Richtlinien zur Transkription (von Matthias Piontek und Marie-Luise Lakmann, Version III, 1. November 2013) explizit ausgeschlossen, dass Akzente, Spiritus (außer sie seien „das einzige Unter‐ scheidungsmerkmal einer Wort- oder Formvariante“) und Tremata mittranskribiert werden. Der Verzicht ist mit dem Erkenntnisinteresse des Projektes, der Rekonstruk‐ tion des Ausgangstextes, zu erklären, der, so die Annahme, keine diakritischen Zeichen gehabt hätte. Darauf wird unten zurückzukommen sein. 241 4.3 Weitere „typographische“ Gestaltungsmerkmale antiker Handschriften <?page no="242"?> 101 Vgl. z. B. R O Y S E , Habits, 106.207. 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R O Y S E , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M U G R I D G E , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H U R T A D O , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H U R T A D O , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ̣); Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 46 (vgl. E B O J O , Nonsense, 134); Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 18 (v o 14); Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 1 (f. r o 3-5); Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 5 (f. 2r o 20 f u. ö.); Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 20 (v o 4.7); Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 45 (2v o 7); Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16;  f. 3,16); Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 46, f. 22v o 15). 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19 f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16 f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert.3,1,65 f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos ad a) Markierungen auf der Buchstabenbzw. Wortebene Hierunter fallen die sog. diakritischen Zeichen (das Trema, Akzente sowie Spiritus) und aus meiner Sicht auch der Apostroph. Diese Zeichen sind sowohl in christlichen als auch nicht-christlichen Hss. zu finde, aber kommen, so der Stand der Forschung, selten vor und deren Verwendung folget keiner festen Systematik. 101 Es gibt mittlerweile einige Studien zu den sogenannten scribal habits, in denen diese Phänomene z. T. berücksichtigt werden. Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota (ϊ; r o ,1 f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und 242 4 Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften <?page no="243"?> berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P.Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44 f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T H R E A T T E , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T U R N E R , Manuscripts, 12 f. 111 Wobei in Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 75, 45r o 7 möglicherweise ein Hochpunkt steht, der aber im Digitalisat nicht eindeutig zu identifizieren ist und nur durch eine Autopsie sicher festgestellt werden könnte. 112 In diesen Befund passt ein Trema in einem Nomen Sacrum nach einem Mittelpunkt. Vgl. Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 66, 78,6 ( Joh 11,33). 113 Gegen N Ä S S E L Q V I S T , Reading, 25. 114 N Ä S S E L Q V I S T , Reading, 25. Auch gegen J U N A C K , Abschreibpraktiken, 283. steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 66 im Vergleich zu Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 75. In Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben ist (λε-γει·ϊδε), während in Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 75 an dieser Stelle kein Mittelpunkt steht und das Trema tatsächlich die Funktion hat, die Diärese anzuzeigen. Das gleiche Phänomen lässt sich in Joh 1,36 sehen (vgl. Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 66, f. 4, Z. 18 111 ). Diese (auch noch an anderen Stellen zu findende) Redundanz in Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 66 lässt sich vermutlich dadurch erklären, dass der Schreiber das Trema aus konventionellen Gründen gesetzt oder aus seiner Vorlage übernommen und den Mittelpunkt selbst eingefügt hat. 112 Außerdem stellt sich die Frage, inwiefern der Schreiber von Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 66 Tremata überhaupt als Lesehilfe aufgefasst haben kann, wenn er ein funktionslos gewordenes Trema stehen lässt. Insbesondere die weitgehende Beschränkung auf die Vokale ι und υ macht es zudem sehr unwahrscheinlich, dass das Trema die generelle Funktion hatte, ein neues Wort zu markieren. 113 Insgesamt erscheint es mir vor diesem Hintergrund fragwürdig, dass Trema als „lectional sign that guide pronunciation“ 114 zu kategorisieren und eine eindeutige Verknüpfung zum vokaliserenden Lesen bzw. Vortragslesen (neutestamentlicher Texte im Gottesdienst) herzustellen. Denn sollte das Trema 243 4.3 Weitere „typographische“ Gestaltungsmerkmale antiker Handschriften <?page no="244"?> 115 Vgl. M U G R I D G E , Copying, 88 f. 116 So auch H I L L / K R U G E R , Introduction, 16, Anm. 71. Dies deckt sich mit dem Befund in literarischen Papyri insgesamt. Vgl. T U R N E R , Manuscripts, 11 f. 117 Zu diesem Ergebnis kommt auch E B O J O , Nonsense, 134 (Lit.), in Bezug auf die zahlrei‐ chen Belegstellen in Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 46. 118 Vgl. exempl. P.Oxy. 15 1809 (I/ II; Plat. Phaid. 102e mit umfangreichen Marginalscholien): col. 2,6 f. Die diakritischen Zeichen stammen vielleicht sogar von derselben Hand wie der Kommentar (vgl. CPF I.1***, 223); P.Berol. inv. 9782 (II; Kommentarmanuskript; s. dazu unten mehr): z. B. Pl. C r o col. 1,1; Pl. O r o col. 3,35.38. Vgl. auch P.Berol. inv. 21245, fr. a r o (4. Jh.; Fragmente aus Isokratesreden, bilingual lat.-dt.; spiritus lenis und Akut unterscheiden das Partizip ὄντας (εἰμί), das man gerade am Ende der Zeile vielleicht mit dem Pronomen ὅν und dem Artikel τάς verwechseln könnte) und die spiritus auf den einsilbigen Wörtern ὁυ, ὁ und ὡς in P.Cairo.Masp. 3 67295 (6. Jh.). 119 Vgl. exempl. IG II 2 3662,9 (2. Jh. n.; Abb. unter: https: / / digital.library.cornell.edu/ catalog / ss: 456492): Vereindeutigung des Relativpronomens ὉΣ, das als Endung von ΘΥΓΑΤΗΡ verwechselt werden könnte. Vgl. außerdem IG II 2 12664,7 (1. Jh. n. Chr.); IG II 2 2270,6 (2. Jh. n. Chr.? ); IG II 2 3714,12 (3. Jh. n. Chr.); IG II 2 3811,10 (v. 250 n. Chr.). Vgl. dazu T H R E A T T E , Grammar, 97 f. L A R F E L D , Handbuch, 428, verweist außerdem auf IG XIV 645, eine sehr alte Inschrift aus dem ausgehenden 4. Jh. v. Chr., in der der spiritus asper verwendet wird. tatsächlich als Lesehilfe gedacht gewesen sein, so ist diese auch für einen indi‐ viduellen Leser hilfreich, und zwar unabhängig davon, ob er vokalisierend liest oder seine innere Lesestimme verwendet. Die griechischen Wörter werden im Folgenden bewusst ohne Berücksichtigung der konventionellen Akzentsetzung geschrieben, um den Befund in den Handschriften darstellbar zu machen. Akzente und spiritus sind im Vergleich zum Trema deutlich seltener in den frühen Papyri zu finden. 115 Es ist aufschlussreich, dass es sich bei den spiritus überwiegend um einen spiritus asper handelt 116 (ⱶ) - und zwar wird dieser in vielen Fällen nur dann gesetzt, wenn eine semantische Ambiguität bei einsilbigen Wörtern vermieden werden soll. 117 Dies hat eine stichprobenartige Durchsicht der frühen Papyri (2./ 3. Jh.) ergeben. In der unten stehenden Tabelle finden sich einige Beispiele zur Illustration. Das bedeutet, die Frage der richtigen phonologischen Realisierung kann nicht das primäre Interesse der Schreiber gewesen sein. Parallelphänomene lassen sich im Übrigen aus nicht-christlichen Papyri - auch in solchen, die definitiv nicht für den performativen Vortrag bestimmt waren 118 - und Inschriften, die ebenfalls schwerlich zur performativen Lesung bestimmt waren, 119 beibringen. 244 4 Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften <?page no="245"?> 120 Vgl. zu den Datierungen O R S I N I / C L A R Y S S E , Manuscripts. 121 Der spiritus asper auf der Konjunktion η in Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 49 (III/ IV; P.Yale 2 86, v o ,8; Eph 5,3) muss ein Fehler sein. Vgl. B I O N D I , accenti, 26. Es sind so wenige, dass M U G R I D G E , Copying, 89 f, sie nicht einmal statistisch auswerten kann. 122 Vgl. dazu E B O J O , Nonsense, 134, der darauf hinweist, dass er mehrere Dutzend Beleg‐ stellen in Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 46 gefunden habe, die er allerdings nicht einzeln verzeichnet hat. 123 In der ersten Zeile von f. 102 ist möglicherweise ein spiritus lenis zu lesen, der die Präposition vereindeutigt. Gregory-Aland 120 Standardkürzel Stellenangabe Befund Gegenprobe (exemplarisch) Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 13 (III/ IV) P.Oxy. 4 657 f. 47v o ,21.27 (Hebr 3,6.8) ὁυ: Relativpronomen vs. Adverb f. 47v o ,11 (Hebr 3,1) αγιοι ohne spiritus asp. Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 15 ([III]/ IV) P.Oxy. 7 1008 r o ,5 (1Kor 7,20) v o ,13 (1Kor 7,24) ἡ: Artikel vs. Partikel (disjunktiv/ kompa‐ rativ o. Adverb) ὡ: Vereindeutigung des Relativprono‐ mens z. B. v o 9 Relativpronomen ο ohne spiritus asp. Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 45 (III) P.Beatty 1 f. 10v o ,5 (Lk 9,48) f. 16r o ,15 ( Joh 10,16) ὁς: Vereindeutigung des Relativprono‐ mens (könnte im Kontext mit ενος ver‐ wechselt werden) εἱς: Numeral vs. Präposition εἰς f. 10v o ,6 Relativpronomen ος nach και ohne spiritus asp. Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 46 121 (200-225) P.Beatty 2 z. B. f. 16r o ,17 (Röm 12,5) u. ö. 122 f. 50r o 18 (1Kor 10,17) ἑν: Numeral vs. Präposition εἱς: Numeral vs. Präposition εἰς f. 6r o 22-24 Relativpronomen ο ohne spiritus asp. Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 66 123 (III) P.Bodm. II f. 101,10 ( Joh 13,29) ὡν: Relativpronomen vs. Partizip Präsens εἰμί f. 101,15 ( Joh 15,31) Relativpronomen ο ohne spiritus asp. Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 77 (III) P.Oxy. 64 4405 f. v o ,2 (Mt 23,35) ὁν: Relativpronomen vs. Partizip Präsens von εἰμί Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 104 (II) P.Oxy. 64 4404 r o ,5 f. (Mt 21,35) ὁν: Relativpronomen vs. Partizip Präsens von εἰμί r o ,4 (Mt 21,35) Relativpronomen οι ohne spiritus asp. Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 113 (III) P.Oxy. 66 4497 v o ,5 (Röm 2,29) ὁυ: Relativpronomen vs. Adverb 245 4.3 Weitere „typographische“ Gestaltungsmerkmale antiker Handschriften <?page no="246"?> 124 Vgl. zur Diskussion W A S S E R M A N , Papyrus 72; N I C K L A S / W A S S E R M A N , Linien; A L A N D , Rolle, insb. 308; J O N E S , New Proposal; N O N G B R I , Construction. 125 Vgl. z. B. f. 11,5 (Vereindeutigung des Relativpronomens am Zeilenende; möglicherweise auch markiert, um parafoveal nicht als Endung eines Wortes missinterpretiert zu werden); f. 12,15 (Relativpronomen, das parafoveal möglicherweise als Endung missin‐ terpretiert werden könnte) usw.; vgl. aber z. B. auch f. 3,16, wo der spiritus asper eher im Sinne eines trema genutzt wird. 126 Vgl. M U G R I D G E , Copying, 89. 127 Vgl. die Übersicht bei B I O N D I , accenti, 18. 128 Auch B I O N D I , accenti, 78, interpretiert das Zeichen als Akut und nicht als spiritus. 129 Vgl. zum Akut in f. 30v o , Z. 22 (Hebr 9,24), der auf eine Korrektur zurückgeht, E B O J O , Nonsense, 133, Anm. 20. 130 Vgl. T U R N E R , Manuscripts, 11. Zahlreiche spiritus asper finden sich auch in Kodex P.Bodm 7-8 (= Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 72).10-12.13, bei dem es angesichts der eigenartigen Zusammenstellung, die durchaus ein redaktionelles Interesse erkennen lässt, 124 sowie angesichts des im Vergleich zu anderen Hss. eigenwilligen Formats fraglich erscheint, ob es sich um ein Manuskript handelt, das die Vorlage für performative Lesungen gebildet hat. Es finden sich einige Stellen, an denen analog zu den schon angeführten Beispielen, einsilbige Wörter mit einem spiritus asper versehen worden sind. 125 Daneben findet sich aber z. B. auch mitten im Kompositum εισὁδος ein spiritus asper (f. 25,3; 2Petr 1,11), den A. Mugridge als Irregularität interpretiert. 126 M. E. erklärt sich der spiritus asper hier aber durch den Zeilenumbruch, der durch das Wort geht (εισὁ-δος) und der möglicherweise auch die Disambiguierung von Vorsilbe und Präposition notwendig erscheinen ließ. Auch die wenigen Akzente, 127 die sich in den frühen Hss. finden lassen, haben zumeist die Funktion, eine semantische Ambiguität auszuschließen. Auch hier scheint es nicht um die richtige phonologische Realisierung zu gehen. In Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 1 (P.Oxy. 1 1) findet sich vermutlich ein Akut auf einem ή (v o ,14 [Mt 1,18]) 128 und disambiguiert die Partikel vom Artikel oder Relativpronomen, möglicherweise auch vom folgenden Wort. In Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 46 (200-225; P.Beatty 2) zeigt der Akut auf πέρας (f. 26v o ,7 [Hebr 6,16]) möglicherweise den Unterschied des Nom. Sg. ntr. vom Dat. Pl. fem. von πέρα bzw. von Formen des Verbes περάω in der 2. Pers. Sg. an. 129 Der Akut in Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 66 (P.Bodm. II) f. 101.8 ( Joh 13,29) hilft potentiell -δοκουν vom Partizip von δοκοω zu disambiguieren. Es könnte hier im speziellen Fall als notwendig erachtet worden sein, weil das Augment in der vorhergehenden Zeile geschrieben ist. Besonders aufschlussreich ist die Verwendung des Apostroph in den neutes‐ tamentlichen Hss. Der Apostroph wird dort analog zu antiken Hss. insgesamt 130 246 4 Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften <?page no="247"?> 131 Vgl. z. B. IG II 2 13131,5 (1. Jh. n. Chr.); IG II 2 12664,8 (1. Jh. n. Chr.); IG II 2 11040,2 (2. Jh. n. Chr.); IG II 2 3714,12 (um 200 n. Chr.); IG II 2 12617,2 f.7. Vgl. dazu T H R E A T T E , Grammar, 97 f. 132 Vgl. z. B. Majuskel 0189/ P.Berol. inv. 11765, f. 2,3 (Clarysse/ Orsini: 150-250). 133 Vgl. M U G R I D G E , Copying, 86 f. 134 T U R N E R , Manuscripts, 8.11, und E B O J O , Nonsense, 133, weisen etwa auf dieses Phä‐ nomen hin, können es aber nicht erklären: „the function of which is not immediately ascertainable“ (E B O J O , Nonsense, 133). M U G R I D G E , Copying, 87, vermutet „usually because names from a Hebrew background ended with a consonant and did not change by declension […], and hence might have been strange to a Greek reader.” 135 Vgl. z. B. αβρααμ’: Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 46, f. 83r o ,10 (Gal 3,8); Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 66, f. 56,11.17.20 ( Joh 8,33.39.40) u. ö.; Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 7 5, f. 55r o ( Joh 8,37) [kein Apostroph erkennbar 55r o ,31]; 55v o ,4 ( Joh 8,40) | αδαμ’: Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 75, f. 7v o ,9? (Lk 3,38) | καφαρναουμ’: Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 45, f. 11r o (Lk 10,15; gegen das Transkript im NTVMR, das der Apostroph fälschlicherweise als Hochpunkt interpretiert); Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 66, f. 9,9 ( Joh 2,12); f. 24,9 ( Joh 4,46) u. ö. | ϊακωβ’: Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 66, f. 18,1 ( Joh 4,6) u. ö.; Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 75, 47v o ,15.17 ( Joh 4,5.6) | ισραηλ’: Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 45, 24r o ,10 (Act 10,36); Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 46 (P.Beatty 2), 14r o ,14 (Röm 10,19); 88v o ,17 (Phil 3,5); Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 66, f. 4.3 ( Joh 1,31); f. 7,6 ( Joh 1,49); f. 13,10 ( Joh 3,10) [kein Apostroph f. 87,8; Joh 12,13]; Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 75, f. 44v o ,35 möglicherweise Apostroph nach nomen sacrum. | ιωβηδ’: Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 1, r o ,14 (Mt 1,5) | ϊωσηφ’: Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 45. f. 20r o ,5 f.13 (Act 7,13.18; gegen das Transkript im NTVMR, das der Apostroph fälschlicherweise als Hochpunkt interpretiert); Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 66, f. 6,11 ( Joh 1,45); 17 21 ( Joh 4,5) | ναθαναηλ’: Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 66, f. 7,4 ( Joh 1,49); Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 75, f. 45v o , 2 ( Joh 1,49; gegen das Tran‐ skript im NTVMR, das den Strich fälschlicherweise als Hochpunkt interpretiert). Hier wäre eine weiterführende und systematische Analyse des Gebrauchs des Apostrophs in den frühen neutestamentlichen Hss. hilfreich, welche auch die großen Kodizes ein‐ bezieht, in denen dieses Phänomen ebenfalls zu finden ist. Vgl. exempl. א 01 247 v o col. 2,1: ϊωσηφ’ ( Joh 1,45). Das gleiche Phänomen findet sich, wie zu erwarten, auch in LXX-Hss. Vgl. z. B. Rahlfs 837/ P.Berol. inv. 17212 (III), fr. 2v o ,9: Αιγυπ’του (Jer 2,18); fr. 3v o , 5: Ισραηλ’ ( Jer 2,31). Bei dieser Hs. handelt es sich um ein Exemplar, das, wie Kurz‐ scholien am Rand belegen, eindeutig als Arbeitsexemplar verwendet wurde. Vgl. au‐ ßerdem die zahlreichen Apostrophe im Zwölfprophetenkodex Ralfs W/ Washington Manuscript V (III): z. B. S A N D E R S , Facsimile, 49,32: Ιερουσαλημ’ (Sach 2,16); 18,36 f: Νεβρωδ’, Ασσουρ’ (Mich 5,5). sowie zum inschriftlichen Befund 131 vor allem als Auslassungszeichen ver‐ wendet. 132 Die Funktion erschließt sich, berücksichtigt man, dass die parafoveale Worterkennung in der scriptio continua vor allem durch Buchstabenkombinati‐ onen am Anfang und vor allem am Ende der Worte geleitet wird (s. o. 4.1). Fällt nun ein Buchstabe aus lautlichen Gründen aus, wird dies markiert, um die gewohnte Worterkennung zu gewährleisten. Dadurch lässt sich auch die in ihrer Funktion für die Forschung z. T. nicht direkt erschließbare, in den frühen Hss. sehr regelmäßig zu findende 133 Apostrophierung von indeklinablen semitischen Namen in den neutestamentlichen Papyri erklären, 134 die wegen der fehlenden Passung in das griechische Endungssystem ebenfalls sehr häufig mit einem Apostroph markiert werden. 135 Die Praxis, fremdsprachliche Wörter mit einem Apostroph zu kennzeichnen, findet sich auch vielfach in dokumentarischen 247 4.3 Weitere „typographische“ Gestaltungsmerkmale antiker Handschriften <?page no="248"?> 136 Vgl. A S T , Signs, 151. 137 M E T Z G E R , Bodmer Papyrus, 201; C H A R L E S W O R T H , Public, 160. 138 In A. Mugridges Kategorie F (liturgical and hymnic texts) finden sich nur in 12,1% der Handschriften Tremata, wärend sie in 31,6% der neutestamentlichen Papyri, in 41,7% der Papyri mit apokryphen Texten und in 40 % der Papyri mit patristischen Texten zu finden sind. Vgl. M U G R I D G E , Copying, 86. 139 Gegen J U N A C K , Abschreibpraktiken, 283-285, der das Vorkommen dieser Phänomene mit der communis opinio des grundsätzlich „lauten“ Lesens in der Antike verknüpft. 140 Vgl. die Akzente in P.Berol. inv. 9917 (um 300). 141 Vgl. z. B. die Tremata in P.Berol. 9780 r o (2./ 3. Jh.; Kommentar von Didymos zu Demos‐ thenesreden). Zu weiteren visuell wahrzunehmenden Merkmalen dieses Papyrus vgl. C A N C I K , Text, 85-92. 142 Vgl. z. B. P.Berol. inv. 13236 (2. Jh./ 3. Jh.) - ein Fragment eines Kodex mit Thuk. Hist. (2, 65, 6-8; 65, 12; 67, 2; 68, 1-5; 79, 5-6; 80, 3-6; 81, 1-3; 81, 8-82), dessen Text u. a. Akut, Zirkumflex, Gravis, Spiritus und Scholien von derselben Hand enthält. Vgl. zu den Scholien M C N A M E E , Annotations, 444 f. In P.Oxy. 52 3680 (2. Jh.; Plat. Tht.) findet sich in einem Randkommentar zum Text von einer zweiten Hand ein Apostroph. Vgl. dazu M C N A M E E , Annotations, 351. Aufschlussreich ist außerdem der Befund in P.Oxy. 15 1808 (2. Jh.). Dabei handelt sich um ein Fragment mit Plat. rep., dessen Text diakritische Zeichen (erhalten ist z. B. ein Trema und ein Spiritus asper) aufweist und und das zahlreiche, schnell geschriebene Randmarkierungen (Kurzschrift und Abkürzungen) enthält. M C N A M E E , Annotations, 20 f.352, vermutet daher, dass die Randmarkierungen unter Zeitdruck bei einer Vorlesung/ einem Vortrag o. ä. entstanden sein könnten, wobei ein Zuhörer seine Notizen unter Zeitdruck in sein eigenes Arbeitsexemplar geschrieben hat, das also eindeutig nicht als Vorlesemanuskript genutzt wurde. In P.Berol. inv. 21355 (2. Jh.) findet sich ein Apostroph zur Anzeige einer Elision in einem Scholion. In P.Berol. inv. 5865 (3./ 4. Jh.), Reste eines Kodex mit Aratscholien, finden sich Tremata, Apostrophe, Spiritus asper sowie verschiedene Verweiszeichen (z. B. ein kleines Kreuzchen und ein Diple). Vgl. dazu mit Verweisen auf weitere Papyri M A E H L E R , Aratkodex. Vgl. außerdem P.Oxy. 47 3326 (2. Jh.; Plat. rep.; vgl. M C N A M E E , Annotations, 352); P.Oxy. 18 2176 (2. Jh.; Kommentar zu Hipponax mit Scholien; vgl. M C N A M E E , Papyri. 136 Auch beim Apostroph handelt es sich also nicht um eine Vorlesehilfe und auch nicht um ein Zeichen, das zu „clarity of pronunciation in the public reading“ 137 beitrüge - dagegen spricht auch der statistische Befund. 138 Der Apostroph ist vielmehr eine Worterkennungshilfe, welche die parafoveale Wahr‐ nehmung des Textes sowohl beim Vortragslesen, aber v. a. bei verschiedenen Modi des (nicht-vokalisierenden) individuellen Lesens unterstützen kann. Aus dem Vorkommen von Tremata, Akzenten, Spiritus und Apostrophen in einer Hs. kann also nicht auf ihren primären Verwendungskontext geschlossen werden. 139 Dieses Ergebnis wird dadurch gestützt, dass sich diese Merkmale auch in nicht-christlichen Hss. finden lassen, die eindeutig zu Studienzwecken verwendet worden sind - Grammatiklehrbücher, 140 Manuskripte mit Kommen‐ tartexten, 141 oder mit kommentierenden Annotationen (zumeist am Rand, aber z. T. auch interlinear). 142 Noch eindrücklicher sind Belege von diakritischen 248 4 Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften <?page no="249"?> Annotations, 265 f) und die Belege in Anm. 118, S. 244. Vgl. ferner das autographische Konzept eines Prosatextes aus dem 2. Jh. v. Chr. (P.Berol. 11632), das ebenfalls Akzente enthält. 143 Vgl. exempl. Apostroph und Trema im Fragment der Consularia Berolinensia (P.Berol. inv. 13296; 4./ 5. Jh.), einer Liste römischer Konsuln mit weiteren historischen Angaben und Illuminationen. Vgl. dazu weiterführend B U R G E S S / D I J K S T R A , Berlin. 144 Vgl. z. B. P.Oxy. 75 5054,13: Spiritus asper auf ὃν (2. Jh., Privatbrief); BGU 3 745/ P.Berol. inv. 1482 r o 9: spiritus asper auf οἷς (254-268 n. Chr.; Eingabe wegen Schulden); SB 24 15955/ P.Berol. inv. 21753: Tremata über υ und ι (6. Jh. Antrag auf Änderung eines Eintrages im Steuerregister). Vgl. außerdem die zahlreichen Fälle von spiritus asper in dokumentarischen Papyri, die A S T , Signs, 153, insb. Anm. 35, aufzählt, wobei er darauf hinweist, dass die Zahl von 100 Dokumenten, die er nennt, wegen der fehlenden Erschließung der Forschungsdaten sicher zu gering ist. Ast hat insgesamt plausibel gezeigt, dass die gleichsam zum Gemeinplatz gewordene Aussage, prosodische Zeichen seien in dokumentarischen Papyri sehr selten (vgl. dazu A S T , Signs, 146), einen falschen Eindruck erzeugt und „prosodic signs get used correctly over the entire period witnessed by documentary papyri“ (A S T , Signs, 147). 145 S. o. Anm. 109, S. 243; Anm. 119, S. 244; Anm. 131, S. 247. 146 N A G Y , Reading, 15, konstatiert m. E. zu Recht: „Laum’s work has not received the attention it deserves. References by later scholars tend to focus on details that need to be corrected.“ Zeichen in listenartigen 143 oder anderen dokumentarischen Papyri 144 sowie in Inschriften, 145 bei denen eine performative Lesung auch nicht anzunehmen ist. Ältere Studien deuten zudem darauf hin, dass die Zeichen in den nicht-christli‐ chen Hss. ebenfalls in der Mehrzahl semantische Ambiguität vereindeutigen. So kommt B. Laum in seiner einschlägigen Studie 146 zum alexandrinischen Akzentuati‐ onssytem, in der er neben den Homerscholien zahlreiche Papyri auswertet, zu dem Ergebnis: „Die Lesezeichen dienen dazu, bei Wörtern bzw. Buchstaben- und Wortver‐ bindungen, die verschieden gedeutet werden können, dem Leser die richtige Auffassung klar zu machen. Das Zeichen für den Hauchlaut bzw. Psilose ist vornehmlich auf Wörtern gesetzt, die je nach dem Spiritus eine andere Bedeutung hatten […]. Das Quantitätszeichen dient in gleicher Weise der Unterscheidung von Vokalen oder Vo‐ kalverbindungen, die gleichgeschrieben waren, aber je nach Quantität Verschiedenes bedeuteten […]. Der Charakter als Unterscheidungszeichen tritt besonders bei der Akzentsetzung deutlich hervor. Vor allem werden jene Wörter, die in der Buchstaben‐ zusammensetzung gleich sind, aber je nach der Bedeutung verschieden betont werden können, mit dem zukommenden Akzent versehen. […] Sodann hat der Gravis auch den Zweck gehabt, bei Textstellen, wo wegen der scriptio continua Trennungen bzw. Zusammenfassungen von einzelnen Buchstaben bzw. Buchstabengruppen umstritten waren, dem Leser die richtige Auffassung zu verdeutlichen. Die frühen Alexandriner scheinen in solchen Fällen mit Vorliebe Akzente als Mittel der Unterscheidung angewendet zu haben (man hat, um die Verdeutlichung zu erreichen, sich nicht 249 4.3 Weitere „typographische“ Gestaltungsmerkmale antiker Handschriften <?page no="250"?> 147 Vgl. L A U M , Akzentuationssystem, 327-452 [Zitat 451 f]. Die neuere Forschung ist etwas vorsichtiger in der Einschätzung: Vgl. z. B. P R O B E R T , Ancient, 46, der bezüglich der Akzente in den Papyri - allerdings ohne systematische Auswertung des Befundes, ohne Diskussion der zahlreichen Stellen, die Laum auswertet, und ohne Beleg für seine quantitative Einschätzung - formuliert: „one can sometimes see that the words marked with accents are those for which the accent can help to resolve a potential ambiguity. In other cases it is not clear why a particular word has been marked with an accent.” 148 Ein weiteres aufschlussreiches Beispiel aus einem Laum noch nicht bekannten Papyrus bildet die Randbemerkung ζ(ήτει) („prüfe“) zu einem Zirkumflex auf dem Wort τοσῷδε in P.Oxy. 57 3879 (2. Jh.; Thuk. Hist.), der wohl als Vereindeutigung gedacht war, aber eine Variante zu allen andere Hss. bildet, die hier τόσῳ δὲ lesen. Vgl. dazu M C N A M E E , Annotations, 443. Vgl. zur semantischen Differenz LSJ: „τόσος in all senses, but like τοσοῦτος with stronger demonstr. sense“. Der fehlerhafte Zirkumflex fand sich ver‐ mutlich schon in der Vorlage, da die Randbemerkung von der ersten Hand angebracht worden ist. Die Randbemerkung ζ(ήτει) findet sich aber auch noch in anderen Hss. - in P.Oxy. 57 3880 (1./ 2. Jh.; Thuk. Hist.) z. B. auch von einer anderen Hand, wobei hier wegen des fragmentarischen Zustandes der Hs. nicht mehr ersichtlich ist, worauf sich die Randbemerkung bezieht. In jedem Fall implizieren diese Randbemerkungen, das Phänomen des Vergleichs mehrer Hss. eines Textes. Vgl. außerdem P.Oxy. 2 229 (2. Jh.; Plat. Phaid.; s. dazu M C N A M E E , Annotations, 350) und die Belege in Anm. 118, S. 244. M O O R E -B L U N T , Problems, passim, führt zahlreiche weitere Beispiele von Akzenten in den Papyri an, die Ambiguitäten vermeiden sollen: z. B. P.Oxy. 9 1175, Fr. 7,8 (II): πλησιαίτατος vs. πλησίαι. C O L O M O , Quantity, 97, hält fest, dass die diakritischen Zeichen in epischen, lyrischen und dramatischen Texten der Worterkennung einzelner, schwieriger Worte dienen und Homographen vereindeutigen; sie hätten dagegen keine Funktion für die Metrik. Auch die von ihr untersuchten Längenzeichen in Prosatexten haben zumeist genau diese Funktion. Vgl. C O L O M O , Quantity, insb. 108 f. Ihre Arbeitshypothese, dass die (sehr wenigen) Längenzeichen, bei denen die Funktion der Vereindeutigung von Ambiguität nicht ersichtlich ist, vor dem Hintergrund der Praxis des generell lauten Lesens zu erklären seien (vgl. C O L O M O , Quantity, 109), ist aus meiner Sicht eine unnötige Zusatzannahme, die sich durch ihre eigene Auswertung des Befundes erübrigt. Vgl. insb. die Diskussion der Beispiele ebd., 113, die deutlich ein philologisches Interesse an grammatischer und orthographischer Korrektheit erkennen lassen. gescheut, gegen die Akzentregeln zu verstoßen, hat Doppelakzente gesetzt, Akzente vertauscht oder verrückt) […]. Alle Zeichen (Akzente, Spiritus, Quantitäten und Diastolai) dienen also dem Zwecke, an mehrdeutigen Stellen dem Leser die richtige Auffassung kenntlich zu machen. Diese Tatsache tritt sowohl aus der Interpretation der Homerscholien wie aus der prosodischen Praxis in den Papyri deutlich hervor.“ 147 Inwiefern dieser Befund auch den seit den 1920er Jahren erheblich gewachsenen Bestand an edierten Papyri halten lässt, müsste eingehender untersucht werden. Eine dafür notwendige, sehr umfangreiche, vergleichende Untersuchung, die außerdem auch noch den inschriftlichen Befund miteinbezieht, kann im Rahmen dieser Studie jedoch nicht geleistet werden. 148 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, 250 4 Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften <?page no="251"?> 149 Vgl. Aristot. soph. el. 177b, der als Beispiel ὄρος und ὅρος anführt, das zwar im Geschriebenen gleich aussehe, aber in der Praxis seiner Zeit markiert werde: κἀκεῖ δ’ ἤδη παράσημα ποιοῦνται. 150 Vgl. dazu L A U M , Akzentuationssystem, 99-103. 151 Ed. S C H M I D T , 211. Die anschließende Satzeinleitung mit καὶ πρός macht deutlich, dass die weiteren Funktionsbestimmungen betreffs der Prosodie deutlich von der Unterscheidungsfunktion, die sich auf die visuelle Erfassung von Wörtern bezieht, abgegrenzt werden. 152 A S T , Signs, 150. Das Zitat bezieht sich auf einen spiritus in einem landwirtschaftlichen Rechnungsbuch und einem Kodex mit drei Isokratesreden, die lt. Ast im 4. Jh. vom gleichen Schreiber geschrieben worden sind. 153 A S T , Signs, 154. dass schon Aristoteles die Praxis reflektiert, dass im Schriftlichen diakritische Zeichen gesetzt werden, um Ambiguitäten zu vereindeutigen. 149 Bei Ps.-Arca‐ dios - es gibt gute Gründe, Theodosios von Alexandria als Verfasser zu ver‐ muten, 150 - findet sich im Kontext der Beschreibung der Funktionsbezeichnung der diakritischen Zeichen die Formulierung, dass „die Längen, Akzente und Hauche - von Aristophanes geformt - entstanden sind für die Unterscheidung zweideutiger Wörter (πρός τε διαστολὴν τῆς ἀμφιβόλου λέξεως)“ 151 . Dies entspricht exakt der hier diskutierten Funktionsbestimmung. Auch viele der Beispiele für einen spiritus asper in dokumentarischen Papyri, die R. Ast jüngst aufführt, „are clearly used in order to avoid ambiguity“. 152 So handelt es sich auch dort zumeist um die „kleinen Wörter“, die mit einem spiritus asper versehen werden, wie in seiner Zusammenfassung des Befundes deutlich wird. „While one might expect that spiritus asper would be used to alert the reader to cases of aspiration in rare or unusal words, quite the opposite is actually the case. By far the most common terms that are aspirated are relative pronouns (e.g. ὅς, οὗ, ὅν, ὧν, οἷς, οὕς, ἧς, ἥν, ἅ) […]. In addition, articles (ὁ, ἡ, οἱ), adverbs such as ὡς, and cardinal numbers, especially ἑν and on a couple of occasions ἕξ, can bear a rough breathing mark. [In Anm. 38 ergänzt er dann noch: ] As an aside, I note that in Attic Greek inscriptions, too, the same types of words tend to be marked with the spiritus asper.“ 153 Diese „kleinen Wörter“ wären ohne spiritus asper nicht nur in vielen Fällen ambigue, sondern viele von ihnen können auch leicht mit Endungen verwech‐ selt werden, was wiederum die Worterkennung erschwert. Denn, wie oben zu sehen war und worauf schon bezüglich des Gebrauchs des Apostrophs bei fremdsprachlichen Termini hingewiesen wurde, wird die parafoveale Worter‐ kennung in der scriptio continua vor allem durch Buchstabenkombinationen am Anfang und vor allem am Ende der Worte geleitet (s. o. 4.1). 251 4.3 Weitere „typographische“ Gestaltungsmerkmale antiker Handschriften <?page no="252"?> 154 Vgl. H U R T A D O , Sociology, 159. 155 Vgl. außerdem Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 5 (III), Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 15 (III), Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 72 (IV); Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu untersuchen. 103 Vgl den statistischen Befund bei M UGRIDGE , Copying, 83-85, der darauf hinweist, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Tremas und der Professionalität des Schreibers herzustellen sei. 104 Vgl. H URTADO , Artifacts, 179. 105 In einer neueren Publikation vermutet er, dass das Trema in diesem Fall die Aspiration anzeigt (vgl. H URTADO , Sociology, 58), wie z. B. der Gebrauch in â 66 tatsächlich nahelegt (s. u.). 106 Kennzeichnung eines initialen Vokals, ohne dass zwei Vokale aufeinanderstoßen: z. B. â 5 (f. 1r o 19: εστιν ϋπερ ̣ ); â 45 (f. 5v o , 8: των ϋποκριτων u. ö.); 459x in â 46 (vgl. E BOJO , Nonsense, 134); â 66 (z. B. nach einem Schlusssigma und Mittelpunkt: f. 1, Z. 12: φωτος·ϊνα; vgl. außerdem f. 3, Z. 13: μεσος ϋμων; f. 3, Z. 16: τον ϊμαντα u. ö.); â 75 (z. B. 44v o : αλλ ϊνα); vgl. außerdem exempl. â 18 (v o 14); â 22 (v o 12). Anzeige einer Diärese: z. B. â 1 (f. r o 3-5); â 5 (f. 2r o 20f u. ö.); â 20 (v o 4.7); â 22 (col. 1, 5; col. 2, 6); â 45 (2v o 7); â 66 (sehr häufig: z. B. f. 1,10; f. 2, 4.16; f. 3,16); â 100 (f. v o 3). Vgl. ferner auch P. Mich. 2 130,10 (-κα ϊνα …; Herm., 3. Jh.). Kennzeichnung eines medialen Vokals (selten): ανϋποτακτον ( â 46, f. 22v o 15 ) . 107 Vgl. z. B. P.Oxy. 3 405, col. 2,19f (2./ 3. Jh.; Iren. adv. haer.). Das Trema steht hier innerhalb eines Zitats aus dem MtEv (3,16f) an Beginn der Zeile, was darauf hindeuten könnte, dass der Schreiber es schon in seiner Vorlage gefunden hat. Das Zitat ist mit Diple (>) gekennzeichnet, die Diog. Laert. 3,1,65f zu den Zeichen (σημεῖα) in Editionen der Schriften Platons zählte, die wertvoll waren und - wie Antigonos von Karystos berichtet - von ihren Besitzern gegen Bezahlung zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden: ἅπερ Ἀντίγονός φησιν ὁ Καρύστιος ἐν τῷ Περὶ Ζήνωνος νεωστὶ ἐκδοθέντα εἴ τις ἤθελε διαναγνῶναι, μισθὸν ἐτέλει τοῖς κεκτημένοις. 108 Vgl. z. B. P. Berol. inv. 9782 - ein Kommentarmanuskript, das definititv nicht als Vorlesemanuskript verwendet wurde (s. u.): z. B. Pl. C r o col. 1,23.25; col. 2,44f; col. 3,5; Pl. E r o col. 1,17; Pl. O r o col. 3 36. 109 Vgl. z. B. IG II 2 2291b,3 (2. Jh. n. Chr.; Trema auf ἱνα schließt aus, dass man die ersten beiden Buchstaben im Kontext als Endung -ασιν verwechseln könnte); IG II 2 2089,42 (2 Jh. n. Chr.; auf dem ersten Iota eines Namens); IG II 2 4514,25 (2. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu T HREATTE , Grammar, 94-97. Vgl. ferner auch eine spätantike Dedikationsinschrift aus einer Kirche in der Nähe von Bethphage CIIP I.2, 841,3. 110 Vgl. T URNER , Manuscripts, 12f. 100 (III/ IV). 156 Vgl. auch P O R T E R , Pericope, 161; E B O J O , Nonsense, 130 f. 157 Vgl. zum Folgenden E B O J O , Scribe, 166-168.182-203; E B O J O , Nonsense. ad b) Markierungen, die eine Bedeutung für die Syntax haben bzw. größere Texteinheiten strukturieren In den frühen neutestamentlichen Papyri finden sich verschiedene Merkmale, welche dazu dienen, die Texte zu strukturieren, wobei erstens kein einheitliches und durchgängiges System zu finden ist und zweitens der Textbestand bei zahlreichen Papyri zu fragmentarisch ist, um eine statistisch valide Aussage zu treffen. Wortzwischenräume (Spatien) und Interpunktion: Schon im mutmaßlich ältesten Pa‐ pyrus mit Texten aus dem NT, Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 175 Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar. 102 Tremata sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen Papyri zu finden. 103 Schon in â 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota ( ϊ ; r o ,1f; v o ,2), die Hurtado als Lesehilfe interpretiert. 104 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine Diärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet. 105 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen 106 und frühchristlichen 107 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss. 108 und findet sich sogar vielfach in Inschriften. 109 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden. 110 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29 in â 66 im Vergleich zu â 75. In â 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben 102 So verzichtet J. R. Royse in seiner Studie zu den scribal habits in den frühen Papyri explizit darauf, „breathings, accents, punctuation, iota adscript or subscript, and other clear forms of abbreviations or writing conventions“ (R OYSE , Habits, 81) zu un