Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments
Eine Festschrift für Stefan Alkier zum 60. Geburtstag
0419
2021
978-3-7720-5734-2
978-3-7720-8734-9
A. Francke Verlag
Dominic Blauth
Michael Rydryck
Michael Schneider
Freundschaft gilt vielfach als Motor und Movens frühchristlicher Gemeinschaftsbildung. Auch die Beziehung zwischen Jesus und seinen Schülern wird häufig, insbesondere in religionspädagogischen und liturgischen Kontexten, als Freundschaft gedeutet. Dabei werden nicht selten moderne Konzepte der Freundschaft an die Texte des Neuen Testaments herangetragen. Allerdings stellt eine breit angelegte Untersuchung freundschaftsbezogener Diskurse, Konzepte und Praktiken in den Text- und Lebenswelten des Neuen Testaments, auch vor dem Hintergrund des relational turn, ein Desiderat der neutestamentlichen Forschung dar. Der vorliegende Band füllt nun diese Lücke und untersucht Konzepte und Praktiken der Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments aus unterschiedlichen fachlichen und methodischen Perspektiven. Die Beiträge verknüpfen dabei die neutestamentlichen Texte mit aktuellen Freundschaftsdiskursen in Universität, Kirche und Gesellschaft.
<?page no="0"?> Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments Eine Festschrift für Stefan Alkier zum 60. Geburtstag Dominic Blauth / Michael Rydryck / Michael Schneider (Hrsg.) 30 <?page no="1"?> Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments <?page no="2"?> Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie Band 30 • 2021 Herausgegeben von Eve-Marie Becker, Jens Herzer, Angela Standhartinger und Florian Wilk <?page no="3"?> Dominic Blauth / Michael Rydryck / Michael Schneider (Hrsg.) Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments Eine Festschrift für Stefan Alkier zum 60. Geburtstag <?page no="4"?> © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1862-2666 ISBN 978-3-7720-8734-9 (Print) ISBN 978-3-7720-5734-2 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0144-4 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> Stefan Alkier in Freundschaft zum 60. Geburtstag <?page no="7"?> 9 11 15 43 77 97 115 133 155 Inhalt Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie. Zum 30. Band der Reihe NET Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments. Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermeneutik der Freundschaft Michael Schneider Jesus und seine Freunde. Aspekte des Freundschaftsdiskurses im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Rydryck Freundschaft als Haltung und Praxis. Soziale und politische Aspekte von Freundschaft in den Text- und Lebenswelten des Neuen Testaments . . . . . Dominic Blauth „Freunde sind wie Sterne“. Freundschaft als Hermeneutik der Konstellation Entwürfe der Freundschaft Kristina Dronsch Ziemlich beste Freunde. Theophilus und die Gottesfreundschaft im Lukasevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sylvia Usener Der ideale Freund in der griechischen Tragödie und seine Spuren im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tobias Nicklas „An diesem Tag aber wurden Herodes und Pilatus Freunde“. Interpretation und Imagination in der Rezeptionsgeschichte von Lk 23,12 . . . . . . . . . . . . . Thomas Paulsen Die Bedeutung der Freundschaft in der Philosophie Epikurs . . . . . . . . . . . . <?page no="8"?> 175 193 211 Werner Kahl Gottesgebet und Freundesnot. Lk 11,1-13 und seine Parallelen . . . . . . . . . . Eckart Reinmuth Das Recht der Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Beitragenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie Zum 30. Band der Reihe NET Der hiermit vorliegende 30. Band von NET gibt - 20 Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes - Gelegenheit zum Rückblick und Ausblick. Die NET-Reihe wurde im Jahre 2001 durch François Vouga (Bethel), Oda Wischmeyer (Erlangen) und Hanna Zapp (Darmstadt) begründet. Im Jahr 2004 kam Friedrich Wilhelm Horn (Mainz) in den Herausgeberkreis hinzu, im Jahr 2010 traten Jens Herzer (Leipzig) und Eve-Marie Becker (damals Aarhus) an die Stelle von François Vouga in den Herausgeberkreis ein. Von Band 21 bis 27 war Kathy Ehrensperger (damals Basel) Mitherausgeberin von NET. Bei dem hier vorliegenden Band 30 erfolgt ein erster Generationswechsel: An die Stelle von Oda Wischmeyer, Hanna Zapp und Friedrich Wilhelm Horn treten Angela Standhartinger (Marburg) und Florian Wilk (Göttingen) in den Herausgeberkreis ein. Im ersten Band („Was ist ein Text? “, hg. v. Oda Wischmeyer/ Eve-Marie Becker, 2001) wurde das Profil der Reihe durch deren Herausgeber und Herausgebe‐ rinnen seinerzeit u. a. wie folgt beschrieben (S. V): „Wir Herausgeberinnen und Herausgeber denken, dass das Neue Testament für das Gespräch über die Bedeutung des Christentums in der Gesellschaft, über die zukünftigen Aufgaben der Kirchen und über die ethische Verantwortung in der europäischen Kultur auch in Zukunft von unbedingter Wichtigkeit ist. […] Wir sind der Meinung, wissenschaftliche Exegese sei eine theologische Kunst, wesentliche Aussagen neutestamentlicher Texte und Themen mit gegenwärtigen Fragen des Glaubens und Lebens ins Gespräch zu bringen.“ Diesem Anspruch blieb NET in verschiedener Hinsicht verbunden: Neben der Veröffentlichung exegetischer Spezialmonographien und Aufsatzsammlungen sowie grundlegender Arbeiten zur neutestamentlichen Hermeneutik (zur Über‐ sicht über die Einzeltitel s. die Verlagshomepage) hat die NET-Reihe regelmäßig auch den Brückenschlag zur Vermittlung neutestamentlicher Wissenschaft in die kirchliche, schulische und allgemein-gesellschaftliche Öffentlichkeit unter‐ nommen. Zu der Veröffentlichung deutschsprachiger Forschung trat ab 2018 (Band 28) auch die anglo-amerikanische Perspektive hinzu. <?page no="10"?> Der hiermit vorliegende 30. Band nimmt mit dem Titel „Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments“ wichtige Grundfragen auf, die die NET-Reihe seit ihrer Gründung motivierten. Zukünftige Veröffentlichungen werden u. a. noch einmal verstärkt die globale Bedeutung neutestamentlicher Exegese bedenken. Als gegenwärtige Reihenherausgeberinnen und -herausgeber freuen wir uns, dass NET 30 als eine Festschrift für Stefan Alkier (Frankfurt) erscheint, einen mehrfachen Autor der NET-Reihe, und mit dem Thema „Freundschaft“ - einem wesentlichen Motor frühchristlicher Gruppen- und Gemeindebildung - kultur‐ wissenschaftliche Fragen zur Erforschung der antiken Welt mit theologischer Exegese verbindet. Zugleich möchten wir anlässlich des runden Geburtstags - 20 Jahre NET und 30 Bände - vielfachen Dank aussprechen: Wir danken den Gründungsvätern und -müttern der NET-Reihe, auf deren Schultern wir gewissermaßen stehen; wir danken allen Beiträgerinnen und Beiträgern zur NET-Reihe in 20 Jahren, die NET konkrete Gesichter verliehen haben; und wir danken dem Francke Verlag (Tübingen/ Basel) für die stets vertrauensvolle und produktive Zusammenarbeit. Eve-Marie Becker, Jens Herzer, Angela Standhartinger, Florian Wilk Münster, Leipzig, Marburg, Göttingen im März 2021 10 Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie <?page no="11"?> Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments Vorwort der Herausgeber Spannungen und Konflikte, Feindschaften und Antagonismen prägen Texte und Kontexte des Neuen Testaments. Mit den Konstellationen und Modalitäten dieser Gegensatzbeziehungen hat sich Stefan Alkier in den Jahrzehnten seines akademischen Wirkens in Forschung und Lehre intensiv auseinandergesetzt. Beginnend mit seiner Dissertation beschäftigten ihn differente und diverse, aber auch dialogische Konstellationen sowie deren produktive wie destruktive Implikationen in Literaturwissenschaft, Semiotik und Kirchengeschichte, in der neutestamentlichen Wissenschaft und der kirchlichen Praxis. Kurzum: Stefan Alkier ist mit seiner wissenschaftlichen Haltung und Praxis stets für eine relevante Theologie in Universität, Schule, Kirche und Gesellschaft eingetreten. Was liegt also näher, als der Spannung die Symmetrie, dem Konflikt die reziproke Übereinstimmung, der Feindschaft die Freundschaft an die Seite zu stellen und genau diesen Fragestellungen einen Sammelband zu widmen? Wir freuen uns, dass im vorliegenden Band nunmehr sechs ganz unterschiedliche und zugleich dialogische Perspektiven auf das Thema Freundschaft eröffnet werden: Kristina Dronsch entfaltet das Thema der Gottesfreundschaft im Lukas‐ evangelium und nimmt dabei die Figur des Theophilus in den Blick. Sylvia Usener fragt nach dem Idealbild des Freundes in der griechischen Tragödie und blickt aus dieser Perspektive auf die neutestamentlichen Texte. Tobias Nicklas beleuchtet die besondere Freundschaft zwischen Pilatus und Herodes Antipas im Lukasevangelium und der Rezeptionsgeschichte. Thomas Paulsen fragt nach der Bedeutung von Freundschaft in der Philosophie Epikurs. Der Beitrag von Werner Kahl betrachtet die Freundschaftsthematik ausgehend von Lukas 11 und seinen Parallelen. Eckart Reinmuth thematisiert im abschließenden Aufsatz Zumutungen der Freundschaft und das Recht der Freundschaft. Die drei Herausgeber führen mit ihren Beiträgen auf unterschiedliche Weise in die Konzepte, Praktiken und Konstellationen von Freundschaft in den Text- und Lebenswelten des Neuen Testaments ein. Der hier vorgelegte Sammelband erscheint im Kontext des vom LOEWE-Pro‐ gramm des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst geförderten Forschungsschwerpunkts „Religiöse Positionierung. Modalitäten und Kon‐ <?page no="12"?> stellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten“ an der Goethe-Universität Frankfurt und der Justus-Liebig-Universität Gießen. Dem Center Religionsforschung und Theologie (RuTh) der Goethe Research Academy For Early Career Researchers (GRADE) und dem Fachbereich Evangelische Theologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität danken wir herzlich für die Unterstüt‐ zung der Arbeit an diesem Band. Wir danken den Herausgeberinnen und Herausgebern der Neutestamentli‐ chen Entwürfe zur Theologie (NET) für die Aufnahme in die Reihe als doppelter Jubiläumsband im zwanzigsten Jahr des Bestehens und als dreißigster Beitrag zur Reihe. Unser besonderer Dank gilt Kristina Dronsch, Valeska Lembke und Corina Popp vom Verlag Narr Francke Attempto. Unserer langjährigen Wegge‐ fährtin Kristina Dronsch verdanken wir auch die Anregung für das Thema dieses Bandes. Zu Dank verpflichtet sind wir darüber hinaus Ricarda Bosse und Simon Dittmann für ihre Unterstützung bei den Korrekturarbeiten. Der 60. Geburtstag und die wissenschaftliche Arbeit von Stefan Alkier haben den Anlass zu diesem Sammelband gegeben sowie die Auswahl der Thematik und der Beitragenden bestimmt. Ihm sei dieses Buch gewidmet. Dominic Blauth, Michael Rydryck, Michael Schneider Frankfurt am Main im März 2021 12 Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments <?page no="13"?> Hermeneutik der Freundschaft <?page no="15"?> 1 Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Beitrags verbinden mich mit Stefan Alkier mehr als zwei Jahrzehnte gemeinsamen Studiums in Forschung und Lehre, in besonderer Weise aber engagiertes Nachdenken über biblische Texte und Theologie in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft. Der Titel des Aufsatzes greift den Titel von Stefan Alkier, Jesus und seine Feinde, in: Michael Moxter/ Markus Firchow (Hg.), Feindschaft. Theologische und philosophische Perspektiven, Leipzig 2013, 41-59 auf. Stefan Alkier sei dieser Aufsatz in Freundschaft gewidmet. Jesus und seine Freunde Aspekte des Freundschaftsdiskurses im Neuen Testament Michael Schneider 1 Freundschaft - enzyklopädische Annäherungen 1.1 Freundschaft in der Kultur der Gegenwart Social Media, insbesondere Facebook, hat in der Gegenwartskultur zu einer Inflation der Freundschaften geführt. 1 Die meisten Profile verzeichnen hunderte oder sogar mehr als tausend Freunde. Viele Freundschaften verweisen auf eine tatsächliche natürliche Person oder sogar eine ‚Person des Öffentlichen Lebens‘ hinter dem Account. Ein Konto mit sehr wenigen Freunden wird dagegen schnell als Fake Account entlarvt, der eine Freundschaft lediglich für bestimmte Zwecke - Veröffentlichung mehr oder weniger wirrer politischer Botschaften und Kommentare, Ausspähen anderer oder gar Verbreiten von Schadsoftware - missbraucht. Die große Zahl veranlasst Facebook wiederum zu einer Diffe‐ renzierung, Strukturierung und Klassifizierung innerhalb der Freundschaften: Ich soll markieren, welche Freunde zur Familie gehören und welche Freunde der Kategorie ‚Enge Freunde‘ zuzurechnen sind. Diesen besonderen Freunden kann ich auch besondere Rechte zuweisen; ich kann entscheiden, welche Informationen welche Gruppe von Freunden sehen kann. Und verschiedene Algorithmen helfen mir dabei, neue Freunde zu finden - über möglichst viele Gemeinsamkeiten, den gleichen Wohn- oder Geburtsort, den gleichen Arbeitgeber oder die Zugehörigkeit zu den identischen Gruppen. Und natürlich <?page no="16"?> 2 Vgl. zum Thema Facebookfreundschaften exemplarisch Ralf Adelmann, Von der Freundschaft in Facebook: Mediale Politiken sozialer Beziehungen in Social Network Sites, in: Oliver Leistert/ Theo Röhle (Hg.), Generation Facebook. Über das Leben im So‐ cial Net, Bielefeld 2011, 127-144. Der vorliegende Beitrag möchte der Frage, inwieweit Facebookfreundschaften als ‚richtige‘ Freundschaften zu gelten haben, keine Antwort geben. Vielmehr sollen deskriptiv schlaglichtartig einige Merkmale gegenwärtiger sowie historisch für das Neue Testament besonders einschlägiger Freundschaftskonst‐ ruktionen vorgestellt werden. Die gegenwärtige kulturkritische Position, die mit Blick auf Social Media von ‚nicht echten Freundschaften‘ ausgeht setzt demgegenüber einen normativen Freundschaftsbegriff voraus, der dann erfüllt bzw. nicht erfüllt werden kann. In einem solchen Konzept von Freundschaft kann man philosophischen Diskurs auch den Missbrauch des Begriffs konstatieren; vgl. exemplarisch Dietmar H. Heide‐ mann, Die Idee der Freundschaft: Philosophische Überlegungen zu einem polymorphen Begriff, in: Katharina Münchberg/ Christian Reidenbach (Hg.), Freundschaft. Theorien und Poetiken, München 2012, 43-52, besonders 43f. 3 Vgl. die Studie zur Nutzung von Social Media von ARD und ZDF, abrufbar unter https: / / www.ard-zdf-onlinestudie.de/ social-mediawhatsapp/ (Zugriffsdatum 9.10.2020). bieten sich solche Personen als Freunde an, mit denen ich möglichst viele gemeinsame Freunde habe, also Freunde von Freunden. Und auch für den Prozess des Anfreundens hält das System bestimmte Mechanismen bereit und prägt seine ganz eigenen Neologismen wie ‚Freundschaftsanfrage‘ oder ‚Freund‐ schaftsvorschlag‘. Und schließlich gibt es unterschiedliche Bewertungen dieser Freundschaften: Sind solche Facebook-Freunde überhaupt ‚richtige Freunde‘, ist eine Social Media-Freundschaft eine ‚echte Freundschaft‘? Hat sich im Vergleich zur Brieffreundschaft lediglich das Medium geändert oder setzt eine ‚echte Freundschaft‘ wie auch immer gearteten persönlichen Kontakt im ‚echten Leben‘ voraus? 2 Die Pandemie-Situation im Jahr 2020 hat diese Fragen noch einmal zugespitzt: Welche Beziehungsebenen des analogen Lebens (Arbeit, Unterricht, Freizeit, Freundschaft) lassen sich überhaupt in die digitale Welt verlagern? Funktioniert diese Verlagerung ‚verlustfrei‘ oder verändern sich Arbeit, Unterricht, Freizeit und eben auch Freundschaft dadurch? Diese kurzen assoziativen Überlegungen ließen sich noch einmal vertiefen, indem man auf verschiedene Social Media-Dienste und deren jeweiliges System von Beziehungen schaut. Einige führen den Freundesbegriff direkt im Namen (wie z. B. Stayfriends), andere, wie die insbesondere bei Jugendlichen 3 noch beliebtere Plattform Instagram sprechen statt von ‚Freunden‘ und ‚Freundschaft‘ von ‚Follower‘ und ‚Folgen‘. Wenn ich als Theologe von ‚Freundschaft‘ oder ‚Nachfolge‘ spreche, und auch wenn ich als Neutestamentler über die Semantik von φιλία oder ἀκολουθέω nachdenke, stehen diese enzyklopädischen Aspekte der Gegenwart im Hintergrund. Auch ohne dass Facebook einen Entwurf von Freundschaft offenlegt oder gar philosophisch diskutiert, lassen sich re‐ 16 Michael Schneider <?page no="17"?> 4 Svenja Wiertz, Freundschaft, Grundthemen Philosophie, Berlin/ Boston 2020. Obwohl Wiertz mit einigem Recht darauf verweist, dass dieses Alltagsverständnis letztlich abhängig ist von der (westlichen) Kultur und der (deutschen, wenigstens aber westlichen) Sprache, macht das Beispiel Facebook doch deutlich, dass bestimmte Aspekte durchaus weltweit und jenseits eines engen kulturellen Kontexts gültig sind. Vgl. grundlegend zur Einführung in die Freundschaftsthematik in Philosophie und Theologie Francis Rapp, Art. Gottesfreunde, in: TRE 14, 98-100; Elisabeth Moltmann-Wendel, Die Wiederkehr der Gottesfreundschaft. Freundschaft als gesellschaftliche und theologische Herausfor‐ derung, in: EvTh 61 (2001), 428-440; Armin Müller/ August Nitschke/ Christa Seidel, Art. Freundschaft, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 1113; Alexandra Rapsch, Soziologie der Freundschaft. Historische und gesellschaftliche Bedeutung von Homer bis heute, Stuttgart 2004 und Heinz-Horst Schrey, Art. Freundschaft, in: TRE 11, 590-599. lativ schnell einige Merkmale des zugrundeliegenden Freundschaftskonzepts zusammenstellen. Zugleich zeigt sich, dass diese implizite Konzeption von Freundschaft einigermaßen typisch für unser gegenwärtiges Alltagsverständnis von Freundschaft insgesamt ist. Ein solches Alltagsverständnis von Freundschaft lässt sich im Anschluss an Svenja Wiertz in fünf wesentlichen Aspekten umreißen. 4 Zunächst einmal bezeichnen wir mit Freundschaft grundlegend ein gegenseitiges, reziprokes und in gewissem Sinne auch symmetrisches Verhältnis. Schon sprachlich ist offensichtlich, dass ‚befreundet sein‘ das gegenseitige Verhältnis von wenigs‐ tens zwei Personen bezeichnet. Ohne dass ein Gegenüber benannt (‚Ich bin befreundet.‘) ist, kann das Verb nicht sinnvoll gebraucht werden. Am Beispiel Facebook ist dieser Aspekt unmittelbar evident: Freundschaften bilden sich jeweils in zwei Freundeslisten ab - mein Freund hat für mich denselben Status wie ich für den Freund. Etwas umstrittener als die Gegenseitigkeit und die Reziprozität ist die Notwendigkeit einer Symmetrie innerhalb eines freundschaftlichen Verhältnisses. Wenn in der Alltagssprache auch die Begriffe Tierfreund oder Kunstfreund vorkommen, so ist unklar, ob damit eine reziproke Freundschaft gemeint sein kann. Problematisch ist dabei die Frage, ob ein Tier oder ein Kunstwerk eben auch umgekehrt den Tierfreund oder den Kunstfreund freundschaftlich zugewandt sein kann, die Beziehung also als symmetrisch und reziprok bezeichnet werden kann. Im theologischen Kontext stellt sich die Frage nach der Symmetrie insbesondere beim Topos der Gottesfreundschaft. Lässt sich in diesem Sinne von Freundschaft zwischen Gott und Mensch sprechen, ohne dass dies notwendigerweise zur Vermenschlichung Gottes bzw. der Aufhebung einer kategorialen Unterscheidung führt? Zweitens beschreibt Freundschaft eine Beziehung, die prinzipiell positiv be‐ setzt ist und auf Zuneigung basiert. Demgegenüber etabliert das Konzept der 17 Jesus und seine Freunde <?page no="18"?> 5 Vgl. Bernadette Descharmes, Rächer und Gerächte. Konzeptionen, Praktiken und Loya‐ litäten der Rache im Spiegel der attischen Tragödie, Göttingen 2013, 72: „Wie sich zeigte, ist Gegenseitigkeit ein wesentliches Element von philia-Beziehungen. Doch Gegenseitigkeit prägt auch feindliche Beziehungen, also auch den Rachekonflikt. Die Aspekte der Gabe (potentielle Zirkularität, Mimesis, Intentionalität) sind in gleicher Weise auch die Charakteristika der ‚Feindschaftsregeln‘. Die Gegenseitigkeit, die in Freundschaftsbeziehungen aus dem Austausch von Gaben und Dienstleistungen besteht, nimmt hier aber entsprechend ‚bösartige‘ Formen an.“ 6 Interessanterweise formuliert Facebook auf der Suche nach Freundschaftsvorschlägen genau die Frage „Kennst Du X? “ 7 Axel Honneth/ Beate Rössler, Einleitung: Von Person zu Person: Zur Moralität persönli‐ cher Beziehungen“, in: dies. (Hg.), Von Person zu Person. Zur Moralität persönlicher Beziehungen, Frankfurt 2006, 9-25, hier: 10. 8 Wiertz, Freundschaft, 120-122. Für einen Überblick über aktuelle Freundschaftstheorien vgl. auch Rapsch, Soziologie der Freundschaft. Der Band von Klaus-Dieter Eichler, Philosophie der Freundschaft, Stuttgart 1999 stellt Quellen zur Freundschaft seit der Antike zusammen und schließt diese Sammlung mit einem zusammenfassenden Essay ab. 9 Vgl. Stefan Alkier, Neues Testament, UTB basics 3404, Tübingen 2010, 10: „Leitziel neutestamentlicher Wissenschaft als theologischer Wissenschaft von der Produktion Feindschaft zwar auch eine Beziehung, 5 die aber gerade auf einem Gegensatz bzw. auf Abneigung fußt. Sodann setzt Freundschaft eine Form der Vertrautheit, wenigstens aber die gegenseitige Kenntnis voraus; mit dem gänzlich Fremden und Unbekannten kann ich nicht befreundet sein. 6 Gerade in der Gegenwart wird Freundschaft von anderen Verbindungen, etwa denen innerhalb der Familie, dadurch abgegrenzt, dass hier (vermeintlich) eine freiwillig gewählte Beziehung vorliegt - „Freunde kann man sich aussuchen“. Und schließlich geht es beim Phänomen der Freundschaft um eine Beziehung auf persönlicher Ebene. Es handelt sich also um „Beziehungen, die Personen untereinander als genau diese und nur diese Personen haben: nicht aufgrund bestimmter Rollen, die sie erfüllen.“ 7 Im Anschluss an diese alltagssprachlichen Beobachtungen schlägt Wiertz vor, den Begriff der Freundschaft in der Gegenwart nach Bindungsstil (eher vor‐ läufig/ eher verbindlich) und Praxisausrichtung (Spaß/ Kommunikation/ Nutzen) zu differenzieren. Im weiteren Verlauf ihrer Studie skizziert sie sodann drei stereotype Freundschaftsformen der „komplexen Spaßfreundschaft“, der „kom‐ munikationsorientierten Anerkennungsbeziehung“ und der „quasi-familiären Beistandsgemeinschaft“ 8 . 1.2 Freundschaft im griechischen und lateinischen Diskurs Das Beispiel aus dem Bereich Social Media sowie der kurze Blick auf einen Alltagsbegriff von Freundschaft sollen genügen, um den enzyklopädischen Rahmen abzustecken, der auch für eine gegenwärtige Lektüre biblischer Texte gilt. 9 Bleibt dieses gegenwärtige Verständnis von Freundschaft bei der theologi‐ 18 Michael Schneider <?page no="19"?> und Rezeption frühchristlicher Zeichenzusammenhänge ist es, die theologisch sachge‐ mäße Lektüre biblischer Schriften als eine unverzichtbare Stimme im Konzert pluraler Wahrheitskonzeptionen und kultureller Identifikationsangebote der Gegenwart zu erhalten und zu fördern und damit gleichermaßen zur kommunikativen Erschließung der Welt und zur Gestaltung kirchlicher und schulischer Praxis beizutragen.“ 10 Stefan Alkier hat diesen Aspekt auf seiner Profilseite (abrufbar unter www.uni-frank furt.de/ 40063464/ Profil; Zugriffsdatum 29.10.2020) deutlich betont: „Das Fach Neues Testament darf aber nicht nur diese historische Perspektive einnehmen, sondern muss ebenso die Frage nach den Rezeptionsbedingungen biblischer Schriften unter den kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen der Gegenwart bearbeiten, da die Frage nach der Relevanz biblischer Schriften für die gegenwärtigen Lebenszusam‐ menhänge im schulischen Religionsunterricht und in der kirchlichen Praxis vornehm‐ liche Aufmerksamkeit verdient. Wie werden gegenwärtige Plausibilitätsstrukturen konstruiert, und was geschieht, wenn diese auf diejenigen biblischer Schriften treffen? Hierzu bedarf es der interdisziplinären Ausarbeitung dieser Fragestellung im Gespräch mit der gegenwartsorientierten Religionswissenschaft, der Religionspädagogik, Sozial‐ wissenschaften, der philosophischen Erkenntnistheorie und Hermeneutik sowie der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik, Methodologie und Rezeptionsforschung. Se‐ miotik als eine fächerübergreifende Grundlagendisziplin vermag diese Fragestellungen mittels einer zeichentheoretisch begründeten Kommunikations-, Kultur- und Interpre‐ tationstheorie zu verbinden.“ 11 Zitate und Übersetzungen folgen der Ausgabe Aristoteles, Nikomachische Ethik. Grie‐ chisch/ Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger, Stuttgart 2020. Vgl. zur Freundschaftsthematik in der Antike auch Alfons Fürst, Streit unter Freunden. Ideal und Realität in der Freundschaftslehre der Antike, Beiträge zur Altertumskunde 85, Stuttgart/ Leipzig 1996. schen Betrachtung von Freundschaft in den biblischen Texten unberücksichtigt, werden diese zu historischen Dokumenten einer längst vergangenen Zeit. 10 Natürlich sind die biblischen Texte aber in einem bestimmten zeitlichen und kulturellen Kontext entstanden und erhalten durch die dort wirkmächtigen Texte einen bestimmten intertextuellen Deutungsraum. Der relativ umfangreiche Freundschaftsdiskurs im antiken Griechenland wurde geprägt von den philosophischen Überlegungen des Aristoteles. Umfang‐ reiche Diskussionen zur φιλία finden sich insbesondere in der Nikomachischen Ethik, wo er Freundschaft als „Wohlwollen, das auf Gegenseitigkeit beruht / εὔνοιαν γὰρ ἐν ἀντιπεπονθόσι“ (1155b) bezeichnet. Auf den immer wieder zur Bestimmung des aristotelischen Freundschaftsbegriffs herangezogenen Abschnitt 1168b sei auch hier verwiesen: οἷς ὁ φίλος ὁρίζεται: εἴρηται γὰρ ὅτι ἀπ᾽ αὐτοῦ πάντα τὰ φιλικὰ καὶ πρὸς τοὺς ἄλλους διήκει. καὶ αἱ παροιμίαι δὲ πᾶσαι ὁμογνωμονοῦσιν, οἷον τὸ μία ψυχὴ καὶ κοινὰ τὰ φίλων καὶ ἰσότης φιλότης 11 19 Jesus und seine Freunde <?page no="20"?> Für Aristoteles sind die hier genannten drei Aspekte von Freundschaft All‐ gemeingut, das sich bereits in festen Redewendungen bzw. Sprichwörtern (παροιμίαι) wiederfindet: • Freunde sind „ein Herz und eine Seele“ (μία ψυχή), • Freunde teilen gemeinsamen Besitz (κοινὰ τὰ φίλων) und • Freundschaft drückt sich durch Gleichheit (ỉσότης φιλότης) aus. Während verschiedene Arbeiten, die die aristotelische Bestimmung des Freund‐ schaftsbegriffs für die Auslegung biblischer Texte heranziehen, auf diese Eigen‐ schaften von Freundschaft verweisen, bleibt der Kontext von Abschnitt 1168a/ b häufig unbeachtet. Aristoteles nimmt nämlich die φιλία hier unter einer ganz bestimmten Leitfrage in den Blick: ἀπορεῖται δὲ καὶ πότερον δεῖ φιλεῖν ἑαυτὸν μάλιστα ἢ ἄλλον τινά. Es geht zunächst also einmal um eine Klärung, inwieweit sich φιλία auf die ei‐ gene Person erstrecken kann und wie dann das Verhältnis dieser Selbst-Freund‐ schaft zur Freundschaft mit anderen bestimmt ist. Deshalb fügt Aristoteles den drei Redewendungen eine weitere hinzu (καὶ γόνυ κνήμης ἔγγιον·) und schreibt resümierend: πάντα γὰρ ταῦτα πρὸς αὑτὸν μάλιστ' ἂν ὑπάρχοι· μάλιστα γὰρ φίλος αὑτῷ· καὶ φιλητέον δὴ μάλισθ' ἑαυτόν. Somit ist der Einzelne nach Aristoteles sich selbst am meisten Freund (μάλιστα γὰρ φίλος αὑτῷ) und muss sich daher selbst am meisten lieben (φιλητέον μάλισθ' ἑαυτόν). Dieser grundlegende Gedanke ist bereits zu Beginn des Ab‐ schnitts 1166a angelegt: τὰ φιλικὰ δὲ τὰ πρὸς τοὺς πέλας, καὶ οἷς αἱ φιλίαι ὁρίζονται, ἔοικεν ἐκ τῶν πρὸς ἑαυτὸν ἐληλυθέναι. τιθέασι γὰρ φίλον τὸν βουλόμενον καὶ πράττοντα τἀγαθὰ ἢ τὰ φαινόμενα ἐκείνου ἕνεκα, ἢ τὸν βουλόμενον εἶναι καὶ ζῆν τὸν φίλον αὐτοῦ χάριν· ὅπερ αἱ μητέρες πρὸς τὰ τέκνα πεπόνθασι, καὶ τῶν φίλων οἱ προσκεκρουκότες. Das freundschaftliche Verhalten zu den Menschen, die uns nahestehen, und das, was für die Arten der Freundschaft bestimmend ist, scheint sich aus dem Verhalten zu uns selbst zu ergeben. Denn als Freund gilt, wer das Gute oder was ihm als solches erscheint, um des anderen willen wünscht und tut, oder wer um des Freundes willen wünscht, dass es diesen gibt und dieser lebt. So geht es Müttern mit ihren Kindern und Freunden, die sich zerstritten haben. […] 20 Michael Schneider <?page no="21"?> 12 Vgl. zu Freundschaft und Selbstbeziehung auch das gleichnamige Kapitel in Ursula Wolf, Aristoteles Nikomachische Ethik, Darmstadt 3 2013, 213-238, besonders 226-236. Diesen Aspekt hebt außerdem der Beitrag von Anthony W. Price, Friendship, in: Ottfried Höffe, Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, 4. Auflage, Berlin 2019, 229-251 hervor. Price fasst darüberhinaus Aspekte der aristotelischen Freundschaftskonzeption aus anderen Schriften überblicksartig zusammen. τούτων δέ τινι καὶ τὴν φιλίαν ὁρίζονται. πρὸς ἑαυτὸν δὲ τούτων ἕκαστον τῷ ἐπιεικεῖ ὑπάρχει Durch eines dieser Merkmale bestimmt man auch die Freundschaft. Jedes davon findet sich beim Guten in Bezug auf sich selbst. Genauso wie unser Verhalten im Verhältnis zu uns selbst nach dem Guten strebt, 12 sieht Aristoteles also Freundschaft als Grundlage für das Handeln für andere. Umgekehrt ist das persönliche Glück auch abhängig vom Schicksal der Freunde. Für das Verständnis der aristotelischen Freundschaftskonzeption, und damit auch einer enzyklopädischen Voraussetzung von Leserinnen und Lesern der neutestamentlichen Schriften im 1. Jahrhundert, lohnt sich ein weiterer Blick in Buch 8 und 9 der Nikomachischen Ethik. In dem auf den eben zitierten Textabschnitt folgenden (1169a) wird noch offensichtlicher, dass Freundschaft hier als Topos einer nach dem Guten strebenden Tugendethik verstanden wird: • Der Gute soll sich selbst lieben (τὸν μὲν ἀγαθὸν δεῖ φίλαυτον εἶναι). • Für den Schlechten besteht ein Zwiespalt zwischen dem, was er tun soll und dem, was er tatsächlich tut (τῷ μοχθηρῷ μὲν οὖν διαφωνεῖ ἃ δεῖ πράττειν καὶ ἃ πράττει·), während für den Guten Tun und Sollen zusammenfällt (ὁ δ' ἐπιεικής, ἃ δεῖ, ταῦτα καὶ πράττει·). • Die Vernunft eines jeden Menschen wählt das für sie Beste (πᾶς γὰρ νοῦς αἱρεῖται τὸ βέλτιστον ἑαυτῷ) und der Gute gehorcht eben dieser Vernunft (ὁ δ' ἐπιεικὴς πειθαρχεῖ τῷ νῷ.). • Der gute Mensch tut vieles für die Freunde und das Vaterland (καὶ τὸ τῶν φίλων ἕνεκα πολλὰ πράττειν καὶ τῆς πατρίδος) bis hin zur Inkaufnahme des eigenen Todes (κἂν δέῃ ὑπεραποθνήσκειν·). Obwohl es für Aristoteles im Allgemeinen erstrebenswert scheint, Freund‐ schaften aufzubauen und zu pflegen, bleibt für ihn zunächst offene Frage, ob glückliche bzw. selige und autarke Menschen der Freundschaft bedürfen: ἀμφισβητεῖται δὲ καὶ περὶ τὸν εὐδαίμονα, εἰ δεήσεται φίλων ἢ μή. οὐθὲν γάρ φασι δεῖν φίλων τοῖς μακαρίοις καὶ αὐτάρκεσιν· ὑπάρχειν γὰρ αὐτοῖς τἀγαθά· αὐτάρκεις οὖν 21 Jesus und seine Freunde <?page no="22"?> ὄντας οὐδενὸς προσδεῖσθαι, τὸν δὲ φίλον, ἕτερον αὐτὸν ὄντα, πορίζειν ἃ δι' αὑτοῦ ἀδυνατεῖ· ὅθεν ὅταν ὁ δαίμων εὖ διδῷ, τί δεῖ φίλων; Eine Streitfrage ist es auch, ob der Glückliche Freunde braucht oder nicht. Man sagt nämlich, dass die glückseligen und autarken Menschen keiner Freunde bedürften, da sie ja schon alle Güter hätten; weil sie also autark wären, bräuchten sie zusätzlich nichts mehr, der Freund aber, der ein anderes Ich sei, verschaffe einem, was man von sich aus nicht erreichen kann. Daher auch das Sprichwort: ‚Wenn die Gottheit Gutes gibt, was bedarf es der Freunde? ‘ Gleichzeitig möchte Aristoteles auch den Glückseligen das Glück der Freund‐ schaft nicht vorenthalten: ἔοικε δ' ἀτόπῳ τὸ πάντ' ἀπονέμοντας τἀγαθὰ τῷ εὐδαίμονι φίλους μὴ ἀποδιδόναι, ὃ δοκεῖ τῶν ἐκτὸς ἀγαθῶν μέγιστον εἶναι. Andererseits erscheint es unlogisch, dass man dem Glücklichen, wenn man ihm schon an allen Gütern Anteil gibt, Freunde vorenthält, was doch als das größte unter den äußeren Gütern gilt. Neben dieser grundlegenden Bestimmung von Freundschaft bietet die Nikoma‐ chische Ethik (jeweils in Abschnitt 1156a) unterschiedliche Differenzierungen der φιλία. Neben der tugendhaften Freundschaft, die auf das Gute zielt und somit als wahre φιλία bezeichnet werden kann, grenzt Aristoteles die Nutz- und die Lustfreundschaft ab: οἱ μὲν οὖν διὰ τὸ χρήσιμον φιλοῦντες ἀλλήλους οὐ καθ' αὑτοὺς φιλοῦσιν, ἀλλ' ᾗ γίνεταί τι αὐτοῖς παρ' ἀλλήλων ἀγαθόν. Diejenigen, die einander wegen des Nutzens lieben, lieben einander nicht als solche, sondern nur sofern ihnen Gutes vom anderen zuteilwird. ὁμοίως δὲ καὶ οἱ δι' ἡδονήν· οὐ γὰρ τῷ ποιούς τινας εἶναι ἀγαπῶσι τοὺς εὐτραπέλους, ἀλλ' ὅτι ἡδεῖς αὑτοῖς. Dasselbe gilt für jene, die wegen ihrer Lust lieben; denn sie lieben die Umgänglichen nicht wegen ihrer persönlichen Eigenschaften, sondern weil sie ihnen angenehm sind. Explizit grenzt Aristoteles noch einmal diese Freundschaftsformen um der Lust bzw. des persönlichen Nutzens wegen von der tugendhaften Freundschaft ab. Diese kann als vollkommen gelten, da die Freunde am Guten teilhaben (1156b): τελεία δ' ἐστὶν ἡ τῶν ἀγαθῶν φιλία καὶ κατ' ἀρετὴν ὁμοίων· Vollkommen ist die Freundschaft zwischen Menschen, die gut sind und in ihrer Tugend einander gleichen. 22 Michael Schneider <?page no="23"?> 13 Zum Politischen vgl. den Beitrag von Michael Rydryck in diesem Band. 14 Zitate und Übersetzungen folgen der Ausgabe Cicero, Laelius de amicitia, Marion Giebel, Lateinisch/ Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Marion Giebel, Stuttgart 2015. Die wenigen Abschnitte aus der Nikomachischen Ethik ordnen den Freund‐ schaftsdiskurs in eine Anthropologie ein, deren Ideale die großen Konzepte des Guten, des Vollkommenen, des Tugendhaften sind. Nicht umsonst betont der Text abschließend (Abschnitt 1177a), dass diese Ideale im Besonderen durch eine philosophische Existenz und weniger in anderen Lebensbereichen wie der Politik erreicht werden können. 13 Insbesondere ist in der theoretischen bzw. philosophischen Existenz die o. g. Autarkie, die nicht mehr auf Freundschaft angewiesen ist, zu erreichen. Sieht man aber von dieser besonderen, nur von wenigen erreichten Lebensform ab, prägt Aristoteles die Vorstellung, dass Freundschaften gut und erstrebenswert sind und gibt in der φιλία zugleich ein Idealbild der zwischenmenschlichen Beziehung vor. Freundschaften sind idea‐ lerweise auf Dauer angelegt und dienen nicht in erster Linie dem persönlichen Nutzen oder der Lust, sondern der Tugendhaftigkeit. Freundschaften sind Ziel und zugleich Ausdruck eines Lebens in εὐδαιμονία. Freundschaft bezeichnet somit eine Haltung und ein bestimmtes Verhalten gegenüber den Anderen, aber auch gegenüber sich selbst. Näher an der Entstehungszeit der neutestamentlichen Schriften ist Ciceros Laelius. De amicitia 14 zu verorten. Dieser Text formuliert grundlegend thetisch in Abschnitt 20: Est enim amicitia nihil aliud nisi omnium divinarum humanarumque rerum cum benivolentia et caritate consensio. Es ist nämlich die Freundschaft nichts anderes als Übereinstimmung in allen göttli‐ chen und menschlichen Dingen, verbunden mit Sympathie und Liebe. Das Streben nach Gutem, nach Vollkommenem und die Vorstellung der Freund‐ schaft als eine Form der Liebe wie bei Aristoteles tritt hier zugunsten eines weitgehenden consensio in nahezu allen vorstellbaren Lebensbereichen zurück. Allerdings schließt diese Übereinstimmung innerhalb des Freundschaftsverhält‐ nisses nicht aus, dass differente Positionen kritisiert werden und auch der Freund selbst kritisiert werden kann. Haec igitur prima lex amicitiae sanciatur, ut ab amicis honesta petamus, amicorum causa honesta faciamus, ne exspectemus quidem, dum rogemur; studium semper adsit, cunctatio absit; consilium vero dare audeamus libere. Plurimum in amicitia amicorum 23 Jesus und seine Freunde <?page no="24"?> bene suadentium valeat auctoritas, eaque et adhibeatur ad monendum non modo aperte sed etiam acriter, si res postulabit, et adhibitae pareatur. Das also soll als oberstes Gesetz der Freundschaft gelten, dass wir von Freunden nur Ehrenhaftes fordern, nur Ehrenhaftes Freunden zuliebe tun, ja dass wir damit gar nicht abwarten, bis wir darum gebeten werden. Wir halten uns stets bereit, da gibt es kein Zögern; auch freimütig unseren Rat zu erteilen sollen wir uns keineswegs scheuen. Größtes Gewicht soll in einer Freundschaft das Ansehen wohlmeinender Freunde haben, dieses Ansehen soll eingesetzt werden, um nicht nur offen, sondern auch, wenn es sein muss, mit Nachdruck zu ermahnen, und wo es geltend gemacht wird, soll man ihm auch gehorchen. (Abschnitt 44) Überhaupt scheint es bei Cicero ein wesentliches Merkmal der Freundschaft zu sein, sich gegenseitig auf Fehler hinzuweisen, dort die Wahrheit zu sagen, wo der Freund im Irrtum ist (Abschnitte 88f.): nam et monendi amici saepe sunt et obiurgandi, et haec accipienda amice, cum benevole fiunt. […] Molesta veritas, siquidem ex ea nascitur odium, quod est venenum amicitiae, sed obsequium multo molestius, quod peccatis indulgens praecipitem amicum ferri sinit; maxima autem culpa in eo, qui et veritatem aspernatur et in fraudem obsequio impellitur. Freunde müssen öfter ermahnt und auch zurechtgewiesen werden, und das hat man freundschaftlich hinzunehmen, wenn es in wohlwollender Absicht geschieht. […] Unangenehm ist die Wahrheit, zumal wenn aus ihr Hass entsteht, ein wahres Gift für die Freundschaft, doch Nachgiebigkeit ist noch unangenehmer, weil sie durch Nachsicht mit Verfehlungen den Freund in sein Unglück rennen lässt. Die meiste Schuld aber liegt bei dem, der zuerst die Wahrheit nicht hören will und sich dann durch die Nachgiebigkeit zum Selbstbetrug verleiten lässt. Ciceros Position zur Freundschaft umfasst also durchaus das Aussprechen ‚unangenehmer Wahrheiten‘. Innerhalb der Freundschaftsbeziehung besteht sogar die Pflicht, Kritik offen zu verbalisieren, um eine Meinungs- oder Verhal‐ tensänderung zu erreichen und somit vor einem noch größeren Unglück zu bewahren. Eine solche Kritik scheint Cicero insbesondere dann angebracht, wenn sich die Pflichten gegenüber Freunden und die Pflichten gegenüber dem Staat widersprechen. Durchaus in Unterscheidung zu Aristoteles ist der Freundschaftsdiskurs klar im Politischen angesiedelt (Abschnitt 40): Haec igitur lex in amicitia sanciatur, ut neque rogemus res turpes nec faciamus rogati. Turpis enim excusatio est et minime accipienda cum in ceteris peccatis, tum si quis contra rem publicam se amici causa fecisse fateatur. 24 Michael Schneider <?page no="25"?> 15 Auf einzelne semantische Fragen der Übersetzung von Marion Giebel kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Einige Übersetzungen, insbesondere die Wieder‐ gabe von benevolentia mit Sympathie, erscheinen vor dem Hintergrund des antiken Freundschaftsdiskurses nicht unproblematisch. Im konkreten Fall wäre die wörtlichere Übersetzung mit Wohlwollen m. E. treffender. Das soll uns also als unverbrüchliches Gesetz in der Freundschaft gelten, dass wir etwas Unehrenhaftes weder erbitten noch es auf Bitten hin tun. Schändlich und keineswegs annehmbar ist nämlich die Entschuldigung - schon bei anderen Verfehlungen, besonders aber bei solchen gegen den Staat -, wenn jemand erklärt, er habe um des Freundes willen so gehandelt. Freundschaft ist schließlich eine Form des Beziehungsverhaltens, die nicht aus Schwäche, sondern gegenseitiger Stärke resultiert. Die ‚wahre Freundschaft‘ basiert auch bei Cicero auf der hohen Tugend der Wahrheit und des freien Willens: Saepissime igitur mihi de amicitia cogitanti maxime illud considerandum videri solet, utrum propter imbecillitatem atque inopiam desiderata sit amicitia, ut dandis recipien‐ disque meritis quod quisque minus per se ipse posset, id acciperet ab alio vicissimque redderet, an esset hoc quidem proprium amicitiae, sed antiquior et pulchrior et magis a natura ipsa profecta alia causa. Amor enim, ex quo amicitia nominata est, princeps est ad benevolentiam coniungendam. Nam utilitates quidem etiam ab iis percipiuntur saepe qui simulatione amicitiae coluntur et observantur temporis causa, in amicitia autem nihil fictum est, nihil simulatum et, quidquid est, id est verum et voluntarium. Je öfter ich also über die Freundschaft nachdenke, desto mehr scheint mir das folgender reiflicher Überlegung wert: Sucht man Freundschaft nur aus Schwäche und Bedürftigkeit, damit im Geben und Empfangen von Wohltaten ein jeder das, was er von sich aus weniger vermag, von einem anderen erhält und dafür Gegenleistungen erbringt? Oder ist dies zwar ein charakteristisches Merkmal der Freundschaft, aber es gibt doch noch einen anderen Grund, der ursprünglicher und edler ist und mehr der menschlichen Natur entstammt? Die Liebe nämlich, amor, von der der Ausdruck Freundschaft, Freundesliebe, amicitia, gebildet wird, ist ja der erste Antrieb, ein Band gegenseitiger Sympathie zu knüpfen. Vorteile gewinnt man auch oft von denen, die man mit erheuchelter Freundschaft umwirbt und nur bestimmter Umstände wegen achtet. Bei einer echten Freundschaft aber ist nichts erdichtet, nichts erheuchelt, und alles beruht auf Wahrhaftigkeit und freiem Willen. 15 (Abschnitt 26) Für das griechische wie das lateinische Denken, wären φιλία und amicitia wohl zutreffend mit ‚Freundschaftsliebe‘ zu übersetzen, da sie jeweils semanti‐ sche Aspekte der deutschen Begriffe ‚Freundschaft‘ und ‚Liebe‘ miteinander 25 Jesus und seine Freunde <?page no="26"?> 16 Vgl. Laelius 100, wo Cicero bereits selbst auf diese Beziehung hinweist. 17 Vgl. einführend zu den alt- und zwischentestamentlichen Texten Alexander Achilles Fischer, Art. Freundschaft (AT), in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), https: / / www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 18617/ (Zugriffsdatum 20.10.2020). Lapsley, Friends führt neben der Spezialfrage nach der Gottesfreundschaft ebenfalls in den alttestamentlichen Freundschaftsdiskurs ein. verbinden. Und auch schon im Lateinischen selbst zeigt sich die Verbindung bereits in der etymologischen Verwandtschaft von amor, amicitia und amare. 16 1.3 Freundschaft in alt- und zwischentestamentlichen Texten Ein kurzer Blick in alt- und zwischentestamentliche Texte lohnt zunächst einmal aufgrund einer Fehlanzeige: Das hebräische Alte Testament kennt im Grunde weder einen Begriff für ‚Freund‘, noch für ‚Freundschaft‘, der vergleichbar wäre mit φίλος und φιλία. Gerade im Vergleich zu den philosophischen bzw. politi‐ schen Reflexionen in der griechischen und lateinischen Literatur fällt auf, dass die hebräischen heiligen Texte Israels keinen Diskurs über das Abstraktum der Freundschaft führen. Dort, wo Übersetzungen der Texte vom Freund oder von Freundschaft sprechen, verwendet das Alte Testament zumeist den Begriff ַעֵר, oft übersetzt mit ‚Nächster‘, aber auch im Sinne von ‚Nachbar‘ oder weiter ge‐ fasst ‚Mitmensch‘. 17 Das Wort kann aber auch vom Eigenen abgrenzen und den Anderen bezeichnen, der in einer zunächst nicht weiter bestimmten Weise nahe, aber doch jenseits einer Grenze verortet wird. ּ ִכ֣ י ָךְתיֽ ִסְי ֡ ִחָא ֣ ָךי ִא־ןֶב ֠ ָךּ ֶמ ָךְנִב־וֽ ֹא ֨ ָךּ ְתִב־וֽ ֹא ֜ ֹא֣ ׀ו ֵא֣ תׁ ֶש ֶקיֵח ֗ ָך ֹא֧ ו ָךֲעֽ ֵר ֛ ׁ ֶשֲא ֥ ר ָךׁ ְשְפַנּ ְכ ֖ ּ ֵסּ ַב ֣ רֶת ֹמאֵל ֑ ר ᾿Εὰν δὲ παρακαλέσῃ σε ὁ ἀδελφός σου ἐκ πατρός σου ἢ ἐκ μητρός σου ἢ ὁ υἱός σου ἢ ἡ θυγάτηρ σου ἢ ἡ γυνὴ ἡ ἐν κόλπῳ σου ἢ ὁ φίλος ὁ ἴσος τῆς ψυχῆς σου λάθρᾳ λέγων […] Wenn dich dein Bruder, deiner Mutter Sohn, oder dein Sohn oder deine Tochter oder deine Frau in deinen Armen oder dein Freund, der dir so lieb ist wie dein Leben, heimlich überreden würde und sagen […] (Dtn 13,7) Die Stelle hebt, wenigstens in der LXX-Fassung (ὁ ἴσος τῆς ψυχῆς), Gleichheit als wesentliches Merkmal von Freundschaft hervor. Der kurze Abschnitt aus dem Deuteronomium zeigt aber auch die enge Verknüpfung zwischen Ver‐ wandtschafts- und Freundschafts-/ Nächstenbeziehungen im alttestamentlichen Kontext. Und so werden auch umgekehrt familiäre Beziehungsbegriffe wie Vater, Mutter, Bruder, Schwester auf freundschaftliche Beziehungen übertragen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es um die Auszeichnung als besonders enge Freundschaften geht. Aber auch hier unterbleibt die Diskussion des Abtraktums ‚Verwandtschaft‘. Wenn der Sache nach Freundschaft thematisiert 26 Michael Schneider <?page no="27"?> 18 Andreas Schmidt, Jesus der Freund, Studien zur systematischen und spirituellen Theologie 48, Würzburg 2011, 29. 19 Fischer, Freundschaft erwähnt ףּוּלַא / Vertrauter (Mi 7,5), עּ ָדֻיְמ / Bekannter (Ps 88,19) und רּ ֵבַח / Genosse (Pred 4,10). 20 2Sam kennt etwa verschiedene politische Freundschaften des Königs David. In 1Makk 11 und 1Makk 15 begegnet der Begriff eines „Freunds des Königs“ - eine Formulierung, die sich in vergleichbarer Form auch im „Freund des Kaisers“ in der johanneischen Passionsgeschichte ( Joh 19,12) findet. wird, wird die Geschichte einzelner Freundesbeziehungen narrativ entfaltet: Zweier-Freundschaften wie zwischen David und Jonathan im 1. Samuelbuch oder Rut und Noomi im Buch Rut sowie die Freundschaft kleiner Gruppen, etwa bei Hiob und seinen Freunden in der Rahmenerzählung des Hiob-Buchs oder Daniel und seinen Freuden im Daniel-Buch. Während das Griechische ἔρως und φιλία sprachlich wie systematisch trennen und noch einmal jeweils differenzieren kann, begegnen in hebräischen Texten Formen von בַהָא für sexuelle und freundschaftliche Liebesbeziehungen. So wird etwa die im Hohelied angesprochene Geliebte in Hhld 1,9 als ַעֵר (LXX: πλησίον) bezeichnet, also mit dem Begriff, der klassischerweise auch den Freund bzw. Nächsten bezeichnet. Zugleich wird durch den Wortgebrauch deutlich, dass Freundschaft und Liebe in gewisser Weise auf einer Stufe stehen und beide als „intensive, personale Liebe“ 18 verstanden werden. Für den φίλος wie ihn die griechische Literatur beschreibt, fehlt jedoch das klare hebräische Äquivalent; vielmehr begegnen verschiedene Begriffe, die Aspekte der Freundschaft in be‐ stimmten Kontexten bezeichnen können. 19 Zu diesen Kontexten gehört auch der Bereich der Politik: Freundschaften begegnen der Sache nach auch bei der Bezeichnung politischer Ämter bzw. po‐ litischer Beziehungen. 20 Genausowenig wie die Abstrakta ‚Liebe‘ und ‚Freund‐ schaft‘ im Alten Testament in einer der griechischen Welt vergleichbaren Weise entfaltet werden, wird aber der Topos der ‚politischen Freundschaft‘ als solcher reflektiert. Die alttestamentlichen Texte entfalten vielmehr narrativ bestimmte Freundschaftstopoi, die durchaus Parallelen etwa zu den oben dargestellten Überlegungen des Aristoteles aufweisen. Der Aspekt der Gleichheit wurde bereits mit Blick auf Dtn 13 erwähnt. Häufig begegnet in den alttestamentlichen Texten eine theologische Qualifizierung des Freundschaftsdiskurses, am offen‐ sichtlichsten vielleicht in der Zusage der Freundschaft durch Rut (Rut 1,16): Dein Gott ist mein Gott. Unter dem Einfluss griechischer Texte formulieren spätere weisheitliche Schriften wie Jesus Sirach dann noch expliziter den Zusammenhang zwischen Gottesfurcht und Freundschaft: 27 Jesus und seine Freunde <?page no="28"?> 21 So Thomas Söding, Freundschaft mit Jesus. Ein neutestamentliches Motiv, in: IKaZ 36 (2007) 220-231, hier: 223: „Das Freundschaftsethos des Alten Testaments entspricht weithin dem der Antike.“ Ähnlich fasst Ruth Scoralick, Freundschaft in der Bibel. Ansätze zum Weiterdenken, in: Diakonia 33 (2002), 393-399, zusammen. 22 Vgl. einleitend dazu Jaqueline E. Lapsley, Friends with God? Moses and the Possibility of Covenantal Friendship, in: Interpretation 58 (2004), 117-129, und den Beitrag von Kristina Dronsch in diesem Band. φίλος πιστὸς φάρμακον ζωῆς, καὶ οἱ φοβούμενοι κύριον εὑρήσουσιν αὐτόν. ὁ φοβούμενος κύριον εὐθυνεῖ φιλίαν αὐτοῦ, ὅτι κατ᾽ αὐτὸν οὕτως καὶ ὁ πλησίον αὐτοῦ. Ein treuer Freund ist ein Trost im Leben; wer Gott fürchtet, der bekommt einen solchen Freund. Denn wer Gott fürchtet, der wird auch gute Freundschaft halten; und sein Nächster wird so werden, wie er selbst ist. (Sir 6,16f.) Eine gewisse Parallele zur griechischen Vorstellung der Freundschaft unter den Tugendhaften ist die besonders deutlich im Psalter (z. B. Ps 26,4f.) auftretende Gegenüberstellung zwischen ‚Gerechten‘ und ‚Gottlosen/ Frevlern‘. Als anzu‐ strebendes Ziel wird die Gemeinschaft unter den Gerechten genannt. Bei einigen der o. g. Freundschaften, explizit bei Rut/ Noomi und David/ Jonathan, wird die Bedeutung der dauerhaften, lebenslangen, auch den Tod überdauernden Gemeinschaft betont. Doch auch wenn es in diesen Aspekten - Gleichheit, Ge‐ meinschaft, gerechtes/ tugendhaftes Leben - Übereinstimmungen gibt, kann das griechische Freundschaftsethos für die Vielfalt der alttestamentlichen Zeugnisse nicht einfach als Voraussetzung angenommen werden. 21 Die Texte des Alten Testaments entwickeln vielmehr ein eigenes System sozialer Beziehungen, das in der späteren Zeit zunehmend in intertextuellen Bezügen zu griechischen Texten steht. An zwei exponierten Stellen im Alten Testament sowie häufiger in zwischen‐ testamentlichen Texten begegnet der besondere Topos der Gottesfreundschaft. 22 In Ex 33,11 wird wiederum der Begriff ַעֵר verwendet, hier zur Beschreibung einer Begegnung Gottes mit dem Menschen Mose: καὶ ἐλάλησεν κύριος πρὸς Μωυσῆν ἐνώπιος ἐνωπίῳ, ὡς εἴ τις λαλήσει πρὸς τὸν ἑαυτοῦ φίλον. Der HERR aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet. Stärker von der hebräischen Semantik ausgehend übersetzt die Einheitsüberset‐ zung hier wie Menschen miteinander reden und vermeidet damit die Vorstellung einer ‚Freundschaft mit Gott‘, ohne gleichwohl die Vorstellung einer Kommu‐ nikation zwischen Mose und Gott auf einer Ebene aufzugeben. 28 Michael Schneider <?page no="29"?> 23 Vgl. einführend den Sammelband Marco Hofheinz/ Frank Mathwig/ Matthias Zeindler (Hg.), Freundschaft. Zur Aktualität eines traditionsreichen Begriffs, Zürich 2014, sowie darin besonders die Beiträge Marco Hofheinz, Umstrittene Freundschaft. Eine kleine Apologie der theologischen Konzeptualisierung des Freundschaftsbegriffs (23-52) und die Einleitung der Herausgeber „Ohne Freunde möchte niemand leben. Eine Einführung in den freundschaftstheologischen Diskurs“ (9-19). Über die Vulgata-Fassung von 2Chr 20,7 (Abraham amici tui) wird auch Abraham als ‚Freund Gottes‘ bezeichnet. Im Blick scheint aber sowohl bei Mose als auch bei Abraham nicht die klassisch griechische Freundschaftstopik zu sein, sondern vielmehr das besondere Offenbarungsgeschehen, das diesen beiden Figuren zuteilwird: Gott wendet sich ausgewählten Menschen in der Offenba‐ rung so zu, dass in gewisser Hinsicht von ‚Kommunikation auf Augenhöhe‘ gesprochen werden kann. Beeinflusst vom griechischen Denken entwickelt das Weisheits-Buch v. a. im 7. Kapitel die Vorstellung der Gottesfreundschaft ermöglichenden Weisheit (Weish 7,14.27): ὃν οἱ κτησάμενοι πρὸς θεὸν ἐστείλαντο φιλίαν διὰ τὰς ἐκ παιδείας δωρεὰς συσταθέντες. die ihn erwarben, erlangten Gottes Freundschaft, weil die Gaben sie empfahlen, die die Unterweisung verleiht. ἐν αὑτῇ τὰ πάντα καινίζει καὶ κατὰ γενεὰς εἰς ψυχὰς ὁσίας μεταβαίνουσα φίλους θεοῦ καὶ προφήτας κατασκευάζει· Und obwohl sie bei sich selbst bleibt, erneuert sie das All, und von Geschlecht zu Geschlecht geht sie in heilige Seelen ein und macht sie zu Freunden Gottes und zu Propheten. In diesem späten alttestamentlichen Text wird über die Figur der Weisheit die Bezeichnung ‚Gottesfreund‘, die bislang höchstens den besonderen Personen Mose und Abraham zuteilwurde, auf alle Weisheit Besitzenden bzw. Weissa‐ genden/ Propheten übertragen. Zugleich wird damit die Figur des Propheten in einem für den griechischen Kontext anschlussfähigen Konzept als weiser Gottesfreund übersetzt. 2 Freundschaft im Neuen Testament 2.1 Überblick und Einführung In der Theologie insgesamt und auch in der neutestamentlichen Exegese wird das Thema Freundschaft eher am Rande betrachtet. 23 Wie schon im Alten 29 Jesus und seine Freunde <?page no="30"?> 24 Jürgen Moltmann, Open Friendship. Aristotelian and Christian Concepts of Friendship, in: Leroy S. Rouner (Hg.), The Changing Face of Friendship, Notre Dame 1994, 29-42, hier: 36f. Testament sind Verwandtschaftsbeziehungen - man denke nur an Gott, den Vater oder die Brüder und Schwestern innerhalb der Gemeinde - und die Rede vom ‚Nächsten‘ die weitaus gebräuchlichere Terminologie. Hinzukommt, dass im Neuen Testament von den verschiedenen im griechischen Sprachgebrauch üblichen Konzepten für liebende Beziehungen die ἀγάπη bzw. die Derivate von ἀγαπᾶν die absolut dominierenden sind. Gegenüber dem eher eingeschränkten semantischen Spektrum von ἔρως und dem umfangreichen Diskurs über die φιλία war der Begriff der Begriff ἀγάπη in gewissem Sinn ‚neutraler‘ und konnte mit neuen, spezifischen Inhalten gefüllt werden. Dabei konnten sowohl zwischenmenschliche Beziehungen als auch die Beziehung zu Gott beschrieben werden. Anders als die genannten Texte aus dem griechischen und lateinischen Sprachraum, die über die φιλία bzw. die amicitia ganze Abhandlungen verfassen, begegnet der Ausdruck Freundschaft im Neuen Testament nur an einer Stelle ( Jak 4,4). In dieser geht es zudem nicht um die philosophische Diskussion dieses Begriffs. Eine Bestimmung ergibt sich höchsten indirekt, da φιλία und ἔχθρα bzw. φίλος und ἐχθρός als Gegensatzpaare verwendet werden. Gegenüberge‐ stellt werden allerdings primär die Begriffe κόσμος und θεός: μοιχαλίδες, οὐκ οἴδατε ὅτι ἡ φιλία τοῦ κόσμου ἔχθρα τοῦ θεοῦ ἐστιν; ὃς ἐὰν οὖν βουληθῇ φίλος εἶναι τοῦ κόσμου, ἐχθρὸς τοῦ θεοῦ καθίσταται. Ihr Ehebrecher, wisst ihr nicht, dass Freundschaft mit der Welt Feindschaft mit Gott ist? Wer der Welt Freund sein will, der wird Gottes Feind sein. Ebenfalls im Jakobusbrief ( Jak 2,23) wird der Topos der Gottesfreundschaft Abrahams zitiert, allerdings in einem für die protestantische Theologie nicht einfachen Kontext: Abraham, der ‚Freund Gottes‘ genannt wird, wird an dieser Stelle als ein Beispiel eines aus Werken Gerechten genannt. Jürgen Moltmann hat diese Stelle im Blick, wenn er vom engeren Begriff des ‚Gottesfreundes‘ spricht und blickt demgegenüber auf johanneische Schriften, wenn er von der Erweiterung dieses Konzepts spricht: „In classical Christianity, then, the expression ‚friend of God‘ has had two meanings. First, it was used in a narrow, exclusive sense. […] But at the same time, a broad, inclusive formulation has always been there too; that is, that through Christ’s friendship, all Christians have become friends of God.“ 24 30 Michael Schneider <?page no="31"?> 25 Über die im Folgenden genannten Texte hinaus vgl. einführend in den spezifisch neutestamentlichen Diskurs Schmidt, Jesus; ders., Was heißt Freundschaft mit Jesus? , in: GuL 85/ 1 (2012) 31-43; John T. Fitzgerald (Hg.), Friendship, Flattery, and Frankness of Speech. Studies on Friendship in the New Testament World, Leiden 1996; Hans-Josef Klauck, Kirche als Freundesgemeinschaft? Auf Spurensuche im Neuen Testament, Münchener Theologische Zeitschrift 41/ 1 (1991), 1-14; George Lyons/ William H. Malas, Paul and his friends within the Greco-Roman context, in: Wesleyan Theological Journal 42 (2007), 70-86; Rainer Metzner, In aller Freundschaft. Ein frühchristlicher Fall freundschaftlicher Gemeinschaft (Phil 2.25-30), in: NTS 48/ 1 (2002), 111-131; Rudolf Schnackenburg, Freundschaft mit Jesus, Freiburg/ Basel 2 1996. 26 John T. Fitzgerald, Christian Friendship. John, Paul, and the Philippians, in: Interpreta‐ tion 61 (2007), 284-296. 27 Luke Timothy Johnson, Making connections. The material expression of friendship in the New Testament, in: Interpretation 58/ 2 (2004), 158-171. 28 Söding, Freundschaft mit Jesus. 29 Ekkehard W. Stegemann, Freundschaftstopik im Neuen Testament, in: Freundschaft, Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München, München 2006, 9-24. 30 Johnson, Making connections, 159. Während φιλία explizit nur im Jakobusbrief genannt ist, begegnet φίλος neben dem Jakobusbrief an einigen Stellen im lukanischen Doppelwerk, im Johannes‐ evangelium und den Johannesbriefen. 25 John T. Fitzgerald, 26 Luke Timothy Johnson, 27 Thomas Söding 28 und Ekke‐ hard W. Stegemann 29 haben in ihren Untersuchungen mit je unterschiedlichen Perspektiven instruktive Überblicke über die Relevanz des Konzepts der Freund‐ schaft im Neuen Testament gegeben. Insbesondere Johnson macht darauf aufmerksam, dass die relativ sparsame Verwendung der Begriffe φιλία und φίλος nicht bedeuten muss, dass die entsprechenden Konzepte - sei es mit neuer Profilierung oder mit Rückgriff auf die erwähnten griechischen und lateinischen Quellen - wenig relevant waren: „[…] the presence of common conceptions about friendship shows that friendship is a pervasive theme in the New Testament even when the term itself is not used. The themes commonly associated with friendship occur so frequently that ancient readers or hearers would have understood them within that context.“ 30 Das Konstatieren einer generellen expliziten oder impliziten Präsenz der Freundschaftsethik bzw. Freundschaftstopik in den neutestamentlichen Schriften lässt die jeweilige Relevanz in einzelnen Texten noch offen. Diese Beurteilung bleibt dem Blick in einzelne Schriften vorbehalten; dabei ist jeweils zu entscheiden, ob griechische Konzeptionen der φιλία vorausgesetzt, weiter‐ entwickelt, theologisch profiliert oder kritisiert und verworfen werden. Die folgenden zwei exegetischen Skizzen greifen in diesem Sinne einzelne neutesta‐ 31 Jesus und seine Freunde <?page no="32"?> 31 Vgl. zur Freundschaftsthematik bei Johannes auch Jens Schröter, Sterben für die Freunde. Überlegungen zur Deutung des Todes Jesu im Johannesevangelium, in: Axel Dobbeler (Hg.), Religionsgeschichte des Neuen Testaments. FS Klaus Berger, Tübingen 2000, 263-288; Klaus Scholtissek, „Eine größere Liebe als diese hat niemand, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“ ( Joh 15,13). Die hellenistische Freundschaftsethik und das Johannesevangelium, in: Jörg Frey/ Udo Schnelle (Hg.), Kontexte des Johannesevangeliums, Tübingen 2004, 413-439; Gail R. O’Day, Jesus as a friend in the Gospel of John, in: Interpretation 58 (2004), 144-157 und den Beitrag von Dominic Blauth in diesem Band. mentliche Texte exemplarisch heraus und beleuchten das Thema ‚Freundschaft‘ vor dem intertextuellen Hintergrund griechischer, lateinischer und hebräischer Texte. 2.2 Intertextuelle Skizzen zur Freundschaft 2.2.1 Jesus und seine Freunde im Johannesevangelium Vielfach wird das Johannesevangelium als der Text genannt, der im neutes‐ tamentlichen Kanon am explizitesten und zudem in affirmativer Weise auf den griechischen φιλία-Diskurs Bezug nimmt. 31 Das Johannesevangelium be‐ zeichnet etwa in der Rede seiner Schwester Lazarus als den, der mit Jesus persönlich befreundet ist (κύριε, ἴδε ὃν φιλεῖς ἀσθενεῖ. Joh 11,3). Und auch Jesus selbst bezeichnet ihn explizit als Freund (ὁ φίλος ἡμῶν Joh 11,11), so dass auch das ἠγάπα in Joh 11,5 als Ausdruck dieser Freundschaft gegenüber der ganzen Familie des Lazarus verstanden werden muss. Die christologisch bzw. theologisch zentralen Aspekte der Freundschaftsthe‐ matik finden sich aber in Joh 15,12-17: Αὕτη ἐστὶν ἡ ἐντολὴ ἡ ἐμή, ἵνα ἀγαπᾶτε ἀλλήλους καθὼς ἠγάπησα ὑμᾶς. μείζονα ταύτης ἀγάπην οὐδεὶς ἔχει, ἵνα τις τὴν ψυχὴν αὐτοῦ θῇ ὑπὲρ τῶν φίλων αὐτοῦ. ὑμεῖς φίλοι μού ἐστε ἐὰν ποιῆτε ἃ ἐγὼ ἐντέλλομαι ὑμῖν. οὐκέτι λέγω ὑμᾶς δούλους, ὅτι ὁ δοῦλος οὐκ οἶδεν τί ποιεῖ αὐτοῦ ὁ κύριος· ὑμᾶς δὲ εἴρηκα φίλους, ὅτι πάντα ἃ ἤκουσα παρὰ τοῦ πατρός μου ἐγνώρισα ὑμῖν. οὐχ ὑμεῖς με ἐξελέξασθε, ἀλλ’ ἐγὼ ἐξελεξάμην ὑμᾶς καὶ ἔθηκα ὑμᾶς ἵνα ὑμεῖς ὑπάγητε καὶ καρπὸν φέρητε καὶ ὁ καρπὸς ὑμῶν μένῃ, ἵνα ὅ τι ἂν αἰτήσητε τὸν πατέρα ἐν τῷ ὀνόματί μου δῷ ὑμῖν. Ταῦτα ἐντέλλομαι ὑμῖν, ἵνα ἀγαπᾶτε ἀλλήλους. Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe. Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. Ich nenne euch hinfort nicht Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich Freunde genannt; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan. Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und 32 Michael Schneider <?page no="33"?> 32 Markus Lau, Freundschaft - bis in den Tod, in: feinschwarz.net. Theologisches Feuil‐ leton, abrufbar unter www.feinschwarz.net/ freundschaft-bis-in-den-tod/ (Zugriffs‐ datum 28.10.2020). 33 Vgl. Dtn 13,7 oder 1Sam 18,1.3. Frucht bringt und eure Frucht bleibt, auf dass, worum ihr den Vater bittet in meinem Namen, er’s euch gebe. Das gebiete ich euch, dass ihr euch untereinander liebt. Die Freundschaftsbeziehung zwischen Jesus und den Jüngern wird hier als Liebesbeziehung qualifiziert. Diese drückt sich insbesondere darin aus, dass innerhalb dieser Beziehung Wissen geteilt wird (alles […] habe ich euch kund‐ getan) und durch die Aufhebung der Knechtschaft eine hierarchische Ordnung in gewissem Sinn in Gleichheit aufgeht. Gleichwohl betont gerade das Johan‐ nesevangelium die bleibende Ungleichheit, die Asymmetrie, ja die Hierarchie zwischen Jesus und den Jüngern bzw. allen Menschen. Die Gleichheit innerhalb der Gemeinschaft Jesu mit den Jüngern besteht also nur in gewisser Hinsicht, und auch nur aufgrund der aktiven Preisgabe des göttlichen Wissens durch Jesus. Vor allem aber wird hier ganz im Sinne des oben dargestellten aristotelischen Ideals das Hingeben des eigenen Lebens für die Freunde als höchste Stufe des Freundschaftsdienstes genannt. Und damit liegt in Joh 15 ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis des johanneischen Passionsgeschehens: „Anthropologisch betrachtet stempelt diese Deutung des Todes Jesu all jene, für die Jesus gestorben ist, - ganz im Gegensatz zur sühnesoteriologischen Deutung des Todes Jesu - nicht zu Sündern, sondern zu Freunden Jesu. […] Jesus stirbt für seine Freunde. Das transformiert seine Schülerinnen und Schüler zu Freunden Jesu. […] Zugespitzt formuliert: Weil Jesus den Tod des Sklaven stirbt, deshalb sind seine Nachfolgerinnen und Nachfolger nicht mehr Sklaven, sondern Freunde.“ 32 Zugleich verbindet sich bei Johannes griechische Freundschaftsethik mit As‐ pekten der Freundschaft aus dem Alten Testament: Die Freundschaft Jesu mit seinen Jüngern ist nicht - wie etwa bei Rut und Noomi - durch die gleichzeitige Treue zu Gott bzw. zum Bund Gottes gekennzeichnet, sondern direkt mit dem inkarnierten λόγος selbst möglich. Gleichzeitig ist die Freundschaft zwischen Jesus und seinen Jüngern durchaus vergleichbar mit Beziehungen im Alten Testament, in denen jemand seinen Nächsten/ Freund liebt wie sein eigenes Leben. 33 Auf diese Weise verbindet Johannes zugleich die Vorstellung einer Freundschaft als zwischenmenschliche Beziehung mit dem Topos der Gottes‐ freundschaft. Während Gottesfreundschaft im Alten Testament auf Abraham 33 Jesus und seine Freunde <?page no="34"?> 34 Moltmann, Open Friendship, 34f. und Mose beschränkt bleibt, wird diese über das Kreuz universalisiert und auf alle in der Nachfolge Jesu übertragen. Das Motiv der Freundschaft liefert hier in jedem Fall im Vergleich zu den Paulusbriefen oder den Synoptikern ein Alternativmodell zur Deutung des Kreuzes. Dabei wird ein in der Enzyklopädie der frühen Christen verbreiteter Topos auf die Jesus-Christus-Geschichte bezogen und zudem noch mit alttesta‐ mentlichen Vorstellungen verschränkt. Im Johannesevangelium geht es dabei weniger um eine Freundschaftsethik als um Theologie, Christologie und auch Ekklesiologie: Die Gemeinde ist in dieser johanneischen Perspektive weniger eine ‚Gemeinschaft der Heiligen‘ oder eine ‚Gemeinschaft der Sünder‘ als eine ‚Gemeinschaft der Freunde‘. 2.2.2 Jesus und die Liebe zu den Freunden im Matthäusevangelium Während die johanneische und lukanische Literatur aufgrund des Gebrauchs des φίλος-Begriffs in verschiedenen Untersuchungen zur Freundschaft in den Blick gerät, ist dies beim Matthäusevangelium weniger der Fall. Zumeist wird Mt 11,19 auf eine einzige einschlägige Stelle verwiesen, die zudem noch einen Paralleltext bei Lukas besitzt: ἰδοὺ ἄνθρωπος φάγος καὶ οἰνοπότης, τελωνῶν φίλος καὶ ἁμαρτωλῶν. Sieh, ein Mensch, Fresser und Weinsäufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern. Das, was dem Volk hier vom sprechenden Jesus selbst in den Mund gelegt wird, ist ein Vorwurf, der verfängt und zugleich auf der Reziprozität von Freundschaft aufbaut. ‚Freund‘ ist ja hier gerade deswegen pejorativ zu verstehen, weil dahinter die Vorstellung des Sich-Gleich-Machens mit den genannten Gruppen der Zöllner und der Sünder steht. Jedenfalls ist das Tun des Schlechten, die Ausbeutung anderer das Gemeinsame, das hinter diesem Vorwurf der Freund‐ schaft steht und von dem sich der Text abgrenzt: „He becomes the friend of sinners and tax collectors because of his joy in their common freedom - God’s future. When ‚respectable society‘ calls him a ‚friend of sinners and tax collectors,‘ however, it wants only to denounce and compromise him. In keeping with the law according to which ist ranks are organized, respectable society identifies people with their failings and speaks of sinners […] From this society speaks the law, which defines people always by their failings. Jesus, however, as the Son of Man without this inhuman law, becomes the friend of sinful and sick persons. By forgiving their sins he restores tot hem their respect as men and women.“ 34 34 Michael Schneider <?page no="35"?> 35 Vgl. Stegemann, Freundschaftstopik, 16, der hier im ‚freundlichen Grüßen‘ eine Ehr‐ erbietung und eine Anspielung an das Patronatsbzw. Klientelwesen versteht, das ebenfalls mit dem amicus-Begriff operiert. 36 Stegemann, Freundschaftstopik, 10. Stegemann weist in diesem Beitrag dezidiert darauf hin (14), dass insbesondere die Bergpredigt im intertextuellen Gegenüber zu aristotelischen Texten kritische Akzente setzt. Interessanterweise wird diese Position in der Forschung kaum vertieft. Während die Diskussion der Antithesen im Kontext hebräischer Texttraditionen forschungsgeschichtlich (zu Recht) umfangreich ausfällt, fehlt eine intertextuelle Lektüre mit griechischen Texten nahezu vollständig. Dies ist umso erstaunlicher, da die Verbindung zu den ἐθνικοί im Text explizit angelegt ist. Vgl. zur Thematik noch Margareta Gruber, Freundschaft als Lebensform. Zur jesuanischen Fundierung einer Gestalt von Nachfolge, in: dies./ Stefan Kiechle (Hg.), Gottesfreundschaft. Ordensleben heute denken, Würzburg 2007, 111-142. Eine weitere Abgrenzung, die eine besondere Pointe vor dem intertextuellen Hintergrund der griechischen Texte zur Freundschaft erhält, findet man in Mt 5,47: καὶ ἐὰν ἀσπάσησθε τοὺς ἀδελφοὺς ὑμῶν μόνον, τί περισσὸν ποιεῖτε; οὐχὶ καὶ οἱ ἐθνικοὶ τὸ αὐτὸ ποιοῦσιν; Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? Bemerkenswert ist zunächst die von maßgeblichen Zeugen überlieferte Lesart, die ἀδελφούς durch φίλους ersetzt. Ein liebenswertes (in Mt 5,47 auch: ehrer‐ bietendes) 35 Verhalten gegenüber den Gleichen, den Freunden, den Geschwis‐ tern innerhalb einer Freundschaftsbeziehung ist hier als typisches Verhalten der nicht zur eigenen Gruppe gehörenden Anderen (οἱ ἐθνικοὶ) vorgestellt - eine offensichtliche Kritik genau an der etwa bei Aristoteles entfalteten Freundschaftsethik. Der Matthäustext setzt hier eine bemerkenswerte Pointe, die sich vor dem Hintergrund der griechischen Texte noch einmal anders liest: „Selbst dann, wenn der ‚Nächste‘ sich seinerseits nicht als liebenswürdiger und solidarischer Mitmensch oder gar als Freund erweist, ist das Gebot gültig, so daß in der radikalen und demonstrativen Vollkommenheitsforderung der Bergpredigt, wie noch zu zeigen ist, die Einschränkung des Gebotes der Nächstensliebe auf bestimmte (pejorative) Formen der Freundschaftsliebe kritisiert und zur Feindesliebe entschränkt werden kann.“ 36 Durch die Verwendung des Begriffs des ‚Nächsten‘ aus den alttestamentlichen Texten ist diese Entschränkung der Freundschaftsliebe schon angelegt: Auch der Fremdling, der unter euch wohnt (Lev 19,33f.), kann Nächster sein, auf den die liebende Zuwendung sich beziehen soll. 35 Jesus und seine Freunde <?page no="36"?> 37 Gottesbegriff und -konzept bei Aristoteles und Matthäus sind selbstverständlich zu unterscheiden; der Gott des Matthäusevangeliums und die Götterwelt des Aristoteles sind nicht identisch und auch nicht einfach vergleichbar. Gerade deshalb ist es auffällig, dass in Mt 5 nicht einfach ein von griechischen Kontexten zu unterscheidendes, sondern ein gegensätzliches Freundschaftskonzept entfaltet wird. Auch die durch den Folgevers (Mt 5,48) eingeforderte Vollkommenheit grenzt sich von der Reziprozitätslogik griechischer Freundschaftsethik und von einer Form der Gerechtigkeit innerhalb der Talionslogik ab. Die Vollkommenheit besteht gerade darin, sich - wie Gott selbst - den anderen zuzuwenden, auch und gerade dann, wenn ein asymmetrisches Verhältnis besteht und bestehen bleibt: ἔσεσθε οὖν ὑμεῖς τέλειοι ὡς ὁ πατὴρ ὑμῶν ὁ οὐράνιος τέλειός ἐστιν. Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist. Diese Abgrenzung wird umso deutlicher, wenn man sich die Ausführungen im siebten Buch der Eudemischen Ethik etwas näher anschaut: ὅτι γὰρ ὁ θεὸς οὐ τοιοῦτος οἷος δεῖσθαι φίλου, καὶ τὸν ὅμοιον ἀξιοῦμεν. καίτοι κατὰ τοῦτον τὸν λόγον οὐδὲ νοήσει ὁ σπουδαῖος: οὐ γὰρ οὕτως ὁ θεὸς εὖ ἔχει, ἀλλὰ βέλτιον ἢ ὥστε ἄλλο τι νοεῖν παρ᾽ αὐτὸς αὑτόν. αἴτιον δ᾽ ὅτι ἡμῖν μὲν τὸ εὖ καθ᾽ ἕτερον, ἐκείνῳ δὲ αὐτὸς αὑτοῦ τὸ εὖ ἐστίν. Weil Gott nämlich nicht so ist, dass er einen Freund braucht, erachtete es das Argument für richtig, dass auch der (dem Gott) Gleiche (keinen brauche). Indes, nach diesem Argument würde der hochwertige Mensch nicht einmal (etwas außerhalb seiner) denkend erfassen können. Denn nicht in dem Sinn (wie der Mensch) ist der Gott glücklich, sondern sein Glück ist höheren Ranges, so dass der Gegenstand seines Denkens kein anderer sein kann als er selbst. Der Grund aber davon ist, dass für uns das Glück eine Bezogenheit nach außen hat, für Gott aber gilt, dass er selbst allein sein eigenes Glück ist. (Abschnitt 1245b) Bei Aristoteles wird hier - durchaus in einer gewissen Spannung zu den oben zitierten Passagen aus der Nikomachischen Ethik - der kategoriale Unterschied zwischen Menschen und Göttern hervorgehoben: Menschen sind keine Götter! Und daher werden selbst die tugendhaftesten Menschen kein gottgleiches, und damit auch autarkes Leben ohne Freundschaften führen können. Gott 37 ist sich in dieser Perspektive im mehrfachen Wortsinn selbst genug - wie oben bereits zitiert: οὐθὲν γάρ φασι δεῖν φίλων τοῖς μακαρίοις καὶ αὐτάρκεσιν· Man sagt nämlich, dass die glückseligen und autarken Menschen keiner Freunde bedürften. 36 Michael Schneider <?page no="37"?> 38 Vgl. z. B. die Gütersloher Erzählbibel, die der Nacherzählung von Lk 5,17-26 als Überschrift „Wenn Freundinnen und Freunde genug Vertrauen haben“ voranstellt. An anderen Stellen wird in Anlehnung an die matthäische Wortwahl „Schülerinnen und Schüler“ verwendet. 39 Dass auch jenseits der Frage nach dem antiken Freundschaftskurs die Gleichung „Jünger = Freunde“ nicht aufgeht, zeigen Alkier, Jesus; Michael Schneider, Dialog der Gegner. Ein Blick auf das Matthäusevangelium mit Michail Bachtin, in: ZNT 26 (2015), 22-31; ders., Offene Konflikte im Matthäusevangelium, in: Christian Wiese/ Stefan Alkier/ Michael Schneider (Hg.), Diversität - Differenz - Dialogizität. Religion in pluralen Kontexten, Berlin u. a. 2017, 223-246. In intertextueller Perspektive profiliert das erste Kapitel der Bergpredigt so eine Ethik, die in zwei zentralen Punkten der griechischen Freundschaftsethik gegenübersteht: Die matthäische Ethik fordert eine ‚höhere Gerechtigkeit‘ als sich nur innerhalb von Freundschaften auch freundschaftlich zu verhalten. Und sie begründet diese Ethik mit dem Verhalten Gottes, dessen wesentliches Kennzeichen gerade nicht eine Autarkie, sondern seine Zuwendung gegenüber den Menschen ist. Von dieser deutlichen intertextuellen Opposition ausgehend, gewinnen auch die Seligpreisungen zu Beginn von Mt 5 noch einmal eine andere Zuspitzung: Während im aristotelischen Freundschaftsideal gerade die weltabgewandten, autarken Menschen als μακάριοι verstanden werden, sind die μακάριοι bei Matthäus gerade die sich der Welt und dem Nächsten Zuwendenden: Trauer zu tragen (οἱ πενθοῦντες), Mitleid zu empfinden (οἱ ἐλεήμονες), Frieden zu stiften (οἱ εἰρηνοποιοί) und für eine andere Gerechtigkeit einzustehen und dafür verfolgt zu werden (οἱ δεδιωγμένοι ἕνεκεν δικαιοσύνης) sind wohl die deutlichsten Zeichen für diese matthäische Weltzugewandtheit. Und auch der in Mt 5,43 schon angeklungene und dann bei der Frage nach dem höchsten Gebot in Mt 22,39 komplett zitierte Vers aus Lev 19 unterscheidet sich von der aristotelischen Freundschaftsethik. Während Mt 22,39 (ἀγαπήσεις τὸν πλησίον σου ὡς σεαυτόν.) Selbst- und Nächstenliebe auf eine Stufe stellt, betont Aristoteles - wie oben ausgeführt - den Vorrang der Selbstliebe bzw. Selbstfreundschaft (μάλιστα γὰρ φίλος αὑτῷ / φιλητέον μάλισθ' ἑαυτόν). Schließlich sei noch bemerkt, dass sich die synoptische, insbesondere aber die matthäische Darstellung der Jünger mit Blick auf den Freundschaftstopos deutlich unterscheidet. Die Jünger sind gerade nicht, wie manche Unterrichts‐ entwürfe und Kinderbibeln 38 vermitteln, ‚Jesu Freunde‘ - zumindest nicht in dem Sinn, wie Kinder und Jugendliche der Gegenwart Freundschaft verstehen. 39 Gerade Mt 28,20 macht ja deutlich, dass das Modell einer Lehrer-Schüler-Be‐ ziehung nicht nur auf die Schülerinnen und Schüler im Matthäusevangelium bezogen werden soll, sondern die bleibende, gleichwohl asymmetrische, Bezie‐ 37 Jesus und seine Freunde <?page no="38"?> 40 So die grundlegende These von Johnson, Making connections. 41 Vgl. zur Kritik an dieser historischen Engführung sowie an der ähnlich problematischen strukturalistischen Engführung jetzt Michael Schneider, Antagonismen? Gegensatz‐ beziehungen und Konfliktkonstellationen im Matthäusevangelium, in: Stefan Alkier (Hg.), Antagonismen im Neuen Testament, Paderborn 2021 (im Erscheinen). hungsform mit dem Immanuel, auch über dessen irdisches Wirken hinaus, bezeichnet. 2.3 Ein Ausblick ins Neue Testament und darüber hinaus Vielleicht markieren die beiden Beispiele aus dem Matthäus- und Johannes‐ evangelium Extrempunkte im Umgang mit dem antiken Freundschaftsdiskurs im Neuen Testament: Hier Johannes, der darin eine Deutungsoption für die zentrale Frage nach dem Kreuz findet - dort Matthäus, in dessen Entwurf von Gerechtigkeit die griechische Freundschaftsethik defizitär bleibt. In diese Skala der Extreme ließe sich Lukas, besonders auch die Apostelgeschichte ein‐ schreiben: Ist beispielsweise die Gemeinde der frühen Christen eine Gruppe von Freunden, die „ein Herz und eine Seele“ sind? Und wie ist es mit Paulus, dessen Briefe auch schon als ‚Freundschaftsbriefe‘ beschrieben wurden, die zumeist mit Grüßen an Gemeindemitglieder (Freunde? ) schließen? Sind seine Konzeptionen von κοινωνία und ἐκκλησία letztlich Formen von Freundschaftsbeziehungen? 40 Oder sind sie das nur mit Blick auf die ingroup, aber gerade nicht mit Blick auf die Welt außerhalb? Während der Diskurs über ‚Gegner‘ und ‚Feindschaft‘ im Neuen Testament häufig von der Frage nach den realhistorischen Gegnerschaften Jesu oder der frühen Christen überlagert wird, 41 richtet der φιλία-Begriff das Augenmerk auf eine komplexe philosophische, politische und theologische Diskussion, die in verschiedenen Texten der Antike ausführlich geführt wird. Die neutestament‐ lichen Texte erörtern weniger den Begriff als das zugrundeliegende Konzept, prägen ihre je eigene Terminologie und positionieren sich explizit wie implizit gegenüber anderen Texten. Antike Freundschaftstopoi werden dabei weder einfach übernommen noch können sie als bekannt und gültig für Autor und Leser vorausgesetzt werden. Die Situation ist komplexer: Das Thema ‚Freundschaft im Neuen Testament‘ und die einschlägigen neutestamentlichen Texte verlangen enzyklopädische Orientierung und intertextuelle Kompetenz - von ihren ersten Leserinnen und Lesern und denen in der Gegenwart. 38 Michael Schneider <?page no="39"?> Literatur Ralf Adelmann, Von der Freundschaft in Facebook: Mediale Politiken sozialer Bezie‐ hungen in Social Network Sites, in: Oliver Leistert/ Theo Röhle (Hg.), Generation Facebook. Über das Leben im Social Net, Bielefeld 2011, 127-144. Stefan Alkier, Neues Testament, UTB Basics 3404, Tübingen 2010. Stefan Alkier, Jesus und seine Feinde; in: Michael Moxter/ Markus Firchow (Hg.), Feind‐ schaft. Theologische und philosophische Perspektiven, Leipzig 2013, 41-59. 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Überlegungen zur Deutung des Todes Jesu im Johannesevangelium, in: Axel Dobbeler (Hg.), Religionsgeschichte des Neuen Testaments. FS Klaus Berger, Tübingen 2000, 263-288. Ruth Scoralick, Freundschaft in der Bibel. Ansätze zum Weiterdenken, in: Diakonia 33 (2002), 393-399. Thomas Söding, Freundschaft mit Jesus. Ein neutestamentliches Motiv, in: IKaZ 36 (2007) 220-231. Ekkehard W. Stegemann, Freundschaftstopik im Neuen Testament, in: Freundschaft, Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München, München 2006, 9-24. Svenja Wiertz, Freundschaft, Grundthemen Philosophie, Berlin/ Boston 2020. Ursula Wolf, Aristoteles Nikomachische Ethik, Darmstadt 3 2013. 41 Jesus und seine Freunde <?page no="43"?> 1 Ich widme diesen Beitrag Stefan Alkier, Michael Schneider und Dominic Blauth, die mir in den Jahren unserer Zusammenarbeit auf je eigene Weise zu Freunden geworden sind. 2 www.youtube.com/ watch? v=wAz6-GWiaHo (Zugriffsdatum 20.12.2020). 3 Vgl. https: / / www.donaukurier.de/ nachrichten/ topnews/ inland/ art388865,4238103 (Zu‐ griffsdatum 20.12.2020). 4 Cicero, Laelius 17,64; Zitate und Übersetzungen folgen der Ausgabe: Marcus Tullius Cicero, Laelius de amicitia. Lateinisch/ Deutsch, übers. und hrsg. von Marion Giebel, Stuttgart 2015. Freundschaft als Haltung und Praxis Soziale und politische Aspekte von Freundschaft in den Text- und Lebenswelten des Neuen Testaments Michael Rydryck 1 „Wem der große Wurf gelungen…“ - Freundschaft als mentales Modell 1 In einem ZDF-Interview beantwortete der CSU-Politiker Horst Seehofer die Frage „Gibt es überhaupt so etwas wie Freundschaft unter Politikern? “ mit einem ebenso lakonischen wir resigniert wirkenden „Nein“. 2 Vergleichbar skep‐ tisch äußerte sich Seehofer in einem Interview mit dem Donaukurier. 3 Auch Seehofers antiker Politiker-Kollege Marcus Tullius Cicero teilte diese Skepsis: Itaque verae amicitiae difficillime reperiuntur in iis qui in honoribus reque publica versantur; ubi enim istum invenias qui honorem amici anteponat suo? So erklärt es sich, dass man wahre Freundschaft nur schwer bei Männern antrifft, die hohe Ämter innehaben oder überhaupt im öffentlichen Leben stehen. Denn wo findet sich wohl der Mann, der unter diesen Umständen dem Freund das Ehrenamt eher gönnt als sich selbst? 4 Das politische Feld in Antike und Gegenwart scheint besonders affin für Konkurrenz-, Rivalitäts- und Streitbeziehungen zu sein, die Freundschaftsbe‐ <?page no="44"?> 5 Cicero, Laelius, 10,34. 6 Im Zusammenhang mit dem antiken bzw. neutestamentlichen Freundschaftsdiskurs auch aufgegriffen bei Thomas Söding, Freundschaft mit Jesus. Ein neutestamentliches Motiv, in: Internationale katholische Zeitschrift Communio (3/ 2007), 220-231, hier: 221. ziehungen stören, beenden oder deren Aufbau und Fortbestehen nachhaltig erschweren: quodsi qui longius in amicitia provecti essent, tamen saepe labefactari, si in honoribus contentionem incidissent; pestem enim nullam maiorem esse amicitiis quam in plerisque pecuniae cupiditatem, in optimis quibusque honoris certamen et gloriae; ex quo inimici‐ tias maximas saepe inter amicissimos exstitisse. Und falls einige die Freundschaft noch länger hätten aufrechterhalten können, käme es doch öfter zum Bruch, wenn sie in Konkurrenz um ein Amt geraten. Die schlimmste Pest, die Freundschaften bedroht, ist nämlich bei der Mehrzahl die Geldgier, gerade bei den Besten aber der Wettstreit um Ehre und Ruhm, woraus schon oft die bittersten Feindschaften zwischen engsten Freunden entstanden sind. 5 Nicht nur diese lebensweltliche Beobachtung Ciceros oder die in der gegenwär‐ tigen Politik gebrauchte Klimax „Feind, Todfeind, Parteifreund“ 6 scheint der Skepsis gegenüber Freundschaften im politischen Feld recht zu geben, denn es mangelt nicht an Beispielen für Konkurrenz, Rivalität und zerbrochene Freundschaften in der Politik: Die noch bestehenden Bande der Freundschaft unter den Gefährten von Alexander dem Großen zerrissen endgültig im Kampf um dessen Nachfolge. Die politische Freundschaft zwischen Gnaeus Pompeius Magnus und Gaius Julius Caesar wandelte sich nach dem Tod Julias, durch die Konkurrenz um den Führungsanspruch in der res publica und durch die wachsende Polarisierung innerhalb der Führungsschicht in eine offene Rivalität. Der nicht zuletzt in dieser Rivalität begründete Bürgerkrieg entzweite die lang‐ jährigen Waffengefährten Caesar und Titus Labienus. Die Parteifreundschaft zwischen Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble erlitt irreparable Friktionen in der CDU-Spendenaffäre. Die Parteifreunde Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder entzweiten sich unwiderruflich in ihrem Streit um den Führungsan‐ spruch in der SPD. Die Liste ließe sich erweitern. Indes gilt es vor dem Hintergrund des Scheiterns all dieser Freundschaften festzuhalten, dass etwas nur dann zerbrechen kann, wenn es zuvor Bestand hatte. Zudem lassen sich ohne Weiteres auch Gegenbeispiele finden: Trotz anhaltender äußerer Kritik hält die Männerfreundschaft zwischen Gerhard Schröder und Vladimir Putin bis auf den heutigen Tag. Auch Helmut Kohl und Michail Gorbatschow blieben nach ihren Interaktionen im Kontext der deut‐ schen Wiedervereinigung freundschaftlich verbunden. Augustus und Marcus 44 Michael Rydryck <?page no="45"?> 7 Söding setzt diese Freundschaft in Anführungszeichen und will in der Freundschafts‐ beziehung zwischen Pilatus und Herodes einen Ausdruck des Zynismus der Machthaber sehen (vgl. Söding, Freundschaft mit Jesus, 226). Die kurze Notiz in Lk 23,12 trägt meines Erachtens eine solch weitreichende und pejorative Bewertung nicht. Die Freundschafts‐ notiz erscheint zudem lebensweltlich nicht unplausibel: Vor dem Hintergrund latenter Rivalitäten zwischen römischen Magistraten und lokalen Klientelfürsten verhalten sich Herodes und Pilatus im Kontext des vor ihnen angestrengten Prozesses gegen Jesus überraschend einträchtig und lassen etwaige Machtinterferenzen beiseite. Hier eine partnership in crime zu insinuieren, scheint mir durch den Text nicht gedeckt zu sein. Für eine differenzierte Analyse der Freundschaft von Herodes Antipas und Pontius Pilatus vgl. den Beitrag von Tobias Nicklas im vorliegenden Band. 8 Ludwig Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philoso‐ phicus, Frankfurt am Main 37 2018, 2.1-2.1512. Exegetisch wurde das Konzept mentaler Modelle bislang vor allem für die Figurenanalyse fruchtbar gemacht. Vgl. dazu Sönke Finnern/ Jan Rüggemeier, Methoden der neutestamentlichen Exegese. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Tübingen 2016, 195-210; sowie Jens Eder, Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg 2 2014. Vipsanius Agrippa waren Freunde seit ihrer gemeinsamen Schulzeit und blieben es in der Zeit der Bürgerkriege und dem beginnenden Principat. Caesar war mit Antipater, dem Vater von Herodes dem Großen, freundschaftlich verbunden. Und schließlich schlossen Lk 23,12 zufolge Pontius Pilatus und Herodes Antipas, die zuvor eine Feindschaftsbeziehung verbunden hatte, Freundschaft im Kontext des Prozesses gegen Jesus. 7 Auch diese Liste ließe sich mit Beispielen aus Antike und Gegenwart ergänzen. Wie lässt sich diese Diskrepanz in der Wahrnehmung von Freundschaft im politischen Feld erklären? Die Antwort verweist auf einen zentralen hermeneu‐ tischen Aspekt im Freundschaftsdiskurs: Freundschaft ist ein mentales Modell. Es war Ludwig Wittgenstein, der die hermeneutische Grundlegung mentaler Modelle formuliert hat: „Wir machen uns Bilder der Tatsachen. Das Bild stellt die Sachlage im logischen Raume, das Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten vor. Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit. Den Gegenständen entsprechen im Bilde die Elemente des Bildes. Die Elemente des Bildes vertreten im Bild die Gegenstände. Das Bild besteht darin, daß sich seine Elemente in bestimmter Art und Weise zu einander verhalten. Das Bild ist eine Tatsache. Daß sich die Elemente des Bildes in bestimmter Art und Weise zu einander verhalten stellt vor, daß sich die Sachen so zu einander verhalten. Dieser Zusammenhang der Elemente des Bildes heiße seine Struktur und ihre Möglichkeit seine Form der Abbildung. Die Form der Abbildung ist die Möglichkeit, daß sich die Dinge so zu einander verhalten, wie die Elemente des Bildes. Das Bild ist so mit der Wirklichkeit verknüpft; es reicht bis zu ihr. Es ist wie ein Maßstab an die Wirklichkeit angelegt.“ 8 45 Freundschaft als Haltung und Praxis <?page no="46"?> 9 Seneca, De beneficiis, I,1,8; Zitate und Übersetzungen folgen der Ausgabe Lucius An‐ naeus Seneca, Philosophische Schriften. Lateinisch / Deutsch, Bd. 5, übers., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Manfred Rosenbach, Darmstadt 2 2011, 95-593. 10 Seneca, De beneficiis, I,5,2. 11 Das Spektrum von Freundschaftskonzepten und Freundschaftspraktiken, das sich in mentalen Modellen der Antike und Gegenwart verdichtet, umreißen Alexandra Rapsch, Soziologie der Freundschaft. Historische und gesellschaftliche Bedeutung von Homer bis heute, Stuttgart 2004; sowie Svenja Wiertz, Freundschaft, Grundthemen Philosophie, Berlin/ Boston 2020. 12 Vgl. hier exemplarisch die Ausführungen zur Freundschaft bei Söding, Freundschaft mit Jesus, 220; und Andreas Schmidt, Was heißt Freundschaft mit Jesus? , GuL 85/ 1 (2012), 31-43, hier: 32; mit Artikeln zum Thema Freundschaft aus dem Neuen Pauly: Hans-Joachim Gehrke/ Barbara von Reibnitz, Art. Freundschaft, in: DNP, http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 157 4-9347_dnp_e415120 (Zugriffsdatum 27.11.2020); Ernst Badian, Art. Amicitia, in: DNP, http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 1574-9347_dnp_e117840 (Zugriffsdatum 27.11.2020). Bereits Seneca weist in De beneficiis darauf hin, dass Wohltaten (beneficia), die ja zugleich Anzeichen und Ausdruck der Freundschaft sind, mentaler Art sind: Eodem animo beneficium debetur, quo datur, et ideo non est neglegenter dandum: sibi enim quisque debet, quod a nesciente accepit; ne tarde quidem, quia cum omni in officio magni aestimetur dantis voluntas, qui tarde fecit diu noluit; In derselben Gesinnung wird eine Wohltat geschuldet, wie sie erwiesen wird, und deswegen darf man sie nicht gedankenlos erweisen: sich schuldet nämlich ein jeder, was er von einem Menschen ohne dessen Wissen erhalten hat; auch nicht langsam, denn - da ja doch bei jeder Gelegenheit hoch gewertet wird des Gebenden Wille - wer langsam gegeben hat, wollte lange nicht geben; 9 Non potest beneficium manu tangi: res animo geritur. Multum interest inter materiam beneficii et beneficium; itaque nec aurum nec argentum nec quicquam eorum, quae pro maximis accipiuntur, beneficium est, sed ipsa tribuentis voluntas. Nicht kann eine Wohltat mit der Hand berührt werden: es handelt sich um einen seelischen Vorgang. Groß ist der Unterschied zwischen dem Gegenstand einer Wohltat und einer Wohltat; daher ist weder Gold noch Silber, noch irgend etwas von den Dingen, die für die wichtigsten gehalten werden, eine Wohltat, sondern eben gerade der Wille dessen, der gewährt. 10 Freundschaft existiert als mentales Modell. Modellcharakter haben auch die literarischen Konzepte von Freundschaft, die in Antike und Gegenwart formu‐ liert wurden. Modelle aber sind zeit- und kulturgebundene Akte der Positionie‐ rung. 11 Diskrepanzen in der Wahrnehmung von Freundschaft sind daher nicht zuletzt modell- und kulturbedingt. 12 Freundschaft entspringt und partizipiert an der Wirklichkeit, Freundschaft prägt Wirklichkeit, konkrete Gestalt gewinnt 46 Michael Rydryck <?page no="47"?> 13 Söding, Freundschaft mit Jesus, 220. 14 Vgl. etwa Platons Lysis oder die entsprechenden wiederholten Ausführungen zur Freundschaft unter Liebenden in Aristoteles, Nikomachische Ethik. Grie‐ chisch/ Deutsch, übers. und hrsg. von Gernot Krapinger, Stuttgart 2020, 1155a-1172a. 15 Konflikte bzw. Interferenzen dieser Art thematisiert z. B. Cicero in seinem Laelius. sie jedoch in mentalen Modellen, in denen Praktiken, Normen, Emotionen, Erfahrungen und Ideale der Freundschaft konvergieren. Mentale Modelle sind dementsprechend keine beliebigen Konstruktionen, sondern müssen sich im Sinne Wittgensteins an der Wirklichkeit messen lassen. Mentale Modelle sind darüber hinaus geeignet, Praktiken zu prägen, Erfahrungen bzw. Emotionen zu deuten und Normen zu reflektieren. In diesem Sinn gestalten mentale Modelle von Freundschaft Wirklichkeit. Im Diskurs über historische und gegenwärtige Ausprägungen von Freund‐ schaft ist es unabdingbar, die Modellhaftigkeit von Freundschaftskonzepten sowie deren kulturelle Bedingtheit zu erkennen und anzuerkennen. Kulturbe‐ dingt sind entsprechend auch die Praktiken, Kommunikationsformen und so‐ zialen Funktionen von Freundschaft, auf die sich die mentalen Modelle beziehen. Freundschaft ist keine überzeitliche, transkulturelle anthropologische Gegeben‐ heit, sondern das zeit- und kulturgebundene mentale Modell einer sozialen und kulturellen Beziehungspraxis. Gegenüber substantialistischen Fragen nach „der“, nach „wahrer“ bzw. „echter“ Freundschaft ist daher hermeneutische Zurückhaltung geboten, führen sie doch nicht selten in die Aporie: „Gibt es wahre Freundschaft unter Menschen? Davon ist die Antike, davon ist auch die Moderne überzeugt. Die Sehnsucht nach Freundschaft sitzt tief, nicht nur bei Kindern: Gibt es unter Männern, unter Frauen, zwischen Mann und Frau eine Liebe, die nicht von Sexualität beherrscht wird, sondern von Solidarität? Ohne Konkurrenz zur Elternliebe, zur Kinderliebe, zur ehelichen Liebe? Gibt es eine Wahlverwandtschaft, die auf Freiheit, Anteilnahme und Zuneigung beruht, aber keine Einbuße am eigenen Glück bedeutet, sondern eine Steigerung des Lebens? Weder die Antike noch die Moderne wollen vom Glück solcher Freundschaft lassen; “ 13 Thomas Söding stellt dieses Modell von Freundschaft seinem Aufsatz Freund‐ schaft mit Jesus voran. Er stellt darin die These einer Antike und Moderne umgreifenden Konzeption von Freundschaft in den Raum, die ebenso in der Tradition Schillers zu stehen scheint wie in der Tradition spezifisch christlicher Beziehungsnormen. Man könnte hier nicht nur kritisch anmerken, dass in der Antike sexuelle Facetten von Freundschaft keineswegs ausgeschlossen waren, 14 ebenso wenig asymmetrische Freundschaften zwischen Ungleichen oder die Konkurrenz von Freundschaft zu anderen Beziehungsformen 15 . Differenzierend 47 Freundschaft als Haltung und Praxis <?page no="48"?> 16 Platon, Lysis 222f., in: Platon, Sämtliche Dialoge. Bd. III, hrsg. und mit Einleitungen, Literaturübersichten, Anmerkungen und Registern versehen von Otto Apelt, Hamburg 1998. 17 Vgl. exemplarisch neben den bereits genannten Aufsätzen von Söding, Freundschaft mit Jesus, und Schmidt, Was heißt Freundschaft mit Jesus? , den Beitrag von Michael sei auch darauf hingewiesen, dass die antiken Freundschaftsdiskurse in der Regel auf die Freundschaft unter Männern abzielen. Schwierig ist nicht zu‐ letzt die Eingangsfrage nach „wahrer Freundschaft“, zielt diese doch auf eine substantialistische Bestimmung und Bewertung von Freundschaft unter der Maßgabe des von Söding formulierten Ideals. Indes wusste schon Platon in substantialistischer Perspektive keine Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Freundschaft zu geben. Vielmehr hält Platon am Ende des Lysis fest: Wo sollen wir nun noch hinaus mit unserer Rede? Offenbar gibt es keinen weiteren Weg. Ich will also nach Art der weisen Herren in den Gerichtshöfen alles Gesagte noch einmal kurz zusammenfassen. Wenn nämlich weder die Geliebten noch die Liebenden, weder die Gleichen noch die Ungleichen, weder die Guten noch die sich Angehörigen noch was wir sonst alles durchgegangen haben - denn mein Gedächtnis reicht nicht aus für diese Überfülle - also wenn nichts von alledem das Befreundete ist, so bin ich mit meiner Weisheit am Ende. […] Heute, mein Lysis und Menexenos, haben wir uns lächerlich gemacht, ich der alte Mann, und ihr. Denn sie, die da jetzt fortgehen, werden sagen, wir hätten geglaubt untereinander Freund zu sein - denn auch mich rechne ich zu euch - und doch wären wir noch nicht imstande zu entdecken, was man eigentlich unter „Freund“ zu verstehen habe. 16 Vor dem Hintergrund dieser Aporie zeigen sich bereits die antiken Autoren bestrebt, den Freundschaftsdiskurs anders zu führen. Von Platon über Aristo‐ teles und Cicero bis hin zu Seneca lässt sich eine Tendenz beobachten, in deren Folge weniger das Wesen der Freundschaft, stattdessen aber zunehmend Habitus und Praktiken von Freundschaft in den Blick genommen werden. Denn auch wenn Freundschaft als mentales Modell bei den genannten Autoren literarische Gestalt gewinnt, ist sie doch zuallererst Haltung und Praxis einer positiv konnotierten, personalisierten Beziehung, mithin eine soziale und in der Antike nicht selten auch eine politische Praxis. Mentale Modelle, Praktiken und Konzepte von Freundschaft sind interdependent, wenngleich sie sich nicht immer oder sogar eher selten kongruent verhalten. Über die Konzepte von Freundschaft, private Freundschaft und die Freundschaft unter Gleichen in den Text- und Lebenswelten des Neuen Testaments ist bereits Vieles geschrieben worden, 17 da diese Aspekte in der Regel ebenso im Fokus des exegetischen 48 Michael Rydryck <?page no="49"?> Schneider, Jesus und seine Freunde. Aspekte des Freundschaftsdiskurses im Neuen Testament, im vorliegenden Band. 18 Vgl. zu den politischen Aspekten von Freundschaft auch den Beitrag von Eckart Reinmuth im vorliegenden Band. 19 Vgl. Platon, Lysis; Aristoteles, Nikomachische Ethik; Cicero, Laelius; sowie Seneca, De beneficiis, die neben dem Johannesevangelium als Hauptvertreter antiker Freund‐ schaftsdiskurse in den Lebenswelten des Neuen Testaments gelten können. 20 So auch der Tenor bei Schneider, Jesus und seine Freunde; anders Schmidt, Was heißt Freundschaft mit Jesus, der vereinheitlichend von „dem hellenistischen Freundschafts‐ konzept“ (a. a. O., 33) spricht. 21 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1158a. Vgl. auch die aristotelische Kritik an rein utilitaristischer Freundschaft a. a. O., 1157a. Interesses stehen wie der griechische Kultur- und Sprachraum. Im Folgenden soll es dagegen vornehmlich um die soziale Praxis, die Freundschaft unter Ungleichen und um politische Aspekte von Freundschaft 18 in den griechischen und vor allem in den römisch-lateinischen Text- und Lebenswelten des Neuen Testaments gehen, Aspekte, die m. E. oft zu wenig berücksichtigt werden. 2 „sine me nihil potestis facere“ - Freundschaft als Habitus und Agency Platon, Aristoteles, Cicero und Seneca verdanken wir wichtige explizite Modelle von Freundschaft in den Lebenswelten des Neuen Testaments. 19 Ihre diskursiven Texte sind zugleich Beschreibungen, Reflexionen und Normierungsversuche lebensweltlich vorfindlicher Freundschaftspraktiken. Die Modelle von Freund‐ schaft sind dabei ebenso wenig einheitlich wie die Lebenswelten, die sie geprägt haben. 20 Platon als adliger Bürger der Polis Athen fragt in individualis‐ tischer Perspektive nach dem Wesen der Freundschaft und bezieht im Kontext griechischer Kultur auch erotische Aspekte mit ein. Sein Schüler Aristoteles zeigt sich an einer empirisch wie philosophisch orientierten Gesamtschau von Freundschaftskonzepten und Freundschaftspraktiken interessiert. Unter dem Stichwort Freundschaft entwirft er eine Theorie positiv konnotierter Be‐ ziehungen und Bindungen im Kontext einer allgemeinen Tugendethik und einer Ethik des gelingenden Lebens. Für Aristoteles ist die reziproke Freundschaft unter Gleichen das Ideal, das sich sowohl den Adelsals auch den Bürgerkon‐ zepten griechischer Poleis verdankt. Dem Phänomen von Freundschaften im politischen Feld steht Aristoteles eher skeptisch gegenüber: Die Mächtigen scheinen verschiedene Arten von Freunden zu haben, denn die einen sind ihnen nützlich, andere wieder angenehm, beides aber sind dieselben so gut wie nie. 21 49 Freundschaft als Haltung und Praxis <?page no="50"?> 22 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1171a. 23 Cicero, Laelius, 7,23. Vergleichbar äußert sich auch Aristoteles trotz seiner generellen Skepsis gegenüber politischen Freundschaften, wenn er schreibt: „Wie man sieht, ist also die Eintracht eine politische Freundschaft, wie sie ja auch genannt wird. Denn sie bezieht sich auf das Förderliche und auf Dinge, die das Leben betreffen.“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1167b). Grundsätzlich hält Aristoteles die Interdependenz von Gemeinschaftsbildung und Freundschaftspraxis fest: „So weit also eine Gemeinschaft besteht, so weit besteht auch eine Freundschaft; “ (a. a. O., 1159b). denn Freunde im Sinne echter Kameradschaft kommen nur selten vor; und die von den Dichtern besungenen Freundschaften bestehen immer nur zwischen zweien. Wer aber viele Freunde hat und mit allen auf vertrautem Fuß steht, scheint niemandes Freund zu sein, außer es handelt sich um eine politische Freundschaft; einen solchen Menschen nennt man einen Schmeichler. Im Sinne einer solchen politischen Freundschaft kann man allerdings viele Freunde haben, ohne deshalb ein Schmeichler zu sein, auch als wirklich anständiger Mensch. 22 Cicero, der sich in vielerlei Hinsicht an Aristoteles anschließt, sieht hingegen gerade auch in den politischen Dimensionen der Freundschaft ihren Wert begründet: Quodsi exemeris ex rerum natura benivolentiae coniunctionem, nec domus ulla nec urbs stare poterit, ne agri quidem cultus permanebit. Id si minus intellegitur, quanta vis amicitiae concordiaeque sit, ex dissensionibus atque ex discordiis percipi potest. Quae enim domus tam stabilis, quae tam firma civitas est quae non odiis et discidiis funditus possit everti? Ex quo quantum boni sit in amicitia, iudicari potest. Nimmt man jedoch die Bande der Zuneigung aus der Welt, dann kann keine Haus‐ gemeinschaft, keine Stadtgemeinde mehr bestehen, nicht einmal die Feldbestellung kann weitergehen. Wem es weniger einleuchtet, wie stark einträchtige Freundschaft wirkt, dem wird es im Blick auf Uneinigkeit und Zwietracht klarwerden. Denn welche Hausgemeinschaft, welche Bürgerschaft ist so gesichert, dass sie nicht durch Hass und Zwietracht von Grund aus zerstört werden könnte? Hieran lässt sich ermessen, wie viel Wert in der Freundschaft liegt. 23 Seneca schließlich liefert in De beneficiis nicht weniger als eine umfassende Theorie des sozialen Gabentauschs unter den gesellschaftlichen Bedingungen der Principatszeit, in der zum einen die tradierten Freundschaftspraktiken fortgesetzt wurden, zum anderen aber Freundschaftsnetzwerke dem Kaiser politisch suspekt erscheinen konnten: De beneficiis dicendum est et ordinanda res, quae maxime humanam societatem adligat; danda lex vitae, ne sub specie benignitatis inconsulta facilitas placeat, ne liberalitatem, quam nec deesse oportet nec superfluere, haec ipsa observatio restringat, dum temperat; 50 Michael Rydryck <?page no="51"?> 24 Seneca, De beneficiis, I,4,2. 25 So z. B. der berühmte Atticus; vgl. dazu Olaf Perlwitz, Titus Pomponius Atticus. Unter‐ suchungen zur Person eines einflussreichen Ritters in der ausgehenden römischen Republik, Hermes. Einzelschriften 58, Stuttgart 1992, 97-146. 26 Insbesondere die halb öffentlichen, halb privaten, politisch immer etwas suspekt wir‐ kenden und dennoch allgegenwärtigen collegia waren durch eine gemeinsame Praxis gekennzeichnet, die aus dem Repertoire von symmetrischen und asymmetrischen Freundschaftsbeziehungen bekannt ist, wie Freiwilligkeit der Beziehung, gemeinsames öffentliches Auftreten (pompae), das Verteilen von Gaben (sportulae) und gemeinsame Freizeitgestaltung bzw. gemeinsame Gastmähler (convivium). Vgl. hierzu Peter Herz, Art. Collegium [1] Verein, in: DNP, http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 1574-9347_dnp_e302990 (Zugriffsdatum 03.01.2021). 27 Einen fundierten Ein- und Überblick über Freundschaft und darauf gegründete so‐ ziale Netzwerke im Zeitraum der Späten Republik gibt Christian Rollinger, Amicitia sanctissime colenda. Freundschaft und soziale Netzwerke in der späten Republik, Studien zur Alten Geschichte 19, Heidelberg 2014. Rollingers Studie berücksichtigt Über Wohltaten ist zu sprechen, und für einen Sachverhalt sind Regelungen zu treffen, der die menschliche Gesellschaft am meisten zusammenhält; gegeben werden muß dem Leben ein Gesetz, damit nicht unter dem Anschein der Güte unberatene Willfährigkeit gefällt, damit nicht eben dieser Grundsatz die Großzügigkeit, die weder fehlen darf noch überborden, einschränkt, während er sie mäßigt; 24 In den Texten des Neuen Testaments finden sich anders als bei Platon, Aristo‐ teles, Cicero und Seneca eher implizite Modelle von Freundschaft, sowohl in den narrativen Texten (hier vor allem im Lukas- und im Johannesevangelium), als auch in diskursiven Texten bei Paulus (vgl. exemplarisch den Brief an Philemon). Insgesamt ist eine lebensweltliche Grundierung der neutestamentli‐ chen Textwelten durch Konzepte und Praktiken von Freundschaft festzustellen. Neben jüdischen und hellenistischen Freundschaftspraktiken und Konzepten ist m. E. für die Texte des Neuen Testaments vor allem die römische Freund‐ schaftspraxis von eminenter Bedeutung. Römisch geprägte Praktiken, mentale Modelle, Begriffe und Konzepte von Freundschaft waren durch die Expansion und die Integrationskraft des Imperium Romanum seit Generationen in den Lebenswelten der neutestamentlichen Texte und ihrer Autoren präsent. Nicht nur der Senat, der 40 v. Chr. Herodes den Großen mit dem Titel rex et amicus populi Romani geehrt hatte, und Führungspersönlichkeiten wie Sulla, Pompeius, Caesar, Antonius, Augustus sowie spätere Kaiser unterhielten auf freundschaft‐ lichen Semantiken und Praktiken basierende Beziehungen und Netzwerke, sondern auch Senatoren, Ritter, 25 Anhänger spezifischer Kulte, Kaufleute und andere Berufsgruppen, die teils in collegia 26 organisiert waren, knüpften und pflegten soziale Netzwerke, 27 die nach antiken Maßstäben den Kategorien einer 51 Freundschaft als Haltung und Praxis <?page no="52"?> ebenso Semantiken und Praktiken wie auch gesellschaftliche und politische Funktionen freundschaftlicher Beziehungen. 28 So zeigt sich das Freundschaftskonzept, das Cicero im Laelius entwirft, stark aristote‐ lisch geprägt. 29 Vgl. den Beitrag von Michael Schneider im vorliegenden Band sowie Alois Winterling, Freundschaft und Klientel im kaiserzeitlichen Rom, in: Historia 57/ 3 (2008), 298-316; ferner Gehrke/ von Reibnitz, Freundschaft; Badian, Amicitia. 30 Zu den Formen und Praktiken von Freundschaft in der römischen Gesellschaft vgl. hier und im Folgenden Rollinger, Amicitia sanctissime colenda, 133-352. 31 Seneca, De beneficiis, I,2,4. Freundschaftsbeziehung entsprachen. Diese politischen, sozialen, beruflichen und religiösen Freundschaftsnetzwerke innerhalb der imperialen, regionalen und lokalen Ober- und Mittelschichten trugen nicht wenig zur Romanisierung und Romanisation der Provinzen des Imperium Romanum bei. Die Lebens‐ welten der neutestamentlichen Texte waren entsprechend geprägt von den Semantiken, Praktiken und Konzepten römisch-hellenistischer Freundschafts‐ beziehungen. Man könnte mit einigem Recht sagen, dass trotz der vorgeblichen Sprachdifferenz Cicero und Seneca sowie die Korrespondenzen eines Augustus oder Plinius den neutestamentlichen Texten lebensweltlich näher stehen als Aristoteles oder Platon. Dass man den beiden letztgenannten dennoch nicht ihre bleibende lebensweltliche Bedeutung absprechen darf, ergibt sich aus ihrer lebendigen Tradierung innerhalb der römisch-hellenistischen Kultur 28 und aus der Trägheit einer habitualisierten Praxis, die durch das Fortbestehen sowohl hellenistischer als auch republikanischer Freundschaftspraktiken in der Kaiserzeit belegt ist. 29 Anders als die mentalen Modelle in den Lebenswelten der neutestamentli‐ chen Texte, die sich lediglich aus Konzepten und Praktiken von Freundschaft rekonstruieren lassen, sind uns eben jene Praktiken weitaus besser zugänglich. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind hier einige dieser Freundschaftsprak‐ tiken zu nennen 30 und zu interpretieren. Seneca benennt in De beneficiis lebensweltlich gängige Praktiken der Freund‐ schaft, wie finanzielle Unterstützung (vgl. auch 1Joh 3,17), das Übernehmen von Bürgschaften, das Geltendmachen von Einfluss sowie das Ratgeben: Ne cessaveris, opus tuum perage et partes boni viri exequere. Alium re, alium fide, alium gratia, alium consilio, alium praeceptis salubribus adiuva. Zögere nicht, dein Werk setz fort und verfolge die Aufgabe eines Mannes von Wert. Einen unterstütze mit Geld, einen anderen mit Bürgschaft, einen anderen mit Einfluß, einen anderen mit Rat, einen anderen mit heilsamen Lehren. 31 52 Michael Rydryck <?page no="53"?> 32 Zur Bedeutung des gemeinsamen Speisens in den Lebenswelten des Neuen Testaments vgl. Peter Altmann/ Soham Al-Suadi, Essen und Trinken, Lebenswelten der Bibel, Gütersloh 2019. 33 Vgl. Dirk Schnurbusch, Convivium. Form und Bedeutung aristokratischer Geselligkeit in der römischen Antike, Historia Einzelschriften 219, Stuttgart 2011. 34 Vgl. hierzu die umfassende Studie von Fabian Goldbeck, Salutationes. Die Morgenbe‐ grüßungen in Rom in der Republik und der frühen Kaiserzeit, Klio Beihefte N. F. 16, Berlin 2010. 35 Vgl. die Verwendung von amicus in der Korrespondenz von Trajan und Plinus; Plinius, Epistulae, 10,7. Zitate und Übersetzungen folgen der Ausgabe: C. Plinius Caecilius Secundus, Epistulae. Lateinisch/ Deutsch, übers. und hrsg. von Heribert Philips und Marion Giebel, Stuttgart 3 2014. 36 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Bedeutungsentwicklung von comes. 37 Vgl. etwa das Spektrum der Adressaten in Ciceros Briefsammlung Ad familiares. 38 „Auf der semantischen Ebene auffällig ist die Tendenz in den antiken Texten, die Asymmetrie einer Klientelbeziehung durch die Bezeichnung amicitia zu verbergen“ (Uwe Walter, Politische Ordnung in der römischen Republik, Enzyklopädie der grie‐ chisch-römischen Antike 6, Berlin/ Boston 2017, 142). Zu ergänzen sind wesentliche Praktiken wie Gerichtshilfe, der Austausch von Geschenken, politische Unterstützung und die testamentarische Berücksichti‐ gung von Freunden. Auch das Gewähren von Gastfreundschaft sowie die gemeinsame Gestaltung von Freizeit und hier nicht zuletzt das gemeinsame Speisen 32 (lat. convivium 33 , das schon aufgrund seiner Grundbedeutung deutlich mehr umfasst als das griechische Symposion) sind zentrale Freundschaftsprak‐ tiken in den Lebenswelten des Neuen Testaments. Eine römische Besonderheit stellen die salutationes dar, eine als morgendliche Begegnung ritualisierte Kommunikationspraxis zwischen Patron und Klient, um ihre freundschaftliche Beziehung zum Ausdruck zu bringen. 34 Das semantische Feld der Akteure, die an einer Freundschaft beteiligt sind, umreißt die sozialen Felder und Funktionen, in denen freundschaftliche Bin‐ dungen von Bedeutung sind: amicus bezeichnet zunächst den Freund und Gefährten, aber auch den Geliebten sowie innen- und außenpolitisch den Verbündeten; in der Kaiserzeit tragen Vertraute und Höflinge des Kaisers die Bezeichnung amicus, 35 die sich mehr und mehr zu einem Titel verfestigt. 36 Für Verwandte wie vertraute Freunde kann der Begriff familiaris gebraucht werden, der nicht zuletzt anzeigt, dass die semantischen Grenzen zwischen Freundschaft und Verwandtschaft in der römischen Gesellschaft weniger strikt gezogen waren als in gegenwärtigen Freundschaftskonzepten. 37 Als Freundschaft bzw. amicitia gilt in der römischen Gesellschaft auch das asymmetrische Verhältnis von patronus und cliens, 38 d. h. der gesamte Bereich sozialer und politischer Bindungen, die mit Begriffen wie Patronage, Treu- und Nahverhältnisse sowie 53 Freundschaft als Haltung und Praxis <?page no="54"?> 39 Vgl. zu diesen komplexen Beziehungen innerhalb der römischen Gesellschaft a. a. O., 17-20.139-145; sowie Michael Sommer, Römische Geschichte. Von den Anfängen bis zum Untergang, Stuttgart 2016, 164-166. 40 Walter, Politische Ordnung, 19. 41 Vgl. Christian Rollinger, Die kleinen Freunde des großen Pompeius. Amicitiae und Gefolge in der Späten Republik, in: Georg-Philipp Schietinger (Hg.), Gnaeus Pompeius Magnus. Ausnahmekarrierist, Netzwerker und Machtstratege. Beiträge zur Heidel‐ berger Pompeius-Tagung am 24. September 2014, Pharos 43, Rahden/ Westfalen 2019, 93-137, hier: 100-103. 42 Walter, Politische Ordnung, 17. 43 Vgl. in diesem Zusammenhang den Aufsatz von Michael Schneider im vorliegenden Band. 44 Vgl. hier die Studie von Matthias Adrian, Mutuum date nihil desperantes (Lk 6,35). Reziprozität bei Lukas, NTOA/ StUNT 119, Göttingen 2019; sowie Rollinger, Amicitia sanctissime colenda, 101-121. 45 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1155b. 46 A. a. O., 1158b. Bindungswesen umschrieben und in der Forschung analysiert werden. 39 Freund‐ schaftsbeziehungen waren ebenso privater wie politischer Natur. „Jedoch wurde niemals ernsthaft angestrebt, zwischen den verschiedenen Bindungs‐ arten eine Hierarchie herzustellen - anders als dies der moderne Staat tut, der die Loyalität gegenüber seiner (gesetzlichen) Ordnung den anderen Loyalitäten überordnet“. 40 Freundschaft beschreibt vielfältige, in der Regel nicht exklusive, sondern mul‐ tipolare 41 Beziehungen und Bindungen „horizontaler, vertikaler und geschicht‐ lich-generationeller Natur“ 42 , die sich, etwa mit Blick auf Symmetrien und Asymmetrien, auf Verbindlichkeit oder Affektivität, graduell, nicht aber sub‐ stantiell unterscheiden lassen. In den Kontext der Frage nach den Akteuren von Freundschaft gehört auch die Frage nach den Affekten der Beteiligten. Hier gilt es festzuhalten, dass Freundschaftsbeziehungen in der Regel von den beteiligten Akteuren positiv konnotiert werden und - wenngleich in sehr unterschiedlichen Graden - emotional aufgeladen sind. 43 Affekt und Praxis von Freundschaft sind auf Reziprozität angelegt, 44 da ohne diese keine Beziehung etabliert werden kann. Diesen Gedanken formuliert schon Aristoteles, wenn er schreibt: „Denn das Wohlwollen, das auf Gegenseitigkeit beruht, nennt man Freundschaft.“ 45 Und an anderer Stelle führt er mit besonderem Blick auf asymmetrische Beziehungen aus: „In allen Freundschaftsverhältnissen, die auf Überlegenheit beruhen, muss die Liebe proportional sein; “ 46 denn: „In allen ungleichartigen Freundschaften schafft, wie gesagt, die Proportion den Ausgleich und bewahrt die Freund‐ 54 Michael Rydryck <?page no="55"?> 47 A. a. O., 1163b. 48 Cicero, Laelius, 19,69. 49 Sallust, De coniuratione Catilinae, 20; Zitate und Übersetzungen folgen der Ausgabe Gaius Sallustius Crispus, De coniuratione Catilinae. Lateinisch/ Deutsch, übers. und hrsg. von Karl Büchner, Stuttgart 2015. 50 Vgl. zu diesem Aspekt der Freundschaft neben Tit 3,4 auch Marcus Tullius Cicero, De officiis. Lateinisch/ Deutsch, übers., komm. und hrsg. von Heinz Gunermann, Stuttgart 1976. 51 Cicero, Laelius, 18,65. Zur politischen Bedeutung von Vertrauen vgl. Jan Timmer, Vertrauen. Eine Ressource im politischen System der römischen Republik, Campus His‐ torische Studien 74, Frankfurt am Main 2017. Im Kontext der Frage nach Freundschaft in den Text- und Lebenswelten des Neuen Testaments ist vor diesem Hintergrund darauf hinzuweisen, dass fides und πίστις nicht nur oder nicht einmal in erster Linie Begriffe der religiösen Praxis sind, sondern genuiner Bestandteil sozialer und politischer Praxis. schaft“ 47 . Cicero weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Freundschaft zumindest der Suggestion von gleicher Augenhöhe bedarf: „Sed maximum est in amicitia parem esse inferiori.“ „Ganz wichtig ist es ferner, sich in der Freundschaft mit einem Rangniedrigeren auf die gleiche Stufe zu stellen.“ 48 Es liegt auf der Hand, dass Freundschaft als mentales Modell für die befreun‐ deten Akteure zwar immer latent präsent sein mag, dass sich Affekte und Praktiken der Freundschaft im Alltag aber nicht beliebig oder gar unablässig realisieren lassen. Freundschaft bedarf konkreter Gelegenheiten der Aktualisie‐ rung. Ist es aber möglich jenseits dieser Gelegenheiten vom Bestehen einer Freund‐ schaft zu sprechen? Das ist dann möglich und angemessen, wenn man Freund‐ schaft im Sinne der römischen Semantiken als eine praxisbezogene Disposition begreift. Sallust schreibt: „nam idem velle atque idem nolle, ea demum firma amicitia est.“ „denn dasselbe wollen und dasselbe nicht wollen, das erst ist feste Freundschaft“. 49 Freundschaft realisiert sich in reziproker Weise im Zu‐ sammenspiel von freundschaftlicher Haltung (praxisbezogene Dispositionen) und freundschaftlicher Praxis (praktische Konkretionen). Freundschaft ist dann gegeben, wenn die beteiligten Akteure für einander Gutes wollen (benevolentia), einander Gutes tun (beneficia), wechselseitig wohltätig sind (benignitas) 50 und wenn sie einander Vertrauen und Treue erweisen (fides bzw. fiducia): Firmamentum autem stabilitatis constantiaeque est, eius quam in amicitia quaerimus, fides; nihil est enim stabile quod infidum est. Der Grundpfeiler einer solchen Beständigkeit und Festigkeit, wie wir sie in der Freundschaft suchen, ist die Treue, denn es gibt keine Beständigkeit, wo die Treue fehlt. 51 55 Freundschaft als Haltung und Praxis <?page no="56"?> 52 Den Begriff der Haltung in einem breiten Bedeutungsspektrum hat bereits Aristoteles in die Debatte eingebracht. Seine Ansätze wurden bei Pierre Bourdieu unter den Stich‐ worten Hexis und Habitus aufgegriffen. Vgl. dazu Boike Rehbein/ Gernot Saalmann, Habitus (habitus), in: Gerhard Fröhlich/ Boike Rehbein (Hg), Bourdieu-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart/ Weimar 2014, 110-118; sowie Patricia Holder, Hexis (héxis), in: Gerhard Fröhlich/ Boike Rehbein (Hg.), Bourdieu-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart/ Weimar 2014, 124-127. 53 Cicero, Laelius, 15,52. 54 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 3 2012, 165. Freundschaft ist eine ebenso leibliche wie mentale praxisbezogene Haltung, 52 eine positiv und reziprok ausgerichtete Disposition, die sich in konkreter Praxis zu realisieren sucht. Freundschaft, so hält Cicero überdies fest, die sich in Wohlwollen, Fürsorge, Liebe, Treue und Vertrauen realisiert, ist eine Bedingung gelingenden (sozialen) Lebens: Qui velit ut neque diligat quemquam nec ipse ab ullo diligatur, circumfluere omnibus copiis atque in omnium rerum abundantia vivere? Haec enim est tyrannorum vita nimirum, in qua nulla fides, nulla caritas, nulla stabilis benivolentiae potest esse fiducia, omnia semper suspecta atque sollicita, nullus locus amicitiae. Wer will schon unter der Bedingung, dass er selbst keinen liebt noch von jemand geliebt wird, in größtem Überfluss und Schwelgerei leben? So nämlich sieht ja das Leben der Tyrannen aus, in dem es keine Treue, keine Liebe, kein Vertrauen auf eine unerschütterliche Zuneigung geben kann, wo es überall nur Verdacht und argwöhnische Unruhe gibt und keinen Platz für die Freundschaft. 53 Die Beziehungen und Netzwerke, die durch Freundschaft etabliert werden, stellen auch gerade in dieser Hinsicht ein enormes soziales, politisches und symbolisches Kapital dar. Wer durch seine Haltung und eine reziproke Praxis freundschaftliche Beziehungen und Bindungen unterhält, der hat Freundschaft als soziales Kapital inkorporiert, das sich ggf. in andere Kapitalsorten (ökono‐ misch, symbolisch, politisch) konvertieren lässt. Freundschaft ist in den Text- und Lebenswelten des Neuen Testaments eine leibliche, mentale und affektgeladene Haltung, eine praxisbezogene Disposition, darauf gerichtet, positiv konnotierte, auf Reziprozität gegründete und stabile Beziehungen und Bindungen zu etablieren und zu unterhalten, mit anderen Worten: Freundschaft ist ein Habitus, d. h. im Sinne Pierre Bourdieus ein System „dauerhafter Dispositionen, strukturierte[r] Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken“ 54 . Habitualisierte Freundschaft ist gerade in den römisch-hellenistischen Le‐ benswelten der neutestamentlichen Texte unverzichtbares, inkorporiertes so‐ 56 Michael Rydryck <?page no="57"?> 55 Vgl. auch Walter, Politische Ordnung, 17-19.141-143. 56 Vgl. zur Frage nach dem Zusammenhang von Habitus und Agency Michael Rydryck, Paulus als kontroverser Mediator. Konfliktpraxeologische Beobachtungen im Corpus Paulinum, in: Stefan Alkier, Antagonismen im Neuen Testament, Paderborn 2021 (im Erscheinen); sowie ders., Paulus und die Macht. Aspekte von Habitus und Handlungs‐ macht im Corpus Paulinum, in: ZNT 46 (2020), 5-20. 57 Vgl. zu diesem Aspekt Wilhelm Kierdorf, Freundschaft und Freundschaftskündigung. Von der Republik zum Prinzipat, in: Gerhard Binder (Hg.): Saeculum Augustum I. Herrschaft und Gesellschaft, Wege der Forschung 266, Darmstadt 1987, 223-245. 58 Vgl. dazu die Analysen bei Rollinger, Kleine Freunde des großen Pompeius. ziales und symbolisches Kapital, dass sich unter bestimmten Bedingungen in politisches Kapital, d. h. in soziale wie politische Agency (Handlungsmacht) konvertieren lässt. 55 Die Möglichkeit einer solchen Kapitalkonvertierung be‐ steht sowohl für symmetrische als auch für asymmetrische Freundschaftsbezie‐ hungen. Wichtig ist auch hier der Aspekt der Reziprozität: Der eine Freund ist nicht oder nicht vollständig handlungsfähig ohne den anderen. Isolation und Feindschaften beschränken die Handlungsfähigkeit, Freundschaften und Netzwerke machen dagegen handlungsfähig: 56 4 μείνατε ἐν ἐμοί, κἀγὼ ἐν ὑμῖν. καθὼς τὸ κλῆμα οὐ δύναται καρπὸν φέρειν ἀφ’ ἑαυτοῦ ἐὰν μὴ μένῃ ἐν τῇ ἀμπέλῳ, οὕτως οὐδὲ ὑμεῖς ἐὰν μὴ ἐν ἐμοὶ μένητε. 5 ἐγώ εἰμι ἡ ἄμπελος, ὑμεῖς τὰ κλήματα. ὁ μένων ἐν ἐμοὶ κἀγὼ ἐν αὐτῷ οὗτος φέρει καρπὸν πολύν, ὅτι χωρὶς ἐμοῦ οὐ δύνασθε ποιεῖν οὐδέν. (Joh 15,4f.) 4 Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt. 5 Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. (Übers. Luther 2017) Das bekannte Zitat aus dem Johannesevangelium zeigt sowohl den Zusammen‐ hang von Freundschaft und Agency als auch mögliche Grenzen von freund‐ schaftsbasierter Agency auf. Aber nicht nur Abwesenheit, Entzug oder Bruch von Freundschaftsbeziehungen schränken die Handlungsmacht von Akteuren ein. 57 Das soziale Kapital von Freundschaft wird in seiner Konvertierbarkeit auch durch die konkreten sozialen und politischen Bedingungen bestimmt und begrenzt, in denen ein Akteur agiert. Besonders deutlich wird dies an zwei Beispielen: Trotz weit gespannter horizontaler und vertikaler Netzwerke der Freundschaft, die er in Rom und in den Provinzen unterhielt, fiel es gerade dem großen Pompeius sichtlich schwer, sein ökonomisches, soziales und symboli‐ sches Kapital in konkrete politische Handlungsfähigkeit umzusetzen. 58 Dagegen gelang es dem gänzlich unpolitischen Atticus sein ökonomisches und soziales Kapital selbst in den Zeiten der Bürgerkriege in Agency im Interesse seiner 57 Freundschaft als Haltung und Praxis <?page no="58"?> 59 Vgl. Perlwitz, Titus Pomponius Atticus, 122-124. 60 „nos autem ea quae sunt in usu vitaque communi, non ea quae finguntur aut optantur, spectare debemus“ Cicero, Laelius, 5,18. 61 Einen Überblick über asymmetrische Freundschaftsbeziehungen, entsprechende Mo‐ delle und Praktiken bietet Antoni Ma̜czak, Ungleiche Freundschaft. Klientelbezie‐ hungen von der Antike bis zur Gegenwart, Klio in Polen 7, Osnabrück 2005. 62 Egon Flaig, Ritualisierte Politik. Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom, Historische Semantik 1, Göttingen 2 2004, 14. Freunde zu konvertieren und auf diese Weise nicht nur hinter den Kulissen handlungsfähig zu bleiben, sondern auch neues soziales Kapital in Gestalt von Freundschaften zu erwerben. 59 Freundschaft ist ein Habitus, der sich nur unter bestimmten lebensweltlichen Bedingungen in Agency konvertieren lässt. Ohne freundschaftliche Beziehungen und Bindungen ist soziale und politische Agency in den Lebenswelten des Neuen Testaments indes kaum zu generieren. 3 „vos autem dixi amicos“ - Freundschaft in asymmetrischen Beziehungen Cicero schreibt zu Beginn seines Laelius in methodologischer Hinsicht: „Wir müssen uns jedoch an das halten, was auf der Erfahrung des täglichen Lebens beruht - nicht an das, was man sich so zusammenfabuliert oder wünscht.“ 60 Fragen wir Cicero folgend weniger nach den Idealen bzw. Konzepten und mehr nach der alltäglichen Praxis von Freundschaft in den Lebenswelten des Neuen Testaments, so wird deutlich erkennbar, dass in der römischen Gesellschaft asymmetrische Freundschaften, 61 selbst unter Standesgenossen und Familien‐ angehörigen, dominierten: „Denn die politische Ungleichheit unter den römischen Bürgern war - verglichen mit den griechischen Stadtstaaten - übermäßig groß. Ähnliches gilt für die Rechts‐ gleichheit; bei großen ökonomischen und sozialen Unterschieden ist sie illusorisch, wie die modernen westlichen Gesellschaften zeigen: denn die Chancen, zu seinem Recht zu kommen, sind mitnichten gleich, mag die Gleichheit vor dem Recht auch verfassungsmäßig postuliert werden. Bei expliziter politischer Ungleichheit, wie sie in Rom bestand, kann sie a priori nicht existieren.“ 62 Vor diesem Hintergrund wird die eminente Bedeutung asymmetrischer Freund‐ schaften für die römische Gesellschaft deutlich: „Tatsächlich waren amicitia (›Freundschaft‹) und patrocinium (›Schutz‹) der Kitt, der die verschiedenen Teile der römischen Gesellschaft zusammenhielt und ihr Auseinan‐ derdriften verhinderte: Patrocinium herrschte zwischen dem pater familias und seinen 58 Michael Rydryck <?page no="59"?> 63 Sommer, Römische Geschichte, 164. 64 Flaig, Ritualisierte Politik, 17. 65 Walter, Politische Ordnung, 19. 66 Flaig, Ritualisierte Politik, 21f. Angehörigen, zwischen dem Herrn und seinem freigelassenen Sklaven, zwischen den angesehenen Angehörigen der großen Familien und ihren Schutzbefohlenen (clientes) von bescheidener Herkunft. Das Band der fides verpflichtete den Patron, seinem Klienten vor Gericht Rechtsbeistand zu leisten, sein Fortkommen durch Emp‐ fehlungen zu befördern und ihn überhaupt gegen jede Art von Übergriffen in Schutz zu nehmen. Der Klient seinerseits hatte die Gunstbeweise, beneficia, seines Patrons durch Pflichterfüllung, officia, zu erwidern: Insbesondere hatte er sein Stimmverhalten in der Volksversammlung an ihm auszurichten und ihm bei der salutatio, dem morgendlichen Besuch in dessen Haus, seine Aufwartung zu machen. Die schiere Zahl seiner Klienten mehrte Ansehen (dignitas), soziales Gewicht (gravitas) und politischen Einfluss (auctoritas) des Patrons entscheidend. Selbstverständlich galt das Gebot un‐ bedingter Solidarität auch in Nahverhältnissen zwischen Gleichrangigen: Senatoren schlossen Freundschaften, banden andere mächtige Männer durch quasi-dynastische Eheschließungen an ihre Familie - amicitia und ihr Gegenteil, inimicitia, wurden so zu Bindemitteln auch von Interessengruppen und Seilschaften.“ 63 In der Gesellschaft des Imperium Romanum brauchten gerade die Schwächeren starke Freunde und Beziehungen. Asymmetrische Freundschaften waren daher alltäglich in der stratifizierten römischen Gesellschaft und im gesamten Im‐ perium. Das Bedürfnis nach solchen Freundschaften ging dabei von den Un‐ terprivilegierten aus in dem Wunsch, an der Agency der Privilegierten zu partizipieren. 64 Die Privilegierten wiederum mussten sich offen dafür zeigen, diesem Partizipationsbedürfnis zu entsprechen, um ihr eigenes soziales und politisches Kapital, d. h. ihre Handlungsmacht nicht zu gefährden: „Jede der genannten synchronen Bindungen zwischen Ungleichen, auch die zwischen Magistrat und Bürger in Krieg und Frieden, war von einer Ausrichtung auf die Führung geprägt. In der Summe stellten sie der res publica ein Maximum an Aktions‐ potential, Gehorsam und Erleidensfähigkeit zur Verfügung.“ 65 Die lebensweltlich vorherrschende soziale „Distanz mit ostentativen Gesten der Nähe zu überbrücken, ist daher nur der einen Seite möglich, nämlich den Herrschenden.“ 66 Durch asymmetrische Freundschaften konnte soziales Kapital für beide Seiten generiert werden, denn solche Freundschaften gaben den einen 59 Freundschaft als Haltung und Praxis <?page no="60"?> 67 Symmetrische Freundschaften, insbesondere innerhalb der Oberschichten dienten, der horizontalen Koordination und Legitimation von (Handlungs-)Macht. Die Integrati‐ onsleistung von Freundschaft ist hier auf die schmale Peergroup der Oberschichten bezogen. 68 Flaig, Ritualisierte Politik, 22; vgl. auch a. a. O. 13-21. 69 Vgl. hierzu die Diskussion bei Timmer, Vertrauen, 279-287. 70 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1163a. 71 Vgl. Flaig, Ritualisierte Politik, 24; sowie Sommer, Römische Geschichte, 167f. Anteil an der Handlungsmacht der anderen und legitimierten zugleich eben diese vertikale Verteilung von Macht. 67 Die Habitualisierung von asymmetrischen Freundschaften diente auf diese Weise der sozialen Integration: „Wenn die soziale Distanz sich auf übermächtige Weise kundgibt, dann erschwert sie die Integration der sozial Minderprivilegierten, weil sie stets eine affektive Dissonanz erzeugt, das Bewusstsein, sozial abgetrennt und missachtet zu werden. Diese affektive Dissonanz bedroht den sozialen Konsens und senkt die Motivation der sozial Untergeordneten, sich für etwas Gemeinsames einzusetzen. Römische Adlige hatten daher mimetische Annäherung zu leisten, mittels sichtbarer und verstehbarer Gesten; das war ihr semiotischer Einsatz im interaktiven Spiel, um starke affektive Bindungen der Untergebenen auf sich zu konzentrieren.“ 68 Symmetrische wie asymmetrische Freundschaftsbeziehungen und das durch sie generierte soziale Kapital in Gestalt von Motivation, Konsens und Vertrauen waren entscheidend für das politische Zusammenspiel der römischen Gesell‐ schaft. Welche sozialen und politischen Folgen die Erschütterung der durch Freundschaft generierten und am Leben erhaltenen Bindungs- und Vertrauens‐ verhältnisse haben konnte, zeigt ein Blick auf die Vertrauenskrise in der Zeit der Bürgerkriege am Ende der römischen Republik. 69 Das Stichwort vom „interaktiven Spiel“ innerhalb der römischen Gesellschaft verweist darüber hinaus darauf, dass auch asymmetrische Freundschaften auf Reziprozität hin angelegt waren und bei den beteiligten Akteuren Erwartungs‐ haltungen weckten. An dieser Stelle sah bereits Aristoteles ein Friktionspoten‐ tial in der Freundschaftsbeziehung zwischen Ungleichen, wenn die Beteiligten die Interaktion durch mangelnde Reziprozität stören: „Zu Differenzen kommt es auch in den Freundschaften, die auf Ungleichheit beruhen. Denn jeder von beiden verlangt, mehr zu bekommen; wenn das der Fall ist, löst sich die Freundschaft auf.“ 70 Um das soziale, politische und symbolische Kapital der Freundschaft zwischen Ungleichen - und damit den sozialen Frieden - nicht zu gefährden, wurde den römischen Oberschichten ein Habitus der Jovialität 71 abverlangt, dem reziprok ein Habitus der Unterschichten entsprach, 60 Michael Rydryck <?page no="61"?> 72 Vgl. Flaig, Ritualisierte Politik, 13-17. Der Abschnitt steht unter der Überschrift: „Gehorsam gibt es nicht gratis“. 73 Der Aufwand, den eine solche Praxis erforderte, wird an einem Brief des Augustus deutlich, in dem er über die wachsende Fülle seiner Korrespondenz mit Freunden klagt. Vgl. Augustus, Schriften, Reden und Aussprüche. Hrsg., übers. und komm. von Klaus Bringmann und Dirk Wiegandt, Texte zur Forschung 91, Darmstadt 2008, 51. 74 Vgl. Flaig, Ritualisierte Politik, 25. 75 Walter, Politische Ordnung, 17. der durch Vertrauen, Gehorsam und Gefolgschaft gekennzeichnet war. 72 Zur Wahrung des sozialen Friedens und zur Aufrechterhaltung der interaktionalen Gesellschaftsordnung trug es auch bei, dass die soziale Ungleichheit durch Freundschaft und in Freundschaften oft nivelliert und so Nähe fingiert wurde. Habitus und Praxis der Freundschaft stellten eine ritualisierte Kommunikati‐ onspraxis 73 dar, die zum Erwerb, Erhalt und Gebrauch von Agency sozial und politisch unerlässlich war: „Da die römische Politik den Senatoren stark personalisierte Formen der Kommuni‐ kation aufnötigte, mussten sie persönliche Beziehungen fingieren, wo sie nicht realiter bestanden. Das ging so weit, dass sie einen nomenclator mit sich führten, einen Sklaven, der seinem Herrn die Namen derer zurief, die ihm auf der Straße begegneten und die er begrüßen wollte.“ 74 „Die nach Substanz, Dauer und Intensität sehr unterschiedlichen Bindungen wurden zusätzlich durch die Bezeichnung ‚Freundschaft‘ (amicitia) überhöht, Ungleichheiten damit verdeckt. Die Bindungen wurden möglichst weiträumig eingegangen und gepflegt, während die ausdrückliche Dissoziation in Form persönlicher ‚Feindschaft‘ (inimicitia) selten blieb.“ 75 Wenn die Gleichheit als Freundschaftsideal, insbesondere bei Aristoteles und Cicero, im Diskurs immer betont wird, ist lebensweltlich vollkommen klar, dass es sich um eine Gleichheit unter Gleichen, mithin um Oberschichtendiskurse handelt. Lebenswelt und Alltag waren dagegen von asymmetrischen Freund‐ schaften geprägt, die aller berechtigten Ideologiekritik zum Trotz eine wichtige soziale und politische Funktion erfüllten. Wenn in den Textwelten des Neuen Testaments daher Semantiken und Prak‐ tiken der Freundschaft in den Blick genommen werden, muss gefragt werden, ob in den Texten die symmetrische Freundschaft unter Gleichen im Sinne der antiken Oberschichtendiskurse thematisiert wird, oder ob die lebensweltlich plausiblere asymmetrische Freundschaft unter Ungleichen zur Sprache kommt. Im Folgenden soll anhand von Beispielen die Bedeutung und Praxis von asymmetrischen Freundschaften in den Text- und Lebenswelten des Neuen 61 Freundschaft als Haltung und Praxis <?page no="62"?> 76 Vgl. Plinius, Epistulae, 10,95. Um Schutz und Vergünstigungen, die der Kaiser auf Bitten hin gewährt, geht es auch in Plinius, Epistulae 10,105-107. 77 Vgl. exemplarisch Augustus, Schriften, Reden und Aussprüche, 39.95. 78 Prägend hat hier, neben dem traditionellen Freundschaftshabitus der römischen Ober‐ schichten (vgl. dazu Winterling, Freundschaft und Klientel, 310), die exemplarische Haltung des Augustus gewirkt, die dieser in seinem Tatenbericht öffentlich dokumen‐ tiert hat. Vgl. z. B. Augustus, Res gestae, 15, sowie in den Zusätzen Abschnitt 4. Testaments konkretisiert werden. Hierzu dient ein exemplarischer Blick auf Habitus und Freundschaftspraxis der Kaiser Augustus und Trajan, auf den Freundschaftshabitus in der Figurenzeichnung Jesu im Johannesevangelium, sowie auf Praxis und Habitus der Freundschaft zwischen Paulus und Philemon im gleichnamigen Brief. 4 „non vos me elegistis, sed ego elegi vos“ - Die Freundschaft des Kaisers Asymmetrische Freundschaften, so hat sich gezeigt, sind ebenso alltäglich wie politisch notwendig in stratifizierten Gemeinwesen wie der römisch-kaiserzeit‐ lichen Gesellschaft. In den Lebenswelten des Neuen Testaments stand der Kaiser (princeps) an der einsamen Spitze der sozialen und politischen Pyramide. In Habitus und Freundschaftspraxis der Kaiser greifen wir die wohl krasseste Form asymmetrischer Freundschaftsbeziehungen. Die Machtfülle des Kaisers, die mit Blick auf seine ökonomischen, militärischen und politischen Ressourcen offen‐ kundig war, wurde im interaktionalen Spiel der Oberschicht jedoch zumeist kaschiert, da die Kaiser eben dieser Oberschicht entstammten und sowohl zur Legitimierung als auch zur konkreten Umsetzung ihrer außerordentlichen Agency auf sie angewiesen blieben. Unter dem Gesichtspunkt der Reziprozität lässt sich daher sagen, dass die Freunde (amici, comites, clientes) des Kaisers an dessen Agency sozial, politisch und symbolisch partizipierten, dass der Kaiser aber um sein soziales, politisches und symbolisches Kapital in konkreten Handlungsfeldern zu konvertieren, auf seine Freunde ebenso angewiesen war. Vom Kaiser erwartete man im Wechselspiel von beneficia und officia stetige Fürsorge (Schutz, Nothilfe, Getreideversorgung, Vergünstigungen, 76 Gesten und Geschenke, Karriereförderung etc.), Großzügigkeit (benignitas) 77 und Jovia‐ lität. 78 Der Kaiser konnte im Gegenzug Gefolgschaft und Treue erwarten, zudem auch die Legitimation und interferenzfreie Durchsetzung seines politischen Einflusses (auctoritas) sowie symbolisches Kapital (dignitas und gravitas): „Seleukos, euer Mitbürger und mein Admiral, der in allen Kriegen mit mir im Felde stand und viele Beweise seiner Loyalität, seiner Treue und seiner Tapferkeit gegeben 62 Michael Rydryck <?page no="63"?> 79 Augustus, Schriften, Reden und Aussprüche, 76. 80 Winterling, Freundschaft und Klientel, 309. 81 Vgl. hier und im Folgenden Kierdorf, Freundschaft und Freundschaftskündigung, 223- 245. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Joh 19,12: „Ἐκ τούτου ὁ Πιλᾶτος ἐζήτει ἀπολῦσαι αὐτόν· οἱ δὲ Ἰουδαῖοι ἐκραύγασαν λέγοντες· ἐὰν τοῦτον ἀπολύσῃς, οὐκ εἶ φίλος τοῦ Καίσαρος· πᾶς ὁ βασιλέα ἑαυτὸν ποιῶν ἀντιλέγει τῷ Καίσαρι / Von da an trachtete Pilatus danach, ihn freizulassen. Die Juden aber schrien: Lässt du diesen frei, so bist du des Kaisers Freund nicht; wer sich zum König macht, der ist gegen den Kaiser (Übers. Luther 2017).“ Dass der Freundschaftsentzug allerdings nicht zwangsläufig von Dauer sein musste und die Möglichkeit zur Versöhnung bestand, belegt die Beziehung von Augustus und Herodes dem Großen. Vgl. hierzu Augustus, Schriften, Reden und Aussprüche, 85f. 82 Kierdorf, Freundschaft und Freundschaftskündigung, 235. hat, wurde, wie es sich für diejenigen gebührt, die mit uns zu Felde zogen und sich im Krieg auszeichneten, mit Privilegien, Steuerfreiheit und (römischem) Bürgerrecht, belohnt.“ 79 Von der Reziprozität der Erwartungen, Haltungen und Praktiken blieb die Asymmetrie der Machposition indes unberührt: „Die Ungleichheit der Positionen der an den neuen Nahbeziehungen Beteiligten zeigt sich besonders anschaulich in der instrumentellen Dimension. Während die Kaiser durch Freundschafts- und Klientelbeziehungen ihre Sonderstellung weder erwerben noch erhalten konnten, war der Erhalt der kaiserlichen Gunst für die Aristokratie Bedingung ihrer politisch-sozialen Existenz und Handlungsfähigkeit.“ 80 Der Verlust oder der Entzug der Freundschaft des Kaisers bedeuteten daher den Entzug grundlegender sozialer und politischer Agency, mithin den sozialen oder gar physischen Tod des Betreffenden: 81 „Während die Freunde des Princeps gleichsam von einem undurchdringlichen Schild geschützt werden, kann die kaiserliche Ungnade leicht als Einladung an jedermann aufgefaßt werden, den Betroffenen auf alle erdenkliche Art zu drangsalieren.“ 82 Um den sozialen Frieden nicht unnötig zu gefährden, scheint Augustus, anders als manche seiner Nachfolger, vom sozialen und politischen Instrument des Freundschaftsentzuges nur wenig Gebrauch gemacht zu haben. Stattdessen betont Augustus in seinem Tatenbericht nicht ohne Grund - hatte er doch das Beispiel Caesars vor Augen - und nicht ohne Zweck - wollte er doch seine umfassende Agency nicht bloßstellen und auf diese Weise gefährden - sozialen Konsens, Reziprozität und die (fingierte) Gleichheit unter Standesgenossen als Grundlagen einer politischen Herrschaft, die er faktisch seinen allen anderen 63 Freundschaft als Haltung und Praxis <?page no="64"?> 83 Augustus, Res gestae, 34. Zitat und Übersetzung folgen der Ausgabe: Augustus: Res gestae, Lateinisch/ Griechisch/ Deutsch, übers., komm. und hrsg. von Marion Giebel, Stuttgart 2014. 84 Vgl. die Notiz über die kommunikative Praxis des Augustus in der Freundschaft mit Atticus in: Augustus, Schriften, Reden und Aussprüche, 57. 85 A. a. O., 53f. überlegenen Ressourcen und seinem militärischen Erfolg in den Bürgerkriegen verdankte: In consulatu sexto et septimo, postquam bella civilia exstinxeram, per consensum universorum potius rerum omnium, rem publicam ex mea potestate in senatus populiquae Romani arbitrium transtuli. Quo pro merito meo senatus consulto Augustus appellatus […] Post id tempus auctoritate omnibus praestiti, potestatis autem nihilo amplius habui quam ceteri qui mihi quoque in magistratu conlegae fuerunt. In meinem sechsten und siebten Konsulat habe ich, nachdem ich die Flammen der Bürgerkriege gelöscht hatte und mit der einmütigen Zustimmung der gesamten Bevölkerung in den Besitz der staatlichen Allgewalt gelangt war, das Gemeinwesen aus meiner Machtbefugnis wieder der Ermessensfreiheit des Senats und des römischen Volkes überantwortet. Für dieses mein Verdienst wurde mir auf Beschluss des Senats der Name Augustus gegeben. […] Seit dieser Zeit überragte ich alle übrigen an Autorität, an Amtsgewalt aber besaß ich nicht mehr als die anderen, die auch ich im Amt zu Kollegen hatte. 83 Besonders prägnant wird der Freundschaftshabitus der Kaiser in der Korrespon‐ denz, die uns von Augustus und Trajan überliefert ist, erkennbar. Beide galten als ideale Kaiser (principes) und als modellhafte Vorbilder (exempla) für den angemessenen Umgang mit Klienten und Standesgenossen. In ihren Briefen, die Ausdruck einer kommunikativen Freundschaftspraxis sind, 84 zeigen diese Kaiser Nähe durch Wohlwollen und Jovialität gegenüber ihren Kommunikationspart‐ nern, die sich in der Summe als Habitus interpretieren lassen. So schreibt etwa Augustus an den sozial deutlich niedriger stehenden Horaz: Sume tibi aliquid iuris apud me, tamquam si convictor mihi fueris; recte enim et non temere fecteris, quoniam id usus mihi tecum esse volui, si per valitudinem tuam fieri possit. Nimm die bei mir etwas von dem Recht eines Hausgenossen heraus; denn du würdest so richtig und nicht ohne Grund handeln, da ich ja diesen engen Umgang mit dir wünsche, wenn es mit Rücksicht auf deine Gesundheit geschehen kann. 85 Die soziale und politische Ungleichheit, selbst unter vorgeblichen Standesge‐ nossen, nahm in der Zeit zwischen der Herrschaft des Augustus und der 64 Michael Rydryck <?page no="65"?> 86 Vgl. neben den nachfolgend aufgeführten Beispielen Plinius, Epistulae, 10,53; 10,101- 103. 87 Plinius, Epistulae, 10,16. 88 Plinius, Epistulae, 10,121. Herrschaft Trajans stetig zu. Im Briefwechsel zwischen Trajan und Plinius korrespondiert dieser zunehmenden sozialen und politischen Ungleichheit die gesteigerte Betonung von affektiver Nähe und der betont joviale Habitus des Kaisers gegenüber seinem Statthalter: 86 Recte renuntiasti, mi Secunde carissime, Pertinet enim ad animum meum, quali itinere provinciam pervenias. Prudenter autem constituis interim navibus, interim vihiculis uti, prout loca suaserint. Du hattest ganz recht, mein lieber Secundus, mir Meldung zu erstatten. Es ist mir schon wichtig zu wissen, wie Deine Reise in die Provinz verläuft. Du hast klug daran getan, bald zu Schiff, bald im Wagen zu reisen, ganz wie es nach den örtlichen Verhältnissen geraten scheint. 87 Merito habuisti, Secunde carissime, fiduciam animi mei nec dubitandum fuisset, si exspectasses donec me consuleres, an iter uxoris tuae diplomatibus, quae officio tuo dedi, adiuvandum esset, cum apud amitam suam uxor tua deberet etiam celeritate gratiam adventus sui augere. Mit Recht hast Du, mein lieber Secundus, Vertrauen zu mir gehabt. Du hättest auch keine Bedenken haben müssen, wenn Du meine Antwort auf die Frage abgewartet hättest, ob Du Deiner Gattin durch Reisepässe, die ich Dir zu Deinem Amtsgebrauch ausgehändigt hatte, ihre Fahrt erleichtern durftest. Denn Deine Frau mußte doch bei ihrer Tante die Freude über ihren Besuch durch eine rasche Ankunft noch steigern. 88 Nähe und persönliches Interesse sind hier Teil einer interaktionalen Freund‐ schaftspraxis. Die Reziprozität in der wechselseitigen Anrede in der Korrespon‐ denz zwischen Plinius und Trajan offenbart allerdings die krasse Asymmetrie in ihrem Freundschaftsverhältnis. Der ebenso formal höflichen wie jovialen Anrede Trajans an Plinius mit „(mein) lieb(st)er Secundus“ ((mi) Secunde carissime) korrespondiert die Anrede „Herr“ (domine), die nicht zuletzt eine Anerkennung der überlegenen Machtposition des Kaisers darstellt und die im Ton noch zur Zeit des Augustus unter senatorischen Freunden wohl kaum angemessen erschienen wäre: Opto, domine, et hunc natalem et plurimos alios quam felicissimos agas aeternaque laude florentem virtutis tuae gloriam … quam incolumis et fortis aliis super alia operibus augebis. 65 Freundschaft als Haltung und Praxis <?page no="66"?> 89 Plinius, Epistulae, 10,88f. 90 Es handelt sich daher in lebensweltlicher Perspektive nicht um ein Paradox, wie Schmidt mit Blick auf das Johannesevangelium meint (vgl. Schmidt, Freundschaft mit Jesus? , 41). 91 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ehtik, 1159a. 92 Das Problem bearbeiten, wenngleich in einer anderen Perspektivierung und mit anderem Ergebnis, Söding, Freundschaft mit Jesus, 220-231; und Schmidt, Freundschaft mit Jesus? , 31-43. 93 Dies zeigt sich bereits bei der Auswahl seiner Schüler in Joh 1,35-51: Das Bedürfnis nach einer Beziehung geht, ganz im Sinne römischer Patron-Klient-Beziehungen, von den Schülern, die Beziehung geht jedoch von Jesus aus. Ich wünsche, o Herr, Du mögest diesen Geburtstag und noch möglichst viele weitere recht glücklich verleben und den in ewiger Verherrlichung blühenden Ruhm Deiner Tugenden gesund und schaffensfroh durch immer neue Taten mehren. Agnosco vota tua, mi Secunde carissime, quibus precaris, ut plurimos et felicissimos natales florente statu rei publicae nostrae agam. Ich nehme Deine Glückwünsche gerne entgegen, mein lieber Secundus, in denen Du den Wunsch aussprichst, daß ich noch möglichst viele und recht glückliche Geburtstage verleben möchte, während unser Staatswesen in Blüte steht. 89 In stark asymmetrischen Freundschaftsbeziehungen schließen sich die Begriffe „Herr“ und „Freund“ keineswegs aus, sondern bedingen einander als Anerken‐ nungspraxis im Kontext einer asymmetrischen Reziprozität, 90 wie nicht nur die Korrespondenz von Plinius und Trajan, sondern auch ein Blick in das Johannesevangelium aufzeigt. 5 „vos amici mei estis, si feceritis quae ego praecipio vobis“ - Die Freundschaft Jesu Bereits Aristoteles hatte auf die Schwierigkeit hingewiesen, dass die Distanz zwischen Göttern und Menschen eine Freundschaft erschwert, wenn nicht unmöglich macht. 91 Die Figurenzeichnung Jesu im Johannesevangelium rückt ihn aufgrund seiner Herkunft und seiner Agency textweltlich nahe an (einen) Gott heran. Lebensweltlich erinnert Jesus qua Herkunft, Agency und Praxis an den Kaiser - nicht zuletzt mit Blick auf Habitus und Praxis der Freundschaft. In lebensweltlicher Perspektive lässt die Freundschaft Jesu daher kaum an die symmetrische Freundschaft unter Gleichen denken, sondern an eine in hohem Maße asymmetrische Freundschaft. 92 Jesu Habitus und Praxis der Freundschaft sind in der Textwelt des Johanne‐ sevangeliums die eines mächtigen Patrons: Die Freundschaftsbeziehung Jesu zu seinen Schülern geht explizit von Jesus als dem Mächtigeren aus: 93 66 Michael Rydryck <?page no="67"?> 94 Vgl. Joh 11,1-5; 13,23; 19,26; 20,2; 21,7; 21,20. Als Kontrast mag die symmetrische Freundschaft zwischen David und Jonathan dienen, bei der stets betont wird, dass es Jonathan ist, der David liebt (1Sam 18,1-4). 95 Vgl. Joh 2,11; 4,53; 11,45. 96 Vgl. Joh 1,43; 6,67f.; 21,15-19. 15 οὐκέτι λέγω ὑμᾶς δούλους, ὅτι ὁ δοῦλος οὐκ οἶδεν τί ποιεῖ αὐτοῦ ὁ κύριος· ὑμᾶς δὲ εἴρηκα φίλους, ὅτι πάντα ἃ ἤκουσα παρὰ τοῦ πατρός μου ἐγνώρισα ὑμῖν. 16 οὐχ ὑμεῖς με ἐξελέξασθε, ἀλλ’ ἐγὼ ἐξελεξάμην ὑμᾶς καὶ ἔθηκα ὑμᾶς ἵνα ὑμεῖς ὑπάγητε καὶ καρπὸν φέρητε καὶ ὁ καρπὸς ὑμῶν μένῃ, ἵνα ὅ τι ἂν αἰτήσητε τὸν πατέρα ἐν τῷ ὀνόματί μου δῷ ὑμῖν. (Joh 15,15f.) Joh 15,15 Ich nenne euch hinfort nicht Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich Freunde genannt; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan. 16 Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt, auf dass, worum ihr den Vater bittet in meinem Namen, er's euch gebe. (Übers. Luther 2017) Sprachlich zeigt sich diese asymmetrische Beziehungspraxis Jesu auch mit Blick auf die Freundschaft zu Lazarus oder dem Lieblingsjünger, wenn in beiden Fällen betont wird, dass es Jesus ist, der ihnen freundschaftlich liebend zugetan ist. 94 Praktisch äußert sich die Freundschaft Jesu in konkreten beneficia, die er auf Bitten seiner Mutter anlässlich einer Hochzeit ( Joh 2,1-11) und auf Bitten eines königlichen Beamten ( Joh 4,46-54) in Kana tut. Als reziproke Reaktion der Empfänger dieser Wohltaten wird explizit Vertrauen bzw. Treue (griech. πίστις / lat. fides) genannt. 95 Aber auch Gefolgschaft (Nachfolge) wird als ange‐ messene Erwiderung der Freundschaft Jesu genannt. 96 Überaus bezeichnend für die Wahrnehmung der beneficia-Praxis Jesu in Analogie zur kaiserlichen Freundschaftspraxis ist Joh 6,1-15: Jesus kümmert sich um die Nahrungsmit‐ telversorgung seiner Anhänger. Lebensweltlich plausibel - oblag nicht seit Pompeius, Caesar und Augustus die cura annonae traditionell dem ersten Mann im Staat? - wollen ihn diese daraufhin zu ihrem Herrscher machen. Jesus entzieht sich allerdings diesem politisch brisanten Ansinnen: 14 Οἱ οὖν ἄνθρωποι ἰδόντες ὃ ἐποίησεν σημεῖον ἔλεγον ὅτι οὗτός ἐστιν ἀληθῶς ὁ προφήτης ὁ ἐρχόμενος εἰς τὸν κόσμον. 15 Ἰησοῦς οὖν γνοὺς ὅτι μέλλουσιν ἔρχεσθαι καὶ ἁρπάζειν αὐτὸν ἵνα ποιήσωσιν βασιλέα, ἀνεχώρησεν πάλιν εἰς τὸ ὄρος αὐτὸς μόνος. (Joh 6,14f.) 14 Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus tat, sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll. 15 Da Jesus nun merkte, dass sie 67 Freundschaft als Haltung und Praxis <?page no="68"?> 97 Vgl. Joh 13,23-25; 19,25-27. 98 Vgl. Flaig, Ritualisierte Politik, 21f. 99 Ebenso zentral wie im Wortsinn exemplarisch sind hier die Fußwaschung in Joh 13,1-15 sowie das gemeinsame Mahl in Joh 21,1-14. kommen würden und ihn ergreifen, um ihn zum König zu machen, entwich er wieder auf den Berg, er allein. (Übers. Luther 2017) Wie in der Korrespondenz zwischen Plinius und Trajan wird im Johannesevan‐ gelium die reziproke Asymmetrie der Freundschaft zwischen Jesus und seinen Schülern durch die ungleichen Anreden „Herr“ (κύριος, vgl. Joh 13,13) und „Freunde“ (φίλοι, vgl. Joh 15,14f.) kommunikationspraktisch zum Ausdruck ge‐ bracht. Hierin liegt kein Widerspruch in der Freundschaftspraxis, sondern viel‐ mehr eine Geste wechselseitiger Anerkennung und damit der Freundschafts‐ pflege vor. Dass die Reziprozität dieser Freundschaft unter Ungleichen, mithin das lebensweltlich alltägliche Wechselspiel von officia und beneficia, auch auf Seiten der schwächeren Partner legitime Erwartungshaltungen generierte, die, wenn sie enttäuscht wurden, zu einer Irritation der Freundschaft führen konnten, belegt eindrücklich Joh 11,1-45. Gehorsam und Vertrauen gab es auch für Jesus nicht gratis. Praktizierte und affektive Nähe als Bestandteil der Freundschaftspraxis Jesu wird nicht im Verhältnis zu allen Schülern und Freunden deutlich, sondern wird, neben Lazarus, Maria und Martha, auf den Lieblingsjünger fokussiert. 97 Dennoch gibt es zwischen Jesus und dem engeren Schülerkreis „ostentative Gesten der Nähe“ 98 , um die Distanz zwischen dem Herrn und seinen Freunden zu überbrücken. 99 Die von Jesus als dem Patron ausgehende Freundschaft erfüllt mit Blick auf den weiteren Kreis seiner Schüler und Freunde eine Integrationsleistung, indem sie eine Beziehung zwischen diesen etabliert: Erst die Freundschaft Jesu zu ihnen macht sie untereinander zu Freunden: 34 Ἐντολὴν καινὴν δίδωμι ὑμῖν, ἵνα ἀγαπᾶτε ἀλλήλους, καθὼς ἠγάπησα ὑμᾶς ἵνα καὶ ὑμεῖς ἀγαπᾶτε ἀλλήλους. 35 ἐν τούτῳ γνώσονται πάντες ὅτι ἐμοὶ μαθηταί ἐστε, ἐὰν ἀγάπην ἔχητε ἐν ἀλλήλοις. (Joh 13,34f.) 34 Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habt. 35 Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt. (Übers. Luther 2017) 9 Καθὼς ἠγάπησέν με ὁ πατήρ, κἀγὼ ὑμᾶς ἠγάπησα· μείνατε ἐν τῇ ἀγάπῃ τῇ ἐμῇ. 10 ἐὰν τὰς ἐντολάς μου τηρήσητε, μενεῖτε ἐν τῇ ἀγάπῃ μου, καθὼς ἐγὼ τὰς ἐντολὰς τοῦ πατρός μου τετήρηκα καὶ μένω αὐτοῦ ἐν τῇ ἀγάπῃ. 11 Ταῦτα λελάληκα ὑμῖν ἵνα ἡ 68 Michael Rydryck <?page no="69"?> 100 Vgl. neben den entsprechenden Passagen aus Joh 15 auch Joh 20,21-23; 101 Vgl. Seneca, De beneficiis, III,27; sowie Walter, Politische Ordnung, 17. χαρὰ ἡ ἐμὴ ἐν ὑμῖν ᾖ καὶ ἡ χαρὰ ὑμῶν πληρωθῇ. 12 Αὕτη ἐστὶν ἡ ἐντολὴ ἡ ἐμή, ἵνα ἀγαπᾶτε ἀλλήλους καθὼς ἠγάπησα ὑμᾶς. (Joh 15,9-12) 9 Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe! 10 Wenn ihr meine Gebote haltet, bleibt ihr in meiner Liebe, so wie ich meines Vaters Gebote gehalten habe und bleibe in seiner Liebe. 11 Das habe ich euch gesagt, auf dass meine Freude in euch sei und eure Freude vollkommen werde. 12 Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie ich euch liebe. (Übers. Luther 2017) In der Freundschaft Jesu erhalten die Schüler Anteil an der Agency ihres Herrn: 100 4 μείνατε ἐν ἐμοί, κἀγὼ ἐν ὑμῖν. καθὼς τὸ κλῆμα οὐ δύναται καρπὸν φέρειν ἀφ’ ἑαυτοῦ ἐὰν μὴ μένῃ ἐν τῇ ἀμπέλῳ, οὕτως οὐδὲ ὑμεῖς ἐὰν μὴ ἐν ἐμοὶ μένητε. 5 ἐγώ εἰμι ἡ ἄμπελος, ὑμεῖς τὰ κλήματα. ὁ μένων ἐν ἐμοὶ κἀγὼ ἐν αὐτῷ οὗτος φέρει καρπὸν πολύν, ὅτι χωρὶς ἐμοῦ οὐ δύνασθε ποιεῖν οὐδέν. 6 ἐὰν μή τις μένῃ ἐν ἐμοί, ἐβλήθη ἔξω ὡς τὸ κλῆμα καὶ ἐξηράνθη καὶ συνάγουσιν αὐτὰ καὶ εἰς τὸ πῦρ βάλλουσιν καὶ καίεται. 7 ἐὰν μείνητε ἐν ἐμοὶ καὶ τὰ ῥήματά μου ἐν ὑμῖν μείνῃ, ὃ ἐὰν θέλητε αἰτήσασθε, καὶ γενήσεται ὑμῖν. (Joh 15,4-7) 4 Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt. 5 Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. 6 Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt die Reben und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen. 7 Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. (Übers. Luther 2017) Notwendige Bedingung dieser Übertragung von Agency ist das reziproke Fortbestehen der Freundschaft Jesu und des auf sie gegründeten Gehorsams: ὑμεῖς φίλοι μού ἐστε ἐὰν ποιῆτε ἃ ἐγὼ ἐντέλλομαι ὑμῖν. (Joh 15,14) Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. (Übers. Luther 2017) Friktionen und Vertrauensbrüche müssen indes weder in den Lebenswelten noch in der Textwelt des Johannesevangeliums mit einem unwiderruflichen Beziehungsabbruch oder gar mit einer Feindschaftsbeziehung enden, bestehen doch vielfältige Möglichkeiten der Versöhnung. 101 Eine solche Versöhnungs‐ geste stellt der Redegang zwischen Jesus und Petrus in Joh 21,15-19 dar. Die von Jesus inszenierte reziproke Geste der Versöhnung entspricht der dreimaligen 69 Freundschaft als Haltung und Praxis <?page no="70"?> 102 Vgl. Terenz, Andria II,1; Zitiert nach: Publius Terentius Afer, Komödien. Bd. 1, Latei‐ nisch/ Deutsch, hrsg., übers. und komm. von Peter Rau, Darmstadt 2012. 103 Vgl. für diese Perspektive den Beitrag von Eckart Reinmuth im vorliegenden Band. Verleugnung der Freundschaftsbeziehung durch Petrus in Joh 18,16-27 und führt zu einer vollständigen Heilung der entstandenen Friktion. Praxis und Habitus der Freundschaft Jesu sind im Johannesevangelium als asymmetrische Freundschaft konzipiert. Wichtig zur Aufrechterhaltung der Freundschaftsbeziehung sind auch hier reziproke Haltungen, Gesten und Prak‐ tiken der beteiligten Akteure: Wohltaten können erwiesen oder zurückgehalten werden, Vertrauen und Nähe können geschenkt oder entzogen werden, Macht‐ verhältnisse anerkannt oder geleugnet, Erwartungen erfüllt oder frustriert. Entscheidend bleibt auch im Johannesevangelium das interaktionale Spiel einer sozialen Beziehungs-, Kommunikations- und Integrationspraxis, d. h. Haltungen und Praktiken, die Freundschaft und die mit ihr verbundene Agency ermögli‐ chen und erhalten. 6 „obsecro te“ (per amicitiam) - Die Freundschaft des Paulus Die Vulgata übersetzt das Syntagma παρακαλῶ σε in Phlm 10 mit obsecro te und generiert auf diese Weise im Kontext eines Freundschaftsdiskurses eine intertextuelle Verbindung zu Terenz, Andria, II,1, wo das Syntagma nunc te per amicitiam et amorem obsecro in der Kommunikation zwischen gleichrangigen Freunden begegnet. 102 Auf den ersten Blick mag die briefliche Kommunikation zwischen Paulus und Philemon als Ausdruck und Praxis einer symmetrischen Freundschaftsbeziehung erscheinen. 103 Doch auf den zweiten Blick wird diese Wahrnehmung durch kommunikative Machtgesten gestört: 8 Διὸ πολλὴν ἐν Χριστῷ παρρησίαν ἔχων ἐπιτάσσειν σοι τὸ ἀνῆκον 9 διὰ τὴν ἀγάπην μᾶλλον παρακαλῶ, τοιοῦτος ὢν ὡς Παῦλος πρεσβύτης νυνὶ δὲ καὶ δέσμιος Χριστοῦ Ἰησοῦ·10 παρακαλῶ σε περὶ τοῦ ἐμοῦ τέκνου, ὃν ἐγέννησα ἐν τοῖς δεσμοῖς, Ὀνήσιμον (Phlm 8-10) 8 Darum, obwohl ich in Christus alle Freiheit habe, dir zu gebieten, was zu tun ist, 9 will ich um der Liebe willen eher bitten, so wie ich bin: Paulus, ein alter Mann, nun aber auch ein Gefangener Christi Jesu. 10 So bitte ich dich wegen meines Kindes Onesimus, den ich gezeugt habe in der Gefangenschaft (Übers. Luther 2017) 17 εἰ οὖν με ἔχεις κοινωνόν, προσλαβοῦ αὐτὸν ὡς ἐμέ. 18 εἰ δέ τι ἠδίκησέν σε ἢ ὀφείλει, τοῦτο ἐμοὶ ἐλλόγα. 19 ἐγὼ Παῦλος ἔγραψα τῇ ἐμῇ χειρί, ἐγὼ ἀποτίσω· ἵνα μὴ λέγω σοι ὅτι καὶ σεαυτόν μοι προσοφείλεις. (Phlmn 17-19) 70 Michael Rydryck <?page no="71"?> 104 Vgl. Phlm 22. 105 Zu Habitus und Praxis des Paulus im Kontext von Konflikten in Phlm und anderen Briefen vgl. Rydryck, Paulus als kontroverser Mediator. 17 Wenn du mich nun für deinen Freund hältst, so nimm ihn auf wie mich selbst. 18 Wenn er aber dir geschadet hat oder etwas schuldig ist, das rechne mir an. 19 Ich, Paulus, schreibe es mit eigener Hand: Ich will's bezahlen; ich schweige davon, dass du dich selbst mir schuldest. (Übers. Luther 2017) Paulus und Philemon verbindet eine asymmetrische Freundschaft, in der Paulus über das Handlungspotential verfügt, Philemon zu gebieten und von ihm Gehorsam einzufordern: Πεποιθὼς τῇ ὑπακοῇ σου ἔγραψά σοι, εἰδὼς ὅτι καὶ ὑπὲρ ἃ λέγω ποιήσεις. (Phlm 21) Im Vertrauen auf deinen Gehorsam schreibe ich dir; denn ich weiß, du wirst mehr tun, als ich sage. (Übers. Luther 2017) Die Machtgesten werden indes von einem ausgeprägten Habitus der Jovialität flankiert, wie er in asymmetrischen Freundschaftsbeziehungen lebensweltlich gängige Praxis war. Dies zeigt sich etwa in der affektiv gestalteten Anrede in Phlm 1 (Φιλήμονι τῷ ἀγαπητῷ) oder in der langen Captatio Benevolentiae in Phlm 4-7 und der explizierten Bitte in Phlm 20. In den Kontext jovialer Gesten gehört auch die beabsichtigte Inanspruchnahme der Gastfreundschaft des Philemon. 104 Der joviale Habitus des Paulus hat dabei erkennbar konfliktre‐ duzierenden Charakter, 105 indem er die Agency des Philemon nicht antastet, die dieser wiederum zur Erfüllung des paulinischen Anliegens benötigt: χωρὶς δὲ τῆς σῆς γνώμης οὐδὲν ἠθέλησα ποιῆσαι, ἵνα μὴ ὡς κατὰ ἀνάγκην τὸ ἀγαθόν σου ᾖ ἀλλὰ κατὰ ἑκούσιον. (Phlm 14) Aber ohne deinen Willen wollte ich nichts tun, damit das Gute dir nicht abgenötigt wäre, sondern freiwillig geschehe. (Übers. Luther 2017) Worum geht es nun in dieser asymmetrischen Kommunikation unter Freunden? Es geht um das Erweisen von beneficia: Paulus will dem Sklaven Onesimus durch Vermittlung bei seinem Herren Philemon einen Gefallen erweisen, indem er für ihn interzediert. Paulus begibt sich damit situativ in die Rolle eines patronus der für den Schutz seines cliens Onesimus sorgen will, obgleich dieser ein Sklave und im Besitz eines anderen Akteurs ist. Paulus bittet daraufhin Philemon als Freund angesichts der beiderseitigen, wenngleich asymmetrischen amicitia um einen Gefallen (beneficium) im Interesse des Onesimus. Paulus nutzt seine Agency, um die Agency eines Anderen für einen Dritten in Anspruch zu nehmen. Dass eine solche Interzessionspraxis für das Wohl eines Sklaven lebensweltlich nicht 71 Freundschaft als Haltung und Praxis <?page no="72"?> 106 Petronius, Cena Trimalchionis, 30f.; Zitat und Übersetzung folgen der Ausgabe: Petro‐ nius, Cena Trimalchionis, Lateinisch/ Deutsch, hrsg. und übers. von Wilhelm Ehlers und Konrad Müller, Düsseldorf/ Zürich 2002. 107 Vgl. Phlm 10-12.16. unplausibel erscheinen muss, zeigt Petrons Gastmahl des Trimalchio, ein mit den Paulusbriefen zeitgenössischer Text: ceterum ut pariter movimus [dextros] gressus, servus nobis despoliatus procubuit ad pedes ac rogare coepit, ut se poenae eriperemus: nec magnum esse peccatum suum, […] rettulimus ergo dextros pedes dispensatoremque in oecario aureos numerantem deprecati sumus, ut servo remitteret poenam. superbus ille sustulit vultum et 'non tam iactura me movet' inquit 'quam neglegentia nequissimi servi. […] Quid ergo est? dono vobis eum'. obligati tam grandi beneficio cum intrassemus triclinium, occurrit nobis ille idem servus, pro quo rogaveramus, et stupentibus spississima basia impegit gratias agens humanitati nostrae. Als wir denn nun gleichmäßig antraten, fiel uns mit entblößtem Rücken ein Sklave zu Füßen und hob zu bitten an, wir möchten ihn vor seiner Strafe retten: es sei auch kein schweres Vergehen […] Wir zogen also unsere rechten Füße wieder zurück, um uns bei dem Kassierer, der in seiner Loge Goldstücke zählte, dafür zu verwenden, er möchte dem Sklaven die Strafe erlassen. Der setzte eine hochnäsige Miene auf und sagte: „Der Schaden regt mich weniger auf als die Fahrlässigkeit des Sklaven, der ein ganzer Taugenichts ist. […] Also was solls? Ihr könnt ihn haben.“ Wir zeigten uns für einen derart großzügigen Gunstbeweis verpflichtet und betraten den Speisesaal. Da kam uns eben der Sklave von vorhin, für den wir ein Wort eingelegt hatten, entgegen und ließ zum Dank für unsere Freundlichkeit einen solchen Kußregen aus uns niederprasseln, daß wir fassungslos waren. 106 Bei Paulus ist die Interzessionspraxis begründet in der Zuneigung zu dem na‐ mentlich genannten Sklaven Onesimus 107 und zudem Bestandteil eines freund‐ schaftlichen Habitus, während sie bei Petron auf eine allgemeine humanitas zurückgeführt wird. Der Kassierer überbietet die Bitte der Gäste beim Gast‐ mahl und verschenkt den namenlosen Sklaven - jedoch nicht aufgrund einer freundschaftlichen Haltung gegenüber den Gästen, sondern aufgrund eines nonchalanten Desinteresses für den Sklaven. Wir wüssten gern, ob und wenn ja wie Philemon, der nach den Andeutungen des Paulus in Phlm 11 und Phlm 18 mit seinem Sklaven auch nicht zufrieden war, der ebenso freundschaftlich wie machtbewusst vorgetragenen Bitte seines Freundes Paulus entsprochen hat. Zu unserem Bedauern ist die Antwort und damit die Kommunikations- und Freundschaftspraxis des Philemon im Rahmen dieser asymmetrischen Freundschaft nicht überliefert. Sollte diese Freundschaft Bestand haben, hätte 72 Michael Rydryck <?page no="73"?> Philemon seiner Freundespflicht nachkommen und, dem Gebot der Reziprozität folgend, in seiner Antwort wie in seinem Handeln den Wünschen des Paulus entsprechen müssen. Von Onesimus hätte Paulus im Fall der erfolgreichen Interzession zum einen Dank und zum anderen die Verpflichtung auf seine Person erwarten können. Die Praxis der Freundschaft im Philemonbrief macht wiederum deutlich, dass in den Text- und Lebenswelten des Neuen Testaments freundschaftliche officia und beneficia einander bedingen. Freundschaft ist vor allem eines: die reziproke Haltung und Praxis einer positiv konnotierten Beziehung. Literatur Matthias Adrian, Mutuum date nihil desperantes (Lk 6,35). Reziprozität bei Lukas, NTOA/ StUNT 119, Göttingen 2019. 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Gibt es nicht“, abrufbar unter www.youtube.com/ watch? v=wA z6-GWiaHo (Zugriffsdatum 20.12.2020). 75 Freundschaft als Haltung und Praxis <?page no="77"?> 1 Ich danke Stefan Alkier herzlich dafür, dass er mich mit Blick auf mein Promotionsvorhaben zu Konstellationen kollektiver Identitäten in den Johannesbriefen auf das äußerst spannende Konzept der Konstellation aufmerksam machte und freue mich auf die weitere, auch freundschaftliche Zusammenarbeit in den kommenden Jahren. Ihm widme ich diesen Aufsatz. 2 Hannah Arendt an Erwin Loewenson (Brief vom 23. Januar 1928), zitiert nach Wolfgang Heuer/ Bernd Heiter/ Stefanie Rosenmüller (Hg.), Arendt Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart/ Weimar 2011, 280. „Freunde sind wie Sterne“ Freundschaft als Hermeneutik der Konstellation 1 Dominic Blauth „In der Freundschaft sind die Freunde relativ aufeinander bezogen, aber innerhalb dieser Relation bleibt jeder, was er ist, obwohl er in dieser Relation etwas anderes ist, als er war.“ 2 1 Einleitung Phänomene der Freundschaft gab und gibt es zu allen Zeiten, sie variieren jedoch in ihrer Ausprägung. Die Freundschaft ist bis heute eine äußerst wichtige zwischenmenschliche Form der Beziehung. Die notwendigen Einschränkungen im Rahmen der Corona-Pandemie führen uns derzeit vor Augen, wie wichtig Freundschaft für das eigene Wohl ist - das Streben nach Freundschaft scheint ein grundlegendes menschliches Bedürfnis zu sein. Es erstaunt daher nicht, dass die Frage nach Freundschaft auch in Kirche und Theologie stetig aktuell ist. Dabei scheinen die Untersuchungen, die sich der Frage nach der Freundschaft in den neutestamentlichen Texten widmen, stets von folgenden Fragen begleitet: Waren Jesus und seine Schüler Freunde? Was bedeutete Freundschaft in der Antike? Legen die Texte des Neuen Testaments ihrem Freundschaftsdiskurs eine antike Freundschaftsethik zugrunde? <?page no="78"?> 3 Vgl. Christian von Scheve/ Anna Lea Berg, Affekt als analytische Kategorie der So‐ zialforschung, in: Larissa Pfaller/ Basil Wiesse, Stimmungen und Atmosphären. Zur Affektivität des Sozialen, 27-51, hier: 43: „Auf Basis der bisherigen Diskussionen können wir Affekt als konstitutiv für unterschiedliche Formen von Sozialität verstehen […].“ 4 Vgl. Oda Wischmeyer, Emotionen als formative Elemente neutestamentlicher Ethik am Beispiel des Paulus, in: Journal of Ethics in Antiquity and Christianity 2 (2020), 25-39, hier: 25. 5 Vgl. Ekkehard W. Stegemann, Freundschaftstopik im Neuen Testament, in: Freund‐ schaft. Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München, Mün‐ chen 2006, 9-24, hier: 10. Das Gros dieser Untersuchungen legt dabei einen besonderen Fokus auf die der Freundschaft zugrundeliegenden Emotionen - die Frage nach besonderen Formen von Relation scheint ohne eine Frage nach Emotion nicht beantwortbar. 3 Gerade die Besonderheit der Emotion gerät für die Ausdifferenzierung neutes‐ tamentlicher Ethik, also auch neutestamentlicher Freundschaftsethik, verstärkt in den Fokus. 4 Doch zeichnet sich die Freundschaft nach den Texten des Neuen Testaments ausschließlich durch ihre Emotionalität aus oder steckt in der mit Freundschaft verbundenen Liebe doch mehr? Die Texte des Neuen Testaments bieten oft keine „typische“ Freundschafts‐ terminologie an, 5 sodass dies einen Zugang zu möglichen freundschaftlichen Konzeptionen der Beziehungen der Figuren erschwert. Problematisch wird die Analyse dieser Beziehungen spätestens dann, wenn sich die Untersuchung ausschließlich auf moderne Freundschaftskonzepte stützt. Aber auch eine zu eng geführte Freundschaftshermeneutik, die alle Aspekte ausblendet, die dem zugrundegelegten Freundschaftskonzept nicht genügen, wird den Texten und der in ihnen dargestellten Pluralität nicht gerecht. Freundschaft in und nach den Texten des Neuen Testaments ist mehr als nur Emotion und zwischenmensch‐ liche Beziehung. Die Hermeneutik der Konstellation bietet einen offenen Zugang zu der Fragestellung nach den in den Texten des Neuen Testament dargestellten Beziehungen von Figuren und Konzepten. Konstellation ist zugleich selbst Beziehung und in dieser Hinsicht für die Frage nach „Freundschaft“ ein in besonderem Maße geeignetes hermeneutisches und heuristisches Instrument. Sie bleibt dabei nicht bei der Frage nach einer bestimmten Form der Freundschaft stehen, sondern bezieht alle relevanten Aspekte ein, die dem Verständnis der Konstellation dienen. Dabei müssen diese Aspekte nicht in direktem Zusam‐ menhang zum Thema Freundschaft stehen, sondern können sich beispielsweise gerade durch das Gegenteil auszeichnen. Die Konstellation schränkt sich nicht auf eine Suche realhistorischer Verortung und Möglichkeit von Freundschaft 78 Dominic Blauth <?page no="79"?> 6 Vgl. Christian Ibler, Art. Konstellation, in: Metzler Lexikon Philosophie, herausgegeben von Peter Prechtl und Franz-Peter Burkard, 3., erw. u. akt. Aufl., Stuttgart 2008, 308f., hier: 308. 7 Fixsterne sind diejenigen Sterne, die ihre Position am Himmel nicht zu verändern scheinen. ein, sie fragt nicht nur nach bestimmten Emotionen, sondern bringt alle diese Aspekte in einen Dialog. Das eingangs angeführte Zitat von Hannah Arendt lässt bereits erste Vermu‐ tungen auf das Potential der Konstellation zu: Die Semantik eines Zeichens bleibt erhalten, wird jedoch aus der Konstellation heraus ergänzt. Ebenso spannt die Semantik der Zeichen die Konstellation auf und prägt diese entscheidend. Doch was bedeutet diese Hermeneutik mit Blick auf die Freundschaft in und nach den Texten des Neuen Testaments? 2 Zum Konzept der Konstellation Der Begriff „Konstellation“ (lat. con-stellatio) entstammt ursprünglich der As‐ tronomie und bezieht sich dort auf die Zusammenschau verschiedener astrono‐ mischer Körper, 6 wobei diese Konstellationen sich sowohl auf sog. Fixsterne 7 als auch auf dynamische Himmelskörper, also z. B. Planeten oder Monde, beziehen können. So kann beispielsweise die relative Position der Planeten unseres Sonnensystems in Bezug zur Sonne zu einem bestimmten Zeitpunkt ebenso als (planetare) Konstellation beschrieben werden, wie auch die Zusammenschau verschiedener Fixsterne als Sternbild, auch wenn die zeitliche Abhängigkeit der Konstellation mit Blick auf Sternbilder weniger relevant ist. Bei der Betrachtung veränderlicher Konstellationen können die möglichen relativen Positionen zum Bezugs- und Beobachtungspunkt zum Beispiel als Konjunktion, Opposition oder Quadratur beschrieben werden. Zur Veranschaulichung dieser Begriffe soll ein Beispiel dienen: Wird die Erde als Beobachtungspunkt angenommen, kann die Konstellation der Position eines Planeten unseres Sonnensystems in Bezug auf die Sonne dann als Konjunktion beschrieben werden, wenn die Position des Pla‐ neten sich exakt auf der Linie der Blickrichtung von der Erde zur Sonne befindet, der Planet von der Erde aus gesehen also genau vor oder hinter der Sonne steht, die Sonne und der Planet sich also aus der Perspektive der Erde zu begegnen scheinen - auch wenn diese vermeintliche Begegnung aufgrund der kosmischen Abstände keineswegs stattfindet. Befindet sich der Planet exakt im „Rücken“ der Erde, während die Sonne sich in ihrem „Angesicht“ befindet, so ist von der Opposition die Rede. Bei der Konstellation handelt es sich um eine Quadratur, wenn der Planet in einem 90°-Winkel zur Blicklinie Erde-Sonne von der Erde 79 „Freunde sind wie Sterne“ <?page no="80"?> 8 Man könnte schon fast von einer Art „Schulterschluss“ der Erde und des Planeten der Sonne gegenüber sprechen. 9 Stefan Alkier, Ethische Implikationen der Dialogizität des Kanons, in: Ruben Zimmer‐ mann, Ethik des Neuen Testaments, utb, Tübingen (im Erscheinen). Alkier bezieht sich hierbei auf Ausführungen Erhardt Güttgemanns, Offene Fragen zur Formgeschichte des Evangeliums. Eine methodologische Skizze der Grundlagenproblematik der Form- und Redaktionsgeschichte, München 2 1971, sowie auf Christian von Ehrenfels, Über „Gestaltqualitäten“, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie 14 (1890), 249-292, und wendet das gestalttheoretische Konzept der Übersummativität auf die kanonische Zusammenstellung biblischer Texte an. Das Konzept der Übersummativität scheint jedoch gerade auch für die Untersuchung von Konstellationen von Interesse, kann der Kanon doch auch als besondere Form der Konstellation biblischer Texte untersucht werden. aus gesehen steht, Erde und der Planet also sozusagen „gemeinsam“ parallel zur Sonne stehen. 8 Gerade die Konjunktion sowie die Opposition scheinen für die Beschreibung von Figurenkonstellationen und anderer texttheoretischer Konstellationen von besonderem Interesse, auch wenn die Quadratur freilich Oppositionen gerade im Zusammenhang komplexer Konstellationen, wenn also mehr als zwei bis drei Elemente einer Konstellation untersucht werden, näher bestimmen lässt. Die Deutung stellarer Konstellationen als Sternbilder stellt einen gängigen Zugang zum Konstellationsbegriff dar. Hierbei werden verschiedene Fixsterne in ihrer Zusammenstellung betrachtet und zu Sternbildern zusammengefasst - aus einer Vielzahl von Einzelaspekten wird dann ein Gesamtbild gedeutet, das bereits in der Konstellation der Einzelsterne grundsätzlich angelegt ist, jedoch wahrgenommen werden muss. Der Stern ist nicht mehr „nur“ Stern, sondern erhält eine Bedeutung aus seiner Wahrnehmung im Kontext des Sternbildes heraus. Insofern jedem Stern eine eigene Bedeutung beigemessen wird, kommt es bei der Deutung in der Konstellation zu „neuen“ Bedeutungszusammenhängen, wobei das „Zusammensein […] in einem qualifizierten pluralen Diskursraum […] einen Mehrwert [zuspricht] […], der durch die ‚Übersummativität‘ der Teile generiert wird.“ 9 Das hier mit Blick auf die kanonische Intertextualität an‐ geführte Konzept der Übersummativität kann gerade auch für die Untersuchung von Konstellationen von besonderem Interesse sein, insofern es hier durch die Wahrnehmung neuer Bedeutung ebenfalls zu einem Bedeutungszuwachs kommt, der die Summe der Einzelbedeutungen übersteigt: Das Sternbild ist mehr als nur die Summe von Einzelsternen. Zu beachten ist jedoch, dass auch die Deutung einer bestimmten Konstella‐ tion als Sternbild von der Perspektivität abhängt: Da die einzelnen Sterne, die in ihrer Konstellation untersucht werden, sich nicht in einer zweidimen‐ 80 Dominic Blauth <?page no="81"?> 10 Adornos Konstellationsbegriff weist einige Einflüsse Walter Benjamins auf, vgl. hierzu bspw. Andreas Lehr, Kleine Formen. Adornos Kombinationen: Konstellation, Konfigu‐ ration, Montage und Essay, Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultäten der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg i.Br., Freiburg i.Br. 2000, 16-18 sowie 144. 11 Vgl. Ibler, Konstellation, 308. 12 Lehr, Kleine Formen, 143f. 13 Vgl. a. a. O., 138. 14 Vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Gesammelte Schriften Band 6, Herausgegeben von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt am Main 9 2020, 164f. 15 Vgl. a. a. O., 169. sionalen Ebene, sondern einem dreidimensionalen Raum befinden, kann eine Verschiebung des Beobachtungspunktes auch zu unterschiedlichen Deutungen der Konstellation führen. So wird beispielsweise aus dem auf der Erde mehr oder minder eindeutigen Sternbild auf einem entfernten Planeten plötzlich nur noch eine diffuse gedachte Verbindung verschiedener Sterne. Doch der Konstellationsbegriff eignet sich nicht nur für astronomische Beschreibungen, sondern hat auch Eingang in die Geisteswissenschaften ge‐ funden. Bislang wurde das Konzept hier in der Philosophie fruchtbar gemacht und findet dort vor allem zwei hermeneutische Zugänge. So ist einerseits zunächst und vor allem Adornos Konstellationsbegriff 10 als prominenter philo‐ sophischer Zugang zum Konstellationsbegriff zu benennen, dessen Interesse an Konstellationen vor allem erkenntnistheoretisch begründet ist. 11 So schaffen es „Konstellationen […] das freizusetzen, was ‚in den Begriffen sich sedimentierte.‘ […] [So] ist es der Konstellation möglich, das Bedeutungsspektrum eines Begriffes in der und in die ‚Jetzt-Zeit‘ freizulegen, ohne zu versuchen, durch phänomenologische Reduktionen wieder an einen Nucleus heranzugelagen.“ 12 Die Konstellation schafft es somit, das nicht explizit Ausdrückbare auszudrü‐ cken und zugleich in ein zeitübergreifendes, nicht historisierendes 13 Konzept zu überführen. Durch die Konstellation der Zeichen entsteht ein über die Zeichen hinausgehender Zeichenzusammenhang, der begrifflich nicht adäquat gefasst werden kann. 14 An dieser Stelle bietet es sich erneut an, sich des Beispiels der Sternbilder zu bedienen: So findet sich das Sternbild nicht als explizites Bild am Himmel, sondern wird erst aus der Konstellation der einzelnen Sterne heraus deutbar. Dabei ist die Konstellation auch für Adorno nicht statisch, sondern dynamisch: Sobald sich eines der die Konstellation tragenden Zeichen verändert, verändert sich auch die gesamte Konstellation und mit ihr wiederum die Bedeutung der einzelnen Zeichen. 15 81 „Freunde sind wie Sterne“ <?page no="82"?> 16 Martin Mulsow, Zum Methodenprofil der Konstellationsforschung, in: ders./ Marcelo Stamm (Hg.), Konstellationsforschung, stw 1736, Frankfurt am Main 2005, 74-97, hier: 74. Bereits zuvor findet sich ein ähnlicher Umgang mit philosophischen Konstellationen bei Dieter Henrich, Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealis‐ tischen Philosophie (1789-1795), Stuttgart 1991. Lehr, Kleine Formen, kritisiert zurecht Henrichs Umgang mit dem Konstellationsbegriff: „‚Konstellation‘ meint bei Henrich nicht mehr, als Denker und deren Werke aus und in den Wechselwirkungen des philosophischen Diskurses ihrer Zeit, in ihrer Epoche zu betrachten. […] Geleistet wird kaum mehr als saubere historische Fleißarbeit, die sich der Mühe enthebt, das jeweilige Denken als solches in seiner Eigenart zu begrifen oder gar irgendeine Anbindung an aktuelle Problemstellungen, an Modernität zu versuchen. Was sich hier Konstellations‐ forschung glaubt nennen zu können, ist nichts anderes als Philosophiegeschichte […]“ (137, Anm. 401). Der von Mulsow präsentierte Konstellationsbegriff hingegen scheint bereits wesentlich differenzierter zu sein. 17 Vgl. Mulsow, Konstellationsforschung, 76. Anders begegnet der Konstellationsbegriff der philosophischen Konstellati‐ onsforschung, die nach reziproken Einflüssen philosophischer Schulen sucht: „Konstellation[en] kann man definieren als dichten Zusammenhang wechselseitig aufeinander einwirkender Personen, Ideen, Theorien, Probleme oder Dokumente, in der Weise, daß nur die Analyse dieses Zusammenhanges, nicht aber seiner isolierten Bestandteile, ein Verstehen der philosophischen Leistung und Entwicklung der Per‐ sonen, Ideen und Theorien möglich macht. […] Vielmehr sollten Konstellationen von Beginn an als vielschichtige Komplexe begriffen werden, die sowohl Personen und ihre Motivationslagen als auch Ideen, Probleme und Theorien sowie deren Niederschläge in Dokumenten umfassen.“ 16 Die Konstellation zeichnet sich auch mit Blick auf die Anwendung der philo‐ sophischen Konstellationsforschung durch ihre Reziprozität, Vielschichtigkeit und Dynamik 17 aus, auch wenn hier im Gegensatz zu Adorno die „Wirkmäch‐ tigkeit“ der Konstellation in den Hintergrund rückt. Es kann somit festgehalten werden, dass der philosophische Konstellationsbe‐ griff - vor allem bei Adorno - durchaus eine gewisse Analogie zum astrono‐ mischen Konstellationsbegriff aufweist, auch wenn bislang nicht das volle Potential des „ursprünglichen“ Konstellationsbegriffs ausgeschöpft zu sein scheint. So sind es gerade die bei der Konstellation nicht zu vernachlässigende Perspektivität sowie auch mögliche Ausdeutungen der Konstellation - zumin‐ dest als Opposition oder Konjunktion -, die noch ein immenses hermeneutisches Potential für die Applikation auf (biblische) Texte bergen. Konstellationen kommen folgende Eigenschaften zu, die es im Folgenden näher zu untersuchen gilt: 82 Dominic Blauth <?page no="83"?> 18 Zumindest mit Blick auf die Bedeutung der Figurenkonstellation für ein komplexes Verständnis von Zusammenhängen weisen Sönke Finnern/ Jan Rüggemeier, Methoden der neutestamentlichen Exegese. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, utb 4212, Tübingen 2016, sowie Michael Schneider/ Michael Rydryck, Bibelauslegung. Grundlagen - Textanalyse - Praxisfelder, Göttingen 2021 (im Erscheinen) sehr sinnvolle Ansätze auf. 19 Vgl. Adorno, Negative Dialektik, 164. 20 Die Untersuchung von Textkonstellationen wurde im Rahmen der Intertextualitäts‐ forschung bereits in großem Umfang betrieben und dort auch gerade mit Blick auf die Entstehung übersummativen Sinns ausgearbeitet. Vgl. zur Intertextualität bspw. Stefan Alkier, Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellek‐ • Konstellationen beschreiben mehrdimensionale Beziehungssysteme von Zeichen. Die einzelnen Teile der Konstellation können beispielsweise in Konjunktion oder Opposition stehen. • Konstellationen sind dynamisch. Die in ihnen zum Ausdruck gebrachten Beziehungssysteme können also nicht einfach statisch gedeutet werden, sondern müssen mit Blick auf sie potentiell verändernde Faktoren be‐ schrieben werden. • Konstellationen sind perspektivisch und hängen besonders vom „Be‐ obachtungspunkt“ ab: Es ist unumgänglich, die Untersuchung von Kon‐ stellationen hermeneutisch plausibel zu begründen und sich dieser Her‐ meneutik stets bewusst zu sein. • Konstellationen sind Zeichensysteme, die eine über die einzelnen Zeichen hinausgehende Semantik generieren. 3 Konstellation als hermeneutisches Konzept - Eine Skizze Bereits im Rahmen der Begriffsklärung hat sich gezeigt, dass das Konstellati‐ onskonzept mehr ist als ein bloßes Instrument zur übersichtlichen Darstellung eines Figurenrepertoires, das der Konstellationsbegriff gerade im Rahmen der neutestamentlichen Exegese aktuell häufig noch zu sein scheint: Wenn bspw. im Rahmen von Methodenbüchern überhaupt von Konstellationen expressis verbis die Rede ist, finden sie kaum mehr Erwähnung denn als „Figurenkonstellation“, die oft nur am Rande erwähnt wird. 18 Es gilt nun also die Bedeutung von Konstellationen für eine biblische Hermeneutik herauszuarbeiten. Grundlegend ist hierbei, dass dieser Zugang einem semiotischen Paradigma verpflichtet ist, um das volle Potential des Konstellationskonzepts ausschöpfen zu können. In diesem Zusammenhang bedarf es zudem eines offenen Textbegriffs, um das Po‐ tential, das „Mehr“, 19 der Vernetzung der in der Konstellation angelegten Zeichen und/ oder Zeichensysteme adäquat wahrnehmen zu können. In ihrer Konstella‐ tion gedeutet werden können Figuren, Texte 20 , Konzepte sowie andere Zeichen 83 „Freunde sind wie Sterne“ <?page no="84"?> türe, Tübingen 2005, sowie den Grundlagenartikel Michael Schneider, Art. Intertex‐ tualität (NT), in: WiBiLex, Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, abrufbar unter: www.bibelwissenschaft.de/ fileadmin/ buh_bibelmodul/ media/ wibi/ pdf/ Intertext ualität_NT___2018-12-03_21_13.pdf (Versionsdatum 21.05.2019). Vgl. zur Übersumma‐ tivität der Intertextualität Alkier, Ethische Implikationen. 21 Der Begriff „Individualkonstellation“ soll zum Ausdruck bringen, dass die in Konstel‐ lation befindlichen Teile individuell gedacht sind, also beispielsweise Einzelfiguren oder -texte. 22 Der Begriff „Kollektivkonstellation“ bezeichnet eine Konstellation aus verschiedenen Kollektiven, also beispielsweise die in den Johannesbriefen beschriebenen Kollektive „Wir“ und „Sie“. 23 Beispielsweise die Konstellation aus Paulus und einer ganzen ἐκκλησία. 24 So plädiert bspw. Stefan Alkier (Hg.), Antagonismen im Neuen Testament, Leiden 2021 (im Erscheinen), für eine kritische Reflexion einer häufig vorzufindenen histori‐ sierenden Engführung der Gegnerfragen. Eine Hinwendung zur hermeneutisch weiter gefassten Frage nach dynamischen Beziehungskonstellationen findet sich auch bei Andreas Schmidt, Was heißt Freundschaft mit Jesus? , in: GuL 85/ 1 (2012), 31-43, hier: 3: „Wohl nicht zufällig parallel in der Theologie und im gesellschaftlichen Trend regte sich im letzten Jahrhzehnt vermehrt das Interesse für die Beziehungsform Freundschaft.“ oder Zeichensysteme, wobei dies stets sowohl Individualkonstellationen 21 , Kol‐ lektivkonstellationen 22 oder gemischte Konstellationen 23 sein können. Es gilt nun, die oben genannten Eigenschaften nach ihrem hermeneutischen Potential zu befragen. 3.1 Konstellation als mehrdimensionales Beziehungssystem Zunächst ist hier auf die vermutlich grundlegendste Eigenschaft von Konstel‐ lationen einzugehen. Sie sind relational angelegt, indem sie mehrere Zeichen in Verbindung bringen und dabei Bedeutung generieren. Bis in die jüngste exegetische Forschung herrscht ein großes Interesse an den Beziehungen biblischer Figuren(-kollektive) im Sinne eines relational turn, einer Hinwendung zu Beziehungen der Figuren des Neuen Testaments. 24 Dabei vermag es das Kons‐ tellationskonzept, die häufig vorfindliche referenzialistische Engführung auf realhistorische Beziehungen aufzulösen, indem sie den Fokus auf die zeitunab‐ hängigen und zeitübergreifenden Zusammenhänge, Kontexte und Beziehungen legt. Die Konstellation offenbart nicht nur, ob es eine Beziehung gegeben hat und wie sie in ihrem ursprünglichen Kontext ausgesehen haben könnte, sondern zeigt zugleich die in ihr eröffneten Diskursräume und damit auch semantische Leerstellen auf, die durch den Rezeptionsakt ausgefüllt werden können. Mit Blick auf die Freundschaft als einer besonderen Form der Konstellation stellt sich dabei nicht nur die Frage „Wie war eine Freundschaft damals beschaffen? “, sondern z. B. auch „Was bedeutet dies vor dem Hintergrund antiker und mo‐ derner Freundschaftskonzepte? “. Es ist dabei unumgänglich, die Beziehungen 84 Dominic Blauth <?page no="85"?> 25 Vgl. hierzu Dominic Blauth, Streitigkeiten in der Familie? Konstellationen von Kon‐ flikten in den Johannesbriefen, in: Stefan Alkier (Hg.), Antagonismen im Neuen Testament, Paderborn 2021 (im Erscheinen). 26 Die Opposition oder Konjunktion können dann als Freundschaft oder Feindschaft ausgedeutet werden. Vgl. Stegemann, Freundschaftstopik, 9: „Freundschaft meint grundsätzlich eine Solidar- und Schutzgemeinschaft, […] die durch reziprokes Fürein‐ ander auftreten. […] woraus deutlich ersichtlich wird, daß Freundschaft immer in Opposition zur Feindschaft steht.“ mit all ihren Merkmalen zu untersuchen - also auch denjeningen, die sich nicht explizit auf den point of interest zu beziehen scheinen -, um sich der Konstellation annähern zu können. Wird der Lektüreprozess durch bestimmte Erwartungshaltungen, also z. B. die Suche nach Gegnern, Freundschaften o. ä. bestimmt, schränkt dies die Deutungsmöglichkeiten der Konstellation bereits ein, sodass die Konstellation nicht vollumfänglich und in all ihren Teilaspekten untersucht werden kann. So kann beispielsweise auch die Frage nach vermeint‐ lichen Gegnern für eine Freundschaftskonstellation bestimmend sein. Durch die Konstellation können auch Beziehungen zum Ausdruck gebracht werden, die über einfache Begrifflichkeiten hinausgehen und denen man sich lediglich durch die eine Konstellation bestimmenden Zeichenbedeutungen annähern kann. Gerade hierfür ist es wichtig, die einzelnen Zeichen in ihrer pluralen Semantik ernst zu nehmen und nicht durch hermeneutische Voran‐ nahmen semantisch einzuschränken: So sollten beispielsweise auch bei einer Untersuchung zum Thema „Freundschaft“ diejenigen Aspekte einer Figur nicht ausgeblendet werden, die auf den ersten Blick thematisch nicht passend zu sein scheinen, wie z. B. mögliche ausgetragene (Ant-)Agonismen oder asymme‐ trische Beziehungsmuster. Dies würde dem multisemantischen Charakter des Zeichens nicht gerecht. Gerade durch das Zusammenspiel pluraler Semantiken werden die Bedeutungspotentiale der Konstellation generiert und aktiviert, wobei die Konstellation zugleich auf die Semantik der einzelnen Zeichen zurückwirkt. Den relationalen und perspektivierenden Momenten der Konstellation wohnt eine Positionierungsstrategie inne, insofern es durch die Akte der Wahrneh‐ mung und Zusammenstellung bestimmter Konstellationen zu einem othering einer outgroup gegenüber einer ingroup kommt. 25 So kann eine Konstellation beispielsweise Opposition oder Konjunktion sein, 26 die Zeichen können sich also bezüglich bestimmter Aspekte konfrontativ gegenüberstehen oder in ihnen übereinstimmen - eine solche „Extremkonstellation“ eingehen muss sie jedoch nicht zwangsläufig. Es sollte jedoch nicht vernachlässigt werden, dass die Ausdeutung einer Konstellation als Opposition oder Konjunktion sich auch bloß auf einen gewissen Aspekt bzw. Zusammenhang beziehen kann, dass das 85 „Freunde sind wie Sterne“ <?page no="86"?> 27 Vgl. Negel, Freundschaft, 80. Ausgeführt findet sich das Konzept der freundschaftlichen Lebenshingabe im Johannesevangelium beispielsweise bei Jens Schröter, Sterben für die Freunde. Überlegungen zur Deutung des Todes Jesu im Johannesevangelium, in: Axel von Dobbeler, Religionsgeschichte des Neuen Testaments. Festschrift für Klaus Berger zum 60. Geburtstag, Tübingen 2000, 263-288 sowie Klaus Scholtissek, „Eine größere Liebe als diese hat niemand, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“ ( Joh 15,13). Die hellenistische Freundschaftsethik und das Johannesevangelium, in: Jörg Frey/ Udo Schnelle (Hg.), Kontexte des Johannesevangeliums, Tübingen 2004, 413-439. Vgl. zur Enzyklopädie antiker Freundschaftsethik außerdem die Beiträge von Michael Schneider und Thomas Paulsen in diesem Band. 28 Vgl. weiterhin die Konstellation von Jesus und Petrus in Joh 18 sowie Joh 21. 29 Eine mögliche Deutung kann sein, dass sie seine Freunde sind, weil er sein Leben für sie gibt, sie jedoch nicht gleichermaßen verfahren, er also auf dieser Ebene nicht als „Freund“ semantisch besetzt wird. Vgl. zur asymmetrischen Freundschaftsbeziehung, insbesondere auch im Johannesevangelium, den Beitrag von Michael Rydryck im vorliegenden Band. 30 Vgl. Stegemann, Freundschaftstopik, 9: „Feinde können jedoch zu Freunden werden.“ wesentliche Merkmal bzw. die Ausdeutung als Opposition oder Konjunktion nicht allgemeingültig ist. So kann Petrus mit Joh 15,14 als Freund Jesu bezeichnet werden. Dass die Freundschaftskonstellationen des Neuen Testaments jedoch nicht einfach zu verstehen sind, ergibt sich beispielsweise aus der gemeinsamen Betrachtung von Joh 13 und Joh 15: Ganz im Zeichen antiker Freundschafts‐ ethik 27 sagt Petrus Jesus, dass er sein Leben für ihn lassen werde ( Joh 13,37). Jesus entgegnet ihm daraufhin, dass dies nicht der Fall sein wird ( Joh 13,38). Petrus scheint kein Freund zu sein, weil er sein Leben nicht für den Freund lässt. Und doch zählt Petrus zu dem Kreis derer, die Jesus später als seine φίλοι (Joh 15,12f.) bezeichnet. 28 Bemerkenswert ist bei dieser Konstellation, dass Jesus seine Schüler zwar als Freunde bezeichnet, er selbst aber nicht als Freund der Schüler charakterisiert wird, sondern als ihr Herr (vgl. Joh 13) - dies lässt die Komplexität der in der Konstellation zum Tragen kommenden Gottesfreundschaft bereits erahnen. 29 Die Mehrdimensionalität der Konstellation ergibt sich aus dem Befund, dass die einzelnen konstellativen Zeichen eine je eigene Multidimensionalität und Polysemie aufweisen: Sie sind in ihrer Semantik nicht „nur“ Freund oder Feind. 30 Die Zeichen sind nicht monosemantisch, sondern zeichnen sich und damit auch die Konstellation insgesamt durch ihren Facettenreichtum aus. Gerade aus diesem Facettenreichtum erwächst die Dynamik der Konstellation, die nicht statisch auf eine einzelne, andere Bedeutungen ausschließende Bedeutung festzulegen ist. 86 Dominic Blauth <?page no="87"?> 31 Vgl. Adorno, Negative Dialektik, 169. 32 Vgl. Roland Barthes, S/ Z, stw 687, Frankfurt am Main 1987, 9f.: „Einen Text interpre‐ tieren […] heißt vielmehr abschätzen, aus welchem Plural er gebildet ist. […] gibt es dennoch niemals eine Ganzheit des Textes“ (Kursivierung im Original). 33 Vgl. Lehr, Kleine Formen, 140. 34 Text meint hier nicht Text im engeren Sinne, sondern spielt vielmehr auf einen offenen Textbegriff an, der sich als grundsätzliches Gewebe von Zeichen versteht. 35 Vgl. Roland Barthes, Der Tod des Autors, in: Fotis Jannidis u. a. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, 181-193. 3.2 Die Dynamik der Konstellation Wie zuvor dargestellt, weisen Konstellationen aufgrund der Vieldeutigkeit ihrer Zeichen eine Dynamik auf, die wiederum zu einer Dynamisierung der Semantik der beteiligten Zeichen führt. So ist es gerade der reziproke Einfluss der Bedeu‐ tungszuschreibung der Zeichen untereinander, aber auch zwischen Zeichen und Konstellation, der dazu führt, dass Bedeutungen sich in der Konstellation verändern. Eine weitere Dynamisierung ergibt sich aus dem Zusammenspiel verschiedener Konstellationen: Insofern Zeichen Teil mehrerer Konstellationen sind und sich die Bedeutung dieser Zeichen stets auch aus der jeweiligen Konstellation heraus ergibt und verändert, 31 könnte der Sinn eines Zeichens aufgrund seiner Verwobenheit erst abschließend geklärt werden, würden alle zugehörigen Konstellationen ausgewertet - der Bedeutung eines Zeichens kann sich vor diesem Hintergrund folglich nur asymptotisch angenähert werden. 32 In jedem Fall hat die Konstellation auch Auswirkungen auf den semantischen Gehalt der einbezogenen Zeichen. 3.3 Die Perspektivität der Konstellation Wie zuvor bereits erwähnt, sind Konstellationen perspektivisch und hängen insofern von unterschiedlichen Einflüssen ab. Sowohl im Produktionsals auch im Rezeptionsakt kann es zu bestimmten perspektivischen Konstellationen kommen, 33 wobei die Produktionsperspektivität aufgrund der Verselbständi‐ gung des Textes 34 im Vergleich zur Rezeptionsperspektivität eher, jedoch nie vollständig zu vernachlässigen ist. 35 Im Produktionsakt kann zwar eine Konstel‐ lation bewusst gestaltet worden sein, ihre Bedeutung kann sich jedoch u. a. auf‐ grund der Veränderung von Enzyklopädien im Laufe der Rezeptionsgeschichte eines Textes verändern. Es ist daher gerade die Rezeptionsperspektivität, der besonderes Augenmerk mit Blick auf die Wahrnehmung und Interpretation von Konstellationen gilt. Die Deutung von Konstellationen - ebenso wie auch ihre gestalterische Anlage - geschieht nicht voraussetzungslos, sondern bedarf in hohem Maße 87 „Freunde sind wie Sterne“ <?page no="88"?> 36 Vgl. Lehr, Kleine Formen, 140. 37 Vgl. Stefan Alkier, Ethik der Interpretation, in: Markus Witte (Hg.), Der eine Gott und die Welt der Religionen. Beiträge zu einer Theologie der Religionen und zum iinterre‐ ligiösen Dialog, Würzburg 2003, 21-41, hier: 32; die Kriterien der Interpretation finden sich zuletzt in Stefan Alkier, Sola scriptura als epistemologisches, hermeneutisches, methodologisches und theologisches Konzept der Schriftauslegung. 20 Thesen und ihre Erläuterungen, in: ders. (Hg.), unter Mitarbeit v. Dominic Blauth und Max Botner, Sola Scriptura 1517-2017. Rekonstruktionen - Kritiken - Transformationen - Perfor‐ manzen, Tübingen 2019, 429-477, hier: 442f., sowie Alkier, Ethische Implikationen. 38 Alkier, Ethische Implikationen. enzyklopädischer Kompetenz. 36 Aufgrund unterschiedlicher Voraussetzungen und Zugänge zu Konstellationen der Rezipierenden ergibt sich immer eine Vielfalt von Deutungen, die jedoch nicht zu einem exegetischen anything goes führen kann und darf, da Konstellationen stets auch einen Akt positionierender Begrenzung und Konkretion bedeuten. So muss jede Deutung den Kriterien einer Ethik der Interpretation 37 genügen: Sie muss den Auslegungsgegenstand als real vorgegebenen ernst nehmen (Realitätskriterium), darf keine Ansprüche auf unumschränkte Deutungshoheit stellen (Sozietätskriterium) und muss sich ihrer kontextuellen Verortung bewusst sein und diese bei Bedarf explizit ma‐ chen (Kontextualitätskriterium). Dabei gilt es mit hermeneutischer Demut festzuhalten: „auch ethisch vertretbare Interpretationen sind defizitär und falsifizierbar.“ 38 Die Perspektivität einer Konstellation kann beispielsweise durch das ihr zugrundegelegte Forschungsinteresse beeinflusst werden. Wie zuvor bereits erwähnt, werden Konstellationen des Neuen Testaments häufig ausgehend von der bipolaren Frage nach Freundschaft oder Feindschaft untersucht, stellen diese doch gerade besondere Formen von Konstellationen dar, deren Ausdeutung für die Gottesbeziehung und damit einhergehend das Heil entscheidend sind, inso‐ fern sie nicht auf eine realhistorische Suche beschränkt werden. Im Folgenden soll der hier skizzierte Ansatz einer Hermeneutik der Konstellation anhand einer im Corpus Johanneum beschreibbaren Konstellation der Freundschaft untersucht werden. Wie bestimmt Freundschaft diese Konstellation? Und wie ist Freundschaft in der Konstellation besetzt? 4 Konstellationen von Freundschaft in den johanneischen Schriften Gerade durch den hermeneutischen Rahmen „Freundschaft“ werden neutes‐ tamentliche Texte häufig stark eingrenzend gelesen: Sind die dargestellten Beziehungen vor dem Hintergrund einer antiken Freundschaftsethik zu ver‐ 88 Dominic Blauth <?page no="89"?> 39 Vgl. Stegemann, Freundschaftstopik, 11. 40 Vgl. John Fitzgerald, Christian Friendship: John, Paul, and the Philippians, in: Interpre‐ tation 61/ 3 (2007), 284-296, insbesondere: 296. 41 Vgl. Stegemann, Freundschaftstopik, 10. 42 Vgl. Fitzgerald, Christian Friendship, 291f.: “kinship terms were often used to charac‐ terize friendship rather than to indicate lineage or biological relationship”, sowie Ruth Scoralick, Freundschaft in der Bibel, in: Diakonia 33 (2002), 393-399, hier: 399. Dass gerade die Familienmetaphorik ein zentrales Element des 1Joh darstellt, kann mit Dirk G. van der Merwe, Family Metaphorics: A rhetorical tool in the Epistle of 1 John, in: Acta Patristica et Byzantina 20/ 1 (2009), 89-108, plausibel angenommen werden. Vgl. weiterhin im Zusammenspiel mit der in 1Joh häufig auftretenden Kollektivbezeichnung ἀγαπητοί, aber auch der auf der ἀγάπη fundierten Argumentationen des 1Joh, Schmidt, Freundschaft, 33f. stehen? Welche Auswirkungen hat dies auf die Rezeptionserwartungen mo‐ derner Leser*innen? Ekkehard W. Stegemann stellt zurecht fest, dass antikes Freundschaftsdenken nicht zu schnell an die Texte des Neuen Testaments herangetragen werden sollte. 39 Umso sinnvoller erscheint eine konstellations‐ theoretische Untersuchung, die sich nicht nur auf ein bestimmtes Freund‐ schaftskonzept begrenzt, sondern eine in der Hermeneutik der Konstellation angelegte Offenheit der Deutung ermöglicht. Auch wenn „Freundschaft“ im Neuen Testament nicht nur im Corpus Johanneum, sondern auch im Corpus Paulinum und im lukanischen Doppelwerk greifbar wird, 40 bezieht sich die folgende holzschnittartig angelegte Untersuchung auf das Corpus Johanneum, insbesondere auf die in den Johannesbriefen dargestellten Konstellationen. Die Johannesbriefe geraten dabei in den Fokus, weil sie nicht explizit die Freundschaft Jesu und seiner Schüler thematisieren, sondern diese lediglich durch das johanneische Gedankengut in die Konstellation eingetragen wird und die Freundschaftskonstellation prägt. Dabei scheinen vor allem 1Joh und 3Joh bezüglich der in ihnen dargestellten Konstellationen in den Vordergrund zu treten: Während 3Joh Freundschaft explizit thematisiert und zu den wenigen expliziten φίλος Gebrauchszusammenhängen (3Joh 15) des Neuen Testaments zählt, 41 zeichnet sich 1Joh doch gerade durch die dort stark vertretene „Liebes- und Familiensprache“, die gleichermaßen die klassische „Freundschaftssprache“ abzulösen scheinen, aus. 42 Die in 3Joh dargestellte Konstellation aus Ältestem und Gaius ist einerseits als familiäre Konstellation beschreibbar, die jedoch freundschaftlich ausgedeutet wird. So wird Gaius, der in einem freundschaftlichen Verhältnis zum Ältesten zu stehen scheint (3Joh 15), als Teil des Kollektivs der Kinder des Ältesten (3Joh 4) beschrieben. Andererseits bringen beispielsweise 3Joh 1f.5f. die ἀγάπη als emotionale Beziehungsform in die Konstellation ein. Wird die in 3Joh 3 ange‐ sprochene Wahrheit (ἀληθείᾳ) wiederum in die Konstellation aus Freundschaft, 89 „Freunde sind wie Sterne“ <?page no="90"?> 43 Vgl. Hans-Ulrich Weidemann, Auf der Suche nach den Gegnern der Johannesbriefe, in: Martin Ebner u. a. (Hg.), Kontroverse Stimmen im Kanon, Quaestiones disputatae 279, Freiburg i.Br./ Basel/ Wien 2016, 138-177, hier: 163. 44 Zum identitätsstiftenden Konzept der commonality vgl. Rogers Brubaker/ Frederick Cooper, Beyond „Identity“, in: Theory and Society 29/ 1 (2000), 1-47, insbes.: 19-21. 45 Zur Frage nach dem in den Johannesbriefen ausgetragenen Antagonismus vgl. Blauth, Streitigkeiten in der Familie. 46 In diesem Aspekt zeigt sich eine über das Neue Testament, sogar über das Christentum hinausgehende Eigenschaft von Freundschaft: Sie basiert auf fürsorglicher Liebe und Wahrheit. Familie und Liebe eingebracht, trägt der Wahrheitsbegriff in diese Konstellation der Freundschaft zugleich Joh 15,15 intertextuell ein: Freund ist, wer die Wahrheit der Lehre Jesu kennt. Die in Joh 15,15 beschriebene Offenbarung von Geheimnissen unter Freunden steht in Joh 15 ihrerseits in direkter Konjunktion zum Liebesgebot ( Joh 15,9-17). Mit 3Joh scheint die Freundschaftskonstellation also geprägt von ἀγάπη und ἀλήθεια. Weiterhin kann mit Blick auf 3Joh festgehalten werden, dass Freundschaft nicht nur innerhalb der eigenständigen Konstellation einer ἐκκλησία möglich ist, 43 insofern der Älteste und Gaius unterschiedlichen ἐκκλησίαι anzugehören scheinen. Vielmehr stellt Freund‐ schaft über die Grenzen einer ἐκκλησία hinaus eine commonality 44 zwischen denjenigen her, die vor dem Hintergrund der ἀγάπη und ἀλήθεια bereit sind, eine Freundschaft einzugehen. Entsprechend ergibt sich konstellationsbedingt, dass diejenigen, die eine entsprechende Freundschaft eingehen, sich der ἀγάπη und ἀλήθεια verpflichten. Ein ähnliches Bild wird auch mit Blick auf die Konstellation in und mit 1Joh erkennbar. Die ἀγάπη wird als zentrales Element der Zugehörigkeit zur Konstellation der familia dei beschrieben, die sich nicht bloß auf Worte beschränken darf, sondern wahrhaftig praktiziert werden muss (1Joh 3,18). Gerade aus der Konstellation des in den Johannesbriefen ausgetragenen Antago‐ nismus und der damit korrespondierenden familiären Zusammengehörigkeit scheint sich auszudifferenzieren, wer in dieser Konstellation in Opposition und wer in Konjunktion steht. 45 Die daraus resultierende Familienzugehörigkeit wird ihrerseits auf ein bestimmtes Gottesverhältnis bezogen: Freundschaft in den Konstellationen des Corpus Johanneum ist als Gottesfreundschaft zu verstehen, insofern sie Rückschlüsse auf die Gottesbeziehung zulässt. Aufgrund der inhärenten Dynamik von Konstellationen bedeutet jedoch die Zugehörigkeit zu den Gottesfreunden nicht, dass es sich dabei um eine ewig garantierte, fixe Zugehörigkeit handelt: Das Freundschaftsverhältnis kann sich, werden ἀγάπη und ἀλήθεια nicht gelebt und damit aus der Konstellation herausgelöst, jederzeit auflösen oder kann schlimmstenfalls in ein Feindschaftsverhältnis kippen. 46 90 Dominic Blauth <?page no="91"?> 47 Vgl. bspw. Stegemann, Freundschaftstopik, 10. 48 Vgl. Negel, Freundschaft, 98: „Sie [die ἀγάπη, Anm. DB] ist die Liebe, die gibt, statt zu nehmen; die sich zurücknimmt, statt den ganzen Raum zu beansruchen; die eher das Wohl des anderen als das eigene sucht. […] Und so lehrt gerade die elterliche Agape, was das Neue Testament auf die sprichtwörtliche Formel bringt: ‚Geben ist seliger denn nehmen.‘ (Apg 20,35)“. 49 Vgl. Fitzgerald, Christian Friendship, 284. 50 Negel, Freundschaft, 105 (im Original kursiv). Bereits eine oberflächliche Lektüre der Johannesbriefe bekräftigt folglich den oben geschilderten Eindruck: Die dargestellten Konstellationen sind von der ἀγάπη, aber zugleich auch von der ἀλήθεια, geprägt. Insofern die ἀγάπη als eine besondere Form der Liebe Gottes und der Liebe zu Gott zu verstehen ist, 47 die sich als parentale, nicht selbstsüchtige Liebe dem*der Freund*in gegenüber präsentiert, 48 kann eine Freundschaftskonstellation johanneisch nicht ohne Gott gedacht werden. Das Konzept der in dieser spezifischen Konstellation entfal‐ teten Freundschaft geht somit weit über soziologische oder affektive Phänome hinaus - 49 Freundschaft ist aus johanneischer Perspektive nicht nur zwischen‐ menschlich angelegt, sondern bezieht stets die individuelle Gottesbeziehung als Teil des Freundschaftsverhältnisses mit ein. Der Freund ist mit eben der ἀγάπη zu lieben, mit der auch Gott die Menschen liebt. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass der Zugang zur Freundschaft und somit auch zur Gottesfreundschaft in der ἀγάπη begründet ist. So formuliert Negel treffend: „Christsein heißt, im starken Sinn des Wortes freundschaftsfähig sein. Freundschaftsfähig ist, wer liebesfähig ist. Liebesfähigkeit aber impliziert - Gottesfähigkeit.“ 50 5 Fazit Die in den Johannesbriefen - und allgemein auch in anderen Schriften des Neuen Testament - angelegten Konstellationen von Freundschaft sind wesent‐ lich komplexer, als dies in der Kürze des vorliegenden Beitrages hätte dargestellt werden können. Es hat sich jedoch bereits bei dieser kurzen Untersuchung gezeigt, dass selbst die Frage nach Freundschaftskonstellation nicht ohne eine Frage nach der outgroup, also denjenigen, die eben nicht Teil der Freundschafts‐ konstellation sind, auskommt. Trotz aller Komplexität und Pluralität konkreter Konstellationen scheint die Freundschaftskonstellation entscheidend von der ἀγάπη geprägt, durch die wiederum die individuelle Gottesbeziehung in die Konstellation eingebracht wird und die somit nicht nur als Ausdruck von Emotionalität verstanden werden sollte: Die Konstellation schafft es das darzu‐ stellen, was sich nicht in einfachen Begriffen ausdrücken lässt wie etwa Freund‐ schaft, Liebe, Gott. Das hermeneutische Potential des Konstellationskonzeptes 91 „Freunde sind wie Sterne“ <?page no="92"?> 51 Vgl. Adorno, Negative Dialektik, 164. liegt somit gerade in der Möglichkeit, das Unsagbare, das Mehr, 51 auszudrücken und dazustellen, ohne es durch Vorannahmen fixierend und verkürzend ein‐ zugrenzen. Aus einzelnen Zeichen können Zeichenkonstellationen mit einer übersummativen Semantik generiert werden. Gerade mit Blick auf die in der Bibel angelegte Möglichkeit und Wirklichkeit der Gottesbeziehung, die sich substantialistisch kaum adäquat fassen lässt, schafft es der Konstellationsbegriff dieser Relation eine dynamische Gestalt zu verleihen. Wenn nach Freundschaft in biblischen Texten gefragt wird, werden oft Aspekte ausgeblendet, die für ein umfassendes Verstehen von Bedeutung sind. Die Hermeneutik der Konstellation schafft es, der Pluriformität und Polysemie von Freundschaft, zumal der Gottesfreundschaft, gerecht zu werden, indem sie sie nicht nur auf einzelne Freundschaftsaspekte reduziert, sondern in ihrer Interdependenz als Konstellation wahrnimmt. Durch die konstellative Wahrnehmung schwingt also mehr mit als „nur“ antike Freundschaft, moderne Freundschaft oder Gottesfreundschaft. Gerade durch die Dynamisierung der Se‐ mantik ist sie polyphon und relational, bietet überzeitliche Anknüpfungspunkte und eröffnet es konkreten Auslegenden zugleich, sich im Auslegungsprozess selbst als Teil der Konstellation wahrzunehmen und die Konstellation auf die eigene Gottesbeziehung zu übertragen. Die Hermeneutik der Konstellation wurde bislang vor allem mit Blick auf Figurenkonstellationen sowie im Kontext intertextueller Paradigmen für die theologische Forschung fruchtbar gemacht. Ihr volles Potential wurde jedoch bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Dabei gilt es gerade bei ausführlichen konstellativen Untersuchungen die Pluralität der die Konstellation implizit und explizit bestimmenden Zeichen respektvoll aufzugreifen und in die Deutung einzubringen. Aufgrund der Übersummativität der konstellativen Semantik reicht es dabei jedoch nicht aus, die einzelnen Zeichen zu kennen, die eine Kon‐ stellation bilden, vielmehr müssen diese Zeichen in ihren jeweiligen reziproken Beziehungen interpretiert werden. Denn die Besonderheit und der heuristische Mehrwert einer Hermeneutik der Konstellation ergibt sich gerade aus dieser generativen Mehrdimensionalität. Literatur Theodor W. Adorno, Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Gesammelte Schriften Band 6, Herausgegeben von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt am Main 9 2020. 92 Dominic Blauth <?page no="93"?> Stefan Alkier, Ethik der Interpretation, in: Markus Witte (Hg.), Der eine Gott und die Welt der Religionen. Beiträge zu einer Theologie der Religionen und zum iinterreligiösen Dialog, Würzburg 2003, 21-41. Stefan Alkier, Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre, Tübingen 2005. 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Oda Wischmeyer, Emotionen als formative Elemente neutestamentlicher Ethik am Beispiel des Paulus, in: Journal of Ethics in Antiquity and Christianity 2 (2020), 25-39. 94 Dominic Blauth <?page no="95"?> Entwürfe der Freundschaft <?page no="97"?> 1 Thomas Söding, Freundschaft mit Jesus, in: IKaZ Communio 36 (2007), 220-231, hier: 220. 2 Vgl. Elisabeth Moltmann-Wendel, Wach auf, meine Freundin. Die Wiederkehr der Got‐ tesfreundschaft, Stuttgart 2000. Hans-Josef Klauck, Kirche als Freundesgemeinschaft? Auf Spurensuche im Neuen Testament, in: ders., Gemeinde zwischen Haus und Stadt: Kirche bei Paulus, Freiburg 1992, 95-123. Ziemlich beste Freunde Theophilus und die Gottesfreundschaft im Lukasevangelium Kristina Dronsch „Wozu erwarb ich einen Freund? Damit ich jemanden habe, für den ich sterben kann.“ Seneca, Brief an Lucilius (ep 9,10) „Das Thema der Gottesfreundschaft brennt“ - so hält Thomas Söding in einem Aufsatz fest. 1 Zumindest kann konstatiert werden, dass ein vermehrtes bibelwis‐ senschaftliches Interesse für die Beziehungsform Freundschaft zu bemerken ist. Dominante theologische und auch kirchliche Denkmuster von Familienvorstel‐ lungen, wie Brüder und Schwestern, Gott, der Vater und Christ*innen als seine Kinder, werden durch biblische Freundschaftsvorstellungen als Beziehungs‐ muster von Gott und Mensch aber auch der Menschen untereinander erweitert. Anstelle familiärer Beziehungswelten ist in den letzten drei Jahrzehnten die biblische Freundschaftsvorstellung in den Fokus gerückt. Geprägt durch die Wiederentdeckung gesellschaftlicher Freundschaftsmodelle werden einseitige familiäre Lebensmuster auch in der Kirche kritisch betrachtet und durch die Vorstellung der Kirche als Freundesgemeinschaft erweitert und korrigiert. In den Vordergrund treten dabei Werte wie Freiheit und die Achtung vor dem Fremden. 2 Dass die Achtung vor dem Fremden nicht nur in einem Freundschaftsdiskurs zentral, sondern ein genuines Anliegen einer Bibelwissenschaft ist, die im reflektierten Blick auf ihr Selbstverständnis nicht ohne eine Ethik der Interpre‐ <?page no="98"?> 3 Stefan Alkier, Fremdes Verstehen - Überlegungen auf dem Weg zu einer Ethik der Interpretation biblischer Schriften. Eine Antwort an Laurence L. Wellborn, in: ZNT 11 (2003), 48-59, hier: 50. 4 A. a. O., 52 (im Original kursiv). 5 Stefan Alkier, Die fantastischen Vier. Was kann man über die Evangelisten wissen? , in: Welt und Umwelt der Bibel 72/ 2 (2014), 7-11, hier: 11. 6 Vgl. Erhardt Güttgemanns, In welchem Sinne ist Lukas „Historiker“? Die Beziehung von Lk 1,1-4 und Papias zur antiken Rhetorik, in: LingBibl 54 (1983), 9-26. tation auskommt, hat Stefan Alkier pointiert gezeigt: „Ethisch verantwortetes Lesen ist eine Schule für ein Leben mit der Fremdheit der Anderen.“ 3 Ausle‐ gungen neutestamentlicher Texte haben es immer mit der Rezeption einer textuell vorliegenden Äußerung anderer zu tun, die uns fremd sind. Der Umgang mit dem Fremden steht also in doppelten Sinn im Fokus der folgenden Ausfüh‐ rungen: einerseits eingeschrieben in den Freundschaftsdiskurs, andererseits eingeschrieben in die ethische Frage der Bibellektüre als Frage nach dem Ver‐ halten zu der Äußerung eines Anderen. Wenn die folgenden Ausführungen das Thema der Gottesfreundschaft mit Bezug auf das Lukasevangelium darstellen wollen, dann ist dem „Interpretationsgegenstand als vorgebenes Anderes, vom Ausleger Unterschiedenes in gewisser Weise darzustellen und diesem anderen mit Respekt“ gegenüberzutreten. 4 Sich mit der Realität des Untersuchungsgegenstandes zu befassen, eröffnet vor allem methodischen Ansätzen innerhalb der Bibelwissenschaften, die sich einem textorientierten Paradigma verpflichtet wissen, die Möglichkeit, den Fokus auf das Erkunden von Textwelten zu legen. Damit transformiert sich der exegetische Blickpunkt und weitet sich hin zu einer Perspektive, die für die neutestamentlichen Evangelien anerkennt: „Nicht die Kenntnis des Lebens der Evangelisten erschließt das Evangelium, sondern das genaue Studium des Evan‐ geliums ermöglicht hypothetische Rückschlüsse auf die Kompetenzen ihrer Verfasser“. 5 Wer mit dieser Brille die Textwelt des Lukasevangeliums betritt, wird im Unterschied zu den übrigen neutestamentlichen Evangelien zu Beginn ein literarisches Proömium (Lk 1,1-4; vgl. Apg 1,1-3) vorfinden, welches mittels eben dieses genauen Studiums vorsichtige hypothetische Rückschlüsse auf die Kompetenzen seines Verfassers zulässt. Besonders Erhardt Güttgemanns 6 hat sich in einem grundlegenden Aufsatz diesen Kompetenzen des Verfassers des Lukasevangeliums gewidmet und dabei überzeugend herausgearbeitet, dass der Verfasser des Evangeliums über ausgewiesene Kenntnisse der antiken Rhetorik verfügt und mittels seiner Kenntnisse die theologische Zuverlässigkeit seines Werkes unter Beweis stellen will. Dafür verfasst er eine Erzählung (vgl. Lk 1,1; gr. διήγησις und lat. narratio), welche nicht einfach Episoden aneinanderreiht, sondern einen umfassenden komplexen Erzählablauf bietet, der auf Kohärenz 98 Kristina Dronsch <?page no="99"?> 7 Güttgemanns, Lukas und Papias, 15. 8 A. a. O., 16. 9 A. a. O., 19. 10 François Bovon, Das Evangelium nach Lukas. 1. Teilband Lk 1,1-9,50, EKK III/ 1, Neukirchen-Vluyn 1989, 32. abzielt. Nach Güttgemanns ist zu beachten, „daß die narratio bereits von der vorchristlichen Rhetorik als Basis der fides, also des Glaubens, betrachtet wird“. 7 Der sich in der antiken Rhetorik findende Zusammenhang von Glaube und Erzählung wird vom Verfasser zum tragenden Movens des Lukasevangeliums erhoben, denn die Erzählung des Evangeliums wird genau in dem Moment eine Bekräftigung des Glaubens, wenn sie sich als eine zusammenhängende, kohärente und nicht-episodische Erzählung erweist. So wird die Erzählung ein „Ort, an dem das ‚Glaubliche’ mittels ‚Glaubhaftmachung’ zum Zuge kommt“. 8 Dieses „Glaubliche“ ist nun keineswegs bei einer Erzählung an die Fakten gebunden, sondern kann auch Dinge enthalten, die dem wirklich Geschehenen ähnlich sind, mit dem Ziel, durch die Bewegung der Gefühle der Adressat*innen die Moral der so Adressierten in Richtung auf ein angemessenes Handeln hin zu bewegen. Denn die „Qualität der fides enthalten die Fakten erst, wenn man die Fiktion einsetzt“. 9 Doch nicht nur über die Kompetenzen der verfassenden Instanz lässt sich auf der Grundlage des Studiums des Evangeliums respektive des Proömiums etwas sagen, auch die adressierte Instanz rückt in den Fokus. Dies erklärt sich schon aus der ganz grundlegenden Funktion eines Proömiums, welches immer eine Reflexion über das Werk darstellt, die motiviert ist mit Blick auf eine Adressierung an eine Leser*innenschaft. Um diese Metareflexionsebene mit Blick auf die adressierte Instanz näher zu erfassen, lohnt ein genauerer Blick in die ersten vier Verse des Lukasevangeliums. Das lukanische Proömium besteht aus einem einzigen Satz. „Er beginnt mit einem kausalen Nebensatz (…) und einem Infinitiv, als näherer Bestimmung (V. 1), darauf folgt ein Nebensatz des Nebensatzes, der eine wichtige Erklärung enthält (V. 2)“ und erst in V. 3 wird der Hauptsatz eingeführt, in dem die verfassende Instanz einerseits klar hervortritt und andererseits zugleich anonym bleibt und sich an „Theophilus“ adressiert, um sodann das Proömium mit einem „Finalsatz (…), der seinerseits einen kurzen Relativsatz integriert (V. 4)“ abzuschließen. 10 Lukas 1,1-4 besteht somit aus einem Satz, der drei Momente enthält: a.) in V. 1 und V. 2 werden mündliche und schriftliche Quellen erwähnt, b.) V. 3 - der Hauptsatz - beschreibt das Schreibprojekt und c.) V. 4 gibt Ziel und Zweck des Projektes an. Mit dem Proömium werden sowohl die verfassende Instanz als das voraus‐ gesetzte Ich und die rezipierende Instanz, vorgestellt als Theophilus, in Relation 99 Ziemlich beste Freunde <?page no="100"?> 11 So Bovon, Evangelium nach Lukas, 23. 12 Loveday Alexander, The Preface of Luke’s Gospel. Literary Convention and Social Context in Luke 1.1-4 and Acts 1.1, SNTSMS 78, Cambridge 1993, 188-200, bietet eine umfassende Diskussion der verschiedenen Hypothesen. Die Verfasserin kommt zu dem Schluss, dass keine der Hypothesen mit Sicherheit beweisbar ist. Vgl. auch R. Robert Creech, The most Excellent Narratee: The Significance of Theophilus in Luke-Acts, in: Naymond H. Keathley (Hrsg.), With Steadfast Purpose. Essays on Acts in Honor of Henry Jackson Flanders, Waco 1990, 107-127. 13 Nur die Pseudoclementinischen Recognitionen (Rec X,71,2f) meinen zu wissen, dass Theophilus in Antiochia gelebt und den Christen einen großen Versammlungsraum zur Verfügung gestellt habe. Vgl. Hans Klein, Art. Theophilus, in: WibiLex, abrufbar unter: www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 54023/ (Zugriffsdatum 01.11.2020). gesetzt, mit dem Ergebnis, dass der im lukanischen Proömium adressierte Theophilus die Zielsetzung der verfassenden Instanz bezüglich des betreffenden Werkes erfährt. Sie liegt weder in der Verschriftlichung der Tradition noch in der Kompensation des Stoffes, sondern die positive Absicht des im Proömium vorgestellten Ich ist die Suche nach Kohärenz. Daher zielt die lukanische Erzählung nicht auf bessere oder mehr Informationen, sondern auf die Zuver‐ lässigkeit (gr. ἀσφάλεια). Damit gibt das Proömium in Lk 1,1-4 zu erkennen, dass das Ziel der folgenden Erzählung nicht die historische Genauigkeit, 11 sondern die theologische Zuverlässigkeit ist. Vor dem Hintergrund der zu erzielenden theologischen Zuverlässigkeit wird sich in V. 3 an einen Theophilus adressiert. Mit der namentlichen Nennung von Theophilus haben wir innerhalb der neutestamentlichen Evangelienliteratur den einmaligen Fall, dass am Beginn des Evangeliums explizit eine Adressierung vorgenommen wird. Diese als real inszenierte Kommunikationssituation ist maßgeblich der Grund, warum diese Textstelle zu den am besten untersuchten in der Evangelienliteratur zählt, weil sie der Illusion, einen kleinen Zipfel des Evangelisten und seines Kommunikati‐ onspartners zu erhaschen, einen Spalt weit die Tür zu öffnen scheint. Trifft doch in Lk 1,1-4 ein Ich auf einen Theophilus. Mit der Inthronisation des Theophilus als Adressaten des Evangeliums einher geht die historische Suchbewegung zu klären, wer Theophilus wirklich war. Die Vielzahl der Hypothesen zu Theo‐ philus - ausführlich diskutiert bei Loveday Alexander 12 - zeigt vor allem eines: Alle Versuche zu klären, wer der Adressierte wirklich war, sind und bleiben Hypothesen. Nicht zuletzt auch in Ermangelung weiterer frühchristlicher Quel‐ lenschriften, die zu Theophilus Auskunft geben könnten, bleibt er als historische Person ein Unbekannter. 13 Die Antwort auf die Frage, wer Theophilus war, bleibt also mehr oder weniger plausiblen Hypothesen vorbehalten. Wenn jedoch die Frage darauf gelenkt wird, wie Theophilus ist, wird Theophilus in der Erzählung des Lukasevangeliums lebendig. Jener Theophilus, dessen Eigenname mit der 100 Kristina Dronsch <?page no="101"?> 14 Bovon, Evangelium nach Lukas, 33. 15 Vgl. dazu Klaudia Seibel, Art. Leser, fiktiver, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart 3 2004, 380f., hier: 380. Bedeutung „Gottgeliebter“ oder „Gottesfreund“ am besten wiedergegeben ist, ist vor allem eins: derjenige, der mittels des Evangeliums die theologische Kohärenz seines Glaubens erkennen soll. Ausgehend von dieser Feststellung erschließt sich das sogenannte Proömium des Lukasevangeliums (Lk 1,1-4) als eine Textwelt, die weniger etwas über den adressierten Theophilus als historische Person verrät, obwohl er individualisiert adressiert wird, als vielmehr über die Funktion des adressierten Theophilus. Nicht die Frage, wer Theophilus sei, ist von Interesse, sondern die Frage, wie Theophilus vermittels der Textur des Evangeliums die theologische Kohärenz seines Glaubens erkennen kann, steht zur Disposition. Hierfür ist es sinnvoll, in einem ersten Anlauf zu klären, wie die narrative Funktion von Theophilus zu beschreiben ist. 1 Theophilus als Erzähladressat und die Schaffung einer Kommunikationssituation Im Proömium des Lukasevangeliums wird Theophilus adressiert von einem Ich, das „über seinen Namen und seine Person schweigt“. 14 Dadurch richtet sich der Fokus von vornherein auf die adressierte Instanz und die durch die direkte Anrede entstehende Kommunikationssituation, in der Theophilus seine maßgebliche Rolle erhält. Um diese Rolle auszuloten, soll im Folgenden auf die narrative Textanalyse rekurriert werden, die ein methodisches Instrumentarium bietet, die Funktion zu analysieren. Im Kommunikationsmodell narrativer Texte bildet der fiktive Leser oder Erzähladressat die dem Erzähler entsprechende Instanz auf Empfängerseite. 15 Es geht beim fiktiven Leser bzw. narratee um das erzähltheoretische Pendant zur Erzählstimme (narrator). Beide sind textuelle Phänomene innerhalb der Narratologie, die bei der erzählerischen Vermittlung einer Geschichte verschiedene Funktionen erfüllen. Das Konzept des fiktiven Lesers, das bei weitem nicht so etabliert ist wie das Konzept des Erzählers, verdankt sich der Annahme, dass jede Erzählung einen Adressaten besitzt. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass diese narratologische Instanz zu unter‐ scheiden ist vom impliziten Leser. Ausgearbeitet wurde es vor allem von dem amerikanischen Literaturwissenschaftler und Romanist Gerald Prince: „Any narrative presupposes not only a narrator but also a ‚narratee’, a receiver of the narrator’s message, and, just as the narrator in any tale is not its real author but a 101 Ziemlich beste Freunde <?page no="102"?> 16 Gerald Prince, Notes Toward a Categorization of Fictional ‚Narratees’, in: Genre 4 (1971), 100-106, hier: 100. 17 Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Lukas, NTD 3, Göttingen 3 1993, 7. fictional construct having certain characteristics in common with him, the narratee in any tale should not be confused with a real reader or listener though he may very closely resemble him.“ 16 Was also maßgeblich innerhalb der Narration durch die Erzähladressat*in geleistet wird, ist die Etablierung einer Kommunikationssituation. In Lk 1,1-4 wird eine Kommunikationssituation zwischen einem nicht näher spezifizierten „Ich“ und dem Erzähladressaten Theophilus inszeniert. Zugleich erhält das Lukasevangelium dadurch einen erzählerischen Rahmen, welcher auf der Text-Leser*in-Ebene dazu führt, dass sich die Leser*innen mit dem Erzähladres‐ saten Theophilus „verbünden“ und an seine Seite treten, um die Erzählung zu hören. Wie Theophilus sind auch sie nicht aktiv an der Erzählung beteiligt, jedoch eingeladen, sich auf sie einzulassen. Durch die direkte Anrede an Theophilus wird eine reale Kommunikationssituation geschaffen, die es den Leser*innen ermöglicht, an ihr partizipieren zu können. Weil Theophilus als Erzähladressat nicht direkt als Figur am Geschehen der dann folgenden Erzäh‐ lung beteiligt ist, eröffnet sich für die Leser*innen ein Raum, sich gemeinsam mit ihm auf die geschaffene Kommunikationssituation einzulassen. Durch die direkte Anrede des Theophilus als Erzähladressaten wird somit eine explizite Kommunikationssituation geschaffen, die die Leser*innen mit Theophilus die nun folgende Erzählung hören lässt. Beide stehen außerhalb der Erzählung und werden beide zeitgleich zu den ersten Hörer*innen der Erzählung, sobald das Evangelium gelingend adressiert wird. „Während Markus den Leser fast schockartig mit seiner ‚Frohbotschaft’ überfällt, überbrückt Lukas den Graben zwischen sich und den Lesern in der Art des gebildeten Zeitgenossen“. 17 Selbst wenn nicht angenommen wird, dass der „gebildete Zeitgenosse“ im Fokus steht, kann zusammenfassend festgehalten werden, dass es die explizit hergestellte Kommunikationssituation ist, die ansprechend und einladend die Tür aufmacht für die sich dann entfaltende Erzählwelt. Die direkte Ansprache dient dabei der Stabilisierung des Kommunikationskanals - eben dieser Erzählung. Mit dem erklärten Ziel für Theophilus und die Leser*innen durch die vermittelte theologische Kohärenz der Bekräftigung des Glaubens zu dienen, wird der Prolog zum Eingangstor, der die gesamte lukanische Erzählung eröffnet. Das Proömium kann es sich hinsichtlich der „Ereignisse, die sich unter uns erfüllt haben“ (V. 1), deshalb erlauben, so ungenau zu bleiben, weil es die Aufgabe der Erzählung ist, durch die Handlungen der Protagonisten eben diese theologische 102 Kristina Dronsch <?page no="103"?> 18 Vgl. Bovon, Evangelium nach Lukas, 41, der jedoch hier eher die profane Bedeutung „erfahren“ sehen möchte. Zuverlässigkeit zu zeigen. Das Proömium fungiert damit als inszenierte Spur, die auf das Folgende weisen soll. Auf diese Spur trifft Theophilus, der Gottesfreund, und er trifft auf die „Ereignisse, die sich unter uns erfüllt haben“ (V.1). In der geschaffenen Kommunikationssituation steht Theophilus einem Ereignis gegenüber, das als vergangenes noch immer lebendig bleibt (griech. Perfekt). Wenn bedacht wird, dass Spuren sich dem Kausalnexus eines vergangenen Geschehens verdanken, ragt in der Textur des Proömiums - in Gestalt der Spur - ein vergangenes Ereignis in die Gegenwart als Spur hinein. Auf diese Spur wird Theophilus durch die direkte Adressierung gesetzt. Er wird als fiktiver Leser zum Spurenleser, dessen Aufgabe es ist, durch „Auflesen“ und „Herauslesen“ seinen Beitrag zur Spurensicherung und Spurenidentifikation zu leisten. Mittels seines Spürsinns werden die „Ereignisse, die sich unter uns erfüllt haben“, in eine Spur für die theologische Glaubhaftigkeit seines Glaubens verwandelt. Die Spurensuche ist somit eine Aktivität, die sozusagen in der intensiven Beschäftigung mit der folgenden Erzählung ihren Ausgang nimmt. Von daher ist das Epitheton κράτιστος (V. 3) zur Charakterisierung von Theophilus als Erzähladressat durchaus angemessen. Der Superlativ, der soviel wie „hochverehrt“ bedeutet, kommt im NT nur noch in Apg 23,26; 24,3 und 26,25 vor und wird dort in der Anrede offizieller Beamter verwendet. Damit wird Theophilus als eine Person von Rang konnotiert. Theophilus wird als Erzähladressat zum superlativisch herausgehobenen Spurenleser, denn seine Aufgabe ist es, sich im Geschriebenen zu orientieren, damit die theologische Zuverlässigkeit für ihn als den hochverehrt konnotierten Gottesfreund erkannt wird. Er ist es als Erzähladressat, der zusammen mit den Leser*innen „die Dinge zum Sprechen zu bringen“ hat. Eingebunden in die Ereignisse darf Theophilus sich ausgestattet wissen mit gutem Orientierungswissen zum Spurenlesen. Dies wird deutlich in dem Finalsatz (V. 4), in dem eine weitere Charakterisierung des Erzähladressaten erfolgt. Die Wendung „damit du die Zuverlässigkeit der Worte erkennst, über die du unterrichtet wurdest“ bringt mit dem Verb κατηχέω eben dieses dem Theophilus zur Verfügung stehende Orientierungswissen zur Sprache. Innerhalb der Apg wird dieses Verb im Passiv mit der Bedeutung „im Christusglauben unterwiesen zu sein“ verwendet. Die Grundbedeutung von κατηχέω ist „ertönen lassen“ (ἦχος = der Klang) und von dieser Grundbedeutung her kann es mit Bezug auf Apg 18,25 als „unterweisen“ verstanden werden. 18 Für Apg 18,25 legt sich diese Deutung nahe, denn der dort genannte Apollos wird zwar als vom Geist erfüllter Verkündiger und als im Weg des Herrn 103 Ziemlich beste Freunde <?page no="104"?> 19 A. a. O., 40. 20 Vgl. Gerald Prince, Introduction to the Study of the Narratee, in: Jane P. Tompkins (Hg.), Reader-Response Criticism: From Formalism to Post-Structuralism, Baltimore 1980, 7-25, hier: 20-21. Unterwiesener geschildert, brauchte aber dennoch genauere Informationen, die er nach V. 26 durch Priscilla und Aquila erhält. Auch die übrigen Textstellen in der Apg, in denen das Verb im Passiv vorkommt (Apg 21,21.24), weisen auf eine unzureichende Informationslage hin. Daher wird über die Charakterisierung des Erzähladressaten durch das Verb κατηχέω im Passiv der Zuversicht des gelingenden Spurenlesens von Theophilus Ausdruck verliehen. Erhält er doch mit der vorliegenden Schrift alle zum erfolgreichen Spurenlesen notwendigen Voraussetzungen und wird somit zum eigentlichen Akteur. Denn Theophilus kommt als der adressierten Instanz die Empfängerrolle für das zur Vermittlung Anstehende zu. Der Spurenleser Theophilus hat sich als Erzähladressat zu etwas zu verhalten, dem er nicht nur kommunikativ begegnet, sondern auch kognitiv. In Vers 4 wird explizit sein Erkennen angesprochen. Das verwendete Verb ἐπιγινώσκω hat „hier die Bedeutung ‚genau erkennen’, nachdem die Aufmerk‐ samkeit auf (…) die Person oder die Sache gelenkt worden ist, meint also eine bewußte und erarbeitete Einsicht“. 19 Damit ist die Funktion des Erzähladressaten nicht nur auf die Rolle der Kommunikation beschränkt, sondern Theophilus als Spurenleser weist in die Domäne des Erkennens und der Kognition. Wenn in der Erzählforschung vor allem die vermittelnde Funktion des Erzähladres‐ saten, der sozusagen der Vermittler zwischen der erzählenden Instanz und den realen Leser*innen ist, betont wird, 20 zeigt sich, wie im Lukasevangelium diese Vermittlungsarbeit des Theophilus von vornherein qualifiziert wird: als zwischen Verstehen und Erkennen angesiedelt. Theophilus verdeutlicht in seiner Funktion als Erzähladressat, die für die gelingende Lektüre notwendigen Voraussetzungen, mit denen auch die Leser*innen sich Dank der vorliegenden Schrift ausgestattet wissen können, um erfolgreiche Spurenleser*innen der nun folgenden Erzählung zu sein. Anhand des Erzähladressaten Theophilus zeigt sich also, wie sehr sich das Lukasevangelium einem leser*innenorientierten Konzept verpflichtet weiß. 2 Frohbotschaftliche Freundschaftsbande Eingebunden durch die direkte Adressierung an Theophilus in eine explizite Kommunikationssituation und ausgestattet als Spurenleser betritt nun Theo‐ philus gemeinsam mit den Leser*innen die Erzählwelt des Evangeliums. Im narrativen Raum des Evangeliums wird nun lesbar, was es heißt, sich als 104 Kristina Dronsch <?page no="105"?> 21 Vgl. Nils A. Dahl, Jesus in the Memory of the Early Church, Minneapolis 1976, 84, der hervorhebt, dass Lukas sein Evangelium „in continuitation of biblical history“ schreibt. 22 Bovon, Evangelium nach Lukas, 35. 23 Richard B. Hays, Die Befreiung Israels im lukanischen Doppelwerk. Intertextuelle Narration als kulturkritische Praxis, in: Stefan Alkier/ Richard B. Hays, Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre, NET 10, Tübingen 2005, 117-136, hier: 119. Freund Gottes zu verstehen und zu erkennen. Dazu knüpft das Evangelium konsequent an die Geschichte Gottes mit seinem auserwählten Volk Israel an und stellt die Geschichte Jesu so heraus, dass sie die Geschichte Jesu in nahtloser Fortschreibung der Geschichte Israels zu verstehen gibt, 21 so dass die sich entfaltende Erzählung des Lukas die Absicht Gottes hervorhebt, die dem Volk Israel zugesprochene Rettung zu erfüllen. Die in Lk 1,4 als Ziel der Erzählung erwähnte Zuverlässigkeit des zu Erzählenden wird inhaltlich so qualifiziert, dass die Geschichte von Gottes rettendem Handeln in der Geschichte Israels sich in Tod und Auferstehung Jesu sowie durch die Gabe des Geistes an die Gottesfreunde vollendet. Mit dem seltenen Verb πληροφορέω (= „vollbringen“, „erfüllen“, „vollziehen“) wird auf diese theologische Qualität schon im Proö‐ mium hingewiesen. „Die Ereignisse, von denen hier die Rede ist, sind nicht nur ‚geschehen’, sondern ‚erfüllt geschehen’, d. h. wie Gott sie wollte“. 22 Damit deutet schon die im Proömium gewählte Wortwahl auf die rettende Macht Gottes hin, die sich von der Vergangenheit bis in die Gegenwart hinein fortschreibt. Dabei darf es gewiss nicht als Zufall angesehen werden, dass sich Formen und Derivate von πληρόω und πληροφορέω nicht weniger als fünfzehnmal in den ersten vier Kapiteln des Lukasevangeliums finden lassen. Damit soll in der Begegnung mit Jesus in der Erzählung dem Erzähladressaten Theophilus und den Leser*innen versichert werden, dass sich in dem lukanischen Jesus das rettende Handeln Gottes nicht nur fortsetzt, sondern erfüllt. Richard Hays hat darauf hingewiesen, dass die lukanische Praxis der inter‐ textuellen Erzählung sich konsequent von der z. B. des Matthäusevangeliums unterscheidet. Während die matthäischen Reflexionszitate mehr oder weniger als begleitender Kommentar des Erzählers erscheinen, nutzt Lukas die Einbin‐ dung alttestamentlicher Schriften „als ein Buch der Verheißungen Gottes für das Volk Israel. Durch seinen Bundesschluss hat Gott sich selbst diesem Volk verpflichtet, dem daher eine göttliche Rettung aus der Unterdrückung gewiss ist“. 23 Zu diesem soteriologischen Aspekt tritt außerdem ein ekklesiologischer, der sich aus dieser Verheißungstheologie ergibt: Erfüllung ist nicht nur in der Begegnung mit dem lukanischen Jesus gefunden, sondern auch in der 105 Ziemlich beste Freunde <?page no="106"?> 24 Vgl. Saul Olyan, Friendship in the Hebrew Bible, Anchor Yale Bible Reference Library, New Haven 2017. Gegenwart einer Gemeinschaft, die sich zu verstehen gibt als „Volk, das wohl vorbereitet ist für den Herrn“ (Lk 1,17). Damit setzt der Erzähler auf einen Erzähladressaten, dem dieses rettende Handeln Gottes aus den heiligen Schriften Israels vertraut ist. Der Erzähler kann deshalb ohne weitere Erklärungen auf diese Schriften durch das Einspielen alttestamentlicher Texte rekurrieren (vgl. Lk 2,70; 3,4; 4,4.8.10-12; 24,27.45) und auch das rettende Handeln Gottes bedarf keiner Erklärung (vgl. Lk 2,11.25.26.38; 3,15; 4,21; 7,19-23). Das rettende Handeln Gottes wird als bekannt vorausgesetzt und Theophilus als Freund Gottes wird als vertraut mit den Erzählungen und Protagonisten der heiligen Schriften Israels gesehen. In ihnen begegnen den Leser*innen schon Freunde Gottes, namentlich Mose und Abraham. Selbst wenn zu konstatieren ist, dass im Hebräischen Freundschaft nicht dem Wort nach, sondern dem Kontext nach zu finden ist, geben die Figuren Aufschluss über gelingende Gottesfreundschaft. Denn die Bezeichnung eines Menschen als „Freund Gottes“ ist im AT besonderen Figuren vorbehalten, die eine ausgewählte Funktion erfüllen. So wird in Ex 33,11 erwähnt, dass Gott mit Mose redet von Angesicht zu Angesicht, nämlich so, wie man mit seinem Freund redet. Die Rolle als Freund Gottes erhält Mose also dadurch, dass er - wie auch der Erzähladressat Theophilus - eine Mittlerrolle einnimmt. Mose ist der Mittler zwischen Gott und Israel, so wie sich auch Theophilus als Mittler der „Ereignisse, die sich unter uns erfüllt haben“ (V. 1) durch sein Spurenlesen, das sich verstehend und erkennend vollzieht, ausweist. Auch Abraham wird Freund Gottes genannt in Jes 41,8 sowie 2Chr 20,7 (vgl. auch Jak 2,23). Für Abraham als Freund Gottes ist auf seinen in Gen 18,17 zur Sprache gebrachten besonderen Beziehungscharakter zu Gott hinzuweisen - als Protagonist, der im Vertrauen und Glauben auf Gott hin seine Existenz ausrichtet, kommt er als Freund Gottes zur Sprache. In einer großangelegten Studie hat sich Saul Olyan den Freundschaftsvorstellungen in den Schriften Israels gewidmet. 24 Als eine der Kernthesen wird dabei festge‐ halten, dass Freundschaftsvorstellungen sich im AT nicht nur als eine soziale Größe entfalten, sondern auch theologisch qualifiziert werden vor dem Hinter‐ grund der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Die soziale Beziehungsform Freundschaft kann über die Vorstellung des Bundes Gottes mit seinem Volk Israel zur Beschreibung von Freundschaftsbeziehungen theologisch adaptiert werden, weil sie über Gottes Versprechen eines Bundes eine Anknüpfung boten. Als Erzähladressat ist es Theophilus Aufgabe, in Anknüpfung an diese 106 Kristina Dronsch <?page no="107"?> 25 Alan C. Mitchell, „Greet the Friends by Name“. New Testament Evidence for the Greco-Roman Topos on Friendship, in: John T. Fitzgerald (Hrsg.), Greco-Roman Per‐ spectives on Friendship, SBL Resources for Biblical Study 34, Atlanta 1997, 225-262, hier: 239. bundestheologische Adaptierung sich selbst in seiner Rolle als Gottesfreund zu verstehen zu geben, wenn er nun auf den lukanischen Jesus in der Erzählung trifft, der in der lukanischen Perspektive die Verheißungen Gottes erfüllt sein lässt. Die hier vertretene These ist, dass sich die Theologie der Erzählung des Lukasevangeliums aus der festen Klammer von Christologie und Soteriologie erschließt, die sich in der für das Lukasevangelium fundamentalen These aktualisiert, dass Jesus der Heiland ist, was konsequent von Kapitel 1 an thematisiert wird. In der Erzählwelt des Lukasevangeliums ist die Soteriologie zugleich an die Begegnung mit dem lukanischen Jesus gebunden, denn in der Begegnung mit ihm ist eine Relecture menschlicher Existenz möglich, in der die Vergangenheit neu beurteilt wird und Gegenwart neu bestimmt wird. Dieses neue Selbstverständnis führt zu zwei Dingen: a.) Entdeckung des Nächsten und b.) die Entdeckung des Nächsten ist unter das Prinzip der Großzügigkeit gestellt, in die hinein die lukanische Erzählung ihr Freundschaftsverständnis entfaltet. 3 Ziemlich beste Freunde Alan Mitchell hat in einer Studie den antiken Freundschaftsdiskurs in Bezie‐ hung zum Lukasevangelium und der Apostelgeschichte gesetzt und die These aufgestellt, dass das lukanische Doppelwerk nicht nur den antiken Freund‐ schaftsdiskurs kennt und voraussetzt, sondern eine Überbietung des antiken Freundschaftsdiskurses bietet. Dass der Freundschaftsdiskurs von Relevanz für die beiden Schriften ist, zeigt schon die zweifache Nennung des klingenden Namens Theophilus in beiden Prologen (Lk 1,3 und Apg 1,1). Im Gegensatz zum Lukasevangelium wird in der Apostelgeschichte durch die wiederholte Adressierung an Theo‐ philus der Freundschaftsdiskurs wiederaufgerufen und nun auf der Ebene der Gemeinschaft derer, die sich als Gottesfreunde verstehen, exemplifiziert. In Apg 2,44 und 4,32 wird von dieser Gemeinschaft hinsichtlich ihrer Besitztümer gesagt, dass sie „alles gemeinschaftlich unterhielten“ (gr. εἶχον ἅπαντα κοινά) und als gemeinsames Eigentum betrachteten. Nach Alan Mitchell sind diese Anknüpfungen an den Freundschaftsdiskurs so zu verstehen, um in der materiell und statusdiversen Gemeinschaft eine Möglichkeit zu schaffen, „to encourage upper status people in the community to benefit those beneath them“. 25 Das 107 Ziemlich beste Freunde <?page no="108"?> 26 A. a. O., 252. Thema Freundschaft wird in den frühchristlichen Gemeinschaften zu einem diskursiven Werkzeug, um in einer status- und reichtumsdivergenten Gruppie‐ rung der frühen Christ*innen eine Brücke zu bauen, die gemeinschaftliches Leben ermöglicht jenseits gesellschaftlicher Trennungen bedingt durch Status. Mitchell führt im weiteren Verlauf der Ausführungen mehrere Gründe an, aus denen ersichtlich ist, dass hier eine Überbietung des antiken Freund‐ schaftsdiskurses vorliegt und das Ideal einer Freundesgemeinschaft jenseits der Statusunterschiede im Fokus steht. Als erstes findet sich im Lukasevangelium sowie in der Apostelgeschichte die Erwartung, dass die Bessergestellten den schlechter Gestellten helfen ohne Erwartung einer Gegenleistung (vgl. Lk 6,34f.; 14,12-14; Apg 20,35). In den beiden Summarien Apg 2,44-47 sowie 4,32-37 findet sich eine egalitäre Sprache, die nicht nur das Teilen von Besitztümern im Auge hat, sondern in diesem Tun eine auf der Basis von Harmonie und Einheit gründende Gemeinschaft entstehen lässt. Drittens finden sich in diesen beiden Summarien Anspielungen auf Motive der LXX, so wie die Einheit von Herz und Seele (vgl. Dtn 4,29 und Apg 4,32), welche für die „equality of the friendship ideal in terms of religious obligations“ 26 steht. Außerdem nutzt die Erzählstrategie der Apg die Figur des Barnabas (Apg 4,36f.), eines Landbesitzers, um eben diese Werte zu exemplifizieren, wenn der Erzähler die Leser*innen wissen lässt, dass Barnabas nach dem erfolgreichen Verkauf seines Ackers das dadurch erworbene Geld zu den Aposteln brachte und es ihnen zu Füßen legte (Apg 4,37). In der Erzählung wird somit der wohlhabende Landbesitzer Barnabas zu einer Erzähl‐ figur, die die Werte der Erzählung bezüglich Freundschaft in der Gemeinschaft der Christusanhänger*innen narrativ einspielt und damit für die Leser*innen eine Identifikationsfigur schafft, die für ihr eigenes Verhalten leitend sein soll. Unterstrichen wird dies nach Mitchell noch durch einen weiteren Aspekt der Erzählung. So gibt es zu der Erzählung des Ackerverkaufs durch Barnabas eine Gegenerzählung in Apg 5,1-11. Hier wird der Ackerverkauf von Hananias und Saphira erzählt, die im Gegensatz zur Erzählung von Barnabas Ackerverkauf, einen Teil des Erlöses für sich behalten wollen. Dass dieses Verhalten nicht den Werten entspricht, die innerhalb der Erzählung positiv angesehen werden, wird durch den narrativ eingespielten Tod der beiden unterstrichen. Damit gehört zu den Werten der Erzählung, dass persönliches materielles Wohlergehen nicht damit begründet werden kann, dass man dieses ja einsetzen wolle, um Freunden in der Not zu helfen. Stattdessen wird anhand der Petrus-Figur ausgeführt, was nach den Werten der Erzählung als wohltätiges Verhalten (vgl. Apg 4,9) anzusehen ist. In Apg 3,1-10 heilt Petrus einen Gelähmten, der ihn um ein 108 Kristina Dronsch <?page no="109"?> 27 A. a. O., 256f. Almosen bittet, worauf Petrus ihn wissen lässt, dass er Gold und Silber nicht habe, aber er das geben wird, was er hat und zu ihm spricht: „Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher“ (V. 7) - die Heilung des Gelähmten durch Petrus geschieht, ohne dass eine Gegenleistung erwartet wird. Zudem gibt es in der Apg sowie im Lukasevangelium zahlreiche Erzählungen, in denen soziale Grenzen überschritten werden. Nach Mitchell sind diese Beobachtungen für das lukanische Doppelwerk insgesamt bemerkenswert und lassen folgendes Bild von gelingender Gemeinschaft entstehen: „one of people from differing statuses joining together, and often, those of a higher status aiding those of a lower one“. 27 Während Mitchell in den Ausführungen überzeugend aufzuzeigen vermag, wie das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte sich an den enzyklopä‐ dischen Voraussetzungen griechisch-römischer Freundschaftsvorstellungen be‐ teiligen, bleibt doch die Frage unbeantwortet, was Anlass ist, den Vorteil und das Streben nach individueller Besserstellung innerhalb der Gemeinschaft, die sich als statusdivers versteht, überhaupt zu dispensieren. Ist es denkbar, dass ein Vorteil darin liegt oder daraus entstehen könnte, dass man auf Vorteile verzichtet? Die Antwort des Lukasevangeliums lautet ja - und genau das wird im Evange‐ lium grundlegend erzählt. In der Begegnung mit dem lukanischen Jesus entfaltet sich für die Leser*innen des Evangeliums eine theologisch inspirierte Dialektik des Gewinns durch Überschreitung des eigennützigen Vorteilskalküls, wie es besonders in dem griechisch-römischen Freundschaftsdiskurs anzutreffen ist. Systemerhaltende Ausschlusssysteme, die in der Gemeinschaft greifen, werden in der Erzählung konsequent ausgehebelt - besonders der Tisch und das gemeinsame Mahl werden zu Orten, an denen gelingende Gemeinschaft in statusdiversen Zusammenkünften sich zeigt. So in Lk 5,27-32 und 19,1-10, wo Jesus als Gast bei Zöllnern einkehrt. Außerdem sitzt er zu Tisch bei Pharisäern in Lk 7,36-50; 11,37-54; 14,1-24 und ist ebenso speisend mit den Jüngern (Lk 22, 7-38; 24,28-32. 36-43), wie er Hungrige speist (Lk 9,10-17). D. h. in der lu‐ kanischen Erzählung werden der Tisch und das Mahl in der Begegnung mit dem lukanischen Jesus zu einem Ort, der gelingende Gemeinschaft ermöglicht. Die Tisch- und Mahlszenen, in denen Jesus als Gast der Hinzutretende ist, geben den Leser*innen des Evangeliums zu verstehen, was es heißt, wenn der lukanische Jesus einkehrt bei den Menschen. An den Mahlszenen exemplifiziert sich, was für die Theologie des Lukasevangeliums als Ganze gilt: Mit dem Auftreten den lukanischen Jesus ist das Rettungshandeln Gottes nicht mehr nur als Verheißung 109 Ziemlich beste Freunde <?page no="110"?> zukünftig angesagt, sondern im Hier und Heute gegenwärtig geworden (vgl. Lk 2,11; 4,21; 5,26; 19.9.42; 23,43). Dieses Rettungshandeln qualifiziert sich vom Anfang der Erzählung als die Erfahrung von Gottes Barmherzigkeit, in die die lukanische Erzählung grundlegend in Lk 1,78f. einführt: „durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht aus der Höhe, damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens“. Diese Barmherzigkeit Gottes realisiert sich in der Begegnung mit dem lukani‐ schen Jesus, von dem es heißt: „Alle Menschen werden die Rettung Gottes sehen“ (Lk 3,6). Wie die Praxis der Barmherzigkeit nun mit Blick auf Freund‐ schaft sich konkretisiert, zeigt Lk 14,12ff.: „Er sprach aber auch zu dem, der ihn eingeladen hatte: Wenn du ein Mittag- oder Abendessen gibst, so lade weder deine Freunde noch deine Brüder noch deine Verwandten noch reiche Nachbarn ein, damit sie dich nicht etwas wieder einladen und dir vergolten wird. Sondern wenn du ein Essen ausrichtest, so lade Arme, Verkrüppelte, Lahme und Blinde ein, dann wirst du selig gepriesen werden, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten“. Wer Barmherzigkeit praktiziert, folgt den in der Begegnung mit dem lukani‐ schen Jesus angegebenen Werten und ist in der Lage, den statusdiversen Nächsten als Freund zu entdecken, weil er sich in seinem Handeln selbst als Freund Gottes zu verstehen gibt. Nach den bisherigen Ausführungen ist im Lukasevangelium jedoch weniger von einer Überbietung der antiken Freundschaftsvorstellungen, sondern einer Aktualisierung im Lichte der Gottesfreundschaft zu sprechen: Wer entspre‐ chend den Werten des Evangeliums, die dem hochverehrten Theophilus vermit‐ telt worden sind, sich lesend auf das Evangelium einlässt, wird Freundschaft nicht anders als in dieser gemeinschaftsorientierten Weise aktualisieren. In Anknüpfung an griechisch-römische Freundschaftsvorstellungen wird an die in der Erzählung des Evangeliums entfalteten Werte angeknüpft, nach denen sich Freundschaft nicht in der Ökonomie des Vorteils realisiert, sondern in der Ökonomie der Barmherzigkeit. Die soziale Struktur der Freundschaftsbeziehung aufgreifend wird die Freundschaftsbeziehung in ihrer Reziprozität entfaltet, die im Evangelium sich in zweifacher Weise ausgestaltet: Nicht nur der Mensch befreundet sich, auch Gott befreundet sich mit den Menschen, wie durch den Akt der Lektüre zu verstehen gegeben wird und erkannt werden kann. Jedoch entzieht sich diese reziproke Beziehungsform einer Vorteilssicherung, sondern steht im Lichte der in der lukanischen Erzählung zu entdeckenden 110 Kristina Dronsch <?page no="111"?> 28 Alkier, Die fantastischen Vier, 9. Großzügigkeit, die schon mit V. 1 und den „Ereignissen, die sich unter uns erfüllt haben“ für die Leser*innen eingespielt wurde. Schon im ersten Vers ist damit eine Wortwahl anzutreffen, die auf die überschwängliche Fülle der rettenden Macht Gottes hinweist, die in die gegenwärtige Zeit ausgegossen wurde und sich als Barmherzigkeit zu erkennen gibt. Und so ist es das beabsichtigte Ziel der Erzählung, die Moral der so adressierten Leser*innen in Richtung auf ein angemessenes Handeln hin zu bewegen, das sich von der Barmherzigkeit Gottes bewegt weiß. Als Freunde Gottes werden die Leser*innen des Evangeliums auf den die Erzählung tragenden Wert verpflichtet: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lk 6,36). 4 Fazit Nein, man muss nichts über das Leben des Evangelisten wissen, um das Lukasevangelium verstehen zu können. „Diese hermeneutische Grundeinstellung dürfte der entscheidende Grundfaktor für das Desinteresse des sich ausbildenden Christentums an ihren bevorzugten Evange‐ listen sein. […] Wer etwas über das Evangelium von der Auferweckung des Gekreu‐ zigten wissen will, vertiefe sich in diese Evangelien selbst und nicht in Spekulationen über ihre vermeintlichen Verfasser“. 28 Das Lukasevangelium setzt diesen Anspruch in sehr elaborierter Weise um: Denn das genannte und nicht weiter ausgeführte „Ich“ (Lk 1,3) hat kein anderes Ziel mit Blick auf das Evangelium als die Verschriftlichung (vgl. γράψαι in Lk 1,3), um einen Lese-, Verstehens und Erkenntnisprozess zu initiieren. Dieses „Ich“ ist sozusagen nicht ein real existierender Verfasser, sondern vielmehr Teil der Schrift des Evangeliums. Der Prolog ist somit Ergebnis einer erzähleri‐ schen Inszenierung, deren Urheber systematisch als abwesend gedacht werden kann für das Folgende. Die Präsenz des Evangeliums in Form der Schrift macht die Anwesenheit des Verfassers überflüssig, jedoch nicht die lesenden Adressat*innen. Denn in dem Moment, wo das Evangelium gelesen wird, wird nicht nur der Verfasser als abwesend gedacht, sondern auch und vor allem, die glückende Lektüre in die Hand der Adressat*innen gelegt. Um diesem glückenden Leseprozess sozusagen auf die Sprünge zu helfen, tritt Theophilus im Prolog des Lukasevangeliums auf. Daher verdient der Erzähladressat des Evangeliums nicht als real existierende Person Aufmerksamkeit, sondern vor allem aufgrund seiner namentlich mani‐ 111 Ziemlich beste Freunde <?page no="112"?> 29 Walter Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch, hrsg. von Kurt u. Barbara Aland, Berlin/ New York 6 1988, Sp. 728. 30 Stefan Alkier, Die Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften des Neuen Testaments, NET 12, Tübingen/ Basel 2009, 122f. festierten Funktion: Theo-philus. Ein klingender Name, zusammengesetzt aus θεός und φίλος, was am besten mit Gottesfreund wiederzugeben ist. Hier begegnet nicht ein „Christ von Rang“, 29 sondern ein Name, der nachklingt in der Textur des Evangeliums und textuell verstrickt wird in die Begegnung mit dem lukanischen Jesus und der Gemeinschaft derer, die sich von der rettenden Ge‐ schichte des lukanischen Jesus bewegt sein lassen. Seinem Namen entsprechend zeigt Theophilus als Erzähladressat etwas, was mit den adressierten Leser*innen identisch sein soll - Gottes Freund sein. Jedes Lesen der Schrift ist somit ein Aktivieren dieser Gottesfreundschaft und der mit ihr verbundenen Werte. Den dazugehörigen Lektürevertrag stiftet das Proömium des Lukasevangeliums, so dass festgehalten werden kann: „Wer sich auf die Darstellung des Lukas einlässt und ihr vertraut, erweist sich in der Logik des Proömiums als Freund bzw. Freundin Gottes“. 30 Literatur Loveday Alexander, The Preface of Luke’s Gospel. Literary Convention and Social Context in Luke 1.1-4 and Acts 1.1, SNTSMS 78, Cambridge 1993. 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Thomas Söding, Freundschaft mit Jesus, in: IKaZ Communio 36 (2007), 220-231. 113 Ziemlich beste Freunde <?page no="115"?> 1 Im Einleitungsmonolog der Tragödie „Orestes“ (VV. 33-45) schildert Elektra den Zustand ihres Bruders. Der ideale Freund in der griechischen Tragödie und seine Spuren im Neuen Testament Sylvia Usener Der griechische Königssohn Orestes ist in größter Not. Er hat ein schreckliches Verbrechen begangen. Er hat seine Mutter getötet. Klytaimnestra hatte, mit Hilfe ihres Geliebten Aigisthos, ihren Ehemann Agamemnon, den Kriegsheimkehrer von Troia und König von Mykene, ermordet. Orestes will seinen Vater rächen und erschlägt, unterstützt von seiner Schwester Elektra, die Mutter. Zwar hat er damit den Willen des Gottes Apollon erfüllt, doch infolge dieser Tat wird er nun von Rachegeistern bedrängt und gequält. Wahnsinns- und Ohnmachtsanfälle wechseln sich ab mit lichten Momenten. Seitdem von wildem Siechtum aufgezehrt, liegt auf sein Bett Orestes hingestreckt. Vergoss’nes Mutterblut reißt ihn in Wirbel des Wahns. … Sechs Tage sind’s seit der erschlag’nen Mutter Leichnam durch Feuers Glut geläutert ward, dass weder Speisen er zu sich genommen noch auch gebadet. Bald gehüllt in Decken, weint er, wenn ihm die Krankheit Ruhe lässt und klar sein Geist. Bald springt er aus dem Bett und rennt umher, wie ein entsprung’nes Füllen. 1 Und in Kürze ist die Entscheidung der Volksversammlung von Argos zu erwarten, die ihn und seine Schwester nun, sechs Tage nach dem Mord, voraussichtlich zum Tode verurteilen wird. In einer solchen Lage braucht man Unterstützung. Orestes findet sie in seiner Schwester und in seinem besten Freund Pylades. <?page no="116"?> 2 Alle Übersetzungen aus: Euripides, Tragödien, übers. v. H. v. Arnim, mit einer Einfüh‐ rung und Erläuterungen von B. Zimmermann, München 1990. 3 Ovid, Tristien I, 5, VV. 21f.: … ut foret exemplum veri Phoceus amoris / fecerunt furiae, tristis Oresta, tuae („dass zu dem Vorbild wahrhafter Liebe dein Phokier wurde, deine Furien nur wirkten es, düstrer Orest“, Übersetzung: W. Willige, Zürich 1963). In der Gestalt des Pylades stellt Euripides in seiner Tragödie Orestes der Titelfigur einen Freund zur Seite, wie er besser nicht sein könnte. Der Orestes, uraufgeführt im Jahr 408 v. Chr. und somit zu den Spätwerken des Dramatikers Euripides zählend, steht in engem inhaltlichen Zusammenhang mit der Elektra, der Iphigenie in Aulis und der Iphigenie bei den Taurern. In diesen Stücken schildert Euripides das Schicksal der Geschwister und Kriegskinder Iphigenie, Elektra und Orestes, die im Zusammenhang mit dem Troianischen Krieg und seinen Folgen zu Opfern und Tätern zugleich werden. Pylades betritt die Bühne, oder besser gesagt: stürzt auf die Bühne, als Orestes aus der Ohnmacht erwacht und erkennen muss, dass er sich in einer ausweglosen Situation befindet. Versuche, die er und seine Schwester unternehmen, um einen Fürsprecher im anstehenden Gerichtsverfahren zu gewinnen, sind gescheitert (VV. 716ff.). Als aber der Freund naht, schöpft Orestes neue Hoffnung: „Glückauf! Den treuen Freund begrüßt der Mensch in Not so froh wie Meeresruh’ der Schiffer.“ (VV. 726f.). 2 Es schließt sich ein Dialog zwischen Orestes und Pylades an, in dem die Lage diskutiert und ein Strategieplan entwickelt werden. Hierbei zeigt Pylades eine Haltung, die in ihm den Idealtypus eines Freundes erkennen lässt und aus der eine maßgebende Typologie der Freundschaft entwickelt werden kann. Sie beruht auf Gemeinschaftssinn und Mitgefühl; der ideale Freund ist ein besonnener Ratgeber; ihn zeichnen Zuversicht, Entschlossenheit und Tatkraft aus; er kümmert sich liebevoll um den kranken und verzweifelten Gefährten; mutig und opferbereit gibt er sogar sein Leben für den anderen hin. Pylades war als Beispiel für den mustergültigen treuen Freund in der gesamten Antike bekannt. Noch im ersten nachchristlichen Jahrhundert be‐ zeichnet ihn der römische Dichter Ovid als Vorbild wahrer Liebe (exemplum veri amoris) ohne seinen Namen zu erwähnen. Er nennt ihn nur „der Phokier“ (nach seiner Heimat Phokis); dem Publikum wird das zur Identifizierung genügt haben. 3 An erster Stelle steht die Mitbetroffenheit des Pylades durch das Unglück des Freundes: „Mir auch gräbst du so die Grube. Freundschaft ist Gemeinsamkeit.“ 116 Sylvia Usener <?page no="117"?> 4 Vgl. auch Euripides, Andromache, VV. 376f. Der Ursprung liegt wohl in der pythagorei‐ schen Freundschaftslehre (s. Iamblichos, De vita pythagorica, 229f.), von der wiederum Platon beeinflusst war. Auch er zitiert κοινὰ τὰ τῶν φίλων als Redensart; vgl. Platon, Politeia 424a; 449c; Nomoi 739c; Lysis 207c. 5 Pylades hatte den zögernden Orestes zur Tat ermutigt, indem er ihn an den Willen Apollons gemahnte. Vgl. Aischylos, Choephoren, VV. 899-903. - κοινὰ γὰρ τὰ τῶν φίλων (V. 735). Diese in der Antike viel zitierte Redensart 4 ist der Leitgedanke des folgenden Austauschs: Orestes ist hilflos, sein Onkel Menelaos - als negative Kontrastfigur zu Pylades gezeichnet (V. 748: κακὸς φίλος „schlechter Freund“) - wird ihn nicht unterstützen. Angesichts des drohenden Todesurteils hat Pylades Angst um seinen Freund und rät spontan zur Flucht. Das aber dürfte schwierig werden, denn Orestes wird scharf bewacht. Pylades berichtet, dass auch er selbst in Schwierigkeiten steckt. Sein Vater hat ihn aus dem Haus gejagt, weil er Beihilfe zum Mord an Klytaimnestra geleistet habe. 5 Orestes bedauert, dass sein Freund in das eigene Unglück mit hineingezogen wurde, doch Pylades zeigt sich entschlossen, alles gemeinsam mit Orestes durchzustehen. Die Freunde beraten, was zu tun ist, und die einzige Chance, das Todesurteil abzuwenden, scheint darin zu bestehen, dass Orestes sich der Volksversammlung stellt, um sich selbst zu verteidigen. Elektra soll - so Pylades’ Rat - in den Plan nicht eingeweiht werden. Pylades erweist sich als besonnener Ratgeber, doch was ihn so eilig zu Orestes getrieben hat, war zunächst die Angst um seinen Freund (V. 755: διὰ φόβου γὰρ ἔρχομαι, „Furcht beschleicht mein Herz“). Daher - nur zwei Verse später - der impulsive Rat „flieh! “ (φεῦγε). Ebenso kurz entschlossen und mit wenigen Worten bekräftigt Pylades seine Bereitschaft das Leid des Freundes mitzutragen (V. 769: οὐχὶ. Μενέλεω τρόποισι χρώμεθ᾽. οἰστέον τάδε, „Lass! ich bin kein Menelaos! Lass! Es muss ertragen sein! “). Das Negativvorbild des Menelaos befeuert seine Entschlusskraft. Wo Orestes überlegt und zögert, übernimmt Pylades die Rolle des Regisseurs. „Soll ich’s meiner Schwester sagen? “ fragt Orestes im Hinblick auf den Plan, sich der Volksversammlung zu stellen (V. 787: ᾖ λέγωμεν οὖν ἀδελφῇ ταῦτ᾽ ἐμῇ;). „Bei den Göttern, tu es nicht! “ antwortet Pylades (V. 787: μὴ πρὸς θεῶν). Orestes vermutet daraufhin, dass es Elektra emotional zu stark belasten könnte (V. 788: δάκρυα γοῦν γένοιτ᾽ ἄν, „Freilich, Tränen würd’ es geben“); Pylades denkt aber auch an die Zeitersparnis (V. 789: τῷ χρόνῳ δὲ κερδαίνεις, „Wichtig auch der Zeitgewinn“). Doch Orestes hat noch ein weiteres Bedenken, das zur Feuerprobe für Pylades’ Belastbarkeit werden könnte. Würde ein erneuter Wahnsinnsanfall den Freund nicht abschrecken, ihn nicht mit Ekel und Berührungsängsten erfüllen? 117 Der ideale Freund in der griechischen Tragödie und seine Spuren im Neuen Testament <?page no="118"?> 6 Das Land der Taurer befand sich auf der heutigen Krim. Das Bild der Artemis, die die Taurer verehrten, soll vom Himmel gefallen sein (Euripides, Iphigenie bei den Taurern, VV. 84ff.). Ebenso dient auch ein vom Himmel gefallenes Götterbild als Aition für den Kult der Artemis in Ephesos (Apg 17,35). 7 „Geh in der Taurer Land / zu meiner Schwester Artemis Altar; / bemächtige dich ihres Bilds, das dort / vom Himmel, heißt es, in den Tempel fiel. / Erbeutest du’s, durch Zufall oder List, / schenk’ es, zu krönen deine Tat, dem Volk / Athens.“ (Eur. Iph. T., VV. 84-91). VV. 790ff.: Orestes: Hm. Mir bleibt noch ein Bedenken. Pylades: Ein Bedenken? Sprich es aus! Orestes: Wenn der Geisterwahn mich stachelt. Pylades: Bin ich da, dich zu betreu’n. Orestes: Kranker Menschen Leib berührt man ungern. Pylades: Ich den deinen gern. Orestes: Dass nur nicht auf dich mein Wahn sich überträgt. Pylades: Sei unbesorgt. Orestes: Kennst Du denn kein Zaudern? Pylades: Keines! Zaudert man, entgilt’s der Freund. Orestes: Auf denn! Steure meine Schritte! Pylades: Gern, es ist ja Freundespflicht. Erneut bekräftigt Pylades mit wenigen Worten, was er unter Freundschaft versteht. Er wird Orestes betreuen und pflegen, die Schwäche des Freundes stößt ihn nicht ab; er kennt keine Berührungsangst, begegnet einer möglichen Ansteckungsgefahr zuversichtlich und verbietet sich jegliches Zögern. Dass dies kein bloßes Lippenbekenntnis ist, wird in einer späteren Episode aus dem Leben der beiden Freunde deutlich, von der ebenfalls Euripides berichtet. Die Tragödie Iphigenie bei den Taurern ist zwar früher erschienen (um 412 v. Chr.) als der Orestes, schildert aber ein sagenchronologisch späteres Ereignis. Nach seinem Freispruch in Athen wird Orestes auch weiterhin von einigen Rachegeistern gequält, die das von Apollon und Athene erwirkte Urteil nicht akzeptieren. Endgültige Erlösung verheißt ihm Apollon, wenn er ein Bildnis der Artemis, das von den Taurern 6 verehrt wird, nach Griechenland bringt. 7 Die Priesterin der Artemis aber ist Iphigenie, die totgeglaubte Schwester des Orestes. Sie entging einst der Opferung durch ihren eigenen Vater, indem die Göttin sie ins ferne Land der Taurer entrückte, wo es seither ihre Pflicht ist, alle Griechen, die das Land betreten, der Artemis zu opfern. 118 Sylvia Usener <?page no="119"?> 8 Ähnlich hatte auch im Wahn, seine Feinde vor sich zu haben, der tragische Troia-Held Aias eine Schafherde getötet (Sophokles, Aias, VV. 1-133). 9 Orestes und Pylades sind zwar durchaus miteinander verwandt, aber das spielt für Orestes’ Bewertung der Freundschaft keine besondere Rolle. Pylades ist der Sohn des Strophios und der Anaxibia, einer Schwester Agamemnons. Orestes und Pylades sind also Cousins. Im Haus seines Ziehvaters Strophios hatte Orestes die Kriegsjahre verbracht. Die Verwandtschaft erwähnt auch Pylades bereits bei seinem ersten Auftritt (VV. 732f.: „Nun, wie steht’s um dich, was machst du, Kamerad vom gleichen Jahr, / Orestes, noch immer begleitet von Pylades, landet eines Tages an der Küste des Taurerlandes und wird zusammen mit seinem Freund verhaftet. Iphigenie wird durch einen Hirten von der Festnahme der Fremden unterrichtet. Der Hirte schildert einen Anfall des Orestes, bei dem dieser im Wahn, von den Furien verfolgt zu werden, wahllos Kälber niedermetzelte. 8 Als der Ausbruch vorüber ist, steht Pylades ihm schützend zur Seite. VV. 307ff.: Nun ebbte seines Tobens Wut; er sank zu Boden: Schaum stand ihm am Mund. Als wir ihn wehrlos sahn, da mühte gleich sich jeder mit Wurf und Stoß. Der andre Fremde nahm den Schaum vom Mund ihm, stützte seinen Leib und hielt den dicken Mantel schirmend vor, der drohenden Verwundung stets gewärtig und doch um Freundes Pflege treu bemüht. Pylades steht auch nach Jahren noch an Orestes’ Seite, seine Haltung ist unverändert; was er kurz nach dem Tod Klytaimnestras seinem Freund gelobte, ist nach wie vor für ihn bindend. In der Tragödie Orestes gipfelt der Dialog zwischen Pylades und seinem Freund vor dem Aufbruch zur Volksversammlung in einem emphatischen Bekenntnis zur wahren Freundschaft: VV. 800ff.: Pylades: Schmiege deine kranke, schwache Seite fest an meine an! Unbekümmert um die Gaffer, frei von jeder falschen Scham führ ich mitten durch die Stadt dich. Kann ich besser mich als Freund dir erweisen als durch Beistand in der letzten höchsten Not? Orestes: Freunde muss man haben (wieder zeigt sich’s), nicht Verwandte nur. Wer mir nicht verwandt und seelisch doch mit mir verschmolzen ist, mehr als tausend andre wiegt er, die nichts sind als blutsverwandt. 9 119 Der ideale Freund in der griechischen Tragödie und seine Spuren im Neuen Testament <?page no="120"?> liebster Freund und Blutsverwandter? Denn das alles bist du mir.“), doch auch er nennt sie erst an dritter Stelle. 10 Die Chorführerin informiert Elektra und berichtet, wie Pylades nicht von Orestes’ Seite weicht (VV. 1012ff.: „Jetzt nähert sich uns dein Bruder Orest, / durch gültigen Spruch zum Tode verdammt; / und der treu’ste der Sterblichen, Pylades, der / wie ein Bruder ihn liebt, / führt gradere Bahnen des Taumelnden Schritt, / wie ein sorgsam schreitendes Leinpferd.“). 11 VV. 1625-1665. Orestes wird seine Cousine Hermione heiraten, deren Leben er gerade noch mit dem Messer bedroht hat, und Pylades heiratet Elektra. Alles bleibt in der Familie und alles wird gut. Den Höhepunkt des Dramas schildert dann ein Botenbericht. Nach langen Pro- und Contra-Debatten wurde in der Volksversammlung letztlich doch das Todes‐ urteil über Orestes und Elektra verhängt. Den Tod allerdings dürfen sie sich selbst geben. 10 Hier erklärt Pylades, dass seine Freundschaft die konsequenteste Solidarität mit den verurteilten Geschwistern miteinschließt. Er will - auch gegen den ausdrücklichen Wunsch des Orestes - mit ihnen sterben (V. 1017: „Meinst du, dass ich, wenn du stirbst, leben will? “; V. 1072: „Kommt es mir zu zu leben ohne dich? “). Er habe schließlich bei der Tat mitgewirkt (V. 1074: „Der mit dir handelte, muss mit dir leiden.“). Doch es kommt alles anders. Was als Tragödie beginnt, endet als Action‐ thriller mit spektakulärem Showdown. Pylades und die Geschwister wollen die ihnen verbleibende Zeit nutzen, um sich am feigen Menelaos zu rächen und ihn zugleich als Instrument für ihre eventuelle Rettung zu nutzen. So wird die Ermordung seiner Ehefrau Helena geplant (hierbei ist Pylades die treibende Kraft) sowie die erpresserische Geiselnahme seiner Tochter Hermione (nach dem Vorschlag Elektras). Bei diesen Plänen ist es vor allem Pylades, der zum schnellen Handeln drängt. Das Geschehen nimmt nun ein rasantes Tempo auf, die Situation gerät außer Kontrolle, es kommt zur Eskalation. Orestes steht auf dem Dach des Palastes und hält einem Teenager ein Messer an die Kehle, Elektra und Pylades sind im Begriff, den Palast in Brand zu setzen - da erscheint Apollon als deus ex machina und sorgt für ein gutes Ende und die Verheißung eines Freispruchs durch den Areopag in Athen. 11 Später wird, wie schon erwähnt, Pylades seinen Freund auf der Reise zu den Taurern begleiten. Aufopferungsbereitschaft bis hin zur Todeswilligkeit und Tatendrang sind Charaktermerkmale des Pylades auch in „Iphigenie bei den Taurern“. Iphigenie will den einen der beiden Fremden, den sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht als ihren Bruder Orestes erkannt hat, als Überbringer einer Botschaft an ihre Familie nach Griechenland zurückkehren lassen, der andere aber (Pylades) soll gemäß dem Gesetz geopfert werden. 120 Sylvia Usener <?page no="121"?> 12 Vgl. die „wahre“ Verwandtschaft durch Gemeinschaft im Glauben, die im Neuen Testament öfter erwähnt wird (Mk 3,31-35; Lk 2,48-50; 8,21). 13 Johann Wolfgang Goethe, Iphigenie auf Tauris, 2. Aufzug, 1. Auftritt, 654. Aber Orestes will den Opfertod seines Freundes nicht zulassen (VV. 605ff.: „Mich mögt ihr töten. Schimpflich wär’s, den Freund in Not mitzuverstricken und hernach nur sich zu retten. Mein Leben ist mir teurer nicht als seins.“). Dagegen Pylades: „Ich mag nicht weiterleben, wenn du stirbst. Der mit dir zog, muss sterben auch mit dir“ (VV. 675f.). Als einziger zu überleben kommt für beide nicht in Frage. Der Konflikt wird gelöst, als die Geschwister einander endlich wiederer‐ kennen und der Entschluss gefasst wird, zu dritt gemeinsam mit dem Götterbild der Artemis zu fliehen. Auch hier ist es Pylades, der - ohne die Wiedersehens‐ freude der Geschwister stören zu wollen - zur schnellen Ausarbeitung des Rettungsplanes antreibt (VV. 900ff.). Welchen Wert Pylades für Orestes hat, wird deutlich, wenn Orestes am Anfang des Stückes auf Iphigenies Frage, ob sie Brüder seien, antwortet „Nicht von Geburt, wir sind durch Liebe Brüder“ (V. 498) 12 und kurz darauf betont, wie lange diese Freundschaft im Teilen von Freude und Leid schon besteht (VV. 708ff. „Heil dir! Warst du doch stets mein liebster Freund. Du hast mit mir gespielt, mit mir gejagt, und hast auch manche Last für mich getragen.“). In Johann Wolfgang Goethes Bearbeitung dieses Stoffes beschreibt Pylades seine Freundschaft zu Orestes als Sinnerfüllung seines eigenen Daseins: „Da fing mein Leben an, als ich dich liebte.“ 13 Die Freundschaft des Pylades zu Orestes als eine hingebungsvolle Liebe auch (oder gerade? ) zu dem Kranken und Abstoßenden schildert der Schriftsteller Klabund in seinem vom Expressionismus beeinflussten Gedicht Orest und Pylades (1922): Strophis, König von Phokis, erzog Orest und Pylades. Hand in Hand gingen die Knaben, Brust an Brust schliefen die Knaben, Mund an Mund sangen die Knaben. Sie warfen ihre Sehnsucht und den Diskos gleich weit. Und stoben im Viergespann als Sieger durch das Ziel. Da wollte es Ananke, dass die Eumeniden Orest befielen und sein Hirn 121 Der ideale Freund in der griechischen Tragödie und seine Spuren im Neuen Testament <?page no="122"?> 14 Klabund, Das heiße Herz, Berlin 1922. 15 Vor kurzem erst im Dossier der „Zeit“ vom 18.06.2020 (Alard v. Kittlitz, Nie waren wir einander so nah). wie Hunde fleischten. Im Heiligtum zu Delphi Orestes lag ermattet. Um seine Stirne stürmten die Göttinnen der Nacht. Die Fledermäuse kreischten und die Erinnyen sangen: Die Mutter ist erschlagen, die Mörderin des Vaters; der Mord hat Mord geboren: Der Mörder sei gefällt! Die Menschen flohn entsetzt. Nur Pylades blieb bei dem Freund und liebte den Mörder wie den Schöpfer er geliebt. Und liebte seinen Wahnsinn, die irre Tat, den staubbedeckten Leib, wie er den Jüngling nicht geliebt, den klug gestaltenden, den schön gestalteten. Er schlief mit ihm wie je. Orest, der Irre, erfüllte Bett und Raum und Traum mit Stank und Kot. 14 Vieles, was die Freundschaft zwischen Orestes und Pylades charakterisiert, findet sich in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik wieder (Buch 8 und 9), dem viel zitierten 15 locus classicus zum Thema Freundschaft in der Antike. Laut Aristoteles ist die Freundschaft lebensnotwendig (Niemand will ohne Freunde leben.); im Unglück gelten Freunde als einzige Zuflucht (μόνη καταφυγή). Definiert wird die Freundschaft als Wohlwollen, das auf Gegenseitigkeit beruht und dem anderen bekannt ist (Buch 8, Kap. 2, 1156b: δεῖ…εὐνοεῖν ἀλλήλοις καὶ βούλεσθαι τἀγαθὰ μή λανθάνοντας). Aristoteles unterscheidet drei Arten von Freundschaft: wegen des Nutzens, wegen des Vergnügens und um des Freundes willen. Nur die letzte ist Freundschaft im eigentlichen Sinn und nur sie ist dauerhaft. Vollkommene Freundschaft (τελεία φιλία) ist nur unter „Guten“ (ἀγαθοί) und ethisch Gleichgesinnten (κατ᾽ ἀρετὴν ὅμοιοι) möglich; sie braucht 122 Sylvia Usener <?page no="123"?> 16 Buch 8, Kap. 11, 1159b (alle Übersetzungen: G. Krapinger, Aristoteles, Nikomachische Ethik, griechisch/ deutsch, Stuttgart 2017). 17 Eur. Or. 735. 18 Buch 8, Kap. 11, 1159b. 19 Buch 9, Kap. 3, 1165b. 20 Buch 8, Kap. 16, 1163b. 21 Buch 8, Kap. 15, 1162b. 22 Buch 9, Kap. 4, 1166a. 23 Buch 9, Kap. 4, 1166a; Kap. 8, 1168b; vgl. auch das christliche Gebot der Nächstenliebe, die von Selbstliebe nicht zu trennen ist (z. B. Mt 22,39; Mk 12,31; Lk 10,27); vgl. „Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst“ (Eph 5,28). 24 Buch 9, Kap. 5, 1166b. 25 Buch 9, Kap. 8, 1169a. Zeit und beruht mehr auf dem Lieben als auf dem Geliebtwerden. Sie ist mehr eine Haltung (ἕξις) als ein Gefühl (πάθος), begleitet von der Freude am Lieben (χαίρειν τῷ φιλεῖν). Ein zentraler Begriff (nicht nur bei Aristoteles) ist die Gemeinschaft (κοινωνία). Κοινὰ τῶν φίλων („Freundesgut, gemeinsam Gut“); 16 die Worte, die Pylades bereits bei seinem ersten Auftritt an Orestes richtete, 17 werden von Aristoteles mehrfach als bekannte Redensart (παροιμία) zitiert. Brüdern und Freunden ist alles gemeinsam; in der Gemeinschaft zeigt sich die Freundschaft (ἐν κοινωνία γὰρ ἡ φιλία). 18 Hierzu gehört auch das Teilen von Freude und Schmerz über dieselben Dinge (χαίρειν καὶ λυπεῖσθαι τοῖς αὐτοῖς). 19 Hilfsbereitschaft ist, nicht nur in freundschaftlichen Beziehungen, allen Menschen von Natur aus zu eigen: „Denn abgesehen von der natürlichen Liebe ist es menschlich, Hilfe nicht von sich zu weisen“ (χωρὶς γὰρ τῆς φυσικῆς φιλίας τὴν ἐπικουρίαν ἀνθρωπικὸν μὴ διωθεῖσθαι). 20 Aber in der vollkommenen Freundschaft beruht sie auf der Grundlage gemeinsamer Werte. Man unterstützt einander ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Diese Freundschaft nennt Aristoteles „charakterlich“ (ἠθική) im Unterschied zur Freundschaft, die auf verbindlichen Abmachungen beruht (νομική) und bei der Leistung und Gegen‐ leistung klar bestimmt sind. 21 Als Freund gilt nach Aristoteles’ Definition, „wer das Gute oder was ihm als solches erscheint, um des anderen willen wünscht und tut, oder nur um des Freundes willen wünscht, dass es diesen gibt und dieser lebt.“ 22 Denn ein guter Mensch verhält sich zum Freund wie zu sich selbst. Der Freund ist ein „alter ego“ (ἔστι γὰρ ὁ φίλος ἄλλος αὐτός) 23 im Sinne einer positiv verstandenen Selbstliebe. Für ihn nimmt man Mühen auf sich; 24 für ihn würde man sogar sterben (ὑπεραποθνῄσκειν). 25 Denn durch Opfer und Hingabe gewinnt man selbst ein größeres Gut (καλόν) als Geld oder Ehre. Man braucht nur wenige wirklich gute Freunde, vielleicht sogar nur einen, doch auch der autarke, ganz 123 Der ideale Freund in der griechischen Tragödie und seine Spuren im Neuen Testament <?page no="124"?> 26 Buch 9, Kap. 9, 1169b-1170b. 27 Friedrich Schiller, Don Carlos, Infant von Spanien. Ein dramatisches Gedicht, 1. Akt, 2. Auftritt, 128ff. 28 5. Akt, 3. Auftritt, 4716ff. 29 5. Akt, 3. Auftritt, 4720ff. in sich selbst ruhende Glückliche bedarf seiner, da der Mensch bekanntlich ein Gemeinschaftswesen (πολιτικόν) ist. 26 Die Beziehung zwischen Orestes und Pylades in der Darstellung des Euripides ist eine idealisierte und dramaturgisch verdichtete und fokussierte Freundschaft zweier Individuen, geschaffen für die Bühne. Dass Aristoteles in seinem sozial‐ philosophischen Traktat das Phänomen „Freundschaft“ ganz ähnlich beschreibt und mit vergleichbaren Wertbegriffen verbindet, mag einerseits für den Rea‐ litätssinn des Euripides sprechen, andererseits aber auch für eine gewisse Neigung des Aristoteles zur Idealisierung. Doch Charaktere, die mit Orestes oder Pylades verwandt sind, trifft man wohl öfter im Schauspiel oder auch in der Oper an als im Alltagsleben. So hat, um ein bekanntes Beispiel zu nennen, Friedrich Schillers Don Carlos in der Figur des Marquis Posa einen wahren „Pylades“ an seiner Seite - voller Tatendrang, bedingungslos solidarisch, bereit, das eigene Leben für den Freund zu opfern. Im ersten Akt des Schauspiels betritt der Marquis die Bühne mit einem ähnlichen Auftritt wie Pylades im Orestes. Carlos. Wer kommt? Was seh ich? O ihr guten Geister! Mein Roderich! Marquis. Mein Carlos! Carlos. Ist es möglich? Ist’s wahr? Ist’s wirklich? Bist dus? - O, du bists! Ich drück an meine Seele dich, ich fühle die deinige allmächtig an mir schlagen. O, jetzt ist alles wieder gut. In dieser Umarmung heilt mein krankes Herz. Ich liege am Halse meines Roderich. 27 Am Ende wird er sich für seinen Freund opfern. „Rette dich für Flandern! Das Königreich ist dein Beruf. Für dich zu sterben war der meinige.“ 28 Carlos’ Hoffnung, angesichts einer so großen Freundschaft eine Aussöhnung mit seinem Vater bewirken zu können („Ich will dich zu ihm führen. Arm in Arme wollen wir zu ihm gehen. Vater, will ich sagen, das hat ein Freund für seinen Freund getan.“) 29 wird sich nicht erfüllen. 124 Sylvia Usener <?page no="125"?> 30 1. Akt, 2. Auftritt, 209f.; vgl. Euripides, Orestes, VV. 708ff. 31 Giuseppe Verdi, Don Carlo, 2. Akt, 1. Szene. 32 „Preis’ deinen Engel und sein Gebot! Hier steh’ ich, treu dir bis zum Tod! “, Richard Wagner, Der fliegende Holländer, 3. Akt, 2. Szene. 33 Richard Wagner, Tristan und Isolde, 3. Aufzug, 1. Auftritt. 34 3. Aufzug, 3. Auftritt. Wie Pylades für Orestes ist auch der Marquis für Don Carlos nicht nur eine moralische und Orientierung gebende, sondern auch physische Stütze für den Freund, der unter der Last seiner Sorgen zusammenzubrechen droht. Auch diese Freundschaft hat ihre Wurzeln in der Kindheit („als du und ich, zween Knaben wilder Art so brüderlich zusammen aufgewachsen“, 30 besteht also schon lange, bevor sie ihre ganze Stärke beweisen muss. Ein Lobgesang auf die Freundschaft, wie Orestes und Pylades ihn anstimmen (VV. 800ff.), lässt sich auch sehr wirksam musikalisch umsetzen. In Giuseppe Verdis Oper Don Carlo, die Schillers Vorlage vielfach fast wörtlich folgt, lädt Rodrigo, Marchese di Posa, seinen Freund Don Carlo dazu ein, sich auf ihn zu stützen (rinfranca accanto a me lo spirto che facilla, „schöpfe an meiner Seite neue Kraft für den schwächelnden Geist“) - vergleichbar der Einladung des Pylades an Orestes „Schmiege deine kranke, schwache Seite fest an meine an! “ (V. 800). Darauf beschwören Carlo und Rodrigo ihre brüderliche Verbundenheit bis in den Tod (giuramo insiem di vivere e di morire insieme, „wir schwören gemeinsam zu leben und gemeinsam zu sterben“) in einer leitmotivischen Schlüsselszene der Oper. 31 „Treu bis zum Tod“ sind auch die Operngestalten Richard Wagners, sei es Senta im „Fliegenden Holländer“, 32 sei es - eher vergleichbar mit Pylades oder Marquis Posa - der treue Kurwenal in „Tristan und Isolde“, der seinen Herrn Tristan, der ihn selbst mit „treuester Freund“ 33 anspricht, stets, notfalls auch mit Waffengewalt, verteidigt und am Ende gern sein Leben für den sterbenden Tristan lässt („Tristan! Trauter! Schilt mich nicht, dass der Treue auch mit kommt.“). 34 Alle bisher genannten Freunde, Pylades, Marquis Posa und Kurwenal, spielen auf der Bühne nicht die Hauptrolle; die Stücke tragen die Namen der Protagonisten Orestes, Don Carlos und Tristan. Im Drama ist der Freund nicht die Hauptperson, doch er ist unverzichtbar für die Handlung und dient insbesondere der Rechtferti‐ gung und Rehabilitation des mit Schuldvorwürfen belasteten oder unter Verdacht geratenen Freundes. Orestes hat seine Mutter getötet, Don Carlos liebt seine Stiefmutter, Tristan hat eine geheime Liebesbeziehung zur Frau seines Königs. Dass das Publikum dennoch auf ihrer Seite steht, wird nicht zuletzt durch die 125 Der ideale Freund in der griechischen Tragödie und seine Spuren im Neuen Testament <?page no="126"?> 35 Deutsche Texte nach der revidierten Fassung Lutherbibel von 1984. 36 Vgl. auch das Gleichnis vom angemessenen Sitzplatz für Hochzeitsgäste (Lk 14,7ff.). Jesus als Bräutigam kommt auch in Gleichnissen der anderen Evangelien vor: Mt 9,15; Mk 2,19f.; Lk 5,34f.; vgl. auch die Rolle des Bräutigams in Mt 25,1-13 (Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen). 37 Vgl. zum Gebot, das Wohl des anderen über den eigenen Vorteil zu stellen, 1 Kor 10,24 und Phil 2,4. bedingungslose und unerschütterliche Treue des Freundes ermöglicht, der mit dieser Haltung die Sympathie zugunsten des Protagonisten lenkt. Von einer vergleichbaren „Rolle“ ist sogar im Neuen Testament zu lesen, wenn auch nur im Gleichnis: Die männliche Hauptfigur bei einer Hochzeit ist der Bräutigam. Dem Freund des Bräutigams kommt eine Nebenrolle zu. Im 3. Kapitel des Johannesevangeliums identifiziert sich Johannes der Täufer mit dem Freund des Bräutigams Jesus: „Wer die Braut hat, der ist der Bräutigam; der Freund des Bräutigams (ὁ φίλος τοῦ νυμφίου) aber, der dabeisteht (ἑστηκώς) und ihm zuhört (ἀκούων αὐτοῦ), freut sich sehr über die Stimme des Bräutigams (χαρᾷ χαίρει διὰ τὴν φωνὴν τοῦ νυμφίου). Diese meine Freude ist nun erfüllt (πεπλήρωται). Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“ (V. 29f.). 35 Der Freund steht dabei, hört zu, ist voller freudiger Anteilnahme und weiß, wann und zu welchem Zweck er die Bühne freigeben muss. 36 Die idealtypische Bühnenfigur des Pylades verkörpert Werte, Eigenschaften und Fähigkeiten, die auch situationsunabhängig immer positive Geltung haben können: Solidarität, Hilfe in der Not, Selbstlosigkeit, gemeinschaftliches Teilen, Zurückstellung eigener Interessen und stattdessen die Vertretung der Interessen des Freundes. Vieles davon ist auch im Neuen Testament zu finden 37 und nicht nur im Gleichnis, auch wenn freundschaftliche Beziehungen zu einzelnen Individuen und starke Gefühle für Einzelne in der Exklusivität, wie sie im Drama anzutreffen ist, in den Lebensschilderungen Jesu und seiner Mitstreiter weniger zu erwarten sind. Nur selten wird in den Schriften des Neuen Testaments jemand explizit als Freund (φίλος) bezeichnet. Neben dem Freund des Bräutigams findet sich im Johannesevangelium dieses Wort angewendet • auf Pilatus, der nicht Freund des Kaisers (φίλος τοῦ Καίσαρος) sei, wenn er - so der Einschüchterungsversuch der Juden - Jesus freilasse (19,12). • auf die Jünger im Zusammenhang mit dem Gebot der Liebe: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde (ἵνα τις τὴν ψυχὴν αὐτοῦ θῇ ὑπὲρ τῶν φίλων αὐτοῦ). Ihr seid meine Freunde (ὑμεῖς φίλοι μού ἐστε), wenn ihr tut, was ich euch gebiete. Ich sage hinfort nicht, dass ihr Knechte seid; denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr 126 Sylvia Usener <?page no="127"?> 38 Vgl. zum Gebot der Liebe auch Joh 13,34; 15,9ff. und zur Liebe Jesu zu den Seinen Joh 13,1. 39 Vgl. 19,26f. ( Jesus vertraut am Kreuz seine Mutter dem Jünger an, den er liebte); 20,2; 21,7; 21,20f. 40 Vgl. Apg 20,24 und 21,13 (über Paulus). tut. Euch aber habe ich gesagt, dass ihr Freunde seid (ὑμᾶς δὲ εἴρηκα φίλους); denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan“ (15,13ff.). 38 • auf einen Menschen (Lazarus), der Jesus persönlich besonders nahesteht. Mit den Geschwistern Maria, Martha und Lazarus verbindet Jesus eine freundschaftliche Beziehung (ἠγάπα δὲ ὁ Ἰησοῦς τὴν Μάρθαν καὶ τὴν ἀδελφὴν αὐτῆς καὶ τὸν Λάζαρον, 11,5), aus der insbesondere Lazarus hervorgehoben wird. Die Schwestern rufen Jesus zu ihrem kranken Bruder mit den Worten „Herr, siehe, der, den du liebhast, liegt krank“ (κύριε, ἴδε ὃν φιλεῖς ἀσθενεῖ, 11,3). Jesus selbst bezeichnet Lazarus als Freund: „Lazarus, unser Freund, schläft“ (Λάζαρος ὁ φίλος ἡμῶν κεκοίμηται, 11,11). In diesen Passagen wird der Begriff „Freund“ assoziiert mit Solidarität (Freund des Kaisers), Opferbereitschaft (sein Leben für die Freunde lassen), Teilen von Wissen und Werten sowie individueller Zuneigung. Vergleichbar mit dem letzten Beispiel ist die im Johannesevangelium öfter betonte Sonderstellung des einen Jüngers, den Jesus liebte: „Es war aber einer unter seinen Jüngern, den Jesus lieb hatte (ὃν ἠγάπα ὁ Ἰησοῦς), der lag bei Tisch an der Brust Jesu“ (13,23). 39 Ein Beispiel für die spontane Zuneigung Jesu zu einer ihm bislang nicht be‐ kannten Person bietet die Erzählung vom reichen Mann im Markusevangelium: „Und Jesus sah ihn an und gewann ihn lieb“ (ἠγάπησεν αὐτόν, 10,21). Geteilte Überzeugungen lassen Herodes und Pilatus von ehemaligen Feinden zu Freunden werden (ἐγένοντο δὲ φίλοι, Lk 23,12). Denn beide halten Jesus für unschuldig (Lk 23,14f.). Der Einsatz des eigenen Lebens für seine Freunde wird in verschiedenen Zusammenhängen thematisiert, sei es im Gleichnis (Der gute Hirte gibt sein Leben für seine Schafe. Denn da sie sein Eigen sind, wird er um sie besorgt sein und sie gegen Wölfe verteidigen, Joh 10,11-13), sei es in den Berichten über das Wirken der Apostel in den ersten Gemeinden. „So haben wir, einmütig versammelt, beschlossen, Männer auszuwählen, […] die ihr Leben eingesetzt haben für den Namen unseres Herrn Jesus Christus“ (Apg 15,25f.). 40 Zumindest seine Bereitschaft bekundet Petrus: „Herr, warum kann ich dir diesmal nicht folgen? Ich will mein Leben für dich lassen. Jesus antwortete ihm: 127 Der ideale Freund in der griechischen Tragödie und seine Spuren im Neuen Testament <?page no="128"?> 41 Z. B. Mt 8,15; Mk 1,31; 7,31ff.; 9,27; 10,13; Lk 4,39f. 42 Vgl. Lk 5,13 (Berührung eines Aussätzigen). 43 V. 793: „Dass nur nicht auf dich mein Wahn sich überträgt (εὐλαβοῦ λύσσης μετασχεῖν τῆς ἐμῆς).“ 44 Euripides, Iphigenie bei den Taurern, VV. 310f. 45 Vgl. das Gebot Bedürftige zu unterstützen in Eph 4,28. Im Notfall muss spontane Hilfeleistung Vorrang vor Gesetzesbestimmungen haben (Lk 14,5 „Wer ist unter euch, dem sein Sohn oder sein Ochse in den Brunnen fällt, und der ihn nicht alsbald Du willst dein Leben für mich lassen? Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Der Hahn wird nicht krähen, bist du mich dreimal verleugnet hast“ ( Joh 13,10). Zuvor aber wird Petrus noch - nach Johannes - seinen Herrn bei der Gefangennahme mit Waffeneinsatz verteidigen ( Joh 18,10). Weniger dramatische Freundschaftsdienste gehören zu den Bereichen Helfen, Heilen und Krankenpflege. In den zahlreichen Berichten über die Heilungen, die Jesus bewirkt hat, zeigt sich, dass er keinerlei Berührungsängste kennt - er heilt oft durch Berührungen - 41 auch dann nicht, wenn es um eine womöglich ansteckende Krankheit geht. „Und siehe, ein Aussätziger (λεπρός) kam heran und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen. Und Jesus streckte die Hand aus, rührte ihn an (ἥψατο αὐτοῦ) und sprach: Ich will’s tun; sei rein! “ (Mt 8,2f.). 42 In Euripides’ Orestes wird auch die „Krankheit“ Wahnsinn als potentiell ansteckend eingeschätzt. Das Wort, das Orestes für seine Krankheit verwendet (λύσσα), 43 bedeutet „Tollwut“ oder „Wahnsinn“. Pylades aber ist unbesorgt; er wischt seinem Freund in einer anderen Szene sogar den Schaum vom Mund. 44 Ähnlich scheut auch Jesus nicht den Kontakt mit „Besessenen“ (Mk 9,18ff.; Lk 9,37ff.). Die Kranken zeigen hier Symptome, die mit denen des Orestes vergleichbar sind. Der barmherzige Samariter versorgt die Wunden eines fremden Schwerver‐ letzten, kümmert sich um den Krankentransport und übernimmt die Pflege‐ kosten (Lk 10,33-35). In der Apostelgeschichte pflegt ein bekehrter Gefängnis‐ wärter die Wunden von Paulus und Silas und bewirtet sie anschließend in seinem Haus (Apg 16,33). Einen Katalog von Freundschaftsdiensten enthält die Rede Jesu vom Weltgericht (Mt 25,35f.): • Hungrigen zu essen geben • Durstigen zu trinken geben • Fremde aufnehmen • Nackten Kleidung geben • Kranke betreuen • Gefangene im Gefängnis besuchen 45 128 Sylvia Usener <?page no="129"?> herauszieht, auch am Sabbat? “). Einen Freund darf man auch nachts aus dem Bett rufen, wenn man dringend Brot braucht (Lk 11,5-8). 46 πῶς ἂν εἶεν φίλοι μήτ᾽ ἀρεσκόμενοι τοῖς αὐτοῖς μήτε χαίροντες καὶ λυπούμενοι; „Wie sollen sie da noch Freunde sein, wenn sie nicht mehr an denselben Dingen Gefallen finden und darüber Freude oder Leid empfinden? “ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch 9, Kap. 3, 1165b). 47 Vgl. auch Joh 15,11. In der Bergpredigt fordert Jesus, freiwillig mehr zu geben als verlangt wird (Mt 5,41). Bei der Aussendung der Jünger ermahnt er sie, keinen Lohn für ihre Taten anzunehmen (δωρεὰν δότε, Mt 10,8). Ihr Auftrag aber lautet: „Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt böse Geister aus“ (Mt 10,8). Die Heilung von Kranken wird an erster Stelle genannt, die Behandlung Aussätziger, die das Überwinden von Berührungsängsten verlangt, wird dabei nicht subsumiert, sondern separat aufgelistet. Ein Freund ist mitfühlend und solidarisch, insbesondere wenn es dem An‐ deren schlecht geht (Euripides, Orestes, VV. 734; 880ff.; 949f.; 1085ff.). Das Mitgefühl Jesu mit schutzlosen Bedürftigen wird im Neuen Testament öfter als physischer Schmerz (σπλαγχνίζομαι) geschildert (Mt 9,36; 14,14; 15,32; 20,24). Das Verb σπλαγχνίζομαι, in der Regel übersetzt mit „Mitleid empfinden“, enthält das Substantiv τὸ σπλάγχνον (Pl. τὰ σπλάγχνα „die inneren Organe; die Eingeweide“), entspricht also in etwa dem deutschen Ausdruck „es geht mir an die Nieren“. Pylades sagt zu Orestes, er reiße auch ihn mit ins Unglück (V. 724 συγκατασκάπτοις ἂν ἡμᾶς). Das Verb κατασκάπτω („aushöhlen; untergraben“) könnte hier auch im Sinne von „den Boden unter den Füßen wegziehen“ ver‐ standen werden. Die Mitbetroffenheit erfolgt nicht (nur) intellektuell, sondern ist ein existenziell und physisch wahrnehmbares Miterleben. Einer solchen Erfahrung gegenüber steht die Teilhabe an Freude, die nach Aristoteles ja ebenso zur Freundschaft gehört. 46 „Freut euch mit den Fröhli‐ chen und weint mit den Weinenden (χαίρειν μετὰ χαιρόντων, κλαίειν μετὰ κλαιόντων)“ sagt Paulus im Römerbrief (12,15). Die Hoffnung auf geteilte Freude bringt er im zweiten Korintherbrief (2,3) zum Ausdruck: „dass meine Freude euer aller Freude ist“ (ὅτι ἡ ἐμὴ χαρὰ πάντων ὑμῶν ἐστιν). 47 Der Finder des verlorenen Schafes ruft seine Freunde und Nachbarn zu‐ sammen, um mit ihnen seine Freude zu teilen (συγχάρητέ μοι, Lk 15,6); die Finderin der verlorenen Drachme ruft ihre Freundinnen und Nachbarinnen zusammen und lädt sie ein, sich mit ihr zu freuen (συγχάρητέ μοι, Lk 15,9); der Vater des verlorenen und wiedergefundenen Sohnes veranstaltet ein großes Fest mit Essen, Tanz und Gesang, damit sich alle mit ihm freuen können 129 Der ideale Freund in der griechischen Tragödie und seine Spuren im Neuen Testament <?page no="130"?> 48 Auch in der lateinischen Literatur ist dieser Ausspruch verbreitet, sei es in der Philoso‐ phie: Cicero, de officiis, 1, 51 (… ut in Graecorum proverbio est, amicorum esse communia omnia); Seneca, de beneficiis 7, 4, 1 (omnia dicitis illis [sc. amicis] esse communia), in der Komödie: Terenz, Adelphoe, V. 803f. (nam vetu’ verbum hoc quidemst / communia esse amicorum inter se omnia) oder in der Satire: Martial II, 43, 1 und 16 (κοινὰ φίλων haec sunt …). Vgl. oben Anm. 4. 49 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch 9, Kap. 8, 1168b. 50 Vgl. Mk 10,21; Lk 12,23. (εὐφρανθῶμεν, Lk 15,23), auch der gekränkte ältere Sohn soll sich mit seiner Familie freuen (εὐφρανθῆναι δὲ καὶ χαρῆναι ἔδει, Lk 15,32). Das Verbundensein in Leid und Freude bringt Paulus im ersten Korintherbrief im Bild vom einen Leib und den vielen Gliedern zum Ausdruck: „Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit.“ (καὶ εἴτε πάσχει ἓν μέλος, συμπάσχει πάντα τὰ μέλη· εἵτε δοξάζεται ἓν μέλος, συγχαίρει πάντα τὰ μέλη, 12,26). Das Wesentliche an der Freundschaft ist, wie oft betont, die Gemeinschaft (κοινωνία). „Freunden ist alles gemeinsam“ sagt Pylades und begründet damit, warum die Not des Orestes auch seine Not ist. Aristoteles beruft sich in der Ni‐ komachischen Ethik mehrfach auf dieses Dictum: „In der Gemeinschaft liegt die Freundschaft“ (ἐν κοινωνίᾳ γὰρ ἡ φιλία, Buch 8, Kap. 11, 1159b); „Jede Freund‐ schaft beruht also, wie gesagt, auf der Gemeinschaft“ (ἐν κοινωνίᾳ μὲν οὖν πᾶσα φιλία ἐστίν, καθάπερ εἴρηται, Buch 8, Kap. 14, 1161b); „Damit stimmen auch alle Sprichwörter überein, zum Beispiel «eine Seele», «gemeinsam ist die Habe der Freunde», «Freundschaft ist Gleichheit» […]“ (καὶ αἱ παροιμίαι δὲ πᾶσαι ὁμογνωμονοῦσιν οἷον τὸ «μία ψυχή» καὶ «κοινὰ τῶν φίλων» καὶ «ἰσότης φιλότης» …, Buch 9, Kap. 8, 1168b); „Denn die Freundschaft ist eine Gemein‐ schaft“ (κοινωνία γάρ ἡ φιλία, Buch 9, Kap. 12, 1171b). 48 Solche Gemeinschaften bestehen im Teilen von Emotionen, Gedanken und Überzeugungen, Plänen und Handlungen oder auch Besitz. In der Apostelge‐ schichte wird die Glaubens-, Lebens- und Gütergemeinschaft der ersten christ‐ lichen Gemeinden geschildert: „Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam“ (πάντες δὲ οἱ πιστεύοντες ἦσαν ἐπὶ τὸ αὐτὸ καὶ εἶχον ἅπαντα κοινά, 2,44). Die Gläubigen waren ein Herz und eine Seele (καρδία καὶ ψυχὴ μία, 4,22), 49 niemand hatte persönliches Eigentum, alles gehörte ihnen gemeinsam (ἦν αὐτοῖς ἅπαντα κοινά, 4,33). Grundbesitz und Immobilien wurden verkauft und der Erlös kam den Bedürftigen zugute (2,45; 3,34). 50 Oft ist es eine starke Gemeinschaft, der Einsatz eines uneigennüt‐ zigen Helfers oder eines zuverlässigen Freundes, der einem in Not geratenen Menschen das Leben rettet oder das Überleben sichert. 130 Sylvia Usener <?page no="131"?> 51 1Kor 13,4-7. 52 Johann Wolfgang Goethe, Iphigenie auf Tauris, 4.Aufzug, 1.Auftritt, 1382-1389. Die Figur des Pylades vereinigt facettenreich viele Eigenschaften, die auch im Neuen Testament, teils in Form von Geboten, teils im Handeln einzelner Personen in Berichten oder Gleichnissen vorzufinden sind. Das Hohelied der Liebe im ersten Korintherbrief zählt Eigenschaften der Liebe auf („sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles“), 51 die in einem solchen Freund verwirklicht werden könnten. Dass die ‚Tragödien‘ Orestes und Iphigenie bei den Taurern ein happy end haben, ist nicht zuletzt dem Mitwirken des ‚idealen Freundes‘ Pylades zu verdanken. Wie wichtig seine Bedeutung für ihren kranken Bruder ist, erkennt Goethes Iphigenie, wenn sie folgende Worte spricht: O segnet, Götter, unseren Pylades und was er immer unternehmen mag! Er ist der Arm des Jünglings in der Schlacht, des Greises leuchtend Aug in der Versammlung: Denn seine Seel ist stille; sie bewahrt der Ruhe heil’ges unerschöpftes Gut, und den Umhergetriebnen reichet er aus ihren Tiefen Rat und Hülfe. 52 Literatur Aischylos, Oresteia. Agamemnon, Libation-Bearers, Eumenides, hrsg. und übers. von Alan H. Sommerstein, Cambridge 2014. Aristoteles, Nikomachische Ethik. Griechisch/ deutsch, übersetzt von Gernot Krapinger, Stuttgart 2017. Cicero, De officiis. Lateinisch-deutsch = Vom pflichtgemäßen Handeln, Hrsg. und übers. von Rainer Nickel, Düsseldorf 2008. Euripides, Tragödien. Übers. v. H. v. Arnim, mit einer Einführung und Erläuterungen von B. Zimmermann, München 1990. Johann Wolfgang Goethe, Iphigenie auf Tauris. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Stuttgart 2014. Alard von Kittlitz, Nie waren wir einander so nah, Zeit-Dossier vom 18.06.2020. Klabund, Das heiße Herz, Berlin 1922. Publius Ovidius Naso, Briefe aus der Verbannung. Lateinisch und deutsch, übertr. von Wilhelm Willige. Eingel. und erl. von Georg Luck, Zürich 1963. 131 Der ideale Freund in der griechischen Tragödie und seine Spuren im Neuen Testament <?page no="132"?> Platon, Politeia. Bearb, von Dietrich Kurz, dt. Übers. von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 2001. Platon, Gesetze/ Nomoi. Hrsg. und übers. von Christoph Horn, Berlin/ Boston 2013. Platon, Lysis. Hrsg. und übers. von Walter R.M. Lamb, Cambridge 2014. Friedrich Schiller, Don Carlos. Infant von Spanien, Ein dramatisches Gedicht, Herausge‐ geben von Martin C. Wald, Stuttgart 2015. Lucius Annaeus Seneca, Philosophische Schriften. Lateinisch / Deutsch, Bd. 5, übers., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Manfred Rosenbach, Darmstadt 2 2011 Sophokles, Die Tragödien. Übers. v. H. Weinstock, hrsg. v. B. Zimmermann, Stuttgart 6 2016. Publius Terentius Afer, Adelphoe. Lateinisch/ Deutsch = Die Brüder, übers., erl. und mit einem Nachw. Hrsg. von Herbert Rädle, Stuttgart 1977. Marcus Valerius Martialis, Epigramme. Satirisches aus dem alten Rom. Aus dem Lat. übers. und hrsg. von Paul Barié und Winfried Schindler, Mannheim 2010. 132 Sylvia Usener <?page no="133"?> 1 Leider sind Herodes und Pilatus ja eher zwielichtige Figuren und damit das, was man im Bairischen „Freunderln“ statt „Freunde“ nennt. Trotzdem hoffe ich dir, lieber Stefan, mit diesem kleinen Beitrag eine Freude zu machen. Dein Freund Tobias. 2 Zu diesem Begriff vgl. Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt am Main 4 2017 (2012), 54. „An diesem Tag aber wurden Herodes und Pilatus Freunde“ Interpretation und Imagination in der Rezeptionsgeschichte von Lk 23,12 1 Tobias Nicklas Unter den kanonischen Evangelien kennt nur Lukas die kurze Szene, in der Pilatus Jesus zu Herodes (Antipas) schickt, damit dieser als Tetrarch von Galiläa und damit Landesherr Jesu diesen verhöre. Herodes freut sich zunächst, wird dann aber enttäuscht: Weder antwortet Jesus, noch lässt er eines seiner Zeichen sehen. Mit einem Prunkgewand bekleidet, wird er zu Pilatus zurückgeschickt. Die Szene endet mit einer seltsamen Notiz: „Es wurden aber Freunde Herodes und Pilatus an diesem Tag miteinander. Vorher nämlich waren sie in Feindschaft seiend zueinander gewesen“ (Lk 23,12). Da diese kurze Passage weder an Vorheriges anknüpft, noch im weiteren Verlauf des Evangeliums aufgegriffen wird, wirkt sie zunächst wie ein „blindes“, also für die Erzählung funktionsloses Motiv. 2 Dieses hat in der jüngeren Literatur recht unterschiedliche Interpreta‐ tionen erfahren: So schreibt etwa Michael Wolter in seinem großen Kommentar zum Lukasevangelium: „Weder von einer Feindschaft noch von einer späteren Freundschaft zwischen Pilatus und Herodes Antipas ist aus anderen Quellen etwas bekannt. Man darf aber nicht sagen, dass Lukas mit dieser Information über den Plot seiner Jesusgeschichte hinausgeht, denn dadurch, dass er diesen Vorgang an dieser Stelle erwähnt, macht er ihn zu einem integralen Bestandteil seiner Jesuserzählung. […] Da Lukas nicht expressis verbis mitteilt, wodurch Herodes und Pilatus zu ‚Freunden‘ wurden, bleibt es <?page no="134"?> 3 Michael Wolter, Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008, 744. Mir ist hier allerdings nicht ganz klar, was es heißt, „über den Plot der Jesusgeschichte hinauszu‐ gehen“. Wenn ich das hier angeführte Argument richtig verstehe, kann ein Detail einer Erzählung, sobald es erwähnt wird, ja nie über den Plot hinausgehen. 4 Hans Klein, Das Lukasevangelium, KEK I/ 3, Göttingen 2006, 700. Klein weist zudem - m. E. mit Recht - auf S. 700 n. 41 darauf hin, dass die in Digest. I 18,19 erwähnte Anweisung an römische Amtsträger in Provinzen, keine Freundschaft mit Provinzialen zu pflegen, hier wahrscheinlich nicht im Hintergrund stehen dürfte: „Anweisungen zum rechten Umgang der herrschenden Klasse haben Lk […] kaum interessiert.“ 5 Joseph A. Fitzmyer, The Gospel According to Luke X-XXIV, AncB 28A, New York u. a. 1983, 1480 sowie die Notiz auf S. 1482. François Bovon, Das Evangelium nach Lukas (Lk 19,28-24,53), EKK III/ 4, Neukirchen-Vluyn 2009, 408, betont zudem wohl mit Recht, dass Lk die Freundschaft kaum im Licht der Idee der Versöhnung von Juden und Heiden interpretiert, wie sie etwa in Eph 2,11-22 formuliert wird. 6 Ablehnend Bovon, Evangelium nach Lukas, 394f., der auf die großen Unterschiede zwischen Lk 23 und Apg 4 verweist, Wolter, Lukasevangelium, 744 sowie (ohne Begründung) Ian H. Marshall, The Gospel of Luke. A Commentary on the Greek Text, der Imagination der Leser überlassen, einen plausiblen Grund zu ergänzen. Sie werden vermutlich nicht lange gebraucht haben, um darauf zu kommen, dass es Herodes’ und Pilatus’ Übereinstimmung im Urteil über Jesus ist, das sie zu ‚Freunden‘ macht. Die Mitteilung, dass Herodes und Pilatus sich vorher ‚in Feindschaft“ gegenüberstanden, fungiert also als dunkle Folie, vor der das Ausmaß ihres Einvernehmens noch deutlicher wird.“ 3 Hans Klein wiederum führt die neue Freundschaft auf den angemessenen Umgang zurück, den die beiden in dieser Szene erkennen lassen: „Die beiden Gewaltigen werden Freunde. Sie haben sich gegenseitig Ehre erwiesen. Der jüdische König Herodes gesteht Pilatus Kompetenz auch über einen seiner Landsleute zu. Jetzt handeln sie in Einvernehmen.“ 4 Joseph Fitzmyer wiederum hält die Feindschaft der beiden für historisch plau‐ sibel, verweist auf Autoren, die die in Lk 13,1 erzählten Ereignisse als Anlass der gegenseitigen Feindschaft vermuten, und schreibt zu ihrer Freundschaft: „[D]espite their power that they wield as prefect and tetrarch they cannot free this person who stands before them guiltless. In such weakness they find camaraderie, similarity of reaction, and friendship.“ 5 Einige Autoren schließlich diskutieren, ob und inwiefern das Motiv in einem Zusammenhang mit Psalm 2,2 stehen könnte: Aufgestellt haben sich die Könige der Erde, und die Herrscher haben sich miteinander versammelt gegen den Herrn und seinen Gesalbten (nach LXX.D). 6 134 Tobias Nicklas <?page no="135"?> NIGNT, Grand Rapids, Mich. 1978, 857: “It is unlikely that the motif of reconciliation arose from Ps. 2: 2 …, and hence it may well be historical.” 7 Josef Ernst, Das Evangelium nach Lukas, RNT, Regensburg 1993, 477. 8 Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Lukas, NTD 3, Göttingen 2000, 234. 9 Die Frage nach dem präzisen Verhältnis der Entstehung von Lukasevangelium und Apostelgeschichte ist natürlich weiterhin in hohem Maße und auf verschiedenen Ebenen umstritten. Ich verweise hier auf die Diskussionen in der aktuellen Einleitungs‐ literatur. 10 Der LXX-Text allerdings zeigt keinerlei Abweichungen vom Hebräischen; die lukani‐ sche Vorliebe für die LXX lässt aber eine griechische Vorlage wahrscheinlich erscheinen. - Luke T. Johnson, The Acts of the Apostles, Sacra Pagina, Collegeville, Minn. 1992, 84, spricht von einer “direct citation from LXX Ps 2: 1-2, with no authorial emendations.” 11 Ich folge bei der Übersetzung dieser nicht unproblematischen Passage den semanti‐ schen Entscheidungen, die Stefan Alkier und Thomas Paulsen für das Frankfurter Neue Testament getroffen haben. Vgl. dies., Die Apokalypse des Johannes. Neu übersetzt, Frankfurter Neues Testament 1, Paderborn 2020, 134f. So setzt Josef Ernst mit seiner Formulierung „Die Gemeinde sah in dieser Kumpanei des Bösen eine Erfüllung von Ps 2,2“ 7 offenbar historisches Wissen über die Freundschaft der beiden voraus, welches nachträglich mit Hilfe von Psalm 2 gedeutet wurde. Umgekehrt denkt Eduard Schweizer, wenn er schreibt: „Vielleicht hat man diese Freundschaft aus Ps 2,2 geschlossen, nach dem sich ‚Könige‘ und ‚Führer‘ gegen den Christus verschwören. Das ist schon Apg 4,26f auf Herodes und Pilatus bezogen worden.“ 8 Eine Schwierigkeit, die Passage mit Hilfe des Psalms zu deuten, liegt sicherlich darin, dass Lk 23,12 keinerlei Bezug zu diesem erkennen lässt. Wo man die Evangelien in erster Linie als Ergebnisse von Sammlungs- und Redaktionspro‐ zessen versteht und Intertextualität über die Zahl von Wörtern definiert, die zwei Texte miteinander gemeinsam haben, muss man bei diesem Ergebnis stehen bleiben. Wenn wir jedoch voraussetzen, dass wichtige Züge der Apos‐ telgeschichte bereits bei der Abfassung des Lukasevangeliums geplant gewesen sein mögen, 9 dann lässt sich die Bitte der Jerusalemer Christusanhänger um Freimut (Apg 4,23-31) als legitime Deutung des im Lukasevangelium erzählten Passionsgeschehens deuten. Anders als Lk 23 zitiert Apg 4,25-26 zunächst einmal Psalm 2,1-2 LXX 10 und deutet diesen dann anschließend mit dem Satz: „Verbündet (συνήχθησαν) haben sich nämlich in Wahrheit in dieser Stadt gegen (ἐπί) seinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast (ὃν ἔχρισας), Herodes und Pontius Pilatus mit Bevölkerungen und Völkern Israels 11 , um auszuführen, so viel deine Hand und [dein] Wille vorherbestimmt haben, dass es geschehe“ (Apg 4,27-28). 135 Interpretation und Imagination <?page no="136"?> 12 Dies ist ganz im Sinne bereits des Lukasevangeliums. Hierzu z. B. David P. Moessner, Luke the Historian of Israel’s Legacy, Theologian of Israel’s ‘Christ’. A New Reading of the ‘Gospel Acts’ of Luke, BZNW 182, Berlin/ Boston 2016, 201-288. 13 Ich halte es zudem insgesamt für sehr wahrscheinlich, dass viele Motive der Passi‐ onserzählungen nicht nur des Neuen Testaments aus Motiven des Alten Testaments entwickelt wurden. 14 Zur Übersetzung von Apg 4,13 vgl. Thomas J. Kraus, ‚Uneducated‘, ‚Ignorant‘ or even ‚Illiterate‘? ̓ Αγράμματοι (and ἰδιῶται) in Acts 4.13, in: NTS 45 (1999), 434-449. 15 Der kritische Text der Apg bietet hier die Verbform συναχθῆναι; die Textform des Codex Bezae (D) dagegen ist mit der Verwendung συνήχθησαν wohl noch einmal an Psalm 2,2 angelehnt. 16 Bovon, Evangelium nach Lukas, 395, verweist darüber hinaus auf Apg 25f., den Prozess des Paulus, als Parallele. Gegenüber dem Psalm hebt die Apostelgeschichte die Deutung Jesu als „heiliger Knecht Gottes“ 12 hervor; ansonsten orientiert der Text sich an entscheidenden Motiven des Psalms und verbindet sie mit historischen Gestalten. Herodes wird als βασιλεύς verstanden, Pilatus als ἄρχων; von den beiden Prädikaten in Ps 2,2 (παρέστησαν und συνήχθησαν) wird in der Deutung des Psalms nur das zweite aufgenommen, dazu das Motiv der Salbung wie auch die Präposition ἐπί (im Anschluss an ἐπί τὸ αὐτό in Ps 2,2b). Nun wiederum sind zwei Erklärungen möglich: 1. Die gemeinsame Beteiligung von Herodes und Pilatus am Prozess Jesu wie auch die sich daraus entspinnende Freundschaft sind historische Ereignisse und wurden im Nachhinein als Erfüllung von Psalm 2 gedeutet. 2. Oder umgekehrt: Die Erzählung aus Lk 23,6-12 - und v. a. Lk 23,12 - wurde aus Ps 2 entwickelt. Schon die Tatsache, dass keines der anderen kanonischen Evangelien eine Parallele der Szene erwähnt, 13 macht die zweite Lösung (oder zumindest den Gedanken, dass Lk 23,12 aufgrund von Ps 2,2 entwickelt wurde) m. E. recht wahrscheinlich. Im Horizont der Apostelgeschichte mutiert das im Lukasevan‐ gelium allein blinde Motiv der Freundschaft von Herodes und Pilatus somit zur eigentlichen Pointe von Lk 23,6-12. Für den Plot des Lukasevangeliums ist Lk 23,12 überflüssig und könnte ohne größere Not ausgeschieden werden. Auf das gesamte Doppelwerk hin betrachtet, ermöglicht Lk 23,12 erst das in Apg 4,23-31 formulierte Gebet. In diesem wiederum kommt ihm die Funktion zu, das in Apg 4,1-22 Erzählte zu einer paradigmatischen Szene auszubauen. Auch Petrus und Johannes müssen, obwohl sie als schriftunkundige Nicht-Fachleute beschrieben werden (Apg 4,13), 14 vor einer Versammlung von Archonten 15 - und zwar in diesem Falle Ältesten, Schriftgelehrten und Hohenpriestern (vgl. Apg 4,5f.) - aussagen und freimütig sprechen. 16 Anders als Jesus werden sie in diesem Falle 136 Tobias Nicklas <?page no="137"?> 17 Auffallend ist die im Griechischen der Passage, aber nicht immer in Übersetzungen erkennbare Bezeichnung Christi als παῖς und der Christusanhänger als Verhältnis δοῦλοι. 18 Dass er das Motiv aus Ps 2,2 in das Motiv der „Freundschaft“ übersetzt mag an der allgemeinen Vorliebe des Lukasevangeliums für das Wort φίλος (vgl. Lk 7,6.34; 11,5.5.6.8; 12,4; 14,10.12; 15,6.9.29; 16,9; 21,16; 23,12; vgl. auch Apg 10,24; 19,31; 27,3) liegen. 19 Diese Interpretation ist nicht vollkommen neu. Sehr nahe kommt ihr z. B. das in der Kommentierung von John T. Carroll, Luke. A Commentary, New Testament Library, Louisville, Ky. 2012, 458f., Gesagte. Im Anschluss an Terminologie von Mikhail Bakhtin beschreibt Carroll die Szene zudem als „karnevalesk“ (458). 20 Spannend wäre natürlich auch ein Durchgang durch moderne Jesus-Literatur. 21 Im Grunde muss man natürlich noch weitergehen: Viele Schriften, die sich heute im Neuen Testament finden, werden bereits durch andere neutestamentliche Schriften rezipiert. freigelassen und können „zu den Ihren“ (πρὸς τοὺς ἰδίους) gehen und ihnen berichten. Das in Apg 4 Berichtete rückt somit in den Horizont des Passionsge‐ schehens: Auch die zu den Aposteln Gehörigen - in Apg 4,29 als „Sklaven“ des angesprochenen Gottes bezeichnet 17 - sind gefährdet, auch sie bitten vor diesem Hintergrund darum, „mit aller Freimut dein Wort zu sprechen“ und „im Namen deines Heiligen Knechts Jesus“ Zeichen und Wunder geschehen zu lassen. Dass dieses Gebet von Gott angenommen wird, bestätigt der abschließende V. 31. So betrachtet ist aber auch die Darstellung des Lukasevangeliums nachvollziehbar. Der Text ist nicht interessiert an Details der Freundschaft 18 zwischen Herodes und Pilatus, sondern daran, dass dieses Motiv ihm später erlaubt, einerseits einen Bezug zu Psalm 2,1f. und andererseits zu einer aus Sicht der Apostelgeschichte für die ersten Christusanhänger paradigmatischen Situation - im Gegenüber zu Volk und Völkern - herzustellen. 19 Selbst wo diese Bezüge gesehen werden, fordert die Offenheit des Gesagten jedoch Fragen heraus: Was hat Feinde hier zu Freunden gemacht? Wie geht es mit dieser Freundschaft zweier zumindest zwielichtiger Figuren weiter und wodurch drückt sie sich aus? Die Tatsache, dass der Text selbst diese und ähnliche Fragen nicht beantwortet, regt bis heute die Imagination an. Und genau dies ist der Punkt, der mich über die eigentliche Auslegung der Passage hinaus besonders interessiert: Inwiefern lassen sich im Verlauf der Rezeptionsgeschichte des Texts Spuren solcher Imagination weiter beobachten? Ich konzentriere mich auf wichtige Beispiele aus der Antike. 20 1 Rezeptionen im zweiten und frühen dritten Jahrhundert Die Rezeption der Schriften, die wir heute als Teil des Neuen Testaments betrachten, beginnt schon in ihrer Textgeschichte - oder präziser: 21 Im Grunde 137 Interpretation und Imagination <?page no="138"?> 22 Welche Probleme alleine die Verwendung des Begriffs „Originaltext“ aufwerfen kann, zeigt exemplarisch Eldon J. Epp, The Multivalence of the Term ‚Original Text‘ in New Testament Textual Criticism, in: ders., Perspectives on New Testament Textual Criticism. Collected Essays, 1962-2004, NovT.S 116, Leiden/ Boston 2005, 551-593. 23 Texte nach der Ausgabe von Frederick H. Scrivener, Bezae Codex Cantabrigiensis, repr. Eugene, Or. 1996, 255. 24 Hierzu (sehr präzise arbeitend) Dieter T. Roth, The Text of Marcion’s Gospel, NTTSD 49, Leiden/ Boston 2015, 434. - Auch Ephräms Kommentar zum Diatessaron bietet außer einer möglichen Parallele in 14,25 keinen klaren Hinweis darauf, dass Lk 23,6-12 in Tatians Evangelium enthalten war. Eine präzisere Analyse der Überlieferung des Diatessaron an dieser Stelle würde den vorgegebenen Rahmen sprengen. 25 Knapp hierzu auch Fitzmyer, Luke, 1483. 26 Der Titel „Kyrios“ ersetzt im erhaltenen Fragment des Petrusevangeliums weitgehend den an keiner Stelle begegnenden Namen „Jesus“. ist jedes Zeugnis einer neutestamentlich gewordenen Schrift, das auf uns gekommen ist, bereits ein Zeugnis seiner Rezeption. Originaltexte liegen uns in keinem Fall vor, und selbst die neutestamentliche Textkritik ist seit längerer Zeit von dem Ziel abgerückt, so etwas wie einen Originaltext neutestamentlicher Schriften zu rekonstruieren. 22 Auch Lk 23,12 ist nicht einheitlich überliefert, bietet doch Codex Bezae Cantabrigiensis (D) die folgende Form des Textes: ὄντες δὲ ἐν ἀηδίᾳ ὁ Πιλᾶτος καὶ ὁ ̔Ηρῷδης ἐγένοντο φίλοι ἐν αὐτῇ τῇ ἡμέρᾳ Pilatus und Herodes aber, die sich nicht ausstehen konnten, wurden an diesem Tag Freunde. Die lateinische Fassung der rechten Kolumne des Manuskripts ist entsprechend: cum essent autem in lite pilatus et herodes facti sunt amici in ipso die. 23 Insgesamt handelt es sich hier wohl nicht um eine Interpretation des Textes der kritischen Ausgaben, sondern um eine in ihrer Entstehung nicht ganz einfach erklärbare, freie Variation in der Überlieferung des griechischen Textes. Weiterführend ist der Blick in apokryphe Evangelienliteratur: Während der gesamte Abschnitt Lk 23,10-17 in den erhaltenen Fragmenten des Evangeliums des Marcion nicht belegt ist, 24 bietet das wohl in die Mitte des 2. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung zu datierende Petrusevangelium Hinweise, dass ihm ein den Aussagen in Lk 23,12 wenigstens vergleichbares Motiv bekannt gewesen sein mag. 25 Auch hier sind, soweit aus dem nur fragmentarisch überlieferten Text erkennbar, ein nicht näher als der Tetrarch Herodes Antipas gekennzeichneter „König Herodes“ und Pilatus an der Verurteilung „des Herrn“ 26 beteiligt. Das Urteil fällt jedoch, anders als bei Lk, nicht Pilatus, sondern Herodes (V. 2), während Pilatus eine vermittelnde Rolle zukommt, als Joseph (von Arimathaia) um den Leichnam des Herrn bittet (V. 3f.). Von einer „Freundschaft“ zwischen Pilatus und Herodes ist hier nicht explizit die Rede; allerdings spricht Herodes den Pilatus bei dieser Gelegenheit 138 Tobias Nicklas <?page no="139"?> 27 Text und Übersetzung des Petrusevangeliums folgt der Edition von Thomas J. Kraus/ Tobias Nicklas, Das Petrusevangelium und die Petrusapokalypse. Die griechischen Fragmente mit deutscher und englischer Übersetzung, GCS NF 11. Neutestamentliche Apokryphen 1, Berlin/ New York 2004. 28 Die Frage, ob das Petrusevangelium die Evangelien des Neuen Testaments - und speziell Lk - voraussetzt, ist weiter umstritten. Ich verstehe den Text als eine freie „Neuinszenie‐ rung“ der Evangelien, die wir im Neuen Testament finden, die um diese Evangelien, ihre Erzählungen bzw. grundsätzliche Motive in ihnen weiß, diese aber keineswegs sklavisch zu ihrer Vorgabe macht. Hierzu weiterführend Tobias Nicklas, Second Century Gospels as Re-Enactments of Earlier Writings, in: Robert M. Calhoun/ David P. Moessner/ Tobias Nicklas (Hg.), Modern and Ancient Literary Criticism of the Gospels. Continuing the Debate on Gospel Genre(s), WUNT 451, Tübingen 2020, 471-486. wie einen Freund an: „Bruder Pilatus, auch wenn keiner um ihn [d. h. den Leichnam des Herrn] gebeten hätte, hätten wir ihn begraben, da doch der Sabbat anbricht.“ 27 Damit entsteht eine bemerkenswerte Figurenkonstellation, führt doch V. 3 Joseph als „Freund des Pilatus und des Herrn“ ein. Damit ist Pilatus über Joseph wenigstens indirekt mit dem „Herrn“ verbunden; er steht gleichzeitig aber in einem so engen Verhältnis zur klar negativ assoziierten Figur des Herodes, dass damit eine Spannung entsteht, die die Pilatusfigur durch das gesamte Petrusevangelium hindurch begleitet. Einerseits ist der Pilatus des Petrusevangeliums offenbar nicht für den Tod Jesu verantwortlich. Auf Bitte Josephs kümmert er sich zudem darum, dass der Leichnam Jesu angemessen bestattet wird; bei der Verspottung, Folterung und Kreuzigung des Herrn sind schließlich weder er noch seine Soldaten anwesend. Nach der Auferweckung des Herrn wiederum weist er jede Schuld von sich, ja bezeichnet Jesus als „Sohn Gottes“ (V. 46). Andererseits ist Pilatus bei der Verurteilung Jesu, gegen die er nichts unternimmt, ganz offenbar präsent (V. 1) und lässt sich von den „Ältesten“ der „Juden“ - überaus negativen Figuren - überreden, eine Wache aus römischen Soldaten vor dem Grab aufstellen zu lassen (VV. 30-31). Vor allem aber lässt er sich von den (hier in extrem negativen Farben gezeichneten) Führenden der „Juden“ dazu überreden, den Soldaten, im Petrusevangelium immerhin Erstzeugen der Auferweckung Jesu, zu befehlen, über das Gesehene zu schweigen (V. 49): „Also befahl Pilatus dem Centurio und den Soldaten, nichts zu sagen.“ Das Motiv der Freundschaft zwischen Herodes und Pilatus ist damit im Petrusevangelium als Motiv selbst gegenüber dem Lukasevangelium nicht weiterentwickelt. 28 Da sich die Pilatusfigur jedoch wenigstens ambivalent gestaltet, während Herodes ganz negativ bleibt und gleichzeitig die Figur des Josef von Arimathaia das Motiv der Freundschaft an sich zieht, wird es zum 139 Interpretation und Imagination <?page no="140"?> 29 Vgl. hierzu ausführlicher die Analyse von Heike Omerzu, Die Pilatusgestalt im Petrus‐ evangelium: Eine erzählanalytische Annäherung, in: Thomas J. Kraus/ Tobias Nicklas (Hg.), Das Evangelium nach Petrus. Text, Kontexte, Intertexte, TU 158, Berlin/ New York 2007, 327-347. 30 Eine Abhängigkeit Justins vom Petrusevangelium wurde immer wieder diskutiert, lässt sich aber nicht belegen. Hierzu z. B. Katharina Greschat, Justins ‚Denkwürdigkeiten der Apostel‘ und das Petrusevangelium, in: Thomas J. Kraus/ Tobias Nicklas (Hg.), Das Evangelium nach Petrus. Text, Kontexte, Intertexte, TU 158, Berlin/ New York 2007, 197-214. 31 Auffallend ist auch hier, dass wie im Petrusevangelium, Herodes Antipas als „König“ bezeichnet ist. 32 Text: Charles Munier, Saint Justin. Apologie pour les Chrétiens. Édition et traduction, Paradosis 39, Freiburg/ CH 1995. Teil einer komplexeren Figurenkonstellation, die auf der Ambivalenz der im Petrusevangelium entwickelten Pilatus-Figur aufgebaut werden kann. 29 Womöglich etwa um die gleiche Zeit, in der das Petrusevangelium entstanden ist, vielleicht auch ein wenig später, spielt Justin der Märtyrer (gest. 165 n. Chr.) in dial. 103,4 knapp auf die Gesamtszene, nicht aber auf Lk 23,12 an. 30 Eine interessante Parallele, die nicht sicher auf Lk 23 zurückgeht, aber erneut die Entwicklung des Freundschaftsmotivs aus Ps 2,2 nahelegt, findet sich jedoch in seiner ersten Apologie. Dort lesen wir von einer „Zusammenkunft“ bzw. einem „Bündnis“ zwischen Herodes, der hier wie im Petrusevangelium „König der Juden“ ist, den „Juden“, Pilatus und seinen Soldaten. Sie alle richten sich gegen Christus, den Gesalbten (apol. 1,40,5-6): Πρὸς τούτοις δὲ καὶ λόγων ἑτέρων τῶν προφητευθέντων δι ̓ αὐτοῦ τοῦ Δαυὶδ καλῶς ἔχoν καὶ οἰκείως ἐπιμνῆσθαι λελογίσμεθα, ἐξ ὧν μαθεῖν ὑμῖν πάρεστι πῶς προτρέπεται ζῆν τοὺς ἀνθρώπους τὸ προφητικὸν πνεῦμα, καὶ πῶς μενύει τὴν γεγενημένην ̔Ηρώδου τοῦ βασιλέως ̓Ιουδαίων καὶ αὐτῶν ̓Ιουδαίων καὶ Πιλάτου τοῦ ὑμετέρου παρ ̓ αὐτοῖς γενομένου ἐπιτρόπου σὺν τοῖς αὐτοῦ στρατιώταις κατὰ τοῦ Χριστοῦ συνέλευσιν. Zu diesen aber [den eben zitierten Worten von Ps 18,3-6 LXX; TN] halten wir auch andere, von demselben David prophezeite Worte für schön und passend, aus denen es euch möglich ist zu lernen, wie der prophetische Geist die Menschen zu leben ermuntert und wie er das geschehene Bündnis des Herodes, des Königs der Juden 31 , der Juden selbst und des Pilatus, der damals bei ihnen Statthalter war, mit seinen Hauptleuten, gegen Christus anzeigt. 32 Wörtliche Anklänge an Lk 23,6-12 liegen hier nicht vor; literarische Abhän‐ gigkeit der hier zitierten Passage vom Lukasevangelium ist somit nicht nach‐ zuweisen. Ich halte es jedoch für denkbar, dass Justin hier eine (über welche Ebene sozialer Erinnerung auch immer vermittelte) „virtuelle“ Form „der“ 140 Tobias Nicklas <?page no="141"?> 33 Übersetzung adaptiert von Norbert Brox, Irenäus von Lyon. Epideixis. Darlegung der Apostolischen Verkündigung. Adversus Haereses. Gegen die Häresien I, Fontes Christiani 8/ 1, Freiburg u. a. 1993, 83f. 34 Justin, dial. 103,4, Irenäus, dem. 77, aber auch Tertullian, adv. Marc. 4,42,3 wiederum zeigen, dass Rezeptionen von Lk 23,6-12 sich auch mit Formen von Hos 10,6 (LXX.D: „Und sie banden ihn und führten ihn weg zu den Assyrern als Gastgeschenk für den König Jarim.“) verbanden, einer Passage, die jedoch keine Erklärung für Lk 23,12 bietet. 35 Leider bieten, soweit ich sehe, die Acta Pilati keine Anhaltspunkte einer Rezeption von Lk 23,6-12. Passionsgeschichte aktiviert, in der, wie im Lukasevangelium (oder durch Lk beeinflusst), auch Herodes eine Rolle spielt. Entscheidend für ihn aber ist nicht die „Erinnerung“ an eine Form der Passionserzählung an sich, sondern die Verbindung des Gedankens, dass Herodes und Pilatus (als Repräsentanten zweier Gruppen, der „Juden“ und der römischen Soldaten) gegen Christus gemeinsame Sache machen. Dieser Gedanke ist hier wie in Apg 4,23-31 aus Ps 2,1f. entwickelt, welcher nur wenige Sätze später explizit angeführt wird. In der gleichen Auslegungstradition steht Irenäus von Lyon, wenn er etwa in dem. 74 zunächst Ps 2,1f. zitiert und dann folgert: „Denn Herodes, der König der Juden, und Pontius Pilatus, der Prokurator des Kaisers Claudius [sic! ], verurteilten ihn [ Jesus] einmütig zur Kreuzigung. Denn Herodes hatte Angst davor, dass jener ein irdischer König sein sollte, durch welchen er von seinem Königtum abgesetzt werden könnte. Pilatus aber wurde von Herodes und von den ihn umgebenden Juden genötigt, ihn gegen seinen Willen dem Tod zu übergeben, wobei er lieber das tat, als gegen den Kaiser zu arbeiten, indem er einen Menschen freigegeben hätte, der den Namen ‚König‘ trug.“ 33 Das Motiv der Freundschaft tritt hier allerdings, wie auch wenig später - in dem. 77 -, zurück. 34 2 Spätere antike Rezeptionen Der Blick in spätere antike Rezeptionen der Passage hat natürlich sehr selektiv vorzugehen. Der Fokus meiner Darstellung soll von nun an alleine auf ausge‐ wählten apokryphen Rezeptionen des Texts liegen. 35 Besonders interessant erscheinen Schriften, die von einem Briefwechsel zwischen Pilatus und Herodes wissen wollen, in dem die neue Freundschaft der beiden vorausgesetzt wird oder wenigstens ansatzweise zum Ausdruck kommt. Ich denke hier an einen aus dem größeren Umkreis spätantiker Pilatusliteratur stammenden, ursprünglich griechischen, daneben aber auch in syrischer Sprache erhaltenen Briefwechsel zwischen Pilatus und Herodes sowie die in der anonymen koptischen, Cyrill 141 Interpretation und Imagination <?page no="142"?> 36 Montague Rh. James, Apocrypha Anecdota 2, Cambridge 1897 (Ndr. Nendeln, Liech‐ tenstein 1967), 66-70; dieser Text wird auch bei Aurelio de Santos Otero, Los Evangelios Apócrifos, Biblioteca de Autores Cristianos, Madrid 10 1999, 478-483, wiedergegeben. 37 Monika Schärtl, Die sonstige Pilatusliteratur, in: Christoph Markschies/ Jens Schröter (Hg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung I: Evangelien und Verwandtes, Tübingen 2012, 262-279, hier 266, z. B. schreibt: „Ein weiterer Briefwechsel des Pilatus […] mit Herodes war ehemals an das Gamalielevangelium angehängt und spiegelt die Sicht der Ostkirche wieder [sic! ]. Diese Briefe liegen auf Griechisch und Syrisch vor, wobei die Originalsprache Griechisch ist. Die ältere Handschrift ist die syrische, die bereits im sechsten oder siebten Jahrhundert entstanden ist. Die Übersetzung folgt […] der griechischen Fassung von M.R. James, die auf der Handschrift der Bibliothèque Nationale, Cod. G. 929, aus dem 15. Jahrhundert basiert.“ Diese „Einführung“ lässt natürlich mehr an Fragen offen, als sie zu beantworten vermag: Offen bleiben Datierung und Überlegungen zum möglichen Entstehungsort des Textes genauso wie die Frage, ob die angegebene griechische Handschrift der einzige erhaltene Textzeuge der Schrift ist oder wie diese mit der ebenfalls lückenhaft angegebenen syrischen Überlieferung wie auch dem Hinweis auf das Verhältnis zum Gamalielevangelium zusammenhängt. 38 Schärtl, Sonstige Pilatusliteratur, 266-269. von Jerusalem zugewiesenen Homilie Über das Leben und die Passion Christi überlieferten angeblichen Briefe der beiden im Zusammenhang mit Jesu Passion. 2.1 Der griechische Briefwechsel zwischen Pilatus und Herodes Eine präzise historische Einordnung des 1897 in den Apocrypha Anecdota von M.R. James edierten griechischen Briefwechsels zwischen Pilatus und Herodes 36 ist sehr schwierig und m. W. bisher nie ernsthaft unternommen worden. 37 Die Tatsache, dass der (in der Übersetzung von Monika Schärtl) 38 eigentlich recht leicht zugängliche Text als Name der Frau des Pilatus Prokla sowie den Centurio Longinus erwähnt, zeigt recht deutlich, dass offenbar eine Form der Akten des Pilatus vorausgesetzt ist, die diese Namen nennt. Da jedoch auch diese bis heute nur unzureichend edierte, in mehreren Textformen erhaltene Schrift schwer zu datieren ist, hilft das nur dahingehend weiter, dass wir uns mit einiger Sicherheit nach dem zweiten, wohl auch nach dem dritten Jahrhundert bewegen. Die grundsätzlich positive Einordnung des Pilatus wie auch die Bezeichnung des Longinos als ἑκατόνταρχος statt des vom Lateinischen beeinflussten κεντυρίων (z. B. in Mk 15,39) lassen an eine Entstehung im Osten des Römischen Reiches denken. Eigenartig ist die (m. W. sonst nicht belegte) Bezeichnung des Pilatus als „Hegemon von Jerusalem“ (ἡγέμων ̔Ιεροσολύμων), was (wie die korrekte Amtsbezeichnung des Herodes als τετράρχης) aus dem Neuen Testament erschlossen sein kann, dort aber nicht begegnet. Die Frage, ob dies als Indiz für die Entstehung des Texts in einer Zeit gelten kann, in der (nach 324 n. Chr.) Aelia Capitolina durch Kaiser Konstantin wieder seinen alten Namen Jerusalem erhielt 142 Tobias Nicklas <?page no="143"?> 39 Theologisch ist darüber hinaus - im Brief des Pilatus an Herodes - eine deutliche Betonung der Fleischlichkeit (also nicht nur Leiblichkeit! ) der Auferstehung Christi, sondern aller Menschen zu erkennen. Vgl. zu Debatten um die Fleischlichkeit der Auferstehung (oft im Zusammenhang mit Märtyrerliteratur) Outi Lehtipuu, Debates over the Resurrection of the Dead. Constructing Early Christian Identity, Oxford Early Christian Studies, Oxford u. a. 2015. 40 Wenn wir Schärtls Hinweis (dies., Sonstige Pilatusliteratur, 266) trauen wollen, dass die syrische Übersetzung in einer Handschrift des womöglich sechsten oder siebten Jahrhunderts vorliegt, ist wahrscheinlich kaum an einen deutlich späteren Zeitpunkt, vielleicht noch die erste Hälfte des 5. Jh.s, zu denken. und als „christliches Jerusalem“ eine Sonderstellung im kulturellen Gedächtnis des spätantiken Christentums einzunehmen begann, ist reizvoll, muss aber wohl offenbleiben. Die im Text erkennbare Kombination der Betonung fleischlicher Auferstehung (in einer Rede des auferstandenen Jesus an Prokla) 39 und des Motivs, dass bei dem todgeweihten Herodes „bereits die Würmer aus dem Mund heraufkommen“, erinnert an Literatur um Martyrien und die Todesarten der Verfolger (wie Lactantius, De mortibus persecutorum), könnte aber einfach auch aus Apg 12,23 entnommen sein, wo der Tod des Herodes Agrippa I. mit Hilfe des gleichen Motivs beschrieben ist. Eine Entstehung des Texts in Palästina selbst wird bereits durch das im Brief des Herodes begegnende Motiv, seine Tochter Herodias sei beim Spiel am Ufer eines offenbar reißenden Flusses ums Leben gekommen, eher unwahrscheinlich gemacht. Überaus auffallend ist auch die Tatsache, dass im Brief des Herodes ein (ansonsten nicht belegter) Herodessohn mit dem sehr seltenen Namen Lesbonax (Λεσβώναξ - „Herrscher von Lesbos“) erwähnt wird. Die Suche in Thesaurus Linguae Graecae wie auch im Lexicon of Greek Personal Names ergibt nur drei Träger dieses Namens, die alle nach Mytilene in Lesbos weisen. Ob der Verfasser unserer apokryphen Schrift den Namen aus der Literatur kannte oder selbst aus Lesbos oder dem westlichen Anatolien stammte, ist erneut kaum sicher zu beantworten. Für die Idee, dass wir bei der Abfassungszeit womöglich an das 4. Jahrhundert denken können, sprechen womöglich auch das Motiv, dass Herodes und die Priester Israels „das gerechte Auge“ verspottet haben. 40 Wenn damit, wie allerdings aus dem Kontext nicht ganz eindeutig erschließbar ist, Christus gemeint sein sollte, ist als, soweit ich sehe, nächste Parallele an Gregor von Nyssas fünfzehnte Homilie in Cant. zu denken, wo vom „gerechten Auge des Bräutigams“, d. h. Christi, zu lesen ist. Die Erscheinung des Auferstandenen vor Pilatus und Prokla wiederum finden statt, als beide „beim Fasten auf einer Schlafstatt auf der Erde“ liegen. Der hierfür verwendete Begriff χαμευνία ist zwar seit Philo von Alexandrien weit belegt; dass hier aber an ein Liegen bzw. Schlafen auf dem Boden in Zusammenhang mit Fasten gedacht ist, erinnert an den Gebrauch des Worts in Kontexten, in denen es 143 Interpretation und Imagination <?page no="144"?> 41 Die Vernachlässigung großer Teile der Pilatusliteratur in der Forschung mag weiterhin mit dem Vorurteil zu tun haben, dass diese Schriften keinerlei Informationen für die Rückfrage nach dem historischen Jesus liefern. Sie ist heute nicht mehr zu rechtfertigen. um Askese geht (mit Parallelen bei Gregor von Nazianz, Johannes Chrysostomus und Isidor von Pelusium). Die Tatsache, dass er - z. B. mit der eben erwähnten Erzählung vom Unfalltod der Herodias, dem Motiv einer Augenkrankheit der Frau des Herodes, aber auch Proklas und Longinus’ Vision des Auferstandenen auf einem „bestellten Feld“ - offenbar Traditionen kannte (oder entwickelte), die sich wenigstens in mir bekannten anderen Apokryphen vor dem 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung nicht finden, zeigt (trotz der Übersetzung ins Syrische), dass der Text offenbar nur begrenzten Einfluss entwickeln konnte. Bereits diese Beobachtungen mögen zeigen, dass wir es mit einem weitest‐ gehend übersehenen, gleichwohl faszinierenden Text zu tun haben. 41 Im ersten der beiden Schreiben richtet sich Pilatus an „den Tetrarchen (τετράρχῃ) He‐ rodes“. Dieser Brief des Pilatus an Herodes blickt bereits auf Kreuzigung und Auferstehung Jesu zurück. Er müht sich nicht, irgendeinen ganz konkreten Anlass zu fingieren oder auch nur in groben Zügen Formen eines antiken Briefs einzuhalten: Im Zentrum steht der Rückblick auf das seit der Kreuzigung Jesu Geschehene und die Information, dass Pilatus nun zum Zeugen der Auferste‐ hung Jesu geworden ist. Bereits mit seinen ersten Worten bezeichnet Pilatus sein Tun an „Jesus, den man Christus nennt“ (Ιησοῦν τὸν λεγόμενον Χριστόν), als „nichts Gutes“ (οὐδὲν ἀγαθόν). Pilatus habe, obwohl er über den Centurio von Kreuzigung und Auferstehung Jesu erfahren habe, (offenbar noch Soldaten) nach Galiläa schicken lassen, wo Jesus sich „im selben Fleisch und in demselben Aussehen“ (ἐν τῇ αὐτῇ σαρκὶ καὶ τῷ αὐτῷ εἴδει), mit „derselben Stimme und denselben Lehren“ (καὶ τῇ αὐτῇ φωνῇ καὶ τοῖς αὐτοῖς διδάγμασιν) „mehr als fünfhundert gottesfürchtigen Menschen offenbart“ (ἐνεφάνισεν ἑαυτὸν πλείοσιν πεντακοσίοις ἀνθρώποις θεοσεβέσιν; vgl. 1 Kor 15,6) habe. Auch die Frau des Pilatus, hier schon als Prokla bezeichnet, sei - zusammen mit zehn Soldaten und dem (bereits als Longinus benannten) Centurio - aufgebrochen. Der Gruppe sei nicht nur eine Vision des Auferstandenen zuteilgeworden, dieser habe ihnen „das Testament Gottes“ (τὴν τοῦ Θεοῦ διαθήκην) und damit eine Deutung des Geschehenen offenbart. Als Prokla und die Soldaten dies Pilatus berichten, trauern diese über all das, was sie Christus angetan haben: Als Pilatus und seine Frau fasten, erscheint ihnen der auferstandene Jesus, welcher Pilatus (in Anlehnung an Lk 1,48b) prophezeit, dass ihn „alle Geschlechter und alle Völker seligpreisen würden“. Pilatus wirkt hier also wie ein von anderen ver‐ führter reuiger Sünder, der nicht nur alles tut, um seine Schuld gut zu machen, sondern von Christus selbst die Gewissheit erhält, dass seine Reue angenommen 144 Tobias Nicklas <?page no="145"?> 42 Auch allen anderen Verstorbenen wird bei der Wiederkehr Christi eine solche fleisch‐ liche Auferstehung prophezeit. 43 Damit widerfährt ihr natürlich das Schicksal Johannes des Täufers, an dem sie durch ihr Verhalten Mitschuld trägt (vgl. Mk 6,17-29 par.). ist. Der Text zeigt, wie schon angedeutet, großes Interesse nicht nur an der Leib‐ lichkeit, sondern der (sehr konkreten) Fleischlichkeit der Auferstehung, ja der konkreten, offenbar unverwandelt fleischlichen Identität des Auferstandenen mit dem Gekreuzigten. 42 Das Leben und Wirken des Auferstandenen scheint (wenigstens bis zur Himmelfahrt) im Grunde in gleicher Weise weiterzugehen wie vor seiner Kreuzigung, deren Zeichen er nun fleischlich an sich trägt. Von einer Freundschaft zwischen Pilatus und Herodes ist in diesem ersten Brief nicht die Rede: Herodes wird hier nur insofern erwähnt, als ihm die eigentliche Schuld an der Verurteilung Jesu zugesprochen wird. So schreibt Pilatus, er habe, „von dir [d. h. Herodes] überredet“ (Z. 3: ὑπό σου πεισθείς), mit der Verurteilung Jesu nichts Gutes getan; etwas später lesen wir, dass er Jesus „auf deinen Rat hin“ (διὰ τὴν σὴν συμβουλίαν) zur Kreuzigung übergeben habe. Jesus bleibt in dieser Darstellung also der, der unter Pontius Pilatus gekreuzigt wurde. Dieser Gedanke ist offenbar so fest im Glaubensbekenntnis verankert, dass er nicht wegzudenken ist; gleichzeitig versucht der Text, die Schuld des Pilatus so weit wie möglich zu verringern: Er spricht nicht von Freundschaft zwischen Pilatus und Herodes, er lässt (anders als etwa das Petrusevangelium) nicht Herodes das Urteil über Jesus fällen, setzt aber - ein nicht im Neuen Testament zu findendes Motiv! - voraus, dass Pilatus zu dem Zeitpunkt, als das Urteil über Jesus zu fällen war, ein solches Vertrauensverhältnis zu Herodes pflegte, dass er auf dessen Rat und Überzeugungskunst hörte. Der Text zeichnet einen nach Passion und Ostern neuen, gewandelten Pilatus, der sich im Schreiben an seinen ehemaligen Genossen von diesem distanziert. Besonders spannend ist nun das Antwort‐ schreiben des Herodes: Während Pilatus vom Auferstandenen zugesprochen wurde, von allen Völkern seliggepriesen zu werden, befindet sich Herodes in tiefstem Leid - und geht davon aus, dass dies auch Pilatus, wenn er davon höre, traurig machen werde (καὶ σὺ ἀκούσας πάντως ἐν λύπῃ γεμήσῃ). Seiner Tochter Herodias wurde bei einem Rettungsversuch, als sie im Fluss zu ertrinken drohte, (auf unerklärliche Weise) der Kopf abgetrennt, 43 sein Sohn Lesbonax ist aufgrund einer Krankheit in Lebensgefahr, Herodes selbst liegt mit Wassersucht darnieder, „so dass mir die Würmer durch den Mund herauskommen“ (ὥστε διὰ τοῦ στόματός μου σκώλεκης ἐξέρχονται) - und schließlich hat auch seine Frau, die hier nicht noch einmal als Herodias bezeichnet wird, ihr linkes Auge verloren. So steht Herodes der Tod vor Augen. Doch er wird nicht einfach als teuflischer Widersacher des Pilatus (oder auch Christi) beschrieben: Er sieht 145 Interpretation und Imagination <?page no="146"?> 44 Der letztere Gedanke mag ein Spiel mit Lk 23,9 sein, wo wir erfahren, dass Herodes zwar Jesus begegnet, dieser aber nicht zu ihm spricht. 45 Ich bin mir hier nicht vollkommen sicher, was damit präzise gemeint ist - vielleicht ist, ähnlich wie in der Apokalypse des Paulus, ein Gericht direkt nach dem Tode und dann das Endgericht nach einem Zwischenzustand gemeint, vielleicht aber auch das Herodes nun ereilende Gericht, das schon vorwegnimmt, welches Urteil ihn am Ende der Zeiten erwartet. sich selbst und sein ganzes Haus in tiefer Schuld - und erinnert neben dem, was er selbst Jesus Übles angetan habe, an den Kindermord seines Vaters und die Enthauptung Johannes des Täufers. Vor diesem Hintergrund erkennt er die Gerechtigkeit der Urteile Gottes an: Während den Heiden die Herrschaft gegeben werde, seien die „Söhne des Lichts“ - und damit offenbar Israel - verworfen, weil sie weder beachtet hätten, „was sich auf den Herrn, d. h. Gott, bezieht, noch das, was sich auf seinen Sohn bezieht“. Anders als Pilatus aber setzt Herodes in seinem Schreiben offenbar ein enges Vertrauensverhältnis zu seinem Gegenüber, eine Freundschaft der beiden, voraus, ohne dass Lk 23,12 an irgendeiner Stelle zitiert oder auch nur klar angespielt wäre. Er geht nicht nur davon aus, dass sein Schicksal wie das seiner Familie Pilatus in Trauer versetzen werde, er hofft, kommen, den Auferstandenen sehen, vor ihm niederfallen und etwas von ihm hören zu können 44 - und setzt dabei offenbar voraus, dass Pilatus ihm diese Gunst verschaffen könnte. Er bittet Pilatus, der nun „wieder den Mann Jesus sehen könne“ (πάλιν δύνασαι τὸν ἄνδρα θεάσασθαι ̓Ιησοῦν), für ihn ein gutes Wort einzulegen, und fordert diesen auf, für sich, zusammen mit seiner Frau nachts und tags an Jesus denkend, Gerechtigkeit herzustellen. Als letzte Gunst erhofft Herodes für sein dem Tod geweihtes Haus von Pilatus, dass er ihn auf angemessene Weise bestatte (Θάψον μου τὸν οἶκον ἐπιμελῶς), was er sich von den ebenfalls todgeweihten Priestern seines Volks nicht mehr erwartet. Interessanterweise begründet er dies damit, dass „wir zur gleichen Zeit geboren wurden“ (ἐπεὶ ὁμοχρονίοι ἐγενάμεθα) - ein weiteres Motiv, das mir aus anderer apokrypher Literatur unbekannt ist, mit dem Pilatus und Herodes nun aber besonders eng verbunden sind. Bevor Herodes ganz am Ende seiner Furcht vor dem ihm bevorstehenden doppelten Gericht Gottes 45 Ausdruck verleiht, erinnert er in einer kleinen zwischengeschalteten Notiz an die Ohrringe seiner Frau sowie einen Siegelring, den er Pilatus geschickt habe. Die Lebenswege zweier Freunde, die gemeinsam an der Kreuzigung Jesu beteiligt waren, trennen sich damit: Während Pilatus sich ewiges Heil von Christus erhoffen kann und er für diejenigen steht, derer „das Königreich“ ist, kann Herodes nur noch auf die Gunst eines angemessenen Begräbnisses hoffen: Er steht mit Israel auf der Seite der Verworfenen, auf die das Gericht Gottes wartet - und dies, obwohl auch 146 Tobias Nicklas <?page no="147"?> 46 Roelof van den Broek, Pseudo-Cyril of Jerusalem. On the Life and Passion of Christ. A Coptic Apocryphon, VigChr.S 118, Leiden/ Boston 2013, 79. 47 Ich verdanke diesen Hinweis Alin Suciu (persönliches Gespräch). 48 Zu dieser Übersetzung van den Broek, Pseudo-Cyril, 125 n. 1. 49 Dies ist ein Anachronismus. Zur Zeit Kyrills war der Erzbischof von Palästina in Caesarea am Meer ansässig (Hinweis von Alin Suciu, persönliches Gespräch). 50 Grundlegend zu diesem erst seit wenigen Jahren intensiver diskutierten literarischen Genre Alin Suciu, The Berlin-Strasbourg Apocryphon. A Coptic Apostolic Memoir, WUNT 370, Tübingen 2017, 70-138. er inzwischen ganz offensichtlich versteht, dass Jesus nicht nur ein „Mann“, sondern Gottes Sohn ist. Der dem Text inhärente Antijudaismus lässt, obwohl nicht klar ist, inwiefern des Herodes Schuld schwerer wiegt, die Vorstellung nicht zu, dass auch Herodes wie Pilatus das Erbarmen des Auferstandenen erfährt. Obwohl er sich von seinem Volk distanziert, kann er weder Tod noch Gericht entrinnen. 2.2 Pseudo-Cyrill von Jerusalem, Über Leben und Passion Christi Die Cyrill von Jerusalem zugeschriebene, jedoch pseudonyme koptische Ho‐ milie „Über Leben und Passion Christi“ führt uns in eine wohl noch spätere Zeit als der griechische Briefwechsel zwischen Pilatus und Herodes. Wenn wir den Argumenten von Roelof van den Broek folgen, der diese Schrift vor wenigen Jahren neu untersucht, herausgegeben und übersetzt hat, so ist diese frühestens in die zweite Hälfte des 8. Jahrhunderts, wohl aber eher in die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts einzuordnen; 46 vielleicht aber spricht die Tatsache, dass der Text in sahidischem Koptisch verfasst ist, doch für einen etwas früheren Zeitpunkt (womöglich im 6. Jahrhundert). 47 Auch wenn der Text sich mit seinem ersten Wort als eine „Homilie“ 48 bezeichnet, die auf den Heiligen Apa Kyrillos, den „Erzbischof von Jerusalem“ zurückgehe, 49 und sich laut §§ 160 und 161 als eine „Unterweisung“, versteht, macht dieser Text eher den Eindruck eines apokryphen Evangeliums mit starker Konzentration auf Passion und Auferstehung Christi. Konkreter lässt er sich in die sogenannten „Apostolic Memoirs“ einordnen, eine Gruppe koptischer Schriften, die ab dem 6. Jahrhun‐ dert entstanden und mit denen die miaphysitische Kirche Ägyptens versuchte, ihre Sondertraditionen (z. B. im liturgischen Jahr) auf die christlichen Ursprünge zurück zu übertragen. 50 Der Anspruch auf ein hohes Alter des Textes ist hier durch das Motiv einer (z. B. auch in der Paulusapokalypse zu beobachtenden) wunderbaren Auffindung eines auf die Zeit der Apostel zurückgehenden Buches in der Zeit Cyrills vertreten; liturgisch besonders wichtig ist wiederum die im Text entwickelte Chronologie der Heiligen Woche. Für unsere Frage aber ist besonders die Tatsache interessant, dass der Text sich so ausführlich mit 147 Interpretation und Imagination <?page no="148"?> 51 Vgl. van den Broek, Pseudo-Cyril, 33-38. 52 Wie, soweit ich sehe, alle Apostolic Memoirs ist auch dieser Text von einem tiefen Antijudaismus gekennzeichnet. 53 Dem wiederum widerspricht § 159 des Textes, nach dem sich Herodes offenbar in Jerusalem aufhält - einer der Gründe, die van den Broek vermuten lassen, hinter der Darstellung in §§ 111-153 werde (redaktionell nicht ganz sauber) eine ältere Quelle verarbeitet. Pilatus, seiner Frau Prokla und seinem Verhältnis zu Herodes beschäftigt (vgl. §§ 111-153), dass Roelof van den Broek hier die Verarbeitung eines ansonsten unbekannten Pilatuszyklus vermutet. 51 Auch wenn wir offen lassen, woher auch immer der anonyme Verfasser der Schrift sein Material bezogen hat, bleibt interessant, dass auch dieser Text einen Briefwechsel zwischen Pilatus und Herodes enthält. Vorauszuschicken ist, dass, in der Tradition der koptischen Kirche, die wie die äthiopische Kirche Pilatus als Heiligen verehrt, der Pilatus dieser Erzählung auch im Vergleich zu dem oben vorgestellten Text in den hellsten möglichen Farben geschildert wird. § 112 führt Pilatus als einen in der Stadt Fremden ein, welcher dort jedoch zum Glauben an Gott gefunden habe und dem deswegen der Name Pontius gegeben worden sei. Der Pilatus dieses Textes versucht nicht nur alles, um Jesus freizulassen, er lädt ihn zum Essen ein und wird von ihm gesegnet (§ 132), ja will seinen eigenen Sohn hingeben, damit dieser anstelle Jesu getötet werde (§§ 133 und 136). Jesus muss Pilatus nicht nur davon überzeugen, dass sein Schicksal von den Propheten vorhergesagt sei (§ 134), sondern ihm seine übernatürlichen Kräfte erweisen, die zeigen, dass er dem Kreuzesschicksal entkommen könne (§ 137), um ihn dazu zu bringen, in das Todesurteil einzuwilligen. Für die vorliegende Frage aber ist v. a. eine andere Passage interessant: Pilatus ist sofort von der Erscheinung Jesu, der auf ihn wie ein Königssohn wirkt, beeindruckt (§§ 114f.). Als die „Juden“ seinen Tod fordern, 52 fragt er nach der Herkunft Jesu und wird informiert, dass dieser aus Galiläa stamme. Um mehr über Jesus zu erfahren, aber auch um kein unfaires Urteil gegenüber einem Landesfremden zu fällen, lässt er diesen zu Herodes schicken, der sich zu diesem Zeitpunkt jedoch, anders als Lk 23,7 berichtet, nicht in Jerusalem, sondern offenbar in Galiläa aufhält. 53 Aus diesem Anlass verfasst Pilatus einen Brief, den er dem Jesus begleitenden Soldaten zur Erklärung der Situation mitgibt (§§ 119f.). Der Inhalt dieses Schreibens ist kurz: Pilatus berichtet, dass die Hohenpriester und das jüdische Volk einen jungen Mann - d. h. Jesus - festgenommen hätten, weil dieser das Gesetz zerstöre und verkünde, als sei er Gott. Er selbst sei ob dieser Anschuldigungen ratlos und sende ihn zu Herodes, damit dieser nicht sagen könne: „Du bist mir abgeneigt“ (§ 119). Auch wenn hier nicht explizit von der Möglichkeit einer Feindschaft zwischen 148 Tobias Nicklas <?page no="149"?> 54 Interessanterweise erzählt der apokryphe Text hier knapper als die lukanische Vorlage. Das Motiv, dass Herodes ein Wunder Jesu sehen wolle, entfällt. 55 Vgl. § 132. Herodes und Pilatus die Rede ist, so scheint hier doch auf Lk 23,12 angespielt zu sein: Um jede Art von Ressentiments gegenüber dem Landesherrn von Galiläa zu vermeiden und die Form zu wahren, sendet der Pilatus unseres Textes Jesus zu Herodes, damit dieser die Sache entscheide bzw. ihm Amtshilfe gewähre. Herodes wiederum freut sich, Jesus zu sehen (vgl. Lk 23,8), dieser aber antwortet ihm nicht (vgl. Lk 23,9). 54 Da schreibt auch Herodes einen Brief an Pilatus und sendet Jesus zu diesem zurück. Noch deutlicher als der Brief des Pilatus spielt der des Herodes an Lk 23,12 an: Herodes schreibt mehrfach von der im ersten Brief ausgedrückten „brüderlichen Freundlichkeit“ des Pilatus. Aufgrund dieser habe sich „die Feindschaft, die ich in meinem Herzen gegen dich hatte, in Frieden gewandelt“ (§ 122). Dies scheint fast wörtlich Lk 23,12 zu entsprechen - und folgt jedoch einer deutlich anderen Intention: Während in Lk von einer gegenseitigen Feindschaft der beiden die Rede ist, verhält sich Pilatus hier vollkommen korrekt - von seiner Feindschaft gegen Herodes ist nicht die Rede, sondern umgekehrt nur von der des Herodes gegen Pilatus. Vor allem aber ist der Aussage des Herodes, seine Feindschaft habe sich in Freundschaft gewandelt, nicht zu trauen: Ohne irgendeinen Anhaltspunkt zu haben, schließt sich Herodes unverkürzt den jüdischen Vorwürfen gegen Jesus an und fordert, nicht eine Stunde Gnade walten zu lassen, sondern ihn - mit dem Gesicht zur Sonne - unverzüglich kreuzigen zu lassen (§ 124). Der Pilatus dieses überaus antijüdischen Textes kann nicht der Freund einer solchen Figur sein, er versucht stattdessen weiterhin mit allen Mitteln, Jesus zu retten (s. o.). Durch zwei ganz kleine Änderungen, der Idee, dass Pilatus alles tut, um Herodes keine Gründe zur Antipathie zu geben, und dem Motiv, dass Herodes deswegen seine alte Feindschaft gegen Pilatus aufgibt (oder vorgibt, das zu tun), gelingt es dem Text, zwar entscheidende Bestandteile von Lk 23,12 aufzunehmen, gleichzeitig aber Pilatus und Herodes so weit wie möglich voneinander zu distanzieren: der eine ein von mit seinem ganzen Haus von Jesus gesegneter „Heiliger“, 55 der andere ein übler Zeitgenosse, der Jesus grundlos leiden und sterben sehen will. 3 Fazit Weder in Lk 23,12 noch in der Rezeptionsgeschichte dieses Textes lernen wir viel über Freundschaft; wir erfahren aber viel darüber, wie Auslegungstendenzen und antijüdische Vorurteile, die sich im kulturellen Gedächtnis eingraben, die Imagination, die sich mit einem Text verbinden kann, beeinflussen können. 149 Interpretation und Imagination <?page no="150"?> 56 Natürlich ist nicht zu vergessen, dass auch Pilatus v. a. in Schriften des lateinischen Westens zu einer geradezu dämonischen Gestalt entwickelt werden konnte. 57 Ich zitiere den Text nach der Ausgabe Éric-Emmanuel Schmitt, Das Evangelium nach Pilatus. Aus dem Französischen von Brigitte Grosse, Zürich 2005. Schmitt deutet sein Berufungserlebnis im dritten Teil an: „Natürlich benutze ich meine Nacht in der Sahara im Februar 1989, wo ich als Atheist hineinging und als Gläubiger herauskam, als Vorlage für den Aufenthalt Jesu in der Wüste. Ich verwende diese einzigartige Erfahrung nur insoweit, als es mein Buch verlangt. Ansonsten behalte ich diese Nacht unter den Sternen, die mein Leben verändert hat, weiter für mich“ (266). 58 Schmitt, Pilatus, 275, bezeichnet ihn deswegen als „philosophischer Held“ und schreibt (ebd.): „Er [Pilatus] will die Rationalität retten und bedient sich nur seiner Ratio. Intuitiv wendet er die Prinzipien an, die Descartes im Discourse de la méthode darlegt: Er versucht sein Problem zu lösen, indem er eine Hypothese erprobt, bis sie, von der Wirklichkeit widerlegt, in sich zusammenbricht.“ Während die Zahl der Texte, die eine positive Pilatusfigur entwickelt haben, kaum überschaubar ist, 56 kenne ich kein einziges Zeugnis dafür, dass der jüdi‐ sche Tetrarch Herodes Antipas, im Neuen Testament ein in seiner abgründigen Gebrochenheit durchaus faszinierender Charakter, ins Zentrum einer Erzählung rückte, die ihn zu einer schlussendlich erlösten Figur entwickelt. Dies gilt, auch wenn ich keinen vollständigen Überblick über moderne Jesusliteratur habe, wohl selbst für unsere Zeit: Ich denke hier etwa an den 2005 erschienenen und im gleichen Jahr noch ins Deutsche übersetzten Roman L’Évangile selon Pilate von Éric-Emmanuel Schmitt (geb. 1960), der sich selbst aufgrund eines Bekehrungserlebnisses als Christ versteht. 57 Dieser bemerkenswerte Text setzt sich aus drei sehr unterschiedlichen Teilen zusammen: Nach einem ersten, aus der Sicht Jesu (oder besser: Jeschuas) in der Nacht von Gethsemane erzählten Part folgt ein - mit vielen apokryphen Elementen durchsetzter - Briefroman: In einer Reihe von Schreiben an seinen Bruder Titus berichtet Pilatus von den Ereignissen um die Hinrichtung Jesu, vor allem aber von seiner geradezu detektivischen Suche nach rationalen Erklärungen dafür, dass das Grab Jesu leer gefunden worden sei und eine Reihe von Zeuginnen und Zeugen berichtete, ihm lebend begegnet zu sein. Anders als der Pilatus des oben erwähnten griechischen Briefwechsels begegnet Schmitts Pilatus dem Auferstandenen nicht mehr selbst, kommt aber, nachdem er mehr oder minder alle Möglichkeiten einer anderen Erklärung des Geschehenen ausschließen muss, zu der Überzeugung, dass Jesus - im Roman Jeschua - wirklich auferstanden sei. 58 Dieser zweite Teil - vor einer autobiographischen „Chronik eines gestohlenen Romans“, in der Schmitt nicht nur über die Entstehung des Romans, sondern seinen eigenen Weg zum Glauben reflektiert - endet mit den Worten: 150 Tobias Nicklas <?page no="151"?> 59 Schmitt, Pilatus, 254. 60 Vgl. a. a. O., 277: „Vielleicht wird er [Pilatus] ja eines Tages gläubig … Pilatus sind wir. Claudia bin ich.“ 61 A. a. O., 155. 62 Wenigstens gespiegelt durch den Blick des Pilatus wird dieses Bild immer wieder mit dem keineswegs unschuldigen Attribut „orientalisch“ (z. B. 144) versehen. 63 Deutsch: Éric-Emmanuel Schmitt, Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran, Zürich 2003. „Heute morgen habe ich Claudia - die sich, stell Dir vor, als Christin bezeichnet - gegenüber behauptet, daß es nur eine einzige Generation von Christen geben wird: diejenigen, die den wiederauferstandenen Jeschua gesehen haben. Ihr Glaube wird mit ihnen erlöschen, wenn man dem letzten Greis, der das Gesicht und die Stimme des lebenden Jeschua noch im Gedächtnis hat, die Augen zudrückt. ‚Ich werde also nie ein Christ sein, Claudia‘, sagte ich. ‚Denn ich habe nichts gesehen, ich habe versagt, ich bin zu spät gekommen. Wenn ich glauben wollte, müßte ich zuerst den Zeugnissen anderer glauben.‘ Und weißt Du, was sie mir darauf geantwortet hat: ‚Dann bist du vielleicht der erste Christ.‘“ 59 Der Pilatus aus Schmitts Evangelium ist keineswegs eine eindeutig positive Figur. Und trotzdem - ja vielleicht gerade weil nicht ganz sicher ist, ob er den letzten Schritt zum „Christ-Sein“ machen wird - ist er eine entscheidende Identifikationsfigur des Textes. 60 Wie in den eben besprochenen Apokryphen ist eines seiner Gegenüber Herodes Antipas. Als Pilatus die Idee hat, Herodes könnte hinter dem Verschwinden von Jeschuas Leichnam stecken - er versuche, mit Hilfe der Botschaft über den auferstandenen Jesus die Juden zu einen und sie zu einem Aufstand gegen Rom anzustacheln -, macht er sich auf den Weg zum Herodespalast. Herodes empfängt ihn mit den Worten: „Pilatus! Mein Freund Pilatus! Die hübschesten Locken des Imperium Romanum! “ 61 Die Struktur der Szene ähnelt dem, was wir in den Apokryphen finden: Von einer Freundschaft unter Gleichen kann nicht die Rede sein. So ambivalent Schmitts Pilatus ist, so sehr distanziert er sich von dem offenbar alkoholabhängigen, zumindest aus Sicht des Römers Ekel erregenden Potentaten, der dauernd Obszönitäten ins Gespräch einfließen lässt und (anders als Pilatus, der eine geradezu reine Liebe für Claudia Prokla empfindet) seine Frau Herodias genauso hasst wie sie ihn. 62 Wie kaum ein anderer ist Éric-Emmanuel Schmitt, der in Deutschland besonders durch seine zauberhafte, für Toleranz werbende Erzählung Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran bekannt wurde, 63 unverdächtig gegenüber jeder Form von religiöser Ausgrenzung, Intoleranz oder gar eines bewussten Antijudaismus. Ganz explizit grenzt er sich in dem autobiographischen dritten Teil des Evangeliums mehrfach und überzeugend von jeder Form eines christli‐ 151 Interpretation und Imagination <?page no="152"?> 64 Vgl. z. B. Schmitt, Pilatus, 269, siehe aber auch 279f. 65 Dieser Eindruck entsteht nicht nur bei der Lektüre, die Beeinflussung durch Renan ist auch explizit angedeutet (vgl. Schmitt, Pilatus, 264). - Die Bedeutung von Renans Werk bis heute zeigt sich u. a. darin, dass eine Neuauflage des Lebens Jesu in deutscher Sprache noch 2003 im Diogenes-Taschenbuch Verlag erschienen ist. 66 Hans-Georg Gadamer, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik, in: ders., Gesam‐ melte Werke II, Tübingen 1987, 247. chen Antisemitismus ab, dessen Wurzeln er in besonderem Maße an der (von ihm neu bewerteten) Figur des Judas festmacht. 64 Und doch rezipiert sein von Ernest Renans Leben Jesu 65 beeinflusstes Evangelium nach Pilatus Lk 23,12 in einer Weise, die wenigstens in Grundstrukturen dem ähnelt, was wir in den antiken Texten entdeckten - die Figur des Römers ist auf dem Weg zu Christus, der jüdische Herrscher bezeichnet Pilatus zwar als Freund, bleibt aber im Grunde eine erbarmungswürdige Existenz fern von jeder Hoffnung auf Erlösung. Der (laut Ankündigung im Schutzumschlag) den Figuren der Passion „mit frischer Feder neues Leben“ einhauchende Roman übernimmt in nur geringer Variation und sicherlich ohne jegliche antijüdische Absicht eine in der Geschichte christ‐ licher Literatur immer wieder begegnende Figurenkonstellation, die wenigstens in ihren antiken außerkanonischen Zeugnissen antijüdisch motiviert ist. Erst der Blick in die Rezeptionsgeschichte führt also, um es mit Hans Georg Gadamer zu formulieren, „etwas vor mich, was sonst hinter meinem Rücken geschieht.“ 66 Gerade deswegen ist rezeptionsgeschichtliche Arbeit auch im Detail eine ent‐ scheidende Aufgabe für die Exegese der nächsten Generationen. Literatur Stefan Alkier/ Thomas Paulsen, Die Apokalypse des Johannes. Neu übersetzt, Frankfurter Neues Testament 1, Paderborn 2020. François Bovon, Das Evangelium nach Lukas (Lk 19,28-24,53), EKK III/ 4, Neukir‐ chen-Vluyn 2009. Roelof van den Broek, Pseudo-Cyril of Jerusalem. On the Life and Passion of Christ. 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Das altmodische „Tüchtigkeit“ im Sinne eines positiven Vermögens trifft diese Grundbedeutung deutlich besser. Mit ἀρετή sind zunächst Qualitäten, Fertigkeiten einer Person oder auch eines Tiers oder gar einer Sache bezeichnet, durch die sich das jeweilige Lebenswesen oder der jeweilige Gegenstand auszeichnen. So besteht etwa die ἀρετή eines Pferdes in seiner Schnelligkeit, die eines Messers in seiner Schärfe. In philosophischen Kontexten wird der Begriff dann freilich oft mit ethischen Konnotationen aufgeladen wie etwa bei den berühmten vier „Kardinaltugenden“ Platons (die er übrigens selbst nie als solche bezeichnet), ἀνδρεία (Tapferkeit), δικαιοσύνη (Gerechtigkeit), σοφία (Weisheit) und σωφροσύνη (Besonnenheit). Auch hier scheint freilich weiterhin die Grundbedeutung von ἀρετή als etwas, das jemand in besonderem Maße beherrscht, noch durch. 2 Vgl. KD. 5 (Die Abkürzungen werden am Ende von Abschnitt I erläutert). Was für eine Provokation das für den Mainstream antiken philosophischen Denkens darstellte, wird besonders deutlich aus Cicero, De finibus bonorum et malorum 2.69, wo in empörtem Die Bedeutung der Freundschaft in der Philosophie Epikurs Thomas Paulsen 1 Epikur (341-270 v. Chr.) war schon in der Antike der wohl am meisten missver‐ standene Philosoph. Bis heute hat sich daran nur zum Teil etwas geändert. Mit der zum Teil provokanten pointierten Zuspitzung seiner Lehrsätze ist er daran nicht ganz unschuldig, doch wurde sein ganz neuartiges philosophisches System zum großen Teil aus Mangel an Aufgeschlossenheit der Rezipienten, zum kleineren Teil aber auch willentlich missverstanden. Verantwortlich dafür ist der Zentralbegriff der epikureischen Philosophie, die ἡδονή, ein Begriff, der je nach Kontext „Freude“, „Vergnügen“, „Lust“, gelegentlich auch „Wollust“ bedeuten kann. Dass Epikur einen dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung und Empfindung entlehnten Begriff zum Leitbegriff menschlichen Strebens machte und ihm die ἀρετή, also die „Tugend“ oder „Tüchtigkeit“ 1 , unterordnete, insofern ἀρετή keinen Wert an sich darstelle, sondern ihre Berechtigung einzig und allein als Mittel zum Zweck des Erreichens der ἡδονή erhalte 2 , stellte <?page no="156"?> Ton das Bild der prachtvoll gekleideten Lust entworfen wird, um welche die ἀρεταί, lateinisch virtutes als Dienerinnen herumscharwenzeln und ihr zuraunen: sic natae sumus, ut tibi serviremus, aliud negotii nihil habemus („Wir sind dazu geboren, dir zu dienen, etwas anderes an Aufgabe haben wir nicht.“). 3 Epistula I 4.15f.: me pinguem et nitidum bene curata cute vises, / cum ridere voles, Epicuri de grege porcum. (“Mich wirst du feist und wohlgenährt mit gut gepflegter Haut anschauen, / wenn du lachen willst, aus Epikurs Herde ein Schwein“). 4 Vgl. Ep. Men. 131 mit Absage an die „Lüste der Hemmungslosen“. - Ich kann in diesem Rahmen die Grundlinien der Philosophie Epikurs natürlich nur insoweit anreißen, als sie für das Thema dieses Beitrags bedeutsam sind. Die m. E. beste Einführung ins Denken dieses Philosophen bieten Michael Erler, Epikur, in: Hellmut Flashar (Hg.), Die Philosophie der Antike. Band 4: Die hellenistische Philosphie, Basel 1994, 29-202 und Malte Hossenfelder, Epikur, München ² 1998. 5 Vgl. KD. 3. 6 In diesem Punkt unterscheidet sich Epikur nicht von den Vertretern der drei anderen großen Philosophenschulen. ihn ebenso in diametralen Gegensatz zu den Lehren der bereits etablierten Philosophenschule der platonischen Akademie und des aristotelischen Peri‐ patos wie erst recht zur Tugendlehre der etwa zeitgleich zum Epikureismus um die Wende vom 4. zum 3. Jahrhundert v. Chr. entstehenden Stoa. Dass Epikur grundsätzlich alle Menschen, also auch Frauen und Sklaven zur Teilhabe an seiner Philosophie einlud, erhöhte das Misstrauen der freien männlichen Bürger, deren Sache das Philosophieren bisher exklusiv gewesen war, gewiss zusätzlich. Das weite, schillernde Bedeutungsspektrum des zentralen Begriffs ἡδονή bot dem unbeabsichtigten oder intentionalen Missverständnis, dass es den Epikureern primär auf die Befriedigung ihrer Sinnenlust ankomme, weitere Nahrung. Selbst wohlmeinende Zeitgenossen wie der römische Dichter Horaz (65-8 v. Chr.) leisteten solchen Missverständnissen Vorschub, wenn er sich in einem Brief an seinen Dichterfreund Tibull (ca. 50-19 v. Chr.) in einem eindeutig der Sinnenfreude zugewandten Kontext spaßhaft als „Schwein aus der Herde Epikurs“ bezeichnet. 3 Die skeptische Rezeption des Epikureismus in Rom war hauptverantwortlich für das in die Neuzeit transportierte Missverständnis von einem Epikureer als einem Menschen, dem es primär darauf ankommt, der Befriedigung seiner körperlichen Begierden zu frönen. In Wirklichkeit ist Epikurs Lustverständnis geradezu asketisch. 4 Lust definiert er nämlich als Abwesenheit von Unlust, das heißt insbesondere von Angst und Schmerz 5 , und in dieser Form von Lust bestehe das Glück (εὐδαιμονία), nach dem zu streben für alle Menschen Ziel ihres Handelns sei. 6 In seiner dauerhaften Idealform tritt dieser Zustand des Glücks ein, wenn der Mensch die Ataraxie (ἀταραξία) erreicht hat, die 156 Thomas Paulsen <?page no="157"?> 7 Vgl. Ep. Men. 131. 8 Ep. Men. 123f. 9 Ep. Men. 125; vgl. auch KD. 2. 10 EP. 4; Epikur scheint nach dieser Maxime auch gelebt und ein sehr schmerzhaftes Unterleibsleiden, das auch zu seinem Tode führte, mit großer Gleichmut ertragen zu haben. Diogenes Laertios zitiert hierzu seinen letzten Brief an seinen Freund Idomeneus (D.L. 10.22). Weniger optimistisch über die Fähigkeiten der Philosophen, Leiden zu ertragen, äußert sich Leonato in Shakespeares Komödie „Much ado about nothing“: „For there was never yet philosopher / that could endure the toothache patiently, / however they have writ the style of gods / and made a push at chance and sufferance.“ Shakespeare könnte beim Schreiben dieser Verse durchaus and Epikur oder die Stoa gedacht haben. 11 KD. 29. 12 Die Textstelle ist im überlieferten Text durch eine aus einer Haplographie entstandene Lücke entstellt; die Ergänzung ist aber aus EP. 20 sicher; vgl. auch Ep. Men. 127. dauerhafte vollkommene Abwesenheit von Angst und Schmerz. 7 Die primäre Aufgabe aller Philosophie sei es, den Menschen ihre Ängste zu nehmen und sie zu Gleichmut gegenüber Schmerzen auszubilden. Die beiden zentralen Ängste im menschlichen Leben sind für ihn die Angst vor den Göttern und die Angst vor dem Tod. Die Götter existieren zwar laut Epikur, aber in so genannten Intermundien in ewig selbstgenügsamer Glückseligkeit und kümmern sich kein bisschen um die Menschen. So hat man weder Hilfe noch Strafe von ihnen zu erwarten und muss sie daher auch nicht fürchten. 8 Auf diesen für unser Thema sehr wichtigen Gesichtspunkt werde ich bald zurückkommen. Und was den Tod angeht: Man muss ihn nicht fürchten, da er den Menschen nichts angeht, denn, wie es in einem der berühmtesten Sätze Epikurs heißt: τὸ φρικωδέστατον οὖν τῶν κακῶν ὁ ϑάνατος οὐϑὲν πρὸς ἡμᾶς, ἐπειδήπερ, ὅταν ἡμεῖς ὦμεν, ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν, ὅταν δὲ ὁ ϑάνατος παρῇ, τόϑʼ ἡμεῖς οὐκ ἐσμέν. 9 Das schauererregendste der Übel, der Tod, <ist> nun nichts im Hinblick auf uns, da ja, wenn wir sind, der Tod nicht da ist, wenn aber der Tod da ist, dann wir nicht sind. Dieser Aussage liegt die Überzeugung zugrunde, dass Körper und Seele des Menschen aus Atomen bestehen - hier knüpft Epikur an die Atomlehre Demo‐ krits (ca. 460-ca. 380 v. Chr.) an -, die sich im Tod voneinander trennen, so dass die individuelle Existenz mit dem Tod unwiderruflich endet. Ähnlich verhalte es sich mit den Schmerzen: Sehr heftiger Schmerz sei von kurzer Dauer, lang anhaltender Schmerz dagegen nicht sehr heftig. So seien beide gut zu ertragen. 10 Die konkreten Begierden, die im menschlichen Leben zur Erfüllung der Lust eine Rolle spielen, teilt Epikur in drei Kategorien ein 11 : a) natürlich und notwendig (φυσικαὶ καὶ ἀναγκαῖαι) 12 , b) natürlich und nicht notwendig (φυσικαὶ καὶ οὐκ ἀναγκαῖαι), c) nicht natürlich und nicht notwendig (οὔτε 157 Freundschaft in der Philosophie Epikurs <?page no="158"?> 13 Vgl. Erler, Epikur, 158. 14 Dem Epikur aber, wenn wir Diogenes Laertios trauen dürfen, äußerst reserviert gegenüberstand: Sexualverkehr nütze niemals, man müsse zufrieden sein, wenn er wenigstens nicht schade (D.L. 10.118). 15 Diog. Laert. 10.136; vgl. Anthony A. Long/ David N. Sedley, Die hellenistischen Phi‐ losophen. Texte und Kommentare, übersetzt von Karlheinz Hülser, Stuttgart 2000 (englisches Original: The Hellenistic Philosophers, Cambridge 1989), 144f. 16 Im folgenden Abschnitt greife ich gelegentlich auf Formulierungen zurück, die ich schon in meiner „Geschichte der griechischen Literatur“, Stuttgart 2004, 289, verwendet habe. 17 Vgl. vor allem Ep. Men. 129, KD. 8. φυσικαὶ οὔτε ἀναγκαῖαι), auch leere (κεναί) Begierden genannt. Zu Kategorie a gehören für ihn Essen und Trinken der Grundnahrungsmittel Wasser und Brot sowie Schlaf als einzige Begierden, deren Nichtbefriedigung zu Unlust führt 13 , zu b etwa verfeinertes Essen wie Fleisch und Wein sowie Sexualverkehr 14 , zu c ein üppiges Luxusleben, aber auch das Streben nach Ehre und Reichtum. Was die Befriedigung der Bedürfnisse von a gewährleistet, sind primäre, alles andere sekundäre oder abgeleitete Güter. Diese drei Kategorien von Begierden sind rein deskriptiv zu verstehen: Auch die Begierden der Kategorie c sind nicht moralisch verwerflich, nur führt ihre Befriedigung nach Epikur in der Regel nicht zur Lust, sondern erzeugt Unlust, so dass man von ihnen Abstand nehmen sollte. Epikur predigt also gerade nicht ein hemmungsloses Ausleben der Begierden, sondern sieht im Gegenteil in einem möglichst bedürfnislosen Lebensstil den Weg zum Glück. Die Lüste, die den Menschen auf seinem Weg zu diesem Ziel begleiten und dabei der Befriedigung von Bedürfnissen und der Beseitigung von Schmerz dienen, nennt Epikur ἡδοναὶ ἐν κινήσει oder ἡδοναὶ κατὰ κίνησιν, „Lüste in Bewegung“, in der modernen Forschung in der Regel als kinetische Lüste bezeichnet, diejenigen, die durch das Erreichen der Ataraxie entstehen und dauerhaft mit ihr verbunden bleiben, ἡδοναὶ καταστηματικαί, ganz wörtlich etwa „hingesetzte“ oder „eingerichtete“, also fortwährende oder statische Lüste 15 . Diese ἡδονή-Konzeption ist nun von höchster Bedeutung für die Regelung des individuellen Alltagswie auch des menschlichen Zusammenlebens 16 : Zwar streben alle Lebewesen von Natur aus nach Lust und meiden Schmerz, so dass im Prinzip jede Lust qua Lust gut und jeder Schmerz qua Schmerz schlecht ist. 17 Dennoch ist nicht jede Lust wählens- und jeder Schmerz meidenswert. Vielmehr ist bei jeder Lust zu erwägen, ob ihre Erreichung möglicherweise mit Unlust verbunden ist, die ihrem Erreichen vorangeht oder folgt und so die Lust selbst als nicht mehr erstrebenswert erscheinen lässt. Ein klassisches Beispiel ist etwa übermäßiger Alkoholgenuss, der, während man trinkt, selbst 158 Thomas Paulsen <?page no="159"?> 18 Vgl. Erler, Epikur, 164. 19 Die Echtheit dieses Briefes ist umstritten. 20 In diesem Aufsatz als Ep. Men. zitiert. 21 Brief an Herodot: 10.35-83, an Pythokles: 10.84-121, an Menoikeus: 10.122-135. lustvoll sein mag, aber dem Trinker am nächsten Morgen ein böses Erwachen beschert. Umgekehrt nimmt man die Unlust des Schmerzes einer ärztlichen Behandlung auf sich, wenn diese der höheren Lust der körperlichen Gesundheit dient. Ähnlich verhält es sich im menschlichen Zusammenleben: Es mag Lust bereiten, sich durch Diebstahl zu bereichern, doch im Falle der Entdeckung und Bestrafung ist die daraus resultierende Unlust viel größer. So ist auch Gerechtigkeit nicht qua Gerechtigkeit ein Gut 18 (ein Platon würde angesichts einer solchen Aussage vermutlich empört aufschreien), insofern sie nicht per se Lust verschafft, aber sie bringt den Menschen Nutzen und Sicherheit und ist somit als sekundäres Gut zu betrachten: Gerechtes Handeln bedingt gerechte Behandlung und bewahrt somit vor der Unlust, selbst ungerecht behandelt zu werden oder, wie es der Volksmund sagt: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andren zu! “ - und zwar nicht, weil man für ungerechtes Verhalten eine wie auch immer geartete metaphysische Bestrafung zu erwarten hätte, sondern einfach, weil bei einer Kosten-Nutzen-Abwägung gerechtes Handeln mehr Lust als Unlust bereitet. Diese Konzeption bildet mithin die Basis für eine humane menschliche Gesellschaft, die sich trotz ihrer rein pragmatischen Begründung in der Realität nicht schlechter bewähren dürfte als eine Konzeption, die moralischen Idealen verpflichtet ist. Zum Abschluss dieser Einleitung soll noch kurz auf die problematische Über‐ lieferungslage eingegangen werden: Mit allen anderen griechischen Philosophen der vorchristlichen Zeit außer Platon und Aristoteles teilt Epikur das Problem, dass seine Schriften nicht direkt überliefert worden sind. Dennoch sind wir bei ihm in einer viel günstigeren Situation als etwa bei der Stoa: Abgesehen von einer Vielzahl von Referaten und Zitaten, für die exemplarisch Ciceros Schriften De finibus bonorum et malorum und Tusculanae disputationes (beide 45 v. Chr.) genannt seien, präsentiert uns der römische Dichter Lukrez (ca. 98-ca. 55 v. Chr.) das Lehrgebäude Epikurs in seinem 6 Bücher umfassenden Lehrgedicht De rerum natura, in dem freilich der Schwerpunkt auf der naturwissenschaftlichen Lehre, weniger auf der Ethik liegt. Unsere wichtigsten Quellen für Epikurs eigene Lehre sind jedoch die drei Briefe an Herodot, Pythokles 19 und Menoikeus 20 , welche der Doxograph Diogenes Laertios (um 200 n. Chr.) im Epikur gewidmeten 10. Buch seiner Schrift über Leben und Meinungen bedeutender Philosophen im Wortlaut überliefert 21 , und zwei aphoristische Sammlungen von Lehrsätzen, deren erste, 159 Freundschaft in der Philosophie Epikurs <?page no="160"?> 22 In diesem Aufsatz als KD. zitiert. 23 Überliefert bei D.L. 10.139-154. 24 In diesem Aufsatz als EP. zitiert. 25 Sie schlummerten Jahrhunderte lang unbeachtet in einer Handschrift in der Vatikan-Bi‐ bliothek (Codex Vaticanus Graecus 1950), bis sie 1888 von C. Wotke entdeckt wurden; vgl. Michael Erler, Epikuros, in: Hubert Cancik/ Helmuth Schneider (Hg.): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Band 3, Stuttgart/ Weimar 1997, Sp. 1130-1140, hier: Sp. 1132. die 40 Κύριαι δόξαι 22 („Entscheidende Ansichten“), die eine Art Katechismus des epikureischen Lehrgebäudes darstellen, auf Epikur selbst zurückgehen könnte 23 , während die zweite, die 81 Stücke umfassende Ἐπικούρου προσφώνησις 24 („Epi‐ kurs Ansprache“, seinem Fundort nach als Gnomologium Vaticanum bekannt 25 ), die sich zum Teil mit den Κύριαι δόξαι überschneidet, auf einer späteren Zusam‐ menstellung beruhen dürfte. 2 Nachdem nun das Grundgerüst der epikureischen Ethik wenigstens im Ansatz dargelegt ist, wollen wir uns nun der zentralen Frage zuwenden, wie sich die Freundschaft in dieses philosophische Gebäude einfügt. Dass sie für Epikur im Rahmen seiner pragmatischen Ethik nichts Metaphysisches etwa im Sinne eines Bundes verwandter Seelen an sich haben kann, dürfte nach den bisherigen Bemerkungen klar sein. Aus diesem Befund ergeben sich auf den ersten Blick folgende Fragen: Ist Freundschaft für Epikur also rein durch den wechselseitigen Nutzen definiert? Was für eine Rolle spielen die mit Freundschaft verbundenen Emotionen? In welche der drei Kategorien von Begierden oder neutraler formu‐ liert von Bedürfnissen gehört die Freundschaft? Einen ersten Fingerzeig zur Beantwortung dieser Fragen bietet uns ein Blick auf das, was wir Dank Diogenes Laertios und anderen antiken Quellen über Epikurs Biographie wissen: Lang andauernde Freundschaften spielen in seinem Leben eine zentrale Rolle. Namen, die immer wieder auftauchen, sind dabei Hermarchos von Mytilene, der ihm als Schuloberhaupt nachfolgte, Metrodoros von Lampsakos, mit dem er seit seiner ersten Schulgründung ebendort eine lebenslange Freundschaft pflegte, Kolotes sowie Themista und ihr Ehemann Leonteus. Sie alle gehörten auch seiner um das Jahr 306 v. Chr. in Athen gegründeten Schule an, die unter dem schlichten Namen Kepos (κῆπος), Garten, bekannt wurde, weil sie sich auf einem großen Gartengrundstück befand, das Epikur zu diesem Zweck gekauft hatte. Gegen Ende seines Lebens gehörten dem Kepos etwa 200 Menschen an. Feste Schulgebühren oder gar eine Vereinigung der Einzelvermögen zum Gesamtbesitz, wie sie die Pythagoreer pflegten, gab es 160 Thomas Paulsen <?page no="161"?> 26 So D.L. 10.11 in einer markant elliptischen Formulierung, die vermutlich ein indirektes Epikurzitat darstellt: ἀπιστούντων γὰρ εἶναι τὸ τοιοῦτον· εἰ δʼ ἀπίστων, οὐδὲ φίλων („Ein Zeichen von Misstrauischen sei nämlich derartiges [d. h. die pythagoreische Gütergemeinschaft]; wenn aber von Misstrauischen, auch nicht von Freunden“). 27 Grundlegend für die folgenden Ausführungen sind Phillip Mitsis, Epicurus’ Ethical Theory. The Pleasures of Invulnerability, Ithaca/ London 1988, 98-128 und Holger Essler, Die Lust der Freundschaft und die Lust des Freundes von Epikur bis Cicero, in: Michael Erler/ Wolfgang Rother (Hg.): Philosophie der Lust. Studien zum Hedonismus, Basel 2012, 139-160 sowie Erler, Epikur, 166f. 28 Diesen Vorzug teilen sie mit den drei Briefen, die Diogenes Laertios überliefert, während die Fragmente aus den größeren Fachschriften erheblich schwerer zu übersetzen sind. Man sieht hieran, dass Briefe und Sprüche sich an ein breites Publikum richten, dem ein müheloser Einstieg in das Verstehen epikureischer Philosophie ermöglicht werden soll. nicht, da dies nach Epikur ein Zeichen von Misstrauen sei. Wer einem anderen misstraue, könne aber nicht mit ihm befreundet sein. 26 Man verließ sich also darauf, dass die freiwilligen Spenden der Mitglieder immer ausreichten, um den Unterhalt der Philosophenschule zu gewährleisten. Soweit wir wissen, gab es in der jahrhundertelangen Geschichte des Kepos nie Finanzierungsengpässe. Wir können natürlich nicht im Einzelnen beurteilen, wie eng die persönlichen Bindungen der Mitglieder des Kepos zueinander waren, aber freundschaftliche Beziehungen haben dort offenkundig eine große Rolle gespielt. Leider gibt es in Epikurs erhaltenen Äußerungen keine explizite Definition davon, was er genau unter Freundschaft versteht. Wenn wir jedoch nun alle hierzu einschlägigen Stellen in den Blick nehmen, lässt sich doch ein immer präziseres Bild seiner Freundschaftskonzeption herauskristallisieren. Hierzu sollen alle einschlägigen Stellen aus den Kyriai doxai und der Prosphonesis in den Blick genommen und um einige weitere Testimonien ergänzt werden. 27 Der aphoristische Charakter dieser beiden Spruchsammlungen ist für die Interpre‐ tation Vorteil und Nachteil zugleich: Einerseits bieten diese Texte meist keine grammatischen oder syntaktischen Schwierigkeiten 28 und sind wegen ihrer Kürze leicht zu überblicken, andererseits erschwert das Fehlen eines Kontextes oft das Verständnis auf der semantischen Ebene. 3 In einem philosophischen System, das die Lust des Individuums als höchstes Gut betrachtet, insofern als nur sie zum Glück (εὐδαιμονία) führen kann, ergibt sich die Frage nach dem Stellenwert der Freundschaft, die das Verhältnis von mindestens zwei Menschen zueinander betrachtet, ganz von selbst, wird hier doch sofort ein Spannungsverhältnis sichtbar: „Entweder stellen Freundschaft bzw. der Freund selbst einen eigenen Zweck neben der Eudaimonie dar oder sie sind Mittel zur 161 Freundschaft in der Philosophie Epikurs <?page no="162"?> 29 Essler, Lust der Freundschaft, 139. 30 Ebd. 31 Die umfassendste und wichtigste Untersuchung des Wesens der Freundschaft vor Epikur bietet Aristoteles mit Buch 8 und 9 der Nikomachischen Ethik (vgl. hierzu Anthony W. Price, Friendship, in: Otfried Höffe (Hg.), Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, Berlin 1995, 229-251). Aristoteles sieht in der altruistischen Freundschaft, die den anderen um seiner selbst willen liebt, gewissermaßen als „anderes Selbst“ (ἄλλος αὐτός) (NE. 1166a32) die höchste Erscheinungsform, die den beiden anderen Formen, der Freundschaft um des Nutzens oder um der Lust willen (NE. 1156a7-14) überlegen ist. Ein ähnliches Konzept vertritt Cicero (106-43) in seiner Schrift Laelius de amicitia, in welcher der wahre Freund ebenfalls als „anderes Selbst“ (alter idem) (Lael. 80) erscheint. 32 Laktanz, Divinae institutiones 3.17.42 im Rahmen einer generellen Abrechnung mit der Lehre Epikurs. 33 D.L. 10.120 = Fragm. 540 Usener (Textausgabe: Hermann Usener, Epicurea, Stuttgart 1966 (=1887)). Erlangung der Eudaimonie.“ 29 Im ersten Fall gäbe es Ziele, die zu verfolgen wären, ohne auf das oberste Ziel hinzuführen, im zweiten Fall entstünde ein Konflikt mit dem üblichen Verständnis des Wesens von Freundschaft, das die Freundin oder den Freund selbst zum unbedingten Zweck macht. 30 In der antiken Auseinandersetzung mit dem Epikureismus dominiert, wenn auch von Gegnern der freundschaftliche Umgang der Angehörigen des Kepos gerühmt wird, der Vorwurf, dass Epikurs Freundschaftsverständnis ganz egoistisch sei. 31 Exemplarisch sei hier die Kritik des Laktanz (ca. 250-325) genannt, dessen Urteil aufgrund seiner grundlegenden Ablehnung des Epikureismus natürlich mit Vorsicht zu genießen ist: neminem esse, qui alterum diligat nisi sua causa 32 , „es gebe [laut Epikur] niemanden, der einen anderen liebe, wenn nicht aus Eigeninteresse.“ Bei aller polemischen Voreingenommenheit des Laktanz kann ein solcher Eindruck prima vista durchaus entstehen, wenn wir uns ein indirektes Zitat des Epikur-Verehrers Diogenes Laertios vor Augen führen: 33 Die Epikureer lehrten, dass τὴν φιλίαν διὰ τῆς χρείας entstehe. Die übliche Übersetzung hierfür lautet „die Freundschaft durch den Nutzen“. Der Formulierung scheint damit eine utilitaristische Auffassung von Freundschaft zugrunde zu liegen: Man strebt nach ihr, weil man sich einen Nutzen davon verspricht. Freilich ist „Nutzen“ eine zwar häufige, aber nicht die Grundbedeutung des Substantivs χρεία, das zum Wortfeld des unpersönlichen Verbs χρή, „es ist nötig/ man muss“ gehört und somit primär ein „Bedürfnis“ bezeichnet. Die Übersetzung „die Freundschaft <entstehe> durch das Bedürfnis“ schwächt eine utilitaristische Deutung deut‐ lich ab, da ein Bedürfnis auch einer Naturnotwendigkeit entspringen kann. Diese schillernde Begrifflichkeit von χρεία tritt noch deutlicher in der schwierig zu übersetzenden Prosphonesis 34 zutage: 162 Thomas Paulsen <?page no="163"?> 34 Alle Übersetzungen dieses Beitrags stammen, soweit nicht anders angegeben, von mir. Ich folge dabei unter bewusstem Verzicht auf stilistische Eleganz dem durch Friedrich Schleiermacher (1768-1834) in seinem grundlegenden Aufsatz „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens“ (am leichtesten zugänglich in Hans Joachim Störig: Das Problem des Übersetzens, Darmstadt 1973, 38-70) formulierten Prinzip einer möglichst wörtlichen Übersetzung, die „den Leser zum Autor bringt“, das Stefan Alkier und ich auch in unseren Übersetzungen in der Reihe „Frankfurter Neues Testament“ zugrundelegen. Zur theoretischen Fundierung siehe Stefan Alkier/ Thomas Paulsen, Die Apokalypse des Johannes. Neu übersetzt und mit Einleitung, Epilog und Glossar, Paderborn 2020, 3-11. 35 Konstatiert bereits im „Greek-English-Lexicon“ von Henry George Liddell/ Robert Scott/ Henry Stuart Jones, Oxford 9 1940 u. ö., s. v. χρεία, Sp. 2002: „signfs. [= signifies, TP] I. 1 [= need, TP] and III [= use, TP] in the same sentence.“ - Ich habe mich hier von den Übersetzungen von Olof Gigon, Epikur. Von der Überwindung der Furcht. Katechismus, Lehrbriefe, Spruchsammlung, Fragmente, Zürich/ Stuttgart 2 1968, 149, und Gerhard Krüger, Epikur. Von der Überwindung der Angst. Eine Auswahl aus seinen Schriften, den Fragmenten, doxographischen Berichten, Griechisch/ Deutsch, Münster 1981, inspirieren lassen, welche die Doppeldeutigkeit auch mit dem deutschen Wort „brauchen“ nachzuahmen versuchen. Hans-Wolfgang Krautz, Epikur. Briefe, Sprüche, Werkfragmente, Griechisch/ Deutsch, Stuttgart 1980, arbeitet mit „sich stützen“ und „Unterstützung“. Alle vier nehmen wir also zugunsten der Nachahmung des Wortspiels eine gewisse begriffliche Unschärfe in Kauf. οὐχ οὕτως χρείαν ἔχομεν τῆς χρείας παρὰ τῶν φίλων ὡς τῆς πίστεως τῆς περὶ τῆς χρείας. Wir brauchen nicht so sehr, sie zu brauchen von Seiten der Freunde, wie das Vertrauen bezüglich des Brauchens. 34 Diese besonders unelegante Übersetzung soll den Blick darauf lenken, dass Epikur hier mit den zwei Bedeutungen „Bedürfnis“ und „Nutzen“ von χρεία spielt. 35 Eigentlich meint er: „Wir haben nicht so <sehr> Bedürfnis nach dem Nutzen von Seiten der Freunde wie nach dem Vertrauen bezüglich des Nutzens.“ Es kommt laut Epikur also weniger auf konkrete Hilfeleistungen von Freunden an als auf das Bewusstsein, im Bedarfsfall auf Unterstützung hoffen zu können. Im zweiten Teil der Aussage erscheinen Freunde also unzweifelhaft als Mittel zum Zweck, wie sieht es mit dem „Bedürfnis“ des ersten Teiles aus? Da dieses allgemeine „Bedürfnis“ durch die beiden folgenden Bestimmungen des Nutzens konkretisiert wird, erscheint es hier nicht im Sinne einer Naturnotwendigkeit, sondern auf einen bestimmten Zweck bezogen. Die Bedeutung „Bedürfnis“ ermöglicht hier also durchaus eine utilitaristische Freundschaftskonzeption. Sehen wir uns zu diesem Kontext einige weitere Stellen an: Die Kyria doxa 28, einer von nur zwei Aphorismen der epikureischen Kernlehre, welche die Freundschaft thematisieren, lautet: 163 Freundschaft in der Philosophie Epikurs <?page no="164"?> 36 KD. 6, 7, 14. 37 EP. 58. 38 Fragm. 551 Usener. 39 Plutarch, Moralia 75. 40 Der Codex Vaticanus liest hier zweimal χάριν. Ich tilge das zweite den meisten Herausgebern folgend als Dittographie. 41 Der Begriff πρόχειρος enthält nicht von vornherein die negative Konnotation, die Gigon, Epikur und Krautz, Epikur mit ihren Übersetzungen die „Voreiligen“ (Gigon) bzw. die „Leichtfertigen“ (Krautz) zum Ausdruck bringen. Ein πρόχειρος ist ganz wörtlich jemand, der „im Voraus bei der Hand ist“. Das impliziert natürlich, dass die gemeinten Menschen bei der Schließung von Freundschaften zu impulsiv sind. ἡ αὐτὴ γνώμη ϑαρρεῖν τε ἐποίησεν ὑπὲρ τοῦ μηϑὲν αἰώνιον εἶναι δεινὸν μηδὲ πολυχρόνιον καὶ τὴν ἐν αὐτοῖς τοῖς ὡρισμένοις ἀσφάλειαν φιλίᾳ μάλιστα κατεῖδε συντελουμένην. Dieselbe Erkenntnis bewirkt, zuversichtlich zu sein dafür, dass nichts Schreckliches immerwährend und lang andauernd ist, und nimmt wahr, dass die Sicherheit gerade in den eingeschränkten Dingen am meisten durch Freundschaft vollendet wird. Die Erkenntnis, dass nichts Schreckliches von langer Dauer ist, ist schon Thema der 4. Kyria doxa und erscheint auch im Menoikeus-Brief (§ 133). Hier wird sie mit dem Thema der Sicherheit des menschlichen Daseins verbunden, die in den Kyriai doxai relativ breiten Raum einnimmt 36 . Bezeichnenderweise geht es hier vor allem um die Sicherheit vor anderen Menschen: Das Leben in der Gemeinschaft von Menschen hat also einen von Epikur recht stark betonten bedrohlichen Aspekt, weshalb er dazu rät, sich vom politischen Leben fernzuhalten 37 , gipfelnd in der berühmten Formulierung λαϑὲ βιώσας, „Lebe im Verborgenen! “ 38 , deren Diskussion Plutarch sogar eine kurze Schrift gewidmet hat. 39 Die Bedrohungen, die sich durch das Zusammenleben von Menschen ergeben, werden nach der hier geäußerten Auffassung also am besten durch die Geborgenheit, die einem freundschaftliche Beziehungen bieten, gemeistert: Das Individuum kann sich nur in einer Gemeinschaft gegen Bedrohungen behaupten. Diese Erkenntnis legt nun durchaus die Annahme eines utilitaristischen Freundschaftskonzepts zugrunde, dem sich einige weitere Facetten durch die Formulierung von Interaktionen unter Freunden hinzufügen lassen. In der Prosphonesis 28 heißt es: οὔτε τοὺς προχείρους εἰς φιλίαν οὔτε τοὺς ὀκνηροὺς δοκιμαστέον· δεῖ δὲ παρακινδυνεῦσαι χάριν [χάριν] 40 φιλίας. Weder die <schnell> zur Freundschaft Bereiten 41 noch die Zögerlichen soll man billigen. Man muss aber auch ein Wagnis eingehen um der Freundschaft willen. 164 Thomas Paulsen <?page no="165"?> 42 Die Übersetzung „erschachern“ übernehme ich von Krautz, Epikur. Einerseits soll man also beim Eingehen von Freundschaften weder zu schnell bei der Hand noch zu zögerlich sein, andererseits soll man durchaus bereit sein, auch ein gewisses Risiko einzugehen. Während die beiden ersten Aus‐ sagen eine „goldene Mitte“ im Zeitrahmen der Anknüpfung einer Freundschaft nahelegen, verschiebt die dritte den geeigneten Zeitpunkt zum Schnelleren hin: Man soll also nicht einen weitgehend Unbekannten zum Freund machen, aber zur Freundschaft bereit sein, solange das Risiko, sich in der betreffenden Person zu täuschen, noch nicht völlig beseitigt ist. Hier ist eher von rationaler Abwägung als von Emotionalität die Rede, was einmal mehr in Richtung auf eine nutzenorientierte Wahl der Freundinnen und Freunde zu weisen scheint. Hat man dann die Freundschaft geschlossen, sind die folgenden Extreme abzulehnen (Prosphonesis 39): οὔϑʼ ὁ τὴν χρείαν ἐπιζητῶν διὰ παντὸς φίλος οὔϑʼ ὁ μηδέποτε συνάπτων· ὁ μὲν γὰρ καπηλεύει τῇ χάριτι τὴν ἀμοιβήν, ὁ δὲ ἀποκόπτει τὴν περὶ τοῦ μέλλοντος εὐελπιστίαν. Weder der, der durchgängig in allem den Nutzen sucht, ist ein Freund noch der, der <ihn> niemals mit verknüpft: Der eine nämlich erschachert 42 durch die Gunst die Erwiderung, der andere schlägt die Hoffnungsfreude bezüglich des Künftigen ab. In einer der Antithesen, in die Epikur gerne seine Aphorismen kleidet, finden wir nun erstmals eine eindeutige Differenzierung des Nützlichkeitsgedankens: Um mit dem zweiten Teil der Antithese zu beginnen, ist jemand, der mit einer Freundschaft nicht den Aspekt des Nutzens verknüpft, nicht als echter Freund zu sehen, weil er einem nicht die Vorfreude darauf, dass man sich in einer Situation, in der man seine Hilfe gebrauchen könnte, auf ihn verlassen kann. Ein echter Freund oder eine echte Freundin muss also dazu bereit sein, Freundschaftsdienste zu leisten. Wer aber andererseits in einer so genannten Freundschaft immer nur nach dem Prinzip des Nutzens, den er aus der Bezie‐ hung ziehen will, agiert, kann auch nicht wirklich als Freund bezeichnet werden. Eine echte Freundschaft muss demnach über den Aspekt der Nützlichkeit hinausweisen und darf nicht alleine nach dem bekannten lateinischen Motto do, ut des („Ich gebe, damit du gibst.“) verfahren. Sie muss mehr sein als ein Pakt zur gegenseitigen Hilfeleistung. Worin kann dieses „mehr“ bestehen? Einen ersten Fingerzeig dazu bietet die kurze Prosphonesis 66: συμπαϑῶμεν τοῖς φίλοις οὐ ϑρηνοῦντες, ἀλλὰ φροντίζοντες. Mitfühlen wollen wir mit unseren Freunden, nicht jammernd, sondern fürsorglich. 165 Freundschaft in der Philosophie Epikurs <?page no="166"?> 43 Seneca, Epistula moralis 19.10 = Fragm. 542 Usener. 44 Laut D.L. 10.25 ein bedeutender Schüler Epikurs, der aus Lampsakos stammte. 45 Plutarch, Gegen Kolotes 1111b = Fragm. 546 Usener. In dem Begriff der Fürsorge kann der Begriff des wechselseitigen Nutzens durchaus vorhanden sein: So wie man sich über den Zuspruch von Freunden freut, wenn es einem selbst schlecht geht, gewährt man ihnen denselben Zuspruch, wenn sie seiner bedürfen. Mit dem Begriff συμπαϑῶμεν kommt allerdings eine eindeutig emotionale Komponente hinzu, die „Sympathie“, die wir ja auch in unseren Sprachschatz übernommen haben. Egoismus bedarf keiner Sympathie: Ein reiner Utilitarist hilft anderen nach dem do, ut des-Prinzip, das keiner Emotionen bedarf, zu einer echten Freundschaft gehört aber für Epikur offenkundig auch eine emotionale Komponente hinzu, die sich freilich nicht in bloßen Klagen über das Schicksal der Freundin oder des Freundes erschöpfen darf, sondern die Bereitschaft zur fürsorglichen Hilfe impliziert. Diese grundsätzliche emotionale Anteilnahme lässt sich nun um einige weitere Aspekte erweitern. Die Benennung eines dieser Aspekte verdanken wir der Entlehnung (versura) eines Gedankens von Epikur durch Seneca in seiner 19. Epistel. Die Formulierung inquit (gemeint ist Epikur) lässt dabei vermuten, dass es sich um eine direkte Übersetzung einer epikureischen Formulierung Senecas ins Lateinische handelt: Ante, inquit, circumspiciendum est, cum quibus edas et bibas, quam quid edas et bibas; nam sine amico visceratio leonis ac lupi vita est. 43 Du musst eher umherschauen, mit welchen Leuten du isst und trinkst, als was du isst und trinkst; denn ohne Freund ist das Leben Fütterung eines Löwen und Wolfes. Das klingt nicht nach einer reinen Nutzenserwägung, denn unter dem reinen Aspekt des Nutzens macht es keinen Unterschied, ob man allein oder in Gesell‐ schaft speist. Hier entsteht vielmehr der Eindruck, dass die Mahlgemeinschaft mit Freunden einem elementaren menschlichen Bedürfnis entspricht, das gera‐ dezu ein Unterscheidungsmerkmal gegenüber wilden Tieren bedeutet. Wenn aber das Eingehen von Freundschaften Menschen von Tieren unterscheidet, muss Freundschaft mehr sein als ein rein dem Nutzen verpflichteter Zusam‐ menschluss. In einer bei Plutarch in der Schrift Gegen Kolotes 44 überlieferten Formulie‐ rung, die Plutarch als Zitat aus Epikur kennzeichnet, heißt es: <Ἐπίκουρος λέγει,> τῆς ἡδονῆς ἕνεκα τὴν φιλίαν αἱρούμενος ὑπὲρ τῶν φίλων τὰς μεγίστας ἀλγηδόνας ἀναδέχεσϑαι. 45 166 Thomas Paulsen <?page no="167"?> 46 Plutarch, Demetrios 34.3. <Epikur sagt,> dass, während er um der Lust willen die Freundschaft wähle, er für die Freunde die größten Schmerzen auf sich nehme. In der Antithese von Lust und Schmerz wird das bisher nur angedeutete Span‐ nungsverhältnis zwischen zwei unterschiedlichen Aspekten der Freundschaft erstmals explizit deutlich: Epikur sagt, dass er Freundschaften um der Lust willen schließe. Dies ist ein Aspekt, der vom Individuum her gesehen demselben einen Beitrag zu einem lustvolleren Leben leisten soll, so dass man hierbei durchaus von einer egoistischen (aber deshalb natürlich nicht verwerflichen), am Nutzen orientierten Motivation sprechen kann. Die Bereitschaft, für Freunde auch größte Schmerzen auf sich zu nehmen, ist hingegen ganz auf das Gegen‐ über bezogen. Schmerzen bedeuten ja für den Betroffenen Unlust, die aber für Epikur offenkundig weniger schwer wiegen als die Lust, diese Schmerzen im Interesse seiner Freunde zu ertragen, und dies ist ein eindeutig altruistisches Movens. Lenkt man zusätzlich den Blick darauf, dass die Lust-Schmerz-An‐ tithese nicht wie bei solchen Gegenüberstellungen üblich, auf grammatisch gleichwertiger Ebene, meist zusätzlich mit μέν - δέ markiert, durchgeführt wird, sondern der Lustdem Schmerzaspekt durch eine Partizipialkonstruktion im wörtlichen Sinne untergeordnet wird, so erscheint die Bereitschaft, für seine Freunde Schmerzen auf sich zu nehmen, als die übergeordnete Triebkraft und der altruistische dem egoistischen Gedanken übergeordnet. Ein konkretes Beispiel für eine altruistische Verhaltensweise Epikurs über‐ liefert Plutarch in seiner Biographie des makedonischen Königs Demetrios Poliorketes (ca. 336-283), der im Jahre 294 v. Chr. Athen belagerte. In der Stadt herrschte während der Belagerung eine schlimme Hungersnot, für die Epikur in seinem Freundeskreis auf folgende Weise Linderung zu schaffen versuchte: τότε καὶ τὸν φιλόσοφον Ἐπίκουρον ἱστορῦσι διαϑρέψαι τοὺς συνήϑεις κυάμους πρὸς ἀριϑμὸν μετʼ αὐτῶν διανεμόμενον. 46 Damals habe auch der Philosoph Epikur, erzählt man, seine Vertrauten durchgefüttert, indem er sich Bohnen abgezählt mit ihnen teilte. Wenn sich dies tatsächlich so zugetragen haben sollte, bietet Epikur hier ein in der Geschichte der Philosophie keineswegs selbstverständliches Beispiel dafür, dass Philosophen ihre theoretischen Maximen auch in der Praxis anwenden. In der Prosphonesis 56 konkretisiert Epikur den Gedanken der Schmerzempfin‐ dung, wenn es Freunden schlecht geht: 167 Freundschaft in der Philosophie Epikurs <?page no="168"?> 47 Die Überlieferung ist durch ein schwerwiegendes textkritisches Problem belastet, dessen Lösung damit zusammenhängt, ob man EP. 57 als zusammengehörig mit EP. 56 erachtet. Der Codex Vaticanus bietet die Lesart στρεβλούμενος τὸν φίλον. In jedem Fall ist eine Lücke anzunehmen, da τὸν φίλον grammatisch in der Luft hängt. Es wurden verschiedene Versuche unternommen, die Lücke zu füllen. Die hier übernommene Ergänzung folgt der Edition von Peter von der Muehll, Epicuri Epistulae tres et ratae sententiae a Laertio Diogene servatae, accedit Gnomologium Epicureum Vaticanum, Stuttgart 1982 (=1922). Der Ausfall von ἢ στρεβλουμένου ist problemlos durch Haplographie zu erklären, in einem zweiten Schritt könnte der nun sinnlose Genitiv τοῦ φίλου in einen Akkusativ „verschlimmbessert“ worden sein, der sich zumindest in Abhängigkeit von στρεβλούμενος konstruieren lässt, auch wenn sich kein befriedigender Sinn finden lässt („Der Weise empfindet nicht mehr Schmerz, wenn er im Hinblick auf den Freund gefoltert wird“ mit passivischer Auffassung von στρεβλούμενος oder noch absurder medial: „Der Weise empfindet nicht mehr Schmerz, wenn er in seinem Interesse den Freund foltert“. Unabhängig von der gewählten Ergänzung ist der geforderte Sinn klar, dass der Weise nicht mehr Schmerz empfindet, wenn er selbst als wenn ein Freund gefoltert wird. 48 D.L. 10.121 - „irgendwann“ ist die wörtliche Übersetzung von ποτε. Damit ist nicht gemeint, dass der Tod in jedem Fall eintreten werde, sondern „unter Umständen“. Ungewöhnlich ist statt des eigentlich zu erwartenden Futur I ἀποϑανεῖσϑαι das Perfektfutur τεϑνήξεσϑαι. Dadurch, dass der Zustand des künftigen tot Seins anstelle des Vorgangs des Sterbens zum Ausdruck gebracht wird, wird die Aussage noch verstärkt. 49 Wenig überzeugend erscheint mir die Argumentation, dass vor dem Hintergrund, dass sterben für Epikur kein Übel sei und gegebenenfalls ein Weiser auch freiwillig aus einem als unerträglich erscheinenden Leben scheiden könne, hier von Altruismus nicht die Rede sein könne. Auch wenn für Epikur der Tod nichts Schlimmes ist, so halte ich doch die Vorstellung für absurd, er könne im Sterben unter Umständen sogar einen Lustgewinn gesehen haben. ἀλγεῖ μὲν ὁ σοφὸς οὐ μᾶλλον στρεβλούμενος <ἢ στρεβλουμένου> τοῦ φίλου. 47 Es empfindet der Weise nicht mehr Schmerz, wenn er gefoltert wird als wenn der Freund gefoltert wird. Hier erkennen wir wieder die Fähigkeit zur Sym-Pathie, zum Mit-Gefühl, hier konkret zum Mit-Leiden, die das Befinden des Anderen in den Blick nimmt und von dort auf das eigene Befinden zurückstrahlt. Noch einen Schritt weiter geht Epikur, wenn er, wie bei Diogenes Laertios überliefert, sagt, dass der Weise ὑπὲρ φίλου ποτὲ τεϑνήξεσϑαι, „für einen Freund irgendwann tot sein werde.“ 48 Ein altruistischerer Akt als für einen anderen Menschen zu sterben ist schwerlich denkbar. 49 Auf der Basis der bisherigen Beobachtungen können wir uns nun dem Text zuwenden, der das Spannungsverhältnis zwischen egoistischer und altruisti‐ scher Freundschaftskonzeption am markantesten auf den Punkt bringt und demzufolge im Kontext dieser Thematik sicher der meistdiskutierte ist, die 168 Thomas Paulsen <?page no="169"?> 50 Die besten Diskussionen des Problems finden sich bei Mitsis, Epicurus’ Ethical Theory, 100-104 und Essler, Lust der Freundschaft, 145-147, auch wenn ich dessen Schlussfol‐ gerung nicht zustimme. 51 An dieser Stelle erscheint mir die Übersetzung „Tugend“ als passend. Etwas allgemeiner könnte man vielleicht auch formulieren: „eine positive Qualität“. 52 Vgl. Essler, Lust der Freundschaft, 145f. 53 A. a. O., 146 mit Verweis auf ein Epikur-Zitat bei Athenaios, Deipnosophistai 12.546f. = Fragm. 22.4 Arrighetti (Textausgabe: Graziano Arrighetti, Epicuro. Opere, Torino 2 1973). Hier formuliert Epikur explizit, dass aretai, wenn sie nichts zur Lust beitragen, wertlos sind. 54 So in den Editionen von von der Mühll, Epicuri Epistulae, und Arrighetti, Epicuro. Auch Mitsis, Epicurus’ Ethical Theory, 100f., akzeptiert die Konjektur. Essler, Lust der Freundschaft, 146f., lehnt sie ab und schlägt stattdessen ἀρε<σ>τή = „angenehm“ vor. Prosphonesis 23. Unglücklicherweise ist ausgerechnet dieser Text durch ein text‐ kritisches Problem belastet, das, wenn es auch an einem einzigen Buchstaben hängt, gravierend ist. 50 Der Codex Vaticanus bietet folgenden Text: πᾶσα φιλία διʼ ἑαυτὴν ἀρετή· ἀρχὴν δὲ εἴληφεν ἀπὸ τῆς ὠφελείας. Jegliche Freundschaft <ist> wegen ihrer selbst eine Tugend 51 ; einen Anfang aber hat sie vom Nutzen her genommen. Grammatisch ist der Text nicht fehlerhaft, aber die Formulierung διʼ ἑαυτὴν ist problematisch. 52 Der präpositionale Ausdruck „wegen ihrer selbst“ kann wohl nur im Sinne von „an sich“ verstanden werden, hierfür wäre aber die normale Formulierung καϑʼ ἑαυτήν. Akzeptiert man einmal die ungewöhnliche Ausdrucksweise, ergibt sich aber ein noch schwerwiegenderes Sinnproblem: Die beiden kurzen Sätze enthalten eine Antithese, deren zweiter Teil dem Ver‐ ständnis keine Probleme bereitet: Dass Freundschaft einen Aspekt des Nutzens hat und von diesem Nutzen auch ihren Anfang nimmt, ist ein Gedanke, der uns bereits vertraut ist. Im ersten Teil erwarten wir nun eine Formulierung, die über diesen Aspekt des Nutzens hinausweist, damit eine Antithese gegeben ist. Diese Antithese würde jedoch aufgehoben, wenn Freundschaft eine ἀρετή wäre, da deren Zweck im Gewinn von Lust besteht und dies wieder unter den Aspekt des Nutzens fiele. 53 Man kann noch allgemeiner formulieren, dass Freundschaft im philosophischen Kosmos von Epikur in jedem Fall einen besonderen Wert darstellt, während ἀρετή gerade bei ihm nichts Besonderes ist, weil sie eine dienende Funktion hat. Die Analogie zwischen Freundschaft und Tugend würde also nicht zur Auf-, sondern eher zur Abwertung der Freundschaft beitragen. Die meisten Ausgaben folgen daher Useners Konjektur αἱρετή, die zu folgendem Text führt: πᾶσα φιλία διʼ ἑαυτὴν αἱρετή· ἀρχὴν δὲ εἴληφεν ἀπὸ τῆς ὠφελείας. 54 169 Freundschaft in der Philosophie Epikurs <?page no="170"?> Dies erscheint mir im Lichte der fundamentalen Bedeutung, die Freundschaft für Epikur hat, zu blass, zumal eher eine Formulierung aus dem Wortfeld von ἡδονή zu erwarten gewesen wäre. 55 Gigon, Epikur, Krautz, Epikur, und Krüger, Epikur, die alle Useners Konjektur über‐ nehmen, übersetzen einhellig „zu wählen“. Das ist zwar eine stärkere Formulierung, die an sich gut zu Epikur passen würde, doch diesen Aspekt der Notwendigkeit hat das Verbaladjektiv auf -τός nicht, sondern nur dasjenige auf -τέος. „zu wählen müsste also αἱρετέα heißen. 56 Plutarch, Moralia 778c = Fragm. 544 Usener. Jegliche Freundschaft <ist> wegen ihrer selbst wählbar 55 ; einen Anfang aber hat sie vom Nutzen her genommen. Mit dieser Konjektur bekommt die Antithese ihre Pointe: Zwar gründet jegliche Freundschaft im Nutzen, den sich derjenige, der sie schließt, erhofft, sie ist aber darüber hinaus ein Selbstwert. Zugegebenermaßen ist es immer problematisch, eine Argumentation auf einer Konjektur aufzubauen, da darin die Gefahr eines Zirkelschlusses lauert, doch ergibt der Text von Usener meines Erachtens einen deutlich besseren Sinn als der im Codex Vaticanus überlieferte, so dass ich seiner Konjektur mit einem leichten Vorbehalt folge. Natürlich darf sich die Annahme einer altruistischen Komponente in der epikureischen Freundschaftskonzeption nicht nur auf diesen Text stützen, doch fügt er sich gut in die Reihe einiger schon behandelter Stellen ein. Die folgenden Beispiele sollen diese Reihung noch ergänzen und die Argumentation zugunsten der altruistischen Komponente absichern. Im ersten Text ist zwar nicht explizit von Freundschaft die Rede, doch lässt sich die dort getroffene Aussage problemlos in ihren Kontext übertragen. In seiner Schrift mit dem komplizierten Titel Darüber, dass der Philosoph sich am meisten mit den führenden Männern unterhalten muss, zitiert Plutarch Epikur mit der Aussage <Ἐπίκουρος> τοῦ εὖ πάσχειν τὸ εὖ ποιεῖν οὐ μόνον κάλλιον, ἀλλὰ καὶ ἥδιον εἶναί φησι. 56 <Epikur> sagt, dass Gutes zu tun nicht nur schöner, sondern auch angenehmer sei als Gutes zu erfahren. Dass Gutes zu tun moralisch höherrangig und damit schöner ist als Gutes zu erfahren, ist ein nicht nur in der antiken Philosophie gängiger Gedanke. Es ist nicht auf Freundschaften beschränkt, kommt in freundschaftlichen Kontexten aber natürlich besonders zum Tragen. Aber warum ist es angenehmer oder bereitet mehr Freude oder Lust (wenn man die Verwandtschaft des Adjektivs ἡδύς mit dem Substantiv ἡδονή berücksichtigt)? Dies ist mit dem Aspekt des 170 Thomas Paulsen <?page no="171"?> 57 Hier steht einmal nicht der bei Epikur häufigere Begriff εὐδαιμονία, sondern μακαριότης. Die beiden Substantive sind wie die dazugehörigen Adjektive εὐδαίμων und μάκαρ bzw. μακάριος nahezu synonym, insofern als sie sowohl das innere Glück und Glücksgefühl als auch materielles Glück bezeichnen können. μάκαρ / μακάριος sind aber darüber hinaus, anders als εὐδαίμων, häufige Epitheta von Göttern. Daher ist es meines Erachtens kein Zufall, dass Epikur hier einmal den eher mit göttlichem Glück zu verbindenden Begriff μακαριότης verwendet: Der Menoikeus-Brief endet (§ 135) mit der Verheißung, dass ein Mensch im Zustand der Ataraxie wie ein Gott unter Menschen lebt. Daher habe ich hier für μακαριότης die traditionelle Übersetzung „Glückseligkeit“ gewählt. Für die Bedeutung, die Epikur der Freundschaft beimisst, bedeutet dies eine weitere Erhöhung. Nutzens nicht zu erklären, da es in der Philosophie Epikurs keine Belohnungen für gute Taten etwa von Seiten der Götter gibt. Es bietet sich also an, die Erklärung darin zu suchen, dass die schon festgestellte Sympathie mit anderen, natürlich erst recht mit Freundinnen und Freunden dafür sorgt, dass diese anderen mit Wohltaten zu erfreuen dem Wohltäter selbst Freude bereitet. Dies aber ist ein altruistischer Gedanke. Ein zweites Mal neben dem bereits betrachteten Text kommt Epikur in den Kyriai doxai auf die Freundschaft zu sprechen. In Nr. 27 heißt es: ὧν ἡ σοφία παρασκευάζεται εἰς τὴν τοῦ ὅλου βίου μακαριότητα, πολὺ μέγιστόν ἐστιν ἡ τῆς φιλίας κτῆσις. Von den Dingen, welche die Weisheit für die Glückseligkeit 57 des ganzen Lebens verschafft, ist das bei weitem Bedeutendste der Erwerb der Freundschaft. Dieser Äußerung kommt besonderes Gewicht zu, wenn man annimmt, dass die Kyriai doxai die von Epikur selbst zusammengestellte Quintessenz seiner Lehre sind. Denken wir zurück an die eingangs festgestellte Hierarchie der Lüste, so ist es unabhängig von allen Überlegungen für das Glück konstituierend, die primären menschlichen Bedürfnisse nach Nahrung und Schlaf zu befriedigen. Die weiteren Komponenten, die zum Glück führen, das in der Ataraxie, der Freiheit von Schmerz und Ängsten besteht, herauszufinden, ist Gegenstand der klugen Überlegung, die aus der Weisheit resultiert. Insofern als die Freundschaft nichts für das Überleben Notwendige ist, ist sie ein sekundäres Gut, wird aber durch die Aussage von KD. 27 zum wichtigsten, und zwar sogar zum mit Abstand wichtigsten aller sekundären Güter erhoben. Wenn aber nun Freundschaft als zum Lebensglück so unerlässlich angesehen wird, fällt die Vorstellung schwer, hierin nur ein Gut zu sehen, dass dem Nutzen dient, weil dann die gesamte epikureische Philosophie als rein auf den Nutzen des Individuums ausgerichtet betrachtet werden müsste. Viel wahrscheinlicher ist die Annahme, dass erst das reziproke Verhältnis in einer Freundschaft, das Geben und Nehmen, und zwar 171 Freundschaft in der Philosophie Epikurs <?page no="172"?> 58 Vgl. hierzu die vorige Anmerkung. 59 So ist die Zuordnung der jeweils zwei Glieder ziemlich sicher als eine ABAB-Kon‐ struktion zu verstehen. Zwar ist nicht von vornherein undenkbar, die Weisheit als ein unsterbliches Gut anzusehen, aber die syntaktische Abfolge legt eindeutig die Interpretation nahe, dass τὸ μέν sich auf das zuerst genannte, τὸ δέ auf das zweite Glied bezieht. auch das Geben, das um des Gebens willen und nicht in der Erwartung einer Gegenleistung gewährt wird, zum Lebensglück beiträgt. Die Freundschaft leistet einen Beitrag dazu, dass der Mensch auf Erden die Glückseligkeit von Göttern genießen kann. 58 Vor diesem Hintergrund wird die Aussage von Prosphonesis 78 verständlich: ὁ γενναίος περὶ σοφίαν καὶ φιλίαν μάλιστα γίγνεται· ὧν τὸ μέν ἐστι ϑνητὸν ἀγαϑόν, τὸ δὲ ἀϑάνατον. Der Edle beschäftigt sich am meisten mit Weisheit und Freundschaft, von denen das eine ein sterbliches Gut ist, das andere ein unsterbliches. Die Freundschaft als unsterbliches Gut 59 fügt sich gut zu dieser Interpretation: Was einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, dass ein Mensch auf Erden ein quasi göttliches Dasein leben kann, dem kann mit einer gewissen metonymischen Übertragung selbst das Epitheton unsterblich zugewiesen werden. Hier wird nun aber endgültig durch die Erhöhung der Freundschaft in einen quasi göttlichen Bereich der materielle Aspekt des reinen Nutzens transzendiert. 4 Die Untersuchung der vorgeführten Stellen hat ergeben, dass Freundschaft, anders als es vielleicht vor dem Hintergrund seiner Lust-Konzeption zu er‐ warten war, für Epikur mehr ist als das Eingehen einer zwischenmenschlichen Beziehung, die rein am Nutzen orientiert ist, um den Befreundeten Lust und Sicherheit zu verschaffen. Sie zeichnet sich durch einen altruistischen, von Sympathie im wörtlichen Sinne des Mitempfindens geprägten Aspekt aus, der in den zuletzt behandelten Passagen in einen nahezu göttlichen Bereich erhoben wird. Besteht damit das eingangs skizzierte Spannungsverhältnis zur Erfüllung individueller Lust als ihrem Wesen nach egoistisch konnotierter Befindlichkeit weiter fort oder ist es nicht vielmehr so, dass die scheinbaren Gegensätze sich doch miteinander versöhnen lassen? Man darf nur die Konzeption eines lustvollen Lebens nach Epikur nicht zu einseitig auf den individuellen Nutzen beschränken. 172 Thomas Paulsen <?page no="173"?> Einen letzten Baustein zu diesem Gedankengebäude soll eine letzte und wie ich finde, sehr poetische Äußerung Epikurs zum Thema Freundschaft hinzufügen, in der diese einmal mehr mit einem Begriff aus dem Wortfeld von μάκαρ verbunden wird, Prosphonesis 52: ἡ φιλία περιχορεύει τὴν οἰκουμένην κηρύττουσα δὴ πᾶσιν ἡμῖν ἐγείρεσϑαι ἐπὶ τὸν μακαρισμόν. Die Freundschaft tanzt um die bewohnte Welt herum, uns allen verkündend aufzu‐ wachen zur Glückseligpreisung. Literatur Graziano Arrighetti, Epicuro. Opere, Torino ² 1973. Cyril Bailey, The Greek Atomists and Epicurus, Oxford 1928. Michael Erler, Epikur, in: Hellmut Flashar (Hg.), Die Philosophie der Antike. Band 4: Die hellenistische Philosophie, Basel 1994, 109-202. Michael Erler, Art. Epikuros, in: Hubert Cancik/ Helmuth Schneider (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Band 3, Stuttgart/ Weimar 1997, Sp. 1130-1140. Holger Essler, Die Lust der Freundschaft und die Lust des Freundes von Epikur bis Cicero, in: Michael Erler/ Wolfgang Rother (Hg.), Philosophie der Lust. Studien zum Hedonismus, Basel 2012, 139-160. Olof Gigon, Epikur. Von der Überwindung der Furcht. Katechismus, Lehrbriefe, Spruch‐ sammlung, Fragmente, Zürich/ Stuttgart ² 1968. Jan Erik Heßler, Epikur. Brief an Menoikeus. Edition, Übersetzung, Einleitung und Kommentar, Basel 2012. Malte Hossenfelder, Epikur, München 1991. Hans-Wolfgang Krautz, Epikur. Briefe, Sprüche, Werkfragmente, Griechisch/ Deutsch, Stuttgart 1980. Gerhard Krüger, Epikur. Von der Überwindung der Angst. Eine Auswahl aus seinen Schriften, den Fragmenten und doxographischen Berichten, Griechisch/ Deutsch, Münster 1981. Anthony A. Long/ David N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kom‐ mentare, übersetzt von Karlheinz Hülser, Stuttgart 2000 (englisches Original: The Hellenistic Philosophers, Cambridge 1989). Phillip Mitsis, Epicurus’ Ethical Theory. The Pleasures of Invulnerability, Ithaca/ London 1988. Peter von der Mühll, Epicuri Epistulae tres et ratae sententiae a Laertio Diogene servatae, accedit Gnomologium Epicureum Vaticanum, Stuttgart 1982 (=1922). Reimar Müller, Die Epikureische Ethik, Berlin 1991. 173 Freundschaft in der Philosophie Epikurs <?page no="174"?> D. K. O’Connor, The Invulnerable Pleasures of Epicurean Friendship, in: Greek, Roman and Byzantine Studies 30 (1989), 165-186. Tim O’Keefe, Is Epicurean Friendship Altruistic? , in: Apeiron 31 (2001), 269-305. Hermann Usener, Epicurea, Stuttgart 1966 (=1887). 174 Thomas Paulsen <?page no="175"?> Gottesgebet und Freundesnot Lk 11,1-13 und seine Parallelen Werner Kahl 1 Einleitung Stefan Alkier und ich haben in den 1980er Jahren an unterschiedlichen Standorten Evangelische Theologie studiert. Unabhängig voneinander haben wir uns über viele Selbstverständlichkeiten in Theologie und Exegese zu wun‐ dern begonnen. Für Stefan Alkier wurde - angeregt durch die Studien Erhardt Güttgemanns - die Semiotik zum Instrumentarium der Entwicklung einer wirklich kritischen, d. h. immer auch selbst-kritischen Exegese. Eine solche semiotisch fundierte Exegese zeichnet sich dadurch aus, dass sie mindestens Fünffaches vermag: 1. die Verstehensvoraussetzungen des je eigenen Denkens als konventiona‐ lisiertes Wissen von Welt zu begreifen (Ideologiekritik); 2. das Welt-, Selbst-, Gottes- und Christusverständnis, wie es in den Schriften des Neuen Testaments in Verschiedenheit und Vielfalt vor‐ ausgesetzt ist, mittels semiotischer und literaturwissenschaftlicher Me‐ thoden sorgfältig aus den ntl. Schriften heraus zu erheben (Diskursuni‐ versen), und zwar im weiteren Rahmen des mediterran-antiken Wissens von Welt (Enzyklopädie); 3. Differenzen zwischen antik-christlichen und gegenwärtigen Positionen zu benennen und zu würdigen; 4. Differenzen zwischen vergangenen und gegenwärtigen Interpretations‐ traditionen in globaler Perspektive zu respektieren (Ethik der Interpreta‐ tion) und 5. zu einer Interpretation bzw. „Fortschreibung“ biblischer Impulse in der Gegenwart anzuregen, die einerseits schrift- und evangeliumsgemäß ist und andererseits auf eine entsprechende Mitgestaltung von Welt zielt. <?page no="176"?> 1 Vorangestelltes Zitat von Ernst Käsemann, Einführung, in: Ferdinand Ch. Baur, Ausge‐ wählte Werke I, XXIV, in: Stefan Alkier, Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin, Tübingen 1993, 255. Damit steht Stefan Alkier seit den Anfängen seiner akademischen Forschungen für eine ideologiekritische Exegese und Theologie, die sich der Versuchung der Instrumentalisierung, Einverleibung und Einebnung biblischer Traditionen bewusst ist und sich ihr widersetzt. Entsprechend stellte er in seiner Dissertation zum Begriff des Urchristentums dem Schlusskapitel das folgende Diktum von Ernst Käsemann voran: „Bis in die Methodik hinein sind wir unsern dogmatischen Prämissen verhaftet. Nicht die voraussetzungslose, sondern die radikal fragende und zur dauernden Selbstkorrektur bereite Wissenschaft ist möglich.“ 1 Dies ist gewissermaßen das Motto, unter dem Stefan Alkier eine äußerst fruchtbare, unkonventionelle, anregende, und nicht zuletzt kirchlich relevante Exegese treibt. Dass eine solche selbstkritische Exegese nicht nur möglich, sondern nötig ist, hatte Ernst Käsemann selbst beherzigt. Aber, wie eingangs gesagt: Von der Notwendigkeit einer ständigen kritischen Selbstreflektion von Exegese und Theologie hatten wir während unseres Theologiestudiums wenig bis nichts vernommen. Stefan Alkier hat dieses Programm in verschiedenen Themenfeldern aus‐ geführt und Exegese und Theologie vielfältige innovative und wegweisende Impulse gegeben, vor allem in Bezug auf die Exegesegeschichte im 18. und 19. Jahrhundert, den Begriff des Frühchristentums, das Wunderverständnis im Neuen Testament und in der Gegenwart, die Bedeutung des ntl. Auferweckungsdiskurses, die neutestamentliche Einleitungswissenschaft und Exegese (insbesondere die Semiotik), die Apokalypse des Johannes und gegenwärtig die interdisziplinäre Übersetzung des gesamten Neuen Testaments, die neue Maßstäbe setzen wird. Stefan Alkiers und meine Forschungsinteressen überlappen sich vielfach und sie sind an entscheidenden Punkten miteinander verschränkt. Das gilt vor allem für die Frage des Wunders und für die Frage nach den synoptischen Beziehungsverhältnissen. Uns ist deutlich geworden, dass forschungsgeschicht‐ lich beide Fragen miteinander verwoben sind bzw. sich wechselseitig bedingt haben. Es war nämlich die Wunder- und Mythosproblematik, die im 18. und 19. Jahrhundert unter dem Eindruck des Aufklärungsparadigmas Theologen und Philosophen dazu bewegte, sich intensiv mit der Frage nach den Quellen der Evangelien zu befassen. Im letzten Quartal des 18. Jahrhunderts gewann die 176 Werner Kahl <?page no="177"?> 2 Zur Problematik der exegetischen Suche nach ursprünglichen Quellen seit dem 18. Jahr‐ hundert, vgl. grundlegend Alkier, Urchristentum. 3 Vgl. dazu Stefan Alkier, Mehr oder weniger plausible Hypothesen. Theologiegeschicht‐ liche Anmerkungen zur Genese und Konstruktion des „synoptischen Problems“, in: ZNT 22 (2019), 7-38, bes. 24f. 4 Hermann Samuel Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, Bd. 2, hrsg. v. Gerhard Alexander, Frankfurt 1972, 30-36, 540-543. Vor allem die protestantische Exegese im deutschsprachigen Raum hat sich - zumindest - bis zum Ende des 20. Jahrhunderts in den Bahnen der theologischen Vorentscheidungen von Reimarus bewegt, insbesondere was die hohe Wertschätzung der Lehre Jesu vs. den in den Evangelien beschriebenen Wundertaten anbetrifft. Vgl. etwa das Werturteil von Harnack im Rahmen der Veröffentlichung der von ihm vorgeblich rekonstruierten Spruchsammlung: Adolf Harnack, Sprüche und Reden Jesu. Die zweite Quelle des Matthäus und Lukas, Leipzig 1907, 173: „Wer ist wertvoller? […] Die Spruchsammlung und Markus müssen in Kraft bleiben, aber jene steht voran. Vor allem wird die Übertreibung des apokalyptisch-eschatologischen Elements in der Verkündigung Jesu und die Zurückstellung der rein religiösen und moralischen Momente hinter jenes immer wieder ihre Widerlegung durch die Spruchsammlung finden. Sie bietet die Gewähr für das, was in der Verkündigung Jesu die Hauptsache gewesen ist: die Gotteserkenntnis und die Moral zu Buße und Glauben, zum Verzicht auf die Welt und zum Gewinn des Himmels - nichts anderes.“ 5 Dieses Werk von Strauss nimmt der eigentliche Begründer der „Zweiquellentheorie“ zum unmittelbaren Anlass zur Veröffentlichung seiner Überlegungen zum synopti‐ schen Beziehungsverhältnis: Christian Hermann Weiße, Die Evangelische Geschichte kritisch und philosophisch bearbeitet, 2 Bände, Leipzig 1838. 6 Vgl. Alkier, Hypothesen, 30-36; Werner Kahl, Q als Fiktion. Zur Plausibilität und Bedeutung des Synoptischen Integrationsmodells, in: ZNT 22 (2019), 137-169, bes. 147-153. Frage nach einer „ursprünglichen“ 2 Evangelienquelle, die bestenfalls auf Jesu Äußerungen selbst zurückgeführt werden konnte, an fundamentaler Bedeutung, nachdem Gotthold Ephraim Lessing zwischen 1774 und 1778 „Fragmente eines Ungenannten“ postum aus der „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“ von Hermann Samuel Reimarus (1684-1768) veröffentlicht hatte, die jener zwischen 1736 und 1768 verfasst hatte. Der Deist Reimarus hatte in seiner Apologie nicht nur eine vermeintliche Vernunftwidrigkeit der biblischen Wundererzählungen aufgewiesen, sondern warf insbesondere den Jüngern Jesu Lug und Trug vor. 3 So sehr er die Wundererzählungen inklusive des damit vorausgesetzten Wunderglaubens verachtete, so sehr verehrte Reimarus die „praktischen Lehren“ Jesu, die s. E. in der Bergpredigt ihren zusammenfas‐ senden Höhepunkt finden. 4 So ist auch die - später sogenannte - Zweiquellentheorie in unmittelbarer Re‐ aktion auf die mythische Kritik an den Evangelien in dem umfangreichen Werk Das Leben Jesu von David Friedrich Strauss 5 , dessen zwei Bände in den Jahren 1835 und 1836 erschienen waren, entwickelt worden. 6 Dieses Unternehmen war 177 Gottesgebet und Freundesnot <?page no="178"?> 7 Alkier, Hypothesen, 30. 8 Emisch vs. etisch ist eine Begrifflichkeit aus der Ethnologie. Emisch bezieht sich auf ein Verstehen unter Kategorien der Binnenperspektive, wohingegen mit etisch auf Verständniskategorien der Außenperspektive verwiesen wird. Die Bezeichnung geht zurück auf Kenneth L. Pike, Language in Relation to a Unified Theory of the Structure of Human Behavior, Paris 1954; vgl. Werner Kahl, Jesus als Lebensretter. Afrikanische Bibelinterpretationen und ihre Relevanz für die neutestamentliche Wissenschaft, Neu‐ testamentliche Studien zur kontextuellen Exegese, Bd. 2, Frankfurt 2007, 161-164. 9 Vgl. Werner Kahl, Jesus als Wundertäter, in: Nils Neumann (Hg.), Die Rückfrage nach Jesus, Leipzig 2021 (im Erscheinen). 10 Alkier, Hypothesen, 34 (Kursivierung: W.K.). wesentlich durch eine untergründige „Angst vor dem Mythos“ motiviert, wie Stefan Alkier jüngst treffend diagnostizierte. 7 In diesem geistesgeschichtlichen Kontext war es kein Zufall, dass sich die Zweiquellentheorie im 19. Jahrhundert durchsetzen konnte, denn in der Logienquelle scheint das historisch-kritische Forscher eher peinlich anrührende Wunderphänomen nur von peripherer Bedeutung zu sein. Aber der Schein trügt und er gründet in einem problematischen Wunderbegriff: In emischer Perspek‐ tive 8 ist die Wunderdimension nämlich auch im der Logienquelle zugeordneten Stoff vielerorts deutlich impliziert und begegnet stellenweise auch explizit. 9 Stefan Alkier hat das Interesse an ursprünglichen Evangelienquellen im Umfeld der Entstehung der Zweiquellentheorie deutlich herausgearbeitet und benannt: „Weisse erzählt nun [in seinem Werk Die evangelische Geschichte von 1838, W.K.] die wahre, historisch gesicherte Geschichte des Lebens Jesu aus dem apologetischen Geist, der die Ängste vor der Auflösung christlicher Wahrheit mit einem Objektivität beanspruchenden Hypothesengebäude vertreiben möchte. Man vertraut nicht mehr der Klarheit der Quellen, sondern der Objektivität der je eigenen Quellenhypothesen. Man glaubt nicht mehr der ‚unklaren Hülle’ der Evangelien, sondern der Klarheit der eigenen Rekonstruktionen. Die Quellenhypothesen werden zum Glaubensgegenstand.“ 10 Es ging in diesem Projekt also um die Absicherung des Glaubens unter den Bedingungen eines aufgeklärten Wissens von Welt, und zwar durch die Kreierung einer schriftlichen Glaubensgrundlage, die mit dem konventionalisierten westlich-modernen Wissen von Welt kompatibel schien. Dieses Interesse ist auch leitend gewesen für Heinrich Holtzmann in seinem Werk Die synoptischen Evangelien. Ihr Ursprung und geschichtlicher Charakter von 1863, mit dem er die Zweiquellentheorie im Detail exegetisch begründete. Holtzmann weiß sich Eichhorns Überzeugung verpflichtet, dass auf dem Weg einer „evangelischen Quellenkritik“ - und ausschließlich durch sie - „‚die innere Glaubwürdigkeit 178 Werner Kahl <?page no="179"?> 11 Heinrich J. Holtzmann, Die synoptischen Evangelien. Ihr Ursprung und geschichtlicher Charakter, Leipzig 1863, 418f. 12 A. a. O., 450 (Kursivierung: W.K.). 13 A. a. O., 446. 14 A. a. O., 447. 15 Ebd. 16 A. a. O., 451. 17 A. a. O., 504. 18 A. a. O., 451. 19 Holtzmann, Evangelien, 451. 20 A. a. O., 451 (Kursivierung: W.K.). und Wahrheit der evangelischen Geschichte unerschütterlich zu befestigen’ sein werde.“ 11 In der von Holtzmann postulierten und rekonstruierten „Quelle A“ bzw. - und beredter Weise - „Urmarcus“ hat er „eine Geschichtserzählung gefunden, in deren anschaulicher und kernhafter Eigenthümlichkeit sich die ursprünglichste Erinnerung der Jünger kundgibt (…).“ 12 Dabei gesteht er zu, dass die Berichte in der Quelle A bereits „ebenso viel idealen, wie realen Gehalt haben“ 13 und „dass wir es hier nicht mit einem, auf exacte Darstellung im Sinne unserer Zeit Bedacht nehmenden Geschichtsschreiber“ zu tun hätten, 14 der als gläubiger Apostel aber dennoch einen Bericht vorgelegt hätte, der von dem zu bezeugenden und zeitlich nahen Gegenstand in seiner „übermächtigen Wirk‐ lichkeit“ durchdrungen sei und nicht „eine Verflüchtigung seiner eigentlichen Substanz im Nebel der frommen Phantasie“ darstelle. 15 Die zweite, aus dem Matthäusevangelium und dem Lukasevangelium rekon‐ struierte „Quelle Λ“ bzw. „Urmatthäus“ hingegen sei aufzufassen als „von einem apostolischen Ohrenzeugen herrührende, fast ganz ohne alle geschichtliche Einkleidung abgefasste, Redesammlung“. 16 Dieser Augenzeuge ist nach Holtz‐ mann der Jesusjünger Matthäus. 17 Der Redesammlung schreibt Holtzmann „vollkommene Glaubwürdigkeit“ zu. 18 Die hier verorteten Reden Jesu stellen für Holtzmann ein „besonders bei Lucas noch im Naturzustand vorfindliche(s) (…) Aggregat von Edelsteinen“ dar. 19 In zustimmender Zitierung eines Urteils von Ewald spricht er von einem „völlig eigenthümliche(n) Zauber des Ganzen dieser Reden, worin man noch den Anhauch des Einzigen ganz nahe fühlt (…).“ 20 Die Begriffe „Zauber“ und „Anhauch des Einzigen“ sind entlarvend, denn sie bringen die emotionale Involvierung dieser Exegeten zum Ausdruck, lassen also eine reflektierte Abständigkeit zum Forschungsgegenstand vermissen. Sie berauschen sich geradezu an ihren eigenen Konstruktionen dessen, was für sie als wesentlich in den Evangelien erscheint - die „Rekonstruktionen“ der Reden Jesu aus der Logienquelle. Diese ehrfürchtige Reaktion angesichts der 179 Gottesgebet und Freundesnot <?page no="180"?> 21 Holtzmann, Evangelien, 452. 22 A. a. O., § 30, 497-514. 23 A. a. O., 508. 24 A. a. O., 510. 25 A. a. O., 164f. 26 A. a. O., 164. Reden Jesu liegt aufschlussreicher Weise auf einer Ebene mit Reaktionen auf Wundertaten Jesu nach den Beschreibungen der Evangelien. Die beiden rekonstruierten „Hauptquellen“ können, so Holtzmann, durch wechselseitige Vergleichung zu einer kritischen Rekonstruktion einer verläss‐ lichen Geschichte des Lebens Jesu herangezogen werden. 21 Er beendet seine Untersuchung übrigens mit einer Diskussion der „synoptischen Wunderbe‐ richte“. 22 Die Heilungswunder als Barmherzigkeitstaten führt er zurück auf das „unvergleichlich mächtige Selbstbewusstsein Jesu, auf die eigenthümliche Energie seines Geistes“. 23 Auch wenn er sie gewissermaßen psychologisiert, so besteht er doch darauf, dass die Wunderberichte integrativer Bestandteil der Evangeliumserzählung seien: „Ohne Anerkennung täglich vorkommender, wunderbarer Heilungen gibt es schlech‐ terdings keine evangelische Geschichte; wer sie entfernt, trägt von der Tafel, zu der er einlädt, gleich von vornherein das tägliche Brod ab und wird leicht gar nichts mehr übrig lassen, was irgendwie genügen könnte.“ 24 1863 war Holtzmann felsenfest davon überzeugt, dass das Matthäusevangelium und das Lukasevangelium unabhängig voneinander entstanden sind: „Dies zu beweisen wird die Analyse beider Evangelien (…) hinreichen, wo man keinen Fall wird nachweisen können, da der Eine in seiner Modification von A vom Anderen beeinflusst gewesen sein muss.“ 25 Und in Bezug auf die Redezyklen des Matthäusevangeliums meint er: „Unnatürlich im höchsten Grad wäre es gewesen, wenn Lucas förmlich darauf ausgegangen sein sollte, die schön verbundenen Redecyklen in ihre Elemente aufzu‐ lösen, sie in einzelne Spruchfragmente zu zerreissen und dann diesen besondere Veranlassungen anzudichten.“ 26 Es spricht für die intellektuelle Redlichkeit Holtzmanns, dass er - immerhin war er der eigentliche exegetische Begründer der Zweiquellentheorie - dieses Urteil zwei Jahrzehnte später revidierte und es als das benannte, was es ist, nämlich ein 180 Werner Kahl <?page no="181"?> 27 Werner Kahl, Erhebliche matthäisch-lukanische Übereinstimmungen gegen das Mar‐ kusevangelium in der Triple-Tradition - ein Beitrag zur Klärung der synoptischen Abhängigkeitsverhältnisse, in: ZNW 103/ 1 (2012), 20-46, bes. 41. 28 Vgl. Kahl, Q als Fiktion, 152. 29 Vgl. Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 9 1984, 1: „Die Verkündigung Jesu gehört zu den Voraussetzungen der Theologie des NT und ist nicht ein Teil dieser selbst.“ konventionelles Geschmacksurteil. 27 Damit ging eine Revision seiner bisherigen Theorie zu der Entstehung der synoptischen Evangelien einher. Spätestens seit Beginn der 1880er Jahre favorisierte er eine „Lösung“ des synoptischen Problems, wonach Lukas neben dem Markusevangelium in der Gestalt, wie es uns vorliegt - also unter Ablehnung der Annahme eines Ur-Markusevangelium - und der Logienquelle auch das Matthäusevangelium gekannt und benutzt hätte. Dieser Sinneswandel wurde interessanter und beredter Weise von dem wachsenden Mainstream der zu seiner Zeit und später lebenden Exegeten nicht mitvollzogen. Sie hielten grundsätzlich, d. h. zum Teil mit Variationen, an dem ursprünglichen Modell von Holtzmann fest, hatten sie doch - völlig zu Recht - realisiert, dass die Annahme einer Mitbenutzung des Matthäusevangeliums durch Lukas die Annahme und Rekonstruktion einer auf Jesus zurückgehenden Logienquelle, die die eigentliche Wahrheit der Lehre und des Auftretens Jesu verbürge, gefährden bzw. letztlich unmöglich machen würde. 28 Während es also bei den exegetischen Versuchen einer quellenkritischen Re‐ konstruktion von vermeintlich auf Jesus zurückgehenden neutestamentlichen Überlieferungen im 19. Jahrhundert vor allem um die Absicherung der durch sie zum Ausdruck kommenden, unverfälschten Wahrheit des Evangeliums (Weisse, Ewald, Holtzmann) ging, so verblasste dieses Anliegen im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend. Die Zweiquellentheorie hatte sich verselbständigt und von ihrer Fragestellung im 19. Jahrhundert gelöst. Vor allem durch Rudolf Bultmanns Versuch einer entmythologisierenden und existentialen Re-Interpretation der neutestamentlichen Überlieferung war es im 20. Jahrhundert noch einmal zu einem grandiosen Entwurf einer Theo‐ logie des Neuen Testaments gekommen, in dem sich auf höchstem Niveau exegetische Expertise, lutherische Theologie und zeitgenössische Philosophie zu einer Synthese verbanden, die für viele gebildete Zeitgenossen die Wahrheits- und Relevanzfrage des Evangeliums hinreichend beantwortete. Auch wenn Bultmann die Zweiquellentheorie unhinterfragt voraussetzte, spielte die Lehre Jesu in Bezug auf die theologische Wahrheitsfrage keine Rolle mehr. 29 Im 20. Jahrhundert war die Zweiquellentheorie im deutschsprachigen Raum weithin zur selbstverständlichen Voraussetzung exegetischen Wissens ge‐ 181 Gottesgebet und Freundesnot <?page no="182"?> 30 Michael D. Goulder, Luke. A New Paradigm, Sheffield 1994. 31 Vgl. Markus Tiwald (Hg.), The Q Hypothesis Unveiled. Theological, Sociological, and Hermeneutical Issues behind the Sayings Source, BWANT 225, Stuttgart 2020. worden. In der englischsprachigen Welt aber waren Alternativmodelle entwi‐ ckelt worden, das wirkmächtigste von Michael Goulder. 30 Diese Modelle - insbesondere im grundsätzlichen, wenn auch nicht unkritischen Anschluss an Goulder - aber werden im deutschsprachigen Raum erst ab dem Beginn des 21. Jahrhunderts zunehmend wahr- und auch ernstgenommen. Im Folgenden werde ich am Beispiel der Passage Lk 11,1-13, in der das Motiv der Freundschaft in bestimmter Funktion begegnet, deutlich zu machen versuchen, dass Lukas an dieser Stelle eine fortschreibende Interpretation von Material bietet, das er in der matthäischen Bergpredigt vorgefunden hat. Damit bewege auch ich mich grundsätzlich in den Bahnen des synoptischen Modells, wie es Goulder im Detail begründet hat. Dies scheint mir das plausibelste unter den gegenwärtig ventilierten synoptischen Erklärungsmodellen zu sein. Danach hätte Lukas das Markusevangelium und das Matthäusevangelium gekannt und kritisch miteinander verschränkt. Ob sich dieses Szenario weiteren Kreisen von Exegeten und Exegetinnen in Gegenwart und Zukunft als hinreichend plausibel erweisen wird, bleibt abzuwarten. Dazu bedarf es weiterer kritischer Studien, die die Stärken und Schwächen verschiedener Modelle abwägen. Wir sind heute nicht mehr so vermessen wie einst Wilke oder Holtzmann zu behaupten, die einzig wahre Möglichkeit der synoptischen Beziehungsverhältnisse gefunden zu haben. Denn es handelt sich bei dem Problem gewissermaßen um eine Glei‐ chung mit zu vielen - und wie viele, wissen wir nicht - Unbekannten. Insofern können unsere Vorschläge immer nur vorläufige Gültigkeit beanspruchen. Die klassische Zweiquellentheorie aber scheint mir ausgedient zu haben, da sie mit zu großen wissenschaftstheoretischen Problemen behaftet ist - auch wenn diese im deutschsprachigen Raum erst in der Gegenwart von ihren Ver‐ tretern mit ersten Versuchen zaghaft und bisher im Selbstgespräch verbleibend reflektiert werden. 31 Das von mir verfolgte Modell nenne ich das Synoptische Integrationsmodell. Dabei setze ich meinerseits voraus, dass die Verfasser der Evangelien ihnen jeweils vorliegende schriftliche Texte und mündliche Über‐ lieferungen, die je dezidierte Interpretationen der Jesus-Christus-Geschichte darstellten, ihrerseits interpretierend fortschrieben, um sie in ihren Lebens- und Kommunikationskontexten plausibel und relevant werden zu lassen. Warum sie im Einzelnen ihre Vorlagen veränderten, erschließt sich uns manchmal; oft genug aber bleiben uns die Motivationen und Interessenlagen verborgen. Die begrenzte Möglichkeit unseres diesbezüglichen Wissenkönnens ist unbedingt einzugestehen. 182 Werner Kahl <?page no="183"?> Die benannten allgegenwärtigen Interpretationsprozesse im Umfeld der Entstehung der synoptischen Evangelien machen es auch unmöglich, aus ihnen eine hypothetisch veranschlagte Logienquelle zu rekonstruieren. Das Matthäusevangelium und das Lukasevangelium bieten auch in gegenüber dem Markusevangelium exklusiven Material Stoffüberlappungen, die nie ganz iden‐ tisch sind und tatsächlich oft erheblich auseinandergehen, und die darüber hinaus unterschiedlich kontextuell eingebettet und damit funktional different sind. Im Anschluss an die Diskussion von Lk 11,1-13 werde ich am Beispiel des in der englischsprachigen Welt sehr bekannten Kirchenlieds „What a friend we have in Jesus“ auf fortschreibende Interpretationen der Passage aus dem 19. Jahrhundert aufmerksam machen, die im weltweiten Christentum auch gegenwärtig vielerorts anschlussfähig sind. 2 Vom Beten und Erhörtwerden (Lk 11,1-13) Im Gebetsdiskurs Lk 11,1-13 weist Lukas neben markanten Unterschieden erhebliche wörtliche Übereinstimmungen mit matthäischem Stoff in der sog. Bergpredigt auf (Mt 6,5-15; 7,7-11). Insofern legt es sich nahe, hier ein irgendwie geartetes schriftliches Beziehungsverhältnis anzunehmen. Anders als in der Perspektive der Zweiquellentheorie gehe ich also davon aus, dass Lukas auch an dieser Stelle in einer ihm typischen Weise das Matthäusevangelium benutzt und interpretierend fortgeschrieben hat. Darauf deuten m. E. eine Reihe von Indizien hin. Zunächst fällt auf, dass im Lukasevangelium auch an dieser Stelle Stoff im Vergleich mit der Bergpredigt in anderer Anordnung vorliegt, er zum Teil kürzer ist und zum Teil Erweiterungen aufweist. Als Vergleich diene die sogenannte Feldrede in Lk 6,17-7,1: Hier bietet Lukas eine insgesamt verkürzte Rede im Vergleich zur Bergpredigt des Matthäusevangeliums. Das von ihm gebotene Material hat Entsprechungen zu Material zu Beginn der Bergpredigt (Lk 6,17-23 [24-26] / / Mt 4,24-5,12), zu Material in ihrer Mitte (Lk 6,29-36 / / Mt 5,38-48) und vor allem zu Material an ihrem Ende (Lk 6,37-7,1 / / Mt 7,1-29). Die Reihenfolge des Materials ist weithin identisch (Ausnahme: Lk 6,31). Lukas weist in der Feldrede das Material in einer Anordnung auf, die im Vergleich zur Bergpredigt thematisch zentrierter und konsistenter erscheint. Ähnliches lässt sich für den Gebetsdiskurs in Lk 11,1-13 beobachten. In der Bergpredigt begegnen Äußerungen Jesu zum Gebet an zwei unterschiedlichen Stellen: Mt 6,5-15 und 7,7-11. Im Lukasevangelium hingegen liegen beide Passagen in Variation (Lk 11,1-4 und 11,9-13) in einer Verbindung vor, die Lukas 183 Gottesgebet und Freundesnot <?page no="184"?> durch ein für diesen Zweck kreiertes Verbindungsstück (11,5-8) hergestellt zu haben scheint. Dieses Verbindungsstück weist nun einige Motive auf, die ähnlich in Versen bzw. Versteilen aus Mt 6,5-15; 7,7-11 begegnen, die Lukas in seiner Version des Gebetsdiskurses aber auslässt. Mit anderen Worten: Hier haben wir m. E. Hinweise darauf, dass Lukas die matthäische Version gelesen und kritisch fortgeschrieben hat. Mt 6,5-15; 7,7-11 Lk 11,1-13 6,5 Καὶ ὅταν προσεύχησθε, οὐκ ἔσεσθε ὡς οἱ ὑποκριταί· ὅτι φιλοῦσιν ἐν ταῖς συναγωγαῖς καὶ ἐν ταῖς γωνίαις τῶν πλατειῶν ἑστῶτες προσεύχεσθαι, ὅπως φανῶσιν τοῖς ἀνθρώποις· ἀμὴν λέγω ὑμῖν, ἀπέχουσιν τὸν μισθὸν αὐτῶν. 6 σὺ δὲ ὅταν προσεύχῃ, εἴσελθε εἰς τὸ ταμεῖόν σου καὶ κλείσας τὴν θύραν σου πρόσευξαι τῷ πατρί σου τῷ ἐν τῷ κρυπτῷ· καὶ ὁ πατήρ σου ὁ βλέπων ἐν τῷ κρυπτῷ ἀποδώσει σοι. 7 Προσευχόμενοι δὲ μὴ βατταλογήσητε ὥσπερ οἱ ἐθνικοί, δοκοῦσιν γὰρ ὅτι ἐν τῇ πολυλογίᾳ αὐτῶν εἰσακουσθήσονται. 8 μὴ οὖν ὁμοιωθῆτε αὐτοῖς, οἶδεν γὰρ ὁ πατὴρ ὑμῶν ὧν χρείαν ἔχετε πρὸ τοῦ ὑμᾶς αἰτῆσαι αὐτόν. 9 Οὕτως οὖν προσεύχεσθε ὑμεῖς· Πάτερ ἡμῶν ὁ ἐν τοῖς οὐρανοῖς· ἁγιασθήτω τὸ ὄνομά σου· 10 ἐλθέτω ἡ βασιλεία σου· γενηθήτω τὸ θέλημά σου, ὡς ἐν οὐρανῷ καὶ ἐπὶ γῆς· 11 Τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δὸς ἡμῖν σήμερον· 12 καὶ ἄφες ἡμῖν τὰ ὀφειλήματα ἡμῶν, ὡς καὶ ἡμεῖς ἀφήκαμεν τοῖς ὀφειλέταις ἡμῶν· 13 καὶ μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς πειρασμόν, ἀλλὰ ῥῦσαι ἡμᾶς ἀπὸ τοῦ πονηροῦ. 14 Ἐὰν γὰρ ἀφῆτε τοῖς ἀνθρώποις τὰ παραπτώματα αὐτῶν, ἀφήσει καὶ ὑμῖν ὁ πατὴρ ὑμῶν ὁ οὐράνιος· 15 ἐὰν δὲ μὴ ἀφῆτε τοῖς ἀνθρώποις, οὐδὲ ὁ πατὴρ ὑμῶν ἀφήσει τὰ παραπτώματα ὑμῶν. 11,1 Καὶ ἐγένετο ἐν τῷ εἶναι αὐτὸν ἐν τόπῳ τινὶ προσευχόμενον, ὡς ἐπαύσατο, εἶπέν τις τῶν μαθητῶν αὐτοῦ πρὸς αὐτόν, Κύριε, δίδαξον ἡμᾶς προσεύχεσθαι, καθὼς καὶ Ἰωάννης ἐδίδαξεν τοὺς μαθητὰς αὐτοῦ. 2 εἶπεν δὲ αὐτοῖς, Ὅταν προσεύχησθε, V. 7 (V. 6 und 8) λέγετε, Πάτερ, ἁγιασθήτω τὸ ὄνομά σου· ἐλθέτω ἡ βασιλεία σου 3 τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δίδου ἡμῖν τὸ καθ’ ἡμέραν· 4 καὶ ἄφες ἡμῖν τὰς ἁμαρτίας ἡμῶν, καὶ γὰρ αὐτοὶ ἀφίομεν παντὶ ὀφείλοντι ἡμῖν· καὶ μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς πειρασμόν. 184 Werner Kahl <?page no="185"?> (6,8) / (7,9) (6,6) (6,8) [6,16-7,6] 7,7 Αἰτεῖτε, καὶ δοθήσεται ὑμῖν· ζητεῖτε, καὶ εὑρήσετε· κρούετε, καὶ ἀνοιγήσεται ὑμῖν. 8 πᾶς γὰρ ὁ αἰτῶν λαμβάνει καὶ ὁ ζητῶν εὑρίσκει καὶ τῷ κρούοντι ἀνοιγήσεται. 9 ἢ τίς ἐστιν ἐξ ὑμῶν ἄνθρωπος, ὃν αἰτήσει ὁ υἱὸς αὐτοῦ ἄρτον, μὴ λίθον ἐπιδώσει αὐτῷ; 10 ἢ καὶ ἰχθὺν αἰτήσει, μὴ ὄφιν ἐπιδώσει αὐτῷ; 5 Καὶ εἶπεν πρὸς αὐτούς, Τίς ἐξ ὑμῶν ἕξει φίλον καὶ πορεύσεται πρὸς αὐτὸν μεσονυκτίου καὶ εἴπῃ αὐτῷ, Φίλε, χρῆσόν μοι τρεῖς ἄρτους, 6 ἐπειδὴ φίλος μου παρεγένετο ἐξ ὁδοῦ πρός με καὶ οὐκ ἔχω ὃ παραθήσω αὐτῷ· 7 κἀκεῖνος ἔσωθεν ἀποκριθεὶς εἴπῃ, Μή μοι κόπους πάρεχε· ἤδη ἡ θύρα κέκλεισται, καὶ τὰ παιδία μου μετ’ ἐμοῦ εἰς τὴν κοίτην εἰσίν· οὐ δύναμαι ἀναστὰς δοῦναί σοι. 8 λέγω ὑμῖν, εἰ καὶ οὐ δώσει αὐτῷ ἀναστὰς διὰ τὸ εἶναι φίλον αὐτοῦ, διά γε τὴν ἀναίδειαν αὐτοῦ ἐγερθεὶς δώσει αὐτῷ ὅσων χρῄζει. 9 κἀγὼ ὑμῖν λέγω, αἰτεῖτε, καὶ δοθήσεται ὑμῖν· ζητεῖτε, καὶ εὑρήσετε· κρούετε, καὶ ἀνοιγήσεται ὑμῖν. 10 πᾶς γὰρ ὁ αἰτῶν λαμβάνει, καὶ ὁ ζητῶν εὑρίσκει, καὶ τῷ κρούοντι ἀνοίγεται. 11 τίνα δὲ ἐξ ὑμῶν αἰτήσει τὸν πατέρα ὁ υἱὸς (V. 5) ἰχθύν, καὶ ἀντὶ ἰχθύος ὄφιν αὐτῷ ἐπιδώσει; 12 ἢ καὶ αἰτήσει ᾠόν, ἐπιδώσει αὐτῷ σκορπίον; 11 εἰ οὖν ὑμεῖς πονηροὶ ὄντες οἴδατε δόματα ἀγαθὰ διδόναι τοῖς τέκνοις ὑμῶν, πόσῳ μᾶλλον ὁ πατὴρ ὑμῶν ὁ ἐν τοῖς οὐρανοῖς δώσει ἀγαθὰ τοῖς αἰτοῦσιν αὐτόν. 13 εἰ οὖν ὑμεῖς πονηροὶ ὑπάρχοντες οἴδατε δόματα ἀγαθὰ διδόναι τοῖς τέκνοις ὑμῶν, πόσῳ μᾶλλον ὁ πατὴρ [ὁ] ἐξ οὐρανοῦ δώσει πνεῦμα ἅγιον τοῖς αἰτοῦσιν αὐτόν. Doppelunterstreichung identisch am selben Ort Einfachunterstreichung grammatische Variation am selben Ort Unterpunktung grammatische Variation am anderen Ort In V. 1 bietet Lukas einen Kontext, der die Ausführungen Jesu zum Gebet ein‐ bettet als Antwort auf eine Jüngerfrage danach, wie zu beten sei. Dies ereignet sich im Zusammenhang des Betens Jesu - ein für das Lukasevangelium typisches Motiv. Der Beginn seiner Antwort hebt an wie im Matthäusevangelium: „Wenn ihr betet …“ Die Ausführungen in Mt 6,5-8 zum Gebet im Verborgenen mit einer Polemik gegen die Heuchler (VV. 5f.) und gegen die Heiden, die mit vielen Worten plappernd beten (VV. 7f.), begegnen nicht im Lukasevangelium. 185 Gottesgebet und Freundesnot <?page no="186"?> 32 Reinhard Feldmeier, Gottes Geist. Die biblische Rede vom Geist im Kontext der antiken Welt, Tria Corda 13, Tübingen 2020, 168. Hat Lukas das Matthäusevangelium gekannt, so ist nachvollziehbar, dass er die Polemik gegen die „Heiden“ mit gutem Grund ausgelassen hat, denn in seinem Doppelwerk liegt ihm im Allgemeinen gerade daran, sein Zeugnis so aufzubereiten, „dass es auch seinen in der griechisch-römischen Welt beheima‐ teten Adressaten von ihren eigenen Verstehensvoraussetzungen her begreiflich wird“, wie Reinhard Feldmeier zu Recht feststellt. 32 Das Wort ἐθνικοί findet sich im Neuen Testament nur an drei Stellen und zwar ausschließlich im Matthäusevangelium - neben unserer Stelle noch in Mt 5,47 und 18,17. Zu letzterem Vorkommen hat Lukas keine Parallele. In Varianz zu Mt 5,47, wo die ἐθνικοί wiederum als Negativfolie für das angemessene Verhalten der Gläubigen dienen, hat Lk 6,33 οἱ ἁμαρτωλοί. Dies ist die leitende Opposition, die Lukas weithin bemüht; nicht die matthäische von Heiden bzw. Pharisäern versus den Gläubigen. Des Weiteren empfiehlt Lukas gerade ein Bitten und Beten, das rücksichtslos, unverschämt, beständig und belästigend ist, vgl. im Gebetsdiskurs Verse 5-8 und in Varianz dieser Szene mit gleicher Aussage das Beispiel von der bittenden Witwe in Lk 18,1-8. In Versen 2b-4 bietet Lukas eine Version des „Vaterunsers“, die kürzer als die im Matthäusevangelium überlieferte Form ist und typisch lukanische Verände‐ rungen aufweist. Lukas vermeidet es weithin, die Vateranrede Gottes mit einem Possessivpronomen zu versehen und Gottvater explizit „in den Himmeln“ zu lokalisieren. Insofern könnte die lukanische Kurzform von Mt 6,9b in Lk 1,2b eine typisch lukanische Verkürzung seiner matthäischen Vorlage darstellen. Die Auslassung von Mt 6,10b-c erschließt sich nicht unmittelbar und hier ziehe ich es vor, mich nicht in den Bereich des allzu Spekulativen zu begeben. Auch hier erweist sich: Nicht alle - aber viele - Differenzen des Lukasevangeliums im Vergleich zum Matthäusevangelium unter der Annahme einer Benutzung des Letzteren durch Ersteren sind heute noch nachzuvollziehen. Die Bitte um das nötige Brot als kontinuierliches tagtägliches Anliegen (lukanischer Imperativ Präsenz vs. matthäischer Imperativ Aorist) wird verständlich auf dem Hinter‐ grund eines gegenüber dem Matthäusevangelium und auch Markusevangelium stärkeren Bewusstseins davon, dass sich die Gläubigen auf Dauer in der Welt einzurichten haben. Die Ersetzung von τὰ ὀφειλήματα in Mt 6,12 durch τὰς ἁμαρτίας in Lk 11,4 entspricht der lukanischen Vorliebe, die menschliche Disposition und die sich daraus ergebende Beziehung zu Gott als eine durch Sünde bestimmte zu 186 Werner Kahl <?page no="187"?> begreifen (vgl. nur die Erzählung vom Pharisäer und Zöllner in Lk 18,9-14 oder die Gleichniserzählungen in Lk 15). Daraus folgt für Lukas, dass der Mensch auf Gottes Barmherzigkeit bleibend angewiesen ist. Deshalb verbietet sich ihm die matthäische Fassung der Bitte in Mt 6,12 inklusive der Erläuterung in Mt 6,14- 15, wonach als Bedingung der Schuldvergebung durch Gott eine vorangehende Vergebung zwischenmenschlicher Schuld eingefordert wird. Lukas präsentiert diese Bitte in 11,4 im Sinne eines diesbezüglichen menschlichen Verhaltens in Entsprechung zum erbetenen göttlichen Vergebungshandelns, aber eben nicht im Sinne einer menschlichen Vorbedingung. Warum Lukas die Bitte um Befreiung von „dem Bösen“ aus Mt 6,13b ausgelassen hätte, erschließt sich nicht unmittelbar. Wie bereits angedeutet, kreiert Lukas in 11,5-8 einen Übergang, um das, was in der Bergpredigt bezüglich des Gebets in zwei separat stehenden Passagen kommuniziert wird, miteinander organisch zu verbinden. Bei dieser Konstruk‐ tion geht es um jemanden, der unerwartet Besuch von einem Freund bekommen hat und jetzt Brot braucht, um ihn mit einer Mahlzeit willkommen heißen zu können. Um an Brot zu kommen, sucht er einen Freund um Mitternacht auf. Dieser weigert sich zunächst mit mehreren Ausreden, der Bitte des Freundes nachzukommen. Die Pointe der Erzählung besteht darin, zu verdeutlichen, dass selbst wenn es Freundschaft nicht bewirkt, dass eine Bitte erfüllt wird, es doch die unverschämte, nicht nachlassende Belästigung vermag, dass die Mangelsituation des Bittstellers aufgehoben wird, der Freund im Haus also ge‐ wissermaßen der Nötigung nachgibt und somit in das Programm des Bittstellers einwilligt, wohl um endlich Ruhe zu bekommen. Im Kontext der vorangehenden Gebetsanweisung und der nachfolgenden Ausführungen zur Gebetserhörung besteht die inhaltliche Funktion dieses Zwischenstücks offensichtlich darin, zu illustrieren, dass ein nicht nachlassendes Gebet erst recht bei Gott Gehör finden wird. Ein solches Gebetsverständnis wird deutlich auch in Lk 18,1-8 vorausgesetzt. Dort wird aus dem Gleichnis vom Richter und der Witwe, in dem die Witwe mit ihren Bitten nach Recht und Gerechtigkeit nicht locker lässt bis der Richter einlenkt, die Schlussfolgerung gezogen, dass Gott für seine Auserwählten, die „Tag und Nacht zu ihm schreien“, Vergeltung üben wird, und zwar in Kürze. Dies begründet eine Gebetshaltung, wonach die Gläubigen „immer beten sollen und zwar ohne nachzulassen“ (18,1). Damit begibt sich Lukas in eine gewisse Opposition zu dem, was Matthäus in 6,7-8 in Bezug auf das Gebetsgebaren der Heiden karikiert und diskreditiert, dass sie nämlich meinen, aufgrund eines plappernden Redeschwalls bei Gott Gehör finden zu können. Lukas empfiehlt geradezu eine insistierende Gebets‐ haltung, die belästigend und unverschämt scheint. Tatsächlich gibt es Indizien 187 Gottesgebet und Freundesnot <?page no="188"?> dafür, dass Lukas die Eingangspassage Mt 6,5-8 als auch die Brotbitte in Mt 7,9 gelesen und dann absichtlich ausgelassen hat: • Im Kontext der Bergpredigt begegnen nur zweimal Wörter in Ableitung von χράω, zum einen χρῄζετε in Mt 6,32 / / Lk 12,20 und eben χρείαν ἔχετε in Mt 6,8, wozu Lukas im selben Zusammenhang die intensivierte Form zu χράω: χρῄζει aufweist (Lk 11,8); vgl. auch Lk 11,5: χρῆσον (von κίχρημι - leihen). • Das Motiv der verschlossenen Tür begegnet in den Synoptikern nur an jeweils zwei matthäischen und zwei lukanischen Stellen, die einander parallel sind, zum einen Mt 25,10 / / Lk 13,24 und zum anderen in unserer Passage: Mt 6,6 und Lk 11,7. • Im Vergleich von Lk 11,9-12 mit Mt 7,7-10 fällt auf, dass in der luka‐ nischen Passage die Brotbitte fehlt. Das Motiv des Brotes erfüllt aber in der vorangehenden Zwischenpassage die Funktion des mangelnden und erwünschten Objekts, und zwar in Form von drei Broten (Lk 11,5). Lukas hat dieses Motiv im matthäischen Kontext vorgefunden, es translokalisiert bzw. rekontextualisiert und er hat es aus Gründen der Redundanzvermeidung in 11,11 ausgelassen. Diese Motivparallelen zwischen der matthäischen und lukanischen Passage werden kaum zufällig zustande gekommen sein. Ich führe sie zurück auf die Kenntnis des Matthäusevangeliums durch Lukas. Dabei hat Lukas unter Rekurs auf diese matthäischen Motive eine neue Szene kreiert, die inhaltlich dem, was Matthäus in 6,5-8 zum Ausdruck bringt, widerspricht. Eine letzte signifikante Differenz der lukanischen Passage zur Bergpredigt liegt in Lk 11,13b vor: Während der matthäische Jesus von „eurem Vater, der in den Himmeln ist“ spricht, welcher „denen die ihn bitten, Gutes geben wird“ (Mt 7,11b), heißt es bei Lukas: „(…) der Vater, der aus dem Himmel Heiligen Geist gegen wird denen, die ihn bitten.“ Wie beim „Vaterunser“ vermeidet Lukas die matthäische Hinzufügung des Possessivpronomens zum angerufenen Vater als auch die explizite Lokalisierung Gottes „in den Himmeln“. Letzteres Motiv verwendet er in Variation, indem er den Vater aus dem Himmel geben lässt, und zwar nicht etwas unbestimmtes Gutes, sondern den Heiligen Geist. Auch dies ist ein Motiv, das für das Lukasevangelium typisch ist, vgl. nur Lk 3,22 und Apg 2,2-4. In Bezug auf die Gläubigen hat die temporäre Ausstattung mit dem Heiligen Geist im lukanischen Doppelwerk insbesondere die Funktion, dass ihnen in Bedrängnis die Fähigkeit verliehen wird, das Wort Gottes mit Freimut zu verkündigen (vgl. Lk 12,11f.; Apg 4,23-31). 188 Werner Kahl <?page no="189"?> 33 Vgl. Feldmeier, Gottes Geist, 167-182. Mit dieser Fokussierung auf die Gabe des Heiligen Geistes vermeidet Lukas ein Missverständnis, das durch die Gabe von ἀγαθά nach Mt 7,11 entstehen könnte, dass es nämlich bei zu Gott gerichteten Bitten eigentlich um materielle Wünsche geht, wie sie aus dem Bereich des Menschlichen in den vorangehenden Versen als zwischenmenschliche Beispiele gebracht werden und die Gott über‐ steigt, indem er Größeres gibt, nämlich nach Lukas den Heiligen Geist (vgl. dazu auch die Ausführungen vom Sorgen in Mt 6,25-34 / / Lk 12,22-32: die Gläubigen sollen nicht nach Materiellem trachten, sondern nach dem Reich Gottes und der Gerechtigkeit Gottes [so Matthäus], bzw. nach dem Reich Gottes [so Lukas in intensivierender Wiederholung]). Nach Lukas kann die Geistverleihung mit der Vermittlung von Wunderkraft einhergehen, und diese Kombination von Gottesgaben bewirkt die göttliche Überwindung von Not- und Mangelsituationen (vgl. Lk 1,17.35; 4,1.14.18f.; 24,49; Apg 1,5.8; 10,38 etc.). 33 3 What a friend we have in Jesus Stefan Alkier und mich verbindet auch das - mitunter gemeinsame - Musi‐ zieren. Deshalb möchte ich an dieser Stelle das Lied „What a friend we have in Jesus“ aufrufen, eines der bekanntesten Jesuslieder in der englischsprachigen Welt. Das Lied ist offensichtlich inspiriert worden durch die oben besprochenen Passagen. Es ist ein Beispiel für eine interpretierende Aktualisierung neutesta‐ mentlicher Traditionen. Englische Version Übersetzung Deutsche Version What a friend we have in Jesus, all our sins and griefs to bear! What a privilege to carry everything to God in prayer! O what peace we often forfeit, O what needless pain we bear, all because we do not carry everything to God in prayer! Welch einen Freund haben wir in Jesus, all unsere Sünden und un‐ seren Kummer zu tragen! Welch ein Vorrecht, alles zu Gott im Gebet zu bringen! Oh, welchen Frieden büßen wir oft ein, oh, wie viel unnötigen Schmerz ertragen wir, nur weil wir nicht alles zu Gott im Gebet bringen! Welch ein Freund ist unser Jesus, o wie hoch ist Er erhöht! Er hat uns mit Gott versöhnet und vertritt uns im Gebet. Wer mag sagen und ermessen, wie viel Heil verloren geht, wenn wir nicht zu Ihm uns wenden und Ihn suchen im Gebet! 189 Gottesgebet und Freundesnot <?page no="190"?> Have we trials and tempta‐ tions? Is there trouble anywhere? We should never be discou‐ raged; take it to the Lord in prayer! Can we find a friend so faithful who will all our sorrows share? Jesus knows our every weakness; take it to the Lord in prayer! Haben wir Prüfungen und Versuchungen? Gibt es überall Probleme? Wir sollten nie entmutigt sein; bringt es zu dem Herrn im Gebet! Können wir einen so treuen Freund finden, der all unseren Kummer teilen wird? Jesus kennt jede unserer Schwächen; bringt es zu dem Herrn im Gebet! Wenn des Feindes Macht uns drohet und manch Sturm rings um uns weht, brauchen wir uns nicht zu fürchten, stehn wir gläubig im Gebet. Da erweist sich Jesu Treue, wie Er uns zur Seite steht als ein mächtiger Erretter, der erhört ein ernst Gebet. Are we weak and heavy laden, cumbered with a load of care? Precious Savior, still our re‐ fuge - take it to the Lord in prayer! Do your friends despise, forsake you? Take it to the Lord in prayer! In his arms he'll take and shield you; you will find a solace there. Sind wir schwach und schwer beladen, belastet mit einer Ladung von Sorge? Kostbarer Retter, noch immer unsere Zuflucht; bringt es zu dem Herrn im Gebet! Verachten, verlassen euch eure Freunde? Bringt es zu dem Herrn im Gebet! In seine Arme wird er euch nehmen und schützen; ihr werdet dort einen Trost finden. Sind mit Sorgen wir beladen, sei es frühe oder spät, hilft uns sicher unser Jesus, fliehn zu Ihm wir im Gebet. Sind von Freunden wir verlassen und wir gehen ins Gebet, o so ist uns Jesus alles: Er, der selber für uns fleht. Die englische Textversion wurde 1855 von Joseph M. Scriven verfasst (1819- 1886), einem irischen Emigranten nach Kanada und einem Mitglied der Ply‐ mouth Brethren. Es entstand unter dem Eindruck von Todesfällen geliebter Menschen. 1868 wurde es von einem US-amerikanischen Komponisten von Erweckungsliedern vertont. Die deutsche Fassung wurde 1875 von dem metho‐ distischen Liederdichter und Prediger Ernst Heinrich Gebhardt (1832-1899) kreiert. Bei beiden Versionen handelt es sich um kreative Fortschreibungen neutestamentlicher Traditionen. Vor allem die Originalversion hat bei vielen Menschen weltweit Trost und Kraft gespendet. Hier wird Jesus, der Herr und wohl auch Gott, zum - und das ist neu gegenüber dem Neuen Testament - Freund der Gläubigen, der menschliche Freundschaften übersteigt, indem er verlässlich und immer zugänglich ist. Dieser Jesus nimmt in die Arme und spendet Trost ist seelischer Not angesichts trauriger Lebensumstände. 190 Werner Kahl <?page no="191"?> Mit der Trostbedürftigkeit der Bittsteller wird hier allgemein ein im Vergleich zu Lk 11,1-13 neues Motiv eingetragen. Hier steht nicht die Überwindung materieller Nöte und schon gar nicht die Erlangung von Luxusgütern wie im gegenwärtigen Prosperity Gospel des Neopentekostalismus zur Debatte. Es geht aber auch nicht wie in der lukanischen Passage um die Ausstattung mit dem Heiligen Geist - das Pfingstchristentum der Moderne kam erst einige Jahrzehnte später auf -, sondern so schlicht wie bedeutsam um Tröstung durch Jesus. Die deutsche Fassung ist mit dogmatischen Überzeugungen durchsetzt. Sie verkürzt die Fokussierung auf Erfahrungen des seelischen Leids des Bittstellers im Original und wartet mit theologischen Phrasen auf: Wo im englischen Text erfahrungsgesättigt von „unseren“ Prüfungen und Versuchungen die Rede ist, spricht die deutschsprachige Version von der uns drohenden Macht des Feindes. Jesus wird vom zärtlich so genannten precious saviour zum „mächtigen Erretter“, der uns mit Gott versöhnt hat, der ein ernstes Gebet erhört, der „hoch erhöht“ ist. Dieser Jesus ist fern, nicht nahe wie in der Originalversion; er wird als Vermittler der Gebete zu Gott gepriesen. Dem deutschen Liederdichter ging es weniger um die individuelle Not des Bittstellers, sondern vielmehr objekti‐ vierend um „das Heil, das verloren geht, wenn wir nicht zu Ihm uns wenden und Ihn suchen im Gebet“. Hier wird auf der Ebene von selbsterlangtem Heil vs. selbstverschuldetem Unheil argumentiert - eine verbreitete evangelikale Denkfigur jener Zeit. Insofern ist es nachvollziehbar, dass die deutsche Version auch im deutschsprachigen Raum bei weitem nicht die Attraktivität erlangte, die die englische Fassung seit Ende des 19. Jahrhunderts auszeichnet, und zwar über Kulturen hinweg. Literatur Stefan Alkier, Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Diszi‐ plin, Tübingen 1993. Stefan Alkier, Mehr oder weniger plausible Hypothesen. Theologiegeschichtliche An‐ merkungen zur Genese und Konstruktion des „synoptischen Problems“, in: ZNT 22 (2019), 7-38. Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 9 1984. Reinhard Feldmeier, Gottes Geist. Die biblische Rede vom Geist im Kontext der antiken Welt, Tria Corda 13, Tübingen 2020. Michael D. Goulder, Luke. A New Paradigm, Sheffield 1994. Adolf Harnack, Sprüche und Reden Jesu. Die zweite Quelle des Matthäus und Lukas, Leipzig 1907. 191 Gottesgebet und Freundesnot <?page no="192"?> Heinrich J. Holtzmann, Die synoptischen Evangelien. Ihr Ursprung und geschichtlicher Charakter, Leipzig 1863. Werner Kahl, Jesus als Lebensretter. Afrikanische Bibelinterpretationen und ihre Rele‐ vanz für die neutestamentliche Wissenschaft, Neutestamentliche Studien zur kontex‐ tuellen Exegese, Bd. 2, Frankfurt 2007. Werner Kahl, Erhebliche matthäisch-lukanische Übereinstimmungen gegen das Mar‐ kusevangelium in der Triple-Tradition - ein Beitrag zur Klärung der synoptischen Abhängigkeitsverhältnisse, in: ZNW 103/ 1 (2012), 20-46, bes. 41. Werner Kahl, Q als Fiktion. Zur Plausibilität und Bedeutung des Synoptischen Integra‐ tionsmodells, in: ZNT 22 (2019), 137-169. Werner Kahl, Jesus als Wundertäter, in: Nils Neumann (Hg.), Die Rückfrage nach Jesus, Leipzig 2021 (im Erscheinen). Kenneth L. Pike, Language in Relation to a Unified Theory of the Structure of Human Behavior, Paris 1954. Hermann Samuel Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, Bd. 2, hrsg. v. Gerhard Alexander, Frankfurt 1972. Markus Tiwald (Hg.), The Q Hypothesis Unveiled. Theological, Sociological, and Her‐ meneutical Issues behind the Sayings Source, BWANT 225, Stuttgart 2020. Christian Hermann Weiße, Die Evangelische Geschichte kritisch und philosophisch bearbeitet, 2 Bände, Leipzig 1838. 192 Werner Kahl <?page no="193"?> 1 Ich schätze mich glücklich, Stefan Alkier in Freundschaft verbunden zu sein. Der vorliegende Beitrag ist ihm gewidmet. 2 Vgl. den Überblick bei Luke Timothy Johnson, Making connections. The material expres‐ sion of friendship in the New Testament, in: Interp. 58/ 2 (2004), 158-171. 3 Vgl. John T. Fitzgerald, Philippians in the light of ancient friendship, in: ders., Friend‐ ship, Flattery, and Frankness of Speech: Studies on Friendship in the New Testament, NovTestSupp 82, Leiden u. a. 1996, 141-160; Rainer Metzner, In aller Freundschaft. Ein frühchristlicher Fall freundschaftlicher Gemeinschaft (Phil 2.25-30), in: NTS 48/ 1 (2002), 111-131; Eckart Reinmuth, Ich schreibe Dir als Paulus - Rollenwechsel, Redefreiheit und Ironie im Philemonbrief, in: ders., Neues Testament, Theologie und Gesellschaft. Hermeneutische und diskurstheoretische Reflexionen, Stuttgart 2012, 209-221, hier: 211 mit A 17; ders., Der Brief des Paulus an Philemon, ThHK 11/ II, Leipzig 2006, 27f. sowie 30. Vgl. ähnlich Hans-Josef Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Paderborn u. a. 1998, 248; Peter Müller, Der Brief an Philemon, KEK 9/ 3, Göttingen/ Oakville 2011, 94-96. 4 Vgl. z. B. Lk 7,34/ Mt 11,19 (die lukanischen Belege werden u. in Anm. 15 aufgeführt); Joh 3,29; 11,11; 15,13f.; 19,12. 5 Jens Schröter, Sterben für die Freunde. Überlegungen zur Deutung des Todes Jesu im Johannesevangelium, in: Axel von Dobbeler, Kurt Erlemann, Roman Heiligenthal (Hg.), Religionsgeschichte des Neuen Testaments, FS Klaus Berger, Tübingen/ Basel 2000, 263- Das Recht der Freundschaft Eckart Reinmuth Die vielfältige Präsenz antiker Freundschaftsethik im Neuen Testament lädt zu der Frage ein, wieweit gegenwärtig neutestamentliche Aspekte von „Freund‐ schaft“ für den gesellschaftlichen, politischen bzw. politiktheoretischen Bereich bedeutsam sein können. 1 In neutestamentlichen Texten klingen Standards antiker Freundschaftsauffas‐ sungen vielfach an. 2 Wir finden sie zum Beispiel auf der Ebene der brieflichen Kommunikation; so sind etwa der Philipperbrief, aber auch der Brief des Paulus an den Sklavenbesitzer Philemon als „Freundschaftsbriefe“ zu verstehen. 3 Neutesta‐ mentliche Erzähltexte wie das Lukas- und das Johannesevangelium reflektieren freundschaftsethische Vorstellungen; 4 zu vergleichen ist in diesem Zusammen‐ hang auch die unterschiedliche Deutung des Todes Jesu in Joh 15,13f. und Röm 5,6-8. 5 Zu antiken freundschaftsethischen Voraussetzungen gehören auch die <?page no="194"?> 287; Klaus Scholtissek, Die hellenistische Freundschaftsethik und das Johannesevange‐ lium, in: Jörg Frey/ Jens Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, WUNT 181, Tübingen 2005, 413-439. 6 Hauke Brunkhorst, Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossen‐ schaft, Frankfurt a.M. 2002. 7 Zum Namen Onesimus vgl. Reinmuth, Brief an Philemon, 42f. Zur Einführung in die vorausgesetzte Situation und politiktheoretischen Relevanz des Philemonbriefes vgl. Eckart Reinmuth, Das Neue Testament und die Zukunft des Politischen, in: ders. (Hg.), Neues Testament und politische Theorie. Interdisziplinäre Beiträge zur Zukunft des Politischen, Stuttgart 2011, 9-25, hier: 18-20. 8 Vgl. 1Thess 2,9; 1Kor 4,12; Lk 5,10. Aspekte von Brüderlichkeit, Solidarität und Vertrauen, 6 die in neutestamentlichen Texten in ganz unterschiedlicher Weise thematisiert werden. Mir geht es im Folgenden darum, an wenigen neutestamentlichen Textbeispielen Zumutungen der Freundschaft zu thematisieren, die ein Recht der Freundschaft geltend machen und gesellschaftliche wie politische Anstöße enthalten. 1 Zumutungen der Freundschaft: Unverfrorenheit Mit dem Philemonbrief wendet sich der reisende Prediger Paulus, der momentan im Gefängnis einsitzt, an Philemon, einen Sklavenbesitzer, der vor kurzem Christ geworden ist. Es geht um Onesimus, einen Sklaven des Philemon, der offenbar entlaufen ist und bei Paulus Zuflucht gesucht hat. 7 Onesimus weiß anscheinend, dass er als flüchtiger Sklave nur dann einigermaßen geschützt ist, wenn Paulus sich als „Freund seines Herrn“ (amicus domini) für ihn verwendet. Eben das tut dieser mit seinem Brief an Philemon. Paulus hebt zu Beginn seine freundschaftliche Verbundenheit mit Philemon hervor. Damit schafft er eine kommunikative, performativ erzeugte Grundlage, auf der er sich für den Sklaven verwenden kann, den er vor kurzem selbst getauft hat. Für ihn ist Onesimus jetzt mehr und anderes als ein Sklave, und das soll er auch für seinen Besitzer sein - er ist ein „geliebter Bruder“, und als solchen soll Philemon ihn bei seiner Rückkehr wieder aufnehmen. Paulus stellt eine vollständige Gleichrangigkeit zwischen Philemon, Onesimus und sich selber her. Vers 17 ließe sich folglich treffend paraphrasieren: Wenn du mich für deinen Freund hältst, nimm ihn auf wie mich. Das Wort κοινωνός bedeutet Teilhaber, Partner, Freund. Entscheidend für sein Verständnis ist die Gemeinschaftlichkeit, an der beide Partner teilhaben. 8 Paulus bittet darum, Onesimus möge von Philemon wie Paulus selbst, also wie ein Freund, empfangen werden. Mit dieser Bitte ist eine erhebliche Zumutung für Philemon verbunden. Die Bitte lautet: Nimm ihn an wie mich. Gemeint ist zunächst: Gestalte seine Rückkunft, als ob 194 Eckart Reinmuth <?page no="195"?> 9 Zur Redefreiheit (Parrhesia), die Paulus an dieser Stelle ausdrücklich erwähnt, vgl. Reinmuth, Brief an Philemon, 33f. Ingeborg Bachmann sprach mit einer treffenden Wendung von der „Tapferkeit vor dem Freund“, für die „der armselige Stern der du mich bei dir aufnehmen würdest (vgl. V. 22a). Paulus lässt sich durch den zurückkehrenden Sklaven Onesimus vertreten - so, wie dieser ihm gegenüber Philemon vertreten soll (vgl. V. 13b.19b). Paulus geht ein großes Risiko ein. Er erwartet, dass sein Versuch, sich dem Philemon auf diese freundschaftliche Weise zu nähern, von diesem nicht als unziemliche und unzumutbare Unverfrorenheit gedeutet wird - schließlich ist das Recht eindeutig auf der Seite des Sklavenbesitzers. Führt diese Belastung nicht zum Bruch, so wird sie die Beziehung vertiefen; die Freundschaft der beiden Ungleichen gewinnt. Paulus ist zuversichtlich, was die Entscheidung des Besitzers betrifft. Ich weiß, du wirst noch mehr tun, als ich sage (V. 21b). Er bittet, er wirbt für seine Bitte und vertraut auf Philemons freiwillige Entscheidung zugunsten des Sklaven (V. 9.14f.). Paulus differenziert ausdrücklich zwischen der Forderung, die ihm aus seiner Sicht zu Gebote stehen würde, und der Bitte, die seiner freundschaftlichen Verbun‐ denheit mit dem Sklavenbesitzer entspricht. Paulus bringt gegenüber Philemon zum Ausdruck, dass er sich ihm gegenüber im Recht sieht, die Zumutung seiner Bitte als autoritative Forderung zu äußern. Er zieht es jedoch vor, „um der Liebe willen“ seine Vorstellung als Bitte zu formulieren - das Verb παρακαλέω in V. 9 hat nicht den Sinn der Anweisung, sondern der Empfehlung und Ermunterung. Es zielt auf die Freiheit, in der sich das Recht der Freundschaft realisiert (V. 14). Alle bisherigen Rollen werden performativ neu bestimmt. Paulus, der reisende Missionar, bezeichnet sich als alt und gefangen (Phlm 1.9) - er gibt damit zu erkennen, dass er dem freien, offensichtlich jüngeren, reichen und folglich sozial angesehenen Sklavenbesitzer in sozialer Hinsicht in keiner Weise ebenbürtig ist. Er bittet zugleich als jemand, der seine Gefangenschaft als unmittelbare Konsequenz seiner Beauftragung versteht und folglich als Beauftragter, als Gefangener Christi (V. 1) ebenso gut anweisen könnte, was im Fall des Onesimus zu tun ist. Aber von solcher Bevollmächtigung, deren Fraglosigkeit er gegenüber Philemon voraussetzt, macht er keinen Gebrauch. Er verlegt sich aufs Bitten, wird zum bittenden Freund, der Freundschaft riskiert um eines anderen willen. Onesimus ist zum Bruder geworden, gleichrangig dem, der ihn taufte, und dem, der ihn besitzt. Und auch die Rolle seines Besitzers gerät in Bewegung. Wie wäre es, wenn dieser dem reisenden Prediger das Essen ins Gefängnis brächte? Paulus kann sich das offensichtlich vorstellen (V. 13). Er erwähnt seine gegenwärtige Lage gezielt und mehrfach, gerade weil sie das Widerlager seiner tatsächlichen Freiheit (V. 8) bildet. 9 Auch seine eigene 195 Das Recht der Freundschaft <?page no="196"?> Hoffnung“ verliehen wird, vgl. Ingeborg Bachmann, Alle Tage, in: Horst Bingel (Hg.), Deutsche Lyrik. Gedichte seit 1945, Stuttgart 1961, 9. Freimut im Reden der Wahrheit gehört zum verpflichtenden Recht der Freundschaft. 10 Vgl. Alfons Fürst, Streit unter Freunden. Ideal und Realität in der Freundschaftslehre der Antike, Beiträge zur Altertumskunde 85, Stuttgart/ Leipzig 1996, 138-182, bes. 181f.; Albrecht Classen, Das Motiv des aufopfernden Freundes von der Antike über das Mittelalter bis zur Neuzeit, in: Fabula 47 (2006), 17-32, hier: 21. 11 Fürst, Streit unter Freunden, 179. Eine Gesamtzusammenstellung themenrelevanter antiker Literatur bietet Fürst in App. 5 (244-246). 12 Vgl. einführend Friedo Ricken, Ist Freundschaft eine Tugend? Die Einheit des Freund‐ schaftsbegriffs der "Nikomachischen Ethik", in: Theologie und Philosophie 75 (2000), 481-492. 13 Vgl. Fürst, Streit unter Freunden, 139; Ulrich Gotter, Cicero und die Freundschaft. Die Konstruktion sozialer Normen zwischen römischer Politik und griechischer Philoso‐ phie, in: Hans-Joachim Gehrke/ Astrid Möller (Hg.), Vergangenheit und Lebenswelt. Soziale Kommunikation, Traditionsbildung und historisches Bewußtsein, Tübingen 1996, 339-360, bes. 350ff.; Heinz Bude, Die Aktualität der Freundschaft, Mittelweg 36, 17/ 3 (2008), 6-16, hier: 7. Rolle ist das Ergebnis einer tiefgreifenden Transformation. Es geht im Brief um eine konkrete Konsequenz aus dieser alle drei Personen betreffenden Transfor‐ mation, nicht um den moralischen Anspruch einer humanitären Option. Aus der „Geburt“ des Dritten, mit der die Bitte für Onesimus in V. 10 eingeführt wird, erwächst die für Paulus unwiderlegliche Folgerung, ihn als Menschen und Bruder anzuerkennen und ihm entsprechend zu begegnen. Paulus dekliniert mit seiner Erwartung gegenüber Philemon ein wesentliches Element antiker Freundschaftsethik. Ihm ist die Zumutung bewusst, die seine Bitte darstellt. Ich verweise hier lediglich auf Ciceros Laelius de amicitia als einen der maßgeblichen und meistrezipierten Texte antiker Freundschaftsdiskurse. 10 Der Laelius ist neben Platos Lysis der einzige philosophische Dialog, der aus der Antike zum Thema Freundschaft erhalten ist. 11 Wie bei Aristoteles, dessen Ausführungen zur Freundschaft sich vor allem in Buch 8 und 9 seiner Nikomachischen Ethik finden, 12 geht es um die Ethik der Freundschaft, um die Frage, was eine Freundschaft belasten könnte (unehrenhafte oder verwerfliche Ansinnen bis hin zum Hochverrat, Lael. 11,36-13,44), es geht darum, dass Freundschaft wesensmäßig tugendhaft sei und deshalb ausnahmsweise auch einmal über das Gesetz gestellt werden könne. Das schließt Kritikfähigkeit, Freimut und Offenheit unter Freunden ein. Cicero kann wie Aristoteles zugleich als paradigmatisch für die Verzahnung von Politik und Freundschaft gelten. Die theoretische Erörterung von Freundschaft war in der griechischen und römischen Antike grundsätzlich mit politischen Aspekten verknüpft. 13 Cicero lässt seinen Laelius argumentieren, dass unter Freunden keineswegs 196 Eckart Reinmuth <?page no="197"?> 14 Cicero, De amicitia 16, 57; zitiert nach: Marcus Tullius Cicero, Laelius. De Amicitia, übers. von Robert Feger, RUB 868, Stuttgart 2004 (1970). 15 Vgl. Lk 7,6.34; 11,5(bis).6.8; 12,4; 14,10.12; 15,6.29; 16,9; 21,16; 23,12; Apg 10,24; 27,3. 16 Reinhard von Bendemann, Zwischen DOXA und STAUROS. Eine exegetische Unter‐ suchung der Texte des sogenannten Reiseberichts im Lukasevangelium, BZNW 101, Berlin/ New York 2001, 215. „ein jeder wie sich selbst, so auch dem Freund gesinnt sein müsse. Denn wie vieles, das wir unseretwegen niemals täten, tun wir um der Freunde willen: einen Unwürdigen bitten, anflehen, dann schärfer auf einen losfahren und ihm heftiger zusetzen, Dinge, die in eigener Sache nicht gerade zu unserer Ehre, für Freunde aber zu unserer höchsten Ehre geschehen“ (qua in nostris rebus non satis honeste, in amicorum fiunt honestissime). 14 Was Paulus mit dem Philemonbrief tut, tritt vor dem Hintergrund dieser Erwägung Ciceros noch deutlicher hervor. Paulus bringt gegenüber Philemon zum Ausdruck, dass er ihn als Freund anspricht, der sich bei ihm für den Freund Onesimus als dem abwesenden Dritten in einer Weise verwendet, die einzig auf dem Recht der Freundschaft beruht, dem Freund etwas Unzumutbares zuzumuten. Er tut etwas, das er für sich selbst kaum tun würde. Er adressiert ihn als Freund und verlegt sich um des abwesenden Freundes willen aufs Bitten. 2 Zumutungen der Freundschaft: Unverschämtheit Gegenüber den übrigen neutestamentlichen Schriften finden sich mit 14 (Lk) und zwei Belegen (Act) im lukanischen Schrifttum die meisten Belege für „Freund“ (φίλος). 15 Lukas entwirft kein Idealbild von „Freundschaft“; er präsen‐ tiert uns indessen viele Facetten antiker Freundschaftsdiskurse. Er verfolgt sichtlich kein außerordentliches Freundschaftskonzept, das er mit seinem Erzählen kommunizieren möchte, sondern stellt antike Vorstellungen von Freundschaft in dessen Dienst. Hier liegt für ihn „ein deutlicher Interessen‐ schwerpunkt.“ 16 Es wäre verlockend, die lukanischen Deklinationen von „Freundschaft“ kursorisch durchzugehen. Jedoch verlangt mit Blick auf die Frage nach dem Recht der Freundschaft die Geschichte vom bittenden Freund (Lk 11,5-8) unsere besondere Aufmerksamkeit. Die Geschichte, die Lukas Jesus erzählen lässt, soll mit Blick auf das soeben vorgetragene zentrale Gebet (Lk 11,2-4) nachdrücklich verdeutlichen, dass es sinnvoll und aussichtsreich ist, Gott betend in den Ohren zu liegen. Lukas geht es darum, dass Gott sich drängen lässt wie ein zur Nacht geweckter Freund; die Fortsetzung von 11,5-8 in 9-13 (bittet, so wird euch gegeben …) spricht gerade 197 Das Recht der Freundschaft <?page no="198"?> 17 Vgl. die eindringliche Analyse vor dem Hintergrund antiker Freundschaftsethik a. a. O., 211-219 18 Vgl. ähnlich Annette Merz, Freundschaft verpflichtet (Vom bittenden Freund) - Lk 11,5- 8, in: Ruben Zimmermann et al. (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 556-563, hier: 560. nicht von einem allmächtig-fernen und abstrakten Gott, sondern ergänzt die Beziehung zwischen Freunden um die zwischen Vater und Sohn (VV. 11f.). In beiden Beziehungen soll gelten, dass Bitten auch entsprochen wird (VV. 9f.). Der Text spricht von einem bedrängten Gott, der sich durch die Gebete der Glaubenden genötigt sieht, ihren Wünschen zu willfahren. Lukas favorisiert das Thema Gebet: 3,21; 5,16; 6,12; 9,18.28f.; 10,21-23; 11,1-13; 22,32.39-46; 23,46. Nach Lk 18,1-8 ist dieser Gott sich nicht zu schade, mit einem korrupten Richter verglichen zu werden, der dem Rechtsbegehr der Witwe letztlich nur aus Angst vor blauen Flecken nachgibt. Der Schluss, der in 18,6-8a gezogen wird, fordert ausdrücklich zum Vergleich mit Gott auf. Es geht in beiden Texten, Lk 11,5-13 wie Lk 18,1-8 darum, Gott zu bedrängen und mit dem eigenen Bitten nicht in Ruhe zu lassen. Skizziert wird eine heikle Situation unter Freunden. 17 Dabei wird deutlich, dass die nächtliche Bitte an den schlafenden Freund sich einer spannungsvollen Relation verdankt. Der bittende Freund lässt das nächtliche Kommen des durchreisenden Freundes, den er gastlich bei sich aufnimmt, zu seiner eigenen Not werden; er bittet den schlafenden Freund insofern an seiner Statt. Die Dreistigkeit seines Bittens gründet in dieser Situation. Die nächtliche Störung ist im alltäglichen Miteinander von Freunden nicht akzeptabel; sie ignoriert die Grenzen von Höflichkeit und Anstand. 18 Der bittende Freund lässt sich seine Gastfreundschaft etwas kosten. Er lässt sich auf die Gefahr ein, seine Freund‐ schaft mit dem schlafenden Freund aufs Spiel zu setzen und als unangemessen zudringlich zu erscheinen. Der bittende Freund baut darauf, dass der nächtlich geweckte Freund seine Unverschämtheit (ἀναίδεια V. 8) um ihrer Freundschaft willen nicht nur hin‐ nehmend toleriert, sondern freigiebig zur Geltung kommen lässt (vgl. V. 8 fin mit V. 5 fin). Er realisiert das Recht der Freundschaft. Es geht, so haben wir gesehen, hier tatsächlich um die Konventionen antiker Freundschaftsethik. Ich erinnere an das Cicero-Zitat, auf das ich im Zusam‐ menhang mit der Zumutung hingewiesen hatte, die die Erwartung des Paulus gegenüber Philemon bedeutet. In dem Cicero-Zitat aus De amicitia 16,57 (s. o.) geht es um zwei im Rahmen der antiken agonistischen Werteverfassung unkonventionelle Verhaltensweisen zugunsten von Freunden: Jemanden anzuflehen oder jemanden hart zu be‐ 198 Eckart Reinmuth <?page no="199"?> 19 Merz, Freundschaft verpflichtet, bezieht sich in ihrer Deutung auf das Cicero-Zitat (560). drängen, Unterwürfigkeit oder Aggressivität also, gelten nicht als ehrlos, wenn sie zugunsten von Freunden getan werden. Im Gegenteil: Im Interesse von Freunden gelten sie als höchst ehrenvoll (honestissime). 19 Dass Freunde auch dafür sorgen können, unzumutbare Ansinnen zu verhin‐ dern, wird in der Geschichte vom nichtjüdischen Centurio (Lk 7,1-10) deutlich. Dieser schickt zunächst „Älteste der Juden“ (V. 3) und dann „Freunde“ zu Jesus. Er aktiviert also zwei Hilfsgruppen, um eine heilende Tätigkeit Jesu zugunsten des todkranken Sklaven zu erreichen; beide agieren in direkter Rede. Zunächst geht es um die Bitte, die dazu führt, dass sich Jesus trotz der offenkundigen Zumutung (vgl. Mt 8,7) bereitwillig zusammen mit der jüdischen Delegation dem Haus des Hundertschaftsführers nähert. Die zweite Gruppe, eine unbestimmte Zahl von „Freunden“, hat die Funktion, Jesus von einem Betreten des Hauses abzuhalten. Er muss nicht unter das Dach eines Nichtjuden treten, denn, so zeigt die Argumentation in V. 8, er steht wie der Centurio unter einer Befehlsgewalt, die die unmittelbare Realisierung seiner Befehle garantiert. Die soziale Einbindung des Bittenden wird also eindringlich gekennzeichnet. Nicht nur die jüdischen Autoritäten des Ortes machen sich für ihn stark und bitten Jesus, indem sie die lokalen Verdienste des Centurio hervorheben; auch die Freunde verwenden sich für ihn, indem sie seine Argumentation in ihrer direkten Rede in Ich-Form wiedergeben, als sei er das redende Subjekt. Sie identifizieren sich mit ihm und seinen Argumenten, sprechen also wie er aus nichtjüdischer Perspektive und sind folglich nicht zwingend als jüdische Freunde vorzustellen, sondern als solche, die die nichtjüdische Lebenswelt des Bittenden präsentieren. Sie sind als diejenigen vorzustellen, mit denen der Centurio in freundschaftlichem Austausch steht, der das gemeinsame Feiern (14,10.12; 15,29), aber auch das gegebenenfalls ökonomische Einstehen füreinander umfasst (vgl. 16,9). Ihre Mission macht eine persönliche Begegnung zwischen Jesus und dem Centurio im Gegensatz zu Mt 8,5-13 tatsächlich überflüssig. Lukas setzt offensichtlich voraus, dass Freunde so füreinander einstehen, dass sie zur Empathie und gegenseitigen Identifikation fähig sind. Der Hundertschaftsführer tritt nicht in direkter Rede auf; er nimmt - als Repräsentant seines todkranken Sklaven - die Rolle des Dritten ein. Die Freunde unterlaufen - ebenfalls im Auftrag des Centurio - die Zumutung, die die Bitte und Fürsprache der ersten Gruppe für Jesus bedeutet hatte (VV. 3-5). Er hätte das Haus des Nichtjuden betreten und sich dadurch verunreinigen müssen. Und er war dazu bereit (V. 6). Der Centurio und seine Freunde agieren zugunsten des 199 Das Recht der Freundschaft <?page no="200"?> 20 Vgl. Reinmuth, Neues Testament und Zukunft des Politischen, 18ff.; Eckart Reinmuth, Der Dritte. Eine sozialphilosophische Perspektive auf den Hebräerbrief, ZNT 29 (2012), 57-68; Thomas Bedorf, Der Dritte als Scharnierfigur, in: Eva Eßlinger u. a. (Hg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, stw 1971, Frankfurt a.M. 2010, 125-136. kranken Sklaven als dem dringend hilfsbedürftigen Dritten. Sie werden sich der Zumutung bewusst, die die Bitte um Hilfe für Jesus bedeutete, und ersparen sie ihm, weil sie der heilenden Kraft seines Befehlswortes vertrauen (V. 7). 3 Zumutungen der Freundschaft: Das Recht des Dritten Die skizzierten Texte erinnern an die ethische Dimension des sozialphilosophi‐ schen Modells der Triade. 20 Lassen wir noch einmal die erzählten Zumutungen in Lk 11,5-8 zur Geltung kommen. Die unerwartete Präsenz des Reisenden verkör‐ pert einen Anspruch, dem der Freund sich nicht entziehen kann. Der bittende Freund sieht sich durch den angereisten Freund einem Anspruch ausgesetzt, dem er mangels vorhandenen Brotes nicht genügen kann. Er sieht sich überraschend besucht von einem Freund auf der Durchreise (V. 6), und offensichtlich nachts, kann er doch erst um Mitternacht versuchen, den Freund mit drei geliehenen Broten zu sättigen. Der ‚Dritte’ bringt bei Lukas die Freundschaft der benachbarten Freunde in die Belastungsprobe und qualifiziert sie damit. Auch der mitternächtlich geweckte Freund sieht sich zwei tendenziell unbe‐ dingten Ansprüchen ausgesetzt, die er kaum erfüllen kann, da sie miteinander kollidieren: Hier seine schlafenden Kinder (V. 7), da sein bittender Freund. Dieser präsentiert überdies auch den Dritten, der ihn auf der Durchreise nächtlich besucht. Aus der dyadischen Beziehung ist eine triadische geworden, in der der unbedingte ethische Anspruch, den der Durchreisende verkörperte, sozialisiert und definiert worden ist. Erneut stoßen wir auf die konstitutive Rolle des Dritten. Onesimus ist, wie wir gesehen haben, im Philemonbrief lediglich Objekt ohne eigene Stimme. Er ist der Dritte im Kommunikationsgeschehen zwischen Paulus und Philemon, dessen Gefährdung und Notlage dazu führt, dass das freundschaftliche Verhältnis zwischen Philemon und Paulus einer gewagten Belastung ausgesetzt wird. Lk 11,5ff. zeigt, dass der angereiste Freund eine Figur des Dritten bildet, dessen Hilfsbedürftigkeit und Angewiesenheit die fragliche Beziehung zwischen dem bittenden und dem gebetenen Freund konstituiert. Er bleibt im Text stumm wie der bei Paulus Zuflucht suchende Sklave Onesimus - stumm übrigens auch wie der Freund in Schillers Ballade „Die Bürgschaft“. Der Dritte in Schillers Bürgschaft ist der Freund, der als Bürge einsteht. Er ist das stumme Objekt des Textes, dessen Opferbereitschaft sich alle wesentlichen Veränderungen 200 Eckart Reinmuth <?page no="201"?> 21 Zur Traditionsgeschichte des von Schiller verwendeten Motivs vgl. Classen, Motiv. 22 Vgl. dazu Eckart Reinmuth, Der göttliche Bettler. Zu einer Metapher im Werk Ernst Barlachs, in: Rostocker Universitätsreden NF 5, Rostock 2001, 37-60. 23 Vgl. z. B. Janosch Schobin/ Vincenz Leuschner/ Sabine Flick/ Erika Alleweldt/ Eric Anton Heuser/ Agnes Brandt, Freundschaft heute. Eine Einführung in die Freundschaftssoziologie (mit Gastbeiträgen von Andrea Knecht, Christian Kühner und Kai Marquardsen), Bielefeld 2016; Martin Gessmann, Moralisten als neue Realisten. Von der Rückkehr der Freundschaft in die Theorie der Gesellschaft, in: Philosophische Rundschau (PhR) 65 (2018), 47-74.116- verdanken. Dem Attentäter wird ein Recht gewährt, das die verhängte Strafe für den versuchten Tyrannenmord aufschiebt und, so die Erwartung des Dionys, möglicherweise dazu führt, dass Möros seinen für ihn bürgenden Freund verrät und dem Tod ausliefert. Das Bewegende an Schillers Ballade ist, dass sich die Tyrannis durch die „Liebe und Treue“ der Freunde (Str. 17) ändern lässt - „Ihr habt das Herz mir bezwungen.“ Der Befehl zur Hinrichtung des Attentäters wird zurückgenommen, der Tyrann bittet um Aufnahme in den Freundesbund. Diese Wendung weckt die Erwartung, dass sich die politische Verfassung in Syrakus schließlich ändert. Schillers Bürgschaft etabliert mit dem unbedingten Einstehen füreinander ein „neues“ Recht der Freundschaft mit der Erwartung, dass es zur Änderung ungerechter politischer Verhältnisse führen kann. 21 Das Recht der Freundschaft realisiert folglich eine triadische Relation, so dass von Freundschaft nicht lediglich als einer dyadischen Beziehung zu sprechen ist. Die neutestamentlichen Textbeispiele weisen darauf hin, dass die Notlage oder Hilfsbedürftigkeit Dritter entscheidend für die triadische Relation von Freundschaft sein kann. Die Angewiesenheit Dritter ist konstitutives Element der Jesus-Christus-Geschichte, die das Neue Testament als Gottes Geschichte versteht. Folglich ist die christuslogische Kontur des Dritten das speziell neu‐ testamentliche Element einer Theorie der Freundschaft. War für die antike Freundschaftsethik das Leitbild der Tugenden, des Schönen, Wahren und Guten grundlegend, so tritt in neutestamentlicher Perspektive die Angewiesenheit anderer an diese Stelle. In ihr meldet sich Gott als der Bittende zu Wort. Vor diesem Hintergrund ist auch die paulinische Selbststilisierung als bittender Botschafter anstelle des uns mit sich versöhnenden Gottes bzw. Christi in 2Kor 5,18-20 zu verstehen. 22 Dieses Moment ist entscheidend für die eminent theologische Dimension antiker Freundschaftsethik im Neuen Testament. 4 Das Recht der Freundschaft im sozialphilosophischen Kontext In den vergangenen Jahren wurde verstärkt auf die für jede Demokratie konsti‐ tutive Rolle freundschaftlicher, vertrauensvoller und auch gastfreundschaftlicher Beziehungen hingewiesen. 23 Vor gut zwanzig Jahren erschien in deutscher Über‐ 201 Das Recht der Freundschaft <?page no="202"?> 142; Ursula Nötzold-Linden, Freundschaft. Zur Thematisierung einer vernachlässigten soziologischen Kategorie, Opladen 1994; Alexandra Rapsch, Soziologie der Freundschaft. Historische und gesellschaftliche Bedeutung von Homer bis heute, Stuttgart 2004; Burkhard Liebsch/ Michael Staudigl/ Philipp Stoellger (Hg.), Perspektiven europäischer Gastlichkeit. Geschichte - Kulturelle Praktiken - Kritik, Weilerswist 2016. 24 Jacques Derrida, Politik der Freundschaft, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000 (orig. Politiques de l'amitié, Paris 1994). 25 Vgl. Susanne Lüdemann, Das Politische jenseits der Brüderlichkeit, in: Ulrich Bröckling/ Robert Feustel (Hg.), Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen, Bielefeld 2010, 131-144. 26 Michaela Rissing, Politische Theologie. Schmitt - Derrida - Metz. Eine Einführung, München/ Paderborn 2009, 104 (Kursivierungen in Zitaten entstammen dem jeweiligen Original). 27 Zu dem ab Mitte des vorigen Jahrhunderts im Anschluss an Marcel Mauss einsetzenden Freundschaftsdiskurs und seiner gegenwärtigen Bedeutung vgl. Bude, Aktualität der Freundschaft. 28 Oliver Marchart, Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, stw 1956, Frankfurt a.M. 2010, 282ff.; Zitat: 283. 29 Vgl. a. a. O., 283. setzung Jacques Derridas Buch Politik der Freundschaft. 24 Derrida verwies unter der Absicht, demokratische Politik- und Gesellschaftsformen auch künftig zu ermöglichen und zu sichern, auf die Tradition der Freundschaftsdiskurse und versuchte, sie gegenüber einer sich auf Carl Schmitt berufenden fundamentalen Freund-Feind-Unterscheidung zu stärken. Derrida ging es darum, den Begriff des Politischen auf Brüderlichkeit und Freundschaft zu gründen und die entspre‐ chenden Denktraditionen seit Aristoteles herauszuarbeiten. 25 Für Derrida wurde „die Freundschaft zum Modell des politischen Zusammenlebens“. 26 Damit gab Der‐ rida einen wesentlichen Anstoß dafür, das Thema „Freundschaft“ aus politik-theo‐ retischer Perspektive in seiner grundlegenden Bedeutung zu reflektieren. 27 Oliver Marchart gibt mit Blick auf Derridas Reflexionen einer „ethischen Politik“ bzw. einer „Politik der Freundschaft“ zu bedenken, dass diese „immer ein Moment des Unbedingten in sich trägt“ und somit „der Politik gegenüber heterogen“ bleibe; schließlich sei „Politik […] das Terrain des Bedingten, d. h. des von strategischen und materiellen Bedingungen eingeschränkten Handelns“. 28 Marchart plädiert dafür, Derridas Überlegungen zu einer ethischen Politik zu kritisieren und dennoch nicht zu verwerfen: Zwar könne nicht behauptet werden, „Derrida würde Politik umstandslos zu Ethik erklären. Aber wo die Dekonstruktion dazu tendiert, Politik an einer unbedingten Ethik der Freundschaft, der Gabe oder des Respekts gegenüber dem Ganz-Anderen auszurichten, dort läuft sie Gefahr, dem Ethizismus zu verfallen und ins Antipolitische zu kippen.“ 29 202 Eckart Reinmuth <?page no="203"?> 30 Das Recht der Freundschaft kann zum Beispiel in politischen, wirtschaftlichen oder kriminellen Kontexten missbraucht und gegen das Gemeinwohl gerichtet werden. Die antiken freundschaftsethischen Diskurse lehnten Zweckfreundschaften entschieden ab (vgl. z. B. Cicero, De amicitia 14,51ff.). Der vorliegende Beitrag trägt dem Rechnung, indem er das Phänomen missbräuchlicher Freundschaften übergeht. 31 Das wurde überraschend deutlich, als Angela Merkel im Zusammenhang des NSA-Skandals 2013 den medienwirksamen Satz formulierte: „Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht.“ 32 Vgl. die eingehende Studie von Daniel Bogner, Das Recht des Politischen. Ein neuer Begriff der Menschenrechte, Bielefeld 2014. Zur Historizität der Menschenrechte vgl. Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahr‐ hundert, Göttingen 2010; Lasse Heerten, Menschenrechte und Neue Menschenrechtsge‐ schichte, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 31.01.2017, abrufbar unter: http: / / docupedia.de/ zg/ Heerten_menschenrechte_v1_de_2017 (Zugriffsdatum 07.09.2020). 33 Zur juristischen Bedeutung der Menschenwürde vgl. die Studie von Heiner Bielefeldt, Menschenwürde. Der Grund der Menschenrechte, Deutsches Institut für Menschen‐ rechte 2008, abrufbar unter: https: / / www.institut-fuer-menschenrechte.de/ uploads/ tx _commerce/ studie_menschenwuerde_2008.pdf (Zugriffsdatum 09.09.2020). Einer einseitig ethischen Definition von Politik könne nur entgangen werden, wenn die Unterscheidung zwischen dem Politischen als dem Bedingten und dem Ethischen als dem Unbedingten gewahrt wird und dennoch beide Größen aufeinander bezogen bleiben. Im Anschluss an Marcharts Unterscheidung kann gefolgert werden, dass das Politische und das Ethische auch im freundschaftlichen Zusammenspiel aufeinander bezogen bleiben. In der freundschaftlichen Relationierung des Ethi‐ schen und des Politischen gründet ein Recht der Freundschaft, das Freunde wie selbstverständlich in Anspruch nehmen. Es ist das gegenseitig verpflichtende Recht, sich auf die Loyalität und Anteilnahme, die Einsatzbereitschaft und Nachsicht, das Verständnis und die Freimütigkeit, die Achtung und Ermutigung, den Takt und die Diskretion des Freundes, der Freundin verlassen zu können. Dieses Recht kann bewahrt, gebrochen oder missbraucht werden. 30 Es ist in seinem Kern kein Recht, das sich juristisch einklagen ließe. Dennoch ist es sinnvoll, von einem Recht der Freundschaft zu sprechen, weil es nicht nur um Verhaltensweisen geht, die Freunde voneinander erwarten dürfen. Freund‐ schaften sind auch gesellschaftliche Wirklichkeiten, deren Ethos bis in den Bereich des Politischen wirkt. 31 Beides ist nicht zu trennen. Auch die Menschenrechte rühren an fundamentale Voraussetzungen und Bedingungen menschlichen Zusammenlebens; auch sie realisieren sich unter jeweils konkreten historisch-gesellschaftlichen Bedingungen 32 und wirken als politische Orientierungsgrößen. 33 Zum Themenheft Amnesty Journal 01/ 2017 „Hand in Hand - Freundschaft, Solidarität und Menschenrechte“ heißt es: 203 Das Recht der Freundschaft <?page no="204"?> 34 www.amnesty.de/ journal/ 2016/ dezember (Zugriffsdatum 05.09.2020). 35 Michael Walzer, Moralischer Minimalismus, in: DZPhil 42 (1994), 3-13. Walzer bezog sich auf die Fernsehnachrichten von den Demonstrationen in Prag Ende 1989. Zur Bedeutung der Menschenrechte in diesem historischen Kontext vgl. Celia Donert, Charta 77 und die Roma. Menschenrechte und Dissidenten in der sozialistischen Tschechoslowakei, in: Hoffmann, Moralpolitik, 397-423. 36 Walzer, Moralischer Minimalismus, 5. 37 Vgl. z. B. Ned Richardson-Little, The Universal Declaration of Human Rights in East Ger‐ many. Socialist Appropriation and Dissident Contestation, 1948-1989, Zeitgeschichte Online 2020, abrufbar unter: https: / / zeitgeschichte-online.de/ themen/ universal-decla ration-human-rights-east-germany (Zugriffsdatum 05.09.2020). Die Menschenrechte wurden spätestens in den 80er Jahren zu einem wesentlichen legitimierenden Bezugs‐ punkt oppositioneller Gruppen in der DDR. 38 Vgl. José Brunner/ Daniel Stahl (Hg.), Recht auf Wahrheit. Zur Genese eines neuen Menschenrechts. Göttingen 2016. „Auf den ersten Blick scheinen Freundschaft und Menschenrechte nur wenig miteinander zu tun zu haben. Doch ohne menschliche Empathie und Solidarität über Grenzen hinweg gäbe es weder private Flüchtlingshilfe noch den Einsatz vieler gegen die Todesstrafe oder gar die Zusammenarbeit von Menschenrechtlern verfeindeter Staaten.“ 34 Diese Feststellung erinnert an die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (10.12.1948), die von der „Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen“ spricht, und an ihren Art. 26, wo es heißt, die Bildung müsse „zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen.“ In diesen Formulierungen deutet sich eine wechselseitige Beziehung zwi‐ schen Menschen- und Freundschaftsrechten an. Denn auch in entgegenge‐ setzter Richtung gilt: In Freundschaften verwirklichen sich fundamentale Menschenrechte. Sie sind Schulen der Achtung, der Toleranz und Solidarität. Michael Walzer hat - freilich ohne freundschaftsethische Aspekte zu erwähnen - eindrucksvoll beschrieben, wie die universalen Menschheitswerte, die in den Forderungen der Menschenrechte zum Ausdruck kommen, konkret in den politischen Forderungen der Umbrüche in den Jahren 1989 und danach Gestalt gewannen. 35 Der „Kanon“ „universaler Prinzipien“ 36 realisiert sich in den politischen Forderungen nach „Wahrheit“ oder „Gerechtigkeit“, auch wenn es bei den Demonstrierenden ganz verschiedene Auffassungen über Wahrheitstheorien oder Gerechtigkeitsprinzipien geben mag. Worum es geht, und worum es in gleicher Weise in der DDR des Jahres 1989 ging, 37 ist die sowohl individuell als auch kollektiv greifbare Erfahrung von Wahrheit 38 und Gerechtigkeit im politischen Prozess der schrittweisen Überwindung scheinbar rechtsförmiger Ungerechtigkeiten und Lügen. Die in der sogenannten „Wende‐ 204 Eckart Reinmuth <?page no="205"?> 39 Christoph Menke, Die Kritik des Rechts und das Recht der Kritik, in: DZPhil 66/ 2 (2018), 143-161, hier: 144. 40 Benno Zabel, Die Provokation des Politischen - Christoph Menkes Liberalismus‐ kritik, Merkur 23.11.2017, abrufbar unter: https: / / www.merkur-zeitschrift.de/ 2017/ 11/ 2 3/ die-provokation-des-politischen-christoph-menkes-liberalismuskritik/ (Zugriffsdatum 03.09.2020). 41 So die Bezeichnung Christian Geyers in der FAZ, abrufbar unter: www.faz.net/ aktuell/ kar riere-hochschule/ rechte-und-identitaet-so-subjektiv-sind-sie-nicht 16036312.html? print‐ PagedArticle=true#pageIndex_2 (Zugriffsdatum 01.09.20). 42 Zur Diskussion vgl. Sonja Buckel, Die Bürde der subjektiven Rechte - Eine Auseinan‐ dersetzung mit der Rechtsphilosophie Christoph Menkes, in: Andreas Fischer-Lescano/ Hannah Franzki/ Johan Horst (Hg.), Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, Tübingen 2018, 125-140; Klaus F. Röhl, Schluss mit der Kritik der Rechte. Protokoll meiner Bemühungen um das Verständnis von Christoph Menkes »Kritik der Rechte«, abrufbar unter: www.rsozblog.de/ wp-content/ uploads/ Röhl_Schluss-mit-der-Kritik-subjektiver-R echte.pdf (Zugriffdatum 31.08.20); Erhard Denninger, Ende der ‚subjektiven Rechte’? Anmerkungen zu Christoph Menke, Kritik der Rechte in: KJ Kritische Justiz 51/ 3 (2018), 316-326. Christoph Menke, Genealogie, Paradoxie, Transformation: Grundelemente einer Kritik der Rechte, in: Andreas Fischer-Lescano/ Hannah Franzki/ Johan Horst (Hg.), Ge‐ genrechte. Recht jenseits des Subjekts, Tübingen 2018, 13-31, versucht auf die Einwände zeit“ entscheidende Rolle freundschaftsethischer Erfahrungen (einschließlich tiefer Enttäuschungen), also die konkret politische Rolle von Vertrauen in die Zuverlässigkeit, Einsatzbereitschaft und Ehrlichkeit von Freunden, ist meines Wissens bisher nur wenig aufgearbeitet. Vor diesem Hintergrund ist Marcharts oben skizzierter kritischer Hinweis auch als Warnung vor dem Missverständnis zu lesen, es handle sich mit dem Recht der Freundschaft um ein dem kritischen Diskurs entzogenes „höheres“ Recht oder gar ethisch immunes „Gegenrecht.“ Dieses Stichwort wurde vor wenigen Jahren eingeführt, um das Recht subjektiver Rechte den allgemein gültigen Rechtsset‐ zungen gegenüberzustellen. Im Kontext dieser rechtstheoretischen Diskussionen könnte das Recht der Freundschaft als ein „Gegenrecht“ gekennzeichnet werden. Voraussetzung wäre dann, das Recht lediglich als einen „Herrschaftsapparat“ aufzufassen, „durch den der Staat die Geltung seiner Normen durchsetzt.“ 39 Diese Kennzeichnung trifft für nichtdemokratische Herrschaftsformen zu, in denen das Recht der Freundschaft tatsächlich zum Element eines Widerstandsrechts werden kann. In Menkes Perspektive jedoch wäre das Recht generell und gerade in den liberalen westlichen Gesellschaften stets mit seiner kritischen Infragestellung verbunden, und Gegenrechte wären Formen einer „Revolution der Rechte“. 40 Diese utopisch anmutende Position kann hier nicht ausführlich diskutiert werden, zumal die rechtstheoretische Diskussion um Menkes schwer nachvollziehbares „Gedankenexperiment“ 41 noch nicht abgeschlossen ist. 42 205 Das Recht der Freundschaft <?page no="206"?> gegen seine Kritik der Rechte von 2015 einzugehen. Vgl. dazu Christoph Menke, Kritik der Rechte, stw 2241, Berlin 2018. 43 Zu den komplexen Relationen zwischen Gerechtigkeit, Recht und Gesetz mit Blick auf jüdische und christliche Traditionen aus rechtstheoretischer Sicht vgl. Karl-Heinz Ladeur/ Ino Augsberg, „Der Buchstaben tödtet, aber der Geist machet lebendig“? Zur Bedeutung des Gesetzesverständnisses der jüdischen Tradition für eine postmoderne Rechtstheorie, in: Rechtstheorie 40 (2009), 431-471. 44 Vgl. Siegfried F. Franke, Vertrauen. Eine konstitutive Grundlage für Demokratie und Marktwirtschaft, Trier 2007. 45 Martin Hartmann, Art. Vertrauen, in: HPPS 2, 1436-1441. Mit Blick auf die Bedeutung von Vertrauen für demokratisierende Prozesse vgl. den wichtigen Beitrag von Andreas Hetzel, Vertrauen als Affekt der radikalen Demokratie, in: Thomas Bedorf/ Kurt Röttgers (Hg.), Das Politische und die Politik, stw 1957, Frankfurt a.M. 2010, 235-251. 46 Vgl. dazu Bude, Aktualität der Freundschaft, 15: „Als Du garantiert mir der Andere nichts, vielmehr stellt er mich in den Horizont des wechselseitigen Ausgeliefertseins und fordert hier und jetzt eine Geste meines Menschseins durch die Berührung seines Mitseins. Nur um den Preis der Beschneidung meiner Menschlichkeit könnte ich achtlos vorübergehen. Indem ich mich in dieser spezifischen Situation für die Freundin einsetze, egal unter welche Konzeption des Anderen sie fällt, verhalte ich mich als politisches Wesen.“ Das Recht der Freundschaft verlangt, wie wir an den neutestamentlichen Beispielen freundschaftlicher Zumutungen sehen konnten, gleichsam ein außer‐ ordentliches Recht, das sich um der Freundschaft willen autorisiert weiß, die recht‐ liche Verfasstheit gesellschaftlicher Relationen gegebenenfalls zu durchbrechen. Im Recht der Freundschaft liegt eine emanzipatorische Kraft, mit der das politisch handelnde Subjekt Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von politisch scheinbar notwendigen Erfordernissen erlangt. In der Freundschaft kann erfahrbar werden, was von der Bedingtheit, den Grenzen und Relationen tagespolitischer Problem‐ lagen und ihrer scheinbaren Vernunft nicht erfasst und nicht sanktioniert werden kann. Der daraus bisweilen resultierende Gegensatz von Recht und Gerechtigkeit wird mit dem Recht der Freundschaft aufrechterhalten. 43 Freundschaft ist eine Lebensform des Vertrauens. Darin hat sie auch politische und gesellschaftliche Bedeutung. Sie begründet ein Recht, das über das verfasste Recht hinausgeht und ihm zugleich voraus liegt. Das Recht der Freundschaft ist nicht enttäuschungsresistent, nicht vor Verrat gefeit. Aber es bringt das Wagnis des Vertrauens gesellschaftlich und politisch wirksam zur Geltung. Wo vom Recht der Freundschaft gesprochen wird, ist auch von der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung des Vertrauens zu reden. 44 Freundschaften sind Schulen des Vertrauens, in denen wir gesellschaftlich und politisch relevante Verhaltens‐ weisen probieren und einüben dürfen. 45 Das gilt gerade auch da, wo das Recht der Freundschaft den uneigennützigen Einsatz fordert. 46 206 Eckart Reinmuth <?page no="207"?> Literatur Amnesty International, abrufbar unter: www.amnesty.de/ journal/ 2016/ dezember (Zu‐ griffsdatum 05.09.2020). Ingeborg Bachmann, Alle Tage, in: Horst Bingel (Hg.), Deutsche Lyrik. Gedichte seit 1945, Stuttgart 1961. Thomas Bedorf, Der Dritte als Scharnierfigur, in: Eva Eßlinger u. a. (Hg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, stw 1971, Frankfurt a. M. 2010, 125-136. Reinhard von Bendemann, Zwischen DOXA und STAUROS. 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Dr. Tobias Nicklas ist Professor für Exegese und Hermeneutik des Neuen Testa‐ ments an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg. Dr. Thomas Paulsen ist Professor für Gräzistik am Institut für Klassische Philo‐ logie der Goethe-Universität Frankfurt am Main Dr. Eckart Reinmuth ist emeritierter Professor für Neues Testament an der Universität Rostock. Dr. Michael Rydryck ist Referent für Studium und Lehre sowie Dozent für Neues Testament und Religionswissenschaft am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Dr. Michael Schneider ist Leiter des Dekanats am Fachbereich Evangelische Theologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt und unterrichtet dort sowie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Neues Testa‐ ment, Liturgik und Hymnologie. Dr. Sylvia Usener ist Sprachlehrerin für Griechisch am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. <?page no="212"?> NET - Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie Herausgegeben von Eve-Marie Becker, Jens Herzer, Angela Standhartinger und Florian Wilk Bisher sind erschienen: Band 1 Oda Wischmeyer / Eve-Marie Becker (Hrsg.) Was ist ein Text? 2001, X, 228 Seiten €[D] 43,- ISBN 978-3-7720-3151-9 Band 2 Martin Stiewe / François Vouga Die Bergpredigt und ihre Rezeption als Darstellung des Christentums 2001, XII, 294 Seiten €[D] 29,- ISBN 978-3-7720-3152-6 Band 3 Jörn-Michael Schröder Das eschatologische Israel im Johannesevangelium Eine Untersuchung der johanneischen Israel-Konzeption in Joh 2-4 und Joh 6 2003, XVI, 382 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-3153-3 Band 4 Eve-Marie Becker Schreiben und Verstehen Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief 2002, XIV, 319 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-7720-3154-0 Band 5 Martin Stiewe / François Vouga Das Fundament der Kirche im Dialog Modelle des Kirchenverständnisses im Neuen Testament und in der konfessionellen Rezeptionsgeschichte 2003, XIV, 356 Seiten €[D] 34,90 ISBN 978-3-7720-3155-7 Band 6 Oda Wischmeyer (Hrsg.) Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft 2003, VIII, 284 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-7720-8016-6 Band 7 Gwang-Ho Cho Die Vorstellung und Bedeutung von ‚Jerusalem‘ bei Paulus 2004, 224 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8017-3 Band 8 Oda Wischmeyer Hermeneutik des Neuen Testaments Ein Lehrbuch 2004, XII, 231 Seiten €[D] 34,90 ISBN 978-3-7720-8054-8 Band 9 Bianca Schnupp Schutzengel Genealogie und Theologie einer religiösen Vorstellung vom Tobitbuch bis heute 2004, 220 Seiten €[D] 44,- ISBN 978-3-7720-8061-6 Band 10 Stefan Alkier / Richard B. Hays (Hrsg.) Die Bibel im Dialog der Schriften Konzepte intertextueller Bibellektüre 2005, X, 281 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-7720-8098-2 <?page no="213"?> Band 11 Martin Stiewe / François Vouga Das Evangelium im alltäglichen Leben Beiträge zum ethischen Gespräch 2005, XVI, 413 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8134-7 Band 12 Stefan Alkier Die Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften des Neuen Testaments 2009, XVI, 281 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-7720-8227-6 Band 13 Stefan Scholz Ideologien des Verstehens Eine Diskurskritik der neutestamentlichen Hermeneutiken von Klaus Berger, Elisabeth Schüssler Fiorenza, Peter Stuhlmacher und Hans Weder 2007, 396 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8246-7 Band 14 Oda Wischmeyer / Stefan Scholz (Hrsg.) Die Bibel als Text Beiträge zu einer textbezogenen Bibelhermeneutik 2008, 270 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8295-5 Band 15 Kristina Dronsch Bedeutung als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft Texttheoretische und semiotische Entwürfe zur Kritik der Semantik dargelegt anhand einer Analylse zu ἀκοὑειν in Mk 4 2010, XII, 463 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8331-0 Band 16 Young Sook Choi „Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“ Die paulinischen Peristasenkataloge und ihre Apostolatstheologie 2010, X, 329 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8338-9 Band 17 Michael Schneider Gottes Gegenwart in der Schrift Intertextuelle Lektüren zur Geschichte Gottes in 1 Kor 2011, 335 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8379-2 Band 18 Thorsten Klein Bewährung in Anfechtung Der Jakobusbrief und der Erste Petrusbrief als christliche Diaspora-Briefe 2011, X, 497 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8405-8 Band 19 Martin Stiewe / François Vouga Bedeutung und Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament Ein theologischer Essay 2011, 287 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8425-6 Band 20 Desmond Bell / Renate Kirchhoff / Bernhard Mutschler (Hrsg.) Lebenswelten, Textwelten, Diversität Altes und Neues Testament an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften 2014, XVIII, 330 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8550-5 <?page no="214"?> Band 21 Helga Kramer Lukas als Ordner des frühchristlichen Diskurses um „Armut und Reichtum“ und den „Umgang mit materiellen Gütern“ Eine überlieferungsgeschichtliche und diskurskritische Untersuchung zur Besitzethik des Lukasevangeliums unter besonderer Berücksichtigung des lukanischen Sonderguts 2015, 381 Seiten € [D] 68,- ISBN 978-3-7720-8569-7 Band 22 Friedrich W. Horn Paulusstudien 2017 469 Seiten, € [D] 89,- ISBN 978-3-7720-8608-3 Band 23 Maximilian Paynter Der auferstande Jesus als erzählte Figur im Matthäus- und Lukasevangelium 2016, 315 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8609-0 Band 24 Martin Stiewe / François Vouga Das Evangelium bei Paulus als Kommunikationskonzeption 2017, 484 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8632-8 Band 25 Claudia Matthes Die Taufe auf den Tod Christi Eine ritualwissenschaftliche Untersuchung zur christlichen Taufe dargestellt anhand der paulinischen Tauftexte 2017, 560 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8635-9 Band 26 Nadine Treu Das Sprachverständnis des Paulus im Rahmen des antiken Sprachdiskurses 2018, 443 Seiten €[D] 88,- 978-3-7720-8643-4 Band 27 Stefan Eckhard Zeichen und Geist Eine semiotisch-exegetische Untersuchung zum Geistbegriff im Markusevangelium 2018, 271 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8663-2 Band 28 Jacob P. B. Mortensen Paul Among the Gentiles: A „Radical“ Reading of Romans 2018, 366 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8656-4 Band 29 Eve-Marie Becker Der Philipperbrief des Paulus Vorarbeiten zu einem Kommentar 2020, 323 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8688-5 Band 30 Dominic Blauth / Michael Rydryck / Michael Schneider (Hrsg.) Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments Eine Festschrift für Stefan Alkier zum 60.-Geburtstag 2021, 214 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8734-9 <?page no="215"?> ISBN 978-3-7720-8734-9 www.narr.de Freundschaft gilt vielfach als Motor und Movens frühchristlicher Gemeinschaftsbildung. Auch die Beziehung zwischen Jesus und seinen Schülern wird häu g, insbesondere in religionspädagogischen und liturgischen Kontexten, als Freundschaft gedeutet. Dabei werden nicht selten moderne Konzepte der Freundschaft an die Texte des Neuen Testaments herangetragen. Allerdings stellt eine breit angelegte Untersuchung freundschaftsbezogener Diskurse, Konzepte und Praktiken in den Text- und Lebenswelten des Neuen Testaments, auch vor dem Hintergrund des relational turn, ein Desiderat der neutestamentlichen Forschung dar. Der vorliegende Band füllt diese Lücke und untersucht Konzepte und Praktiken der Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments aus unterschiedlichen fachlichen und methodischen Perspektiven. Die Beiträge verknüpfen dabei die neutestamentlichen Texte mit aktuellen Freundschaftsdiskursen in Universität, Kirche und Gesellschaft. 30 Herausgegeben von Eve-Marie Becker, Jens Herzer, Angela Standhartinger und Florian Wilk
