Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien
Band 2: Rekonstruktion | Übersetzung | Varianten
1214
2020
978-3-7720-5741-0
978-3-7720-8741-7
A. Francke Verlag
Matthias Klinghardt
Die Studie beschreibt den Ursprung und den Weg der Evangelientradition vom Anfang bis zum kanonischen Vier-Evangelienbuch. Sie legt dar, dass das marcionitische Evangelium das älteste Evangelium ist, das von allen kanonischen Evangelien benutzt und bearbeitet wurde. Die Folge dieser These ist ein neues Bild von der Entstehung der Evangelien. Es unterscheidet sich grundlegend von allen anderen Modellen (z. B. der Zwei-Quellentheorie) - mit weitreichenden Konsequenzen für viele wichtige Bereiche der neutestamentlichen Wissenschaft.
Bd. 2 enthält die Rekonstruktion des ältesten Evangeliums mit der Dokumentation der häresiologischen Zeugen und der handschriftlichen Varianten. Ein detaillierter Kommentar begründet jede einzelne Rekonstruktionsentscheidung und zeichnet die Überlieferungsschritte für einzelne Logien und Perikopen nach. Eine deutsche Übersetzung und eine Liste der Entsprechungen zwischen dem ältesten Evangelium und den Lukas-Varianten komplettieren den Band.
<?page no="0"?> T A N Z TEXTE UND ARBEITEN ZUM NEUTESTAMENTLICHEN ZEITALTER Ma hias Klinghardt Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien Band 2: Rekonstruktion | Übersetzung | Varianten 2., überarbeitete und erweiterte Auflage <?page no="1"?> Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien Band 2 <?page no="2"?> T A N Z TEXTE UND ARBEITEN ZUM NEUTESTAMENTLICHEN ZEITALTER 60/ 2 herausgegeben von Matthias Klinghardt, Günter Röhser, Stefan Schreiber und Manuel Vogel <?page no="3"?> Matthias Klinghardt Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien Band II: Rekonstruktion | Übersetzung | Varianten 2., überarbeitete und erweiterte Auflage <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb. dnb.de abrufbar © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0939-5199 ISBN 978-3-7720-8741-7 (Print) ISBN 978-3-7720-5741-0 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0126-0 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> Inhalt Bd. II: Rekonstruktion - Übersetzung - Varianten Anhang I Rekonstruktion: Der Text des ältesten Evangeliums ............................................ 525 Einführung .............................................................................................................................. 527 1. Grundlagen der Rekonstruktion ....................................................................................... 527 2. Hinweise zur Textgestaltung ............................................................................................. 528 3. Literatur ................................................................................................................................ 531 Rekonstruktion ....................................................................................................................... 533 *Titel ................................................................................................................................. 533 1,1-2,52 Prolog. Geburtsgeschichten des Täufers und Jesu ....................................... 534 *3,1a; Datierung. *4,31-37 Exorzismus in der Synagoge von Kapharnaum ............................................. 535 3,1b-4,13 Täuferüberlieferung. Taufe. Stammbaum. Versuchung ............................. 542 [ 4,14f Summar über Heilungen in Galiläa ] ................................................................ 543 *4,16-30 Ablehnung in Nazara ......................................................................................... 543 [ 4,38-39 Heilung der Schwiegermutter des Petrus ] ...................................................... 552 *4,40-41 Exorzismen am Abend. Messiasbekenntnis der Dämonen .......................... 554 *4,42-43 Jesu Rückzug in die Einsamkeit und Verweis auf seine Sendung ............... 555 *4,44 Summar - Verkündigung in den Synagogen von Galiläa ............................ 558 *5,1-11 Wunderbarer Fischzug. Berufung des Petrus und der Zebedaiden ............ 559 *5,12-16 Heilung des Aussätzigen. [ Rückzug Jesu ] ....................................................... 566 *5,17-26 Heilung des Gelähmten ..................................................................................... 572 *5, 27-32 Berufung des Levi. Zöllnermahl ....................................................................... 580 *5,33-39 Fastenfrage ........................................................................................................... 583 *6,1-5 Ährenraufen am Sabbat. {Sabbatarbeiter} ...................................................... 594 *6,6-11 Heilung der verkrüppelten Hand ..................................................................... 602 *6,12-16 Auswahl der Zwölf ............................................................................................. 610 *6,17-19 Abstieg vom Berg. Andrang der Menge .......................................................... 614 *6,20-26 Feldrede I: Makarismen und Weherufe .......................................................... 622 *6,27-38 Feldrede II: {Talio.} Feindesliebe. Zinsverbot. Barmherzigkeit ................... 630 *6,39-49 Feldrede III: Paränetische Sentenzen und Bildworte. [ Gleichnis vom Hausbau ] .................................................................................. 643 *7,1-10 Der Centurio in Kapharnaum und sein Sklave .............................................. 650 *7,11-17 Auferweckung des Jünglings in Nain .............................................................. 661 *7,17-23 Anstoß und Frage des Täufers .......................................................................... 664 *7,24-28 Belehrung über Johannes .................................................................................. 674 [ 7,29-35 Die Kinder der Weisheit ] .................................................................................. 678 *7,36-50 Salbung durch die Sünderin .............................................................................. 681 *8,1-3 Unterstützung durch vornehme Frauen ......................................................... 695 <?page no="6"?> VI Inhalt *8,4-17 Gleichnis vom Sämann. Parabeltheorie und Deutung .................................. 696 *8, 19-21 Jesu Mutter und seine Brüder ........................................................................... 703 *8,22-25 Stillung des Seesturms ........................................................................................ 707 *8,26-39 Austreibung des Dämons Legion ..................................................................... 711 *8,40-56 Tochter des Jairus. Blutflüssige Frau ............................................................... 719 *9,1-6 Aussendung der Zwölf ....................................................................................... 726 *9,7-9 Urteil des Herodes über Jesus und Johannes ................................................. 732 *9,10-17 Rückkehr der Apostel und Speisung der Fünftausend ................................. 736 *9,18-22 Bekenntnis des Petrus. Ankündigung von Leiden und Auferstehung ....... 742 *9,23-27 Die Bedingungen der Nachfolge ...................................................................... 753 *9,28-36 Verklärung Jesu ................................................................................................... 758 *9,37-45 Tadel der ungläubigen Generation. Exorzismus des epileptischen Knaben. Erneute Leidensankündigung .................................. 765 *9,45-50 Rangstreit der Jünger. Fremder Exorzist ......................................................... 774 *9,51-56 Mission in Samaria ............................................................................................. 782 *9,57-62 Nachfolgesprüche ............................................................................................... 789 *10,1-16 Aussendung der 72 Apostel .............................................................................. 798 *10,17-24 Rückkehr der Zweiundsiebzig. Dankgebet Jesu ............................................. 811 *10,25-37 Die Frage nach den Bedingungen des Lebens [ Samaritanergleichnis ] ....... 823 *10,38-42 Maria und Martha .............................................................................................. 836 *11,1-4 Vaterunser ........................................................................................................... 840 *11,5-13 Belehrung über das Beten .................................................................................. 859 *11,14-32 Exorzismus des stummen Dämons. Beelzebulkontroverse. Rückkehr der Dämonen. Seligpreisung der Hörer des Wortes Gottes. Verweigerung eines Zeichens. Zeichen des Jona ....................................... 866 *11,33-36 Das Auge als Leuchte des Körpers ................................................................... 877 *11,37-48 Pharisäerrede I: Reinheit. Verzehntung. Prophetenmord ............................ 880 *11,49-54 Pharisäerrede II: Sendung und Mord der Propheten und Apostel. Abschluss ............................................................................................................. 890 *12,1-12 Warnung vor der Heuchelei der Pharisäer. Aufforderung zu furchtlosem Bekenntnis ...................................................... 894 *12,13-21 WarnungvorHabgier.Derreiche Kornbauer .................................................. 904 *12,22-34 Vom Sorgen. Streben nach der Herrschaft Gottes ........................................ 908 *12,35-48 Belehrung über Wachsamkeit und Zuverlässigkeit ....................................... 917 *12,49-53 Frieden und Zwietracht ..................................................................................... 924 *12,54-59 Beurteilung dieses Kairos. Versöhnung mit dem Prozessgegner ................ 931 13,1-9 Mahnung zur Umkehr. Gleichnis vom Feigenbaum .................................. 936 *13,10-17 Heilung einer Abrahamstochter am Sabbat ................................................... 939 *13,18-21 Die Gleichnisse vom Senfkorn und vom Sauerteig ....................................... 942 *13,22-30 Die enge und die verschlossene Tür. Erste und Letzte im Reich Gottes 945 13,31-35 Warnung vor Herodes. Klage über Jerusalem .............................................. 952 *14,1-6 Heilung eines Wassersüchtigen während eines Sabbatmahls ...................... 955 *14,7-24 Paränesen zum Thema Mahleinladungen ...................................................... 961 <?page no="7"?> Inhalt VII *14,25-35 Bedingungen für das Jüngersein ...................................................................... 970 *15,1-32 Gleichnisse vom verlorenen Schaf und von der verlorenen Drachme. Gleichnis vom verlorenen Sohn ................................................................... 976 *16,1-13 Gleichnis vom betrügerischen Verwalter. Von der Zuverlässigkeit im Umgang mit Kleinem und Großem ........................................................... 988 *16,14-18 Gegen die Pharisäer: Geldgier. Gesetz und Propheten. Ehescheidung und Wiederheirat ...................................................................... 997 *16,19-31 Gleichnis von dem armen Lazarus und dem reichen Neves ...................... 1005 *17,1-10 Rede an die Jünger über Verführung und über die Macht des Glaubens 1012 *17,11-19 Heilung von zehn Aussätzigen ....................................................................... 1025 *17,2021 Vom Kommen der Gottesherrschaft ............................................................. 1030 *17,22-37 Von der Parusie des Menschensohns ............................................................ 1032 *18,1-8 Gleichnis von der bittenden Witwe ............................................................... 1038 *18,9-14 Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner im Tempel ....................................... 1040 *18,15-17 Segnung der Kinder .......................................................................................... 1043 *18,18-23 Die Frage nach den Bedingungen des ewigen Lebens ................................. 1045 *18,24-30 Reichtum und Nachfolge ................................................................................. 1054 18,31-34 Dritte Leidensankündigung .......................................................................... 1060 *18,35-43 Blindenheilung in Jericho ................................................................................ 1062 *19,1-10 Bekehrung des Zachäus ................................................................................... 1068 *19,11-28 Gleichnis von den anvertrauten Minen. Ankunft in Jerusalem ................ 1073 19,29-48 Auffindung des Reittiers. Akklamation am Ölberg. Dominus flevit. Tempelreinigung. [ Lehre im Tempel. Tötungswunsch ] ........................... 1080 *20,1-8 Vollmachtsfrage ................................................................................................ 1092 20,9-18 Gleichnis von den Weingärtnern ................................................................. 1096 *20,19 Verhaftungswunsch ......................................................................................... 1101 *20,20-26 Frage nach den Steuern für den Kaiser ......................................................... 1102 *20,27-40 Frage nach der Auferstehung .......................................................................... 1108 *20,41-44 Der Messias ist Davids Herr, nicht sein Sohn .............................................. 1117 *20,45-47 Warnung vor den Schriftgelehrten ................................................................ 1124 *21,1-4 Die Gabe der Witwe ......................................................................................... 1126 *21,5-19 Endzeitrede I ..................................................................................................... 1128 *21,20-36 Endzeitrede II .................................................................................................... 1135 *21,37-38 Abschließendes Summar: Lehre in Jerusalem .............................................. 1146 *22,1-6 Tötungsplan des Hohen Rats. Verrat des Judas ........................................... 1148 *22,7-13 Vorbereitung des Passamahls ......................................................................... 1152 *22,14-23 Das letzte Passamahl. Ankündigung des Verrats ......................................... 1155 *22,24-34 Mahlgespräche: Rangstreit der Jünger. Ankündigung der Verleugnung des Petrus .................................................. 1168 22,35-38 Stunde der Entscheidung. [ Zwei Schwerter ] .............................................. 1177 *22,39-46 Gebet am Ölberg ............................................................................................... 1179 *22,47-53 Begegnung mit dem Verhaftungstrupp ........................................................ 1183 *22,54-65 Verleugnung des Petrus. Verspottung Jesu durch die Wachen ................ 1190 <?page no="8"?> VIII Inhalt *22,66-71 Verhör vor dem Hohen Rat ............................................................................ 1197 *23,1-5 Prozess Jesu I: Überstellung an Pilatus. Verhör. Erstes Urteil des Pilatus 1202 *23,6-12 Prozess Jesu II: Überstellung an Herodes. Verhör. Verspottung .............. 1212 *23,13-25 Prozess Jesu III: Wiederholung der Unschuldserklärung Barabbas. Verurteilung ...................................................................................................... 1217 *23,26-32 Kreuzweg: Simon von Kyrene. Die Frauen von Jerusalem. Zwei Übeltäter 1224 *23,33-49 Kreuzigung und Tod Jesu ................................................................................ 1231 *23,50-56 Begräbnis Jesu ................................................................................................... 1250 *24,1-12 Auffindung des leeren Grabes. Engelbotschaft. Mitteilung an die Jünger 1260 *24,13-35 Erscheinung des Auferstandenen vor Emmaus/ Amaus und Kleopas ...... 1276 *24,36-49 Die Erscheinung des Auferstandenen vor den Jüngern ............................. 1294 *24,50-53 Sendung der Jünger. Abschied Jesu. [ Himmelfahrt. ] Rückkehr der Jünger nach Jerusalem ............................................................ 1312 Anhang II Das älteste Evangelium (Übersetzung) ................................................................... 1319 Anhang III Die Übereinstimmungen zwischen *Ev und den Varianten der Lk-Handschriften ............................................................................... 1363 Einführung ............................................................................................................................. 1365- Die Übereinstimmungen zwischen *Ev und den Varianten der kanonischen Lk-Handschriften ................................................. 1371- <?page no="9"?> Inhalt IX Inhalt Bd. I: Untersuchung Aus dem Vorwort zur 1. Auflage .............................................................................................. V Vorwort zur 2. Auflage ............................................................................................................ VII I. Fragestellung und Thema ............................................................................................... 1 § 1 Evangelienforschung im 19. Jh. ....................................................................................... 3 1. Der Diskurs über das Synoptische Problem .............................................................. 4 2. Der Diskurs über Lk und das marcionitische Evangelium .................................... 13 § 2 Fragestellung und These ................................................................................................... 20 1. Einige Ergebnisse und offene Fragen ........................................................................ 20 2. Thesen und Anlage der Untersuchung ..................................................................... 24 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche ................... 31 § 3 Die Bezeugung von *Ev durch die Häresiologen .......................................................... 33 1. Die Struktur der Vorwürfe gegen Marcion ............................................................ 33 2. Die Hauptzeugen für *Ev ............................................................................................ 46 3. Das methodische Problem der widersprüchlichen Bezeugungen ........................ 62 § 4 Umfang und Sprache des marcionitischen Evangeliums ........................................... 68 1. Nicht-lk Texte in Tertullians *Ev-Exemplar? .......................................................... 68 2. Die Sprache von Tertullians *Ev-Exemplar ............................................................. 74 § 5 Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung ......................................... 79 1. Die These eines Einflusses von *Ev auf den »Westlichen Text« ........................... 80 2. *Ev und der Text des ältesten, vorkanonischen Evangeliums ............................... 85 3. Zum Verhältnis von Überlieferungs- und Textgeschichte: Schlussfolgerungen ........................................................................................................ 102 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk ................................................. 125 § 6 Die Aporien der Lk-Priorität ........................................................................................ 127 1. Die Inkonsistenz der angeblichen Redaktion Marcions ...................................... 127 2. Der Umfang von *Ev und die »Überschüsse« in *Ev ........................................... 134 3. *Ev und das Problem des Kanons ........................................................................... 144 4. Der Ausweg aus den Aporien: Die *Ev-Priorität .................................................. 147 § 7 Der Anfang von *Ev und seine lk Bearbeitung .......................................................... 154 1. Der Anfang von *Ev: Bezeugung und literarische Struktur ................................ 154 2. Das redaktionelle Profil des Lk-Prologs (Lk 1,1-4) ............................................... 161 3. Die lk Redaktion der Nazarethperikope (Lk 4,16-30) .......................................... 173 <?page no="10"?> X Inhalt § 8 Das Ende von *Ev: Tradition und Redaktion in Lk 24 ............................................. 177 1. Bezeugung ................................................................................................................... 177 2. Das redaktionelle Konzept von Lk 24 ..................................................................... 179 § 9 Die *Ev-Priorität: Ergebnisse und weitere Fragen .................................................... 190 IV. Vom ältesten Evangelium zum kanonischen Vier-Evangelienbuch: Eine überlieferungs-geschichtliche Skizze ........................................................................ 197 § 10 *Ev und die Überlieferung der kanonischen Evangelien ......................................... 199 1. Offene Fragen zur Überlieferungsgeschichte der Evangelien ............................. 199 2. *Ev im Horizont der kanonischen Evangelien: Eine Arbeitshypothese ............ 206 § 11 Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk .................................................... 212 1. Auf dem Weg nach Jerusalem: *9,51-19,28 und Mk 8,(22-26)27-10,52 ............ 213 2. Mk 6,45-8,26: »Große Auslassung« oder »Große Ergänzung«? ......................... 221 3. Die »Mk-Q Overlaps«: Mk 9,41-10,12 und die Entsprechungen in *Ev ........... 233 4. Die *Ev-Priorität vor Mk: Anfang und Ende des Evangeliums .......................... 245 § 12 Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev ........................................... 253 1. Methodische Grundfragen ....................................................................................... 253 2. Die mt-lk »Minor Agreements« ............................................................................... 255 3. Die Redaktion des Materials der Doppelüberlieferung bei Mt und Lk ............. 267 4. Die Komposition der mt Vorgeschichte: Eine Problemanzeige ......................... 280 § 13 Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk ........................................ 297 1. Voraussetzungen und Fragestellung .......................................................................... 297 2. Lk-joh Übereinstimmungen gegen Mk: Passions- und Osterüberlieferung ..... 301 3. Die Abhängigkeit der joh Passionsüberlieferung von *Ev ................................... 309 4. Die Rezeption von Joh durch Lk ............................................................................. 314 5. *Ev und die kanonischen Evangelien ...................................................................... 332 § 14 Die Kanonische Redaktion der Evangelien ................................................................ 339 1. Methodische Voraussetzungen ................................................................................ 339 2. Die Kanonische Redaktion von *Mk ...................................................................... 341 3. Die Kanonische Redaktion von *Mt ........................................................................ 350 4. Joh als Kanonische Redaktion von *Joh ................................................................. 358 5. Die Entstehung des kanonischen Vier-Evangelienbuches .................................. 373 V. Ausblick .......................................................................................................................... 379 § 15 Antworten und Fragen .................................................................................................. 381 1. Die *Ev-Priorität vor Lk ............................................................................................ 381 2. Zur Überlieferungsgeschichte der Evangelien ....................................................... 393 3. Text- und Überlieferungsgeschichte: Die Kanonische Ausgabe ......................... 403 4. Datierungen ................................................................................................................ 406 5. Marcion, *Ev und die Kanonische Ausgabe .......................................................... 413 Das marcionitische Evangelium in der Diskussion: Ein Nachwort zur Methodologie .......................................................................................... 427 1. Das zentrale Problem: Die Bearbeitungsrichtung und ihre Implikationen................... 430 2. Einige Folgeprobleme .......................................................................................................... 449 <?page no="11"?> Inhalt XI Literatur .................................................................................................................................... 467 1. Bibliographische Abkürzungen .......................................................................................... 469 2. Quellen und Hilfsmittel ....................................................................................................... 470 3. Sekundärliteratur ................................................................................................................... 483 Abbildungen Abb. 1: Die synoptischen Hauptrelationen: *Ev - Lk und Mk - Mt ............................ 206- Abb. 2: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev und den Synoptikern .............. 208- Abb. 3: Die Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk ...................................................... 210- Abb. 4: Die Synoptischen Relationen nach der Zwei-Quellentheorie unter Berücksichtigung der Abhängigkeit Mk von Q ................................................. 243- Abb. 5: Die *Ev-Priorität vor Mk im Rahmen der synoptischen Beziehungen .......... 253- Abb. 6: Die Beziehungen zwischen *Ev, Mt und Lk im Rahmen der *Ev-Priorität .. 253- Abb. 7: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk ............................... 297- Abb. 8: Zwei-Quellentheorie und joh Passionsüberlieferung (Hans Klein) ............... 308- Abb. 9: Zwei-Quellentheorie und joh Passionsüberlieferung (Frank Schleritt) ......... 308- Abb. 10: Weitere Beziehungen zwischen den kanonischen Evangelien ........................ 332- Abb. 11: Die Überlieferungsgeschichte der Evangelien von *Ev bis Lk ......................... 339- Abb. 12: Die Kanonische Redaktion der Evangelien ........................................................ 341- Abb. 13: Protokanonische Sammlung (? ) und Kanonische Ausgabe der Evangelien 402- <?page no="13"?> Anhang I R ekonstruktion: Der Text de s älte sten Evang eliums <?page no="15"?> Einführung 1. Grundlagen der Rekonstruktion Die Rekonstruktion des Textes von *Ev setzt die zuvor (Bd. I) erarbeiteten Grundentscheidungen voraus, die jeweils zu vergleichen sind. Dies betrifft zunächst die Sprache: Wie sich gezeigt hatte (§ 4), war *Ev auf Griechisch verfasst. Die Annahme, dass Tertullian (auch) einen lateinischen *Ev-Text vorliegen hatte, hat sich als unwahrscheinlich erwiesen. Dagegen ist klar, dass Tertullian genau wie Epiphanius und Adamantius (zumindest auch) einen griechischen Text vor sich hatte. Daher muss ein griechischer Text das Ziel der Rekonstruktion sein. Die grundlegenden Informationen zum Text von *Ev stammen von den Häresiologen (s. o. § 3). Allerdings erlauben die häresiologischen Referate keine gleichermaßen vollständige und genaue Rekonstruktion: Dazu sind die Zeugnisse zu lückenhaft und zu widersprüchlich. Denn in den meisten Fällen - nämlich bei Tertullian und Adamantius - verhindert die Einbindung der Referenzen in einen größeren, von anderen (argumentativen bzw. rhetorischen) Gesichtspunkten bestimmten Zusammenhang eine genaue Rekonstruktion des Textes, weil Syntax und Formen des Ausgangstextes häufig nicht mehr erkennbar sind. Obwohl diese beiden Zeugen eine beachtliche Zahl an Informationen für eine Rekonstruktion liefern, bleiben Umfang und Genauigkeit einer solchen Rekonstruktion eingeschränkt. Obwohl Epiphanius in vielen Fällen genau zitiert, ist sein Zeugnis lückenhaft und auch in den Zitaten seiner Scholienliste nicht immer vollständig, so dass an dieser Stelle Lücken bleiben, deren Umfang jeweils im Einzelfall abzuwägen ist. Da *Ev in einer sehr engen literarischen Beziehung zum kanonischen Lk-Evangelium steht, dient der (kanonische) Lk-Text als Basis für die Rekonstruktion. Da es keine zwingenden Hinweise gibt, dass Lk und *Ev durch eine gemeinsame Vorlage miteinander verbunden waren, ist für diese Beziehung das Modell einer direkten Abhängigkeit einfacher und daher anderen Modellen vorzuziehen. Wie oben (§§ 6-8) grundsätzlich gezeigt wurde, verläuft die Bearbeitungsrichtung von *Ev zu Lk. Der im Folgenden rekonstruierte Text legt daher den kanonischen Lk-Text zugrunde und verzeichnet jeweils die für *Ev bezeugten Differenzen, die sich aus der Bezeugung durch die Häresiologen ergeben. Der Text, gegen den die für *Ev bezeugten bzw. als wahrscheinlich erwiesenen Varianten verzeichnet sind, ist der Text der kritischen Ausgaben (NA 27 / GNT 4 ), und zwar vor allem aus Gründen der Praktikabilität. Für die Rekonstruktion der unbezeugten Passagen, aber auch für die Einschätzung der widersprüchlichen Bezeugungen (vgl. § 3.3), ist das oben (§ 5) erläuterte Phänomen der Interferenz zwischen dem vorkanonischen und dem kanonischen <?page no="16"?> 528 Anhang I Text von großer Bedeutung. Aus diesem Grund sind die wichtigsten Varianten des kanonischen Lk-Textes der Erörterung jeweils vorangestellt. Für die Rekonstruktion des *Ev-Textes erfordert dies eine Argumentation auf mehreren Ebenen: (1) In erster Linie ist die Bezeugung bzw. Nichtbezeugung ganzer Perikopen bzw. größerer Sinneinheiten auszuwerten. Die Beobachtungen auf dieser Ebene ergeben zwar kein vollständiges Bild von *Ev, erlauben aber doch deutliche Erkenntnisse hinsichtlich des Umfangs, der Akoluthie und der narrativen Struktur von *Ev. Das auf diese Weise erhobene literarische Gesamtprofil von *Ev bildet die entscheidende Basis für die Bestimmung des genauen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen *Ev und Lk. (2) In zweiter Linie ist die Bezeugung von Einzelversen wichtig. Die diesbezüglichen Beobachtungen sind vor allem für die Evaluierung der konkreten redaktionellen Verschiebungen zwischen beiden Gesamttexten von Bedeutung. (3) Auf einer dritten Ebene werden die Abweichungen im genauen Wortlaut in den Blick genommen. Auch wenn diese Beobachtungen allein in der Regel kein begründetes Urteil über die Bearbeitungsrichtung zulassen, sind sie doch im Verbund der grundsätzlichen methodischen Überlegungen vor allem zu den Berührungen zwischen dem für *Ev bezeugten Text und den Varianten der kanonischen Handschriftenüberlieferung (insbesondere des sog. »Westlichen Textes«, s. o. § 5) geeignet, das grundsätzliche Urteil zu erhärten. Darüber hinaus liefern die textgeschichtlichen Überlegungen Anhaltspunkte für die Beurteilung derjenigen Passagen, die nicht für *Ev bezeugt sind. (4) Schließlich fließen auch überlieferungsgeschichtliche Beobachtungen in die Rekonstruktion ein. Denn die Plausibilität der Rekonstruktion von *Ev wächst in dem Maße, in dem sich der Überlieferungsgang in den verschiedenen (in Teil IV skizzierten) Rezeptions- und Redaktionsschritten wahrscheinlich machen lässt. 2. Hinweise zur Textgestaltung a. Zur Gestaltung des rekonstruierten Textes Die Unterscheidung dieser Begründungsebenen und ihrer methodischen Implikationen bestimmt die Anlage der Rekonstruktion: 1. In der Gestaltung der Perikopenüberschriften ist bereits der Umfang und das allgemeine Profil von *Ev erkennbar. Um die Übereinstimmung bzw. Differenz zwischen *Ev und Lk im Umfang deutlich zu machen, sind daher auch die als fehlend bezeugten bzw. die unbezeugten lk Perikopen ausgewiesen. 2. Unter der Perikopenüberschrift ist das Urteil über die betreffende Perikope kurz zusammengefasst. 3. Die typographische Gestaltung des rekonstruierten Textes reflektiert das Rekonstruktionsurteil: Wörtlich genau gesicherte Passagen sind im Text durch Fettdruck <?page no="17"?> Einführung 529 und Unterstreichung gekennzeichnet. Bezeugte, aber nicht wörtlich zitierte Passagen oder Lemmata erscheinen im rekonstruierten Text in Fettdruck (aber ohne Unterstreichung). In der Aufzählung der Testimonien (in Abschnitt A.) sind die Tertullianreferate auf dieselbe Weise gekennzeichnet. Passagen, die in *Ev enthalten waren, aber in Lk fehlen, sind durch geschweifte Klammern gekennzeichnet { }. Umgekehrt erscheinen Passagen, die in *Ev sicher gefehlt haben, in eckigen Doppelklammern und Petitdruck petit . In vielen Fällen fehlt eine direkte Bezeugung, so dass die Rekonstruktionsentscheidung von anderen Beobachtungen als der häresiologischen Bezeugung abhängig ist. Das Rekonstruktionsurteil besitzt dementsprechend eine geringere Sicherheit. Die unterschiedlichen Einschätzungen sind typographisch kenntlich gemacht: Unbezeugte Passagen, die sehr wahrscheinlich in *Ev enthalten waren, erscheinen ohne weitere Kennzeichnung in Normaldruck. Unbezeugte und wahrscheinlich fehlende Passagen stehen in einfacher eckiger Klammer und Petitdruck [ petit ] . In etlichen Fällen war es jedoch noch nicht einmal möglich, eine auch nur geringe Wahrscheinlichkeit zu etablieren. In diesen Fällen bleibt das Urteil offen, die entsprechenden Passagen sind durch ¿kursiv? gekennzeichnet. Diejenigen Passagen, für welche die häresiologische Bezeugung ein widersprüchliches Bild ergibt, sind durch † † gekennzeichnet. b. Zur Gestaltung des Apparats Der Textrekonstruktion ist ein in der Regel dreigeteilter Apparat zur Begründung der Rekonstruktionsentscheidungen beigegeben. Der erste Teil (A.) führt die Testimonien für *Ev an. Sie sind für Tertullian, Epiphanius und Adamantius vollständig erfasst, weitere Testimonien sind nur in Auswahl angegeben. Für Epiphanius werden die Belege aus der Scholienliste (Haer. 42,11,6 Schol. 1-77 [78]) angegeben, nur in den wenigen Fällen von abweichender Bezeugung auch die aus der Liste seiner Elenchi (42,11,15 Elench. 1-77 [78]). Für die Tertulliantestimonien sollte der jeweilige Argumentationszusammenhang erkennbar werden. Da diese Referenzen fast durchweg Teil eines längeren, argumentativen Kontextes sind, schien es sinnvoll, die auf den Text von *Ev referierenden Passagen im Druckbild hervorzuheben, und zwar, um die unterschiedliche Verlässlichkeit anzuzeigen, bei genereller Bezeugung durch Allusion usw. durch Fettdruck bzw. bei exakter Bezeugung durch wörtliches Zitat durch Fettdruck mit Unterstreichung. Bei den griechischen Testimonien (Epiphanius und Adamantius) wurde auf diese Kennzeichnung verzichtet, da die Entsprechungen zum rekonstruierten Text jeweils offensichtlich sind. Der Abschnitt B. bietet die wichtigsten textkritischen Informationen. Dabei handelt es sich um Varianten der kanonischen (Lk-)Textüberlieferung, die mit der <?page no="18"?> 530 Anhang I direkten Bezeugung für *Ev durch die Häresiologen zusammengehen oder diese ergänzen. Als methodische Basis für diesen Vergleich dient wieder der Lk-Text von NA 27 / GNT 4 . Im Unterschied zu der Variantenliste in Anhang III, die Varianten nur zu denjenigen Passagen bietet, die von den Hauptzeugen referiert werden, sind in diesen Abschnitten auch solche Varianten aufgeführt, für die es keine direkte Bezeugung gibt. Diese Varianten sind durch den Hinweis »*Ev non test.« gekennzeichnet. Die Aussagekraft dieser (Lk-)Varianten für die Rekonstruktion von unbezeugten (*Ev-) Passagen ist in § 5 diskutiert und genauer begründet. Der dritte Abschnitt C. bietet eine kritische Würdigung und Begründung der Rekonstruktionsentscheidungen. Dieser Abschnitt argumentiert in der Regel auf den genannten verschiedenen Ebenen, die auch die unterschiedliche Zuverlässigkeit des Urteils reflektieren. Die Diskussion beginnt mit der Besprechung der Testimonien und der mutmaßlichen Differenzen zwischen dem kanonischen Lk und *Ev. Sodann werden - vor allem bei fehlender direkter Bezeugung - auch die Varianten der Handschriftenüberlieferung besprochen, sofern sie als Zeugnis für *Ev verstanden werden können. In einem dritten Schritt werden außerdem überlieferungsgeschichtliche Beobachtungen diskutiert. Die daraus resultierenden Beobachtungen zur Überlieferungsgeschichte stützen in der Summe das oben skizzierte (§§ 10-14) Modell zur kanonischen Evangelienüberlieferung. Umgekehrt erlaubt dieses Modell dann jedoch auch im Einzelfall die Plausibilisierung von Rekonstruktionsentscheidungen. c. Übersicht: Siglen und typographische Gestaltungsmerkmale fett durch die Häresiologen wörtlich genau bezeugt (im rekonstruierten Text und bei den Tertulliantestimonien im Abschnitt A.) fett durch die Häresiologen sinngemäß bzw. mit denselben Wörtern bezeugt, aber nicht in exakt derselben Form (im rekonstruierten Text und bei den Tertulliantestimonien im Abschnitt A.) normal durch die Häresiologen unbezeugt, aber vermutlich vorhanden ¿kursiv? unbezeugt, ein Urteil ist nicht möglich { } für *Ev bezeugt (oder sehr wahrscheinlich), aber nicht in Lk enthalten [ petit ] unbezeugt, wahrscheinlich in *Ev nicht vorhanden petit durch die Häresiologen als fehlend bezeugt; in *Ev sicher nicht vorhanden ↑ ↓ unterschiedliche Stellung in *Ev bzw. in Lk † † für *Ev durch die Häresiologen widersprüchlich bezeugt: Abweichungen der *Ev-Referate von Tertullian, Epiphanius und Adamantius || ist parallel zu (Zeichen für synoptische Parallelen) <?page no="19"?> Einführung 531 ≠ entspricht nicht, hat eine andere Formulierung. Vor allem bei synoptischen Parallelen sowie den (mt-lk) »Minor Agreements« ~ Geringfügige Umstellung entspricht in etwa. Vor allem bei synoptischen Parallelen sowie den (mt-lk) »Minor Agreements« ÷ fehlt, hat keine Entsprechung. Vor allem bei synoptischen Parallelen sowie den (mt-lk) »Minor Agreements« ♦ trennt die Bezeugung einzelner Verse (im Testimonienabschnitt A.) ¦ trennt mehrere Zeugen zu einem Vers (im Testimonienabschnitt A.) ● trennt (im Textkritikabschnitt B.) einzelne Lesarten innerhalb einer Perikope. (Diese Verwendung unterscheidet sich also vom App. von NA 27 ) M steht für »Mehrheitstext« und bezeichnet in Abschnitt B. (Textkritik) alle weiteren (nicht einzeln aufgeführten) handschriftlichen Zeugen des kanonischen Textes. M hat also eine rein statistische, aber keine textgeschichtlich-erklärende Funktion (und ist deshalb auch nicht mit dem »Byzantinischen Text« identisch). 3. Literatur In Anbetracht der grundsätzlich neuen Ausrichtung der folgenden Rekonstruktion des Textbestandes von *Ev ist es nicht sinnvoll, an allen Stellen Abweichungen und Übereinstimmungen mit anderen Rekonstruktionsvorschlägen zu verzeichnen. Vor allem sind die unterschiedlichen Begründungen für die stark divergierenden Vorschläge aus der Debatte der 1850-er Jahre nicht im Einzelnen aufgeführt: Dafür liegen die methodischen Prämissen viel zu weit auseinander. Von den späteren Rekonstruktionen sind nur folgende gelegentlich erwähnt: B E D UHN , J., The First New Testament. Marcion’s Scriptural Canon, Salem (OR), 2013 H ARNACK , A. VON , Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche. Neue Studien zu Marcion (TU 45), Leipzig 2 1924: Beilage IV, 176*-254* R OTH , D. T., The Text of Marcion’s Gospel (NTTSD 49), Leiden - Boston 2015 T SUTSUI , K., Das Evangelium Marcions. Ein neuer Versuch der Textrekonstruktion, AJBI 18 (1992), 67-132 Z AHN , T H ., Geschichte des neutestamentlichen Kanons I/ II, Erlangen - Leipzig 1889/ 1892 Diese Titel werden jeweils nur mit Vf.-Namen und Seitenzahl zitiert (z. B. H ARNACK 204*). Die Auswahl ist an der forschungsgeschichtlichen Wirkung orientiert, und das heißt in erster Linie an Harnacks Rekonstruktion. Zahns ältere Rekonstruktion findet gelegentlich Erwähnung, weil sie eine wesentliche Vorstufe von Harnacks Arbeit darstellt: Harnack hatte in großem Umfang auf Zahn zurückgegriffen und <?page no="20"?> 532 Anhang I ihm - trotz aller anderen Unterschiede, die sie trennten - in der Rekonstruktion des marcionitischen Evangeliums insgesamt ein »genügend« attestiert. 1 Mit Tsutsuis Rekonstruktion liegt ein neuerer Versuch vor, der in dem vorsichtigen Abrücken von Harnack charakteristisch für die neuere Marcion-Forschung ist. Aus Gründen, die im Nachwort genauer erläutert sind, wird auf die neueren Rekonstruktionen von BeDuhn und Roth nur sehr gelegentlich hingewiesen. Ebenfalls abgekürzt zitiert werden die folgenden Standardwerke zu den »Minor Agreements«: E NNULAT , A., Die »minor agreements«. Untersuchungen zu einer offenen Frage des synoptischen Problems, Tübingen 1994 = E NNULAT , Minor Agreements N EIRYNCK , F R . (ed.), The Minor Agreements of Matthew and Lk Against Mk with a Cumulative List, Leuven 1974 = N EIRYNCK , Minor Agreements (1974) N EIRYNCK , F R ., The Minor Agreements in a Horizontal-Line Synopsis, Leuven 1991 = Neirynck, Minor Agreements (1991) Kommentare zu biblischen Schriften werden nur mit dem Namen des Vf. und der Abkürzung der kommentierten Schrift zitiert (z. B. W OLTER , Lk). Die vollständigen Angaben finden sich im Literaturverzeichnis. ______________________________ 1 H ARNACK 178* (vgl. 249*). <?page no="21"?> Rekonstruktion *Titel Bezeugt. Als superscriptio wahrscheinlich, möglicherweise auch als subscriptio. ΕΥΑΓΓΕΛΙΟΝ A. *Titel: Tert. 4,2,1: Transeo nunc ad evangelii, sane non Iudaici sed Pontici, interim adulterati demonstrationem, praestructuram ordinem quem aggredimur. ¦ 4,2,3f: Contra Marcion evangelio, scilicet suo, nullum adscribit auctorem, quasi non licuerit illi titulum quoque affingere, cui nefas non fuit ipsum corpus evertere […] (4) Porro Lucas non apostolus sed apostolicus, non magister sed discipulus, utique magistro minor, certe tanto posterior quanto posterioris apostoli sectator, Pauli sine dubio, ut et si sub ipsius Pauli nomine evangelium Marcion intulisset, non sufficeret ad fidem singularitas instrumenti destituta patrocinio antecessorum. ¦ Tert. 4,43,7: Et Marcion quaedam contraria sibi illa, credo industria, eradere de evangelio suo noluit, ut ex his quae eradere potuit nec erasit, illa quae erasit aut negetur erasisse aut merito erasisse dicatur. ¦ Adam. 1,8 (808d/ e): »(Megethius) Ich werde dir zeigen, dass es (nur) ein Evangelium gibt! - (Adamantius) Wer ist es, der dieses Evangelium geschrieben hat, von dem du sagst, dass es (nur) eines ist? - (Meg.) Christus. - (Ad.) Der Herr selbst hat geschrieben, dass er gekreuzigt wurde und am dritten Tag auferstand? Solches schreibt er? - (Meg.) Der Apostel Paulus hat das hinzugefügt.« ¦ Epiph. 42,10,2 (H OLL 106,10ff): (Ich habe) »die Bücher des zuvor Erwähnten […] 1 selbst zur Hand genommen, nämlich das von ihm so genannte ›Evangelium‹ (τό τε παρ’ αὐτῷ λεγόμενον εὐαγγέλιον) und das bei ihm ›Apostolikon‹ geheißene Buch.« ¦ Ibn an-Nadīm, Fihrist (F LÜGEL 160): »Marcion verfasste ein Buch, welches er ›Evangelium‹ nannte«. C. *Ev trug mit großer Sicherheit den einfachen Titel »Evangelium«. Da sich keine Handschriften erhalten haben, ist unklar, ob dieser Titel dem Text als superscriptio oder als subscriptio beigegeben war. Aus Gründen der Einfachheit und wegen der Analogien in den kanonischen Evangelienhandschriften ist der Titel hier (nur) als superscriptio angenommen. 1. Die deutlichsten Belege für den Titel »Evangelium« finden sich in den Zeugnissen des Epiphanius und im Kitab al-Fihrist des Ibn an-Nadīm aus dem 10. Jh.: Sie belegen den Titel direkt. Auch Tertullian referiert auf *Ev als auf »sein Evangelium« oder erwähnt nur einfach, »das Evangelium«, wenn er auf *Ev verweist. 2. Darüber hinaus zeigen die häresiologischen Diskussionen um die Autorschaft, dass dieser Titel nicht weiter durch einen Urheber oder durch einen Verfasser gekennzeichnet war. Diese Argumentationen setzen erkennbar die kanonischen Evangelientitel mit der Angabe der Gewährsleute voraus 2 und vermissen eine entsprechende ______________________________ 1 Der Relativsatz ἃς κέκτηται ist möglicherweise ganz zu emendieren, vgl. U. B. S CHMID , Marcion und sein Apostolos, Berlin - New York 1995, 151 Anm. 4 (vgl. dazu o. Bd. I, § 3, S. 52 Anm. 59). 2 Zu den Evangelientiteln in der kanonischen Handschriftenüberlieferung vgl. D. T ROBISCH , Die Endredaktion des Neuen Testaments, Fribourg - Göttingen 1996, 59 Anm. 154; M. H ENGEL , Die <?page no="22"?> 534 Anhang I Titel Spezifizierung: Sie werten das Fehlen als Makel. Insbesondere Adamantius hat dieses Element dadurch aufgegriffen, dass er den Marcioniten Megethius behaupten lässt, der Verfasser des Evangeliums sei »Christus«. Diese Behauptung wird dann von Adamantius ad absurdum geführt, weil der Verfasser dieses Evangeliums ja kaum von seinem eigenen Tod und seiner Auferstehung berichtet haben könne. Auf diese Weise zwingt er Megethius zu dem Eingeständnis, dass »der Apostel Paulus« diese Passagen nachgetragen habe. Das ist natürlich der Überzeugungskraft seiner Position nicht gerade förderlich. Auch wenn diese Argumentation fiktiv ist, zeigt sie zweierlei: *Ev enthielt keine Verfasserangabe. Die häresiologischen Autoren haben diesen Umstand als Argument gegen Marcion und die Ursprünglichkeit seines Evangeliums ins Feld geführt. 3 Allerdings war eine solche Verfasserangabe überhaupt nur denkbar, wenn es einen Titel »Evangelium« gab. Adamantius’ literarischer Darstellung zu Folge ist der Marcionit Megethius seinem Gesprächspartner auf den Leim gegangen, wenn er »Christus« als den entscheidenden Inhalt des Textes mit seinem Urheber verwechselt. Diese Verwechslung setzt die etwa aus der Formulierung Mk 1,1 εὐαγγέλιον Ἰησοῦ Χριστοῦ bekannte unscharfe Bestimmung dieses Syntagmas voraus, bei der nicht unmittelbar ersichtlich ist, ob Ἰησοῦ Χριστοῦ ein Gen. subj. oder ein Gen. obj. ist. 3. Für die Überlieferungsgeschichte ist dieser Befund aufschlussreich, weil er zeigt, dass nicht Mk der »Erfinder« des Titels »Evangelium« ist. Mk 1,1 (oder genauer: schon die vorkanonische Formulierung *Mk 1,1) hat diesen Titel und seine semantische Ambiguität aus *Ev rezipiert. Aber die bei *Ev eher zufällige Zweideutigkeit, ob nämlich Jesus Christus eher Inhalt oder eher Verkündiger des »Evangeliums« sei, ist bei Mk zu einem theologischen Programm ausgebaut, wie die Rahmung der Eingangssequenz Mk 1,1-15 durch den Begriff zeigt. 1,1-2,52: Prolog. Geburtsgeschichten des Täufers und Jesu Zweifelsfrei als fehlend bezeugt: Nicht in *Ev vorhanden, erst durch die lk Redaktion eingefügt. A. 1,1-2,52 : Irenaeus, Haer. 1,27,2: »Und außerdem schnitt er (sc. Marcion) am Lukasevangelium herum und ließ alles weg, was darin über die Abstammung des Herrn steht (omnia quae sunt de generatione domini conscripta auferens).« ¦ Hippolyt, Refut. 7,31,5 (s. gleich zu *3,1a; ______________________________ Evangelienüberschriften, Heidelberg 1984. Die am häufigsten bezeugte Form ist der lange Titel εὐαγγέλιον κατὰ Μαθθαῖον usw. Im Sinaiticus ( א ) und im Vaticanus (B) sind die Titel erst von zweiter Hand nachgetragen, und zwar in א in der superscriptio in der langen, in der subscriptio dagegen in der kurzen Form (κατὰ Μαθθαῖον); die subscriptio fehlt in א zu Mt. Drei alte Papyri haben (Reste der) langen Titel: P 66 für Joh; P 75 für Lk und Joh; P 64 für Mt. 3 S. dazu o. Bd. I, S. 35f. <?page no="23"?> 1,1-2,52 Rekonstruktion 535 *4,31-37) ¦ Origenes, In epist. Tit. (L OMMATZSCH 286): »quique neque de virgine natum fatentur, sed triginta annorum virum apparuisse in Iudaea.« ¦ Epiph. 42,11,4-6: »(4) Denn gleich am Anfang hat er (sc. Marcion) die ganze Abhandlung bei Lukas am Anfang weg geschnitten, also da, wo es heißt ›Nachdem es viele unternommen hatten‹ sowie das über Elisabeth; über die Verkündigung des Engels an die Jungfrau Maria; über Johannes und Zacharias; über die Geburt in Bethlehem, die Genealogie und den Gegenstand der Taufe. (5) Dies alles schnitt er weg und überging es (ταῦτα πάντα περικόψας ἀπεπήδησεν) und stellte folgendes an den Anfang des Evangeliums: ›Im fünfzehnten Jahr des Tiberius Caesar‹ und so weiter. (6) Von da an also beginnt er, aber er bleibt wieder nicht bei der Reihenfolge (ἐντεῦθεν οὖν οὗτος ἄρχεται καὶ οὐ καθ’ εἱρμὸν πάλιν ἐπιμένει). Vielmehr schneidet er, wie gesagt, manches weg, anderes stellt er kopfüber um (τὰ μὲν ὡς προεῖπον παρακόπτει, τὰ δὲ προστίθησιν ἄνω κάτω) und schreitet nicht in der gewohnten Ordnung fort (οὐκ ὀρθῶς βαδίζων), sondern schweift überall leichtsinnig umher.« ¦ Hieronymus, Ctr. Ioh. Hier. 34 (CCL 79A, 66): »numquid iuxta Marcionem dicere possumus quod et nativitas eius in phantasmate fuerit, quia contra naturam qui tenebatur elapsus est.« C. Lk 1f haben zweifellos in *Ev gefehlt, wie die genauen Auslassungsnotizen bei Irenaeus, Hippolyt, Epiphanius und Hieronymus zeigen. *3,1 ist als Beginn von *Ev außer von Epiphanius noch von anderen Quellen bezeugt (s. gleich zu *3,1a; *4,31-37). *3,1a ↑ 4,31-35 ↓ 36f: Datierung. Exorzismus in der Synagoge von Kapharnaum Der Anfang von *Ev ist zweifelsfrei bezeugt, auch wenn der genaue Wortlaut von *3,1a unklar bleibt. Umfangreiche Erweiterungen und Umstellungen durch die lk Redaktion. 3,1 Ἐν ἔτει δὲ πεντεκαιδεκάτῳ τῆς ἡγεμονίας Τιβερίου Καίσαρος [ ἡγεμονεύοντος Ποντίου Πιλάτου τῆς Ἰουδαίας ] καὶ τετρααρχοῦντος τῆς Γαλιλαίας Ἡρῴδου, Φιλίππου δὲ τοῦ ἀδελϕοῦ αὐτοῦ τετρααρχοῦντος τῆς Ἰτουραίας καὶ Τραχωνίτιδος χώρας, καὶ Λυσανίου τῆς Ἀβιληνῆς τετρααρχοῦντος 4,31 [ καὶ ] {ὁ Ἰησοῦς} κατῆλθεν εἰς a Καϕαρναοὺμ πόλιν τῆς Γαλιλαίας b {τὴν παραθαλάσσιον ἐν ὁρίοις Ζαβουλὼν καὶ Νεϕθαλίμ·} b καὶ ἦν διδάσκων αὐτοὺς ἐν τοῖς σάββασιν· 32 καὶ c {πάντες} ἐξεπλήσσοντο ἐπὶ τῇ διδαχῇ αὐτοῦ, ὅτι ἐν ἐξουσίᾳ ἦν ὁ λόγος αὐτοῦ. 33 καὶ ἐν τῇ συναγωγῇ ἦν ἄνθρωπος ἔχων d πνεῦμα δαιμόνιον ἀκάθαρτον d , καὶ ἀνέκραξεν ϕωνῇ μεγάλῃ, 34 e ῎Εα τί ἡμῖν καὶ σοί f {ἐστιν}, Ἰησοῦ Ναζαρηνέ; ἦλθες ἀπολέσαι ἡμᾶς; οἶδά g σε τίς εἶ, ὁ ἅγιος τοῦ θεοῦ. 35 καὶ ἐπετίμησεν αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς λέγων, Φιμώθητι καὶ ἔξελθε ἀπ’ αὐτοῦ. καὶ ῥίψαν αὐτὸν τὸ δαιμόνιον εἰς τὸ μέσον h ἀνακραυγάσαν τε h ἐξῆλθεν ἀπ’ αὐτοῦ μηδὲν βλάψαν αὐτόν. 36 καὶ ἐγένετο θάμβος i μέγας ἐπὶ πάντας, καὶ συνελάλουν πρὸς ἀλλήλους λέγοντες, Τίς ὁ λόγος οὗτος, ὅτι ἐν ἐξουσίᾳ καὶ δυνάμει ἐπιτάσσει τοῖς ἀκαθάρτοις <?page no="24"?> 536 Anhang I 3,1a; 4,31-37 πνεύμασιν, καὶ ἐξέρχονται; 37 καὶ k ἐξῆλθεν ἡ ἀκοὴ i περὶ αὐτοῦ εἰς πάντα τόπον τῆς περιχώρου. A. *3,1: Epiph. 42,11,5: (… ταῦτα πάντα περικόψας ἀπεπήδησεν) καὶ ἀρχὴν τοῦ εὐαγγελίου ἔταξε ταύτην Ἐν τῷ πεντεκαιδεκάτῳ ἔτει Τιβερίου Καίσαρος καὶ τὰ ἑξῆς. ¦ Tert. 1,15,1: »Aber wie geschieht es nun, dass der Herr im 15. Jahr des Tiberius Cäsar offenbart wurde, von diesem Sachverhalt bis zum 15. Jahr des Kaisers Severus 1 aber überhaupt nichts bekannt wurde (at nunc quale est ut dominus anno xv Tiberii Caesaris revelatus sit, substantia vero anno xv iam Severi imperatoris nulla omnino comperta sit)? « ¦ Tert. 1,19,2: »Im 15. Jahr des Tiberius ist Christus Jesus gewürdigt worden, vom Himmel herabzuströmen, ein heilschaffender Geist (anno xv Tiberii Christus Iesus de caelo manare dignatus est, spiritus salutaris). In welchem Jahr des älteren Antoninus der Pestgestank von Marcions Heil, der dieser Ansicht war, von seinem Pontus her ausgeatmet wurde, habe ich zu untersuchen mir die Mühe geschenkt.« ¦ Adam., Dial. 2,3 (823b): (Ad.) πότε κατῆλθε σῶσαι τοὺς ἀνθρώπους; (Mark.) καθὼς περιέχει τὸ εὐαγγέλιον ὅτι ἐπὶ Τιβερίου Καίσαρος, ἐπὶ τῶν χρόνων Πιλάτου. ¦ Adam., Dial. 2,19 (869a): ἐπὶ Τιβερίου κατελθὼν ἐϕάνη ἐν Καϕαρναούμ. ¦ Hippolyt, Refut. 7,31,5 (GCS 26, 217): »… Marcion lehnte die Geburt unseres Heilands ganz und gar ab; er hielt es für widersinnig, dass der Logos, der die Liebe - also: das Gute - unterstützen soll, als Gebilde des verderblichsten Streits entstanden sein sollte. Vielmehr sei er ohne Geburt (χωρὶς γενέσεως) im 15. Jahr der Herrschaft des Kaisers Tiberius von oben herabgekommen (κατεληλυθότα αὐτὸν ἄνωθεν) - als Mitte zwischen dem Guten und dem Schlechten -, um in den Synagogen zu lehren.« ♦ *4,31: Tert. 4,7,1f: »Er (= Marcion) behauptet, dass dieser (= Jesus) im 15. Jahr des Tiberianischen Prinzipats in die galiläische Stadt Kapharnaum herabgekommen sei wie aus dem Himmel des Schöpfers, in den er zuvor aus seinem eigenen Himmel herabgekommen war (anno quintodecimo principatus Tiberiani proponit eum descendisse in civitatem Galilaeae Capharnaum, utique de caelo creatoris, in quod de suo ante descenderat). Wäre es da nicht an der Reihe gewesen, dass zuvor beschrieben wird, wie er aus seinem Himmel in den des Schöpfers herabgekommen ist? Denn warum sollte ich dieses nicht tadeln, was die Treue gegenüber einer ordentlichen Erzählung nicht erfüllt, sondern immer in Lüge abgleitet? Was ich schon an anderer Stelle ausgeführt habe, sei noch einmal in aller Deutlichkeit gesagt: Ob er denn, als er durch den (Himmel des) Schöpfer(s) herabkam - und zwar in Gegensatz zu ihm! - von diesem die Erlaubnis dazu erhalten und in gleicher Weise von dort auf die Erde hinübergeschickt werden konnte? (2) Jetzt aber verlange ich, wenn ich einmal davon ausgehe, dass er herabgestiegen sei, auch die übrige Reihenfolge seines Abstiegs zu wissen. Denn es macht keinen Unterschied, ob irgendwo das Wort ›erscheinen‹ benutzt wurde. Das Wort ›erscheinen‹ (apparere) deutet das plötzliche und unerwartete Sichtbarwerden an, wenn jemand einmal die Augen auf etwas richtet, das unverzüglich erscheint. Das Herabkommen aber kann man sehen, während es geschieht, und es zieht die Augen auf sich. Aus diesem Umstand ergibt sich eine Reihenfolge (ordo) und nötigt folglich danach zu fragen, mit welchem Aussehen, in welcher Anordnung, mit wie viel Drang oder Mäßigung, auch, zu welcher Tages- oder Nachtzeit er denn herabgekommen sei. Außerdem: Wer ihn denn herabkommen sah, wer es berichtet hat, wer diesen Sachverhalt bestätigt hat, der ja nicht einmal für den einfach zu glauben ist, der ihn bestätigen kann.« ¦ Tert. 4,7,4f: »Denn Marcion hat dies (sc. Mt 5,17) als Interpolation gestrichen (erasisse). (5) Aber vergeblich wird er leugnen, dass Christus etwas (mit Worten) gesagt habe, was er sogleich teilweise ______________________________ 1 Das 15. Jahr der Herrschaft des Sept. Severus ist 207 n. Chr., also das Jahr der Abfassung von Adv. Marc. <?page no="25"?> 3,1a; 4,31-37 Rekonstruktion 537 tut. Denn inzwischen erfüllt er die Prophezeiung (sc. Jes 9,1f LXX) in Bezug auf den Ort: Vom Himmel sogleich in die Synagoge (de caelo statim ad synagogam). ♦ *4,31b.32: Tert. 4,7,5-7: de caelo statim ad synagogam … (6) ecce venit in synagogam; certe ad oves perditas domus Israelis. Ecce doctrinae suae panem prioribus offert Israelitis; certe ut filios praefert … (7) … Sed etsi passim synagoga adiretur, non tamen ad docendum nisi ab optime cognito et explorato et probato, iam pridem in hoc ipsum vel aliunde commendato cum hoc munere. Stupebant autem omnes ad doctrinam eius. ♦ *4,33f: Tert. 4,7,9: Atque ita aut eius erit agnoscendus secundum quem docuit, aut praevaricator iudicandus si secundum eum adversus quem venerat docuit. Exclamat ibidem spiritus daemonis, Quid nobis et tibi est Iesu? venisti perdere nos: scio qui sis, sanctus dei. ¦ Tert. 5,6,7: spiritus nequam sciebat eum sanctum dei esse et Iesum vocari et in perditionem eorum venisse. ♦ *4,35: Tert. 4,7,13: Ut Iesum et a daemone non alium doceamus agnitum et a semetipso non alium confirmatum quam creatoris. Atquin, inquis, increpuit illum Iesus. B. a (4,31) καϕαρναουμ: Tert Adam P 4 א B D W 33 372 aur b c d e f ſſ 2 g 2 gat l r 1 vg Tat pers sa bo armen georg; καϕερναουμ: X ¦ καπερναουμ: A C L Θ (Ψ) 0102 f 1.13 q M ● b (4,31) την παραθαλασσιον εν οριοις Ζαβουλων και Νεϕθαλιμ: D d (vgl. Mt 4,13) ¦ om it M (*Ev non test.) ● c (4,32) παντες/ omnes: add Tert r 1 sy h sa ¦ παντες/ omnes: om a aur b c d e f ſſ 2 l q M ● d (4,33) πνευμα δαιμονιον ακαθαρτον: D 579 Tat arab(1 ms) ; δαιμονιον ακαθαρτον: a b d e f ſſ 2 g 1 gat l q r 1 vg ¦ δαιμονιου ακαθαρτου: M (*Ev non test.) ● e (4,34) εα: om Tert D 33 2766 c a aur b c d e f ſſ 2 g 1 l q r 1 vg mss sy s sa bo ¦ add M it ● f (4,34) εστιν/ est: add Tert a c r 1 ¦ om aur b d e f ſſ 2 l q M ● g (4,34) σε/ te: om Tert 1654 r 1 August (Serm. 53,11; PL 38, 369) Hilar (Ps. 67,19; CSEL 22, 294) Quodvultdeus (Promiss. 3,1; SC 102, 500) ¦ add a aur b c d e f ſſ 2 i l q M ● h (4,35) ανακραυγασαν τε: D d; και κραξαν: 903 c ¦ om it M (*Ev non test.) ● i (4,36) μεγας: D b d r 1 g 1 gat sy p Tat arab.pers bo mss ¦ om a aur c e f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● k (4,37) εξηλθεν η ακοη: D d ¦ εξεπορευετο ηχος: it M (*Ev non test.). C. Der Anfang von *Ev ist von allen Zeugen sehr genau beschrieben und gut bezeugt. Die folgenden Beobachtungen sind wichtig: 1. Alle Zeugen stimmen darin überein, dass *Ev mit der Datierung *3,1a einsetzte. Das heißt zunächst, dass der gesamte Stoff von Lk 1f komplett fehlte. Epiphanius führt dies sehr genau aus und zählt die bei *Ev fehlenden Perikopen im Einzelnen exakt auf (42,11,4-6, vgl. o. bei 1,1-2,52). Aber auch die anderen Zeugen belegen diesen Anfang. 2. Unklar ist der Wortlaut der Datierung in *3,1a. Tertullians Referate dieses Verses im ersten Buch (1,15,1; 1,19,2) nennen nur das 15. Jahr des Kaisers Tiberius. Dass damit das 15. Jahr der Herrschaft des Tiberius gemeint ist, ist so eindeutig, dass Tertullian es an diesen beiden Stellen aus Buch 1 ebenso wenig ausführen musste wie Epiphanius und Hippolyt. Diese Datierungen sind demnach als abkürzende Hinweise auf die genauere, dem kanonischen Wortlaut entsprechende Formulierung ἐν ἔτει δὲ πεντεκαιδεκάτῳ τ ῆ ς ἡ γ ε μ ο ν ί α ς Τιβερίου Καίσαρος zu <?page no="26"?> 538 Anhang I 3,1a; 4,31-37 verstehen, die Tertullian im Zusammenhang seiner Behandlung von *Ev korrekt referiert. 2 Unklar ist außerdem, ob (die Statthalterschaft des) Pilatus noch Teil der Datierung *3,1 war: Lediglich Adam. erwähnt sie (2,3), außerdem Irenaeus in einer sehr allgemeinen Referenz. 3 Die Schwierigkeiten, die diese beiden Zeugnisse jeweils aufwerfen, lassen es geraten erscheinen, die Erwähnung des Pilatus auf einen Einfluss des kanonischen Textes zurückzuführen. Falls Pilatus doch erwähnt war, dann fehlt dieser Referenz höchstwahrscheinlich das (von Irenaeus erwähnte) Nomen gentile »Pontius«: Der Gentilname Pontius findet sich in der Kanonischen Ausgabe des NT nur in solchen Texten, die mit allergrößter Wahrscheinlichkeit erst auf der Ebene der Endredaktion entstanden. 4 Demnach geht der sechsfache Synchronismus Lk 3,1f auf die lk Redaktion zurück, die Datierung in *Ev enthielt mit großer Wahrscheinlichkeit nur das »15. Jahr der Herrschaft des Kaisers Tiberius«. 3. Diese Datierung in *3,1a bezog sich auf den Beginn der Wirksamkeit Jesu in Kapharnaum (*4,31ff). Unklar ist dabei, auf welche Weise Jesus in die Erzählung von *Ev eingeführt wurde und welches Verb hier zu substituieren ist. Tertullian referiert den Anfang von *Ev an verschiedenen Stellen unterschiedlich: Der Beginn seines fortlaufenden Referats in 4,7,1f sagt nur, dass Jesus »herabgekommen« sei und deutet dieses Herabkommen als eine Erscheinung vom Himmel her. Dieses Verständnis des Herabkommens im Sinn einer Offenbarung zeigt sich dann auch in den weniger genauen Referaten in 1,151 (revelatus est) bzw. 1,19,2 (de caelo manare dignatus est). Ganz analog dazu erwähnt Adamantius einmal nur ein unbestimmtes »Herabkommen«, 5 versteht dies aber ein Stück weiter als Erscheinung. 6 Hippolyt wiederum erwähnt, dass Jesus »von oben herabgekommen« sei. 7 Die strittige Frage ist demnach, ob die Einführung Jesu in die *Ev-Erzählung nur sein Herabkommen erwähnte, oder ob schon *Ev eine offenbarungstheologische Interpretation - also sein Erscheinen vom Himmel her - enthielt. Tertullians ausführliche Diskussion der Bedeutung des Wortes apparere (4,7,2) scheint auf den ersten Blick letzteres nahezulegen und berührt sich mit ϕαίνεσθαι bei Adamantius (2,19). Aber tatsächlich ist der Hinweis auf das Herabkommen vom Himmel nicht Teil des referierten *Ev-Textes, sondern Tertullians eigene Interpretation (4,7,1: u t i q u e de caelo creatoris, in quod de suo ante descenderat), die es ihm erlaubt, nach dem Verhältnis zwischen den Himmeln des Gottes Jesu und des Schöpfers zu fragen. Dazu passt die Unbestimmtheit, mit der Tertullian auf das »Erscheinen« verweist: »Wo immer (sicubi)« davon die Rede sei, dass Jesus erschienen (apparuisse) sei (4,7,2), impliziert, dass Tertullian an dieser ______________________________ 2 Tert. 4,7,1: anno quintodecimo p r i n c i p a t u s Tiberiani. 3 Iren., Haer. 1,27,2: temporibus Pontii Pilati praesidis, qui fuit procurator Tiberii Caesaris. 4 Pontius (Pilatus) außer in Lk 3,1 nur in Act 4,27 und 1Tim 6,13. 5 Adam. 2,3 [823b]: κατῆλθε σῶσαι τοὺς ἀνθρώπους … 6 Adam. 2,19 [869a]: κατελθὼν ἐϕάνη ἐν Καϕαρναούμ. 7 Hippolyt, Refut. 7,31,5: κατεληλυθότα αὐτὸν ἄνωθεν. <?page no="27"?> 3,1a; 4,31-37 Rekonstruktion 539 Stelle keine explizite Erwähnung des »Erscheinens« fand, und dementsprechend richtet sich seine Argumentation ausschließlich auf das »Herabkommen«. Tertullian scheint also die Deutung des Herabkommens Jesu auf sein Erscheinen vom Himmel her gekannt zu haben. Der Umstand, dass auch Adamantius und Hippolyt in ihren *Ev- Referaten einen entsprechenden Sinn substituieren, deutet nur darauf hin, dass es sich hier um eine verbreitete Interpretation der marcionitischen Theologie (aber nicht notwendigerweise um ein Element seines Textes) handelt. Das heißt: Die offenbarungstheologische Interpretation des »Herabkommens« Jesu war mit größter Wahrscheinlichkeit nicht Bestandteil von *Ev. Es ist noch nicht einmal gesichert, dass *Ev ein »Herabkommen von oben (κατέρχεσθαι ἄ ν ω θ ε ν )« erwähnte. Ob *Ev davon ausging, dass Jesus vom Himmel oder von Jerusalem oder nur von den galiläischen Hügeln zum See Genezareth »herabgekommen« sei, bleibt daher offen; die letzte Möglichkeit ist allerdings die wahrscheinlichste: Das galiläische Nazareth (nach *4,16: Nazara) ist die Heimatstadt Jesu (*4,23). Für *4,31 sind zwei »Minor Agreements« zu notieren, die diese Rekonstruktion stützen: (1) κατῆλθεν Lk 4,31 || ἐλθών Mt 4,13 ≠ εἰσπορεύονται Mk 1,21. - (2) [πόλιν] τῆς Γαλιλαίας Lk 4,31 || Γαλιλαία [τῶν ἐθνῶν] Mt 4,15 ÷ Mk 1,21. Auch wenn die »Minor Agreements« auf verschiedene Weise zustande kommen können, legt die Bezeugung für κατέρχεσθαι/ descendere in *Ev nahe, dass das mt ἐλθών auf *Ev (und nicht auf Mk) zurückgeht. Wenn *3,1a und *4,31 in *Ev direkt miteinander verbunden waren, ist auch klar, dass das einleitende καί erst auf die lk Redaktion zurückgeht. In jedem Fall ist es notwendig, dass der Text ein nominales Subjekt enthalten haben musste. Aus Mk 1,14 ist zu erschließen, dass es vermutlich einfach ὁ Ἰησοῦς lautete, wie Lk es in 4,14a ebenfalls substituierte. Die Diskussionen des Anfangs von *Ev bei den Häresiologen enthalten deren eigene Formulierungen und geben keinen Hinweis auf *Ev. 8 4. Es spricht einiges dafür, dass die ursprüngliche Exposition das Ziel des »Herabkommens« Jesu anders bezeichnete, als dies in der kanonischen Fassung Lk 4,31 der Fall ist. Denn der D-Text hat eine Variante bewahrt, die alle Anzeichen der Ursprünglichkeit gegenüber dem Mehrheitstext trägt: Καὶ κατῆλθεν εἰς Καϕαρναοὺμ πόλιν τῆς Γαλιλαίας τὴν παραθαλάσσιον ἐν ὁρίοις Ζαβουλὼν καὶ Νεϕθαλίμ (*4,31 D). Der Hinweis, dass Kapharnaum »am Meer in den Bergen Sebulon und Naphatali« liegt, findet sich auch in Mt 4,13. Aus diesem Grund wird der D-Text in aller Regel als sekundäre Angleichung des Lkan den Mt-Text gewertet. 9 Allerdings ist hier (wie an vielen anderen Stellen) eine sekundäre Angleichung unter Einfluss der synoptischen Parallele äußerst unwahrscheinlich. ______________________________ 8 Vgl. Tert. 1,15,1: dominus; 1,19,2: Christus Iesus; Hippolyt, Refut. 7,31,5: (σωτήρ); λόγος. Die Hinweise bei Adam., Dial. 2,3 (823b) bzw. 2,19 (869a) enthalten kein nominales Subjekt. 9 So verstehen es die Herausgeber von von NA 27 , die im Apparat das Sigel p) zu der Variante setzen. <?page no="28"?> 540 Anhang I 3,1a; 4,31-37 Denn Mt hat die Perikope von der Heilung des Gelähmten in Kapharnaum Lk 4,(31f)33-37 || Mk 1,23-28 nicht übernommen. Man müsste daher nicht nur annehmen, dass der Schreiber von D (oder seiner Vorlage) den ihm vorliegenden Bibeltext eigenständig geändert hätte, sondern dass er eine solche Angleichung auch vorgenommen hätte, ohne dass eine wirkliche Parallele vorliegt. Ein solcher Eingriff wäre kein Schreiberversehen, sondern eine gezielte, inhaltsverändernde Redaktion. Eine solcher redaktioneller Eingriff liegt in der Tat vor, aber er hat die Apposition nicht ergänzt, sondern (in Lk) gestrichen: Die Angabe war in *Ev enthalten und wurde von Mt 4,13 übernommen, nicht aber von Lk. Dies wird daran deutlich, dass Mt den Beginn der öffentlichen Tätigkeit Jesu in enger Anlehnung an *Ev gestaltet hat: Mt 4,12 ist von Mt neu gebildet worden, um von der Taufe und der Versuchung Jesu (Mt 3,1-4,11) zu der Schilderung des Beginns seiner öffentlichen Tätigkeit überzuleiten. Drei Besonderheiten machen die gemeinsame Abhängigkeit von Mt 4,13 und Lk 4,16.31 von *4,31 deutlich: Die eigenartige und singuläre Schreibweise Ναζαρά (Mt 4,13 || *4,16; s. dort), die auffällige, aber durchgehende Schreibweise Καϕαρναύμ anstelle des durch die Lutherübersetzung vertrauten Καπερναύμ, sowie das Attribut τὴν παραθαλάσσιον/ παραθαλασσίαν ἐν ὁρίοις Ζαβουλὼν καὶ Νεϕθαλίμ (Mt 4,13 || *4,31 D). Der Wechsel zwischen Καϕαρναούμ und Καπερναούμ erfordert eine Erklärung. Die Schreibweise ist in den Handschriften aller vier Evangelien durchgängig uneinheitlich. In den Belegen aus Lk stellt sich die Verteilung folgendermaßen dar: Lk 4,23 Καϕαρναουμ: א B D N* W X Ψ 33 372 a aur b c d e f ſſ 2 g 1 gat l q r 1 vg sa bo armen got ¦ Καπερναουμ: q M (*Ev non test.). - Lk 4,31 Καϕαρναουμ: Tert Adam P 4 א B D W 33 372 a aur b c d e f ſſ 2 g 1 gat l r 1 vg Tat pers sa bo armen georg Orig ¦ Καπερναουμ: A C L Θ (Ψ) 0102 f 1.13 q M . - Lk 7,1 Καϕαρναουμ: P 75 א B C* D W X Ξ 33 372 700 1241 a aur b c d e f ſſ 2 g 1 gat l r 1 vg ¦ Καπερναουμ: q M (*Ev non test.). - Lk 10,15 Καϕαρναoυμ: P 45.75 א B C D R Ξ 33 372 700 1241 a aur b c d e f g 1 gat i l r 1 vg armen ¦ Καπερναουμ: q M (*Ev non test.). Diese Verteilung ist eindeutig: Neben dem Zeugnis für *Ev (das allerdings nur zu *4,31 vorliegt) sind es vor allem die Altlateiner und einige wenige, meist ältere Zeugen, die Καϕαρναούμ bieten. Dagegen ist die Form Καπερναουμ neben einer großen Zahl älterer Handschriften durch die komplette Koine-Überlieferung belegt. Diese Namensform wurde durch die Vermittlung des Textus Receptus, der ja ganz überwiegend auf den Koine-Handschriften beruht, von den frühen modernen Übersetzungen übernommen (Luther, Tyndale, King James usw.). Die kritischen Ausgaben haben dagegen aus den »älteren« Handschriften die Form Καϕαρναουμ übernommen, und die meisten jüngeren Übersetzungen sind ihnen darin gefolgt. Das textkritische Problem scheint so offensichtlich zu sein, dass die meisten Kommentare sich nicht veranlasst sehen, es wenigstens zu diskutieren. 10 Sie lassen die Frage offen, wann und wie diese durchängige, zugleich aber uneinheitliche Veränderung eingetreten ist. Das textkritische Phänomen entspricht der durchgängig bezeugten Ambiguität der Datierung der Auferstehung Jesu in den Leidensweissagungen (μετὰ τρεῖς ἡμέρας - τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ; vgl. § 14.3). Daher bietet sich auch dieselbe naheliegende und zwanglose Erklärung an: Der Wechsel ist am ehesten auf die ______________________________ 10 Meist weisen sie einfach darauf hin, dass die »besseren griechischen Handschriften« Καϕαρναύμ bezeugen (L ÜHRMANN , Mk 49); vgl. F. C. B URKITT , Capernaum, Capharnaum, JTS 34 (1933), 385-389: 386: »Καπερναούμ belongs to the Byzantine text and to that alone: there is no sign of its existence before the 4 th century.« <?page no="29"?> 3,1a; 4,31-37 Rekonstruktion 541 kanonische Redaktion zurückzuführen. Demnach ist die für *Ev bezeugte Form (Kapharnaum) vorkanonisch, wogegen der Text der kanonischen Ausgabe des Neuen Testaments »Kapernaum« enthält. 5. Die weiteren Hinweise in Tertullians Referat 4,7,5ff machen zweifelsfrei klar, dass *Ev in unmittelbarem Anschluss an die Datierung den Exorzismus in der Synagoge von Kapharnaum enthielt. Da die Ereignisse in der Synagoge von Nazara *4,16-30 erst im Anschluss daran berichtet werden (s. gleich), unterscheidet sich die Perikopenakoluthie des kanonischen Textes von der in *Ev. Auf diesen Aspekt bezieht sich Epiphanius’ Vorwurf, Marcion bleibe »wiederum nicht bei der Reihenfolge (οὐ καθ’ εἱρμὸν πάλιν ἐπιμένει). Vielmehr schneidet er manches, wie gesagt, weg, anderes stellt er kopfüber um (τὰ μὲν ὡς προεῖπον παρακόπτει, τὰ δὲ προστίθησιν ἄνω κάτω) und schreitet nicht in der gewohnten Ordnung fort (οὐκ ὀρθῶς βαδίζων), sondern schweift überall leichtsinnig umher« (Epiph. 42,11,6; s. o.). 6. Dazu passen auch die Einzelheiten aus Tertullians Referat: Wegen des Singulars von synagoga in 4,7,5 (de caelo statim ad synagogam) und 4,7,6 (ecce venit in synagogam) ist deutlich, dass Tertullian sich hier auf *4,31b.33 bezieht und nicht etwa auf die summarische Notiz Lk 4,15 (ἐδίδασκεν ἐν τ α ῖ ς σ υ ν α γ ω γ α ῖ ς ). Entsprechendes gilt für den Hinweis, dass Jesus ad docendum in die Synagoge gekommen sei (4,7,7, vgl. zu *4,31b). 7. Tertullians weitere Verweise auf *4,31-35 sind eindeutig, 11 die Vv. *36f sind dagegen unbezeugt. Das Urteil ist schwierig: Einerseits passen die redaktionelle Verbindung und die Verallgemeinerung von individuellen Ereignissen sehr gut zur Tendenz der lk Redaktion. Immerhin fällt auf, dass die Pluralformen in V. 36b (τοῖς ἀκαθάρτοις πνεύμασιν; ἐξέρχονται) ungenau zu sein scheinen, denn bis hier war ja erst ein einziger Exorzismus berichtet. Aber reicht das aus, um diese Verse der lk Redaktion zuzuschreiben? Denn auf der anderen Seite würde dieses Argument auch für die lk Fassung zutreffen. Man könnte dann argumentieren, dass die Schlussnotiz wegen ihres summarischen Charakters für Tertullians Argumentation uninteressant war, weswegen er sie gut übergangen haben könnte. Die Mitteilung, dass sich der Ruf Jesu in der ganzen Gegend verbreitete, würde dann die folgende Erzählung von der Ablehnung Jesu in Nazara/ Nazareth vorbereiten: Sie fungiert als Widerlager für die ungläubige Haltung der Menge in der Nazarener Synagoge sowie für Jesu Replik (*4,22 fin.; 23; s. dort). In diesem Fall sind die beiden »westlichen« Lesarten in *4,36f von Bedeutung, weil sie als Spuren des vorkanonischen Textes zu werten sind und auf diese Weise die Bearbeitung der lk Redaktion nahelegen: In 4,36 hat Lk das Adjektiv (θάμβος) μέγας gestrichen, in V. 37 hat er die Formulierung ______________________________ 11 Tert. 4,7,9 verweist mit dem einleitenden spiritus daemonis auf *4,33: Nur hier ist von dem πνεῦμα des Dämons die Rede; gegen R OTH 412, der 4,33 als »unattested« auflistet. <?page no="30"?> 542 Anhang I 3,1a; 4,31-37 ἐξῆλθεν ἡ ἀκοή durch ἐξεπορεύετο ἦχος ersetzt. Der schlichte Satzanschluss mit einleitendem καί ist auch in Mk 1,28 erhalten, wurde dort aber in der Mehrheit der Handschriften durch das abwechslungsreichere (ἐξῆλθεν) δέ ersetzt. Vor allem aufgrund dieser textgeschichtlichen Überlegungen ist damit zu rechnen, dass die Perikope bereits in *Ev die Schlussverse *4,36f enthielt und mit der Mitteilung der Reaktion der Menge endete. 3,1b-4,13: Täuferüberlieferung. Taufe. Stammbaum. Versuchung Eindeutige Bezeugung, hat sicher gefehlt. Durch die lk Redaktion ergänzt. A. 3,1b-4,13 : Epiph. 42,11,4-6: »(4) Denn gleich am Anfang hat er (sc. Marcion) die ganze Abhandlung bei Lukas am Anfang weggeschnitten, also … die Genealogie und den Gegenstand der Taufe. (5) Dies alles schnitt er weg und überging es (ταῦτα πάντα περικόψας ἀπεπήδησεν) und stellte folgendes an den Anfang des Evangeliums: ›Im fünfzehnten Jahr des Tiberius Caesar‹ und so weiter.« ¦ Tert. 4,7,5f ¦ Hipp., Refut. 7,31,5 (GCS 26, 217) ¦ Adam., Dial. 2,3 (823b); 2,19 (869a) (s. o. zu *3,1a; *4,31-37). C. Der gesamte Text von 3,1b-4,13 hat in *Ev eindeutig gefehlt, also die komplette Überlieferung von Johannes d. Täufer mit seiner Verkündigung, der Taufe Jesu mit der Geistbegabung, dem Bericht über die Einkerkerung des Täufers, der Stammbaum Jesu sowie die Versuchungsgeschichte. Das Fehlen dieser langen Passage ergibt sich aus den Zeugnissen, die zu 1,1-2,52; *3,1a; *4,16ff gesammelt und besprochen sind (s. dort). Dies hat für die Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte weitreichende Folgen. Denn es ist klar, dass der Bericht von der unmittelbaren Begegnung zwischen Jesus und Johannes auf Mk zurückgeht. Mk wusste aus *7,17b (s. dort), dass Johannes »der Täufer« war. Offensichtlich angeregt durch diesen Hinweis, lässt er jetzt Johannes Jesus direkt taufen (Mk 1,9-11). Erst Mt und dann, von diesem abhängig, auch Lk, sind ihm darin gefolgt (Mt 3,13-17 || Lk 3,21f). Sie haben die daraus resultierende Inkongruenz in Kauf genommen, dass Johannes ja einerseits schon ein positives Urteil über Jesus abgegeben hatte (Mt 3,11f || Lk 3,15-18), andererseits aber durch seine Frage Distanz oder doch wenigstens Unsicherheit ausdrückt (Mt 11,2-6 || Lk 7,18-23). Auch die mit der Taufe direkt zusammenhängende Versuchung (Mk 1,12f || Mt 4,1-11 || Lk 4,1-13) hat in *Ev gefehlt, auch hier ist der Weg der Überlieferung von Mk über Mt zu Lk deutlich. An dieser Stelle ist nur der Hinweis wichtig, dass die Tauf- und Versuchungsüberlieferung in den synoptischen Evangelien zu den Texten gehören, die im Horizont der Zwei- Quellentheorie als »Mk-Q Overlaps« bezeichnet werden. Im Unterschied zu anderen Beispielen geht das Phänomen der Überschneidung von Mk auf der einen und Mt/ Lk auf der anderen Seite hier nicht auf die unterschiedliche Rezeption <?page no="31"?> 3,1b-4,15 Rekonstruktion 543 einer gemeinsamen Quelle zurück, sondern auf die direkte Abhängigkeit der drei synoptischen Evangelien untereinander und auf das Wachstum dieser Tradition von Mk zu Mt zu Lk. [ 4,14f: Summar über Heilungen in Galiläa ] Unbezeugt, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit in *Ev gefehlt. Durch die lk Redaktion ergänzt. [ 4,14 Καὶ ὑπέστρεψεν ὁ Ἰησοῦς ἐν τῇ δυνάμει τοῦ πνεύματος εἰς τὴν Γαλιλαίαν. καὶ ϕήμη ἐξῆλθεν καθ’ ὅλης τῆς περιχώρου περὶ αὐτοῦ. 15 καὶ αὐτὸς ἐδίδασκεν ἐν ταῖς συναγωγαῖς αὐτῶν, δοξαζόμενος ὑπὸ πάντων. ] C. Das Summar ist unbezeugt. Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit eine redaktionelle Einfügung: Die Rückkehr Jesu nach Galiläa »in der Kraft des Geistes« (Lk 4,14a) bezieht sich anaphorisch auf die Bewährung der Geistgabe (Lk 3,21f) in der Wüste (Lk 4,1-13); beides war in *Ev sicher nicht enthalten (s. o.). Der summarische Verweis auf die Ausbreitung der ϕήμη Jesu und seine Lehre »in ihren Synagogen« fungiert im lk Kontext als Exposition für die beiden folgenden Perikopen (4,16-30. 31-37), die von der Lehre Jesu in Nazareth und in Kapharnaum berichten. Sachlich ist diese Exposition notwendig geworden, weil die lk Redaktion durch die Umstellung von Lk 4,16-30 vor 4,31-37 ein narratives Widerlager für 4,23 benötigte: Dass man in Nazareth von dem »Geschehen in Kapharnaum« gehört hatte, erfordert einen entsprechenden Hinweis, der der Nazarethperikope vorausgeht (s. zu *4,23). Damit gehen beide Vv. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf die redaktionellen Veränderungen des kanonischen Textes zurück. *4,16 [ 17-22 ] 23.24. [ 25f ] ↑ 27 ↓ 28.29f: Ablehnung in Nazara Gut bezeugt, aber durch die lk Redaktion verschoben und stark erweitert. 4,16 a Ἐλθὼν δὲ a εἰς Ναζαρά b [ οὗ ἦν τεθραμμένος ] b c καὶ εἰσῆλθεν d κατὰ τὸ εἰωθὸς αὐτῷ d ἐν τῇ ἡμέρᾳ τῶν σαββάτων εἰς τὴν συναγωγήν. [ καὶ ἀνέστη ἀναγνῶναι 17 καὶ ἐπεδόθη αὐτῷ βιβλίον τοῦ προϕήτου Ἠσαΐου, καὶ ἀναπτύξας τὸ βιβλίον εὗρεν τὸν τόπον οὗ ἦν γεγραμμένον, 18 Πνεῦμα κυρίου ἐπ’ ἐμέ, οὗ εἵνεκεν ἔχρισέν με εὐαγγελίσασθαι πτωχοῖς, ἀπέσταλκέν με κηρύξαι αἰχμαλώτοις ἄϕεσιν καὶ τυϕλοῖς ἀνάβλεψιν, ἀποστεῖλαι τεθραυσμένους ἐν ἀϕέσει, 19 κηρύξαι ἐνιαυτὸν κυρίου δεκτόν. 20 καὶ πτύξας τὸ βιβλίον ἀποδοὺς τῷ ὑπηρέτῃ ἐκάθισεν· καὶ πάντων οἱ ὀϕθαλμοὶ ἐν τῇ συναγωγῇ ἦσαν ἀτενίζοντες αὐτῷ. 21 ἤρξατο δὲ λέγειν πρὸς αὐτοὺς ὅτι Σήμερον πεπλήρωται ἡ γραϕὴ αὕτη ἐν τοῖς ὠσὶν ὑμῶν. 22 Καὶ πάντες ἐμαρτύρουν αὐτῷ καὶ ἐθαύμαζον ἐπὶ τοῖς λόγοις τῆς χάριτος τοῖς ἐκπορευομένοις ἐκ τοῦ στόματος αὐτοῦ, ] <?page no="32"?> 544 Anhang I 4,16-30 καὶ ἔλεγον, Οὐχὶ υἱός ἐστιν Ἰωσὴϕ οὗτος; 23 καὶ εἶπεν πρὸς αὐτούς, Πάντως ἐρεῖτέ μοι τὴν παραβολὴν ταύτην· Ἰατρέ, θεράπευσον σεαυτόν· ὅσα ἠκούσαμεν γενόμενα εἰς τὴν Καϕαρναοὺμ ποίησον καὶ ὧδε ἐν τῇ πατρίδι σου. 24 εἶπεν δέ, Ἀμὴν λέγω ὑμῖν ὅτι οὐδεὶς προϕήτης δεκτός ἐστιν ἐν τῇ πατρίδι αὐτοῦ. e [ 25 ἐπ’ ἀληθείας δὲ λέγω ὑμῖν, πολλαὶ χῆραι ἦσαν ἐν ταῖς ἡμέραις Ἠλίου ἐν τῷ Ἰσραήλ, ὅτε ἐκλείσθη ὁ οὐρανὸς ἐπὶ ἔτη τρία καὶ μῆνας ἕξ, ὡς ἐγένετο λιμὸς μέγας ἐπὶ πᾶσαν τὴν γῆν, ] e [ 26 καὶ πρὸς οὐδεμίαν αὐτῶν ἐπέμϕθη Ἠλίας εἰ μὴ εἰς Σάρεπτα τῆς Σιδωνίας πρὸς γυναῖκα χήραν. ] ↑ 27 καὶ πολλοὶ λεπροὶ ἦσαν ἐν τῷ Ἰσραὴλ ἐπὶ Ἐλισαίου τοῦ προϕήτου, καὶ οὐδεὶς αὐτῶν ἐκαθαρίσθη εἰ μὴ Ναιμὰν ὁ Σύρος. ↓ 28 καὶ ἐπλήσθησαν πάντες θυμοῦ ἐν τῇ συναγωγῇ [ ἀκούοντες ταῦτα ] , 29 καὶ ἀναστάντες ἐξέβαλον αὐτὸν ἔξω τῆς πόλεως, καὶ ἤγαγον αὐτὸν ἕως ὀϕρύος τοῦ ὄρους ἐϕ’ οὗ ἡ πόλις ᾠκοδόμητο αὐτῶν, ὥστε κατακρημνίσαι αὐτόν· 30 αὐτὸς δὲ διελθὼν διὰ μέσου αὐτῶν ἐπορεύετο. A. *4,16: Tert. 4,8,1f: Christo autem appellatio Nazaraei competitura erat ex infantiae latebris, ad quas apud Nazareth descendit, vitando Archelaum filium Herodis … (2) Ceterum prophetarum erit Christus ubicunque secundum prophetas invenitur. Et tamen apud Nazareth … ♦ *4,23: Tert. 4,8,2: Hoc propterea non omisi, quia Christum Marcionis oportuerat omne commercium eierasse etiam locorum familiarium Christi creatoris, habentem tanta Iudaeae oppida non ita Christo creatoris per prophetas emancipata. Ceterum prophetarum erit Christus ubicunque secundum prophetas invenitur. Et tamen apud Nazareth quoque nihil novi notatur praedicasse, dum alio, merito unius proverbii, eiectus refertur. ♦ *4,29f: Tert. 4,8,2f: Hic primum manus ei iniectas animadvertens necesse habeo iam de substantia eius corporali praefinire, quod non possit phantasma credi qui contactum et quidem violentia plenum detentus et captus et ad praecipitium usque protractus admiserit. (3) Nam etsi per medios evasit, sed ante iam vim expertus, et postea dimissus. B. a (4,16) ελθων δε/ veniens autem: D d e (cum venisset autem) ¦ και ηλθεν/ et venit: a aur b c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● b (4,16) ου ην τεθραμμενος: om (Tert) ¦ οπου ην D (≠ d! ) e ¦ ου ην τεθραμμενος/ ubi erat (fuit: e) nutritus (nutricatus: d): add a aur b c d (! ) e f ſſ 2 l q r 1 M ● c (4,16) και/ et: om D d e ¦ add a aur b c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● d (4,16) κατα το ειωθος αυτω/ secundum consuetudinem suam (tuam): om (Tert) e ¦ add a aur b c d f ſſ 2 l q r 1 M ● e (4,25) vs. om 1241¦ add it M (*Ev non test.). C. Die »Antrittspredigt Jesu« in Nazareth - bzw. genauer: in Nazara - ist im Kern bezeugt, aber Tertullians Referat lässt darauf schließen, dass die Gestalt in *Ev sich deutlich von der kanonischen unterschied: 1. Am wichtigsten ist zunächst die veränderte Akoluthie: *Ev hatte ganz eindeutig den Exorzismus in der Synagoge von Kapharnaum *4,31-37 vor der Nazareth- <?page no="33"?> 4,16-30 Rekonstruktion 545 perikope *4,16-30, was Harnack zu dem Urteil »merkwürdige Umstellung« veranlasste. 1 Im Rahmen der von Harnack angenommenen Lk-Priorität ist die unterschiedliche Akoluthie tatsächlich insofern erklärungsbedürftig, als *Ev die programmatische Stellung der Nazarethperikope um eines nicht erkennbaren Gewinns willen preisgegeben hätte. Unter der Annahme der *Ev-Priorität ist die unterschiedliche Perikopenfolge jedoch alles andere als merkwürdig: Sie ist eine Folge der lk Redaktion, welche die Nazarethperikope programmatisch an den Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu gerückt hat. Lk hat dabei einen Bruch der narrativen Logik verursacht, denn Tertullians Hinweis auf das unum proverbium *4,23 impliziert nicht nur, dass *Ev dieses »Sprichwort« (vom Arzt, der sich selbst heilen soll) enthielt, sondern auch die darauffolgende Aufforderung an Jesus, »hier in deiner Heimatstadt« - also in Nazara - das Gleiche zu tun wie in Kapharnaum. In der kanonischen Fassung der lk Redaktion besitzt dieser Hinweis keine narrative Referenz, weil der Exorzismus in Kapharnaum erst danach erzählt wird. Damit wird auch verständlich, warum Lk 4,14f für *Ev unbezeugt ist: Dieses Summar ist der Versuch der lk Redaktion, die erzählerischen Spannungen zu mindern und einen Referenzpunkt zu 4,23 zu schaffen (s. o. zu Lk 4,14b). Die Brüche in der narrativen Logik des kanonischen Textes stellen auch sicher, dass *4,23b mit dem (im lk Kontext) so problematischen Verweis auf das »Geschehen in Kapharnaum« in der Vorlage in *Ev enthalten war, obwohl es durch Tertullian nicht bezeugt ist. Der Grund für die Umstellung ist zweifellos, dass Lk das erste öffentliche Auftreten Jesu programmatisch ausgestalten wollte. 2 Die Verbindung von Geistbegabung, Erfüllung der alttestamentlichen Prophetie und Realisierung der Verheißungen Israels an Nicht-Israeliten ist daher ein zentraler Aspekt des redaktionellen Konzeptes, der die Gesamtanlage von Lk-Act nachhaltig bestimmt. 3 2. Innerhalb von *4,16-30 sind zwei Passagen des kanonischen Lk-Textes unbezeugt: Einmal Lk 4,17-21 mit der Prophetenlektion aus der Jesajarolle und der anschließenden Applikation (Lk 4,21: σήμερον πεπλήρωται ἡ γραϕὴ αὕτη ἐν τοῖς ὠσὶν ὑμῶν). Der darin enthaltene Hinweis auf die Salbung mit dem Geist (Lk 4,18) referiert im lk Kontext zunächst auf die Ankündigung des Stärkeren und seiner Taufe ἐν πνεύματι ἁγίῳ καὶ πυρί (Lk 3,16), deren Voraussetzungen dann mit Jesu Geistbegabung während seiner Taufe etabliert werden (Lk 3,22): Diese beiden Elemente im Kontext der Taufüberlieferung haben in *Ev nachweislich gefehlt und konstituieren zusammen mit Lk 4,17-21 ein wesentliches Element der ______________________________ 1 H ARNACK 186*. 2 Vgl. U. B USSE , Das Nazareth-Manifest Jesu, Stuttgart 1978 (passim); vgl. weiter C HR . M. T UCKETT , Luke 4,16-30, Isaiah and Q, in: J. D ELOBEL (Hg.), Logia, Leuven 1982, 343-354: 343 Anm. 2 (Lit.). 3 Vgl. F R . N EIRYNCK , Luke 4,16-30 and the Unity of Luke-Acts, in: ders., Evangelica III, Leuven 2001, 167-205; ausführlich o. Bd. I, § 7.3. <?page no="34"?> 546 Anhang I 4,16-30 lk Theologie und daher wohl auch seiner redaktionellen Ergänzung. 4 Es spricht daher sehr viel mehr dafür, dass die Vv. 17-21 in *Ev gefehlt haben, als dass die Referenten diese Verse übergangen haben. 3. Die andere für *Ev unbezeugte Passage ist Lk 4,25-27 mit den beiden heilsgeschichtlichen Beispielen für die soteriologische Bevorzugung von Nicht- Israeliten vor Israel. Im Rahmen der lk Fassung der Perikope spielen diese Verse eine entscheidende Rolle: Sie sind »the interpretive key to the story.« 5 Nun enthielt *Ev den Hinweis auf den Syrer Naëman (2Kön 5,1ff) nachweislich an einem anderen Ort, nämlich im Kontext der Heilung der zehn Aussätzigen, und zwar am wahrscheinlichsten zwischen *17,18 und *17,19 (s. dort). In diesem Kontext besaß die Erwähnung des Syrers Naëman (mit Blick auf den geheilten und zurückgekehrten Samaritaner) eine ganz ähnliche textpragmatische Funktion wie im lk Kontext der Nazarethperikope: Sie lieferte ein Schriftbeispiel für die Höherbewertung eines Nicht-Israeliten vor einem Israeliten. Die lk Redaktion hat dieses Beispiel passgenau in die Nazarethperikope vorgezogen und damit aus den heiligen Schriften Israels programmatisch begründet, was später (z. B. in 7,1-10) exemplarisch erzählt wird: Dass Jesus bei Nicht-Israeliten »größeren« Glauben findet als in Israel. Die Schriftgelehrsamkeit, die das redaktionelle Verfahren auszeichnet, wird auch darin sichtbar, dass Lk das ganz analoge Beispiel von der Witwe im phönizischen Sarepta aus 1Kön 17,7-24 sucht, findet und als Verstärkung dazustellt. Zusammengenommen heißt das, dass die Vv. 25-27 in *Ev gefehlt haben. Tertullian belegt dies auch durch den Hinweis: nihil novi notatur praedicasse (4,8,2). 4. Die Beurteilung von 4,22 ist schwierig. Dies hängt zunächst damit zusammen, dass die erste Reaktion der Synagogenbesucher eine generelle Zustimmung zu Jesus auszudrücken scheint, 6 während die rhetorische Frage nach der Herkunft Jesu in 4,22b (οὐχὶ υἱός ἐστιν Ἰωσὴϕ οὗτος; ) eher ungläubige Distanz zu signalisieren scheint. Die textpragmatische Funktion des Verses bleibt also in der Schwebe. Schwierig ist dabei, dass das Staunen über die »Anmut der Worte« Jesu sich ganz offensichtlich auf die in *Ev höchstwahrscheinlich fehlende Selbstapplikation des ______________________________ 4 Dass 4,(16)17-22 lk Redaktion sind, ist im Rahmen des Designs der Zweiquellentheorie (und daher mit Begründungen, die hier nicht übernommen werden können) schon häufig erwogen worden, vgl. nur H. S CHÜRMANN , Zur Traditionsgeschichte der Nazareth-Perikope Lk 4,16-30, in: A. Descamps (ed.), Mélanges Bibliques, Gembloux 1970, 187-205; s. auch T UCKETT , a. a. O. 346-351. 5 J. S. S IKER , »First to the Gentiles«: A Literary Analysis of Luke 4: 16-30, JBL 111 (1992), 73-90: 83. 6 Für 4,22aα (πάντες ἐμαρτύρουν αὐτῷ) wurde erwogen, ob hier nicht ein Zeugnis gegen Jesus gemeint sei, vgl. etwa B. V IOLET , Zum rechten Verständnis der Nazareth-Perikope Lc 4,16-30, ZNW 37 (1938), 251-271: 256-258. Allerdings lässt sich die Fortführung in V. 22aβ (καὶ ἐθαύμαζον ἐπὶ τοῖς λόγοις τῆς χάριτος τοῖς ἐκπορευομένοις ἐκ τοῦ στόματος αὐτοῦ), die sich auf 4,21b mit Jesu Applikation des Schriftzitats 4,18f zurück bezieht, kaum anders denn als Anerkennung verstehen. <?page no="35"?> 4,16-30 Rekonstruktion 547 Jes-Zitats (Lk 4,18-21) bezieht, zumal θαυμάζειν + ἐπί ein lk Vorzugswort ist. 7 Beide Gründe sprechen dafür, dass zumindest V. 22aβ (ἐθαύμαζον ἐπὶ τοῖς λόγοις τῆς χάριτος τοῖς ἐκπορευομένοις ἐκ τοῦ στόματος αὐτοῦ) lk Redaktion ist. Auf der anderen Seite ist der Hinweis auf die Herkunft Jesu 4,22b schwierig. Die Aussage besitzt eine Analogie in Mk 6,3 || Mt 13,55-57a, die dort die Funktion hat, die Ablehnung Jesu in seiner Heimatstadt zu begründen: Die Nazarener nehmen Anstoß an Jesus, weil ihnen die Kenntnis seiner Herkunft die Anerkennung seiner Weisheit und Krafterweise verwehrt. Da die in *Ev enthaltene Antwort Jesu in *4,23 die Reaktion auf einen Vorwurf impliziert, auf die sich syntaktisch die Einleitung (πάντως ἐρεῖτέ μοι) zurückbezieht, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Frage *4,22b in *Ev enthalten war: Das Thema der Perikope war daher - ähnlich wie in Mk 6,1-6a || Mt 13,53-58 - die (vollmächtige) Lehre Jesu in seiner Heimatstadt »Ναζαρά«, auf welche die Hörer mit der distanzierten Frage »Ist dieser nicht Josephs Sohn? « reagierten, worauf Jesus mit dem Sprichwort vom Arzt geantwortet hätte. Trotz der fehlenden Bezeugung liegt daher aufgrund der Analogie bei Mk und Mt nahe, dass *4,16 fin. (mit einem Hinweis auf die Lehre Jesu) sowie *4,22 fin. (καὶ ἔλεγον, Οὐχὶ υἱός ἐστιν Ἰωσὴϕ οὗτος; ) in *Ev enthalten waren: Beide Aussagen lassen sich direkt aufeinander beziehen. Die narrative Logik erfordert es, dass im Anschluss an *4,16 eine Bemerkung über die Lehre Jesu enthalten war, auf die sich dann die Reaktion *4,22b bezog. Diese Bemerkung muss anstelle von καὶ ἀνέστη ἀναγνῶναι gestanden haben, das seine Bedeutung ja durch die von der Redaktion eingefügte Bemerkung über die Prophetenlektion erhält. Wie dieser Bericht von der Lehre Jesu aussah, ist unklar; jedoch legt die Parallele in Mk 6,2 || Mt 13,54 nahe, dass die Bemerkung sinngemäß ἐδίδασκεν αὐτοὺς ἐν τῇ συναγωγῇ αὐτῶν, ὥστε ἐκπλήσσεσθαι αὐτούς (so Mt 13,54) o. ä. gelautet haben könnte. 5. Die Rekonstruktion von *4,16 ist komplex, weil hier die handschriftliche Bezeugung einigermaßen uneinheitlich ist. Dies ist erwartbar, weil Lk die ganze Perikope vor 4,31ff gestellt und zur Glättung 4,14f eingefügt hat (s. o.); im Zuge dieser redaktionellen Eingriffe ergab sich die Notwendigkeit, auch *4,16 umzuformulieren; ein Teil der (typisch »Westlichen«: D it) Handschriften hat diese Änderungen nicht vollständig mitvollzogen. a. Zunächst erklärt sich der Umstand, dass die eigenartige Namensform Ναζαρά nur hier und in der Parallele Mt 4,13 bezeugt ist, am ehesten aus einem Text, der sowohl Mt als auch Lk vorauslag: *Ev. 8 Dass diese ungewöhnliche Namensform in ______________________________ 7 θαυμάζειν + ἐπί begegnet innerhalb des NT nur in Lk-Act, vgl. außer 4,23 noch Lk 2,33; 9,43; 20,26; Act 3,12; keiner dieser Belege ist für *Ev bezeugt. Vgl. R. C. T ANNEHILL , The Mission of Jesus According to Luke IV 16-30, in: E. Grässer (Hg.), Jesus in Nazareth, Berlin 1972, 51-75: 54 mit Anm. 9. 8 Auch der Codex Palatinus (e) liest hier (als einzige der altlateinischen Handschriften) Nazara. <?page no="36"?> 548 Anhang I 4,16-30 der handschriftlichen Überlieferung verschiedentlich an das ansonsten bezeugte Ναζαρέθ (-έτ, -έδ) angepasst wurde, liegt nahe. 9 In beiden Fällen (Lk 4,16; Mt 4,13) ist die handschriftliche Überlieferung gespalten und enthält beide Namensformen. 10 Zu Recht halten die kritischen Ausgaben (GNT 4 / NA 27 ) Ναζαρά für die ältere Fassung und übernehmen sie deswegen in den Text, dies aber sehr wahrscheinlich zu Unrecht: Ναζαρά ist Teil des vorkanonischen Texts; die lk Redaktion hat dies in Ναζαρέθ geändert. Obwohl diese Lesart jünger ist, gehört sie in den Text des kanonischen NT. b. Der Codex Bezae bietet anstelle von οὗ ἦν τεθραμμένος, καὶ εἰσῆλθεν nur ὅπου ἦν: Die Notiz über das Aufwachsen Jesu in Nazareth bezieht sich zurück auf die entsprechenden Informationen der Kindheitserzählung (Lk 2,4.39.51), die in *Ev mit Sicherheit gefehlt haben. In D scheint hier also der vorkanonische Text durch. Unklar bleibt jedoch, wie der Satz ursprünglich gelautet hat: D leitet den Satz mit Partizip (ἐλθών) ein und schließt daran, ziemlich ungeschickt, den Hauptsatz mit Konjunktion und finitem Verb an (καὶ ἀνέστη). Dies ist kaum ursprünglich, vermutlich ist in D ein erstes finites Verb ausgefallen (εἰσῆλθεν), wie auch εἰς τὴν συναγωγήν nahelegt. Am einfachsten ist daher die Annahme, dass der vorkanonische Text überhaupt keinen Relativsatz enthielt. c. Die Exposition hatte ursprünglich wohl nur mitgeteilt, dass Jesus nach Nazara/ Nazareth kam und in die Synagoge ging. Denn die Bemerkung καὶ ἀνέστη ἀναγνῶναι Lk 4,16 fin. ist nur für den kanonischen Kontext mit der folgenden Schilderung der Prophetenlektion (Lk 4,17-22) von Bedeutung, die aber in *Ev sehr wahrscheinlich fehlte. Schließlich ist die Wendung κατὰ τὸ εἰωθὸς αὐτῷ uneinheitlich überliefert: In e fehlt sie ganz, in D a c d fehlt αὐτῷ. Im kanonischen Kontext referiert diese Bemerkung auf die redaktionelle Notiz Lk 4,15, im vorkanonischen Kontext könnte sie sich immerhin auf *4,31-37 beziehen. Aber das ist unwahrscheinlich, denn die Wendung ist sowohl aus sprachlichen als auch aus inhaltlichen Gründen (vgl. Act 17,2! ) in hohem Maß verdächtig, redaktionell zu sein. Stellt man für die Textüberlieferung in D it das Phänomen der inkonsistenten Angleichung des vorkanonischen an den kanonischen Text in Rechnung, dann liegt für den vorkanonischen Text nahe: Ἐλθὼν δὲ εἰς Ναζαρά εἰσῆλθεν ἐν τῇ ἡμέρᾳ τῶν σαββάτων εἰς τὴν συναγωγήν. Diese schlichte Formulierung entspricht auch am ehesten Tertullians knappem Referat, der nur den Ortsnamen Nazareth erwähnt. ______________________________ 9 Aus diesem Grund haben die neueren Rekonstruktionen von »Q« die Ναζαρά-Lesart propagiert, vgl. dazu die Dokumentation in C HR . H EIL (ed.), Q 4: 16, 31: Nazara, Leuven 1996, 391-462. Vgl. dazu F R . N EIRYNCK , ΝΑΖΑΡΑ in Q: Pro and Con, in: J. M. Asgeirsson et al. (eds.), From Quest to Q, Leuven 2006, 159-169. 10 Lk 4,16 Ναζαρα: א B* (Δ) Ξ 33 pc e sa mss Orig. Mt 4,13 Ναζαρα: א 1 B* Z 33 k usw. <?page no="37"?> 4,16-30 Rekonstruktion 549 d. Über die Rekonstruktion hinaus ist *4,16 aus methodischen Gründen interessant, weil Harnack und andere in der Folge von J. Rendell Harris die Varianten in D it bemerkt und sie als Hinweis auf das marcionitische Evangelium gewertet haben. 11 Auch wenn (hier wie sonst auch) nicht einsichtig zu machen ist, wieso der Text des Erzketzers so breit auf die katholische Handschriftenüberlieferung eingewirkt haben soll, ist die Logik, die diesem Gedanken zugrunde liegt, nachvollziehbar. Die Formulierung in D it - ohne τεθραμμένος und ohne (κατὰ τὸ εἰωθὸς) αὐτῷ - verändere den Sinn entscheidend: »Nach M. durfte ja Jesus nicht in Nazareth erzogen sein und durfte auch nicht nach seiner Gewohnheit die Synagoge besuchen.« Was Harnack hier als »ein Kabinettsstück der Textkritik M.s« preist, 12 geht allerdings auf die Redaktionsarbeit des Lk zurück. 6. Aus *4,29f referiert Tertullian die wichtigsten Stichworte und belegt so, dass das Ende der Perikope nicht sehr viel anders gelautet haben kann als in der kanonischen Fassung. Die Fassung in *Ev endete also - in deutlichem Unterschied zu Mk 6,5.6a || Mt 13,58 - mit dem Bericht über die feindselige Reaktion der Nazarener und über ihren gewalttätigen, aber erfolglosen Tötungsversuch. Dieses Ende erfordert dann auch eine Motivierung des Lynchversuchs, wie sie *4,28 liefert. Abgesehen von dem anaphorischen ἀκούοντες ταῦτα, das in *Ev wegen des Bezugs auf 4,25-27 gefehlt haben muss, gibt es keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass *4,28-30 in *Ev anders aussahen als in der kanonischen Form. 7. Damit lässt sich das Profil der Perikope in *Ev erfassen: Sie enthielt nur die Exposition *4,16 mit dem Hinweis auf Jesu Eintreffen in der Synagoge von Nazara. Die distanzierte Frage der Nazarener *4,22 fin. Οὐχὶ υἱός ἐστιν Ἰωσὴϕ οὗτος; bezog sich nicht auf die Lehre Jesu, sondern auf die Erwartung charismatischer Heiltätigkeit, wie die Reaktion Jesu in V. *23 (πάντως ἐρεῖτέ μοι τὴν παραβολὴν ταύτην …) zeigt. Es ist denkbar, aber nicht zu erweisen, dass *Ev auch einen expliziten Verweis auf den Anstoß enthielt, den die Nazarener an Jesus nahmen; Mk und Mt überliefern jedenfalls eine entsprechende Bemerkung (Mk 6,3 fin. || Mt 13,57a: ἐσκανδαλίζοντο ἐν αὐτῷ). Es folgte *4,23 mit dem Sprichwort vom Arzt 13 und der damit zusammen gehörenden Aufforderung, das in Kapharnaum Geschehene »in deiner Heimatstadt« zu wiederholen. Tatsächlich passt das Sprichwort hier nur bedingt, weil das Ansinnen der Hörer sich ja nicht auf eine Selbstheilung richtet; ______________________________ 11 J. R. H ARRIS , Codex Bezae, Cambridge 1891, 232f; H ARNACK 186*; H. J. V OGELS , Evangelium Palatinum, Münster 1926, 98f. 12 H ARNACK 186*. 13 Tertullian stellt diese παραβολή durch den Hinweis auf unum proverbium sicher. Zur Verbreitung dieses Sprichworts vgl. S. J. N OORDA , Cure Yourself, Doctor (Lk 4: 23). Classical Parallels to an Alleged Saying of Jesus, in: J. Delobel (Hg.), Logia, Leuven 1982, 459-467. <?page no="38"?> 550 Anhang I 4,16-30 vielleicht haben Mk und Mt es deshalb ausgelassen. 14 Das analoge Wort vom Propheten in seiner Heimatstadt *4,24 ist unbezeugt, war aber vermutlich vorhanden, weil es die Begründung für Jesu Weigerung enthält, das Geschehen von Kapharnaum zu wiederholen. Diese Weigerung mit dem Vorwurf des Unglaubens gegenüber einem Propheten führt zu den von Tertullian referierten Handgreiflichkeiten und dem Entkommen Jesu in *4,28-30. Es ist deutlich, dass die Fassung der Nazarethperikope in *Ev sehr eng mit *4,31-37 zusammengehört; sie wiederholt die literarische Struktur der vorangehenden Perikope, allerdings mit einem negativen Ausgang. *4,23b bildet auf der semantischen Ebene eine Klammer sowohl mit *4,33-35 als auch mit *4,37. Die sehr enge, strukturelle Parallelität ist ohne weiteres ersichtlich. *4,31-37 *4,16-30 Exposition: Ortsangabe 31a: καὶ κατῆλθεν εἰς Καϕαρναοὺμ πόλιν τῆς Γαλιλαίας 16a: καὶ ἦλθεν εἰς Ναζαρά, οὗ ἦν τεθραμμένος Exposition: Situation (Lehre) 31b: ἦν διδάσκων αὐτοὺς ἐν τοῖς σάββασιν 16b: ἐν τῇ ἡμέρᾳ τῶν σαββάτων … + Lehre in Vollmacht o. ä. Erste Reaktion auf die Lehre Jesu 32: Betroffenheit aller über Lehre in Vollmacht 22: καὶ ἔλεγον, Οὐχὶ υἱός ἐστιν Ἰωσὴϕ οὗτος; Exorzismus/ kein Exorzismus zur Bestätigung der Vollmacht 33-35: Exorzismus 23b: Kein Exorzismus. Stattdessen Rückverweis auf *4,33-35 (ὅσα … γενόμενα εἰς τὴν Καϕαρναοὺμ) und *4,37 (ἠκούσαμεν) Zweite Reaktion 36: Furcht 28: Zorn der Zeugen (καὶ ἐγένετο θάμβος ἐπὶ πάντας) (καὶ ἐπλήσθησαν πάντες θυμοῦ) Folge 37: ἦχος über Jesus breitet sich aus εἰς πάντα τόπον τῆς περιχώρου (s. 4,23b) 29f: Tötungsversuch (misslingt) Es liegt auf der Hand, dass beide Perikopen als zwei Teile eines Ganzen komponiert sind, das die Spannbreite der möglichen Reaktionen auf die Verkündigung und machtvolle Tat Jesu deutlich macht. Im Licht dieser engen Zusammengehörigkeit ist dann die (ursprüngliche) Abfolge von *4,31-37 zu *4,16-30 unmittelbar einsichtig. Diese Zusammengehörigkeit belegt, dass es in *Ev (zumindest: auch! ) sehr deutlich erkennbare kompositorische Signale und Verknüpfungen über Perikopengrenzen hinweg gab. ______________________________ 14 Möglicherweise ist aber auch hier schon der gewaltsame Ausgang mit im Blick; das würde dem Logion einen Sinn in der Richtung der Aufforderung σῶσον σεαυτόν (23,37.39; für *Ev nicht bezeugt, s. dort) geben. <?page no="39"?> 4,16-30 Rekonstruktion 551 8. Mit dieser Charakterisierung lässt sich die bis heute heftig umstrittene überlieferungsgeschichtliche Frage nach den Quellen von Lk 4,16-30 beantworten. 15 Hier gehen die Meinungen weit auseinander. Gegen die im Horizont der Zwei- Quellentheorie naheliegende Annahme einer Abhängigkeit von Mk 6,1-6a spricht zunächst ein gewichtiges (mt-lk) »Minor Agreement«: In Lk 4,16 und Mt 4,13 belegt die eigentümliche, ausschließlich hier bezeugte aramäische Namensform Ναζαρά eine nicht durch Mk vermittelte literarische Beziehung zwischen Mt und Lk, die es der Zwei-Quellentheorie zufolge gar nicht geben dürfte. 16 Auffälligerweise steht Mt 4,13 Ναζαρά nicht im Kontext der Ablehnung Jesu in seiner Heimatstadt (also dem mit Mk gemeinsamen Zusammenhang), sondern - ähnlich wie Lk 4,16 - direkt am Anfang des Berichts von der öffentlichen Wirksamkeit Jesu (Lk 4,1- 13 || Mt 4,1-11). Dies hat dann Anlass zu der Vermutung gegeben, dass die Erzählung von der Verwerfung Jesu in seiner Heimatstadt zu den »Mk-Q Overlaps« gehören könnte. 17 Wegen der großen Unterschiede zwischen Lk 4,16-30; Mk 6,1-6a || Mt 13,54-58; Mk 1,14f || Mt 4,12-17 || Lk 4,14f und den erkennbaren Überarbeitungsspuren innerhalb von Lk 4,16-30 hatte aber schon Heinrich Schürmann erwogen, ob Lk hier nicht einen älteren »Bericht vom Anfang« verwende, und damit eine Quelle jenseits der Optionen der Zwei-Quellentheorie ins Spiel gebracht. 18 Die vorliegende Rekonstruktion von *4,16-30 im Rahmen der Annahme der *Ev- Priorität beseitigt diese überlieferungsgeschichtlichen Aporien und erweist *Ev als die von Schürmann vermutete gemeinsame Quelle. Mk und Mt haben die Perikope in *Ev vorgefunden, aber das gewalttätige Ende daraus gestrichen. Mk hatte den Tötungsbeschluss in 3,6 als Höhepunkt an das Ende der sorgfältig komponierten Folge von Auseinandersetzungen platziert (Mk 2,1-3,6). Diese Streitgespräche erlauben es ihm, die Gegner Jesu (Schriftgelehrte, Pharisäer, Herodianer) charakterisierend in seine Erzählung einzuführen, um später auf sie zurück kommen zu können. Er erreicht dadurch eine narrative Geschlossenheit, in der die Erwähnung der Bewohner von ______________________________ 15 Zur Literarkritik und den Quellen von Lk 4,16-30 vgl. den Forschungsbericht von C HR . J. S CHRECK , The Nazareth Pericope. Luke 4,16-30 in Recent Study, in: Fr. Neirynck (ed.), L’Évangile de Luc, Leuven 1989, 399-471: 403-427. 16 Es ist vor allem Michael Goulders Verdienst, dieses Beispiel (und seine Unvereinbarkeit mit der Zwei-Quellentheorie) als offene Frage in der Diskussion gehalten zu haben, vgl. M. D. G OULDER , On Putting Q to the Test, NTS 24 (1977/ 78), 218-234: 220; DERS ., The Order of a Crank, in: Chr. M. Tuckett (ed.), Synoptic Studies, Sheffield 1984, 111-130: 113f; DERS ., Two Significant Minor Agreements (Mat. 4: 13 Par.; Mat. 26: 67-68 Par.), NT 45 (2003), 365-373: 366-371. 17 So vor allem C HR . M. T UCKETT , Luke 4,16-30, Isaiah and Q, in; J. D ELOBEL (Hg.), Logia, Leuven 1982, 343-354. 18 H. S CHÜRMANN , Zur Traditionsgeschichte der Nazareth-Perikope Lk 4,16-30, in: A. Descamps (ed.), Mélanges Bibliques, Gembloux 1970, 187-205. <?page no="40"?> 552 Anhang I 4,16-30 Nazareth nur gestört hätte. Stattdessen hat er die Ablehnung Jesu in seiner Heimatstadt als anschauliches Beispiel für den Unglauben, auf den die Verkündigung Jesu trotz unbestreitbarer Erfolge stößt, in den Abschnitt integriert, in dem Jesus den Jüngern Inhalt und Tragweite ihrer Aussendung vorführt. 19 Mt zeigt zwar, dass er den Bericht über das Geschehen in Nazareth in *Ev gleich zu Beginn der öffentlichen Wirksamkeit Jesu kannte, wie die Namensform Ναζαρά in Mt 4,13 zeigt. Aber er hat ihn von dort - analog zum mk Aufriss - hinter die für ihn programmatische Bergpredigt an das Ende der galiläischen Streitgespräche verlegt (Mt 12,1-14). Dies ließ ihm die Möglichkeit, die tödlichen Nachstellungen gegen Jesus als Komplott der politisch-religiösen Autoritäten von Herodes (Mt 2,1-18) bis zu den Hohenpriestern (Mt 27,1ff) in einen denkbar weiten narrativen Rahmen einzuspannen. Lk konnte den Tötungsversuch an dieser Stelle belassen: Er hat ihn durch die Umstellung von 4,16-30 vor 4,31-37 sowie durch seine Erweiterungen in Lk 4,17-22a und 25-27 deutlich aufgewertet: Er eröffnet damit den programmatischen Zusammenhang von Geistbegabung, Sendung zu den Heiden und dem (letztendlich erfolglosen) Versuch, Jesus zu töten. [ 4,38f: Heilung der Schwiegermutter des Petrus ] Unbezeugt, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht vorhanden und durch die lk Redaktion ergänzt. [ 38 Ἀναστὰς δὲ ἀπὸ τῆς συναγωγῆς εἰσῆλθεν εἰς τὴν οἰκίαν Σίμωνος. πενθερὰ δὲ τοῦ Σίμωνος ἦν συνεχομένη πυρετῷ μεγάλῳ, καὶ ἠρώτησαν αὐτὸν περὶ αὐτῆς. 39 καὶ ἐπιστὰς ἐπάνω αὐτῆς ἐπετίμησεν τῷ πυρετῷ, καὶ ἀϕῆκεν αὐτήν· παραχρῆμα δὲ ἀναστᾶσα διηκόνει αὐτοῖς. ] A. Die Perikope ist unbezeugt. Dabei ist die Nichtbezeugung durch Epiphanius wenig aufschlussreich, da dessen Scholien erst bei *5,14 einsetzen (Epiph. 42,11,6 Schol. 1; s. u.). Anders bei Tertullian, der von seiner Behandlung von *4,16-30 (s. dort) direkt übergeht zur Wiedergabe von *4,40f (4,8,5: »und so fuhren die Geister, gleichsam nach dem Vorbild des vorangehenden Beispiels, aus, indem sie riefen …«). C. Die Schwierigkeiten bei der Beurteilung zeigen sich daran, dass die Vertreter der Lk-Priorität diese Perikope an unterschiedlichen Stellen behandeln: Harnack erwähnt sie im Anschluss an 4,36f; er vermutet sie also vor 4,16-30, weil er dem Aufriss des Lk folgt. 1 Tsutsui behandelt sie dagegen im Anschluss an 4,16-30. 2 Die ______________________________ 19 Zu diesem Abschnitt vgl. M. K LINGHARDT , Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002), 183-202. 1 H ARNACK 185*. 2 T SUTSUI 78. <?page no="41"?> 4,38f Rekonstruktion 553 unterschiedliche Verortung der Perikope korrespondiert mit der Beurteilung, die sich aus der Nichtbezeugung ergibt. Ein Urteil, ob Lk die Perikope aus Mk 1,29-31 || Mt 8,14f kannte oder aus *Ev, lässt sich daher nur aus inneren Gründen fällen. Folgende Gesichtspunkte sind dabei zu beachten: 1. Am schwersten wiegt, dass die Erwähnung des Simon an dieser Stelle des lk Erzählfadens eine weitere narrative Inkohärenz bedeutet, da Simon erst in *5,3-11 in die Erzählung eingeführt wird: Da sich Jesus und Simon noch gar nicht begegnet sind, erscheint der Besuch in Simons Haus unmotiviert. 3 Andererseits sind die Synagoge und das Haus des Neubekehrten in Act die typischen Wirkungsstätten der Missionare: Hier lässt sich also ein redaktionelles Interesse des Lk ausmachen. 4 2. Im Unterschied zur lk Erzählung hat Mk mit 1,16-34 eine sinnvolle Einheit geschaffen: Berufung der ersten vier Jünger, erstes öffentliches Auftreten Jesu in der Synagoge in Kapharnaum, Heilung der Schwiegermutter des Simon, weitere Heilungen »vor ihrer Haustür« (Mk 1,33: πρὸς τὴν θύραν). Diese (mk) Erzählung ist sinnvoll komponiert und stellt jeweils komplementär gegenüber, wie sich Jesu Vollmacht (Mk 1,22) auswirkt: Dem geheilten Mann (Mk 1,23) steht die geheilte Frau (Mk 1,30) gegenüber, der öffentlichen Situation der Synagoge die private des Hauses, dem Exorzismus die Heilung. Dieser letzte Aspekt wird im summarischen Abschluss gleich doppelt aufgegriffen5 und erweist sich so als wichtiges kompositionelles Element der mk Erzählung. 3. Schließlich ist auffällig, dass Tertullians Referat nach der Behandlung von *4,16-30 direkt zu *4,40f übergeht. Dabei verweist er auf die Heiltätigkeit Jesu von *4,23 6 und erwähnt, dass er später noch andere Arten von Heilungen besprechen werde (4,8,4: veniemus tamen et ad species curationum): Die einfachste Möglichkeit, dies zu tun, wäre es gewesen, wenn er auf die Heilung der Schwiegermutter des Petrus hätte verweisen können. Dies tut er aber nicht; vielmehr bemüht er sich um den Nachweis, dass ein Exorzismus auch eine »Heilung« sei, 7 und schließt daran das Referat von *4,40f an, wo sowohl von Heilungen (mit Handauflegung) als auch von Exorzismen die Rede ist (s. gleich): »und so fuhren die Geister, gleichsam nach dem Vorbild des vorangehenden Beispiels (quasi ex forma iam ______________________________ 3 Vgl. W OLTER , Lk 203. 4 Vgl. B OVON , Lk I 224. Bovon wertet daher das Fehlen des Artikels vor dem Namen in 4,38a (εἰς τὴν οἰκίαν Σίμωνος) als Ausdruck dieser Verlegenheit und versteht »ins Haus eines gewissen Simon« (ebd. Anm. 33). Das ist nicht überzeugend. Denn Mk 1,29 hat hier dieselbe Wendung, obwohl »Simon« zuvor schon genannt war: Auch bei der ersten Erwähnung im Zusammenhang der Berufung (Mk 1,16) werden die Namen der Jünger ohne Artikel eingeführt. 5 Mk 1,32: πάντας τοὺς κακῶς ἔχοντας καὶ τοὺς δαιμονιζομένους; 1,34: ἐθεράπευσεν πολλοὺς κακῶς ἔχοντας ποικίλαις νόσοις, καὶ δαιμόνια πολλὰ ἐξέβαλεν. 6 Vgl. *4,23: Ἰατρέ, θεράπευσον σεαυτόν; Tert. 4,8,4: quodcunque curaverit Iesus, meus est. 7 4,8,5: ceterum et a daemoniis liberare curatio est valetudinis. <?page no="42"?> 554 Anhang I 4,38-39 prioris exempli), aus, indem sie riefen …« Diese Verbindung von Heilung und Exorzismus, an der Tertullian interessiert ist, hätte er mit einem kurzen Hinweis auf die Heilung der Schwiegermutter des Petrus sehr viel leichter haben können: Diese Erwähnung des prius exemplum ist daher als Hinweis auf die unmittelbare Abfolge von *4,16-30 und *4,40f in *Ev zu werten. Auch wenn das Urteil unsicher bleibt, spricht doch mehr dafür, dass Lk 4,38f in *Ev gefehlt hat, als dass Tertullian diese Erzählung in seinem Referat übergangen hat. *4,40-41: Exorzismen am Abend. Messiasbekenntnis der Dämonen Gut bezeugt und sicher vorhanden, wahrscheinlich redaktionell bearbeitet. ¿Mt 4,13 καὶ καταλιπὼν τὴν Ναζαρὰ ἐλθὼν κατῴκησεν εἰς Καϕαρναοὺμ τὴν παραθαλασσίαν ἐν ὁρίοις Ζαβουλὼν καὶ Νεϕθαλίμ.? *4,40 Δύνοντος δὲ τοῦ ἡλίου ἅπαντες ὅσοι εἶχον ἀσθενοῦντας νόσοις ποικίλαις ἤγαγον αὐτοὺς πρὸς αὐτόν· ὁ δὲ ἑνὶ ἑκάστῳ αὐτῶν τὰς χεῖρας ἐπιτιθεὶς ἐθεράπευεν αὐτούς. 41 ἐξήρχετο δὲ καὶ δαιμόνια ἀπὸ πολλῶν, κραυγάζοντα καὶ λέγοντα a ὅτι Σὺ εἶ ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ. καὶ ἐπιτιμῶν οὐκ εἴα αὐτὰ λαλεῖν, ὅτι ᾔδεισαν τὸν Χριστὸν αὐτὸν εἶναι. A. *4,40: Tert. 4,8,4: ad summam, et ipse mox tetigit alios, quibus manus imponens, utique sentiendas, beneficia medicinarum conferebat, tam vera, tam non imaginaria, quam erant per quas conferebat. ♦ *4,41: Tert. 4,8,5: Ceterum et daemoniis liberare curatio est valetudinis. Itaque spiritus nequam quasi ex forma iam prioris exempli cum testimonio excedebant vociferantes, Tu es filius dei. B. a (4,41) οτι: om Tert 443 517 1223 1424 1675 a aur b c e ſſ 2 g 1 l r 1 sy s Tat arab ¦ add d f q vg M . C. Von *4,40f sind hinreichende Elemente bezeugt, die diese beiden Verse für *Ev sicherstellen. *4,40 ist für Tertullian als antidoketisches Argument wichtig, denn die Handauflegungen Jesu implizieren seine Körperlichkeit: Nur ein Körper kann berühren oder berührt werden. 1 Den unmittelbaren Anlass für dieses Argument findet Tertullian in der Bemerkung *4,30, dass Jesus »mitten durch sie hindurch gegangen« war, die ja zumindest Zweifel an der körperlichen Existenz Jesu aufkommen lassen könnte. Die Unmittelbarkeit, mit der Tertullians Referat von *4,30 auf *4,40 zu sprechen kommt, legt nahe, dass er in *Ev beide Verse in direkter Abfolge vorgefunden hatte. 1. Das Bekenntnis der Dämonen *4,41 wirft für Tertullian allerdings Probleme auf, denn es scheint Marcions Ditheismus zu bestätigen: Die Unterwerfung der ______________________________ 1 Tert. 4,8,3: tangere enim et tangi nisi corpus nulla potest res. <?page no="43"?> 4,40-41 Rekonstruktion 555 Dämonen unter Jesus passt zu der marcionitischen Vorstellung, dass Jesus als Zerstörer des Schöpfergottes, des Herrn der Dämonen, erschienen sei. Tertullian muss also deutlich machen, dass die Anerkennung der Vollmacht Jesu durch die Dämonen nicht auf seinen Kampf gegen den Schöpfer zurückzuführen ist. Er tut dies durch den Hinweis, dass sich die Dämonen vor Jesus fürchten, wogegen Marcion doch leugne, dass sein deus bonus ein Grund zum Fürchten sei. 2 Aus dem furchtsamen Gehorsam der Dämonen folgt also für Tertullian die Unhaltbarkeit der marcionitischen Distinktion zwischen deus und creator. 2. Die eigentliche Schwierigkeit für die Rekonstruktion dieser Perikope liegt in der Frage, ob sie in *Ev einen narrativen Anschluss besaß. Im kanonischen Zusammenhang schließt Lk 4,40 an die in Kapharnaum berichtete Heilung der Schwiegermutter des Petrus an, die in *Ev vermutlich gefehlt hat (4,38f; s. dort). Den Ortswechsel, den die narrative Logik nach der Ablehnung in Nazara erforderlich machte, konnte Lk aufgrund der Umstellung von 4,16-30 und 4,31-37 ganz problemlos aus der Einleitung in *4,31 vom Anfang von *Ev übernehmen. Da aber *Ev eine andere Akoluthie besaß, muss an dieser Stelle ein Ortswechsel berichtet worden sein. Die enge überlieferungsgeschichtliche Zusammengehörigkeit von *4,16 || Mt 4,13, die sich aus der exklusiven Verwendung der Namensform Ναζαρά ergibt, legt es nahe, dass *Ev an dieser Stelle einen Hinweis auf die Rückkehr Jesu von Nazara nach Kapharnaum besaß, der Mt 4,13 entspricht. Sofern die Erwähnung von Sebulon und Naphtali in dieser Bemerkung erhalten war, wäre Mt durch *Ev zu dem Reflexionszitat Mt 4,14-16 angeregt worden. Die Rekonstruktion dieser Passage bleibt allerdings unsicher: Die massiven Eingriffe der lk Redaktion mit ihren Umstellungen und umfangreichen Ergänzungen machen ein zuversichtliches Urteil unmöglich, zumal die Häresiologen aus nachvollziehbaren Gründen so gut wie nie Interesse an den narrativen Rahmungen der einzelnen Perikopen zeigen und sie mit Stillschweigen übergehen. *4,42-43: Jesu Rückzug in die Einsamkeit und Verweis auf seine Sendung Gut bezeugt, sicher vorhanden. *4,42 Γενομένης δὲ ἡμέρας ἐξελθὼν ἐπορεύθη εἰς ἔρημον τόπον· καὶ οἱ ὄχλοι ἐπεζήτουν αὐτόν, καὶ ἦλθον ἕως αὐτοῦ, καὶ κατεῖχον αὐτὸν τοῦ μὴ πορεύεσθαι ἀπ’ αὐτῶν. 43 ὁ δὲ εἶπεν πρὸς αὐτοὺς ὅτι a δεῖ με καὶ ταῖς ἑτέραις πόλεσιν b ἀπαγγελίσασθαι τὴν βασιλείαν a τοῦ θεοῦ, ὅτι ἐπὶ τοῦτο ἀπεστάλην. ______________________________ 2 Tert. 4,8,7: Marcion deum suum timeri negat. <?page no="44"?> 556 Anhang I 4,42-43 A. *4,42: Tert. 4,8,9: in solitudinem procedit. Solemnis et huiusmodi regio creatoris. Oportebat sermonem illic quoque videri in corpore ubi egerat aliquando et in nube. Competebat et evangelio habitus loci qui placuerat et legi. Capiat itaque iocunditatem solitudo: hoc Esaias promiserat. ♦ *4,43: Tert. 4,8,9: Detentus a turbis, Oportet me, inquit, et aliis civitatibus annuntiare regnum dei. B. a (4,43) δει με και ταις ετεραις πολεσιν ευαγγελισασθαι/ oportet me et in alias civitates evangelizare (benenuntiare: e): Tert B D W 892 d e ¦ (7 6 1-5) και ταις ετεραις πολεσιν ευαγγελισασθαι με δει: it M ● b (4,43) απαγγελισασθαι/ annuntiare: Tert ¦ benenuntiare: e ¦ ευαγγελισασθαι/ evangelizare: a aur b c d f ſſ 2 l q r 1 M . C. Tert. bezeugt *4,42-43 in direktem Anschluss an sein Referat von *4,41. Es spricht alles dafür, dass er bei *Ev den kanonischen Zusammenhang von 4,40-43 gelesen hat. Die beiden Zeitangaben (*4,40a.42a) sind aufeinander bezogen und gehören zusammen: Geschildert wird das Geschehen einer Nacht. Methodisch wichtig ist, dass Tertullian für *Ev die Wendung ἀπαγγελίσασθαι τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ bezeugt, denn das Syntagma (τὴν) βασιλείαν τοῦ θεοῦ + Verb des Verkündigens kommt innerhalb des NT nur in Lk-Act vor und gilt daher als feste Prägung im redaktionellen Vokabular des Lk. 1 Diese Beobachtung scheint nicht zur Annahme der *Ev-Priorität zu passen und wurde dementsprechend auch als Argument gegen die hier vorgenommene Verhältnisbestimmung von *Ev und Lk angeführt. 2 Zwar ist die Bedeutung, die das Syntagma βασιλείαν τοῦ θεοῦ κηρύσσειν/ εὐαγγελίζεσθαι für das redaktionelle Konzept in Lk-Act besitzt, unbestreitbar, wie vor allem die Belege in Act 28,23.31 zeigen. Allerdings ist die Schlussfolgerung, dass die Belege der Wendung in *Ev (*4,43; *16,16) in einem vorlk Text nicht auftauchen dürften und daher die Annahme der *Ev-Priorität grundsätzlich unterminierten, eine unzulässige petitio principii. Sie setzt nämlich voraus, dass alle Elemente, die sich zu einem redaktionellen Konzept fügen lassen, auch erst redaktionell geschaffen sein müssen. In letzter Konsequenz impliziert diese Überlegung, dass der Bearbeiter eines Textes seine eigenen redaktionellen Interessen ausschließlich in redaktionellen Zusätzen bzw. Veränderungen - und ______________________________ 1 »Lukas ist der einzige neutestamentliche Autor, der den Begriff βασιλεία τοῦ θεοῦ als Objekt von Verben der Verkündigung verwendet: Lk 4.43; 8.1; 9.2, 60; 16.16; Apg 20.25; 28.23; 31« (M. W OLTER , »Reich Gottes« bei Lukas, NTS 41 [1995], 541-563: 543). Vgl. auch A. W EISER , »Reich Gottes« in der Apostelgeschichte, in: C. Bussmann (Hg.), Der Treue Gottes trauen, Freiburg/ Brsg. u. a. 1991, 127-135: 128. 2 So hat Michael Wolter eingewandt, die These der *Ev-Priorität scheitere »vor allem daran, dass sie den Textbestand ignoriert und nicht beachtet, dass Markions Evangelium an vielen Stellen Formulierungen enthält, die eindeutig der lukanischen Redaktion zuzuweisen sind« (W OLTER , Lk 3, gegen M. K LINGHARDT , Markion vs. Lukas: Plädoyer für die Wiederaufnahme eines alten Falles, NTS 52 [2006], 484-513: 499). Als Beispiele für dieses Phänomen nennt er die Wendung βασιλείαν τοῦ θεοῦ κηρύσσειν/ εὐαγγελίζεσθαι und verweist auf *4,43 und *16,16. <?page no="45"?> 4,42-43 Rekonstruktion 557 nicht auch in der übernommenen Tradition - zum Ausdruck bringen kann. Diese Bestimmung von Tradition und Redaktion entzieht aber jedem Redaktionsverfahren seine Grundlage: Ein Redaktor bearbeitet traditionelle Texte ja nur deshalb, weil ihm an dieser Tradition gelegen ist. Andernfalls würde er nicht tradierte Texte redigieren, sondern als Autor komplett neue Texte verfassen. Für das vorliegende Problem ist daher von vornherein damit zu rechnen, dass das inhaltliche Interesse eines Redaktors durch Elemente seines Prätextes angeregt sein kann, die er dann durch Weiterentwicklung und Verstärkung akzentuieren und zu einem deutlich profilierten redaktionellen Konzept ausarbeiten kann. Für den vorliegenden Fall des Syntagmas βασιλείαν τοῦ θεοῦ + Verb des Verkündigens ist diese Akzentuierung in der Tat zu beobachten. In den acht Vorkommen in Lk-Act steht als Verb in dieser Verbindung jeweils einmal διαγγέλλειν (Lk 9,60) bzw. διαμαρτυρεῖν (Act 28,23), drei Mal κηρύσσειν (Lk 9,2; Act 20,25; 28,31) und ebenfalls drei Mal εὐαγγελίζεσθαι (Lk 4,43; 16,16; 8,1, hier neben κηρύσσειν). Von den fünf Belegen aus Lk, die für den Vergleich mit *Ev allein in Frage kommen, sind vier durch Tertullian belegt (8,1 hat in *Ev sehr wahrscheinlich gefehlt, s. dort): Er gibt κηρύσσειν (Lk 9,2) durch praedicare wieder (Tert. 4,21,1), διαγγέλλειν (Lk 9,60) durch annuntiare (Tert. 4,23,1) und εὐαγγελίζεσθαι (Lk 4,43; 16,16) ebenfalls durch annuntiare. Dass Tertullian nicht das redaktionelle εὐαγγελίζεσθαι des kanonischen Textes las, wird durch die altlateinische Überlieferung gestützt, die hier nicht wie Tertullian annuntiare, sondern evangelizare (bzw. benenuntiare: e) liest: Die lateinische Übersetzung hat terminologisch zwischen εὐαγγελίζεσθαι und ἀπαγγελίζεσθαι unterschieden. Allerdings hat Tertullian ansonsten keine Schwierigkeiten, das Lehnwort evangelizare zu verwenden (vgl. Tert. 4,25; 4,4,5; 4,13,1-3; 4,14,13; 4,34,16, hier neben annuntiare); es liegt daher nahe, dass er an dieser Stelle in *Ev tatsächlich ἀπαγγελίσασθαι anstelle des kanonischen εὐαγγελίσασθαι las. Gerade weil der semantische Unterschied zwischen εὐαγγελίζεσθαι/ evangelizare und ἀπαγγελίζεσθαι/ annuntiare so minimal ist, fällt die distinkte Verwendung auf: Sie ist eine Folge der lk Redaktion, die den Sprachgebrauch vereinheitlicht hat. Im umgekehrten Fall müsste man erklären, wieso *Ev das kanonische ε ὐ αγγελίσασθαι durch ἀ π αγγελίσασθαι ersetzt haben sollte. Das gleiche Phänomen liegt auch *16,16 vor (s. dort). Die distinkte Wiedergabe von ἀπαγγελίσασθαι und εὐαγγελίσασθαι ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Redaktion das angeblich »typisch lk« Syntagma (Verb des Verkündigens + βασιλείαν τοῦ θεοῦ als Objekt) bereits in *Ev vorgefunden, gleichwohl aber redaktionell bearbeitet hat. Das redaktionelle Interesse des Lk, das sich in der Ersetzung von ἀπαγγελίσασθαι durch εὐαγγελίσασθαι erweist, ist Ausdruck des theologischen Gestaltungswillens und verstärkt die Tendenz, Jesus zum Urheber des Evangeliums zu machen, dessen zentraler Inhalt er selbst ist. <?page no="46"?> 558 Anhang I 4,44 *4,44: Summar - Verkündigung in den Synagogen von Galiläa Unbezeugt, sehr wahrscheinlich vorhanden; durch die lk Redaktion bearbeitet. *4,44 καὶ ἦν κηρύσσων εἰς τὰς συναγωγὰς τῆς a Γαλιλαίας. B. a (4,44) Γαλιλαιας/ Galilaeae: A D Θ Ψ f 13 it sy p.hmg sa bo mss ¦ Ιουδαιας: P 75vid א B C L Q R W (των Ιουδαιων) f 1 mult lectt M sy s.h bo mss (*Ev non test.). C. Tertullian übergeht das Summar in seinem Referat. Auch die Vertreter der Lk- Priorität vermerken nur die Nichtbezeugung, geben aber keine Erklärungen. 1 Die Beurteilung der Summare hier und an anderen Stellen (z. B. 5,15f; 6,18.19; 7,17; 8,1) wirft ein eigenes Problem für die Rekonstruktion auf. Auf der einen Seite liegt auf der Hand, dass die Zeugen für *Ev an den summarischen Notizen nicht interessiert sind, weil diese in der Regel inhaltlich nicht besonders aussagekräftig sind: Zumeist fassen sie Geschehen zusammen, das andernorts präziser zum Ausdruck gebracht wird. Für diese Texte läge es nahe, wenn Tertullian und Epiphanius sie einfach aus Desinteresse übergangen hätten. Da auch die modernen Rekonstrukteure von *Ev ja durchweg eine inhaltliche Redaktion des kanonischen Lk-Textes voraussetzen, äußern sie sich nicht zu den Gründen für die Nichtbezeugung. So gesehen, könnten die Summare theoretisch in *Ev enthalten gewesen sein, ohne dass wir davon Kenntnis erlangt haben. Auf der anderen Seite liefern die Summare häufig narrative Verknüpfungen, die (zumindest ansatzweise) dazu dienen, die Einzelszenen zusammenfassend in einen Erzählzusammenhang zu bringen und als eine Einheit zu deuten. Angesichts des stark fragmentarischen Gesamtcharakters - der bezeugte Bestand verrät, dass *Ev häufig Perikopen einfach unverbunden nebeneinander stellte - stehen diese Summare jedoch unter dem Generalverdacht, Teil der lk Redaktion zu sein. Das gilt besonders in den Fällen, in denen ein (lk) redaktionelles Interesse zumindest wahrscheinlich ist. Für die Beurteilung der Summare ist daher besondere Vorsicht geboten. Wenn keine zusätzlichen (textkritischen, überlieferungsgeschichtlichen oder kompositionskritischen) Gesichtspunkte vorliegen, lässt sich kein einigermaßen verlässliches Urteil fällen (vgl. daher im Einzelnen u. zu 5,15f; 6,18.19; 7,17; 8,1). Dies ist jedoch für *4,44 aufgrund des textkritischen Problems der Fall: Ein beachtlicher Teil der Handschriftenüberlieferung (A D Θ Ψ f 13 it sy p.hmg sa bo mss ) liest, in enger Entsprechung zu Mk 1,39 || Mt 4,23, (καὶ ἦν κηρύσσων εἰς τὰς συναγωγὰς τῆς) Γ α λ ι λ α ί α ς anstelle von Ἰο υ δ α ί α ς (so aber P 75vid א B C L Q R W f 1 mult lectt sy s.h ). Metzger zieht die Lesart Ιουδαιας als lectio difficilior vor, weil sie der Ankündigung in 4,14 widerspreche und daher von den Kopisten nach ______________________________ 1 H ARNACK 187*; T SUTSUI 78. <?page no="47"?> 4,44 Rekonstruktion 559 Mt 4,23 korrigiert worden sei. 2 Vor dem Hintergrund der Beobachtungen zu den engen Entsprechungen zwischen *Ev und dem »Westlichen Text« leuchtet weder die Entscheidung noch die Begründung ein, da die »Westlichen Hauptzeugen« (D it [sy]) hier auf überzeugende Weise zusammengehen, zugleich aber von den alten und zuverlässigen Zeugen P 75 א B abweichen: Es liegt das bekannte Phänomen vor, dass eine redaktionelle Änderung von *Ev im kanonischen Text durch einen Teil der Überlieferung nicht mit korrigiert wurde; in diesem Fall betrifft das nicht nur D it (sy), sondern auch andere Handschriften. Dazu stimmt die Beobachtung, dass die komprehensive Verwendung von Ἰουδαία als Bezeichnung des gesamten von Juden bewohnten Landes in Palästina eine typisch lk Wendung ist. 3 Die anderen Belege für dieses Verständnis 4 sind durchweg verdächtig, redaktionell zu sein: Lk hat ein ausgesprochenes Interesse an »Judäa«. 5 Auch wenn deswegen nicht alle Vorkommen von »Judäa« automatisch redaktionell sind, ist doch für die unbezeugten Stellen erhöhte Vorsicht angebracht. Dieses textkritische Urteil erlaubt dann die überlieferungsgeschichtliche Schlussfolgerung, dass Mk 1,39 || Mt 4,23 mit dem Hinweis auf die Synagogen Galiläas den Text von *Ev bewahrt haben, während Lk hier aus redaktionellen Gründen die Synagogen Judäas eingetragen hat. Die Differenz zwischen den beiden Strängen der handschriftlichen Überlieferung macht es daher sehr wahrscheinlich, dass das Logion als Abschluss von *4,41-43 in *Ev enthalten war. *5,1-2.3-6.7.8-11: Wunderbarer Fischzug. Berufung des Petrus und der Zebedaiden Bezeugt, sicher vorhanden, aber vermutlich redaktionell bearbeitet. 5,1 Ἐγένετο δὲ ἐν τῷ τὸν ὄχλον ἐπικεῖσθαι αὐτῷ καὶ ἀκούειν τὸν λόγον τοῦ θεοῦ a ἑστώτος αὐτοῦ a παρὰ τὴν λίμνην Γεννησαρέτ 2 καὶ εἶδεν δύο πλοῖα ἑστῶτα παρὰ τὴν λίμνην· οἱ δὲ ἁλιεῖς ἀπ’ αὐτῶν ἀποβάντες ἔπλυνον τὰ δίκτυα. 3 ἐμβὰς δὲ εἰς ἓν τῶν πλοίων, ὃ ἦν Σίμωνος, ἠρώτησεν αὐτὸν ἀπὸ τῆς γῆς ἐπαναγαγεῖν b ὅσον ὅσον b , c καθίσας δὲ ἐν τῷ πλοίῳ c ἐδίδασκεν τοὺς ὄχλους. 4 ὡς δὲ ἐπαύσατο λαλῶν, εἶπεν πρὸς τὸν Σίμωνα, Ἐπανάγαγε εἰς τὸ βάθος καὶ χαλάσατε τὰ δίκτυα ὑμῶν εἰς ______________________________ 2 M ETZGER , Textual Commentary 114f z. St. 3 Vgl. W OLTER , Lk 72f zu 1,5. 4 Vgl. Lk 1,5 (hat in *Ev sicher gefehlt); 6,16; 7,17; 23,5 (s. jeweils z. St.); Act 1,8. 5 Dies gilt auch für die Belege, an denen »Judäa« die römische Provinz im engeren Sinn (des ehemaligen Südreichs bzw. der persischen Provinz Jehud) bezeichnet: Lk 2,4; 3,1; 5,17; 21,21 (sowie Act 9,31) sind durchweg redaktionell (s. jeweils z. St.). Vgl. insgesamt D. P. B ECHARD , The Theological Significance of Judaea in Luke-Acts, in: J. Verheyden (ed.), The Unity of Luke-Acts, Leuven 1999, 675-691. <?page no="48"?> 560 Anhang I 5,1-11 ἄγραν. 5 d ὁ δὲ Σίμων ἀποκριθεὶς d εἶπεν e αὐτῷ, Διδάσκαλε e , δι’ ὅλης νυκτὸς κοπιάσαντες οὐδὲν ἐλάβομεν, ἐπὶ δὲ τῷ ῥήματί σου f οὐ μὴ παρακούσομαι f . 6 καὶ g εὐθὺς χαλάσαντες τὰ δίκτυα g συνέκλεισαν πλῆθος ἰχθύων πολύ, h ὥστε τὰ δίκτυα ρήσσεσθαι h . 7 καὶ κατένευσαν τοῖς μετόχοις ἐν τῷ ἑτέρῳ πλοίῳ τοῦ ἐλθόντας i βοηθεῖν αὐτοῖς· καὶ ἦλθον, καὶ ἔπλησαν ἀμϕότερα τὰ πλοῖα ὥστε k παρά τι βυθίζεσθαι k . 8 l ὁ δὲ Σίμων [ Πέτρος ] l προσέπεσεν m αὐτοῦ τοῖς ποσὶν m λέγων, n {Παρακαλῶ,} ἔξελθε ἀπ’ ἐμοῦ, ὅτι ἀνὴρ ἁμαρτωλός εἰμι, κύριε· 9 θάμβος γὰρ περιέσχεν αὐτὸν o [ καὶ πάντας τοὺς σὺν αὐτῷ ] o ἐπὶ τῇ ἄγρᾳ τῶν ἰχθύων ὧν συνέλαβον. 10 p ἦσαν δὲ κοινωνοὶ αὐτοῦ Ἰάκωβος καὶ Ἰωάννης υἱοὶ Ζεβεδαίου· ὁ δὲ εἶπεν αὐτοῖς· δεῦτε καὶ μὴ γίνεσθε ἁλιεῖς ἰχθύων, ποιήσω γὰρ ὑμᾶς ἁλιεῖς ἀνθρώπων· 11 οἱ δὲ ἀκούσαντες πάντα κατέλειψαν ἐπὶ τῆς γῆς καὶ p ἠκολούθησαν αὐτῷ. A. *5,3-5.8: Tert. 4,9,1: De tot generibus operum quid utique ad piscaturam respexit, ut ab illa in apostolos sumeret Simonem et filios Zebedaei (non enim simplex factum videri potest de quo argumentum processurum erat) … ♦ *5,4-10: Tert. 4,9,1: piscatura. ♦ *5,6.9: Tert. 4,9,1: … dicens Petro trepidanti de copiosa indagine piscium. ♦ *5,8-10: Tert. 4,9,1: … dicens Petro trepidanti de copiosa indagine piscium, Ne time, abhinc enim homines eris capiens? ♦ *5,11: Tert. 4,9,2: Denique relictis naviculis secuti sunt eum, ipsum intellegentes qui coeperat facere quod edixerat. B. a (5,1) εστωτος αυτου/ stante illo: D d (e ) Tat arab ¦ om 047 ¦ add και αυτος ην εστως: M (*Ev non test.) ● b (5,3) οσον οσον: D d Tat pers ¦ ολιγον: M (*Ev non test.) ● c (5,3) καθισας δε εν τω πλοιω: א D (d e) aeth August (In Joh 122,7; CCL 36, 671) ¦ καθισας δε εκ του πλοιου: M (*Ev non test.) ● d (5,5) ο δε Σιμων αποκριθεις: D d ([1 2] om: e) ¦ και αποκριθεις ο Σιμων: M (*Ev non test.) ● e (5,5) αυτω διδασκαλε/ illi magister: D a d ¦ επιστατα/ praeceptor: it M (*Ev non test.) ● f (5,5) ου μη παρακουσομαι: D* (d); ου μη παρακουσομεν: D c (e) ¦ χαλασω τα διτκυα: it M (*Ev non test.) ● g (5,6) ευθυς χαλασαντες τα δικτυα: D (d e sy s ) August (Spec. 248; 250; 252; 270; PL 38, 1159; 1164; 1172; 1243) ¦ τουτο ποιησαντες: it M (*Ev non test.) ● h (5,6) ωστε τα δικτυα ρησσεσθαι: D (d) e armen aeth got August (In Ps 49,9; CCL 38, 582; Spec. 248; 252; 272 [s. o.]) ¦ διερρησσετο δε τα δικτυα αυτων: M (*Ev non test.) ● i (5,7) βοηθειν/ adiuvarent: D it ¦ συλλαβεσθαι (συμλαμβανεσθε, συναντιλαβεσθαι usw.): M (*Ev non test.) ● k (5,7) παρα τι βυθιζεσθαι: D c d e r 1 sy s.p.hmg Tat arab.pers armen Ambr (Lc. 4,77; CCL 14, 134) August (Spec. 249,1; PL 38, 1161) ¦ βυθιζεσθαι: a aur b f ſſ 2 l q ¦ βυθιζεσθαι αυτα: M (*Ev non test.) ● l (5,8) ο δε Σιμων: D (d); ο δε Σιμων ιδων: e; τουτο ιδων Σιμων: a b r 1 ¦ ιδων δε Σιμων Πετρος: aur c f ſſ 2 l q (vg) M (*Ev non test.) ● m (5,8) αυτου τοις ποσιν: D (1 118 131 205 209 579 1582 c d e sy s.p Tat arab.pers sa bo ¦ τοις γονασι του Ιησου: a aur b f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● n (5,8) παρακαλω: D d; παρακαλω σε: c f r 1 got; προς τον Ιησουν παρακαλω σε: e; αυτω παρακαλω σε κυριε: sy p (~ Tat arab ) ¦ om a aur b ſſ 2 l q M (*Ev non test.) ● o (5,9) και παντας τους συν αυτω: om D 179 1242* d ¦ add it M (*Ev non test.) ● p (5,10-11) ησαν δε κοινωνοι αυτου Ιακωβος και Ιωαννης υιοι Ζεβεδαιου· ο δε ειπεν αυτοις· δευτε και μη γινεσθε αλιεις ιχθυων, ποιησω γαρ υμας αλιεις ανθρωπων· οι δε ακουσαντες παντα κατελειψαν επι της γης και: D d (e) ¦ ομοιως δε και Ιακωβον και Ιωαννην υιους Ζεβεδαιου, <?page no="49"?> 5,1-11 Rekonstruktion 561 οι ησαν κοινωνοι τω Σιμωνι. και ειπεν προς τον Σιμωνα (ο) Ιησους· μη ϕοβου· απο του νυν ανθρωπους εση ζωγρων. και καταγαγοντες τα πλοια επι την γην αϕεντες παντα: (Tert! ) it M . C. Tertullians Erwähnung der Perikope vom wunderbaren Fischfang und der Berufung des Petrus ist sehr sparsam: Bezeugt sind nur einzelne Elemente aus *5,(3? )4-6. 8-11. Auch wenn diese deutlich machen, dass er wenigstens die eigentliche Fischfang- und Berufungserzählung kannte (*5,4-11), bleiben Fragen zur genaueren Gestalt in *Ev. Daher sind die Lesarten vor allem in D und den Altlateinern von Bedeutung, die als Spuren der Interferenz zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Überlieferung zu deuten sind: Sie sichern auch die unbezeugten Passagen für *Ev und erlauben die Rekonstruktion des vorkanonischen Wortlauts. Ein Aspekt dieser Interferenzen scheint typisch für *Ev zu sein: Die Anrede Jesu als »Lehrer« (διδάσκαλε *5,5) anstatt als »Meister« (ἐπιστάτα) ist auch in *8,23.45; *9,33.49 sehr wahrscheinlich (s. jeweils die Rekonstr.). Der Wechsel geht dann auf die lk Redaktion zurück. Nicht ganz klar ist die Situation in *8,23, wo D d die doppelte κύριε-Anrede haben, wogegen das einfache διδάσκαλε/ magister in einigen Altlateinern (a c e r 1 ) bezeugt ist (s. dort). Der auf diese Weise rekonstruierte vorkanonische Wortlaut erlaubt eine Klärung der überlieferungsgeschichtlichen Fragen, die für die lk Fassung intensiv erörtert wurden. 1 Denn wegen der Ähnlichkeiten zwischen *5,1-3 zu Mk 1,16-20 sowie der Eigenständigkeit von *5,4-11 innerhalb der synoptischen Tradition wurde und wird hier ein breites Spektrum unterschiedlicher Optionen vertreten. 1. Im Rahmen der Zwei-Quellentheorie ist die Herkunft von *5,1-3 sowie die Verbindung mit *5,4-11 sehr unterschiedlich beurteilt worden. Dabei reichen die Überlegungen von einer Sonderquelle, die entweder für die Wundererzählung ab V. *4 oder für die gesamte Perikope angenommen wurde, 2 über eine redaktionelle Ausgestaltung der mk Vorlage(n) in Mk 1,16-20 (und 4,1f) 3 bis hin zu einer Kombination mehrerer Quellen, vor allem Mk und lk Sondergut. 4 Im Hintergrund dieser Überlegungen stand vor allem die Frage, ob der Ursprung der Fischfangerzählung in einer Überlieferung von der österlichen Ersterscheinung des Auferstandenen vor Petrus zu sehen sei, 5 oder ob sie von Anfang an mit dem Wirken des ______________________________ 1 Einen Überblick über die Forschungspositionen bei U. B USSE , Begegnung mit dem Wort, in: R. Bieringer (ed.), Luke and his Readers, Leuven 1982, 113-129: 115-119. 2 Vgl. z. B. C REED , Lk 13; I. H. M ARSHALL , Luke: Historian and Theologian, Exeter 1970, 65; R. P ESCH , Der reiche Fischfang, Düsseldorf 1969, 135. 3 Vgl. z. B. K LOSTERMANN , Lk 431; R. B ULTMANN , Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 7 1967, 232; E. H AENCHEN , Der Weg Jesu, Berlin 2 1968, 83 Anm. 2; M. G OULDER , Characteristics of the Parables in the Several Gospels, JTS NS 19 (1968), 51-69: 68. 4 Vgl. etwa F ITZMYER , Lk I, 560; R ADL , Lk 294; B OVON , Lk I 228. 5 So vor allem G. K LEIN , Die Berufung des Petrus, in: ders., Rekonstruktion und Interpretation, München 1969, 11-49. <?page no="50"?> 562 Anhang I 5,1-11 Irdischen verbunden war. 6 Hier stehen also erkennbar die unübersehbaren Beziehungen zwischen Lk 5,1-11 und Joh 21,1-19 im Hintergrund. Erschwert werden diese Überlegungen durch die sehr uneinheitliche Beurteilung der lk Textgestalt: Während auf der einen Seite eine Reihe von Auffälligkeiten - vor allem der Numeruswechsel in *5,4-6.10f; Erwähnung der Boote (ihre Zahl und unterschiedliche narrative Rolle) 7 - als Inkohärenzsignale gewertet und dann literarkritisch beseitigt wurden, konnten die gleichen Phänomene auch als Kohärenzsignale gewertet werden, die ein »dichtes Beziehungsgeflecht her (stellen), das auch über die einzelnen Abschnitte hinausgreift.« 8 2. Im Licht der *Ev-Priorität stellt sich die Überlieferungsgeschichte der ersten Jüngerberufungen jedoch ganz anders dar und lässt sich ohne Probleme klären. Da Lk 4,38f wahrscheinlich erst durch die Redaktion im Gefolge von Mk 1,29-31 eingefügt wurde, ist *5,1-11 nicht nur die erste Berufungserzählung, sondern die erste Erwähnung der Jünger in *Ev überhaupt. Nach dem summarischen Verweis auf die Tätigkeit Jesu in Kapharnaum *4,40-43 ist die Berufung an dieser Stelle auch sehr sinnvoll platziert. Für die Rekonstruktion der genauen Gestalt der Perikope gibt es neben den Interferenzspuren keine Hinweise, dass sie in *Ev wesentlich anders als in Lk ausgesehen hat. Unter der Prämisse der *Ev-Priorität verschwinden die meisten der viel diskutierten Probleme: Lk hat nicht Mk bearbeitet, sondern Mk hat *Ev bearbeitet. Dies gilt auch für die Erwähnung der Zebedaiden in *5,10, die in Lk nur an dieser Stelle (und in Joh nur an der entsprechenden Stelle 21,2) mit dem Patronym erwähnt werden. Da sie im Text »stilistisch reichlich unelegant hinten drangehängt« werden, hat man gefolgert, dass sie in der »ursprünglichen Erzählung nicht vorkamen und Lukas ihnen nur unter dem Druck von Mk 1,19f eine Rolle gegeben« habe. 9 Die Erwähnung des Namens Zebedäus ist allerdings durch Tertullians Referat für *Ev gesichert (4,9,1). Die sehr viel größere Bedeutung, welche die Zebedaiden bei Mk spielen, geht also auf dessen redaktionelle Bearbeitung zurück. Das Gleiche gilt auch die Erwähnung des Andreas Mk 1,16, der damit das Quartett der beiden Brüderpaare komplettiert. Auffällig ist, dass die eine Erwähnung des Petrus im kanonischen Text (Lk 5,8) im vorkanonischen Text sehr wahrscheinlich fehlte: Dort war durchgängig nur von »Simon« die Rede. 3. Diese Abhängigkeit des Mk von *Ev ist an einer Stelle auch unmittelbar einsichtig zu machen, und zwar anhand der Zahl der Boote. In *5,2 werden zwei Boote erwähnt, obwohl Jesus sich dann nur in eines setzt, von dort aus zunächst lehrt (V. ______________________________ 6 So vor allem P ESCH , a. a. O. 111-113; R ADL , Lk 294f. 7 Die Auffälligkeiten sind gesammelt bei K LEIN , a. a. O. 11-15. 8 R ADL , Lk 293. 9 W OLTER , Lk 215. <?page no="51"?> 5,1-11 Rekonstruktion 563 *3) und dann auf den See zum Fischen hinausfährt (V. *4). Die erzählerische Funktion des zweiten Bootes wird jedoch erst in V. *7 verständlich: Das zweite Boot gehört den Gefährten Simons und ist notwendig, um die reiche Beute mit aufzunehmen; am Ende werden beide Boote an Land gezogen und verlassen (V. *11). Die Schlüssigkeit der Erzählung erfordert das zweite Boot, weil es deutlich macht, wie ungeheuer groß der Fang war. Abgesehen davon stellt man sich die Zebedaiden als Eigentümer dieses zweiten Bootes vor, ohne dass dies ausdrücklich gesagt wird. Das »Boot« spielt in Mk 3-8 eine entscheidende, kohärenzstiftende Rolle: Es ist der Ort, an dem die Jünger zunächst bei Jesus sind und ihn bei seiner Verkündigung begleiten bzw. dann (ab Mk 6,6b) selbst den Auftrag der Verkündigung übernehmen und selbständig ausführen. 10 In Mk 4,36b tauchen dann neben dem Boot, in dem Jesus und die Jünger den See während des Sturms überqueren, noch »andere Boote« auf, die hier ohne eine erkennbare narrative Funktion bleiben (καὶ ἄλλα πλοῖα ἦν μετ’ αὐτοῦ) und daher die Auslegung schon immer irritiert haben. 11 Da sich keiner der Erklärungsversuche durchgesetzt hat, schlägt die jüngste Lösung vor, das Problem mit der Annahme einer Verlesung kurzerhand zu beseitigen (von ἄλλα πλοῖα aus ἅμα πολλοί: ΑΛΛΑΠΛΟΙΑ - ΑΜΑΠΟΛΛΟΙ). 12 Unabhängig davon, wie die Entstehung dieser Variante zu erklären ist, 13 lässt sich das ἄλλα πλοῖα des Mehrheitstextes in der Tat als »Traditionssplitter« verstehen, 14 der »infolge der Redaktion unverständlich geworden ist.« 15 Im Unterschied zu überlieferungsgeschichtlichen Modellen, die mit der Mk-Priorität rechnen, lässt sich dieser Vorgang jetzt direkt zeigen: Die mk Redaktion hat diesen »Splitter« aus *Ev übernommen: Das zweite Boot bzw. die weiteren Boote stammen aus der Fischzugerzählung in *Ev, auf der Mk 4 beruht und die Mk übernommen hat, obwohl die zusätzlichen Boote jetzt ohne narrative Funktion sind und die ansonsten konzise mk Komposition stören. 16 ______________________________ 10 Vgl. M. K LINGHARDT , Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002), 183-202. 11 Vgl. dazu die Literatur, die bei K. F R . U LRICHS , »… und viele miteinander waren bei ihm.« Ein textkritischer und formgeschichtlicher Vorschlag zu Mk 4,36b, ZNW 88 (1997), 187-196: 187 Anm. 1 und 2, genannt ist. 12 U LRICHS , a. a. O.; diese Lesart ist durch W e (et simul multi erant cum eo) bezeugt. 13 Der von U LRICHS angenommene »Lesefehler« (a. a. O. 190ff: ΚΑΙΑΜΑΠΟΛΛΟΙΗΣΑΝ anstelle von ΚΑΙΑΛΛΑΠΛΟΙΑΗΣΑΝ) ist eher eine redaktionelle Änderung als ein Versehen. Wie so häufig bei der Lösung inhaltlicher Schwierigkeiten durch die Annahme eines abweichenden Textes, ist auch für diesen Vorschlag zu fragen, wie aus der Lesart 4,36b (W e) das ansonsten breit bezeugte ἄλλα πλοῖα entstanden sein soll. Für dieses Problem gilt cum grano salis, was U LRICHS selbst gegen den Vorschlag einwendet, 4,36b sei eine redaktionelle Einfügung durch Mk (a. a. O. 189): Die Probleme verschärfen sich. 14 P ESCH , Mk I, 270. 15 B ULTMANN , a. a. O. 230. 16 Entgegen U LRICHS ’ Behauptung (a. a. O. 189 Anm. 17) haben die Seitenreferenten die fragliche Notiz keineswegs »konsequent« entfernt, wie Lk 5,2.7.11 zeigt. <?page no="52"?> 564 Anhang I 5,1-11 4. Damit ist deutlich: Mk hat die Berufungsgeschichte *5,1-11 zerlegt und den Bericht von der Berufung der ersten vier Jünger (Mk 1,16-20 || *5,8-11) 17 an den Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu gesetzt. Wenigstens einer der Gründe für diese Verlagerung dürfte in der programmatischen Rolle der Streitgespräche Mk 2,1-3,6 zu sehen sein, in denen Mk den Plot bis hin zum Tötungsbeschluss vorbereitet, für die jedoch die Existenz der Jünger notwendig war. Daneben hat Mk den Anfang der Berufungsgeschichte in *Ev (*5,1-4a) auf 3,7.9; 4,1f.35f verteilt. *5,1-4a Mk 3,7.9; 4,1f.35f *5,1 Ἐγένετο δὲ ἐν τῷ τὸν ὄχλον ἐπικεῖσθαι αὐτῷ καὶ ἀκούειν τὸν λόγον τοῦ θεοῦ καὶ αὐτὸς ἦν ἑστὼς παρὰ τὴν λίμνην Γεννησαρέτ 3,7 Καὶ ὁ Ἰησοῦς … ἀνεχώρησεν πρὸς τὴν θάλασσαν· καὶ πολὺ πλῆθος ἀπὸ τῆς Γαλιλαίας ἠκολούθησεν *5,2 καὶ εἶδεν δύο πλοῖα ἑστῶτα παρὰ τὴν λίμνην· οἱ δὲ ἁλιεῖς ἀπ’ αὐτῶν ἀποβάντες ἔπλυνον τὰ δίκτυα. 3,9 καὶ εἶπεν τοῖς μαθηταῖς αὐτοῦ ἵνα πλοιάριον προσκαρτερῇ αὐτῷ διὰ τὸν ὄχλον ἵνα μὴ θλίβωσιν αὐτόν *5,2 καὶ εἶδεν δύο πλοῖα ἑστῶτα παρὰ τὴν λίμνην· οἱ δὲ ἁλιεῖς ἀπ’ αὐτῶν ἀποβάντες ἔπλυνον τὰ δίκτυα. *5,3 ἐμβὰς δὲ εἰς ἓν τῶν πλοίων, ὃ ἦν Σίμωνος, ἠρώτησεν αὐτὸν ἀπὸ τῆς γῆς ἐπαναγαγεῖν ὀλίγον, καθίσας δὲ ἐκ τοῦ πλοίου ἐδίδασκεν τοὺς ὄχλους. 4,1 Καὶ πάλιν ἤρξατο διδάσκειν παρὰ τὴν θάλασσαν. καὶ συνάγεται πρὸς αὐτὸν ὄχλος πλεῖστος, ὥστε αὐτὸν εἰς πλοῖον ἐμβάντα καθῆσθαι ἐν τῇ θαλάσσῃ, καὶ πᾶς ὁ ὄχλος πρὸς τὴν θάλασσαν ἐπὶ τῆς γῆς ἦσαν. 4,2 καὶ ἐδίδασκεν αὐτοὺς ἐν παραβολαῖς πολλά, καὶ ἔλεγεν αὐτοῖς ἐν τῇ διδαχῇ αὐτοῦ *5,4 ὡς δὲ ἐπαύσατο λαλῶν, εἶπεν πρὸς τὸν Σίμωνα, Ἐπανάγαγε εἰς τὸ βάθος (καὶ χαλάσατε τὰ δίκτυα ὑμῶν εἰς ἄγραν) 4,35 Καὶ λέγει αὐτοῖς ἐν ἐκείνῃ τῇ ἡμέρᾳ ὀψίας γενομένης, Διέλθωμεν εἰς τὸ πέραν. 36 καὶ ἀϕέντες τὸν ὄχλον παραλαμβάνουσιν αὐτὸν ὡς ἦν ἐν τῷ πλοίῳ, καὶ ἄλλα πλοῖα ἦν μετ’ αὐτοῦ. Die Verteilung von *5,1-3 auf die beiden unterschiedlichen Situationen Mk 3,7.9 und 4,1f macht es dann erforderlich, dass Mk die Einleitung (*5,2f) doppelt erzählen muss: In 3,7.9 führt die Bedrängung durch die Menge dazu, dass Jesus sich ein Boot bereitstellen lässt (3,9); als er zum See zurückkehrt, benutzt er dieses Boot, als ihn der ὄχλος πλεῖστος wieder bedrängt (4,1f). Den wunderbaren Fischfang berichtet Mk zwar nicht, aber er hat die Gefährlichkeit der Situation (die Netze drohen zu zerreißen) durch die Seesturmerzählung (Mk 4,35-41) sowie die Beauftragung der Jünger (*5,4b) durch die Sendung und Rückkehr der Jünger (Mk 6,6b-13.30) narrativ interpretiert. 5. Für das Ende der Perikope referiert Tertullian Elemente des kanonischen Mehrheitstextes: Er hat ganz offensichtlich nicht nur von der Furcht gelesen (*5,9: ______________________________ 17 Die wichtigsten Gemeinsamkeiten sind die Erwähnung der Zebedaiden neben Simon (dem Mk seinen Bruder Andreas an die Seite stellt) sowie das Menschenfischerlogion (*5,10 || Mk 1,17 || Mt 4,19). <?page no="53"?> 5,1-11 Rekonstruktion 565 θάμβος), die Petrus befallen hatte, 18 sondern auch die darauf bezogene Aufforderung Jesu, er solle sich nicht fürchten. 19 Es ist allerdings zweifelhaft, dass der Text von Tertullians *Ev-Exemplar hier den vorkanonischen Wortlaut enthielt. Denn in D d (e) fehlt diese Aufforderung. Stattdessen werden die Zebedaiden Jakobus und Johannes als Simons Gefährten erwähnt, die man sich als die Besitzer oder Nutzer des zweiten Bootes denkt und die in *5,7 bereits als die μέτοχοι des Petrus in das Geschehen eingegriffen hatten. Nach dem D-Text fordert Jesus die Zebedaiden (! ) auf, Menschenfischer zu werden, die daraufhin alles ἐπὶ τῆς γῆς zurücklassen und Jesus nachfolgen. Der Text von *5,10f (D d e) weist gegen den Mehrheitstext einige Übereinstimmungen mit der Erzählung von der Berufung der ersten Jünger nach Mk 1,16-20 || Mt 4,18-22 auf, ohne doch als sekundäre Anpassung an diese synoptischen Parallelen verstanden werden zu können. Auf der einen Seite findet sich das Stichwort ἁλιεῖς ἀνθρώπων *5,10 || Mk 1,17 || Mt 4,19. Die ungewöhnliche Formulierung *5,10 μὴ γ ί ν ε σ θ ε ἁλιεῖς ἰχθύων besitzt in Mk 1,17 ποιήσω ὑμᾶς γ ε ν έ σ θ α ι ἁλιεῖς ἀνθρώπων noch einen Reflex. In dieser Formulierung (ποιήσω ὑμᾶς ἁλιεῖς ἀνθρώπων) stimmen *5,10 || Mk 1,17 || Mt 4,19 gegen Lk 5,10 (ἀπὸ τοῦ νῦν ἀνθρώπους ἔσῃ ζωγρῶν) überein. Auf der anderen Seite unterscheidet sich die mk-mt Berufungserzählung so deutlich von der Fassung in *Ev-Lk mit dem wunderbaren Fischfang, dass ein versehentlicher Eintrag von der einen (Mk-Mt) in die andere (Lk) Fassung ausgeschlossen ist: Die Differenz zwischen dem Mehrheitstext und *5,10f (D d e) ist kein Versehen, sondern ein tiefer redaktioneller Eingriff. Dieser Eingriff ist jedoch nicht einem späteren Kopisten zuzurechnen, sondern der lk Redaktion: Sie hat die Erzählung auf Petrus hin ausgerichtet, lässt seine Furcht überwunden sein und macht (nur) ihn zum Menschenfischer. Dies hat eine enge Entsprechung in Joh 21,1-19 (s. gleich). Aus diesem Grund spricht alles dafür, dass Tertullians *Ev-Exemplar in *5,10f bereits durch die kanonische Textüberlieferung (mit der Fokussierung auf Petrus und der Aufforderung »Fürchte dich nicht! «) kontaminiert war. Obwohl Tertullian hier den kanonischen Wortlaut voraussetzt, scheint auch bei ihm die ältere Fassung mit dem kausalen Anschluss des Menschenfischer-Auftrags noch durch. 20 Dass Petrus von jetzt an Menschenfischer sein soll, begründet zwar, warum er kein Fische-Fischer mehr ist, nicht aber, warum er sich nicht fürchten soll: In *Ev ist der kausale Anschluss semantisch sinnvoll, in Lk nicht. Die Spuren des vorkanonischen Textes sind in D d e noch erkennbar, und dieser vorkanonische Text hat auch die Rezeption in Mk und Mt beeinflusst. ______________________________ 18 Lk 5,9 καὶ πάντας τοὺς σὺν αὐτῷ ist ein Zusatz der lk Redaktion, wie die Interferenzlesart zeigt. 19 Lk 5,10: μὴ ϕοβοῦ; vgl. Tert. 4,9,1: dicens Petro trepidanti […] Ne time … 20 Tert. 4,9,1: Ne time, abhinc e n i m homines eris capiens. <?page no="54"?> 566 Anhang I 5,1-11 6. Neben der interpretierenden Relecture von *5,1-11 in Mk 1,16-20; 3,7.9; 4,1f. 35f ist die Erzählung vom wunderbaren Fischfang mit der Beauftragung des Simon auch durch Joh 21,1-19 rezipiert worden. 21 Dass es »über die Nennung der unbedingt erforderlichen Requisiten hinaus … keinerlei Überschneidungen zwischen den beiden Texten« gebe, 22 lässt sich jedoch nur für die lexematische Ebene behaupten: In der Tiefenstruktur zeigen sich deutliche Analogien auch unabhängig von den verwendeten Begriffen. 23 Dabei ist deutlich, dass Joh 21 nicht einfach *5,1-11 wiedergibt, sondern in einem hoch komplexen Geflecht von intertextuellen Beziehungen steht (vgl. u. zu *22,31-34). Auf der einen Seite ist Joh 21 von *5,1-11 abhängig: Joh interpretiert die Bestimmung des Petrus zum »Menschenfischer« als dessen Reinstallation nach der Verleugnung. Sofern Joh nicht als autarker Text, sondern im Verbund mit seinen Prätexten gelesen werden will, müsste man sagen: Joh ergänzt den (aus *Ev) bekannten Bericht über die Berufung des Petrus durch die analog gestaltete Erzählung seiner Reinstallation als Wiederholung. Auf Joh 21 wiederum reagiert Lk 22,32 mit der (in *Ev nicht erzählten, s. dort) Ankündigung der Umkehr und der Beauftragung zur »Stärkung der Brüder«. Diese wechselseitigen Bezugnahmen schließen aus, dass Joh 21 einfach ein überlieferungsgeschichtliches Seitenstück zu *5,1-11 darstellt, das literarisch in keiner Verbindung dazu steht. So hat die Erzählung vom wunderbaren Fischfang des Petrus und seiner Einsetzung zum »Menschenfischer« für die kanonische Evangelienüberlieferung eine große Rolle gespielt. Da Joh 21 nicht auf eine gemeinsame Quelle mit *5,1-11 zurückgeht, sondern von diesem Text (und anderen) abhängig ist, liegt die früheste Bezeugung einer Sonderrolle des Petrus innerhalb der Evangelienüberlieferung tatsächlich in der Erzählung seiner Berufung in *Ev-Lk, nicht aber in der seiner Ostererscheinung, die eine Parallele in 1Kor 15,5 besitzt. Joh 21 verbindet diese beiden Traditionen und bringt auf diese Weise die Kohärenz der Kanonischen Ausgabe des NT insgesamt zum Ausdruck. *5,12-14{14 (D)} [ 15-16 ] : Heilung des Aussätzigen. [ Rückzug Jesu ] Bezeugt, sicher vorhanden, aber mit größter Wahrscheinlichkeit durch die lk Redaktion bearbeitet (Vv. 15f). 5,12 Καὶ ἐγένετο ἐν τῷ εἶναι αὐτὸν ἐν μιᾷ τῶν πόλεων, καὶ ἰδοὺ ἀνὴρ a λεπρός· ἰδὼν δὲ τὸν Ἰησοῦν b ἔπεσεν ἐπὶ πρόσωπον c [ ἐδεήθη αὐτοῦ ] c λέγων, Κύριε, ἐὰν θέλῃς δύνασαί με καθαρίσαι. 13 καὶ ἐκτείνας τὴν χεῖρα ἥψατο αὐτοῦ λέγων, Θέλω, ______________________________ 21 Vgl. dazu G. B LASKOVIC , Johannes und Lukas, St. Ottilien 1999, 43-87. 22 W OLTER , Lk 210. 23 Vgl. die Liste bei B LASKOVIC , a. a. O. 43. <?page no="55"?> 5,12-16 Rekonstruktion 567 καθαρίσθητι· καὶ εὐθέως d ἐκαθαρίσθη. 14 καὶ αὐτὸς παρήγγειλεν αὐτῷ μηδενὶ εἰπεῖν, ἀλλὰ e †ἄπελθε†, δεῖξον σεαυτὸν τῷ ἱερεῖ, καὶ προσένεγκε f †τὸ δῶρον† f g †ὃ† προσέταξεν Μωϋσῆς, h ἵνα εἰς μαρτύριον ᾖ τοῦτο ὑμῖν h . i {5,14 D Mk 1,45; 2,1a ὁ δὲ ἐξελθὼν ἤρξατο κηρύσσειν καὶ διαϕημίζειν τὸν λόγον, ὥστε μηκέτι δύνασθαι αὐτὸν ϕανερῶς εἰς πόλιν εἰσελθεῖν, ἀλλ’ ἔξω ἦν ἐπ’ ἐρήμοις τόποις· καὶ συνήρχοντο πρὸς αὐτὸν καὶ ἦλθεν πάλιν εἰς Καϕαρναούμ.} i [ 15 διήρχετο δὲ μᾶλλον ὁ λόγος περὶ αὐτοῦ, καὶ συνήρχοντο ὄχλοι πολλοὶ ἀκούειν καὶ θεραπεύεσθαι ἀπὸ τῶν ἀσθενειῶν αὐτῶν· 16 αὐτὸς δὲ ἦν ὑποχωρῶν ἐν ταῖς ἐρήμοις καὶ προσευχόμενος. ] A. *5,12-14: Tert. 4,9,3: (quae in exemplo leprosi) … (leprosi purgatio). ♦ *5,12f: Tert. 4,9,4: Itaque dominus volens altius intellegi legem per carnalia spiritalia significantem, et hoc nomine non destruens sed magis exstruens, quam pertinentius volebat agnosci, tetigit leprosum, a quo etsi homo inquinari potuisset, deus utique non inquinaretur, incontaminabilis scilicet. ♦ *5,14a: Tert. 4,9,9: vetuit eum divulgare … Vade, ostende te sacerdoti, et offer munus quod praecepit Moyses. ¦ Epiph. 42,11,6 (Schol. 1): ἀπελθὼν δεῖξον σεαυτὸν τῷ ἱερεῖ, καὶ προσένεγκε περὶ τοῦ καθαρισμοῦ σου καθὼς προσέταξεν Μωϋσῆς. ♦ *5,14b: Tert. 4,9,10: itaque adiecit, Ut sit vobis in testimonium. ¦ Epiph. 42,11,6 (Schol. 1): Ἵνα ᾖ μαρτύριον τοῦτο ὑμῖν ἀνθ’ οὗ εἶπεν ὁ σωτήρ Ἐις μαρτύριον αὐτοῖς. B. a (5,12) (ανηρ) λεπρος/ (vir) leprosus: Tert D d ¦ (ανηρ) πληρης λεπρας/ (vir) plenus lepra: [a] aur b c e f ſſ 2 l q r 1 M ● b (5,12) επεσεν: D d e q r 1 sy s.p.h ¦ πεσων: a aur b c f ſſ 2 l M (*Ev non test.) ● c (5,12) εδεηθη αυτου: om D d e r 1 ¦ add a aur b c f ſſ 2 l q M (*Ev non test.) ● d (5,13) εκαθαρισθη: D d e; αυτου η λεπρα εκαθαρισθη: 157 544 579 827 1242 2096 sy s.p armen georg aeth ¦ η λεπρα απηλθεν απ’ αυτου: a aur b c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● e (5,14) απελθε/ vade: Tert [a] aur b c d e f ſſ 2 l r 1 ¦ απελθων/ vadens: c q M ● f (5,14) Widersprüchliche Bezeugung: (1) απελθε/ vade: Tert [a] aur b c d e f ſſ 2 l r 1 ¦ (2) απελθων/ vadens: Epiph c q M ● f (5,14) Widersprüchliche Bezeugung: (1) προσενεγκε το δωρον/ offers munus: Tert X 213 2487 b c sy p(mss) armen ¦ (2) προσενεγκε περι του καθαρισμου σου/ offer (offers; offert; offeres) pro emundatione (mundatione; purgatione; purificatione): Epiph a aur d e f ſſ 2 l q r 1 M ● g (5,14) Widersprüchliche Bezeugung: (1) ο/ quod: Tert A 3 b c e August (Faust. 6; CSEL 25/ 1, 291) Tat Ephr ¦ (2) καθως/ sicut: Epiph a aur b c d f ſſ 2 l q r 1 M ● h (5,14) ινα εις μαρτυριον η [ην: D] υμειν τουτο/ ut sit in testimonium hoc vobis: Tert Epiph [D] D c a b c d f ſſ 2 l q r 1 ¦ εις μαρτυριον αυτοις/ in testimonium illis: aur e f l M ● i (5,14 D): ο δε εξελθων ηρξατο κηρυσσειν … και συνηρχοντο προς αυτον και ηλθεν παλιν εις Καϕαρναουμ/ ille autem exiens coepit praedicare … et conveniebant ad eum et venit iterum in Cafarnaum: D d ¦ om a aur b c d f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.). C. Die Perikope ist gut bezeugt und war in *Ev sicher an derselben Stelle wie im kanonischen Text vorhanden. Allerdings fallen einige Unterschiede auf. 1. Zunächst sind drei kleinere Beispiele für die uneinheitliche Anpassung des vorkanonischen an den kanonischen Text zu verzeichnen: Das Zusammengehen der Zeugen für *Ev mit einem Teil der »Westlichen« Textüberlieferung lässt sich so am einfachsten deuten: <?page no="56"?> 568 Anhang I 5,12-16 a. *5,12 bezeugt Tertullian mit D d (ἀνὴρ) λεπρός/ (vir) leprosus anstelle des von dem Rest der Altlateiner und der gesamten griechischen Überlieferung bezeugten (ἀνὴρ) πλήρης λέπρας/ (vir) plenus lepra. Die Übereinstimmung von Tertullian mit D d zeigt, dass er hier nicht nachlässig referiert, sondern die genaue Formulierung bezeugt. b. In *5,14 liegt das gleiche Phänomen vor. Hier allerdings weichen die Referate Tertullians und Epiphanius’ in charakteristischer Weise voneinander ab, stimmen aber jeweils mit einem Teil der kanonischen Überlieferung überein: Der vorkanonische Text, den Tertullian und zahlreiche Altlateiner ([a] aur b c d e f ſſ 2 l r 1 ) bezeugen, las zwei asyndetische Imperative (ἄπελθε, δεῖξον). Die kanonische Redaktion hat dies in ein Partizip mit Imperativ geändert (ἄπελθὼν δεῖξον). Diese Korrektur ist nicht nur in der gesamten griechischen Überlieferung bezeugt, sie wurde auch durch zwei altlateinische Handschriften (c q) sowie in Epiphanius’ *Ev-Exemplar mitvollzogen. c. Außerdem: Während Epiphanius mit der Mehrheit der Altlateiner und fast der gesamten griechischen Überlieferung des kanonischen Textes περὶ τοῦ καθαρισμοῦ σου καθώς liest, referiert Tertullian munus quod/ τὸ δῶρον ὅ; diese Lesart ist auch für einige »Westliche« Zeugen belegt (b c sy p ). Diese vorkanonische Lesart hat auch noch drei griechische Handschriften beeinflusst (X 213 2487). d. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Interferenz auch in nichtbezeugten Passagen vorliegt und die Rekonstruktion des vorkanonischen Wortlautes erlaubt. Aus diesem Grund ist ἐδεήθη αὐτοῦ V. 12 als Ergänzung der lk Redaktion zu beurteilen, wogegen ἡ λέπρα ἀπῆλθεν ἀπ’ αὐτοῦ V. 13 eine Umformulierung aus dem vorkanonischen ἐκαθαρίσθη ist, wie die verschiedenen Konflationen in der Überlieferung belegen. Diese Beispiele sind instruktiv für die Variabilität, mit welcher der vorkanonische Text in den Altlateinern nach dem kanonischen Text korrigiert wurde: Die Varianten werden jeweils durch unterschiedliche Handschriften gestützt, was darauf hinweist, dass sie jeweils auf unterschiedliche Archetypen zurückgehen. Auch wenn die Altlateiner eindeutig eine zusammengehörige »Textfamilie« darstellen, sind sie doch nicht direkt voneinander abhängig, sondern gehen auf verschiedene Archetypen zurück. Diese Beobachtung stützt die Deutung, dass die unterschiedlichen Bezeugungen des *Ev-Textes bei Tertullian und Epiphanius als Ausdruck des gleichen Phänomens der Interferenz zu verstehen sind. 2. Wichtiger ist die Abweichung in *5,14b, die für *Ev gegen den kanonischen Text gut bezeugt und deshalb in den Text aufgenommen ist, nämlich die Formulierung ἵνα εἰς μαρτύριον ᾖ τοῦτο ὑ μ ῖ ν anstelle des kanonischen εἰς μαρτύριον α ὐ τ ο ῖ ς . Der Sinn verschiebt sich dabei nicht unerheblich: Bei *Ev sind die Jünger (die seit *5,11 hinter Jesus hergehen) diejenigen, denen die Feststellung der Reinigung durch den Priester »zum Zeugnis« gereichen soll, die also von der Tatsächlichkeit der Heilung überzeugt werden sollen. In der kanonischen Fassung (ähnlich Mk) ist dagegen unklar, wer eigentlich von der Heilung überzeugt werden muss: Die Jünger oder die Menge? Nur Mt, der diese Heilung im Anschluss an die Bergpredigt bringt und sie in der Mitte der großen Menge verortet, macht deutlich, dass sich dieses Zeugnis auf die Menge bezieht, also missionarischen Charakter <?page no="57"?> 5,12-16 Rekonstruktion 569 hat; Lk lässt (wie Mk) die beiden Optionen in der Schwebe, die er in *Ev und in Mt fand. Die Synopse zeigt den Gang der Überlieferung. Tert. 4,9,9f Epiph., Schol. 1 Mk 1,44 Mt 8,4 Lk 5,14 vade ἀπελθὼν ὕπαγε ὕπαγε a ἀπελθὼν ostende te sacerdoti δεῖξον σεαυτὸν τῷ ἱερεῖ σεαυτὸν δεῖξον τῷ ἱερεῖ σεαυτὸν δεῖξον τῷ ἱερεῖ δεῖξον σεαυτὸν τῷ ἱερεῖ et offer καὶ προσένεγκε καὶ προσένεγκε καὶ προσένεγκον καὶ προσένεγκε munus περὶ τοῦ καθαρισμοῦ σου περὶ τοῦ καθαρισμοῦ σου τὸ δῶρον b περὶ τοῦ καθαρισμοῦ σου b quod καθὼς ἃ ὃ c καθὼς c praecepit Moyses προσέταξε Μωϋσῆς προσέταξεν Μωϋσῆς προσέταξεν Μωϋσῆς προσέταξεν Μωϋσῆς ut sit ἵνα ᾖ vobis μαρτύριον τοῦτο εἰς μαρτύριον εἰς μαρτύριον d εἰς μαρτύριον in testimonium ὑμῖν αὐτοῖς αὐτοῖς αὐτοῖς d a απελθε [δε και]: D [a] aur b c d e f ſſ 2 l r 1 b ο δωρον: X 213 2487 b c sy p(mss) c ο: A 3 b c e August Tat Ephr d ινα εις μαρτυριον ην [η: D] υμιν τουτο: [D] D c a b c d f ſſ 2 l q r 1 a. Die für *Ev bezeugte Abfolge der beiden einleitenden Imperative (ἄπελθε, δεῖξον, s. o.) ist auch von Mk (und in der Folge von Mt) übernommen und nur geringfügig verändert worden (ὕπαγε σεαυτὸν δεῖξον). Die stilistische Verbesserung (ἄπελθὼν δεῖξον) geht also tatsächlich auf die lk Redaktion zurück. b. Entsprechendes gilt auch für περὶ τοῦ καθαρισμοῦ σου καθώς anstelle von τὸ δῶρον ὅ: Die von Tertullian bezeugte Lesart (munus quod) ist von Mt direkt übernommen worden (τὸ δῶρον ὅ), während Mk die Bedeutung des Opfers als Reinigungsopfer herausstellt (περὶ τοῦ καθαρισμοῦ σου καθώς) und auf diese Weise den Zusammenhang mit der finalen Bestimmung (das Opfer dient als Beweis für die vollzogene Reinigung) deutlicher macht. Diese Einsicht ist insbesondere für die mt Redaktion von einiger Bedeutung, weil sie belegt, dass er seiner mk Vorlage nicht »blind« gefolgt ist, sondern ganz offensichtlich Mk und *Ev vor Augen hatte und die Doppelüberlieferungen in *Ev und Mk als solche wahrnahm. c. In der Formulierung dieser finalen Bestimmung gehen die drei kanonischen Fassungen (εἰς μαρτύριον α ὐ τ ο ῖ ς ) gegen die beiden Zeugnisse für *Ev (ut sit v o b i s in testimonium/ ἵνα εἰς μαρτύριον ᾖ τοῦτο ὑ μ ῖ ν ) sowie eine lange Reihe der »Westlichen« Zeugen zusammen. Auffällig ist dabei nicht nur die Formulierung <?page no="58"?> 570 Anhang I 5,12-16 als ausgeführter Finalsatz (ἵνα), sondern der Wechsel von der 2. Pers. Pl. zur 3. Pers. Pl., der den Sinn erheblich verändert. 3. Mit diesem Verständnis der überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhänge erklären sich dann auch die hier zu notierenden (mt-lk) »Minor Agreements«, die die Zwei-Quellentheorie unterminieren. Die Perikope enthält eine ganze Reihe von »Minor Agreements«. 1 Eines davon ist auch für *Ev bezeugt und daher aufschlussreich: In *5,13a || Mt 8,3a ist αὐτοῦ Objekt von ἥψατο (καὶ ἐκτείνας τὴν χεῖρα ἥψατο αὐτοῦ), während es in Mk 1,41 Attribut von τὴν χεῖρα ist (ἐκτείνας τὴν χεῖρα αὐτοῦ ἥψατο). Das Verständnis des Pronomens als Objekt von ἥψατο ist durch Tertullians Referat (4,9,4: tetigit leprosum) gesichert. Diese Übereinstimmung der (mt-lk) »Minor Agreements« mit dem für *Ev bezeugten Text ist nach dem zugrunde liegenden Modell zwar nicht selbstverständlich, aber durchaus erwartbar. An dieser Stelle kommt ihr deswegen erhöhte Bedeutung zu, weil sie die unmittelbare Verwendung von *Ev durch Mt sicherstellt, die oben im Zusammenhang der Ersetzung von τὸ δῶρον durch περὶ τοῦ καθαρισμοῦ σου aufgefallen war. 4. Der Schluss Lk 5,15f, der in der kanonischen Fassung summarischen Charakter besitzt und mit der vorangehenden Heilungserzählung denkbar locker verknüpft ist, ist unbezeugt: Tertullian geht direkt von seiner Diskussion von *5,14 (4,9,3-15) zum Referat von *5,18ff über (4,10,1). Das Gleiche gilt für Epiphanius, dessen Schol. 2 sich auf *5,24 bezieht. Die Beurteilung ist daher auf die Varianten der handschriftlichen Überlieferung angewiesen, die hier zusätzliche Gesichtspunkte zur Beurteilung liefert, auch wenn der eigenartige Text in D d auf den ersten Blick problematisch ist. a. D d bringen im Anschluss an 5,14 mit nur geringfügigen Abweichungen 2 den Text, der für Mk 1,45; 2,1a überliefert ist, und bieten im Anschluss den Mehrheitstext von Lk 5,15f. Auf diese Weise entsteht eine unübersichtliche und widersinnige Doppelung. Auf der einen Seite steht der aus Mk bekannte Verstoß gegen das Verkündigungsverbot Jesu *5,14a || Mk 1,44a (das auf diese Weise auch für *Ev gesichert ist): Weil der Geheilte den λόγος über Jesus verbreitet und vieles »verkündigt«, kann Jesus nicht mehr in eine Stadt gehen, sondern hält sich an einsamen ______________________________ 1 Vgl. dazu N EIRYNCK , Minor Agreements (1974), 64ff; DERS ., Minor Agreements (1991), 17f; A. E NNULAT , Minor Agreements 50-58. 2 Abgesehen von zwei kleineren Unterschieden der Wortstellung (Mk 1,45: αυτον δυνασθαι; εξω επ ερημοις τοποις ην - *5,14 (D): δυνασθαι αυτον; ην εν εϕημοις τοποις) sind nur vier kleinere Differenzen anzuzeigen: 1. (κηρυσσειν) πολλα (Mk 1,45) fehlt in *5,14 (D). - 2. Mk 1,45 hat ηρχοντο anstelle von συνηρχοντο *5,14 (D). - Mk 2,1a hat εισελθων anstelle von ηλθεν *5,14 (D); diese Abweichung ist der unterschiedlichen syntaktischen Funktion des Verbs in Mk 2,1 geschuldet (s. gleich). - 4. παντοθεν Mk 1,45 hat keine Entsprechung in *5,14 (D). <?page no="59"?> 5,12-16 Rekonstruktion 571 Orten auf. Weil ihm die Menge sogar dahin nachfolgt, kehrt er wieder nach Kapharnaum zurück. Daran schließt sich in D d der aus Lk 5,15f bekannte Text an, demzufolge sich die Kunde über Jesus weit ausbreitet, weswegen eine große Menge (ὄχλοι πολλοί) ihm folgt, um ihn zu hören und geheilt zu werden (ἀκούειν καὶ θεραπεύεσθαι ἀπὸ τῶν ἀσθενειῶν αὐτῶν); daraufhin zieht sich Jesus in die Wüste zurück, um zu beten. b. Diese offenkundige Dublette in *5,14.15f D d wird durchgängig als ein Einfluss der mk Fassung auf der Ebene der handschriftlichen Überlieferung verstanden. 3 Über die Motive, die diese Eintragung von Mk 1,45; 2,1 in den Lk-Text veranlasst haben könnten, ist dabei offensichtlich nicht wirklich nachgedacht worden. Denn die Annahme einer bewussten redaktionellen Korrektur - etwa zur Herstellung einer Konflation - ist auszuschließen: Sie würde voraussetzen, dass der Bearbeiter aus Gründen der Vollständigkeit absichtlich einen unsinnigen Text produziert hätte: Der Text von 5,14-16 (D) setzt also ein Versehen voraus. In diesem Fall muss man aber annehmen, dass 5,14 und 5,15f in seinen Vorlagen standen: Für Lk 5,15f ist dies offenkundig, es handelt sich um den kanonischen Lk-Text. Für *5,14 (D) ist dies unter der Annahme der Zwei-Quellentheorie bzw. eines anderen Modells, das mit der Mk-Priorität vor Lk rechnet, nicht der Fall: Sofern man die Dublette 5,14 (D) als Einfluss aus Mk 1,45; 2,1a versteht, muss man voraussetzen, dass der Bearbeiter den Text eines anderen als des kanonischen Lk-Evangeliums (nämlich den des Mk) verglichen hätte - was aber nur wieder zu der Annahme zwingen würde, dass er absichtlich einen unsinnigen Text produzieren wollte. Die Lösung ergibt sich leicht unter der Annahme der *Ev-Priorität, wenn man das häufig zu beobachtende Phänomen der Angleichung des vorkanonischen an den kanonischen Text in Rechnung stellt. In diesem Fall fand der Bearbeiter von D die Lesart *5,14 D || Mk 1,45; 2,1a in seiner Vorlage *Ev und verglich sie mit dem kanonischen Lk-Text. c. Diese Deutung erlaubt dann auch eine Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte: Der älteste (vorkanonische) Text enthielt *5,14 (D) als Abschluss der Erzählung von der Heilung des Aussätzigen, und zwar in der Form, die o. in die Rekonstruktion aufgenommen wurde. Mk hat diesen Text übernommen (1,45; 2,1a) und ihn nur geringfügig verändert (s. Anm. 2), wodurch er das folgende Geschehen (Mk 2,1-12) ausdrücklich in Kapharnaum lokalisiert. Mt ist ihm in dieser Akoluthie nicht gefolgt, weil er in Kap. 8-9 die lange Reihe von sog. »Wundergeschichten« zusammengestellt hat: Mt bietet im Anschluss an die Heilung des Aussätzigen (und ______________________________ 3 Vgl. die Angabe p) im Apparat von NA 27 z. St. Der Sachverhalt scheint so eindeutig, dass auch M ETZGER , Textual Commentary z. St., darauf gar nicht eingeht. <?page no="60"?> 572 Anhang I 5,12-16 vielleicht angeregt durch die Eingangswendung: εἰσελθόντος δὲ αὐτοῦ εἰς Καϕαρναούμ Mt 8,5 || Mk 2,1a) die auch anderweitig bearbeitete Erzählung von der Heilung des Knechts des Hauptmanns von Kapharnaum, die *Ev nachweislich erst in einem späteren Zusammenhang enthielt (*7,1-9, s. dort). Lk hat die Formulierung des Endes der Erzählung von der Heilung des Aussätzigen in *Ev geändert: Er hat die Ausbreitung der Kunde über Jesus unpersönlich formuliert (5,15a: διήρχετο δὲ μᾶλλον ὁ λόγος περὶ αὐτοῦ) und auf diese Weise den Widerspruch gemildert, der sich bei (*Ev und) Mk dadurch ergab, dass der Geheilte gegen Jesu ausdrückliches Verbot die Kunde über ihn verbreitet. Daneben hat er das Interesse der Menge dadurch plausiblisiert, dass sie ihn hören und geheilt werden wollten (θεραπεύεσθαι ἀπὸ τῶν ἀσθενειῶν αὐτῶν); und schließlich hat er den Rückzug Jesu an einsame Orte durch sein Gebet motiviert (5,16: καὶ προσευχόμενος). Das Versehen, das dem Bearbeiter von D unterlaufen ist, besteht darin, dass er seiner Vorlage mit dem vorkanonischen Text (*Ev) folgte, ihn nach dem kanonischen Lk-Text verglich, dabei aber beide Schlüsse zu einer Konflation miteinander verband. Für die Rekonstruktion von *Ev ist daher davon auszugehen, dass der Abschluss der Perikope von der Heilung des Aussätzigen aussah, wie sie *5,14 (D) || Mk 1,45; 2,1a enthalten ist. *5,17.18-26: Heilung des Gelähmten Bezeugt, sicher vorhanden, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit redaktionell bearbeitet (5,17). 5,17 Καὶ ἐγένετο ἐν μιᾷ τῶν ἡμερῶν a αὐτοῦ διδάσκοντος συνελθεῖν τοὺς Φαρισαὶους ¿καὶ γραμματεῖς? · ἦσαν δὲ συνεληλυθότες a ἐκ πάσης κώμης τῆς Γαλιλαίας καὶ Ἰουδαίας b [ καὶ Ἰερουσαλήμ· ] b c [ καὶ δύναμις κυρίου ἦν ] c d τοῦ ἰᾶσθαι e αὐτούς. 18 καὶ ἰδοὺ ἄνδρες ϕέροντες ἐπὶ ¿κραβάττου? ἄνθρωπον ὃς ἦν παραλελυμένος, καὶ ἐζήτουν αὐτὸν εἰσενεγκεῖν καὶ θεῖναι αὐτὸν ἐνώπιον αὐτοῦ. 19 καὶ μὴ εὑρόντες ποίας εἰσενέγκωσιν αὐτὸν διὰ τὸν ὄχλον f ἀνέβησαν ἐπὶ τὸ δῶμα καὶ ἀποστεγάσαντες τοὺς κεράμους ὅπου ἦν καθῆκαν τὸν κράβαττον σὺν τῷ παραλυτικῷ f g [ εἰς τὸ μέσον ] g ἔμπροσθεν τοῦ Ἰησοῦ. 20 καὶ ἰδὼν τὴν πίστιν αὐτῶν h λέγει i τῷ παραλυτικῷ i , Ἄνθρωπε, ἀϕέωνταί σοι αἱ ἁμαρτίαι σου. 21 καὶ ἤρξαντο διαλογίζεσθαι οἱ γραμματεῖς καὶ οἱ Φαρισαῖοι k {ἐν ταῖς καρδίαις αὐτῶν} k λέγοντες, l Τὶ οὗτος l λαλεῖ βλασϕημίας; τίς m ἀϕήσει ἁμαρτίας εἰ μὴ μόνος ὁ θεός; 22 ἐπιγνοὺς δὲ ὁ Ἰησοῦς τοὺς διαλογισμοὺς αὐτῶν ἀποκριθεὶς εἶπεν πρὸς αὐτούς, Τί διαλογίζεσθε ἐν ταῖς καρδίαις ὑμῶν n πονηρά; 23 τί ἐστιν εὐκοπώτερον, εἰπεῖν, Ἀϕέωνταί σοι αἱ ἁμαρτίαι σου, ἢ εἰπεῖν, Ἔγειρε καὶ περιπάτει; 24 ἵνα δὲ εἰδῆτε ὅτι ἐξουσίαν ἔχει ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου o ἀϕιέναι ἁμαρτίας ἐπὶ τῆς γῆς o - p λέγει τῷ <?page no="61"?> 5,17-26 Rekonstruktion 573 q παραλυτικῷ, r Σοὶ λέγω, r ἔγειρε s καὶ ἆρον s t τὸν κράβαττὸν t σου u {καὶ} πορεύου εἰς τὸν οἶκόν σου. 25 καὶ παραχρῆμα ἀναστὰς ἐνώπιον αὐτῶν, ἄρας v τὸν κράβαττὸν αὐτοῦ [ ἐϕ’ ὃ κατέκειτο, ] v ἀπῆλθεν εἰς τὸν οἶκον αὐτοῦ δοξάζων τὸν θεόν. w [ 26 καὶ ἔκστασις ἔλαβεν ἅπαντας καὶ ἐδόξαζον τὸν θεόν, ] w καὶ ἐπλήσθησαν ϕόβου λέγοντες ὅτι Εἴδομεν παράδοξα σήμερον. A. *5,17-20: Tert. 4,10,1: curatur et paralyticus, et quidem in coetu, spectante populo. ♦ *5,21.23: Tert. 4,10,1: Non otiose iterans, Convalescite, nec vane subiungens, Nec timete, quoniam cum redintegratione membrorum virium quoque repraesentationem pollicebatur: Exsurge, et tolle grabattum tuum, simul et animi vigorem, ad non timendos qui dicturi erant, Quis dimittet peccata nisi solus deus? Tert. 4,10,1: exsurge et tolle. ♦ *5,24a: Tert. 4,10,13: Nam cum Iudaei solummodo hominem eius intuentes, necdum et deum certi, qua dei quoque filium, merito retractarent non posse hominem delicta dimittere, sed deum solum, cur non secundum intentionem eorum de homine eis respondit habere eum potestatem dimittendi delicta, quando et filium hominis nominans hominem nominaret? ¦ Epiph., Schol. 2: ἵνα δὲ εἰδῆτε ὅτι ἐξουσίαν ἔχει ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ἀϕιέναι ἁμαρτίας ἐπὶ τῆς γῆς (die Wortstellung entspricht Mk 2,10, nicht aber der lk Fassung: ἵνα δὲ εἰδῆτε ὅτι ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ἐξουσίαν ἔχει ἐπὶ τῆς γῆς ἀϕιέναι ἁμαρτίας). die Aussage dient in Elench. 2 - wegen des Stichworts »Menschensohn« als Beleg für die Inkarnation des eingeborenen Sohns. ♦ *5,24b: Tert. 4,10,1: Exsurge, et tolle grabattum tuum. B. a (5,17) αυτου διδασκοντος συνελθειν τους Φαρισαιους και νομοδιδασκαλους· ησαν δε συνεληλυθοτες/ et factum est in una dierum (e: die) ipso docente (e: loquente) (d: et) convenire Pharisaeos et legis doctores): D c (d e) ¦ και αυτος ην διδασκων, και ησαν καθημενοι Φαρισαιοι και νομοδιδασκαλοι οι ησαν εληλυθοτες: (a) b f q M (*Ev non test.) ● b (5,17) και Ιερουσαλημ: om D d ¦ add a aur b c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● c (5,17) και δυναμις κυριου ην: om D d 1241 ¦ add a aur b c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● d (5,17) του: D (d: ut salbaret; c e: ut curaret); το: 1242; εν τω: 346 Cyr (Thes. 35; PG 75, 640) ¦ εις το: a aur b c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● e (5,17) αυτους: A C D [K] Θ Ψ f 1.13 33 it ¦ παντας: K sy p bo ¦ αυτον: א B L W Ξ 579 2542 (*Ev non test.) ● f (5,19) ανεβησαν επι το δωμα και αποστεγασαντες τους κεραμους οπου ην καθηκαν τον κραβαττον συν τω παραλυτικω: D (b) d (vgl. Mk 2,4) ¦ αναβαντες επι το δωμα δια των κεραμων καθηκαν αυτον συν τω κλινιδιω εις το μεσον: it M (*Ev non test.) ● g (5,19) εις το μεσον: om 788 a georg I.III slav 1 ms ¦ add aur b c d e f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● h (5,20) λεγει: D d ¦ ειπεν: it M (*Ev non test.) ● i (5,20) τω παραλυτικω: C D 16 124 348 477 1216 1579 d f sy s.p Tat arab.pers bo Cyr (Joh 3,2; P USEY 3, 376) ¦ om א B L Θ Ξ 33 579 700 788 2542 aur ſſ 2 gat vg sa (*Ev non test.) ● k (5,21) εν ταις καρδιαις αυτων: D b d ſſ 2 g 1 l q (vgl. Mk 2,6) ¦ om (a) aur f r 1 vg M (*Ev non test.) ● l (5,21) τι ουτος: D d (vgl. Mk 2,7) ¦ τις εστιν ουτος ος: it M (*Ev non test.) ● m (5,21) αϕησει/ dimittet: Tert ¦ δυναται … αϕειναι: it M ● n (5,22) πονηρα: D d; (διαλογιζεσθε πονηρα: 828 c c e l r 1 sy j(mss) aeth Athan (Exp. Ps 33, 15; PG 27, 165) Ambr (Lc. 5,15; CCL 14, 140) Cypr (Orat. 4; CSEL 3/ 1, 268) ¦ om it M (*Ev non test.) ● o (5,24) αϕιεναι αμαρτιας επι της γης: Epiph sy s Chrys (Hom. in Joh 5,19; PG 56, 255) (vgl. Mk 2,10) ¦ επι της γης αϕιεναι αμαρτιας (4 5 1-3): M ● p (5,24) λεγει: D 1424 pc d (vgl. Mk 2,10) ¦ ειπεν: M (*Ev non test.) ● q (5,24) παραλυτικω: א C D L M N W X Θ Ξ Ψ pc it vg (vgl. Mk 2,10) ¦ παραλελυμενω: M (*Ev non test.) ● r (5,24) σοι λεγω/ tibi dico: om Tert e ¦ add a aur b c d f ſſ 2 l q r 1 M ● s (5,24) και αρον/ et tolle: Tert א D 0211 115 157 726 1424 1542* [a] aur b c d f ſſ 2 l q r 1 sy s.p Tat pers (vgl. Mk 2,11) ¦ και αρας: M ● t (5,24) τον κραβαττον/ grabbatum: Tert <?page no="62"?> 574 Anhang I 5,17-26 D 517 954 1424 1675 c d r 1 (vgl. Mk 2,11) ¦ το κλινιδιον/ lectum: [a] aur b f ſſ 2 l q M ● u (5,24) και/ et: add Tert א D 0211 mult lectt it vg sy s.p Tat pers sa bo ¦ om M ● v (5,25) τον κραβαττον (αυτου)/ grabbatum (suum): D a b r 1 b d c e (vgl. Mk 2,12) ¦ εϕ ο κατεκειτο/ in quo iacebat: aur f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● w (5,26) και εκστασις ελαβεν απαντας και εδοξαζον τον θεον: om D M W X Ψ Ω* 028 mult (z. B. , 544 59 1197 1241) lectt e d ¦ add [a] aur b c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.). C. Die Perikope ist gut bezeugt und war sicher in *Ev enthalten, wurde aber mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Lk redaktionell bearbeitet. Folgende Beobachtungen verdienen Erwähnung: 1. Unklar ist zunächst die Exposition der Perikope: Tertullians Referat macht zu *5,17 keine Angaben, und die synoptischen Parallelen bieten an dieser Stelle unterschiedliche Texte. Zugleich deutet die uneinheitliche Textüberlieferung in den charakteristischen »Westlichen« Zeugen D (it) an dieser Stelle auf redaktionelle Eingriffe hin. a. Der für die Exposition rekonstruierte Text *5,17a καὶ ἐγένετο ἐν μιᾷ τῶν ἡμερῶν αὐτοῦ διδάσκοντος συνελθεὶν τοὺς Φαρισαὶους καὶ γραμματεῖς folgt zunächst der Lesart in D it (c d e), die im Vergleich zum kanonischen Mehrheitstext deutlich schwieriger ist. Denn ihre Fortsetzung in *5,17b ἦσαν δὲ συνεληλυθότες … τοῦ ἰᾶσθαι αὐτούς impliziert, dass die Pharisäer und Schriftgelehrten nicht als Zeugen der Heiltätigkeit Jesu gekommen waren, sondern selbst geheilt werden wollten. Das passt nicht problemlos zum Fortgang der Erzählung, oder genauer: nicht zu der aus den kanonischen Evangelien bekannten Charakterisierung der genannten Gruppen, derzufolge sie primär Opponenten Jesu sind. Der kanonische Mehrheitstext hat dieses Problem nicht, und es liegt nahe, dass zwei wichtige Unterschiede gegenüber dem »Westlichen« Text auf die lk Redaktion zurückgehen: Zunächst charakterisiert ἦσαν καθήμενοι anstelle von ἦσαν συνεληλυθότες die Pharisäer als Hörer der Lehre Jesu. Dies passt zu ihrer Charakterisierung als distanzierte Beobachter, wie sie dann in der folgenden Erzählung entfaltet wird. Die zweite Ergänzung besteht in der Einfügung von καὶ δύναμις κυρίου ἦν εἰς τὸ ἰᾶσθαι (dazu s. gleich): Der durch diese Einfügung hervorgerufene Wechsel der Erzählperspektive trennt die Pharisäer noch weiter von denen, die zu Jesus kamen, um von ihm geheilt zu werden. Aus diesem Grund ist auch die Erklärung wenig überzeugend, die Bruce Metzger für die Ursprünglichkeit der Mehrheitslesart gibt: »The difficulty of the reading supported by the overwhelming mass of witnesses (according to which the enemies of Jesus had come from every village of Galilee, Judea, and Jerusalem) prompted some copyists to omit οἵ altogether ( א * 33) and others to replace it with δέ (D it d, e syr s ), so that it is the sick who have come from all parts to <?page no="63"?> 5,17-26 Rekonstruktion 575 be healed.« 1 Der Vorgang ist genau umgekehrt zu denken: Durch die Einfügung von οἵ sowie die Ersetzung von συνεληλυθότες durch καθήμενοι ist es der lk Redaktion gelungen, die Pharisäer und Schriftgelehrten nicht mehr als Heilungssuchende darzustellen. Der Umstand, dass dieses Problem nur bei *Ev/ Lk auftaucht, hätte im methodischen Horizont der Zwei-Quellentheorie zu denken geben können: Derzufolge hätte Lk seine in dieser Hinsicht vollkommen eindeutige mk Quelle verunklart. Der semantische Vergleich zwischen der D-Lesart und dem kanonischen Mehrheitstext macht es nahezu unmöglich, den D-Text gegenüber dem kanonischen Mehrheitstext für sekundär zu halten. Die hier zugrunde gelegte Annahme der Interferenz zwischen vorkanonischer und kanonischer Textgestalt bietet dagegen eine einfache und plausible Erklärung für diese Abweichung. b. Fraglich ist weiterhin, ob *5,17 neben den Pharisäern die Schriftgelehrten (γραμματεῖς) oder die Gesetzeslehrer (νομοδιδάσκαλοι) nannte. Zwar sind die Schriftgelehrten in der handschriftlichen Überlieferung dieses Verses überhaupt nicht bezeugt. Allerdings nennt Lk 5,21 neben den Pharisäern nicht, wie in Lk 5,17, die νομοδιδάσκαλοι, sondern die γραμματεῖς. Da Mk 2,6 ebenfalls die γραμματεῖς erwähnt, liegt es nahe, dass sie bereits im vorkanonischen Text gestanden haben und in Mk 2,6 || Lk 5,21 von dort rezipiert wurden. In diesem Fall hätte die lk Redaktion sie in der Exposition Lk 5,21 durch die νομοδιδάσκαλοι ersetzt, diese Änderung aber in 5,21 nicht konsequent mitvollzogen. Diese Inkonsequenz ist ein geläufiges Phänomen bei redaktionellen Bearbeitungen. 2 Aus diesem Grund ist es wahrscheinlich, dass die Vorlage in *Ev die γραμματεῖς anstelle der νομοδιδάσκαλοι enthielt. c. In *5,17 D d (1241) fehlen die Worte καὶ Ἰερουσαλήμ· καὶ δύναμις κυρίου ἦν. Die redaktionelle Einfügung von καὶ Ἰερουσαλήμ präzisiert die schon vorkanonische Herkunft der Versammelten ἐκ πάσης κώμης τῆς Γαλιλαίας κ α ὶ Ἰ ο υ δ α ί α ς , die auch im Kontext von *Ev schwer verständlich, weil narrativ nicht vorbereitet ist: Jesus hatte sich bisher nur in Galiläa aufgehalten, weder Judäa noch Jerusalem waren zuvor erwähnt. 3 Die präzisierende Einfügung von Jerusalem als Herkunftsort der Besucher Jesu entspricht der Liste in *6,17 und ihrer Bearbeitung durch die lk Redaktion: Auch hier ist die ursprüngliche Liste der Orte, aus denen die Menge zu Jesus kam, um ihn zu hören und geheilt zu werden (*6,18), um Jerusalem ergänzt (s. dort). Das herausgehobene Interesse an Jerusalem und die ______________________________ 1 M ETZGER , Textual Commentary, z. St. Die Lesart des Mehrheitstextes wurde vom Herausgeberkommittee als »beinahe sicher ursprünglich« bewertet, wie die Kennzeichnung dieser Variante durch das Sigel {B} anzeigt. 2 Vgl. M. S. G OODACRE , Fatigue in the Synoptics, NTS 44 (1998), 45-58. 3 Ἰερουσαλήμ/ Ἱεροσόλυμα (2,22,25.41.43.45; 4,9) ist ebenso sicher redaktionell wie Ἰουδαία/ Ἰούδα (1,5.39.65; 2,4; 3,1) . <?page no="64"?> 576 Anhang I 5,17-26 Absicht, den Ruf Jesu schon früh bis dorthin gedrungen sein zu lassen, ist ein Kennzeichen der lk Redaktion. Wichtiger ist der Subjektwechsel, den der kanonische Text in Lk 5,17b mit der Einfügung von καὶ δύναμις κυρίου ἦν vornimmt und dadurch einen neuen Satz beginnen lässt. Dieser Wechsel kaschiert den Heilungswunsch der zu Jesus gekommenen Pharisäer und Gesetzeslehrer. Diese Konstruktion erweist sich gegenüber dem D-Text als sekundär, wie schon deutlich wurde (s. o.). Die durch diese Einfügung entstandene Wendung Lk 5,17 fin. καὶ δύναμις κυρίου ἦν εἰς τὸ ἰᾶσθαι αὐτόν ist allerdings nicht unproblematisch. Es handelt sich um einen - nicht ganz eindeutig formulierten - finalen substantivierten Infinitiv, in dem αὐτόν als Subjekt der mit εἰς τό angeschlossenen finalen Bestimmung fungiert. 4 Die Schwierigkeit dieser Formulierung resultiert aus dem Bestreben, die in Lk 5,17a genannten Pharisäer und Gesetzeslehrer nicht als Heilungssuchende erscheinen zu lassen: Der vorkanonische Text hatte davon gesprochen, dass die Pharisäer und Schriftgelehrten zu Jesus gekommen waren, um geheilt zu werden (ἦσαν δὲ συνεληλυθότες … τοῦ ἰᾶσθαι α ὐ τ ο ύ ς ). 5 Die lk Redaktion hat durch den grammatikalischen Neueinsatz daraus eine Aussage über »die Kraft des Herrn zum Heilen« gemacht. Ihre syntaktischen Schwierigkeiten beruhen darauf, dass sie das Objekt (αὐτούς) zum Subjekt (αὐτόν) des Heilens gemacht hat. Aber dazu ist die Aussage über die »Kraft des Herrn« zu unbestimmt (δύναμις κυρίου ἦν). Erwartbar wäre entweder eine modale Bestimmung (etwa: δύναμις κυρίου ἦν ἐ π ’ α ὐ τ ῷ ) oder ein Hauptverb zu erwarten (etwa: δύναμις κυρίου ἦ λ θ ε ν ), wie es gelegentlich substituiert wird. 6 Dass eine Reihe von Handschriften (A C D [K] Θ Ψ f 1.13 33 it usw.) das Pronomen als Objekt von ἰᾶσθαι verstehen und daher Plural (αὐτούς) anstelle des Singulars (αὐτόν) lesen, ist daher nicht der Versuch, die schwierige Formulierung des kanonischen Mehrheitstextes zu erleichtern, sondern eine Spur des vorkanonischen Textes. d. Mit dieser Rekonstruktion der Exposition werden dann auch die redaktionellen Entscheidungen in der Überlieferungsgeschichte der Perikope durchsichtig. (1) Der Ausgangstext in *Ev war nicht unproblematisch, wird aber nur im Zusammenhang mit dem Schluss der vorangehenden Erzählung von der Heilung des Aussätzigen verständlich. Da Lk 5,15f fehlte und die Erzählung mit der Notiz über die Rückkehr ______________________________ 4 Zu den syntaktischen Problemen s. W OLTER , Lk 221 (»Lexik und Syntax … sind etwas undurchsichtig«). 5 Der substantivierte Infinitiv mit Artikel im Genitiv (τοῦ + Inf.) in finalem Sinn ist breit bezeugt, vgl. BDR § 400.5. 6 Vgl. R ADL , Lk 313: »Die Kraft des Herrn drängte ihn zum Heilen.« Angemessener versteht W OLTER , Lk 219: »Die Kraft des Herrn war da, so dass er heilen (konnte)«, kommt aber auch nicht ohne präzisierende Zusätze aus. <?page no="65"?> 5,17-26 Rekonstruktion 577 Jesu nach Kapharnaum endete (*5,14 D, s. dort), ist die anschließende Exposition der Heilung des Gelähmten nicht »irgendwo im judäischen Land« lokalisiert, 7 sondern verlegt das Geschehen nach Kapharnaum. Schwierig ist diese Einleitung, weil *5,17b kein von *5,17a unterschiedenes Subjekt nennt, obwohl es durchaus denkbar ist, dass *Ev hier ein unbestimmtes »sie« denkt, wie es auch in *5,14 D vorausgesetzt ist (καὶ συνήρχοντο πρὸς αὐτόν). (2) Mk hat die daraus resultierenden Schwierigkeiten, dass die Pharisäer und Schriftgelehrten als Heilungssuchende zu Jesus kommen, dadurch umgangen, dass er die Notiz über die Ausbreitung der Kunde über Jesus (Mk 1,45) und die Bemerkung über die Rückkehr nach Kapharnaum (Mk 2,1) voneinander getrennt und die Rückkehrnotiz als Einleitung für die Heilung des Gelähmten verwendet hat. Dieser Eingriff hatte zur Folge, dass die mk Fassung der Erzählung von der Heilung des Aussätzigen ganz betont mit dem Hinweis endete, dass die Kunde über Jesus sich verbreitete und die Heilungssuchenden »von überall her« zu ihm kamen (Mk 1,45). Der Neueinsatz in Mk 2,1f setzt diese Situation voraus: Eine unbestimmte Menge (Mk 2,2: πολλοί) versammelt sich in seinem Haus, das (im Unterschied zu den 1,45 genannten ἔρημοι τόποι) ja für den Plot der Erzählung konstitutiv ist. Indem Mk diese »Vielen« anstelle der Pharisäer und Schriftgelehrten aus der Exposition von *Ev (*5,17) erwähnt, hat er auch das Problem beseitigt, dass diese als Heilungssuchende erscheinen könnten. (3) Da Mt die Erzählung redaktionell in einen ganz anderen Kontext stellt (Mt 9,1-8) und sie szenisch weit von der Heilung des Gelähmten (Mt 8,1-4) entfernt, sehen bei ihm die Exposition mit der Lokalisierung (Mt 9,1) und die narrative Ausgestaltung mit der überraschenden Dachabdeckung (Mk 2, 4 || *5,19 ÷ Mt 9,2) ganz anders aus als in *Ev und Mk. Die mt Redaktion ist für unseren Zusammenhang unerheblich. (4) Lk folgt allerdings sowohl *Ev als auch Mk: Aus Mk 1,45 hatte er die Notiz über die Ausbreitung der Kunde über Jesus (Lk 5,15 Mk 1,45a) und seinen Aufenthalt ἐν ταῖς ἐρήμοις (Mk 1,45b || Lk 5,16) als eigenständigen Abschluss der Heilung des Aussätzigen übernommen. Für die Exposition der Heilung des Gelähmten folgte Lk allerdings *Ev. Abgesehen davon, dass auf diese Weise eine Lokalisierung des erzählten Geschehens fehlt, verursachte die Erwähnung der Pharisäer und Schriftgelehrten (die Lk allerdings nur hier, nicht in Lk 5,21) durch die Gesetzeslehrer ersetzte, Schwierigkeiten: Um den Eindruck zu vermeiden, dass sie als Heilungssuchende zu Jesus kommen, lässt Lk sie bei Jesus »sitzen« (Lk 5,17 καὶ ἦσαν καθήμενοι). Vor allem aber trennt er die finale Bestimmung bei *Ev (τοῦ ἰᾶσθαι αὐτούς) von der Aussage, dass sie zu Jesus gekommen waren (οἳ ἦσαν ἐληλυθότες), indem er die etwas verunglückte Bemerkung über die Kraft des Herrn (καὶ δύναμις κυρίου ἦν) einfügt und das Objekt (αὐτούς) zum Subjekt (αὐτόν) macht. ______________________________ 7 W OLTER , Lk 220. <?page no="66"?> 578 Anhang I 5,17-26 2. Einen weiteren, wichtigen Hinweis für die Rekonstruktion ergeben die (mtlk) »Minor Agreements«. Neben anderem 8 ist hier vor allem wichtig, dass Mk an drei Stellen das Bett des Gelähmten als ὁ κράβαττος bezeichnet (Mk 2,4.11.12). Dieses Wort findet sich weder bei Lk noch bei Mt: Mk 2,4 (ὁ κράβαττος) ≠ Lk 5,19 (τὸ κλινίδιον) ÷ Mt 9,2). - Mk 2,11 (ὁ κράβαττος) ≠ Lk 5,24 || Mt 9,6 (τὸ κλινίδιον). - Mk 2,12 (ὁ κράβαττος) ≠ Lk 5,25 (ἐϕ’ ὃ κατέκειτο) ÷ Mt 9,7. Sieht man sich diese Verteilung an, wird deutlich, dass Mt und Lk ὁ κράβαττος gemieden und entweder durch τὸ κλινίδιον bzw. ἡ κλίνη ersetzt oder anderweitig umschrieben haben. Diese Ersetzung ist verständlich, weil ὁ κράβαττος ausgesprochen selten und ungewöhnlich ist. 9 Aus diesem Grund ist die Beobachtung aufschlussreich, dass Tertullian für *Ev mit dem lateinischen Lehnwort grabbatus das aus Mk bekannte ὁ κράβαττος bezeugt. Dieser Sprachgebrauch wird auch durch die Altlateiner gestützt: In *5,18 haben die Altlateiner durchweg in lecto/ super lectum für ἐπὶ κλίνης, das hier mit einiger Wahrscheinlichkeit ursprünglich ist. grabattus findet sich *5,19 in c d e (neben lectus in a aur b f ſſ 2 l q), *5,24 in c d r 1 und *5,25 in a c d e (neben lectus in b r 1 ). An dieser letzten Stelle zeigt sich die Uneinheitlichkeit, mit der die altlateinischen Handschriften den vorkanonischen nach dem kanonischen Text korrigiert haben, besonders deutlich, weil sich hier unterschiedliche Formen erhalten haben: Neben dem (mutmaßlich vorkanonischen) grabattus ([a] c d e) findet sich der kanonische Wortlaut ἐϕ’ ὃ κατέκειτο/ in quo iacebat (aur f ſſ 2 l q) sowie der Mischtext aus beiden Formen l e c t u m in quo iacebat (b r 1 ). Das Zustandekommen dieser Varianten lässt sich nur auf höchst kompliziertem Weg als eine Beeinflussung durch den Text der mk Parallele verstehen, wird aber durch das Modell der uneinheitlichen Korrekturen ohne weiteres verständlich. Aus diesem Grund wird auch in *5,18 ursprünglich ἐπὶ κ ρ α β ά τ τ ο υ anstelle von ἐπὶ κλίνης gestanden haben, obwohl sich für diese Stelle keine Varianten in der kanonischen Überlieferung erhalten haben. Allerdings gibt Mk 2,3 v. l. einen Hinweis darauf, dass das vorkanonische *Mk an dieser Stelle ursprünglich ebenfalls κράβαττον gelesen hatte, wie die Variante im Washingtonianus zeigt (Mk 2,3 W: ἰδοὺ ἄνδρες ἔρχονται πρὸς αὐτὸν βαστάζοντες ἐν κρεβάττῷ παραλυτικόν). ______________________________ 8 ἰδού 5,18 || Mt 9,2a ÷ Mk 2,3. - ἐπὶ κλίνης 5,18 || Mt 9,2a ÷ Mk 2,3. - αἰρόμενον ὑπὸ τεσσάρων Mk 2,3 ÷ Lk 5,18 || Mt 9,2. - τῷ παραλυτικῷ Mk 2,9 ÷ Lk 5,23 || Mt 9,5. - καὶ ἆρον τὸν κράβαττόν σου Mk 2,9 ÷ Lk 5,23 || Mt 9,5. - εἰς τὸν οἶκον αὐτοῦ 5,27 || Mt 9,7 ÷ Mk 2,12. Vgl. dazu N EIRYNCK , Minor Agreements (1974), 67ff; DERS ., Minor Agreements (1991), 19f; E NNULAT , Minor Agreements 58-68, sowie F R . N EIRYNCK , Les accords mineurs et la rédaction des évangiles: L’épisode du paralytique (Mt., IX,1-8 / Lc., V,17-26, par. Mc., II.1-12), ETL 50 (1974), 215-230. Die Erklärung dieser Agreements bereitet im Rahmen der Zweiquellentheorie verständlicherweise größte Schwierigkeiten; ausführlich ist für eine Lösung im Sinn der Deuteromarkustheorie eingetreten A. F UCHS , Offene Probleme der Synoptikerforschung. Zur Geschichte der Perikope Mk 2,1-12 par Mk 9,1-18 par Lk 5,17-26, in: ders., Spuren von Deuteromarkus II, Münster 2004, 19-52. 9 ὁ κράβαττος (oder κράββατος), ein Lehnwort unbekannter Herkunft, kommt in LXX, bei Philo und Josephus überhaupt nicht, in der Profangräzität nur sehr selten vor; vgl. BDR § 42.4; J. H. M OULTON , Einleitung in die Sprache des Neuen Testaments, Heidelberg 1911, 60. <?page no="67"?> 5,17-26 Rekonstruktion 579 3. Nach der Logik dieser uneinheitlichen Angleichungen an den kanonischen Text lassen sich dann auch diejenigen Passagen von *Ev mit einiger Wahrscheinlichkeit rekonstruieren, für die keine Bezeugung vorliegt. a. In *5,24 sind die (für *Ev nicht bezeugten) Worte σοὶ λέγω/ tibi dico von der Afra-Handschrift e ausgelassen; sie fehlen auch in Mt 9,6 ≠ Mk 2,11 || Lk 5,24. Wieder ist die Annahme leichter, dass Mt dem kürzeren, vorkanonischen (und noch in e sichtbaren) Text gefolgt ist, als dass Mt und e unabhängig voneinander diese Worte ausgelassen haben. Trifft diese Annahme zu, dann hätte Lk hier nicht auf *Ev, sondern auf Mk zurückgegriffen. b. Wichtiger ist die Auslassung von Lk 5,26a καὶ ἔκστασις ἔλαβεν ἅπαντας καὶ ἐδόξαζον τὸν θεόν in einigen Handschriften (D M W X Ψ Ω* 028 e d usw.). Hier spricht nicht nur die handschriftliche Überlieferung dafür, dass dieser Satz in *Ev fehlte, sondern auch der Umstand, dass δοξάζειν τὸν θεόν ein lk Vorzugsterminus zur Bezeichnung der Bekehrung ist, 10 sowie die eigenartige und eher unglückliche Doppelung der Wendung einmal im Mund des Geheilten (V. 24), dann V. 25 als Reaktion der Menge, die ja in der kanonischen Fassung i. W. aus Pharisäern und Schriftgelehrten/ Gesetzeslehrern besteht. Der Schluss der Perikope sah in *Ev folglich anders aus als in der kanonischen Fassung. 4. Die verschiedentlich notierten D-Lesarten häufen sich in dieser Perikope. Dieses Beispiel bietet für die überlieferungsgeschichtliche Rekonstruktion insofern Anhaltspunkte, als die D-Lesarten teilweise Entsprechungen in der mk Fassung der Perikope besitzen: αποστεγασαντες *5,19 || απεστεγεσαν Mk 2,4 ÷ Lk 5,19. - τον κραβαττον συν τω παραλυτικω *5,19 || τον κραβαττον οπου ο παραλυτικος κατεκειτο Mk 2,4 ≠ Lk 5,19 αυτον συν τω κλινιδιω. - Lk 5,19 εις το μεσον ÷ *5,19 || Mk 2,4. - εν ταις καρδιαις αυτων *5,21 || Mk 2,6 ÷ Lk 5,21. - τι ουτος *5,21 || Mk 2,7 ≠ τις εστιν ουτος ος Lk 5,21. - πονηρα *5,22 || Mt 9,4 ÷ Lk 5,22. - λεγει *5,24 || Mk 2,10 ≠ ειπεν Lk 5,24. - παραλυτικω *5,24 || Mk 2,10 ≠ παραλελυμενω Lk 5,24. - αϕιεναι αμαρτιας επι της γης *5,24 || Mk 2,10 ≠ επι της γης αϕιεναι αμαρτιας Lk 5,24. - αρον *5,24 || Mk 2,11 ≠ αρας Lk 5,24. - τον κραβαττον *5,24 || Mk 2,11 ≠ το κλινιδιον Lk 5,24. Diese Übereinstimmungen zwischen D und den synoptischen Parallelen sind nicht, wie der Apparat von NA 27 gelegentlich durch p) andeutet, sekundäre Angleichungen aufgrund der synoptischen Parallelen: Vor allem im Fall des ganz anders strukturierten V. *19 ist das nicht denkbar. Stattdessen handelt es sich um Spuren der lk Redaktion, die *Ev geändert hat, wogegen Mk (und Mt) den diesen Ursprungstext jeweils genauer bewahrt haben. 5. Dass Tertullian die Vollmacht des Menschensohns zur Sündenvergebung »auf der Erde« (ἐπὶ τῆς γῆς) nicht erwähnt, ist kein hinreichendes Indiz dafür, dass ______________________________ 10 Vgl. 2,20; 4,15; 7,16; 13,13; 17,15; 18,43; 23,47; Act 11,18. <?page no="68"?> 580 Anhang I 5,17-26 *Ev diese Worte nicht hatte. Dem argumentum e silentio, dass Tertullian die Sündenvergebung »auf der Erde« erwähnt hätte, weil die »Erde« den Schöpfergott symbolisiere, 11 steht entgegen, dass Epiphanius diese Worte zitiert; auch die handschriftliche Überlieferung gibt hier keinen Anhalt für die Vermutung, dass in *Ev ein anderer als der kanonische Text vorlag. *5,{27 D} [ 27 ] 28-30.31.32: Berufung des Levi. Zöllnermahl Gut bezeugt und sicher vorhanden, mit großer Wahrscheinlichkeit durch die lk Redaktion bearbeitet. a {5,27 καὶ ἐλθὼν πάλιν παρὰ τὴν θάλασσαν καὶ ἐπακολουθοῦντα αυτῷ ὄχλον ἐδίδασκεν· καὶ παράγων εἶδεν Λευὶ τὸν τοῦ Ἁλϕαίου} a καθήμενον ἐπὶ τὸ τελώνιον, καὶ b λεγει αὐτῷ, Ἀκολούθει μοι. 28 καὶ καταλιπὼν πάντα ἀναστὰς ἠκολούθει αὐτῷ. 29 Καὶ ἐποίησεν δοχὴν μεγάλην Λευὶς αὐτῷ ἐν τῇ οἰκίᾳ αὐτοῦ· καὶ ἦν ὄχλος πολὺς τελωνῶν c καὶ ἄλλων ἀνακειμένων c . 30 καὶ ἐγόγγυζον οἱ Φαρισαῖοι καὶ οἱ γραμματεῖς αὐτῶν πρὸς τοὺς μαθητὰς αὐτοῦ λέγοντες, Διὰ τί μετὰ τῶν τελωνῶν d [ καὶ ἁμαρτωλῶν ] d ἐσθίετε καὶ πίνετε; 31 καὶ ἀποκριθεὶς ὁ Ἰησοῦς εἶπεν πρὸς αὐτούς, Οὐ χρείαν ἔχουσιν οἱ ὑγιαίνοντες ἰατροῦ ἀλλὰ οἱ κακῶς ἔχοντες· 32 οὐκ ἐλήλυθα καλέσαι δικαίους e [ ἀλλὰ f ἀσεβεῖς ] e [ εἰς μετάνοιαν ] . A. *5,27: Tert. 4,11,1: Publicanum adlectum a domino in argumentum deducit, quasi ab adversario legis adlectum, extraneum legis et Iudaismi profanum. Excidit ei vel de Petro, legis homine, et tamen non tantum adlecto, sed etiam testimonium consecuto agnitionis praestitae a patre. Nusquam legerat lumen et spem et expectationem nationum praedicari Christum … ♦ *5,31: Tert. 4,11,1: … Atquin probavit potius Iudaeos, dicendo medicum sanis non esse necessarium sed male habentibus. B. a (5,27) και ελθων παλιν παρα την θαλασσαν τον επακολουθουντα αυτω οχλον εδιδασκεν· και παραγων ειδεν Λευι τον του Αλϕαιου: D d ¦ και μετα ταυτα εξηλθεν και εθεασατο τελωνην ονοματι Λευιν: M (*Ev non test.) ● b (5,27) λεγει/ dicit: א D f 13 d (aur b f ſſ 2 l q r 1 : ait) lectt ¦ ειπεν/ dixit: [a] c e M (*Ev non test.) ● c (5,29) και αλλων ανακειμενων: D d e ¦ και αμαρτωλων: N W 1424 pc bo ms ¦ om א * q ¦ και αλλων οι ησαν μετ αυτων κατακειμενοι: aur b c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● d (5,30) και αμαρτωλων: om C* D d 265 ¦ add [a] aur b c e f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● e (5,32) αλλα ασεβεις/ αμαρτωλους: om Ephr (Comm. Diat. 5,21) ¦ add it M (*Ev non test.) ● f (5,32) ασεβεις: א * ¦ αμαρτωλους: it M (*Ev non test.). C. Tertullian referiert mit den Stichworten aus *5,27.31 auf die gesamte Perikope. Es ist für ihn wichtig, diese Perikope bei *Ev zu finden, weil er daran zeigt, dass ______________________________ 11 So T SUTSUI 79. <?page no="69"?> 5,27-32 Rekonstruktion 581 Jesus die Juden (sein Beispiel ist Petrus) eher anerkennt als die Heiden, zu denen der Zöllner zu rechnen sei. 1 1. Für die (unbezeugte) Einleitung der Perikope deutet die abweichende Überlieferung in D d darauf hin, dass die Fassung des Mehrheitstextes Redaktion ist. Denn D bietet hier einen Text, der mit Mk 2,13f große Ähnlichkeit hat, ohne damit identisch zu sein: Mk 2,13.14 *5,27 D Lk 5,27 καὶ ἐξῆλθεν καὶ ἐλθὼν καὶ μετὰ ταῦτα ἐξῆλθεν πάλιν παρὰ τὴν θάλασσαν· πάλιν παρὰ τὴν θάλασσαν καὶ πᾶς ὁ ὄχλος ἤρχετο καὶ ἐπακολουθοῦντα πρὸς αὐτόν αυτῷ καὶ ἐδίδασκεν αὐτούς. ὄχλον ἐδίδασκεν· καὶ παράγων εἶδεν καὶ παράγων εἶδεν καὶ ἐθεάσατο τελώνην ὀνόματι Λευὶν τὸν τοῦ Ἁλϕαίου. Λευὶ τὸν τοῦ Ἁλϕαίου Λευὶν καθήμενον ἐπὶ τὸ τελώνιον, καθήμενον ἐπὶ τὸ τελώνιον, καθήμενον ἐπὶ τὸ τελώνιον, καὶ λέγει αὐτῷ … καὶ λέγει αὐτῷ … καὶ εἶπεν αὐτῷ … Das Phänomen ähnelt dem von *5,14 (s. dort) und ist auch auf entsprechende Weise zu erklären: D d bieten den Text des vorkanonischen Evangeliums, der an dieser Stelle nicht nach der kanonischen Fassung korrigiert ist. Mk hat diesen vorkanonischen Text genauer bewahrt als Lk, auch in Mt finden sich noch Spuren davon. 2 Die Differenzen zwischen Mk 2,13 und *5,27 (D) machen zudem klar, dass die D-Lesart nicht durch Einfluss der mk Parallele erklärt werden kann. 3 Denn den Hinweis, dass die Menge Jesus »nachfolgte« (ἐπακολουθοῦντα αυτῷ) konnte D nicht aus Mk haben, ganz abgesehen davon, dass die parataktische Formulierung in Mk (ὁ ὄχλος ἤρχετο πρὸς αὐτόν καὶ ἐδίδασκεν αὐτούς) leichter als Auflösung der partizipialen Wendung in D (ἐπακολουθοῦντα αυτῷ ὄχλον ἐδίδασκεν) zu verstehen ist als umgekehrt. Der Text von *5,27 D stellt daher die überlieferungsgeschichtlich älteste Einleitung der Perikope von der Berufung des Levi dar. Auch wenn für *Ev an dieser Stelle kein Text bezeugt ist, spricht doch im Gesamtbild sehr vieles dafür, dass *Ev die in *5,27 D bewahrte Fassung enthielt. ______________________________ 1 Tert. 4,11,2: si enim male valentes voluit intellegi ethnicos et publicanos, quos adlegebat, sanos Iudaeos confirmabat, quibus medicum necessarium negabat. 2 Vgl. Mt 9,9: καὶ παράγων … εἶδεν. - Im Unterschied zu Lk 5,27 (ἐθεάσατο τελώνην), aber übereinstimmend mit Mk 2,14 und *5,27 (D) erwähnt Mt nicht, dass Jesus einen »Zöllner« sah; der Beruf ergibt sich nur aus der Beschreibung (καθήμενον ἐπὶ τὸ τελώνιον). Allerdings hat Mt - darin Lk 5,27 entsprechend - die nur summarisch mitgeteilte Überleitung (Rückkehr zum See Genezareth; Andrang der Menge; Lehre Jesu) - weggelassen und auf diese Weise die narrative Kohärenz gestärkt. 3 So der Hinweis im App. von NA 27 : p). <?page no="70"?> 582 Anhang I 5,27-32 2. Von den Vv. 28-30.32 gibt es keine Spur. Es gibt allerdings keinen Grund für die Annahme, dass *Ev die Vv. 28-30 nicht hatte: Etwas Entsprechendes ist aus Gründen der narrativen Logik notwendig. Allenfalls könnte man in Zweifel ziehen, ob *5,20 ἐγόγγυζον, das in Lk 15,2 eine enge und sicher redaktionelle Parallele besitzt (s. dort), schon in *Ev stand: Das mk-mt ἰδόντες (Mk 2,16 || Mt 9,11) könnte darauf hindeuten, dass *Ev hier ein Verb des Sehens enthielt. Da aber die mk-mt Entsprechung auch auf anderem Weg entstanden sein könnte, bleibt diese Überlegung sehr unsicher. 3. Des weiteren deuten einige Varianten in der kanonischen Handschriftenüberlieferung auf redaktionelle Eingriffe hin, die dann im Umkehrschluss die Existenz eines vorkanonischen Textes wahrscheinlich machen. Neben dem Präs. hist. in *5,27 ( א D f 13 it) sind dies vor allem die mutmaßlichen Eintragungen von ἁμαρτωλοί (bzw. ἀσεβεῖς) in *5,29.30.32: Da die Pointe auf den Gegensatz von Sündern und Gerechten abzielt und diese Terminologie außerdem dem gängigen lk Sprachgebrauch entspricht, ist es kaum vorstellbar, dass die ἁμαρτωλ-Terminologie sekundär entweder getilgt oder ersetzt worden sein sollte: Die Varianten, die ἁμαρτωλοί o. ä. nicht enthalten, sind Spuren des vorkanonischen Textes, die sich in der kanonischen Überlieferung erhalten haben. 4. Auch *5,32 ist für *Ev wahrscheinlich. Allerdings ist fraglich, ob der V. in beiden Teilen schon in *Ev enthalten waren. a. Zweifel sind zunächst an den beiden letzten Worten εἰς μετάνοιαν angebracht. Zwar ist die Wendung in den Handschriften ohne Abweichung bezeugt, aber die synoptischen Parallelen Mk 2,17 || Mt 9,13 enthalten sie nicht. Für Mt 9,13 ist die Überlieferung allerdings nicht ganz einheitlich. א B D N W Γ* Δ 0233 f 1 33 565 al lat sy p.h bo pt bieten die kürzere Fassung ohne εἰς μετάνοιαν am Ende (οὐ γὰρ ἦλθον καλέσαι δικαίους ἀλλὰ ἁμαρτωλούς). Dagegen bieten C L Θ 0281 f 13 c g 1 sy s.hmg mae bo pt die längere Lesart mit der Wendung εἰς μετάνοιαν. Sowohl das Zustandekommen der Varianten als auch ihre Verteilung auf die Handschriften wird vor dem Hintergrund der hier angenommenen Interferenz der vorkanonischen und der kanonischen Handschriftenüberlieferung verständlich: Die kürzere Lesart wird dem vorkanonischen *Mt-Text entsprochen haben, den auch Mk 2,17 bezeugt und der dann auch für *Ev anzunehmen ist. Die Einfügung von εἰς μετάνοιαν in Mt 9,13 und Lk 5,32 ist dann eine typische Ergänzung der kanonischen Ausgabe. Auch in Lk-Act kommt μετάνοια ausschließlich in redaktionellen Passagen vor. 4 Die Rede von der Umkehr ist ein charakteristisches Merkmal der kanonischen Ausgabe. b. Daneben sind für *5,32b zwei Lesarten zu notieren, die für die Rekonstruktion des vorkanonischen Textes wichtig sein könnten. Die erste Variante findet sich im Sinaiticus, der hier anstelle der durchgängig bezeugten »Sünder« die selteneren »Gottlosen« bietet (ἀλλὰ ἀσεβεῖς: א *). Diese Lesart könnte den vorkanonischen ______________________________ 4 Vgl. Lk 3,3.8; 15,7; 24,47 (s. jeweils dort); vgl. außerdem Act 5,31; 11,18; 13,24; 19,4; 20,21; 26,20. <?page no="71"?> 5,27-32 Rekonstruktion 583 Wortlaut repräsentieren, den die kanonische Redaktion dann durch die charakteristische Sünderterminologie ersetzt hätte. In diesem Fall hätte der vorkanonische Text also eine positive Aussage über die Sendung Jesu enthalten. Dagegen spricht allerdings die zweite Variante in Ephraems Diatessaron-Kommentar, der nur die erste Hälfte des Logions enthält: »Ich bin nicht gekommen, die Gerechten zu rufen.« Es ist ohne weiteres vorstellbar, dass der vorkanonische Text nur die erste, negative Bestimmung über die Sendung Jesu enthielt. Angesichts der sehr schmalen Bezeugung bleibt das Urteil sehr unsicher. Analog zu anderen Fällen wähle ich aus methodischen Gründen die am weitesten vom kanonischen Mehrheitstext entfernte Variante; dies ist die von Ephraem bezeugte Lesart ohne *5,32b. *5,33-35 [ 36a ]↑ 37a [ 37b ] 38 ↓↑ 36b ↓[ 39 ] : Fastenfrage Gut bezeugt, sicher vorhanden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die lk Redaktion bearbeitet und ergänzt. 5,33 Οἱ δὲ εἶπαν πρὸς αὐτόν, a Διὰ τί a οἱ μαθηταὶ Ἰωάννου b {καὶ οἱ μαθηταὶ τῶν Φαρισαίων} b νηστεύουσιν πυκνὰ καὶ δεήσεις ποιοῦνται, b [ ὁμοίως καὶ οἱ τῶν Φαρισαίων ] b , οἱ δὲ σοὶ ἐσθίουσιν καὶ πίνουσιν. 34 ὁ δὲ Ἰησοῦς εἶπεν πρὸς αὐτούς, Μὴ c δύνανται οἱ υἱοὶ c τοῦ νυμϕῶνος d ἐϕ’ ὅσον d e μετ’ αὐτῶν ἐστιν ὁ νυμϕίος e c νηστεύειν; 35 ἐλεύσονται δὲ ἡμέραι, καὶ ὅταν ἀπαρθῇ ἀπ’ αὐτῶν ὁ νυμϕίος τότε νηστεύσουσιν ἐν ἐκείναις ταῖς ἡμέραις. [ 36a Ἔλεγεν δὲ καὶ παραβολὴν πρὸς αὐτοὺς ὅτι ] f ↑ 37 g οὐ βάλλουσιν g οἶνον νέον εἰς ἀσκοὺς παλαιούς· εἰ δὲ μή γε, ῥήξει ὁ οἶνος ὁ νέος τοὺς ἀσκούς, καὶ h ὁ οἶνος ἀπόλλυται καὶ οἱ ἀσκοί. h 38 ἀλλὰ οἶνον νέον εἰς ἀσκοὺς καινοὺς i βάλλουσιν, k {καὶ ἀμϕότεροι συντηροῦνται} k . ↓ f l ↑ 36b καὶ οὐδεὶς ἐπιβάλλει ἐπίβλημα m ῥάκους ἀγνάϕου m n ἀπὸ ἱματίου καινοῦ σχίσας n ἐπὶ o ἱματίῳ παλαιῷ o · εἰ δὲ μή γε, καὶ p τὸ πλήρωμα αἴρει p καὶ τῷ παλαιῷ οὐ συμϕωνήσει. q μείζον γὰρ σχίσμα γενήσεται q ↓ . l r [ 39 καὶ οὐδεὶς πιὼν παλαιὸν θέλει νέον· λέγει γάρ, Ὁ παλαιὸς χρηστός ἐστιν. ] r A. *5,33: Tert. 4,11,5: Si enim nihil omnino administrasset Ioannes, secundum Esaiam vociferator in solitudinem et praeparator viarum dominicarum per denuntiationem et laudationem paenitentiae, si non etiam ipsum inter ceteros tinxisset, nemo discipulos Christi manducantes et bibentes ad formam discipulorum Ioannis assidue ieiunantium et orantium provocasset, quia, si qua diversitas staret inter Christum et Ioannem et gregem utriusque, nulla esset comparationis exactio, vacaret provocationis intentio. ♦ *5,34: Tert. 4,11,6: At nunc humiliter reddens rationem quod non possent ieiunare filii sponsi quamdiu cum eis esset sponsus … ♦ *5,35: Tert. 4,11,6: … postea vero ieiunaturos promittens cum ablatus ab eis sponsus esset, nec discipulos defendit, sed <?page no="72"?> 584 Anhang I 5,33-39 potius excusavit … ♦ *5,37a.38.36: Tert. 4,11,9f: Errasti in illa etiam domini pronuntiatione qua videtur nova et vetera discernere. Inflatus es utribus veteribus et excerebratus es novo vino, atque ita veteri, id est priori evangelio, pannum haereticae novitatis assuisti. In quo alter creator, velim discere. Cum per Hieremiam praecepit, Novate vobis novamen novum, nonne a veteribus avertit? cum per Esaiam edicit, Vetera transierunt, et ecce nova quae ego facio, nonne ad nova convertit? Olim hanc statuimus destinationem pristinorum a creatore potius repromissam a Christo exhiberi, sub unius et eiusdem dei auctoritate, cuius sint et vetera et nova. (10) Nam et vinum novum is non committit in veteres utres qui et veteres utres non habuerit, et novum additamentum nemo inicit veteri vestimento nisi cui non defuerit et vetus vestimentum. Ille non facit quid, si faciendum non est, qui habeat unde faciat, si faciendum esset. Itaque si in hoc dirigebat similitudinem, ut ostenderet se evangelii novitatem separare a legis vetustate, suam demonstrabat et illam a qua separabat alienorum separatione non fuisse notandam, quia nemo alienis sua adiungit ut ab alienis separare possit. ¦ Epiph. 42,2,1: οὐ βάλλουσιν οἶνον νέον εἰς ἀσκοὺς παλαιούς οὐδὲ ἐπίβλημα ῥάκους ἀγνάϕου ἐπὶ ἱματίῳ παλαιῷ· εἰ δὲ μή γε, καὶ τὸ πλήρωμα αἶρει καὶ τῷ παλαιῷ οὐ συμϕωνήσει. μείζον γὰρ σχίσμα γενήσεται. ¦ Adam. 2,16 (831a.b): βάλλουσιν οἶνον νέον εἰς ἀσκοὺς νέους καὶ ἀμϕότεροι συντηροῦνται … οὐδεὶς ἐπιβάλλει ἐπίβλημα ῥάκους ἀγνάϕου ἐπὶ ἱματίῳ παλαιῷ. ¦ Filastrius, Haer. 45,2 (CCL 9, 236,6ff): nemo pannum rudem mittet in vestimentum vetus, neque vinum novum in utres veteres, alioquin rumpuntur utres, et effunditur vinum. B. a (5,33) δια τι/ qua re: א * .2 A C D R Θ Ψ f 1.13 it vg sy p.h bo pt ¦ om P 4 א 1 B L W Ξ 33 892* 1241 sa bo pt (*Ev non test.) ● b (5,33) και οι μαθηται των Φαρισαιων: D d (vgl. Mk 2,18) ¦ ομοιως και οι των Φαρισαιων: om D 115 348 1216 a aur b c d ſſ 2 l q ¦ ομοιως και οι των Φαρισαιων: add e f r 1 vg M (*Ev non test.) ● c (5,34) δυνανται οι υιοι … νηστευσαι/ possunt filii sponsi … ieiunare: Tert א * D a b c d e ſſ 2 g 1 gat (vgl. Mk 2,19) ¦ δυνασθε τους υιους … ποιησαι νηστευσαι/ potestis filios ieiunare … facere: aur f l q r 1 vg M ● d (5,34) εϕ οσον/ quamdiu: Tert D a b c d e f r 1 (cum: d e; dum: aur ſſ 2 l q) ¦ εν ω/ εως: 27 71 1194 1458 M ● e (5,34) μετ αυτων εστιν ο νυμϕιος/ cum eis esset sponsus: Tert aur b ſſ 2 g 1 gat l q r 1 vg ¦ ο νυμϕιος μετ αυτων εστιν: Wortstellung (3-5 1 2: μετ αυτων εστιν ο νυμϕιος/ cum eis esset sponsus) M ● f (5,37a.38a) vss. 37a.38 pon. ante vs. 5,36b: Tert Epiph Adam EvThom 47 ¦ it M ● g (5,37) ου βαλλουσιν: Epiph ¦ ουδεις βαλλει: it M ● h (5,37) ο οινος απολλυται και οι ασκοι: e (et vinum periet et utres) ¦ αυτος εκχυθησεται και οι ασκοι απολουνται/ ipse (ipsud: ſſ 2 l; ipsum: aur b r 1 vg; vinum : c f) effundetur (effunditur: a l vg) et utres peribunt: a aur b c d f ſſ 2 l q r 1 M ¦ ο οινος απολλυται (om και οι ασκοι απολουνται): 179 ℓ854 (*Ev non test.) ● i (5,38) βαλλουσιν/ mittunt: (Epiph) Adam א * D a aur b c d (mittent) e f ſſ 2 g 1 l q r 1 sy p Tat arab.pers ¦ βλητεον/ mittendum est: vg M ● k (5,38b) και αμϕοτεροι συντηρουνται/ et utraque (utrique: b l; ambo: [a] d e) (con)servantur: Adam A C D Θ Ψ f 13 a aur b c d f ſſ 2 l q r 1 sy bo mss ¦ om P 4 P 75 א B L W mult sa bo mss M ● l (5,36b) vs. 36b pon. post vs. 38: Tert Epiph Adam EvThom 47 ● m (5,36b) ρακους αγναϕου: Epiph Adam 443* (vgl. Mk 2,21) ¦ ιματιου καινου: it M ● n (5,36b) om απο, σχισας, (6 1 3 4: επιβαλλει επιβλημα ρακους αγναϕου): Adam 047 ¦ επιβλημα απο ιματιου καινου σχισας επιβαλλει: M ● o (5,36b) ιματιω παλαιω/ vestimento veteri: Epiph Adam Μ Γ 475 a (panno veteri) aur b c f ſſ 2 l q CyrAlex (Comm. in Joh 10,2; P USEY IV, 626) ¦ ιματιον παλαιον/ vestimentum vetus: e (d: tunicam veterem) r 1 M ● p (5,36b) πληρωμα αιρει: Epiph (vgl. Mk 2,21) ¦ καινον σχισει: it M ● q (5,36b) μειζον γαρ σχισμα γενησεται: Epiph (vgl. Mk 2,21) ¦ το επιβλημα <?page no="73"?> 5,33-39 Rekonstruktion 585 το απο του καινου: M ● r (5,39) vs. om D a b c d e ſſ 2 l r 1 sy s.c ¦ vs. add P 4.75 א A B C K L W X Δ Θ Π Ψ f 1.13 pm lectt aur f q vg sy ph.h.p sa bo got armen georg (*Ev non test.). C. Die Perikope, die insgesamt gut für *Ev bezeugt ist, 1 zeigt einige Besonderheiten. 1. Die genaue Form der Einleitung *5,33 ist unklar: Tertullian zitiert nicht, sondern fasst den Inhalt nur zusammen. Allerdings weckt die »Westliche« Textüberlieferung auch hier Zweifel, dass die kanonische Formulierung bereits in *Ev stand. a. Nur Lk hat die Perikope durch οἱ δὲ εἶπαν sehr eng an die vorangehende Erzählung vom Zöllnermahl angeschlossen und zu einer Szene vereinigt, Mk und Mt haben für die »Fastenfrage« eine eigene Szene geschaffen: Während Mk 2,18 über die Fastenpraxis der Pharisäer und der Johannesjünger informiert und dann mitteilt, dass »sie zu ihm kommen« (καὶ ἔρχονται καὶ λέγουσιν αὐτῷ), erzählt Mt 9,14a, dass die Johannesjünger zu Jesus kommen und als Adressaten des folgenden Gesprächs fungieren. Bei Mk resultiert aus dieser Einleitung die Unstimmigkeit, dass die Pharisäer- und Johannesjünger, die zu Jesus kommen, ihn in der 3. Pers. über ihre eigene Fastenpraxis befragen (διὰ τί οἱ μαθηταὶ Ἰωάννου καὶ οἱ μαθηταὶ τῶν Φαρισαίων νηστεύουσιν; ). Mt hat diese Ungeschicklichkeit vermieden und lässt die Johannesjünger konsequenterweise fragen, warum »wir und die Pharisäer« (ἡ μ ε ῖ ς καὶ οἱ Φαρισαῖοι) fasten. Diese Brüche, die auf redaktionelle Eingriffe hindeuten, lassen sich am ehesten so erklären, dass Mk (und in der Folge Mt) die Frage nach der Fastenpraxis nicht beliebigen Dritten in den Mund legen, sondern die Betroffenen selbst zu Wort kommen lassen wollten, die in einer dementsprechenden Exposition in die Erzählung eingeführt werden mussten. Die mk Frage in der 3. Pers. ist dann ein Merkmal des vormk Textes in *Ev. Die Ungeschicklichkeit, die Mk mit der Beibehaltung der Frage in der 3. Pers. unterlaufen ist, hat Mt gesehen und korrigiert. Die lk Fassung hat diese Probleme nicht, da hier 5,27-32 und 33-36 zu einer Szene zusammengefasst sind. Man könnte daher überlegen, ob die lk Einleitung mit der engen Verknüpfung von *5,33f mit *5,27-32 bereits in *Ev stand. Allerdings ist in diesem Fall kaum verständlich, wieso Mk und Mt eine einheitliche Szene - auf verschiedene Weise - durch einen redaktionellen Eingriff zerlegt und sich auf diese Weise narrative Inkohärenzen geschaffen haben sollten. Es ist daher wahrscheinlicher, dass die ursprüngliche Exposition der Perikope in *Ev davon sprach, dass Fragesteller zu Jesus kamen. Sie könnte, analog zu Mk 2,18b, »καὶ ἔρχονται καὶ λέγουσιν αὐτῷ …« gelautet und ein unbestimmtes Subjekt (τινες) enthalten haben. In diesem Fall wäre die Fassung von *Ev in keinem der kanonischen Evangelien enthalten; aber für diese Vermutung gibt es keine positiven Hinweise. ______________________________ 1 Vgl. auch Ephr. Hymn. 44,6; 47,2f; weitere Belege bei H ARNACK 189*. <?page no="74"?> 586 Anhang I 5,33-39 b. Unklar ist auch die Form des einleitenden Statements der Gesprächspartner: Mk und Mt bieten eine Frage nach dem Grund der devianten Fastenpraxis der Jünger Jesu (διὰ τί: Mk 2,18 || Mt 9,14), Lk dagegen eine Feststellung, die einen Vorwurf impliziert. Dass diese Form mit hoher Wahrscheinlichkeit sekundär ist, zeigt die handschriftliche Überlieferung, die hier die Frageform verschiedentlich bewahrt hat: Das bekannte Phänomen der uneinheitlichen Korrektur des vorkanonischen nach dem lk redigierten Text liegt nicht nur in den Zeugen des »Westlichen Textes« (D it sy) vor, sondern zeigt sich noch in weiteren wichtigen Zeugen. Da jedoch auch Gründe denkbar sind, die eine inhaltliche Korrektur der lk Fassung nahelegen, ist diese Überlegung hier weniger gut begründbar als an anderen Stellen. Gleichwohl ist es wahrscheinlich, dass *Ev die auch durch Mk und Mt bezeugte Frageform enthielt. 2 c. Auch die weitere Formulierung der Eingangsfrage ist aufgrund der handschriftlichen Überlieferung unklar. In der disparaten Überlieferung in D it tauchen die »Jünger der Pharisäer« an verschiedenen Stellen auf: 1. D d: δια τι οι μαθηται του Ιωαννου κ α ι ο ι μ α θ η τ α ι τ ω ν Φ α ρ ι σ α ι ω ν νηστευουσι πυκνα και δεησεις ποιουνται κτλ. 2. e f r 1 : δια τι οι μαθηται του Ιωαννου νηστευουσι πυκνα και δεησεις ποιουνται ο μ ο ι ω ς κ α ι ο ι τ ω ν Φ α ρ ι σ α ι ω ν κτλ. 3. a aur b c d ſſ 2 l q: δια τι οι μαθηται του Ιωαννου νηστευουσι πυκνα κ α ι τ ω ν Φ α ρ ι σ α ι ω ν και (b: om) δεησεις ποιουνται κτλ. Erklären lässt sich diese Uneinheitlichkeit am einfachsten, wenn die Pharisäerjünger schon immer Bestandteil des Textes waren, und zwar am ehesten in der auch Mk 2,18 bezeugten Formulierung von D d: »Die Jünger des Johannes und der Pharisäer fasten.« Dass sich die beiden Gruppen auch darin entsprechen, dass sie Gebete verrichten, hat Mk unterschlagen: Es ist für das Ausgangsproblem ohne Bedeutung. Mt ist Mk darin gefolgt und konzentriert sich auf die Frage der Fastenpraxis. Da er aber die Frage den Johannesjüngern selbst in den Mund legt, muss er umformulieren: διὰ τί ἡ μ ε ῖ ς καὶ οἱ Φαρισαῖοι νηστεύομεν; Lk folgt *Ev. Er hat daraus den Hinweis auf die Gebetspraxis bewahrt, dafür aber die überladene Formulierung - zwei Gruppen, zwei Frömmigkeitspraxen - dadurch entschlackt, dass er die Pharisäerschüler erst am Ende erwähnt: ὁμοίως καὶ οἱ τῶν Φαρισαίων. d. Damit ist auch klar, dass die Wendung καὶ δεήσεις ποιοῦνται, die bei Mk und Mt keine Entsprechung besitzt und deswegen in aller Regel für eine redaktionelle ______________________________ 2 M ETZGER , Textual Commentary z. St., hält die lk Fassung für ursprünglich und erklärt die Lesart in Frageform als eine Angleichung an Mk 2,18, für die »Copyists« verantwortlich seien. <?page no="75"?> 5,33-39 Rekonstruktion 587 Ergänzung des Lk an seiner Mk-Vorlage gehalten wird, 3 ursprünglich ist. Die altlateinische Überlieferung bezeugt die Wendung ohne Ausnahme. 4 Der Erklärungsversuch im Rahmen der Zwei-Quellentheorie, dass Lk die Wendung redaktionell eingefügt habe, weil er damit auf die (abweichende) Gebetspraxis der Johannesjünger (11,1) vorausweisen wollte, ist wenig plausibel: Erstens ist der Zusammenhang doch recht weitläufig, zweitens ist *11,1 für *Ev gut bezeugt (s. dort), so dass diese Überlegung auch schon für *Ev zutreffen könnte. Man wird daher umgekehrt argumentieren, dass die Erwähnung der Gebetspraxis schon in *Ev enthalten war, aber durch Mk (und Mt) getilgt wurde, weil sie im Kontext, der nur an der Frage des Fastens bzw. Essens interessiert ist, funktionslos bleibt. 2. In *5,34 macht die »Westliche« Überlieferung wahrscheinlich, dass der vorkanonische Text in *Ev die Antwort Jesu (genau wie in Mk 2,19 || Mt 9,15) in der 3. Pers. enthielt: μὴ δ ύ ν α ν τ α ι οἱ υἱοὶ τοῦ νυμϕῶνος … νηστεύειν. Die 2. Pers. der lk Fassung (μὴ δ ύ ν α σ θ ε τοὺς υἱοὺς τοῦ νυμϕῶνος … π ο ι ῆ σ α ι νηστεῦσαι) geht also auf die lk Redaktion zurück und entspricht auch der Veränderung der Eingangsfrage in eine vorwurfsvolle Feststellung (s. o.). Der Sinn verschiebt sich erkennbar: Jesus stellt nicht einfach die Unvereinbarkeit von Fasten und hochzeitlicher Freude heraus, sondern wehrt das Ansinnen ab, dass seine Jünger die Fasten- und Gebetspraxis des Johannes und der Pharisäer teilen sollten. 3. *5,35 ist unbezeugt. Die Aussage über das Kommen der Tage, an denen der Bräutigam fortgenommen wird und die »Söhne des Brautgemachs« fasten werden, gehört zu den Passagen der Dreifachüberlieferung (Lk 5,35 || Mk 2,20 || Mt 9,15b), die eine besonders starke Übereinstimmung aller drei Fassungen aufweisen. Dies ist ein starkes Indiz für die Herkunft aus *Ev. Denn andernfalls müsste man annehmen, dass die Einfügung des Verses auf Mk zurückgeht, dem dann Mt und Lk ohne wesentliche Änderungen gefolgt wären, während sie doch anderweitig in den Text eingegriffen haben. Davon abgesehen, würde der Hinweis auf eine zukünftige Fastenpraxis der Jesusjünger dem narrativen Gefälle zumindest der lk Fassung kaum entsprechen. Der Ursprung von *5,35 in *Ev ist daher wahrscheinlich, auch wenn sie nicht bewiesen werden kann. 5 ______________________________ 3 Vgl. beispielsweise R ADL , Lk 331 mit Anm. 306; B OVON , Lk I 260 u. ö. 4 Wenn auch in der für die altlateinische Überlieferung charakteristischen Übersetzungsvielfalt: obsecrationes (aur b e f ſſ 2 l q), orationes (a c r 1 ), praecationes (d). *5,33f besitzt auch eine deutliche Beziehung zu EvThom 104 (auch hier die Kombination von Fasten und Beten mit dem Bild vom Brautgemach). Nach unserer Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte ist EvThom nicht notwendig von der lk Redaktion abhängig (so W OLTER , Lk 226), weil der Hinweis auf die Gebete bereits im vorlk Text (*Ev) stand. 5 H ARNACK 189* hat den Vers in seiner Rekonstruktion komplett abgedruckt, begründet diese Entscheidung aber nicht. <?page no="76"?> 588 Anhang I 5,33-39 4. Die wichtigste Auffälligkeit dieser Perikope ist die gegenüber dem kanonischen Text unterschiedliche Abfolge der beiden Bildworte *5,37f.36: Alle drei Hauptzeugen setzen die Reihenfolge Wein/ Schläuche - Gewand/ Flicken voraus, die sich auch in EvThom 47 findet. 6 Dieser Beleg liefert eine weitere Bestätigung für die Annahme der *Ev-Priorität. Denn andernfalls müsste man damit rechnen, dass der als häretisch bekämpfte Text auch außerhalb der marcionitischen Kirchen intensiv gewirkt hätte. Epiphanius hat die Verse *37f.36 nicht in den Scholien referiert, sondern in der einleitenden Schilderung über die Auseinandersetzungen Marcions mit der römischen Gemeinde. Dass er sie in der Scholienliste nicht (wieder) erwähnt, zeigt einmal mehr sein mechanisches Verfahren bei der Abfassung von Buch 42, für die er die ältere Liste nur einfach kopierte und kommentierte. Darüber hinaus wird deutlich, wie wenig Epiphanius bei der Anfertigung seiner Scholien darauf aus war, Abweichungen zwischen *Ev und dem kanonischen Text vollständig zu verzeichnen. Auch in der Formulierung der beiden Bildworte in *Ev sind einige Auffälligkeiten zu notieren. a. Im Bildwort vom Wein und den Schläuchen *5,37a lautete die unpersönliche Formulierung ausweislich der Bezeugung bei Epiphanius und Adamantius οὐ βάλλουσιν … anstelle des kanonischen οὐδεὶς βάλλει (οἶνον νέον). Epiphanius zieht in seinem Referat beide Bildworte zusammen und lässt auf diese Weise auch das Wort vom Flicken vom gemeinsamen Verb abhängig sein: (οὐ βάλλουσιν) … οὐδὲ ἐπίβλημα ῥάκους ἀγνάϕου ἐπὶ ἱματίῳ παλαιῷ. Adamantius bietet für das Bildwort vom Flicken dagegen einen eigenen Satz (οὐδεὶς ἐπιβάλλει ἐπίβλημα ῥάκους ἀγνάϕου ἐπὶ ἱματίῳ παλαιῷ). Der Unterschied in der Einleitung der beiden Bildworte (οὐ βάλλουσιν … οὐδεὶς ἐπιβάλλει) ist in den kanonischen Texten beseitigt, die beide Bildworte parallelisieren und jeweils mit οὐδείς … beginnen lassen. Diese Änderung ist eine Folge der Umstellung der beiden Bildworte durch Mk (und in seiner Folge durch Mt und Lk): Die οὐδείς-Formulierung in dem in *Ev ursprünglich zweiten Bildwort vom Flicken steht jetzt am Anfang und wird im Bildwort vom Wein und den Schläuchen einfach wiederholt. b. Lk 5,37b ist, abgesehen von einem späten und nicht aussagekräftigen Beleg bei Filastrius, 7 unbezeugt. Gegen die Formulierung mit zwei Hauptsätzen Lk 5,37 ______________________________ 6 H ARNACK 189* kannte diesen Beleg noch nicht und spricht daher von einer »sonst nicht bezeugten Reihenfolge«. Da EvThom an anderer Stelle eindeutig kanonische Texte voraussetzt (vgl. EvThom 65f || Mk 12,1-12ff parr.), lässt sich diese Rezeption von *Ev als weiterer Beleg für die »Interferenz« zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Ausgabe verstehen. Anonsten zeigt EvThom verschiedentlich eine Nähe *Ev, vgl. etwa Lg. 55 || *14,26f || Mt 10,38; Lg. 64 || *14,15-24 || Mt 22,1-10; Lg. 79 || *23,29; Lg. 86 || *9,58; Lg. 95 || *6,34f. 7 Filastrius, Haer. 45,2 (CCL 9, 236,6ff): nemo pannum rudem mittet in vestimentum vetus, neque vinum novum in utres veteres, alioquin rumpuntur utres, et effunditur vinum. Dieser Beleg (vom Ende des <?page no="77"?> 5,33-39 Rekonstruktion 589 (καὶ αὐτὸς ἐ κ χ υ θ ή σ ε τ α ι καὶ οἱ ἀσκοὶ ἀ π ο λ ο ῦ ν τ α ι || Mt 9,16 καὶ ὁ οἶνος ἐ κ χ ε ῖ τ α ι καὶ οἱ ἀσκοὶ ἀ π ό λ λ υ ν τ α ι ) bietet Mk 2,27 nur ein gemeinsames Verb für die Folgen, die sich ergeben, wenn junger Wein in alte Schläuche gegossen wird: καὶ ὁ οἶνος ἀ π ό λ λ υ τ α ι καὶ οἱ ἀσκοί. Diese Formulierung findet sich für Lk 5,37 auch in der Afra-Handschrift e (et vinum periet et utres). Es ist daher wahrscheinlich, dass diese Formulierung als Pointe des Bildwortes vom Wein und den Schläuchen schon in *Ev enthalten war. 8 Mk hat sie von da übernommen, Mt (und in seiner Folge Lk) haben ein zweites Verb ergänzt. Das »Minor Agreement« ist an dieser Stelle also als Abhängigkeit der lk von der mt Formulierung zu verstehen. c. V. *38 ist durch Adamantius bezeugt, wenn auch in einer Form, die an zwei Stellen von der kanonischen Gestalt abweicht, aber jeweils von einer ganzen Reihe von Handschriften gestützt wird: Zunächst haben die altlateinischen Handschriften anstelle des Verbaladjektivs der kanonischen Formulierung (βλητέον) durchweg die 3. Pers. Pl., 9 die auch in V. *37 für *Ev breit bezeugt ist. Vor allem aber ist der ebenfalls durch Adamantius bezeugte Schluss des Logions (καὶ ἀμϕότεροι συντηροῦνται) in der gesamten altlateinischen Überlieferung und einigen weiteren, wichtigen Handschriften enthalten. Dies ist insofern aufschlussreich, als sich diese Worte zwar in Mt 9,17 finden, nicht aber in Mk 2,22. 10 Damit ist dieser Abschluss ______________________________ 4. Jh.) ist wenig aussagekräftig und vermutlich von Epiphanius bzw. Irenaeus abhängig. Filastrius zitiert (! ) das Bildwort vom Wein und den Schläuchen in einer Form, die es so wohl nicht gegeben hat. Da er (a) die kanonische Abfolge der beiden Bildworte bietet und (b) für 5,37b zwei eigenständige Hauptsätze bietet (rumpuntur utres - effunditur vinum) scheint sein Text durch den kanonischen konformiert zu sein und ist als Zeugnis für den vorkanonischen Text disqualifiziert. Der Beleg bei Filastrius ist nur insofern von Bedeutung, als er über eine missverständliche Bemerkung im Apparat von IGNTP zu Lk 5,37 (I 112: »καὶ [οἱ ἀσκοὶ] ἀπολοῦνται: om. 179 ℓ854 Marcion ap FIL«) offensichtlich auch noch J. F LEBBE , Alter und neuer Wein bei Lukas. Zum Verständnis der sogenannten »Weinregel« Lk 5,39, ZNW 96 (2005), 171-187, in die Irre geführt hat: »… 179 ℓ854 und, wie es scheint, Marcion (streichen) καὶ οἱ ἀσκοὶ ἀπολοῦνται« (182 Anm. 45). Tatsächlich hat Filastrius nichts gestrichen, sondern den Vers nur ungenau wiedergegeben. 8 Die altlateinische Überlieferung zeigt an dieser Stelle sehr deutlich die Spuren der uneinheitlichen Korrektur des vorkanonischen nach dem kanonischen Text: Während e gegenüber allen anderen Zeugen die ursprüngliche Formulierung mit nur einem Verb bewahrt hat, ist das erste Subjekt des ursprünglichen Textes (ὁ οἶνος/ vinum) außer in e noch in c f erhalten, während die anderen Handschriften - mit den charakteristischen Übersetzungsvarianten - das Pronomen des kanonischen Textes bieten (αὐτός/ ipse/ ipsud/ ipsum). 9 βάλλουσιν/ mittunt/ mittent; anders vg mit der kanonischen Formulierung (mittendum est). 10 Der Apparat von NA 27 geht im Horizont der Zweiquellentheorie konsequenter Weise davon aus, dass diese Lesart auf einen Einfluss der mt Fassung zurückgeht und notiert: p). Diese Erklärung ist wenig plausibel; denn in diesem Fall hätten zahlreiche Handschriften (A C D Θ Ψ it sy bo mss etc.) diese drei Worte aus Mt zwar in Lk 5,38, nicht aber an der ganz analogen Stelle Mk 2,22 eingetragen: Würde diese Lesart auf den Einfluss der synoptischen Parallelüberlieferung zurückgehen, müsste man jedoch postulieren, dass den Kopisten der Wortlaut, den sie an dieser Stelle eintragen, so vertraut und wichtig war, dass sie ihn an allen Stellen ergänzt hätten. <?page no="78"?> 590 Anhang I 5,33-39 des Bildwortes vom Wein und den Schläuchen nicht nur für *Ev gesichert, es ergeben sich auch einige Gesichtspunkte für die Überlieferungsgeschichte. Denn wenn Mk als Erster (erstmalig) die Umstellung der beiden Bildworte vorgenommen hat, dann kam die Pointe Mk 2,22 || *5,38 in betonte Achterstellung. Mk hätte daher die letzten drei Worte gestrichen und auf diese Weise die Pointe prägnanter gefasst: Die intendierte Praxis - junger Wein braucht neue Schläuche - steht für sich, ohne durch eine Rücksichtnahme auf die Integrität der »alten Schläuche« begründet zu sein. Mt folgt Mk zwar in der gegenüber *Ev veränderten Abfolge der beiden Bildworte, hält sich aber im Wortlaut an *Ev, die ja dem »Alten« ein gewisses Existenzrecht einräumt. Die lk Redaktion hat - in Übereinstimmung mit Mk, aber gegen Mt - diese letzten drei Worte ausgelassen (zu den Gründen s. gleich bei 5,39). d. Epiphanius und Adamantius bezeugen für *Ev in *5,36 übereinstimmend die Formulierung (ἐπίβλημα) ῥ ά κ ο υ ς ἀ γ ν ά ϕ ο υ , die sich auch in Mk 2,21 || Mt 9,16 findet, wogegen Lk vom (ἐπίβλημα) ἀ π ὸ ἱ μ α τ ί ο υ κ α ι ν ο ῦ spricht. Der Flicken »vom neuen Kleid« ist also eine lk Veränderung gegenüber dem Flicken »aus ungewalktem Stoff«. Lk hat den Gegensatz alt/ neu betont. Zu dieser Beobachtung passt‚ dass auch das eigenartige Bild vom Abtrennen des Flickens aus dem neuen Kleid (ἐπίβλημα ἀ π ὸ ἱματίου καινοῦ σ χ ί σ α ς ) in Lk 5,36 (÷ Mk, Mt) nicht für *Ev bezeugt ist. Die drastische Hyperbolik des Bildes geht auf lk Redaktion zurück, die Semantik passt zu den anderen Veränderungen in 5,33 (vorwurfsvolle Feststellung der devianten Frömmigkeitspraxis) und 5,34 (2. Pers. in der Antwort Jesu): Die Übernahme der »alten« Frömmigkeitspraxis würde die »neue« Gemeinschaft zerstören. 5. Die Einleitung der kanonischen Fassung des Bildwortes 5,36a ἔλεγεν δὲ καὶ παραβολὴν πρὸς αὐτοὺς ὅτι ist für *Ev unbezeugt. Vergleichbare Einleitungen gibt es als lk Eigentümlichkeiten noch öfter. 6,39: εἶπεν δὲ καὶ παραβολὴν αὐτοῖς. 12,16: εἶπεν δὲ παραβολὴν πρὸς αὐτοὺς λέγων. 13,6: ἔλεγεν δὲ ταύτην τὴν παραβολήν. 14,7: ἔλεγεν δὲ πρὸς τοὺς κεκλημένους παραβολήν … λέγων πρὸς αὐτούς. 15,3: εἶπεν δὲ πρὸς αὐτοὺς τὴν παραβολὴν ταύτην λέγων. 21,29: καὶ εἶπεν παραβολὴν αὐτοῖς. Von diesen sechs Belegen ist keiner direkt für *Ev bezeugt. In vier Fällen erwähnt Tertullian das Stichwort parabola zwar im näheren Kontext, allerdings nie als Teil <?page no="79"?> 5,33-39 Rekonstruktion 591 eines Zitats. 11 Ob Tertullian das Stichwort parabola in diesen Fällen aus *Ev übernommen oder ob er es als bequeme Referenz selbständig in seine Diskussion eingeführt hat, lässt sich nicht sicher entscheiden; mit Blick auf die souveräne Weise, in der er den Text von *Ev in seine Argumentation integriert, ist das Letztere wahrscheinlich. Darüber hinaus legt der synoptische Befund nahe, dass alle diese Passagen auf die lk Redaktion zurückgehen. Denn in den Belegen aus der Dreifachüberlieferung (Lk 5,36 || Mt 9,16 || Mk 2,21; Lk 13,6 || Mt 21,18 || Mk 11,12) bzw. aus der mt-lk Doppelüberlieferung (Lk 6,39 || Mt 15,14; Lk 15,3 || Mt 18,12) fehlen die entsprechenden Einleitungen in den jeweiligen Parallelüberlieferungen. Nur die synoptischen Parallelen zu 21,29 erwähnen das Stichwort, allerdings mit dem charakteristischen Unterschied, dass es nicht als auktoriale Äußerung, sondern als Teil der direkten Rede Jesu verwendet wird. 12 Lk zeigt also eine deutliche Eigenständigkeit bei der Bildung der Einleitung von Bildworten. Diese erweist sich schließlich auch in der »Sondergutpassage« 14,7: Hier ist in die Redeeinleitung ein kohärenzstiftender Hinweis auf die rhetorische Funktion des Gleichnisses im Kontext eingefügt. In allen drei Fällen liegt die Vermutung nahe, dass die Gleichniseinleitungen lk Bildungen zur Stützung des Zusammenhanges darstellen, auch wenn dies nicht mit Sicherheit belegt werden kann. Die genannten Einleitungen zu den Gleichnissen bzw. Bildworten sind daher typisch für die lk Redaktion. Auch wenn dies nicht bedeutet, dass sie in allen Fällen zwingend in *Ev gefehlt haben müssen, 13 spricht doch vieles dafür, dass die lk Redaktion die Kontextverklammerungen der Gleichnisse entweder eingefügt oder doch zumindest verstärkt hat. 14 S. auch zu 6,39; 12,16; 13,6; 14,7; 15,3; 18,1.9; 21,29. 6. Für das abschließende Logion Lk 5,39 über die Bevorzugung des alten Weins fehlt jeder Hinweis in den Zeugen für *Ev. Harnack hatte 5,39 für ursprünglich lk gehalten und nahm an, dass Marcion diesen Vers getilgt habe. 15 Dass Harnack hier wie bei den anderen »Western Non-Interpolations« eine Begründung schuldig geblieben ist (warum »muss« 5,39 in *Ev gefehlt haben? ), ist schon länger gesehen ______________________________ 11 12,16 vgl. Tert. 4,28,11: Ab eo ergo erit et parabola divitis blandientis sibi de proventu agrorum suorum. - 15,3 vgl. Tert. 4,32,2: Ita utriusque parabolae argumentum vacat circa eum cuius non est ovis neque dragma, id est homo. - 21,29 vgl. Tert. 4,39,13: Ipsum decursum scripturae evangelicae ab interrogatione discipulorum usque ad parabolam fici. 12 Mk 13,28 || Mt 24,32: ἀπὸ δὲ τῆς συκῆς μάθετε τὴν παραβολήν ≠ Lk 21,29: καὶ εἶπεν παραβολὴν αὐτοῖς. 13 Zweifel gibt es am ehesten noch für 18,1.9 (s. dort). 14 Das ist auch die verbreitete Ansicht, vgl. die Kommentare zu den einzelnen Stellen. 15 H ARNACK 190*: »Wird für M. nicht bezeugt; der Vers muss gefehlt haben, wie er auch in D a b c e ſſ 2 * l und, wie es scheint, auch bei Euseb. gefehlt hat. Er ist echt und von Marcion gestrichen, und dies ist in die abendländische Überlieferung eingedrungen.« <?page no="80"?> 592 Anhang I 5,33-39 worden. 16 Aber obwohl Harnacks generelle Annahme einer umfassenden Wirkung des marcionitisch redigierten Evangeliums auf die katholische Textüberlieferung unhaltbar ist und sein Urteil der Lk-Priorität nicht zu tragen vermag, ist ihm im Ergebnis zuzustimmen: Unter der Prämisse der *Ev-Priorität spricht alles dafür, dass Lk 5,39 (genau wie die anderen »Western Non-Interpolations«) in *Ev gefehlt hat und erst durch die kanonische Redaktion eingetragen wurde. Die »Westliche« Überlieferung, deren Handschriften nicht konsequent nach der kanonischen Redaktion korrigiert wurden, hat noch Spuren dieses älteren Textes bewahrt. Der sekundäre Charakter von Lk 5,39 lässt sich auch inhaltlich zeigen, denn die Semantik der in der Antike mehrfach bezeugten »Weinregel« passt nicht ohne Weiteres zum Skopus der Einheit. Dass hier ein Bruch der narrativen Logik vorliegt, ist häufig gesehen und auf unterschiedliche Weise erklärt worden. 17 Gegen diese Annahme wurde jüngst darauf verwiesen, dass Lk 5,39 nur die Unvereinbarkeit von Alt und Neu zum Ausdruck bringe und daher gegenüber V. 36-38 keine neuen Gesichtspunkte einführe. 18 Aber die Umkehrung dieser »Weinregel« - niemand, der jungen Wein trinkt, will alten - funktioniert nicht: Die Logik des Bildes ist nicht reziprok. Dies ist von Gewicht, weil die lk Redaktion beider Bildworte ja gerade die Reziprozität der Unvereinbarkeit herausgestellt hatte: Wer einen Flicken aus einem neuen Kleid herausschneidet und auf ein altes Kleid näht, ruiniert beide (V. 36); und wenn junger Wein in alte Schläuche gefüllt wird, zerreißen die Schläuche und der Wein wird ausgegossen (V. 37): Beide Bildworte beschreiben einen »doppelten Schaden, und das Schlimmere ist jeweils der Verlust des Neuen.« 19 Demgegenüber drückt Lk 5,39 mit dem Verweis auf eine Alltagserfahrung eine Höherbewertung des Alten aus, die im Kontext nur als Begründung dafür zu verstehen ist, dass die Menschen gewöhnlich lieber beim Alten bleiben und sich gegen das Neue sperren. Diese Deutung passt dann zu der redaktionellen ______________________________ 16 Vgl. etwa T SUTSUI 80, der aber Harnacks Urteil gleichwohl folgt; ähnlich hat auch Aland votiert, der die »Streichung« von 5,39 damit begründet, dass »auch jemand, der nicht aus theologischen und ethischen Gründen gegen den Weingenuß war, [...] an diesem Exkurs in die Weinkunde … Anstoß nehmen« konnte (K. A LAND , Die Bedeutung des P 75 für den Text des Neuen Testaments. Ein Beitrag zur Frage der »Western non-interpolations«, in: ders., Studien zur Überlieferung des Neuen Testaments und seines Textes, Berlin 1967, 155-172: 162f). Zur Kritik an dieser Schlussfolgerung vgl. o. Bd. I, S. 81f. 17 Vgl. dazu J. F LEBBE , Alter und neuer Wein bei Lukas. Zum Verständnis der sogenannten »Weinregel« Lk 5,39, ZNW 96 (2005), 171-187: 172-178 (mit Lit.). 18 F LEBBE , a. a. O. 182f: Das Ptc. Aor. πιών drücke keine andauernde Haltung oder immer wiederholte Gewohnheit, sondern eine punktuelle Handlung aus und müsse deshalb im Sinn von »jemand, der gerade dabei ist, alten Wein zu trinken, will keinen jungen Wein« verstanden werden (vgl. die analog zu verstehenden Konstruktionen οὐδείς + Ptc. Aor. + Präs. in Lk 8,16; 9,62). Ähnlich auch W OLTER , Lk 232f. 19 R ADL , Lk 333f. <?page no="81"?> 5,33-39 Rekonstruktion 593 Veränderung der Eingangsfrage in einen Vorwurf (5,33): Denn wenn der Schaden, der durch die Zusammenführung von Alt und Neu hervorgerufen wird, jeweils für das Neue größer ist, wenn es an das Alte angepasst wird, dann bleibt als Alternative für die Herstellung einer Einheit von Alt und Neu nur die Anpassung des Alten an das Neue - genau dagegen aber spricht die in 5,39 zum Ausdruck gebrachte Alltagserfahrung. Zusammen mit Lk 5,33 red. impliziert die »Weinregel« also die Aufforderung an das »Alte«, die Eigenart des »Neuen« zu respektieren und sich daran anzupassen. Mit Blick auf Lk 15,11-32 ist dies in der Tat ein wichtiger Zug der lk Redaktion. 7. Der Gang der Überlieferung könnte also folgendermaßen ausgesehen haben: a. Am Anfang steht die für *Ev rekonstruierte Fassung: Sie besaß eine eigene szenische Einleitung und thematisierte die Unterschiede in der Fasten- und Gebetspraxis zwischen Johannes- und Pharisäerjüngern auf der einen und den Jüngern Jesu auf der anderen Seite. Die Antwort Jesu erklärte diese Unterschiede durch den Hinweis auf die besondere »Zeit des Bräutigams«, die ein Fasten nicht zulässt. Zur Erläuterung der Unvereinbarkeit von Fasten und hochzeitlicher Freude sind die Bildworte vom Wein und den Schläuchen bzw. vom neuen Flicken auf dem alten Gewand angefügt. b. Mk hat die Exposition dadurch »verbessert«, dass er den Hinweis auf die Gebetspraxis, die im Weiteren keine Rolle spielt, gestrichen und das Ganze auf das Problem des Fastens konzentriert hat. In der Exposition ist auch die Frage durch den Hinweis auf die Fastenpraxis der Johannesjünger und der Pharisäer plausibilisiert, die dann als Fragesteller identifiziert werden. Dadurch entstand jedoch die Inkohärenz, dass die Frager über sich selbst in der 3. Pers. sprechen. In der Antwort Jesu hat Mk 2,20b erläuternd hinzugesetzt, vor allem aber die beiden Bildworte umgestellt, um mit der markanten Pointe 2,22 schließen zu können. Dabei hat er die Formulierung (οὐδείς …) der beiden Einleitungen aneinander angeglichen. c. Mt folgt weitgehend der mk Fassung, hat aber dessen Versehen in der Exposition beseitigt, indem er die Johannesjünger die Frage in der 1. Pers. stellen lässt. Allerdings hat Mt offensichtlich auch *Ev benutzt, wie einige Unterschiede zur mk Fassung zeigen (Auslassung von Mk 2,20b; οὐδὲ βάλλουσιν 9,17; καὶ ἀμϕότεροι συντηροῦνται 9,17 fin.). d. Lk hat die Exposition verändert, indem er die szenische Einleitung gestrichen und die Perikope eng an das »Zöllnermahl« angeschlossen hat. Seine Fassung dieser Perikope zeigt neben eigenen redaktionellen Elementen (5,33: Feststellung; 5,34: δύνασθε … ποιῆσαι; 5,36: ἀπὸ ἱματίου καινοῦ σχίσας … καὶ τὸ καινὸν σχίσει; 5,39) sowohl Einfluss von *Ev (*5,33: καὶ δεήσεις ποιοῦνται) als auch von Mk/ Mt (Abfolge 5,36.37f). <?page no="82"?> 594 Anhang I 6,1-5 *6,1-4.4(D) [↑ 5 ↓] : Ährenraufen am Sabbat. {Sabbatarbeiter} Alle Verse gut für *Ev bezeugt und sicher vorhanden; von der lk Redaktion durchweg bearbeitet und ergänzt. 6,1 a Καὶ ἐγένετο b αὐτὸν c [ δὲ ] ἐν σαββάτῳ d [ δευτεροπρώτῳ ] διαπορεύεσθαι διὰ e {τῶν} σπορίμων, καὶ f οἱ δὲ μαθηταὶ αὐτοῦ ἤρξαντο τίλλειν f τοὺς στάχυας ψώχοντες ταῖς χερσίν g ἤσθιον. 2 h οἱ δὲ Φαρισαῖοι h i ἔλεγον αὐτῷ i , k Ἴδε, τί ποιοῦσιν οἱ μαθηταί σου k l τοῖς σάββασιν ὃ οὐκ ἔξεστιν. l 3 m ἀποκριθεὶς δὲ ὁ n Ἰησοῦς ἔλεγεν πρὸς αὐτούς, m o Οὐδέποτε τοῦτο ἀνέγνωτε p τί ἐποίησεν Δαυὶδ q ὅτε ἐπείνασεν αὐτὸς καὶ οἱ μετ’ αὐτοῦ ὄντες; q 4 r ὡς εἰσῆλθεν εἰς τὸν οἶκον τοῦ θεοῦ καὶ τοὺς ἄρτους τῆς προθέσεως s [ λαβὼν ] ἔϕαγεν καὶ ἔδωκεν t {καὶ} τοῖς μετ’ αὐτοῦ, οὓς οὐκ u ἐξὸν ἦν u ϕαγεῖν εἰ μὴ μόνους τοὺς ἱερεῖς; v {6,4 (D) τῇ αὐτῇ ἡμέρᾳ θεασάμενός τινα ἐργαζόμενον τῷ σαββάτῳ εἶπεν αὐτῷ· ἄνθρωπε, εἰ μὲν οἶδας τὶ ποιεῖς, μακάριος εἶ· εἰ δὲ μὴ οἶδας, ἐπικατάρατος καὶ παραβάτης εἶ τοῦ νόμου.} v w [↑ 5 καὶ ἔλεγεν αὐτοῖς, κύριός ἐστιν ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου καὶ τοῦ σαββάτου. ↓] w A. *6,1-4: Tert. 4,12,5: Nunc et ad ipsam materiam disceptabo, in qua visa est destruere sabbatum Christi disciplina. Esurierant discipuli ea die; spicas decerptas manibus efflixerant, cibum operati ferias ruperant. Excusat illos Christus, et reus est sabbati laesi; accusant pharisaei, Marcion captat status controversiae (ut aliquid ludam cum mei domini veritate), scripti et voluntatis. De scriptura enim sumitur creatoris et de Christi voluntate color, quasi de exemplo David introgressi sabbatis templum et operati cibum audenter fractis panibus propositionis. ♦ *6,3f: Epiph., Schol. 21: οὐδὲ τοῦτο ἀνέγνωτε τί ἐποίησε Δαυίδ· εἰσῆλθεν εἰς τὸν οἶκον τοῦ θεοῦ. ♦ *6,5: Tert. 4,12,11: dominus sabbati dictus; ¦ Epiph., Schol. 3: Κύριός ἐστιν ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου καὶ τοῦ σαββάτου (mit der Umstellung gegenüber der lk Wortfolge: Κύριός ἐστιν τοῦ σαββάτου ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου, wie Mk 2,28). B. a (6,1) και/ et: D [a] d e got aeth ¦ om aur b c f ſſ 2 l q r 1 M ● b (6,1) αυτον/ eum: D d ¦ αυτον/ eum pon. post διαποευεσθαι: c (Iesus: r 1 ) M (*Ev non test.) ● c (6,1) δε/ autem: om D [a] d ¦ add aur b c (e: mane) f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● d (6,1) δευτεροπρωτω: om P 4.75(vid) א B L W f 1 33 579 1241 2542 pc b c e l q r 1 sy p.hmg bo pt ¦ δευτεροπρωτω/ secundo (+ a: f) primo (primum: ſſ 2 ): add A C D R 038 044 f 13 [a] aur d f ſſ 2 sy h Epiph (Haer. 51,31,1; GCS 31, 304) M (*Ev non test.) ● e (6,1) των: C D ¦ add P 4.75vid א * A B L W Δ Θ Λ* Π 047 mult (*Ev non test.) ● f (6,1) οι δε μαθηται αυτου ηρξαντο τιλλειν/ discipuli autem illius coeperunt vellere: D b d ¦ ετιλλον οι μαθηται αυτου/ vellebant (vellerent: a) discipuli eius: a aur c e f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● g (6,1) ησθιον/ manducabant (edebant: a): D a d e f q ¦ ησθιον/ manducabant (edebant: c) pon. post σταχυας και/ spicas et: aur b c ſſ 2 l r 1 M (*Ev non test.) ● h (6,2) οι δε Φαρισαιοι/ Pharisaei autem: Tert e ¦ τινες δε των Φαρισαιων/ aliqui (quidam: a c d f r 1 ) autem Pharisaeorum (ex/ de Pharisaeis: b d r 1 ): D a aur b c d f ſſ 2 l q r 1 M ● i (6,2) ελεγον αυτω/ dicebant ei: D d ¦ ειπαν/ dicebant: [a] c e r 1 ¦ dicebant illis (ad eos: b): aur f ſſ 2 l q (*Ev non test.) ● k (6,2) ιδε τι ποιουσιν οι μαθηται σου/ ecce quid faciunt discipuli tui: D d ¦ τι ποιειτε/ quid facitis: [a] aur b c e f ſſ 2 l q r 1 vg M (*Ev non test.) ● l (6,2) τοις σαββασιν ο ουκ εξεστιν/ sabbatis quod (om ſſ 2 ) non licet: D [a] aur b c d e f ſſ 2 l r 1 ¦ ο ουκ εξεστιν τοις <?page no="83"?> 6,1-5 Rekonstruktion 595 σαββασιν (4 5 1-3)/ quod non licet (facere) sabbatis: q vg M (*Ev non test.) ● m (6,3) αποκριθεις δε ο Ιησους ελεγεν προς αυτους/ respondens autem Iesus dixit ad eos: D d ¦ και αποκριθεις προς αυτους ειπεν ο Ιησους/ et respondens (respondit: q) autem Iesus (om a b l) dixit illis (ad illos: e r 1 ; ad eos: aur): [a] aur b c e f ſſ 2 l q r 1 vg M (*Ev non test.) ● n (6,3) ιησους/ Jesus: it M ¦ χριστος/ Christus: Tert ● o (6,3) ουδεποτε/ numquam: D d ¦ ουδε/ nec (neque: c): Epiph (! ) [a] aur b c e f ſſ 2 l q r 1 vg M ● p (6,3) τι/ quid: Epiph 827 ℓ1074 aur b f ſſ 2 g 1 gat l r 1 vg mss ¦ ο/ quod: D [a] c d e vg mss M ● q (6,3) οτε επεινασεν αυτος και οι μετ αυτου οντες: om Epiph Tat pers bo ms ¦ add D d it M ● r (6,4) ως: om Epiph P 4 B D d Tat pers ¦ add ως (pm: πως)/ quomodo: [a] aur b (c: et) e f ſſ 2 l q r 1 vg M (*Ev non test.) ● s (6,4) λαβων: om א D W f 1.13 mult d Iren (Haer. 4,8,3; FC 8/ 4, 64) ¦ add λαβων/ sumpsit (accepit) et: [a] aur b c e f ſſ 2 l q r 1 vg M ● t (6,4) και/ et: א A D R 038 f 13 c d sy h bo ¦ om [a] aur b e f ſſ 2 l q r 1 vg M ● u (6,4) εξον ην/ licebat: D 0211 mult b c d e f g 1 gat l q r 1 ¦ εξεστιν/ licet: a aur ſſ 2 ● v (6,4 D): τη αυτη ημερα θεασαμενος τινα εργαζομενον τω σαββατω ειπεν αυτω· ανθρωπε, ει μεν οιδας τι ποιεις, μακαριος ει· ει δε μη οιδας, επικαταρατος και παραβατης ει του νομου/ eodem die videns quondam operantem sabbato et dixit illi: Homo, siquidem scis, quod facis, beatus es, si autem nescis, maledictus et trabaricator legis: add post 6,4: D d ¦ om it M (*Ev non test.) ● w (6,5) vs. pon. post 6,10: D d (s. u. zu 6,10). C. Die Perikope vom Ährenraufen am Sabbat ist hinreichend gut bezeugt, auch wenn die Zeugen jeweils nur Stichworte bzw. Zitate von kleinen Stücken bieten: Sie war zweifellos in *Ev enthalten. Allerdings wirft die Überlieferung des »Westlichen Textes« - an dieser Stelle vor allem in D d - große Schwierigkeiten auf, die sich nicht nur auf den genauen Wortlaut von *6,1-4 beziehen, sondern auch auf die Stellung von *6,5 sowie die nur in D d mitgeteilte Perikope vom »Sabbatarbeiter«. 1. Da die gesamte Perikope (bis einschließlich *6,6-11) in D d eine besondere Gestalt aufweist, ist es sinnvoll, vor den einzelnen Abweichungen das grundsätzliche Problem ins Auge zu fassen, das durch diese besondere Fassung aufgeworfen wird. Schwierig und in der Forschung kontrovers diskutiert sind folgende Aspekte. a. Die entscheidende Frage zielt verständlicherweise auf das Apophthegma vom »Sabbatarbeiter« in 6,4 (D d). 1 Während vor allem die ältere Forschung sich in erster Linie mit dem Problem der Historizität beschäftigte, ist in den letzten Jahren verstärkt die gesamte Perikope in D (d) mit ihren textlichen und kompositionellen Besonderheiten in den Blick genommen worden; zuletzt hat Tobias Nicklas gezeigt, dass die Komposition von 6,1-11 (D) einheitlich und sinnvoll ist. 2 Der Nachweis der kompositionellen Einheitlichkeit ist natürlich noch kein ausreichendes Kriterium ______________________________ 1 Die Bezeichnung (6,5D; 6,4D) ist uneinheitlich. Klar ist dabei, dass in D d diese Chrie im Anschluss an Lk 6,4 bieten und Lk 6,5 erst später (nach 6,10) haben. Aus der Literatur ist wichtig: W. K ÄSER , Exegetische Erwägungen zur Seligpreisung des Sabbatarbeiters Lk 6,5D, ZThK 65 (1968), 414-430; E. B AMMEL , The Cambridge Pericope. The Addition to Luke 6,4 in Codex Bezae, NTS 32 (1986), 404-426; J. D ELOBEL , Luke 6,5 in Codex Bezae: The Man Who Worked on Sabbath in: R. Gantoy (ed.), À cause de l’Évangile, Paris 1985, 453-477; T. N ICKLAS , Das Agraphon vom »Sabbatarbeiter« und sein Kontext: Lk 6: 1-11 in der Textform des Codex Bezae Cantabrigiensis (D), NT 44 (2002), 160-175. 2 N ICKLAS , a. a. O., bes. 167-173. Ebd. 163f ist der Text von Lk 6,1-11 (D) ganz abgedruckt. <?page no="84"?> 596 Anhang I 6,1-5 für eine sichere diachrone Einordnung der Perikope; aber sie weist darauf hin, dass hier nicht nur einfach ein »versprengtes« Apophthegma an beliebiger Stelle eingefügt wurde. b. Die textlichen Eigenheiten haben die Forschung im Rahmen der Textkritik dagegen schon länger beschäftigt. Die Besonderheit, die hier die größte Aufmerksamkeit fand, liegt in der Beobachtung, dass fast alle Abweichungen von D d gegenüber dem Mehrheitstext mehr oder weniger deutliche Anklänge an Mk 2,23-26 || Mt 12,1-5 aufweisen, 3 deren Ursprung jedoch umstritten ist: Sie lassen sich entweder als Abhängigkeit von einer harmonisierenden Quelle 4 oder als Ausdruck nachträglicher Beeinflussung durch die synoptischen Parallelen verstehen. Beide Lösungen sind wenig befriedigend: Die erste, weil sie weitgehend zirkulär argumentiert und weil die hier vorausgesetzte Evangelienharmonie ansonsten nicht nachweisbar ist, 5 die zweite, weil eine derartig umfangreiche Beeinflussung durch die synoptischen Parallelen ja nur als inhaltlich intendierte Redaktion denkbar ist, für die dann aber auch wieder weitere Hinweise fehlen. c. Beide Fragen hängen unmittelbar miteinander zusammen und lassen sich ohne weiteres erklären, sofern man die grundlegenden Beobachtungen zur Eigenart der »Westlichen« Handschriftenüberlieferung in Lk in Rechnung stellt: Die textlichen Besonderheiten von D it sy sind (uneinheitliche) Korrekturen des kanonischen Textes nach dem vorkanonischen *Ev. Die engen Affinitäten zwischen dem D- Text und Mk/ Mt sind daher nicht als sekundäre Angleichungen unter dem Einfluss der synoptischen Parallelen zu verstehen, sondern als Elemente des ursprünglichen Textes, der allerdings nicht eine ansonsten unbezeugte »Harmonie« war, sondern das vorkanonische Evangelium, das auch von Marcion und den Marcioniten genutzt wurde. Unter Zugrundelegung dieses Erklärungsmodells gilt dann auch, dass der Text, den die Häresiologen für *Ev bezeugen, in das gleiche Schema dieser uneinheitlichen Angleichungen gehört; es ist also grundsätzlich denkbar, dass das Zeugnis etwa des Epiphanius Spuren dieser Angleichung trägt, während einzelne Handschriften der Gruppe D it sy noch die ältere Textform repräsentieren. In diesem Fall kommt das Kriterium zur Anwendung, dass der am weitesten vom kanonischen Wortlaut entfernte Text höchstwahrscheinlich ursprünglich ist. ______________________________ 3 Eine Liste dieser Übereinstimmungen zwischen Lk 6,1-11 (D) und Mk/ Mt bei D ELOBEL , a. a. O. 474f. 4 So vor allem H. J. V OGELS , Die Harmonistik im Evangelientext des Codex Cantabrigiensis, Leipzig 1910 (2: »Der Evangelientext des Codex Bezae Cantabrigiensis ist durch eine Evangelienharmonie - ein Diatessaron - stark beeinflusst«); vgl. auch V OGELS , Beiträge zur Geschichte des Diatessaron im Abendland, Münster 1919. 5 Vgl. dazu A. F. J. K LIJN , A Survey of the Researches into the Western Text of the Gospels and Acts, Utrecht 1949, 49; D ELOBEL , a. a. O. 457. <?page no="85"?> 6,1-5 Rekonstruktion 597 d. Diese methodische Überlegung erlaubt dann für die Rekonstruktion des Textes auch derjenigen Passagen einigermaßen zuverlässige Urteile, für die eine direkte Bezeugung fehlt: Der vorkanonische Text sah i. W. so aus, wie er in D d erhalten ist. Die Einheitlichkeit des kompositionellen Gefüges von *6,1-11 (D) ist daher ein Zeichen der Ursprünglichkeit. Dies bedeutet für die Frage nach dem Ursprung der Perikope vom Sabbatarbeiter, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit Teil dieses vorkanonischen Textes war. Dieses Phänomen passt ohne weiteres zu der oben entwickelten Theorie der synoptischen Überlieferungsgeschichte: (1) Mk hat einen großen Teil der Perikopen von *Ev übergangen. (2) Mt hat etliche dieser nicht-mk Texte aus *Ev redaktionell in den Mk-Kontext eingearbeitet. (3) Lk folgt *Ev am genauesten: Er bietet eine - fast - vollständige Ausschreibung dieses Textes. Das bedeutet: Das Phänomen, dass Texte von *Ev in der Überlieferungsgeschichte nicht rezipiert wurden, ist (wie Mk und Mt zeigen) breit bezeugt. Die Besonderheit von Lk 6,4 (D) liegt folglich nur darin, dass Lk diesen Text in seiner *Ev-Rezeption übergangen hat. Dass Lk *Ev an dieser einen Stelle nicht folgt, wird daher in dem Maße wahrscheinlicher, in dem sich zeigen lässt, dass er auch sonst bei der Formulierung eigene Wege geht; genau dies ist aber anhand der starken Affinitäten des lk D-Textes zu Mk/ Mt leicht zu zeigen. Eine zweite Überlegung tritt hinzu: Es ist wiederholt aufgefallen, dass die Zahl der Sabbatperikopen in der kanonischen Evangelienüberlieferung stark differiert.6 Ihre Verteilung auf die einzelnen Evangelien zeigt (im hier zugrunde gelegten überlieferungsgeschichtlichen Modell) eine sukzessive Abnahme, die möglicherweise auf eine geringer werdende Bedeutung des Problems hinweist. 7 Dieser Überlegung zufolge, die kaum mehr als einen kleinen Hinweis bietet, hätte Lk die Zahl der Sabbaterzählungen von *Ev weiter reduziert. Mithilfe dieser Überlegungen lässt sich der vorkanonische Text relativ problemlos rekonstruieren. Es ist an dieser Stelle nicht weiter nötig, auf alle Einzelheiten einzugehen, deren Begründung sich aus dem textkritischen Apparat ohne weiteres ergibt. Nur Weniges bedarf der Erläuterung: 2. In *6,1 ist die D-Lesart (ἐν σαββάτῳ) δ ε υ τ ε ρ ο π ρ ώ τ ῳ notorisch schwierig: Der »zweit-erste« Sabbat ist nachgerade unverständlich. Dementsprechend gibt es verschiedene Konjekturen für diese Lesart, 8 von denen die wichtigsten entweder ______________________________ 6 Vgl. z. B. D ELOBEL , a. a. O. 454 Anm. 3. 7 *Ev bietet demnach sechs Sabbaterzählungen (*4,31-37; *6,1-4; 6,4 [D]; *6,6-11; *13,10-17; *14,1-6), Mk drei (Mk 1,21-28; 2,23-28; 3,1-6), Mt und Joh jeweils zwei (Mt 12,1-8.9-14; Joh 5,1-47; 9,1-39). Dass Lk - als mutmaßlich spätester Text - immerhin fünf dieser Erzählungen enthält, liegt an der engen Beziehung zu *Ev. 8 Vgl. M ETZGER , Textual Commentary z. St.; ausführlicher zuletzt H. K LEIN , Am ersten Sabbat. Eine Konjektur zu Lk 6,1, ZNW 87 (1996), 290-293. Übersichten über die Lösungsvorschläge bei F ITZMYER , Lk I 607; B OCK , Lk I 534f. <?page no="86"?> 598 Anhang I 6,1-5 auf Schreibfehler 9 oder auf sachliche Korrekturen zurückgehen. 10 Gerade mit Blick auf die Unverständlichkeit dieser Variante, über deren Bedeutung schon in der Alten Kirche gerätselt wurde, 11 ist ihre große Verbreitung von Bedeutung: Sie hat Eingang in die große Mehrheit der Handschriften gefunden (A C D R 038 044 f 13 it pt sy h M ). Dagegen fehlt diese Zählung in einigen wenigen Handschriften, die auch an anderer Stelle häufig den Text des vorkanonischen Evangeliums bieten. 12 Da die Variante des D-Textes schlechterdings keinen Sinn ergibt, kann sie nicht zum ursprünglichen Text gehört haben, sondern muss als Versehen bei einer Überarbeitung verstanden werden. Was auch immer die Einfügung der Ordinalzahl verursacht haben mag, ihre breite Bezeugung kann kaum von einem vereinzelten, späten Zeugen ausgegangen sein: Für diesen Irrtum ist nicht irgendeine beliebige Handschrift verantwortlich, sondern die Originalkopie, die der Mehrheit der handschriftlichen Überlieferung zugrunde liegt. Es ist daher am wahrscheinlichsten, dass die Variante im Zusammenhang mit der lk Redaktion von *Ev durch ein Versehen entstanden ist. Ihrer Unverständlichkeit zum Trotz gehört sie in den kanonischen Lk-Text. Das bedeutet umgekehrt, dass sie im ältesten Evangelium gefehlt hat. 3. An mehreren Stellen weicht die Bezeugung für *Ev vom D-Text ab. Dieser Befund spricht - hier wie an anderen Stellen - nicht gegen die methodisch grundlegende Annahme, dass *Ev im Wesentlichen mit dem vorkanonischen Evangelium identisch war, dessen Spuren sich noch in der »Westlichen« Überlieferung erhalten haben. Vielmehr bestätigen diese Differenzen nur den sukzessiven und uneinheitlichen Prozess, in dem der vorkanonische nach dem kanonischen Text korrigiert wurde. In diesem Fall handelt es sich um folgende Varianten. ______________________________ 9 In diesem Fall aufgrund einer Dittographie in der Vorlage: σαββατω - βατω; ein späterer Kopist hätte β α als Ordinalzahlen missverstanden und sie durch (ἐν σαββάτῳ) δ ε υ τ ε ρ ο π ρ ώ τ ῳ ausgeschrieben; dieser auf Burkitt zurückgehende Vorschlag wurde ausführlich von Skeat vertreten, der sie für »die endgültige Lösung« hielt: T. C. S KEAT , The Second-First Sabbath (Luke 6,1). The Final Solution, NT 30 (1988), 103-106. 10 Ebenfalls älter ist der Vorschlag, dass das schwierige δευτεροπρώτῳ durch eine absichtliche Korrektur entstanden sei; er wurde zuletzt von K LEIN , a. a. O, noch einmal begründet. Demzufolge hätte Lk 6 ursprünglich die Folge der Sabbat(konflikt)e gezählt: ἐν π ρ ώ τ ῳ σαββάτῳ (6,1) - ἐν ἑ τ έ ρ ῳ σαββάτῳ (6,6), bevor ein späterer Korrektor genauer nachgezählt und in 4,31ff den »allerersten« Sabbat gefunden hätte und deswegen πρώτῳ durch δευτέρῳ ersetzt hätte; diese Korrektur sei dann in den Text eingedrungen. Allerdings hat sich von der angenommenen Ursprungslesart kein Zeugnis erhalten. Die »final solution« ist vielleicht doch nicht wirklich möglich. 11 Hieronymus hatte Gregor von Nazianz darüber befragt, der aber einer Anwort auswich (Ep. 52,8: praeceptor quondam meus, Gregorius Nazianzenus rogatus a me, ut exponeret, quid sibi vellet in Luca sabbatum δευτερόπρωτον, id est ›secundumprimum‹, eleganter lusit …). Hieronymus illustriert mit dieser Episode, dass der Prediger nicht erklären soll, was er selbst nicht verstanden hat. 12 P 4.75(vid) א B L W f 1 33 579 1241 2542 pc b c e l q r 1 sy p.hmg bo pt . <?page no="87"?> 6,1-5 Rekonstruktion 599 a. In *6,2 liest D mit der übergroßen Mehrheit der altlateinischen und griechischen Handschriften τινὲς δὲ τῶν Φαρισαίων, wogegen Tertullian gemeinsam mit der Afra-Handschrift e nur einfach Pharisaei/ οἱ Φαρισαῖοι bietet. Die Entscheidung für Tertullians Text, der mit Mk 2,24a identisch ist, ist in der größeren Entfernung zum kanonischen (Mehrheits-)Text begründet. Auffällig ist dabei, dass D an dieser Stelle dann einen mittleren Text bietet, wenn man das Verb dazu nimmt. Die Textentwicklung stellt sich dann folgendermaßen dar *Ev (= Mk): καὶ οἱ Φαρισαῖοι ἔλεγον αὐτῷ D: τινὲς δὲ τῶν Φαρισαίων ἔλεγον αὐτῷ Lk: τινὲς δὲ τῶν Φαρισαίων εἶπαν Ganz analog ist in *6,3 die von Epiphanius bezeugte Lesart τί (ἐποίησεν Δαυίδ) anstelle des auch von D gebotenen »kanonischen« ὃ (ἐποίησεν Δαυίδ) zu beurteilen; sie wird von einer ganzen Reihe altlateinischer Handschriften gestützt. In der Auslassung von ὡς *6,4 stimmt dagegen Epiphanius’ Zeugnis mit D (und anderen Handschriften) überein. b. Eine letzte Abweichung zwischen den Zeugen und D betrifft die Wendung ὅτε ἐπείνασεν αὐτὸς καὶ οἱ μετ’ αὐτοῦ ὄντες, für die nicht ohne weiteres klar ist, ob sie in *Ev enthalten war oder nicht: Sie ist zwar im D-Text (und der kompletten altlateinischen Überlieferung) von Lk 6,3c enthalten, fehlt aber in Epiphanius’ Zeugnis. Diese Nichtbezeugung könnte zwar auch auf Epiphanius’ abkürzendes Referat zurückgehen, aber der Umstand, dass die handschriftliche Überlieferung an dieser Stelle sehr uneinheitlich ist, scheint Epiphanius’ Zeugnis zu bestätigen: Dieselbe Lücke wie bei Epiphanius taucht auch in zwei (zugegebenermaßen eher entlegenen) Zeugen für den »Westlichen Text« auf (Tat pers bo ms ). Außerdem fehlen in einer Lektionarhandschrift die Worte ὃ ἐποίησεν Δαυὶδ ὅτε ἐπείνασεν (ℓ857), während ein Syrer ὅτε ἐπείνασεν auslässt (sy p (1 ms) ). Bei Irenaeus fehlt dagegen das Ende der Wendung (αὐτὸς καὶ οἱ μετ’ αὐτοῦ [ὄντες]). Auf der anderen Seite scheint Tertullian den Hinweis auf das »Hungern« gelesen zu haben: Er erwähnt in der Exposition der Perikope, dass die Jünger hungerten, sich deshalb die gepflückten Ähren zwischen den Händen zerrieben und sich auf diese Weise »Speise bereiteten und den Feiertag unterbrachen« (cibum operati ferias ruperant, Tert. 4,12,5). Damit parallelisiert er das Verhalten Davids und seiner Begleiter: Sie seien an einem Sabbat (! ) in den Tempel gegangen und hätten sich »frech Speise zubereitet« (operati cibum audenter), indem sie die ausgestellten Schaubrote brachen. Wie Tertullians folgende Argumentation zeigt, sieht er den Vergleichspunkt in der Frage der Zubereitung von Speisen am Sabbat (s. 4,12,6). Harnack hatte aus der Erwähnung von esuriant discipuli und cibum operati geschlossen, dass *Ev in der Exposition die Worte (οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ) ἐπείνασαν und (τοὺς στάχυας ψώχοντες ταῖς χερσίν) ἐργάσαντες τὴν βρῶσιν enthalten haben <?page no="88"?> 600 Anhang I 6,1-5 musste 13 - schwerlich zu Recht: Denn Tertullians Argumentation setzt voraus, dass das Davidsbeispiel an einem Sabbat stattgefunden hätte, wovon keiner der uns erhaltenen Texte etwas sagt. Tertullians Parallelisierung von Ausgangsproblem und Davidsbeispiel ist also Teil seiner Argumentation, nicht aber des *Ev-Referats; für das »Hungern« - zuerst der Jünger, dann Davids und seiner Begleiter - wird Ähnliches gelten. Tertullian hat also das Problem, das alle synoptischen Fassungen dieser Perikope kennzeichnet, gesehen und durch Substitution des Motivs »Hunger am Sabbat« zu lösen versucht. Unter der Voraussetzung, dass weder der Hunger der Jünger noch der Davids und seiner Begleiter in *Ev erwähnt wurden, erklären sich die Unterschiede der synoptischen Parallelen als Versuche, das Problem der mangelnden Kongruenz zwischen dem vorwerfbaren Verhalten der Jünger und dem Davidsbeispiel, das ihre Praxis rechtfertigen soll, auf verschiedene Weise zu lösen: Mk verstand das Ährenraufen der Jünger als einen »Gang durch die Saatfelder«: Sie bahnen Jesus einen Weg (ὁδὸν ποιεῖν) durch das Korn und nehmen damit für ihn ein königliches Privileg in Anspruch; der Vorwurf wird dadurch verstärkt, dass dies noch dazu an einem Sabbat geschah. 14 Mit dieser Sinnänderung wurde der Aspekt obsolet, dass die Jünger »gegessen« haben (*6,1 καὶ ἤσθιον): Mk hat ihn einfach weggelassen. Sein Verständnis des Verhaltens der Jünger sieht die Kongruenz zu dem Beispiel Davids darin, dass dieser in königlicher Vollmacht ebenfalls ein Privileg für sich in Anspruch nahm. Mk motivierte dieses Verhalten durch die Erwähnung der Notsituation und fügte (zugleich mit dem - unzutreffenden - Hinweis ἐπὶ Ἀβιαθὰρ ἀρχιερέως) die Bemerkung über Davids Hunger ein (Mk 2,25: ὅτε χρείαν ἔσχεν καὶ ἐπείνασεν αὐτὸς καὶ οἱ μετ’ αὐτοῦ). Mt hat die mk Lösung nur zum Teil übernommen. Er versuchte, die Kongruenz zwischen dem Verhalten der Jünger und dem Davidsbeispiel durch den zusätzlichen Hinweis auf den Hunger der Jünger (Mt 12,1: οἱ δὲ μαθηταὶ αὐτοῦ ἐπείνασαν) zu beseitigen. Da Mt aus *Ev den Hinweis auf das Essen übernahm (ἤρξαντο … ἐσθίειν), lag diese Substitution nahe. Das dadurch entstehende Problem - Davids Eindringen in den Tempel von Nob fand nicht an einem Sabbat statt - hat er wahrgenommen und durch den Hinweis gelöst, dass auch die Priester mit ihrem Tempeldienst das Sabbatgebot brechen (12,5f). Die lk Fassung zeigt Spuren von allen drei Vorgängerversionen: Aus *Ev hat er - wie Mt, aber anders als Mk - den Hinweis auf das Essen der Jünger (in der auch durch D überlieferten Formulierung ἤρξαντο τίλλειν … καὶ ἤσθιον) übernommen. Aus Mk 2,25b dagegen stammt die Formulierung des Davidsbeispiels (Lk 6,3b: ὅτε ἐπείνασεν αὐτὸς καὶ οἱ μετ’ αὐτοῦ ὄντες). Die Disparatheit der synoptischen Fassungen mit ihren unterschiedlichen Akzentuierungen hat also ihren Grund darin, dass der vorkanonische Text, von dem sie ______________________________ 13 H ARNACK 190*: »Daher scheint dieser Ausdruck (s. Joh 6,27) bei M. gestanden zu haben. Lukas selbst dachte an eine sakramentale Handlung, und dies hat M. richtig verstanden und verstärkt.« 14 In Mk 2,23 ist das Verhältnis zwischen dem Prädikat (ἤρξαντο ὁδὸν ποιεῖν) und dem attributiven Partizip (τίλλοντες τοὺς στάχυας) eindeutig: Der Vorwurf impliziert die verbotene Schädigung des Feldes, die dadurch noch schlimmer wird, dass sie am Sabbat geschieht, vgl. A. M URMELSTEIN , Jesu Gang durch die Saatfelder, Angelos 3 (1930), 111-120. <?page no="89"?> 6,1-5 Rekonstruktion 601 alle abhängig sind, an dieser Stelle Unbestimmtheitsstellen enthielt, die auf unterschiedliche Weise präzisierend gefüllt wurden. d. In *6,3 stimmt die gesamte handschriftliche Überlieferung ausnahmslos darin überein, dass das Subjekt ὁ Ἰησοῦς und nicht ὁ Χριστός heißt, wie es Tertullians Referat (Tert. 4,12,5) nahezulegen scheint: Excusat illos C h r i s t u s … ist Tertullians eigene, kommentierende Formulierung. Die Verwendung von ὁ Χριστός durch die Erzählstimme kommt dagegen in *Ev genauso wenig vor wie auktoriales ὁ κύριος. 15 4. Mit der hier angedeuteten Überlieferungsgeschichte der Perikope erklären sich dann auch die relativ zahlreichen und markanten (mt-lk) »Minor Agreements«. 16 Im Rahmen der Zwei-Quellentheorie finden sie keine plausible Erklärung und legen nahe, dass Mt und Lk nicht vom kanonischen Mk, sondern von Deutero- Markus abhängig sind. 17 (1) ὁδὸν ποιεῖν Mk 2,23 ÷ Lk 6,1 || Mt 12,1. - (2) καὶ ἤσθιον Lk 6,1c || καὶ ἐσθίειν Mt 12,1 ÷ Mk 2,23. - (3) εἶπαν Lk 6,2a || Mt 12,2a ≠ ἔλεγον Mk 2,24a. - (4) εἶπεν Lk 6,3a || Mt 12,3a ≠ λέγει Mk 2,25a. - (5) ὃ οὐκ ἔξεστιν Lk 6,2b vor der Zeitangabe (τοῖς σάββασιν bzw. ἐν σαββάτῳ) || Mt 12,2 ≠ Mk 2,24b (τοῖς σάββασιν ὃ οὐκ ἔξεστιν). - (6) χρείαν ἔσχεν καί Mk 2,25c ÷ Lk 6,3 || Mt 12,3. - (7) ἐπὶ Ἀβιαθὰρ ἀρχιερέως καί Mk 2,26a ÷ Lk 6,4 || Mt 12,4. - (8) ἔδωκεν τοῖς μετ’ αὐτοῦ Lk 6,4c || Mt 12,4c ≠ τοῖς σὺν αὐτῷ οὖσιν Mk 2,26d. - (9) μόνους Lk 6,4d || μόνοις Mt 12,4d ÷ Mk 2,26. - (10) τὸ σάββατον διὰ τὸν ἄνθρωπον ἐγένετο καὶ οὐχ ὁ ἄνθρωπος διὰ τὸ σάββατον Mk 2,27b ÷ Lk 6,5 || Mt 12,6. - (11) Κύριός ἐστιν τοῦ σαββάτου ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου Lk 6,5b || Mt 12,8 ≠ κύριός ἐστιν ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου καὶ τοῦ σαββάτου Mk 2,28. Im Rahmen der *Ev-Priorität erklären sich all diese »Minor Agreements« ohne Probleme. Gerade das letzte Beispiel - die unterschiedliche Wortstellung in Mk 2,28 diff. Lk 6,5 || Mt 12,8 - ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Denn die mk Fassung des Logions entspricht dem vorkanonischen Wortlaut, wie die identische Formulierung in D nahelegt. Mk hat dieses Logion also vom Ende des letzten vor-kanonischen Sabbatkonflikts an das Ende der Perikope vom Ährenraufen gezogen, und Mt und Lk sind ihm in dieser Umstellung gefolgt. Allerdings hat Mt die Wortstellung von (*Ev und) Mk verändert, die zwar sehr gut zum mk ______________________________ 15 Vgl. dazu o. § 5 (Bd. I, S. 93ff). 16 Vgl. weiter T. S CHRAMM , Der Markus-Stoff bei Lukas, Cambridge 1971, 111f; N EIRYNCK , Minor Agreements (1974), 74ff; DERS ., Minor Agreements (1991), 23f; E NNULAT , Minor Agreements 77-84. 17 Ausführlich vertreten von H. A ICHINGER , Quellenkritische Untersuchung der Perikope vom Ährenraufen am Sabbat Mk 2,23-28 par Mt 12,1-8 par Lk 6,1-5, in: A. Fuchs, Spuren von Deuteromarkus I, Münster 2004, 199-244; vgl. auch W OLTER , Lk 233: Mt und Lk hatten »eine überarbeitete Fassung von Mk vor sich«. <?page no="90"?> 602 Anhang I 6,1-5 Verständnis der Perikope passt, 18 aber weniger gut zu der mt Fassung, der dann auch Lk folgt. 5. Mit der Umstellung von *6,5 (Mt 12,8 || Lk 6,5) hängt zusammen, dass die Vorlage in *Ev mit großer Wahrscheinlichkeit die Perikope vom Sabbatarbeiter enthielt. Die Gründe, die dafür maßgeblich waren, dass erst Mk, in seiner Folge Mt und schließlich Lk diese Perikope nicht rezipierten, sind unklar und wohl zum Teil von der Bedeutung des Jesuslogions *6,4 (D) abhängig. Einer dieser Gründe könnte auch darin bestanden haben, dass die Sabbatproblematik für das christliche Selbstverständnis zunehmend an Bedeutung verloren zu haben scheint (s. o.). Aber dies ist nicht mehr als eine Vermutung, weil sich ein negativer Befund nicht positiv begründen lässt. *6,6-10 ↑ 5 ↓ 11: Heilung der verkrüppelten Hand Teilweise für *Ev bezeugt und vorhanden; von der lk Redaktion durchweg bearbeitet. 6,6 a Καὶ εἰσελθόντος αὐτοῦ πάλιν εἰς τὴν συναγωγὴν σαββάτῳ ἐν ᾗ ἦν a b [ ἐκεῖ ] c ἄνθρωπος ξηρὰν ἔχων τὴν χεῖρα c d [ ἡ δεξιά ] d · 7 παρετηροῦντο e [ δὲ ] αὐτὸν f οἱ γραμματεῖς καὶ f οἱ Φαρισαῖοι εἰ g ἐν τῷ σαββάτῳ θεραπεύει, ἵνα h κατηγόρωσιν αὐτοῦ. 8 αὐτὸς δὲ i γινώσκων τοὺς διαλογισμοὺς αὐτῶν, k λέγει l [ τῷ ἀνδρὶ ] l τῷ m τὴν χεῖρα ἔχοντι ξηράν m , Ἔγειρε καὶ στῆθι n ἐν τῷ μέσῳ n · καὶ ἀναστὰς o ἐστάθη. 9 εἶπεν δὲ ὁ Ἰησοῦς πρὸς αὐτούς, p Ἐπερωτήσω ὑμᾶς, q εἰ ἔξεστιν τῷ σαββάτῳ ἀγαθοποιῆσαι r ἢ μή r , ψυχὴν s λῦσαι ἢ t ἀπολέσαι; u οἱ δὲ ἐσιώπων. u 10 καὶ περιβλεψάμενος αὐτοὺς πάντας v {ἐν ὀργῇ} v w λέγει x τῷ ἀνθρώπῳ x , Ἔκτεινον τὴν χεῖρά σου. y καὶ ἐξέτεινεν y , καὶ ἀπεκατεστάθη ἡ χεὶρ αὐτοῦ z {ὡς καὶ ἡ ἄλλη} z . aa ↑ 5 καὶ ἔλεγεν αὐτοῖς bb ὅτι Κύριός ἐστιν cc ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου καὶ τοῦ σαββάτου cc . ↓ aa 11 αὐτοὶ δὲ ἐπλήσθησαν ἀνοίας, καὶ dd διελογίζοντο πρὸς ἀλλήλους ee {πῶς ἀπολέσωσιν αὐτόν.} ee A. *6,6: Tert. 4,12,10: Opus autem salutis et incolumitatis non est hominis, sed dei proprium. Sicut et rursus in lege, Non facies, inquit, omne opus in ea, nisi quod fiet omni animae, id est in causa animae liberandae: quia opus dei etiam per hominem fieri potest in salutem animae, a deo tamen, quod facturus fuerat et Christus homo, quia et deus. In hunc ergo sensum legis inducere volens illos per manus arefactae restitutionem interrogat, Licetne sabbatis benefacere, an non? animam liberare, an perdere? ♦ *6,7: Tert. 4,12,9: Exinde observant pharisaei si medicinas sabbatis ageret, ut accusarent eum, certe qua sabbati destructorem, non qua novi dei professorem; fortasse ______________________________ 18 Der geht es um die Inanspruchnahme hoheitlicher Privilegien durch den Menschensohn: Er ist Herr, und zwar, wie das nachgestellte καὶ τοῦ σαββάτου herausstreicht, sogar über den Sabbat, weil der um des Menschen willen entstanden ist. <?page no="91"?> 6,6-11 Rekonstruktion 603 enim hunc solum articulum ubique ingeram, alium Christum nusquam praedicatum. ♦ *6,9: Tert. 4,12,10: … interrogat, Licetne sabbatis benefacere, an non? animam liberare, an perdere? ♦ *6,5: Tert. 4,12,1: De sabbato quoque illud praemitto, nec hanc quaestionem consistere potuisse si non dominum sabbati circumferret Christus. Nec enim disceptaretur cur destrueret sabbatum, si destruere deberet. Porro destruere deberet, si alterius dei esset, nec quisquam miraretur facientem quod illi congruebat. ¦ Epiph., Schol. 3: Κύριός ἐστιν ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου καὶ τοῦ σαββάτου (s. o. zu *6,5). B. a (6,6) και εισελθοντος αυτου παλιν εις την συναγωγην σαββατω εν η ην: D d ¦ εγενετο δε εν ετερω σαββατω εισελθειν αυτον εις την συναγωγην και διδασκειν και ην: a aur b c e f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● b (6,6) εκει: om D 2766 b d aeth ¦ add a aur c e f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● c (6,6) ανθρωπος ξηραν εχων την χειρα/ qua erat homo arida habens manum: D d e f (… habens dextram manum aridam) r 1 (et erat ibi homo habens manum aridam) ¦ ανθρωπος και η χειρ αυτου η δεξια ην ξηρα/ homo et manus eius dextera erat arida: [a] aur c ſſ 2 l q M (*Ev non test.) ● d (6,6) η δεξια/ dextra (dextera): om D d e ¦ add a aur b c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● e (6,7) δε/ autem: om D 1192 ℓ76 (c: igitur) d e sa ms bo mss georg I.III ¦ add a aur b f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● f (6,7) οι γραμματεις και: om Tert ¦ add it M ¦ γραμματεις: αρχιερεις ℓ1663 ● g (6,7) εν/ in: om D K Π mult a aur b c d e ſſ 2 g 1 l q vg mss ¦ add f M (lac. r 1 ) (*Ev non test.) ● h (6,7) κατηγορωσιν/ accusarent: Tert; κατηγωρησωσιν: Ψ 472 ℓ950 ( ℓ253) ¦ ευρωσιν κατηγορειν: D it M ● i (6,8) γινωσκων/ sciens: D b d f ¦ ηδει/ sciebat: a aur c e ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● k (6,8) λεγει/ dicit: D c d e (ait: aur b f ſſ 2 l q r 1 ) ¦ ειπεν/ dixit autem: a M (*Ev non test.) ● l (6,8) τω ανδρι: om D d CyrAlex (Lc; PG 72, 577B) ¦ add τω ανδρι (τω ανθρωπω)/ homini: a aur b c e f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● m (6,8) την χειρα εχοντι ξηραν: D d 33 ¦ (3 1 2 4): a aur b c f ſſ 2 g 1 gat l q r 1 vg ¦ (4 3 1 2): M (*Ev non test.) ● n (6,8) εν τω μεσω/ in medio: D a aur b c d f ſſ 2 q r 1 vg mss georg slav (sy p Tat arab.pers : + της συανγωγης) ¦ εις το μεσον/ in medium: e l vg M (*Ev non test.) ● o (6,8) εσταθη/ stetit: D it ¦ εστη(ν)/ stetit: it M (*Ev non test.) ● p (6,9) επερωτησω/ interrogabo: A D Θ Ψ f 1.13 33 a b c d ſſ 2 q r 1 sa bo ms ¦ επερωτω/ interrogo: P 4 א B L W aur e f gat l vg Tat arab.pers bo (*Ev non test.) ● q (6,9) ει/ si: om Tert (vgl. Mk 3,4) ¦ add P 4 א B D L W 579 892 a aur b c d e f ſſ 2 l bo sa ¦ τι/ aliquid: A Θ Ψ f 1.13 33 q r 1 sy M ● r (6,9) η μη: Tert ¦ η κακοποιησαι/ (facere) an male: D it M ● s (6,9) λυσαι/ liberare: Tert ¦ σωσαι (σωζειν)/ salvam facere (salvare): D it M ● t (6,9) απολεσαι/ perdere: Tert P 4 א B D L W Ψ f 1.13 579 892 1241 2542 pc a aur b c d f ſſ 2 l q r 1 sy p.hmg ¦ αποκτειναι/ occidere: A E K M U V Y Γ Δ Θ Λ Π Ω 028 047 0211 mult lectt e sy h ● u (6,9) οι δε εσιωπων: D Λ mult d bo mss aeth ¦ om a aur b c e f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● v (6,10) εν οργη (μετ οργης)/ in ira (iratus: c; viliabundus: e): D X Θ Λ mult aur b c d e ſſ 2 l q r 1 sy h.p armen aeth ¦ om a M (*Ev non test.) ● w (6,10) λεγει/ dicit: D d ¦ ειπεν/ dixit: a aur b c e f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● x (6,10) τω ανθρωπω/ homini: D a aur b c d e f ſſ 2 l q r 1 ¦ + illi: c e ¦ αυτω: M (*Ev non test.) ● y (6,10) και εξετεινεν/ et extendit: א D (W) f 1.13 pc it sy p.hmg bo ¦ ο δε εποιησεν: M (*Ev non test.) ● z (6,10) ως και η αλλη/ sicut et altera (sicut alia, sicut altera): A D K Q Δ Θ Ψ pc it sy h ¦ om M (*Ev non test.) ● aa (6,5) vs. 6,5 pon. post 6,10: D d ¦ vs. 6,5 post 6,4: a aur b c e f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● bb (6,5) οτι/ quia (quoniam: a d): א 2 A D L Θ Ψ f 13 33 it vg ¦ om P 4 א * B W f 1 mult armen georg (*Ev non test.) ● cc (6,5) ο υιος του ανθρωπου και του σαββατου/ filius hominis etiam (et: e) sabbati (+ ipsius: e): Tert Epiph D a aur b c d e f ſſ 2 l q r 1 ¦ (6 7 1-4) א B W 1241 sy p bo pt aeth ● dd (6,11) διελογιζοντο/ cogitabant: D d ¦ διελογιζοντο και διελαλουν: 2542 ¦ διελαλουν/ ελαλουν: a aur b c <?page no="92"?> 604 Anhang I 6,6-11 e f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● ee (6,11) πως απολεσωσιν αυτον: D d ¦ τι αν ποιησαιεν τω Ιησου/ quidnam (quid: ſſ 2 l q) facerent de Iesu (illi facerent: e): it M (*Ev non test.). C. Die Perikope von der Heilung der verkrüppelten Hand ist gut für *Ev bezeugt, weist aber hinsichtlich der genauen Formulierungen und der kompositionellen Einbettung einige Eigenarten gegenüber der kanonischen Fassung auf. Beide Aspekte hängen mit den Besonderheiten des D-Textes von Lk 6 zusammen, die o. zu *6,1-5 besprochen sind. 1. Tertullian bezeugt nur Teile von *6,(6.)7.9. Allerdings sind Entsprechungen zu den Aussagen von V. 8 und 10 der narrativen Logik wegen zwingend erforderlich. Die Nichtbezeugung ist daher in diesen Fällen wohl auf das Konto der zusammenfassenden Darstellung Tertullians zu verbuchen. Ob *6,5 - sowohl von Tertullian als auch von Epiphanius in diesem Kontext vorausgesetzt - seinen ursprünglichen Ort im Rahmen von *6,6-11 hatte, bleibt zunächst unklar (s. u.). 2. Eine genauere Rekonstruktion lässt die fragmentarische Bezeugung nicht zu. Für weitergehende Aussagen ist daher die eigenständige Fassung der Perikope im D-Text heranzuziehen: Methodisch gilt hier das gleiche Modell, wie es o. zu *6,1-4 begründet wurde. Neben den grundsätzlichen Erwägungen zum Zustandekommen der charakteristisch »Westlichen« Lesarten ist hier vor allem auf die zahlreichen Analogien zwischen Mk 3,1ff bzw. Mt 12,9ff und Lk 6,6ff im D-Text zu verweisen: (1) Die Exposition καὶ εἰσελθόντος αὐτοῦ πάλιν εἰς τὴν συναγωγὴν σαββάτῳ *6,6a (D d) weist gleich mehrere Übereinstimmungen mit Mk 3,1 bzw. Mt 12,9 gegen Lk 6,6 auf (πάλιν; anstelle der typisch lk Eingangsphrase ἐγένετο δὲ ἐν + Datierung + A.c.I. bietet D wie Mk/ Mt einen Hauptsatz). - (2) ἐκεῖ Lk 6,6b (|| Mk 3,1) fehlt in Mt 12,9 || *6,6b (D). - (3) In *6,6b stimmen Mk, Mt und D mit der partizipialen Wendung ἄνθρωπος … ἔχων τὴν χεῖρα gegen Lk (ἡ χεὶρ αὐτοῦ … ἦν …) überein; dass es sich um die rechte Hand handelt, findet sich nur bei Lk, nicht aber in Mk, Mt und D. - (4) Mk 3,4 und *6,9 (D) teilen - gegen Lk (und Mt 12,12) - die Reaktion der Angesprochenen mit: οἱ δὲ ἐσιώπων. - (5) Das Gleiche gilt für die adverbiale Bestimmung der Antwort Jesu in *6,10 (D) || Mk 3,5 (ἐν ὀργῇ/ μετ’ ὀργῆς), die in Lk 6,10 || Mt 12,12 fehlt. - (6) λέγει *6,10 (D) stimmt mit Mk 3,5 || Mt 12,13 überein, während Lk 6,10 εἶπεν bietet. - (7) τῷ ἀνθρώπῳ *6,10 (D) stimmt mit Mk 3,5 || Mt 12,13 überein, während Lk 6,10 αὐτῷ hat. - (8) *6,10 (D) liest wie Mk 3,5 || Mt 12,13 καὶ ἐξέτεινεν, während Lk 6,10 die etwas unglückliche Wiederholung der Aufforderung vermeidet und stattdessen ὁ δὲ ἐποίησεν bietet. - (9) Dass die Hand ὡς (καὶ) ἡ ἄλλη wiederhergestellt wurde, sagt *6,10 (D) wie Mt 12,13, nicht aber Lk 6,10 (|| Mk 3,5). - (10) Die Reaktion der Adressaten ist in *6,11 (D) || Mk 3,6 || Mt 12,14 analog formuliert (πῶς ἀπολέσωσιν αὐτόν bzw. ὅπως αὐτὸν ἀπολέσωσιν), wogegen Lk 6,11 eine ganz andere Formulierung bietet (τί ἂν ποιήσαιεν τῷ Ἰησοῦ). Diese Entsprechungen zwischen dem D-Text von Lk und den Fassungen in Mk 3 bzw. Mt 12 lassen sich kaum als Einfluss der synoptischen Parallelen auf den lk D- Text erklären: Durch diese Erklärung werden weder ihre Häufung verständlich noch der Umstand, dass Mk und Mt ja nicht in allen Fällen mit dem lk D-Text <?page no="93"?> 6,6-11 Rekonstruktion 605 übereinstimmen, sondern teilweise auch dagegen stehen. Der lk D-Text mit seinem eigenartigen Profil ist daher nicht die Folge einer sekundären Konformierung mit Mk/ Mt, sondern deren gemeinsame Quelle, die sie teilweise übereinstimmend, teilweise voneinander abweichend rezipieren. 3. Erst vor dem Hintergrund dieser Besonderheit des D-Textes lässt sich dann erklären, dass Tertullians Zeugnis auch in manchen Einzelheiten von dem D-Text abweicht. So hat Tertullians *Ev-Exemplar in *6,7 ganz offensichtlich ἵνα κατηγόρωσιν αὐτοῦ (Tert. 4,12,9: ut accusarent eum) gelesen. Dies stimmt mit Mk 3,2 || Mt 12,10 (ἵνα κατηγορήσωσιν αὐτοῦ) überein, weicht aber von ἵνα εὕρωσιν κατηγορεῖν αὐτοῦ Lk 6,7 ab. Interessanterweise bietet auch D diese Lesart. Ganz analog dazu hat Tertullian die Frage Jesu in *6,9 als direkte Frage gelesen: Licetne sabbatis benefacere? (Tert. 4,12,10). Das entspricht zwar Mk 3,4 (ἔξεστιν τοῖς σάββασιν ἀγαθὸν ποιῆσαι), nicht aber der auch von D gebotenen indirekten Frageform in Lk 6,9 (ε ἰ ἔξεστιν …). Diese Unterschiede in der Bezeugung stellen klar, dass D d sowenig durchweg den ältesten, vorkanonischen Text bietet wie Tertullian (oder die anderen Zeugen). Der D-Text zeigt das gleiche Phänomen, das auch für die Erklärung der differierenden Zeugnisse (Tertullian, Epiphanius, Adamantius) bzw. für die oft disparate Überlieferung der altlateinischen Handschriften aufgefallen war: Die Korrektur des vorkanonischen Textes nach dem kanonischen Wortlaut ist inkonsequent durchgeführt worden. Das Kriterium, das dazu berechtigt, an diesen beiden Stellen den vorkanonischen Text mit Tertullian gegen D zu rekonstruieren, ist die jeweils größere Entfernung zum kanonischen Text. 4. Unter der Maßgabe, dass die vom kanonischen Lk-Text abweichenden Formulierungen in D (it sy) Spuren des vorkanonischen Evangeliums bewahrt haben, werden dann auch die charakteristischen (mt-lk) »Minor Agreements« verständlich. Neben anderem 1 ist vor allem auf Folgendes zu verweisen. (1) ξηρά Lk 6,6c || ξηράν Mt 12,10a ≠ ἐξηραμμένην Mk 3,1b. - (2) εἶπεν δὲ ὁ Ἰησοῦς Lk 6,9a || ὁ δὲ εἶπεν Mt 12,11a ≠ λέγει Mk 3,4a. - (3) οἱ δὲ ἐσιώπων Mk 3,4c ÷ Lk 6,9 || Mt 12,12. - (4) μετ’ ὀργῆς Mk 3,5a ÷ Lk 6,10 || Mt 12,13. - (5) συλλυπούμενος ἐπὶ τῇ πωρώσει τῆς καρδίας αὐτῶν Mk 3,5 ÷ Lk 6,10 || Mt 12,13. - (6) (τὴν χεῖρά) σου Lk 6,10b || Mt 12,13b ÷ Mk 3,5b. Wie auch sonst häufig zu beobachten ist, lassen sich diese »Minor Agreements« nicht auf ein einheitliches Phänomen zurückführen; sie sind vielmehr auf verschiedene Weise entstanden: In einigen Fällen beruhen die Übereinstimmungen darauf, dass Mt und Lk gemeinsam von *Ev abhängig sind, Mk dagegen am vorkanonischen Text Änderungen oder Einfügungen vorgenommen hat, die keinen Eingang in Mt ______________________________ 1 Vgl. dazu N EIRYNCK , Minor Agreements (1974), 76ff; DERS ., Minor Agreements (1991), 24f; E NNU - LAT , Minor Agreements 84-93. <?page no="94"?> 606 Anhang I 6,6-11 und Lk gefunden haben. Dazu gehören die Abweichung in *6,6c (ξηρά ≠ ἐξηραμμένην) sowie der mk Zusatz συλλυπούμενος ἐπὶ τῇ πωρώσει τῆς καρδίας αὐτῶν in Mk 3,5 (÷ *6,10 || Mt 12,13 || Lk 6,10). Andererseits gibt es jedoch auch gemeinsame mt-lk Änderungen - genauer: von Lk übernommene mt Änderungen - dieses vorkanonischen Wortlauts, den Mk jedoch genauer rezipiert hat. In diesen Fällen gehen die Agreements auf die Abhängigkeit des Lk von der mt Formulierung zurück, also beispielsweise die Auslassungen von οἱ δὲ ἐσιώπων *6,9 = Mk 3,4c in Lk 6,9 || Mt 12,12 bzw. von ἐν ὀργῇ *6,10 μετ’ ὀργῆς Mk 3,5a in Lk 6,10 || Mt 12,13. Auch in *6,9a (λέγει) ist die ursprüngliche Formulierung von *Ev in Mk 3,4a besser bewahrt als in Mt 12,11a || Lk 6,9a (εἶπεν). Betrachtet man die (mt-lk) »Minor Agreements« im Rahmen dieses überlieferungsgeschichtlichen Modells, das sich auch durch die mt/ mk Entsprechungen zum lk D-Text nahelegt, dann wird deutlich, in wie hohem Maß sich text- und überlieferungsgeschichtliche Fragen gegenseitig überlagern und beeinflussen. Gerade anhand der Sabbatkonflikte in Lk 6 par. wird die überaus enge Verflechtung der einzelnen Textformen deutlich: Sie geben einen Einblick in die redaktionelle Arbeitsweise, die das Zustandekommen der späteren Texte prägt. So ist es für Mt und Lk evident, dass sie nicht nur einen ihnen vorausliegenden Text rezipierten, an dem sie gelegentliche redaktionelle Änderungen vornahmen, sondern dass ihnen bei dieser Redaktion mehrere verschiedene Texte vorlagen, die sie von Fall zu Fall sehr genau verglichen haben: Mt kannte und nutzte Mk und *Ev, Lk kannte und nutzte *Ev, Mk und Mt. Das hier sichtbar werdende redaktionelle Verfahren ist in der Tat eine hoch artifizielle »Schreibtischarbeit«. 5. Im Licht der besonderen Bedeutung des D-Textes, die durch diese Beobachtungen sichergestellt ist, lassen sich dann auch die wichtigen kompositionellen Differenzen zwischen *Ev und Lk klären. Zunächst ist noch einmal auf *6,5 und seine Stellung in *Ev einzugehen. Sowohl Tertullian als auch Epiphanius bezeugen den Vers, aber keines der beiden Referate gibt zu erkennen, an welcher Stelle der Vers in *Ev enthalten war. Die Vertreter der Lk-Priorität vermuteten, dass *Ev *6,5 erst im Anschluss an *6,10 hatte, da Tertullian am Ende seiner Behandlung der Heilung der verkrüppelten Hand darauf verweist. 2 Tertullian hatte jedoch einen entsprechenden Hinweis bereits ganz zu Beginn seines Referats von Kap. 6 gegeben (4,12,1: dominum sabbati circumferret Christus) und rahmt auf diese Weise seine Behandlung aller Sabbatkonflikte durch den Hinweis, dass der Menschensohn Herr über den Sabbat sei. Seine Anspielung auf das Logion in 4,12,11 allein ist daher kein hinreichendes Indiz für eine entsprechende Stellung bei *Ev. Da auch ______________________________ 2 Tert. 4,12,11: dominus sabbati dictus, vgl. H ARNACK 190*; T SUTSUI 81. <?page no="95"?> 6,6-11 Rekonstruktion 607 Epiphanius nicht zu erkennen gibt, an welcher Stelle er das Logion las, 3 gründet die Zuversicht, mit der *6,5 zwischen *6,10 und *6,11 positioniert wird, allein auf der Textgestalt von D d. 4 Dem ist im Ergebnis zuzustimmen, nicht aber in der Begründung. Denn unter der Annahme der Lk-Priorität bleibt nur die Alternative, dass *Ev diesen Vers entweder in seiner »Westlichen« Textvorlage vorgefunden oder aber ihn gezielt gegen den Lk-Text hierher geschoben hat. Im ersten Fall müsste man erklären, wieso diese »Westliche« Textüberlieferung von Lk abweicht, im zweiten Fall müsste man einen Grund für Marcions redaktionelle Entscheidung finden, was schwer fallen dürfte. 5 Aber dies ist unnötig, wenn D hier Spuren des vorkanonischen Textes zeigt, die bei der Korrektur nach dem kanonischen Text stehen geblieben sind. Die methodisch wichtige Gegenfrage, was die lk Redaktion zu der Umstellung veranlasst haben könnte, ist dagegen leicht zu beantworten (s. gleich). Mit dieser Entscheidung ist ebenfalls klar, dass auch der Wortlaut von D gegenüber dem Mehrheitstext ursprünglich ist. Neben dem ὅτι-recitativum, das in der redigierten Fassung (nach P 4 א * B W f 1 usw.) ausgefallen ist, ist vor allem die abweichende Wortstellung und das καί vor τοῦ σαββάτου signifikant: Die Lesart von D, die Mk 2,28 rezipiert hat, ist ursprünglich und stand in *Ev. 6. Ebenfalls unbezeugt ist auch der Tötungsbeschluss 6,11. Hier ist die Entscheidung schwieriger: *Ev hatte das gewaltsame Vorgehen gegen Jesus bereits im Zusammenhang der Ablehnung in Nazareth berichtet (s. o. zu *4,29). Es wäre daher denkbar, dass *Ev diesen Vers nicht enthielt. Mk bietet den Tötungsbeschluss am Ende der sehr sorgfältigen Komposition der Streitgespräche 2,1-3,6. Für ihn bestand daher später in 6,1-6a keine Notwendigkeit, die Ablehnung Jesu in seiner Heimatstadt mit einem gewalttätigen Vorgehen gegen ihn zu verbinden. Die lk Redaktion hat offensichtlich ähnlich gedacht und die Doppelung des Tötungsbeschlusses gemindert: Da Lk den Tötungsversuch der Menge in der Synagoge von Nazareth aus *Ev übernommen und ihn programmatisch an den Anfang der ______________________________ 3 Epiphanius bezeugt, dass er den Vers in *Ev las, aber nicht, an welcher Stelle. Aus seiner Scholienliste geht nicht hervor, ob *6,5 nach *6,4 oder nach *6,10 stand: Epiphanius war an diesen Vers nicht wegen seiner auffälligen Position in *Ev interessiert, sondern weil ihm die Identifizierung von κύριος τοῦ σαββάτου und υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου aus christologischen Gründen wichtig war: Jesus integriere den Sabbat in »diese Schöpfung«, weil das »Herr-Sein über den Sabbat« seine göttliche Vollmacht betone, während zugleich der Menschensohn-Titel auf die Inkarnation verweise. 4 H ARNACK 190*: »Dieser Vers steht in D erst nach v. 10; dort erst hatte ihn auch M.« Vgl. T SUTSUI 81. 5 T SUTSUI 81 hat Letzteres versucht: »Ist dies eine absichtliche Korrektur von Marcion, dann dürfen wir wohl daraus ableiten, daß VV. 6-9 (Heilung der verdorrten Hand) besser als VV. 1-4 (das Ährenraufen am Sabbat) zu seinem Christusbild paßte.« Worin diese Präferenz inhaltlich bestanden haben (und wie sie theologisch zu den ansonsten für Marcion angenommenen »Redaktionsentscheidungen« passen) könnte, bleibt allerdings offen. <?page no="96"?> 608 Anhang I 6,6-11 öffentlichen Tätigkeit Jesu gerückt hat, bedarf er jetzt keiner weiteren Verabredung der Gegner Jesu, ihn zu »vernichten.« Die Formulierung von Lk 6,11 ist daher redaktionell. Die Synopse zeigt, auf welche Weise *6,11 (D) als gemeinsame »Mitte« die Grundlage für die synoptischen Fassungen bietet: *6,11 (= Lk 6,11 D) Mk 3,6 Mt 12,14 Lk 6,11 καὶ ἐξελθόντες ἐξελθόντες δὲ αὐτοὶ δὲ οἱ Φαρισαῖοι οἱ Φαρισαῖοι αὐτοὶ δὲ εὐθὺς μετὰ τῶν Ἡρῳδιανῶν ἐπλήσθησαν ἀνοίας, ἐπλήσθησαν ἀνοίας, καὶ καὶ διελογίζοντο πρὸς ἀλλήλους συμβούλιον ἐδίδουν κατ’ αὐτοῦ συμβούλιον ἔλαβον κατ’ αὐτοῦ διελάλουν πρὸς ἀλλήλους πῶς ἀπολέσωσιν αὐτόν. ὅπως αὐτὸν ἀπολέσωσιν. ὅπως αὐτὸν ἀπολέσωσιν. τί ἂν ποιήσαιεν τῷ Ἰησοῦ. Mk hat die Beteiligung der Herodianer eingefügt (εὐθὺς μετὰ τῶν Ἡρῳδιανῶν), die für ihn kompositionell wichtig waren. 6 Vor allem hat er die Überlegung der Gegner (διελογίζοντο πρὸς ἀλλήλους) zu einem formellen Entschluss umgewandelt (συμβούλιον … κατ’ αὐτοῦ), und Mt ist ihm darin gefolgt. Lk hat dagegen den Ratschlag, Jesus zu vernichten (πῶς ἀπολέσωσιν αὐτόν), inhaltlich abgemildert. 7. Mit dieser Rekonstruktion des vorkanonischen Textes ist dann die Überlieferungsgeschichte der Perikope - einschließlich der Gründe für die redaktionellen Veränderungen auf den einzelnen Stufen - durchsichtig. a. Die älteste Fassung in *Ev enthielt drei aufeinander folgende und narrativ eigenständige Erzählungen, die auf unterschiedliche Weise das Problem der Sabbatobservanz thematisieren: Auf die Erzählung vom Ährenraufen (*6,1-4) folgte (mit einer eigenen, äußerst knappen Exposition) das Apophthegma vom Sabbatarbeiter (*6,4 [D]) und abschließend die Erzählung von der Heilung des Mannes mit der verkrüppelten Hand (*6,6-10.5.11). Das Logion *6,5 bildete demnach den Abschluss primär von *6,6-10, während *6,11 am ehesten als Reaktion auf alle drei Erzähleinheiten zu verstehen ist. Dabei scheinen die Gegenspieler Jesu bzw. der Jünger in den beiden rahmenden Erzählungen ursprünglich nur einfach »die Pharisäer« gewesen zu sein (*6,1.6) - so jedenfalls nach dem Zeugnis Tertullians (s. dort). Im ersten Fall ist diese Lesart gegenüber dem kanonischen τινὲς δὲ τῶν Φαρισαίων (Lk 6,2) auch durch die Afra-Handschrift e sowie durch die synoptischen Parallelen Mk 2,24 || Mt 12,2 gesichert (s. dort). Im zweiten Fall enthält die gesamte handschriftliche Überlieferung (einschließlich D it sy) neben den Pharisäern auch die ______________________________ 6 Vgl. Mk 6,14-21; 8,15; s. dazu M. K LINGHARDT , Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002), 183-202: 198f. <?page no="97"?> 6,6-11 Rekonstruktion 609 Schriftgelehrten (Lk 6,7: ο ἱ γ ρ α μ μ α τ ε ῖ ς κ α ὶ οἱ Φαρισαῖοι), die dann in 6,11 durch αὐτοί renominalisiert werden. Tertullian erwähnt - genau wie Mk 3,6 || Mt 12,14 - allerdings wieder nur die Pharisäer. So spricht einiges dafür, dass die Kontrahenten ursprünglich nur die Pharisäer waren, die durch Lk auf verschiedene Weise aus dem Fokus genommen wurden. 7 b. Mk hat *Ev an mehreren Stellen verändert. Am schwersten wiegt die Tilgung von *6,4 (D) (s. dort), die mit anderen redaktionellen Eingriffen einhergeht. So hat Mk das Wort von Jesu Herr-Sein über den Sabbat (*6,5) vom Ende der zweiten Erzählung an das Ende der ersten gezogen (Mk 2,28) und durch Mk 2,27 zusätzlich motiviert; hier hat es gut hingepasst, weil Mk den eigentlichen Konflikt, den das Ährenraufen der Jünger heraufbeschwört, in der Inanspruchnahme hoheitlicher Privilegien sieht, die durch die abschließende Proklamation Jesu als κύριος - nicht nur, aber auch! - über den Sabbat gestützt wird. In der Heilungserzählung Mk 3,1-6 hat er die Haltung der Pharisäer mit ihrer Herzensverhärtung erklärt - auch das ist ein typisch mk Aspekt. Am Ende hat Mk den Todesbeschluss der Pharisäer und Herodianer sehr pointiert als Zielpunkt der klimaktisch aufgebauten Streitgespräche seit 2,1 gesetzt und daher die Überlegung (διελογίζοντο) in einen formellen Beschluss (συμβούλιον) verändert. c. Mt hat die Perikope ganz weitgehend in der mk Fassung (also ohne *6,4 [D] und mit *6,5 als Abschluss von *6,1-4) rezipiert, dabei allerdings einige Kleinigkeiten weggelassen: Neben der Erwähnung der »Herodianer«, die nur für Mk kompositionelle Bedeutung besitzen, hat er auch die psychologisierenden Motivationen aus Mk 3,5 (μετ’ ὀργῆς; συλλυπούμενος ἐπὶ τῇ πωρώσει τῆς καρδίας αὐτῶν) sowie den Hinweis auf das beschämte Schweigen in Mk 3,4 übergangen; zwei dieser Elemente stammten bereits aus *Ev. Die Streichung der »Herodianer« durch Mt setzt voraus, dass er neben Mk auch das ältere *Ev vor sich hatte. Zugleich hat Mt durch die Einfügung von Mt 12,11f aus der Auseinandersetzung um Jesu hoheitliche Vollmacht ein Lehrgespräch gemacht und die Überlegenheit Jesu narrativ nachgezeichnet. Dieses Element stammt aus *14,5 (s. dort) und belegt, dass Mt bei der Abfassung seines Evangeliums den Text von *Ev nicht nur schriftlich als Quelle vor sich, sondern ihn auch komplett präsent hatte. d. Lk folgt zwar im Wortlaut und in den Formulierungen weitgehend *Ev, hat aber das kompositionelle Gepräge aus Mk/ Mt rezipiert (Reduktion auf zwei Erzählungen; Umstellung von 6,5). Die wichtigsten, darüber hinausgehenden Änderungen sind die Weichzeichnung der Pharisäer (in 6,2.7), die Verschärfung des Heilungskonflikts dadurch, dass es sich um die rechte Hand des Mannes handelt (6,6), und ______________________________ 7 Die Lesart οι Φαρισαιοι και αρχιερεις in ℓ1663 könnte noch ein später Reflex davon sein. <?page no="98"?> 610 Anhang I 6,6-11 die Umschreibung des Tötungsbeschlusses (6,11). Neben der grundlegenden Rezeption des *Ev-Textes zeigt Lk Einflüsse sowohl von Mt als auch von Mk: Die Übereinstimmung zwischen Lk und Mt (gegen *Ev und Mk) zeigt sich z. B. an der Auslassung von οἱ δὲ ἐσιώπων (Mk 3,4c || *6,9 ÷ Mt 12,12 || Lk 6,9) bzw. von ἐν ὀργῇ (*6,10 || Mk 3,5a ÷ Mt 12,13 || Lk 6,10). Die Übereinstimmungen von Lk mit Mk (gegen *Ev und Mt) ergeben sich aus der Formulierung εἰς τὸ μέσον (Lk 6,8 || Mk 3,3 ≠ *6,8 ÷ Mt 12,10) sowie aus (ἀγαθοποιῆσαι) ἢ κακοποιῆσαι (Lk 6,9 || Mk 3,4 ≠ ἢ οὔ *6,9 ÷ Mt 12,10) und (ψυχὴν) σῶσαι Lk 6,9 || Mk 3,4 ≠ (ψυχὴν) λῦσαι *6,9 ÷ Mt 12,10. Die Rezeption der Sabbatkonflikte aus *Ev (neben *6,6-11 ist vor allem *14,1-6 zu vergleichen; s. dort) und ihre Redaktion durch Mk, Mt und Lk ist ein in hohem Maße instruktives Beispiel für die Genauigkeit, mit der die Autoren - auf allen Überlieferungsstufen - gearbeitet haben. Zugleich wird deutlich, dass die Rezeption redaktioneller Passagen aus den jeweiligen Prätexten nie »mechanisch« vor sich gegangen ist, sondern immer von einem übergreifenden Gestaltungswillen begleitet war. *6,12-16: Auswahl der Zwölf Gut bezeugt und sicher vorhanden; Spuren der lk Redaktion. 6,12 a Καὶ ἀναβαίνει εἰς τὸ ὄρος καὶ a ἦν διανυκτερεύων ἐν τῇ προσευχῇ b τοῦ θεοῦ . b 13 καὶ ὅτε ἐγένετο ἡμέρα, προσεϕώνησεν τοὺς μαθητὰς αὐτοῦ, καὶ ἐκλεξάμενος ἀπ’ αὐτῶν δώδεκα, οὓς καὶ ἀποστόλους c ἐκάλεσεν, 14 d {πρῶτον} Σίμωνα, ὃν e καὶ f Πέτρον ἐπωνόμασεν, f καὶ Ἀνδρέαν τὸν ἀδελϕὸν αὐτοῦ, καὶ Ἰάκωβον καὶ Ἰωάννην g {τὸν ἀδελϕὸν αὐτοῦ οὓς ἐπωνόμασεν Βοανηργές, ὅ ἐστιν υἱοὶ Βροντῆς} g καὶ Φίλιππον καὶ Βαρθολομαῖον 15 καὶ Μαθθαῖον καὶ ¿ Ἰούδαν? Θωμᾶν h {τὸν ἐπικαλούμενον Δίδυμον} h καὶ Ἰάκωβον Ἁλϕαίου καὶ Σίμωνα τὸν καλούμενον Ζηλωτὴν 16 καὶ Ἰούδαν Ἰακώβου καὶ Ἰούδαν i Σκαριώτην, ὃς k {καὶ} ἐγένετο προδότης. A. *6,12: Tert. 4,13,1f: Certe evangelizat Sion et Hierusalem pacem et bona omnia, certe ascendit in montem et illic pernoctat in oratione et utique auditur a patre. Evolve igitur prophetas, et ordinem totum recognosce … (folgen Beispiele). ♦ *6,13: Tert. 4,13,3: Habes nominis repraesentationem, habes actum evangelizantis, habes locum montis, et tempus noctis, et sonum vocis, et auditum patris, habes Christum prophetarum. Cur autem duodecim apostolos elegit, et non alium quemlibet numerum? ♦ *6,14: Tert. 4,13,5f: Mutat et Petro nomen de Simone, quia et creator Abrahae et Sarae et Auseae nomina reformavit, hunc vocando Iesum, illis syllabas adiciendo. Sed et cur Petrum? (6) Si ob vigorem fidei, multae materiae solidaeque nomen de suo accommodarent. An quia et petra et lapis Christus? Siquidem et legimus positum eum in lapidem offendiculi et in petram scandali. Omitto cetera. Itaque affectavit carissimo discipulorum de figuris suis peculiariter nomen <?page no="99"?> 6,12-16 Rekonstruktion 611 communicare, puto propius quam de non suis. ♦ *6,16: Epiph., Schol. 4: Ἰούδαν Ἰσκαριώτην, ὃς ἐγένετο προδότης. B. a (6,12) και αναβαινει εις το ορος: Tert (vgl. Mk 3,13) ¦ εγενετο δε εν ταις ημεραις ταυταις εξελθειν αυτον εις το ορος προσευξασθαι/ factum est autem in illis diebus exire eum in montem et orare: it M ● b (6,12) του θεου: om Tert D d ¦ add a aur b c e f ſſ 2 l q r 1 M ● c (6,13) εκαλεσεν/ vocavit: D d (vgl. προσκαλεῖν Mk 3,13; Mt 10,1) ¦ ωνομασεν/ (cog)nominavit: a aur b c e f ſſ 2 l (q r 1 ) M (*Ev non test.) ● d (6,14) πρωτον/ primum: D d r 1 ¦ om a aur b c e f ſſ 2 l q M (*Ev non test.) ● e (6,14) και/ et: om 349 713 1242 aur b c e f ſſ 2 g 1 gat l q r 1 ¦ add D a d M (*Ev non test.) ● f (6,14) Πετρον επωνομασεν/ Petrum cognominavit: (827 ℓ184 sy s armen) D d ¦ (2 1) επωνομασεν Πετρον/ cognominavit Petrum: a aur b e f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● g (6,14) τον αδελϕον αυτου ους επωνομασεν Βοανηργες ο εστιν υιοι Βροντης/ fratrem eius quos cognominavit Boanerges, quod est filii tonitrui (vgl. Mk 3,17): D d ¦ fratrem eius: ſſ 2 ¦ om a aur b c e f l q r 1 M (*Ev non test.) ● h (6,15) τον επικαλυμενον Διδυμον/ qui cognominatus est Didymus: D d (vgl. Joh 11,16; 20,24; 21,2) ¦ om a auf b c e f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● i (6,16) Σκαριωθ/ Scarioth: D aur c e f ſſ 2 g 1 gat l q vg georg II ¦ Ισκαριωθ: P 4 א * B L 33 579 pc d ([! ]: Inscarioth) ¦ Ισκαριωτην: Epiph א 2 A Q W Θ Ψ f 1.13 vg M ¦ (+ τον: 2542) ¦ om a b r 1 ¦ Ισκαριωτου: 1654 Orig (Orat. 13,1; GCS 3, 326) ¦ alii alia (Ισκαριοτην; Ησκαριωτην) ● k (6,16) και: D d (etiam et) ¦ om Epiph P 75vid א B L W 579 892 ℓ1127 a aur b c e f ſſ 2 g 1 gat l q r 1 vg sy s.p Tat arab.pers georg slav M . C. Die Perikope war sicher in *Ev vorhanden (und zwar an dieser Stelle! ), aber Tertullians sparsame Hinweise lassen noch erkennen, dass sie eine andere Gestalt als im kanonischen Text besaß. Daran war Tertullian allerdings nicht interessiert, und er vermerkt die Differenzen auch nicht. Für Tertullian war diese Perikope in erster Linie wichtig, weil er hier die at.lichen Analogien zeigen konnte. 1 Vor allem für die Zwölfzahl der Jünger liefert er eine Reihe at.licher Typologien: die zwölf Quellen von Elim (Num 33,9), die zwölf Edelsteine in Aarons priesterlichem Gewand (Ex 28,9), die zwölf Jordansteine, die Josua in die Lade legte (Jos 4,5). Diese ausführliche Begründung stellt sicher, dass bereits *Ev das Konzept eines Zwölfer- Kreises kannte. Wichtiger für die Rekonstruktion des genauen Wortlauts von *Ev sind allerdings die bezeugten und anzunehmenden Differenzen zum kanonischen Text, die wichtige überlieferungsgeschichtliche Einsichten ermöglichen. 1. Bemerkenswert ist gleich zu Beginn das Zeugnis Tertullians für *6,12a, der anstelle der lk Einleitung der Exposition (ἐγένετο δὲ ἐν ταῖς ἡμέραις ταύταις ἐξελθεῖν αὐτὸν εἰς τὸ ὄρος προσεύξασθαι καί) eine Fassung voraussetzt, die sehr genau der Einleitung Mk 3,13a entspricht: καὶ ἀναβαίνει εἰς τὸ ὄρος καί. Obwohl sich von dieser Lesart in der Handschriftenüberlieferung keine Spur mehr findet, ist sie mit hoher Wahrscheinlichkeit im vorkanonischen Text ursprünglich - und Tertullians Referat korrekt. Dass Lk 6,12 redaktionell bearbeitet ist, lässt sich an ______________________________ 1 Tert. 4,13,2f verweist auf Jes 52,7; Nah 1,15 (Freudenboten auf dem Berg); Ps 22,2 (Gott hört bei Nacht); Ps 3,4 (Gott hört das Gebet auf dem heiligen Berg). <?page no="100"?> 612 Anhang I 6,12-16 der unglücklichen Doppelung der Erwähnung des Gebets Jesu (ἐξελθεῖν αὐτὸν … προσεύξασθαι … ἐν τῇ προσευχῇ) zeigen: Wie Tertullian belegt, war die zweite Formulierung in *Ev enthalten, nicht aber die erste. Lk hat also den Aufstieg Jesu auf den Berg durch die finale Bestimmung motiviert (»um zu beten«); er könnte sich dazu durch Mk 3,13 veranlasst gesehen haben, denn bei Mk erscheint der Aufstieg auf den Berg aufgrund der Umstellung von Mk 3,7-12.13-19 (gegenüber *6,12-16.17-19) durch den Andrang der Menge motiviert, den Lk aber erst später berichtet. Aber unabhängig von den überlieferungsgeschichtlichen Fragen (dazu s. gleich zu *6,17-19) ist deutlich, dass Tertullian für *Ev einen aus Mk bekannten Wortlaut bezeugt. Ganz ähnlich wie *6,12a ist zu beurteilen, dass Tertullian die Worte (ἐν τῇ προσευχῇ) τ ο ῦ θ ε ο ῦ Lk 6,12 fin. nicht in *Ev gelesen hat: Sie fehlen auch in *6,12 (D) und sind als Zusatz der lk Redaktion zu betrachten. Diese Übereinstimmung zwischen Tertullians *Ev-Referat und einem Zeugen des »Westlichen Textes« belegt einmal mehr, dass die Eigenheiten des lk D-Textes Spuren einer älteren, vorkanonischen Vorlage darstellen, die nicht konsequent nach der lk redigierten, kanonischen Fassung korrigiert wurde. Tertullians Zeugnis für *Ev stellt also in einem Vers engste Berührungen sowohl mit Mk als auch mit dem lk D-Text sicher. Dieses Phänomen begegnet häufiger und war vor allem für *6,1-4.6-11 aufgefallen (s. dort). 2. Ebenso charakteristisch wie aufschlussreich für die Überlieferungsgeschichte sind die Namenszusätze in der Apostelliste im D-Text. a. Dass Jakobus und Johannes den Beinamen »Boanerges, das heißt Donnersöhne« tragen, ist im NT nur in *6,14 (D d) und Mk 3,17 bezeugt. Das überlieferungsgeschichtliche Modell der Zwei-Quellentheorie ließ dafür nur den Schluss zu, dass der D-Text hier sekundär durch die mk Parallelstelle beeinflusst sei. Die Alternative ist, dass die Analogie zwischen Mk und dem lk D-Text nicht auf sekundäre Beeinflussung auf der Ebene der handschriftlichen Überlieferung, sondern auf die (literarische) Abhängigkeit von derselben Quelle zurückgeht: Mk fand die Erwähnung der »Donnersöhne« im vorkanonischen Evangelium und hat sie von dort übernommen; auch der D-Text zeigt Spuren dieses Evangeliums. Dass diese Lösung im Rahmen des Modells der *Ev-Priorität die wahrscheinlichere ist, lässt sich an dieser Stelle noch gut nachvollziehen. Denn Mk kennt (im Gefolge von *5,10 || Mk 1,19f; s. dort) das Brüderpaar Jakobus und Johannes als Söhne des Zebedäus und verwendet diese ihm geläufige Bezeichnung auch dort, wo *Ev keine Vorlage bot (Mk 10,35). Wäre *6,14 (D) durch die mk Parallele beeinflusst, müsste man eigentlich auch einen Hinweis auf das Patronym »Zebedäus« erwarten, das hier aber nicht steht. Das heißt: Mk bezeichnet das Brüderpaar Jakobus und Johannes mit dem Patronym »Zebedäus« und setzt diese ihm geläufigere Bezeichnung auch in der Zwölferliste Mk 3,17 zu den Namen dazu. Auf <?page no="101"?> 6,12-16 Rekonstruktion 613 diese Weise entsteht die Ungeschicklichkeit, dass Jakobus und Johannes durch zwei verschiedene Beinamen näher bestimmt werden, die insofern inkompatibel sind, als sie beide die genauere Identifizierung der Brüder durch verschiedene (sit venia verbo) »Patronyme« leisten: (Sohn des) Zebedäus - »Söhne des Donners«. Diese nur schlecht kaschierte 2 Ungeschicklichkeit ist die Folge der mk Redaktion, die den Hinweis auf »Zebedäus« in den traditionellen *Ev-Text einfügte, der bereits die Erwähnung der »Donnersöhne« enthielt. b. Ganz ähnlich ist der Beiname des Thomas zu erklären: Dass er als »Zwilling« (δίδυμος) bezeichnet wird, ist im NT außer in *6,15 (D) nur in Joh erwähnt (11,16; [14,5 D]; 20,24; 21,2). Wenn der D-Text von *6,12ff durch die parallelen Formulierungen der anderen Evangelien beeinflusst wäre, müsste man annehmen, dass hier ein Kopist eigenständig eine Vereinheitlichung der Namen aus verschiedenen (! ) Evangelien vorgenommen hätte. Der umgekehrte Verlauf ist wiederum wahrscheinlicher: Im vorkanonischen Text der Apostelliste fand sich der Namenszusatz »Didymus«, den zunächst nur Joh aufgegriffen hat und der dann Eingang in die weitere frühchristliche Literatur gefunden hat (EvThom 1 usw.). Da δίδυμος kein Eigenname, sondern die griechische Übersetzung von aram. אמואת (bzw. gräzisiert θωμᾶς) ist, und da der Eigenname dieses Jüngers später als »Judas« bekannt ist, 3 könnte man erwägen, ob dieser Name vielleicht schon in der vorkanonischen Apostelliste stand, die dann an dieser Stelle Ἰ ο ύ δ α ν Θωμᾶν τὸν ἐπικαλούμενον Δίδυμον gelautet hätte; aber das bleibt eine ungeschützte Vermutung. c. Schließlich ist auch noch auf den Beinamen des Verräters Judas hinzuweisen, der in der handschriftlichen Überlieferung auf verschiedene Weise auftaucht (s. o.). Auch wenn die Differenzen gering erscheinen, haben sie offensichtlich doch eine semantische Bedeutung besessen, die wir nicht mehr ohne weiteres nachvollziehen können, 4 die aber an anderen Stellen zu deutenden Weiterentwicklungen geführt hat, wie die joh Verwendung zeigt. 5 Ohne dieses Rätsel hier lösen zu wollen, lässt sich die Disparatheit der Überlieferung am ehesten damit erklären, dass verschiedene Namensformen schon früh und in weiter Verbreitung nebeneinander bestanden. Dies ist ein möglicher Hinweis - mehr nicht - auf redaktionelle Veränderungen, die an dem Text des vorkanonischen *Ev vorgenommen wurden. ______________________________ 2 Das Patronym τὸν τοῦ Ζεβεδαίου steht direkt nach Jakobus; Johannes wird, davon etwas abgesetzt, als dessen Bruder angeführt (τὸν ἀδελϕὸν τοῦ Ἰακώβου), bevor am Ende der aus *Ev stammende Beiname genannt wird (καὶ ἐπέθηκεν αὐτοῖς ὀνόματα Βοανηργές, ὅ ἐστιν υἱοὶ βροντῆς). Die gesamte Wendung ist überladen und wenig geschmeidig. 3 Vgl. Joh 14,22 (sy s.c ); EvThom 1 (NHC II/ 2) 1 tit.; ActThom 1; 11; LibThom (NHC II/ 7) tit. usw. 4 Zu diversen Versuchen s. R. B. H ALAS , Judas Iscariot, Washington 1946, 10-38; H. I NGHOLT , The Surname of Judas Iscariot, in: F. Hvidberg (ed.), Studia Orientalia Ioanni Pedersen … dicata, Copenhagen 1953, 152-162. 5 Zum Problem vgl. nur M ETZGER , Textual Commentary zu Mt 10,4 mit den verschiedenen Belegen. <?page no="102"?> 614 Anhang I 6,12-16 Die hier rekonstruierte vorkanonische Form der Apostelliste zeigt ein für *Ev charakteristisches Phänomen, nämlich das starke Interesse an den Eigennamen (und ihrer präzisen Zuweisung) von Personen aus dem engeren und weiteren Umfeld Jesu, das ausgeprägter ist als in den anderen kanonischen Evangelien. Typisch ist dabei vor allem, dass nicht alle dieser spezifischen Informationen eine literarische Funktion im Text besitzen, sondern textexternes Wissen der Leser abrufen. Nicht alle dieser textexternen Referenzen sind in der Rezeptionsgeschichte erhalten geblieben. *6,17-19a 19b : Abstieg vom Berg. Andrang der Menge Nur teilweise für *Ev bezeugt; vorhanden; durch die lk Redaktion mit Sicherheit bearbeitet und wahrscheinlich ergänzt. 6,17 Καὶ a καταβὰς ἐν αὐτοῖς a ἔστη ἐπὶ τόπου πεδινοῦ, καὶ ὄχλος πολὺς μαθητῶν αὐτοῦ, καὶ πλῆθος πολὺ b τοῦ λαοῦ ἀπὸ πάσης τῆς Ἰουδαίας b c καὶ Ἰερουσαλὴμ c d καὶ τῆς περαίας d e καὶ ἄλλων πόλεων, e 18 οἳ ἦλθον ἀκοῦσαι αὐτοῦ καὶ ἰαθῆναι ἀπὸ τῶν νόσων αὐτῶν· καὶ οἱ ἐνοχλούμενοι ἀπὸ πνευμάτων ἀκαθάρτων ἐθεραπεύοντο 19 καὶ πᾶς ὁ ὄχλος ἐζήτουν ἅπτεσθαι αὐτοῦ f ὅτι δύναμις παρ’ αὐτοῦ ἐξήρχετο καὶ ἰᾶτο πάντας . f A. *6,17: Epiph., Schol. 4: ἀντὶ δὲ τοῦ Κατέβη μετ’ αὐτῶν ἔχει Κατέβη ἐν αὐτοῖς. ¦ Tert. 4,13,6: Conveniunt a Tyro et ex aliis regionibus multitudo etiam transmarina. Hoc spectabat psalmus: Et ecce allophyli et Tyrus et populus Aethiopum, isti fuerunt illic: Mater Sion, dicet homo: et homo factus est in illa (quoniam deus homo natus est), et aedificavit eam voluntate patris; ut scias ad eum tunc gentiles convenisse, quia deus homo natus erat aedificaturus ecclesiam ex voluntate patris, ex allophylis quoque. ♦ *6,19f: Epiph., Schol. 5: Καὶ πᾶς ὁ ὄχλος ἐζήτουν ἅπτεσθαι αὐτοῦ. καὶ αὐτὸς ἐπάρας τοὺς ὀϕθαλμοὺς αὐτοῦ καὶ τὰ ἑξῆς. B. a (6,17) κατεβη εν αυτοις: Epiph ¦ καταβας μετ αυτων: it M ● b (6,17) του λαου απο πασης Ιουδαιας: D it ¦ του λαου απο πασης της Ιουδαιας: M ¦ om Tert ● c (6,17) και Ιερουσαλημ: om Tert D d ¦ add a aur b c e f ſſ 2 l q r 1 M ● d (6,17) και της περαιας: א * W ℓ150* ¦ om D d ¦ και της παραλιου Τυρου και Σιδωνος: aur f vg M ¦ και της περαιας και της παραλιου Τυρου και Σιδωνος/ et trans fretum et maritima (maritimi: c) Tyri et Sidonis: (Tert) a b c ſſ 2 l q r 1 ¦ et de trans marinis Tyro et Sidone: e ● e (6,17) και αλλων πολεων/ et aliarum (aliorum: e) civitatum (civitatium: d): D c d e f got ¦ om a aur b ſſ 2 l q r 1 M ● f (6,19) οτι δυναμις παρ αυτου εξηρχετο και ιατο παντας: om Epiph ¦ και ιατο παντας: ℓ1627 ¦ add M (*Ev non test.). C. Während *6,17a als Abschluss des Berichts über die Einsetzung der Apostel und *6,19a gut bezeugt sind, ist der Rest der Perikope problematisch und bedarf genauerer Erörterung. <?page no="103"?> 6,17-19 Rekonstruktion 615 1. Dies liegt zunächst daran, dass für 6,17b Tertullians Zeugnis und der Befund der handschriftlichen Überlieferung in D it nicht so zusammen passen, wie es die methodisch grundlegende Annahme vom Zustandekommen der »Westlichen« Lesarten in Lk (Spuren des nicht konsequent korrigierten vorkanonischen Textes) nahelegen würde. Die Übersicht mit der Liste der Herkunftsorte der Menge 6,17b in den verschiedenen Überlieferungsbereichen zeigt das Problem. M D d Tertullian a aur b c e f ſſ 2 l q r 1 καὶ ὄχλος πολὺς καὶ a ὄχλος et turba μαθητῶν αὐτοῦ, μαθητῶν αὐτοῦ, discipulorum eius καὶ πλῆθος πολὺ καὶ πλῆθος πολὺ (multitudo) et multitudo b copiosa τοῦ λαοῦ ἀπὸ πάσης τῆς Ἰουδαίας τοῦ λαοῦ ἀπὸ πάσης Ἰουδαίας c plebis ab omni Iudaea καὶ Ἰερουσαλὴμ et Ierusalem (etiam transmarina) d et trans fretum d καὶ τῆς παραλίου Τύρου καὶ Σιδῶνος, a Tyro et maritima Tyri et Sidonis καὶ ἄλλων πόλεων et ex aliis regionibus (...) e [et aliarum civitat(i)um] e 18 οἳ ἦλθον … 18 ἐληλυθότων … 18 (conveniunt) … 18 qui venerant … a turbae/ ὄχλοι: d b copiosa: aur b ſſ 2 l q r 1 ¦ ingens: a f ¦ magna: c e ¦ multa: d c populi: a c d e f d et trans fretum: a b c ſſ 2 l q r 1 ¦ om aur f vg ¦ et de trans marinis (Tyro et Sidone): e e et aliarum civitat(i)um: c d f (eras.); et aliorum civitatium: e ¦ om a aur b ſſ 2 l q r 1 Für die Uneinheitlichkeit der Bezeugung von *6,17 bei Tertullian und in der handschriftlichen Überlieferung ist zu bedenken, dass erstens die »Westliche« Überlieferung insgesamt sehr disparat ist und zweitens auch die von den Häresiologen benutzten *Ev-Exemplare das Phänomen der inkonsequenten Korrekturen aufweisen. Darum gilt hier wie an anderen Stellen die Faustregel, dass die am weitesten vom Mehrheitstext entfernte Fassung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit den ältesten, vorkanonischen Text bietet. Unter diesen Voraussetzungen lässt sich der disparate Befund folgendermaßen erklären: a. Zunächst zeigt die Form von Tertullians Referat, dass er an dieser Stelle nicht genau aus *Ev zitiert, sondern lediglich Stichworte aus dem ihm vorliegenden Text aufgreift und in seine Argumentation einbaut. 1 Sein Referat ist daher nicht exakt und wahrscheinlich auch nicht ______________________________ 1 Darauf deutet vor allem die Wortstellung von Tertullians Referat hin (conveniunt a Tyro et ex aliis regionibus multitudo etiam transmarina), die sich so kaum in *Ev gefunden haben dürfte (und deshalb in der Übersicht an die handschriftliche Bezeugung angepasst ist). <?page no="104"?> 616 Anhang I 6,17-19 vollständig. 2 So legt die breite Bezeugung, die neben Tyros immer auch Sidon erwähnt, nahe, dass dies auch in Tertullians *Ev-Exemplar der Fall war: Die Nichterwähnung von Sidon geht auf das Konto von Tertullians raffendem Referat. Allerdings besagt die Tatsache, dass Tertullian mit hoher Wahrscheinlichkeit Tyros und Sidon in seiner Vorlage fand, noch nicht, dass dies auch im vorkanonischen Evangelium der Fall war. b. Der generalisierende Hinweis auf »andere Orte«, aus denen die Menge zu Jesus kam ([ἀπὸ] καὶ ἄλλων πόλεων; et ex aliis regionibus; et aliarum civitat[i]um), findet sich dagegen nur bei Tertullian sowie in D c d e f, fehlt aber in der restlichen Handschriftenüberlieferung. Diese Generalisierung ist im Mehrheitstext durch die alternative Erwähnung von Tyros und Sidon spezifiziert worden und deshalb dort ausgelassen. Das Nebeneinander von a Tyro und et ex aliis regionibus bei Tertullian (bzw. von et maritima Tyri et Sidonis und et aliarum civitatium in c d e f) ist demnach die typische, additive Konflation zweier unterschiedlicher Texte: Der vorkanonische Text enthielt nur καὶ ἄλλων πόλεων, der kanonische nur καὶ τῆς παραλίου Τύρου καὶ Σιδῶνος. c. Unklar ist dann die Erwähnung von ἀπὸ πάσης τῆς Ἰουδαίας, die in der gesamten handschriftlichen Überlieferung bezeugt ist, aber bei Tertullian fehlt. Innere Gründe - also das ansonsten belegte Interesse der lk Redaktion an Judäa 3 und an der Ausweitung der überregionalen Wirkung der Tätigkeit Jesu - könnten für einen redaktionellen Zusatz sprechen. Aber dieses Beweisverfahren wäre zirkulär und hilft an dieser Stelle nicht weiter: Dass Lk an Judäa interessiert ist und es verschiedentlich akzentuiert und einfügt, heißt nicht, dass es *Ev immer gefehlt haben muss. Da - sowohl im kanonischen als auch im vorkanonischen Text - die weiteren Herkunftsorte der Menge additiv angefügt sind (κ α ὶ τῆς παραλίου … bzw. κ α ὶ ἄλλων πόλεων), ist ein vorausgehendes Glied (ἀπό + Ortsname im Gen.) zwingend erforderlich: Die Wendung ἀπὸ πάσης Ἰουδαίας ist daher mit größter Wahrscheinlichkeit ursprünglich. d. Das Glied καὶ Ἰερουσαλήμ fehlt dagegen nicht nur bei Tertullian, sondern auch in D d. Auch bei der Erwähnung Jerusalems legen innere Gründe nahe, dass es sich um einen redaktionellen Zusatz handelt, denn die starke Akzentuierung von Jerusalem als Zentralort des Judentums ist bekanntlich eine wesentliche Komponente des redaktionellen Konzeptes von Lk-Act. In diesem Fall aber (und im Unterschied zu der Erwähnung Judäas) legt die Nichtbezeugung im D-Text nahe, dass die Worte καὶ Ἰερουσαλήμ in *Ev gefehlt haben. e. Die Erwähnung von Gebieten »jenseits des Meeres« bietet besondere Schwierigkeiten: Tertullian und ein Teil der Altlateiner (a b c ſſ 2 l q r 1 ) haben sie gelesen, aber im Mehrheitstext und auch in D d fehlt sie. Nicht ganz klar ist, welche Worte Tertullian und die Altlateiner gelesen und wie sie sie verstanden haben. Als griechischer Ursprung der Wendung kommen in Frage καὶ ἀντίπερα, καὶ ἐκ τοῦ πέραν oder καὶ τῆς περαίας, die sich alle drei sowohl durch etiam transmarina (Tertullian) wiedergeben als auch mit et trans fretum (a b c ſſ 2 l q r 1 ) übersetzen lassen. Für die letztgenannte Vermutung spricht, dass sich die Variante καὶ τῆς περαίας noch in einigen Handschriften ( א * W ℓ150*) findet. Mit größter Wahrscheinlichkeit hat sich diese Wendung auf die Gegend östlich des Sees Genezareth bzw. des Jordan bezogen. 4 ______________________________ 2 So ist völlig unwahrscheinlich, dass bei multitudo kein Adjektiv gestanden haben sollte: In allen anderen Zeugen ist die Größe der Menge (durch verschiedene Adjektive) hervorgehoben; dies war mit einiger Sicherheit schon im ältesten Text der Fall. 3 Vgl. D. P. B ECHARD , The Theological Significance of Judaea in Luke-Acts, in: J. Verheyden (ed.), The Unity of Luke-Acts, Leuven 1999, 675-691; s. auch o. zu *4,44. 4 Der Ausdruck ἡ περαία ist nicht auf die ostjordanische Toparchie »Peräa« beschränkt, sondern bezeichnet auch sonst ein Gebiet »jenseits« eines Gewässers, vgl. Appian, civ. 2,42; Livius 32,33,6; <?page no="105"?> 6,17-19 Rekonstruktion 617 f. Die Afra-Handschrift e hat diesen Hinweis auf die Gegend »am anderen Ufer« dagegen mit der Meerlage (παράλιος/ maritima) von Tyros und Sidon in einer Weise zusammengezogen, die nur aus einer ostjordanischen Perspektive einen Sinn ergibt, sofern sich die Bemerkung auf den See Genezareth bezieht: et de trans marinis Tyro et Sidone. Die Tatsache, dass die altlateinische Überlieferung mehrheitlich eine contradictio in adiecto schafft, indem sie für die Lage von Tyrus und Sidon trans fretum mit maritima in einer kaum verständlichen Weise kombiniert, ist wiederum am ehesten als Konflation des vorkanonischen (καὶ τῆς περαίας) und des kanonischen Wortlauts (καὶ τῆς παραλίου Τύρου καὶ Σιδῶνος) zu erklären. Nach diesen Überlegungen zur Rekonstruktion von *6,17b hat sich der genaue Wortlaut der vorkanonischen Ortsliste in keinem der erhaltenen Zeugen genau erhalten; am nächsten kommt ihm die Fassung von D d, aus der allerdings unter dem Einfluss des kanonischen Textes der Hinweis καὶ τῆς περαίας ausgefallen ist. 2. In überlieferungsgeschichtlicher Hinsicht macht diese Rekonstruktion der ursprünglichen Fassung der Ortsliste dann auch die Entstehung der einzelnen synoptischen Fassungen nachvollziehbar. In der folgenden Übersicht ist die diachrone Entwicklung von links nach rechts abgetragen. *6,17b Mk 3,7f Mt 4,25 Lk 6,17b ἀπὸ τῆς Γαλιλαίας καὶ Δεκαπόλεως καὶ Ἱεροσολύμων ἀπὸ πάσης Ἰουδαίας ἀπὸ τῆς Ἰουδαίας καὶ Ἰουδαίας ἀπὸ πάσης τῆς Ἰουδαίας καὶ ἀπὸ Ἱεροσολύμων καὶ Ἰερουσαλὴμ καὶ ἀπὸ τῆς Ἰδουμαίας καὶ τῆς περαίας καὶ πέραν τοῦ Ἰορδάνου καὶ πέραν τοῦ Ἰορδάνου καὶ περὶ Τύρον καὶ Σιδῶνα καὶ τῆς παραλίου Τύρου καὶ Σιδῶνος καὶ ἄλλων πόλεων a. Mk, nach unserer Auffassung der erste (bekannte) Bearbeiter von *Ev, ergänzte die Ortsliste einigermaßen systematisch nach geographischen Kriterien: Die bereits vorgegebene Perspektive nach Süden (Judäa) wird durch Jerusalem konkretisiert und durch das noch weiter südlich liegende Idumäa ergänzt; ebenfalls vorgegeben ist die östliche Perspektive: Mk hat aber das nicht eindeutige (ἀπὸ) τῆς περαίας (»von jenseits«; »vom anderen Ufer«) wohl ganz sachgemäß als »von ______________________________ 33,18,20; Polyb. 18,2,3; 18,6,3. Jos., Bell. III 44 verwendet die Bezeichnung für das Land jenseits des Jordan. <?page no="106"?> 618 Anhang I 6,17-19 jenseits des Jordan« präzisiert. Schließlich hat Mk die Liste um die westliche Perspektive komplettiert und das am Meer gelegene Tyros und Sidon hinzugefügt. b. Auch Mt hat die Liste ergänzt, wobei davon auszugehen ist, dass ihm neben *Ev auch Mk vorlag. Dann lässt sich die mt Liste so verstehen, dass er Jerusalem und »jenseits des Jordan« aus Mk 3,7 übernahm, aber - sachlich und geographisch naheliegend - Galiläa sowie die Dekapolis ergänzte. Die gegenüber Mk stark veränderte Reihenfolge der mt Liste lässt noch erkennen, dass Mt die Erweiterungen so in die Liste von *Ev eintrug, dass die zusätzlichen Angaben vor den bereits in *Ev enthaltenen Einträgen (ganz Judäa; Peräa = »jenseits des Jordan«) zu stehen kommen. Mit diesem redaktionellen Schritt erklärt sich dann auch die sachliche Inkongruenz der mt Ergänzungen zu der älteren Liste: Die Dekapolis und das Gebiet jenseits des Jordan sind wenigstens teilweise identisch. c. Lk hat die Liste aus *Ev nur um die schon in Mk vorliegenden Glieder »Jerusalem« und »Tyros und Sidon« ergänzt, das Letztere wie schon bei Mk als Präzisierung »der anderen Städte« und, vielleicht angeregt durch καὶ τῆς περαίας, in der Form καὶ τ ῆ ς π α ρ α λ ί ο υ Τύρου καὶ Σιδῶνος. 3. Außerdem sind noch zwei kleinere Auffälligkeiten zu notieren, die sich aus Epiphanius’ Referat ergeben. Zunächst zitiert Epiphanius den Anfang von *6,17 wörtlich, aber abweichend von allen überlieferten Handschriften: Er macht ausdrücklich darauf aufmerksam, dass *Ev κ α τ έ β η (! ) ἐν αὐτοῖς anstelle von καταβὰς μετ’ αὐτῶν las. Aber eine finite Verbform ist anstelle des Partizips nirgends bezeugt. Vielleicht war Epiphanius hier ungenau, weil es ihm auf die - allerdings semantisch irrelevante - Abweichung ἐν αὐτοῖς/ μετ’ αὐτῶν ankam. Von größerer Bedeutung ist, dass Epiphanius *6,20a in unmittelbarem Anschluss an *6,19a gelesen zu haben scheint. Die abschließende Etcetera-Formel (καὶ τὰ ἑξῆς) im Anschluss an *6,20a legt jedenfalls nahe, dass das Voranstehende ein exaktes Zitat ist. In diesem Fall hätte Epiphanius’ *Ev-Exemplar 6,19bc (ὅτι δύναμις παρ’ αὐτοῦ ἐξήρχετο καὶ ἰᾶτο πάντας) nicht enthalten. 5 Der Befund ist noch komplizierter, weil 6,19b (ὅτι δύναμις παρ’ αὐτοῦ ἐξήρχετο) auch in einem späten Lektionar fehlt, das jedoch das abschließende καὶ ἰᾶτο πάντας (6,19c) enthält (ℓ1627). Die Vertreter der Lk-Priorität haben die Lücke in Epiphanius’ Referat gesehen, 6,19bc aber gleichwohl für *Ev reklamiert. 6 Als Begründung dafür muss jedoch ______________________________ 5 Zu Recht notiert von Z AHN II 460 (»also fehlte 19b«). Epiphanius’ Zitate sind üblicherweise genau; aus diesem Grund verwendet er ja auch die etcetera-Formel, wenn er nicht zitiert, sondern zusammenfasst. 6 Das Urteil von H ARNACK 191* ist unklar: Er gibt in seiner Rekonstruktion den Text nur für 19a wieder, merkt jedoch (ohne weitere Begründung) an: »Daraus, daß Epiphanius sofort 20a folgen <?page no="107"?> 6,17-19 Rekonstruktion 619 wieder das angenommene, aber nicht nachweisbare Redaktionskonzept Marcions herhalten. Das ist im Rahmen dieser Untersuchung wenig plausibel. 7 Wichtiger ist die Beobachtung zu den synoptischen Parallelstellen Mt 12,15 || Mk 3,10, denen der Hinweis auf die von Jesus ausgehende Kraft und die nachfolgende Mitteilung der Heilung fehlt. Dagegen findet sich der Hinweis auf die zahlreichen Heilungen vor der Mitteilung des großen Andrangs, und zwar jedes Mal mit demselben Verb θεραπεύειν. 8 Es ist daher wahrscheinlicher, dass die ganze Wendung in *Ev fehlte und erst von Lk eingetragen wurde. Lk hat den Hinweis auf die Berührung in *Ev (den auch Mk 3,10 übernommen hat) im Sinn von *8,46 gedeutet, wo ein entsprechender Zusammenhang von Berührung und Ausströmen der Kraft Jesu vorlag. Zusammen mit der abschließenden Heilungsnotiz 6,19c hat Lk mit diesen Ergänzungen eine etwas ungeschickte Doppelung zu *6,18 geschaffen - ein weiterer Hinweis für eine redaktionelle Ergänzung von 6,19bc. Dass Tertullian diesen Halbvers nicht in *Ev gelesen hatte, lässt sich auch von seinem Referat her plausiblisieren: Denn er hatte ein starkes inhaltliches Interesse an der Vorstellung der von Jesus ausgehenden Kraft, derer die Menschen durch Berührung teilhaftig wurden. 9 Ein Hinweis wäre schon an dieser Stelle zu erwarten, sofern Tertullian eine entsprechende Bemerkung in *6,19 gefunden hätte. Aber dies war wohl nicht der Fall. 4. Die Überlegungen zum Wachstum der Ortsliste in *6,17 und zum Ende von *6,19 haben bereits Fragen der Überlieferungsgeschichte dieser Perikope berührt. Die synoptischen Parallelen zu *6,17-19 und der vorangehenden Perikope *6,12- 16 werfen eine Fülle von komplexen Problemen auf, die erkennen lassen, dass hier eine Lösung im Modell auch der erweiterten Zwei-Quellentheorie wenig plausibel ist. Nur das Wichtigste sei hier genannt: 1. Der Bericht von der Einsetzung der Apostel *6,12-16 hat eine enge Entsprechung in Mt 10,1- 4 || Mk 3,13b-19 (s. oben). 2. Die Bemerkung über den Zustrom der Menge aus verschiedenen, teilweise weit entfernten Gegenden in *6,17-19 hat dagegen Parallelen in Mt 4,24f || Mk 3,7-13a. ______________________________ läßt, folgt nicht, daß 19b gefehlt habe.« R OTH 292 stimmt diesem Urteil zu, aber auch er nimmt *6,19b nicht in seine Rekonstruktion auf. 7 T SUTSUI 82 folgt Harnacks Entscheidung, gibt aber immerhin als Begründung an, dass *Ev den »inhaltlich nahestehenden Satz 8,46 in seinem Text« beibehalten habe. Dieses Argument ist natürlich nur insofern überzeugend, als Textdifferenzen zwischen *Ev und Lk auf inhaltlich motivierte Streichungen Marcions zurückgeführt werden müssen. 8 Mt 4,24c: καὶ ἐθεράπευσεν αὐτούς; Mk 3,10a: πολλοὺς γὰρ ἐθεράπευσεν; *6,18b: οἱ ἐνοχλούμενοι ἀπὸ πνευμάτων ἀκαθάρτων ἐθεραπεύοντο. 9 Wie seine Behandlung von *8,43-46 zeigt (s. dort), sieht er darin unter anderem einen Beleg für die Körperlichkeit der Existenz Jesu, die er als antidoketisches Argument gegen Marcion ins Feld führt: Nec illud omittam, quod dum tangitur vestimentum eius, utique corpori non phantasmati inditum, c o r p u s q u o q u e d e m o n s t r a b a t u r ; non quasi iam de hoc retractemus, sed quia ad praesentem conspirat quaestionem (Tert. 4,20,13; s. auch den weiteren Kontext). <?page no="108"?> 620 Anhang I 6,17-19 3. Im Unterschied zu der (auch für *Ev gut bezeugten) Abfolge von *6,12-16 (Auswahl der Apostel) und *6,17-19 (Andrang der Menge) bietet Mk 3,7-12.13-19 die umgekehrte Abfolge (erst der Bericht vom Andrang der Menge, dann die Auswahl der Zwölf). 4. Gleichzeitig besteht eine deutliche kompositionelle Nähe zwischen Mt und Lk: Mt hat die Bergpredigt (Mt 5-7) - ganz analog zur lk »Feldrede« (6,20-49) - in unmittelbarem Anschluss an den auch in Mk 3,7f berichteten Zustrom der Menge aus vielen unterschiedlichen Gegenden (Mt 4,25 || Lk 6,17). 5. Mt und Lk berichten summarisch von Heilungen, wobei Lk 6,18f nur eine sehr punktuelle Überschneidung mit Mk 3,10f aufweist (»berühren« - »unreine Geister«). 6. Dagegen berührt sich die Formulierung des Zustroms der Menge Mt 4,24bc (τοὺς κακῶς ἔχοντας; ποικίλαις νόσοις; δαιμονιζομένους; καὶ ἐθεράπευσεν αὐτούς) eng mit dem Bericht über die Heilungen am Abend in Kapharnaum Mk 1,34 (in veränderter Reihenfolge: κακῶς ἔχοντας; ποικίλαις νόσοις; δαιμόνια [πολλὰ ἐξέβαλεν]; καὶ ἐθεράπευσεν πολλούς). Das ist wichtig, weil in Lk 4,41 - dem lk Seitenstück zu Mk 1,34 - die Notiz von der Unterwerfung der Geister aus Mk 3,11f untergebracht ist, aber in der Parallele zu Mk 3,11 im Kontext von Lk 6,19 fehlt. Mt 12,16 bietet diese Bemerkung dagegen - verkürzt und mit anderer Adressierung - in direktem Anschluss an die Sabbatkonflikte (Mt 12,1-14). 7. Allerdings zeigt Mt mit der Abfolge der Sabbatkonflikte und dem Bericht vom Andrang der Menge (12,1-14.15) wiederum eine Nähe zu der lk Akoluthie (6,1-11.17-19). Jeder Versuch, diesen Befund im methodischen Rahmen der Zwei-Quellentheorie allein zu deuten, ist zum Scheitern verurteilt. 10 Selbst die hilfsweise (wenn auch methodisch reichlich problematische) Annahme eines »Mk-Q Overlaps« ist wegen der großen Disparität der jeweils miteinander zusammenhängenden Kontexte nicht in der Lage, den komplexen Befund hinreichend zu erklären. 11 So bleibt an dieser Stelle für die Zwei-Quellentheorie einschließlich ihrer diversen Hilfsannahmen eine offene Frage. 5. Allerdings stellt sich die Überlieferungsgeschichte unter der Annahme der *Ev-Priorität ganz anders dar. a. Denn in diesem Fall geht die unterschiedliche Abfolge von *6,12-16.17-19 in Mk 3,13-19.7-12 auf die mk Redaktion zurück, die hier zu Beginn des großen Abschnitts 3,7-8,21(26) eigene - aber sehr deutliche und leicht nachvollziehbare - kompositionelle Schwerpunkte gesetzt hat. 12 Außerdem hat Mk das für ihn in gleicher Weise wichtige Element der Unterwerfung der unreinen Geister mit dem ______________________________ 10 Ich verweise nur auf Wolters zutreffendes Urteil: »All dies deutet darauf hin, dass die Überlieferungsverhältnisse an dieser Stelle viel zu komplex sind, um sie durch die Annahme einer gemeinsamen mt/ lk Abhängigkeit vom uns vorliegenden MkEv (oder auch von einem DtrMk) erklären zu können« (W OLTER , Lk 241). 11 So W OLTER , ebd.: »Die Annahme, dass hier eine weitere Überlieferung im Hintergrund steht, ist mehr als nur möglich, und das wäre dann wohl Q.« Aber auch ein Q-Text »Q 6,17-19« neben Mk 3,7-10 könnte die Dubletten (Mt 4,24f; 12,15f; Lk 4,41, 6,19; Mk 1,34; 3,10f) nicht erklären. 12 Vgl. etwa M. K LINGHARDT , Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002), 183-202. <?page no="109"?> 6,17-19 Rekonstruktion 621 Schweigegebot (Mk 3,11f) an die Mitteilung über die Menge, die Jesu Nähe suchte (3,7f.10), angefügt. Dieses Element stammte ursprünglich aus *4,41 (s. dort) und ist von Mk auch in dem entsprechenden Zusammenhang (Mk 1,34) übernommen worden. Mk hat 3,11f demnach als »Dublette« zu Mk 1,34 geschaffen und durch diese Wiederholung seinen Gestaltungswillen deutlich akzentuiert. b. Wie für Mk ist auch für Mt die Zerlegung der Einheit *6,12-19 verständlich; er hatte dafür andere, aber ebenso nachvollziehbare kompositionelle Gründe: Mt hat die Auswahl der Zwölf (Mt 10,1-4) in den Kontext der Aussendungskomposition gestellt, die durch Mt 9,37f (Mangel an Arbeitern in der Ernte) veranlasst ist: Vor der ersten großen Belehrung durch Jesus, die das Jüngersein und seine Funktion in der Welt generell thematisiert, 13 hätte die Auswahl und Aussendung der zwölf Apostel nur gestört. Als Folge dieser Umstellung hat *6,12 kein Gegenstück in Mt. Aber möglicherweise hat die Erwähnung des Berges doch Spuren hinterlassen und die Lokalisierung der folgenden Belehrung »auf dem Berg« (Mt 5,1) anstelle »auf der Ebene« (*6,17) angeregt. Zugleich zeigt Mt noch deutliche Spuren der Akoluthie von *Ev, wenn er unmittelbar vor dem Beginn der längeren Belehrung durch Jesus (Bergpredigt bzw. Feldrede) den starken Andrang der Menge mitteilt (4,24f || *6,17). Er hat dabei auch die Mitteilung über die Heilungen (4,24c: καὶ ἐθεράπευσεν αὐτούς || *6,18: ἐθεραπεύοντο) vor der Ortsliste (4,25 || *6,17) übernommen und als Motivation für das Zusammenströmen der dann (ab 5,3) belehrten Menge aus den verschiedenen Landesteilen verstanden. c. Lk dagegen folgt der Akoluthie von *Ev: Er nimmt keine Umstellungen vor, sondern ergänzt nur einzelne Formulierungen, also etwa die genannten Ergänzungen zu der Ortsliste (Lk 6,17). Zu diesen Ergänzungen gehört auch die Mitteilung über die von Jesus ausgehende Kraft (6,19b), die er so schon in *Ev fand (s. *8,43-46) und an den (ebenfalls schon für *Ev bezeugten) Hinweis anfügte, dass die Menge Jesus berühren wollte, sowie den abschließenden Vermerk über die tatsächlich erfolgten Heilungen (6,19c). Diese Zusätze in 6,19bc stören den ursprünglich engen Zusammenhang zwischen dem Andrang der Menge und der folgenden Belehrung (*6,19a.20a). Auf diese Weise finden die ansonsten im Rahmen der Zwei-Quellentheorie unlösbaren Fragen ebenso einfache wie befriedigende Antworten. Zumindest an dieser Stelle ist die Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte ein nicht zu unterschätzendes Argument für die *Ev-Priorität. ______________________________ 13 Immer noch am präzisesten: C HR . B URCHARD , Versuch, das Thema der Bergpredigt zu finden, in: ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, Tübingen 1998, 27-50. <?page no="110"?> 622 Anhang I 6,20-26 *6,20-26: Feldrede I: Makarismen und Weherufe Für *Ev gut bezeugt und sicher vorhanden; nur geringfügige Bearbeitungsspuren durch die lk Redaktion. 6,20 Καὶ αὐτὸς ἐπάρας τοὺς ὀϕθαλμοὺς αὐτοῦ εἰς τοὺς μαθητὰς αὐτοῦ ἔλεγεν, Μακάριοι οἱ πτωχοί, ὅτι a αὐτῶν ἐστὶν ἡ βασιλεία b τῶν οὐρανῶν b . 21 μακάριοι οἱ πεινῶντες c νῦν , ὅτι d χορτασθήσονται. μακάριοι οἱ κλαίοντες e νῦν , ὅτι f γελάσουσιν. 22 μακάριοί g ἔσεστε ὅταν h ὑμᾶς i μισήσουσιν h οἱ ἄνθρωποι, k καὶ ὅταν ἀϕορίσωσιν ὑμᾶς k καὶ l ὀνειδίσουσιν καὶ m ἐκβάλουσι τὸ ὄνομα ὑμῶν ὡς πονηρὸν ἕνεκα τοῦ υἱοῦ τοῦ ἀνθρώπου· 23 n χάρητε ἐν ἐκείνῃ τῇ ἡμέρᾳ καὶ σκιρτήσατε, ἰδοὺ γὰρ ὁ μισθὸς ὑμῶν πολὺς ἐν τῷ οὐρανῷ· n κατὰ τὰ αὐτὰ o γὰρ ἐποίουν τοῖς προϕήταις οἱ πατέρες p †ὑμῶν†. 24 Πλὴν οὐαὶ q ὑμῖν τοῖς πλουσίοις, ὅτι ἀπέχετε τὴν παράκλησιν ὑμῶν. 25 οὐαὶ r ὑμῖν s τοῖς ἐμπεπλησμένοις s t νῦν , ὅτι u πεινάσουσιν. οὐαί v ὑμῖν w τοῖς γελοῦσιν w x νῦν , ὅτι y πενθήσουσιν z καὶ κλαύσετε z . 26 οὐαὶ ὅταν ὑμᾶς καλῶς εἴπωσιν aa πάντες οἱ ἄνθρωποι, κατὰ τὰ αὐτὰ bb γὰρ ἐποίουν cc καὶ τοῖς ψευδοπροϕήταις οἱ πατέρες dd ὑμῶν. A. *6,20: Epiph., Schol. 5: … καὶ αὐτὸς ἐπάρας τοὺς ὀϕθαλμοὺς αὐτοῦ καὶ τὰ ἑξῆς. ¦ Tert. 4,14,1: Venio nunc ad ordinarias sententias eius, per quas proprietatem doctrinae suae inducit, ad edictum, ut ita dixerim, Christi: Beati mendici (sic enim exigit interpretatio vocabuli quod in Graeco est), quoniam illorum est regnum dei. Iam hoc ipsum, quod a benedictionibus coepit, creatoris est, qui universa, prout edidit, nulla alia voce quam benedictionis dedicavit. ¦ Tert. 4,14,13: Beati mendici, quoniam illorum est regnum caelorum. ♦ *6,21-23: Tert. 4,14,13: Igitur qui a consolatione pauperum et humilium et esurientium et flentium exorsus est, statim se illum repraesentare gestivit quem demonstraverat per Esaiam: Spiritus domini super me, propter quod unxit me ad evangelizandum pauperibus. Beati mendici, quoniam illorum est regnum caelorum; misit me curare obtritos corde: Beati qui esuriunt, quoniam saturabuntur; advocare languentes: Beati qui plorant, quoniam ridebunt; dare lugentibus Sionis gloriam, et pro cinere unguenti iocunditatem et gloriae habitum pro spiritu taedii. ♦ *6,21: Tert. 4,14,9f: Beati esurientes, quoniam ipsi saturabuntur. Possem hunc titulum in superiorem transmisisse, quod non alii sunt esurientes quam pauperes et mendici, si non et hanc promissionem creator specialiter in evangelii scilicet sui praestructionem destinasset; siquidem per Esaiam de eis quos vocaturus esset a summo terrae, utique nationes, Ecce, inquit, velociter, leviter advenient; velociter qua properantes sub finibus temporum, leviter qua sine oneribus pristinae legis. Non esurient neque sitient. (10) Ergo saturabuntur, quod utique nisi esurientibus et sitientibus non promittitur. Et rursus, Ecce, inquit, qui serviunt mihi saturabuntur, vos autem esurietis: ecce qui serviunt mihi bibent, vos autem sitietis. Videbimus et contraria ista, an Christo praeministrentur. Interim quod esurientibus saturitatem repromittit, dei creatoris est. Beati plorantes, quia ridebunt. ¦ Tert. 4,14,13 (s. o.). ♦ *6,22: Tert. 4,14,14f: Beati eritis cum vos odio habebunt homines et exprobrabunt et eicient nomen vestrum velut nequam propter filium hominis. (15) Hac pronuntiatione sine dubio ad <?page no="111"?> 6,20-26 Rekonstruktion 623 tolerantiam exhortatur. Quid minus creator per Esaiam? Ne metueritis ignominiam ab hominibus, et nullificatione eorum ne minuamini … ♦ *6,23b: Tert. 4,15,1: Secundum haec, inquit, faciebant prophetis patres eorum. O Christum versipellem, nunc destructorem, nunc assertorem prophetarum … ¦ Epiph., Schol. 6: κατὰ τὰ αὐτὰ ἐποίουν τοῖς προϕήταις οἱ πατέρες ὑμῶν. ♦ *6,24: Tert. 4,15,9: Sed accidentia vitia divitiis illa in evangelio quoque Vae divitibus adscribunt, Quoniam, inquit, recepistis advocationem vestram, utique ex divitiis, de gloria earum et saecularibus fructibus. ♦ *6,25: Tert. 4,15,13: Igitur et si tantummodo dehortantem a divitiis ostenderem creatorem, non etiam praedamnantem divites etiam verbo ipso quo et Christus, nemo dubitaret ab eodem adiectam in divites comminationem per Vae Christi a quo ipsarum materiarum, id est divitiarum, dehortatio praecucurrisset. Comminatio enim dehortationis accessio est. Ingerit Vae etiam saturatis, quia esurient, etiam ridentibus nunc, quia lugebunt. His respondebunt illa quae supra benedictionibus opposita sunt apud creatorem: Ecce, qui mihi serviunt saturabuntur, vos autem esurietis, utique quia saturati estis: et ecce, qui mihi serviunt oblectabuntur, vos autem confundemini, utique ploraturi, qui nunc ridetis. Sicut enim in psalmo: Qui seminant in lacrimis in laetitia metent; ita in evangelio, qui in risu seminant, scilicet ex laetitia, in lacrimis metent. Haec olim creator simul posuit, Christus solummodo distinguendo, non mutando, renovavit. ♦ *6,26: Tert. 4,15,14: Vae, cum vobis benedixerint homines. Secundum haec faciebant et pseudoprophetis patres illorum. Aeque creator benedictionis et laudis humanae sectatores incusat per Esaiam: Populus meus, qui vos beatos dicunt, seducunt vos et vias pedum vestrorum disturbant. B. a (6,20) αυτων/ ipsorum: Tert W 903 2487 ſſ 2 sy s.j(1 ms) sa bo ms aeth Aphr (Dem. 20,17; PS 1, 921; FC 5/ 2, 472) ¦ υμετερα/ vestrum: a aur b c d e f l q r 1 M ● b (6,20) (βασιλεια) των ουρανων/ (regnum) caelorum: Tert (4,14,13) X* 69 118 157 179 205 109 265 489 517 544 903 954 1200 1219 1241 1342 1424 1654 1675 2487 2757 lectt c f sy s.j(1 ms) georg II got slav Basil (Moral. 48,3; PG 31, 769) Aphr; (βασιλεια) του ουρανου: sa bo mss aeth ¦ (βασιλεια) του θεου/ (regnum) Dei: Tert [4,14,1] a aur b d e ſſ 2 l q r 1 M ● c (6,21) νυν/ nunc: om Tert c l ¦ add [a] ( esuritis nunc: a f) aur b d e ſſ 2 q r 1 M ● d (6,21) χορτασθηςονται/ saturabuntur: Tert א * .2 X 69 213 2643 ℓ950 ℓ1074 aur b (e: satiabuntur) ſſ 2 g 1 l q r 1 sy s sa ms ¦ χορτασθησεσθε/ saturabimini: c f vg; d (saturamini) a (saturi eritis) M ● e (6,21) νυν/ nunc: om Tert e l Euseb (Dem. 1,6,15; GCS 23, 25; In Ps 29; PG 23, 264 usw.) Orig (Lam. fr. 6.10; GCS 6, 237.239) ¦ add [a] aur b c d f ſſ 2 l q r 1 M ● f (6,21) γελασουσιν/ ridebunt: Tert W e sy s sa ms armen aeth ¦ γελασετε/ ridebitis [gaudebitis]: a aur b c f ſſ 2 l r 1 q M ● g (6,22) εσεσθε/ eritis: Tert Θ aur b c e f ſſ 2 gat l q r 1 vg Ambr (Lc. 5,49.67; CCL 14, 152.157) Cypr (Ep. 58,2; CSEL 3/ 2, 658; Laps. 12; CCL 3, 227 usw.) ¦ εστε/ estis: a d M ● h (6,22) υμας μισησωσιν (Wortstellung): Tert aur b f ſſ 2 g 1 gat l q r 1 ¦ (2 1): a c d e M ● i (6,22) μισησουσιν/ odient: Tert D P X Δ Ξ 047 477 579 1347 c ¦ μισησωσιν/ odierint: a aur b d (! ) e f (vos odio habuerint) ſſ 2 l q r 1 M ● k (6,22) και αϕορισωσιν υμας/ et separaverint (segregaverint, separabant) vos: om Tert 2* 7* 265* 2542 2757 ℓ950 ℓ1016 ¦ add D a aur b c d e f ſſ 2 l q r 1 M ● l (6,22) ονειδισουσιν/ reprobent: Tert K X Δ 265 489 1219 1313 b d ſſ 2 l g r 1 ¦ ονειδισωσιν/ exprobaverint: a aur c f M ● m (6,22) εκβαλουσι/ eicient: Tert 2766 ℓ1074 aur b d l q r 1 ¦ εκβαλωσιν/ eicerint: [a] c f vg M ● n (6,23) χαρητε εν εκεινη τη ημερα και σκιρτησατε, ιδου γαρ ο μισθος υμων πολυς εν τω ουρανω: om Tert ¦ add it M (vgl. Mt 5,12) ● o (6,23) γαρ/ enim: om Tert Epiph D 0211 517 954 1319 1424 1675 a ſſ 2 gat l ¦ add aur b c d (! ) e f q r 1 M ● p (6,23) Widersprüchliche Bezeugung: (1) υμων: Epiph 713 1424 2643 aeth ¦ (2) αυτων/ illorum (eorum): Tert it M ● q (6,24) υμιν: om Tert ¦ it M ● r (6,25) υμιν: om Tert L Θ Ξ 0147 mult Basil (Moral. 69,1; PG 31, 808) Chrys (Poenit. 1,8; PG 60, 697) ¦ add it M ● s (6,25) τοις εμπεπλησμενοις: Tert (saturatis) a (saturis) 124 174 ¦ οι εμπεπλησμενοι: D it M ● t (6,25) νυν/ nunc: om Tert A D K P Γ Ψ 0135 a aur b c d e ſſ 2 l q r 1 ¦ add <?page no="112"?> 624 Anhang I 6,20-26 f M ● u (6,25) πεινασουσιν: Tert ¦ πεινασετε: it M ● v (6,25) υμιν: om Tert א B K L T W Θ Ξ 0147 f 1.13 579 700 892 1241 2542 al sy s ¦ add P 75 A D Q Ψ 33 lat sy p.h co M ● w (6,25) τοις γελουσιν: Tert ¦ οι γελωντες: D it M ● x (6,25) νυν/ nunc: om Tert 2487 b Tat pers Chrys (Exp. in Ps 140; PG 55, 434; Ecl. 43; PG 63, 878 usw.) ¦ add a aur c d e f ſſ 2 l q M ● y (6,25) πενθησουσιν: Tert ¦ πενθησετε: it M ● z (6,25) και κλαυσετε: om Tert X 158 179 213 ℓ299 ¦ add D it M ● aa (6,26a) παντες/ omnes: om Tert D L V Y Γ Δ Λ Ω 028 047 mult d sy s.p Tat arab.pers aeth ¦ add a aur b d f ſſ 2 l q r 1 M ● bb (6,26b) γαρ/ enim: om D 1319 a aur b c d e f ſſ 2 g 1 gat l q ¦ add r 1 M ● cc (6,26b) (εποιουν) και/ et: Tert b f q (r 1 ? ) Iren (Haer. 3,14,3; FC 8/ 3, 174) ¦ om a aur c d e ſſ 2 l M ● dd (6,26b) υμων: 69 472 1009 1195 Tat pers aeth Iren (a. a. O.) ¦ εκεινων/ illorum: Tert ¦ αυτων/ eorum: it M . C. Die Bezeugung des Anfangs der Feldrede ist über jeden Zweifel erhaben, er war mit Sicherheit in *Ev enthalten, auch wenn die Formulierungen im Einzelnen vom kanonischen Text abweichen. Die Tatsache, dass Tertullian *6,20-26 sehr dicht referiert und dabei etliche Zitate auch wiederholt (wenn auch nicht widerspruchsfrei; s. zu *6,20b), erlaubt auch weitergehende Schlüsse für die Überlieferungsgeschichte. Gerade bezüglich der einleitenden Makarismen haben die Differenzen zwischen der mt Bergpredigt und der lk Feldrede Anlass zu umfangreichen Debatten über den »ursprünglichen« Wortlaut in Q gegeben. 1 Der hier rekonstruierte Wortlaut ist folgendermaßen zu begründen. 1. In *6,20f bezeugt Tertullian für die Apodosis der ersten drei Makrismen die 3. Pers. Pl., während der längere vierte Makarismus bereits in der Protasis die 2. Pers. Pl. bietet. Die handschriftlichen Varianten (it sy usw.) bestätigen dieses Zeugnis. Die Form der ersten drei Makarismen in der 3. Pers. Pl. unterscheidet sich vom kanonischen Text, entspricht jedoch den ersten acht mt Makarismen (Mt 5,3-10). Harnack vermutete hier dementsprechend einen mt Einfluss auf *Ev. 2 Der Einfluss wird allerdings genau umgekehrt verlaufen sein: Mt zeigt hier den Einfluss von *Ev. In jedem Fall gilt aber, dass die Formulierungen in der 3. Pers. Pl. in *6,21 in Spannung zu der 2. Pers. Pl. in *6,22 stehen, die ja ebenfalls bei Tertullian genau bezeugt ist (beati eritis cum vos odio habebunt). Es ist daher am wahrscheinlichsten, dass Tertullian korrekt zitiert und die Formulierung der vier Makarismen in *Ev uneinheitlich war. Diese Überlegung wird gestützt durch die entsprechende Uneinheitlichkeit der mt Makarismen, der ja ebenfalls den letzten, konditional formulierten Makarismus gegen die ersten acht in der 2. Pers. Pl. hat (Mt 5,11). Auf diese Weise ergibt sich schon hier der erste Hinweis auf die Überlieferungsgeschichte: Mt ist von *Ev abhängig. Er hat die Makarismenliste aus *Ev im ersten (nominal formulierten) Teil *6,20f so bearbeitet, dass er ein Glied (*6,21b: Weinende) ______________________________ 1 Die Forschungsgeschichte ist gut dokumentiert in T H . H IEKE , Q 6: 20-21: The Beatitudes for the Poor, Hungry, and Mourning, Leuven 2001. 2 H ARNACK 191*. <?page no="113"?> 6,20-26 Rekonstruktion 625 gestrichen, sechs weitere ergänzt (Mt 5,4f.7-10) und die restlichen beiden »spiritualisierend« bearbeitet hat (*6,20b.21b). Insgesamt jedoch hat er bei den nominal formulierten Makarismen die 3. Pers. Pl. beibehalten. Die lk Formulierung der drei ersten Makarismen (Lk 6,20b.21) in der 2. Pers. Pl. ist daher eine redaktionelle Angleichung an den folgenden, konditional formulierten Makarismus, der in allen Zeugen in der 2. Pers. formuliert ist. 3 Das ganz entsprechende Phänomen zeigt sich dann auch an den (in Mt fehlenden) Weherufen, in denen die lk Redaktion gegenüber dem für *Ev bezeugten Text an drei Stellen (6,24a.25a.b) in der Protasis ein (οὐαὶ) ὑ μ ῖ ν hinzugefügt und auf diese Weise deutlich gemacht hat, dass der Weheruf über die Anwesenden ergeht. Diese Einfügung hatte syntaktische Änderungen zur Folge: In *6,25 wurden die Dativ-Partizipien der Protasis in den Nominativ geändert; in einem Fall hat sich diese Änderung auch in den Handschriften niedergeschlagen. Bei den drei ersten, nominal formulierten Weherufen bezeugt Tertullian für die Apodosis die 3. Pers. Plural: Zwar zitiert (inquit! ) er in 4,15,9 die Apodosis *6,24b in der 2. Pers.; aber in 4,15,13 referiert er *6,25a.b jeweils in der 3. Pers. Die Einleitung dieser Wiedergabe mit ingerit gibt nicht zu erkennen, dass Tertullian hier frei referiert: Sofern seine Angaben genau sind, geht die Diskrepanz zwischen dem ersten Weheruf einerseits und dem zweiten und dritten andererseits auf *Ev zurück. Da aber bei den Makarismen auf jeden Fall eine entsprechende Uneinheitlichkeit für *Ev bezeugt ist (nämlich zwischen *6,20b.21 und *6,22 bzw. zwischen *6,24a und *6,26), ist das gleiche auch für die Weherufe anzunehmen: Die Apodoseis *6,25a.b waren in der 3. Person formuliert. 2. In *6,20b bezeugt Tertullian (4,14,13) für *Ev (βασιλεία) τῶν οὐρανῶν anstelle von (βασιλεία) τοῦ θεοῦ des kanonischen Textes. Da er aber in der Einleitung seiner Behandlung der Feldrede die Apodosis des ersten Makarismus mit quoniam illorum est regnum d e i wiedergibt (4,14,1), ist die Rekonstruktion nicht ganz eindeutig. 4 An dieser Stelle ist die Einsicht, dass der vorkanonische *Ev-Text sich ______________________________ 3 Damit erübrigt sich die Frage, wie der »ursprüngliche« Wortlaut der ersten Makarismen in ›Q‹ gelautet haben mag. Die Dokumentation der Forschungsgeschichte der letzten knapp 150 Jahre nur zu dem Problem, ob im ersten Makarismus ὑμετέρα oder αὐτῶν stand, umfasst knapp 60 Seiten (H IEKE , a. a. O. 141-199)! Selbst wenn sich dabei manches wiederholt, bleibt erstaunlich, mit wie viel Aufwand, Fleiß und Findigkeit eine Frage diskutiert wurde, die sich im Rahmen der *Ev-Priorität gar nicht stellt. 4 H ARNACK 191* rekonstruiert βασιλεία τοῦ θεοῦ und verweist in der Anmerkung lediglich darauf, dass Tertullian bei der »zweiten, sonst identischen Zitierung des Spruchs … nicht ›dei‹ sondern ›caelorum‹« sage. T SUTSUI 82 geht auf dieses Problem nicht ein und rekonstruiert »regnum dei«, obwohl er zu Recht feststellt, dass der ganzen Abschnitt (*6,20-36) besonders zahlreiche Lesarten enthält, die sich »weder durch Hinweise auf die Gedankentendenz Marcions noch durch Vermutungen der Einflüsse vom kanonischen Mt-Text erläutern lassen« (a. a. O. 84). <?page no="114"?> 626 Anhang I 6,20-26 noch an einigen Stellen in der katholischen Handschriftenüberlieferung erhalten hat, wichtig. Denn die Lesart βασιλεία τῶν οὐρανῶν (bzw. τοῦ οὐρανοῦ) findet sich noch in etlichen Zeugen, darunter sowohl Altlateiner als auch Altsyrer. 5 Gerade der Umstand, dass die altlateinische Bezeugung hier in sich gespalten ist (c f auf der einen Seite, a aur b d e ſſ 2 l q r 1 auf der anderen), macht deutlich, dass hier nicht einfach ein sekundärer Einfluss auf der Ebene der Handschriftenüberlieferung vorliegt, sondern dass Tertullian in 4,14,13 tatsächlich exakt zitiert: In *Ev stand das ansonsten aus Mt bekannte Syntagma βασιλεία τ ῶ ν ο ὐ ρ α ν ῶ ν . 6 Damit ist nicht nur eine weitere Streitfrage aus der Debatte um den ursprünglichen Q-Wortlaut geklärt. 7 Vielmehr macht dieser Beleg darüber hinaus auch deutlich, dass *Ev auch typisch »matthäische« Formulierungen enthielt, die als sicheres Kennzeichen der mt Redaktion gelten 8 - dieses Phänomen ist ja auch an anderen Stellen noch für den Lk-Text zu beobachten. Anstatt diese typisch mt Formulierungen auf methodisch problematische, sekundäre Konformierungen auf der Ebene der Handschriftenüberlieferung zurückzuführen, zeigt der Wortlaut von *Ev, dass diese »Konformierungen« ursprünglich sind und aus der gemeinsamen Quelle des vorkanonischen Evangeliums stammen. Dies bedeutet jedoch auch, dass Mt die von ihm häufig (wenn auch nicht durchgängig! ) genutzte Formulierung βασιλεία τῶν οὐρανῶν nicht erfunden, sondern sie (wenigstens an dieser Stelle) bereits in seiner Vorlage gefunden hat. 3. Daneben fallen drei weitere Unterschiede zwischen dem von Tertullian für *Ev bezeugten und dem kanonischen Text auf, für die eine entsprechende Bezeugung in Teilen der handschriftlichen Überlieferung vorliegt: a. *6,21a.b; *6,25a.b: So uneinheitlich, wie die Makarismen und Weherufe mit dem Wechsel zwischen der 2. und 3. Person formuliert sind, erscheint auch das Zeitschema zwischen Protasis und Apodosis in den nominal formulierten Makarismen bzw. Weherufen: Während die nominale Protasis die Zeit grammatisch nicht zu erkennen gibt, sind die Verben der Apodosis regelmäßig im Futur gehalten. In vier Fällen - nämlich in den jeweils zweiten und dritten Makarismen (*6,21a.b) und ______________________________ 5 βασιλεια των ουρανων: X* mult lectt c f sy s.j(1 ms) georg II got slav Bas Aphr; βασιλεια του ουρανου: sa bo mss aeth. 6 Vgl. weiter zu den »Matthäismen« in *Ev: *13,18f; *18,16f; *19,27. 7 Vgl. H IEKE , a. a. O. 200-214. Wie kaum anders zu erwarten, votieren die meisten für βασιλεία τοῦ θεοῦ als ursprünglichen Q-Wortlaut. Zu den wenigen »Abweichlern« gehören F ITZMYER , Lk I 632, und H. J. V OGELS , der argumentierte, dass der Wechsel des allgemeineren τοῦ θεοῦ in das semitische τῶν οὐρανῶν wenig wahrscheinlich sei (Synoptische Studien zur Bergpredigt, Bonner Zeitschrift für Theologie und Seelsorge 1 [1924], 123-136: 132f). 8 Vgl. dazu zuletzt: R. F OSTER , Why on Earth Use ›Kingdom of Heaven‹? Matthew’s Terminology Revisited, NTS 48 (2002), 487-499; J. T. P ENNINGTON , The Kingdom of Heaven in the Gospel of Matthew, Southern Baptist Journal of Theology 12 (2008), 44-51. <?page no="115"?> 6,20-26 Rekonstruktion 627 Weherufen (*6,25a.b) - hat die lk Redaktion die Zeitfolge durch die Einfügung eines νῦν vereindeutigt: Die Makarismen bzw. Weherufe stellen eine zukünftige Umkehrung des jetzigen Zustands in Aussicht. Der Befund ist allerdings nicht ganz eindeutig. Tertullian bezeugt in drei der vier Fälle (*6,21a.b; *6,25a), dass die aus dem kanonischen Text bekannte Betonung der Zeitfolge (νῦν/ nunc) in *Ev gefehlt hat; aber für den dritten Weheruf hat er diese Formulierung (*6,25b: ridentibus n u n c , quia lugebant). Es ist denkbar, dass diese Formulierung die entsprechenden Änderungen in den anderen drei Fällen veranlasst hat. Aber die Entsprechungen der handschriftlichen Überlieferung sprechen gegen diese Annahme: Für alle vier Stellen gibt es Zeugen, in denen das νῦν/ nunc fehlt. 9 Ich gehe deswegen davon aus, dass Tertullians Formulierung des dritten Weherufs (ridentibus nunc, quia lugebant) entweder irrtümlich den kanonischen Text einträgt oder aber Teil seiner eigenen Formulierung ist. Auf jeden Fall belegen die Entsprechungen der anderen drei Beispiele den Einfluss des vorkanonischen Textes auf die handschriftliche Überlieferung des kanonischen Lk. b. Ganz ähnlich ist auch das Fehlen von *6,22 καὶ ὅταν ἀϕορίσωσιν ὑμᾶς in Tertullians Referat zu beurteilen. Die Wendung fehlt auch in einigen wenigen Handschriften. Dies legt nahe, dass diese Abweichung (zu der dann noch die sehr uneinheitliche Textüberlieferung in den Altlateinern tritt) ein Zeichen der Interferenz zwischen den beiden Handschfriftenüberlieferungen ist und auf das Konto einer nicht konsequent durchgeführten Korrektur des vorkanonischen nach dem kanonischen Text verbucht werden muss. c. Das gleiche Phänomen wird schließlich in *6,23b vorliegen: Hier fehlt der kausale Anschluss (γάρ) des kanonischen Textes nicht nur in Tertullians Referat, sondern auch in einer langen Reihe von Handschriften. Auch hier ist die redaktionelle Eintragung als Präzisierung zu verstehen, die Protasis und Apodosis enger aufeinander bezieht. d. Während Tertullian mit der Mehrheit der Handschriften am Ende von *6,23 das Personalpronomen in der 3. Pers. Sing. bezeugt (οἱ πατέρες α ὐ τ ῶ ν ), bietet Epiphanius mit drei Minuskeln und aeth die 2. Pers. Pl. (ὑμῶν). Für *6,26b ergibt sich ein ähnliches Bild: Tertullian las hier ebenfalls die 3. Pers. Pl. (illorum/ ἐκείνων), was der Mehrheit der Handschriftenüberlieferung (eorum/ αὐτῶν) entspricht; für *6,26 fehlt eine Bezeugung durch Epiphanius, allerdings ist auch hier wieder das Pronomen in der 2. Pers. Pl. (ὑμῶν) durch einige wenige Zeugen belegt. 10 Die uneinheitliche Bezeugung für *6,23b deutet darauf hin, dass hier das bekannte Phänomen der uneinheitlichen Korrektur des vorkanonischen Textes nach dem kanonischen Wortlaut im Hintergrund steht. Gemäß der Faustregel zur ______________________________ 9 om νῦν/ nunc: *6,21a: c l (Eus). - *21,b: e l (Eus Or). - *6,25a: A D K P Γ Ψ 0135 a aur b c d e ſſ 2 l q r 1 . - *6,25b: 2487 b Tat pers (Chrys). 10 υμων: 69 472 1009 1195 Tat pers aeth Iren. <?page no="116"?> 628 Anhang I 6,20-26 Beurteilung dieser widersprüchlichen Bezeugungen, der zufolge die vom kanonischen Mehrheitstext am stärksten abweichende Lesart den größten Anspruch auf Ursprünglichkeit besitzt, ist ὑμῶν vermutlich ursprünglich. In diesem Fall ist die redaktionelle Änderung in die 3. Pers. Pl. als Glättung des textsemantisch problematischen ὑμῶν ohne weiteres verständlich. Mt 5,12 hat das inhaltliche Problem an dieser Stelle dadurch entschärft, dass er (οὕτως γὰρ ἐδίωξαν τοὺς προϕήτας) τοὺς π ρ ὸ ὑ μ ῶ ν formuliert; das Pronomen ist in der 2. Pers. Pl. erhalten, aber nicht auf »eure Väter«, sondern die Propheten »vor euch« bezogen. Für *6,26 wird dann die gleiche Überlegung in Anschlag zu bringen sein, obwohl hier nur wenige Handschriften gegen Tertullians Zeugnis stehen: In beiden Fällen ist die 2. Pers. Pl. als ursprüngliche Lesart wahrscheinlich. 4. In Tertullians Referat fehlt 6,23a χάρητε ἐν ἐκείνῃ τῇ ἡμέρᾳ καὶ σκιρτήσατε, ἰδοὺ γὰρ ὁ μισθὸς ὑμῶν πολὺς ἐν τῷ οὐρανῷ. Harnack schrieb das Fehlen dieses Satzes »der Tendenz Marcions« zu, ohne allerdings deutlich machen zu können, worin diese bestanden haben könnte. 11 Das hat Tsutsui zu Recht kritisiert, obwohl er das Fehlen von V. 23a für wahrscheinlich hält. Auf der anderen Seite hat er bemerkt, dass die Parallelität zwischen den Vv. 22f und 26 ohne diesen Satz sehr viel deutlicher hervortreten würde. 12 Im Rahmen der von ihm vorausgesetzten Lk- Priorität heißt das, dass *Ev diese Parallelität durch Streichung allererst hergestellt hätte. Mit Blick auf die mt Parallele (Mt 5,12a) legt sich jedoch eine andere überlieferungsgeschichtliche Entwicklung nahe. Denn Mt hat 5,12 als paränetischen Abschluss seiner Komposition von 2 x 4 + 1 Makarismen verstanden, die sicher auf ihn selbst zurückgeht. 13 Er bedurfte der direkten Anrede an die Hörer (χαίρετε καὶ ἀγαλλιᾶσθε), weil er - im Unterschied zu *Ev und Lk - keine Weherufe an die Makarismen anfügt, sondern in 5,13 die Anrede betont weiterführt (ὑμεῖς ἐστε τὸ ἅλας τῆς γῆς …), so dass die neun Makarismen selbst keinen paränetischen Aufforderungscharakter (etwa als »Einlassbedingungen«) tragen, sondern die Angeredeten ihres bereits erreichten Zustands nach der Art von notae ecclesiae versichern (der Ton liegt jeweils nicht auf der Protasis, sondern der Apodosis! ), an die sich dann die ______________________________ 11 H ARNACK 192*: »Da Tert. hier genau dem Text folgt, aber 23a ausläßt, fehlte es (! ), und das folgt auch aus der Tendenz Marcions.« 12 T SUTSUI 82f. 13 Die Gliederung der nominal formulierten Makarismen 5,3-10 in zwei Viererstrophen ergibt sich aus dem Zusatz von δικαιοσύνη in der Protasis des vierten und achten Makarismus sowie aus der Rahmung durch die Rahmung der identisch formulierten Apodosis des ersten und achten Makaraismus (ὅτι αὐτῶν ἐστιν ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν), vgl. L UZ , Mt I 199f. <?page no="117"?> 6,20-26 Rekonstruktion 629 eigentliche Paränese anschließt. 14 Demnach hat Mt diesen paränetischen Abschluss der Makarismen als Ausgleich für die Streichung der bereits für *Ev bezeugten folgenden Weherufe im Rahmen der Komposition der Bergpredigt neu geschaffen. Für diese Annahme spricht - neben dem typisch mt Plural ἐν τοῖς οὐρανοῖς - der höchst unglückliche Anschluss von Mt 5,12b: Als Begründung für die Aufforderung zur Freude ist der Hinweis »οὕτως γὰρ ἐδίωξαν …« wenig geeignet. 15 Lk hat neben *Ev, dem er in der Formulierung der Makarismen ansonsten eng folgt, Mt 5,12a übernommen und auf diese Weise eine ähnliche Unstimmigkeit zwischen 6,23a und b geschaffen wie Mt 5,12a und b. 16 Im Zuge dieser Einfügung hat Lk einzelne Formulierung geringfügig, aber eben doch charakteristisch, verändert; unter anderem 17 ist dabei die Ersetzung des mt ἀγαλλιᾶσθε durch das typisch lk σκιρτήσατε aufschlussreich. 18 Sieht man diese Änderungen zusammen, dann ergibt sich für den ursprünglichen Text *6,22.23b eine gewöhnungsbedürftige Semantik: »Selig werdet ihr sein, wenn die Menschen euch hassen und euch schmähen und euren Namen wegen des Menschensohnes wie etwas Schlechtes verwerfen. So haben eure Väter an den Propheten gehandelt.« Diese Zusammenstellung lässt sich kaum anders verstehen, als dass die Angeredeten selig gepriesen werden, weil sie das Schicksal, das ihre Väter den Propheten zugefügt haben, jetzt selbst erdulden: Auch ohne kausales γάρ besitzt *6,23 begründenden Charakter. Der Grund für die Seligpreisung ist dann entweder in einer Art Wiedergutmachung der Sünden der Väter durch das Leid der Söhne zu sehen oder (wahrscheinlicher) in der Höherschätzung des Unrecht-Leidens als des Unrecht-Tuns. 5. In den Weherufen *6,24-26a wiederholen sich die Phänomene, die bereits für die Makarismen aufgefallen waren. Charakteristisch ist hier die Vereindeutigung in der Protasis der drei nominal formulierten Weherufe als Anrede in der 2. Pers. ______________________________ 14 Vgl. zu diesem Verständnis C HR . B URCHARD , Versuch, das Thema der Bergpredigt zu finden, in: ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, Tübingen 1998, 27-50: 35f. 15 Vgl. z. B. L UZ , Mt I 215: »V 12b ist ein Anhang. Inwiefern die Verfolgung der alttestamentlichen Propheten die Verheißung des himmlischen Lohns begründet, bleibt unklar.« 16 Vgl. nur W OLTER , Lk 251: Es bleibe »unklar, was dieser Satz (sc. V. 23b) begründen soll; die Konjunktion γάρ geht irgendwie ins Leere.« Die Funktionslosigkeit von γάρ ist deswegen aufschlussreich, weil die Konjunktion ausweislich der Bezeugung in *Ev gefehlt hat (außer Tertullian und Epiphanius auch ein Teil der »Westlichen« und weitere Handschriften); sie stammt in Lk 6,23 also aus Mt 5,12b, der offenbar bemerkt hat, dass der Anschluss von 5,13b || *6,23b in der Luft hängt und einer Begründung bedarf. 17 Von Lk stammt die Einfügung von ἰδού in dem für ihn charakteristischen Septuagintastil, ebenso der Singular ἐν τῷ οὐρανῷ anstelle von ἐν τοῖς οὐρανοῖς. 18 σκιρτάω ist lk hapax legomenon und kommt im NT nur Lk 1,41.44; 6,23 vor - alle Belege sind redaktionell! <?page no="118"?> 630 Anhang I 6,20-26 durch die Einfügung von ὑμῖν, die eine Angleichung an die Apodosis des ersten Weherufes darstellt. Dass in der Apodosis des zweiten und dritten Weherufes *6,25a.b ursprünglich die 3. Pers. gestanden haben wird, ist oben bereits ausgeführt. Hier ist nur wichtig, dass das Glied καὶ κλαύσετε in 6,25 fin. offensichtlich ebenfalls erst redaktionell ist. Tertullian erwähnt es nicht, und es wird schon in *Ev gefehlt haben. Dass die lk Redaktion sich zu der Ergänzung veranlasst sah, ist leicht nachvollziehbar als Versuch, den Weheruf an den entsprechenden Makarismus anzugleichen: *6,21b nennt den Gegensatz weinen/ lachen, die ursprüngliche Fassung von *6,25b dagegen den Gegensatz lachen/ klagen. Zur Verdeutlichung der genauen Entsprechung zwischen Makarismus und Weheruf hat Lk das καὶ κλαύσετε eingefügt, und zwar natürlich in der 2. Pers., in die er auch πενθήσουσιν in *Ev geändert hatte. In *6,26 fehlt - wie gesagt (s. o.) - eine Entsprechung zu Mt 5,12a || Lk 6,23a, und Lk hat auch keine nachgetragen. Immerhin deutet die Überlieferung (vor allem) der »Westlichen« Handschriften darauf hin, dass Lk ein ursprüngliches καί in Analogie zu 6,23a durch γάρ ersetzt hat. Auch hier ist ist Begründungsfunktion nicht unmittelbar einsichtig, obwohl der Gedanke der eschatologischen Umkehrung des irdischen Schicksals schon für *Ev gut bezeugt ist (s. zu *16,19ff). Zur Rekonstruktion von οἱ πατέρες ὑμῶν *6,26fin vgl. o. die entsprechende Formulierung in *6,23b. 6. Die Bedeutung der Rekonstruktion von *6,20-26 liegt vor allem darin, dass die redaktionellen Eingriffe, die Mt und dann Lk vorgenommen haben, ohne weiteres durchsichtig werden: Auf diese Weise geben die Einsichten zur Diachronie, die zuverlässiger als bisher möglich sind, wichtige Hinweise für die synchrone Deutung. *6,27-31 [ 32f ] 34-38: Feldrede II: {Talio.} Feindesliebe. Zinsverbot. Barmherzigkeit Gut bezeugt und wenigstens teilweise in *Ev vorhanden; sicher durch die lk Redaktion bearbeitet (Kürzung, Änderungen, Einfügungen). {6,27 Ἐν τῷ νόμῳ λέγει Ὀϕθαλμὸν ἀντὶ ὀϕθαλμοῦ καὶ ὀδόντα ἀντὶ ὀδόντος}. Ἀλλὰ ὑμῖν λέγω τοῖς ἀκούουσιν, Ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν a καὶ εὐλογεῖτε τοὺς μισοῦντας ὑμᾶς a 28 b c καὶ εὔχεσθε ὑπὲρ τῶν διωκόντων ὑμᾶς. b 29 d ἐὰν τίς σε ῥαπίσῃ d e εἰς τὴν σιαγόνα f †{δεξίαν}† g παράθες αὐτῷ g καὶ τὴν ἄλλην, καὶ h ἐὰν τίς σου ἂρῃ h τὸ ἱμάτιον καὶ i ἄϕες αὐτῷ καὶ τὸν χιτῶνα. 30 παντὶ αἰτοῦντί σε δίδου, [ καὶ ἀπὸ τοῦ αἴροντος τὰ σὰ μὴ ἀπαίτει. ] 31 καὶ καθὼς ὑμῖν γίνεσθαι θέλετε παρὰ τῶν ἀνθρώπων, k οὕτως l καὶ ὑμεῖς l ποιεῖτε αὐτοῖς m [ ὁμοίως ] . <?page no="119"?> 6,27-38 Rekonstruktion 631 [ 32 καὶ εἰ ἀγαπᾶτε τοὺς ἀγαπῶντας ὑμᾶς, ποία ὑμῖν χάρις ἐστίν; καὶ γὰρ οἱ ἁμαρτωλοὶ τοὺς ἀγαπῶντας αὐτοὺς ἀγαπῶσιν. 33 καὶ γὰρ ἐὰν ἀγαθοποιῆτε τοὺς ἀγαθοποιοῦντας ὑμᾶς, ποία ὑμῖν χάρις ἐστίν; καὶ οἱ ἁμαρτωλοὶ τὸ αὐτὸ ποιοῦσιν. ] 34 καὶ ἐὰν δανίσητε παρ’ ὧν ἐλπίζετε λαβεῖν, ποία n χάρις ἐστίν ὑμῖν n ; [ καὶ ἁμαρτωλοὶ ἁμαρτωλοῖς δανίζουσιν ἵνα ἀπολάβωσιν τὰ ἴσα. ] 35 πλὴν ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν καὶ ἀγαθοποιεῖτε καὶ δανίζετε μηδὲν ἀπελπίζοντες· καὶ ἔσται ὁ μισθὸς ὑμῶν πολύς, καὶ ἔσεσθε υἱοὶ o θεοῦ, ὅτι αὐτὸς χρηστός ἐστιν ἐπὶ τοὺς ἀχαρίστους καὶ πονηρούς. 36 p ἔστε q [ οὐν ] οἰκτίρμονες καθὼς r [ καὶ ] ὁ πατὴρ ὑμῶν s ᾤκτειρεν ὑμᾶς s · 37 Καὶ μὴ κρίνετε, t ἵνα μὴ t κριθῆτε· καὶ μὴ καταδικάζετε, u ἵνα μὴ u καταδικασθῆτε· ἀπολύετε, καὶ ἀπολυθήσεσθε· 38 δίδοτε, καὶ δοθήσεται ὑμῖν· μέτρον καλὸν πεπιεσμένον v [ σεσαλευμένον ] ὑπερεκχυννόμενον δώσουσιν εἰς τὸν κόλπον ὑμῶν· w ᾧ x [ γὰρ ] μέτρῳ w y μετρήσετε, z μετρηθήσεται ὑμῖν. A. *6,27 (vgl. Mt 5,38): Tert. 4,16,2: Novam plane patientiam docet Christus, etiam vicem iniuriae cohibens permissam a creatore, oculum exigente pro oculo et dentem pro dente, contra ipse alteram amplius maxillam offerri iubens, et super tunicam pallio quoque cedi. Plane haec Christus adiecerit ut supplementa consentanea disciplinae creatoris. ¦ Tert. 4,16,4: In quantum ergo fidem non capit ut idem videatur et dentem pro dente, oculum pro oculo, in vicem iniuriae exigere qui non modo vicem, sed etiam ultionem, etiam recordationem et recogitationem iniuriae prohibet, in tantum aperitur nobis quomodo oculum pro oculo et dentem pro dente censuerit, non ad secundam iniuriam talionis permittendam, quam prohibuerat interdicta ultione, sed ad primam coercendam, quam prohibuerat talione opposito, ut unusquisque respiciens licentiam secundae iniuriae a prima semetipsum contineret. ¦ Adam. 1,15 (814a): Ἐν τῷ νόμῳ λέγει Ὀϕθαλμὸν ἀντὶ ὀϕθαλμοῦ καὶ ὀδόντα ἀντὶ ὀδόντος. ♦ *6,27f: Tert. 4,16,1: Sed vobis dico, inquit, qui auditis (ostendens hoc olim mandatum a creatore, Loquere in aures audientium), diligite inimicos vestros, et benedicite eos qui vos oderunt, et orate pro eis qui vos calumniantur. Haec creator una pronuntiatione clusit per Esaiam: Dicite, fratres nostri estis, eis qui vos oderunt. Si enim qui inimici sunt et oderunt et maledicunt et calumniantur fratres appellandi sunt, utique et benedici odientes et orari pro calumniatoribus iussit, qui eos fratres deputari praecepit. ¦ Adam. 1,12 (812d): ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν καὶ εὔχεσθε ὑπὲρ τῶν διωκόντων ὑμᾶς. ¦ Tert. 4,16,6: … et non modo non remaledicendi sed etiam benedicendi (s. gleich zu *6,30) ¦ Hieronymus, Ep. 84,8: et tamen miror, cur carni detrahentes, vivant carnaliter, et inimicam suam foveant, et nutriant delicate, nisi forte implere volunt Scripturam dicentem: Amate inimicos vestros, benefacite iis, qui persequuntur vos. ♦ *6,29: Tert. 4,16,6: (patientiae pondus) non modo non repercutiendi sed et aliam maxillam praebendi, et non modo non remaledicendi sed etiam benedicendi, et non modo non retinendi tunicam sed et amplius et pallium concedendi. ¦ Adam. 1,15 (814a): ἐὰν τίς σε ῥαπίσῃ εἰς τὴν σιαγόνα, παράθες αὐτῷ καὶ τὴν ἄλλην; vgl. aber Rufin (GCS 4, 33): si quis te percusserit in dexteram maxillam, praebe ei et alteram; 1,18 (815e): ἐὰν τίς σου ἂρῃ τὸ ἱμάτιον, πρόσθες αὐτῷ καὶ τὸν χιτῶνα. Anders Rufin, der hier die Reihenfolge tunicam … pallium bietet. <?page no="120"?> 632 Anhang I 6,27-38 ♦ *6,30a: Tert. 4,16,8: Omni petenti te dato, utique indigenti, vel tanto magis indigenti si etiam et abundanti. ♦ *6,31: Tert. 4,16,13: Et sicut vobis fieri vultis ab hominibus, ita et vos facite illis. In isto praecepto utique alia pars eius subauditur: Et sicut vobis non vultis fieri ab hominibus, ita et vos ne faciatis illis. ♦ *6,34: Tert. 4,17,1: Hic nunc de fenore cum interponit, Et si feneraveritis a quibus speratis vos recepturos, quae gratia est vobis? percurre sequentia Ezechielis de eodem viro iusto: Pecuniam, inquit, suam fenori non dedit, et quod abundaverit non sumet, fenoris scilicet redundantiam, quod est usura. ♦ *6,35: Tert. 4,17,4.6: et eritis filii dei … quia ipse, inquit, suavis est adversus ingratos et malos. ♦ *6,36: Tert. 4,17,8: Misericordiam quoque praecipiens, Estote, inquit, misericordes, sicut pater vester misertus est vestri. Hoc erit, Panem infringito esurienti, et qui sine tecto in domum tuam inducito, et nudum si videris tegito, et, Iudicate pupillo, et iustificate viduam. ♦ *6,37f: Tert. 4,17,9: Nolite iudicare, ne iudicemini. Nolite condemnare, ne condemnemini. Dimittite, et dimittemini. Date, et dabitur vobis, mensuram bonam, pressam ac fluentem, dabunt in sinum vestrum. Eadem qua mensi eritis mensura, remetietur vobis. Ut opinor, haec retributionem pro meritis provocatam sonant. A quo ergo retributio? ♦ *6,38: Adam. 2,5 (824c): ᾧ μέτρῳ μετρεῖτε, μετρηθήσεται ὑμῖν; 1,15 (814b): ᾧ μέτρῳ μετρεῖτε ἀντιμετρηθήσεται ὑμῖν. B. a (6,27): και ευλογειτε τους μισουντας υμας: om Adam ¦ add Tert it M ● b (6,28) και ευχεσθε υπερ των διωκοντων υμας: Adam ¦ προσευχεσθε περι των επηρεαζοντων υμας: Tert it M ● c (6,28) και/ et: (Tert) Adam W gat ¦ om a aur b c d e f ſſ 2 l q r 1 M ● d (6,29) εαν τις σε ραπιση/ qui te percutit (percusserit): Adam aur b d f ſſ 2 l q r 1 (vgl. Mt 5,39: οστις σε ραπιζει) ¦ τω τυπτοντι σε/ percutienti te: a c M ● e (6,29) εις: Adam א * D W Θ 700 892 2542 ¦ επι: M ● f (6,29) δεξιαν: Widersprüchliche Bezeugung: Adam ap. Rufin א * E* 28 579 983 1241 1675 aeth (Par. 32; Bodl. 42) Basil (Mor. 49,1; PG 31, 773) ¦ om Tert Adam (gr.) M ● g (6,29) αυτω/ ei (illi): Adam D 28 579 1424 2542 2757 a aur b e ſſ 2 l q (illi: c d f r 1 ) sy s.p sa ¦ om vg M ● h (6,29) εαν τις σου αρη: Adam ¦ qui auferet: a aur b d (qui tollit) e (qui a te auferet) f ſſ 2 l q r 1 ¦ και απο του αιροντος σου/ auferenti a te: c M ● i (6,29) αϕες/ remitte: Tert e ¦ μη κωλυσης/ noli prohibere: aur b f ſſ 2 l q r 1 c (ne prohibeas) a (vetare noli) d (ne vetueris) M ● k (6,31) ουτως/ ita: Tert (a: sic) sy p ¦ om aur b c d e f ſſ 2 l q r 1 M (vgl. Mt 7,12) ● l (6,31) και υμεις/ et vos: add Tert א A D L W Θ Ξ Ψ f 1.13 33 565 c d f vg sy h.p ¦ om P 75vid B 579 700 1241 a aur b e ſſ 2 l q (bona: r 1 ) Iren (Haer. 4,13,3; FC 8/ 4, 100) Clem (Paed. 3,11,88; GCS 12, 284) (vgl. Mt 7,12) ● m (6,31) ομοιως/ similiter: om Tert D a d e sy s.j.p Iren (4,13,3) ClemAlex (Paed. 3,11,88; GCS 12, 284) (vgl. Mt 7,12) ¦ add aur b c f ſſ 2 l q r 1 M ● n (6,34) χαρις εστιν υμιν/ gratia est vobis: Tert W a aur b ſſ 2 g 1 gat l q r 1 vg georg ¦ (3 1) vobis gratia: e ¦ (3 2 1) υμιν εστιν χαρις / vobis est gratia: c ¦ (1 3 2) χαρις υμιν εστιν/ gratia vobis est: D d ¦ (3 1 2 ) υμιν χαρις εστιν/ vobis gratia est (vobis retributio est: f): M ● o (6,35) θεου/ dei: Tert e (υψιστου θεου/ altissimi dei: e) ¦ υψιστου/ altissimi (excelsi): a aur b c d f ſſ 2 l q M ● p (6,36) εστε/ estote: Tert it ¦ γινεσθε: M ● q (6,36) ουν/ ergo: om Tert P 75 א B L W Y Ξ mult a b c d e ſſ 2 l q sy s Tat arab bo armen georg aeth got slav ¦ add A D Θ aur f r 1 vg sy h.p M ● r (6,36) και/ et: om Tert א B L W Ξ Ψ f 1 579 pc c d sy s co Clem (Paed. 1,8,72; GCS 12, 132; Strom. 2,19,100; GCS 52, 168) u.ö. ¦ add A D Θ f 13 33 M a aur b e f ſſ 2 l q r 1 vg sy h.p ● s (6,36) ῳκτειρεν υμας/ misertus est vestri: Tert; misericors est vobis: c Cypr (Ep. 55,16 ; CSEL 3/ 2, 635) ¦ οικτειρει/ miseretur: a b (q) ¦ οικτιρμων εστιν/ misericors est: aur c e f ſſ 2 l r 1 (d: (d: benivolus est) M ● t (6,37a) ινα μη/ ne (ut non): Tert A D W Λ Ψ 348 a c d (ut non) e f gat sy s (Tat arab.pers ) sa usw. ¦ και ου μη/ et non: aur b ſſ 2 l q r 1 vg M ● u (6,37b) ινα μη/ ne (ut non): Tert D W* a c d e ſſ 2 sy s (Tat arab.pers ) sa ¦ και ου μη/ et non: aur b f l <?page no="121"?> 6,27-38 Rekonstruktion 633 q r 1 M ● v (6,38) σεσαλευμενον/ commotam: om Tert 71* 828* ℓ48 gat r 1 ¦ add aur b l q (cumulatam: a c; confersam: ſſ 2 ; inpletam: d; coagitatam: auf f vg) M ● w (6,38b) Widersprüchliche Bezeugung: (1) ῳ … μετρῳ: Adam א B D L W Ξ f 1 33 892 1241 pc c d e sy (s).p Basil (Hom. in Ps 61,5; PG 29, 481) Chrys (Hom. 77 in Joh; PG 59, 418) ¦ (2) τω … αυτω μετρω ῳ/ eadem qua … mensura: Tert P 45vid A C Θ Ψ f 13 lat sy h M ● x (6,38b) γαρ/ enim: om Tert P 45 Θ 13 69 543 700 788 826 828 983 a aur b ſſ 2 l q r 1 ¦ add c d e f vg M ● y (6,38b) Widersprüchliche Bezeugung: (1) μετρησετε/ mensi fueritis: Tert aur c d e f g 1 gat l q r 1 vg ¦ (2) μετρειτε/ metitis: Adam a b ſſ 2 M ● z (6,38b) Widersprüchliche Bezeugung: (1) μετρηθησεται: Adam (2,5) B* P 28 2643 b e q Tat arab got ¦ (2) αντιμετρηθησεται/ remetietur: Tert (Adam. 1,15) it M . C. Auch für diese Perikope gilt, dass die meisten Elemente zwar gut bezeugt sind, gleichwohl aber etliche Fragen bleiben. 1. Die mit Abstand auffälligste Besonderheit dieser Perikope ist die Bezeugung der Talionsregel in *6,27 aus Ex 21,24 durch Tertullian und Adamantius, die sich so zwar in Mt 5,38 findet, nicht aber in Lk. Die zweifache Bezeugung dieses Logions im selben Kontext schließt aus, dass es sich um eine versehentliche Eintragung aus der Kenntnis des Mt-Textes handelt: Die Talionsregel hat mit Sicherheit an dieser Stelle in *Ev gestanden. An dieser Stelle wirkt sich die Entscheidung über die Bearbeitungsrichtung zwischen *Ev und Lk unmittelbar auf die Rekonstruktion aus. Wer von der Lk-Priorität ausgeht, kann die Talio schlechterdings nicht in *Ev erwarten, weil sie in Lk nicht enthalten ist. Daher vermuteten Harnack andere in seiner Folge, dass Tertullian und Adamantius die Talio nicht in *Ev, sondern in Marcions »Antithesen« gelesen hatten. 1 Da Tertullian die lex Talionis an anderer Stelle (2,28,2) im Rahmen der Auseinandersetzung mit Marcions »Antithesen« diskutiert, ist diese Erklärung grundsätzlich möglich. Aber sie ist nicht belastbar. Denn zum einen muss man den Zufall einräumen, dass zwei Häresiologen in demselben Zusammenhang nicht aus *Ev zitieren (dem Text, den sie gerade kommentieren), sondern aus den »Antithesen« (über die wir so gut wie nichts wissen - und schon gar nicht, ob sie den Häresiologen bei der Bearbeitung von *Ev vorlagen). Und zum anderen muss man sich natürlich fragen, wie Marcion hätte registrieren können, dass es in dieser Frage einen Widerspruch gab zwischen *Ev und dem »Gesetz«, das er doch ablehnte und das für die theologische Diskussion zu nutzen er sich weigerte. Diese Lösung verschiebt das Problem in einen unkontrollierbaren Bereich und öffnet so Tor und Tür für Spekulationen. Unter der Annahme der *Ev-Priorität ist dieses Ausweichmanöver allerdings überflüssig: Tertullian und Adamantius bezeugen die Talio deshalb übereinstimmend im selben Kontext von *Ev, weil sie sie da gefunden hatten. Und wenn der Gegensatz zwischen dem Vergeltungsgebot »im Gesetz« und dem Gebot der Feindesliebe im ______________________________ 1 H ARNACK 193*: Megethius habe V. 29 »innerhalb einer Marcionitischen Antithese« erwähnt; »eben diese Antithese gibt auch Tertullian wieder.« Vgl. außerdem B E D UHN 139 (da Tertullian und Adamantius »presumably had Marcion’s Antitheses in front of them as well, they could be drawing from there«); R OTH 106 n. 95 (Tertullian »appears to be referring back to one of Marcion’s antitheses in which the lex talionis was discussed«). <?page no="122"?> 634 Anhang I 6,27-38 Mund Jesu bereits in *Ev stand, wird auch verständlich, wie Marcion dieses Widerspruchs gewahr werden und ihn in seinen »Antithesen« kommentieren konnte. Auch wenn kaum zu bestreiten ist, dass die Talio in *Ev enthalten war, bleiben die genaue Formulierung und der genaue Ort unklar. Folgende Überlegungen sind dazu wichtig. a. Sowohl Tertullian als auch Adamantius erwähnen die Talio im Anschluss an ihr Referat von *6,27 ἀλλὰ ὑμῖν λέγω τοῖς ἀκούουσιν … Sofern diese Abfolge in den Referaten die Struktur von *Ev wiedergibt, müsste man postulieren, dass er zunächst die konkreten Verhaltensweisen nannte, die beispielhaft die Aufhebung des Prinzips der reziproken ethischen Reaktion verdeutlichen, und erst im Anschluss daran das Zitat der Talionsregel brachte, um durch den Kontrast das Innovative der Lehre Jesu kenntlich zu machen. Aber da sowohl Tertullian als auch Adamantius ihre Referenzen aus den jeweils behandelten Perikopen relativ frei in ihre Argumentation einfügen und *Ev nicht exakt Wort für Wort und Satz für Satz abhandeln, ist die Reihenfolge, in der Tertullian und Adamantius diese Hinweise geben, nicht belastbar. Demgegenüber legen zwei andere Beobachtungen nahe, dass die ganze Einheit über das »Prinzip der ethischen Reziprozität« 2 mit der Talio begann. Tertullian bezeugt für *Ev den adversativen Einsatz von *6,27 (ἀ λ λ ὰ ὑμῖν λέγω/ s e d vobis dico), der sich auch noch im lk Text findet, dort allerdings zu Beginn der neuen Einheit funktionslos ist und stört: Die anaphorische Konjunktion ἀλλά erfordert ein Antezedens, das deutlich macht, wogegen die Lehre Jesu sich abgrenzt, das hier jedoch fehlt. 3 Die Antithesen der mt Bergpredigt zeigen, wie ein solches Antezedens zu ἀλλὰ ὑμῖν λέγω ausgesehen haben könnte: ἠκούσατε ὅτι ἐρρέθη … ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν (Mt 5,38f). Allerdings legt die relativ starre Formelhaftigkeit der Einleitungen der mt »Thesen« (und Antithesen) die redaktionell vereinheitlichende Hand des Mt nahe, so dass die Formulierung ἠκούσατε ὅτι ἐρρέθη vermutlich auf Mt zurückgeht, wie es für das betonte ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν ohnehin wahrscheinlich ist. Es liegt daher nahe, dass *Ev mit einem analogen Hinweis auf die Herkunft bzw. den Geltungsanspruchs der Talio einsetzte, um darauf in gezieltem Kontrast die Lehre Jesu abzusetzen. Aus Adamantius’ Referat lässt sich entnehmen, dass er das ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν Jesu als Widerspruch zu einer Forderung des Gesetzes aufgefasst ______________________________ 2 W OLTER , Lk 254. 3 »Der Übergang von 6,20-26 (sc. zu 6,27) ist hart« (K LEIN , Lk 252). Üblicherweise wird die Referenz von ἀλλά in dem Wechsel der Adressaten gesehen: Nach dem Wehe über die Außenstehenden folge jetzt die Anrede an die Jünger (z. B. R ADL , Lk 397). Tatsächlich liegt hier kein Adressatenwechsel vor, die Reichen werden als »fiktive Adressaten« (W OLTER , Lk 253, zu 6,26) angeredet. Davon unabhängig bleibt die Feststellung, dass 6,(20-23)24-26 keine Position beschreibt, von der sich 6,27 inhaltlich sinnvoll als Opposition abheben könnte. <?page no="123"?> 6,27-38 Rekonstruktion 635 hat. 4 Sofern Adamantius hier nicht frei interpretiert, sondern mit dem Stichwort νόμος auf *Ev referiert, hat er in *Ev gelesen: Ἐν τῷ νόμῳ λέγει ἀντὶ ὀϕθαλμοῦ καὶ ὀδόντα ἀντὶ ὀδόντος - ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν κτλ. Das λέγει in der Einleitung ist entweder »sagt er« (nämlich Gott) oder aber einfach »heißt es«; in *Ev kann nur letzteres gemeint sein. Auf jeden Fall ist klar, dass Jesus mit der Entgegensetzung ἐν τῷ νόμῳ λέγει - ἐγὼ δὲ λέγω sich direkt gegen ein at.liches Gebot positioniert. b. Wichtiger als der genaue Ort der Talionsregel sind jedoch die im weiteren Sinn redaktionsgeschichtlichen Einsichten für die *Ev-Priorität. Dass die Vertreter der Lk-Priorität mit den nicht in Lk enthaltenen Passagen von *Ev allergrößte Schwierigkeiten hatten, ist schon deutlich geworden, 5 auch, dass dies für die Talio besonders zutrifft. Wenn *Ev aber die Talio enthielt, muss Lk sie gestrichen haben. Warum? Vor allem Tertullians Argumentation lässt ein theologisches Interesse der lk Redaktion an der Streichung der Talionsregel erkennen: Tertullian sah, dass das Vergeltungsverbot Jesu in unmittelbarem Gegensatz zu Ex 21,24 als Kritik am alttestamentlichen Gesetz insgesamt verstanden werden konnte. Er sah sich daher genötigt, beides als den einheitlichen Willen des guten Schöpfergottes zu interpretieren: Die Talionsregel wolle nicht ein zweites Unrecht erlauben, sondern das erste einschränken. 6 Es bedarf keiner großen Phantasie, um zu schlussfolgern, dass bereits Lk das Problem ähnlich gesehen und eine mögliche Einschränkung der Geltung des Gesetzes in *Ev durch die Streichung der Talionsregel kurzerhand beseitigt haben konnte. c. Wie die Bezeugung der Talionsregel bei *Ev zu deuten ist, ist natürlich abhängig vom Gesamtbild der Überlieferungsgeschichte: Unter der Voraussetzung der Lk- Priorität ist die Folgerung kaum vermeidbar, dass *Ev »einen aus Luk. und Matth. gemischten Text befolgt hat.« 7 Tsutsuis Annahme einer komplizierten Überlieferung, die neben den mt und lk Elementen auch andere Eigentümlichkeiten enthalten habe, ______________________________ 4 Adam. 1,15 (814a): δείξω ὅτι ἠναντίωται τὸ εὐαγγέλιον τῷ νόμῳ. Tertullian spricht hier nicht vom Gesetz, sondern von der »Erlaubnis des Schöpfers« (cohibens permissam a creatore). Da er in erster Linie an der Kritik der marcionitischen Gotteslehre interessiert ist, greift er hier die deren Differenzierung von creator und deus bonus auf, so dass das Stichwort creator seines Referats keinen belastbaren Rückschluss auf *Ev erlaubt. 5 Vgl. o. Bd. I, S. 137ff. 6 Tert. 4,16,4: In quantum ergo fidem non capit ut idem videatur et dentem pro dente, oculum pro oculo, in vicem iniuriae exigere qui non modo vicem, sed etiam ultionem, etiam recordationem et recogitationem iniuriae prohibet, in tantum aperitur nobis quomodo oculum pro oculo et dentem pro dente censuerit, non ad secundam iniuriam talionis permittendam, quam prohibuerat interdicta ultione, sed ad primam coercendam, quam prohibuerat talione opposito, ut unusquisque respiciens licentiam secundae iniuriae a prima semetipsum contineret. Vgl. auch 2,18,1: (talio) non enim iniuriae mutuo exercendae licentiam sapit, sed in totum cohibendae violentiae prospicit. 7 H ARNACK 193*. <?page no="124"?> 636 Anhang I 6,27-38 geht noch darüber hinaus. 8 Unter der Voraussetzung der *Ev-Priorität erlaubt diese Perikope dagegen einen Einblick in die unterschiedliche Redaktion des *Ev- Materials bei Mt und Lk. Am einfachsten ist die Vermutung, dass Mt die Talio in *Ev gefunden und sie in die Komposition der Antithesenreihe integriert hat; vermutlich wurde er durch diesen »Lesefund« in *Ev überhaupt erst zur Komposition der Antithesenreihe beeinflusst. Lk dagegen war an der Etablierung des Unterschieds zwischen der Lehre Jesu und dem Gesetz gerade nicht interessiert und hat die Überbietung oder Negierung der Talio hier gestrichen. Unter der Annahme, dass Mt die Struktur der Antithesen aus *6,27f übernommen hat, fällt auf, dass das einzige Beispiel, an dem die »Thesen« der mt Antithesenreihe eindeutig auf alttestamentliche Gebote verweisen, der bereits für *Ev bezeugte Hinweis auf die Talio in Mt 5,38 ist: Ansonsten ist das Verhalten, das durch die Antithesen Jesu korrigiert wird, nicht das alttestamentliche Gebot, sondern seine Relativierung durch die religiöse Praxis. 9 Mt hätte dann den Gegensatz zwischen der Forderung des Gesetzes und der Lehre Jesu, die er in *Ev vorfand, ganz analog zu Lk oder Tertullian als Problem empfunden und ihn dadurch entschärft, dass er die Erwähnung des Gesetzes durch das »zu den Alten Gesagte« ersetzte: Auf diese Weise konnte er nicht nur den direkten theologischen Gegensatz zwischen der Lehre Jesu und dem Gesetz vermeiden, sondern darüber hinaus die Forderung Jesu als Bekräftigung des Gesetzes gegen Relativierungen in der religiösen Praxis markieren: Die so begründete Gerechtigkeit ist daher größer als die der Schriftgelehrten und Pharisäer (Mt 5,20). 2. Die durch das antithetische ἀλλὰ ὑμῖν λέγω eingeleitete Lehre Jesu in *6,27f besaß nach dem Zeugnis Tertullians drei Glieder, während Adamantius nur zwei, der kanonische Text dagegen vier Glieder nennt. Gemeinsam ist allen Texten die erste Aufforderung ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν, wogegen sich die folgenden Glieder voneinander unterscheiden. ______________________________ 8 T SUTSUI 85, der dabei voraussetzt, dass Marcion an dieser Sonderüberlieferung keine weiteren Änderungen vorgenommen, sondern sie unverändert übernommen habe - aber woher sollte sie stammen? 9 Vgl. C HR . B URCHARD , Versuch, das Thema der Bergpredigt zu finden, in: ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, Tübingen 1998, 27-50: 40-44. <?page no="125"?> 6,27-38 Rekonstruktion 637 Adam. 1,12 (812d) Tert. 4,16,1 Lk 6,27f ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν diligite inimicos vestros ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν et benedicite eos qui vos oderunt καλῶς ποιεῖτε τοῖς μισοῦσιν ὑμᾶς εὐλογεῖτε τοὺς καταρωμένους ὑμᾶς καὶ εὔχεσθε ὑπὲρ τῶν διωκόντων ὑμᾶς et orate pro eis qui vos calumniantur προσεύχεσθε περὶ τῶν ἐπηρεαζόντων ὑμᾶς Die Situation ist einigermaßen unklar, weil Tertullian den Text einmal zu zitieren scheint, im Folgenden aber das Verhalten der inimici auf andere Weise anspricht und nicht durch zwei, sondern durch drei Verben spezifiziert (odisse, maledicere, calumniari). 10 Darin kommt er der kanonischen Textform recht nahe, in der das Verhalten der ἔχθροι als μισεῖν, καταρᾶσθαι und ἐπηρεάζειν angegeben wird. Es hat daher den Anschein, als habe Tertullian in *Ev den kanonischen Text gelesen und dabei das zweite und dritte Glied auf eine solche Weise zusammengezogen, dass er von dem einen die Aufforderung (εὐλογεῖτε/ benedicite), vom anderen das Objekt (τοῖς μισοῦσιν ὑμᾶς/ eos qui vos oderunt) so zu einer einzigen Aufforderung verband, dass im einen Fall die Aufforderung (καλῶς ποιεῖτε), im anderen das Objekt (τοὺς καταρωμένους ὑμᾶς) unter den Tisch fielen. Bei diesem Verständnis ist Tertullian als Zeuge für die kanonische Textform zu werten: Sein *Ev-Exemplar weist hier die charakteristischen Angleichungen an den kanonischen Text auf. Daher gewinnt das Zeugnis des Adamantius großes Gewicht: Er referiert die vom kanonischen Text am weitesten entfernte Fassung, der nach dem zugrunde liegenden Rekonstruktionsmodell die größte Wahrscheinlichkeit für die ursprüngliche Formulierung zukommt. Darüber hinaus sprechen drei Gründe für die Genauigkeit des Adamantiusreferats. Zunächst: Da die handschriftliche Überlieferung zu Lk 6,27 ganz einheitlich ist und keinerlei Spur aufweist, die auf eine Fürbitte für die Verfolger (εὔχεσθε ὑπὲρ τῶν δ ι ω κ ό ν τ ω ν ὑμᾶς) hindeutet, liegt der Verdacht nahe, dass Adamantius die Erwähnung der »Verfolger« hier irrtümlich aus Mt 5,44 eingetragen haben könnte. Allerdings wird die von Adamantius bezeugte Lesart durch eine entsprechende Spur bei Hieronymus gestützt, der in diesem Zusammenhang ebenfalls die »Verfolger« erwähnt. 11 Adamantius hat dieses Stichwort ______________________________ 10 Beide Referenzen finden sich unmittelbar nebeneinander in Tert. 4,16,1: Sed vobis dico … qui auditis ..., diligite i n i m i c o s vestros, et benedicite eos qui vos o d e r u n t, et orate pro eis qui vos c a l u m n i a n t u r - Si enim qui i n i m i c i sunt et o d e r u n t et m a l e d i c u n t et c a l u m n i a n t u r fratres appellandi sunt. 11 Hieronymus, ep. 84,8: Amate inimicos vestros: benefacite iis, qui persequuntur vos. Zwar gibt Hieronymus nicht unmittelbar zu erkennen, ob er den mt oder den lk Text assoziiert. Jedoch zeigt sein <?page no="126"?> 638 Anhang I 6,27-38 folglich aus *Ev, dessen Text er genau referiert. Zweitens wird diese Lesart überlieferungsgeschichtlich durch die mt Parallele in 5,44 gestützt, die dem Adamantiuszitat fast exakt gleicht. 12 Auf diese Weise wird der Gang der Überlieferung von *Ev (= Adam) über Mt hin zur lk Fassung, die auch Tertullian zusammenfassend bezeugt, durchsichtig. *6,27f (= Adam) Mt 5,44 Lk 6,27f ( Tert) ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν καλῶς ποιεῖτε τοῖς μισοῦσιν ὑμᾶς εὐλογεῖτε τοὺς καταρωμένους ὑμᾶς καὶ εὔχεσθε ὑπὲρ καὶ προσεύχεσθε ὑπὲρ προσεύχεσθε περὶ τῶν διωκόντων ὑμᾶς τῶν διωκόντων ὑμᾶς τῶν ἐπηρεαζόντων ὑμᾶς Und drittens spricht die Asyndese der vier Aufforderungen im kanonischen Text (6,27f) für die Annahme, dass *Ev nur zwei Aufforderungen enthielt. Denn die zwei Glieder der Aufforderung lassen sich nicht asyndetisch zusammenstellen: Sie müssen durch eine koordinierende Konjunktion verbunden sein. Diese findet sich dann auch sowohl in Adamantius’ Zeugnis (καὶ εὔχεσθε) als auch in der handschriftlichen Überlieferung. 13 Die Konjunktion ist demnach erst bei der redaktionellen Erweiterung auf die vier Glieder des kanonischen Textes ausgefallen. Nur nebenbei ist darauf hinzuweisen, dass Justin 6,27f mit der viergliedrigen Forderung zitiert: Er hatte die kanonische Lk-Fassung vor sich, nicht aber *Ev. 14 3. In *6,29a.b ist die Formulierung des Vordersatzes als konditionaler Relativsatz in *Ev (ἐὰν τίς σε ῥαπίσῃ; ἐὰν τίς σου ἄρῃ) anstelle der partizipialen Formulierung der kanonischen Fassung (τῷ τύπτοντί σε; ἀπὸ τοῦ αἴροντός σου) durch ______________________________ Stichwort benefacite anstelle des ansonsten bezeugten benedicite/ εὐλογεῖτε bzw. orate/ (προσ) εύχεσθε die Spuren der lk Bearbeitung (καλῶς ποιεῖτε aus Lk 6,27b ≠ Mt 5,44). Hieronymus kannte also das Logion in der aus *Ev-Lk bekannten Fassung mit der Erwähnung der Verfolger. Auch wenn diese Folgerung unsicher bleibt, stützen sich Adamantius und Hieronymus an dieser Stelle gegenseitig. 12 Der einzige Unterschied ist εὔχεσθε bzw. προσεύχεσθε. Die Vulgatafassung von Mt 5,44 lautet allerdings anders und zeigt einen Einfluss des kanonischen Lk-Textes: ego autem dico vobis diligite inimicos vestros benefacite his qui oderunt vos et orate pro persequentibus et calumniantibus vos. 13 W gat. Hier schimmert also wieder einmal der vorkanonische Text durch. Tertullians Referat, das ja die einzelnen Glieder mit et … et verbindet, ist an dieser Stelle allerdings wenig aussagekräftig: Er zitiert nicht, sondern fasst den ihm vorliegenden Text frei zusammen (s. o.). 14 Justin, 1Apol. 15,9: εὔχεσθε ὑπὲρ τῶν ἐχθρῶν ὑμῶν καὶ ἀγαπᾶτε τοὺς μισοῦντας ὑμᾶς καὶ εὐλογεῖτε τοὺς καταρωμένους ὑμῖν καὶ εὔχεσθε ὑπὲρ τῶν ἐπηρεαζόντων ὑμᾶς. Zu Justins Kenntnis der Kanonischen Ausgabe s. Bd. I, § 15.4. <?page no="127"?> 6,27-38 Rekonstruktion 639 Adamantius gesichert. Diese redaktionelle Änderung zeigt sich noch in der Uneinheitlichkeit der handschriftlichen Überlieferung (s. o.). Schon in Mt 5,39f sind die konditionalen Formulierungen geändert. Die Formulierung von *6,29a ist weiter aufschlussreich. Denn Adam. bezeugt für *Ev das auch in Mt 5,39 bezeugte Verb ῥαπίζω anstelle von τύπτω in Lk 6,29. 15 Das heißt, dass die lk Formulierung redaktionell ist, während Mt seine Vorlage unverändert übernommen hat. Dies zeigt sich auch daran, dass es bei Mt die rechte Backe ist, die geschlagen wird (εἰς τὴν δεξιὰν σιαγόνα), wogegen Lk 6,29 nur einfach von einer Backe spricht, wie es auch Adamantius und Tertullian bezeugen. Aber die mt Formulierung ist nicht nur in einer ganzen Reihe von Lk-Handschriften enthalten, 16 sondern interessanterweise auch von Rufins Adamantiustext bezeugt: Die grundsätzlichen Überlegungen zur Überlieferungsgeschichte legen es nahe, dass hier Mt den Text von *Ev genauer bewahrt hat als Lk. Die lk Redaktion hat dabei in 6,29b die auch für *Ev bezeugte Abfolge ἱμάτιον - χιτών beibehalten, die Mt 5,40 aus Gründen der impliziten Logik geändert hatte. 17 Rufins Adamantiusübersetzung hat diese mt Abfolge gegen den griechischen Text übernommen. 18 4. 6,30b καὶ ἀπὸ τοῦ αἴροντος τὰ σὰ μὴ ἀπαίτει ist unbezeugt, ein auch nur halbwegs wahrscheinliches Urteil ist aufgrund der isolierten Betrachtung nur dieses Verses allein nicht möglich (s. u. zu 6,32-34). Zwar hat Lk die Besitzethik entlang der hier entfalteten Linien redaktionell verstärkt (vgl. etwa 3,10-14) und in dieser Ausformung der Besitzethik einen redaktionellen Schwerpunkt gesetzt, aber dies besagt nichts über die Ursprünglichkeit von *6,30b. Das Problem wird dadurch noch verschärft, dass die Ursprünglichkeit von V. 34b, der nächsten Analogie zu 6,30b im Kontext, erheblichen Zweifeln unterliegt (s. gleich). Immerhin ist klar, dass *6,29f ursprünglich in diesen Zusammenhang gehören und nicht sekundär eingefügt wurden. 19 5. Die »Goldene Regel« *6,31 ist durch Tertullian (4,16,13) gesichert, und zwar in einer Formulierung, die Berührungen zu den beiden synoptischen Fassungen aufweist. ______________________________ 15 Dass Adam. hier nicht ῥαπίζει bietet, sondern das Fut ῥαπίσει, geht vermutlich tatsächlich auf *Ev zurück, wie die v. l. für Mt 5,39 (D L Θ f 1.13 M ) nahelegt. 16 Die Bezeugung erstreckt sich weniger deutlich auf die »verdächtigen« Handschriften als sonst: א * E* 28 579 983 1241 1675 aeth (Par. 32; Bodl. 42) Basil. 17 Mt zielt im Gegensatz zu Lk darauf, dass die freiwillige, zusätzliche Leistung größer ist als das, was einem gegen seinen Willen genommen wird. Wie κριθῆναι zeigt, setzt Mt die Situation eines Pfändungsprozesses voraus (s. L UZ , Mt I z. St.). 18 Adam. 1,18 (815e): ἐὰν τίς σου ἂρῃ τὸ ἱμάτιον, πρόσθες αὐτῷ καὶ τὸν χιτῶνα - si tibi quis aufert tunicam, da ei et pallium. 19 So (als sekundäre Erweiterung des Grundstocks von »Q«) z. B. C HR . M. T UCKETT , Q and the History of Early Christianity, Edinburgh 1996, 301. <?page no="128"?> 640 Anhang I 6,27-38 *6,31 Mt 7,12 Lk 6,31 καὶ καθὼς πάντα οὖν ὅσα ἐὰν καὶ καθὼς ὑμῖν γίνεσθαι θέλετε θέλητε θέλετε ἵνα ποιῶσιν ὑμῖν ἵνα ποιῶσιν ὑμῖν παρὰ τῶν ἀνθρώπων οἱ ἄνθρωποι, οἱ ἄνθρωποι, οὕτως καὶ ὑμεῖς οὕτως καὶ ὑμεῖς ποιεῖτε αὐτοῖς ποιεῖτε αὐτοῖς ποιεῖτε αὐτοῖς ὁμοίως Für die Einleitung καὶ καθὼς … θέλετε anstelle des konditionalen Relativsatzes bei Mt (πάντα οὖν ὅσα ἐὰν θέλητε) ist noch erkennbar, wie Lk von *Ev abhängig ist, auch wenn der von Mt übernommene Finalsatz ἵνα ποιῶσιν ὑμῖν οἱ ἄνθρωποι eine Umstellung erforderlich macht. In der zweiten Hälfte des Logions folgt Mt der Formulierung aus *Ev genau, während Lk eigene Wege geht. »Der Imperativ ποιεῖτε … ὁμοίως ist typisch lk«, 20 die beiden weiteren Belegstellen (3,14; 10,37) sind ebenfalls redaktionell. In einem Aspekt weichen sowohl Mt als auch Lk von dem Wortlaut in *Ev ab: Sie ersetzen die etwas umständlich wirkende Wendung ὑμῖν γίνεσθαι θέλετε παρὰ τῶν ἀνθρώπων durch den Finalsatz ἵνα ποιῶσιν usw. Eine wichtige Ergänzung ist der Aufmerksamkeit von Dieter Roth zu verdanken, der darauf hingewiesen hat, dass die von Tertullian für *Ev bezeugte Passivformulierung ὑμῖν γίνεσθαι … παρὰ τῶν ἀνθρώπων auch in der altlateinischen Überlieferung zu Mt 7,12 auftaucht. 21 Diese Bezeugung ist von besonderer methodischer Bedeutung, weil sie das hier vorausgesetzte Modell der Überlieferungsgeschichte auf überraschende Weise bestätigt. Denn Tertullians Zeugnis belegt eine literarische Beziehung zwischen dem marcionitischen Evangelium und (einer bestimmten Textgestalt von) Mt. Für eine solche Beziehung gibt es im Modell der Lk-Priorität keine sinnvolle Erklärung; man müsste ja annehmen, dass die marcionitische Bearbeitung des kanonischen Lk-Evangeliums auf die Textüberlieferung des kanonischen Mt eingewirkt hat. Dagegen bietet die *Ev-Priorität eine unproblematische und naheliegende Erklärung, wie eine solche Beziehung (also Einfluss von *Ev auf Mt) vorzustellen ist; das Modell dafür ist in § 12 skizziert. Aber dieser Einfluss von *Ev auf Mt ist ja auch wieder verschwunden: Der Hinweis der altlateinischen Überlieferung ist ein Solitär. Der Eingriff, der die Textgestalt von *Ev in Mt getilgt hat, könnte die oben (§ 14.3) postulierte kanonische Redaktion des vorkanonischen *Mt sein. ______________________________ 20 Vgl. W OLTER , Lk 258 z. St. 21 R OTH 108: Der Claromontanus (h [12]) hat in Mt 7,12: volueritis bona vobis fieri ab hominibus similiter et vos illis facite, der Bobiensis (k [1]) hat: volueritis ut fiant vobis homines bona ita et vos facite illis. Roth erklärt diesen Befund nicht. <?page no="129"?> 6,27-38 Rekonstruktion 641 6. Aus 6,32-35 bezeugt Tertullian nur *6,34a und *6,35cd. Dies ist angesichts des ansonsten dichten Referats in diesem Abschnitt auffällig und lässt die Vermutung aufkommen, dass die unbezeugten Passagen in *Ev gefehlt haben könnten. Sicher ist nur, dass *Ev in V. *35c nicht die kanonische Formulierung (καὶ ἔσεσθε) υἱοὶ ὑ ψ ί σ τ ο υ hatte, sondern stattdessen υἱοὶ θ ε ο ῦ las. 22 Das passt genau zu der Beobachtung, dass metonymisches oder titulares (ὁ) ὕψιστος als Bezeichnung für Gott sich innerhalb des NT nur in lk-redaktionellen Passagen 23 findet: Die Änderung ist also programmatisch und Teil des redaktionellen Konzeptes. Da die Apodosis V. *35c eine Protasis erfordert, ist es wahrscheinlich, dass eine Wendung wie Mt 5,44 || Lk 5,35a in *Ev enthalten war. Die in V. 35a aufgeführten Imperative (ἀγαπᾶτε; ἀγαθοποιεῖτε; δανίζετε) fassen zusammen, was zuvor gefordert war: Sie haben jeweils eine Entsprechung in den für *Ev gesicherten Vv. *27.28.30a, sofern man die Fürbitte für die Verfolger als »Gutestun« im Sinn von V. 35a auffassen kann. a. Als Problem bleibt daher die Frage nach 6,32f.34b. Liest man den Zusammenhang mit diesen Passagen, dann ergibt sich eine durchsichtige und sehr sinnvolle Struktur, welche die Aufhebung des Prinzips der ethischen Reziprozität deutlich macht: Drei der Forderungen nach einem »Surplus« ethischen Verhaltens (6,27-30) werden in den Vv. 32-34 aufgegriffen und begründet: Das Prinzip der direkt proportionalen Rückerstattung ist auch bei den »Sündern« üblich und erwirkt keinen »Dank«, wobei das zentrale Stichwort χάρις in 32b.33.34b Gott als eschatologischen Dankesschuldner impliziert. Ein Verhalten, das nicht an ethischer Gegenseitigkeit orientiert ist, sondern an dem, was man sich von den Menschen wünscht (V. 31), macht die Täter zu Söhnen Gottes, weil auch Gott nicht nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit handelt, sondern auch Undankbaren und Bösen gegenüber gütig ist (35d). Diese Struktur besitzt in der Tat eine bewunderungswürdige »systematische Geschlossenheit«. 24 b. Die Frage ist jedoch, ob dieses ethische Konzept und seine Stringenz schon auf *Ev oder erst auf die lk Redaktion zurückgehen. Zwei miteinander zusammenhängende Beobachtungen legen das Letztere nahe: Zum einen ist überraschend, dass die für die inhaltliche Kohärenz konstitutiven Elemente - also die Aussagen über den zu erwartenden Dank - durchweg nicht bezeugt sind. Da diese Elemente in 6,32f.34b sich gegenseitig stützen und bedingen, ist ihre vollständige Nichtbezeugung aufschlussreich. Ganz analog dazu ist die Entsprechung zu V. *34a.35b in ______________________________ 22 Tert. 4,17,4: et eritis filii dei. Vgl. dazu Z AHN II 452. Die redaktionelle Ändeurng ist noch in der Konflation altissimi dei im Evangelium Palatinum (e) erkennbar. 23 Neben Lk 6,35 noch 1,32.35.76; 8,28 (s. dort) sowie Act 7,48. 24 W OLTER , Lk 260: »Voller Bewunderung blickt der Kommentator auf die systematische Geschlossenheit des ethischen Konzepts, das Lukas hier vorgelegt hat.« <?page no="130"?> 642 Anhang I 6,27-38 EvThom 95 zu beurteilen. 25 Zunächst ist natürlich aufschlussreich, dass hier der für *Ev unbezeugte V. 34b über die Verleihpraxis »unter den Heiden« nicht auftaucht. Falls EvThom dieses Logion aus der kanonischen Fassung kannte, müsste man annehmen, dass er zufällig das schon für *Ev unbezeugte Element weggelassen hätte. Daher ist die Annahme wahrscheinlicher, dass EvThom hier den Kontext von *Ev vor sich hatte. Damit verbunden ist eine wichtige inhaltliche Frage. Denn die Formulierung in EvThom 95,2 gibt nicht eindeutig zu erkennen, ob Jesus fordert, dem zu geben, von dem man den Kredit nicht zurückerhält oder von dem man keine Zinsen zu erwarten hat. Der Vordersatz in 95,1 (Verbot von Kredit gegen Zinsen) legt das Erste nahe. Die unbezeugte (auch in EvThom 95 fehlende) Aussage von V. 34b geht dagegen davon aus, dass man denen borgen soll, von denen man nicht erwarten kann, das Geborgte zurückzuerhalten 26 - das ist gegenüber dem Zinsverbot eine deutliche Steigerung. c. Diese inhaltliche Einsicht hat dann auch Rückwirkungen auf die Beurteilung des Verbots der Rückforderung des Gegebenen V. 30b (καὶ ἀπὸ τοῦ αἴροντος τὰ σὰ μὴ ἀπαίτει): Sie beschreibt das gleiche Verhalten, das die Adressaten nach V. 34b von den Sündern unterscheiden soll. Das aber bedeutet: Alle genannten Elemente in 6,30b.32f.34b sind paränetische Isotopien: Sie gehören zusammen und bedingen sich gegenseitig - und sie alle sind für *Ev unbezeugt. Auch in EvThom 95 fehlt genau diese Deutungsebene. Da der Kontext in *Ev ohne diese Passagen einen durchaus sinnvollen, wenn auch nicht so ausgefeilten Zusammenhang wie in Lk ergibt, spricht mehr dafür, dass diese Passagen in *Ev gefehlt haben, als dass sie durch Tertullian (und durch EvThom) übergangen wurden. Auch wenn letzte Sicherheit nicht zu erlangen ist, steht doch dafür, dass die systematische Kohärenz dieses Zusammenhangs erst auf die Redaktion des Lk zurückgeht, der hier die Ausführungen aus Mt 5,46-48 aufgreift und ausbaut. 7. Die folgenden Vv. *36-38 sind mit einigen kleineren Abweichungen, die ohne großes Gewicht bleiben, 27 für *Ev gut bezeugt. ______________________________ 25 NHC II/ 2 (48,35-49,2 ÜS Schröter/ Bethge): »(1) Jesus spricht: Wenn ihr Geld habt, gebt (es) nicht gegen Zins. (2) Vielmehr gebt [es] dem, von dem ihr es nicht (zurück)erhalten werdet.« 26 Zum Verständnis der Formel ἀπολαμβάνειν τὰ ἴσα vgl. W OLTER , Lk 258 z. St. (mit hellenistischen Belegen). 27 Für *6,36 bezeugt Tertullian Perfekt (misertus est) anstelle des lk Präsens (οἰκτίρμων ἐστίν). In den beiden apotreptischen Aussagen V. *37 hatte *Ev finales ἵνα μή anstelle des konsekutiven καὶ οὐ des kanonischen Textes. In V. 38 hat die lk Redaktion die Reihe der Adjektive um σεσαλευμένον ergänzt. Ist die Vierzahl der Adjektive zur Beschreibung des Lohns (καλόν; πεπιεσμένον; σεσαλευμένον; ὑπερεκχυννόμενον) eine redaktionell intendierte Angleichung an die Vierzahl der Forderungen in 6,27f (ἀγαπᾶτε; καλῶς ποιεῖτε; εὐλογεῖτε; προσεύχεσθε)? <?page no="131"?> 6,27-38 Rekonstruktion 643 Gleich mehrere von ihnen haben den Weg in die kanonische Handschriftenüberlieferung gefunden. Demnach änderte die lk Redaktion (1) ᾧ μέτρῳ … in τῷ αὐτῷ μέτρῳ ᾧ …, fügte (2) den kausalen Anschluss γάρ ein, setzte (3) das Präsens μετρεῖτε ins Futur (μετρήσετε) und ersetzte (4) das einfache μετρηθήσεται durch das Kompositum ἀντιμετρηθήσεται. Drei dieser Abweichungen sind bei Tertullian und Adamantius, den beiden häresiologischen Hauptzeugen dieser Stelle, unterschiedlich belegt. Die Rekonstruktionsentscheidungen folgen jeweils dem methodischen Grundsatz, dass für das vorkanonischen Evangelium die am weitesten vom kanonischen Mehrheitstext entfernte Fassung anzunehmen ist, die dann an diesen Text angeglichen wurde. Warum V. *38 die Thematik des bereitwilligen Gebens nach V. *30 noch einmal aufnimmt, ist nicht wirklich ersichtlich: Die »systematische Geschlossenheit« bleibt begrenzt. Das Wort vom Maß V. *38c ist das einzige Logion aus dem gesamten Kontext, das von Mk rezipiert wurde: Er hat es in Mk 4,24c auf das Verstehen der Gleichnisse bezogen. *6,39-46 [ 47-49 ] : Feldrede III: Paränetische Sentenzen und Bildworte. [ Gleichnis vom Hausbau ] Im Kern gut für *Ev bezeugt und sicher vorhanden, aber redaktionell bearbeitet und am Ende sehr wahrscheinlich ergänzt. [ 6,39 Εἶπεν δὲ καὶ παραβολὴν αὐτοῖς· ] Μήτι δύναται τυϕλὸς τυϕλὸν ὁδηγεῖν; οὐχὶ ἀμϕότεροι εἰς βόθυνον ἐμπεσοῦνται; 40 οὐκ ἔστιν μαθητὴς ὑπὲρ τὸν διδάσκαλον, ¿κατηρτισμένος δὲ πᾶς ἔσται ὡς ὁ διδάσκαλος αὐτοῦ.? 41 Τί δὲ βλέπεις τὸ κάρϕος τὸ ἐν τῷ ὀϕθαλμῷ τοῦ ἀδελϕοῦ σου, τὴν δὲ δοκὸν τὴν ἐν τῷ ἰδίῳ ὀϕθαλμῷ οὐ κατανοεῖς; 42 πῶς δύνασαι λέγειν τῷ ἀδελϕῷ σου, Ἀδελϕέ, ἄϕες ἐκβάλω τὸ κάρϕος a ἐκ τοῦ ὀϕθαλμοῦ a σου, b καὶ ἰδού, ἡ δοκὸς ἐν τῷ σῷ ὀϕθαλμῷ ὑποκεῖται b ; ὑποκριτά, ἔκβαλε πρῶτον τὴν δοκὸν ἐκ τοῦ ὀϕθαλμοῦ σοῦ, καὶ τότε διαβλέψεις τὸ κάρϕος c ἐκ τοῦ ὀϕθαλμοῦ c τοῦ ἀδελϕοῦ σου ἐκβαλεῖν. 43 d †Οὐ e † [ γάρ ] † δύναται† d δένδρον καλὸν f †καρποὺς σαπρούς† f g †ἐνεγκεῖν†, οὐδὲ h [ πάλιν ] δένδρον σαπρὸν i †καρποὺς καλούς† i k †ἐνέγκαι†. 44 ἕκαστον γὰρ δένδρον ἐκ τοῦ ἰδίου καρποῦ γινώσκεται· οὐ γὰρ ἐξ ἀκανθῶν συλλέγουσιν σῦκα, οὐδὲ ἐκ βάτου σταϕυλὴν τρυγῶσιν. 45 ὁ ἀγαθὸς ἄνθρωπος ἐκ τοῦ ἀγαθοῦ θησαυροῦ τῆς καρδίας προϕέρει τὸ ἀγαθόν, καὶ ὁ πονηρὸς ἐκ τοῦ πονηροῦ προϕέρει τὸ πονηρόν· ἐκ γὰρ περισσεύματος καρδίας λαλεῖ τὸ στόμα αὐτοῦ. 46 Τί l [ δέ με ] l m καλεῖτε, Κύριε κύριε, καὶ οὐ ποιεῖτε ἃ λέγω; [ 6,47 πᾶς ὁ ἐρχόμενος πρός με καὶ ἀκούων μου τῶν λόγων καὶ ποιῶν αὐτούς, ὑποδείξω ὑμῖν τίνι ἐστὶν ὅμοιος· 48 ὅμοιός ἐστιν ἀνθρώπῳ οἰκοδομοῦντι οἰκίαν ὃς ἔσκαψεν καὶ ἐβάθυνεν καὶ ἔθηκεν <?page no="132"?> 644 Anhang I 6,39-49 θεμέλιον ἐπὶ τὴν πέτραν· πλημμύρης δὲ γενομένης προσέρηξεν ὁ ποταμὸς τῇ οἰκίᾳ ἐκείνῃ, καὶ οὐκ ἴσχυσεν σαλεῦσαι αὐτὴν διὰ τὸ καλῶς οἰκοδομῆσθαι αὐτήν. 49 ὁ δὲ ἀκούσας καὶ μὴ ποιήσας ὅμοιός ἐστιν ἀνθρώπῳ οἰκοδομήσαντι οἰκίαν ἐπὶ τὴν γῆν χωρὶς θεμελίου, ᾗ προσέρηξεν ὁ ποταμός, καὶ εὐθὺς συνέπεσεν, καὶ ἐγένετο τὸ ῥῆγμα τῆς οἰκίας ἐκείνης μέγα. ] A. *6,39f: Tert. 4,17,11f: Eligant itaque Marcionitae ne tanti sit de magistri regula excidere quanti Christum aut hominibus aut creatori docentem habere. (12) Sed caecus caecum ducit in foveam. Credunt aliqui Marcioni. Sed non est discipulus super magistrum. Hoc meminisse debuerat Apelles, Marcionis de discipulo emendator … ♦ *6,42f: Tert. 4,17,12: … eximat et de oculo suo trabem haereticus, tunc in oculo Christiani si quam putat stipulam revincat … ♦ *6,43: Tert. 4,17,12: … proinde et arbor bona non proferat malum fructum, quia nec veritas haeresim; nec mala bonum, quia nec haeresis veritatem. ¦ Tert. 1,2,1: … in homines non in deos disponentis exempla illa bonae et malae arboris, quod neque bona malos neque mala bonos proferat fructus … ¦ Tert. 2,4,2: agnoscat hinc primum fructum optimum, utique optimae arboris, Marcion. ¦ Tert. 2,24,3: quia et Marcion defendit arborem bonam malos quoque fructus non licere producere. ¦ Adam. 1,28 (821a): Καθὼς λέγει τὸ εὐαγγέλιον· οὐ δύναται δένδρον σαπρὸν καρποὺς καλοὺς ἐνεγκεῖν, οὐδὲ δένδρον καλὸν καρποὺς κακοὺς ἐνέγκαι. ¦ Adam. 1,28 (821e): ὀ Χριστὸς εῖπεν ὅτι· οὐ δύναται δένδρον σαπρὸν καρποὺς καλοὺς προενεγκεῖν οὐδὲ δένδρον καλὸν καρποὺς σαπροὺς προενέγκαι. ¦ Origenes, Princ. 2,5,4 (GCS 22, 137): (die Marcioniten) aiunt namque: scriptum est quia non potest arbor bona malos fructus facere neque arbor mala bonos fructus facere. ¦ Hipp., Refut. 10,19,3 (GCS 26, 280): (die Marcioniten) διὸ καὶ ταῖς παραβολαῖς ταῖς εὐαγγελικαῖς χρῶνται οὕτως λέγοντες· οὐ δύναται δένδρον καλὸν καρποὺς πονηροὺς ποιεῖν καὶ τὰ ἐξῆς. ¦ PsTert., Haer. 6 (CSEL 47, 223,5-7): Hic ex occasione qua dictum sit omnis arbor bona bonos fructas facit mala autem malos … ¦ Filastrius, Haer. 45,2 (CCL 9, 236): non est arbor bona quae facit malum fructum neque arbor mala quae faciat bonum fructum. ♦ *6,45: Tert. 4,17,12: Sic nec Marcion aliquid boni de thesauro Cerdonis malo protulit, nec Apelles de Marcionis. ♦ *6,46: Tert. 4,17,12f: Si ita est, quis videbitur dixisse, Quid vocas, Domine, domine? (13) Utrumne qui nunquam hoc fuerat vocatus, ut nusquam adhuc editus, an ille qui semper dominus habebatur, ut a primordio cognitus, deus scilicet Iudaeorum? Quis item adiecisse potuisset, Et non facitis quae dico? B. a (6,42) εκ του οϕθαλμου: Tert D 2643 ℓ950 it vg sy s.p Tat arab armen got aeth Cyr. Alex. (Lc; PG 72, 604) ¦ το εν τω οϕθαλμω: M ● b (6,42) και ιδου η δοκος εν τω σω οϕθαλμω υποκειται: D sy s (a aur b c d e ſſ 2 l q) ¦ αυτος την εν τω οϕθαλμω σου δοκον οψ βλεπων: f g 1 gat r 1 M (*Ev non test.) ● c (6,42) εκ του οϕθαλμου: D 16 348 472 477 1216 1579 ℓ950 it vg sy s.p Tat arab armen georg aeth Athan (Ep. cast. 2,4; PG 28, 889) Basil (Reg. br. 164; PG 31, 1192) Isid. Pel. (Ep. 1,82; PG 78, 240) Ambst (Rm 12,16,2; CSEL 81, 408f) Iren (4,30,3) ¦ το εν τω οϕθαλμω: M (*Ev non test.) ● d (6,43a) Widersprüchliche Bezeugung: (1) ου δυναται: Adam Orig Hipp; Hegem (Arch. 5; 15; GCS 16, 7; 24) ¦ (2) ου … εστιν: Filastr D it M ● e (6,43a) Widersprüchliche Bezeugung: (1) γαρ/ enim: om Adam Hipp PsTert Filastr Hegem (Arch. 5; 15; GCS 16, 7; 24) ¦ (2) γαρ/ enim: add Orig D it M ● f (6,43a) Widersprüchliche Bezeugung: (1) καρπους καλους: (Adam) Orig Tert (1,2,1; 2,24,3) (Hipp) PsTert D it sy s.p aeth Hegem (Arch. 15; GCS 16, 24) ¦ (2) καρπον σαπρον/ malum fructum: Tert (4,17,12; 2,4,2) Filastr M ● g (6,43a) Widersprüchliche Bezeugung: (1) (προ-, προσ-) ενεγκειν/ proferre: Adam Tert (4,17,12; 1,2,1) ¦ (2) ποιειν: Orig Hipp PsTert Filastr M ● h (6,43b) παλιν/ iterum: om Tert Adam Orig PsTert A C D Θ Ψ 33 M a aur c d e f ſſ 2 l r 1 vg mss ¦ add P 75 א B <?page no="133"?> 6,39-49 Rekonstruktion 645 L W Ξ f 1.13 579 892 1241 2542 pc b q vg ms bo ● i (6,43b) Widersprüchliche Bezeugung: (1) καρπους καλους/ fructus bonos: (Adam) Tert (1,2,1) Orig (Hipp) PsTert D ( 1010) a b c d e f g 1 q sy s.p aeth Hegem (Arch. 15; GCS 16, 24) ¦ (2) καρπον καλον/ fructum bonum: Tert (4,17,12) Filastr aur ſſ 2 gat l r 1 vg M ● k (6,43b) Widersprüchliche Bezeugung: (1) (προ-) ενεγκαι/ proferre: Adam Tert (4,17,12) ¦ (2) ποιειν: Orig M ● l (6,46) δε με: om Tert ¦ με: P 75vid 13 543 826 828 1424 sa mss bo mss georg ¦ δε με: add M ● m (6,46) καλειτε: it M ¦ καλεις/ vocas: Tert. C. Die Kombination der abschließenden Sentenzen und Bildworte von den blinden Blindenführern, vom Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer, vom Splitter im Auge und von den Früchten des guten bzw. schlechten Baumes ist bereits für *Ev sicher bezeugt. Fraglich ist allerdings, ob und wie diese Einheit redaktionell bearbeitet wurde. 1. Die Einleitung 6,39a ist unbezeugt. Die Wendung εἶπεν δὲ καὶ παραβολὴν αὐτοῖς geht, wie die Analogien in 5,36; 12,16; 13,6; 14,7; 15,3; 18,1; 21,29 zeigen, mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die lk Redaktion zurück (s. o. zu 5,36). Auch hier besitzt die Einleitung die Funktion, die narrative Kohärenz zu verstärken: Die lk Redaktion macht aus den drei relativ unverbunden nebeneinander stehenden Sentenzen und Bildworten eine »Gleichnisrede.« 2. Während das Bildwort von den blinden Blindenführern (*6,39b) der Sache nach, das Wort vom Verhältnis von Lehrer und Schüler (*6,40a) im Wortlaut bezeugt ist, fehlt eine Bezeugung von 6,40b: Auf der einen Seite spricht Tertullian (4,17,11) die Schüler-Lehrer-Verhältnisse bei Marcion sehr deutlich an: Apelles war sein Schüler und ist zu seinem Berichtiger geworden (discipulus - emendator); Marcion hat als »Frucht vom Baum« Kerdons ebenso wenig Gutes hervorgebracht wie Apelles als »Frucht vom Baum« Marcions. Tertullian appliziert hier die Aussagen von *6,39 (Blinde), *6,40 (Schüler nicht über Lehrer) und *6,43 (Baum und Frucht) derartig geschickt miteinander, dass man den Gehalt der Sentenz Lk 6,40b (der vollkommene Schüler ist wie der Lehrer) dahinter zu hören vermeint, auch wenn sie nicht erwähnt wird. Auf der anderen Seite: Hätte Tertullian sich die Möglichkeit entgehen lassen, anhand von Lk 6,40b Apelles und Marcion jeweils als vollkommene »Schüler« ihrer häretischen Lehrer zu brandmarken? Da ein positives Argument fehlt, muss die Frage offen bleiben. 3. Unbezeugt ist auch *6,42a. Da die paränetische Funktion des Bildwortes vom Splitter und Balken im Auge ja durch die abschließende Mahnung in *6,42b direkt sichergestellt wird, ist die rhetorische Frage *6,42a für die Wirksamkeit nicht unbedingt erforderlich: Der Sinn ist auch ohne diese Frage eindeutig zu verstehen, sie könnte daher theoretisch gefehlt haben. Da Tertullian die Frage aber aus genau diesem Grund in seinem Referat auch übergangen haben könnte, bleibt das Problem unentscheidbar. Auch dieses Urteil muss offen bleiben. <?page no="134"?> 646 Anhang I 6,39-49 4. Das Gleichnis von der Frucht des guten und des schlechten Baums (*6,43) ist mehrfach bezeugt: Das Logion hat in den Auseinandersetzungen zwischen Marcion bzw. den Marcioniten und ihren katholischen Gegnern eine zentrale Rolle gespielt, wie Tertullian und viele andere belegen. 1 Hier wird das Logion durch die unbezeugte Sentenz *6,44 erläutert. Auch in diesem Fall ist die Erläuterung, die auf der Bildebene bleibt, für das Verständnis verzichtbar, zumal *6,45a.b eine nichtmetaphorische Anwendung bietet, die der Sache nach schon für *Ev bezeugt ist. Die Struktur dieses Abschnitts ist daher analog zu 6,41f zu beschreiben. a. Für das Urteil zu dem unbezeugten V. 44 ist die Überlieferungsgeschichte zu beachten: Das Logion besitzt eine Parallele in Mt 7,16, geht jedoch im mt Kontext der Bergpredigt dem Wort vom guten bzw. schlechten Baum (Mt 7,17f) voraus, anstatt ihm wie in Lk 6,43.44 zu folgen. Falls 6,44 in *Ev enthalten war, hätte Mt es von dort übernommen und umgestellt; falls nicht, hätte Lk das Logion aus Mt 7,16 übernommen, ihm aber eine neue Position gegeben. Wer hat also welche Vorlage bearbeitet? Die mt Dublette in 12,33(-35) zeigt dieselbe Anordnung der Logien wie Lk 6,43-45 Mt 12 *Ev 6 Mt 7 Die Frucht vom guten/ schlechten Baum 12,33a.b *6,43 7,17f Erkenntnis des Baumes an seiner Frucht 12,33c *6,44 7,16 Anwendung: Das Herz des guten/ schlechten Menschen 12,35 *6,45a.b — Mund und Herz 12,34a *6,45c — Angesichts dieser Entsprechungen liegt es nahe, den Ursprung dieser Einheit in *Ev in Abfolge und Umfang so anzunehmen, wie sie für den kanonischen Text bezeugt ist. Diese Annahme hat dann folgende Konsequenzen für die mutmaßliche Überlieferungsgeschichte: b. Mt hätte die Abfolge aus *Ev bei seiner Rezeption in 12,33-35 weitgehend bewahrt; nur die Stellung des Logions von Herz und Mund (12,35.34a) ist gegenüber *6,45a.b umgestellt. Da Mt diese »Dublette« ohnehin durch die Verschiebung in einen neuen Kontext redigiert hat, ist es leichter anzunehmen, dass diese Veränderung auf sein Konto geht. c. Bei der Rezeption des Logions in der Bergpredigt - also in dem narrativen Rahmen, der durch *Ev vorgegeben war - hat Mt stärker redaktionell eingegriffen: Er hat die sentenzenartige Anwendung des Bildwortes auf das Herz des Menschen weggelassen und die Abfolge von 7,16-18 gegenüber *6,43f verändert. Diese mt Änderungen haben leicht durchschaubare redaktionelle Gründe. Denn Mt hat in ______________________________ 1 Tert. 1,2,1f; 2,4,2; 2,24,3; Irenaeus, Haer. 1,27,2; 3,12,12; Hippolyt, Refut. 7,29.31; Origenes, Princ. 2,5,4 usw. Die Häresiologen diskutieren anhand dieser Stelle (und vermutlich in Reaktion auf entsprechende marcionitische Thesen) das Problem des marcionitischen Ditheismus. <?page no="135"?> 6,39-49 Rekonstruktion 647 7,13f das vermutlich aus *Ev stammende Logion *13,23f (s. dort) über die schmale/ weite Tür vor das Logion *6,43-45 || Mt 717f.16 gestellt und damit den dreifach gegliederten Schluss der Bergpredigt als Mahnung zu einem Verhalten gemäß der Goldenen Regel (Mt 7,12) eröffnet. Er hat dabei das Bildwort vom Baum mit der guten/ schlechten Frucht (Mt 7,16-20) in eine Warnung vor den falschen Propheten eingebaut, an die sich die Logien über die Herr-Herr-Sager (Mt 7,21-23) sinnvoll anschließen. 2 Durch die veränderte Einleitung musste *6,43 || Mt 7,17 vom Anfang der Einheit an ihr Ende verschoben werden. Mt hat daraus noch die motivierende Gerichtswarnung 7,18f gefolgert: Ihm geht es um das Problem der Erkenntnis der wahren Identität der Menschen, mit dem er in 7,16a das Problem der Falschpropheten löst und das er dementsprechend am Ende in 7,20 wiederholt. d. Nicht alle Probleme lassen sich durch diese überlieferungsgeschichtliche Annahme klären. Zur Rekonstruktion der genauen Gestalt von *6,43 sind einige Fragen aufgrund der Mehrfachbezeugung und der unklaren Verwendung des Logions bei Tertullian zu klären. Zunächst zeigen die ausdrücklich als Zitate aus der marcionitischen Rezeption gekennzeichneten Belege, 3 dass das Logion mit größter Wahrscheinlichkeit mit der aus Mt 7,18 bekannten Wendung οὐ δύναται/ non potest begann, nicht mit der noch bei Filastrius durchscheinenden Wendung aus Lk 6,43 οὐ γάρ ἐστιν/ non est. Sodann bietet das Zeugnis des Adam.-Dialogs gegenüber allen anderen Zeugen die Abfolge schlechter Baum - guter Baum. Der semantische Unterschied ist so minimal, dass er sich nur aus dem Kontext ergeben könnte. Dies ist (mit zweifelhaften Argumenten) für die angenommene marcionitische Änderung auch erwogen worden. 4 Aber es liegt näher, diesen Kontext in dem argumentativen Duktus zu sehen, in dem Megethius dieses Logion im Dialog verwendet. Denn er führt das Logion im Zusammenhang der Sündenlehre als Beleg dafür an, dass niemand zwei Herren dienen kann; von daher lässt sich der Einsatz mit dem schlechten Baum begründen. Diese Annahme ist leichter als die Unterstellung allgemeiner Ungenauigkeit 5 - abgesehen davon, dass dies die Glaubwürdigkeit seines Zeugnisses in unkontrollierbarer Weise einschränken würde. ______________________________ 2 Die Charakterisierung der falschen Propheten als Wölfe im Schafspelz (Mt 7,15b) hat Mt aus der Täuferpredigt (Mt 3,10) und wiederholt sie hier (vgl. L UZ , Mt I 401). 3 Adam. 1,28 (821a): Καθὼς λέγει τὸ εὐαγγέλιον … (bzw. [821e] ebenfalls im Munde des Marcioniten Megethius: ὀ Χριστὸς εῖπεν ὅτι …). - Origenes, Princ. 2,5,4: Der ganze Abschnitt handelt von den Marcioniten; von denen heißt es: aiunt namque: scriptum est quia … - Auch Hippolyt spricht explizit von der marcionitischen Verwendung des Logions: διὸ καὶ ταῖς παραβολαῖς ταῖς εὐαγγελικαῖς χρῶνται οὕτως λέγοντες … (Refut. 10,19,3). 4 H ARNACK 195*: Die nur durch Adam. »bezeugte Umstellung ist für M. verständlich, weil ihm (s. Orig.) der schlechte Baum das Gesetz, resp. der Weltschöpfer ist.« Abgesehen von allen anderen Unwahrscheinlichkeiten, interpretiert Harnack damit aber nicht Marcions Motiv, sondern das des Adamantius/ Origenes. 5 Z. B. R OTH 363: »It seems more likely that the Adamantius Dialogue, as is so often the case, simply contains an inaccuracy.« <?page no="136"?> 648 Anhang I 6,39-49 Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass Adamantius als Verb ἐνεγκεῖν bzw. προενεγκεῖν (in Teilen der Handschriften auch προσενεγκεῖν) bietet, und zwar gegen die große Mehrheit der Zeugen, die fast durchweg das auch in Lk 6,43 verwendete ποιεῖν haben. Nur Tertullian bezeugt (an zwei der vier Belege) proferre. Abgesehen von der methodischen Faustregel, dass der am weitesten vom kanonischen Text entfernte Wortlaut am ehesten für *Ev in Frage kommt, lässt sich diese Entscheidung noch weiter begründen. Denn *Ev bleibt vollständig auf der Bildebene, und da ist »Früchte treiben, hervorbringen« angemessen. Schon Mt hat die Bild- und die Sachebene sehr viel stärker vermischt, wie die moralischen Aspekte der von ihm verwendeten Adjektive zeigen: er setzt ἀγαθός und πονηρός anstelle von καλός und σαπρός. Zu dieser Angleichung von Bild- und Sachebene passt »Früchte machen, tun« (καρποὺς ποιεῖν) sehr viel besser als »Früchte treiben«. Genau diese Formulierung hat Lk in die sicher redaktionelle Täuferpredigt eingetragen 6 und sie offensichtlich auch für 6,43 übernommen. Für die Frage schließlich, ob von der Frucht (Sing.) oder von den Früchten (Plural) des Baums die Rede war, sieht die Situation noch einmal ein wenig anders aus. Von den vier Hinweisen, die Tertullian in Adv. Marc. auf das Logion gibt, bieten zwei den Singular (2,4,2; 4,17,12), zwei den Plural (1,2,1; 2,24,3). Von den anderen Zeugen hat nur Filastrius den Singular, der sich auch Lk 6,43 findet - allerdings nur in der Mehrheit der Handschriften: Auffälligerweise bieten D it sy (wie Mt 7,17f) den Plural. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Lesart durch sekundären »Parallelstelleneinfluss« zustande gekommen ist (wie die Herausgeber von NA 27 durch das Sigel p) andeuten). Vielmehr wird der Plural auf das vorkanonische Evangelium zurückgehen: Mt hat dessen Text unverändert rezipiert, Lk hat ihn bearbeitet und Singular gesetzt. Methodisch ist der Hinweis wichtig, dass zwei der genannten Aspekte (nämlich die Eingangswendung οὐ δύναται … sowie der Plural »Früchte«) sich nicht in Lk 6,43, wohl aber in Mt 7,17f finden. Dies ist ein starkes Indiz sowohl für die *Ev- Priorität vor den anderen kanonischen Evangelien als auch für die Priorität des Mt vor Lk. Denn die traditionelle Annahme der Lk-Priorität würde ja die Annahme erfordern, dass gleich mehrere Zeugen gar nicht wirklich auf *Ev rekurrieren, sondern irrtümlich den Wortlaut des Mt eintragen. 7 Solche Nötigung zur Annahme multipler Kontingenz widerrät dieser Lösung: Die »Matthäismen« in den *Ev-Referaten sind keine Ungenauigkeiten, sondern Elemente dieses vorkanonischen Evangeliums. e. Wenn die Erklärung zur überlieferungseschichtlichen Nähe von *6,43-45 und Mt 12,33-35 zutrifft, dann wird auch die unbezeugte Sentenz über das Verhältnis ______________________________ 6 Lk 3,8f: ποιήσατε οὖν καρποὺς ἀξίους τῆς μετανοίας … πᾶν οὖν δένδρον μὴ ποιοῦν καρπὸν καλὸν ἐκκόπτεται. 7 Vgl. dazu Z AHN II 463: die beiden Adam.-Belege seien als Zeugnis für *Ev auszuschließen, auch weil sie »Mt. 7,18 beidemale, auch im lat. Text in umgekehrter Ordnung der Satzglieder [geben]. Orig. gibt eine Combination von Mt. 7,18 und 12,33.« - H ARNACK 195*: »Als sicher darf angenommen werden, daß M[arcion] oder seine Vorlage sich auch hier vom Matth[äus-] Text hat beeinflussen lassen.« - R OTH 363 (zu Adam.): »The two references to this verse by Megethius are quite clearly to the parallel Mt 7: 18«, bzw. R OTH 402 (zu Orig., Hipp., PsTert. und Filastrius): »the influence of the Matthean parallels (Mt 7: 17-18; 12: 33) are readily apparent, in particular in the varying verbal constructions (e.g., potest facere, δύναται ποιεῖν, and facit).« <?page no="137"?> 6,39-49 Rekonstruktion 649 von »Herz und Mund« bzw. von Tun und Reden in *6,45c in *Ev enthalten gewesen sein. In diesem Fall liegt es näher, dass die unterschiedliche Reihenfolge von Mt 12,34a.35 gegenüber *6,45a.b/ 6,45c eine redaktionelle Änderung des Mt ist: Sie erlaubt ihm den besseren Anschluss in 12,36f. 8 5. Das Gleichnis vom Hausbau, das die lk Feldrede beschließt, ist nirgends bezeugt. Es ist zwar denkbar, dass alle Zeugen es in ihrem *Ev-Referat einfach übergangen haben, aber dies ist unwahrscheinlich. Vor allem Tertullian hätte in diesem Gleichnis eine Steilvorlage für seine Kritik an Marcion gefunden, die er sicherlich genutzt haben würde: Es bringt die Gerichtsdrohung durch den Christus Gottes zum Ausdruck und widerlegt auf diese Weise eines der Axiome der marcionitischen Gotteslehre, wie Tertullian sie verstand. Es ist daher wahrscheinlicher, dass das Gleichnis in *Ev gefehlt hat, als dass die Zeugen es stillschweigend übergangen haben. In diesem Fall hätte Lk das Gleichnis aus Mt 7,24-27 übernommen (und dabei geringfügig überarbeitet). Für diese Annahme sprechen eine Reihe von Hinweisen: a. In textkritischer Hinsicht fällt auf, dass es so gut wie keine ernsthaften Varianten zum Mehrheitstext in Lk gibt. Vor allem lassen sich in den charakteristischen Handschriften des »Westlichen Textes« keine Spuren einer vorkanonischen Fassung ausmachen. Die einzige Abweichung, die dafür in Frage käme, ist offensichtlich durch die mt Parallele beeinflusst: In *6,49 lassen D a c d εὐθὺς (συνέπεσεν) aus und entsprechen darin der mt Formulierung (Mt 7,27: καὶ ἔπεσεν), die auch sonst in der handschriftlichen Überlieferung rezipiert wurde. 9 Dieser Befund stützt zugleich die methodische Annahme, dass längere redaktionelle Einfügungen in aller Regel nicht zu dem Variantenreichtum in den »Westlichen« Handschriften führen, der für kleinere Änderungen in bereits vorkanonisch gesicherten Passagen charakteristisch ist. b. Ein weiteres Argument für den sekundären Charakter von 6,46-49 ergibt sich aus dem synoptischen Vergleich: Die Nähe zwischen Lk 6,46-49 und Mt 7,21.24-27 ist hier deutlich größer als in den vorangehenden Logien, die für *Ev bezeugt sind. Das legt die Vermutung nahe, dass Lk hier einfach auf Mt zurückgreift. c. Hinzu kommt, dass die Verwendung des Gerichtsmotivs als Begründung für das »Tun« bekanntlich in einer ganzen Reihe von mt Texten begegnet und einen der Schwerpunkte seines redaktionellen Konzeptes bildet. Möglicherweise intendiert die lk Rezeption des mt Logions auch eine »kanonische« Dimension, die sich in der analogen Behandlung des Problems »Hören und Tun« (Jak 1,22-26) bzw. »Glauben ohne Werke« (Jak 2,22) zeigt. In diesem Fall würde die lk Ergänzung von *Ev einen kanonischen Kohärenzverweis intendieren. ______________________________ 8 Vgl. L UZ , Mt II 258 Anm. 47. 9 Vgl. επεσεν: A C W Ψ M , anstelle von συνεπεσεν: P 45.74 א B D L Θ Ξ f 1.13 33 579 700 892 1241 2542 pc. <?page no="138"?> 650 Anhang I 6,39-49 6. Wenn das Ende der lk Feldrede (6,47-49) in *Ev gefehlt hat, bildet die Sentenz *6,46 den Abschluss der Feldrede in *Ev: Die Mahnung, das Gehörte auch zu tun, bleibt zwar implizit, ist deswegen aber nicht weniger deutlich. Tertullians Referat ist an dieser Stelle unklar, weil er *46a καλεῖς/ vocas im Singular, *46b ποιεῖτε/ facite dagegen im Plural bezeugt. Es ist schwer vorstellbar, dass *Ev eine solche Inkongruenz enthalten haben sollte; obwohl es andererseits keine Erklärung für den Numeruswechsel in Tertullians Referat gibt, bleibt dies die leichtere Erklärung, auch wenn die Rekonstruktion in diesem Fall gegen das einzige Zeugnis steht. *7,1-2.3-8.9.10: Der Centurio in Kapharnaum und sein Sklave Nur in geringen Teilen bezeugt, aber im Kern sicher vorhanden. Textgestalt unklar, mit hoher Wahrscheinlichkeit ergänzt. 7,1 a Καὶ ἐγένετο ὅτε ἐτέλεσεν ταῦτα τὰ ῥήματα λαλῶν ἦλθεν a εἰς Καϕαρναούμ. 2 ῾Εκατοντάρχου δέ τινος b παῖς κακῶς ἔχων ἤμελλεν τελευτᾶν, ὃς ἦν αὐτῷ c τίμιος. 3 ἀκούσας δὲ περὶ τοῦ Ἰησοῦ ἀπέστειλεν d [ πρὸς αὐτὸν ] d πρεσβυτέρους τῶν Ἰουδαίων, ἐρωτῶν αὐτὸν ὅπως ἐλθὼν διασώσῃ τὸν δοῦλον αὐτοῦ. 4 οἱ δὲ παραγενόμενοι πρὸς τὸν Ἰησοῦν e ἠρώτων αὐτὸν σπουδαίως, λέγοντες ὅτι Ἄξιός ἐστιν ᾧ παρέξῃ τοῦτο, 5 ἀγαπᾷ γὰρ τὸ ἔθνος ἡμῶν καὶ τὴν συναγωγὴν αὐτὸς ᾠκοδόμησεν ἡμῖν. 6 ὁ δὲ Ἰησοῦς ἐπορεύετο σὺν αὐτοῖς. ἤδη δὲ αὐτοῦ οὐ μακρὰν ἀπέχοντος ἀπὸ τῆς οἰκίας ἔπεμψεν ϕίλους. ὁ ἑκατοντάρχης λέγων αὐτῷ, Κύριε, μὴ σκύλλου, οὐ γὰρ ἱκανός εἰμι ἵνα ὑπὸ τὴν στέγην μου εἰσέλθῃς· 7 f [ διὸ οὐδὲ ἐμαυτὸν ἠξίωσα πρὸς σὲ ἐλθεῖν· ] f ἀλλὰ εἰπὲ λόγῳ, καὶ ἰαθήτω ὁ παῖς μου. 8 καὶ γὰρ ἐγὼ ἄνθρωπός εἰμι ὑπὸ ἐξουσίαν τασσόμενος, ἔχων ὑπ’ ἐμαυτὸν στρατιώτας, καὶ λέγω τούτῳ, Πορεύθητι, καὶ πορεύεται, καὶ ἄλλῳ, Ἔρχου, καὶ ἔρχεται, καὶ τῷ δούλῳ μου, Ποίησον τοῦτο, καὶ ποιεῖ. 9 ἀκούσας δὲ ταῦτα ὁ Ἰησοῦς ἐθαύμασεν αὐτόν, καὶ στραϕεὶς τῷ ἀκολουθοῦντι αὐτῷ ὄχλῳ εἶπεν, g Ἀμὴν λέγω h [ δὲ ] ὑμῖν, i παρ ʼ οὐδενὶ i k †τοιαύτην† πίστιν l ἐν τῷ Ἰσραὴλ εὗρον l . 10 καὶ ὑποστρέψαντες εἰς τὸν οἶκον οἱ πεμϕθέντες m δοῦλοι εὗρον τὸν m [ δοῦλον ] ὑγιαίνοντα. A. *7,1.9: Tert. 4,18,1: Proinde extollenda fide centurionis incredibile si is professus est talem se fidem nec in Israele invenisse ad quem non pertinebatfides Israelis. Sed nec exinde pertinere poterat, adhuc cruda ut probaretur vel compararetur, ne dixerim adhuc nulla. Sed cur non licuerit illi alienae fidei exemplo uti? Quoniam si ita esset, dixisset talem fidem nec in Israele unquam fuisse: ceterum dicens talem fidem debuisse se invenire in Israele, qui quidem ad hoc venisset ut eam inveniret, deus scilicet et Christus Israelis, quam non suggillasset nisi exactor et sectator eius. <?page no="139"?> 7,1-10 Rekonstruktion 651 ♦ *7,9: Epiph., Schol. 7: λέγω δὲ ὑμῖν, τοσαύτην πίστιν οὐδὲ ἐν τῷ Ἰσραὴλ εὗρον. ¦ Epiph. Elench. 7: εἰ οὐδὲ ἐν τῷ Ἰσραὴλ τοιαύτην πίστιν εὗρεν ὡς ἐν τῷ ἀπὸ ἐθνῶν ἐλθόντι ἑκατοντάρχῃ ... B. a (7,1) και εγενετο οτε ετελεσεν ταυτα τα ρηματα λαλων ηλθεν: D q sy hmg ; και εγενετο οτε ετελεσεν παντα τα ρηματα λαλων ηλθεν: a aur b c d ſſ 2 l ¦ επειδη επληρωσεν παντα τα ρηματα αυτου εις τας ακοας του λαου εισηλθεν: e f r 1 vg M (*Ev non test.) ● b (7,2) παις/ puer: D c d; τις: D* ¦ δουλος: it M (*Ev non test.) ● c (7,2) τιμιος/ carus (honoratus): D a e (d) ¦ εντιμος/ pretiosus: aur b c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● d (7,3) προς αυτον: om D 13 69 543 700 788 826 828 983 ℓ1016 a aur b c d e ſſ 2 l q r 1 bo 1ms Tat pers armen Chrys (Cent, PG 61, 769) ¦ add f g 1 gat M (*Ev non test.) ● e (7,4) ηρωτων: א D L Ξ 1 13 69 131 346 543 579 700 788 826 828 1342 1582 2542 it vg sy s.p.h bo armen aeth ¦ παρεκαλουν: M (*Ev non test.) ● f (7,7) διο ουδε εμαυτον ηξιωσα προς σε ελθειν: om D 700* a b c d e ſſ 2 gat l r 1 sy s ¦ add f g 1 q M (*Ev non test.) ● g (7,9) αμην: D Θ Ψ f 13 2542 pc a aur c d e f l vg bo mss ; αμην αμην: ſſ 2 r 1 ¦ om b q M (*Ev non test.) ● h (7,9) δε: Epiph ¦ om it M ● i (7,9) παρ ʼ ουδενι/ in nullo: Θ a aur b c f ſſ 2 l q r 1 Ephr (Comm. Diat. 6,22; CSCO 137, 84; FC 54/ 1, 268) Ambr (Lc. 5,87; CCL 14, 163) ¦ ουδεποτε/ numquam: D d ¦ ουδε: Tert Epiph e f M ● k (7,9) Widersprüchliche Bezeugung: (1) τοιαυτην/ M talem: Tert Epiph (Elench. [! ] 7) e r 1 sy j (aeth: ος πιστευει ως ουτος) ¦ (2) τοσαυτην/ tantam: Epiph (Schol. [! ] 7) a aur b c d f ſſ 2 l q M ● l (7,9) εν τω Ισραηλ ευρον: Epiph Tert (vgl. Mt 8,10); ευρον εν τω Ισραηλ: D Θ a aur b c d f ſſ 2 l q r 1 Ambr Ephr ¦ ευρον … εν τω Ισραηλ: e; εν τω Ισραηλ … ευρον: Epiph (Elench.! ) e M ● m (7,10) δουλοι: D d ¦ om: it M (*Ev non test.) ● n (7,10) δουλον: om D d ¦ add δουλον: P 75 א B L W 1 131 157 205 209 579 700 716 892* 1241 1342 1582 2542 a aur b c e ſſ 2 g 1 l q r 1 sy s.j sa bo aeth; ασθενουντα δουλον: A C Θ Ψ f 13 33 f vg sy p.h M (*Ev non test.). C. Dass *Ev die Erzählung von dem Knecht des Centurio kannte, ist gesichert durch Tertullians Erwähnung des ἑκατοντάρχης/ centurio (*7,2) sowie durch das Zitat des abschließenden Jesuswortes *7,9 bei Epiphanius, auf das auch Tertullian referiert. Aber welche genaue Gestalt die Perikope besaß, lässt sich aufgrund der direkten Bezeugung allein nicht ausmachen. In diesem Fall ist die mangelhafte Bezeugung besonders bedauerlich: Durch eine genauere Rekonstruktion ließe sich der Anteil der lk Redaktion mit größerer Sicherheit bestimmen, der nicht nur für die Rekonstruktion von »Q« im Rahmen der Zwei-Quellentheorie ein viel beackertes Forschungsfeld darstellt, 1 sondern auch für die weiteren Beziehungen von *7,1-10 zu Mt 8,5-13 und zu Joh 4,46b-53 sowie möglicherweise zu Mk 5,22-24.35-43 weitere Einsichten in die Überlieferungsgeschichte ermöglicht hätte. Aus diesem Grund ist die Rekonstruktion zunächst auf die Auswertung der handschriftlichen Bezeugung der kanonischen Fassung angewiesen. 1. Die Exposition in *7,1 stellt den Anschluss an die vorangehende Feldrede her. Im Rahmen der Zwei-Quellentheorie nimmt eine Mehrheit der Forscher schon lange an, dass »Q« eine entsprechende Überleitungsformulierung enthielt. 2 Für diese Annahme spricht, dass Mt und Lk die Akoluthie von Bergpredigt bzw. Feldrede ______________________________ 1 Vgl. dazu die Dokumentation bei S. R. J OHNSON , Q 7: 1-10. The Centurion’s Faith in Jesus’ Word, Leuven 2002. 2 Vgl. die Dokumentation der Argumente bei J OHNSON , a. a. O. 4-20. <?page no="140"?> 652 Anhang I 7,1-10 und der Erzählung vom Hauptmann in Kapharnaum bereits in *Ev vorgefunden hatten. In diesem Fall wäre Mt 7,28b.29 eine aus Mk 1,21f stammende redaktionelle Ergänzung dieser ursprünglichen Redeabschlussnotiz. Dass Mt die Erzählung von der Heilung des Aussätzigen (Mt 8,1-4) selbständig aus *5,12-14 (s. dort) zwischen die Bergpredigt (Mt 5,2-7,29) und die Erzählung vom Knecht des Hauptmanns (Mt 8,5-13) gesetzt hat, ist ohnehin klar. 3 In diesem Fall wären die typisch mt Redeabschlussformeln (außer Mt 7,28 noch 11,1; 13,53; 19,1; 26,1) insgesamt durch *7,1a angeregt worden. Wenn die Redeabschlussnotiz *7,1a in *Ev enthalten war, bleibt die Frage nach der genauen Formulierung, die in Mt 7,28 und Lk 7,1 voneinander abweicht. Wie auch sonst so häufig, enthält der Text von *7,1a in D q sy hmg (it) wahrscheinlich den ursprünglichen Wortlaut. *7,1a D (it) sy hmg Mt 7,28a Lk 7,1a καὶ ἐγένετο ὅτε ἐτέλεσεν καὶ ἐγένετο ὅτε ἐτέλεσεν ἐπειδὴ ἐπλήρωσεν ὁ Ἰησοῦς ταῦτα τὰ ῥήματα λαλῶν τοὺς λόγους τούτους πάντα τὰ ῥήματα αὐτοῦ εἰς τὰς ἀκοὰς τοῦ λαοῦ Demnach haben sowohl Mt als auch Lk die Einleitung von *Ev geringfügig, aber charakteristisch bearbeitet. Die wichtigste Einsicht besteht darin, dass die »typisch mt« Redeabschlussformel auf *Ev zurückgeht, und zwar auch in der Formulierung καὶ ἐγένετο ὅτε ἐτέλεσεν …; Mt hat sie in allen Fällen identisch beibehalten, aber das Objekt jeweils an den Kontext angeglichen. 4 Lk hat die Einleitungswendung geändert (ἐπειδὴ ἐπλήρωσεν), aber sowohl die Formulierung ohne nominales Subjekt als auch das Objekt τὰ ῥήματα aus *Ev übernommen. Die lk Veränderung der Einleitungswendung und das indirekte Objekt (εἰς τὰς ἀκοὰς τοῦ λαοῦ) enthalten charakteristisch redaktionelle Stilelemente. 5 Mit dieser redaktionellen Bearbeitung von *7,1a hat Lk darüber hinaus eine narrative Inkongruenz geschaffen: Die Abschlussnotiz der Feldrede nennt als Adressaten das Volk (ὁ λαός), während die aus *Ev stammende Einleitung der Feldrede direkt die Jünger erwähnt (οἱ μαθηταί *6,20; s. dort). ______________________________ 3 Vgl. U. W EGNER , Der Hauptmann von Kafarnaum, Tübingen 1985, 102; E. S EVENICH -B AX , Israels Konfrontation mit den letzten Boten der Weisheit, Altenberge 1993, 161f. 4 Die Einleitungswendung καὶ ἐγένετο ὅτε ἐτέλεσεν ὁ Ἰησοῦς … taucht in allen fünf Belegen wörtlich gleich auf; das Objekt lautet in 7,28: τοὺς λόγους τούτους; 11,1: διατάσσων τοῖς δώδεκα μαθηταῖς αὐτοῦ; 13,53: τὰς παραβολὰς ταύτας; 19,1: τοὺς λόγους τούτους; 26,1: πάντας τοὺς λόγους τούτους. Zum Ganzen vgl. auch K LEIN , Lk 269 Anm. 2, der Lk 7,1 insgesamt für lk formuliert hält. 5 Vgl. etwa zu πληροῦν Lk 22,16 (sicher red., s. dort); zu εἰς τὰς ἀκοάς vgl. die ebenfalls red. Formulierungen 1,44 (εἰς τὰ ὦτά μου); Act 17,22. Vgl. weiter K LEIN , Lk 269 Anm. 2, der allerdings davon ausgeht, dass der Vers »ganz von Lk formuliert« sei. <?page no="141"?> 7,1-10 Rekonstruktion 653 2. Das Fehlen einer direkten Bezeugung für *7,3-8 wirft das größte und folgenreichste Problem dieser Perikope auf. Denn Lk 7,1-10 weicht von Mt 8,5-13 vor allem darin ab, dass die Sendung und Fürbitte der Ältesten der Juden für den Centurio (Lk 7,3-5) und die zweite Sendung der Freunde (Lk 7,6f) kein Gegenstück in Mt hat: Die lk Fassung legt großes Gewicht darauf, dass Jesus und der Centurio sich nicht direkt begegnen: Zuerst wird seine Bitte durch die πρεσβύτεροι τῶν Ἰουδαίων vermittelt (Lk 7,3-6), die sich für ihn stark machen (7,5: παρεκάλουν αὐτὸν σπουδαίως). Als dann Jesus sich auf den Weg zum Centurio aufmacht, schickt dieser eine zweite Delegation von Freunden, die in seinem Auftrag Jesus aufhalten und um ein Machtwort bitten (Lk 7,6b-8). Den Glauben, den Jesus erstaunt (Lk 7,9: ἐθαύμασεν) registriert und der zur Heilung des Knechtes führt, hat gar nicht der Centurio selbst bekannt, sondern die ϕίλοι an seiner Stelle! Im Gegensatz dazu lässt Mt den Centurio zu Jesus kommen (Mt 8,5: προσῆλθεν) und ihn selbst direkt für den Knecht bitten (Mt 8,5f: παρακαλῶν αὐτὸν καὶ λέγων): Mt hat keine Schwierigkeiten, Jesus in direktem Gespräch mit dem heidnischen Centurio zu zeigen. Diese Differenzen werfen im Horizont der Zwei-Quellentheorie die Frage nach der ursprünglichen Gestalt dieser Erzählung auf. Auf der einen Seite gibt es den Versuch, die lk »Überschüsse« schon für »Q« zu reklamieren 6 oder sie einer vorlk Fassung zuzuschreiben. 7 Aber die überwiegende Mehrzahl erklärt die doppelte Sendung von Ältesten und Freunden (Lk 7,3.6) sowie die Charakterisierung des Centurio als Gottesfürchtiger (Lk 7,4f) als lk Redaktion: Lk habe sie in eine »Q«-Fassung eingearbeitet, die i. W. der mt Fassung entsprochen habe. 8 Aus diesem Grund sind die Varianten der Handschriftenüberlieferung von Lk 7,3-8 von großer Bedeutung: Wenn sie als Spuren der Interferenz von vorkanonischer und kanonischer Übelieferung interpretiert werden können, wäre dies ein Beleg für die Existenz der entsprechenden Passagen in dem vorkanonischen *Ev- Text. In Lk 7,3 fehlt das indirekte Objekt mit der Angabe des Zieles der Sendung der jüdischen Ältesten (πρὸς αυτόν) in einer Reihe von Handschriften, zu denen besonders die »üblichen Verdächtigen« für Spuren des vorkanonischen Textes gehören, vor allem D it. Neben einem großen Teil der Zeugen der »Ferrar Group« (f 13 ) gehört auch die Minuskel (*)700 dazu, die immer wieder »Westliche« Lesarten enthält. Die charakteristische Lücke in diesen Handschriften ist ein deutliches ______________________________ 6 Vgl. vor allem A. D AUER , Johannes und Lukas, Würzburg 1984, 39-125: 114f. 7 Mit lk Sondergut (Lk S ) rechnet etwa T. S CHRAMM , Der Markus-Stoff bei Lukas, Cambridge 1971, 40-43. Eine vorlk Sonderüberlieferung (Q Lk ) hat beispielsweise M. S ATO , Q und Prophetie, Tübingen 1988, 55, vorgeschlagen. 8 Vgl. zuletzt R. A. J. G AGNON , The Shape of Matthew’s Q Text of the Centurion at Capernaum: Did It Mention Delegations? , NTS 40 (1994), 133-142; DERS ., Luke’s Motives for Redaction in the Account of the Double Delegation in Luke 7: 1-10, NovT 36 (1994), 122-145. S. auch W OLTER , Lk 269; L UZ , Mt II 13; sowie die Dokumentation bei J OHNSON , a. a. O. (passim). <?page no="142"?> 654 Anhang I 7,1-10 Signal, dass die lk Redaktion die Worte πρὸς αυτόν präzisierend ergänzt hat. Im Umkehrschluss belegt dies jedoch die Sendung der jüdischen Ältesten für den von Lk redigierten Text: *Ev. Analoges gilt für diejenigen Handschriften, die anstelle von παρεκάλουν Lk 7,4 im Mehrheitstext das deutlich schwächere ἠρώτων bieten ( א D f 1.13 it). In diesem Fall ist der Sinn der Änderung deutlich: Da die Ältesten Jesus σπουδαίως angehen, passt die durch παρακαλέω ausgedrückte intensive Bitte erkennbar besser als das einfache Fragen (ἠρώτων/ rogabant). Auch hier ist der ältere Ursprungstext vorausgesetzt. Besonders deutlich ist schließlich die Lücke in Lk 7,7a D it sy u. a.: In diesen Handschriften fehlt die Begründung des Hauptmanns für die Nutzung vermittelnder Gesandtschaften: διὸ οὐδὲ ἐμαυτὸν ἠξίωσα πρὸς σὲ ἐλθεῖν. Da die erste Gesandtschaft schon in 7,3 erwähnt war und da der Centurio außerdem in 7,6b begründet hatte, warum Jesus sich nicht zu ihm bemühen solle, wirkt diese Äußerung deplatziert. Sie ist aber nicht nachträglich gestrichen, sondern ergänzt worden: Sie erklärt die umständliche doppelte Sendung, deren narrative Schwerfälligkeit verschiedentlich vermerkt wurde. 9 Diese Beobachtungen lassen es daher geraten erscheinen, die doppelte Gesandtschaft bereits für den vorkanonischen *Ev-Text anzunehmen, auch wenn sich dieses überlieferungsgeschichtliche Urteil nicht mit der gewünschten Sicherheit begründen lässt. Insbesondere bleibt offen, ob die Charakterisierung des Centurio als Gottesfürchtiger, der die Synagoge in Kapharnaum gestiftet hat, bereits in *Ev stand. 3. Die Überarbeitungsspuren zeigen sich auch in der Inkonsequenz, mit der Lk den *Ev-Text bearbeitet hat. So fällt auf, dass Lk 7,7 vom παῖς des Centurios spricht, während in den Vv. 2.3.10 vom δοῦλος die Rede ist. Wie die Parallelen Mt 8,6 ≠ Lk 7,2 und Mt 8,13 ≠ Lk 7,10 zeigen, spricht alles dafür, dass die vorkanonische Erzählung den παῖς enthielt, 10 den die lk Redaktion durch δοῦλος ersetzte, dabei aber nicht konsequent vorging: Das vorkanonische παῖς hat sich in in *7,2 D c d erhalten. Dass sich der uneinheitliche Sprachgebrauch in der lk Fassung auf die Erzählstimme (Lk 7,2.3.10 δοῦλος) und auf die Figurenrede (Lk 7,7 παῖς) verteilt, ist daher dem Zufall der inkonsequenten Redaktion geschuldet; zu *7,10 s. gleich. Mit dieser Veränderung gehen zwei andere Eingriffe einher. Denn man wird nicht fehlgehen in der Annahme, dass Lk durch die Ersetzung des παῖς durch δοῦλος ______________________________ 9 Vgl. W OLTER , Lk 272: »Erzählerisch … nicht besonders gut gelungen.« Tatsächlich bittet die erste Gesandtschaft um Jesu Kommen (7,3b: ὅπως ἐ λ θ ὼ ν διασώσῃ τὸν δοῦλον αὐτοῦ), die zweite widerruft diesen Wunsch jedoch (7,6: οὐ γὰρ ἱκανός εἰμι ἵνα ὑπὸ τὴν στέγην μου ε ἰ σ έ λ θ ῃ ς ), vgl. R ADL , Lk 440. Dass die Botenrede (7,6b.7) in der 1. Pers. Sing. ergeht und so klingt, als ob der Centurio direkt mit Jesus spreche, ist allerdings normal und verursacht keine narrative Spannung (gegen D. R. C ATCHPOLE , The Centurion’s Faith and its Function in Q, in: Fr. Van Segbroeck et al. (eds.), The Four Gospels I, Leuven 1992, 517-540: 530f. 10 Vgl. dazu die Belege bei J OHNSON , a. a. O. 167-182 (im methodischen Horizont der Zwei-Quellentheorie). <?page no="143"?> 7,1-10 Rekonstruktion 655 auf die Statusdifferenz von Herrn und Sklaven abzielte, die in der Argumentation des Centurio thematisiert wird (*7,8c: καὶ τῷ δούλῳ μου· ποίησον τοῦτο, καὶ ποιεῖ) und durch die sich dieser gegenüber dem κύριος Jesus (*7,6) selbst als δοῦλος charakterisiert. 11 Auch wenn der παῖς nicht der »Sohn« des Hauptmanns ist, 12 drückt diese Wortwahl doch die Zugehörigkeit zum Haushalt aus, was nicht für jeden Sklaven zutrifft (aber zutreffen kann). Lk hat das eher formale Statusgefälle zwischen dem Centurio und dem δοῦλος gegenüber den beim παῖς möglicherweise mitschwingenden emotionalen Aspekten durch die Veränderung in V. 2 zum Ausdruck gebracht: Im vorkanonischen Text stand, dass der Bursche dem Centurio »lieb« war (τίμιος/ carus: so noch in D it erhalten); Lk setzt stattdessen, dass der Sklave ihm »wertvoll« (ἔντιμος/ pretiosus) war. 4. Wenn Lk 7,7a redaktionell ist, dann hat Lk an dieser Stelle die Selbstbeschreibung des Centurio (οὐδὲ ἐμαυτὸν ἠ ξ ί ω σ α ) aus der Fremdbeschreibung durch die jüdischen Ältesten übernommen (*7,4: ἄ ξ ι ό ς ἐστιν ᾧ παρέξῃ τοῦτο). Dadurch ergibt sich eine doppelte Spannung. Auf der einen Seite enthielt der vorkanonische Text sicher die Bemerkung des Centurio, er sei nicht »genug« (ἱκανός *7,6 || Mt 8,7) für Jesus. Der vorkanonische Text hat dem Centurio hier eine soziale Selbsteinschätzung in den Mund gelegt, die erst durch das Votum der Ältesten mit dem Hinweis auf den Bau der Synagoge den religiösen Aspekt der Würdigkeit erhält, den Lk 7,7a redaktionell verstärkt. Auf der anderen Seite steht die Begründung der Ältesten, der Centurio sei der Zuwendung durch Jesus »würdig«, weil er »unser Volk liebt und uns die Synagoge gebaut hat« (*7,5), in Spannung zum Urteil Jesu, der auf die staunenswerte πίστις des Centurio reagiert, aber nicht auf dessen Euergetismus. Zur Debatte steht also die Zugehörigkeit von *7,5 zum vorkanonischen Text. Im Unterschied zu *7,3.4.7 gibt die handschriftliche Überlieferung keinerlei Hinweise auf eine Überarbeitung, die den Grundbestand des Verses für *Ev sicherstellen würde. Es sind verschiedene Aspekte zu bedenken: Zunächst ist die enge Parallele zwischen *7,4f und Act 10,1f deutlich. Dass Heiden aufgrund ihres faktischen Erweises von Barmherzigkeit (ἐλεημοσύναι) und Gebet ihre εὐσέβεια unter Beweis stellen und daher als ϕοβούμενοι τὸν θεόν gelten können (Act 10,2), ist im Blick auf die Komposition in Act 10f ein zentrales Anliegen der lk Theologie, wie nicht zuletzt Act 10,34f ______________________________ 11 Das Vollmachts- und Gehorsamsgefälle von *7,8 zeigt den Centurio in einer Mittelstellung einerseits als Befehlsempfänger (ἐγὼ ἄνθρωπός εἰμι ὑπὸ ἐξουσίαν τασσόμενος) und andererseits als Befehlshaber. Dass allerdings »Lk selbst δοῦλος war und einen Herren hatte, der sich in solcher Weise für seinen δοῦλος einsetzen konnte« (K LEIN , Lk 269 Anm. 1), ist zu viel gesagt. 12 So R ADL , Lk 440. Im Deutschen erfasst »Bursche« die Bedeutungsbreite von παῖς am besten: Ein Bursche kann sowohl ein Kind als auch einen Diener bezeichnen. In der Rezeption von παῖς (*7,2) hat Joh den ersten Aspekt betont (Joh 4,46: υἱός; 4,49: παιδίον), Lk (δοῦλος) den zweiten. <?page no="144"?> 656 Anhang I 7,1-10 beweist. 13 Das Verhältnis der beiden Schilderungen der Hauptleute in Lk 7 und in Act 10 ist damit aber noch nicht ausgemacht: 7,5 und Act 10,1f können auf einer Ebene zusammengehören und sich der gestaltenden Hand der lk Redaktion verdanken, aber es ist ebenso gut denkbar, dass Act 10,1f in Anlehnung an eine entsprechende vorkanonische Charakterisierung in *7,5 formuliert wurde. Hier bleibt ein non liquet. Wenn *7,5 im vorkanonischen Text enthalten war, dann lässt sich dies als Hinweis auf die Entstehungszeit von *Ev auswerten. Denn da der (heidnische) ἑκατοντάρχης (wie alle anderen Hauptleute und Obersten bei Lk sonst auch) 14 vermutlich ein Römer war, kommt man mit Sicherheit in eine Zeit deutlich nach 70 n. Chr., weil es vorher keine römische Truppen in Palästina gab. 15 Dass er damit einen Anachronismus geschaffen hätte, muss *Ev nicht bewußt gewesen sein und braucht ihn, falls doch, nicht groß gestört zu haben. Seine Rezipienten haben sich jedenfalls daran nicht gestoßen, auch Mk nicht, der in Mk 5,1-20 einen ähnlichen Anachronismus übernimmt (vgl. u. zu *8,26-39). 16 Auch aus historischer Perspektive ergibt sich also kein Kriterium für die Beurteilung von *7,5. Damit bleibt die Frage der inneren Logik und des eigentlichen Grundes für die Zuwendung Jesu: Jesus hat den Knecht nicht aufgrund der *7,5 genannten Verdienste des Centurios geheilt, sondern wegen dessen staunenswerten Glaubens, wie die Abfolge von *7,9.10 erkennen lässt. 17 Die Spannung zwischen der Begründung der Würdigkeit des Centurio *7,5 und seinem Glauben *7,9 bleibt in jedem Fall für die vorkanonische Fassung erhalten, weil sich Jesus aufgrund der (für *Ev wahrscheinlich gemachten) Fürsprache der jüdischen Ältesten auf den Weg macht: Die Spannungen lassen sich nicht literarkritisch beseitigen, sondern sind ein Element des vorkanonischen Textes. Wenn Lk tatsächlich den freigebigen Erweis der Frömmigkeit des Centurio redaktionell ergänzt hätte, hätte er dies im Übrigen durch eine allgemeine und situationsabstrakte Charakterisierung wie im Fall des Kornelius (Almosen und Gebet) unverfänglicher tun können, als dies mit dem Hinweis auf den Synagogenbau der Fall ist. Obwohl sich für die Zugehörigkeit von *7,5 zur vorkanonischen Fassung keine eindeutigen Argumente finden lassen, spricht doch mehr dafür, dass dieser Hinweis schon in *Ev stand als dass es sich um einen redaktionellen Nachtrag handelt. 5. Die abschließende Pointe im Munde Jesu *7,9 ist äußerst disparat überliefert. Sieht man von einigen weiteren, kleineren Abweichungen ab, dann sind folgende Hauptformen zu unterscheiden: 1. ουδε εν τω Ισραηλ τοσαυτην πιστιν ευρον: M (= NA 27 ). 2. ουδεποτε τοσαυτην πιστιν ευρον εν τω Ισραηλ: D d. 3. τοσαυτην πιστιν ουδε εν τω Ισραηλ ευρον: Epiph (Schol.). 4. ουδε εν τω Ισραηλ τοιαυτην πιστιν ευρον: Epiph (Elench.). ______________________________ 13 Vgl. dazu M. K LINGHARDT , Gesetz und Volk Gottes, Tübingen 1988, 209-214. 14 Vgl. R ADL , Lk 440 Mit Anm. 685f. 15 Vgl. dazu M. K LINGHARDT , Legionsschweine in Gerasa. Lokalkolorit und historischer Hintergrund von Mk 5,1-20, ZNW 98 (2007), 28-48. 16 Hat Joh, der hier von einem βασιλικός und nicht von einem ἑκατοντάρχης spricht (Joh 4,46.49), dieses Problem gesehen? Vgl. T HYEN , Joh 289. 17 Gegen E. H AENCHEN , Miracle and Faith, in: K. Aland et al. (eds.), Studia Evangelica 1, Berlin 1959, 495-498: 496. <?page no="145"?> 7,1-10 Rekonstruktion 657 5. τοιαυτην πιστιν ουδε εν τω Ισραηλ ευρον: Tert. 18 6. ουδε ευρον τοιαυτην πιστιν εν τω Ισραηλ: e. 7. ουδε εν τω Ισραηλ τοιαυτην πιστιν ευρον: f. 8. παρ ʼ ουδενι τοσαυτην πιστιν ευρον εν τω Ισραηλ: Θ a aur b c f ſſ 2 l q r 1 Ambr Ephr. 9. παρ ʼ ουδενι τοσαυτην πιστιν εν τω Ισραηλ ευρον: Mt 8,10. Die große Disparität erschwert bereits eine übersichtliche Darstellung der einzelnen Fassungen: Die Abweichungen zwischen den direkten Zeugen (Tertullian und Epiphanius), aber auch die Varianten innerhalb der für textgeschichtliche Interferenzen anfälligen Gruppe (D it u. a.) machen es unwahrscheinlich, dass der Grundtext in *Ev mit einer der hier aufgeführten Fassungen identisch ist. Zu unterscheiden sind drei Abweichungen, die sinnvollerweise jeweils für sich zu beurteilen sind: Die Verneinung ist in drei verschiedenen Formen bezeugt: Tertullian, Epiphanius sowie die Altlateiner e f und der Mehrheitstext ( M ) bieten einfaches ουδε. Die auch von der mt Parallele bezeugte Form παρ ʼ ουδενι ist vor allem in einigen Altlateinern (a aur b c f ſſ 2 l q r 1 ), aber auch von patristischen Zeugen (Ambrosius, Ephraem) belegt. Die temporale Variante (ουδεποτε) ist dagegen nur durch D d bezeugt. Unter Berücksichtigung der mutmaßlichen Überlieferungsgeschichte sowie der Interferenz von kanonischer und vorkanonischer Überlieferung ist es daher am wahrscheinlichsten, dass *Ev das auch von Mt bezeugte παρ ʼ οὐδενί las. Die abweichenden Wortstellungen lassen sich am einfachsten erfassen, wenn man sie als unterschiedliche Varianten der Wortfolge von Prädikat (εὗρον) und indirektem Objekt (ἐν τῷ Ἰσραήλ) versteht. Beide stehen in dieser Reihenfolge direkt nebeneinander in D it u. a. (2. und 8.), in der umgekehrten Reihenfolge (εν τω Ισραηλ ευρον) dagegen bei Tertullian (3.), Epiphanius (5.) und in der mt Parallele (9.). Daneben ist das Syntagma aber auch in getrennter Stellung bezeugt: εν τω Ισραηλ … ευρον im Mehrheitstext ( M = NA 27 ), in Epiphanius’ Elenchi und in einem Altlateiner (f). Ebenfalls durch τοσαυτην πιστιν getrennt, aber in der umgekehrten Abfolge (ευρον … εν τω Ισραηλ) liest nur der Palatinus (6.). Die Übereinstimmung der beiden direkten Zeugen mit der mt Fassung legt es nahe, dass *Ev die Abfolge ἐν τῷ Ἰσραὴλ εὗρον enthielt. Schließlich bezeugen Tertullian (bis) sowie zwei Altlateiner (e f) τοιαύτην/ talem anstelle des anonsten durchgängig belegten τοσαύτην/ tantam. Diese Variante ist am schwierigsten zu beurteilen, denn Epiphanius hat in seiner Scholienliste τοσαύτην, im unmittelbar folgenden Elench. 7 (GCS 31; 126,27) dagegen τοιαύτην. Dieses Phänomen ist schwer zu erklären. Denn es ist klar, dass Epiphanius bei der Abfassung seiner Elenchi kein *Ev-Exemplar zur Hand hatte: Er hat bei der Abfassung von Haer. 42 nur mit der älteren Scholienliste gearbeitet und diese nicht noch einmal kontrolliert. 19 Von daher müssen die Abweichungen in Elench. 7 auf seine eigene Ungenauigkeit bzw. auf eine Eintragung des vertrauten, kanonischen Wortlauts zurückgehen. Das ist möglich, weil ja der kanonischen Text vielfältig durch den vorkanonischen kontaminiert ______________________________ 18 Tertullian referiert zwei Mal auf *7,9; in beiden Fällen handelt es sich nicht genaue Zitate, sondern um Wiedergaben, die an seinen argumentativen Kontext angepasst sind. Beide Referenzen weichen in der Wortstellung geringfügig voneinander ab, vgl. talem se fidem nec in Israele invenisse mit talem fidem debuisse se invenire in Israele. 19 Die Scholienliste hatte Epiphanius etliche Jahre (ἀπὸ ἐτῶν ἱκανῶν) vor der Abfassung von Haer. 42 zu einem »Leitfaden« (ἐδάϕιον) zusammengestellt und dabei auch τὰς βίβλους Marcions benutzt (42,10,2; s. o. Bd. I, S. 52f). <?page no="146"?> 658 Anhang I 7,1-10 war. Dass aber in der Scholienliste der kanonische, in der Elenchusliste der vorkanonische Wortlaut erscheint, ist kaum erklärbar. Aufgrund der entsprechenden Varianten bei Tertullian und in den »Westlichen« Zeugen ist es jedoch sehr wahrscheinlich, dass die Wortwahl τοιαύτην/ talem 20 auf *Ev zurückgeht. 6. Ein letztes Rekonstruktionsproblem betrifft die Formulierung von *7,10. Da es kein direktes Zeugnis gibt, ist das Urteil wieder auf die textgeschichtlichen Signale angewiesen: Die charakteristisch abweichende Lesart in D deutet auf den vorkanonischen Text hin. *7,10 D Lk 7,10 P 75 א B usw. Lk 7,10 A C Θ Ψ usw. καὶ ὑποστρέψαντες καὶ ὑποστρέψαντες καὶ ὑποστρέψαντες εἰς τὸν οἶκον οἱ πεμϕθέντες εἰς τὸν οἶκον οἱ πεμϕθέντες εἰς τὸν οἶκον οἱ πεμϕθέντες δοῦλοι εὗρον εὗρον εὗρον τὸν τὸν δοῦλον τὸν ἀσθενοῦντα δοῦλον ὑγιαίνοντα ὑγιαίνοντα ὑγιαίνοντα Es ist leicht erkennbar, dass der D-Text in mehrfacher Hinsicht problematisch ist: Die zurückkehrenden Abgesandten waren ja keine δοῦλοι, sondern die ϕίλοι (*7,6). Dass sie dann »den Genesenen« fanden, ist zumindest merkwürdig, weil sie einen Kranken im Haus vermuten mussten; vielleicht muss man verstehen: »sie fanden ihn als Genesenen«. Sehr viel besser ist das nicht, weil der Artikel anstelle eines Pronomens ungewöhnlich ist. Demgegenüber präzisieren die beiden Lesarten des Mehrheitstextes und beseitigen beide Schwierigkeiten, indem sie δοῦλοι/ δοῦλον nicht auf die zurückkehrenden Abgesandten, sondern auf den Sklaven - bzw. noch genauer: auf den kranken Sklaven (so A C Θ Ψ usw.) - beziehen. Dass erst die lk Redaktion den vorkanonischen παῖς zum δοῦλος gemacht hatte, ist schon deutlich geworden. In Lk 7,10 hat sich diese Bearbeitung fortgesetzt. Diese Beobachtung zur Redaktion von Lk 7,10 lässt im Umkehrschluss den D- Text als das wahrscheinliche Ende der Perikope in *Ev erkennen. Im methodischen Horizont der Zwei-Quellentheorie war die gemeinsame Vorlage von Mt 8,13 || Lk 7,10 unklar. Diese Unsicherheit ist verständlich, da einerseits Mt 8,13 deutliche Redaktionsspuren aufweist 21 und andererseits Lk 7,10 auf die für redaktionell gehaltene Gesandtschaft Lk 7,6 zurückverweist. In diesem Fall weisen beide Verse ______________________________ 20 So zu Recht T SUTSUI 86. 21 Dies zeigt vor allem die Formulierung ἐν τῇ ὥρᾳ ἐκείνῃ Mt 8,13 fin., die Entsprechungen in Mt 9,22 ([καὶ ἐσώθη ἡ γυνὴ] ἀπὸ τῆς ὥρας ἐκείνης), 15,28 ([καὶ ἰάθη ἡ θυγάτηρ αὐτῆς] ἀπὸ τῆς ὥρας ἐκείνης) und 17,18 ([καὶ ἐθεραπεύθη ὁ παῖς] ἀπὸ τῆς ὥρας ἐκείνης) besitzt; sie muss als Merkmal der mt Redaktion gelten. <?page no="147"?> 7,1-10 Rekonstruktion 659 Redaktionsspuren auf, so dass die gemeinsame Vorlage nicht rekonstruierbar ist. 22 Aber die Erwähnung beider Gesandtschaften *7,3-5.6 ist für *Ev wahrscheinlich gemacht worden, und die Gestalt von *7,10 hat sich mit dem D-Text auch rekonstruieren lassen, auch wenn der Rückverweis *7,10 ὑποστρέψαντες … οἱ πεμϕθέντες δοῦλοι auf *7,6 ἔπεμψεν ϕίλους etwas ungenau ist. 7. Mit dieser Rekonstruktion lässt sich die Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte dieser Perikope gut verstehen. a. Die älteste Fassung der Erzählung vom Centurio und seinem Knecht in *Ev wies bereits die wesentlichen Brüche und Spannungen auf, die für die lk Fassung notiert wurden: Die eigenartige Selbstdistanzierung des Centurio von Jesus durch die zwei Gesandtschaften; seine Bitte, Jesus möge zu ihm kommen (*7,3: ἐρωτῶν αὐτὸν ὅπως ἐλθών) und deren Rücknahme (*7,6: οὐ γὰρ ἱκανός εἰμι ἵνα ὑπὸ τὴν στέγην μου εἰσέλθῃς); das Fehlen des »Wortes«, mit dem der Centurio die Heilung erwartet; die Spannung zwischen der Empfehlung des Centurio aufgrund seines Euergetismus, auf die hin sich Jesus zu ihm auf den Weg macht, und seinem Glauben, der Jesus zur (gar nicht mitgeteilten) Heilung veranlasst. Diese Auffälligkeiten 23 sind jedoch keine Hinweise auf sekundäre Überarbeitung, sondern Ausdruck des charakteristischen Aussagewillens, der sich in zwei miteinander zusammenhängenden Sinnlinien zeigen lässt. Dominant ist das Thema von Vollmacht und Gehorsam, das in der Botenrede *7,8 zum Ausdruck kommt: Es bestimmt die Selbstdistanzierung des Centurio, der Jesus nicht selbst aufsucht und es auch für eine Zumutung hält, dass dieser in sein Haus kommen will. Dieses Verhalten ist Ausdruck des Respekts gegenüber dem κύριος Jesus und zugleich der anerkennenden Erwartung, dass ein Befehlswort für die Heilung genügt. Diese bescheidene Selbstdistanzierung hat zunächst nichts mit der Distanz zwischen Juden und Heiden zu tun, zumal sich Jesus auf das Votum der Ältesten hin auf den Weg zu dem Heiden begibt. Gleichwohl ist das weitere Thema »Israel und die Heiden« bereits in der Sendung der jüdischen Ältesten und dann vor allem in ihrer Begründung der Bitte sehr deutlich präsent. Innerlich verbunden sind diese beiden Sinnlinien dann allerdings erst in ______________________________ 22 Vgl. I. D UNDERBERG , Johannes und die Synoptiker, Helsinki 1994, 87: »Wegen der redaktionellen Tätigkeit von Mt und Lk lässt sich das ursprüngliche Ende der Erzählung nicht mehr rekonstruieren.« Bei allen Unterschieden im Einzelnen zeigt sich dieses Urteil noch in den Evaluierungen von 7,10 durch P. Hoffmann, J. Robinson, J. Kloppenborg und S. R. Johnson (in J OHNSON , a. a. O., 362ff). 23 Zu diesen Spannungen ist ausdrücklich nicht zu rechnen, dass die Erzählung die Gattungsmerkmale einer Heilungserzählung (»Wundergeschichte«) und einer Chrie (Apophthegma; Pronouncement story) aufweist, wie die Kommentare durchgängig und zum Teil irritiert vermerken (vgl. R ADL , Lk 439f; B OVON , Lk I 344; W OLTER , Lk 268; G NILKA , Mt I 298; L UZ , Mt II 12; vgl. schon R. B ULTMANN , Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 7 1967, 223: das Wunder sei »ganz der apophthegmatischen Pointe dienstbar gemacht«). Aber eine Gattung liegt nie »rein« vor, sondern immer nur so, wie sich ein Autor ihrer bedient. <?page no="148"?> 660 Anhang I 7,1-10 der Pointe *7,9: Sie stellt eine Beziehung her zwischen dem Glauben des Centurio (im Sinn der Anerkennung der Vollmachtstruktur) und seiner paganen Herkunft: Einen Glauben solcher Art hat er in Israel nicht gefunden. Nimmt man die rekonstruierte Formulierung τοιαύτην/ talem (anstelle von τοσαύτην/ tantam) ernst, dann bezieht sich die Art des Glaubens auf die Erwartung, Jesus könne durch ein Wort aus der Ferne wirken; eine Spannung zu *5,20 besteht dann nicht. b. Mt 8,5-13 hat die Perikope aus *Ev übernommen, sie aber in mehrfacher Hinsicht bearbeitet. Die Einfügung der Heilung des Aussätzigen (Mt 8,1-4 || *5,12-14) nach dem Ende der Bergpredigt hat einige Umstellungen und die Neugestaltung der Einleitung erforderlich gemacht. Mt hat den Abschluss der Bergpredigt aus *7,1a und Mk 1,22 neu gebildet. Diese Kombination lag aufgrund des gemeinsamen Stichwortes καὶ εἰσπορεύονται εἰς Καϕαρναούμ Mk 1,21a || ἦλθεν εἰς Καϕαρναούμ *7,1a nahe. Allerdings hat Mt die distanzierenden Gesandtschaften (*7,3-6) gestrichen: Er lässt den Centurio selbst zu Jesus kommen (Mt 8,5: προσῆλθεν) und direkt mit ihm reden. Auf diese Weise entfällt der Einsatz der jüdischen Ältesten mit dem Zeugnis für die Würdigkeit des Centurio (*7,4f), und die Botenrede (*7,6b-8) wird zur direkten Rede des Centurio (Mt 8,8f). Man könnte geneigt sein, diese Eingriffe auf das Konto einer Tendenz zur Vereinfachung zu verbuchen, die bei Mt auch sonst bei narrativen Details häufig zu beobachten ist. In diesem Fall ist dies jedoch unwahrscheinlich, weil Mt den Glauben des Centurio durch die Einfügung von Mt 8,11f interpretiert. Die Anregung dazu stammte aus *13,28 || Mt 8,12 (s. dort). Das dort behandelte Thema - die Gerechten werden in die Basileia hineingehen, die Unrechttäter werden draußen gehalten werden (*13,28) - berührt sich im mt Verständnis unmittelbar mit der Erzählung vom heidnischen Centurio, der zu Jesus hingeht. Denn die Ergänzung Mt 8,11 || Lk 13,29 (nicht in *Ev; s. dort) kontrastiert das Herankommen der Heiden mit dem Ausgestoßenwerden der »Söhne der Basileia«. Mt ist also in hohem Maß daran interessiert, den Glauben des Centurio nicht nur durch seine Einsicht in die ἐξουσία Jesu (Mt 7,29; vgl. 8,9) dargestellt zu finden, sondern auch in seinem Herzukommen (Mt 8,5): Die Erwähnung der beiden Gesandtschaften (*7,3.6) hätte genau diesen Gedanken verunklart. Stattdessen nimmt Mt Jesu Wort über den Glauben des heidnischen Hauptmanns, der in Israel nicht seinesgleichen hat (*7,9b || Mt 8,10b), zum Anlass für eine grundsätzliche Bestimmung des Verhältnisses von Juden und (gläubigen) Heiden: Die von allen Enden der Erde Herbeikommenden werden in der Basileia mit den Erzvätern zu Tisch liegen, während die »Söhne der Basileia«, die Israel repräsentieren, hinausgeworfen werden. Vergleicht man die beiden redaktionellen Änderungen, dann zeigt die mt Fassung sehr viel deutlicher antijudaistische Konturen. <?page no="149"?> 7,1-10 Rekonstruktion 661 c. Die joh Bearbeitung dieser Erzählung (Joh 4,46-54) setzt mit größter Wahrscheinlichkeit Mt 8,5-13 als auch *7,1-10 bzw. die kanonische Fassung Lk 7,1-10 voraus. 24 Ob die »lk« Elemente von Joh 4,46ff auf *Ev oder auf das kanonische Lk- Evangelium zurückgehen, lässt sich allerdings nicht mehr eruieren: Die Änderungen der lk Redaktion an dem Prätext *Ev betreffen nur solche Aspekte, die keinen Niederschlag in Joh 4 gefunden haben. *7,11-16.17a: Auferweckung des Jünglings in Nain Für *Ev bezeugt und sicher vorhanden; durch die lk Redaktion geringfügig bearbeitet. 7,11 Καὶ a τῇ ἑξῆς ἐπορεύθη εἰς πόλιν καλουμένην Ναΐν, ¿καὶ συνεπορεύοντο αὐτῷ οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ καὶ ὄχλος πολύς.? 12 b ἐγένετο δὲ ὡς b ἤγγισεν τῇ πύλῃ τῆς πόλεως, καὶ ἰδοὺ ἐξεκομίζετο τεθνηκὼς μονογενὴς υἱὸς τῇ μητρὶ αὐτοῦ c χήρα οὖσῃ καὶ πολὺς ὄχλος τὴς πόλεως συνεληλύθει σὺν αὐτῇ. c 13 καὶ ἰδὼν αὐτὴν ὁ d Ἰησοῦς ἐσπλαγχνίσθη ἐπ’ αὐτῇ καὶ εἶπεν αὐτῇ, Μὴ κλαῖε. 14 καὶ προσελθὼν ἥψατο τῆς σοροῦ, οἱ δὲ βαστάζοντες ἔστησαν, καὶ εἶπεν, Νεανίσκε, e νεανίσκε, σοὶ λέγω, ἐγέρθητι. 15 καὶ ἀνεκάθισεν ὁ νεκρὸς καὶ ἤρξατο λαλεῖν, καὶ ἔδωκεν αὐτὸν τῇ μητρὶ αὐτοῦ. 16 ἔλαβεν δὲ ϕόβος πάντας, καὶ ἐδόξαζον τὸν θεὸν λέγοντες ὅτι f Μέγας προϕήτης f g προῆλθεν ἐν ἡμῖν καὶ h [ ὅτι ] ἐπεσκέψατο ὁ θεὸς τὸν λαὸν αὐτοῦ. 17 καὶ ἐξῆλθεν ὁ λόγος οὗτος ἐν ὅλῃ τῇ Ἰουδαίᾳ περὶ αὐτοῦ … A. *7,11-15: Tert. 4,18,2: Resuscitavit et mortuum filium viduae. Non novum documentum. Hoc et prophetae creatoris ediderant, quanto magis filius? ♦ *7,16: Tert. 4,18,3: Adeo autem in illud usque momenti nullum alium deum Christus intulerat, ut omnes illic creatori gloriam retulerint dicentes, Magnus prophetes prodiit in nobis et respexit deus populum suum. Quis deus? B. a (7,11) τη: D d e sy s ¦ εγενετο τη: W; εγενετο εν τη: א * C K 565 892 1424 pm sy p.h ; εγενετο εν τω: M (*Ev non test.) ● b (7,12) εγενετο δε ως: D a b c d e ſſ 2 g 1 gat l q ¦ ως δε: aur f r 1 vg M (*Ev non test.) ● c (7,16) χηρα ουση και πολυς οχλος της πολεως συνεληλυθει αυτη: D d (e) ¦ και αυτη ην χηρα και οχλος της πολεως ικανος ην συν αυτη: it M (*Ev non test.) ● d (7,13) ιησους/ Iesus: D W f 1 700 1241 pc d f gat vg mss sy s.j.p Tat arab.pers bo georg II armen ms Chrys (Fil. vid., PG 61, 792) GregNyss (Hom. opif. 26; F ORBES 260) ¦ κυριος ιησους/ dominus Iesus: got aeth (Bodl. 40: + ημων) ¦ κυριος/ dominus: a aur b c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● e (7,14) νεανισκε: D a d ſſ 2 Iren (Haer. 5,13,1) Ephr (Comm. Diat. 4,23, SC 479; CSCO 180, 76) Aphr (Dem 8,14; PS 1, 388 = FC 5/ 1, 247) ¦ om aur b c e f g 1 gat l q r 1 M (*Ev non test.) ● f (7,16) μεγας προϕητης/ magnus prophetes: Tert Chrys (Ascens; PG 52, 790) ¦ (2 1) προϕητης μεγας/ prophetes magnus: it M ● g (7,16) προηλθεν: Tert ¦ ηγερθη: it M ● h (7,16) οτι: om Tert sy s.p Tat arab.pers ¦ add it M . C. Auch von dieser Perikope ist nur eine Zusammenfassung des Inhalts sowie die Reaktion der Menge (*7,16 in wörtlichem Zitat) bezeugt, aber auch hier reicht ______________________________ 24 Vgl. T HYEN , Joh 287-293. <?page no="150"?> 662 Anhang I 7,11-17a beides aus, um zumindest den Kern der Perikope für *Ev sicherzustellen. Folgende Überlegungen sind für eine Einschätzung der unbezeugten Passagen von Bedeutung. 1. Der Ortsname Nain in der Exposition *7,11a ist zwar unbezeugt, aber alles spricht dafür, dass er schon in *Ev stand: Dass die redaktionelle Überarbeitung einen Ortsnamen erfindet, der in keinerlei erkennbaren Beziehungen innerhalb des Werkes steht, ist völlig unwahrscheinlich. Die unvermittelte Erwähnung von Orts- und Personennamen ist für *Ev durchaus charakteristisch. 1 Die Einleitung der Exposition hatte in *Ev offensichtlich eine andere Gestalt, wie die v. l. in D (it) nahelegt: Hier findet sich nur die Zeitangabe τῇ ἑξῆς (sc. ἡμέρᾳ). 2 Die lk Redaktion hat die in *7,12 etwas ungeschickt platzierte Einleitungsformel ἐγένετο δὲ ὡς … an den Anfang gezogen. Die weiteren Lesarten (W: εγενετο τη; א * C K usw.: εγενετο εν τη) zeigen noch den Einfluss der Datierung in *Ev: Der fem. Artikel verlangt als Ergänzung ἡμέρᾳ, der mask. Artikel des Mehrheitstextes erfordert die Ergänzung (ἐγένετο ἐν τῷ) χρόνῳ. Der semantische Unterschied ist gering. 2. Ebenfalls in der Einleitung findet sich die Bemerkung, dass Jesus ein großes Gefolge aus Jüngern und Volk hat: συνεπορεύοντο αὐτῷ οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ καὶ ὄχλος πολύς (*7,1b). Es ist aufgefallen, dass diese Vorstellung sich bis zum Einzug in Jerusalem als lk Gestaltungsmerkmal fortsetzt. 3 Allerdings zeigen die einschlägigen Vorkommen, dass dieses Element bereits in *Ev gut bezeugt ist. 4 Es handelt sich mithin nicht um eine Eigentümlichkeit von Lk, sondern von *Ev, die Lk aufgegriffen und ausgebaut hat. In methodischer Hinsicht bedeutet dies, dass die Identifizierung von »Lukanismen« 5 allein keine zuverlässigen Indikatoren für lk Redaktion ergibt. In diesem Fall geht die »lk« Formulierung auf den vorlk Sprachgebrauch in *Ev zurück. Aus diesem Grund ist jeweils zu fragen, ob Lk bestimmte (sprachliche) Elemente in seiner Tradition aufgegriffen und ausgebaut hat, oder ob er sie komplett redaktionell in *Ev eingefügt hat. Für *7,11b spricht nichts dagegen, dass Lk diese Bemerkung bereits in *Ev gefunden hatte, auch wenn das Urteil unsicher bleiben muss. ______________________________ 1 Der Ortsname Ναΐν begegnet in der Bibel nur hier. Eusebius und Hieronymus identifizieren Nain mit einer Ortschaft südöstlich von Nazareth, etwa 40 km von Kapharnaum entfernt. Dass Lk »nicht gewusst haben wird«, um welchen Ort es sich handelte (W OLTER , Lk 274), mag sein - für *Ev gilt diese Einschätzung jedoch nicht: Bei ihm tauchen verschiedentlich Eigennamen auf, die nicht weiter erläutert sind und Leserwissen außerhalb der Textwelt abrufen. 2 Vgl. BDR § 266.1 Anm. 1b. 3 W OLTER , Lk 274. 4 Mit Sicherheit für *Ev bezeugt in *18,36; mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhanden in *5,19; *7,2.9; *9,11; auch *8,4 ist möglicherweise schon für *Ev anzunehmen. Von den einschlägigen Belegen ist nur 14,25 unbezeugt. 5 Vgl. die Untersuchung zur Sprache von 7,1-11 bei A. H ARBARTH , »Gott hat sein Volk heimgesucht«, Heidelberg 1977, 17-19; J. J EREMIAS , Die Sprache des Lukasevangeliums, Göttingen 1980, 156-160. <?page no="151"?> 7,11-17a Rekonstruktion 663 3. Ein typischer und für die lk Redaktion in hohem Maß aufschlussreicher »Lukanismus« liegt dagegen in der Bezeichnung Jesu als κύριος durch die Erzählstimme vor. Es handelt sich dabei, wie verschiedentlich aufgefallen ist, um eine typische Eigenheit der lk Sprache. 6 Dass die auktoriale Verwendung von κύριος als Bezeichnung Jesu als wesentliches Distinktionsmerkmal zwischen *Ev und Lk dient, ist oben schon deutlich geworden. 7 Aus diesem Grund lässt sich mit wünschenswerter Sicherheit sagen, dass dieses Element in Lk 7,13 und an den anderen Stellen 8 auf die Bearbeitung der lk Redaktion hinweist und auch weitere Schlussfolgerungen für die Art der Interferenzen zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Textüberlieferung zulässt. Zusammen mit der Verdoppelung der Anrede 9 an den Jüngling in D (it) u. a. können daher die Vv. *13f für *Ev als sicher bzw. als sehr wahrscheinlich angenommen werden. 4. Nicht bezeugt ist das abschließende Summar *7,17. Die Ähnlichkeit zu den anderen Summaren (s. zu 4,44) scheint dafür zu sprechen, dass es auf lk Redaktion zurückgeht; in diesem Fall könnte man davon ausgehen, dass die lk Redaktion mit der (ersten) Einfügung des auktorialen κύριος den Zusammenhang mit der Totenerweckung betont und diese dann durch die summarische Notiz mit dem betonten Hinweis auf die Ausbreitung von diesem Ereignis (ὁ λόγος ο ὗ τ ο ς ) redaktionell hervorgehoben habe. In diesem Fall legt allerdings der uneinheitlich überlieferte Anschluss in *7,18 (s. dort) nahe, dass *7,17a bereits in *Ev stand und Lk nur die Wendung καὶ πάσῃ τῇ περιχώρῳ ergänzt hat. Diese redaktionelle Ergänzung mit dem Hinweis auf die »überregionale« Wahrnehmung der Taten Jesu hat dann aber weitere Schwierigkeiten für die Zusammengehörigkeit von 7,11-17 und 7,18-23 geschaffen. Die Begründung für diese Zusammengehörigkeit und der genauere Wortlaut von *7,17 ergeben sich daher erst aus der Analyse von *7,18 (s. dort). 5. Insgesamt ist deutlich, dass die Erzählung von der Auferweckung des Knaben in Nain bereits in *Ev stand: Es handelt sich also nicht um lk »Sondergut«, sondern um »Tradition«, die durch Lk redaktionell bearbeitet wurde. In überlieferungsgeschichtlicher Hinsicht bedeutet dies, dass Mk und in seinem Gefolge Mt diese Erzählung übergangen haben. Die Frage, welche Gründe dafür maßgeblich waren, ist - wie immer bei negativen Fragen - nicht positiv zu beantworten. Eine Rolle könnte ______________________________ 6 Vgl. I. DE LA P OTTERIE , Le titre KYRIOS appliqué à Jésus dans l’évangile de Luc, in: A. Descamps (ed.), Mélanges Bibliques, Gembloux 1970, 117-146; K. R OWE , Early Narrative Christology, Berlin - New York 2006, 119f. 7 Vgl. dazu o. § 5 (Bd. I, S. 93ff). 8 Vgl. dazu jeweils die Rekonstruktion zu: *7,19; 10,1.39.41; 11,39; 12,42; 13,15; 16,8; 17,5f; 18,6; 19,8; 22,31 (v. l.); 22,61; 24,3.24,34. 9 Die Epanadiplosis (vgl. BDR 493.1 Anm. 2) ist für *Ev auch in *6,46; *10,41 anzunehmen (s. dort). Diese stilistische Eigenheit ist aber keine Besonderheit von *Ev, wie Lk 13,34; Act 9,4 usw. zeigen. In *22,31 liegt der Fall vermutlich anders, s. dort. <?page no="152"?> 664 Anhang I 7,11-17a gespielt haben, dass in der Erzählung von der Tochter des Jairus (Mk 5,21-23.35-43 || Mt 9,18f.23-26) eine entsprechende Totenerweckung vorlag; wie zu zeigen ist, war diese Erzählung mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits in *Ev enthalten (*8,40-42a.49- 56; s. dort). Es ist daher denkbar, dass Mk eine Dublette vermeiden wollte und deshalb *7,11-17 nicht übernahm. Mt ist ihm darin gefolgt, während Lk beide Erweckungserzählungen aus *Ev übernahm. *7,17-23: Anstoß und Frage des Täufers Bezeugt, sicher in *Ev vorhanden. Vermutlich durch die lk Redaktion bearbeitet. 7,17 καὶ ἐξῆλθεν ὁ λόγος οὗτος ἐν ὅλῃ τῇ Ἰουδαίᾳ περὶ αὐτοῦ a [ καὶ πάσῃ τῇ περιχώρῳ ] a b [ ἐν οἷς καὶ ] b c μέχρι Ἰωάννου τοῦ βαπτιστοῦ c 18 ὃς ¿ἀκούσας τὰ ἔργα αὐτοῦ ἐσκανδαλίσθῃ? καὶ προσκαλεσάμενος δύο τινὰς τῶν μαθητῶν αὐτοῦ 19 d {λέγει· πορευθέντες εἴπατε αὐτῷ,} d Σὺ εἶ e †ὃς ἔρχῃ† e ἢ f ἕτερον προσδοκῶμεν; 20 παραγενόμενοι δὲ πρὸς αὐτὸν οἱ ἄνδρες εἶπαν, Ἰωάννης ὁ βαπτιστὴς ἀπέστειλεν ἡμᾶς πρὸς σὲ λέγων, Σὺ εἶ e †ὃς ἔρχῃ† e ἢ f ἕτερον προσδοκῶμεν; [ 21 ἐν ἐκείνῃ τῇ ὥρᾳ ἐθεράπευσεν πολλοὺς ἀπὸ νόσων καὶ μαστίγων καὶ πνευμάτων πονηρῶν, καὶ τυϕλοῖς πολλοῖς ἐχαρίσατο βλέπειν. ] 22 καὶ ἀποκριθεὶς εἶπεν αὐτοῖς, Πορευθέντες g εἴπατε Ἰωάννῃ ἃ h εἶδον ὑμῶν οἱ ὀϕθαλμοὶ καὶ ἃ ἤκουσαν ὑμῶν τὰ ὤτα h · τυϕλοὶ ἀναβλέπουσιν, χωλοὶ περιπατοῦσιν, λεπροὶ καθαρίζονται καὶ κωϕοὶ ἀκούουσιν, νεκροὶ ἐγείρονται, πτωχοὶ εὐαγγελίζονται· 23 καὶ i †μακάριος ¿εἶ? ἐάν μὴ σκανδαλισθῇς ἐν ἐμοί† i . A. *7,17f: Tert. 4,18,4: Sed scandalizatur Ioannes auditis virtutibus Christi, ut alterius. At ego rationem scandali priusexpediam, quo facilius haeretici scandalum explodam. Ipso iam domino virtutum sermone et spiritu patris operante in terris et praedicante, necesse erat portionem spiritus sancti quae ex forma prophetici moduli in Ioanne egerat praeparaturam viarum dominicarum, abscedere iam ab Ioanne, redactam scilicet in dominum ut in massalem suam summam. ♦ *7,19f: Tert. 4,18,6: Hoc igitur metu et Ioannes, Tu es, inquit, qui venis, an alium expectamus? simpliciter inquirens an ipse venisset quem expectabat. Tu es qui venis, id est qui venturus es, an alium expectamus? id est an alius est quem expectamus, si non tu es quem venturum expectamus? Sperabat enim, sicut omnes opinabantur, ex similitudine documentorum potuisse et prophetam interim missum esse, a quo alius esset, id est maior, ipse scilicet dominus, qui venturus expectabatur. ¦ Tert. 4,18,7: … eleganter ad superiorem sensum scandalizati Ioannis commemorans prophetiam, ut confirmans praecursorem Ioannem iam advenisse extingueret scrupulum interrogationis illius: Tu es qui venis, an alium expectamus? ¦ Adam. 1,26 (819c): σὺ εἶ ὁ ἐρχόμενος ἢ ἕτερον προσδοκῶμεν; ♦ *7,23: Epiph., Schol. 8: παρηλλαγμένον τό Μακάριος ὃς οὐ μὴ σκανδαλισθῇ ἐν ἐμοί· εἶχε γὰρ ὡς πρὸς Ἰωάννην ¦ Ephraem, Adv. Marc. I (M ITCHELL xxxix): Blessed is he, if he is not offended in me. B. a (7,17) και παση τη περιχωρω: om e ¦ add a aur b c d f ſſ 2 l q r 1 : et in (om b c l vg) omni (omnem: aur f q r 1 vg) confini (confinem: l; finitima: a; circa: aur vg; om d f r 1 ) regione (confinem regionem: <?page no="153"?> 7,17-23 Rekonstruktion 665 aur f q r 1 vg) M (*Ev non test.) ● b (7,17) εν οις και: D d e ¦ om a aur f ſſ 2 l r 1 M ¦ illius de eo: b; de eo: c; de illo: q (*Ev non test.) ● c (7,17) μεχρι ιωαννου του βαπτιστου: D d (e) ¦ και απηγγειλαν ιωαννη οι μαθηται αυτου περι παντων τουτων/ et nuntiaverunt (renuntiaverunt: a c) Iohanni discipuli eius: a aur b c d f ſſ 2 l q r 1 M ¦ adnuntiaverunt ad Iohannen baptistam: e (*Ev non test.) ● d (7,19) λεγει· πορευθεντες ειπατε αυτω/ euntes dicite ei: D d (e: euntes inquirite dicentes) ¦ επεμψεν προς τον κυριον λεγων/ (et) misit ad dominum dicens: B L Ξ f 13 33 pc a ſſ 2 vg st sa bo mss M ¦ επεμψεν προς τον ιησουν λεγων/ et misit ad Iesum dicens: א A W Θ Ψ f 1 aur b c f l q r 1 (*Ev non test.) ● e (7,19.20) Widersprüchliche Bezeugung: (1) ος ερχη/ qui venis (bis): Tert e (7,20: q); qui venturus es: a aur b c d f l r 1 ¦ (2) ο ερχομενος/ qui venturus est: Adam ſſ 2 M ● f (7,19.20) ετερον (bis): Adam א B L R W X Ξ Ψ 33 579 892 1241 (V. 19: 1424 2542) ¦ αλλον: A D Θ f 13 (V. 19: f 1 ) M ● g (7,22) ειπατε: D W 579 892 d sy s.p.j Tat arab.pers Ambst (Quaest. 55,1; CSEL 50, 449) ¦ απαγγειλατε: it M (*Ev non test.) ● h (7,22) ειδον υμων οι οϕθαλμοι και α ηκουσαν υμων τα ωτα: D d (e) ¦ ειδετε και ηκουσατε: a aur b c f ſſ 2 g 1 gat l q r 1 M (*Ev non test.) ● i (7,23) Widersprüchliche Bezeugung: (1) μακαριος (ει) εαν μη σκανδαλισθης εν εμοι: Epiph ¦ (2) μακαριος (εστιν) εαν μη σκανδαλισθη εν εμοι: Ephraem ¦ μακαριος (εστιν: om c CyrAlex [Arcad; PG 76, 1277]; εσται/ erit: add a d e) ος εαν ου σκανδαλισθη εν εμοι M . C. Die Anfrage des Johannes ist für *Ev gut bezeugt. Allerdings besaß die Perikope nach der Bezeugung bei Tertullian und Epiphanius in *Ev eine andere Gestalt als in der kanonischen Fassung. Auch die Uneinheitlichkeit der handschriftlichen Überlieferung verweist darauf, dass die kanonische Fassung auf redaktionelle Eingriffe zurückgeht. Allerdings lässt sich der genaue Wortlaut nicht mehr mit der gewünschten Sicherheit rekonstruieren. Folgende Beobachtungen sind wichtig: 1. Zunächst ist die Einleitung in *7,18 bzw. die Anbindung der Perikope über die Anfrage des Johannes an die vorangehende Auferweckungserzählung zu nennen (s. zu *7,17). In der kanonischen Fassung unterbricht Lk 7,18a den szenischen Zusammenhang mit dem Vorangehenden durch den Perspektivenwechsel auf Johannes, von dem zuletzt die Gefangennahme berichtet wurde (Lk 3,20 red.). Diese Information geht auf Mk 6,17f || Mt 14,3f zurück. Mt hat sie in der szenischen Einleitung (Mt 11,2 Ὁ δὲ Ἰωάννης ἀκούσας ἐν τῷ δεσμωτηρίῳ τὰ ἔργα τοῦ Χριστοῦ …) proleptisch aufgegriffen und mit einer eigenen Verbindung (Mt 11,1) hinter die Aussendungsrede gestellt. Lk und Mt machen mit dem Hinweis auf die Gefangennahme deutlich, wieso Johannes seine Frage nicht persönlich stellt, sondern Boten zu Jesus schickt. In Teilen der »Westlichen« Handschriftenüberlieferung (D d e) sind *7,17a und *7,18a zusammengezogen, wenn auch nicht einheitlich. Die Synopse verdeutlicht die Probleme. <?page no="154"?> 666 Anhang I 7,17-23 Lk 7,17f ( M ) Lk 7,17f (D d) Lk 7,17f (e) καὶ ἐξῆλθεν ὁ λόγος οὗτος καὶ ἐξῆλθεν ὁ λόγος οὗτος et exivit iste sermo ἐν ὅλῃ τῇ Ἰουδαίᾳ ἐν ὅλῃ τῇ Ἰουδαίᾳ in tota Iudea περὶ αὐτοῦ περὶ αὐτοῦ ea (! ) Deo καὶ πάσῃ τῇ περιχώρῳ. καὶ πάσῃ τῇ περιχώρῳ ἐν οἷς καὶ in quibus Καὶ ἀπήγγειλαν adnuntiaverunt Ἰωάννῃ μέχρι Ἰωάννου ad Iohannem τοῦ βαπτιστοῦ baptistam οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ περὶ πάντων τούτων. καὶ ὃς καὶ qui etiam προσκαλεσάμενος προσκαλεσάμενος convocatis δύο τινὰς τῶν μαθητῶν αὐτοῦ δύο τινὰς τῶν μαθητῶν αὐτοῦ quibusdam de discentibus suis ὁ Ἰωάννης ἔπεμψεν … λέγων λέγει … dixit ... Die Schwierigkeit der Deutung dieses uneinheitlichen Befundes liegt darin, dass die »Westlichen« Handschriften nicht einfach als Zeugen für einen vorkanonischen Text herangezogen werden können: Sie weisen jeweils Spuren der inkonsequent durchgeführten, sekundären Angleichung an den kanonisch-redaktionellen Wortlaut auf. Folgende Beobachtungen sind auffällig und verdienen eine Erklärung. a. Anders als in D d fehlt in e die Wendung καὶ πάσῃ τῇ περιχώρῳ/ et in omni regione. Sie passt zur lk Tendenz, die Bedeutung Jesu über den begrenzten Raum Judäas hinaus zu erweitern und wird daher wohl redaktionell sein; in diesem Fall hätten D d im Gegensatz zu e die Wendung aus dem kanonischen Text ergänzt. b. Umgekehrt hat e (καὶ) ἀπήγγειλαν/ adnuntiaverunt aus der kanonischen Fassung übernommen und auf diese Weise (wie die kanonische Fassung, aber im Unterschied zu D d) eine neue Satzperiode eingeleitet. Dass D d hier den ursprünglicheren Text bewahrt haben, wird daran deutlich, dass die Korrektur des vorkanonischen durch den kanonischen Text in e unvollständig ist und auf diese Weise erhebliche Schwierigkeiten verursacht. Denn e hat οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ als Subjekt von ἀπήγγειλαν/ adnuntiaverunt nicht aus der kanonischen Fassung übernommen und so einen kaum verständlichen Satz geschaffen, bei dem nicht nur unklar ist, wer das Subjekt von adnuntiaverunt ist, sondern der auch die schwierige Formulierung adnuntiaverunt ad Iohannem enthält: An dieser Stelle ist das Phänomen der inkonsequent und mechanisch durchgeführten Korrekturen noch mit Händen zu greifen. c. Dies bedeutet umgekehrt, dass die ursprüngliche Fassung in *Ev den engen Anschluss von *7,18 an *7,17 in einer einzigen Satzstruktur enthielt. Das »Summar« <?page no="155"?> 7,17-23 Rekonstruktion 667 *7,17a ist eine verbindende Überleitung, deren narrative Funktion eher darin liegt, die folgende Anfrage des Johannes einzuleiten als die Totenerweckungserzählung abzuschließen. d. Es ist daher kein Zufall, dass die drei hier genannten »Westlichen« Handschriften Johannes mit der Apposition »der Täufer« einführen, während die kanonische Fassung nur den Namen bietet. Die kanonische Fassung hatte von Johannes schon in Lk 3 berichtet, dass er eine »Umkehrtaufe verkündete« bzw. selbst taufte (3,3.12.21). Die lk Redaktion konnte sich diese klärende Apposition an dieser Stelle also sparen, weil die Identität des Johannes im lk Kontext eindeutig ist. Im Unterschied dazu wird Johannes in *Ev hier zum ersten Mal erwähnt und als »der Täufer« identifiziert (μέχρι Ἰωάννου τ ο ῦ β α π τ ι σ τ ο ῦ / ad Iohannem b a p t i s t a m ). Dieses Problem ist von einiger Bedeutung, weil es die Frage aufwirft, an welcher Stelle der neutestamentlichen Überlieferung Johannes zum Täufer wurde. Aus diesem Grund ist auch die Erwähnung des Täufers in *7,20a (unbezeugt) mit in die Überlegungen einzubeziehen. Denn im Cod. Veronensis (b) steht die Apposition hinter dem Prädikat. Lk 7,20 ( M ) *7,20 (b) παραγενόμενοι δὲ πρὸς αὐτὸν οἱ ἄνδρες εἶπαν, Ἰωάννης advenientes autem ad eum viri dixerunt Iohannis ὁ βαπτιστὴς ἀπέστειλεν ἡμᾶς misit nos baptista πρὸς σὲ λέγων … ad te dicens … Diese veränderte Position wäre typisch für einen sekundären Eintrag, der versehentlich an der falschen Stelle vorgenommen wurde. Da b der einzige Zeuge für textliche Unklarheiten an dieser Stelle ist, muss das Urteil unsicher bleiben. Es ist jedoch gut denkbar, dass die lk Redaktion, die in 7,18 die Identifizierung des Johannes als Täufer gestrichen hatte, sie hier in der direkten Rede der Jünger gegenüber Jesus einfügte; dies würde zu den weiteren redaktionellen Veränderungen passen (s. gleich). In jedem Fall wäre dann aber sichergestellt, dass bereits *Ev die Bezeichnung des Johannes als »Täufer« enthielt. Dementsprechend kannte *Ev auch die »Taufe des Johannes«, die Tertullian für *20,4 bezeugt (s. dort). Allerdings macht *Ev in keiner Weise deutlich, was sich hinter dem »Taufen« des Johannes verbirgt: Dass Johannes ein »Täufer« ist, spielt für *Ev (im Unterschied zu den kanonischen Evangelien) keine weitere narrative Rolle. Erst Mk hat diesen Aspekt aufgegriffen und ihm im Taufbericht Mk 1,1-11 eine narrative Funktion zugewiesen, die dann von Mt, Lk und Joh auf unterschiedliche Weise rezipiert wurde. Das <?page no="156"?> 668 Anhang I 7,17-23 heißt, dass die Täuferüberlieferung im NT ihren Ausgang von der enigmatischen Erwähnung in *Ev genommen hat. e. Nicht völlig wird sich die Ursprünglichkeit von ἐν οἷς καί/ in quibus in D d e klären lassen: Auf der einen Seite ist dieser relative Anschluss nur in den drei genannten Handschriften enthalten, die an dieser Stelle, wie mit guten Gründen zu vermuten ist, Spuren des ursprünglichen, vorkanonischen Textes enthalten; von daher ist man geneigt, die Wendung ebenfalls für ursprünglich zu halten. Auf der anderen Seite ist der Plural des Pronomens (οἷς/ quibus) nur dann verständlich, wenn er sich entweder auf tota iudaea et omnis regio oder auf omnis regio bezieht. Dies ist jedoch wegen des Fehlens dieser typisch lk Wendung in e höchst unwahrscheinlich. So bleibt als - nicht vollständig überzeugende - Lösung die Annahme, dass die Wendung ἐν οἷς καί/ in quibus in D d e der Versuch ist, den durch die Korrekturen entstandenen Mischtext etwas eleganter zusammenzubinden: Die vorkanonische Fassung hätte dann nur davon gesprochen, dass sich die Rede über Jesus »in ganz Judäa bis zu Johannes dem Täufer ausgebreitet« hatte. Die Lesarten in drei weiteren Altlateinern sind offensichtlich von dieser nicht ganz glücklichen, weil unklaren Formulierung abhängig; sie versuchen, den relativen Anschluss auf Jesus zu beziehen. 1 Die Erweiterung der kanonischen Fassung durch καὶ πάσῃ τῇ περιχώρῳ/ et in omni regione ist Teil einer kompletten Umformulierung der Überleitung, die 7,17 als Abschluss von 7,11-17 und 7,18 als Exposition von 7,18-23 versteht. Der Versuch von D d, καὶ πάσῃ τῇ περιχώρῳ/ et in omni regione aus der kanonischen Textform zu übernehmen, hätte dann den relativen Anschluss notwendig gemacht, den e aus D d übernahm, obwohl e die Ausgangskorrektur nicht mitvollzogen hatte. Bei aller gebotenen Vorsicht lassen sich also durchaus Argumente für den sekundären Charakter sowohl von καὶ πάσῃ τῇ περιχώρῳ als auch von ἐν οἷς καί (in D d e) finden; mit hinreichender Sicherheit begründen lässt sich diese Annahme allerdings nicht. 2. Sieht man diese Überlegungen zusammen, dann liegt es nahe, dass der Anfang der Exposition in *7,17f ursprünglich gelautet haben könnte: καὶ ἐξῆλθεν ὁ λόγος οὗτος ἐν ὅλῃ τῇ Ἰουδαίᾳ περὶ αὐτοῦ μέχρι Ἰωάννου τοῦ βαπτιστοῦ … Unbeschadet des genauen Wortlauts ist deutlich, dass *7,17 und *18 in einem kontrahierten Satzgefüge enthalten waren. Denn sowohl Mt als auch Lk haben für die Perikope der Täuferanfrage eine neue Einleitung geschaffen. Für Mt ergab sich die Notwendigkeit dazu aus der Verschiebung der Perikope hinter die Aussendungsrede, die mit der typisch mt Redeabschlussformel endete (Mt 11,1: καὶ ἐγένετο ὅτε ἐτέλεσεν ὁ ______________________________ 1 b: illius de eo; c: de eo; q: de illo. <?page no="157"?> 7,17-23 Rekonstruktion 669 Ἰησοῦς διατάσσων τοῖς δώδεκα μαθηταῖς αὐτοῦ). Diese Verschiebung ist durchdacht und zeigt die kompositorische Intention: Erst die Aussendung der Jünger sorgt für die Verbreitung der Kunde über Jesus, die dann bis zu Johannes gelangt, der von den »Werken Christi« hörte und seine Jünger zu ihm schickte (Mt 11,2: ἀκούσας … τὰ ἔργα τοῦ Χριστοῦ πέμψας …). In Lk 7,18 wendet das komprehensive περὶ πάντων τούτων die Perspektive von Jesus weg zu Johannes und unterbricht den Erzählzusammenhang. 2 Diese nicht ganz geschickte Unterbrechung könnte ihren Grund darin haben, dass Lk die Johannesfrage und ihre Antwort stärker aus ihrem unmittelbar vorangehenden Kontext lösen wollte, um sie - wie Mt - zu verallgemeinern. Der Grund für diese Disjunktion, die sowohl Mt als auch Lk vorgenommen haben, könnte darin liegen, dass *Ev den Makarismus *7,23 nach Epiphanius in einer Form enthielt, »als ob er an Johannes« gerichtet sei. Tertullian bestätigt diese Differenz, wenn er sein Referat mit dem Hinweis einleitet, dass Johannes an Jesus Anstoß genommen habe. 3 Tertullian empfindet das Unbehagen über den offenkundigen Mangel an Glauben bei Johannes und erläutert die ratio scandali, die nur auf den ersten Blick gesucht wirkt: Weil der »Herr der Tugenden« in Wort und Geist des Vaters auf der Erde wirkte, war es unvermeidlich, dass der Anteil des Geistes, der Johannes in der Form der Prophezeiung zur Wegbereitung des Herrn in die Lage versetzte, sich von ihm zurückzog und ihn als einen »bloßen Menschen« (communis iam homo, 4,18,5) zurückließ. Dieser Begründung liegt die Denkfigur zugrunde, dass die alte Prophetie in Johannes erfüllt wurde und aus diesem Grund zu ihrem Ende kam. 4 Erst im Anschluss an diese Erklärung referiert Tertullian die Frage des Johannes (4,18,6) und wendet dann das Stichwort scandalum gegen Marcion. 5 Es ist daher wahrscheinlich, dass die Exposition der ______________________________ 2 Vgl. W OLTER , Lk 278, der zu Recht darauf hinweist, dass daraus eine starke Differenz zwischen der Erzählzeit und der erzählten Zeit resultiert, die »einen langen ereignislosen Aufenthalt Jesu in Nain impliziert.« 3 Tert. 4,18,4: sed scandalizatur I o a n n e s auditis virtutibus Christi ut alterius. 4 Tertullian verwendet hier das Bild, dass der Geist von Johannes zum Herrn »wie zu seinem umfassendsten Ursprung« (ut in massalem suam summam) zurückgeführt werde (4,18,4). Diese Überlegung ist bei Tertullian noch öfter bezeugt und argumentativ weiter ausgestaltet, vgl. etwa Orat. 1,2; Bapt. 10,5; Adv. Jud. 8,14; Praescr. haer. 8,3 usw. Die Denkfigur vom Ende der Prophetie bei Johannes aufgrund ihrer Erfüllung findet sich bereits bei Justin, vgl. z. B. Dial. 51 (mit der Andwendung auf den Judasegen Gen 49,8-12 in Dial. 52). 5 4,18,4: At ego rationem scandali prius expediam, quo facilius haeretici scandalum explodam. Dass der eigentliche Anstoß nicht bei Johannes, sondern bei Marcion liegt, ergibt sich für Tertullian daraus, dass Johannes der Prophet des Schöpfers war und als Antwort auf seine Frage von den Taten des Schöpfers zu hören bekam: Die Annahme, dass eine solche Antwort von einem anderen Christus als dem des Schöpfers hätte kommen können, sei satis perversum (4,18,7). <?page no="158"?> 670 Anhang I 7,17-23 Perikope sowohl den Verweis auf die zuvor berichteten virtutes als auch das Stichwort scandalum/ scandalizari enthielt. 6 Da Tertullian seine Argumentation einerseits auf dem Hinweis aufbaut, dass Johannes an Jesus Anstoß genommen habe und dies mehrfach erwähnt, 7 da aber andererseits Mt und Lk im Gefolge der mk Täuferüberlieferung Johannes positiv darstellen und insbesondere Lk mit der parallelisierenden Synkrisis zwischen dem Täufer und Jesus ein frühes, positives Band zwischen beiden geflochten hat, 8 musste der Skopus der Fassung von *7,17-23 geändert werden: Weder durfte der Täufer, der doch den nach ihm kommenden Stärkeren verheißen hatte, Zweifel an Jesus äußern, noch durfte Jesus seinem »Wegbereiter« Johannes vorwerfen, an ihm Anstoß genommen zu haben. Ein Element dieses redaktionellen Interesses ist die Disjunktion der Täuferanfrage von der vorangehenden Totenerweckungserzählung, ein anderes die bereits von Mt vorgenommene Verallgemeinerung des Makarismus in der 3. Pers. (Mt 11,6), die Lk von dort übernahm (7,23). Damit stellt sich die Frage, wie der Makarismus *7,23 genau formuliert war. Die Rekonstruktion basiert auf zwei Bezeugungen, die allerdings erstens voneinaner abweichen und zweitens nicht ganz eindeutig sind. Wie bereit erwähnt, zitiert Epiphanius das Logion nicht, sondern teilt nur mit, dass Marcion es in einer Weise »verändert« (παρηλλαγμένον) habe, »als ob es an Johannes (εἶχε γὰρ ὡς πρὸς Ιωάννην)« gerichtet sei. Wenn das Wort »an Johannes« adressiert war, musste es in der 2. Pers. Sing. formuliert sein: »Selig (bist du), wenn du an mir keinen Anstoß nimmst (μακάριος [εἶ], ἐὰν μὴ σκανδαλισθῇς ἐν ἐμοί).« Diese Rekonstruktion, die eine deutliche Distanz gegenüber Johannes zum Ausdruck bringt, ist gut denkbar angesichts der sehr kritischen Haltung, die Jesus in *Ev auch gegenüber seinen Jüngern einnimmt. Dagegen bezeugt Ephraem das Logion in seiner Auseinandersetzung mit den Marcioniten in der 3. Pers. Sing.: »Blessed is he, if he is not offended in me.« 9 In diesem Fall könnte das Logion gelautet haben: μακάριός (ἐστιν), ἐὰν μὴ σκανδαλισθῇ ἐν ἐμοί. Eine Entscheidung ist nicht leicht. Einerseits ist es denkbar, dass Epiphanius sich ungenau ausgedrückt hat, sodass »an Johannes« (πρὸς Ἰωάννην) im Sinn von »über Johannes« (περὶ Ἰωάννου) zu verstehen ist, dass also auch Epiphanius die von Ephraem bezeugte Fassung in der 3. Pers. vor Augen hatte. In diesem Fall wäre der Unterschied zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Fassung nur minimal und bestünde lediglich in der Erweiterung der Wendung ______________________________ 6 So T SUTSUI 86f. 7 Außer 4,18,4 auch 4,18,7 (… eleganter ad superiorem sensum scandalizati Ioannis commemorans) und 4,18,8 (qui non fuerit scandalizatus in Christum). 8 Vgl. M. K LINGHARDT , Gesetz und Volk Gottes, Tübingen 1988, 70f. 9 Ephraem, Adv. Marc. I (M ITCHELL xxxix). Ephraem diskutiert das angesprochene Problem, dass die Anfrage des Johannes ein ambivalentes Verhältnis zu Jesus impliziere. Er löst dieses Problem mit der Annahme, dass Jesus den Täufer hier zu festem Glauben aufgefordert habe und paraphrasiert: »John therefore was one who believed in Isu, and on that account, Isu sent (saying) ›Blessed is he if he remains steadfast and is not offended in me‹.« <?page no="159"?> 7,17-23 Rekonstruktion 671 ἐὰν μή durch ὅς: μακάριός ἐστιν ὃ ς ἐὰν μὴ σκανδαλισθῇ ἐν ἐμοί). 10 »Selig ist, w e r an mir keinen Anstoß nimmt« würde keinen direkten Bezug des Makarismus auf Johannes erkennen lassen. Andererseits erfordert diese Lösung die Annahme, dass sich Epiphanius sehr undeutlich ausgedrückt hätte. Die durch ihn nahegelegte Fassung in der 2. Pers. Sing. unterscheidet sich von der für Ephraem rekonstruierten Fassung letztlich nur in einem Buchstaben, jedenfalls wenn der Makarismus ohne Kopula formuliert war, wie es für diese Gattung charakteristisch (und für Ephraems syrische Fassung ohnehin selbstverständlich) ist: μακάριος, ἐὰν μὴ σκανδαλισθ ῇ ς / σκανδαλισθ ῇ ἐν ἐμοί. Da es keine zusätzlichen Anhaltspunkte (z. B. aus den Handschriften) gibt, lässt sich diese uneinheitliche Bezeugung nur anhand methodischer Gesichtspunkte auflösen: Die Fassung in der 2. Pers. ist der in der 3. Pers. vorzuziehen, weil sie weiter vom kanonischen Text entfernt ist; dieses Urteil bleibt allerdings sehr unsicher. Sicher ist jedoch, dass der Makarismus ursprünglich zu der Chrie dazugehörte und ihr nicht erst »im Lauf der Überlieferung als generalisierende Auslegung angefügt« wurde. 11 3. Da Tertullian in seinem Referat der Exposition so betont darauf verweist, dass Johannes Anstoß an Jesus nahm, könnte sich ein entsprechender Hinweis schon in *7,18 befunden haben. Sofern die Wendung scandalizatur Ioannes auditis virtutibus Christi (Tert. 4,18,4) in Tertullians Referat nicht nur eine Zusammenfassung, sondern eine Wiedergabe von *Ev darstellt, könnte dieser gelautet haben: (καὶ ἐξῆλθεν ὁ λόγος οὗτος ἐν ὅλῃ τῇ Ἰουδαίᾳ περὶ αὐτοῦ μέχρι Ἰωάννου τοῦ βαπτιστοῦ) ὃ ς ἀ κ ο ύ σ α ς τ ὰ ἔ ρ γ α α ὐ τ ο ῦ ἐ σ κ α ν δ α λ ί σ θ ῃ καὶ προσκαλεσάμενος usw. Für diese Annahme spricht, dass Tertullian gleich mehrfach die virtutes Christi erwähnt. 12 Die virtutes sind hier im Sinn von Wundertaten verstanden, weswegen es naheliegt, dass Tertullian in *Ev nicht ἀ ρ ε τ α ὶ τοῦ Χριστοῦ las, sondern ἔ ρ γ α τοῦ Χριστοῦ. In diesem Fall hätte sich Mt bei seiner redaktionellen Neufassung der Exposition durch die Formulierung von *Ev anregen lassen und nur den für ihn theologisch anstößigen Hinweis auf den Anstoß des Johannes gestrichen sowie den Hinweis auf das Gefängnis eingefügt: ὁ δὲ Ἰωάννης ἀκούσας ἐν τῷ δεσμωτηρίῳ τ ὰ ἔ ρ γ α τοῦ Χριστοῦ … (Mt 11,2). 4. Die weiteren Entscheidungen zur Rekonstruktion des ursprünglichen Wortlauts der Perikope sind weniger problematisch. ______________________________ 10 Diesen Vorschlag haben bereits die Herausgeber von Ephraems Schrift Adv. Marc. gemacht (M ITCHELL xxxix Anm. 1). Vgl. auch B E D UHN 142f. 11 B OVON , Lk I 370. 12 Tert. 4,18,3 (zu *7,11-16): sine dubio aut non alium circumferebat deum quam quem in suis beneficiis atque v i r t u t i b u s honorari sustinebat; 4,18,4: sed scandalizatur Ioannes auditis v i r t u t i b u s Christi … Ipso iam domino v i r t u t u m sermone et spiritu patris operante in terris et praedicante. <?page no="160"?> 672 Anhang I 7,17-23 a. In der Rekonstruktion von *7,19 folgt die Formulierung des Sendungsauftrags an die Johannesjünger dem Text von D d (e): Hier ist die Formulierung der Frage als direkte Rede des Johannes gefasst (πορευθέντες εἴπατε αὐτῷ). Die große Mehrheit der Zeugen hat die Frage in Oratio obliqua der Erzählstimme zugewiesen (ἔπεμψεν πρὸς τὸν κύριον λέγων). Die Ursprünglichkeit der Formulierung von D d e ergibt sich schon aus der Gegenprobe: Wer sollte diese Änderung sonst vorgenommen haben? Dabei ist auffällig, dass die Mehrheit der Handschriften den Adressaten als τὸν κύριον benennt (B L Ξ f 13 33 pc a ſſ 2 vg st sa bo mss M ), während andere hier τὸν Ἰησοῦν lesen ( א A W Θ Ψ f 1 aur b c f l q r 1 ). Wie oben gezeigt, geht τὸν κύριον in der Erzählstimme auf die lk Redaktion zurück. 13 Das Gleiche wird daher für die Formulierung des Sendungsauftrags insgesamt gelten (7,19a: ἔπεμψεν πρὸς τὸν κύριον λέγων), weswegen die Formulierung in D d e ursprünglich sein dürfte. b. Im Unterschied zu Adamantius bezeugt Tertullian die Frage des Johannes in *7,19.20 in der relativischen Form (σὺ εἶ) ὃ ς ἔ ρ χ ῃ anstelle des partizipialen ὁ ἐ ρ χ ό μ ε ν ο ς im kanonischen Text. 14 Wenn Tertullian die Formulierung ὃς ἔρχῃ/ qui venis in *Ev durch qui venturus es erläutert (4,18,6) und auf diese Weise die futurischen Aspekte der kanonischen Formulierung ὁ ἐρχόμενος zum Ausdruck bringt, dann ist dies als Hinweis darauf zu werten, dass ihm die Differenz zwischen *Ev und der kanonischen Formulierung bewusst war; sein Referat ist also nicht auf ein Versehen zurückzuführen. Die Ursprünglichkeit der von Tertullian bezeugten Formulierung ὃς ἔρχῃ/ qui venis wird auch durch die altlateinischen Handschriften e und q (in 7,20) gestützt. 15 c. In der zweiten Hälfte der Frage übernimmt die Rekonstruktion das von Adam. bezeugte ἕτερον. Tertullians Übersetzung (alium) lässt nicht erkennen, ob er in seinem *Ev-Exemplar ἕτερον oder ἄλλον gelesen hatte: Beides wird im Lateinischen durch alium wiedergegeben, wie die einheitliche Vg-Übersetzung (alium) von Mt 11,3 (ἕτερον) und Lk 7,19f (ἄλλον) zeigt. Angesichts dieser Überlieferungslage ist es nicht verwunderlich, dass die Vertreter der Lk-Priorität in der Bezeugung aus ______________________________ 13 Vgl. dazu o. § 5 (Bd. I, S. 93ff). 14 Es ist vermutlich ein Versehen, dass R OTH 113f auch für Tertullian das kanonische σὺ εἶ ὁ ἐρχόμενος substituiert (obwohl der gleich zweimal qui venis bietet); auf diese Weise übersieht er eine widersprüchliche Bezeugung. Von den Altlateinern bietet nur der Corbeiensis (ſſ 2 ) die kanonische Formulierung in der 3. Pers. (qui venturus e s t ); alle anderen haben die 2. Pers., entweder im Präsens (qui venis: e [in 7,20 auch q]) oder im Futur II (qui venturus e s : a aur b c d f l r 1 ). 15 Unklar ist B E D UHN 142, der die Formulierung von *Ev nicht nur durch e, sondern auch durch D bezeugt sieht. Aber D liest in 7,19.20 das kanonische σὺ εἶ ὁ ἐρχόμενος. Diese Variante ist weder in IGNTP noch in NA 27 verzeichnet; da sie durch keine griechische Handschrift gestützt wird, ist dies konsequent, verschleiert aber den redaktionellen Eingriff. <?page no="161"?> 7,17-23 Rekonstruktion 673 Adam. eine Eintragung aus der mt Fassung sehen. 16 Aber die handschriftliche Überlieferung von Lk 7,19.20 weist in eine andere Richtung, denn hier finden sich einige Zeugen, die ἕτερον anstelle des von der übergroßen Mehrheit gebotenen ἄλλον lesen. 17 Aber diese Lösung ist ganz unwahrscheinlich, denn sie muss mit einem doppelten Versehen rechnen: Nicht nur hätten einige Lk-Handschriften versehentlich die mt Formulierung übernommen, auch der Adam.-Dialog hätte diesen Irrtum wiederholt, obwohl ihm ja ausdrücklich das marcionitische Evangelium zugrunde liegen sollte. Sehr viel einfacher ist die Überlegung, dass das vorkanonische Evangelium ἕτερον hatte, das von Mt 11,3 übernommen wurde und seinen Einfluss auch noch auf die kanonische Handschriftenüberlieferung von Lk ausgeübt hat, obwohl die lk Redaktion dieses ἕτερον durch ἄλλον ersetzt hatte. d. In der Exposition ist die Wiederholung der Täuferfrage von *7,19 in 7,20 nicht direkt bezeugt, da Tertullians Referat der Frage nicht zu erkennen gibt, ob sie sich auf *7,19 oder *7,20 bezieht. An dieser Stelle helfen nur überlieferungsgeschichtliche Erwägungen: Die Exposition der Perikope fällt in Mt 11,2-6 deutlich knapper aus als bei Lk: Bei ihm findet sich weder die ungeschickte Doppelung der Frage *7,19.20 noch der (für *Ev unbezeugte) Bericht der Erzählstimme über die Tätigkeit Jesu in *7,21. Die Forschung hat die unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten im Modell der Zwei-Quellentheorie diskutiert: (1) Die kurze Fassung (Mt) stamme schon aus Q. 18 (2) Der lange (= lk) Text stamme aus Q und sei durch Mt gekürzt. 19 (3) Lk 7,20 sei in Q enthalten gewesen, von Mt aber gestrichen worden; Lk 7,21 dagegen sei eine redaktionelle Ergänzung des Q-Textes. 20 Es spricht einiges dafür, dass diese letzte Variante zutrifft. Dies ist vor allem für 7,21 deutlich: Durch die redaktionelle Einfügung dieses Berichts wird erstens die von Lk intendierte Disjunktion dieser von der vorangehenden Perikope verstärkt, zum anderen liefert der summarische Verweis auf die Tätigkeit Jesu die Gelegenheit, auch Blindenheilungen anzuführen, die bei Lk bis dahin noch gar nicht erwähnt waren, aber als narratives Widerlager für *7,22 wichtig sind. 21 ______________________________ 16 Z. B. H ARNACK 196* (der Adam.-Dialog habe »V. 19 nach Matth. zitiert«). Auch R OTH 365 sieht in bei Adam. »elements in their Matthean form (cf. ἕτερον)«. 17 Neben א B usw. finden sich darunter auch einige Minuskeln, die zu den üblichen Verdächtigen für vorkanonische Lesarten gerechnet werden müssen: 33 579 892 1241 (sowie, nur in V. 19: 1424 2542). Wenig überraschend, halten die Herausgeber von NA 27 diese Lesart für einen synoptischen Paralleleinfluss, wie sie durch das Sigel p) kenntlich machen. 18 Z. B. L UZ , Mt II 164: »Lk 7,20f sind … ganz lk.« 19 Z. B. P. H OFFMANN , Studien zur Theologie der Logienquelle, Münster 2 1975, 193; D AVIES / A LLISON , Mt II 235; R ADL , Lk 460. 20 Vgl. beispielsweise jeweils z. St.: S CHÜRMANN , Lk; M ARSHALL , Lk; B OCK , Lk. 21 Wohl aus diesem Grund sind sie außerhalb der Reihe am Ende separat erwähnt und hervorgehoben, vgl. W OLTER , Lk 279. <?page no="162"?> 674 Anhang I 7,17-23 5. Die Bedeutung der Rekonstruktion von *7,17-23 liegt in erster Linie darin, dass sie die Konturen der Entstehung der Täuferüberlieferung sichtbar werden lässt. Schon lange ist aufgefallen, 22 dass die Täuferfrage, bei Lk deutlicher noch als bei Mt, nicht nahtlos in das jeweils literarisch etablierte Johannesbild passt: In Lk löst die vorliegende Perikope weder die Ankündigung ein, dass der »Stärkere« kommen werde (Lk 3, 16), noch will die auch in der kanonischen Fassung sichtbare Distanz des Täufers zu Jesus so recht zu der umfangreichen Synkrisis der lk Geburtsgeschichten passen - und schon gar nicht zu dem erwartungsvollen Hüpfen des ungeborenen Johannes (Lk 1,41.44). Diese Diskrepanz geht im Kern darauf zurück, dass Mt und Lk dem vorkanonischen Text mit der kritischen Distanz des Täufers gegenüber Jesus die aus Mk stammende Tauftradition vorangestellt haben. Beide haben daher den Hinweis auf den Anstoß des Täufers an Jesus getilgt, Mk hat - aus demselben Grund? - diesen Bericht insgesamt übergangen. *7,24-28: Belehrung über Johannes Bezeugt, sicher in *Ev vorhanden, durch Lk nur geringfügig redigiert. 7,24 Ἀπελθόντων δὲ τῶν ἀγγέλων Ἰωάννου ἤρξατο λέγειν πρὸς τοὺς ὄχλους περὶ Ἰωάννου, Τί ἐξήλθατε a θεάσασθαι εἰς τὴν ἔρημον a ; κάλαμον ὑπὸ ἀνέμου σαλευόμενον; 25 ἀλλὰ τί ἐξήλθατε ἰδεῖν; ἄνθρωπον ἐν μαλακοῖς ἱματίοις ἠμϕιεσμένον; ἰδοὺ οἱ ἐν ἱματισμῷ ἐνδόξῳ καὶ τρυϕῇ b διάγοντες ἐν τοῖς βασιλείοις εἰσίν 26 ἀλλὰ τί ἐξήλθατε ἰδεῖν; προϕήτην; ναί, λέγω ὑμῖν, καὶ περισσότερον προϕήτου, c ↑ ὅτι οὐδεὶς μείζων ἐν γεννητοῖς γυναικῶν προϕήτης Ἰωάννου τοῦ βαπτιστοῦ. ↓ c 27 d †αὐτός† ἐστιν περὶ οὗ γέγραπται, Ἰδοὺ e † [ ἐγὼ ] † ἀποστέλλω τὸν ἄγγελόν μου πρὸ προσώπου σου, ὃς κατασκευάσει τὴν ὁδόν σου f † [ ἔμπροσθέν σου ] † f . 28 g Ἀμήν, λέγω ὑμῖν, h [↑ μείζων i πάντων τῶν γεννητῶν i γυναικῶν Ἰωάννου οὐδείς ἐστιν· ↓] h ὁ δὲ μικρότερος ἐν τῇ βασιλείᾳ τοῦ θεοῦ μείζων αὐτοῦ ἐστιν. A. *7,24.26-28: Tert. 4,18,7f: Multo perversius, si et testimonium Ioanni perhibet non Ioannis Christus, propheten eum confirmans, immo et supra ut angelum, ingerens etiam scriptum super illo: Ecce ego mitto angelum meum ante faciem tuam, qui praeparabit viam tuam; eleganter ad superiorem sensum scandalizati Ioannis commemorans prophetiam, ut confirmans praecursorem Ioannem iam advenisse extingueret scrupulum interrogationis illius: Tu es qui venis, an alium expectamus? Praecursore enim iam functo officium, praeparata via domini, ipse erat intellegendus cui praecursor ministraverat, (8) maior quidem omnibus natis mulierum: sed non ideo subiecto ei qui minor fuerit in regno dei, quasi alterius sit dei regnum in quo modicus quis maior erit ______________________________ 22 Außer den Kommentaren z. St. vgl. zusammenfassend M. V ÖLKEL , Anmerkungen zur lukanischen Fassung der Täuferanfrage Luk 7,18-23, in: W. Dietrich (Hg.), Festgabe für K. H. Rengstorf zum 70. Geburtstag, Leiden 1973, 166-173. <?page no="163"?> 7,24-28 Rekonstruktion 675 Ioanne, alterius Ioannes qui omnibus natis mulierum maior sit. Sive enim de quocunque dicit modico per humilitatem, sive de semetipso quia minor Ioanne habebatur, omnibus scilicet in solitudinem concurrentibus ad Ioannem potius quam ad Christum (Quid existis videre in solitudinem), tantundem et creatori competit et Ioannem ipsius esse maiorem natis mulierum, et Christum vel quemque modicum, qui maior Ioanne futurus sit in regno aeque creatoris, et qui sit maior tanto propheta, qui non fuerit scandalizatus in Christum, quod tunc Ioannem minuit. ♦ *7,27: Epiph., Schol. 9: αὐτός ἐστι περὶ οὗ γέγραπται· Ἰδοὺ ἀποστέλλω τὸν ἄγγελόν μου πρὸ προσώπου σου. ¦ Adam. 2,18 (867e): οὗτός ἐστι περὶ οὗ γέγραπται· Ἰδοὺ ἀποστέλλω τὸν ἄγγελόν μου πρὸ προσώπου σου, ὃς κατασκευάσει τὴν ὁδόν σου ἔμπροσθέν σου. B. a (7,24): θεασασθαι εις την ερημον/ videre in solitudinem: Tert ¦ (andere Wortstellung: 4 1-3) εις την ερημον θεασασθαι: it M ● b (7,25) διαγοντες: D K Π 265 489 544 565 726 1079 1200 1215 1219 1223 1313 1319 2643 d Clem. Alex. (Paed. II 10,109; GCS 12, 222); περισσευοντες/ superabundant: a ſſ 2 ¦ υπαρχοντες: M (*Ev non test.) ● c (7,26) οτι ουδεις μειζων εν γεννητοις γυναικων προϕητης Ιωαννου του βαπτιστου: D; d: om προϕητης; sy p aeth (Bodl. 41): των προϕητων ¦ om: M (sed vide v. 28; *Ev non test.) ● d (7,27) Widersprüchliche Bezeugung: (1) αυτος/ ipse: Epiph c (+ γαρ: U Θ Ψ mult b gat sy h.j bo (mss) ); (2) ουτος/ hic: Adam a aur (c: iste) d f ſſ 2 l q r 1 M ● e (7,27) εγω: Widersprüchliche Bezeugung: (1) add Tert M ¦ (2) om Epiph Adam P 75(vid) א B D L W Ξ mult it vg sa bo aeth ● f (7,27) εμπροσθεν σου: Widersprüchliche Bezeugung: (1) add Adam b c e f ſſ 2 q M ¦ (2) om Tert Epiph D a aur d l r 1 ● g (7,28) αμην: א L X Ξ 157 579 892 1342 1604 2542 sy j Tat arab armen aeth mss Ephr (Comm. Diat. 9,16; FC 54/ 1, 321) ¦ om it M (*Ev non test.) ● h (7,27) μειζων παντων των γεννητων γυναικων Ιωαννου ουδεις εστιν: om D d ¦ add it M (diverse Wortstellungen: it Ambr Eus Orig; *Ev non test.) ● i (7,28) παντων των γεννητων: Tert (! ) ¦ εγ γεννητης: 983 ¦ εν γεννητοις: it M . C. Die Perikope ist insgesamt gut bezeugt und hat ursprünglich mit *7,18-23 eine Einheit gebildet. 1. Die rhetorischen Fragen in 7,24c.25 sind der einzige längere Abschnitt dieser Perikope, der für *Ev nicht bezeugt ist. Sie haben in Mt 11,7-9 eine enge Parallele mit einem außerordentlich hohen Anteil wörtlicher Übereinstimmung. Diese Übereinstimmung zwischen Mt und Lk kann entweder aus der gemeinsamen Abhängigkeit von *Ev resultieren oder auf einen Einfluss von Mt auf Lk hindeuten. Aus diesem Grund ist die Abweichung in der Wortstellung in *7,24b von Bedeutung: Nach Tertullians Zeugnis bezog sich das Fragepronomen in *Ev nicht auf das Hinausgehen, sondern auf das Sehen: τί ἐξήλθατε θεάσασθαι εἰς τὴν ἔρημον. Der kanonische Text hat hier - genau wie Mt 11,7 - die Wortfolge τί ἐξήλθατε εἰς τὴν ἔρημον θεάσασθαι. 1 Dies könnte darauf hindeuten, dass Mt die ______________________________ 1 Für den kanonischen Wortlaut ist daher umstritten, ob die Frage eigentlich auf das »Sehen« zielt (so beispielsweise F ITZMYER , Lk 1 z. St.; R ADL , Lk z. St.) oder auf das »Hinausgehen« (so beispielsweise W OLTER , Lk 281, mit der Begründung, dass Fragepronomen und θεάσασθαι als mögliches Bezugswort zu weit auseinander stehen). Es sei wenigstens anmerkungsweise darauf hingewiesen, dass der Aor. εξηλθατε (P 75 א B D L Ξ 579 892 1241 usw.), den die kritischen Ausgaben im Text bieten, vermutlich die vorkanonische Formulierung ist, die durch die lk Redaktion in das Perf. εξεληλυθατε geändert wurde, wie die handschriftliche Bezeugung noch verrät (A W Θ Ψ 33 M ). <?page no="164"?> 676 Anhang I 7,24-28 Formulierung von *Ev geändert und Lk sie von Mt übernommen hat; in diesem Fall könnten auch die für *Ev unbezeugten Fragen aus Mt stammen. Aber das bleibt bloße Vermutung. 2. Für *7,27 weichen die Bezeugungen (Tert. 4,18,7; Epiph.; Schol. 9; Adam. 2,18) sowohl untereinander als auch vom kanonischen Wortlaut ab. Die Differenzen erklären sich zum Teil aus dem Gang der synoptischen Überlieferung. 2 Tert. Epiph. Adam. Mk 1,2 Mt 11,10 Lk 7,27 ecce ego ἰδοὺ ἰδοὺ ἰδοὺ ἰδοὺ ἐγὼ ἰδοὺ a mitto angelum meum ἀποστέλλω τὸν ἄγγελόν μου ἀποστέλλω τὸν ἄγγελόν μου ἀποστέλλω τὸν ἄγγελόν μου ἀποστέλλω τὸν ἄγγελόν μου ἀποστέλλω τὸν ἄγγελόν μου ante faciem tuam, πρὸ προσώπου σου πρὸ προσώπου σου, πρὸ προσώπου σου, πρὸ προσώπου σου, πρὸ προσώπου σου, qui praeparabit viam tuam ὃς κατασκευάσει τὴν ὁδόν σου ὃς κατασκευάσει τὴν ὁδόν σου ὃς κατασκευάσει τὴν ὁδόν σου ὃς κατασκευάσει τὴν ὁδόν σου ἔμπροσθέν σου ἔμπροσθέν σου b ἔμπροσθέν σου b a εγω: add A Θ Φ pl b εμπροσθεν σου/ ante te: om D a aur d l r 1 a. Tertullian, Mt und Lk (A Θ Φ pl) lesen εγω/ ego, während Mk, Adamantius, Epiphanius und die große Mehrheit der Handschriften in Lk das Pronomen nicht bezeugen. Hier ist die Überlieferung in sich gespalten. Dieses Phänomen tritt auch in der handschriftlichen Überlieferung des zitierten Textes in Mal 3,1 auf, was die textkritische Beurteilung erheblich erschwert. 3 Gleichwohl lässt sich die Uneinheitlichkeit im Gang der synoptischen Überlieferung gut nachvollziehen: Der für *Ev bezeugte Text hat sich auch in einigen Handschriften 4 von Lk 7,27 niedergeschlagen, und er ist so auch von Mk 1,2 übernommen worden. Die längere Lesart mit ἐγώ ist dann erstmals in Mt 11,10 bezeugt, mutmaßlich beeinflusst durch die entsprechende LXX-Überlieferung des Mal-Textes. Von dort aus ist sie dann auch in einen Teil der handschriftlichen Überlieferung von Lk 7,27 (A Θ Φ usw.) eingedrungen und hat auch Tertullians *Ev-Text beeinflusst. Mit einiger Vorsicht lässt sich daher folgern, dass das vorkanonische Evangelium den kürzeren Text hatte. ______________________________ 2 Vgl. dazu auch D. S. W ILLIAMS , Reconsidering Marcion’s Gospel, JBL 108 (1989), 477-496: 490. 3 εγω ist in Mal 3,1 LXX bezeugt in W, fehlt aber in א * B C co sy h usw., vgl. Duodecim Prophetae (Septuaginta XIII) ed. Z IEGLER , Göttingen 1943, 335. 4 P 75(vid) א B D L W Ξ mult it vg sa bo aeth. <?page no="165"?> 7,24-28 Rekonstruktion 677 b. Das Ende des Verses in *Ev scheint, im Unterschied zu Adamantius, durch Tertullians Wiedergabe genau bezeichnet zu sein (qui praeparabit viam tuam). Bei Epiphanius fehlt diese Wendung. Da er seine Zitate gelegentlich abkürzt, wenn denn der Sinn insgesamt klar ist, ist dies als Kennzeichen seiner Referatstechnik zu werten: Dass Epiphanius die Worte ὃς κατασκευάσει τὴν ὁδόν σου nicht bezeugt, besagt daher nicht, dass er sie nicht gelesen hat. Man wird davon ausgehen müssen, dass dieser Schluss, der im Übrigen ja auch der mk Fassung (Mk 1,2) entspricht, schon in *Ev enthalten war. c. Diese Überlegung bestätigt sich auch durch die uneinheitliche Bezeugung des Versendes: Das durch Tertullian bezeugte Fehlen der abschließenden Worte ἔμπροσθέν σου hat eine Analogie in der »Westlichen« Textüberlieferung, die hier wieder die charakteristische Uneinheitlichkeit aufweist, die als variierende Angleichung des vorkanonischen an den kanonischen Text zu verstehen ist. In diesem Fall repräsentiert das Fehlen von ἔμπροσθέν σου in D a aur d l r 1 den älteren *Ev- Text, während b c e f ſſ 2 l q die Korrektur nach dem kanonischen Text vorgenommen haben. Da D a aur d l r 1 aber die vorangehende Wendung ὃς κατασκευάσει τὴν ὁδόν σου/ qui praeparabit viam tuam durchweg enthalten, lässt sich die »Lücke« in *Ev mit einiger Sicherheit bestimmen. Das Fehlen der Worte ἔμπροσθέν σου im vorkanonischen Text hat sich wiederum in der mk Fassung (1,2) niedergeschlagen, die durch Mt (und in der Folge durch Lk) nach dem (an dieser Stelle eindeutigen) Mal-Text korrigiert wurde. *7,27 besaß demnach genau dieselbe Gestalt wie Mk 1,2. 3. In V. *26 und V. *28 weicht die Bezeugung in D d auf charakteristische Weise vom Mehrheitstext ab: Die Bemerkung, dass »kein Prophet unter den von Frauen Geborenen größer ist als Johannes der Täufer« findet sich hier nicht zu Beginn der abschließenden Pointe (Lk 7,28a), sondern am Ende von V. *26 und dient dort als Begründung für die Aussage, dass die Menge in Johannes »größeres als einen Propheten gesehen« hat. Die unterschiedliche Stellung des Logions im Mehrheitstext verändert das Verständnis der Perikope. Wenn mit betontem Achtergewicht ausgeführt wird, dass Johannes einerseits größer ist als jeder andere Prophet, andererseits aber geringer als der Geringste in der Basileia (Lk 7,28a.b), entsteht eine Synkrisis, die nicht auf die heilsgeschichtliche Position des Täufers zielt, sondern auf die Überbietung der Angehörigen der Basileia. Im Vergleich der unterschiedlichen Stellungen ist die Position des Logions im Mehrheitstext (Lk 7,28a) leichter als sekundäre Änderung des D-Textes zu verstehen als umgekehrt. Sofern diese Einschätzung zutrifft, ergeben sich weitere Einsichten für die Überlieferungsgeschichte. Denn die kanonische Fassung von Lk 7,28a.b entspricht der mt Formulierung (Mt 11,11). Mt hat das Urteil Jesu über den Täufer mit Sicherheit redaktionell bearbeitet, wie die Anfügung des »Stürmerspruchs« <?page no="166"?> 678 Anhang I 7,24-28 Mt 11,12f || *16,16b.a (s. dort) belegt. Lk ist Mt 11,11 mit der Position von Lk 7,28a gefolgt, nicht aber in der redaktionellen Erweiterung durch *16,16 (s. gleich). 4. So erlaubt die handschriftliche Bezeugung an dieser Stelle nicht nur eine einigermaßen sichere Rekonstruktion von *Ev, sondern macht auch den Gang der synoptischen Überlieferung durchsichtig. a. In diesem Fall wird zunächst die redaktionelle Gestaltung des Beginns der mk Tauferzählung erkennbar. Mk 1,1-11 hat wesentliche Elemente aus *7,17-23.24-28 übernommen: Aus dem Hinweis auf Johannes den »Täufer« (*7,17.20) hat Mk dessen Taufpraxis gefolgert (Mk 1,4f) und Jesus als einen seiner Täuflinge in die Erzählung eingeführt (Mk 1,9). Die Lokalisierung der Taufe in der »Wüste« (Mk 1,4) stammt aus *7,24, der Hinweis auf die Tracht des Täufers (Mk 1,6) aus der Frage *7,25 (die Mk dann eigenständig um die asketische Nahrung ergänzt hätte). Vor allem aber stammt das programmatische Mischzitat aus Mal 3,1 und Ex 23,20 in Mk 1,2 aus *7,27: Die Darstellung des Johannes in den Konturen des Elia redivivus hatte ihren ersten identifizierbaren Anhalt also in *Ev. b. Lk 7,27 hat dieses Logion also aus *Ev übernommen und es folglich in der Wiedergabe des Taufberichts in Entsprechung zu Mk 1 übergangen (hier hätte es seinen Platz in Lk 3,4 gehabt). Stattdessen hat er das Zitat aus Jes 40,3 in Mk 1,3 ergänzt (Jes 40,4f in Lk 3,5f). Diese Bearbeitung macht deutlich, dass Lk sehr wohl »vorausschauend« Dubletten vermieden hat. Das hier sichtbar werdende redaktionelle Verfahren ist exakt und differenziert. Vor allem zeigt es ein erstaunliches Maß an Textorientierung: Denn die für den Redaktionsprozess relevanten Texte - in diesem Beispiel: Mk und *Ev - sind mit großer Umsicht präsent. c. Ähnliches gilt auch für Mt, der im Anschluss an das Urteil Jesu über den Täufer den sog. »Stürmerspruch« Mt 11,12 aus *16,16 anfügt. Die Kombination von Zusammengehörigem - in diesem Fall: die prophetische Funktion des Täufers im Verhältnis zu Jesus bzw. der Basileia - belegt die Übersicht, die Mt über das ihm vorliegende Material besitzt. [ 7,29-35: Die Kinder der Weisheit ] Für *Ev unbezeugt, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit gefehlt und ist durch die lk Redaktion eingefügt. [ 7,29 Καὶ πᾶς ὁ λαὸς ἀκούσας καὶ οἱ τελῶναι ἐδικαίωσαν τὸν θεόν, βαπτισθέντες τὸ βάπτισμα Ἰωάννου· 30 οἱ δὲ Φαρισαῖοι καὶ οἱ νομικοὶ τὴν βουλὴν τοῦ θεοῦ ἠθέτησαν εἰς ἑαυτούς, μὴ βαπτισθέντες ὑπ’ αὐτοῦ. 31 Τίνι οὖν ὁμοιώσω τοὺς ἀνθρώπους τῆς γενεᾶς ταύτης, καὶ τίνι εἰσὶν ὅμοιοι; 32 ὅμοιοί εἰσιν παιδίοις τοῖς ἐν ἀγορᾷ καθημένοις καὶ προσϕωνοῦσιν ἀλλήλοις, ἃ λέγει, Ηὐλήσαμεν ὑμῖν καὶ οὐκ ὠρχήσασθε· ἐθρηνήσαμεν καὶ οὐκ ἐκλαύσατε. 33 ἐλήλυθεν γὰρ Ἰωάννης ὁ βαπτιστὴς μὴ ἐσθίων ἄρτον <?page no="167"?> 7,29-35 Rekonstruktion 679 μήτε πίνων οἶνον, καὶ λέγετε, Δαιμόνιον ἔχει· 34 ἐλήλυθεν ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ἐσθίων καὶ πίνων, καὶ λέγετε, Ἰδοὺ ἄνθρωπος ϕάγος καὶ οἰνοπότης, ϕίλος τελωνῶν καὶ ἁμαρτωλῶν. 35 καὶ ἐδικαιώθη ἡ σοϕία ἀπὸ πάντων τῶν τέκνων αὐτῆς. ] C. Die ganze Perikope ist unbezeugt. Angesichts des Inhalts, der hervorragend zu Tertullians Argumentation in 4,18 gepasst hätte, kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass *Ev diesen Text nicht enthielt. Es handelt sich dann offensichtlich um eine Ergänzung durch die lk Redaktion. 1 Dafür sprechen einige Indizien: 1. Lk 7,29f referiert sehr genau auf die Täuferpredigt (Lk 3,7-9), die ja in *Ev ganz sicher gefehlt hat und erst durch die lk Redaktion hinzugefügt wurde. Lk 7,29f enthalten eine Reihe von lk Spracheigentümlichkeiten: Auch im methodischen Horizont der Zwei-Quellentheorie hat man Lk 7,29f für lk Redaktion, nicht für Tradition gehalten. 2 2. Umgekehrt zeigen sprachliche Besonderheiten, dass Lk 7,31-35 ein Traditionsstück darstellt, das hier redaktionell eingefügt ist. Dazu gehören etwa die Einleitungsformel mit dem Dativ vor dem Gleichnis V. 32a. Die Reduplicatio mit ὅμοιοι am Übergang von V. 31 zu V. 32; 3 der nachgestellte Artikel mit der Funktion eines Relativpronomens in V. 32 (παιδίοις τοῖς). 4 Auch die Erwähnung der νομικοί 7,30 scheint auf die lk Redaktion zurückzugehen: Mit Ausnahme von Mt 22,35 tauchen sie nur bei Lk auf. Alle Belege sind entweder unbezeugt (11,45; 14,3) oder redaktionell: In Lk 10,25 und Lk 11,46 sind für *Ev die νομοδιδάσκαλοι anstelle der νομικοί bezeugt (s. jeweils dort); νομικοί ist ein lk Vorzugswort. 5 3. Die narrativen Isotopien in Lk 7,29.35 (πᾶς/ ἀπὸ πάντων; ἐδικαίωσαν τὸν θεόν/ ἐδικαιώθη ἡ σοϕία) erweisen die Kohärenz dieser Perikope. Die Vorstellung, dass die Weisheit als prophetisches Medium dient (das dann eben auch »gerechtfertigt« werden kann), ist typisch lk und taucht in einem ebenfalls red. Text wieder auf (Lk 11,49; s. dort). 4. Für lk Redaktion spricht dabei vor allem der Umstand, dass der Anschluss von V. 31 an V. 30 unglücklich ist, weil die Jesusrede ab V. 31 nicht als solche eingeführt ist: Abgesehen vom Fehlen einer Redeeinleitung - zu erwarten wäre etwa ὁ δὲ Ἰησοῦς εἶπεν (λέγων/ ὅτι …) o. ä. - bleibt das Subjekt von V. 31 (ὁμοιώσω) unbestimmt. Man kann daher schließen, dass V. 29f eine redaktionelle Bildung des Lk ist, die den Übergang zwischen dem aus *Ev stammenden Grundtext (*7,18-28) und dem aus Mt 11,16-19 stammenden Gleichnis von den spielenden Kindern ______________________________ 1 Zu diesem Stück vgl. H ARNACK 197f: »scheint gefehlt zu haben; es mußte dem M. anstößig sein, und Tert. hätte es schwerlich übergangen, wenn er es bei M. gefunden hätte.« 2 Z. B. F. C HRIST , Jesus Sophia, Zürich 1970, 63-82; E RNST , Lk z. St. 3 Dazu H. L AUSBERG , Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960, § 619. 4 Vgl. BDR § 412.3. 5 Vgl. zum Problem W OLTER , Lk 285. <?page no="168"?> 680 Anhang I 7,29-35 bildet (Lk 7,31-35). Der redaktionelle Charakter ergibt sich dann auch aus Lk 11,30-32.49-51 (s. die Rekonstrukt. zu 11,49-51): Diese Zwillingstexte haben in *Ev eindeutig gefehlt, sind also lk Redaktion. 6 5. Die Abfolge von 7,29-35 und 7,36-50 in der lk Fassung beeinträchtigt die narrative Plausibilität erheblich, weil auf diese Weise der Vorwurf, Jesus sei ein ἄνθρωπος ϕάγος καὶ οἰνοπότης (Lk 7,34) und die Einladung Jesu zum Mahl durch einen Pharisäer unmittelbar nebeneinander zu stehen kommen. 7 Wenn jedoch klar ist, dass *7,36ff wenigstens im Kern in *Ev enthalten waren (s. dort), dann ist deutlich, dass die Einfügung von Lk 7,29-35 durch Lk auch die Funktion hat, die folgende Erzählung vorzubereiten, in der sich Jesus dann als ϕίλος … ἁμαρτωλῶν (7,34) erweisen wird. 6. Die Überlieferungsgeschichte lässt sich unter diesen Voraussetzungen leicht nachvollziehen: Der Ausgangspunkt liegt in der für *Ev bezeugten Abfolge von *7,24-28.36-50. Mt hat das Urteil über den Täufer (*7,24-28) übernommen (Mt 11,7-15), es bearbeitet und (ebenfalls aus *Ev: Mt 11,12f || *16,16) ergänzt. An diese Täuferperikope hat er außerdem Mt 11,14f.16-19 angefügt. Lk hat, unter Rückgriff auf seine eigene Tauferzählung Lk 3, die Vv. 29f ergänzt und dadurch die Überleitung zu dem aus Mt stammenden Traditionsstück Lk 7,31-35 || Mt 11,16-19 geschaffen. 8 Die offenen Fragen betreffen dann nicht die lk, sondern die mt Fassung: Es ist nicht klar, ob Mt 11,16-19 eine redaktionelle Bildung des Mt ist, oder ob er diese Vv. bereits vorgefunden hat. 7. Der handschriftliche Befund korrespondiert mit der überlieferungsgeschichtlichen Annahme. Denn in den »Westlichen« Handschriften gibt es keine nennenswerten Varianten, wie sie zu erwarten wären, wenn hier ein durch Lk bearbeiteter Text vorläge. Aber abgesehen von einigen typischen Übersetzungsvarianten, wie sie für die altlateinische Überlieferung charakteristisch sind, 9 gibt es keine nennenswerten redaktionellen Varianten. Die einzige Ausnahme ist in Lk 7,31 die Einfügung tunc ergo Iesus dixit im Brixianus purpureus (f): Hier wird das ______________________________ 6 Zum Konzept dieser Texte vgl. M. K LINGHARDT , ›Gesetz‹ bei Markion und Lukas, in: D. Sänger, M. Konradt (Hg.), Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament, Göttingen - Fribourg 2006, 99-128: 111f. 7 Ob dies die »feinsinnige Ironie« des Lk belegt (W OLTER , Lk 290), sei dahingestellt. 8 Allerdings widerspricht der pauschale Vorwurf gegen τοὺς ἀνθρώπους τῆς γενεᾶς ταύτης (Lk 7,31) der Reaktion auf die Verkündigung des Täufers durch die Menge, die Zöllner und die Soldaten (Lk 3,10.12.14), vgl. W OLTER , Lk 284. Aus dem Vergleich wird erkennbar, dass es am Ende nur die Pharisäer und Schriftgelehrten (Lk 7,30) sind, denen die Gerichtsdrohung des Täufers gilt (Lk 3,7-9). 9 Ein deutliches Beispiel ist die uneinheitliche Wiedergabe von ἠθέτησαν (7,30): spreverunt: a aur b c f ſſ 2 l; dispreverunt: q; contempserunt: r 1 ; abusi sunt: d; reprobaverunt: e. <?page no="169"?> 7,29-35 Rekonstruktion 681 offensichtliche Problem des Subjekts der Frage Lk 7,31 (und der nachfolgenden Rede) geklärt. *7,36-40 [ 41f ] 43.44a [ 44b-46 ] 47-50: Salbung durch die Sünderin Teilweise für *Ev bezeugt, aber durch Lk intensiv redaktionell bearbeitet. 7,36 Ἠρώτα δέ τις αὐτὸν τῶν Φαρισαίων ἵνα ϕάγῃ μετ’ αὐτοῦ· καὶ εἰσελθὼν εἰς τὸν οἶκον τοῦ Φαρισαίου κατεκλίθη. 37 καὶ ἰδοὺ γυνὴ a ἥτις ἦν ¿ἐν τῇ πόλει? a ἁμαρτωλός [ καὶ ἐπιγνοῦσα ὅτι κατάκειται ἐν τῇ οἰκίᾳ τοῦ Φαρισαίου, κομίσασα ἀλάβαστρον μύρου 38 καὶ ] στᾶσα ὀπίσω παρὰ τοὺς πόδας αὐτοῦ b [ κλαίουσα ] , τοῖς δάκρυσιν c ἔβρεξε τοὺς πόδας αὐτοῦ d † [ καὶ ταῖς θριξὶν τῆς κεϕαλῆς αὐτῆς ἐξέμασσεν καὶ κατεϕίλει τοὺς πόδας αὐτοῦ ] † d καὶ ἤλειϕεν τῷ μύρῳ. 39 ἰδὼν δὲ ὁ {Σίμων ¿Πέτρος? } εἶπεν ἐν ἑαυτῷ λέγων, Οὗτος εἰ ἦν προϕήτης, ἐγίνωσκεν ἂν τίς καὶ ποταπὴ ἡ γυνὴ ἥτις ἅπτεται αὐτοῦ, ὅτι ἁμαρτωλός ἐστιν. 40 καὶ ἀποκριθεὶς ὁ Ἰησοῦς εἶπεν e πρὸς τὸν Πέτρον e , Σίμων, ἔχω σοί τι εἰπεῖν. ὁ δέ, Διδάσκαλε, εἰπέ, ϕησίν. [ 41 δύο χρεοϕειλέται ἦσαν δανιστῇ τινι· ὁ εἷς ὤϕειλεν δηνάρια πεντακόσια, ὁ δὲ ἕτερος πεντήκοντα. 42 μὴ ἐχόντων αὐτῶν ἀποδοῦναι ἀμϕοτέροις ἐχαρίσατο. τίς οὖν αὐτῶν πλεῖον ἀγαπήσει αὐτόν; 43 ἀποκριθεὶς Σίμων εἶπεν, ῾Υπολαμβάνω ὅτι ᾧ τὸ πλεῖον ἐχαρίσατο. ὁ δὲ εἶπεν αὐτῷ, Ὀρθῶς ἔκρινας. ] 44 καὶ στραϕεὶς πρὸς τὴν γυναῖκα τῷ Σίμωνι ἔϕη, Βλέπεις ταύτην τὴν γυναῖκα; [ εἰσῆλθόν σου εἰς τὴν οἰκίαν, ὕδωρ μοι ἐπὶ πόδας οὐκ ἔδωκας ] · αὕτη f [ δὲ ] τοῖς δάκρυσιν ἔβρεξεν g τοὺς πόδας μου, g ↑ 46 h καὶ ἤλειψεν i [ τοὺς πόδας μου ]↓ i ↑ 45 καὶ κατεϕίλει. ↓ h 47 οὗ χάριν λέγω σοι, ἀϕέωνται αἱ ἁμαρτίαι αὐτῆς αἱ πολλαί, ὅτι ἠγάπησεν πολύ· [ ᾧ δὲ ὀλίγον ἀϕίεται, ὀλίγον ἀγαπᾷ. ] 48 εἶπεν δὲ αὐτῇ, Ἀϕέωνταί σου αἱ ἁμαρτίαι. 49 καὶ ἤρξαντο οἱ συνανακείμενοι λέγειν ἐν ἑαυτοῖς, Τίς οὗτός ἐστιν ὃς καὶ ἁμαρτίας ἀϕίησιν; 50 εἶπεν δὲ πρὸς τὴν γυναῖκα, Ἡ πίστις σου k σὲ σέσωκεν k · πορεύου εἰς εἰρήνην. A. *7,36-38: Epiph., Schol. 10: καὶ εἰσελθὼν εἰς τὸν οἶκον τοῦ Φαρισαίου κατεκλίθη. ἡ δὲ γυνὴ στᾶσα ὀπίσω ἡ ἁμαρτωλός παρὰ τοὺς πόδας ἔβρεξε τοῖς δάκρυσι τοὺς πόδας, καὶ ἤλειψεν καὶ κατεϕίλει. ♦ *7,37f.46.48.50: Tert. 4,18,9: Diximus de remissa peccatorum. Illius autem peccatricis feminae argumentum eo pertinebit, ut cum pedes domini osculis figeret, lacrimis inundaret, crinibus detergeret, unguento perduceret, solidi corporis veritatem, non phantasma inane, tractaverit, et ut peccatricis paenitentia secundum creatorem meruerit veniam, praeponere solitum sacrificio. Sed et si paenitentiae stimulus ex fide acciderat, per paenitentiam ex fide iustificatam ab eo audiit, Fides tua te salvam fecit, qui per Abacuc pronuntiarat, iustus ex fide sua vivet. ♦ *7,44-46: <?page no="170"?> 682 Anhang I 7,36-50 Epiph., Schol. 11: καὶ πάλιν Ἁύτη τοῖς δάκρυσιν ἔβρεξεν τοὺς πόδας μου καὶ ἤλειψεν καὶ κατεϕίλει. B. a (7,37) ητις ην εν τη πολει: om Epiph ¦ εν τη πολει/ in civitate: D d ¦ add ητις ην εν τη πολει: א B L W Ξ f 1.13 700 1241 pc ¦ (Wortfolge 2-5 1): A Θ Ψ it sy h M ● b (7,38) κλαιουσα: om Tert Epiph F aur b ſſ 2 l q vg ℓ859 ¦ add a c e f (flens) d (plorans) r 1 (coepit plorare) M ● c (7,38) εβρεξε/ rigabat: Tert Epiph D b ſſ 2 l q r 1 sy s (vgl: εβρεχε/ inrigabat: a; lavit: c; implevit: d; lababat: e) Tat pers aeth ¦ ηρξατο βρεχειν/ coepit rigare: aur f vg M ● d (7,38) Widersprüchliche Bezeugung: (1) pedes domini osculis figeret, lacrimis inundaret, crinibus detergeret, unguento perduceret: Tert ¦ (2) και ταις θριξιν … εξεμασσεν/ crinibus detergeret: om Epiph., Schol. 10 (ἔβρεξε τοῖς δάκρυσι τοὺς πόδας καὶ ἤλειψεν καὶ κατεϕίλει) e; osculis figeret/ κατεϕιλει om e (lacrimis suis lababat pedes eius et unguebat unguento) ● e (7,40) προς τον πετρον/ ad Petrum: f e; προς τον σιμωνα/ Simoni: c ¦ προς αυτον/ ad illum (ad eum, illi): a aur b d ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● f (7,44) δε: om 1200* ℓ1016 Epiph., Schol. 11 ● g (7,44) τους ποδας μου/ pedes meos: Epiph aur b c f g 1 gat l q r 1 ¦ (3 1 2) μου τους ποδας/ μοι τους ποδας/ mihi pedes: a d e M ● h (7,44) και ηλειψεν και κατεϕιλει: Epiph ¦ add vss. 44b.45.46: (it) M ● i (7,46) τους ποδας μου: om Epiph D W 079 a b c d e ſſ 2 l q armen ¦ add aur M ● k (7,50b) σε σεσωκεν/ te salvavit: Tert it (te salvam fecit: a aur b d f ſſ 2 l q r 1 ; te salvavit/ salbavit: c e) Ambr (ep. 41,5; PL 16, 1114) August (Serm. 99,7 u. ö.; PL 38, 599) ¦ (2 1): σεσωκεν σε M . C. Die Perikope ist teilweise bezeugt: In der Exposition ist die Kennzeichnung des Gastgebers als Pharisäer gesichert, ebenfalls der Hinweis, dass die Frau eine Sünderin war (*7,36b.37a) sowie die Handlung der Frau in *7,38, auch wenn Umfang und Reihenfolge des Tuns nicht ganz klar sind. Auch Jesu Beschreibung des Tuns der Frau in *7,44-46 ist bezeugt, ebenso der Zuspruch der Sündenvergebung (*7,48) und der Hinweis, dass der Glaube die Frau gerettet hat (*7,50). Unbezeugt sind, neben einzelnen Elementen aus der Exposition, vor allem der (stumme) Vorwurf des Gastgebers mit der Entgegnung Jesu (Lk 7,39f) und das folgende Gleichnis von den beiden Schuldnern (Lk 7,41f). Von der Übertragung des Gleichnisses auf die Sachebene ist für *Ev jeweils nur die Beschreibung des Tuns der Frau bezeugt, nicht aber die entsprechenden Hinweise darauf, was der Gastgeber nicht getan hat (Lk 7,44: ὕδωρ μοι ἐπὶ πόδας οὐκ ἔδωκας; Lk 7,45a: ϕίλημά μοι οὐκ ἔδωκας; Lk 7,46a: ἐλαίῳ τὴν κεϕαλήν μου οὐκ ἤλειψας). Auch die systematisierende Zusammenfassung mit der Entgegensetzung viel/ wenig lieben - viel/ wenig vergeben bekommen (Lk 7,47b) ist unbezeugt. 1. Die Perikope - und die Rekonstruktion ihrer ursprünglichen, vorkanonischen Fassung - besitzt eine besondere überlieferungsgeschichtliche Bedeutung. Denn die Salbungserzählung hat in der mk-mt Salbung in Bethanien (Mk 14,3-9 || Mt 26,6-13) sowie in der Salbung der Maria (Joh 12,1-8) zwei überlieferungsgeschichtliche Seitenstücke: Dass diese Texte miteinander zusammenhängen, ist offensichtlich, nicht aber, wie. Die Schwierigkeit einer überlieferungsgeschichtlichen <?page no="171"?> 7,36-50 Rekonstruktion 683 Zuordnung hat ihren Grund darin, dass jeweils zwei der drei Fassungen Elemente gegenüber der jeweils dritten gemeinsam haben. 1 a. So stimmt die lk mit der mk-mt Salbungserzählung gegen Joh 12 darin überein, dass der Gastgeber Simon heißt (Lk 7,40,43.44; Mk 14,3 || Mt 26,6) und dass die Frau ein Alabastergefäß mit Duftöl verwendet (ἀλάβαστρον μύρου Lk 7,37; Mk 14,3 || Mt 26,7). b. Mit Joh 12 stimmt Lk gegen Mk/ Mt darin überein, dass die Frau Jesu Füße (und nicht seinen Kopf) salbt (Lk 7,38; Joh 12,3), und dass sie diese mit ihren Haaren abtrocknet (Lk 7,38; Joh 12,3). c. Die mk-mt Fassung und Joh 12 stimmen gegen Lk 7 darin überein, dass die ganze Episode in Bethanien lokalisiert ist und einen engen Bezug zur Passion besitzt. Außerdem steht im Zentrum dieser Fassungen ein Vorwurf der Jünger (Verschwendung), den Jesus dann zurückweist. d. Die lk Fassung unterscheidet sich von den beiden anderen außerdem dadurch, dass hier die Frau als Sünderin bezeichnet wird (Lk 7,37: ἁμαρτωλός). Nur in Lk 7,38 wird gesagt, dass sie weint (κλαίουσα), die Füße Jesu mit ihren Tränen benetzt (τοῖς δάκρυσιν ἤρξατο βρέχειν τοὺς πόδας αὐτοῦ) und sie küsst (κατεϕίλει). Das Verhältnis dieser drei Fassungen ist gerade mit Blick auf Lk 7,36-50 schwierig und schon seit langem kontrovers diskutiert. In methodischer Hinsicht lassen sich dabei zwei verschiedene Modelle unterscheiden. Das eine rechnet streng mit literarischen Beziehungen zwischen den drei Fassungen und sieht in Lk 7,36-50 eine selbständige Um- und Ausgestaltung von Mk 14 || Mt 26. 2 Dagegen wurde eingewandt, dass in diesem Fall der Lk-Text einheitlicher sein müsste, als er tatsächlich ist. 3 Außerdem seien die Unterschiede zwischen der mk-mt und der lk Fassung zu groß, abgesehen davon, dass die lk-joh Übereinstimmungen nicht ohne zusätzliche Annahmen erklärt werden könnten. 4 Grundsätzlich anders argumentiert ein zweites Modell, das mit Variationen in der mündlichen Überlieferung rechnet. In diesem Fall sind zwei Varianten denkbar: Zum einen werden zwei verschiedene Ursprünge - eine Fußsalbung und eine mit der Passion verbundene Kopfsalbung - angenommen, von denen einzelne Elemente im Zuge der mündlichen Überlieferung von einer in die andere Fassung eingedrungen seien. 5 Alternativ dazu ist ein einheitlicher ______________________________ 1 Vgl. ausführlich A. D AUER , Johannes und Lukas, Würzburg 1984, 126-132; I. D UNDERBERG , Zur Literarkritik von Joh 12,1-12, in: A. Denaux (Hg.), John and the Synoptics, Leuven 1992, 558-570. 2 Z. B. K LOSTERMANN , Lk z. St.; F ITZMYER , Lk I z. St.; R. VON B ENDEMANN , Liebe und Sündenvergebung, BZ NF 44 (2000), 161-182. 3 R ADL , Lk 488. 4 Z. B. W OLTER , Lk 291. Wohlgemerkt: Dass sich die lk-joh Entsprechungen nicht ohne weiteres im Modell der Zwei-Quellentheorie erklären lassen und »zusätzliche Annahmen« erfordern, spricht nicht gegen den Zusammenhang der synoptischen Fassungen, sondern gegen die methodischen Grenzen der Zwei-Quellentheorie. Das Problem der lk-joh Entsprechungen, das sich bekanntlich mit besonderer Dringlichkeit im Aufriss und der Akoluthie der Passionsgeschichte stellt (s. dazu Bd. I, § 13.2 und 3), erfordert daher nicht »zusätzliche«, sondern andere Grundannahmen. 5 Vgl. N OLLAND , Lk z. St.; M ARSHALL , Lk z. St. <?page no="172"?> 684 Anhang I 7,36-50 Ursprung - die Erzählung einer Salbung im Hause eines Simon, die biographisch nicht mit der Passion verbunden war - erwogen worden, der sich dann in der mündlichen Überlieferung in drei verschiedene Fassungen niedergeschlagen hat. Dies führt zu der Annahme, dass Lk die Erzählung sowohl aus Mk 14,3-9 als auch aus der mündlichen Überlieferung (die auch im Hintergrund von Joh 12 stehe) gekannt habe. 6 Die Argumentation mit der mündlichen Tradition besitzt allerdings einen nur eingeschränkten Erklärungswert, weil sie das eigentliche Problem - nämlich die Erklärung der Differenzen zwischen den einzelnen Fassungen - in einen prinzipiell nicht überprüfbaren Bereich verlagert: Die Argumentation mit der mündlichen Überlieferung erklärt letztlich nichts. Ihre methodische Funktion besteht in erster Linie darin, die offenkundigen Schwächen der Zwei-Quellentheorie zu kaschieren. 2. Vor diesem Hintergrund ist klar, dass die Rekonstruktion der nur teilweise bezeugten Perikope sehr verschiedene Gesichtspunkte berücksichtigen muss. Wichtig sind zunächst einige Beobachtungen zur handschriftlichen Überlieferung: a. In der Exposition *7,37 fehlte nach Epiphanius’ Zeugnis der Relativsatz ἥτις ἦν ἐν τῇ πόλει. Schwierig wird die Beurteilung dieser Worte, da D d zwar ἐν τῇ πόλει, nicht aber ἥτις ἦν enthalten; beide Elemente tauchen in der restlichen Überlieferung in unterschiedlicher Wortfolge auf. Die unterschiedliche Wortfolge sowie das Fehlen von ἥτις ἦν in D d könnten vermuten lassen, dass ἐν τῇ πόλει ursprünglich Teil des Textes war, aber von Epiphanius übergangen wurde. Aber es liegt näher, dass Epiphanius *Ev korrekt referiert. Die Wendung (ἡ δὲ γυνὴ στᾶσα ὀπίσω ἡ ἁμαρτωλός παρὰ τοὺς πόδας) ist aufgrund der Wortstellung alles andere als glücklich. In diesem Fall ginge die Uneinheitlichkeit der Überlieferung auf den Versuch zurück, das nachklappende ἡ ἁμαρτωλός sowohl sachlich zu erläutern als auch in der schwierigen Stellung zu glätten. Da der kanonische Text jedoch nicht wirklich flüssiger ist, wäre ein solcher Glättungsversuch nur teilweise gelungen. An dieser Stelle lässt sich über Spekulationen also nicht hinauskommen. b. Sofern Epiphanius korrekt referiert, hat auch Lk 7,37b καὶ ἐπιγνοῦσα ὅτι κατάκειται ἐν τῇ οἰκίᾳ τοῦ Φαρισαίου, κομίσασα ἀλάβαστρον μύρου καί in *Ev gefehlt. Das ist gut möglich. Denn diese Bemerkung dient der Erklärung, wieso sich die Frau mit dem Salböl im Haus des gastgebenden Pharisäers befindet. Diese Information rundet die Erzählung plausibilisierend ab, ist aber für den Plot nicht wirklich notwendig. Dies gilt vor allem, wenn der pharisäische Gastgeber und der Adressat der Belehrung Jesu nicht miteinander identisch waren (s. gleich). Wenn sich jedoch, wie es in der kanonischen Fassung der Fall ist, der Gastgeber dagegen ______________________________ 6 Z. B. G. H OLST , The One Anointing of Jesus, JBL 95 (1976), 435-446; L. O BERLINNER , Begegnungen mit Jesus, in: J. Kügler, M. Gielen (Hg.), Liebe, Macht und Religion, Stuttgart 2003, 253-278: 254- 259; vgl. auch F ITZMYER , Lk I z. St. <?page no="173"?> 7,36-50 Rekonstruktion 685 verwahrt, dass Jesus die Liebeserweise einer Sünderin duldet, sollte die Anwesenheit dieser Frau in seinem eigenen Haus in irgendeiner Weise motiviert sein: Genau das leistet die von Epiphanius nicht referierte Information Lk 7,37b. Da sie nur für die kanonische Fassung eine narrative Funktion besitzt, wird sie erst auf dieser Ebene redaktionell ergänzt worden sein. c. In *7,38 fehlt der ausdrückliche Hinweis, dass die Frau geweint habe (κλαίουσα), nicht nur in den Zeugen für *Ev, sondern auch in einem Teil der handschriftlichen Überlieferung, darunter in einigen Altlateinern. 7 Gleichwohl ist in allen diesen Zeugen mitgeteilt, dass die Frau die Füße Jesu mit ihren Tränen benetzt habe. Der Hinweis auf das Weinen ist folglich eine Ergänzung der lk Redaktion zur Erklärung der unvermittelten Erwähnung der Tränen der Frau. Denn die Tränen werden in allen Zeugnissen erwähnt, auch in denen, die das »Weinen« nicht erwähnen. d. Die Schilderung der Tätigkeit der Frau ist sehr uneinheitlich überliefert. Die kanonische Fassung des Mehrheitstextes nennt vier verschiedene Handlungen der Frau, die durch die doppelte Erwähnung der »Füße« zu zwei Paaren strukturiert werden: Die Frau habe Jesu Füße (1) mit ihren Tränen benetzt und (2) mit ihren Haaren abgetrocknet; sie habe die Füße (3) geküsst und (4) sie mit Öl gesalbt. Tertullian referiert dieselben Elemente, allerdings in anderer Reihenfolge (bei ihm steht das Küssen zu Beginn). Die Reihung bei Tertullian lässt nur den Schluss zu, dass das Objekt aller Handlungen der Frau die Füße Jesu sind. Entsprechendes gilt auch für die kanonische Fassung mit der zweimaligen Erwähnung des Objekts. Epiphanius dagegen lässt das zweite Element aus und hat die beiden letzten vertauscht (zuerst Salbung, dann Küssen). Nur im ersten Fall wird gesagt, dass das Objekt der Benetzung durch Tränen die Füße sind. Auffälligerweise lässt das Evangelium Palatinum (e) die Elemente (2) »mit den Haaren trocknen« und (3) »küssen« aus. Lk 7,38 e *7,38 Epiph. *7,38 Tert. Lk 7,38 die Füße die Füße die Füße die Füße küssen, mit Tränen netzen mit Tränen netzen, sie mit Tränen netzen, mit Tränen netzen, — — sie mit Haaren trocknen, sie mit Haaren trocknen, — — die Füße küssen mit Öl salben salben, sie mit Öl salben und mit Öl salben — küssen — — Diese Übereinstimmung zwischen Epiphanius und e wiegt schwer und stellt zunächst sicher, dass das Elemente »mit den Haaren abtrocknen« mit größter Wahrscheinlichkeit in *Ev gefehlt hat. Unter der methodischen Voraussetzung, dass diejenige ______________________________ 7 F aur b ſſ 2 l q vg ℓ859. <?page no="174"?> 686 Anhang I 7,36-50 Lesart die größte Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen kann, die am weitesten vom kanonischen Mehrheitstext entfernt ist, ließe sich begründen, dass das in e fehlende Element »Küssen« ebenfalls erst später nachgetragen wäre; Epiphanius und Tertullian würden dann unterschiedliche Stadien der Angleichung des vorkanonischen an den kanonischen Text repräsentieren (mit Blick auf die Erwähnung des »Weinens« der Frau gilt dies auch für e). Wenn allerdings Epiphanius’ Referat mit der Abfolge »mit Tränen netzen - salben - küssen« korrekt ist, ließe sich auch vorstellen, dass das letzte Element der Aufzählung in e ausgefallen ist. Angesichts dieser Alternativen besitzt der von Epiphanius referierte Text eine größere Wahrscheinlichkeit und ist daher in die Rekonstruktion aufgenommen. e. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass in *7,46b die Worte τοὺς πόδας μου in einer Reihe von Handschriften fehlen, darunter die Mehrheit der immer wieder auffälligen Altlateiner und D. In der kanonischen Fassung dient die Angabe des Objekts der Salbung dazu, den Gegensatz zum Vordersatz herauszustellen, der von der Salbung des Kopfes spricht. Die wichtige Konsequenz ist, dass in den »Westlichen« Zeugen von einer Salbung der Füße gar nicht die Rede war. Denn auch in *7,38 wird zwar gesagt, dass die Frau die Füße Jesu geküsst habe, aber die Salbungsaussage bleibt ohne Objekt (*7,38: καὶ κατεϕίλει τοὺς πόδας αὐτοῦ καὶ ἤλειϕεν τῷ μύρῳ). 8 Ein Teil der handschriftlichen Überlieferung enthielt also die Elemente: »Fußwaschung« durch Tränen; (Abtrocknung der Füße mit den Haaren; ) Küssen; Salben. Dass für die beiden letzten Glieder kein direktes Objekt genannt ist und die (höchst ungewöhnliche) Fußsalbung daher auch eine (durchaus verbreitete) Kopfsalbung gewesen sein könnte, ist für die Überlieferungsgeschichte von Bedeutung. f. Eine weitere und entscheidende Besonderheit weisen zwei altlateinische Handschriften auf: In der Einleitung der abschließenden Jesusrede Lk 7,40a nennen e f den Namen des Adressaten. Irritierenderweise lassen diese Handschriften die Antwort Jesu an Petrus gerichtet sein. 9 Da eine Identifizierung des pharisäischen Gastgebers mit Petrus völlig ausgeschlossen ist, liegt diesen Handschriften eine Tradition zugrunde, die zwar die Szene insgesamt im Haus eines (unbenannten) Pharisäers lokalisiert, aber das entscheidende Jesuslogion als Belehrung an Petrus versteht. Da sich diese Nennung des Petrus aus dem kanonischen Text nicht ableiten lässt, ist dies ein deutlicher Hinweis auf die ursprüngliche Gestalt der Perikope, der zugleich Einsichten für die Überlieferungsgeschichte ermöglicht. g. Die weiteren textlichen Abweichungen sind nicht von großem Gewicht und lassen sich durchweg als sprachliche Glättungen verstehen. Dies gilt insbesondere ______________________________ 8 K. W EISS , Der Westliche Text von Lc 7,46 und sein Wert, ZNW 46 (1955), 242-245. 9 et respondens (e: respondit) Iesus dixit (om e) ad P e t r u m : Simon … (vgl. c: … dixit Simoni). <?page no="175"?> 7,36-50 Rekonstruktion 687 für den Anfang der Schilderung der Handlungen der Frau in *7,38. Im Unterschied zu der ingressiven Formulierung des kanonischen Textes (ἤρξατο βρέχειν/ coepit rigare) bezeugen Tertullian und Epiphanius in Übereinstimmung mit etlichen der typisch »Westlichen« Handschriften das einfache ἔβρεξε bzw. ἔβρεχε (rigabat). 10 Die ingressive Form geht auf die lk Redaktion zurück und unterstreicht die Handlungsfolge. 3. In der kanonischen Fassung stellt das Nebeneinander des Gleichnisses von den beiden Schuldnern Lk 7,41-43 und seiner Applikation auf der Sachebene *7,44-46 ein doppeltes Problem dar. Denn schon länger ist aufgefallen, dass das Gleichnis erstens eine relativierende Abstufung im Sinn eines Mehr/ Weniger vornimmt, 11 während die Beschreibung des Sachproblems in Lk 7,44-46 einen absoluten Gegensatz formuliert, der den Handlungen der Frau nicht ein geringeres, sondern gar kein Tun entgegensetzt. 12 Dementsprechend fehlt der Erzählung jeder Hinweis darauf, dass dem gastgebenden Pharisäer »wenig« vergeben worden sei. Gravierender ist allerdings, dass das Gleichnis Vergebung und Liebe so ins Verhältnis setzt, dass Liebe als Reaktion auf und als Folge von Vergebung erscheint. Diese Verhältnisbestimmung passt jedoch gerade nicht zu Erzählung, der zufolge die Liebe nicht eine Folge der Sündenvergebung ist, sondern umgekehrt deren Voraussetzung: Dass viel liebt, wem viel vergeben wurde, steht zu der Erzählung in erkennbarer Spannung. 13 Diese Spannung zwischen der Liebe einerseits als Voraussetzung und andererseits als der Folge der Sündenvergebung kennzeichnet dann auch 7,47: Die Aussage, dass der Frau ihre vielen Sünden vergeben würden, weil sie viel geliebt hat (*7,47a), passt genau zur Erzählung. Der Nachsatz Lk 7,47b (wem wenig vergeben ist, der liebt wenig) macht dagegen das Maß der Liebe vom Maß der Vergebung abhängig: Diese Folgerung passt zum Gleichnis, nicht aber zur Erzählung. Diese Inkonzinnität hat Anlass zu literarkritischen Scheidungen gegeben, sei es, dass das Gleichnis 7,41-43 als sekundär gesehen wurde, 14 sei es, dass es zwar der ______________________________ 10 D a (inrigabat) b c (lavit) d (implevit) e (lababat) ſſ 2 l q r 1 sy s Tat pers aeth. 11 Das »Mehr« wird ausdrücklich benannt (7,42: π λ ε ῖ ο ν ἀγαπήσει αὐτόν; 7,43: τὸ π λ ε ῖ ο ν ἐχαρίσατο), das »Weniger« ist nicht ausgeführt, aber zu substituieren. Erst 7,47 nimmt diese Abstufung wieder auf (πολύ/ ὀλίγον). 12 Vgl. zuletzt O. H OFIUS , Fußwaschung als Erweis der Liebe, ZNW 81 (1990), 170-177: 176f. 13 »Liebe« als Ursache von Sündenvergebung findet sich in Aussagen wie 1Pe 4,8; Jak 5,20 usw.; die zugrunde liegende Denkfigur ist beschrieben von K. B ERGER , Almosen für Israel. Zum historischen Kontext der paulinischen Kollekte, in: ders., Tradition und Offenbarung, Tübingen - Basel 2006, 207-232: 210-223. Dass K LEIN , Lk 295, in diesen Texten das Modell »Liebe als Frucht zugesprochener Sündenvergebung« sieht (Hervorhebung M.K.), stellt den Sachverhalt allerdings auf den Kopf. 14 Z. B. G. B RAUMANN , Der Schuldner und die Sünderin Lk VII 36-50, NTS 10 (1963/ 64), 487-493, der mit einem Grundstock 7,36-39.44-46.48f rechnet; das Gleichnis 7,41-43 sei sekundär, 7,47 verbinde beide Einheiten. <?page no="176"?> 688 Anhang I 7,36-50 ursprünglichen Fassung angehört habe, aber durch 7,44-46 ergänzt worden sei. 15 Das literarkritische Verhältnis von Lk 7,41-43 und *7,44-46 lässt sich im Rahmen der *Ev-Priorität ziemlich klar beantworten: Die Vv. *44-46 sind wenigstens in Teilen schon für *Ev bezeugt, nicht dagegen das Gleichnis Lk 7,41-43. Es ist daher wahrscheinlich, dass das Gleichnis - vielleicht angeregt durch Mt 18,23-35? - eine Ergänzung durch die lk Redaktion ist. Die sekundäre Einfügung des Gleichnisses hatte dann zur Folge, dass dessen Beginn nicht mehr als Antwort Jesu gekennzeichnet ist: Die ursprüngliche Einleitung der Antwort Jesu an Petrus findet sich in *7,44. Allerdings sind damit die Schwierigkeiten noch nicht gelöst, weil das literarkritische Ergebnis in die komplexe Überlieferungsgeschichte eingezeichnet werden muss. 4. Für die Rekonstruktion empfiehlt es sich, von dem auffälligsten Element der handschriftlichen Überlieferung auszugehen, nämlich der Adressierung der Antwort Jesu in 7,40 (e f) an Petrus. Denn es lässt sich schlechterdings kein Grund finden, der ein nachträgliches Eindringen dieser Adressierung in die Überlieferung erklären könnte. Auch die Annahme eines Versehens, die aus methodischen Gründen ohnehin problematisch ist, ist auszuschließen: Abgesehen davon, dass dieses Phänomen in zwei Handschriften begegnet, müsste ein versehentlicher Eintrag des Namens »Petrus« anstelle von »Simon« den kompletten Kontext vollkommen außer Acht gelassen haben und rein mechanisch erfolgt sein. Das ist völlig unwahrscheinlich und methodisch problematisch: Die historische Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte darf nicht auf der kontingenten Annahme völliger Ignoranz eines Kopisten basieren. Im umgekehrten Fall ist es ausgesprochen ungewöhnlich, dass die kanonische Fassung den Namen des Gastgebers (Simon) erst im Zusammenhang der Antwort Jesu Lk 7,40 nennt: Diese Information wäre in der Exposition (7,36) sinnvoll und zu erwarten gewesen - so, wie es in Mk 14,3 || Mt 26,6 dann ja auch der Fall ist. Stattdessen spricht die Exposition der kanonischen Fassung Lk 7,36.37.39 allgemein von »einem Pharisäer«. Dieser Sprachgebrauch stammt aus *Ev, wie Epiphanius’ Zeugnis zu *7,37 sicherstellt. 16 Zu Beginn des Gesprächs in der kanonischen Fassung redet Jesus den Pharisäer als »Simon« an (Lk 7,40), 17 und der Erzähler greift diesen ______________________________ 15 Z. B. U. W ILCKENS , Vergebung für die Sünderin, in: P. Hoffmann (Hg.), Orientierung an Jesus, Freiburg/ Brsg. 1973, 394-428: 416ff (der Grundbestand habe 7,36.39-43.47 umfasst); vgl. J.-W. T AEGER , Der Mensch und sein Heil, Gütersloh 1982, 192 (7,44-46.47a seien redaktionell) u. a. 16 Epiph., Schol. 10: καὶ εἰσελθὼν εἰς τὸν οἶκον τοῦ Φαρισαίου … 17 In der kanonischen Fassung ist der Bezug des Namens durch das Relativpronomen gesichert: 7,40a (καὶ ἀποκριθεὶς ὁ Ἰησοῦς εἶπεν πρὸς αὐτόν, Σίμων) bezieht sich zurück auf 7,39 (ἰδὼν δὲ ὁ Φαρισαῖος … εἶπεν ἐν ἑαυτῷ λέγων). <?page no="177"?> 7,36-50 Rekonstruktion 689 Namen in der Antwort des Pharisäers auf (Lk 7,43 ἀποκριθεὶς Σίμων εἶπεν). Dass der Gastgeber »Simon« hieß, ist für *Ev nicht bezeugt. Die vorkanonische Fassung der Salbungserzählung hätte dann die Ereignisse im Haus eines Pharisäers lokalisiert, der aber für den Fortgang der Erzählung nicht weiter konstitutiv war und deshalb auch ohne weiteres anonym bleiben konnte. Der Skopus dieser Erzählung lag nicht auf dem Gegensatz zwischen der Sünderin und dem Pharisäer, dem die entscheidende Zurechtweisung durch Jesus galt, sondern auf einer Jüngerbelehrung. Auch dieses Element ist für die überlieferungsgeschichtliche Rekonstruktion wichtig. 5. Wenn sich die Antwort Jesu in *7,44-46 ursprünglich an Petrus und nicht an den pharisäischen Gastgeber gerichtet hat, dann muss sie ganz anders ausgesehen haben als in der kanonischen Fassung: Die Vordersätze mit ihrer Kritik am Gastgeber in der 2. Pers. Sing. können nicht Teil des Textes gewesen sein. Dass sie nicht bezeugt sind, wird daher nicht an der Nachlässigkeit der Referenten liegen, sondern daran, dass sie erst von der lk Redaktion in den Text eingearbeitet wurden. Es sei wenigstens knapp darauf hingewiesen, dass sich dieses Problem auch sehr deutlich an der Überlieferung in den altlateinischen Handschriften zeigt. Während die negativen Vordersätze 7,45f über das Verhalten des Gastgebers in der 2. Pers. ohne jede nennenswerte Abweichung überliefert sind, zeigen die Aussagen über das Verhalten der Frau erstaunliche Variationen hinsichtlich der Wortstellung, der Übersetzung und der grammatikalischen Struktur. Zwei Beispiele mögen genügen: 7,44b: haec autem (l: add mulier) lacrimis suis (om a aur d l r 1 vg) rigavit pedes meos (aur b f l q r 1 ; a d: inrigavit mihi pedes; c: lavit; ſſ 2 : pedes meos rigavit; e: lavit mihi pedes). 7,45b: haec autem, ex quo intravi (b f l q r 1 ; c d: introivi; a aur ſſ 2 vg: intravit; e: introivit) non cessavit (a: desiit; e: intermisit) osculari (a c l r 1 : osculando; d: osculans) pedes meos (d: mihi pedes; e: pedes meos osculando). Die starken Abweichungen begegnen, wie auch sonst so häufig, in denjenigen Passagen, die bereits der vorkanonischen Fassung angehören, während die Ergänzungen durch die kanonische Redaktion ohne weitere Veränderungen übernommen wurden. Wenn die Aufzählung der vom Gastgeber unterlassenen Erweise des Respekts gegenüber Jesus Lk 7,44-46 auf die lk Redaktion zurückgeht, dann bestand die Belehrung des Petrus ursprünglich nur in der Erwähnung dessen, was die Frau an Jesus getan hatte. Dass diese Aufzählung kürzer war als im kanonischen Text, ist oben deutlich geworden: Das Element der Trocknung der Füße mit den Haaren hat mit allergrößter Wahrscheinlichkeit gefehlt, vielleicht - wie die Überlegungen zu 7,38 (e) gezeigt haben - auch der Hinweis auf das Küssen; sicher bezeugt sind nur das Benetzen der Füße und das Salben. Wichtiger ist, dass sich ausweislich der handschriftlichen Überlieferung von 7,46 die Salbung nicht auf die Füße Jesu bezogen hat. Da Tertullian das feine Salböl (unguemtum/ μῦρον) und nicht das einfache <?page no="178"?> 690 Anhang I 7,36-50 oleum/ ἔλαιον erwähnt, ist mit größter Wahrscheinlichkeit die für die sympotische Situation typische Kopfsalbung vorausgesetzt. Die Frage, auf die *7,44-46 mit der Antwort Jesu an Petrus reagierte, ist nicht erhalten. Sie ergibt sich möglicherweise aus dem (bezeugten) Schlusslogion *7,50, das den Glauben der Frau als Grund ihrer Rettung benennt. Es ist gut denkbar, dass Petrus die Handlungen der Frau mit Blick auf ihr Sündersein kritisiert oder abgewiesen hat, also ähnlich zu der Formulierung von 7,39b (οὗτος εἰ ἦν προϕήτης, ἐγίνωσκεν ἂν τίς καὶ ποταπὴ ἡ γυνὴ ἥτις ἅπτεται αὐτοῦ, ὅτι ἁμαρτωλός ἐστιν), und möglicherweise hatte die Frage auch die Form des stummen Einwands. Nur für die Einleitung *7,39 ist eine andere Formulierung zu postulieren: Sie muss als Subjekt Simon (oder Petrus) anstelle des Pharisäers enthalten haben, könnte also etwa gelautet haben: ἰδὼν δὲ ὁ Σ ί μ ω ν εἶπεν … (oder ὁ Σίμων Πέτρος oder nur ὁ Πέτρος). Dies bleibt allerdings unsicher. Die Entscheidung für »Simon« beruht auf der Bezeugung von *7,40 im Colbertinus (c), aber auch »Petrus« wäre aufgrund von *7,40 e f möglich. Für die Entscheidung spielt eine Rolle, dass die mutmaßlich älteste Rezeption der Erzählung (Mk 14,3ff) genau diesen Namen verwendet (Mk 14,3), sich aber genötigt sieht, diesen »Simon« von dem Simon abzusetzen, der nach der Erzählung bis dahin allein in Frage gekommen wäre: Nämlich Simon Petrus. 6. Mit diesen Überlegungen zur Rekonstruktion der vorkanonischen Fassung der Salbungserzählung lässt sich dann auch ihre Überlieferungsgeschichte skizzieren: a. Die vorkanonische Fassung der Perikope in *Ev berichtete davon, dass Jesus bei einem ansonsten anonymen Pharisäer zu Gast war, als sich ihm von hinten eine Sünderin näherte, seine Füße mit ihren Tränen wusch und (ihn) salbte. Auf einen Einwand des Simon (Petrus) hin, der sich offensichtlich darauf bezog, dass Jesus die Handlungen einer Sünderin duldete, erläutert Jesus das Handeln der Frau als Erweis ihrer großen Liebe (*7,47a: ἠγάπησεν πολύ), weswegen ihr viele Sünden vergeben würden. Die Antwort Jesu war an (Simon) Petrus gerichtet, der namentlich angesprochen war. Darauf wandte sich Jesus an die Frau und vergab ihr die Sünden (*7,48). Die Reaktion der Eingeladenen und Jesu abschließendes Wort über den rettenden Glauben (*7,49f) waren wahrscheinlich bereits in *Ev enthalten; Lk hat den Wortlaut nur minimal verändert. Diese Fassung war ganz offensichtlich in erster Linie an der Frau als Sünderin interessiert, wogegen Petrus weit weniger, der Gastgeber überhaupt kein Gewicht trägt: Der erste fungiert nur als Stichwortgeber, der zweite ist ein bloßer Statist in der Staffage der Szenerie. Die folgende Perikope *8,2f mit der Nennung der drei Frauen, die Jesus dienten (διηκόνουν, 8,3), lässt erkennen, dass *7,36-50 tatsächlich mehr an der Frau interessiert war als an dem namenlosen Pharisäer, und dass hier das Verhältnis der Jünger (insbesondere: Petrus) zu den Frauen in der Nachfolge <?page no="179"?> 7,36-50 Rekonstruktion 691 das eigentliche Thema war, das Jesus mit der Vergebung und dem Hinweis auf die Liebe der Frau beantwortet. b. Die erste Rezeption dieser Erzählung in Mk 14,3-9, die von Mt mit nur geringfügigen Änderungen rezipiert wurde (Mt 26,6-13), hat einige Elemente aus der vorkanonischen Fassung übernommen, anderes aber geändert. Offensichtlich hat Mk sich durch die namentliche Anrede »Simon« (*7,40) oder durch die Erwähnung in *7,39 dazu anregen lassen, die Szenerie in das Haus eines Simon zu verlegen, der jetzt nicht mehr ein Pharisäer ist, sondern als »der Lepröse« genauer bezeichnet wird (Mk 14,3). Damit nimmt Mk eine folgenreiche Disjunktion vor, weil sich die Antwort Jesu jetzt (erstmalig in der Überlieferungsgeschichte) an den Gastgeber »Simon« und nicht mehr an (Simon) Petrus richtet. Indem Mk die Perikope in die Passionsgeschichte integriert, hat er andere redaktionelle Veränderungen vorgenommen: Die Lokalisierung in Bethanien in der Nähe von Jerusalem (Mk 14,3 || Mt 26,6) sowie die Deutung der Salbung als vorweggenommene Einbalsamierung (Mk 14,8 || Mt 26,12). Mk 14,3 vereindeutigt das objektlose »Salben mit Öl« (*7,38: ἤλειϕεν τῷ μύρῳ) als Salbung des Kopfes: κατέχεεν αὐτοῦ τ ῆ ς κ ε ϕ α λ ῆ ς . Diese semantische Präzisierung ist dann auch dafür verantwortlich, dass der von den Jüngern erhobene Einwand am Tun der Frau sich nicht auf ihr Sündersein bezieht, sondern auf die Verschwendung des kostbaren Salböls. Da die Frau in der mk-mt Fassung keine Sünderin ist, besteht auch kein Bedarf, ihre Tränen (der Reue) zu erwähnen: Die Benetzung der Füße Jesu konnte wegfallen, weil für Mk nur die (verschwenderische) Salbung wichtig war. Trotz dieser Veränderungen ist erkennbar, dass die mk Fassung auf *Ev basiert: Beide sprechen von einer Salbung Jesu, nicht seiner Füße. Dass dazu das Salböl auf den Kopf aufgetragen wurde, konnte, musste aber nicht eigens gesagt werden. In beiden Texten belegt diese Salbung die Wertschätzung Jesu im Sinn eines Liebeswerks (Mk 14,6: καλὸν ἔργον ἠργάσατο ἐν ἐμοί; *7,47: ὅτι ἠγάπησεν πολύ). Sofern *7,37 in *Ev enthalten war (was denkbar, aber unwahrscheinlich ist), stimmen beide Erzählungen in der Formulierung ἀλάβαστρον μύρου überein (*7,37 || Mk 14,3). Vor allem aber stimmen beide Fassungen darin überein, dass sie von einem Einwand aus dem Kreis der Jünger gegen die Salbung berichten, auf den Jesu Antwort dann reagiert: Da Mk die namentliche Anrede im Tadel Jesu (»Simon«) getilgt und den Namen auf den (auch in seiner Fassung ganz unwichtigen) Gastgeber übertragen hat, bleiben bei ihm die Urheber des Einwands und die Adressaten der Antwort Jesu unbestimmt. 18 Man könnte vermuten, dass Mk den in *Ev kritisierten Petrus auf diese Weise aus der Schusslinie nahm. ______________________________ 18 Mk 14,4: τινες; Mt 26,8 präzisiert immerhin: οἱ μαθηταί. <?page no="180"?> 692 Anhang I 7,36-50 c. Da Mt 26,6-13 die mk Fassung (in ihrem Kontext der Passionsgeschichte) weitgehend unverändert reizipiert, ist der nächste bemerkenswerte Schritt der Überlieferungsgeschichte die höchst kreative Rezeption in Joh 12,1-8. 19 Kreativ ist die Ausgestaltung deswegen, weil Joh gleich mehrere Texte über die »bethanischen Geschwister« zu einem umfassenden Bild verwebt. Joh behält aus Mk 14,3 Bethanien als den Ort der Salbung bei, aber die Gastgeber sind weder (wie noch in *Ev) ein Pharisäer, noch (wie bei Mk und Mt) »Simon der Lepröse«, sondern die Schwestern Maria und Martha, die Joh aus *10,38-42 kannte (s. dort). Wie in *10,40 (περιεσπᾶτο περὶ πολλὴν διακονίαν) wird von Martha gesagt, dass sie Jesus »dient« (Joh 12,2: διηκόνει). Aber von Maria, die Jesus zu Füßen sitzt (*10,39: παρακαθεσθεῖσα πρὸς τοὺς πόδας), heißt es, dass sie die Füße Jesu salbte und sie mit ihrem Haar trocknete (Joh 12,3: ἤλειψεν τοὺς πόδας τοῦ Ἰησοῦ καὶ ἐξέμαξεν ταῖς θριξὶν αὐτῆς τοὺς πόδας αὐτοῦ). Die Salbung ist Anlass für den Vorwurf der Verschwendung, den in diesem Fall nicht die Jünger insgesamt erheben, sondern Judas Ischarioth (Joh 12,4), der hier bereits als geldgieriger Verräter diskreditiert wird (Joh 12,5f). d. Die joh Fassung setzt auf der einen Seite Mk 14,3-9 voraus, wie einige Details schlüssig beweisen. 20 Auf der anderen Seite setzt nicht nur die joh Textur der bethanischen Geschwistertexte die allgemeine Kenntnis von *Ev voraus. Konkret hat Joh aus *Ev das Element aufgegriffen, dass sich die Frau an den Füßen Jesu zu schaffen macht (*7,38: ἔβρεξε τοὺς πόδας αὐτοῦ; Joh 12,3: ἤλειψεν τοὺς πόδας τοῦ Ἰησοῦ καὶ ἐξέμαξεν ταῖς θριξὶν αὐτῆς τοὺς πόδας αὐτοῦ). Dass Joh 12,3 - im Rahmen der Überlieferungsgeschichte: erstmalig! - so betont von einer Salbung der Füße Jesu spricht, geht vielleicht auch darauf zurück, dass Maria nach *10,39 πρὸς τοὺς πόδας sitzt. Als neues Element fügt Joh in die Erzählung ein, dass Maria die Füße Jesu mit ihren Haaren getrocknet hat (12,5). Während die Sünderin in Lk 7,38 mit ihren Haaren die Tränen von den Füßen abtrocknet und dann erst die Füße salbt, setzt Joh 12,5 voraus, dass Maria die gesalbten Füße mit ihren Haaren getrocknet, also das überflüssige Öl abgewischt und aufgenommen hat. 21 ______________________________ 19 Vgl. dazu M. S ABBE , The Footwashing in Jn 13 and its Relation to the Synoptic Gospels, ETL 58 (1982), 279-308: 298ff; I. R. K ITZBERGER , Love and Footwashing: John 13: 1-20 and Luke 7: 36-50 Read Intertextually, Biblical Interpretation 2 (1994), 190-206. 20 Vgl. Mk 14,3 (ἀλάβαστρον) μύρου νάρδου πιστικῆς πολυτελοῦς || Joh 12,3 (λίτραν) μύρου νάρδου πιστικῆς πολυτίμου. - Mk 14,5 ἠδύνατο γὰρ τοῦτο τὸ μύρον πραθῆναι ἐπάνω δηναρίων τριακοσίων καὶ δοθῆναι τοῖς πτωχοῖς || Joh 12,5 διὰ τί τοῦτο τὸ μύρον οὐκ ἐπράθη τριακοσίων δηναρίων καὶ ἐδόθη πτωχοῖς. 21 A. D AUER , Johannes und Lukas, Würzburg 1984, 204, behauptet, es sei »ganz unwahrscheinlich, dass ein einigermaßen überlegt arbeitender Autor das Motiv vom Abtrocknen der Füße so ungeschickt - <?page no="181"?> 7,36-50 Rekonstruktion 693 Aber die joh Rezeption von *7,36ff beschränkt sich nicht auf Joh 12,1-8. Denn die auffällige Besonderheit von *Ev, der zufolge sich die Belehrung Jesu über den Liebeserweis der Frau an (Simon) Petrus richtet, hat außerdem Eingang in die Fußwaschungsszene Joh 13 gefunden, wie insbesondere das Gespräch mit Simon Petrus zeigt (Joh 13,6-10). Dieses Gespräch lässt in charakteristischer Veränderung des Ausgangsproblems sehr gut die für Joh typische, assoziativ-spielerische Rezeption seiner Prätexte erkennen. Denn wenn der joh Petrus nach der Belehrung über die Notwendigkeit der Reinigung (Joh 13,8b) nicht nur seine Füße, sondern auch die Hände und das Haupt gewaschen haben will (13,9b), dann ist dies nicht einfach Ausdruck des unreflektierten Überschwangs, sondern ein gut nachvollziehbarer Verweis auf die anderen Prätexte, in denen nicht von der (Waschung und) Salbung der Füße, sondern des Hauptes Jesu die Rede war. 22 Auf diese Weise wird auch klar, inwiefern Jesus zu Petrus sagen kann, dass er jetzt (noch) nicht begreift, was Jesus tut, sondern erst μετὰ ταῦτα verstehen werde (Joh 13,7). Dieses (vorläufige) Nichtverstehen wird normalerweise auf die (noch verborgene) Erkenntnis der Leidensnotwendigkeit bezogen, wie es etwa in Mt 16,22 (ἵλεώς σοι, κύριε· οὐ μὴ ἔσται σοι τοῦτο) zum Ausdruck kommt und wie es hier zeichenhaft in der Fußwaschung angesprochen sein soll. 23 Aber in Joh 13 geht es nicht um die Einsicht in die Notwendigkeit des Leidens Jesu. Vielmehr zeigt der Rückbezug auf *7,36ff sehr viel präziser, dass Petrus erst später - nämlich in Joh 21,15-17 mit dem dreimaligen »Liebst du mich? « - den engen Zusammenhang von Vergebung und Liebe versteht. Aus diesem Grund ist auch das ἀγαπᾷς με π λ έ ο ν τούτων Joh 21,15 nachvollziehbar. Petrus hat tatsächlich allen Grund, Jesus mehr zu lieben als die anderen Jünger, denn ihm wurde mehr vergeben als ihnen, nämlich seine Verleugnung. Da diese charakteristische Verhältnisbestimmung von Vergebung und Liebe (»viel liebt, wem viel vergeben ist«) nicht schon in *Ev enthalten war, sondern erst durch die lk Redaktion eingetragen wurde (Lk 7,41-44a.47d), wird ein Bezug zwischen der lk Redaktion und Joh 21 sichtbar. Dieses Element bestätigt die Joh-Priorität vor Lk. e. Die letzte Stufe der Überlieferungsgeschichte ist die Bearbeitung durch die lk Redaktion. Lk hat der Erzählung vor allem dadurch eine neue Wendung gegeben, ______________________________ nach eben vorgenommener Salbung, unter Verwendung der Haare! - eingefügt haben sollte.« Warum? Wäre diese »Ungeschicklichkeit« denn wahrscheinlicher, wenn der Autor dieses Element aus einem anderen Text übernommen hätte? 22 Gegen T HYEN , Joh 589; aus diesem Grund ist es auch nicht überzeugend, dass die Worte εἰ μὴ τοὺς πόδας in Joh 13,10 eine »sinnstörende sekundäre Glosse« sind: Sie machen deutlich, dass über die implizierte Taufe hinaus genau dieser Liebeserweis, der durch die Fußwaschung auf das »Viel liebt, wem viel vergeben ist« hinweist, für die christlichen Leser dauerhaft vonnöten ist. 23 Vgl. z. B. T HYEN , Joh 588 z. St. <?page no="182"?> 694 Anhang I 7,36-50 dass er den Einwand gegen das Verhalten der Frau nicht den Jüngern bzw. Petrus zuweist, sondern dem pharisäischen Gastgeber, den er ja schon in *Ev vorgefunden hatte. Die Identifizierung des Gastgebers mit dem Adressaten der Antwort Jesu hatten Mk und Mt durch den Hinweis auf »Simon den Leprösen« auf andere Weise auch schon angedeutet. Für Lk ist die Gegnerschaft der Pharisäer gegen die Gemeinschaft Jesu mit »Zöllnern und Sündern« ein wesentliches Gestaltungselement, das immer wieder in redaktionellen Texten aufgegriffen und behandelt wird - zuletzt in Lk 7,34 (red.). Zu dieser redaktionellen Änderung gehört auch die Einfügung des Gleichnisses Lk 7,41-43, die Erweiterung der Schilderung des Tuns der Frau durch das, was der Gastgeber nicht getan hat (Lk 7,44-46), sowie die unpassende Folgerung »wenig liebt, wem nur wenig vergeben ist« (7,47b). Da Lk daran interessiert ist zu zeigen, dass die Frau »viel geliebt hat« (7,47a: ἠγάπησεν πολύ), hat er die Reihe der Tätigkeiten der Frau aus Joh 12,3 um das Element »Abtrocknen mit den Haaren« sowie das Küssen der Füße ergänzt. 7. Die älteste Fassung der Perikope in *Ev zeigt Petrus in einer Distanz zu Jesus, die bereits Mk dadurch gemindert hat, dass er die Kritik an der Verschwendung »einigen« in den Mund legt, die ungenannt bleiben (Mk 12,4). 24 Mit Blick auf den deutlichen Tadel Jesu gegenüber Petrus versteht man, wie die Marcioniten auf die Idee kamen, dass Petrus ursprünglich das »vollkommene Verständnis« nicht hatte. 25 Die Kritik der Marcioniten und anderer »Häretiker« an der apostolischen Begründung der kirchlichen Wahrheit wird also nicht einfach auf die polemische Abwertung im Zusammenhang aktueller Distanzierungen zurückgehen, sondern bereits einen Anhalt im ältesten Evangelium besessen haben. ______________________________ 24 Dabei zeigt sich in der handschriftlichen Überlieferung von Mk 12,4 eine Entwicklung mit dem Ziel, die Jünger aus der Position der unverständigen Kritiker zu nehmen: Der vorkanonische *Mk- Text hatte »die Jünger« noch als Subjekt genannt, wie die vermutlich vorkanonische Lesart in D Θ 565 it zeigt (οἱ δὲ μαθηταὶ αὐτοῦ διεπονοῦντο καὶ ἔλεγον). Erst die kanonische Redaktion streicht jede Erwähnung der »Jünger« und macht daraus ἦσαν δέ τινες ἀγανακτοῦντες πρὸς ἑαυτούς. 25 Vgl. etwa Irenaeus, Haer. 3,12,7 (FC 8/ 3, 140): »Oder hatte Petrus damals vielleicht noch nicht die vollkommene Erkenntnis (perfectam cogitationem), die diese Leute später dann erfunden haben? Nach ihnen war Petrus also unvollkommen, und genauso unvollkommen die übrigen Apostel; und sie müssten nochmals ins Leben zurückkehrenm um ihre (sc. der Häretiker) Schüler und um auch selbst vollkommen zu werden.« <?page no="183"?> 8,1-3 Rekonstruktion 695 *8, [ 1 ] 2-3: Unterstützung durch vornehme Frauen Teilweise für *Ev bezeugt und sicher vorhanden; möglicherweise geringfügig durch Lk redaktionell ergänzt. [ 8,1 Καὶ ἐγένετο ἐν τῷ καθεξῆς καὶ αὐτὸς διώδευεν κατὰ πόλιν καὶ κώμην κηρύσσων καὶ εὐαγγελιζόμενος τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ, καὶ οἱ δώδεκα σὺν αὐτῷ, ] 2 καὶ γυναῖκές τινες αἳ ἦσαν τεθεραπευμέναι ἀπὸ πνευμάτων πονηρῶν καὶ ἀσθενειῶν, Μαρία ἡ καλουμένη Μαγδαληνή, ἀϕ’ ἧς δαιμόνια ἑπτὰ ἐξεληλύθει, 3 καὶ Ἰωάννα γυνὴ Χουζᾶ ἐπιτρόπου Ἡρῴδου καὶ Σουσάννα καὶ ἕτεραι πολλαί, αἵτινες a καὶ διηκόνουν b αὐτῷ ἐκ τῶν ὑπαρχόντων αὐταῖς. A. *8,2f: Tert. 4,19,1: Quod divites Christo mulieres adhaerebant, quae et de facultatibus suis ministrabant ei, inter quas et uxor regis procuratoris, de prophetia est. Has enim vocabat per Esaiam: Mulieres divites, exsurgite et audite vocem meam: ut discipulas primo, dehinc ut operarias et ministras ostenderet: Filiae in spe audite sermones meos: diei anni mementote cum labore in spe; cum labore enim, quo sequebantur, et ob spem ministrabant. B. a (8,3) και/ et: Tert D M 16 27 71 348 1071 1216 1458 1579 a aur c d ſſ 2 l q ¦ om (e) f r 1 vg M ● b (8,3) αυτω/ ei (illi): Tert א A L Ψ f 1 33 565 579 1241 2542 a aur b l q sy h co ¦ αυτοις/ eis (illis): c d e (f) ſſ 2 r 1 M . C. Tertullians Hinweis auf die Frauen und ihre Unterstützung in *8,2f ist deutlich, auch wenn er die γυνή … ἐπιτρόπου Ἡρῴδου aus eigener Sachkenntnis zur uxor regis procuratoris macht. Unklar ist, ob Tertullian auch die Namen der Frauen gelesen hat; wenn ja, dann wäre dies ein Hinweis für die Beurteilung von *24,10a, wo eine Johanna neben Maria Magdalena unter den Frauen genannt wird, die das leere Grab fanden (s. dort). 1. Von Lk 8,1 fehlt dagegen jede Spur. Zwar ist ein sicheres Urteil über diesen Vers nicht möglich, aber einige Beobachtungen legen es nahe, dass dieser Vers erst durch die lk Redaktion geschaffen wurde: Zunächst würde diese Überlegung die Beobachtungen über die lk Summare bestätigen (s. o. zu 4,44), durch die Lk die abrupten Übergänge in *Ev glättet. Sodann weisen einige Stichworte dieses Summars recht genau auf die Sprache und die Intention der lk Theologie hin: καθεξῆς; Verkündigung in jeder Stadt und jedem Dorf; εὐαγγελίζομαι τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ als term. techn. für die Verkündigung; οἱ δώδεκα. Vermutlich aufgrund dieser und vergleichbarer Beobachtungen hat man Lk 8,1 für »eindeutig redaktionell« gehalten. 1 2. Vor allem im Licht der redaktionellen Bearbeitung von *7,36-50 ist dieses Urteil wahrscheinlich (s. dort). Die Fassung der Salbungserzählung in *Ev war ja nicht an der Kontrastierung des Pharisäers und der Sünderin interessiert, sondern ______________________________ 1 R ADL , Lk 506. <?page no="184"?> 696 Anhang I 8,1-3 daran, die Größe des Liebeserweises der Frau herauszustellen und dessen Zusammenhang mit der Vergebung deutlich zu machen. Die γυνὴ ἁμαρτωλός (*7,37) präfiguriert daher die drei Frauen und ihre διακονία (*8,2f), auch wenn bei jener das Verhältnis von Vergebung und Liebe(serweis) anders bestimmt ist als das von Heilung/ Exorzismus und Dienst bei diesen, wie die Abfolge von *8,2f gegenüber *7,47f zeigt. 3. Dieser enge Zusammenhang von *7,36-50 und *8,2f lässt sich auch überlieferungsgeschichtlich plausibilisieren. Denn während die »Sünderin« aus *7,36-50 in Joh 12,1-8 das Vorbild für die Maria aus dem bethanischen Geschwistertrio abgab, hat Joh sie auch in seine Darstellung der Maria Magdalena, einer der Zeuginnen unter dem Kreuz (Joh 19,25) und der ersten Osterzeugin (Joh 20,1.18), einfließen lassen: Bei der Begegnung mit dem Auferstandenen weint Maria Magdalena (κλαίουσα Joh 20,11) wie die Sünderin in der kanonischen Fassung der lk Salbungserzählung (κλαίουσα Lk 7,38), und in beiden Fällen darf man dieses Weinen als Ausdruck der Liebe verstehen. Aus diesem Grund ist ein unmittelbarer Zusammenhang von *7,36-50 und *8,2f wahrscheinlich, der nicht durch einen situationsverändernden Szenenwechsel unterbrochen war (Lk 8,1). *8,4.5-8a.8b.9.10a ↑ 18 ↓ 10b.11-17: Gleichnis vom Sämann. Parabeltheorie und Deutung Nur teilweise bezeugt, aber vermutlich ganz in *Ev enthalten. Sehr wahrscheinlich durch Lk redaktionell bearbeitet. 8,4 Συνιόντος δὲ ὄχλου πολλοῦ καὶ τῶν κατὰ πόλιν ἐπιπορευομένων πρὸς αὐτὸν εἶπεν a παραβολὴν τοιαύτην πρὸς αὐτούς a , 5 Ἐξῆλθεν ὁ σπείρων τοῦ σπεῖραι τὸν σπόρον αὐτοῦ. καὶ ἐν τῷ σπείρειν αὐτὸν ὃ μὲν ἔπεσεν παρὰ τὴν ὁδόν, καὶ κατεπατήθη καὶ τὰ πετεινὰ b [ τοῦ οὐρανοῦ ] b κατέϕαγεν αὐτό. 6 καὶ ἕτερον κατέπεσεν ἐπὶ τὴν πέτραν, καὶ ϕυὲν ἐξηράνθη διὰ τὸ μὴ ἔχειν ἰκμάδα. 7 καὶ ἕτερον ἔπεσεν ἐν μέσῳ τῶν ἀκανθῶν, καὶ συμϕυεῖσαι αἱ ἄκανθαι ἀπέπνιξαν αὐτό. 8 καὶ ἕτερον ἔπεσεν εἰς τὴν γῆν τὴν ἀγαθήν c καὶ καλήν c , καὶ ϕυὲν ἐποίησεν καρπὸν ἑκατονταπλασίονα. ταῦτα λέγων ἐϕώνει, Ὁ ἔχων ὦτα d [ ἀκούειν ] ἀκουέτω. 9 Ἐπηρώτων δὲ αὐτὸν οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ τίς αὕτη εἴη ἡ παραβολή. 10a ὁ δὲ εἶπεν, ῾Υμῖν δέδοται γνῶναι τὰ μυστήρια τῆς βασιλείας τοῦ θεοῦ. ↑ 18 βλέπετε e [ οὖν ] πῶς ἀκούετε· ὃς ἂν γὰρ ἔχῃ, δοθήσεται αὐτῷ, f ὃς δὲ f ἂν μὴ ἔχῃ, καὶ ὃ δοκεῖ ἔχειν ἀρθήσεται ἀπ’ αὐτοῦ. ↓ 10b τοῖς δὲ λοιποῖς g {οὐ δέδοται εἰ μὴ} ἐν παραβολῇ g ἵνα βλέποντες μὴ βλέπωσιν καὶ ἀκούοντες μὴ συνιῶσιν. <?page no="185"?> 8,4-18 Rekonstruktion 697 11 Ἔστιν δὲ αὕτη ἡ παραβολή· Ὁ σπόρος ἐστὶν ὁ λόγος τοῦ θεοῦ. 12 οἱ δὲ παρὰ τὴν ὁδόν εἰσιν οἱ ἀκούσαντες, εἶτα ἔρχεται ὁ διάβολος καὶ αἴρει τὸν λόγον ἀπὸ τῆς καρδίας αὐτῶν, ἵνα μὴ πιστεύσαντες σωθῶσιν. 13 οἱ δὲ ἐπὶ τῆς πέτρας οἳ ὅταν ἀκούσωσιν μετὰ χαρᾶς δέχονται τὸν λόγον, καὶ οὗτοι ῥίζαν οὐκ ἔχουσιν, οἳ πρὸς καιρὸν πιστεύουσιν καὶ ἐν καιρῷ πειρασμοῦ ἀϕίστανται. 14 τὸ δὲ εἰς τὰς ἀκάνθας πεσόν, οὗτοί εἰσιν οἱ ἀκούσαντες, καὶ ὑπὸ μεριμνῶν καὶ πλούτου καὶ ἡδονῶν τοῦ βίου πορευόμενοι συμπνίγονται καὶ οὐ τελεσϕοροῦσιν. 15 τὸ δὲ ἐν τῇ καλῇ γῇ, οὗτοί εἰσιν οἵτινες ἐν καρδίᾳ καλῇ h [ καὶ ἀγαθῇ ] h ἀκούσαντες τὸν λόγον κατέχουσιν καὶ καρποϕοροῦσιν ἐν ὑπομονῇ. 16 Οὐδεὶς δὲ λύχνον ἅψας καλύπτει αὐτόν i k σκεύει ἢ ὑποκάτω κλίνης τίθησιν i l [ ἀλλ’ ἐπὶ λυχνίας τίθησιν ] , l m [ ἵνα οἱ εἰσπορευόμενοι βλέπωσιν τὸ ϕῶς ] . m 17 οὐ γάρ ἐστιν κρυπτὸν ὃ οὐ ϕανερὸν γενήσεται, οὐδὲ ἀπόκρυϕον n ἀλλὰ ἵνα n γνωσθῇ καὶ εἰς ϕανερὸν ἔλθῃ. ↑ 18 βλέπετε οὖν πῶς ἀκούετε· ὃς ἂν γὰρ ἔχῃ, δοθήσεται αὐτῷ, καὶ ὃς ἂν μὴ ἔχῃ, καὶ ὃ δοκεῖ ἔχειν ἀρθήσεται ἀπ’ αὐτοῦ. ↓ A. *8,4.8.10: Tert. 4,19,2: Aeque de parabolis semel sufficiat probatum hoc genus eloquii a creatore promissum. At nunc illa quoque pronuntiatio eius ad populum, Aure audietis et non audietis, dedit Christo frequenter inculcare, Qui habet aures audiat: non quasi ex diversitate auditum permitteret Christus quem ademisset creator, sed quia comminationem exhortatio sequebatur. Primo, aure audietis et non audietis; dehinc, qui habet aures audiat. ♦ *8,18: Tert. 4,19,3f: Non enim audiebant ultro qui aures habebant, sed ostendebat aures cordis necessarias, quibus illos audituros negarat creator. Et ideo per Christum adicit: Videte quomodo audiatis et non audiatis, non corde scilicet audientes sed aure. Si dignum sensum pronuntiationi accommodes pro sensu eius qui auditui suscitabat, etiam dicendo, Videte quomodo audiatis, non audituris minabatur. Sane minatur mitissimus deus, quia nec iudicat nec irascitur. (4) Hoc probat etiam subiacens sensus. Ei qui habet dabitur, ab eo autem, qui non habet etiam quod habere se putat auferetur ei. Quid dabitur? Adiectio fidei vel intellectus vel salus ipsa. Quid auferetur? Utique quod dabitur. A quo dabitur et auferetur? Si a creatore auferetur, ab eo et dabitur. Si a deo Marcionis dabitur, ab eo et auferetur. ♦ *8,16f: Tert. 4,19,5: miror autem cum lucernam negat abscondi solere, qui se tanto saeculo absconderat maius et necessarius lumen, cum omnia de occulto in apertum repromittit, qui deum suum usque adhuc obumbrat, expectans, opinor, nasci Marcionem. B. a (8,4) παραβολην τοιαυτην προς αυτους/ similitudinem (parabolam: a c d) talem ad illos (eos: d): aur b l q r 1 ¦ parabolam ad illos: c ¦ similitudinem talem: e ¦ similitudinem: a f ſſ 2 vg ¦ δια παραβολης: M (*Ev non test.) ● b (8,5) του ουρανου: om D W pc a b d e ſſ 2 l q sy s.c.p Tat arab.pers ¦ add c f r 1 vg M ; vgl. p) Mk 4,4 || Mt 13,3 (*Ev non test.) ● c (8,8) και καλην: D (a: optimam et bonam) e c d r 1 sy c.p armen ¦ om aur b f ſſ 2 l q M (*Ev non test.) ● d (8,8) ακουειν: om Tert 2643 ¦ add it M ● e (8,18) ουν: om Tert 343 716 1229 a aur b c ſſ 2 l q sy s Tat pers bo (1 ms) ¦ ουν/ ergo: d e f r 1 vg M ● f (8,18) ος δε/ qui autem: Tert l sy s (2 mss) ¦ και ος/ et qui[cumque]: a aur b c d f ſſ 2 q r 1 M ● g (8,10b) ου δεδοται ει μη εν παραβολη: e g 1 (sy s.c.p ) ¦ εν παραβολαις λαλω: Λ 13 16 161 230 262 346 348 477 543 826 828 1071 1187 1216 1579 ℓ253 (b); (λαλησω εν παραβολαις: Prisc, Tract. 3; CSEL 18, 56); εν παραβολαις λεγεται: g 1 sy s.c.p (Tat arab ) ¦ om it M (*Ev non test.) ● h (8,15) και αγαθη: om a aur b c d e ſſ 2 l q r 1 ¦ add f M (*Ev non test.) ● i (8,16) σκευει η υποκατω κλινης τιθησιν: om Tert <?page no="186"?> 698 Anhang I 8,4-18 b (ponit sub modio) e (operit illam neque sub lectum ponit illam) ¦ add a aur d f ſſ 2 l q r 1 M ● k (8,16) σκευει: om e ¦ add it M ● l (8,16) αλλ επι λυχνιας τιθησιν: om Tert 472 903* 1009 1229 1355 1542* ℓ253 ¦ add it M ● m (8,16) ινα οι εισπορευομενοι βλεπωσιν το ϕως: om Tert P 75 B ¦ ινα πασι λαμπη/ ut omnibus luceat: e c (omnes lumen videant: a) ¦ ινα βλεπωσιν το ϕως: Aphr (Dem. 1,10; PS 1, 24; FC 5/ 1, 88) ¦ add οι εισπορευομενοι βλεπωσιν το ϕως/ ut intrantes (qui intrant: d) videant lumen: aur b d f ſſ 2 l q r 1 M ● n (8,17) αλλα ινα/ sed ut: D d (ut: a l); nisi: aur be ſſ 2 q ¦ ο ου (μη)/ quod non: aur c e f r 1 vg M (*Ev non test.). C. Das Urteil über *8,4-18 ist schwierig, weil kein Element des eigentlichen Gleichnisses und seiner Deutung bezeugt ist. Aber während die gesamte Saatmetaphorik fehlt, ist die Gleichnisrede als solche ebenso deutlich bezeugt wie die Belehrung über die Gleichnisse und das anschließende Bildwort vom Leuchter (*8,16) und das Logion vom Offenbarwerden des Verborgenen (*8,18). Da es zwar denkbar, aber doch sehr unwahrscheinlich ist, dass *Ev diese Belehrung über den Sinn der Gleichnisse ohne irgendeine Anbindung an ein konkretes Beispiel enthalten hatte, liegt die Erklärung näher, dass Tertullian das Sämanngleichnis und seine Deutung stillschweigend übergangen hat. 1. Die Vermutung, dass dieses Gleichnis auch in *Ev an dieser Stelle vorhanden war, wird schließlich noch durch eine weitere, wichtige Beobachtung gestützt: Nach der Abfolge seines Referates von *8,4ff in 4,19,1-5 hat Tertullian das Wort vom Offenbarwerden des Verborgenen *8,18 bereits im Anschluss an *8,10a gelesen. 1 Zwar könnte Tertullian hier die Pointe seiner Argumentation vorangestellt haben, wie er es auch sonst gelegentlich tut; ein schönes Beispiel dafür ist seine Behandlung der Seesturmperikope *8,22-25, deren Referat Tertullian die abschließende Frage quis autem iste est qui et ventis et mari imperat? voranstellt (*8,25 in 4,20,1), bevor er Einzelheiten aus *8,22 mitteilt (4,20,3). Allerdings entspricht die Reihenfolge seines Referates in diesem Fall genau der mt Parallele. Es spricht daher einiges dafür, dass Mt und *Ev hier denselben (von Mk und Lk abweichenden) Zusammenhang hatten. 1. Einleitung in die Gleichnisrede (Mt 13,3 || *8,4) mit dem nachfolgenden Gleichnis vom Sämann (Mt 13,4-8; für *Ev unbezeugt, aber mit größter Wahrscheinlichkeit vorauszusetzen). Im Anschluss an das Gleichnis die Belehrung über den Zweck der Gleichnisse in der Abfolge: 2. Frage der Jünger nach der Bedeutung des Gleichnisses und die Antwort Jesu mit dem Hinweis, dass den Jüngern das Verständnis der Geheimnisse gegeben ist (Mt 13,10f || *8,9.10a); gefolgt von der 3. Mahnung, richtig zu hören (nur in *Ev: *8,18a, vgl. dazu Mt 10,26). Danach das 4. Wort vom Haben und vom Genommenwerden (Mt 13,12 || *8,18b), das hier eine andere Stellung hat als bei Mk (4,25) und Lk (8,18). 5. Es folgt die Erklärung über die verstockende Funktion der Gleichnisrede (Mt 13,13 || *8,10b), die Mt, wie er es auch sonst öfter tut, genauer erläutert, hier durch das Zitat von Jes 6,9f (Mt ______________________________ 1 Vgl. T SUTSUI 88. <?page no="187"?> 8,4-18 Rekonstruktion 699 13,14f) sowie die Seligpreisung der Augen und Ohren der Jünger, die Mt aus *10,23f (s. dort) kannte. 6. Deutung des Sämanngleichnisses (Mt 13,18-23 || *8,11-15); für *Ev unbezeugt, aber mit großer Wahrscheinlichkeit vorhanden. 7. Den Abschluss der Belehrung in *Ev bildete das Wort vom Leuchter *8,16f, das Mt allerdings in ganz anderen Zusammenhängen bietet (Mt 5,15; 10,26). Die ungewöhnlich erscheinende Stellung von *8,18 zwischen *8,10a.b wird auch durch die handschriftliche Überlieferung bestätigt: Zwischen Lk 8,10a und b lag ein Einschnitt, der sich noch in den eusebianischen Kanones niedergeschlagen hat. 2 Darüber hinaus hat sich die ursprüngliche Textanordnung noch in den Lesarten zu Lk 8,10b erhalten. Denn im kanonischen Mehrheitstext schließt τοῖς δὲ λοιποῖς ἐν παραβολαῖς elliptisch an 8,10a an. Diese Ellipse ist durchaus unglücklich, weil hier ein Verbum dicendi zu ergänzen wäre (also etwa λαλῶ wie Mt 13,13 oder Lk 8,10 v. l.); aber aus der Formulierung δέδοται γνῶναι τὰ μυστήρια Lk 8,10a ergibt sich dies nicht ohne weiteres. Der Bruch in der Konstruktion ist dadurch entstanden, dass die lk Redaktion *8,18 aus der Stellung zwischen *8,10a.b heraus genommen und, darin der mk Anlage folgend, hinter das Wort vom Licht unter dem Scheffel gestellt hat (Mk 4,21-25 || Lk 8,16-18). Durch die daraus resultierende Kombination von Lk 8,10a.b als eine antithetische Aussage ist das Prädikat von *8,10b ausgefallen, hat sich aber noch verschiedentlich in den Handschriften erhalten, und zwar am ehesten in der antithetischen Formulierung von e g 1 : (τοῖς δὲ λοιποῖς) οὐ δέδοται εἰ μὴ ἐν παραβολῇ … Die enge Entsprechung zwischen *Ev und Mt ist in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Zunächst belegt die eigenartige Stellung von *8,18 einmal mehr die *Ev- Priorität, wie die Gegenprobe zeigt, denn welchen Grund sollte Marcion gehabt haben, *8,18 nach vorne zu ziehen? Sodann wirft die Entsprechung von *Ev und Mt in der Abfolge der einzelnen Elemente ein deutliches Licht auf die Überlieferungsgeschichte: Wenn *Ev als ältester Text sowohl Mk als auch Mt vorgelegen hat, sind die Übereinstimmungen und Abweichungen ohne weiteres erklärbar. Insgesamt wird deutlich, dass Mt an dieser Stelle den Wortlaut und die Textanordnung von *Ev zugrunde gelegt hat, also nicht dem Mk-Text folgt. Damit ist auch wahrscheinlich, dass das Sämanngleichnis und seine Deutung in *Ev enthalten waren und nur in Tertullians Referat übergangen wurden. Vor allem aber folgt aus dieser Überlegung, dass Mk das Logion gezielt von der ihm aus *Ev vorgegebenen Position (es hätte seinen Platz zwischen Mk 4,11 und 12 gehabt) verschoben und als Abschluss der Belehrung über die Offenbarung des Verborgenen verwendet hat (Mk 4,25 nach 4,21-24). Dass Lk 8,16-18 dem Zusammenhang Mk 4,21-24a.25 eng folgt und auch im Wortlaut mk Besonderheiten übernimmt, 3 ist ein weiterer Beleg dafür, dass die lk Redaktion neben *Ev und Mt auch Mk berücksichtigt hat. ______________________________ 2 In NA 27 ist dieser von der Typographie der Druckausgabe nicht erfasste Einschnitt durch * und die Kanonangabe 77/ I (bzw. in IGNTP durch οζ/ α) kenntlich gemacht. 3 Auffällig ist das mk-lk Agreement ἢ ὑπὸ τὴν κλίνην Mk 4,21a || ἢ ὑποκάτω κλίνης Lk 8,16a ÷ Mt 5,15. <?page no="188"?> 700 Anhang I 8,4-18 2. Dass die nichtbezeugten Vv. *8,9.10a in *Ev vorhanden waren, legen schließlich noch die wichtigen »Minor Agreements« an dieser Stelle nahe. Da *Ev nicht bezeugt ist, lässt sich zwar nicht mit Sicherheit sagen, dass sie auf *Ev als die gemeinsame Quelle von Mt und Lk zurückgehen: Es könnte auch sein, dass Lk die Formulierungen hier von Mt (anstatt von *Ev) übernommen hat. Aber in jedem Fall können diese »spektakuläre(n) Minor Agreements« ohne zusätzliche Annahmen zur Zwei-Quellentheorie »nur schwer erklärt werden«. 4 (1) οἱ μαθηταί *8,9a || Mt 13,10a ≠ οἱ περὶ αὐτὸν σὺν τοῖς δώδεκα Mk 4,10. - (2) ὁ δὲ εἶπεν *8,10a || ὁ δὲ … εἶπεν Mt 13,11a ≠ καὶ ἔλεγεν αὐτοῖς Mk 4,11a. - (3) ὑμῖν δέδοται γνῶναι τὰ μυστήρια τῆς βασιλείας τοῦ θεοῦ *8,9b || ὑμῖν δέδοται γνῶναι τὰ μυστήρια τ. βας. τῶν οὐρανῶν Mt 13,11b ≠ ὑμῖν τὸ μυστήριον δέδοται τῆς βας. τ. θ. Mk 4,11b. - (4) καρδία αὐτῶν/ αὐτοῦ *8,12c || Mt 13,19c ≠ (αἴρει τὸν λόγον τὸν ἐσπαρμένον) εἰς αὐτούς Mk 4,15. 5 Besonders das dritte der genannten Beispiele in *8,9b || Mt 13,11b ≠ Mk 4,11b wiegt dabei schwer, weil die Formulierung δέδοται γ ν ῶ ν α ι τὰ μυστήρια so charakteristisch von der mk Formulierung τὸ μυστήριον δέδοται abweicht und es zugleich kaum denkbar ist, dass Mt und Lk unabhängig voneinander auf eine so spezielle Formulierung gekommen sein sollten. Aus diesem Grund wurde daher für dieses Agreement eine gemeinsame vormk Herkunft vorgeschlagen, 6 für die *Ev eine plausible Quelle darstellt. 3. Ein besonderes Problem stellt der Wortlaut des Logions vom Leuchter *8,16f dar. Die Schwierigkeit liegt zum einen darin, dass Tertullian hier erkennbar den ihm vorliegenden *Ev-Text nicht zitiert, sondern großzügig zusammenfasst. Zum anderen ist der große Variantenreichtum der handschriftlichen Überlieferung wenig hilfreich; er erklärt sich zum Teil daraus, dass dieses Wort bereits in *11,33 eine Dublette besaß (s. dort), die aber keineswegs mit *8,16 identisch gewesen sein muss. Bei aller Vorsicht lassen sich für die Rekonstruktion folgende Überlegungen anstellen: a. Tertullian gibt keinerlei Hinweis auf das Gefäß oder auf die Kline, unter der das Licht verborgen sein könnte. Die Unterschiede der Textüberlieferung an dieser Stelle legen nahe, dass in *Ev καλύπτει *8,16a ohne indirektes Objekt stand; besonders die altlat. Überlieferung in b und e, die jeweils nur eines der beiden kanonischen Glieder (σκεύει; ὑποκάτω κλίνης) haben, ist hier aufschlussreich: Sie haben jeweils ein anderes der durch die lk Redaktion eingefügten Glieder korrigierend ergänzt. b. In *8,16b ist der (von Tertullian nicht bezeugte) Adversativsatz für die narrative Logik nicht unbedingt notwendig. Dass er gleich in mehreren Minuskeln fehlt, 7 ist ______________________________ 4 W OLTER , Lk 306. 5 Vgl. dazu N EIRYNCK , Minor Agreements (1974), 90ff; DERS ., Minor Agreements (1991), 32f; E NNULAT , Minor Agreements 123-133. 6 V. F USCO , L’accord mineur Mt 13,11a/ Lc 8,10a contre Mc 4,11a, in: J. Delobel (ed.), Logia, Leuven 1982, 355-361, 360: »une forme plus archaïque que dans Mc.« 7 472 903* 1009 1229 1355 1542* ℓ253 (diese Variante ist in NA 27 nicht verzeichnet). <?page no="189"?> 8,4-18 Rekonstruktion 701 wohl am ehesten als Hinweis auf die uneinheitlich durchgeführten Korrekturen des vorkanonischen Textes nach dem kanonischen zu verstehen. In diesem Fall geht die Nichtbezeugung auf das Fehlen der Aussage in *Ev zurück. c. Ebenfalls unbezeugt ist V. *16c. Dass dies nicht an der Großzügigkeit von Tertullians Referat liegt, sondern auf einen entsprechenden *Ev-Text verweist, zeigt die Analogie in P 75 B: Legt man das Kriterium der uneinheitlichen Korrektur des vorkanonischen an den kanonischen Text zugrunde, spricht alles dafür, dass diese beiden sonst der »Top-Kategorie« 8 zugerechneten Handschriften hier nicht die kanonische Fassung, sondern *Ev bewahrt haben. Diese Vermutung wird durch die große Uneinheitlichkeit der weiteren Überlieferung des Logions gestützt: Während ein Teil der Überlieferung - wohl in Anlehnung an Mt 5,15 (καὶ λάμπει πᾶσιν τοῖς ἐν τῇ οἰκίᾳ) - hier eine Aussage über den Leuchter ergänzt (e c), hat die lk Redaktion mit erkennbarer theologischer Absicht eine Aussage über οἱ εἰσπορευόμενοι eingefügt. 4. Diese Rekonstruktion der Perikope in *Ev und ihrer Textanordnung ist für die Überlieferungsgeschichte in mehrfacher Hinsicht bedeutsam, weil sie sehr deutlich die mk Bearbeitung des älteren *Ev erweist. Nach *8,9 fragen die Jünger Jesus aus der Menge heraus nach der Bedeutung des Gleichnisses. Die Antwort Jesu differenziert daher zwischen »euch« und »den übrigen« (ὑμῖν - τοῖς λοιποῖς). Mk hat dagegen die ganze Szenerie als Lehre »im Boot« gefasst: Die Jünger sind mit Jesus im Boot, 9 und daher werden die »übrigen« zu »denen draußen« (ἐκείνοις τοῖς ἔξω Mk 4,11). Im Unterschied zu *8,9f verrät die Abfolge von Mk 4,10-12 die sorgfältige Bearbeitung. Denn der mk Jesus belehrt die Jünger nicht nur über die Bedeutung des Sämanngleichnisses, sondern macht darüber hinaus die Multiplikatorenfunktion der Jünger deutlich: Obwohl sie das Gleichnis gar nicht verstanden hatten, ist ihnen - im Unterschied zu »jenen da draußen« - das Geheimnis der Gottesherrschaft gegeben, weil sie die Deutung zu hören bekommen (Mk 4,13-20). Aber mit dieser Erklärung hat Mk erst die Hälfte der entscheidenden Information geliefert. Denn wenn Mk im Anschluss das Wort vom Leuchter unter dem Scheffel (Mk 4,21) mit der Verheißung anfügt, dass es nichts Verborgenes gibt, das nicht offenbar werden wird (Mk 4,22), dann ist darin bereits die Überwindung des Nichtverstehens derer »da draußen« (Mk 4,12) ______________________________ 8 W OLTER , Lk 310 z. St. 9 Mk 4,10a ὅτε ἐγένετο κατὰ μόνας besagt nicht, dass Jesus und die Jünger »in ein Haus« gehen (so W OLTER , Lk 306), sondern dass Jesus seine Erklärung an die Jünger im Boot richtet, nicht aber an die am Ufer stehende Menge; aus diesem Grund nehmen ihn am Ende der Belehrung die Jünger »im Boot mit, so wie er war« (παραλαμβάνουσιν αὐτὸν ὡς ἦν ἐν τῷ πλοίῳ Mk 4,36), nämlich seit Mk 4,1; vgl. M. K LINGHARDT , Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002), 183-202: 190. <?page no="190"?> 702 Anhang I 8,4-18 avisiert. Aus diesem Grund ist der Weckruf und die Ermahnung, auf das zu achten, »was ihr hört« (Mk 4,23f), auch eine folgerichtige Weiterführung: Die Jünger müssen bei der Deutung der Gleichnisse, die sie bei Jesus »im Boot« mitgeteilt bekommen, genau aufpassen, denn sie müssen sie dann ihrerseits weitergeben - natürlich an diejenigen, die jetzt noch »da draußen« sind, und zwar nach Maßgabe des Wortes vom Maß. Anders gesagt: Würden die Jünger nicht auf die Deutung der Gleichnisrede achten, hätten sie nichts weiterzugeben, und dann würde ihnen auch das genommen werden, was sie bereits durch ihr Sein bei Jesus haben. Zur Herstellung dieser kunstvollen und komplexen Komposition waren einige Eingriffe in *Ev notwendig: Zunächst musste Mk einen unmittelbaren Zusammenhang von *8,10a.b || Mk 4,11f herstellen, indem er das dazwischen stehende Logion vom Maß *8,18 || Mk 4,24f betont an das Ende dieser Lehre verschob. Den präzisen Sinn, der für die Bedeutung der ganzen Einheit konstitutiv ist, hat dieses Logion allerdings nur dadurch erhalten, dass das Wort vom Maß Mk 4,24b (ἐν ᾧ μέτρῳ μετρεῖτε μετρηθήσεται ὑμῖν …) die Aufforderung zum Hören (Mk 4,24a: βλέπετε τί ἀκούετε) und die Lohnverheißung (Mk 4,25: ὃς γὰρ ἔχει, δοθήσεται αὐτῷ usw.) miteinander verbindet. Diese entscheidende Klammer ist von Mk redaktionell eingefügt worden. Darüber hinaus lag es nahe, den adversativen Sinn des Logions vom Leuchter (*8,16) hervorzuheben; Mk hat dies dadurch geleistet, dass er gegen *8,16 zu καλύπτει (Mk 4,21a) die indirekten Objekte einfügte (ὑπὸ τὸν μόδιον τεθῇ ἢ ὑπὸ τὴν κλίνην): Die Lehre, die Jesus den Jüngern im Boot zuteil werden lässt, dient der Erleuchtung derer draußen und darf nicht unter dem Scheffel oder unter der Kline versteckt bleiben. Der Vergleich von Mk 4,10-25 und *8,9-18 erweist die mk Komposition durchweg als sekundär gegenüber *Ev. Diese überlieferungsgeschichtliche Einsicht ist dadurch etwas verdeckt, dass Mt stärker von *Ev als von der mk Anlage des Textes bestimmt ist. Allerdings hat er *Ev mit der Abfolge von *8,9.10a.18.10b || Mt 13,10-13 durch den ausdrücklichen Verweis auf Jes 6,9f ergänzt (Mt 13,14f) und diesen mit dem Makarismus Mt 13,16f kontrastiert: Die Begründung in 13,14-17 bringt gegenüber 13,10-13 keine neuen Gesichtspunkte, sondern schreibt den Gegensatz nur fest: Die Verstockten bleiben blind, taub und unverständig; die für die mk Komposition so entscheidende Dynamik ist damit verloren. Da der redaktionelle Charakter von Mt 13,14-17 ohne weiteres ersichtlich ist, hat man Entsprechendes auch für Mt 13,10-13 angenommen 10 - zu Unrecht: Hier hält sich Mt an seine Quelle *Ev. Auf der anderen Seite ist die überlieferungsgeschichtliche Analyse dadurch verdunkelt, dass Lk 8,9f der Anlage von Mk 4,10-12 folgt und wie dieser die Aufforderung zum Hören mit dem Wort von Haben und Nicht-Haben (Mk ______________________________ 10 Z. B. L UZ , Mt II 301 Anm. 7. <?page no="191"?> 8,4-18 Rekonstruktion 703 4,24a.25 || Lk 8,18) erst nach der Verheißung bringt, dass alles offenbar werden muss (Lk 8,17 || Mk 4,22). Dass Lk trotz dieser engen Entsprechung das scharfe Profil der mk Komposition nicht erreicht, ist daran ersichtlich, dass er Mk 4,24b nicht übernimmt, sondern *8,18 fast unverändert rezipiert - an anderer Stelle. *8, 19 20f: Jesu Mutter und seine Brüder Gut für *Ev bezeugt, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die lk Redaktion ergänzt und bearbeitet. a 8,19 Παρεγένετο δὲ πρὸς αὐτὸν ἡ μήτηρ καὶ οἱ ἀδελϕοὶ αὐτοῦ καὶ οὐκ ἠδύναντο συντυχεῖν αὐτῷ διὰ τὸν ὄχλον. a 20 b καὶ ἀπηγγέλη b αὐτῷ, c ὅτι ἡ μήτηρ d †αὐτοῦ† καὶ οἱ ἀδελϕοί d †αὐτοῦ† ἑστήκασιν ἔξω ἰδεῖν e ζητοῦντες f αὐτόν. 21 ὁ δὲ ἀποκριθεὶς εἶπεν πρὸς αὐτούς, g {Τίς μοι ἡ μήτηρ καὶ τίνες μοι οἱ ἀδελϕοί εἰ μὴ} g οἳ ἀκούουσιν h τοὺς λόγους μου h {καὶ ποιοῦσιν αὐτούς}; A. *8,19-20: Epiph., Schol. 12: οὐκ εἶχεν Ἡ μήτηρ αὐτοῦ καὶ οἱ ἀδελϕοὶ αὐτοῦ, ἀλλὰ μόνον Ἡ μήτηρ σου καὶ οἱ ἀδελϕοί σου. ♦ *8,20: Tert. 4,19,6f: Venimus ad constantissimum argumentum omnium qui domini nativitatem in controversiam deferunt. Ipse, inquiunt, contestatur se non esse natum dicendo, Quae mihi mater, et qui mihi fratres? Ita semper haeretici aut nudas et simplices voces coniecturis quo volunt rapiunt, aut rursus condicionales et rationales simplicitatis condicione dissolvunt, ut hoc in loco. (7) nos contrario dicimus primo non potuisse illi annuntiari quod mater et fratres eius foris starent quaerentes videre eum, si nulla illi mater et fratres nulli fuissent. ¦ Ephraem, Comm. Diat. 11,9 (FC 54/ 1, 351): Deine Mutter und deine Brüder suchen dich. ♦ *8,21: Tert. 4,19,11: Atque adeo cum praemisisset, Quae mihi mater et qui mihi fratres? subiungens, Nisi qui audiunt verba mea et faciunt ea, transtulit sanguinis nomina in alios, quos magis proximos pro fide iudicaret. ¦ Tert. 4,26,13 (s. u. zu *11,27f): Immo beati qui sermonem dei audiunt et faciunt: quia et retro sic reiecerat matrem aut fratres, dum auditores et obsecutores dei praefert. Nam nec hic mater assistebat illi. Adeo nec retro negaverat natum. B. a (8,19) vs. om: Epiph ¦ vs. add it M ● b (8,20) και απηγγελη/ et nuntiatum est: A (W) Θ Ψ f 1 e f r 1 vg sy h ¦ απηγγελη δε/ nuntiatum est autem: P 75 א B D L Ξ f 13 33 579 700 892 1241 1424 a aur b c d ſſ 2 l q (*Ev non test.) ● c (8,20) οτι/ quod: Tert א D L Θ f 1 33 579 892 1241 a aur b c f ſſ 2 l q ¦ om P 75 B W Δ pc vg ¦ λεγοντων: A Ξ f 13 r 1 M ¦ λεγοντων οτι: Ψ 1424 pc sy h ● d (8,20) Widersprüchliche Bezeugung: (1) eius/ αυτου: Tert (mater et fratres eius); e (mater eius et fratres) ¦ (2) σου/ tua (tui): Epiph Ephr a aur b c d f ſſ 2 l q r 1 M ● e (8,20) ζητουντες/ quaerentes: Tert (quaerentes videre) D d (ζητουντες/ quaerentes) ¦ θελοντες ιδειν/ volentes videre ( ): a aur b c e f ſſ 2 g 1 gat l q r 1 M ● f (8,20) αυτον/ eum: Tert (e [corr.]: teum) ¦ σε/ te: a aur b c d f ſſ 2 l q r 1 M ● g (8,21) τις εστιν η μητηρ μου και οι αδελϕοι μου/ quae mihi mater et qui mihi fratres: add Tert (vgl. p) Mk 3,33) ● h (8,21) τους λογους μου/ verba mea: Tert ¦ τον λογον του θεου: it M . C. Tertullian und Epiphanius sichern diese Perikope für *Ev. Allerdings sind ihre Referate weniger klar, als auf den ersten Blick deutlich ist. <?page no="192"?> 704 Anhang I 8,19-21 1. Zunächst wirft die Bezeugung des Epiphanius Schwierigkeiten auf, weil nicht klar ist, worauf genau sich seine Streichungsnotiz 1 bezieht: Im kanonischen Text taucht die Wendung ἡ μήτηρ/ οἱ ἀδελϕοί + Possessivpronomen in den Vv. 19 und 20 auf - und zwar zuerst in 8,19 in der Erzählstimme mit dem Pronomen in der 3. Pers. Sing., dann in 8,20 als direkte Wiedergabe der Botenrede in der 2. Pers. Sing. Da die Einleitung aber nicht in der 2. Pers. Sing. gestanden haben kann, bezieht sich Epiphanius’ Notiz nicht auf eine Veränderung des Textes, sondern auf ein Defizit. Zu paraphrasieren wäre: »Er (sc. *Ev) hatte nicht (V. 19 mit der Formulierung) ›seine Mutter und seine Brüder …‹, sondern nur (V. 20 mit der Formulierung in der 2. Pers. Sing.) ›deine Mutter und deine Brüder‹.« Epiphanius’ Formulierung »nicht - sondern nur« ist daher als Streichungsnotiz zu werten. Unklar bleibt dabei, ob in *Ev nur die Wendung ἡ μήτηρ αὐτοῦ καὶ οἱ ἀδελϕοὶ αὐτοῦ fehlte oder der ganze Vers 8,19. Prinzipiell sind beide Möglichkeiten denkbar: Im einen Fall fehlte in der Einleitung der Perikope das direkte Subjekt, im anderen fehlte die narrative Einleitung überhaupt; in diesem Fall wäre 8,19 erst durch die lk Redaktion ergänzt worden - sicher ist also nur, dass die narrative Anlage der Exposition bei *Ev anders aussah als in Lk. Mit Blick auf die häufig unbefriedigend gestalteten Perikopenübergänge in *Ev spricht einiges dafür, dass V. 19 insgesamt redaktionell ist und eine narrative Anbindung an den Kontext schaffen soll: Schon in *8,4 war für *Ev keine Situationsangabe gesichert. Falls die Angabe, dass »viel Volk« aus »jeder Stadt« zu ihm kam, redaktionell ist (s. dort), dann hätte Lk mit 8,19 καὶ οὐκ ἠδύναντο συντυχεῖν αὐτῷ διὰ τὸν ὄχλον einen kohärenzstiftenden Rückverweis geschaffen. Die relative Unverbundenheit der einzelnen Perikopen in *Ev spricht daher deutlich gegen die Annahme, dass Lk in 8,19-22 zum Abschluss der Szene »Mk 3,31-35 gekürzt und an diese Stelle verschoben« habe. 2 2. Irritierenderweise gibt Tertullians Referat zu erkennen, dass er - gegen fast die gesamte Handschriftenüberlieferung und gegen Epiphanius’ ausdrückliches Zeugnis - den Botenbericht in Oratio obliqua mit den Pronomina in der 3. Pers. Sing. gelesen hat: quod mater et fratres e i u s foris starent quaerentes videre e u m . Eine naheliegende Erklärung für dieses Problem könnte sein, dass Tertullian hier nicht zitiert, sondern *Ev zusammenfasst, so dass die Oratio obliqua auf ihn und nicht auf den referierten Text in *Ev zurückginge. 3 Diese Lösung scheitert jedoch ______________________________ 1 Epiph., Schol. 12: οὐκ εἶχεν Ἡ μήτηρ αὐτοῦ καὶ οἱ ἀδελϕοὶ αὐτοῦ, ἀλλὰ μόνον Ἡ μήτηρ σου καὶ οἱ ἀδελϕοί σου. 2 W OLTER , Lk 312 (z. St.) für viele andere. 3 Dies ist offensichtlich stillschweigend vorausgesetzt in den Rekonstruktionen von R OTH 418 und B E D UHN 105. V. L UKAS deutet diese Lösung in seiner Übersetzung des Tertullianreferats (4,19,7) dadurch an, dass er nur foris starent als Zitat versteht und dies in der Übersetzung durch Anführungszeichen kenntlich macht: »… dass seine Mutter und seine Brüder ›draußen standen‹ und ihn zu sehen wünschten« (FC 63/ 3, 651). <?page no="193"?> 8,19-21 Rekonstruktion 705 daran, dass auch e die Pronomina in der 3. Pers. Sing. hat. Die Uneinheitlichkeit dieser Bezeugung lässt sich nicht ohne weiteres erklären. Immerhin bietet das Phänomen der inkonsistenten Angleichung des vorkanonischen an den kanonischen Text ein Modell, das diesen Widerspruch aufzulösen in der Lage ist: Demnach hätte die ursprüngliche Fassung der Perikope, wie von Tertullian und e bezeugt, *8,20 in der 3. Pers. enthalten, wogegen Epiphanius’ *Ev-Exemplar bereits Spuren der Korrektur (Änderung von *8,20 in direkte Rede) aufweist, ohne jedoch vollständig an den kanonischen Text angepasst zu sein (ohne 8,19 als neue Einleitung). Diese Lösung versucht, der komplexen Überlieferungslage gerecht zu werden, ist aber alles andere als zwingend. Falls 8,19 in *Ev gefehlt hat, dann spricht einiges dafür, dass der Anfang von *8,20 durch καὶ ἀπηγγέλη eingeleitet wurde, wie es durch eine Reihe von Handschriften bezeugt ist. 4 3. Tertullian zitiert zwei Mal die Rückfrage Jesu: quae mihi mater, et qui mihi fratres? Sie ist zwar in Mk 3,33 || Mt 12,48 enthalten, nicht aber in Lk 8. Unter Annahme der Lk-Priorität hätte *Ev diese Frage eingefügt, entweder aufgrund einer textlichen Beeinflussung durch Mt 5 oder aus dogmatischen Gründen. So wertet Tsutsui das ansonsten nicht bezeugte mihi als Hinweis auf marcionitische Redaktion: Der Dativ sei singulär und solle »darauf aufmerksam machen, dass ›mater‹ und ›fratres‹ hier im übertragenen Sinn verstanden werden müssen.« 6 Aber die Annahme einer marcionitischen Korrektur am kanonischen Text aus dogmatischen Gründen legt sich nicht vom Text her nahe, sondern ergibt sich erst aus der entgegen gesetzten Argumentation Tertullians. »Wir kommen nun zu dem beständigsten Argument all derer, welche die Geburt des Herrn bestreiten. Er selbst, behaupten sie, bestätige, dass er nicht geboren worden sei, wenn er sagt: ›Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? ‹« (4,19,6). Wie schon Tertullians Diskussion von *3,1a zeigt (s. o.), hatten die Marcioniten (jedenfalls zur Zeit Tertullians) die Geburt und die menschliche Existenz Jesu bestritten und gegenüber den katholischen Christen zur Begründung auf das Fehlen der Geburtsgeschichte in ihrem Evangelium verwiesen. Wie Tertullian bringt auch Hieronymus diese marcionitische Ansicht in Zusammenhang mit der Frage *8,21. 7 Von daher ist verständlich, dass Tertullian hier auf das christologische Problem eingeht. Für die theologische Überfrachtung dieser Stelle ist also nicht *Ev verantwortlich, sondern erst Tertullians antimarcionitische Argumentation. Das ______________________________ 4 A (W) Θ Ψ f 1 e f r 1 vg sy h . 5 Das ist die Lösung von H ARNACK 198*. 6 T SUTSUI 89. 7 Hieronymus, Comm. in Matth. 12,49f (H URST / A DRIAEN 100): iuxta Marcionem et Manicheum matrem negavit, ut natus de fantasmate putaretur. <?page no="194"?> 706 Anhang I 8,19-21 Gleiche gilt auch für die Annahme, dass die Frage Jesu einen übertragenen Sinn besitze (s. o.), die sich ebenfalls bei Tertullian findet (vgl. 4,19,10: sensum non simpliciter). Beide Erklärungen erübrigen sich unter der Annahme der *Ev-Priorität. Es spricht nichts dagegen, dass *8,21 gemäß dem Zeugnis Tertullians die Frage enthielt, die von hier aus in Mk 3,33b (|| Mt 12,48b) übernommen wurde. Mk 3,34 ist eine redaktionelle Erweiterung, die sich der umfassenden Komposition der Szene seit Mk 3,20 verdankt. Dass Mk die ganze Doppelszene in ein Haus verlegt (Mk 3,20), ist Ausdruck seines Gestaltungswillens, der in diesem Fall vermutlich dadurch angeregt wurde, dass die Innen/ Außen-Metaphorik schon in *Ev (*8,20: ἑστήκασιν ἔ ξ ω ) enthalten war; sie hat hier keine narrative Funktion, genauso wenig wie in der Parallele Mt 12,47. Indem Mk mit viel Überlegung die große Szene »im Haus« geschaffen hat, 8 hat er, nebenbei, in *8,20b ein gut bezeugtes »Minor Agreement« produziert, das den Vertretern der Zwei-Quellentheorie Kopfschmerzen bereitet: ἑστήκασιν ἔξω Mt 12,47 || Lk 8,20 stimmt mit der für *Ev bezeugten Formulierung (foris starent) gegen Mk 3,32 (keine Entsprechung) überein. 9 Da Mt der mk Vorlage folgt (wie 12,49 || Mk 3,34 zeigt), hat er die entsprechende Formulierung in der Exposition (12,46: εἱστήκεισαν ἔξω || Mk 3,31: ἔξω στήκοντες) von dort übernommen. Im Unterschied zu Mk, der die Wiederholung dieser Formulierung in der Botenrede vermeidet, folgt Mt hier *Ev und hat auf diese Weise eine stilistisch unglückliche Doppelung geschaffen. 10 4. Aus Tertullians - an dieser Stelle (4,19,11) genauem - Zeugnis geht der Wortlaut von *8,21 mit wünschenswerter Deutlichkeit hervor: Die Formulierung Nisi qui audiunt v e r b a m e a et faciunt ea entspricht keiner der drei synoptischen Fassungen und ist durch diese nicht beeinflusst. Die Synopse zeigt nicht nur die unterschiedlichen Fassungen, sondern erläutert auch das überlieferungsgeschichtliche Stemma dieser Stelle. ______________________________ 8 Mk 3,20-35: Der Gegensatz zwischen »im Haus« und »draußen« (3,31 ἔξω στήκοντες), der auch die Metaphorik von 3,23-27 bestimmt (vgl. 3,25.27), wird in der Szene 4,1-34 aufgegriffen und weitergeführt (4,11 οἱ ἔξω), vgl. die Komm. und M. K LINGHARDT , Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002), 183-202: 188-190. 9 Vgl. dazu N EIRYNCK , Minor Agreements (1974), 85ff; DERS ., Minor Agreements (1991), 30; E NNULAT , Minor Agreements 111-114. 10 Es ist daher sehr unwahrscheinlich, dass die Wiederholung in 12,47 auf mt Redaktion zurückgehen soll (so U. L UZ , Mt II, 286 Anm. 3, z. St.). <?page no="195"?> 8,19-21 Rekonstruktion 707 *8,21 Mk 3,35 Mt 12,50 Lk 8,21 ἀκούειν ποιεῖν ποιεῖν τοὺς λόγους τὸ θέλημα τὸ θέλημα τὸν λόγον μου τοῦ θεοῦ τοῦ πατρός μου τοῦ ἐν οὐρανοῖς τοῦ θεοῦ ἀκούοντες καὶ ποιεῖν καὶ ποιοῦντες αὐτούς *Ev hatte die zweiteilige Form ἀκούειν τοὺς λόγους μου - καὶ ποιεῖν αὐτούς. Mk hat den Hinweis auf das »Hören« gestrichen (und dadurch das ποιεῖν betont); vor allem aber hat er »meine Worte« durch »den Willen Gottes« ersetzt. Mt folgt Mk und übernimmt von hier die Änderungen gegenüber *Ev (ποιεῖν + τὸ θέλημα τοῦ θεοῦ), ersetzt dabei aber ὁ θεός, wie auch sonst, durch πατὴρ ὁ ἐν τοῖς οὐρανοῖς. Lk folgt dagegen *Ev: Er übernimmt das Syntagma »Hören und Tun« (ἀκούειν καὶ ποιεῖν); auch das Objekt (τὸν λόγον) hat Lk aus *Ev (τοὺς λόγους), allerdings - analog zu Mk und Mt - im generalisierenden Singular. Dass die lk Fassung Kenntnis der mk-mt Fassung hat, wird durch das nachgestellte τοῦ θεοῦ deutlich, durch das er μου aus *Ev ersetzt. Die Ersetzung von »meine Worte« durch »Wort Gottes« durch Lk ist aus theologischen Gründen bzw. aufgrund der Beeinflussung durch die anderen Evangelien leichter zu erklären als der umgekehrte Vorgang (vgl. auch zu *16,17; *21,33). *Ev hatte hier also in *8,21 nur eine Frage (τίς μοι ἡ μήτηρ καὶ τίνες μοι οἱ ἀδελϕοί, εἰ μὴ οἳ ἀκούουσιν τοὺς λόγους μου καὶ ποιοῦσιν αὐτούς; ), die Lk unter mk-mt Einfluss in eine Aussage umformulierte, dabei »die Worte« Jesu durch »das Wort Gottes« ersetzte und außerdem den etwas ungelenken Relativsatz mit den finiten Verbformen durch die elegantere Partizipialkonstruktion verbesserte (ἀκούοντες καὶ ποιοῦντες anstelle von οἳ ἀκούουσιν … καὶ ποιοῦσιν). 5. Das heißt, dass *Ev zumindest *8,20f sicher enthielt, wenn auch in anderem Wortlaut. Sehr wahrscheinlich hat Lk (a) die Einleitung der Perikope neu erzählt (8,19), (b) die harsche Frage Jesu in *8,21 (am ehesten: aus stilistischen Gründen) gestrichen und schließlich (c) die Formulierung der Pointe als Konflation der Formulierungen aus *Ev und Mk/ Mt geändert. *8,22-25: Stillung des Seesturms Komplett für *Ev bezeugt und sicher vorhanden. 8,22 Ἐγένετο δὲ ἐν μιᾷ τῶν ἡμερῶν a ἀναβῆναι αὐτὸν a εἰς πλοῖον καὶ οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ, καὶ εἶπεν πρὸς αὐτούς, Διέλθωμεν εἰς τὸ πέραν τῆς λίμνης· καὶ ἀνήχθησαν. <?page no="196"?> 708 Anhang I 8,22-25 23 πλεόντων b [ δὲ ] αὐτῶν ἀϕύπνωσεν. καὶ κατέβη λαῖλαψ ἀνέμου εἰς τὴν λίμνην, καὶ συνεπληροῦντο καὶ ἐκινδύνευον. 24 προσελθόντες δὲ διήγειραν αὐτὸν λέγοντες, c Διδάσκαλε, ἀπολλύμεθα. ὁ δὲ διεγερθεὶς ἐπετίμησεν τῷ ἀνέμῳ καὶ d τῇ θαλάσσῃ d · καὶ ἐπαύσαντο, καὶ ἐγένετο γαλήνη. 25 εἶπεν δὲ αὐτοῖς, Ποῦ ἡ πίστις ὑμῶν; ϕοβηθέντες δὲ ἐθαύμασαν, λέγοντες πρὸς ἀλλήλους, e Τίς δὲ e οὗτός ἐστιν f ὃς καὶ τοῖς ἀνέμοις ἐπιτάσσει καὶ g τῇ θαλάσσῃ g , καὶ ὑπακούουσιν αὐτῷ; A. *8,22: Tert. 4,20,3: Nam cum transfretat, psalmus expungitur: Dominus, inquit, super aquas multas (Ps 29,3). Cum undas freti discutit, Abacuc adimpletur: Dispargens, inquit, aquas itinere (Hab 3,9). Cum ad minas eius eliditur mare, Naum quoque absolvitur: Comminans, inquit, mari et arefaciens illud (Nah 1,4), utique cum ventis quibus inquietabatur. Unde vis meum vindicem Christum? de exemplis an de prophetis creatoris? ♦ *8,23-24: Epiph., Schol. 13: πλεόντων αὐτῶν ἀϕύπνωσεν· ὁ δὲ ἐγερθεὶς ἐπετίμησε τῷ ἀνέμῳ καὶ τῇ θαλάσσῇ. ♦ *8,25: Tert. 4,20,1: Quis autem iste est qui et ventis et mari imperat? nimirum novus dominator atque possessor elementorum subacti iam et exclusi creatoris? Non ita est. Sed agnorant substantiae auctorem suum, quae famulis quoque eius obaudire consueverant. B. a (8,22) αναβηναι αυτον: D (d) ¦ και αυτος ενεβη/ et ipse ascendit (ut ascenderent: e): a aur b c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● b (8,23) δε: om Epiph ¦ add it M ● c (8,24) διδασκαλε/ magister: a c e r 1 ¦ επιστατα/ praeceptor: aur b d f ſſ 2 l ¦ κυριε κυριε/ domine domine: D d ¦ επιστατα επιστατα/ praeceptor praeceptor: q M (*Ev non test.) ● d (8,24) τη θαλασση/ maris: Epiph f slav 1 ms ¦ τω κλυδωνι/ undae: D d ¦ τω υδατι/ aquae: a aur b c e ſſ 2 l q r 1 ¦ τω κλυδωνι του υδατος: M ● e (8,25b) τις δε/ quis autem: Tert ¦ τις αρα/ quisnam ut; τις/ quis: it M ● f (8,25) ος/ qui: Tert 343 716 1229 1487 a c e f ſſ 2 r 1 vg mss Tat arab ¦ οτι/ quod: b l q (quia: aur vg; quoniam: d) M ● g (8,25) τη θαλασση/ mari: Tert 1424 aur b c f ſſ 2 g 1 gat l q r 1 vg sy s.c Tat arab ¦ τω υδατι/ aquae: a d e M . C. Tertullians Referat an dieser Stelle ist ein Beispiel für seinen freien Umgang mit dem *Ev-Text: Er zitiert die abschließende Pointe gleich zu Beginn (4,20,1 mit *8,25) und verweist nur mit cum transfretat (4,20,3), dass er den narrativen Rahmen gelesen hat, ohne dass weitere Einzelheiten des Wortlauts von *Ev erkennbar sind. Epiphanius dagegen zitiert in Schol. 13 Teile von *8,23.24. Dabei sind ihm nicht die geringfügigen Abweichungen im Wortlaut wichtig, sondern die anthropomorphen Züge im Bild Jesu (schlafen; aufstehen) als Beleg für seine Leiblichkeit (Elench. 13). Allerdings gibt er zu erkennen, dass er in *8,24 καὶ τῇ θαλάσσῃ anstelle von καὶ τῷ κλύδωνι τοῦ ὕδατος gelesen hat. Diese geringfügige Abweichung im Wortlaut wird durch Tertullians Referat von *8,25 bestätigt: Anstelle des lk τῷ ὕδατι hat Tertullian mari/ τῇ θαλάσσῃ gelesen, das auch durch die altlateinische und altsyrische Überlieferung (sowie eine Minuskel) gestützt wird. 1 1. Die charakteristischen Interferenzen zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Übelieferung haben auch in dieser Perikope ihre Spuren hinterlassen. ______________________________ 1 Diese Variante ist im Apparat von NA 27 nicht verzeichnet. <?page no="197"?> 8,22-25 Rekonstruktion 709 Soweit die Änderungen in der Rekonstruktion gegenüber dem kanonischen Mehrheitstext nicht auf die direkte Bezeugung zurückgehen, sind sie durch dieses Phänomen begründet. Dabei verdient eine Einzelheit Aufmerksamkeit, nämlich die (unbezeugte) Anrede in *8,23. Hier ist die Überlieferung einigermaßen unübersichtlich: Einige Altlateiner bieten die einfache διδάσκαλε-Anrede (a c e r 1 ), die sich auch an anderer Stelle für *Ev wahrscheinlich machen lässt (vgl. *5,5; *8,45; *9,33.49; s. jeweils die Rekonstr.). Dies entspricht der mk Parallele (Mk 4,38). Daneben findet sich das einfache ἐπιστάτα/ praeceptor, wiederum in den Altlateinern (aur b d f ſſ 2 l). Auf der anderen Seite lesen D d die doppelte κύριε-Anrede, wogegen der Mehrheitstext doppeltes ἐπιστάτα bietet. Es ist schwer vorstellbar, dass die hoheitliche κύριε-Anrede (die auch Mt 8,26 belegt ist) durch das einfache »Lehrer« verdrängt wurde; dies gilt noch mehr für den verdoppelten Vokativ. Es ist daher wahrscheinlich, dass dass die einfache διδάσκαλε-Anrede (a c e r 1 ) in *Ev ursprünglich war; Mk hat sie von dort übernommen. Mt hat, wie auch sonst häufig, in κύριε geändert, wogegen die lk Redaktion die übliche Änderung in ἐπιστάτα vorgenommen hat, aber diese Anrede (der Dringlichkeit des Anliegens wegen? ) verdoppelte. In dieser Perspektive wäre der doppelte Vokativ in D d ausnahmsweise ein Sekundärphänomen unter dem Einfluss sowohl von Mt 8,26 als auch von Lk 8,23. Diese Überlegung liegt der Rekonstruktion zugrunde. 2. Für die Perikope sind rund 25 (mt-lk) »Minor Agreements« zu verzeichnen. 2 Die wichtigsten Beispiele sind: Mk 4,35 ὀψίας γενομένης ÷ Lk 8,22 || Mt 8,23. - Mk 4,36 παραλαμβάνουσιν αὐτὸν ὡς ἦν ἐν τῷ πλοίῳ ≠ Lk 8,23 αὐτὸς ἐνέβη εἰς πλοῖον || Mt 8,22 ἐμβάντι … εἰς τὸ πλοῖον. - Lk 8,22 || Mt 8,23 οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ ÷ Mk 4,35. - Lk 8,24a || Mt 8,25 προσελθόντες … [δι]ήγειραν … λέγοντες ≠ Mk 4,39 ἐγείρουσιν … καὶ λέγουσιν. - Mk 4,39 ἐπετίμησεν τῷ ἀνέμῳ κ α ὶ ε ἶ π ε ν τῇ θαλάσσῃ ≠ Mt 8,26 ἐπετίμησεν τοῖς ἀνέμοις κ α ὶ τῇ θαλάσσῃ || Lk 8,24 ἐπετίμησεν τῷ ἀνέμῳ κ α ὶ τῷ κλύδωνι τοῦ ὕδατος. - Mk 4,39 εἶπεν … σιώπα, πεϕίμωσο καὶ ἐκόπασεν ὁ ἄνεμος ÷ Lk 8,24 || Mt 8,26. - Lk 8,25 τοῖς ἀνέμοις || Mt 8,27 οἱ ἄνεμοι ≠ Mk 4,41 ὁ ἄνεμος. - Lk 8,25 || Mt 8,27 ἐθαύμασαν λέγοντες ≠ Mk 4,41 καὶ ἔλεγον. Die große Zahl dieser Agreements macht die gängigen Erklärungen im Horizont der Zwei-Quellentheorie, vor allem die Annahme paralleler, aber voneinander unabhängiger redaktioneller Änderungen in Mt und Lk, äußerst unwahrscheinlich. Es ist daher verständlich, dass gerade zu dieser Perikope Alternativen diskutiert wurden, darunter auch die Deuteromarkushypothese: Die mt-lk Übereinstimmungen seien Ausdruck einer theologisch konsistenten und gegenüber Mk sekundären Bearbeitung. 3 Jedoch zeigen schon die spärlichen, für *Ev bezeugten Fragmente, dass die mt-lk Agreements bereits in *Ev standen: ______________________________ 2 Vgl. N EIRYNCK , Minor Agreements (1974), 95ff; E NNULAT , Minor Agreements 137-145. Ausführlich diskutiert diese Agreements A. F UCHS , Die Seesturmperikope Mk 4,35-41 parr im Wandel der urkirchlichen Verkündigung, in: ders., Studien zu Deuteromarkus II, Münster 2004, 53-93: 57-80. 3 F UCHS , a. a. O., 80-88. <?page no="198"?> 710 Anhang I 8,22-25 Während Mk 4,39 die Aktion Jesu mit zwei Verben aussagt (ἐπετίμησεν τῷ ἀνέμῳ κ α ὶ ε ἶ π ε ν τῇ θαλάσσῃ), haben Mt 8,26 und Lk 8,24 nur das eine Verb ἐπετίμησεν und davon abhängig zwei Objekte. Genau dies ist auch für *Ev bezeugt: ἐπετίμησε τῷ ἀνέμῳ κ α ὶ τῇ θαλάσσῇ (Epiph., Schol. 13). Ähnliches gilt für Lk 8,25 || Mt 8,27, wo - im Gegensatz zu Mk 4,41 (ὁ ἄνεμος) - »die Winde« im Plural stehen; auch hier ist die mt-lk Lesart schon für *Ev bezeugt: quis autem iste est qui et v e n t i s et mari imperat (Tert. 4,20,1). Die Bezeugungen für *Ev legen also eine ganz andere überlieferungsgeschichtliche Theorie nahe. Dass die mt-lk Agreements kein gegenüber Mk sekundäres Stadium repräsentieren, legen auch die weiteren Änderungen nahe: Sie sind auf die mk Änderungen von *Ev zurückzuführen. Als solche werden sie in dem Maß plausibel, in dem sie als mk Redaktion des Ausgangstextes und als Teil einer umfassenden, über die Seesturmperikope hinausgehenden mk Komposition verständlich sind. 4 Dies sei an drei Beispielen verdeutlicht: a. So ist die ausdrückliche Einstiegsnotiz Lk 8,23 || Mt 8,22 (ἐμβαίνω + εἰς + τὸ πλοῖον Akk.) notwendig und an dieser Stelle ursprünglich. Dass Mk 4,36 (παραλαμβάνουσιν αὐτὸν ὡς ἦν ἐν τῷ πλοίῳ) sie hier nicht hat, liegt daran, dass er sie bereits in 4,1 verarbeitet hat, um die komplette Belehrung in Gleichnissen vom Boot aus zu schildern. Das redaktionelle Interesse für diese Änderung liegt nicht bei Mt-Lk (bzw. dem ihnen angeblich vorausliegenden Deuteromarkus), sondern bei Mk, der die räumliche Zuordnung der Jünger zu Jesus »im Boot« (wie schon in Mk 3 »im Haus«) gegenüber den Außenstehenden (4,11: οἱ ἔξω) deutlich machen möchte. Aus dieser Perspektive ist der Anklang an Jona 1,3 eher zufällig und kein Gestaltungsmerkmal. 5 b. Aus dem gleichen Grund werden auch, anders als Mk 4,35, die Jünger in Lk 8,22 || Mt 8,23 ausdrücklich erwähnt: Für Mk ist es nach 4,10 (οἱ περὶ αὐτὸν σὺν τοῖς δώδεκα) nicht nur selbstverständlich, sondern konstitutiv für seine Erzählung, dass die Jünger mit Jesus im Boot sind: Sie sind es, die bei dieser Überfahrt als Lernende im Zentrum stehen. Von daher geht die Folgerung an der Sache vorbei, es komme für eine »reine Seesturmgeschichte als solche wenig darauf an (…), dass die Mitfahrenden als Jünger gekennzeichnet werden.« 6 c. Die mk Terminierung des Geschehens auf den Abend ist wichtig, weil sie in erkennbarer Parallele auf die andere nächtliche Seeüberquerung Mk 6,45-52 verweist, 7 die ja in *Ev wie in Lk fehlt. Mt folgt dagegen Mk und seiner Akoluthie und hat an dieser Stelle die Zeitangabe übernommen (Mk 6,47 || Mt 14,23). Die ______________________________ 4 Vgl. dazu M. K LINGHARDT , Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002), 183-202 (mit Lit.). 5 F UCHS , a. a. O., 58f. 6 F UCHS , a. a. O., 59. 7 Vgl. die identische Formulierung ὀψίας γενομένης Mk 4,35; 6,47. <?page no="199"?> 8,22-25 Rekonstruktion 711 Parallelisierung der beiden Seeüberfahrten - und damit auch der Zeitangaben - ist ein wesentliches Element der sehr sorgfältigen mk Komposition und seiner Bearbeitung von *Ev. Für Mt scheint die Zeitangabe dagegen nur in der Seewandelerzählung Mt 14 von Bedeutung, wo er sie in Entsprechung zu Mk 6,47 übernahm; trotz der mk Veränderungen an *Ev, die Mt von Mk übernahm, machen es die »Minor Agreements« wahrscheinlich, dass Mt hier auch einen *Ev-Text vorliegen hatte. Es gelingt daher nicht, die Unterschiede der mt-lk Agreements gegenüber Mk als theologisch induzierte, sekundäre Änderungen zu charakterisieren - ganz unabhängig davon, ob diese Änderungen auf einen unwahrscheinlichen Zufall oder auf eine gleichermaßen obsolete Zwischenstufe »Deuteromarkus« zurückgeführt werden: Die Abweichungen, welche die Agreements konstituieren, hat Mk aus gut nachvollziehbaren redaktionellen Gründen an *Ev vorgenommen. Mt und Lk haben ihre gemeinsame Quelle *Ev dagegen unverändert übernommen. *8,26-37 [ 38-39 ] : Austreibung des Dämons Legion Nur teilweise bezeugt; mit großer Wahrscheinlichkeit durch die lk Redaktion bearbeitet und ergänzt. 8,26 Καὶ κατέπλευσαν εἰς τὴν χώραν τῶν Γερασηνῶν, ἥτις ἐστὶν ἀντιπέρα τῆς Γαλιλαίας. 27 ἐξελθόντι δὲ αὐτῷ ἐπὶ τὴν γῆν ὑπήντησεν ἀνήρ τις ἐκ τῆς πόλεως ἔχων δαιμόνια a ἀπὸ χρόνων ἱκανῶν, ὃς a b ἱμάτιον οὐκ ἐνεδιδύσκετο b , καὶ ἐν οἰκίᾳ οὐκ ἔμενεν ἀλλ’ ἐν τοῖς μνήμασιν. ( ↑ v. 29b? ↓ ) 28 ἰδὼν δὲ τὸν Ἰησοῦν ἀνακράξας c [ προσέπεσεν αὐτῷ καὶ ] c ϕωνῇ μεγάλῃ εἶπεν, Τί ἐμοὶ καὶ σοί, d Ἰησοῦ υἱὲ e τοῦ θεοῦ e f [ τοῦ ὑψίστου ] f ; δέομαί σου, μή με βασανίσῃς. 29 παρήγγειλεν γὰρ τῷ g δαιμονίῳ τῷ ἀκαθάρτῳ h Ἔξελθε ἀπὸ τοῦ ἀνθρώπου. ↑ ¿πολλοῖς γὰρ χρόνοις συνηρπάκει αὐτόν, καὶ ἐδεσμεύετο ἁλύσεσιν καὶ πέδαις ϕυλασσόμενος, καὶ διαρρήσσων τὰ δεσμὰ ἠλαύνετο ὑπὸ τοῦ δαιμονίου εἰς τὰς ἐρήμους? ↓ 30 ἐπηρώτησεν δὲ αὐτὸν ὁ Ἰησοῦς, Τί σοι i ὄνομά ἐστιν i ; ὁ δὲ εἶπεν, Λεγιών k ὄνομά μοι· πολλὰ γὰρ ἦσαν δαιμόνια k . 31 καὶ παρεκάλουν αὐτὸν ἵνα μὴ ἐπιτάξῃ αὐτοῖς εἰς τὴν ἄβυσσον ἀπελθεῖν. 32 ῏Ην δὲ ἐκεῖ ἀγέλη χοίρων l [ ἱκανῶν ] βοσκομένη ἐν τῷ ὄρει· καὶ παρεκάλεσαν αὐτὸν ἵνα m εἰς τοὺς χοίρους εἰσελθῶσιν m καὶ ἐπέτρεψεν αὐτοῖς. 33 ἐξελθόντα δὲ τὰ δαιμόνια ἀπὸ τοῦ ἀνθρώπου n ὥρμησαν εἰς τοὺς χοίρους, καὶ ὥρμησεν ἡ ἀγέλη κατὰ τοῦ κρημνοῦ εἰς τὴν λίμνην καὶ ἀπεπνίγη. 34 ἰδόντες δὲ οἱ βόσκοντες τὸ γεγονὸς ἔϕυγον καὶ ἀπήγγειλαν εἰς τὴν πόλιν καὶ εἰς τοὺς ἀγρούς. 35 o παραγενομένων δὲ ἐκ τῆς πόλεως καὶ θεωρησάντων καθήμενον τὸν δαιμονιζόμενον σωϕρονοῦντα καὶ ἱματισμένον καθήμενον o παρὰ <?page no="200"?> 712 Anhang I 8,26-39 τοὺς πόδας τοῦ Ἰησοῦ, καὶ ἐϕοβήθησαν. 36 ἀπήγγειλαν δὲ αὐτοῖς οἱ ἰδόντες πῶς ἐσώθη ὁ δαιμονισθείς. 37 p ἠρώτησαν δὲ τὸν Ἰησοῦν πάντες καὶ ἡ χώρα p τῶν Γερασηνῶν ἀπελθεῖν ἀπ’ αὐτῶν, ὅτι ϕόβῳ μεγάλῳ συνείχοντο· αὐτὸς δὲ ἐμβὰς q [ εἰς πλοῖον ] q ὑπέστρεψεν. r [ 38 ἐδεῖτο δὲ αὐτοῦ ὁ ἀνὴρ ἀϕ’ οὗ ἐξεληλύθει τὰ δαιμόνια εἶναι σὺν αὐτῷ· ] r [ ἀπέλυσεν δὲ αὐτὸν λέγων, 39 ῾Υπόστρεϕε εἰς τὸν οἶκόν σου, καὶ διηγοῦ ὅσα σοι ἐποίησεν ὁ θεός. καὶ ἀπῆλθεν καθ’ ὅλην τὴν πόλιν κηρύσσων ὅσα ἐποίησεν αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς. ] A. *8,27.30: Tert. 4,20,4: cum invenis in uno homine multitudinem daemonum, legionem se professam, utique spiritalem, disce et Christum expugnatorem spiritalium hostium spiritaliter armatum et spiritaliter bellicosum intellegendum, atque ita ipsum esse qui cum legione quoque daemonum erat dimicaturus; ut et de hoc bello psalmus possit videri pronuntiasse, Dominus validus, dominus potens in bello. ♦ *8,28: Tert. 4,20,5: Nam cum ultimo hoste morte proeliatus per tropaeum crucis triumphavit. Cuius autem dei filium Iesum legio testata est? Sine dubio cuius tormenta et abyssum noverant et timebant. ♦ *8,30: Tert. 4,20,4: multitudo daemonum; legionem se professam. ¦ Adam. 1,17 (815d): τί σοί ἐστιν ὄνομά; ὁ δὲ, ϕησίν, εἶπε· Λεγεών. ♦ *8,31-34: Tert. 4,20,6: non enim depetunt ab alio quod meminissent petendum sibi a creatore, veniam scilicet abyssi creatoris. denique impetraverunt. B. a (8,27) απο χρονων ικανων ος: D (d) ¦ εκ χρονων ικανων και א 2 A W Θ Ψ f 13 lat sy M ¦ και χρονω ικανω: P 75vid א * .2 B L Ξ (f 1 ) 33 579 1241 pc sy hmg (*Ev non test.) ● b (8,27) ιματιον ουκ ενεδιδυσκετο: ( א 1 ) A D W Θ Ψ f 13 latt M ¦ ουκ ενεδυσατο ιματιον: P 75 א * .2 B L Ξ (f 1 ) 33 579 1241 pc (*Ev non test.) ● c (8,28) προςεπεσεν αυτω και: om D ¦ add it M (*Ev non test.) ● d (8,28) ιησου: Tert a aur b c f ſſ 2 l q r 1 M ¦ om P 75 D f 1 579 al d e bo pt ● e (8,28) του θεου: Tert a aur b c e f ſſ 2 q r 1 M ¦ om D Ξ f 1 892 1424 2542 pc d l vg mss ● f (8,28) του υψιστου/ altissimi (a: summi): it M ¦ om Tert aeth ● g (8,25) δαιμονιω: D d e ¦ πνευματι: a aur b c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● h (8,25) εξελθε/ exi: D d e ¦ εξελθειν: a aur b c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● i (8,30) ονομα εστιν: P 75 א B D L Ξ Ψ 1 33 118 131 157 205 209 892 954 1071 1241 1582 it vg sy ¦ 2,1 (εστιν ονομα): Adam (! ) M ● k (8,30) ονομα μοι πολλα γαρ ησαν δαιμονια: D c d ¦ οτι εισηλθεν δαιμονια πολλα εις αυτον: aur q r 1 vg M (*Ev non test.) ● l (8,32) ικανων/ multorum: om D 579 c r 1 bo pt ¦ add a aur b d f ſſ 2 l q M (*Ev non test.) ● m (8,32) εις τους χοιρους εισελθωσιν/ in porcos introirent: D c d (ſſ 2 l: in illis irent; aur b q: in illos irent; a: in eis intrarent) ¦ επιτρεψη αυτοις εις εκεινους εισελθειν: f r 1 (vg) M (*Ev non test.) ● n (8,32) ωρμησαν/ abierunt: D d ¦ εισηλθον/ intraverunt (c f: introierunt): a aur b c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● o (8,35) παραγενομενων δε εκ της πολεως και θεωρησαντων καθημενον τον δαιμονιζομενον σωϕρονουντα και ιματισμενον καθημενον: D ( c) d ¦ εξηλθον δε ιδειν το γεγονος και ηλθον προς τον Ιησουν, και ευρον καθημενον τον ανθρωπον αϕ’ ου τα δαιμονια εξηλθεν ιματισμενον και σωϕρονουντα: it M (*Ev non test.) ● p (8,37) ηρωτησαν δε τον Ιησουν παντες και η χωρα: D d ¦ και ηρωτησεν αυτον απαν το πληθος της περιχωρου: it M (*Ev non test.) ● q (8,37) εις πλοιον: om D d l ¦ add a aur b c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● r (8,38) εδειτο δε αυτου ο ανηρ αϕ’ ου εξεληλυθει τα δαιμονια ειναι συν αυτω: om W ¦ add M (*Ev non test.). C. Die Perikope ist nur in Teilen bezeugt, und es ist schwierig, über die nicht bezeugten Passagen ein Urteil allein auf der Grundlage der *Ev-Referate zu fällen. <?page no="201"?> 8,26-39 Rekonstruktion 713 1. Die knappe Bezeugung lässt immerhin erkennen, dass folgende Elemente der Erzählung schon in *Ev vorhanden waren. a. Aus Tertullians Referat geht hervor, dass *Ev - wie Mk 5,2 und Lk 8,27 - nur von einem Besessenen sprach (in uno homine …), nicht von zwei, wie Mt 8,28. Diese »Verdoppelung« geht, wie Mt 9,27-31; 20,29-34 zeigt, mit großer Wahrscheinlichkeit auf das Konto der mt Redaktion. b. Dabei hat *Ev von der Besessenheit durch Dämonen gesprochen (*8,27[30.33]; so auch Mt 8,28.31.33), im Unterschied zu der Rede von einem »unreinen Geist« bei Mk (5,2.8.13). c. Aus der Begegnung Jesu mit dem Besessenen ist für *Ev die Anrede Jesu als »Sohn Gottes« gesichert (*8,28). d. Ebenfalls gesichert ist für *Ev die Rede von einer Vielzahl von Dämonen, ebenso der Name »Legion« (*8,30), wie Tertullian und Adamantius sicherstellen. e. Schließlich bezeugt Tertullian mit der Formulierung venia abyssi (4,20,6) sowohl *8,31 (mit dem Stichwort ἄβυσσος) als auch *8,32 (mit dem Stichwort venia: καὶ ἐ π έ τ ρ ε ψ ε ν αὐτοῖς). Wenn *Ev beide Verse enthielt, dann hat wahrscheinlich auch V. *33 mit dem Sturz der Schweine in die Tiefe dazugehört. Neben einigen Kleinigkeiten fehlen damit eine Bezeugung für die Beschreibung des Besessenen (Lk 8,27b.29) bzw. des Geheilten (8,35) sowie die Berichte über die Reaktionen zunächst der Hirten (8,34), dann der Leute aus der Stadt (8,35-37a) und schließlich des Geheilten selbst (8,38f); diese Passagen sind möglicherweise redaktionell. 2. Angesichts dieser schmalen Bezeugung gewinnen die zahlreichen Varianten aus der Gruppe der »Westlichen« Handschriften (vor allem D it) Gewicht, die hier in kleiner Auswahl mit verzeichnet sind. Denn wenn diese Lesarten als Spuren des vorkanonischen Textes zu werten sind, der nicht konsequent nach dem kanonischen Text korrigiert wurde, dann lassen sie sich als ergänzende Hinweise auf die Existenz eines entsprechenden vorkanonischen Text verstehen. Dies gilt umso mehr, als das Gros dieser Lesarten semantisch vollkommen unauffällig ist; es handelt sich fast durchweg um stilistische Änderungen (Wortwahl; Wortstellung). Stellt man diese Überlegung in Rechnung, dann sind nur 8,26.29b.34.36.38f ohne jede Bezeugung; so gesehen, spricht mehr dafür als dagegen, dass die Perikope in *Ev i. W. das gleiche narrative Profil besaß wie in der kanonischen Fassung. 3. Einige deutliche (mt-lk) »Minor Agreements« haben in der Diskussion eine Rolle gespielt. Mk 5,1 τῆς θαλάσσης ÷ Mt 8,28 || Lk 8,26. - Mk 5,2 ἐκ τοῦ πλοίου ÷ Mt 8,28 || Lk 8,27. - Mk 5,2 ἐν πνεύματι ἀκαθάρτῳ ≠ Mt 8,28 δαιμονιζόμενοι || Lk 8,27 ἔχων δαιμόνια. - Mk 5,8 τὸ πνεῦμα τὸ ἀκάθαρτον ≠ Mt 8,31 οἱ δαίμονες || Lk 8,30 τὰ δαιμόνια. - Mk 5,13 τὰ πνεύματα τὰ ἀκάθαρτα ≠ Mt 8,33 δαιμονιζομένων || Lk 8,33 τὰ δαιμόνια. Von diesen »Minor Agreements« ist vor allem die mt-lk Rede von den »Dämonen« gegenüber den »unreinen Geistern« bei Mk wichtig, weil die δαιμον-Formulierungen <?page no="202"?> 714 Anhang I 8,26-39 bereits für *Ev bezeugt sind. Die mt-lk Übereinstimmungen haben ihren Grund also in der redaktionellen Veränderung, die Mk gegenüber *Ev vorgenommen hat. 1 Diese Beobachtung macht zugleich das redaktionelle Verfahren des Mt deutlich: Auch wenn er grundsätzlich dem mk Aufriss (und in aller Regel: seinem Text) sehr eng folgt, hat Mt offensichtlich doch *Ev immer dagegen verglichen. An dieser Stelle wird das außerordentlich hohe Maß der Textorientierung des redaktionellen Verfahrens deutlich. 4. Ausgesprochen schwierig ist das Bekenntnis des Besessenen in *8,28 zu rekonstruieren. Die kanonische Fassung des Mehrheitstextes liest: Ἰησοῦ υἱὲ τοῦ θεοῦ τοῦ ὑψίστου. Allerdings sind die Lesarten wichtig: Der Name Ἰησοῦ fehlt in P 75 D sowie zwei Altlateinern (d e); τοῦ θεοῦ fehlt ebenfalls in D und einer Reihe anderer Handschriften. Dafür ist τοῦ ὑψίστου nahezu durchgängig bezeugt und fehlt nur in aeth. Diese Bezeugungslage spricht eigentlich sehr deutlich dafür, dass die Adressierung ursprünglich υ ἱ ὲ τ ο ῦ ὑ ψ ί σ τ ο υ gelautet haben könnte, sofern D und die Altlateiner noch Spuren des vorkanonischen Textes aufweisen. Allerdings steht dem das Zeugnis Tertullians entgegen, der an dieser Stelle zwar nicht zitiert, sondern nur zusammenfasst, aber immerhin noch erkennen lässt, dass in seinem *Ev-Exemplar Ἰησοῦ υἱὲ τοῦ θεοῦ gelesen hat. 2 Dass Tertullians Zeugnis Vertrauen verdient, zeigt seine rhetorische Frage, als Sohn welchen Gottes der Dämon Jesus eigentlich bezeugt habe; zur Debatte steht also auch hier wieder die von den Marcioniten bestrittene Einheitlichkeit des Gottesbildes. Tertullian argumentiert (4,20,5f): Die Dämonen hätten Jesus als Sohn des Gottes bekannt, dessen Qualen und dessen Abyssos sie bereits kannten und fürchteten - das ist also der Schöpfergott. Zugleich scheint es undenkbar zu sein, dass sie nicht wussten, was die Macht des neuen und unbekannten Gottes (novi et ignoti dei virtus) bewirkte: Es habe nicht den Anschein, dass der Schöpfer diese Macht nicht kannte. Denn selbst, wenn der creator irgendwann einmal nicht gewusst hatte, dass es einen anderen Gott über ihm (alium supra se deum) gebe, so müsste er es doch aufgrund der Machterweise unter des Schöpfers eigenem Himmel gewahr geworden sein, und genau so müssten auch alle seine Diener (also die Dämonen, von denen die Erzählung spricht) gemerkt haben, dass hier eine peregrina divinitas am Werke ist. Folglich gilt: Die Dämonen kannten keinen anderen Christus als den ihres eigenen Gottes (non alium daemones sciebant quam dei sui Christum). Denn sie erbitten nicht von dem »anderen Gott«, woran sie sich erinnerten, dass sie es vom Schöpfer erbitten mussten (ab alio quod meminissent petendum sibi a creatore). Angesichts dieser Argumentation und der Umschreibung des »anderen Gottes« (novus et ignotus deus; alius deus; peregrina divinitas) ist es nicht vorstellbar, dass Tertullian die Apposition τοῦ ὑψίστου in seinem *Ev-Exemplar zwar gelesen, aber ______________________________ 1 Anders für viele: L UZ , Mt II 31 Anm. 3: Die Minor Agreements (in Mt 8,28-34) seien »sämtlich als unabhängige Red. durch Mt/ Lk erklärbar.« 2 Tert. 4,20,5: dei filium Iesum legio testata est. <?page no="203"?> 8,26-39 Rekonstruktion 715 nicht darauf verwiesen haben würde: Die Bezeichnung Jesu als Sohn des höchsten Gottes im Munde des Dämons hätte seiner Argumentation so ideal in die Hand gespielt, dass er kaum darüber hinweg gegangen wäre, ohne diese Gelegenheit zu nutzen. Da die Apposition τοῦ ὑψίστου Mt 8,29 fehlt, aber in Mk 5,7 || Lk 8,28 enthalten ist, bleibt nur die Folgerung, dass Mt den Wortlaut von *Ev bewahrt hat, wogegen Mk (und in seiner Folge Lk) diese klärende Apposition eingefügt haben: In ihren Fassungen erkennen die Dämonen Jesus in der Tat als Sohn des höchsten Gottes an. Wenigstens für Lk 8,28 liegt die Vermutung nahe, dass diese Präzisierung auch eine antimarcionitische Intention verfolgt hat. 3 5. Ob die Szene mit den Schweinen *8,32f bereits in *Ev enthalten war, ist nicht ganz klar. Harnack hatte gemutmaßt, dass Marcion diese Episode aus theologischen Gründen gestrichen habe, ohne jedoch anzugeben, welche das gewesen sein könnten. 4 Das Problem liegt in Tertullians Formulierung venia abyssi, weil nicht deutlich ist, auf welche Bitte genau sich diese »Erlaubnis des Abgrunds« bezieht: Am nächsten liegt ein Bezug auf *8,31 (παρεκάλουν αὐτόν), weil an dieser Stelle das Stichwort ἄβυσσος ja genannt ist. Andererseits könnte der Hinweis auf die venia Jesu sich darüber hinaus auch auf die Bitte *8,32 (καὶ παρεκάλεσαν) beziehen, denn hier ist das Stichwort der »Erlaubnis« direkt bezeugt (καὶ ἐ π έ τ ρ ε ψ ε ν αὐτοῖς). Unter dieser Voraussetzung waren die Schweine Teil der Erzählung, deren (vorläufiges) Ende dann entsprechend der Schilderung 8,33 zu denken ist. Tertullians Formulierung venia abyssi wäre dann der (sehr) knappe Verweis darauf, dass Jesus den Dämonen zwar zunächst die Verschonung vor der Abyssos zugestanden, sie dann aber durch Gewährung des Transfers in die Schweine doch genau dahin gebracht hätte: Der Sturz über die Klippen bringt die Dämonen in den Abgrund. Gegen Harnack ist daher davon auszugehen, dass Tertullian auf *8,31-33 verweist: Die Schweineepisode war bereits in *Ev enthalten - jedenfalls in Tertullians *Ev-Exemplar. 6. Der abschließende Bericht mit der Bitte des Geheilten und seiner Verkündigung in der Stadt (Lk 8,38f) ist schwierig zu beurteilen. Da er vollständig unbezeugt ist, müssen an dieser Stelle textgeschichtliche und überlieferungskritische Gesichtspunkte hilfsweise herangezogen werden. Die Vv. 38f haben eine sachliche Parallele in Mk 5,18-20, nicht aber in Mt 8,28-34. Das Fehlen einer Ensprechung zu dieser Episode in Mt besagt auf den ersten Blick nicht viel, weil er die gesamte Perikope intensiv redaktionell bearbeitet hat: Angesichts der Abhängigkeit des Mt von Mk, ______________________________ 3 Die Rekonstruktion der Frage Jesu in *8,30 folgt - gegen das Zeugnis des Adamantius und der großen Mehrheit der Handschriften - der offensichtlich älteren (und daher vermutlich vorkanonischen) Lesart τί σοι ὄνομά ἐστιν (P 75 א B D L 1 33 118 892 954 1071 1241 1582 it vg sy u. a.). 4 H ARNACK 199*: »Ob nicht Marcion die Säue-Geschichte getilgt hat? Wahrscheinlich, da sie ihm anstößig sein musste und da Tert. einfach sagt: ›denique impetraverunt‹.« <?page no="204"?> 716 Anhang I 8,26-39 hat Mt zumindest Mk 5,18-21 übergangen (und dafür die sicher redaktionelle Notiz Mt 9,1 geschaffen); ob er auch einen entsprechenden Schluss in *Ev gelesen hatte, lässt sich nicht sagen. In überlieferungsgeschichtlicher Hinsicht bleiben daher zwei Fragen zu prüfen: Gab es für Mk redaktionelle Gründe für die Ergänzung von 5,18-21? Und: Lassen sich Gesichtspunkte ausfindig machen, nach denen die Abweichungen von Lk 8,38f gegenüber Mk 5,18-21 als lk Redaktion verständlich werden? Beide Fragen lassen sich vorsichtig bejahen. Denn zum einen passt die Bitte des Geheilten, er möge μετ ʼ αὐτοῦ sein (Mk 5,18), bis in die Formulierung sehr genau in das redaktionelle Konzept des Mk. 5 Obwohl Lk einige Elemente dieses Konzeptes aus Mk übernimmt, zeigt sich sein abweichender Sprachgebrauch in redaktionellen Passagen. 6 Dass Lk 8,39 die Verkündigung des Geheilten in der »Stadt« lokalisiert, während Mk 5,20 ihn ἐν τῇ Δεκαπόλει schildert, bleibt ambivalent. Der gewichtigste Unterschied zwischen Lk und Mk ist, dass Lk 8,38 die Begebenheit als Hysteron proteron anschließt, nachdem er bereits mitgeteilt hatte, dass Jesus nicht nur in das Boot gestiegen, sondern bereits zurückgekehrt war (ὑπέστρεψεν): In der lk Fassung klappt dieses Gespräch Jesu mit dem Geheilten noch deutlicher nach, als dies in Mk der Fall ist: In Mk 5,18 äußert der Geheilte seine Bitte, während Jesus in das Boot steigt (Mk 5,18 ἐμβαίνοντος αὐτοῦ εἰς τὸ πλοῖον παρεκάλει αὐτόν). In diesem Zusammenhang fällt auf, dass der (für den Plot überflüssige) Hinweis, dass Jesus in das Boot (εἰς [τὸ] πλοῖον) einstieg (Lk 5,37) in D u. a. fehlt: Dies ist ein Hinweis auf die mk Redaktion von *Ev. Es liegt daher nahe, dass die ursprüngliche Fassung der Erzählung in *8,37 damit endete, dass Jesus sich wieder »einschiffte« und zurückkehrte (αὐτὸς δὲ ἐμβὰς ὑπέστρεψεν). Unter dieser Voraussetzung wird dann auch verständlich, dass Lk 8,38a ἐδεῖτο δὲ αὐτοῦ ὁ ἀνὴρ ἀϕ ʼ οὗ ἐξεληλύθει τὰ δαιμόνια εἶναι σὺν αὐτῷ in einer Handschrift (W) versehentlich ausgelassen wurde, obwohl diese Bemerkung für das Verständnis des Kontextes zwingend erforderlich ist: Das Versehen beruht wahrscheinlich auf dem Einfluss des vorkanonischen Wortlauts. Auch wenn für das Urteil zu Lk 8,38f nicht die gewünschte Sicherheit zu erreichen ist, spricht doch mehr dafür, dass diese Verse durch die lk Redaktion in Analogie zu Mk 5,18-20 nachgetragen wurden, als dass sie von Tertullian übergangen wurden. Das Fehlen der Episode in Mt 8,34 bzw. 9,1 reflektiert daher das knappe Ende in *Ev. ______________________________ 5 Vgl. M. K LINGHARDT , Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002), 183-202: 190f. 6 Vgl. εἶναι σὺν αὐτῷ Lk 8,38 (anstelle von Mk 5,18: μετ ʼ αὐτοῦ εἶναι) mit σὺν αὐτῷ Lk 8,1 (red.; s. dort). Besagt Mk 5,19 σοι ὁ θεός (D 1241) anstelle von ὁ κύριός σοι (so auch Lk 8,39) etwas? <?page no="205"?> 8,26-39 Rekonstruktion 717 7. Die Erwägungen zur Rekonstruktion der Erzählung in *Ev lassen sich durch überlieferungsgeschichtliche Überlegungen weiterführen, die in diesem Fall allerdings durch die starken Unterschiede der drei synoptischen Erzählungen belastet sind: Sie setzen an dieser Stelle jeweils eigene Akzente. a. Am auffälligsten (und am stärksten erklärungsbedürftig) ist die deutlich kürzere mt Version, die in der Exposition anstelle der ausführlichen mk Schilderung des Besessenen (Mk 5,3-5) nur den knappen Hinweis auf die Bösartigkeit der Besessenen bietet und auch den Bericht der Augenzeugen (Mk 5,15f || Lk 8,35f) weglässt. Auch die Reaktion des Geheilten und sein Gespräch mit Jesus (Mk 5,18b-20 || Lk 8,38f) fehlt bei Mt. Daneben fallen drei Besonderheiten der mt Erzählung ins Auge: (1) Mt spricht im Unterschied zu Mk und Lk von zwei Besessenen. (2) Bei ihm fehlt die Frage Jesu nach dem Namen des Dämons/ der Dämonen, der daher gar nicht mitgeteilt wird. (3) Mt lokalisiert die ganze Begebenheit im Land der Gadarener. Die »Verdoppelung« des einen Besessenen aus *Ev geht, wie sich aus dem analogen Verfahren Mt 9,27-31; 20,29-34 nahelegt, sehr wahrscheinlich auf das Konto der mt Redaktion, ohne dass der Sinn wirklich klar wird. Auch die Streichung des Namens »Legion« ist ausweislich der Bezeugung für *Ev mt Redaktion: Dieser Name ist Teil der ältesten Tradition. Die nächstliegende Erklärung für die Streichung des Namens ist, dass Mt die symbolischen Konnotationen von »Schweinen« und »Legion« nicht (mehr? ) gesehen und daher der Erzählung ein anderes Profil gegeben hat. 7 Die Lokalisierung schließlich ist bekanntlich nicht nur zwischen den drei Fassungen, sondern jeweils auch innerhalb der handschriftlichen Überlieferung umstritten. Die wichtigsten Zeugen 8 verteilen sich folgendermaßen auf die drei Fassungen der Erzählung. Γαδαρηνῶν Γερασηνῶν Γεργεσηνῶν Mt 8,28 ( א *) B C (Δ) Θ sy s.p.h it vg sy h (2 mss) sa א c C mg K L W f 1.13 bo M Mk 5,1 A C K f 13 sy p.h א * B D it vg sa M א c L Δ Θ f 1 sy s.h(mg) bo Lk 8,26 A K W Δ Ψ sy c.s.p.h M P 75 B D it vg sa א L X Θ f 1 bo Sieht man sich die Verteilung der Belege auf die Handschriftengruppen an, dann fällt auf, dass D it (mit den anderen wichtigen Zeugen P 75 א B) in Mk 5 und Lk 8 Γερασηνῶν lesen. Das ist ein starkes Argument für diese Lesart in *Ev, dem Mk gefolgt ist. Für Mt wird mit guten Gründen Γαδαρηνῶν als redaktionelle Änderung ______________________________ 7 Vgl. dazu M. K LINGHARDT , Legionsschweine in Gerasa. Lokalkolorit und historischer Hintergrund von Mk 5,1-20, ZNW 98 (2007), 28-48. Weniger wahrscheinlich ist die Furcht vor römischen Repressionen (L UZ , Mt II 32). 8 Hier nach der Zusammenstellung von M ETZGER , Textual Commentary, zu Mt 8,28. Zum Problem s. T. B AARDA , Gadarenes, Gerasenes, Gergesenes and the »Diatessaron« Traditions, in: E. E. Ellis, M. Wilcox (eds.), Neotestamentica et Semitica, Edinburgh 1969, 181-197. <?page no="206"?> 718 Anhang I 8,26-39 des mk Γερασηνῶν verstanden, vermutlich in Kenntnis der topographischen Gegebenheiten, die Gerasa so wenig plausibel erscheinen lassen. 9 b. Auch die ausführliche mk Fassung ist - wie schon lange gesehen wurde - nicht ohne Probleme. Vor allem die doppelte Begegnung Jesu mit dem Besessenen (5,2.6), die Stellung des Exorzismusbefehls in 5,8, die nachklappende Position von 5,16 (zumindest aber von 5,16b) sowie die erkennbar vorausgesetzte, aber problematische Nähe von Gerasa zum Meer (5,1.13.18) sind für die »unevenness of the narrative« verantwortlich. 10 Aber einige dieser Elemente sind schon für *Ev gesichert bzw. wahrscheinlich: Da *8,27.28 durch Tertullians Referat bzw. durch die D-Varianten als gesichert zu betrachten sind, ist die Doppelung der Begegnung (*8,27: ὑπήντησεν; *8,28: ἰδών) schon in *Ev vorhanden. Sie ist in Mk wegen der Stellung von Mk 5,3-5 nur auffälliger. Wie die Entsprechungen ἐκ τῶν μνημείων Mk 5,2 || Mt 8,28 (bzw. ἐν τοῖς μνήμασιν Mk 5,3 || *8,27) und μὴ ἰσχύειν Mt 8,28 || οὐδεὶς ἴσχυεν Mk 5,4 zeigen, war die Schilderung des Zustands des Besessenen an der von Mk berichteten Stelle ursprünglich. Dies bedeutet, dass Lk 8,29b - einer der gänzlich unbezeugten Verse - erst durch die lk Redaktion an diese Stelle hinter den Ausfahrbefehl verschoben wurde. Diese Überlegung bleibt allerdings mangels einer belastbaren Bezeugung bloße Vermutung. Die verschiedentlich für problematisch gehaltene Stellung des Exorzismusbefehls Mk 5,8 hat eine Entsprechung in *8,29a, die aufgrund der D- Lesarten schon für die vorkanonische Fassung wahrscheinlich gemacht werden kann. Ein letztes Element, das die mk Fassung komplex macht, ist der abschließende Dialog zwischen Jesus und dem Geheilten Mk 5,18-20. Wie oben schon deutlich wurde, handelt es sich um eine Ergänzung der mk Redaktion, 11 der Lk 8,38f gefolgt ist, dabei aber noch weitere Probleme verursacht hat. c. Die literarischen Auffälligkeiten der mk Erzählung haben verschiedentlich zu dem literarkritischen Urteil geführt, dass Mk hier eine ältere »Schicht« bearbeitet habe. 12 Diese Sicht lässt sich vor dem Hintergrund von *Ev nicht bestätigen; nur der abschließende Dialog zwischen dem Geheilten und Jesus könnte möglicherweise auf mk Redaktion zurückgehen. Ansonsten zeigt *Ev i. W. das gleiche literarische ______________________________ 9 Vgl. L UZ , Mt II 31; nach B AARDA (a. a. O.) ist Gadara vor allem in der syrischen Überlieferung (sy p.h ; syr. Diatessaron) verbreitet. Zu den Schwierigkeiten der historischen Geographie s. K LINGHARDT , a. a. O. 31ff. 10 T AYLOR , Mk 277; entsprechende - mehr oder weniger ausführliche - Listen finden sich in den meisten Kommentaren. 11 Vgl. K LINGHARDT , a. a. O. 43-45. 12 Vgl. D. J ASPER , The Gaps in the Story: The Implied Reader in Mk 5: 1-20, SEÅ 64 (1999) 79-88; klassisch ist die Studie von F R . A NNEN , Heil für die Heiden (FThSt 20), Frankfurt/ M. 1976, 39-72, der als vormk Erzählung rekonstruierte: 5,2b.3b.4-7.9.11-14.15b.16.19b. <?page no="207"?> 8,26-39 Rekonstruktion 719 Profil wie die mk Erzählung. In diesem Fall ergeben sich auch die gleichen Folgerungen für die Datierung, wie sie sich für die mk Fassung nahelegen. 13 Denn sowohl der Name »Legion« für den Multidämon als auch die ungewöhnliche, nicht gerade naheliegende Lokalisierung des Geschehens bei Gerasa sind für *Ev bezeugt. Für die Datierung des Mk-Textes hat dieses sehr spezifische Syndrom zwischen der römischen Militärpräsenz (»Legion«) und der ungewöhnlichen Lokalisierung in Gerasa ergeben, dass sie erst ab Mitte/ Ende der 80-er Jahre wirklich nachvollziehbar wird. Nach der Rekonstruktion trifft dieser zeitliche Ansatz bereits für *Ev zu: Die Voraussetzung römischer Militärpräsenz in Gerasa ist ein Indiz dafür, dass *Ev nicht vor Mitte der 80-er Jahre des 1. Jh. entstanden ist. Durch diese Überlegung wird der zeitliche Rahmen für die Ansetzung der Abfassung des vorkanonischen *Mk und *Mt eingeschränkt, wenn auch nur um wenige Jahre: Die Entstehung und Ausbildung der Evangelienschriften von *Ev bis zur kanonischen Redaktion des Vierevangelienbuches ist für die Jahrzehnte zwischen dem Ende der 80-er Jahre des 1. Jh. und der Mitte des 2. Jh. am wahrscheinlichsten. *8,40-42a.42b-48.49-56: Tochter des Jairus. Blutflüssige Frau Nur teilweise für *Ev bezeugt; mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die lk Redaktion ergänzt und bearbeitet. 8,40 a Ἐγένετο δὲ ἐν a τῷ ὑποστρέϕειν τὸν Ἰησοῦν ἀπεδέξατο αὐτὸν ὁ ὄχλος, ἦσαν γὰρ πάντες προσδοκῶντες αὐτόν. 41 καὶ ἰδοὺ ἦλθεν ἀνὴρ ᾧ ὄνομα Ἰάϊρος, καὶ οὗτος ἄρχων τῆς συναγωγῆς ὑπῆρχεν, καὶ πεσὼν παρὰ τοὺς πόδας τοῦ Ἰησοῦ παρεκάλει αὐτὸν εἰσελθεῖν εἰς τὸν οἶκον αὐτοῦ, 42 b ἦν γὰρ θυγάτηρ αὐτῷ μονογενὴς ἐτῶν δώδεκα ἀποθνήσκουσα. b c Ἐγένετο δὲ ἐν c τῷ ὑπάγειν αὐτὸν οἱ ὄχλοι συνέπνιγον αὐτόν. 43 καὶ γυνὴ οὖσα ἐν ῥύσει αἵματος ἀπὸ ἐτῶν δώδεκα, d ἦν οὐδὲ εἷς ἴσχυεν θεραπεῦσαι, d 44 προσελθοῦσα e [ ὄπισθεν ] ἥψατο f τοῦ κρασπέδου f τοῦ ἱματίου αὐτοῦ, καὶ παραχρῆμα ἔστη ἡ ῥύσις τοῦ αἵματος αὐτῆς. 45 g {ὁ δὲ h Ἰησοῦς γνοὺς τὴν ἐξελθοῦσαν ἐξ αὐτοῦ δύναμιν ἐπηρώτα}, g i Τίς μου ἥψατο; i ἀρνουμένων δὲ πάντων εἶπεν ὁ Πέτρος, k Διδάσκαλε, οἱ ὄχλοι συνέχουσίν σε καὶ ἀποθλίβουσιν. 46 ὁ δὲ Ἰησοῦς εἶπεν, ῞Ηψατό μού τις, l καὶ γὰρ ἔγνων δύναμιν m ἐξελθοῦσαν ἀπ’ ἐμοῦ. 47 ἰδοῦσα δὲ ἡ γυνὴ ὅτι οὐκ ἔλαθεν n ἔντρομος οὖσα n ἦλθεν καὶ προσπεσοῦσα αὐτῷ δι’ ἣν αἰτίαν ἥψατο αὐτοῦ ἀπήγγειλεν ἐνώπιον παντὸς τοῦ λαοῦ καὶ ὡς ἰάθη παραχρῆμα. 48 ὁ δὲ εἶπεν αὐτῇ, Θυγάτηρ, ἡ πίστις σου o σε σέσωκεν o · πορεύου εἰς εἰρήνην. ______________________________ 13 Vgl. K LINGHARDT , ebd. <?page no="208"?> 720 Anhang I 8,40-56 49 Ἔτι αὐτοῦ λαλοῦντος p ἔρχονται ἀπὸ τοῦbs ἀρχισυναγώγου λέγοντες p ὅτι Τέθνηκεν ἡ θυγάτηρ σου, μηκέτι σκύλλε τὸν διδάσκαλον. 50 ὁ δὲ Ἰησοῦς ἀκούσας ἀπεκρίθη αὐτῷ, Μὴ ϕοβοῦ, μόνον πίστευσον, καὶ σωθήσεται. 51 ἐλθὼν δὲ εἰς τὴν οἰκίαν οὐκ ἀϕῆκεν εἰσελθεῖν τινα σὺν αὐτῷ εἰ μὴ Πέτρον καὶ Ἰωάννην καὶ Ἰάκωβον καὶ τὸν πατέρα τῆς παιδὸς καὶ τὴν μητέρα. 52 ἔκλαιον δὲ πάντες καὶ ἐκόπτοντο αὐτήν. ὁ δὲ εἶπεν, Μὴ κλαίετε, οὐ γὰρ ἀπέθανεν ἀλλὰ καθεύδει. 53 καὶ κατεγέλων αὐτοῦ, εἰδότες ὅτι ἀπέθανεν. 54 αὐτὸς δὲ κρατήσας τῆς χειρὸς αὐτῆς ἐϕώνησεν λέγων, Ἡ παῖς, ἔγειρε. 55 καὶ ἐπέστρεψεν τὸ πνεῦμα αὐτῆς, καὶ ἀνέστη παραχρῆμα, καὶ διέταξεν αὐτῇ δοθῆναι ϕαγεῖν. 56 καὶ ἐξέστησαν οἱ γονεῖς αὐτῆς· ὁ δὲ παρήγγειλεν αὐτοῖς μηδενὶ εἰπεῖν τὸ γεγονός. A. *8,42.44-46: Epiph., Schol. 14: ἐγένετο δὲ ἐν τῷ ὑπάγειν αὐτοὺς συνέπνιγον αὐτόν οἱ ὄχλοι. καὶ γυνὴ ἀψαμένη αὐτοῦ ἰάθη τοῦ αἵματος· καὶ εἶπεν ὁ κύριος· τίς μου ἥψατο; καὶ πάλιν· ἥψατό μου τις. καὶ γὰρ ἔγνων δύναμιν ἐξελθοῦσαν ἀπ’ ἐμοῦ. ♦ *8,43-46: Tert. 4,20,7f: Ecce aliquid et de illis pusillitatibus et infirmitatibus creatoris in Christo. Ignorantiam enim et ego adscribere ei volo. Permittite mihi adversus haereticum. Tangitur a femina quae sanguine fluitabat, et nescivit a qua. (8) Quis me, inquit, tetigit? Etiam excusantibus discipulis perseverat in ignorantiae voce: Tetigit me aliquis; idque de argumento affirmat: Sensi enim virtutem ex me profectam. ♦ *8,44: Tert. 4,20,13: Haec erit fides quae contulerat etiam intellectum: Nisi credideritis, inquit, non intellegetis. Hanc fidem probans Christus eius feminae, quae solum credebat creatorem, eius fidei se deum respondit quam probavit. Nec illud omittam, quod dum tangitur vestimentum eius, utique corpori non phantasmati inditum, corpus quoque demonstrabatur; non quasi iam de hoc retractemus, sed quia ad praesentem conspirat quaestionem. ♦ *8,48: Tert. 4,20,9: At enim, si fidem mulieris invenimus ita meruisse, cum dicit, Fides tua te salvam fecit, quis es, ut aemulationem legis interpreteris in isto facto, quod ipse dominus ex fidei remuneratione editum ostendit? B. a (8,40) εγενετο δε εν: א * .c A C D W Θ Ψ 0279 f 13 latt sy h M ¦ εν δε: P 75 א 2 B L f 1 33 579 700* 2542 pc sy s.c.p sa (*Ev non test.) ● b (8,42a) ην γαρ θυγατηρ αυτω μονογενης ετων δωδεκα αποθνησκουσα: D d ¦ οτι θυγατηρ μονογενης ην αυτω ως ετων δωδεκα και αυτη απεθνησκεν: a aur b c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● c (8,42b) εγενετο δε εν: Epiph (και εγενετο εν: 343 716 1229 2487) ¦ εν δε it M ● d (8,43) ην ουδε εις ισχυεν θεραπευσαι: D d ¦ ουκ ισχυσεν απ ουδενος θεραπευθηναι: sy s sa ¦ ητις ουκ ισχυσεν απ ουδενος θεραπευθηναι: P 75 B 0279 ¦ ητις ιατροις προσαναλωσασα ολον τον βιον ουκ ισχυσεν απ ουδενος θεραπευθηναι: a aur b c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● e (8,44) οπισθεν/ retro: om D d Ψ 115 209* 1071 ¦ add a aur b c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● f (8,44) του κρασπεδου: om Tert D a d ſſ 2 l r 1 ¦ add (fimbriam [fimbrea: q]) aur c f q vg M (*Ev non test.) ● g (8,45) ο δε Ιησους γνους την εξελθουσαν εξ αυτου δυναμιν επηρωτα/ Iesus autem sciens quae exivit ab eo virtus interrogabat: D a (… quod exierit … dixit) d ¦ και ειπεν ο ιησους/ et ait Iesus: (Epiph) aur b c f ſſ 2 l q r 1 M ● h (8,45) Ιησους: it M ¦ κυριος: Epiph (! ) ℓ253 ℓ859 ● i (8,45b) τις μου ηψατο/ quis me tetigit: Tert Epiph D a aur c d q ¦ quis est qui tetigit me: b f ſſ 2 l q r 1 ¦ τις ο αψαμενος μου: M ● k (8,45) διδασκαλε/ magister: 157 a d (! ) r 1 ¦ επιστατα: D (! ) aur b c d e f ſſ 2 l q M ● l (8,46) και: Epiph ¦ εγω: it M ● m (8,46) εξελθουσαν: Epiph A C D W Θ Ξ Ψ f 1.13 M ¦ εξεληλυθυιαν: P 75 א B L 0291 33 579 892 pc ● n (8,47) εντρομος ουσα: D (b: timens) d ¦ τρεμουσα: a aur c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● o (8,48) σε σεσωκεν/ te salvam fecit: Tert a aur b c d e f ſſ 2 l q r 1 vg ¦ (2 1): σεσωκεν σε M ● p (8,49) ερχονται απο του αρχισυναγωγου λεγοντες: D <?page no="209"?> 8,40-56 Rekonstruktion 721 (c: dicentes) d sy s.c ¦ ερχεται τις παρα του αρχισυναγωγου λεγων: a aur b f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.). C. Die Bezeugung der gesamten Perikope ist sehr uneinheitlich: Die Erzählung von der Heilung der blutflüssigen Frau (*8,42b-48) ist vielfältig angesprochen und gut bezeugt. Sie war sicher in *Ev enthalten, auch wenn die genaue Gestalt unklar bleibt (dazu gleich). Dagegen übergehen alle Zeugen die Erzählung von der Auferweckung der Tochter des Jairus (8,40-42a.49-56) mit Stillschweigen. Dies ist deswegen auffällig, weil Tertullian erstens im gesamten Kontext sehr dicht referiert und beinahe von Vers zu Vers weitergeht, und weil ihm dieser Erweckungsbericht zweitens eine ganze Reihe von Anknüpfungspunkten für seine antimarcionitische Argumentation hätte bieten können, z. B. die sehr dinglichen Aspekte der Heilung (Berührung/ Ergreifen der Hand; Aufforderung, dem Mädchen zu essen zu geben usw.). Das eigentliche Problem für die Rekonstruktion besteht daher in der Frage, ob 8,40-42a. 49-56 in *Ev enthalten waren oder nicht. 1. Die Heilung der blutflüssigen Frau *8,42b-48 ist durch Tertullian und Epiphanius gesichert, aber die genaue Gestalt dieser Perikope ist fraglich. Wenn Epiphanius’ Notiz (Schol. 14) ein genaues Zitat aus *Ev darstellt (was sein sonstiges Verfahren durchaus nahelegen würde), dann sind die Unterschiede zum kanonischen Text als Folge der lk Redaktion zu verstehen. Diese Unterschiede umfassen (a) den Hinweis auf die zwölfjährige Dauer der Krankheit und die vergeblichen Bemühungen um Heilung in *8,43b, (b) den Hinweis auf die Berührung des Gewandes Jesu in *8,44, (c) die Antwort der Jünger auf die Frage Jesu, wer ihn berührt habe in *8,45 sowie (d) der Schluss der Erzählung in *8,47f. Dabei ist die Nichtbezeugung von *8,47f am wenigsten problematisch, weil Epiphanius das Ende der von ihm behandelten Passagen häufig nicht mitteilt oder genauer bezeichnet. Ähnliches gilt für 8,44 als narratives Gegenstück, denn in irgendeiner Weise muss die Handlung der Frau ja erzählt worden sein. Etwas schwieriger liegen die beiden anderen Fälle: Für die zwölfjährige Dauer der Krankheit ist natürlich im jetzigen Kontext auf die Entsprechung in der Altersangabe der Jairus-Tochter zu verweisen: Die lk Komposition der beiden ineinander verwobenen Erzählungen 8,40-56 hebt die Entsprechung zwischen dem Alter der Jairus-Tochter und der Krankheit der Frau besonders deutlich hervor und bezieht das Stichwort δώδεκα ἔτη in zwei aufeinander folgenden Versen (8,42f) erkennbar eng aufeinander. Auf andere Weise, nämlich mit betontem Achtergewicht, hat Mk 5,42 das Alter des Mädchens am Ende der ganzen Perikope herausgestellt. Der Umstand, dass Mt das Alter des Mädchens weder in 9,18 || Lk 8,42 noch in 9,25 || Mk 5,42 erwähnt, geht vermutlich auf die mt Kürzung der mk Fassung zurück und erlaubt keine Schlussfolgerungen für die ursprüngliche Fassung. <?page no="210"?> 722 Anhang I 8,40-56 Angesichts dieses Befundes liegt es nahe, dass bereits *Ev die zwölfjährige Dauer der Krankheit (und die vergeblichen Heilungsbemühungen) erwähnt hatte; sie hätte dann Mk zur entsprechenden Betonung des Alters des Kindes veranlaßt, die in Lk an anderer Stelle auftaucht (welche der beiden Fassungen Anspruch auf Ursprünglichkeit besitzt, lässt sich nicht ausmachen). In diesem Fall wäre Epiphanius’ Referenz kein Zitat, sondern eine Zusammenfassung. Dies ist zumindest für seine Wiedergabe von *8,45 wahrscheinlich, denn die von ihm übergangene Antwort der Jünger ist durch Tertullian gesichert (excusantibus discipulis). Die relative Ungenauigkeit von Epiphanius’ *Ev-Referat wird schließlich noch dadurch nahegelegt, dass er für *8,45 ein absolutes ὁ κύριος in der Erzählstimme bezeugt. 1 Wie oben gezeigt wurde, 2 gehört dieser Sprachgebrauch zu den charakteristischen Eigentümlichkeiten der lk Redaktion. Von daher ist es wenig wahrscheinlich, dass *Ev das auktoriale ὁ κύριος an dieser Stelle enthalten haben sollte, das dann - der ansonsten zu beobachtenden redaktionellen Praxis entgegen - von Lk in ὁ Ἰησοῦς umgewandelt sein sollte. 3 Von daher lassen sich die von Epiphanius nicht bezeugten Passagen nicht als Hinweise auf *Ev verstehen. 2. Dass Epiphanius trotz seiner freien Zusammenfassung *Ev vor sich hatte, zeigt allerdings die Wiedergabe der Frage Jesu in *8,45b: Tertullian und Epiphanius referieren den Wortlaut einheitlich, aber abweichend von der kanonischen Formulierung der Mehrheit der Handschriften: Tertullians quis me tetigit entspricht nicht nur Epiphanius’ τίς μου ἥψατο (Schol. 14) und der Formulierung in Mk 5,30 (τίς μου ἥψατο [τῶν ἱματίων]), sondern auch einigen »Westlichen« Zeugen (D a aur c d q), wogegen der Mehrheitstext τίς ὁ ἁψάμενός μου bietet. In diesem Fall ist es wahrscheinlich, dass die lk Redaktion die finite Verbform in *Ev, die auch Mk übernommen hat, durch das Partizip ersetzte: Die Bezeugung bei Tertullian und Epiphanius ist über jeden Zweifel erhaben, es handelt sich um eines der wenigen »explicit correlated readings.« 4 3. Ausgesprochen schwierig ist die Rekonstruktion von *8,45a. Von Tertullian liegt keine Bezeugung vor, aber Epiphanius hat hier ganz offensichtlich die kanonische Formulierung καὶ εἶπεν ὁ Ἰησοῦς gelesen, auch wenn er selbständig ὁ Ἰησοῦς durch ὁ κύριος ersetzt hat (s. o.). Auffällig ist jedoch, dass D a d hier in Entsprechung zu Mk 5,30 die Formulierung bieten: ὁ δὲ Ἰησοῦς γνοὺς τὴν ἐξελθοῦσαν ἐξ αὐτοῦ δύναμιν ἐπηρώτα. Dass Jesus sich der von ihm ausgegangenen Kraft bewusst ______________________________ 1 Epiphanius, Schol. 14: … καὶ εἶπεν ὁ κ ύ ρ ι ο ς · τίς μου ἥψατο; καὶ πάλιν· ἥψατό μου τις. 2 S. dazu o. § 5 (Bd. I, S. 93ff). 3 Dass ὁ κύριος/ dominus auch in zwei Lektionarhandschriften auftaucht (ℓ253 ℓ859), ist dem liturgischen Sprachgebrauch geschuldet und kann nicht für die Ursprünglichkeit dieser Lesart in Anspruch genommen werden. 4 D. S. W ILLIAMS , Reconsidering Marcion’s Gospel, JBL 108 (1989), 477-496: 483. <?page no="211"?> 8,40-56 Rekonstruktion 723 war, wird im kanonischen Text in direkter Rede in der Wiederholung der Frage 8,46 gesagt (ἐγὼ γὰρ ἔγνων δύναμιν ἐξεληλυθυῖαν ἀπ’ ἐμοῦ). Diese Begründung der wiederholten Frage fand sich auch schon in *Ev: Dies wird durch die übereinstimmende Bezeugung sichergestellt. 5 Dabei ist der für *Ev bezeugte Aorist ἐξελθοῦσαν (anstelle des Perfekts ἐξεληλυθυῖαν) noch in einem großen Teil der Handschriftenüberlieferung erhalten. Es spricht alles dafür, dass diese unschöne Doppelung bereits in *Ev vorhanden war, aber in der weiteren Überlieferungsgeschichte getilgt wurde: Mk hat offensichtlich die Wiederholung in der Frage Jesu gestrichen (5,30 fin.: ἔλεγεν, Τίς μου ἥψατο τῶν ἱματίων), sie aber in der Einleitung des Erzählers beibehalten (Mk 5,30a: καὶ εὐθὺς ὁ Ἰησοῦς ἐπιγνοὺς ἐν ἑαυτῷ τὴν ἐξ αὐτοῦ δύναμιν ἐξελθοῦσαν …). Lk hat die Bemerkung dagegen nur in der direkten Rede Jesu beibehalten, sie aber in der Einleitung der Frage gestrichen. Die Doppelung, die für den vorkanonischen Text anzunehmen ist, wird noch durch die Handschriften D a d bezeugt, die den vorkanonischen Text an dieser Stelle nicht nach dem kanonischen korrigiert haben. 4. Mit diesen Bemerkungen ist die Frage nach 8,40-42a.49-56 noch nicht beantwortet. Da eine direkte Bezeugung fehlt, ist das Urteil auf innere Gründe angewiesen. a. Für das Fehlen der Erzählung von der Auferweckung der Tochter des Jairus scheint, wie angedeutet, zunächst das ansonsten sehr dichte Referat Tertullians zu sprechen, der im nächsten Kontext fast von Vers zu Vers voranschreitet, aber 8,40- 42a.49-56 nicht erwähnt. Auch müssten die dinglichen Elemente, welche die Körperlichkeit Jesu unter Beweis stellen, seiner Argumentation entgegen gekommen sein. Dies spricht dagegen, dass Tertullian diese Möglichkeit unkommentiert gelassen hat. Allerdings könnte genau dieser Aspekt dafür verantwortlich sein, dass Tertullian die Perikope übergeht. Denn für die Diskussion der Körperlichkeit Jesu bot ihm die Erzählung von der Heilung der blutflüssigen Frau viel überzeugendere Ansatzpunkte. Allerdings kommt Tertullian erst ganz am Ende seiner längeren Diskussion auf dieses Problem zu sprechen: »Auch dies soll nicht unerwähnt sein, dass, wenn sein Gewand berührt wird, auch sein Körper bewiesen ist, denn ein Gewand wird einem Körper, nicht einem Phantasma angezogen.« Denn wie hätte ein Phantasma, das ja eine res vacua ist, befleckt werden können? (4,20,13f). Der eigentliche Ansatzpunkt seiner Diskussion von *8,42b-48 ist - in direktem Anschluss an *8,26-39 - die scheinbare ignorantia Jesu (4,20,7): Dass Jesus fragen muss, wer ihn berührt habe, scheint ein Hinweis auf seine Unvollkommenheit und zumindest auf einen Mangel seiner Allwissenheit zu sein. Tertullian kontrastiert dies mit dem Vermögen der Dämonen, die wahre Identität Jesu zu erkennen (*8,28). Am Ende gilt: Alle wissen, wer Jesus ist, und Jesus selbst fragt (*8,45) nicht aus Unwissenheit, sondern um der Frau »das Bekenntnis zu ermöglichen und um ______________________________ 5 Epiph., Schol. 14: καὶ γὰρ ἔγνων δύναμιν ἐξελθοῦσαν ἀπ’ ἐμοῦ. - Tert. 4,20,8: sensi enim virtutem ex me profectam. <?page no="212"?> 724 Anhang I 8,40-56 ihre Furcht unter Beweis zu stellen« - genauso, wie Gott einstmals - quasi ignorans - nach Adam gesucht habe: Adam ubi es? (4,20,8). Die Aspekte der Körperlichkeit Jesu standen für Tertullian also gar nicht im Zentrum seiner Argumentation, ein Argument für die Nichterwähnung von 8,40- 42a.49-56 lässt sich aus der Argumentationsstruktur nicht ableiten. b. Auf der anderen Seite lassen sich indirekte Hinweise auf das Vorhandensein der Erzählung von der Jairustochter finden. Zwei Beobachtungen sind methodisch von Bedeutung. Die erste betrifft die Bezeugung des (kanonischen) Textes in den typisch »Westlichen« Handschriften: In vielen Fällen sind die »Westlichen« Lesarten Hinweise auf den vorkanonischen Text, der nicht immer konsequent nach dem kanonischen Text korrigiert wurde. Zwei Beispiele für dieses Phänomen wurden gerade für die Rekonstruktion von *8,45 herangezogen. 6 In dieser Hinsicht sind drei abweichende Lesarten von Bedeutung: *8,40 εγενετο δε εν: א * .c A C D W Θ Ψ 0279 f 13 latt sy h M ¦ εν δε: P 75 א 2 B L f 1 33 579 700* 2542 pc sy s.c.p sa. Wegen der sehr uneinheitlichen Bezeugung ist dieses Beispiel nicht sehr aussagekräftig. Aber die gleiche Änderung (ἐγένετο δὲ ἐν anstelle von ἐν δέ) liegt auch in *8,42 vor, und hier ist sie auch durch Epiphanius bezeugt. *8,42a ην γαρ θυγατηρ αυτω μονογενης ετων δωδεκα αποθνησκουσα: D d ¦ οτι θυγατηρ μονογενης ην αυτω ως ετων δωδεκα και αυτη απεθνησκεν: a aur b c f ſſ 2 l q r 1 M . Die eigenartige Wortstellung in D d ist die lectio difficilior, die als Hinweis auf den ursprünglichen Text verstanden werden kann. *8,49 ερχονται απο του αρχισυναγωγου λεγοντες: D (c: dicentes) d sy s.c ¦ ερχεται τις παρα του αρχισυναγωγου λεγων: a aur b f ſſ 2 l q r 1 M . Auch Mk 5,35 bietet dieselbe Lesart wie D c d sy (ἔρχονται ἀπὸ τοῦ ἀρχισυναγώγου λέγοντες). Dieses Phänomen ist mehrfach aufgefallen: Mk übernimmt eine Formulierung aus *Ev, die noch in typisch »Westlichen« Lk-Handschriften erhalten ist, während die Mehrheit der handschriftlichen Überlieferung in Lk eine (geringfügig veränderte) Formulierung aufweist. Vor allem das letzte Beispiel bietet ein deutliches Indiz dafür, dass es für die ansonsten unbezeugte Perikope von der Auferweckung der Jairustochter einen vorkanonischen Text gegeben hat. Der zweite, wichtige Hinweis auf einen möglicherweise vorkanonischen Text sind die (mt-lk) »Minor Agreements«, die sehr häufig (wenn auch nicht durchgängig) auf mk Änderungen an *Ev zurückgehen, dem Mt und Lk wiederum gemeinsam folgen. Unter diesem Gesichtspunkt sind folgende »Agreements« 7 (der gesamten Perikope 8,40-56) interessant. ______________________________ 6 Vgl. *8,45a (D a d) ὁ δὲ Ἰησοῦς γνοὺς τὴν ἐξελθοῦσαν ἐξ αὐτοῦ δύναμιν ἐπηρώτα gegenüber dem kanonischen καὶ εἶπεν ὁ Ἰησοῦς. Die »Westliche« Lesart τίς μου ἥψατο *8,45b (D a aur c d q) ist durch Tertullian und Epiphanius für *Ev gesichert. 7 Vgl. A. F UCHS , Schrittweises Wachstum. Zur Entwicklung der Perikope Mk 5,21-43 par Mt 9,18-26 par Lk 8,40-56, in: ders., Studien zu Deuteromarkus II, Münster 2004, 115-170: 121f. <?page no="213"?> 8,40-56 Rekonstruktion 725 1. ἰδού Lk 8,41 || Mt 9,18 ÷ Mk 5,22. 2. Aor. ἦλθεν Lk 8,41 || ἐλθὼν (προσεκύνει) Mt 9,18 ≠ Praes. ἔρχεται Mk 5,22. 3. Impf. (πεσὼν …) παρεκάλει Lk 8,41 || προσεκύνει Mt 9,18 ≠ Praes. hist. πίπτει Mk 5,22, παρακαλεῖ 5,23. 4. ἄρχων τῆς συναγωγῆς Lk 8,41 || ἄρχων Mt 9,18 ≠ εἷς τῶν ἀρχισυναγώγων Mk 5,22. 5. θυγάτηρ Lk 8,42 || Mt 9,18 ≠ θυγάτριον Mk 5,23. 6. ἀπέθνῃσκεν Lk 8,42 || ἐτελεύτησεν Mt 9,18 ≠ (vulg. Formulierung) ἐσχάτως ἔχει Mk 5,23. 7. προσελθοῦσα ὄπισθεν ἥψατο τοῦ κρασπέδου τοῦ ἱματίου αὐτοῦ Lk 8,44 || Mt 9,20 ≠ ἐλθοῦσα ἐν τῷ ὄχλῳ ὄπισθεν ἥψατο τοῦ ἱματίου αὐτοῦ Mk 5,27. 8. ἐλθὼν … εἰς τὴν οἰκίαν Lk 8,51 || Mt 9,23 ≠ καὶ ἔρχονται εἰς τὸν οἶκον Mk 5,38. 9. εἶπεν Lk 8,52 || ἔλεγεν Mt 9,24 ≠ λέγει αὐτοῖς Mk 5,39. 10. (Imperativ) μὴ κλαίετε 8,52 || ἀναχωρεῖτε Mt 9,24 ≠ (Frage) τί θορυβεῖσθε καὶ κλαίετε; Mk 5,39. 11. οὐ γὰρ ἀπέθανεν Lk 8,52 || Mt 9,24 ≠ οὐκ ἀπέθανεν Mk 5,39. 12. τῆς χειρὸς αὐτῆς Lk 8,54 || Mt 9,25 ≠ τῆς χειρὸς τοῦ παιδίου Mk 5,41. Die Häufung der »Minor Agreements« gerade in der Perikope von der Tochter des Jairus kann kein Zufall sein. Da Mt die gesamte Perikope bearbeitet und stark gekürzt hat, ist es ausgesprochen unwahrscheinlich, dass Lk, dessen Text sehr viel näher mit Mk zusammengeht als mit Mt, in all diesen Fällen von Mt abhängig ist. Diese Agreements sind folglich ein starkes Argument dafür, dass Mt und Lk auf denselben, aber nicht-mk Text zurückgehen. Wie sonst auch, ist dieser Text nicht »Deuteromarkus«, sondern *Ev. 5. Mit diesen Überlegungen lässt sich das Urteil über *8,40-56 mit großer Wahrscheinlichkeit fällen: Obwohl Epiphanius *8,42b-48 nur teilweise bezeugt und in seiner Zusammenfassung auch Formulierungen verwendet, die er weder in *Ev noch im kanonischen Text gelesen haben kann, ist es sehr wahrscheinlich, dass *8,42b-48 in *Ev enthalten waren. Auch die nicht direkt bezeugte Perikope von der Auferweckung der Jairustochter war mit großer Wahrscheinlichkeit bereits Teil von *Ev. In diesem Fall ginge die »Sandwich«-Anordnung (*8,40-42a.42b-48. 49-56 || Mk 5,21-24.25-34.35-43) bereits auf *Ev und nicht erst auf Mk zurück. Für die genauen Formulierungen sind nicht nur die (spärlichen) Bezeugungen Tertullians und Epiphanius’ ausschlaggebend, sondern auch die teilweise stark vom kanonischen Text abweichenden »Westlichen« Handschriften, die wiederholt Spuren des vorkanonischen Textes aufweisen. An *8,40-56 lässt sich die Bedeutung der Textgeschichte für die Überlieferungsgeschichte der Evangelien sehr gut nachvollziehen. Über den zahlreichen Einzelheiten sollte eine grundlegende Beobachtung nicht in den Hintergrund geraten: In Anbetracht des Gewichts, das Tertullian und die anderen Häresiologen in ihrer antimarcionitischen Argumentation auf die körperliche Realität der Existenz Jesu legen, muss *8,42b-48 zu denjenigen Texten gerechnet werden, für die unter der Perspektive der Lk-Priorität eine »Streichung aus <?page no="214"?> 726 Anhang I 8,40-56 dogmatischen Gründen« nahe gelegen hätte; tatsächlich erwähnt Tertullian diesen Aspekt (4,20,13f; s. o.), auch wenn seine Argumentation nicht darauf aufbaut. Dass diese Perikope zweifellos in *Ev enthalten war, zeigt einmal mehr, dass für die angenommene »marcionitische Überarbeitung« kein nachvollziehbares redaktionelles Konzept erkennbar ist. Es überrascht dann auch nicht, dass die Vertreter der Lk- Priorität die Bezeugung von *8,42b-48 für *Ev i. W. zutreffend verzeichnen, aber nicht zu erkennen scheinen, wie sehr dieser Text ihrer Grundannahme zuwiderläuft. 8 Die sichere Bezeugung dieser Perikope ist ein weiteres Indiz für die *Ev-Priorität. *9,1-6: Aussendung der Zwölf Gut bezeugt und sicher in *Ev vorhanden, aber mit großer Wahrscheinlichkeit durch Lk bearbeitet. 9,1 Συγκαλεσάμενος δὲ τοὺς δώδεκα a μαθητὰς αὐτοὺς a ἔδωκεν αὐτοῖς δύναμιν καὶ ἐξουσίαν ἐπὶ πάντα τὰ δαιμόνια b [ καὶ νόσους θεραπεύειν ] b , 2 καὶ ἀπέστειλεν c τοὺς μαθητὰς c κηρύσσειν τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ d καὶ ἰᾶσθαι d e τοὺς ἀσθενεῖς e , 3 καὶ εἶπεν πρὸς αὐτούς, Μηδὲν αἴρετε εἰς τὴν ὁδόν, μήτε ῥάβδον μήτε πήραν μήτε ἄρτον μήτε ἀργύριον, μήτε ἀνὰ δύο χιτῶνας ἔχειν. 4 καὶ εἰς ἣν ἂν οἰκίαν εἰσέλθητε, ἐκεῖ μένετε καὶ ἐκεῖθεν ἐξέρχεσθε. 5 καὶ ὅσοι ἂν μὴ δέχωνται ὑμᾶς, ἐξερχόμενοι ἀπὸ τῆς πόλεως ἐκείνης τὸν κονιορτὸν ἀπὸ τῶν ποδῶν ὑμῶν ἀποτινάσσετε εἰς μαρτύριον ἐπ’ αὐτούς. 6 ἐξερχόμενοι δὲ διήρχοντο f κατὰ πόλεις καὶ κώμας f εὐαγγελιζόμενοι g [ καὶ θεραπεύοντες ] g πανταχοῦ. A. *9,1f: Adam. 2,12 (828e): συγκαλεσάμενος δὲ ὁ Ἰησοῦς τοὺς δώδεκα ἔδωκεν αὐτοῖς δύναμιν καὶ ἐξουσίαν ἐπὶ πάντα τὰ δαιμόνια καὶ νόσους θεραπεύειν, καὶ ἀπέστειλεν αὐτοὺς κηρύσσειν τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ καὶ ἰᾶσθαι. ♦ *9,2f.5: Tert. 4,21,1: Dimittit discipulos ad praedicandum dei regnum. Numquid vel hic edidit cuius? Prohibet eos victui aut vestitui quid in viam ferre. Quis hoc mandasset, nisi qui et corvos alit et flores agri vestit, qui bovi quoque terenti libertatem oris ad veniam pabuli ex opere summovendi ante praecepit, quia dignus operarius mercede sua? Haec Marcion deleat, dum sensui salva sint. At cum iubet pulverem excutere de pedibus in eos a quibus excepti non fuissent, et hoc in testimonium mandat fieri. ¦ Tert. 4,24,1f: nec virgam discipulis in viam ferre praescripsit (zu *10,4 und μήτε ῥάβδον vgl. dort). ♦ *9,6: Adam. 2,12 (829a): ἐξερχόμενοι δὲ διήρχοντο κατὰ πόλεις καὶ κώμας εὐαγγελιζόμενοι καὶ θεραπεύοντες πανταχοῦ. B. a (9,1) μαθητας αυτους: C 3 1010 al b ſſ 2 l q r 1 Euseb (Frgm. Luc.; PG 24, 544) ¦ αποστολους: א C* L Θ Ψ Ξ 0202 f 13 33 892 1241 1424 pc a aur c e f sy h bo ¦ om Adam P 75 A B D R W f 1 d sy s.c.p sa M ● b (9,1) και νοσους θεραπευειν: om 2524 ¦ θεραπευειν: Tat arab bo mss ¦ και νοσους θεραπευειν: add Adam it M ● c (9,2) τους μαθητας/ discipulos: Tert ¦ αυτους/ illos/ eos: it M ● d (9,2) και ιασθαι: om Tert ¦ add it M ● e (9,2) τους ασθενεις: om Tert Adam B sy s.c ¦ add it M ● f (9,6) κατα πολεις ______________________________ 8 H ARNACK 199*; T SUTSUI 89. <?page no="215"?> 9,1-6 Rekonstruktion 727 και κωμας/ per civitates et castella: κατα πολεις και κωμας/ per civitates et castella: Adam ſſ 2 l (castella et civitates: b c g 1 q) sa ms ¦ κατα πολεις και ηρχοντο/ civitates transibant: D d ¦ κατα τας κωμας/ per castella: aur e f r 1 vg M ● g (9,6) και θεραπευοντες: om 1319 q r 1 ¦ add Adam it M . C. Alle Teile dieser Perikope sind gut bezeugt, Anfang und Ende tauchen in fast wörtlichen Zitaten bei Adamantius auf, dessen Zeugnis allein allerdings nur bedingt beweiskräftig ist. Im Einzelnen sind folgende Beobachtungen wichtig: 1. Während Tertullian in seinem Referat von *9,2 die Jünger (discipulos/ τοὺς μαθητάς) als Adressaten der Aussendung erwähnt, verweist das Pronomen bei Adamantius auf τοὺς δώδεκα *9,1. Der Unterschied ist semantisch marginal, zumal *6,12-16 die Auswahl »der Zwölf« sicherstellt (s. dort). Die Überlieferung des kanonischen Textes ist an dieser Stelle sehr uneinheitlich: Neben dem absoluten, auch durch Adam. bezeugten τοὺς δώδεκα finden sich das von einigen Altlateinern und anderen bezeugte τοὺς δώδεκα μαθητὰς αὐτοῦ sowie das von zahlreichen Zeugen vertretene τοὺς δώδεκα ἀποστόλους. Angesichts dieses Befundes ist eine Entscheidung schwierig. Da auch Mt 10,1 τοὺς δώδεκα μαθητὰς αὐτοῦ liest, 1 könnte dies die vorkanonische Lesart sein. In diesem Fall hätte die lk Redaktion in 9,1 das semantisch verzichtbare μαθητάς gestrichen: Dies ist der Text, den auch Adamantius bezeugt. Tertullian dagegen hätte in seinem Referat von *9,2 mit discipulos/ τοὺς μαθητάς das entsprechende Stichwort aus *9,1 aufgegriffen. Allerdings ist ohne eine direkte Bezeugung ein hinreichend sicheres Urteil nicht möglich. 2. Schwierig ist auch der genaue Inhalt der Bevollmächtigung der Zwölf (*9,1) bzw. des Sendungsauftrags (*9,2). Der kanonische Text nennt jeweils zwei Glieder: Bevollmächtigung über die Dämonen und zur Heilung von Krankheiten (9,1) bzw. Verkündigung der Basileia und Heilen (9,2). Auffälligerweise ist jeweils das zweite Glied schwach bezeugt: Tertullians Referat setzt einen Text von *9,2 ohne ἰᾶσθαι τοὺς ἀσθενεῖς voraus, während Adamantius mit einer Reihe kanonischer Handschriften zwar ἰᾶσθαι, nicht aber das Objekt τοὺς ἀσθενεῖς bezeugt. Die auch von Adam. bezeugte Entsprechung in der Bevollmächtigungsnotiz (καὶ νόσους θεραπεύειν) fehlt dagegen in einer Minuskel (2524). Darüber hinaus ist aber auch eine mittlere Form bezeugt, die nur das Verb θεραπεύειν, aber kein Objekt enthält (Tat arab bo mss ). Die Sachlage ist noch komplizierter, weil die abschließende Notiz über die Ausführung des Auftrags in 9,6 ebenfalls uneinheitlich überliefert ist: In zwei Altlateinern und einer Minuskel (1319 q r 1 ) fehlt der Hinweis auf die Heilung (καὶ θεραπεύοντες); hier ist nur davon die Rede, dass die Ausgesandten »überall frohbotschafteten« (εὐαγγελιζόμενοι πανταχοῦ). Damit fehlt an allen drei Stellen (9,1.2.6) der Hinweis auf die Heilungstätigkeit der Zwölf jeweils in einem Teil der handschriftlichen Überlieferung. Auch wenn es sich dabei jeweils nur um wenige ______________________________ 1 Vgl. auch Mk 6,7 (D f 1 565 pc ſſ 2 sy s ). <?page no="216"?> 728 Anhang I 9,1-6 und teilweise späte Zeugen handelt, ist dieser Befund, der Tertullians Referat von *9,2 entspricht, ernst zu nehmen: Die Häufung und Konsistenz der Varianten gibt zu denken, zumal es jeweils leichter vorstellbar ist, dass das Glied »Heilung« ergänzt wurde als dass es ausgelassen wurde. Die Annahme, dass die Elemente καὶ νόσους θεραπεύειν (Lk 9,1), καὶ ἰᾶσθαι τοὺς ἀσθενεῖς (Lk 9,2) und καὶ θεραπεύοντες (Lk 9,6) ursprünglich nicht Teil des vorkanonischen Textes waren, lässt sich aufgrund überlieferungsgeschichtlicher Überlegungen weiter erhärten (s. gleich). 3. Für *9,6 bezeugt Adamantius anstelle des kanonischen κατὰ τὰς κώμας die längere Wendung κατὰ πόλεις καὶ κώμας. Die für *Ev bezeugte zweigliedrige Wendung ist auch in einigen Altlateinern (b c g 1 ſſ 2 l q) 2 belegt, die ja häufig die Spuren der Interferenz von kanonischer und vorkanonischer Textüberlieferung enthalten. Die längere Wendung wird daher dem vorkanonischen Wortlaut entsprechen. Die redaktionelle Intention, die hinter der Verkürzung der Wendung steht, ist allerdings kaum nachvollziehbar. 4. Ein besonderes Problem stellt die »Ausrüstungsanweisung« in *9,3 dar. Tertullian fasst sie mit den Stichworten victui aut vestitui quid erkennbar zusammen: Auf dieser Basis ist eine genaue Rekonstruktion des Wortlauts nicht möglich. Der kanonische Text enthält an dieser Stelle eine Liste mit fünf verbotenen Ausrüstungsgegenständen, durch welche die generelle Anweisung, nichts mit auf den Weg zu nehmen, spezifiziert wird: Stock (ῥάβδος), Tasche (πήρας), Brot (ἄρτος), Geld (ἀργύριον) sowie zwei Hemden (δύο χιτῶνες). Im synoptischen Vergleich werden Bearbeitungsrichtung und -intention im Verlauf der Überlieferungsgeschichte deutlich. ______________________________ 2 So auch in sa ms . In D d ist zwar - wie in der kanonischen Textüberlieferung - nur eine eingliedrige Wendung bezeugt, doch sie enthält wie der für *Ev bezeugte Text das Stichwort πολεις/ civitates anstelle von κωμας/ castella. <?page no="217"?> 9,1-6 Rekonstruktion 729 Lk 9,3 Mk 6,8f Mt 10,9f καὶ εἶπεν πρὸς αὐτούς, Μηδὲν αἴρετε εἰς τὴν ὁδόν, καὶ παρήγγειλεν αὐτοῖς ἵνα μηδὲν αἴρωσιν εἰς ὁδὸν (8: δωρεὰν ἐλάβετε, δωρεὰν δότε) μήτε ῥάβδον εἰ μὴ ῥάβδον μόνον, Μὴ κτήσησθε χρυσὸν μηδὲ ἄργυρον μηδὲ χαλκὸν εἰς τὰς ζώνας ὑμῶν, μήτε πήραν μὴ ἄρτον, 10 μὴ πήραν εἰς ὁδὸν μήτε ἄρτον μὴ πήραν, καὶ μὴ ἐνδύσησθε μηδὲ δύο χιτῶνας δύο χιτῶνας μήτε ἀργύριον, μὴ εἰς τὴν ζώνην χαλκόν, 9 ἀλλὰ ὑποδεδεμένους σανδάλια μηδὲ ὑποδήματα μήτε ἀνὰ δύο χιτῶνας ἔχειν καὶ μὴ ἐνδύσησθε δύο χιτῶνας μηδὲ ῥάβδον a. Die Einleitungen Lk 9,3 || Mk 6,8 entsprechen sich (wenn auch nicht exakt); Mt 10,8 hat an dieser Stelle die Sentenz »Umsonst habt ihr empfangen, umsonst gebt! «, die einerseits als Einleitung zu der Liste der untersagten Ausrüstungsgegenstände in 10,9f dient, andererseits aber die Bevollmächtigung der Jünger (zu Exorzismus und Heilung) und den daraus resultierenden Auftrag (Basileia verkündigen, Kranke heilen, Tote erwecken, Aussätzige reinigen, Dämonen austreiben) sehr sinnvoll abschließt: Das, was die Apostel »haben«, ist die Vollmacht, und deshalb können sie die konkreten Ausrüstungsgegenstände entbehren. Da dieser Zusammenhang zweifellos auf mt Redaktion zurückgeht, 3 liegt die vorkanonische Einleitung vermutlich in Mk/ Lk vor. b. Ähnliches gilt für die Voranstellung (und dreifache Gliederung) des Verbots von Gold, Silber und Kupfer(-münzen) in Mt 10,9, die gelegentlich im AT erwähnt ist: Die Einleitung mit dem Prohibitiv μὴ κτήσησθε schließt direkt an das vorangehende δωρεὰν δότε an; gemeint ist nicht das Verbot von Besitz im Allgemeinen, sondern der »Erwerb« von Geld als Gegenleistung für die Verkündigung usw. Tatsächlich passt die weitere Liste bei Mt nicht zu der hier vorausgesetzten Vorstellung einer »Bezahlung« der missionarischen Aktivitäten. Aus diesem Grund wird dann die ursprüngliche Liste mit dem Stock als dem wesentlichen Ausrüstungsgegenstand von Wanderern eingeleitet gewesen sein, der jetzt in der mt Fassung am Ende steht. c. Über die weitere Reihenfolge der Gegenstände lässt sich nichts Verlässliches sagen, wohl aber über die beiden ausdrücklichen Konzessionen (Stock und Schuhe) ______________________________ 3 Vgl. L UZ , Mt II 88 und z. St.: 10,7f ist von Mt selbst formuliert. <?page no="218"?> 730 Anhang I 9,1-6 der mk Liste. Während Lk und Mt den Stock verbieten, soll er nach Mk 6,8 ausdrücklich Bestandteil der Ausrüstung sein. In positiver Formulierung nimmt Mk 6,9 auch das Verbot von Schuhen aus (ἀλλὰ ὑποδεδεμένους σανδάλια), das sich zwar nicht in der Liste *9,3 findet, wohl aber in *10,4 || Mt 10,10. Die mk Bestimmungen zu Stock und Schuhen sind als erleichternde Konzessionen der Regel zu verstehen und daher gegenüber den entsprechenden Verboten sekundär. Mk fand also auch schon das Verbot von Schuhen in *Ev vor: In *10,4. Dazu passt die Aufforderung in *9,5 || Mt 10,14, dass die Boten bei Nichtaufnahme den Staub nicht von den Schuhen, sondern ἀπὸ τῶν ποδῶν ὑμῶν schütteln sollen; Mk 6,11 hat hier die etwas weniger direkte Formulierung vom »Staub unter euren Füßen« (τὸν χοῦν τὸν ὑποκάτω τῶν ποδῶν ὑμῶν), der besser zu der Annahme passt, dass die Boten Schuhe trugen. 5. *9,4 ist nicht bezeugt, aber aufgrund der Entsprechung zu *9,5 äußerst wahrscheinlich. *9,6 ist durch Adamantius bezeugt. Dass dessen Text von *Ev durch die kanonische Textüberlieferung kontaminiert ist und dass die Worte καὶ θεραπεύοντες wahrscheinlich im vorkanonischen Text nicht enthalten waren, ist oben begründet. 6. Dass *9,1-6 im Kern bereits für *Ev bezeugt ist, ist in erster Linie für die Frage der Überlieferungsgeschichte von Bedeutung. Denn *9,1-6 konstituiert zusammen mit *10,1-12; Mk 6,7-13; Mt 9,37f; 10,1-15 einen (im Horizont der Zwei-Quellentheorie sogenannten) »Mk-Q Overlap«. 4 Für die Einschätzung dieser Overlap- Texte besitzt die Aussendungstradition deshalb eine besondere Bedeutung, weil die Komplexität - Mk hat nur eine kurze Aussendungsrede, Mt hat eine sehr viel ausführlichere, Lk hat zwei - und die Verteilung der Einzeltexte innerhalb der jeweiligen Evangelien eine relativ genaue Einschätzung der Beziehungen erlauben. Da die weiteren Überlegungen zu *10,1-12 erwähnt werden, soll hier ein knapper Hinweis genügen. a. Im Unterschied zu den komplexen und bis heute widersprüchlichen Versuchen 5 einer Bestimmung des Verhältnisses von Mk und Q ergibt sich unter der Voraussetzung der *Ev-Priorität, dass der Ursprung der Überlieferung tatsächlich in zwei voneinander unterschiedenen Aussendungsreden (*9,1-6; *10,1-12) liegt; gerade mit Blick auf die »Ausrüstungsregeln« *9,3; *10,4 muss man daher annehmen, dass schon die älteste Fassung von *Ev Dubletten enthielt. ______________________________ 4 Zum Problem vgl. H. T. F LEDDERMANN , Mk and Q, Leuven 1995, 101-126; R. L AUFEN , Die Doppelüberlieferungen der Logienquelle und des Markusevangeliums, Königstein/ Ts. 1980, 201-301. 5 Vgl. außer L AUFEN , a. a. O., F LEDDERMANN , a. a. O. noch J. S CHÜLING , Studien zum Verhältnis von Logienquelle und Markusevangelium, Würzburg 1991, sowie F R . N EIRYNCK , Mk and Q: Assessment, in: ders., Evangelica III, 505-545 (zuerst in der Arbeit in F LEDDERMANN , a. a. O. 263-303). <?page no="219"?> 9,1-6 Rekonstruktion 731 b. Mk 6,6b-13 hat diese »Dubletten« in eine Aussendungsrede zusammengefasst und dabei vor allem die ausführlicheren Anweisungen aus *10,1-12 zugunsten der knapperen aus *9,1-6 übergangen. Da das Nebeneinander der Aussendungen in *Ev (und Lk) wegen der Zahl der Boten (zwölf und [70]72) erkennbar auf die unterschiedliche Mission zu Juden und Heiden zu beziehen ist, war Mk aufgrund seines redaktionellen Konzeptes geradezu gezwungen, dieses Nebeneinander zu beseitigen. Denn Mk löst dieses Problem durch das Nebeneinander der zwei Speisungserzählungen und legt dabei den Ton darauf, dass dieselbe Jüngergruppe mit der Mission zu Juden und zu Nichtjuden beauftragt und - aufgrund der identischen Botschaft für beide Adressatenkreise - auch dazu befähigt ist. 6 Allerdings hat Mk einige Details aus *10,1-12 übernommen. Dazu gehört beispielsweise die Sendung in Zweiergruppen (Mk 6,7: δύο δύο), die dann auf *10,1 zurückgeht. Mit Blick auf die Rekonstruktion von *9,1-6 ist aber wichtiger, dass Mk aus *10,9 auch die enge Verbindung von Basileiaverkündigung und Krankenheilung als Teil des Sendungsauftrages gekannt und sie mit der Bevollmächtigung über die Dämonen (*9,1) und dem Auftrag zur Basileiaverkündigung (*9,2) zu der für seine redaktionelle Arbeit wichtigen Trias Verkündigung, Exorzismus und Heilung (Mk 6,12f) verbunden haben könnte. Auf der anderen Seite hat Mk die größten Härten des Sendungsauftrags - dass die Boten barfuß und ohne Stock unterwegs sein sollen - gemildert und Schuhe und Stock ausdrücklich konzediert. c. Mt hat, wie Mk, die Dublette aus *Ev getilgt und berichtet nur von einer Aussendung, die er aber, anders als Mk, enger an *10,1-12 anlehnt. Gleichwohl sind - in der Akoluthie, der Kontextverklammerung und in Einzelformulierungen - eigene redaktionelle Akzente unverkennbar. Ein Element dieser Redaktion besteht darin, dass die mt Aussendungsrede zwar i. W. auf *10,1-12 zurückgeht, daraus aber gerade den Anfang mit der Sendung der 72 (70) - also den Aspekt, der am deutlichsten für eine Sendung zu den Heiden spricht - nicht übernommen hat: Wie bei Mk gibt es bei Mt (vor Ostern) nur eine Sendung, und zwar der Zwölf. Wie *Ev unterscheidet Mt aber zwei verschiedene Sendungen; die zu den Heiden wird in Mt 28,19f durch den Auferstandenen begründet und inauguriert. d. Lk ist *Ev i. W. gefolgt und hat die doppelte Aussendung zweier verschiedener Jüngerkreise übernommen. Wenn die Überlegungen zum redaktionellen Charakter von καὶ νόσους θεραπεύειν (Lk 9,1), καὶ ἰᾶσθαι τοὺς ἀσθενεῖς (Lk 9,2) und καὶ θεραπεύοντες (Lk 9,6) zutreffen, dann stammt die Beauftragung zur »Heilung« letztendlich aus *10,9, auch wenn sie möglicherweise durch Mk 6,13 bzw. durch Mt 10,1.8 vermittelt ist. ______________________________ 6 Vgl. M. K LINGHARDT , Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002), 183-202. <?page no="220"?> 732 Anhang I 9,1-6 e. Setzt man diese Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte voraus, dann lassen sich auch die zahlreichen (mt-lk) »Minor Agreements« 7 sinnvoll zuordnen: Eine erste Möglichkeit für die Entstehung von »Minor Agreements« liegt dann vor, wenn Lk und Mt dem Text von *Ev folgen, während Mk daran redaktionelle Änderungen vorgenommen hat. Dieser Fall liegt vor, wenn die mt-lk Lesart bereits für *Ev bezeugt ist, z. B.: κηρύσσειν + βασιλεία *9,2a || Mt 10,7 ÷ Mk 6,7. - τὸν κονιορτόν *9,5 || Mt 10,14 ≠ τὸν χοῦν τὸν ὑποκάτω Mk 6,11. Besonders deutlich ist dieses Phänomen für μήτε/ μηδὲ ῥάβδον *9,3 || Mt 10,10 ≠ εἰ μὴ ῥάβδον Mk 6,8: Das redaktionelle Interesse des Mk zur Änderung von *Ev ist für diesen Fall unmittelbar nachvollziehbar. Eine andere Entstehung von »Minor Agreements« liegt vor, wenn Mk seiner Vorlage *Ev folgt, aber Mt den Wortlaut von (*Ev-)Mk geändert hat und Lk nicht *Ev, sondern Mt folgt. Für *9,1ff liegt dieses Phänomen vor bei: νόσον/ νόσους θεραπεύειν *9,1 || Mt 10,1 ÷ Mk 6,7. Aufgrund der mangelnden Bezeugung bleibt das Zustandekommen einiger Agreements unerklärt, z. B.: ἐξερχόμενοι … τῆς πόλεως ἐκείνης *9,5 || Mt 10,14 ≠ ἐκπορευόμενοι ἐκεῖθεν Mk 6,11. - αἴρετε/ κτήσησθε (oratio recta) *9,3 || Mt 10,9f ≠ αἴρωσιν (Oratio obliqua) Mk 6,8. Diese Beispiele zeigen, dass die für die Zwei-Quellentheorie so belastenden »Minor Agreements« unter der Annahme der *Ev-Priorität keinerlei Schwierigkeiten aufwerfen. Darüber hinaus wird deutlich, dass zumindest die lk Redaktion eine sehr präzise »Schreibtischarbeit« war, die (an dieser Stelle) die Texte zumindest von *Ev und Mt sehr genau verglichen hat. *9,7-9: Urteil des Herodes über Jesus und Johannes Gut bezeugt, sicher in *Ev vorhanden. 9,7 a Ἀκούσας δὲ b ¿ὁ βασιλεὺς? b Ἡρῴδης b [ ? ὁ τετραάρχης ? ] b τὰ γινόμενα c ἠπορεῖτο διὰ τὸ λέγεσθαι ὑπό τινων ὅτι Ἰωάννης d ἐκ νεκρῶν ἀνέστη d , 8 ὑπό τινων δὲ ὅτι Ἠλίας ἐϕάνη, e ἄλλοι δὲ ὅτι προϕήτης f [ τις ] τῶν ἀρχαίων ἀνέστη. 9 εἶπεν δὲ Ἡρῴδης, Ἰωάννην ἐγὼ ἀπεκεϕάλισα· τίς δέ ἐστιν οὗτος περὶ οὗ ἀκούω τοιαῦτα; ¿καὶ ἐζήτει ἰδεῖν αὐτόν.? A. *9,7-8: Tert. 4,21,2: Nemo testatur quod non iudicio destinatur; inhumanitatem qui in testationem redigi iubet, iudicem comminatur. Nullum deum novum a Christo probatum illa etiam opinio omnium declaravit, qnia Christum Iesum alii Ioannem, alii Heliam, alii unum aliquem ex veteribus prophetis Herodi adseverabant. Ex quibus quicunque fuisset, non utique ob hoc est suscitatus ut alium deum post resurrectionem praedicaret. B. a (9,7) ακουσας/ audiens: D d ¦ ηκουσεν/ audivit: a aur b c e f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● b (9,7) Zum Vorschlag ὁ βασιλεὺς Ἡρῴδης anstelle von Ἡρῴδης ὁ τετραάρχης s. u. (*Ev non test.) ● c ______________________________ 7 Außer den genannten vgl. T. S CHRAMM , Der Markus-Stoff bei Lukas, Cambridge 1971, 26ff; N EIRYNCK , Minor Agreements (1974), 106ff; DERS ., Minor Agreements (1991), 42ff; E NNULAT , Minor Agreements 162f. <?page no="221"?> 9,7-9 Rekonstruktion 733 (9,7) ηπορειτο/ confundebatur: D d ¦ παντα και διηπορει/ omnia … et consternebatur (mirabatur; haesitabat u. a.): P 75 א B C* D L Ξ f 13 579 1241 2524 pc a aur b e ſſ 2 l r 1 sy s.c co ms ¦ υπ αυτου παντα και διηπορει/ omnia … et consternebatur (mirabatur; haesitabat u. a.): A C 3 W Θ Ψ f 1 33 c f q sy p.h (*Ev non test.) ● d (9,7) εκ νεκρων ανεστη/ a mortuis resurrexit (d: surrexit): D c d e ¦ ηγερθη εκ νεκρων/ surrexit (l: resurrexit) a mortuis: a aur b f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● e (9,8) αλλοι/ alii: Tert D d e ¦ αλλων/ ab aliis: a aur b c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● f (9,8) εις/ unus: Tert A W Θ aur b c f ſſ 2 l q r 1 sy s.c.h sa M ¦ τις: א B C L Δ Ξ Ψ f 1.13 33 579 892 1241 2542 pc ¦ om D Ω 69 ℓ211 a d e sy p.j Tat arab . C. Tertullians Referat, das *Ev sehr eng folgt, stellt *9,7f für *Ev der Sache nach sicher, nicht jedoch den genauen Wortlaut. *9,9 ist überhaupt nicht bezeugt. 1. Aufgrund der dürftigen Bezeugung lässt sich nicht viel über die Perikope sagen, weswegen die textkritischen Beobachtungen an Bedeutung gewinnen, die hier mit verzeichnet sind, obwohl für *9,7 durch Tertullians Referat nur das Stichwort »Herodes« gesichert ist. In *9,7 lesen D d partizipiales ἀκούσας anstelle des ansonsten bezeugten finiten Verbs (ἤκουσεν). Damit hängt die Formulierung ἠπορεῖτο (D d) anstelle des ansonsten bezeugten (ὑπ’ αὐτοῦ) πάντα κ α ὶ διηπόρει zusammen. Unter der Annahme der Interferenz der beiden Textüberlieferungen spricht einiges dafür, dass die vorkanonische Textgestalt in D d vorliegt. Sie ist am weitesten von der Lesart ὑπ’ αὐτοῦ πάντα καὶ διηπόρει entfernt, die daher am wahrscheinlichsten die kanonische, durch die lk Redaktion hergestellte Variante darstellt, während πάντα καὶ διηπόρει eine konformierende Mittelstellung einnimmt (gegen die Entscheidung in NA 27 / GNT 4 ). Ähnliches gilt für die Formulierung und Wortstellung von ἐκ νεκρῶν ἀνέστη (D c d e) gegenüber ἠγέρθη ἐκ νεκρῶν des Mehrheitstextes in *9,7 und für die Abweichungen in *9,8: D d lesen hier die Reihung in der Form ὑπό τινων … ὑπό τινων … ἄ λ λ ο ι gegenüber der grammatikalisch leichteren Fassung ὑπό τινων … ὑπό τινων … ἄ λ λ ω ν des Mehrheitstextes. Ebenso ist das undeterminierte προϕήτης τῶν ἀρχαίων (D a d e sy p.j Tat arab u. a.) den Varianten des Mehrheitstextes (προϕήτης εἷς/ τις τῶν ἀρχαίων) vorzuziehen. 2. Diese Beobachtungen geben nicht nur Hinweise für die Rekonstruktion des mutmaßlich vorkanonischen Wortlauts von *9,7f. An dieser Stelle könnten sie als Fingerzeig für den vollständig unbezeugten Vers *9,9 dienen. Denn hier ist die Textüberlieferung (abgesehen von zwei hinsichtlich der Semantik und der Bezeugung unauffälligen Varianten) 1 ganz einheitlich. Diese Einheitlichkeit ließe sich als Hinweis verstehen, dass dieser Vers im vorkanonischen Text gefehlt hat. Allerdings ist ein solches Urteil e silentio nicht wirklich brauchbar. ______________________________ 1 Artikel vor Herodes: B L Ξ Ψ f 1.13 33 579 700 892 1241 pc; ohne Artikel: א A C D W Θ M . Verstärkendes ἐγώ vor ἀκούω: A C 2 D W Θ Ψ f 1.13 33 lat sy h M ; ohne ἐγώ: P 75 א B C* vid L Ξ 565 579 892 pc e f l. Die Varianten sind semantisch unauffällig und als Stilvarianten zu werten. Vor allem verteilen sie sich in einer Weise über die gesamte Handschriftenüberlieferung, die der für die Beobachtung der Interferenz typischen Verteilung auf die »Westlichen« Handschriften gerade nicht entspricht. Sie sind daher nicht als Ausdruck konkurrierender Textformen zu werten. <?page no="222"?> 734 Anhang I 9,7-9 Auch innere Gesichtspunkte helfen nicht wirklich weiter. Stellt man in Rechnung, dass die betonte Stellung des Herodes zu Beginn das Ganze zu einer Herodesgeschichte macht, wäre ein entsprechender Abschluss wie in *9,9ab (εἶπεν δὲ Ἡρῴδης, Ἰωάννην ἐγὼ ἀπεκεϕάλισα· τίς δέ ἐστιν οὗτος περὶ οὗ ἀκούω τοιαῦτα; ) sinnvoll, die abschließende Notiz *9,9c καὶ ἐζήτει ἰδεῖν αὐτόν wäre dagegen verzichtbar. Der nächste wichtige »Herodestext« mit der Warnung der Pharisäer vor »Herodes dem Fuchs« (Lk 13,31f) hat in *Ev sicher gefehlt (s. dort). Er ist durch die lk Redaktion ergänzt und zeigt das Interesse des Lk an Herodes, ganz passend zu den anderen Hinweisen auf Personen der Zeitgeschichte, die auch für die literarische Anlage von Act wichtig sind. Dagegen ist die eigenartige Beteiligung des Herodes am Prozess Jesu mit dem Hinweis auf seine Freude, Jesus zu sehen, gut für *Ev bezeugt (*23,8a; s. dort); unbezeugt ist jedoch der ausdrückliche Rückverweis auf *9,9, dass Herodes Jesus ἐξ ἱκανῶν χρόνων habe sehen wollen (23,8b; s. dort). Aber auch diese Beobachtung ist, für sich genommen, nicht aussagekräftig, weil diese kohärenzstiftende Entsprechung ebenso gut auf *Ev wie auf die lk Redaktion zurückgehen könnte. 3. Damit bleiben am Ende überlieferungsgeschichtliche Erwägungen, die einige Einsichten wahrscheinlich machen können. a. Die mk Akoluthie folgt *Ev: Sein Bericht über die Verwunderung des Herodes (Mk 6,14-16 || *9,7-9) ist die Reaktion auf die Aussendung der Zwölf (Mk 6,7-13 || *9,1-6). Die Umstellung des Stücks in Mt 14,1f ist Folge der mt Redaktion, die aber immerhin noch (wie in *Ev -Mk) die Nähe der Perikope zum vorangehenden Bericht über die Ablehnung Jesu in seiner Vaterstadt (Mk 6,1-6a || Mt 13,54-58) erkennen lässt. b. Wenn Mk als erster Bearbeiter von *Ev verstanden wird, löst sich ein berüchtigtes »Minor Agreement«, das für die Zwei-Quellentheorie besondere Schwierigkeiten aufwirft: Lk 9,7 || Mt 14,1 lesen Ἡρῴδης ὁ τ ε τ ρ α ά ρ χ η ς anstelle von ὁ β α σ ι λ ε ὺ ς Ἡρῴδης in Mk 6,14. In diesem Fall ist die (ohnehin vorausgesetzte) Abhängigkeit des Mt von Mk noch klar erkennbar, weil er den »König« historisch korrekt zum Tetrarchen macht. In dem folgenden Bericht über die Enthauptung des Täufers (Mt 14,3-12 || Mk 6,17-29), dessen erzählerische Details Mt wie so oft gegenüber Mk ausdünnt, hat er die Notwendigkeit zu dieser Korrektur allerdings aus den Augen verloren: Er folgt versehentlich dem mk ὁ βασιλεύς (Mk 6,26 || Mt 14,9). 2 Lk, der ja auch sonst ein Auge für historisierende Details hat, benennt die Mitglieder der herodianischen Dynastie dagegen immer korrekt: Herodes d. Gr. ist genauso »König« (Lk 1,5) wie Herodes Agrippa (Act 12,1). Dagegen bezeichnet er Herodes Antipas konsequent als Tetrarchen (Lk 3,1.19; 9,7), nie als ______________________________ 2 Das ist ein typisches Beispiel für redaktionelle Nachlässigkeit, vgl. M. S. G OODACRE , Fatigue in the Synoptics, NTS 44 (1998), 45-58: 46. <?page no="223"?> 9,7-9 Rekonstruktion 735 König; nicht zufällig finden sich alle historisch korrekten Bezeichnungen in eindeutig redaktionellen Passagen. Es spricht daher einiges dafür, dass auch ὁ τετραάρχης erst auf die lk Redaktion zurückgeht. In diesem Fall hätte Mk 6,14 ὁ β α σ ι λ ε ὺ ς Ἡρῴδης aus *Ev bewahrt. Diese Überlegung liegt der Rekonstruktion des Textes zugrunde. c. Im Urteil des Herodes über Jesus (Mt 14,2 || Mk 6,16 || Lk 9,9) gibt es jeweils Elemente, in denen Mk sowohl mit Mt als auch mit Lk gegen den jeweils anderen übereinstimmt. (Dies ist im Übrigen ein häufiges Phänomen, das im Rahmen der Zwei-Quellentheorie allerdings nur selten gewürdigt wird.) So fehlt bei Mt der Hinweis ἐγὼ ἀπεκεϕάλισα aus Mk 6,16 || Lk 9,9. Dabei ist weniger die mt Fassung aufschlussreich als die mk. Denn Mt folgt Mk ja darin, dass er im Anschluss den Bericht vom Tod des Täufers nachträgt. Der ausdrückliche mk Hinweis ἐγὼ ἀπεκεϕάλισα Ἰωάννην ist im Gesamtzusammenhang eher unglücklich und zumindest überflüssig. In der lk Fassung konstituiert Ἰωάννην ἐγὼ ἀπεκεϕάλισα dagegen eine problematische erzählerische Leerstelle, weil es den entsprechenden Bericht über den Tod des Täufers nicht gibt. Es liegt von daher nahe, dass die Notiz Ἰωάννην ἐγὼ ἀπεκεϕάλισα bereits in *Ev stand: Mk hat sie übernommen, sie durch den nachgeschobenen Bericht untersetzt und auf diese Weise die etwas unschöne Doppelung geschaffen; Mt hat diesen Bericht übernommen und konnte daher die Notiz weglassen. In Mk/ Mt deutet der Hinweis auf die Enthauptung des Johannes die erschreckende Selbsterkenntnis des Mörders an, der mit seiner Tat konfrontiert wird. Wie der nachgetragene Bericht vom Tod des Täufers mit der Notiz von des Königs »Betrübung« deutlich macht (Mk 6,26 || Mt 14,9! ), ist dies Ausdruck des mk Gestaltungswillens. Das dafür notwendige Stichwort lieferte der Hinweis auf die Auferstehung des Johannes, der für *Ev wahrscheinlich gemacht wurde (*9,7 Ἰωάννης ἐκ νεκρῶν ἀνέστη; s. o.). Im Unterschied zu Mk/ Mt drückt die Notiz bei *Ev/ Lk jedoch nicht das Erschrecken, sondern die Ratlosigkeit des Herodes aus, der gerade erst einen »Propheten« beseitigt hatte und nun schon mit dem nächsten konfrontiert wird. Diese Haltung wird direkt erwähnt (*9,7: ἠπορεῖτο). Die abschließende Frage drückt daher eher hilfloses Unverständnis als neugieriges Interesse aus: τίς δέ ἐστιν οὗτος περὶ οὗ ἀκούω τοιαῦτα; d. *9,9a.b passt daher sehr gut sowohl in das narrative Profil der Perikope als auch in die angenommene Überlieferungsgeschichte. Schwierig ist nach diesem Verständnis aber Herodes’ Wunsch, Jesus zu sehen (9,9c: καὶ ἐζήτει ἰδεῖν αὐτόν): Der narrative Duktus impliziert nicht Herodes’ Interesse an Jesus, sondern seine Ratlosigkeit angesichts des »Propheten«. Auf der anderen Seite rekurriert ἦν γὰρ ἐξ ἱκανῶν χρόνων θέλων ἰδεῖν αὐτὸν διὰ τὸ ἀκούειν περὶ αὐτοῦ (23,8b; s. dort) sehr genau auf *9,9c. Damit bleiben folgende Möglichkeiten: (a) Beide Stellen gehören auf einer Ebene zusammen und bilden eine Kohärenzklammer. Diese könnte schon in *Ev vorhanden gewesen sein, aber es ist auch möglich, dass diese Kohärenz (b) erst durch die lk Redaktion geschaffen wurde. Denkbar ist schließlich (c), dass eine der beiden Notizen über Herodes’ Interesse an Jesus aufgrund der anderen geschaffen wurde. Da auch 23,8b unbezeugt ist, würde in diesem Fall die »Ergänzungsrichtung« offen bleiben; aufgrund der Doppelung von *23,8a (ἰδὼν <?page no="224"?> 736 Anhang I 9,7-9 … ἐχάρη λίαν) und 23,8b (θέλων ἰδεῖν αὐτόν) legt sich jedoch nahe, dass 23,8b mit dem ausdrücklichen Verweis, dass Herodes diesen Wunsch schon ἐξ ἱκανῶν χρόνων gehegt hatte, gezielt als Kohärenzsignal auf 9,9c (καὶ ἐζήτει ἰδεῖν αὐτόν) geschaffen wurde. Über die Ursprünglichkeit dieser Aussage ist damit jedoch nichts entschieden: Da es keine weiteren text- oder überlieferungsgeschichtlichen Hinweise gibt, die diese Frage klären könnten, muss es bei einem non liquet bleiben. *9,10-17: Rückkehr der Apostel und Speisung der Fünftausend Nur teilweise bezeugt, aber vermutlich vollständig in *Ev vorhanden. Durch die lk Redaktion geringfügig bearbeitet. 9,10 Καὶ ὑποστρέψαντες οἱ ἀπόστολοι διηγήσαντο αὐτῷ ὅσα ἐποίησαν. καὶ παραλαβὼν αὐτοὺς ὑπεχώρησεν κατ’ ἰδίαν a εἰς τόπον ἔρημον ὃν καλοῦμενον Βηθσαϊδά a . 11 οἱ δὲ ὄχλοι γνόντες ἠκολούθησαν αὐτῷ. καὶ ἀποδεξάμενος αὐτοὺς ἐλάλει αὐτοῖς περὶ τῆς βασιλείας τοῦ θεοῦ, καὶ τοὺς χρείαν ἔχοντας θεραπείας b αὐτοῦ πάντας b ἰᾶτο. 12 Ἡ δὲ ἡμέρα ἤρξατο κλίνειν· προσελθόντες δὲ οἱ δώδεκα εἶπαν αὐτῷ, Ἀπόλυσον c τοὺς ὄχλους c , ἵνα πορευθέντες εἰς τὰς κύκλῳ κώμας καὶ ἀγροὺς καταλύσωσιν d [ καὶ εὕρωσιν ἐπισιτισμόν ] d , ὅτι ὧδε ἐν ἐρήμῳ τόπῳ ἐσμέν. 13 εἶπεν δὲ πρὸς αὐτούς, Δότε αὐτοῖς ὑμεῖς ϕαγεῖν. οἱ δὲ εἶπαν, Οὐκ εἰσὶν ἡμῖν πλεῖον ἢ e πέντε ἄρτοι e καὶ f δύο ἰχθύες f , εἰ μήτι πορευθέντες ἡμεῖς ἀγοράσωμεν εἰς πάντα τὸν λαὸν τοῦτον βρώματα. 14 ἦσαν γὰρ ὡσεὶ ἄνδρες πεντακισχίλιοι. εἶπεν δὲ πρὸς τοὺς μαθητὰς αὐτοῦ, Κατακλίνατε αὐτοὺς κλισίας ὡσεὶ ἀνὰ πεντήκοντα. 15 καὶ ἐποίησαν οὕτως g [ καὶ κατέκλιναν ἅπαντας ] g . 16 λαβὼν δὲ τοὺς πέντε ἄρτους καὶ τοὺς δύο ἰχθύας ἀναβλέψας εἰς τὸν οὐρανὸν h προσηύξατο καὶ h i †εὐλόγησεν† k ἐπ’ αὐτοὺς l [ καὶ κατέκλασεν ] l καὶ ἐδίδου τοῖς μαθηταῖς παραθεῖναι τῷ ὄχλῳ. 17 καὶ ἔϕαγον καὶ ἐχορτάσθησαν πάντες, καὶ ἤρθη τὸ m περίσσευμα n τῶν κλασμάτων κόϕινοι δώδεκα. A. *9,12-17: Tert. 4,21,2-4: Pascit populum in solitudine, de pristino scilicet more. (3) Aut si non eadem et maiestas, ergo iam minor est creatore, qui non uno die sed annis quadraginta, nec de inferioribus materiis panis et piscis sed de manna caelesti, nec quinque circiter sed sexcenta milia hominum protelavit. (4) Adeo autem ea fuit maiestas ut et pabuli exiguitatem non tantum sufficere, veram etiam exuberare de pristino voluerit exemplo. ♦ *9,16: Epiph., Schol. 15: ἀναβλέψας εἰς τὸν οὐρανὸν εὐλόγησεν ἐπ’ αὐτούς. ¦ Adam. 2,20 (870d): ἐὰν δὲ καὶ τὸ ἐν τῷ εὐαγγελίῳ γεγραμμένον ἀναγνῶσιν ὅτι ὁ κύριος ἀναβλέψας εἰς τὸν οὐρανὸν εὐχαριστεῖ. ♦ *9,17: Tert. 4,21,4: adeo autem ea fuit maiestas ut et pabuli exiguitatem non tantum sufficere, veram etiam exuberare de pristino voluerit exemplo. B. a (9,10) εις τοπον ερημον ον καλουμενον Βηθσαιδα/ in locum desertum quod est (dicitur: f; vocabatur: a; appelatur: e) Bethsaida: a aur b c f ſſ 2 l q ¦ εις τοπον ερημον (ερημον τοπον: A f 13 ) <?page no="225"?> 9,10-17 Rekonstruktion 737 πολεως καλουμενης Βηθσαιδα: A C W Ξ mg f (1).13 sy (p).h M ¦ εις κωμην λεγομενην Βηδσαιδα/ in castellum quod est B.: D d ¦ εις ερημον τοπον (p) Mk 6,31 || Mt 14,13): א * .2 1241 sy c bo mss ¦ εις κωμην καλουμενην Βηθσαιδα εις τοπον ερημον: Θ r 1 ¦ εις τοπον καλουμενον Βηθσαιδα: Ψ ¦ εις πολιν καλουμενην Βηθσαιδα: P 75 א 1 B L Ξ* 33 2542 pc (sy s ) co ¦ om 1010 ● b (9,11) αυτου παντας/ eius omnes: D d ¦ om it M (*Ev non test.) ● c (9,12) τους οχλους/ turbas: P 75 א 2 565 1424 pc aur c d ſſ 2 vg sy s.c.p sa mss bo ¦ τον οχλον/ turbam: D a b e f (l: turba) q r 1 M (*Ev non test.) ● d (9,12) και ευρωσιν επισιτισμον: om D d ¦ add a aur b c e f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● e (9,13) πεντε αρτοι/ quinque panes: א 2 A D L (W) Θ Ξ Ψ f 1.13 33 it sy h M ¦ αρτοι πεντε: א * B 579 pc (*Ev non test.) ● f (9,13) δυο ιχθυες/ duo(s) pisces: D L N Ξ Ψ 33 892 1241 1424 2542 pc aur b c d e f ſſ 2 l q sy h r 1 ¦ ιχθυες δυο/ pisces duo: a M (*Ev non test.) ● g (9,15) και κατεκλιναν απαντας/ et discubuerunt (discumbere/ recumbere fecerunt) omnes: om D X 213 d ¦ add a aur b c e f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● h (9,16) προσηυξατο και/ oravit et: add D d ¦ om a aur b c e f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● i (9,16) Widersprüchliche Bezeugung: (1) ευλογησεν: Epiph M it ¦ (2) ευχαριστει: Adam ● k (9,16) επ/ super: add Epiph D a b d f ſſ 2 g 1 l q r 1 sy c.s ¦ om aur c e vg M ● l (9,16) και κατεκλασεν/ et (con)fregit: om D ℓ1056 d q ¦ add a aur b c e f ſſ 2 g 1 l q r 1 M (*Ev non test.) ● m (9,17) περισσευμα: D W 5 13 69 346 543 788 826 828 983 ¦ περισσευσαν/ περισσευματα/ περισσευσαντα/ περισσυεον M ● n (9,17) των: א D d e ¦ αυτοις των: W ¦ αυτων: W 579 ¦ αυτοις/ illis (eis): a aur b c f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.). C. Tertullian verarbeitet in seinem Referat der Speisungserzählung nur einzelne Stichworte, Epiphanius zitiert nur wenige Worte aus *9,16, das Zitat aus dem zweiten Adam.-Dialog ist umstritten (s. u.).Von der Einleitung der Perikope lassen sich die Mitteilung über die Rückkehr der Apostel und die summarische Notiz über Jesu Lehre nur indirekt aus Tertullians Erwähnung der solitudo erschließen. Da beide Aspekte für den Übergang von *9,1-6 zu *9,12-17 aus Gründen der narrativen Logik notwendig sind, spricht alles dafür, dass Tertullian die Einleitung in seinem Referat übergangen und sich auf die wesentlichen Stichworte der Speisungserzählung konzentriert hat. Die Speisungserzählung ist nicht in allen Einzelheiten, wohl aber im Gerüst und in den wichtigen Stichworten gut bezeugt: Einsamer Ort, etwa 5000 Menschen, Brote und Fische, Dankgebet Jesu sowie der Überfluss der Speisen. 1 Epiphanius bezeugt aus dogmatischem Interesse den Gebetsgestus *9,16 und versteht das »Aufheben der Augen« als antidoketisches Argument (Elench. 15). Obwohl der umfangreiche Text nur geringfügig bezeugt ist, war er vermutlich komplett in *Ev vorhanden und wurde durch die lk Redaktion nur geringfügig bearbeitet. 1. Dies wird zunächst an einigen Lesarten der kanonischen Textüberlieferung deutlich, die auf die Interferenzen mit der Überlieferung von *Ev zurückzuführen sind. Aus diesem Grund sind in der Rekonstruktion die Lesarten auch für Passagen eingetragen, für die es keine direkte Bezeugung gibt. Manche dieser Änderungen sind völlig unauffällig, andere lassen ein Bearbeitungsinteresse erkennen, ohne ______________________________ 1 Tertullian verwendet exuberare anstelle von superesse in Vg. <?page no="226"?> 738 Anhang I 9,10-17 dass hier dogmatisch intendierte Änderungen erkennbar wären, z. B. der Zusatz in *9,12 (καὶ εὕρωσιν ἐπισιτισμόν) oder die Notiz von der Lagerung der Menge in *9,15 (καὶ κατέκλιναν ἅπαντας). Von größerem Interesse ist nur die uneinheitliche Lokalisierung des Geschehens in der Einleitung *9,10. Die ausgesprochen disparate Überlieferung kreist um die Angaben »an einen einsamen Ort« und »in die Stadt (das Dorf) mit Namen Bethsaida«. Verschiedene Zuordnungen sind bezeugt. 1. Die auch in Mk 6,31 || Mt 14,13 belegte Angabe εἰς τόπον ἔρημον bzw. εἰς ἔρημον τόπον: א * .2 1241 sy c bo mss . 2. Die Erwähnung des Dorfes bzw. der Stadt mit Namen Bethsaida: εἰς κώμην λεγομένην Βηδσαϊδά (D d) bzw. εἰς πόλιν καλουμένην Βηθσαϊδά ( P 75 א 1 B L Ξ* 33 2542 pc sy s co). Daneben gibt es verschiedene Kombinationen; sie setzen entweder voraus, 3. dass der Name des »einsamen Ortes« Bethsaida war (so die Mehrheit der Altlateiner: a aur b c f ſſ 2 l q) oder 4. dass der einsame Ort eine Stadt namens B. war (so A C W Ξ mg f (1).13 sy (p).h M ) oder 5. dass es in dem Dorf B. einen einsamen Ort gab (Θ r 1 ) oder 6. dass einfach von einem »Ort namens B.« die Rede war (Ψ), wenn sie nicht 7. die ganze Phrase auslassen (1010 [579]). Da die Kombinationen (3-6) alle Züge einer Konflation tragen, ist man geneigt, eine der beiden Einzellösungen (1, 2) für ursprünglich zu halten. Da der ἔρημος τόπος für den Fortgang der Erzählung von Bedeutung ist und direkt erwähnt wird (*9,12), weisen innere Gründe am ehesten auf Möglichkeit (2) als ursprünglichen Text hin (diese Überlegung lag offensichtlich der Entscheidung der Herausgeber von NA 27 / GNT 4 zugrunde): Ursprünglich würde nur die Stadt/ das Dorf B. erwähnt (2), der »einsame Ort« wäre sekundär entweder aus der Erzählung selbst oder aus den synoptischen Parallelen in die Lokalisierung der Einleitung eingedrungen und hätte auf diese Weise verschiedene Konformierungen verursacht (3-6) oder sogar die ursprüngliche Lokalisierung gänzlich verdrängt (1). Auch wenn diese Lösung (zumal im Horizont der Zwei-Quellentheorie) für den Lk- Text einleuchtet, ist das Problem für *Ev komplexer, weil aufgrund des veränderten überlieferungsgeschichtlichen Konzeptes ein Einfluss der synoptischen Parallelen sehr unwahrscheinlich ist. Die Lokalisierung des Geschehens in Bethsaida (Lk 9,10) stammt demnach nicht aus Mk 8,21. Vielmehr geht umgekehrt die Erwähnung von Bethsaida in Mk 6,45; 8,21 auf die Lokalisierung in *9,10 zurück. Mk hat diese Lokalisierung aufgegriffen und sie in seine eigenartige (und redaktionell beabsichtigte! ) Konstruktion eingebaut, 2 dass Jesus in Mk 6,45 den Jüngern die Überfahrt nach Bethsaida aufträgt, diese aber zunächst in Genezareth ankommen (Mk 7,53), Bethsaida dagegen erst in 8,21 erreichen. Die Erwähnung von Bethsaida wird daher ursprünglich in *9,10 gestanden haben. Auf der anderen Seite ist schwer ______________________________ 2 M. K LINGHARDT , Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002), 183-202: 199f. <?page no="227"?> 9,10-17 Rekonstruktion 739 vorstellbar, dass der »einsame Ort« ausschließlich aus der Angabe in *9,12 in die Einleitung *9,10 eingedrungen sein sollte: Vor allem die Lesart, die nur den ἔρημος τόπος erwähnt (1), ist auf diese Weise kaum erklärbar, abgesehen davon, dass Tertullian die solitudo bereits in seiner einleitenden Bemerkung erwähnt. Es liegt daher nahe, dass der älteste Text das Nebeneinander beider Angaben enthielt, also wie in (3) oder (4): Ein einsamer Ort namens Bethsaida.3 Dieses Nebeneinander ist nicht unproblematisch; es läge näher zu sagen, dass ein Ort (τόπος) entweder einsam oder (als Dorf oder als Stadt) besiedelt ist. Diese Überlegung liegt den Varianten (1) und (2) zugrunde, die dieses problematische Nebeneinander durch die Auslassung jeweils einer der beiden Bestimmungen lösen. (5) und (6) suchen dagegen andere Wege des Ausgleichs bzw. der Milderung. Mk hat diese Doppelung ähnlich aufgelöst wie D d: Der ἔρημος τόπος passt zum Erzählgefälle, aber die Stadt Bethsaida ist bei ihm nicht völlig verschwunden; er hat sie als Zielangabe in Mk 6,45 und dann als Ort der ersten Blindenheilung (Mk 8,26) übernommen. 2. Die geringfügige Variante, die Epiphanius für den Text von *Ev mitteilt (εὐλόγησεν ἐ π’ αὐτούς statt εὐλόγησεν αὐτούς) ist auch in der kanonischen Handschriftenüberlieferung bezeugt, charakteristischerweise durch die Hauptzeugen des sog. »Westlichen Textes« (Epiph D a b d f ſſ 2 g 1 l q r 1 sy c.s ), die auch sonst häufig die Interferenz von kanonischer und vorkanonischer Überlieferung belegen. Damit ist der Versuch obsolet, den Text von *Ev als dogmatisch bedingte Änderung zu verstehen: Die Einfügung der Präposition habe die Funktion, die unmittelbare Verbindung von Verb und Objekt zu trennen, so dass die Brote aufhörten, »Geschöpf zu sein und durch die erfreuliche Kraft Gottes in etwas den Marcioniten Annehmbares verändert werden.« 4 Das ist sehr weit hergeholt. Auch kann die Vermutung ausgeschlossen werden, die fragliche Formulierung sei »möglicherweise ein Terminus Technicus beim Kultmahl der Kirche Marcions«. 5 Tatsächlich ist der semantische Unterschied zwischen beiden Lesarten bestenfalls marginal und zu vernachlässigen, weil beide den gleichen Gebetsgestus einmal etwas ausführlicher (»er sprach den Segen über sie«), das andere Mal etwas knapper (»er segnete sie«) zur Sprache bringen. Dies wird vor allem in der (hier in der Rekonstruktion bevorzugten) Lesart von D d deutlich: Das Nebeneinander προσηύξατο καὶ εὐλόγησεν ἐπ’ αὐτούς entspricht dem weit verbreiteten Brauch, ______________________________ 3 Ob diese Bezeichnung im Sinn einer Lokaltradition in kritischer Perspektive intendiert, lässt sich nicht sagen. Zur historischen Geographie und Archäologie vgl. Jos., Ant. XVIII 28 (Ausbau von Bethsaida durch Herodes Philippus mit dem Namen »Iulias«) sowie R. A RAV , R. A. F REUND (eds.), Bethsaida 1-4, Kirksville (MO) 1995-2009 (mit Lit.). 4 T SUTSUI 90f. 5 A. a. O. 91. <?page no="228"?> 740 Anhang I 9,10-17 dass das Mahleingangsgebet als Segen über dem Brot gesprochen wird: Dies ist mit Sicherheit keine Besonderheit der marcionitischen Mahlpraxis. 6 Etwas schwieriger ist, dass Adam. εὐχαριστεῖ anstelle von εὐλόγησεν (ἐπ’) αὐτούς bezeugt. Damit steht er völlig allein, denn alle Handschriften bieten εὐλόγησεν o. ä. Obwohl alle Rekonstruktionen vermutlich zu Recht dem Epiphanius-Text folgen (εὐλόγησεν), haben sie Schwierigkeiten, das Adamantiuszeugnis zu erklären. Während Harnack es durch eine »späte Lesart« erklärt, spielt Zahn, dem Tsutsui folgt, seine Zuverlässigkeit herunter. 7 Obwohl alle Argumente problematisch sind, haben sie vermutlich das Richtige getroffen: Adamantius inferiert εὐχαριστεῖ aus dem ihm bekannten christlichen Sprachgebrauch, in dem εὐλογεῖν schon längst durch εὐχαριστεῖν ersetzt war. An dieser Stelle beruht die uneinheitliche Bezeugung also auf einer Ungenauigkeit des Adamantius-Dialogs, und nicht auf dem sonst häufig zu beobachtenden Phänomen der sukzessiven Anpassung des Wortlauts von *Ev an den des kanonischen Lk. Die anzunehmende Veränderung des Sprachgebrauchs gehört nicht zu dem, was zwischen den Marcioniten und den Häresiologen strittig war. Tatsächlich gab es wenig, was Marcion nach der für ihn angenommenen Theologie an diesem Text hätte beanstanden können, wie Tertullians Behandlung zeigt: Er weist an dieser Stelle nur auf die Entsprechungen zwischen *9,12-17 und 2Kön 4,42-44 hin (geringe Menge an Nahrung - viele Esser; Nahrung austeilen; essen; übriggebliebene Reste) und folgert, dass sogar in neuen Dingen Christus der alte sei: O Christum et in novis veterem! (4,21,5). 3. Die wichtigste Konsequenz aus der Bezeugung dieser Perikope für *Ev bezieht sich auf die Überlieferungsgeschichte, die hier noch komplexere Probleme aufwirft als sonst: Neben die (ohnehin problematischen) mt-lk »Minor Agreements« treten hier die unübersehbaren Entsprechungen in Joh 6. a. Für die klassischen mt-lk Übereinstimmungen gegen Mk sind beispielsweise zu nennen: ὑπεχώρησεν Lk 9,10 || ἀνεχώρησεν Mt 14,13 ≠ ἀπῆλθον Mk 6,32. - καὶ εἶδον αὐτοὺς ὑπάγοντας καὶ ἐπέγνωσαν Mk 6,33a ÷ Lk 9,10b || Mt 14,13. - οἱ δὲ ὄχλοι … ἠκολούθησαν αὐτῷ Lk 9,11a || Mt 14,13 ≠ πολλοί … συνέδραμον ἐκεῖ καὶ προῆλθον αὐτούς Mk 6,33. - ὅτι ἦσαν ὡς πρόβατα μὴ ἔχοντα ποιμένα Mk 6,34c ÷ Lk 9,11 || Mt 14,14. - ὄχλος Lk 9,12c.16d || Mt 14,15d.19d ≠ αὐτοί Mk 6,36a.41d. - ϕάγωσιν Mk 6,36c ÷ Lk 9,12e || Mt 14,15e. - ἀπελθόντες ἀγοράσωμεν δηναρίων ______________________________ 6 Vgl. dazu M. K LINGHARDT , Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft, Tübingen 1996, 58ff; DERS ., Der vergossene Becher. Ritual und Gemeinschaft im lukanischen Mahlbericht, EC 3 (2012), 33-58. 7 H ARNACK 200* rekonstruiert εὐλόγησεν ἐπ’ αὐτούς und setzt erläuternd dazu »(spätere LA εὐχαριστεῖ)« - aber diese »Lesart« ist völlig unbezeugt. Z AHN II 466 bemängelt, dass das Zitat »nicht als wörtlich genaues« ausgewiesen sei; aber das sind die Zitate bei Adamantius fast nie. Ähnlich argumentiert Tsutsui, der die unmittelbare Weiterführung mit dem Hinweis auf λαβὼν δὲ ἄρτον καὶ ποτήριον καὶ εὐλγήσας … 22,17.19 registriert und daraus folgert, dass an beiden Stellen »die Verben εὐλογεῖν und εὐχαριστεῖν regelrecht vertauscht« seien, was »jedoch bei einem freien Zitat unerheblich« sei (K. T SUTSUI , Die Auseinandersetzung mit den Markioniten im Adamantios-Dialog, Berlin - New York 2004, 287). R OTH 368 schränkt ein, dass »it is not clear that the Adamantius Dialogue is here reflecting Marcion’s text«, obwohl ja doch genau dies die Grundlage des Verfahrens ist. <?page no="229"?> 9,10-17 Rekonstruktion 741 διακοσίων ἄρτους καὶ δώσομεν αὐτοῖς ϕαγεῖν; ὁ δὲ λέγει αὐτοῖς, Πόσους ἄρτους ἔχετε; ὑπάγετε ἴδετε. καὶ γνόντες λέγουσιν Mk 6,37c-38c ÷ Lk 9,13 || Mt 14,16. - βρώματα Lk 9,13e || Mt 14,15e ≠ ἄρτους Mk 6,37d. - ὡσεὶ (ἄνδρες πεντακισχίλιοι) Lk 9,14a || Mt 14,21 ÷ Mk 6,44. - συμπόσια συμπόσια Mk 6,39 ÷ Lk 9,14 || Mt 14,19. - (κατέκλασεν) τοὺς ἄρτους Mk 6,41c ÷ Lk 9,16c || Mt 14,19c. - καὶ ἀνέπεσαν πρασιαὶ πρασιαὶ κατὰ ἑκατὸν καὶ κατὰ πεντήκοντα Mk 6,40 ÷ Lk 9,15 || Mt 14,19. - καὶ τοὺς δύο ἰχθύας ἐμέρισεν πᾶσιν Mk 6,41d ÷ Lk 9,16 || Mt 14,19. - τὸ περισσεῦσαν τῶν κλασμάτων Lk 9,17b (τὸ περίσσευμα *9,17b) || Mt 14,20b ≠ κλάσματα Mk 6,43a. Die hohe Zahl dieser Übereinstimmung auf engem Raum 8 und ihr spezifischer Charakter machen eine unabhängige Entstehung der mt und der lk Fassung unmöglich. Dementsprechend diente die Perikope auch als Testfall für Lösungen, die nicht mit einer zufälligen Parallelentwicklung bei Mt und Lk rechnen. 9 b. Tatsächlich ist die Lage wegen der Übereinstimmungen mit Joh 6,1-15 noch komplizierter. Von den hier genannten »Minor Agreements« haben einige z. T. sehr deutliche Entsprechungen in Joh, die ihrerseits unterschiedliche Beziehungen zu den synoptischen Texten aufweisen: 1. Dabei gibt es mk-joh Übereinstimmungen gegen Mt-Lk/ *Ev: So hat die Aufforderung der Jünger, die Leute sollten gehen und sich kaufen τί ϕάγωσιν Mk 6,36c eine Entsprechung in Joh 6,5d (ἵνα ϕάγωσιν οὗτοι), die in Lk 9,12e || Mt 14,15e keine Entsprechung hat: Mt hat (ἀγοράσωσιν ἑαυτοῖς) βρώματα, Lk 9,12 bietet den gewählten Ausdruck (καὶ εὕρωσιν) ἐπισιτισμόν, der nach unserer Rekonstruktion in *Ev gefehlt hat. Ganz ähnlich zeigt auch Joh 6,7b mit der Erwähnung der »Brote für 200 Denare (διακοσίων δηναρίων ἄρτοι)« eine enge Berührung mit der Frage der Jünger Mk 6,37f, ob sie weggehen und δηναρίων διακοσίων ἄρτους kaufen sollten. Diese Frage ist mit durchdachter theologischer Intention von Mk hier eingefügt: Sie scheint dem zuvor entfalteten Konzept von Jüngerschaft zu widersprechen, dessen erste und wichtigste Bestimmung es ist, dass die Jünger »mit ihm sind«. 10 *Ev sowie Lk und Mt, die hier beide dem Text von *Ev folgen, haben diesen Hinweis nicht. Ebenso haben Joh 6,10d und Mk 6,40 den Hinweis des Erzählers gemein, dass sich die Menge lagerte (ἀνέπεσαν), der in Lk 9,15 || Mt 14,19 fehlt. 2. Umgekehrt gibt es jedoch auch joh Übereinstimmungen mit mt-lk Agreements gegen Mk: Joh 6,10d hat die ungefähre Mengenangabe in einer Formulierung ( ὡ ς πεντακισχίλιοι), die dem ὡ σ ε ὶ … πεντακισχίλιοι Lk 9,14a || Mt 14,21 genau entspricht, aber in Mk 6,44 kein Gegenstück besitzt. Ähnlich stimmt die Formulierung τὰ περισσεύσαντα κλάσματα (Joh 6,12c) mit τὸ περίσσευμα/ περισσεῦσαν τῶν κλασμάτων (Lk 9,17b || Mt 14,20b) gegen das einfache mk κλάσματα (Mk 6,43a) überein. 3. Um das Bild noch verwirrender zu machen, ist schließlich daran zu erinnern, dass es noch andere »Koalitionen« gibt, so z. B. die Übereinstimmung von Mt, Mk und Joh gegen *Ev/ Lk mit der Erwähnung des »Grases«, auf dem sich die Menge lagern soll (Mt 14,19 || Mk 6,39 || ______________________________ 8 B. H. S TREETER , The Four Gospels, London 1924, 313: Mk 6,30-44 par. sei »a section in which there are more minor agreements than in any other of the same length«. 9 Vgl. M.-È. B OISMARD , The Two-Source Theory at an Impasse, NTS 26 (1979-80), 1-17; A. F UCHS , Die Agreement-Redaktion von Mk 6,32-44 par Mt 14,13-21 par Lk 9,10b-17, in: ders., Spuren von Deuteromarkus III, Münster 2004, 245-271 (ähnlich E NNULAT , Minor Agreements 179, der an eine sekundäre Bearbeitung des Mk-Textes denkt, »die Mt und Lk jeweils vorgelegen hat«). Vgl. auch D. B URKETT , The Case for Proto-Mark, Tübingen 2018, 182ff. 10 Vgl. Mk 3,14: ἐποίησεν δώδεκα … ἵνα ὦ σ ι ν μ ε τ ’ α ὐ τ ο ῦ . Zum redaktionellen Konzept vgl. M. K LINGHARDT , Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002), 183-202: 193f. <?page no="230"?> 742 Anhang I 9,10-17 Joh 6,10 ÷ Lk 9,14). Aber auch innerhalb der Synoptiker sind andere Konstellationen belegt, die weniger Aufmerksamkeit gefunden haben, weil sie im Horizont der Zwei-Quellentheorie weniger Schwierigkeiten verursachen, z. B. die Aufforderung zur Lagerung der Menge »in Gruppen zu 50« (Lk 9,14 || Mk 6,40 ÷ 14,19 [|| Joh 6,10]). Die Erklärung dieses komplexen Befundes sprengt die Erklärungsmöglichkeiten der Zwei-Quellentheorie: In deren Deutungshorizont bleiben daher nur entweder die Annahme, dass Mk 6,30f par. ein Gegenstück in »Q« gehabt habe (also zu den »Mk-Q Overlaps« gehörte), 11 oder die Lösung der Deuteromarkus-Theorie. Wie in den anderen Fällen der »Minor Agreements« lösen sich die Schwierigkeiten jedoch im Horizont der *Ev-Priorität ohne jedes Problem. Demnach ist *9,10-17 die gemeinsame Quelle nicht nur der drei synoptischen Fassungen, sondern auch von Joh 6. Diese Annahme hat den großen Vorteil, dass der Ursprungstext in *Ev (im Unterschied zu »Q«) immerhin bezeugt ist. In diesem Fall sind die mk Abweichungen gegenüber Mt/ Lk durchweg auf das redaktionelle Interesse des Mk zurückführbar. Dies macht dann auch die Deuteromarkusthese unwahrscheinlich. Denn in diesem Fall müsste man annehmen, dass »Deutero-Markus« genau diese für das redaktionelle Konzept von Mk wesentlichen Elemente allesamt ( versehentlich? ) beseitigt hätte: Die hier für »Deutero-Markus« anzunehmende Textgestalt wäre ein Hybrid, das alle Pointen der mk Redaktion aufgegeben hätte. *9,18-22: Bekenntnis des Petrus. Ankündigung von Leiden und Auferstehung Gut für *Ev bezeugt und sicher vorhanden, aber mit Sicherheit durch die lk Redaktion bearbeitet. 9,18 Καὶ ἐγένετο ἐν τῷ εἶναι a αὐτοὺς b [ προσευχόμενον ] b κατὰ μόνας συνῆσαν αὐτῷ οἱ μαθηταί, καὶ ἐπηρώτησεν αὐτοὺς λέγων, Τίνα με λέγουσιν c τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου c d οἱ ἄνθρωποι d e [ εἶναι ] ; 19 f λέγουσιν δὲ οἱ μαθηταί f , Ἰωάννην τὸν βαπτιστήν, ἄλλοι δὲ Ἠλίαν g ἢ ἕνα τῶν προϕητῶν. g 20 εἶπεν δὲ αὐτοῖς, ῾Υμεῖς δὲ τίνα h με λέγετε εἶναι h ; ἀποκριθεὶς δὲ Πέτρος εἶπε· i †Σὺ εἶ ὁ χριστὸς† i k ¿υἱός? l τοῦ θεοῦ l . 21 Ὁ δὲ ἐπιτιμήσας αὐτοῖς παρήγγειλεν μηδενὶ λέγειν τοῦτο, 22 εἰπὼν ὅτι Δεῖ τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου πολλὰ παθεῖν m † [ καὶ ἀποδοκιμασθῆναι ἀπὸ τῶν πρεσβυτέρων καὶ γραμματέων καὶ ἀρχιερέων ] † m καὶ n †ἀποκτανθῆναι† καὶ o μετὰ τρεῖς ἡμέρας o p †ἀναστῆναι†. A. *9,18.20: Tert. 4,21,6: Haec itaque qui viderat Petrus et cum pristinis compararat, et non tantum retro facta, sed et in futurum iam tunc prophetantia recognoverat, interroganti domino quisnam illis videretur, cum pro omnibus responderet, Tu es Christus, non potest novum eum ______________________________ 11 Dazu etwa F ITZMYER , Lk I 763: »this is not impossible, but can scarcely be proved.« <?page no="231"?> 9,18-22 Rekonstruktion 743 sensisse Christum, nisi quem noverat in scripturis, quem iam recensebat in factis. Hoc et ipse confirmat usque adhuc patiens, immo et silentium indicens. Si enim Petrus quidem non poterat alium eum confiteri quam creatoris, ille autem praecepit ne cui hoc dicerent, utique id noluit provulgari quod Petrus senserat. ¦ Tert. 4,22,6: Ceterum si sic nescit quasi errans, eo quod putaret illorum esse Christum, ergo iam constat et supra Petrum interrogatum a Christo quem se existimarent, ut de creatoris dixisse, Tu es Christus; quia si tunc alterius dei illum cognovisset, hic quoque non errasset. ♦ *9,18-20: Adam. 2,13 (829c/ d): τίνα με λέγουσιν οἱ ἄνθρωποι τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου; λέγουσιν δὲ οἱ μαθηταί· Ἰωάννην τὸν βαπτιστήν, ἄλλοι δὲ Ἠλίαν, ἄλλοι δὲ ὅτι προϕήτης τις τῶν ἀρχαίων ἀνέστη. εἶπε δὲ αὐτοῖς· ὑμεῖς δὲ τίνα; ἀποκριθεὶς δὲ Πέτρος εἶπε· τὸν Χριστόν. ♦ *9,21: Tert. 4,21,6: … ille autem praecepit ne cui hoc dicerent, utique id noluit provulgari quod Petrus senserat. ♦ *9,22: Tert. 4,21,7: sed aliam silentii causam dixit, quia oportet filium hominis multa pati, et reprobari a presbyteris et scribis et sacerdotibus, et interfici, et post tertium diem resurgere. ¦ Epiph., Schol. 16: λέγων, Δεῖ τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου πολλὰ παθεῖν καὶ ἀποκτανθῆναι καὶ μετὰ τρεῖς ἡμέρας ἐγερθῆναι. ¦ Adam. 5,12 (857c): … δεῖ τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου πολλὰ παθεῖν καὶ ἀποδοκιμασθῆναι ἀπὸ τῶν πρεσβυτέρων καὶ ἀρχιερέων καὶ γραμματέων καὶ σταυρωθῆναι καὶ μεθ’ ἡμέρας τρεῖς ἀναστῆναι. ¦ Vgl. Iren., Haer. 3,16,5: Oportet enim, inquit, filium hominis multa pati et reprobari et crucifigi et die tertio resurgere. B. a (9,18) αυτους: D d ¦ αυτον: a aur b c e f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● b (9,18) προσευχομενον/ orans: om D a c d e sy c ¦ add aur b f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● c (9,18) τον υιον του ανθρωπου: Adam (vgl. Mt 16,13) ¦ om it M ● d (9,18) οι ανθρωποι/ homines: (Tert) Adam A 579 1241 1424 pc e sa mss bo ¦ οι οχλοι/ turbae: P 75 א 2 C D W Θ Ψ f 13 33 a aur b c d f ſſ 2 l q r 1 M ● e (9,18) ειναι: om Adam aeth (Bodl. 41) ¦ add: it M ● f (9,19) λεγουσιν δε οι μαθηται: Adam ¦ οι δε αποκριθεντες ειπαν it M ● g (9,19) η ενα των προϕητων/ unum ex prophetis (e: unum prophetarum): D d e (vgl. Mt 16,14 fin.) ¦ αλλοι δε οτι προϕητης τις των αρχαιων ανεστη: a aur b c f ſſ 2 l q r 1 M ● h (9,20) με λεγετε ειναι: om Adam 700 ¦ add it M ● i (9,20) Widersprüchliche Bezeugung: (1) συ ει ο χριστος/ tu es Christus: Tert f l (vgl. Mt 16,16) ¦ (2) τον χριστον/ Christum: Adam a aur b c d e ſſ 2 q r 1 M ● k (9,20) υιος (υιον)/ filius (filium): D 982 pc (a) d e f l r 1 bo ms ¦ om (Tert Adam) aur b c ſſ 2 q M ● l (9,20) του θεου: om Adam a ¦ add it M ● m (9,22) Widersprüchliche Bezeugung: αποδοκιμασθηναι απο των πρεσβυτερων και γραμματεων και αρχιερεων: (1) om Epiph ¦ (2) add αποδοκιμασθηναι απο των πρεσβυτερων και γραμματεων και αρχιερεων: Tert sy c ; αποδοκιμασθηναι απο των αρχιερεων και πρεσβυτερων και γραμματεων: 13 69 124 213 346 543 579 788 826 828 983 ſſ 2 g 1 l q r 1 ; αποδοκιμασθηναι απο των πρεσβυτερων: 1352; αποδοκιμασθηναι απο των πρεσβυτερων και γραμματεων: ℓ1642; αποδοκιμασθηναι απο των πρεσβυτερων και αρχιερεων και γραμματεων: Adam M ● n (9,22) Widersprüchliche Bezeugung: (1) αποκτανθηναι/ interfici: Tert Epiph it M ¦ (2) σταυρωθηναι: Adam Iren (3,16,5) ● o (9,22) μετα τρεις ημερας/ post tres dies: Epiph d ſſ 2 l q; μεθ ημερας τρεις/ post dies tres: Adam D b; post triduum: c e; μετα τριτην ημεραν/ post ter[tiu]m diem: Tert a; μετα ημεραν τριτην/ post diem tertium: r 1 ¦ τη τριτη ημερα/ tertia die: aur f vg M ● p (9,22) Widersprüchliche Bezeugung: (1) αναστηναι/ resurgere: Tert Adam A C D K Π mult it Athan (Incarn. 2,12; PG 26, 1152) Chrys (Trin. 2; PG 48, 1092) Orig (Engast. 7; GCS 6, 291) ¦ (2) εγερθηναι: Epiph M . C. Der gesamte Zusammenhang ist gut bezeugt, inhaltlich sind alle Aussagen bereits in *Ev enthalten. Die genauen Formulierungen weichen allerdings in etlichen Fällen deutlich vom kanonischen Wortlaut ab und belegen die lk Bearbeitung. <?page no="232"?> 744 Anhang I 9,18-22 1. Für *9,18 sind gleich mehrere Varianten zu notieren, die jeweils sehr unterschiedlich bezeugt sind: a. Die Formulierung der Einleitung *9,18a ist in einigen Handschriften anders überliefert als im Mehrheitstext. Nach einigen Zeugen, die sich wiederholt als anfällig für die Interferenz der kanonischen und der vorkanonischen Überlieferung erwiesen haben (D a c d e sy c ), fehlt im kanonischen Text der Hinweis auf das Gebet Jesu (προσευχόμενον), der sehr gut zur sonstigen lk Theologie passt und deswegen am ehesten auf lk Redaktion zurückgeht. Die Änderung der vor allem durch D d bezeugten Lesart ist auch aus syntaktischen Gründen wahrscheinlich, weil das Nebeneinander von ε ἶ ν α ι αυτοὺς κατὰ μόνας und σ υ ν ῆ σ α ν αὐτῷ οἱ μαθηταί hart ist. Lk hat diese Härte dadurch beseitigt, dass er die Zeitangabe nur für Jesus formuliert, der »betend für sich allein« war, und dann »die Jünger bei ihm sein« lässt. Auch wenn diese beiden zusammengehörigen Varianten nicht direkt für *Ev bezeugt sind, spricht einiges dafür, dass der D-Text die ursprüngliche Formulierung wiedergibt. Mk und in seinem Gefolge Mt haben die Einleitung von *Ev geändert und die Frage Jesu an die Jünger auf den Weg in die Gegend von Caesarea Philippi verlegt (Mk 8,27 || Mt 16,13) und dafür die Erwähnung des Alleinseins ersatzlos gestrichen. b. Aufschlussreich ist auch die Formulierung der Frage Jesu *9,18: Während Tertullian den kanonischen Wortlaut (τίνα μ ε λέγουσιν) gelesen zu haben scheint (4,21,6: quisnam illis videretur; 4,22,6: quem se existimarent), hat Adamantius einen doppelten (eigentlich: dreifachen) Akkusativ: τίνα μ ε λέγουσιν οἱ ἄνθρωποι τ ὸ ν υ ἱ ὸ ν τ ο ῦ ἀ ν θ ρ ώ π ο υ . Diese syntaktisch komplizierte Fassung versteht τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου als Näherbestimmung zu με: »mich, nämlich den Menschensohn.« Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass dies eine Konflation der mk/ lk Fassung (με) und der mt (τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου) sei. Allerdings ist auch Mt 16,13 nicht einheitlich überliefert. NA 27 / GNT 4 bieten auf der Grundlage von א B 0281 579 700 pc c vg co Orig: τίνα λέγουσιν οἱ ἄνθρωποι εἶναι τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου. Allerdings fügen D L Θ f 1.13 33 pc it vg mss sy s.c Iren (lat) nach τίνα ein με ein, sodass eine Formulierung entsteht, die der durch Adam. für *Ev bezeugten bis auf den Infinitiv εἶναι genau entspricht. Auch ohne das überlieferungsgeschichtliche Konzept der *Ev-Priorität liegt das Urteil nahe, dass die Lesart mit με als die weniger leichte gegenüber dem von NA 27 / GNT 4 gebotenen Text ursprünglich ist. 1 Diese textkritische Entscheidung, die der Faustregel lectio difficilior probabilior entspricht, hat überlieferungsgeschichtliche Implikationen, weil Mt 16,13 v. l. normalerweise als Konflation aus Mk/ Lk (mit dem Akk. με) und Mt (mit dem Akk. τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου) verstanden wird. Aber die Lesart repräsentiert keine (sekundäre) Konflation, sondern die Spuren des vormt Textes. ______________________________ 1 So zu Recht L UZ , Mt II 452 Anm. 1. <?page no="233"?> 9,18-22 Rekonstruktion 745 Durch den für *Ev bezeugten Text von *9,18b wird deutlich, dass erstens Adamantius an dieser Stelle genau referiert, und dass zweitens die mt Formulierung auf *Ev basiert. Der Umstand, dass für die vorkanonische Fassung *Mt 16,13 dieser ältere Text noch in der handschriftlichen Überlieferung auftaucht, geht auf das gleiche Phänomen der Interferenz der beiden konkurrierenden Handschriftenüberlieferungen zurück, die so oft für das Verhältnis von *Ev und Lk zu beobachten ist. Dass die vormt Lesart u. a. von den »Westlichen« Zeugen D it sy belegt ist, unterstreicht die Richtigkeit dieser Überlegung. c. Im Gefolge dieser Lösung sind die weiteren Änderungen von *9,18 leicht nachvollziehbar: Das von Adam. bezeugte οἱ ἄνθρωποι anstelle des lk οἱ ὄχλοι entspricht der mk-mt Rezeption von *Ev (οἱ ἄνθρωποι Mk 8,27 || Mt 16,13) und belegt damit einmal mehr die *Ev-Priorität: οἱ ὄχλοι ist lk Vorzugswort und lässt sich ohne weiteres auf das Konto der lk Redaktion verbuchen. Damit bleibt das Fehlen des Verbs (εἶναι) im Zeugnis des Adamantius. Da es durch eine - wenn auch nur entlegene - Handschrift gestützt wird (aeth Bodl. 41), ist man geneigt, Adamantius auch hierin zu folgen. 2 d. Die Antwort der Jünger mit den Identifizierungsangeboten der »Menschen« (*9,19) ist durch Adamantius mit demselben Wortlaut wie im kanonischen Text bezeugt. Die Variante ἕνα τῶν προϕητῶν (D it) anstelle des kanonischen ὅτι προϕήτης τις τῶν ἀρχαίων ἀνέστη wird wiederum durch Mt 16,14 gestützt. Die Annahme, dass Mt hier *Ev folgte, ist sehr viel einfacher als die Vorstellung, dass die Kopisten ohne erkennbaren Anlass anstelle der kanonischen Lk-Formulierung lieber den Mt- Wortlaut eingetragen haben sollten. 2. Auch das Petrusbekenntnis *9,20 ist widersprüchlich bezeugt. Während Adamantius, darin der kanonischen Formulierung entsprechend, nur das Objekt im Akkusativ nennt (τὸν Χριστόν), bezeugt Tertullian gleich zwei Mal einen eigenständigen Satz: tu es Christus/ σὺ εἶ ὁ Χριστός. Wie immer in diesen Fällen gebührt der Vorrang der Formulierung, die am weitesten von der kanonischen Fassung des Mehrheitstextes entfernt ist; das ist in diesem Fall σὺ εἶ ὁ Χριστός. Darüber hinaus entspricht diese Formulierung Mk 8,29 || Mt 16,16 und wird außerdem auch von zwei Altlateinern gestützt. Mk und Mt haben also die Formulierung aus *Ev übernommen, Lk hat sie verändert. Tertullian und Adamantius stimmen allerdings trotz dieses Unterschieds darin überein, dass das Bekenntnis des Petrus sich auf die Prädikation »Christus« beschränkte. ______________________________ 2 Aeth (Bodl. 41) geht wiederholt mit D it sy und stützt vorkanonische Lesarten, vgl. etwa zu *11,26.39; *16,29; *21,10. <?page no="234"?> 746 Anhang I 9,18-22 Nimmt man zu der direkten Bezeugung noch die an dieser Stelle besonders disparate kanonische Handschriftenüberlieferung hinzu, gibt es für das Praedicativum folgende Varianten, die hier unbeschadet ihrer grammatischen Form (Nominativ bzw. Akkusativ) nur nach ihrem semantischen Gehalt unterschieden sind: 1. ὁ Χριστός: *9,20 (Tertullian; Adamantius); Mk 8,29 M 2. ὁ Χριστὸς υἱός: *9,20 D 2766 d r 1 3. ὁ Χριστὸς ὁ υἱός: *9,20 l aeth (Bodl. 41); 28 213 892 1675 ℓ70 bo 4. ὁ Χριστὸς τοῦ θεοῦ: *9,20 aur c ſſ 2 q M 5. ὁ Χριστὸς ὁ θεός: *9,20 bo mss 6. ὁ Χριστὸς ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ: *9,20 e f; Mk 8,29 א L pc r 1 7. ὁ Χριστὸς ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ τοῦ ζῶντος: *9,20 l; Mt 16,16 M ; Mk 8,29 W f 13 pc b sy p sa mss (8. ὁ Χριστὸς ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ τοῦ σώζοντος: Mt 16,16 D) Es ist nicht ganz leicht, den Ursprung dieser verzweigten Überlieferung in *Ev auszumachen. Neben dem absoluten ὁ Χριστός (1) kommen vor allem in Frage ὁ Χριστὸς (ὁ) υἱός (2) und (3). Die anderen Varianten lassen sich entweder als gezielte Bearbeitung (4, 7) oder als Mischformen auf der Ebene der handschriftlichen Überlieferung verstehen. Für absolutes ὁ Χριστός spricht das direkte Zeugnis (Tert., Adam.) sowie der Umstand, dass Mk - als mutmaßlich ältester Bearbeiter von *Ev - diese Variante ebenfalls hat. Allerdings ist die problematischste Variante die Ergänzung von ὁ Χριστός um das artikellose υἱός (2), auf die offensichtlich die Erleichterung (3) zurückgeht. Eine Entscheidung zwischen den Möglichkeiten (1) und (2) ist nicht möglich; das Druckbild der Rekonstruktion versucht, diesem Umstand Rechnung zu tragen. 3. Die genaue Rekonstruktion der sprachlichen Gestalt der Leidensankündigung *9,22 ist schwierig, aber aufschlussreich. Zur Vereinfachung dient diese Übersicht. *9,22 Tert. *9,22 Epiph. *9,22 Adam. Lk 9,22 Mk 8,31 Mt 16,21 oportet δεῖ δεῖ δεῖ δεῖ δεῖ Filium hominis τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου αὐτὸν εἰς Ἱεροσόλυμα ἀπελθεῖν καὶ multa pati πολλὰ παθεῖν πολλὰ παθεῖν πολλὰ παθεῖν πολλὰ παθεῖν πολλὰ παθεῖν et reprobari καὶ ἀποδοκιμασθῆναι καὶ ἀποδοκιμασθῆναι καὶ ἀποδοκιμασθῆναι a ἀπὸ ἀπὸ ὑπὸ ἀπὸ presbyteris τῶν πρεσβυτέρων τῶν πρεσβυτέρων τῶν πρεσβυτέρων τῶν πρεσβυτέρων et scribis καὶ ἀρχιερέων καὶ ἀρχιερέων καὶ τῶν ἀρχιερέων καὶ ἀρχιερέων <?page no="235"?> 9,18-22 Rekonstruktion 747 et sacerdotibus, καὶ γραμματέων καὶ γραμματέων καὶ τῶν γραμματέων καὶ γραμματέων et interfici καὶ ἀποκτανθῆναι καὶ σταυρωθῆναι καὶ ἀποκτανθῆναι καὶ ἀποκτανθῆναι καὶ ἀποκτανθῆναι et post καὶ μετὰ καὶ μεθ’ καὶ καὶ μετὰ καὶ tertium diem τρεῖς ἡμέρας ἡμέρας τρεῖς a τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ a τρεῖς ἡμέρας c τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ resurgere ἐγερθῆναι ἀναστῆναι b ἐγερθῆναι ἀναστῆναι ἐγερθῆναι c a μετα τρεις ημερας αναστηναι: D it (Adam.; Epiph.) b αναστηναι: A C D K f 1 565 pm (Adam.) c μετα τρεις ημερας αναστηναι: D (al it) bo Folgende Einzelheiten sind strittig und bedürfen der Erörterung: (a) Die mt-lk »Minor Agreements« der Verwerfungsaussage (die Präposition ἀπό bei Mt || Lk anstelle des mk ὑπό; die mk Artikel vor allen drei Gruppen). (b) Die Reihenfolge der Gruppen in der Verwerfungsaussage. (c) Das von Adam. bezeugte σταυρωθῆναι anstelle des ansonsten bezeugten ἀποκτανθῆναι. (d) Die uneinheitliche Datierung der angekündigten Auferstehung. (e) Die Formulierung der Auferweckungsaussage mit ἀναστῆναι bzw. mit ἐγερθῆναι. a. Das erste Problem ist ein viel verhandeltes »Minor Agreement«: Mt 16,21 und Lk 9,22 stimmen gegen Mk 8,31 nicht nur in der Präposition (ἀπό anstelle des mk ὑπό) überein, sondern auch darin, dass sie nur vor der ersten Gruppe einen Artikel bieten (τῶν πρεσβυτέρων) und die weitere Aufzählung davon abhängig sein lassen, während Mk den Artikel auch für die zweite und dritte Gruppe wiederholt. 3 Da der semantische Unterschied zwischen diesen Formulierungen zu vernachlässigen ist und daher nur schwer als unabhängige Änderung der mk Formulierung durch Mt und Lk verständlich zu machen ist, dürfte es dieses Phänomen im methodischen Horizont der Zwei-Quellentheorie nicht geben. Neben anderen hatte daher Robert Gundry wiederholt begründet, 4 dass dieses Agreement nur durch die lk Abhängigkeit von Mt zu erklären sei. Diese Interpretation hat erwartungsgemäß Zuspruch aus dem Umfeld der Farrer-Goulder-Theorie erfahren, die ja genau dieses Abhängigkeitsverhältnis voraussetzt. Wenig überraschend, haben sich auch Kritiker, diesmal aus dem Lager der Zwei-Quellentheorie, zu Wort gemeldet und die mt-lk Übereinstimmung als »independent redaction« erklärt. Diese längliche Debatte 5 ist hier nicht nachzuzeichnen, da die mt-lk Übereinstimmung, wie auch sonst im Horizont der *Ev-Priorität, ohne weiteres verständlich ist. ______________________________ 3 Vgl. BDR § 276.2 (mit Anm. 2). 4 R. H. G UNDRY , Matthean Foreign Bodies in Agreements of Luke with Matthew against Mark. Evidence that Luke used Matthew, in: Fr. Van Segbroeck et al. (eds.), The Four Gospels II, Leuven 1992, 1467-1495; DERS ., The Refusal of Matthean Foreign Bodies to Be Exorcised from Luke 9,22; 10,25-28, ETL 75 (1999), 104-122. 5 Vgl. F R . N EIRYNCK , Note on Luke 9,22. A Response zu M. D. Goulder, in: Fr. Neirynck, Evangelica II, Leuven 1991, 43-48; T. A. F RIEDRICHSEN , Luke 9,22 - a Matthean Foreign Body? , ETL 72 (1996), <?page no="236"?> 748 Anhang I 9,18-22 Da Tertullians lateinisches Referat für diese Fragen keinerlei Aufschlüsse über seinen griechischen *Ev-Text ermöglicht, folgt die Rekonstruktion dem Adamantiusreferat, das in den fraglichen Formulierungen dem kanonischen Lk-Text entspricht (ἀπό; Artikel nur vor dem ersten Glied). Dies passt zu den weiteren Beobachtungen zum lk Sprachgebrauch: In Lk-Act gibt es insgesamt »some twenty-one instances of Luke’s repeating the definite article in an oblique case.« 6 Die Formulierung in Lk 9,22 entspricht daher nicht dem ansonsten zu beobachtenden lk Sprachgebrauch und wird daher Tradition sein. Die Schlussfolgerung, die Gundry, Goulder und andere aus diesem Befund ziehen, dass nämlich Lk von Mt abhängig sei, ist jedoch nicht zu halten: Mt wie Lk rezipieren den Wortlaut aus *Ev, nicht aber den geringfügig veränderten aus Mk. b. Die Aussagen über das Geschick des Menschensohns einschließlich der Aufführung der Gegnergruppen in V. *22a sind unterschiedlich bezeugt. Auf der einen Seite fehlt bei Epiphanius die Verwerfungsaussage komplett. Tertullian und Adamantius bezeugen sie, unterscheiden sich aber untereinander in der Reihenfolge, in der die einzelnen Gruppen angeführt werden: Adamantius bietet dieselbe Abfolge wie die drei kanonischen Fassungen (Älteste; Priester; Schriftgelehrte), wogegen bei Tertullian die beiden letzten Gruppen in umgekehrter Reihenfolge auftauchen (Älteste; Schriftgelehrte; Priester). Auch die handschriftliche Überlieferung zeigt hier eine größere Disparität. Bezeugt sind (für Lk 9,22) folgende Reihenfolgen: 1. (1 2 3 4 5) πρεσβυτερων και γραμματεων και αρχιερεων: Tert sy c 2. (5 2 1 4 3) αρχιερεων και πρεσβυτερων και γραμματεων: 13 69 124 213 346 543 579 788 826 828 983 ſſ 2 g 1 l q r 1 3. (1 2 5 4 3) πρεσβυτερων και αρχιερεων και γραμματεων: Adam M 4. (1; om 2-5) πρεσβυτερων: 1352 5. (1-3; om 4-5) πρεσβυτερων και αρχιερεων: ℓ1642 6. om Epiph Man kann überlegen, ob die kurze Fassung bei Epiphanius auf seine Zitierweise zurückzuführen ist, die häufig Anfang und Ende von Aussagen benennt, um sie eindeutig zu charakterisieren, aber dazwischen liegende und überflüssig erscheinende Bestandteile oft auslässt; in diesem Fall wäre sein Zeugnis für die Rekonstruktion dieser Stelle zu vernachlässigen. 7 Allerdings taucht dieses Phänomen insbesondere ______________________________ 398-407; F R . N EIRYNCK , Luke 9,22 and 10,25-28. The Case for Independent Redaction, in: ders., Evangelica III, Leuven 2001, 295-306. Auf der anderen Seite vgl. M. D. G OULDER , Luke: A New Paradigm, Sheffield 1989, 48ff; DERS ., Luke’s Knowledge of Matthew, in: G. Strecker (Hg.), Minor Agreements, Göttingen 1993, 143-160: 144; M. S. G OODACRE , Goulder and the Gospels, Sheffield 1996, 96-98. 6 G UNDRY , a. a. O. (Matthean Foreign Bodies), 1476. 7 Aus inhaltlichen Gründen erwogen von R OTH 302: »Since Epiphanius appears to be focusing on the body that suffered and died being the body that was raised (cf. the elenchus), the omission is <?page no="237"?> 9,18-22 Rekonstruktion 749 bei der Zusammenfassung längerer Abschnitte auf. Vor allem aber deutet die ausgesprochen diverse Überlieferung dieses Elements darauf hin, dass hier redaktionell gearbeitet wurde. Es ist daher sehr gut möglich, dass Epiphanius korrekt referiert. Diese Lösung entspricht den methodischen Grundlagen, die sich aus der *Ev- Priorität ergeben. In diesem Fall muss man davon ausgehen, dass erst Mk 8,31 die Verwerfungsaussage in die Reihe der Widerfahrnisse des Menschensohns eingefügt hat. Mt und Lk sind ihm darin gefolgt. Tertullian und Adamantius hatten dann *Ev- Exemplare, die an dieser Stelle schon durch die kanonische Überlieferung beeinflusst waren. c. Ein besonderes Problem liegt in der von Adamantius bezeugten Formulierung πολλὰ παθεῖν καὶ ἀποδοκιμασθῆναι … καὶ σ τ α υ ρ ω θ ῆ ν α ι : Dass der Menschensohn von seinen Gegnern gekreuzigt werden müsse, ist in den synoptischen Leidensweissagungen nur in Mt 20,19 erwähnt (καὶ σταυρῶσαι), taucht ansonsten aber in den zahlreichen Varianten nicht auf. Tatsächlich wäre diese Bezeugung auch aus inhaltlichen Gründen verdächtig: Es ist nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen die konkrete Ankündigung des Gekreuzigtwerdens (σταυροθῆναι) durch die allgemeinere des Getötetwerdens (ἀποκτανθῆναι) hätte verdrängt werden können. Allerdings belegt Irenaeus die Leidensankündigung in der durch Adamantius bezeugten Formulierung. 8 Irenaeus fasst die Leidensankündigung hier nicht frei zusammen, sondern zitiert sie (inquit! ). Unklar ist allerdings, aus welchem Text. Denn die Wendung crucifigi … tertio die/ σταυροθῆναι … τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ ist für keinen der hier besprochenen Texte bezeugt: Mt und Lk (sowie die Varianten zu Mk 9,31; 10,34) haben zwar den »dritten Tag«, nicht aber das Stichwort σταυροθῆναι/ crucifigi. Umgekehrt hat der einzige andere Beleg für σταυροθῆναι/ crucifigi in der Leidensankündigung (*9,22 teste Adam.) nicht die Formulierung τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ, sondern μετὰ τρεῖς ἡμέρας. Hier bleibt also ein ungelöstes Rätsel. Allerdings ist Irenaeus’ Zeugnis als Beleg für einen Text zu werten, der die Leidensankündigung mit dem Hinweis auf die Kreuzigung enthielt. d. Das wichtigste Problem betrifft die Datierung der Ankündigung der Auferstehung, die von Adamantius und Epiphanius in übereinstimmender Abweichung von der kanonischen Fassung bezeugt wird: Entgegen dem lk τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ, das sich so auch Mt 16,21 findet, bezeugen Epiphanius und Adamantius für *Ev das auch aus Mk 8,31 bekannte μ ε τ ὰ τρεῖς ἡμέρας. Tertullians Referat (p o s t tertium ______________________________ likely due to Epiphanius himself«; ähnlich schon Z AHN II 466. Das würde allerdings voraussetzen, dass Epiphanius seine Widerlegung in den Elenchi schon bei der Abfassung der Scholienliste vor Augen gehabt hätte, die er »etliche Jahre zuvor« (ἀπὸ ἐτῶν ἱκανῶν, Haer. 42,10,2) angefertigt hatte. 8 Iren., Haer. 3,16,5: Oportet enim, inquit, filium hominis multa pati et reprobari et c r u c i f i g i et die tertio resurgere (FC 8/ 3, 196,19f). Da die Folge von πολλὰ παθεῖν καὶ ἀποδοκιμασθῆναι nur Mk 8,31 || Lk 9,22 (Mt 16,21: πολλὰ παθεῖν) begegnet, nicht aber in den beiden anderen Weissagungen Mk 9,31 || Mt 17,22 || Lk 9,44 bzw. Mk 10,33 || Mt 20 18 || Lk 18,31, bezieht sich Irenaeus’ Zitat eindeutig auf Mk 8,31 oder Lk 9,22. <?page no="238"?> 750 Anhang I 9,18-22 diem) kombiniert Elemente beider Lesarten: Die Ordinalzahl wie der Mehrheitstext von Mt und Lk, die Präposition wie Mk, Epiphanius und Adamantius. In der Sache - dass nämlich die Auferstehung des Menschensohns erst nach einer Frist von drei Tagen stattfinden werde - stimmen hier alle drei Hauptzeugen überein. In diesem Fall ist der Unterschied von einigem theologischen Gewicht. Denn die Formulierung μ ε τ ὰ τρεῖς ἡμέρας aus *Ev-Mk passt nicht zu der jeweils narrativ entfalteten Chronologie von Grablegung und Auffindung des leeren Grabes am Ostermorgen: Sowohl für *Ev als auch für Mk ist klar, dass Jesus am Freitagabend begraben wurde (Mk 15,42f; *23,[54]56) und die Frauen das Grab bereits am Morgen des folgenden Sonntags leer fanden (Mk 16,1f; *24,1). Die hier vorausgesetzte Zeitspanne ist mit »nach drei Tagen« nicht angemessen beschrieben: Auch bei einer inklusiven Tageszählung kommt man bestenfalls auf »nach zwei Tagen«. Die Inkongruenz zwischen der besprochenen und der erzählten Zeit lässt sich nur vor dem Hintergrund des aus der Danieltradition stammenden apokalyptischen Wochenschemas verstehen. Demnach wird (werden) Gottes letzte(r) Prophet(en) genau zur Hälfte der letzten Jahrwoche vom Widersacher überwunden und getötet, aber »nach einer Zeit und (zwei) Zeiten und einer halben Zeit« (Dan 7,25; 12,7; Apc 12,14) wieder auferweckt. In der breiten traditionsgeschichtlichen Überlieferung ist die Angabe dieser dreieinhalb Zeiteinheiten sprachlich gelegentlich vereinfacht worden. Zu diesen Vereinfachungen gehört auch die Datierung in der Auferstehungsweissagung μετὰ τρεῖς ἡμέρας aus *Ev-Mk, nicht aber das mt-lk »am dritten Tag«. 9 ______________________________ 9 Als Vereinfachungen der komplizierten Angabe in Dan (1 + 2 + ½) sind folgende Möglichkeiten bezeugt: (a) Der Zeitraum, währenddessen die Zeugen tot sind, wird mit »drei Tage« angegeben, z. B.: ApcEsr (äth) (H ALÉVY 79: »sie werden tot bleiben drei Tage und drei Nächte«); PsApcJoh (gr) 8 (T ISCHENDORF 76: »drei Jahre wie drei Monate … wie drei Wochen … wie drei Tage … wie drei Stunden … wie drei Augenblicke«). Häufiger ist (b) die Angabe, dass die Auferstehung am vierten Tag geschieht: ApcElia (kopt) 31,30 (S CHRAGE 259: »am vierten Tag«); Commodian, Carm. apol. 861 (M ARTIN 104: illos autem Dominus q u a r t o d i e tollit in auras); Victorinus, In apoc. 11,5 (H AUSSLEITER 102: q u a r t a d i e resurgere, ne quis aequalis deo inveniatur). Daneben findet sich (c) auch die Angabe »nach drei Tagen« bzw. »nach dem dritten Tag«: Lat. Tiburtina (S ACKUR 186: p o s t t r e s d i e s a Domino suscitabuntur); Adso, Antichr. (PL 101, 1297a: p o s t t r e s d i e s a Domino suscitabuntur; Lactantius, Div. inst. VII 14,3 (B RANDT 638: p o s t d i e m t e r t i u m reviviscet). Zum Ganzen vgl. K. B ERGER , Die Auferstehung des Propheten und die Erhöhung des Menschensohns, Göttingen 1976, 107ff. Die »dreieinhalb Tage« von Apc 11,9 (ἡμέραι τρεῖς καὶ ἡμισεία) sind also schon relativ genau. Mit Blick auf diese Vereinfachungen ist ohne weiteres erkennbar, dass sich »nach drei Tagen« auf denselben Zeitpunkt beziehen kann wie »am vierten Tag«. Der in diesem Zusammenhang geläufige Hinweis auf die inklusive Zählung, bei der die angefangenen Tage ganz mitgezählt würden (vgl. als Beispiel für viele: W OLTER , Lk 345), ist daher unzutreffend: Auch in neutestamentlicher Zeit wusste man sehr genau, dass die Datierung »nach drei Tagen« und »am dritten Tag« nicht dasselbe sind: μετὰ τρεῖς ἡμέρας und τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ bezeichnen eindeutig verschiedene Zeiträume. <?page no="239"?> 9,18-22 Rekonstruktion 751 Mt und Lk haben auf eine stärkere Kohärenz von erzählter und besprochener Zeit geachtet und die Inkongruenz zwischen der Passionschronologie und der Auferstehungsweissagung beseitigt. 10 Die Datierung auf den dritten Tag (τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ) 11 ist daher eine beabsichtigte Angleichung an die tatsächlich erzählte Ereignisfolge. Für diese Korrektur ist charakteristisch, dass die präpositionale Wendung durch einen temporalen Dativus locativus ersetzt und das Zahlwort als Ordinalzahl beibehalten wurde (τρεῖς/ τρίτῃ). Rein rechnerisch wäre eine entsprechende Angleichung ja auch durch die Formulierung μετὰ δ ύ ο ἡμέρας zu erreichen gewesen. In diesem Fall wären die Eingriffe in den vorgegebenen Text sogar geringer ausgefallen. Dass Mt und Lk diese Lösung nicht gewählt haben, liegt an ihrem Bemühen, die Zahl »drei« in der Formulierung beizubehalten. Dieses Bemühen ist nur vor dem traditionsgeschichtlichen Hintergrund des Wochenschemas verständlich. Insgesamt ist die Bearbeitungsrichtung von μετὰ τρεῖς ἡμέρας hin zu τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ leicht nachvollziehbar. In diesem Fall spricht alles dafür, dass Epiphanius und Adamantius korrekt zitieren: Die Formulierung μετὰ τρεῖς ἡμέρας in Mk 8,31 stammt aus *Ev; sie ist in erster Linie von der traditionsgeschichtlichen Deutung im Wochenschema abhängig, nicht aber von den tatsächlich berichteten Ereignissen. Demgegenüber ist Tertullians post tertium diem als Konformierung des ursprünglichen und des kanonischen Wortlauts aufzufassen. 12 Diesem Befund entspricht dann auch die Beobachtung, dass die analoge Aussage in Lk 13,31 καὶ τ ῇ τ ρ ί τ ῃ τελειοῦμαι eindeutig in *Ev gefehlt hat und erst auf die lk Redaktion zurückgeht (s. dort). Vor diesem Hintergrund sind Mt 16,21 || Lk 9,22 D it (u. a.) aufschlussreich: καὶ μετὰ τρεῖς ἡμέρας ἀναστῆναι anstelle von καὶ τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ ἐγερθῆναι entspricht der Fassung aus *Ev, die sich hier erhalten hat. Für Mt 16,21 D it usw. gilt daher das Gleiche wie für *9,22: Es handelt sich um die vorkanonische Fassung (*Mt 16,21). Diese Einsicht ist methodisch von großer Bedeutung, weil sie zeigt, dass die »lk« Redaktion von *Ev offensichtlich dieselbe ist, die dem vorkanonischen »Matthäus«-Evangelium (*Mt) seine kanonische Gestalt gab. 13 e. Die geringsten Schwierigkeiten wirft die uneinheitliche Bezeugung des letzten Wortes auf: Epiphanius liest ἐγερθῆναι (wie Mt 16,21; Lk 9,22), Tertullian und ______________________________ 10 Dass diese Angleichung erst auf die Kanonische Redaktion zurückgeht, ist o. (§ 14.3) gezeigt. 11 Sie findet sich im Übrigen auch als Variante zu Mk 9,31 (μετὰ τρεῖς ἡμέρας: א B C* D L Δ Ψ 579 892 pc b c d i k l r 1 (a ſſ 2 q) sy hmg co ¦ τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ: A C 3 W Θ f 1.13 aur f l vg sy M ) und zu 10,34 (μετὰ τρεῖς ἡμέρας: א B C D L Δ Ψ 579 892 pc b d ſſ 2 i k r 1 (a c q) sy hmg co ¦ τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ: A* W Θ f 1.13 aur f l vg sy Orig), nicht jedoch zu Mk 8,31. Zur Deutung s. o. § 14.3. 12 Tertullians Formulierung begegnet auch bei Lact., Div. inst. VII 14,3 (B RANDT 638: post diem tertium reviviscet). Vgl. auch Mk 9,31 (a ſſ 2 q); Mk 10,34 (a c q); Mt 16,21 (a b c e ſſ 2 r 1 ). 13 Zum Aufschluss, den die handschriftliche Überlieferung mit ihren Varianten bei der Datierung in den synoptischen Leidensweissagungen für die Annahme der Kanonischen Redaktion geben kann, vgl. o. § 14.3. <?page no="240"?> 752 Anhang I 9,18-22 Adamantius bezeugen dagegen (wie Mk 8,31) ἀναστῆναι. Hier bestätigt sich, dass die am weitesten vom Mehrheitstext entfernte Variante am ehesten Anspruch auf Ursprünglichkeit hat. Denn unter den handschriftlichen Zeugen für ἀναστῆναι befinden sich wieder die üblichen Verdächtigen (D it), hier neben einer Reihe weiterer griechischer Handschriften und patristischer Zeugen. Diese Rekonstruktion stimmt mit *9,7 (ἐκ νεκρῶν) ἀνέστη überein, beide Lesarten stützen sich gegenseitig und belegen den Vorzug der lk Redaktion für das Pass. Divinum mit ἐγερθῆναι, das dann auch Epiphanius’ *Ev-Text kontaminiert hat. 4. Über die Einzelheiten hinaus besitzt diese Perikope die besondere Bedeutung, dass sie die unmittelbare Abfolge von *9,10-17 und *9,18-22 schon für *Ev sicherstellt. Tertullians Referat ist hier außerordentlich dicht, und er stellt eine unmittelbare Beziehung zwischen der Speisung der 5000 (*9,10-17: 4,21,5) und dem Petrusbekenntnis (*9,18ff) her: »Petrus, der diese Dinge (sc. die Speisung der 5000) gesehen und sie mit den früheren (sc. den Ereignissen von 2Kön 4) verglichen hatte, hatte erkannt, dass diese nicht nur in der Vergangenheit geschehen, sondern schon damals Prophezeiungen für die Zukunft gewesen waren, so dass er dem Herrn, als er fragte, wer er ihnen zu sein schiene, anstelle aller antwortete: Du bist der Christus …« (4,21,6). Tertullian hat bei *Ev also ohne Zweifel *9,18 in unmittelbarem Anschluss an *9,17 gelesen: Die sog. »Große Auslassung«, also das Fehlen des Textbestandes von Mk 6,45-8,26 zwischen Lk 9,17 und 9,18, geht daher nicht auf eine lk Redaktion des Mk-Textes zurück. Lk ist hier vielmehr der Akoluthie von *Ev gefolgt, dessen Text er mit nur kleinen Veränderungen übernimmt. Die »Große Auslassung« erscheint als solche nur im methodischen Gerüst der Zwei-Quellentheorie mit der Annahme, dass Lk von Mk abhängig sei. Unter der Prämisse der *Ev-Priorität nicht nur vor Lk, sondern auch vor Mk ist die »Große Auslassung« daher eine von Mk sehr genau durchdachte »große Ergänzung«. 14 Ihr kompositioneller Sinn liegt in dem Nachweis, dass die Jünger zur eigenständigen Verkündigung nicht nur vor Juden in der Lage sind, sondern auch vor Heiden. Die Suffizienz ihrer Verkündigung, die hier metaphorisch als »das eine Brot der Jünger« gefasst ist, wird durch die umfangreiche Belehrung Mk 7,1-23 sowie die Szene 7,24-30 narrativ vorbereitet und am Ende in ganz konsequent durchgehaltener Metaphorik wieder aufgegriffen (Mk 8,10- 12.23-21). 15 Das hier verwendete Bild vom Sauerteig der Pharisäer hatte Mk aus ______________________________ 14 Vgl. dazu ausführlicher o. § 11.2 (Bd. I, S. 221ff). 15 Zur mk Komposition vgl. M. K LINGHARDT , Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002), 183-202: 193-199. <?page no="241"?> 9,18-22 Rekonstruktion 753 *12,1 übernommen (für *Ev bezeugt; s. dort). Mt 14,22-16,12 folgt dem mk Erzählfaden und hat deshalb auch diese »große Ergänzung« aus Mk 6,45-8,26 rezipiert. *9,23.24.25.26a.27: Die Bedingungen der Nachfolge Nur teilweise bezeugt, aber vermutlich ganz in *Ev vorhanden; sehr wahrscheinlich durch Lk redaktionell bearbeitet. 9,23 Ἔλεγεν δὲ πρὸς πάντας, Εἴ τις θέλει ὀπίσω μου ἔρχεσθαι, ἀρνησάσθω ἑαυτὸν a [ καὶ ἀράτω τὸν σταυρὸν αὐτοῦ ] a b [ καθ’ ἡμέραν ] b , καὶ ἀκολουθείτω μοι. 24 ὃς γὰρ ἂν θέλῃ τὴν ψυχὴν αὐτοῦ σῶσαι, ἀπολέσει αὐτήν· c καὶ ὃς c ἂν ἀπολέσῃ d αὐτὴν ἕνεκεν ἐμοῦ, e οὗτος σώσει αὐτήν. 25 τί γὰρ f ὠϕελεῖ g ἄνθρωπον h κερδῆσαι τὸν κόσμον ὅλον, ἑαυτὸν δὲ i ἀπολέσαι ἢ k ζημιωθῆναι; 26 ὃς l γὰρ ἂν ἐπαισχυνθῇ με m ¿καὶ τοὺς ἐμοὺς? λόγους m n καὶ ἐγὼ ἐπαισχυνθήσομαι αὐτόν n [ ὅταν ἔλθῃ ἐν τῇ δόξῃ αὐτοῦ καὶ τοῦ πατρὸς καὶ τῶν ἁγίων ἀγγέλων ] . 27 λέγω δὲ ὑμῖν ἀληθῶς, εἰσίν τινες τῶν αὐτοῦ ἑστηκότων οἳ οὐ μὴ γεύσωνται θανάτου ἕως ἂν ἴδωσιν o τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου ἐρχόμενον ἐν τῇ δόξῃ αὐτοῦ. o A. *9,24: Tert. 4,21,8: Certe et si non essent praedicata, eam causam indicti silentii protulit quae non Petri errorem demonstraret, obeundarum passionum necessitatem. Qui voluerit, inquit, animam suam salvam facere, perdet illam, et qui perdiderit eam propter me, salvam faciet eam. Certe filius hominis hanc sententiam emisit. ♦ *9,26: Tert. 4,21,10: Sed et zeloten deum mihi exhibet, malum malo reddentem: Qui confusus, inquit, mei fuerit, et ego confundar eius. Quando nec confusionis materia conveniat nisi meo Christo, cuius ordo magis pudendus, ut etiam haereticorum conviciis pateat, omnem nativitatis et educationis foeditatem et ipsius etiam carnis indignitatem quanta amaritudine possunt perorantibus. ¦ Tert. 4,21,12: Non poterat itaque dixisse, Qui mei confusus fuerit. Noster hoc debuit pronuntiasse, minoratus a patre modico citra angelos, vermis et non homo, ignominia hominis et nullificamen populi, quatenus ita voluit ut livore eius sanaremur, ut dedecore eius salus nostra constaret. ¦ Vgl. Orig (Mart. 12; GCS 2, 12,7ff): ἄκουε γὰρ Λοῦκα μὲν λέγοντος … Ὃς δ ἂν ἀπολέσῃ τὴν ψυχὴν ἀυτοῦ ἕνεκεν ἐμοῦ, οὗτος σώσει αὐτήν. ♦ *9,27: Vgl. Orig (Comm. in Joh 20,43; GCS 10, 386): τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου ἐν τῇ δόξῃ ἀυτοῦ. B. a (9,23) και αρατω τον σταυρον αυτου/ et tollat crucem sua: om D a d l ¦ add aur b c e f ſſ 2 l q r 1 M (*Ev non test.) ● b (9,23) καθ ημεραν/ cottidie: om א 1 C D E G H U V X Y Γ Δ Λ Ω 028 047 mult lectt a b c d ſſ 2 l q r 1 sy s georg III ¦ add aur f vg M (vgl. Mk 8,34; Mt 16,24; *Ev non test.) ● c (9,24) και ος/ et qui: Tert a ¦ ος δε/ qui autem: c d e M ● d (9,24) αυτην/ illam: Tert e ¦ την ψυχην αυτου/ animam suam: a aur b c d f ſſ 2 l q r 1 M ● e (9,24) ουτος/ hic: om Tert a aur c f ſſ 2 gat l vg sy s sa ¦ add b d e q r 1 M ● f (9,25) ωϕελει: א C D 700 Tat arab(mss) ¦ ωϕελειται: M (*Ev non test.) ● g (9,25) ανθρωπον: D* ¦ ανθρωπος M (*Ev non test.) ● h (9,25) κερδησαι/ lucrum facere (lucrari: c): D* 047 ℓ211 a c d ¦ εαν κερδηση/ si lucretur (lucrum feceretur: e): D c a aur b e f ſſ 2 g 1 gat l q r 1 ¦ κερδησας M (*Ev non test.) ● i (9,25) απολεσαι/ perdere: D* a c d ¦ απολεση/ perdat: D c aur b e f ſſ 2 g 1 gat l q r 1 vg sy s Tat arab armen ¦ απολεσας: M (*Ev non test.) ● k (9,25) ζημιωθηναι/ damnum <?page no="242"?> 754 Anhang I 9,23-27 facere (c), iactum pati (d): D c d ¦ ζημιωθεις/ detrimentum (damnum: e) faciat: a aur b e f ſſ 2 g 1 gat l q r 1 M (*Ev non test.) ● l (9,26) γαρ: om Tert bo ms ¦ add it M ● m (9,26) και τους εμους λογους/ et meos sermones: om Tert ¦ και τους εμους/ et meos: D a d e l ¦ add aur b c f ſſ 2 g 1 gat l q r 1 M ● n (9,26) και εγω επαισχυνθησομαι αυτον/ et ego confundar eius: Tert ¦ τουτον ο υιος του ανθρωπου επαισχυνθησεται: it M ● o (9,27) τον υιον του ανθρωπου ερχομενον εν τη δοξη αυτου/ filium hominis venientem in gloria sua: D d (Tert) Orig (Comm. in Joh fr. 1; GCS 10, 567) (vgl. Mt 16,26) ¦ την βασιλειαν του θεου/ regnum dei: it M (*Ev non test.). C. Tertullian bezeugt die beiden wichtigsten Aussagen der Perikope (*9,24.26a). Nicht bezeugt sind die Verse 9,23.25.26b.27, aber es gibt keinen Anlass, sie *Ev abzusprechen. Dass Marcion 9,23 aus inhaltlichen Gründen gestrichen habe, 1 ist kaum haltbar. 1. Für die nichtbezeugten Verse (*23.25.26b.27) ist wieder das häufige Phänomen der Interferenz der vorkanonischen und der kanonischen Handschriftenüberlieferung entscheidend. Denn gerade für diese Verse sind in den dafür besonders anfälligen Zeugen charakteristische Varianten bezeugt, die hier Anspruch auf Ursprünglichkeit besitzen. a. In *9,23 fehlen die Worte καὶ ἀράτω τὸν σταυρὸν αὐτοῦ in D it, das verstärkende καθ’ ἡμέραν darüber hinaus in einer langen Reihe griechischer Zeugen. Das Zustandekommen der unterschiedlichen Lesarten ist ohne weiteres nachvollziehbar: Mk 9,34 hat das aus dem vorkanonischen Evangelium stammende Wort über die Selbstverleugnung durch die Einfügung καὶ ἀράτω τὸν σταυρὸν αὐτοῦ präzisiert. Von hier aus ist es nach Mt 16,24 und am Ende nach Lk 9,23 gekommen. Bei diesem letzten Schritt hat Lk noch καθ’ ἡμέραν eingefügt, das aber in vielen Zeugen fehlt. b. Analoges gilt für den nicht bezeugten Vers *9,25. Er darf durch die abweichende Formulierung als Acc. c. Inf. in D it (sy) anstelle des konditionalen Relativsatzes wiederum als für den vorkanonischen Wortlaut gesichert gelten. Andernfalls - das ist die übliche Erklärung - müsste man hier einen außerordentlich weit verbreiteten Einfluss der synoptischen Parallelen auf der Ebene der handschriftlichen Überlieferung annehmen. Dies ist, wie meist in diesen Fällen, keine überzeugende Auskunft: Wieso sollten sich mehrere Kopisten unabhängig voneinander an derselben Stelle an der eleganteren Formulierung gestoßen haben? 2. Diese methodische Einsicht ist in besonderer Weise für die Rekonstruktion von *9,26f hilfreich. Tertullian hat *9,26 (wie *9,24) als Zitat (mit inquit eingeleitet) gekennzeichnet, und es gibt zunächst keinen Grund, an der Genauigkeit seiner Wiedergabe zu zweifeln. Demnach hätte Tertullian in der Apodosis von *9,26 die 1. Pers. Sing. gelesen (et ego confundar eius), nicht aber (wie im kanonischen Text) die 3. Pers. mit dem Menschensohn als Subjekt. Gleichwohl stellt er ausdrücklich ______________________________ 1 So die Annahme von T SUTSUI 92, mit Verweis auf Tertullians Referat von *9,57. <?page no="243"?> 9,23-27 Rekonstruktion 755 fest, dass *9,24 eine Aussage des Menschensohns sei (certe f i l i u s h o m i n i s hanc sententiam emisit), der bei ihm im Kontext allerdings gar nicht vorkommt. Die Lösung ergibt sich aus den Varianten in D it, die hier wieder deutliche Spuren des vorkanonischen Textes aufweisen. In *9,26 fehlen in D it die »Worte«, deren man sich schämt: Das Logion zielt in der vorkanonischen Fassung nicht auf die Rede Jesu, sondern auf das Verhältnis, das man gegenüber ihm selbst einnimmt. Dies stimmt mit Tertullians Referat überein und erklärt auch die Formulierung in der 1. Pers. Sing., so dass eine direkte Entsprechung von Protasis und Apodosis vorliegt: Wer sich meiner schämt, dessen werde ich mich schämen. Allerdings haben D it (gegen Tertullians Zeugnis) noch »die Meinen«, in denen das Verhältnis zu »mir« sichtbar wird. Eine Entscheidung ist schwierig: Wenn Tertullian nicht nur korrekt, sondern auch vollständig zitiert, dann wäre die Formulierung »meiner und der Meinen« in D it eine (teilweise) Konformierung des vorkanonischen mit dem kanonischen Text. Dies ist grundsätzlich möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich, weil man in diesem Fall erwarten könnte, dass die kanonische Formulierung με καὶ τοὺς ἐμοὺς λ ό γ ο υ ς vollständig übernommen worden wäre. Daher liegt es näher, dass Tertullian trotz seiner Zitierformel die Aussage aus *Ev nicht vollständig wiedergibt und von der Phrase με καὶ τοὺς ἐμούς/ me et meos nur das Verhältnis zu Jesus anspricht. Dass in *Ev ursprünglich με καὶ τοὺς ἐμούς stand, legt schließlich auch die entsprechende mk Variante nahe: In Mk 8,38 ( P 45 vid W k sa) fehlte λόγους ebenfalls. 2 In diesem Fall hätte die erste Bearbeitung von *Ev durch *Mk den (kürzeren) Text übernommen, der hier wie in Lk 9,26 durch die kanonische Redaktion bearbeitet worden wäre. Aber ein sicheres Urteil ist nicht möglich. Wenn der Text von *9,26a.b in der 1. Pers. Sing. von Tertullian korrekt bezeugt ist, kann 9,26c nicht Teil von *Ev gewesen sein, weil sich ὅταν ἔλθῃ ἐν τῇ δόξῃ αὐτοῦ nur auf den Menschensohn, aber nicht auf »mich« beziehen kann. 3 In diesem Fall kann auch Tertullians Erwähnung des filius hominis (4,21,8) nicht auf *9,26 zurückgehen. Die Erklärung gibt der D-Text von *9,27, der auch hier den vorkanonischen Wortlaut bietet. Demzufolge geht es nicht um das Sehen der Basileia (Lk 9,27 ἴδωσιν τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ), sondern um das des Menschensohns (ἴδωσιν τ ὸ ν υ ἱ ὸ ν τ ο ῦ ἀ ν θ ρ ώ π ο υ ἐρχόμενον ἐν τῇ δόξῃ αὐτοῦ). 4 Mit dieser Überlegung ______________________________ 2 In Mk 8,38 liegt das gleiche Phänomen der Interferenz von vorkanonischer und kanonischer Textüberlieferung vor. Die übliche Erklärung schlägt Ausfall von λόγους aufgrund von Homoioteleuton (ΕΜΟΥΣ - ΛΟΓΟΥΣ) vor (vgl. etwa M ETZGER , Textual Commentary z. St.: Die versehentliche Auslassung von λόγους sei leichter zu erklären als das Eindringen in eine so breite Überlieferung). Wie für die anderen »Westlichen« Lesarten sieht dies anders aus, wenn die kanonische Redaktion als Bearbeitungsschritt zwischen zwei Texten liegt. Die Lesart Mk 8,38 P 45 usw. ist der Text des vorkanonischen *Mk. 3 An anderer Stelle (Carn. Chr. 5,3) erwähnt Tertullian Lk 9,26, und zwar ebenfalls in einer antimarcionitischen Argumentation und ebenfalls ohne einen Hinweis auf 9,26c. 4 Auch Origenes hat an dieser Stelle τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου anstelle von τήν βασιλείαν gelesen (Comm. in Joh 20,43; GCS 10, 386). <?page no="244"?> 756 Anhang I 9,23-27 werden dann auch die überlieferungsgeschichtlichen Verhältnisse an dieser Stelle durchsichtig: *9,27 Mk 9,1 Mt 16,28 Lk 9,27 ἕως ἂν ἴδωσιν ἕως ἂν ἴδωσιν ἕως ἂν ἴδωσιν ἕως ἂν ἴδωσιν τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ ἐρχόμενον ἐληλυθυῖαν ἐρχόμενον ἐν τῇ δόξῃ αὐτοῦ ἐν δυνάμει ἐν τῇ βασιλείᾳ αὐτοῦ. Die unter anderem durch D bezeugte vorkanonische Formulierung - die Umstehenden werden »den Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommen sehen« - ist Ausdruck der Naherwartung: Noch in dieser Generation. Mk hat das Kommen des Menschensohns durch das der Basileia ersetzt, die nun nicht »in Herrlichkeit«, sondern »mit Macht« kommt. Mt 16,28 hat aus *Ev das »Kommen des Menschensohns« übernommen, aus Mk dagegen das Stichwort der Basileia aufgegriffen, das an die Stelle von ἐν τῇ δόξῃ getreten ist. Da Mt wie *Ev eine Aussage über den Menschensohn macht, kann er auch das abschließende Pronomen beibehalten. Lk hat »die Basileia Gottes« aus Mk übernommen, nicht aber, dass sie »kommt«. In allen Stadien der Rezeption ist die auf das nahe Ende bezogene Semantik des »Kommens« deutlich. 3. Wie Tertullians Referat von *9,26 zeigt, muss die Aussage über den Menschensohn und sein »Kommen in Herrlichkeit« in *Ev gefehlt haben. Sie ist erst durch Mk 8,38 hier eingefügt worden, und zwar ganz sachgerecht als Aussage über den Zeitpunkt, an dem das Gericht über diejenigen ergeht, die sich »des Menschensohns« schämen: ὅταν ἔλθῃ ἐν τῇ δόξῃ τοῦ πατρὸς αὐτοῦ μετὰ τῶν ἀγγέλων τῶν ἁγίων. Als Folge dieses Eingriffs stehen in Mk 8,38f zwei Aussagen über das »Kommen« mit jeweils unterschiedlicher Funktion nebeneinander: Nach 8,38 kommt der »Menschensohn ἐν τῇ δόξῃ τοῦ πατρὸς αὐτοῦ«, und zwar zum Gericht an denen, die sich seiner schämen; nach 8,39 kommt dagegen »die Basileia τοῦ θεοῦ … ἐν δυνάμει«, und zwar als Ausdruck der Naherwartung. Mt hat diese beiden Aussagen über das »Kommen« aus Mk übernommen. Dabei hat er den Gerichtsaspekt von Mk 8,38 || Mt 16,27 verstärkt und hinzugesetzt: καὶ τότε ἀποδώσει ἑκάστῳ κατὰ τὴν πρᾶξιν αὐτοῦ. Zugleich konformiert Mt die (Naherwartungs-)Aussage über das Kommen des Menschensohns aus *Ev (*9,27) mit der über das Kommen der Basileia aus Mk 8,39 und lässt den »Menschensohn in seiner Basileia« kommen (Mt 16,28). 5 ______________________________ 5 Zur mt Redaktion vgl. L UZ , Mt II 487: »V 28 wird nicht neu eingeleitet und wird zum Menschensohnwort, das Reich Gottes wird zum Reich des Menschensohns. So rücken V 27 und 28 zusammen.« <?page no="245"?> 9,23-27 Rekonstruktion 757 Diese nicht ganz glückliche Formulierung hat Lk vermieden, indem er in 9,27 überhaupt nicht mehr vom »Kommen« (des Menschensohns in seiner Herrlichkeit: *Ev; des Menschensohns in seiner Basileia: Mt; der Basileia in Kraft: Mk) spricht, sondern vom »Sehen« der Basileia. Lk hat daher nur noch eine (aus Mk 8,38c übernommene) Aussage über das Kommen: Das des Menschensohns in Lk 9,26c. Gleichwohl zeigt seine Formulierung noch den Einfluss des Ausgangstextes *9,27 fin.: Dass der Menschensohn »in seiner Herrlichkeit und der seines Vaters und der heiligen Engel« kommen werde, ist Ausdruck der Konformierung von *Ev mit Mk (wegen der heiligen Engel). *9,27 Mk 8,38c Mt 16,27a Lk 9,26c (ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρ.) (ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρ.) ἕως ἂν ἴδωσιν ὅταν ἔλθῃ μέλλει γὰρ ὅταν ἔλθῃ τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρ. ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρ. ἐρχόμενον ἔρχεσθαι ἐν τῇ δόξῃ ἐν τῇ δόξῃ ἐν τῇ δόξῃ ἐν τῇ δόξῃ αὐτοῦ αὐτοῦ καὶ τοῦ πατρὸς αὐτοῦ τοῦ πατρὸς αὐτοῦ τοῦ πατρὸς μετὰ τῶν ἀγγέλων τῶν ἁγίων μετὰ τῶν ἀγγέλων αὐτοῦ καὶ τῶν ἁγίων ἀγγέλων 4. Das Beispiel der Redaktion von *9,26f ist in mehrfacher Hinsichst instruktiv: Für das überlieferungsgeschichtliche Modell bestätigt sich hier sowohl, dass Mk von *Ev abhängig ist, dessen Text er bearbeitet, als auch, dass Mt direkt - und das heißt: »an Mk vorbei« - auf *Ev zugegriffen hat; dass Lk von *Ev abhängig ist, ist ja ohnehin vorausgesetzt. Darüber hinaus werden hier aber auch die Konturen des redaktionellen Verfahrens sichtbar. Denn es ist offensichtlich, dass die späteren Stadien der *Ev-Rezeption durch Mt und Lk nicht ohne Kenntnis der jeweils vorangehenden Bearbeitungsschritte erreicht werden konnten: Mt hatte neben *Ev auch Kenntnis der mk Fassung, und Lk hat neben *Ev auch Mk und Mt verglichen. Von methodischer Bedeutung ist dabei, dass die Rekonstruktion des *Ev- Textes auch für nichtbezeugte Passagen plausibel gemacht werden kann, wenn neben der Berücksichtigung der Varianten (hier vor allem aus D it) auch die überlieferungsgeschichtlichen Beziehungen ausgewertet werden. Für die weiteren überlieferungsgeschichtlichen Fragen ist zu beachten, dass *Ev zu *9,26 eine ungefähre Entsprechung in *12,8f enthielt (s. dort): Abgesehen von dem auch an anderer Stelle aufgefallenen Umstand, dass schon *Ev »Dubletten« enthielt, die für die Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte aufschlussreich sind (vgl. Lk 12,8f || Mt 10,32f), zeigt Lk 12,8f redaktionelle Eingriffe, die denen in Lk 9,26 entsprechen und so die Kohärenz der Bearbeitung deutlich machen. <?page no="246"?> 758 Anhang I 9,23-27 Vor diesem Hintergrund sind dann auch die (mt-lk) »Minor Agreements« ohne große Schwierigkeiten verständlich, die zu dieser Perikope zu verzeichnen sind. 6 καὶ τοῦ εὐαγγελίου Mk 8,35 ÷ *9,24 || Mt 16,25. - ἐν τῇ γενεᾷ ταύτῃ τῇ μοιχαλίδι καὶ ἁμαρτωλῷ Mk 8,38 ÷ *9,26 || Mt 16,26. - καὶ ἔλεγεν αὐτοῖς Mk 9,1 ÷ *9,27 || Mt 16,28. - ἐληλυθυῖαν ἐν δυνάμει Mk 9,1 ÷ *9,27 || Mt 16,28. Im Rahmen der Zwei-Quellentheorie verursachen diese (negativen) Agreements große Schwierigkeiten, aber im Horizont der *Ev-Priorität ist deutlich geworden, dass es sich durchweg um redaktionelle Änderungen des Mk gegenüber *Ev handelt. 5. Tertullians Argumentation in 4,21,8-12 konzentriert sich völlig auf *9,26 und die Frage der irdischen Existenz Christi: Für welchen Christus könnte es einen Grund gegeben haben, sich seiner zu schämen, »wenn nicht für meinen« (nisi meo Christo, 4,21,10)? Denn nur dieser sei durch die irdische Existenz als Anlass für Beschämung ausgezeichnet - Tertullian nennt die »ganze Hässlichkeit der Geburt und Erziehung, die Würdelosigkeit des Fleisches selbst« (omnis nativitatis et educationis foeditas et ipsius etiam carnis indignitas) und führt detailliert die mit der Geburt verbundenen pudenda an (4,21,11). Dagegen sei der marcionitische Christus »vom Himmel hervorgebracht, mit einem Mal groß, mit einem Mal vollständig, sofort Christus, Geist und Kraft und Gott gewesen - und sonst nichts. Wie er im Übrigen kein wahrer (Mensch) war, dessen (Menschheit) nicht sichtbar war, so muss man auch nicht über den Fluch des Kreuzes erröten, dessen Wahrheit nicht vorhanden war, weil kein Körper vorhanden war« (4,12,11). Dieser argumentative Zusammenhang zeigt eindrücklich, wie zentral der marcionitische Doketismus für Tertullians Argumentation war. *9,28-31a [ 31b.32 ] 33-35.36: Verklärung Jesu Gut für *Ev bezeugt und sicher vorhanden; vermutlich durch Lk redaktionell bearbeitet. 9,28 a ¿Ἐγένετο δὲ μετὰ τοὺς λόγους τούτους ὡσεὶ ἡμέραι ὀκτὼ? a b καὶ παραλαβὼν Πέτρον καὶ Ἰωάννην καὶ Ἰάκωβον ἀνέβη εἰς τὸ ὄρος c [ προσεύξασθαι ] . 29 καὶ ἐγένετο ἐν τῷ προσεύχεσθαι αὐτὸν d ἡ ἰδέα d τοῦ προσώπου αὐτοῦ e ἠλλοιώθη καὶ ὁ ἱματισμὸς αὐτοῦ λευκὸς ἐξαστράπτων. 30 καὶ ἰδοὺ f δύο ἄνδρες f συνελάλουν αὐτῷ, g οἵτινες ἦσαν g h ᾿Ηλίας καὶ Μωϋσῆς h 31 i οἳ ὀϕθέντες i ἐν δόξῃ [ 31b ἔλεγον τὴν ἔξοδον αὐτοῦ ἣν ἤμελλεν πληροῦν k ἐν Ἰερουσαλήμ k . 32 ὁ δὲ Πέτρος καὶ οἱ σὺν αὐτῷ ἦσαν βεβαρημένοι ὕπνῳ· διαγρηγορήσαντες δὲ εἶδον τὴν δόξαν αὐτοῦ καὶ τοὺς δύο ἄνδρας τοὺς συνεστῶτας αὐτῷ. 33 ______________________________ 6 Für Weiteres vgl. N EIRYNCK , Minor Agreements (1974), 121ff; DERS ., Minor Agreements (1991), 50f; E NNULAT , Minor Agreements 196-200. <?page no="247"?> 9,28-36 Rekonstruktion 759 καὶ ἐγένετο ἐν τῷ διαχωρίζεσθαι αὐτοὺς ἀπ’ αὐτοῦ ] εἶπεν ὁ Πέτρος πρὸς τὸν Ἰησοῦν, l Διδάσκαλε, καλόν ἐστιν ἡμᾶς ὧδε εἶναι, καὶ ποιήσωμεν m ὧδε n τρεῖς σκηνάς, n μίαν σοὶ καὶ o Μωϋσεῖ μίαν o καὶ p ᾿Ηλίᾳ μίαν, p μὴ εἰδὼς ὃ λέγει. 34 ταῦτα δὲ αὐτοῦ λέγοντος ἐγένετο νεϕέλη καὶ ἐπεσκίαζεν αὐτούς· ἐϕοβήθησαν δὲ ἐν τῷ εἰσελθεῖν αὐτοὺς εἰς τὴν νεϕέλην. 35 καὶ ϕωνὴ q ἐγένετο ἐκ τῆς νεϕέλης r λέγουσα Οὗτός ἐστιν ὁ υἱός μου s καὶ t ὁ ἀγαπητός t u μου, αὐτοῦ ἀκούετε. 36 καὶ ἐν τῷ γενέσθαι τὴν ϕωνὴν εὑρέθη Ἰησοῦς μόνος. καὶ αὐτοὶ ἐσίγησαν καὶ οὐδενὶ ἀπήγγειλαν ἐν ἐκείναις ταῖς ἡμέραις v [ οὐδὲν ] ὧν ἑώρακαν. A. *9,28.35: Tert. 4,22,1: nam et hoc vel maxime erubescere debuisti, quod illum cum Moyse et Helia in secessu montis conspici pateris, quorum destructor advenerat. Hoc scilicet intellegi voluit vox illa de caelo: Hic est filius meus dilectus, hunc audite! id est non Moysen iam et Heliam. Ergo sufficiebat vox sola sine ostentatione Moysi et Heliae. Definiendo enim quem audirent quoscunque alios vetuisset audiri. ¦ Tert. 4,22,7: tres de discentibus arbitros futurae visionis et vocis assumit. Et hoc creatoris est. In tribus, inquit, testibus stabit omne verbum. In montem secedit. ♦ *9,29: Tert. 4,22,12f: Tradidit igitur pater filio discipulos novos, ostensis prius cum illo Moyse et Helia in claritatis praerogativa, atque ita dimissis, quasi iam et officio et honore dispunctis, ut hoc ipsum confirmaretur propter Marcionem, societatem esse etiam claritatis Christi cum Moyse et Helia … (13) … et rursum idem Abacuc: Operuit caelos virtus, utique nubilo illo, et splendor eius ut luxerit, utique qua etiam vestitus eius refulsit. ¦ Vgl. Origenes, Comm. in Joh 32,27 (GCS 10, 471,29ff): ἐν τῷ κατὰ Λουκᾶν εὐαγγελίῳ … δηλοῦται· Καὶ ἐγένετο ἐν τῷ προσεύχεσθαι αὐτὸν ἡ ἰδέα τοῦ προσώπου αὐτου ἐτέρα, καὶ ἠλλοιώθη ὀ ἱματισμὸς αυτοῦ καὶ ἐγένετο λευκός. ♦ *9,30: Tert. 4,22,2: Nunc et si praesentia illorum fuit necessaria, non utique in colloquio ostenderentur, quod familiaritatis indicium est, nec in consortio claritatis, quod dignationis et gratiae exemplum est, sed in sordibus aliquibus, quod destructionis argumentum est, immo in tenebris creatoris, quibus discutiendis erat missus, longe etiam discreti a claritate Christi, qui voces et litteras ipsas eorum ab evangelio suo erat separaturus. ¦ Tert. 4,22,16: Nam et si Marcion noluit eum (sc. Moysem) colloquentem domino ostensum, sed stantem, tamen et stans os ad os stabat et faciem ad faciem cum illo, inquit, non extra illum, in gloriam ipsius, nedum in conspectu. De qua gloria non aliter illustratus discessit a Christo quam solebat a creatore, proinde tunc oculos percutere filiorum Israelis quemadmodum et nunc excaecati Marcionis, qui hoc quoque argumentum adversus se facere non vidit. ♦ *9,30-31a: Epiph., Schol. 17: καὶ ἰδοὺ δύο ἄνδρες συνελάλουν αὐτῷ, ᾿Ηλίας καὶ Μωϋσῆς ἐν δόξῃ. ♦ *9,31a: Tert. 4,22,12f. ♦ *9,33: Tert. 4,22,4: Igitur et Petrus merito contubernium Christi sui agnoscens individuitate eius suggerit consilium: Bonum est nos hic esse (bonum plane ubi Moyses scilicet et Helias), et faciamus hic tria tabernacula, unum tibi, et Moysi unum, et Heliae unum; sed nesciens quid diceret. Quomodo nesciens? Utrumne simplici errore, an ratione qua defendimus in causa novae prophetiae gratiae ecstasin, id est amentiam, convenire? ¦ Tert. 4,22,16 (s. o.). ♦ *9,34: Tert. 4,22,5: in spiritu enim homo constitutus, praesertim cum gloriam dei conspicit, vel cum per ipsum deus loquitur necesse est excidat sensu, obumbratus scilicet virtute divina … ¦ Tert. 4,22,7 (nubis). ♦ *9,35: Tert. 4,22,1 (s. o.) ¦ Tert. 4,22,8-10: Itaque nec nunc muta nubes fuit, sed vox solita de caelo, et patris novum testimonium super filio, ut qui in primo psalmo: Filius meus es tu, ego hodie genui te … (9) Itaque iam repraesentans eum, Hic est filius meus, utique subauditur, Quem repromisi. Si enim repromisit aliquando, et postea dicit, Hic <?page no="248"?> 760 Anhang I 9,28-36 est, eius est exhibentis voce uti in demonstratione promissi qui aliquando promisit, non eius cui possit responderi, Ipse enim tu quis es qui dicas, Hic est filius meus, de quo non magis praemisisti quam te ipsum quod prius eras revelasti? (10) Hunc igitur audite quem ab initio edixerat audiendum in nomine prophetae, quoniam et prophetes existimari habebat a populo. Prophetam, inquit Moyses, suscitabit vobis deus ex filiis vestris, secundum carnalem scilicet censum, tanquam me audietis illum: omnis autem qui illum non audierit, exterminabitur anima eius de populo suo. Sic et Esaias: Quis in vobis metuens deum? Exaudiat vocem filii eius. Quam et ipse pater commendaturus erat. Sistens enim, inquit, verba filii sui, dicendo scilicet, Hic est filius meus dilectus, hunc audite. ¦ Epiph., Schol. 18: ἐκ τῆς νεϕέλης ϕωνή· Οὗτός ἐστιν ὁ υἱός μου ὁ ἀγαπητός ¦ Ephraem, Hymn. 48,10 οὗτός ἐστιν ὁ υἱός μου καὶ ὁ ἀγαπητός μου (CSCO 170, 168); Adv. Marc. I (M ITCHELL xliii): »Dies ist mein Sohn und mein Geliebter.« B. a (9,28) εγενετο δε … ημεραι οκτω: om 1247 ¦ add it M (*Ev non test.) ● b (9,33) και: om P 45vid א * B H 579 pc it sy p.h co ¦ add א 2 A C D L W Θ Ξ Ψ f 1.13 sy s.c bo ms M (*Ev non test.) ● c (9,28) προσευξασθαι: om L ¦ add it M (*Ev non test.) ● d (9,29) η ιδεα: D Orig (Comm. in Joh 32,27; GCS 10, 471) ¦ το ειδος: it M (*Ev non test.) ● e (9,29) ηλλοιωθη: D d e sy s.c co ¦ ετερον: a aur b c f ſſ 2 g 1 l q r 1 M (*Ev non test.) ● f (9,30) δυο ανδρες/ duo viri: Epiph 544 aur b d e f ſſ 2 g 1 gat l q r 1 vg sy s.c.p ¦ (2 1) ανδρες δυο/ viri duo: a c M ● g (9,30) οιτινες ησαν/ qui erant: om Epiph sy s.c ¦ ην δε/ erat autem: D a d; ησαν δε/ erant autem: aur b c e f ſſ 2 l q r 1 vg armen ¦ οιτινες ησαν/ qui erant: add M ● h (9,30) Ηλιας και Μωυσης: Epiph ¦ (3 2 1) Μωυσης και Ηλιας: it M ● i (9,30) οι οϕθεντες: om Epiph ¦ οϕθεντες/ visi: a aur b c d e ſſ 2 l q r 1 (visi in maiestate: aur b l q; in claritate: c; in gloriam: e; in maiestate visi: ſſ 2 ; visi sunt gloria (d); apparentes in maiestate (a r 1 ) ¦ οι οϕθεντες/ qui visi sunt: add f M ● k (9,31) εν Ιερουσαλημ: om e ¦ add M (*Ev non test.) ● l (9,31) διδασκαλε: P 45 X 157 213 a b d r 1 ¦ επιστατα: D (! ) aur c e f ſſ 2 l q M (*Ev non test.) ● m (9,33) ωδε/ hic: Tert d (facio hic) l r 1 vg (1 ms) sy c sa (1 ms) bo (3 mss) ¦ ωδε/ hic: om a aur b c d e f ſſ 2 l q r 1 M ● n (9,33) τρεις σκηνας/ tria tabernacula: Tert D K L Ξ mult lectt aur c d e f ſſ 2 g 1 gat l r 1 vg (1 ms) sy s.c.p.j armen georg ¦ σκηνας τρεις/ tabernacula tria: a b q M ● o (9,33) Μωυσει μιαν/ Moysi unum: Tert A C E G M V Y Π Ω 047 0211 mult ſſ 2 ¦ (2 1) μιαν Μωυσει/ unum Moysi: a aur b c d e f l q r 1 M ● p (9,33) Ηλια μιαν/ Heliae unum: Tert Ψ mult ſſ 2 sy s.c.j.p Tat arab ¦ (2 1) μιαν Ηλια/ unum Heliae: a aur b c d e f l q r 1 M ● q (9,35) εγενετο/ facta est: om Epiph (Tert) ¦ ηλθεν/ venit: D d ¦ εγενετο/ facta est: add a aur b c e f ſſ 2 l q r 1 M ● r (9,35) λεγουσα/ dicens: om Tert Epiph P 45 700 ℓ1074 ℓ1663 b c l sy s sa (1 ms) ¦ λεγουσα/ dicens: add a aur d e f ſſ 2 q r 1 M ● s (9,35) Widersprüchliche Bezeugung: (1) και: Ephraem (Hymn. 48,10; Adv. Marc. I) sy c ¦ (2) om Tert Epiph it sy s.p M ● t (9,35) αγαπητος/ dilectus: Tert Epiph Ephr A C* W f 13 33 a aur (dilectissimus: c) e ſſ 2 l vg cl.ww sy (c).p.h ¦ εκλελεγμενος/ electus: c d vg M ● u (9,35) Widersprüchliche Bezeugung: (1) μου: Ephr ¦ om Tert Epiph it sy M ● v (9,35) ουδεν/ nihil: om P 45 D b d e f l q r 1 Tat arab ¦ add b ſſ 2 l q M (*Ev non test.). C. Tertullians umfangreiche Abhandlung zeigt seinen freien Umgang mit dem Text: Die einzelnen Textbelege sind sehr eng in seine Argumentation eingebettet. Aber zusammen mit den beiden Zitaten aus Epiphanius belegt sein Referat mit wünschenswerter Deutlichkeit, dass der Grundstock dieser Perikope in *Ev vorhanden war. <?page no="249"?> 9,28-36 Rekonstruktion 761 1. Zunächst zeigen die handschriftlichen Varianten in Teilen der kanonischen Textüberlieferung Spuren des vorkanonischen Textes auch in den nicht direkt bezeugten Passagen. Die Interferenz zwischen den beiden Textüberlieferungen ist auch hier als Hinweis auf den vorkanonischen Text von *Ev gewertet: a. In *9,28 fehlt die Einleitung ἐγένετο δὲ μετὰ τοὺς λόγους τούτους ὡσεὶ ἡμέραι ὀκτώ in einer Minuskel (1247), die auch an anderer Stelle den vorkanonischen *Ev- Text stützt. 1 Dass dies kein Versehen ist, sondern eine Spur des vorkanonischen Textes, ergibt sich aus dem Fehlen von καί, das sehr viel breiter bezeugt ist. 2 Die Einfügung von καί wurde notwendig, um die durch die Einfügung der Einleitungswendung entstandenen Hauptsätze (ἐγένετο … καὶ … ἀνέβη) miteinander zu verbinden. Die zeitliche Anbindung des Geschehens an die Belehrung über die Bedingungen der Nachfolge stammt daher aus Mk 9,2 || Mt 17,1. Die lk Redaktion hat dabei die Zeitangabe μετὰ ἡμέρας ἕξ durch ὡσεὶ ἡμέραι ὀκτώ verallgemeinert: In beiden Fällen handelt es sich um übliche Angaben des Zeitraums einer Woche. b. Dass im vorkanonischen Text auch (ἀνέβη εἰς τὸ ὄρος) προσεύξασθαι *9,28 fehlte, legt sich dagegen nicht nur durch die entsprechende Bezeugung in einer einzelnen Majuskel (L) nahe, sondern lässt sich darüber hinaus durch die Überlieferungsgeschichte wahrscheinlich machen. Denn der Hinweis, dass Jesus »um zu beten« mit den Jüngern auf den Berg ging, fehlt in Mk 9,2 || Mt 17,1, hat aber ein Gegenstück in *9,29 (καὶ ἐγένετο ἐν τῷ προσεύχεσθαι αὐτόν). An dieser Stelle ist der Hinweis auf das Gebet mit großer Wahrscheinlichkeit ursprünglich; es ist durchweg bezeugt und taucht auch bei Origenes in einem Zitat auf, das eine andere vorkanonische Lesart enthält. Dass die Mitteilung, die Verklärung Jesu sei ἐν τῷ προσεύχεσθαι αὐτόν geschehen, bereits in *Ev stand, wird darüber hinaus durch die entsprechende Variante in Mk 9,2c wahrscheinlich. 3 Sie ist demnach nicht als sekundäre Konformierung aufgrund der lk Fassung zu verstehen, sondern zeigt den (älteren) Einfluss der vorkanonischen Textüberlieferung. Das heißt: Mk hat den Hinweis auf die Verklärung »während des Gebets«, den er in *Ev fand, gestrichen und den Gang Jesu auf den Berg dadurch motiviert, dass er Jesus mit den Jüngern »allein« (κατ’ ἰδίαν μόνους) sein lassen wollte (Mk 9,1). Mt 17,1f ist ihm darin gefolgt. Lk hat dagegen den Hinweis auf das Gebet aufgegriffen und ihn - vermutlich in der Sache ganz zutreffend - auch als Motiv für den Gang auf den Berg in 9,1 eingetragen. c. Auch das Fehlen der doppelten Verneinung in *9,36 ist als Beleg für die textgeschichtliche Interferenz zu verstehen: Unter den Handschriften, die das Fehlen von (οὐδενὶ …) οὐδέν bezeugen, sind auffällig viele, die sich für diese Interferenz ______________________________ 1 Vgl. *12,32; *21,8 (s. Anhang III). 2 P 45vid א * B H 579 pc it sy p.h co. 3 Mk 9,2c: (και) εν τω προσευχεσθαι αυτους (αυτον: Θ 28 pc) (μετεμορϕωθη …) P 45 W Θ f 13 (565) pc. <?page no="250"?> 762 Anhang I 9,28-36 häufig als besonders anfällig erweisen (außer D it Tat hier auch noch P 45 ). Dies ist als Hinweis darauf zu werten, dass *9,36 in *Ev enthalten war. 2. Eine Reihe weiterer Abweichungen, die sich aus den Referaten Tertullians und Epiphanius’ ergeben, werden außerdem durch handschriftliche Varianten gestützt. Neben diesen kleineren Varianten, die sich aus der Rekonstruktion ergeben, sind vor allem zwei Probleme erklärungsbedürftig. So ist Lk 9,31b mit der charakteristischen Aussage über Jesu »Ausgang in Jerusalem« unbezeugt. Dies ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht auf die Unzuverlässigkeit der Zeugen zurückzuführen, sondern auf lk Redaktion. Auffällig ist zunächst, dass Tertullians Argumentation auf das Gespräch Jesu mit Mose und Elia allergrößten Wert legt, dann aber über seinen Inhalt gar nichts mitteilt. Er erwähnt das Gespräch in der Einleitung seines Referats (4,22,2: in colloquio ostenderentur) und deutet es später ausführlich (4,22,15f), indem er auf das Gespräch des Mose mit Gott (Ex 33) verweist; für Tertullian ist daran entscheidend, dass auch Marcions Evangelium Mose und Elia im Gespräch mit Jesus zeigt, obwohl der doch - der den Marcioniten unterstellten Ansicht zufolge - als ihr »Vernichter« erschienen war. 4 Die Vertreter der Lk-Priorität sehen an dieser Stelle einen Widerspruch, den sie unterschiedlich lösen: Einerseits behauptet Tertullian, dass das marcionitische Evangelium Jesus, Mose und Elia im »im Gespräch gezeigt« habe (4,22,2: in colloquio ostenderentur), andererseits findet sich der Hinweis, dass Marcion Mose nicht im Gespräch mit dem Herrn zeigen wollte (4,22,16: nam et si Marcion n o l u i t eum [sc. Moysem] colloquentem domino ostensu). Harnack zufolge habe Tertullian Marcions wirkliche Meinung über das Gespräch Jesu mit Mose und Elia durch das noluit zutreffend wiedergegeben, während er die erste, positive Bemerkung 4,22,2(f) »versehentlich« und unter dem Eindruck seines eigenen kanonischen Textes gemacht habe. Die Folge ist, dass Harnack für *9,30 συνέστησαν anstelle des durch Epiphanius gut bezeugten συνελάλουν annimmt und auf diese Weise jeden Hinweis auf das Gespräch tilgt. 5 Tsutsui nimmt das Zeugnis des Epiphanius ernster; er kritisiert Harnacks Vorschlag einer späteren Änderung durch die Marcioniten und fragt zu Recht: »Wozu mußten sie denn ihren Jesus unmittelbar mit Moses und Elias sprechen lassen? « 6 Trotzdem hat er den Widerspruch ähnlich wahrgenommen wie Harnack, schlägt aber vor, dass die positive zweite Erwähnung des Gesprächs in 4,22,15f »ein Versehen« sei. 7 Beide übersehen, dass Tertullian dieses Gespräch sehr ausführlich (und weit über die beiden fraglichen Stellen hinaus) behandelt. Es liegt hier nicht nur kein Selbstwiderspruch vor, die beiden genannten Pole stellen vielmehr die Pointe dar. Denn die Bemerkung, dass »Marcion Mose nicht im Gespräch mit dem Herrn zeigen wollte« (4,22,16) bezieht sich ja nicht auf das Gespräch bei ______________________________ 4 Vgl. 4,22,1: … quorum destructor advenerat. 5 H ARNACK 202f*. Das von Epiphanius bezeugte συνελάλουν (Schol. 17) muss Harnack deswegen auf die »späteren Marcioniten« zurückführen (ebd. 203*). 6 T SUTSUI 93. 7 A. a. O. 94. <?page no="251"?> 9,28-36 Rekonstruktion 763 der Verklärung, sondern auf Moses Unterredung mit Gott; wie der Zusammenhang zwischen gloria und Gespräch stans os ad os … faciem ad faciem deutlich zeigt, dachte Tertullian hier an Ex 33 als Analogie zu *9,28ff: Das noluit (4,22,16) impliziert daher Marcions angebliche Verwerfung des AT, nicht aber eine entsprechende Änderung seines Evangeliums. Tertullians Argument lautet daher: Hätte Marcion das AT nicht verworfen, wüsste er, dass Mose schon mit Gott gesprochen hatte. Aber gerade so, wie Mose, obwohl der doch die Herrlichkeit Gottes gesehen hatte, »die Augen der Israeliten blendete, so blendet er jetzt die Augen des blinden Marcion, der nicht erkennt, dass dieses Argument gegen ihn gerichtet ist« (4,22,16: … tunc oculos percutere filiorum Israelis quemadmodum et nunc excaecati Marcionis, qui hoc quoque argumentum adversus se facere non vidit). So bleibt festzuhalten: Das Gespräch zwischen Jesus, Mose und Elia ist für Tertullian von entscheidender Bedeutung, weil es die theologische Notwendigkeit der Verbindung des Evangeliums mit dem AT untermauert. Das aber bedeutet: Es spricht alles dafür, dass in *9,30 das durch Epiphanius bezeugte Verb συνελάλουν stand und dass die gesamte Argumentation Tertullians auf dieses Gespräch Jesu mit Mose und Elia abzielt. Angesichts dieser Bedeutung, die Tertullian dem Gespräch zumisst, ist es mehr als auffällig, dass er über seinen Inhalt - die Weissagung über die kommende Erfüllung des »Ausgangs« Jesu in Jerusalem - überhaupt nichts mitteilt. Da das Ende Jesu in Jerusalem einer der Punkte ist, die sich besonders gut in das lk Redaktionskonzept fügen, ist Lk 9,31b mit hoher Wahrscheinlichkeit lk Redaktion. Auch Ephraem hat das Gespräch Jesu mit Mose und Elia auf dem Berg mehrfach und ausführlich thematisiert. 8 Ephraems Ausführungen sind von Interesse, weil man aus ihnen geschlossen hat, sie würden implizieren »that Marcion undoubtedly included Luk. 9,30-31 in his Gospel text.« 9 Allerdings ist diese Schlussfolgerung unhaltbar. Abgesehen davon, dass nicht jede Äußerung der antimarcionitischen Polemik (im 4. Jh.) durch ein »mirror-reading-Verfahren« auf eine entsprechende Gegenposition (im 2. Jh.) oder gar auf eine entsprechende Textgrundlage schließen lässt, gibt Ephraems Text diese Schlussfolgerung nicht her. Ephraem setzt, ganz ähnlich wie Tertullian, einen Gegensatz zwischen Jesus auf der einen Seite und Mose und Elia auf der anderen voraus. Er wundert sich daher, was die drei eigentlich zu besprechen hatten. Ephraems spekulative Erwägungen über den Inhalt dieses Gesprächs lassen deutlich genug erkennen, dass weder er selbst noch die von ihm bekämpften Marcioniten eine Vorstellung über den Inhalt der Unterredung hatten. Vielmehr ist diese inhaltliche Leerstelle die Voraussetzung für die argumentativen Spekulationen. Dies bedeutet, dass Ephraem (genau wie Tertullian) zwar weiß, dass dieses ______________________________ 8 Ephraem, Comm. Diat. 14,9 (FC 54/ 2, 412f); Hymn. 48,8-10 (CSCO 170, 167f). Wichtig sind vor allem die polemischen Bemerkungen Adv. Marc. I (M ITCHELL xxxix-xliv). 9 H. J. W. D RIJVERS , Christ as Warrior and Merchant. Aspects of Marcion’s Christology (StPatr 21), Leuven 1989, 73-85: 76. Roth folgt dieser Ansicht: »Ephrem thus further confirms the presence of that part of the verse« (R OTH 405f). <?page no="252"?> 764 Anhang I 9,28-36 Gespräch stattgefunden hat (wie Epiphanius’ Bezeugung von *9,30a ja belegt), nicht aber, was dabei gesprochen wurde. Tatsächlich gibt es von 9,31b gerade keine Spur. 10 In diesem Fall wird auch Lk 9,32 mit dem Hinweis auf den Schlaf der Jünger redaktionell sein. Denn der Inhalt des Gesprächs über den »Ausgang in Jerusalem« und der Schlaf der Jünger gehören sachlich zusammen: Lk »hat sie einschlafen lassen …, damit sie von Jesu Gespräch mit Mose und Elia nichts mitbekommen« 11 und er sie ahnungslos auf den Weg nach Jerusalem mitschicken kann. Da der ganze Zusammenhang mit dem Inhalt des Gesprächs, dem Schlaf der Jünger, ihrem Erwachen und dem Abschied von Mose und Elia (Lk 9,31b.32.33a) in den synoptischen Parallelen fehlt (er wäre zwischen Mk 9,4.5 || Mt 17,3.4 zu erwarten), liegt es nahe, dass es sich um einen Eintrag der lk Redaktion handelt. Dies lässt sich freilich nicht beweisen. 3. Tertullian, Epiphanius und Ephraem bezeugen übereinstimmend, dass die Himmelsstimme *9,35 vom »geliebten« Sohn sprach. 12 Ein Teil der kanonischen Handschriftenüberlieferung (A C D W lat sy (c)p usw.) bezeugt ebenfalls ἀγαπητός anstelle des besser bezeugten ὁ ἐκλελεγμένος. 13 Angesichts der einheitlichen Bezeugung ist ὁ ἀγαπητός die ursprüngliche Lesart in *Ev. Das mehrheitlich bezeugte ὁ ἐκλελεγμένος ist also lk Redaktion, die an dieser Stelle um so schwerer wiegt, als sie nicht nur von *Ev, sondern auch von den synoptischen Parallelen (Mk 9,7 || Mt 17,5) abweicht. Die verschiedentlich bezeugte Lesart ὁ ἀγαπητός ist an dieser Stelle also gerade nicht von den synoptischen Parallelen beeinflusst, wie der Apparat von NA 27 nahelegt, 14 die textgeschichtliche Entwicklung verläuft genau umgekehrt: *Ev hatte ἀγαπητός, das sich noch in einer Reihe von Lk-Handschriften erhalten hat, und von dort haben es Mk 9,7 || Mt 17,5 übernommen; erst die lk Redaktion hat daraus ἐκλελεγμένος gemacht. Allerdings weicht der Text, den Ephraem für die Marcioniten bezeugt, in zwei Kleinigkeiten von Tertullians und Epiphanius’ Zeugnis ab: Gleich zwei Mal referiert Ephraem, dass ὁ ἀγαπητός nicht als attributives Partizip zu υἱός stand, sondern durch eine Konjunktion angeschlossen war; die Konjunktion wĕfindet sich auch in sy c , ist also wohl kein Versehen Ephraems. Daneben bietet Ephraem (und zwar als Einziger) das Suffix der 1. Pers. Sing. zwei Mal: Mein Sohn und mein Geliebter. Ob Ephraem hier einen anderen Text gelesen hat als alle (auch syrischen) Handschriften ______________________________ 10 Vorsichtig B E D UHN 151: Ob die Ephraem von Ephraem berichtete Debatte »depended specifically on the details of v. 31b remains an open question.« 11 W OLTER , Lk 353 z. St. 12 Tert. 4,22,1.10: filius meus d i l e c t u s ; Epiphanius, Schol. 18: ὁ υἱός μου ὁ ἀ γ α π η τ ό ς . Ephraem, Hymn. 48,10; Adv. Marc. I. 13 D. S. W ILLIAMS , Reconsidering Marcion’s Gospel, JBL 108 (1989), 477-496: 481 Anm. 13; 486, hat bei Tert. irrtümlich delictus anstatt dilectus gelesen und daher diese Stelle unter die Beispiele für eine abweichende Bezeugung gerechnet; tatsächlich entsprechen sich die Zeugnisse genau. 14 So auch die Begründung von M ETZGER , Textual Commentary z. St. <?page no="253"?> 9,28-36 Rekonstruktion 765 oder ob er denselben Text (mit nur einem Possessivpronomen) nur anders übersetzt hat, ist schwer zu entscheiden. Auch wenn diese beiden Kleinigkeiten sich semantisch kaum auswirken, folge ich in beiden Fällen Ephraems Zeugnis nach dem methodischen Grundsatz, dass die am weitesten vom kanonischen Mehrheitstext entfernte Lesart am ehesten für *Ev in Betracht zu ziehen ist. Im ersten Fall (Konjunktion zwischen υἱός und ἀγαπητός) löst dieser Grundsatz eine widersprüchliche Bezeugung auf. 4. Schließlich: Tertullian bezeichnet die Himmelsstimme *9,35 als des Vaters neuerliches Zeugnis für den Sohn und verweist im Anschluss auf Ps 2,7. 15 Das ist auf den ersten Blick irritierend, weil das »neue Zeugnis« auf die Himmelsstimme bei der Taufe Jesu zu verweisen scheint, Lk 3,22 aber (auch nach Tertullians eigenem Zeugnis) mit Sicherheit in *Ev gefehlt hat. 16 Der Kontext zeigt jedoch, dass Tertullians Bemerkung nicht auf die Himmelsstimme bei der Taufe abzielt, sondern auf Ps 2, den Tertullian christologisch deutet: Er ist an der Identität der Himmelsstimme in *9,35 und dem Gott des Alten Testaments interessiert und sieht die Analogie zu *9,35 in Ex 19f: Die Lokalisierung auf dem Berg, die Wolke sowie die daraus hervorgehende Stimme markieren das dreifache Zeugnis, durch das stabit omne verbum (4,22,7f). *9,37-39.40f.42-43.44.45: Tadel der ungläubigen Generation. Exorzismus des epileptischen Knaben. Erneute Leidensankündigung Nur teilweise bezeugt, aber vermutlich ganz in *Ev vorhanden; geringfügig durch Lk bearbeitet. 9,37 Ἐγένετο δὲ a διὰ τῆς ἡμέρας a b κατελθόντα αὐτὸν b ἀπὸ τοῦ ὄρους c συνελθεῖν αὐτῷ ὄχλον πολύν. c 38 καὶ ἰδοὺ ἀνὴρ ἀπὸ τοῦ ὄχλου ἐβόησεν λέγων, Διδάσκαλε, δέομαί σου ἐπιβλέψαι ἐπὶ τὸν υἱόν μου, ὅτι μονογενής μοί ἐστιν, 39 d λαμβάνει γὰρ αὐτὸν ἐξαίϕνης πνεῦμα καὶ ρήσσει καὶ σπαράσσει d μετὰ ἀϕροῦ καὶ μόγις ἀποχωρεῖ ἀπ’ αὐτοῦ συντρῖβον αὐτόν· 40 καὶ ἐδεήθην τῶν μαθητῶν σου e καὶ οὐκ ἠδυνήθησαν ἐκβάλειν αὐτό. e 41 f Καὶ (εἶπεν? ) {πρὸς αὐτούς} f Ὦ γενεὰ ἄπιστος g καὶ διεστραμμένη g , ἕως πότε h † ἔσομαι πρὸς ὑμᾶς καὶ † h ἀνέξομαι ὑμῶν; προσάγαγε i [ ὧδε ] τὸν υἱόν σου. 42 ἔτι δὲ προσερχομένου αὐτοῦ ἔρρηξεν αὐτὸν τὸ δαιμόνιον καὶ k συνεσπάραξεν· ἐπετίμησεν δὲ ὁ Ἰησοῦς τῷ πνεύματι τῷ ἀκαθάρτῳ, καὶ l ἀϕήκεν αὐτὸν καὶ ἀπέδωκεν τὸν παῖδα l τῷ πατρὶ αὐτοῦ. 43a ἐξεπλήσσοντο δὲ πάντες ἐπὶ τῇ μεγαλειότητι τοῦ θεοῦ. ______________________________ 15 Tert. 4,22,8: patris n o v u m testimonium super filio, ut qui in primo psalmo: Filius meus es tu, ego hodie genui te. 16 S. o. zu *3,1a.4,31-35(36f). <?page no="254"?> 766 Anhang I 9,37-45 43b Πάντων δὲ θαυμαζόντων ἐπὶ πᾶσιν οἷς ἐποίει εἶπεν πρὸς τοὺς μαθητὰς αὐτοῦ, 44 Θέσθε ὑμεῖς εἰς τὰ ὦτα ὑμῶν τοὺς λόγους τούτους, ὁ γὰρ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου μέλλει παραδίδοσθαι εἰς χεῖρας ἀνθρώπων. 45 οἱ δὲ ἠγνόουν τὸ ῥῆμα τοῦτο, [ καὶ ἦν παρακεκαλυμμένον ἀπ’ αὐτῶν ἵνα μὴ αἴσθωνται αὐτό. ] (Zu *9,46: Καὶ ἐϕοβοῦντο m ἐπερωτῆσαι αὐτὸν [ περὶ τοῦ ῥήματος τούτου ] …). A. *9,40f: Epiph., Schol. 19: Καὶ ἐδεήθην τῶν μαθητῶν σου. εἶχε δὲ παρὰ τό Ὀυκ ἠδυνήθησαν ἐκβάλειν αὐτό Καὶ πρὸς αὐτούς· Ὦ γενεὰ ἄπιστος, ἕως πότε ἀνέξομαι ὑμῶν; ♦ *9,41: Tert. 4,23,1f: Suscipio in me personam Israelis. Stet Christus Marcionis et exclamet: O genitura incredula, quousque ero apud vos? quousque sustinebo vos? Statim a me audire debebit: Quisquis es, ἐπερχόμενε, prius ede quis sis, et a quo venias, et quod in nobis tibi ius. Usque adhuc creatoris est totum apud te. Plane si ab illo venis et illi agis, admittimus increpationem (2) … Suscipio adhuc et personam discipulorum, in quos insiliit. O natio incredula, quamdiu ero vobiscum, quamdiu vos sustinebo? ♦ *9,44: Epiph., Schol. 20: ὁ γὰρ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου μέλλει παραδίδοσθαι εἰς χεῖρας ἀνθρώπων. B. a (9,37) δια της ημερας: D it sy s sa ms (της ημερας: P 45 ) ¦ τη εξης ημερα: M (*Ev non test.) ● b (9,37) κατελθοντα αυτον: D d sa ms bo ms ; κατελθοντι αυτω: 1427 Tat pers ; κατελθοντι τω Ιησου: 0115 0211 c 2766 ¦ κατελθοντων αυτων: it M (*Ev non test.) ● c (9,37) συνελθειν αυτω οχλον πολυν: D d ¦ συνηντησεν αυτω οχλος πολυς: it M (*Ev non test.) ● d (9,39) λαμβανει γαρ αυτον εξαιϕνης πνευμα και ρησσει και σπαρασσει: D d (e) ¦ και ιδου πνευμα λαμβανει αυτον και εξαιϕνης κραζει και σπαρασσει αυτον: (it) M (*Ev non test.) ● e και ουκ ηδυνηθησαν εκβαλειν αυτο: Epiph ¦ ινα απαλλαξωσιν αυτον + 1-3: D d ¦ ινα εκβαλωσιν αυτο + 1-3: it M ● f (9,41) και (ειπεν? ) προς αυτους: Epiph ¦ αποκριθεις δε ο Ιησους ειπεν/ respondens autem (c: itaque) Iesus dixit: a aur b c d f ſſ 2 l q [r 1 : 3 2 1 4]) ¦ respondit Iesus et dixit: (e) M ● g (9,41) και διεστραμμενη/ et perversa: om Tert Epiph a e ¦ add aur b c d f ſſ 2 l q r 1 M ● h (9,41) εσομαι προς υμας και: Widersprüchliche Bezeugung: (1) om Epiph ¦ (2) add Tert it M ● i (9,41) ωδε: om D vg mss ¦ ωδε pon. post τον υιον σου: A C W Θ Ψ 0115 f 13 33 r 1 ¦ ωδε τον υιον σου: M ● k (9,42) συνεταραξεν: D 205 1319 d ¦ συνεσπαραξεν: it M (*Ev non test.) ● l (9,42) αϕηκεν αυτον και απεδωκεν τον παιδα: D d (e) ¦ ιασατο τον παιδα και απεδωκεν αυτον: it M (*Ev non test.) ● m (9,45) επερωτησαι: C D K M Π 0211 mult ¦ ερωτησαι M (*Ev non test.). C. Von der Perikope über die Heilung des besessenen Knaben sind nur *9,40f sowie von der Jüngerbelehrung *9,44b bezeugt. Allerdings setzt die Wiedergabe der Bitte des Vaters sowie Epiphanius’ Mitteilung über das Unvermögen der Jünger eine narrative Einleitung zwingend voraus, die mindestens *9,38f entsprochen haben muss. Ebenso muss der abschließende Exorzismus bereits in *Ev enthalten gewesen sein (*9,42f). Im Unterschied zu Mk und Mt, bei denen die folgende Leidensankündigung szenisch abgetrennt ist (Mk 9,30 || Mt 17,22), gehört *9,43b-45 als Abschluss unmittelbar zu der Erzählung vom Exorzismus mit hinzu. 1. Wie immer gilt auch hier, dass auffällige Varianten (vor allem aus D it sy) als Indiz für die Interferenz von vorkanonischer und kanonischer Textüberlieferung verstanden werden können. Auch wenn sich der genaue Text damit nicht mit der <?page no="255"?> 9,37-45 Rekonstruktion 767 wünschenswerten Zuverlässigkeit ermitteln lässt, machen solche Varianten immerhin die Existenz einer vorkanonischen Entsprechung an diesen Stellen wahrscheinlich. In diesem Fall gilt dies für die nicht bezeugte Einleitung der Perikope (*9,37-39) und für den Bericht von der Heilung (*9,41c.42). Der einzige Vers, für den weder die häresiologische Bezeugung noch die handschriftliche Überlieferung Hinweise geben, ist der Chorschluss in V. 43a; an dieser Stelle können nur überlieferungsgeschichtliche Erwägungen weiterhelfen. 2. Für diese sind zunächst die zahlreichen und gravierenden (mt-lk) »Minor Agreements« zu nennen. 1 Wichtig sind zunächst die umfangreichen negativen Übereinstimmungen, in denen längere mk Passagen keine mt-lk Entsprechung besitzen: περὶ αὐτοὺς καὶ γραμματεῖς … συζητεῖτε πρὸς αὐτούς Mk 9,14b-16b ÷ *9,37 || Mt 17,14. - καὶ πεσὼν ἐπὶ τῆς γῆς … ἐκ παιδιόθεν Mk 9,20d-21 ÷ *9,42 || Mt 17,17. - ἀλλ’ εἴ τι δύνῃ … ὅτι ἐπισυντρέχει ὄχλος … Mk 9,22c-25a ÷ *9,42 || Mt 17,17. - λέγων αὐτῷ … εἰσέλθῃς εἰς αὐτόν Mk 9,25c-e ÷ *9,42 || Mt 17,18. - καὶ ἐγένετο ὡσεὶ νεκρός … καὶ ἀνέστη Mk 9,26b-27 ÷ *9,42 || Mt 17,18. - καὶ οὐκ ἤθελεν ἵνα τις γνοῖ Mk 9,30 ÷ *9,43b || Mt 17,22. Diese mk »Überschüsse« konstituieren ein besonderes Problem, weil hier form- und redaktionsgeschichtliche Erwägungen zu der Frage der literarischen Abhängigkeit hinzutreten: Die scheinbare »Uneinheitlichkeit« der mk Fassung, die sich vor allem in den Doppelungen und Spannungen äußert, 2 erschwert die literarkritische Untersuchung, weil bei der üblicherweise angenommenen Mk-Priorität nicht klar ist, was an seiner Erzählung Tradition und was Redaktion ist. Dementsprechend disparat sind die Erklärungen. 3 Die relativ klare Bezeugungslage stellt sicher, dass Umfang und Profil der Perikope in *Ev der kanonischen Gestalt i. W. entsprochen haben. Die engen Übereinstimmungen zwischen Mt 17,14-21 und Lk 9,37-43a gegenüber der sehr viel ausführlicheren und auch von der narrativen Intention her deutlich anders gewichteten mk Fassung (Mk 9,14-29) sind daher als gemeinsame Abhängigkeit von *9,37-43a zu verbuchen. In der Perspektive der Zwei-Quellentheorie konstituieren diese mt-lk Gemeinsamkeiten ein besonders gravierendes »Major Agreement«, das keine ______________________________ 1 Vgl. weiter N EIRYNCK , Minor Agreements (1974), 126ff; DERS ., Minor Agreements (1991), 53ff; E NNULAT , Minor Agreements 208-213. 2 Vgl. H. A ICHINGER , Zur Traditionsgeschichte der Epileptiker-Perikope, in: A. Fuchs, Spuren von Deuteromarkus I, Münster 2004, 245-280: 246 Anm. 2: Doppelungen der Krankengeschichte: 9,17.20; der Erwähnung des Herbeieilens der Menge 9,14f.25. Inhaltliche Spannung: die Frage der Jünger (9,28) bezieht sich nicht auf die Antwort Jesu 9,23. Dass diese »Spannung« auch ganz anders zu beurteilen ist, wird gleich deutlich werden. 3 Vgl. etwa R. B ULTMANN , Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 7 1967, 225f, der zwei bereits vormk verbundene Wundergeschichten (9,14-20.21-27) postulierte. K. K ERTELGE , Die Wunder Jesu im Markusevangelium, München 1970, 174-179, nahm dieselbe Zweiteilung an, hielt aber nur Mk 9,20-27 für Tradition, 9,14-19.28f dagegen für redaktionell. Noch anders W. S CHENK , Tradition und Redaktion in der Epileptiker-Perikope Mk 9,14-27, ZNW 63 (1972), 76-94, der vor allem aufgrund sprachlicher Indizien die christologischen, lehrhaften und auf den Glauben bezogenen Motive für redaktionell erklärte. <?page no="256"?> 768 Anhang I 9,37-45 einfache Erklärung findet. 4 Angesichts des Befundes mit der ausgeprägten Eigenständigkeit der mk Fassung spräche im Rahmen der Zwei-Quellentheorie eigentlich alles dafür, hier eine »Mk-Q-Doppelüberlieferung« anzunehmen. Dies ist m. W. aber nicht geschehen. Neben diese umfangreichen negativen Übereinstimmungen treten allerdings auch etliche positive Übereinstimmungen, von denen hier nur die wichtigsten genannt sind. λέγων *9,38 || Mt 17,15 ÷ Mk 9,17. - οὐκ ἠδυνήθησαν *9,40 || Mt 17,16 ≠ οὐκ ἴσχυσαν Mk 9,18. - Ἰησοῦς εἶπεν *9,41a || Mt 17,17 ≠ αὐτοῖς λέγει Mk 9,19. - καὶ διεστραμμένη *9,41b || Mt 17,17 ÷ Mk 9,19. - ὧδε *9,41d || Mt 17,17 ≠ πρός με Mk 9,19. - ὁ Ἰησοῦς *9,42c || Mt 17,18 ÷ Mk 9,25. - καὶ ἰάσατο τὸν παῖδα *9,42d || καὶ ἐθεραπεύθη ὁ παῖς Mt 17,18 ÷ Mk 9,27. - μέλλει (…) παραδίδοσθαι *9,44 || Mt 17,22 ≠ παραδίδοται Mk 9,31. Wie immer eröffnet die Annahme der *Ev-Priorität zwei verschiedene Möglichkeiten für das Zustandekommen der »Minor Agreements«: Sie können entweder auf eine mk Änderung an *Ev zurückgehen, das Mt und Lk jedoch unverändert rezipiert haben (*Ev = Mt = Lk ≠ Mk), oder darauf, dass Mt *Ev redigierte, während Mk und Lk den Wortlaut von *Ev unverändert übernommen haben (*Ev = Mk = Lk ≠ Mt). Für diese Perikope sind beide Phänomene auf engstem Raum nebeneinander zu beobachten: a. Gegen οὐκ ἴσχυσαν Mk 9,18 formulieren Mt 17,16 und Lk 9,40 übereinstimmend οὐκ ἠδυνήθησαν. Diese Formulierung ist durch Epiphanius bereits für *Ev bezeugt. Die redaktionelle Änderung geht auf Mk zurück, aber sowohl Mt als auch Lk folgen nicht ihm, sondern dem Ausgangstext *Ev: *Ev = Mt = Lk ≠ Mk. b. Auf andere Weise ist das Fehlen von καὶ διεστραμμένη Lk 9,41b || Mt 17,17 in Mk 9,19 zustande gekommen. Nach dem übereinstimmenden Zeugnis von Tertullian und Epiphanius, das zudem durch zwei Altlateiner (a e) gestützt wird, haben diese Worte in *Ev gefehlt. 5 Die mt-lk Übereinstimmung geht daher auf eine mt Änderung an *Ev zurück, die Lk übernimmt. Dieses Beispiel, das besondere ______________________________ 4 Vgl. nur W OLTER , Lk 356, der eine »eine monokausale Erklärung« der genannten Agreements für unzureichend hält und stattdessen vorschlägt, sie auf »Zufall« oder auf Einfluss der mündlichen Überlieferung oder auf das Mt und Lk vorliegende Mk-Exemplar zurückzuführen. Diese Erklärung erklärt nichts, sondern ist Ausdruck der Ratlosigkeit: Das zugrunde liegende Modell ist unzureichend. Aber auch alternative Erklärungen scheitern; so muss etwa die Deuteromarkustheorie annehmen, dass die deutero-mk Redaktion von Mk ein redaktionelles Interesse an der Tilgung von Mk 9,14b-16b. 20d-21.22c-25. 26b-27 hatte (vgl. A ICHINGER , a. a. O.) 5 Zum Problem, ob die Varianten in Lk 9,41b (a e) ausreichen, um καὶ διεστραμμένη als mt Paralleleinfluss auf Lk zu erklären, vgl. B. H. S TREETER , The Four Gospels, London 1924, 371; J. S CHMID , Matthäus und Lukas, Freiburg/ Brsg. 1930, 124 Anm. 2. <?page no="257"?> 9,37-45 Rekonstruktion 769 Aufmerksamkeit auf sich gezogen und verschiedene Erklärungen gefunden hat, 6 zeigt nicht nur die mk Rezeption des vorkanonischen Textes, sondern belegt außerdem die Verwendung (und Vergleichung! ) von Mt durch Lk: *Ev = Mk ≠ Mt = Lk. 3. Obwohl die handschriftlichen Varianten in der Regel semantisch unauffällig sind, haben sie hier - sofern sie tatsächlich den vorkanonischen Text repräsentieren - eine wichtige Auswirkung, deren Bedeutung allerdings erst im Horizont des hier vorausgesetzten überlieferungsgeschichtlichen Modells sichtbar wird. Denn in *9,37 lesen etliche Handschriften Singular (κατελθόντα αὐτόν) anstelle des ansonsten bezeugten Plurals (κατελθόντων αὐτῶν). Die Folge ist, dass die einzigen »erzählten« Personen Jesus, der Vater und sein Sohn sowie die zwei Mal erwähnte Menge sind. Die Jünger sind dagegen nur als »besprochene« Personen im Bericht des Vaters über das Unvermögen präsent (*9,40), kommen aber in der Erzählstimme gar nicht vor. Dies hat Folgen für das Verständnis des Scheltwortes Jesu in *9,41: Nach Epiphanius richtet es sich nur einfach πρὸς αὐτούς. Im Unterschied zur lk Fassung ist für *Ev nicht erkennbar oder gar wahrscheinlich, dass damit die Jünger gemeint sind: Das Pronomen referiert auf den Vater und die ihn umgebende Menge als Adressaten des Logions. Im Unterschied zu *Ev leitet Mk 9,19 die Reaktion Jesu mit ὁ δὲ ἀποκριθεὶς α ὐ τ ο ῖ ς λέγει ein. Nach der Einleitung Mk 9,14a (καὶ ἐλθόντες πρὸς τοὺς μ α θ η τ ά ς ) kann sich das αὐτοῖς nur auf die Jünger beziehen, mit denen die Menge im Streit liegt (Mk 9,16: τί συζητεῖτε πρὸς α ὐ τ ο ύ ς ). Zusammen mit der mk Fortführung der eigentlichen Heilungserzählung in der gesonderten Jüngerbelehrung (Mk 9,28f), die eine Entsprechung in Mt 17,19f hat, nicht aber in *Ev/ Lk, wird damit deutlich, dass Mk hier allen Ton auf Jesu Kritik (und Belehrung) der Jünger legt. Damit steht dann auch die Bedeutung der rhetorischen Frage Jesu in *9,41 zur Debatte. Der Wortlaut ist für *Ev widersprüchlich bezeugt: Während Tertullian - auf engstem Raum und in unterschiedlicher Formulierung! - wie die kanonische Fassung zwei Fragen bietet, 7 hat Epiphanius keine Entsprechung zu der ersten Frage (ἕως πότε ἔσομαι πρὸς ὑμᾶς), sondern erwähnt nur die Frage: ἕως πότε ἀνέξομαι ὑμῶν; Wie auch sonst häufig repräsentiert der am weitesten von der kanonischen Fassung entfernte Text mit einiger Wahrscheinlichkeit den vorkanonischen Wortlaut. In diesem Fall ist dies der des Epiphanius. Seine Frage bedeutet dann nicht: »Wie lange ______________________________ 6 H. S CHÜRMANN , Lk I 570 Anm. 125, hat darauf hingewiesen, dass Dtn 32,5 im Hintergrund stehen könne, der die unabhängige Ergänzung des mk Text durch Mt und Lk erklären würde; ähnlich W OLTER , Lk 358 z. St. 7 Tert. 4,23,1.2: o genitura incredula, q u o u s q u e e r o a p u d v o s , quousque sustinebo vos? - o natio incredula, q u a m d i u e r o v o b i s c u m , quamdiu vos sustinebo? <?page no="258"?> 770 Anhang I 9,37-45 werde ich noch bei euch (Jüngern) sein und euch aufhelfen? «, 8 sondern richtet sich - erkennbar distanzierter und kritischer - an die Menge: »Wie lange muss ich euch und euren Unglauben noch ertragen? « Würde sich die Frage an die Jünger richten, müssten die Leser auch mithören, dass Jesus nicht mehr viel Zeit für solches »Aufhelfen« bleibt, weil er sich ja bereits auf dem Weg zu seinem Ende in Jerusalem befindet (Lk 9,31b). Aber diesen Aspekt hat nicht *Ev hervorgehoben, sondern erst Lk. 4. Die abschließende Jüngerbelehrung *9,43b-45 hat bei Tertullian keine Spuren hinterlassen. Das Zitat der Leidensankündigung bei Epiphanius stellt zumindest das zentrale Logion für *Ev sicher, und zwar in der kanonischen Form, also ohne die nachfolgende Ankündigung der Auferstehung, die sich in Mk 9,31c || Mt 17,23a findet. Da auch die Varianten der kanonischen Handschriftenüberlieferung so gut wie keinen Aufschluss ermöglichen, 9 bleiben für die Verse mit dem narrativen Rahmen der Belehrung (*9,43b.45) nur kompositionskritische und überlieferungsgeschichtliche Erwägungen. In allen drei synoptischen Fassungen weichen die narrativen Einleitungen zur Leidensankündigung mit der Zeit- und Ortsangabe voneinander ab. Während Mk 9,30a die folgende Belehrung auf der weiteren Wanderung in Galiläa lokalisiert und sie so von der vorangehenden Szene absetzt (ähnlich Mt 17,22a), stellt Lk einen Zusammenhang mit dem Exorzismus her, indem πάντων δὲ θαυμαζόντων ἐπὶ πᾶσιν οἷς ἐποίει direkt auf die vorangehende Heilung referiert. Dazu passt, dass sich die Aufforderung θέσθε ὑμεῖς εἰς τὰ ὦτα ὑμῶν τοὺς λόγους τούτους *9,44a nicht auf die folgende Leidensankündigung, sondern nur auf die zuletzt mitgeteilten Worte Jesu - also die kritische Frage Ὦ γενεὰ ἄπιστος, ἕως πότε ἀνέξομαι ὑμῶν (*9,41) - beziehen kann: Der anaphorische Charakter von τούτους *9,44a ergibt sich aus dem kausalen Anschluss (γάρ) in *9,44b, der durch Epiphanius gesichert ist. 10 In diesem Fall ist *9,44 als Belehrung über das baldige Ende Jesu zu verstehen; sie bezieht sich jetzt - und im Unterschied zu *9,41 - nicht auf die Menge, sondern richtet sich betont (ὑμεῖς! ) an die Jünger. Der Gehalt dieser Mitteilung besagt: Ich muss diese ungläubige Generation nicht mehr lange ertragen, weil der Menschensohn schon in Kürze ausgeliefert wird (μέλλει παραδίδοσθαι). In diesem Verständnis bildet *9,43b-45 einen zweiten Abschluss zur Erzählung vom Exorzismus: Da sich ______________________________ 8 So die Übersetzung von W OLTER , Lk 355, der dazu erklärt, die Formulierung ἀνέξομαι ὑμῶν sei »wie in Jes 46,4; 63,15 im Sinn von ›aufhelfen, aus einer Notlage befreien‹« zu übersetzen (a. a. O. 358 z. St.); entsprechend auch bei D. P. M OESSNER , »The Christ Must Suffer«, NT 28 (1986), 220- 256: 237. 9 Die einzige nennenswerte Variante ist επερωτησαι 9,45 (C D K M Π 0211 mult) anstelle des breiter bezeugten ερωτησαι. Das ist zu wenig spezifisch, um daraus mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die Interferenz durch eine abweichende Textüberlieferung zu schließen. 10 Vgl. dazu die zutreffende Begründung und Interpretation bei W OLTER , Lk 359 z. St. <?page no="259"?> 9,37-45 Rekonstruktion 771 die vorangehende Erzählung im Kern an die Menge richtet, ist es für *Ev (wie für Lk) ohne weiteres passend, noch eine Belehrung an die Jünger über die knappe verbleibende Zeit anzuhängen. Dies ist bei Mk und Mt anders, die ja bereits eine Belehrung an die Jünger über das Vermögen des Gebets bei dieser besonderen Dämonenart bzw. über ihren Kleinglauben angeschlossen hatten (Mk 9,28f || Mt 17,20f). Da diese Jüngerbelehrungen redaktionell sind (s. gleich), spricht alles dafür, dass die Einleitung *9,43b bereits in *Ev stand und von Lk übernommen wurde. Denn andernfalls müsste man postulieren, dass die lk Redaktion eine von Mk und Mt abweichende narrative Verbindung geschaffen hätte (Lk 9,43b). Demgegenüber ist die Annahme leichter, dass die lk Redaktion *9,43b schon in *Ev vorgefunden hatte: Die Adressierung von *9,41 an die Menge (und nicht an die Jünger) war für *Ev noch deutlicher als für Lk. 5. *9,45 hat eine kürzere Entsprechung in Mk 9,32 mit der Erwähnung des Unverständnisses der Jünger und ihrer Furcht, Jesus nach dem Sinn der Leidensankündigung zu fragen. Für die Überlieferungsgeschichte gibt es drei Möglichkeiten: (1) Das Logion war in der längeren lk Form schon in *Ev enthalten. Dann hätte Mk die Worte καὶ ἦν παρακεκαλυμμένον ἀπ’ αὐτῶν ἵνα μὴ αἴσθωνται αὐτό (Lk 9,45b) daraus gestrichen, die der Sache nach nichts Neues mitteilen, das über οἱ δὲ ἠγνόουν τὸ ῥῆμα (τοῦτο) 9,45a || Mk 9,32a hinausginge. (2) Das Wort war in der kürzeren mk Fassung in *Ev enthalten, Lk hat es von da übernommen und um diese Verstärkung ergänzt. (3) Das Wort hat in *Ev gefehlt und stammt in seiner kurzen Form aus Mk, die Lk ergänzt hat. Eine Entscheidung setzt die Rekonstruktion von *9,(45b)46-50 voraus (s. dort). Denn *9,45b gehörte ursprünglich nicht zum Abschluss der Leidensankündigung, sondern bildete die Einleitung der Rangstreiterzählung. Vor diesem Hintergrund legt sich nahe, dass Mk 9,32 die vorkanonische Formulierung bewahrt hat, während Lk 9,45aβ sowie 9,45bβ von den mk Unverständnistexten abhängig sind und auf die lk Redaktion zurückgehen. Mk 9,32 Lk 9,45 οἱ δὲ ἠγνόουν τὸ ῥῆμα, οἱ δὲ ἠγνόουν τὸ ῥῆμα τοῦτο, καὶ ἦν παρακεκαλυμμένον ἀπ’ αὐτῶν ἵνα μὴ αἴσθωνται αὐτό, καὶ ἐϕοβοῦντο αὐτὸν ἐπερωτῆσαι. καὶ ἐϕοβοῦντο ἐπερωτῆσαι αὐτὸν περὶ τοῦ ῥήματος τούτου <?page no="260"?> 772 Anhang I 9,37-45 Die Entscheidung über die Abtrennung von *9,45b (zum folgenden Kontext der Rangstreitperikope) sowie über die Zuweisung von Lk 9,45aβ.bβ an die lk Redaktion wird unten genauer begründet. 11 6. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Überlieferungsgeschichte der gesamten Perikope skizzieren: a. *Ev hatte eine Erzählung, in deren Zentrum es um den mangelnden Glauben ging, und zwar nicht um den mangelnden Glauben der Jünger (die in der Szene selbst gar nicht präsent sind), sondern um den Glauben der Menge an die Fähigkeit der Jünger, die nach *9,1 ja die ἐξουσία ἐπὶ πάντα τὰ δαιμόνια besaßen. Die kritische Reaktion Jesu mit der distanzierenden Frage (*9,41) richtet sich an den Vater als Vertreter der Menge, aus der heraus er Jesus anruft (*9,38: ἀπὸ τοῦ ὄχλου ἐβόησεν). Die Frage Jesu (ἕως πότε ἀνέξομαι ὑμῶν; ) ist in *Ev nur als frustrierter Seufzer über den anhaltenden Mangel an Glauben zu verstehen. Das Stichwort ἕως πότε liefert dann auch den Anlass für die Belehrung der Jünger, dass der Menschensohn in Kürze ausgeliefert werde: Der Sinn dieser Belehrung liegt weniger darin, die Jünger über das gewaltsame Ende des Menschensohns zu unterrichten, als in der Mitteilung über die zur Neige gehende Zeit. b. Mk hat diese Exorzismuserzählung aufgegriffen, ihren Charakter durch seine teilweise umfangreichen redaktionellen Eingriffe allerdings erheblich verändert. Vor allem hat er sie zu einer Geschichte über den Glauben der Jünger gemacht. Dazu hat Mk die Jünger auf doppelte Weise als Beteiligte in die Szene eingeführt: Indem er Jesus mit Petrus, Jakobus und Johannes vom Berg kommen (Mk 9,9: καταβαινόντων αὐτῶν ἐκ τοῦ ὄρους) und diese Drei auf die anderen Jünger treffen lässt (Mk 9,14: ἐλθόντες πρὸς τοὺς μαθητάς). Die Thematisierung des Alles vermögenden Glaubens im Gespräch mit dem Vater (Mk 9,22f: εἴ τι δύνῃ - πάντα δυνατὰ τῷ πιστεύοντι) wird durch die Anrede an die γενεὰ ἄπιστος kontrastiert (Mk 9,19), die Mk so (also ohne den Zusatz καὶ διεστραμμένη) aus *Ev übernommen hat. Nachdem die Jünger bei Mk ja schon zuvor Dämonen ausgetrieben hatten (Mk 6,13) und sich auch ansonsten durchaus gelehrig angestellt hatten, dient die ausführliche und detaillierte Schilderung der Besessenheit des Sohns (durch den Vater: Mk 9,18; durch den Erzähler: 9,20b-26) dazu, die besondere Größe des Problems deutlich zu machen: Dieser Dämon stellt in der Tat ein eigenes dämonisches γένος dar (Mk 9,29). 12 ______________________________ 11 S. u. zu *9,46 sowie zu Lk 18,34. 12 In Mk bringt das Unvermögen der Jünger ausweislich der traditionsgeschichtlichen Analogien weniger den Vorwurf an die Jünger als vielmehr die Schwierigkeit der erbetenenen Tat zum Ausdruck. Auch in der Erzählung von Elisa und dem Sohn der Sunemitin (2Kön 4,8-37), die erkennbar im Hintergrund steht, kann der Prophetenschüler (4,25: τὸ παιδάριον) das Wunder nicht vollbringen, ohne dass er dafür gemaßregelt wird. <?page no="261"?> 9,37-45 Rekonstruktion 773 Die abschließende Jüngerbelehrung Mk 9,28f zeigt, dass das Defizit des Jüngerglaubens letztendlich darin bestand, diese spezielle Dämonenart verkannt und ihrem Gebet zu wenig zugetraut zu haben. Wie auch sonst in Mk, ergeht diese Jüngerbelehrung κατ’ ἰδίαν »im Haus«. 13 Auf diese Weise wird mit dem Unverständnis der Jünger auch ihr Unvermögen zum Exorzismus eines solchen Dämons beseitigt. Der mk Schluss der Exorzismuserzählung (9,28f) passt also sehr genau zu seinem redaktionellen Konzept, demzufolge die Leser den Erkenntnisfortschritt der Jünger verfolgen und auf sich selbst beziehen sollen. 14 Es liegt folglich auch kein Gegensatz zwischen der Kritik Jesu und der abschließenden Jüngerbelehrung vor (Mk 9,19.28f). Der gegenteilige Eindruck, der für die Rekonstruktion einer deuteromarkinischen Redaktion verantwortlich gemacht wurde, 15 besteht nur scheinbar und ist darauf zurückzuführen, dass Mk seine Vorlage *Ev bearbeitet und ihr eine andere Richtung gegeben hat. Der Bezug der Jüngerbelehrung auf die vorangegangene Kritik Jesu wird schließlich darin deutlich, dass Mk in beiden Fällen das Problem thematisiert, was Jünger »vermögen« (δύναμαι: Mk 9,22f.29). Mit dieser mk Redaktionsentscheidung wurde die abschließende Belehrung in *Ev (*9,43-45) ort- und funktionslos: Mk hat sie szenisch abgetrennt und aus der Belehrung über das nahe Ende (μ έ λ λ ε ι παραδίδοσθαι) nach dem Vorbild von *9,22 || Mk 8,31 eine Ankündigung über Leiden und Auferstehung des Menschensohns gemacht (Mk 9,31: παραδίδοται … καὶ … ἀναστήσεται). c. Mt hatte erkennbar sowohl *Ev als auch Mk vorliegen: Seine Version der Exorzismuserzählung weist Elemente beider älterer Fassungen auf. In der Konzentration auf das Wesentliche folgt er dem Grundtext *Ev und lässt die mk Ergänzung der detaillierten Schilderungen der Besessenheit des Knaben aus. Dass er diese gleichwohl bei Mk gelesen hat, zeigt Mt 17,15c. 16 Mt folgt in der ganzen Einheit der mk Akoluthie (Mt 17,1-9.10-13.14-21.22f || Mk 9,2-10.11-3.14-29.30- 32), enthält also auch das Gespräch Jesu mit den drei Jüngern beim Abstieg zwischen der Verklärungserzählung und dem vorliegenden Exorzismusbericht (Mt 17,10-13). Die Wendung, mit der Mt in die Szene einführt (Mt 17,14: καὶ ἐλθόντων πρὸς τὸν ὄχλον), ist ein Mix aus *Ev und Mk: Wie *Ev, aber im Unterschied zu Mk, lässt Mt Jesus nicht auf die Jünger, sondern auf die Menge stoßen (*9,37: συνήντησεν ______________________________ 13 Vgl. Mk 3,20.31; 4,10.34; 6,31f; 9,33. Der Sinn ist nicht, dass Jesus »nach Hause kam« (so etwa EÜ 1984), sondern dass er mit den Jüngern in einem abgeschlossenen Raum allein war. 14 Vgl. dazu M. K LINGHARDT , Erlesenes Verstehen. Leserlenkung und implizites Lesen in den Evangelien, ZNT 21 (2008), 27-37. 15 So H. A ICHINGER , Zur Traditionsgeschichte der Epileptiker-Perikope, in: A. Fuchs, Spuren von Deuteromarkus I, Münster 2004, 245-280: 246. 16 πολλάκις γὰρ πίπτει εἰς τὸ πῦρ καὶ πολλάκις εἰς τὸ ὕδωρ Mt 17,15 || καὶ πολλάκις καὶ εἰς πῦρ αὐτὸν ἔβαλεν καὶ εἰς ὕδατα Mk 9,22a. Mt hat dieses Element, das in Mk im zweiten Bericht des Vaters nach dem Hinweis auf die vergebliche Heilungsbitte bietet, vorgezogen. <?page no="262"?> 774 Anhang I 9,37-45 αὐτῷ ὄχλος πολύς ≠ Mk 9,14 πρὸς τοὺς μαθητάς); wie bei Mk (aber im Unterschied zu *Ev) ist Jesus nicht allein, sondern kommt mit den Jüngern, die bei der Verklärung dabei waren (Mk 9,14 καὶ ἐλθόντες ≠ *9,37 κατελθόντα αὐτόν). Wichtiger ist allerdings, dass Mt auch die anschließende Jüngerbelehrung κατ’ ἰδίαν (Mt 17,19 || Mk 9,28) und sogar die entsprechende Jüngerfrage aus Mk übernimmt (διὰ τί/ ὅτι ἡμεῖς οὐκ ἠδυνήθημεν ἐκβαλεῖν αὐτό; ). Allerdings verweist der mt Jesus nicht auf die besondere Art des Dämons, sondern führt die ὀλιγοπιστία der Jünger als Grund an und begründet dies mit dem Logion Mt 17,21, das er mit großer Wahrscheinlichkeit aus *Ev kannte (*17,6; s. dort) und hier einfügte. Wie Mk hat auch Mt die Perikope als Jüngertext verstanden, obwohl er stärker als Mk an *Ev orientiert ist. Wenn Mt am Anfang der Perikope mk Elemente in die aus *Ev stammende Erzählfolge einbaut, ist es hier umgekehrt. Beides zusammen ist charakteristisch für die mt Redaktionsarbeit. Angesichts dieser Profilierung liegt es nahe, dass die mt Fassung Mk auch darin folgt, die abschließende Belehrung über das nahe Ende szenisch abzugrenzen und sie (wie Mt 16,21) als Ankündigung von Leiden und Auferstehung des Menschensohns zu präsentieren. d. Lk ist *Ev i. W. gefolgt. Redaktionelle Änderungen sind kaum auszumachen; sie sind jedoch an wenigen Stellen eindeutig bezeugt (z. B. die Zufügung von καὶ διεστραμμένη in Lk 9,41 aus Mt 17,17), an anderen aufgrund der Varianten in der Handschriftenüberlieferung zu erschließen. Auch wenn die lk Redaktion in 9,37a den Singular der Einleitungswendung in *Ev (κατελθόντα αὐτόν) in Analogie zu Mk 9,9 || Mt 17,9 bzw. Mk 9,14 || Mt 17,14 in den Plural (κατελθόντων αὐτῶν) gesetzt und damit die drei Jünger vom Verklärungsberg mit in die Szene eingefügt hat, wird die Exorzismuserzählung bei ihm damit noch nicht zu einer Jüngergeschichte, in der es um die Größe des Glaubens o. ä. geht. Auch Lk behält die auf den ὄχλος bezogenen Elemente vor allem in der Einleitung und am Ende bei, und auch Lk hat als abschließende Belehrung an die Jünger den Hinweis auf die knappe Zeit. *9,45-47.48.49f: Rangstreit der Jünger. Fremder Exorzist Nur teilweise bezeugt, aber wahrscheinlich ganz in *Ev vorhanden; möglicherweise durch Lk geringfügig bearbeitet. 9,45b: a Καὶ ἐϕοβοῦντο ἐπερωτῆσαι αὐτὸν περὶ τοῦ ῥήματος τούτου a , 9,46 τὸ Τίς ἂν εἴη μείζων αὐτῶν. 47 ὁ δὲ Ἰησοῦς εἰδὼς τὸν διαλογισμὸν τῆς καρδίας αὐτῶν ἐπιλαβόμενος παιδίον ἔστησεν αὐτὸ παρ’ ἑαυτῷ, 48 καὶ εἶπεν b [ αὐτοῖς ] , ῝Ος ἐὰν δέξηται c τὸ παιδίον τοῦτο c ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου ἐμὲ δέχεται, καὶ d [ ὃς ἂν ἐμὲ δέξηται <?page no="263"?> 9,46-50 Rekonstruktion 775 δέχεται ] d τὸν ἀποστείλαντά με· ὁ γὰρ μικρότερος ἐν πᾶσιν ὑμῖν ὑπάρχων οὗτός ἐστιν μέγας. 49 Ἀποκριθεὶς δὲ Ἰωάννης εἶπεν, e Διδάσκαλε, εἴδομέν τινα f ἐπὶ τῷ ὀνόματί σου ἐκβάλλοντα δαιμόνια, καὶ g ἐκωλύσαμεν αὐτὸν ὅτι οὐκ ἀκολουθεῖ μεθ’ ἡμῶν. 50 εἶπεν δὲ πρὸς αὐτὸν ὁ Ἰησοῦς, Μὴ κωλύετε, h οὐ γάρ ἐστιν καθ’ ὑμῶν οὐδὲ ὑπὲρ ὑμῶν. h i {οὐδεὶς γάρ ἐστιν ὃς οὐ ποιήσει δύναμιν ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου.} i A. *9,46-48: Tert. 4,23,4: Quis non ita iniustitiam increpationis retudisset, si eius eum credidisset qui nondum queri debuisset? Nisi quod nec ille eos insilisset, si non olim apud illos in lege, in prophetis, in virtutibus et beneficiis deversatus incredulos semper fuisset expertus. Sed ecce Christus diligit parvulos, tales esse docens debere qui semper maiores velint esse. Creator autem ursos pueris immisit, ulciscens Helisaeum propheten convicia ab eis passum. ¦ 4,23,7: At enim quanto credibilius ut eius deputetur affectio in parvulos qui benedicendo connubium in propagationem generis humani ipsum quoque fructum connubii benedicendo promisit, qui de infantia primus est? B. a (9,45b/ 46) και εϕοβουντο επερωτησαι αυτον περι του ρηματος τουτου: D d ¦ εισηλθεν δε διαλογισμος εν αυτοις: a aur b c e f ſſ 2 g 1 gat i l q r 1 M (*Ev non test.) ● b (9,48) αυτοις: om D 2542 it sy s.c ¦ add M (*Ev non test.) ● c (9,48) το παιδιον τουτο/ puerum istem (infantem hunc): P 75 D f 1 579 pc lat ¦ (3 1 2) it M (*Ev non test.) ● d (9,48) ος αν εμε δεξηται δεχεται: om D d ¦ add it M (*Ev non test.) ● e (9,49) διδασκαλε: P 45 C* L Ξ 157 827 892 1342 a d (! ) e r 1 bo ¦ επιστατα: D (! ) aur b c f l q M (*Ev non test.) ● f (9,49) επι: A C D W Θ ¦ εν: P 45.75 א B L Δ Ψ Ξ f 1.13 33 579 700 892 1241 2542 pc (*Ev non test.) ● g (9,49) εκωλυσαμεν/ prohibuimus (vetavimus: c; prohibus: d): A C D W Θ Ψ f 1.13 33 aur c d f q r 1 vg co ¦ εκωλυομεν/ prohibebamus (vetabamus): P 45.75 א B L Ξ 157 579 892 1241 pc a b e l armen (*Ev non test.) ● h (9,50b) ου γαρ εστιν καθ’ υμων ουδε υπερ υμων: P 45 ¦ ος γαρ ουκ εστιν καθ ʼ υμων, υπερ υμων εστιν: D it M (*Ev non test.) ● i (9,50c) ουδεις γαρ εστιν ος ου ποιησει δυναμιν επι τω ονοματι μου: c e l got ¦ ουδεις γαρ εστιν ος ου ποιησει δυναμιν επι τω ονοματι μου και δυνησεται κακολογησαι με: a b ¦ ουδεις δε εστιν ος ποιησει δυναμιν επι τω ονοματι μου και δυνησεται κακολογησαι με: r 1 ¦ om D aur d f q M (*Ev non test.). C. Die beiden zusammengehörigen Chrien sind nur sehr schwach bezeugt: Tertullian fasst *9,48 zusammen, der genaue Wortlaut lässt sich nur erahnen, aber nicht exakt rekonstruieren. Die Einleitung der ersten und die zweite Chrie sind unbezeugt. In beiden Fällen sind für die Frage, ob *Ev diese Passagen enthielt, textkritische und redaktionsgeschichtliche Überlegungen ausschlaggebend. 1. Tertullian bezieht sich, wie auch sonst häufig bei seinem Referat von Chrien, nur auf das entscheidende Logion und lässt die narrativen Elemente der eigentlichen Szene unerwähnt. Da aber *9,48 nicht allein gestanden haben kann, ist die gesamte Perikope für *Ev vorauszusetzen, auch wenn sich nichts über ihren Wortlaut sagen lässt: Mit den parvuli ist offensichtlich auf die μικρότεροι referiert, zu denen man sich τὸ παιδίον unschwer denken kann: Das Beispiel des Kindes und das Logion von der Aufnahme *9,47.48a waren in *Ev enthalten. Da auch die Formulierung qui semper maiores velint esse auf eine Situation passt, die der Ausgangsfrage entspricht, hat Tertullian wohl die gesamte Perikope bei *Ev gelesen. <?page no="264"?> 776 Anhang I 9,46-50 2. Darauf deuten auch die wichtigen »Minor Agreements« hin. καὶ καθίσας ἐϕώνησεν τοὺς δώδεκα … καὶ πάντων διάκονος Mk 9,35 ÷ *9,46 || Mt 18,1. ἐ π ι (λαβόμενος) *9,47 || π ρ ο ς (καλεσάμενος) Mt 18,2 ≠ λαβών Mk 9,36a. - ἐναγκαλισάμενος Mk 9,36a ÷ *9,48a || Mt 18,3a. - ὃς ἐὰν δέξηται (Lk 9,48b || Mt 18,5) ≠ ὃς ἂν … δέχηται (Mk 9,37). - οὗτός ἐστιν μέγας/ ὁ μείζων (Lk 9,48d || Mt 18,4) hat keine mk Entsprechung. Da die »Minor Agreements« sich hier nicht nur für den sicher bezeugten Vers *9,48 finden, sondern auch für die genauere Form der Einleitung der Perikope in *9,46f par., liegt es nahe, dass sie auf das gleiche überlieferungsgeschichtliche Phänomen zurückzuführen sind: *Ev hat sowohl Mt als auch Lk beeinflusst, die hier die redaktionellen Änderungen des Mk nicht mitvollziehen. Dieser Umstand ist als Argument dafür zu werten, dass auch die Vv. *46f - i. W. in der vorliegenden Gestalt - für *Ev anzunehmen sind. 3. Die Exposition der Rangstreitperikope besitzt eine wichtige Variante in D d: Hier fehlt der ansonsten durchweg bezeugte V. 46a, demzufolge »unter ihnen eine Auseinandersetzung aufkam« (εἰσῆλθεν δὲ διαλογισμὸς ἐν αὐτοῖς). Das Fehlen dieser Einleitung setzt voraus, dass *9,45b als Einleitung zu *9,46b zu sehen ist: Die Jünger »fürchteten sich, ihn über dieses Wort zu befragen: Wer von ihnen der größte sei (καὶ ἐϕοβοῦντο ἐπερωτῆσαι αὐτὸν π ε ρ ὶ τ ο ῦ ῥ ή μ α τ ο ς τ ο ύ τ ο υ , τὸ Τίς ἂν εἴη μείζων αὐτῶν).« Auch wenn dieser Zusammenhang nicht ganz glatt ist (weil zuvor kein entsprechendes ῥῆμα genannt ist), ist dieser Sinn für D d zwingend: Will man nicht unterstellen, dass D versehentlich einen unsinnigen Text produziert (und seine Übersetzung [d] diesen einfach blind wiederholt) hat, kommt dieser Lesart erhebliche Bedeutung zu. Entsprechende syntaktische Disjunktionen, bei denen die Zuweisung eines Satzgliedes unterschiedlich bezeugt ist, sind ja mehrfach belegt. 1 Demnach geht die Abfolge in *9,45a.b (Unverständnis über das Wort - Furcht, Jesus über das Wort zu befragen) bereits auf *Ev zurück. Allerdings besaß der erste Halbsatz einen anaphorischen Bezug, der zweite einen kataphorischen. Diese wenig glückliche Formulierung wird schier unverständlich, weil beide Halbsätze von einem Wort (ῥῆμα) reden, damit aber jeweils Unterschiedliches meinen. Deutlich ist immerhin, dass Mk die Bemerkung über die Furcht der Jünger, Jesus zu befragen, als zu dem vorangehenden Kontext gehörig verstanden hat: Er hat die Rangstreitperikope von der zweiten Leidensankündigung (Mk 9,30-32) szenisch getrennt (Mk 9,33a καὶ ἦλθον εἰς Καϕαρναούμ) und ihr eine Einleitung gegeben (Mk 9,33b). Sowohl die Disjunktion von Mk 9,32b und 9,33 als auch die neue Einleitung schaffen dabei Probleme: Wieso sollten sich die Jünger »fürchten«, Jesus nach dem Sinn eines dunklen Wortes zu befragen (Mk 9,32b)? Im mk Kontext ist noch gut ______________________________ 1 Vgl. etwa *16,22.23; *24,6.7. Eine wichtige Analogie stellt auch *5,27 (D d) dar, weil auch hier eine Perikopeneinleitung betroffen ist. <?page no="265"?> 9,46-50 Rekonstruktion 777 erkennbar, dass die »Furcht« sich ursprünglich nicht auf die Nachfrage zur Leidensankündigung bezog, sondern auf das folgende Gespräch, wer von den Jüngern der Größte sei: Die Peinlichkeit des Streits ist noch ohne weiteres erkennbar, wenn die Jünger auf Jesu Nachfrage (beschämt) schweigen (Mk 9,34: οἱ δὲ ἐσιώπων … γὰρ …). Mk hat also die schwer verständliche Abfolge *9,45a.b geglättet, war dafür aber zur Schaffung einer neuen Einleitung für die Rangstreitperikope genötigt, die ziemlich umständlich und unter Einfügung einer Rückblende (Mk 9,34b) das Gespräch überhaupt erst ermöglicht. Lk, der hier wie Mk die Akoluthie aus *Ev übernimmt, hat sich von der mk Lösung beeinflussen lassen: Auch er hat die Bemerkung über die Furcht der Jünger (Lk 9,45b) auf die vorangehende Leidensankündigung bezogen, sie dabei aber verstärkt, indem er das »Wort« ausdrücklich als »verborgen« herausstellt: Die Jünger »verstehen es nicht« und trauen sich deswegen nicht, Jesus »nach diesem Wort« zu fragen. Mk 9,32 Lk 9,45 οἱ δὲ ἠγνόουν τὸ ῥῆμα, οἱ δὲ ἠγνόουν τὸ ῥῆμα τοῦτο, καὶ ἦν παρακεκαλυμμένον ἀπ’ αὐτῶν ἵνα μὴ αἴσθωνται αὐτό, καὶ ἐϕοβοῦντο αὐτὸν ἐπερωτῆσαι. καὶ ἐϕοβοῦντο ἐπερωτῆσαι αὐτὸν περὶ τοῦ ῥήματος τούτου Diese zusätzlichen Formulierungen (Lk 9,45aβ) sind von den mk Unverständnistexten abhängig und gehen auf die lk Redaktion zurück und stellen das für Lk wichtige Nichtverstehen heraus: Die Bemerkung, dass »dieses Wort« über das Leiden Jesu »vor ihnen verborgen« war, ist Teil des redaktionellen Konzeptes. Wie in Lk 18,34 (ἦν τὸ ῥῆμα τοῦτο κεκρυμμένον ἀπ’ αὐτῶν, καὶ οὐκ ἐγίνωσκον τὰ λεγόμενα) wird die »Verborgenheit« dieses Wortes erst nach der Auferstehung durch die Belehrung Jesu aufgehoben, der den Jüngern »die Schriften öffnete« (Lk 24,32b; red.) und ihnen die Notwendigkeit seines Leidens »ausgehend von Mose und den Propheten« darlegte (Lk 24,27 red.; s. dort). Die finale Bestimmung ἵ ν α μὴ αἴσθωνται αὐτό ist funktional für das nachösterliche Verstehen, wenn Jesus den Jüngern den Verstand öffnet »für diese meine Worte, die ich zu euch gesprochen habe, als ich noch bei euch war« (Lk 24,44 red.; s. dort). 4. Die zweite Chrie über den fremden Exorzisten *9,49f ist komplett unbezeugt: Tertullian geht von seiner Behandlung des Zitats *9,41 (4,23,1-3) und dem Hinweis auf das Problem klein/ groß (4,23,4) direkt zu *9,51f über (4,23,8). Da *9,49f keine Parallele in Mt, sondern nur in Mk 9,38-40 hat, sieht die überlieferungsgeschichtliche Situation anders aus als für *9,46-48. Allerdings unterscheidet sich die umfangreichere mk Fassung (Mk 9,38-41) von *9,49f: Mk liefert im Anschluss an den Prohibitiv μὴ κωλύετε αὐτόν insgesamt drei Begründungen, die jeweils mit <?page no="266"?> 778 Anhang I 9,46-50 γάρ (Mk 9,39b.40.41) an das Vorangehende anschließen und nicht ganz glatt zueinander passen. 2 Folgende überlieferungsgeschichtliche Alternativen sind denkbar. a. Die Chrie stammt nicht aus *Ev, sondern aus Mk. In diesem Fall hätte sie Lk im Kern von dort übernommen, aber sowohl die erste Begründung Jesu aus Mk 9,39 (οὐδεὶς γάρ ἐστιν ὃς ποιήσει δύναμιν ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου καὶ δυνήσεται ταχὺ κακολογῆσαί με) als auch das folgende Logion über das Verhältnis der Außenstehenden zu den Jüngern Mk 9,41 weggelassen. Dieses Logion wird von Mt in dem ganz anderem Zusammenhang der Aussendungsrede rezipiert (Mt 10,42). b. Die Chrie stammt aus *Ev, und zwar in dem durch Mk bezeugten Umfang. In diesem Fall hätte Lk gestrafft und die erste und die dritte Begründung weggelassen. Das letzte Logion über das Verhalten der Außenstehenden gegenüber den Jüngern in Mt 10,42 stammte dann aus *Ev, von dem Mt ansonsten nichts mit übernommen hat. c. Die Chrie stammt aus *Ev, und zwar in dem durch Lk bezeugten Umfang. In diesem Fall hätte Mk sie von dort übernommen und redaktionell um die erste und die dritte Begründung ergänzt. Für diesen Fall müsste man annehmen, dass Mt das Logion über das Verhalten der Außenstehenden zu den Jüngern aus dem mk Kontext gelöst und es in die (aus *Ev stammende) Aussendungsrede integriert hätte. Eine Beurteilung ist aufgrund der Komplexität sehr schwierig. Sie ist vor allem abhängig von der Einschätzung der Kompetenz, mit der die jeweils angenommenen Bearbeitungen vorgenommen wurden. Unter der Annahme von Variante (a.) müsste man annehmen, dass Mt und Lk einen ursprünglich mk Zusammenhang auf jeweils unterschiedliche Weise bearbeitet haben. Das ist grundsätzlich denkbar, auch wenn diese Möglichkeit zusätzliche (und ungeschützte) Annahmen machen muss. Außerdem wird nicht wirklich erklärbar, warum Lk von den drei mk Begründungen nur eine rezipiert hätte. Variante (b.), der zufolge Mk den gesamten Zusammenhang aus *Ev übernommen hätte, ist von derselben Schwierigkeit belastet: Wieso hätte Lk den Kontext von *Ev gekürzt haben sollen? 3 Am wenigsten unwahrscheinlich ist Variante (c.), nach der Mk die kürzere Fassung von *Ev um zwei weitere Begründungen ergänzt hätte. Tatsächlich ist der mk Kontext problematisch, denn die drei Begründungen weisen jeweils eine unterschiedliche Perspektive auf: Mk 9,39b thematisiert das Verhältnis gegenüber Jesus (ἐπὶ τῷ ὀνόματί μ ο υ … κακολογῆσαί μ ε ); in Mk 9,40 sind Jesus und die Jünger zu einem »wir« zusammengeschlossen (καθ ʼ ἡμῶν … ὑπὲρ ἡμῶν); Mk 9,41 nimmt dagegen nur das Verhältnis Außenstehender gegenüber den Jüngern in den Blick (ὑμᾶς … ὑμῖν): Dieser ______________________________ 2 V. 39b: οὐδεὶς γάρ ἐστιν ὃς ποιήσει δύναμιν ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου καὶ δυνήσεται ταχὺ κακολογῆσαί με.- V. 40: ὃς γὰρ οὐκ ἔστιν καθ’ ἡμῶν, ὑπὲρ ἡμῶν ἐστιν. - V. 41: ῝Ος γὰρ ἂν ποτίσῃ ὑμᾶς ποτήριον ὕδατος ἐν ὀνόματι ὅτι Χριστοῦ ἐστε, ἀμὴν λέγω ὑμῖν ὅτι οὐ μὴ ἀπολέσῃ τὸν μισθὸν αὐτοῦ. 3 Vgl. dazu G NILKA , Mk II 59, Anm. 2, der eine (Mk) vorausliegende übergreifende Einheit erwägt. <?page no="267"?> 9,46-50 Rekonstruktion 779 Perspektivenwechsel könnte sehr gut auf die redaktionelle Ergänzung durch Mk zurückgehen. 5. Diese Überlegung wird gestützt durch die eigenartige Variante zu *9,50b in P 45 : Die Erklärung, dass der fremde Exorzist »nicht gegen euch und nicht für euch« sei (οὐ γάρ ἐστιν καθ’ ὑμῶν οὐδὲ ὑπὲρ ὑμῶν), ist im Vergleich zu den mk und zu der lk Begründung am wenigsten spezifisch: Sie weicht so weit vom Mehrheitstext ab, dass man geneigt ist, hier ein Relikt des vorkanonischen Wortlautes zu vermuten. In diesem Fall wird der ursprüngliche Zusammenhang der beiden Chrien in *Ev besser deutlich, weil die zweite tatsächlich eine Begründung für die erste liefert: Das entscheidende Kriterium ist die Haltung gegenüber Jesus, also das, was ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου (*9,48.49) getan wird. ἐ π ὶ τῷ ὀνόματι kennzeichnet die »grundlegende Referenz« einer Handlung und bedeutet soviel wie »um … willen« bzw. »mit Bezug auf …«. 4 Die Wendung ist daher kein exaktes Äquivalent zu der häufigeren Formulierung ἐ ν τῷ ὀνόματι, die stärker den Aspekt der Bevollmächtigung betont. Dieser Unterschied ist auch in den handschriftlichen Zeugen zu vermerken: Der Wechsel von ἐ π ὶ τῷ ὀνόματι zu ἐ ν τῷ ὀνόματι in *9,49 zeigt die übliche Interferenz zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Handschriftenüberlieferung an; charakteristischerweise lässt Lk ansonsten ἐ ν τῷ ὀνόματι Kranke heilen bzw. Dämonen austreiben. 5 Wenn Jesus die Jüngerfrage *9,46 nach dem sozialen Rang innerhalb der Gruppe durch den Hinweis beantwortet, dass einzig das Verhalten ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου zählt und dies durch die Aufnahme eines Kindes veranschaulicht, dann ist der Hinweis des Johannes weiterführend: Was ist in diesem Fall mit denen, die zwar ἐπὶ τῷ ὀνόματί σου Dämonen austreiben, aber nicht mit uns zusammen nachfolgen? Jesu Antwort schneidet diesen Gedanken ab und unterstreicht die Grundsätzlichkeit der Antwort auf die Frage nach dem sozialen Rang. Die Begründung *9,50b P 45 wäre dann sinngemäß zu ergänzen: Ein solcher Exorzist ist weder für euch noch gegen euch, weil allein zählt, dass er ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου wirkt. 6. Das Ende der Perikope scheint in *Ev anders gelautet zu haben als in Lk: Ein Teil der altlateinischen Überlieferung fügt noch eine Begründung an, die eine enge Parallele in Mk 9,39 besitzt. Allerdings variiert der Wortlaut dieser Begründung in den altlateinischen Lk-Handschriften. Der Befund stellt sich folgendermaßen dar. ______________________________ 4 Zu diesem Verständnis vgl. L. H ARTMAN , »Auf den Namen des Herrn Jesus«, Stuttgart 1992, 44; W OLTER , Lk 362 z. St. 5 Vgl. Act 3,6; 4,7.10; 16,18. Zu Lk 10,17 vgl. v. l. επι anstelle von εν (Cyrill). <?page no="268"?> 780 Anhang I 9,46-50 Lk 9,50 (c e l; got) Lk 9,50 (a b) Lk 9,50 (r 1 ) Mk 9,39 οὐδεὶς γάρ οὐδεὶς γάρ οὐδεὶς δέ οὐδεὶς γάρ ἐστιν ὃς ἐστιν ὃς ἐστιν ὃς ἐστιν ὃς οὐ οὐ ποιήσει δύναμιν ποιήσει δύναμιν ποιήσει δύναμιν ποιήσει δύναμιν ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου καὶ δυνήσεται καὶ δυνήσεται καὶ δυνήσεται ταχὺ κακολογῆσαί με κακολογῆσαί με κακολογῆσαί με Dieser Befund wirft zwei miteinander zusammenhängende Fragen auf: (a.) Geht die altlateinische Überlieferung von Lk 9,50 auf *Ev zurück oder auf Mk? (b.) Wie kommt die Varianz innerhalb der altlateinischen Überlieferung zustande? a. Die Faustregel, dass der am weitesten vom kanonischen Wortlaut entfernte Text mit großer Wahrscheinlichkeit ursprünglich ist, lässt sich durch dieses Beispiel bestätigen. Denn trotz der Abweichungen innerhalb der altlateinischen Fassungen stimmen sie in mehrfacher Hinsicht gegen Mk überein: Neben dem Fehlen von ταχύ liegt der größte Unterschied darin, dass Mk diese Begründung vor der Pointe Mk 9,40 bringt, während die Altlateiner sie danach bieten; durch die mk Abfolge erhält die abschließende Sentenz Mk 9,40 größeres Gewicht. Aus diesem Grund ist ein Einfluss der synoptischen Parallele in Mk 9,39 auf den kanonischen Lk-Text auszuschließen: der Ursprung dieser Überlieferung liegt nicht in Mk 9,39, sondern in *Ev. Diese Erklärung bestätigt das wiederholt auftretende Phänomen, dass die altlateinischen Evangelien zahlreiche Lesarten aus dem vorkanonischen *Ev enthalten. b. Unter dieser Voraussetzung werden auch die veschiedenen altlateinischen Fassungen verständlich. Am schwierigsten ist die Verbindung zweier Verneinungen, die sich gegenseitig aufheben (c e l got; a b). Obwohl die Wendung οὐδεὶς … ὃς οὐ als positive Aussage im klassischen Griechisch häufig belegt ist, 6 wurde dieses Verständnis für das NT ausgeschlossen; allerdings zu Unrecht. 7 In der kurzen Fassung (c e l got) fungiert die doppelte Negation als Verstärkung: Es ist ausgeschlossen, dass jemand eine Machttat wirken kann, es sei denn im Namen Jesu. In der mk Fassung fehlt diese doppelte Verneinung. Die zweite Negation ist semantisch durch den negativen Sinn des zweiten Satzteils ersetzt, der hier als Irrealis verstanden ist (καὶ δυνήσεται ταχὺ κακολογῆσαί με). In diesem Fall muss man verstehen, dass die doppelte Verneinung in *Ev ursprünglich war und wegfiel, als Mk 9,39 den Satz über die Unfähigkeit zur Schmähung redaktionell eingefügt ______________________________ 6 Vgl. K ÜHNER -G ERTH , Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache II 414f. 7 Vgl. BDR § 431.1 Anm. 2: »Diese Form hat im NT als 2 Sätze zu gelten«, ist also kein Beispiel für die Aufhebung zweier Negationen. <?page no="269"?> 9,46-50 Rekonstruktion 781 hat. Aus diesem Grund sind die altlateinischen Fassungen, die den abschließenden Satz über die Schmähung Jesu enthalten (a b; r 1 ), als Konflation zwischen dem ältesten Text in *Ev (= Lk 9,50 c e l) und seiner Redaktion Mk 9,39 zu verstehen. 7. Von da aus lässt sich dann der Gang der Überlieferung leicht entschlüsseln. Die Semantik von *9,50 ist konsistent und passt zum Rest der Perikope. Wenn *9,50b feststellt, dass der fremde Exorzist »weder für euch noch gegen euch« ist, dann fungiert *9,50c als Begründung: Das entscheidende Kriterium ist nicht die soziale Zugehörigkeit zur Jüngergruppe, sondern allein die Aktivität »in meinem Namen«. Dieses Kriterium wird durch die abschließende Sentenz für den fremden Wundertäter sichergestellt: Es ist unmöglich, Machterweise anders als »im Namen Jesu« zu wirken. Das ist ein direkter Widerspruch zur Aussage des Johannes, der die Zugehörigkeit zur Gruppe der Jünger als zusätzliches Kriterium für die Legitimität von Exorzismen vertreten hatte: Religöses Verhalten erhält Legitimität nicht durch die Zugehörigkeit zu den Jüngern, sondern allein durch den Bezug zu Jesus. Mk 9,39f hat diese schroffe Belehrung abgemildert. An die Stelle des direkten Gegensatzes von *9,50c setzt Mk 9,39b die Unmöglichkeit, im Namen Jesu zu agieren und diesen Namen dann »leicht« zu schmähen: Weder von der Schmähung noch von einem schnellen Sinneswandel war und ist hier die Rede; dies ist eine mk adhoc-Erfindung, die durch ihre implizite Absurdität den Widerspruch von *9,50 reduziert. Durch die Umstellung von Mk 9,39.40 (gegenüber *9,50b und c) hat Mk außerdem die abschließende Sentenz hervorgehoben. Deren Sinnrichtung ist durch zwei Eingriffe deutlich verändert. Erstens hat Mk die 2. Pers. Plural der Personalpronomina (für euch; gegen euch) durch die 1. Pers. ersetzt (für uns; gegen uns): Jesus schließt sich mit den Jüngern zu einer Gruppe zusammen und hebt dadurch den Gegensatz von *9,50c (Verhältnis zu Jesus anstelle Zugehörigkeit zu den Jüngern) auf. Zweitens setzt Mk an die Stelle der Indifferenz gegenüber der Jüngergruppe (weder für euch noch gegen euch) die inklusivierende Ausdehnung der sozialen Grenzen: Alle fremden Wundertäter werden kurzerhand für die eine Jüngergruppe vereinnahmt, solange sie sich nicht durch direkte Opposition gegen Jesus (»schmähen«) als Christen disqualifizieren: »Wer nicht gegen uns ist, ist für uns.« Diese redaktionellen Veränderungen deuten auf ein gesteigertes Interesse an Legitimitätsansprüchen und sozialer Abgrenzung hin. Impliziert ist ein komplexer Anspruch: Es gibt nur eine legitimte Gruppe, die zu Jesus gehört und »in seinem Namen« agiert, und das sind »wir«. Zu »uns« gehören alle, die im Namen Jesu agieren, außer denen, die sich ausdrücklich lossagen. Weil es nur eine legitime Gruppe gibt, ist die Abgrenzung von der Gruppe identisch mit der Schmähung Jesu. Versucht man, diesen komplexen Legitimitätsanspruch auf eine historisch und sozial konkretisierbare Konstellation zu beziehen, stößt man im fraglichen Zeitraum <?page no="270"?> 782 Anhang I 9,46-50 unweigerlich auf die Auseinandersetzung zwischen den Marcioniten und den Vertretern der entstehenden Großkirche. Lk hat beide Prätexte (*Ev und Mk) bearbeitet. Zwar ist die grundlegende Gestalt der Perikope an *Ev orientiert. Aber indem Lk die Aussage *9,50b übergeht, steht bei ihm (analog zu Mk 9,40) die Pointe betont am Ende. Die Formulierung hat Lk genau aus Mk 9,40 übernommen: ὃς γὰρ οὐκ ἔστιν καθ’ ἡμῶν, ὑπὲρ ἡμῶν ἐστιν. Indem Lk wie Mk die Pronomina der 2. Pers. durch die 1. Pers. ersetzt, 8 erzielt er denselben inklusivierenden Effekt wie Mk; auch der historische Hintergrund dieser Änderungen ist derselbe. Als Beitrag zum ursprünglichen Kontext des Rangstreits ist diese Aussage kaum noch verständlich. Aber ihr umfassender Anspruch sowie die Implikation, dass es Menschen gibt, die καθ’ ἡμῶν sind, würden hervorragend in den Kontext der Auseinandersetzungen in der Mitte des 2. Jh. passen, die als Hintergrund der lk bzw. der kanonischen Redaktion anzunehmen sind. *9, [ 51 ] 52.53a [ 53b ] 54ab{54c}55{55b.56a}56: Mission in Samaria Teilweise für *Ev bezeugt; mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die lk Redaktion bearbeitet. [ 9,51 Ἐγένετο δὲ ἐν τῷ συμπληροῦσθαι τὰς ἡμέρας τῆς ἀναλήμψεως αὐτοῦ καὶ αὐτὸς τὸ πρόσωπον ἐστήρισεν τοῦ πορεύεσθαι εἰς Ἰερουσαλήμ, ] a 52 καὶ ἀπέστειλεν ἀγγέλους πρὸ προσώπου αὐτοῦ. καὶ πορευθέντες εἰσῆλθον εἰς κώμην Σαμαριτῶν, ὡς ἑτοιμάσαι αὐτῷ· 53 καὶ οὐκ ἐδέξαντο αὐτόν [ ὅτι τὸ πρόσωπον αὐτοῦ ἦν πορευόμενον εἰς Ἰερουσαλήμ. ] a 54 ἰδόντες δὲ οἱ μαθηταὶ Ἰάκωβος καὶ Ἰωάννης εἶπαν, Κύριε, θέλεις εἴπωμεν πῦρ καταβῆναι ἀπὸ τοῦ οὐρανοῦ καὶ ἀναλῶσαι αὐτούς b {ὧς καὶ ᾿Ηλίας ἐποίησεν} b ; 55 στραϕεὶς δὲ ἐπετίμησεν αὐτοῖς. c {καὶ εἶπεν· οὐκ οἴδατε οἵου πνεύματός ἐστε ὑμεῖς.} c d {56 ὁ γὰρ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου οὐκ ἦλθεν ψυχὰς τῶν ἀνθρώπων ἀπολέσαι, ἀλλὰ σῶσαι.} d καὶ ἐπορεύθησαν εἰς ἑτέραν κώμην. ______________________________ 8 Die Herausgeber der kritischen Ausgaben haben hier (wie auch sonst häufig) nicht den kanonischen, sondern den vorkanonischen Text übernommen; in diesem Fall könnten Itazismem die Situation weiter verkompliziert haben. Die beiden Personalpronomina aus Lk 9,50 (NA 27 / GNT 3 : ὃς γὰρ οὐκ ἔστιν καθ’ ὑ μ ῶ ν , ὑπὲρ ὑ μ ῶ ν ἐστιν) kommen in den Handschriften in diesen Varianten vor: (1) ημων - ημων: א 2 f 1.13 M . - (2) υμων - ημων: א * A Δ pc. - (3) ημων - υμων: Θ 2542 pc. - (4) υμων - υμων: א 1 B C D K L W Ξ Ψ 33 565 700 892 1241 1424 al it vg sy co. Nach dieser überlieferungsgeschichtlichen Rekonstruktion repräsentiert die erste Variante den kanonischen Lk- Text. <?page no="271"?> 9,51-56 Rekonstruktion 783 A. *9,51f.54-56: Tert. 4,23,8f: Repraesentat creator ignium plagam Helia postulante in illo pseudopropheta. Agnosco iudicis severitatem: e contrario Christi lenitatem, increpantis eandem animadversionem destinantes discipulos super illum viculum Samaritarum. Agnoscat et haereticus ab eodem severissimo iudice promitti hanc Christi lenitatem. Non contendet, inquit, nec vox eius in platea audietur: harundinem quassatam non comminuet, et linum fumigans non extinguet (Jes 42,2f). (9) Talis utique multo magis homines non erat crematurus. Nam et tunc ad Heliam, Non in igni, inquit, dominus sed in spiritu miti (1Kön 19,12). At enim humanissimus deus cur recusat eum qui se tam individuum illi comitem offert? Si quia superbe vel ex hypocrisi dixerat, Sequar te quocunque ieris, ergo aut superbiam aut hypocrisin recusandam iudicando iudicem gessit. B. a (9,52f) vss. 52, 53 om 1080 1241 1352 ¦ add M (*Ev non test.) ● b (9,54) ως και ηλιας εποιησεν: (Tert) A C D W Θ Ψ f 1.13 33 mult a b c d q r 1 sy p.h bo mss ¦ om P 45.75 B L Ξ f 1.13 157 579 700 1241 1342 aur e g 1 gat l vg sy s.c sa bo mss ● c (9,55b) και ειπεν· ουκ οιδατε οιου (ποιου: D f 1 700 al.) πνευματος εστε (υμεις: K f 1 al.): (Tert? ) D K Γ Θ f 1.13 579 700 2542 mult a aur b c d e f q r 1 vg mss sy (c.p.)h bo mss ¦ om P 45.75 א A B C E G H L V W X Δ Ξ Ω 028 047 0211 mult g 1 gat l M ● d (9,56a) ο (γαρ: K al.) υιος του ανθρωπου ουκ ηλθεν ψυχας των ανθρωπων απολεσαι (αποκτειναι: Γ 700 al.) αλλα σωσαι: K Γ Θ f 1.13 579 700 2542 mult a aur b c e f q r 1 vg mss sy (c.p.)h bo mss ¦ om P 45.75 א A B C D E G H L V W X Δ Ξ Ω 028 047 0211 mult d g 1 gat l (*Ev non test.). C. Wie auch sonst häufig, bezeugt Tertullian in den Chrien vor allem die Pointe: *9,54a.55a sind hier gut belegt. Da Tertullian vom Kontext immerhin das viculum Samaritarum und das Vorhaben der Jünger erwähnt, ist *9,52b ebenfalls gesichert. *9,53a (καὶ οὐκ ἐδέξαντο αὐτόν) ist in der Reaktion der Jünger in V. *54 vorausgesetzt und muss aus Gründen der narrativen Logik in *Ev enthalten gewesen sein. Das Urteil über den Rest ist schwierig: 1. Sowohl die sprachliche Form als auch der Inhalt von Lk 9,51 unterliegen dem deutlichen Verdacht, redaktionell zu sein. Die Formulierung der Zeitbestimmung mit ἐγένετο δὲ ἐν τῷ + Infinitiv gibt es im NT nur bei Lk (1,8; 2,6; 11,27; 18,35; vgl. 3,21; 5,1; Act 19,1). Von diesen Belegen gehen vier (1,8; 2,6; 3,21; Act 19,1) mit Sicherheit, zwei weitere (5,1; 11,27) mit großer Wahrscheinlichkeit auf die lk Redaktion zurück: Es handelt sich also tatsächlich um eine lk Stileigentümlichkeit. Ähnliches gilt von der Formulierung des »Vollwerdens« eines Zeitraums: Diese Formulierung ist ein Vorzugswort, das nur in lk (red.) Partien begegnet. 1 Das Nomen ἀνάλημψις begegnet nur an dieser Stelle. Das Verb ἀναλαμβάνω zur Bezeichnung der Entrückung Jesu in den Himmel ist ein Vorzugswort der lk Redaktion (vgl. Act 1,2.11.22) und begegnet außerdem in 1Tim 3,16 sowie im kanonischen Mk- Schluss (Mk 16,19): Das ist die Sprache der kanonischen Redaktion. Auch πορεύεσθαι ist (mit insgesamt 88 Belegen in Lk/ Act) ein lk Vorzugswort. 2 στηρίζειν begegnet außer in 9,51 noch in ______________________________ 1 Vgl. die Formulierung mit (συμ)πληροῦσθαι: Lk 2,1; 21,24; Act 7,23; 9,23 bzw. mit πιμπλάναι: Lk 1,57; 2,6.21.22. 2 Zum distinkten Sprachgebrauch vgl. R. VON B ENDEMANN , Zwischen ΔΟΞΑ und ΣΤΑΥΡΟΣ, Berlin - New York 2001, 415; J. J EREMIAS , Die Sprache des Lukasevangeliums, Göttingen 1980, 179. Im vorkanonischen *Mk taucht nur παραπορεύομαι auf (Mk 9,30), dagegen kommt πορεύομαι im <?page no="272"?> 784 Anhang I 9,51-56 16,26 (für *Ev durch Adamantius bezeugt; s. dort) und in 22,32 (mit größter Wahrscheinlichkeit red.; s. dort). Das Syntagma ἀποστέλλω + πρὸ προσώπου σου ist für *Ev im Mal-Zitat *7,27 bezeugt, kommt sonst im NT nur noch in den redaktionellen Formulierungen Lk 1,10 und Act 13,24 vor. 3 Neben der aussagekräftigen Häufung sprachlicher Signale, die auf lk Redaktion hinweisen, ist in inhaltlicher Hinsicht natürlich der Verweis auf die ἀνάλημψις Jesu ein starkes Indiz für lk Redaktion. Denn der knappe Bericht über die Himmelfahrt Jesu Lk 24,51 hat in *Ev mit allergrößter Wahrscheinlichkeit gefehlt: *Ev endete mit dem knappen Hinweis, dass Jesus die Jünger verließ. 4 Für Lk ist die Himmelfahrt als Bedingung der Möglichkeit zur Sendung des Geistes (Act 2,33) dagegen von zentraler Bedeutung. 2. Ähnliches gilt für Lk 9,53b: Die Betonung von Jerusalem als Ziel der Reise und Ort der Passion Jesu ist ein wichtiges Element des Konzeptes der lk Redaktion. Dass dies auch in 9,53b der Fall sein könnte, legt sich dadurch nahe, dass V. 53b die Formulierung von 9,51b erkennbar aufgreift (τὸ πρόσωπον; πορεύεσθαι bzw. πορευόμενον; εἰς Ἰερουσαλήμ). Auf den ersten Blick scheint dies durch die Auslassung von 9,53 durch die Minuskeln 1080 1241 1352 gestützt zu werden: Denn dass Elemente der vorkanonischen Textgestalt noch in späten Zeugen Niederschlag gefunden haben, lässt sich ja häufig beobachten. In diesem Fall wird die Nichtbezeugung jedoch andere Gründe haben, da in diesen drei Minuskeln nicht nur 9,53, sondern auch 9,52 gefehlt hat; von diesem Vers ist aber zumindest die zweite Hälfte durch Tertullian für *Ev gesichert. Die Auslassung hat also andere Gründe; am ehesten ist an ein Schreibversehen (Homoioteleuton 9,51.53: εἰς Ἰερουσαλήμ) zu denken. Diese Beobachtungen zu 9,51.53b und Tertullians Bezeugung bestätigen die Rekonstruktionsversuche einer vorlk Fassung der Perikope, die auch unabhängig von der Annahme der *Ev-Priorität angestellt wurden. 5 Diese Überlegungen sind vor allem im Blick auf die Diskussion des sog. »lk Reiseberichts« von Bedeutung, den die meisten Ausleger mit Lk 9,51 beginnen lassen. Schon länger war gegen diesen tiefen Einschnitt in 9,51 eingewandt worden, dass 9,51-56 kompositionell eng ______________________________ kanonischen Mk-Schluss gleich drei Mal vor (Mk 16,10.12.15); auch hier zeigt sich die Hand des kanonischen Redaktors. 3 Vgl. M. M IYOSHI , Der Anfang des Reiseberichts, Rom 1974, 10f. 4 Zu καὶ ἀνεϕέρετο εἰς τὸν οὐρανόν Lk 24,51 s. dort. Vor allem das Fehlen dieser Wendung in א * D a b d e ſſ 2 l sy s georg I ist aufschlussreich. 5 Vgl. M IYOSHI , a. a. O. 6-15; vgl. B OVON , Lk II 25 z. St.: »Wenn wir die VV51 und 53b überspringen, haben wir, abgesehen von gewissen lukanischen Ausdrücken, die traditionelle Geschichte vor uns.« <?page no="273"?> 9,51-56 Rekonstruktion 785 mit 9,37-50 zusammengehöre, weil es hier wie dort um die Korrektur von Jüngermissverständnissen gehe, 6 vor allem aber, weil es keinerlei identifizierbare Kompositionssignale für einen solchen Bericht gebe und weil schließlich das Ende dieses Reiseberichts nicht klar erkennbar sei. 7 Damit bleibt als entscheidendes Argument für die Annahme eines solchen Berichts, dass »Lukas mit der Formulierung ἐγένετο δὲ ἐν τῷ συμπληροῦσθαι τὰς ἡμέρας τῆς ἀναλήμψεως αὐτοῦ in 9,51a einen tiefen Gliederungsschnitt setzt, weil er den Blick der Leser damit in eine neue, bisher unbekannte Richtung lenkt.« 8 Da sowohl die Hinweise auf redaktionelle Gestaltung (in Lk 9,51) als auch diejenigen auf fehlende kompositionelle Strukturen zutreffend sind, entsteht hier eine unbefriedigende Situation, die sich jedoch mit Blick auf einen vorkanonischen Text und seine sekundäre Bearbeitung durch die lk Redaktion ohne weiteres löst. Denn in diesem Fall erklärt sich der ausdrückliche Hinweis in Lk 9,51a als redaktionelle Einfügung, die auf das deutlich erkennbare Konzept des »Weges« Jesu nach Jerusalem in Mk 8,27-10,52 zurückgeht. 9 Dass dem redaktionell herausgehobenen Beginn des lk Reiseberichts dann keine weiteren, gleichermaßen deutlichen Kompositionssignale folgen, ist - mit Blick auf den Umfang des Materials - ohne weiteres nachvollziehbar: Das erklärt sich auch ohne die Annahme von redaktioneller Nachlässigkeit. 10 3. Unklar ist außerdem, ob *Ev in *9,54c.55b.56a möglicherweise einen umfangreicheren Text hatte als Lk. Die handschriftliche Bezeugung 11 ist hier auffällig gespalten. a. In *9,54 fügen etliche Handschriften, darunter auch einige Altlateiner und andere Versionen, am Ende die Worte ὧς καὶ ᾿Ηλίας ἐποίησεν ein. Dies ist ein Hinweis auf 2Kön 1,9-12, der ja schon deswegen nahe liegt, weil auch die Worte der Zebedaiden der Sache nach von hier stammen. 12 Tertullians Referat macht deutlich, dass er diesen ausdrücklichen Verweis auf Elia in *Ev gelesen hat. Denn er fühlt sich zu dem Nachweis genötigt, dass die Strenge des richtenden Gottes in der ______________________________ 6 Vgl. schon T H . Z AHN , Lk z. St.; neuerdings sehr viel ausführlicher R. VON B ENDEMANN , a. a. O. 132ff. 7 Zum Für und Wider des »Reiseberichts« vgl. knapp W OLTER , Lk 364-366 (mit Lit.). 8 W OLTER , Lk 364. 9 Zur Bedeutung des »Wegs« (Mk 8,27; 9,33f; 10,17.32f.46.52) für die geographische Gliederung vgl. für viele andere: B. M. F. VAN I ERSEL , Locality, Structure, and Meaning in Mark, LingBibl 53 (1983), 45-54; DERS ., Markus - Geographie und Bedeutung, Düsseldorf 1993, 272-300. 10 Vgl. M. S. G OODACRE , Fatigue in the Synoptics, NTS 44 (1998), 45-58. 11 Schon F. C. B URKITT , St. Luke 9,54-56 and the Western »Diatessaron«, JTS 28 (1927), 48-53, hatte auf die Varianten in 9,54-56 hingewiesen. Er hielt jedoch die kürzere Fassung der Vulgatahandschriften für älter als den Langtext der Altlateiner. Anders beispielsweise J. M. R OSS , The Rejected Words in Luke 9,54-56, ET 84 (1972/ 73), 85-88, der den Langtext für ursprünglich hält. 12 2Kön 1,10.12: καταβήσεται πῦρ ἐκ τοῦ οὐρανοῦ καὶ καταϕάγεταί σε. <?page no="274"?> 786 Anhang I 9,51-56 Eliaepisode und die Sanftheit Jesu in seinem Tadel der Jünger 13 sich nicht widersprechen. Da Tertullian daran gelegen ist, die Einheit Gottes gegen die marcionitische Differenzierung zwischen creator und deus bonus festzuhalten, konzediert er, dass die Eliaepisode in der Tat die severitas Gottes sichtbar werden ließe, 14 fordert aber umgekehrt, dass Marcion auch seine lenitas zur Kenntnis nehmen möge, die er aufgrund von Jes 42,2f und 1Kön 19,12 ebenfalls schon für das AT belegt hält. Harnack hatte aufgrund desselben Hinweises bei Tertullian und auf derselben Grundlage der uneinheitlichen Handschriftenüberlieferung (allerdings aus anderen Gründen) geschlossen, dass das Eliawort *9,54b sicher in *Ev vorhanden war. 15 Die Einschätzung, dass Marcion dieses Wort sekundär in seinen Text eingefügt habe, weil es »ausgezeichnet zu seiner Lehre« passe, ist jedoch schwer nachvollziehbar. Offensichtlich denkt Harnack hier an den Gegensatz zwischen (strafendem) creator und deus bonus. Es ist allerdings völlig unwahrscheinlich, dass Marcion den Text seines Evangeliums eigenständig durch einen Hinweis aus dem von ihm abgelehnten Alten Testament ergänzt haben sollte. Denn er hätte damit nicht nur seine eigene Textgrundlage verlassen, sondern genau das Verfahren angewendet, das er seinen katholischen Gegnern vorwirft: Die Verfälschung des Evangeliums durch die Interpolation aus dem Alten Testament. Die Annahme, dass der Hinweis auf Elia tatsächlich in *Ev stand, ist aufgrund der direkten und der indirekten Bezeugung mehr als nur wahrscheinlich. Aber die Erklärung im Horizont der Lk-Priorität, dass er von Marcion sekundär in den kanonischen Lk-Text eingefügt worden sei, würde den methodischen Prämissen dieser Theorie diametral widersprechen: Die Elianotiz ist daher als Element des vorkanonischen *Ev-Textes zu verstehen. b. Diese Einschätzung von *9,54c ist dann auch geeignet, die ähnlich uneinheitliche Textüberlieferung von *9,55b zu klären: Teilweise dieselben Zeugen, die den Zusatz am Ende von *9,54 bieten, lesen in *9.55b: καὶ εἶπεν· οὐκ οἴδατε οἵου (ποίου) πνεύματός ἐστε (ὑμεῖς). Sehr wahrscheinlich hat Tertullian das Stichwort πνεῦμα/ spiritus an dieser Stelle in *Ev gelesen: Das würde erklären, wieso er für seinen Nachweis der Sanftheit Gottes gerade 1Kön 19,12 mit der Wendung in spiritu miti zitiert: Der »sanfte Geist«, in dem Gott dem Elia erschienen war, wäre ______________________________ 13 Der Zusammenhang des Referats von *9,54 mit *9,48 ist denkbar eng und wird durch das Stichwort von Jesu affectio in parvulos belegt. Dieser Übergang mitten im Satz begründet die Zweifel an der Existenz von 9,49f (s. dort). 14 Mit agnosco iudicis severitatem ist eindeutig auf *Ev verwiesen. 15 H ARNACK 204*: »Da die Stücke (sc. 9,54b.55b) höchstwahrscheinlich bei M. standen (das erste gewiß) und ausgezeichnet zu seiner Lehre passen, sind sie von ihm hinzugefügt und nun in die katholischen Mss. gedrungen.« T SUTSUI 94 ist hier vorsichtiger: Obwohl die »Zusätze« marcionitisch sein könnten, dürfte man nicht aus »Tertullians Bericht folgern, dass sie auch in dem von ihm benutzten Marcion-Text gestanden haben.« Warum nicht? Ohne das entsprechende Verständnis Tertullians gäbe es kaum Anlass, diese Passagen überhaupt für marcionitische Redaktion zu halten. <?page no="275"?> 9,51-56 Rekonstruktion 787 die Haltung, die Jesus bei den Jüngern vermisst. Die Verbindung, die Tertullian zwischen Elias Beschwörung des »Feuers vom Himmel« (2Kön 1,10.12) und dem »sanften Geist« 16 herstellt, geht also bereits auf *Ev zurück. 17 c. Die Situation ist für das Menschensohnwort *9,56a noch weniger klar. Die textkritischen Überlegungen zum kanonischen Lk-Text setzen (wohl zu Recht) regelmäßig voraus, dass die Disparitäten der Textüberlieferung von 9,54b.55b.56a trotz leicht variierender Zeugen zusammengehören und ein einheitliches Phänomen darstellen. Mit Blick auf den kausalen Anschluss in *9,56a (ὁ γ ὰ ρ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου οὐκ ἦλθεν …) ist diese Überlegung plausibel: Das Menschensohnwort begründet den Tadel Jesu gegenüber dem Ansinnen der Jünger und erweist die Übereinstimmung der Sendung des Menschensohns mit dem Geist Gottes nach 1Kön 19. Wenn die drei Lesarten in *9,54-56 zusammengehören und ein einheitliches Redaktionsphänomen konstituieren, scheidet die übliche Erklärung - das Eindringen von Glossen auf der Ebene der handschriftlichen Überlieferung 18 - jedoch aus: Die Lesarten sind nicht dadurch entstanden, dass der Text von *9,54c.55b.56a von verschiedenen Kopisten auf verschiedenen Ebenen der Überlieferung »ergänzt« wurde, 19 sondern dadurch, dass einzelne Elemente gestrichen wurden, und zwar durch eine Hand: Die Bearbeitung der lk Redaktion. Diese Erklärung ist auch für die textkritische Beurteilung des Menschensohnwortes in *9,56a aufrecht zu erhalten, obwohl die handschriftliche Überlieferung sich hier weniger einhellig und charakteristisch als sonst darstellt. Die gegenüber *9,54c.55b breitere Bezeugung *9,56a in den Handschriften hat zu unterschiedlichen Einschätzungen geführt. 20 Unter der hier entfalteten Voraussetzung der Zusammengehörigkeit aller drei Lesarten ist daher *9,56a kein »Import aus 19,10«. 21 Es handelt sich vielmehr um eine Dublette, die bereits auf der Ebene des vorkanonischen *Ev-Textes existierte. 4. Die textkritische Entscheidung der Herausgeber von NA 27 / GNT 4 zu den genannten Lesarten 9,54ff trifft demnach im Ergebnis das Richtige: Der Hinweis auf ______________________________ 16 1Kön 19,12: οὐκ ἐν τῷ πυρὶ κύριος· καὶ μετὰ τὸ πῦρ ϕωνὴ αὔρας λεπτῆς, κἀκεῖ κύριος. 17 Vgl. B OVON , Lk II 26: »Vom Gesichtspunkt der inneren Kritik aus kann der Ausruf ›Ihr wißt nicht, welches Geistes Kind ihr seid‹ nicht lukanisch sein.« 18 Vgl. M ETZGER , Textual Commentary (zu Lk 9,54): »The reading ὡς καὶ Ἠλίας ἐποίησεν, as well as the longer readings in verses 55 and 56, had fairly wide circulation in parts of the ancient church. The absence of the clauses, however, from such early witnesses as P 45, 75 א B L Ξ 1241 it l syr s cop sa,bo suggests that they are glosses derived from some extraneous source, written or oral.« 19 W OLTER , Lk 371. 20 Der Textus Receptus von 1873 (den die IGNTP-Ausgabe präsentiert) hat das Menschensohnwort 9,56 in den Text aufgenommen, NA 27 / GNT 4 dagegen nicht. 21 So W OLTER , Lk 371 z. St. <?page no="276"?> 788 Anhang I 9,51-56 Elia, der Tadel der Jünger wegen ihres falschen »Geistes« und das Menschensohnwort sind Teil des vorkanonischen *Ev und gehören nicht zum Bestand des kanonischen Lk-Textes im Rahmen des Neuen Testaments. Die Gründe, die für diese Entscheidung gelegentlich angegeben werden, sind jedoch nicht haltbar. Dass die kürzere Fassung (ohne *9,54c.55b.56a) von Zeugen geboten wird, die als »zuverlässig« gelten, vor allem P 45.75 ( א ), besagt wenig: Diese Handschriften bieten ja an anderen Stellen verschiedentlich Varianten des vorkanonischen Textes. 22 Die Kriterien für die Bewertung einzelner Handschriften als »Zeugen erster Ordnung« usw. halten den methodischen Anforderungen nicht stand, die sich unter den hier vorausgesetzten methodischen Prämissen ergeben: Dass nämlich zwischen dem vorkanonischen und dem kanonischen Text eine regelrechte (und identifizierbare) Redaktion gelegen hat und dass es im Verlauf der Textgeschichte zu Intereferenzen zwischen den beiden Textüberlieferungen gekommen ist, die nicht nur in Varianten der Handschriftenüberlieferung sichtbar sind, sondern auch durch die direkte Bezeugung der Häresiologen bestätigt werden. 5. Unter dieser Voraussetzung wird das erstaunliche Phänomen sichtbar, dass die lk Redaktion Elemente des vorkanonischen Textes gestrichen hat, um auf diese Weise ein theologisches Problem aus der Welt zu schaffen: Die theologische Begründung der Kritik Jesu an den Jüngern für ihren Eifer. Dass Jesus das Ansinnen der Jünger zurückweist, ist als Element des kanonischen Textes erhalten geblieben (Lk 9,55a: ἐπετίμησεν αὐτοῖς), nicht aber die Begründung des Vorhabens der Jünger mit dem analogen Beispiel des Elia (*9,54c), die Kritik am »falschen Geist« (*9,55b) sowie die Aussage zum Zweck der Sendung des Menschensohns (*9,56a). Die entscheidende Frage lautet, wodurch das theologische Problem, das durch die Streichung dieser Passagen gelöst werden sollte, genau konstituiert war. Mit Blick auf Lk 9,55a scheidet aus, dass die lk Redaktion eine Kritik Jesu an den Jüngern beseitigen wollte. Auch die Gerichtsandrohung als solche liefert keinen hinreichenden Grund für den redaktionellen Eingriff. Denn sowohl in *Ev als auch in Lk begegnen ja nicht nur Gerichtsaussagen über Gott (vgl. etwa *19,11-28; Lk 11,31f; 20,9-19 usw.) oder über den Menschensohn (*9,26; *12,40; *21,27 usw.), sondern auch solche über das rettende Handeln Gottes oder des Menschensohns (*6,9; *19,10 usw.), die das wechselseitige Verhältnis allererst als Problem konstituieren könnten. Mit anderen Worten: Weder die Gerichtsdrohungen als solche noch ihr Verhältnis zu Heilsverheißungen können, je für sich und zusammen, als Argument für die Streichung der fraglichen Elemente durch die lk Redaktion dienen. Der Grund für ihre Auslassung wird daher eher in dem expliziten Verweis auf Elia zu ______________________________ 22 Vgl. als Beispiele für P 45 : 6,38; 9,35; 10,21; 11,33.41.42; (12,9); 12,31.51.56.58. - Für P 75 : 8,16; 10,18; 11,2.33.46; (12,39); 24,39. - Für א : 5,24.34.38; 6,21.29.36; 7,19.37; 8,3; 11,47; 12,8.53; 16,22; 20,33; (24,51! ). <?page no="277"?> 9,51-56 Rekonstruktion 789 sehen sein, genauer: in der durch den Rekurs auf 2Kön 1 implizierten Begründung der Gerichtsdrohung mit einem Beispiel aus dem Alten Testament, dem die Rettungsaussage im Menschensohnwort entgegen gesetzt wird. Wenn der implizierte Gegensatz zwischen dem alttestamentlichen Vorbild und dem Verhalten des Menschensohns für den redaktionellen Eingriff verantwortlich ist, dann lässt sich dies am ehesten als eine antimarcionitische Maßnahme verstehen. 23 Sie macht die generelle Bearbeitungsabsicht der lk Redaktion deutlich, ohne dass diese sich darauf reduzieren lässt. 6. Die Perikope war im Kern in *Ev enthalten, sie ist aber mit allergrößter Wahrscheinlichkeit redaktionell bearabeitet worden: Aus inneren Gründen spricht einiges dafür, dass 9,51.53b i. W. erst von der lk Redaktion in den Text eingefügt wurden. Im Unterschied dazu hat Lk mit größter Wahrscheinlichkeit aus theologischen Gründen den Hinweis auf Elia (*9,5c), die Kritik an den Jüngern (*9,55b) sowie das Menschensohnwort (*9,56a) gestrichen, um dadurch der vor allem von den Marcioniten vertretenen These eines Gegensatzes zwischen Altem und Neuem Testament besser begegnen zu können. *9,57.58.59-62: Nachfolgesprüche Gut bezeugt und sicher in *Ev vorhanden; nur geringfügig durch Lk bearbeitet. 9,57 a Καὶ πορευομένων αὐτῶν ἐν τῇ ὁδῷ εἶπέν τις πρὸς αὐτόν, Ἀκολουθήσω σοι ὅπου ἐὰν b ὑπάγῃς c [ κύριε ] . 58 καὶ εἶπεν αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς, Αἱ ἀλώπεκες ϕωλεοὺς d αὐτῶν ἔχουσιν καὶ τὰ πετεινὰ τοῦ οὐρανοῦ e ἔχει κατασκηνώσεις f αὐτῶν g ποῦ ἀναπαύσηται g , ὁ δὲ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου οὐκ ἔχει ποῦ τὴν κεϕαλὴν h αὐτοῦ κλίνῃ. 59 Εἶπεν δὲ πρὸς i {τὸν Φιλίππον} i , Ἀκολούθει μοι. ὁ δὲ {Φιλίππος} εἶπεν, k [ κύριε ] ἐπίτρεψόν μοι l ἀπελθόντι πρῶτον l θάψαι τὸν πατέρα μου. 60 εἶπεν δὲ αὐτῷ, Ἄϕες τοὺς νεκροὺς θάψαι τοὺς ἑαυτῶν νεκρούς, σὺ δὲ m †ἀκολούθει μοι† m . 61 Εἶπεν δὲ καὶ ἕτερος, Ἀκολουθήσω σοι, κύριε· πρῶτον δὲ ἐπίτρεψόν μοι ἀποτάξασθαι τοῖς εἰς τὸν οἶκόν μου. 62 εἶπεν δὲ πρὸς αὐτὸν ὁ Ἰησοῦς, Οὐδεὶς n εἰς τὰ ὀπίσω βλέπων καὶ ἐπιβαλὼν τὴν χεῖρα ἐπ’ ἄροτρον n εὔθετός ἐστιν τῇ βασιλείᾳ τοῦ θεοῦ. ______________________________ 23 Vgl. B OVON , Lk II 25 mit Anm. 6: »Die orthodoxen Kopisten« hätten die Elianotiz 9,54c »vielleicht in antimarcionistischem Reflex« gestrichen. Das ist, wie der Hinweis auf Tert. 4,23 zeigt, insgesamt richtig gesehen, auch wenn die Änderung eher auf die lk Redaktion als auf »Kopisten« zurückzuführen ist: Die Annahme, dass hier Kopisten am Werk waren, ist der Tribut für das Festhalten an der Lk-Priorität. Allerdings hat Bovon diese Spur nicht konsequent verfolgt: Er erwägt, ob 9,55b »möglicherweise eine marcionitische Erweiterung« sei (a. a. O. 26 Anm. 8), substituiert hier also eine genau entgegengesetzte Annahme. <?page no="278"?> 790 Anhang I 9,57-62 A. *9,57: Tert. 4,23,9: At enim humanissimus deus cur recusat eum qui se tam individuum illi comitem offert? Si quia superbe vel ex hypocrisi dixerat, Sequar te quocunque ieris, ergo aut superbiam aut hypocrisin recusandam iudicando iudicem gessit. ♦ *9,59f: Tert. 4,23,10: Et utique damnavit quem recusavit, non consecuturum scilicet salutem. Nam sicut ad salutem vocat quem non recusat, vel etiam quem ultro vocat, ita in perditionem damnat quem recusat. Illi autem causato patris sepulturam cum respondet, Sine mortui sepeliant mortuos suos, tu autem vade et annuntia regnum dei, utramque legem creatoris manifeste confirmavit … (folgen Hinweise auf Lev 21,1 und Num 6,6f) ♦ *9,60: Irenaeus, Haer. 1,8,3 (FC 8/ 1, 178,24): σὺ δὲ πορευθεὶς διάγγελλε τὴ βασιλείαν τοῦ θεοῦ. ¦ Clem. Alex., Strom. 3,4,25,3 (GCS 52, 207,13f): κἂν συγχρήσονται τῇ τοῦ κυρίου ϕωνῇ λέγοντος τῷ Φιλίππῷ· ἄϕες τοὺς νεκροὺς θάψαι τοὺς ἑαυτῶν νεκρούς, σὺ δὲ ἀκολούθει μοι … ♦ *9,61f: Tert. 4,23,11: Cum vero et tertium illum prius suis valedicere parantem prohibet retro respectare, sectam creatoris exequitur. Hoc et ille noluerat fecisse quos ex Sodomis liberarat. B. a (9,57) και: P 45.75 א B C L Θ Ξ 33 579 700 892 1241 pc sy s.c.p bo 1 ms ¦ εγενετο δε: A D W Ψ f 1.13 lat sy h M (*Ev non test.) ● b (9,57) υπαγης/ ieris: P 45 D 157 it vg ¦ απερχη: M (*Ev non test.) ● c (9,57) κυριε: om P 45.75 א B D L Ξ mult e a aur b c d f g 1 gat l r 1 vg sy s.c Tat pers armen georg ¦ add A C W Θ Ψ f 13 (b) f q sy p.h bo ms M (*Ev non test.) ● d (9,58) αυτων: sa Ephr (vulpibus … habitacula sua sunt) (vgl. EvThom 86) ¦ om it bo M ; s. u. den Kommentar (*Ev non test.) ● e (9,58) αυτων: sa Ephr (vulpibus … habitacula sua sunt) (vgl. EvThom 86) ¦ om it bo M ; s. u. den Kommentar (*Ev non test.) ● f (9,58) εχει: sa bo (vgl. EvThom 86) ¦ om it M ; s. u. den Kommentar (*Ev non test.) ● g (9,58) που αναπυσηται: a b f l q r 1 (nidos ubi requiescant) Ambr (Lc 7,22 [CC 14, 222]) Hieron (Adv. Pel. 2,12 [PL 23, 547]; Comm. in Is 9,28 [CC 73, 360]; Hom. in Ps [CC 78, 275]) Tert (Id. 185 [CC 2, 1119]) usw.; vgl. EvThom 86; Mt 8,20 nidos ubi requiescant: a b c ſſ 1 g 1 gig h q m (ubi requiescant); vg (E Q T: nidos ubi requiescant; F R J: tabernacula u. r.) ¦ om M ; s. u. den Kommentar (*Ev non test.) ● h (9,58) αυτου: ℓ1127 e aur r 1 sy s.c.p vg mss sa bo aeth Ephr Afrahat Tat arab.pers (Ps)Faustus Rheg., De rat. 1 (CSEL 21, 454); vgl. EvThom 86; Mt 8,20 a b g h ¦ om M ; s. u. den Kommentar (*Ev non test.) ● i (9,59) τον Φιλιππον: Clem ¦ ετερον: Tert M ● k (9,59) κυριε: om B* D V 1009 2766 d sy s ¦ add P 45.75 א B 2 C L Θ Ξ Ψ 0181 f 1.13 33 sy c.p.h co 1 ms M (*Ev non test.) ● l (9,59) πρωτον απελθοντι: א B (D: πρωτον απελθοντα) 047 mult lectt georg I.III got; πρωτον απελθειν: mult it vg Tat arab.pers ¦ (2 1) απελθοντι πρωτον: M (*Ev non test.) ● m (9,60) Widersprüchliche Bezeugung: (1) ακολουθει μοι: Clem ¦ (2) απελθε και διαγγελλε την βασιλειαν του θεου: Tert; απελθων διαγγελλε την βασιλειαν του θεου: M ● n (9,61) εις τα οπισω βλεπων και επιβαλλων την χειρα αυτου επ αροτρον: P 45vid D it Clem ¦ (6-9 10 11 5 1-4) επιβαλων (επιβαλλων: P 75 0181) την χειρα επ αροτρον και βλεπων εις τα οπισω: P 75 B 0181 f 1 ¦ (6-11 5 1- 4) επιβαλων (επιβαλλων: A L W Θ pc) την χειρα αυτου επ αροτρον και βλεπων εις τα οπισω: א C L W Θ Ξ Ψ f 13 33 vg sy M (*Ev non test.). C. Tertullian bezeugt Elemente aller drei Nachfolgeapophthegmata (*9,57b.60.61a), die er geschickt zu einer größeren Argumentation verbindet: Direkt bezeugt sind die Antworten Jesu Vv. *60.62, aber auch von den narrativen Einleitungen *9,60.61 sind noch Spuren erkennbar. Clemens referiert V. *60 in einer überraschenden Gestalt, die Einsichten zur gesamten Perikope ermöglicht. Zum ersten Logion ist nur die Einleitung durch das Zitat aus *9,57b gesichert. Die Antwort Jesu in *9,58 ist unbezeugt, wird aber wegen der strukturellen Analogie zu den beiden anderen <?page no="279"?> 9,57-62 Rekonstruktion 791 Logien sicher auch in *Ev vorhanden gewesen sein. Abgesehen von Clemens’ Bezeugung zu *9,59f gibt es keinen Grund, für *Ev eine von der kanonischen abweichende Textgestalt dieser Perikope anzunehmen. 1. Die Bezeugung ist in erster Linie für die Überlieferungsgeschichte von Bedeutung, weil *9,57f.59f eine Parallele in Mt 8,19f.21f besitzen, nicht aber *9,61f. Da Mt seine Belehrung über die Bedingungen der Nachfolge in den aus Mk übernommenen Kontext der Sturmstillungsperikope (im Anschluss an Mt 8,19 || Mk 4,35) einfügt, 1 lässt sich seine Redaktionspraxis nachvollziehen. In Rahmen des überlieferungsgeschichtlichen Modells der Zwei-Quellentheorie gehören die Nachfolgelogien der »Q«-Überlieferung an. Die strittige Frage, ob Lk 9,61f ursprünglich zu »Q« gehörte, hat dabei erwartungsgemäß alle denkbaren Antworten gefunden: Das Apophthegma *9,61f sei in »Q« enthalten, aber von Mt ausgelassen worden; 2 erst Lk habe es in Analogie zu *9,59f gebildet; 3 es stamme aus einer anderen Quelle, die Lk hier vorgelegen habe. 4 Angesichts der Bezeugung durch Tertullian ist es allerdings wahrscheinlich, dass Mt das dritte Logion gestrichen hat. Das liegt nahe, weil *9,59f.60f einander sehr viel ähnlicher sind als *9,57f: In beiden Fällen bittet der Nachfolgewillige Jesus um Erlaubnis (ἐπίτρεψόν μοι …), erst noch etwas anderes tun zu dürfen (πρῶτον + Inf.); in beiden Fällen enthält die Antwort Jesu einen Verweis auf die Basileia. Die große Ähnlichkeit der beiden Logien in *Ev wird Mt dazu bewogen haben, das zweite auszulassen. Das gleiche redaktionelle Verfahren ist auch noch in seiner Rezeption der Gleichnisse vom Verlorenen zu beobachten: Er hat aus *Ev das Gleichnis vom verlorenen Schaf (*15,3-6 || Mt 18,12-14) übernommen, nicht aber das strukturell analoge Gleichnis von der verlorenen Drachme (*15,8-10; s. dort). 2. Unter dieser Voraussetzung lassen sich weitere Erwägungen über die Differenzen zwischen dem mt und dem lk Text anstellen: Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Nennung der konkreten Gesprächspartner (Mt 8,19: εἷς γραμματεύς; 8,21: ἕτερος δὲ τῶν μαθητῶν) auf die mt Redaktion zurückgeht. Denn die Anrede Jesu durch den Schriftgelehrten als »Lehrer« (διδάσκαλε Mt 8,19 ÷ *9,57) ist bei Mt sonst immer den Gegnern vorbehalten 5 und zeigt schon hier das Scheitern der positiven Bestimmung. Diese Vermutung bestätigt sich mit Blick auf die κύριε- Anrede in Mt 8,21, die mit großer Wahrscheinlichkeit in *Ev gefehlt hat (vgl. *9,59 D sy usw.): Die anzunehmende mt Redaktion bestätigt den mutmaßlich vorkanonischen Text von *Ev in beiden Fällen. ______________________________ 1 L UZ , Mt II 21: »Eine solche Perikopenverbindung ist bei Mt ungewöhnlich.« 2 So z. B. S CHÜRMANN , Lk II/ 1, 46. 3 M. M IYOSHI , Der Anfang des Reiseberichts, Rom 1974, 41ff; B OVON , Lk II 32 (»zweifellos von Lk nach dem Modell der beiden andern konstruiert«). 4 G. P ETZKE , Das Sondergut des Evangeliums nach Lukas, Zürich 1990, 104-107. 5 Vgl. G NILKA , Mt I 310. <?page no="280"?> 792 Anhang I 9,57-62 3. Der ansonsten unbezeugte V. *58 hat eine Parallele in EvThom 86, die geringfügig, aber charakteristisch von Lk 9,58 || Mt 8,20 abweicht, wie ein Vergleich mit der Rückübersetzung ins Griechische deutlich macht. EvThom 86 Lk 9,58 || Mt 8,20 Λέγει Ἰησοῦς· καὶ εἶπεν αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς, αἱ ἀλώπεκες ἔχουσιν τοὺς ϕωλεοὺς αἱ ἀλώπεκες ϕωλεοὺς ἔχουσιν a αὐτῶν καὶ τὰ πετεινὰ καὶ τὰ πετεινὰ b τ ο ῦ ο ὐ ρ α ν ο ῦ b c ἔχει d τὴν κατασκήνωσιν d a αὐτῶν, κατασκηνώσεις, ὁ δὲ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου οὐκ ἔχει ὁ δὲ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου οὐκ ἔχει ποῦ τὴν κεϕαλὴν e α ὐ τ ο ῦ ποῦ τὴν κεϕαλὴν κλίνῃ f καὶ ἀναπαύσηται. f κλίνῃ. Die Abweichungen zwischen EvThom 86 auf der einen Seite und den wörtlich identischen Fassungen bei Mt und Lk auf der anderen sind deswegen aufschlussreich, weil einige davon wichtige Analogien in der handschriftlichen Überlieferung besitzen. Das Material ergibt sich zum größten Teil nicht aus den krit. Ausgaben (und ist deshalb auch oben nicht aufgeführt), sondern nur aus entfernteren Zeugen, die August Strobel gesammelt hat. 6 Im Einzelnen ist dabei wichtig: a. Die Possessivpronomina (αὐτῶν) nach ϕωλεούς bzw. κατασκήνωσιν sind deshalb beachtenswert, weil sie außerdem in relativ entlegenen Zeugen auftauchen: Ephraem bezeugt sie (vulpibus … habitacula sua sunt) ebenso wie eine Vg-Handschrift (J = Foro-Juliensis, s. VI/ VII), die hier tabernacula sua (habent) liest, außerdem die sahidische Überlieferung (im Unterschied zur bohairischen). Gegen Strobel, der dieses Syndrom als »zufällige Gemeinsamkeit« bewerten will, 7 ist dies im Licht der häufig beobachteten Interferenzen zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Textüberlieferung wenig wahrscheinlich. b. In EvThom 86 fehlt (τὰ πετεινὰ) τοῦ οὐρανοῦ. Diese Variante ist in der handschriftlichen Überlieferung weder für Lk noch für Mt bezeugt. Die einzigen Parallelen zu dieser Lesart sind in entfernten Evangelienharmonien bezeugt (im niederländischen Tatian und der altenglischen Evangelienharmonie). Diese Variante aus EvThom 86 ist zu schwach bezeugt, um auf einen Ursprung in *Ev schließen zu lassen. c. Die Wiederholung des Verbs in der Aussage über die Vögel (ἔχει) ist außer in EvThom auch durch Tatian bezeugt, außerdem, sowohl für Mt als auch für Lk, in der koptischen Überlieferung, 8 taucht sonst aber nirgends in der Überlieferung auf. Wieder ist Strobels einzige Erklärung für diese Entsprechungen die Annahme, dass Tatian einen Einfluss auf EvThom ausgeübt habe. In diesem Fall erwägt er die Möglichkeit, dass Tatian auch die koptische Überlieferung beeinflusst habe. Aber die Annahme der *Ev-Priorität liefert eine näherliegende Verbindung zwischen diesen Zeugen. Es ist daher wahrscheinlich, dass diese wenig elegante Wiederholung des Verbs in *Ev ursprünglich ist und dann korrigiert wurde. ______________________________ 6 A. S TROBEL , Textgeschichtliches zum Thomas-Logion 86 (Mt 8,20/ Lk 9,58), VigChr 17 (1963), 211-224. 7 A. a. O. 213. Immerhin bemerkt Strobel, dass das »Zusammengehen eines östlichen Zeugen mit westlichen zweifellos beachtet sein« will. 8 bo sa; vgl. S TROBEL , a. a. O. 215f. <?page no="281"?> 9,57-62 Rekonstruktion 793 d. Der Singular τὴν κατασκήνωσιν anstelle des kanonischen Plurals (κατασκηνώσεις) ist außerdem bezeugt durch: sy c.p (zu Mt 8,20 und zu Lk 9,58: mṭllʼ = umbraculum), sy s (Mt 8,20 : mṭllʼ = umbraculum ≠ Lk 9,58: qnʼ ); Tat pers (ebenso Diatess. Veneto und Toscano); aeth (zu Mt 8,20: foveam … nidum) sowie georg, die wahrscheinlich ebenfalls auf die syrische Bibel zurückgehen. In diesem Fall liegt es nahe, dass die Variante auf eine Übersetzungseigenheit zurückgeht, die durch die syrische Syntax von Possessivsätzen (mit dem Dativus possessivus) in Verbindung mit dem Kollektivsingular ( prḥt’ , ganz entsprechende dem griechischen τὰ πετεινά) verursacht ist. Es gibt dann keinen Grund, diese Variante für *Ev in Erwägung zu ziehen. e. Das Personalpronomen αὐτοῦ nach κεϕαλήν, das in der Mehrheit der Handschriften fehlt, ist verschiedentlich bezeugt: ℓ1127 e aur r 1 sy s.c.p vg mss (Ps)Faustus Rheg., De rat. 1 (CSEL 21, 454) usw., außerdem für Mt 8,20 durch die Altlateiner (a b g h). Die handschriftliche Bezeugung ist charakteristisch für das häufige Phänomen der Intereferenz zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Überlieferung. Ich halte die Variante für ursprünglich in *Ev. f. Die letzte Besonderheit von EvThom 86 ist der Zusatz καὶ ἀναπαύσηται ganz am Ende. Er ist singulär und taucht in der handhriftlichen Überlieferung nirgends auf. Trotzdem ist diese Besonderheit wichtig, weil sie auf die Entsprechungen in der Aussage über die Nester der Vögel in der lateinischen Überlieferung aufmerksam macht. Hier ist er Zusatz »wo sie ruhen« (ubi requiescant) häufig bezeugt: a b f l q r 1 Ambr (Lc 7,22 [CC 14, 222]) Hieron (Adv. Pel. 2,12 [PL 23, 547]; Comm. in Is 9,28 [CC 73, 360]; Hom. in Ps [CC 78, 275]) Tert (Id. 185 [CC 2, 1119]) usw. Er findet sich auch in der Parallelstelle Mt 8,20 nidos ubi requiescant: a b c ff 1 g 1 gig h q m (hier ohne nidos); vgl. auch in der Vulgata-Überlieferung die Handschriften E Q T (nidos ubi requiescant) F R J (tabernacula ubi requiescant). Diese weitverbreitete Bezeugung lässt sich am leichtesten erklären als Einfluss durch die Textüberlieferung von *Ev, die ihren Weg in die weitverzweigte lateinische Überlieferung durch die altlateinischen Evangelien gefunden hat. Eine Folge dieser Erklärung ist es, dass die singuläre Aussage über den Menschensohn in EvThom 86 am ehesten eine ad hoc-Adaption an diese Überlieferung über die Nester der Vögel ist; sie wird nicht auf *Ev zurückgehen. Vor diesem Hintergrund liegt die Annahme nahe, dass hinter EvThom 86 der vorkanonische Text von *9,58 steht, der sich auch noch in einer ganzen Anzahl von Seitenzweigen der handschriftlichen Überlieferung erhalten hat. Es ist daher m. E. unnötig, diese gemeinsamen Differenzen auf sprachliche Eigenheiten des syrischen Textes zurückzuführen, wie es Strobel vorschlägt: Der auffällige Zusammenhang von sy und EvThom liegt in der gemeinsamen, vorkanonischen Fassung. Unter dieser Annahme ergibt sich das anderweitig so auffällige Phänomen der Interferenzen auch für EvThom, das ansonsten ja durchaus die kanonischen Fassungen der Evangelien voraussetzt; dies aber offensichtlich nicht konsequent. Für *9,58 bedeutet dies, dass es neben den inhaltlichen Argumenten für die vorkanonische Existenz auch textliche Hinweise gibt, die diese Annahme stützen. 4. Tertullian referiert *9,60 in einer Form, die abgesehen von einer kleinen Wortumstellung genau der kanonischen Fassung entspricht. Dagegen bezeugt Clemens für *9,59 eine abweichende Gestalt, die eine ganze Reihe von Fragen <?page no="282"?> 794 Anhang I 9,57-62 aufwirft und Folgen sowohl für die Rekonstruktion von *9,59f als auch für die Überlieferungsgeschichte besitzt. Kontext seiner Bezeugung ist die Kritik an der marcionitischen Askese. Clemens wirft den »Anhängern der Sekte des Marcion aus Pontus« vor, sie würden aus Widerspruch gegen den Schöpfer den »Gebrauch der weltlichen Dinge« verwerfen und widerlegt diese Enthaltsamkeit (ἐγκράτεια) durch einen Selbstwiderspruch der Marcioniten. Denn »wenn sie das Wort des Herrn anführen (συγχρήσονται τῇ τοῦ κυρίου ϕωνῇ …), der zu Philippus sagte: ›Lass die Toten ihre Toten begraben, du aber folge mir nach! ‹, so sollen sie doch zur Kenntnis nehmen, dass auch Philippus das gleiche Gebilde des Fleisches trägt, ohne einen befleckten Leichnam zu haben.« 9 Strukturell entspricht Clemens’ Widerlegung dem Vorgehen der anderen Häresiologen: Er argumentiert mit dem Widerspruch zwischen der Theologie der Marcioniten und ihrem Bibeltext - und verweist dabei sogar auf eine konkrete Verwendung des marcionitischen Bibeltexts. a. Vor allem zwei Fragen müssen geklärt werden. Zunächst irritiert die überraschende Erwähnung des Philippus im Zusammenhang der Nachfolgelogien, die überhaupt nur bei Clemens belegt ist: Wo liegt der Ursprung dieser Erwähnung des Philippus? Da keine der kanonischen Fassungen die Adressaten der Nachfolgelogien namentlich identifiziert, scheint Clemens’ Zeugnis nicht sehr zuverlässig zu sein. Jedenfalls äußert Harnack, der die von Tertullian bezeugte kanonische Gestalt des Verses rekonstruiert, seine Zweifel an Clemens’ Zeugnis, begründet sie aber nicht. 10 Clemens’ Philippus-Erwähnung ist methodisch aufschlussreich, weil sie die argumentativen Aporien der Lk-Priorität aufdeckt: (1) Die Philippus-Erwähnung ist überraschend, weil sie weder in einer der synoptischen Parallelen noch einer anderen Rezeption der Nachfolgelogien in der patristischen Literatur bekannt ist. Auch die handschriftliche Überlieferung gibt keine Aufschlüsse. (2) Clemens bezeugt diese Erwähnung sehr deutlich für den marcionitischen Bibeltext. Die Zweifel an diesem Zeugnis resultieren daraus, dass sich unter der Annahme der Lk-Priorität kein Grund dafür angeben lässt, dass Marcion den Namen hier eingefügt haben sollte. (3) Umgekehrt ist auch für Clemens keinerlei Interesse an der Einfügung des Namens erkennbar: Aus welchem Grund sollte er Philippus hier dazuerfinden? Warum gerade ihn? Warum gerade an dieser Stelle? Der Umstand, dass Philippus der Adressat dieses Logions ist, spielt weder im Kontext noch für Clemens’ Argumentation eine Rolle. (4) Die Erwägung, ob die Erwähnung des Philippus aus dem »legendenhaften Material stammen könnte, auf das Clemens manchmal zurückgreift, um Episoden und Charaktere der Evangelien anzureichern«, 11 erklärt daher nichts; sie verschiebt das Problem nur in einen völlig unkontrollierbaren Bereich. ______________________________ 9 Clemens Alex., Strom. 3,4,25,1-3. 10 H ARNACK 204*: Ob die Marcioniten das Logion »als an Philippus gerichtet bezeichnet haben, ist nicht sicher.« Ähnlich B E D UHN 153, der es offen lässt, ob die Identifizierung des Jüngers als Philippus »was made in the Evangelion …« Zuversichtlicher urteilt R OTH 405: »It is not likely that [the mention of Philip] was drawn from Marcion’s Gospel.« Keine dieser Einschätzungen begründet den Zweifel an Clemens’ Zeugnis; sie sind willkürlich. 11 B E D UHN 153. <?page no="283"?> 9,57-62 Rekonstruktion 795 Angesichts dieser Lage ist es am einfachsten, Clemens beim Wort zu nehmen: Die Philippuserwähnung stand im marcionitischen Evangelium. Unter der Annahme der *Ev-Priorität ist dies auch unproblematisch und passt in das größere Bild. Denn auf der einen Seite ist es für *Ev charakteristisch, dass Jesus seine Jünger durchaus schroff zurechtweist: die Distanz zwischen Jesus und seinen Jüngern ist in *Ev deutlich größer als in den kanonischen Evangelien. Auf der anderen Seite ist es typisch für die kanonische Redaktion, dass sie solche Härten mildert und die Jünger aus der Schusslinie nimmt. Beide Aspekte hatten sich besonders deutlich an der kanonischen Bearbeitung von *7,36-50 gezeigt (s. o.). Auch die sekundäre Tilgung der Namen von Individuen durch die kanonische Redaktion begegnet ja noch häufiger. Für Lk 9,60 hat dies eine doppelte Folge. Auf der einen Seite wird die Distanz zwischen Jesus und einem der zwölf (namentlich bekannten) Apostel reduziert: Es ist keiner der Zwölf, der so unverständig fragt. Auf der anderen Seite mutet Jesus das afamiläre Ethos nicht nur einem bestimmten Jünger zu, sondern allen, die ihm »nachfolgen«. Aus dieser Sicht spricht nichts dagegen, dass Clemens korrekt referiert und im vorkanonischen Evangelium Philippus der Adressat der Belehrung Jesu war. b. Die zweite Auffälligkeit ist die sprachliche Gestalt des Logions bei Clemens, die eine Mittelstellung zwischen Mt 8,22 und Lk 9,60 einnimmt. Mit Mt 8,22 hat Clemens gemeinsam, dass Jesus den Jünger auffordert ihm nachzufolgen, wogegen Lk einen Auftrag zur Verkündigung der Basileia bietet. Dagegen teilen Lk und Clemens die parallele Struktur, die zunächst das Wort über die Toten bietet und mit dem betont eingeführten Auftrag schließt: Clem., Strom. 3,4,25,3 Mt 8,22 Lk 9,60 ἀκολούθει μοι καὶ ἄϕες τοὺς νεκροὺς θάψαι ἄϕες τοὺς νεκροὺς θάψαι ἄϕες τοὺς νεκροὺς θάψαι τοὺς ἑαυτῶν νεκρούς, τοὺς ἑαυτῶν νεκρούς τοὺς ἑαυτῶν νεκρούς, σὺ δὲ σὺ δὲ ἀκολούθει μοι ἀπελθὼν διάγγελλε τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ Dieter Roth erklärt die Entsprechung zwischen Clemens und Mt 8,22 mit einem mt Einfluss auf Clemens, also einer Ungenauigkeit. 12 Die Annahme, dass Clemens irrtümlich auf den Mt-Text zurückgegriffen habe, ist methodisch problematisch und folgenreich. Auf der einen Seite spielt sie die Zuverlässigkeit von Clemens’ Zeugnis zugunsten von Tertullian herunter, der den kanonischen Wortlaut bezeugt: ______________________________ 12 Vgl. R OTH 405: »(Clement’s) citation itself has also been influenced by Mt 8: 22 as the verb ἀκολουθεῖν is drawn from there, an influence not found in Tertullian«. Wie Harnack rekonstruieren Roth und BeDuhn die von Tertullian bezeugte Form des Logions. <?page no="284"?> 796 Anhang I 9,57-62 Aus welchem Grund sollte Tertullian mehr Vertrauen verdienen als Clemens? Auf der anderen Seite rechnet diese Lösung mit der Kontingenz, dass Clemens irrtümlich die Mt-Formulierung verwendet, obwohl er explizit auf *Ev als seine Quelle verweist. Und schließlich verschleiert diese Erklärung, dass hier einmal mehr für *Ev unterschiedliche Bezeugungen vorliegen. Wie auch sonst häufig, ist die widersprüchliche Bezeugung zugunsten der am weitesten vom kanonischen Text entfernten Variante aufzulösen. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass *9,60 den Ruf in die Nachfolge enthielt (σὺ δὲ ἀκολούθει μοι). Die kanonische Formulierung - Aussendung zur Verkündigung (ἀπελθὼν διάγγελλε …) - impliziert dagegen eine Bewegung von Jesus weg, die dem Thema der ganzen Einheit widerspricht: Nachfolge (ἀκολουθεῖν in Lk 9,57. 59.61) heißt hinterhergehen, nicht weggehen. »Gehe weg und verkündige …« ist lk Redaktion. 5. Unter der Annahme der *Ev-Priorität lässt sich die Präferenz für Clemens’ Fassung überlieferungsgeschichtlich plausibilisieren, weil die einzelnen redaktionellen Veränderungen durchsichtig werden. a. Am Anfang der Überlieferung steht die von Clemens bezeugte Fassung des Logions mit der Adressierung an Philipppus und der abschließenden Aufforderung, Jesus nachzufolgen. Obwohl diesem Referat alle Informationen zum nächsten Kontext fehlen, lassen sich wenigstens einige Aspekte postulieren, die sich aus dem redaktionellen Gestaltungswillen der Rezipienten dieses Textes ergeben. b. Der erste Rezipient des von Clemens bezeugten *Ev-Texts ist Mt 8,21f. Seine Fassung zeigt das redaktionelle Interesse, die nachfolgewilligen Adressaten der Belehrungen Jesu in Mt 8,20.22 von den Jüngern zu distanzieren: Im ersten Fall macht er den Gesprächspartner zu einem Schriftgelehrten: Er tritt an Jesus heran (καὶ προσελθὼν εἷς γραμματεύς), kommt also von außen, nämlich aus der in Mt 8,18 genannten Menge. Diese distanzierende Exposition geht also auf das redaktionelle Konto des Mt. Ursprünglich wird sie nicht anders ausgesehen haben als in Lk 9,57: Auf dem Weg sagt einer (also wohl: ein Begleiter Jesu, also einer der Jünger), dass er (nicht nur jetzt mit Jesus gehen, sondern) ihm folgen wolle, wohin immer er geht. Im zweiten Fall hat Mt den Namen des Philippus in der Anrede Jesu getilgt. Allerdings scheint Mt übersehen zu haben, dass er auch die Einleitung des Logions hätte ändern müssen, denn die lässt noch erkennen, dass Jesus auf eine Bitte aus dem Jüngerkreis reagiert: »Ein anderer seiner Jünger sprach zu ihm« (Mt 8,21). Der Anschluss ἕτερος δὲ τῶν μαθητῶν widerspricht der Exposition des ersten Nachfolgelogions (Mt 8,18) und belegt, dass es sich in beiden Fällen um eine Belehrung seiner Jünger handelte. Die narrative Einleitung (Mt 8,16) gibt der ganzen Einheit einen etwas anderen Sinn. Da Jesus zum anderen Ufer aufbricht, steht die Frage seiner Begleitung zur Debatte: Der Schriftgelehrte muss sich darauf einstellen, dass er keine Unterkunft <?page no="285"?> 9,57-62 Rekonstruktion 797 findet; der »andere seiner Jünger« muss gleich mitkommen und hat keine Zeit mehr, zuvor seinen Vater zu begraben. Diese Begleitung Jesu ist weniger technisch gedacht als die Nachfolge, von der die Logien in *Ev handelten. Aus diesem Grund hat Mt das letzte Logion übergangen (*9,61f). Allerdings hat er den Nachfolgebefehl in 8,22 mit übernommen. c. Lk hat beide Prätexte (*Ev und Mt) vor sich und bearbeitet sie: Im Unterschied zu Mt greift er nicht in die Exposition des ersten Logions ein und übernimmt es unverändert aus *Ev. Dafür bearbeitet er die Exposition des zweiten Logions, indem er Jesus zum Subjekt macht und ihm eine Aufforderung zur Nachfolge in den Mund legt: εἶπεν δὲ πρὸς ἕτερον (Lk 9,59a) lässt noch erkennen, dass der Adressat ursrpünglich ἕτερος δὲ τῶν μαθητῶν war (*9,59a || Mt 8,21a). Es ist gut möglich, dass auch die Voranstellung des Nachfolgebefehls Lk 9,59b durch die Struktur von Mt 8,22 beeinflusst ist; dieser Befehl hätte dann die Bitte des Angesprochenen provoziert (Lk 9,59b). Weil Lk die Aufforderung zur Nachfolge nach vorne gezogen hat, aber in seiner Vorlage in *Ev nach dem Wort über das Begraben der Toten noch eine Aufforderung vorfand, hat er den Befehl zur Verkündigung der Basileia an diese Stelle gesetzt (Lk 9,60b). Die Formulierung ist erkennbar redaktionell, weil sie in Spannung zu der vorausgesetzten Szene steht: Nach der (auf *Ev zurückgehenden) Aufforderung ἀκολούθει μοι (Lk 9,59a) wäre eine Aufforderung zum Mitkommen sinnvoll (z. B. ἔρχου oder etwas Vergleichbares), nicht aber ein Sendungsauftrag, der eine Bewegung von Jesus weg impliziert (σὺ δὲ ἀ π ε λ θ ὼ ν διάγγελλε τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ). 6. Clemens’ Zeugnis ist aufschlussreich, weil es über die klare, direkte Bezeugung von *9,60 hinaus wichtige Einsichten für die Gestalt der Perikope insgesamt bereit hält. Denn es ist aufgrund der parallelen Struktur der beiden Nachfolgeapophthegmata wahrscheinlich, dass der Adressat schon im ersten Fall ein Jünger war, der namentlich genannt wurde. Aber mehr als eine Vermutung ist dies nicht. Auch für den bezeugten V. *60 ist nicht ganz klar, an welcher Stelle Philippus genannt wurde: Zu Beginn in der Redeeinleitung (ὁ δὲ Φιλίππος εἶπεν κτλ.) oder in der Antwort Jesu (εἰπεν δὲ τῷ Φιλίππῷ κτλ.)? Hier bleiben also Unsicherheiten, auch wenn die erste Möglichkeit wahrscheinlicher ist: Sie ist einfacher. Darüber hinaus bestätigt Clemens’ Zeugnis einige grundlegende methodische Einsichten. Am wichtigsten ist die Wahrnehmung der widersprüchlichen Bezeugung durch Clemens und Tertullian. Denn so knapp Clemens’ Referat auch ist, so deutlich wird doch, dass er den »Vertretern der Häresie Marcions« ihren eigenen Evangelientext entgegenhält, auf den sie achten sollten (σκοπείτωσαν): Es gibt keinen Grund, an der Vertrauenswürdigkeit dieses Referats zu zweifeln. In diesem Fall stellt dann die widersprüchliche Bezeugung ein Problem dar, für das eine <?page no="286"?> 798 Anhang I 9,57-62 methodisch nachvollziehbare Lösung nur im Rahmen eines umfassenden überlieferungsgeschichtlichen Modells möglich ist. In diesem Fall bestätigen die redaktionsgeschichtlichen Überlegungen die Annahme der *Ev-Priorität. *10,1.2-3.4-11.12-15.16: Aussendung der 72 Apostel Nur teilweise bezeugt, in größerem Umfang sicher, aber wahrscheinlich ganz in *Ev vorhanden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die lk Redaktion bearbeitet. 10,1 a ἀπέδειξεν δὲ a b ὁ κύριος b c καὶ ἑτέρους ἑβδομήκοντα d †δύο† e {ἀποστόλους ἐπὶ τοὺς δώδεκα}, e καὶ ἀπέστειλεν αὐτοὺς ἀνὰ δύο f δύο [ πρὸ προσώπου αὐτοῦ ] ¿εἰς πᾶσαν πόλιν καὶ τόπον? [ οὗ ἤμελλεν αὐτὸς ἔρχεσθαι. ] 2 ἔλεγεν δὲ πρὸς αὐτούς, Ὁ μὲν θερισμὸς πολύς, οἱ δὲ ἐργάται ὀλίγοι· δεήθητε οὖν τοῦ κυρίου τοῦ θερισμοῦ ὅπως ἐργάτας ἐκβάλῃ εἰς τὸν θερισμὸν αὐτοῦ. 3 ὑπάγετε· ἰδοὺ g ἐγὼ ἀποστέλλω ὑμᾶς ὡς ἄρνας ἐν μέσῳ λύκων. 4 μὴ βαστάζετε βαλλάντιον, μὴ πήραν, h {μήτε ῥάβδον}, h μὴ ὑποδήματα, καὶ μηδένα κατὰ τὴν ὁδὸν ἀσπάσησθε. 5 εἰς ἣν δ’ ἂν εἰσέλθητε οἰκίαν, i πρῶτον λέγετε, Εἰρήνη τῷ οἴκῳ τούτῳ. 6 καὶ ἐὰν ἐκεῖ ᾖ υἱὸς εἰρήνης, k ἐπαναπαύσεται ἐπ’ αὐτὸν ἡ εἰρήνη ὑμῶν· εἰ δὲ μή γε, ἐϕ’ ὑμᾶς l ἐπιστρέψει ἡ εἰρήνη ὑμῶν. l 7 ἐν αὐτῇ δὲ τῇ οἰκίᾳ μένετε, ἐσθίοντες καὶ πίνοντες τὰ παρ’ αὐτῶν, ἄξιος m γὰρ ὁ ἐργάτης τοῦ μισθοῦ αὐτοῦ. μὴ μεταβαίνετε ἐξ οἰκίας εἰς οἰκίαν. 8 καὶ εἰς ἣν ἂν πόλιν εἰσέρχησθε καὶ δέχωνται ὑμᾶς, ἐσθίετε τὰ παρατιθέμενα ὑμῖν, 9 καὶ θεραπεύετε τοὺς ἐν αὐτῇ ἀσθενεῖς, καὶ λέγετε αὐτοῖς, ῎Ηγγικεν n ἐϕ’ ὑμᾶς n ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ. 10 εἰς ἣν δ’ ἂν πόλιν εἰσέλθητε καὶ μὴ δέχωνται ὑμᾶς, ἐξελθόντες εἰς τὰς πλατείας αὐτῆς εἴπατε, 11 Καὶ τὸν κονιορτὸν τὸν κολληθέντα ἡμῖν ἐκ τῆς πόλεως ὑμῶν εἰς τοὺς πόδας ἀπομασσόμεθα ὑμῖν· πλὴν τοῦτο γινώσκετε ὅτι ἤγγικεν o ἐϕ’ ὑμᾶς o ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ. 12 λέγω p δὲ ὑμῖν ὅτι Σοδόμοις q ἐν τῇ ἡμέρᾳ ἐκείνῃ q ἀνεκτότερον ἔσται r ἐν τῇ βασιλείᾳ τοῦ θεοῦ r ἢ τῇ πόλει ἐκείνῃ. 13 Οὐαί σοι, Χοραζίν s καὶ Βηθσαϊδά· ὅτι εἰ ἐν Τύρῳ καὶ Σιδῶνι ἐγενήθησαν αἱ δυνάμεις αἱ γενόμεναι ἐν ὑμῖν, πάλαι ἂν ἐν σάκκῳ καὶ σποδῷ καθήμενοι μετενόησαν. 14 πλὴν Τύρῳ καὶ Σιδῶνι ἀνεκτότερον ἔσται t ἐν τῇ κρίσει t ἢ ὑμῖν. 15 καὶ σύ, Καϕαρναούμ, u μὴ ἕως οὐρανοῦ ὑψωθήσῃ; u v ἢ w ἕως τοῦ ᾅδου καταβήσῃ. w 16 Ὁ ἀκούων ὑμῶν ἐμοῦ ἀκούει, καὶ ὁ ἀθετῶν ὑμᾶς ἐμὲ ἀθετεῖ· ὁ δὲ x ἐμοῦ ἀκούων ἀκούει τοῦ ἀποστείλαντός με. x A. *10,1: Tert. 4,24,1: Adlegit et alios septuaginta apostolos super duodecim. Quo enim duodecim secundum totidem fontes in Elim, si non et septuaginta secundum totidem arbusta palmarum? ¦ Adam. 1,5 (806d): πρώτους ἀπέστειλε ιβ’ καὶ μετὰ ταῦτα οβ’ εὐαγγελίσασθαι. ♦ *10,4: Tert. 4,24,1f: Profectionem filiorum Israelis creator etiam illis spoliis aureorum et argenteorum vasculorum et vestium praeter oneribus consparsionum offarcinatam educit ex Aegypto, Christus <?page no="287"?> 10,1-16 Rekonstruktion 799 autem nec virgam discipulis in viam ferre praescripsit. (2) Illi enim in solitudinem promovebantur, hi autem in civitates mittebantur. Considera causarum offerentiam, et intelleges unam et eandem potestatem quae secundum penuriam et copiam expeditionem suorum disposuit, proinde per civitates abundaturam circumcidens sicut et egituram per solitudinem struxerat. Etiam calciamenta portare vetuit illos. Ipse enim erat sub quo nec in solitudine per tot annos populus calciamenta detriverat. Neminem, inquit, per viam salutaveritis. Vgl. Didym (Trin. II 8 101b; PG 39, 621C): μὴ βαστάζετε πήραν, ἢ ῥάβδον, ἢ ὑποδήματα; Epiph (Anc. 68,6; GCS 25, 83,21f; Haer. 74,5,6; GCS 37, 320,5): μὴ βαστάζετε πήραν μὴ ῥάβδον μηδὲ ὑποδήματα. ♦ *10,5: Tert. 4,24,3f: O Christum destructorem prophetarum, a quibus hoc quoque accepit! Helisaeus, cum Giezin puerum suum mitteret in viam ad filium Sunamitidis resuscitandum de morte, puto sic ei praecepit: Accinge lumbos tuos et sume bacillum meum in manum et vade: quemcunque conveneris in via, ne benedixeris eum, id est ne salutaveris, et qui te benedixerit, ne responderis ei, id est ne resalutaveris. Quae est enim inter vias benedictio nisi ex occursu mutua salutatio? (4) Sic et dominus, in quam introissent domum, pacem ei dicere. Exemplo eodem est. Mandavit enim et hoc Helisaeus, cum introisset ad Sunamitin, diceret ei, Pax viro tuo, pax filio tuo. ♦ *10,7: Tert. 4,24,4: Dignus est autem operarius mercede sua, quis magis pronuntiarit quam deus iudex? quia et hoc ipsum iudicare est, dignum facere mercede operarium. Nulla retributio non ex iudicatione constitit. ♦ *10,8: Tert. 4,24,7: Quodsi et Christus dignos pronuntiat mercede operarios, excusavit praeceptum illud creatoris de vasis aureis et argenteis Aegyptiorum auferendis. Qui enim villas et urbes operati fuerant Aegyptiis, digni utique operarii mercede, non ad fraudem sunt instructi sed ad mercedis compensationem, quam alias a dominatoribus exigere non poterant … ♦ *10,9: Tert. 4,24,5: … regnum dei neque novum neque inauditum sic quoque confirmavit, dum illud iubet annuntiari appropinquasse. Quod enim longe fuerit aliquando, id potest dici appropinquasse. ♦ *10,10f: Tert. 4,24,7: Etiam adicit, ut eis qui illos non recepissent dicerent, Scitote tamen appropinquasse regnum dei. Si hoc non et comminationis gratia mandat, vanissime mandat. Quid enim ad illos si appropinquaret regnum, nisi quia cum iudicio appropinquat, in salutem scilicet eorum qui annuntiationem eius recepissent? Quomodo, si comminatio non potest sine executione, habes deum executorem in comminatore et iudicem in utroque. Sic et pulverem iubet excuti in illos in testificationem, et haerentia terrae eorum, nedum communicationis reliquae. ♦ *10,16: Tert. 4,24,8f: … ergo in Christum inde manasse constabit communicationis interdictum ubi habet formam, Qui vos spernit, me spernit. Hoc et Moysi creator: Non te contempserunt, sed me. Tam enim apostolus Moyses quam et apostoli prophetae. (9) Aequanda erit auctoritas utriusque officii, ab uno eodemque domino apostolorum et prophetarum. B. a (10,1) απεδειξεν δε: Tert D a b c d e ſſ 2 l ¦ μετα δε ταυτα/ post haec: add aur f q r 1 vg M ● b (10,1) ο κυριος/ dominus: om Tert D 1424 1675 a c d e sy s.c ¦ Iesus: 579 669 c 1247 2069 b f r 1 sy p.j Tat arab.pers ¦ dominus: aur l q vg M ● c (10,1) και/ et: Tert A C D W Θ Ψ f 1.13 33 mult a aur b c d f l q sy c.h ¦ om P 75 B L Ξ 0181 579 892 1424 pc r 1 sy s.p ● d (10,1) Widersprüchliche Bezeugung: (1) δυο/ duo: Adam B D K Y Θ Π 0211 mult a aur c d e l vg sy h ¦ (2) δυο/ duo: om Tert א C L W Ξ Ψ f q r 1 0181 M ● e (10,1) αποστολος επι τους δωδεκα/ apostolos super duodecim: add Tert (Adam) ¦ om it M ● f (10,1) δυο/ duo: om A C D L W Ξ Ψ 0181 f 1 33 M C L ¦ add B K Y Θ Π 0211 f 13 565 ℓ2211 al sy h Eus (*Ev non test.) ● g (10,3) εγω/ ego: C D L W Θ Ξ Ψ (0181) 1 f 1.13 aur b c d f q sy s(mss).p.h sa mss ______________________________ 1 Unklar ist, was 0181 an dieser Stelle liest (non vidi): IGNTP führt 0181 als Zeugen für die Lesart ohne εγω an, der Apparat von NA 27 als Zeugen für die Lesart mit εγω. <?page no="288"?> 800 Anhang I 10,1-16 bo ¦ om P 75 א A B (0181) 1 5 349 579 1195 a e l r 1 sy s(mss) georg I.III M (*Ev non test.) ● h (10,4) μητε ραβδον/ nec virgam: add Tert (Didym: πηραν η ραβδον; Epiph: μη πηραν μη ραβδον) ¦ om it M ● i (10,5) πρωτον/ primum: om Tert D c 579 pc d e r 1 Orig (Comm. in Joh 32,14; GCS 10, 448) ¦ add (πρωτον οικιαν): D* a sy s.c ; (2 1: οικιαν πρωτον) b l q M ● k (10,6) επαναπαυσεται: א 2 A B 2 C D L (W) Θ Ξ Ψ f 1.13 33 al ¦ επαναπαησεται: P 75 א * B* 0181 (579) pc (*Ev non test.) ● l (10,6) επιστρεψει η ειρηνη υμων: D (vgl. Mt 10,13: πρὸς ὑμᾶς ἐπιστραϕήτω) ¦ ανακαμψει: it M (*Ev non test.) ● m (10,7) γαρ/ enim: om Tert 131 ℓ184 c sy c ¦ γαρ/ enim: add a aur b d e f i l q r 1 M ● n (10,9b) εϕ υμας: om Tert Γ 348 475 669 2399* e (adventus regni dei) bo ms ¦ εϕ υμας/ in vos: add a b f i l q r 1 (super vos: c d; in vobis: aur) M ● o (10,11) εϕ υμας: om Tert P 4.75 א B D L Ξ 0181 mult a aur b c d e g 1 gat i q r 1 vg sy s.c bo mss ¦ add εϕ υμας/ in vos: A C W Θ Ψ f 13 f l sy p.h sa bo mss ● p (10,12) δε/ autem: א D Θ Ξ 892 1424 al a aur d f (l: enim) q vg mss bo pt ¦ om b c e f i r 1 M (*Ev non test.) ● q (10,12) εν τη ημερα εκεινη: om D d e ¦ add it M (*Ev non test.) ● r (10,12) εν τη βασιλεια του θεου: D d e ¦ om it M (*Ev non test.) ● s (10,13) και/ et: D a aur b c d e i l r 1 ¦ ουαι σοι/ vae tibi: f q vg M (*Ev non test.) ● t (10,14) εν τη κρισει: om P 45 C D 472 1009 1241 e d l georg I ¦ εν ημερα κρισεως: f 13 1424 pc c f r 1 sy c sa mss ¦ εν τη ημερα εκεινη: Ψ pc sy s ¦ εν τη κρισει: a aur b i q vg M (*Ev non test.) ● u (10,15) μη εως (του) ουρανου υψωθηση: P 45.75 א B* C D (+ του: L Ξ 579 700) pc a b d e i r 1 sy s.c sa mss bo ¦ η εως του (- C pc) ουρανου υψωθεισα (υψωθηση: B 2 f 1 ): A B 2 C W Θ Ψ 0114 f 1.13 33 a aur c f l q vg sy p.h2 M (*Ev non test.) ● v (10,15) η: C D* f 1 pc b d i (r 1 ) ¦ και P 45 pc ¦ αλλα: georg ¦ om M (*Ev non test.) ● w (10,15) καταβηση: P 75 B D 579 pc d sy s.c ¦ καταβιβασθηση: P 45 א A C L W Θ Ξ Ψ 0115 f 1.13 33 a aur b c e f i l q r 1 vg sy p.h co M (*Ev non test.) ● x (10,16) εμου ακουων ακουει του αποστειλαντος με: D a b d i l r 1 ¦ om e ¦ ο δε εμε αθετων αθετει τον αποστειλαντα με + εμου ακουων ακουει του αποστειλαντος με: Θ f 13 r 1 sy (s).c.h ¦ ο δε εμε αθετων αθετει τον αποστειλαντα με: it M (*Ev non test.). C. Die Perikope ist durch Adamantius’ sehr allgemeine Zusammenfassung sowie durch zahlreiche Einzelheiten in Tertullians Referat gesichert: Die Aussendung der 72 anderen Apostel gehört zweifelsfrei dem vorkanonischen Text an und ist keine lk Bildung, wie die meisten Ausleger mit Verweis auf eine Kombination aus Mk 6,7-13 und einer i. W. in Lk 10,1-16 erhaltenen »Q«-Version (|| Mt 9,37-10,15) folgern. 2 Allerdings sind einzelne Aussagen nicht bezeugt (10,2f.6.7a.c.9a.12). Für diese Passagen sowie für zahlreiche Einzelheiten sind daher sowohl überlieferungsgeschichtliche Erwägungen als auch die Interferenz der vorkanonischen und der kanonischen Textüberlieferung zu berücksichtigen. 1. Für die Einleitung *10,1 bezeugt Tertullian eine vom kanonischen Text abweichende Gestalt, die i. W. durch die Übereinstimmungen mit den Varianten in D it (sy) gesichert ist. Dazu gehören das Fehlen von ὁ κύριος in der Erzählstimme 3 sowie die Formulierung ἀπέδειξεν δὲ καὶ ἑτέρους anstelle des kanonischen μετὰ δὲ ταῦτα ἀνέδειξεν … ἑτέρους. Diese Übereinstimmungen verleihen dann auch der vom kanonischen Text abweichenden Formulierung des Objekts bei Tertullian ______________________________ 2 Vgl. für viele W OLTER , Lk 375. 3 Es ist oben (§ 5; Bd. I, S. 93ff) deutlich geworden, dass die Eintragung von absolutem ὁ κύριος in der Erzählstimme ein Charakteristikum der lk Redaktion darstellt. <?page no="289"?> 10,1-16 Rekonstruktion 801 Gewicht: Ganz offensichtlich hatte *Ev davon gesprochen, dass die Zweiundsiebzig Apostel waren und dass sie zusätzlich zu den Zwölfen ausgesandt wurden (ἀποστόλους ἐπὶ τοὺς δώδεκα). Während Harnack dieses Problem kommentarlos übergeht, hat Tsutsui daraus weitreichende Folgerungen gezogen und den Zusatz als entscheidendes Element der angenommenen Überarbeitung des kanonischen Textes durch Marcion verstanden: Marcion habe die »zwölf und die ›siebzig‹ Apostel einander exklusiv entgegengesetzt« und in diesem »Gegensatz den Vorläufer des Verhältnisses zwischen seiner und der orthodoxen Kirche« gesehen. 4 Der Vorschlag ist scharfsinnig, aber gewaltsam: Er bürdet dem Wortlaut von *Ev mehr auf, als dieser zu tragen vermag. Denn welche zwanglose Lektüre von Lk 9f würde auf einen solchen offenbarungstheologischen Gegensatz zwischen den Zwölf und den 72 Aposteln führen, die sich dann noch dazu auf zwei verschiedene Gesalbte (nämlich den Christus des Schöpfers und den Gottes) bezögen? Abgesehen davon, dass die Zweiundsiebzig nicht in der Weise positiv herausgestellt werden, dass sie als Repräsentanten der marcionitischen Kirche plausibel werden, ist diese Deutung dadurch belastet, dass sie weithin die marcionitische Lehre direkt aus Tertullians polemischer Überzeichnung deduziert. Während Tsutsuis Lösung für eine marcionitische Einfügung der Wendung ἀποστόλους ἐπὶ τοὺς δώδεκα viele Antworten schuldig bleibt, liegt bei der Annahme der *Ev-Priorität eine Streichung durch die lk Redaktion sehr nahe, die allerdings eine inhaltliche Erklärung erfordert, die mehr bietet als lediglich den Hinweis auf eine Kombination von Mk 6 und »Q« (dazu gleich). Dass die Bezeichnung »Apostel« für diejenigen »Augenzeugen von Anfang an« (Lk 1,2) reserviert ist, die »von der Taufe durch Johannes an« bis zur Himmelfahrt »Zeugen seiner Auferstehung« waren (Act 1,22), ist Teil des redaktionellen Konzeptes von Lk-Act: Dass exklusiv die Zwölf »Apostel« sind, stellt die Lösung des literarischen Konzeptes von Lk-Act dar, das damit erklärt, warum der paulinische Apostolat von den Jerusalemer Aposteln nicht anerkannt wurde. Die lk Redaktion muss daher die Zweiundsiebzig von diesen Zwölf absetzen und ihnen vor allem die Bezeichnung »Apostel« vorenthalten. Eine lk Streichung des Syntagmas ἀποστόλους ἐπὶ τοὺς δώδεκα aus redaktionellen Gründen erklärt den Unterschied sehr viel einfacher und plausibler als eine marcionitische Hinzufügung. Darüber hinaus wirft die Rekonstruktion von *10,1 zwei weitere, miteinander zusammenhängende Probleme auf. ______________________________ 4 T SUTSUI 71. <?page no="290"?> 802 Anhang I 10,1-16 a. Das erste ist die Zahl der Boten: Tertullian bezeugt 70, 5 Adamantius dagegen 72. In den Handschriften ist diese Zahl (analog dazu auch in *10,17) weithin uneinheitlich überliefert. 6 In der Überlieferung des kanonischen Textes sind beide Zahlen relativ ausgewogen belegt: Die auch von Adamantius bezeugte Zahl 72 wird von einer Reihe von Handschriften ( P 75 B D K Y Θ Π 0211 mult a aur c d e l vg sy h usw.), aber auch von weiteren patristischen Texten vertreten, z. B. Clem. Alex., Hypot. fr. 13 (GCS 17, 199); Origenes, Hom. in Ex. 7,3 (SC 321, 214,1ff); Orig., Hom. in Num. 27,11 (GCS 30, 271,12ff); Greg. Nyss., De vita Mos. 2,133f (SC 1, 188); PsClem. Recogn. 1,40,4 (GCS 51, 32,2ff); PsClem. Hom., Ep. Petri 2,1 usw. Ähnliches gilt für die von Tertullian bezeugte Zahl 70, die ebenfalls in wichtigen Handschriften ( א A C D L W Δ Λ Ξ f 1.13 33 usw.) und zahlreichen patristischen Zeugen auftaucht. Obwohl im Blick auf die hier zugrunde gelegte Annahme der *Ev-Priorität alles dafür spricht, dass diese Uneinheitlichkeit auf das Phänomen der textgeschichtlichen Interferenzen zurückgeht und dass die »üblichen Verdächtigen« für die vorkanonische Lesart (Adam D it sy) überwiegend die Zahl 72 vertreten, ist die Bezeugung zu ausgewogen, um ein Urteil allein aufgrund der äußeren Bezeugung fällen zu können. Für die weiteren Überlegungen ist der Hinweis auf die ansonsten zu beobachtenden Interferenzen wichtig, weil dieses Phänomen es ausgesprochen unwahrscheinlich macht, dass die Variante aufgrund eines äußeren Versehens zu erklären sei, etwa durch den mechanischen Ausfall von δύο. 7 Aus der relativ ausgewogenen Bezeugung der Varianten wird häufig der Schluss gezogen, dass nur »innere« Kriterien den Ausschlag für eine Entscheidung geben könnten. Dies ist jedoch aus mehreren Gründen schwierig. Denn zum einen werden diese »inneren Gründe« ja regelmäßig auf die Passgenauigkeit der jeweiligen Zahlsymbolik im Rahmen des lk redaktionellen Konzeptes bezogen; an dieser Stelle verschiebt die Annahme der *Ev-Priorität die Anforderungen an die textkritische Entscheidung, weil mit *Ev und Lk zwei verschiedene redaktionelle Konzepte vorliegen. Zum anderen ist die besondere Semantik der beiden Zahlen alles andere als eindeutig bestimmbar, wie die traditionsgeschichtlichen Analogien zeigen: Wiederholt werden beide Zahlen promiscue verwendet, 8 die Austauschbarkeit von 70 und 72 ______________________________ 5 Tertullian begründet das Nebeneinander von zwölf und siebzig ausdrücklich mit at.lichen Vorbildern, nämlich mit der Zahl der Wasserquellen und der Palmen in Ex 15,27; Num 33,9. 6 Die Bezeugung ist aufgeschlüsselt bei J. V ERHEYDEN , How Many Were Sent According to Luke 10,1? , in: R. Bieringer (ed.), Luke and his Readers, Leuven 2005, 193-238: 197ff. 7 Vgl. W OLTER , Lk 376. 8 Vgl. die Hinweise von A. P RIEUR , Die Verkündigung der Gottesherrschaft, Tübingen 1996, 211ff, z. B.: Jos., Ant. XII 49.56: 72 Übersetzer der Tora (vgl. Arist 50; nach Arist 307 wurde die Übersetzung in 72 Tagen fertiggestellt; nach Meg 9a gab es 72 Übersetzer in 72 Häusern), dagegen Jos., Ant. XII 57 (70 Übersetzer). - ApcMos 8,2: 72 Plagen nach der Vertreibung aus dem Paradies; VidAd 34,1: 70 Plagen. - hebrHen 17,8; 18,2f; 30,2 (72 Völkerengel entsprechen den 72 Sprachen); 48,9C (70 Völkerengel; 70 Sprachen: 2,3; 3,2; 29,1; 48,3D). - Num 11,16f.24 (70 Älteste); Num 11,26 (zusätzlich werden Eldad und Medad genannt: das wären dann 72). - Nach Gen 46,27; Ex 1,5; Dtn 10,22 hatte Jakob 70 Nachfahren, nach PsPhilo, LibAnt 8,11 dagegen 72. <?page no="291"?> 10,1-16 Rekonstruktion 803 ist also älter und geht weit über den engen Kontext von Lk 10,1.17 hinaus. Der naheliegende Hinweis auf die Völkertafeln in Gen 10f entpuppt sich ebenfalls als schwierig: Erstens werden die Zahlen gar nicht angegeben, zweitens unterscheiden sich die Aufzählungen in MT und LXX, und drittens zeigt sich bei genauem Hinsehen, dass dort nicht 70 bzw. 72, sondern 71 bzw. 73 Völker genannt werden. 9 Diese Ambivalenz - gerade bezüglich der Zahl der Völker bzw. Sprachen - macht es ausgesprochen schwierig, eine eindeutige Bearbeitungsrichtung festzustellen: Sowohl die 72 als auch die 70 sind Zahlen, die universale Vollständigkeit andeuten, jedoch möglicherweise unterschiedlichen Bezugssystemen entstammen. 10 Dass sich die Semantik der beiden Zahlen wirklich unterscheidet, wird man mit Blick auf die ambivalenten Angaben in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen nicht sagen können: Beide Zahlen implizieren einen umfassenden, auf Vollständigkeit ausgerichteten Anspruch. 11 Für die textkritische Entscheidung bleibt daher nur die äußere Bezeugung übrig: Nur (! ) aufgrund der handschriftlichen Bezeugung in D it sy ist die Sendung von 72 Aposteln mit Adamantius (gegen Tertullian! ) für die ältere Variante zu halten, die wahrscheinlich im vorkanonischen Text gestanden hat. 12 Diese Entscheidung begründet dann auch die Rekonstruktion von *10,17 (s. dort). b. In jedem Fall ist das textkritische Problem von der Frage zu unterscheiden, ob *Ev der Sendung der Zweiundsiebzig eine symbolische Bedeutung zugeschrieben hat. Sie ist weniger von dem mutmaßlichen symbolischen Gehalt der Zahl 72 als vielmehr davon abhängig, ob in *Ev auch die finale Bestimmung πρὸ προσώπου αὐτοῦ εἰς πᾶσαν πόλιν καὶ τόπον οὗ ἤμελλεν αὐτὸς ἔρχεσθαι (10,1b) enthalten war. Denn die Sendung »vor seinem Angesicht her in alle Städte und Orte, in die er selbst kommen wollte« widerspricht dem Fortgang der Erzählung. Wie aus *10,17 zu entnehmen ist, erfüllen die Zweiundsiebzig genau die Aufgabe, zu der Jesus sie ausgesandt hatte (*10,2b-16). Sie tun daher nichts anderes als die Zwölf ______________________________ 9 Vgl. P RIEUR , a. a. O. 215-218; dort auch der Hinweis auf Augustin, der die Völker nach LXX korrekt nachgezählt und erklärt hat, es habe damals »73 oder richtiger, wie später gezeigt werden soll, 72 Völker, nicht Einzelmenschen gegeben« (CivDei XVI 3); seine Erklärung (XVI 11) besagt, dass zwei der Genannten (nämlich Heber und Thalek) dieselbe Sprache gesprochen hätten, weswegen es nicht 73, sondern (nur) 72 Sprachen gebe. 10 Die Zahl der 72 Völker bzw. Völkerengel bzw. Sprachen hat mit Sicherheit einen astrologischen Hintergrund (Dekansterne), der mindestens so alt ist wie die in jüdischem Kontext häufig bevorzugte Zahl 70. 11 Dass sich die (symbolisch befrachtete) Zahl 70 aus der (hinsichtlich ihrer symbolischen Semantik angeblich unauffälligen) Zahl 72 herleiten ließe, nicht aber umgekehrt, ist daher ein Trugschluss (vgl. P RIEUR , a. a. O. 218f). 12 Wenn (wie in den Komm. usw. in der Regel begründet) die ursprüngliche Lesart ἑβδομήκοντα δύο gelautet hat, diese aber auf die vorkanonische Fassung des Logions zurückgeht, ist die Lesart ἑβδομήκοντα im kanonischen (= lk) Text mit hoher Wahrscheinlichkeit ursprünglich. <?page no="292"?> 804 Anhang I 10,1-16 (*9,1-6): Exorzismen und Heilungen. Und genau wie die Zwölf kehren die Zweiundsiebzig nach der Erfüllung dieses Auftrags zu Jesus zurück und berichten von ihrem Erfolg (*9,10; *10,17). 13 An keiner Stelle ist erkennbar, dass Jesus die Orte selbst besuchen werde, in die er Zweiundsiebzig gesandt hatte. Die Bemerkung, dass er sie dahin sandte, »wohin er selbst gehen wollte« (οὗ ἤμελλεν αὐτὸς ἔρχεσθαι), entspricht vielmehr der Aussendung der Quartiermeister in *9,52. Dass die Zweiundsiebzig πρὸ προσώπου αὐτοῦ gesandt werden und daher in alle Orte gehen, »in die er selbst kommen wollte« (Lk 10,1), gleicht sie den Boten von *9,52 an; aber die waren nicht mit Exorzismen und Heilungen beauftragt, sondern sollten das Quartier bereiten (ὡς ἑτοιμάσαι αὐτῷ). Die Darstellung der Zweiundsiebzig als Quartiermeister steht daher in Spannung mit dem folgenden Kontext. Diese Spannung ist sehr wahrscheinlich das Ergebnis der redakionellen Ergänzung von Lk 10,1b. *Ev hat daher die Sendung der Zweiundsiebzig ganz analog zu der der Zwölf erzählt, wie auch die Formulierung der Sendung der 72 Apostel »über die Zwölf hinaus« (ἐ π ὶ τ ο ὺ ς δ ώ δ ε κ α ) in *Ev zeigt. Lk dagegen unterscheidet ihren Auftrag von dem der Zwölf. Indem er die Zweiundsiebzig als Quartiermeister für Jesu Gang nach Jerusalem darstellt, fügt er ihren Auftrag in den Rahmen der Reise nach Jerusalem ein, die in Lk 9,51 (red.) begonnen hatte. Unter dieser Voraussetzung gewinnen das Nebeneinander und die analoge Gestaltung der beiden Sendungen *9,1-6; *10,1-16 in *Ev Profil. Zunächst lässt sich nur sagen, dass die Zweiundsiebzig einfach eine größere Gruppe sind und die Mission gegenüber der Sendung der Zwölf ausgeweitet wird: Sie erreichen mehr Menschen, als man es von der Sendung der Zwölf erwarten kann. Von daher ist es denkbar, dass der vorkanonische Text als Ziel der Sendung »jede Stadt und jeden Ort« (εἰς πᾶσαν πόλιν καὶ τόπον) enthalten hatte, wenn auch nicht mit der (einschränkenden) Zuspitzung »in die er selbst kommen wollte.« Aber das muss Vermutung bleiben. Wenn die Sendung der Zweiundsiebzig eine Ausweitung der Mission der Zwölf bedeutet, stellt sich die Frage, ob *Ev hier an eine Sendung (auch) zu Heiden gedacht haben kann: Das wird von einer Reihe von Auslegern behauptet, obwohl die Worte an Chorazin, Bethsaida und Kapharnaum (*10,12-15) dagegen zu sprechen scheinen. 14 Zu diesem Problem s. gleich. ______________________________ 13 Zum redaktionellen Charakter von 9,51f; 10,1 vgl. R. VON B ENDEMANN , Zwischen ΔΟΞΑ und ΣΤΑΥΡΟΣ, Berlin - New York 2001, 80-90; 138-141. 14 Zur Adressierung der Sendung *10,1ff an Heiden vgl. etwa VON B ENDEMANN , a. a. O. 140f, sowie die Kommentare von G REEN , M ARSHALL , N OLLAND , B OVON (jeweils z. St.). Pointiert anders W OLTER , Lk 377 z. St.: Es gebe »nicht den leisesten Zweifel daran, dass die Sendung der Zweiundsiebzig auf Israel beschränkt bleibt.« Zur Begründung verweist er darauf, dass εἰς πᾶσαν πόλιν καὶ τόπον ja durch οὗ ἤμελλεν αὐτὸς ἔρχεσθαι näher bestimmt sei. Das ist zutreffend - allerdings nur für die lk Fassung und gerade nicht für *Ev. <?page no="293"?> 10,1-16 Rekonstruktion 805 2. Die folgenden Logien von den Erntearbeitern und der Sendung »wie Schafe unter die Wölfe« *10,2f sind unbezeugt, waren aber mit großer Wahrscheinlichkeit in *Ev enthalten. a. Das Wort von den Erntearbeitern *10,2 hat Mt 9,37f im gleichen Zusammenhang der Aussendung nahezu identisch übernommen. Die enge Entsprechung im Wortlaut legt nahe, dass sowohl Mt als auch Lk den Text von *Ev genau übernommen haben. Zu diesem gehört auch der Auftrag zur Bitte um weitere Arbeiter (*10,2b || Mt 9,38). Sie ist auffällig, weil sie die narrativ vorausgesetzte Situation übersteigt, in der die Apostel ja gerade ausgesandt werden: Hier ist also die Zeit der Rezipienten mit eingezeichnet. Dies ist allerdings kein Hinweis auf einen Ursprung »aus einem anderen Überlieferungszusammenhang«. 15 Vielmehr ist diese Inkonzinnität bereits für *Ev vorauszusetzen, und es ist völlig ungewiss, ob diese Textgestalt auf die Verarbeitung von verschiedenen Traditionen zurückgeht oder schlicht das Nebeneinander von Sendung und Bitte um weitere Arbeiter enthielt. b. Für das Bild von den »Schafen unter Wölfen« *10,3 gibt es traditionsgeschichtliche Analogien. In ihnen wird die Existenz Israels in Ägypten mit dem Bild der Schafe, die unter Wölfen wohnen, beschrieben. 16 Die traditionsgeschichtliche Prägung setzt also das Gegeneinander von dem erwähltem Volk und seinen (äußeren) Feinden voraus. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, dass *10,1ff die Sendung der Apostel zu Nichtjuden im Auge hatte. 3. Die Ausrüstungsregel *10,4 besitzt im Bericht von der Sendung der Zwölf eine enge Analogie (*9,3). Die beiden Listen ähneln sich, sind aber nicht identisch. Abgesehen von der Reihenfolge, in der die Gegenstände aufgezählt werden, unterscheiden sie sich auch im Umfang. *9,3 *10,4f μήτε ῥάβδον (μήτε ῥάβδον) μήτε πήραν μὴ πήραν μὴ ὑποδήματα μήτε ἄρτον μήτε ἀργύριον μὴ βαστάζετε βαλλάντιον μήτε (ἀνὰ) δύο χιτῶνας ἔχειν καὶ μηδένα κατὰ τὴν ὁδὸν ἀσπάσησθε ______________________________ 15 W OLTER , Lk 378 z. St. 16 äthHen 89,13-27; die genaue Allegorese der Erzählung vom Verkauf Josephs zuerst an die Midianiter (= Esel), dann nach Ägypten (= Wölfe; 89,13) legt nahe, warum hier pointiert von zwölf (= 11 + 1) Schafen die Rede ist. Vgl. außerdem PsSal 8,23 (ἐδικαιώθη ὁ θεὸς ἐν τοῖς κρίμασιν αὐτοῦ ἐν τοῖς ἔθνεσιν τῆς γῆς, καὶ οἱ ὅσιοι τοῦ θεοῦ ὡς ἀρνία ἐν ἀκακίᾳ ἐν μέσῳ αὐτῶν). Unklar ist, wieso dieser Bezug nach W OLTER , Lk 378 z. St., für *10,3 keine Rolle spielen soll. <?page no="294"?> 806 Anhang I 10,1-16 a. Das Fehlen des Schuhverbots in *9,3 ist schon besprochen (s. dort): Es ist in unterschiedlicher Weise in die Kompilation der beiden Listen in Mk 6,8 bzw. Mt 10,10 eingegangen: Mt hat es aus *10,4 direkt übernommen, Mk hat es ausdrücklich aufgehoben (Mk 6,9). Im Rahmen der Lk-Priorität und der Zwei-Quellentheorie erscheint das Schuhverbot *10,4 für die Zweiundsiebzig als eine redaktionell beabsichtigte Verschärfung gegenüber der Ausrüstungsregel *9,3 für die Zwölf, 17 deren Sinn allerdings kaum auszumachen ist. Im Horizont der *Ev-Priorität ist eine solche Intention dagegen nicht wahrscheinlich zu machen: Die beiden Listen sind nicht aneinander angeglichen. b. Während in der kanonischen Fassung Lk 10,4 das Verbot des Stocks (ῥάβδος) fehlt, scheint es in der vorkanonischen Fassung enthalten gewesen zu sein. Jedenfalls erwähnt Tertullian das Verbot des Stocks auch für die zweite Liste *10,4. Das ist keine versehentliche Eintragung aus *9,3, wie die entsprechenden Erwähnungen bei Didymus dem Blinden und bei Epiphanius 18 zeigen: Tertullian hat den Hinweis tatsächlich in der vorkanonischen Liste gefunden, auch wenn die Textüberlieferung dafür keinerlei Auffälligkeiten zeigt. c. Auch das Grußverbot κατὰ τὴν ὁδόν war schon in der vorkanonischen Liste enthalten, wie Tertullian belegt. Das Wegmotiv ist hier also nicht aus der (redaktionell hervorgehobenen) Verortung der Sendung der Zweiundsiebzig »auf dem Weg« eingetragen worden, 19 sondern war ursprünglicher Bestandteil der Sendungsanweisung. Der Sinn des Grußverbots »auf dem Weg« ergibt sich aus der unmittelbar folgenden Grußanweisung in den Häusern und ist am ehesten als Ausdruck der Eile zu verstehen: Die Boten sollen auf dem Weg keine Zeit vergeuden. 4. Der für *Ev unbezeugte Vergleich der Adressaten der Sendung mit dem Schicksal der Sodomiter *10,12 hat die Funktion, den Gegensatz zu *10,11 zu markieren. Der betonte Neueinsatz (λέγω ὑμῖν) könnte darauf hinweisen, dass die Verbindung nicht originär ist, aber sie fügt sich inhaltlich sehr genau in das narrative Gefälle ein und ist durch das gemeinsame Stichwort πόλις auch eng auf den vorangehenden Kontext bezogen. Da ein hinreichend deutliches Urteil wegen der Nichtbezeugung unmöglich ist, führt vielleicht der Blick auf die mt Parallele weiter: Mt hat das Logion im gleichen Kontext (Mt 10,15) und fügt das Bildwort von der Sendung der Schafe unter die Wölfe (10,16a) an, das Lk 10,3 im gleichen ______________________________ 17 W OLTER , Lk 378 z. St. 18 Die Zitate (s. den Text o. unter den Testimonien) sind nicht identisch, lassen aber deutlich genug erkennen, dass aufgrund des Prohibitivs μὴ βαστάζετε mit der nachfolgenden Reihe πήραν - ῥάβδον - ὑποδήματα nicht Mt 10,10, sondern in der Tat Lk 10,4 angesprochen ist. 19 Die Wendung κατὰ τὴν ὁδόν kommt sonst nur in lk Texten vor, vgl. Act 8,36; 25,3; 26,13. Es ist denkbar, dass Lk das Weg-Motiv (zum sog. »Reisebericht« s. o. bei *9,51) nicht nur aus der Gestaltung von Mk 8,27-10-51, sondern auch aus dieser Notiz abgeleitet hat. <?page no="295"?> 10,1-16 Rekonstruktion 807 Zusammenhang, jedoch an anderer Stelle erscheint. Zwei Möglichkeiten sind dafür denkbar: Entweder hat Mt das Sodomiterwort aus *Ev übernommen, und zwar, wie sich in diesem Fall nahelegt, aus der auch für Lk bezeugten Stellung nach *10,11. Oder das Logion hat in *Ev gefehlt und wurde durch Mt neu gebildet; in diesem Fall hätte Lk es von Mt übernommen und im gleichen Kontext an anderer Stelle eingefügt. Allerdings erklären sich die handschriftlichen Varianten für Lk 10,12 am ehesten aus der Interferenz des vorkanonischen mit dem kanonischen Text. Nach D d e soll es den Sodomitern ἐν τ ῇ β α σ ι λ ε ί ᾳ τοῦ θεοῦ erträglicher gehen als »jener Stadt«, nach dem Rest der Überlieferung dagegen ἐν τ ῇ ἡ μ έ ρ ᾳ ἐ κ ε ί ν ῃ . Die »Westliche« Lesart in D d e ist erkennbar problematischer, denn eigentlich ist ja das Gericht an dieser Stadt impliziert, das durch das Stichwort βασιλεία bestenfalls mittelbar ausgedrückt wird. Die Veränderung dieser βασιλεία-Lesart in D d e in ἐν τ ῇ ἡ μ έ ρ ᾳ ἐ κ ε ί ν ῃ bringt diesen Gerichtsgedanken klarer zum Ausdruck: Die redaktionelle Veränderung der »Westlichen« Variante ist leichter vorstellbar als der umgekehrte Weg. Von daher ist *10,12 für den vorkanonischen Text anzunehmen. In diesem Fall hat Mt den gesamten Kontext *10,1-12 bei *Ev gelesen, aber redaktionell bearbeitet: Er hat das Wort von der Sendung unter die Wölfe nach hinten verschoben, wo es im Anschluss an Mt 10,14 besser passt als in der Einleitung der Aussendungsrede wie bei *Ev/ Lk (*10,3), und er hat dieses Logion außerdem durch die Aufforderung an die Jünger (Mt 10,16b: seid klug wie Schlangen, arglos wie Tauben) ergänzt, die bei Lk ja fehlt. Weiteres dazu s. gleich bei *10,13-15. 5. Die Weherufe über die galiläischen Städte und ihr Vergleich mit Tyrus und Sidon werden von allen Zeugen übergangen. Tertullian geht in seinem Referat direkt von *10,11 zu der Abschlussnotiz *10,16 über (4,24,8: qui vos spernit, me spernit). Aber ist das ein hinreichendes Zeugnis dafür, dass 10,12-15 in *Ev gefehlt haben? Die Vertreter der Lk-Priorität haben aus der Nichtbezeugung auf eine marcionitische Streichung geschlossen und diese mit der angenommenen theologischen Tendenz Marcions begründet: Harnack argumentiert, dass Tertullian sich die Gelegenheit, »den Christus M.s als Rächer und Richter zu erweisen«, kaum hätte entgehen lassen und folgert für die ganze Einheit *10,13-15: »unbezeugt und gewiß getilgt«. 20 Wenn sich Marcion allerdings an Gerichtsaussagen Jesu gestört hätte, hätte er auch anderes streichen müssen (z. B. *17,22ff usw.). Ein argumentum e silentio allein reicht für die Rekonstruktionsentscheidung nicht aus. Ein Blick auf die Varianten innerhalb der kanonischen Überlieferung legt allerdings nahe, dass ______________________________ 20 H ARNACK 205*. Ähnlich auch T SUTSUI 96 (zu 10,12-15): »Aus inhaltlichen Gründen scheinen diese Verse gestrichen worden zu sein.« <?page no="296"?> 808 Anhang I 10,1-16 diese Verse in *Ev enthalten waren: Sie zeigen das charakteristische Phänomen der Interferenz der Textüberlieferungen. Während die Bearbeitungsrichtung der Ersetzung von καί (D it) durch οὐαί σοι in V. *13 noch ambivalent ist, deutet das Variantenspektrum bei der Lesart ἐν τῇ κρίσει auf eine eindeutige Bearbeitungsrichtung hin: Die Wendung fehlte im vorkanonischen Text, und dies hat sich in etlichen Handschriften (darunter P 45 C D [it]) erhalten. Offensichtlich hat die lk Redaktion, ganz analog zu der Ersetzung von ἐν τῇ βασιλείᾳ τοῦ θεοῦ durch ἐν τῇ ἡμέρᾳ ἐκείνῃ im Wort über die Sodomiter (*10,12), auch an dieser Stelle den Gerichtskontext präziser zum Ausdruck gebracht. Die weiteren Varianten zeigen die Beeinflussung: ἐν τῇ ἡμέρᾳ ἐκείνῃ (Ψ pc sy s ) nimmt die Änderung von 10,12 direkt auf, ἐν ἡμέρᾳ κρίσεως (f 13 1424 pc [it] usw.) zeigt dagegen die Spuren einer Konflation aus ἐν τῇ ἡ μ έ ρ ᾳ (Lk 10,12) und ἐν τῇ κ ρ ί σ ε ι (Lk 10,13). Die Entstehung dieser Varianten legt nahe, dass P 45 C D (it) den vorkanonischen Text repräsentieren. Ähnliches gilt für das Wort gegen Kapharnaum *10,15, für das die kanonischen Handschriften zwei Varianten bezeugen: Die mit Verneinung eingeleitete rhetorische Frage μὴ ἕως οὐρανοῦ ὑψωθήσῃ wird nicht nur von den »üblichen Verdächtigen« (D it sy) bezeugt, sondern auch von P 45.75 א B* u. a., wogegen die Mehrheit der Handschriften ἢ ἕως οὐρανοῦ ὑψωθείσα (-θήσῃ) bietet. Das gleiche Phänomen zeigt sich für καταβήσῃ (außer D d [sy] noch P 75 B usw.) anstelle von καταβιβασθήσῃ (so die Mehrheit der Überlieferung mit P 45 א u. a.); in der Überlieferung der synoptischen Parallele Mt 11,23 finden sich die entsprechenden Varianten (s. den App.). Daher wird die Annahme nicht fehlgehen, dass die Änderung der vorkanonischen Fassung des Logions (mit den Lesarten wie in D it sy usw.) auf Mt zurückgeht, von wo es Lk übernommen hat. In jedem Fall bestätigen die Varianten die Existenz eines vorkanonischen Textes. Die Einfügung von ἐν τῇ κρίσει in Lk 10,15 zeigt das gleiche Bearbeitungsinteresse wie die Ersetzung von ἐν τῇ βασιλείᾳ τοῦ θεοῦ durch ἐν τῇ ἡμέρᾳ ἐκείνῃ in *10,13. Dass die Eintragung des Gerichtsgedankens hier durch eine antimarcionitische Tendenz veranlasst war, wird man allerdings nicht sagen können: Es handelt sich nur um die Präzisierung eines Gedankens, der schon im vorkanonischen Text vorhanden war. Methodisch ist dieses Beispiel charakteristisch für das Problem der Konsistenz des redaktionellen Konzeptes: Während die von Harnack und Tsutsui vorgeschlagene Streichung dieser Gerichtsaussagen nicht in ein konsistentes Konzept mündet, ist dies umgekehrt für Annahme einer lk Redaktion durchaus der Fall. 6. Die Logien über Kapharnaum bzw. an Chorazin und Bethsaida *10,12-15 werfen ein besonderes Problem auf. Denn der propositionale Gehalt der Worte (wer die Boten ablehnt, wird ein schlimmeres Schicksal erleiden als Sodom usw.) lässt sich nur als Drohung gegen Adressaten wie die angeredeten galiläischen Städte verstehen, die hier - neben den Boten - als Adressaten also zumindest impliziert sind. Diese doppelte Adressierung legt es nahe, den Auftrag Jesu als Sendung der Apostel in diese jüdischen Städte zu verstehen, wie der betonte Gegensatz zu den nichtjüdisch-phönizischen Städten zeigt. Aber wenn das Kriterium für das Ergehen <?page no="297"?> 10,1-16 Rekonstruktion 809 »in der Basileia« das Verhalten gegenüber den Boten (also Aufnahme oder Ablehnung) ist, dann kann es Tyrus und Sidon nur dann erträglicher ergehen, wenn sie sich, wie *10,13 voraussetzt, bekehrt haben. Die Vergrößerung der Zahl der Boten von zwölf auf 72 korrespondiert mit der Multiplikation der Adressaten. Sie werden hier auf eine Weise ins Spiel gebracht, die zumindest auch an Nichtjuden denken lässt, auch wenn das in *Ev nicht programmatisch gemeint gewesen sein muss. 7. *10,16 ist durch Tertullian gesichert. Er zitiert καὶ ὁ ἀθετῶν ὑμᾶς ἐμὲ ἀθετεῖ *10,16b zu Beginn einer längeren Ausführung, die durch die einleitenden Stichworte inhumanitas et inhospitalitas sehr eng auf die Thematik von *10,8-11 bezogen ist; diese Verse werden auf diese Weise ebenfalls für *Ev gesichert. 21 Dass *10,16 in *Ev eine andere Gestalt hatte, zeigt einmal mehr die Variante *10,16c. Der vorkanonische Text wird durch D it repräsentiert: ὁ δὲ ἐμοῦ ἀκούων ἀκούει τοῦ ἀποστείλαντός με, wurde aber durch die lk Redaktion durch ὁ δὲ ἐμὲ ἀθετῶν ἀθετεῖ τὸν ἀποστείλαντά με ersetzt (so die Mehrheit der Handschriften). Die anderen Lesarten zeigen die typischen Epiphänomene: Der Palatinus (e) hat die Wendung ganz ausgelassen, eine Reihe von Zeugen konflationieren beide Lesarten. *10,16 hat in der von D it bezeugten Form den passenden Abschluss der Aussendungsrede des vorkanonischen Textes gebildet. 8. Mit Blick auf die Bearbeitungen der Aussendungsrede lässt sich dann auch der Gang der Überlieferungsgeschichte nachvollziehen: *Ev hat die beiden Sendungen - der Zwölf in *9,1-6 und der Zweiundsiebzig in *10,1-16 - hinsichtlich ihrer Reichweite und wohl auch ihrer Adressaten unterschieden. Die Zweiundsiebzig werden sehr viel mehr »Städte« erreichen als die Zwölf: Beide Sendungen zusammen ergehen an sieben mal zwölf Apostel und unterstreichen so den universalen Anspruch. Dass eine solcherart universale Sendung auch das Problem der »Heidenmission« mit umfasst, muss *Ev nicht gesehen und schon gar nicht als spezielles theologisches Problem wahrgenommen haben. Aber wie der Vergleich des sprichwörtlich sündigen Sodom bzw. der heidnischen Städte Tyrus und Sidon mit Chorazin und Bethsaida bzw. Kapharnaum zeigt, ist die Perspektive auf nichtjüdische Adressaten mit diesen Logien wenigstens implizit mitgesetzt. Auf jeden Fall haben die ersten Bearbeiter von *Ev diesen Aspekt der Sendung der Zweiundsiebzig zur Kenntnis genommen und ihn auf unterschiedliche Weise in ihr jeweils eigenes theologisches Konzept integriert. a. Mk hat das Problem der Adressaten der Jüngeraussendung sehr pointiert durch sein Konzept der beiden Speisungserzählungen behandelt und gelöst: Er hat die beiden Aussendungsreden *9,1-6 und *10,1-16 zu einer einzigen zusammen- ______________________________ 21 Tert. 4,24,8f. <?page no="298"?> 810 Anhang I 10,1-16 gezogen (Mk 6,b-13). An die Stelle von zwei sukzessiven Sendungen hat er die Verdoppelung der beiden Speisungserzählungen gesetzt und dabei großen Wert darauf gelegt, dass der Inhalt der missionarischen Verkündigung (ein und derselben Jüngergruppe! ) in beiden Fällen der gleiche ist: Die Heiden werden von demselben Brot satt, das den Kindern Israel angeboten wird und von ihrem Tisch abfällt (Mk 7,24-30). Weil Mk so sehr an der Identität der Verkündigung gegenüber Juden und Heiden interessiert war, musste er auf die Rezeption der zweiten Aussendung *10,1-16 verzichten, obwohl er diesen Text gekannt und benutzt hat. 22 b. Auch Mt hat das Nebeneinander der beiden Sendungen *9,1-6; *10,1-16 und ihre Differenzierung nach den jeweiligen Adressaten bemerkt; auch er hat den universalen Anspruch in der Sendung der Zweiundsiebzig wahrgenommen und darin das theologische Problem der Heidenmission angesprochen gesehen; und auch Mt findet für dieses Problem eine eigene Lösung, die sich sowohl von der in *Ev als auch von der in Mk unterscheidet: Er lässt den Sendungsauftrag, der ja ganz weithin an der Aussendungsrede *10,1-16 orientiert ist, sehr pointiert an die Zwölf gerichtet sein (vgl. Mt 10,5 nach 10,1-4! ), denen er jedoch den Weg zu Heiden und Samaritanern verbietet (10,5) und sie exklusiv zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel schickt (10,6). Das ausdrückliche Verbot, »in eine Stadt der Samaritaner« zu gehen (10,6) impliziert, dass Mt Texte wie *9,52 (εἰς κώμην Σαμαριτῶν) oder *17,11- 19 in diesem Zusammenhang der Sendung kannte, ihre Implikationen jedoch vermeiden wollte: Die Sendung der Zwölf zu Nichtjuden. Mt hat die universale Aussendung der Jünger zu πάντα τὰ ἔθνη dem Auferstandenen vorbehalten (Mt 28,19). c. Für die lk Rezeption ergab sich an dieser Stelle ein besonderes Problem: Einerseits lässt er - ähnlich wie Mt - die Sendung zu den Heiden ganz pointiert erst nach Ostern (genauer: erst mit der Sendung des Heiligen Geistes) beginnen und weist sie in Act vor allem der pln Mission zu. Andererseits folgt seine Darstellung im Evangelium der Vorlage in *Ev mit ihren zwei komplementären Aussendungen der Zwölf und der Zweiundsiebzig. Dass sich beide Interessen nicht ganz problemlos miteinander verbinden lassen, liegt auf der Hand. Der Versuch der lk Redaktion, diese Spannung aufzulösen, besteht darin, die Zweiundsiebzig (nur) als Quartiermeister auf dem Weg Jesu nach Jerusalem zu zeichnen. Dass die Spannung damit nur kaschiert, nicht aber beseitigt ist, zeigt der folgende Bericht von der Rückkehr der Zweiundsiebzig deutlich genug, weil die ______________________________ 22 Dies zeigt sich ja deutlich an der Übernahme einzelner Elemente, also etwa die Sendung δύο δύο Mk 6,7 (|| ἀνὰ δύο *10,1) oder die ausdrückliche Einschränkung des Ausrüstungsverbots mit Schuhen (Mk 6,9 ≠ *10,4). <?page no="299"?> 10,1-16 Rekonstruktion 811 Apostel in erster Linie von ihrem exorzistischen Erfolg berichten (*10,17, s. gleich). *10,17.18f.20.21-24: Rückkehr der Zweiundsiebzig. Dankgebet Jesu Größtenteils bezeugt; im Kern sicher, aber vermutlich ganz in *Ev vorhanden. Durch Lk redaktionell bearbeitet. 10,17 ῾Υπέστρεψαν δὲ οἱ ἑβδομήκοντα a δύο μετὰ χαρᾶς λέγοντες, Κύριε, καὶ τὰ δαιμόνια ὑποτάσσεται ἡμῖν ἐν τῷ ὀνόματί σου. 18 εἶπεν δὲ αὐτοῖς, Ἐθεώρουν τὸν Σατανᾶν b ὡς ἀστραπὴν πεσόντα ἐκ τοῦ οὐρανοῦ b . 19 ἰδοὺ c δέδωκα ὑμῖν τὴν ἐξουσίαν τοῦ πατεῖν ἐπάνω ὄϕεων καὶ σκορπίων, καὶ ἐπὶ πᾶσαν τὴν δύναμιν τοῦ ἐχθροῦ, καὶ οὐδὲν ὑμᾶς d [ οὐ μὴ ] ἀδικήσει d . 20 πλὴν ἐν τούτῳ μὴ χαίρετε ὅτι τὰ e δαιμόνια ὑμῖν ὑποτάσσεται, χαίρετε δὲ ὅτι τὰ ὀνόματα ὑμῶν f ἐγγέγραπται ἐν τοῖς οὐρανοῖς. 21 Ἐν ¿ἐκείνῳ τῷ καιρῷ? ἠγαλλιάσατο g ἐν τῷ πνεύματι [ τῷ ἁγίῳ ] g καὶ εἶπεν, h †Εὐχαριστῶ† σοι, i πάτερ, κύριε τοῦ οὐρανοῦ k καὶ τῆς γῆς , k ὅτι l ἅτινα ἦν κρυπτὰ σοϕοῖς l m ¿καὶ συνετοῖς? m ἀπεκάλυψας νηπίοις· ναί, ὁ πατήρ, ὅτι οὕτως εὐδοκία ἐγένετο ἔμπροσθέν σου. 22 Πάντα μοι παρεδόθη ὑπὸ τοῦ πατρός n μου , καὶ οὐδεὶς o †ἔγνω† p τὸν πατέρα εἰ μὴ ὁ υἱός, οὐδὲ τὸν υἱόν τις γινώσκει εἰ μὴ ὁ πατὴρ p q καὶ ᾧ ἐὰν ἀποκαλύψῃ ὁ υἱός q . 23 Καὶ στραϕεὶς πρὸς τοὺς μαθητὰς r [ κατ’ ἰδίαν ] r εἶπεν, Μακάριοι οἱ ὀϕθαλμοὶ οἱ βλέποντες ἃ βλέπετε. 24 λέγω γὰρ ὑμῖν ὅτι s πολλοὶ προϕῆται t καὶ βασιλεῖς t u οὐκ εἶδαν ἃ ὑμεῖς βλέπετε u v [ καὶ ἀκοῦσαι ἃ ἀκούετε καὶ οὐκ ἤκουσαν ] v . A. *10,18: Adam. 3,12 (839b): οὕτω γὰρ λέγει ὁ Χριστός, Ἐθεώρουν τὸν Σατανᾶν ὡς ἀστραπὴν πεσόντα ἐκ τοῦ οὐρανοῦ. ♦ *10,19: Tert. 4,24,9: Quis nunc dabit potestatem calcandi super colubros et scorpios? Utrumne omnium animalium dominus, an nec unius lacertae deus? ¦ 4,24,12: Igitur ubi medicinarum edidit beneficia, tunc et scorpios et serpentes sanctis suis subdidit, ille scilicet qui hanc potestatem ut et aliis praestaret prior acceperat a patre, et secundum ordinem praedicationis exhibuit. ♦ *10,21: Tert. 4,25,1: Quis dominus caeli invocabitur qui non prius factor ostenditur? Gratias enim, inquit, ago, et confiteor, domine caeli, quod ea quae erant abscondita sapientibus et prudentibus, revelaveris parvulis. Quae ista? et cuius? et a quo abscondita? et a quo revelata? ¦ Tert. 4,25,14: Denique ostendemus, et iam ostendimus, ea visa in Christo quae fuerant praedicata, abscondita tamen et ab ipsis prophetis, ut absconderentur et a sapientibus et a prudentibus saeculi. ¦ Epiph., Schol. 22: Εὐχαριστῶ σοι, κύριε τοῦ οὐρανοῦ. οὐκ εἶχεν δὲ Καὶ τῆς γῆς, οὔτε Πάτερ εἶχεν. ἐλέγχεται δέ· κάτω γὰρ εἶχεν Ναί, ὁ πατήρ. ♦ *10,22: Tert. 4,25,7: Et tamen usque adhuc, puto, probamus exstructionem potius legis et prophetarum inveniri in Christo quam destructionem. Omnia sibi tradita dicit a patre. Credas, si creatoris est Christus, cuius omnia: quia non minori se tradidit omnia filio creator quae per eum condidit, per sermonem suum <?page no="300"?> 812 Anhang I 10,17-24 scilicet. ¦ 4,25,10: Atque ita Christus ignotum deum praedicavit. Hinc enim et alii haeretici fulciuntur, opponentes creatorem omnibus notum, et Israeli secundum familiaritatem et nationibus secundum naturam. Sed, Nemo scit qui sit pater, nisi filius, et qui sit filius, nisi pater, et cuicunque filius revelaverit. ¦ Adam. 1,23 (817d): οὐδεὶς ἔγνω (Rufin: nouit) τὸν πατέρα εἰ μὴ ὁ υἱός, οὐδὲ τὸν υἱόν τις γινώσκει (Rufin: nouit) εἰ μὴ ὁ πατήρ. Vgl. außerdem Eznik, De Deo IV 9 (W EBER 165; B LANCHARD / Y OUNG 197): »Doch wer wäre es, der solch große Dinge tun könnte, wenn nicht der Herr von allem, der gesagt hat: › Alles ist mir von meinem Vater in die Hand gegeben‹? « ♦ *10,23f: Tert. 4,25,12: Ita non proficient argumenta in fidem dei alterius quae creatori competere possunt, quia quae non competunt creatori, haec poterunt in fidem proficere dei alterius. Si et sequentia inspicias, Beati oculi qui vident quae videtis: dico enim vobis, quia prophetae non viderunt quae vos videtis, de superiori sensu descendunt, adeo neminem ut decuit deum cognovisse, quando nec prophetae vidissent quae sub Christo videbantur. B. a (10,17) δυο: P 45vid.75 B D 372 1604 (a: και δυο) aur b c d e g 1 gat l vg sy s.hmg sa bo ms Tat pers armen georg I.III ¦ om: א A C L W Θ Ξ Ψ 0115 f 1.13 33 f i q sy c.p bo Iren lat Clem Orig (*Ev non test.); vgl. dazu o. *10,1! ● b (10,18) ως αστραπην πεσοντα εκ του ουρανου: Adam P 75 1242 e got Athan (Ar. 3,40; PG 26, 408) Epiph (Haer. 66; GCS 37, 107) ¦ (4-6 1-3) εκ του ουρανου ως αστραπην πεσοντα: B pc 579 Oecum (In Apc; H OSKIER 142) ¦ (1 2 4-6 3) M ● c (10,19) δεδωκα: P 75 א B C* L W f 1 579 700 892 1241 1424 2542 pc a aur b e f i l q r 1 sy hmg sa mss bo Didym (Ps 34; PG 39, 1332) Cyr (Ador. 5; PG 68, 348; Glaph. Num; PG 69, 612) Orig (Cels. 7,70; GCS 3, 219); Tert: dabit ¦ διδωμι: P 45 A C 3 D Θ Ψ 0115 f 13 33 c d sy Iren lat M (*Ev non test.) ● d (10,19) αδικησει: א * D Didym pt (ebd.) ¦ ου μη αδικησει: א A D L W Γ Θ 1 33 1241 al Didym (ebd.) ¦ ου μη αδικηση: P 45.75 B C Ψ f 13 Orig Cyr M (*Ev non test.) ● e (10,20) δαιμονια: D f 1 565 2542 pc d e f sy s.c.p bo pt Didym Cyr ¦ πνευματα: a aur b c ſſ 2 i l q r 1 M (*Ev non test.) ● f (10,20) εγγεγραπται: P 75 א B L (Θ) 1 33 579 1241 pc Euseb Didym ¦ εγραϕη: P 45vid A C D W Ψ 0115 f 13 M (*Ev non test.) ● g (10,21) εν τω πνευματι: P 45vid 0115 157 892 2542 pc q Clem; εν τω πνευματι τω αγιω: א D L Ξ 33 1241 al it ¦ τω πνευματι: A W Ψ f 13 f M ; τω πνευματι τω αγιω: P 75 B C K Θ f 1 579 al aur vg (*Ev non test.) ● h (10,21) ευχαριστω: Widersprüchliche Bezeugung: (1) ευχαριστω: Epiph Ephr (Comm. Diat. 10,14; FC 54/ 1, 340) Ambst (Quaest. 77,1; CSEL 50, 131) ¦ (2) ευχαριστω γαρ και εξομολογουμαι σοι: Tert ¦ εξομολογουμαι: it M ● i (10,21) πατερ: om Tert Epiph a ¦ πατερ: add M ● k (10,21) και της γης: om Tert Epiph P 45 27* a Ephr (Comm. Diat. 10,14; FC 54/ 1, 340) ¦ και της γης: add lat M ● l (10,21) ατινα ην κρυπτα σοϕοις/ ea quae erant abscondita sapientibus: Tert PsClem (Hom. 18,15,1; GCS 42, 248,9f; 18,15,3: ατινα ην κρυπτα σοϕοις ταυτα νηπιοις απεκαλυψεν ο πατηρ) ¦ απεκρυψας ταυτα απο σοϕων και συνετων και: it M ● m (10,21) και συνετοις: om ℓ1761 e PsClem (Hom. 18,15,1.3); vgl. Mt 11,25 sy s.c Tert Hil ¦ add Tert (! ) it M ● n (10,22) (υπο του πατρος) μου/ (a patre) meo: om Tert D a c d g 1 gat l vg mss sy s Tat arab ¦ μου/ meo: add aur b e f ſſ 2 i q r 1 M ● o (10,22) Widersprüchliche Bezeugung: (1) εγνω/ novit: Adam a b sy p Iren (Haer. 1,20,3; FC 8/ 1, 274) (s. u.) ¦ (2) γινωσκει/ (cog)noscit (scit): Tert aur c d e f ſſ 2 i l q r 1 Iren (Haer. 2,6,1; 4,6,1.3.7) M (weiteres s. u.) ● p (10,22) Widersprüchliche Bezeugung: (1) τον πατερα ει μη ο υιος ουδε τον υιον τις γινωσκει ει μη ο πατηρ: Adam (b: patrem nisi filius et q[uis est qui no]bit fili[um ni]si pater) Iren (Haer. 1,20,3; FC 8/ 1, 274); 2,6,1; 4,6,3 (FC 8/ 4, 48): nemo cognoscit patrem nisi filius, neque filiu nisi pater, et quibuscumque filius relevaverit ¦ Iren (Haer. 4,6,7; FC 8/ 4, 54): nemo cognoscit filium nisi pater, neque patre nisi filius, et quibuscumque filius revelaverit ¦ (2) nemo scit qui sit pater, nisi filius, et qui sit filius, nisi pater: Tert ¦ τις εστιν ο υιος ει μη ο πατηρ, και τις εστιν ο πατηρ ει μη ο υιος: it M ● q (10,22) και ω εαν αποκαλυψη ο υιος: Tert (a) Athan (Ar. 1,12.39; 4,23; PG 26, 26.93; 501) Clem. Alex. (Protr. 1,10,3; GCS 12, 10; Paed. 1,5,20; GCS 12, 101; Strom. 1,28,178; GCS 15, 109 <?page no="301"?> 10,17-24 Rekonstruktion 813 usw.) Origen (Cels. 6,17; 7,44; GCS 6, 88.195; Comm. in Joh 1,42; 32,18; GCS 10, 49.475 usw.) Epiph (Anc. 67; GCS 25, 82; Haer. 65,6; 74,4; GCS 37, 9.318 usw.) ¦ και οις αν ο υιος αποκαλυψη/ et quibus(cumque) filius revelaverit: Justin (Dial. 63,3.13; G OODSPEED 72) Iren (Haer. 2,6,1; 4,6,3.7; 4,7,3) ¦ και ω εαν βουληται ο υιος αποκαλυψαι: aur b c d (e) f ſſ 2 i l q r 1 Iren (Haer. 2,14,7; 4,6,1) M ● r (10,23) κατ’ ιδιαν: om D 1424 a aur b c d e ſſ 2 g 1 gat i l r 1 vg sy s.c.p Tat pers ¦ add f q M (*Ev non test.) ● s (10,24) πολλοι: om Tert 1241 ¦ add it M ● t (10,24) και βασιλεις/ et reges: om Tert D a d ſſ 2 i l ¦ et iusti: 1424 b q r 1 ¦ add: aur c f vg M - ● u (10,24) ουκ ειδαν α υμεις βλεπετε/ non viderunt quae vos videtis: Tert ¦ ηθελησαν ιδειν α υμεις βλεπετε και ουκ ειδαν: it M ● v (10,24) και ακουσαι α ακουετε και ουκ ηκουσαν: om a i l ¦ add aur b c d e f ſſ 2 q r 1 M (*Ev non test.). C. Von *10,17-20 ist die zentrale Aussage *10,19 sehr gut bezeugt, ebenso das Dankgebet Jesu (*10,21-24), für das die Bezeugung sehr dicht ist; nur der Anfang und das Ende (*10,21a.24b) sind nicht bezeugt. Damit ist die gesamte Szene von der Aussendung der Jünger über ihre Rückkehr mit der Bewertung durch Jesus schon für *Ev gesichert. Wie in den anderen Fällen, erlauben auch hier textgeschichtliche Erwägungen weitere Einsichten zu den unbezeugten Passagen sowie zum Wortlaut der vorkanonischen Fassung. 1. Die Zahl der zurückkehrenden Apostel ist in den kanonischen Handschriften hier (wie in *10,1) uneinheitlich mit 70 bzw. 72 angegeben. Die Entscheidung für 72 folgt den Gründen, die zu *10,1 angegeben sind (s. dort). 2. Für V. *18 ist die Wortfolge unterschiedlich überliefert: Die von Adamantius für *Ev bezeugte Reihenfolge ὡς ἀστραπὴν πεσόντα ἐκ τοῦ οὐρανοῦ hat sich auch in einer Reihe von Handschriften (darunter P 75 und e) erhalten, andere Zeugen (darunter B und Origenes) belegen eine vermittelnde Folge gegenüber dem von der Mehrheit gebotenen ὡς ἀστραπὴν ἐκ τοῦ οὐρανοῦ πεσόντα. Auch die anderen Varianten für V. *19f sind von Bedeutung: Zunächst fällt das abweichende Tempus im Wort über die Bevollmächtigung der Apostel auf: Die Mehrheit der Handschriften hat das Perfekt δέδωκα durch das Präsens δίδωμι ersetzt; Tertullians Zusammenfassung der Aussage im Futur (4,24,9: dabit) lässt nicht mehr erkennen, welchen Text er gelesen hat. Abgesehen von der Verteilung der handschriftlichen Bezeugung sprechen innere Gründe für die Ursprünglichkeit der Perfekt-Lesart: Die Zweiundsiebzig werden (im Unterschied zu den Zwölfen: *9,1! ) nur mit Heilung und Verkündigung beauftragt (*10,9). Wenn man die Exorzismen der Jünger (*10,17) nicht großzügig unter Heilung und Verkündigung subsumiert, verweist das Perfekt δέδωκα auf einen Auftrag, von dem nichts berichtet wurde. Das generalisierende Präsens δίδωμι beseitigt diese kleine narrative Störung. Aufschlussreich ist auch das Fehlen der doppelten Verneinung (οὐ μή) in א * D Didym pt , das die lk Redaktion eingefügt (und dabei das Verb ἀδικήσῃ in den Konj. Aor. gesetzt) hat, obwohl sich semantisch dadurch nichts ändert. Aber die Lesart mit οὐ μή + ἀδικήσει ( א A D usw.) zeigt die Konflation der beiden anderen Lesarten und bestätigt so einmal mehr die Annahme der Interferenz zweier Texttraditionen. Ganz ähnlich gibt die handschriftliche Bezeugung auch den ursprünglichen Wortlaut von V. *20 zu erkennen: Das von D it sy usw. gebotene δαιμόνια ist urprünglich und durch πνεύματα ersetzt worden, wie es die Mehrheit der Überlieferung bezeugt. Analog dazu ist auch das Perf. <?page no="302"?> 814 Anhang I 10,17-24 ἐγγέγραπται ( P 75 א B L 1 33 579 1241 usw.) durch den Aor. ἐγράϕῃ im Mehrheitstext ersetzt worden. 1 Da diese Varianten auf die Interferenz der beiden Textüberlieferungen zurückgehen werden, ist auch V. *20 schon für den vorkanonischen Text anzunehmen. Da *10,20 μὴ χαίρετε … χαίρετε auf *10,17 μετὰ χαρᾶς zurückweist, erhält die ganze Einheit (*17-20) eine große Geschlossenheit, die demnach nicht erst auf die lk Gestaltung, sondern bereits auf *Ev zurückgeht. 3. Die Exposition von *10,21 ist unbezeugt. Allerdings legen innere und textgeschichtliche Beobachtungen nahe, dass sie anders ausgesehen hat als in der kanonischen Fassung. Zunächst steht die kanonische Zeitangabe ἐν αὐτῇ τῇ ὥρᾳ unter dem Verdacht, redaktionell zu sein: Sie begegnet im NT nur bei Lk, und zwar jeweils in sicher bzw. wahrscheinlich redaktionellen Formulierungen. Lk 2,38 ist insgesamt sicher redaktionell (s. dort). In Lk 12,12 fehlt die gesamte Wendung in Tat pers , der Cod. Palatinus (e) hat ἐν αὐτῇ τῇ ἡμέρᾳ; hier lesen die synoptischen Parallelen ἐν ἐκείνῃ τῇ ὥρᾳ (Mk 13,11 || Mt 10,19) - vielleicht war dies die Formulierung in *Ev. Lk 13,31 hat in *Ev sicher gefehlt (s. dort). In 20,19 hat die Zeitangabe in *Ev nach dem Zeugnis des Epiphanius gefehlt, auch e hat sie nicht. Lk 24,33 ist mit größter Wahrscheinlichkeit redaktionell (s. dort); außerdem Act 16,18; 22,13. Von daher ist es wahrscheinlich, dass die Wendung ἐν αὐτῇ τῇ ὥρᾳ auch in 10,21 redaktionell ist und die mt Formulierung ἐν ἐκείνῳ τῷ καιρῷ (Mt 11,25) den ursprünglichen Wortlaut übernommen hat. Die Formulierung der kritischen Ausgaben (ἠγαλλιάσατο ἐν τῷ πνεύματι τῷ ἁγίῳ) ist unterschiedlich bezeugt: Sowohl das modale ἐν als auch die Qualifizierung τῷ ἁγίῳ fehlen jeweils in einer Reihe von Handschriften, wenn auch vermutlich aus verschiedenen Gründen. In LXX wird durch ἀγαλλιᾶσθαι + ἐν in der Regel der Grund oder der Gegenstand des Jubels bezeichnet, 2 während die Formulierung ohne Präposition den Modus des Jubelns bezeichnet. Der Textsinn erlaubt nur diese zweite Möglichkeit; es ist daher denkbar, dass die Auslassung der Präposition in P 75 A B C M usw. eine beabsichtigte Korrektur zur Vereindeutigung des (modalen) Sinns ist. 3 Die Formulierung mit der Präposition ist daher älter, und das heißt: voraussichtlich vorkanonisch. Ganz ähnlich lässt sich τῷ ἁγίῳ als sekundärer Zusatz verstehen. Denn Lk verwendet in der Regel das Syntagma πνεῦμα (τὸ) ἅγιον, und zwar auch an Stellen, an denen die synoptischen Parallelen nur πνεῦμα oder ______________________________ 1 In diesem Fall haben die kritischen Ausgaben die vorkanonische Lesart in ihren Text übernommen und die Korrektur der lk Redaktion in den Apparat verbannt. 2 Z. B. Ps 9,3; 19,6; 32,1; 88,13.17; Hab 3,18 (jeweils LXX); 1Pe 1,6. 3 Vgl. W OLTER , Lk 387. <?page no="303"?> 10,17-24 Rekonstruktion 815 πνεῦμα τοῦ θεοῦ bieten. 4 Neben der allgemeinen Überlegung, dass eine Streichung von τῷ ἁγίῳ schwer plausibel zu machen wäre, gibt es also gute redaktionelle Gründe für den sekundären Charakter: Für die lk Redaktion ist der Geist immer der heilige Geist. 4. Der Anfang des Dankgebets *10,21b ist widersprüchlich bezeugt: Epiphanius hat εὐχαριστῶ σοι, Tertullian dagegen gratias ago et confiteor/ εὐχαριστῶ καὶ ἐξομολογοῦμαι. Diese längere Wendung entpuppt sich als perfekte Konflation des von Epiphanius bezeugten und des kanonischen Textes und erweist auf diese Weise den von Epiphanius bezeugten Text als die vorkanonische Fassung: εὐχαριστῶ σοι ist also nicht »der Deutlichkeit wegen hinzugesetzt«. 5 Die Bezeichnung des Gebets als »Jubelruf« passt daher eigentlich nicht auf *Ev, sondern nur auf Lk. Da *Ev εὐχαριστῶ hatte, erübrigt sich auch die Suche nach den möglichen theologischen Gründen, aus denen Marcion das lk ἐξομολογοῦμαί σοι durch εὐχαριστῶ ersetzt haben könnte: Ein entsprechendes redaktionelles Interesse lässt sich nicht ausfindig machen. 6 Von größerem Gewicht sind zwei Abweichungen in der Anrede *10,21a: *Ev hatte weder die Anrede πάτερ noch den Zusatz καὶ τῆς γῆς nach κύριε τοῦ οὐρανοῦ. Die Vertreter der Lk-Priorität haben die Differenzen auf das theologische Interesse der marcionitischen Redaktion zurückgeführt: Harnack wertete beides als tendenziöse Streichungen 7 und hatte dabei offensichtlich die Argumentation Epiphanius’ im Sinn. »Er dankt dem Herrn des Himmels, Marcion, auch wenn du das ›und der Erde‹ übergehst und das ›Vater‹ wegschneidest, damit du nicht zeigen musst, dass Christus den Demiurgen seinen Vater nennt …« (Epiph. Elench. 22). Aber bereits Epiphanius hatte gesehen, dass der unmittelbare Kontext in *Ev die Vater-Anrede ja enthält (ναί, ὁ πατήρ …), und nahm dies zum Anlass, sich über die Vergesslichkeit (κατὰ λήθην) Marcions lustig zu machen, die einen solchen Widerspruch hat stehen lassen (ἐν λειψάνῳ, ebd.). Epiphanius’ Argumentation ist in hohem Maß aufschlussreich für das häresiologische Vorgehen und seine Schwäche, denn sein Referat zeigt das Phänomen der Inkonsistenz der angeblichen Redaktion des kanonischen Textes durch Marcion auf engstem Raum. Tatsächlich lässt sich eine redaktionelle Intention, die hier eine Streichung nahelegen würde, nicht ausmachen. 8 Allerdings fällt im kanonischen ______________________________ 4 πνεῦμα (τὸ) ἅγιον: Lk 1,15.35.41.67; 2,25f; 3,16; 11,16 sowie durchweg in Act. πνεῦμα (τὸ) ἅγιον anstelle von πνεῦμα bzw. πνεῦμα τοῦ θεοῦ: Lk 3,11 (|| Mt 3,11) ≠ Mk 1,8; Lk 3,22 ≠ Mk 1,10; Mt 3,16; Lk 4,1 ≠ Mt 4,1; Mk 1,12; Lk 12,12 ≠ Mt 10,20. 5 H ARNACK 206*. 6 T SUTSUI 96. 7 H ARNACK 206*. 8 T SUTSUI 96 fragt zu Recht: »was für eine Tendenz? « <?page no="304"?> 816 Anhang I 10,17-24 Text das Nebeneinander der beiden Vokativformen auf: Neben der geläufigen Anrede πάτερ (Lk 10,21b) steht ὁ πατήρ (*10,21d); der Nominativ mit Artikel gibt den determinierten semitischen Vokativ wieder. 9 Epiphanius zufolge enthielt *Ev den semitisierenden Vokativ ὁ πατήρ, nicht aber πάτερ (Schol. 22) - das harte Nebeneinander ist eine Folge der lk Redaktion. Ähnliches gilt für den Zusatz von καὶ τῆς γῆς Lk 10,21. Auch hier scheint das Fehlen in *Ev auf eine theologisch begründete Streichung zurückzugehen (s. Epiph., Schol. 22). Die Bezeugung für *Ev ist charakteristisch, weil die von Tertullian und Epiphanius übereinstimmend bezeugte Lesart auch von einem Altlateiner (dem Cod. Vercellensis a) sowie von P 45 (und einer Minuskel) vertreten wird: Unter der Annahme der Lk-Priorität müsste sich die angeblich »häretische Streichung« auch auf die katholische Textüberlieferung ausgewirkt haben. Alle drei Änderungen - die Ersetzung von εὐχαριστῶ σοι durch ἐξομολογοῦμαι, die Einfügung des Vokativs πάτερ und der Zusatz von καὶ τῆς γῆς - finden sich bereits in Mt 11,25. Die Änderungen gegenüber *Ev sind also nicht von Lk, sondern von Mt vorgenommen worden, dem Lk hier (gegen den vorkanonischen Wortlaut in *Ev) folgt. Diese Beobachtung ist schließlich auch noch für die Begründung des Dankes aufschlussreich. Während die Mehrheit der Handschriften hier zwei parallele Aussagesätze in der 2. Pers. liest (ὅτι ἀπέκρυψας ταῦτα … καὶ ἀπεκάλυψας αὐτὰ …) fand Tertullian in *Ev eine Formulierung, nach der die erste Hälfte der Aussage als partizipales Objekt der zweiten erscheint (quod ea quae erant abscondita … revelaveris …). Diese Formulierung begegnet auch in einem patristischen Zeugnis, 10 es handelt sich daher nicht um eine von Tertullian ad hoc gebildete Formulierung, sondern um ein Zitat aus *Ev. Im Unterschied zum Mehrheitstext von Lk 10,21 (und Mt 11,25), aber auch zu Tertullians *Ev-Referat, erwähnt das Zitat in PsClem. jedoch nur die Weisen, nicht auch die Verständigen: ἅπερ ἦν κρυπτὰ σοϕοῖς, ἀπεκάλυψας … (Hom. 18,15,1). Interessanterweise fehlt dieses Glied jedoch auch in wenigen Zeugen in Lk 10,21 und in Mt 11,25. 11 Da für Tertullians Referat bereits deutlich wurde, dass sein *Ev-Exemplar an dieser Stelle durch den kanonischen Wortlaut kontaminiert war, sind in diesem Fall entgegen seinem Zeugnis Zweifel angebracht, dass καὶ συνετοῖς/ et prudentibus im ältesten Evangelium stand. 5. *10,22 || Mt 11,27 hat wegen der Verhältnisbestimmung von Sohn und Vater die besondere Aufmerksamkeit der patristischen Exegese auf sich gezogen, vor ______________________________ 9 Vgl. BDR § 147.2 (mit Anm. 5 und 6). 10 PsClem., Hom. 18,15,1.3. 11 Lk 10,21: ℓ1761 e PsClem; Mt 11,25: sy s.c Tert Hil. <?page no="305"?> 10,17-24 Rekonstruktion 817 allem, aber nicht nur, im Horizont der trinitarischen Auseinandersetzungen. 12 Aufschlussreich ist der Vergleich der durch Tertullian und Adamantius bezeugten Fassungen für *Ev mit den Parallelen in Mt 11,27 und Lk 10,22 vor dem Hintergrund der verzweigten patristischen Bezeugung. Adam. 1,23 Tert. 4,25,10 Mt 11,27 Lk 10,22 omnia (mihi) tradita πάντα μοι παρεδόθη πάντα μοι παρεδόθη a patre. ὑπὸ τοῦ πατρός μου, ὑπὸ τοῦ πατρός μου, οὐδεὶς nemo καὶ οὐδεὶς καὶ οὐδεὶς ἔγνω scit ἐπιγινώσκει γινώσκει qui sit τίς ἐστιν τὸν πατέρα pater, τὸν υἱὸν ὁ υἱὸς εἰ μὴ ὁ υἱός, nisi filius, εἰ μὴ ὁ πατήρ, εἰ μὴ ὁ πατήρ, οὐδὲ et qui sit οὐδὲ καὶ τίς ἐστιν τὸν υἱόν τις filius, τὸν πατέρα τις ὁ πατὴρ γινώσκει ἐπιγινώσκει εἰ μὴ ὁ πατήρ nisi pater, εἰ μὴ ὁ υἱὸς εἰ μὴ ὁ υἱὸς et cuicunque καὶ ᾧ ἐὰν βούληται καὶ ᾧ ἐὰν βούληται filius revelaverit ὁ υἱὸς ἀποκαλύψαι ὁ υἱὸς ἀποκαλύψαι. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Fassungen sind deutlich, wenigstens vier von ihnen müssen ausführlicher besprochen werden, nämlich (a) das Tempus des Verbs in *10,22b (ἔγνω/ [ἐπι-]γινώσκει), (b) die Reihenfolge, in der Vater und Sohn genannt werden (*10,22b.c), (c) die Formulierung der letzten Aussage (*22d), sowie (d) die Formulierung von V. *22b.c als Aussagen bzw. als indirekte Fragen. Erst mit der Beantwortung dieser Fragen wird die Rekonstruktion dieser vier Zeilen verständlich: *22a Πάντα μοι παρεδόθη ὑπὸ τοῦ πατρός *22b καὶ οὐδεὶς ἔγνω τὸν πατέρα εἰ μὴ ὁ υἱός, *22c οὐδὲ τὸν υἱόν τις γινώσκει εἰ μὴ ὁ πατὴρ *22d καὶ ᾧ ἐὰν ἀποκαλύψῃ ὁ υἱός. a. Mt liest im Unterschied zu Adamantius, Tertullian und Lk gegenüber dem Simplex γινώσκει das Kompositum ἐπιγινώσκει. 13 Wichtiger ist, dass Adamantius - gegen Tertullian, Mt und Lk - Aorist (ἔγνω) bietet. Darin stimmt seine Bezeugung nicht nur mit wenigen Handschriften (a b sy p ) überein, sondern auch mit zahlreichen patristischen Zeugnissen. ______________________________ 12 Das umfangreiche patristische Material bei P. W INTER , Matthew xi 27 and Luke x 22 from the First to the Fifth Century, NT 1 (1957), 112-148. 13 ἐπιγινώσκει taucht in der patristischen Literatur zum ersten Mal bei Euseb, Contra Marc. 1,1,6; Cyrillus Hier., Cat. Illum. 4,7; 6,6 auf (vgl. L UZ , Mt II 197 Anm. 1). <?page no="306"?> 818 Anhang I 10,17-24 Für die reiche patristische Bezeugung des Logions ist jedoch eine große Uneinheitlichkeit zu verzeichnen. Wie eine kleine Auswahl zeigt, sind beide Zeitformen bezeugt, häufig auch bei einem Autor und sogar in ein und demselben Werk: Der Aorist ἔγνω bzw. οἶδε (bzw. das Perfekt novit/ cognovit) ist belegt bei: Iren., Haer. 1,20,3; 4,6,1. - Justin, Dial. 63,3.13 (G OODSPEED 72). - Clemens Alex., Protr. 1,5,20; 1,10,3 (GCS 12, 10); Paed. 1,8,74; 1,9,88 (GCS 12, 101. 133. 142); Strom. 1,28,178; 5,8,84 (GCS 15, 109. 382). - Tertullian, Praescr. 21,1 (CSEL 70, 25); Prax. 8,5; 19,16; Adv. Marc. 2,27,8 (CSEL 48, 238. 262. 373). - Origenes, Cels. 2,71 (GCS 2, 193); Cels. 6,17; 7,44 (GCS 3, 88.194f); Princ. 1,1,8; 1,3,4 (GCS 22, 26. 53) u. v. ö. - PsClem. Hom. 17,4,5; 18,4,3; 18,13,1.4; 18,20,1 (GCS 42, 230. 243. 247. 250). - Euseb, H. E. 1,2,2 (GCS 9/ 1, 10); Dem. 5,1,25f (GCS 23, 214); Eccl. Theol. 1,17,7; 1,15,1; 1,16,3 (GCS 14, 72. 74. 76). - Epiphanius, Anc. 19.67.73 (GCS 25, 28. 82. 91); Haer. 54,4; 64,9 (GCS 31, 321. 418); 65,6; 69,43 (GCS 37, 9. 191). Das Präsens γινώσκει/ ἐπιγινώσκει (bzw. scit/ cognoscit) ist bezeugt durch: Justin, Dial. 100,1 (G OODSPEED 214). - Iren., Haer. 2,6,1; 4,6,1.3; 4,6,7; 4,7,4. - Clemens, Alex., Strom. 7,18,109 (GCS 17, 778); Dives (GCS 17, 164). - Tertullian, Adv. Marc. 4,25,10. - Origenes, Comm. in Rm 3 (PG 14, 949); Comm. in Cant. 2 (GCS 33, 146). - Euseb, Contra Marc. 1,1; Eccl. Theol. 1,20,7 (GCS 14, 5.85). 14 Von besonderem Interesse ist die Bezeugung bei Irenaeus, der die Lesart im Aorist/ Perfekt (Haer. 1,20,3; 2,14,7; 4,6,1) für »häretisch« hält und sie denen zuschreibt, »die erfahrener sein wollen als die Apostel« (4,6,1), während seine eigene Wiedergabe des Textes regelmäßig γινώσκει/ cognoscit voraussetzt (Haer. 2,6,1; 4,6,1.3f.7; 4,7,3f). Er sieht hier ein zentrales theologisches Problem und begründet den »häretischen« Aorist: Die sog. Gnostiker »erklären das so, als ob der wahre Gott vor der Ankunft unseres Herrn von niemandem erkannt worden wäre, und behaupten, der Gott, der von den Propheten verkündet worden ist, sei nicht der Vater Christi« (4,6,1 ÜS B ROX ). Dem stellt Irenaeus gegenüber: »Dieser ist aber der Erschaffer (fabricator) von ›Himmel und Erde‹, wie aus seinen Worten deutlich hervorgeht, und es ist eben nicht der falsche Vater, den Markion oder Valentin, Basilides, Karpokrates oder Simon Magu