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Sprachliche Individualität in der Institution

Telefongespräche in der Bank und ihre individuelle Gestaltung

0620
2007
978-3-7720-8213-9
978-3-7720-5213-2
A. Francke Verlag 
Sylvia Bendel

Die Arbeit geht der Frage nach, wie sprachliche Individualität in Institutionen erfasst und erklärt werden kann. Die Arbeit stützt sich auf ein Korpus von 430 Telefongesprächen aus einer Bank. Zuerst werden die institutionsspezifischen, überindividuellen Gesprächsmuster herausgearbeitet. Darauf baut die Analyse der individuellen Unterschiede im Gesprächsverhalten der Call Agents und Bankkunden auf. Individualität wird auf der stilistischen Ebene als Variation institutioneller Muster und auf der rhetorischen Ebene als individuelle Form der Positionierung und Gesprächssteuerung konzeptualisiert und empirisch untersucht. Der zentrale Teil der Arbeit besteht in der Erarbeitung eines Modells, mit welchem das sprachliche Verhalten eines Individuums vollständig erfasst werden kann. Dieses Interaktionsprofil umfasst 35 Elemente sprachlichen Verhaltens auf der stimmlichen, stilistischen und rhetorischen Ebene. Zuletzt wird der Frage nachgegangen, welche aussersprachlichen Faktoren (Persönlichkeit, Rollenauslegung, Sprachkompetenz u. a.) die Ausprägung individueller Interaktionsprofile beeinflussen.

<?page no="0"?> Sylvia Bendel Sprachliche Individualität in der Institution Telefongespräche in der Bank und ihre individuelle Gestaltung <?page no="1"?> Sprachliche Individualität in der Institution <?page no="2"?> Gewidmet der Individualistin Frau Julia Bachmann-König (1903-2001) <?page no="3"?> Sylvia Bendel Sprachliche Individualität in der Institution Telefongespräche in der Bank und ihre individuelle Gestaltung A. Francke Verlag Tübingen und Basel <?page no="4"?> Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2007 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Titelbild: Call Agents © stockxpert international Satz: NagelSatz, Reutlingen Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8213-9 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2 Die Erforschung sprachlicher Individualität . . . . . . . . . . . 18 2.1 Das Individuum in der Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.2 Vorliegende Arbeiten und Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.3 Sprachliche Individualität erforschen: Methodische Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3 Individuum und Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 3.1 Theoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 3.1.1 Der funktional-pragmatische Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 3.1.2 Der rollentheoretische Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 3.1.3 Der systemtheoretische Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3.1.4 Der konstruktivistische Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3.2 Konkretisierung: Arbeit im Call Center . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3.2.1 Die Institution Call Center als Arbeitsplatz . . . . . . . . . . . . . . 56 3.2.2 Charakteristika von Telefongesprächen . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3.2.3 Die Call Center der “Schwyzer Bank” . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3.3 Zwischenbilanz: Individuum und Institution im Call Center . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 4 Das Korpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 4.1 Die Gesprächsaufzeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 4.2 Gesprächsdauer, Sprache und Geschlecht der Beteiligten . . 74 4.3 Gesprächsabschluss und Erfolgsquote . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 4.4 Teilnehmende Beobachtung, Coachinggespräche, Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4.5 Die Transkriptionsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 5 Das Überindividuelle: Aufgaben, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 5.1 Aufgabenschemata und Gesprächsmuster: Theoretische Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 <?page no="6"?> Inhaltsverzeichnis 6 5.2 Kundenanliegen und Gesprächstypen: Häufigkeit und Verteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 5.3 Aufgabenschemata und Gesprächsmuster: Empirische Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 5.3.1 Gesprächstyp Auskunft geben: Kontospezifische Auskunft . 102 5.3.2 Gesprächstyp Auftrag annehmen: Börsenauftrag . . . . . . . . 109 5.3.3 Gesprächstyp Problem lösen: Entsperrung Internetzugang . 116 5.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 6 Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 6.1 Variation und Stil: Linguistische Konzepte . . . . . . . . . . . . . 126 6.1.1 Das funktionale/ interaktionale Konzept von Stil . . . . . . . . . 127 6.1.2 Das sozio-kommunikative Konzept von Stil . . . . . . . . . . . . 132 6.2 Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 6.2.1 Analysebeispiel 1: Die Gesprächseröffnung . . . . . . . . . . . . . 139 6.2.2 Analysebeispiel 2: Die Präsentation des Anliegens . . . . . . . . 151 6.2.3 Analysebeispiel 3: Die Kundenidentifikation . . . . . . . . . . . . 164 6.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 7 Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 7.1 Interaktionale Soziolinguistik und das Konzept der Positionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 7.2 Gesprächssteuerung: Sprachliche Mittel, interaktionale Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 7.3 Kongruente und konfligierende Positionierungen: Empirische Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 7.3.1 Auskunft: “jovialer Kerl” trifft auf “fürsorgliche Mamma“ . 200 7.3.2 Börsenauftrag: “selbstbewusster Grossvater” trifft auf “eigenmächtigen Vormund” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 7.3.3 Entsperrung Internetzugang: “unfehlbare Dame” trifft auf “fleissige Diplomatin” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 7.3.4 Integration der Ergebnisse und ergänzende Beispiele . . . . . 224 7.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis 7 8 Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 8.1 Interaktionsprofil: Konzept und analytisches Instrumentarium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 8.1.1 Stimmliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 8.1.2 Stilistische Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 8.1.2.1 Stilistische Variation von Handlungsmustern . . . . . . . . . . . 242 8.1.2.2 Höflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 8.1.2.3 Syntaktisch-lexikalische Präferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 8.1.3 Rhetorische Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 8.1.3.1 Steuerungsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 8.1.3.2 Positionierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 8.2 Interaktionsprofile: Empirische Analysen . . . . . . . . . . . . . . 259 8.2.1 Stimmliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 8.2.2 Stilistische Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 8.2.2.1 Stilistische Variation von Handlungsmustern . . . . . . . . . . . 265 8.2.2.2 Höflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 8.2.2.3 Syntaktisch-lexikalische Präferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 8.2.3 Rhetorische Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 8.2.3.1 Steuerungsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 8.2.3.2 Positionierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 8.2.4 Integration der Ergebnisse: Die Interaktionsprofile von David, Susanne, Sandra und Alberto . . . . . . . . . . . . . . 333 8.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 9 Einflussgrössen auf sprachliche Individualität . . . . . . . . . 348 9.1 Bestehende Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 9.2 Ein ganzheitlicher Ansatz: Der PI-Kreis . . . . . . . . . . . . . . . . 355 10 Ergebnisse und methodische Schlussfolgerungen . . . . . . 367 <?page no="8"?> Inhaltsverzeichnis 8 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 1 Transkripte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 1.1 Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 1.2 Abteilung Service: “David” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 1.2.1 Birrer haben Sie gesagt? (105) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 1.2.2 Ist heute was reingekommen? (125) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 1.2.3 Das heisst “Erben des” (107) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 1.2.4 Scheck aus Ausland schicken (118) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 1.2.5 20 Franken Mahngebühr (117) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 1.3 Abteilung Service: “Susanne” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 1.3.1 Frau Birrer weiss schon (134) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 1.3.2 Sind seit August Zahlungen eingegangen? (128) . . . . . . . . . 392 1.3.3 Zwei Daueraufträge löschen (141) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 1.3.4 Bahrainische Dinar wechseln (150) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 1.3.5 Auszug vom falschen Konto bekommen (148) . . . . . . . . . . 400 1.4 Abteilung Beratung: “Sandra” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 1.4.1 Keine Kontoeröffnung wegen Systemausfall (324) . . . . . . . 402 1.4.2 Für 15-20 Jahre halb Mixta halb Maxi (330) . . . . . . . . . . . 409 1.4.3 Die US Bürgschaft muss erst geladen werden (323) . . . . . . 417 1.4.4 Wenn Firma aufhört, geht es nur noch abwärts (333) . . . . 419 1.4.5 US Quellensteuer Formular verloren gegangen (319) . . . . . 425 1.5 Abteilung Beratung: “Alberto” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 1.5.1 Depotgebühren gehen pro Posten (356) . . . . . . . . . . . . . . . 434 1.5.2 Ohne US Formalitäten kein Auftrag (357) . . . . . . . . . . . . . . 435 1.5.3 Bei 1 gehen Motorola Optionen nicht (364) . . . . . . . . . . . . 440 1.5.4 Verkauf von 10 Uhr nicht ausgeführt (352) . . . . . . . . . . . . . 443 1.5.5 Zuerst muss ich ein Depot eröffnen (367) . . . . . . . . . . . . . . 445 1.6 Vier anonyme Gespräche zur Validierung . . . . . . . . . . . . . . 451 1.6.1 Gespräch A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 1.6.2 Gespräch B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 1.6.3 Gespräch C . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 1.6.4 Gespräch D . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 2 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 Auflösung anonyme Gespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 <?page no="9"?> Vorwort Zwei Jahre lang arbeitete ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin für die Call Center einer Schweizer Bank. Ich zeichnete Hunderte von Telefongesprächen auf, wertete selbige mit gesprächsanalytischen Methoden aus und entwickelte, gestützt auf die Ergebnisse, Weiterbildungskurse für die Call Agents. Als ich die von mir analysierten Telefongespräche den AbteilungsleiterInnen zur Einsicht vorlegte, hatte ich alle Massnahmen getroffen, um die Anonymität der aufgezeichneten Call Agents und KundInnen zu wahren: Sämtliche Namen und Daten waren mit einem Pieps überspielt, die Stimmen mittels eines Tonbearbeitungsprogramms verfremdet worden. Trotzdem erklärten mir die Vorgesetzten milde lächelnd, sie hätten ihre Angestellten spielend erkannt - an ihrer “Art zu telefonieren”. Gleiche Ausbildung, rigide Verhaltensvorschriften, monotone Aufgaben, stereotype Gesprächsmuster - all diese uniformierenden Faktoren hatten die Individualität und Unverwechselbarkeit jedes einzelnen Agents nicht ausgelöscht. Die Unmöglichkeit, Gespräche bekannter Personen unter Beibehalt des Wortlauts zu anonymisieren, war für mich der Auslöser, mich eingehender mit dem Thema sprachlicher Individualität in der Institution auseinanderzusetzen. Warum bleiben Individuen auch im institutionellen Kontext unverwechselbar? Was ist sprachliche Individualität grundsätzlich und wie äussert sie sich? Wie kann man sie mit linguistischen Methoden erfassen und beschreiben? Diese Fragen wollte ich mit meiner Habilitation beantworten. Das Unterfangen erwies sich in jeder Beziehung als schwieriger als erwartet. Von der Seite der Bank stand das Projekt insofern unter keinem guten Stern, als zwei Reorganisationen des Unternehmens den wiederholten Wechsel des Arbeitsorts, der Vorgesetzten und der Ansprechpersonen verlangten, was mich jeweils um Wochen zurückwarf. Die juristischen Hindernisse für die Aufzeichnungen der Telefongespräche und der Widerstand einiger Abteilungsleiter schienen zeitweise unüberwindbar. Von der wissenschaftlichen Seite machte sich das praktisch gänzliche Fehlen methodischer Vorbilder für die Erforschung sprachlicher Individualität bemerkbar. Um die Flut des zusammengetragenen Datenmaterials zu bändigen und die Frage nach der Individualität zu operationalisieren, musste ich mir einiges einfallen lassen und auch methodisch ungewohnte Wege beschreiten. Von privater Seite schliesslich waren Todesfälle in der Familie und ein Bergunfall zu verkraften, welcher dem Projekt beinahe ein vorzeitiges Ende gesetzt hätte. Nur unter Aufbietung meiner ganzen Willenskraft habe ich das Projekt trotz allem zu einem befriedigenden Abschluss gebracht. <?page no="10"?> Vorwort 10 Das vorliegende Buch wäre jedoch nicht entstanden ohne die Hilfe vieler Menschen und Institutionen, denen ich hier herzlich danke. An erster Stelle danke ich der “Schwyzer Bank” - der richtige Name soll ungenannt bleiben -, die sich auf das für sie ungewohnte linguistische Projekt eingelassen und selbiges durch ihren Forschungsfonds grosszügig unterstützt hat. Ich danke den LeiterInnen der verschiedenen Call Center, den Teamleaderinnen, Gesprächscoaches und Technikern, die mich unterstützt haben, den Agents, die sich haben aufzeichnen lassen, meinen verschiedenen Vorgesetzten und Kollegen für die offene Aufnahme in ihre Teams. Ich danke meinem Sportkollegen Werner Käch, der mir den Kontakt zur Bank verschafft hat. Auf der universitären Seite danke ich Prof. Gerd Antos, der mein Projekt zu Beginn von Halle aus begleitet hat, bis die Zusammenarbeit aufgrund der geografischen Distanz aufgegeben werden musste. Ich danke Prof. Ernest Hess-Lüttich, der mich als externe Habilitandin und vorerst gänzlich Unbekannte am Germanistischen Institut der Universität Bern aufgenommen und die Arbeit bis zum Schluss begleitet hat. Ich danke sehr herzlich den “Berner Pragmatigern” Barbara Buri, Jakob Marti, Eva Roos, Daniel Rellstab und Simone Wassilevski für die vielen Stunden gemeinsamer Grundlagenlektüre, Transkriptanalyse, Theorie- und Methodendiskussion sowie für das geduldige Korrekturlesen fast sämtlicher Kapitel der vorliegenden Arbeit. Ich danke Reinhard Fiehler, der das Projekt in der Phase der Disposition mit Rat und Tat unterstützt hat, und Carmen Spiegel, die das Methodenkapitel kritisch gesichtet hat. Auf der privaten Seite schliesslich danke ich meinen Eltern für ihre jahrelange moralische Unterstützung sowie Pascal Schiffmann - er hat mich durch das gemeinsame Musizieren immer wieder “in eine bessre Welt entrückt”. Im Winter 2006/ 2007 Sylvia Bendel <?page no="11"?> 1 Einleitung Das Thema Individualität erfreut sich seit einigen Jahren wachsender Beliebtheit. In der Soziologie macht das Schlagwort von der Individualisierung der Lebensläufe in der postmodernen Gesellschaft die Runde; im Marketing avanciert Individualität in der Form individueller Dienstleistungs- und Beratungsangebote zunehmend zum Verkaufsargument angesichts immer weniger individueller Produktions-, Vertriebs- und Konsumationsformen; und die Psychologie hat eine wahre Flut von Selbsterfahrungskursen und Ratgeberbüchern zur Verwirklichung und Perfektionierung der eigenen, individuellen Persönlichkeit ausgelöst. Ist die vorliegende Arbeit über sprachliche Individualität also lediglich eine Konzession an den Zeitgeist? Das Thema Individualität ist mehr als eine Modeerscheinung. Immer mehr wissenschaftliche Disziplinen erkennen, dass die Ergebnisse ihrer Forschungsbemühungen nur dann fruchtbringend angewendet werden können, wenn sie auf das einzelne menschliche Individuum zugeschnitten werden. In der Medizin zum Beispiel wird zunehmend deutlich, dass nicht nur bestimmte Gruppen von Menschen auf Medikamente unterschiedlich reagieren, sondern dass letztlich jeder einzelne Mensch aufgrund seiner genetischen Disposition anders auf Medikamente anspricht und daher individuell behandelt werden muss. In der Schuldidaktik sucht man intensiv nach Formen individualisierten Unterrichts, da man erkannt hat, dass nur ein solcher den individuellen geistigen Kapazitäten der Lernenden gerecht wird. Die Beschäftigung mit dem Individuum ist kein wissenschaftlicher Luxus, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit, soll der einzelne Mensch wirksam gefördert werden. Das gilt auch für die Sprachwissenschaft, die sich mit dem Erwerb und dem Einsatz sprachlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten von Menschen in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Domänen beschäftigt. Eine Angewandte Sprachwissenschaft ist notwendigerweise eine individuenzentrierte Sprachwissenschaft. Denn eine Angewandte Sprachwissenschaft, welche sprachliches Verhalten nicht nur analysieren, sondern auch bewerten und allenfalls kritisieren will, eine Sprachwissenschaft, die Empfehlungen abgeben und Menschen bei ihren kommunikativen Aufgaben unterstützen und beraten will, kann nur beim Individuum ansetzen. Gesellschaftliche Akteure sind nicht Kategorien von Menschen (“Politiker”, “Lehrer”), sondern Individuen; letztlich können nur Individuen in ihrem sprachlichen Verhalten beschrieben, bewertet, kritisiert, ausgebildet, trainiert werden. Daher muss eine Sprachwissenschaft, welche den Erfolg eines Politikers erklären, die Manipulationen eines Verhörrichters aufdecken oder eine Lehrerin bei der Gestaltung ihrer Unterrichtsinteraktion beraten will, fähig sein, dieses eine <?page no="12"?> Einleitung 12 Individuum und sein sprachliches Verhalten in Form und Wirkung zu beschreiben. Die Sprachwissenschaft ist beim gegenwärtigen Stand der Forschung allerdings kaum in der Lage, das sprachliche Verhalten eines Individuums zu erfassen und zu analysieren. Es gibt lediglich zwei sprachwissenschaftliche Konzepte, die das Individuelle als zentralen Aspekt beinhalten. Das ist erstens der Begriff des Idiolekts aus der Varietätenforschung, mit welchem zum einen die sprachliche Kompetenz des Individuums bezeichnet wird, zum andern die von einem Individuum gesprochene Varietät (Oksaar 1987). Das ist zweitens der aus der Literaturwissenschaft stammende Begriff des Individualstils, der vereinzelt in der linguistischen Stilforschung verwendet wird (Sowinski 1988, 1998). Beide Begriffe spielten bislang vor allem in der theoretischen Diskussion eine Rolle, empirische Arbeiten zu Idiolekt und Individualstil liegen kaum vor. In der Gesprächsforschung ist sprachliche Individualität bis heute ein wenig bearbeitetes Feld. Das Erkenntnisinteresse war und ist aufgrund des wissenschaftlichen Selbstverständnisses anders gelagert. Wie die meisten Wissenschaften ist die Gesprächsforschung nicht am Einzelfall interessiert, sondern an allgemein gültigen Regeln und Kategorien, an den Regeln nämlich, nach denen Gespräche funktionieren. Von Unterschieden im Gesprächsverhalten einzelner Individuen wurde und wird im Dienste dieses Erkenntnisinteresses bewusst abstrahiert. Die Gesprächsforschung verfügt heute über einen reichen Fundus an linguistischen Kategorien und theoretischen Konzepten, mit denen sich Gespräche beschreiben lassen. Gegenüber dem Einzelfall steht sie aber vor demselben Problem wie jede andere Wissenschaft: Sie vermag ihn nicht als Einzelfall in seiner Singularität und Spezifität zu beschreiben, sondern lediglich als Exemplar einer wie auch immer definierten wissenschaftlichen Kategorie. Ein bestimmtes Gespräch erscheint so zum Beispiel als Vertreter des “Gesprächstyps” Wegauskunft, der einem bestimmten “Muster” folgt; ein Gesprächsteilnehmer erscheint als Vertreter der “sozialen Gruppe” Verkäufer, als welcher er bestimmte rhetorische “Strategien” pflegt usw. Die Linguistik im Allgemeinen und die Gesprächsforschung im Besonderen sollten aber fähig sein, auch den Einzelfall adäquat, das heisst als Einzelfall in seiner Singularität und Spezifität und nicht nur als Exemplar einer wissenschaftlichen Kategorie, zu beschreiben, sowohl aus prinzipiellen Gründen als auch im Hinblick auf besagte praktische Anwendung. Sprachliche Individualität untersuchen bedeutet genau dies: Sich dem Einzelfall zuwenden und für selbigen eine adäquate Beschreibung und Erklärung seines So-Seins zu finden. Die einfachste Form, sich dem Einzelfall zu nähern, besteht darin, den Forschungsprozess quasi umzukehren: Jene allgemein gültigen Kategorien, die durch die Analyse vieler Einzelfälle gewonnen wurden, werden erneut auf den Einzelfall angewendet und dieser dadurch spezifiziert. Das ist das <?page no="13"?> Einleitung 13 Verfahren der Medizin bei der Krankheitsdiagnose, bei welcher die verschiedenen medizinischen Kategorien wie Blutdruck, Kinderkrankheiten, erbliche Vorbelastung, akute Symptome usw. an einem einzelnen Patienten überprüft werden, um eine patientenspezifische Diagnose zu erstellen. Dasselbe Verfahren müsste sich auf die Sprachwissenschaft übertragen lassen: Die existierenden linguistischen Kategorien wie Wortschatz, Syntax, Prosodie, Argumentation, Positionierung, Stil, Varietät usw. müssten sich dazu gebrauchen lassen, sowohl die Unterschiede im sprachlichen Verhalten verschiedener Individuen aufzuzeigen als auch das sprachliche Verhalten eines konkreten Individuums zu beschreiben. Die Gesprächsforscherin steht dabei allerdings vor demselben Problem wie der Mediziner: So wie der Mediziner sich fragen muss, ob er bei einem Patienten die Zahl der weissen Blutkörperchen bestimmen oder die Lunge röntgen soll, muss sich die Gesprächsforscherin fragen, welche linguistischen Kategorien zur Erfassung sprachlicher Individualität in einem bestimmten Kontext herangezogen werden können und am Einzelfall überprüft werden müssen, um eine korrekte “Diagnose” des sprachlichen Verhaltens der untersuchten Individuen zu erlangen. Genau diesem Problem ist die vorliegende Habilitation gewidmet. Ich gehe der Frage nach, wie sich sprachliche Individualität in einem spezifischen institutionellen Gesprächskontext mit linguistischen Kategorien erfassen und beschreiben lässt. Konkret verfolge ich in dieser Arbeit zwei Ziele: 1. Entwicklung und Anwendung eines Instrumentariums zur Beschreibung sprachlicher Individualität in institutionellen Gesprächen. 2. Analyse eines Korpus institutioneller Telefongespräche und Herausarbeiten der individuellen sprachlichen Variation sowie individueller Interaktionsprofile. Begrifflich unterscheide ich zwischen dem sprachlichen Verhalten von Individuen und sprachlicher Individualität. Zum sprachlichen Verhalten von Individuen gehören alle sprachlichen Verhaltensweisen, die diese Individuen zeigen, auch jene, zu denen sie aufgrund der Situation verpflichtet sind oder die sie mit allen anderen Individuen in derselben Situation teilen. Von sprachlicher Individualität spreche ich dann, wenn sich Individuen in ihrem sprachlichen Verhalten erkennbar von anderen Individuen in derselben Situation unterscheiden. Sprachliche Individualität wiederum äussert sich in zwei verschiedenen Formen bzw. lässt sich unter zwei verschiedenen Perspektiven erforschen. Zum einen lässt sich sprachliche Individualität begreifen als individuelle sprachliche Variation. Darunter verstehe ich das Spektrum möglicher Verhaltensweisen in einer bestimmten Situation, welches einem Individuum zur Verfügung steht bzw. von konkreten Individuen gezeigt wird und sich somit empirisch nachweisen lässt. Zum andern lässt sich <?page no="14"?> Einleitung 14 1 An dieser Stelle ist zu betonen, dass Individualität nicht mit Individualismus gleichzusetzen ist. Es geht in dieser Arbeit um die Individualität des Verhaltens, welche jedem Individuum kraft seiner Existenz als einzigartiges Individuum eigen ist, nicht um abweichendes, zum Zwecke sozialen Auffallens inszeniertes “individualistisches” Verhalten. sprachliche Individualität begreifen als individuelles Interaktionsprofil. Darunter verstehe ich die spezifische, von allen anderen Individuen unterscheidbare Art und Weise, wie sich ein konkretes Individuum in wiederkehrenden Situationen verhält, metaphorisch ausgedrückt das sprachliche Porträt eines Menschen. In Abbildung 1 ist diese Begriffsbestimmung grafisch dargestellt. Abb. 1: Sprachliche Individualität Sprachliches Verhalten von Individuen Überindividuelles sprachliches Verhalten Sprachliche Individualität Individuelle sprachliche Variation Individuelles Interaktionsprofil Bei der Erforschung sprachlicher Individualität in institutionellen Gesprächen geht es also nicht darum, die sprachlichen Verhaltensweisen, die von den Individuen in einer bestimmten institutionellen Situation überhaupt gezeigt werden, zu beschreiben, sondern darum, die Unterschiede im sprachlichen Verhalten verschiedener Individuen in dieser Situation aufzuzeigen. 1 Diese Begriffsbestimmung impliziert eine spezifische Methodologie zur Erforschung sprachlicher Individualität. Wenn sprachliche Individualität nicht gleichgesetzt wird mit dem sprachlichen Verhalten eines Individuums, sondern auf der Unterscheidbarkeit mehrerer Individuen in derselben Situation fusst, dann genügt es nicht, ein einzelnes Individuum in den Blick zu nehmen und zu untersuchen, wie es spricht. Vielmehr müssen mehrere Individuen miteinander verglichen werden, und zwar vor dem Hintergrund der genauen Kenntnis der Situation und der in ihr geltenden interaktiven Aufgaben. Es muss bekannt sein, welche interaktiven Aufgaben die untersuchten Individuen zu erfüllen haben, welchen institutionellen und gesprächsstrukturellen Zwängen sie ausgesetzt sind und welche Verhaltensoptionen sie in der fraglichen Situation überhaupt haben. Es muss bekannt sein, welche Gemeinsamkeiten im sprachlichen Verhalten aller Individuen in dieser Situation auftreten. Erst dann können jene sprachlichen Verhaltensweisen bestimmt werden, die tatsächlich dem Individuum zuzuschreiben sind, die individuell variieren und als Zeichen von Individualität interpretiert <?page no="15"?> Einleitung 15 werden können. Das bedeutet ganz konkret: Der Untersuchung sprachlicher Individualität in institutionellen Gesprächen geht die eingehende Untersuchung der fraglichen Institution und der in ihr vorkommenden Gesprächstypen und Gesprächsmuster voraus. Die institutionsspezifische Interaktionssituation und die zur Bewältigung der interaktiven Aufgaben entwickelten Gesprächsmuster müssen bekannt sein, damit Individualität als individueller Umgang mit dieser Situation und den gegebenen Gesprächsmustern erfasst werden kann. Die Erforschung sprachlicher Individualität in der Institution setzt ein umfangreiches Korpus voraus, welches mehrere Gespräche derselben Person sowie Gespräche des gleichen Typs mehrerer Personen umfasst. Nur durch den intra- und interpersonellen Vergleich derselben Gesprächstypen lassen sich sowohl die überindividuellen Gesprächsmuster als auch die individuellen Unterschiede bei der Umsetzung dieser Gesprächsmuster herausarbeiten. Ein Korpus dieses Umfangs steht den wenigsten Gesprächsforschenden zur Verfügung, was mit ein Grund sein dürfte, warum sprachliche Individualität bis heute so selten erforscht wurde. Ich befinde mich in der glücklichen Lage, über ein Korpus von 431 Telefongesprächen aus zwei Call Centern einer Schweizer Bank zu verfügen. Die Gespräche stammen aus fünf verschiedenen Abteilungen mit je eigenem Auftrag. Innerhalb einer Abteilung stammen jeweils fünf bis zwanzig Gespräche von demselben Angestellten. Die KundInnen wurden naturgemäss nur in Ausnahmefällen mehrmals aufgezeichnet. Die Zusammenstellung des Korpus erlaubt mir, sowohl die überindividuellen sprachlichen Gemeinsamkeiten bei der Bearbeitung der abteilungsspezifischen Aufgaben zu bestimmen als auch die individuellen Unterschiede zwischen den Angestellten und KundInnen. Das soll in drei Analyseschritten geschehen: Zuerst werden die institutionellen Rahmenbedingungen bestimmt sowie die in den Call Centern vorgefundenen Gesprächstypen, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster herausgearbeitet. Sie stellen die überindividuellen institutionellen und gesprächsstrukturellen Vorgaben für die untersuchten Telefongespräche dar. Im zweiten Schritt untersuche ich individuelle sprachliche Variation, will heissen das ganze Spektrum individueller Verhaltensweisen bei der Umsetzung der gegebenen Aufgabenschemata und Gesprächsmuster. Im dritten und letzten Schritt untersuche ich das sprachliche Verhalten einzelner Individuen in der Form individueller Interaktionsprofile. Die Arbeit ist wie folgt gegliedert: Das gleich anschliessende Kapitel ist dem Stand der Forschung und der Methodologie der Erforschung sprachlicher Individualität gewidmet. Ich werfe die Frage auf, warum sprachliche Individualität bis heute so selten erforscht wurde, stelle die vorliegenden Arbeiten zu sprachlicher Individualität vor und leite aus den theoretischen Überlegungen und den empirischen Arbeiten das weitere Vorgehen für meine Arbeit ab. Im 3. Kapitel gehe ich auf vorerst theoretischer Ebene auf das Verhältnis von Individuum und Institution ein. Geklärt werden soll die Frage, über welchen <?page no="16"?> Einleitung 16 2 Die theoretischen Grundlagen und die Diskussion des Forschungsstandes zu den in den einzelnen Kapiteln benützten linguistischen Konzepten und Begriffen finden sich nicht in einem isolierten Theorieteil am Anfang des Buches, sondern jeweils zu Beginn der einzelnen Kapitel. Damit soll eine engere Verbindung zwischen Theorie und Empirie geschaffen werden. 3 Der Begriff wurde zum ersten Mal von Spranz-Fogasy (1997) verwendet. Während Spranz- Fogasy Interaktionsprofile als situativ gebundenes, emergentes Phänomen versteht, bringt der Begriff, so wie ich ihn definiere und verwende, gerade die situationsübergreifenden Handlungsspielraum das Individuum in der Institution überhaupt verfügt und wie dieser wahrgenommen wird. Individueller Handlungsspielraum ist die Bedingung für die Existenz und Entfaltung sprachlicher Individualität. Daran schliesst sich die Beschreibung des spezifischen institutionellen Umfelds der untersuchten Telefongespräche an. Ich erläutere die Funktionsweise von Call Centern und die Charakteristika von Telefongesprächen. Dann schildere ich die konkrete betriebliche Organisation der untersuchten Bank und der beiden Call Center, die dort zu verrichtende Arbeit, die internen Vorschriften und Kontrollmechanismen, die Gestaltung der Arbeitsplätze und die soziodemografischen Merkmale der Call Agents. Im 4. Kapitel stelle ich das untersuchte Korpus und die Transkriptionsregeln vor. Das anschliessende 5. Kapitel gehört der Herausarbeitung des Überindividuellen in den untersuchten Telefongesprächen. Ich beschreibe die Aufgaben der Call Agents, die sich aus den von ihnen zu bearbeitenden Kundenanliegen ergeben, und die damit verbundenen, in den Gesprächen nachweisbaren Aufgabenschemata und Gesprächsmuster. Dabei stütze ich mich auf das funktional-pragmatische Konzept des Handlungsmusters, welches eingangs erläutert wird. 2 Der Hauptteil der Arbeit ist der Beschreibung sprachlicher Individualität gewidmet. Zwei Kapitel dienen der Untersuchung individueller sprachlicher Variation, eines der Herausarbeitung individueller Interaktionsprofile. Im 6. Kapitel untersuche ich individuelle sprachliche Variation auf der stilistischen Ebene. Gestützt auf ein aus der funktional-pragmatischen und sozio-kommunikativen Stilistik abgeleitetes Stilkonzept analysiere ich einzelne Gesprächssequenzen und erfasse Individualität als stilistische Variation gegebener Handlungsmuster. Im 7. Kapitel untersuche ich individuelle sprachliche Variation auf der rhetorischen Ebene. Gestützt auf die Konzepte Positionierung und Gesprächssteuerung analysiere ich ausgewählte Gespräche vollständig und erfasse Individualität als individuellen Umgang mit eigenen und fremden Positionierungen und als die Art und Weise, wie eine Person versucht, das Gespräch in ihrem Sinne zu steuern. Dem sprachlichen Verhalten einzelner Individuen, dem individuellen Interaktionsprofil, ist das längste Kapitel der Arbeit gewidmet, Kapitel 8. Ein bewährtes methodisches Vorgehen, wie man “sprachliche Porträts” einzelner Personen erstellt, existiert nicht. Daher habe ich selbst ein solches Konzept entwickelt und ihm den Namen “Interaktionsprofil” gegeben. 3 Dieses besteht <?page no="17"?> Einleitung 17 Konstanten im sprachlichen Verhalten eines Individuums zum Ausdruck. Mehr dazu in Kapitel 8. aus 35 Elementen sprachlichen Verhaltens und dient dazu, das individuelle sprachliche Verhalten eines einzelnen Individuums in einer bestimmten Situation vollständig zu erfassen. Gestützt auf dieses Konzept untersuche ich das Verhalten von vier Angestellten über mehrere Gespräche hinweg und verdichte die Ergebnisse zu individuellen sprachlichen Porträts. Im letzten Kapitel fasse ich die Ergebnisse zusammen und zeige auf, wie die vorgeschlagene und an meinem Korpus erprobte Methode zur Erforschung sprachlicher Individualität weiterentwickelt und in der Praxis angewendet werden könnte. Zuletzt gehe ich der Frage nach, warum sprachliche Individualität in institutionellen Gesprächen überhaupt existiert und welche Einflussgrössen ein Individuum dazu veranlassen, sich sprachlich gerade so und nicht anders zu verhalten. <?page no="18"?> 2 Die Erforschung sprachlicher Individualität Sonderbar, die von Alexander reden alle gern. Aber ich bin sehr dafür; Schweigen kleid’t nicht jeden. Und dann sollen wir uns ja auch durch die Sprache vom Tier unterscheiden. Also wer am meisten red’t, ist der reinste Mensch. Und diesem Czako, dem hab’ ich es gleich angesehn. (Theodor Fontane: Der Stechlin) Als ich den TeamleaderInnen und Abteilungsleitern der Call Center der Schwyzer Bank die CD mit den Gesprächsaufzeichnungen überreichte, hatte ich alle Massnahmen getroffen, um wie abgemacht die Anonymität der aufgezeichneten Agents und KundInnen zu wahren: Alle Namen, Kontonummern und Adressen waren mit einem Pieps überspielt, zusätzlich hatte ich die Stimmen mittels eines Tonbearbeitungsprogramms verfremdet. Trotzdem erklärten mir die Vorgesetzten milde lächelnd, sie hätten alle ihre Schützlinge spielend erkannt: “an ihrer Art zu telefonieren”. Diese Episode zeigte mir: Sprachliche Individualität existiert, und sie ist so ausgeprägt, dass sich bekannte Personen selbst in anonymisierten und stimmlich verfremdeten Gesprächen mit Leichtigkeit erkennen lassen. Doch so sehr die alltägliche Erfahrung die Existenz sprachlicher Individualität lehrt, so wenig hat sich die Linguistik bis heute darum bemüht, selbige theoretisch und methodisch in den Griff zu bekommen - obwohl die Beschäftigung der Linguistik mit dem Individuum wiederholt gefordert wurde. Sprachliche Individualität ist eines der am meisten vernachlässigten Themen der Linguistik. Im folgenden Kapitel lege ich in einem ersten Abschnitt dar, warum sprachliche Individualität in der Linguistik bislang ein vernachlässigter Untersuchungsgegenstand war. Ich erörtere, auf welche Weise jeweils bereits durch die Gegenstandskonstitution das Individuelle aus der linguistischen Forschung und Theoriebildung herausgefallen ist, mit welchen Methoden die faktische Singularität und Individualität jeder sprachlichen Äusserung zu Gunsten allgemein gültiger Aussagen überwunden werden sollte, und inwiefern dieses Vorgehen inhaltlich unbefriedigend und methodisch problematisch ist. Im zweiten Abschnitt stelle ich die wenigen vorliegenden Arbeiten vor, die sich mit sprachlicher Individualität beschäftigen. Im dritten Abschnitt schliesslich skizziere ich das methodische Vorgehen zur Erforschung sprachlicher Individualität, welches ich für meine Arbeit entwickelt und umgesetzt habe. <?page no="19"?> Das Individuum in der Linguistik 19 1 Die Wahl des Ausdrucks “interessieren” ist bezeichnend. Rehbein behauptet nicht, dass die Fokussierung auf das Exemplarische eine wissenschaftstheoretisch begründete Notwendigkeit und die Erforschung des Idiosynkratischen unmöglich ist, vielmehr lässt seine Formulierung erkennen, dass es sich bei der Fokussierung auf das Exemplarische um eine Entscheidung der Forschenden handelt, die auch anders ausfallen könnte. 2 Mit “Sprechen” ist im Folgenden jede Form von Sprachproduktion gemeint, also auch die schriftliche. “Sprechende” sind auch Schreibende. 2.1 Das Individuum in der Linguistik “Die Diskursanalyse interessiert allemal das Exemplarische, nicht das Idiosynkratische” (Rehbein 2000: 930). Was Rehbein in geradezu apodiktischer Weise über die Diskursanalyse sagt, lässt sich für die gesamte Linguistik konstatieren: Sie interessiert sich nicht für das Idiosynkratische oder eben Individuelle. 1 Wie die meisten Wissenschaften strebt die Linguistik nach allgemein gültigen Aussagen über ihren Gegenstandsbereich, allgemein gültigen Aussagen in der Form von Regeln, Gesetzen, Kategorien, Modellen, Typologien usw., mit denen eine möglichst grosse Zahl empirisch vorliegender “Fälle” erfasst, beschrieben und erklärt werden kann. Von individuellen Unterschieden zwischen den untersuchten Fällen wird im Dienste der zu gewinnenden allgemein gültigen Aussagen bewusst abstrahiert. In der Linguistik gibt es - bei aller Unterschiedlichkeit der nebeneinander existierenden Forschungsrichtungen - im Wesentlichen drei Formen der Gegenstandskonstitution, die eine Fokussierung auf allgemein gültige Aussagen erlauben. Das Individuelle wird durch diese Formen der Gegenstandskonstitution jeweils aus der Forschung und Theoriebildung ausgeschlossen. Die drei Formen der Gegenstandskonstitution lauten: 1) Fokussierung auf allgemeine Regeln des Sprechens 2 2) Bildung homogener Gruppen von Sprechenden 3) Bildung homogener Gruppen von Sprechereignissen Ad 1) Das erste Prinzip, allgemein gültige linguistische Aussagen zu gewinnen, besteht darin, das Sprechen und seine Regeln an sich zum Gegenstand zu machen und konkrete Sprechereignisse entweder gar nicht zu untersuchen oder nur als exemplarische Vertreter der gebildeten allgemeinen Kategorien. Das trifft für die Systemlinguistik und die Generative Grammatik zu, die sich mit der Bildung korrekter sprachlicher Einheiten per se beschäftigen, unabhängig von konkreten Sprechenden oder Sprechereignissen. Das gilt in gewissem Sinne auch für die ethnomethodologische Konversationsanalyse, die zwar konkrete Sprechereignisse empirisch untersucht, letztlich aber auch die allgemeinen, von den einzelnen Sprechenden unabhängigen Regeln des Sprechens erkennen und beschreiben will. Die Zielkategorie dieser Forschungstraditionen sind Regeln, die Regeln der Wort- und Satzbildung einerseits, die Regeln der Gesprächsorganisation und Bedeutungskonstitution andererseits. <?page no="20"?> Die Erforschung sprachlicher Individualität 20 3 Dittman (1979) formulierte dieses Bestreben in Bezug auf die linguistische Forschungsrichtung der Konversationsanalyse so: “Konversationsanalyse ist die wissenschaftliche Analyse natürlicher Gespräche mit dem Ziel, allgemeine Aussagen über die Gesprächsorganisation und die Interpretation gesprächsrelevanter Handlungen durch die Beteiligten zu gewinnen.” (S. 11). Ad 2) Das zweite Prinzip, allgemein gültige linguistische Aussagen zu gewinnen, besteht darin, mehr oder weniger homogene Gruppen von Sprechenden zu bilden und die Gemeinsamkeiten in ihrem sprachlichen Verhalten zu untersuchen und zu beschreiben. Dieses Prinzip wurde und wird in der Soziolinguistik angewendet, sowohl in der klassischen positivistischen Ausprägung wie in der jüngeren interaktionalen Ausprägung. Die positivistische Soziolinguistik teilt die Sprechenden aufgrund vorher festgelegter soziodemografischer Variablen wie regionale Herkunft, soziale Herkunft, Alter oder Geschlecht in Gruppen ein und untersucht deren sprachliches Verhalten. Zielkategorie ist die Varietät. Die interaktionale Soziolinguistik untersucht, dem konstruktivistischen Paradigma verpflichtet, wie Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe interaktiv überhaupt erst hergestellt wird, geht aber nach wie vor davon aus, dass Gruppenzugehörigkeit und Sprache korrelieren. Mit anderen Worten: Wie ein Individuum spricht, wird auf seine Gruppenzugehörigkeit zurückgeführt und durch diese erklärt. Die Zielkategorien dieser Forschungstradition sind sozio-kommunikative Stile oder sprachliche Identitäten. Ad 3) Das dritte und letzte Prinzip besteht darin, mehr oder weniger homogene Gruppen von Sprechereignissen zu bilden und die für sie typischen Gemeinsamkeiten in Form, Inhalt und Funktion zu beschreiben und zu erklären. Dieses Prinzip kommt in ganz unterschiedlichen Forschungsrichtungen wie der Textlinguistik, der funktional-pragmatischen Diskursanalyse oder der Ethnografie des Sprechens zum Tragen. Die Zielkategorie dieser Forschungstraditionen sind “Muster” sprachlicher Verhaltensweisen im weitesten Sinne, seien dies Textsorten in der Textlinguistik, Gesprächsmuster oder Normalformen in der Diskursanalyse oder Gattungen in der Ethnografie des Sprechens. Welches Prinzip auch immer bei der Gegenstandskonstitution zur Anwendung kommt, welche Zielkategorie auch immer angestrebt wird, das Ziel ist, allgemeine Aussagen über die Sprache und das Sprechen zu gewinnen. 3 Der Ertrag dieser Forschungsbemühungen ist ein immenser Fundus von linguistischen Kategorien, mit denen sich die Sprache als System, das Sprechen an sich sowie unzählige einzelne Sprechergruppen und Sprechereignisse beschreiben und erklären lassen. Der Preis, den die Linguistik für die vorliegenden Forschungsresultate bezahlt hat, ist allerdings hoch: Er besteht im Verlust des Individuellen. Dass sprachliche Individualität existiert, dass also ein Individuum die konstatier- <?page no="21"?> Das Individuum in der Linguistik 21 4 Lerchner (1980) formulierte diesen offenbar bestehenden Konsens in Bezug auf die linguistische Forschungsrichtung der Stilistik so: “Von keiner Seite wird in Zweifel gezogen, dass individuelle Stileigentümlichkeiten existieren.” (S. 48). ten Regeln, Varietäten, Textsorten, Normalformen usw. individuell bis zu einem gewissen Grad variieren und für seine Zwecke adaptieren kann, wird von keiner linguistischen Forschungsrichtung grundsätzlich bestritten. 4 Aber die Linguistik ist beim heutigen Stand der Forschung nicht in der Lage, sprachliche Individualität zu erfassen, zu beschreiben und zu erklären. Sprachliche Daten werden immer nur im Hinblick darauf betrachtet, welcher allgemeinen linguistischen Kategorie sie zugeordnet werden können. Dem einzelnen sprachlichen Datum in seiner Singularität und Spezifität steht die Sprachwissenschaft hingegen sprachlos gegenüber, weil sie das Individuelle nur als das Ungeregelte, das Abweichende, als den von den eigenen Kategorien nicht erfassten, unerklärbaren “Rest” begreifen kann. Das Einmalige ist der Linguistik nicht zugänglich. Das ist unbefriedigend, weil der Gegenstand der Linguistik, die Sprache in all ihren Erscheinungsformen, damit nicht vollständig erfasst wird. Doch die Preisgabe des Individuellen zu Gunsten allgemein gültiger linguistischer Aussagen ist nicht nur unbefriedigend, sondern auch methodisch problematisch. Denn dem an sich legitimen Ziel, allgemeine Aussagen über die Sprache und das Sprechen zu gewinnen, steht ein gravierendes methodisches Problem entgegen: Sprachliche Äusserungen, ob geschrieben oder gesprochen, liegen ausschliesslich als singuläre, individuelle Sprachprodukte vor. Es gibt “die” Sprache und “das” Sprechen nicht, es gibt nur das Sprechen und Schreiben konkreter Individuen, das Gesprochene und Geschriebene einzelner Individuen. Um dennoch allgemeine Aussagen über die Sprache und das Sprechen gewinnen zu können, um von den vorliegenden individuellen sprachlichen Daten zu allgemein gültigen linguistischen Kategorien zu kommen, braucht es wissenschaftlich kontrollierte Methoden des Verallgemeinerns. Die Lösungen, welche die Linguistik für dieses methodische Problem bisher bereit gestellt hat, lassen sich wiederum grob in drei Gruppen unterteilen: 1) Untersuchung idealisierter Sprecher 2) Bildung von Korpora vergleichbarer Sprecher oder Sprechereignisse 3) Untersuchung repräsentativer Einzelfälle Ad 1) Den ersten Weg haben die Systemlinguistik und die Generative Grammatik beschritten. Sie untersuchten von allem Anfang an nicht konkrete Sprechende und Sprechereignisse, sondern idealisierte Sprecher bzw. deren Sprachkompetenz. Durch die Fokussierung auf mögliche sprachliche Äusserungen waren diese beiden Forschungsrichtungen mit dem Problem der Singularität und Individualität konkreter sprachlicher Äusserungen gar nie <?page no="22"?> Die Erforschung sprachlicher Individualität 22 konfrontiert. Die von der Systemlinguistik und der Generativen Grammatik erarbeiteten linguistischen Kategorien sind dementsprechend manchmal nur bedingt hilfreich bei der Erforschung konkret stattgefundener Interaktionen. Ad 2) Die Mehrheit der linguistischen Forschungsrichtungen beschreitet den zweiten Weg: Man stellt Korpora vergleichbarer sprachlicher Daten zusammen und wertet sie im Hinblick auf ihre Gemeinsamkeiten aus. Hinter dieser allgemeinen Formel verbirgt sich ein sehr heterogenes Konglomerat von Methoden der Korpusbildung, Methoden der Auswertung und Zielkategorien: Die sprachlichen Daten können geschrieben oder gesprochen, natürlich oder experimentell gewonnen sein. Die untersuchten Korpora sind in ihrer Grösse und Repräsentativität höchst unterschiedlich und reichen von der kleinen, ad hoc zusammengestellten Sammlung von einem halben Dutzend Texte bis zum mehrere hundert Texte umfassenden, nach den Methoden des theoretischen Samplings zusammengestellten Korpus. Die Auswertung erfolgt je nachdem nach den Methoden der Textlinguistik, der ethnomethodologischen Konversationsanalyse, der funktional-pragmatischen Diskursanalyse usw., in der Regel manuell, teilweise mit maschineller Unterstützung. Schliesslich sind auch die gesuchten Gemeinsamkeiten, die Zielkategorien, sehr verschieden und auf ganz unterschiedlichen Abstraktionsniveaus zu suchen. Sie reichen von sprachlichen Oberflächenphänomenen wie zum Beispiel Formen des Sprecherwechsels über Phänomene der Tiefenstruktur wie zum Beispiel Gesprächsmuster bis hin zu abstrakten Konzepten wie Stil oder Varietät. Das Vorgehen, durch die vergleichende Auswertung mehrerer Fälle zu linguistischen Kategorien zu gelangen, mit denen sich alle Fälle beschreiben lassen, bleibt jedoch grundsätzlich dasselbe. Ziel ist, linguistische Kategorien zu finden, die nicht nur für das untersuchte Korpus gültig sind, sondern für jedes vergleichbare sprachliche Datum. Ad 3) Ein dritter Weg besteht darin, repräsentative Einzelfälle zu untersuchen und aus ihnen allgemeine Regeln und linguistische Kategorien abzuleiten. Das ist der Weg, den die traditionelle Dialektforschung beschritten hat, indem sie sogenannte Gewährspersonen befragte, welche als typische Sprecher des untersuchten Dialekts galten. In jüngerer Zeit ist die extensive Untersuchung von Einzelfällen in der interaktionalen Soziolinguistik, teilweise auch in der Kritischen Diskursanalyse, populär geworden. Anhand einzelner, als repräsentativ empfundener Fälle wird zum Beispiel untersucht, wie interaktiv soziale Rollen und Stile generiert und hierarchische Verhältnisse etabliert werden. Es liegt auf der Hand, dass linguistische Kategorien, die anhand von Einzelfällen oder kleiner Korpora gewonnen wurden, im Hinblick auf ihre Allgemeingültigkeit kritisch zu beurteilen sind. Schon oft mussten als allgemein gültig propagierte und von der Forschungsgemeinschaft durchaus anerkannte linguistische Kategorien in ihrer Gültigkeit oder Reichweite <?page no="23"?> Das Individuum in der Linguistik 23 5 Mehr dazu in Abschnitt 8.1.2.2. 6 Das Problem der Auswahl und Präsentation von Transkriptausschnitten ist ausführlich besprochen bei Schmitt (2001). nachträglich relativiert werden, weil sie sich durch den Vergleich mit neuen sprachlichen Daten als situations- oder kulturspezifisch entpuppten, weil mit anderen Worten unzulässige Verallgemeinerungen und Übergeneralisierungen vorgenommen worden waren. Als Beispiele seien die These vom “kooperativen weiblichen” und “kompetitiven männlichen” Sprechen genannt, welche aufgegeben werden musste, oder die nach wie vor umstrittene Frage, ob die von Brown und Levinson postulierten Höflichkeitsprinzipien (Wahrung des positiven und negativen Face, Brown/ Levinson 1978, 1987) tatsächlich, wie von ihnen postuliert, universell oder lediglich kulturspezifisch sind. 5 Generell ist der Stellenwert von Einzelfallanalysen schwer einzuschätzen, in den meisten Fällen bleibt er gänzlich ungeklärt, was Fiehler schon vor 20 Jahren moniert hat (Fiehler 1983). Ob der analysierte und in der Literatur präsentierte Fall für das zu zeigende sprachliche Phänomen wirklich repräsentativ ist, bleibt der Intuition des den Fall präsentierenden Forschers und dem guten Glauben der Leserin anheim gestellt. Bei der Lektüre sogenannt “typischer” Fälle in der Literatur stellt sich nicht selten der Verdacht ein, dass eben kein typischer, sondern vielmehr ein auffälliger, für die Demonstration des fraglichen Phänomens irgendwie besonders geeigneter Fall vorgestellt wird. 6 Das gilt für Einzelfallanalysen wie für die beispielhafte Präsentation einzelner Exemplare aus einem Korpus. Es wäre der Linguistik im Allgemeinen und der Gesprächsforschung im Besonderen oft mehr gedient, wenn offen deklariert würde, ob es sich bei den präsentierten Beispielen um typische Fälle, Einzelfälle, Paradebeispiele, Extrembeispiele oder Ausnahmen handelt - die Beispielanalysen wären darum um nichts weniger interessant. Trotzdem wird in der Literatur - und im Folgenden beschränke ich mich auf die Gesprächsforschung - krampfhaft die Fiktion aufrecht erhalten, es werde “das” Sprechen untersucht und nicht das Sprechen konkreter Individuen. Als auffälligste Massnahme werden Transkripte sorgfältig anonymisiert und Personen nur noch in ihrer Rolle genannt (“Arzt”, “Journalistin”, “Vorgesetzter” usw.), obwohl mit kategorialen Bezeichnungen wie “Mutter” oder “Schüler” folgenschwere Vorab-Interpretationen des Interaktionsgeschehens geleistet werden. Dieses Anonymisieren ist keineswegs nur juristisch motiviert, es ist auch ein willkommenes Mittel, die Leserin und den Forscher selber vergessen zu lassen, dass eigentlich einzelne, namentlich bekannte Individuen untersucht werden und nicht Gruppen von Menschen oder “der” sprechende Mensch. Als zweite Massnahme wird das Individuum als erklärende Variable für die vorgefundenen Formen des Sprechens ausgeschaltet. Soll das Sprechen <?page no="24"?> Die Erforschung sprachlicher Individualität 24 7 Eine Ausnahme bildet Lakoff (1979), die selbstverständlich davon ausgeht, dass der Charakter eines Menschen seinen Sprechstil beeinflusst, die auch nicht davor zurückschreckt, bekannte Personen (R. Nixon, C. Gable, M. Monroe) als Repräsentanten eines bestimmten Stils namentlich zu nennen. 8 Natürliche Einstellung im Sinne von Schütz (vgl. Abels 1998: 59-61). 9 Eine verstümmelte Form des Buffon-Wortes: Ces choses [die wissenschaftlichen Erkenntnisse, S.B.] sont hors de l’homme, le style est l’homme même.” Weinrich (1997) weist darauf hin, dass Buffon mit seinem Diktum gerade nicht den Individualstil vor Augen hatte, sondern den Stil des aufgeklärten Gelehrten, was aber eine entsprechende Topoisierung nicht hat verhindern können. konkreter Individuen erklärt werden, greifen Gesprächsforschende auf alle nur erdenklichen situativen und soziodemografischen Erklärungsvariablen zurück und deuten das Sprechen der von ihnen untersuchten Individuen, in Abhängigkeit von ihrem theoretischen Standpunkt, als Realisierung eines institutionell gegebenen Gesprächsmusters, als Ausdruck ihres Alters, ihres Geschlechts oder ihrer Herkunft, als situative Rollenstilisierung usw. - nur eine Variable wird als Erklärung systematisch ausgeschlossen: das Individuum mit seinen Eigenschaften selbst. Die Kompetenz des Sprechenden, seine Persönlichkeit, seine Sprachbiografie, seine persönlichen sprachlichen Präferenzen und Routinen, sein ästhetischer Gestaltungswille, ganz zu schweigen von seinem Charakter oder seiner aktuellen Laune, kurz, alles, was dem Individuum selbst zuzuschreiben ist und seine Individualität ausmacht, wird als erklärende Variable für sein sprachliches Verhalten grundsätzlich nicht beigezogen. 7 Warum vermeiden die Gesprächsforschenden bei der Erklärung des Sprechens konkreter Individuen den Rückgriff auf die Eigenschaften eben dieser Individuen? Fürchten sie, sich dem Vorwurf des Psychologisierens auszusetzen? Sind ihnen individuelle Faktoren zu spekulativ? Da müsste man die Gegenfrage stellen, warum es spekulativer sein soll, bestimmte Formen des Sprechens durch die Kompetenz oder die Einstellung des Individuums zu erklären als durch seine Rolle oder seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsgruppe. Vielleicht ist den Gesprächsforschenden der Rückgriff auf die Eigenschaften des Individuums schlicht zu alltäglich und wird daher als unwissenschaftlich abgetan. Entspricht doch die Überzeugung, dass die Sprache Ausdruck der Persönlichkeit ist, seit der Antike der natürlichen Einstellung 8 der Sprachteilhaber, was sich in Topoi wie “ut vir sic oratio” oder “le style c’est l’homme” 9 niederschlägt. Die Gesprächsforschenden jedoch vermeiden die Frage nach dem Zusammenhang von Sprechen und Persönlichkeit, anstatt sie in wissenschaftlicher Manier anzugehen und zu beantworten. Sie verschliessen die Augen vor der Tatsache, dass jedes Sprachprodukt eine individuelle Leistung ist und jedes Sprechen individuelle Züge aufweist und ziehen nicht die notwendigen theoretischen und methodischen Konsequenzen. Erst dann, wenn die Beweislast der eigenen Daten erdrückend wird, weisen einzelne Forscher darauf hin, dass individuelles Wirken und Können am Werk sein könnte. So räumt zum <?page no="25"?> Das Individuum in der Linguistik 25 Beispiel Müller nach seiner detaillierten Analyse einer Mitarbeitersitzung ein, dass der von ihm beobachtete Filialdirektor sich doch in besonderem Masse in Szene setzt und nicht alle Chefs allein aufgrund ihrer Vorgesetztenrolle so autoritär sind (Müller 1997: 247). Brünner weist am Ende ihrer Analyse der Verkaufsstrategien eines Autoverkäufers am Rande darauf hin, dass der von ihr untersuchte Verkäufer “mehrfach für seine Verkaufserfolge ausgezeichnet” wurde (Brünner 1994: 346). Das hält sie aber nicht davon ab, die von ihr - im Detail überzeugend - herausgearbeiteten Strategien dieses Verkäufers als allgemeine Verkaufsstrategien auszugeben und als Reaktion auf widersprüchliche situative Handlungsanforderungen zu deuten - und nicht als zuerst einmal individuelle Fähigkeiten und Strategien des von ihr untersuchten Autoverkäufers. Ich meine, dass hinter der Scheu, sprachliche Individualität zu erforschen und als Ausdruck der Persönlichkeit des Individuums zu deuten, letztlich ein Tabu steht: das Tabu, das Sprechen eines Menschen öffentlich zu analysieren oder gar zu bewerten. Was aber steckt hinter diesem Tabu anderes als die uneingestandene Überzeugung, dass das Sprechen Ausdruck der Persönlichkeit, der sprachlichen Fähigkeiten und des individuellen Gestaltungswillens des Menschen ist? Auf einen Nenner gebracht sieht die Situation folgendermassen aus: 1. Sprache liegt nur in der Form singulärer und notwendigerweise individueller Äusserungen vor. Die Methoden, mit denen individuelle Äusserungen mit allgemeinen linguistischen und sozialen Kategorien korreliert werden, sind teilweise zweifelhaft. 2. Sprachliche Individualität wird in der natürlichen Einstellung als Ausdruck der Persönlichkeit des Sprechenden gedeutet. Diese Sichtweise wird in der linguistischen Forschung tabuisiert. 3. Die bisherige Linguistik hat das Individuelle aus ihrer Gegenstandskonstitution ausgeschlossen, obwohl sie die Existenz sprachlicher Individualität grundsätzlich nicht in Frage stellt. 4. Individuelles Wirken und Können wird als erklärende Variable für empirisch vorgefundenes sprachliches Verhalten systematisch ausgeschlossen. Diese Situation ist in theoretischer, methodischer und praktischer Hinsicht unbefriedigend. Sie ist theoretisch unbefriedigend, weil ein Sprachbegriff, der das Individuelle ausschliesst, eine unzulässige Reduktion der sprachlichen Wirklichkeit darstellt. Sie ist methodisch unbefriedigend, weil die Zuordnung individueller Äusserungen zu allgemeinen linguistischen Kategorien (und vice versa) teilweise von Willkür und Übergeneralisierungen geprägt ist. Und sie ist praktisch unbefriedigend, weil die Linguistik bis heute nicht in der Lage ist, <?page no="26"?> Die Erforschung sprachlicher Individualität 26 a) Einzelfälle adäquat zu beschreiben, das heisst als Einzelfälle in ihrer Singularität und Spezifität und nicht als Vertreter einer allgemeinen linguistischen Kategorie, und b) das Sprechen eines Individuums vollständig zu erfassen, zu beschreiben und zu erklären. Letzteres ist einigermassen absurd: Jeder Sprachteilhaber ist in der Lage, eine Person anhand ihres Sprechens zu identifizieren; aber die Linguistik, die dafür zuständig wäre, kann weder erklären, wie diese eindeutige Identifikation von den Sprachteilhabern geleistet wird, noch kann sie selber die sprachliche Identifikation von Individuen vornehmen. Sie kann es nicht, weil sie sich nie um ein geeignetes Instrumentarium zur Beschreibung sprachlicher Individualität bemüht hat. Sprachliche Individualität und ihre Beschreibung ist eine Lücke in der Linguistik im Allgemeinen und in der Gesprächsforschung im Besonderen, die es zu schliessen gilt. Meine Kritik an einer vom Begriff des Individuellen befreiten Linguistik ist keineswegs neu. Nowak hat dem Thema “Sprache und Individualität” schon 1983 eine ganze Monografie gewidmet (Nowak 1983). Darin kritisiert sie verschiedene strukturalistische Sprachauffassungen von Saussure über Bloomfield bis zu Chomsky als reduktionistisch. Gestützt auf Herders Idee, dass ein allgemeiner Begriff vom Menschen notwendigerweise dessen Individualität mit einschliesst, fordert sie, einen Sprachbegriff zu schaffen, der auch den individuellen Ausdruck umfasst. Ein Begriff von Sprache, der diese nur unter ihrem allgemeinen Aspekt versteht und glaubt, über die Besonderheit des konkreten sprachlichen Ausdrucks hinweg gehen zu können, bleibt ebenso unbefriedigend wie umgekehrt der bereits angesprochene Fall des Verharrens vor dem einzelnen Phänomen. Hat der Begriff ‘Individualität’ einen festen Platz in unserer Gedankenwelt, so muß die Bedeutung des individuellen sprachlichen Ausdrucks für die Sprachwissenschaft zurückgewonnen werden. (S. 27). Durch den individuellen Ausdruck äussert sich ein Individuum zwar als Individuum, ist aber qua Sprache gleichzeitig mit allen anderen Sprechenden verbunden. Der Begriff der Individualität hebt die Kluft zwischen Allgemeinem und Besonderem auf und macht zugleich “die prinzipielle Fähigkeit der Sprache deutlich, Ausdruck einer bestimmten Individualität sein zu können und dabei gleichzeitig Ausdruck jeden Individuums für jeden Zweck sein zu können.” (ebd.: 34). Die Aufgabe der Sprachwissenschaft sei es daher, “die Besonderheit des individuellen Ausdrucks in dieser Besonderheit allgemein zu erfassen.” (ebd.: 35). Gefordert ist ein Sprachbegriff, der Individualität als allgemeines Merkmal von Sprache beschreibt. Bereits drei Jahre zuvor hatten sich Stimmen erhoben, die für einzelne linguistische Forschungsrichtungen (Dialoglinguistik, Stilistik) den Einbezug <?page no="27"?> Das Individuum in der Linguistik 27 des Individuellen in die linguistische Theoriebildung forderten. Hess-Lüttich (1980b) plädiert für eine individuenzentrierte Dialoglinguistik: “Im Zentrum unseres Dialogmodells stehen nicht System oder Klasse, Symbol oder Sprechakt, Norm und Prozess, nicht Gesellschaft oder Geschichte, Kultur oder Situation, Telos und Idee - Angelpunkt unseres Modells ist das Individuum.” (S. 133). Das Individuum nicht im Sinne einer subjekthaften “Monade”, sondern als gesellschaftlich verstandenes Konstrukt, als “Typus” im Sinne Webers (ebd.: 133). Die Beschränkungen ausschliesslich intentional-mentalistischer bzw. ausschliesslich kausal-deterministischer Ansätze seien endlich zu überwinden. Lerchner (1980) formuliert ähnliche Gedanken für die linguistische Stilistik, was vor einem marxistisch-materialistischen Hintergrund umso bemerkenswerter ist. Für ihn “ist eine sprachlich-stilhafte Äusserung immer notwendig eine individuelle Leistung, die durch die Analyse z.B. situativer und funktionaler, also äusserer determinierender Faktoren nur partiell beschrieben werden kann.” (S. 50). Das Individuum ist zwar ein gesellschaftliches Wesen, trotzdem verfügt es über individuelle Erfahrungen, Kenntnisse und Einstellungen und auch über einen je unterschiedlichen Idiolekt, Idiolekt verstanden “als Gesamtheit der einer Persönlichkeit verfügbaren sprachlichen Mittel” (ebd.: 52). Persönlicher Stil lässt sich daher bestimmen “als die Klasse aller Äusserungen, die (Typen von) situativ-funktionalen Anforderungen durch die spezifische Organisation idiolektaler Variabler (sic! ) nach den Regularitäten des subjektiven kommunikativen Leistungsverhaltens entsprechen.” (ebd.: 53). Die theoretische Diskussion zum Thema “Sprache und Individuum” wurde auf der Jahrestagung der GAL (Gesellschaft für Angewandte Linguistik) 1987 aufgenommen, was sich im gleichnamigen Sammelband von Kühlwein/ Spillner (1988) niederschlägt. Darin fordert Oksaar von Neuem, das Individuum selbst zum Untersuchungsgegenstand zu machen und seine Sprache (den Idiolekt) nicht nur auf der Kompetenzebene zu beschreiben, sondern auch auf der Ebene des konkreten kommunikativen Verhaltens (Oksaar 1988). All diese in den 80er Jahren erhobenen Forderungen verhallten weitgehend ungehört. Empirische Arbeiten zu sprachlicher Individualität wurden, so weit ich sehe, keine unternommen, und die theoretische Diskussion um den Stellenwert des Individuellen in der Linguistik versandete in der Gesprächs- und Stilforschung in den 90er Jahren gänzlich. Im Jahre 2001 nahmen Ortner und Sitta an einer Tagung über die Perspektiven einer künftigen Linguistik erneut einen Anlauf und formulierten ein Plädoyer für den Einbezug des Individuums in die Linguistik: “Ebenso innig wünschen wir uns eine Sprachwissenschaft, die auch das Individuum wieder erreicht - eine Sprachwissenschaft, die sich für individuelles Sprachverhalten, seine Entstehung und seine systematischen Entwicklungsmöglichkeiten […], ebenso interessiert wie für kollektives.” (Ortner/ Sitta 2001: 9). Ein Jahr später setzte die Sektion Gesprächsforschung an der Jahrestagung der GAL <?page no="28"?> Die Erforschung sprachlicher Individualität 28 das Thema “Identität und Individualität” auf das Programm - ein Anzeichen dafür, dass die Diskussion um das Individuum in der Gesprächsforschung wieder erwacht. Aufgegriffen wurde das Thema Individualität in den 90er Jahren hingegen in der Varietätenforschung. Macha kritisiert 1991 erneut das “Modell vom ‘determinierten Sprecher’”, in welchem “das individuelle Sprechen den theoretischen Status einer abhängigen Variable” hat, bestimmt durch den Faktor der sozialen Gruppe oder das Moment der Situativität (Macha 1991: 3). Die traditionelle Varietätenforschung “beschreibt nicht unterschiedlich artikulierende Personen als eine Reihe von Individuen, sondern transformiert sie rechnerisch in homogene Gruppen, wobei die persönliche Spezifik ‘auf der Strecke’ bleibt.” (ebd.: 11). Merkmale der Situation würden wie objektive Wirkfaktoren behandelt, wo sie doch der individuellen bewusstseinsmässigen Verarbeitung bedürften (ebd.: 14). Ohne den Einfluss von Gruppenzugehörigkeit und Situation auf das Sprechen des Individuums im Mindestens in Abrede zu stellen, plädiert Macha dafür, sich den Gewährspersonen als Individuen zuzuwenden und danach zu fragen, bei welchen Gelegenheiten und aus welchen Gründen sie sich für welche Varietät entscheiden. Auf induktivem Wege sei so eine Sprecherdialektologie zu gewinnen (ebd.: 17). Praktisch identisch argumentiert Ende der 90er Jahre die Forschergruppe “Stadtsprachen - Sprachen in der Stadt am Beispiel Basels” um Häcki Buhofer und Löffler. Häcki Buhofer kritisiert an der bisherigen soziolinguistischen Variationslinguistik zwei Dinge. Erstens: Variationsphänomene werden bevorzugt als kollektive Phänomene aufgefasst, Individuen werden nur als Vertreter einer sozialen Gruppe betrachtet. “Dabei kann nicht zum vornherein davon ausgegangen werden, dass die individuelle Sprachvariation einer sozialen entspricht.” (Häcki Buhofer 2000b: 11). Zweitens: Wo nicht die Herkunft des Sprechers als Erklärung für Variation herhalten muss, werden die Situation und die Funktion bemüht. “Sie [die heutige Linguistik, S.B.] geht tendenziell immer davon aus, dass individuelle Variationen funktionale Bedeutungen haben. […] Auf das Individuum bezogen wird dabei sehr oft ein intentionalistischer Zugang zur Variation gesucht und Intentionen werden im allgemeinen auch gefunden.” (Häcki Buhofer 1998: 66). Häcki Buhofer schlägt demgegenüber vor, individuelle Variation als solche zu untersuchen, und zwar nicht nur Unterschiede zwischen Individuen, sondern auch variierende Sprechweisen desselben Individuums, welche bewusst oder unbewusst in verschiedenen Lebenssituationen zum Zuge kommen. Die Absicht ist, “Variation als unmarkierten Normalfall (nicht als Abweichung) und als gegeben aufzufassen, sie mit Bezug zur individuellen und sozialen Entwicklung nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu erklären…” (Häcki Buhofer 2000b: 23). Aber auch das Individuum und seine Biografie sind keine letzten Erklärungsgrössen. “Eine Variationslinguistik, die auf das Individuum zielt, muss auch versuchen, die individuelle <?page no="29"?> Vorliegende Arbeiten und Ergebnisse 29 10 In diesem Punkt unterscheidet sich Häcki Buhofer grundlegend von Hess-Lüttich (1980b) und Nowak (1983), welche das Individuum gerade nicht als Subjekt betrachten, sondern als gesellschaftlichen Typus. 11 Eine Ausnahme bildet die Arbeit von Spiegel (2006), auf welche ich weiter unten eingehe. Variation auf eine Theorie des sprechenden Individuums, z.B. auf eine Identitätstheorie, zu beziehen.” (Häcki Buhofer 1998: 66). Die sozialpsychologische Identitätstheorie von Mead, der zwischen dem persönlichen Ich (I) und dem gesellschaftlichen Ich (me) unterscheidet, wäre eine solche Anschlusstheorie, da sie nicht nur das soziale Ich kennt, sondern auch “ein Ich als Subjekt, ein einmaliges und unberechenbares Ich, das sich selber nicht bewusst ist…” (ebd.: 74). 10 So kann man abschliessend konstatieren, dass in den letzten 25 Jahren im regelmässigen Abstand von fünf Jahren die Forderung erhoben wurde, einen Sprachbegriff generell bzw. spezifische Dialog-, Stil- oder Varietätenmodelle zu entwickeln, die das Individuelle einschliessen oder gar zum Ausgangspunkt der linguistischen Theoriebildung machen, sowie sprachliche Individualität empirisch zu erforschen. Wie Letzteres konkret zu geschehen hätte, bleibt allerdings meistens im Dunkeln. Die Diskussion, mit welchen Methoden sprachliche Individualität erfasst und beschrieben werden kann, hat noch gar nicht begonnen. 11 Wer sprachliche Individualität erforschen will, muss sich sein methodisches Instrumentarium selbst zusammenstellen. Die wenigen Pioniere, die bis heute Studien zu sprachlicher Individualität vorgelegt haben, arbeiten mit sehr unterschiedlichen Konzepten, Zielen und Methoden. Ich stelle die mir bekannten Arbeiten im folgenden Abschnitt vor, um daraus die grundlegenden Erkenntnisse und methodischen Konsequenzen bezüglich der Erforschung sprachlicher Individualität abzuleiten. 2.2 Vorliegende Arbeiten und Ergebnisse In diesem Abschnitt stelle ich die vier mir bekannten Arbeiten vor, die der Beschreibung sprachlicher Individualität gewidmet sind. Von Interesse sind dabei nicht nur die Ergebnisse, zu welchen die AutorInnen gekommen sind, sondern vor allem auch die theoretischen Grundlagen und die Methoden, mit denen sie gearbeitet haben. Eine Arbeit (Bürkli 1999) stammt aus der Varietätenforschung, die anderen drei (Johnstone 1996, Spranz-Fogasy 1997 und Spiegel 2006) aus der Gesprächsforschung. Bürklis Arbeit mit dem Titel “Sprachvariation in einem Grossbetrieb” (1999) ist aus dem Basler Stadtsprachen-Projekt hervorgegangen. Bürkli verfolgt einen konsequent individuenzentrierten Ansatz, indem sie sechs Angestellte eines Basler Chemiekonzerns in den Mittelpunkt ihrer Analyse stellt. Die sechs InformantInnen führten Sprachtagebücher, wurden be- <?page no="30"?> Die Erforschung sprachlicher Individualität 30 züglich ihres sprachlichen Verhaltens, ihrer Sprachbiografie und ihrer Einstellung zum eigenen Dialekt interviewt und schlussendlich während eines ganzen Arbeitstages auf Tonband aufgenommen. Ziel war, die sprachlichen Repertoires der Angestellten vor dem Hintergrund ihres Arbeitsalltags zu beschreiben und im Hinblick auf Variation und Sprachwechselphänomene zu untersuchen. Dabei geht Bürkli davon aus, dass jede Person über zwei Register verfügt: “die durch nicht-funktionalisierbare Codefluktuation gekennzeichnete Normallage einerseits und eine durch Abweichung von dieser Normallage erkennbare markierte Sprechweise.” (ebd.: 373). Bürkli beschreibt • die Struktur des Repertoires der InformantInnen (Anteil von Dialekt, Hochsprache und Englisch im Tagesablauf), • die innerdialektale Variation der InformantInnen anhand von sieben das Baseldeutsche kennzeichnenden Variablen (k-Laut, r-Laut, ie-Laut, überoffenes e, -lig-Suffix bei Adjektiven und Adverbien, g-Präfix bei den Verben sehen und hören, Pluralendungen bei den Kurzverben), • das Akkommodationsverhalten der InformantInnen gegenüber Personen, die andere Dialekte oder Hochsprache sprechen. Zuletzt fragt sie nach den Faktoren, welche die innerdialektale Variation und das Akkommodationsverhalten der InformantInnen beeinflussen. Sie unterscheidet a) kognitive Einflussfaktoren: Dialektbewertung, sprachpflegerische Haltung. b) pragmatische Einflussfaktoren: Formalität der Situation, adressatenbezogenes vs. empraktisches Sprechen, Thema, Adressaten, Persönlichkeit und Sprachbiografie des Sprechenden, Äusserungsumgebung. c) linguistische Einflussfaktoren: Lautliche Umgebung, semantisches Gewicht. Bürkli betont jedoch, dass viele Variationsphänomene nicht in einen direkten Kausalzusammenhang gebracht werden können (ebd.: 289f). Als Ergebnis lässt sich festhalten: Obwohl alle sechs InformantInnen “waschechte” Basler sind, unterscheiden sie sich sowohl in ihrer sprachlichen Normallage als auch in ihrer markierten Sprechweise nachweislich voneinander. Die Sprechweise jeder einzelnen Person ist jedoch als stabil einzustufen, denn sowohl die vorhandene individuelle Variation als auch das Akkommodationsverhalten weisen systematische Züge auf. Die Arbeit von Bürkli zeigt, dass sich auf der Ebene der Varietät für jedes Individuum ein Porträt seines Sprachgebrauchs erstellen lässt. Dieses Porträt <?page no="31"?> Vorliegende Arbeiten und Ergebnisse 31 weist sowohl überindividuelle als auch individuelle Züge auf. Was die Methode betrifft, weist Bürkli nachdrücklich darauf hin, dass die sprachlichen Daten im Verlauf der Analyse nie dekontextualisiert werden dürfen (ebd.: 373). Ihre Arbeit zeigt im Weiteren, dass die Untersuchung sprachlicher Individualität nicht die Fokussierung auf ein Individuum bedeutet, sondern im Gegenteil nur durch den Vergleich mehrerer Individuen möglich ist. Nur durch den Vergleich mehrerer Individuen in vergleichbaren Situationen wird erkennbar, welche sprachlichen Verhaltensweisen individuell und welche überindividuell sind. Schliesslich ist Bürklis Arbeit ein Beleg dafür, dass die Bestimmung der Faktoren, welche ein Individuum zu einem bestimmten Sprachgebrauch bewegen, äusserst diffizil ist und kaum abschliessend vorgenommen werden kann. Die älteste, ganz dem Individuum gewidmete und mindestens im deutschen Sprachraum bisher unbeachtet gebliebene Monografie aus der Gesprächsforschung stammt von Johnstone und trägt den Titel “The linguistic individual” (1996). Johnstone plädiert dafür, Sprache nicht vom System oder von Gruppen von Sprechern her zu untersuchen, sondern vom Individuum, “demonstrating something we already know: no two people have the same knowledge of language or the same ways of speaking” (ebd.: 3). Wo Linguisten normalerweise nach Gemeinsamkeiten suchen, will sie den Unterschieden nachgehen: “I examine individual’s linguistic consistency across time and situation, calling into question the idea that discourse is completely rhetorical, that is, completely shaped by audience, situation, or purpose.” (ebd.: 4). Auch wenn Alter, Geschlecht, Klasse, Ethnie und soziale Zugehörigkeit einer Person bekannt sind, wird doch ihr sprachliches Verhalten nie vorhersagbar. “Variation in language use is ultimately explicable only at the level of the individual speaker.” (ebd.: 8). Diesem individuellen Sprechen geht Johnstone in vier konversationsanalytischen Studien nach. Drei davon stelle ich aus inhaltlichen und methodischen Gründen näher vor. Unter dem Titel “Individual Variation in Scripted Talk” untersucht Johnstone das sprachliche Verhalten der Beteiligten bei einer telefonischen Meinungsumfrage, dem sogenannten Texas Poll. Die Methode der quantitativen Sozialforschung verlangt, dass alle Interviews exakt nach dem Skript geführt werden, und die Interviewer werden unter Androhung der Kündigung entsprechend gedrillt. Aber das, was am Telefon tatsächlich geschieht, “goes well beyond script reading and choosing from among fixed alternatives” (ebd.: 95). Die befragten BürgerInnen benützen andere Ausdrücke als die vorgesehenen Antwortvorgaben, stellen Rückfragen und liefern ausführliche Begründungen für ihre Antworten, obwohl solche weder gefragt sind noch registriert werden. Die InterviewerInnen benützen unterschiedliche Formen der Begrüssung und der Rückmeldungen, verändern den Wortlaut des Skripts, fügen Erklärungen bei und geben spontane Kommentare zu den Antworten der Befragten ab. Interessanterweise hatten jene InterviewerInnen, die stur den Text vom Bildschirm ablasen, weniger Erfolg bei ihrer <?page no="32"?> Die Erforschung sprachlicher Individualität 32 12 Zum Telefonieren nach Skript und dessen Problematik vgl. auch Antos (1989). Arbeit; ihnen verweigerten mehr Leute die Teilnahme an der Befragung als jenen, die es verstanden, der Umfrage durch Abweichung vom Skript einen persönlichen Anstrich zu verleihen. Johnstone deutet dieses Ergebnis so: Menschen wollen nicht mit Maschinen sprechen, sondern mit fassbaren anderen Menschen. In einer individualistischen Gesellschaft wie der amerikanischen gilt es zudem als unaufrichtig, eine Rolle zu spielen, “speaking lines”, sich nicht authentisch zu zeigen, und es gilt als unhöflich, den anderen wie eine Nummer zu behandeln, als puren Datenlieferanten. Daher sind bei einer Massenbefragung individuelle Abweichungen vom Skript und Variationen von Gespräch zu Gespräch, mit denen wenigstens andeutungsweise ein persönlicher Dialog hergestellt wird, nötig, angemessen, ein Gebot der Höflichkeit (ebd.: 126). Das Interagieren nach Skript 12 funktioniert nicht, auch die Arbeit im Call Center verlangt die individuelle Adaption des vorgeschriebenen Gesprächsablaufs sowie die Konstitution persönlicher Identität von beiden Gesprächspartnern. In einer zweiten Studie beschreibt Johnstone eine Seminarteilnehmerin und einen Seminarteilnehmer, die sich in den aufgezeichneten wissenschaftlichen Diskussionen auf je unterschiedliche Weise besonders erfolgreich zu profilieren verstehen. Sie stellt fest, dass die beiden je unterschiedliche rhetorische Strategien zu ihrer Profilierung einsetzen, zum Beispiel das Zusammenfassen oder Bewerten der Aussagen der anderen Diskussionsteilnehmer, der Gebrauch von inklusivem wir, emphatisches Sprechen oder die Fähigkeit, aus dem Stegreif elaborierte Argumentationen vorzutragen. Diese Strategien, so Johnstone, lassen sich weder auf die Gesprächssituation noch den Status der Teilnehmenden noch auf deren Geschlecht zurückführen, sondern sind den beiden Diskutanten als Individuen mit besonderen rhetorischen Fähigkeiten zuzuschreiben (ebd.: 86-88). In der letzten Studie geht Johnstone der Frage nach, wie konsistent Personen über verschiedene Situationen hinweg kommunizieren. Dazu untersucht und vergleicht sie mit statistischen Methoden Interviews und geschriebene Texte der US-Senatorin Barbara Jordan mit jenen der Sängerin und Schreiberin Sunny Nash. Ausgezählt werden stilistische Merkmale wie Nomen, lange Wörter, Adjektive, Pronomen in der 1. und 2. Person, W- Fragen, Demonstrativpronomen, “private verbs” wie think, feel, believe, “certainty adverbs” wie of course und vieles mehr als Indikatoren für Informationsdichte, Explizitheit, Interaktivität mit dem Publikum, Kohärenz, Selbstbezug, Referenz auf eigene Gedanken und Ausdruck von Sicherheit. Dabei zeigen sich nicht nur generelle Unterschiede zwischen den beiden Frauen, sondern Jordan erweist sich über die Situationen hinweg auch als viel konsistenter im Stil als die variantenreichere Nash. Daraus zieht Johnstone <?page no="33"?> Vorliegende Arbeiten und Ergebnisse 33 den Schluss: “Ways of acting and talking provided by regional, ethnic, vocational, and gender models (among others) can be adopted or resisted, used predictably or creatively, as can ways of acting and talking provided by certain audiences, situations, or topics.” (ebd.: 155). Die Erklärung für ihre Befunde sieht Johnstone darin, dass Menschen die Sprache dazu benützen, sich “a voice” zu verschaffen, persönliche Identität auszudrücken: “Recent models of variation have moved towards providing ways of understanding variation from individual to individual, because sociolinguists are increasingly coming, once again, to see variability as a resource for the expression of an individual’s identity.” (ebd.: 16). Näher geht Johnstone nicht auf Identitätstheorien ein. Ihr Zugang zu den Daten ist nicht von theoretischen Interessen geleitet, sondern vielmehr erklärtermassen ein ganz persönlicher, ja, ästhetischer. Als Schriftstellerin und Musikerin versteht sie den Menschen als expressives, gestaltendes Wesen und hört auf seine sprachlichen Äusserungen mit der Genauigkeit und dem ästhetischen Sinn einer Literatur- und Musikkritikerin. Vielleicht ist es dieser Verzicht auf einen theoretischen Überbau, der die Rezeption ihres Buchs im deutschen Sprachraum bisher behindert hat. Das ist umso bedauerlicher, als Johnstone in ihrem Buch implizit eine Methodologie der Erforschung sprachlicher Individualität vorlegt. In jeder der vier Studien wählt sie einen anderen methodischen Zugang und demonstriert damit, wie sprachliche Individualität erforscht werden kann. In der ersten, hier nicht besprochenen Studie, untersucht sie narrative Interviews und beschreibt Individualität als inhaltlich und sprachlich unterschiedliche Selbstdarstellung der InterviewpartnerInnen. In der zweiten Studie steht eine institutionelle, ausgeprägt musterhafte Interaktionsform im Zentrum der Untersuchung. Individualität zeigt sich in diesem Fall als individuelle stilistische Variation eines institutionell gegebenen Gesprächsmusters. In der dritten Studie zeigt sich Individualität als individuelle rhetorische Kompetenz von Individuen, die sich mit unterschiedlichen sprachlichen Strategien in der Diskussion zu positionieren und selbige zu steuern verstehen. In der vierten Studie schliesslich präsentiert Johnstone Individualität als situationsübergreifendes, individuelles Sprechprofil. Johnstone zeigt, dass Individualität auf allen sprachlichen Ebenen zu suchen und zu beschreiben ist: Auf der Ebene des Inhalts des Gesprochenen, auf der stilistischen und rhetorischen Ebene und auf der Ebene des Umgangs mit institutionellen Gesprächsmustern. Schliesslich sind ihre Studien erneut ein Beweis dafür, dass Individualität sich nur im und durch den Vergleich mehrerer Individuen erfassen lässt. Einen gänzlich anderen Ansatz verfolgt Spranz-Fogasy in seiner Habilitationsschrift mit dem Titel “Interaktionsprofile. Die Herausbildung individueller Handlungstypik in Gesprächen” (1997). Für ihn sind individuelle Handlungsweisen, im Gegensatz zu Johnstone, gerade nicht Ausdruck persönlicher Kompetenz und individuellen Gestaltungswillens, sondern Ergebnis des Interaktionsprozesses. Er definiert Interaktionsprofile folgendermassen: <?page no="34"?> Die Erforschung sprachlicher Individualität 34 Interaktionsprofile sind Handlungskonfigurationen einzelner Interaktionsteilnehmer, die auf der Basis des Interaktionshandelns aller Teilnehmer einer Interaktion zustandekommen, die sich interaktiv entwickeln und stabilisieren. Interaktionsprofile sind nicht präfiguriert, d.h. sie liegen nicht - z.B. als Rollenanforderung, als personale Attitüde oder partnerabhängige Handlungsdetermination - der jeweiligen Interaktion voraus. Sie sind ausschliesslich über Gesprächsaktivitäten definiert und insofern ein gesprächsanalytisches Basiskonzept. (ebd.: 109). Interaktionsprofile sind für Spranz-Fogasy prinzipiell emergente Phänomene, die sich im Verlaufe der Interaktion durch Kumulierung, Verdichtung und Dynamisierung zu einem Strukturmuster verdichten, zu einer Konsistenz und Persistenz im Verhalten des Fokusteilnehmers, der dieser selbst nicht mehr entrinnen kann. So kann zum Beispiel der in einer Fallstudie vorgestellte Diskussionsteilnehmer seinem interaktiv generierten Profil des “Störenfried” nicht mehr entkommen, da alle seine Gesprächsaktivitäten und die seiner Mitdiskutanten als Fortsetzung des Musters “Stören” behandelt werden. Interaktionsprofile sind Resultat der Interaktion selbst, eine kausale oder ontologische Rückführung auf situationale oder personale Faktoren lehnt Spranz-Fogasy explizit ab (vgl. Zitat). Zur Unterstützung dieser Annahme führt er einen Schlichter und eine Mutter vor, die in Abhängigkeit von den Interaktionspartnern (die Konfliktparteien beim Schlichter) oder vom Gesprächsthema (der Konfliktstoff zwischen Mutter und Tochter) ein unterschiedliches Interaktionsprofil entwickeln. Im letzten Teil der Arbeit beschreibt Spranz-Fogasy Muster von Profildynamiken und Profilbeziehungen. Interaktionsprofile können eskalieren, progredieren, stagnieren oder sich erschöpfen, und sie können im Wechselspiel miteinander statuserhaltend, indifferent, konfliktär oder konkordant wirken. Die Argumentation von Spranz-Fogasy ist hier nicht mehr stringent. Wenn er behauptet, dass bei einer konfliktären Beziehung “die mutuell relevanten Strukturelemente einer Profildyade in konträrem bzw. polarem Sinne gegeneinander gerichtet” sind und dadurch ein Konfliktpotenzial entsteht, “das sich im Interaktionsverlauf perpetuiert und intensiviert” (ebd.: 248), so geht er ganz offenbar davon aus, dass die Interaktionsteilnehmer von Beginn an konstante Verhaltensweisen zeigen, die sie im Interaktionsverlauf nicht ändern - sonst kämen Eskalation und Stagnation ja nicht zustande. So gesehen wären es nicht die Interaktionsprofile, die dynamisch sind und im Verlaufe der Interaktion emergieren, die Dynamik der Interaktion käme vielmehr durch das Aufeinanderprallen kongruenter oder konfligierender, in sich aber konsistenter Interaktionsprofile zustande. Die “Emergenz” läge somit nicht in der Sache, im Interaktionsprofil, sondern im Auge des Beobachters (und der anderen Interaktionsteilnehmer). Für diese Sicht sprechen Spranz-Fogasys eigene Daten und Interpretationen. Wenn er schreibt: “Gleich zu Beginn seiner interaktiven Karriere sorgt <?page no="35"?> Vorliegende Arbeiten und Ergebnisse 35 13 Was angesichts des auf Konfrontation angelegten Sendekonzepts - es handelt sich um ein Streitgespräch - auch überraschen würde, da ein geändertes interaktives Verhalten als inhaltliche Konzession an den Gegner gedeutet werden könnte. 14 Vgl. dazu die Kritik bei Spiegel (2003: Abschnitt 1.3). Glatte […] dafür, dass er mit einer unlösbaren Aufgabe konfrontiert wird” (ebd.: 141) oder “die ersten Interventionen von Frau Beck […] sind bereits Anzeichen der alternativen Handlungs- und Beteiligungsweise” (ebd.: 159), so macht er selber deutlich, dass der sich anbahnende Konflikt von Beginn an in der Konstellation der Teilnehmer und deren Verhalten angelegt ist: “Jede weitere Aktivität dreht diese Spirale weiter und verstärkt die inhärente negative Dynamik des Geschehens um diesen Teilnehmer” (ebd.: 143). Der “Störenfried” entsteht, weil sich die Beteiligten nicht ändern. 13 Auch der Fall des Schlichters, dem das interaktive Geschehen in einem der untersuchten Gespräche ausser Kontrolle gerät, ist meines Erachtens schlecht damit zu erklären, dass er in diesem Schlichtungsgespräch ein anderes Interaktionsprofil als sonst entwickeln würde, sondern viel eher damit, dass er sein Verhalten eben nicht zu ändern vermag und damit der aggressiven Klientin nichts entgegenzusetzen hat: weil er “diesen Krisen nur auf der Basis seiner Handlungsorientierung auf Schlichtung zu begegnen sucht” (ebd.: 99), wie der Autor selber konstatiert. Für Spranz-Fogasy ist Individualität ein emergentes, interaktives Phänomen. Meines Erachtens lassen sich seine Daten aber auch anders deuten, nämlich als Zeugnis für im Wesentlichen gleich bleibende Interaktionsprofile, die je nach Teilnehmerkonstellation in der Interaktion eine typische Dynamik entstehen lassen. Spranz-Fogasys Arbeit ist insofern ein wertvoller Beitrag zur Erforschung sprachlicher Individualität, als sie aufzeigt, dass die Erforschung sprachlicher Individualität methodisch sowohl die Beobachtung mehrerer Individuen in derselben Situation als auch die Beobachtung eines Individuums in verschiedenen Situationen voraussetzt. Ausserdem wird er dem genuin gesprächsanalytischen Ansatz, die Interaktivität sprachlicher Phänomene in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen, besser gerecht als Johnstone, die jeweils nur das Sprechen einer Person betrachtet und interaktive Phänomene weitgehend ausklammert. Wo Johnstone lediglich Sprechprofile sieht, erstellt Spranz-Fogasy Interaktionsprofile. Allerdings fällt Spranz-Fogasy hinter den eigenen Anspruch, sprachliche Individualität zu beschreiben, teilweise selbst zurück, indem er die beschriebenen Individuen eben nicht als Individuen betrachtet, sondern wiederum als Repräsentanten eines mit einem Etikett versehenen Typus (die drei Moderatoren zum Beispiel als “Spielleiter”, “Showmaster”, “Tribunalvorsitzender”, ebd.: 67ff). 14 Ausserdem wird seine Annahme, individuelle Handlungstypik sei nicht dem Individuum zuzuschreiben, sondern Ergebnis der Interaktionsdynamik, eine Annahme, die Spranz-Fogasy zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung macht und nicht etwa als Ergebnis präsentiert, im Verlaufe seiner Analysen nicht be- <?page no="36"?> Die Erforschung sprachlicher Individualität 36 15 Vgl. dazu die Beiträge in Deppermann/ Spranz-Fogasy (2002). stätigt, sondern eher widerlegt. Spranz-Fogasys Arbeit ist ein Beispiel dafür, wie in der gegenwärtigen Linguistik sprachliche Individualität zwar zum Thema gemacht, aber gleichzeitig - groteskerweise - das Individuum nach wie vor als Bezugspunkt und als erklärende Variable eliminiert wird: Indem sprachliche Phänomene als “emergent”, als lediglich im und durch den Interaktionsprozess entstehend und ansonsten inexistent erklärt werden; 15 indem sprachliche Phänomene wie die untersuchte “individuelle Handlungstypik” vom sprechenden Individuum losgelöst und in einen imaginären Interaktionsraum ausgelagert werden, wo sie ohne Rückbindung an ihren Urheber ihres weiteren Schicksals harren. Das Individuum als körperlichseelische Entität und eindeutig identifizierbarer Urheber seiner sprachlichen Äusserungen wird ignoriert. Dieser Verabsolutierung und Reifizierung einer konstruktivistischen Sichtweise kann ich nicht folgen. Als dritte und letzte hier vorgestellte Gesprächsforscherin hat sich Spiegel mit sprachlicher Individualität auseinandergesetzt. In ihrer ersten Arbeit (Spiegel 2002) betrachtet sie Individualität ähnlich wie Spranz-Fogasy als emergentes Phänomen, wobei sie betont, dass die Emergenz nur im Auge der Beobachterin liegt. Sie beobachtet Schulklassen und stellt fest: “Aus der relativ gleichförmig scheinenden Gruppe gibt es (zunächst) einige wenige, die in der und durch die Unterrichtsinteraktion eine individuelle Kontur bekommen.” (Spiegel 2002: 513). Eine individuelle Kontur bekommen die SchülerInnen durch einfache und komplexe Formen der Selbst- und Fremdstilisierung, und die komplexen Formen “bilden sich im Interaktionsverlauf schrittweise heraus” (ebd.: 516). Spiegel wirft zwar die Frage auf, ob diese Individualitätskonturierungen nur von der Beobachterin oder auch von den Beteiligten so wahrgenommen werden (ebd.: 513, Anm. 1), kann sie aber mit ihren Daten - Analyse einer einzigen Unterrichtseinheit - nicht beantworten. Meines Erachtens ist es mehr als fragwürdig, bei einer Schulklasse die sukzessive Herausbildung von Individualität innerhalb einer Schulstunde nachweisen zu wollen. Wenn einzelne Schüler sich als “Öko” oder “Hiphopper” profilieren, so mag das für die uneingeweihte Beobachterin die Herausbildung einer individuellen Kontur darstellen, für die KameradInnen, die mit diesen Schülern teilweise seit Jahren in der gleichen Klasse sitzen, stellt sich dasselbe Verhalten vermutlich wesentlich konstanter, ja stereotyper dar, als das ‘Abspielen der immer gleichen Platte’. Spiegel neigt in dieser Arbeit wie viele andere Gesprächsforschende dazu, die Methode zu reifizieren und die Ausschnitthaftigkeit und Sequenzialitätstreue gesprächsanalytischer Beobachtung mit der Lokalität und Prozessualität der untersuchten Phänomene gleichzusetzen. Das sukzessive Erkennen der Individualität einer Person (durch den Beobachter oder die InteraktionspartnerInnen) wird gleichgesetzt mit dem sukzessiven Entstehen von Individualität - ganz nach dem <?page no="37"?> Vorliegende Arbeiten und Ergebnisse 37 Diktum von Wittgenstein: “Man prädiziert von der Sache, was in der Darstellungsweise liegt” (Philosophische Untersuchungen §104). In ihrer späteren Arbeit nimmt Spiegel einen anderen Standpunkt ein und betont, dass eine Schülerrolle wie jene der “Assistentin des Lehrers” nicht in einer Lektion etabliert wird, sondern eine über Wochen und Monate interaktiv herausgebildete und aufrecht erhaltene Konstellation darstellt, die sich jedoch durchaus in einer einzelnen Unterrichtssequenz nachweisen lässt (Spiegel 2006). In ihrer Habilitationsschrift zum Thema Interaktion im Deutschunterricht (Spiegel 2006) widmet sich Spiegel in Kapitel 8 den individuellen Stilen und Rollen der Beteiligten. In einem breit angelegten Vergleich untersucht sie, wie drei Lehrpersonen dieselbe interaktive Aufgabe lösen, nämlich die Durchführung einer Unterrichtseinheit zum Thema Argumentieren. Sie kann zeigen, dass die drei Lehrpersonen zentrale institutionelle Gesprächsmuster wie “Unterrichtsbeginn und Diskussionseröffnung”, “Themenbehandlung und Themenwechsel” und “Behandlung der Schülerbeiträge” auf je individuelle Weise handhaben. Drei Punkte im Verhalten der Lehrenden erwiesen sich als relevant für den Fortgang der Interaktion: Die Wahl, Kombination und Realisation der verschiedenen möglichen Gesprächshandlungstypen, die Interpretation der Lehrerrolle (als Lehrende, Moderierende und Gesprächsbeteiligte) sowie die Gestaltung der Beziehung zu den SchülerInnen (ebd.: 214). Im vorangehenden Abschnitt untersucht sie, wie einige SchülerInnen es verstehen, für sich über die Schülerrolle hinaus gehende individuelle Interaktionsrollen wie den “Experten” oder die “Assistentin des Lehrers” zu konstituieren (vgl. oben). Spiegel berichtet, dass sie durch die Beobachtung der Lehrenden über mehrere Lektionen hinweg feststellen konnte, dass die Lehrenden auffielen “durch Vorlieben für bestimmte Gesprächsmodalitäten oder Darstellungsweisen, aber auch für die individuelle Gestaltung der Beziehung zu den Klassen, die auch die Gesprächsmodalität prägen und über die Klassenstufen hinweg rekurrent in Erscheinung traten” (ebd.: 218). Der Hinweis auf die Rekurrenz im Verhalten sowohl der Lehrenden als auch der SchülerInnen zeigt, dass Spiegel nun die Konstanz im Verhalten der Individuen zum eigentlichen Kennzeichen ihrer Individualität erhebt. Sie kommt zum Schluss, dass die schulische Interaktion “in nicht unerheblichem Mass von der Persönlichkeit der Lehrenden” abhängt (ebd.: 218). Im Gegensatz zu Johnstone führt Spiegel nicht nur empirische Analysen individueller Handlungskonturierungen durch, sondern bettet diese ein in theoretische und methodische Überlegungen zur Erforschung sprachlicher Individualität. Ausgangspunkt ihrer Argumentation ist die Feststellung, dass soziale Ereignisse nicht nur von den institutionellen Rahmenbedingungen bestimmt werden, sondern auch von den individuellen Handlungsweisen der Beteiligten. “Insofern die individuellen Handlungsweisen von Interaktanten Einfluss auf das Interaktionsgeschehen haben, sind sie interaktions- <?page no="38"?> Die Erforschung sprachlicher Individualität 38 16 Die Gleichsetzung von Individualität und persönlicher Identität ist nicht unproblematisch. Ich gehe im letzten Kapitel dieser Arbeit genauer auf das Verhältnis von Individualität und Identität ein. 17 In ihrer früheren Arbeit hatte Spiegel, in Anlehnung an Willems (“Individualität kann sich nur als Abweichung vom Erwarteten thematisieren”, Willems 1999: 64), noch behauptet, für die Beobachterin entstünden Individualitätskonturierungen durch “Erwartungs- Enttäuschungen, aus Handlungen oder Verhaltensweisen, die kontrastierend zur Standard-Handlungsdurchführung der Umgebung auffallen und dadurch zur Ausbzw. Abgrenzung führen.” (Spiegel 2002: 532). relevant und daher gleichfalls Gegenstand dieser Analyse.” (ebd.: 176). Weil der individuelle Unterrichtsstil der Lehrenden Einfluss auf die schulische Interaktion hat, muss er bei der Untersuchung von Unterrichtskommunikation berücksichtigt werden. Individualität definiert Spiegel als “die Summe der Eigenschaften, die eine Person für andere unverwechselbar macht, aber auch die jeweiligen einzelnen Merkmale, die die Besonderheit der Person ausmachen”. Die wesentlichen semantischen Komponenten von Individualität sind “Einzigartigkeit” und “Distinktivität”, daher kann Individualität mit “Ich-Identität” im Sinne Elias’ und mit “persönlicher Identität” im Sinne Goffmans gleichgesetzt werden. 16 Der persönlichen Identität steht die “soziale Identität” gegenüber “als dasjenige, was eine Person mit anderen Personen oder Gruppen als Gemeinsames unterstellt.” (ebd.: 180). Spiegel betont, dass die Gesprächsforschung, namentlich die Soziostilistik, sich bisher vor allem der interaktiven Generierung sozialer Identitäten sowie überindividuellen, typischen Verhaltensweisen gewidmet hat. “Die Interagierenden erscheinen in erster Linie als Repräsentanten und Repräsentantinnen bestimmter Typen und Rollen, die Aktivitäten nach erwartbaren Mustern realisieren.” Individuelle Verhaltensweisen wurden, wenn überhaupt, als Abweichung vom Erwartbaren in den Blick genommen (ebd.: 183). Ihr geht es demgegenüber “um diejenigen Merkmale und Verhaltensweisen von Subjekten, die ihnen individuell zugeschrieben werden können bzw. an denen sie erkennbar sind und die folglich losgelöst von einer singulären Interaktionssituation sind. Dabei handelt es sich z.B. um solche Indices, die bei aller Anonymisierung von Transkripten Vertraute ahnen lassen, wer sich dahinter verbergen mag.” (ebd.: 186). Methodisch plädiert Spiegel für die Verwendung des Stilbegriffs und für die stilistische Methode des Vergleichs, stellt sich zugleich aber gegen eine Auffassung von Individualstil als Abweichung. 17 Es geht vielmehr darum, “individuelle Merkmale aufzuspüren, die weder erkennbar abgesetzt sind vom konventionell Erwartbaren noch auf der kommunikativen Oberfläche liegen, und die über eine aktuelle Interaktionssituation hinaus stabil sind” (ebd.: 186). Voraussetzung zur Identifizierung dieser individuellen Merkmale ist eine “Korpusauswahl, die schemahafte Aktivitäten beinhaltet, welche einerseits eine Person über vergleichbare Interaktionssituationen hinweg <?page no="39"?> Sprachliche Individualität erforschen: Methodische Grundlegung 39 realisiert als auch von anderen Interagierenden in vergleichbaren Rollen durchgeführt werden” (ebd.: 186). Durch den Vergleich mehrerer Individuen lässt sich feststellen, auf welche Weisen musterhafte Aktivitäten individuell realisiert werden, und durch die Beobachtung eines Individuums über mehrere Interaktionen hinweg kann festgestellt werden, welche seiner Verhaltensweisen rekurrent und somit dem Individuum selbst (und nicht situativen Faktoren) zuzuschreiben sind. Die Bestimmung eines Merkmals als individuell geschieht dabei prinzipiell aus der Aussenperspektive, durch die Interaktionspartner oder die Beobachterin. Finden lassen sich individuelle Handlungsrealisierungen auf allen Interaktionsebenen: Als Präferenz für eine Modalität oder Sachverhaltsdarstellung, als bestimmte Art der Handlungsdurchführung (oder -verweigerung), als spezielle Art der Beziehungskonstitution und schliesslich als stilistische Merkmale auf der Sprachoberfläche, so “die Vorliebe für bestimmte Floskeln, bestimmte syntaktische Konstruktionen und/ oder deren Wiederholungen sowie individuelle Intonationskonturen.” (ebd.: 187). In einem Wort: Spiegel fordert die Erforschung sprachlicher Individualität als Notwendigkeit, da individuelle Verhaltensweisen den Fortgang der Interaktion mitbestimmen, sie formuliert als Ziel der gesprächsanalytischen Untersuchung die Identifizierung jener sprachlichen Merkmale, die ein Individuum in seiner Einzigartigkeit ausmachen, und sie plädiert methodisch für den stilistischen Vergleich individueller Durchführungen musterhafter Aktivitäten. In ihrer Schlussbetrachtung fordert sie die Gesprächsforschenden auf, “kritisch zu reflektieren, inwieweit als allgemein beschriebene Aktivitäten und Handlungstypen tatsächlich nicht individuellem Handeln zugeschlagen werden können.” (ebd.: 227). Welche theoretischen und methodischen Konsequenzen bezüglich der Erforschung sprachlicher Individualität sind aus den vorgestellten Arbeiten abzuleiten? Das ist das Thema das nächsten Abschnittes. 2.3 Sprachliche Individualität erforschen: Methodische Grundlegung In diesem Abschnitt werde ich zusammenfassen und mit eigenen Überlegungen ergänzen, was in den im letzten Abschnitt besprochenen Arbeiten zu sprachlicher Individualität in Bezug auf die Gegenstandskonstitution, auf die Ziele bzw. Zielkategorien der Analyse und in Bezug auf die Methode zur Erforschung sprachlicher Individualität gesagt wurde. Anschliessend erläutere ich mein eigenes Vorgehen und den Aufbau der weiteren Arbeit. <?page no="40"?> Die Erforschung sprachlicher Individualität 40 Gegenstandskonstitution Die genannten AutorInnen stellen einzelne Individuen in das Zentrum ihrer Analyse und erheben sprachliche Individualität zum Gegenstand ihrer Untersuchung. So ähnlich diese Gegenstandskonstitution auf den ersten Blick ist, so unterschiedlich sind die Motive und Begründungen der AutorInnen, sich mit dem sprechenden Individuum auseinanderzusetzen. Bürkli begründet ihr Unterfangen, Varietäten auf der Ebene des einzelnen Individuums zu untersuchen, unter Berufung auf Macha (1991) und Häcki Buhofer (1998, 2000b) damit, dass Sprache nur in Form individueller Sprachprodukte vorliegt und daher vor jeglicher Verallgemeinerung das Sprechen von Individuen untersucht werden muss - ein theoretisch-methodisches Argument also. Spiegel leitet die Untersuchung einzelner Individuen empirisch her, aus der Beobachtung, dass individuelle Verhaltensweisen den Fortgang der Interaktion mitbestimmen und somit als erklärende Variable in die Untersuchung mit einbezogen werden müssen. Johnstone und Spranz- Fogasy lassen sich eher von persönlichen Motiven leiten: von der grundsätzlichen Überzeugung, dass das Individuum einen zu untersuchenden Wert an sich darstellt, einerseits, von der leidvollen Erfahrung, dass das Individuum Opfer nicht mehr steuerbarer interaktiver Dynamiken werden kann, andererseits (Spranz-Fogasy 1997: 7). Für meine Arbeit waren vor allem empirische Gründe ausschlaggebend: die Feststellung, dass die beobachteten Call Agents ihre an sich schemahafte Arbeit unterschiedlich verrichten und damit einerseits als Individuen deutlich aus der Masse der Agents heraustreten und andererseits bei ihrer Arbeit unterschiedlich erfolgreich sind. Letzteres ist entscheidend, denn der unterschiedliche kommunikative Erfolg, der mit individuellem sprachlichem Verhalten verbunden ist, stellt für eine Sprachwissenschaft, die sich nicht nur der Grundlagenforschung, sondern auch der Angewandten Forschung widmen will, ein gewichtiges Argument dar, sich mit sprachlicher Individualität auseinanderzusetzen. Eine Sprachwissenschaft, welche Menschen bei ihren kommunikativen Aufgaben unterstützen und beraten will, kann nur beim Individuum ansetzen. Es sind einzelne Individuen, die in ihrem sprachlichen Verhalten bewertet, kritisiert, ausgebildet und trainiert werden können. Bei meiner beratenden Tätigkeit in den Call Centern der Schwyzer Bank wurde rasch deutlich, dass allgemeine Empfehlungen zur Gestaltung der Telefongespräche nur dann Erfolg hatten, wenn es jedem einzelnen Agent gelang, diese allgemeinen Empfehlungen in individuelle Verhaltensstrategien umzusetzen und in seinem persönlichen Stil zu verwirklichen. Die vorliegende Arbeit hat keinen angewandten Charakter; ich werde - im Gegensatz zu meiner Tätigkeit bei der Schwyzer Bank - keine Bewertungen vornehmen oder Empfehlungen abgeben. Die Arbeit hat Grundlagencharakter; sie will aufzeigen, wie sprachliche Individualität überhaupt erforscht und beschrieben werden kann. Aber die Legitimation, mich mit <?page no="41"?> Sprachliche Individualität erforschen: Methodische Grundlegung 41 18 Aufgrund dieser Ambivalenz war in den vorangehenden Abschnitten auch meine Terminologie nicht einheitlich, sondern schwankte zwischen “sprachliche Individualität” und “sprachliches Verhalten des Individuums”. 19 Interessant ist in diesem Zusammenhang der Umgang der AutorInnen mit den Personenbezeichnungen. Bürkli bezeichnet ihre Gewährspersonen mit deren betrieblichen Funktion wie “der Portier” oder “die Sachbearbeiterin”. Spranz-Fogasy nennt die TeilnehmerInnen von öffentlichen Diskussionen bei ihrem richtigen Namen, die Parteien der zitierten Schlichtungsgespräche tragen fiktive Namen, die Beteiligten an den privaten Streitgesprächen hingegen werden nur kategorial als “Mutter” und “Tochter” bezeichnet. Johnstone verfährt ähnlich: Massenmedial bekannte Personen werden bei ihrem Namen genannt, einzeln porträtierte Personen tragen fiktive Namen, die Call Agents und Umfrageteilnehmer des Texas Poll hingegen haben keine Namen. Bei Spiegel schliesslich tragen die meisten Porträtierten fiktive Namen. Meines Erachtens ist es sinnvoll, bei der Porträtierung einzelner Personen diesen Namen zu geben und sie nicht durch kategoriale sprachlicher Individualität zu befassen, beziehe ich aus der Überzeugung, dass eine Sprachwissenschaft nur dann sinnvoll ist, wenn sie Konzepte und Methoden entwickelt, welche die praktische Anwendung in der Gesellschaft ermöglichen. Das von mir entwickelte “Interaktionsprofil” ist ein solches Konzept, welches nicht nur die Beschreibung des sprachlichen Verhaltens eines Individuums erlaubt, sondern auch praktische Anwendungsmöglichkeiten eröffnet. Ziele Die Ziele bzw. die Zielkategorien, welche die obgenannten AutorInnen mit ihren Arbeiten verfolgen, liegen auf verschiedenen sprachlichen Ebenen und Abstraktionsgraden. Bürkli hat zum Ziel, den Varietätengebrauch einzelner Individuen zu beschreiben, mithin deren Idiolekt. Als Varietätenforscherin beschränkt sie sich auf die “Aussprache”, stilistische oder rhetorische Verhaltensweisen der Gewährspersonen kommen nicht in den Blick. Spiegel untersucht individuelle kommunikative Stile, die damit verbundenen Rolleninterpretationen und den Einfluss individueller Stile auf den Fortgang der Interaktion. Johnstone untersucht individuelle Stile, rhetorische Strategien und Sprechprofile und fasst diese zusammen im metaphorischen Konzept der voice. Spranz-Fogasy untersucht vor allem die rhetorischen Strategien der verschiedenen Individuen und fasst sie unter das abstrakte Konzept der Handlungstypik. Bei allen Arbeiten bleibt in Bezug auf das Ziel eine Frage weitgehend ungeklärt; die Frage, ob das Ziel darin besteht, individuelle sprachliche Variation zu beschreiben, also das Spektrum individueller Verhaltensmöglichkeiten in einer bestimmten Situation, oder ob es darum geht, das sprachliche Verhalten eines konkreten Individuums zu beschreiben, quasi ein sprachliches Porträt zu erstellen. 18 Bei Bürkli und Spranz-Fogasy bleibt der Stellenwert der Analyse einzelner Angestellter bzw. Diskussionsteilnehmer unklar: Ist das Ziel das Porträt dieser Personen, oder geht es darum, das Spektrum individueller Verhaltensmöglichkeiten aufzuzeigen? 19 Bei Johnstone finden sich beide <?page no="42"?> Die Erforschung sprachlicher Individualität 42 Bezeichnungen wie “Mutter” oder “Schüler” auf eine Rolle zu reduzieren und damit eine bestimmte Interpretation des Gesprächs vorwegzunehmen. Vorgehensweisen nebeneinander: Bei der Analyse der Meinungsumfrage zeigt sie Mustervariationen auf, hat also individuelle sprachliche Variation im Visier, beim Vergleich zwischen der Senatorin Jordan und der Sängerin Nash erstellt sie eindeutig Personenporträts. Lediglich bei Spiegel ist der Stellenwert der Analyse einzelner Personen klar: Sie erstellt Personenporträts, um daran zu zeigen, dass individuelle Interaktionsweisen einen nachweisbaren Einfluss auf institutionell präfigurierte Interaktionen haben. Ich verfolge in meiner Arbeit beide Ziele. Im ersten Teil wird es darum gehen, individuelle sprachliche Variation aufzuzeigen, mithin das ganze Spektrum individueller stilistischer und rhetorischer Verhaltensmöglichkeiten in einer gegebenen Situation. Im zweiten Teil sollen sprachliche Porträts einzelner Individuen erstellt werden. Ich werde dafür den Begriff individuelles Interaktionsprofil verwenden. Solange es um das breite Spektrum möglicher Verhaltensweisen geht, werde ich von “Agents” und “KundInnen” sprechen, dort, wo es um das sprachliche Verhalten eines ganz konkreten Individuums geht, werde ich den Agents und KundInnen fiktive Namen geben. Methodische Grundsätze Was das methodische Vorgehen zur Erforschung sprachlicher Individualität betrifft, so herrscht unter den genannten AutorInnen weitgehend Einigkeit: 1. Sprachliche Individualität kann nur durch den intra- und interindividuellen Vergleich mehrerer Individuen erfasst werden, nicht durch die Beschreibung eines Individuums allein. Dazu braucht es ein Korpus, in welchem sowohl mehrere Personen in der gleichen Situation als auch eine Person in mehreren Situationen repräsentiert sind. 2. Bei der Erforschung sprachlicher Individualität steht jeweils ein Individuum im Fokus. Dessen Äusserungen dürfen jedoch nicht isoliert interpretiert werden, sondern nur im Kontext der Äusserungen seiner Interaktionspartner und der Situation. 3. Individualität findet sich auf allen sprachlichen Ebenen: Bei der Wahl der Varietät, beim Sprechstil, beim Umgang mit institutionellen Gesprächsmustern, bei der Präferenz für bestimmte rhetorische Strategien, bei der Rollen- und Beziehungsgestaltung usw. Je nach Untersuchungsziel kann eine Ebene bevorzugt analysiert werden, das sprachliche Porträt eines Individuums ist aber nur dann vollständig, wenn sein Verhalten auf allen Ebenen beschrieben ist. Das “usw.” in Punkt 3 weist auf ein methodisches Grundproblem bei der Erforschung sprachlicher Individualität hin: Die Zahl der analysierbaren <?page no="43"?> Sprachliche Individualität erforschen: Methodische Grundlegung 43 sprachlichen Merkmale ist potenziell unbegrenzt und überschreitet schnell einmal die Kapazitäten einer einzelnen Forscherin. Während sich die Gesprächsforschenden in der Regel mit einem einzigen sprachlichen Phänomen en détail beschäftigen, mit Prosodie oder Höflichkeit, mit Argumentationsformen oder situativen Rollengestaltungen usw., sollte eine Linguistin, die das sprachliche Porträt eines Individuums erstellen will, all diese Gebiete gleichzeitig beherrschen und in einer einzigen Analyse vereinen. Dabei läuft sie Gefahr, nicht nur in einigen linguistischen Teilgebieten zu dilettieren, sondern auch Begriffe und Konzepte in ein und derselben Arbeit zu verwenden, die von ihrer paradigmatischen Herkunft her eigentlich inkompatibel sind, zum Beispiel die Konzepte “Gesprächsmuster” und “Positionierung”, die einem funktional-pragmatischen bzw. konstruktivistischen Paradigma verpflichtet sind. Doch die Vielfalt der Erscheinungsformen sprachlicher Individualität lässt die Beschränkung auf ein Konzept nicht zu. Individualität zeigt sich im individuellen Umgang mit Gesprächsmustern ebenso wie bei den Positionierungen, in der Prosodie ebenso wie in der Präferenz für bestimmte Höflichkeitsformen. Dem Vorwurf des Dilettantismus und des Ekklektizismus setze ich mich in dieser Arbeit bewusst aus. Die Verwendung unterschiedlicher, auf den ersten Blick nicht kompatibler Konzepte dient dem Ziel, sprachliche Individualität ohne theoretisch-methodisch bedingte Vorab-Reduktion zu beschreiben. Damit hoffe ich, einer holistischen Dialoganalyse, wie Holly (1992) sie fordert, näher zu kommen. So wie ein ganzheitlich orientierter Mediziner versuchen muss, die Erkenntnisse der Chirurgie, der inneren Medizin, der Neurologie, der Psychologie usw. zu vereinen, um ein vollständiges Bild vom Gesundheitszustand eines Menschen zu gewinnen, so muss die am Individuum interessierte Linguistin die Erkenntnisse der Phonetik, der Varietäten-, Stil- und Höflichkeitsforschung, der Diskurs- und Konversationsanalyse, der Gesprächsrhetorik, der Soziolinguistik usw. sich gleichermassen zu Nutze machen, um valide Porträts ihrer Gewährspersonen zu erstellen. Wie gehe ich konkret vor? Vorgehen Wie in der Einleitung erläutert, ist sprachliche Individualität nicht gleichzusetzen mit dem sprachlichen Verhalten von Individuen insgesamt. Jedes Individuum ist situativen Zwängen ausgesetzt, die einen Teil seines Verhaltens bestimmen bzw. die das Individuum dazu veranlassen, sich wie alle anderen Individuen in derselben Situation zu verhalten: “Das faktische Handeln eines Individuums unterliegt Restriktionen, die man auf der Ebene semiotischer Objektivation mit einer Menge limitativer Regeln beschreiben könnte. Solche Limitationen sind aus den Strukturelementen des Sozialsystems ableitbar.” (Hess-Lüttich 1980b: 138). Von Individualität spreche ich nur dort, wo ein Individuum sich in seinem Verhalten erkennbar von ande- <?page no="44"?> Die Erforschung sprachlicher Individualität 44 20 “Sich unterscheiden” ist nicht gleichzusetzen mit “abweichen”. Für viele sprachliche Handlungen gibt es mehrere konventionelle Arten der Duchführung (Sandig 1986: 46), die sich wohl voneinander unterscheiden, von denen aber keine als die “normale” oder als die “abweichende” bezeichnet werden kann. Mehr dazu in Kapitel 6. ren unterscheidet. 20 So steht es einem Individuum im deutschen Sprachraum nicht frei, ob es einen Gruss mit einem Gegengruss beantworten will, es steht vielmehr unter dem Zwang zu grüssen, wenn es nicht zum sozialen Aussenseiter werden will, aber die Wahl der Grusses - “guten Tag”, “hallo” - steht ihm frei und kann zusätzlich prosodisch individuell variiert werden. Die Analyse sprachlicher Individualität setzt daher die genaue Kenntnis der situativen Faktoren voraus: des institutionellen Umfelds, der geltenden Regeln und der kommunikativen Bedingungen im untersuchten Feld (vgl. Spiegel 2006: 188). Daher werde ich im nächsten Kapitel, nach grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von Individuum und Institution, die Call Center der Schwyzer Bank und die in ihnen herrschenden Regeln beschreiben sowie die Charakteristika von Telefongesprächen diskutieren. Die Kenntnis des institutionellen Umfelds, der geltenden Regeln und der kommunikativen Bedingungen genügt aber nicht, vielmehr muss bekannt sein, in welchen konkreten Aufgabenschemata und Gesprächsmustern sich diese situativen Faktoren niederschlagen. Kapitel 5 ist der Herausarbeitung der für die Call Center der Schwyzer Bank typischen Aufgabenschemata und Gesprächsmuster gewidmet. Sie stellen das Überindividuelle dar, das Konventionelle, die limitativen Regeln in der Terminologie von Hess-Lüttich. Erst vor dem Hintergrund der Kenntnis der vom Individuum kaum hintergehbaren limitativen Regeln können in einem zweiten Schritt die individuellen Variationen bei der Realisierung der Gesprächsmuster, die figurativen Regeln, bestimmt werden. Die anschliessenden zwei Kapitel sind individueller sprachlicher Variation gewidmet. Es geht darum, das Spektrum individueller sprachlicher Verhaltensmöglichkeiten bei der Durchführung der institutionell gegebenen Aufgabenschemata und Gesprächsmuster aufzuzeigen. In einem gewissen Sinne wird dabei der analytische Prozess umgedreht bzw. der hermeneutische Zirkel geschlossen: Jene individuellen Variationen an der sprachlichen Oberfläche, von denen im Hinblick auf das Auffinden der den Gesprächen zu Grunde liegenden Muster abstrahiert wurde, werden als individuelle Realisierungen der postulierten Muster wieder sichtbar gemacht. Dabei fokussiere ich zwei sprachliche Ebenen, die stilistische Ebene und die rhetorische Ebene. In Kapitel 6 erfasse ich Individualität als stilistische Variation einzelner Gesprächsmuster. Theoretisch beziehe ich mich auf das Konzept des individuellen Stils, Grundlage der Analyse bilden Teilkorpora mit ausgewählten Gesprächssequenzen. In Kapitel 7 erfasse ich Individualität als die je individuelle Art und Weise, in der ein Individuum sich im Gespräch zu positionieren und das Gespräch zu steuern versucht. Theoretische Bezugs- <?page no="45"?> Sprachliche Individualität erforschen: Methodische Grundlegung 45 punkte sind die Konzepte der Positionierung und der Gesprächssteuerung, Grundlage der Analyse bilden einzelne Gespräche, die vollständig analysiert werden. Kapitel 8 widme ich dem Ziel, sprachliche Porträts einzelner Individuen zu erstellen. Diese Porträts sollen sämtliche sprachlichen Ebenen abdecken und so detailliert sein, dass die beschriebenen Individuen eindeutig identifizierbar sind. Mit diesem Anspruch der eindeutigen Identifizierbarkeit wurde das sprachliche Verhalten von Individuen meines Wissens noch nie untersucht. Daher kann ich auf kein bewährtes methodisches Instrumentarium oder theoretisches Konzept zurückgreifen. Vielmehr habe ich das methodische Instrumentarium und Konzept für meine Zwecke erst entwickelt. Mit einem 35 sprachliche Merkmale umfassenden Interaktionsprofil versuche ich, vier Angestellte in ihrem sprachlichen Verhalten bei ihrer Arbeit im Call Center vollständig zu erfassen und zu beschreiben, von der Stimme über die syntaktisch-lexikalischen Präferenzen bis zu den Positionierungen, vom Varietätengebrauch über das Rückmeldeverhalten bis zur Höflichkeit. Dabei greife ich auf die in den Kapiteln 6 und 7 erarbeiteten Ergebnisse zurück. Grundlage der Analyse bildet ein Teilkorpus von 20 Gesprächen, das vollständig ausgewertet wird. Im letzten Kapitel gehe ich der Frage nach, warum sprachliche Individualität existiert und sich auf allen sprachlichen Ebenen nachweisen lässt, warum Individuen sich salopp ausgedrückt “die Mühe machen”, institutionelle Gespräche individuell zu gestalten, und welches die Einflussgrössen sein könnten, welche bewirken, dass sich ein bestimmtes Individuum gerade so und nicht anders verhält. <?page no="46"?> 1 Der Begriff der Institution wird sehr unterschiedlich weit gefasst. Im engeren Sinne sind Institutionen juristische Körperschaften (so bei Gülich 1980) und damit identisch mit der Organisation in Webers Bürokratiemodell (vgl. dazu Stolz/ Türk 1992: 842). Im weiteren 3 Individuum und Institution Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, sprachliche Individualität methodisch kontrolliert zu erfassen, das heisst individuelle sprachliche Variation einerseits, individuelle Interaktionsprofile andererseits zu beschreiben, und zwar in einem spezifischen institutionellen Kontext, dem Call Center einer Bank. Sprachliche Individualität setzt voraus, dass das Individuum in seinem sprachlichen Handeln nicht vollständig determiniert ist, sondern über einen individuellen Handlungsspielraum verfügt. Die Antwort auf die Frage, ob dieser Spielraum existiert und wie gross er ist, fällt anders aus, je nachdem, wie das Verhältnis von Individuum und Institution theoretisch konzipiert wird. In diesem Kapitel stelle ich daher zuerst die wichtigsten institutionstheoretischen Ansätze vor und frage danach, welchen Handlungsspielraum sie dem Individuum in seinen Interaktionen zugestehen. Konkretisiert wird das Verhältnis von Individuum und Institution anschliessend anhand der Frage, wie die Institution Call Center die Arbeit und den individuellen Handlungsspielraum der dort Beschäftigten bestimmt und welches die Charakteristika von Telefongesprächen sind. Zuletzt stelle ich die von mir untersuchten Arbeitsplätze in den Call Centern der Schwyzer Bank vor. 3.1 Theoretische Ansätze Jeder untersteht oder unterliegt den Gesetzen derjenigen Kategorie, in welche ihn das äussere Leben gestellt hat, ganz unangesehen ob sein Kopf jetzt Wahres oder Falsches über diesen Punkt enthält. Es kann einer Sektionsrat im Finanzministerium sein und dabei gar kein Beamter im gewöhnlichen Sinne, ja, er kann wider Willen in diese Carrière hineingezwungen worden sein, […] die Welt wird ihn als Beamten nehmen, ihn immer wieder förmlich in seine Kategorie zurückdrängen und ihn zugleich darin halten, aufrecht erhalten, stützen. (Heimito von Doderer: Die Strudlhofstiege) 3.1.1 Der funktional-pragmatische Ansatz In der Tradition des historischen Materialismus sind gesellschaftliche Strukturen das Ergebnis der materiellen Lebensbedingungen, die im Hinblick auf das Überleben und Funktionieren der Gesellschaft organisiert werden. In diesem Sinne sind Institutionen “Formen des gesellschaftlichen Verkehrs zur Bearbeitung gesellschaftlicher Zwecke” (Ehlich 1980: 338). 1 Zentrales <?page no="47"?> Theoretische Ansätze 47 Sinne werden auch nicht juristische gesellschaftliche Strukturen wie die Familie oder gar die Sprache selbst als Institution bezeichnet (vgl. die Diskussion bei Hummel/ Bloch 1987). In dieser Arbeit folge ich dem engen Institutionenbegriff. 2 Vgl. dazu auch Gülich (1980), Ehlich (1980, 1991), Brünner/ Graefen (1994). 3 Die funktionale Pragmatik wurde dadurch zum Ausgangspunkt für die Angewandte Gesprächsforschung. Vgl. Fiehler/ Sucharowski (1992), Brünner/ Fiehler/ Kindt (1999) und Becker-Mrotzek (1999). 4 Der Aspekt der Intentionalität wird in der Regel als konstitutiv für den Handlungsbegriff verstanden und dient dazu, Handeln von blossem Verhalten abzugrenzen. So zum Beispiel bei Linke/ Nussbaumer/ Portmann (1991: 173). 5 Eine methodische Neubelebung und Ausweitung des Praxeogramms auf die gestischmimische Kommunikation stellt Streeck (2001) vor. strukturbildendes Element von Institutionen sind Gesprächsmuster, die in spezifischen Ensembles auftreten und damit die Reproduktion der Gesellschaft leiten (Ehlich/ Rehbein 1994: 318). Institutionen sind in Gebäuden und Geräten vergegenständlicht und gekennzeichnet durch ein spezifisches Personal, nämlich den Agenten als den Mitgliedern und Vertretern der Institution und den Klienten als deren Bezugsgrösse. Institutionen treten - bei aller historischen Gewachsenheit und Veränderbarkeit - dem Individuum als vorgegebene gesellschaftliche Strukturen entgegen und lassen seine Handlungsmöglichkeiten als “implizit oder explizit weitgehend geregelt” erscheinen (ebd.: 319). Diese Handlungsregularitäten sind das Untersuchungsobjekt der Pragmatik. Ziel funktional-pragmatischer Sprachanalyse ist es, institutionsspezifische Gesprächsmuster zu erschliessen und durch die Rückführung auf deren Zwecke zu begründen: “Linguistische Institutionenanalyse sucht Einsicht in die Strukturen der Wirklichkeit institutioneller Kommunikation zu gewinnen, die Bedingungen, Formen und Folgen des kommunikativen Handelns in Institutionen zu verdeutlichen und die Kommunikationsprobleme der Teilnehmer besser zu verstehen” (Hoffmann/ Nothdurft 1989: 120). 2 Institutionsspezifisches Handeln wird auf diese Weise verstehbar, Widersprüche können aufgedeckt, Kommunikationsprobleme erklärt werden. 3 Im funktional-pragmatischen Ansatz wird das einzelne Individuum ähnlich konzipiert wie die Institution als Ganze: Es handelt intentional 4 , das heisst im Hinblick auf bestimmte Ziele, und rational, das heisst unter dem bewussten Einsatz effizienter, zielorientierter kommunikativer Mittel. In sogenannten Praxeogrammen werden daher nicht nur die sichtbaren Handlungen der Interaktanten als Flussdiagramme mit Entscheidungsknoten dargestellt, sondern auch deren Überlegungen auf der mentalen Ebene (Rehbein 2000). Für das Verkaufsgespräch zum Beispiel findet sich ein detailliertes Praxeogramm bei Ventola (1983), für die telefonische Computerberatung bei Brünner (1997). 5 Eine andere Form der Darstellung institutioneller Gesprächsmuster sind Aufgabenschemata (vgl. Abschnitt 5.1), mittels derer Routine gewordene Handlungsabfolgen beschrieben werden. Das Verkaufsgespräch als Aufgabenschema ist beispielhaft bei Pothmann (1987) beschrieben. Wie diese Aufgabenschemata mental repräsentiert sind, ob die <?page no="48"?> Individuum und Institution 48 6 Vgl. dazu Mielniczuk (1989), die bereits im Buchtitel von Planungs”schwächen” spricht. Die Tendenz, jegliches kommunikatives Verhalten, das nicht geradlinig zum Ziel führt, als “Störung” oder “Schleife” zu stigmatisieren, findet sich auch in einigen Beiträgen im Sammelband von Fiehler (1997). Eine ausführliche Kritik dazu findet sich in Bendel (2004). Interaktanten sich bewusst an ihnen orientieren oder ob sie ein aus der Beobachterperspektive formuliertes analytisches Konstrukt darstellen, bleibt in der Regel ungeklärt. Der Mensch als Agent und Klient wird in der Konzeption der funktionalen Pragmatik auf seine Funktion als Träger und Vollzieher institutionell vorgegebener Handlungen reduziert und damit als individuell handelndes Wesen praktisch ausgeschaltet; individuelle Handlungsziele scheinen mit institutionellen Zwecken zusammenzufallen. Dem Vorwurf, ihr Weltbild sei deterministisch und liquidiere die Handlungsfreiheit des Menschen, halten die Pragmatiker entgegen, ohne gesellschaftlich legitimierte und sprachlich konventionalisierte Gesprächsmuster wäre das Individuum gar nicht handlungsfähig; Gesprächsmuster seien kein Ausdruck von Determinismus, sondern im Gegenteil die “Ermöglichung menschlichen Handelns und damit von Freiheit” (Ehlich 1991: 132f). Diese Freiheit bleibt allerdings ein Postulat, welches weder theoretisch eingelöst noch durch empirische Studien untermauert wird. Die Orientierung am Handlungszweck und an Aufgabenschemata bei der Analyse konkreter Interaktionen bevorzugt wenige Handlungsweisen als rational bzw. zielorientiert und lässt anderes Verhalten als “abweichend” oder gar als “Fehler” erscheinen. 6 Unterschiede zwischen verschiedenen Aktanten werden als lediglich “stilistische Varianz” abgetan und in der Analyse nicht berücksichtigt. Der hauptsächliche theoretische Einwand gegen die funktionale Pragmatik ist denn auch ihr Reduktionismus: Kommunikation werde auf die kommunikative Absicht der Interaktanten reduziert, andere Aspekte der Handlungskontextualität wie die Orientierung an subjektivem Sinn oder die körperlich-leibhafte Prägung der Akteure würden vernachlässigt (Hahne 1997: 183f). Methodisch zu bemängeln ist die oft intuitiv vorgenommene Zuordnung von mentalen Prozessen zu beobachtbaren Handlungen sowie die willkürliche Bestimmung der Intentionen, die bestimmten Handlungen angeblich zugrunde liegen. Diesem Problem begegnet die Objektive Hermeneutik dadurch, dass sie gar nicht versucht, die individuellen Intentionen oder den subjektiv gemeinten Sinn der Interaktanten zu rekonstruieren, sondern von Anfang an nach dem in den gesellschaftlichen Interaktionsformen und sprachlichen Strukturen niedergelegten sogenannt objektiven Sinn sucht (Hitzler 2002: Paragraphen 28-34). Allerdings wird auch bei diesem Ansatz das Vorwissen der Interpreten um die Bedeutung bestimmter sprachlicher Muster teilweise überstrapaziert, bleibt die Bestimmung dessen, was “objektiv” an Sinn geschaffen wurde, letztlich willkürlich. <?page no="49"?> Theoretische Ansätze 49 7 Meistens wird unterschieden zwischen primärer Sozialisation, die der Etablierung der geschlechtlichen, familiären, ethnischen und sprachlichen Identität dient, und der sekundären Sozialisation, in welcher gesellschaftliche Rollen wie Beruf und Elternschaft erworben werden. Vgl. Berger/ Luckmann (1969). 8 Die Theorie Parsons wird erläutert und diskutiert bei Krappmann (1976). Allen theoretischen und methodischen Einwänden gegen bestimmte Annahmen der funktionalen Pragmatik zum Trotz bleiben Gesprächsmuster ein hilfreiches heuristisches Mittel, um institutionelles Handeln zu beschreiben. Sie werden daher auch in dieser Arbeit einen zentralen Stellenwert einnehmen, allerdings nicht als Ziel der Analyse, sondern als Basis für die vergleichende Weiterführung der Analyse. Ebenfalls zentral für meine Arbeit ist die Auffassung, dass menschliches Handeln - wenn auch nicht ausschliesslich, so doch in erster Linie - zweckorientiert ist, und dass diese Zwecke in der institutionellen Kommunikation den Interaktanten meistens vorgegeben sind. Meiner Fragestellung entsprechend wird im Vergleich zu den bestehenden Studien allerdings genauer auszuloten sein, wo ungeachtet aller Musterhaftigkeit institutioneller Gespräche individueller Handlungsspielraum besteht und wie dieser von den Interaktanten ausgeschöpft wird. 3.1.2 Der rollentheoretische Ansatz Das Konzept der Rolle ist eines der ältesten, aber auch umstrittensten Modelle der Soziologie, mit welchem das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im Allgemeinen und von Individuum und Institution im Besonderen theoretisch erfasst wird. In diesem Modell sind Institutionen ebenfalls funktional bestimmte, organisationell verfestigte gesellschaftliche Strukturen, die dem Individuum als “faits sociaux” (Durkheim) gegenübertreten (Hummel/ Bloch 1987: 188). Das Individuum kann an der Gesellschaft teilhaben, indem es eine von dieser vorgesehene Position besetzt und die damit verbundene Rolle übernimmt. Die sukzessive Integration des Individuums in die Gesellschaft geschieht dadurch, dass ersteres in der Phase der Sozialisation lernt, immer differenziertere gesellschaftliche Rollen zu übernehmen und auszufüllen. 7 In der älteren Rollentheorie (Parson, Erikson) wurde dieser Übernahmeprozess sehr rigide ausgelegt: Rollen erscheinen darin als unveränderbare Bündel konkreter Handlungsverpflichtungen und damit verbundener Einstellungen. Der Sozialisationsprozess wurde dann als “gelungen” betrachtet, wenn das Individuum seine individuellen Bedürfnisse und Dispositionen in völlige Übereinstimmung mit den Anforderungen seiner Rolle gebracht hat. Die Orientierung an vorgegebenen Rollennormen garantierte den Rollenpartnern die gegenseitige Befriedigung ihrer Bedürfnisse und gewährleistete (bzw. erklärte) die Stabilität von Institutionen. 8 <?page no="50"?> Individuum und Institution 50 9 Interessant ist, dass die Vorstellung von der totalen Identifikation mit der eigenen Rolle bzw. dem eigenen Unternehmen in der jüngeren Management Literatur eine Renaissance feiert und als Erfolgs- und Motivationsrezept angepriesen wird. Vgl. dazu Hanft (1991). Von dieser rigiden Auslegung des Rollenkonzepts hat sich bereits Goffman distanziert, indem er aufzeigte, dass die Gleichschaltung individueller Dispositionen und gesellschaftlicher Anforderungen nicht normal, sondern pathologisch ist, und nur in sogenannt totalen Institutionen vorkommt. 9 Im Normalfall ist es gar nicht möglich, eine Rolle lückenlos auszufüllen, und zwar aus drei Gründen: Erstens sind Rollen unterdeterminiert und damit auslegungsbedürftig. Im Alltag sind Rollen - im Gegensatz zum Theater, das für Goffmans frühe Konzepte als Metapher diente - nicht bis ins letzte Detail vorgeschrieben und in einem Drehbuch festgelegt, sondern präsentieren sich dem Individuum lediglich als “Bündel normativer Erwartungen, die sich an das Verhalten von Positionsinhabern in Interaktionssituationen richten” (Dreitzel 1987: 115). Wie diese Erwartungen eingelöst werden, wie die Rolle konkret ausgefüllt wird, bleibt dem Individuum überlassen. Das Individuum kann seine Rolle nicht einfach übernehmen (role-taking), sondern muss sie aktiv gestalten (role-making) (Turner 1976). Es kann sie aber auch lediglich imitieren (Goffman 1973: 112). Zweitens wird die totale Identifikation mit einer Rolle von Interaktionspartnern nicht als Zeichen gelungener Rollenübernahme gewertet, sondern im Gegenteil als Zeichen von Identitätsverlust: Die Person hinter der Rolle ist nicht mehr erkennbar, das Individuum “verdinglicht” (Krappmann 1976: 317). Das Individuum ist daher gezwungen, seine Rolle zwar korrekt zu spielen, gleichzeitig aber zu signalisieren, dass es nicht vollständig darin aufgeht, sondern über kritische Distanz zum eigenen Tun verfügt und persönliche Handlungsreserven für sich frei hält. Goffman hat dafür den Begriff der Rollendistanz geprägt. Rollendistanz bedeutet nicht, dass das Individuum die Rolle leugnet, die es spielt, sondern dass es zu erkennen gibt, dass die momentan gespielte Rolle nur übernommen ist und nicht sein faktisches Selbst. Rollendistanz ist die “>effektiv< ausgedrückte, zugespitze Trennung zwischen dem Individuum und seiner mutmasslichen Rolle” (Goffman 1973: 121). Sie ist es, die dem Individuum Handlungsfreiheit bei seinen alltäglichen, gesellschaftlich vorgeformten Tätigkeiten verschafft. Drittens ist jedes Individuum mit einer Vielfalt von Rollen konfrontiert, die es abwechselnd ausfüllen muss, in modernen Gesellschaften mehr denn je. Die totale Identifikation mit einer Rolle würde den Übergang von einer Situation zur andern verunmöglichen bzw. wäre nur um den Preis völliger Persönlichkeitsspaltung mit entsprechender Irritation der Interaktionspartner zu leisten. Das Individuum wird daher in keiner seiner Rollen je vollständig aufgehen, sondern seinen Interaktionspartnern immer zu verstehen geben, wer es ausserhalb der gegenwärtigen Situation auch noch ist, war und sein <?page no="51"?> Theoretische Ansätze 51 10 Diese Ambivalenz ist bereits im Begriff Identität angelegt, der zwei Bedeutungen hat: vollkommene Übereinstimmung in allen Merkmalen mit einer anderen Entität einerseits, absolute Einmaligkeit andererseits. 11 Wer nicht fähig ist, seiner Rolle ohne Unterbruch gerecht zu werden, gefährdet seine für die laufende Interaktion angemeldete Identität; es tritt Verlegenheit ein. Gross/ Stone (1976) zeigen, dass in Momenten der Verlegenheit (die Vortragende verliert den Faden, der Gast stolpert über die Türschwelle) die Interaktion so lange zum Stillstand kommt, bis die Beteiligten durch Reparaturmassnahmen (entschuldigen, begründen, ignorieren usw.) ihre vorherige Identität wieder etabliert haben und fähig sind, ihre Rolle weiter zu spielen. wird. Rollendistanz und aktive Rollengestaltung sind Voraussetzung und Mittel dafür, dass das Individuum eine Vielzahl von Rollen wahrnehmen kann und trotzdem situationsübergreifend als dieselbe Person erkennbar bleibt. Das Konzept der Rolle wird damit zur Basis für eine soziologische Definition von Identität: Identität ist die Fähigkeit, die abwechselnd nebeneinander zu erfüllenden und biografisch aufeinander folgenden Rollen in ein Konzept der eigenen Person zu integrieren, das heisst Kohärenz und Kontinuität herzustellen (Krappmann 1971: 51). Ich-Identität ist und bleibt ein Balanceakt zwischen der Darstellung sozialer Identität (ich bin wie alle anderen) und persönlicher Identität (ich bin wie kein anderer) (Krappmann 1976: 316). 10 Die Fähigkeit, Identität zu stiften, ist sowohl auf der persönlichen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene eine Notwendigkeit. Psychische Integrität und Teilhabe an Interaktionen sind anderweitig nicht denkbar. 11 In der modernen Gesellschaft, gekennzeichnet durch hohe Partikularisierung, raschen Wandel und zunehmende Diskontinuität der Lebensläufe, wird dieser Balanceakt immer anspruchsvoller; Identität ist zur “Identitätsarbeit” geworden, Resultat ist immer öfter nurmehr eine “Patchwork- Identität” (Keupp u.a. 1999). Das Bemühen um Individualität, die permanente Suche nach der Antwort auf die Frage “Wer bin ich? ” ist daher kein zivilisatorischer Luxus, sondern eine Anforderung der modernen Gesellschaft an das Individuum (Krappmann 1971, Giddens 1991). Positiv ausgedrückt bedeutet das aber auch, dass das Individuum heute mehr Spielraum bei der Zusammenstellung seines Rollenensembles und der Ausgestaltung der einzelnen Rollen hat denn je. Das Verhältnis von Individuum und Institution stellt sich in der Rollentheorie folgendermassen dar: Das Individuum kann nur dadurch an gesellschaftlichen Institutionen teilhaben, dass es eine Rolle übernimmt und die damit verbundenen Erwartungen an sein Verhalten erfüllt. Weil jedoch einerseits Rollen unterdeterminiert sind und andererseits das Individuum mit einer Vielzahl von Rollen konfrontiert ist, zwischen denen es Kohärenz und Kontinuität stiften muss, hat das Individuum die Freiheit, aber auch den Zwang, seine Rolle individuell auszulegen und zu gestalten. Während im funktional-pragmatischen Ansatz lediglich postuliert wird, dass das Individuum trotz oder gerade wegen der ihm gegebenen Gesprächsmuster Hand- <?page no="52"?> Individuum und Institution 52 12 Goffman (1973) betont, man müsse unterscheiden “zwischen einer typischen Rolle, den normativen Aspekten der Rolle und dem tatsächlichen Rollenverhalten eines bestimmten Individuums.” (S. 106). 13 Beispielsweise Krappmann (1971): “Die Identität, die ein Individuum aufrechtzuerhalten versucht, ist in besonderer Weise auf sprachliche Darstellung angewiesen” (S. 12). 14 Gross/ Stone (1976) zum Beispiel nennen fünf Elemente, die der Gestaltung des Selbst und der Situation dienen: Raum, Ausstattungsgegenstände, Requisiten, Kleidung, Körper. Die Sprache fehlt. Aber auch die von Goffman (1973) beigebrachten Beispiele beziehen sich überwiegend auf das körperliche Verhalten der Beteiligten, während Turner (1976) und Krappmann (1971, 1976) auf Beispiele ganz verzichten. 15 Näheres dazu in Abschnitt 7.1. 16 Diese Schwierigkeit ist vor allem bei den in der Soziolinguistik weit verbreiteten Einzelfallstudien virulent. Würde man mehrere Individuen unter kontrollierten, das heisst situativ identischen Bedingungen, beobachten und miteinander vergleichen, liesse sich sehr wohl erfassen, welche Aspekte ihres Verhaltens allen gemeinsam und damit der Rolle zuzuschreiben sind und welche nicht. lungsfreiheit besitzt (vgl. oben), bietet der rollentheoretische Ansatz eine Erklärung: Es ist nicht die schiere Existenz der Rolle, die Handlungsfreiheit garantiert, sondern die Interpretationsbedürftigkeit der Rolle. Methodisch stellt die Rollentheorie die empirische Forscherin vor das praktisch unlösbare Problem, bei der Analyse konkreter Interaktionen entscheiden zu müssen, welche Aspekte im Verhalten der beobachteten Personen invarianter Teil der Rolle und welche Aspekte persönliches Accessoire sind. 12 Vermutlich ist es kein Zufall, dass in der soziologischen Literatur zur Rollentheorie empirische Studien so gut wie inexistent sind und die Beispiele lediglich anekdotisch wirken. Die Aufgabe, anhand konkreter Interaktionen zu bestimmen, welche Verhaltensweisen der Rolle, welche den Individuen zuzuschreiben sind, wurde noch kaum angegangen. Hinzu kommt, dass von vielen Soziologen theoretisch immer wieder postuliert wird, die Sprache sei das wichtigste Mittel zur Herstellung persönlicher Identität, 13 faktisch aber kaum jemand Gesprochenes analysiert. Die Beispiele beziehen sich fast ausschliesslich auf die Kleidung sowie das räumliche und körperliche Verhalten der beobachteten Personen. 14 Einen Schritt weiter führen diesbezüglich jüngere soziolinguistische Studien, die sich explizit der Frage widmen, wie Rollen in der Interaktion sprachlich ausgehandelt und etabliert werden. 15 Hall u.a. unterscheiden in ihrer Untersuchung zwischen social role, activity role und discourse role (Hall/ Sarangi/ Slembrouck 1999: 317, Anm. 3), doch auch sie müssen zugeben, dass es im Einzelfall schwierig ist zu entscheiden, ob ein bestimmtes Verhalten einer Person auf ihre Kultur, ihre Rolle oder ihre lokal produzierte Gesprächsidentität zurückzuführen ist. Das Problem der empirisch schwer zu leistenden Unterscheidung zwischen normativen und individuell variablen Aspekten des Rollenverhaltens bleibt also auch bei einer sprachlich orientierten Analyse bestehen. 16 Für meine Fragestellung wesentlich ist die Feststellung, dass Individualität bei der Gestaltung institutioneller Gespräche unter rollentheoreti- <?page no="53"?> Theoretische Ansätze 53 17 Die Systemtheorie benützt den Begriff der Organisation, welcher wie erwähnt einem eng gefassten Begriff der Institution entspricht. scher Perspektive nicht nur möglich, sondern notwendig ist. Die konventionellen Aspekte jeder Rolle schaffen zwar einen gemeinsamen Erwartungsrahmen und strukturieren die Begegnung vor, konkret werden kann die Interaktion hingegen nur durch die Interpretations- und Ergänzungsleistung des Individuums. 3.1.3 Der systemtheoretische Ansatz In der Systemtheorie werden Organisation 17 und Individuum als je eigenständige Systeme aufgefasst, die zur Aufrechterhaltung des eigenen Systems aufeinander angewiesen sind, sich aber auch gegenseitig einschränken. Das Individuum wird als Personalsystem konzipiert, welches auf dreifache Weise in die komplexeren Mehrpersonen-Systeme eingebunden ist: durch Anwesenheit in Interaktionen, durch Mitgliedschaft in Organisationen und durch Erreichbarkeit in die Gesamtgesellschaft. Organisationen sind in dieser Theorie eigenständige Systeme, die ihren Mitgliedern im Voraus bestimmte Positionen zuweisen, auf denen Aufgaben zu erfüllen sind, die auf den Zweck der Organisation und den Erhalt des organisationellen Systems ausgerichtet sind. Die einzelnen Positionen sind aus der Logik der Organisation heraus definiert, besetzt werden können sie jedoch nur von konkreten Personen. Diese jedoch sind nicht primär an der Aufrechterhaltung der Organisation interessiert, sondern an der Aufrechterhaltung ihres Personalsystems und brauchen die Organisation lediglich als Ressource für gesellschaftliche Teilhabe und materielles Auskommen. Das Verhältnis zwischen Individuum und Organisation ist daher höchst ambivalent: Beide sind in erster Linie an der Aufrechterhaltung des eigenen Systems interessiert, sind aber gerade dafür auf das andere System angewiesen. Aus der Sicht des Individuums stellt die Organisation daher eine Bedrohung der persönlichen Handlungsfreiheit dar, während sich die Organisation durch den “subjektiven Eigensinn” (Stolz/ Türk 1992: 847) seiner eigenen Mitglieder gefährdet sieht. Die Aufrechterhaltung des Personalsystems bekommt unter dieser Perspektive Verteidigungscharakter. Schimank beschreibt in seinem Buch mit dem programmatischen Titel “Identitätsbehauptungen in der Arbeitsorganisation - Individualität in der Formalstruktur” (1982) anschaulich, mit welchen Techniken Angestellte in Unternehmen ihre persönliche Identität zum Ausdruck bringen und verteidigen: Durch Identifikation mit der Arbeitsrolle in Form von Inszenierung, Anreicherung und Umdefinition der Arbeitsaufgabe, durch Distanzierung von der Arbeitsrolle in Form von Nebenbeschäftigungen, Schaffen einer persönlichen Kleinwelt oder Abwertung der eigenen <?page no="54"?> Individuum und Institution 54 18 In dieser Arbeit werde ich die Ausdrücke “nonverbal”, “paraverbal” und “verbal” nicht verwenden, da sie meines Erachtens Ausdruck eines der Thematik unangemessenen Sprachzentrismus sind. Ich werde stattdessen die Begriffe “körperlich”, “stimmlich” und “sprachlich” verwenden. 19 Hausendorf, Heiko (2001): Wozu Systemtheorie? Anmerkungen zu einer gegenstandsfundierten Methodik der Gesprächsforschung. Vortrag, gehalten auf der 7. Arbeitstagung Neuere Entwicklungen in der Gesprächsforschung in Freiburg i.B. 20 “Realistisch” wird hier im Sinne des philosophischen Realismus verwendet, wonach Begriffe konkret vorhandene Dinge bezeichnen, während im Nominalismus das Ding an sich nicht existiert und Begriffe lediglich Ausdruck gedanklicher Abstraktionen sind. Arbeitsrolle, und schliesslich durch Devianz von der Arbeitsrolle in Form von Ungenauigkeiten, Willkür, Protesten und gelegentlichem Ausflippen. Typisch für diese soziologische Studie ist, dass wiederum ausschliesslich körperliche und stimmliche Verhaltensweisen beschrieben werden, 18 während die sprachlichen Aktivitäten der Personen nicht analysiert bzw. lediglich kategorial erfasst werden, zum Beispiel als “Unterhaltung” (S. 66) oder “Selbstgespräch” (S. 71). In der Linguistik wurde die Systemtheorie bisher wenig rezipiert, bestenfalls als Mittel zu einer theoretisch fundierten Gegenstandskonstitution des Untersuchungsobjekts Gespräch. 19 Für die Untersuchung von Individualität bietet sie jedoch eine geeignete Basis, mit der sich das Janusgesicht institutioneller Kommunikation theoretisch fassen lässt: Was immer Institutionsangehörige tun, es ist darauf ausgerichtet, sowohl das organisationelle System als auch das personale System aufrecht zu erhalten. Individualität ist somit auch in dieser Konzeption konstitutives Charakteristikum institutioneller Kommunikation. 3.1.4 Der konstruktivistische Ansatz Die bisher diskutierten theoretischen Konzepte zum Verhältnis zwischen Individuum und Institution sind ihrem Kern nach ahistorisch, realistisch 20 und deterministisch. Institutionen werden betrachtet als immer schon gegebene, unumstössliche soziale Realität, welche das Leben des Einzelnen und seine Handlungsmöglichkeiten in konkreten Interaktionen - in unterschiedlichem Ausmass - bestimmt. Anders präsentieren sich Institutionen unter konstruktivistischer Perspektive. Der konstruktivistische Ansatz geht davon aus, dass gesellschaftliche Strukturen weder vorgegeben sind noch den Ablauf konkreter Interaktionen im Voraus festlegen, sondern dass gesellschaftliche Strukturen in der Interaktion erst hervorgebracht oder mindestens reproduziert werden. Berger und Luckmann, die Väter des Konstruktivismus, haben mit dieser These die historische Gewachsenheit und Veränderbarkeit von Institutionen modelliert und das soziologische Verständnis von “Realität” revolutioniert. Mit dem konstruktivistischen Ansatz verlagerte sich rasch der Fokus der <?page no="55"?> Theoretische Ansätze 55 21 Obwohl ihrem Wesen nach konstruktivistisch, geht die ethnomethodologische Konversationsanalyse nicht direkt auf Berger/ Luckmann zurück, sondern knüpft primär an der Phänomenologie von Alfred Schütz und dem Symbolischen Interaktionismus von Herbert Blumer an. Vgl. dazu Abels (1998). soziologischen Forschung von der Makroauf die Mikroebene: Untersucht wird nicht mehr der institutional order, sondern der interactional order (Sarangi/ Roberts 1999), da nur letzterer Aufschluss darüber geben kann, wie Gesellschaft “gemacht” wird. Damit ist der konstruktivistische Ansatz prädestiniert für die Übernahme in die Linguistik, namentlich in die Gesprächsforschung. Vor allem die ethnomethodologische Konversationsanalyse hat sich darauf spezialisiert zu beschreiben, wie Interaktanten sich gegenseitig zu verstehen geben, wer sie sind, welche Aktivität sie durchführen und welchen Sinn sie damit verbinden. 21 Zweck, Ordnung und Sinn des Gesprächs sind nicht mehr vorgegeben, sondern werden an jedem Punkt des Gesprächs neu ausgehandelt. Gesprächsmuster und Routinen, so weit sie überhaupt thematisiert werden, erscheinen in der Konversationsanalyse nicht mehr als vorgegebenes, von der Situation oder der Aufgabe bestimmtes Handlungskorsett, sondern als Ressourcen, die dem Individuum zur Bewältigung einer per se unstrukturierten Situation zur Verfügung stehen. Die von der Konversationsanalyse methodisch geforderte totale Beschränkung auf die Analyse der laufenden Interaktion ohne Berücksichtigung des Kontextes oder eines wie immer gearteten Vorwissens der Beobachterin liess institutionelle Vorgaben und Zwänge allerdings ganz aus dem Blick geraten und führte zu einer teilweisen Verabsolutierung der konstruktivistischen Perspektive. Die Interaktanten erscheinen als unangefochtene Herrscher über die Situation, die sich und die Welt in jeder Interaktion gleichsam auf der grünen Wiese neu erfinden. Das geht am ursprünglichen Konzept von Berger und Luckmann vorbei. Wenn in ihrem Ansatz auch die gesellschaftliche Wirklichkeit als Ganze konstruiert ist, so ist doch das konkrete Handeln des Individuums in doppelter Hinsicht vorgeformt. Erstens wird die potenzielle Handlungsfreiheit des Individuums realiter durch individuelle und kollektive Routinen, Gewöhnung und Konventionen stark eingeschränkt. Der einzelne wäre komplett überfordert, müsste er jede Situation neu bewerten und entsprechende Handlungspläne entwickeln. Vielmehr agiert er aufgrund von Typisierungen und habitualisierten Gesprächsmustern. Daher werden gesellschaftliche Strukturen in der Interaktion in der Regel nicht produziert, sondern lediglich re-produziert und bestätigt. Zweitens haben Institutionen, so sehr sie von Menschen geschaffen sind und der laufenden Bestätigung bedürfen, trotzdem eine je historische Realität und treten dem Einzelnen in unausweichbarer Faktizität entgegen, eine Realität, die in der Sozialisation nicht nur adaptiert, sondern sogar internalisiert wird (Berger/ Luckmann 1969). <?page no="56"?> Individuum und Institution 56 22 Vgl. z.B. Willig (1999), Fairclough/ Wodak (1997). 23 So zum Beispiel im - darum nicht weniger lesenswerten - Sammelband von Sarangi/ Roberts (1999). 24 Da ist jedes Mal jemand anderer am Telefon, wenn ich anrufe, wenn ich [Aktien] kaufen möchte, habe ich immer jemand anderen. Aufgrund dieser Ambivalenz zwischen interaktiver Geschaffenheit und historischer Faktizität gesellschaftlicher Strukturen bleibt im konstruktivistischen Ansatz letztlich ungeklärt, welchen Handlungsspielraum das handelnde Subjekt in konkreten Interaktionen hat. Berger und Luckmann kommen diesbezüglich nicht über Goffmans Konzept der Rollendistanz hinaus (ebd.: 153). Ebenso wenig geklärt wird das Verhältnis zwischen der Faktizität gesellschaftlicher Strukturen und der aktualisierenden Konstruktionsleistung des Individuums von der Kritischen Diskursanalyse. Die Critical Discourse Analysis untersucht, wie soziale Rollen im Gespräch (re-)produziert und damit verbunden Machtstrukturen aktualisiert und aufrecht erhalten werden. 22 Paradoxerweise erscheinen aber in vielen dieser Studien die Beteiligten nicht als die Täter, sondern als die Opfer dieser - theoretisch von ihnen selbst geschaffenen - diskriminierenden Interaktionsstrukturen. 23 So wird auch in der Kritischen Diskursanalyse nicht klar, inwieweit das Subjekt in seinem sprachlichen Handeln frei oder strukturbzw. rollendeterminiert ist. Der konstruktivistische Ansatz gibt insgesamt keine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Individuum und Institution. Sein Beitrag zur Untersuchung institutioneller Gespräche liegt darin, dass er klar stellt: Institutionelle Strukturen und Rollen können nicht als gegeben angenommen, Gesprächsmuster nicht fraglos vorausgesetzt werden; vielmehr sind Gesprächspartner prinzipiell dazu verpflichtet, die Situation und ihre Beteiligungsrollen in der Interaktion aktiv herzustellen und zu gestalten. Institutionelle Strukturen, Rollen und Gesprächsmuster entfalten ihre Wirksamkeit dadurch, dass sie verwendet und dadurch laufend bestätigt werden. 3.2 Konkretisierung: Arbeit im Call Center Do isch jedesmol öpper ANdersch am telefon wenn i/ wenn i uf die nummere aalüte (wenn i wett) CHAUfe han=i immer öpper andersch. 24 (Kunde der Schwyzer Bank) 3.2.1 Die Institution Call Center als Arbeitsplatz Mit der funktionalen Pragmatik, der Rollentheorie, der Systemtheorie und dem Konstruktivismus habe ich die drei prominentesten soziologischen <?page no="57"?> Konkretisierung: Arbeit im Call Center 57 25 Obwohl das unangekündigte Abhören und Mitschneiden der Telefongespräche verboten ist, werden in rund der Hälfte der Schweizer Call Center heimliche Kontrollen durchgeführt. (“Versteckter Lauschangriff auf <Agentinnen>”. K-Tipp Nr. 13, 22. August 2001, S. 4-5). 26 Vgl. auch “Ein Traumberuf auf Zeit” und “Zehn Jahre Call-Center machen krank”, Neue Zürcher Zeitung Nr. 265, 14. November 2001, S. 83. Ansätze sowie das einzige genuin linguistische Konzept vorgestellt, mittels derer das Verhältnis von Individuum und Institution theoretisch konzipiert und empirisch untersucht wird. In diesem Abschnitt will ich schildern, wie das Verhältnis von Individuum und Institution an einem ganz konkreten Typ von Arbeitsplatz aussieht, nämlich im Call Center. “Call Centers sind selbständige Unternehmen oder Unternehmenseinheiten, welche mit Hilfe der Telekommunikation Aufgaben in der Kunden- und Marktkommunikation wahrnehmen.” (Gerber-Rüegg 2001: 3). Die Angestellten, die sogenannten Call Agents, sind auf einen Ring geschaltet, der alle eingehenden Anrufe regelmässig verteilt und zu den jeweils freien Angestellten leitet. In diesem Inbound genannten Bereich geben die Call Agents Auskunft, nehmen Aufträge entgegen oder leiten die Anrufe an Spezialisten weiter. Seltener sind Outbound Aktivitäten, bei denen Kunden angerufen werden für den aktiven Verkauf oder die Marktforschung. Die Call Agents nehmen somit eine typische Schnittstellenfunktion wahr, indem sie spezifische Kundenanfragen institutionellen Prozessen zuführen und umgekehrt (Holtgrewe 2001). Das Spezifische der Arbeit im Call Center ist die Verbindung von Kommunikations- und Bildschirmarbeit. Die Call Agents sind immer gleichzeitig damit beschäftigt, mit den Kunden zu sprechen und Daten im Computer aufzurufen oder einzugeben. Diese Doppelorientierung verlangt enorme Konzentration und ausgeprägte sprachliche Fähigkeiten, denn bedingt durch das Medium Telefon muss alles versprachlicht werden, was auf dem Bildschirm zu sehen ist. Je nach Branche müssen die Call Agents über umfassende Unternehmens-, Produkt- und Prozesskenntnisse verfügen sowie - besonders in der Schweiz - mehrere Sprachen sprechen. Die Arbeit im Call Center gilt als belastend. Die Gründe dafür sind: - Hohes Arbeitstempo und hohe Frequenz der Telefonanrufe - je nach Branche 80 bis 150 pro Schicht. - Stetig wachsende Ansprüche und, besonders bei Reklamationen, schwer zu ertragende Launen der Kunden. - Möglichkeit umfassender Kontrolle durch die Vorgesetzten. 25 - Lärmbelastung in den teilweise fabrikartig anmutenden Arbeitsräumen. - Notwendigkeit, während acht Stunden geistig voll präsent zu sein, während die auszuführende Arbeit aufreibend repetitiv sein kann. 26 <?page no="58"?> Individuum und Institution 58 27 “Call-Center - Ein Boom mit Nebenwirkungen”, Neue Zürcher Zeitung Nr. 208, 8. September 2001, S. 15. 28 Angaben zum Verband sind zu finden unter www.callnet.ch, zum Diplom unter www.siz.ch. 29 Frederick W. Taylor (1856-1915) gilt als Begründer der wissenschaftlichen Betriebsführung. Gestützt auf Arbeits- und Zeitstudien trennte er in seinen Betrieben Planung und Produktion und unterteilte den Produktionsprozess in kleinste, einfach auszuführende Tätigkeiten, um die Effizienz zu steigern und den Aufwand für die Einarbeitung zu minimieren. Entsprechend hoch ist in vielen Call Centern die Fluktuation unter den Angestellten. In der Schweiz sind seit den 1990er Jahren Call Center wie Pilze aus dem Boden geschossen. Waren 1993 noch weniger als 1’000 Personen in Call Centern tätig, gab es im Jahr 2000 bereits 350 Call Center, in denen auf 12’000 Stellen rund 20’000 Personen beschäftigt waren, zwei Drittel von ihnen mit Teilzeitverträgen (Gerber-Rüegg 2001: 8). Ein Jahr später waren es 370 Call Center mit 23’000 Angestellten. 27 Der Verband der Call Center Betreiber schuf gleichzeitig einen Ausbildungslehrgang, mit dem Call Agents ein vom Bund anerkanntes Zertifikat erwerben können. 28 Die Anbieter der Call Center Technologie preisen ihre Einrichtung als das geeignete Mittel, um Kommunikationsprozesse zu optimieren, die Servicequalität zu erhöhen, die Effizienz zu steigern und damit Kosten zu sparen (Gerber-Rüegg 2001: 9). Die Einrichtung von Call Centern ist im Rahmen eines umfassenden Strukturwandels im tertiären Sektor zu sehen, nämlich der zunehmenden Taylorisierung 29 von Dienstleistungen. So wie die Einführung des Fliessbands und die rigorose Aufteilung der Arbeit in kleinste, einfach auszuführende Arbeitsschritte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Produktion von Industriegütern revolutioniert hat, so werden heute zunehmend auch Dienstleistungen in verschiedene Arbeitsschritte zergliedert und auf mehrere Personen verteilt, von denen jede nur noch ihr kleines Gebiet beherrschen muss. Während die Inhaberin des Tante Emma Geschäfts um die Ecke vom Einkauf bis zur Kasse alle kaufmännischen Tätigkeiten des Detailhandels selber ausführt, muss die Angestellte im Supermarkt nur noch entweder Gemüse wägen oder Gestelle auffüllen oder die Kasse bedienen können, Jobs, für die sie keinerlei Qualifikation benötigt und in wenigen Tagen eingearbeitet werden kann. Die Beziehung zwischen Kundin und Dienstleister verändert sich durch die Taylorisierung grundlegend. Aus relationships, das heisst über mehrere Interaktionen, oft sogar über Jahre hinweg dauernden Beziehungen, werden encounters, einmalige Begegnungen (Gutek 1995). Der traditionelle Versicherungsberater hat sämtliche Geschäfte für (s)eine Kundin erledigt und war Ansprechpartner für alle Angelegenheiten. Heute muss sich die Kundin an ganz verschiedene Personen im Unternehmen wenden, je nachdem, ob sie <?page no="59"?> Konkretisierung: Arbeit im Call Center 59 30 Ritzer (1995) nennt den Prozess der Taylorisierung von Dienstleistungen die “McDonaldisierung” der Gesellschaft. McDonalds steht als Vorbild und Metapher für eine Wirtschaftsideologie, die nach den vier Prinzipien Effizienz, Berechenbarkeit, Vorhersagbarkeit und Kontrolle funktioniert. Diese vier Prinzipien führen auf Unternehmensseite zwar zu Produktivitäts- und Gewinnsteigerung, sind für die Kunden aber meistens mit Qualitätsverlust und Mehraufwand verbunden. Typisches Beispiel ist der Bancomat, der dem Kunden zwar auch Vorteile bringt (Verfügbarkeit während 24 Stunden), primär aber dazu dient, die Arbeit des Geldausgebens dem Kunden selber aufzubürden und dadurch Schalterpersonal einzusparen. 31 Dieser schleichende Prozess des De-skilling steht in krassem Gegensatz zur Doktrin des Empowerment, welche in betriebswirtschaftlichen Handbüchern vertreten wird. eine Offerte einholen, eine Versicherung abschliessen, einen Schadenfall anmelden oder sich über die Rechnung beschweren will. Dem damit einhergehenden Verlust persönlicher Beziehungen vesuchen die Unternehmen durch rigorose Standardisierung der Produkte und des Services zu begegnen. Die Kundin soll sich darauf verlassen können, dass der Hamburger in jedem McDonalds auf der ganzen Welt genau gleich schmeckt und mit demselben Lächeln überreicht wird. 30 Vertrauen in den einzelnen Dienstleister wird ersetzt durch Vertrauen in die Marke bzw. das Unternehmen (Gutek 1995). Für die Beschäftigten der Dienstleistungsbranche hat dieser Prozess gravierende Folgen. Zum einen wird ihre Arbeit entwertet. Abgesehen von einigen Spezialisten dürfen die meisten nur noch einen kleinen Teil zum gesamten Dienstleistungsprozess beitragen und werden dementsprechend auch nur punktuell ausgebildet und eingearbeitet. Ihre Kompetenzen schrumpfen in zweifacher Hinsicht, im Sinne der Arbeitsbefähigung und der Arbeitsbefugnis. 31 Zum andern werden die Angestellten zunehmend einem Uniformisierungszwang unterworfen, mit dem ihr Funktionieren als “Visitenkarte des Unternehmens” sichergestellt werden soll. Verkäuferinnen, Bahnschaffner, Call Agents dürfen die Interaktionen mit ihren Kunden nicht mehr nach ihrem persönlichen Gutdünken gestalten, sondern müssen sich an immer rigidere Verhaltensvorschriften der Unternehmensleitung halten. Der Versuch, die eigenen Angestellten dergestalt zu trimmen, dass sie sich alle gleich und immer gleich verhalten, nimmt heute teilweise groteske Züge an. Cameron (2002) zitiert zahlreiche Bespiele gerade von Call Centern, wo den Angestellten bis in die einzelnen Formulierungen hinein vorgeschrieben wird, was sie sagen müssen, wie lange ihre Gespräche dauern dürfen und welche Eigenschaften sie verkörpern müssen. Die geforderte “Freundlichkeit” und “Begeisterung” darf aber nicht etwa nur zur Schau gestellt werden, sondern soll “echt” sein. Dieser Anspruch, den Angestellten nicht nur - wie bei gewissen Freizeitparks üblich - die Kleidung, die Frisur, das Lächeln und die stereotypen Begrüssungs- und Verabschiedungsfloskeln, sondern sogar die Gefühle vorzuschreiben, die sie bei der Arbeit empfinden sollen, kommt einer modernen Gehirnwäsche gleich. Resultat sind “synthetic personalities”, die sowohl von den Angestellten wie von den Kunden abgelehnt werden, denn sie sind “so artificial it’s unreal” (Cameron 2002: 84). <?page no="60"?> Individuum und Institution 60 32 Steinberger, Karin. 2002. Bei Anruf Schock. Süddeutsche Zeitung 300, Silvester 2001/ Neujahr 2002, S. 3. Dass der Ausdruck Gehirnwäsche nicht übertrieben ist, zeigt der Fall eines Call Centers in Indien, in welchem junge Inder und Inderinnen gezwungen werden, falsche Namen anzunehmen sowie einen amerikanischen Akzent und ebensolche Umgangsformen zu erlernen, damit die amerikanischen KundInnen nicht merken, dass sie mit einem Call Center in Indien verbunden wurden. Viele der Call Agents geben nach kurzer Zeit ihre Arbeit wieder auf oder müssen mit schweren Persönlichkeitsstörungen an einen Psychiater überwiesen werden. 32 Systemtheoretisch ausgedrückt lässt sich unter diesen totalitären Bedingungen das Personalsystem gegenüber der Organisation nicht mehr aufrecht erhalten. Dass die Call Agents dabei krank werden, bestätigt die rollentheoretische Sicht Goffmans, wonach die versuchte Gleichschaltung individueller Dispositionen und institutioneller Anforderungen pathologisch ist (vgl. oben). Call Center scheinen somit moderne Arbeitsplätze zu sein, an welchen das Individuum durch den Takt der Maschine, die Vorgaben der Datenbankorganisation bzw. der Bildschirmoberfläche und die Vorschriften der Betreiber bezüglich Gesprächsverhalten in seinem Handlungsspielraum so eingeschränkt ist wie nirgendwo sonst. Trotzdem oder gerade deswegen sind Gespräche im Call Center dazu geeignet zu untersuchen, ob und wie sich das Individuum unter beinahe “totalen” institutionellen Bedingungen im Sinne Goffmans sprachlich manifestiert und behauptet. Denn je rigider die Verhaltensvorschriften sind, je kleiner der Handlungsspielraum ist, umso eher lassen sich Unterschiede im Verhalten zwischen den Individuen als aktives Bemühen um individuelle Gestaltung der institutionellen Gespräche deuten - wobei aktiv nicht gleichzusetzen ist mit bewusst. Wenn der Teamleader, der mit schwarzem Pullover und Pferdeschwanz zur Arbeit erscheint, auf Kundenreklamationen regelmässig mit “das isch no speziell” antwortet, dann wird die Bedeutung dieser Floskel als Element seines individuellen Interaktionsprofils vor allem dann deutlich, wenn man weiss, dass er der einzige der ganzen Abteilung ist, der diese Floskel benützt. Seine Art, die Vorschrift “Kundenreklamationen quittieren” umzusetzen, passt zu seiner “speziellen” äusseren Erscheinung und unterstreicht seine Einzigartigkeit. 3.2.2 Charakteristika von Telefongesprächen Telefongespräche sind seit Beginn der Gesprächsforschung das bevorzugte Analyseobjekt vieler Gesprächsforschender, scheinen sie doch (vordergründig zumindest) die Beschränkung der Untersuchung auf das gesprochene Wort zu erlauben, während der von der Linguistik nur schlecht in den Griff zu kriegende “nonverbale Kanal” wegfällt. Die Frage, wie das Medium <?page no="61"?> Konkretisierung: Arbeit im Call Center 61 33 Gutenberg (1987) ist der einzige, der findet, die Beschränkung auf den auditiven Kanal mache die Sache nicht einfacher, sondern schwieriger (S. 11). Telefon das Gespräch beeinflusst, wurde in der Regel nicht gestellt oder aber mit dem pauschalen Hinweis beantwortet, gewisse Dinge müssten versprachlicht werden, die in der face-to-face Kommunikation mimisch oder gestisch geregelt werden können (etwa das gegenseitige Erkennen oder das Zustimmen durch lächelndes Nicken). Das wiederum wurde als Vorteil für die rein sprachlich orientierte Analyse angesehen: Für einmal werden alle Handlungen bzw. Gesprächszüge sprachlich realisiert und sind damit einer mit Tonbandaufnahmen und Transkripten arbeitenden Gesprächsanalyse zugänglich. 33 So sind Telefongespräche eines der am besten erforschten Objekte: Alltagsdialoge wurden ebenso untersucht wie institutionelle Dialoge von Verkaufsgesprächen (Plog 1996) über Reklamationsgespräche (Antos 1988, Fiehler/ Kindt/ Schnieders 1999) und Computerberatungen (Cube 1997) bis zu Feuerwehrnotrufen (Whalen/ Zimmerman 1990, Zimmerman 1992, Bergmann 1993) und Telefonseelsorge (Gülich/ Kastner 1999). Thematische Schwerpunkte waren die Dialogkonstitution, insbesondere Anfang (Berens 1980) und Beendigung (Clark/ French 1981, Bjelic 1987), die Themen- und Beziehungskonstitution (Winskowski 1977, Schmale 1988, Couper-Kuhlen 2001), die Organisation des Sprecherwechsels sowie die Ritualität der telefonischen Interaktion (Werlen 1984). Die umfassendste Darstellung des Telefongesprächs bietet die Monografie von Hopper (1992). Kaum berücksichtigt wurde bisher das situative Umfeld der Telefonierenden. Dabei hat schon die Pionierarbeit von Baumgarten (1931/ 1989) gezeigt, dass die Anbzw. Abwesenheit von Drittpersonen, die je nachdem ins Gespräch miteinbezogen werden, Telefongespräche massiv beeinflusst. Auch zeigt schon die oberflächlichste Beobachtung, dass Telefonieren keine auf den “verbalen Kanal” beschränkte Angelegenheit ist. Telefonierende sind körperlich keineswegs kalt gestellt; vielmehr gestikulieren sie, wie wenn sie von ihren Gesprächspartnern zu sehen wären, und gleichzeitig gehen sie Nebenbeschäftigungen nach (Pult aufräumen, Notizen machen, gestischmimische Kommunikation mit den KollegInnen, am Computer weiterarbeiten usw.), die sie nur ausführen können, weil sie wissen, dass der Gesprächspartner sie eben nicht sieht. Hier sind die Gesprächsforschenden Opfer ihrer Methode, da es bisher nicht möglich ist, einen Telefonanruf auch filmisch festzuhalten, schon gar nicht bei beiden Interaktionspartnern gleichzeitig. Spätestens bei der Analyse von Gesprächen im Call Center erweist sich das als Problem, da teilweise nicht zu rekonstruieren ist, was die Agentin während des Gesprächs tut, weil man zum Beispiel nicht weiss, was auf dem Bildschirm zu sehen ist und was sie eingibt, während auf der Tonband- <?page no="62"?> Individuum und Institution 62 34 In einem Coachinggespräch fragte ich einen Berater, warum es zu Beginn eines bestimmten Telefongesprächs zu den hörbaren, massiven, die Kundin verunsichernden Verzögerungen von seiner Seite gekommen sei. Er erklärte mir, er sei noch mit dem Ausfüllen von Formularen beschäftigt gewesen, während er bereits diesen Anruf entgegengenommen habe; daher sei er nicht ganz bei der Sache gewesen. Nebenbeschäftigungen sind nach meinen Beobachtungen eine der häufigsten Ursachen für “Fehlleistungen” der Agents, die man mit der Analyse des gesprochenen Wortes allein nie erklären kann. 35 Moderne Call Center Aufzeichnungsgeräte registrieren auch die Bewegungen auf dem Bildschirm. Damit lässt sich noch präziser kontrollieren, was die Angestellten tun und ob ihr Vorgehen maximal effizient ist. 36 Gemeint sind das “Reden über’s Wetter” und andere “homilëische Sequenzen” in der Terminologie von Ehlich (1980: 343). aufnahme nur das Klappern der Tastatur zu hören ist. 34 Die Untersuchung, was Telefonierende am Telefon so alles tun ausser reden, steht noch weitgehend aus. 35 Die wenigen Studien, die sich der Frage widmen, ob und wie das Medium Telefon die Gespräche im Vergleich zur face-to-face Kommunikation verändert, kamen zum Schluss, dass die Unterschiede gering sind: Der Sprecherwechsel verläuft praktisch identisch, weder Überlappungen noch Pausen sind häufiger, allerdings werden Pausen häufiger gefüllt, und für die Überbrückung von Gesprächsunterbrüchen existieren typische Züge wie das bekannte “einen Moment bitte” (Beattie/ Barnar 1979, Schmale 1988). Die Behauptung, Telefongespräche unterschieden sich nicht wesentlich von face-to-face Gesprächen, ist allerdings ein methodisch bedingter Trugschluss, verursacht durch die Fokussierung der Untersuchungen auf die mikrostrukturellen Aspekte der Turnorganisation und der Dialog- und Themenkonstitution. Der makrostrukturelle Vergleich von Telefongesprächen und face-to-face Gesprächen zu ein- und demselben Thema fördert erst die gravierenden Unterschiede zu Tage. Die Tatsache nämlich, dass • Telefongespräche um ein Vielfaches kürzer sind als entsprechende face-toface Gespräche, • gewisse mit dem Anliegen verbundene Tätigkeiten auf ausserhalb des Gesprächs oder auf ein Nachfolgegespräch verlagert werden und • ein grosser Teil der Aktivitäten zur Beziehungspflege wegfällt. In der Bank werden zum Beispiel Formulare am Schalter gemeinsam und während der Interaktion ausgefüllt, am Telefon allein vom Angestellten und oft erst nach dem Gespräch; Unterlagen können dem Kunden nicht gezeigt werden, sondern müssen ihm zugeschickt und in einem Zweitgespräch besprochen werden usw. Der Praktiker Geyer weist in seinem Ratgeber zum Bankberatungsgespräch denn auch nachdrücklich darauf hin, dass Telefongespräche nicht gleich gestaltet werden können wie Gespräche im Beratungszimmer: “Ein Kontaktthema 36 kann den Rahmen eines Telefonats sprengen. […] Die Informationsaufnahme am Telefon nur durch die Ohren <?page no="63"?> Konkretisierung: Arbeit im Call Center 63 37 Dieser Befund ist allerdings nicht allein dem Medium Telefon zuzuschreiben, sondern auch der teilweise fehlenden Gewandtheit der untersuchten BeraterInnen und ihrer Weigerung, auf die Plauderinitiativen der KundInnen einzugehen. Mehr dazu in Kapitel 8. 38 Nach wie vor gilt die Feststellung von Hess-Lüttich (1990), dass die Beschreibung des Telefonats als eigener Mediengesprächstyp noch aussteht. ist anstrengend und ermüdender als im persönlichen Gespräch. Rufen Sie lieber öfter und kurz an als einmal sehr lang.” (Geyer 1998: 262-264). Meine eigenen Recherchen haben diesen Befund mehr als bestätigt: Erstgespräche mit neuen Kunden dauerten in der von mir untersuchen Bank am Schalter in 50% der Fälle länger als 10 Minuten, im Besprechungszimmer in 92% der Fälle länger als 10 Minuten und am Telefon - durchschnittlich zweieinhalb Minuten! Homilëische Sequenzen waren am Telefon inexistent, 37 inhaltlich beschränkten sich die Telefonate mehr oder weniger darauf, dass die BeraterInnen die Adresse der KundInnen aufnahmen und ihnen versprachen, die gewünschten Unterlagen zuzustellen. Die Unterschiede zwischen den Erstgesprächen in der Geschäftsstelle und am Telefon sind so gross, dass es fraglich ist, ob man überhaupt von einem einheitlichen Gesprächstyp “Bankerstgespräch” sprechen kann, obwohl das institutionelle Umfeld, der Zweck des Gesprächs sowie die Aufgaben und Rollen der Beteiligten nachgewiesenermassen dieselben sind. Das Medium Telefon bewirkt eine radikale Umgestaltung der Interaktion, inhaltlich und von der zeitlichen Dauer her. Insgesamt ist davon auszugehen, dass das Medium Telefon Gespräche stärker beeinflusst, als bisher angenommen wurde, 38 erst recht im Call Center, wo das Telefon Teil eines komplexen Verbunds technischer Medien ist. Komplexe Aufgaben werden auf mehrere Gespräche verteilt und teilweise ganz aus dem Gespräch ausgelagert, bestimmte Gesprächsthemen fallen weg, homilëische Sequenzen erscheinen reduziert oder fallen ganz weg, Pausen werden vermieden, gefüllt oder sprachlich überbrückt, und insgesamt sind die Gespräche viel kürzer als vergleichbare face-to-face Gespräche. Verglichen damit ist die Beobachtung, dass der Sprecherwechsel am Telefon offenbar problemlos funktioniert, geradezu nebensächlich. Damit ist gleichzeitig gesagt, dass Institutionen durch die Einrichtung von Call Centern und durch die Vorgabe, geschäftliche Angelegenheiten (ausschliesslich) telefonisch abzuwickeln, sowohl den Call Agents als auch den Anrufenden bestimmte, medienspezifische Interaktionsformen aufzwingen. Dass Telefongespräche gegenüber face-to-face Gesprächen insgesamt als “reduziert” erscheinen, mag mit ein Grund sein, warum Call Center bis heute einen eher schlechten Ruf bei der Kundschaft haben. <?page no="64"?> Individuum und Institution 64 3.2.3 Die Call Center der “Schwyzer Bank” Die Schwyzer Bank verfügt über mehrere Call Center in der deutschen, französischen und italienischen Schweiz, die unterschiedliche Funktionen wahrnehmen. Die regionalen, einsprachigen Call Center sind für die folgenden Aufgaben zuständig: 1. Entgegennahme aller Anrufe für sämtliche Geschäftsstellen der Region. 2. Erteilen von allgemeinen und kontospezifischen Auskünften. 3. Entgegennahme von einfachen Aufträgen wie Formularbestellungen. 4. Weiterleiten der Anrufe an die Berater im Call Center und in den Geschäftsstellen. 5. Betreuung und Beratung der Privatkunden mit kleinem Anlagevermögen sowie der Geschäftskunden von Kleinunternehmen. Die ersten vier Aufgaben werden von den Agents in der Abteilung Service wahrgenommen, die letzte Aufgabe von den Beratern in der Abteilung Beratung. Die regionalen Call Center arbeiten zu den gewohnten Bürozeiten, allerdings ohne Mittagspause. Die KundInnen, die die lokale Telefonnummer der Geschäftsstelle gewählt haben, wissen in der Regel nicht, dass sie in ein Call Center umgeleitet wurden. Das nationale, viersprachig geführte Call Center ist für folgende Aufgaben zuständig: 1. Sperrung von verlorenen Konto-, EC- und Kreditkarten. 2. Beratung und Auftragsentgegennahme von Kunden mit speziellem Telefonbanking-Vertrag. 3. Technische Hilfestellung und Beratung bei Problemen mit dem Internet- Banking. Ich nenne die entsprechenden Abteilungen Kartendienst, Telefonbanking und Hotline. Die Agents des nationalen Call Centers arbeiten im Schichtbetrieb rund um die Uhr an sieben Tagen der Woche. Ihre KundInnen haben in der Regel eine 800er Nummer eingestellt und rechnen damit, mit einem Call Center verbunden zu werden. Die Call Center der Schwyzer Bank bestehen seit den 90er Jahren. Anlass und Hintergrund für die Einführung der Call Center waren rapide Veränderungen am Markt sowie der Zwang, Kosten zu sparen. Exkurs: Strukturelle Veränderungen im Retail Banking Zu Beginn der 90er Jahre geriet der Schweizer Bankenplatz unter Druck. Das nationale Überangebot, ausländische Konkurrenz, Verluste aufgrund <?page no="65"?> Konkretisierung: Arbeit im Call Center 65 39 Über die Abgrenzung zwischen Retail und Private Banking besteht in der Literatur und in der Praxis keine Einigkeit. Die Grenze wird je nachdem zwischen 25’000 und 100’000 Franken Gesamtvermögen angesetzt. 40 Produkte werden von Kilgus (1995) definiert als “standardisierte, nicht veränderbare Leistungen, welche vom Kunden in der angebotenen Form zu akzeptieren sind”, zum Beispiel ein Konto mit Kontokarte gegen eine fixe Jahresgebühr. Dienstleistungen sind demgegenüber “individuell auf den Kunden ausgerichtete, massgeschneiderte Leistungen, welche auch Sonderwünschen gerecht zu werden vermögen”, zum Beispiel ein Vermögensverwaltungs-Mandat mit Umsatzbeteiligung (S. 51). nachlässiger Kreditvergaben sowie überproportional gestiegene Infrastruktur- und Verwaltungskosten liessen die Kosten-Ertragsschere auseinander gehen und brachten gleichzeitig die Preise unter Druck. Die Gewinnmargen sanken. Als Folge davon setzte eine Welle teilweise spektakulärer Fusionen, Übernahmen und neuer Kooperationen ein, mit denen die Banken die Infrastruktur- und Personalkosten zu senken hofften. Gleichzeitig wurden betriebsintern tief greifende Restrukturierungen vorgenommen, wurden ganze Bereiche wie zum Beispiel das Marketing, die EDV oder die Personaladministration regional oder landesweit zusammengelegt und zentralisiert. Ein verschärftes Controlling sollte Kostentransparenz schaffen und Sparmöglichkeiten aufzeigen. Dabei stellte sich unter anderem heraus, dass die sogenannten Retail- Kunden, das heisst Kunden mit kleinem Gesamtanlagevermögen, 39 der Bank nicht nur keinen Gewinn einbringen, sondern sogar Verluste bescheren. Das brachte die Mehrheit der Banken auf die Idee, die Kundschaft in verschiedene Segmente einzuteilen, welchen unterschiedliche Dienstleistungen zu unterschiedlichen Preisen zur Verfügung gestellt werden. Die Umstrukturierungen und das neue Kostenbewusstsein veränderten auch den Beruf des Bankangestellten. Hiess dieser früher treffend “Bankbeamter”, als welcher er passiv die Gelder verwaltete, die von den Kunden auf die Bank gebracht wurden, mutierte er nun zum “Bankberater”, der an der “Front” aktiv neue Kunden anwerben und mehr Bankdienstleistungen verkaufen musste. Fixfertig geschnürte Dienstleistungspakete hiessen jetzt “Produkte”, 40 deren Absatz mit Verkaufszielen und -prämien für die einzelnen Berater gesteigert werden sollte. Ein aggressives Marketing nach aussen und die Durchsetzung der Verkäufermentalität im Innern erschütterten das Selbstverständnis vieler alteingesessener Bankangestellter. Aus systemtheoretischer Perspektive sind die Veränderungen im Retail Banking ein typisches Beispiel dafür, wie Veränderungen in der Gesellschaft, in diesem Falle im Finanzsektor, Veränderungen in den Organisationen nach sich ziehen und diese wiederum die Rollen der Organisationsangehörigen verändern und eine Anpassung des Personalsystems erzwingen. Die Einführung der Call Center bei der Schwyzer Bank steht in diesem Zusammenhang. Die neuen Telefonzentralen hatten mehrere Funktionen zu erfüllen: <?page no="66"?> Individuum und Institution 66 Erstens sollten sie die Berater in den Geschäftsstellen von Routinetätigkeiten wie dem Erteilen von Kontoauskünften oder dem Verschicken von Formularen entlasten. Damit sollten die Berater den Rücken frei bekommen für die verstärkte Kunden- und Geschäftsacquisition, während die Routinetätigkeiten in Abteilungen ausgeführt wurden, die von den Gebäuden, von der Infrastruktur und von den Arbeitskräften her viel billiger zu stehen kamen. Zweitens sollte für die Kunden ein grösseres Angebot geschaffen und damit die Servicequalität erhöht werden. Die Einführung des Telebanking via Telefon und später Internet sollte die Bank rund um die Uhr erreichbar machen. Das wiederum sollte die vermögende, dem Börsengeschäft zugeneigte, aber auch die ausländische, ortsungebundene Kundschaft anziehen und zu häufigeren Transaktionen verlocken, wodurch sich Umsatz und Gewinn steigern liessen. Das dritte Ziel bestand darin, die Kundschaft mehr und mehr auf die kostengünstigen, halbautomatischen Vertriebskanäle wie Telefon, Internet und Bancomat umzulenken und die unrentablen Retailkunden mittelfristig nur noch über diese Kanäle zu bedienen. Der Trend zur Selbstbedienung im Bankgeschäft hält bis heute an, bereits ist die Rede davon, die Produkte künftig noch günstiger anzubieten und dafür die Beratungszeit zu verrechnen. Zum Zeitpunkt meiner Untersuchung waren die Folgen dieser gravierenden Umstrukturierung noch allenthalben zu spüren. Viele der älteren Berater konnten nur schwer verwinden, dass sie nicht mehr vollumfänglich für “ihre” Kunden da sein und diese stattdessen an ein Call Center verweisen sollten. Andere waren zu Call Agents degradiert worden und mussten teilweise beträchtlich längere Arbeitswege in Kauf nehmen. Die geforderte Zusammenarbeit zwischen den Call Agents im Call Center und den Beratern in den Geschäftsstellen wurde durch wechselseitige Vorurteile erschwert. Den Call Agents wurde mangelnde Kompetenz, den Beratern mangelnde Kooperation vorgeworfen. Wie sehen nun die einzelnen Call Center bei der Schwyzer Bank aus? Die Call Center sind in Grossraumbüros mit bis zu 100 Arbeitsplätzen untergebracht. Die Agents sitzen an Inseln oder in Doppelreihen mit vier bis acht Plätzen, die durch kleine Trennwände bis auf Augenhöhe voneinander abgeschirmt sind. Nach der Seite und nach hinten ist der Blick frei, und wer sich von seinem Stuhl halb erhebt, vermag den ganzen Raum zu überblicken. Die Arbeitstische sind klein und zum grossen Teil von den technischen Gerätschaften belegt: je nach Abteilung ein oder zwei Personal Computer, Tastatur, Telefongarnitur und ein oder zwei Bildschirme. Der verbleibende Platz reicht gerade für einen Schreibblock und Schreibutensilien. Persönliche Schränke oder Schubladen existieren (ausser für die Berater) nicht. Die Agents sind vielmehr zu Teams von bis zu 12 Personen <?page no="67"?> Konkretisierung: Arbeit im Call Center 67 zusammengefasst, die gemeinsam die nötigen Formulare, Postein- und -ausgang, Drucker und Fax verwalten. Es herrschen die Prinzipien Tagesfertigkeit und Cleardesk Policy. Das bedeutet, dass am Ende jedes Arbeitstages alle Aufträge pendenzenfrei erledigt sein müssen und sämtliche Dokumente in verschliessbaren Schränken weggeräumt sein müssen. Der Eindruck tadelloser Ordnung wird lediglich durch die omnipräsenten Getränkeflaschen und den persönlichen Schnickschnack wie Stofftierchen gestört. Die Räume sind schallisoliert, trotzdem ist der Geräuschpegel aufgrund der vielen telefonierenden Personen und laufenden Geräte (Computer, Drucker, Kopiergerät) hoch. In manchen Abteilungen wird zusätzlich leise Radio gespielt. Über den Köpfen der Agents sind Boards montiert, auf denen permanent angezeigt wird, wie viele Personen eingeloggt (das heisst empfangsbereit) sind, wie viele aktuell am Telefonieren im Ring sind, wie viele ein Gespräch über die persönliche Nummer führen und wie viele Anrufe in der Warteschlaufe hängen. Sobald Anrufe in der Warteschlaufe sind, wechselt die Anzeige von grün auf rot. Die Teams werden von TeamleaderInnen geführt, die vielfältige Funktionen übernehmen: Sie müssen kontrollieren, ob ihre Agents genug häufig und lange eingeloggt sind und ob sie ihre Aufgabe fachlich korrekt und freundlich abwickeln. Sie sind für die Einhaltung aller Sicherheitsvorschriften verantwortlich. An wöchentlichen Teamsitzungen sorgen sie dafür, dass die Agents die nötigen Informationen bekommen, von den Nachrichten aus der Unternehmensleitung bis hin zu Änderungen von Prozessen oder zu neuen Produkten. Schliesslich sitzen sie mitten in ihrem Team und nehmen selber Anrufe entgegen. In den grösseren Call Centern sind die Teams wiederum zu Abteilungen zusammengefasst. Neue Agents werden von sogenannten Göttis (Paten), das sind erfahrene Agents aus dem eigenen Team, on-the-job in ihre Aufgabe eingeführt. Hinzu kommen Produkt-, Verkaufs- und Telefonschulungen in den nationalen Ausbildungszentren. Nach sechs Wochen Zuhören dürfen die angehenden Agents die ersten Anrufe unter Aufsicht entgegennehmen, nach drei Monaten arbeiten sie selbständig. Die Anrufe werden statistisch auswertet. Geprüft wird, zu welcher Tageszeit wie viele Anrufe hereinkamen, ob und wie oft die Kunden länger als 20 Sekunden bis zur Entgegennahme ihres Anrufs warten mussten (Service Level), wie oft Kunden auflegten, bevor sie bedient wurden (Abandon Rate), wie lange die Gespräche dauerten und wie oft Gespräche selber beendet oder weitergeleitet wurden. Je nach Abteilung wird öffentlich ausgehängt, wer wie lange eingeloggt war, wie viele Anrufe er oder sie bearbeitet hat und - bei den Beratern - wie viel verkauft wurde. Die Gesamtleistung der Abteilung wird verwendet für die Schichtplanung, die Festlegung der jährlichen Zielvorgaben, die Leistungsbeurteilung und bei den Beratern für die Bemessung des Erfolgsbonus. <?page no="68"?> Individuum und Institution 68 41 Im Formblatt sind die Vorschriften in anderer Reihenfolge und unter anderen Überschriften aufgeführt. Neben diesen quantitativen Aspekten wird die Arbeit der Call Agents auch qualitativ kontrolliert und beurteilt. In einem Formblatt sind die sogenannten Telefonstandards festgelegt, das heisst die Regeln des kommunikativen Umgangs mit den KundInnen. Diese Regeln reichen von wörtlichen Vorschriften über formale Kriterien und einzelne Gesprächstechniken bis hin zur atmosphärischen Gestaltung und zu komplexen rhetorischen Strategien. Hier einige Beispiele: 41 • Wörtliche Vorschriften - Begrüssungsformel: “Schwyzer Bank min Name isch [Vorname] [Name]? ” - Ansprache des Kunden mit Namen, mindestens drei Mal im Gespräch. - Nach Gesprächspausen kein “Sind Sie no daa? ”, sondern “Herr/ Frau [Name]? ” • Formale Kriterien - Bei der Kundenidentifikation interne Weisung Nr. X befolgen. - Interne Sicherheitsvorschriften einhalten. - Auskunft und Vorgehen sind korrekt. • Einzelne Gesprächstechniken - Einsatz der Fragetechnik. - Für Anruf danken. - Bei Wartezeiten über eine Minute Rückruf anbieten. • Atmosphärische Gestaltung - Freundliche, verbindliche Stimme. - Sympathische Ausstrahlung, Engagement, Begeisterung. • Komplexe rhetorische Strategien - Gesprächsführung behalten, zum Thema zurückführen. - Reklamationen ernst nehmen, Verständnis zeigen. - Argumentation aus Sicht des Kunden. Die technischen Voraussetzungen für die intern Gesprächsanalyse genannte Kontrolle sind unterschiedlich. Im nationalen Call Center werden sämtliche Gespräche aufgezeichnet; hier werden die Aufnahmen von den sogenannten Coaches zusammen mit den Agents in den Coachinggesprächen mehrmals abgehört und schriftlich ausgewertet. In allen anderen Call Centern werden die Gespräche nicht routinemässig aufgezeichnet. Da das unangekündigte Mitschneiden von Gesprächen gesetzlich verboten ist, beschränken sich die AbteilungsleiterInnen hier darauf, bei ihren Angestellten einzelne Gespräche live mitzuhören, was sie vorher jeweils ankündigen (müssen! ). <?page no="69"?> Konkretisierung: Arbeit im Call Center 69 Entsprechend kann die Auswertung und Beurteilung nur ad hoc und eher oberflächlich vorgenommen werden. In den Call Centern der Schwyzer Bank arbeiten mehrheitlich junge Leute unter 25 Jahren. Die meisten haben eine Lehre abgeschlossen, viele sogar eine Banklehre, und betrachten die Arbeit im Call Center als Durchgangsstation, geeignet, die Bank kennenzulernen, um später zum Berater in einer Geschäftsstelle aufzusteigen. In der Hotline, wo weniger Bankals vielmehr EDV-Kenntnisse verlangt sind, arbeiten auch StudentInnen, im Kartendienst vereinzelt ältere Wiedereinsteigerinnen, beide in Teilzeit. Die Fluktuation ist hoch, je nach Abteilung 40-50%. Die einzelnen Call Center begegnen diesem Problem mit verschiedenen Massnahmen. Die einen versuchen, mittels Job-Rotation (Wechsel der Aufgabe innerhalb des Hauses) oder Job-Enrichment (Zuweisung zusätzlicher Aufgaben) die Stellen interessanter zu machen, andere versuchen, mit vorgezeichneten Aufstiegsmöglichkeiten die Leute dem Call Center oder wenigstens der Bank als Unternehmen zu erhalten. Viele Agents sind Secondos, das heisst Kinder von Immigranten, die nicht nur in zwei Sprachen, sondern auch in zwei (Gesprächs-)Kulturen zu Hause sind. Besonders im nationalen Call Center, in welchem keiner der Agents weniger als drei Sprachen spricht, herrscht unter den Agents eine enorme kulturelle Vielfalt und am Telefon ein veritables Sprachenwirrwarr: Die Agents sprechen mit ihren Kunden deutsch, französisch, italienisch oder englisch, und je nach Kombination ist diese Sprache entweder für den Agent oder für den Kunden oder für beide Fremdsprache. Die Atmosphäre in den Call Centern ist innerhalb der Bank einzigartig. Im Bereich des Telebanking tätig, stets mit der neuesten Technik ausgerüstet und regelmässigen Umstrukturierungen ausgesetzt, versteht man sich als besonders dynamisch, fortschrittlich und flexibel. Die Agents pflegen untereinander einen betont lockeren Stil, mit den Teamleadern ist man per du, und was das Äussere betrifft, so wird ein Image gepflegt, welches gar nicht weiter von der traditionellen Vorstellung eines “Bankers” entfernt sein könnte: knallenge Hosen, die den Bauch frei lassen, bei den Frauen, schlabbernde T-Shirts bei den Männern, Turnschuhe, Schildmützen, Piercings vom Kopf bis zum Knöchel, so präsentiert sich der moderne Call Agent. Eine Krawatte oder ein Deux-pièces sucht man bis hinauf zu den Call Center Leiterinnen und Leitern vergeblich. Männer mit langen Haaren, körperlich Behinderte und auffällig dicke, junge Leute, die es schwer haben könnten, eine Stelle am Schalter zu bekommen, finden im Call Center Unterschlupf und können von dort aus ihrer Arbeit mit den Kunden und der Börse nachgehen. Als Pluspunkte der Arbeit im Call Center werden genannt: • direkter Kontakt mit den Kunden, • grosse Kollegialität und Hilfsbereitschaft im Team, <?page no="70"?> Individuum und Institution 70 • Arbeitsmittel Telefon als effizientes, unkompliziertes, modernes Kommunikationsmedium. Zwar sei das Gespräch mit dem Kunden am Telefon unpersönlicher und die KundInnen würden am Telefon schneller einmal aggressiv oder ausfällig, dafür sei man durch die Distanz auch besser geschützt vor solchen verbalen Attacken. Als belastend werden demgegenüber genannt: • redselige, aggressive sowie offen frauenfeindliche Kunden, • fremdsprachige oder sonstwie schwer verstehbare KundInnen, • KundInnen, die mehr wissen als der/ die Angestellte selber, • KundInnen, die sich nicht identifizieren können oder wollen, • die hohen Zielvorgaben mit dem dadurch entstehenden Verkaufsdruck. Welchen Stellenwert hat nun das Individuelle in den Call Centern der Schwyzer Bank? Die Zustände sind beileibe nicht so totalitär, wie Cameron (2000) sie für die von ihr untersuchten amerikanischen Call Center beschreibt. In der Schwyzer Bank betonten mir gegenüber alle AusbildnerInnen und Vorgesetzten, dass sie auf keinen Fall uniformierte Marionetten heranzüchten wollten; das sei auch gar nicht möglich, da ohnehin jede Person ihre persönliche Art zu telefonieren habe. Sie wollten lediglich dafür sorgen, dass die formalen Vorschriften und die grundlegenden Gesprächsstandards eingehalten würden. In einem Einführungsdossier für Neueintretende steht explizit, die Arbeit im Call Center biete eine “abwechslungsreiche Tätigkeit, die viel persönlichen Spielraum beim Arbeiten ermöglicht”. Die Agents tun das ihre, um als Individuen im Labyrinth der Telefonkabinchen nicht in der Anonymität unterzugehen: Ein grosses Namensschild thront auf dem Computer, damit einen auch die neuen KollegInnen und die BesucherInnen finden. Auf dem Bildschirm prangt ein persönliches, selber eingescanntes Foto als Bildschirmschoner, und der Arbeitsplatz wird mit unverwechselbarem persönlichem Kleinkram ausstaffiert. Zum Zeitpunkt meiner Untersuchung waren besonders beliebt: Familienfotos, Karikaturen, Stofftierchen, Schokoladekäfer und überdimensionale bunte Schreibstifte. Auf Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit reagieren die Agents empfindlich. So bot die Vorschrift, sich mit der oben genannten Formel (“Schwyzer Bank, min name isch [Vorname] [Name]”) vorzustellen, immer wieder Anlass zu Diskussionen. “Die Formel ist zu lang”, “meinen ausländischen Vornamen versteht hier keiner”, “wieso nicht gleich ein ‘grüezi’ anfügen, wie das andere Firmen tun” usw. waren die Argumente, mit der die wörtliche Formel bekämpft wurde. Nicht unbedingt, weil sie grundsätzlich umstritten gewesen wäre, sondern weil sie den versprochenen “persönlichen Spielraum” einschränkte. <?page no="71"?> Zwischenbilanz: Individuum und Institution im Call Center 71 Dass sowohl von den Vorgesetzten als auch von den Call Agents immer wieder auf der “individuellen Art zu telefonieren” insistiert wird, macht deutlich, dass die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Institution auch von der persönlichen Wahrnehmung abhängt. Scheinen die Arbeitsbedingungen im Call Center von aussen betrachtet ausgesprochen restriktiv und die Gespräche sehr uniform zu sein, sehen die dort Beschäftigten individuelle Spielräume bei der Gestaltung ihrer Telefongespräche als gegeben und betonen die Individualität ihrer Gesprächsführung. Mit anderen Worten: Die Call Agents verfügen über Rollendistanz und über diskursive Methoden zur Aufrechterhaltung ihres Personalsystems. 3.3 Zwischenbilanz: Individuum und Institution im Call Center Call Center sind Organisationen, in denen die spezifischen Eigenschaften von Institutionen besonders augenfällig sind. Der Zweck der Institution schlägt sich materiell nieder in speziell eingerichteten Räumen, spezifischem Mobiliar, hoch spezialisierten, technisch ausgerüsteten Arbeitsplätzen mit der typischen Verbindung von Bildschirm- und Telefonarbeit sowie im über die Bürozeiten hinausgehenden Schichtbetrieb. Call Center sind Ausdruck der steigenden Taylorisierung auch im Dienstleistungssektor und nehmen im Rahmen der zunehmenden betriebsinternen Arbeitsteilung ganz spezifische Funktionen innerhalb des Gesamtunternehmens wahr. Der einzelne Arbeitsplatz ist von der Funktion des Call Centers her definiert. Im Falle der Schwyzer Bank lautet der Auftrag: Anrufe entgegennehmen und verteilen, Auskunft geben, kleinere Beratungen durchführen und Aufträge entgegennehmen sowie Probleme lösen helfen. Die Arbeit ist einerseits repetitiv wie in jedem Call Center, andererseits verlangt sie breites bankfachliches Wissen sowie umfangreiche Kenntnis der betriebseigenen Produkte und Prozesse und ist damit qualifizierter als in vielen Auskunfts- und Bestelldiensten. Das Individuum, welches einen solchen Posten übernimmt, sieht sich konfrontiert mit einem klar definierten Aufgabenbündel, strengen Sicherheitsvorschriften und genau festgelegten, begrenzten Kompetenzen. Die automatisch verteilten Telefonanrufe diktieren den Arbeitstakt, die Computersysteme (Datenbanken, Bildschirmmasken usw.) bestimmen die Möglichkeiten und das Vorgehen bei der Datenverarbeitung, Telefonstandards schreiben das Verhalten und die Gesprächsführung am Telefon vor. Die Agents sind der quantitativen, technischen Kontrolle sowie der qualitativen, persönlichen Überwachung ausgesetzt. Schliesslich müssen sie die Rollenerwartungen erfüllen, die von den KundInnen und KollegInnen an sie herangetragen werden, wobei die Rolle des seriösen Bankangestellten mit der Rolle des jugendlichen, kollegialen, ungezwungenen Agents nicht in jeder Beziehung übereinstimmt. <?page no="72"?> Individuum und Institution 72 Bedenkt man, dass die Agents vom organisatorischen Konzept her untereinander vollständig austauschbar sind, so entsteht insgesamt der Eindruck, dass Call Agents keinerlei Möglichkeit zur individuellen Gestaltung ihrer Arbeit und zur interaktionalen Generierung von Identität besitzen. Dennoch: Solange ich davon ausgehe, dass Call Center keine totalen Institutionen sind, solange ist sowohl aus rollenwie auch aus systemtheoretischer Perspektive zu erwarten, dass Spielraum für die individuelle Rollengestaltung bzw. Aufrechterhaltung des Personalsystems vorhanden ist und wahrgenommen wird. Dass die Agents ihren Arbeitsplatz individuell einrichten, habe ich bereits gezeigt. Doch das wichtigste Ausdrucksmittel der Call Agents bleibt die Sprache. Mit Sprache wird ein Grossteil der Arbeit bewältigt, Sprache bildet am Telefon das einzige Mittel, sich über die Arbeitsrolle hinaus als Individuum fassbar zu machen. Nur durch ihre “Art zu telefonieren” können die Agents ihre Individualität ausdrücken und ihre Identität wahren. Ob und wie sie das tun, soll die Fortsetzung dieser Arbeit zeigen. <?page no="73"?> 4 Das Korpus Ein Wort, ein Satz: aus Chiffren steigen erkanntes Leben, jäher Sinn, die Sonne steht, die Sphären schweigen, und alles ballt sich zu ihm hin. Ein Wort - ein Glanz, ein Flug, ein Feuer, ein Flammenwurf, ein Sternenstrich - und wieder Dunkel, ungeheuer, im leeren Raum um Welt und Ich. (Gottfried Benn) In diesem Kapitel schildere ich, wie die Gespräche aufgezeichnet wurden. Die quantitative Analyse von Gesprächsdauer, Sprache und Geschlecht der Beteiligten sowie Erfolgsquote gibt Aufschluss über Eigenschaft und Zusammensetzung des Korpus. 4.1 Die Gesprächsaufzeichnungen Das analysierte Korpus umfasst 431 Telefongespräche aus zwei Call Centern der Schwyzer Bank, einem deutschsprachigen, regionalen, und dem viersprachigen, nationalen. Die organisatorischen und technischen Bedingungen verlangten ein unterschiedliches Vorgehen in jeder Abteilung und wirkten sich auf Umfang und Qualität der Aufnahmen aus. Im Service wurden während zwei Tagen die Anrufe ausgewählter Geschäftsstellen (grössere, kleinere, städtische, ländliche, dialektal unterschiedliche) auf einen separaten Ring von sieben Agents geleitet. Die Anrufenden wurden per Tonband darauf aufmerksam gemacht, dass die Gespräche zu Ausbildungszwecken aufgezeichnet würden. Die sieben Agents wussten, dass sie im Verlaufe des Tages abwechslungsweise aufgezeichnet würden. Registriert wurden die Gespräche am Pult der AbteilungsleiterInnen mithilfe von Diktaphonen, die direkt an die Telefonanlage angeschlossen werden konnten. Die Aufnahmequalität ist bescheiden, einige Gespräche sind auf dem Band durch einen permanenten Summton gestört. In der Beratung konnten die Aufnahmen nur “von Hand” gemacht werden. Die BeraterInnen baten die KundInnen zu Beginn des Gesprächs um die Aufnahmeerlaubnis und schalteten dann selber das angeschlossene Diktaphon ein und aus. Die Aufnahmequalität ist befriedigend, aber die Gesprächsanfänge fehlen, und die Aufmerksamkeit für die laufende Aufnahme dürfte vor allem auf der Seite der BeraterInnen hoch sein, da sie die <?page no="74"?> Das Korpus 74 Aufnahmegeräte unter ihren Augen hatten und diese selber ein- und ausschalten mussten. In den Abteilungen Kartendienst, Telefonbanking und Hotline werden standardmässig sämtliche Gespräche aufgezeichnet, was die Agents wissen und den Anrufenden mittels Tonbandansage vor jedem Gespräch bekannt gemacht wird. Hier konnte ein Korpus zusammengestellt werden, ohne die Agents vorher zu informieren. Die Aufnahmen konnten vom registrierenden Computer aus direkt auf CD gebrannt werden, lassen qualitativ aber trotzdem zu wünschen übrig. Passagenweise sind die Stimmen nur sehr leise zu hören. Die unten stehende Tabelle 1 zeigt, wann die Aufnahmen durchgeführt wurden, wie viele weibliche und männliche Agents aufgezeichnet wurden und aus welchen Regionen der Schweiz die Anrufe kamen. Tab. 1: Anzahl, Herkunftsregion und Aufnahmezeit der Anrufe nach Abteilung Service Beratung Kartendienst Telefonbanking Hotline Anzahl Anrufe (total 431) 124 67 80 80 80 Männliche Agents 3 3 4 6 5 Weibliche Agents 4 2 4 5 5 Herkunftsregion der Anrufe östl. Deutschschweiz ganze Schweiz und Ausland Aufnahmezeit Okt. 2000 Feb. 2001 Juli 2001 Gesprächsnummern 101-224 301-367 401-480 501-580 601-680 Die aufgezeichneten Gespräche habe ich in meinen Computer überspielt und mit einem Tonbearbeitungsprogramm anonymisiert. Sämtliche Orts- und Personennamen, Adressen, Kontonummern und Geldbeträge wurden mit einem Piepston überspielt. 4.2 Gesprächsdauer, Sprache und Geschlecht der Beteiligten Gespräche im Call Center sind dadurch gekennzeichnet, dass sie kurz sind und die Beteiligten sich nicht kennen. Das erste und oft einzige, was vom Gegenüber wahrgenommen werden kann, ist sein Geschlecht. In der Schweiz mit ihren drei Sprachen, ihren ausgeprägten regionalen Dialekten und ihrem hohen Ausländeranteil ist zudem die Sprache ein wesentliches Merkmal der Gesprächskonstellation. Die drei Faktoren Gesprächsdauer, Sprache und Geschlecht der Beteiligten werden daher in den folgenden drei Tabellen zusammengestellt und kommentiert. <?page no="75"?> Gesprächsdauer, Sprache und Geschlecht der Beteiligten 75 1 In der Abteilung Service waren die Diktaphone so eingestellt, dass sie nur die Gespräche zwischen den Agents und den KundInnen aufzeichneten. Wann immer die Agents die KundInnen auf “Halten” stellten, um Rücksprache mit anderen Abteilungen zu nehmen - und das geschah bei jedem dritten Anruf - wurde die Aufnahme gestoppt. Ebenso war die Aufnahme zu Ende, wenn der Kunde weiterverbunden wurde. Die hier aufgeführte Gesprächsdauer gibt also nur die Zeit wieder, die der aufgezeichnete Agent mit der Kundin verbrachte, nicht die Zeit, während der die Kundin mit der Schwyzer Bank verbunden war. Bei allen anderen Abteilungen ist bis auf wenige Ausnahmen die gesamte Gesprächsdauer angegeben. 2 Die Clearingnummer in der Schweiz entspricht der Bankleitzahl in Deutschland. 3 Das Schweizer Bankgeheimnis verpflichtet Bankangestellte dazu, ihre KundInnen zu identifizieren, das heisst sicherzustellen, dass der Kontoinhaber oder eine bevollmächtigte Person persönlich am Telefon ist. Vorher dürfen sie weder die Existenz des fraglichen Kontos bestätigen noch Auskünfte über dasselbe erteilen. Zum Zwecke der Identifikation stellen die Angestellten den KundInnen kontospezifische Fragen, zum Beispiel nach Ein- und Ausgängen, Daueraufträgen, Vollmachten oder Konto- und Kreditkarten. Tab. 2: Dauer der Gespräche nach Abteilung Service 1 Beratung Kartendienst Telefonbanking Hotline Gesamtkorpus bis 1 Minute 47% 15% 7% 19% 2% 21% 1-2 Minuten 22% 32% 25% 30% 15% 24% 2-4 Minuten 25% 30% 30% 30% 38% 30% über 4 Minuten 6% 23% 38% 21% 45% 25% Minimum 10’‘ 34’‘ 23’‘ 25’‘ 59’‘ 10’‘ Maximum 7’30’‘ 12’30’‘ 11’02’‘ 14’28’‘ 14’47’‘ 14’47’‘ Durchschnitt 1’35’‘ 2’55’‘ 3’26’‘ 3’12’‘ 4’35’‘ 3’00’‘ Wie Tabelle 2 zeigt, dauern die aufgezeichneten Gespräche durchschnittlich drei Minuten mit einer Streuung von 10 Sekunden bis zu einer Viertelstunde. Die weniger als eine Minute dauernden Gespräche sind in der Regel solche, in denen der Kunde lediglich weiterverbunden wird oder interne Mitarbeiter eine kurze Auskunft brauchen. Für einfache Auskünfte an die KundInnen - Wechselkurse, Clearingnummern, 2 Öffnungszeiten - brauchen die Agents eine bis eineinhalb Minuten. Sobald die KundInnen identifiziert werden müssen, 3 dauert es länger. Kontospezifische Auskünfte (Ein- und Ausgänge, Kontostand), Adressänderungen, Formularbestellungen, Änderungen von Daueraufträgen, das Zusammenstellen von Unterlagen für die Kontoeröffnung, Zahlungsmöglichkeiten ins Ausland abklären, Börsenaufträge - das dauert zwei bis vier Minuten. Insgesamt wird in den Abteilungen Service und Beratung die grosse Mehrheit der Anrufe in weniger als vier Minuten erledigt. Länger dauert es lediglich, wenn die KundInnen mehrere Anliegen haben oder wenn es ein Problem zu lösen gilt, wenn zum Beispiel eine falsche Belastung geklärt werden muss. <?page no="76"?> Das Korpus 76 4 Zum Zeitpunkt der Untersuchung hatte die Bank zwei Briefe verschickt, die bei einigen KundInnen Irritationen auslösten. Im einen wurden die KundInnen aufgefordert, ein Formular für die US-Quellensteuer auszufüllen, sofern sie amerikanische Titel handeln wollten. Im anderen wurden die KundInnen des Telefon- und Internetbankings darüber informiert, dass alle ihre Konti automatisch im System aufgeschaltet würden; wer das nicht (! ) wolle, müsse die beiliegende Antwortkarte zurückschicken. 5 Im Service und im Kartendienst arbeiten mehr Frauen als Männer, in der Hotline arbeiten mehr Männer, in den verbleibenden zwei Abteilungen ist das Verhältnis der Geschlechter ausgewogen. Anders sieht es im nationalen Call Center aus, wo zwei Drittel der Anrufe länger als vier Minuten dauern. Das liegt daran, dass dort viel komplexere Aufgaben zu bewältigen sind. Für eine Kartensperrung muss ein ausführlicher Rapport erstellt werden; im Telefonbanking geben die KundInnen mündlich Zahlungen in Auftrag, wozu sie die endlosen Nummern auf den Einzahlungsscheinen durchdiktieren müssen; Anfragen bezüglich von der Bank versandter Briefe verlangen umständliche Erklärungen. 4 Vor allem aber sind es die Probleme und Hilferufe, die zeitaufwändig sind: KundInnen stehen vor defekten Bancomaten und brauchen eine Alternative, um zu Bargeld zu kommen; der Zugang zum Internetbanking ist gesperrt; der Datentransfer von und zur Bank funktioniert nicht. Hier werden umfangreiche Abklärungen und die Suche nach Lösungsmöglichkeiten notwendig, die schnell einmal mehr als 10 Minuten dauern. Technisches Verständnis, Vorstellungsvermögen für die am Telefon nicht sichtbaren Probleme der KundInnen und robuste Nerven sind in diesen Abteilungen in einem Ausmass gefragt, das weit über “gewöhnliche” Call Center-Arbeit hinausgeht. Tab. 3: Geschlecht der Beteiligten nach Abteilung Service Beratung Kartendienst Telefonbanking Hotline Gesamtkorpus Agent weiblich 68% 30% 46% 48% 54% 52% Agent männlich 32% 70% 54% 52% 46% 48% Kunde weiblich 52% 36% 55% 32% 31% 43% Kunde männlich 48% 64% 45% 68% 69% 57% Die Verteilung der Geschlechter (Tabelle 3) entspricht bei den Agents nicht dem Anteil der Frauen und Männer unter den Angestellten. 5 Im Hinblick auf mögliche geschlechtsspezifische Auswertungen war mein Ziel vielmehr, die Geschlechter je zur Hälfte im Korpus vertreten zu haben, was über alle <?page no="77"?> Gesprächsdauer, Sprache und Geschlecht der Beteiligten 77 6 Von den 36% weiblichen Anrufern sind ein Drittel Interne, was den Prozentsatz weiblicher Kunden weiter senkt. 7 “Sind Frauen risikoscheu? ” Facts Nr. 31 (2002), S. 67. 8 “Deutsch gebrochen” bedeutet, dass jemand Standarddeutsch oder Dialekt als Fremdsprache sprach. Diese Personen haben weder Französisch noch Englisch noch Italienisch als Muttersprache, da die Agents in diesen Fällen in die Sprache des Kunden wechseln oder diesen an einen Agent weiterleiten, der die Sprache beherrscht. Es handelt sich in der Regel um Gastarbeiter aus dem ferneren Ausland. Aber auch Englisch war für einige KundInnen nicht die Muttersprache. Abteilungen hinweg auch gelungen ist. In den Abteilungen Service und Beratung hingegen ist die Verteilung mit 3: 7 bzw. 7: 3 schief. Bei den KundInnen spiegelt die Verteilung der Geschlechter die Zusammensetzung und Aktivität der Bankkundschaft. Im Service und im Kartendienst rufen je zur Hälfte Männer und Frauen an. In der Beratung hingegen, wo es nicht nur um einfache Auskünfte und Formularbestellungen geht, sondern um Depoteröffnungen, Börsenaufträge und Zahlungsverkehr mit dem Ausland, überwiegen die Männer mit 64% deutlich. 6 Ebenso deutlich überwiegen die Männer bei den Kunden im Telefonbanking (68%) und im Internetbanking (69%). Die Untervertretung der weiblichen Kunden in diesen Abteilungen ist Ausdruck des realen Marktverhaltens der Frauen: Sie verfügen heute zwar über ihr eigenes Konto mit Karte und brauchen die entsprechenden Auskünfte und Dienste aus den Abteilungen Service und Kartendienst, sind aber zurückhaltend, wenn es um Geldanlagen und Börsengeschäfte geht. Als Gründe dafür werden einerseits das durchschnittlich geringere Einkommen, welches kaum Geld zum Spekulieren übrig lässt, andererseits die geringere Risikobereitschaft der Frauen geltend gemacht. 7 Die Möglichkeiten, Geld gewinnbringend anzulegen, sowie die neuen Technologien werden vor allem von den Männern genutzt. Tab. 4: Sprache der KundInnen nach Abteilung Service Beratung Kartendienst Telefonbanking Hotline Gesamtkorpus Dialekt 81% 93% 51% 59% 60% 69% Deutsch gebrochen 8 13% 3% 8% 1% 2% 6% Deutsch 5% 4% 4% 6% 9% 6% Französisch < 1% - 19% 24% 21% 12% Englisch < 1% - 10% 4% 3% 3% Italienisch - - 8% 6% 5% 4% <?page no="78"?> Das Korpus 78 9 Diese Aussage stimmt natürlich nur bedingt, da Muttersprache und Staatszugehörigkeit nicht gleichgesetzt werden können. Es gibt Deutsch und gebrochen Deutsch sprechende Personen mit Schweizer Pass sowie Ausländerkinder, die perfekt Dialekt sprechen. Die Bezeichnungen “Einheimische” und “Ausländer” treffen jedoch insofern zu, als die Agents sich bei ihren Telefongesprächen nicht nach der Staatszugehörigkeit richten, sondern jene Personen als “Ausländer” erleben und bezeichnen, die nicht Dialekt sprechen. Aufschlussreich ist schliesslich die Verteilung der Sprachen (Tabelle 4). Im Service, wo KundInnen aus der Nordostschweiz bedient werden, entspricht sie der Bevölkerungsverteilung in der deutschen Schweiz: 80% Einheimische, 20% Ausländer. 9 In der Beratung ruft praktisch niemand an, der nicht Deutsch spricht. Das zeigt eindrücklich, dass die Gruppe der gebrochen Deutsch sprechenden Bankkunden keine eigentlichen Bankgeschäfte tätigt, sondern lediglich ein Lohnkonto besitzt und die dazu gehörenden Dienstleistungen wie Kontoauskünfte benutzt. Im nationalen Call Center sind (vom Rätoromanischen abgesehen) alle Landessprachen ihrer Verbreitung entsprechend vertreten: Dialekt, Französisch, Italienisch. Knapp ein Sechstel der KundInnen sind auch hier Ausländer, stellen aber eine andere Klientel dar als die gebrochen Deutsch sprechende. Es handelt sich vorwiegend um Deutsche und aus aller Welt stammende englisch Sprechende. Das ist die „feine” ausländische Kundschaft, die entweder selbst in der Schweiz lebt oder hier lediglich ihr Geld deponiert und die Bankgeschäfte per Telefon und Internet abwickelt. Die Agents passen sich nach Möglichkeit der Sprache des Kunden an, wobei es umstritten ist und auch unterschiedlich gehandhabt wird, ob man bei Deutschen und gebrochen Deutsch Sprechenden auf Standarddeutsch umstellen soll. Der Gebrauch der Standardsprache ist im mündlichen Verkehr in der Schweiz in hohem Masse markiert. Man spricht Dialekt, seinen regionalen Dialekt, auch in öffentlichen und formellen Situationen (Haas 1992). Da die Standardsprache von den meisten zudem nur ungern gesprochen wird, stellen viele Schweizer erst dann auf sie um, wenn sie vom Gegenüber wirklich nicht verstanden werden. Die Agents im nationalen Call Center haben nun aber selber verschiedene Muttersprachen, für sie sind je nachdem Deutsch, Französisch, Italienisch oder Englisch Erst-, Zweit- oder Drittsprache - es gibt sogar Agents, die das Telefon in vier Sprachen bedienen. Weil Deutsch und Englisch je nachdem aber auch für die KundInnen Fremdsprachen sind, findet man alle erdenklichen Kombinationen mutter- und fremdsprachlicher Gesprächspartner - die “reinste babylonische Sprachverwirrung”. Diese Situation ist kennzeichnend für ein mehrsprachiges Land und stellt sowohl die Angehörigen des Call Centers wie auch die Gesprächsforscherin vor die Aufgabe, sich in einem viersprachigen Umfeld zurechtzufinden. <?page no="79"?> Gesprächsabschluss und Erfolgsquote 79 4.3 Gesprächsabschluss und Erfolgsquote Für die Betreiber eines Call Centers, aber auch für die KundInnen ist entscheidend, wie das Gespräch zu Ende ging: Musste die Kundin weiterverbunden werden (in diesen Fällen ist der Ausgang des Gesprächs nicht bekannt) oder konnte die erste Ansprechperson des Unternehmens ihr Anliegen bearbeiten? Wurde das Anliegen vollständig erfüllt, wurde es zur internen Bearbeitung aufgenommen, auf einen späteren Anruf vertagt oder zurückgewiesen und damit gar nicht erfüllt? Tabelle 5 gibt Auskunft. Tab. 5: Erfolgsquote nach Abteilung Service Beratung Kartendienst Telefonbanking Hotline Gesamtkorpus Anliegen erfüllt 44% 48% 42% 65% 53% 50% Anliegen aufgenommen 2% 30% 14% 8% 24% 12% Anliegen vertagt 13% 16% 14% 7% 9% 12% Anliegen nicht erfüllt 10% 3% 9% 6% 11% 8% Ausgang nicht bekannt 31% 3% 21% 14% 3% 18% Nur die Hälfte aller Kundenanliegen kann auf Anhieb erfüllt werden. Diese Erfolgsquote sieht auf den ersten Blick für beide Seiten unbefriedigend aus. Sie ist aber nicht der Inkompetenz der Angestellten zuzuschreiben, die in den seltensten Fällen für das Scheitern verantwortlich sind, sondern liegt an der Komplexität der zu bearbeitenden Geschäfte sowie an der internen Arbeitsteilung. Die Agents im Service beantworten Fragen, dürfen aber keine Beratungen durchführen, daher müssen sie einen Drittel der Anrufe weiterleiten - mit unbekanntem Gesprächsausgang. Ist der Berater auf der Geschäftsstelle nicht erreichbar, wird ein Rückruf vereinbart, mit anderen Worten das Anliegen vertagt. Nicht erfüllt wird das Anliegen in dieser Abteilung, wenn die KundInnen sich nicht identifizieren können, keine Vollmacht über das Konto haben und somit nicht auskunftsberechtigt sind oder wenn sie mit einer nicht beantwortbaren Frage aufwarten. Letzteres geschieht nur in Ausnahmefällen. In die Beratung gelangen KundInnen, die bereits einmal weiterverbunden wurden. Hier werden bis auf zwei Ausnahmen alle Anliegen erfüllt oder mindestens zur Bearbeitung aufgenommen, womit die interne Anforderung, <?page no="80"?> Das Korpus 80 KundInnen nie mehr als ein Mal weiterzuverbinden, als erfüllt gelten kann. Wenn in dieser Abteilung die Geschäfte trotzdem zur Hälfte nicht zum Abschluss kommen, so hat das zwei Gründe. Erstens können die BeraterInnen die komplexeren Anfragen der KundInnen (zum Beispiel die Frage nach einer bestimmten Option) häufig nicht aus dem Stegreif beantworten, sondern müssen zuerst interne Abklärungen treffen. In diesen Fällen wird ein Rückruf vereinbart. Zweitens lassen sich Geschäfte wie Kontoeröffnungen de lege nicht am Telefon erledigen, sondern verlangen zusätzliche Korrespondenz. Daher wird fast die Hälfte der Anliegen vertagt bzw. zur internen Bearbeitung aufgenommen. Eher mager ist die Erfolgsquote im nationalen Call Center, in Kartendienst, Telefonbanking und Hotline: Rund jedes fünfte Anliegen wird nicht erfüllt oder vertagt, ein weiteres Achtel zur internen Bearbeitung aufgenommen. Bei Kontoauskünften, Börsen- und Zahlungsaufträgen, bei Kartensperrungen und beim Entsperren blockierter Internetzugänge sind die Agents in der Regel erfolgreich. Aber wenn Probleme beim Datentransfer übers Internet auftreten, können sie oft nur ansatzweise weiterhelfen, und vollständig passen müssen sie bei Serverproblemen und Bancomatpannen. Hier können sie die KundInnen lediglich auf später vertrösten oder zu einem anderen Automaten schicken. Dass in diesen Fällen die Stimmung am anderen Ende der Leitung mitunter gereizt wird, kann man sich lebhaft vorstellen. Zu guter Letzt müssen je nach Abteilung bis zu einem Fünftel der Anrufe weitergeleitet werden, was allerdings oft an den KundInnen liegt, die einfach die auf ihrer Bankkarte aufgedruckte Hotlinenummer wählen, obwohl für ihre Frage eine ganz andere Stelle in der Bank zuständig wäre. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht zeigen die Zahlen, dass trotz anhaltendem Call Center-Boom die Erwartungen nicht zu hoch geschraubt werden dürfen. Per Telefon lassen sich wohl viele Geschäfte schnell und kostengünstig abwickeln, aber komplexere Dienstleistungen lassen sich nicht mit einem Anruf erledigen, und bei Problemen sind der Hilfeleistung per Telefon klare Grenzen gesetzt. Fazit: Das Korpus ist ein repräsentatives Abbild des Schweizer Bankenalltags: Jedermann hat ein Konto bei der Bank und ruft an für Auskünfte zum Konto und bei Problemen mit der Karte. Bei den Anlagegeschäften dominieren die Schweizer Männer, im Telefon- und Internetbanking ist die vermögende ausländische Kundschaft mit vertreten. Einfache Auskünfte und Aufträge können in der Regel auf Anhieb und in wenigen Minuten erledigt werden - allenfalls nach Rücksprache mit anderen internen Stellen. Für die Beratung werden die KundInnen ein Mal weiterverbunden. Kontoeröffnungen, alle Formen von Abklärungen und Probleme mit Karten dauern länger als vier Minuten und verlangen oft weitere schriftliche oder mündliche Kontakte. Grössere Probleme mit dem Internet oder Bancomat schliesslich können am Telefon oft gar nicht gelöst werden. <?page no="81"?> Teilnehmende Beobachtung, Coachinggespräche, Interviews 81 4.4 Teilnehmende Beobachtung, Coachinggespräche, Interviews Als ehemalige Mitarbeiterin der Schwyzer Bank verfüge ich selbstredend über viel mehr Information als die Gesprächsaufnahmen selber, über viel mehr Information auch, als Forschenden, die sich mit institutioneller Kommunikation beschäftigen, normalerweise zur Verfügung steht. Während zwei Jahren arbeitete ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin in jener Stabsabteilung, die für die Ausbildung und Qualitätskontrolle in den Call Centern zuständig war. Damit hatte ich freien Zugang zu allen die Call Center betreffenden Dokumenten der Schwyzer Bank und zu allen Beschäftigten in den Call Centern. Daher verfüge ich über profunde ethnographische Kenntnisse des untersuchten Feldes, wie sie für die Analyse institutioneller Kommunikation unabdingbar sind (Spiegel 2006: 188). Ausserdem habe ich den Betrieb einer Grossbank von innen her kennen gelernt, aus der Perspektive der Angestellten, habe unter anderem am eigenen Leib erfahren, was zwei tief greifende Reorganisationen innerhalb zweier Jahre für die Beschäftigten bedeuten. Das erlaubt mir, bei der Analyse der Telefongespräche wechselnd die Perspektive der Agenten und der Klienten einzunehmen, der Call Agents und der KundInnen. Damit hoffe ich, der in der Literatur zur Gesprächsforschung herrschenden Tendenz zur einseitigen Parteinahme für die Klienten (Bendel 2004) zu entgehen. Noch vor Beginn der Aufnahmen hatte ich die Gelegenheit, sämtliche Call Center der Schwyzer Bank zu besuchen. Die Call Center Leiter zeigten mir die räumlichen und technischen Einrichtungen, erläuterten mir ihre Personalpolitik und machten mich mit ihren Ausbildungs-, Führungs- und Kontrollmassnahmen vertraut. Anschliessend hatte ich während vieler Stunden die Gelegenheit, einzelne Call Agents bei ihrer Arbeit zu beobachten, mir von ihnen die Funktionsweise der Telefonanlage sowie der Computerprogramme und Bildschirmmasken erklären zu lassen sowie ihre Gespräche mitzuhören. Umfangreiches Dokumentationsmaterial (Statistiken, Personalbeurteilungsbögen, Einführungsdossiers, interne Weisungen usw.) sowie meine persönlichen Feldnotizen habe ich von diesen Besuchen mitgenommen. Parallel dazu besuchte ich den Grundkurs, den alle Call Agents durchlaufen. Dieser umfasst eine Einführung ins Wertschriftengeschäft und in die Bilanzanalyse, eine Produkteschulung über die hauseigenen Anlageprodukte, einen Kurs gegen Geldwäscherei sowie die zweitägige Telefonschulung mit einer Rhetoriktrainerin. Nach den Aufnahmen und den ersten Auswertungen entwickelte sich die Kooperation mit den einzelnen Abteilungen sehr unterschiedlich. Im Service jenes deutschsprachigen, regionalen Call Centers, in welchem die Aufnahmen gemacht worden waren, führte ich mit sechs der sieben Aufgenommenen sogenannte Coachinggespräche durch, in welchen wir ihre Telefongespräche gemeinsam anhörten und die Qualität ihres Dienstleistungs- <?page no="82"?> Das Korpus 82 verhaltens am Telefon beurteilten. Diese Coachingespräche waren für mich die Gelegenheit, die Agents etwas näher kennen zu lernen und ihre eigene Interpretation der Gespräche zu erfahren. Später habe ich für die Abteilung Service einen vierteiligen Weiterbildungskurs entwickelt, mehrfach durchgeführt und dann den TeamleaderInnen übergeben (Bendel 2002b). In der Beratung desselben Call Centers führte ich mit vier der fünf aufgenommenen Berater ebenfalls Coachinggespräche durch sowie Leitfadeninterviews, in denen ich die Berater nach ihrer beruflichen Herkunft, ihren Stärken und Schwächen, ihren Zukunftsplänen fragte und danach, was sie an der Arbeit im Call Center schätzen und was ihnen missfällt. Sowohl die Coachinggespräche als auch die Interviews wurden von mir schriftlich festgehalten. Danach brach die Zusammenarbeit mit dieser Abteilung ab. Im zweiten deutschsprachigen, regionalen Call Center, wo keine Aufnahmen gemacht worden waren, assistierte ich lediglich bei der Weiterentwicklung der Aus- und Weiterbildungskurse, führte selber aber keine Kurse und Coachinggespräche durch. Im nationalen Call Center schliesslich, in welchem bereits systematisch Gesprächsanalysen mit den Angestellten durchgeführt wurden, arbeitete ich vor allem eng mit den Coaches zusammen, mit welchen ich ein neues Coachingkonzept erarbeitete. Einzelne Weiterbildungskurse führte ich selber mit den Agents durch. Von all diesen Weiterbildungsmassnahmen profitierte ich selber insofern, als ich die Sichtweise der Agents immer besser kennen lernte und ihre Einschätzung bestimmter Gesprächsereignisse mit der meinen kontrastieren konnte. Die Ergebnisse meiner Gesprächsanalysen mit den daraus abgeleiteten Verhaltensempfehlungen und Verbesserungsvorschlägen habe ich in schriftlichen internen Berichten festgehalten, welche den Leitern und Abteilungsleiterinnen sämtlicher Call Center zur Verfügung gestellt wurden (Bendel 2001b, 2001c, 2002a). Gleichzeitig habe ich die Ergebnisse und die Verhaltensempfehlungen in vereinfachter und webgerechter Form auf dem Intranet publiziert. Die Ausdrücke “Empfehlungen” und “Vorschläge” machen es deutlich: Während meiner Zeit als Angestellte der Schwyzer Bank analysierte ich die Gespräche unter einer angewandten Perspektive. Ich hatte das Verhalten der Agents (und nur der Agents) zu bewerten, hatte zu entscheiden, welches Verhalten “das beste” ist, und zwar das beste aus der Sicht der Bank. Für die vorliegende Arbeit musste ich das gesamte Material einer wertneutralen Reanalyse unterziehen. <?page no="83"?> Die Transkriptionsregeln 83 10 Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem (GAT). In: Linguistische Berichte 173 (1998), S. 91-122. 11 Die Partiturschreibweise bevorzuge ich aus zwei Gründen. Erstens kann bei der Partiturschreibweise offen bleiben, wo Äusserungen beginnen und enden und wem Pausen zuzuordnen sind, während durch selbst gesetzte Zeilenumbrüche Sinneinheiten geschaffen werden, welche bereits eine Interpretation des Geschehens darstellen. Zweitens lässt sich nur bei der Partiturschreibweise eine übersichtliche Interlinearübersetzung anfertigen. 4.5 Die Transkriptionsregeln Die Transkription folgt im Prinzip der GAT-Konvention, 10 mit dem Unterschied, dass die Partiturschreibweise gewählt wurde. 11 Einige Ergänzungen und Änderungen wurden vorgenommen aus Rücksicht auf das mehrheitlich schweizerdeutsche Korpus und auf eine bessere Lesbarkeit. Die Verschriftung der Schweizer Dialekte orientiert sich an Dieth (1938). Hinweise zu Tonfall und Lautstärke stehen in einer separaten Kommentarzeile. Eine interlineare Übersetzung ins Standarddeutsche wurde angefertigt, die eng der dialektalen Vorlage folgt. In der vorliegenden Arbeit werden längere Zitate in der originalen Partiturschreibweise wiedergegeben, kürzere Zitate in Anführungszeichen im fortlaufenden Text oder in der GAT-Konvention. Die Regeln im Einzelnen: [v] [p] [ü] Partiturzeile für das Sprachliche, das Stimmliche und die Übersetzung guten tag Sprechtext AHV , EC Initialwörter, in Kapitälchen geschrieben (nicht a ha vau, e ce) e betonte Silbe: geschlossenes e wie in „see”; unbetonte Silbe: Schwa- Laut ë offenes e wie in „gern” ä überoffenes ä wie in „wätter” (Wetter) y langes, leicht offenes i wie in „zyt” (Zeit) ii, ee, ää, oo lange Vokale sind als doppelte Vokale transkribiert. Das Dehnungs-h wird nur bei den Pausenfüllern äh und ëhm verwendet ie, ue, üe grundsätzlich als Diphtonge zu lesen (ie nicht als langes i) sp, st im Anlaut grundsätzlich als schp bzw. scht zu lesen. Im Auslaut sind schp bzw. scht ausgeschrieben ch immer rau gesprochen hat/ sie hat Wort-, Satz- oder Konstruktionsabbruch (ich glaub) vermuteter Wortlaut (die/ nie) mögliche Alternativen (xxx) unverständliche Passage je nach Länge dalunter sic! buchenstrasse Codeswitching von Dialekt zu Standard- oder Fremdsprache und umgekehrt (.) Pause bis maximal 0.4 Sekunden (0.5) (2.5) Pause von einer halben Sekunde bzw. von zweieinhalb Sekunden <?page no="84"?> Das Korpus 84 = unmittelbarer Anschluss zwischen Turns, Verschleifungen zwischen Wörtern [Beispiel: häm=mer (haben wir)], Bindungs-n zwischen Wörtern [Beispiel: unden=ufe (von unten nach oben)] : , : : kurze, lange Dehnung eines Lautes m=Hm zweisilbiges Rückmeldesignal mit Betonung auf zweiter Silbe, in der Regel steigend und bestätigend M=m zweisilbiges Rückmeldesignal mit Betonung auf erster Silbe, in der Regel fallend und ablehnend .h .hh .hhh einatmen je nach Länge h hh hhh ausatmen je nach Länge akZENT deutlich betonte Silbe ? Tonhöhe stark steigend , Tonhöhe steigend - Tonhöhe schwebend ; Tonhöhe fallend . Tonhöhe stark fallend ! Ausruf ↑ ↓ auffälliger Tonhöhensprung hinauf, hinunter <erstaunt > interpretierender Kommentar zum Tonfall mit Reichweite <p> <pp> leise, sehr leise (piano, pianissimo) <f> <ff> laut, sehr laut (forte, fortissimo) <all> <len> schnell, langsam (allegro, lento) <cresc> <dim> lauter, leiser werdend (crescendo, diminuendo) <acc> <rall> schneller, langsamer werdend (accelerando, rallentando) [blättern ] Geräusch mit Reichweite sprechtext Klappern der Computertastatur zu hören Sämtliche Namen, Adressen und Zahlen wurden durch Platzhalter ersetzt. Einstellige Zahlen wurden durch einstellige ersetzt, zweistellige durch zweistellige usw., sodass man hört, ob die Kundin „zwei drei” oder „dreiundzwanzig” gesagt hat. Alle Namen, die mit K beginnen, stehen für Kunde, Namen mit A für Agent, Namen mit B für Berater. Die Platzhalter wurden so gewählt, dass die Silbenzahl mit der des Originals übereinstimmt, damit der Sprechrhythmus erhalten bleibt. Es wurden Namen gewählt, die in allen Dialekten und in der Standardsprache ähnlich ausgesprochen werden. Folgende Platzhalter wurden durchgängig verwendet: <?page no="85"?> Die Transkriptionsregeln 85 Platzhalter für die Transkription 1 Silbe 2 Silben 3 Silben 4 Silben weiblicher Vorname - Gabi Ursula Elisabeth männlicher Vorname Urs Reto Tobias Alexander Name Kunde/ Kundin Kurz Keller Kathriner Kalbermatter Name Agent/ Agentin Abt Amrein Aregger Abächerli Name Berater/ Beraterin Brun Birrer Barmettler Brandenberger Ort Chur Basel Winterthur Bellinzona Strasse (-platz, -weg) Tal- Rigi- Libellen- Rosengarten- <?page no="86"?> 5 Das Überindividuelle: Aufgaben, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster In Kapitel 3 habe ich aufgezeigt, wie Institutionen im Allgemeinen und Call Center im Besonderen Einfluss nehmen auf die in diesen Institutionen stattfindenden Gespräche und die Rollen der daran Beteiligten. Gespräche im Call Center sind in mehrfacher Weise vorstrukturiert: • Durch das Medium Telefon, welches den Ausdrucksmöglichkeiten Grenzen setzt und die Einhaltung kultur- und medienspezifischer Konventionen verlangt. • Durch das zu erfüllende Kundenanliegen, welches Inhalt und Ziel des Gesprächs vorgibt. • Durch die Vorgaben der Datenbankorganisation und der Bildschirmoberfläche, welche Bearbeitungsmöglichkeit, -reihenfolge und Zeitbedarf der auszuführenden Tätigkeiten diktieren. • Durch die internen Verhaltensvorschriften, in denen festgelegt ist, welche Tätigkeiten in welcher Form auszuführen sind, welche Höflichkeitsstandards allgemein einzuhalten und welche Formulierungen wörtlich zu verwenden sind. Diese vorstrukturierenden Momente schlagen sich nieder in einer unübersehbaren Uniformität der im Call Center stattfindenden Gespräche. Die Uniformität eines bestimmten Gesprächstyps wird von der Diskursanalyse mit den Konzepten “Aufgabenschema” und “Gesprächsmuster” erfasst. Ziel dieses Kapitels ist, die für die Call Center der Schwyzer Bank typischen Aufgabenschemata und Gesprächsmuster zu bestimmen und zu beschreiben. Dazu stelle ich im ersten Abschnitt die linguistischen Konzepte “Aufgabenschema”, “Handlungsmuster” und “Gesprächsmuster” vor. Im zweiten Abschnitt beschreibe ich, mit welchen Kundenanliegen die Agents in jeder der fünf untersuchten Abteilungen konfrontiert sind, wie häufig diese vorkommen und welche kommunikative Aktivität mit der Bearbeitung dieser Anliegen verbunden ist. Im dritten Abschnitt schliesslich werden anhand von typischen Beispielgesprächen die Aufgabenschemata und Gesprächsmuster, mit denen drei zentrale Kundenanliegen bearbeitet werden, empirisch hergeleitet und vorgestellt. <?page no="87"?> Aufgabenschemata und Gesprächsmuster: Theoretische Konzeption 87 1 Die Ausführungen zur funktionalen Pragmatik stützen sich vor allem auf (in zeitlicher Reihenfolge) Dittmann (1979b), Gülich (1980), Ehlich (1986), Hoffmann/ Nothdurft (1989), Ehlich (1991), Brünner/ Graefen (1994), Ehlich/ Rehbein (1994), Rehbein (2000), Spiegel/ Spranz-Fogasy (2003). 5.1 Aufgabenschemata und Gesprächsmuster: Theoretische Konzeption Befehlen Ew. Gnaden den Prozess Nach den Formalitäten, oder so, Wie er in Huisum üblich ist, zu halten? (Heinrich von Kleist: Der zerbrochene Krug) Die funktional-pragmatische Diskursanalyse geht davon aus, dass Sprechen eine Form menschlichen Handelns ist und dass menschliches Handeln intentional und funktional ist, das heisst geleitet von Absichten und ausgerichtet auf Zwecke. 1 Ein Gespräch ist dementsprechend die koordinierte Handlungsfolge mindestens zweier Personen im Hinblick auf ein gemeinsames Ziel. Jede einzelne Äusserung eines jeden Interaktionspartners ist ein Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel und kann daraufhin untersucht werden, welche (grammatische) Form sie aufweist, welche Funktion sie im Gespräch erfüllt und welche Absicht der Sprechende damit verfolgt. Bei der Bestimmung dieser drei Momente jeder Äusserung steht der Pragmatiker allerdings vor dem Problem, dass das Verhältnis von Sprecherintention, Äusserungsform und Äusserungsfunktion ausserordentlich komplex ist. Unterschiedliche Lösungen für dieses Problem wurden vorgeschlagen. In der sprechakttheoretisch fundierten Dialoganalyse (zum Beispiel Hindelang 1994) werden die Intention des Sprechenden sowie Form und Funktion der Äusserung gleichgesetzt. Wenn meine Intention zum Beispiel lautet, von meinem Gegenüber etwas zu bekommen, so wähle ich eine Äusserung in der Form einer Bitte, die die Funktion hat, mein Gegenüber zur gewünschten Reaktion zu veranlassen: “Ich bitte dich, diesen Brief zur Post zu bringen.” Doch die Übereinstimmung von Form und Funktion einer Äusserung ist eher die Ausnahme als die Regel. Leech (1983) betont, dass bereits bei der Betrachtung einzelner Sprechakte zwischen der syntaktisch-semantischen Ebene und der pragmatischen Ebene unterschieden werden muss (S. 114), zwischen dem Sinn (sense) und der Funktion (pragmatic force) einer Äusserung (S. 30). So kann ich meinen Wunsch, mein Gegenüber möge den Brief zur Post bringen, auch in Form einer Frage, eines Befehls oder eines Aussagesatzes äussern. Was für isolierte Sprechakte gilt, trifft erst recht für Äusserungen im Kontext einer Interaktion zu: Die Funktion jeder einzelnen Äusserung kann nur aus dem Gesprächskontext erschlossen werden, und ihre Bestimmung ist kein beschreibender, sondern ein interpretativer Vor- <?page no="88"?> Das Überindividuelle: Aufgaben, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster 88 gang (Dittmann 1979b). Ein Ziel der Analyse von Gesprächen besteht demnach darin, überhaupt die Funktion zu erkennen, welche eine bestimmte Äusserung im gegebenen Kontext hat, unabhängig von ihrer grammatischen Form. Bei der Bestimmung der Funktion einer Äusserung greifen viele Diskursanalytiker auf die Intention des Sprechenden zurück und postulieren einen kausal-funktionalen Zusammenhang zwischen den Intentionen des Sprechenden und seinen Äusserungen: Weil meine Absicht ist, mein Gegenüber dazu zu bringen, den Brief zur Post zu bringen, wähle ich eine bestimmte Äusserung, die mir für diesen Zweck geeignet scheint, damit der andere meinem Wunsch entspricht. Diese kausal-funktionale Sicht ist kennzeichnend für jene Diskursanalytiker, die mit Praxeogrammen arbeiten (vgl. Abschnitt 3.1.1), bei welchen die mentalen Vorgänge der Sprechenden in das Modell miteinbezogen werden. Doch die Bestimmung der Intentionen der Sprechenden ist eine äusserst hypothetische Angelegenheit, ein Problem, mit welchem nicht nur die Beobachterin konfrontiert ist, sondern auch die Interagierenden selber. Die Funktion der Äusserung “Heute tragen Sie aber ein schönes Kleid” ist (im entsprechenden Kontext) offensichtlich ein Kompliment. Doch welche Absichten der Sprecher mit seinem Kompliment verfolgt, sagt er zum Leidwesen seiner Adressatin in der Regel nicht und ist auch für die externe Beobachterin nicht zu erschliessen. Niemand kann in den Kopf seines Gegenübers blicken. Manche Diskursanalytiker, vor allem die Vertreter der Objektiven Hermeneutik (Oevermann 1979, 1993), sind daher dazu übergegangen, die Funktion von Äusserungen unabhängig von ihrer grammatischen Form und von hypothetischen Intentionen der Sprechenden allein aufgrund ihrer Stellung im Gespräch zu beschreiben. Die Funktion der Äusserung “Wie geht es Ihnen? ” ist so gesehen die Signalisation freundlicher Anteilnahme zu Beginn eines Gesprächs. Diese Funktion erfüllt die Äusserung selbst dann, wenn die Person, die den Satz äussert, am Wohlergehen ihres Gegenübers überhaupt nicht interessiert ist. Im Verständnis der Objektiven Hermeneutik können Äusserungen “hinter dem Rücken” der Beteiligten sogar Bedeutungen annehmen, die diesen selber nicht bewusst sind. Doch das Absehen von den Intentionen der Sprechenden ist ein theoretisches Postulat, welches bei der Analyse konkreter Interaktionen nicht zu erfüllen ist. Das zeigt sich am deutlichsten bei allen Formen strategischen Interagierens, wo die Funktion der Äusserung und die Intention des Sprechenden per definitionem auseinanderklaffen. Eine strategische Äusserung kann nur durch den Rückgriff auf die Intention des Sprechenden verstanden werden. <?page no="89"?> Aufgabenschemata und Gesprächsmuster: Theoretische Konzeption 89 2 Jeder an der Börse gehandelte Titel (Aktie, Obligation, Option) hat eine eindeutige Nummer, die Valorennummer, im Jargon “der Valor”. 3 Wissen Sie gerade den ungefähren Preis? 4 Also ich verstehe jetzt nicht, wieso Sie mich das alles fragen. 5 Wobei auch solche nachträglich eingeforderten Explikationen des eigenen Handelns mit Vorsicht zu geniessen sind, da viele Handelnde den Zweck von Routinehandlungen zum Beispiel selber nicht zu explizieren vermögen. Foppa (1984) lehnt die Befragung der Interagierenden grundsätzlich ab: “Redeabsichten lassen sich nicht dadurch identifizieren, dass man den Sprecher vor oder nach seiner Äusserung danach fragt.” (S. 76). Wie das aufgeführte Beispiel zeigt, ist diese Sicht zu absolut: In der Mehrheit der Fälle können die Interagierenden sehr wohl Auskunft über ihre Intentionen geben. Dazu ein Beispiel: Eine Kundin möchte einen Börsenauftrag geben, weiss aber die Valorennummer 2 nicht. Die Beraterin sucht die Aktie daher über den Namen. In diesem Zusammenhang stellt sie die Frage: “wüssed si grad de PRYS ungefëër? ” (346). 3 Diese Äusserung verstand ich in ihrer Funktion als Frage nach dem Preis sehr wohl (und die Kundin offenbar auch, denn sie gab die korrekte Antwort), der Sinn der Frage blieb mir aber unklar. Die Beraterin erklärte mir auf meine diesbezügliche Nachfrage, es gebe immer verschiedene Aktien mit ähnlichem Namen, mit der Preisangabe stelle sie sicher, dass die Kundin und sie von der gleichen Aktie sprechen. Das Beispiel zeigt, dass es nicht genügt, die unmittelbare Funktion einer Äusserung zu erkennen. Damit die Äusserung für uns einen Sinn macht, müssen wir mindestens erahnen, welche Intention die sprechende Person damit verfolgt. Für Leech (1983) ist die Bedeutung einer Äusserung nichts anderes als die vom Hörer erkannte bzw. vermutete Intention des Sprechers (S. 34f). Auch Dittmann (1979b) betont, dass Verstehen gar nicht anders möglich ist als dadurch, dass wir dem Sprechenden Intentionen mindestens unterstellen (S. 28). Das gilt für die Interagierenden selber wie für die Beobachterin. Dass die Interagierenden sich an den Intentionen ihrer Partner orientieren, zeigt sich in seltenen Fällen darin, dass sie vom Partner metakommunikativ die Klärung seiner Absichten einfordern. So wie jene Kundin, die während der Identifikation plötzlich irritiert meint: “aso ich chum jetz nöd druus wiso as si mich das ales fraged” (169). 4 Die Intentionen der Sprechenden sind daher bei der Analyse konkreter Gespräche nicht vernachlässigbar, aber sie sind oft nur im Rückblick erkennbar, bleiben hypothetisch oder müssen bei den betreffenden Personen nachgefragt werden. 5 Die Intentionen der Sprechenden sind dabei nicht gleichzusetzen mit ihrem subjektiven Wollen. Gerade in Institutionen “verfolgen Handlungssubjekte (verschiedenen Typs) sowohl Handlungszwecke, die sie selbst setzen, als auch Handlungszwecke, die ihnen - wie auch immer - vorgängig gesetzt sind. Wenn auch nicht unbedingt willentlich oder aus ‘freien Stücken’, weil häufig auf normativen oder autoritären Druck hin, und auch nicht bewusst, weil häufig als Routine, verfolgen die Handlungssubjekte beide Arten von Handlungszwecken gleichwohl intentional.” (Koerfer 1994: 57). <?page no="90"?> Das Überindividuelle: Aufgaben, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster 90 6 Diese Sicht würde von Ethnomethodologen vehement bestritten. 7 Das Konzept der Aufgabe wurde und wird vor allem in der Angewandten Gesprächsforschung weiterentwickelt und verwendet, vgl. Brünner/ Fiehler/ Kindt (1999). 8 Es sei am Rande vermerkt, dass mit dem Konzept der “Aufgabe” das Problem der Bestimmung der Intentionen der Interagierenden nur vordergründig gelöst, sprich umgangen wird, da bei der Interpretation einer bestimmten Gesprächssequenz als “Aufgabe vom Typ X” wiederum zwangsläufig auf die den Interagierenden unterstellten Intentionen zurückgegriffen wird - Verstehen kann sich anders nicht ereignen. Wie immer das Verhältnis von Sprecherintention, Äusserungsform und Äusserungsfunktion konzipiert wird, letztlich führt das Bemühen, Gespräche als eine Abfolge einzelner Äusserungen zu betrachten, die einzeln interpretiert werden, in eine Sackgasse. Ein Gespräch ist keine lose Folge von Einzeläusserungen, sondern ein Ganzes, dessen Teile nur vom Ganzen her verstanden werden können (Goffman 1981: 130f). 6 Gestützt auf die Theorie der Interaktionskonstitution von Kallmeyer und Schütze sind viele Diskursanalytiker daher dazu übergegangen, den Handlungscharakter ganzer Gespräche zu beschreiben (Spiegel/ Spranz-Fogasy 2001), das heisst top-down von der Bestimmung der Funktion und der Struktur eines ganzen Gesprächs zur Interpretation einzelner Äusserungen vorzustossen. Kallmeyer/ Schütze (1976) haben als erste Gespräche als Handlungsschemata beschrieben, als eine Abfolge zu bearbeitender kommunikativer Aufgaben. Die Interagierenden haben in diesem Konzept ein auf ein gemeinsames Ziel gerichtetes Handlungsschema durchzuführen, zum Beispiel ein Paar Schuhe zu kaufen bzw. verkaufen. Dieses Handlungsschema lässt sich untergliedern in Aufgaben, die einzeln bearbeitet werden. 7 Im genannten Verkaufsgespräch müssen Verkäuferin und Kundin zum Beispiel die Auswahl der Schuhe einschränken, indem sie die passende Grösse bestimmen, sowie Form, Material und Farbe des gewünschten Schuhs auswählen (Pothmann 1997). Diese Aufgaben ergeben sich aus der Natur der Sache selbst: “Unverzichtbar ist […] der Hinweis, dass die Bedingungen, welche das jeweilige Handlungsschema als Teilhandlungsaufgaben an die Interaktionspartner stellt, nicht aus einer umfassenden Sequenzierungsstruktur sozialer Aktivitäten abzuleiten ist, sondern aus der ihm inhärenten ‘interaktions’- und ‘sachlogischen’ Aufgabenkontur als Phänomen sui generis.” (Kallmeyer/ Schütze 1976: 21). Diese “Aufgabenkontur” (im Folgenden Aufgabenschema genannt) existiert unabhängig von den Intentionen der Beteiligten und ist nicht an bestimmte sprachliche Formen gebunden. Das Ziel der Diskursanalyse besteht in diesem Konzept darin, das Aufgabenschema (Becker-Mrotzek/ Meier 1999, Fiehler/ Kindt/ Schnieders 1999), das heisst das Ensemble der obligatorischen und fakultativen Aufgaben, des untersuchten Gesprächstyps zu bestimmen. 8 Als obligatorisch bezeichne ich jene Aufgaben, die für den betreffenden Gesprächstyp konstitutiv sind, als fakultativ jene Aufgaben, die für diesen Gesprächstyp typisch, aber nicht in jedem Fall notwendig sind. Manchmal ist eine bestimmte Reihenfolge der Aufgaben besonders häufig <?page no="91"?> Aufgabenschemata und Gesprächsmuster: Theoretische Konzeption 91 9 Pothmann (1997) hat am Beispiel des Verkaufsgesprächs exemplarisch dargelegt, wie aus konkreten Interaktionen das Aufgabenschema eines Gesprächstyps abzuleiten ist und warum Phasenschemata ungeeignet sind. 10 Die Begrifflichkeit ist diesbezüglich nicht einheitlich. Ich übernehme den Begriff Handlungsmuster von Ehlich/ Rehbein (1979). und damit prototypisch. Inhaltlich klar abgegrenzte und linear aufeinanderfolgende Gesprächs-“Phasen” entsprechen allerdings selten der Realität, weshalb nur von einer prototypischen Reihenfolge des Aufgabenschemas ausgegangen werden sollte, nicht aber von Gesprächsphasen. 9 Im privaten und beruflichen Alltag sind Menschen mit immer wiederkehrenden Situationen und Aufgaben konfrontiert. Zu deren Bewältigung bilden alle Kulturen Routinen aus, das heisst konventionelle Formen der Handlungsdurchführung, mit denen ohne grossen mentalen Aufwand die situativen Anforderungen gelöst werden können. Routinen können individuell sein, so, wenn ich meine Unterrichtsstunden mit der stereotypen Aufforderung schliesse, die Tafel zu putzen, sie können kollektiv sein wie die im deutschen Sprachraum geltende Konvention, sich vor dem Essen guten Appetit zu wünschen. Einzelne Routinen können zu ganzen Ensembles von Handlungen zusammengefügt werden. Bei einer förmlichen Begrüssung schüttelt man sich in unseren Breitengraden die Hände, spricht eine Grussformel, nennt den Namen des Gegenübers, bittet es herein und bietet ihm Sitzplatz und Kaffee an. Ein solches Ensemble konventioneller Handlungen nennt man ein Handlungsmuster, welches im kulturellen Wissen einer Gesellschaft verankert ist. 10 Handlungsmuster werden in der sprachlichen Sozialisation gelernt und gehören neben dem grammatikalisch-semantischen Wissen zur kommunikativen Kompetenz jedes Sprachteilhabers. Als Handlungsmuster werden in der Literatur Handlungsfolgen unterschiedlicher Länge und Komplexität bezeichnet, von der einfachen Paarsequenzen wie Gruss und Gegengruss bis zu komplexen Mustern wie Verkaufs- oder Beratungsgespräch. Im Dienste grösserer Präzision unterscheide ich im Folgenden zwischen Handlungsmuster und Gesprächsmuster. Als Handlungsmuster bezeichne ich die konventionelle Art der Durchführung einer einzelnen kommunikativen Aufgabe, als Gesprächsmuster die konventionelle Art der Durchführung eines ganzen Aufgabenschemas (eines “Gesprächs” im vorwissenschaftlichen Sinne). Für die Interagierenden, die gemeinsam ein bestimmtes Ziel erreichen sollen, stellen Gesprächsmuster eine Ressource dar, mit Hilfe derer sie die anfallenden kommunikativen Aufgaben in konventionell gesicherter Form bewältigen können. Gesprächsmuster liegen einzelnen konkreten Gesprächen als Tiefenstruktur zu Grunde und werden nur in Ausnahmefällen verbalisiert, etwa, wenn die Vorsitzende an einer Vereinsversammlung erklärt: “Wir kommen zur Abstimmung”, oder wenn ein Angestellter in der Arbeitspause ankündet: “Ich erzähle euch jetzt einen Witz”. Im Normalfall treten Gesprächsmuster <?page no="92"?> Das Überindividuelle: Aufgaben, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster 92 11 Eine Übersicht bieten Eckard (1994) und Becker-Mrotzek (1999). 12 Einen Überblick bietet Brünner (2000). 13 Zu den verschiedenen Erscheinungsformen von Asymmetrie vgl. Markovà/ Foppa (1991). 14 Koerfer (1994) betont, dass Missverständnisse vielen Institutionen sozusagen inhärent sind und nicht den einzelnen Interaktanten angelastet werden dürfen - zumal eine “Verständigung” im pathetischen Sinne von “Einigung” oft gar nicht vorgesehen sei (S. 84f). an der Gesprächsoberfläche nur in der Form konkreter sprachlicher Durchführungen auf, deren Interpretation die Kenntnis des zu Grunde liegenden Musters voraussetzt. So kann die Formel “Es waren mal ein Deutscher, ein Franzose und ein Schweizer” nur von einem kompetenten Mitglied der Sprachgemeinschaft als Einleitung eines Witzes verstanden werden; gleichzeitig ist diese Formel ein Mittel für den Sprecher, dem Hörer den Sinn des Folgenden im Voraus zu verdeutlichen. Sprecher und Hörer können sich verständigen, weil sie sich am selben Gesprächsmuster “Witz” orientieren und die Formel “Es waren mal…” als typische Einleitung eines Witzes (er)kennen. In der institutionellen Kommunikation haben Gesprächsmuster in der Regel nicht nur konventionellen, sondern normativen Charakter (Sager 1982). Das liegt daran, dass die Institution meistens nicht nur die globalen Aufgaben vorgibt, die an einer bestimmten Position zu verrichten sind, sondern auch das Vorgehen im Detail verbindlich regelt (vgl. Kapitel 3). Damit soll sicher gestellt werden, dass die Funktion der Institution erfüllt wird, unabhängig von den konkret beteiligten Personen. Hohe Repetitivität der Prozesse sowie die Routine der Institutionsagenten tragen das ihre dazu bei, dass institutionelle Gespräche sich durch eine besonders geringe Variabilität bei der Durchführung der Handlungs- und Gesprächsmuster auszeichnen. Viele institutionelle Gesprächstypen sind im Hinblick auf die ihnen zu Grunde liegenden Gesprächsmuster gut erforscht. Aus dem Bereich der öffentlich-rechtlichen Institutionen sind dies Gespräche im Krankenhaus, in der Schule, vor Gericht, auf verschiedenen Ämtern, in telefonischen Seelsorge- und Notfalldiensten und im Gottesdienst. 11 Aus dem Bereich der privatwirtschaftlichen Institutionen sind vor allem Verkaufsgespräche und Verhandlungen (besonders unter interkulturellem Aspekt) gut erforscht, während die Analyse der betriebsinternen Kommunikation noch am Anfang steht. 12 Dabei zeigt sich immer wieder, dass die institutionsspezifischen Gesprächsmuster den Klienten oft nur ansatzweise bekannt sind. Die vor Gericht zitierte Angeklagte ist der Prozessordnung unterworfen, obwohl sie diese bestenfalls aus TV-Serien kennt. Das führt zu einer strukturellen Wissens- und Machtasymmetrie zwischen den Gesprächspartnern 13 und zu systematischen Verständnisschwierigkeiten. 14 Ziel der Diskursanalyse mit Bezug auf institutionelle Gespräche ist es, durch die Analyse der Gesprächsmuster Einsicht in die Aufgaben und Funktionsweise der untersuchten Institution zu gewinnen. Natürlich können <?page no="93"?> Aufgabenschemata und Gesprächsmuster: Theoretische Konzeption 93 15 Auf die damit verbundenen Probleme mache ich in Bendel (2004) aufmerksam. auch Stellenbeschriebe und die Beschäftigten selber Auskunft über ihr Tun geben, aber die Diskursanalyse leistet mehr. Sie zeigt nicht nur auf, was offiziell, sondern auch, was inoffiziell getan wird, und vor allem wie es getan wird. Sie kann aufdecken: • Handlungsmuster, die den Beteiligten selber nicht bewusst sind, • doppelbödiges und strategisches Verhalten, • die problematischen Auswirkungen gewisser institutioneller Vorgaben wie zum Beispiel widersprüchliche Anforderungen oder Zeitdruck. Da sind, um nur einige Beispiele zu nennen, Autoverkäufer, die ihre Beziehung zu den Kunden verkaufsfördernd manipulieren (Brünner 1994), Vorgesetzte und Mitarbeiter, die interne Besprechungen für Machtdemonstrationen und Koalitionsbildungen missbrauchen (Müller 1997, Thimm et al. 2001), Angestellte auf dem Arbeitsamt, die den Zwang zur Beschäftigung als Hilfe ausgeben (Wahmhoff/ Wenzel 1979), Dozenten, die gegen Ende der Prüfung zunehmend geschlossene Fragen stellen (eigene Beobachtung als Beisitzerin), und Ärzte, die ihre Patienten durch Kataloge geschlossener Fragen schleusen (Lalouschek 1999a). Sie alle suchen und finden sprachliche Strategien, um unterschiedliche Anforderungen der Situation wie Verkaufszwang, Zeitdruck oder das Abarbeiten inhaltlicher Gesprächsvorgaben auf der einen Seite und persönliche Bedürfnisse wie Selbstdarstellung oder Durchsetzung der eigenen Interessen auf der anderen Seite unter einen Hut zu bringen. Die diskursanalytische Institutionenanalyse liefert damit auch die Basis für eine anwendungsorientierte Institutionenkritik und für die kommunikative Ausbildung von Institutionsangehörigen. 15 Aufgabenschemata und Gesprächsmuster haben primär heuristischen Wert. Sie explizieren jene “Normalformen” und die damit verbundenen “Normalformerwartungen” (Giesecke 1982), an denen sich die Interagierenden in einer Institution bei ihrer gemeinsamen Interaktionskonstitution und -interpretation immer schon orientieren. Von ethnomethodologischer Seite wird der Diskursanalyse vorgeworfen, sie würde vorgefertigte Muster an die untersuchten Gespräche herantragen und die Menschen auf Rollenträger reduzieren, die stereotype Tätigkeiten mit im Voraus festgelegten Zwecken abwickeln. Wiederkehrende Gesprächsmuster, wenn solche überhaupt existierten, dürften nicht vorausgesetzt, sondern müssten in ihrem Entstehungsprozess rekonstruiert werden. Gesprächsmuster seien letztlich keine Teilnehmer-, sondern Beobachterkategorien und als solche abzulehnen (zum Beispiel Selting 2001). Dem ist zweierlei entgegenzuhalten. Erstens arbeitet die Diskursanalyse heute nicht mehr mit theoretisch hergeleiteten, sondern ausschliesslich mit <?page no="94"?> Das Überindividuelle: Aufgaben, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster 94 16 Michael Rasch und Belén Tejería Alonso von der Universität Saarbrücken haben im Rahmen ihrer Proseminararbeit Gespräche an der Kasse einer Tankstelle aufgenommen. Die Verkäuferin, die von der Aufnahme wusste, produzierte in einer freien Minute ein Verkaufsgespräch, in welchem sie die Rollen der Verkäuferin und des Kunden spielte, mit dem Geld auf dem Tresen klimperte usw. Ihr Spiel demonstriert eindrücklich ihr Musterwissen um den Typ Verkaufsgespräch, welches sie in prototypischer Perfektion vorführte. Gerade diese Perfektion machte aber ihr Spiel leicht durchschaubar: Das Verkaufsgespräch war zu “perfekt” um echt zu sein. 17 Aber wir können jetzt Folgendes machen: Ich würde Sie identifizieren, würde Ihnen drei Fragen stellen, bankspezifische, und dann weiss ich, dass Sie am Telefon sind und dann kann ich Ihnen sagen, wie hoch Ihre Limite ist. […] Jawohl, okay, wunderbar. Dann ist das in Ordnung, Herr Keller. empirisch gesicherten, auf der Analyse konkreter Interaktionen basierenden Gesprächsmustern (Spiegel/ Spranz-Fogasy 2001). Zweitens lässt sich durchaus zeigen, dass Gesprächsmuster keine reinen Beobachterkategorien sind, sondern dass sich die Teilnehmenden selber daran orientieren. Sie sind meistens fähig, ihr Handeln auf Nachfrage zu explizieren, sie sind fähig, Interaktionen nachzuspielen, 16 zu imitieren und zu parodieren, was ohne die Kenntnis des zu Grunde liegenden Musters nicht möglich wäre. Schliesslich gibt es Ausnahmefälle, in denen die Beteiligten verbalisieren, in welcher Gesprächssequenz sie sich gerade befinden, was beweist, dass sich der Sprechende an einem Gesprächsmuster orientiert. Ein Beispiel: Da Sinn und Zweck der bereits erwähnten Identifikation für viele KundInnen nur schwer nachvollziehbar sind, wird diese Gesprächssequenz von einigen Agents explizit eingeleitet und abgeschlossen, zum Beispiel so: Einleitung aber mir chönd jetz FOLgendes mache, ich würd si identifiziere, würd ich yne drü fraage stelle ëh bankspezifischi und dänn wäiss ich dass si am telefon sind - und dänn chan=ich ine SÄge wie höch as iri LImiten=isch. Abschluss jawol. okay. wunderbar. (1.2) denn isch das i der ORnig herr keller (410). 17 Damit wird der Kunde über den Gesprächsablauf orientiert, den der Agent aufgrund der Vorschriften einhalten muss; ein spezifisches Handlungsmuster wird im Dienste der Verständigung benannt und erklärt. Aus ethnomethodologischer Sicht ist die Annahme eines dem Gespräch zu Grunde liegenden Musters nur dann legitim, wenn selbiges, wie im aufgeführten Beispiel, von den Interagierenden selber angezeigt wird. Allerdings ist es bezeichnend, dass der Agent ein typisch institutionelles, dem Kunden nicht vertrautes Handlungsmuster (die Identifikation) explizit einleitet und abschliesst, während er die anderen Handlungsmuster in diesem Gespräch nicht metakommunikativ ankündigt und beendet. Meines Erachtens ist die Thematisierung eines Handlungsmusters weniger ein <?page no="95"?> Aufgabenschemata und Gesprächsmuster: Theoretische Konzeption 95 Anzeichen dafür, dass dieses Handlungsmuster “jetzt” und nur jetzt in Kraft gesetzt wird, wie die Ethnomethodologen annehmen, sondern vielmehr ein Anzeichen einer Gesprächskrise, in welcher die Interagierenden zur Aufrechterhaltung der Verständigung sonst unausgesprochene Voraussetzungen der Kommunikation thematisieren müssen. Die Existenz von Handlungs- und Gesprächsmustern als Teilnehmer- und Beobachterkategorien, als Gesprächsressource für die Interagierenden und als heuristisches Mittel für die Beobachterin, muss bei der Analyse institutioneller Kommunikation vorausgesetzt werden. Die strikte Beschränkung auf die Teilnehmerperspektive, wie sie die Ethnomethodologie fordert, hat bei der Analyse institutioneller Kommunikation aus einem weiteren Grund keinen Sinn: Aufgrund der erwähnten fundamentalen Macht- und Wissensasymmetrie zwischen Klienten und Agenten ist Miss-, Halb- und Nichtverstehen für institutionelle Kommunikation geradezu konstitutiv, und ebenso kennzeichnend ist, dass dieses Nichtverstehen weder thematisiert noch interaktiv bearbeitet wird. Auch dazu ein Beispiel: Ein Kunde will drei seiner fünf Aktien einer Versicherungsgesellschaft verkaufen. Wie üblich fragt der Berater nach der gewünschten Limite. Der Kunde gibt die Limite “gëge abe” (nach unten) an und will mit der Limite “gëge ufe” (nach oben) fortfahren, wird aber vom Berater mit der Frage nach der Dauer des Auftrags unterbrochen. Dass der Kunde bei einem Verkauf eine Preislimite nach oben eingeben will (ein sinnloses Unterfangen), zeigt, dass er überhaupt nicht begriffen hat, wie eine Limite funktioniert. Der Börsenauftrag endet so: Gespräch 366 (Ausschnitt) [1] B [v] (ich) tu de uuf/ de uuftrag widerhole, si möchted VERchaufe, bâloise: holding name, B [ü] ich wiederhole den auf/ den auftrag, sie möchten verkaufen bâloise holding name K [v] m=Hm, [2] B [v] d valor sächshundertföifesibezg föif äinedrissg, (1.0) drüü stuck, zun=ere limite B [ü] die valor 675 5 31 drei stück zu einer limite K [v] jawol, (1.0) jawol, [3] B [v] vo sibzä achzg, (1.0) gültig bis nüünte zwäite, gemäss telefon vo yne. B [ü] von 17 80 gültig bis 9.2. gemäss telefon von ihnen K [v] (1.0) jawol, GEnau. Der Kunde bestätigt den Namen der Aktie, die Stückzahl und die Gültigkeit des Auftrags je mit “jawol”. Die Valorennummer, von der zuvor nicht die <?page no="96"?> Das Überindividuelle: Aufgaben, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster 96 18 Der Kunde wird die fehlende Information erst bemerken, wenn er mit seinen neu erstandenen Ausweisen am Schalter kein Geld abheben kann, weil sein Pass im System als gestohlen vermerkt ist und damit als Ausweispapier nicht angenommen wird… 19 Damit soll die Ethnomethodologie keineswegs pauschal verworfen werden, sondern lediglich aufgezeigt werden, dass die Methode in ihrer strengen Auslegung für die Analyse institutioneller Kommunikation nicht genügt. Rede war, und die Limite bestätigt er nicht, wodurch Pausen von je einer Sekunde entstehen. Diese Pausen sind ein deutliches Indiz für Nichtverstehen, werden vom Berater jedoch ignoriert. Der Kunde erteilt einen Auftrag, ohne genau begriffen zu haben, was er tut. Das bemerken die Interaktanten jedoch nicht, mindestens thematisieren sie es nicht, nur ich als Beobachterin kann das Nichtverstehen am Transkript nachweisen. In meinem Korpus treten solche Zwischenfälle, die nur aus der Aussenperspektive zu rekonstruieren sind, in grosser Zahl auf. Die Klienten können von sich aus auch nicht bemerken, wenn der Institution Fehler unterlaufen. In der Abteilung Kartendienst haben meine Analysen gezeigt, dass reihenweise notwendige Informationen an die Kunden vergessen gehen: Sperrgebühren, Versand und Wahl neuer Passwörter, der Vermerk der gestohlenen Ausweise im System usw. Die Agents merken nicht, wenn sie etwas vergessen, und die Kunden können es nicht merken, weil sie nicht wissen, was im Falle einer Kartensperrung alles zu tun ist. 18 Wiederum wird der Fehler von den Interagierenden im Gespräch in keiner Weise sichtbar gemacht, er kann im Gespräch gar nicht aufscheinen, da die Interagierenden ihn nicht bemerken, aber der Fehler existiert, und ich als Beobachterin kann ihn nachweisen. Bei der Analyse meiner 431 Bank Call Center Gespräche taten sich mir Abgründe von Fehlern, von Nichtverstehen und von bedeutsamem Schweigen auf. Es wäre naiv, es würde schlankweg Sinn und Ziel diskursanalytischer Arbeit verfehlen, wollte man sich da auf die Teilnehmerperspektive beschränken! 19 Fazit: Gespräche im Call Center einer Bank sind wie alle institutionellen Gespräche aufgabenorientiert. Welche Zwecke grundsätzlich erfüllt werden können, ist durch die Dienstleistungspalette der Bank vorgegeben. Welchen Zweck das einzelne Gespräch zu erfüllen hat, bestimmt der Kunde durch die Äusserung seines spezifischen Anliegens. Wie dieser Zweck zu erreichen ist, weiss wiederum die Bankangestellte, die das entsprechende Prozedere in Gang setzt. Gespräche im Call Center lassen sich daher als Aufgabenschemata beschreiben, mittels derer die vom Kunden geäusserten Wünsche in institutionsgerechter Form und mit Hilfe der dafür entwickelten Gesprächsmuster bearbeitet werden. Diese Gesprächsmuster zu beschreiben ist Ziel der Diskursanalyse. <?page no="97"?> Kundenanliegen und Gesprächstypen: Häufigkeit und Verteilung 97 20 Es ist ein US Dollar Konto in Frage in Bezug auf einen Mann, der in England wohnt. Und mir. Also ich möchte, wenn ich einen US Dollar bekomme auf mein US Dollar Konto, möchte ich das jenem Mann, der in England wohnt, auf sein US Dollar Konto überweisen können, aber ich nehme an, er kann ja, eh, ich und er, wir können ja jeder ein US Dollar Konto in Basel eröffnen; geht das. 5.2 Kundenanliegen und Gesprächstypen: Häufigkeit und Verteilung Kunde: es isch (.) es US dollar konto (.) in fraag in bezug uf en (.) maa wo in ängland wont. und mir. aso ICH möchti/ wänn ich en US dollar ÜBERchume uf MIS US dollar konto/ möcht ich das chöne uf dem maa wo in ängland wont sis US dollar konto überwyseaber ich nimen=aa (.) er cha ja (.) eh (.)/ ICH und ermir chönd ja JEDE es US dollar konto in basel eröffne; das gaat oder. (351) 20 Im dritten Kapitel habe ich erklärt, welchen institutionellen Auftrag die Agents in den Call Centern der Schwyzer Bank grundsätzlich zu erfüllen haben: Weiterverbinden, Auskünfte erteilen, Karten sperren usw. In diesem Abschnitt gehe ich detaillierter darauf ein, welche Kundenanliegen in den fünf Abteilungen wie oft zu bearbeiten sind, denn Art und Häufigkeit der Kundenanliegen diktieren, welche Aufgabenschemata und Gesprächsmuster regelmässig zur Durchführung kommen. In Tabelle 6 habe ich zusammengestellt, welche Anliegen von den KundInnen am häufigsten vorgebracht werden. Aus der Tabelle, insbesondere aus der hohen Zahl der unter „anderes” zusammengefassten Einzelfälle, lässt sich ablesen, dass die Vielfalt der an die Agents herangetragenen Wünsche enorm ist. Darunter befinden sich die kuriosesten Anfragen: Ein Mann möchte Bahrainische Dinar wechseln, ‘kein grosser Betrag’, wie er findet, ‘nur etwa 24’000 Schweizer Franken’. Eine Frau hat ihren Autoschlüssel beim Bancomaten vergessen und kann nicht wegfahren, weil die Geschäftsstelle unterdessen geschlossen hat und sie nicht mehr zum Bancomaten gelangen kann. Ein anderer will wissen, ob es in Overhampton (GB) eine Niederlassung der Schwyzer Bank gibt, eine Buchhalterin sucht im Internet der Bank vergeblich eine Funktion zum Ausdrucken der eingegebenen Lohnüberweisungen, und das Opfer eines Kartenbetrugs wollte sämtliche Bancomatrapporte für die Polizei haben. Da sind neben dem Basiswissen über die bankeigenen Produkte und Prozesse Flexibilität und Einfallsreichtum gefragt! <?page no="98"?> Das Überindividuelle: Aufgaben, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster 98 21 Viele KundInnen haben mehr als ein Anliegen, sodass die Summe der Anliegen (501) höher ist als die Summe der Anrufe (431). Tab. 6: Kundenanliegen nach Abteilung 21 Abteilung Kundenanliegen Service Beratung Kartendienst Telefonbanking Hotline Total Anteil Weiterverbinden 47 1 8 2 - 58 12% Kontostand 6 1 5 21 - 33 7% Ein-/ Ausgänge 10 - 6 9 - 25 5% Clearing-/ PC-Nummer 9 - - 1 - 10 2% Ort, Öffnungszeiten 6 - 4 1 - 11 2% Aktienkurse 3 4 - 5 - 12 2% Zahlungsmöglichkeiten 7 3 1 2 2 15 3% Suche von Personen, Konti 6 2 - 1 3 12 2% Bedeutung von Bankbriefen - 4 - 1 12 17 3% Beratung 2 16 1 - - 19 4% Adressänderung 5 1 - 1 - 7 1.5% Änderung Dauerauftrag 5 - - 5 - 10 2% Kontoauszug bestellen 7 - - - - 7 1.5% Formulare, Schecks bestellen 8 - - 1 - 9 2% Kontoeröffnung/ -saldierung 1 19 1 2 6 29 6% Zahlungsauftrag 3 3 3 15 - 24 5% Börsenauftrag - 21 - 5 - 26 5% Kartensperrung - - 29 7 - 36 7% Falsche Belastung klären 12 - 1 2 2 17 3% Problem mit Bancomat - - 15 3 - 18 4% Kein Zugang zum Internet - - - 3 30 33 6% Problem mit Internet - - - 3 15 18 4% Anderes 6 12 11 10 16 55 11% Total 143 87 85 100 86 501 100% <?page no="99"?> Kundenanliegen und Gesprächstypen: Häufigkeit und Verteilung 99 22 Kurz vor den Aufnahmen hatte die Bank einen Brief verschickt, in welchem alle KundInnen, die mit amerikanischen Titeln handeln wollen, aufgefordert wurden, das sogenannte US-Quellensteuer-Formular zu unterzeichnen und zurückzusenden. Einige KundInnen hatten diesen Brief nicht verstanden bzw. achtlos weggeworfen und konnten nun keine Börsenaufträge mit US-Titeln mehr tätigen, da ihr Name im System gesperrt worden war. Die Tabelle gibt das unterschiedliche Aufgabenprofil der Abteilungen wieder: Die Agents im Service sind vor allem für das Weiterverbinden und für Auskünfte zuständig. Zu letzteren gehört sowohl das Erteilen kontospezifischer Auskünfte wie Kontostand oder getätigte Ein- und Ausgänge, für welche die KundInnen identifiziert werden müssen, als auch das Erteilen allgemeiner Bankauskünfte wie Clearingnummern, Aktienkurse oder Zahlungsmöglichkeiten. Bei rund einem Fünftel der Anrufe nehmen die Agents im Service Aufträge entgegen, worunter vor allem die Bestellung von Formularen und Kontoauszügen sowie die Änderung von Daueraufträgen und Adressen fallen. Haben die Agents im Service Probleme zu lösen, handelt es sich um die Abklärung falscher Belastungen. Die BeraterInnen führen ihrem Selbstverständnis nach vor allem (Anlage-)Beratungen durch. Die Tabelle zeigt jedoch, dass die Häufigkeit des Beratens von den BeraterInnen überschätzt wird. In Wirklichkeit nehmen sie viel häufiger lediglich Aufträge entgegen, so die Eröffnung und Saldierung von Konti und natürlich Börsenaufträge. Häufig müssen sie auch nur Auskünfte erteilen, über Aktienkurse oder über die Bedeutung von Briefen, welche die Bank verschickt hat. 22 Eine eigentliche Beratung findet nicht einmal in jedem fünften Gespräch statt. Die Agents im Kartendienst sind vor allem für die Sperrung verlorener Bank- und EC-Karten sowie die Hilfe bei Problemen am Bancomat zuständig, was sich in der Tabelle deutlich zeigt. Allerdings wird der Kartendienst von den KundInnen nicht selten dazu “missbraucht”, in den Abendstunden Auskünfte über ihr Konto zu erhalten, sodass das Erteilen von Auskünften ebenfalls zu den Aufgaben der Agents im Kartendienst gezählt werden muss. Die Agents im Telefonbanking haben im Prinzip dieselben Aufgaben zu erfüllen wie die Agents im Service, lediglich für ein anderes Kundensegment, nämlich jene KundInnen mit einem speziellen Telefonbanking Vertrag. Im Gegensatz zu den Agents im Service führen sie aber auch Zahlungs- und Börsenaufträge aus. Zusätzlich übernehmen die Agents im Telefonbanking während der Nacht die Aufgaben des Kartendienstes und der Hotline, sodass die Angestellten dieser Abteilung, wie in der Tabelle zu sehen, mit der weitaus grössten Vielfalt von Kundenanliegen konfrontiert sind und die Tätigkeiten der Agents aller Abteilungen beherrschen müssen. Sie müssen über ein beträchtliches Produkt- und Prozesswissen verfügen und ihre Dienste rund um die Uhr in mindestens drei Sprachen anbieten. Nicht selten traten einem die Agents dieser Abteilung mit der selbstbewussten Überzeugung entgegen, zur Elite unter den Agents zu gehören. <?page no="100"?> Das Überindividuelle: Aufgaben, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster 100 23 Kurz vor den Aufnahmen hatte die Bank einen Brief verschickt, in welchem mitgeteilt wurde, zukünftig würden alle Konti des Inhabers im Internet aufgeschaltet. Wer das nicht wolle, müsse die beigelegte Karte unterschreiben und zurücksenden. Der Brief sorgte bei vielen KundInnen für Verwirrung. 24 Die Kundenanliegen der Kategorie “anderes” wurden je nach ihrem Inhalt den Gesprächstypen “Auskunft geben”, “Auftrag annehmen” oder “Problem lösen” zugeteilt. Vergleichsweise einseitig ist demgegenüber die Arbeit der Agents in der Hotline. Sie haben mit Bankgeschäften nichts zu tun, sondern müssen helfen, Probleme mit dem Internetzugang zur Bank zu lösen. Am häufigsten müssen sie gesperrte Zugänge entsperren, am zweithäufigsten andere Probleme mit dem Internet lösen helfen. Die Eröffnung und Saldierung von Konti bezieht sich in dieser Abteilung lediglich auf Konti innerhalb des Internet Vertrags. Schliesslich müssen auch die Agents dieser Abteilung Auskünfte erteilen, vor allem über die Bedeutung von Briefen, die die Bank verschickt hat. 23 Die verwirrende Menge unterschiedlicher Kundenanliegen, die in den Call Centern bearbeitet werden, wird übersichtlicher, wenn wir danach fragen, welche kommunikative Aktivität mit der Bearbeitung des jeweiligen Anliegens verbunden ist. Ausgehend von der kommunikativen Aktivität habe ich fünf Gesprächstypen von zunehmender Komplexität unterschieden: Weiterverbinden, Auskunft geben, Beraten, Auftrag annehmen, Problem lösen (inklusive Reklamation behandeln). Sie sind in Tabelle 7 zusammengestellt. 24 Tab. 7: Gesprächstypen nach Abteilung Abteilung Kundenanliegen Service Beratung Kartendienst Telefonbanking Hotline Total Anteil Weiterverbinden 47 1 8 2 - 58 12% Auskunft geben 49 16 21 46 21 153 30% Beraten 2 16 1 - - 19 4% Auftrag annehmen 31 51 35 37 10 164 33% Problem lösen 14 3 20 15 55 107 21% Total 143 87 85 100 86 501 100% Es zeigt sich, dass über alle Abteilungen hinweg in einem Drittel aller Telefongespräche ein Auftrag entgegengenommen und fast ebenso häufig Auskunft gegeben wird. Im Service ist das Weiterverbinden eine zentrale Tätigkeit. Marginal ist jene kommunikative Aktivität, die man in einem Bank Call Center am ehesten erwarten würde, nämlich die Beratung. In mehr als einem Fünftel aller Telefonanrufe ist hingegen ein Problem zu lösen oder eine Reklamation zu bearbeiten. In den von mir durchgeführten Coaching- <?page no="101"?> Aufgabenschemata und Gesprächsmuster: Empirische Analysen 101 25 Das Geld wird nach einigen Sekunden wieder eingezogen und dem betreffenden Konto gutgeschrieben. Die Rückbuchung ist auf dem Kontoauszug aber erst nach ein bis zwei Tagen sichtbar. Die Agents, mit den Prozessen längst vertraut, sahen in der Angelegenheit gar kein Problem und zeigten oft wenig Verständnis dafür, dass die KundInnen unsicher oder aufgebracht waren. gesprächen und Interviews zeigte sich, dass die Wichtigkeit des Beratens von den Angestellten überschätzt, die Zahl der Reklamationen dagegen unterschätzt wird. Viele von mir als Problem oder Reklamation kategorisierte Anliegen wurden von den Agents als normale Kundenanliegen empfunden und behandelt, zum Beispiel das Nachbestellen nicht eingetroffener Kontoauszüge und Installations-CDs oder die Frage, wie man beim Bancomaten liegen gelassenes Geld zurückbekommt. 25 In den Gesprächen sichtbare Perspektivendivergenzen zwischen Agent und Kunde waren teilweise die Folge. Somit ist geklärt, welche Kundenanliegen und welche damit verbundenen kommunikativen Aktivitäten in den Call Centern der Schwyzer Bank am häufigsten sind. Nun gilt es, die Aufgabenschemata und Gesprächsmuster herauszuarbeiten, mit Hilfe derer die Anliegen der KundInnen bearbeitet werden. 5.3 Aufgabenschemata und Gesprächsmuster: Empirische Analysen Im folgenden Abschnitt werde ich anhand von Gesprächsbeispielen das Aufgabenschema von drei besonders häufigen Kundenanliegen vorstellen: Kontospezifische Auskunft, Börsenauftrag, Entsperrung Internetzugang. Diese drei Kundenanliegen sind repräsentativ für die Arbeit je einer Abteilung im Call Center - Service, Beratung, Hotline - und für je einen Gesprächstyp: Auskunft geben, Auftrag annehmen, Problem lösen: Abteilung Gesprächstyp Kundenanliegen Service Auskunft geben Kontospezifische Auskunft Beratung Auftrag annehmen Börsenauftrag Hotline Problem lösen Entsperrung Internetzugang Die drei Aufgabenschemata sind typisch sowohl für die Arbeit der Angestellten als auch für die Anliegen der KundInnen. Sie dienen mir in der weiteren Arbeit dazu, die individuellen Unterschiede im Verhalten der einzelnen KundInnen und Angestellten bei der Durchführung ebendieser Aufgabenschemata herauszuarbeiten. <?page no="102"?> Das Überindividuelle: Aufgaben, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster 102 26 A: Im Moment ist er (der Kurs der Lire) 0.0743. - K: Also macht 47 Rappen praktisch. - A: 74 jawohl. Wobei, nein, es wären eigentlich siebeneinhalb Rappen. 5.3.1 Gesprächstyp Auskunft geben: Kontospezifische Auskunft Agent: im moMÄNT isch er null punkt null sibe vier drü, Kundin: aso macht sibenevierzg rappe praktisch, oder? Agent: vieresibezg jawol. […] woby […] NÄI es wäred äigentlich sibeneHALB rappe (119). 26 Im folgenden Gespräch möchte ein Kunde wissen, ob ein bestimmter Betrag auf seinem Konto eingegangen ist. Der Agent identifiziert den Kunden, nennt den Kontostand und gibt bekannt, dass der genannte Betrag noch nicht eingetroffen ist. Gespräch 125 (vollständig) Titel Ist heute was reingekommen? Dauer 1’23’‘ Agent männlich, Zürcher Dialekt Gesprächstyp Auskunft geben Kunde männlich, Bündner Dialekt Resultat Anliegen erfüllt Bemerkung Die Aufnahme ist durch einen permanenten Summton gestört. Der Kunde ist nur leise zu hören, eventuell ruft er von einem Mobiltelefon aus an. [1] A [v] schwyzer bank mi namen=isch AMrein? guete tag herr A [ü] schweizer bank mein name ist amrein guten tag herr K [v] (0.7) JA grüeziwool da isch keller; K [ü] ja grüeziwohl hier ist keller [2] A [v] keller, A [ü] keller K [v] (0.8) si könnted si schnell luege ob (.) öppis INEkoo isch; (ufs) KONto hüt. K [ü] könnten sie schnell nachschauen ob etwas reingekommen ist aufs konto heute [3] A [v] ja=händ=s mer (d) KONtonummere. . (1.4) sächzä DRÜezwänzg, A [ü] ja haben sie mir die kontonummer sechzehn dreiundzwanzig K [v] (0.6) sächzä drüezwanzg, K [ü] sechzehn dreiundzwanzig [4] A [v] . . . . . . . . ja (0.7) äinenünzg. (1.1) jetzt ëh (.) zur A [ü] ja einundneunzig. jetz äh zur K [v] (0.9) FÜfedrissg- (0.7) strich äinenünzg. K [ü] fünfunddreissig strich einundneunzig <?page no="103"?> Aufgabenschemata und Gesprächsmuster: Empirische Analysen 103 [5] A [v] identifikaTION händ=s mer no es paar AAgaabe zum KONto; A [ü] identifikation haben sie mir noch ein paar angaben zum konto K [v] (1.0) ja: : - Yzalt het ah (XXXxxx) K [ü] ja, einbezahlt hat äh (xxx) [6] A [v] m=Hm, A [ü] m=hm K [v] sächstusigsächshundert (xxxxxxxxxx)- (1.1) und wer het no zalt. (.) ja (XXXxxx) - K [ü] sechstausendsechshundert (xxx) und wer hat noch bezahlt, ja, (xxx) [7] A [v] (1.3) wer isch sösch no A [p] <all, fragend A [ü] wer ist sonst noch K [v] (0.8) äine wo füfzigtusig (xxxx) äh: : (.) füfzigtusig und achzg zalt- K [ü] einer der fünfzigtausend (xxx) äh fünfzigtausend und achzig bezahlt [8] A [v] UNderschriftsberächtiget; niemer mee. (2.0) es goot um de A [p] > A [ü] unterschriftsberechtigt niemand mehr es geht um den K [v] (0.9) (xxxxxxx) (.) ja. K [ü] (xxxxxxxx) ja [9] A [v] KONtostand. isch füfesächzgTUsig, zwäihundertachtedachzg, (0.9) und A [ü] kontostand ist fünfundsechzigtausend zweihundertachtundachtzig und K [v] JA gern ja. (.) ja, K [ü] ja gerne ja ja [10] A [v] nünezwänzg rappe. A [ü] neunundzwanzig rappen K [v] a: =Ha. die (achte)drissgTUsig isch nonig ineko; he? K [ü] a=ha. die (achtund)dreissigtausend ist noch nicht reingekommen, he [11] A [v] tschuldigung? . . . . . . . . . . . . . . . . A [ü] wie bitte K [v] (0.7) ich (erwarte) drissgTUsig vom/ vo öpperem; isch nonig K [p] <f > K [ü] ich (erwarte) dreissigtausend vom/ von jemandem ist noch nicht <?page no="104"?> Das Überindividuelle: Aufgaben, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster 104 27 Die Gesprächsforschenden, welche die Partiturschreibweise benützen, sprechen normalerweise von “Flächen”: Fläche 1, Fläche 2 usw. Meines Erachtens weckt der Ausdruck Fläche die falsche Vorstellung, Gespräche hätten ausser einer zeitlichen auch eine räumliche Dimension und man könne sich bei der Lektüre des Transkripts nicht nur horizontal, sondern auch vertikal bewegen. Dem ist natürlich nicht so. Ein Gespräch verläuft immer und nur linear, und Transkripte dürfen auch bei der Aufzeichnung mehrerer Personen ausschliesslich von links nach rechts gelesen werden. Daher wähle ich den aus der Musik stammenden Begriff “System”, welcher die zusammengehörenden Partiturzeilen mehrerer Stimmen bezeichnet. “S 1” bedeutet also “System 1”, “S 2+3” bedeutet “Systeme 2 und 3” usw. 28 In der Literatur wird dieser Gesprächsschritt normalerweise als Identifikation bezeichnet. Da der Begriff in meinem Korpus durch die banktechnische (Kunden-) Identifikation besetzt ist, benütze ich den Ausdruck Vorstellung. 29 Literatur zum Telefongespräch ist in Abschnitt 3.2.2 aufgeführt. [12] A [v] (0.9) (xxxx) i letschter ZYT nöd näi; nüt inechoo so; i dere A [ü] (xxxx) in letzter zeit nicht nein nichts hereingekommen in der K [v] ineko; he? ned (xx? ) K [ü] reingekommen, he nicht (xx) [13] A [v] gröössenornig. herr keller, e schönen=abig wünsch ich. A [ü] grössenordnung herr keller, einen schönen abend wünsche ich K [v] aha. Okay; (1.2) guet! Ade K [p] <f > K [ü] aha okay; gut! ade [14] A [v] Ade merci A [ü] ade merci K [v] merci- K [ü] merci Der Agent stellt sich mit der vorgeschriebenen Formel vor: Firmenname + “mi namen=isch” + Familienname. Der Kunde beginnt mit dem Gliederungssignal “ja”, welches man als Bestätigung, am gewünschten Ort zu sein, interpretieren kann. Dann grüsst er und stellt sich ebenfalls mit dem Familiennamen vor. Der Agent erwidert den Gruss und spricht dabei - wiederum den Vorschriften entsprechend - den Kunden mit dem Namen an (System 1). 27 Damit ist die Gesprächseröffnung beendet. Sie folgt dem in der Literatur schon oft beschriebenen Handlungsmuster für den Beginn eines deutschsprachigen Telefonats: Anruf/ Anrufannahme, Vorstellung/ Vorstellung, 28 Begrüssung/ Begrüssung, wobei die Reihenfolge dieser Elemente variieren kann. 29 Der Kunde leitet nun den Hauptteil des Gesprächs ein, indem er sein Anliegen vorträgt (nachschauen, ob Geld hereingekommen ist), was vom Agent mit einem kurzen “ja” ratifiziert wird (S 2+3). Auch das entspricht der <?page no="105"?> Aufgabenschemata und Gesprächsmuster: Empirische Analysen 105 30 Mit Nothdurft/ Schwitalla (1995) teile ich die Auffassung, dass das miteinander Sprechen gut mit gemeinsamem Musizieren zu vergleichen ist. Daher bevorzuge ich Metaphern aus dem Bereich der Musik (vgl. auch Johnstones Metapher der voice (S. 18)). 31 In diesem Zusammenhang ist der Begriff der Phase gerechtfertigt, da die Identifikation tatsächlich eine geschlossene Gesprächseinheit bildet, die nach vorne und hinten klar abgegrenzt ist. kultur- und medienspezifischen Konvention, wonach bei einem Telefongespräch der Anrufer angeben muss, warum er angerufen hat. Umgehend leitet der Agent die Bearbeitung des Anliegens ein, indem er nach der Kontonummer fragt. Seine Aufforderung erfolgt ohne höfliche Modalisierung wie Konjunktiv (‘hätten Sie mir…’) oder ‘bitte’, sondern als direkte Aufforderung: “händ=s mer (d) kontonummere” (S 3). Der Kunde nennt wie gewünscht seine Kontonummer und benützt dafür eine typische Intonationskontur: Beim ersten Teil der Nummer hebt er die Stimme, beim zweiten Teil lässt er sie in der Schwebe, und beim dritten und letzten Teil senkt er die Stimme. Zwischen den Nummernteilen schaltet er jedes Mal eine kleine Pause ein, welche dem Agent die Gelegenheit gibt, die Zahl zu wiederholen oder mindestens mit einem “ja” zu bestätigen (S 3+4). Dadurch entsteht eine Art “Kontonummer-Kanon”, wie er in vielen Gesprächen zu beobachten ist. 30 Nach einem Gliederungssignal (“jetzt”) kündet der Agent in knappen zwei Worten (“zur identifikaTION”) die jetzt folgende Gesprächsphase der Identifikation an 31 und verlangt vom Kunden ‘Angaben’ zum Konto (S 4+5). Dieser weiss im Gegensatz zu anderen KundInnen, was mit ‘Angaben’ gemeint ist, und gibt zwei Eingänge an (S 5-7). Als dritte Angabe (drei müssen es für eine vollständige Identifikation sein) fragt der Agent nach Vollmachten auf dem Konto (S 7+8). Mit der Frage “es goot um de KONtostand” leitet der Agent nach dem Exkurs der Identifikation zum Anliegen des Kunden zurück, indem er selbiges wiederholt (S 8). Der Kunde wollte eigentlich nicht den Kontostand erfahren, sondern den Eingang eines erwarteten Geldbetrags, trotzdem bestätigt er die Frage mit “JA gern ja” (S 9). Dass der Agent das eigentliche Anliegen des Kunden so rasch vergessen hat, dürfte ein Anzeichen von Müdigkeit sein, fand das Gespräch doch kurz vor Arbeitsschluss statt. Er nennt die Summe, indem er zwischen den Tausendern und Hundertern und vor den Rappen deutliche Pausen macht, um dem Kunden Zeit zum allfälligen Mitschreiben zu geben. Während des gedehnten “a: =Ha” des Kunden scheint dieser am Rechnen zu sein, kommt er doch zum Schluss, dass die gesuchten 30’000 Franken noch nicht eingetroffen sind, wie seine diesbezügliche Nachfrage zeigt (S 10). Der Agent versteht diese Nachfrage nicht, eben weil er vergessen hat, dass es um einen Eingang und nicht um den Kontostand geht. Daher sein “tschuldigung? ” (S 11). Der Kunde wiederholt <?page no="106"?> Das Überindividuelle: Aufgaben, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster 106 32 Der Kunde kann nicht wissen, ob der Agent ihn akustisch oder inhaltlich nicht verstanden hat. Indem er lauter spricht und ausführlicher formuliert, begegnet er dem Verständigungsproblem auf beiden Ebenen. 33 Eine ausführlichere Diskussion der Beendigung von Telefongesprächen erfolgt Seite 242ff. nun lauter und expliziter, dass er 30’000 Franken erwarte. 32 Jetzt versteht der Agent und teilt dem Kunden mit, dass kein entsprechender Betrag eingetroffen ist (S 12). Das an dieser Stelle mögliche Angebot, die Vormerkungen (Beträge, die eingetroffen, aber noch nicht gutgeschrieben sind) zu prüfen, unterlässt er. Der Kunde ratifiziert die Auskunft mit “aha” (S 13). Damit ist der Hauptteil des Gesprächs abgeschlossen. Wie üblich leitet der Anrufer den Abschluss des Gesprächs ein, hier mit einem erhöhten, laut gesprochenen “okay” (S 13). Der Agent ratifiziert diese Beendigungsinitiative nicht, sodass der Kunde nach einer Pause von 1.2 Sekunden ein zweites Abschlusssignal gibt (“guet”), worauf der Agent unvermittelt mit der Verabschiedung einsetzt. Vorschriftsgemäss nennt er den Kunden nochmals beim Namen und wünscht ihm einen schönen Abend (S 13). Der Kunde erwidert diesen Wunsch nicht mit dem konventionellerweise zu erwartenden ‘danke gleichfalls’, sondern geht gleich zu einer knappen Verabschiedung über, die aus dem “Ade” und einem nachgeschobenen Dank (“merci”) besteht. Der Agent wiederholt Gruss und Dank wörtlich (S 14). Das bekannte Handlungsmuster zur Beendigung von Telefongesprächen - wechselseitige Bestätigung, dass das Gespräch thematisch abgeschlossen ist, beidseitige Abschlusssignale, wechselseitige Wünsche, Dankesworte und Grüsse - ist zu erkennen, wird allerdings nur rudimentär verwirklicht. 33 Aus diesem Gespräch und allen anderen Gesprächen, in welchen kontospezifische Auskünfte erteilt werden, lässt sich das in Abbildung 2 dargestellte Aufgabenschema ableiten. Fett gedruckt sind die obligatorischen Aufgaben, deren Wegfallen entweder markiert ist (zum Beispiel Grüsse) oder zum Scheitern des Gesprächs führt (zum Beispiel fehlende Angaben zur Identifikation). Normal gedruckt sind die fakultativen Aufgaben, die je nach Gesprächskonstellation hinzukommen können. Während der Eröffnung sind dies vor allem Rückfragen bezüglich des Namens, die von beiden Seiten erfolgen können, oder die Frage des Kunden, ob er überhaupt “am richtigen Ort” ist, mit anderen Worten die Klärung der Zuständigkeit. Im Hauptteil des Gesprächs sind es vor allem verschiedene Formen der Behebung von Verständigungsproblemen, die sich den Interaktionspartnern als zusätzliche Aufgaben stellen können, wobei diese Verständigungsprobleme akustischer, sprachlicher (Unkenntnis von Fachbegriffen oder Fremdsprachenprobleme) oder inhaltlicher Natur sein können. Längere Expansionen des Hauptteils entstehen dann, wenn die Kundin weitere Anliegen äussert oder wenn der Agent Rücksprache mit anderen Abteilungen halten muss. Beim Gesprächsabschluss ist das Bearbeiten zusätzlicher Aufgaben selten zu beobachten, vereinzelt treten nochmals Rückfragen bezüglich des Namens auf. <?page no="107"?> Aufgabenschemata und Gesprächsmuster: Empirische Analysen 107 Im Schema sind rollenspezifische Aufgaben dem Kunden bzw. dem Agent zugeordnet, Aufgaben, die nicht ausschliesslich Sache eines Beteiligten sind, stehen in der Mitte. Abb. 2: Aufgabenschema “Kontospezifische Auskunft” KUNDE AGENT Eröffnung Anruf Anrufannahme Vorstellung Vorstellung Rückfragen bezüglich Name Begrüssung Begrüssung Klärung der Zuständigkeit Hauptteil Anliegen präsentieren Anliegen ratifizieren Anliegen klären Kontonummer angeben Konto aufrufen Angaben zur Identifikation liefern Kunden identifizieren gewünschte Auskunft erteilen akustische Verständigungsprobleme beheben (fremd)sprachliche Verständigungsprobleme beheben inhaltliche Verständigungsprobleme beheben Zusatzfragen stellen gewünschte Auskunft erteilen Rücksprache mit anderer Abteilung Ratifikation der Auskünfte Abschluss Beendigungssignal Beendigungssignal Dank Dank Wünsche Wünsche Abschied Abschied <?page no="108"?> Das Überindividuelle: Aufgaben, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster 108 34 Sager (1982) unterscheidet vier Grade der Institutionalisierung verbalen Verhaltens: regelgeleitetes Verhalten, codifiziertes Verhalten, normiertes Verhalten und ritualisiertes Verhalten (S. 287). Seiner Einteilung folgend entsprechen die telefonspezifischen Aufgaben regelgeleitetem Verhalten, die institutionsspezifischen Aufgaben codifiziertem Verhalten, die branchen-, betriebs- und anliegensspezifischen Aufgaben normiertem Verhalten. 35 In der deutschen Schweiz ist es auch bei institutionellen Gesprächen üblich, sich mit dem Familiennamen vorzustellen. Zu Deutschland vgl. Berens (1980) und Werlen (1984). 36 Smalltalk wird in Ausnahmefällen von den KundInnen initiiert. 37 Die KundInnen mindestens drei Mal im Gespräch namentlich anzusprechen ist eine Vorschrift, die in Call Centern weit verbreitet ist (Cameron 2000; Anja Moos, mündliche Mitteilung). Die Namensnennung soll angeblich die Kundenbindung stärken. Dass namentliches Ansprechen tatsächlich nicht nur die Aufmerksamkeit, sondern auch “Dichte und Intensität der interpersonalen Beziehung” erhöht, zeigt Schwitalla (1993: 364). Im Rahmen anonymer Call Center Interaktion muss die Namensverwendung jedoch im Dienste der Herstellung von Pseudo-Beziehungen gesehen werden (Gutek 1995). 38 In einzelnen Gesprächen beginnen die Agents mit der Bearbeitung des Anliegens, bevor selbiges geklärt ist. Das führt zu massiven Turbulenzen im Gespräch und kann daher nicht als Variante des Gesprächsmusters begriffen werden, sondern nur als Störung. An diesem Aufgabenschema sind einige Elemente konstitutiv für jedes schweizerdeutsche Telefongespräch, andere sind typisch für institutionelle Gespräche allgemein bzw. für Gespräche in der Bank, und einige sind betriebsbzw. anliegensspezifisch. 34 telefonspezifisch - ganze Eröffnung inklusive Vorstellung mit Familienname 35 - Nennung des Anliegens durch den Anrufer - Beendigungsinitiative durch den Anrufer - Abschluss exklusive Wünsche institutionsspezifisch - Bearbeitung eines die Institution betreffenden Anliegens - Keine Fragen nach Wohlergehen - Kein Smalltalk 36 branchenspezifisch - Identifikation des Kunden betriebsspezifisch - wörtlich vorgeschriebene Begrüssungsformel - Ansprechen des Kunden mit dem Familiennamen 37 - Wünsche beim Abschluss anliegensspezifisch - Frage nach der Kontonummer - Bekanntgabe der gewünschten Kontoinformationen Die Reihenfolge der aufgeführten Aufgaben variiert der Natur der Sache entsprechend wenig: Die Klärung der Zuständigkeit wird sinnvollerweise (und trotzdem nicht ausnahmslos) gleich zu Beginn des Gesprächs durchgeführt, das Anliegen kann nicht bearbeitet werden, bevor es geäussert und ratifiziert wurde, 38 Auskünfte dürfen nicht gegeben werden, bevor der Kunde identifiziert ist, usw. Insofern stellt das Aufgabenschema in der <?page no="109"?> Aufgabenschemata und Gesprächsmuster: Empirische Analysen 109 39 K: Aber ich meine, drei Wochen vorher ist ja quasi der Warrant (xxx) die Aktie ist dann nichts mehr wert eventuell. - B: Eventuell, ja ja, das kann natürlich sein, das ist natürlich Ihnen überlassen, wie spekulativ Sie sind. Reihenfolge, wie es in Abbildung 2 aufgelistet ist, zugleich das häufigste Gesprächsmuster dar, welches sich die Gesprächspartner durch deutliche Gliederungssignale gegenseitig zu erkennen geben. Nicht an eine konventionelle Reihenfolge gebunden sind lediglich einige der fakultativen Aufgaben. So können Verständigungsprobleme und deren Behebung an jeder Stelle im Gespräch auftreten, und die Rücksprache mit anderen Abteilungen kann zu unterschiedlichen Zeitpunkten notwendig werden. Schliesslich gibt es Punkte im Gespräch, an denen - in der Regel durch den Agent - das Aufgabenschema in bestimmten Fällen abgebrochen wird, dann nämlich, wenn der Kunde nach Auskünften fragt, die ein Weiterleiten an andere interne Stellen notwendig machen, oder wenn der Kunde sich nicht als Bevollmächtigter über das Konto ausweisen kann, was zur Auskunftsverweigerung durch den Agent führt. Das Aufgabenschema “kontospezifische Auskunft” ist für die Arbeit der Agents grundlegend und wird Neuen als erstes beigebracht. Die Bearbeitung des Anliegens “allgemeine Bankauskunft” folgt demselben Aufgabenschema, mit dem Unterschied, dass die Identifikation wegfallen darf. Aber nicht nur beim Gesprächstyp Auskunft geben, sondern auch auch beim Gesprächstyp Auftrag annehmen finden sich Aufgabenschemata, die dem eben besprochenen sehr ähnlich sind, so die Bearbeitung der Anliegen “Adressänderung” und “Änderung Dauerauftrag”, bei welchen während des Telefonats Kundendaten manipuliert werden (mit Identifikation), oder beim Anliegen “Formularbestellung”, bei welchem ein Auftrag für die Ausführung nach dem Telefonat entgegengenommen wird (ohne Identifikation). 5.3.2 Gesprächstyp Auftrag annehmen: Börsenauftrag Kunde: aber ich meine drü wuche vorher isch ja quasi de warrant (xxx) d aktie isch denn nüt mee WËRT eventuell. Berater: evenTUELL, ja=ja das cha natürlich SY, da=sch natürlich INE überloo wie spekulativ si SEND! (312). 39 Einen Börsenauftrag entgegennehmen und im System eingeben dürfen die Agents im Service nicht. Dazu verbinden sie die Kunden mit einem Berater in der Beratungsabteilung. Ich stelle im Folgenden das relativ komplexe, aber auch uniforme Aufgabenschema “Börsenauftrag” an einem Beispiel vor. <?page no="110"?> Das Überindividuelle: Aufgaben, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster 110 Gespräch 364 (vollständig) Titel Bei 1 gehen Motorola Optionen nicht Dauer 2’06’‘ Agent männlich, Zürcher Dialekt Gesprächstyp Auftrag annehmen Kunde männlich, Zürcher Dialekt Resultat Anliegen erfüllt [1] B [v] ja? B [ü] ja K [v] ich ëh wone a de rigistraass acht 5144 winterthur. und ich hätti gërn ëh: opTIONSschyn K [ü] ich eh wohne an der rigistrasse 8 5144 winterthur und ich hätte gerne äh optionsscheine [2] B [v] ja? ja hundertäis, drüesächzg B [ü] ja ja 101 63 K [v] gchauft, vo de motorola, VAlor hundertäis, drüesächzig drissig, K [ü] gekauft von motorola valor 101 63 30 [3] B [v] DRISSG, (0.5) jawol, B [ü] 30 jawohl K [v] .h zum kurs vo null komma null ZWÄI, (0.9) (s) LImit,(0.5) HUNderttusig K [p] <len > K [ü] zum kurs von 0 komma 02 die limite 100’000 [4] B [v] (1.8) (chlyne/ en) moMÄNT bitte. (10.0) j: Awol; aso gstellt sind=s äis zu zwäi. B [p] <len > B [ü] (kleinen/ einen) moment bitte jawohl, also gestellt sind sie eins zu zwei K [v] stuck. JA K [ü] stück ja [5] K [v] (0.5) ja .h (jetz äbe) warschinli mit äis chömed=s NÖD ine; aso am/ ich han am frytig K [ü] ja (jetzt eben) wahrscheinlich mit 1 kommen sie nicht rein; also am/ ich habe am freitag [6] B [v] M=hm. B [ü] m=hm K [v] scho probiert ghaa; und da sind=s aso DÜREglüffe; (oder). .hh ich glaube/ ja=a ich wäiss es K [p] <pp > K [ü] schon probiert; und da sind sie also durchgelaufen(oder) ich glaube/ ja=a ich weiss es nicht <?page no="111"?> Aufgabenschemata und Gesprächsmuster: Empirische Analysen 111 [7] B [v] (0.6) ja (xxxxxxx) (ich cha) eigentlich bi optione (gar) B [p] <lachend B [ü] ja (xxxx) (ich kann) eigentlich bei optionen (gar) K [v] nöd oder wie isch=s vo Ine uus gsee- K [ü] oder wie ist es von ihnen aus gesehen [8] B [v] nüüt säge, jaa: / aso ich cha ine säge bi äis stönd scho zwäi komma sibe B [p] > B [ü] nichts sagen ja also ich kann ihnen sagen bei 1 stehen schon 2 komma 7 K [v] ja=a ëbe (he). .h NÄI/ K [ü] ja=a eben he nein [9] B [v] millione, wo warted, uf en chauf und bi zwäi sind=s ëh: : vierzgtusig. B [ü] millionen die warten auf einen kauf und bei 2 sind es äh 40’000 K [v] ja=ja ja aso guet ich/ ich K [ü] ja=ja ja also gut ich/ ich [10] B [v] m=hm, .h (0.5) tun=ich de uuftrag mal ygëë, (für) chaufe: valor .hh (0.7) B [p] <p, für sich B [ü] m=hm, gebe ich den auftrag mal ein (zum) kaufen, valor K [v] wett bi ZWÄI stele. jawol K [ü] möchte bei 2 stellen jawohl [11] B [v] so (4.0) (xxx) tusig (xxx) bi zwäi rappe wie lang söll de uuftrag gültig (xxx) B [p] > B [ü] so (xxx) tausend (xxx) bei 2 rappen wie lange soll der auftrag gültig (xxx) K [v] ja ich würd säge bis am K [ü] ja ich würde sagen bis am [12] B [v] nüünte f: : / jawol de wër=s de (xxx) (0.5) ich tu de uuftrag B [p] <p > <p, für sich > B [ü] neunter f/ jawohl dann wäre es dann (xx) ich wiederhole K [v] nüünte/ frytig/ börseschluss he K [ü] neunten/ freitag/ börsenschluss he [13] B [v] widerHOle, si möchted chaufe motorola, optione, (.) valor isch hundertäis, (.) drüesächzg B [ü] den auftrag sie möchten kaufen motorola optionen, valor ist 101, 63 K [v] ja! ja K [ü] ja ja <?page no="112"?> Das Überindividuelle: Aufgaben, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster 112 40 Börsenaufträge kann man limitiert oder bestens aufgeben. Limitiert bedeutet, dass man den maximalen Kaufspreis bzw. den minimalen Verkaufspreis festlegt. Liegt der gebotene Kurs darüber bzw. darunter, wird das Geschäft nicht ausgeführt. Bestens bedeutet, dass das Geschäft bei der nächstmöglichen Gelegenheit ausgeführt wird, egal zu welchem Preis. Optionen können aufgrund ihrer hohen Volatilität (Kursschwankungen) nur limitiert gehandelt werden. [14] B [v] (.) drissg, hu/ hunderttusig sch: tuck, limite zwäi RAPpe, (0.5) gültig bis nüünte B [ü] 30 100’000 stück limite 2 rappen gültig bis 9. K [v] jawol, ja richtig; K [ü] jawohl ja richtig [15] B [v] zwäite, gemäss telefon vo yne. B [ü] 2. gemäss telefon von ihnen K [v] jawol! tiptop. jetz ëh wänn i: allefalls ëh/ ich tu de am namitag K [ü] jawohl! tiptop. jetzt äh wenn ich allenfalls äh/ ich rufe am nach [16] B [v] KÄS problem. ja. okay? bitte B [ü] kein problem ja. okay bitte K [v] vilicht gschnäll aalüte. .h öb=s ëh scho ggangnge sind. PRIma! K [ü] mittag vielleicht schnell an ob sie schon gegangen sind prima [17] B [v] herr kathriner no schöne taag (uf) widerhööre widerhööre B [ü] herr kathriner noch einen schönen Tag wiederhören wiederhören K [v] ich danke=ne beschtens danke ëbefalls widerhööre K [ü] ich danke ihnen bestens danke ebenfalls wiederhören Der Beginn des Gesprächs fehlt auf der Aufnahme, da der Berater wie erwähnt den Kunden zuerst um die Aufnahmeerlaubnis bitten musste und dann erst das Tonbandgerät einschalten konnte. Der Kunde äussert als erstes seinen Wunsch, Optionsscheine zu kaufen, und zählt sofort alle für einen Börsenauftrag notwendigen Angaben auf: Firmenname, Valorennummer, Limite 40 und Stückzahl (S 2+3). Das ist eher ungewöhnlich. Normalerweise sagen die Kunden nur, von welcher Firma sie Titel (ver)kaufen wollen und warten dann darauf, dass der Berater sie nach den übrigen Angaben fragt. Der Kunde präsentiert sich mit seinen Instruktionen als erfahrenen Börsianer. Der Berater ratifiziert die Angaben wahlweise mit “ja” oder dem Wiederholen der Zahlen. Dann bittet er um einen Moment Geduld und ruft den gewünschten Titel im System auf, was am Klappern der Tastatur zu hören ist. Dadurch entsteht eine 10-sekündige Pause (S 4). Der Begriff Pause ist in diesem Zusammenhang allerdings fragwürdig, suggeriert er doch, es passiere während dieser Zeit nichts. In Wirklichkeit findet in den sogenannten “Pausen” bei Gesprächen im Call Center oft das <?page no="113"?> Aufgabenschemata und Gesprächsmuster: Empirische Analysen 113 41 Bergmann (1982) benützt den Begriff “Schweigephase”. Das Verb “schweigen” ist insofern passend, als es ausdrückt, dass etwas getan wird - geschwiegen - und dass dieses Schweigen beredt sein kann. (Zum beredten Schweigen ausführlich Meise 1996). Allerdings finde ich es unangemessen, bei den von ihm beschriebenen 0.5 bis 2 Sekunden dauernden Schweigemomenten von Schweige”phasen” zu sprechen. 42 Das bedeutet: Von den potenziellen Käufern gesucht werden die Optionen zu einem Preis von 1 Rappen pro Stück, von den Verkaufenden angeboten werden sie zu 2 Rappen pro Stück. Wesentliche statt, nämlich die Eingabe des Auftrags in den Computer. Bei telefonischen Aufträgen wird das Anliegen des Kunden nicht im und durch das Gespräch allein erfüllt, sondern erst dadurch, dass der Auftrag korrekt aufgegeben wird. Das gesprochene Wort ist nur Teil des Geschehens. Der Begriff “Pause” ist genauso sprachzentristisch wie der bereits kritisierte Begriff “nonverbal”; mangels Alternative werde ich ihn trotzdem weiterverwenden. 41 Mit einer Bestätigung (“j: Awol”) schliesst der Berater seine Suche ab (S 4). Er informiert den Kunden pflichtgemäss über den Kurs, zu dem die Option gegenwärtig gehandelt wird. Dazu benützt er den im Fachjargon üblichen, knappen Ausdruck “gstellt sind=s äis zu zwäi”. 42 Nachdem der Kunde sich so kompetent präsentiert hat, geht der Berater offenbar davon aus, dass dieser den Jargon versteht. Der Kunde beginnt nun laut darüber nachzudenken, welchen Preis er bieten soll. Er berichtet, er habe es mit einem Rappen schon einmal versucht, aber da seien sie “düreglüffe”, will heissen, nicht zu kaufen gewesen (S 6). Schliesslich geht er den Berater direkt um einen Tipp an: “wie isch=s vo Yne uus gsee-“ (S 7). Dieser wehrt ab, von einem entschuldigenden Lachen begleitet, er könne bei Optionen gar nichts sagen. Seine Formulierung, “ich cha eigentlich bi optione gar nüüt säge” (S 7), hinterlässt den Eindruck, er verweigere eine Aussage, weil es ihm persönlich an Kompetenz mangle oder weil das Börsengeschehen als solches unvorhersagbar sei. In Wirklichkeit verbieten ihm die internen Vorschriften, Börsentipps abzugeben. Der Kunde scheint die Absage erwartet zu haben, reagiert er doch mit einem verständnisvollen “ja=a ëbe” (S 8). Um dem Kunden trotzdem eine sachliche Entscheidungshilfe zu geben, teilt der Berater ihm mit, wie viele Optionen bei einem bzw. zwei Rappen bereits auf einen Kauf warten. Darauf entschliesst sich der Kunde, den Kauf bei zwei Rappen zu versuchen (S 8-10). Der Berater gibt den Auftrag nun im System ein. Die dadurch entstehende Pause füllt er teilweise mit leisem Selbstgespräch (S 10). Zum Schluss kündet er an, er werde den Auftrag wiederholen - auch das schreiben die Regeln vor, um Missverständnissen vorzubeugen -, und lässt sich alle Angaben vom Kunden bestätigen: Kauf, Name des Titels, Valorennummer, Stückzahl, Limite, Gültigkeit, Art des Auftrags (S 13-15). Der Kunde ratifiziert den Auftrag mit “tiptop” (S 15). <?page no="114"?> Das Überindividuelle: Aufgaben, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster 114 Natürlich möchte der Kunde erfahren, ob sein Optionskauf diesmal geglückt ist. Die Tatsache, dass er nicht fragt, ob er nochmals anrufen könne (das macht die Mehrheit der KundInnen), sondern ankündigt, er werde anrufen, zeigt erneut, dass ein selbstbewusster Profi am Werk ist. Der Berater, genauso erfahren, weiss, was der Kunde will, noch bevor dieser zu Ende gesprochen hat, und ratifiziert dessen Ansinnen vorzeitig mit “KÄS problem” (S 16). Dann leitet er mit einem sehr hoch gesprochenen “okay? ” selber den Gesprächsabschluss ein und beantwortet das “prima” des Kunden mit einem “bitte”, obwohl der Dank des Kunden erst nachher kommt (S 16+17). Beides entspricht den Konventionen keineswegs, ist aber für diesen Berater typisch. Ich komme in Kapitel 8 darauf zurück. Wie ein Börsenauftrag telefonisch auszuführen ist, das regeln die Bildschirmoberfläche und strenge Vorschriften: Die BeraterInnen müssen die Valorennummer des gewünschten Titels finden, bekannt geben, zu welchem Kurs der Titel momentan gehandelt wird, alle verlangten Angaben im System eingeben (dafür existiert eine eigene Eingabemaske), den Auftrag wiederholen und vom Kunden bestätigen lassen, dann ihr Visum eingeben und den Auftrag in die Handelsabteilung schicken. Daraus ergibt sich das in Abbildung 3 dargestellte Aufgabenschema. Im Schema aufgeführt ist lediglich der Hauptteil des Gesprächs, da die Eröffnung nicht zu rekonstruieren ist und der Abschluss gleich ist wie beim bereits besprochenen Aufgabenschema “kontospezifische Auskunft”. Weggelassen sind ebenfalls die in jedem Gespräch möglichen fakultativen Aufgaben der Behebung von Verständigungsproblemen (vgl. oben). Hinzugefügt wurde eine Reihe fakultativer Aufgaben. So können bei praktisch jeder obligatorischen Aufgabe Fragen des Kunden auftauchen, welche auf Seiten des Beraters Erklärungen der börsentypischen Begriffe oder Gepflogenheiten notwendig machen. Schliesslich stellen einige Kunden nach dem Abschluss des Börsenauftrags zusätzliche Fragen zur Börse, meistens nach dem Kurs einer bestimmten Aktie oder nach dem Stand eines Börsenindex. <?page no="115"?> Aufgabenschemata und Gesprächsmuster: Empirische Analysen 115 43 Das müssten sich vor allem gewisse Kommunikationstrainer und -lehrbücher merken, die ihren Schützlingen weismachen wollen, man könne zu Beginn eines Gesprächs in einer separaten Phase die gute Beziehung herstellen und dann zum Geschäft übergehen. Vgl. Hablützel (2002). Abb. 3: Aufgabenschema “Börsenauftrag” (Hauptteil) KUNDE AGENT Hauptteil Kaufwunsch äussern Anliegen ratifizieren Titel/ Valorennummer angeben Valorennummer eingeben Valorennummer über den Namen suchen Kaufentscheid fällen Kurs bekanntgeben Entscheidungshilfen geben Stückzahl angeben Stückzahl eingeben Limite/ Bestens angeben Limite/ Bestens eingeben erklären, was eine Limite ist Gültigkeit angeben Gültigkeit eingeben erklären, welche Auftragsdauer üblich ist Angaben bestätigen Auftrag wiederholen Auftrag visieren und absenden Nachfrage zur Ausführung Prüfen, ob Auftrag ausgeführt wurde späteres Telefongespräch vereinbaren Weitere Fragen zur Börse stellen Informationen zur Börse erteilen Beziehungspflege Variationen in der Reihenfolge sind praktisch unmöglich, insofern stellt auch dieses Aufgabenschema zugleich das typische Gesprächsmuster dar. Lediglich die Beziehungspflege nimmt keinen bestimmten Platz im Schema ein, sondern ist als sequenzübergreifende Aufgabe zu verstehen. 43 Hingegen können die fakultativen Aufgaben den Charakter kleiner Subdialoge annehmen. Das geschieht vor allem dann, wenn unerfahrene KundInnen anrufen, die weder die Valorennummer noch den genauen Namen der Firma bzw. des Titels wissen, denen man die Funktionsweise von Limite und Gültigkeit erklären muss, die sich nicht entscheiden können, ob und zu welchem Preis sie ihr Angebot machen sollen. Schliesslich gibt es Gespräche, bei denen Berater und Kunde gemeinsam am Telefon auf die Ausführung des Auftrags warten - Zeit für weitere Fragen zur Börse oder für ein bisschen Smalltalk. Der Börsenauftrag stellt ein zentrales Aufgabenschema für die BeraterInnen dar. Es ist so spezifisch auf diese eine Aufgabe zugeschnitten, dass sich verwandte Aufgabenschemata und Gesprächsmuster nicht einmal innerhalb derselben Abteilung finden lassen. <?page no="116"?> Das Überindividuelle: Aufgaben, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster 116 44 A: Ja gut, das sollte man eh nicht machen, in einen Automaten, der eine Karte frisst, eine nachschicken, oder. 5.3.3 Gesprächstyp Problem lösen: Entsperrung Internetzugang Agent: jo guet das sött me EE nöd mache in en automat wo e charte frisst äini nooschicke oder (434). 44 Nach dem Erteilen von Auskünften und dem Entgegennehmen von Aufträgen ist das Lösen von Problemen die dritte zentrale Tätigkeit der Agents in den Call Centern der Schwyzer Bank. Das häufigste, für die Agents meistens relativ einfach zu lösende Problem sind gesperrte Internetzugänge. Das folgende Gespräch illustriert die einfachste Variante dieses Gesprächstyps. Gespräch 663 (ohne Identifikation) Titel Beim Passwort auf Gross- und Dauer 2’35’‘ Kleinschreibung achten Agent weiblich, Zürcher Dialekt Gesprächstyp Problem lösen Kunde männlich, überregionaler Dialekt Resultat Anliegen erfüllt [1] A [v] internet hotline mi namen=isch amrein? grüezi herr kurz A [ü] internet hotline mein name ist amrein grüezi herr kurz K [v] (0.8) da=sch kurz grüezi. ech ha mit/ es K [ü] hier ist kurz grüezi ich habe mit/ ein [2] A [v] (chönnt)/ chömed si e A [ü] (könnte) bekommen sie K [v] problem mit em Ysteeg; is banknet. (1.1) chönd si mer ächt HÄLfe. .hhh K [ü] problem mit dem einstieg ins banknet. können sie mir vielleicht helfen. [3] A [v] FËËlermäldig öber. A [ü] eine fehlermeldung K [v] JO ëh: (ech chöni do ned) aus sicherheitsgründen ist der zugang für diesen K [p] <all > <all K [ü] ja äh (ich könne da nicht) [4] A [v] okay, chönd si mir bitte iri vertragsnummere gëë A [ü] okay können sie mir bitte ihre vertragsnummer geben K [v] benutzer gesperrt. (hehem) äis drüezwänzg vier sächsefüfzg K [p] > <p > K [ü] 1 23 4 56 <?page no="117"?> Aufgabenschemata und Gesprächsmuster: Empirische Analysen 117 [5] A [v] (0.7) m=Hm, (4.2) hh nur moMÄNT bitte? (15.7) [HALTEN] chönd=s mer zur identifikaTION A [ü] m=hm nur (einen) moment bitte können sie mir zur identifikation K [v] ja- K [ü] ja [6] A [v] bitte de KONtostand oder e kontobeWEgig aagëë. [45 Sekunden Identifikation] also tun=i A [ü] bitte den kontostand oder eine kontobewegung angeben also ich [7] A [v] grad schnell i de vertrag INEluege, (5.6) es hät drü FALSCHygaabe ggëë (b)im PASSwort. A [ü] schaue gleich schnell in den vertrag, es hat 3 falscheingaben gegeben (be)im passwort K [v] (2.2) aha. K [p] <p > K [ü] aha [8] A [v] (ich) kenn s passwort NED, es MUES aber sibe oder acht stele haa, (1.6) u: : nd A [ü] (ich) kenne das passwort nicht, es muss aber 7 oder 8 stellen haben und K [v] (1.6) jo das het=s jo. K [ü] ja das hat es ja [9] A [v] TÜND si sich uf d gross und CHLYschrybig achte. vilicht händ (xxxxxxxxxx) A [ü] achten sie auf die gross- und kleinschreibung vielleicht haben (xxx) K [v] a: HA! (1.4) han=i scho lang nümm K [p] <f > K [ü] aha habe ich schon lange nicht mehr [10] A [v] (0.6) aso ich chan si entSPERre oder ich cha natürlich au es nöis passwort schicke. A [ü] also ich kann sie entsperren oder ich kann natürlich auch ein neues passwort schicken K [v] GMACHT ëbe. K [ü] gemacht eben [11] A [v] (wänn si lieber wänd). s gaat MORN use- Aposcht ygschribe. A [ü] (wenn sie lieber wollen) es geht morgen raus a-post eingeschrieben K [v] jo aber das goot es zytli. oder, ja guet näi das isch ëbe K [ü] ja aber das geht eine weile, oder ja gut nein das ist eben [12] K [v] e dringen/ endi sach= jetz mues ech luege (dass ich) wie mängisch chan=ech im ganze no K [p] <p, für sich > K [ü] eine dringe/ ende sache jetzt muss ich schauen dass ich wie oft kann ich es im ganzen noch <?page no="118"?> Das Überindividuelle: Aufgaben, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster 118 45 Sowohl die KundInnen als auch die Agents lesen alles, was auf dem Bildschirm erscheint, in der Standardsprache ab, sowohl ganze Sätze wie auch einzelne Befehle oder Menüpunkte. Man sagt zum Beispiel “einfügen”, nicht “yfüege”. Dieses Codeswitching zwischen Dialekt und Standardsprache macht Zitate vom Bildschirm und Befehle ohne weitere Kontextualisierungshinweise leicht erkennbar und vereinfacht die Kommunikation gerade in der Hotline sehr. [13] A [v] (0.5) äh WIder drü mal; ich tu si jetz wider uf null setze mit de falschygaabe. A [p] <all > A [ü] äh wieder drei mal ich setze sie jetzt wieder auf null mit den falscheingaben K [v] versueche? (1.1) K [ü] versuchen? [14] A [v] (3.2) si chönd süsch grad jetz probiere- A [ü] sie können sonst gleich jetzt probieren K [v] (mol) jetz sött=s aber goo ((stöhnt)) (3.2) jo=ech bi K [ü] (doch) jetzt sollte es aber gehen ja ich bin [15] A [v] jetz isch ggangnge, GEnau. A [ü] jetzt ist (es) gegangen genau K [v] draa, näi, jetz isch ggangnge. seer guet, (.) .hhh tja (ein) (xxxxxxx) K [p] <fragend > K [ü] daran nein jetzt ist (es) gegangen sehr gut, tja (ein) (xxxxxxx) [16] A [v] JAwol hehe danken=yne A [p] <<lachend > A [ü] jawohl danke ihnen K [v] (oder) klein gross schreibung das isch: : : (xxxxxxxx) s problem; ECH danken=yne; K [ü] (oder) klein gross schreibung das ist (xxxxxxx) das problem ich danke ihnen [17] A [v] (xxxxxxxx) ade herr kurz A [ü] (xxxxxxxx) ade herr kurz K [v] (uf) widerhööre merci K [ü] (auf) wiederhören danke Nach der üblichen Gesprächseröffnung (S 1) trägt der Kunde sein Anliegen vor, welches er von Anfang an explizit als Problem definiert. Er umreisst selbiges vage (“es problem mit em Ysteeg”) und fragt die Agentin, ob sie ihm helfen könne (S 2). Um das Problem genauer erfassen zu können, fragt die Agentin, ob er eine Fehlermeldung erhalte. Der Kunde bestätigt dies und liest selbige wörtlich vor (S 3). 45 Die Art der Fehlermeldung (Zugang gesperrt) ist für die Agentin ein klares Indiz, dass es sich weder um ein Servernoch um ein Leitungsproblem oder um einen Programmfehler handelt, <?page no="119"?> Aufgabenschemata und Gesprächsmuster: Empirische Analysen 119 46 Anzufügen ist, dass die Agentin in dieser Gesprächsphase mit zwei Systemen und zwei Bildschirmen arbeitet: Im einen System ruft sie den Internetbanking Vertrag des Kunden mit Hilfe der Vertragsnummer auf. Dort sieht sie, welche Aktionen der Kunde im Internet getätigt hat, und kann gegebenenfalls die Sperrung aufheben. Im anderen System ruft sie die gewöhnlichen Kundendaten mit Hilfe der Kontonummer auf. Dort sieht sie die Konti, die Saldi, die Ein- und Ausgänge, die Daueraufträge, Vollmachten, kurz, alle Angaben, die sie zur Identifikation des Kunden braucht. Was die Agentin nicht sehen kann, ist die Bildschirmoberfläche, wie sie sich dem Kunden präsentiert. Sie kann nur die leere Internetbanking Seite anwählen, um bei der Navigation zu helfen, sieht aber die Kundendaten nicht. Das ist bei gewissen Problemlösungsgesprächen ein entscheidender Nachteil. sondern um den Standardfall der fehlerhaften Anmeldung durch den Kunden. Nach ihrem ratifizierenden “okay” leitet sie daher auch das Standardprozedere ein: den Vertrag aufrufen, den Kunden identifizieren, nachschauen, welche falschen Eingaben er getätigt hat, und schliesslich die Sperrung aufheben, damit er erneut versuchen kann, sich anzumelden. Die Agentin fragt nach der Vertragsnummer und tippt diese ein (S 4+5). Warum es anschliessend zu einer über 15 Sekunden dauernden Pause kommt (S 5), während der der Kunde auf Halten gestellt wird, ist nicht zu erkennen, da sie selber keine Erklärung gibt. Vielleicht schaltet das System langsam, vielleicht studiert sie die Kundendaten, man erfährt es nicht. Sie meldet sich direkt für die Identifikation zurück. 46 Sie kündet die Identifikation knapp an (S 5) und fragt dann nach dem Kontostand oder einer Kontobewegung (S 6), nach den Vollmachten auf dem Konto und danach, ob die Bevollmächtigten über ein Einzel- oder Kollektivvisum verfügen (im Transkript ausgelassen). Danach kündet sie an, sie werde “i de vertrag ineluege” (S 7), der Insiderausdruck für das Prüfen der vom System gespeicherten Kundenaktivitäten. Nach einer weiteren Pause von 5.6 Sekunden erklärt sie, es sei drei Mal das falsche Passwort eingegeben worden. Das bewirkt die automatische Sperrung des Zugangs. Der Kunde antwortet nur mit einem leisen, etwas ratlos klingenden “aha” (S 7). Die Agentin fährt in ihren Abklärungen fort: Das Passwort müsse sieben oder acht Stellen haben (S 8) - das wird vom Kunden bestätigt - und er solle auf die Gross- und Kleinschreibung achten (S 9). Das Vorgehen der Agentin ist an dieser Stelle weder völlig willkürlich noch durch irgendwelche institutionellen Vorgaben gesteuert. Vielmehr lassen sich die Agents bei ihrer Suche nach der Problemursache von einer Art “Wahrscheinlichkeitstabelle” im Kopf leiten, indem sie zuerst jene Problemursachen und Fehler prüfen (bzw. vom Kunden prüfen lassen), die ihrer Erfahrung nach am häufigsten vorkommen. Erst bei bleibendem Misserfolg gehen sie auf die Suche nach spezifischeren Problemursachen. Diese Wahrscheinlichkeitstabelle scheint allerdings nicht nur auf der Erfahrung, sondern auch auf abteilungsinternen Mythen bzw. Fragetraditionen zu beruhen. So fragten die Agents bei Bancomatproblemen zum Beispiel immer zuerst, ob die Monatslimite ausgeschöpft sei, aber in den von mir unter- <?page no="120"?> Das Überindividuelle: Aufgaben, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster 120 47 Zum Begriff Image vgl. Holly (1979), der sich seinerseits auf Goffman (1955) beruft. suchten 13 Fällen war die Monatslimite kein einziges Mal der Grund, warum kein Geld herauskam … Im Beispielgespräch hingegen hat die Agentin Glück, der Kunde bestätigt mit einem lauten “aHA! ”, dass die Gross- und Kleinschreibung die Problemursache sein könnte und entschuldigt sich für seinen Fehler sofort mit der Bemerkung, er habe das eben schon lange nicht mehr gemacht (S 9). Somit ist die Ursache gefunden, die Agentin geht zur Problemlösung über, indem sie zwei Vorschläge macht: Sie kann entweder den Kunden entsperren oder ihm ein neues Passwort schicken (S 10). Der zweite Vorschlag wird vom Kunden abgelehnt, weil zu lange dauernd (S 11), dafür macht er sich daran, den ersten Vorschlag sogleich umzusetzen. Damit tritt die interessante, in der Hotline häufig zu beobachtende Konstellation ein, dass nicht nur der Agent, sondern auch der Kunde während des Gesprächs am Computer arbeitet. Die zeitliche Koordination der beiderseitigen Tätigkeiten ist nicht ganz einfach: Die Agentin muss sich beeilen, den Kunden zu entsperren, bevor dieser ein weiteres Mal versucht sich anzumelden (daher ihr rasches Sprechen in System 13), sieht und hört dann aber nicht, ob er es auch wirklich versucht. Daher fordert sie ihn auf, es gleich zu probieren (S 14) - unnötigerweise, wie seine Antwort zeigt: “jo=ech bi draa” (S 14). Schliesslich sieht sie in ihrem System früher als der Kunde, dass die Anmeldung geklappt hat (“jetz isch ggangnge”, S 15), sodass sein Echo etwas unsicher ausfällt (fragend: “jetz isch ggangnge”, S 15). Diese kleinen Koordinationsschwierigkeiten habe ich in vielen Gesprächen beobachten können. Ein erleichtertes “seer guet” des Kunden schliesst den auf das eigentliche Anliegen bezogenen Teil des Gesprächs ab (S 15). Doch wie die meisten Kunden, die einen Fehler gemacht haben, hat auch dieser das Bedürfnis, das Geschehene interaktiv zu verarbeiten und sein angeschlagenes Image wieder herzustellen. 47 Sein ‘tja, es war die Gross- und Kleinschreibung’ (S 16) interpretiere ich als: ‘Ich gebe zu, dass ich einen dummen Fehler gemacht habe, aber jetzt habe ich es wenigstens begriffen’, in der Terminologie von Holly eine Entschuldigung durch Berufung auf Mangel an Vorwissen (Holly 1979: 72). Die lachende Bestätigung durch die Agentin (S 16) ratifiziert seine Aussage als gelungene Image-Reparatur. Mit seinem Dank leitet der Kunde den Gesprächsabschluss ein (S 16), der dem bekannten Muster folgt. Das Aufgabenschema “Entsperrung Internetzugang” kann aus den aufgezeichneten Gesprächen leicht abgeleitet werden, folgt es doch dem bekannten Problemlösungsbzw. Beratungsschema, wie es Schank für Kurzberatungen (Schank 1979) und Brünner und Cube für die telefonische Beratung bei Computerproblemen (Brünner 1997, Cube 1997) entwickelt haben. Allerdings ist zu ergänzen, dass so kurze und reibungslose Problemlösungsgespräche wie das eben analysierte eher die Ausnahme sind. Oft dauert es <?page no="121"?> Aufgabenschemata und Gesprächsmuster: Empirische Analysen 121 erheblich länger, bis das Problem genau definiert werden kann, bis die wahre Ursache gefunden ist, bis Lösungen erarbeitet und umgesetzt sind. Manchmal finden die Agents nach dem Prinzip Trial and Error eine Lösung, ohne dass die Problemursache je geklärt worden wäre, manchmal müssen die KundInnen Änderungen an den Computerinstallationen vornehmen, was sehr komplexe mündliche Instruktionen nötig macht. Im Extremfall kann das Problem während des Telefonats gar nicht behoben werden, sondern muss zur internen Abklärung aufgenommen werden. In Abbildung 4 ist das Aufgabenschema “Entsperrung Internetzugang” dargestellt. Weggelassen sind wiederum Gesprächseröffnung und Gesprächsabschluss sowie die Identifikation des Kunden. Abb. 4: Aufgabenschema “Entsperrung Internetzugang” (Hauptteil) KUNDE AGENT Hauptteil Problem benennen Anliegen ratifizieren Bitte um Hilfe/ Klärung Problem spezifizieren Hergang schildern Fragen nach Hergang Status quo spezifizieren und Status quo stellen Problemursache finden Ursachen-Hypothesen kommentieren Ursachen-Hypothesen aufstellen Probemanipulationen ausführen Instruktionen für und Rückmeldungen geben Probemanipulationen geben Ursache anerkennen wahrscheinlichste Ursache bestimmen Lösung erarbeiten Lösungsvorschläge bewerten Lösungsvorschläge entwickeln Lösung durchführen Instruktionen ausführen Instruktionen erteilen Rückmeldung geben Erfolg prüfen Alternativen ausprobieren alternative Instruktionen erteilen Problem für gelöst erklären Erfolg ratifizieren Problem für nicht gelöst erklären Problem zur internen Abklärung aufnehmen Image-Reparaturen initiieren Image-Reparaturen ratifizieren Die Reihenfolge, in welcher die Aufgaben bearbeitet werden, ist beim Gesprächstyp Problem lösen ziemlich variabel. Typisch ist ausserdem, dass die einzelnen Aufgaben mehrfach bearbeitet werden können, vor allem das Aufstellen von Ursachen-Hypothesen und die Durchführung von Probema- <?page no="122"?> Das Überindividuelle: Aufgaben, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster 122 48 Verdammt mühsam. nipulationen. Wesentlich scheint mir ferner, dass die Aufgaben weniger eindeutig auf Agent und Kunde verteilt sind als bei den zuvor geschilderten Gesprächstypen. Die KundInnen stellen ebenfalls Fragen, äussern Ursachen- Hypothesen oder führen von sich aus Probemanipulationen durch, die näher an die Problemursache heranführen, und sie bringen genauso Lösungsvorschläge ein wie die Agents. Daher sind die entsprechenden Aufgaben im obigen Aufgabenschema zwischen beiden Gesprächspartnern aufgeführt und nicht einem der beiden zugeteilt. Ähnliche Aufgabenschemata kommen ausser bei gesperrten Internetzugängen dann zur Anwendung, wenn der Datentransfer von und zur Bank nicht funktioniert oder wenn Probleme mit dem Bancomaten auftauchen. Gespräche, in denen Probleme zu lösen sind, dürfen nicht mit Reklamationsgesprächen verwechselt werden, bei welchen die Sache oft klar ist (und insofern kein Problem darstellt), sodass - abgesehen vom Bemühen um Wiedergutmachung - weniger die Suche nach den Ursachen als vielmehr Schuld- und Imagefragen im Zentrum des Gesprächs stehen. Reklamationsgespräche folgen einem etwas anderen Aufgabenschema als Problemlösungsgespräche. Einen interessanten Spezialfall stellen jene Gespräche dar, die als Problemlösungsgespräch beginnen und in einer Reklamation enden. Das geschieht dann, wenn sich herausstellt, dass die Bank schuld am Problem des Kunden ist und dafür weder eine Erklärung noch eine Entschädigung bieten kann, wenn zum Beispiel aus unerfindlichen Gründen der Server tot ist oder kein Geld aus dem Bancomat kommt. Das finden die Kunden “huere müesam” (434). 48 5.4 Zusammenfassung Die funktional-pragmatische Diskursanalyse fasst Gespräche als koordinierte, zielorientierte Handlung mindestens zweier Interaktionspartner auf. Im institutionellen Umfeld sind der Zweck und, davon abhängig, Inhalt und Ablauf der Gespräche weitgehend vorgegeben. Institutionelle Gespräche lassen sich als Aufgabenschemata konzeptualisieren, als Bündel obligatorischer und fakultativer kommunikativer Aufgaben, welche von den Interaktionspartnern gemeinsam bearbeitet werden müssen. Die Repetitivität der auszuführenden Aufgaben schlägt sich in Handlungsmustern nieder, die den Interagierenden als kommunikative Ressource zur Verfügung stehen und ihnen ein routinehaftes Vorgehen erlauben. Ein Handlungsmuster ist die konventionelle Form der Durchführung einer kommunikativen Aufgabe, während ein Gesprächsmuster die konventionelle Form der Durchführung eines kompletten Aufgabenschemas darstellt. In den meisten Institutionen <?page no="123"?> Zusammenfassung 123 steht dieses Musterwissen allerdings nur den Agenten vollständig zur Verfügung, was zu systematischen Asymmetrien zwischen den Interagierenden führt. Gesprächsmuster repräsentieren die Tiefenstruktur eines Gesprächstyps, welche an der Oberfläche in unterschiedlicher Durchführung erscheinen kann. Das Gesprächsmuster und die Varianten seiner Durchführung durch den Vergleich und die abstrahierende Analyse mehrerer Gespräche desselben Typs zu finden, ist Ziel funktional-pragmatischer Diskursanalyse. Konsens herrscht darüber, dass die einzelnen Äusserungen und Äusserungssequenzen unabhängig von ihrer Form in ihrer Funktion für die anstehende Aufgabe zu beschreiben sind. Umstritten ist hingegen, inwieweit bei der Analyse auf die (in der Regel nur hypothetisch zu erfassenden) Intentionen und mentalen Prozesse der Beteiligten zurückgegriffen werden darf und muss. Ich vertrete die Ansicht, dass bestimmte kommunikative Verhaltensweisen, zum Beispiel Formen strategischer Interaktion, nur durch den Rückgriff auf die Intentionen der Beteiligten verstanden werden können. Die inhaltliche Analyse meines Korpus zeigt, dass die Agents in den Call Centern der Schwyzer Bank mit verschiedensten Kundenanliegen konfrontiert sind. Diese lassen sich in fünf Gesprächstypen zusammenfassen, denen unterschiedliche kommunikative Aktivitäten zu Grunde liegen. Die häufigsten Aktivitäten sind das Entgegennehmen von Aufträgen (33% der Anrufe) und das Erteilen von Auskünften (30%), gefolgt vom Problemlösen (21%), dem Weiterverbinden (12%) und dem Beraten (4%). Je nach Abteilung liegt der Schwerpunkt der Aktivitäten anders, was sich auf die durchschnittliche Dauer der geführten Gespräche auswirkt. Das Weiterverbinden dauert weniger als eine Minute, Auskünfte und einfache Aufträge können in zwei bis vier Minuten erledigt werden, während komplexere Aufträge und vor allem die Problemlösungen bis zu einer Viertelstunde dauern können und oftmals weitere mündliche und schriftliche Kontakte nach sich ziehen. Schliesslich habe ich für drei zentrale Kundenanliegen das zu Grunde liegende Aufgabenschema anhand von Beispielen erarbeitet: für das Erteilen kontospezifischer Auskünfte, für den Börsenauftrag und für die Entsperrung des Internetzugangs. Die drei Aufgabenschemata folgen in ihren Grundzügen dem bereits bekannten Gesprächsmuster Telefongespräch mit seinen zwei stark konventionalisierten Teilen Eröffnung und Abschluss und dem thematisch freieren Hauptteil, der durch die Präsentation des Anliegens durch den Anrufer eingeleitet und durch seine Bestätigung, dass sein Anliegen erfüllt ist, abgeschlossen wird. Daneben weisen die Aufgabenschemata spezifische Eigenschaften auf, die zurückzuführen sind auf die Institutionalität der Gespräche (zum Beispiel das Fehlen von Wohlergehensfragen), auf die Branche (die Kundenidentifikation), auf das konkrete Anliegen (die Frage nach der Kontonummer) oder auf die betrieblichen Vorschriften (die Begrüssungsformel). <?page no="124"?> Das Überindividuelle: Aufgaben, Aufgabenschemata und Gesprächsmuster 124 Damit sind die Grundlagen für die Analyse sprachlicher Individualität in institutionellen Gesprächen geschaffen. Bekannt sind das institutionelle Umfeld der Call Center der Schwyzer Bank (Abschnitt 3.2), die Gesprächskonstellationen im untersuchten Korpus (Kapitel 4), die zu leistenden Aufgaben (Abschnitt 5.2) und die zentralen Aufgabenschemata und Gesprächsmuster (Abschnitt 5.3). Ich kann mich nun der Frage zuwenden, in welcher Form sprachliche Individualität im geschilderten institutionellen Umfeld und angesichts der gegebenen Aufgabenschemata und Gesprächsmuster möglich ist und gelebt wird. Im ersten, gleich anschliessenden Kapitel wird Individualität als stilistische Variation einzelner Handlungsmuster beschrieben. <?page no="125"?> 6 Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern Die zwei folgenden Kapitel dienen dazu, sprachliche Individualität in der Form individueller sprachlicher Variation zu beschreiben, zuerst auf der stilistischen, dann auf der rhetorischen Ebene. Es geht darum, das Spektrum der möglichen bzw. der tatsächlich realisierten sprachlichen Verhaltensweisen in einer institutionell gegebenen Situation aufzuzeigen. Die Unterschiede im sprachlichen Verhalten zwischen den Individuen bei der Durchführung institutioneller Aufgabenschemata und Gesprächsmuster deute ich als Ausdruck von Individualität. Im vorliegenden Kapitel untersuche ich ausgewählte Handlungsmuster im Hinblick darauf, wie sie von verschiedenen Individuen in konkreten Interaktionen realisiert werden. Damit wird der Forschungsprozess umgedreht bzw. der hermeneutische Zirkel geschlossen: Jene individuellen Variationen der Handlungsdurchführung, von denen im vorangehenden Kapitel abstrahiert wurde, um die allen Gesprächen zu Grunde liegenden Handlungs- und Gesprächsmuster zu eruieren, werden wieder sichtbar gemacht und als individuelle Realisierungen ebendieser Muster gedeutet. Mit der unterschiedlichen Realisierung einzelner sprachlicher Handlungen und ganzer Handlungsmuster beschäftigt sich vor allem die linguistische Stilforschung. Der Stilbegriff ist daher geeignet, individuelle sprachliche Variation bei der Realisierung institutioneller Handlungsmuster zu beschreiben. Die Art und Weise, wie jemand eine sprachliche Handlung durchführt, kann als Stilisierung bezeichnet werden, die unterschiedliche Durchführung verschiedener Individuen als stilistische Variation einer sprachlichen Handlung oder eines Handlungsmusters. Die rekurrente Verwendung bestimmter Stilmerkmale durch ein Individuum über mehrere Handlungsmuster oder Gespräche hinweg führt zur Ausbildung eines individuellen Stils. Da über den Stilbegriff in der Linguistik alles andere Konsens herrscht, lege ich im ersten Teil dieses Kapitels dar, was ich unter “Stilisierung”, “stilistischer Variation” und “individuellem Stil” verstehe. Dabei stütze ich mich auf zwei existierende Konzepte von Stil, auf das funktionale/ interaktionale Stilkonzept (Abschnitt 6.1.1) und auf das sozio-kommunikative Stilkonzept (Abschnitt 6.1.2). Im zweiten Teil dieses Kapitels analysiere ich ausgewählte Handlungsmuster aus den aufgezeichneten Call Center Gesprächen und stelle sämtliche stilistischen Varianten der Durchführung vor, die empirisch vorliegen. Die stilistische Variation bildet die Basis für die Gestaltung der institutionellen Handlungsmuster nach individuellen Präferenzen und damit für die Ausbildung eines individuellen Stils. <?page no="126"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 126 1 In Anlehnung an Hess-Lüttich (1980a) verwende ich anstatt des vorbelasteten Begriffs Stilistik den hoffentlich konsensfähigen Begriff Stilforschung. 6.1 Variation und Stil: Linguistische Konzepte Dennoch drücke ich Ihnen im Geist die Hand für diese Antwort, auch wenn sie unhaltbar ist, und zwar für den Ton nicht weniger als für den Inhalt. Sie sprachen offen und aufrichtig, so etwas findet man nicht oft. … Von dreitausend unerfahrenen Erzieherinnen hätten mir keine drei so geantwortet wie Sie. (Charlotte Brontë: Jane Eyre) Wie andere aus der Alltagssprache in die Wissenschaft übernommene Begriffe ist der Stilbegriff bis heute ebenso schillernd wie unentbehrlich geblieben. In seiner allgemeinsten Form bezeichnet Stil die Art und Weise, wie etwas gesagt (oder getan) wird. Im Alltagsverständnis, aber auch in Stilfibeln und Rhetoriklehrbüchern, ist Stil ferner durch die folgenden drei Merkmale gekennzeichnet: 1. Der Stil wird einer Aussage rein äusserlich hinzugefügt, so wie ein bunter Lampenschirm über eine Glühbirne gestülpt wird. Er beeinflusst die Aussage inhaltlich nicht, er ist austauschbar, “Ornatus”. 2. Stil hat beschreibenden und bewertenden Charakter. Stile werden als adäquat oder nicht adäquat, als anschaulich, abstrakt, blumig, langweilig, trocken usw. bezeichnet, in letzter Instanz ist der Stil jeweils “gut” oder “schlecht”. 3. Zwischen Äusserung und sprechender Person wird kaum unterschieden. So wie eine Person spricht und schreibt, “ist” sie: elegant, höflich, ungehobelt usw. Demzufolge kann eine Person auch gar keinen Stil haben. Davon hebt sich der linguistische Stilbegriff ab. In der linguistischen Stilforschung, 1 egal welcher Provenienz, wird Stil nicht als austauschbarer Ornatus, sondern als konstitutiver Bestandteil einer Äusserung verstanden. Stil ist kein normativer, sondern ein deskriptiver Begriff. Und der Stil einer Äusserung wird nicht mit den Eigenschaften der sprechenden Person gleichgesetzt. Darüber hinaus teilen die verschiedenen Forschungsrichtungen wenigstens drei Auffassungen in Bezug auf Stil: 1. Stil betrifft die Art und Weise des Gesagten, die Formulierung, die Darstellung, das WIE einer Äusserung im Gegensatz zum Inhalt, zum WAS. Dabei sind Wechselwirkungen zwischen WIE und WAS, zwischen Stil und Inhalt, nicht auszuschliessen. 2. Stil beruht auf Wahl und setzt damit Formulierungsalternativen, das heisst stilistische Variation, voraus. Stil ist ein relationales, auf dem Vergleich beruhendes Konzept. <?page no="127"?> Variation und Stil: Linguistische Konzepte 127 2 Einen Überblick über die Stilforschung, mit Schwergewicht auf der Literaturwissenschaft, bietet Sowinski (1999). Einen knappen Überblick über die verschiedenen linguistischen Stilschulen bieten Fix/ Poethe/ Yos (2001). Aktuelle Tendenzen der linguistischen Stilforschung beschreiben Sandig (1995) und Jakobs/ Rothkegel (2001). 3 Zur Illustration ein Zitat aus Schefe (1981), der den Stil medizinischer und literaturwissenschaftlicher Texte vergleicht: “Dem Literaturwissenschaftler geht es um die Bewältigung einer komplexen Anschauung, zu der emotionale, schwer rationalisierbare, wesentlich subjektive Momente gehören. […] Es verwundert daher nicht, dass er keine objekti- 3. Stil ist ein holistisches Konzept. Stil wirkt als Ganzes, lässt sich analytisch jedoch trennen in verschiedene Stilmittel wie Prosodie, Wortwahl, Syntax usw., die einzeln beschrieben werden können. Abgesehen von diesen drei Auffassungen unterscheiden sich die verschiedenen stilistischen Forschungsrichtungen in ihren theoretischen Prämissen, Zielen und Methoden grundlegend. Die Klage, dass sich die Stilisten nur in einer Frage einig sind, nämlich “darüber, dass im Falle des Stils keine Einigkeit besteht” (Sanders 2003: 270), ist unterdessen zum Topos geworden. Aus der Fülle der vorliegenden Stilkonzepte greife ich zwei heraus, die genuin gesprächsanalytischen Ursprungs sind oder sich mindestens gesprächsanalytischer Methoden bedienen und sich daher zur Beschreibung der stilistischen Variation institutioneller Handlungsmuster eignen: das auf Sandig zurückgehende funktionale/ interaktionale Stilkonzept und das auf Kallmeyer zurückgehende sozio-kommunikative Stilkonzept. 2 6.1.1 Das funktionale/ interaktionale Konzept von Stil Die linguistische Stilforschung war wie die meisten linguistischen Forschungsrichtungen lange Zeit dem strukturalistischen Paradigma verpflichtet. Textlinguistische Stiluntersuchungen zielten darauf ab, den Stil einzelner Gebrauchstextsorten wie zum Beispiel Zeitungsartikel oder Gesetzestexte zu beschreiben oder den für einzelne Gesellschaftsbereiche typischen Stil wie “Amtssprache” oder “Journalistendeutsch” zu beschreiben. Methodisch stand die Untersuchung klassischer strukturlinguistischer Kategorien im Vordergrund: Vorkommen und Häufigkeit bestimmter Wortarten (zum Beispiel Adjektive), Wortformen (Verben im Passiv) und Wortbildungen (Nominalisierungen, Komposita), das Lexikon (vor allem Fachvokabular), Satzbauformen (Paraversus Hypotaxen) und Satzlängen (Anzahl Wörter). Diese Untersuchungen wurden zum Teil quantitativ durchgeführt (Pieper 1982). Mit solchen quantitativen, computergestützten Stilanalysen wurden teilweise zuverlässige Ergebnisse bezüglich Autorschaft erzielt (Esser 1990). Die Schwäche mancher textlinguistischer Stiluntersuchungen bestand darin, dass sie beim akribischen Beschreiben letztlich grammatischer Texteigenschaften stehen blieben, dafür aber keine oder höchstens spekulative Deutungen anzubieten hatten. 3 Sie verharrten vor stilistischen Phänomenen, die <?page no="128"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 128 vierbaren fachsprachlichen Termini […] benutzt. Die Satzform ist weitgehend emotionalrhythmisch geprägt…” (S. 366). Die aus einem einzigen Aufsatz abgeleitete Einschätzung, Literaturwissenschaftler würden keine objektivierbaren Termini benutzen und ihre Syntax sei emotional-rhythmisch geprägt, stellt nicht nur eine sehr spekulative Deutung dar, sondern auch eine unzulässige Verallgemeinerung. 4 Sandig bezeichnet ihr Vorgehen selber als ethnomethodologisch (ebd.: 14). Ihre Analysen sind jedoch aus der Beobachterperspektive formuliert, basieren auf dem Verständnis des kompetenten Sprachteilhabers und zielen nicht auf die Rekonstruktion der Teilnehmerperspektive (das wird erst Selting tun). Ich würde ihr Vorgehen daher pragmatisch nennen. 5 Sowinski weist zu Recht auf “die Gefahr eines pragmatisch-stilistischen Verständniszirkels” hin, indem über die Formulierung die Handlung erschlossen wird, “dann aber die Formulierung als Beweis für die Art der Handlung bzw. die pragmatische Funktion des Stils […] verwendet wird. (Sowinski 1999: 46f). Wie bei jedem hermeneutischen Prozess sind jedoch bei der Interpretation von Stilwirkungen Zirkelschlüsse nie vollständig zu vermeiden. weder in ihrer Sinnhaftigkeit noch in ihrer Wirkung erfasst wurden. Selbst Riesels sogenannte Funktionalstilistik mit ihrer Einteilung der Sprache in fünf funktionale Stile (öffentliche Rede, Wissenschaft, Presse/ Publizistik, Alltagsrede, schöne Literatur) (Riesel 1973: 50) ist noch weitgehend einer strukturalistischen Sprachbeschreibung verpflichtet. Erst Sandig hat mit ihrer bekannten “Stilistik der deutschen Sprache” (1986) die Stilforschung auf eine konsequent pragmatische Basis gestellt. 4 Sie fragt, dem pragmatischen Paradigma gemäss, welche kommunikativen Funktionen, welche Bedeutung Stil für die Sprachbenutzer in konkreten Interaktionssituationen hat. Die Grundfunktion von Stil besteht für Sandig darin, eine sprachliche Handlung auf die konkrete Situation zuzuschneiden. “Dabei wird die Handlung in grundsätzlich variabler Weise mit typischem stilistischem Sinn angereichert; sie entfaltet auch, […], typische Wirkungen, die die Handlung unterstützen und/ oder mit Nebenwirkungen anreichern können.” (ebd.: 156). Jemand kann zum Beispiel eine Begrüssung betont formell durchführen. Diese Formalität verleiht der Begrüssung einen zusätzlichen stilistischen Sinn (Förmlichkeit) und erzeugt beim Rezipienten eine bestimmte Wirkung, die je nach Situation unterschiedlich ausfallen kann (Eindruck von Respekt, Distanziertheit, Verulkung). Stilistischer Sinn entsteht nur vor dem Hintergrund einer bestimmten Situation, der in ihr erwartbaren kommunikativen Muster und dem Wissen um die konventionelle Durchführung dieser Muster. “Stil ist relational! ” (Sandig 2001). Stil wirkt auf allen Ebenen der Kommunikation, auf der Ebene der Situations-, Beziehungs- und Themenkonstitution (was tun wir gerade, worüber reden wir, wie stehen wir zueinander in Relation zum Erwartbaren), er generiert Interaktionsmodalitäten wie Ernst und Scherz und vermittelt Einstellungen wie Sympathie oder Ablehnung (Sandig 1986: 123). 5 Stilwirkungen erzeugen und erfassen zu können ist eine Frage der stilistischen Kompetenz, die ein Teil der kommunikativen Kompetenz darstellt (ebd.: 145). Sandig fasst ihr Konzept des funktionalen Stils wie folgt zusammen: <?page no="129"?> Variation und Stil: Linguistische Konzepte 129 6 Damit nähert sich Sandig der älteren Auffassung von Individualstil von Lakoff an. Lakoff (1979) definiert “coherency” und “consistency”, das heisst das rekurrente und einheitliche Auftreten bestimmter sprachlicher Verhaltensweisen, als die wesentlichen Attribute des sogenannten “personal style” und fügt an: “I assume that personal style may, as a result of the vicissitudes of life, through conscious motivation or otherwise, change in several of its salient aspects over time, but typically rather slowly and not too radically. I leave open here the question of how much style - or character, or personality - may really change.” (S. 54). Lakoff ist eine der wenigen Forschenden, die einen direkten Zusammenhang zwischen dem Charakter einer Person und ihrem Stil postulieren. 7 Hier nimmt Sandig eine meines Erachtens unzulässige Vermischung von Individualität und Individualismus vor. Sprachlicher Stil ist die für die Beteiligten sinn-volle (sic! ) und Wirkungen auslösende Art der Durchführung konkreter Handlungen mittels Texten/ Äusserungen in Situationen, bezogen auf das (nicht notwendig bewusste) Wissen der Beteiligten über Situationstypen, Gesprächsmuster, Text- und Wissensmuster, Typen stilistischen Sinns und stilistischer Wirkung, stilistische Strukturtypen und -prinzipien, Stiltechniken, Stilinventare und Stilmuster. (ebd.: 157). Eine Funktion von Stil besteht nach Sandig in der Selbstdarstellung des Sprechers, und hier hat in ihrem Konzept auch der Begriff Individualstil seinen Platz. Sandig unterscheidet zwei Fälle von Individualstil: Individualstil kann die Art bezeichnen, sich sprachlich auszudrücken, welche für ein Individuum charakteristisch ist. Ein individueller Stil kann aber auch ad hoc entstehen, um die eigene Position im konkreten Fall zu unterstreichen. Das Erkennen des individuellen Stils setzt im ersten Fall Lektüreerfahrung bzw. eine gemeinsame kommunikative Geschichte mit dem Sprechenden voraus, im zweiten Fall die Kenntnis des in der Situation konventionell Erwartbaren (ebd.: 214f). Individualität setzt Mustervariation voraus, aber nicht jede Mustervariation ist ein Zeichen von Individualität. “Individuelle Variation bei der Verwendung intersubjektiv vorgegebener Einheiten der Sprache wird hier nur dann als ‘individuell’ aufgefasst, wenn diese von den Beteiligten auch als ‘individuell’ erkannt werden kann oder wird.” Wenn diese Musterveränderungen bei einem Individuum erwartbar geworden sind, kann von Individualstil gesprochen werden (ebd.: 216). Individuelle Variation dient der Selbstdarstellung, wobei diese intentional und kontrolliert oder unbewusst und damit symptomatisch sein kann. Individualität kann zum Ausdruck gebracht werden oder zum Ausdruck kommen (ebd.: 217). 6 Sandig stellt die Existenz eines individuellen Stils also nicht in Abrede, sie steht dem Begriff aber skeptisch gegenüber, etwa wenn sie darauf hinweist, dass ihre Auffassung von Individualstil sich möglicherweise auf den eigenen Kulturraum beschränkt, will heissen einer bürgerlichen Ideologie von Individualismus entspringt (ebd.: 219). 7 Aus meiner Sicht ist an ihrem Konzept eher zu kritisieren, dass sie Individualität als Abweichung begreift. Diese Auffassung ist noch heute bei manchen Autoren zu finden, zum Beispiel bei Pörksen (2003): “Individualstil ist erkennbar als regelhafte Abweichung von <?page no="130"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 130 8 Die Begriffe “Individualstil”, “individueller Stil” oder “persönlicher Stil” werden in mancher linguistischen Arbeit zu Stil erwähnt, eine tiefer gehende Auseinandersetzung damit findet sich jedoch nur bei Lerchner (1980, vgl. S. 27) und Sowinski (1988, 1998), wobei letzterer der literarisch-rhetorischen Tradition mit ihrem Verständnis von Individualstil als Autorenstil verpflichtet ist. Sowinskis Definition lautet: “Als I[ndividualstil] (auch Personalstil, Persönlichkeitsstil) bezeichnet man die charakteristische schriftliche wie mündliche Ausdrucksweise, durch die sich bei gleicher Ausdrucksabsicht und Sprachsituation ein Autor [! ] vom anderen unterscheidet.” (Sowinski 1998: 327). Am Ende der ausschliesslich auf die rhetorisch-literarische Tradition rekurrierenden Darstellung meint Sowinski: “In den linguistischen Stiltheorien und -analysevorschlägen der letzten Jahrzehnte, soweit sie nicht auf literarische Texte bezogen sind, spielt der I[ndividualstil] keine hervorgehobene Rolle.” (ebd.: 331). Was die Methode der Individualstilanalyse betrifft, sind Sowinskis Aussagen widersprüchlich. In seinem älteren Aufsatz, in welchem er die individuellen Stile von Schüleraufsätzen untersucht, plädiert er dafür, die äusseren Bedingungen der Sprachproduktion, zum Beispiel die Textsorte, konstant zu halten, damit die individuellen Unterschiede im Ausdruck überhaupt sichtbar werden (Sowinski 1988: 44ff). Im jüngeren Text meint er im Gegenteil, Individualstil würde am ehesten “bei normativ nicht streng geregelten Rede- oder Schreibanlässen” sichtbar (Sowinski 1998: 327). Ich schliesse mich der früheren Auffassung an und werde zeigen, warum. Ein genuin linguistisches Konzept von individuellem Stil liegt zurzeit nicht vor. der mehr geahnten als festgeschriebenen Durchschnittsnorm der jeweiligen Textsorte.” (S. 243). Nach meiner Definition ist Individualität immer gegeben, wenn die von einem Individuum gewählte Variante der Handlungsdurchführung sich von den von anderen Individuen gewählten Varianten unterscheidet. “Abweichend” muss diese Variante nicht sein; auch die Wahl einer konventionellen Variante der Handlungsdurchführung ist eine individuelle Wahl, sobald mehrere konventionelle Varianten existieren (und dies ist meistens der Fall). Zwischenbilanz: Die stilistische Variation von Handlungsmustern ermöglicht Individualität, und die rekurrente Verwendung bestimmter stilistischer Varianten der Handlungsdurchführung trägt zur Ausbildung eines individuellen Stils bei. 8 Sandig analysiert in ihren Beispielen überwiegend schriftliche Texte. Ihre Aussagen über Stilwirkungen beim Rezipienten bleiben dadurch notwendigerweise spekulativ bzw. sind aus der Warte des kompetenten Spachteilhabers formuliert. Einen Schritt weiter geht Selting mit ihrer sogenannten interaktionalen Stilistik. Sie verfolgt einen strikt ethnomethodologischen Ansatz, das heisst “legt besonderen Wert auf die empirische und die Teilnehmerperspektiven rekonstruierende Analyse der Stilherstellung und Stilverwendung in natürlichen Interaktionskontexten” (Selting 1997: 10). Für sie ist die Stilanalyse erst abgeschlossen, wenn der Nachweis erbracht werden kann, dass die Interaktanten auf die Stilverwendung reagieren und ihr weiteres Verhalten danach ausrichten (ebd.: 14). Entsprechend lautet ihre Definition von Stil: Unter “Stil” verstehe ich die sozial und interaktiv relevante und als bedeutsam interpretierte Art der Herstellung und Durchführung von Aktivitäten in sozialen Interaktionen. (Selting 2001: 5). <?page no="131"?> Variation und Stil: Linguistische Konzepte 131 9 Die Verabsolutierung des pragmatischen/ funktionalen Aspekts von Stil geht einher mit der Vernachlässigung des Ästhetischen. Nach Jakobson (1960/ 1971) hat die ästhetische Gestaltung einer Äusserung keine “interaktiv relevante” Bedeutung, sondern selbstreferenzielle Funktion. Zum Verhältnis von pragmatischen und ästhetischen Aspekten des Stils vgl. Hoffmann (2003). Stil dient dem situationsspezifischen Zuschnitt sprachlicher Handlungen (Kontextualisierung) und damit als Ressource für lokale Bedeutungsproduktion (ebd.: 6). Die Rekonstruktion eines solchermassen verstandenen Stils und seiner Wirkung ist eine methodisch aufwändige Sache, müssen doch nicht nur die verwendeten Stilmittel (von der Syntax über die Lexik bis hin zur Prosodie) bestimmt werden, sondern auch ihre Funktion in der Situation sowie die Reaktion der Interaktionspartner, und das vor dem Hintergrund dessen, was vorher geschehen ist und was in der Situation konventionellerweise zu erwarten war (ebd.: 16). Der Begriff Individualstil hat in Seltings Stilkonzept keinen Platz, da Stil in ihrem Konzept ein ausschliesslich lokales, personenungebundenes Mittel der interaktiven Bedeutungsproduktion darstellt. Das Konzept der funktionalen/ interaktionalen Stilistik hat vielfältige praktische Anwendungen erfahren. Gestützt auf ein funktionales/ interaktionales Verständnis von Stil wurde zum Beispiel untersucht, wie “Höflichkeit” (Lüger 2001a), “Scherzhaftigkeit” (Kotthoff 1998) oder “Fachlichkeit” (Brünner 1997) interaktiv generiert werden. Gegen die funktionale/ interaktionale Stilistik sind zwei Einwände anzubringen: Erstens: Der Stilbegriff wird tendenziell zu weit gefasst und auf jede beliebige sprachliche Erscheinung angewendet. Laut Schmitt (2001) besteht “die Gefahr einer Allmächtigkeit von Stil bei der Beschreibung jeglicher Varianz sprachlichen Handelns” (S. 147). Bei Sandig fallen Stilkompetenz und kommunikative Kompetenz im Endeffekt zusammen; bei Selting werden etablierte Begriffe wie jener der Kontextualisierung vom Stilbegriff aufgesogen. Dadurch verliert der Begriff an Kontur anstatt zu gewinnen. Zweitens: Die Auffassung, dass sich mit jeder Formulierungsänderung auch die Bedeutung der Äusserung ändert, torpediert die Annahme, welche die Stilforschenden selbst zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen gemacht hatten, die Annahme nämlich, dass es für die Durchführung von Handlungen Formulierungsalternativen gibt, dass Stil auf Wahl beruht. Wenn jede Formulierungsänderung die Bedeutung meiner Aussage verändert, habe ich de facto keine Wahl bei der stilistischen Gestaltung meiner Äusserungen. 9 <?page no="132"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 132 Der “Allmächtigkeit” des Stilbegriffs kann dadurch begegnet werden, dass auf der Ebene einer einzelnen Äusserung nicht von “Stil” gesprochen wird, sondern lediglich von “Formulierung” oder “Stilisierung”. Fiehler (1997b) empfiehlt nachdrücklich, die Begriffe “Stil” und “Stilisierung” nicht gleichzusetzen (S. 350). In meiner Arbeit gehe ich daher von der folgenden Unterscheidung aus: Unter Stilisierung verstehe ich die stilistische (lexikalische, syntaktische, prosodische) Gestaltung einer einzelnen Äusserung oder Äusserungssequenz durch den Sprechenden. Die verwendeten lexikalischen, syntaktischen und prosodischen Stilmittel können einzeln analysiert und beschrieben werden, ohne sogleich - in der Regel hypostasierende - Rückschlüsse auf den dahinter liegenden “Stil” und dessen interaktive Bedeutung zu ziehen. Wird ein- und dasselbe Handlungsmuster von verschiedenen Individuen unterschiedlich durchgeführt, spreche ich von stilistischer Variation. Resultat sind unterschiedliche Varianten der Durchführung eines Handlungsmusters. Vom Stil eines Individuums oder einer Gruppe von Individuen kann erst dann gesprochen werden, wenn immer wieder dieselben Varianten der Handlungsdurchführung gewählt werden oder wenn über mehrere Handlungsmuster oder Interaktionen hinweg immer wieder dieselben Stilmittel zur Anwendung kommen. Für meine Untersuchung sprachlicher Individualität übernehme ich vom pragmatischen/ interaktionalen Stilkonzept die Idee, dass sprachliche Handlungen und Handlungsmuster unterschiedlich realisiert werden können und dass die stilistische Gestaltung der Äusserungen diesen einen zusätzlichen stilistischen Sinn verleihen kann. Die Existenz verschiedener Varianten der Handlungsdurchführung bietet die Möglichkeit, auch institutionelle Handlungsmuster nach individuellen Präferenzen durchzuführen. Im Gegensatz zum funktionalen/ interaktionalen Stilkonzept gehe ich jedoch nicht davon aus, dass sich mit jeder Formulierungsänderung Sinn und Bedeutung der Äusserung ändern, und ich plädiere dafür, auf der Ebene einzelner Äusserungen von Stilisierung zu sprechen und nicht von Stil. 6.1.2 Das sozio-kommunikative Konzept von Stil Waren für die funktionale/ interaktionale Stilistik, ihrer pragmatischen Fundierung entsprechend, die sprachlichen Handlungen Ausgangs- und Bezugspunkt stilistischer Überlegungen, so sind es bei der soziolinguistischen Stilforschung die Handelnden. Die soziolinguistische Stilforschung interessiert sich für den Sprechstil bestimmter sozialer Gruppen. Grundidee ist, dass das sprachliche Repertoire und Verhalten von Personen mit soziodemografischen Variablen wie regionale Zugehörigkeit, Alter, Schicht oder Geschlecht korreliert, aber auch mit sozialen und kommunikativen Rollen wie Führungskraft oder Fernsehmoderatorin. Führend in diesem Bereich ist gegenwärtig die “Mannheimer Gruppe” um Kallmeyer, die mit ihrem Pro- <?page no="133"?> Variation und Stil: Linguistische Konzepte 133 jekt “Kommunikation in der Stadt” Massstäbe gesetzt hat. Sie untersucht, gestützt auf das Konzept der “sozialen Welt”, das Sprachverhalten von Angehörigen verschiedener Gruppen und Milieus innerhalb der Stadt und stellt systematisch Zusammenhänge her zwischen der Lebenspraxis der Untersuchten, den kommunikativen Anforderungen, denen sie in ihrem beruflichen und privaten Alltag ausgesetzt sind, und dem daraus resultierenden kommunikativen Verhalten (Kallmeyer 1994a, 1995; Keim/ Schütte 2001). Stil ist in diesem Konzept weniger eine Eigenschaft des Textes als vielmehr eine Eigenschaft der Sprechenden: In diesem Stilverständnis bezeichnet sozialer Stil die von Mitgliedern einer sozialen Einheit (soziale Welt, soziales Milieu u.ä.) getroffene Auswahl an und Weiterentwicklung von verbalen und nonverbalen Ausdrucksformen aus den ihnen zur Verfügung stehenden kulturellen Ressourcen für die Selbstpräsentation und für die Durchführung kommunikativer Aufgaben. Das einmal herausgebildete Repertoire an verbalen und nonverbalen Ausdrucksformen ist charakteristisch für die Mitglieder der sozialen Einheit und zeigt ihre soziale und kulturelle Zugehörigkeit an. Aus dieser Perspektive entsprechen Stile Verhaltensmodellen […]. In sozialen Stilen kommen Leitvorstellungen der Gesellschaftsmitglieder zu einem originären, vorbildhaften Handeln zum Ausdruck. (Keim 2001: 376f). Die Korrelation von Sprache und sozialer Gruppe ist an sich nichts Neues und wird von der traditionellen Soziolinguistik mit den verschiedenen “-lekten” bezeichnet: Dialekt, Soziolekt, Funktiolekt, Mediolekt usw. (Löffler 1994b). Der Begriff des sozio-kommunikativen Stils betont gegenüber dem xy-lekt, dass zwischen sozialer Gruppe und Sprache kein deterministisches Verhältnis besteht, dass die Sprachverwendung eines Individuums kein unveränderliches Symptom seines soziodemografischen Profils ist, sondern dass die Art und Weise des Sprechens eine Ressource darstellt, mit der die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und damit soziale Identität überhaupt erst hergestellt werden (Kallmeyer 1994b: 24f). So ist zum Beispiel ein ausgeprägtes Kontrollverhalten zu Gesprächsbeginn kein Verhalten, das zwangsläufig aus der Vorgesetztenrolle abgeleitet werden könnte, aber es ist ein Verhalten, welches dazu eingesetzt werden kann, die Vorgesetztenrolle im laufenden Gespräch zu etablieren und durchzusetzen (Spranz-Fogasy 2002). Die Hauptfunktion von Stil ist in diesem Konzept die Herstellung sozialer Identität. Die Art, wie jemand spricht, aber auch, wie er sich aussersprachlich verhält, kleidet usw., zeigt an, zu welcher Gruppe von Menschen er gehört bzw. gehören will. Wie viel Freiheit das Individuum bei der Ausprägung seines Stils hat, scheint nicht geklärt zu sein. Fiehler zum Beispiel betont die Vielfalt der Kommunikation älterer Menschen und lehnt jeden Determinismus zwischen soziodemografischem Merkmal (hier: Alter) und Sprachverhalten ab (Fiehler 1997b, 2002). Keim/ Schütte (2002) hingegen stellen fest: “Nach dem Konzept des ‘kommunikativen sozialen Stils’ haben Sprecher keine Wahl zwischen Alternativen, wenn sie ihre Zugehörigkeit zu <?page no="134"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 134 einer bestimmten sozialen Welt ausdrücken wollen” (S. 10). Damit wird - wie schon beim funktionalen/ interaktionalen Stilkonzept - die Idee aufgegeben, dass einem Individuum bei der stilistischen Gestaltung seiner Äusserungen grundsätzlich Formulierungsalternativen zur Verfügung stehen, und durch die Hintertüre wird genau jener Sprachdeterminismus, den man mit einem interaktionistischen Verständnis von Stil und sozialer Identität überwinden wollte, wieder eingeführt. Gravierender als der latente Determinismus ist jedoch ein anderes Problem der soziolinguistischen Stilforschung. Dieses besteht im Nachweis, dass die in der Analyse herausgearbeiteten Stilmerkmale wirklich in ursächlichem (symptomatischem oder funktionalem) Zusammenhang mit der postulierten sozialen Gruppe stehen. Wenn eine ältere Krankenschwester zum Beispiel viele Rückmeldesignale gibt und Wohlergehensfragen stellt, und wenn ich das als Ausdruck von Empathie deute, so kann ich diese Empathie praktisch nach Belieben damit erklären, dass die Ausführende eine Frau, eine ältere Person, Krankenschwester oder mit der Morgentoilette am Krankenbett beschäftigt ist; ich kann ihren Stil mit anderen Worten auf ihr Geschlecht, ihr Alter, ihre Rolle oder die aktuelle Aufgabe zurückführen. Gumperz (1994), Schmitt (2001) und Schmitt/ Heidtmann (2002) warnen eindringlich vor solchen methodischen Kurzschlüssen: “Grundsätzlich besteht hier die Gefahr eines zu schnellen Durchgriffs von sprachlichen Mikrophänomenen zu abstrakten sozialen Kategorien, bei dem einzelne sprachliche Phänomene als Indikatoren der fraglichen Kategorie betrachtet werden.” Auf diesem “indikativen Holzweg” wird eher bestehendes alltagsweltliches Wissen bestätigt als neues gewonnen (Schmitt/ Heidtmann 2002: 180). Eine ziemliche Willkür bei der Bestimmung der untersuchten sozialen Gruppe (“Powergirls” bei Keim 2001, “Stehcafe-Gruppe” bei Kallmeyer/ Keim/ Nikitopoulos 1994) sowie der stilistischen Merkmale, durch welche sich diese Gruppe angeblich auszeichnet (sogenannte “Schlüsselphänomene” bei Kallmeyer 1995: 6), ist bei einigen Arbeiten der “Mannheimer” unübersehbar. Damit verbunden ist ein weiterer Kritikpunkt, der die soziolinguistische Stilforschung betrifft, aber keineswegs nur sie (vgl. S. 24): Die Vertreter des sozio-kommunikativen Stilkonzepts führen das sprachliche Verhalten der von ihnen untersuchten Personen grundsätzlich auf deren Zugehörigkeit zu einer wie auch immer definierten sozialen Gruppe zurück, aber nie auf das Individuum und seine stilistischen Präferenzen, seine sprachliche Kompetenz oder persönlichen Eigenschaften. Es ist aber nicht einzusehen, warum der Stil eines Individuums nur dessen soziale Identität anzeigen soll, nicht aber auch dessen persönliche Identität. Das Individuum und seine persönliche Identität bilden auch im sozio-kommunikativen Stilkonzept den blinden Fleck. Für meine Untersuchung sprachlicher Individualität in institutionellen Gesprächen lehne ich mich insoweit an das sozio-kommunikative Stilkonzept an, als ich die stilistische Gestaltung von Äusserungen durch Individuen <?page no="135"?> Variation und Stil: Linguistische Konzepte 135 als Ausdruck von bzw. Ressource zur Generierung von Identität betrachte. Stilistische Variation dient in diesem Konzept nicht primär (oder gar ausschliesslich) dazu, den Sinn einer Äusserung kontextuell zu spezifizieren, sondern dazu, unterschiedliche Sprecheridentitäten zu generieren. In Abgrenzung vom sozio-kommunikativen Stilkonzept der “Mannheimer” gehe ich jedoch davon aus, dass mit der stilistischen Variation von Handlungsmustern nicht nur soziale, sondern auch persönliche Identität zum Ausdruck gebracht wird. Die von mir gesichteten empirischen Arbeiten zum funktionalen/ interaktionalen und sozio-kommunikativen Stilkonzept haben - bei aller Plausibilität ihrer Resultate - einen gravierenden methodischen Mangel gemeinsam: das Fehlen von bzw. die Intransparenz der verwendeten Vergleichsgrössen. In den einleitenden Bemerkungen, solange es um Stildefinitionen geht, betonen alle Forschenden, dass Stil ein relationales, auf dem Vergleich beruhendes Konzept ist. Stellvertretend für viele sei Fiehler zitiert: “Stil als Kategorie emergiert immer dann, wenn eine vergleichende Betrachtungsweise eingenommen wird, wenn etwas auf der Folie oder vor dem Hintergrund alternativer Realisierungsmöglichkeiten wahrgenommen wird. […] Stil wird erst dann relevant und thematisch, wenn etwas in seinem So- Sein nicht einfach hingenommen wird, sondern […] sich die Frage nach einem möglichen Anders-Sein, nach Alternativen stellt.” (Fiehler 1997b: 348). Bei der konkreten empirischen Analyse hingegen werden keine Vergleiche angestellt, sondern vollkommen isoliert die Äusserungen einzelner Personen oder Personengruppen auf ihren “Stil” hin untersucht. Im besten Fall werden Vergleiche zwischen den Beteiligten eines Gesprächs gezogen (zum Beispiel Vorgesetzter versus Angestellte bei Müller 1997). In der Regel wird jedoch rein intuitiv bestimmt, was an einer Äusserung “auffällig”, “typisch” oder “stilistisch relevant” ist. Wenn Fiehler (1997b, 2002) den Stil des Alters beschreibt, so setzt er stillschweigend voraus, dass seine Leserinnen wissen bzw. mit ihm darin einig gehen, wie die nicht Alten reden. Behauptungen wie: “Auch bei jüngeren Menschen finden sich autobiografische Erzählungen, Klatsch und das Hinzufügen einer Vergangenheitsperspektive, aber in anderer Frequenz und z.T. auch anderer Qualität” (Fiehler 2002: 506) beruhen nicht auf der empirischen Untersuchung einer Vergleichsgruppe jüngerer Menschen, sondern auf der reinen Intuition darüber, wie die Jüngeren sprechen. Wenn von einer “Zunahme” oder “Abnahme des Kommunikationsaufkommens” bei den Alten die Rede ist (ebd.), wird damit korrekterweise unterstrichen, dass die Alten keine homogene Gruppe bilden - gleichzeitig werden aber die Jungen als homogene Gruppe behandelt, als Gruppe, die über ein nicht näher spezifiziertes, aber irgendwie “normales” Kommunikationsaufkommen verfügt, von welchem die Alten nach oben oder unten abweichen. Sandig beschreibt “Abwandlungen” von Textmustern, die zuvor nicht empirisch hergeleitet wurden, sondern als solche <?page no="136"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 136 10 Berens (1980) und Werlen (1984) betonen, dass bei institutionellen Telefongesprächen die namentliche Vorstellung der Gesprächsteilnehmer wegfallen kann. einfach als bekannt vorausgesetzt werden (Sandig 1986: 184ff). Auch hier: Was “normal” oder “konventionell” ist, wird rein intuitiv bzw. unter Berufung auf das Wissen der kompetenten Sprachteilhaberin bestimmt. In den Sammelbänden von Kallmeyer (1994a, 1995), Sandig/ Selting (1997) und Keim/ Schütte (2002) werden lauter Stile irgendwelcher sozialer Gruppen beschrieben, ohne dass Vergleiche mit anderen Gruppen angestellt würden, ohne dass auch nur im mindesten klar gestellt würde, womit der Stil dieser Gruppe implizit verglichen wird, welches die Normalitätsvorstellungen der Forschenden bezüglich Stil sind. Quantitative Angaben, wie häufig ein bestimmtes Stilmerkmal auftritt (und wie häufig nicht! ), sucht man weit herum vergebens, oft wird nicht einmal die Grösse des verwendeten Korpus - nicht selten handelt es sich um Einzelfallanalysen - offen gelegt. In der überwältigenden Mehrheit der pragmatischen und soziolinguistischen Stilstudien werden Einzeltexte “mit einer hypothetischen Norm verglichen”, mit “hypothetischen Normen, die intuitiv und nicht explizit angewandt werden” (Esser 1990: 28). Dass es bei der intuitiven Bestimmung dessen, was konventionell bzw. stilistisch auffällig ist, zu Fehleinschätzungen kommen kann, illustriere ich an einem Beispiel aus meinem Korpus: Wenn sich bei der Schwyzer Bank ein Deutscher nicht mit dem Namen vorstellt, so könnte ich das unter der Berufung auf meine allgemeine Sprachkompetenz und auf meine Kenntnis institutioneller Kommunikation als konventionelle Variante einer institutionellen telefonischen Begrüssung deuten und würde darin erst noch von anderen Forschenden bestätigt. 10 Wenn ich aber weiss, dass sich bei 114 weiteren Gesprächen in derselben Abteilung über 95% der Schweizer Kunden mit dem Namen vorstellen, so wird schlagartig deutlich, dass das Verhalten des Deutschen im Schweizer Kontext keine konventionelle Variante des Handlungsmusters Begrüssung darstellt, sondern abweichend ist, und dass er sich damit als Nicht-Schweizer exponiert. Mit anderen Worten: Welche stilistischen Varianten der Handlungsdurchführung in einem bestimmten gesellschaftlichen und situativen Kontext konventionell sind und welche abweichend, kann nicht intuitiv, sondern nur empirisch bestimmt werden und ist eine letztlich statistische Frage: Konventionell sind jene stilistischen Varianten, die im untersuchten Feld am häufigsten verwendet werden. Sollen Aussagen zum Stil über schiere Hypothesen und Intuitionen hinausgehen, müssen grössere Korpora quantitativ ausgewertet und explizite Vergleiche zwischen Personen oder Personengruppen angestellt werden. Wo solche Korpora nicht zur Verfügung stehen, müsste mindestens deklariert werden, von welcher Normalitätsvorstellung der Forscher ausgeht, mit welcher “stilistischen Nullversion” (die vermutlich gar nicht existiert) der vorliegende Stil implizit verglichen wird. “Denn derjenige, der eine sprach- <?page no="137"?> Variation und Stil: Linguistische Konzepte 137 liche Erscheinung als Abweichung von einer Konvention beschreiben möchte, kommt nicht umhin anzugeben, worin genau die Konvention besteht” (Püschel 1985: 13). Ich werde daher im empirischen Teil dieses Kapitels konsequent mit Zahlen belegen, welche stilistischen Varianten der Durchführung der untersuchten Handlungsmuster wie oft vorkommen. Damit lässt sich eine wenigstens korpusinterne, zuverlässige “abstrahierte Norm” (Esser 1990: 29) gewinnen, vor deren Hintergrund allfällige abweichende Varianten interpretiert werden können. Dabei gehe ich nicht von einer Dichotomie konventionell versus abweichend aus, sondern von einem Kontinuum [konventionell und häufig] - [konventionell aber selten] - [unkonventionell] - [abweichend]. Von Abweichung kann erst dann gesprochen werden, wenn gegen (empirisch belegte) Stilkonventionen verstossen wird. Solche Abweichungen können eine Reparatursequenz auslösen, müssen aber nicht, wie ich zeigen werde. Daher können Abweichungen auch nicht von einer allfälligen Reparatur her bestimmt werden, sondern nur durch den Kontrast mit der Konvention. Ich fasse mein Konzept von Stil thesenartig zusammen: 1. Handlungsmuster, auch institutionell vorgegebene, können vom Individuum in unterschiedlichen stilistischen Varianten durchgeführt werden. Die stilistische (lexikalische, syntaktische, prosodische) Gestaltung der Äusserungen kann selbigen einen zusätzlichen stilistischen Sinn verleihen. 2. Je nach gesellschaftlichem und situativem Kontext sind die verwendeten stilistischen Varianten als konventionell, unkonventionell oder abweichend einzuschätzen. Über Konventionalität und Unkonventionalität entscheidet die statistische Häufigkeit der im untersuchten Feld vorkommenden Varianten, nicht der Vergleich mit einer hypothetischen Norm. Stilistisch relevant sind alle Varianten, nicht nur die “abweichenden”. 3. Die Möglichkeit, institutionelle Handlungsmuster stilistisch zu variieren, bildet die Voraussetzung und Ressource für das Handeln nach individuellen Präferenzen und damit für die Ausbildung eines individuellen Stils. Ein individueller Stil entsteht durch die rekurrente Verwendung bestimmter Stilmittel und stilistischer Varianten der Handlungsdurchführung. 4. Die Verwendung eines individuellen Stils dient der Generierung sozialer und darüber hinaus persönlicher Identität. Selbststilisierung kann bewusst oder unbewusst stattfinden, Stil kann Signal oder Symptom sein. Mit der Selbststilisierung verbunden ist in der Regel die Definition der angestrebten Beziehung zu den Gesprächspartnern. <?page no="138"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 138 6.2 Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analysen In diesem Abschnitt untersuche ich für drei zentrale Handlungsmuster der Call Center Gespräche, welche stilistischen Varianten der Durchführung vorkommen, wie oft diese vorkommen, welche aufgrund ihrer Häufigkeit als konventionell bzw. unkonventionell einzuschätzen sind und welche Wirkung in Bezug auf die Selbstdarstellung der Sprechenden und die Beziehungsgestaltung damit jeweils verbunden ist. Das Aufzeigen des gesamten Spektrums der empirisch vorgefundenen stilistischen Varianten dient mir dazu, individuelle sprachliche Variation aufzuzeigen als die Möglichkeit, institutionelle Handlungsmuster nach individuellen Präferenzen zu realisieren. Die ausgewählten Handlungsmuster sind die Gesprächseröffnung, die Präsentation des Anliegens durch den Kunden und die Kundenidentifikation. Die Gesprächseröffnung ist zentral, weil in ihr die für das Gespräch gültigen Rollen festgelegt werden, darüber hinaus aber bereits die stilistischen Präferenzen der Interagierenden zum Ausdruck kommen und die damit verbundene Selbstdarstellung. Die Präsentation des Anliegens durch den Kunden ist zentral, weil in ihr durch die Festlegung von Inhalt und Ziel des Gesprächs einerseits das zu bearbeitende Aufgabenschema initiiert wird, andererseits aber auch die Selbststilisierung des Kunden besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Die Kundenidentifikation schliesslich ist nicht nur bankfachlich ein zentrales Handlungsmuster, sondern in ihr kommen auch die individuellen stilistischen Präferenzen der Agents gut zum Ausdruck und damit verbunden ihre individuelle Auslegung der Agentenrolle und ihre Gestaltung der Beziehung zum Kunden. Neben der quantitativen Auswertung der vorgefundenen stilistischen Varianten präsentiere ich einzelne Fälle ausführlicher. Bei der Auswahl der präsentierten Fälle strebe ich eine ausgewogene Mischung konventioneller und unkonventioneller Varianten an, damit sowohl das “Normale” als auch das breite Spektrum des Ungewöhnlichen sichtbar wird. Die Diskussion besonders auffälliger und spektakulärer Fälle, wie sie in der Gesprächsforschung allzu oft betrieben wird (Schmitt 2001: 183), soll ausdrücklich nicht im Zentrum stehen. <?page no="139"?> Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analyse 139 11 K: Nabuleitung [Firmenname] Kalbermatter [Familienname] grüezi Frau Amrein. - A: Herr Amrein. - K: Herr Amrein. - A: Ja, und Sie sind Frau ber/ bermatt/ - K: Kalbermatter. - A: Kalbermatter, ja! [Dieser Agent wird des öftern für eine Frau gehalten]. 12 Hopper (1992), Berens (1980). Schegloff (1980) hat englischsprachige Privatgespräche untersucht und festgestellt, dass dort die Variante, sich selber vorzustellen, dispräferiert ist gegenüber dem Erkennen an der Stimme. Davon kann bei institutionellen Gesprächen natürlich nicht die Rede sein, wie er selber beiläufig erwähnt (S. 33). 13 Berens (1980), Couper-Kuhlen (2001). 14 In einem einzigen Gespräch in der Hotline (665) fragt der englischsprachige Kunde: “how are you”. Der Agent antwortet mit einem lachenden “fine thank you” und lacht weiter, ohne die Frage zurückzugeben. Der Kunde reagiert nun seinerseits mit einem lachenden “go(h)od”. Durch das Lachen wird die Wohlergehensfrage nach meinem Verständnis von beiden Seiten als Zwischenfall markiert und gleichzeitig bewältigt. 6.2.1 Analysebeispiel 1: Die Gesprächseröffnung Kundin: nabuleitung kalbermatter grüezi: frau AMrein; Agent: HERR amrein. Kundin: HE: RR amrein. Agent: ja und si send frau ber/ bermatt/ Kundin: kalbermatter Agent: kalbermatter. ja! (196). 11 Wie bei allen Gesprächen ist im Call Center die Gesprächseröffnung einer der wichtigsten Momente der ganzen Interaktion. Hier werden die Rollen der Beteiligten, die Sprache und der Ton, in welchem man miteinander zu sprechen gedenkt, ausgehandelt. Ob Männer oder Frauen miteinander sprechen, Institutionsvertreter oder Privatpersonen, Interne oder Externe, ob Dialekt, Standard- oder Fremdsprache gesprochen wird, welches Tempo und welche Freundlichkeit angeschlagen werden - das steht nach den wenigen Äusserungen der Gesprächseröffnung bereits fest und ändert sich im Laufe des Gesprächs nur selten. In den Call Centern der Schwyzer Bank besteht die Gesprächseröffnung bis auf wenige Ausnahmen aus drei Gesprächszügen. Im ersten stellen sich die Agents vor. Im zweiten stellen sich die KundInnen vor und begrüssen den Agent. Da die beiden Handlungen immer gleichzeitig durchgeführt werden, wenn auch in variabler Reihenfolge, nenne ich den Zug “Begrüssung & Vorstellung”. Der dritte Gesprächszug besteht aus dem Gegengruss der Agents. Auf der Ebene des Handlungsmusters sind die Gesprächseröffnungen somit ausgesprochen stereotyp. In der Literatur beschriebene Varianten wie das Erkennen an der Stimme, 12 Wohlergehensfragen oder das Reden übers Wetter 13 fehlen in meinem institutionellen Korpus völlig. 14 Auf der Ebene der verwendeten Formulierungen bei der Realisierung dieses aus drei Zügen bestehenden Handlungsmusters hingegen wird die enorme stilistische Vielfalt der Gesprächseröffnungen deutlich und lässt individuelle Unterschiede zu Tage treten. Ich stelle die drei Züge anhand von 114 Gesprächen aus der <?page no="140"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 140 15 Bei den übrigen acht Gesprächen im Service war der Anfang entweder nicht auf dem Tonband oder nicht verständlich. 16 In diesem Abschnitt verzichte ich auf Übersetzungen, da die kurzen schweizerdeutschen Begrüssungsworte verstehbar sein sollten. 17 Einige französisch sprechende KundInnen reagieren auf diese ungewohnte Vorstellung der Agents damit, dass sie sich auch mit dem Familiennamen vorstellen. Allerdings ist es eine Minderheit. Abteilung Service 15 vor. Signifikante Unterschiede in den anderen Abteilungen werden ergänzend erläutert. a) Die Vorstellung der Agents Die Agents im Service stellen sich ausnahmslos mit der vorgeschriebenen Formel vor: “SCHWYzer bank mi namen=isch AMrein? ” 16 Selbst die Prosodie ist einheitlich: Hauptakzent auf SCHWY, Nebenakzent auf dem Familiennamen, steigende Intonation zum Satzende. Individuelle Unterschiede gibt es in Formulierung und Prosodie somit keine. Als gänzlich austauschbar erscheinen die Agents trotzdem nicht, da sie sich nicht nur als Vertreter ihrer Institution, sondern auch mit ihrem Familiennamen vorstellen, einem wichtigen Garanten persönlicher Identität. Im Kartendienst und in der Hotline nennen die Agents zusätzlich oder ausschliesslich den Namen der Abteilung: “schwyzer bank chartesperrig mi namen=isch amrein? ”, “internet hotline mi namen=isch amrein? ”. Einige fügen sogleich eine unspezifische Begrüssung an, das bekannte schweizerische “grüezi”, einige lassen das “mi namen=isch” weg. Im immer wieder aufflackernden Streit um die richtige Begrüssung haben sich demnach die Agents im nationalen Call Center einen grösseren Freiraum erstritten als die Agents im regionalen Call Center. Verbindlich festgelegt wurde hingegen, dass der Familienname auch bei fremdsprachigen Gesprächen zu nennen ist: “mon nom est amrein”, “il mio nome è amrein”, “my name is amrein”. Im französischen, italienischen und englischen Sprachraum stellt man sich am Telefon normalerweise nicht mit dem Familiennamen vor. Die Nennung des Familiennamens auch in diesen Sprachen dient der Wahrung der Corporate Identity der Schwyzer Bank und wird von den Agents wie vorgeschrieben umgesetzt. 17 Alles in allem haben die Agents bei der Vorstellung so gut wie keinen Spielraum für individuelle stilistische Variation. b) Die Begrüssung & Vorstellung der KundInnen Die Begrüssung & Vorstellung seitens der KundInnen erfolgt im Service ausnahmslos in einem Gesprächszug. Die KundInnen sind dabei an keine institutionellen Vorschriften gebunden wie die Agents, lediglich an die allgemein für schweizerische Telefongespräche geltenden Konventionen. Die Vielfalt der verwendeten Formulierungen ist trotz dieser Konventionen so <?page no="141"?> Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analyse 141 18 Die Formulierung “mi namen=isch” kann als Übernahme der Grussformel der Agents und damit als Form lokaler Akkommodation gedeutet werden. Zum Konzept der Akkommodation vgl. Giles/ Coupland/ Coupland (1991). 19 Der Stimmhöhenverlauf beruht nicht auf einer Frequenzanalyse, sondern ist dem subjektiven Höreindruck nachgebildet. gross, dass eine Kategorisierung schwer fällt. Vier wiederkehrende Varianten der Begrüssung & Vorstellung lassen sich erkennen und können somit als konventionell und häufig bezeichnet werden. Sie sind in Tabelle 8 zusammengestellt. In der Tabelle ist angegeben, wie oft die aufgeführte Formulierung wörtlich verwendet wurde und wie oft in leicht variierter Form. Die häufigste Variante kommt gerade 12 Mal in wörtlich identischer Form vor und weitere 17 Male in variierter Form. Nur zwei Drittel aller verwendeten Formulierungen lassen sich überhaupt einer der vier konventionellen und häufigen Varianten zuordnen, das verbleibende Drittel nicht. Tab. 8: Konventionelle, häufige Varianten der Begrüssung & Vorstellung der KundInnen Formulierung wörtlich variiert 1) ja grüezi frau amrein da isch keller 12x 17x 2) ja da isch keller grüezi frau amrein 8x 11x 3) ja grüezi da isch keller 10x 9x 4) ja da isch keller grüezi 4x 5x Variiert bedeutet, dass eine oder mehrere der folgenden Veränderungen vorgenommen wurden: Reduktionen ohne “ja” 22x ohne “da isch” 3x Ergänzungen Selbst-Anrede (“frau” keller) 6x Vorname (“reto” keller) 3x Wohnort (“in basel”) 6x Firma (“vo de firma zuber”) 15x Partikel (“und” da isch) 1x Abänderungen “grüeziwool” statt “grüezi” 9x “guete tag/ guten tag” statt “grüezi” 5x “morge” statt “grüezi” 1x “grüss gott” statt “grüezi” 1x “mi namen=isch / mein name ist” statt “da isch” 18 6x Konkret sehen solche variierten konventionellen Begrüssungen & Vorstellungen so aus (die Linie gibt annäherungsweise den Stimmhöhenverlauf an): 19 <?page no="142"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 142 20 Im Berner Dialekt ist die Höflichkeitsform die 2. Person Plural. Sobald eine Person ihrzt anstatt zu siezen und dementsprechend “grüessech” (grüsse euch) sagt, steht ihre soziale Identität als Bernerin fest. Kundin Kundin Kunde Am besten lassen sich die vielen verschiedenen Begrüssungen & Vorstellungen mit dem Bild des Baukastens beschreiben. Die Bausteine sind immer dieselben: [ja] - [grüezi/ grüeziwool] - [Frau Amrein] - [da isch / mi namen=isch] - [Frau/ Vorname] - [Name] - [Ort] - [Firma]. Aus diesen Bausteinen wählen die Anrufenden die ihnen passenden aus, stellen sie in fast beliebiger Reihenfolge zusammen und verbinden sie mit ihrer je eigenen Prosodie. Dadurch kommt der gleichzeitige Eindruck von Stereotypie und verwirrender Vielfalt zustande. Insgesamt folgen 76 Begrüssungen & Vorstellungen einem der vier konventionellen und häufigen Muster. Sie zeigen, was in der deutschen Schweiz am Telefon üblich ist: 1. Begrüssung und namentliche Vorstellung sind obligatorisch. 2. VertreterInnen von Institutionen stellen sich auf beiden Seiten mit dem Namen der Institution und dem Familiennamen vor und werden mehrheitlich auch namentlich angesprochen. 3. Man spricht Dialekt. 4. Man macht nach der Begrüssung eine Pause, um dem Gegenüber die Gelegenheit für einen Gegengruss zu geben (vgl. unten). Diese Konventionen haben Auswirkungen auf die Identitätskonstitution zu Beginn des Gesprächs. Jeder Anrufende wird klar als Privatperson oder Institutionsvertreter positioniert. Jede Person tritt mit ihrem Familiennamen auf, was eine gewisse persönliche Verbindlichkeit schafft. Und wer das dialektale “grüezi” nicht beherrscht und “grützi”, “guten tag” oder gar “grüss gott” sagt, ist sofort als Nicht-Einheimischer erkennbar. Einige weitere Varianten der Begrüssung & Vorstellung kommen ebenfalls mehrere Male vor und können damit als konventionell, aber selten gelten. Eine Variante besteht darin, als erstes den Firmennamen zu nennen, wodurch die Vorstellung jener der Agents gleicht. Ein Beispiel: Kundin autofirma in bärn kathriner grüessech frou amrein! (163). 20 <?page no="143"?> Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analyse 143 21 Grundsätzlich ist für Aussenstehende kaum zu beurteilen, ob eine stilistische Abweichung bewusst oder unbewusst vorgenommen wird, ob sie auf besonderer Sprachkompetenz (“Der Meister darf die Regel brechen”) oder im Gegenteil auf mangelnder Kompetenz beruht (Sitta 1980), ob die Ausdrucksweise Signal oder Symptom der sozialen und persönlichen Identität des Individuums ist. Für meine Fragestellung spielt aber die Intentionalität keine Rolle. Der zitierte Mann hinterlässt durch seine Selbststilisierung - mindestens bei mir - den Eindruck des jovialen Typen, ob er das will oder nicht. 22 Die Agentin hat einen ungewöhnlichen ausländischen Familiennamen. 23 K: Grüezi Frau Aregger; ist das richtig ausgesprochen. - A: Ja, das ist richtig. Eine andere, auf dem Kontinuum [konventionell] - [unkonventionell] - [abweichend] schon ziemlich weit rechts stehende, auffällige Variante besteht darin, zuerst die Agentin anzusprechen und sich dann erst selber vorzustellen: Kunde frau amrein! KELle: r gr: ÜEziwoo: l. (150). Der knappe Ausdruck (ohne “ja”, ohne “da isch”), verbunden mit einer sehr auffälligen Prosodie (Dehnung des Familiennamens, gelängtes und gerolltes “r” bei “gr: ÜEzi” und Dehnung des “wool”) lassen diese Begrüssung als deutliche Selbststilisierung vom Typ “jovialer Kerl” erscheinen. 21 Als unkonventionell muss hingegen die folgende Begrüssung bezeichnet werden: Kundin gr: ÜEzi herr AMre: iN da isch KAthriner vo der firma newjoB Agent grüezi frau kathr iner? Kundin gr: üess gott wool herr amrein (198). Die Kundin fällt auf durch langsames Sprechen und überdeutliche Artikulation (das letzte “b” ist fast wie ein aspiriertes “p” gesprochen) bei gleichzeitig relativ monotoner Stimmhöhe und vor allem dadurch, dass sie zwei Mal grüsst und beim zweiten Mal das in der Schweiz eher unübliche Grüss Gott verwendet. Mit ihrer überschwänglichen Begrüssung stellt sie sich als betont freundliche, leicht übereifrige Person dar. Abweichend sind schliesslich jene 22 Begrüssungen, bei denen das eingangs erwähnte Muster der drei Gesprächszüge nicht eingehalten wird. Das sind Begrüssungen ohne namentliche Vorstellung, die Vorstellung ohne Begrüssung (kommt zwei Mal vor) und Begrüssungen, an die sich ohne Pause die Präsentation des Anliegens anschliesst. Beispiele: Ohne Vorstellung: Kunde guten morgen, ich möchte gern auskunft über mein konto (103). Kunde JA guet=tag frölein. (204). Kunde grüezi frau aregger. isch das richtig uusgsproche - (185). 22 Agentin ja das isch richtig; 23 <?page no="144"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 144 24 Ja, hier ist Keller, grüezi, können Sie mich bitte mit Herrn Birrer verbinden. 25 Pausenloses Übergehen eines transition relevance place, ohne dem Gesprächspartner die Möglichkeit zu geben, den Turn zu übernehmen. Der Ausdruck stammt von Selting (1998). 26 Deutschland wird in der Schweiz scherzhaft “grosser Kanton” genannt. Der “Schnurri aus dem grossen Kanton” ist daher das Grossmaul aus Deutschland. 27 Die elf Telefongespräche im Freiburger Korpus “Beratungen und Dienstleistungsdialoge” (Jäger 1979) zeigen, dass sich damals in Deutschland mehr als die Hälfte der Institutionsangestellten nicht mit dem Namen vorstellte, die übrigen ihrerseits vom Kunden nicht mit dem Namen angesprochen wurden, und ein Gegengruss des Angestellten nach der Vorstellung des Kunden nie vorkam, sodass dieser sofort mit seinem Anliegen losschiessen konnte. Institutionsvertreter ohne Namen und Gruss scheinen damals in Deutschland üblich gewesen zu sein. Eventuell ist diesbezüglich unterdessen ein Wandel eingetreten. Im kürzlich erschienenen Sammelband “Telefonare in diverse Lingue” von Thüne/ Leonardi [mir liegt nur die Rezension von Müller (2004) vor] kommen zwei Studien zum Schluss, dass in deutschen Servicegesprächen sich sowohl die Angestellten als auch die KundInnen ‘zumeist’ mit dem Familiennamen vorstellen. Grüsse werden von den Angestellten entweder gar nicht oder schon bei der Vorstellung geäussert, sodass die KundInnen nach wie vor sogleich nach ihrer Vorstellung ihr Anliegen vortragen können. Mit Schweizer Gesprächspartnern käme es daher trotz namentlicher Vorstellung immer noch zu denselben Kollisionen. Ohne anschliessende Pause: Kunde ja da isch keller grüezi; chönd si mich bitte mit em herr birrer verbinde (113). 24 Kunde good morning. I’d like to speak to/ to mister barmettler (166). Agent good morning Kunde ja: guten tag mein name ist kurz; ich hätte mal gerne den herrn reto brun Agent guten tag he/ (144). Vor allem die Begrüssung ohne anschliessende Pause ist problematisch. In mehr als der Hälfte der Fälle versuchen die Agents nämlich trotzdem, ihre Begrüssung anzubringen, was a) zu Überlappungen, Unterbrechungen und Abbrüchen führt (Gespräche 166 und 144 in den aufgeführten Beispielen) und b) den Verstoss des Kunden gegen die Konvention interaktiv als solchen markiert. Bei den Schweizern kommt diese Variante nur selten vor, mit einer Ausnahme nur bei Männern und in der Regel nur dann, wenn diese sofort an ihren Berater weiterverbunden werden wollen. Der rush-through 25 ist in diesen Fällen geschlechts- und anliegensspezifisch und wird als Mittel eingesetzt, sich als eiliger und zielorientierter Herr zu stilisieren. Im übrigen sind es vor allem Deutsche und Fremdsprachige, die sich nicht vorstellen und/ oder mit ihrem Anliegen vorpreschen. Sie stempeln sich auf diese Weise unwissentlich zum Ausländer, die Deutschen erscheinen ungewollt als “Schnurri aus dem grossen Kanton”, 26 der die kleinen Schweizer überrollt. 27 <?page no="145"?> Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analyse 145 28 Die Namen der Agents sind erfunden, werden jedoch in der ganzen Arbeit beibehalten, sodass erkennbar ist, wann ich von demselben Agent spreche. Primär sind es demnach kulturelle Unterschiede, die hier zum Ausdruck kommen, nicht individuelle. Doch die Tatsache, dass einige Deutsche und Welsche (Angehörige der französischen und italienischen Schweiz) sich an die Deutschschweizer Konventionen halten, nämlich sich namentlich vorstellen und Zeit für einen Gegengruss geben, zeigt, dass der Umgang mit kulturellen Differenzen wiederum individuell ist. Einen Sonderfall stellt schliesslich das “Fräulein” dar, welches immerhin drei Mal für die Begrüssung verwendet wird (in den oben zitierten Beispielen Gespräch 204) und die Sprecher als nicht nur alt, sondern auch altmodisch ausweist. Vordergründig, das heisst gemessen an dem, was an der Gesprächsoberfläche beobachtbar ist, hat abweichendes Verhalten der KundInnen bei der Begrüssung & Vorstellung abgesehen von den erwähnten Überlappungen keine unmittelbaren Folgen. Die Agents klagen Verstösse gegen die Konventionen nicht ein und reagieren auf jede Begrüssung des Kunden gleich (vgl. unten). Das bedeutet aber nicht, dass sie sich nicht schon bei der ersten Äusserung des Kunden ein Bild von diesem machen, welches unter Umständen und im Einzelfall nachzuweisende Auswirkungen auf den späteren Gesprächsverlauf hat. Eine Agentin drückte es während eines Weiterbildungskurses drastisch aus: “Ach, wenn ich wieder so einen Ausländer am Telefon habe, bei dem man nicht einmal den Namen versteht, da geht mir gleich der Rollladen runter.” Im Service gibt es während der Gesprächseröffnung nur eine einzige Reparatursequenz. Alain, wie ich ihn nennen will, 28 Alain, der eine verhältnismässig hohe Stimme hat, wird wieder einmal mit “frau amrein” angesprochen und korrigiert die Kundin: “HERR amrein! ” (vgl. Eingangsbeispiel S. 139). Interessanterweise korrigiert er nicht alle KundInnen, die ihn als Frau ansprechen, obwohl die Anrede mit dem falschen Geschlecht eine starke Identitätsbedrohung darstellt. In der Hotline hingegen gibt es ein Gespräch, in welchem die Agentin den sehr zackig auftretenden internen Kollegen bremst und auffordert, sich erst einmal vorzustellen: <?page no="146"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 146 29 Ein Ausschnitt aus dem Gespräch: Sie: “hätted si mir gschwind iri telefonnummere.” Er: “han=ich SCHO, aber für was? ” Sie: “HÄTted si mir sie”. Er: “ich ha sie gërn, ja, aber für was? ” Sie: “jetz GÄND si mir si mal.” (Sie: Hätten Sie mir schnell Ihre Telefonnummer. Er: Habe ich schon, aber wofür? Sie: Hätten Sie sie mir. Er: Gerne, aber wofür? Sie: Jetzt geben Sie sie mir mal.). 30 Jetzt wollen Sie mich noch richtig vögeln da, hee, das ist unglaublich! Gespräch 619 (Anfang) Agent weiblich, Zürcher Dialekt Berater männlich, Zürcher Dialekt [1] A [v] internet hotline mi namen=isch Aregger guete tag? guete tag- A [ü] internet hotline mein name ist aregger guten tag guten tag B [v] GRÜEzi frau aregger döf i schnäll e B [p] <f > B [ü] grüezi frau aregger darf ich schnell eine [2] A [v] ja: ? wie isch ire name gsy? herr birrer (-) n=abig, A [ü] ja? wie war ihr name? herr birrer, n’abend B [v] vertragsnummere aagëë: ? birrer immer no! B [ü] vertragsnummer angeben? birrer immer noch! [3] A [v] ((lacht gackernd )) B [v] guete tag? eh d vertragsnummmer isch […] B [p] <tief, erstaunt><hoch, ff, all > B [ü] guten tag? eh die vertragsnummer ist […] Vermutlich steckt hinter diesem Zwischenfall ein Irrtum. Der Berater scheint davon auszugehen, dass die Agentin seinen Namen oder mindestens seine Telefonnummer auf dem Display ihres Telefons sieht. Anders ist mir seine schnoddrige Anwort: “birrer immer no! ” (S 2) nicht erklärbar. Doch sie gehört zu einem anderen Telefonkreis als er und kann auf ihrem Display nicht einmal erkennen, dass ein Interner anruft, geschweige denn, wer. Sein forsches Vorgehen und ihre - durch das eigentümliche Lachen (S 3) eher verschärfte als entschärfte - Zurechtweisung sind schlechte Voraussetzungen für das anschliessende Gespräch. Nach weiteren undurchsichtiggängelnden Gesprächszügen der Agentin und massivem Widerstand des Beraters 29 eskaliert der Machtkampf zwischen den beiden bis zum vollständigen Kontrollverlust auf der Seite des Beraters: “jetz wänd si mich na RICHtig VÖGle da hee. (-) das isch unGLAUBlich! ” 30 Das Aneinanderprallen von Agentin und Berater zu Gesprächsbeginn hat diese rasche Eskalation sicher begünstigt und zeigt, dass die Aufforderung, sich gefälligst an die Konventionen zu halten, in hohem Masse imagebedrohend ist. <?page no="147"?> Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analyse 147 31 Die Agents benützen für diese Identifikation eine besondere Eingabemaske, in welcher sie zuerst die sechsstellige Vertragsnummer eintippen. Das System bestimmt danach durch einen Zufallsgenerator, welche zwei Buchstaben des Passworts zu erfragen und einzugeben sind. Sind die Buchstaben korrekt, wird der Zugriff auf das Konto des Kunden freigegeben. Die Agents sehen also nicht das ganze Passwort und können auch nicht selber bestimmen, nach welchen Stellen sie fragen wollen. Eine besondere Situation haben wir schliesslich im Telefonbanking. Dort werden die KundInnen mittels einer “Mitgliedsnummer” - eine etwas euphemistische Bezeichnung für die Vertragsnummer - und einem Passwort, von welchem sie zwei Stellen angeben müssen, identifiziert. 31 Das führt bei mehr als der Hälfte der Gespräche zu einer Veränderung in der Reihenfolge und in der Durchführung der Handlungsmuster Gesprächseröffnung, Präsentation des Anliegens und Identifikation. Diese KundInnen nennen nach der Begrüssung zuerst ihre Nummer, lassen sich identifizieren und nennen dann erst, in der Regel aufgefordert durch den Agenten, ihr Anliegen. Der typische Gesprächsanfang sieht so aus: Gespräch 534 (Anfang) Agent weiblich, Deutsch mit Schweizer Akzent Kunde männlich, Deutsch [1] A [v] schwyzer bank mi name isch abächerli? guten tag, K [v] frau abächerli mein name ist kurz guten tag, [2] A [v] (3.0) die zweite und die sechste stelle vom PASSwort bitte. K [v] meine mitgliedsnummer ist 123456 [3] A [v] (2.8) (ist) korREKT=und was kann ich für sie tun? K [v] mmm Emil (0.5) und gustav. ëhm SAgen sie [4] K [v] mir doch bitte mal den kontostand auf meinem konto 123456 strich 00. Einige Kunden variieren das Muster noch stärker und nennen ihren Namen überhaupt nicht mehr, sondern stellen sich gleich mit der Nummer vor. Beispiel: Kunde grüeziwool d verTRAGSnummere isch 12 34 56. (531). Diese Kunden - es sind neben sieben Ausländern auch vier Schweizer - sind in erstaunlichem Masse bereit, sich als Nummer zu präsentieren und behandeln lassen! Die Veränderung des Handlungsmusters Gesprächseröffnung und die Reduktion des Menschen auf eine Nummer sind aber keine zwangsläufigen Folgen der Institution Call Center und der Existenz von Kunden- <?page no="148"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 148 32 In einem einzigen Gespräch (141) ist eine Akkommodation zu erkennen. Der Kunde sagt: “morge frau amrein”, und die Agentin antwortet mit “morge herr kalbermatter.” (In der Tabelle aufgeführt unter “anderes mit Namen”). nummern, sondern nur eine mögliche Konsequenz. Die zitierten Kunden wählen die auf eine Nummer reduzierte Form der Selbstpräsentation bei der Begrüssung & Vorstellung selber und freiwillig. Daneben tragen 50% der Frauen und 25% der Männer nach wie vor zuerst ihr Anliegen vor, bevor sie sich identifizieren lassen, und zwölf von 13 Frauen (die Ausnahme ist eine Deutsche) sowie 66% der Männer stellen sich immer noch mit ihrem Namen vor. Die Frauen halten also wesentlich stärker am traditionellen Muster fest als die Männer. Das Beispiel zeigt, dass neue Techniken nicht zwangsläufig ein anderes Gesprächsverhalten provozieren, sondern eher neue Optionen eröffnen. Dem Individuum ist es überlassen, die konventionellen Formen der Handlungsdurchführung weiter zu pflegen oder die neuen Optionen zu wählen. Abschliessend ist festzuhalten, dass die KundInnen trotz aller Konventionalität, durch die sich telefonische Gesprächseröffnungen auszeichnen, über ein nicht zu unterschätzendes Potenzial individueller Variation verfügen. Sie können für die Durchführung des Gesprächszugs Begrüssung & Vorstellung konventionelle Varianten wählen und diese in Formulierung und Prosodie individuell weiter differenzieren, sie können aber auch unkonventionelle oder abweichende Formulierungen wählen. Letztere können kleine Irritationen bei der Organisation des Sprecherwechsels auslösen. Mit jeder Variante sind bestimmte Selbststilisierungen verbunden, wobei vor allem die abweichenden Varianten zu unfreiwilligen Stigmatisierungen führen können. c) Die Begrüssung der Agents Nach der Vorstellung der Agents und der Begrüssung & Vorstellung der KundInnen besteht der dritte und letzte Gesprächszug der Gesprächseröffnung aus der Begrüssung der Agents. Dieser fällt wieder wesentlich einheitlicher aus, wie Tabelle 9 zeigt. Tab. 9: Begrüssungen der Agents (n=114) grüezi herr keller 71x grüeziwool 4x grüeziwool herr keller 4x grüezi 2x guten tag / guete tag herr keller 4x anderes ohne Name 5x anderes mit Namen 11x kein Gruss 13x Die mit Abstand häufigste Begrüssungsformel ist “grüezi herr keller”. Die Agents verwenden sie vollkommen stereotyp, ganz unabhängig von der Formulierung, die der Kunde für die Begrüssung verwendet hat. 32 Wenn der <?page no="149"?> Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analyse 149 33 Dass die Schwyzer Bank nichts gegen Originale hat, zeigt die Tatsache, dass Thomas unterdessen zum Teamleader befördert wurde. Kunde sich nicht vorgestellt hat, weichen sie auf “grüeziwool” oder “guete tag” aus, und in 13 Fällen kommen sie überhaupt nicht mehr dazu, einen Gruss anzubringen. Ist die Formel stereotyp, so ist es die prosodische Ausführung nicht. Die meisten Agents haben den Nebenakzent auf “grüe”, den Hauptakzent (fett gedruckt) auf dem Namen des Kunden und heben am Schluss leicht die Stimme: “GRÜEzi frau KELler? ” (Lydia, 156). Davon weichen einzelne Agents ab. Susanne zum Beispiel geht am Schluss mit der Stimme extrem hoch hinauf. Klara wiederum legt den Hauptakzent auf das “grüe” und fällt dann in Lautstärke und Tonhöhe bis zum Schluss markant ab: Klara Die unterschiedlichen Stimmen und Melodien der Agents wirken wie musikalische Interpretationen der immer gleichen Liedzeile. Ganz aus der Reihe tanzt jedoch Thomas. Er nennt zuerst den Namen des Kunden, und zwar laut wie eine Fanfare, und hängt dann je nach Tageszeit und Laune wahlweise “guete morge”, “guete morge wool”, “grüezi” oder “grüeziwool” an. Alles in seinem abteilungsweit berüchtigten schnellen Tempo. Ein Beispiel: “herr KATHriner! guete morge-! ” (108). Thomas ist der einzige Agent, der eine solch ausgefallene Form der Begrüssung benutzt und seine Begrüssungen selber immer wieder variiert. Diese Selbststilisierung zum “Original” unterstreicht er durch sein Äusseres: hüftlanges Haar, Ohrring und schlabberige T-Shirts lassen ihn selbst im lockeren Umfeld des Call Centers als auffällig erscheinen. 33 Unterschiede zwischen den Agents zeigen sich nicht zuletzt darin, wie sie mit Verstehensproblemen umgehen. David und Alain unternehmen nichts, wenn sie den Namen des Kunden nicht verstanden haben. Lydia und Klara hingegen fragen nach. Lydia benützt dazu den Ausdruck: “grüeziwool jetz han=i grad ire name nöd verstande”; Klara benützt die gewöhnliche Grussformel in fragender Intonation: Kundin grützi mein name ist kathriner Klara grüezi frau <<fragend> KAthriner>. Kundin ja (190). So schafft noch die kleinste Handlung im Gespräch wie eine Begrüssung die Möglichkeit zur individuellen Gestaltung und damit zur Herausbildung eines persönlichen Stils. <?page no="150"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 150 34 Edmonson (1982) hat gezeigt, dass in Situationen mit klaren Erwartungen eine Äusserung immer gleich interpretiert wird, unabhängig vom Format. So wird zum Beispiel eine als “Bitte” formulierte Aufforderung eines militärischen Vorgesetzten immer als “Befehl” aufgefasst. Fazit: Der Variantenreichtum an Gesprächseröffnungen ist viel grösser, als er aufgrund der vorstrukturierenden Einflüsse des Mediums Telefon, des institutionellen Umfelds, der bankinternen Telefonstandards sowie der Konventionalität dieser Gesprächssequenz erwartet werden konnte, grösser auch, als er in der bisherigen Literatur beschrieben wurde. Dieser Reichtum der Varianten betrifft nicht das Handlungsmuster, das aus stereotypen drei Zügen besteht, sondern die Musterrealisierung, die gewählten Formulierungen. Auf Kundenseite existieren vier häufig verwendete konventionelle Formulierungen für den Gesprächszug Begrüssung & Vorstellung, die durch kleinere Variationen, durch Dialekt und Prosodie individuell weiter differenziert werden. Ein Drittel der KundInnen benützt andere Formulierungen, Formulierungen, die als konventionell, unkonventionell und sogar abweichend einzustufen sind. Die Agents produzieren weitgehend identische Vorstellungen, zeigen aber bereits bei der Begrüssung Unterschiede in Wortwahl, Intonation und Reparaturverhalten. So gelingt es beiden Seiten, durch individuelle Stilisierungen der winzigen Sequenz der Gesprächseröffnung sich über die interaktionale Rolle von Kunde und Agent hinaus einen Hauch von Individualität zu verleihen. Stilistisch relevant sind alle empirisch vorgefundenen Varianten, nicht nur die abweichenden. Trotzdem fallen natürlich jene Personen, die unkonventionelle oder abweichende Varianten benützen, auf. Sie stilisieren sich freiwillig oder unfreiwillig, absichtlich oder unabsichtlich, zum Nicht- Einheimischen oder zum speziellen Typen. Verstösse gegen Konventionen durch die KundInnen werden von den Agents nicht moniert oder gar korrigiert. Die Agents reagieren auf die Begrüssungen & Vorstellungen der KundInnen mit immer demselben Gruss und ratifizieren dadurch alles, was die KundInnen sagen, nachträglich als akzeptable Begrüssung & Vorstellung. Die Position im Schema Gesprächseröffnung macht jede Äusserung der KundInnen von selbst zu einer Begrüssung. 34 Schliesslich hat sich gezeigt, dass neue Techniken wie die automatische Identifizierung von KundInnen über Vertragsnummern und Passwörter nicht automatisch zu einer Veränderung des Handlungsmusters führen, sondern zu neuen Möglichkeiten der Musterrealisierung, neben denen die alten bestehen bleiben. <?page no="151"?> Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analyse 151 35 Sie, ich habe da zwei Belege, die ich nicht bekommen habe. 36 Ich hätte gerne a) den Kontostand des Kontos 123456, b) meine Kontostände gehabt, c) den Kontostand gewusst. 6.2.2 Analysebeispiel 2: Die Präsentation des Anliegens Kunde: Si ich ha da zwäi beleg wo: : n=ich nöd überchoo han. (186). 35 Die Präsentation des Anliegens durch die Kundin ist nach der Eröffnung die zweite Schlüsselstelle im Gespräch. Einerseits legen die Anrufenden damit Inhalt und Ziel des Gesprächs fest und initiieren damit ein bestimmtes Aufgabenschema. Andererseits etablieren die KundInnen durch die Art ihrer Präsentation eine bestimmte Beziehung zwischen sich und den Agents und geben sich über die allgemeine Kundenrolle hinaus ein situationsspezifisches Profil: als kurz angebundener, sachverständiger Auftraggeber, als freundliche Bittstellerin, als hilfsbedürftiger Gescheiterter oder als unwillige Reklamiererin. Wie die Anliegen vorgetragen werden und wie sich die Präsentation des Anliegens auf die Selbstdarstellung der KundInnen und die Beziehung zwischen Agent und Kunde auswirkt, zeige ich anhand der bereits bekannten Gesprächstypen “kontospezifische Auskunft” (vgl. Abschnitt 5.3.1) und “Entsperrung Internetzugang” (vgl. Abschnitt 5.3.3). a) Kontospezifische Auskunft Basis dieses Abschnitts sind jene 42 Gespräche aus den Abteilungen Service, Telefonbanking und Kartendienst, in welchen die KundInnen Auskunft über den Kontostand oder über bestimmte Ein- und Ausgänge wünschen, sowie 11 Gespräche, in welchen sie die Klärung falscher Belastungen oder die Nachsendung fehlender Belege verlangen. Bei der Frage nach dem Kontostand oder nach Ein- und Ausgängen kommt nur eine einzige Formulierung zwei Mal wörtlich identisch vor: ‘Ich hätte gerne Auskunft über meine Kontostände gehabt’. Ein Eindruck von Gleichheit entsteht trotzdem nicht, weil sich der zweite Sprecher durch seinen Walliser Dialekt deutlich vom ersten Sprecher mit Zürcher Dialekt abhebt: “ich hätt gärn mini kontoständ ghaa” (573), “ich hätti gäre mini kontoständ (ghä).” (571). Alle anderen Formulierungen kommen nur je ein Mal vor; dennoch lassen sich drei Varianten erkennen, die sich bei aller Variation als ähnlich bezeichnen lassen. In paraphrasierter Form lauten sie so: Variante 1 a) de kontostand vom konto 123456 ich hätt gärn b) mini kontoständ ghaa c) de kontostand gwüsst 36 9x <?page no="152"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 152 37 Ich hätte gerne den Stand vom Privatkonto und vom Sparkonto gewusst. 38 Können Sie mir a) den Kontostand angeben, b) sagen, ob ein Betrag hereingekommen ist. 39 Sie, können Sie schnell nachschauen, ob etwas reingekommen ist, auf das Konto heute. 40 Ich habe eine Frage / Ich wollte fragen / Ich hätte gerne eine Auskunft a) zu meinem Konto, b) ob Geld hereingekommen ist, c) über eine Einzahlung. 41 Ich hätte gerne eine Auskunft über eine Einzahlung, die ich gemacht habe. Wörtliches Beispiel: “ich hetti gern (.) de stand, vom privatkonto und vom sparkonto gwüsst? ” (523). 37 Variante 2 chönd=s mer a) de kontostand aagää b) säge öb en betrag inechoo isch 38 7x Wörtliches Beispiel: “SI könd si schnell LUEge ob (.) öppis inekoo isch; (.) uf=s konto hüt.” (125). 39 Variante 3 ich han e froog a) zu mim konto ich ha wele frööge b) öb gäld inechoo isch ich hätt gärn en uuskunft c) über en yzalig 40 7x Wörtliches Beispiel: “ich hett gern en=UUskunft über e Yzalig won=ich gmacht ha.” (565). 41 Einige der (oben nicht mitgezählten) deutschen und fremdsprachigen Formulierungen sind von den dialektalen Varianten nicht weit entfernt. Die Formulierungen: “ich hätte gerne gewusst - was hab ich denn auf meinem KONto; ” (567) und “FIRST of all i would like to know eh the MOVEments; e: : h which eh on my eh (-) PRIvate account.” (537) lassen sich Variante 3 zuordnen, die Formulierung “SAgen sie mir doch bitte mal den kontostand auf meinem konto 123456 strich 00.” Variante 2. Obwohl die KundInnen immer dasselbe Anliegen haben, wählen sie verschiedene Formulierungen und stellen damit ihr Anliegen und sich selber unterschiedlich dar. Variante 1 (‘ich hätte gern’) drückt einen Wunsch aus. Variante 2 (‘können Sie’) ist eher als Anweisung zu verstehen. Bei Variante 3 schliesslich definieren die KundInnen ihr Anliegen explizit als Frage bzw. Bitte um Auskunft. Stellen sich erstere und letztere als Bittsteller bzw. Fragende dar, treten die Benutzer der Variante 2 (sechs Männer, eine Frau) als eher forsche Auftraggeber auf. Zwei von ihnen fügen ausserdem das Wörtchen “schnell” ein, welches sie zusätzlich als eher kurz angebunden erscheinen lässt, vielleicht aber auch die Funktion hat, den Auftrag und damit die Belästigung als gering zu stilisieren. An den bisher vorgestellten, konventionellen Varianten fällt auf, dass im Dialekt kein einziges “bitte” vorkommt. Höflichkeit wird allein durch den Konjunktiv, durch Modalverben sowie die Partikel “gern” ausgedrückt. Nur <?page no="153"?> Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analyse 153 42 Ich wollte fragen, ob Sie für mich nachschauen können, ob der Lohn schon gekommen ist, auf meinem Konto. in zwei deutschen und in zwei französischen Gesprächen erscheint das “bitte” bzw. “s’il-vous-plaît”. Unkonventionell erscheinen im Kontrast zu den vorgestellten Varianten jene Präsentationen des Anliegens, die deutlich erweitert bzw. deutlich reduziert sind. Drei Formen von Erweiterungen kommen mehrmals vor: a) die Begründung, weshalb man anruft, b) die Entschuldigung, dass man die falsche Abteilung belästig, c) die Frage, ob man unter dieser Nummer überhaupt Auskunft bekommt. So schildern drei KundInnen ausführlich, warum sie anrufen: weil sie eine Mahnung bekommen haben, weil sie Ordnung in ihre Konten bringen wollen usw. Zwei Kunden erklären, sie hätten nur gerade die Nummer des Kartendienstes zur Hand und würden deshalb - obwohl unpassend - dort anrufen. Drei weitere Anrufer im Kartendienst fragen vorsichtshalber nach, ob sie überhaupt Auskunft über das Konto bekommen können. Interessant sind die Formulierungen der folgenden zwei am Abend anrufenden, gebrochen Deutsch sprechenden Kunden: Kunde si ich möchte wisse meine KONto han=ich GELD oder nit; KANN ich das bitte. (470). Kunde i gerne (xxxxxxxx) mini kontostand; (0.5) <<leise> (söll ich) (-) mache oder- > (479). Beide beherrschen und benützen erkennbar eine der konventionellen Varianten, nämlich Variante 3 (470) bzw. Variante 1 (479); gleichzeitig manövrieren sie sich mit ihrer vorsichtigen, zögerlichen Art (“KANN ich das bitte”, “mache oder-“) in die Position des Bittstellers, der um etwas bittet, das nicht selbstverständlich zur Dienstleistungspalette des Unternehmens gehört. Scheinbar unbegründet sind auch die Formulierungsschwierigkeiten und Verzögerungen dieser Kundin, die fragt, ob ihr Lohn schon eingetroffen sei: Kundin ich han wele frööge, (-) öb si für mich chönd luege öb de öhm (.) .h (.) öhm de LOHN öhm scho choo isch, uf em ëh (0.6) uf mim konto? (132). 42 Im Verlaufe des Gesprächs stellt sich heraus, dass ihr “Lohn” von der Arbeitslosenkasse kommt. Ungewollt hat sie sich mit ihrer unsicheren Anliegenspräsentation bereits sozial abgewertet. Den KundInnen, die ihre Präsentation des Anliegens durch Begründungen, Erklärungen und Fragen erweitern, stehen jene gegenüber, die es kurz mögen. Auf die Frage der Agents im Telefonbanking: ‘Was kann ich für Sie tun? ’ antworten zwei von ihnen zum Beispiel so: <?page no="154"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 154 43 Den/ Der Saldo des Privatkontos. 44 Es geht um eine Abschlussrechnung eines Kontos von mir. 45 Ich rufe wegen einer Gutschriftsanzeige an, und zwar… Kunde le: SOLde du: COMPte privé? (540). 43 Kunde <<pp> e: : h kontostand? > (562). Die oben vorgestellten Anliegenspräsentationen zeigten, dass die Frage nach dem Kontostand konventionellerweise in einem grammatikalisch vollständigen Satz vorgetragen wird. Die Reduktion des Ausdrucks um alles syntaktisch Überflüssige in diesen beiden Beispielen wirkt im Kontrast zum Konventionellen eher unhöflich und zeigt, dass diese Kunden ihre Beziehung zu den Agents auf das sachliche Minimum beschränken wollen. Wesentlich ausführlicher fällt die Anliegenspräsentation aus, wenn die KundInnen nicht nur den Kontostand oder Ein- und Ausgänge erfragen, sondern die Klärung einer falschen Transaktion verlangen. Ob diese KundInnen lediglich eine Klärung verlangen oder eine Beschwerde vortragen, steht dabei nicht von vornherein fest, sondern hängt davon ab, ob die KundInnen der Bank einen Fehler unterstellen, ob sie die Schwyzer Bank für ihr Problem verantwortlich machen oder nicht. Identische Formulierungen gibt es bei der Präsentation dieses Anliegens keine. Aber bei mehr als der Hälfte der Anrufenden ist ein gemeinsames, dreiteiliges Muster erkennbar: a) nennen des Themas bzw. Definition des Anliegens als Problem oder Frage, b) erzählen der Geschichte, c) nennen des Anliegens als Pointe der Geschichte. Zuerst wird also definiert, dass man eine Frage bzw. ein Problem hat, oder es wird gesagt, worum es geht bzw. weshalb man anruft. Die typischen Formulierungen: Kunde ich habe eine frage und zwar… (117). Kunde ich han es problem; und zwar betrifft das… (206). Kunde es gaat um ë: (-) ABschlussrechnig vom e konto vo mir… (148). 44 Kundin ich lüüten=aa wëge ëme guetschriftsaazeig. […] ond zwar […] (210). 45 Abgesehen von der ersten Variante, welche der gewöhnlichen Frage nach dem Kontostand entspricht (vgl. oben), kann die gewiefte Agentin bereits an diesen Einleitungen erkennen, dass es nicht um eine normale Kontoauskunft geht, sondern eben um ein Problem. Der zweite Teil der Anliegenspräsentation besteht darin, dass die “Geschichte” erzählt wird, die zu dem Problem geführt hat. Daran schliesst sich als Drittes nahtlos die “Pointe” an, die das Problem auf den Punkt bringt. Zwei Beispiele: <?page no="155"?> Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analyse 155 46 Ich habe letzte Woche mit einer Kollegin von Ihnen geredet und habe einfach für ein Konto eine Abschlussrechnung für die Steuern verlegt und habe das nochmals bestellt, und sie hat mir auch etwas geschickt, aber das falsche; vom falschen Konto. 47 In den Weiterbildungskursen mit den Agents konnte selbst bei mehrfachem Abhören der Aufnahmen und trotz vorliegenden Transkripten teilweise keine Einigung darüber erzielt werden, bei welchen Anfragen der KundInnen es sich um Reklamationen handelt und bei welchen nicht. Dazu ausführlicher Bendel (2002b). Zum Reklamationsgespräch auch Fiehler/ Kindt (1994) und Fiehler/ Kindt/ Schnieders (1999). 48 Ich habe eine kleine Frage und zwar… 49 …welche wahrscheinlich nicht dieses Konto betrifft. Kunde ich habe einen: eh zahlungsauftrag eh aufgegeben am erste zehnte, […] für ausführungsdatum zehnte zehnte; […] jaa eh aber das ist eh das erscheint NICHT auf die: eh/ auf meiner monatliche eh so AUSzug; (117). Kunde i han letscht wuche mit ere koLEgin von ine gredt und (-) ëhm han eifach für ëh (gewisses) konto en abschlussrechnig (vo/ für) de stüüre verleggt und han das jetzt nomol (-) ëh BSTE: LLT und si hat mer au was gschICKT aber s falsche. vom falsche konto. (148). 46 An diesen Geschichten sind zwei Dinge interessant. Erstens: Das Anliegen wird entweder als Frage oder als Problem bezeichnet oder gar nicht etikettiert, aber kein einziger Kunde definiert sein Anliegen als Reklamation (‘ich muss mich bei Ihnen beschweren’), obwohl es sich in einigen Fällen klar um solche handelt. Bei Nachbestellungen von Kontoauszügen und Zahlungsbelegen zum Beispiel ist manchmal lediglich am Wörtchen “nöd” (nicht) zu erkennen, dass der Kunde nicht einfach Belege bestellen will, sondern das Fehlen von Belegen reklamiert: “und was ich jetzt/ was man mir jetzt nöd gëë hat das ist der beLEG von der ehm/ von der uszahlig; ” (145). Das führt in einigen Gesprächen zu deutlichen Perspektivendivergenzen zwischen Kunde und Agent. Ersterer will sich eigentlich über einen Fehler der Bank beschweren, letzterer behandelt das Anliegen aber wie eine gewöhnliche Anfrage und denkt nicht daran, ein Reklamationsschema mit Entschuldigung usw. in Gang zu setzen. 47 Zweitens: Es werden keine expliziten Vorwürfe gemacht, sondern im Gegenteil verschiedene Formen von Modalisierungen benutzt, um Vorwürfe, die man aus der Präsentation des Anliegens heraushören könnte, abzuschwächen. Diese Modalisierungen sind: 1. Definition des Problems als klein ich han e chlyni fraag und zwar… (155). 48 2. Unsicherheitsmarker …wo worschinli ned das konto betrifft. (206). 49 <?page no="156"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 156 50 Meines Wissens ist ja die EC Karte und die Visa Karte, ist die auf dem Academica(konto) gratis. 51 Leider ist das [Geld] immer noch nicht beim Empfänger angekommen. 52 Den [Beleg] habe ich dieses Mal nicht bekommen. 53 Und ich habe noch/ bin dann also auch einfach gegangen, und habe das jetzt erst realisiert, dass sie es mir gar nicht mitgegeben hat. 54 Ich habe hier eine Belastung auf einem Konto, für welche wir keinen Auftrag gegeben haben. Und ich weiss nicht, wer hier dafür zuständig ist. 3. Verzögerungen MInes wüssens isch jo (xxx) (.) eh (.) d EC charte o: nd eh d visa charte/ (.) isch die uf em academica gratis. (209). 50 4. Ausdrücken von Bedauern et ehm: : : =malheureusement, eh c’est toujours PAS arrivé au déstinateur. (575). 51 5. Entschuldigendes Lachen den han ich <<lachend> das mal> nöd übercho (145). 52 6. Übernahme eines Teils der Schuld und ich ha noch/ bin dann also auch einfach gange .hhh und han das jetzt erst realisiert dass si mir=s gar nöd mitgëë hat; (145). 53 Wie hier Beschwerden vorgetragen werden, steht in keinem Vergleich zu dem, was von deutschen Reklamationsgesprächen bekannt ist. Ausdrücke wie “das muss doch klappen” (Fiehler/ Kindt/ Schnieders 1999: 124) oder gar “das ist eine furchbare Schlamperei” (Antos 1988: 13) sind in meinem Korpus inexistent. Ob die Zitate bei Fiehler et al. und Antos repräsentativ sind für deutsche Reklamationsgespräche oder Extrembeispiele darstellen, ist den Arbeiten nicht zu entnehmen, da Einzelfälle vorgestellt und keine Vergleiche gezogen werden - ein typisches Beispiel für fehlende Angaben zur Repräsentativität der besprochenen Gesprächsphänomene und Stilmerkmale (vgl. S. 135). Jedenfalls ist der Kontrast zwischen diesen und meinen Reklamationsgesprächen geeignet, das Klischee vom diplomatischen, um drei Ecken herum kommunizierenden Schweizer zu bestätigen. Unter den elf untersuchten Beispielen fällt dieser Bündner bereits als rüde auf: Kunde i han doo e beLASCHtig uf eme konto wo mir kai UUFtrag ggëë hend. und eh ((seufzt)) waiss nit wer doo für das ZUEstendig isch. (154). 54 Er unterstellt der Bank von Anfang an einen Fehler und gibt mit seinem Seufzen zu verstehen, dass man ihm Umstände macht. Stärkeres verbales Geschütz wird von keinem Kunden aufgefahren. Das bedeutet, dass die meisten Schweizer KundInnen sich gerade nicht zum Reklamierer stilisieren wollen und sehr auf die Wahrung einer guten Beziehung zum Agent bedacht sind, selbst wenn sie berechtigten Grund zur Beschwerde haben. <?page no="157"?> Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analyse 157 55 Der richtige Name des Internetdienstes der Schwyzer Bank ist ebenfalls englisch, wird von den französisch sprechenden KundInnen jedoch häufig französisch ausgesprochen. 56 [A] bedeutet, dass der Agent an dieser Stelle ein Rückmeldesignal gibt. Fazit: Bei der Präsentation des Anliegens “kontospezifische Auskunft” gibt es keine übereinstimmenden Formulierungen zwischen den 42 untersuchten KundInnen, lediglich auf der abstrahierenden Ebene der Paraphrase lassen sich Gemeinsamkeiten in den gewählten Formulierungen erkennen. Für die Bitte um nicht problembelastete Kontoauskünfte existieren drei konventionelle Varianten der Formulierung, welche das Anliegen als Bitte, Auftrag oder Frage stilisieren und in einem grammatikalisch vollständigen Satz vorgetragen werden. Davon weichen jene KundInnen ab, die ihre Anfrage zusätzlich begründen oder rechtfertigen, sowie jene KundInnen, die ihre Äusserung auf eine unhöflich wirkende Ellipse verkürzen. Die Bitte um Klärung falscher Transaktionen wird typischerweise in drei Teilen vorgetragen, einer Problembzw. Themendefinition, einer Geschichte und einer Pointe. Die Realisierung dieser dreiteiligen Form ist jedoch höchst individuell. Obwohl es sich in diesen Fällen häufig um Beschwerden handelt, werden potenziell vorwurfsvolle Äusserungen durch vielfältige Modalisierungen abgemildert. In der Hotline und im Kartendienst, das sei erwähnt, geht es teilweise aggressiver zu und her, wenn die KundInnen sich über nicht funktionierende Internetzugänge oder kaputte Bancomaten beschweren. In der Regel sind die KundInnen jedoch nicht von Anfang an aggressiv, sondern erst, wenn a) klar geworden ist, dass der Kunde nicht selber schuld am Problem ist, b) der Agent nicht helfen kann, und c) der Agent keine Erklärung für das Problem hat. Erst dann wagen die Kunden zu schimpfen, das sei “jede Samschtig so! ”, dass dieser Bancomat leer sei, das sei “SO: SCHLIMM! ”, dass alle Leute sehen konnten, dass bei ihr kein Geld herauskam und anderes mehr. Die zuletzt zitierte Kundin ist vor allem um ihr angeschlagenes Image besorgt. Das gilt auch für manche KundInnen, die nicht ins Internet kommen - das Thema des nächsten Abschnitts. b) Entsperrung Internetzugang Wer bei der Hotline anruft, weil der Zugang zum “Banknet” (englisch auszusprechen) 55 nicht herzustellen ist, hat meistens schon mehrere erfolglose Anmeldeversuche hinter sich und sitzt ziemlich verzweifelt am Computer. Wie präsentieren KundInnen in dieser Situation ihr Anliegen? 28 Gespräche, darunter acht französische, geben Antwort. Einer der untersuchten Gesprächsausschnitte klingt so: 56 <?page no="158"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 158 57 Ich habe ein Problem, und zwar, ich bin mich jetzt gerade am Einloggen auf dieser ersten Seite, und jetzt kommt da so eine Message, in welcher steht… 58 Ich habe ‘Netzwerkfehler’. Ist euch das bekannt? Kunde I: ch han=es proBLEM=und zwa: r (.) ich bi mi jetz grad am ylogge daa, [A] uf dere erschte siite=und eh jetz chunt da son=e message wo staat aus sicherheitsgründen ist der zugang für diesen benutzer gesperrt. (611). 57 Die Äusserung des Kunden umfasst erneut drei Teile. Zuerst definiert er sein Anliegen als Problem, dann schildert er, was er gerade tun wollte, zuletzt sagt er, welche Fehlermeldung auf seinem Bildschirm erschienen ist und liest selbige vor. Die Äusserung ist mit der dreiteiligen Anliegensschilderung jener KundInnen vergleichbar, die eine falsche Belastung klären wollen (vgl. oben). Eine genaue Problembenennung (‘ich kann mich beim Banknet nicht anmelden’) nimmt der Kunde allerdings nicht vor, ebenso wenig sagt er dem Agent, was er von ihm eigentlich erwartet (‘können Sie mir sagen, was ich jetzt tun muss’). Auffallend vage ist auch seine Situationsdeixis (“daa, uf dere erschte siite”). Er geht wie die meisten KundInnen davon aus, dass Andeutungen genügen, dass der Hotline Agent schon weiss, wovon die Rede ist, was von ihm erwartet wird und was zu tun ist. In den meisten Fällen sind die KundInnen mit ihren vagen Andeutungen auch erfolgreich. Die Wahl der Hotline Telefonnummer spezifiziert den Kontext dergestalt, dass für die Agents selbst höchst elliptische und indexikalische Äusserungen verstehbar sind wie diese: “ech ha; netzwerkfehler. isch euch das beKANNT? ” (623). 58 Keine zwei Problemschilderungen sind identisch, obwohl viele der Anrufenden genau das gleiche Problem haben und auch den gleichen Fehler gemacht haben. Ähnlichkeit besteht insofern, als bestimmte Bausteine der Äusserung immer wieder vorkommen, inhaltlich, zum Teil auch in der Formulierung miteinander vergleichbar. Diese Bausteine sind: Definition, Situationsschilderung, Problembenennung, Fehlermeldung, Ursachenhypothese/ Schuldzuweisung, Bitte um Hilfe. Ich stelle sie einzeln vor. Definition Zehn Anrufer (wovon vier französisch sprechende) definieren ihr Anliegen explizit als Problem. Das geschieht immer zu Beginn der Äusserung und am häufigsten mit der Formulierung ‘ich han=es problem’ bzw. ‘j’ai un petit problème’ (ich habe ein kleines [! ] Problem). Die anderen achtzehn haben auch ein Problem, sagen das aber nicht so direkt. Situationsschilderung Gut die Hälfte der KundInnen, 15 an der Zahl, geben an, was sie gerade taten, tun wollten oder bereits getan hatten, als das Problem auftauchte. Die typische Formulierung dafür lautet paraphrasiert: ‘ich ha mi wele aamälde’ <?page no="159"?> Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analyse 159 59 Irgendwie eh kommen wir nicht mehr rein. 60 Und dann geht das nicht, oder. 61 Das dritte Mal: Peng, raus, fort, oder; ist der Zugang gesperrt. 62 Ich bin da am Computer und habe einen Knopf in der Leitung. (ich wollte mich anmelden). Die Situationsschilderung kann aber auch sehr vage ausfallen: “ich bin da am comPUter” (679) oder eher ausführlich: “ich (bin ein) ganz neuer kunde bei ihnen mit banknet; =und hab gestern abend erstmals versucht mich da ANzumelden” (624). Letzterer ist einer von nur vier Kunden, die von sich aus die ganze Geschichte aufrollen, wie es zu dem Fehler gekommen ist. Die meisten begnügen sich mit einer sehr knappen Schilderung von Situation und Problem. Problembenennung In den meisten Gesprächen wird irgendwann das Problem benannt, entweder zu Beginn der ganzen Anliegenspräsentation oder als Abschluss der Situationsschilderung. Zwei Varianten kommen mehrfach vor, sinngemäss: ‘ich chum nöd is banknet ine’ (ich komme nicht ins Banknet rein) und ‘jetzt isch de zuegang gsperrt’ (jetzt ist der Zugang gesperrt). Einige der Gesperrten signalisieren Peinlichkeitsgefühle, indem sie bei der Problembenennung flüchtig lachen: Kundin irgendwie e: : : h <<lachend> chöme mer> nüme ine. (673). 59 Kunde: et puis ça ne marche pas <<lachend> quoi.> (637). 60 Von diesen mehrheitlich trockenen Problembenennungen heben sich jene ab, in denen die Gesperrten ihr Schicksal lautmalerisch nachbilden oder metaphorisch umschreiben: Kunde s dritte mol- POING use furt. (0.7) oder. [A] isch de zuegang GSPERRT. (630). 61 Kundin ich bin da am comPUter u: nd han en chnopf i de läitig. (679). 62 Kunde und das ist dummerweise etwas in die HOse gegangen=jetzt bin ich ge- SPERRT. (624). In diesen lautmalerischen und metaphorischen Formulierungen wird besonders deutlich, wie die Stilisierung einer Äusserung einen über die “wörtliche” Bedeutung hinaus reichenden stilistischen Sinn in der Terminologie von Sandig (vgl. Abschnitt 6.1.1) erzeugen kann: Der erste Kunde inszeniert mit seinem rhythmischen “Poing, use, furt” (eine klassische Dreierfigur) eine kleine Theaterszene, die nachbildet, was mit ihm am Computer passiert ist. Die zweite Kundin lässt mit ihrer zweideutigen Metapher vom Knopf in der Leitung gekonnt offen, ob das Problem in ihrem Kopf oder in der Technik zu verorten ist. Und der dritte stellt seine Lage symbolisch als versch… dar. Während die ersten beiden sich als mit Galgenhumor gewappnet darstellen, <?page no="160"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 160 63 Fehler Nummer franm [sie versucht die Zeichenkombination als Wort auszusprechen], nachher so ein/ so ein - wie sagt man nur - so eine Linie, nachher f 001. 64 Ich bekomme die Meldung, der Server sei überlastet. tragen der Ausdruck und die zerknirschte Stimme des Letzten dazu bei, ihn als vollkommen untröstlich zu stilisieren. Fehlermeldung Elf Personen lesen von sich aus die Fehlermeldung vor, die auf dem Bildschirm erscheint (die anderen werden in der Regel von den Agents später im Gespräch danach gefragt). In der Hälfte der Fälle ergänzt die Fehlermeldung die Problembenennung, in der Hälfte der Fälle steht sie alleine da und ersetzt diese gewissermassen. Die typischen Formulierungen lauten paraphrasiert ‘es häisst do’ (es heisst da), ‘ça me met’ (es zeigt mir). Die Wahl des unpersönlichen “es” signalisiert eine deutliche Distanzierung von dem, was der Computer meldet. Nur zwei Kunden fühlen sich von der Meldung offenbar angesprochen, wie die Wahl des Pronomens der ersten Person zeigt: “ich… krieg n sysTEMfehler” (669), “ich chume… d mäldig über” (559) (ich bekomme die Meldung), und einer personifiziert gar den Computer: “il dit que” (er sagt, dass) (654). Die Meldungen selber, (meistens: “Aus Sicherheitsgründen ist der Zugang für diesen Benutzer gesperrt”), werden von sechs Benutzern wörtlich vorgelesen, auf Deutsch und sehr schnell. Fünf diktieren die Fehlernummer (meistens: “franm_f001”), wobei sie unterschiedliche Gewandtheit mit der Zeichenkombination zeigen: Kunde FEHlernummer. <<len> ef er a en em. (1.1) eh UNderline, (-) ef null null äis.> (630). Kundin fehler nummero- FRANMnachhär e so en (0.5) e so en <<pp, all> we seit me au> son=e LInie,=nachhär ef null null äis, (656). 63 Nur einer paraphrasiert die Meldung in indirekter Rede: “ich chume d mäldig über de: SERver sigi überlaschted” (559). 64 Schon beim Vorlesen der Fehlermeldung kommen andeutungsweise Unterschiede in der Computerkompetenz der KundInnen zum Vorschein. Noch deutlicher ist das beim nächsten Baustein der Fall. Ursachenhypothese/ Schuldzuweisung Einige KundInnen wissen sehr genau, was sie falsch gemacht haben, und sagen das auch. Andere haben keine Ahnung, was los ist, und sagen das - interessanterweise - auch. Die Dritten stellen Vermutungen an, was falsch gelaufen sein könnte, und eine Minderheit äussert sich gar nicht zu den Problemursachen. <?page no="161"?> Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analyse 161 65 Und das Passwort, weil ich eine dänische Tastatur habe, zwei Mal falsch eingetippt und jetzt ist mir der Zugang gesperrt. 66 Ich habe vermutlich zuerst von einer falschen Firma die Compu/ also diese Karte da genommen. 67 Ich habe keine Ahnung warum. 68 Ich bin also recht/ ich muss sagen, ich bin ein Anfänger. 69 Was habe ich da falsch gemacht? 70 Vermutlich habe ich irgendeinen Fehler gemacht, weiss aber nicht wo. 71 Ich habe ein Problem, ich komme beim Banknet nicht rein, sehe aber nicht, wo ich einen Fehler gemacht haben müsste. Das Äussern von Ursachenhypothesen ist eng verschränkt mit dem Eingestehen bzw. Ablehnen von Schuld und mit der Demonstration von Kompetenz, und zwar auf vertrackte Weise. Jene nämlich, die wissen oder mindestens vermuten, wie der Fehler passiert ist, nehmen zwar die ganze Schuld am Problem auf sich, können jedoch gleichzeitig ihre Kompetenz bezüglich Computerproblemen demonstrieren! Zwei Beispiele: Kunde und eh: (.) s passwort wel i (.) en dänischi taschtatur ha (zwe) mol falsch ygetippt und jetz isch mer dr ZÜEgang <<lachend> gsperrt.> (671). 65 Kundin ich han glaub eh zersch von=ere falsche firma d compu/ aso da die CHARte gnoo, (673). 66 Auf der andern Seite stehen jene, die nicht wissen, was geschehen ist. Bei einigen kommt das Unwissen indirekt zum Ausdruck durch Formulierungen wie “es gaat äifach nüme” (es geht einfach nicht mehr). Andere zeigen sich ungeschminkt in all ihrer Inkompetenz und Hilflosigkeit, ohne Rücksicht auf ihr Image: Kunde ich ha käi aanig warum. (620). 67 Kundin ich bin aso RECHT eh/ ich mue sege ich bin en AAfënger. (679). 68 Viele, entgegen möglicher stereotyper Erwartungen auch Männer, sind ausserdem bereit, prophylaktisch alle Schuld auf sich zu nehmen: Kunde was han=i doo lätz gmacht? (630). 69 Kunde jetzt weiss ich auch nicht was ich da falsch gemacht hab oder woran das liegt. (624). Kunde vermuetlich han=i irgend en fëëler gmacht, (.) wäiss aber nöd wo: ? (651). 70 Sie stilisieren sich damit zu unwissenden, schuldbewussten, hilfsbedürftigen Personen, denen man schon aus Mitleid die Hilfe nicht verwehren kann. Von ihnen hebt sich eine Kundin scharf ab, die von vornherein jegliche Schuld von sich weist. Ihre vollständige Anliegenspräsentation lautet: Kundin i han es problem ich chum bim banknet nöd Ine, (0.6) gsie aber nöd ii won=i en FËËler gmacht müesst haa. (609). 71 <?page no="162"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 162 72 Denn am Morgen zwischen sieben und halb acht funktioniert das Banknet sehr häufig nicht. 73 Haben Sie wieder eine Panne, oder wie? 74 Ich habe eine Frage, es hat geheissen ich müsse mich da mit/ mit Ihnen in Verbindung setzen - ich finde das zwar ein bisschen komisch - es sei ein Fehler aufgetreten. 75 Was kann ich jetzt tun? Dieser Kundin ist es so wichtig, ihr Image der Fehlerlosigkeit aufrecht zu erhalten, dass sie darob die Beschreibung des Problems völlig vernachlässigt. Schliesslich gibt es die absoluten Spezialisten, die ihr Anliegen so präsentieren, dass der Eindruck entsteht, die Bank habe ein Problem, nicht sie. Ein leider sehr schlecht zu verstehender französisch sprechender Anrufer fragt, ob es denn beim Banknet Servicezeiten gebe, “parce-que c’est TRÈS souvent que le matin à sept heures sept heures et demi le banknet ne fonctionne PAS.” (632). 72 Kurze Zeit später ruft er nochmals an und fällt mit dem Vorwurf ins Haus: “vous êtes de nouveau en PANne ou quoi.” (633). 73 Für ihn ist von Anfang an klar, dass der Bankserver Schuld an seinen Problemen ist, nicht sein Computer, die Leitung, das Programm oder gar er selber. Er stilisiert sich zum selbstbewussten Kenner und Könner, der es sich erlauben kann, bei der Bank zu reklamieren. Auf seine Weise gibt schliesslich auch der letzte Kunde zu verstehen, dass er gar kein Problem hat. Mit seiner Definition des Anliegens als “Frage”, den Konjunktiven (“müess”, “seig”) und der Bewertung des Vorgangs als “komisch” distanziert er sich in aller Form vom Fehler, den das Programm ihm anzeigt: Kunde äh ich ha e fraag; [A] s hät ghäisse ich müess mich da mit/ mit yne i verbindig setze <<p, all> ich find das zwar chly komisch.> es seig en fëëler uuftrëtte. (613). 74 Es ist vor allem dieser Baustein, Ursachenhypothese/ Schuldzuweisung, der den Anliegenspräsentationen der KundInnen die individuelle Unverwechselbarkeit verleiht und zu erkennen gibt, wie die KundInnen sich dem Agent gegenüber positionieren, ob als humorvolle oder untröstliche Gescheiterte, als Ratlose, als zerknirschte Hilfsbedürftige oder selbstbewusste Beschwerdeführer. Bitte um Hilfe Schliesslich gibt es Kunden, die den Agent explizit um Hilfe angehen: “was CHAN=i jetze machche? ” (671). 75 Mit drei Fällen ist dieser Äusserungsteil allerdings selten. Aus den beschriebenen sechs Bausteinen können die KundInnen nun ihre individuelle Anliegenspräsentation zusammenstellen. Dabei unterscheiden sie sich merklich in der Ausführlichkeit und Präzision, mit der sie das Problem schildern. Noch augenfälliger und für die Selbstdarstellung entschei- <?page no="163"?> Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analyse 163 76 Ich habe ein kleines Problem, und zwar vor rund drei Wochen habe ich zum letzten Mal das Banknet benützt, und damals habe ich möglicherweise mit einer falschen Streichlistennummer gearbeitet. Seitdem ist mein Zugang gesperrrt. Jetzt hätte ich ein paar Zahlungen, die ich machen sollte, und die Frage ist (xxx) wie wir die Benutzersperrung aufheben können. 77 Eine vollständige Analyse des Gesprächs erfolgt in Abschnitt 7.3.3. dender ist aber die Darstellung der eigenen Schuld und Kompetenz. Eine minimalistische, aber präzise, Schuld- und Kompetenzfragen vermeidende Anliegenspräsentation ist diese: Kunde ich geh über=s BANKnet rein, (.) und krieg n sysTEMfehler=und zwar fehler neunhundertSECHS. (669). Der Kunde beschränkt sich auf eine knappe Situationsschilderung und die Nennung der Fehlermeldung. Demgegenüber ist die folgende Anliegensäusserung sehr ausführlich. Der Kunde definiert sein Anliegen als Problem, schildert die ganze Vorgeschichte, formuliert eine Ursachenhypothese, benennt das Problem, sagt als einziger, warum er gerade jetzt das Banknet benützen will, und bittet dann förmlich um die Aufhebung der Sperrung. Kunde ich han es chlyses problem und zwar vor rund drü wuche han=ich zum letschte mal s banknet bbruucht, und DENN han=ich möglicherwys mit ere falsche: STRYCHlischtenummere gschaffet. [A] und sit dëm isch mi zuegang gsperrt.=jetz hätt ich es paar ZAlige won=i setti machche- (-) und d FRAAG isch (wxxxxxxxxx)/ (wie mir) die benutzersperrig chönd UUFhebe. (612). 76 Es wäre allerdings falsch, diese Anliegenspräsentation als “vollständig” zu bezeichnen, ein “Muster” daraus abzuleiten und den Schluss zu ziehen, alle anderen Problemschilderungen seien “unvollständig”. Alle 28 untersuchten Anliegenspräsentationen initiieren das Aufgabenschema “Entsperrung Internetzugang” und sind insofern funktional vollständig. Allerdings hat die Art und Weise, wie die KundInnen ihr Anliegen präsentieren, Folgen für den weiteren Gesprächsverlauf. Wer sein Problem nicht präzise benennt, bürdet der Agentin die Fehlersuche auf, was sich in einer längeren Fragebatterie niederschlagen kann. So hat die Agentin bei dem Kunden, der es “komisch” findet, dass er sich wegen eines Fehlers melden müsse, grösste Schwierigkeiten herauszufinden, um welchen Fehler es sich handelt, weil der Kunde sich völlig unkooperativ zeigt. Bei genauen Fehlermeldungen hingegen kann die Agentin sofort dazu übergehen, den Kunden zu identifizieren und zu entsperren. Bemerkenswert ist auch der Fall der Dame, die jeglichen Fehler von sich weist. Ihr selbstsicheres Auftreten verleitet die Agentin dazu, den Fehler bei der digitalen Sicherheitskarte zu suchen statt bei der Kundin - dabei hat diese genau die gleichen Eingabefehler gemacht, wie alle andern auch… 77 Der Umgang mit Fachbegriffen und die Demonstration von (In-)Kompetenz wiederum legen fest, ob der Dialog eher einer unter Experten oder <?page no="164"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 164 78 Das ist noch relativ schwierig, he? Sich da zu identifizieren, wenn man keine Unterlagen hat, wenn man so offline dahockt, he. einer von Experte zu Laie sein wird (vgl. Brünner 1997, Cube 1997). Und nicht zuletzt schaffen die KundInnen mit ihrer Anliegenspräsentation ihr für dieses Gespräch gültiges Image als Experte, der ein Problem hat, als ahnungslose Anfängerin, als Gescheiterter, als unwilliger Beschwerdeführer. Dieses Image schaffen sich die KundInnen durch die stilistische Gestaltung ihrer Äusserung selbst, es wird ihnen weder von der Situation noch vom Verhalten der Agents aufgedrängt. Obwohl pro Tag mehrere Dutzend Personen anrufen, die ihren Internetzugang entsperren lassen möchten, findet jeder Anrufer und jede Anruferin eine individuelle Formulierung für die Anliegenspräsentation und schafft sich damit über die Kundenrolle hinaus ein individuelles Profil. 6.2.3 Analysebeispiel 3: Die Kundenidentifikation Kunde: da=sch no relativ SCHWIrig he? sich do: i/ z identifizierewe me kä Underlaage het; we me so OFFline hockt da; he ((lacht)) (627). 78 Seit Jahren versucht die EU, die Schweiz zur Lockerung ihres berühmtberüchtigten Bankgeheimnisses zu bewegen - bislang umsonst. Keine in- oder ausländische Instanz, weder Privatperson noch Behörde, ist berechtigt zu erfahren, welche Personen ein Konto bei einer Schweizer Bank haben, geschweige denn, wie viel Geld darauf ist. Alle Bankangestellten sind zu absoluter Geheimhaltung verpflichtet, ansonsten ihnen nicht nur die Kündigung, sondern auch eine Strafanzeige drohen. Auskünfte über ein Konto dürfen nur an den Kontoinhaber und bevollmächtigte Personen erteilt werden. Am Schalter müssen die KontoinhaberInnen eine Bankkarte mit Unterschriftenmuster oder einen Personalausweis mit Fotografie vorlegen, wenn sie Auskünfte einholen oder Transaktionen durchführen wollen. Am Telefon ist es schwierig, die Identität der anrufenden Person zu prüfen. Die BeraterInnen in den Geschäftsstellen, die ein persönliches Kundenportefeuille betreuen, erkennen ihre KundInnen teilweise an der Stimme. Alle anderen BeraterInnen sowie die Agents, die die Anrufenden nicht kennen, identifizieren die KundInnen mittels Fragen, die so spezifisch sind, dass nur der Kontoinhaber sie beantworten können sollte. Darunter sind Fragen wie: Welches ist der aktuelle Kontostand? Welche Beträge sind kürzlich ein- und ausgegangen? Welche Kreditkarten laufen über das Konto? Wo und wann wurde jüngst mit der EC-Karte Geld bezogen? Gibt es Daueraufträge? Wer hat Vollmacht? Wahlweise werden drei Fragen gestellt, und zwar so, dass diese weder mit einem Kontoauszug (Kontostand, Ein- und Ausgänge) noch <?page no="165"?> Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analyse 165 79 Als Examensfragen bezeichne ich jene Fragen, bei welchen der Fragende die Antwort bereits kennt und prüfen will, ob der Befragte sie auch weiss. Die Examensfrage unterscheidet sich fundamental von der Informationsfrage, bei welcher der Fragende nach Informationen fragt, über die er gerade nicht verfügt. Während Informationsfragen tendenziell eine Asymmetrie zu Gunsten des Befragten etablieren, etablieren Examensfragen gerade umgekehrt eine deutliche Asymmetrie zu Gunsten des Fragenden und sind äusserst imagebedrohend. Examensfragen sind kennzeichnend für Institutionen wie Schule und Gericht und werden als unangenehm empfunden. mit einem gestohlenen Portemonnaie (Karten, Quittungen von Bezügen) allein beantwortet werden können. Unzureichend sind die Angabe von Kontonummer, Geburtsdatum und Adresse, da diese Daten von Betrügern leicht zu beschaffen sind. In der Ausbildung und Überwachung der Agents wird auf nichts mehr Wert gelegt als auf die korrekte Durchführung der Identifikation (ID). Den Agents wird regelrecht die Hölle heiss gemacht, sie könnten sich verplappern oder auf Fangfragen hereinfallen und so das fragliche Konto “bestätigen”. Tatsächlich sind manchmal Trickspieler am Werk, die darauf aus sind, das Bankgeheimnis zu knacken und herauszufinden, wie viel Geld Kollegin X auf der Bank hat. Dazu werden die unglaublichsten Geschichten vorgetragen, zum Beispiel die Kollegin habe Geburtstag, man wolle ihr etwas überweisen, man sei ganz sicher, dass sie ein Konto bei der Schwyzer Bank habe, leider habe man die Nummer nicht usw. usf. Im harmlosesten Fall sind es wirklich nur Kollegen, die sich einen Scherz erlauben, im dümmeren Fall ist es ein Vertreter einer Konsumentenschutzorganisation oder ein Journalist, der die Verletzung des Bankgeheimnisses sofort publizistisch ausschlachtet, und im schlimmsten Fall steckt eine ausländische Steuerbehörde hinter dem Versuch, das Bankgeheimnis zu knacken. Die Furcht vor der Verletzung des Bankgeheimnisses lastet permanent auf allen Bankangestellten und sorgt dafür, dass die Kundenidentifikation ein Dauerthema ist und bleibt. Ein gutes Drittel aller Anrufenden muss aufgrund des präsentierten Anliegens identifiziert werden. Die Phase der ID steht in Bezug auf die Interaktionsmodalität in scharfem Kontrast zum übrigen Gespräch und ist ganz geeignet, die Beziehung zwischen Agent und Kundin zu belasten. Die Gründe dafür sind: 1. Die ID unterbricht den von den KundInnen erwarteten Ablauf des Gesprächs. Anstatt nach der Ratifikation des Kundenanliegens sofort zu dessen Bearbeitung überzugehen, schaltet der Agent eine ganze Batterie von Fragen ein. 2. Die Agents stellen während der ID regelrechte Examensfragen, 79 sie führen quasi ein Verhör durch, was nicht dem üblichen Umgang mit KundInnen entspricht und von diesen als Bedrohung des negativen Gesichts empfunden werden kann. <?page no="166"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 166 80 Also das ist mir zu kompliziert. 81 Der Begriff der “Routine” schliesst normalerweise den Aspekt des Halb-, Unbewussten oder Automatischen mit ein. Meines Erachtens besteht aber keine prinzipielle Unvereinbarkeit von Routine und Bewusstheit. Die Routine, die bei den Agents während der ID 3. Viele KundInnen begreifen den Sinn der ID nicht, sie wissen nicht, warum sie ausgefragt werden und beweisen sollen, dass sie persönlich am Telefon sind. 4. Viele KundInnen haben Mühe, die nötigen Angaben zum Konto zu beschaffen, oder verstehen die gestellten Fragen wegen der Fachbegriffe (“Eingang”, “Dauerauftrag”, “Unterschriftsberechtigung”) nicht. Dadurch dauert die ID noch länger und das Gesicht der KundInnen leidet noch mehr. Die Folgen sind: Geräuschvolles Blättern in Unterlagen, Seufzen, Stöhnen, Rückfragen, was das Ganze soll, bis hin zum Abbruch des Telefongesprächs: “aso das isch mir z kompliziert” (169). 80 Die Agents stehen vor dem heiklen Balanceakt, weder das Bankgeheimnis noch das Gesicht des Kunden zu verletzen, was sich in einer Menge von Modalisierungen, Höflichkeitsfloskeln und teilweise überschwänglichem Dank an kooperative KundInnen äussert (vgl. unten). Sie müssen die KundInnen ausfragen, aber im Gegensatz zu Lehrerinnen und Richtern können sie ihre institutionelle Macht nicht ungemildert ausüben, sondern müssen Rücksicht nehmen auf den Kunden und sein Gesicht, weil der Kunde sozial über ihnen steht. Beneke spricht in diesem Zusammenhang treffend von gekreuzten Asymmetrien: Bei kommerziellen Beziehungen liegt die institutionelle Macht zwar wie bei allen Institutionen beim Agenten, der über die Produkte, den Zugang zu den Systemen und das für die Durchführung des Geschäfts notwendige Wissen verfügt, die soziale Macht liegt jedoch beim Klienten, der das Geld bringt und über die Durchführung des Geschäfts entscheidet (Beneke 1992). Die ID ist somit eine Gesprächsphase, • die nur in diesem ganz spezifischen Kontext des Bankgesprächs vorkommt, • sich in der Modalität klar vom umgebenden Gespräch abhebt, • besonders geschult wird, • einen artifiziellen Charakter hat, • die gekreuzt asymmetrische Beziehung zwischen Agent und Kunde potenziell belastet. Entsprechend hoch ist die Aufmerksamkeit, mit der die Agents die ID abwickeln. Ihr Gesprächsverhalten ist in dieser Phase zwar routinehaft, aber keineswegs unbewusst oder automatisch, sondern sehr bewusst gestaltet. 81 <?page no="167"?> Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analyse 167 zum Ausdruck kommt, entsteht durch die wiederholte Anwendung von aus ihrer Sicht bewährten Strategien zur Bewältigung dieser schwierigen Gesprächsphase, was aber den Grad der Aufmerksamkeit, mit dem diese Strategien umgesetzt werden, nicht mindert. 82 Können Sie mir zur Identifikation bitte den Kontostand oder eine Kontobewegung angeben. 83 Können Sie mir zu Ihrer Sicherheit noch ein paar aktuelle Kontobewegungen angeben, Herr Keller. Die Art, wie sie die ID durchführen, ist als Problemlösungsstrategie anzusehen, mit der sie auf erschwerte kommunikative Anforderungen reagieren. Die folgenden Abschnitte sollen zeigen, dass diese Problemlösungen individuell ausfallen. Ich stelle nacheinander vor, wie die Agents die ID einleiten, welche Fragen sie stellen, wie sie diese formulieren, ob und wie sie Rückmeldungen geben und wie sie die ID abschliessen und zum Anliegen zurückführen. Das ausgewertete Teilkorpus umfasst je drei Gespräche von acht Agents: Lydia, Susanne, David und Sonja aus dem Service, Toni und Dionys aus dem Kartendienst, Pia und Antonio aus der Hotline. Es sind Gespräche, in welchen die ID unterschiedlich “glatt” verläuft, unterschiedlich lange dauert und ein Mal scheitert. a) Einleitung der ID Die Phase der ID beginnt in der Regel damit, dass die Agents ‘nochmals’ nach dem Namen des Kunden fragen, nach seinem ‘Vornamen’ oder dem ‘vollständigen’ Namen. Lydia, Susanne und Sonja aus dem Service fragen dann zuerst nach dem Geburtsdatum. Diese Frage ist eigentlich überflüssig, da das Geburtsdatum keine identifikationsrelevante Angabe ist. Die drei sagten im Coachinggespräch, sie würden diese von jedem Menschen einfach zu beantwortende Frage stellen, um die KundInnen “aufzuwärmen”, das heisst auskunftswillig zu machen für die folgenden “richtigen” Fragen. Nach diesem allfälligen Vorlauf folgt die Ankündigung der Identifikation. David benützt dafür die kürzestmögliche Variante: “jetzt eh (.) zur identifika- TION! ” (109, 117, 125) und hängt im gleichen Atemzug die erste Frage an. Auch Pia verknüpft die Ankündigung der ID mit der ersten Frage: “chönd=s mer zur identifikation bitte de KONtostand oder e kontobeWEgig aagëë” (663). 82 Lydia und Susanne, die nebeneinander im gleichen Team arbeiten, wollen gehört haben, man solle das Wort ‘Identifikation’ nicht verwenden. Sie sagen praktisch gleich lautend: “chönd si mer zo irer SICHERheit no paar aktuelli KONtobewegige aagëë herr keller” (Susanne, 149). 83 Der Ausdruck ‘zu ihrer Sicherheit’ ist für die KundInnen allerdings noch weniger verständlich als der Ausdruck ‘zur Identifikation’. Daher geraten die beiden in mehreren Gesprächen in Erklärungsnotstand und müssen ihre Fragen rechtfertigen. Ein Beispiel: <?page no="168"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 168 84 K: Aber es geht ja um die Adresse! - S: Ja, richtig! Aber wissen Sie, bevor ich Ihnen Auskunft gebe, muss ich Sie identifizieren. - K: Aha! 85 Ich müsste Sie zuerst identifizieren, damit ich Ihnen Auskunft geben kann. 86 Herr Kathriner, ich müsste Sie zuerst identifizieren, damit ich überhaupt irgendwelche Informationen geben kann! 87 Nein, das hilft mir alles nichts, Sie müssen (mir) meine Fragen beantworten, Herr Kathriner! 88 Kontobewegung; welche Bewegung. 89 Ja, was kann ich Ihnen da noch sagen. Kunde aber ëh es goot jo um d ADrässe. Susanne (2.0) ja richtig! aber wüssed si (.) bevor ich yne uuskunft gibe muss ich si: ëh identifiZIEre Kunde aHA! (149). 84 Susanne und Lydia sind von ihrer Ausdrucksweise trotz wiederholtem Misserfolg nicht abzubringen. Die verbleibenden vier Agents liefern ausführlichere Begründungen für ihr Tun. Sonja und Antonio begründen die ID wie folgt: “ich müssti si: (.) ZERSCHT identifiziere damit ich yne uuskunft gëë cha.” (Antonio, 652). 85 Toni ist ausgesprochen ausführlich (vgl. Beispiel S. 94), während Dionys wie ein Polizist auftritt: “herr kathriner i müesst si zersch identifiZIEre damit ich überHAUPT irgendwelchi informaZIOne cha gëë”. 86 Als der Kunde von sich aus sein Geburtsdatum nennen will, unterbricht er ihn und weist ihn rüde zurecht: “näi, das hilft mer ales nüt; =si münd (mir/ min) mini frooge beantworte herr kathriner” (431). 87 Knappes Ankündigen, sukzessives Einwickeln des Kunden, Zurechtweisen - bereits die Einleitung lässt erahnen, wie gross die stilistische Bandbreite ist, mit der die Agents die ID durchführen. b) Anzahl und Inhalt der Fragen zur ID In der Regel verlangen die Agents von den KundInnen nur die im Minimum vorgeschriebenen drei Angaben zum Konto. Dabei haben sie ihre individuellen Vorlieben. David fragt zuerst vage nach ‘Angaben zum Konto’ und dann meistens nach allfälligen Daueraufträgen. Er hält die ID meistens sehr kurz und stellt nie mehr als drei Fragen, in einem der hier nicht analysierten Gespräche vergisst er die ID sogar ganz. Lydia und Susanne steigen wie bereits erwähnt über das Geburtsdatum ein und fragen dann nach ‘aktuellen Kontobewegungen’. Bei kompetenten KundInnen ist das kein Problem. Viele verstehen den Ausdruck ‘Kontobewegungen’ jedoch nicht und antworten mit ihren Daueraufträgen, dem Kontostand oder völligem Unverständnis: “kontobewegig; (.) wëli bewegig.” (169). 88 Sonja fragt zuerst immer nach den Vollmachten und dann vage nach ‘weiteren Angaben’ zum Konto. Damit ist sie oft nicht besonders erfolgreich. Die einen Kunden liefern Angaben, die aus der Sicht der Bank unbrauchbar sind, erklären zum Beispiel, das Konto gehöre einer Stiftung, andere sind ganz ratlos: “ja was chan ich yne do no säge” (183). 89 Dann hilft sie nach und fragt nach ‘Beträgen’, <?page no="169"?> Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analyse 169 die kürzlich auf dem Konto ‘gebucht’ wurden. Doch auch dieses Fachchinesisch verstehen nicht alle, derselbe Kunde zählt als Antwort seine Daueraufträge auf. Sonjas Identifikationen dauern meistens sehr lange, sie quält die KundInnen mit bis zu sechs Fragen, was mit genervtem “ng=ng hh” (202) quittiert wird. Die Identifikationen von Pia in der Hotline sind demgegenüber so kurz und knapp, dass sie die internen Vorschriften teilweise nicht erfüllen. So fragt sie in einem Gespräch lediglich nach dem Geburtsdatum, allfälligen Vollmachten und nach der Existenz eines Wertschriftendepots (603). Bei den übrigen Agents im nationalen Call Center sind keine sich wiederholenden Fragemuster zu erkennen, was ihnen je nachdem als Flexibilität oder mangelnde Routine ausgelegt werden kann. Während Antonio bei einer internen Anruferin von der üblichen Frage nach Kontobewegungen elegant auf die von der Anruferin leichter zu nennende Personalnummer als Identifikationsmerkmal umsteigt, sucht Toni schnaufend und mit klappernder Tastatur während bis zu 11 Sekunden nach einer weiteren Frage, die er stellen könnte. Als Angestellter im Kartendienst muss er viel seltener KundInnen identifizieren als die KollegInnen im Service und scheint entsprechend Mühe zu haben. Sind die Auskünfte der KundInnen falsch oder ungenau, stellen die Agents so lange weitere Fragen, bis sie zur Überzeugung gelangt sind oder mindestens “das Gefühl haben” (wie sie es ausdrücken), doch die richtige Person am Telefon zu haben. In diesen Fällen kann die ID unangenehm lange werden. Während Susanne zwei ihrer Identifikationen in 25 bzw. 30 Sekunden durchbringt, bearbeitet sie einen der Stimme nach älteren Herrn zwei Minuten lang mit immer neuen Fragen. Er ist es auch, der sich schliesslich wehrt, es gehe doch nur um die Adresse (vgl. Beispiel oben). Die hörbaren Unterschiede zwischen den Agents in Bezug auf das verwendete Fragesortiment und die zum Ausdruck gebrachte Hartnäckigkeit bei der Suche nach “richtigen” Angaben sind nicht nur Ausdruck unterschiedlicher Routine, sondern auch individueller Strategien und Einstellungen. David erklärte in einem Weiterbildungskurs zum Beispiel, bei Ausländern frage er immer gezielt nach dem Lohn, das könnten diese am besten verstehen und beantworten (was sich in Gespräch 117 bestätigt). Das ist eine Strategie, mit der er seine Identifikationen vergleichsweise kurz halten kann. Sonja hingegen betonte, sie wolle absolut sicher gehen, dass man ihr keinen Fehler nachweisen könne. Ihre endlosen Fragebatterien und ihre formalistische Sprache sind direkter Ausdruck dieser Einstellung. c) Formulierung der Fragen zur ID Leute auszufragen ist an sich schon eine gesichtsbedrohende Angelegenheit. Leute nach ihren finanziellen Verhältnissen zu fragen ist in der Schweiz eine kaum zu überbietende Unverschämtheit. Nichts ist in diesem Lande so tabu <?page no="170"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 170 90 Wissen Sie noch eine Kontobewegung der letzten Zeit, irgendeinen Bankbezug oder den Lohn, der gekommen ist? 91 Wann und wo war das genau und wie viel? 92 Und wie viel ist dieser [Betrag]? 93 Erzählen Sie. 94 Mehr zum Thema Höflichkeit in Abschnitt 8.1.2.2. 95 Ich übernehme das bekannte Konzept des positiven und negativen Face von Brown/ Levinson (1978, 1987) und übersetze Face mit “Gesicht”, da die Ausdrücke “das Gesicht wahren” bzw. “verletzen” im Deutschen in gleicher Bedeutung verwendet werden. 96 Für Lakoff (1979) besteht “deference” in der Befolgung der Maxime: “Don’t impose - give options” (S. 65). 97 Können Sie mir noch eine Kontobewegung oder zwei angeben. wie Einkommen und Vermögen. Die Agents befinden sich daher in der doppelt ungemütlichen Situation, die KundInnen ausgerechnet nach ihren finanziellen Daten ausfragen zu müssen. Dazu benützen sie verschiedene sprachliche Formate: • einfache Frage haben sie noch einen LOHN der aufs konto kommt - (117). • Auswahlfrage wüssed si no en kontobewegig vo de letschte zyt irgend en bankbezuug (oder) de LOON wo choo isch (404). 90 • Mehrfachfrage WENN und wo isch das genau gsy und wivil; (403). 91 • Anschlussfrage undwivil ISCH dää? (109). 92 • Ellipse vorname? (206). wo? (435). • Imperativ verZEled si- (435). 93 Diese Formate sind vor allem unter dem Aspekt der Höflichkeit interessant, 94 denn sie haben unterschiedliche Auswirkungen auf das negative Gesicht des Kunden. 95 Während die einfache Frage und die (typischerweise mit einem gedehnten “u: nd” eingeleitete) Anschlussfrage in Bezug auf das Gesicht ein mittleres Bedrohungspotenzial aufweisen, gibt die Auswahlfrage dem Kunden mehrere Antwortoptionen, was seinen Handlungsspielraum erweitert und dadurch weniger gesichtsbedrohend, sprich höflicher wirkt. 96 Die Mehrfachfrage hingegen schränkt den Handlungsspielraum des Kunden stärker ein als die einfache Frage und ist daher weniger höflich. Ellipse und Imperativ schliesslich sind am stärksten gesichtsbedrohend und im Kontext eines Gesprächs mit einem Kunden markiert unhöflich. Die einfache Frage wird von den Agents oft mit verschiedenen Modalisierungen in ihrem Bedrohungspotenzial entschärft. Das sind: • Modalverb chönd si mir no (.) e kontobewegig oder zwäi aagëë. (169). 97 <?page no="171"?> Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analyse 171 98 Könnten Sie mir Ihr Geburtsdatum angeben bitte. 99 Können Sie mir vielleicht… Können Sie mir einfach… 100 Können Sie mir bitte schnell Ihr Geburtsdatum nennen, Herr Kurz? 101 So verschieden die in der Literatur besprochenen Höflichkeitskonzepte sind, den allermeisten ist gemeinsam, dass sie Höflichkeit als etwas betrachten, das in gestufter Form, auf verschiedenen “levels” oder “degrees” vorkommt (Fraser 1990). Allerdings betonen Brown/ Levinson (1987), dass eindeutige Kategorisierungen und Hierarchisierungen der sprachlichen Höflichkeitsmittel, wie sie im Anschluss an die erste Veröffentlichung ihres Höflichkeitskonzepts 1978 verschiedentlich versucht wurden, kaum möglich sind (S. 17-21). Schmelz (1994), der ebenfalls eine Reihe von Höflichkeitskonzepten diskutiert, betont, die häufig verwendete Formel “je indirekter umso höflicher” gelte nicht, in seiner eigenen experimentellen Untersuchung nimmt er aber doch immer wieder darauf Bezug. Insgesamt bleibt festzuhalten: Höflichkeit existiert in Abstufungen, aber eine klare Hierarchisierung bestimmter sprachlicher Mittel ist unabhängig von spezifischen Kontexten und Personenkonstellationen nicht möglich. 102 Dürfte ich von Ihnen noch den Vornamen und das Geburtsdatum / / Danke und können Sie mir noch ein paar Kontobewegungen angeben zu Ihrer Sicherheit. / / Und haben Sie da sonst regelmässige Eingänge. 103 Können Sie mir eine Position bitte angeben? • Modalverb im Konjunktiv chönnted si mir ires geBURTSdatum aagëë bitte. (651). 98 • Modalpartikel chönd si mir ächt… chönd si mir äifach… (652). 99 • Partikel “bitte” chönd=s mer bitte schnäll ires geburtsdatum näne herr kurz? (603). 100 Das Interessante ist, dass bei allen vier Agents im Service die Menge der eingesetzten Modalisierungen und damit der an der Gesprächsoberfläche sichtbare “Höflichkeitspegel” 101 im Verlaufe der ID abnimmt. Typischerweise wird die erste Frage mit einem Modalverb (allenfalls im Konjunktiv) versehen, danach folgt eine einfache Frage ohne Modalverb, auf diese je nachdem nur noch eine Anschlussfrage. Im folgenden Beispiel fällt der Höflichkeitspegel von Modalverb im Konjunktiv (‘dürfte ich’) über Modalverb (‘können Sie mir’) zur einfachen Frage ohne Modalverb (‘haben Sie’) ab: Frage 1 dörft ich vo yne no de: VORname und s geburtsdatum= Frage 2 danke und chönd si mir no (e) paar kontobewegige aagëë zu irer sicherheit. Frage 3 und händ si da susch (.) regelmäässigi ygäng. (165). 102 So holen die vier Agents im Service mit betonter Höflichkeit ihre KundInnen aufs ID-Schiffchen und drosseln dann den kommunikativen Aufwand umso mehr, je länger die Gesprächsphase dauert und je flotter das Schiffchen läuft. Die Agents im nationalen Call Center zeigen andere Verhaltensweisen. Pia benützt mit Abstand am meisten “bitte”, oft in Kombination mit dem Modalverb “können”: “chönd=s mir e position bitte aagëë? ” (609). 103 Antonio modalisiert ausser einigen Anschlussfragen sämtliche einfachen Fragen mit <?page no="172"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 172 104 Können Sie mir gerade die andere Vertragsnummer angeben? Können Sie mir vielleicht die Zahlungen gerade nennen mit Datum? 105 Ihr vollständiger Name? Können Sie mir etwas über den Kontostand dieser zwei Konten sagen. Dann sagen Sie mir etwas über die letzten Bezüge, die Sie gemacht haben. Wann, wo und wie viel? 106 Zum Beispiel bei Brinker/ Sager (2001: 81f): “Solche nach dem Prinzip der ‘konditionalen Relevanz’ verbundenen Folgen aus zwei Gesprächsschritten verschiedener Sprecher werden ‘adjacency pairs’ genannt, […] wie Frage-Antwort, Gruss-Gruss […]. Es handelt sich durchweg um zweigliedrige Sequenzen, die jeweils nur aus einem initiierenden und einem respondierenden (reaktiven) Gesprächsschritt bestehen (sog. Paarsequenzen).” Modalverb (teilweise im Konjunktiv) und benützt ausserdem überdurchschnittlich viele Modalpartikel. Dadurch wirkt er besonders vorsichtig und höflich: “chönd si mir grad di ander verTRAGSnummer noch aagëë? […] chönd si mir ächt die ZAlige grad nänne mit DAtum; ” (652). 104 Am andern Ende der Skala steht Dionys, der neben einem stereotyp eingesetzten und eher befehlshaberisch intonierten “chönd si mir säge” (können Sie mir sagen) auch Mehrfachfragen, Ellipsen und als einziger Imperative benützt. Das verstärkt seinen bereits in der Einleitung sichtbar gewordenen Polizeistil: “ire vollständig NAme? […] chönd si mir öppis über de KONtostand vo dëne zwäi- (0.9) KONtene sëge. […] denn sëged=s mer öppis über di letschte bezüü: g wo si gmacht hend […] wenn wo und wivil.” (435). 105 Meines Wissens werden die Agents nur instruiert, welche Fragen sie stellen können, aber nicht, wie sie diese stellen können. Die Analyse zeigt, dass ihre je eigene Interpretation, welcher Höflichkeitspegel den KundInnen gegenüber angebracht ist, unterschiedlich ausfällt, und dass die ergriffenen sprachlich-stilistischen Mittel zur Erfüllung dieser Höflichkeit ebenfalls individuell sind. d) Rückmeldeverhalten während der ID Auf eine Frage folgt in der Regel eine Antwort, das hat die Gesprächsforschung früh erkannt. Die Frage-Antwort-Sequenz wird heute in jedem Lehrbuch beschrieben und gilt als Inbegriff der Paarsequenz (adjacency pair) überhaupt. 106 Bucher (1994) widmet der Frage-Antwort-Sequenz einen ganzen Aufsatz, ohne auch nur die Frage aufzuwerfen, ob es sich dabei wirklich um eine Paarsequenz handelt. Das ist umso erstaunlicher, als die Bezeichnung Paarsequenz für Frage-Antwort-Sequenzen in der Regel nicht korrekt ist. Antworten werden nämlich in den seltensten Fällen reaktionslos im Raum stehen gelassen, sie werden vielmehr ratifiziert, mit Kopfnicken, Rückmeldesignalen wie “m=hm”, Partikeln wie “Aha”, “ja”, “genau”, “wirklich? ” oder gar längeren Kommentaren wie “das glaubst du ja selber nicht”. Die Ratifikation signalisiert im Minimum, dass die Antwort des Befragten vom Fragenden gehört wurde, je nach Art der Ratifikation auch, dass sie verstanden wurde. Die Ratifikation kann aber auch ein Dank für das Erteilen der Anwort sein, sie kann als Zustimmung zur Antwort oder als Bestätigung <?page no="173"?> Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analyse 173 107 In der letzten Funktion wird das daraus entstehende “Triplet” aus Frage, Antwort und Rückmeldesignal von Dürr/ Schlobinski (1994: 204) als typisch für die Lehrer-Schüler- Interaktion bezeichnet. Rückmeldungen auf Antworten und damit Dreierstrukturen sind aber keineswegs auf die schulische Interaktion beschränkt. 108 Zur Metapher des Gesprächs als Markt, auf welchem “social goods” ausgetauscht werden, siehe Leech (1983). 109 K: Ich würde gerne drei Versicherungsaktien verkaufen. - B: Drei, he. Sie haben aber fünf im Depot, das wissen Sie? - K: Jawohl, ja. - B: Okay. der Richtigkeit der Antwort dienen. 107 Antworten zu ratifizieren ist ein Gebot der Höflichkeit, denn der Fragende hat den Befragten mit seiner Frage belästigt und muss durch einen ‘Dank’ im weitesten Sinne seine soziale ‘Schuld’ begleichen. 108 Bleibt die Ratifikation aus, kann der Antwortende das als Zeichen dafür auffassen, dass der Fragende entweder seine Antwort nicht gehört hat oder mit ihr nicht einverstanden ist oder dass er einfach unhöflich ist. Die Frage-Antwort-Sequenz ist daher als Dreiersequenz Frage-Antwort- Ratifikation und das Ausbleiben der Ratifikation als dispräferiert aufzufassen. Ein Beispiel für die Dreiersequenz aus meinem Korpus (366): Kunde ich würd gern (0.8) drüü […] ëh bâloise aktie verchaufe. Berater drüü he; si hend aber FÖIF im depot das wüssed si. Frage Kunde JAwol ja. Anwort Berater (.) o: kay. 109 Ratifikation Gerade weil die Rückmeldung nicht nur das Eintreffen einer Antwort überhaupt bestätigt, sondern (ohne ein ausdrücklich ablehnendes Format wie “nein”) tendenziell auch Zustimmung ausdrückt, wird sie von den Agents während der ID oft weggelassen. Sie wollen damit vermeiden, dass der Kunde in seinen Auskünften bestätigt wird und daraus vorzeitig schliessen kann, dass das fragliche Konto tatsächlich existiert. Allerdings fällt das den Agents nicht leicht. Hörbare Rückmeldungen geben wir (gerade am Telefon) dermassen automatisch, dass den Agents das Erteilen derselben während der ID im Laufe der Einarbeitung regelrecht abtrainiert werden muss. Der Erfolg dieses schweigen Lernens ist allerdings unterschiedlich. Während Susanne, Sonja und Pia während der ID ziemlich konsequent keine Rückmeldungen geben, benützen David und Lydia in der Hälfte der Fälle höchst vage “m=hm” und zögerliche “j: a”, die das Eintreffen der Antwort zwar bestätigen, aber gezielt offen lassen, ob die Antwort korrekt war. Toni und Antonio hingegen bestätigen unbekümmert sämtliche Angaben der KundInnen, und zwar nicht nur mit “m=hm”, sondern auch mit “ja”, “okay”, “seer guet” und sogar “super ja”. Die mehrheitlich fehlenden Rückmeldungen sind unter anderem verantwortlich dafür, dass die Gesprächsphase der ID so künstlich wirkt. Zwei Kunden, die über mehrere Äusserungen hinweg unbestätigt bleiben, zeigen ihr Unbehagen deutlich, die eine mit gelangweiltem Singsang in der Stimme (165), der andere mit Lachen (183) (die Pausen sind im Transkript bewusst der Agentin zugeteilt): <?page no="174"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 174 110 Das m=hm ist so leise, dass ich den Wiedergabepegel erhöhen musste, um es überhaupt zu hören. 111 K: Am 17. 9. ist (sic) 3400 Franken bezogen worden am Flughafen, am 3. 6. ist Creditcard Vergütung gewesen 230.60, am 12. 4. eine Vergütung von Basel 1180. 112 A: Wie viel wäre der Betrag? - K: 1600 Franken, ich habe einen Dauerauftrag, der auf dieses Konto kommt von meinem Sparkonto, ist 3100 Franken, jeweils am 25. Valuta, ehm ja - A: Und vielleicht einmal in letzter Zeit etwas abgehoben? Kundin a: m SIBzääte nünte isch drütusigvierhondert fra: nke, Lydia (1.1) Kundin ëhm bezoge worde am flughafe, Lydia (.) <<pp> m=Hm,> 110 Kundin (1.1) ëh (0.8) am dritte sächste isch creditcard- Lydia (1.0) Kundin vergüetig gsy zwäihundertdrissg sächzg, Lydia (2.4) Kundin ëhm am zwölfte vierte e vergüetig <<melodiös-gelangweilt> vo basel tusig äihundertachzg,> Lydia (.) m=Hm, (165). 111 Sonja wivil wër dä betrag, Kunde sächzähundert franke, ich han en duuruuftrag wo: uf da konto chunt vo mim SPARkonto, isch drütusigäihundert franke, jewils am föifezwänzigschte valuta, Sonja (1.8) Kunde ëhm nja ((lacht)) Sonja und vilicht eh (1.8) emal i de letschte ZYT öppis abghobe […] (183). 112 Die beiden Kunden zeigen mit ihren Reaktionen, dass sie das Gefühl haben, mit ihren Auskünften ins Leere zu laufen. Das Auslassen jeglicher Rückmeldung wirkt sich mindestens in diesen Beispielen negativ auf das Gesprächsklima aus. Ob die Agents während der ID Rückmeldungen geben oder nicht, hängt teilweise vom Drill und der Strenge ihrer TeamleaderInnen ab. Wie schon bei der Begrüssung zeigt sich, dass die TeamleaderInnen im regionalen Call Center (Service) strenger sind und weniger Abweichungen von den Vorschriften tolerieren, während im nationalen Call Center (Kartendienst und Hotline) mehr individuelle Variation zugelassen wird. David und Lydia vom regionalen Call Center haben für sich eine Zwischenlösung gefunden: Sie geben teilweise Rückmeldungen, aber möglichst leise und vage. e) Abschluss der ID und Rückführung zum Anliegen So unterschiedlich ausführlich wie bei der Einleitung sind die Agents auch beim Abschluss der ID. Bis auf wenige Ausnahmen wird die ID mit einem klaren Abschlusssignal beendet, in der Regel mit einem tiefen, intonationsmässig abschliessenden “okay”. Dieses okay wird von den Agents im Service allerdings oft so leise, quasi zu sich selber gesprochen, dass für die KundIn- <?page no="175"?> Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analyse 175 113 Okay. Sie möchten den Kontostand wissen Frau Keller. 114 M=hm, okay. Also ich habe hier Libellenstrasse. 115 Jawohl, aber das stimmt eben nicht mehr. 116 Jawohl, okay, wunderbar. Dann ist das in Ordnung Herr Keller. 117 Gut. Frau Kurz, ich habe Sie somit identifiziert. 118 Ja, okay. Vielen Dank für Ihre Angaben Herr Kurz. 119 Ja wunderbar, danke. Also ich schaue schnell in den Vertrag. nen nicht erkennbar ist, dass damit nicht lediglich die letzte Antwort ratifiziert, sondern die ganze Phase der ID abgeschlossen wird. Das wird für sie erst mit der expliziten Rückführung zum Anliegen erkennbar, bei welcher die Agents entweder das Anliegen wiederholen, welches von der Kundin vor der ID geäussert wurde (202), die Bearbeitung des Anliegens ankünden (117) oder ganz abrupt mit der Bearbeitung des Anliegens fortfahren (149). Die Beispiele: Sonja <<p> okay> si möchted de kontostandwüsse frau keller. (202). 113 David (1.0) jawol. (1.0) <<p> okay.> (jetzt) schau ich einmal (117). Susanne <<pp> m=hm okay> aso ICH han do libellestraass (149). 114 Beim letzten Beispiel ist es ein Wunder, dass nach einer Kontonummernsuche und einer ID von insgesamt 3 Minuten und 15 Sekunden der ältere Herr sofort begreift, dass die Agentin nun (endlich) wieder von seiner Adresse spricht, die er ändern lassen wollte, und blitzschnell antwortet: “jawol aber das stimmt ëbe NÜme.” 115 Insgesamt schliessen die Agents im Service die ID in eher knapper, für den Kunden nicht leicht nachvollziehbaren Art ab. Im Kartendienst und in der Hotline schliessen die Agents die ID viel ausführlicher ab, indem sie entweder explizit die ID für beendet erklären oder sich beim Kunden für seine Angaben bedanken. Beispiele: Toni jawol. okay. wunderbar. (1.2) denn isch das i der ORnig herr keller (410). 116 Dionys (0.9) GUET; frau kurz (i) han si somit identifiZIERT (435). 117 Antonio j: : A; okay danke vilmal für iri aagabe herr kurz (651). 118 Pia JA wunderbar danke. ALso tun=i grad schnäll in vertrag Ineluege (609). 119 In einigen Gesprächen (eines davon im hier analysierten Teilkorpus) kommt es beim Abschluss der ID zu einer kleinen Nebensequenz, in welcher die KundInnen zurückfragen, ob “es” wirklich in Ordnung sei. Diese Nachfrage ist für mich ein Zeichen dafür, dass die ID zuvor als belastend empfunden wurde, als eine Art Examen eben. Fazit: Aller Vorschriften zum Trotz suchen und finden die Agents individuelle Strategien zur Bewältigung der schwierigen kommunikativen Aufgabe Kundenidentifikation. Von der Formulierung der Einleitung über die Wahl der Fragen, die Formulierung dieser Fragen und das Rückmeldeverhalten bis <?page no="176"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 176 hin zur stilistischen Gestaltung des Abschlusses unterscheiden sich die Agents in Wortwahl, Ausführlichkeit und Explizitheit der Handlungsdurchführung, Rigidität der Gesprächssteuerung und Höflichkeit signifikant voneinander. Individualität kommt in jedem einzelnen Gesprächszug zum Ausdruck. Fasst man die einzelnen Gesprächszüge und deren stilistische Gestaltung für jeden Agent zusammen, wird sichtbar, dass die von den Agents verwendeten stilistischen Merkmale rekurrent und konsistent auftreten. Der Eindruck von Individualität verdichtet sich, ein konsistenter, individueller Stil wird erkennbar. In Tabelle 10 ist die stilistische Gestaltung der Kundenidentifikation der acht untersuchten Agents in tabellarischer Form zusammengestellt und mit adjektivischen Etiketts bezüglich ihrer Stilwirkung versehen, welch letztere ich beschreibend und nicht bewertend verstanden wissen möchte. Tab. 10: Stilistische Gestaltung der Kundenidentifikation ausgewählter Agents Agent Stilistische Merkmale Stilwirkung David • knappe, stereotype Ankündigung; • nie mehr als drei Fragen, meist dieselben; • abfallende Höflichkeitskurve von Modalverb im Konjunktiv über einfache Frage zu Anschlussfrage; • bei der Hälfte der Kundenangaben vage Rückmeldungen; • minimales, leises Abschlusssignal mit knapper Rückführung zum Anliegen. knapp und trocken Lydia • Einstieg über das Geburtsdatum; • knappe Ankündigung der ID mit dem Ausdruck “Sicherheit” statt “Identifikation”; • meistens dieselben Fragen; • abfallende Höflichkeitskurve von Modalverb im Konjunktiv über einfache Frage zu Anschlussfrage; • bei der Hälfte der Kundenangaben vage Rückmeldungen; • kaum hörbares Abschlusssignal, abrupte Fortsetzung der Anliegensbearbeitung. zurückhaltend und freundlich Susanne • Einstieg über das Geburtsdatum; • knappe Ankündigung der ID mit dem Ausdruck “Sicherheit” statt “Identifikation”; • meistens dieselben Fragen, beharrt hartnäckig auf deren Beantwortung; • abfallende Höflichkeitskurve von Modalverb im Konjunktiv über einfache Frage zu Anschlussfrage; • keine Rückmeldungen; • kaum hörbares Abschlusssignal, Gliederungssignal “also” und abrupte Fortsetzung der Anliegensbearbeitung. stur und freundlich <?page no="177"?> Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analyse 177 Sonja • Einstieg über das Geburtsdatum; • Ankündigung und Begründung der ID; • oft mehr als drei Fragen; stellt teilweise vage Fragen, beharrt aber hartnäckig auf den Antworten; • abfallende Höflichkeitskurve von Modalverb im Konjunktiv über einfache Frage zu Anschlussfrage, vereinzelt Ellipsen; • keine Rückmeldungen; • knappes Abschlusssignal und Wiederholung des Anliegens. pedantisch und widersprüchlich Pia • Verbindung von Ankündigung und erster Frage; • nie mehr als drei Fragen, oft dieselben, teilweise zu wenige identifikationsrelevante Fragen; • Einstieg mit Modalverb, dann einfache Fragen, häufige Verwendung von “bitte”; • keine Rückmeldungen; • deutliches Abschlusssignal mit Dank, Gliederungssignal “also” und Ankündigung der Anliegensbearbeitung. knapp und höflich Antonio • Ankündigung und Begründung der ID; • teilweise mehr als drei Fragen, immer wieder verschiedene, teilweise recht hartnäckig; • konsequente Verwendung von Modalverben und vielen Modalpartikeln; • explizite Rückmeldungen, auch euphorische; • Abschlusssignal, Dank für die Angaben und Ankündigung der Anliegensbearbeitung. umständlich und höflich Toni • Ausführliche Ankündigung und Begründung der ID; • immer wieder andere Fragen, oft grosse Mühe, Fragen zu finden; • Fragen mit Modalverb, teilweise Mehrfachfragen; • explizite Rückmeldungen, auch euphorische; • deutliches Abschlusssignal, Bestätigung, dass ID “in Ordnung” ist, direkte Rückkehr zur Anliegensbearbeitung. ausführlich und höflich Dionys • Formalistische Ankündigung und Begründung der ID; • immer wieder andere Fragen; • Fragen mit Modalverb, teilweise Mehrfachfragen, Ellipsen und Imperative; • teilweise knappe Rückmeldungen; • unterschiedlich ausführlicher Abschluss, direkte Rückkehr zur Anliegensbearbeitung. polizeihaft Die stilistischen Präferenzen der Agents, die während des Handlungsmusters ID und über mehrere Gespräche hinweg rekurrent auftreten, erwecken bereits den Eindruck eines konsistenten, individuellen Stils. Dieser Eindruck wird bestätigt, wenn weitere Handlungsmuster beigezogen werden und deren stilistische Gestaltung durch die Agents betrachtet wird. An dieser Stelle seien lediglich impressionistisch einige Beispiele geschildert. Antonio <?page no="178"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 178 120 Das weiss ich doch nicht! 121 Ist Ihnen noch nie aufgefallen, dass immer die alte Adresse auf Ihrer Post von der Bank steht? 122 Ja gut, dass sollte man ohnehin nicht tun, in einen Bancomaten, der Karten frisst, eine nachschicken, oder! zum Beispiel, der die ID sehr umständlich und höflich durchführt, zeichnet sich auch im weiteren Gesprächsverlauf aus durch überlange Erklärungen und rastloses Suchen nach einer Lösung für die Anliegen der KundInnen. Sein Stil ist bei allen Handlungsmustern geprägt von Ausführlichkeit und dem umfangreichen Gebrauch von Höflichkeitsfloskeln. Er stilisiert sich damit zum überdurchschnittlich zuvorkommenden und dienstfertigen Call Agent. Von Dionys hingegen, der während der Identifikation teilweise wie ein Polizist auftritt, sind auch im übrigen Gespräch betont unhöflich wirkende Äusserungen zu hören wie etwa die patzige Antwort: “das wäiss ich doch nöd! ” (431), 120 der ungemildert geäusserte Vorwurf an die Kundin: “isch yne no NIE uufgfale dass di alt adrësse immer uf irer poscht vo de bank stoot” (435) 121 oder die rüde Zurechtweisung: “jo guet das sött me EE nöd mache in en automat wo e charte frisst äini nooschicke oder” (434). 122 Dadurch, dass Dionys den KundInnen Befehle erteilt, ihnen Vorwürfe macht und rüde Absagen erteilt, gibt er ihnen zu verstehen, dass er sich ihnen gegenüber trotz seiner Rolle des Dienstleistungen erbringenden Agents als nicht untergeordnet versteht, sondern als mindestens ebenbürtig. Er stilisiert sich zum Handlungsbemächtigten. Sonja wiederum, die während der ID durch den Gebrauch einer formalistischen Sprache und ziemliche Pedanterie auffiel, betont auch sonst im Gespräch immer wieder die Formalitäten und benützt in diesem Zusammenhang interne Fachbegriffe wie “eine Pendenz eröffnen”. Das Verhalten von Sonja erhält durch diese Mischung von Formalismus und Freundlichkeit etwas Widersprüchliches. Pia schliesslich unterstreicht ihren knappen Stil durch die häufige Verwendung des Wörtchens “schnell”. Sie stilisiert sich dadurch zur eher kurz angebundenen, effizienten Sachbearbeiterin. So zeigt sich bei allen Agents, dass die von ihnen benutzte Variante der Durchführung des Handlungsmusters Kundenidentifikation nicht zufällig ist, sondern stilistischen Präferenzen entspringt, welche die Agents bei allen Handlungsmustern zeigen. In Kapitel 8 werde ich von zwei Agents, von Susanne und David, eine umfassende Analyse ihres Stils über mehrere Handlungsmuster hinweg vorlegen. Bisher habe ich aufgezeigt, welche stilistischen Präferenzen die Agents bei der Durchführung der ID (und darüber hinaus) zeigen und welche Wirkung auf die Selbstdarstellung damit verbunden ist. Eine Stilbeschreibung ist aber erst vollständig, wenn neben dem Stil selbst und seiner Wirkung auch die Frage nach der “Ursache” beantwortet ist, das heisst wenn die Einflussgrössen, die zur Ausprägung eines bestimmten Stils führen, bestimmt sind. <?page no="179"?> Stilistische Variation von Handlungsmustern: Empirische Analyse 179 Als Einflussgrössen für den Stil bzw. die Stildifferenzen zwischen den Agents fällt die Mehrheit der traditionellen Erklärungsvariablen aus der funktionalen und soziolinguistischen Stilforschung weg: Situation, Rollenkonstellation, kommunikative Aufgabe, sogar die Funktion der einzelnen Äusserungen - sie sind für alle acht untersuchten Agents gleich und erklären allenfalls das Auftreten bestimmter Stilmittel wie höfliche Modalisierungen an sich, aber nicht die festgestellten Unterschiede zwischen den Agents. Altersmässig liegen die Agents nahe beieinander, ihre berufliche Position ist dieselbe, und zwischen den Geschlechtern lassen sich keine systematischen Unterschiede aufzeigen. Das Verhalten der Gesprächspartner ist von untergeordneter Bedeutung, da sich mindestens bei der ID gezeigt hat, dass die Agents dieses Handlungsmuster unabhängig vom Gesprächspartner immer mehr oder weniger gleich durchführen. Mit anderen Worten: Die traditionellen situativen und soziodemographischen Variablen sind im untersuchten Korpus konstant und können daher die gefundenen stilistischen Unterschiede zwischen den Agents nicht erklären. Weil die “äusseren” Bedingungen im statistischen Sinne kontrolliert sind, können die den Stil beeinflussenden Grössen ohne methodischen Kurzschluss im “Innern” der Agents gesucht werden. Einige dieser Grössen sind den Agents bewusst und werden von ihnen selber als Erklärung für ihr Verhalten vorgetragen, andere sind ihnen weniger bewusst und wurden von mir aus ihrem Verhalten abgeleitet. Ohne über den “Charakter” oder die “Persönlichkeit” der Agents spekulieren zu müssen, können folgende Einflussgrössen auf den Stil geltend gemacht werden: • Verinnerlichter Drill der Teamleaderin (zum Beispiel: mindestens drei Fragen stellen, keine Rückmeldungen geben). • Bewusste, individuelle Strategien, mit denen die Agents sich die ID erleichtern wollen (zum Beispiel: Einstieg über das Geburtsdatum, Lohnfrage an Ausländer). • Routine (zum Beispiel: Stellen der immer wieder gleichen Fragen) bzw. fehlende Routine (zum Beispiel: Mühe, Fragen zu finden). • Persönliche Einstellungen (zum Beispiel: “nur keine Fehler machen”). • Individuelle Vorstellungen von Angemessenheit (zum Beispiel: Ausführlichkeit von Einleitung und Abschluss, Formulierung der Fragen, Verwendung von höflichen Modalisierungen, Dank für die Angaben der KundInnen). Die von mir aufgezeigten Stile sind nicht gruppen-, rollen- oder situationsspezifisch, sondern individuell. Mit ihrem Stil geben die Agents zu erkennen, wie gut sie die von ihnen auszuführenden Aufgaben beherrschen, wie sie ihre Rolle als Agent interpretieren und wie sie die Beziehung zum Kunden gestalten wollen. Die stilistische Gestaltung der ID durch die Agents hat <?page no="180"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 180 Auswirkungen unmittelbar auf der Gesprächsoberfläche. So führen viele Fragen, vage Fragen oder fehlende Rückmeldungen während der ID zu einer Verlängerung des Prozederes und zu irritierten Reaktionen der KundInnen. Weniger gut sichtbar, aber nicht minder vorhanden ist die Wirkung des Stils auf die Beziehung zwischen Agent und Kunde. Der knappe, trockene Stil von David gibt dem Kunden zu erkennen, dass der Agent das Gespräch auf das zeitliche und sachliche Minimum zu beschränken gedenkt. Antonio zeigt mit seinem aufwändigen, höflichen Stil, dass er keine Mühe scheut für den Kunden und sich diesem in seiner Rolle als Dienstleister unterordnet, während Dionys mit seinem Polizeistil die hierarchische Beziehung zum Kunden gerade umgekehrt definiert. Die stilistische Variation von Handlungsmustern ist ein wesentliches Merkmal sprachlicher Individualität, sie gehört zu jener “Art zu telefonieren”, wie sich die TeamleaderInnen ausdrücken, die unter anderem dafür verantwortlich ist, dass Individuen auch in anonymisierten Gesprächen zu erkennen sind. 6.3 Zusammenfassung Das vorangegangene Kapitel hatte zum Ziel, Individualität als stilistische Variation institutioneller Handlungsmuster zu beschreiben und zu interpretieren. Zu diesem Zweck habe ich aus der laufenden Diskussion zum Stilbegriff ein auf meine Fragestellung zugeschnittenes Stilkonzept hergeleitet und damit ausgewählte Sequenzen meines Gesprächskorpus analysiert und interpretiert. Meine Auffassung von Stil deckt sich am ehesten mit dem funktionalen Stilkonzept von Sandig. Danach dient Stil dazu, eine Äusserung auf die konkrete Situation zuzuschneiden, einen über den propositionalen Gehalt der Äusserung hinaus gehenden stilistischen Sinn zu erzeugen und bestimmte Wirkungen zu erzielen. Stil wirkt sich auf die Konstitution der Situation, der Beziehung, des Themas und der Interaktionsmodalität aus. Als relationales Konzept wird Stil nur vor dem Hintergrund konkreter Situationen und den darin erwarteten Handlungs- und Textmustern interpretierbar. Im Gegensatz zu Sandig und vor allem zu Selting mit ihrem interaktionalen Stilkonzept deute ich Stil allerdings nicht als vom sprechenden Individuum unabhängiges, primär auf die Situation, das Thema und den Empfänger ausgerichtetes sprachliches Mittel der Sinnkonstitution. Vielmehr ist Stil in meiner Auffassung genauso abhängig vom sprechenden Individuum und dient diesem als Mittel der Selbstdarstellung. Darin stimmt meine Auffassung von Stil mit dem Konzept des soziokommunikativen Stils der “Mannheimer” überein, welche Stil als konstitutiv für soziale Gruppen und als Mittel zur Herstellung sozialer Identität betrachten. Allerdings teile ich mit Häcki Buhofer und Johnstone (vgl. Abschnitt <?page no="181"?> Zusammenfassung 181 123 Darin trifft sich meine Auffassung von individuellem Stil mit literaturwissenschaftlichen Ansätzen, welche Stil als Ausdruck des schöpferischen Individuums deuten. 2.2) die Ansicht, dass individuelles Sprachverhalten durch die Gruppenzugehörigkeit allein nicht erklärt werden kann, zumal die Wahl der “erklärenden” sozialen Variable oft allzu willkürlich ausfällt. Stil ist ein Mittel zur Herstellung von Identität, aber über die Zugehörigkeit zu einer wie auch immer bestimmten sozialen Gruppe hinaus dient der Gebrauch eines individuellen, von allen anderen Individuen unterscheidbaren Stils dazu, persönliche Identität herzustellen. 123 Was mich methodisch von den meisten empirischen Arbeiten zu Stil trennt, ist der Anspruch, quantitativ-vergleichend zu arbeiten. Für jedes untersuchte Handlungsmuster stellte ich ein repräsentatives Teilkorpus von mindestens 24 Gesprächen zusammen, das vollständig ausgewertet wurde. Damit sollten rein impressionistische Stilanalysen ohne explizite Vergleichsgrössen vermieden werden. Sämtliche empirisch vorgefundenen stilistischen Varianten der Handlungsdurchführung wurden erfasst und ausgezählt. Was “typisch”, “auffällig”, die “Norm” bzw. in meiner Begrifflichkeit konventionell, unkonventionell und abweichend ist, bestimmte ich nicht aufgrund meiner Sprachkompetenz oder Intuition, sondern aufgrund der empirisch belegbaren Häufigkeiten der vorgefundenen stilistischen Varianten im untersuchten Korpus. Jeder einzelne untersuchte Gesprächsausschnitt wurde auf dem Kontinuum [konventionell und häufig] - [konventionell aber selten] - [unkonventionell] - [abweichend] eingeordnet und vor diesem Hintergrund interpretiert und in seiner stilistischen Wirkung besprochen. Für die empirische Analyse habe ich drei Handlungsmuster ausgewählt, die sich durch ausgesprochene Konventionalität und institutionell vorgeschriebene Rigidität auszeichnen: Die Gesprächseröffnung, die Anliegenspräsentation und die Kundenidentifikation. Gerade weil in diesen Gesprächssequenzen von der Situation her wenig Spielraum für individuelle Gestaltung besteht (oder zu bestehen scheint), lassen sich stilistische Unterschiede als Ausdruck individuellen Gestaltungswillens deuten. Andere potenziell intervenierende Erklärungsvariablen wie Situation, Rollenkonstellation oder kommunikative Funktion fallen weg, weil sie quasi konstant gehalten sind. Die Analyse der drei ausgewählten Handlungsmuster zeigte denn auch, dass auf der Ebene der Handlungsmuster selber die individuellen Unterschiede marginal sind. Bei der Gesprächseröffnung und bei der Kundenidentifikation wurden die Handlungsmuster, was die Auswahl und die Reihenfolge der Handlungen anbetrifft, in allen untersuchten Gesprächen in praktisch identischer Form durchgeführt. Bei der Anliegenspräsentation waren Auswahl, Kombination und Reihenfolge der vorkommenden Handlungen vielfältiger. Die Varianten der Durchführung dieses Handlungsmusters lassen <?page no="182"?> Individualität als stilistische Variation von Handlungsmustern 182 sich am ehesten mit dem Bild des Baukastens beschreiben: Eine Auswahl der immer gleichen Handlungen wird in variabler Reihenfolge zusammengestellt. Individualität ist demnach weniger auf der Ebene der Handlungsmuster zu suchen. Als umso vielfältiger erwiesen sich die verwendeten Formulierungen bei der Realisierung der einzelnen Handlungen. Die angestrebte quantitative Auswertung war nur bei der Gesprächseröffnung möglich, bei welcher die gewählten Formulierungen immerhin so ähnlich waren, dass eindeutige Varianten unterschieden werden konnten und auch die Einordnung der Formulierungen auf dem Kontinuum [konventionell] - [unkonventionell] - [abweichend] anhand nachvollziehbarer Kriterien vorgenommen werden konnte. Bei der Anliegenspräsentation waren Gemeinsamkeiten in der Formulierung nur noch auf der abstrakteren Ebene der Paraphrasierung erkennbar, die Unterschiede auf der wörtlichen Ebene waren zu gross für eine klare Kategorisierung. Die Entscheidung, welche Varianten der Anliegenspräsentation als konventionell gelten sollten und welche nicht, war beim einfachen Anliegen der Kontoauskunft schwierig und bei den komplexeren Anliegen wie Reklamationen und Internetprobleme praktisch unmöglich. Jeder einzelne Gesprächsausschnitt wies eine unverkennbare individuelle Stilisierung auf. Auch bei der Identifikation drängte sich eine Analyse jedes einzelnen Gesprächsausschnitts praktisch auf, waren doch die Unterschiede in der stilistischen Gestaltung dieses Handlungsmusters zwischen den Agents unübersehbar. Über die je drei analysierten Gesprächsausschnitte hinweg verdichteten sich die rekurrent auftretenden stilistischen Präferenzen der Agents rasch zum Eindruck eines je konsistenten, individuellen Stils. Das Resultat, dass der stilistischen Vielfalt bei der Durchführung institutioneller Handlungsmuster mit Kategorien und quantitativen Auswertungen nicht beizukommen ist, soll mich jedoch nicht betrüben, im Gegenteil. Es bestätigt mich deutlicher als erwartet in meiner Hypothese, wonach das Individuum auch in institutionellen Gesprächen Spielraum für individuelles sprachliches Verhalten hat und diesen bis an die Grenze des Möglichen auch ausschöpft. Die Grenze des Möglichen wird markiert durch Verstösse gegen institutionelle Vorschriften einerseits und durch den Zusammenbruch der Kommunikation andererseits. Beides kommt in meinem Korpus in Ausnahmefällen vor. Ebenfalls zeigen konnte ich, dass die stilistische Gestaltung der Handlungsmuster Auswirkungen hat auf die Selbstdarstellung der Sprechenden und auf den Fortgang der Interaktion. Bereits die kurzen Gesprächseröffnungen liessen die KundInnen als konventionell-freundlich, eilig-kurzangebunden, einheimisch/ nicht-einheimisch oder als “spezielle Typen” erscheinen. Bei der Anliegenspräsentation war es vor allem der Umgang mit Wissen/ Nichtwissen und Schuld/ Unschuld, der den KundInnen ein sehr individuelles Profil vom anfragenden Experten bis zum untröstlichen Ge- <?page no="183"?> Zusammenfassung 183 scheiterten verlieh. Aber auch bei den Agents liessen sich Unterschiede in der Gestaltung der Begrüssung und vor allem der Identifikation finden, die angesichts der rigiden internen Vorschriften zur Wahrung des Bankgeheimnisses, der Telefonstandards und des Drills der TeamleaderInnen in ihrer Deutlichkeit überraschen. Bei allen untersuchten Agents liessen sich unterschiedliche Massstäbe in Bezug auf Explizitheit, Ausführlichkeit, Rigidität und Höflichkeit feststellen, mit der sie ihre Rolle als Agent im Bank Call Center und ihre Beziehung zum Kunden individuell auslegen und prägen. Abschliessend ist festzuhalten, dass sowohl den KundInnen als auch den Agents eine reiche Palette stilistischer Variationsmöglichkeiten zur Verfügung steht, mit der sie institutionelle und konventionelle Handlungsmuster individuell gestalten und sich dadurch ein ganz persönliches Profil verleihen können. <?page no="184"?> 7 Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung Wie das vergangene Kapitel dient das kommende dazu, individuelle sprachliche Variation zu beschreiben, das heisst das Spektrum möglicher Verhaltensweisen in einer institutionell gegebenen Situation, diesmal jedoch nicht auf der stilistischen, sondern auf der rhetorischen Ebene. Was verstehe ich unter ‘rhetorisch’? Ich verwende den Begriff in Anlehnung an das Konzept der “Gesprächsrhetorik” von Kallmeyer. Die Gesprächsrhetorik sensu Kallmeyer untersucht “Eigenschaften der Gesprächsbeteiligung, die mit dem Versuch der Sprecher zu tun haben, sich durchzusetzen, sich in Auseinandersetzungen zu behaupten, recht zu behalten und plausibel und suggestiv Sachverhalte darzustellen.” (Kallmeyer 1996b: 7). Es interessiert das Zusammenspiel von strukturellen Vorgaben bestimmter Gespräche und dem Umgang der Sprechenden mit ihnen, das heisst die Frage, wie die Interagierenden die interaktionale Ordnung herstellen und gleichzeitig für ihre Zwecke instrumentalisieren (ebd.: 10). “Die einzelnen Züge des individuellen Handelns in der Interaktion bringen Chancen und Gefahren für die Durchsetzung der eigenen Interessen und die weitere Interaktionsentwicklung mit sich. Die rhetorische Analyse trägt dem durch die Darstellung von rhetorischen Potentialen sprachlicher Verfahren unter bestimmten Kontextbedingungen Rechnung” (ebd.: 11). Aus der Vielfalt möglicher “sprachlicher Verfahren”, welche rhetorisches Potenzial in diesem Sinne haben, wähle ich zwei aus, die in meinem Korpus von Call Center Gesprächen interaktive Relevanz aufweisen und nachweislich individuell variieren. Es sind dies die Positionierung und die Gesprächssteuerung. Im Gegensatz zu den bei Kallmeyer (1996a) versammelten Arbeiten interessieren mich dabei weniger die sprachlichen Verfahren und deren Chancen und Gefahren im Interaktionsprozess selbst, vielmehr frage ich danach, wie diese rhetorischen Verfahren individuell unterschiedlich gehandhabt werden und damit Zeichen sprachlicher Individualität sind. Individuelle sprachliche Variation soll zum einen beschrieben werden als die Art und Weise, wie verschiedene Individuen sich im Gespräch positionieren und wie sie die eingenommene Position zu behalten, zu verändern oder gegen Repositionierungsversuche der Interaktionspartner zu verteidigen versuchen. Individuelle sprachliche Variation soll zum andern beschrieben werden als die Art und Weise, wie Individuen das Gespräch mit sprachlichen Mitteln zu steuern und zu kontrollieren versuchen. Positionierungs- und Steuerungsaktivitäten hängen, wie ich zeigen werde, eng zusammen. Für die Analyse dieser Positionierungs- und Steuerungsaktivitäten werde ich nicht mehr isolierte Handlungsmuster untersuchen, sondern ganze Gespräche in <?page no="185"?> Interaktionale Soziolinguistik und das Konzept der Positionierung 185 1 Die Begrifflichkeit ist keineswegs einheitlich. Neben “social identity” (Gumperz/ Gumperz 1982) ist auch von “identity-in-interaction” (Aronsson 1998), “discourse identity” (Zimmerman 1998) und anderem mehr die Rede. ihrer interaktiven Dynamik. Zuerst werden jedoch die Konzepte der Positionierung und der Gesprächssteuerung vorgestellt. 7.1 Interaktionale Soziolinguistik und das Konzept der Positionierung Ich bin nicht Stiller! (Max Frisch, Stiller) “Traditionally, within sociology, roles have been seen as fixed sets of expectations and responsibilities associated with particular social positions, for example, occupation, class, gender or family categories.” (Hall/ Sarangi/ Slembrouck 1999: 293). Obwohl bereits Goffman Rollen als auslegungsbedürftig charakterisierte und den Begriff der Rollendistanz prägte (vgl. Abschnitt 3.1.2), dominieren deterministische Rollenkonzepte bis heute die soziologische Diskussion. Sie wurden und werden auch in die Gesprächsforschung übernommen und teilweise unkritisch angewendet. So werden in weiten Teilen der funktional-pragmatischen Diskursanalyse Handlungsmuster im Allgemeinen und das Verhalten der Interagierenden im Besonderen unmittelbar aus der Situation sowie den Rollen und Aufgaben der Beteiligten abgeleitet bzw. durch diese erklärt - gerade bei der Analyse institutioneller Kommunikation. Individuelle Unterschiede werden ausgeklammert oder als Abweichung begriffen (vgl. Abschnitt 5.1). Dass umgekehrt in der soziolinguistischen Stilforschung auf dem “indikativen Holzweg” (Schmitt/ Heidtmann 2002: 180) ebenfalls häufig voreilig von bestimmten sprachlichen Verhaltensweisen auf soziale Kategorien wie “Frau” oder “Vorgesetzter” Bezug genommen und das Verhalten des Individuums mit diesen Kategorien erklärt wird, habe ich bereits gezeigt (vgl. Abschnitt 6.1.2). Unabhängig davon, ob der Prozess “top-down” betrachtet wird, von der Rolle zum Gesprächsverhalten, oder “bottom-up”, vom Gesprächsverhalten zur sozialen Kategorie, das Verhältnis zwischen Rolle bzw. sozialer Kategorie und Gesprächsverhalten bleibt letztlich ein deterministisches. Unter dem Einfluss der Ethnomethodologie hat sich in den 80er Jahren die sogenannte interaktionale Soziolinguistik etabliert, die ein anderes, dem konstruktivistischen Paradigma (Berger/ Luckmann 1966) verpflichtetes Konzept vertritt. In diesem Konzept treten Gesprächspartner nicht mit von vornherein festgelegten Rollen in die Interaktion, sondern etablieren jene erst im und durch den Gesprächsprozess. In programmatischer Abgrenzung zum kritisierten Rollenkonzept wird jedoch in der Regel nicht von Rolle gesprochen, sondern von sozialer Identität. 1 Parameter sozialer Identität wie <?page no="186"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 186 Geschlecht, Ethnie oder Klasse sind nicht länger gegeben, “but are communicatively produced” (Gumperz/ Gumperz 1982: 1), “in large part established and maintained through language” (ebd.: 8). Anders ausgedrückt: Bezeichnungen wie “Schülerin” oder “Therapeut” sind nicht länger im Voraus gesetzte Beobachterkategorien, sondern Teilnehmerkategorien und müssen als solche von den Interagierenden im Gespräch etabliert und vom Gesprächsforscher in den Gesprächsdaten nachgewiesen werden. Ziel der interaktionsanalytischen Arbeit ist es aufzuzeigen, wie soziale Identitäten kommunikativ etabliert und prozessiert werden und welche Folgen diese Aktivitäten für die Beteiligten haben. So kann zum Beispiel die interaktive Generierung der sozialen Identität “asiatischer Hilfsarbeiter” für die betroffene Person gravierende Benachteiligungen zur Folge haben, indem ihr - über die “objektiven” Schwierigkeiten mit der englischen Sprache hinaus - Inkompetenz, asiatische Undurchschaubarkeit und Unkooperativität unterstellt werden und sie entsprechend wenig Chancen hat, eine Anstellung zu bekommen oder ein Examen zu bestehen (Jupp/ Roberts/ Cook-Gumperz 1982). Ein Mangel mancher interaktional angelegter Studien besteht darin, dass soziale Identitäten wie “Ärztin”, “Ausländer”, “Vorgesetzter” zwar als interaktiv produziert betrachtet werden, die Kategorien selbst aber nicht problematisiert, sondern von den Forschenden selber unkritisch weiterverwendet werden. Mondada zum Beispiel zeigt zwar sehr detailliert auf, mit welchen sprachlichen Mitteln “étrangéité” hergestellt wird: mit der Verwendung von Pronomina (nous/ vous), mit kulturellen (“ça c’est un nom typique aussi”) und sprachlichen (“tu dis pas je fais dix ans/ j’ aurai dix ans) Belehrungen, mit foreigner talk (“Türkischmann du? ”) und anderem mehr (Mondada 1999: 26ff). Die Ressource dieser “catégorisation”, die Kategorie “Ausländer”, stellt sie jedoch nicht in Frage. Aus der Teilnehmerkategorie “ausländisch” wird so unter der Hand wieder eine Beobachterkategorie mit fixen Erwartungen bezüglich der interaktiven (und sozialen) Chancen und Risiken der solchermassen kategorisierten Person. Forschende wie Mondada, die lediglich prüfen, wie sogenannte soziale Identitäten interaktiv hergestellt werden, dann aber bei den kategorialen Bezeichnungen wie “Mutter”, “Kunde” oder eben “Ausländer” stehen bleiben, fallen trotz des ethnomethodologischen Anspruchs in statische Rollenmodelle zurück, indem sie suggerieren, über einen Menschen sei alles gesagt, wenn man ihm nur das richtige Etikett umgehängt habe - ob als Teilnehmer oder als Beobachterin. Darum muss noch einmal betont werden, dass erstens Rollen auslegungsbedürftig sind und dass zweitens der Rekurs auf Rollen - wie er von Interagierenden durchaus vorgenommen wird -, weder als fixe Rollenzuweisung noch -übernahme verstanden werden darf, sondern lediglich als Ressource zur Etablierung situationeller Identitäten und damit verbundener Ansprüche. Die Notwendigkeit, auch eine institutionell vorgegebene Rolle zu etablieren, zu differenzieren und zu interpretieren, wird zum Beispiel in den <?page no="187"?> Interaktionale Soziolinguistik und das Konzept der Positionierung 187 2 Das Konzept der Positionierung wird theoretisch dargestellt und auf verschiedene Analysebeispiele angewendet bei Bamberg (1997), Harré/ Langenhove (1999), Wolf (1999), Korobov (2001) und Deppermann/ Lucius-Hoene (2002). Untersuchungen telefonischer Notrufe von Zimmerman (1992, 1998) deutlich. Er zeigt, dass es nicht genügt, die Nummer der Notfallzentrale zu wählen, um automatisch als Hilfesuchender zu gelten, der Anspruch auf organisierte Unterstützung durch Polizei, Ambulanz oder Feuerwehr hat - selbst wenn diese Rolle für den Anrufer institutionell vorgesehen ist. Vielmehr muss der Anrufer angeben können, in welchem Verhältnis er zum Notfall steht (Betroffener, Beobachter, Beauftragter), und er muss glaubwürdig (! ) darstellen können, welche Art von Hilfe aus welchem Grund, wo und wie dringend benötigt wird. Gelingt ihm die interaktive Etablierung des Notfalls und seiner Rolle als Alarmierer nicht, lehnen die Angestellten der Notfallzentrale die Hilfeleistung ab. Werden Rollen als Ressourcen zur Etablierung situationeller Identitäten begriffen, so gewinnt der explizite Rekurs auf Rollen durch die Interagierenden einen strategischen Aspekt. Dieser wird bei Hall/ Sarangi/ Slembrouck (1999) besonders deutlich herausgearbeitet. In ihrer Analyse von Gesprächen auf dem Sozialamt decken sie auf, wie “the client’s deficit identity as a good mother but as an inadequate parent” gegen den Willen der Klientin von den SozialarbeiterInnen interaktiv hergestellt wird und wie letztere damit ihr eigenes professionelles Handeln legitimieren - von der ungefragten Beratung bis zum Einsatz eines amtlichen Vormundes. Zwischenbilanz: Das Konzept der interaktiv etablierten sozialen Identität stellt gegenüber einem statisch verstandenen Rollenkonzept insofern einen Fortschritt dar, als die Frage, wer jemand ist und was er in einer gegebenen Situation tun kann bzw. nicht tun darf, nicht mehr von vornherein entschieden ist, sondern in jedem einzelnen Gespräch neu ausgehandelt werden muss. Formen sozialer Ungleichheit und Diskriminierung werden nicht länger als überzeitlich gegeben betrachtet, sondern als je aktuell ausgeübt und sind damit der diskursanalytischen Kritik zugänglich. Wie in der Rollentheorie sind jedoch auch in der interaktionalen Soziolinguistik soziale Kategorien mit ihren manchmal fragwürdigen Etiketten allgegenwärtig, und der Status dieser Kategorien sowie Charakter und Umfang der mit ihnen verbundenen Verhaltenserwartungen und -verpflichtungen sind keineswegs geklärt. Eine radikalere Alternative zum Rollenkonzept bietet der aus der Sozialpsychologie stammende, in der Linguistik erst vereinzelt aufgenommene Begriff des “Positioning”, zu deutsch Positionierung. 2 Hintergrund dieses Konzepts ist die auch in der qualitativ arbeitenden Sozialpsychologie zunehmende Skepsis gegenüber objektivistischen Rollen- und Identitätskonzepten. Die Fiktion, Rollen oder soziale Identitäten seien feste Grössen, die man im <?page no="188"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 188 3 Von der (de-)konstruktivistischen Kritik betroffen sind neben “Rolle” und “Identität” auch andere zentrale Begriffe der Sozialpsychologie, darunter das “Selbst” (self) oder “Einstellungen” (attitudes). Mummendey (1990) zum Beispiel weist in seiner Studie zum Impression Management nach, dass das von den Probanden geäusserte Selbstkonzept so stark mit der Erhebungssituation variiert, dass man vernünftigerweise nicht davon sprechen kann, man messe das Selbstkonzept der Probanden, sondern lediglich deren Selbstdarstellung, die zu einem beachtlichen Teil abhängig ist vom realen oder fingierten Publikum. Verlaufe der Sozialisation erwirbt und dann “hat”, wird zunehmend aufgegeben zugunsten der Auffassung, dass Rollen und soziale Identitäten interaktive Konstrukte sind, die über die Situation hinaus keinen Bestand haben bzw. der Beobachtung nicht zugänglich sind: “An individual emerges through the process of social interaction, not as a relatively fixed end product but as one who is constituted and reconstituted through the various discursive practices in which they participate” (Davies/ Harré 1999: 35). 3 Der Fokus der Beobachtung wird daher ganz auf die Interaktion verlegt: “The study of local moral orders as ever-shifting patterns of mutual and contestable rights and obligations of speaking and acting has come to be called ‘positioning theory’.” (Harré/ Langenhove 1999: 1). Konkrete “Episoden”, das heisst sprachliche Interaktionen, die mit konversationsanalytischem Instrumentarium analysiert werden, bilden das Untersuchungsobjekt, und es ist diese gemeinsame methodische Basis, die eine Übernahme der positioning theory aus der Sozialpsychologie in die linguistische Gesprächsforschung erlaubt. Die positioning theory unterscheidet zwischen der Position als der Verortung einer Person in einem metaphorisch verstandenen sozialen Raum und der Positionierung als dem Vorgang, bei dem einer Person eine Position zugewiesen wird: “A position in a conversation, then, is a metaphorical concept through reference to which a person’s ‘moral’ and personal attributes as a speaker are compendiously collected.” (Langenhove/ Harré 1999: 17). “Positioning, as we will use it, is the discursive process whereby people are located in conversations as observably and subjectively coherent participants in jointly produced storylines.” (Davies/ Harré 1999: 37). So wie sich ein Produkt auf dem Gütermarkt positionieren lässt - die Parallele zum Marketingbegriff ist durchaus gewollt -, so kann sich eine Person innerhalb des sozialen Raums verorten. An dieser Stelle verlangt das Konzept meines Erachtens eine Differenzierung. Es genügt nicht zu sagen, dass ein Individuum “irgendwo” im sozialen Raum positioniert wird. Vielmehr muss dieser Raum strukturiert werden, und zwar, wie ich in Anlehnung an Holly (2002) vorschlage, in Dimensionen, zum Beispiel die Dimension der Macht. Diese Dimensionen wiederum sind als Achsen zu denken, die durch zwei Extremwerte, zwei Pole, begrenzt sind. Im genannten Beispiel sind diese Pole die absolute Machtfülle bzw. die völlige Machtlosigkeit. Wenn eine Person sich positioniert oder positioniert wird, so ist jeweils anzugeben, auf welcher Dimension dies geschieht und innerhalb dieser <?page no="189"?> Interaktionale Soziolinguistik und das Konzept der Positionierung 189 4 Holly (2002) unterscheidet vier Dimensionen, auf denen Beziehungen von den Interagierenden definiert werden: horizontal (Distanz versus Nähe), vertikal (Macht, Status), evaluativ (positive und negative Selbst- und Partnereinschätzung) und affektiv (Sympathie und Antipathie) (S. 1384f). Dieser grobe Raster bietet eine erste Orientierung, ist im Einzelfall jedoch zu differenzieren. Status, Hierarchie und Handlungsbefugnis zum Beispiel, wie ich sie aufgeführt habe, betreffen alle die vertikale Dimension, sind aber nicht in jedem Fall gleich ausgeprägt. Ein Call Agent zum Beispiel hat einen gesellschaftlich tiefen Status, aber gegenüber dem Kunden eine hohe Handlungsbefugnis: Er kann ihm die Auskunft verweigern. Dimension an welchem Punkt auf der Achse. Mit dem Ausdruck “ich kann nichts für Sie tun” positioniert sich eine Person auf der Dimension der Macht, und zwar am negativen Pol der völligen Machtlosigkeit, während eine Person mit dem Ausdruck “nur ich kann Ihnen diese Unterschrift geben” sich auf derselben Dimension am positiven Pol positioniert und eine dritte Person mit “ich werde ein gutes Wort für Sie einlegen” in der Mitte der Achse. Die Zahl der Dimensionen, auf denen eine Person positioniert werden kann, ist nicht abschliessend zu bestimmen. Je nach Situation können folgende Dimensionen relevant sein: die soziale Nähe (intim - distanziert, vertraut - unbekannt), das soziale Verhältnis (abhängig - autonom), die Beziehungsqualität (wertschätzend - verachtend, sympathisch - unsympathisch), die soziale Hierarchie (überlegen - unterlegen), der Status (angesehen - verachtet), die Kompetenz (fähig - unfähig), die Handlungsfähigkeit (hilfsbedürftig - selbständig), die Handlungsbefugnis (weisungsberechtigt - zum Gehorsam verpflichtet) und andere mehr. 4 Mit einer Äusserung kann sich eine Person nicht nur auf einer, sondern auch auf mehreren Dimensionen gleichzeitig positionieren. Sagt eine Schwester, über das Lateinbuch gebeugt, zur anderen: “Ich verstehe diesen blöden Satz nicht; kannst du mir den mal übersetzen? ”, so bezieht sie explizit auf zwei Dimensionen Position, nämlich auf jenen der Kompetenz und der Handlungsfähigkeit, und zwar bei beiden am negativen Pol: Ich bin momentan unfähig und hilfsbedürftig. Indem sie ihre Schwester duzt und ohne höfliche Modalisierung zur Hilfe auffordert, bezieht sie implizit auf zwei weiteren Dimensionen Position, jenen der sozialen Nähe und der sozialen Hierarchie, und zwar am positiven Pol bzw. in der Mitte der Achse: Wir sind vertraut miteinander und wir sind uns ebenbürtig. Auf anderen Dimensionen, wie zum Beispiel Macht oder Status, bezieht sie mit dieser Äusserung nicht Position. Das Beispiel macht drei weitere Aspekte der Positionierung deutlich. Erstens: Mit einer Position sind Rechte und Pflichten verbunden: “…the content of a position is defined in terms of rights, duties and obligations of speaking with respect to the social forces of what can be said, and these ‘moral’ properties are locally and momentarily specified” (Langenhove/ Harré 1999: 29). Die angesprochene Schwester kann sich der Aufforderung zur Hilfe nur schwer entziehen, umgekehrt hat sich die Bittende selber ver- <?page no="190"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 190 5 Das Beispiel ist ausführlicher beschrieben bei Deppermann/ Lucius-Hoene (2002: 197ff). pflichtet, die Hilfe anzunehmen und nicht im nächsten Moment das Buch zuzuklappen und davonzulaufen. Zweitens: Positionen sind relativ, sie existieren nur in Relation zu den Positionen anderer. Eine Person kann entweder explizit sich selbst positionieren (“Ich möchte mich beraten lassen”, Selbstpositionierung) oder explizit einer anderen Person eine Position zuweisen (“Sie sind doch Bankberater”, Fremdpositionierung). In der Regel ist damit jedoch implizit eine komplementäre Positionierung der jeweils anderen Person verbunden. Durch ihre Aufforderung zur Hilfe beim Übersetzen demonstriert die oben genannte Sprecherin nicht nur ihre eigene momentane Unfähigkeit und Hilfsbedürftigkeit, sondern sie weist ihrer Schwester auch die Position der Kompetenten und zur Hilfe Befähigten zu. Drittens: Positionen sind interaktiv aushandelbar. Will die Schwester nicht helfen oder traut sie es sich nicht zu, dann kann sie die Positionierung ihrer Schwester zurückweisen und sich neu positionieren: “Keine Zeit.” “Versteh ich selber nicht.” (Repositionierung). Eine Positionierung ist nur dann erfolgreich und nur solange gültig, als sie von beiden Interaktionspartnern bestätigt wird. Der Rekurs auf gesellschaftliche Rollen oder soziale Kategorien zum Zwecke der Positionierung ist möglich, er gewinnt vor dem Hintergrund der Positionierung aber einen anderen, einen strategischen Sinn. Wenn ich jemanden als “Herr Doktor” anspreche, so etabliere ich die damit verknüpfte Rollendyade Arzt-Patient nicht um ihrer selbst willen, sondern weil ich damit bestimmte Ansprüche verknüpfe: Die Erwartung, dass die andere Person mir helfen kann und will. 5 Erwähnen, dass man 75 Jahre ‘auf dem Buckel’ hat, und damit Rekurs auf die soziale Kategorie Alter nehmen, kann mit Positionierungen auf ganz unterschiedlichen Dimensionen und damit sehr verschiedenen interaktiven Ansprüchen verbunden sein. “Alter” kann verknüpft werden mit “Erfahrung” und damit dem Anspruch, andere belehren zu dürfen, aber auch mit “Gebrechlichkeit” und damit dem Anspruch auf Rücksichtnahme und Hilfeleistung. Positionierungen verorten die Person somit viel differenzierter im sozialen Raum als Rollen oder soziale Kategorien und sie tragen dem dynamischen und strategischen Charakter der Interaktion besser Rechnung. Der strategische Aspekt des Positionierens wird vor allem von Wolf (1999) herausgearbeitet. Wolf dient das Konzept der Positionierung nicht wie den Sozialpsychologen und Soziolinguisten dazu, die interaktive Genese der “Persona” (Harré/ Langenhove 1999) bzw. “Narrativer Identität” (Dep- <?page no="191"?> Interaktionale Soziolinguistik und das Konzept der Positionierung 191 permann/ Lucius-Hoene 2002) nachzuzeichnen. Vielmehr integriert sie das Konzept der Positionierung in den analytischen Rahmen der Gesprächsrhetorik sensu Kallmeyer und fragt nach dem rhetorischen Potenzial von Positionierungen. Sie bezeichnet Positionierungen als “Aktivitäten der sozialen Zuordnung, die an bestimmten Stellen der Interaktion eingesetzt werden, um die Handlungsmöglichkeiten der Beteiligten zu kontrollieren.” (Wolf 1999: 73). In ihren Dialoganalysen wird deutlich, dass die Interagierenden mit ihren Bemühungen, sich gegenüber der Tochter als “erfahrene Mutter” oder gegenüber der Ärztin als “Psychosomatikerin” zu positionieren, strategische Ziele verfolgen, dass der Erfolg dieser Positionierungsbemühungen jedoch von vielen, nicht voraussagbaren und von den Interagierenden nicht gänzlich zu kontrollierenden kontextuellen Faktoren abhängig ist. Wolf hat damit als erste gezeigt, dass das Konzept der Positionierung auch in einem genuin gesprächsanalytischen Rahmen fruchtbar angewendet werden kann. Ich werde das Konzept der Positionierung, in diesem Sinne verstanden als Gesprächsmittel mit rhetorischem Potenzial, für meine Arbeit übernehmen. Was hat nun Positionierung mit Individualität zu tun? Das Konzept wurde, wie eben erläutert, unter anderem entwickelt, um den dem Rollenkonzept inhärenten Determinismus zu überwinden. Interagierende sind keine Marionetten, die sich - in Abhängigkeit von Geschlecht, Alter, Beruf, Status, Situation und welchen Parametern auch immer - in vorhersagbarer Weise verhalten. Ebenso wenig haben sie allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Kategorien Anspruch auf eine bestimmte Behandlung durch die InteraktionspartnerInnen. Vielmehr müssen sie in jeder Interaktion ihren Interaktionspartnern anzeigen, wer sie sind, als wer sie gesehen werden wollen, wozu sie bereit sind und wozu nicht, wie sie die anderen einschätzen und was sie von ihnen erwarten - selbst im institutionellen Kontext. Dies geschieht unter anderem mittels Positionierungen. Positionierungen dienen dazu, institutionell vorgegebene Rollen zu aktualisieren, im Hinblick auf die Situation und die PartnerInnen situativ zu adaptieren und im Hinblick auf die eigenen Interessen individuell zu differenzieren und allenfalls zu instrumentalisieren. Aufgrund der Unterdeterminiertheit einer jeden Rolle sind diese Positionierungen zwangsläufig individuell, und zwar in zweifacher Weise. Positionierungen sind erstens inhaltlich individuell, indem die Person selber darüber entscheidet, auf welchen Dimensionen und wo auf diesen Dimensionen sie sich positioniert. Positionierungen sind zweitens sprachlich individuell, indem die Person selber darüber entscheidet, mit welchen sprachlichen Mitteln sie sich positioniert. Positionierungen sind daher eine Erscheinungsform sprachlicher Individualität in institutionellen Gesprächen. Dazu ein Beispiel: Drei Mal in meinem Korpus werden Interessenten für die zweite Säule (Pensionskasse) mit der Abteilung Beratung verbunden, die dafür gar nicht zuständig ist. Die BeraterInnen reagieren in dem Moment, in <?page no="192"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 192 6 Och ja, da sind Sie natürlich nicht richtig. 7 Sie sind bei mir eigentlich falsch. 8 Weil jetzt sind Sie falsch weiterverbunden, und wie ich sehe, kann ich Sie nicht mehr weiterverbinden. Tut mir wahnsinnig Leid. 9 Dann wären Sie eben nicht ganz richtig; sonst kann jemand Sie nachher zurückrufen? dem der Irrtum ans Licht kommt, recht unterschiedlich. Berater eins sagt: “OU: : ja DA sind si natürlich NID richtig” (303). 6 Dann gibt er dem Kunden ohne Entschuldigung die Telefonnummer der zuständigen Abteilung, damit dieser dort anrufen kann. Berater zwei sagt: “si sind bi mir eigentlich FALSCH”. 7 Er gibt dem Kunden ebenfalls die Nummer der zuständigen Abteilung und korrigiert dann seine erste Aussage: “wil jetz sind si falsch wyterverbunde und jetz gseen=i chan ICH si nüme wyterverbinde. tut mir waansinnig läid” (341). 8 Beraterin drei sagt: “denn wäre si äbe nid ganz RICHtig-/ süsch cha yne nochhär öpper ZRUGG lüüte” (329). 9 Dann nimmt sie die Telefonnummer des Kunden auf und verspricht, die zuständige Abteilung werde ihn kontaktieren. Die Unterschiede scheinen auf den ersten Blick minimal, sind aber bedeutsam. Der erste Berater gibt die Schuld dem Kunden (‘Sie sind nicht richtig’), sprachlich verstärkt durch das Wort “natürlich”, und bürdet diesem auch die Lösung des Problems auf: Er muss selber nochmals anrufen. Der zweite gibt die Schuld im ersten Anlauf auch dem Kunden (‘Sie sind falsch bei mir’), immerhin abgeschwächt durch die Modalpartikel “eigentlich”. Im zweiten Anlauf nimmt er die Schuld auf sich bzw. das Unternehmen (‘Sie sind falsch weiterverbunden [worden]’), versucht den Kunden selber an die richtige Stelle weiterzuleiten und entschuldigt sich dafür, dass das nicht klappt. Die dritte schliesslich lässt mit ihren Modalisierungen (‘wären Sie’, ‘nicht ganz’) und dem Satzabbruch offen, was mit dem Kunden nicht richtig ist, und sorgt dafür, dass das Unternehmen den Korrekturaufwand auf sich nimmt: interne Weiterleitung und Rückruf. Durch das, was die BeraterInnen tun, was sie sagen und wie sie es sagen, positionieren sie sich auf der Dimension der Verantwortlichkeit ganz unterschiedlich und sie definieren auch die Beziehung zwischen Berater bzw. Unternehmen und Kunde verschieden. Die Episode illustriert beispielhaft, dass die Beziehung zwischen Kunden und Angestellten privatwirtschaftlicher Unternehmen besonders auslegungsbedürftig bzw. gestaltungsfähig ist. In der Literatur zu institutionellen Gesprächen werden meistens Personenkonstellationen besprochen, in welchen das soziale Gefälle ausgeprägt, die Asymmetrie einseitig und die Macht klar verteilt ist: Arzt - Patient, Richter - Angeklagter usw. Bei der Konstellation Kunde - Angestellter mit ihrer “gekreuzten Asymmetrie” (vgl. S. 166) sind die Verhältnisse weniger eindeutig. Ist der Kunde “König”, wie das Sprichwort meint, oder ist er “Partner”, wie er in der jüngeren Verkaufsliteratur genannt wird? Wie viel Zeit, Höflichkeit, Aufmerksamkeit, Dienstbeflissenheit darf die Kundin über die blosse Dienstleistung hinaus erwarten? In <?page no="193"?> Interaktionale Soziolinguistik und das Konzept der Positionierung 193 10 Vgl. Abschnitt 3.2.3. Den Agents ist zum Beispiel strikte verboten, das Gespräch durch Knopfdruck einseitig zu beenden. Diese Vorschrift impliziert, dass sie sich alles gefallen lassen müssen, sofern es ihnen nicht gelingt, die Kundin verbal zur Räson zu bringen. welchem Masse darf sie fordern, reklamieren, aufdringlich oder persönlich werden? Was müssen sich Angestellte gefallen lassen und was nicht? Das wird unter den Agents diskutiert und ist auch bei der Formulierung und Instruktion der genannten “Telefonstandards” immer ein Thema. 10 Den Angestellten ist durchaus bewusst, dass beim Kontakt mit Kunden für beide Seiten Spielraum besteht, dass aushandelbar ist, wie man miteinander umgeht. Allerdings sind die Fähigkeit und der Wille, sich zu positionieren und die etablierte Position gegen allfällige Repositionierungsversuche anderer zu verteidigen, individuell unterschiedlich ausgebildet. Nicht alle Individuen verfügen über die sprachlichen und sozialen Ressourcen, die sie brauchen, um eine für sich selbst vorteilhafte Position zu besetzen, ‘die eigene Geschichte von sich selbst zu erzählen’ und interaktiv durchzusetzen, wie Langenhove/ Harré (1999: 30) das nennen. Positionierungsversuche können scheitern. Das wird spätestens dann deutlich, wenn eine Person vor Gericht gestellt wird, sich vor den Richtern als “unschuldig” zu positionieren versucht, und zuletzt doch als “Schuldiger” positioniert und verurteilt wird. Welche sprachlichen Möglichkeiten stehen dem Individuum zu seiner Positionierung zur Verfügung? Positionierungen sind an keine bestimmte sprachliche Form gebunden. Vielmehr können die unterschiedlichsten Äusserungsinhalte und -formate dazu dienen, sich zu positionieren - und sei es als unintendierter Nebeneffekt einer auf ganz andere Zwecke fokussierten Äusserung. Kaum einer, der ein Lob ausspricht, hat die Absicht, sich über die gelobte Person zu erheben, und doch tut er es, da nur eine sozial mindestens ebenbürtige Person die andere loben darf. So können fast alle Äusserungsformate dazu dienen, sich zu positionieren. Gleichwohl gibt es Äusserungsformate, die für eine Positionierung besonders geeignet sind. Solche werden in der bisherigen Literatur lediglich exemplarisch aufgeführt. Korobov (2001) nennt “subjective stances…, such as conveying blame, taking responsibility, criticizing, and making denials.” (§ 27). Deppermann/ Lucius-Hoene (2002) nennen die Positionierung “durch Kategorisierungen der beteiligten Personen, durch die Herausnahme des Rechts zur Erteilung von Anweisungen oder Appellen oder durch Handlungsbeschreibungen, die Rückschlüsse auf die eigene Kompetenz oder Verfasstheit nahelegen.” (S. 199). Auch Wolf (1999) betont vor allem die explizite Kategorisierung sowie das Schildern der gegenwärtigen Lebenssituation und vergangener Ereignisse, in die man involviert war (S. 73). Die Aufzählungen wirken einigermassen beliebig, Kriterien, nach welchen die AutorInnen positionierende Äusserungen von nicht-positionierenden unterschieden haben, sucht man vergebens. <?page no="194"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 194 11 Sie sind Mitarbeiterin der Schwyzer Bank? 12 Ich rufe an, weil mir etwas ganz Dummes am Bancomat passiert ist. Ich versuche im Folgenden, jene Äusserungsformate, die am ehesten für Positionierungen in Frage kommen, systematisch zusammenzustellen, versehen mit Beispielen aus meinem Korpus. Damit soll die Basis für eine empirische Analyse geschaffen werden. Sprachliche Mittel zur sozialen Positionierung Kategorisierung Dazu gehören alle sprachlichen Aktivitäten, mit denen die eigene Person oder andere einer sozialen Kategorie zugeordnet werden. Das kann mittels Personenbezeichnungen geschehen (Moderator, Kundin, Vater, Italienerin…) oder mittels Adjektiven (alt, drogenabhängig, selbständig erwerbend…). Die Zuschreibung kann direkt (ich bin Grossvater) oder indirekt (meine Enkelin hat gesagt) erfolgen, explizit durch die Benennung der Kategorie (Einheimische, Ausländer…) oder implizit durch die Verwendung von Pronomen (inklusives wir, exklusives wir, ihr, die andern…) oder durch die Nennung von Attributen, die auf eine eindeutige Kategorie verweisen (Kontonummer = Kunde, Führerschein = Autofahrer, Kleid = Frau…). Beispiel: “si sind mitarbeiterin bi der schwyzer bank.” (436). 11 Charakterisierung Personen können unabhängig von ihrer sozialen Kategorie charakterisiert werden durch Substantive (Machtmensch, Versager, Miss Perfect…), durch Adjektive (intellektuell, überlegen, hilfsbereit, erkältet…) oder durch die Beschreibung von regelmässig oder einmalig ausgeführten Handlungen (sie ist immer als erste im Büro, wir haben das Projekt endlich abgeschlossen…). Ein Grenzfall ist die Prosodie, mit der sich jemand zum Beispiel als “in Eile” positionieren kann. Beispiel: “je vous TÉléphone parce que: j’ai un problème TRÈS bête qui m’est arrivé: au BANcomat.” (456). 12 <?page no="195"?> Interaktionale Soziolinguistik und das Konzept der Positionierung 195 13 Ich verbinde Sie noch einmal. [Die Leitung war versehentlich unterbrochen worden]. 14 Das ist sehr diplomatisch. Handlungsverpflichtung Das sind alle sprachlichen Aktivitäten, mit denen eine Person sich oder andere zu einer Handlung verpflichtet. Dazu gehören Befehle, Versprechen, Ratschläge, Bitten und Fragen, welche abgesehen von der Handlungsverpflichtung in der Regel eine deutliche Asymmetrie zwischen den Betroffenen etablieren. Beispiel: “I will connect you again.” (453). 13 Handlungsbewertung Eigene oder fremde Handlungen können positiv oder negativ bewertet werden durch Komplimente, Dank, Zweifel oder Kritik. Das Spezielle an dieser Form der Positionierung ist, dass eine Person, die Bewertungen äussert, die immer schon überlegene Position des Kritikers beansprucht, unabhängig vom Inhalt der Bewertung. Beispiel: “((lacht laut)) das isch seer diploMAtisch ((lacht)).” (404). 14 Die vier genannten Äusserungsformate können ein Hinweis darauf sein, dass eine Positionierung vorliegt. Jedoch sollte nicht jede Charakterisierung, jede Handlungsverpflichtung und jede Handlungsbewertung als Positionierung aufgefasst werden. Charakterisierungen sollten nur dann als Positionierung interpretiert werden, wenn im Kontext der Interaktion benannt werden kann, auf welcher Dimension die Person anderen gegenüber positioniert wird und welche Absicht bzw. rhetorische Wirkung damit verbunden ist. Wenn jemand zum Beispiel erwähnt, er sei erkältet, um lediglich seine Heiserkeit zu erklären, so ist das keine Positionierung. Wenn aber jemand seine Erkältung ins Feld führt, um von Arbeitsaufträgen verschont zu werden, so ist das sehr wohl eine Positionierung, und zwar auf der Dimension der Handlungsfähigkeit an deren negativem Pol. Auch bei Fragen ist Zurückhaltung angebracht. Fragen sollten nur dann als Positionierung interpretiert werden, wenn durch sie eine deutliche Asymmetrie zwischen den Interagierenden und eine mit einem gewissen Aufwand oder Risiko verbundene Handlungsverpflichtung für den Befragten etabliert wird. Das ist zum Beispiel bei der Frage nach der Uhrzeit oder bei Verständigungsfragen (“Birrer haben Sie gesagt? ”) nicht der Fall, bei Examensfragen oder Bittfragen hingegen schon. <?page no="196"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 196 Wann eine Äusserung als Positionierung aufgefasst werden kann und wann nicht, bleibt jedoch grundsätzlich abhängig vom Kontext und bedarf der Interpretation durch den Interaktionspartner oder die Beobachterin. Ein letzter Punkt darf nicht unerwähnt bleiben: Obwohl das Konzept der Positionierung grundsätzlich konstruktivistisch ist, wird die Idee der Person nicht aufgegeben. Die Person mit ihrer persönlichen Identität existiert unabhängig von einzelnen Interaktionen. Aber innerhalb eines Gesprächs und von einer Interaktion zur nächsten kann ein und dieselbe Person höchst unterschiedlich positioniert werden (Davies/ Harré 1999: 36). Ich fasse zusammen: Personen, die in eine gemeinsame Interaktion treten, müssen sich gegenseitig anzeigen, wer sie sind, was sie wollen und wie sie miteinander zu kooperieren gedenken. Auch in der institutionellen Kommunikation müssen vorgegebene Rollen aktualisiert, adaptiert und differenziert werden. Interagierende erreichen dies, indem sie sich und den anderen Positionen in einem metaphorisch verstandenen sozialen Raum zuweisen. Selbst- und Fremdpositionierungen stehen relational zueinander und dienen über die reine Verortung hinaus rhetorischen Zwecken. Verschiedene sprachliche Mittel der Kategorisierung, Charakterisierung, Handlungsverpflichtung und Handlungsbewertung können in den Dienst von Positionierungen genommen werden. Individualität zeigt sich darin, mit welchen sprachlichen Mitteln, auf welchen Dimensionen und wo auf diesen Dimensionen ein Individuum sich und andere im gegebenen institutionellen Kontext positioniert. 7.2 Gesprächssteuerung: Sprachliche Mittel, interaktionale Konsequenzen Schweig und sei still! hast du gesagt. Nein, Othello, nein! Ich werde nicht schweigen. (Christine Brückner, Wenn du geredet hättest, Desdemona) In engem Zusammenhang mit der Positionierung stehen Aktivitäten der Gesprächssteuerung. Positionierung wie Gesprächssteuerung sind sprachliche Verfahren, die der Handlungs- und Beziehungskonstitution dienen; mit beiden sind Ansprüche, Rechte und Pflichten verbunden; sie werden mit teilweise denselben sprachlichen Mitteln vollzogen; beide sind schliesslich einem permanenten Aushandlungsprozess unterworfen, der sich über die gesamte Interaktion erstreckt. Die sprachlichen Inventare, mit denen Positionierungen vollzogen und Gespräche gesteuert werden, sind als mathematische Mengen zu denken, die eine beträchliche Schnittmenge aufweisen, aber nicht deckungsgleich sind. <?page no="197"?> Gesprächssteuerung: Sprachliche Mittel, interaktionale Konsequenzen 197 15 Früher wusste ich sie [die Kontonummer] jeweils auswendig, als sie (sic! ) noch bei der Landbank war. 16 Ja, guten Tag, Kathriner aus Genf am Telefon. Sie, mir ist meine Karte der Schwyzer Bank gestohlen worden. 17 Ich habe bereits S. 158 erwähnt, dass KundInnen mit Problemen oft keine expliziten Aufforderungen (Bitten , Wünsche, Befehle) an die Agents richten, sondern ihr Problem “für sich” sprechen lassen. 18 Was wollte ich jetzt noch fragen, eben Einzahlungsscheine, die Einzahlungsscheine kommen schon mit dem Namen und so. 19 Die folgenden Ausführungen stützen sich, wo nicht anders vermerkt, auf Tiittula (2000). Es gibt 1. sprachliche Handlungen, mit denen eine Positionierung vollzogen, aber kein erkennbarer Einfluss auf den Fortgang des Gesprächs genommen wird. Dazu gehören bestimmte (Selbst-) Charakterisierungen und (Selbst-) Kategorisierungen (vgl. oben). Beispiel: “FRÜEner han=i si ame USwändig gwüsst, wo si no bi dr e: : h LANDbank gsy isch.” (630). 15 Der Anrufer, der seine Kontonummer in den Unterlagen sucht, positioniert sich als ehemaliger Landbankkunde, der unterdessen alt und vergesslich geworden ist. Ein Einfluss in Bezug auf die Gesprächssteuerung ist nicht erkennbar. 2. sprachliche Handlungen, mit denen eine Positionierung vollzogen und gleichzeitig das Gespräch in eine bestimmte Richtung gelenkt wird. Dazu gehören vor allem Handlungsverpflichtungen. Beispiel: “ou: : i bonjour kathriner à genève au téléphone. monsieur je me suis fait dérobé (.) ma CARte öh du SCHWYzer bank.” (506). 16 Der Kunde verortet sich namentlich und geografisch und positioniert sich dann als Bestohlener, der Hilfe braucht. Damit initiiert er das Aufgabenschema “Kartensperrung” - ohne die Handlungsverpflichtung für den Agent explizit auszudrücken. 17 3. sprachliche Handlungen, die der Gesprächssteuerung dienen, mit denen aber keine Positionierung vorgenommen wird. Dazu gehören bestimmte Formen der Gesprächsorganisation und der thematischen Steuerung (vgl. unten). Beispiel: “was han=i jetz no wele frooge ëbe yzaligsschii- (1.2) <<fragend> d yzaligsschii chömed scho mit em name und so>” (324). 18 Die Kundin gibt durch lautes Überlegen zu erkennen, dass sie weitersprechen will und stellt dann eine Präzisierungsfrage zu einem bereits besprochenen Thema. Sie steuert das Gespräch organisationell und thematisch, ohne sich dabei zu positionieren. Gesprächssteuerung ist ein konstitutives Element jeder Interaktion. 19 Interagierende unterliegen dem Zwang zur Herstellung von Ordnung auf allen Ebenen der Interaktion: Gesprächsorganisation, Handlungskonstitution, Sachverhaltsdarstellung, Beziehungskonstitution und Interaktionsmodalität (Kallmeyer/ Schütze 1976). Dazu stehen ihnen verschiedenste sprachliche Mittel zur Verfügung. Diese müssen zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Orientierung der Interagierenden eingesetzt werden, sie können aber <?page no="198"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 198 auch strategisch zur Durchsetzung eigener Interessen instrumentalisiert werden (Kallmeyer 1996b). Auf drei Ebenen der Interaktion gehe ich näher ein: Gesprächsorganisation, Handlungskonstitution und Themenbehandlung. Steuerung auf der Ebene der Gesprächsorganisation bedeutet die Verteilung des Rederechts. Verschiedene sprachliche Mittel stehen zur Verfügung wie Namensaufruf, Fragen, Aufforderungen (Fremdwahl), Übernahme des Turns mit oder ohne Unterbrechung (Selbstwahl), vorgreifende Verdeutlichung, Adverbien wie erstens/ zweitens, Stimme heben (Verteidigung des Rederechts), Produzieren oder Unterlassen von Höreraktivitäten (Nicht-Übernahme des Rederechts). Auf der Ebene der Handlungskonstitution bedeutet Gesprächssteuerung, dass mittels bestimmter Äusserungen konditionelle Relevanzen aufgebaut werden, wodurch die GesprächspartnerInnen aufgefordert werden, in ein bestimmtes Handlungsmuster einzusteigen (bzw. den Nichteinstieg zu rechtfertigen). Die projizierten Handlungsmuster haben unterschiedliche Reichweite von der Paarsequenz bis zu mehrstündigen Interaktionen. Auf eine Frage wird in der Regel lediglich eine Antwort (und deren Ratifikation) erwartet; Vorschläge oder Vorwürfe projizieren längere Bearbeitungen (Verhandlungen, Rechtfertigungen); die Etablierung eines institutionellen Handlungsmusters schliesslich kann den Fortgang der gesamten Interaktion bestimmen (Gottesdienst, Gerichtsprozess). Handlungsmuster können initiiert werden durch Äusserungen mit bestimmten Illokutionen (Grüsse, Fragen, Befehle, Bitten, Vorwürfe etc.) oder durch metakommunikative Kennzeichnungen (Ankündigungen, vorausgreifende Evaluationen, Kategorisierung etc.). Auf der Ebene der Themenbehandlung schliesslich bedeutet Gesprächssteuerung die Art und Weise, wie Themen initiiert, aufrechterhalten, verschoben, beendet oder abgebrochen werden. Beginn wie Ende eines Themas werden häufig metakommunikativ angekündigt durch sogenannte Vorlaufelemente. Themenverschiebungen hingegen werden eher durch sukzessive Fokusveränderungen oder Relevanzsetzungen vollzogen. Gesprächssteuerung ist nicht beziehungsneutral in dem Sinne, dass es keine Rolle spielen würde, wer das Gespräch auf der Ebene der Gesprächsorganisation, der Handlungskonstitution und der Themenbehandlung steuert, im Gegenteil. Jede steuernde Aktivität etabliert lokale Asymmetrien, schränkt die Möglichkeiten der PartnerInnen ein, führt zu interaktionaler Dominanz der steuernden Person (Linell/ Luckmann 1991). Durch Aktivitäten des “Forcierens” (Kallmeyer/ Schmitt 1996) wie Überstrapazierung des Rederechts oder Insistieren kann diese Dominanz ausgebaut werden. Die Möglichkeiten, steuernd ins Gespräch einzugreifen, sind nicht für alle gleich, sondern hängen vom Status der Beteiligten ab und wirken auf diesen zurück. Das wird bei den von Müller (1997) analysierten Mitarbeiterbesprechungen überaus deutlich. Die status-superioren Personen, in seinem Falle <?page no="199"?> Gesprächssteuerung: Sprachliche Mittel, interaktionale Konsequenzen 199 Vorgesetzte, haben von Beginn der Interaktion weg viel umfassendere Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten als die status-inferioren Personen, die MitarbeiterInnen, und mit jedem kontrollierenden Zug bestätigen jene ihren superioren Status aufs Neue. Müller ergänzt den Begriff der Steuerung um jenen der Kontrolle: “‘Steuerung’ hat ein initiatives Potenzial, […], während ‘Kontrolle’ einen reaktiven und einen prospektiven Aspekt hat.” (Müller 1997: 74). Der rückwirkende Aspekt der Kontrolle wird zum Beispiel bei nachträglichen Umdeutungen von Partnerbeiträgen oder beim Übergehen von thematischen Initiativen deutlich. Müller zeigt auf, dass die Vorgesetzten über weite Strecken praktisch die vollumfängliche Kontrolle über die Interaktion ausüben und dass ihnen dazu eine reiche Palette sprachlicher Mittel zur Verfügung steht, Mittel, die häufig ohne Rücksicht auf das Partnerimage eingesetzt werden: Namentliches Aufrufen und ‘Abfragen’ im Zusammenhang mit Vorwürfen, Diskreditieren der Partneräusserungen, negative Evaluation der Arbeitsleistung ohne mildernde Modalisierungen und anderes mehr sind an der Tagesordnung. Die MitarbeiterInnen können viel seltener steuernd eingreifen, und es stehen ihnen auch weniger sprachliche Mittel zur Verfügung, die häufig zusätzlich in ihrem steuernden und imagebedrohenden Potenzial zurückgestuft werden. So werden Problematisierungen zögernd und schrittweise vorgenommen und Diskreditierungen verschleiert. Das Fazit von Müller lautet: Institutionell gegebene Macht äussert sich in Form interaktionaler Dominanz (ebd.: 339). Trotz allem betont Müller, dass zwischen Status und Kontrollverhalten kein deterministisches Verhältnis besteht. Angestellte können im und durch das Gespräch einen “positiven” oder “negativen” “Sonderstatus” als Experte oder Ausgestossener gewinnen. Vorgesetzte unterscheiden sich individuell im Ausmass der ausgeübten Kontrolle und in der Wahl der eingesetzten sprachlichen Mittel. Sie erscheinen dadurch als unterschiedlich dominant. Der letztgenannte Aspekt ist für meine Untersuchung besonders relevant und lässt sich wie folgt verallgemeinern: Individualität zeigt sich darin, wie stark und mit welchen sprachlichen Mitteln eine Person das Gespräch zu steuern versucht. Damit verbunden sind Machtansprüche und der Versuch, die Beziehung nach den eigenen Interessen zu definieren. Wie schon bei der Positionierung gilt auch für das Steuerungs- und Kontrollverhalten, dass bei der Interaktion zwischen den Angestellten eines Unternehmens und den KundInnen nicht von vornherein feststeht, wer der Situationsmächtige ist, wer das interaktive Geschehen kontrollieren darf bzw. muss. Klar ist lediglich, dass die Kundin bestimmt, welches Anliegen bearbeitet wird (Thema), während der Angestellte bestimmt, wie selbiges zu bearbeiten ist (Aufgabenschema), und dass letzterer allein über die notwendige Infrastruktur zur Bearbeitung des Anliegens verfügt. Wie aber im Einzelnen die Beteiligungsrechte verteilt werden, ist der interaktiven Aushandlung überlassen - die Grundlage für individuelle sprachliche Variation. <?page no="200"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 200 20 Ich habe eine charmante, ältere Dame für Sie, die ein wenig durcheinander ist […] und nach zehn Minuten hat sie gesagt: Jetzt bin ich doch schon 41 Jahre bei der Schwyzer Bank! 21 Als “Mamma” (italienisch “Mama”) wird in der deutschen Schweiz eine Mutter bezeichnet, die auch noch ihre erwachsenen Kinder bemuttert. Positionierung und Gesprächssteuerung sind wie gesagt eng miteinander verwoben. Beide dienen der Handlungs- und Beziehungskonstitution, beide sind mit Ansprüchen, Rechten und Pflichten verbunden und werden mit teilweise denselben sprachlichen Mitteln vollzogen. Daher werde ich in den nun folgenden Beispielanalysen beide Aspekte gemeinsam behandeln. 7.3 Kongruente und konfligierende Positionierungen: Empirische Analysen ich han=yne e scharmanti älteri dame won=e chly durenand isch […] und nach ZÄÄ minute hät si dänn gsäit <jetz bin ich doch scho ÄInevierzg joor >bi de schwy: : zer ba: nk! 20 (Beraterin zu Agent, 440) In diesem Abschnitt werde ich drei Gespräche vollständig sequenziell analysieren im Hinblick auf die Frage, wie sich die Beteiligten positionieren und wie stark und mit welchen sprachlichen Mitteln sie das Gespräch zu steuern versuchen. Zum Zuge kommen wiederum Repräsentanten dreier Gesprächstypen aus drei verschiedenen Abteilungen: Eine Auskunft aus dem Service, ein Börsenauftrag aus der Beratung und eine Entsperrung Internetzugang aus der Hotline. 7.3.1 Auskunft: “jovialer Kerl” trifft auf “fürsorgliche Mamma“ 21 Das folgende Gespräch fand in der Abteilung Service statt. Die Gesprächseröffnung lautet so: <?page no="201"?> Kongruente und konfligierende Positionierungen: Empirische Analysen 201 22 Gesprächsdauer exklusive zwei Rücksprachen mit der Geschäftsstelle Libellenplatz. Gespräch 150 (vollständig) Titel: Bahrainische Dinar wechseln Dauer: 2’15’‘ 22 Agent: weiblich, Zürcher Dialekt Typ: Auskunft geben Kunde: männlich, Zürcher Dialekt Resultat: Anliegen erfüllt [1] A [v] schwyzer BANK mi namen=isch AMrein? grüezi herr A [ü] schwyzer bank mein name ist amrein grüezi herr K [v] frau amrein! KELle: r grÜEziwoo: l. K [ü] frau amrein keller grüeziwohl [2] A [v] keller? A [ü] keller Die Agentin positioniert sich mit ihrer Vorstellung - sie hat keine andere Wahl - als Vertreterin der Schwyzer Bank, aber auch als Angehörige der Familie Amrein und, an der Stimme leicht erkennbar, als Frau. Nicht erkennbar wird, in welcher Funktion, in welcher Abteilung und an welchem geografischen Ort sie arbeitet. Damit ist für den Anrufenden auch nicht erkennbar, ob er mit einer für sein Anliegen zuständigen, kompetenten Person verbunden ist. Der Kunde stellt sich vor und begrüsst die Agentin mit der bereits besprochenen, auffälligen Kurzform, die ihn als “jovialen Typen” erscheinen lässt (vgl. S. 143). Seine Vorstellung weist ihn als männlichen Angehörigen einer Familie Keller aus, die Stimme lässt auf nicht mehr ganz jugendliches Alter schliessen, aber ob er Kunde der Schwyzer Bank ist, lässt sich zu diesem Zeitpunkt nicht sagen. Die Agentin begrüsst Herrn Keller namentlich mit der für sie - es handelt sich um Susanne - typischen, stark steigenden Intonation zum Schluss hin (vgl. S. 149). Diese steigende Intonation markiert die Begrüssung nicht nur als Abschluss der Gesprächseröffnung, sondern auch als Einstieg in das kommende Geschäft. Sie signalisiert Dienstfertigkeit, stellt zugleich aber auch eine deutliche Aufforderung an den Kunden dar, (s)ein Anliegen zu präsentieren, und ist somit ein subtiles Mittel der Gesprächssteuerung in Form einer Rederechtszuweisung. Die Sequenz der Anliegenspräsentation zieht sich über mehrere Gesprächszüge hin: [2] A [v] ja: ? A [ü] ja K [v] ich ha da e f/ e FRAAG wäge gäldwächsle: . und zwar gaat=s um mis K [ü] ich habe da eine f/ eine frage wegen geld wechseln und zwar geht es um mein <?page no="202"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 202 [3] A [v] aso müend si äifach en KURS haben A [ü] also müssen sie einfach einen kurs haben K [v] konto müend er daa d KONtonummere haa vo mer- K [ü] konto müsst ihr da die kontonummer haben von mir [4] A [v] oder- A [ü] oder K [v] näi de kurs han=i scho ich ha (jetz nu grad) wele frööge wien=i vorgaa MUES K [ü] nein den kurs habe ich schon ich wollte jetzt nur gerade fragen wie ich vorgehen muss [5] A [v] m=hm, A [ü] m=hm K [v] wel es isch seer en eXOtischi wëërig. wel de kurs han=i bi eu scho K [ü] denn es ist eine sehr exotische währung weil den kurs habe ich bei euch schon [6] A [v] (0.8) j: a: : ? (isch) A [ü] ja (ist) K [v] AAgfrööget das isch KÄS problem. jetz han=i wele frööge wien=i vorgaa mues K [ü] angefragt das ist kein problem jetzt wollte ich fragen wie ich vorgehen muss [7] A [v] ja, A [ü] ja K [v] wel ich bi (jetz grad) z BAse: l. öb ich da uf en ixbeliebigi SB cha gaa oder nöd. K [ü] denn ich bin jetzt gerade in basel ob ich da auf eine x-beliebige sb gehen kann oder nicht [8] A [v] (1.5) aso si wetted das in BANKnote chaufe. (0.7) was für e wëërig A [ü] also sie möchten das in banknoten kaufen welche währung ist K [v] näi VERchaufe. (0.7) VERchaufe. K [ü] nein verkaufen verkaufen [9] A [v] isch es dänn? BAArein. A [ü] es denn bahrain K [v] baareinischi DInar. jawol. K [p] <gedehnt, deutlich> K [ü] bahrainische dinar jawohl Herr Keller könnte sein Anliegen in zwei Sätzen präsentieren: “Ich bin in Basel und möchte bahrainische Dinar verkaufen; wie muss ich vorgehen? ” Das macht er aber nicht, vielmehr wählt er den Weg der Vorabverdeutlichung. Vage leitet er sein Anliegen als ‘Frage bezüglich Geldwechseln’ ein. Mit ihrem gedehnten, wiederum stark steigenden “ja: ? ” weist Susanne sich <?page no="203"?> Kongruente und konfligierende Positionierungen: Empirische Analysen 203 23 In den letzten Jahren ist es unter Handwerkern und einigen Dienstleistern Mode geworden, die KundInnen zu ihrzen, was letztere teilweise imitieren. Von älteren KundInnen wird diese kolloquiale Form des Siezens teilweise als Affront empfunden, da früher ausserhalb des Berner Sprachgebiets nur Dienstboten geihrzt wurden (mündliche Mitteilung meiner Grosseltern). 24 Manche Agents fragen nach der Kontonummer, bevor klar ist, ob selbige für die Bearbeitung des Anliegens überhaupt nötig ist. Sie sagten mir, sie hätten gerne die Kundendaten vor sich, so könnten sie leichter einordnen, was der Kunde sagt - der Bildschirm quasi als Ersatz für den nicht sichtbaren Gesprächspartner. Allerdings bringen sie sich damit in Zugzwang: Wenn der Kunde seine Kontonummer nennt, müssen sie sofort die Identifikation durchführen - zu einem im Gesprächsablauf unsinnigen, weil verfrühten Zeitpunkt. Dass Susanne dem Angebot des Kunden widersteht, jetzt schon sein Konto aufzurufen, weist sie als routinierte und bedächtige Agentin aus. als zuständig für solche Fragen aus und ermuntert ihn weiterzufahren (S 2). Herr Keller bietet nun an, seine Kontonummer zu nennen (S 3). Damit positioniert er sich als Kunde der Schwyzer Bank. Indem er die Agentin ihrzt, was im Zürcher Dialekt eine Anbiederung darstellt, verstärkt er den Eindruck, ein unkomplizierter Kumpel zu sein. 23 Gleichzeitig demonstriert er sein Wissen, dass für die Bearbeitung von Kundenanliegen normalerweise die Kontonummer gebraucht wird, und signalisiert Kooperationsbereitschaft, indem er diese Nummer zu nennen freiwillig anbietet. Susanne geht darauf nicht ein, sondern stellt die Gegenfrage, ob der Kunde eine Kursauskunft wünsche (S 3). 24 Das ist das häufigste Anliegen der KundInnen und macht das Aufrufen des Kontos überflüssig. Herr Keller verneint, den Kurs habe er schon, er wolle wissen, wie er vorgehen müsse, es handle sich um eine sehr exotische Währung (S 4+5). Damit stilisiert er sich zum Spezialfall. Anstatt zu sagen, um welche Währung es geht, wiederholt er sein Anliegen und fragt, ob er auf eine beliebige Geschäftsstelle der Schwyzer Bank in Basel gehen könne (S 6+7). Nach einem kleinen Zögern von 1.5 Sekunden fragt Susanne, ob er Noten kaufen wolle - der Kunde will aber verkaufen - und schliesslich, um welche Währung es gehe (S 8+9). Herr Keller antwortet gedehnt, in einem lehrerhaften Tonfall: “baareinischi DInar” (S 9). Was “bahrain” geschrieben wird, müsste korrekterweise “bachrain” ausgesprochen werden. Ob er das nicht weiss, oder ob er es weiss und davon ausgeht, dass die Agentin es nicht weiss, ob er also den Fehler unfreiwillig begeht oder absichtlich im Dienste der Verständigung, bleibt unklar. Die Agentin echot “BAArein” und lässt damit ebenso offen, ob sie die korrekte Aussprache nicht kennt oder ob sie die Reparatur unterlässt, um den Kunden nicht blosszustellen. Für sie ist das Anliegen jetzt klar. Das wird allerdings erst durch den weiteren Gesprächsverlauf deutlich, da sie keine Ratifizierungs- oder Gliederungssignale hören lässt, sondern unvermittelt zur Anliegensbearbeitung schreitet (vgl. unten). In dieser Gesprächsphase beschränkt sich Susanne auf Rückmeldesignale und Präzisierungsfragen. Sie lässt dem Kunden viel Raum, sein Anliegen ausführlich und in der ihm genehmen Weise zu präsentieren. Auf die <?page no="204"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 204 25 Der “Libellenplatz” liegt sehr zentral und ist weit über die Stadt hinaus ein Begriff. Initiative des Kunden, das Geschäft in einer bestimmten Form durchzuführen, geht sie jedoch nicht ein, sondern lenkt - ohne explizit nein zu sagen - mit einer Gegenfrage davon ab. Insgesamt überlässt sie die Gesprächsorganisation weitgehend dem Kunden, thematisch behält sie aber auf subtile Weise die Kontrolle. Bezüglich ihrer Funktion und Kompetenz positioniert sie sich in diesem Abschnitt nicht eindeutig, sie gibt mit ihren Fragen lediglich zu erkennen, dass sie sich für das Anliegen zuständig fühlt und den Kunden nicht weiterzuleiten gedenkt. Herr Keller seinerseits legt mit seinem etappenweisen Aufdecken des Anliegens ein zunächst unverständliches, strategisches Verhalten an den Tag. Warum sagt er nicht sogleich, was er will? Mit seinem Verhalten erweckt er den Eindruck, dass er der Agentin unterstellt, sie kenne die bahrainische Währung nicht und wisse auch nicht, wo man diese wechseln kann. Mit dem schrittweisen Aufdecken der Sachlage versucht er, ihr Gesicht zu schützen und ihr die Gelegenheit zu geben, ihn mit einer zuständigen Person zu verbinden. Allerdings erreicht er mit seiner Strategie eher das Gegenteil: Sein Zögern, die Währung zu nennen, macht gerade deutlich, dass er der Agentin Nichtwissen unterstellt. Sich selber positioniert er in dieser Phase als informierten, kooperativen Kunden der Schwyzer Bank, als jovialen Menschen, der gerne redet und das Gespräch zu kontrollieren versucht. Die Anliegensbearbeitung scheint mit den nächsten vier Gesprächszügen bereits abgeschlossen zu werden: [9] A [v] aso ich wäiss dass de libelleplatz das uf jede fall aachaufe tuet, A [ü] also ich weiss dass der libellenplatz das auf jeden fall ankauft [10] A [v] sälbverständlich käs problem. A [ü] selbstverständlich kein problem K [v] chan=i daa UNaagmäldet verby gaa käs problem, K [ü] kann ich da unangemeldet vorbeigehen kein problem [11] K [v] m=hm isch no guet, dänn hät sich mini fraag scho erledigt, K [ü] m=hm ist noch gut dann hat sich meine frage schon erledigt Susanne gibt dem Kunden eine erste Antwort auf seine Frage: Die Geschäftsstelle am Libellenplatz kauft diese Währung (S 9+10). 25 Mit den Ausdrücken “ich wäiss”, “uf jede fall” und dem Fachbegriff “aachaufe” demonstriert sie nachdrücklich ihr Fachwissen und positioniert sich erstmals deutlich als Expertin. Die steigende Intonation am Ende der Äusserung signalisiert, dass weitere Auskünfte folgen könnten. Das ist aber nicht nötig, da Herr Keller <?page no="205"?> Kongruente und konfligierende Positionierungen: Empirische Analysen 205 26 Das ist das Gebäude, in welchem neben dem Devisenhandel auch die Agentin arbeitet. den Libellenplatz sofort aufgreift und fragt, ob er dort unangemeldet vorbeigehen könne (S 10). Die Agentin bestätigt dies. Mit dem Ausdruck “sälbverständlich” positioniert sie ihre Bank als allzeit bereites Dienstleistungsunternehmen, das auch auf ausgefallene Wünsche vorbereitet ist. Sie doppelt nach mit einer zweiten Bestätigung, einem Echo von Kellers “käs problem”. Hier wird ihre Vorliebe für Echos deutlich. Der Kunde evaluiert die Auskunft explizit als gut und erklärt seine Frage als “schon erledigt” (S 11). Doch dann nimmt das Gespräch eine andere Wendung: [11] A [v] ou jetz mues i grad luege A [p] <all > A [ü] oh jetzt muss ich gerade schauen [12] A [v] mir händ im momänt gar kän aachaufspriis für baarein, A [p] <rall > A [ü] wir haben im moment gar keinen ankaufspreis für bahrain K [v] äh ich ha z dings/ K [ü] äh ich habe in dings/ [13] K [v] im glasturm z winterthur 26 han=i mit em devise: / gfrööget ghaa; isch alles okay. K [ü] im glasturm in winterthur habe ich mit dem devisen/ gefragt; ist alles okay [14] A [v] jaaber ich tue na gschwind am schalter frööge nöd das ich si döt ane schicke und dänn A [ü] ja aber ich frage noch schnell am schalter nach nicht dass ich sie dorthin schicke und K [v] ja K [ü] ja [15] A [v] nachethäne chömed si GLYCH nüüt über. he? chlyne momänt bitte, danke A [ü] nachher bekommen sie doch nichts, he kleinen moment bitte danke K [v] DAS wër dänn tümmer ja richtig ja danke, K [ü] das wäre dann dümmer ja richtig ja danke Susanne kündet an, sie müsse etwas nachschauen, und erklärt dann, es fehle der Ankaufspreis für Bahrain; ein Hinweis, dass ein Verkauf für den Kunden momentan vielleicht nicht möglich ist (S 12). Mit dem Pronomen ‘wir’ zeigt sie, dass sie sich mit dem Unternehmen identifiziert, und positioniert sich deutlich als Sprecherin der Schwyzer Bank. Der Kunde meint, er habe das mit dem Devisenhandel bereits abgeklärt (S 13). Damit stuft er den Hinweis der Agentin als irrelevant ein. Gleichzeitig demonstriert er noch einmal, wie gut er bereits informiert ist, mit der Verwendung des Insideraus- <?page no="206"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 206 drucks ‘Glasturm’ positioniert er sich als profunden Kenner der Schwyzer Bank. Die Agentin weist den Kunden nicht darauf hin, dass sie im selben Gebäude sitzt wie der Devisenhandel, lediglich ein Stockwerk höher; mit anderen Worten, sie verzichtet auf unnötige Belehrungen und lässt den von ihm proklamierten Kennerstatus unangetastet. Jedoch beharrt sie darauf, die Sache mit dem Schalterpersonal zu klären, damit der Kunde nicht vergeblich zum Libellenplatz laufe. Mit ihrem Ausdruck “nöd das ich si döt ane schicke” (S 14) nimmt sie eine auffällige Positionierung vor: nicht als jene, die dem Kunden lediglich eine Auskunft erteilt, sondern als jene, die ihn an den rechten Ort schickt! Der Kunde ratifiziert ihre Handlungsweise mit einer positiven Evaluation: “ja richtig ja” (S 15). Sie bittet um Geduld und stellt den Kunden auf Halten. Nach einer Wartefrist von mir unbekannter Dauer meldet sie sich zurück: [16] A [v] herr KELler. döf i na frööge isch das en GRÖSsere betrag. A [ü] herr keller darf ich noch fragen ist es ein grösserer betrag K [v] ja K [ü] ja [17] A [v] oder föiftusig/ A [p] <pp > A [ü] oder 5000 K [v] näi sind föiftusig dinar. das entspricht in etwa vierezwänzgtusig schwyzer franke. K [ü] nein sind 5000 dinar das entspricht in etwa 24’000 schweizer franken Höflich modalisiert (“döf i na frööge”, S 16) fragt die Agentin, ob der Betrag gross sei. Der Kunde verneint, es seien 5000 Dinar, und erklärt ihr sogleich, das entspreche 24’000 Schweizer Franken. Erneut positioniert er sich ihr gegenüber als Lehrer, aber auch als ziemlich wohlhabender Mann, für den 24’000 Franken kein grosser Betrag sind. Susanne reagiert darauf nicht, sondern bittet lediglich um einen weiteren Moment Geduld. Nach dem zweiten Unterbruch bedankt sie sich für das Warten und erklärt dann: [18] A [v] m=hm, chlyne momänt bitte, [HALTEN] herr KELler? danke für=s waarte- A [ü] m=hm, kleinen moment bitte herr keller danke für’s warten K [v] ja danke, ja, K [ü] ja danke ja <?page no="207"?> Kongruente und konfligierende Positionierungen: Empirische Analysen 207 [19] A [v] eh si sind chund vo de schwyzer bank? natürlich! also eh mir A [p] <imitierend> A [ü] eh sie sind kunde der schwyzer bank natürlich also eh mir K [v] käs problem natürlich! K [ü] kein problem natürlich [20] A [v] isch jetz grad gsäit worde es gëbi SEER VIL FÄLschige vo de baarain dinar, A [ü] wurde jetzt gerade gesagt es gäbe sehr viele fälschungen von den bahrainischen dinar [21] A [v] und mir würed=s äifach NUR zum inkasso entgägenëë. .hh das heisst, mir A [ü] und wir würden es einfach nur zum inkasso entgegennehmen das heisst, wir würden K [v] jawol, K [ü] jawohl [22] A [v] würed=s ZERscht bi eus in HANdel schicke, zum prüefe öb d note guet sind, A [ü] es zuerst bei uns in den handel schicken um zu prüfen ob die noten gut sind K [v] m=hm, K [ü] m=hm [23] A [v] und wänn ja: dänn würed mer=s yne NACHträglich uf=s KONto guetschrybe. A [ü] und wenn ja dann würden wir es ihnen nachträglich auf das konto gutschreiben K [v] kein K [ü] kein [24] A [v] hja das gaat öppe vierezwänzg STUND A [ü] hja das geht etwa 24 stunden K [v] problem, (.) we lang gaat s ganze prozedere, K [ü] problem wie lange geht das ganze prozedere [25] A [v] ungefëër. A [ü] ungefähr K [v] okay ales klar. mol isch guet so. K [ü] okay alles klar doch ist gut so Mit ihrer Frage, ob er Kunde der Schwyzer Bank sei, elizitiert Susanne eine explizite Selbstpositionierung des Anrufers mittels Kategorisierung (S 19). Eigentlich müsste sie wissen, dass Herr Keller Kunde ist, hat er doch schon zu Beginn des Gesprächs seine Kontonummer angeboten. Sie weist dem Kunden damit trotz namentlicher Anrede ungewollt die Position des anonymen Anrufers zu, den man in der Institution nicht kennt. Herr Keller antwortet in gespielter Entrüstung “natürlich! ”, was von ihr, das Spiel auf- <?page no="208"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 208 27 Der Sinn des Code-Switching von “käs problem” (S 10 und S 19) zu “kein problem” (S 24) ist mir nicht klar. greifend, imitiert wird (S 19). Damit wird ihr Faux-pas auf humorvolle Weise bewältigt. Sie sagt ihm nun, die bahrainischen Dinar würden nur zum Inkasso entgegengenommen und fügt nahtlos, das heisst ohne Zeichen des (Un-)Verständnisses von seiner Seite abzuwarten, die Erklärung hinzu, was das bedeutet. Ihre Expertenrolle stellt sie sehr differenziert dar. Einerseits deklariert sie offen, was nicht eigenes Wissen ist (“mir isch … gsäit worde”, S 20), andererseits erklärt sie ohne Stocken und Zögern, wie ein Inkasso funktioniert. Herr Keller fragt nach, wie lange das ganze Prozedere dauere, und erklärt dann die Sache für geklärt und in Ordnung. Mit seinen Ausdrücken “kein Problem” (S 24), “ales klar” und “isch guet so” (S 25) positioniert er sich als unkomplizierten, rasch begreifenden und zufriedenen Kunden. 27 Das Gespräch geht nun rasch dem Abschluss entgegen: [25] A [v] okay dänn wür ich si aamälde am libelleplatz. A [ü] okay dann würde ich sie anmelden am libellenplatz [26] A [v] OKAY! danke vilmaal widerhööre herr keller merci A [ü] okay danke vielmals wiederhören herr keller merci K [v] ja! das isch super. GUET! danke: widerhööre (xxxxxxxxxxx) K [ü] ja das ist super gut danke wiederhören (xxxxxxxxxxx) Die Agentin bietet dem Kunden an, ihn (sogleich) am Libellenplatz anzumelden (S 25). Damit positioniert sie sich als vorausschauende, dienstfertige Agentin. Herr Keller evaluiert diesen Zusatzdienst mit “super” (S 26), was von ihr wiederum mit “okay” ratifiziert wird. Nach dem üblichen Beendigungssignal des Kunden (“guet”) bedanken und verabschieden sich beide - eine der wenigen Stellen im Gespräch, wo überlappend gesprochen wird. Im Hauptteil des Gesprächs haben sich die Verhältnisse umgedreht. Jetzt ist es Susanne, die den Gesprächsablauf bestimmt, sowohl thematisch als auch organisationell. Der einzige Steuerungsversuch des Kunden (sie von der Abklärung des Ankaufspreises abzuhalten) wird von ihr übergangen. Sie kontrolliert das Gespräch mit Fragen, Erklärungen, einseitig getroffenen Entscheidungen und der selber initiierten Rücksprache mit dem Schalterpersonal, für welche sie allerdings die Zustimmung des Kunden einholt (“he? ”, S 15). Sie positioniert sich dabei als eine, die vieles, aber nicht alles weiss, sich die fehlenden Informationen zu verschaffen versteht, und die weiss, was für den Kunden gut ist. Sie identifiziert sich mit der Bank und stellt sich und das Unternehmen als dienstbeflissen dar. <?page no="209"?> Kongruente und konfligierende Positionierungen: Empirische Analysen 209 28 Vorausgegangen sind die Übergabe aus dem Service und die Bitte um Aufnahmebewilligung. Die Vorstellung des Beraters ist demnach inszeniert. Herr Keller seinerseits gibt die Gesprächsführung freiwillig ab, erklärt sich inhaltlich mit allem einverstanden und zeigt keinerlei Ungeduld über das zweimalige Warten. Damit anerkennt er den in der Anliegenspräsentation noch angezweifelten Expertenstatus der Agentin. Trotzdem erscheint er keineswegs als unterwürfig. Er nimmt sich die Freiheit, alle Tätigkeiten der Agentin nicht nur zu ratifizieren, sondern auch zu bewerten, und er lässt bei seinen Antworten keine Gelegenheit aus, sich als bereits informiert oder wenigstens rasch begreifend sowie als guten, wohlhabenden, kooperativen Kunden zu positionieren. Den Faux-pas der Agentin, die fragt, ob er Kunde der Schwyzer Bank ist, übergeht er grosszügig. Dieses Gespräch ist im Korpus eines der harmonischeren. Das liegt unter anderem daran, dass die beiden Beteiligten mit ihren Positionierungs- und Steuerungsbemühungen sich gegenseitig nicht konkurrieren, sondern unterstützen und ergänzen. Beide lassen dem Gesprächspartner viel Raum, sich als Experten zu positionieren, bestätigen sich gegenseitig in dieser Rolle und vermeiden, was Gesicht und Status des anderen bedrohen könnte (zum Beispiel Blossstellen durch nicht beantwortbare Fragen oder korrigierende Reparaturen, explizites Ablehnen von Vorschlägen). Sie tolerieren die Fragen und sogar Belehrungen des Gesprächspartners und reagieren nicht mit Ausweichen, Parallelsprechen, ungeduldigem “jaja” oder Gegenbelehrungen. Um das Rederecht wird nicht gekämpft, es gibt keine einzige Unterbrechung und kaum überlappendes Sprechen. Beide sind geduldig; beide beherrschen subtile Mittel, das Gespräch zu steuern, kämpfen aber nicht um die Kontrolle, welche inhaltlich von Anfang bis Ende bei der Agentin liegt, gesprächsorganisatorisch zu Beginn beim Kunden. Die Positionierungen und Steuerungen der beiden sind mit anderen Worten kongruent. Aufgrund ihres Verhaltens habe ich Herrn Keller und Susanne in der Überschrift dieses Abschnitts mit den nicht auf die Goldwaage zu legenden Etiketts “jovialer Kerl” und “fürsorgliche Mamma” versehen. 7.3.2 Börsenauftrag: “selbstbewusster Grossvater” trifft auf “eigenmächtigen Vormund” Das zweite Gespräch fand in der Abteilung Beratung statt. Der Beginn der Aufnahme 28 lautet so: <?page no="210"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 210 Gespräch 367 (Ausschnitte) Titel: Zuerst muss ich ein Depot eröffnen Dauer: 5’09’‘ Berater: männlich, Zürcher Dialekt Typ: Auftrag Kunde: männlich, Zürcher Dialekt Resultat: Etappe erfüllt [1] B [v] brandenberger? sächzg stuck. (guet). B [ü] brandenberger 60 stück gut K [v] .hhh ich hett gern (.) sächzg stuck SB aktie gchauft. K [ü] ich hätte gerne 60 stück SB aktien gekauft [2] K [v] chönd si mir dänn grad no säge: (eh: )/ gänd si=s emol ii eso und dänn chönd si K [ü] können sie mir dann gerade noch sagen (eh) geben sie es mal so ein und dann können sie [3] B [v] .. . . . . . . . mmm ich cha yne mal säge wie=s jetz B [ü] mmm ich kann ihnen mal sagen wie sie jetzt K [v] mir nochane gëë wie=s DUREgönd. K [ü] mir nachher geben wie sie durchgehen [4] B [v] momentan STÖND? . . . . . . . . . . . . . . (1.5) eh: : : B [ü] momentan stehen eh K [v] .hh ja de herr vorher hät mir gsäit dreihundertdreievierzg K [ü] ja der herr vorher hat mir gesagt 343 [5] B [v] mol LUEge, drühundertdreievierzg komma FÖIF isch jetz de letscht zalti. (0.8) o: kay, B [ü] mal schauen 343 komma 5 ist der zuletzt bezahlte okay K [v] ja, K [ü] jA Die erste Äusserung des Kunden - nennen wir ihn Kathriner - hat die Form einer Bitte. Die Stimme klingt jedoch sehr bestimmt, nicht mehr ganz jung. Er positioniert sich damit als selbstbewussten, älteren, wohlhabenden Herrn - immerhin initiiert er ein Geschäft von über 20’000 Franken. Der erste Eindruck wird durch die Folgeäusserung mehr als bestätigt: Der Kunde befiehlt dem Berater, erst einmal den Auftrag einzugeben und ihm dann zu sagen, wie die Aktien “duregönd”, das heisst zu welchem Preis sie gehandelt werden (S 2+3). Herr Kathriner ist einer der wenigen Kunden, die den Imperativ verwenden, und auch der Ausdruck “und dänn chönd si mir nochane gëë” (S 3+4) stellt trotz Indikativ eine sehr direkte Aufforderung dar, wie sie Eltern oder Lehrer verwenden könnten. Er positioniert sich damit als Weisungsbefugten hoch über dem Berater und beansprucht mit dem Jargonwort “durchgehen” zugleich den Status des erfahrenen Börsia- <?page no="211"?> Kongruente und konfligierende Positionierungen: Empirische Analysen 211 ners. Durch klare Vorgaben versucht er, dem Berater seinen Handlungsplan aufzuzwingen. Der Berater, er heisse Alberto, geht auf den Handlungsplan des Kunden jedoch nicht ein, sondern meint, er könne dem Kunden “mal” sagen, wie die Aktie momentan steht (S 3+4). Diese thematische Initiative wird wiederum vom Kunden abgelehnt, der darauf hinweist, “de herr vorher” (gemeint ist der Agent aus dem Service, der den Anruf entgegengenommen und weitergeleitet hat) habe ihm den Preis bereits genannt (S 4). Alberto beharrt auf seinem Plan und korrigiert die von Herrn Kathriner genannte Summe um 50 Rappen nach oben (S 5). Der Berater muss dem Kunden den aktuellen Kurs des gewünschten Titels nennen, vorher darf er keinen Börsenauftrag aufgeben. Da er das aber nicht sagt, erscheinen seine Äusserungen als rüde Zurückweisungen der Kundeninitiativen, als Befehlsverweigerung bzw. Belehrung. Die vom Kunden beanspruchte Weisungsbefugnis wird nicht ratifiziert, seine Positionierung durch den Kontrollanspruch des Beraters untergraben. Doch Herr Kathriner gibt seinen Anspruch nicht auf: [6] B [v] (ich) mues/ ich mues ëbe zersch es DEpot bi yne eröffne; si händ B [ü] (ich) muss/ ich muss eben zuerst ein depot bei ihnen eröffnen sie haben K [v] gänd si=s mal so ii K [ü] geben sie es mal so ein [7] B [v] no käs, näi es DEpot; B [ü] noch keines nein ein depot K [v] (eh: ) KONtokorränt; DEpot han ich ëbe im momänt e KÄS mee; K [ü] (eh) kontokorrent depot habe ich eben im moment keines mehr [8] B [v] ëbe ich mach jetz yne grad äis uuf. oder wil susch chan=i ëbe läider nöd B [p] <lachend > B [ü] eben ich mache jetzt ihnen gerade eines auf oder weil sonst kann ich eben leider nicht K [v] ja K [ü] ja [9] B [v] chaufe. (0.8) eh: : (3.5) so: ? (5.2) ich säg yne a DEpotnummere? B [ü] kaufen eh so ich sage ihnen auch die depotnummer K [v] ja? K [ü] ja Der Kunde wiederholt seinen Befehl (S 6), doch der Berater verfolgt bereits wieder andere Pläne. Er erklärt, er müsse zuerst ein Depot eröffnen (S 6+7). Der Ausdruck “si händ no käs” klingt beinahe vorwurfsvoll, das Klappern der Tastatur verrät, dass er bereits am Werk ist - ohne Rücksprache mit dem <?page no="212"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 212 29 Das vollständige Gespräch ist im Anhang abgedruckt. Kunden, ohne ihm zu erklären, warum er ein Depot eröffnen muss und ob das allenfalls mit Gebühren verbunden ist. Er positioniert sich damit als ausgesprochen eigenmächtig, als derjenige, der allein über das Geschäft und den Interaktionsverlauf bestimmt. Der Kunde hat den Berater nicht verstanden, es kommt zu einer kurzen Reparatursequenz mit Rückfrage, gegenseitigem Erklären und Insistieren (S 7). Das von beiden benutzte “ëbe” erweckt den Eindruck von Rechthaberei. Indem Herr Kathriner wiederholt, was der Berater gerade gesagt hat (“DEpot han ich ëbe im momänt e KÄS mee”, S 7), positioniert er sich unfreiwillig als schwerhörig und begriffsstutzig. Darauf reagiert der Berater mit einer knappen Erklärung, warum er ein Depot eröffnet (S 9). Das begleitende Lachen ist vieldeutig. Es könnte als Entschuldigung für die entstehende Verzögerung gemeint sein, dafür spricht die Verwendung von “läider”, es könnte aber auch ein gesichtsbedrohendes Lachen über die Begriffsstutzigkeit von Herrn Kathriner sein, dafür spricht dessen Reaktion: Keine Ratifikation und langes Schweigen. Damit hat der Berater seinen Handlungsplan durchgesetzt und die Gesprächskontrolle vollständig an sich gerissen. Nach einer längeren Pause gibt er dem Kunden Ziffer für Ziffer die Depotnummer bekannt, die dieser Ziffer für Ziffer wiederholt (hier nicht wiedergegeben). 29 Dann kommt der Berater zum eigentlichen Geschäft zurück, dem Börsenauftrag: [14] B [v] o: kay (.) .h jetz tüm=mer da mal schnäll de CHAUF no ygëë, (5.3) was für e limite B [ü] okay jetzt geben wir da mal schnell den kauf noch ein welche limite [15] B [v] gäm=mer y? (0.9) drühundertdrüevierzg; (xxx) B [p] <fragend > B [ü] geben wir ein 343 (xxx) K [v] ja: si (chönd) äifach eSO wie=s jetz SIND he. K [ü] ja sie (können) einfach so wie sie jetzt sind he [16] B [v] jawol. .h (dë) mache mer (nur) HÜTT B [ü] jawohl (dann) machen wir (nur) heute K [v] die (hend) (die sind) jo ABEgheit vo geschter. he; K [ü] die (haben) (die sind) ja runtergefallen von gestern he [17] B [v] gültig, das isch am: / de SIBte, (5.2) B [ü] gültig das ist am/ der siebte Alberto erklärt eher beiläufig, man werde jetzt “mal schnäll” den Kauf eingeben (S 14). Auffällig ist seine Verwendung des Pronomens ‘wir’. Die <?page no="213"?> Kongruente und konfligierende Positionierungen: Empirische Analysen 213 Bank kann damit nicht gemeint sein, da Alberto den Kauf alleine in Auftrag gibt, versehen mit seinem persönlichen Visum. Ein Pluralis Majestatis kommt ebenso wenig in Frage. Der Ausdruck “tüm=mer” ist am ehesten als “Pseudo-Wir” zu deuten, wie es Krankenschwestern bei ihrem berüchtigten “Wie geht’s uns heute? ” gebrauchen. Damit positioniert sich der Berater erneut als über dem Kunden stehend, als dessen Vormund geradezu. Diese Position wird in den folgenden Gesprächszügen gefestigt. In einer fünfsekündigen Pause tippt Alberto Titel und Stückzahl ein - die hat er nicht vergessen -, und fragt dann, erneut in der Wir-Form, nach der Limite, um sogleich einen Vorschlag nachzuschieben (S 15). Herr Kathriner geht auf diesen Vorschlag nicht ein, sondern verlangt, dass der gegenwärtige Kurs eingegeben wird (S 15). Seine Formulierung, “äifach eSO wie=s jetz SIND”, lässt durchblicken, dass es ihm auf den Rappen nicht ankommt. Dass er den Kurs der Aktie trotzdem sehr genau kennt, macht er mit der nächsten Bemerkung deutlich, mit der er sich als Spekulant positioniert, der das Börsengeschehen täglich verfolgt (S 16). Der Berater bearbeitet die nächste Teilaufgabe im Aufgabenschema Börsenauftrag (vgl. S. 115), indem er die Gültigkeit des Auftrags eingibt, und zwar entgegen aller Gepflogenheiten ohne Rücksprache mit dem Kunden. Damit demonstriert er erneut seine Eigenmächtigkeit. Dann wiederholt er den Auftrag: [17] B [v] (5.2) ich tu de chauf widerHOle? si möchte CHAUfe, SB B [ü] ich wiederhole den kauf sie möchten kaufen SB K [v] ja K [ü] ja [18] B [v] group NAme, (0.7) sächzg stuck, (.) limite drühundertdrüevierzg, (.) gültig bis sibte zwäite, B [p] <gedehnt > B [ü] group namen 60 stück limite 343 gültig bis 7.2. [19] B [v] (.) gemäss telefon vo Yne. B [ü] gemäss anruf von ihnen K [v] JA aso wänn=s jetz au dreihundertdreievierzg FÜFZG sind; K [ü] ja also wenn es jetzt auch 343 50 sind [20] B [v] ja (xxx) mir (xxx) mol eSO. das wëred öppe 20’580 franke. (1.6) B [p] <für sich, genuschelt > B [ü] ja (xxx) wir (xxx) mal so das wären etwa 20’580 franken K [v] säb isch jo GLYCH. ja! K [ü] das ist ja egal ja <?page no="214"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 214 30 Das ist vor allem bei jenen Aktien nötig, die in Zehnerpaketen gehandelt werden, weil dort vielen Anlegern nicht klar ist, dass sie mit “einem Stuck” in Wahrheit zehn Aktien kaufen, was den Kaufpreis verzehnfacht. [21] B [v] o: kay, (1.2) das/ das isch/ eh: / das B [ü] okay das/ das ist/ eh / das ist K [v] (1.2) und welem konto (dass si=s müend) beLASCHte? K [ü] und welchem konto (sie das) belasten (müssen) [22] B [v] isch=s priVATkonto. ja die han=ich. B [ü] das privatkonto ja die habe ich K [v] (0.7) ja das gs/ die kontonummere händ si K [ü] ja das se/ die kontonummer haben sie Bei der Wiederholung stellt sich heraus, dass Alberto trotz des Einspruchs des Kunden nicht den aktuellen Kurs von 343.50 eingegeben hat, sondern die von ihm vorgeschlagenen 343 Franken. Herr Kathriner protestiert auf nonchalante Weise, indem er nicht direkt verlangt, dass die Limite geändert wird, sondern indem er sagt, es dürften auch 343.50 sein, das sei ihm egal (S 19+20). Damit positioniert er sich erneut als Kunden, dem es auf ein paar Franken (30 sind es, um genau zu sein) nicht ankommt, und lässt erkennen, dass es ihm wichtiger ist, überhaupt zu diesen 60 Aktien zu kommen. Doch Alberto geht auch über diese Initiative des Kunden hinweg, indem er etwas Unverständliches brummelt und dann die zu erwartende Gesamtsumme nennt (S 20). Das macht er in den anderen aufgezeichneten Gesprächen nicht. Er erklärte mir auf meine Nachfrage, das mache er nur, wenn er den Eindruck habe, dem Kunden sei nicht klar, auf welche Spekulationssumme er sich einlässt. 30 Mit dieser Rückversicherung positioniert er den Kunden als unzurechnungsfähig, was durch das entschiedene “ja! ” des Kunden, der diese Summe auch berechnen kann, sogleich konterkariert wird. Mit seiner Frage nach dem zu belastenden Konto versucht der Kunde noch einmal, sich als mitdenkenden Börsenroutinier zu positionieren und die Gesprächsinitiative zu gewinnen, worauf der Berater ausnahmsweise auch eingeht. Es folgt der zweite Teil des Geschäfts, das Abwarten der Auftragsausführung. [23] B [v] (0.9) wenn si=s geduld/ (0.7) chly geduld händ, chan=ich yne grad säge öb=s B [ü] wenn sie (es) geduld ein wenig geduld haben kann ich ihnen gerade sagen ob sie [24] B [v] GGANGnge sind, (9.0) (nä: i) (23.0) es gaat immer e chly es zytli wil=s sind SEER vil B [p] <pp > B [ü] gegangen sind (nein) es geht immer eine gewisse zeit weil es sind sehr viele <?page no="215"?> Kongruente und konfligierende Positionierungen: Empirische Analysen 215 31 Die “Landbank” wurde vier Jahre zuvor von der Schwyzer Bank aufgekauft. [25] B [v] wo wänd CHAUfe, (.) näi B [ü] die kaufen wollen nein K [v] (0.7) bi dëre (.) SB aktie han=i jo KÄ depotgebüüre; oder? K [ü] bei dieser SB aktie habe ich ja keine depotgebühren oder [26] B [v] (.) (det) händ si KÄI. aso ah: : ÄIgeni aktie händ si käi. B [ü] (dort) haben sie keine also ah eigene aktien haben sie keine K [v] ja ja. (1.8) .h ja ich ha früener mal K [ü] ja ja ja ich hatte früher mal [27] B [v] ja? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. B [ü] ja K [v] es depot ghaa bi Yne. .hh aber (da) isch en ÄNkelin vo mir die: hät müesse froo sii K [ü] ein depot bei ihnen aber (da) ist eine enkelin von mir die musste froh sein [28] B [v] ja B [ü] ja K [v] um e: / um e stell, bi de kantonalbank. .h und dänn bin ich doo äigentlich zur K [ü] um eine/ eine stelle bei der kantonalbank und dann bin ich da eigentlich zur [29] B [v] (1.6) das: isch KÄS problem aso- B [ü] das ist kein problem also K [v] kantonalbank ggange. (0.8) DAS isch de grund gsy (xxx) K [ü] kantonalbank gegangen das war der grund (xxx) [30] K [v] (wil) ich früener äigentlich/ URsprünglich bin ich hauptsächlich e LANDbank chund gsy. K [ü] (weil) ich früher eigentlich/ ursprünglich war ich hauptsächlich ein landbank kunde [31] B [v] m=hm . . . . . . . . . . . . . .. (0.8) ja LÄI(der) hehe/ B [p] <lachend > B [ü] m=hm ja lei(der) hehe K [v] und dänn bin i ZWANGSläufig ja dänn zu EU choo. 31 K [ü] und dann bin ich zwangsläufig ja dann zu euch gekommen [32] B [v] sind dänn läider uufgchauft worde (xx) landbank ja, B [ü] sind dann leider aufgekauft worden (xx) landbank Alberto bittet um einen Moment Geduld, begleitet von wildem Tastaturgeklapper (S 23), dann lässt er den Kunden mehr als eine halbe Minute stumm an der Leitung hängen, um schliesslich zu erklären, die Sache ziehe <?page no="216"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 216 sich in die Länge, weil so viel Käufe getätigt würden (S 24). Diesmal geht Herr Kathriner seinerseits nicht auf das Thema des Beraters ein, sondern schwenkt um auf die Depotgebühren, die der Berater bei der Eröffnung des Depots nicht erwähnt hat. Er zeigt, dass er bereits weiss, dass bei bankeigenen Aktien normalerweise keine Gebühren erhoben werden (S 25), und bekommt das vom Berater auch bestätigt. Der Kunde beginnt jetzt von früheren Zeiten zu sprechen. Damit gibt er dem Gespräch thematisch eine völlig neue Richtung und initiiert ein neues Handlungsmuster: Smalltalk. Er berichtet, er sei wegen seiner Enkelin zur Kantonalbank gegangen, zuvor sei er Kunde bei der Landbank gewesen und dadurch “zwangsläufig” zur Schwyzer Bank gekommen (S 26-31). Er positioniert sich damit einerseits als netten Grossvater, andererseits als langjährigen Kunden der Schwyzer Bank, der lediglich aus Loyalität zu seiner Enkelin die Bank gewechselt hat. Eine ausführliche Selbstpositionierung, in der sowohl Kategorisierungen als auch Handlungsbeschreibungen vorkommen. Alberto beschränkt sich während dieser Sequenz auf wenige Rückmeldungen, das gelegentliche Klappern der Tastatur verrät, dass er parallel dazu weiterarbeitet. Die letzte Äusserung ratifiziert er lachend mit der Bemerkung, die Landbank sei dann “läider” aufgekauft worden (S 32). Damit bestätigt er die Sicht des Kunden, dass die Übernahme der Landbank durch die Schwyzer Bank zu bedauern ist - eine für sein Unternehmen eher imageschädigende Bemerkung. Er lässt Herrn Kathriner zwar Raum für seine Erzählung, lässt sich aber nicht durch eigene Beiträge auf das Handlungsmuster Smalltalk ein, sondern führt sogleich zum Geschäft zurück. Im Interview meinte Alberto, Smalltalk sei seine Sache nicht, dafür sei er nicht angestellt. Er meldet dem Kunden, der Auftrag sei immer noch nicht ausgeführt worden, worauf dieser vorschlägt, es mit 343.50 zu versuchen. Dieser Vorschlag wird vom Berater abgewimmelt mit der Vertröstung: “dë chunt scho=o” (der kommt schon, hier nicht wiedergegeben). Nach einer weiteren Pause startet der Kunde eine letzte Initiative, das Geschäft doch noch in seinem Sinne zur Ausführung zu bringen: [36] K [v] .hh JA! (.) lönd si=s jetz äifach eso la LAUfe und süsch wänn=s nöd K [ü] ja lassen sie es jetzt einfach so laufen und sonst wenn sie nicht [37] B [v] HÖÖCHER (0.5) müessted si mir B [p] <fragend > B [ü] höher müssten sie mich K [v] gönd gänd si=s halt e bitzeli eh: (.) hööcher y. K [ü] gehen geben sie es halt ein bisschen eh höher ein <?page no="217"?> Kongruente und konfligierende Positionierungen: Empirische Analysen 217 [38] B [v] nochhär aber nomol aalüte aso/ oder gäbed si mir d telefonnummere ich tu=s emol B [ü] nachher aber nochmals anrufen also/ oder geben sie mir die telefonnummer ich schaue es [39] B [v] DUREluege, (0.7) oder, und (wänn)/ (1.3) zwäi (.) zwäiedrissg B [ü] mal durch oder und (wenn)/ 2 32 K [v] zwäi ZWÄIEdrissg vierzä nüünesibezg! K [ü] 2 32 14 79 [40] B [v] (1.7) sächzä? ah vierzä, nüünesibezg. okay! B [p] <fragend> B [ü] 16 ah 14 79 okay K [v] VIERzä nüünesibezg; und si sind de K [ü] 14 79 und sie sind der [41] B [v] brandeberger isch mi name jawol. bitte: ! uf B [ü] brandenberger ist mein name jawohl bitte auf K [v] herrbrandeburger. ja danke vilmal K [ü] herr brandenburger ja danke vielmals [42] B [v] widerhööre (herr kathriner) schöne tag. B [ü] wiederhören (herr kathriner) schönen tag K [v] adie herr brandeburger K [ü] ade herr brandenburger Herr Kathriner befiehlt dem Berater, den Auftrag so laufen zu lassen und gegebenenfalls die Limite “e bitzeli” zu erhöhen (S 37). Er positioniert sich noch einmal als Befehlenden, gleichzeitig gibt er dem Berater die Vollmacht, sein Angebot nach Gutdünken zu erhöhen. Das darf dieser aber nicht, daher weist er auch dieses Ansinnen zurück. Er sagt dem Kunden, er müsse nochmals anrufen, korrigiert sich dann und bietet dem Kunden an, selber wieder mit ihm Kontakt aufzunehmen (S 37+38). Diesmal benützt er den Imperativ, was die Freundlichkeit seines an sich zuvorkommenden Angebots um einiges schmälert. Herr Kathriner kommt der Aufforderung, seine Telefonnummer zu nennen, so schnell nach, dass Alberto beim Aufschreiben nicht mitkommt und nachfragen muss (S 39+40). Dann leitet der Berater mit seinem bekannten, hohen “okay” (vgl. S. 114) selber den Gesprächsabschluss ein. Der Kunde verzögert das Ende jedoch, indem er Alberto nach seinem Namen fragt. Diesen versteht er nicht richtig - es ist ein ungewöhnlicher, viersilbiger, italienischer Name -, wird von Alberto aber nicht korrigiert (S 41). Dieser hat offenbar keine Lust, dem “Opa” seinen Namen beizubringen. <?page no="218"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 218 Im Rückblick wirkt dieses Gespräch bedeutend weniger harmonisch als das zuvor analysierte. Das liegt unter anderem daran, dass die beiden Gesprächspartner konfligierende Selbst- und Fremdpositionierungen vornehmen und sich gegenseitig die Gesprächskontrolle streitig machen. Herr Kathriner positioniert sich als selbstbewussten, älteren Herrn, der gewohnt ist, Anweisungen zu erteilen, dem es auf den Franken nicht ankommt, der erwartet, dass man Aufträge in seinem Sinne ausführt, er positioniert sich aber auch als loyalen Grossvater und treuen Kunden, der gerne von vergangenen Zeiten plaudert. Mit Imperativen und Themeninitiierungen versucht er das Gespräch in seinem Sinne zu steuern, ohne Rücksicht auf die institutionellen Vorgaben und Abläufe. Gegen die Entmündigungsstrategien von Alberto setzt er sich mit Schweigen, abrupten Themenwechseln und insistierendem Zurückkommen auf Vorschläge zur Wehr. Alberto ratifiziert die Selbstpositionierung des Kunden nicht, vielmehr gibt er durch seine Verhaltensweisen zu erkennen, dass er ihn als nicht ganz zurechnungsfähigen Opa einschätzt, dessen Geschäfte man besser selber in die Hand nimmt. Er handelt mehrfach über den Kopf des Kunden hinweg, hält Informationen zurück, gibt eigenmächtig eine tiefere Limite ein (was den Kauf gefährdet), geht nicht auf den Smalltalk des Kunden ein und lässt ihn während langer Pausen an der stummen Leitung warten. Er positioniert sich damit als Vormund des Kunden. Durch rigide Themensteuerung und systematisches Ignorieren von Kundeninitiativen gelingt es ihm, die Gesprächskontrolle über weite Strecken an sich zu reissen und den Börsenauftrag in seinem eigenen Sinne durchzuführen. Allerdings kann er nicht verhindern, dass der Kunde den von ihm gehassten Smalltalk initiiert, immer wieder auf seine Limite von 343.50 Franken zurückkommt und so schlussendlich seinen Willen durchsetzt. Das Interessante ist, dass das Verhalten der beiden Interaktanten vergleichsweise statisch ist. Schon nach den ersten vier Gesprächszügen sind die Positionen bezogen und die grundlegenden Steuerungsmittel aktiviert: Positionierung als selbstbewusster Herr und Imperative hier, Positionierung als eigenmächtiger Berater und Übergehen der Kundeninitiative dort. Die (negative) Dynamik des Gesprächs entsteht nicht durch Positionsänderungen oder Strategiewechsel beim Bemühen um die Gesprächskontrolle, sondern dadurch, dass immer dieselben konfligierenden Positionierungen aufeinanderprallen und immer wieder thematische Initiativen ergriffen und übergangen werden. Während beim vorher analysierten Gespräch von Anfang an alles glatt vonstatten geht, läuft bei diesem Gespräch von Anfang an alles reibungsvoll. <?page no="219"?> Kongruente und konfligierende Positionierungen: Empirische Analysen 219 7.3.3 Entsperrung Internetzugang: “unfehlbare Dame” trifft auf “fleissige Diplomatin” Das dritte Gespräch fand in der Hotline statt. Die Präsentation des Anliegens durch die Kundin ist bereits bekannt (vgl. S. 161): Gespräch 609 (Ausschnitte) Titel: Stimmt nicht, ich habe das richtige Passwort Dauer: 4’09’‘ Agent: weiblich, Zürcher Dialekt Typ: Problem lösen Kunde: weiblich, Ostschweizer Dialekt Resultat: Anliegen erfüllt [1] K [v] i han=es problem ich chum bim banknet nöd Ine, (0.6) gsie aber nöd ii won=i en K [ü] ich habe ein problem ich komme beim banknet nicht rein sehe aber nicht ein wo ich einen [2] A [v] GIT=s e fëëlermäldig; A [ü] gibt es eine fehlermeldung K [v] FËËler gmacht müesst haa. s chunt e fëëlermäldig; K [ü] fehler gemacht haben müsste es kommt eine fehlermeldung [3] A [v] EINgabefehler; oder? schaffed si mit de security charte. ja, dë tun=ich schnäll A [ü] eingabefehler oder arbeiten sie mit der security karte ja dann überprüfe ich K [v] ja, ja, genau, ja; K [ü] ja ja genau ja [4] A [v] überPRÜEfe s chan=a sy dass DIE nöd rächt tuet, A [ü] schnell es kann auch sein dass die nicht recht funktioniert Wie bereits erläutert benennt die Kundin, Frau Kurz, ihr Problem äusserst knapp, um dann sofort jegliche Schuld von sich zu weisen (S 1+2). Sie positioniert sich als selbstsichere Dame, die zwar Hilfe braucht, der es aber gleichzeitig wichtig ist, keine Fehler nachgewiesen zu bekommen. Mit der Kürze ihrer Problemschilderung vermeidet sie ausserdem, den Umfang ihrer Computerkenntnisse preiszugeben. Die Agentin, Ingrid, fragt routinemässig nach dem Auftreten einer Fehlermeldung (S 2). Mit dieser Konzentration auf das sachliche Problem lässt sie die Schuldfrage beiseite und die Selbstpositionierung der Kundin unangetastet. Frau Kurz bestätigt, eine Fehlermeldung sei gekommen, liest selbige aber nicht von sich aus vor, sodass die Agentin extra nach dem Inhalt der Meldung fragen muss (S 3). Mit der Frage, ob die Kundin mit der Sicherheitskarte arbeite (S 3) (das heisst nicht mit einer Streichliste), verlässt Ingrid allerdings den Pfad der Gewohnheit, denn diese Frage wird an dieser Stelle des Gesprächs üblicherweise nicht gestellt. Mit ihrer Hypothese, die Sicherheitskarte könnte defekt sein (S 4), <?page no="220"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 220 stützt sie die Selbsteinschätzung der Kundin, keinen Fehler gemacht zu haben. Bis hierher verhält sich die Agentin diplomatisch und unterstützend. Die Kundin wird nun identifiziert (hier nicht wiedergegeben), anschliessend führt Ingrid zum Anliegen zurück: [12] A [v] JA wunderbar danke. ALso tun=i grad schnäll in A [ü] ja wunderbar danke also schaue ich gleich schnell K [v] guet. ((lacht)) K [ü] gut [13] A [v] vertrag Ineluege wo da die falschygaab gsy isch- (11.5) das isch ZWEI mal s A [ü] in den vertrag wo hier die falsche eingabe war das war zwei mal das K [v] m: =HM? K [ü] m=hm [14] A [v] falsche passwort gsy und ÄI mal di falsch security nummere. A [ü] falsche passwort und ein mal die falsche security nummer K [v] (1.6) das stimmt aber NÖD, K [p] <cresc > K [ü] das stimmt aber nicht [15] A [v] händ si vilicht d GROSSschrybetaschte drin; A [ü] haben sie vielleicht die grossschreibetaste drin K [v] (0.9) GANZ sicher s richtig PASSwort- K [ü] ganz sicher das richtige passwort [16] A [v] (im system) wo nöd sötti sy; (1.0) hät s passwort sibe oder acht STEle wo si A [ü] (im system) die nicht sein sollte hat das passwort, welches sie eingeben, 7 oder 8 K [v] NÄ=Ä Ä=Ä, K [ü] nee nöö [17] A [v] ygänd? ja ( 1.0) A [ü] stellen ja K [v] (-) es het- (xx) (xx) (xx) (1.0) SIbe; K [p] <p, für sich > K [ü] es hat (xx) ( xx) (xx) sieben Mit ihrer Ankündigung, nach der ‘falschen Eingabe’ zu suchen (S 13), revidiert Ingrid ihre vorherige Einschätzung. Sie geht nun doch davon aus, dass die Kundin einen Fehler gemacht hat, was sie nach einer längeren Pause auch in nüchterner Form bestätigt (S 13+14). Obwohl sie mittels Deagentivierung (‘das war das falsche Passwort’ und nicht ‘Sie haben das <?page no="221"?> Kongruente und konfligierende Positionierungen: Empirische Analysen 221 falsche Passwort eingegeben’) jeglichen vorwurfsvollen Unterton vermeidet, findet mit dieser Feststellung eine Repositionierung der Kundin als Fehlerhafte statt. Diese geht denn auch sofort in die Verteidigung, und zwar mit der direkten Bewertung der Aussage als falsch (“das stimmt aber NÖD”, S 14) und der Versicherung, das Passwort sei “GANZ sicher” richtig (S 15). Sie versucht damit, ihre alte Position der Unfehlbaren zurückzugewinnen, gleichzeitig ist ihre Aussage äusserst gesichtsbedrohend für die Agentin, welche implizit als Lügnerin positioniert wird. Diese geht in keiner Art und Weise auf diese Unterstellung ein, insistiert auch nicht auf den Fehleingaben, die sie auf ihrem Bildschirm ja bestätigt sieht, sondern stellt die typischen beiden Fragen, mit denen die Agents an dieser Stelle im Gespräch die Problemursache herauszufinden versuchen (vgl. S. 119), die Frage nach der Grossstelltaste (S 15) und nach der Anzahl Stellen des Passworts (S 16). Frau Kurz reagiert wiederum in sehr entschiedenem (“NÄ=Ä”) und eher schnoddrigem (“Ä=Ä”, S 16) Tonfall. Sie überlässt sowohl die organisationelle als auch die thematische Gesprächssteuerung gänzlich der Agentin und beschränkt sich darauf, knappste Antworten zu geben, ist aber sehr bemüht, mit ihren Antworten weiterhin das Image der Unfehlbaren zu wahren. Die Agentin geht nun wie üblich dazu über, die Kundin zu entsperren und nochmals anmelden zu lassen: [17] A [v] ich tu si mal schnäll entSPERre tünd A [ü] ich entsperre sie mal schnell [18] A [v] si=s süsch grad nomal schnäll probiere, (29.2) ich tu grad süsch a no A [p] <schnaufen> A [ü] versuchen sie es sonst gleich noch mal schnell (29.2) ich überprüfe sonst auch K [v] gërn ja; K [ü] gerne ja [19] A [v] schnäll iri security charte überprüefe, (4.0) aber die isch in ornig; (11.0) sind si sich A [ü] noch schnell ihre security karte aber die ist in ordnung sind sie jetzt K [v] ja- K [ü] ja [20] A [v] jetz am aamälde; AHA ja si chönd sich A [ü] dabei sind anzumelden aha ja sie können sich K [v] (0.9) NÄI na nöd hend si=s scho-/ A! K [ü] nein noch nicht haben sie es schon/ ah <?page no="222"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 222 [21] A [v] aamälde jawol; (m=hm? ) (2.7) JETZ isch ggangnge. A [ü] anmelden jawohl (m=hm) jetzt ist es gegangen K [v] (20.7) ja jetz (xxxx) (xxxx) aamelde isch K [p] <pp, rauschen in der leitung > K [ü] ja jetzt (xxxx) anmelden ist es [22] A [v] (jawol) ich waart no schnäll wunder A [ü] (jawohl) ich warte noch schnell wunder K [v] ggangnge; bi mir na nöd, aber-/ ah: (1.0) mol, jetz het=s klappet. K [ü] gegangen bei mir noch nicht aber/ ah doch jetzt hat es geklappt [23] A [v] bar. GUET bitte gërn gschee Yne au merci A [ü] bar gut bitte gern geschehen ihnen auch danke K [v] GUET? danke=ne vilMOOL? schöne tag no K [ü] gut danke ihnen vielmals schönen tag noch Ingrid fordert Frau Kurz auf, es “schnäll” noch einmal zu versuchen (S 18). Es entsteht eine Pause von einer halben Minute, während der keine der Gesprächspartnerinnen der anderen zu erkennen gibt, was sie macht. Als sich nichts tut, kündigt Ingrid an, doch noch “schnäll” die Sicherheitskarte zu überprüfen, (die exzessive Verwendung von ‘schnell’ ist eine Berufskrankheit vieler Call Agents), meldet jedoch, die sei in Ordnung (S 19). Nach einer weiteren Pause von 11 Sekunden fragt Ingrid Frau Kurz, ob sie überhaupt dabei sei, sich anzumelden (S 19+20). Jetzt stellt sich heraus, dass Frau Kurz nichts getan hat, dass also beide Gesprächspartnerinnen darauf gewartet haben, dass die andere ein Zeichen zum Weiterfahren gibt. Das Missverständnis wird geklärt, und zwar auf beiden Seiten in auffällig reduzierter Form: “AHA”, “A! ” (S 20). Auf Erklärungen, Rechtfertigungen oder Entschuldigungen verzichten beide, auch ein in solchen Fällen oft zu beobachtendes Lachen über das Missgeschick fehlt. Durch den Verzicht auf jegliche Reparatur definieren die beiden den Zwischenfall fehlgeschlagener Tätigkeitskoordination rückwirkend als Nicht-Zwischenfall, einen möglichen Imageschaden als nicht vorhanden und daher auch nicht behandlungsbedürftig. Beide lassen die Position der anderen als Handelnde, die es schon recht macht, unangetastet. Nach einer weiteren Pause von über 20 Sekunden, die teilweise durch Selbstgespräche der Kundin und Schnaufen in der Leitung gefüllt ist, meldet Ingrid, jetzt habe die Anmeldung funktioniert (S 21). Die Kundin erkennt das auf ihrem Bildschirm erst einige Sekunden später (S 22). Mit einer knappen Evaluation (“GUET? ”, S 23) leitet sie sogleich den Gesprächsabschluss ein. Sie unternimmt keinen Versuch, nachträglich den Fehler zu eruieren, geschweige denn sich zu rechtfertigen. In ihrem Dank (“danke=ne vilMOOL? ”, S 23) schwingt keinerlei Erleichte- <?page no="223"?> Kongruente und konfligierende Positionierungen: Empirische Analysen 223 rung mit, die Äusserung klingt durch die kräftige Betonung und die steigende Intonation eher herausfordernd als dankbar. Sie versucht damit, das Gespräch rückwirkend als gewöhnliches Geschäft zu definieren und nicht als die Behebung eines von ihr selbst verursachten Fehlers. Ingrid ihrerseits unterlässt alles, was das Image von Frau Kurz nur im entferntesten schädigen könnte. Damit wird deren Selbstpositionierung als “perfekte Dame” gegen alle Fakten nicht gefährdet. Von der Sache her ist dieses Gespräch ein reiner Routinefall, der von der Agentin auch als solcher behandelt wird, mit einer Ausnahme: Die Prüfung der Sicherheitskarte kommt normalerweise erst dann ins Spiel, wenn alle anderen Lösungsversuche fehlschlagen. Ingrid wird bei der Suche nach der Problemursache auf diese falsche Fährte gebracht durch das überdurchschnittlich überzeugte Auftreten von Frau Kurz. Frau Kurz nimmt in ihrer ersten Äusserung die Position der Unfehlbaren ein, und diese verlässt sie im Laufe des Gesprächs nicht mehr, auch dann nicht, als alle Fakten gegen sie sprechen. Sie weist jeglichen Vorwurf vorbeugend (S 1+2) und rückwirkend (S 14) mit deutlichen Worten von sich. Ihre Sprechweise ist sehr bestimmt, die häufig steigenden Intonationskurven wirken provozierend. Ihre Hauptstrategie besteht jedoch in interaktionalem Minimalismus. Indem sie die Vorgeschichte der Fehlermeldung nicht aufrollt, jeglichen Erklärungsversuch unterlässt und keine thematischen Initiativen ergreift, vermeidet sie alles, was einen Hinweis auf mangelnde Computerkompetenz oder auf eine Fehlmanipulation liefern könnte. Rechtfertigungen und Entschuldigungen fehlen ebenso wie der Ausdruck von Dankbarkeit oder Erleichterung. Zu ihrer Abschottungshaltung gehört auch, dass sie die Gesprächssteuerung gänzlich der Agentin überlässt und sich auf knappes Antworten beschränkt. Ingrid ihrerseits verhält sich äusserst diplomatisch. Ihrer einzigen als Kritik auslegbaren Äusserung nimmt sie das gesichtsbedrohende Potenzial durch Deagentivierung. Im übrigen fährt sie die gleiche Strategie des interaktionalen Minimalismus wie die Kundin, indem sie auf jedes Insistieren, Zurechtweisen und Belehren verzichtet und sich sogar den Vorwurf, sie stelle falsche Behauptungen in die Welt, wortlos gefallen lässt. Sie lässt die Selbstpositionierung der Kundin unangetastet, obwohl sie es besser weiss. Auf eine aktive Positionierung ihrer selbst als kompetente Hotline-Agentin verzichtet sie. Das Gespräch steuert sie auf unauffällige Weise mit einfachen Fragen. Ihre einzige Aufforderung an die Kundin wird von dieser wegen der eher beiläufigen Art der Formulierung zuerst nicht erkannt. Abgesehen von dieser einen Koordinationsschwierigkeit verläuft das Gespräch aber problemlos. <?page no="224"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 224 7.3.4 Integration der Ergebnisse und ergänzende Beispiele In allen drei besprochenen Gesprächen zeigen die Agents ein eher zurückhaltendes Steuerungsverhalten, was die Ebene der Gesprächsorganisation betrifft. Überlappungen sind selten, bei Parallelstarts brechen sie in der Regel rasch ab und überlassen das Rederecht dem Kunden, Unterbrechungen kommen praktisch nicht vor. Der Eindruck wird durch die übrigen Gespräche des Korpus bestätigt: Die Agents kämpfen kaum um das Rederecht, sondern lassen den KundInnen sprachlich den Vortritt. Sie setzen damit die interne Vorschrift um: “Zuhören, nicht unterbrechen, quittieren”, die in den Telefonstandards unter “Gesprächsverhalten/ Freundlichkeit” aufgeführt ist. Die KundInnen machen von dem ihnen zugestandenen Rede(vor)recht in unterschiedlichem Ausmass Gebrauch. Das Spektrum reicht von eher Redseligen, die ihr Anliegen ausführlich oder gar mehrfach schildern, wortreiche Erklärungen und Rechtfertigungen anbringen oder Smalltalk initiieren, bis zu Wortkargen, die aus Gewohnheit oder aus taktischen Gründen interaktionalen Minimalismus pflegen. Auf der Ebene der Themenbehandlung finden strukturell bedingte Wechsel bei der Gesprächssteuerung statt: Der Kunde bestimmt das Gespräch zu Beginn und am Ende, indem er zuerst sein Anliegen präsentiert und zuletzt das Signal gibt, wann sein Anliegen aus seiner Sicht fertig bearbeitet ist. Im zeitlich in der Regel viel länger dauernden Hauptteil kontrollieren die Agents das Gespräch fast vollständig: Sie legen Inhalt und Abfolge der zu bearbeitenden Aufgaben fest, die zur Befriedigung des Kundenanliegens führen, und steuern das Gespräch thematisch mit Ankündigungen, Fragen, Erklärungen und Zusammenfassungen. Die Aktivität der KundInnen wird darauf reduziert, die gewünschten Zusatzinformationen zu liefern, Fragen zu beantworten und allenfalls Verständnisfragen zu stellen. Versuchen KundInnen in diesem Gesprächsteil, thematische Initiativen zu lancieren oder gar mit Vorschlägen zum Vorgehen in das Prozedere einzugreifen, werden diese regelmässig übergangen oder zurückgewiesen. Die sprachlichen Mittel, mit denen die Agents die Gesprächssteuerung wahrnehmen, variieren individuell beträchtlich. Während Susanne und Ingrid eher subtile Mittel verwenden wie einfache Fragen, stillschweigendes Übergehen von Kundeninitiativen, Aufforderungen in Indikativ- oder Konjunktivsätzen, greift Alberto auch zu expliziten Zurückweisungen von Kundeninitiativen, markierten Themenumfokussierungen, eigenmächtigen Entscheiden, Imperativen und Initiativen zur Gesprächsbeendigung. Bei den KundInnen ist das Spektrum der sprachlichen Steuerungsmittel ebenfalls gross. Während bei Herrn Keller die gehäuften Fragen, Erklärungen und Evaluationen auffallen, sind es bei Herrn Kathriner die Imperative und bei Frau Kurz die Reduktion auf Aussagesätze und Antworten, die lediglich aus “ja” oder “nein” bestehen. <?page no="225"?> Kongruente und konfligierende Positionierungen: Empirische Analysen 225 32 Können Sie nicht etwas anderes fragen. Ebenso unterschiedlich wie das Steuerungsverhalten sind die Positionierungsbemühungen der Beteiligten. Susanne positioniert sich als Expertin und fürsorgliche Betreuerin, die weiss, was für den Kunden gut ist. Sie unterstützt den Kunden in seiner Selbstpositionierung. Alberto ratifiziert die Selbstpositionierung des Kunden nicht, sondern versucht ihn als nicht ganz zurechnungsfähigen Opa zu positionieren, dem gegenüber er sich als Vormund aufspielt. Ingrid schliesslich unternimmt keine Positionierungsbemühungen, die ihre Rolle als Agentin auslegen oder zur Selbstpositionierung der Kundin Stellung beziehen würden; sie wehrt sich nicht einmal gegen die von der Kundin vorgenommene Fremdpositionierung als Lügnerin. Herr Keller positioniert sich mit einer reichen Palette sprachlicher Mittel als jovialen, manchmal etwas belehrenden Kerl, als wohlhabenden, gutmütigen Kunden. Sein Verhalten ist mit jenem der Agentin kongruent, was zu besagter Harmonie im Gespräch führt. Herr Kathriner tritt als selbstbewusster, ebenfalls sehr wohlhabender Herr auf, der einerseits Anweisungen erteilt, andererseits gerne von Vergangenem plaudert und genau weiss, was er will. Seine Selbstpositionierungen und Steuerungsbemühungen konfligieren mit den Positionierungs- und Steuerungsbemühungen des Agents, was zu fortgesetzten Rangeleien um die thematische und organisationelle Kontrolle des Gesprächs führt, ohne dass das Geschäft je ernsthaft gefährdet wäre. Frau Kurz schliesslich positioniert sich selbstbewusst als die unfehlbare Dame und verteidigt diese Position auch dann noch, als die Fakten gegen sie sprechen. Das gelingt ihr mindestens vordergründig, da die Agentin nichts unternimmt, was diese Position gefährden könnte. Das Verhalten von Frau Kurz ist durchaus typisch. Ein Blick in die anderen Gespräche des Korpus zeigt, dass die überwältigende Mehrheit der KundInnen jene Position, die sie zu Beginn des Gesprächs für sich in Anspruch genommen haben, mit allen Mitteln aufrecht zu erhalten versuchen und allfällige Repositionierungsbestrebungen der Agents abwehren. Beim Kartendienst zum Beispiel ruft eine Kundin an, die wissen möchte, warum sie mit ihrer EC-Karte kein Geld mehr abheben kann (435). Sie tritt von Anfang an mit der Haltung auf, die Bank habe das Problem verursacht und der Agent müsse ihr jetzt erklären, wie das Problem entstanden sei. Sie betont, das sei ihr noch nie passiert, sie habe nicht besonders viel Geld ausgegeben, sie unterstreicht immer wieder, das sei alles sehr komisch. Auf die Belehrungsversuche des Agents bezüglich der Funktionsweise der Codes und Limiten reagiert sie ausweichend. Bei der Identifikation, während der sie Mühe bekundet, dem Agent überhaupt Auskunft über ihre Bankbeziehung zu geben, setzt sie ihm offenen Widerstand entgegen: “chönd si nöd öppis ANders frööge”. 32 Als der Agent ihr erklärt, man habe sämtliche Limiten gestrichen, weil von ihr keine gültige Adresse vorhanden sei, macht sie die einzige kleine Konzession: “ah okay denn han=i worschinli da nie <?page no="226"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 226 33 Ah okay, dann habe ich das wahrscheinlich nie durchgegeben. 34 Ah eben. Also das (stimmt) (da ist) etwas falsch, etwas anderes jetzt. 35 Ja schon, aber ich glaube, es war irgendetwas, man muss es dann äh schriftlich und so Drum und Dran und dann habe ich (das vielleicht) verschlafen. 36 Aber jetzt weiss ich Bescheid. 37 Es kommt mir einfach sehr komisch vor. dureggëë” 33 , um dann auf die Erklärung des Agents, darum habe man die Limiten gestrichen, sofort wieder auf ihrer Sicht zu insistieren und das Problem umzudefinieren: “ah ëbe. aso das (stimmt) (da isch) öppis falsch öppis anders jetz.” 34 Als der Agent fragt, ob sie ihren persönlichen Berater kenne, verneint sie, und als er dessen Name nennt, behauptet sie kühn, der sei neu. Zuletzt fragt der Agent vorwurfsvoll, ob sie denn nie bemerkt habe, dass auf der Post von der Bank immer noch die alte Adresse vermerkt gewesen sei, doch sie wiegelt ab: “ja mol aber ich glaub es isch irgendwie öppis gsy me mues es denn eh SCHRIFTlich und ZÜÜG und SACHche und <<dim> dänn han=i (das vilicht) verschlafe.>” 35 Frohgemut schliesst sie: “aber jetz wäiss i bschäid”. 36 Diese Kundin versucht zu Beginn des Gesprächs, sich als leicht verunsicherte, primär jedoch entrüstete Kundin zu positionieren, die von der Bank eine Aufklärung des Problems verlangt. Diese Position gerät im Verlaufe des Gesprächs zunehmend ins Wanken. Die Kundin muss sich nachweisen lassen, dass sie über ihre Bankbeziehung kaum Bescheid weiss, den Namen ihres Beraters nicht kennt, die Bekanntgabe ihrer Adressänderung versäumt hat und somit selber Schuld ist, dass ihre Geldbezugsberechtigung gelöscht wurde. Durch das Verhalten des Agents - es handelt sich um den aus Abschnitt 6.2.3 bekannten, wie immer sehr polizeimässig auftretenden Dionys - gerät sie erst recht in die Defensive, denn dieser belehrt sie in dozierendem Tonfall, stellt Examensfragen, macht ihr explizite Vorwürfe. Trotzdem versucht sie mit allen erdenklichen Mitteln, ihre Ausgangsposition zu verteidigen: Sie mimt die Überraschte (“ah JA? ”, “ou JA? ! ”) und Erstaunte (“es tunkt mich äifach seer komisch”), 37 leistet Widerstand, stuft die Relevanz ihrer Unterlassungen herunter, insistiert, selbst dort, wo sie im Unrecht ist (“ëbe”), lacht, verpackt ihre Zugeständnisse in grammatikalisch kaum verständliche und leise gesprochene Sätze, wirft der Bank umständliche Formalitäten vor und definiert mit ihrer abschliessenden Bemerkung das Gespräch rückwirkend als “Auskunft”, die befriedigt wurde, und nicht als selbst verschuldetes Problem, das gelöst wurde. Dass die beiden zuletzt vorgestellten Frauen, die sich zu Beginn des Gesprächs selbstsicherer positionieren, als von den Fakten her ratsam wäre, die imagemässig folglich nur zu verlieren haben, dass diese sich mit allen zur Verfügung stehenden sprachlichen Klauen und Zähnen um die Verteidigung ihrer Ausgangsposition bemühen, ist weiter nicht verwunderlich. Erstaunlicher ist, dass auch jene KundInnen, die sich zu Beginn als hilf- und ratlos präsentieren, die also imagemässig zugewinnen könnten, auch nicht bereit <?page no="227"?> Kongruente und konfligierende Positionierungen: Empirische Analysen 227 38 K: Ich rufe bei Ihnen an, weil ich ein sehr dummes Problem habe, das mir am Bancomat passiert ist. - A: Es gibt keine dummen Probleme. - K: Ja, aber das ist wirklich dumm, was ich gemacht habe. sind, ihre Anfangsposition zu verlassen, selbst wenn es ihnen angeboten wird. Beim Kartendienst meldet sich eine Frau, die durch Wortwahl und Tonfall zu erkennen gibt, dass ihr die Sache - sie hat Geld beim Bancomaten liegen lassen - furchtbar peinlich ist. Sie definiert ihr Problem als dumm. Der Agent, ganz Kavalier, meint, es gebe keine dummen Probleme. Mit anderen Worten, er bietet ihr eine Repositionierung als ‘normale’ Kundin an. Doch sie insistiert, was sie gemacht habe, sei wirklich dumm. Sie nimmt also sein Angebot, sich neu zu positionieren, nicht an. Die Sequenz im Wortlaut: Kundin je vous TÉléphone parce que: j’ai un problème TRÈS bête qui m’est arrivé: au BANcomat. Agent il y a JAmais de <<lachend> problème bête.> Kundin OUI mais (alors) c’est VRAIment bête que j’ai fait ((lacht)) (456). 38 Im ganzen Korpus gibt es nur ein Gespräch, in welchem ein Gesprächspartner geradezu bruchartig neu positioniert wird. Ein Kunde, der gebrochen Deutsch spricht, ruft bei der Hotline an und beschwert sich, sein Börsenauftrag gehe nicht durch (639). Der Agent reagiert mit einer Mischung aus Fragen, Belehrungen und Anweisungen: Frage j: A=aber sie haben ihn/ im banknet ist er ersichtlich. […] Belehrung ja aber dann/ dann ist er-/ dann ist er ja noch NICHT e: : h (1.2) gemacht worden; solange er offen ist. […] Anweisung ich meine sie müssen da schon (xxx)/ es kommt drauf an haben sie ihn BEStens gegeben oder mit LImite. (639). Diese Gesprächszüge könnte man als Bemühen um Klärung des Problems und Anleitung zum erfolgreichen Aufgeben von Börsenaufträgen im Banknet interpretieren. Diese Interpretation trifft allerdings angesichts der aktuellen Umstände nicht zu (vgl. unten). Das gewählte Vorgehen und die Formulierungen lassen vielmehr erkennen, dass der Agent wie selbstverständlich davon ausgeht, dass der Anrufer einen Fehler gemacht hat und die Anzeigen auf dem Bildschirm nicht versteht. Der Kunde wird als völlig inkompetent positioniert. Der Kunde bemerkt nun, im Banknet sei vorher die Meldung erschienen, es gäbe Probleme, ob es daran liegen könne? In diesem Moment ändert der Agent sein Verhalten radikal: Er stellt auf Dialekt um (! ) und gibt unumwunden zu, dass die Bank selber Probleme mit dem System hat: “ASO s=isch so dass/ dass mir sälber i eusem system im momänt problem händ zum eh börse (-) eh: m aagabe genau aazgsee und es wird gsäit bis am elfi <?page no="228"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 228 39 Also es ist so dass/ das wir selber in unserem System im Moment Probleme haben um Börsen/ äh angaben genau anzusehen, und es wird gesagt bis um elf Uhr ungefähr und dann sollte das wieder funktionieren. ungefäär und dänn sötti das wider funktioniere.” 39 Er rät in der Folge dem Kunden, einfach zu warten, bis das System wieder funktioniert. Das Geschehen in diesem Gespräch gewinnt seine Schärfe vor allem durch den Vergleich mit anderen Gesprächen in der Hotline. In vielen Gesprächen geben die Agents gleich zu Beginn an, dass Systemprobleme bestehen, sie benützen diese Erklärung geradezu vorbeugend, um Wünschen und Problemen der KundInnen auszuweichen. In diesem Gespräch jedoch versucht der Agent den Kunden mit Hinweisen auf sein mangelndes Verstehen und Können abzuwimmeln und gibt die Systemprobleme erst zu, als der Kunde ihn direkt darauf anspricht. Noch auffälliger ist sein Umstellen von Deutsch auf Dialekt. Der Kunde hat keinerlei Hinweis darauf gegeben, dass er Dialekt versteht (und auch nicht, dass er ihn nicht versteht). Das Codeswitching kann daher nicht als Akkommodation interpretiert werden. Vielmehr gibt der Agent damit zu erkennen, dass er den Kunden zuvor als “dummen Ausländer” wahrgenommen und behandelt hat, der nicht einmal Dialekt versteht, währenddem er ihn jetzt als Bankkunden wahrnimmt und behandelt, der kompetent genug ist, dass man mit ihm offen über die Systemprobleme und erst noch in Dialekt reden kann. In einem einzigen Gesprächszug wird der Kunde vollkommen neu positioniert. Doch das ist wie gesagt die grosse Ausnahme. Im Normalfall werden die individuellen Positionen gleich zu Beginn bezogen und im Verlaufe des Gesprächs je nach den Umständen und den Reaktionen des Interaktionspartners lediglich bestätigt, ausgebaut oder verteidigt. 7.4 Zusammenfassung Das Konzept der Positionierung wurde entwickelt, um die Statik und den Determinismus zu überwinden, die den Konzepten Rolle, soziale Kategorie und soziale Identität eigen sind. Positionierung bedeutet die Verortung einer Person in einem metaphorisch verstandenen sozialen Raum. Mit jeder Positionierung werden bestimmte Dimensionen sozialer Verortung relevant gesetzt, und mit diesen sind Erwartungen, Rechte und Pflichten verbunden. Jede Fremdpositionierung impliziert eine in Relation zu ihr stehende Selbstpositionierung und umgekehrt. Positionierungen können mit verschiedenen sprachlichen Mitteln vollzogen werden. Eine Möglichkeit ist der Rekurs auf soziale Kategorien, wobei aus rhetorischer Sicht weniger die Kategorie per se interessiert als die damit verbundenen interaktionalen Ansprüche, Chancen und Risiken. Individualität zeigt sich darin, wo im sozialen Raum ein Individuum sich und die anderen verortet und mit welchen sprachlichen <?page no="229"?> Zusammenfassung 229 Mitteln es dies tut. In institutionellen Gesprächen ist individuelle Positionierung primär als Aktivierung, Auslegung und individuelle Differenzierung der grundsätzlich vorgegebenen Rolle zu verstehen, wobei der Handlungsspielraum bei der Angestellten-Kunden-Interaktion verhältnismässig gross ist. Mit dem Konzept der Gesprächssteuerung wird beschrieben, wie die Interagierenden ihre Aktivitäten auf der Ebene der Gesprächsorganisation, der Handlungskonstitution und der Themenbehandlung generieren und koordinieren. Die Gesprächssteuerung wird teilweise mit denselben sprachlichen Mitteln vollzogen wie die Positionierung und hat wie letztere Auswirkungen auf die Beteiligungschancen der Interagierenden. Daher ist es sinnvoll, beide Konzepte in der Analyse miteinander zu verbinden. Individualität zeigt sich darin, wie stark und mit welchen sprachlichen Mitteln eine Person das Gespräch auf den verschiedenen Ebenen zu steuern und zu kontrollieren versucht. Anhand je eines Beispiels aus den mittlerweilen bekannten Gesprächstypen “Auskunft”, “Börsenauftrag” und “Entsperrung Internetzugang” habe ich aufgezeigt, wie sich die Agents und die KundInnen selbst und gegenseitig positionieren und wie stark und mit welchen Mitteln sie das Gespräch zu steuern versuchen. Auf der Ebene der gesprächsorganisationellen Steuerung zeigt sich eine durchgehende Zurückhaltung bei den Agents, während die KundInnen von ihrem Redevorrecht in individuell unterschiedlichem Ausmass Gebrauch machen. Auf der Ebene der Handlungskonstitution und der Themenbehandlung zeigen sich systematische, strukturell bedingte Verschiebungen im Verlaufe der einzelnen Gespräche: Die KundInnen bestimmen durch ihre Anliegenspräsentation das Thema zu Beginn des Gesprächs, während die Agents das für die Anliegensbearbeitung notwendige Aufgabenschema in Gang setzen und während des ganzen Hauptteils des Gesprächs umfassende thematische Kontrolle ausüben. Die KundInnen wiederum leiten mit Abschlusssignalen den Abschluss des Gesprächs ein. Beträchtliche individuelle Unterschiede zeigen sich darin, mit welchen sprachlichen Mitteln und wie rigide die Gesprächskontrolle von den Agents ausgeübt wird, aber auch darin, wie stark die KundInnen im Hauptteil die Steuerung an die Agents abgeben oder weiterhin steuernd einzugreifen versuchen. Noch grösser fallen die individuellen Unterschiede bei der Positionierung aus. Die Agents positionieren sich auf unterschiedlichen Dimensionen (Expertentum, Verantwortlichkeit, Dienstbeflissenheit, Entscheidungsbefugnis usw.) an je verschiedenen Punkten, sie tun es mit unterschiedlichen sprachlichen Mitteln und mit unterschiedlicher Rücksicht auf die Selbstpositionierung und das Image der KundInnen. Diese beziehen ebenfalls auf je verschiedenen Dimensionen Position (Expertentum, sozialer Status, Alter, Weisungsbefugnis, Hilfsbedürftigkeit, Schuld usw.) und benützen dazu unterschiedliche sprachliche Mittel. <?page no="230"?> Individualität durch Positionierung und Gesprächssteuerung 230 Ebenso interessant wie das Spektrum der bezogenen Positionen und der eingesetzten Steuerungsmittel ist die Tatsache, dass das Verhalten der Beteiligten über ein Gespräch hinweg erstaunlich konstant bleibt. Einmal eingenommene Positionen werden mit allen zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln verteidigt, auch bei widersprechender Faktenlage und gegen Repositionierungsbemühungen des Interaktionspartners, einmal aktivierte sprachliche Mittel der Positionierung und Steuerung kommen immer wieder zum Einsatz. Für jeden Beteiligten werden so auf der rhetorischen Ebene individuelle Handlungspräferenzen erkennbar, welche im Verlaufe der Interaktion immer deutlicher zum Vorschein kommen, jedoch von allem Anfang an handlungsleitend zu sein scheinen. Diese Handlungspräferenzen können kongruent oder konfligierend sein, wodurch eine positive oder negative Gesprächsdynamik entsteht. <?page no="231"?> 8 Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 8.1 Interaktionsprofil: Konzept und analytisches Instrumentarium Er bediente sich einer sehr gepflegten Ausdrucksweise mit wohlgebauten, wenn auch eine Spur zu langen Perioden. Ištarovic ` sprach leise, mit einem nur angedeutet näselnden Tonfall, der durch eine fast manierierte Monotonie auffiel. Im Redestreit verfügte er über einen zarten, aber scharf ätzenden Humor, den Witz einer Rasierklinge. (Inge Merkel, Das grosse Spektakel) In den vorangegangenen zwei Kapiteln habe ich sprachliche Individualität in der Form individueller sprachlicher Variation untersucht. In Kapitel 6 standen einzelne, ausgeprägt konventionalisierte Gesprächssequenzen im Fokus, anhand derer Individualität als stilistische Variation institutioneller Handlungsmuster erfasst wurde. In Kapitel 7 analysierte ich ausgewählte Gespräche vollständig und beschrieb Individualität als die Art und Weise, wie sich Interaktionspartner positionieren und das Gespräch zu steuern versuchen. In diesem Kapitel wird die Perspektive gewechselt. Der Blick richtet sich nicht mehr auf die Gesprächsmuster und die Frage, wie diese von den Individuen variiert werden, der Blick richtet sich nun auf das Individuum und die Frage, wie es mit den Gesprächsmustern umgeht. Sprachliche Individualität soll in der Form individueller Interaktionsprofile beschrieben werden mit dem Ziel, sprachliche Porträts einzelner Individuen zu erstellen. Dazu beobachte und vergleiche ich ausgewählte Agents über mehrere Interaktionen hinweg und erfasse ihre Individualität als partner- und themenunabhängiges Interaktionsprofil. Die Analysen der beiden letzten Kapitel haben das Spektrum des Möglichen individuellen Handelns ausgelotet; ob die beschriebenen sprachlichen Verhaltensweisen jeweils tatsächlich dem Individuum zuzuschreiben waren und nicht von situativen Faktoren abhingen, konnte teilweise lediglich vermutet werden. Streng genommen kann erst dann mit Gewissheit von Individualität gesprochen werden, wenn ein bestimmtes Verhalten eines Individuums über verschiedene Interaktionen hinweg rekurrent auftritt und damit der Nachweis erbracht werden kann, dass sein Verhalten nicht von der Gesprächskonstellation abhängt. “Mit einer Korpusauswahl, die schemahafte Aktivitäten beinhaltet, welche einerseits eine Person über vergleichbare Interaktionssituationen hinweg realisiert als auch von anderen Interagierenden in vergleichbaren Rollen durchgeführt werden, können auch individuelle Phänomene erfasst werden, die über die aktuelle Interaktionssituation hinausgehen und die zunächst unauffällig erscheinen; sie werden <?page no="232"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 232 erst im Vergleich des Procedere verschiedener Interagierender deutlich.” (Spiegel 2006: 186f.). Es geht um “das, was tatsächlich als individuelle Interaktionsweise über eine Interaktionssituation hinausgeht, […] um diejenigen Merkmale und Verhaltensweisen von Subjekten, die ihnen individuell zugeschrieben werden können bzw. an denen sie erkennbar sind und die folglich losgelöst von einer singulären Interaktionssituation sind.” (ebd.: 186). Dieses von Spiegel entworfene Forschungsprogramm, der intra- und interindividuelle Vergleich des sprachlichen Verhaltens mehrerer Individuen über mehrere Interaktionen hinweg, soll in diesem Kapitel umgesetzt werden. Mein Ziel ist, sprachliche Porträts zu zeichnen, welche die dargestellten Individuen in ihrer Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit wiedergeben. Das Ziel ist dann erreicht, wenn die Porträtierten von den Leserinnen und Lesern in unbekannten, von mir nicht analysierten Gesprächen wiedererkannt werden. Damit betrete ich methodisch weitgehend Neuland. Als Instrumentarium zur vollständigen Erfassung und Beschreibung des sprachlichen Verhaltens einzelner Individuen dient mir ein sogenanntes Interaktionsprofil. Ich definiere dieses so: Als Interaktionsprofil bezeichne ich das Ensemble aller interaktiv relevanten, rekurrenten, konstellationsunabhängigen sprachlichen Verhaltensweisen eines Individuums innerhalb einer gesellschaftlichen Domäne, welche in ihrer Gesamtheit das Individuum innerhalb dieser Domäne charakterisieren und eindeutig identifizierbar machen. Interaktiv relevant bedeutet, dass nur Verhaltensweisen erfasst werden, die erkennbaren, das heisst in den Transkripten nachweisbaren Einfluss auf den Fortgang der Interaktionen des Individuums mit seinen Gesprächspartnern und auf die Wahrnehmung des Individuums durch die Gesprächspartner haben. Rekurrent und konstellationsunabhängig bedeutet, dass das Individuum dieses Verhalten in der untersuchten Domäne immer wieder zeigt, unabhängig von spezifischen Gesprächspartnern und -themen. In ihrer Gesamtheit müssen diese Verhaltensweisen erfasst werden, weil kein Individuum sich mittels eines einzigen sprachlichen Merkmals charakterisieren lässt, sondern nur das Zusammenspiel all seiner Verhaltensweisen seine Individualität ausmachen. Eindeutige Identifikation bedeutet, dass das Individuum anhand seines Interaktionsprofils nicht nur typisiert (im Sinne der Zuweisung einer sozialen Kategorie), sondern eindeutig von allen anderen Individuen abgegrenzt werden kann. Innerhalb einer gesellschaftlichen Domäne schliesslich bedeutet, dass mit einem Interaktionsprofil nicht das gesamte sprachliche Verhalten eines Individuums erfasst werden soll, sondern lediglich sein Verhalten in bestimmten, wiederkehrenden Lebensbereichen wie Arbeitsplatz oder Turnverein. Wie lässt sich ein solches Interaktionsprofil methodisch gewinnen? Grundsätzlich ist das Vorgehen inventarisierend-vergleichend: Zuerst wer- <?page no="233"?> Interaktionsprofil: Konzept und analytisches Instrumentarium 233 den all jene Elemente interaktiven Verhaltens bestimmt, die zusammen das Profil eines Individuums innerhalb der untersuchten Domäne ausmachen. Dann werden mehrere Gespräche eines Individuums aus derselben gesellschaftlichen Domäne im Hinblick auf diese Elemente analysiert, das heisst, es wird interpretierend ausgezählt, wie oft, wann, wo, in welcher Form und mit welcher Wirkung das Individuum die ausgewählten Verhaltensweisen zeigt (oder eben nicht), und zwar jeweils im Vergleich mit anderen Individuen, die vergleichbare Gespräche in derselben Domäne führen. Interpretierend bedeutet, dass die ausgezählten Elemente zwar letztlich aus dem Gesprächszusammenhang herausgelöst und inventarisiert, aber nie kontextfrei identifiziert, beschrieben und interpretiert werden. Alle Elemente zusammen genommen ergeben das Interaktionsprofil des Individuums. Das Problem ist nur, dass sich prinzipiell beinahe unbegrenzt viele sprachliche Verhaltensweisen eines Individuums zusammenstellen liessen und diese jeweils bis ins letzte Detail analysiert werden könnten. So kann die Varietätenspezialistin präzise abklären, in welcher lautlichen Umgebung und bei welchen kommunikativen Gelegenheiten ein Basler das “r” rollt und wo nicht (vgl. Bürkli 1999). Der Grammatiker kann Wortschatz- und Syntaxanalysen durchführen und auf die Kommastelle genau angeben, wie häufig eine Person das Partizip Präsens oder Adjektive benützt. Aber ein solches analytisches Ausufern in die Breite und in die Tiefe ist nicht der Zweck eines Interaktionsprofils im gesprächsanalytischen Sinne. Die potenziell unbegrenzte Breite und Tiefe der Analyse kann und muss eingegrenzt werden. In das Interaktionsprofil aufgenommen werden sollen jene sprachlichen Verhaltensweisen, die a) für die Gesprächspartner wahrnehmbar sind, b) interaktiv relevant sind, und c) individuell variiert werden können und daher eine Ressource für sprachliche Individualität darstellen. Ich gehe zum Beispiel davon aus, dass ungeschulte Gesprächspartner in der Regel nicht wahrnehmen, ob eine Person “griezi” oder “grriezi” sagt, bemerkt wird lediglich, dass die Person Baseldeutsch spricht, dass sie eben “griezi” und nicht “grüezi” oder “grüessech” sagt. Bedingung (a) ist in diesem Falle nicht erfüllt, die Unterscheidung von gerolltem und nicht gerolltem “r” daher kein Teil des Interaktionsprofils. Wie viele Adjektive und Partizipien jemand benützt, ist in den von mir untersuchten Gesprächen interaktiv nicht relevant, denn eine Auswirkung auf den Fortgang der Interaktion ist in keinem der Gespräche zu erkennen. Damit ist Bedingung (b) nicht erfüllt und die Auszählung von Partizipien und Adjektiven kann ausbleiben. Die Vorstellung zu Beginn des Gesprächs darf von den Angestellten der Schwyzer Bank nicht variiert werden, sie steht daher als Ressource für sprachliche <?page no="234"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 234 1 Die Unterscheidung dieser drei Ebenen beruht nicht auf einem bestimmten Ebenenmodell von Sprache, sondern dient vor allem der Übersichtlichkeit. Über die Zuteilung der Varietät zur stimmlichen Ebene lässt sich ebenso streiten wie über die Zuteilung der Höflichkeit zur stilistischen Ebene. Individualität nicht zur Verfügung (Bedingung (c)) und wird ebenfalls nicht ins Interaktionsprofil aufgenommen. Wahrnehmbar, interaktiv relevant und individuell variabel ist demgegenüber zum Beispiel die Frage, ob jemand Aufforderungen im Imperativ formuliert oder als Wunsch- oder Fragesatz. Ebenso kann ich in den untersuchten Gesprächen aufzeigen, dass interaktiv relevant und individuell variabel ist, ob jemand Pausen füllt oder nicht (aber es ist nicht relevant, ob die Person als Pausenfüller “mmm”, “äh” oder “öhm” benützt). Nicht zur Disposition steht die Frage, ob überhaupt eine Kundenidentifikation durchgeführt wird, individuell variabel und daher Element des Interaktionsprofils ist hingegen die stilistische Variation der Identifikation mit ihren interaktiven Folgen. Gestützt auf die drei genannten Kriterien habe ich 35 Elemente interaktiven Verhaltens bestimmt, die zusammen das Interaktionsprofil der Call Center Angestellten bilden. Diese 35 Elemente erfüllen die obgenannten Kriterien insofern, als ich für alle Elemente in mehreren Gesprächen nachweisen kann, dass sie individuell variiert werden, wahrgenommen werden und Auswirkungen auf den Fortgang der Interaktion haben. Ich kann jedoch nicht behaupten, dass die Auswahl der 35 Elemente “objektiv” ist in dem Sinne, dass eine andere Gesprächsforscherin auf genau dieselben Elemente gekommen wäre. Die Auswahl ist auch nicht “universell” in dem Sinne, dass mit diesen 35 Elementen Interaktionsprofile für Individuen in beliebigen gesellschaftlichen Domänen erstellt werden könnten. Die Auswahl beruht letztlich auf meiner Analyseerfahrung mit den untersuchten Gesprächen, mit ihr kann ich die von mir angestrebten sprachlichen Porträts erstellen. Entsprechend sind diese 35 Elemente teilweise korpusspezifisch, so zum Beispiel “Gestaltung des Börsenauftrags” oder “Display von Expertentum”. Ich habe sie in den Gesprächen isoliert und vergleichend analysiert. Die 35 teilweise korpusspezifischen Elemente interaktiven Verhaltens lassen sich in zehn abstrakteren Kategorien zusammenfassen, die korpusunspezifisch sind. Unabhängig von der gesellschaftlichen Domäne lassen sich in jedem Korpus “Variationen von Handlungsmustern” oder “Positionierungen” untersuchen. Diese zehn Kategorien wiederum lassen sich drei sprachlichen Verhaltensebenen zuordnen, der stilistischen Ebene, bekannt aus dem Kapitel Variation von Handlungsmustern, der rhetorischen Ebene, bekannt aus dem Kapitel Positionierung und Gesprächssteuerung, und als neue Ebene der stimmlichen Ebene. 1 Die drei Ebenen, die zehn Kategorien und die 35 Elemente des Interaktionsprofils sind in Tabelle 11 zusammengestellt. <?page no="235"?> Interaktionsprofil: Konzept und analytisches Instrumentarium 235 Tab. 11: Konstitutive Elemente des individuellen Interaktionsprofils der Angestellten Ebene Kategorien Elemente Stimmliche Ebene Stimme Prosodie Varietät Paraverbales Stimmhöhe Stimmqualität Sprechtempo Intonationsverläufe Grundvarietät Akkommodationsverhalten Lachen Stöhnen Stilistische Ebene Variation von Handlungsmustern Höflichkeit Syntaktisch-lexikalische Präferenzen Gestaltung der Begrüssung Gestaltung der Identifikation Gestaltung des Börsenauftrags Gestaltung des Abschieds Formen positiver Höflichkeit Formen negativer Höflichkeit Gebrauch von Nebensätzen Gebrauch von Ellipsen Selbstreparaturen Gefüllte Pausen Füllwörter Depersonalisierung Up-/ Downgrading Floskeln Rhetorische Ebene Gesprächssteuerung a) organisationell b) thematisch Positionierungen Formen der Turnübernahme Umgang mit Unterbrechungen Reaktion auf Parallelstarts Umgang mit Pausen Rückmeldeverhalten Initiierung von Handlungsmustern Reaktion auf Partnerinitiativen Sprachliche Steuerungsmittel Rigidität der Steuerung Display von Expertentum Gestaltung Beziehung zum Kunden Eigene Verortung im Unternehmen Sprachliche Positionierungsmittel Im empirischen Teil dieses Kapitels werde ich von vier ausgewählten Angestellten, zwei Agents und zwei Beratern, die individuellen Interaktionsprofile erarbeiten und vorstellen. Das zu diesem Zweck zusammengestellte Teilkor- <?page no="236"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 236 2 Die Zusammenstellung des Teilkorpus wird auf Seite 178 erläutert. Die Gespräche sind im Anhang vollständig abgedruckt. 3 In diesem Abschnitt stütze ich mich, wo nicht anders vermerkt, auf Eckert/ Laver (1994). pus 2 wird im Hinblick auf alle 35 Elemente vollständig ausgewertet. Der Detaillierungsgrad der Analyse soll bei jedem Element des Profils genau so weit getrieben werden, bis die im Fokus stehende Person von den anderen untersuchten Personen unterscheidbar wird. Bei bestimmten Elementen des Profils genügt ein relativ oberflächlicher Vergleich, so zum Beispiel bei der Frage, ob bestimmte Positionen eines Handlungsmusters überhaupt bearbeitet werden oder nicht. Wenn sich eine Person vor dem Abschied gar nicht bedankt, so erübrigt sich eine stilistische Analyse der Dankesworte der anderen, weil der Unterschied im Verhalten bereits evident ist. Bei anderen Elementen des Profils ist eine detaillierte Analyse nötig, bis die Unterschiede zwischen den Individuen sichtbar werden, so zum Beispiel beim Rückmeldeverhalten oder bei der Modalisierung von Fragen. Bei der empirischen Analyse greife ich auf die bisher geleistete Arbeit zurück. So wurden die Mustervariationen als eine Kategorie auf der stilistischen Ebene sowie Gesprächssteuerung und Positionierung als Kategorien auf der rhetorischen Ebene bereits ausführlich besprochen. Für alle übrigen Elemente des Interaktionsprofils wird im Folgenden die theoretisch-methodische Grundlage für die Analyse geschaffen. Ich lege gestützt auf die aktuelle Literatur dar, was ich unter “Stimmqualität”, “Formen positiver Höflichkeit” usw. verstehe und welche sprachlichen Phänomene ich im empirischen Teil ganz konkret auswerten werde. 8.1.1 Stimmliche Ebene With a voice that shatters glass! (Alan J. Lerner, My fair Lady) Als erstes betrachte ich die stimmliche Ebene des Interaktionsprofils. Der stimmlichen Ebene ordne ich all jene lautlichen Ausdrucksformen zu, die im weitesten Sinne die “Stimme” eines Menschen ausmachen, unabhängig vom Inhalt des Gesprochenen: Der Klang der Stimme, typische prosodische Muster, die gesprochene Varietät sowie der Einsatz paraverbaler Phänomene wie Lachen und Stöhnen. Diese “Stimme” ist es, die den einzelnen Agent wie einen Solisten aus dem Chor der Angestellten heraustreten lässt. Stimme, Prosodie Die Stimme jedes Menschen ist unverwechselbar. 3 Bekannte erkennen sich meist schon beim ersten Wort, selbst am Telefon, welches nicht alle Fre- <?page no="237"?> Interaktionsprofil: Konzept und analytisches Instrumentarium 237 quenzen in gleicher Qualität überträgt. Sie erkennen aber nicht nur, wer spricht, sondern in der Regel auch, in welchem Gesundheits- und Gemütszustand sich der Bekannte befindet. Aber auch Unbekannte ziehen aus der Stimme Rückschlüsse auf die Person ihres Gesprächspartners: sein Geschlecht, sein Alter, seine geografische und soziale Herkunft, ja sogar seine Körpergrösse, seinen Charakter und seine aktuelle Laune. Allein aufgrund ihrer Stimme werden Menschen als unterschiedlich freundlich, vertrauenswürdig und kompetent wahrgenommen - für Bankberater, welche per Telefon Geschäftsabschlüsse tätigen sollten, ein entscheidender Faktor für den beruflichen Erfolg. Von allen Stimmeigenschaften ist nur die mittlere Stimmhöhe angeboren, die sogenannte Indifferenzlage. Die Indifferenzlage bezeichnet die von der intonatorischen Gestaltung des Gesprochenen unabhängige mittlere Sprechfrequenz. Es gibt allerdings Menschen, welche die Indifferenzlage nicht nur zur intonatorischen Gestaltung ihrer Aussagen nach oben oder unten verlassen, sondern gewohnheitsmässig zu hoch oder zu tief sprechen. Starke Abweichungen von der Indifferenzlage werden in der Regel als unangenehm empfunden, als “Grabes-“ oder “Kleinmädchen”-Stimme. Alle übrigen Stimmeigenschaften gehen auf die gewohnheitsmässige Stellung des Sprechapparates zurück, auf die Stellung von Kehlkopf, Lippen, Kiefer, Gaumensegel und Zunge. Sie entscheidet darüber, ob eine Stimme knarrig, rau, behaucht, knödelnd, näselnd, eng klingt oder nicht. Als angenehm werden jene Stimmen empfunden, die nicht zu stark von der Norm abweichen, eine Norm, welche kulturell unterschiedlich ist. Von der gegebenen bzw. gewohnheitsmässigen Stimmqualität zu unterscheiden ist die bewusste stimmliche Gestaltung von Aussagen zu kommunikativen Zwecken, die Prosodie. Intonation (Stimmhöhenverlauf), Lautstärke, Sprechtempo, Rhythmus und Artikulation werden dazu eingesetzt, die Bedeutung einer Äusserung (zum Beispiel Frage versus Aussage) und die Modalität (Ernsthaftigkeit versus Ironie) kontextuell festzulegen, die gefühlsmässige Einstellung zum Gesagten zu vermitteln (zum Beispiel Ärger oder Überraschung), Sinneinheiten zu konstruieren (das Ende von Äusserungen, die Hervorhebung von Wichtigem), Zitate gegenüber eigenen Worten herauszuheben und vieles mehr (vgl. Selting 1995, 1997). Aber auch die Prosodie kann gewohnheitsmässige Züge annehmen. So gibt es Personen, die immer überdurchschnittlich schnell oder laut sprechen, auffallende Rhythmen oder Betonungsmuster pflegen, besonders monoton sprechen oder umgekehrt mit der Stimme besonders hoch hinauf und hinunter gehen (sogenannter “Singsang”). Wenn ich im empirischen Teil auf die Stimme der vier untersuchten Angestellten eingehe, so geht es mir neben der Stimmhöhe und -qualität um solche gewohnheitsmässigen prosodischen Sprechmuster. <?page no="238"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 238 4 Das gilt nur bedingt für das als schwer verständlich berüchtigte Walliser Deutsch und einige andere “Bergdialekte”. Varietät Die deutsche Schweiz ist sprachlich geprägt durch sogenannte mediale Diglossie: Gesprochen wird Dialekt, geschrieben wird deutsche Standardsprache. Der Gebrauch der Standardsprache im mündlichen Verkehr ist in hohem Masse markiert (vgl. S. 78) und ein eindeutiges Zeichen dafür, dass entweder die Situation einen offiziellen Charakter haben soll (Schule, Nachrichten in den Medien, öffentliche Vorträge) oder dass Personen anwesend sind, die Dialekt nicht verstehen - wobei es keine Rolle spielt, ob diese selber korrektes Standarddeutsch, gebrochenes Deutsch oder gebrochenen Dialekt sprechen. Allerdings gibt es “das Schwyzertütsch” nicht, vielmehr existiert eine ganze Reihe regional verschiedener, klar voneinander abgrenzbarer Dialekte. Dass die deutschschweizerischen Dialekte bis heute weitgehend unverfälscht erhalten geblieben sind und eine hohe Wertschätzung geniessen, führt Haas (1992) auf drei Faktoren zurück: 1. Die deutsche Standardsprache konnte in der viersprachigen Schweiz nie zur Nationalsprache werden, der Dialekt dient im Gegenteil dazu, sich von den deutschen Nachbarn abzugrenzen. Er hat identitätsstiftende Funktion. 2. Die schweizerdeutschen Dialekte erweisen sich als anpassungsfähig, neue Wörter werden in den Dialekt integriert, sodass dieser auch in einer Welt moderner Wirtschaft und Technik funktionsfähig bleibt. 3. Bei aller Unterschiedlichkeit der verschiedenen regionalen Dialekte verstehen sich die Deutschschweizer gegenseitig und müssen nicht auf eine überregionale Verkehrssprache ausweichen. 4 Die gegenseitige Verstehbarkeit bedeutet allerdings nicht, dass es keine Rolle spielen würde, welchen Dialekt jemand spricht, im Gegenteil. In gut föderalistischer Manier registrieren die meisten Personen sofort, ob der Gesprächspartner einen anderen Dialekt spricht, man versucht sich gegenseitig auf der geistigen Landkarte zu platzieren, und dialektale Unterschiede sind ein gängiges Gesprächsthema. Schliesslich sind die Dialekte auch unterschiedlich beliebt und die Dialektsprechenden mit Stereotypen behaftet: Das Baseldeutsche ist vielen Nicht-Baslern zu gestelzt und lässt die Basler in ihren Augen als hochnäsig erscheinen, die “Zürischnure” (Zürcher Maul) ist berüchtigt und unterstreicht das Stereotyp des arroganten Grossstadtbewohners, das St. Gallische ist manch einem zu scharf, während das Berndeutsche mit Abstand am beliebtesten ist und die Sprechenden als gemütlich und freundlich <?page no="239"?> Interaktionsprofil: Konzept und analytisches Instrumentarium 239 5 Gemäss einer Umfrage des Link-Instituts für Markt- und Sozialforschung in Luzern gefällt der Berner Dialekt 27% der SchweizerInnen am besten, gefolgt vom Bündner Dialekt (21%), Walliser Dialekt (20%), Basler Dialekt (11%), Zürcher Dialekt (10%) und Luzerner Dialekt (10%). Neue Luzerner Zeitung, 20. 2. 2002, S. 42. erscheinen lässt. 5 Diese Klischees verhindern allerdings nicht, dass die Basler und Zürcher auf ihren Dialekt genauso stolz sind wie alle anderen auch. Angesichts dieser Situation ist es unabdingbar, die gesprochene Varietät in die Beschreibung des Interaktionsprofils einer Person aufzunehmen. Dazu gehört nicht nur die Frage, welche Grundvarietät eine Person spricht, sondern auch die Frage, ob und unter welchen Umständen sie sich an die Sprache des Gegenübers anpasst. Ich beschränke mich allerdings darauf, das Code-Switching zwischen Dialekt und Standardsprache zu beschreiben und überlasse die Feinheiten zwischendialektaler Akkommodationserscheinungen den SpezialistInnen. Deren Erfassung ist für eine Beschreibung des Interaktionsprofils im gesprächsanalytischen Sinne nicht notwendig, da sie - mindestens in meinem Korpus - keinen nachweisbaren Einfluss auf den Fortgang der Interaktion haben. Paraverbale Phänomene Zum lautlichen Porträt einer Person gehört neben der Stimme und der Varietät schliesslich der Einsatz paraverbaler Phänomene wie Singen, Schreien, Stöhnen oder Lachen. Da in den untersuchten geschäftlichen Telefongesprächen weder gesungen noch geschrieen wird, beschränke ich mich auf das Lachen und Stöhnen. Lachen wird traditionellerweise mit Humor in Verbindung gebracht. Doch das Gelächter als Antwort auf eine witzige Bemerkung ist in institutionellen Gesprächen eher die Ausnahme. Häufiger ist das lachende und lächelnde Sprechen. In dieser Form hat Lachen Kontextualisierungsfunktion. Schwitalla (2001) unterscheidet elf Funktionen lachenden Sprechens: 1. Ausdruck von freundlicher Einstellung 2. Kontextualisierung von Scherz und Komik (inklusive Ironie) 3. Schutz des fremden Face 4. Bedrohung des fremden Face (Auslachen) 5. Schutz des eigenen Face 6. Bekenntnis zur Normdurchbrechung 7. Ankündigung eines peinlichen Themas 8. Demonstration von emotionaler Selbstdistanz 9. Distanzierung von verwendeten Wörtern (hedges) 10. Ausdruck von Überraschung 11. Ankündigung von etwas Paradoxem <?page no="240"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 240 6 Jefferson (1984) hat zum Beispiel gezeigt, dass beim Sprechen über Probleme konventionellerweise nur der von seinem Problem Erzählende lacht, um zu zeigen, dass er sich von seinem Problem nicht überwältigen lässt, während die zuhörende Person gerade nicht lacht, um ihre Anteilnahme auszudrücken und den Eindruck des Auslachens zu vermeiden. Welche Funktion das Lachen hat, ist nicht immer mit Sicherheit zu erkennen, zudem können sich die genannten Funktionen gegenseitig überlagern. Für eine vollständige Beschreibung des interaktiven Lachgeschehens genügt es allerdings nicht, die lachend gesprochenen Äusserungen zu betrachten, ebenso entscheidend sind die Reaktionen des Gegenübers, die Frage, ob mitgelacht wird oder nicht. 6 Zu diesem Zweck unterscheidet Adelswärd (1989) einseitiges (unilateral) von gemeinsamem (mutual) Lachen. Ferner trifft sie die Unterscheidung, ob das Lachen selber initiiert wurde (self-initiated) oder als Reaktion auf eine Bemerkung oder das einladende Lachen des anderen erfolgt (other-initiated). Sie gewinnt damit eine Lachtypologie (vgl. Tabelle 12), die sich von Schwitallas Typen lachenden Sprechens wesentlich unterscheidet: Tab. 12: Typen von Lachen fremd-initiiert selbst-initiiert einseitig • Höflichkeits-Lachen • Antwort auf Humor • ermunterndes Lachen • Bescheidenheits-Lachen • Peinlichkeits-Lachen • Lachen, das Witzigkeit signalisieren soll, aber nicht beantwortet wird gemeinsam • Höflichkeits-Lachen, in das vom Produzenten der belachten Äusserung eingestiegen wird • Lachen, mit dem der Rezipient auf den lachenden Produzenten der belachten Äusserung einsteigt • Peinlichkeits-Lachen, das vom Rezipienten lachend gemildert wird (nach Adelswärd 1989: 118, übersetzt von der Verfasserin) In ihrer Untersuchung diverser institutioneller Zweiergespräche kommt Adelswärd zu folgenden Schlüssen: • In institutionellen Gesprächen wird insgesamt häufiger einseitig als gemeinsam gelacht, und der Grund des Lachens ist selten etwas Belustigendes. • Am Telefon wird seltener gelacht als in face-to-face Gesprächen. • Die status-niedrigeren Personen lachen mehr als die status-höheren. • Frauen lachen häufiger als Männer und benützen das Lachen tendenziell in anderen Funktionen. <?page no="241"?> Interaktionsprofil: Konzept und analytisches Instrumentarium 241 7 Stöhnen und Seufzen könnten allenfalls dahingehend unterschieden werden, dass beim Stöhnen die Luft geräuschvoll ausgestossen, beim Seufzen eingesogen wird. • Gemeinsames Lachen dient vor allem dazu, Rapport zwischen den Personen herzustellen. • Einseitiges Lachen dient vor allem dazu, das sprachlich Ausgedrückte zu modifizieren. Adelswärd betont, dass Lachen grundsätzlich in mehrdeutigen Situationen auftritt und diese Mehrdeutigkeit eher verstärkt denn auflöst. Lachen hat wie jede verbale Äusserung eine kommunikative Funktion und darf daher auch in institutionellen Gesprächen nicht übersehen werden. Wie das Lachen ist das zweite hier besprochene paraverbale Phänomen, das Stöhnen, grundsätzlich ambivalent und interpretationsbedürftig. Stöhnen kann höchste Lust gerade so gut ausdrücken wie heftigsten körperlichen oder seelischen Schmerz, man kann vor lauter Lachen stöhnen oder aber Langeweile und Ungeduld signalisieren, nicht zuletzt kann Stöhnen der Ausdruck dafür sein, dass jemand ein Problem zu lösen versucht und dabei nicht weiterkommt. In diesen Fällen ist das Stöhnen kaum vom Seufzen zu unterscheiden. 7 Stöhnen kann unwillkürlicher Ausdruck einer besonderen Gefühlslage sein, aber auch kommunikativ zum Ausdruck einer bestimmten Einstellung oder gar strategisch zur Vortäuschung einer bestimmten Gemütslage eingesetzt werden. Für die Interaktionsprofile werde ich untersuchen, ob die Angestellten überhaupt lachen und stöhnen oder nicht, ob sie von sich aus lachen oder nur auf Einladung des Kunden und welche Funktion bzw. welche Bedeutung ihr Lachen und Stöhnen hat. 8.1.2 Stilistische Ebene “Ja, Findlinge”, wiederholte Woldemar. “Aber wenn Ihnen das Wort anstössig ist, so können Sie sie auch Monolithe nennen. Es ist merkwürdig, Czako, wie hochgradig verwöhnt Sie im Ausdruck sind, wenn Sie nicht gerade selber das Wort haben.” (Theodor Fontane, Der Stechlin) Als zweites betrachte ich die stilistische Ebene des Interaktionsprofils. Die hauptsächlichste Art und Weise, in der sich individueller Stil zeigt und erfassen lässt, habe ich bereits ausführlich vorgestellt: Es ist die individuelle stilistische Variation institutionell gegebener Handlungsmuster (vgl. Kapitel 6). Daneben gibt es Stilmerkmale, die nicht an bestimmte Gesprächssequen- <?page no="242"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 242 zen, an bestimmte Handlungsmuster gebunden sind. Dazu gehört einerseits das sequenzübergreifende Phänomen der Höflichkeit, andererseits die Vorliebe für bestimmte Formulierungsweisen und stehende Redewendungen, mit anderen Worten syntaktisch-lexikalische Präferenzen. In diesem Abschnitt zeige ich auf, wie diese Stilmerkmale theoretisch eingeordnet und methodisch erfasst werden können. 8.1.2.1 Stilistische Variation von Handlungsmustern Das Vorgehen, individuellen Stil als Variation gegebener Handlungsmuster zu erfassen, wurde in den vergangenen Kapiteln ausführlich vorgestellt. Zuerst gilt es, das Handlungsmuster als solches zu erfassen. Im zweiten Schritt ist empirisch zu untersuchen, in welchen Varianten das Muster durchgeführt wird, und welche dieser Varianten aufgrund ihrer Häufigkeit als konventionell, unkonventionell bzw. abweichend einzustufen sind. Im dritten und letzten Schritt kann bestimmt werden, welche der empirisch vorgefundenen Varianten ein bestimmtes Individuum benützt und wie sich seine stilistischen Präferenzen über mehrere Handlungsmuster hinweg zu einem konsistenten Stil verdichten. Für das Interaktionsprofil der vier ausgewählten Angestellten werde ich die stilistische Variation der folgenden Handlungsmuster untersuchen: Agents Service Gesprächseröffnung Identifikation Gesprächsabschluss BeraterInnen Börsenauftrag Gesprächsabschluss Die vier ausgewählten Handlungsmuster zeichnen sich durch hohe Konventionalität (Gesprächseröffnung, Gesprächsabschluss) bzw. strenge bankinterne Regelung (Identifikation, Börsenauftrag) aus. Die ihnen zugrunde liegenden Aufgabenschemata wurden in Kapitel 5 vorgestellt. Für die empirische Analyse werde ich prüfen, ob die Aufgabenschemata von den Angestellten vollständig bearbeitet werden oder nicht und welche Formulierungen sie für die Durchführung der einzelnen Handlungen vorzugsweise benützen. Einer ergänzenden Erläuterung bedarf das Handlungsmuster des Gesprächsabschlusses. Die Beendigung von Telefongesprächen wurde in der Forschung bis heute viel seltener untersucht als die Eröffnung, und die Untersuchungen führten auch nicht zu einheitlichen Ergebnissen. Werlen (1984) zum Beispiel beschreibt das Handlungsmuster Gesprächsbeendigung als Abfolge von [Themabeendigung] - [Resümee] - [Dank - Dankantwort] - [Verabschiedung - Gegenverabschiedung], wobei er das Resümee als “Schritt des Anrufers, resp. des situativ Ranghöheren” beschreibt (S. 253). <?page no="243"?> Interaktionsprofil: Konzept und analytisches Instrumentarium 243 8 Mit der Beendigung institutioneller Telefongespräche befassen sich auch Clark/ French (1981). Sie unterscheiden lediglich drei Sequenzen, “topic termination”, “leave-taking”, “telephones being hung up”, führen dann aber eine ganze Reihe von Themen auf, die in der Sequenz leave-taking bearbeitet werden können: “the two parties may summarize their conversation, justify ending it, express pleasure in each other, plan for the future, and wish each other well” (S. 17). Dank und Verabschiedung fehlen in ihrem Schema, obwohl der Austausch von “goodbyes” das Zentrum der empirischen Analyse bildet. Das Beendigungsschema von Clark/ French ist zu undifferenziert und die empirischen Ergebnisse können aufgrund eklatanter interkultureller Unterschiede nicht auf die Analyse deutschschweizerischer institutioneller Gespräche übertragen werden. 9 Einzelne negative Evaluationen wie “dë halt” (dann halt) kommen als abweichende Varianten vor. 10 A: [Es ist] nichts reingekommen so; in dieser Grössenordnung. - K: Aha. Okay. Brinker/ Sager (1996) rechnen die Themabeendigung zum Hauptteil des Gesprächs, nehmen dafür als zusätzliche Sequenz die gegenseitigen Wünsche in das Handlungsmuster auf und kommen damit zu der Abfolge [Resümeesequenz] - [Danksequenz] - [Wunschsequenz] - [Verabschiedungssequenz] (S. 101). 8 Beide betonen, je nach Gesprächskonstellation würde die eine oder andere Sequenz weggelassen, so zum Beispiel die Wunschsequenz in institutionellen Gesprächen. Die Analyse der Gespräche im Call Center der Schwyzer Bank zeigt, dass Präzisierungen notwendig sind. Mit Brinker/ Sager gehe ich darin einig, dass die Themabeendigung zum Hauptteil des Gesprächs zu zählen ist und der Gesprächsabschluss erst mit dem Resümee einsetzt. Resümees kommen allerdings selten vor, und ihr Erscheinen bzw. Fehlen unterliegt einer erkennbaren Systematik. Wann immer das Anliegen des Kunden während des Gesprächs abschliessend bearbeitet werden konnte, wenn er also seine Auskunft bekommen hat, wenn sein Börsenauftrag aufgegeben, das Internetproblem gelöst wurde, lassen beide Gesprächspartner ein Resümee weg. Stattdessen leiten die KundInnen mit einem Beendigungssignal direkt den Gesprächsabschluss ein. Dieses Beendigungssignal besteht in der Regel aus einer betont und mit erhöhter Stimme gesprochenen positiven Evaluation wie ‘gut’ oder ‘okay’. Beispiel: Agentin un: d jetzt am ELFten oktober sind dreitausend franken REINgekommen von herrn tobias kel: : ler. Kundin keller ja das ist richtig. Agentin ja genau. Kundin okay? (128). Das Beendigungssignal wird interessanterweise auch dann positiv formuliert, wenn die Auskunft abschlägig war. 9 Ein Beispiel: Agent nüt inechoo so; i dere gröössenornig. Kunde aha. Okay; (125). 10 Resümees erscheinen dann, wenn das Anliegen des Kunden während des Gesprächs nicht abschliessend bearbeitet werden konnte. Sie dienen in <?page no="244"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 244 11 A: Okay. Wir klären das ab und man wird Sie auf jeden Fall anrufen, sobald man etwas Neues weiss. Es würde aber/ manchmal kann es bis zwei Wochen dauern, also müssten Sie ein wenig Geduld haben. - K: Gut, also wenn ich in zwei Wochen noch nichts höre, werde ich Sie (xxx). - A: nochmals anrufen, ja. - K: Ist gut, ja. diesen Fällen dazu, vor der Verabschiedung noch einmal sicherzustellen, dass nach dem Telefongespräch das Richtige getan wird und der Kunde das Versprochene erhält. Weil die Resümees im Call Center den Charakter einer Zusicherung haben, werden sie mehrheitlich von den Agents produziert. Ein Beispiel: Agentin den lösch ich jetzt per sofort und die hundertzwanzig das hat sich erledigt die sind bereits gelöscht Kundin aha okay. (xxx) ehe? Agentin mol? werd ich in auftrag geben frau kurz; (181). Es gibt aber auch Beispiele, in denen die Kunden nach dem Resümee der Agentin ihrerseits zusammenfassen, was sie nach dem Gespräch unternehmen werden: Agentin okay. mer tünd das abklëëre und me wird yne uf jede fall aalüte sobald me öppis neus wäis, Kunde m=hm, Agentin es wü: rd abe: r/ (.) mängisch cha=s bis zwäi wuche duure aso/ Kunde ja Agentin müessted si chly geduld haa. Kunde guet aso wänn ich i zwäi wuche na nüüt ghööre wird ich yne (xxx) Agentin na äimal aalüte ja. Kunde i: sch guet ja. Agentin Okay, (183). 11 In den Call Center Gesprächen ist es also nicht der Anrufer oder die ranghöhere Person, die Resümees zieht, sondern jene Person, die sich zu einer Handlung nach dem Telefongespräch verpflichtet. Die Telefonstandards der Schwyzer Bank sind diesbezüglich situationsgerecht formuliert. Sie schreiben keine generellen Resümees vor, sondern lediglich, Aufträge zusammenzufassen und verbindliche Termine zu nennen. Die verbleibenden drei Sequenzen folgen dem von Brinker/ Sager und von mir in Abschnitt 5.3.1 beschriebenen Schema [Danksequenz] - [Wunschsequenz] - [Verabschiedungssequenz]. Auch hier ist zu betonen, dass die Telefonstandards den Agents vorschreiben, sich bei jedem Gespräch für den Anruf zu bedanken, dem Kunden einen guten Wunsch mit auf den Weg zu geben und ihn mit dem Namen zu verabschieden. Die Telefonstandards schreiben nichts vor, das nicht in den Konventionen angelegt wäre, aber sie fordern die lückenlose Umsetzung dieser Konventionen. Das Beispiel aus Gespräch 104: <?page no="245"?> Interaktionsprofil: Konzept und analytisches Instrumentarium 245 12 K: Okay, alles klar. - A: Okay. - K: Danke vielmals, ade. - A: Danke Ihnen, auf Wiederhören Frau Keller. Kundin ja danke schön Agent ja ich danke ihnen, Kundin bitte Agent einen schönen tag noch frau keller wiederhören Kundin danke Allerdings sind nicht alle KundInnen bereit, sich auf eine vollständige Bearbeitung der Dank-, Wunsch- und Verabschiedungssequenzen einzulassen. Das führt dazu, dass die Agents diese drei Sequenzen manchmal im Alleingang abspulen und sich dabei sehr beeilen müssen, wenn sie damit zu Ende kommen wollen, bevor der Kunde aufgelegt hat. Ein Beispiel: Kundin Okay ales klar Agentin okay, Kundin danke vilma: l=ade- Agentin danke=n=Yne uf widerhööre frau keller. (168). 12 Lassen die Agents Dank, Wunsch oder Verabschiedung weg, so ist dies einerseits immer ein Verstoss gegen die internen Vorschriften, andererseits bisweilen eine adäquate situative Anpassung an das Verhalten kurz angebundener KundInnen wie in Gespräch 190: Kundin m=hm. gut. Agentin Okay, Kundin danke, Agentin danke auch! wiederhören (xxx) Kundin [legt auf] Die Beurteilung des Verhaltens einzelner Individuen beim Gesprächsabschluss setzt also sowohl eine differenzierte Kenntnis des Handlungsmusters als auch die Berücksichtigung situativer Faktoren voraus. Vor diesem Hintergrund sollen im empirischen Teil die Gesprächsabschlüsse der vier Angestellten als eines von vier Handlungsmustern analysiert werden. 8.1.2.2 Höflichkeit Die Literatur zu Höflichkeit füllt Bibliotheken. Vier Ansätze bestimmen die Diskussion (vgl. Fraser 1990, Watts/ Ide/ Ehlich 1992b): the social-norm view, the conversational-maxim view, the face-saving view, the conversational-contract view. Der erste Ansatz geht davon aus, dass es in jeder Gesellschaft Verhaltensnormen gibt, gemessen an denen das Verhalten des Einzelnen als höflich oder unhöflich bewertet wird. Während Fraser diesen Ansatz als ein für die Wissenschaft wenig taugliches Laienkonzept ablehnt, sehen Watts/ Ide/ Ehlich den Vorteil dieses Konzepts darin, dass es die Modellierung des <?page no="246"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 246 13 Fraser (1990) behauptet, Lakoff nenne in ihrem Aufsatz von 1979 drei “sub-rules” zur Maxime “be polite”: 1. “Don’t impose”. 2. “Give options”. 3. “Make A feel good” (S. 224), eine Behauptung, die von Watts/ Ide/ Ehlich (1992b) wörtlich übernommen wird (S. 5). Sie hält einer Prüfung durch den Originaltext nicht stand. Ohnehin ist zu betonen, dass Lakoff in ihrem Text kein Konzept von Höflichkeit entwirft, sondern ein Konzept zur Beschreibung verschiedener Interaktionsstile, welche sie als regelbasiert begreift. Von daher ist es problematisch, dass Lakoff immer wieder als Kronzeuge des conversationalmaxim Ansatzes von Höflichkeit genannt wird. Zusammenhangs von Höflichkeit bzw. “richtigem Benehmen” und Macht bzw. sozialer Ungleichheit erlaubt. Der social-norm view wird von Watts (1992) theoretisch weiterentwickelt, indem er zwischen “politeness” und “politic behaviour” unterscheidet (S. 50). Empirische Studien, die auf diesem Ansatz beruhen, sind mir nicht bekannt. Der conversational-maxim Ansatz geht von Grices Konversationsmaximen aus bzw. von der Tatsache, dass Interagierende entgegen diesen Maximen nicht immer maximal klar und effizient kommunizieren, sondern mit teilweise beträchtlichem sprachlichem Mehraufwand und unter Inkaufnahme mangelnder Eindeutigkeit. Daher müsse angenommen werden, dass sich die Interagierenden neben den vier bekannten Maximen (Quantität, Qualität, Relation, Modalität, Grice 1975/ 79) an einer weiteren Maxime orientieren, nämlich an der Höflichkeitsmaxime “be polite”, die in Konkurrenz zur Maxime “be clear” stehen kann (Lakoff 1979). Je nach Beziehung zwischen den Interagierenden (“distance”, “deference” oder “camaraderie”) kann die Höflichkeitsmaxime in Maximen wie “Remain aloof” (distance) oder “Don’t impose - give options” (deference) spezifiziert werden (ebd.: 62ff). 13 Leech (1983), der Hauptvertreter des conversational-maxim Ansatzes, unterteilt die Höflichkeitsmaxime “be polite” in sechs Untermaximen: “tact”, “generosity”, “approbation”, “modesty”, “agreement”, “sympathy” (S. 119ff). Er geht davon aus, dass Höflichkeit einerseits situationsspezifisch auftritt (“relative politeness”), dass andererseits bestimmte illokutionäre Akte wie Angebote oder Befehle inhärent höflich bzw. unhöflich sind (“absolute politeness”) (ebd.: 83). Die Beschreibung absoluter Höflichkeit erfolgt anhand verschiedener Skalen wie der “cost-benefit scale” oder der “indirectness scale” (ebd.: 107ff). Der Maximenansatz krankt daran, dass die Festlegung, wie viele Maximen es gibt, welche Maximen es gibt, wann welche zur Anwendung kommt und in welcher sprachlicher Form sie sich äussert, letztlich willkürlich ist. Auch bleibt unklar, wie ein Sprecher in einer konkreten Situation bestimmt, welchen Maximen er zu folgen hat und mit welchen sprachlichen Mitteln er derselben gerecht wird. “The model is far too abstract to apply to actual language usage” (Watts/ Ide/ Ehlich 1992b: 7). Daher wundert es nicht, dass der Maximenansatz Theorie geblieben ist und kaum empirisch überprüft oder angewendet wurde. <?page no="247"?> Interaktionsprofil: Konzept und analytisches Instrumentarium 247 14 Hedges wird in der Regel mit “Heckenausdrücke” übersetzt. Diese Übersetzung hat den Nachteil, dass sich kein Verb analog zu hedging bilden lässt. Da Modalpartikel und Modalverben wichtige Formen des hedging sind, verwende ich den Begriff Modalisierung bzw. modalisieren. Der dritte Ansatz, the face-saving view, setzt ebenfalls bei Grice an insofern, als er Interagierende als rational und effizient Handelnde konzipiert. Der beobachtbare verbale Mehraufwand wird jedoch nicht als Befolgung einer zusätzlichen Maxime interpretiert, sondern als Bemühen um die Aufrechterhaltung des Gesichts beider Dialogpartner (Brown/ Levinson 1978, 1987). Gestützt auf Goffman unterscheiden Brown/ Levinson zwischen positivem Face, dem Bedürfnis, anerkannt und in den eigenen Wünschen und Werten unterstützt zu werden, und negativem Face, dem Bedürfnis, respektiert und in der eigenen Handlungsfreiheit nicht eingeschränkt zu werden. Das Gesicht eines oder beider Dialogpartner ist in der Interaktion gefährdet durch sogenannte face threatening acts, das heisst inhärent gesichtsbedrohende Sprechakte wie zum Beispiel Befehle, Ratschläge, Drohungen, Kritik, aber auch Versprechen, Komplimente und das Anschneiden heikler Themen. Höflichkeit dient dazu, das schädigende Potenzial dieser gesichtsbedrohenden Sprechakte zu minimieren. Dazu steht ein ganzes Arsenal sprachlicher Mittel zur Verfügung, von der konventionellen Indirektheit über Depersonalisierung, Modalisierung (hedges) 14 und Entschuldigung bis zur Ehrerbietung, um lediglich eine Auswahl zu nennen. In Abhängigkeit von drei externen Variablen, der sozialen Distanz zwischen Sprecher und Hörer (D), dem Machtgefälle (P) und dem relativen Gewicht der Gesichtsbedrohung (R) wählt ein Sprecher die passende Höflichkeitsstrategie, wobei der kommunikative Aufwand mit der Zunahme von D, P und R steigt. Der face-saving Ansatz erfuhr die breiteste Rezeption, sowohl in der theoretischen Auseinandersetzung als auch in der empirischen Anwendung. Das dürfte an der einfachen Operationalisierbarkeit des Modells liegen. In Frage gestellt wurde vor allem der universelle Geltungsanspruch des Modells. Meines Erachtens trifft der Vorwurf des Ethnozentrismus aber nicht die eigentliche Schwäche des Ansatzes. Die Schwäche liegt vielmehr in der Beschränkung der Betrachtung auf isolierte Äusserungen und in der Annahme, bestimmte Sprechakte seien per se gesichtsbedrohend oder nicht. Diese sprechakttheoretische Fixierung auf Einzeläusserungen und deren unterstellte kontextunabhängige illokutionäre Kraft vermag einem interaktionalen Verständnis von sprachlichen Phänomenen wie Höflichkeit sowohl diskurswie konversationsanalytischer Provenienz längst nicht mehr zu genügen. Aus der Fixierung auf einzelne Sprechakte führt der vierte Ansatz heraus. Der Ansatz des Konversationsvertrags (Fraser 1990) geht davon aus, dass Höflichkeit kein unter bestimmten Umständen betriebener sprachlicher Mehraufwand der Interagierenden ist, sondern konstitutiver Bestandteil <?page no="248"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 248 15 Vgl. Held (1992), die ebenfalls kritisiert, dass die Betrachtung von Höflichkeit als Vermeidung von Konflikten ein einseitiges Bild von Höflichkeit generiert (S. 135). 16 Held (1992) nennt in ihrem Forschungsüberblick einige Höflichkeitskonzepte, die ebenfalls darauf abzielen, Höflichkeit nicht mehr als Eigenschaft einzelner Äusserungen zu betrachten, sondern als “a complex action or sequence of action”, darunter die Konzepte der “Beziehungs-“ oder “Imagearbeit” (Holly 1979, Adamzik 1994) und des “politic behaviour” (Watts 1992). Höflichkeit als Stil diskutiert sie nicht. jeder Interaktion. Interagierende treten in jede Interaktionssituation mit einem bestimmten Satz von Rechten und Pflichten. Zu diesen gehören die Erwartung, vom Gegenüber mit einem situations- und personengerechten Mass an Höflichkeit behandelt zu werden, und die Verpflichtung, das Gegenüber ebenso adäquat zu behandeln. Auffällig ist daher nicht, wenn höfliches Verhalten auftritt, sondern wenn es fehlt. Höflich sind ausserdem nicht bestimmte Äusserungen, sondern die Sprechenden selber, wenn sie dem Gegenüber Ehrerbietung (deference) erweisen. Dieser Ansatz wurde bis heute wenig rezipiert, insbesondere ist nicht ersichtlich, wie er für empirische Analysen operationalisiert werden könnte. Bei aller Eindrücklichkeit der auf der Basis der vier vorgestellten Ansätze, insbesondere des face-saving Ansatzes, zusammengetragenen Erkenntnisse weist die bisherige Höflichkeitsforschung grundlegende Mängel auf: 1. Gewisse theoretische Annahmen werden entweder gar nicht operationalisiert oder dann empirisch nicht überprüft, sondern anhand erfundener Dialogbeispiele lediglich illustriert (zum Beispiel Leech 1983, Chen 2001). 2. Viele Ergebnisse wurden nicht anhand natürlicher Interaktionen gewonnen, sondern stammen aus Umfragen (Spencer-Oatey 2002) oder Experimenten (Schmelz 1984, Held 2001). 3. Die meisten Arbeiten verharren in einem sprechakttheoretischen Ansatz. Untersucht werden isolierte sprachliche Äusserungen, Höflichkeit als interaktives und kontextabhängiges Phänomen kommt nicht in den Blick. 4. Die europäisch-amerikanische Forschung beschäftigt sich einseitig mit negativer Höflichkeit, 15 zum Beispiel mit der Frage, wie Aufforderungen formuliert werden (Schmelz 1984, Lüger 2001b) oder Kritik angebracht wird (Held 2001). 5. Höflichkeit wird an den einzelnen sprachlichen Äusserungen festgemacht, nicht an der Person und ihrem gesamten interaktiven Verhalten. Diese Schwächen können meines Erachtens am besten dadurch überwunden werden, dass Höflichkeit als Stil betrachtet wird, wie Lüger dies vorschlägt. 16 Lüger betont, dass sich Höflichkeit nicht an einem Inventar sprachlicher Strategien festmachen lässt, dass es nicht “die” höfliche Sprache gibt, <?page no="249"?> Interaktionsprofil: Konzept und analytisches Instrumentarium 249 sondern dass Höflichkeit nur interaktiv gestalt- und erfassbar ist. Er definiert Höflichkeitsstile als “die jeweilige Art und Weise, mit der Textproduzenten einer bestimmten kulturellen oder sozialen Gruppe die kommunikative Aufgabe, dem bzw. den Adressaten nicht unhöflich zu begegnen, konkret zu lösen versuchen.” (Lüger 2001b: 10). Mit der Formulierung “nicht unhöflich” folgt Lüger der Fraser’schen Auffassung, dass Höflichkeit das konventionell Erwartbare darstellt, nicht das Auffällige. Höflichkeit äussert sich und ist zu untersuchen auf drei Ebenen, nämlich: 1. Ebene der sprachlichen Handlungen: Was darf in einer bestimmten Situation gesagt werden? 2. Ebene der Formulierung: Wie muss etwas gesagt werden? 3. Ebene der Sequenzierung: Wie kommt ein höflicher Text zustande? Damit wäre ein methodisches Vorgehen zur Untersuchung von Höflichkeit skizziert. Im Widerspruch zu seinem eigenen Konzept stellt Lüger im selben Aufsatz allerdings nicht vollständige Dialoge vor, sondern greift wie gehabt einzelne Sprechakte (Auffordern, Ablehnen) heraus und untersucht, in welchen Varianten diese durchgeführt werden können und welche dieser Varianten (per se! ) höflicher sind als die anderen. Meines Wissens gibt es keine Untersuchung, die Höflichkeit als Stil in all seinen interaktiven Facetten und Wirkungsweisen zu erfassen versucht. Erst recht gibt es keine Untersuchung, die versucht, die Höflichkeit eines Individuums zu beschreiben, zu bemessen und mit der Höflichkeit anderer Individuen zu vergleichen - dabei haben wir im Alltag keine Mühe zu bestimmen, ob Person A höflicher ist als Person B oder umgekehrt. Wenn ich im Folgenden versuche, die Höflichkeit der vier Angestellten als Teil ihres Interaktionsprofils zu erfassen, stehe ich daher vor einem methodischen Vakuum. Wie ist es zu füllen? Meines Erachtens ist Lügers Betrachtungsweise von Höflichkeit als Stil, der sich sowohl auf der Handlungsals auch auf der Formulierungs- und Sequenzierungsebene des Textes zeigt, der einzig sinnvolle Zugang zu diesem Phänomen. Höflichkeit zeigt sich in allem, was ein Interaktionspartner während eines Gesprächs tut, sowohl in dem, was er tut, als auch in dem, wie er es tut. Die gängige Betrachtung einzelner Äusserungen, ihre Unterteilung in positive und negative Höflichkeit und ihre Skalierung in mehr oder weniger höflich kann in die Untersuchung aufgenommen werden, genügt jedoch bei weitem nicht. Die einzelnen Äusserungen müssen im Kontext analysiert, gemeinsam betrachtet und sequenzübergreifend interpretiert werden, damit ein konsistentes Bild von der Höflichkeit des Individuums entsteht. In die Analyse des Höflichkeitsstils eines Individuums müssen aber nicht nur seine Aktionen, sondern auch seine Reaktionen einbezogen werden. Bisher wurden fast ausschliesslich initiative Sprechakte und deren unter- <?page no="250"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 250 schiedliche Realisierung unter dem Aspekt der Höflichkeit analysiert und inventarisiert. Ein Inventar höflicher Verhaltensweisen auf Hörerseite existiert nicht. Die Frage, welche Reaktionen in welchem Kontext erwartet werden und wie dispräferierte Reaktionen modalisiert werden, wurde bisher lediglich im Zusammenhang mit der Präferenzorganisation von Gesprächen diskutiert (Bilmes 1988), aber nicht im Zusammenhang mit Höflichkeit. Dabei sind Verzögerungen, ausweichende Antworten und Themenwechsel wichtige Charakteristika höflichen Verhaltens und müssen bei der Analyse berücksichtigt werden. Schliesslich kommt man beim Thema Höflichkeit nicht darum herum zu fragen, was eine Person nicht tut. Unhöfliche Handlungen zu unterlassen ist ein wesentlicher Bestandteil von Höflichkeit - aber den Nachweis erbringen, dass jemand eine Handlung unterlassen hat, ist methodisch äusserst schwierig. Die Beobachterin kann oft lediglich spekulieren, dass jemand an einer bestimmten Stelle im Gespräch zum Beispiel eine Zurechtweisung hätte anbringen können, es aber nicht getan hat. Genauso schwierig ist es nachzuweisen, dass jemand positive höfliche Handlungen wie Bestätigungen oder Danksagungen unterlassen hat und somit weniger höflich war als möglich oder sogar angemessen gewesen wäre. Wer definiert, wann wie viel Höflichkeit angemessen ist? Der einzige methodisch gangbare Weg ist wie bei allen Stilfragen der Vergleich: Wo lässt ein Individuum eine Handlung aus, die von einem anderen Individuum in derselben Situation ausgeführt wird - und umgekehrt? Bei der empirischen Untersuchung von Höflichkeit als Stil gilt es also zu fragen, was eine Person tut, auf welche Weise sie es tut, wie sie auf Partneräusserungen reagiert und was sie vermutlich unterlässt. Konkret lasse ich mich von folgendem Frageraster leiten: • Welche Formen positiver Höflichkeit werden von den Angestellten geäussert? Möglich sind: Begrüssung, Dank, Kompliment, positive Evaluation, Angebot von Zusatzdiensten, Entschuldigung, Signalisierung von Dienstbeflissenheit, Wünsche usw. • Welche Formen positiver Höflichkeit werden (im Vergleich zu den Kollegen) unterlassen? • Welche gesichtsbedrohenden Handlungen werden (vermutlich) unterlassen? • Welche gesichtsbedrohenden Handlungen werden ausgeführt? Möglich sind: Anweisung, Frage, Absage, Kritik, Zurechtweisung usw. • In welcher Form werden gesichtsbedrohende Handlungen ausgeführt? Möglich sind: nicht modalisierte Ausführung wie Imperativ, einfache Frage, direkte Absage usw., oder Modalisierung durch konventionelle Indirektheit, Modalpartikel, Konjunktiv, Relativierung, Andeutung usw. <?page no="251"?> Interaktionsprofil: Konzept und analytisches Instrumentarium 251 17 Die Möglichkeit, Höflichkeit an einem absoluten Massstab zu messen, dürfte die Ausnahme sein, das Vorgehen bietet sich im Falle der Call Center mit ihren rigiden Gesprächsvorschriften aber an. Die Telefonstandards der Schwyzer Bank können als eine Art kodifizierte social norm betrachtet werden, die von den Angestellten eingehalten wird oder nicht. 18 Zu Formen und Funktionen des Up- und Downgrading in der Experten-Laien Kommunikation vgl. Beneke (1992) und Brünner (2000). Mit dieser personenbezogenen, alle Äusserungen berücksichtigenden und vergleichenden Zusammenstellung aller geübten Formen von Höflichkeit sollte es möglich sein, abschliessend zu beurteilen, wie höflich die vier Porträtierten sind. Ihre Höflichkeit kann sowohl relativ an jener der KollegInnen gemessen werden, als auch absolut an den institutionellen Vorgaben. 17 Zu erwarten ist, dass sich die Angestellten im Ausmass und in der Gestaltung ihres Höflichseins unterscheiden, dass mit anderen Worten Höflichkeit ein Bestandteil ihres individuellen Interaktionsprofils auf der stilistischen Ebene ist. 8.1.2.3 Syntaktisch-lexikalische Präferenzen Die dritte Kategorie auf der stilistischen Ebene, die ich neben der Variation von Handlungsmustern und der Höflichkeit in das Interaktionsprofil aufnehme, sind individuelle lexikalische und syntaktische Formulierungsvorlieben, die sich unabhängig von bestimmten Handlungsmustern zeigen. Flächendeckende Wortschatz- und Syntaxanalysen sind nicht die Absicht. Vielmehr wähle ich jene syntaktisch-lexikalischen Phänomene aus, welche a) von den untersuchten Individuen in deutlich unterschiedlicher Weise produziert werden, b) Ausdruck unterschiedlicher Redegewandheit oder Selbststilisierung sind. So ist es zum Beispiel nutzlos, den Fachwortschatz der Angestellten zu untersuchen, da je nach Kundenanliegen alle die gleichen Fachausdrücke in ähnlicher Frequenz benützen - die Agents sind dazu angehalten, das bankfachliche Vokabular und nicht Laienausdrücke zu benützen, also beispielsweise von “gutschreiben” zu sprechen und nicht von “auf das Konto tun”. Hingegen unterscheiden sich die Angestellten darin, ob sie Laienausdrücke der KundInnen mittels einer Reformulierung upgraden, unkorrigiert stehen lassen oder gar übernehmen. Upgrading 18 ist ein Stilmerkmal, in welchem sich die Angestellten unterscheiden (Bedingung a), und welches als Ausdruck der Selbststilisierung (Bedingung b) interpretiert werden kann, nämlich der Stilisierung als Experte. Die folgenden Stilmerkmale kommen im untersuchten Teilkorpus vor, erfüllen die genannten Bedingungen und werden von mir ausgewertet: <?page no="252"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 252 19 Die Soziolinguistik sensu Bernstein zählt Nebensätze zum elaborierten Code (vgl. Löffler 1994). 20 Sie müssten sonst halt später nochmals anrufen, wenn Sie es genau wissen möchten. 21 Ist immer noch nichts. 22 Werde ich/ haben Sie/ ha/ haben Sie (ihn) in dem Fall gar nicht mehr. Nebensätze Der Gebrauch von Nebensätzen ist (besonders im mündlichen Gebrauch) ein Zeichen dafür, dass eine Sprecherin über eine bestimmte Redegewandtheit verfügt und Aussagen nicht lediglich aneinanderreiht, sondern logisch miteinander verknüpft. 19 Die Art der Verknüpfung (relativ, kausal, konditional, temporal usw.) gibt Hinweise auf den bevorzugten Argumentationsstil. Beispiel: “si müesste haut sösch spööter no äinisch aalüte; wenn si=s genau wette wüsse.” (333). 20 Ellipsen Elliptisch formulierte oder nicht beendete Sätze gelten als Zeichen unvollkommener Sprachbeherrschung oder auch mangelnder Aufmerksamkeit und Höflichkeit. Beispiel: “isch IMmer no nüüt,” (367). 21 Selbstreparaturen Wenn ein Sprecher häufig Anakoluthe, Versprecher und Reformulierungen produziert, wirkt er je nachdem wenig redegewandt, inhaltlich unsicher, gehetzt oder unkonzentriert. Beispiel: “TUN=i/ händ=s/ hä/ händ=s (en) dem fall GAR nümm.” (357). 22 Gefüllte Pausen Häufige “äh” gelten vor allem unter Laien als stilistisch unschön und werden den Agents von den TeamleaderInnen nach Möglichkeit abtrainiert. Das Vemeiden von gefüllten Pausen kann als Anzeichen bewussten Formulierens gewertet werden. Beispiel: “was ich jetzt sehe (.) das ist einfach dass äh (0.8) die valuta. (0.9) die valuta: ist äh zehnter zehnter,” (117). Füllwörter Füllwörter wie “auch”, “noch”, “eben”, “einfach”, “eigentlich” sind zwar typisch für die gesprochene Sprache, ihre Häufung hat jedoch eine ähnliche Wirkung wie gefüllte Pausen und Selbstreparaturen: Der Sprecher wirkt unüberlegt, wenig redegewandt und scheint mangelnden Inhalt durch Füllwörter zu ersetzen. Die Reihung von Füllwörtern (“irgendwie schon <?page no="253"?> Interaktionsprofil: Konzept und analytisches Instrumentarium 253 23 Also/ eben/ grundsätzlich möchte ich eigentlich schon, dass Sie sagen, wie Ihr Gefühl ist, dass Sie auch dazu stehen können. 24 Wenn es ein Erben Konto/ heisst es ‘Erben des’. 25 K: Ja ist (ja glaube ich) etwa bei 12 Cent im Moment. - B: Bei 14 sogar; 0,140625. total gut”) gilt auch als typisch für die Jugendsprache (Henne 1986). Beispiel: “aso/ Ëbe/ grundsätzlich wett ech äigentlich scho dass SI: säged wie Ires gfüüu isch dass si (.) ou dezue chöne stoo” (330). 23 Depersonalisierung Werden Formulierungen in der ersten Person (ich, wir) und in der Höflichkeitsform (Sie) ersetzt durch unpersönliche Formulierungen in der dritten Person (es, man), durch Passivsätze oder durch simple Auslassung des Pronomens ich, findet Depersonalisierung statt, werden die Beteiligten auf der sprachlichen Oberfläche unsichtbar gemacht. Das hat Auswirkungen auf die Selbststilisierung des Sprechenden: Er tritt als handelnde Person in den Hintergrund und entzieht sich letztlich der Verantwortung für das Gesagte. Beispiel: “wänn=s es erbe konto/ häisst=s erben des.” (107). 24 Up-/ Downgrading Upgrading bedeutet, dass ein Laienbegriff durch den Fachbegriff ersetzt wird, Downgrading das Gegenteil. Durch Upgrading kann jemand seinen Expertenstatus herausstreichen. Downgrading signalisiert dem Laien Entgegenkommen, Bemühen um Verständlichkeit. Allerdings streicht Downgrading den Expertenstatus des Sprechenden unter Umständen nicht weniger heraus als Upgrading und kann sogar belehrend wirken, dann nämlich, wenn der Fachbegriff nicht ausgelassen, sondern genannt und dann umgangssprachlich erklärt wird. Beispiel: Kunde: “ja isch (ja glaub) öppe bi ZWÖLF CENT im momänt; ” Beraterin: “(0.6) bi VIERzä sogar; null komma äis vier null sächs zwöi föif.” (333). 25 Floskeln Unter Floskeln fasse ich all jene stehenden Ausdrücke zusammen, die eine Sprecherin gehäuft verwendet und die im Alltag als “Tick” wahrgenommen werden, zum Beispiel stetig wiederkehrendes “nicht wahr”, “alles klar” oder “kein Problem”. Floskeln geben einem Sprechenden ein unverwechselbares Profil, werden jedoch als eher unangenehm empfunden. <?page no="254"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 254 Die genannten syntaktisch-lexikalischen Phänomene wurden im Teilkorpus vollständig ausgezählt und werden im empirischen Teil anhand von Beispielen vergleichend vorgestellt. 8.1.3 Rhetorische Ebene Womit soll ich den Anfang machen, wie Die Worte klüglich stellen, dass sie Euch Das Herz ergreifen, aber nicht verletzen! (Friedrich Schiller, Maria Stuart) Als dritte und letzte Ebene des Interaktionsprofils betrachte ich die rhetorische Ebene. Zum rhetorischen Verhalten des Individuums zähle ich sein Steuerungsverhalten sowie seinen Umgang mit Positionierungen. Für beide Aspekte habe ich den theoretischen Rahmen bereits ausführlich dargelegt und Beispielanalysen durchgeführt (vgl. Kapitel 7). In diesem Abschnitt erläutere ich, im Hinblick auf welche konkreten Formen von Gesprächssteuerung und Positionierung ich das Teilkorpus ausgewertet habe, um damit die Interaktionsprofile der vier untersuchten Angestellten abzurunden. 8.1.3.1 Steuerungsverhalten Gesprächssteuerung findet auf drei Ebenen statt: Gesprächsorganisation, Handlungskonstitution, Themenbehandlung; sie ist ein konstitutives Element jeder Interaktion, wird gleichzeitig aber auch für individuelle Zwecke instrumentalisiert (vgl. S. 197f.). Individualität zeigt sich darin, wie stark ein Individuum das Gespräch zu steuern versucht und mit welchen sprachlichen Mitteln es Einfluss auf den Fortgang des Gesprächs zu gewinnen bemüht ist. Gesprächssteuerung auf der organisationellen Ebene bedeutet die Art und Weise, wie der Sprecherwechsel organisiert wird. Die Beispielanalysen im letzten Kapitel haben gezeigt, dass die Agents auf dieser Ebene insgesamt ein eher zurückhaltendes Verhalten pflegen (vgl. S. 224). Auf individuelle Unterschiede bin ich im letzten Kapitel nicht eingegangen. Doch auch der Sprecherwechsel stellt eine Ressource für das Handeln nach individuellen Präferenzen dar. Für die Interaktionsprofile habe ich die Gesprächsdaten der vier Angestellten nach den folgenden Kriterien ausgewertet: Turnübernahme Produziert die Person vorwiegend glatte Wechsel, wenn sie den Turn übernimmt, oder kommen Pausen oder Überlappung vor? Unterbrechungen Unterbricht die Person ihre Gesprächspartner? An welchen Stellen im Gespräch und mit welcher Funktion? <?page no="255"?> Interaktionsprofil: Konzept und analytisches Instrumentarium 255 26 Die Unterscheidung zwischen “ja” als Hörersignal und “ja” als Bestätigung ist im Einzelfall oft nicht möglich. 27 Ein strikt konversationsanalytisches Vorgehen verlangt, eine Unterbrechung nur dann als solche zu taxieren, wenn die unterbrochene Person anzeigt, dass sie sich unterbrochen fühlt. In Dienstleistungsgesprächen würde dieser Ansatz zu dem völlig irrigen Ergebnis führen, dass gar keine Unterbrechungen vorkommen. Aufgrund ihrer Verpflichtung zu Höflichkeit lassen sich die Agents Unterbrechungen nämlich kommentarlos gefallen. Sie insistieren kaum auf ihrem Rederecht, eine metakommunikative Einforderung des Rederechts (“lassen Sie mich ausreden”) kommt im ganzen Korpus nicht vor - übrigens auch auf der Seite der KundInnen nicht. Trotzdem wäre es absurd zu behaupten, es gäbe in den untersuchten Gesprächen keine Unterbrechungen. Reagiert sie auf Unterbrechungsversuche des Partners mit Abbruch oder Insistieren auf dem Rederecht? Beugt sie durch die Prosodie (zum Beispiel rush-through) Unterbrechungen vor? Parallelstarts Bricht die Person bei Parallelstarts ihre Äusserung ab oder beharrt sie auf ihrem Rederecht? Pausen Lässt die Person Pausen entstehen? Sind es viele und wie lange dauern sie? Sind es Pausen innerhalb von oder zwischen Äusserungen oder Pausen, die der Arbeit am Computer dienen? Werden die Pausen mit Partikeln oder Selbstgesprächen gefüllt? Werden länger dauernde Unterbrüche angekündigt und begründet? Rückmeldungen Gibt die Person an allen zu erwartenden Stellen im Gespräch Rückmeldungen? Welche Rückmeldungen verwendet sie: reine Hörersignale (ja, m=hm), Bestätigungen (ja, gut, okay, genau), 26 negative Ratifikationen (nein, eben, doch), Echos oder Paraphrasen des Gehörten? Der Sprecherwechsel ist eines der Gesprächsphänomene, die quantitativ ausgewertet werden können. Die Daten können allerdings nicht mit der Stoppuhr allein gewonnen werden, sondern sind Resultat einer interpretativen Auseinandersetzung mit dem interaktiven Geschehen, welche sich auf die Gesprächsdaten ebenso stützt wie auf das Vorverständnis der Analytikerin. Ob zum Beispiel eine überlappende Turnübernahme oder eine Unterbrechung vorliegt, ist oft Ermessenssache; selbst die Reaktionen der Interagierenden geben nicht immer zuverlässige Hinweise darauf, wie das Ereignis von ihnen selber interpretiert wird (Günthner 1992). 27 Trotzdem ist eine quantifizierende Auswertung bis auf einige Zweifelsfälle möglich und als Basis einer intersubjektiven Beurteilung für das Gesprächsverhalten der Untersuchten unabdingbar. Es mag zunächst seltsam erscheinen, Sprecherwechsel aus dem sequenziellen Zusammenhang zu lösen und das grundsätzlich interaktive Phäno- <?page no="256"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 256 men des Sprecherwechsels aus der Sicht nur eines Interaktanten zu betrachten. Im Hinblick auf individuelle Interaktionsprofile ist dieses Vorgehen jedoch sinnvoll, solange der Kontext bei der Interpretation des einzelnen Ereignisses berücksichtigt wird, sofern sichtbar bleibt, dass individueller Umgang mit dem Sprecherwechsel sowohl ein Agieren als auch ein Reagieren auf unter Umständen unterschiedliche Gesprächspartner bedeutet. Auf der Ebene der Handlungskonstitution bedeutet Gesprächssteuerung die Art und Weise, wie die Interagierenden gemeinsam die Interaktion als Ganze sowie einzelne Handlungsmuster innerhalb der Interaktion etablieren, durchführen und abschliessen. So müssen sich in meinem Korpus Kundin und Angestellte darauf einigen, überhaupt gemeinsam eine telefonische Beratung durchzuführen, und sie müssen sich innerhalb des Gesprächs darauf einigen, zum Beispiel die persönlichen Daten der Kundin aufzunehmen oder einen Rückruf zu vereinbaren. Individualität zeigt sich bei dieser Form der Gesprächssteuerung auf dreifache Weise: Erstens darin, ob ein Individuum von sich aus die Initiative zur Etablierung neuer Handlungsmuster ergreift oder darauf wartet, dass der Partner den ersten bzw. nächsten Schritt unternimmt. Zweitens darin, mit welchen sprachlichen Mitteln neue Handlungsmuster initiiert werden, ob mit Ankündigungen, Fragen, Wunschsätzen usw. Ich habe bereits gezeigt, dass die KundInnen zum Beispiel unterschiedliche Formulierungen wählen, um ihrem Anliegen Ausdruck zu verleihen, selbst wenn das Anliegen, die Entsperrung des Internetzugangs, dasselbe ist (vgl. Abschnitt 6.2.2). Drittens zeigt sich Individualität darin, ob jemand auf die Initiativen des Partners eingeht, das Handlungsmuster ratifiziert und weiterführt, oder ob er ausweicht oder gar ein alternatives Handlungsmuster durchzusetzen versucht. Auf der Ebene der Themenbehandlung schliesslich bedeutet Gesprächssteuerung die Art und Weise, wie Themen initiiert, weitergesponnen, verschoben oder beendet werden. Individuen unterscheiden sich wiederum darin, ob sie Themen selbst initiieren oder auf die Initiative des Partners warten, ob sie angeschnittene Themen aufgreifen und weiterspinnen oder gleich wieder fallen lassen, ob sie auf ihren Themen insistieren oder nicht, ob sie Themen abrupt wechseln und beenden oder sukzessive verschieben und schliesslich darin, mit welchen sprachlichen Mitteln sie dies tun. Handlungskonstitution und Themenbehandlung sind an sich nicht dekkungsgleich. So können sich in einem Tischgespräch die Themen in rascher Folge ablösen, ohne dass die zu Grunde liegende Handlung (“Unterhaltung”) beendet und ein neues Handlungsmuster etabliert würde. Das ist im Call Center anders. In diesen kurzen, auf die Abwicklung geschäftlicher Anliegen beschränkten Gesprächen mit ihren komplexen Aufgabenschemata wird in der Regel mit jedem Themenwechsel auch ein neues Handlungsmuster etabliert und umgekehrt. Stellt zum Beispiel ein Kunde nach der Abwicklung seines Börsenauftrags eine Frage zum Stand der Aktienkurse, so gehört diese Frage nicht mehr zum Handlungsmuster “Börsenauftrag”, sondern <?page no="257"?> Interaktionsprofil: Konzept und analytisches Instrumentarium 257 etabliert das neue Muster “Börsenauskunft”. Die Analyse der Themenbehandlung fällt daher weitgehend mit der Analyse der Handlungskonstitution zusammen, weshalb ich sie im empirischen Teil gemeinsam behandle. Ich werde die Gespräche der vier Angestellten im Hinblick auf die folgenden Fragen untersuchen: • Welche Handlungsmuster bzw. Themen werden von den Angestellten initiiert? • Wie reagieren die Angestellten auf Partnerinitiativen? Gehen sie darauf ein oder beharren sie auf ihren eigenen Handlungsplänen? Führen sie die von den KundInnen angeschnittenen Themen weiter oder lassen sie diese sogleich wieder fallen? • Welches sind ihre sprachlichen Steuerungsmittel? • Wie stark steuernd und kontrollierend wirkt ihr Verhalten insgesamt? Bei der Beantwortung dieser Fragen muss beachtet werden, dass auf den Ebenen der Handlungskonstitution und der Themenbehandlung der individuelle Gestaltungsspielraum der Angestellten eingeschränkt ist. Sie können die Interaktion als Ganze nicht verweigern, sondern sind gezwungen, den Anruf entgegenzunehmen und nicht vorzeitig zu beenden. Sie können nicht bestimmen, worüber grundsätzlich gesprochen wird, denn das Ziel der Interaktion wird einseitig vom Kunden und seinem Anliegen bestimmt und muss von den Angestellten ratifiziert werden, sofern das Anliegen in ihren Zuständigkeitsbereich fällt. Die Aufgabenschemata, nach denen die verschiedenen Anliegen zu bearbeiten sind, sind ihnen ebenfalls vorgeschrieben, sodass selbst bei jenen Handlungsmustern, die von den Angestellten initiiert werden wie “Konto aufrufen” oder “Identifikation durchführen” keine Rede von Gestaltungsfreiheit sein kann. Desgleichen haben die Angestellten aufgrund ihrer beruflichen Stellung und ihres Auftrags kaum die Möglichkeit, Initiativen der KundInnen gänzlich zu ignorieren. Sie können Fragen nicht einfach unbeantwortet lassen oder Wünsche übergehen, das lässt die Rolle des Dienstleisters nicht zu bzw. wäre hochgradig abweichend. Der individuelle Gestaltungsspielraum der Angestellten beschränkt sich somit auf drei Bereiche. Sie können erstens zusätzliche, über die Wünsche des Kunden und die Vorschriften hinaus reichende Themen und Handlungsmuster initiieren. Sie können zweitens auf die Initiativen der KundInnen unterschiedlich ausführlich eingehen, eine Frage zum Beispiel mit einem knappen “ja” oder mit einer umfangreichen Erklärung beantworten. Sie können drittens selbst bestimmen, wie rigide und mit welchen sprachlichen Mitteln sie auf den von ihnen etablierten Handlungsmustern beharren. <?page no="258"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 258 8.1.3.2 Positionierungen Das Konzept der Positionierung wurde in Kapitel 7 ausführlich erläutert und auf drei exemplarische Analysen angewendet. Ich gehe an dieser Stelle daher nicht noch einmal darauf ein. Bei der Analyse von Positionierungen geht es grundsätzlich darum zu rekonstruieren, auf welchen Dimensionen eine Person sich positioniert - Kompetenz, Status, soziale Nähe, Handlungsbefugnis usw. -, wo auf diesen Dimensionen sie sich verortet und mit welchen sprachlichen Mitteln - Kategorisierungen, Charakterisierungen, Handlungsverpflichtungen und Handlungsbewertungen - sie dies tut. Im vorliegenden Korpus von Call Center Gesprächen erweisen sich in Bezug auf die Angestellten drei Formen der Positionierung als besonders relevant und sollen daher im empirischen Teil im Zentrum der Analyse stehen: 1. Display von Expertentum (Dimension der Kompetenz): Untersucht wird, ob und wie stark die vier Angestellten sich als Experten zu positionieren versuchen. Die sprachlichen Mittel, die im Dienste des Displays von Expertentum stehen, sind die Verwendung von Fachjargon, Up- und Downgradings, Erklärungen sowie die Abgabe von Empfehlungen und Entscheidungsvorgaben. 2. Gestaltung der Beziehung zum Kunden (Dimensionen der sozialen Nähe, der sozialen Hierarchie und der Beziehungsqualität): Analysiert werden soll, ob die Angestellten die Beziehung zum Kunden rein geschäftlich oder auch persönlich definieren, ob sie die Differenz der Interessen betonen oder Gemeinsamkeit unterstellen und ob sie sich als aktive Dienstleistende und Beratende oder lediglich als passive Ausführende darstellen. Die sprachlichen Indizien für die Beziehungsgestaltung sind die Verwendung der Pronomen ich, inklusives wir und Sie, Depersonalisierungen, die Ausführlichkeit der Anliegensbearbeitung sowie das Facemanagement. 3. Verortung im Unternehmen (Dimensionen der Handlungsbefugnis und des Status): Zu fragen ist, inwieweit die Angestellten Transparenz bezüglich der institutionellen Abläufe schaffen und wo sie sich selber im Unternehmen verorten. Zentral ist hier die Verwendung der Pronomen ich, exklusives wir und sie, die Benennung von Abteilungen und deren Zuständigkeiten und die Aufklärung bezüglich institutioneller Vorgaben und Abläufe. Für die Positionierungen gilt wie für alle anderen Elemente des Interaktionsprofils, dass die Angestellten und ihre Äusserungen im Fokus stehen, dass ihre Äusserungen jedoch nur im Kontext der Partneräusserungen und des Interaktionsverlaufs interpretiert werden dürfen. Damit sind die 35 Elemente des Interaktionsprofils (vgl. Tabelle 11, S. 235) komplett. Ich habe die Kriterien benannt, nach welchen ich die <?page no="259"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 259 Elemente des Interaktionsprofils ausgewählt und zusammengestellt habe: interaktive Relevanz, Wahrnehmbarkeit, Variabilität. Und ich habe gesagt, nach welchem Kriterium ich die Tiefe der Analyse festlege: Unterscheidbarkeit der analysierten Individuen. Trotzdem bleibt die Frage bestehen, wie man bestimmen kann, ob ein Interaktionsprofil, welches man gestützt auf diese Kriterien für ein bestimmtes Individuum erstellt hat, vollständig und gültig ist. Es geht mit anderen Worten um die Reliabilität und die Validität des Modells und der auf ihm fussenden Ergebnisse: Wie kann getestet werden, ob das Interaktionsprofil eines Individuums vollständig erfasst (Auswahl der Elemente) und beschrieben (Detaillierungsgrad der Analyse) wurde? Ich schlage folgendes Prüfverfahren vor: Das Interaktionsprofil eines Individuums ist genau dann valide, wenn ein bisher unbekanntes Gespräch aus derselben Domäne gestützt auf das aus den Analysen hervorgegangene Interaktionsprofil dem untersuchten Individuum zweifelsfrei zugeordnet werden kann, und zwar von Personen, die dieses Individuum nicht kennen. Gesprächsanalytische Forschungsergebnisse wurden bis heute lediglich plausibilisiert, das Vorgehen wurde “transparent gemacht”, die Interpretation “nachvollziehbar” (Deppermann 2001: 105ff), als Beleg für die Ergebnisse wurden die einschlägigen Transkriptpassagen zitiert oder gar die vollständigen Transkripte im Anhang abgedruckt (Schmitt 2001: 177ff). Es gab jedoch keine Möglichkeit, die Ergebnisse zu validieren. Mit dem von mir vorgeschlagenen Zuordnungstest können gesprächsanalytische Ergebnisse erstmals nicht mehr nur plausibilisiert, sondern intersubjektiv validiert werden. Ich werde im folgenden Kapitel die Interaktionsprofile von vier Angestellten erarbeiten. Im Anhang präsentiere ich vier Gespräche, die nicht Teil des untersuchten Korpus bilden, ohne jede Angabe zu den Beteiligten und ohne Interpretation. Der geneigte Leser kann dann selber prüfen, ob er die vier Angestellten wiedererkennt. 8.2 Interaktionsprofile: Empirische Analysen In diesem Abschnitt werde ich die Interaktionsprofile von vier ausgewählten Personen empirisch, das heisst vergleichend-inventarisierend, erfassen, beschreiben und zu einem Porträt ihres domänenspezifischen Interaktionsverhaltens verdichten. Dafür kommen nur Angestellte der Bank in Frage, da nur von ihnen mehrere Gespräche pro Person zur Verfügung stehen. Bei den KundInnen ist das nicht der Fall. Porträtiert werden sollen je eine Frau und ein Mann aus den Abteilungen Service und Beratung. Ich nenne sie Susanne, David, Sandra und Alberto. Um die grösstmögliche Vergleichbarkeit zwischen den Personen herzustellen, habe ich für diesen Abschnitt ein Teilkorpus zusammengestellt mit je fünf Gesprächen pro Person und gleichen Gesprächsthemen je Abteilung. <?page no="260"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 260 Für Susanne und David sind dies je ein Mal Weiterverbinden, kontospezifische Auskunft, Auftrag, allgemeine Auskunft und Reklamation. Für Sandra und Alberto sind dies je zwei Aufträge, eine Problemlösung und eine Reklamation sowie bei Sandra eine Beratung und bei Alberto eine Auskunft (vgl. Tabelle 13). Tab. 13: Teilkorpus für die Interaktionsprofile von vier Angestellten Abteilung Name Nr. Typ Titel Service “David” 105 Verbinden Birrer haben Sie gesagt 125 Auskunft Ist heute was reingekommen 107 Auftrag Das heisst “Erben des” 118 Auskunft Scheck aus Ausland schicken 117 Reklamation 20 Franken Mahngebühr “Susanne” 134 Verbinden Frau Birrer weiss schon 128 Auskunft Sind seit August Zahlungen reingekommen 141 Auftrag Zwei Daueraufträge löschen 150 Auskunft Bahrainische Dinar wechseln 148 Reklamation Auszug vom falschen Konto bekommen Beratung “Sandra” 324 Auftrag Keine Kontoeröffnung wegen Systemausfall 330 Beratung Für 15-20 Jahre halb Mixta halb Maxi 323 Problem US Bürgschaft muss zuerst geladen werden 333 Auftrag Wenn Firma aufhört, geht es nur noch abwärts 319 Reklamation US Quellensteuer Formular verloren gegangen “Alberto” 356 Auskunft Depotgebühren gehen pro Posten 357 Problem Ohne US Formalitäten kein Auftrag 364 Auftrag Bei 1 gehen Motorola Optionen nicht 352 Reklamation Verkauf von 10 Uhr nicht ausgeführt 367 Auftrag Zuerst muss ich ein Depot eröffnen Das Teilkorpus von zwanzig Gesprächen ist im Anhang vollständig abgedruckt, mit allen Angaben bezüglich Gesprächsdauer, Gesprächstyp, Teilnehmern und Resultat, mit einer Zusammenfassung des Geschehens und einer Interlinearübersetzung. Ich werde daher die Beispiele ohne Übersetzung zitieren. Mit “Teilkorpus” sind in diesem Abschnitt diese zwanzig Gespräche gemeint, mit “Korpus” das Grundkorpus von 431 Gesprächen. In derselben Reihenfolge wie im theoretischen Teil - stimmliche, stilistische, rhetorische Ebene - werde ich im Folgenden die einzelnen Elemente des Interaktionsprofils anhand von Beispielen herausarbeiten, jeweils zuerst für die beiden Agents, dann für die Berater. Dabei wird es teilweise zu <?page no="261"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 261 Wiederholungen kommen, da die untersuchten Elemente nicht in jedem Fall diskrete Kategorien im statistischen Sinne darstellen. So kann zum Beispiel die Art und Weise, wie eine Person Fragen stellt, sowohl unter dem Aspekt der Höflichkeit als auch der thematischen Steuerung betrachtet werden. Abschliessend sollen die Interaktionsprofile der vier Angestellten zu einem Porträt ihres beruflichen Interaktionsverhaltens verdichtet und im Hinblick auf ihre grundlegenden beruflichen Orientierungen gedeutet werden. 8.2.1 Stimmliche Ebene Stimme (Agents) Susanne aus dem Service spricht mit eher hoher Stimme, David in mittlerer Lage, und beide verfügen über die für Schweizer typische reiche Melodik. Bei Fragen zum Beispiel benützen beide eine ausgeprägte steigend-fallende Intonation. Susanne fällt auf durch überdurchschnittlich stark steigende Intonationskurven bei der Begrüssung und bei Rückmeldungen. Sie artikuliert sehr deutlich und spricht eher langsam. Bei David fällt die Stimme bei längeren Äusserungen sowie bei den Bestätigungen am Ende des Gesprächs sehr tief ab, ein Hinweis dafür, dass die Indifferenzlage seiner Stimme tiefer sein könnte. Seine Sprechweise wirkt jedoch nicht angespannt, Druck auf dem Kehlkopf ist nicht zu bemerken. Beide sind gut verständlich und verfügen über das, was im Call Center Jargon “Telefonstimme” genannt wird, das heisst eine Stimme, die am Telefon angenehm zu hören ist. Varietät (Agents) Susanne und David sprechen reinen Zürcher Dialekt. Bei fremdsprachigen KundInnen stellen sie sofort auf Deutsch um - das tun nicht alle ihrer KollegInnen -, ein Deutsch, welches sie grammatikalisch korrekt verwenden, aber mit starkem Schweizer Akzent aussprechen. Einzig bei deutschen KundInnen, welche selber ein Deutsch-Dialekt-Gemisch verwenden, stellt Susanne nicht auf Deutsch um, offenbar davon ausgehend, dass diese den Dialekt verstehen. Lachen (Agents) Gelacht wird im ganzen Korpus selten, und mindestens im Teilkorpus ist das Lachen fast immer einseitig. David lacht kein einziges Mal, obwohl es dazu Gelegenheit gäbe. So zum Beispiel in Gespräch 107, wo er auf die Bitte der Kundin, ihrem Berater, Herrn Brandenberger, einen Gruss auszurichten, mit einer Ausflucht reagiert: “ja: wänn ich yn emal am telefon han; säg ich (ym <?page no="262"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 262 28 Längere Gesprächsausschnitte werden in diesem Abschnitt nicht zitiert, da sie im Anhang nachgelesen werden können. Die erste Ziffer in der Klammer bezeichnet die Gesprächsnummer, die Ziffern nach dem Komma die Systemnummern. das)”, anstatt ihr klarzumachen, dass er zweihundert Kilometer von Herrn Brandenberger entfernt im Call Center arbeitet und ihm den Gruss kaum ausrichten kann. Diese Ausrede könnte von einem entschuldigenden Lachen begleitet werden, bei David ist jedoch nicht einmal ein Lächeln in der Stimme zu hören. Susanne lacht ein Mal, und zwar auf Einladung des Kunden, der sich mit seinem Lachen dafür entschuldigt, dass man sich wegen eines durchfahrenden Zugs nicht mehr verstehen kann (141, 11+12) 28 . Ihr lachendes “macht nüüt” bedeutet die Annahme seiner Entschuldigung. Das ist eine der wenigen Gelegenheiten im gesamten Korpus, wo gemeinsam gelacht wird, und zwar aufgrund eines ziemlich aus dem Rahmen fallenden Anlasses, nämlich des vorübergehenden Zusammenbruchs der Kommunikation aufgrund von Lärm. Damit wird die Beobachtung von Adelswärd (1989) bestätigt, dass in institutionellen Gesprächen am Telefon sehr selten gemeinsam gelacht wird. Insgesamt sind sowohl Susanne wie David am Telefon angenehm zu hören und gut zu verstehen. Stimme (Berater) Sandra und Alberto aus der Beratung sprechen beide sehr hoch. Mindestens bei Alberto ist dies nicht die Indifferenzlage, denn im persönlichen Gespräch spricht er tiefer, wenngleich seine Stimme auch dann für einen Mann relativ hoch ist. Beide sprechen bedeutend monotoner als die Agents aus dem Service, selbst bei Fragen und bei sequenzbeendigenden Äusserungen bleiben die Intonationskurven nach oben und unten wenig ausgeprägt. Sandra spricht mit hörbarem Druck auf dem Kehlkopf, ihre Stimme wirkt gepresst, trotzdem versteht man sie gut. Alberto spricht oft etwas atemlos und schnell, er verhaspelt sich des öftern, muss dann seine Sätze von vorne anfangen und ist daher nicht immer gut zu verstehen. Hin und wieder vernuschelt er Äusserungen bis zur gänzlichen Unverständlichkeit. Seine zahlreichen “okay” sind manchmal so hoch angesetzt, dass die Stimme sich fast überschlägt. Beide Berater verfügen nicht über die Telefonstimmen der Agents. Varietät (Berater) Alberto spricht Zürcher Dialekt, wobei sich in seltenen Fällen Grammatikfehler einschleichen. So sagt er regelmässig “en konto” statt “es konto”, aber auch “zum=ene limit” statt “zun=ere limite” (357, 27) ist zu hören. Alberto spricht als zweite Muttersprache Italienisch, sodass “en konto” als Inferenz aus dem italienischen “un conto” zu interpretieren wäre. <?page no="263"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 263 Sandra gibt sich in Bezug auf den Dialekt besonders individualistisch, indem sie permanent zwischen ost- und westmittelländischen Varianten hin- und herpendelt. Das “l” ist bei ihr teilweise vokalisiert, teilweise nicht. So erscheint das Wort “viel” einmal zürcherisch als “vil”, einmal bernerisch als “veu”, “doch” erscheint in Form von “mol” und von “mou” usw. Bei bestimmten Verben wechselt sie zwischen zürcherischem Einfachkonsonanten und bernerischer Geminate, also zwischen “mache” und “machche”. Das überoffene “ä” spricht für eine Herkunft aus dem westlichen Mittelland, der Gebrauch von “Sie” (und nicht “Ihr”) als Höflichkeitsform ist an die Zürcher Umgebung adaptiert. Insgesamt lässt sich Sandra geografisch nicht einordnen, und das ist gerade das Charakteristische, das Individuelle an ihr. Fremdsprachige Kunden kommen im Korpus der Berater nicht vor, daher lässt sich über das Akkommodationsverhalten der beiden nichts sagen. Lachen und Stöhnen (Berater) Gelacht wird in der Beratungsabteilung öfter als im Service, und zwar aufgrund unterschiedlicher Anlässe und mit diversen Funktionen. Sandra wie Alberto reagieren mit einem Lachen, wenn die KundInnen ihnen sagen, sie wüssten bereits, dass die Schwyzer Bank momentan Probleme mit dem Computersystem hat. Dieses Lachen wird von den Beratern selber initiiert, bleibt einseitig, und hat entschuldigende Funktion: Kundin die händ irgendwie de ganz tag de computer duss ghaa hütt; Sandra sind si HÜTT gsy jo=jo <<lachend> hehe> klar (324). Alberto s system isch äbe nöd grad/ grad (0.8) sch: LAU bi eus- Kunde ha=s ghöört/ (ha=s) ghöört (xxxxxxxxx) Alberto <<lachend> AH (dë händ=s sch/ ) scho MIT überchoo (das/ sch/ )> (357). Bei Sandra kommen zwei weitere selber initiierte, allerdings nur kleine Lacher vor, und zwar während einer überlangen monologischen Erklärung in Gespräch 324 (S 17+22). Ich deute dieses Lachen als “modesty” (Adelswärd 1989: 117), als Bescheidenheitslachen, mit dem sie das von ihr als unpassend lange empfundene Dozieren entschuldigt. Im übrigen lacht Sandra nur auf Einladung der Kunden, allerdings nicht immer. In Gespräch 330 trifft sie auf einen Kunden, der vier Mal ein Lachen initiiert, sie steigt aber nur ein Mal in sein Lachen ein, und zwar dort, wo der Kunde eine so offenkundig witzige Bemerkung macht, dass die Weigerung mitzulachen ein Affront gewesen wäre: Sandra das goot no/ (0.8) no guet füfzä zwänzg joor bis si (jo) pensioNIERT wärde, Kunde (ah i hoff) nöd früener, (.) <<lachend> he he he> Sandra (.) wie/ <<lachend> hh ja hh> (330). <?page no="264"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 264 Die anderen drei von diesem Kunden initiierten Lacher bleiben einseitig. In Gespräch 319 steigt sie in das gleichzeitig entschuldigende wie vorwurfsvolle Lachen des Kunden ein, der nicht mehr weiss, mit wem er telefoniert hat und meint, er habe jedes Mal jemand anderen am Telefon, wenn er die Nummer der Schwyzer Bank wähle: Kunde pff: (si i han) <<lachend> jedes mol öpper ANdersch am telefon> wenn i/ Sandra <<lachend> jo=o> Kunde wenn i uf die nummere aalüte (319). Mit ihrem Lachen ratifiziert sie die Entschuldigung des Kunden. Im letzten untersuchten Gespräch (333) geht Sandra nicht auf das Lachen des Kunden ein. Da der Kunde aber während einer troubles-telling Sequenz lacht (er hat sich verspekuliert und muss nun rasch die Aktien der konkursiten Firma abstossen), ist Sandras Nichtlachen in diesem Fall die präferierte Reaktion (Jefferson 1984). Kunde so wien=ich das wäiss gaat das ee nur na <<lachend> abwë: rts he> Sandra m=hm- Kunde jaläider; (333). Das Lachen ist für Sandra eine selten benutzte Gesprächsressource, die sie eher reaktiv, bei deutlichen Einladungen der Kunden, und am ehesten in entschuldigender Funktion einsetzt. Insgesamt ist Sandra, was das Verhalten auf der stimmlichen Ebene betrifft, nicht besonders angenehm zu hören, aber akustisch gut zu verstehen. Alberto lacht insgesamt sechs Mal, ebenfalls meistens in entschuldigender Funktion. Er entschuldigt sich, weil das System nicht funktioniert (357, vgl. oben), weil er bei Optionen keine Tipps geben darf (364, vgl. S. 113), weil er das System nicht übersteuern und daher den Börsenauftrag des Kunden ohne US-Quellensteuerformular nicht aufgeben kann (357). Er lacht aber auch, wenn er gewisse Erklärungen abgibt, und dort wirkt sein Lachen höchst ambivalent. Dass sein Lachen wegen der Depoteröffnung gegenüber dem “Grossvater” als Auslachen interpretiert werden kann, wurde bereits besprochen (vgl. S. 212). Aber auch im folgenden Beispiel scheint er sich über den Kunden lustig zu machen, der besonders schlau sein und den Börsenauftrag trotz fehlendem US-Quellensteuerformular über das Internet in Auftrag geben will: Kunde chan=i das im INternet mache; Alberto <<lachend> näi gaat a nöd (das wird)/ > wird A gsperrt (357). Gemeinsames Lachen kommt in den Gesprächen mit Alberto nicht vor. Er wird von den Kunden nicht dazu eingeladen, und sein eigenes Lachen ist zu ambivalent um einladend zu wirken. <?page no="265"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 265 Alberto ist der einzige der vier Porträtierten, bei dem als paraverbales Phänomen das Stöhnen vorkommt - ein individueller Zug. Beide Male tritt es während einer über 15 Sekunden dauernden Pause auf und zeigt an, dass er angestrengt nach einer Lösung sucht (352, 9+13). Alles in allem ist Alberto wenig angenehm zu hören und auch nicht immer gut zu verstehen. 8.2.2 Stilistische Ebene In diesem Abschnitt werden zuerst die von den Angestellten benutzten stilistischen Varianten der Handlungsmuster Gesprächseröffnung, Identifikation, Börsenauftrag und Gesprächsabschluss besprochen, anschliessend ihr Verhalten bezüglich Höflichkeit und zuletzt ihre syntaktisch-lexikalischen Präferenzen. 8.2.2.1 Stilistische Variation von Handlungsmustern Gesprächseröffnung (Agents) Für die Gesprächseröffnung benützen sowohl David wie Susanne die vorgeschriebene Formel: “SCHWYzer bank min namen=isch AMrein? ” Susanne geht am Schluss mit der Stimme besonders hoch hinauf, was schon bei der ersten Äusserung den Eindruck des dialektalen “Singsang” erweckt. Nach der Begrüssung & Vorstellung der KundInnen bringen die Agents ihre Begrüssung an. David sagt im Teilkorpus zwei Mal “grüezi herr keller” und zwei Mal “guete tag herr keller”. Ein erkennbarer Grund für diese Variation liegt nicht vor; die KundInnen sagen “grüezi” bzw. “grüeziwool”, ein Echo liegt demnach nicht vor. Die Variation bei der Begrüssung dient David wohl der eigenen Abwechslung bei einem Arbeitspensum von über 100 Gesprächen pro Tag. Im fünften Gespräch (107) lässt die Kundin ihm keine Zeit für eine Begrüssung, und er versucht auch nicht, eine solche anzubringen. Susanne begrüsst vier ihrer KundInnen mit “grüezi frau keller”, unabhängig davon, was diese gesagt haben (2x “grüezi”, 1x “grüeziwool”, 1x “guten morgen”). Ein Mal jedoch übernimmt sie den Ausdruck des Kunden und sagt wie er “morge herr kalbermatter” (141). Susanne zieht ihre Begrüssung eisern durch, selbst wenn die KundInnen ihr keine Zeit für einen Gegengruss einräumen. Die Kundin in Gespräch 128 produziert einen unüberhörbaren rush-through, aber Susanne bringt ihre ganze Begrüssung parallel dazu an, ohne abzubrechen: Kundin ja: guten morgen frau amrein; ich hab bei ihnen ein privatkonto,=und wollte fragen Susanne grüezi frau keller? <?page no="266"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 266 Ein Blick in die Gespräche des ganzen Korpus zeigt, dass David bei den 11 von ihm aufgenommenen Gesprächseröffnungen ein Mal keine Begrüssung anbringt und drei Mal eine Begrüssung ohne Namen wählt. Er fragt nie nach, wenn er den Namen des Kunden nicht verstanden hat. Susanne begrüsst von 22 KundInnen deren 18 mit Namen, wobei sie fünf Mal parallel zu den KundInnen weiterspricht bzw. diese unterbricht, um ihre Begrüssung anzubringen. Drei Mal kann auch sie keine Begrüssung unterbringen und nur ein einziges Mal versteht sie den Namen des Kunden nicht und wählt eine Begrüssung ohne Namen. Auch sie fragt in diesem einen Fall nicht nach - im Gegensatz zu Lydia und Klara. Insgesamt legt Susanne bei der Begrüssung ein ziemlich uniformes, stures, wenn auch freundliches Verhalten an den Tag, während David bei seinen Begrüssungen keine fixen Formulierungsroutinen erkennen lässt. Identifikation (Agents) Die verschiedenen Varianten, in welchen die Agents das Handlungsmuster Identifikation durchführen, wurden bereits ausführlich besprochen (vgl. Abschnitt 6.2.3). Ich fasse hier die Verhaltensweisen von David und Susanne nochmals einzeln zusammen. David kündet die Identifikation mit der knappen, stereotypen Formel ‘jetzt zur Identifikation’ an und verbindet diese sogleich mit der ersten Frage nach ‘Angaben zum Konto’: David jetzt ëh (.) zur identifikaTION händ=s mer no es paar AAgabe zum KONto; (125). Er stellt nie mehr als drei Fragen, worunter er jene nach Daueraufträgen bevorzugt. Von seinen Fragen ist höchstens die erste mit einem Modalverb modalisiert, im übrigen stellt er einfache, unmodalisierte Fragen. Von diesem Schema weicht er nur in Gespräch 117 ab, in welchem er zuerst keine einfache Frage, sondern eine Auswahlfrage stellt, modalisiert durch ein Modalverb im Konjunktiv (1), dann die zweite, einfache Frage mit der Partikel “vielleicht” modalisiert (2) und nur die dritte Frage nicht modalisiert (3): David (1) könnten sie mir noch ein paar ANgaben machen zum kontozum beispiel regelmässige ein oder ausgänge- […] (2) u: nd vielleicht haben sie daueraufträge- […] (3) und haben sie noch einen LOHN der auf=s konto kommt- (117). Das Spezielle an diesem Gespräch ist, dass der Kunde bei der Präsentation des Anliegens ein Problem angemeldet hat: “aber das ist/ eh das erscheint NICHT auf die: eh/ auf meine monatliche äh so AUSzug,”. David muss nach dieser Anliegenspräsentation vermuten, dass eine Reklamation auf ihn <?page no="267"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 267 zukommt, und sein vermehrtes Modalisieren der Fragen kann als vorsichtige Reaktion auf diese drohende Reklamation gedeutet werden, als präventive Besänftigung des Kunden sozusagen. Die Auskünfte, welche die KundInnen während der Identifikation liefern, ratifiziert David rund zur Hälfte mit vage gehaltenen “m=hm”. Das entspricht weitgehend seinem sonstigen Rückmeldeverhalten, welches auch vor und nach der Identifikation von Zurückhaltung und fehlenden Ratifikationen geprägt ist (vgl. unten). Das Ende der Identifikation markiert David durch ein leise gesprochenes “okay” oder lediglich durch eine Pause und führt dann abrupt zum Anliegen des Kunden zurück: David (0.6) jawol. (0.6) <<pp> okay.> (jetzt) schau ich einmal am ersten zehnten haben sie gesagt? (117). Insgesamt gestaltet David die Identifikation kurz und unauffällig: Indem er Anfang und Ende nicht herausstreicht, weder umständlich höflich (wie Antonio) noch betont polizeihaft (wie Dionys) auftritt, weder zu viele Fragen (wie Sonja) noch zu wenige (wie Pia) stellt und sein Rückmeldeverhalten nicht ändert, markiert er die Identifikation kaum als gesonderte Gesprächsphase. Das ist bei Susanne anders. Susanne betreibt mehr Aufwand für die Identifikation und ändert ihr Verhalten während dieser Gesprächsphase. Ihr Vorgehen ist vergleichsweise stereotyp. Zuerst fragt sie die Kundin, ob das Konto auf ihren Namen laute (1), bittet dann um das Geburtsdatum (2) und leitet schliesslich mit der Frage nach aktuellen Kontobewegungen ‘zu ihrer Sicherheit’ die eigentliche Identifikation ein (3): Susanne (1) das konto lautet auf IHren namen? […] (2) un: d darf ich noch ihr geBURTSdatum haben bitte? […] (3) (.) und können sie mir noch ein paar aktuelle KONtobewegungen angeben zu ihrer sicherheit. (128). Susanne stellt unterschiedlich viele Fragen, je nachdem, welchen Eindruck sie von der Verlässlichkeit der Antworten der Kundin hat, darunter bevorzugt jene nach Vollmachten. Ihre Fragen folgen der bereits beschriebenen Höflichkeitskurve (vgl. S. 171): Modalverb im Konjunktiv, Modalverb, einfache Frage ohne Modalisierung. Rückmeldungen gibt Susanne während der Identifikation konsequent keine, was in auffälligem Kontrast zu ihrem übrigen, intensiven Rückmeldeverhalten steht (vgl. unten). Die Identifikation wird von ihr deutlich abgeschlossen mit einer tief gesprochenen, positiven Evaluation und manchmal sogar einem Dank an den Kunden. Dann führt sie direkt zum Anliegen des Kunden zurück: <?page no="268"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 268 Susanne (3.6) gut frau keller. ALso. der STAND per HEUte? (128). ja wunderbar danke vilmol; und was chan=ich für si tue herr kalbermatter? (141). Lediglich in Gespräch 148 verkürzt Susanne ihr individuelles Handlungsschema, indem sie nur zwei Fragen stellt und keinen Abschluss hören lässt. Auch diese Modifikation kann - wie bei David - als Reaktion auf die Situation betrachtet werden: Der Kunde hat reklamiert, man habe ihm den Auszug vom falschen Konto geschickt. Angesichts dieser Tatsache kann Susanne ziemlich sicher sein, einen Kunden vor sich zu haben, und sie erspart dem an sich schon vom Service der Bank enttäuschten Kunden eine zweite umständliche Identifikation. Alles in allem zeigt Susanne bei der Identifikation dieselbe Mischung aus Freundlichkeit und Sturheit wie bei der Begrüssung. Sie spult bis auf die genannte Ausnahme ihr immer gleiches Handlungsschema ab, stellt jede Frage höflich, beharrt aber unnachgiebig auf einer Antwort, die sie ebenso entschlossen nicht ratifiziert, und wenn ein Kunde nicht die gewünschten Antworten liefert, dann kann sie ihn über zwei Minuten lang mit neuen Fragen quälen (149, nicht im Teilkorpus). Gesprächsabschluss (Agents) Die Telefonstandards der Schwyzer Bank geben vor, wie das Handlungsmuster Gesprächsabschluss durchzuführen ist. Die Agents sollen Aufträge zusammenfassen, sich für den Anruf bedanken, den KundInnen gute Wünsche mit auf den Weg geben und sie mit Namen verabschieden. Sie sollten mit anderen Worten das Aufgabenschema, das für die Beendigung telefonischer Gespräche konventionellerweise ohnehin gilt, vollständig bearbeiten. Allerdings bewirken weder die Konventionen noch die Telefonstandards, dass David und Susanne das Aufgabenschema immer vollständig bearbeiten würden. Ihre Resümees zum Beispiel fallen ausgesprochen knapp aus: David MOL dann schick ich ihnen das nach hause; (117). Susanne doch! tun=ich yne zuestele (148). Ein inhaltlich vollständiges Resümee findet sich nur ein Mal, und zwar bei Susanne: Susanne RICHtig das tun=ich veraalasse. […] si chömed vo eus d bestëtigung(e) über dass die duuruuftrëg noch em (.) sibenezwänzigschte oktober glöscht sind. (141). Den Auftakt zu den verbleibenden drei Sequenzen geben in der Regel die KundInnen, denn es liegt an ihnen zu signalisieren, dass alle ihre Wünsche befriedigt sind. Typischerweise besteht ihre Äusserung an dieser Stelle aus <?page no="269"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 269 zwei Elementen, einer positiven Evaluation des Geschäfts und einem Dank: “GUET! danke: ”, “mol, danke vilmal,”, “gu: et. ich DANke=n=yne! ”. Darauf reagiert Susanne ganz stereotyp mit einem Gegendank: “danke Yne vilmal” (141). Dann wartet sie ab, was der Kunde sagt. Wünscht dieser ihr einen schönen Tag, erwidert sie “glychfalls” (134). Sagt er nichts, lässt auch sie die guten Wünsche weg. Dann wartet sie erneut den Abschied des Kunden ab, um diesen anschliessend wörtlich zu übernehmen. Ein “Ade” beantwortet sie mit “ade herr kathriner”, ein “wiederhören” mit “widerhööre frau kurz”. Überlappungen sind bei ihr selten, was beim Gesprächsabschluss aussergewöhnlich ist, da dieser meistens mindestens teilweise parallel gesprochen wird. David reagiert anders und uneinheitlich auf die Evaluationen und Dankeschöns der KundInnen. Bei zwei Gesprächen (118 und 125) lässt er auf die erste Evaluation der Kunden jede Reaktion weg, sodass diese nach einer Pause eine zweite Evaluation produzieren, nach welcher David abrupt mit seinem guten Wunsch einsetzt. Abschied und Dank werden in minimaler, beiläufiger Art angehängt. Eines der beiden Beispiele: Kunde aha. Okay; (1.2) guet! David herr keller, e schönen=abig wünsch ich. Kunde Ade David Ade merci (125). Einer anderen Kundin erwidert er den Dank mit einem Gegendank: “ich danke=n=Yne! ”, dafür wünscht er ihr keinen schönen Tag und verabschiedet sich wiederum nur beiläufig mit “ade merci” (107). Dem Kunden mit der Reklamation wünscht er einen schönen Tag, dafür verabschiedet er sich überhaupt nicht, nicht einmal beiläufig (117). Davids Verhalten beim Gesprächsabschluss ist uneinheitlich und erfüllt die internen Vorschriften bei weitem nicht. Einen Spezialfall des Handlungsmusters Gesprächsabschluss stellt das Weiterverbinden dar, da die Kundin dabei zwar vom Agent, aber nicht von der Bank insgesamt getrennt wird. Unter den Agents ist umstritten, ob man sich vor dem Durchstellen verabschieden soll oder nicht. Die einen meinen, man solle sich immer verabschieden, die anderen finden es “doof” sich zu verabschieden, wenn man bei Abwesenheit des Beraters selber zur Kundin zurückkehren muss, von der man sich soeben verabschiedet hat. David gehört zur zweiten Fraktion. Er kündet lediglich an, er werde schauen, ob die gesuchte Person da ist, und bittet um einen Moment Geduld: David ich tu grad luege öb si ume=n=isch, momänt bitte, Kundin danke, David BIRRER händ si gsäit, Kundin ja: , David momänt, (105). <?page no="270"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 270 29 Und, Herr Kurz, was kann ich ihm für ein Stichwort geben, worum ginge es? 30 Gerne, Frau Keller, können Sie mir noch sagen, worum es geht? 31 Kann ich ihm ein Betreff oder ein Stichwort angeben, worum es geht, oder ist er bereits informiert? Susanne gehört zur ersten Fraktion, sie bittet um einen Moment Geduld und verabschiedet sich dann: Susanne okay. chlyne momänt bitte- Kundin merci; Susanne danke: : WIderhööre frau kathriner (134). Unterschiede zeigen die beiden auch im Umgang mit dem sogenannten Selbsterledigungsgrad. Die Agents sind dazu angehalten, möglichst viele Kundenanliegen selbst zu beantworten und die KundInnen nach Möglichkeit nicht weiterzuverbinden. Wenn nun KundInnen ihren persönlichen Berater verlangen, fragen viele Agents zuerst zurück, worum es geht, um herauszufinden, ob sie das Anliegen nicht selber erfüllen und so ihren Selbsterledigungsgrad erhöhen können. Typischerweise fragen die Agents dazu nach dem “Stichwort”. Zur Illustration die Formulierungen der KollegInnen von Susanne und David: Lydia ond herr kurz was chan ich ym für es STICHwort gëë um was gëngtis; (173). 29 Sonja gërn frau keller chönd si mir no säge um was es ga=at? (205). 30 Thomas chan ich ym en beTRÄFF oder es STICHwort aagëë um was es gaat oder isch er scho inforMIERT? (113). 31 David fragt im Teilkorpus weder in Gespräch 105 noch in Gespäch 107 nach dem Stichwort, sondern verbindet die Kundin sofort weiter. Im zweiten Gespräch stellt sich nach der erfolglosen Suche des Beraters heraus, dass die Kundin lediglich Einzahlungsscheine wünscht, ein Anliegen, das sehr wohl zum Aufgabenbereich der Agents gehört und von David selbst erfüllt werden kann. Obwohl der Selbsterledigungsgrad Teil der Leistungsbemessung ist, bemüht sich David nicht aktiv darum, das Anliegen der KundInnen selber zu beantworten. Susanne fragt demgegenüber immer nach dem Stichwort und zwar in der für sie üblichen, mit ‘dürfen’ modalisierten Frageform: Susanne döf ere scho es STICHwort gëë um was es gaat frau kathriner. (134). Beim Thema Weiterverbinden lohnt es sich, zum Vergleich einen Blick auf den Vielredner Thomas zu werfen. Er kündet das Weiterverbinden in einem seiner Gespräche wie folgt an: <?page no="271"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 271 32 T: Jetzt, was ich machen werde, ich gehe schnell auf die zuständige Abteilung zu, - K: Ja. - T: und würde Sie dann dort gleich weiterverbinden. - K: mhm. - T: Darf ich Sie bitten, am Telefon zu bleiben. - K: Ja! - T: Danke, Herr Keller, einen schönen Tag noch. - K: Das wünsche ich Ihnen auch. - T: Danke. - K: Adieu. Thomas jetz was ich mache wird ich gaa schnäll uf die zueständig abteilig zue, Kunde ja Thomas und würd si denn deete grad wyterverbinde. Kunde m=hm, Thomas döf ich si bitte am telefon z blybe, Kunde ja! Thomas danke herr keller en schöne tag no Kunde das wünsch ich yne=n=au; Thomas danke Kunde adie (115). 32 Thomas demonstriert eindrücklich, dass der sprachliche Aufwand, den ein Agent betreiben kann, nach oben praktisch unbegrenzt ist. Seine Beredtheit sprengt zwar den Rahmen des Üblichen und stellt einen Extremwert dar, aber sie ist eine geeignete Kontrastfolie, im Vergleich zu der deutlich wird, wie spröde Susanne und vor allem David sich eigentlich geben. Zwischenbilanz: Die vergleichende Analyse der stilistischen Variation dreier konventioneller Handlungsmuster von zwei Individuen über mehrere Gespräche hinweg erlaubt, ein Bild ihres individuellen Gesprächsstils zu entwerfen. Susanne erscheint in diesem Bild als Person, die ausgeprägte Handlungs- und Formulierungsroutinen aufweist und nur in Ausnahmefällen von ihrem eigenen Schema abweicht. Sie begrüsst alle KundInnen in derselben Manier, sie führt die Identifikation mit teilweise wörtlich wiederkehrenden Formulierungen in der immer gleichen freundlich-sturen Art durch, und sie verfügt auch beim Gesprächsabschluss über Schublädchen mit fixfertigen Formulierungen, die sie je nach Kunde nur noch zu ziehen braucht. David zeigt ein weniger einheitliches Verhalten. Seine Begrüssungen und Abschiedsworte unterscheiden sich von Mal zu Mal, ohne dass die Worte des Kunden eine Erklärung für die gewählte Formulierung abgeben könnten. Sein Stil zeichnet sich vor allem durch Knappheit aus. Im Vergleich zu Susanne und anderen Kollegen fehlt bei ihm so manche Äusserung, seine Fragen sind meist unmodalisiert und kurz, und seine guten Wünsche, seine Abschieds- und Dankesworte sind zum Teil bis hinunter auf das Einzelwort reduziert. Susanne und David zeigen allen GesprächspartnerInnen gegenüber das gleiche Verhalten. Lediglich bei Reklamationen treten nachweisbare Modifikationen in ihrem Verhalten auf. Ich deute diese Modifikationen als Reaktion auf die Situation, auf das Problem als solches, nicht auf die Gesprächspartner, denn in beiden besprochenen Fällen geben die Kunden selber kaum <?page no="272"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 272 33 Unter denen, die keine Ahnung von Börsenaufträgen haben und dies auch zugeben, sind tatsächlich nur Frauen. Die anrufenden Männer bringen mindestens Basiskenntnisse mit und vertuschen die verbleibenden Wissenslücken nach Möglichkeit. Anlass, das Verhalten zu ändern, weder durch Vorwürfe noch besondere Aggressivität. Das Interaktionsprofil der Agents auf der stilistischen Ebene wird in den folgenden Abschnitten um die Aspekte Höflichkeit und syntaktisch-lexikalische Präferenzen ergänzt, doch zuerst folgt die Besprechung der stilistischen Variation der Handlungsmuster der beiden Berater. Börsenauftrag (Berater) Bei Börsenaufträgen sind die BeraterInnen mit sehr unterschiedlich kompetenten und entschlossenen KundInnen konfrontiert. Alberto ist mit vier Börsenaufträgen im Teilkorpus vertreten (die allerdings nicht alle zustande kommen), und alle seine Gesprächspartner wissen ganz genau, was sie wollen, und zeigen, dass sie den Börsenjargon beherrschen. Sandra führt nur einen Börsenauftrag aus, und zwar für einen Kunden, der gehört hat, dass die Firma aufgibt, und nun sehr verunsichert ist, ob und zu welchem Preis er seine Aktien abstossen soll. Die KollegInnen Tibor, Alfonso und Nora, die zum Vergleich herangezogen werden sollen, haben zum Teil ganz unerfahrene Kundinnen am Apparat, denen sie die wichtigen Begriffe erst erklären müssen. 33 Aufgrund der unterschiedlichen Gesprächskonstellationen und der Datenlage kann daher lediglich bei Alberto mit Bestimmtheit gesagt werden, dass bzw. inwieweit sein Verhalten bei allen Börsenaufträgen konstant ist. Das Handlungsmuster Börsenauftrag ist bekannt (vgl. Abschnitt 5.3.2), zu zeigen bleibt, wie die BeraterInnen es individuell konkret umsetzen. Alberto nimmt zuerst von seinen Kunden die Valorennummer bzw. den Namen des gewünschten Titels entgegen, ratifiziert den Kaufwunsch des Kunden, entweder mit ‘jawohl’ oder einer elliptischen Rückfrage, und sucht dann den aktuellen Kurs des Titels heraus. Eines der bislang noch nicht zitierten Beispiele: Kunde ds valorenummer isch 1 1 1 0, (.) 8 7 6 Alberto NOkia hä? Kunde genau; Alberto (1.7) o: kay <<pp> (e momänt)> (4.0) ich säg yne grad de letscht stand? (3.7) Kunde <<zu Drittperson> (xxxxxxxxxxxxxxx)> Alberto (13.0) ((stöhnt)) (6.0) okay. null, (0.8) aso ge/ geschter hät (er) abgschlosse mit null SIBzä, und jetz stoot er null zwölf zu null sächs. (.) eh null sächzä. ZALT isch aber no KÄN äinzige kurs. (0.8) bis jetz. (352). <?page no="273"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 273 34 Möchten Sie bestens machen oder eine Limite eingeben? 35 Wie viel Stück möchten Sie (xxxx)? 36 Frau Keller, möchten Sie den bestens oder limitiert kaufen? 37 Die Limite wollen Sie festlegen oder bestens eingeben? Bei Alfonso finden sich allerdings auch Ellipsen wie bei Alberto: “das wëred sächzg STOCK zor LImite biTTE? ”; “gültig bis? ” (307). [Das wären sechzig Stück zur Limite bitte? Gültig bis? ]. Den Kurs des Titels gibt er auch dann bekannt, wenn der Kunde ihn schon kennt und eigentlich nicht hören will (vgl. Abschnitt 7.3.2). Seine Ausdrucksweise ist dabei betont jargonhaft: “aso gstellt sind=s äis zu zwäi” (364). Die Reaktionen der vier Kunden zeigen jedoch, dass ihm trotz des Jargons alle folgen können. Sandra gibt den Kurs nicht ungefragt bekannt, sondern fragt ihren Kunden zuerst, ob er diesen schon kenne. Seine Angabe ist falsch, daher korrigiert sie ihn, und zwar indem sie zuerst seine umgangssprachliche Ausdrucksweise übernimmt und dann in einer Reformulierung die präzise bankfachliche Kursbezifferung anfügt. Sie nimmt also ein Upgrading vor: Kunde ich würd jetz gern mini itheus verchaufe Sandra m=hm (1.6) müesste si no schnäll de KURS wüsse wie=n=er im momänt ungefäär ISCH oder- (.) händ si=s/ Kunde eh: ja isch (ja glaub) öppe bi ZWÖLF CENT im momänt; Sandra (0.6) bi VIERzä sogar; null komma äis vier null sächs föif. (333). Nach der Entgegennahme des gewünschten Titels und der Bekanntgabe des aktuellen Kurses müssen die BeraterInnen nach den noch ausstehenden Angaben zur Vervollständigung des Auftrags fragen: Stückzahl, Limite, Gültigkeit. Sandra benützt dazu Formulierungen, in denen der Kunde das Subjekt bildet, während Alberto depersonalisierte Formulierungen mit dem Auftrag als Subjekt wählt: Sandra was wänd si für ne limite gää, (333). wie lang wänd si=s gültig bhaute, (333). Alberto wie lang söll er gültig blybe de uuftrag? (357). wie lang söll de uuftrag gültig blybe; (364 und 352). Rückfragen nach Angaben, die die Kunden bereits genannt haben, stellt Alberto elliptisch und damit auch depersonalisiert: “HUNdert? ” (357); “hunderttusig stuck? ” (352). Alberto fällt mit diesen Depersonalisierungen aus dem Rahmen. Die anderen drei BeraterInnen bevorzugen nämlich Sandras Variante mit dem Kunden als Subjekt. Die Beispiele: Tibor möchted si BESCHtens mache oder en LImite ygää. (337). 34 Nora wivil stuck wetted si (xxx) (346). 35 frau keller, möchted si dë BESCHtens oder limitiert chaufe. (346). 36 Alfonso d LImite wänd si FESCHTlegge oder BESCHtens ygëë? (306). 37 <?page no="274"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 274 38 Wollen wir bestens machen. Die Variante mit dem Kunden als Subjekt kann daher als die konventionelle bezeichnet werden, Albertos depersonalisierte Variante als unkonventionell. Vor diesem Hintergrund fällt die Wir-Formulierung, die Alberto im bereits ausführlich besprochenen Börsenauftrag benützt (“was für e limite gäm=mer y? ” (367)), umso mehr auf. Die Wir-Formulierung stellt im Kontrast zur Konvention und zu Albertos eigener stilistischen Routine eine Abweichung dar. Ich habe die Verwendung dieses Pseudo-Wir (und die anschliessende eigenmächtige Festsetzung der Gültigkeit) als Bevormundung des von Alberto falsch eingeschätzten Kunden gedeutet. Diese Deutung wird durch das Verhalten von Tibor in einem seiner Gespräche bestätigt. Er fragt seine Kundin zuerst wie üblich in der Höflichkeitsform: “möchted si BESCHtens mache oder en LImite ygää.” (337). Als diese hilflos lachend meint, sie mache das erst zum zweiten Mal, erklärt er ihr, wie eine Limite funktioniert, um anschliessend in der Wir-Form vorzuschlagen: “wäm=mer BESCHtens mache; ” 38 . Auch er wechselt in dem Moment zum ‘Wir’, wo er den Eindruck hat, eine inkompetente Kundin am Telefon zu haben. Die Formulierungen von Alberto und Tibor weisen demnach eine Variabilität auf, die nicht zufällig ist, sondern in systematischer Weise mit der Partnereinschätzung korreliert. Die BeraterInnen greifen aber nicht nur bei inkompetent wirkenden KundInnen steuernd ein, sondern auch dann, wenn der Kunde sich nicht entscheiden kann. Der Kunde von Sandra kann sich nicht für die geforderte Limite entscheiden, fragt nach, ob ihr Kurs wirklich realtime sei, verlangt von ihr, nochmals nachzuschauen, wie der Kurs jetzt genau stehe, und als sie feststellt, dass die Aktie den ganzen Tag über grossen Schwankungen unterworfen war, sagt er, so viel er wisse, gebe die Firma auf. Nach diesem Intermezzo von einer Minute und sechzehn Sekunden drängt Sandra den Kunden, den Verkauf sogleich zu tätigen: Sandra aso ech würd yne empfäle dass ech=s jetz grad ygebe wil eh/ (jetz isch=s)/ es isch SO vil ghandlet; oder und s: : tut SO fescht variere; (.) dass mer ned no ZYT verlüüre. (333). Doch der Kunde kann sich immer noch nicht zum Verkauf durchringen, sondern fragt, wie das erfahrungsgemäss sei, wenn eine Firma aufgebe, ob die Aktie dann nur noch falle. Sandra bestätigt ihm diese geradezu kindlich naive Frage ganz sachlich, ohne den durchaus erwartbaren lächelnden Unterton. Dann versucht sie ihn mit einem eigenen Vorschlag endlich dazu zu bringen, die Limite zu bestimmen: <?page no="275"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 275 39 Holtgrewe (2001) beschreibt mehrere Fälle problematischer und ineffizienter Kommunikation in Call Centern, die aufgrund zu wenig flexibler Eingabemasken entstehen. Mit diesen Problemen sind die Berater der Schwyzer Bank nicht konfrontiert. Kunde (0.5) ja- (0.9) aber ëbe wie/ eh us der erfaarig/ wie isch es wänn e/ e firma (.) uufgit (.) scho dass es nur na abwërts gaat. Sandra JO das isch ganz klar jo; goot nur no abwärts. Kunde (1.1) ja guet dänn: (.) (gäm=mer) eh: Sandra <<fragend> null komma ÄIS; > Kunde (0.7) JA=ja: (333). Das Beispiel zeigt, dass auch eine geduldige Beraterin wie Sandra irgendwann steuernd eingreift, wenn der Kunde zu keinem Entscheid gelangt. Noch während die BeraterInnen von den Kunden die Angaben bekommen oder nach diesen fragen - Titel, Stückzahl, Limite, Gültigkeit -, geben sie diese in die Computermaske ein. Die Maske ist flexibel programmiert, sodass die Angaben in beliebiger Reihenfolge eingegeben und auch nachträglich geändert werden können. 39 Während der Eingabe entstehen immer wieder kleinere oder längere Pausen. Diese kündet Alberto mit den Worten an, er werde den Auftrag ‘mal’ eingeben. Die Pause selbst füllt er mit Selbstgesprächen, mit der leisen Kommentierung dessen, was er tut: Alberto m=hm, .h (0.5) tun=ich de uuftrag mal ygëë, <<p, für sich> (für) chaufe: valor .hh (0.7) so (4.0) (xxx) tusig (xxx) bi zwäi rappe> <<f> wie lang söll…> (364). Die explizite Ankündigung der Eingabe und die Selbstgespräche während der Pausen sind eine geschickte Strategie, mit der Alberto den Kunden daran hindert, das Wort zu ergreifen, solange er am Tippen ist. Jene BeraterInnen, die die Pausen ungefüllt lassen, riskieren, dass sie von den wartenden KundInnen mit neuen Fragen angegangen werden, bevor sie den Auftrag fertig eingeben und wiederholen konnten, mit der Frage etwa, ob der Auftrag schon gegangen sei oder wie der Börsenindex stehe. Genau das widerfährt Sandra, die sich gegen die Intentionen des Kunden zur Wehr setzen und ihn auf nachher vertrösten muss, weil sie gemäss den Vorschriften den Auftrag zuerst wiederholen muss, bevor sie ihn visieren und abschicken darf: Kunde eh: : ja HÜT emal ja; Sandra m=hm hüt häm=mer de SIbeti; Kunde (3.8) GSEEND si jetz grad/ (.) öb scho grad öppis gaat; Sandra <<all> JO ech cha=s yne grad säge (jetz tun=i=s) schnäll widerHOle: > (333). Auch Alberto kündet vorschriftsgemäss an, er werde den Auftrag wiederholen, und zwar mit jeweils identischer Formulierung und Intonation: <?page no="276"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 276 40 N: Also, Frau Keller, ich kaufe für Sie/ für Sie Syngenta, - K: Ja, - N: 20 Stück, Limite bei 104, und äh der Auftrag ist heute gültig. - K: mhm. 41 Die Berater vermerken in der Kundendatenbank, dass der Auftrag telefonisch gegeben wurde, versehen mit Datum und Uhrzeit und dem Namen des ausführenden Beraters. Damit sichern sie sich gegen spätere Beschwerden ab. Alberto ich tu de uuftrag widerHOle, (364). ich tu de verchauf widerHOle? (357). ich tu de chauf widerHOle? (367). Dann zählt er die Angaben einzeln auf, wobei er jede Nennung mit steigender Intonation und minimaler Pause abschliesst, um dem Kunden die Gelegenheit zur Bestätigung zu geben. Unabhängig davon, ob eine solche Bestätigung erfolgt oder nicht, fährt er im gleichen Rhythmus bis zum Ende fort. Vorgehen, Formulierung und Intonationsverlauf sind in allen vier Fällen praktisch identisch. Zwei Beispiele: Alberto si möchted chaufe motorola, Kunde ja Alberto optione, (.) valor isch hundertäis, (.) drüesächzg (.) drissg, Kunde jawol, Alberto hu/ hunderttusig sch: tuck, Kunde ja Alberto limite zwäi RAPpe, Kunde richtig; Alberto (0.5) gültig bis nüünte zwäite, gemäss telefon vo yne. Kunde jawol! tiptop. (364). Alberto si möchted VERchaufe, (.) nokia optione, valor 111, 0 8, 7 6, (1.5) hunderttusig, zun=ere LImite vo nu=ull FÜFzä, (.) gültig bis erschte zwäite gemäss telefon vo Yne. Kunde das isch richtig. (357). Wie auffällig Albertos Stil an dieser Stelle ist, wird im Vergleich mit seinen KollegInnen deutlich. Die Art und Weise, wie zum Beispiel Nora den Auftrag wiederholt, unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von Albertos Muster: Nora also frau keller ich chaufe für si/ für si syngenta Kundin ja Nora zwänzg stuck, limite bi hundertvier, (.) u: nd ëh de uuftrag isch hüt gültig. Kundin m=hm (346). 40 Sie kündet die Wiederholung des Auftrags lediglich mit “also” an und lässt die Valorennummer sowie den Ausdruck “gemäss telefon vo yne” weg. 41 Das heisst, sie verzichtet auf alle nicht unbedingt erforderlichen Ausdrücke, mit welchen Alberto die formale Richtigkeit des Prozederes herausstreicht, und bleibt nahe an der Laiensprache der Kundin. Besonders aufschlussreich ist <?page no="277"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 277 ihre Formulierung ‘ich kaufe für Sie’, die in schärfstem Kontrast zu Albertos ‘Sie möchten kaufen’ steht. Nora gibt mit ihrer Ausdrucksweise zu erkennen, dass sie das Anliegen der Kundin zu ihrer eigenen Sache gemacht hat und persönlich dafür einsteht. Alberto betont demgegenüber, dass der Kunde für seinen Kauf allein verantwortlich ist und er lediglich das ausführende Organ ist. Sandra kündet die Wiederholung explizit an (vgl. oben) und zählt dann dieselben Angaben auf wie Nora. Allerdings sind ihre Formulierungen ausführlicher, sie macht für fast jede Angabe einen eigenen, ganzen Satz: Sandra mer händ ITHEUS s isch en verchauf vo föiftusig STÜCK, .h d LImite isch bi null komma ÄIS, .h gültig bis am (.) (m: ) SIbete zwöite zwöitusigundäis. Kunde ja Kunde GEnau ja (333). Auffällig ist auch bei ihr der Pronomengebrauch. Sie beginnt mit ‘Wir’ (“mer händ ITHEUS”), um dann den eigentlichen Verkauf vollkommen zu depersonalisieren: “s isch en verchauf”. Damit nimmt sie auf der sprachlichen Oberfläche sowohl sich als auch den Kunden aus der Verantwortung und stellt den Verkauf als quasi von beiden unabhängiges Ereignis dar. Die Relevanz des Geschehens wird damit heruntergestuft. Ein ähnliches Vorgehen findet sich auch beim bereits erwähnten Fondsgeschäft, welches Sandra mit den Worten abschliesst: “dë chöme si nochethäre äifach no en abrächnig über vo beedne fondschäuf. chöme si detailliert über wivil STÜCK as es sind und zu welem kurs.” (330). Mit dem Ausdruck “einfach” stuft sie wiederum die Tragweite des Geschäfts herunter und umgeht detaillierte Auskünfte über allfällige Gebühren und mögliche Kursverluste. Brünner (1994) beschreibt das Herabsetzen der Relevanz (“wir schreiben alles auf”) als Verkäuferstrategie, mit der Kunden vor dem Abspringen im letzten Moment abgehalten werden sollen. Diese Strategie ist bei Sandra deutlich zu erkennen. Selbst bei einer derart normierten Gesprächssequenz wie der Wiederholung des Börsenauftrags zeigen sich demnach eklatante Unterschiede zwischen den Ausführenden, Unterschiede, welche Rückschlüsse auf die Rollenauslegung der BeraterInnen zulassen. Alberto erscheint in dieser Sequenz als ausgesprochen pedantisch, als einer, der die fachliche Korrektheit und Förmlichkeit seines Vorgehens unterstreicht. Er grenzt sich sprachlich von den Kunden ab und gibt ihnen zu verstehen, dass er ihren Börsenauftrag lediglich ausführt, aber nicht zu verantworten hat. Nora solidarisiert sich sprachlich und inhaltlich mit der Kundin, indem sie eine laienhafte Ausdrucksweise und Ich-Formulierungen wählt. Sandra ist von den Formulierungen her die Ausführlichste, gleichzeitig depersonalisiert sie den Verkauf, was als Verkäuferstrategie interpretiert werden kann. In den meisten Fällen ist der Börsenauftrag damit abgeschlossen. Manche KundInnen wünschen allerdings sogleich zu erfahren, ob der Auftrag ausgeführt wurde. Auf dieses Ansinnen reagieren die BeraterInnen wiederum <?page no="278"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 278 unterschiedlich. Alberto setzt alles daran, die Kunden davon abzuhalten, ihn um die Prüfung der Auftragsausführung zu bitten. Er sagte mir im Interview, er hasse die Warterei am Telefon, dann würden die Kunden anfangen zu plaudern und dies und jenes zu fragen, das könne er nicht leiden. Seine Hauptstrategie besteht in der forcierten Herbeiführung des Gesprächsabschlusses (vgl. unten). Allerdings gelingt ihm das nicht immer, dann ist auch er gezwungen, mit den Kunden wartend am Telefon auszuharren und ihren Smalltalk über sich ergehen zu lassen. Dass er in solchen Fällen auf das Plauderangebot überhaupt nicht eingeht und so lange Pausen entstehen lässt, bis der Kunde selber des Wartens überdrüssig ist, wurde im letzten Kapitel bereits gezeigt. Sandra braucht ziemlich lange, um den Börsenauftrag des Kunden weiterzuleiten, es entstehen mehrere unerklärliche Pausen, während derer man sie in den Unterlagen wühlen hört. Kaum kündet sie an, sie werde jetzt die Ausführung des Auftrags prüfen, unterbricht der Kunde sie mit einer neuen Frage: Wie der Nasdaq steht, will er jetzt wissen. Sandra bittet um Geduld (“NUR es momäntli gäle si”), nach einer Pause von 12 Sekunden noch einmal (“nur es momäntli bitte schnäll! ”), dann stellt sie den Kunden auf Halten. Für ihn ist nicht erkennbar, welches seiner zwei Anliegen sie jetzt bearbeitet, ob sie seinen Börsenauftrag prüft oder den Stand des Nasdaq sucht. Nach 21 Sekunden Rücksprache mit einem Kollegen kehrt sie zum Kunden zurück und gibt ihm den Stand des Nasdaq bekannt. Dann prüft sie seinen Auftrag, stellt fest, dass dieser noch nicht ausgeführt wurde und meint, er müsse später nochmals anrufen. Eine weitere Wartezeit bietet sie nicht an. Damit sind beide Zusatzfragen des Kunden beantwortet, wenn auch mit ziemlichem zeitlichem Aufwand. Zu erwähnen ist, dass Alfonso als einziger Berater den KundInnen von sich aus anbietet zu prüfen, ob ihre Aufträge sogleich ausgeführt werden. Alles in allem zeigt Alberto bei Börsenaufträgen ein bis in die einzelnen Formulierungen hinein gleichförmiges, geradezu stereotypes Verhalten, geprägt von Knappheit, Formalität und starker Steuerung des Kunden. Gegenüber Kunden, die er als inkompetent einschätzt, nimmt er ein bevormundendes Verhalten an. Er unterstreicht seinen Expertenstatus und geht gegenüber den Kunden und ihren Geschäften auf Distanz. Sandra gibt sich sehr geduldig und greift erst dann steuernd ein, wenn der Kunde sich nicht entschliessen kann. Ihre Formulierungen sind ausführlicher und weniger formalistisch, sie gibt dem Kunden mehr Zeit, lässt ihrerseits aber auch lange Pausen entstehen. Durch ihre Empfehlungen unterstreicht auch sie ihren Expertenstatus, durch den Wechsel von Sie- und Wir-Formulierungen und Depersonalisierungen schafft sie eine strategische Balance zwischen Solidarisierung mit dem Kunden und Distanzierung von seinem Geschäft. <?page no="279"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 279 Gesprächsabschluss (Berater) Beim Gesprächsabschluss erfüllt Sandra die Vorschriften der Schwyzer Bank (vgl. oben) in vorbildlicher Weise: Sie resümiert den Auftrag, gibt mehrere Beendigungssignale in Form positiver Evaluationen: “okay mou, prima” (333), bedankt sich bei den KundInnen, teilweise mehrfach: “danke vilmol” (330), wünscht ihnen je nach Tageszeit einen schönen Tag oder einen schönen Abend und verabschiedet sie mit “Ade” plus Name. In den meisten Fällen wirken die KundInnen an ihrem dialogisch gestalteten Abschied mit, im Teilkorpus muss sie ihren Abschied nur ein Mal alleine “abspulen” und tut dies auch. Ein Beispiel für ihre ausführlichen Gesprächsabschlüsse: Sandra okay? super! mou dë tun=ech yne das so zuestöue. Kundin okay. Sandra guet! vile dank! (und)/ Kundin (und) wie isch nomol ire name; Sandra tanner; Kundin frau pfanner? Sandra näi T wie theodor, Kundin tanner! okay tanner. Sandra jo genau. mou, merci vil mou? Kundin okay Sandra e schönen=oobe no Kundin danke yne au Sandra ade frau keller; Kunde widerhööre frau tanner. (324). Ganz anders sieht der Gesprächsabschluss bei Alberto aus. Aufträge fasst er zwar auch zusammen: “tun=ich yne nomol so ne US fo/ formalitäte zuestele-“ (357). Wenn sich ein Resümee jedoch erübrigt, wie das bei den Börsenaufträgen der Fall ist (vgl. Abschnitt 8.1.2.1), wartet er oft nicht das Beendigungssignal des Kunden ab, sondern leitet von sich aus mit einem hoch angesetzten “okay” oder “isch guet” den Gesprächsabschluss ein: Alberto gemäss telefon vo Yne. Kunde das isch richtig. Alberto okay. (2.2) isch guet (xxxx) (tag wool) bitte: uf widerhööre herr keller (324). Kunde okay: merci; Albertos Verhalten, als Angerufener den Gesprächsabschluss einzuleiten, verstösst gegen die Konvention, wonach es am Anrufer liegt, mit einem Beendigungssignal den Gesprächsabschluss einzuleiten. Sein Verhalten ist nicht nur gemessen an den Konventionen, sondern auch im Vergleich mit den anderen Angestellten abweichend. Alberto forciert (Kallmeyer/ Schmitt 1996) den Gesprächsabschluss, und er tut es bewusst, um weitere Fragen der Kunden zu verhindern - das bestätigte er mir im Interview. <?page no="280"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 280 42 Diese Einschätzung gilt natürlich nur im Kontext eines Dienstleistungsgesprächs und drängt sich auf durch den Vergleich von Albertos Verhalten mit dem seiner KollegInnen. Abweichend gestaltet er auch die verbleibenden drei Sequenzen Dank, Wunsch und Gruss. Auf den Dank der Kunden reagiert Alberto nur einmal mit einem knappen Gegendank: “danke” (356). In den übrigen vier Gesprächen beantwortet Alberto den Dank der Kunden mit einer Annahme des Dankes: “bitte! ”. Diese Dankesannahme anstelle eines Gegendankes wirkt einigermassen arrogant. Alberto positioniert sich damit im Gegensatz zu seinen KollegInnen nicht als Dienstleister, der dankbar ist für einen Kundenauftrag, sondern als Verwalter eines raren Gutes, der einem Bittsteller einen Wunsch erfüllt hat. 42 Nach der Danksequenz rattert Alberto in einem Zug seinen Wunsch und seinen Gruss herunter, und zwar ohne Rücksicht auf das, was der Kunde sagt, und mit immer denselben Worten: Alberto: bitte! no schööne taag (u)f widerhööre (.) herr (.) (kurz) Kunde ade ade (357). Dass Alberto in dieser Gesprächsphase kaum auf den Kunden hört, zeigt vor allem jenes Gespräch, in welchem er auf das “prima” des Kunden gänzlich unpassend mit “bitte” reagiert und dann parallel zum jetzt erst einsetzenden Dank des Kunden sein Abschiedssprüchlein abspult: Kunde ich tu de am namitag vilicht gschnäll aa lüte .h Alberto KÄS problem. Kunde öb=s ëh scho ggangnge sind. Alberto ja. okay? Kunde PRIma! Alberto bitte herr kathriner no schöne taag (uf) wi derhööre Kunde ich danke=ne beschtens danke ëbefalls widerhööre Alberto widerhööre (364). Vordergründig befolgt Alberto die Vorschriften der Schwyzer Bank bezüglich Gesprächsabschluss. Er macht wo nötig ein Resümee, er ratifiziert den Dank des Kunden, gibt gute Wünsche mit auf den Weg und verabschiedet den Kunden mit Namen. Doch die Art und Weise, wie er die Vorschriften umsetzt, ist geeignet, die gewünschte Wirkung in ihr Gegenteil zu verkehren. Seine zum falschen Zeitpunkt gesetzten, nicht mit dem Kunden synchronisierten und beiläufig abgespulten Höflichkeitsfloskeln wirken zum Teil unhöflicher, als wenn er nichts gesagt hätte. Albertos Gesprächsabschlüsse sind ein typisches Beispiel dafür, wie Gesprächsvorschriften, die lediglich der Form nach, aber nicht ihrem Sinn und Geist gemäss umgesetzt werden, kontraproduktiv sind. Fazit: Wie beim Börsenauftrag zeigt Alberto auch beim Gesprächsabschluss ein ausgesprochen stereotypes und im Vergleich zu den KollegInnen abweichendes Verhalten. Er forciert den Gesprächsabschluss durch verfrühte <?page no="281"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 281 Beendigungssignale, benützt immer wieder dieselben knappen Formulierungen und leiert sein Sprüchlein herunter, ohne sich den Worten und dem Tempo des Kunden anzupassen. Sandra gestaltet ihre Gesprächsabschlüsse von allen vier Angestellten am wortreichsten und variabelsten. Sie lässt kein Resümee aus, wartet die Beendigungssignale der KundInnen ab, produziert gehäuft positive Evaluationen, benützt immer wieder andere Worte des Dankes, passt ihre Wünsche der Tageszeit an, geht flexibel auf die Äusserungen der KundInnen ein - lediglich ihre letzte Äusserung (“ade herr kurz”) wiederholt sie wörtlich. Bei Sandra kann man am ehesten sagen, dass sie die Vorschriften nicht einfach der Form nach erfüllt, sondern sinngemäss umsetzt. Ihre Freundlichkeit wirkt dadurch authentisch. 8.2.2.2 Höflichkeit Bei der Besprechung der individuellen stilistischen Variation ausgewählter Handlungsmuster wurde das Thema Höflichkeit vereinzelt bereits gestreift. So wirken die vielfältig modalisierten Fragen von Susanne während der Identifikation höflicher als die in der Regel unmodalisierten Fragen von David; das Herbeizwingen des Gesprächsabschlusses von Alberto ist markiert unhöflich. Aber Höflichkeit ist ein Phänomen, das nicht an bestimmte Handlungsmuster und nicht an einzelne Äusserungen gebunden ist. Vielmehr ist Höflichkeit ein Interaktionsstil, der sich in allem zeigt, was ein Individuum tut und was es unterlässt. Daher versuche ich im Folgenden, das Höflichsein der vier Angestellten als Teil ihres Interaktionsprofils unabhängig von einzelnen Handlungsmustern zu beschreiben. Die Ausgangslage ist insofern speziell, als die Angestellten ihr Verhalten bezüglich Höflichkeit nicht frei wählen können, sondern dass sie über die in der Gesellschaft allgemein geltenden Konventionen hinaus an die internen Telefonstandards gebunden sind. Diese schreiben verschiedene Verhaltensweisen explizit vor, die sich nach positiver und negativer Höflichkeit unterscheiden lassen. Ich zitiere aus den Telefonstandards der Schwyzer Bank: Positive Höflichkeit Begrüssung Schwyzer Bank, Bereich, Name, Grussformel Gesprächspartner mit Namen begrüssen Freundliche, verbindliche Stimme Gesprächsführung Erwähnung des Kundennamens während des Gesprächs Sympathische Ausstrahlung, Engagement, Begeisterung Nach weiteren Wünschen fragen Weiterleiten Begründung für Kunde <?page no="282"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 282 43 Mit quittieren ist gemeint, dass die Aussagen der KundInnen ratifiziert werden sollen. Wartezeiten Begründung für Kunde Reklamation Ernst nehmen, Verständnis zeigen Sich bedanken Fehlerbehebung/ Lösungsweg aufzeigen Abschluss Aufträge zusammenfassen, verbindliche Termine angeben Danke für Auftrag/ Anruf Grussformel mit Name des Kunden Negative Höflichkeit Gesprächsführung Zuhören, nicht unterbrechen, quittieren 43 Einwände quittieren, emotional abfedern Wartezeiten < 1 Min. oder Rückruf anbieten Reklamation Sachlich, freundlich, Schuldzuweisung vermeiden Es fällt auf, dass die Telefonstandards der Schwyzer Bank deutlich mehr Gewicht auf Formen positiver Höflichkeit legen, während in der Literatur Höflichkeit vor allem mit Formen negativer Höflichkeit in Verbindung gebracht und diskutiert wird. Die Aufstellung macht ferner deutlich, dass die Angestellten auf ein sehr hohes Mass an Höflichkeit verpflichtet werden. Das muss bei der Analyse berücksichtigt werden. Eine freundliche Begrüssung oder ein Dankeschön am Schluss des Gesprächs darf nicht dem Individuum zugeschrieben und als besondere Höflichkeit gewertet werden, sondern ist als reine Pflichterfüllung zu taxieren. Individualität ist vor allem dort gegeben, wo ein Angestellter a) über das vorgeschriebene Mass an Höflichkeit hinaus geht, b) individuelle, von den KollegInnen unterscheidbare Formulierungen verwendet, c) vorgeschriebene Formen der Höflichkeit auslässt. Vor diesem Hintergrund ist das Verhalten der vier Angestellten zu betrachten. Höflichkeit der Agents David und Susanne aus dem Service halten sich weitgehend an die genannten Vorschriften. Bei der Begrüssung stellen Sie sich mit der vorgeschriebenen Formel und ausgesprochen “freundlicher, verbindlicher” Stimme vor. Sie begrüssen die KundInnen mit dem Namen, sofern sie diesen verstanden haben (vgl. oben). Und sie behalten ihren freundlichen Tonfall über alle Gespräche hinweg bei. <?page no="283"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 283 44 Auch damit befolgt er eine Vorschrift, denn es ist den Agents verboten, das Gespräch mit den KundInnen mit der Frage: “Sind si no daa? ” wieder aufzunehmen. Die TeamleaderInnen, die die Telefonstandards definiert haben, erachteten diese Frage als unhöflich, und das, obwohl sie in der ganzen deutschen Schweiz nach Gesprächsunterbrüchen routinemässig verwendet wird. Susanne spricht in vier von fünf Gesprächen die KundInnen mehrfach mit dem Namen an, und sie verabschiedet alle fünf mit Namen. David benützt den Namen der Kunden gelegentlich bei der Frage nach der Kontonummer oder vor dem Weiterverbinden, im übrigen nur nach Gesprächsunterbrüchen, um sicherzustellen, dass der Kunde noch am Apparat ist: “herr keller? ”. 44 Im übrigen wiederholt er den Kundennamen während des Gesprächs nicht, und er verabschiedet auch nur einen von fünf Kunden mit dem Namen; in den Gesprächen 105 und 117 fehlt der Abschied ganz. In diesem Punkt befolgt er die Vorschriften nur ansatzweise. Wartezeiten werden von beiden korrekt angekündigt. David verwendet dafür immer die gleiche Formulierung: “momänt bitte”. Dies hat den Nachteil, dass für die Kundin jeweils nicht zu erkennen ist, ob er (a) bei offener Leitung nach den gewünschten Informationen suchen, (b) die Kundin auf Halten stellen oder (c) die Kundin an eine andere Stelle weiterverbinden wird: David (a) (xxx) luege was ich da finde, (0.8) chlyne momänt bitte? (9.0) frau kurz? (107). (b) kleinen moment bitte ich klär das (.) kurz ab, [HALTEN] herr kurz? (118). (c) ich tu grad luege öb si ume=n=isch, momänt bitte, [WEITER] (105). Wartezeiten, während derer die Agentin bei offener Leitung nach Informationen sucht, entstehen bei Susanne keine. Unterbrüche, während derer die KundInnen auf Halten gestellt werden, kündet Susanne auf die gleiche Weise an wie David: “chlyne momänt bitte”. Unterbrüche sind bei ihr aber klar vom Weiterverbinden zu unterscheiden, weil sie sich vor dem Weiterverbinden bekanntlich verabschiedet (vgl. oben). Insofern ist ihr Verhalten differenzierter und für die KundInnen leichter interpretierbar als jenes von David. Aufträge werden von beiden korrekt zusammengefasst, wenn auch ohne Angabe von Terminen: David MOL isch guet tun=ich yne das bstele. (107). MOL dann schick ich ihnen das nach hause; (117). Susanne si chömed vo eus d bestëtigung(e) über dass die duuruuftreg noch em (.) sibenezwänzigschte oktober glöscht sind. (141). ich tun=yne doch das nomol ZUEstele jetz für strich sächzg strich zwäi. (148). <?page no="284"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 284 45 Das französische “merci” wird in der deutschen Schweiz als beiläufiger empfunden als das deutsche “danke” oder gar “danke vilmal”, welche eher als Ausdruck echter Dankbarkeit gelten. “Merci” wird typischerweise auch nicht mit “vilmal” kombiniert. Die Vorschriften zum Sprecherwechsel werden ebenfalls von beiden Agents eingehalten: Sie hören geduldig zu, unterbrechen praktisch nie und geben in regelmässigen Abständen Rückmeldungen. Eine genauere Analyse des Sprecherwechsels folgt im nächsten Abschnitt. Wenn es um den Dank für den Anruf und die guten Wünsche an die KundInnen geht, nimmt es David nicht so genau. Nur einmal ist ein deutlicher Dank zu hören: “ich danke=n=Yne” (107), ein weiteres Mal ein sehr flüchtiger, nachträglich angehängter Dank: “ade merci” (125). 45 Immerhin drei Mal gibt er den KundInnen gute Wünsche mit auf den Weg, und diese versucht er sogar situationsspezifisch anzupassen: David herr keller, e schönen=abig wünsch ich. (125). schönen/ (.) schönen aufenthalt noch- und schönen tag; (118). schönen tag noch- (117). Susanne bedankt sich bei den KundInnen mit der stereotypen Floskel “danken=Yne”. Gute Wünsche bringt sie von sich aus nicht an, sie antwortet jedoch mit “glychfalls”, wenn ein Kunde ihr einen schönen Tag wünscht. Von beiden werden die Höflichkeitsstandards bei der Verabschiedung demnach weder regelmässig umgesetzt noch gänzlich vernachlässigt. Ein Punkt, bei dem es mit der Umsetzung der Vorschriften ernsthaft hapert, sind die Reklamationen. Bei meiner Arbeit mit den Call Agents musste ich feststellen, dass diese Reklamationen oft gar nicht als solche wahrnehmen, sondern wie eine gewöhnliche Anfrage oder ein (von niemandem verschuldetes) Problem behandeln (Bendel 2001b, 2002b). So erstaunt es denn auch nicht, wenn sie nicht die für Reklamationen verlangten Reaktionen zeigen. David ist in Gespräch 117 mit einem sehr schwierigen Fall konfrontiert. Der leicht gebrochen Deutsch sprechende Kunde geht sehr strategisch vor, es wird erst mit der Zeit erkennbar, dass er wegen einer zu spät vorgenommenen Überweisung und der dadurch verursachten Mahngebühr der Kreditkartenfirma reklamiert. David findet keine Erklärung für die Verspätung, bietet dem Kunden an, ihm einen Kontoauszug zu schicken, damit dieser selber bei der mahnenden Firma die Mahngebühr zurückfordern kann, und kapituliert schliesslich ganz: “ich weiss es nicht” (117, 34). Das Anliegen des Kunden nimmt er zwar ernst, aber er zeigt wenig Verständnis für dessen Situation, findet nur eine mässig befriedigende Ersatzlösung und drückt kein einziges Mal sein Bedauern aus, von einer Entschuldigung ganz zu schweigen. Susanne zeigt sich in der im Teilkorpus enthaltenen Reklamation (Auszug vom falschen Konto, 148) zuvorkommender. Sie drückt zwei Mal ihr <?page no="285"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 285 Bedauern aus für den Fehler, den eine ihrer Kolleginnen begangen hat: “oje: ” (S 8+13), kommt dem Kunden mit einer überdurchschnittlich kurzen Identifikation entgegen (vgl. oben) und stellt zwei Mal sicher, dass sie diesmal das Richtige schickt: “also vom SÄCHZG strich ZWÄI fëëlt yne das.” (S 12) “aso si mäined de ZINSuuswys; oder mit de stü/ für d stüüre; ” (S 14). Es gibt im übrigen Korpus allerdings Reklamationen, bei denen auch sie sich gegen die Ansprüche der KundInnen abschottet, und das ist bei allen untersuchten Agents die vorherrschende Strategie. Im Grossen und Ganzen jedoch halten sich beide Agents an die Vorschriften, sie wirken dadurch erwartungsgemäss freundlich und höflich, aber es ist dieselbe stereotype Höflichkeit, die alle anderen 80 Agents in diesem Call Center auch an den Tag legen. Wie unterschiedlich die beiden wirklich sind, wird erst deutlich, wenn wir vergleichen, was Susanne und David über die Vorschriften hinaus unternehmen, um höflich zu wirken. Dann wird sichtbar, dass David keinen Schritt über das Vorgeschriebene hinaus tut, während Susanne über ein breites Repertoire positiver und negativer Höflichkeitsformen verfügt. Die Formen positiver Höflichkeit, die sie einsetzt, sind das Signalisieren von Dienstbeflissenheit, ein intensives Rückmeldeverhalten und zusätzliche Dankesworte an den Kunden. Die Formen negativer Höflichkeit, die Susanne einsetzt, sind das Modalisieren von Fragen sowie das Unterlassen bzw. Modalisieren von gesichtsbedrohenden Handlungen. Ich beschreibe die fünf genannten Formen von Höflichkeit der Reihe nach. Susannes erste Form positiver Höflichkeit besteht darin, Dienstbeflissenheit zu signalisieren und von sich aus zusätzliche Dienste anzubieten. Ihre Rückmeldungen zu Gesprächsbeginn klingen aufgrund der in sie gelegten Emphase und der steigenden Intonation erwartungsvoll und aufmunternd (a). Wenn KundInnen zögern, fragt Susanne ausdrücklich nach, womit sie helfen könne (b). Und im bereits ausführlich besprochenen Gespräch mit den Bahrainischen Dinar (150) bietet sie von sich aus an, den Kunden in der Geschäftsstelle anzumelden (c). Ebenso macht sie in einem nicht zum Teilkorpus gehörenden Gespräch (135) einen Kunden von sich aus darauf aufmerksam, dass er beim gegenwärtigen Kontostand keinen Vorzugszins mehr geniesst, und schlägt ihm vor, seine beiden Konti zusammenzulegen. Die Beispiele: (a) Kundin wollte fragen ob eh seit august da ZAHlungen eingegangen sind. Susanne jA: : ? (128). (b) Kunde <<p, distanziert> m=hm> Susanne was chan=ich für si tue? (148). (c) Susanne dänn wür ich si aamälde am libelleplatz. Kunde ja! das isch super. (150). <?page no="286"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 286 Bei David sind solche Bemühungen nicht zu erkennen. Seine einzige Form, Dienstbeflissenheit zu signalisieren, besteht darin, ‘rasche’ Bearbeitung zu versprechen: David ich tu grad luege öb si ume=n=isch, (105). kleinen moment bitte ich klär das (.) kurz ab, (118). Ob angesichts der bei gewissen Agents epidemischen Verwendung von ‘schnell’ Davids “grad” und “kurz” wirklich als Dienstbeflissenheit ausgelegt werden darf, ist allerdings zu bezweifeln. Konkreten Mehraufwand betreibt er nämlich nicht. In Gespräch 125 gibt er dem Kunden schlicht bekannt, der gesuchte Betrag sei noch nicht eingetroffen. Die Vormerkungen prüft er nicht (vgl. S. 106). Das wäre ein kleiner Zusatzaufwand, den seine Kollegin Klara in Gespräch 193 sehr wohl auf sich nimmt, und zwar mit Erfolg: Die vom Kunden gesuchten Überweisungen werden bei den Vormerkungen gefunden. Geringen Einsatz zeigt David auch beim Weiterverbinden. Wie oben ausgeführt, fragt er nicht nach dem Anliegen der KundInnen, um dieses allenfalls selber zu erfüllen, sondern stellt sie sogleich zum Berater durch - und das, obwohl damit sein “Selbsterledigungsgrad” sinkt. Eine zweite Form positiver Höflichkeit, die von Susanne gepflegt wird, ist ein intensives Rückmeldeverhalten, mit dem sie Aufmerksamkeit signalisiert und versucht, einen guten Rapport mit den KundInnen herzustellen. Ihre Rückmeldungen nehmen teilweise die Gestalt von Echos an, und sie geht in ihrem interaktiven Bemühen sogar so weit, Kunden auszuhelfen, die nach Worten suchen. Mehr dazu in Abschnitt 8.2.3.1. Als dritte Form positiver Höflichkeit findet Susanne verschiedene Gelegenheiten, den KundInnen zu danken: für ihre Geduld bei Unterbrüchen, für ihre Kooperation bei der Identifikation. In den folgenden Beispielen bedankt sie sich vor dem Weiterverbinden als Antwort auf den von der Kundin geäusserten Dank (a), nach einem Unterbruch für das Warten des Kunden (b) und nach einer reibungslosen Identifikation für die präzisen Angaben des Kunden (c): (a) Susanne chlyne momänt bitte- Kundin merci; Susanne danke: : WIderhööre frau kathriner (134). (b) Susanne Herr KELler? Kunde ja, Susanne danke für=s waarte- (150). (c) Susanne vo WEM chömed die drü drü ine? Kunde zuber elektro ag Susanne ja wunderbar danke vilmol; (141). <?page no="287"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 287 David nutzt demgegenüber keine einzige Gelegenheit, sich bei den KundInnen für irgendetwas zu bedanken. Auch bei den Formen negativer Höflichkeit hebt sich Susanne deutlich von David ab. Ihre Fragen an die KundInnen sind in den allermeisten Fällen modalisiert, und zwar dergestalt, dass die erste Frage einer potenziellen oder tatsächlichen Frageserie mit “darf ich” modalisiert ist, die zweite mit “können Sie” und die dritte gar nicht mehr. Ellipsen kommen bei ihr nicht vor. Beispiele: Susanne döf ere scho es STICHwort gëë um was es GAAT frau kathriner. (134). Susanne (1) un: d darf ich noch ihr geBURTSdatum haben bitte? […] (2) und können sie mir noch ein paar aktuelle KONtobewegungen angeben […] (3) hat noch jemand VOLLmacht bei ihnen auf dem konto. (128). Susanne döf i na frööge isch das en GRÖSsere betrag. (150). David modalisiert nur drei seiner Fragen, zwei Mal mit einer Partikel (“einmal”, “vielleicht”), ein Mal mit können im Konjunktiv (“könnten sie”), und diese Modalisierungen kommen alle in Gespräch 117 vor, in welchem der Kunde eine Reklamation angemeldet hat (vgl. oben). Alle übrigen Fragen von David kommen als unmodalisierte Fragen oder Aussagesatz daher: David händs=mer (d) KONtonummere. (125). sie haben ein KONto bei uns; ist das richtig. (118). Schliesslich ist bei Susanne zu beobachten, dass sie gesichtsbedrohende Handlungen wie Belehrungen oder Absagen unterlässt oder modalisiert. Im Gespräch mit den Bahrainischen Dinar verzichtet sie darauf, den Kunden darüber zu belehren, dass sie selbst direkt über dem Devisenhandel im “Glasturm” arbeitet (vgl. Abschnitt 7.3.1). Die Frage des gleichen Kunden, ob sie die Kontonummer brauche, beantwortet sie nicht mit ‘nein’, sondern mit einer Gegenfrage, das heisst sie vermeidet eine direkte Absage: Kunde müend er daa d KONtonummere haa vo mer- Susanne aso müend si äifach en KURS haa oder- (150). Desgleichen reagiert sie mit Verzögerungen und Modalisierungen auf die häufig gestellte Frage der KundInnen, wo sie überhaupt seien: Kunde (bin ich) filiale winterthur? Susanne N: : ÖD diräkt; sie händ (.) AAgwëëlt und sind in chundedienscht wyterverbonde worde. (141). Fazit: David ist punkto Höflichkeit ein absoluter Minimalist. Er erfüllt nicht einmal alle Vorschriften, ganz zu schweigen davon, dass er einen Schritt darüber hinaus täte. Dass er trotzdem nicht gänzlich unhöflich wirkt, verdankt er dem internen Standard, der selbst bei nicht vollständiger Erfüllung <?page no="288"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 288 46 Solche Rückmeldungen und Evaluationen können in der Terminologie von Brown/ Levinson (1978) den Strategien “Exaggerate” und “Seek Agreement” zugeordnet werden. noch hoch ist, sowie seiner überaus freundlichen Stimme. Susanne hingegen erfüllt nicht nur die Vorschriften regelmässiger, sie bemüht sich darüber hinaus ausdrücklich um einen guten Rapport mit den KundInnen, zeigt Dienstbereitschaft, modalisiert gesichtsbedrohende Handlungen und bedankt sich für gute Kooperation. Höflichkeit der Berater In der Beratungsabteilung nimmt man es mit den Telefonstandards nicht so genau, ihre Einhaltung wird nach meinen Beobachtungen von den Vorgesetzten auch kaum kontrolliert. Sandra spricht die KundInnen nur selten mit dem Namen an, Alberto gar nicht, beide fragen nicht nach weiteren Wünschen, beenden Unterbrüche mit dem an sich verbotenen “sind si no daa? ”, von einer “freundlichen, verbindlichen” Stimme kann mindestens bei Alberto nicht die Rede sein, sogar Unterbrechungen kommen vor (vgl. Abschnitt 8.2.3.1). Lediglich bei der Beendigung halten sich beide an die Vorschrift, die KundInnen mit einem guten Wunsch und mit Namen zu verabschieden (vgl. oben). Das bedeutet nun nicht zwangsläufig, dass Sandra und Alberto unhöflich wären; es gibt andere Formen der Höflichkeit als die vorgeschriebenen. Was allerdings Art und Menge der eingesetzten Höflichkeitsformen angeht, könnten Sandra und Alberto unterschiedlicher nicht sein, wie gleich zu zeigen sein wird. Unter den Formen positiver Höflichkeit finden sich bei Sandra das Bemühen um Rapport mit den KundInnen, das signalisieren von Dienstbeflissenheit sowie das Angebot ausführlicher Erklärungen als eine Form der Ehrerbietung. Bei Alberto kommen diese Formen nicht vor. Bei beiden zeigen sich Verstösse gegen das Höflichkeitsgebot in Form von Vorwürfen an die Adresse der KundInnen. Ich stelle die genannten Formen positiver Höflichkeit mit den Beispielen vor. Sandras Bemühen um Rapport zeigt sich wie bei Susanne in einem intensiven Rückmeldeverhalten und im Aushelfen mit Worten. Wie Susanne benützt sie emphatische, ermunternde “jo: ? ”, hinzu kommen ebenso emphatisch betonte “GE: nau” und sogar Ausdrücke wie “prima” und “super”. 46 Einer Kundin, welche zögert, ihren Vorwurf an die Schwyzer Bank zu Ende zu sprechen, nimmt sie diese Bürde ab: Kundin jetz bin i extra i d stadt ggange, Sandra jo Kundin <<unwillig> und jetz hm: / > Sandra (0.5) het=s doch nid funktioniert. Kundin <<lachend> näi> (324). <?page no="289"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 289 Schliesslich benützt sie geradezu inflationär die Floskel “isch das gu=uet? ”, mit der sie sicherstellt, dass sie mit ihrem Vorgehen den Wünschen der KundInnen entspricht. In alledem bekundet Sandra Engagement und intensives Eingehen auf die KundInnen. Alberto bemüht sich demgegenüber gar nicht um Rapport mit den KundInnen. Seine Rückmeldungen sind spärlicher, einen gemeinsamen Rhythmus mit den KundInnen findet er nicht, vielmehr kommt es bei ihm sowohl zu unerklärlichen Pausen als auch zu Unterbrechungen (vgl. unten). Emphasen sind keine zu hören. Er sichert sich nie ab, ob er das Rechte tut, er handelt im Gegenteil oft ohne Rücksprache mit den Kunden und setzt sich teilweise sogar über deren Wünsche hinweg (vgl. Börsenauftrag in Abschnitt 7.3.2). Auf Smalltalk geht er nicht ein (vgl. ebd.). Sandra ist neben der Herstellung von Rapport auch immer wieder darum bemüht, ihre Dienstbeflissenheit unter Beweis zu stellen. Sie betont, dieser und jener Wunsch des Kunden sei “käs problem”, verspricht, ‘rasch’ zu handeln (1) (2), und ermuntert die Kundin, bei weiteren Fragen nochmals anzurufen (3): Sandra (1) soundso vöu yzaligsschiine bstöue. dë mache mer das grad; (324). (2) ech/ ech mache würklich so schnäll wien=ich chaa (323). (3) susch chöne si aso UNscheniert wider aalüte und mir gänd yne gärn uuskunft (324). Bei Alberto taucht lediglich die Floskel “käs problem” auf, im Übrigen ist er darum bemüht, zusätzlichen Wünschen der Kunden gerade keinen Raum zu geben, was er vor allem durch die forcierte Gesprächsbeendigung erreicht. Auch sein gnädiges “bitte” als Antwort auf den Dank der KundInnen ist nicht gerade ein Beweis hoher Dienstbeflissenheit (vgl. oben). Schliesslich erweist Sandra den KundInnen gegenüber Ehrerbietung, indem sie sich die Zeit nimmt für ausführliche Erklärungen und Begründungen. In Gespräch 330 empfiehlt sie dem Kunden, sein Geld nicht je zur Hälfte in die Fonds A und B zu investieren, wie er es vorgeschlagen hat, sondern in die Fonds B und C. Diesen Gegenvorschlag stützt sie mit einer umfassenden Argumentation, warum Fonds C sich für den Kunden lohnen könnte: der Aktienanteil und damit die Gewinnchancen seien höher, das höhere Risiko werde durch den langen Anlagehorizont wettgemacht, die internen Analysten würden dasselbe empfehlen usw. Die Bank verdient an Fonds C nicht mehr als an Fonds A, insofern steht die Mühe ihrer Argumentation wirklich allein im Dienste des Kunden - sie könnte auch einfach seinen Vorschlag gutheissen und Anteile der Fonds A und B für ihn kaufen. In Gespräch 324 erklärt sie der Kundin über 13 Partitursysteme hinweg, wie der Basisantrag für die Kontoeröffnung, den sie der Kundin schicken wird, aussieht und auszufüllen ist. Sie ist die einzige der aufgenommenen fünf BeraterInnen, die sich diese Mühe macht. Gefragt, warum sie die Erklärung <?page no="290"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 290 unterlassen, sagten mir Tibor und Alberto, die Mehrheit der nach Hause geschickten Basisanträge komme ohnehin gar nicht oder aber unvollständig ausgefüllt zurück und müssten nochmals verschickt werden; da lohnten sich Erklärungen nicht. Ihre Strategie ist resignativ, während Sandra falsch ausgefüllten Basisanträgen mit Erklärungen vorzubeugen versucht und die Kundin sogleich an sich zu binden sucht (‘Sie können wieder anrufen’). Alberto zeigt keine Formen von Ehrerbietung, die das positive Gesicht des Kunden stärken würden. Bei ihm wirken gewisse Erklärungen und Fragen im Gegenteil wie Vorwürfe und damit gesichtsbedrohend: Alberto ich mues ëbe zersch es DEpot bi yne eröffne; si händ no käs (367). händ=s/ hä/ händ=s (en) dem fall GAR nümm. (357). Aber auch bei Sandra kommen zwei Sequenzen vor, in denen sie das Gesicht des Kunden schädigt bzw. nicht wiederherzustellen versucht. Im ersten Fall wirft sie ähnlich wie Alberto dem Kunden vor, keine Kopie des verloren gegangenen Formulars gemacht zu haben: Sandra aso händ si en koPII gmacht vo dëne velecht; bevor si si gschickt händ. Kunde näi Sandra <<pp, all> händ si ned.> (319). Im zweiten Fall geht sie in keiner Art und Weise auf die Konsternation des Kunden ein, der sich verspekuliert hat. Der ausbleibende Trost unterstreicht den Gesichtsverlust des Kunden, anstatt ihn zu beheben: Sandra was wänd si für ne limite gää, Kunde das isch glych wil (.) so wien=ich das wäiss gaat das ee nur na <<lachend> abwë: rts> Sandra m=hm- Kunde jaläider; Sandra (0.7) o: kay jetz isch=s äifach so wem=mer […] (333). Noch häufiger als Formen positiver Höflichkeit kommen bei den BeraterInnen Formen negativer Höflichkeit vor. Unter den Formen negativer Höflichkeit finden sich bei Sandra vor allem Modalisierungen aller Art bei gesichtsbedrohenden Handlungen. Fragen, Erklärungen, Anweisungen und Absagen werden von ihr fast immer umfassend modalisiert. Bei Alberto finden sich vor allem der Ausdruck von Bedauern und das Bemühen um eine rasche Lösung bei Reklamationen. Fragen gelten einigen Forschern als inhärent gesichtsbedrohend, sei es, weil sie als indirekt formulierte Aufforderungen betrachtet werden (Schmelz 1994), sei es, weil sie das Handlungsspektrum des Gefragten einschränken und lokale Asymmetrien etablieren (Linell/ Luckmann 1991). Fragen treten jedoch in ganz verschiedenen Situationen und inhaltlichen Zusammenhängen auf und haben unterschiedlichste Funktionen. Meines Erachtens wird <?page no="291"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 291 47 Die deutsche Sprache gibt die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Funktionen des Fragens durch die drei Ausdrücke “fragen”, “ausfragen” und “abfragen” präzise vor. Es ist daher nicht einzusehen, warum viele Linguisten Fragen aufgrund ihrer syntaktisch gleichen Struktur als eine einheitliche Kategorie von Sprechakten betrachten. Die immer wieder aufgestellte Behauptung, das Handlungsmuster Frage/ Antwort bekäme in der institutionellen Kommunikation eine “andere” Funktion als in “normalen” Gesprächen (so zum Beispiel bei Hoffmann/ Nothdurft 1989) beruht auf nichts anderem als der mangelnden Unterscheidung zwischen fragen, abfragen und ausfragen. Ein Lehrer und eine Richterin fragen eben nicht, sie fragen ab bzw. aus. nicht durch jede Frage eine lokale Asymmetrie erzeugt oder das Handlungsspektrum des Befragten eingeschränkt und damit auch nicht sein Gesicht bedroht. Klärende Rückfragen und Präzisierungsfragen zum Beispiel schränken die Autonomie des Partners nicht ein, sondern sind im Gegenteil Zeichen des Bemühens um Verständigung. Nicht umsonst wurden sie zum Inbegriff nicht-direktiver Gesprächsführung (Allhoff 1987). Fragen nach Fakten, die zur Abwicklung des Geschäftes im Sinne des Kunden gebraucht werden, wirken ebenfalls nicht gesichtsbedrohend. Fragen dieser Art werden denn von den BeraterInnen auch nicht modalisiert, weder von Sandra noch von Alberto. Der Unterschied zwischen den beiden besteht lediglich darin, dass Sandra fast immer syntaktisch vollständige Fragen formuliert, während Alberto manchmal nur Ellipsen produziert, was weniger höflich ist. Die Beispiele: Sandra hend si mir no schnäll de vorname und iri ADrässe; (324). was wänd si für ne limite gää, (333). wie lang wänd si=s gültig bhaute, (333). Alberto wie lang söll er gültig blybe de uuftrag? (357). was für e limite gäm=mer y? (367). NOkia hä? (352). Anders sieht es aus, wenn von den KundInnen persönliche Angaben verlangt werden oder wenn ihr Wissen getestet wird. Derartiges Aus- und Abfragen ist gesichtsbedrohend. 47 Es sind diese Fragen, die präferierterweise modalisiert werden, um ihr gesichtsbedrohendes Potenzial zu mindern. Anders ausgedrückt: Modalisierte Formen des Aus- und Abfragens werden konventionell erwartet und sind unmarkiert, während unmodalisierte Formen des Aus- und Abfragens markiert sind. Im vorliegenden Fall ist es Sandra, welche beim Aus- und Abfragen Modalverben (“müesste”, “chöne”) oder Modalpartikel (“velecht”, “no”) einsetzt, also die unmarkierte Form wählt, während Alberto auch gesichtsbedrohende Fragen nicht modalisiert. Diesbezüglich ist Alberto weniger höflich als Sandra. Die Beispiele: <?page no="292"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 292 48 Brown/ Levinson führen “suggestions, advice” bei den face threatening acts auf (Brown/ Levinson 1978: 71). Sandra müesste si no schnäll de KURS wüsse wien=er im momänt ungefäär ISCH (333). wösse si velecht no mit WEM as si telefoniert händ. (319). chöne si mer no SÄge wele/ wele valor WETted si denn gärn choofe? (319). Alberto US / US formalitäte händ si die eus zrugg gschickt. (357). wüssed si mit wem dass si gsproche händ. (352). Weiter oben habe ich Sandras ausführliche Erklärungen als Ausdruck positiver Höflichkeit aufgeführt. Erklärungen sind in ihrer Wirkung allerdings ambivalent, da sie auch als Belehrung empfunden werden können. 48 Das weiss auch Sandra, daher stuft sie die potenzielle Gesichtsbedrohung ihrer Erklärungen selbst herunter. Im Falle des Basisantrags rechtfertigt sie sich mehrfach für die Länge ihrer Erklärung, zwei Mal von einem entschuldigenden Lachen begleitet: Sandra (1) <<all> das mus i yne vilicht no schnäll erKLÄre,> […] (2) <<lachend> hmhm> das tönt jetz e bitzeli kompliziert, […] (3) nid as si verschre/ verschrecked dass si <<lachend> zwöi mou müend underschrybe.> (324). Im Falle des Fondskaufs leitet sie ihren Gegenvorschlag äusserst zögerlich ein, modalisiert durch viele Verzögerungen und Umformulierungen: Sandra (xxxxxxx) (luege-) aso jetz ehm/ wie söll i sääge; ehm si send jetz öppe SÄCHsevierzgi; gäle si. .h u: nd ehm/ jo das goot no/ (0.8) no guet füfzä zwänzg joor bis sie (jo) pensioNIERT wärde, […] jo ëbe aso/ wie söll i säägedo würd sich/ aso ab ZÄÄ joor würd sich äigentlich ou de fonds c loone. (330). Als der Kunde einwendet, im letzten Jahr habe der Fonds C Verluste eingefahren, belehrt Sandra ihn, auf ein Jahr hinaus könne man bei Fonds mit Aktien nichts sagen. Sorgfältig vermeidet sie eine offensichtliche Belehrung durch Depersonalisierung: Sandra uf ÄIS joor use cha mer=s ned sääge. […] uf äis joor use isch=s äifach schwirig. weu das: het so schwankige dinn (330). Trotzdem empfindet der Kunde die Belehrung offenbar als gesichtsbedrohend, er reagiert nämlich mit einer Verteidigung, so viel verstehe er von der Sache auch: “ABsolut (au) yverstande […] aso so wyt .h isch mis verständnis scho da vo dene ganze angelegenheiten.” (330). <?page no="293"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 293 Noch ausgeprägter als beim Aus- und Abfragen und bei Erklärungen ist die Gesichtsbedrohung bei Anweisungen (Lüger 2001b, Schmelz 1994). Von der Gesprächskonstellation her sind es die KundInnen, die den Angestellten Aufträge und Anweisungen zu deren Ausführung erteilen dürfen, nicht umgekehrt. Erteilen die Angestellten trotzdem Anweisungen, so sind wie beim Ausfragen Formen höflicher Modalisierung konventionellerweise zu erwarten. Sandra erteilt mehrfach Anweisungen, und diese sind bis auf eine Ausnahme modalisiert durch das Modalverb ‘müssen’ im Konjunktiv (“müesste”) sowie durch Partikel (“äifach”, “haut”). Von Alberto ist nur eine Anweisung im Teilkorpus enthalten. Diese erscheint im ersten Anlauf modalisiert, doch dann besinnt sich Alberto anders und benützt den als besonders unhöflich einzustufenden Imperativ: Sandra händ si mer schnäll iri TElefonnummere (323). do müesste si äifach s Obere aachrüzle (324). sie müesste haut sösch spööter no äinisch aalüte; (333). da müesste mer nomol e underschrift haa (324). si müssted/ ëbe aso/ mer müessted=s innerhalb vo zwöi tääg nochhär haa; (319). Alberto müessted si mir nochhär aber nomol aalüte aso/ oder gäbed si mir d telefonnummere (367). Auffällig sind vor allem die beiden letzten Zitate von Sandra. Um der Anweisung jede Schärfe zu nehmen, sagt sie nicht, was der Kunde tun muss (‘Sie müssen etwas schicken’), sondern was die Bank braucht (‘wir müssen etwas von Ihnen haben’). Der Zwang für den Kunden, die verlangte Handlung auszuführen, wird dadurch geschickt getarnt. Geschick im Umgang mit gesichtsbedrohenden Handlungen zeigt Sandra schliesslich auch bei Absagen (zum Nein Sagen vgl. Fetzer 1998). Dem Kunden eine Absage erteilen zu müssen, ist doppelt gesichtsbedrohend, nämlich für den Kunden und für die Angestellte bzw. die Bank selber: Der Kunde wird in seinem Ansinnen zurückgewiesen, und die Bank steht als Institution da, die Kundenwünsche nicht zu erfüllen vermag. Die BeraterInnen geraten immer wieder in die Situation, einen Wunsch abweisen zu müssen, zum Beispiel den Wunsch nach einem Börsentipp. Sie dürfen die KundInnen bei Anlagen in Fonds zwar beraten, ihnen aber den Entscheid nicht abnehmen. Bei Aktien- und Optionsgeschäften dürfen sie gar keine Empfehlungen abgeben. Alberto lehnt die Bitte um einen Börsentipp wie bereits geschildert mit einem entschuldigenden Lachen ab: Alberto ja <<lachend> (xxxxxxxx) ( ich cha) eigentlich bi optione (gar) nüüt säge,> (364). <?page no="294"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 294 49 Wie umständlich und vorsichtig Sandras Formulierung ist, wird im Vergleich mit Kollege Alfonso deutlich, der seinem Kunden unmodalisiert, sogar verstärkt durch “natürlich” zu verstehen gibt, dass er den Entscheid selber treffen muss: “da=sch natürlich INE überloo wie spekulativ si SEND! ” (312). (Das ist natürlich Ihnen überlassen, wie spekulativ Sie sind! ). Sandra erklärt dem Kunden mit dem Fondsgeschäft umständlich, sie möchte, dass er den Kaufentscheid selber fälle: Sandra grundsätzlich wett ech äigentlich scho dass SI: säged wie Ires gfüüu isch dass si (.) ou dezue chöne stoo was si do mache oder ned as si nochäne dänke ou ech hätt ou gschyder-/ (330). 49 Beide vermeiden es, dem Kunden zu sagen, dass sie keine Tipps abgeben dürfen und nehmen die ausbleibende Empfehlung als quasi persönlichen Mangel auf sich. Allerdings hört Sandras Kunde die abschlägige Botschaft wohl: Er reagiert mit einem laut lachenden “HÄHÄ! das isch natürlich die sache bi dem ganze das isch klar! ” und macht dadurch deutlich, dass er die Verweigerung einer klaren Kaufempfehlung nicht goutiert. Der Kunde von Alberto reagiert auf seine Weigerung, einen Tipp abzugeben, gnädiger: “ja=a ëbe (he).” Vorsichtig tastet sich Sandra auch an die Beantwortung der Frage heran, ob man bei einem Privatkonto eine Überzugslimite bekomme. Sie sagt weder ja noch nein, sondern beginnt umständlich, die Bedingungen zu erklären: “denne wär=s eso es git ëbe ganz spezielli bestimmige wo mir denn äifach müesste haa […]”. Erst als die Kundin selber meint, das gehe vermutlich erst nach einer bestimmten Zeit, stimmt sie erleichtert zu: “Ëbe genau. das cha me aso dë ne grad vo aafang aa” (324). Die Behauptung eines Kunden, man habe ihm gesagt, er könne den Börsenauftrag trotz fehlendem US-Quellensteuerformular bei ihr aufgeben, weist sie ebenfalls nur stark modalisiert zurück: Sandra nje: das isch ëbe NED ganz richtig. (323). Alberto scheut sich demgegenüber nicht, dem Kunden gerade heraus zu sagen, dass er den Börsenauftrag ohne Formular nicht eingeben kann. Er versucht zwar, ganz im Sinne des Kunden, das System zu übersteuern, aber das gelingt ihm nicht. Sein zweifaches “gaat nöd! ” verstärkt die Absage eher als sie abzumildern: Alberto j: : a (mir sötted=s) (mir chönd dëm fall nöd) SCHAFfe; (0.7) s gaat nöd! ooni die US formalitäte chan=ich (yne) (xxxx) KÄN börsenuuftragmer/ si nämed=s nöd aa; […] die wo das formu/ eh dë: / die US formalitäte eus nöd zrugg/ returniered chönd kän börsenuuftrag mache in amerika. gaat nöd! Kunde OU. (chan) chan=i das im INternet mache; Alberto <<lachend> näi gaat a nöd (das wird)/ > wird A gsperrt (357). Die letzte höflichkeitsrelevante und heikle Situation ist die Reklamation, bei der vor allem das Gesicht der Angestellten bzw. der Bank auf dem Spiel <?page no="295"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 295 steht. Die Angestellten sind dazu angehalten, Reklamationen ernst zu nehmen, eine Lösung anzubieten und sich beim Kunden zu bedanken (vgl. oben). Sandra und Alberto bedanken sich nicht gerade für Reklamationen, aber in der Regel nehmen sie das Anliegen ernst, drücken ihr Bedauern über den geschehenen Fehler aus und suchen nach einer Alternative für den Kunden. Beide versuchen zum Beispiel, das System zu ‘übersteuern’, um den Börsenauftrag des Kunden trotz fehlendem US-Quellensteuerformular auszuführen. Das gelingt nicht. Beide sagen, das tue ihnen leid, Sandra fügt zuversichtlich hinzu, nach dem Einsenden sei es kein Problem mehr: Alberto (mm: : ) mer chan=en NÖD überstüüre, (6.4) NÄI cha me läider nöd überstüüre. (2.2) ha läider kä chance über (xxxxxxxxxxxxxx) (stüüre) <<lachend> hehe s tuet mer würklich läid> (0.6) ja? (357). Sandra ech MUES es schnäll nöime mälde dass si mer das laade sösch chan ech läider ou gar nüüt mache. aber wenn si=s zroggschicke esch=s KÄS problem nochhär; (323). Alberto ist mit einem Kunden konfrontiert, der reklamiert, sein Börsenauftrag von 10 Uhr sei nicht ausgeführt worden. Er durchsucht des Längern die Kundendaten, fragt den Kunden, mit wem er telefoniert habe, stöhnt und drückt zwei Mal sein Bedauern aus: Alberto und hütt han=i läider nüüt, […] wüssed si mit wem dass si gsproche händ. […] (0.5) .hh ja eh ((stöhnt)) (13.0) chäuf (1.5) läider han=ich vo hütt (.) KÄN einzige verCHAUF (352). Der Kunde gibt sich damit zufrieden und bittet Alberto, den Verkauf jetzt nachzuholen, was dieser auch tut. Gemessen an Albertos übrigem Verhalten erweist er sich bei Reklamationen als überraschend zuvorkommend. Sandra reagiert auf die Klage der Kundin, sie sei extra zur Bank gelaufen, um ein Konto zu eröffnen, und habe nichts bekommen, weil der Computer ausgestiegen sei, mit einem verständnisvollen “oje: ” und bietet der Kundin sofort an, den Antrag nach Hause zu schicken, damit sie nicht noch einmal vorbeikommen müsse (324). Zwei Mal ist sie mit Kunden konfrontiert, die klagen, man habe ihnen das Formular für die US-Quellensteuer nicht zugestellt. Beim ersten reagiert sie völlig unbeteiligt, beim zweiten mit einem stereotypen “oje: ”. Beide Male entschuldigt sie sich nicht: Kunde äigentlich hëtted=s mir=s scho vor drüü wuche söle schicke und denn händ=s es vergässe; = Sandra =<<beiläufig> händ=s es vergässe; > (323). Kunde (xxxxx) het er mer gsait er SCHICK=s mer nomol ZUE sëb het A nöd klappet, Sandra ne: d! Kunde han=i nöd überchoo, Sandra AH! oje: ; (jetz)/ (319). <?page no="296"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 296 Insgesamt zeigt Sandra eine deutliche Abschottungshaltung gegenüber Kunden, die negative Gefühle zeigen oder Vorwürfe erheben. Die Verwendung der Interjektion “oje” kann als Strategie betrachtet werden, mit der dem Kunden auf minimale Weise Bedauern gezeigt, gleichzeitig jedoch jedes Schuldeingeständnis vermieden und damit das eigene Gesicht geschont wird. Fazit: In der Beratungsabteilung werden teilweise andere Formen der Höflichkeit gepflegt als im Service. Die Telefonstandards spielen eine weniger grosse Rolle, und die Formen negativer Höflichkeit sind prominenter als jene positiver Höflichkeit. Sandra bemüht sich wie Susanne darum, Rapport mit den KundInnen herzustellen und sich dienstbeflissen zu zeigen. Als einzige der BeraterInnen bietet sie den KundInnen von sich aus längere Erklärungen und Begründungen an. Gesichtsbedrohende Handlungen wie Ausfragen, Erklärungen, Anweisungen und Absagen modalisiert sie in vielfältiger Weise mit Modalverben, Modalpartikeln, Reformulierungen und Verzögerungen. Allerdings ist bei Sandra manchmal auch ein vorwurfsvoller Unterton zu vernehmen, und gegen die Äusserung von negativen Gefühlen und Klagen der KundInnen schottet sie sich tendenziell ab. Alberto schneidet punkto Höflichkeit schlecht ab, vor allem im Vergleich mit Sandra. Formen positiver Höflichkeit, die über die Telefonstandards hinausgehen, sind bei ihm nicht vorhanden. Viele gesichtsbedrohende Handlungen werden von ihm unmodalisiert und damit markiert unhöflich durchgeführt. Einzig bei Reklamationen bemüht er sich aktiv um eine Lösung und drückt sein Bedauern aus. 8.2.2.3 Syntaktisch-lexikalische Präferenzen In diesem Abschnitt beschreibe ich die Formulierungsvorlieben der vier Angestellten und die damit verbundene stilistische Wirkung bezüglich Redegewandtheit und Selbstdarstellung. Die Stilmerkmale dieser Kategorie des Interaktionsprofils wurden quantitativ ausgewertet. In Tabelle 14 sind sämtliche im Teilkorpus vorkommenden Stilmerkmale von Susanne und David zusammengestellt. <?page no="297"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 297 Tab. 14: Syntaktisch-lexikalische Präferenzen von Susanne und David Susanne David Gesprächsnummer Gesprächsdauer 134 30’‘ 128 1’22’‘ 141 1’50’‘ 150 2’15’‘ 148 1’35’‘ 105 20’‘ 125 1’23’‘ 107 1’52’‘ 118 1’35’‘ 117 2’50’‘ Nebensätze 1 1 1 4 1 1 - 2 - 7 Ellipsen - - - - 1 - 2 - - - Selbstreparaturen - 1 - - 1 - - 1 4 5 Gefüllte Pausen - - - 2 1 - 1 3 2 6 Füllwörter - - - 5 2 - - - - 1 Depersonalisierung - - - - - - 1 1 3 - Up-/ Downgrading - - 1 - 1 - - - - - Floskeln - - - - - - - - - - Die Tabelle sieht ziemlich leer aus, und das ist kennzeichnend für den Gesprächsstil der beiden Agents. Susanne formuliert ihre Äusserungen nämlich aussergewöhnlich sorgfältig: In drei von fünf Gesprächen gibt es keine einzige Selbstreparatur, in den anderen zwei Gesprächen nur je einen kleinen Versprecher wie “das war/ waren zwanzig franken” (128). In drei Gesprächen kommt sie ohne ein einziges “äh” (gefüllte Pause) oder Füllwort aus. Die “äh” und die Füllwörter (sechs von sieben Mal “aso”) in den letzten beiden Gesprächen kommen nur zu Turnbeginn vor, quasi als Gliederungssignale, die Äusserungen selbst unterbricht sie nie mit einem “äh” oder überflüssigen Wörtern. Es gibt bei Susanne keinen nicht zu Ende gesprochenen Satz und nur eine einzige Ellipse. Susanne hat absolut betrachtet, aber auch im Vergleich mit einigen ihrer KollegInnen, ihr Sprechen maximal unter Kontrolle. Dabei sind ihre Äusserungen keineswegs immer syntaktisch simpel. In allen fünf Gesprächen benützt sie mindestens einen Nebensatz, vornehmlich Relativsätze (3x) und dass-Sätze (3x), sie benützt mehrfach den Konjunktiv, und einmal versucht sie sich sogar mit einer über mehrere Teilsätze gespannten einerseits/ andererseits-Konstruktion, die sie dann allerdings nicht ganz korrekt zu Ende führt. Zwei Beispiele für Susannes komplexe Syntax: Susanne da sind EInerseits am NEUNundzwanzigsten september die: ABschlussbuchungen vorgenommen worden, .h das war/ waren zwanzig franken dreissig, welche belastet wurden, (0.7) un: d jetzt am ELFten oktober sind dreitausend franken REINgekommen von herrn tobias kel: : ler. (128). also eh mir isch jetz grad gsäit worde es gëbi SEER VIL FÄLschige vo de baarain dinar, und mir würed=s äifach NUR zum inkasso entgägenëë (150). <?page no="298"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 298 Auf Depersonalisierungen verzichtet Susanne, sie spricht grundsätzlich in der Ich- oder Wir-Form von sich und der Bank und in der Sie-Form vom bzw. zum Kunden. Das verleiht ihren Äusserungen eine hohe Verbindlichkeit. Floskeln gibt es in ihrer kontrollierten Sprechweise keine. Dafür nimmt sie sprachlich (mittels code-switching) oder prosodisch deutlich markierte Upgradings vor, mit welchen sie die Korrektheit des Vorgehens und ihr eigenes Expertentum unterstreicht: Kunde dë sött me jetz no äimal zale dänn für de novämber, und dänn striiche. Susanne also letzte ausführung ändi oktober für de novämber- .hh und nachethëre lösche; (141). Susanne ist nicht an irgendwelchen stilistischen Marotten erkennbar, sondern an deren Fehlen sowie an einer überdurchschnittlich gepflegten Formulierungsweise. Auch David formuliert seine Äusserungen sorgfältig. Bis auf zwei Ellipsen sind alle seine Sätze vollständig. Allerdings verschleift er mehrfach die Ausdrücke ‘können Sie’ und ‘haben Sie’ zu “chönd=s” und “händ=s”, was etwas kurz angebunden wirkt. Füllwörter und Floskeln kommen bei ihm überhaupt nicht vor. Mit “äh” gefüllte Pausen und Selbstreparaturen kommen in geringer Zahl vor, sie konzentrieren sich jedoch auf vier heikle Gesprächsmomente, in denen David nach Worten ringt, weil er die Antwort nicht weiss (1), eine gesichtsbedrohende Äusserung macht (2) oder aufpassen muss, dass er das Bankgeheimnis nicht verletzt (3). Die drei Auszüge: David (1) ja scho/ vielleicht schon eingeschrieben sonst eh/ ja: es ist vielleicht sicherer ja (118). (2) kann es sein dass eh (2.7) dass das konto vielleicht zu dieser zeit eh zu stark im minus; / dass man warten musste bis/ bis der kontostand wieder (0.7) (gedeckt) war. (117). (3) äh es häisst amigs eh wänn/ wänn=s es erbe konto/ häisst=s erben des. urs dëm fall urs kurz. (107). Nebensätze kommen bei David vor, mehrheitlich sind es dass-Sätze (3x) und wenn-Sätze (3x). Allerdings konzentrieren diese sich auf das letzte, schwierige Gespräch, in welchem David angesichts der Reklamation des Kunden versucht, das Problem zu klären und einen Lösungsvorschlag zu unterbreiten. Dem komplexen Inhalt der Botschaft versucht er mit einer komplexen Syntax zu gerecht zu werden, aber dieser ist er nicht gewachsen. Er verstrickt sich in den Relativ-, dass- und wenn-Sätzen, die Selbstreparaturen und “äh” häufen sich, sogar ein Deutschfehler schleicht sich ein. Ein Ausschnitt: <?page no="299"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 299 David was ich/ was ich jetzt sehe (.) das ist einfach dass eh (0.8) die valuta. (0.9) die valuta: ist eh zehnter zehnter, (1.3) das seh ich vor mir auf dem bildschirm […] ich kann ihnen sonst/ wenn sie wollen kann ich ihnen ein beleg (0.6) nach hause schicken wenn ihnen das etwas nützt, (117). Ich schliesse daraus, dass David im Prinzip korrekt, fliessend und schnörkellos spricht, in heiklen Momenten jedoch seine Formulierungssicherheit verliert. An die Gewandtheit von Susanne kommt er nicht heran. Konstant ist demgegenüber sein Hang zur Depersonalisierung. Er fragt seinen Kunden: “es goot um de KONtostand” (125) und nicht “sie möchted de kontostandwüsse frau keller” (202) wie seine Kollegin Sonja. Besonders auffällig ist eine Reformulierung, mit der er eine ursprüngliche Ich-Aussage depersonalisiert: “ich glaube das genügt das sollte genügen ja; ” (118). Auch verzichtet er auf Upgradings und damit auf eine Selbststilisierung als Experte. Eine ungenaue Formulierung des Kunden lässt er unkorrigiert stehen: Kunde das ist das datum von der ehm eh wie sagt man/ das/ das formular, David ja, (117). David schafft damit im Gegensatz zu Susanne eher ein Klima der Unverbindlichkeit. Wie bei den Mustervariationen und bei der Höflichkeit ist auch bei den syntaktisch-lexikalischen Präferenzen bei David letztlich einfacher aufzuzählen, was er nicht tut, als was er tut. Sein Stil zeichnet sich auf allen Ebenen durch Knappheit aus. Ganz anders sind die Verhältnisse bei den Beratern Sandra und Alberto, wie Tabelle 15 zeigt. <?page no="300"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 300 Tab. 15: Syntaktisch-lexikalische Präferenzen von Sandra und Alberto Sandra Alberto Gesprächsnummer Gesprächsdauer 324 3’47’‘ 330 4’27’‘ 323 1’34’‘ 333 4’24’‘ 319 4’45’‘ 356 49’‘ 357 3’44’‘ 364 2’06’‘ 352 2’50’‘ 367 5’09’‘ Nebensätze diverse weil+V2 10 10 - 21 16 5 9 7 2 7 6 1 12 9 3 - - - 5 2 3 1 1 - 2 2 - 8 6 2 Ellipsen 3 3 1 5 1 3 5 - 1 4 Selbstreparaturen 9 20 6 6 16 - 21 - 2 9 Vage Referenz 2 3 2 4 3 - 3 - - 2 Gefüllte Pausen 4 6 3 4 7 4 6 1 2 6 Füllwörter aso/ jetz(e) diverse oder / gäle si / he 25 11 12 2 26 11 21 3 11 2 8 1 17 5 8 4 26 9 12 5 2 2 - - 8 3 3 2 2 2 - - 4 2 1 1 12 5 5 2 Depersonalisierung 5 6 1 2 - - 2 - - - Up-/ Downgrading 3 2 - 2 - - - - 1 - Floskeln 1 6 1 4 1 - - 1 - 1 Auf einen Blick wird ersichtlich, dass Sandras Stil wortreich und komplex ist: Sie benützt mehr Nebensätze als alle drei anderen Angestellten zusammen und spickt ihre Äusserungen mit Füllwörtern und Floskeln, sie füllt die Pausen und korrigiert sich ständig selbst. Man könnte nun einwenden, bei Sandra liessen sich rein zahlenmässig mehr syntaktisch-lexikalische Stilmerkmale nachweisen als bei den anderen, weil ihre Gespräche länger sind. Ich würde eher den umgekehrten Zusammenhang postulieren, nämlich dass ihre Gespräche länger dauern, weil sie so viel spricht. Die nachfolgende Detailanalyse soll diese Hypothese stützen. Sandra benützt viele Nebensätze, und zwar nicht nur dass-Sätze und Konditionalsätze, sondern auch Temporal-, Relativ-, Final- und abhängige Fragesätze. Typisch für sie sind ferner mit ‘weil’ eingeleitete Sätze mit Verb Zweitstellung (V2). Schliesslich kompliziert sie hin und wieder die eigenen Äusserungen durch eingeschobene Sätze. Beispiele: Sandra und das loont sich denn scho ou (.) LUEgen=as me möglichscht VEU aktie denne het aso so veu wie me ëbe DÖRF jetz vom/ vo/ vom reglemänt uus, weu (.) mit AKtie mache si ab zää joor äifach di bescht rendite. das het sich ou i de letschte zyt ZÄIGT uf äis joor use-/ uf äis joor use isch=s äifach schwirig. weu das: het so schwankige dinn, aber ab zää jor das sägen=ou eusi analyschte (.) loont sich das aso würkli. (330). <?page no="301"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 301 50 Der Ausdruck “Moment bitte” ist ein Phraseologismus, bei welchem das Weglassen des “bitte” als Verstoss gegen die Konvention gewertet werden muss. 51 In dieser Äusserung sind nicht nur die Worte “das” und “isch” zu “da=sch” verkürzt, sondern auch der Artikel “d” (die) vor “depotnummer” getilgt. Sandra ES goot um eri (.) US quellestüür; gäle si (aso um) das formu/ formular wo si eus zrogg gschickt händ. […] aso händ si en koPII gmacht vo dëne velecht; bevor si si gschickt händ. (319). Die komplexe Syntax von Sandra ist ein Zeichen dafür, dass sie sich um ausführliche Erläuterungen und eine überzeugende Argumentation bemüht. Sie versucht, zeitliche Abläufe explizit zu machen, Begriffe zu erklären und ihre Aussagen durch Begründungen und das Aufzeigen von Zusammenhängen zu untermauern. Alberto stellt demgegenüber häufig lediglich Aussage neben Aussage, ohne die logische Verknüpfung explizit zu machen: Alberto j: : a (mir sötted=s) (mir chönd dëm fall nöd) SCHAFfe; (0.7) s gaat nöd! ooni die US formalitäte chan=ich (yne) (xxxx) KÄN börsenuuftragmer/ si nämed=s nöd aa; si händ/ s hät e sperri drinn. (357). Nebensätze kommen bei Alberto fast nur in Form einfacher Relativsätze vor: Alberto wüssed si mit wem dass si gsproche händ. […] läider han=ich vo hütt (.) KÄN äinzige verCHAUF wo bi yne gmacht worden=isch (352). Umso häufiger sind bei Alberto demgegenüber elliptische Äusserungen. Zu den Ellipsen, die in der Tabelle aufgeführt sind, kommen zusätzlich die zeitweilige Tilgung des Pronomens ich, das Auslassen des Wortes “bitte” bei der Ankündigung einer Wartezeit 50 sowie Wortverschleifungen: Ellipse gaat nöd! (357). isch IMmer no nüüt, (367). Ich-Tilgung ha läider kä chance (357). kein “bitte” momänt (357 zwei Mal, 352, 367). Verschleifung da=sch depotnummere. (367). 51 Diese grammatikalischen und prosodischen Verkürzungen wirken eher ruppig und lassen Alberto als ziemlich kurz angebunden erscheinen. Ellipsen kommen auch bei Sandra vor, doch handelt es sich bei ihr eher um gar nicht zu Ende geführte Äusserungen denn um inhaltlich vollständige, aber elliptische Äusserungen: “döf i schnäll/ ” (333). Ihre Ellipsen sind daher nicht immer leicht zu unterscheiden von dem, was Sandras Stil am meisten prägt: die enorme Zahl von Selbstreparaturen. Mit ihrem Bemühen um eine differenzierte Darstellung und mit ihren Versuchen, komplexe syntaktische Strukturen zu gebrauchen, halten ihre tatsächlichen sprachlichen Fertigkeiten nämlich nicht Schritt. Sie bricht ihre Äusserungen reihenweise ab, <?page no="302"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 302 beginnt von vorne, sucht andere Ausdrücke, wählt andere syntaktische Verbindungen, schiebt zusätzliche Gedanken ein und hat manchmal die grösste Mühe, einen Satz bzw. einen Gedanken zu Ende zu bringen. Symptomatisch ist ihr exzessiver Gebrauch von “aso” (bis zu elf Mal pro Gespräch), mit dem sie viele Reformulierungen einleitet, und geradezu ironisch wirkt es, dass eine von Sandras Floskeln lautet: “wie söll i sääge”. Ihr Sprechen ist ein permanentes Ringen um den rechten Ausdruck. Beispiele: Sandra weu ech mues es äbe OU zersch lo laade, (.) dass si/ dass s das/ do müend si schnäll öppe föif zää minute waarte wenn s/ aso ech tue yne sösch zrugglüüte; (.) wenn das möglich wär weu ech MUES es schnäll nöime mälde dass si mer das laade sösch chan ech läider ou gar nüüt mache. (323). Sandra jo ëbe aso/ wie söll i säägedo würd sich/ aso ab ZÄÄ joor würd sich äigentlech ou de fonds c loone. (330). Für die Gesprächspartner erschwerend kommt hinzu, dass Sandra häufig Demonstrativpronomen (“das”) oder andere Proformen (“das ganze”) verwendet, deren Referenzobjekt ausgesprochen vage ist. Sie bezieht sich mit “das” wahlweise auf irgenwelche Unterlagen, auf den Auftrag des Kunden oder auf ganze Ereignisse und interne Abläufe. Beim folgenden Beispiel braucht die Kundin verständlicherweise eine Weile um zu begreifen, dass Sandra sich mit den Worten “mit dëm” auf die Tatsache bezieht, dass ein eingeschriebener Brief zur Identifikation einer Person genügt, weil man dem Postboten einen Ausweis vorlegen muss: Kundin am schalter müesst me jetz en UUSwiis haa mues i jetz (dä) kopie(re) Sandra näi aso s isch so; ich tu yne das ganze Ygschribe schicke. Kundin ja; Sandra und mit dëm würde si äigentlich nochhär identifiziert. Kundin Aha. Sandra aso das wird de/ Kundin ja genau (wil) bi de poscht mues i jo de uuswiis (zäige). Sandra aso/ GE: nau. (324). Bei Alberto sind die Selbstreparaturen sehr ungleich verteilt. Zwei Gespräche bringt Alberto ohne Stocken durch. Es handelt sich dabei einerseits um ein kurzes Auskunftsgespräch (356), andererseits um jenen Börsenauftrag, bei welchem ihm der Kunde alle Angaben durchdiktiert und er nur noch dessen Anweisungen ausführen muss (364, vgl. Abschnitt 5.3.2). In zwei Gesprächen jedoch gerät Alberto mehrmals regelrecht ins Stottern, wobei er nicht wie Sandra nach alternativen Formulierungen sucht, sondern krampfhaft versucht, die angefangene Version zu Ende zu bringen: <?page no="303"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 303 Alberto aso momänt ich tu mal (d uuf)/ eh han jetz emol dë: / de uuftrag mal/ (.) nomal DUREgëë, (357). TUN=i/ händ=s/ hä/ händ=s (en) dem fall GAR nümm. (357). das/ das isch/ eh: / das isch=s priVATkonto. (367). (0.9) wenn si=s geduld/ (0.7) chly geduld händ, (367). Im zweiten und vierten Beispiel ist am Klappern der Tastatur zu hören, dass Alberto mit Eingaben in den Computer beschäftigt ist, während er spricht, was eine Erklärung für seine Formulierungsschwierigkeiten sein könnte; beim ersten und dritten Beispiel hingegen gibt es keinen äusseren Anlass, sich derart zu verhaspeln. Bei Alberto fallen weitere syntaktische Besonderheiten auf. So benützt er mehrfach eine Art Plusquamperfekt, welches im Schweizer Dialekt eigentlich nicht existiert: “GESCHter han=i gsee händ si en VERchauf gmacht ghaa”; “händ si aaglütet ghaa” (352). Er benützt Links- und Rechtsherausstellungen und anderweitig ungewöhnliche Wortfolgen: Herausstellung links U / US formalitäte händ si die eus zrugg gschickt. (352). Herausstellung rechts wie lang söll er gültig blybe de uuftrag? (352). ungewöhnliche Wortfolge ëbe ich mach jetz yne grad äis uuf. (367). Das sind keine ungewöhnlichen Phänomene für die gesprochene Sprache (Schwitalla 1994: 25), sie fallen aber auf, weil Alberto der einzige ist, bei welchem sie mehrfach auftauchen. Wie bei den bereits erwähnten Grammatikfehlern sind das eventuell Inferenzen seiner (zweiten) Muttersprache Italienisch. Insgesamt wirkt die Sprechweise, was die Syntax betrifft, sowohl bei Sandra als auch bei Alberto bedeutend weniger gepflegt als bei den beiden Agents, und das ist nicht allein dadurch zu erklären, dass sie als Berater anspruchsvollere Aufgaben zu erledigen haben, sondern ist auch Ausdruck mangelnder Sprachgewandtheit und Ausdruckskontrolle. Auch auf der lexikalischen Ebene zeigen sich gravierende Unterschiede. Sowohl Sandra wie Alberto füllen viele Pausen mit “eh” oder “ehm”, Alberto auch lediglich mit “mm”. Vor allem aber übertrifft Sandra all ihre KollegInnen (nicht nur die hier vorgestellten) mit ihrer Verwendung von Füllwörtern. Es gibt praktisch keine Äusserung von ihr, die sie nicht entweder mit einem “aso” einleitet, einem “äifach”, “äigentlich”, “ëbe”, “jo” oder “schnäll” verlängert oder mit einem “oder” oder einem äusserst penetrant intonierten “gäle si” abschliesst. Diese Füllwörter kombiniert sie fast beliebig miteinander, was in Äusserungen wie diesen resultiert: <?page no="304"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 304 Sandra aso ech tue=s yne aber süsch äifach ZUEschicke per poscht (324). jetz tun=i schnäll luege das goot föif minute bis es äigentlich glaaden=isch würkli. (323). Schliesslich zeichnet sich Sandra durch die frequentesten Floskeln aus, darunter mehrfach “isch das gu=uet”, “käs problem”, “nur es momäntli” und das bereits zitierte “wie söll i sääge”. Die vielen Füllwörter und Floskeln geben Sandras Stil ein jugendsprachliches Gepräge, sind aber der Verständlichkeit eher abträglich und wirken letztlich geschwätzig. Bei Alberto sind die Füllwörter seltener. Er benützt nur “aso” häufig, hinzu kommen ein paar “gschnäll” sowie als tag-question das für Zürcher generell typische “oder” und das für Alberto typische, ausgesprochen unhöfliche “he”. Seine einzige Floskel ist “käs problem”, die sich allerdings bei vielen Agents und Beratern findet. Diese Füllwörter und Floskeln unterstreichen die Knappheit von Albertos elliptischen Formulierungen und die Hektik, die er mit seinem Redetempo und den forcierten Gesprächsabschlüssen verbreitet. Es bleibt die Analyse der Depersonalisierungen und der Up-/ Downgradings. Sandra benützt in den ersten beiden Gesprächen viele Depersonalisierungen. Im ersten Gespräch tauchen die Depersonalisierungen genau dort auf, wo sie der Kundin klar machen muss, dass man nicht von Beginn weg eine Überzugslimite auf dem Konto bekommt, im zweiten Gespräch dort, wo sie den Kunden über die richtige Anlagestrategie bezüglich Fonds belehrt: Sandra jo: das cha me dë frooge und dë cha me ou en vertrag mache (.) met de kondizione und met de hööchi vo dem ganze; das cha me aber alls mache; das isch käs problem. (324). ehm es isch so dass si/ (.) dass aber das ëbe/ uf ÄIS joor use cha mer=s ned sääge. […] das isch (xxxx) de vortäil vo de dritte SÜÜle weu das isch würklich für zää zwänzg drissg joor meischtens tuet me das gäld jo aalëgge. und das loont sich denn scho ou (.) LUEgen=as me möglichscht VEU aktie denne het aso so veu wie me ëbe DÖRF jetz vom/ vo/ vom reglemänt uus, weu (.) mit AKtie mache si ab zää joor äifach di bescht rendite (323). Dass Sandra den Verkauf der vermutlich bald wertlosen Aktien depersonalisiert (“s isch en verchauf”, 333), habe ich bereits erwähnt. Depersonalisierungen sind für Sandra demnach eine Strategie, mit der sie das Gesicht der KundInnen schützt, aber auch ihr eigenes, indem sie vermeidet, sich als jene darzustellen, die restriktive Kreditbestimmungen erlässt, die KundInnen belehrt oder Zwangsverkäufe ausführt. Den belehrenden Charakter, den ihre Ausführungen trotz allem haben, versucht sie im Weiteren durch gezielte Downgradings abzumildern, wobei die Wirkung von Downgradings wie gesagt durchaus ambivalent ist. Im folgenden Beispiel erklärt Sandra betont laienhaft, was “wirtschaftlich Berechtigter” bedeutet: <?page no="305"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 305 Sandra s äinte wär (.) Identifikation vom wirtschaftlich berächtigte. <<lachend> hmhm> das tönt jetz e bitzeli kompliziert, GE: NAU. Kundin da bin jo ich m=hm. Sandra do müesste si äifach s Obere aachrüzle wenn das gäld yne würd ghööre wo uf em konto isch, (324). Bei Alberto kommen Depersonalisierungen kaum vor, aber auch bei ihm dienen sie dazu, sowohl sich selber aus der Verantwortung zu ziehen (ich kann nichts dafür, dass der Börsenauftrag nicht ausgeführt werden kann) als auch die Belehrung des Kunden zu mildern. Interessant ist, wie Alberto seine Aussage mehrfach wiederholt und dabei sukzessive depersonalisiert, von “ich” über “sie” zu “es”: Alberto ooni die US formalitäte chan=ich (yne) (xxxx) KÄN börsenuuftragmer/ si nämed=s nöd aa; si händ/ s hät e sperri drinn. (357). Was die Up-/ Downgradings betrifft, so spricht Alberto selber zwar wie gesagt einen ausgeprägten Fachjargon und stilisiert sich damit zum Experten, er verzichtet aber darauf, die Ausdrücke der Kunden zu korrigieren. Der Kunde in Gespräch 356 spricht vom “Lohnkonto”, und Alberto benützt in seiner Antwort denselben Ausdruck, obwohl diese Kontoart bei der Schwyzer Bank “Privatkonto” heisst. Alles in allem wirkt Sandras Gesprächsstil mit den komplexen Sätzen, die oft nicht korrekt zu Ende geführt werden, mit den zahllosen Selbstkorrekturen, vagen Referenzen, Füllwörtern und Floskeln geschwätzig und eher schlecht verständlich. Sie stilisiert sich zur jugendlichen, spontanen Sprecherin, die ihren Expertenstatus herunterspielt, aber sie wirkt dabei wenig redegewandt und hat vor allem wenig Kontrolle über ihre Sprechweise. Alberto spricht abgesehen von einigen Stotter- und Nuschelanfällen kontrollierter und dadurch verständlicher, von Redegewandtheit kann aber auch bei ihm nicht die Rede sein. Seine syntaktischen Strukturen sind eher simpel und nicht frei von Grammatikfehlern, seine Ausdrucksweise ist oft elliptisch, nicht zuletzt tragen die benützten Füllwörter und Floskeln dazu bei, dass Alberto kurz angebunden um nicht zu sagen schnoddrig wirkt. Im vergangenen Abschnitt habe ich die individuelle Variation einiger zentraler Handlungsmuster, die Höflichkeit und die syntaktisch-lexikalischen Präferenzen der vier Angestellten als Teil ihres Interaktionsprofils herausgearbeitet. Sie bilden zusammen den individuellen Gesprächsstil der Angestellten. Die Integration der Ergebnisse erfolgt in der Zusammenfassung gemeinsam mit der stimmlichen und der rhetorischen Ebene. Letztere ist Inhalt des folgenden Abschnitts. <?page no="306"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 306 52 Dieser Wert ist bewusst hoch angesetzt, damit nur die eindeutigen Fälle erfasst werden. An vielen weiteren transition relevance places, an denen die Kunden Atempausen von 0.5- 0.9 Sekunden machen, wären Rückmeldungen möglich, die hier nicht als fehlend verbucht wurden. 8.2.3 Rhetorische Ebene In diesem Abschnitt betrachte ich das sprachliche Verhalten der vier Angestellten auf der rhetorischen Ebene, und zwar im Hinblick auf ihren individuellen Umgang mit der Gesprächssteuerung und mit Positionierungen. 8.2.3.1 Steuerungsverhalten Im ersten Teil dieses Abschnitts bespreche ich das individuelle Steuerungsverhalten der vier Angestellten bezüglich Gesprächsorganisation, das heisst unter dem Aspekt ihres individuellen Umgangs mit dem Sprecherwechsel. Die Formen des Sprecherwechsels lassen sich quantitativ erfassen. Zu diesem Zweck habe ich das Teilkorpus vollständig ausgewertet nach den Kategorien Turnübernahme, Unterbrechungen, Parallelstarts und Rückmeldungen. Dabei stellten sich zwei Zuordnungsprobleme bei der Kategorie der Rückmeldungen. Zum Ersten werden die Rückmeldungen “m=hm” und “ja” sowohl als blosse Hörersignale wie auch als Bestätigungen verwendet. In diesen Funktionen sind sie voneinander kaum zu unterscheiden - aus genau diesem Grund vermeiden wie bereits gesagt viele Agents Hörersignale während der Identifikation, damit ihnen diese nicht als Bestätigungen der Kundenangaben ausgelegt werden. Daher habe ich Hörersignale und Bestätigungen in der unten stehenden Tabelle nicht unterschieden. Besonders heikel ist zum Zweiten die Kategorie “fehlende Rückmeldung”, die sowohl bei der Übernahme wie bei der Nichtübernahme des Turns auftreten kann. Eine Rückmeldung wurde dann als fehlend gewertet, wenn der Kunde eine Pause von mindestens einer Sekunde macht, ohne dass der Angestellte reagiert, 52 oder wenn der Angestellte nach einer Verzögerung den Turn übernimmt, aber die Aussage des Kunden nicht ratifiziert. In Tabelle 16 ist der Umgang mit dem Sprecherwechsel aller vier Porträtierten zusammengestellt. <?page no="307"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 307 53 Ausschliesslich während der Identifikation. Tab. 16: Umgang mit dem Sprecherwechsel der vier Angestellten Angestellte/ r Gesprächszeit total David 8’00’‘ Susanne 7’32’‘ Sandra 18’57’‘ Alberto 14’38’‘ Turns total 80 90 162 111 Turnübernahme glatt mit Pause überlappend 58 20 2 70 13 7 106 19 37 76 29 6 Unterbrechung unterbricht selber wird unterbrochen, bricht ab wird unterbrochen, spricht weiter 4 2 2 1 1 2 6 11 3 5 1 1 Parallelstart bricht ab spricht weiter 2 3 4 4 8 8 1 5 Rückmeldungen Rückmeldung fehlt “ja”, “jawol” “m=hm” “genau” “okay” “mol”, “doch” “prima”, “super” “ëbe” anderes (“aha”, “guet”, “richtig”) Echo, Paraphrase 15 19 5 1 1 3 - 1 1 8 10 53 17 9 1 4 1 - - 3 8 6 44 20 12 11 6 7 5 4 7 13 27 4 4 10 - - 1 1 8 Die Interaktionsprofile von David und Susanne bezüglich Sprecherwechsel sehen auf den ersten Blick sehr ähnlich aus; bei näherem Hinsehen offenbaren sich jedoch bedeutsame Unterschiede. Susanne ergreift bei annähernd gleicher Gesprächszeit deutlich häufiger das Wort (insgesamt 90x), während David die KundInnen öfter einfach reden lässt, ohne Fragen zu stellen oder selber thematische Initiativen zu ergreifen, wodurch er auf eine geringere Zahl eigener Turns kommt (insgesamt 80x). Bei beiden überwiegen die glatten Turnübernahmen. Bei Susanne sind einige Überlappungen zu beobachten (7x). Diese kommen weniger dadurch zustande, dass sie zu früh startet, sondern dadurch, dass sie auch bei KundInnen, die über transition relevance places hinwegsprechen, versucht, Begrüssungen und Bestätigungen anzubringen (vgl. oben). Das versucht David nicht. Bei ihm kommen so gut wie keine Überlappungen vor. David setzt im Gegenteil bei jeder vierten Turnübernahme erst nach einer Pause ein, vor allem dann, wenn er mit einem Problem konfrontiert ist. In Gespräch 117 steht er der Reklamation des Kunden zunehmend ratlos gegenüber, die Pausen häufen sich, daher ist die Summe seiner Turnübernahmen mit Pause höher als die von Susanne (20x versus 13x). Auch Susanne setzt manchmal erst nach einer Pause ein, <?page no="308"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 308 und zwar nicht nur dann, wenn sie sich die Antwort überlegen muss, bei ihr kommen Verzögerungen auch vor einfachen Rückmeldungen wie “m=hm” oder “ja” vor, also ohne erkennbare Motivation. Das lässt sie als sehr bedächtig erscheinen. Susanne unterbricht nur ein einziges Mal einen Kunden. David setzt die Unterbrechung öfters ein (4x), und zwar gegen Ende des Gesprächs, wenn die KundInnen anfangen sich zu wiederholen. Bei Parallelstarts brechen beide zur Hälfte ab, zur Hälfte beharren sie auf ihrem Rederecht. Die grössten Unterschiede weisen die beiden Agents beim Rückmeldeverhalten auf. Susanne lässt während der Identifikation bekanntlich praktisch sämtliche Rückmeldungen ausfallen, während sie im verbleibenden Gespräch keine einzige Äusserung der KundInnen unbestätigt lässt. David hingegen bestätigt rund die Hälfte der Angaben während der Identifikation, wenn auch in bewusst vagem Tonfall, dafür lässt er auch in den anderen Gesprächsphasen reihenweise Rückmeldungen und Ratifikationen aus. Dadurch entstehen Pausen beim Gesprächspartner, Pausen vor der Übernahme des Turns und relativ abrupte Themenwechsel, wie im folgenden Beispiel: Kunde isch nonig ineko; he? David (0.9) (xxxx) i letschter ZYT nöd näi; Kunde ned David nüt inechoo so; i dere grössenornig. Kunde aha. Okay; (1.2) guet! David herr keller, e schönen=abig wünsch ich. (125). Wenn Rückmeldungen gegeben werden, bevorzugen Susanne wie David die Partikel “ja”, wobei Susanne selbige oft enorm betont, in die Länge zieht und intonatorisch stark steigen lässt: “j: A: ? ”. Das macht sie manchmal auch mit “m=HM? ”. Sie gibt sich damit als besonders aufmerksame Zuhörerin zu erkennen. Schliesslich unterscheiden sich die beiden im Gebrauch des Echos. Während David vor allem Zahlen wörtlich wiederholt, was zu dem bekannten Kontonummer-Kanon führt (vgl. S. 105), ratifiziert Susanne Zahlen lediglich mit “ja”, dafür wiederholt sie andere Äusserungen des Kunden wörtlich, zum Beispiel Begrüssungen (“morge”), Bestätigungen (“natürlich”, “käs problem”) oder Abschiedsfloskeln (“danken=Yne”). Sie ist es auch, welche um Worte ringenden Kunden auf die Sprünge hilft, während David schweigend wartet, bis der Kunde den gesuchten Begriff selber gefunden hat. Die Beispiele: Kunde das ist das datum von der ehm eh wie sagt man/ das/ das formular, David ja, (117). Kunde en abschlussrechnig (vo/ für) de stüüre verleggt und han das nomol (.) eh Susanne nomol bste: llt Kunde BSTE: LLT und si hat mir au was gSCHICKT (148). <?page no="309"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 309 Insgesamt tragen beide Agents dazu bei, dass ihre Gespräche in Bezug auf den Sprecherwechsel im Grossen und Ganzen reibungslos über die Bühne gehen. David ist der Zurückhaltendere, der die KundInnen manchmal etwas ins Leere laufen lässt, während Susanne sich demonstrativ als gute Zuhörerin gibt, die bis zur Übernahme der Wortwahl der KundInnen geht. Sie unterbricht nicht, lässt sich aber auch kaum unterbrechen, lässt sich mit ihren Antworten manchmal Zeit und wirkt insgesamt sicher und bedächtig. Bei Sandra und Alberto sind die Differenzen sofort ersichtlich. Gegenüber den Agents dauern ihre Gespräche wesentlich länger, pro Zeiteinheit kommen aber bedeutend weniger Sprecherwechsel vor: David kommt auf 10 Turns/ Minute, Susanne gar auf 12 Turns/ Minute, Sandra jedoch nur auf 8,5 Turns/ Minute und Alberto auf 7,6 Turns/ Minute. Das liegt an den Gesprächsthemen - Beratung und Aufträge -, welche längere Anliegensschilderungen und Erzählungen auf Kundenseite sowie längere Erklärungen und Pausen verursachende Tätigkeiten auf Beraterseite verlangen. Gerade bei Alberto, der mit vier Börsenaufträgen im Teilkorpus vertreten ist, entstehen teilweise ausserordentlich lange Wartezeiten, was die tiefe Zahl seiner Turnübernahmen erklärt. Auffälliger als die Zahl der Turnübernahmen ist jedoch die Art und Weise, wie diese erfolgen. Alberto reagiert in 26% der Fälle erst nach einer Pause auf die Äusserungen der Kunden, Pausen, in denen oft nicht zu erkennen ist, was er tut, warum es zu der Verzögerung kommt. Sandra macht genau das Gegenteil, sie beginnt 22% ihrer Turns, bevor der Kunde zu Ende gesprochen hat. Aus den Arbeiten von Tannen (zum Beispiel Tannen 1999) ist bekannt, dass überlappendes Sprechen kulturspezifisch ist und von den Interagierenden (wie von der Beobachterin) unterschiedlich empfunden wird. Sandra klingt in meinen Ohren nicht wie jemand, der eine forcierte Sprechweise pflegt und dauernd unterbricht, sondern erscheint einfach als rasche, engagierte Sprecherin. Zu ihrem eifrigen Stil gehört ferner, dass sie selber praktisch pausenlos spricht bzw. jede entstehende Pause mit “ähm” füllt (vgl. oben), reihenweise transition relevance places mit einem rush-through übergeht und viele tag-questions produziert. Aufgrund dieser Pausenlosigkeit des Sprechens geraten auch die Rückmeldungen und Turnübernahmen der KundInnen häufig überlappend, sodass in Sandras Gesprächen insgesamt überdurchschnittlich viel parallel gesprochen wird. Die Lückenlosigkeit ihres Geredes dürfte auch dafür verantwortlich sein, dass Sandra von allen vier Angestellten mit Abstand am häufigsten unterbrochen wird, da die KundInnen manchmal gar nicht anders zu Wort kommen. Wenn sie unterbrochen wird, bricht Sandra ihre Äusserung meistens sofort ab. Offenbar erachtet sie gegenseitiges Unterbrechen als “normale” Art des Sprecherwechsels, auch in institutionellen Gesprächen. Alberto wird praktisch nie unterbrochen - er fasst sich meistens viel zu kurz, als dass Anlass dazu bestehen würde -, unterbricht selber aber durchschnittlich ein Mal pro Gespräch. Unterbrechungen dienen ihm vor allem dazu, die Beendi- <?page no="310"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 310 54 Zu Herkunft und Kritik der Maschinen-Metapher vgl. Schmitt (2001: 146) und Bendel (2004). gung des Börsenauftrags gegen anders lautende Fragen der Kunden durchzusetzen oder den Gesprächsabschluss herbeizuzwingen. Im Kontrast zu seinen vielen Turnübernahmen mit Pause fallen seine Unterbrechungen mehr auf und wirken gröber als bei der ohnehin dauernd überlappend sprechenden Sandra. Diese unterbricht vor allem, um zusätzliche Erklärungen anzubringen. Bei Parallelstarts ist Alberto praktisch nie bereit, das Rederecht abzugeben, während Sandra dies in der Hälfte der Fälle tut. Wenn während der Eingabe in den Computer längere Gesprächsunterbrüche entstehen, benützt Alberto eine erfolgreiche Strategie, um sich das Rederecht zu wahren: Er führt leise Selbstgespräche, in denen er kommentiert, was er tut. Sandra befolgt diese Strategie nur teilweise. Das hat zur Folge, dass sie manchmal von den KundInnen mit zusätzlichen Fragen in ihrem Tun unterbrochen wird. Dann weist sie den Kunden mit mehrfachem “nur es momäntli gäle si” explizit in die Schranken, was sehr kontrollierend wirkt. Schliesslich zeigen die beiden Berater auch beim Rückmeldeverhalten ganz unterschiedliche Präferenzen. Sandra produziert 116 Rückmeldungen, das sind 6,1 pro Minute, Alberto lediglich 55 oder 3,8 pro Minute. Sandra lässt nur sechs Rückmeldungen aus, die meisten davon in Gespräch 319, in welchem sie mit dem blockierten Computersystem kämpft und daher den Kunden zeitweise allein reden lässt. Alberto produziert einigermassen regelmässig Hörersignale, lässt aber vor der Übernahme des Turns viele Kundenäusserungen unratifiziert. Fehlende Ratifikationen sind somit bei den vier hier untersuchten Personen typisch männlich. Inhaltlich zeigt Alberto eine einseitige Präferenz für “ja” und “okay”, während Sandra über das mit Abstand grösste Repertoire an Rückmeldungen verfügt und neben vielen “m=hm”, “ja”, “genau” und “okay” auch “mol”, “ëbe” und als einzige “prima” und “super” verwendet. Typisch für sie sind auch doppelte Rückmeldungen wie “jo genau” oder “mou guet”. Echos benützen beide primär für Zahlen. Alles in allem legt Sandra bezüglich Sprecherwechsel ein temporeiches, engagiertes Verhalten an den Tag, wobei das viele Parallelsprechen, das sie provoziert, nicht allen KundInnen behagen mag. Alberto wirkt inkonsistent: Unmotivierte Pausen und geduldiges Warten wechseln ab mit Unterbrechungen, verständnissichernde Zahlen-Echos mit dem völligen Fehlen von Rückmeldungen. Der erste Teil dieses Abschnitts zeigt, dass der Ausdruck turn-taking machinery als Metapher für die Funktionsweise des Sprecherwechsels irreführend ist. 54 Bei aller Konventionalität lassen auch die Regeln des Sprecherwechsels Raum für individuelle Gestaltung, von einem maschinengleichen Automatismus zu sprechen, ist nicht angemessen. Die Analyse hat gezeigt, dass alle <?page no="311"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 311 vier Agents Präferenzen für bestimmte Formen des Sprecherwechsels zeigen, wiederkehrende Verhaltensweisen, welche sie als unterschiedlich rasch, engagiert und partnerbezogen erscheinen lassen. Ihre Verhaltensweisen sind allen Gesprächspartnern gegenüber im Wesentlichen konstant. Zeitweise zeigen sich Veränderungen, vor allem im Rückmeldeverhalten, und zwar nicht in Abhängigkeit vom Partner, sondern von den äusseren Umständen und dem Gesprächsthema: Wenn das Bankgeheimnis zu wahren ist, wenn das Computersystem blockiert ist, wenn der Agent mit einem unlösbaren Problem konfrontiert ist, treten vermehrt Pausen auf und werden Rückmeldungen unterlassen. Im zweiten Teil dieses Abschnitts bespreche ich das Steuerungsverhalten der vier Angestellten bezüglich Handlungskonstitution und Themenbehandlung. Aufgrund der geringen Zahl der pro Gespräch durchgeführten Handlungsmuster und Themen kann dieses Element des Interaktionsprofils nicht quantitativ ausgewertet werden. David erweist sich einmal mehr als Minimalist. Er initiiert ausschliesslich jene Handlungsmuster, die er aufgrund seiner Stellung als Agent initiieren muss: Kontoaufruf, Kundenidentifikation, Problemlösungsvorschlag. Die sprachlichen Mittel, die er für die Etablierung neuer Handlungsmuster einsetzt, sind Aufforderungen in Frageform sowie Angebote in der Form von Aussagesätzen (mit abhängigem Fragesatz) oder Bedingungsgefügen: Aufforderung in Frageform susch chönd=s mer emol (d) KONtonummere aagëë? (107). Angebot als Aussagesatz ich tu grad luege öb si ume=n=isch, (105). Angebot als Bedingungsgefüge wenn sie wollen kann ich ihnen ein beleg (0.6) nach hause schicken wenn ihnen das etwas nützt (117). Im Übrigen wartet er die Initiative des Kunden ab, selbst wenn dieser einen Schritt von ihm zu erwarten scheint. Im mittlerweilen bekannten Reklamationsgespräch kommt es zu einer längeren Pause, während der der Kunde offenbar eine Erklärung oder einen Lösungsvorschlag des Agents erwartet. Doch David unternimmt nichts, sodass der Kunde selber mit einem neuen Thema beginnt: Kunde das/ das glaube ich NICHT weil ich hab gesehen die american express (0.8) eh: : das wurde/ das wurde überwiesen. David (1.6) mja, (2.9) Kunde ich meine WENN ein/ wenn so ein problem AUFtaucht eh/ der herr birrer ist mein eh/ mein ehm eh eh konTAKTperson he? (117). Auch der Kunde, der einen Scheck aus dem Ausland schicken will, muss David regelrecht die Würmer aus der Nase ziehen, weil dieser nicht von sich aus erklärt, wie der Kunde genau vorgehen muss. An der Stimme des Kun- <?page no="312"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 312 den ist zu hören, dass dieser zunehmend unsicherer wird anstatt an Sicherheit zu gewinnen: David sie müssen ihn einfach unterschreiben das ist wichtig und dann eh können sie ihn einschicken. Kunde also auf der rückseite- David genau ja; Kunde einfach aufschreiben und dann eh wie schick ich den am besten einfach/ (0.7) einfach so normal oder eingeschrieben (xxx) David ja scho/ vielleicht schon eingeschrieben sonst eh/ ja: es ist vielleicht sicherer ja- Kunde (1.5) ja David doch Kunde okay, dann schick ich ihn an eh/ (2.3) WELche adresse ist das; (118). Wenn ein Kunde allerdings die Initiative ergreift und eine Frage stellt oder einen Wunsch äussert, reagiert David unverzüglich. Er verspricht, “grad” nachzuschauen oder die Sache “kurz” abzuklären oder geht sogleich zur Bearbeitung des Auftrags über, indem er nach der Kontonummer fragt. Präzisierungsfragen stellt er vorerst keine. Er fragt die Kundin, die weiterverbunden werden will, nicht nach dem ‘Stichwort’, den Anrufer mit dem Scheck nicht, ob er Kunde ist, den Anrufer mit der fehlenden Buchung nicht, was genau das Problem ist - diese Fragen stellt er erst, nachdem er bereits Rücksprache mit internen Ansprechpartnern gehalten oder den Kunden identifiziert hat. Seine Strategie lautet: ‘sofort handeln, Details später’, und dahingehend steuert er das Gespräch mit seinen Handlungen. David übergeht keine einzige thematische Initiative der KundInnen, er versucht nie, ein alternatives Handlungsmuster durchzusetzen oder das Ende eines Themas zu forcieren. Aber er greift auch nie ein vom Kunden initiiertes Thema auf um es fortzuspinnen. Vielmehr fallen seine Reaktionen sehr knapp aus, wie das Beispiel mit dem Scheck gezeigt hat. Auch im Reklamationsgespräch ratifiziert er Klagen und Vorwürfe des Kunden lediglich mit einem minimalen “m=hm” oder “ja”, ohne im Mindesten darauf einzugehen, dem Kunden zuzustimmen oder Verständnis zu signalisieren: Kunde diese gerade EUROcard die sind (.) ABsolut NICHT flexibel. David m=hm; […] Kunde weil ich/ ich zahle immer ich la/ lasse immer diese überweisung so für den zehnten zehnten/ und bis jetzt eh (1.3) hab ich kein problem gehabt. David ja? (117). Insgesamt greift David wenig steuernd in die Gespräche ein, sondern lässt sich mehr von den Fragen und Wünschen der KundInnen leiten. Auf diese geht er ohne Verzögerung und Gegenfrage ein, beantwortet sie korrekt und so knapp wie möglich. Eigene Initiativen ergreift er nicht, die von den <?page no="313"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 313 KundInnen angeschnittenen Themen spinnt er nicht weiter, sodass die Gespräche manchmal zu ersterben scheinen, obwohl er den Abschluss nicht herbeizwingt. David wirkt nicht kontrollierend, aber auch nicht kooperativ. Auch Susanne initiiert primär jene Handlungsmuster, für die sie als Agentin zuständig ist: Konto aufrufen, Kunden identifizieren, Problem lösen. Doch darüber hinaus ergreift sie manch eigene Initiative. So fragt sie die KundInnen vor dem Weiterverbinden nach dem Stichwort (vgl. oben). Wenn Kunden zögern, wartet sie nicht, bis diese sich zu einer Äusserung bequemen, sondern treibt das Gespräch sofort voran mit der Frage, was sie tun könne: Kunde <<p, distanziert> m=hm> Susanne was chan=ich für si tue? (148). In jenem Gespräch, in welchem die Eisenbahn durchfährt und mit ihrem Lärm die Verständigung verunmöglicht, lässt Susanne den peinlich berührten Kunden nicht nach einer Lösung des Problems suchen, sondern kündet selbst an, sie werde warten, und sie bestimmt auch, wann weitergefahren werden kann: Susanne <<ff> und vo wem? > Kunde (2.4) <<f> tschuldigung? > (1.0) <<ärgerlich> äh> Susanne (1.2) ich warte gschwind Kunde (0.9) ((lacht)) tschuldigung Susanne ((lacht)) macht nüüt Kunde tschuldigung? [Lärm verklingt] Susanne (0.7) herr kalbermatter? Kunde ja, Susanne also. vo WEM chömed die drü drü ine? (141). Schliesslich entscheidet Susanne auch von sich aus, das Fehlen des Wechselkurses für Bahrainische Dinar abzuklären und den Kunden in der Geschäftsstelle anzumelden (vgl. Abschnitt 7.3.1). Insgesamt ergreift sie wesentlich häufiger die Initiative als David, indem sie zusätzliche Handlungsmuster etabliert. Auf diesen von ihr initiierten Handlungsmustern beharrt sie dann auch, selbst gegen den Willen des Kunden. Sie insistiert auf den gewählten Fragen zur Identifikation und lässt keine ausweichenden Antworten zu: Susanne vo wem chömed drü drü ine? Kunde (1.3) <<f> öppe am sächsezwänzigschte> Susanne <<f> und vo wem? > [Intermezzo mit Eisenbahn, vgl. oben] Susanne also. vo WEM chömed die drü drü ine? (141). Sie beharrt auch darauf, die Geschichte mit dem Wechselkurs zu klären, als der Kunde meldet, das habe er bereits getan. Dazu benützt sie die für Widersprüche typische rhetorische Figur des “ja aber”: <?page no="314"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 314 Kunde äh ich ha z dings/ im glasturm z winterthur han=i mit em devise: / gfrööget ghaa; isch alles okay. Susanne jaaber ich tue na gschwind am schalter frööge nöd das ich si döt ane schicke und dänn nachethäne chömed si GLYCH nüüt über. he? (150). Dadurch wirkt Susanne ziemlich kontrollierend, obwohl ihre Entscheidungen ganz im Dienste des Kunden stehen. Auf Initiativen der KundInnen reagiert Susanne unterschiedlich. Im Normalfall ratifiziert sie das Anliegen und geht zu dessen Bearbeitung über, indem sie die Frage beantwortet oder das Konto aufruft. Häufig jedoch stellt sie zuerst Präzisierungsfragen: Susanne also vom SÄCHZG strich ZWÄI fëëlt yne das. (148). Ihre Strategie ist der von David genau entgegengesetzt: ‘zuerst die Details, dann handeln’. Fragen sind für Susanne das wichtigste Mittel, die von den KundInnen initiierten Themen weiterzuspinnen. Aber auch ihre Antworten fallen nicht derart knapp aus wie jene von David. Sie gibt oftmals von sich aus mehr Auskunft als verlangt. Der Kundin, die nur nach den Eingängen auf dem Konto gefragt hat, nennt sie den aktuellen Stand sowie alle Ein- und Ausgänge: Kundin ich hab bei ihnen ein privatkonto,=und wollte fragen ob eh seit august da ZAHlungen eingegangen sind. [Identifikation] Susanne ALso. der STAND per HEUte? Kundin ja, Susanne sind dreitausend und sechs franken fünfundsiebzig, Kundin m=hm, Susanne da sind EInerseits am NEUNundzwanzigsten september die: ABschlussbuchungen vorgenommen worden, Kundin ja, Susanne .h das war/ waren zwanzig franken dreissig, welche belastet wurden, (0.7) un: d jetzt am ELFten oktober sind dreitausend franken REINgekommen von herrn tobias kel: : ler. (128). Dem Kunden mit den Bahrainischen Dinar erklärt sie ausführlich, wie ein Inkasso funktioniert (vgl. Abschnitt 7.3.1), und den Kunden mit dem falschen Kontoauszug fragt sie, ob er wirklich den Zinsausweis meine und ob die Adresse richtig sei, damit nicht nochmals ein Fehler geschieht. Insgesamt legt Susanne bei der Gesprächssteuerung ihre bekannte Mischung aus Freundlichkeit und Sturheit an den Tag. Sie ist initiativ, sie spinnt die von den KundInnen initiierten Themen weiter, vor allem mit Präzisierungsfragen, aber sie greift auch kontrollierend in das Geschehen ein und beharrt auf den von ihr etablierten Handlungsmustern, die aus ihrer Sicht für den Kunden am besten sind. Daher habe ich sie in Abschnitt 7.3.1 als “fürsorgliche Mamma” bezeichnet. <?page no="315"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 315 Bei den BeraterInnen steht abgesehen von den Börsenaufträgen weniger eindeutig fest, welche Handlungsmuster sie initiieren müssen, da die KundInnen mit offeneren Fragen und vageren Anliegen an sie gelangen. Daher besteht für die BeraterInnen mehr Raum für thematische Initiativen. Sandra macht davon ausgiebig Gebrauch. Sie unterbreitet den KundInnen Vorschläge, gibt Empfehlungen ab, bietet zusätzliche Dienstleistungen an und wartet vor allem mit ausführlichen Erklärungen auf. Einige Beispiele: Vorschlag jetz mache mer=s doch eSO; (.) JETZe (.) ehm (.) tuen=ech yne das Ygää de CHOOF eh tue mol luege öb das KLAPpet jetze, und tue yne sösch denn/ aso tue jetz äifach mou waarte bis dë das nochhär chonnt. (319). Empfehlung ICH würd yne ëbe de fonds c empfäle wenn si das no öppe zää joor lönd lo sy (330). Zusatzdienst susch chöne si aso UNscheniert wieder aalüte und mir gänd yne gärn uuskunft (324). Erklärung dänn mache mer äifach en switsch; das isch käs (problem) und das isch ou/ m/ überhoupt nüüt mit speese drin öb=s (xxxxx) das isch alls gratis wenn si=s wänd switsche. vo däm här. isch yne do würklech de wääg ou FREI aso wenn si sich no wänd umentschäide; (330). Mit diesen Initiativen definiert Sandra das Gespräch als Beratung (Nothdurft 1994) und vermeidet es, die Anfrage des Kunden lediglich wie eine Auskunft oder einen Auftrag zu behandeln. Besonders elaboriert fällt ihre Beratung in Gespräch 330 aus. Der Kunde fragt sie, was sie zu seinem Vorschlag meine, die Hälfte des Geldes im Fonds A, die Hälfte im Fonds B anzulegen. Sandra antwortet nun nicht sogleich mit einer Zustimmung oder Ablehnung, sondern legt eine ausführliche Argumentation zu Gunsten eines dritten Fonds vor, um dann erst die Empfehlung abzugeben, die Hälfte in Fonds B und die Hälfte in Fonds C zu investieren. Geschickt appelliert sie mehrfach an das “Gefühl” des Kunden, welches dieser in seiner ersten Äusserung selbst ins Spiel gebracht hatte, fügt aber auch vorsorglich hinzu, den Entscheid müsse der Kunde selber fällen. Auf den Einwand des Kunden, im letzten Jahr sei die Rendite des Fonds C mangelhaft gewesen, antwortet sie wiederum mit einer ausführlichen Argumentation, wiederholt ihre Empfehlung, aber auch die Delegation des Entscheids an den Kunden. Der Gesprächsausschnitt ist zu lange, um hier zitiert zu werden (vgl. Anhang, 330, 6-41), aber er demonstriert eindrücklich, wie Sandra das Handlungsmuster Beratung (in Kooperation mit dem Kunden) durchführt und durch gezielte Argumentationen und Empfehlungen die Kaufentscheidung des Kunden herbeisteuert. Auch auf einfache Fragen geht Sandra oft viel ausführlicher ein, als unbedingt nötig wäre. So reagiert sie auf die Frage des Kunden, ob er den <?page no="316"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 316 55 Cross-selling bedeutet, dass dem Kunden zusätzliche, von ihm vorerst nicht verlangte Produkte verkauft werden. In den Telefonstandards ist festgelegt, dass die Angestellten wann immer möglich ein cross-selling versuchen sollen. Auftrag telefonisch geben könne, nicht einfach mit einem “ja”, sondern mit einer Erklärung, warum das möglich ist: Kunde (cha) me da überhaupt teleFOnisch mache. Sandra jo=jo! das isch/ weu d koLEEgin vo/ vorethäne het si identifiZIERT d frau amrein und eh denn isch=s äigentlich KÄS problem dë chöm=mer da grad so am TElefon macche. (330). Thematische Initiativen der KundInnen greift sie auf und spinnt sie durch Gegenfragen und Erklärungen weiter: Kundin en LImite cha me die mit de zyt AU abmache; Sandra wi mäine si aso en überzugsli mite uf em konto. Kundin ja ja Sandra jetz isch so/ tünd si/ aso wette si es LOONkonto. Kundin ja, (.) aso privat Sandra jo genau privatkonto. .h ehm denne wär=s eso es git ëbe ganz spezielli bestimmige wo mir denn äifach müesste haa. (324). Führen die KundInnen von sich aus ein Thema weiter, greift sie nicht korrigierend ein. Der Kunde mit dem verlorenen US-Quellensteuerformular ist ein unvergleichlich redseliger Mensch, der aus jeder Bemerkung eine ganze Geschichte macht: Er habe den Brief dem Postboten direkt in die Hand gedrückt, aber bei der Post wisse man ja nie, er warte manchmal auch eine Woche auf eine Sendung, er wisse halt nicht, ob das mit A-Post gegangen sei usw. usf. (vgl. Anhang, 319, 25-33). Sandra hört geduldig zu, bestätigt seine Erzählung immer wieder mit “jo” oder “jawol” und führt erst danach zum beabsichtigten Börsenkauf zurück. Wenn sie selber jedoch einmal ein Handlungsmuster etabliert hat, so lässt sie sich davon durch nichts mehr abbringen. Im Gespräch mit der Kontoeröffnung, während Sandras langer Erklärung des Basisantrags, versucht die Kundin drei Mal steuernd einzugreifen, aber mit wenig Erfolg. Beim ersten Mal signalisiert sie Interesse für das Internetbanking, doch Sandra überhört das Signal, welches die Möglichkeit zu einem sogenannten cross-selling 55 geboten hätte: Sandra uf de ZWÖIte siite wär denne so: ZUEsatzinformazione/ aso zuesatzdienschtläischtige mus i so sääge wie internet bänking und EC charte und so sachche. Kundin ëbe geNAU. Sandra de UNderi täil <<all> das mus i yne vilicht no schnäll erKLÄre,> dä het AU wider ZWÖI täile, (324). <?page no="317"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 317 Beim zweiten Mal zeigt die Kundin, dass sie den Begriff “wirtschaftlicher Berechtigter” korrekt auf sich bezieht, Sandra ratifiziert ihre Feststellung sogar mit einem “genau”, fährt dann aber trotzdem unbeirrt mit ihrer Erklärung fort: Sandra s äinte wär (.) Identifikation vom wirtschaftlich berächtigte. <<lachend> hmhm> das tönt jetz e bitzeli kompliziert, GE: NAU. Kundin da bin jo ich m=hm. Sandra do müesste si äifach s Obere aachrüzle wenn das gäld yne würd ghööre wo uf em konto isch, (324). Und beim dritten Mal signalisiert die Kundin mit einem “ja ja”, dass sie keine weitere Erklärung für die zweite Unterschrift braucht, kann diese aber wiederum nicht verhindern: Sandra und NOmou es stück wyter unde wär denne im prinzip eh s UNderschriftemuschter wo mir nochhär ou i comPUter ylääsed Kundin ja Sandra da müesste mer nomol e underschrift haa Kundin ja ja Sandra nid as si verschre/ verschrecked dass si <<lachend> zwöi mou müend underschrybe.> (324). Noch auffälliger ist Sandras Unbeirrbarkeit im Gespräch über das verlorene US-Quellensteuerformular. Der Kunde stellt eigentlich unmissverständlich klar, dass er im Moment keine Wertpapiere kaufen will, sondern lediglich nachfragen wollte, ob das Formular eingetroffen sei. Aber Sandra fährt unbeirrt mit der Eingabe des Börsenauftrags fort: Sandra chöne si mer no SÄge wele/ wele valor WETted si denn gärn choofe? Kunde JO: jetz han=i äigentli wöle/ wöle WAAR/ i han ëbe wöle frooge öb da KLAPPT het oder (xxx) hüt emol schnell glueget (g)haa oder. Sandra wele vaLOR wär das? (319). Sie sucht im blockierten Computersystem lange nach der Valorennummer, fragt nach der Limite, und als der Kunde meint, er habe heute nur nachschauen wollen, was er (der Aktienkurs) so mache, fragt sie noch einmal, ob er etwas kaufen wolle. Erst jetzt, nach einer Minute und 38 Sekunden, als der Kunde beinahe kindlich fragt, ob er nicht warten könne, lenkt sie ein mit ‘ja sicher’: Kunde da han=i (wöle/ öppe) hüt schnell luege was er so MACHT, denn hett i ëbe erscht morn am MITtag aaglütte oder. Sandra jetz wänd si scho mou do öppis CHOOfe söll i en uuftrag Ygää oder. Kunde jo chan i no WAArte isch glych; Sandra jo=jo SIcher! (319). <?page no="318"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 318 56 Verschiedene Indizien weisen darauf hin, dass es sich bei diesem Anruf um den Test eines Marktforschers handelt. Anders ist nicht zu erklären, dass der Kunde meint, es sei ihm ganz egal, wie sie vorgehe. Das sture Verhalten von Sandra scheint in diesen beiden Fällen weniger auf einem bewussten Entscheid und dessen Umsetzung gegen alle Widerstände zu beruhen wie bei Susanne als vielmehr darauf, dass Sandra sich auf einen Handlungsplan einschiesst und gar nicht mehr wahrnimmt, dass der Gesprächspartner andere Bedürfnisse anzumelden versucht. Doch es gibt auch Fälle, in denen Sandra sich bewusst gegen den Willen des Kunden stellt. In diesen Momenten versteht sie es, das Gespräch in eindeutiger, aber unauffälliger Weise in die von ihr gewünschte Richtung zu steuern, nämlich ohne direkte Absage, dafür mit einem Gegenvorschlag und einem vereinnahmenden wir: Kunde söll i de uuftrag GLYCH grad no duregëë- Sandra ehm ech tu yne sösch nochethäne aalüüte und denn chöne mer=s denn zäme mache (323). Wenn Sandra an die Grenzen ihrer Wissens gerät, hat sie eine weitere steuernde Strategie auf Lager: den Rückruf. Nicht nur im Teilkorpus, sondern in allen 15 aufgenommenen Gesprächen bietet sie immer wieder an, das Anliegen des Kunden abzuklären und dann zurückzurufen. Dabei nimmt sie in mehreren Fällen von den KundInnen eindeutig zu wenig Informationen auf, um überhaupt eine seriöse Abklärung treffen zu können. So fragt sie einen Kunden, der satte 1,5 bis 2,5 Millionen Franken in Aktienfonds anlegen will, gerade einmal nach den bevorzugten Branchen und Währungen, um ihm dann zu versprechen, sie werde ‘mal etwas für ihn zusammenstellen’. Mit diesen mangelhaften Angaben ist eine seriöse Investitionsofferte absolut unmöglich. 56 Eine Interaktion vorzeitig zu beenden und das Anliegen auf ein späteres Gespräch zu verschieben, ist natürlich die massivste Form der Gesprächssteuerung. Immerhin federt Sandra ihr Vorgehen jeweils mit der Rückfrage ab, ob der Kunde einverstanden sei. Insgesamt geht Sandra ausführlich auf die Initiativen der KundInnen ein, spinnt die Themen mit Gegenfragen und Erklärungen weiter und ergreift zusätzliche, eigene Initiativen. Sie steuert mit Fragen, Empfehlungen und Erklärungen das Gespräch in die von ihr gewünschte Richtung. Manche Kundeninitiativen übergeht sie in ihrem Redeeifer wahrscheinlich ungewollt, anderen weicht sie durch Gegenvorschläge gezielt aus, einige Interaktionen bricht sie durch das Angebot eines Rückrufs vorzeitig ab. Alles in allem wirkt Sandra engagiert, aber auch sehr kontrollierend. Alberto ist im Teilkorpus vor allem mit Börsenaufträgen vertreten, die weniger Raum für Eigeninitiativen des Beraters lassen als Beratungen. Die Aufgabe des Beraters beschränkt sich in diesen Fällen weitgehend darauf, den Börsenauftrag korrekt einzugeben und zu wiederholen, und dass Alber- <?page no="319"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 319 to in dieser Phase vollumfängliche Gesprächskontrolle ausübt, wurde bereits gezeigt. Dass sich bei Alberto aber keine einzige eigene Initiative finden lässt, liegt nicht nur an den Kundenanliegen, sondern auch an ihm selber. Im Reklamationsgespräch zum Beispiel sucht Alberto zwar intensiv nach dem verloren gegangenen Börsenauftrag des Kunden, aber es ist dieser, der ihn zuletzt bittet, den Auftrag jetzt sogleich nachzuholen, Alberto bringt diesen nahe liegenden Vorschlag nicht von sich aus. Alberto bietet den Kunden im Gegensatz zu Alfonso auch nicht an, sogleich zu prüfen, ob der Börsenauftrag ausgeführt wurde. Er fragt nicht nach weiteren Wünschen, wie das einige Agents tun. Er bietet den Kunden nicht an, bei Fragen wieder anzurufen, wie Sandra es in Einzelfällen tut. Alberto beschränkt sich darauf, auf die Initiativen der Kunden zu reagieren, entweder mit Präzisierungsfragen oder mit der sofortigen Ausführung des Auftrags. Im Auskunftsgespräch zum Beispiel folgen seine Antworten Schlag auf Schlag: Kunde was choschtet s aktiedepot bi euch. Alberto eh s aktiedepot bi eus <<gedehnt> choschtet eh minimum drüedrissg franke (.) im (.) jaar,> suscht zu null komma zwäiezwänzg prozänt. Kunde und zal i jetz/ aso null komma zwöiezwänzg prozänt/ beziet sich das pro POSCHte oder gsamtinhaut Alberto das isch pro poschte; (356). Erklärungen bietet Alberto im Gegensatz zu Sandra nicht von sich aus an, sondern erst dann, wenn Probleme auftauchen; sie haben bei ihm den Charakter von Rechtfertigungen. Im ausführlich besprochenen Börsenauftrag (vgl. Abschnitt 7.3.2) erklärt er dem Kunden erst nachträglich und viel zu knapp, warum er für ihn ein Depot eröffnet: Kunde gänd si=s mal so ii Alberto (ich) mues/ ich mues ëbe zersch es DEpot bi yne eröffne; si händ no käs Kunde (eh: ) KONtokorränt; Alberto näi es DEpot; Kunde DEpot han ich ëbe im momänt e KÄS mee; Alberto ëbe ich mach jetz yne grad äis uuf. Kunde ja Alberto oder <<lachend> wil susch chan=i ëbe läider nöd> chaufe (367). Auch jenem Kunden, dessen Börsenauftrag aufgrund des fehlenden US- Quellensteuerformulars nicht ausgeführt werden kann, sagt er zuerst nur, es gehe nicht, die Erklärung liefert er erst, als der Kunde explizit danach fragt (“wiso”), dann aber ausführlich: <?page no="320"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 320 Kunde schicked si mer nomol e neui! Alberto j: : a (mir sötted=s) (mir chönd dëm fall nöd) SCHAFfe; (0.7) s gaat nöd! Kunde (0.7) wiso- Alberto ooni die US formalitäte chan=ich (yne) (xxxx) KÄN börsenuuftragmer/ si nämed=s nöd aa; si händ/ s hät e sperri drinn. Kunde AH ja. Alberto ja Kunde OU Alberto wil mir händ=s/ afang jaar häm=mer=s verschickt ghaa dass me das bis ändi jaar söll eus returniere, Kunde ja Alberto wil AB eh: erschte erschte zwäitusigundäis (0.5) die wo das formu/ eh dë: / die US formalitäte eus nöd zrugg/ returniered chönd kän börsenuuftrag mache in amerika. (357). Während Alberto also kaum Initiativen ergreift und nur jene Erklärungen liefert, die verlangt werden, reagiert er auf Initiativen der Kunden wie gesagt rasch. Selbst wenn ein Börsenroutinier ihm die Angaben für seinen Auftrag in rascher Folge diktiert, vermag er zu folgen, dabei lässt er sich in Tempo und Reihenfolge vorübergehend vom Kunden steuern. Bei der Ausführung hingegen und erst recht, wenn Probleme auftauchen, reisst Alberto die Kontrolle vollständig an sich. Mit einem knappen “momänt” bietet er dem Kunden Einhalt, wenn das Computersystem nicht reagiert (357, 5). Die Bitte des Kunden, ihm nochmals ein US-Quellensteuerformular zu schicken, blockt er zuerst mit der Wiederholung des Börsenauftrags ab und dann mit der Gegenfrage, ob er dieses denn nicht mehr habe. Erst auf die dritte (! ) Aufforderung des Kunden geht er ein: Kunde chö/ chönd=s mer nomol so äis schicke; Alberto aso momänt ich tu mal (d uuf)/ eh han jetz emol dë: / de uuftrag mal/ (.) nomal DUREgëë, […] Kunde eh: : JA dë tünd=s mer s formuLAR nomol schicke. Alberto TUN=i/ händ=s/ hä/ händ=s (en) dem fall GAR nümm. […] Kunde tünd=s mer nomol äis i d poscht; Alberto okay. tun=ich yne nomol so ne US fo/ formalitäte zuestele- (357). Gegenüber dem “selbstbewussten Grossvater” schliesslich nimmt das Kontrollverhalten von Alberto wie gezeigt extreme Züge an: Er eröffnet ungefragt ein Depot, gibt eigenmächtig eine andere als die vom Kunden gewünschte Limite sowie eine selbst gewählte Gültigkeit des Auftrags ein, übergeht die Proteste, Gegenvorschläge und Plauderinitiativen des Kunden und befiehlt diesem zuletzt, ihm seine Telefonnummer zu geben. In diesem Gespräch, welches viel länger dauert und mehr zu tun gibt als alle anderen Gespräche von Alberto, kommt sein kontrollierendes Verhalten erst richtig zum Ausdruck. <?page no="321"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 321 Das ausgeprägte Steuerungs- und Kontrollverhalten von Sandra und Alberto ist keine notwendige Verhaltensweise ihrer Eigenschaft als Berater. Kollege Tibor zeigt ein ganz anderes Verhalten: Er ist in vielen Gesprächen geradezu bemüht, nicht auf eine bestimmte Entscheidung hin zu steuern, sondern den KundInnen möglichst viele Optionen offen zu halten. Von einer redseligen Kundin lässt er sich in ein zehnminütiges Gespräch über verschiedene Firmen und deren Aktien verwickeln, gerät vom Hundertsten ins Tausendste, und hat am Schluss keine verbindliche Abmachung getroffen, was für die Kundin nun zu tun ist. Tibor greift in seinen Gesprächen praktisch nie steuernd ein, was aus der Sicht der Bank natürlich wenig effizient ist: Seine Gespräche drohen (wie bei David, aber aus anderem Grund) zu versanden. Die vier Angestellten legen also ein recht unterschiedliches Verhalten bezüglich Gesprächssteuerung an den Tag. Die beiden Männer zeigen wenig eigene Initiative, sondern beschränken sich darauf, rasch und mit seltenen Präzisierungsfragen auf die Initiativen der KundInnen zu reagieren und die dafür notwendigen Handlungsmuster zu etablieren. Während der Ausführung der Anliegen übt David seine bei allen Elementen des Interaktionsprofils festzustellende Zurückhaltung, während Alberto die Kontrolle in bisweilen extremer Form an sich reisst. Die beiden Frauen greifen die von den KundInnen initiierten Themen auf und spinnen sie mit Präzisierungsfragen und Erklärungen fort. Sie initiieren eigene Handlungsmuster und Themen, indem sie Vorschläge unterbreiten und zusätzliche Dienste anbieten. Mit Fragen, Gegenvorschlägen und Empfehlungen steuern sie das Gespräch in die von ihnen gewünschte Richtung und behalten so die Kontrolle über das Geschehen. Sandra übergeht teilweise die Initiativen der KundInnen, zieht ihre Handlungspläne gegen deren Wünsche durch oder bietet vorzeitig einen Rückruf an. 8.2.3.2 Positionierungen Als zehnte und letzte Kategorie des Interaktionsprofils bespreche ich in diesem Abschnitt die Positionierungsbestrebungen der vier Angestellten, namentlich auf den Dimensionen Expertentum, Dienstbeflissenheit, Beziehung zu den KundInnen und Verortung im Unternehmen. Was die Beziehung zu den KundInnen betrifft, muss vorausgeschickt werden, dass alle vier Angestellten aufgrund der internen Vorgabe, sich mit dem Firmen- und dem Familiennamen vorzustellen, sich nicht nur als Vertreter der Schwyzer Bank positionieren müssen, sondern auch als Angehörige der Familie ihres Namens. Nimmt man die Vorschrift hinzu, die KundInnen mehrfach mit Namen anzusprechen, so wird deutlich, dass die Angestellten der Schwyzer Bank gar nicht die Möglichkeit haben, die Beziehung zu den KundInnen vollkommen anonym und unpersönlich zu gestalten, sondern dass sie ein gewisses Mass sozialer Nähe mindestens inszenieren müssen und mit ihrem <?page no="322"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 322 57 Ein Kollege von David und Susanne, Alain, wird aufgrund seiner hohen Stimme häufig für eine Frau gehalten, was zu Beginn des Gesprächs teilweise zu tragikomischen Turbulenzen führt, vgl. Zitat S. 139. 58 “Argumentieren aus der Sicht des Kunden” ist Teil der Telefonstandards der Schwyzer Bank und wird in der Verkaufsliteratur immer wieder empfohlen. Namen für ihr Tun haften. Die Vermeidung institutioneller Anonymität wird von vielen KundInnen durchaus gewünscht, was sich darin zeigt, dass sie die Angestellten ihrerseits mit Namen begrüssen oder - mindestens in der Beratungsabteilung - vor der Verabschiedung explizit nochmals nach deren Namen fragen. Schliesslich kommen die Angestellten aufgrund ihrer Stimme nicht umhin, sich bereits bei der Begrüssung als jung und als Frau bzw. Mann zu positionieren. 57 Mit der einheitlichen Begrüssung sind dann allerdings auch die Gemeinsamkeiten zu Ende. Susannes Positionierungen wurden an einem Beispiel bereits vorgestellt (vgl. Abschnitt 7.3.1). In diesem Gespräch mit den Bahrainischen Dinar erscheint sie als Person, die sich in differenzierter Weise als Expertin positioniert. Sie präsentiert ihr Wissen explizit mit Ausdrücken des Wissens (“ich wäiss dass de libelleplatz das uf jede fall aachaufe tuet”) und mit ausführlichen Erläuterungen (Funktionsweise des Inkasso), zeigt aber auch die Grenzen ihres Wissens auf (“ich tue na gschwind am schalter frööge”) und lässt sich von internen Stellen beraten (“mir isch jetz grad gsäit worde”). Sie positioniert sich im Speziellen und die Bank allgemein als höchst dienstbeflissen, indem sie betont, es sei ‘selbstverständlich’, dass der Kunde einfach vorbei kommen könne, und indem sie ihm anbietet, ihn bei der Geschäftsstelle anzumelden. Susanne stellt sich als jene dar, die am besten weiss, was für den Kunden gut ist (“nöd das ich si döt ane schicke”), und erhebt sich damit in den Status der Beratenden, was über ihre Funktion in der Serviceabteilung hinausweist. Persönliche Nähe zum Kunden wird nicht gezeigt (kein inklusives wir, keine persönlichen Bemerkungen). Susanne demonstriert jedoch ihre Identifikation mit dem Unternehmen, indem sie konsequent in der Wir-Form von der Schwyzer Bank spricht, und sie macht die internen Abläufe transparent, indem sie die entsprechenden Abteilungen (Schalter, Handel) explizit benennt. Dieser Eindruck wird durch die anderen vier Gespräche des Teilkorpus bestätigt. Susanne versteht es immer wieder mit kleinen Hinweisen, sich als Expertin zu positionieren, mit Upgradings (vgl. Abschnitt 8.2.2.3), mit straffer Gesprächsführung (vgl. Abschnitt 8.2.3.1) oder indem sie demonstriert, dass sie über der Sache steht, so beim Zwischenfall mit der durchfahrenden Eisenbahn, auf den sie mit einem lachenden “macht nüüt” reagiert (vgl. ebd.). Ihre Dienstbeflissenheit bringt sie dadurch zum Ausdruck, dass sie mehr Informationen als verlangt anbietet (vgl. Abschnitt 8.2.3.1) und dass sie es versteht, aus der Sicht des Kunden zu argumentieren. 58 So gibt sie selbst die für die KundInnen lästige Identifikation als in deren eigenem Interesse <?page no="323"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 323 stehend aus, indem sie nach Angaben ‘zu Ihrer Sicherheit’ fragt, während David nach Angaben ‘zur Identifikation’ fragt. Mit anderen Worten sie übernimmt die Kundenperspektive, während David bei der Unternehmensperspektive bleibt. Ihre Dienstbeflissenheit stellt sie schliesslich auch durch explizite Handlungsverpflichtungen in der Ich-Form unter Beweis: Susanne ich tun=yne doch das nomol ZUEstele (148). Wie gestaltet sie die Beziehung zu den KundInnen? Susanne spricht von sich konsequent in der Ich-Form, vom und zum Kunden in der Sie-Form und unterlässt sowohl Depersonalisierungen als auch inklusives Wir. Persönliche Bemerkungen vermeidet sie, sie wird im Teilkorpus von den KundInnen auch nicht zum Smalltalk eingeladen. Sie definiert damit die Beziehung zwischen sich und den KundInnen als eine rein geschäftliche. Trotzdem sorgt sie durch die Verwendung der Pronomen ich und wir für Verbindlichkeit und zeigt, dass das besprochene Geschäft von Person zu Person abgewikkelt wird und nicht irgendwie ‘geschieht’. Wie sie das Eintreffen einer Auftragsbestätigung ankündet, steht in scharfem Kontrast zur unverbindlichen Darstellung von Kollege Alain, bei welcher der Kunde nicht erfährt, wie er genau zu der gewünschten Gutschriftsanzeige kommen soll: Susanne RICHtig das tun=ich veraalasse. si chömed vo eus d bestëtigung(e) über dass die duuruuftrëg noch em (.) sibenezwänzigschte oktober glöscht sind. (141). Kunde krieg i do e guetschrift- Alain die gseend si dänn di guetschriftsaazeig ja; (209). Dass sich Susanne um eine gute Beziehung zwischen sich und den KundInnen kümmert, zeigt sich schliesslich darin, dass sie sehr um die Wahrung des Gesichts aller Beteiligten bemüht ist. Sie vermeidet alles, was das Gesicht des Kunden oder ihrer selbst schädigen könnte. Initiativen der KundInnen werden beantwortet oder in ganz unauffälliger Weise durch thematische Umfokussierung übergangen (vgl. Abschnitt 7.3.1). Die Selbstpositionierungen der KundInnen bleiben unangetastet, selbst wenn Gelegenheit für Belehrungen bestände. Das Gesicht des Kunden, der wegen des Eisenbahnlärms peinlich berührt ist, wird aktiv wiederhergestellt. Aber auch die KollegInnen werden von ihr geschützt. Auf die Klage des Kunden, er habe den falschen Kontoauszug bekommen, reagiert Susanne zwar mit einem bedauernden “oje”, mit welchem sie die Positionierung des Kunden als Betrogenen ratifiziert, gleichzeitig vermeidet sie jegliche Schuldzuweisung an ihre Kollegin, indem sie fortan in euphemistischer Weise nur noch von dem Kontoauszug spricht, der dem Kunden aus nicht näher bezeichnetem Grund ‘fehlt’: Susanne also vom SÄCHZG strich ZWÄI fëëlt yne das. (148). <?page no="324"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 324 59 K: Kann ich direkt probieren bei ihm, nicht? - L: Nein, dürfen wir leider nicht herausgeben diese Nummer. Wie verortet Susanne sich im Unternehmen? Von der Bank spricht Susanne konsequent in der Wir-Form, egal, welche Abteilung gerade gemeint ist. Sie geht sogar so weit, einer Kundin, die nach den Öffnungszeiten fragt, in der Wir-Form zu erklären: “und am halbi zwäi aso drizäni drissg mache mer wider uuf bis am föifi.” (127, nicht im Teilkorpus), ohne den geringsten Hinweis darauf, dass sie gar nicht in der betreffenden Geschäftsstelle arbeitet. Sie demonstriert damit völlige Identifikation mit dem Unternehmen. Wenn jedoch ein Kunde danach fragt, wo er sei, stellt sie klar, dass er in ein Call Center weitergeleitet wurde, vermeidet jedoch diesen negativ behafteten Ausdruck und nennt ihre Abteilung wohlklingend “Kundendienst” - was inhaltlich zutreffend ist, aber keineswegs der bankinternen Bezeichnung entspricht: Kunde bin i da: am libelleplatz; Susanne händ si AAgwëëlt; sind dänn diräkt in chundedienscht wyterverbunde worde. (148). Alles in allem versteht es Susanne, sich als kompetente Vertreterin der Schwyzer Bank zu positionieren, die all ihr Wissen und Können in den Dienst der Kundschaft stellt und bei der Abwicklung der Geschäfte um die Wahrung des Gesichts aller Beteiligten bemüht ist. Während Susanne sich durch die Deutlichkeit und Konsistenz ihrer Positionierungen auszeichnet, legt David ein geradezu bewundernswertes Geschick an den Tag, klare Positionierungen zu vermeiden. Irgendein Bemühen, sich als Experten zu positionieren, ist nicht zu erkennen, mit seinen vagen Auskünften stilisiert er sich eher zum Nicht-Experten, und die einzige klare Positionierung auf der Dimension der Kompetenz liegt an deren negativem Pol: David ja scho/ vielleicht schon eingeschrieben sonst eh/ ja: es ist vielleicht sicherer ja- (118). (.) ja eben. (.) vielleicht (.) dass sie mit dem beLEG e: : twas e: rreichen könnten- (2.5) ich weiss es nicht. (117). David markiert nicht nur seine Erklärungen und Vorschläge als unsicher, er drückt sich auch um klare Absagen an die KundInnen. Wenn die KundInnen nach der Direktnummer des Beraters fragen, erklärt Kollegin Lydia mit einem Ausdruck des Bedauerns, aber nichtsdestotrotz klipp und klar, dass sie diese Nummer nicht herausgeben darf, während David lediglich eine vage Absage produziert: Kunde chan ich direkt probiere bi ym nö=öd? Lydia .hh näi (.) dörfe mer läider nöd usegëë die nummere (173). 59 <?page no="325"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 325 60 K: Er hat keine direkte Telefonnummer, wo man ihn direkt anrufen könnte. - D: Nein, nicht in dem Sinne. Kunde ER het NÖD e direkti telefonnummere wo me ym direkt chan aalüte. David näi nöd i dem sinn (101, nicht im Teilkorpus). 60 Einem Kunden, der fragt, ob er ihm den Kontoauszug per Fax schicken könne, antwortet David: “n: äi lieber nöd näi” (121, nicht im Teilkorpus), anstatt ihm zu erklären, dass er das nicht tun darf, weil ein Fax gegen das Bankgeheimnis verstösst. Mit diesen ausweichenden Antworten vermeidet David eine Positionierung seiner selbst als Vollzieher der institutionellen Vorschriften. Auch auf eine Zustimmung zu ihrer persönlichen Einschätzung der Lage warten die KundInnen umsonst. Der Kunde, der wegen der verspäteten Überweisung reklamiert, versucht in mehreren Anläufen, von David eine Ratifizierung seines Ärgers und seines Pflichtbewusstseins zu erheischen, aber David lässt sich nicht mehr als ‘m=hm’ und ‘ja’ entlocken: Kunde der (.) hätte mich anrufen können (0.9) weil eh/ weil ich jetzt (das) eh/ diese gerade EUROcard die sind (.) ABsolut NICHT flexibel. David m=hm; Kunde und wenn ich es am zeh/ erste zehnte AUFgebe. (0.7) dann erwart ich (dann) eh wenn das nicht geht dann dass jemand mich ANruft und sagt passen sie auf das und das und DAS he David ja. […] Kunde weil ich/ ich zahle immer ich la/ lasse immer diese überweisung so für den zehnten zehnten/ und bis jetzt eh (1.3) hab ich kein problem gehabt. David ja? (117). Damit definiert David die Beziehung zu den KundInnen als vollkommen unpersönlich und er nimmt in Kauf, dass durch seine mangelnde Unterstützung das Gesicht des Kunden Schaden nimmt. Die Unpersönlichkeit wird dadurch bestärkt, dass David das Anliegen des Kunden und dessen Abwicklung systematisch depersonalisiert, indem er mit ‘es’ darauf referiert: David es goot um de KONtostand. (125). Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang eine Reformulierung, mit der David eine in der ersten Person begonnene Aussage zu einer in der dritten Person korrigiert: David ich glaub das genügt das sollte genügen ja; (118). Die Unpersönlichkeit von David wird im direkten Vergleich mit Sandra deutlich, wenn die Frage des Kunden, ob etwas eingetroffen ist (ein Betrag bzw. ein Formular), beantwortet werden soll. David meint in elliptischer Weise, es sei nichts hereingekommen, während Sandra betont, sie sehe im System noch nichts: <?page no="326"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 326 61 Gemeint ist das Bündner Bergdorf, dessen Geschäftsstelle die Kundin angewählt hat. 62 D: Wie Sie wollen; ich arbeite eben nicht in Basel. Ich bin/ wir sind quasi eh/ wir unterstützen Basel. - K: Mhm! Ah, das geht nach Winterthur und so. - D: Das geht über Winterthur, genau, ja. David (xxxx) i letschter ZYT nöd näi; nüt inechoo so; i dere gröössenornig. (125). Sandra n: ÄI ech gsee im system no nüüt; (319). Die Ich-Form benützt David lediglich, um anzukünden, was er gerade macht bzw. was er für den Kunden tun wird. Handlungsverpflichtungen sind die einzige Form der Positionierung, die David vornimmt, die er aufgrund seiner Aufgabe im Unternehmen gar nicht vermeiden kann: David (i)ch tu grad LUEge frau kurz? (107). MOL isch guet tun=ich yne das bstele. (107). Im übrigen markiert David die grösstmögliche Distanz zum Kunden und seinem Geschäft. Indem er nur knappe Antworten liefert und keinerlei Initiativen ergreift (vgl. Abschnitt 8.2.3.1), positioniert er sich als wenig dienstbeflissen und als passiver Ausführender des Kundenauftrags. Kaum überraschen dürfte die Feststellung, dass bei David das Pronomen wir mindestens im Teilkorpus fehlt, sowohl in seiner inklusiven wie in seiner exklusiven Verwendung. Bei ihm fehlt die bei Susanne zu beobachtende Identifikation mit der Schwyzer Bank. Seine eigene Verortung im Betrieb bleibt vage. Im Gegensatz zu Susanne versteht er es weder, erfolgreich zu vertuschen, dass er in einem Call Center arbeitet, noch gibt er klar Auskunft, wie die interne Organisation aussieht, wenn er danach gefragt wird. Vielmehr sickert bei ihm immer nur andeutungsweise durch, dass er nicht in der angewählten Geschäftsstelle arbeitet - was die KundInnen teilweise verunsichert: Kundin und en gruess am herr brandenberger. David ja: wänn ich yn emal am telefon han; säg ich (ym das). Kundin ich MÄLdi mich wider wänn ich dobe 61 sigi. David a: lso guet. (107). Kunde WELche adresse ist das; David BAsel haben sie: gesagt he Kunde ja (0.7) basel ja David oder haben sie angerufen; das ist (2.6) die talstrasse vier, (118). David wie si wänd ich schaff: ëbe nöd (.) in basel. ich bin/ mir sind quasi eh/ (.) mir understützed basel, Kunde m=HM! ah das goot uf winterthur und so. David das gaat über winterthur genau ja. (101, nicht im Teilkorpus). 62 <?page no="327"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 327 63 Aktienindex der amerikanischen Technologiebörse. Fazit: David vermeidet klare Positionierungen in jeder Beziehung. Er positioniert sich selber weder als Experten noch als aktiven Dienstleister und Repräsentanten der Schwyzer Bank, er depersonalisiert die Kundenanliegen und macht die interne Organisation nicht transparent. Dadurch erscheint er als unpersönlich, unsicher und denkbar distanziert sowohl gegenüber den KundInnen als auch gegenüber seinem Auftrag als Agent. Ein ganz anderes Bild vermittelt die Beraterin Sandra. Sie betreibt den mit Abstand grössten sprachlichen Aufwand aller vier Angestellten, um sich als Expertin und als dienstbeflissene Beraterin zu positionieren. Am deutlichsten unterstreicht sie ihren Expertenstatus mit ihren ausführlichen Erklärungen (vgl. Abschnitt 8.2.3.1) sowie mit ihren nachdrücklichen Empfehlungen: Sandra ICH würd yne ëbe de fonds C empfäle wenn si das no öppe zää joor lönd lo sy. (330). aso ech würd yne empfäle dass ech=s jetz grad ygebe wil eh/ (jetz isch=s)/ es isch SO vil ghandlet; oder und s: : tut SO fescht variere; . (.) dass mer ned no ZYT verlüüre. (333). Expertenstatus nimmt sie gleich zu Beginn des Gesprächs für sich in Anspruch, indem sie sich zur Person stilisiert, die zu allen Auskünften befähigt ist. Diese Form der Selbstpositionierung ist interaktional heikel, da sie dem Kunden die Position des Unwissenden zuweist: Sandra WAS wette si gärn wüsse vo mer herr kathriner. (330). Die an sich naive Frage des Kunden, ob die Aktie einer Firma, die aufgibt, nur noch an Wert verliere, beantwortet sie mit grösster Ernsthaftigkeit und Entschiedenheit, als würde sie Expertenwissen verkünden: Sandra JO das isch ganz klar jo; goot nur no abwärts (333). Selbst zur Überbrückung von Wartezeiten benützt sie eine Formulierung, die ihr Können unterstreicht (‘ich kann es nachschauen für sie’), und das selbst in einer Situation, in der eine für sie peinliche Wissenslücke aufgetaucht ist: Weil sie den Stand des Nasdaq 63 nicht selber herausfindet - das müsste für sie Routine sein -, muss sie den Kunden auf Halten stellen und den Kollegen fragen: Kunde eh: wie isch äigentlich de na: sdaq, isch dë: : / Sandra (2.2) mmm <<f> NUR es momäntli gäle si; > (ech) cha=s grad yne nocheluege (12.3) nur es momäntli bitte schnäll! [HALTEN] (333). Schliesslich benützt Sandra einzelne Upgradings sowie ambivalent wirkende Downgradings (vgl. Abschnitt 8.2.2.3), mit denen sie ihren Expertenstatus untermauert. <?page no="328"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 328 Die Gestaltung der Beziehung zu den KundInnen fällt bei Sandra differenziert aus. Generell definiert sie die Beziehung als vergleichsweise nahe und persönlich, in bestimmten Situationen jedoch weicht sie auf depersonalisierte Ausdrücke aus. Sandra spricht in der Ich-Form und stellt sich explizit als die verantwortliche Person dar: Sandra ech mache würklich so schnäll wien=i chaa (323). Reformulierungen gehen bei ihr nicht wie bei David von persönlich zu unpersönlich, sondern umgekehrt von Man- und Wirzu Ich-Formulierungen: Sandra mer/ ECH cha=s jetz mou probiere (319). Aber sie spricht auch die KundInnen immer sehr direkt an, fragt, was sie wollen, kommentiert, was sie getan haben oder tun sollen und nimmt Fremdpositionierungen vor selbst mit so persönlichen Angaben wie dem Alter: Sandra si müesste haut sösch spööter no äinisch aalüte; wenn si=s genau wette wüsse. (333). aso händ si en koPII gmacht vo dëne velecht; bevor si si gschickt händ. (319). aso SI händ=s jetz zrogg gschickt; däm fall. (319). si send jetz öppe SÄCHsevierzgi; gäle si. .h u: nd ehm/ jo das goot no/ (0.8) no guet füfzä zwänzg joor bis si (jo) pensioNIERT wärde, (330). Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang wiederum eine Reformulierung. Die Kundin fragt in depersonalisierter Weise, ob ‘man’ Einzahlungsscheine haben könne. Sandra antwortet darauf mit Sie- und Wir-Formulierungen, das heisst sie personalisiert die Frage der Kundin in ihrer Antwort und macht das Geschäft wieder zu einem persönlichen zwischen der Kundin und den Bankangestellten: Kundin händ/ yzaligsschii cha me au mache loo; Sandra jo. dë chöne si det grad eh bim aatrag wenn si ne zruggschicked vilicht nöime obedruuf no schrybe bitte: (xxx) soundso vöu yzaligsschiine bstöue. Kundin m=hm- Sandra dë mache mer das grad; (324). Am deutlichsten wird das Bemühen von Sandra um Nähe in der häufigen Verwendung von inklusivem Wir, mit welchem sie die Gemeinsamkeit der Interessen zwischen sich und dem Kunden unterstreicht bzw. unterstellt, was geradezu vereinnahmende Züge annehmen kann: Sandra dass mer ned no ZYT verlüüre. (333). jetz häm=mer jo do föifTUsig achthundert und sibe franke füfzä druffe. (330). ehm ech tu yne sösch nochethäne aalüüte und denn chöne mer=s denn zäme mache (323). <?page no="329"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 329 Auf die Initiative des Kunden, der mit seiner witzigen Bemerkung dem Gespräch eine persönliche Note zu verleihen versucht, geht sie mit einem knappen Lachen ein: Sandra das goot no/ (0.8) no guet füfzä zwänzg joor bis si (jo) pensioNIERT wärde Kunde (ah i hoff) nöd früener <<lachend> (.) he he he> Sandra (.) wie/ <<lachend> hh ja hh> (330). Schliesslich zeigt sich der Wille Sandras, sich persönlich ins Gespräch einzubringen und die Beziehung zwischen Kunde und Berater als nahe zu definieren, darin, dass sie KundInnen, die ihren Namen falsch aussprechen, korrigiert. Sie will nicht nur als Vertreterin der Schwyzer Bank, sondern auch als Privatperson richtig positioniert werden: Kundin wie isch nomol ire name; Sandra tanner; Kundin frau pfanner? Sandra näi T wie theodor, Kundin tanner! Sandra jo genau. (324). Die persönlichen Formulierungen haben da ein Ende, wo es um negative Nachrichten geht. In diesen Fällen greift Sandra zu depersonalisierten Formulierungen. Diese haben den Zweck, das Gesicht der Beteiligten zu schützen (vgl. Abschnitt 8.2.2.3). Generell jedoch positioniert sich Sandra als aktive Beraterin, die persönlich für ihr Tun einsteht, die Beziehung zu den Kunden als nahe definiert, die Kunden direkt anspricht und ihrerseits auf Handlungen verpflichtet und dabei sogar riskiert, dem einen oder anderen zu nahe zu treten. Eindeutig ist auch Sandras Identifikation mit dem Unternehmen. Sie spricht konstant in der Wir-Form von der Schwyzer Bank, zeigt sich als Angehörige eines dienstfertigen Teams und demonstriert auch dann noch Loyalität, wenn das Computersystem nicht funktioniert: Sandra jetz isch=s äifach so wem=mer USlanduuf(.)träg entgäge näme müem=mer en limite haa vo yne. (333). susch chöne si aso UNscheniert wider aalüte und mir gänd yne gärn uuskunft (324). nor es momäntli gäle si mer händ (drum) hüt am morge es bitzeli sySTEMproblem (319). Ihre eigene Verortung im Unternehmen und ihre Handlungsbefugnis macht Sandra wo nötig transparent, wobei sie im ersten Beispiel die Kollegin namentlich nennt, während im zweiten Beispiel die Abteilung, auf die sie sich bezieht, nicht genauer benannt wird: <?page no="330"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 330 Sandra weu d koLEEgin vo/ vorethäne het si identifiZIERT d frau amrein und eh denn isch=s äigentlich KÄS problem dë chöm=mer das grad so am TElefon machche. (330). weu ech MUES es schnäll nöime mälde dass si mer das laade sösch chan ech läider ou gar nüüt mache. (323). Sandra positioniert sich sehr nachdrücklich als kompetente, dienstbeflissene, loyale Beraterin der Schwyzer Bank, die die KundInnen persönlich und direkt anspricht und gegenseitige Verpflichtungen generiert. Von Alberto liegt wie von Susanne bereits eine ausführliche Beispielanalyse vor (vgl. Abschnitt 7.3.2). In diesem Gespräch mit jenem Kunden, für welchen zuerst ein Depot eröffnet werden muss, positioniert sich Alberto als ausgesprochen eigenmächtigen Berater, der gegen den Willen des Kunden seinen Handlungsplan durchsetzt, über dessen Kopf hinweg Entscheidungen trifft und sich geradezu als Vormund des älteren Herrn aufspielt. Sprachlich manifestiert sich diese Positionierung im Übergehen mehrerer Kundeninitiativen, in der eigenmächtigen Festlegung der Limite und der Gültigkeit des Börsenauftrags, in der Verwendung des inklusiven Wir und in den mangelhaften, zu spät erfolgenden und mit zweideutigem Lachen versehenen Erklärungen des eigenen Tuns. Lange, ungefüllte Pausen und die Weigerung, auf den vom Kunden initiierten Smalltalk einzugehen, zeigten darüber hinaus, dass Alberto die Beziehung zum Kunden rein geschäftlich verstanden wissen will und sich um das Gesicht der Beteiligten wenig kümmert. In diesem Gespräch legt Alberto, wie bereits erwähnt, selbst für seine Person extreme Verhaltensweisen an den Tag, die vermutlich auf eine Fehleinschätzung des Partners zurückzuführen sind. Die Rückversicherung des Börsenauftrags durch die Nennung der Gesamtsumme (“das wëred öppe 20’580 franke”) ist ein Hinweis darauf, dass Alberto davon ausgeht, einen nicht mehr ganz zurechnungsfähigen Opa vor sich zu haben, dessen Geschäfte man am besten in die eigene Hand nimmt. Die Ergebnisse der Beispielanalyse werden daher von den anderen Gesprächen im Teilkorpus bezüglich Positionierungen nicht vollumfänglich bestätigt. So findet sich in den anderen vier Gesprächen kein einziges inklusives wir - gerade deswegen konnte die Verwendung von wir im Beispiel als Zeichen von Bevormundung gedeutet werden. Was hingegen bestätigt wird, sind die deutlichen Bemühungen von Alberto, sich als Experten zu positionieren. Mit seinen elliptischen, schnell und teilweise mit dem Kunden überlappend gesprochenen Antworten und dem betonten Gebrauch von Börsenjargon positioniert er sich als erfahrenen Börsianer, der die Auskünfte aus dem Ärmel schütteln und Börsenaufträge mit Links erledigen kann. Beispiele: <?page no="331"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 331 64 Konkurrenz der Schwyzer Bank. Kunde und pro poschte isch eifach es paKET zum byspeu eh SB aktie Alberto geNAU es paket aso (si hend) SB AB 64 und so wyter (356). Alberto aso ge/ geschter hät (er) abgschlosse mit null SIBzä, und jetz stoot er null zwölf zu null sächs. (.) eh null sächzä. ZALT isch aber no KÄN äinzige kurs. (0.8) bis jetz. (352). j: Awol; aso gstellt sind=s <<len> äis zu zwäi.> (364). aso ich cha yne säge bi äis stönd scho zwäi komma sibe millione, wo warted, uf en chauf und bi zwäi sind=s ëh: : vierzgtusig. (364). Diese Positionierungen werden von den Kunden nie in Frage gestellt, vielmehr sind die Gesprächspartner von Alberto ihrerseits in auffälliger Weise darum bemüht, sich als Experten zu positionieren. In einem Fall führt dies ironischerweise dazu, dass Kunde und Berater sich in ebenso grosser Eile wie Ernsthaftigkeit puren Unsinn gegenseitig bestätigen: Kunde aso null komma zwöiezwänzg prozänt/ beziet sich das pro POSCHte oder gsamtinhaut Alberto das isch pro poschte; (356). Wenn die Depotgebühren nicht fix sind, sondern einen bestimmten Prozentsatz des Depotinhalts ausmachen, spielt es natürlich keine Rolle, ob die 0,22% pro Posten oder für den Gesamtinhalt berechnet werden, die Summe ist dieselbe, aber das merken die beiden in ihrem selbstdarstellerischen Eifer nicht. Wie Sandra ist also auch Alberto darum bemüht, sich als Experten zu positionieren, aber er tut es mit anderen sprachlichen Mitteln, nicht mit Erklärungen und Empfehlungen, sondern mit der Inszenierung von Tempo, mit der Verwendung von Börsenjargon und - darin Susanne vergleichbar - mit rigider Gesprächsführung. In der Gestaltung der Beziehung zu den KundInnen unterscheidet sich Alberto deutlich von Sandra. Er benützt bis auf die genannte Ausnahme kein inklusives Wir, das heisst er unterstellt keine Gemeinsamkeit der Interessen zwischen Berater und Kunde. Er betont im Gegenteil, dass der Auftrag die Sache des Kunden und er lediglich das ausführende Organ ist. Das erreicht er durch die konsequente Trennung von Ich und Sie, durch die Verwendung von Ich, wenn es um die manuelle Ausführung des Auftrags geht, und von Sie, wenn es um den Inhalt des Auftrags geht: Alberto tun=ich de uuftrag mal ygëë, […] ich tu de uuftrag widerHOle, si möchted chaufe motorola, optione (364). <?page no="332"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 332 65 Beides kommt nicht nur im Beispielgespräch mit dem älteren Herrn vor, sondern auch in weiteren Gesprächen, die nicht im Teilkorpus sind. 66 Antos (1992) spricht in diesem Zusammenhang vom “Jagdfieber” (S. 269) von Hotline Angestellten, die sich durch sachlich komplexe Probleme herausgefordert fühlen. Dass ihm nicht an persönlicher Nähe zum Kunden gelegen ist, zeigt Alberto auch dadurch, dass er Smalltalk nach Möglichkeit meidet, nicht darauf eingeht, wenn der Kunde solchen initiiert, und dass er Kunden, die seinen Namen falsch aussprechen, nicht korrigiert. 65 Ebenso positioniert er sich auf der Dimension der Dienstbeflissenheit am negativen Pol, indem er keine eigenen Initiativen ergreift und manchmal die Gesprächsbeendigung forciert (vgl. Abschnitte 8.2.2.1 und 8.2.3.1). Positioniert sich Alberto im Normalfall insgesamt als distanziert, unpersönlich und wenig dienstbeflissen, so ändert sich sein Verhalten interessanterweise dann, wenn Probleme auftauchen. Den Börsenauftrag des Kunden ohne US-Quellensteuerformular versucht er trotz der Sperrung mehrmals aufzugeben, und zuletzt drückt er sein Bedauern aus, dass er das System nicht übersteuern kann. Dabei reformuliert er das Scheitern mehrfach, und zwar weg von depersonalisierten Formulierungen zur Ich-Formulierung: Alberto (mm: : ) mer chan=en NÖD überstüüre, (6.4) NÄI cha me läider nöd überstüüre. (2.2) ha läider kä chance über (xxxxxxxxxxxxxx) (stüüre) Kunde ja isch scho guet; easy peasy. Alberto <<lachend> hehe s tuet mer würklich läid> (357). Auch für den Kunden mit dem nicht ausgeführten Börsenauftrag geht er lange stöhnend auf die Suche nach dem fehlenden Auftrag und drückt zwei Mal sein Bedauern aus: Alberto (0.5) .hh ja eh (stöhnt)) (13.0) chäuf (1.5) läider han=ich vo hütt (.) KÄN einzige verCHAUF wo bi yne gmacht worden=isch (352). Ein Zeichen besonderer Verbundenheit mit dem Kunden sehe ich darin nicht. Vielmehr interpretiere ich das Verhalten von Alberto dahingehend, dass er sich in seiner Berufsehre gekränkt fühlt, wenn er einen Auftrag nicht ausführen kann. 66 Er betrachtet das Scheitern als Verletzung des eigenen Gesichts und entschuldigt sich daher in Ich-Form dafür. Um das Gesicht der Kunden ist er nämlich nicht sonderlich bemüht, wie seine Zurechtweisungen und gelegentlichen Vorwürfe zeigen (vgl. Abschnitt 8.2.2.2). Was schliesslich die eigene Verortung in der Bank betrifft, demonstriert Alberto wie Sandra weitgehende Identifikation mit dem Unternehmen, indem er regelmässig die Wir-Form benützt: Alberto wil mir händ=s/ afang jaar häm=mer=s verschickt ghaa dass me das bis ändi jaar söll eus returniere, (357). Von den anderen internen Abteilungen grenzt er sich deutlich ab (‘die von den Formalitäten’), wobei er die Formulierung erst finden muss: <?page no="333"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 333 Alberto ooni die US formalitäte chan=ich (yne) (xxxx) KÄN börsenuuftragmer/ si nämed=s nöd aa; si händ/ s hät e sperri drinn. […] (wil ëbe die do eh: ) vo de formalitäte die tüend nochhär en COde ine, und ersch dänn gaat das (357). Fazit: Alberto positioniert sich als Experten, der seine Handlungspläne kennt und wenn nötig auch gegen den Willen des Kunden durchsetzt. Er positioniert sich als loyalen Mitarbeiter der eigenen Abteilung, der es als Ehrensache betrachtet, auch komplizierte Anliegen des Kunden mit Leichtigkeit zu erledigen. Die Beziehung zu diesen Kunden definiert er jedoch als vollkommen unpersönlich und distanziert. Die Positionierungen der vier Angestellten weisen deutlich individuelle Züge auf. Zu betonen ist, dass die einzelnen Dimensionen, auf denen sich die Angestellten positionieren, voneinander unabhängig sind. Susanne positioniert sich als kompetent und dienstbeflissen und definiert die Beziehung zu den Kunden trotzdem als distanziert und unpersönlich, während Sandra Expertentum und Dienstbeflissenheit mit Nähe zum Kunden bis hin zur Vereinnahmung kombiniert. Alberto wiederum positioniert sich auf der Dimension der Kompetenz am äussersten positiven Pol und ist dafür bei den anderen Dimensionen eher im negativen Bereich anzutreffen, während David auf allen Dimensionen praktisch nur negative oder fehlende Werte aufweist. 8.2.4 Integration der Ergebnisse: Die Interaktionsprofile von David, Susanne, Sandra und Alberto Nachdem in den vorangegangenen Abschnitten die 10 Kategorien bzw. 35 Elemente des zur Erfassung sprachlicher Individualität entworfenen Interaktionsprofils, gegliedert in die stimmliche, stilistische und rhetorische Ebene, nacheinander besprochen wurden, fasse ich in diesem Abschnitt die Ergebnisse für die vier Angestellten einzeln zusammen und erstelle damit das für sie charakteristische Interaktionsprofil. Die aus den Gesprächsdaten gewonnenen Ergebnisse ergänze ich mit den Beobachtungen und Auskünften, die ich vor Ort gewinnen konnte. Sie sind ein Schlüssel zum Verständnis dessen, was in den Gesprächen geschieht und bieten erste Anhaltspunkte, wie sprachliche Individualität in institutionellen Gesprächen erklärt werden kann und welche Einflussgrössen das Interaktionsprofil eines Individuums bestimmen. Eine Systematisierung dieser Einflussgrössen und ein ganzheitliches Modell zur Erklärung sprachlicher Individualität wird im letzten Kapitel entwickelt. <?page no="334"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 334 David David verfügt über eine angenehme, ohne jeden Druck gesprochene “Telefonstimme” in mittelhoher Lage. Er spricht wohlartikulierten, gut verständlichen Zürcher Dialekt in mässigem Tempo. Seine Melodik ist reich, insbesondere bei Fragen und abschliessenden Bemerkungen sind die Intonationskurven nach oben und unten ausgeprägt. Mit fremdsprachigen Partnern spricht er ein fehlerfreies, von der Aussprache her schweizerisch gefärbtes Deutsch. Paraverbale Phänomene wie Lachen, Stöhnen oder Seufzen sind von ihm nicht zu hören. Die Freundlichkeit, die in seiner Stimme klingt, ist für David eine wertvolle Ressource zur erfolgreichen Gestaltung seiner Rolle als Call Agent. Auf der stilistischen Ebene zeichnet sich Davids Interaktionsprofil bei allen Elementen durch Knappheit aus. Institutionell vorgegebene Handlungsmuster wie die Identifikation führt er in der kürzest möglichen Variante durch mit einer knappen Ankündigung, der Beschränkung auf drei meist einfach zu beantwortende Fragen und einer oft nicht hörbaren Beendigung mit unmittelbarer Rückführung zum Kundenanliegen. Bei der Gesprächseröffnung verzichtet David auf eine Begrüssung, wenn die Kundin ihm nicht deutlich Zeit dafür einräumt, er verzichtet darauf, nach nicht verstandenen Namen zu fragen und vor dem Weiterverbinden abzuklären, ob er das Anliegen der Kundin selber erfüllen könnte. Auch der Gesprächsabschluss fällt bei ihm kürzer aus als von den Konventionen her zu erwarten wäre und von der Schwyzer Bank eigentlich vorgeschrieben ist. Seine Resümees fallen sehr kurz aus, von den drei Sequenzen Wunsch, Dank und Abschied fehlt in der Regel mindestens eine, und die verbleibenden sind teilweise bis auf das Einzelwort (“ade”, “merci”) hinunter reduziert. Von Knappheit geprägt sind auch Davids syntaktisch-lexikalische Präferenzen. Bei inhaltlich wenig komplexen Gesprächen verwendet er einfache, vollständige Sätze, die er ohne Selbstreparaturen, ohne Füllwörter, ohne Floskeln, ohne “aso” und “äh” sicher formuliert und fliessend spricht. Wenn er mit Problemen konfrontiert ist, mit Kundenanliegen, die er nicht sogleich zu beantworten weiss oder mit Reklamationen, verwendet David vermehrt Nebensätze, syntaktische Konstruktionen, denen er nicht immer gewachsen ist: Selbstreparaturen, Pausen und “äh” kommen in diesen schwierigen Momenten deutlich häufiger vor. Typisch für David sind ferner Depersonalisierungen: Ich- und Sie-Formulierungen sind häufig getilgt zugunsten von Aussagen mit “es” als Subjekt. Knappheit und Depersonalisierungen tragen dazu bei, dass David weniger höflich wirkt als seine Kollegin Susanne. David erfüllt zwar einen Teil der internen Vorschriften, indem er die KundInnen hin und wieder mit dem Namen anspricht, sie nicht unterbricht, Wartezeiten korrekt ankündigt, die Floskel “sind si no daa” vermeidet, bei Abwesenheit des Beraters einen Rückruf anbietet und den Kunden gute Wünsche mit auf den Weg gibt. <?page no="335"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 335 Zusammen mit seiner Stimme wirkt er dadurch durchaus freundlich. Gleichzeitig lässt er viele Ratifikationen aus, modalisiert die Mehrheit seiner Fragen nicht, ist sparsam mit seinen Auskünften, nutzt keine Gelegenheit, dem Kunden für seinen Auftrag oder seine Kooperation zu danken und entschuldigt sich nicht für Fehler, die der Bank unterlaufen sind. Der Vergleich mit den KollegInnen zeigt, dass David weit mehr tun könnte, um höflich und zuvorkommend zu wirken. Ein letztes Merkmal von Davids Verhalten auf der stilistischen Ebene besteht darin, dass er vergleichsweise variable Formulierungen für hundertfach wiederkehrende Gesprächssituationen verwendet. Die Worte, die er für die Begrüssung, für die guten Wünsche oder für den Abschied wählt, wechseln von Gespräch zu Gespräch, unabhängig davon, was der Kunde gesagt hat. Der Knappheit auf der stilistischen Ebene entspricht die Zurückhaltung auf der rhetorischen Ebene. Zurückhaltung zeigt David bei der organisationellen Gesprächssteuerung. Er spricht praktisch nie überlappend und unterbricht seine Gesprächspartner kaum, bricht bei Unterbrechungen und Parallelstarts in der Hälfte der Fälle seine Äusserung ab und überlässt dem Partner das Rederecht. Häufig lässt er vor der Übernahme des Turns eine kleine Pause entstehen; am auffälligsten sind jedoch die vielen ausbleibenden Rückmeldungen, die David als unbeteiligt erscheinen lassen. Zurückhaltung übt David auch bei der thematischen Gesprächssteuerung. Er initiiert nur jene Handlungsmuster, die er von seiner Aufgabe als Agent her initiieren muss wie Kontoaufruf, Identifikation oder Lösungsvorschlag. Weitere Initiativen ergreift er nicht, vielmehr überlässt er die thematische Steuerung weitgehend den KundInnen. Auf die Anliegen der KundInnen geht er ohne Verzögerung ein, indem er sogleich zu deren Bearbeitung schreitet und allfällige Präzisierungsfragen erst später stellt. Thematische Initiativen der KundInnen, die keine unmittelbare manuelle Bearbeitung am Computer verlangen, werden von ihm nicht aufgegriffen und weitergesponnen, sondern nur minimal beantwortet, manchmal lediglich mit einem “ja”. Unsichere oder verärgerte Kunden lässt er auf diese Weise regelrecht ins Leere laufen. Durch seine zurückhaltende Art der Gesprächssteuerung wirkt David wenig kontrollierend, aber auch wenig kooperativ. Von Zurückhaltung geprägt sind schliesslich auch die Positionierungen von David. Er bemüht sich nicht darum, sich als Experten zu positionieren, sondern positioniert sich - wenn überhaupt - eher als unsicher und unentschlossen. Er legt wenig Dienstbeflissenheit an den Tag und definiert die Beziehung zum Kunden als gänzlich unpersönlich und distanziert. Welche Position er im Unternehmen hat, wie die internen Abläufe sind, welche Kompetenzen er als Agent hat und was er nicht tun darf, lässt er in der Schwebe. Das Ausbleiben des Pronomens wir signalisiert fehlende Identifikation mit der Bank und dem eigenen Arbeitsteam. David vermeidet jegliche klare Positionierung und bleibt dadurch für seine Gesprächspartner letztlich nicht greifbar. <?page no="336"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 336 Dass David sich seinen Gesprächspartnern bewusst zu entziehen sucht, machte er auch äusserlich deutlich. Während der Arbeit an Telefon und Bildschirm trug er meistens eine Schirmmütze mit einem Schirm, der so gross war, dass keiner, der durch die Reihen der Call Agents ging, seine Augen sehen konnte. Von dieser Abschottungshaltung war im Pausengespräch nichts zu spüren. David ist ein junger, sportlicher, aufgeschlossener Bursche, der sich bereitwillig auf Tonband aufnehmen liess und meinem Forschungs- und Beratungsprojekt nicht nur weniger Misstrauen als manche seiner KollegInnen, sondern sogar Interesse entgegenbrachte. Bei den KollegInnen schien er beliebt zu sein, insbesondere mit dem leutseligen Thomas verband ihn eine enge Kameradschaft. Die Vorgesetzten hatten Vertrauen in ihn, was sich darin zeigte, dass er ab und zu als Götti für Neueintretende wirken durfte. Warum dann diese Zurückhaltung, dieser Minimalismus am Telefon, diese bis an die Unhöflichkeit grenzende Distanz zu den KundInnen? Als ich David beim gemeinsamen Anhören und Analysieren seiner aufgezeichneten Gespräche vorsichtig mitteilte, auf mich wirke er etwas distanziert, prallte er regelrecht zurück und fing an sich zu rechtfertigen: Die Arbeit im Call Center gebe doch nicht das her, was er sich davon versprochen habe, die KundInnen seien weit weg, die Gespräche kurz, es gebe gar keine Möglichkeit, mit den KundInnen wirklich ins Gespräch zu kommen und sie zu beraten. Davids interaktionale Zurückhaltung, sein Minimalismus, seine Abschottungshaltung sind nicht primär Ausdruck seines Charakters oder mangelnder Fähigkeiten, sondern das Verhalten eines Menschen, der an seiner Arbeitsstelle nicht glücklich ist, mit seiner beruflichen Rolle nicht zurecht kommt und sich innerlich verabschiedet hat. Sein Interaktionsprofil ist Ausdruck seiner beruflichen Befindlichkeit. Wenige Monate nach den Aufnahmen hat er das Call Center verlassen und eine andere Stelle bei der Schwyzer Bank angetreten. Susanne Susanne hat eine kräftige, eher hohe, am Telefon angenehm zu hörende Stimme. Ihr Zürcher Dialekt ist gut zu verstehen, zumal sie beinahe überdeutlich artikuliert. Sie spricht eher langsam, macht relativ viele Pausen, selbst vor einfachen Rückmeldungen wie “m=hm”, und dehnt einige Wörter wie “ja” und “nöd” auffällig in die Länge. Dadurch erscheint sie als sehr bedächtig. Ihre Intonationskurven sind noch ausgeprägter als jene von David und gehen vor allem bei der Begrüssung und bei Fragen steil nach oben. Bei fremdsprachigen KundInnen stellt sie auf dialektal gefärbtes Deutsch um, ausser wenn diese selber ein Dialekt-Deutsch Gemisch sprechen. Stöhnen und Seufzen ist bei Susanne nicht zu vernehmen, Lachen kommt sehr selten <?page no="337"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 337 und nur auf Einladung des Kunden vor. Susanne hat eine ideale Stimme für die Arbeit am Telefon. Auf der stilistischen Ebene zeichnet sich Susanne durch Wohlgeformtheit, Kontrolliertheit und Uniformität aus. Für alle untersuchten Handlungsmuster verfügt sie über ein Set fixfertiger Handlungs- und Formulierungsroutinen, die sie von Gespräch zu Gespräch praktisch wörtlich wiederholt. Ihre Begrüssung klingt immer gleich und wird von ihr nie ausgelassen, selbst wenn sie dazu die KundInnen unterbrechen muss. Die Identifikation wird von ihr mit den stets gleich bleibenden Fragen nach dem Namen des Kontoinhabers, nach dem Geburtsdatum und nach Angaben ‘zu Ihrer Sicherheit’ eingeleitet, die Antworten der KundInnen werden konsequent nicht ratifiziert, und die Identifikation wird mit einem deutlichen, positiv evaluierenden Beendigungssignal abgeschlossen. Lediglich Anzahl und Inhalt der Fragen variiert Susanne je nach Kunde bzw. je nach Verlässlichkeit seiner Angaben. Beim Gesprächsabschluss wiederum passt Susanne lediglich das Resümee dem Inhalt des vorangegangenen Gesprächs an, Dank, Wunsch und Abschied wiederholt sie in jedem Gespräch praktisch wörtlich. Dadurch entsteht im einzelnen Gespräch, mehr aber noch beim Anhören mehrerer Gespräche von Susanne der Eindruck einer seltsamen Mischung von Freundlichkeit und Sturheit. Was immer Susanne äussert, ist wohl bedacht und bewusst formuliert. Sie produziert praktisch keine Versprecher, muss sich nie selber korrigieren, verwendet abgesehen vom Gliederungssignal “aso” keinerlei Füllwörter oder Floskeln und füllt die Pausen nicht mit “äh”. Ihre Sätze sind syntaktisch vollständig und korrekt, sie verwendet regelmässig Nebensätze und selbst komplexere syntaktische Konstruktionen wie “einerseits/ andererseits”. Sie spricht konsequent in der Ich-Form von sich, in der Wir-Form von der Bank und in der Sie-Form zum Kunden, Depersonalisierungen und inklusives wir kommen bei ihr nicht vor. Vereinzelt kommen Upgradings vor, mit denen sie Kundenäusserungen wiederholt und präzisiert. Susanne hat ihre Sprechweise maximal unter Kontrolle. Bei der Höflichkeit schliesst Susanne besser ab als David und einige andere KollegInnen. Einerseits setzt sie die Vorschriften der Schwyzer Bank konsequenter um, indem sie zum Beispiel bei Reklamationen ihr Bedauern ausdrückt (wenn auch in minimaler Weise), die KundInnen vor dem Weiterverbinden nach ihrem Anliegen fragt und sich von ihnen verabschiedet. Andererseits findet sie Mittel und Wege, über das Vorgeschriebene hinaus Zeichen positiver und negativer Höflichkeit zu setzen. So bedankt sie sich bei den KundInnen für das Warten bei Gesprächsunterbrüchen oder für die Kooperation bei der Identifikation, sie gibt in ihren Antworten mehr Information als die unmittelbar verlangte, und sie bietet zusätzliche Dienstleistungen an. Gesichtsbedrohende Handlungen wie Absagen oder Belehrungen werden von Susanne ganz weggelassen oder mit Verzögerungen und Partikeln modalisiert. Fragen werden von ihr regelmässig mit Modalverben, <?page no="338"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 338 teilweise im Konjunktiv, modalisiert. Sie wirkt dadurch höflich und diplomatisch. Dem kontrollierten, gepflegten Gesprächsstil entspricht ein kontrolliertes und kontrollierendes Verhalten auf der rhetorischen Ebene. Susanne trägt von ihrer Seite her alles Denkbare zu einem reibungslosen Sprecherwechsel bei. Sie produziert abgesehen von den erzwungenen Begrüssungen praktisch keine Überlappungen und erst recht keine Unterbrechungen. Ihre eigenen Äusserungen sind syntaktisch und prosodisch so klar gestaltet, dass auch die Gesprächspartner sich selten über das Ende ihrer Äusserungen täuschen und kaum überlappend einsetzen. Dazu trägt auch Susannes Verzicht auf tagquestions bei. Selbst beim Gesprächsabschluss wird in Susannes Gesprächen kaum überlappend gesprochen, was aussergewöhnlich ist. Das Rückmeldeverhalten von Susanne folgt einem klaren Muster und ist sehr intensiv: Während der Identifikation lässt sie die Rückmeldungen aus, vorher und nachher lässt sie keine einzige Äusserung der KundInnen unratifiziert. Auch thematisch hat Susanne die Gespräche so weit unter Kontrolle, wie es für die Agents überhaupt möglich ist. Abgesehen von den Handlungsmustern, zu denen sie verpflichtet ist, initiiert sie zusätzliche Handlungsmuster wie Vorschläge und Erklärungen. Auf die Anliegen der KundInnen reagiert sie nicht immer mit der sofortigen Ausführung, sondern stellt häufig zuerst Präzisierungsfragen; insbesondere verzichtet sie darauf, immer als Erstes das Konto aufzurufen und den Kunden zu identifizieren. Thematische Initiativen der KundInnen werden von ihr aufgegriffen und mit Fragen und Erklärungen weitergesponnen, manchmal aber auch mit Gegenvorschlägen in eine andere, von ihr präferierte Richtung gelenkt. Von Handlungsmustern, die sie einmal etabliert hat, lässt Susanne sich nicht mehr abbringen, sondern setzt sie auch gegen den Willen, aber im Interesse des Kunden durch. Sie zeigt durch ihre Form der Gesprächssteuerung, dass sie genau weiss, was für den Kunden am besten ist. Das zeigt sie auch mit ihren Positionierungen. Susanne positioniert sich gekonnt als Expertin, mit Ausdrücken des Wissens, mit Erläuterungen, mit Upgradings, sie zeigt aber auch klar die Grenzen ihres Wissens auf und stellt ihre Bereitschaft unter Beweis, das fehlende Wissen zu beschaffen. In ihrer Beziehung zum Kunden positioniert Susanne sich als dienstbeflissen und verbindlich, gleichzeitig jedoch als ganz auf die Sache bezogen. Persönliche Involviertheit und Nähe zum Kunden sind nicht zu erkennen. Von der Bank spricht sie konsequent in der Wir-Form, selbst wenn sie im Namen anderer Abteilungen spricht, und demonstriert damit völlige Identifikation mit dem Unternehmen. Solange es geht, vertuscht sie erfolgreich, dass sie in einem Call Center arbeitet und nicht in der vom Kunden angewählten Geschäftsstelle, wenn sie jedoch gefragt wird, wo sie sich denn befinde, macht sie die internen Abläufe transparent. Susanne bezieht im Gegensatz zu David in jeder Hinsicht klar Position. <?page no="339"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 339 Kontrolle, Uniformität und Bedächtigkeit sind die Kennzeichen von Susannes Interaktionsprofil. Dazu passt ihre äussere Erscheinung: Ihre beachtliche Leibesfülle und ihr unerschütterliches, überlegenes Lächeln zeigen jedem Passanten im Call Center, dass sie sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt. Im Pausengespräch wirkt sie genau so bedächtig, um nicht zu sagen phlegmatisch, wie am Telefon. Susanne hat früher in einer der grössten und renommiertesten Geschäftsstellen der Schwyzer Bank gearbeitet und hat den “Abstieg” ins Call Center bewusst gewählt, weil ihr die Arbeit dort bequem erschien und vor allem weil der Arbeitsort näher an ihrem Wohnort gelegen ist. Susanne arbeitet regelmässig die Neuen ein und ist in ihrem Team neben der Teamleaderin die Anlaufstelle Nummer eins für alle Fragen und Probleme der KollegInnen. Susanne scheint mit ihrer Arbeit zufrieden zu sein. Ihr Interaktionsprofil ist Ausdruck einer Person, die von der Richtigkeit ihres Tuns überzeugt ist und sich alle notwendigen Routinen für die erfolgreiche Bewältigung des Arbeitsalltags angeeignet hat. Sandra Sandra hat keine angenehme Stimme. Sie spricht eher hoch, ziemlich monoton und mit hörbarem Druck auf dem Kehlkopf. Dadurch klingt die Stimme gepresst, Sandras Äusserungen bekommen zeitweise eine unangenehme Schärfe. Diese wird verstärkt durch ein konstant hohes Sprechtempo. Besonders auffällig ist Sandras uneinheitlicher Varietätengebrauch. Sie schwankt permanent zwischen west- und ostmittelländischen Varianten, vokalisiert teilweise das “l”, verdoppelt teilweise die Konsonanten, benützt meistens das überoffene “ä” (typisch für das westliche Mittelland), verwendet jedoch als Höflichkeitsform die dritte Person (typisch für das östliche Mittelland). Sandra lacht häufiger als ihre KollegInnen, sowohl auf Einladung der KundInnen, als auch selbst initiiert, im letzteren Fall vorzugsweise in entschuldigender Funktion. Sandra ist aufgrund ihrer uneinheitlichen Aussprache und ihres Tempos nicht immer gut zu verstehen, ihre Stimme ist nicht die geeignetste für die Arbeit am Telefon. Auf der stilistischen Ebene lässt sich Sandras Interaktionsprofil mit einem einzigen Adjektiv kennzeichnen: wortreich. Sie spricht bedeutend mehr als ihre KollegInnen, was sich in der Anzahl und Länge ihrer Redebeiträge niederschlägt. Sie räumt aber auch ihren Gesprächspartnern viel Zeit zum Reden ein, wodurch ihre Gespräche insgesamt überdurchschnittlich lange dauern. Handlungsmuster wie Börsenaufträge oder Anlageberatungen versucht sie nicht in der kürzest möglichen Form zu bearbeiten, sondern lässt längere Exkurse in Form von Fragen, Diskussionen über Vor- und Nachteile und Abklärungen zu. Erst wenn der Kunde sich überhaupt nicht entscheiden kann, versucht sie mit klaren Empfehlungen einen Entscheid herbeizuführen. Bei der Wiederholung des Börsenauftrags benützt sie syntaktisch vollständige Sätze, während einige ihrer KollegInnen sich mit <?page no="340"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 340 elliptischen Äusserungen begnügen. Besonders gut zu beobachten ist Sandras Ausführlichkeit beim Gesprächsabschluss. Sie lässt keine einzige der verlangten Sequenzen aus, vielmehr verdoppelt sie diese mitunter. Ihre Resümees sind ausführlich, sie produziert in der Regel mehrere positive Evaluationen und Beendigungssignale, bedankt sich mindestens ein Mal beim Kunden, gibt an die Tageszeit angepasste gute Wünsche mit auf den Weg und verabschiedet sich von allen Kunden mit dem Namen. Auch bei den syntaktisch-lexikalischen Präferenzen neigt Sandra stets zum Gebrauch der wortreichsten Variante. Sie benützt mit Abstand am häufigsten Nebensätze, und zwar nicht nur Relativsätze und dass-Sätze, sondern auch Konditional- und Temporalsätze sowie abhängige Fragesätze. Typisch für Sandra sind ferner Schachtelsätze sowie mit weil eingeleitete Nebensätze mit Verbzweitstellung. Allerdings verheddert sie sich nicht selten in ihren komplexen syntaktischen Strukturen. Das führt zu einer immensen Zahl abgebrochener Sätze und Selbstreparaturen. Sandra scheint permanent um den rechten Ausdruck zu ringen, wofür die Floskel “wie söll i sääge” symptomatisch ist. Zur komplexen Syntax und zu den vielen Selbstreparaturen gesellen sich bei Sandra eine Unzahl mit “ehm” gefüllter Pausen, Füllwörter wie “aso”, “ëbe”, “äifach”, “äigentlich” und Floskeln wie “isch das guet” oder “gäle si”. Der Wortstrom von Sandra bricht praktisch nie ab, wirkt in höchstem Masse unkontrolliert und ist manchmal schwer verständlich. Erschwerend wirkt eine weitere stilistische Besonderheit von Sandra, nämlich ihre oft vagen Referenzen, Proformen wie “das” oder “das ganze”, deren Bezugsobjekte vom Partner kaum erschlossen werden können. Zur Steigerung der Verständlichkeit setzt Sandra manchmal Downgradings ein. In der Wahl der Pronomen schliesslich ist sie flexibel: Ich- und Sie-Formulierungen wechseln ab mit inklusivem und exklusivem wir sowie Depersonalisierungen mit man. Der Wechsel der Pronomen dient Sandra zu differenzierten Positionierungen und subtilem Facemanagement. Auf der Klaviatur der Höflichkeit vermag Sandra verschiedene Register zu spielen, wobei bei ihr im Gegensatz zu Susanne die Formen negativer Höflichkeit überwiegen. Sandra erweist ihren KundInnen Ehrerbietung in der Form von ausführlichen Erklärungen, bietet zusätzliche Dienste an und ist intensiv um Rapport bemüht. Gesichtsbedrohende Handlungen wie Fragen, Anweisungen oder Absagen werden von ihr in vielfältiger Weise modalisiert, durch die Verwendung von Modalpartikeln, Modalverben, Verzögerungen und Depersonalisierungen. Allerdings führt Sandra auch gesichtsbedrohende Handlungen aus, wenn sie die KundInnen sehr direkt mit persönlichen Daten wie dem Alter fremdpositioniert, ihnen mit ihrem penetranten “nur es momäntli gäle si” das Wort abschneidet oder ihnen Vorwürfe macht. Sandra pflegt diesbezüglich eine Mischung aus betonter Höflichkeit und unhöflicher Direktheit. <?page no="341"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 341 Das Sprechtempo und der Wortreichtum von Sandra machen sich auch auf der rhetorischen Ebene bemerkbar. Ihre Gespräche verlaufen in Bezug auf die Gesprächsorganisation weit weniger geordnet als jene von Susanne oder David. Sandra setzt mit einem Fünftel ihrer Redebeiträge ein, bevor der Kunde zu Ende gesprochen hat, mehrere Male unterbricht sie die KundInnen sogar. Weil sie selber praktisch pausenlos spricht und viele tag-questions produziert, fallen auch viele Rückmeldungen und Turnübernahmen der KundInnen überlappend aus. Parallelstarts sind häufig, und mancher Kunde kommt nur dadurch zu Wort, dass er Sandra seinerseits unterbricht. In diesen Fällen tritt Sandra ihr Rederecht sofort ab, als hätte sie die Unterbrechung erwartet. Sich gegenseitig ins Wort fallen und parallel sprechen ist für Sandra offenbar auch in der institutionellen, telefonischen Kommunikation das präferierte Gesprächsverhalten. Sie erscheint dadurch als engagierte, manchmal übereifrige Gesprächspartnerin, von der sich jene KundInnen überfahren fühlen könnten, die von einer Institutionsvertreterin, von einer Bankberaterin namentlich, ein anderes Gesprächsverhalten erwarten. Auch bezüglich der thematischen Steuerung ist Sandra überdurchschnittlich initiativ. Sie gibt sich nicht damit zufrieden, Anfragen von Kunden knapp zu beantworten, wie David es tut, sondern etabliert von sich aus die Handlungsmuster des Erklärens, Argumentierens und Beratens. Thematische Initiativen von KundInnen greift sie auf und spinnt sie weiter mit Gegenfragen und weit ausholenden Erläuterungen. Dabei versteht sie es, mit ihren Vorschlägen und Empfehlungen das Gespräch in die von ihr gewünschte Richtung zu lenken. Zu diesem Zweck übergeht sie gelegentlich sogar die Initiativen der KundInnen oder lenkt sie mit Gegenvorschlägen auf den von ihr eingeschlagenen Pfad zurück. Als rigideste Steuerungsmassnahme setzt Sandra den vorzeitigen Gesprächsabbruch und die Vereinbarung eines Rückrufs ein. Das Einholen des Einverständnisses des Kunden (“isch das guet”) wirkt in diesem Zusammenhang jeweils rein rhetorisch, de facto lässt sie dem Kunden keine Wahl. Sandra lässt ihre KundInnen zwar zu Wort kommen, selbst redselige Geschichtenerzähler, inhaltlich jedoch kontrolliert sie das Gespräch über weite Strecken. Die klaren Empfehlungen und die ausführlichen Erläuterungen dienen Sandra auch dazu, sich als Expertin sowie als dienstbeflissene Beraterin zu positionieren. Die Beziehung zu den KundInnen definiert sie als einzige der vier untersuchten Angestellten als nahe und persönlich. Sie spricht die KundInnen sehr direkt an, nimmt Fremdpositionierungen vor, verpflichtet beide Seiten auf zukünftige Handlungen und benützt regelmässig das inklusive wir, mit welchem sie die Gemeinsamkeit der Interessen betont bis hin zur Vereinnahmung des Kunden. Sie besteht auf der korrekten Aussprache ihres Familiennamens. Sich selber positioniert sie als loyale Vertreterin der Schwyzer Bank, die sich mit ihrem Team identifiziert und die internen Abläufe transparent macht. <?page no="342"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 342 Mit Sandra zu sprechen hatte ich leider keine Gelegenheit, da sie das Team unmittelbar nach den Aufnahmen verliess. Ihr Interaktionsprofil ist für mich Ausdruck einer Person, die sich nicht als traditionelle Bankbeamtin versteht, sondern als jugendliche, unkomplizierte Telefonberaterin, die mit viel Eifer bei der Sache ist, ehrgeizige Verkaufsziele verfolgt und allenfalls aufsteigen möchte, die aber noch deutliche Mängel an (Rede-)Gewandtheit und Erfahrung im Umgang mit verschiedenen KundInnen aufweist. Alberto Alberto hat wie Sandra keine “Telefonstimme”. Er spricht am Telefon sehr hoch, deutlich über seiner an sich schon hohen Indifferenzlage, bei den noch höher angesetzten “okay” überschlägt sich seine Stimme manchmal beinahe. Alberto spricht sehr schnell und eher monoton, manchmal verhaspelt er sich und muss seine Sätze mehrfach von vorne anfangen. Die Satzenden bleiben intonatorisch oft schwebend. Gewisse Äusserungen vernuschelt er bis zur Unverständlichkeit. Die genannten Merkmale verleihen seinem Sprechen einen unangenehm gehetzten und scharfen Charakter. Alberto spricht Zürcher Dialekt, wobei gelegentliche Fehler bei der Wahl des Genus und ungewöhnliche Wortstellungen erkennen lassen, dass er als zweite Muttersprache Italienisch spricht. Alberto lacht im Vergleich zu den Agents relativ häufig, und zwar meistens selbst-initiiert und einseitig. Sein Lachen hat in der Regel entschuldigende Funktion, gewisse Lacher jedoch klingen, als würde er sich über den Kunden amüsieren. Dieses Lachen kann als Auslachen empfunden werden, was erklären würde, warum die Kunden nicht mitlachen. Alberto ist auch der einzige, der hin und wieder stöhnt, und zwar dann, wenn er mit einem Problem kämpft und der Kunde auf eine Erklärung wartet. Was die stilistische Ebene betrifft, ist die Sprache von Alberto knapp, teilweise geradezu elliptisch, direkt und uneinheitlich. Phasenweise spricht er kontrolliert, sicher und unter Verwendung wörtlich wiederkehrender Formulierungsroutinen, phasenweise gerät er hingegen geradezu ins Stottern und bringt keinen korrekten Satz mehr zu Stande. Für das Handlungsmuster Börsenauftrag verfügt Alberto über stereotype Handlungs- und Formulierungsroutinen, die er von Gespräch zu Gespräch praktisch wörtlich wiederholt. Er stellt den vom Kunden genannten Titel bzw. die Valorennummer sicher, gibt ungefragt den aktuellen Kurs bekannt, fragt in depersonalisierter und teilweise elliptischer Form nach Limite und Gültigkeit und gibt dann den Auftrag in das Computersystem ein, entstehende Pausen mit Selbstgeprächen überbrückend. Zuletzt wiederholt er den Auftrag in lexikalisch und prosodisch jeweils identischer Form: “ich widerhole de uuftrag”, “si möchted chaufe”, Titel, Valorennummer, Stückzahl, Limite, “gültig bis”, “gemäss telefon vo Yne”. Sein Vorgehen ist in diesen Momenten sehr formalistisch. Auch beim Gesprächsabschluss setzt Alberto fixe Formulierungs- <?page no="343"?> Interaktionsprofile: Empirische Analysen 343 routinen ein, die im Vergleich mit den KollegInnen als abweichend bezeichnet werden müssen. Er forciert oft den Abschluss mit einem frühzeitigen, hoch angesetzten “okay”, beantwortet den Dank der Kunden nicht mit einem Gegendank, sondern mit “bitte”, und spult dann ohne Rücksicht auf das, was der Kunde sagt, seinen immer gleichen guten Wunsch (“no schöne tag”) und den Abschied (“ade herr keller”) herunter. Die intendierte freundliche Wirkung der Telefonstandards der Schwyzer Bank verkehrt sich durch diese mechanistische Umsetzung in ihr Gegenteil. Ausserhalb der Handlungsmuster Börsenauftrag und Gesprächsabschluss beweist Alberto weniger stilistische Routine und Sicherheit. Seine Syntax ist relativ simpel, die einzelnen Äusserungen werden ohne Konjunktionen und damit ohne sichtbare logische Verknüpfung nebeneinander gestellt. Wenn überhaupt Nebensätze vorkommen, handelt es sich um Relativsätze. Viele Äusserungen sind auf Ellipsen reduziert, was ihn als kurz angebunden erscheinen lässt. Stellenweise gehäufte Selbstreparaturen, mit “ehm” und “mm” gefüllte Pausen und Füllwörter wie “aso” und “schnäll” lassen Albertos Gesprächsstil als wenig kontrolliert erscheinen. Auf Floskeln jedoch verzichtet Alberto weitgehend. Punkto Höflichkeit schneidet Alberto mit Abstand am schlechtesten ab. Formen positiver Höflichkeit kommen bei ihm so gut wie nicht vor. Er bemüht sich nicht um Rapport mit den KundInnen, bietet keinerlei Zusatzinformationen oder -dienstleistungen an und bedankt sich nicht bei den KundInnen. Darüber hinaus schädigt er immer wieder das Gesicht der KundInnen, indem er sie belehrt, ihnen das Wort abschneidet und Vorwürfe macht. Auch die von Sandra regelmässig geübten Formen negativer Höflichkeit sucht man bei Alberto umsonst. Er modalisiert Fragen nicht, sondern stellt sie direkt, er modalisiert Aufforderungen nicht, sondern benützt in einem Fall sogar den Imperativ, und er modalisiert Absagen nicht, sondern verstärkt die Absage durch wiederholtes, elliptisches “gaat nöd”. Lediglich bei Reklamationen geht Alberto intensiv auf die Suche nach der Fehlerursache, versucht das Problem zu lösen und entschuldigt sich persönlich dafür, dass er die Sache nicht ändern kann. Damit versucht er allerdings eher das eigene Gesicht denn jenes des Kunden wiederherzustellen. Alberto ist gemessen an seinem beruflichen Auftrag und am Verhalten seiner KollegInnen unüberbietbar unhöflich. Wie auf der stilistischen Ebene ist das Verhalten von Alberto auf der rhetorischen Ebene nicht einheitlich. Es gibt Gesprächsphasen, vor allem zu Beginn des Gesprächs, in denen er die Kunden ausreden lässt, ihre Äusserungen ratifiziert und die von ihnen genannten Zahlen mit Echos wiederholt. Daneben gibt es jedoch Phasen, in denen er die Aussagen der Kunden nicht ratifiziert und unerklärliche Pausen entstehen lässt, an anderen Stellen wiederum unterbricht er die KundInnen. Sein Verhalten wirkt diesbezüglich ziemlich unberechenbar. Umso klarer ist, dass Alberto bei Parallelstarts nicht abbricht, sondern auf seinem Rederecht beharrt. <?page no="344"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 344 Auf der thematischen Ebene legt Alberto wenig Initiative an den Tag. Er bietet den KundInnen grundsätzlich keine Informationen und Dienste an, die sie nicht ausdrücklich verlangt haben, speist sie mit knappen Auskünften ab und liefert Erklärungen und Begründungen erst auf Nachfrage. Auf Initiativen der KundInnen hingegen reagiert er rasch mit den gewünschten Auskünften oder der Ausführung des Auftrags. Auf den von ihm etablierten Handlungsmustern beharrt er dann allerdings unnachgiebig. Versuche von KundInnen, das Gespräch thematisch in eine andere Richtung zu steuern, übergeht er ohne Rücksicht auf deren Gesicht, indem er ihnen mit “momänt” Einhalt gebietet und ankündigt, was er jetzt ‘zuerst’ machen werde. Sein Kontrollverhalten ist ausgeprägt und nimmt gegenüber KundInnen, die er als inkompetent einschätzt, bevormundende Züge an. In diesen Fällen scheut sich Alberto nicht, sich über die ausdrücklichen Wünsche des Kunden hinwegzusetzen. Dazu passen Albertos Positionierungen. Er positioniert sich nachdrücklich als Experten, und zwar durch den Gebrauch von Börsenjargon, durch die inszenierte Börsenhektik und die kontrollierende Gesprächsführung. Die Beziehung zu den KundInnen definiert er als vollkommen distanziert und unpersönlich, indem er sich selbst als ausschliesslich ausführendes Organ positioniert und das Geschäft als allein in der Verantwortung des Kunden liegend definiert, indem er auf Smalltalk nicht eingeht und indem er Kunden, die seinen Namen falsch aussprechen, nicht korrigiert. Von seiner eigenen Abteilung spricht Alberto in der Wir-Form und positioniert sich damit als loyalen Angehörigen des Teams, während er von anderen Abteilungen der Schwyzer Bank in der dritten Person spricht und sich von ihnen distanziert. Alberto positioniert sich als denjenigen, der am besten weiss, was zu tun ist, und seine Handlungspläne unbeirrt durchführt. Auch bei Alberto passt die äussere Erscheinung frappant zu seinem Interaktionsprofil. Alberto ist ein für sein jugendliches Alter von 26 Jahren sehr korpulenter Mann mit leicht gekrümmtem Rücken und einem Stierennacken. Beim gemeinsamen Anhören und Analysieren seiner Gespräche bewertete er sein Verhalten als durchweg korrekt, rational und effizient. Einwände von meiner Seite konterte er mit dem Hinweis auf seine Handlungsmaximen: Höflichkeitsfloskeln wie “danke” oder “gern geschehen” gäbe es bei ihm nicht, er ‘krieche den Kunden nicht in den Hintern’; auf Smalltalk gehe er nicht ein, das sei nicht seine Aufgabe als Berater; Erklärungen zum Basisantrag gebe er aus Prinzip nicht, das laufe nur auf Diskussionen über die Kontogebühren hinaus; Zusatzdienste wie das Prüfen des Börsenauftrags biete er nie an, das daure zu lange usw. Alberto richtet sein Interaktionsverhalten nach bewussten, unveränderlichen, auf Effizienz ausgerichteten und seiner persönlichen Vorstellung vom idealen telefonischen Bankgespräch entsprechenden Handlungsmaximen, über die er mit sich nicht diskutieren lässt. <?page no="345"?> Zusammenfassung 345 Im anschliessenden Interview bezeichnete der ehemalige Börsenangestellte Alberto sich als ‘Börsenfan’, der selber ‘ungesund viel’ handelt. Seit einem Jahr im Beratungsteam, sei er der beste Verkäufer der Abteilung. Er habe im Vorjahr seine Verkaufsziele um 200% übertroffen, und er sei stolz darauf, dass die von ihm ausgebildeten neuen Berater ebenfalls hohe Verkaufszahlen erreicht hätten. Demnächst sei der Aufstieg zum persönlichen Berater in einer Geschäftsstelle geplant, dort sei der Kundenkontakt noch enger und der Lohn höher. Gefragt nach seinem Rollenverständnis gegenüber den Kunden und den KollegInnen meinte Alberto, die Kunden stünden für ihn im Mittelpunkt, ihnen bringe er Wertschätzung entgegen, und seine Aufgabe sei es zu helfen und zu beraten. Er liebe es aber auch, tobende Kunden am Telefon zu haben und diese so lange zu bearbeiten, bis sie (! ) sich entschuldigten. Gegenüber den KollegInnen sei er ‘lieb’, ‘hilfsbereit’, und ‘direkt’. Er selber habe allerdings ein grosses Autonomiebedürfnis, ihm müssten weder die Kollegen noch irgendwelche Gesprächscoaches dreinreden. Die Selbsteinschätzung bzw. -darstellung von Alberto steht in krassem Widerspruch zu seinem konkreten Interaktionsverhalten. In seinen Gesprächen ist nichts von Wertschätzung gegenüber den KundInnen zu finden, nichts von einer helfenden Grundhaltung oder von einer Beratung, die den Namen verdient. Umso stärker korreliert sein interaktives Verhalten mit seinen Handlungsmaximen: die Gespräche kurz halten, nicht mit sich diskutieren lassen, nicht persönlich werden, nicht kriechen. Das Interaktionsprofil von Alberto ist Ausdruck eines Menschen, der sich in seinem Fach für unschlagbar hält, rücksichtslos die eigenen Handlungspläne durchsetzt, von der Korrektheit und der Sinnhaftigkeit seines Tuns völlig überzeugt ist und dabei in Wahrheit über eine gestörte Selbst- und Fremdwahrnehmung verfügt. 8.3 Zusammenfassung In diesem Kapitel habe ich sprachliche Individualität in institutionellen Gesprächen als gesprächsübergreifendes, individuelles Interaktionsprofil theoretisch-methodisch hergeleitet und empirisch erfasst. Ein Interaktionsprofil definierte ich als das Ensemble aller interaktiv relevanten, rekurrenten, konstellationsunabhängigen sprachlichen Verhaltensweisen eines Individuums innerhalb einer gesellschaftlichen Domäne, welche in ihrer Gesamtheit das Individuum charakterisieren und eindeutig identifizierbar machen. Um das Interaktionsprofil eines Individuums zu erstellen, müssen zuerst all jene Elemente sprachlichen Verhaltens bestimmt werden, die in der untersuchten Domäne interaktiv relevant sind und individuell variiert werden können. Anschliessend ist ein Korpus mit mehreren inhaltlich vergleichbaren Gesprächen mehrerer Individuen vergleichend-inventarisie- <?page no="346"?> Individualität als gesprächsübergreifendes Interaktionsprofil 346 rend auszuwerten. Zuletzt können die dergestalt gewonnenen Ergebnisse zu sprachlichen Porträts der untersuchten Individuen verdichtet werden. Das Interaktionsprofil eines Individuums ist dann valide, wenn das untersuchte Individuum in noch nicht analysierten Gesprächen zweifelsfrei identifiziert werden kann. Für die Analyse der vorliegenden Call Center Gespräche in einer Bank habe ich 35 Elemente interaktiven Verhaltens isoliert, die für die Interaktionsprofile der untersuchten Angestellten konstitutiv sind. Diese 35 Elemente betreffen drei Verhaltensebenen, die stimmliche, stilistische und rhetorische, und lassen sich den zehn Kategorien Stimme, Prosodie, Varietät, Paraverbales, Variation von Handlungsmustern, Höflichkeit, syntaktischlexikalische Präferenzen, organisationelle Gesprächssteuerung, thematische Gesprächssteuerung und Positionierungen zuordnen. Für diese zehn Kategorien habe ich gestützt auf den aktuellen Stand der Forschung dargelegt, wie selbige theoretisch zu verorten sind, wie sie sich methodisch erfassen, sprich operationalisieren lassen, und welche sprachlichen Verhaltensweisen ich im empirischen Teil ganz konkret ausgezählt und interpretiert habe. Für den empirischen Teil habe ich ein Teilkorpus von zwanzig Gesprächen zusammengestellt, je fünf Gespräche für eine Agentin und einen Agenten, einen Berater und eine Beraterin. Dieses Teilkorpus wurde im Hinblick auf die genannten 35 Elemente des Interaktionsprofils vollständig ausgewertet, die Ergebnisse wurden wo immer möglich quantitativ wiedergegeben. Durch den direkten Vergleich jeweils zweier Angestellter aus derselben Abteilung liessen sich die individuellen Unterschiede im sprachlichen Verhalten für jedes Element nachweisen. Zuletzt wurden die Interaktionsprofile der vier untersuchten Individuen als abschliessendes Porträt ihres sprachlichen Verhaltens zusammengestellt. Die Unterschiede zwischen den Porträtierten waren bedeutsam. Ein korrekter, freundlicher, distanzierter, zurückhaltender Minimalist steht einer bedächtigen, zuvorkommenden, selbstsicheren Routinière gegenüber, eine engagierte, manchmal übereifrige, unkontrolliert sprechende, jugendlich wirkende Vielrednerin kontrastiert mit einem kurz angebundenen, kompetent auftretenden, unhöflichen Forcierer. Die Unterschiede in den Interaktionsprofilen dieser vier Angestellten sind nicht durch soziodemografische Merkmale zu erklären. Alle sind im gleichen Alter, haben ähnliche Ausbildungen durchlaufen und haben den gleichen beruflichen Status. Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die sich bei den untersuchten vier Personen durchaus zeigten, können mit Blick auf die hier nicht vorgestellten KollegInnen nicht verallgemeinert und damit nicht dem Geschlecht zugeschrieben werden. Die Unterschiede in den Interaktionsprofilen können auch nicht auf die Rollenkonstellation oder die Gesprächsthemen zurückgeführt werden, denn diese waren für alle vier gleich. Schliesslich können die Unterschiede im Verhalten der Angestellten auch nicht den Interaktionspartnern und der Interaktionsdynamik zuge- <?page no="347"?> Zusammenfassung 347 schrieben werden, denn abgesehen von marginalen, ihrerseits systematisch auftretenden Verhaltensänderungen angesichts bestimmter situativer Faktoren wie Reklamationen oder Computerproblemen zeigten die vier Untersuchten allen Gesprächspartnern gegenüber dasselbe Verhalten. Die empirisch eindeutig vorgefundenen und von mir beschriebenen Unterschiede in den Interaktionsprofilen der vier Angestellten sind ihnen als Individuen zuzuschreiben. Sie sind Ausdruck individueller beruflicher Orientierungen und kommunikativer Handlungsmaximen. Individuen handeln auch unter restriktiven institutionellen Interaktionsbedingungen nach individuellen Präferenzen und erscheinen dadurch dem Interaktionspartner und der Beobachterin als das, was sie sind: individuell, wiedererkennbar, unverwechselbar. <?page no="348"?> 9 Einflussgrössen auf sprachliche Individualität Bis hierher war die Arbeit weitgehend deskriptiv und primär methodologisch ausgerichtet. Im Zentrum standen methodische Überlegungen zur Erforschung sprachlicher Individualität sowie die empirische Analyse eines Korpus institutioneller Gespräche. Das Ergebnis war eindeutig: Sprachliche Individualität in institutionellen Gesprächen existiert, sie äussert sich auf allen sprachlichen Ebenen, und sie lässt jedes Individuum als individuell und unverwechselbar erscheinen. Dieser Befund ruft nach einer Erklärung. Warum gibt es sprachliche Individualität in institutionellen Gesprächen? Warum verhält sich jedes Individuum anders als die anderen, selbst unter identischen äusseren Bedingungen? Welche Einflussgrössen veranlassen ein Individuum dazu, sich gerade so und nicht anders zu verhalten? Diesen Fragen ist das folgende Kapitel gewidmet. Auf die Frage, warum gewisse Personen oder Personengruppen ein bestimmtes sprachliches Verhalten zeigen, hat die Gesprächsforschung bis heute unterschiedliche Antworten gegeben, die Ausdruck unterschiedlicher theoretisch-methodischer Standpunkte sind. Ich stelle im ersten Abschnitt drei Ansätze vor und prüfe sie im Hinblick darauf, was sie zur Erklärung sprachlicher Individualität beitragen. Es sind dies der kausal-deterministische, der intentional-mentalistische und der funktional-interaktionistische Ansatz. Diese drei Ansätze erklären sprachliche Individualität nur partiell. Daher werde ich im zweiten Abschnitt ein alternatives, ganzheitliches Modell zur Erklärung sprachlicher Individualität entwickeln, den Person- Interaktions-Kreis. 9.1 Bestehende Erklärungsansätze Der kausal-deterministische Ansatz Der kausal-deterministische Ansatz bietet die älteste, am naturwissenschaftlichen Ursache-Wirkungs-Schema orientierte Erklärung für sprachliches Verhalten. In diesem Ansatz wird das Sprechen von Personen bzw. Personengruppen als abhängige Variable betrachtet, bestimmt entweder von soziodemografischen Merkmalen der sprechenden Person oder von der Situation und den in ihr geltenden kommunikativen Anforderungen und Rollenerwartungen. In der klassischen Soziolinguistik wird das Sprechen von Personen in Abhängigkeit vom Alter, vom Geschlecht, von der sozialen und geografischen Herkunft, der Bildung, dem Beruf oder der gesellschaftlichen <?page no="349"?> Bestehende Erklärungsansätze 349 1 Idiolekt und Interaktionsprofil sind nicht deckungsgleich. Mit Idiolekt wird vor allem die von einem Individuum gesprochene Varietät bezeichnet, während die stilistische und rhetorische Ebene seines sprachlichen Verhaltens weniger interessieren. Insofern ist der Begriff enger als jener des Interaktionsprofils. Gleichzeitig wird mit Idiolekt die Sprache eines Individuums in jeder Situation bezeichnet, während das Interaktionsprofil auf eine gesellschaftliche Domäne beschränkt ist. Diesbezüglich ist der Begriff weiter gefasst. Rolle des Sprechenden betrachtet. Von Teilen der funktional-pragmatischen Diskursanalyse wird das sprachliche Verhalten von Personen, insbesondere von Institutionsangehörigen, als determiniert durch den Zweck der Institution, die zu erfüllenden Aufgaben und die sich daraus ergebenden Aufgabenschemata und Gesprächsmuster gedeutet. Es sind also Einflussgrössen, die unveränderbar an die Person oder an die Situation gebunden sind, die als direkte Ursache für deren sprachliches Verhalten gesehen werden. Die Betrachtung einzelner Individuen mit ihrem sprachlichen Verhalten ist in diesen Forschungstraditionen nicht vorgesehen. Das Individuum wird als Vertreter einer sozialen Gruppe betrachtet und im Hinblick auf jene sprachlichen Verhaltensweisen untersucht, die es mit den anderen Angehörigen dieser sozialen Gruppe teilt. Der einzige auf das Individuum zugeschnittene Begriff der klassischen Soziolinguistik, der einen Beitrag zur Erklärung sprachlicher Individualität leisten kann, ist jener des Idiolekts. Die Verwendung des Begriffs ist nicht ganz einheitlich. In der Regel wird damit die sprachliche Kompetenz eines Individuums bezeichnet, das heisst jener Ausschnitt des Sprachsystems, welcher dem Individuum prinzipiell zur Verfügung steht; manchmal wird mit dem Idiolekt jedoch auch die typische Sprechweise eines Individuums bezeichnet (Oksaar 1987, 1988). In der zweiten Auslegung nähert sich der Begriff dem hier vorgestellten Konzept des Interaktionsprofils. 1 Der Begriff des Idiolekts ist ein zu Unrecht vernachlässigter, in empirischen Arbeiten kaum verwendeter Begriff, denn die sprachliche Kompetenz hat, wie ich zeigen werde, wesentlichen Einfluss auf sprachliche Individualität. Kausal-deterministische Erklärungen für sprachliches Verhalten sind in den letzten Jahren unter Beschuss geraten, weil sie theoretisch nicht befriedigten und der empirischen Überprüfung nicht standhielten. Es liess sich nicht nachweisen, dass alle Personen, die zu einer bestimmten sozialen Gruppe gehören oder eine bestimmte institutionelle Aufgabe zu erfüllen haben, sich sprachlich gleich verhalten. Selbst wenn alle soziodemografischen Merkmale einer Person und die Situation bekannt sind, lässt sich das Verhalten eines Individuums nicht vorhersagen, da immer ein unberechenbarer Rest idiosynkratischen Verhaltens übrig bleibt (Johnstone 1996). Auf theoretischer Seite wurde das Modell des determinierten Sprechers abgelöst von individuenzentrierten Ansätzen (Macha 1991, Häcki Buhofer 1998, Bürkli 1999) oder konstruktivistischen Ansätzen. In letzteren werden gruppenspezifische Sprechweisen sowie Gesprächsmuster, soweit solche über- <?page no="350"?> Einflussgrössen auf sprachliche Individualität 350 haupt als vorhanden betrachtet werden, nicht mehr als dem Individuum durch äussere Umstände auferlegte, unumgehbare sprachliche Verhaltensweisen aufgefasst, sondern als Ressourcen, die dem Individuum zur interaktiven Generierung sozialer Identität bzw. zur Bewältigung einer kommunikativen Aufgabe dienen. Der intentional-mentalistische Ansatz In der auf die Sprechakttheorie zurückgehenden linguistischen Pragmatik wird sprachliches Verhalten durch die Intentionen der Handelnden erklärt. Basierend auf einer allgemeinen Handlungstheorie wird der Mensch als rational handelndes, planendes, Ziele verfolgendes Wesen konzipiert. Als solches findet er sich in bestimmten kommunikativen Situationen wieder, welche er interpretiert und zu seinen Zielen in Bezug setzt. Gestützt auf diese Situationseinschätzung entwickelt er einen Handlungsplan, mit welchem er seine Ziele am besten zu erreichen glaubt und wählt schliesslich die passenden sprachlichen Mittel, die sich für die Realisierung des Handlungsplans eignen. Wie ein Individuum spricht, ist Resultat eines mentalen Prozesses, der in einem linearen Modell abgebildet wird. Sprache hat in diesem Modell einen instrumentellen Charakter, und das sprachliche Verhalten eines Individuums erklärt sich durch seine Intentionen, die es mit Hilfe der gewählten Sprechhandlungen verwirklicht. Auf den ersten Blick scheint der intentional-mentalistische Ansatz prädestiniert zu sein für die Erklärung sprachlicher Individualität. Wenn ein Individuum mit Hilfe von Sprechhandlungen, gestützt auf seine (subjektive) Situationseinschätzung seine (persönlichen) Intentionen zu verwirklichen sucht, müsste das daraus resultierende sprachliche Verhalten eigentlich per definitionem individuell sein. Paradoxerweise spielt sprachliche Individualität in der linguistischen Pragmatik aber überhaupt keine Rolle. Vielmehr sind in der linguistischen Pragmatik besonders restriktive Gesprächsmodelle entwickelt worden, die praktisch keinen Raum für individuelle Gestaltung lassen: Dialogstrukturbäume, Praxeogramme, Phasenmodelle, Aufgabenschemata und andere mehr. Der scheinbare Widerspruch erklärt sich durch das der Pragmatik zu Grunde liegende und teilweise verabsolutierte Konzept der Rationalität: Wenn Menschen vollständig rational handeln und stets nach den effizientesten Mitteln greifen, um ihre Intentionen zu verwirklichen, so ist es nur konsequent, wenn alle Menschen, die sich in der gleichen Situation befinden, zur gleichen Situationseinschätzung gelangen, die gleichen Handlungspläne entwickeln und zu den gleichen sprachlichen Mitteln greifen. So kann die linguistische Pragmatik gleichzeitig sprachliches Handeln durch die Intentionen des Individuums erklären und dennoch fixe Handlungsschemata entwerfen. Dass bei der linguistischen Pragmatik tatsächlich das Bild des maximal rational und effizient handelnden Menschen Pate steht, zeigt sich in Aus- <?page no="351"?> Bestehende Erklärungsansätze 351 drücken wie “Planungsschwäche”, “Schleife”, “Störung”, “Erwartungsenttäuschung” und vielen mehr, mit welchen ein bestimmtes Verhalten als rational und erwartungskonform und jedes andere Verhalten als irrational oder ineffizient, jedenfalls aber abweichend festgelegt wird. Dementsprechend ist individuelles Verhalten und damit sprachliche Individualität in diesem Ansatz, wenn überhaupt, nur als Abweichung zu begreifen. Bei der Analyse institutioneller Gespräche ist der intentional-mentalistische Ansatz besonders problematisch, da er ein Zusammenfallen institutioneller Zwecke und individueller Intentionen postuliert, was einer Kolonialisierung des menschlichen Geistes durch die Institution gleich käme, wie sie gemäss Goffman nicht einmal in totalen Institutionen gelingt. Würde man sich von der Vorstellung der vollkommenen Rationalität und Effizienz menschlichen Handelns verabschieden, böte der intentional-mentalistische Ansatz durchaus eine Erklärung für sprachliche Individualität. Das oben beschriebene Prozessmodell könnte folgendermassen angepasst werden: Auch Individuen, die sich in derselben Situation befinden, haben teilweise unterschiedliche Intentionen, schätzen die Situation subjektiv unterschiedlich ein, entwickeln unterschiedliche Handlungspläne, schätzen unterschiedliche sprachliche Mittel als geeignet ein und wählen daher je individuelle sprachliche Mittel, um ihre Intentionen zu verwirklichen. Der funktional-interaktionistische Ansatz In der ethnomethodologisch fundierten Konversationsanalyse wird sprachliches Verhalten durch die Funktion der Äusserungen im Interaktionsprozess erklärt. Sprache wird in diesem dem konstruktivistischen Paradigma verpflichteten Ansatz als Ressource betrachtet, mit der die Interagierenden ihre soziale Wirklichkeit konstituieren, die Interaktion organisieren und sich gegenseitig die Bedeutung ihres Handelns verdeutlichen. Das Verhältnis von Sprache und konstruierter Wirklichkeit ist funktional und wird in um zu oder indem Relationen beschrieben: Interagierende wählen ein bestimmtes sprachliches Mittel, um eine bestimmte Bedeutung anzuzeigen, sie wählen zum Beispiel eine auffällige Prosodie, um Zitate zu kennzeichnen. Oder sie stellen eine asymmetrische Situation her, indem sie andere unterbrechen und ausfragen. Die Konversationsanalyse untersucht vor allem die sprachlichen Verfahren selbst, mittels derer Interagierende die Gesprächs- und Bedeutungskonstitution leisten. Im Fokus der Beobachtung steht der Interaktionsprozess, die Sprechenden als Individuen interessieren in dem Sinne nicht. Daher ist sprachliche Individualität kaum ein Thema in der Konversationsanalyse. Im Allgemeinen scheinen die Ethnomethodologen dem Individuellen eher skeptisch gegenüber zu stehen. Wie weiter oben deutlich wurde, lässt zum Beispiel eine strenge Auslegung des interaktionalen (Selting 1997, vgl. S. 130) bzw. sozio-kommunikativen (Keim/ Schütte 2001, vgl. S. 132) Stil- <?page no="352"?> Einflussgrössen auf sprachliche Individualität 352 2 Nothdurft, Werner (2004): Was hat das Subjekt im Gespräch zu suchen? Plädoyer für eine ereignistheoretische Betrachtung von Gesprächen - und Subjekten. Vortrag gehalten an der 10. Arbeitstagung zur Gesprächsforschung, 1. und 2. April 2004 in Mannheim. 3 Die Analyse der Call Center Gespräche durch Johnstone (1996) bewies eindrücklich, dass jene Call Agents, die Maschinen gleich den Text vom Bildschirm ablasen, denen es somit nicht gelang, durch ihr Sprechen eine persönliche Identität zu etablieren, bei ihrer Arbeit weniger Erfolg hatten: Die Befragten verweigerten den “sprechenden Automaten” die Auskunft. konzepts keinen Raum für individuelle Gestaltung: Wer einen konkreten stilistischen Sinn erzeugen oder eine bestimmte soziale Identität herstellen will, dem steht im Prinzip nur eine Ausdrucksweise, ein sprachliches Verhalten zur Verfügung. Eine noch radikalere Position nehmen in jüngster Zeit einige Konversationsanalytiker ein, die sprachliche Phänomene wie Stil oder Interaktionsprofile als von den Sprechenden vollkommen losgelöste, nur im und durch den Interaktionsprozess entstehende und über selbigen hinaus nicht existierende, emergente Phänomene betrachten (Spranz-Fogasy 1997, Deppermann/ Spranz-Fogasy 2002). In letzter Konsequenz wird sogar die Existenz sprechender Subjekte in Frage gestellt und das Subjekt als blosse Deutungskategorie der Interagierenden und der Beobachter bezeichnet. 2 Wo handelnde Subjekte nicht mehr existieren, sondern lediglich ephemere Deutungskategorien eines autonomen Interaktionsprozesses sind, hat sprachliche Individualität selbstredend keinen Platz mehr und muss auch nicht erklärt werden. Sieht man von diesen extremen Positionen ab, ist es trotz aller Vorbehalte möglich, den funktional-interaktionistischen Ansatz auch zur Erklärung individuellen sprachlichen Verhaltens zu benutzen. Man muss dazu das Konzept der sozialen Identität um jenes der persönlichen Identität erweitern. Das macht Spiegel (2006), die davon ausgeht, dass Sprechende durch ihre sprachlichen Aktivitäten nicht nur die anstehenden kommunikativen Aufgaben bewältigen und nicht nur ihre soziale Identität - zum Beispiel die Lehrer- oder Schülerrolle - etablieren, sondern sich darüber hinaus durch ihren individuellen Stil eine persönliche Identität schaffen und sie den Interaktionspartnern anzeigen. Sie folgt damit der Goffman’schen Unterscheidung von sozialer und persönlicher Identität sowie dessen Beobachtung, dass die Etablierung persönlicher Identität keine Folge, sondern die Voraussetzung jeder Interaktion ist. Ein Individuum wird nur dann als ernstzunehmender Interaktionspartner akzeptiert, wenn es ihm gelingt, sowohl seine Rolle glaubwürdig darzustellen als auch zu zeigen, dass es über die aktuelle Rolle hinaus andere Rollen zu erfüllen weiss und ein seiner persönlichen Identität entsprechendes kohärentes und konsistentes Verhalten zeigen wird, auf das man sich verlassen kann (Goffman 1973). 3 Der funktional-interaktionistische Ansatz bietet am ehesten eine Erklärung für sprachliche Individualität. Individuelles sprachliches Verhalten <?page no="353"?> Bestehende Erklärungsansätze 353 dient dem Individuum dazu, sich in der Interaktion eine persönliche Identität zu verschaffen und sich als eindeutig identifizierbarer, wiedererkennbarer, verlässlicher Interaktionspartner zu etablieren. Zu betonen ist, dass dieser Prozess der Identitätskonstitution nicht bewusst erfolgen muss. Kritik Die drei vorgestellten Ansätze, mit denen sprachliches Verhalten erklärt wird, haben drei gravierende Mängel: Erstens: Bei allen Ansätzen wird immer nur eine Einflussgrösse auf sprachliches Verhalten in den Vordergrund gerückt und zur Erklärung jeglichen sprachlichen Verhaltens verwendet. Andere Einflussgrössen und Erklärungsmöglichkeiten werden nicht in Betracht gezogen. Doch so wenig sich sprachliche Individualität mit einem linguistischen Konzept erfassen lässt, so wenig lässt sie sich durch eine Einflussgrösse erklären. Das Verhalten eines Individuums lässt sich weder durch seine soziodemografischen Merkmale noch durch situative Faktoren noch durch seine Intentionen noch durch die kommunikative Funktion der Äusserung noch durch die Dynamik des Interaktionsprozesses allein erklären. Hess-Lüttich forderte schon vor einem Vierteljahrhundert die Überwindung des Gegensatzes zwischen intentionalmentalistischen und kausal-deterministischen Ansätzen (Hess-Lüttich 1980b: 90). Heute ist hinzuzufügen: und funktional-interaktionistischen Ansätzen. Sprachliche Individualität ist nur mit einem ganzheitlichen, multifaktoriellen Gesprächsmodell zu erklären, in welches auch nicht-linguistische Konzepte einfliessen (Hess-Lüttich 1980). Zweitens: In allen drei Ansätzen werden zwei Aspekte gänzlich vernachlässigt, die unübersehbaren Einfluss auf das sprachliche Verhalten von Individuen ausüben: Die Leiblichkeit der Sprechenden und ihre sprachliche Kompetenz. Durch die Arbeit mit Tonbandaufnahmen und Transkripten und durch die Fixierung auf das gesprochene Wort ist vielen Gesprächsforschenden der Sinn dafür abhanden gekommen, dass die aufgezeichneten Worte von leibhaftigen Menschen stammen, die noch vor jedem Sprechen zuerst einmal physisch da sind und ihrem unumstösslichen körperlichen und seelischen Da-Sein bei jeder Form des Sprechens verhaftet bleiben. Das ist auch bei Telefongesprächen nicht anders. Eine von den sprechenden Individuen lösgelöste Analyse des Interaktionsprozesses und die Interpretation von sozialen und persönlichen Identitäten als allein durch Sprache geschaffene, ephemere Wirklichkeiten verbietet sich schon allein aufgrund der Tatsache, dass diese Individuen körperlich-seelische Entitäten sind, die existieren, und zwar über die untersuchte Interaktion hinaus. Die sprachliche Kompetenz ist ein weiterer Aspekt, der mindestens bei der Untersuchung muttersprachlicher Gespräche zu Unrecht vernachlässigt wird. Sowohl der intentional-mentalistische wie der funktional-interaktio- <?page no="354"?> Einflussgrössen auf sprachliche Individualität 354 nistische Ansatz gehen stillschweigend davon aus, dass jedem Individuum die sprachlichen Mittel zur Verfügung stehen, die es braucht, um seine Intentionen zu verwirklichen bzw. um die für die Gesprächs- und Bedeutungskonstitution notwendigen sprachlichen Leistungen zu erbringen. Dabei zeigt schon ein oberflächlicher Vergleich verschiedener Individuen, dass diese über sehr unterschiedlich ausgeprägte sprachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügen und ihre kommunikativen Aufgaben höchst unterschiedlich erfolgreich bewältigen. Lediglich der kausal-deterministische Ansatz sieht sprachliches Verhalten als unter anderem abhängig von den kognitiven Fähigkeiten des Sprechenden. Im Begriff des Idiolekts ist die sprachliche Kompetenz des Individuums aufgehoben, und auch im Begriff des Soziolekts sind die kognitiven Fähigkeiten der Sprechenden enthalten. Aber seit der von Bernstein ausgelösten Debatte über den elaborierten und restringierten Code von Ober- und Unterschichtskindern hat die Diskussion um die Unterschiede in der sprachlichen Kompetenz von Individuen einem politisch korrekten Schweigen Platz gemacht. Notwendig sind eine Besinnung auf die leibliche Prägung des Sprechens und eine Berücksichtigung der sprachlichen Kompetenz der Individuen, wenn sprachliches Verhalten im Allgemeinen und sprachliche Individualität im Besonderen erklärt werden sollen. Drittens: In den drei genannten Erklärungsansätzen wird teilweise zu wenig unterschieden zwischen Deskription und Explikation. Konzepte, die zur Beschreibung von Gesprächen dienen und als solche unersetzlichen heuristischen Wert haben, werden unzulässigerweise als Erklärung der gefundenen sprachlichen Phänomene ausgegeben. Die klassische Soziolinguistik korreliert sprachliche Phänomene mit der Gruppenzugehörigkeit der Sprechenden und leitet aus den vorgefundenen Korrelationen kurzerhand einen kausalen Zusammenhang ab; ein Call Agent spricht in dieser oder jener Weise, weil er ein Call Agent ist und nur deshalb - ein bekannter methodischer Kurzschluss. Die Intentionen der Sprechenden, mit denen die Pragmalinguistik sprachliches Verhalten deutet, stellen streng genommen nicht mehr als eine interpretatorische Ressource dar, mit welcher sich der Sinn von Äusserungen erschliessen lässt - eine Erklärung für das vorgefundene sprachliche Verhalten bieten sie nicht. Die Ethnomethodologen schliesslich geben sich häufig damit zufrieden, die Bedeutungskonstitution der Interagierenden nachzuvollziehen, aber warum selbige gerade diese oder jene Wirklichkeit im Gespräch herzustellen versuchen, warum zum Beispiel ein Kunde sich als Börsenkenner positioniert, danach wird meistens gar nicht gefragt. Allgemein ausgedrückt: Ein Dialekt, ein Handlungsmuster, der Nachvollzug eines interaktiven Aushandlungsprozesses, all diese Konzepte beschreiben sprachliches Verhalten, aber sie erklären es nicht. Das gilt selbstredend auch für das in dieser Arbeit vorgestellte Konzept des Interaktionsprofils. Eine Erklärung für sprachliches Verhalten allgemein und für <?page no="355"?> Ein ganzheitlicher Ansatz: Der PI-Kreis 355 sprachliche Individualität im Besonderen kann letztlich nur ausserhalb des Beschreibungsmodells liegen. Welche Schlüsse sind aus diesen Bemerkungen zu ziehen? 1. Ein Modell zur Erklärung sprachlicher Individualität muss multifaktoriell sein und Erklärungsansätze aus verschiedenen Forschungstraditionen, auch nicht-linguistischen, integrieren. 2. Körper und Kompetenz der Sprechenden sind in das Erklärungsmodell einzubeziehen. 3. Die Erklärung sprachlicher Individualität muss unabhängig vom Beschreibungsmodell sein und kann nicht aus diesem abgeleitet werden. Im folgenden Abschnitt skizziere ich ein solches Modell. 9.2 Ein ganzheitlicher Ansatz: Der PI-Kreis Zur Erklärung sprachlicher Individualität in institutionellen Gesprächen schlage ich einen ganzheitlichen Ansatz vor, welcher fünf Einflussgrössen berücksichtigt, die wiederum aus mehreren Komponenten bestehen. Diese fünf Einflussgrössen sind: Persönlichkeit und Identität, Situations- und Rollenauslegung, körperlich-seelische Befindlichkeit, allgemeine und berufliche Kompetenz, sprachliche Kompetenz. In Abbildung 5 ist das Zusammenspiel dieser fünf Einflussgrössen auf sprachliche Individualität mit dem im letzten Kapitel erarbeiteten individuellen Interaktionsprofil bildlich dargestellt. Ich nenne diesen Ansatz den PI-Kreis: Persönlichkeit-Interaktions- Kreis. Die geschlossene Form soll ausdrücken, dass die fünf genannten Einflussgrössen nicht vollkommen getrennte und voneinander unabhängige Variablen sind, sondern Facetten eines ganzheitlichen Gefüges, wie der Mensch eines ist. Auf Pfeile, die angeben, welche Einflussgrössen sich gegenseitig und das individuelle Interaktionsprofil wie beeinflussen, wurde bewusst verzichtet. Letztlich kann kaum entschieden werden, ob zum Beispiel die Identität eines Menschen seine Sprache bestimmt oder umgekehrt. Die Kreisform soll ausdrücken, dass der Mensch mit seiner Sprache, seiner Psyche, seinem Körper und seiner Umwelt ein Ganzes bildet. <?page no="356"?> Einflussgrössen auf sprachliche Individualität 356 Abb. 5: Der Person-Interaktions-Kreis: Einflussgrössen auf das individuelle Interaktionsprofil in institutionellen Gesprächen Persönlichkeit Situations- und und Identität Rollenauslegung Individuelles Interaktionsprofil Körperlich- Allgemeine seelische und berufliche Befindlichkeit Kompetenz Sprachliche Kompetenz Ich führe im Folgenden aus, was ich unter den fünf Einflussgrössen verstehe und wie sie das individuelle Interaktionsprofil eines Individuums prägen können. Ferner führe ich zur Illustration Beispiele aus dem untersuchten Korpus auf. Die Liste der aufgeführten Komponenten ist nicht als abschliessend zu betrachten. Persönlichkeit und Identität Persönlichkeit und Identität sind Konzepte, mit denen die “Art” eines Individuums im weitesten Sinne beschrieben wird. Ersteres stammt aus der Psychologie, letzteres aus der Soziologie. Während die Psychologie mit der Persönlichkeit erfassen will, wie ein Individuum “ist”, beschreibt die Soziologie mit der Identität, wie ein Individuum in der Gesellschaft “erscheint”. Die beiden Konzepte treffen sich in den Begriffen Selbstkonzept und Ich-Identität, mit denen das subjektive Empfinden des Individuums bezeichnet wird, das Bild, das es von sich selbst hat. Meines Erachtens ist es sinnvoll, beide Konzepte zur Erklärung sprachlichen Verhaltens beizuziehen, weil so die subjektive und die gesellschaftliche Komponente des Individuums erfasst werden. Unter der Persönlichkeit eines Individuums verstehen Psychologen “die einzigartige Konstellation von Merkmalen oder Eigenschaften, die für die Konsistenz in seinen Verhaltensweisen verantwortlich sind” (Zimbardo/ <?page no="357"?> Ein ganzheitlicher Ansatz: Der PI-Kreis 357 4 In Gespräch 411 zum Beispiel reagiert sie auf ihre momentane Begriffsstutzigkeit mit der Bemerkung: “himmels wille s isch no chly früe am morge (xxx)” [Um Himmels Willen, es ist noch ein wenig früh am Morgen], was in ein lachendes Geplänkel mit dem Kunden mündet. 5 Petty, R.E. / Cacioppo, J.T. 1981. Attitudes and Persuasion: classic and contemporary approaches. Dubuque: Wm C. Brown, S. 7, zit. nach Stroebe et al. 1992: 146. Gerrig 1999: 550). Zur Persönlichkeit eines Individuums gehören unter anderem seine Eigenschaften, seine Einstellungen und sein Selbstkonzept. Die Eigenschaften eines Individuums, umgangssprachlich sein Charakter, sind “generalisierte Handlungstendenzen, die dem Verhalten einer Person über Situationen hinweg und im Zeitverlauf Kohärenz verleihen. […] Derzeit wird das Fünf-Faktoren-Modell (‘Big Five’) mit den Dimensionen Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, emotionale Stabilität oder Neurotizismus und Offenheit für Erfahrungen als Beschreibung der Persönlichkeit akzeptiert” (ebd.: 550). Das Interaktionsprofil eines Individuums in institutionellen Gesprächen hängt davon ab, wie pflichtbewusst, kontaktfreudig, autoritär, selbständig, engagiert, spontan oder hilfsbereit es ist, ob es über Humor und Selbstvertrauen verfügt, eher ein Einzelkämpfer oder Teamplayer ist usw. So lässt zum Beispiel der wortreiche Stil von Sandra mit ihren vielen Überlappungen darauf schliessen, dass sie eine kontaktfreudige, engagierte Person ist. Im Kartendienst arbeitet eine Agentin, die durch ihre Spontaneität auffällt. Mehrfach drückt sie sehr direkt aus, was sie gerade denkt und fühlt. 4 Einstellungen (attitudes) sind ein zentraler Aspekt der Persönlichkeit, da sie als Korrelate oder Prädiktoren des Verhaltens betrachtet werden (Stroebe et al. 1992: 144). “[T]he term attitude should be used to refer to a general, enduring positive or negative feeling about some person, object or issue.” 5 Bei den Einstellungen wirken sich bei der Arbeit im Call Center unter anderem die Einstellung gegenüber fremden Dialekten und Sprachen, gegenüber Ausländern, gegenüber Personen, die aus einer anderen sozialen Schicht stammen, aber auch die Einstellung zum Geld und zu neuen (Kommunikations-)Technologien auf das Interaktionsprofil aus. Erinnert sei an jene Agentin, die meinte, bei schwer verständlichen Ausländern ‘gehe ihr gleich der Rollladen runter’, an David, der Ausländern bewusst einfache Fragen zur Identifikation stellt, oder an Alberto, der von sich selber sagt, er spekuliere zu viel, und die entsprechende Börsenbegeisterung und -erfahrung in seine Gespräche einbringt. Während Eigenschaften und Einstellungen Aspekte der Persönlichkeit sind, die mindestens teilweise von aussen wahrgenommen und gemessen werden können, beschreibt das Selbstkonzept, wie das Individuum sich selber wahrnimmt. Das Selbstkonzept umfasst persönliche Erinnerungen, Annahmen über die eigenen Eigenschaften, Motive, Werte und Fähigkeiten, das Selbstwertgefühl, das Ideal-Ich und Überzeugungen, wie andere einen sehen (Zimbardo/ Gerrig 1999: 546). Dieser Aspekt der Persönlichkeit ist für das sprachliche Verhalten vor allem dann relevant, wenn Selbst- und Fremd- <?page no="358"?> Einflussgrössen auf sprachliche Individualität 358 6 Jenkins (1996) betont, dass soziale und persönliche (in seiner Begrifflichkeit kollektive und individuelle) Identität nicht klar auseinandergehalten werden können (S. 25). 7 In Gespräch 312 fragt ein Kunde, was der Brief bedeute, in welchem steht, seine Optionen würden wertlos ausgebucht. Alfonso erzählt ihm, er habe sich auch schon verspekuliert und diesen ominösen Brief bekommen. wahrnehmung nicht übereinstimmen. So führt zum Beispiel bei Alberto die Überzeugung, hilfsbereit zu sein, nicht dazu, dass er besonders hilfsbereit wäre, sondern dazu, dass er nicht erkennt, wie rücksichtslos er mitunter mit den KundInnen umspringt. Dem Selbstkonzept, wie es in der Psychologie bezeichnet wird, entspricht (cum grano salis) die Ich-Identität in der Begrifflichkeit der Soziologie. Ich-Identität bezeichnet das subjektive Erleben des Individuums seiner selbst, das Empfinden, einzigartig und über alle lebenszeitlichen Wechsel hinweg derselbe zu sein (Krappmann 1971: 73f). Mit sozialer Identität wird jene Gruppenzugehörigkeit des Individuums bezeichnet, die es selbst für sich in Anspruch nimmt, in der Interaktion anzeigt und zu behaupten versucht. Die in der klassischen Soziolinguistik benutzten Kategorien wie Alter, Herkunft usw. fliessen in die soziale Identität des Individuums ein und beeinflussen sein sprachliches Verhalten, doch nicht in dem Sinne, dass ein bestimmtes Merkmal wie das Geschlecht direkt auf das sprachliche Verhalten durchschlagen würde. Vielmehr wirken soziodemografische Variablen nur vermittelt durch die Interpretations- und Konstitutionsleistung des Individuums. Alter, Geschlecht, soziale und geografische Herkunft beeinflussen insoweit das Interaktionsprofil, als das Individuum sich selbst als jung, weiblich, aus dem bäuerlichen Milieu und aus dem Zürcher Oberland stammend wahrnimmt und diese soziale Identität in der Interaktion anzeigt. Sandra zum Beispiel betont durch ihre unkontrollierte Sprechweise ihre Jugendlichkeit, während sie ihre geografische Herkunft durch den uneinheitlichen Varietätengebrauch geradezu verschleiert. Unter persönlicher Identität schliesslich sind jene Eigenschaften des Individuums zu verstehen, mit denen es sich von allen anderen abgrenzt und als einmaliges Individuum zu erkennen gibt. 6 Eine persönliche Identität gewinnt ein Individuum auch und gerade durch die Art seines Sprechens. Dazu gehören die Bekanntgabe des persönlichen Namens, biografische Reminiszenzen sowie der Gebrauch individueller Floskeln, Intonationskonturen usw., wie sie in der vorliegenden Arbeit ausführlich beschrieben wurden. Da ist zum Beispiel Sandra, die auf der korrekten Aussprache ihres Namens besteht; da ist Alfonso, der den Kunden von seinen eigenen Erfahrungen an der Börse erzählt; 7 da ist jener Teamleader, der Reklamationen mit “das isch no speziell” ratifiziert; da ist Susanne mit ihren ausgeprägt steigenden Intonationskurven. Die persönliche Identität ist eine der wichtigsten Einflussgrössen auf sprachliche Individualität, aber sie ist nicht die einzige. Daher sollten meines Erachtens die Begriffe Individualität und Identität nicht gleichgesetzt werden, wie Spiegel dies tut (2006: 180). <?page no="359"?> Ein ganzheitlicher Ansatz: Der PI-Kreis 359 Situations- und Rollenauslegung Dass die Situation und die an das Individuum herangetragenen Rollenerwartungen erheblichen Einfluss auf sein sprachliches Verhalten haben, muss kaum betont werden. Situation und Rollenerwartungen führen zu den in institutionellen Gesprächen unübersehbaren Gemeinsamkeiten im Verhalten der verschiedenen Individuen, zu den besprochenen Gesprächsmustern und konventionellen Formen der Durchführung einzelner Handlungsmuster. Aber auch institutionell vorgegebene Situationen und Rollen wirken sich nicht direkt auf das sprachliche Verhalten der Rollenträger aus, sondern müssen von diesen ausgelegt und adaptiert werden. Diese individuellen Situations- und Rollenauslegungen haben einen Einfluss auf das Interaktionsprofil der Individuen. Bei der Situationsauslegung ist zu unterscheiden zwischen der je aktuellen Situationseinschätzung im laufenden Gespräch und der grundsätzlichen Einschätzung der eigenen beruflichen Situation sowie bestimmter Typen von Situationen. Die im einzelnen Gespräch je aktuelle Situationseinschätzung durch das Individuum führt zu bestimmten Verhaltensweisen, die allenfalls einmalig sind. Sie hat keinen Einfluss auf das Interaktionsprofil. Das Interaktionsprofil eines Individuums wird hingegen davon beeinflusst, wie das Individuum seine berufliche Situation grundsätzlich einschätzt und wie es auf bestimmte Typen von Situationen routinemässig reagiert. Dazu gehört die Einschätzung, wie genau man sich an die institutionellen Vorschriften zu halten hat; dazu gehören Vorstellungen von Angemessenheit bezüglich Höflichkeit und Aufmerksamkeit für den Gesprächspartner; dazu gehören eingefahrene Reaktionen auf Reklamationen, persönliche Angriffe oder Fragen, auf die man keine Antwort weiss; dazu gehören Vorurteile gegenüber anderen internen Stellen und anderes mehr. Die Analysen haben zum Beispiel gezeigt, dass die Agents höchst unterschiedliche Vorstellungen von Angemessenheit bezüglich Höflichkeit und Wahrung des Kundenimages haben, was sich in Art und Menge der eingesetzten Formen positiver und negativer Höflichkeit niederschlägt. Sonja zeigt eine ausgeprägte Orientierung an den internen Vorschriften, wenn sie die KundInnen mit bis zu sechs Fragen zur Identifikation quält. In einigen hier nicht vorgestellten Gesprächen unter Internen zeigen sich die Spannungen zwischen den BeraterInnen in den Geschäftsstellen und den Agents im Call Center, teilweise in besonderer Aggressivität, teilweise in übervorsichtiger Umständlichkeit. Auch die institutionell vorgegebene Rolle verlangt aufgrund ihrer Unterdeterminiertheit eine individuelle Rollenauslegung (vgl. Abschnitt 3.1.2). Diese individuelle Auslegung der institutionellen Rolle bezeichnen Mac- Call/ Simmons (1974) als Rollenidentität. Die Rollenidentität überschneidet sich teilweise mit der sozialen Identität (vgl. oben). Der eine zentrale Aspekt der Rollenauslegung ist bei institutionellen Gesprächen die Frage, wie der Agent sein Verhältnis zum Klienten grundsätzlich interpretiert: Versteht er <?page no="360"?> Einflussgrössen auf sprachliche Individualität 360 8 Eine Ausnahme ist Hausendorf (1997), der das körperlich-sprachliche Verhalten eines Betrunkenen schildert. Zum Verhältnis von Kommunikation und Emotion sei auf Fiehler (1990) verwiesen. sich als Vollstrecker des institutionellen Auftrags oder als Dienstleister gegenüber dem Klienten? Orientiert er sich eher an den Interessen der Institution oder an den Bedürfnissen des Klienten? Versteht er sich dem Klienten gegenüber als über-, gleich- oder untergeordnet? Je nachdem wird sein Interaktionsprofil anders ausfallen. Bei Gesprächen in privatwirtschaftlichen Unternehmen sind diese Fragen keineswegs von vornherein geklärt. Bei der Kundenidentifikation zum Beispiel kontrastieren der polizeimässige Stil von Dionys und die umständliche Höflichkeit von Antonio aufs Schärfste und zeigen, dass Dionys und Antonio ihr Verhältnis zum Kunden gänzlich verschieden interpretieren. Aber auch die Art und Weise, wie die KundInnen ihr Anliegen vortragen, eher als Fordernde oder als Bittende, ist ein Indiz dafür, dass sie ihre Beziehung zum Bankangestellten sehr verschieden auslegen. Der andere zentrale Aspekt der Rollenauslegung ist die Auslegung der eigenen Aufgabe. Das Interaktionsprofil eines Individuums wird unter anderem davon beeinflusst, ob es anstehende Aufgaben selber zu erfüllen versucht oder an andere delegiert, lieber allein handelt oder häufig Hilfe beizieht. Es wird davon beeinflusst, ob das Individuum lediglich passiv ausführt, was man ihm aufträgt, ob es selbständig alle anfallenden Arbeiten erledigt oder sogar aktiv nach Aufträgen sucht. Soll ein Agent lediglich die Fragen des Kunden beantworten und seine Aufträge ausführen oder soll er den Kunden aktiv beraten und gar sein Geschäft in die eigene Hand nehmen? Der Minimalist David leitet Anrufe gerne an andere weiter und beschränkt sich auf das Erteilen von Auskünften, während Susanne einzelnen KundInnen von sich aus eine Beratung anbietet und die Tendenz zeigt, an deren Stelle zu entscheiden. Alberto distanziert sich von den Börsengeschäften der Kunden, während Nora sich zur Partnerin der Kundin stilisiert, die sich persönlich um deren Börsengeschäft kümmert. Alfonso gab einem falsch verbundenen Kunden lediglich eine andere Telefonnummer, während Sandra dafür sorgte, dass der Kunde von der Bank kontaktiert wird. In all diesen Details ihres Verhaltens zeigen die Angestellten, dass sie ihr Verhältnis zum Kunden und ihre Aufgabe unterschiedlich auslegen. Körperlich-seelische Befindlichkeit Der Einfluss von Körper und Gefühl auf das sprachliche Verhalten von Individuen wurde bisher - von Phonologie und Sprechwissenschaft abgesehen - so gut wie nicht erforscht. 8 Daher stützt sich dieser Abschnitt eher auf allgemeine Überlegungen denn auf wissenschaftlich gesicherte Ergebnisse. Dass die aktuelle Körperbefindlichkeit und Gemütslage das sprachliche Verhalten eines Individuums beeinflusst, leuchtet unmittelbar ein. Eine <?page no="361"?> Ein ganzheitlicher Ansatz: Der PI-Kreis 361 9 Im französischsprachigen Call Center der Schwyzer Bank wurden die Agents explizit angewiesen, während des Telefonierens nicht nach auf den Boden gefallenen Gegenständen zu angeln, da der Gesprächspartner an der veränderten Stimme erkennen kann, dass der Sprechende physisch mit etwas anderem beschäftigt ist. Erkältung oder körperliche Verrenkungen schlagen auf die Stimme, 9 Verärgerung oder Aufgeräumtheit äussern sich in Gereiztheit bzw. der Anfälligkeit für Scherz und Gelächter. Doch auch länger anhaltende körperlichseelische Befindlichkeiten existieren und wirken sich auf das Interaktionsprofil des Individuums aus. So können andauernde körperliche Leiden und chronische Schmerzen die Persönlichkeit eines Individuums nachhaltig verändern und zu chronischer Gereiztheit oder Konzentrationsschwäche führen. Unergonomisches Arbeitsmobiliar und Fehlhaltungen können die Atmung und mit ihr die Stimme beeinträchtigen. Wer sich gemobbt fühlt, wird kaum bereit sein, mit anderen internen Stellen zu kooperieren. Ein Berater, der um seine Stelle bangt, wird vielleicht alles daran setzen, mehr Abschlüsse zu tätigen, um als guter Verkäufer dazustehen, und ein entsprechend aggressives Verkaufsverhalten an den Tag legen. Es sind also die Gesundheit, die Körperhaltung, das Gefühl der Akzeptanz und das Gefühl der Sicherheit, welche das Interaktionsprofil eines Individuums beeinflussen können. Von vorrangiger Bedeutung für das Interaktionsprofil von Call Agents dürften jedoch die Stressresistenz und die Zufriedenheit im Beruf sein. Das permanente Summen der Telefonapparate, das Umspringen der Anzeigetafel auf rot, wenn KundInnen in der Warteschlaufe hängen, dürfte so manchen Agent dazu verleiten, schneller zu sprechen, Erklärungen abzukürzen oder wegzulassen, mit Ungeduld auf umständliche Kunden zu reagieren oder Anrufe ganz einfach weiterzuleiten. Susanne jedoch zeigt mit ihrer Bedächtigkeit und Beharrlichkeit, dass sie sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt. Jemand, der seinen Beruf liebt, sich von den KollegInnen und Vorgesetzten akzeptiert fühlt und überzeugt ist, der Arbeit gewachsen zu sein, wird sich mehr für seine Aufgabe engagieren, überzeugter auftreten und Entscheide leichter ohne Rücksprache mit den Vorgesetzten treffen als jemand, der sich nicht wohl fühlt und unsicher ist. Die Differenzen bezüglich Zufriedenheit im Beruf und die Auswirkung auf das sprachliche Verhalten waren vor allem bei Susanne und David zu beobachten. Susannes sicheres Auftreten, zu welchem auch gehört, dass sie Wissenslücken und ihre Stellung im Unternehmen klar deklariert, zeugen von ihrer Überzeugung, am rechten Ort zu sein und das Rechte zu tun. David hingegen lässt durch seine Abschottungshaltung gegenüber den KundInnen, durch seine unklaren Aussagen bei Wissenslücken und durch sein Vermeiden jeglicher Positionierung erkennen, dass er mit seiner Arbeit nicht zufrieden ist, sich seiner Sache nicht absolut sicher ist und sich an seinem Posten nicht wohl fühlt. <?page no="362"?> Einflussgrössen auf sprachliche Individualität 362 10 In Gespräch 104 sagt die Kundin lediglich, sie hätte gerne Auskunft über ihr Konto. Thomas fragt noch während der Eingabe der Kontonummer, ob sie einen bestimmten Eingang erwarte, was die Kundin bestätigt. Er sagte mir, er habe das einfach herausgehört. Interessant zu beobachten war nebenbei bemerkt, dass in der Hotline die Gespräche am Abend nicht nur wesentlich länger dauern, sondern auch in viel entspannterer Atmosphäre stattfinden. Es gibt fast eine Viertelstunde dauernde Gespräche, in denen Agent und Kunde gemütlich über die Vor- und Nachteile verschiedener Computersysteme plaudern. Die von zu Hause anrufenden Kunden lassen sich viel mehr Zeit als während der Bürostunden, aber auch die Agents, die zu dieser Tageszeit weniger Anrufe zu gewärtigen haben und zu zweit oder zu dritt ohne Aufsicht von Vorgesetzten arbeiten, zeigen sich von ihrer entspannten Seite. Die “Feierabendstimmung” der Interaktionspartner wirkt sich trotz des sachlichen Anliegens auf die Interaktion aus. Allgemeine und berufliche Kompetenz Aus der kaum abschliessend zu definierenden Liste der allgemeinen Kompetenzen, die einen Einfluss auf das Interaktionsprofil eines Individuums haben können, greife ich jene Fähigkeiten heraus, die für die Arbeit im Call Center zentral sind: Flexibilität, Sensibilität, Konzentrationsfähigkeit und Problemlösungsfähigkeit. An erster Stelle steht die Flexibilität, die Fähigkeit und der Wille, sich im Drei- oder Fünfminutentakt auf wechselnde Gesprächspartner und -themen einzustellen. Mangelnde Flexibilität führt zu sprachlichen Verhaltensweisen, die die Verständigung im Call Center eher erschweren. Im Kartendienst zum Beispiel arbeitet eine Agentin, die enorm schnell spricht. Trifft sie auf einen älteren Kunden, der ihrem Tempo nicht folgen kann, drosselt sie ihr Sprechtempo nicht, sondern wiederholt ihre Aussage so oft in identischem Wortlaut und Tempo, bis der Kunde sie verstanden hat. Ihre mangelnde Flexibilität schlägt sich direkt in einem spezifischen Gesprächsverhalten nieder. Die Flexibilität ist allerdings nicht nur eine Frage der Veranlagung, sondern auch abhängig von der Berufserfahrung. Viele Anfänger halten sich bei der Identifikation krampfhaft an gelernte Schemata und stellen immer die gleichen Fragen, während die Routiniers sich bei der Wahl passender Identifikationsfragen viel flexibler zeigen. Die Sensibilität geht Hand in Hand mit der Flexibilität und bezeichnet die Fähigkeit, die Bedürfnisse und die Stimmung des Gesprächspartners auch zwischen den Zeilen herauszuhören und sich darauf einzustellen. Wie sensibel jemand ist, zeigt sich im Interaktionsprofil des Individuums vor allem in seinem Umgang mit Handlungsmustern und bei der Höflichkeit. Thomas zum Beispiel beweist ein ausgesprochenes Gespür für die Anliegen der KundInnen, oft errät er schon beim ersten Satz des Kunden, was dieser will. 10 Sonja hingegen erweist sich häufig als ebenso stur wie unsensibel. In <?page no="363"?> Ein ganzheitlicher Ansatz: Der PI-Kreis 363 11 In Gespräch 435 klagt die Kundin, sie sei sich vorher ‘ziemlich blöd’ vorgekommen, als beim Bancomaten kein Geld herauskam, worauf der Agent verständnisvoll meint: “DAS cha mer vorstele” (das kann ich mir vorstellen). Gespräch 228 fragt sie einen Kunden vor dem Weiterverbinden gänzlich unpassend nach der Kontonummer, obwohl dieser bereits etwas verärgert angemeldet hat, seine Beraterin habe ihn entgegen der Abmachung vom Vortag nicht angerufen. Ihre mangelnde Flexibilität und Sensibilität, die sie routinemässig immer dieselbe Frage nach der Kontonummer stellen lässt, bezahlt Sonja in diesem Fall mit der genervten Reaktion des Kunden, die Kontonummer nütze ihr nichts, er wolle mit der Beraterin sprechen. Susanne hingegen ist sensibel und flexibel genug, bei einem reklamierenden Kunden die Identifikation abzukürzen (vgl. S. 268). Ein Kollege von Dionys aus dem Kartendienst geht mit verunsicherten KundInnen sehr sensibel um, indem er ihre Gefühle bestätigt, 11 während Dionys solche KundInnen mit Belehrungen zusätzlich vor den Kopf stösst (vgl. S. 178). An dritter Stelle steht die Konzentrationsfähigkeit, die Fähigkeit, Informationen rasch zu verarbeiten und im Kurzzeitgedächtnis zu speichern. Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnis entscheiden darüber, ob ein Agent häufig Rückfragen stellen muss und wie rasch er die unter Umständen komplexen Anliegen der KundInnen erfasst. Manche Agents haben nach der Identifikation bereits vergessen, was der Kunde eigentlich wollte, und müssen danach fragen. Andere können sich das Anliegen, aber auch Namen und Zahlen leicht merken. Wieder andere haben ein ausgefeiltes Zeichensystem entwickelt, mit welchem sie die wichtigsten Angaben des Kunden auf einem Notizblock festhalten. Sie kommen ohne Rückfragen aus. Unterschiedlich ausgeprägt ist auch die Fähigkeit, zwei Dinge gleichzeitig zu tun. Während Alberto mit einem “momänt” weitersprechenden Kunden Einhalt gebietet, um seine Eingaben in den Computer ungestört zu Ende führen zu können, entstehen bei Thomas praktisch nie Redepausen, weil er während des Tippens von sich aus das Gespräch mit den KundInnen weiterführt und beide Tätigkeiten problemlos miteinander verbindet. Schliesslich ist die Problemlösungsfähigkeit eine Kompetenz, die sich direkt auf die Länge der Gespräche auswirkt. Agents, welche Probleme rasch erfassen und analysieren, können diese auch schneller einer Lösung zuführen. Bei den beruflichen Kompetenzen spielen das allgemeine Bankfachwissen sowie die Kenntnis des eigenen Unternehmens, seiner Organisation, Produkte und Prozesse, eine kaum zu unterschätzende Rolle für das Interaktionsprofil der Angestellten. Das Wissen der Angestellten wirkt sich auf die Häufigkeit der Rücksprachen und Rückrufe aus, auf die Länge der Gespräche und auf die Verständlichkeit und Zuverlässigkeit der Auskünfte, welche sie erteilen. Dass die Agents im Service über alle Gespräche hinweg betrachtet in jedem dritten Gespräch Rücksprache mit einer anderen Abteilung oder den Vor- <?page no="364"?> Einflussgrössen auf sprachliche Individualität 364 gesetzten halten, ist in vielen Fällen auf mangelndes Wissen der betreffenden Agents zurückzuführen. David zum Beispiel muss nachfragen, ob man Schecks aus dem Ausland schicken kann, Alain muss die Gebühren für das Studentenkonto nachschlagen usw. Aber auch in der Abteilung Beratung hapert es häufig mit dem Fachwissen. Sandra sucht erfolglos den Stand des Nasdaq, Alfonso findet die Nummer der für die Pensionskasse zuständigen Abteilung nicht selber usw. Sandras Strategie, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit einen Rückruf anzubieten, ist ebenso auf mangelndes Wissen zurückzuführen wie die Tatsache, dass Nora sich von den KundInnen wiederholt die Namen schweizweit bekannter Unternehmen buchstabieren lassen muss, weil sie diese nicht kennt. Alberto hingegen schüttelt die vom Kunden erfragten Kontogebühren nur so aus dem Ärmel. Zu den beruflichen Kompetenzen können schliesslich die Handlungsmaximen gezählt werden, welche sich die Angestellten zur Bewältigung ihrer Arbeit zurechtgelegt haben. Diese haben einen ganz direkten Einfluss auf das Interaktionsprofil der Angestellten, sowohl auf der stilistischen wie auf der rhetorischen Ebene. Erinnert sei an Sonjas Maxime “nur keine Fehler machen”, die ein pedantisches Verhalten und eine formalistische Sprache nach sich zog, an Davids Prinzip, Ausländer über den Lohn zu identifizieren, oder an Albertos Grundsatz, den KundInnen nicht “in den Hintern zu kriechen”, welcher zum Unterlassen jeglichen Zeichens von Dankbarkeit und Ehrerbietung führte. Sprachliche Kompetenz Die fünfte und letzte Einflussgrösse auf das individuelle Interaktionsprofil ist die sprachliche Kompetenz. Ich gliedere sie in vier Komponenten: Sprachbeherrschung, Ausdrucksfähigkeit, Musterbeherrschung und Artikulationsfähigkeit. Unter Sprachbeherrschung ist zu verstehen, wie gut ein Individuum seine Muttersprache sowie die bei der Arbeit zu sprechenden Fremdsprachen grammatikalisch beherrscht, über welche syntaktischen Strukturen es verfügt und wie gross sein Wortschatz ist. Davon hängt ab, wie korrekt die Sprache gesprochen wird, wie gut die Verständigung mit Fremdsprachigen gelingt, welchen Grad an Komplexität und Differenziertheit ein Individuum mit seinen Texten, gesprochenen wie geschriebenen, erreichen (und verstehen) kann, und wie gut seine Akkommodationsfähigkeit ist. Bei den Agents sind vor allem die Fremdsprachenkenntnisse höchst unterschiedlich ausgeprägt. Während einige Agents das Telefon in vier Sprachen bedienen, ist Lydia in Gespräch 161 nicht einmal fähig, einen französischsprachigen Kunden mit seinem Berater zu verbinden, sondern stellt diesen sogleich an einen französisch sprechenden Kollegen durch. Im Kartendienst ist zu beobachten, dass die Agents häufiger notwendige Informationen über den Ablauf der Sperrung und die Gebühren an die KundInnen weglassen, <?page no="365"?> Ein ganzheitlicher Ansatz: Der PI-Kreis 365 wenn sie das Gespräch in einer Fremdsprache führen müssen, und dass sie häufiger das Anliegen des Kunden gar nicht oder falsch verstehen, wenn der Kunde eine Sprache benutzt, die sie nur beschränkt beherrschen. Alberto macht im Dialekt hin und wieder Grammatikfehler, benutzt ungewohnte Wortstellungen und verfügt über eine nur sehr einfache Syntax - dafür nimmt er sämtliche italienischen Anrufe für die ganze Abteilung entgegen. Die Ausdrucksfähigkeit eines Individuums entscheidet darüber, wie differenziert und geschickt es argumentieren kann, wie klar seine Erklärungen ausfallen, wie gut es im Gespräch seine Interessen vertreten kann, wie reich sein Vorrat an Höflichkeitsfloskeln ist, ob es subtile Formen des Andeutens und Ironisierens beherrscht und ob seine Ausdrucksweise auch ästhetischen oder gar literarischen Ansprüchen genügt. Susanne zeichnet sich durch eine ausgesprochen kontrollierte Sprechweise und luzide Erklärungen aus. Sandra versucht sich in differenzierten Argumentationen, produziert mit ihren vielen Selbstreparaturen, Füllwörtern und vagen Referenzen aber eher schwer verständliche Sprachgebilde. Im Kartendienst arbeitet eine ältere Österreicherin, die sich durch ihre gepflegte Ausdrucksweise von allen anderen Agents abhebt. Musterbeherrschung bedeutet die Fähigkeit, alle für die Bearbeitung der anfallenden Aufgaben notwendigen Gesprächs- und Handlungsmuster zu kennen und anwenden zu können. Musterbeherrschung bedeutet allerdings nicht, die domänenüblichen Gesprächsmuster konsequent und unveränderlich abzuarbeiten, Souveränität beweist vielmehr jener, der die Muster im rechten Moment zu durchbrechen, abzuändern und zu mischen versteht. Die BeraterInnen sind zum Beispiel alle fähig, die Angaben der KundInnen zum Börsenauftrag in beliebiger Reihenfolge entgegenzunehmen und zwingen die KundInnen nicht, ihnen die Angaben in der von der Eingabemaske vorgesehenen Reihenfolge zu nennen. Alain und Sonja hingegen orientieren sich stur am gelernten Muster, zuerst den Kunden zu identifizieren und dann erst Auskunft zu geben. Das führt dazu, dass sie in einigen Gesprächen die Identifikation zu einem Zeitpunkt einleiten, in welchem noch gar nicht klar ist, ob der Kunde überhaupt identifiziert werden muss. Das führt zu ziemlichen Turbulenzen, da die KundInnen versuchen, ihre Anliegenspräsentation zu beenden, während die Agents bereits mit Fragen zur Identifikation aufwarten. Zur Musterbeherrschung gehört auch die Kenntnis der sprach-, kultur- und medienspezifischen Konventionen. Alle Agents im nationalen Call Center wissen, dass man Französisch, Italienisch und Englisch sprechende Personen nicht mit dem Namen, sondern nur mit “madame”, “signore” oder “sir” anspricht. Mangelnde Kenntnis der schweizerischen Telefonsitten ist eher bei gewissen KundInnen zu registrieren. Die Artikulationsfähigkeit schliesslich bestimmt darüber, wie gut eine Person am Telefon zu verstehen ist. Da die Angestellten diesbezüglich geschult und überwacht werden, sind die Unterschiede nicht gross. Lediglich <?page no="366"?> Einflussgrössen auf sprachliche Individualität 366 12 Persönliche Mitteilung. bei Alberto gibt es Gesprächspassagen, in denen er nuschelt und Unverständliches zu sich selbst brummelt. Damit ist der Überblick über die fünf Einflussgrössen auf sprachliche Individualität in institutionellen Gesprächen abgeschlossen. Die Zusammenstellung der Einflussgrössen und ihrer Komponenten erhebt wie gesagt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, es ging mehr darum, die Breite des Spektrums möglicher beeinflussender Grössen auszuloten und illustrative Beispiele aufzuführen. Es bleibt der zukünftigen Forschung überlassen, ausgehend vom vorgeschlagenen PI-Kreis eine abschliessende Zusammenstellung der Einflussgrössen und ihrer Komponenten zu finden. Wie lässt sich der PI-Kreis anwenden? Mit dem PI-Kreis lassen sich wiederkehrende sprachliche Verhaltensweisen erklären. Das individuelle Interaktionsprofil, über welches jedes Individuum verfügt, zeigt, wie sich ein Individuum unter normalen Bedingungen typischerweise verhält, und die fünf Einflussgrössen geben die Hinweise darauf, warum es sich gerade so verhält und nicht anders. Das schliesst einmaliges, situationsspezifisches Handeln nicht aus. Unter Ausnahmebedingungen kann ein Individuum sich auch ganz anders verhalten - nur stellt sich dann bezeichnenderweise das Gefühl ein, “nicht mehr sich selbst” gewesen, “ausser sich geraten” zu sein. Der PI-Kreis lässt sich hingegen nicht dazu benützen, eine einzelne Äusserung in ihrem So-Sein zu erklären. Warum eine Person A in der gegebenen Situation die eine Formulierung wählt und eine Person B die andere, darüber kann man nur spekulieren. Wenn zum Beispiel jemand für die Begrüssung eine sehr knappe Formulierung wählt und dem Gegenüber keine Zeit für einen Gruss lässt, so kann ich das praktisch beliebig darauf zurückführen, dass diese Person immer kurz angebunden ist (Charaktereigenschaft), dass sie in Eile ist (situativer Faktor) oder dass sie die örtlichen Konventionen nicht kennt (Musterbeherrschung). Einmaliges sprachliches Verhalten lässt sich in seiner Wirkung beschreiben, aber es lässt sich grundsätzlich nicht abschliessend erklären, weder durch den vorgeschlagenen PI- Kreis noch durch ein anderes Gesprächsmodell. Am Ende des ersten Kapitels stellte ich die Frage, warum Individuen “sich die Mühe machen”, institutionelle Gespräche individuell zu gestalten. Kollegin Carmen Spiegel antwortete darauf spontan: “Vielleicht können Sie nicht anders? ” 12 Ich meine, dass sie damit den Nagel auf den Kopf trifft: Individuen können sich gar nicht anders als individuell verhalten, Kraft ihres Daseins als einzigartige Wesen. <?page no="367"?> 10 Ergebnisse und methodische Schlussfolgerungen In diesem letzten Kapitel rekapituliere ich das Vorgehen und fasse die wichtigsten Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zusammen. Der Schwerpunkt liegt bei den methodischen Überlegungen. Ich stelle zur Diskussion, welchen Beitrag die Arbeit zur Erforschung sprachlicher Individualität in institutionellen Gesprächen leistet, welche Fragen offen geblieben sind und wo die Möglichkeiten zur Weiterentwicklung und zur praktischen Anwendung des von mir entwickelten Konzepts des Interaktionsprofils liegen. Mit der vorliegenden Arbeit verfolgte ich zwei Ziele. Zum einen wollte ich ein Instrumentarium zur Beschreibung sprachlicher Individualität in institutionellen Gesprächen entwickeln, zum andern ein Korpus institutioneller Telefongespräche analysieren und daran sprachliche Individualität in der Form individueller sprachlicher Variation sowie individueller Interaktionsprofile herausarbeiten. Im Hinblick auf das untersuchte Korpus wurden meines Erachtens beide Ziele erreicht. Es konnte gezeigt werden, dass sprachliche Individualität in den untersuchten Call Center Gesprächen existiert und sich mit linguistischen Kategorien erfassen lässt. Ich habe individuelle sprachliche Variation auf der stilistischen Ebene als stilistische Variation institutioneller Handlungsmuster und auf der rhetorischen Ebene als individuellen Umgang mit Positionierung und Gesprächssteuerung nachweisen können. Und ich habe von vier ausgewählten Angestellten das individuelle Interaktionsprofil erstellt, mit welchem sie eindeutig identifiziert werden können. Zu fragen wird sein, inwiefern die Analysen vollständig sind und inwiefern das erarbeitete Instrumentarium zur Beschreibung sprachlicher Individualität auf andere Korpora übertragbar und somit allgemein anwendbar ist. Doch zuerst rekapituliere ich das Vorgehen und die wichtigsten Ergebnisse. Von sprachlicher Individualität spreche ich dann, wenn Individuen sich in ihrem sprachlichen Verhalten in einer institutionell gegebenen Situation unterscheiden. Diese Definition bedingt, dass die Situation mit ihren kommunikativen Anforderungen und die Gemeinsamkeiten im Verhalten der Individuen in dieser Situation bekannt sein müssen, bevor die Differenzen im sprachlichen Verhalten zwischen den Individuen herausgearbeitet und als Zeichen sprachlicher Individualität gedeutet werden können. Daher habe ich zuerst das institutionelle Umfeld der untersuchten Gespräche beschrieben: Auftrag und Organisation der Call Center der Schwyzer Bank, die Aufgaben, welche die Beschäftigten in den verschiedenen Abteilungen zu erfüllen haben, die Gestaltung der Arbeitsplätze, die internen Vorschriften und Kontrollmechanismen, die soziodemografischen Merkmale der Ange- <?page no="368"?> Ergebnisse und methodische Schlussfolgerungen 368 stellten. Ebenfalls wurde aufgezeigt, welches die Charakteristika von Telefongesprächen sind (Kapitel 3). Durch diese organisationellen und technischen Rahmenbedingungen sind die Gespräche, die in den Call Centern stattfinden, in vielfältiger Weise vorstrukturiert. Die quantitative Analyse des 431 Telefongespräche umfassenden Korpus gab Aufschluss über die Dauer der untersuchten Gespräche, das Geschlecht und die Sprache der Beteiligten und über die Erfolgsquote (Kapitel 4). Im zweiten Schritt habe ich die Aufgabenschemata und Gesprächsmuster herausgearbeitet, mittels derer die Agents und die KundInnen die häufigsten Kundenanliegen bearbeiten. Diese Aufgabenschemata und Gesprächsmuster stellen das Überindividuelle dar, das Gemeinsame im sprachlichen Verhalten der untersuchten Individuen (Kapitel 5). Sprachliche Individualität in institutionellen Gesprächen lässt sich in allgemeinster Form als Variation, als individueller Umgang mit den institutionell gegebenen Rahmenbedingungen und Gesprächsmustern definieren. Dieser individuelle Umgang mit den institutionellen Rahmenbedingungen und Gesprächsmustern lässt sich unter zwei verschiedenen Perspektiven untersuchen, mit Blick auf das Gesprächsmuster (wie wird das Gesprächsmuster von den Individuen gehandhabt? ) oder mit Blick auf das Individuum (wie geht das Individuum mit den Gesprächsmustern um? ). Zum einen untersuchte ich also individuelle sprachliche Variation, das heisst das Spektrum der möglichen bzw. tatsächlich gezeigten sprachlichen Verhaltensweisen in der gegebenen Situation. Zum andern erstellte ich individuelle Interaktionsprofile, das heisst eine vollständige Beschreibung des sprachlichen Verhaltens einzelner Individuen in der gegebenen Situation. Individuelle sprachliche Variation untersuchte ich auf zwei sprachlichen Ebenen, zuerst auf der stilistischen, dann auf der rhetorischen. Auf der stilistischen Ebene erfasste ich sie als stilistische Variation institutionell gegebener Handlungsmuster. Zu diesem Zweck entwickelte ich ein auf dem funktionalen und sozio-kommunikativen Stilbegriff basierendes Konzept von Stil, mit welchem ich anschliessend drei zentrale Handlungsmuster (Gesprächseröffnung, Präsentation des Anliegens, Kundenidentifikation) im Hinblick darauf untersuchte, in welchen stilistischen Varianten sie von den Beteiligten durchgeführt werden. Ich stellte zusammen, welche Varianten vorkommen, wie häufig sie vorkommen, welche Varianten als konventionell, unkonventionell oder abweichend einzustufen sind, und welche Wirkung die stilistische Gestaltung des Handlungsmusters auf die Selbstdarstellung der Gesprächspartner, auf die Beziehungsdefinition und auf den Fortgang der Interaktion ausübt (Kapitel 6). Es zeigte sich, dass die Spannbreite der individuellen stilistischen Variation weit grösser war als erwartet. Die Variation betraf nicht die Handlungsmuster selbst, welche vergleichsweise rigide angewendet wurden, sondern die stilistische Durchführung der Handlungsmuster mittels konkreter Formulierungen. Lediglich bei der Gesprächseröffnung fanden sich Formulierun- <?page no="369"?> Ergebnisse und methodische Schlussfolgerungen 369 gen, die von mehreren Agents bzw. KundInnen wörtlich identisch gebraucht wurden, sodass eine quantitative Auswertung und eine klare Unterscheidung in konventionelle, unkonventionelle und abweichende Varianten möglich war. Bei den anderen beiden Handlungsmustern waren die Unterschiede in den Formulierungen trotz aller gesellschaftlicher Konventionen und bankinternen Vorschriften so gross, dass sich keine zwei wörtlich identischen Varianten finden liessen. Lediglich auf der abstrahierenden Ebene der Paraphrase liessen sich Gemeinsamkeiten in den Formulierungen aufzeigen. Eine quantitative Analyse der vorgefundenen stilistischen Varianten und eine Einteilung in konventionelle und unkonventionelle Varianten, wie ursprünglich geplant, war nicht möglich, letztlich musste jeder einzelne Gesprächsausschnitt für sich betrachtet und interpretiert werden. Dieser Befund zeigt, dass die sprachliche Individualität in institutionellen Gesprächen mindestens auf der stilistischen Ebene viel ausgeprägter ist als bisherige Analysen institutioneller Gespräche vermuten liessen. Letztlich sind keine zwei Gespräche gleich, gibt es keine zwei KundInnen oder Agents, die sich identisch ausdrücken würden. Die stilistische Gestaltung der untersuchten Handlungsmuster hatte nachweisbare Auswirkungen auf die Selbstdarstellung der Sprechenden, auf die Beziehung zwischen den Gesprächspartnern und auf den Fortgang der Interaktion. Je nachdem, welche Variante der Begrüssung & Vorstellung die KundInnen wählten, stilisierten sie sich absichtlich oder unabsichtlich zur konventionell-höflichen Anruferin, zum eiligen Herrn, zum Einheimischen bzw. nicht Einheimischen oder zum speziellen Typen. Bei der Präsentation des Anliegens bewirkte die gewählte Formulierung, dass dasselbe Anliegen einmal als Frage, einmal als Bitte, einmal als Auftrag erschien. Besonders gross waren die individuellen stilistischen Unterschiede bei den Problemschilderungen, mit welchen sich die Anrufenden je nachdem zum lediglich eine Frage stellenden Experten, zum unwilligen Reklamierer, zur ratlosen Anfängerin oder zum zerknirschten Gescheiterten stilisierten. Dominant waren in den Problemschilderungen der KundInnen die Aspekte der Kompetenz und der Schuld. Bei der Kundenidentifikation schliesslich zeigten die Agents individuelle Präferenzen für bestimmte Fragen und Frageformen, für bestimmte Formulierungen, mit denen sie die Identifikation einleiteten und beendeten und für ein spezifisches Rückmeldeverhalten. Die Agents unterschieden sich dabei markant in der Ausführlichkeit, Explizitheit, Rigidität, Routine und Höflichkeit, mit der sie die Identifikation durchführten. Über die drei pro Agent analysierten Gespräche hinweg verdichteten sich die stilistischen Präferenzen der Agents rasch zum Eindruck eines konsistenten Interaktionsstils, der von umständlich und höflich über knapp und förmlich bis zu polizeimässig variierte. Die Beispielanalysen zeigten, dass selbst ausgeprägt konventionelle und institutionell geregelte Handlungsmuster beträchtlichen Spielraum für die Gestaltung institutioneller Gespräche nach individuellen Präferenzen <?page no="370"?> Ergebnisse und methodische Schlussfolgerungen 370 bieten, welcher von den Interagierenden auf vielfältige Weise ausgeschöpft wird. Auf der rhetorischen Ebene untersuchte ich individuelle sprachliche Variation als die Art und Weise, wie Individuen sich im Gespräch positionieren und selbiges in ihrem Sinne zu steuern und zu kontrollieren versuchen. Gestützt auf das aus der Sozialpsychologie stammende und in einen gesprächsrhetorischen Rahmen übertragene Konzept der Positionierung sowie auf das Konzept der Gesprächssteuerung führte ich bei ausgewählten Gesprächen eine vollständige sequenzielle Analyse durch (Kapitel 7). Bei der Gesprächssteuerung waren die individuellen Unterschiede zwischen den untersuchten KundInnen und Agents nicht sehr ausgeprägt. Alle Agents zeigten in Bezug auf die gesprächsorganisationelle Steuerung eher Zurückhaltung, während die KundInnen von ihrem Redevorrecht in unterschiedlichem Ausmass Gebrauch machten. In Bezug auf die Handlungskonstitution und die Themenbehandlung hatten die KundInnen - strukturell bedingt durch ihre Rolle als Anrufende - zu Beginn und am Ende des Gesprächs die Führung inne, während die Agents im Hauptteil des Gesprächs die praktisch uneingeschränkte Kontrolle ausübten. Individuelle Unterschiede zeigten sich vor allem bei den verwendeten sprachlichen Steuerungsmitteln, bei welchen sich das Spektrum von subtilem Übergehen von Partnerinitiativen und thematischen Umfokussierungen über die Steuerung mittels Fragen bis hin zu abrupten Themenwechseln, expliziten Rückweisungen von Partnerinitiativen und Imperativen erstreckte. Bei den Positionierungen waren die individuellen Unterschiede dagegen ausgeprägt. Sowohl die Agents als auch die KundInnen positionierten sich über ihre institutionell gegebene Rolle hinaus auf unterschiedlichen Dimensionen (Expertentum, Dienstbeflissenheit, Entscheidungsbefugnis, Status, Alter und andere mehr), an verschiedenen Punkten auf diesen Dimensionen, mit unterschiedlichen sprachlichen Mitteln und mit mehr oder weniger Rücksicht auf die Positionierungen und das Image des Gesprächspartners. Daneben gab es aber auch Agents und KundInnen, die Positionierungen ihrer selbst ausdrücklich vermieden. Auf der rhetorischen Ebene besonders aufschlussreich war die Beobachtung, dass das Verhalten der untersuchten Individuen ausgesprochen konstant war. Zu Beginn des Gesprächs eingenommene Positionen wurden in der Regel mit allen zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln und selbst gegen widersprechende Fakten verteidigt, und auch die eingesetzten sprachlichen Steuerungsmittel blieben dieselben. Je nachdem, ob die Positionierungs- und Steuerungsbemühungen der Gesprächspartner kongruent oder konfligierend waren, entstand dadurch eine spezifische Gesprächsdynamik. Auch auf der rhetorischen Ebene stehen den Gesprächspartnern in institutionellen Gesprächen somit individuelle Handlungsspielräume zur Verfügung. Die individuelle Art, die institutionell vorgegebenen Rollen Kunde bzw. Agent auszulegen, sich zu positionieren und das Gespräch zu <?page no="371"?> Ergebnisse und methodische Schlussfolgerungen 371 steuern, hat noch unmittelbareren und stärkeren Einfluss auf die Selbstdarstellung und die Beziehung der Gesprächspartner und auf den Fortgang der Interaktion als die stilistische Variation der Handlungsmuster. Nach der Analyse individueller sprachlicher Variation wendete ich mich der Betrachtung einzelner Individuen zu. Da ein bewährtes methodisches Vorgehen, wie man das sprachliche Porträt eines Individuums erstellt, nicht existiert, erarbeitete ich selber ein Konzept. Die Idee war, sämtliche sprachlichen Verhaltensweisen zu bestimmen, die interaktiv relevant sind und individuell variieren, und diese bei mehreren Individuen über mehrere Gespräche hinweg vergleichend-inventarisierend zu erfassen. Alle erfassten sprachlichen Verhaltensweisen zusammengenommen ergeben das von mir so bezeichnete individuelle Interaktionsprofil eines Individuums (Kapitel 8). In dieses Interaktionsprofil eingegangen sind neben den vier bereits bekannten Kategorien (stilistische Variation von Handlungsmustern, Positionierung, thematische Gesprächssteuerung, organisationelle Gesprächssteuerung) sechs weitere Kategorien: Stimme, Prosodie, Varietät, Paraverbales, Höflichkeit und syntaktisch-lexikalische Präferenzen. Diese zehn Kategorien umfassen 35 Elemente sprachlichen Verhaltens, vom Sprechtempo (Kategorie Stimme) über den Gebrauch von Nebensätzen (Kategorie syntaktisch-lexikalische Präferenzen) bis zum Display von Expertentum (Kategorie Positionierung) und decken damit das gesamte sprachliche Verhalten eines Individuums auf der stimmlichen, stilistischen und rhetorischen Ebene ab. Ziel war, das sprachliche Verhalten eines Individuums in der Breite (Auswahl der untersuchten Elemente) und in der Tiefe (Detaillierungsgrad der Analyse) so präzise zu erfassen, dass das Individuum auch von Unbekannten zweifelsfrei identifiziert werden kann. Als eine neue Form der Validierung gesprächsanalytischer Forschungsergebnisse schlug ich die Zuordnung anonymer Gespräche zu den vorgestellten Individuen durch den Leser vor. Ein Teilkorpus von 20 Gesprächen (vier Angestellte mit je fünf zu denselben Gesprächstypen gehörenden Gesprächen) wurde im Hinblick auf die 35 Elemente sprachlichen Verhaltens vollständig ausgewertet. Wo möglich, wurde die Analyse quantitativ durchgeführt. Bei allen 35 Elementen zeigten sich signifikante Unterschiede zwischen den vier Angestellten. Die Ergebnisse der vergleichend-inventarisierenden Analyse wurden zu sprachlichen Porträts der vier Angestellten verdichtet. Die Unterschiede waren bedeutend: Ein korrekter, freundlicher, distanzierter, zurückhaltender Minimalist stand einer bedächtigen, zuvorkommenden, selbstsicheren Routinière gegenüber, eine engagierte, manchmal übereifrige, unkontrolliert sprechende, jugendlich wirkende Vielrednerin kontrastierte mit einem kurz angebundenen, kompetent auftretenden, unhöflichen Pedanten. Die Porträts ergänzte ich mit den Informationen, die ich durch die teilnehmende Beobachtung, die Coachinggespräche und die Interviews mit den Angestellten gewonnen hatte. Es zeigte sich, dass das Interaktionsprofil der Angestellten erkennbar <?page no="372"?> Ergebnisse und methodische Schlussfolgerungen 372 mit ihrer beruflichen Befindlichkeit und mit ihren Handlungsmaximen korreliert. Das sprachliche Verhalten der untersuchten Angestellten erwies sich ausserdem als sehr konstant. Situative Veränderungen im Verhalten traten zwar auf (zum Beispiel sprachliche und inhaltliche Akkommodation an Fremdsprachige, vermehrte Selbstreparaturen und stärkere Modalisierung bei Reklamationen, Zunahme von Pausen und fehlenden Rückmeldungen bei Problemen mit dem Computersystem), wiesen ihrerseits aber wiederum systematische Züge auf. Mit dem Ausdruck Interaktionsprofil unterstreiche ich ebendiese Konstanz im sprachlichen Verhalten der untersuchten Individuen. Die Unterschiede in den Interaktionsprofilen der vier Angestellten lassen sich weder durch die für alle identische Situation und Aufgabe noch durch soziodemografische Variablen erklären, sondern sind den Angestellten als Individuen zuzuschreiben. Damit konnte ich nicht nur zeigen, dass Individuen sich auch in institutionellen Gesprächen individuell, ja einzigartig verhalten, sondern auch, dass es möglich ist, diese Einzigartigkeit auf methodisch kontrollierte Weise zu erfassen und zu beschreiben. Zuletzt ging ich der Frage nach, wie dieser Befund zu erklären ist und welche Einflussgrössen das Interaktionsprofil eines Individuums bestimmen (Kapitel 9). Ich stellte die Hypothese auf, dass Individuen sich gar nicht anders als individuell verhalten können kraft ihres Daseins als einzigartige Wesen. Als bestimmend für ihr individuelles Interaktionsprofil wurden fünf Einflussgrössen postuliert: Persönlichkeit und Identität, Situations- und Rollenauslegung, körperlich-seelische Befindlichkeit, allgemeine und berufliche Kompetenz, sprachliche Kompetenz. Sie wurden im Person- Interaktions-Kreis zusammengeführt, welcher die Einheit von Sprache, Psyche, Körper und Umwelt des Menschen veranschaulicht. Nach dem Rückblick auf das Vorgehen und die Ergebnisse stellt sich nun die Frage: Welchen Beitrag leistet die vorliegende Arbeit für die Linguistik im Allgemeinen und für die Erforschung sprachlicher Individualität im Besonderen? Welche theoretisch-methodischen Schlüsse sind zu ziehen? Welche Fragen bleiben offen? Im Abschnitt über das Verhältnis der Linguistik zum Individuum hatte ich unter anderem drei Dinge moniert (vgl. S. 19f.): 1. Die Linguistik schliesst das Individuelle bei der Gegenstandskonstitution normalerweise aus. Auf Grund der Fokussierung auf allgemein gültige linguistische Kategorien ist sie nicht in der Lage, Einzelfälle adäquat, das heisst als Einzelfälle und nicht nur als Exemplare einer linguistischen Kategorie zu beschreiben. <?page no="373"?> Ergebnisse und methodische Schlussfolgerungen 373 2. Die Linguistik ist nicht in der Lage, das Sprechen eines Individuums in seiner Spezifik vollständig zu erfassen, zu beschreiben und zu erklären. 3. Die Gesprächsforschung schliesst individuelles Wirken und Können als erklärende Variable für sprachliches Verhalten aus und folgt einem im weitesten Sinne deterministischen Sprechermodell. Was hat die vorliegende Arbeit in Bezug auf diese drei Kritikpunkte gebracht? Die Arbeit hat zum Ersten gezeigt, dass die Linguistik das Individuelle zu Gunsten allgemeiner Aussagen über die Sprache nicht vorschnell preisgeben sollte. Wer den Einzelfall nicht nur als Exemplar einer wie auch immer definierten linguistischen Kategorie behandelt, sondern zuerst einmal als Einzelfall in seiner Einzigartigkeit und Spezifität, wird sich erst des enormen Reichtums sprachlicher Erscheinungsweisen bewusst. Die gleichzeitige Analyse der Gemeinsamkeiten (in dieser Arbeit: Gesprächsmuster) und der Unterschiede (hier: individuelle Variation) im sprachlichen Verhalten von Individuen schafft erst ein vollständiges, nicht reduktionistisches Verständnis für die sprachliche Wirklichkeit. Neben die Einheit tritt die Vielfalt, es entsteht ein Sprachbegriff, der neben dem Allgemeinen auch das Individuelle umfasst (vgl. Nowak 1983). Ich habe in meiner Arbeit gezeigt, dass die Sprachwissenschaft dem Einzelfall nicht sprachlos gegenüber stehen muss, sondern ihn erfassen kann, und ich habe gezeigt wie: durch den Vergleich des einzelnen Falles mit vergleichbaren weiteren Fällen vor dem Hintergrund der Kenntnis der situativen Rahmenbedingungen und der allen Fällen zu Grunde liegenden gemeinsamen Muster. Eine präzise Erfassung, Einordnung und Deutung des Einzelfalles ist aufwändig, aber möglich und für die Linguistik ein Gewinn. Die Arbeit hat zum Zweiten gezeigt, dass es möglich ist, das Sprechen eines Individuums mindestens innerhalb einer gesellschaftlichen Domäne vollständig zu erfassen und so präzise zu beschreiben, dass das Individuum eindeutig identifizierbar wird. Damit leistet die Linguistik auf methodisch kontrollierte Weise, was kompetente Sprachteilhaber immer schon konnten: Eine Person anhand ihres Sprechens zu identifizieren. Das vorgestellte Konzept des Interaktionsprofils ist das eigentlich Innovative, der Kern der vorliegenden Arbeit. Das Konzept stellt der Gesprächsforschung ein methodisches Instrumentarium zur Erforschung sprachlicher Individualität zur Verfügung und eröffnet ihr damit neue Möglichkeiten, insbesondere im Bereich der Angewandten Gesprächsforschung (vgl. unten). Die Arbeit hat zum Dritten gezeigt, dass vom “Modell des determinierten Sprechers” (Macha 1991) endgültig Abschied genommen werden muss. Selbst wenn alle situativen Faktoren und soziodemografischen Merkmale der Sprechenden bekannt sind, lässt sich das Sprechen eines Individuums nie vorhersagen (vgl. Johnstone 1996). Selbst unter restriktiven institutionellen Rahmenbedingungen und bei Einhaltung rigider Gesprächsmuster sind die Unterschiede im sprachlichen Verhalten zwischen verschiedenen Individuen <?page no="374"?> Ergebnisse und methodische Schlussfolgerungen 374 evident. Es ist davon auszugehen, dass sehr viel mehr sprachliche Phänomene dem Individuum selbst zuzuschreiben sind, als die Gesprächsforschung bislang vermutet hat (vgl. Spiegel 2006), dass häufiger als angenommen individuelles Wirken und Können am Werk ist. Das bedeutet aber auch, dass Gesprächsanalysen im Prinzip nur dann vollständig sind, wenn neben den traditionellerweise gesuchten Regularitäten und allgemeinen linguistischen Kategorien auch die Irregularitäten und idiosynkratischen Verhaltensweisen der konkret untersuchten Personen erfasst und gedeutet wurden. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit sind auch eine Absage an konstruktivistische Konzepte, welche das sprachliche Verhalten von Individuen als rein emergentes Phänomen betrachten, hervorgebracht durch den je singulären Interaktionsprozess. Ich konnte aufzeigen, dass das sprachliche Verhalten der Individuen nicht allein von der aktuellen Sprecherkonstellation und vom Interaktionsprozess bestimmt wird, sondern wesentliche Züge der Konstanz aufweist. Auf einen Nenner gebracht: • Die Erforschung des Individuellen und damit verbunden von Einzelfällen ist möglich und erlaubt erst die vollständige Erfassung der sprachlichen Wirklichkeit. • Die Beschreibung des Sprechens eines einzelnen Individuums ist realisierbar und eröffnet der Linguistik neue Möglichkeiten. • Sprachliches Verhalten ist abgesehen von situativen Faktoren auch vom Individuum und seinem individuellen Wirken und Können bestimmt. In Bezug auf die Methode wurde das Wesentliche bereits in Abschnitt 2.3 genannt: 1. Sprachliche Individualität kann nur durch den inter- und intraindividuellen Vergleich mehrerer Individuen erfasst werden. 2. Die sprachlichen Daten dürfen trotz der Fokussierung auf ein Individuum nie dekontextualisiert werden. 3. Sprachliche Individualität findet sich auf allen sprachlichen Ebenen. An diese Prinzipien habe ich mich in der vorliegenden Arbeit gehalten. Das untersuchte Korpus umfasste mehrere Gespräche derselben Person und mehrere Gespräche desselben Typs verschiedener Personen. Die untersuchten sprachlichen Elemente wurden trotz des inventarisierenden Vorgehens nie kontextfrei interpretiert. Und sprachliche Individualität wurde auf drei verschiedenen Ebenen, der stimmlichen, stilistischen und rhetorischen, untersucht, und zwar unter dem Beizug verschiedener linguistischer Konzepte und Begriffe. <?page no="375"?> Ergebnisse und methodische Schlussfolgerungen 375 Im Rückblick hat sich diese einigermassen ekklektizistische Verwendung verschiedener linguistischer Konzepte, die auf den ersten Blick unvereinbar zu sein scheinen, durchaus bewährt. Manch einem Gesprächsforschenden mag es ungeheuerlich erscheinen, in ein und derselben Untersuchung die Begriffe Muster, Varietät, Stil und Positionierung zu verwenden, welche aus ganz unterschiedlichen Forschungsrichtungen stammen und teilweise der linguistischen Pragmatik, teilweise dem Konstruktivismus verpflichtet sind. Aber gerade weil sich Individualität wie gesagt auf allen sprachlichen Ebenen zeigt, ist es unmöglich, mit einem linguistischen Konzept allein sprachliche Individualität zu erfassen. Weder mit einer Analyse der Stimme noch mit der Erfassung des individuellen Stils noch mit der Analyse des rhetorischen Verhaltens eines Individuums ist dessen sprachliches Verhalten vollständig beschrieben. Die Verbindung des Musterbegriffs mit Begriffen aus der Stilforschung und aus der Gesprächsrhetorik erscheint mir nicht nur legitim, sondern fruchtbringend und für die Analyse institutioneller Kommunikation unabdingbar: Wer bei der Analyse von Gesprächsmustern stehen bleibt, wie das in der funktional-pragmatischen Diskursanalyse üblich ist, entwirft ein reduktionistisches Bild institutioneller Gespräche, erfasst die individuellen Unterschiede nicht und neigt dazu, alle sprachlichen Phänomene der Situation zuzuschreiben. Wer umgekehrt stilistische oder rhetorische Analysen durchführt ohne die Kenntnis und Berücksichtigung der institutionellen Rahmenbedingungen und Gesprächsmuster, riskiert realitätsferne Interpretationen und tendiert dazu, alle sprachlichen Phänomene den Individuen und ihren Konstruktionsleistungen zuzuschreiben. Erst die Verbindung beider Perspektiven garantiert eine nicht reduktionistische Beschreibung des institutionellen sprachlichen Geschehens und eine realistische Einschätzung dessen, was überindividuell und damit der Situation und was individuell und damit dem Individuum zuzuschreiben ist. Die Verbindung von Institutionen- und Musteranalyse mit der sequenziellen Prozessanalyse scheint mir der einzig gangbare Weg zur Erforschung sprachlicher Individualität in institutionellen Gesprächen zu sein. Ein methodisches Problem bleibt allerdings ungelöst. Das ist die Frage, welche sprachlichen Phänomene für die Erforschung sprachlicher Individualität in institutionellen Gesprächen überhaupt ins Auge gefasst werden sollen. Bei der Erforschung individueller sprachlicher Variation ist das Problem weniger virulent. Prinzipiell lässt sich Individualität auf allen sprachlichen Ebenen finden, daher kann man auch jedes beliebige sprachliche Phänomen fokussieren und im Hinblick auf die Gemeinsamkeiten und die individuellen Unterschiede untersuchen, ob es sich nun um die Varietät (Bürkli 1999), die Höflichkeit (Held 2001) oder ein einzelnes Handlungsmuster wie die Eröffnung einer Schulstunde (Spiegel 2006) handelt. Die Auswahl wird in diesem Fall vom Erkenntnisinteresse der Forscherin geleitet. Ich habe mich für die Analyse einzelner Handlungsmuster und die Analyse von Positionierung und Gesprächssteuerung entschieden, und zwar <?page no="376"?> Ergebnisse und methodische Schlussfolgerungen 376 aus folgendem Grund: Institutionelle Gespräche wie die untersuchten Call Center Gespräche sind gekennzeichnet und vorstrukturiert durch Aufgabenschemata und Gesprächsmuster, die vergleichsweise rigide zu befolgen sind, sowie durch eine klare Rollenverteilung zwischen Kunde und Agent. Der Spielraum für individuelles Verhalten scheint minimal zu sein. Individuelle sprachliche Variation genau dort aufzuzeigen, wo sie nicht erwartet wird, erschien mir nicht nur reizvoll, sondern auch methodisch sinnvoll: Wenn nachgewiesen werden kann, dass selbst institutionell vorgegebene Handlungsmuster individuell variiert werden und institutionell vorgegebene Rollen durch Positionierungen individuell ausgelegt und differenziert werden, dann ist der Beweis für die Existenz sprachlicher Individualität sicherer erbracht, als wenn unstrukturierte Feierabendgespräche analysiert werden. Selbstverständlich hätten aber auch andere bzw. weitere sprachliche Phänomene im Hinblick auf individuelle Unterschiede untersucht werden können. Bei der Beschreibung des sprachlichen Verhaltens eines konkreten Individuums, beim Erstellen seines Interaktionsprofils also, stellt sich die Frage nach der Auswahl der zu analysierenden sprachlichen Phänomene in ganz anderer Schärfe. Denn ein Interaktionsprofil, wie ich es definiert habe, zielt auf Vollständigkeit. Es sollen alle sprachlichen Verhaltensweisen erfasst werden, die das Individuum in der untersuchten gesellschaftlichen Domäne kennzeichnen und identifizierbar machen. Wie ist diese Auswahl zu leisten? In der vorliegenden Arbeit habe ich drei Auswahlkriterien genannt: Die Verhaltensweisen müssen für den Gesprächspartner wahrnehmbar, interaktiv relevant und individuell variierbar sein (vgl. S. 233). Diese Kriterien sind jedoch ziemlich schwammig, sie erlauben die Aufnahme fast beliebig vieler Elemente sprachlichen Verhaltens in das Interaktionsprofil. Für meine Untersuchung ergab sich denn auch ein verhältnismässig umfangreiches Repertoire von 35 zu untersuchenden Elementen. In der Auseinandersetzung mit den Gesprächsdaten schienen sie mir alle relevant zu sein. Aber die 35 Elemente des in dieser Arbeit verwendeten Interaktionsprofils sind rein empirisch aus dem Korpus hergeleitet. Objektive und allgemein gültige Kriterien, nach denen die Elemente sprachlichen Verhaltens für die Erstellung eines Interaktionsprofils ausgewählt werden müssen, kann ich nicht vorlegen. Daher stellt sich sofort die Frage, ob das von mir definierte Interaktionsprofil auf andere Korpora übertragbar ist, ob es gar universelle Gültigkeit beanspruchen darf. Schon ein flüchtiger Blick auf die zusammengestellten Elemente zeigt, dass dies nicht der Fall ist. Einzelne Elemente wie “Gestaltung der Identifikation” oder “Display von Expertentum” sind eindeutig korpusspezifisch, ihre Aufnahme in das Interaktionsprofil und ihre Analyse kann nicht ohne Weiteres auf andere Korpora übertragen werden. Übertragbar ist hingegen das Vorgehen, überhaupt Handlungsmuster zu identifizieren und in ihrer stilistischen Variation zu untersuchen, auch wenn das von Korpus zu Korpus andere Handlungsmuster sind. Übertragbar ist das Vorge- <?page no="377"?> Ergebnisse und methodische Schlussfolgerungen 377 hen, überhaupt Positionierungen zu analysieren, auch wenn je nach Korpus andere Formen der Positionierung auf anderen Dimensionen vorkommen. Die Auswahl der zu untersuchenden Elemente (die dritte Spalte in Tabelle 11, S. 235) muss daher für jedes Korpus neu geprüft werden. Die Auswahl der Kategorien (die zweite Spalte in der Tabelle) beansprucht hingegen korpusübergreifende Gültigkeit. In jedem Gesprächskorpus lassen sich die Stimme, die Prosodie, die syntaktisch-lexikalischen Präferenzen, die Gesprächssteuerung usw. untersuchen. Fraglich ist allerdings, ob die aufgeführten zehn Kategorien für jede Art von Gespräch genügen oder ob weitere Kategorien gebildet werden müssen. In Abhängigkeit von der untersuchten gesellschaftlichen Domäne könnte es zum Beispiel sinnvoll sein, auf der stilistischen Ebene eine zusätzliche Kategorie “Humor” zu bilden und den Humor einer Person gleich wie ihre Höflichkeit als Teil ihres Interaktionsprofils zu untersuchen. Auf der rhetorischen Ebene könnte es sinnvoll sein, eine zusätzliche Kategorie “Argumentation” zu bilden und das Argumentationsverhalten einer Person als Teil ihres Interaktionsprofils zu analysieren. Diese Kategorien drängten sich bei der Analyse meines Korpus nicht auf, da humorvolle Passagen in den untersuchten Telefongesprächen gar nicht und Argumentationen nur in seltenen Fällen vorkamen. So ist auch die Auswahl der Kategorien für jedes Korpus neu zu prüfen. Die drei Ebenen, die stimmliche, die stilistische und die rhetorische (die erste Spalte in der Tabelle), sollten für Telefongespräche universell gültig und vollständig sein, bei face-to-face Gesprächen müsste als zusätzliche Ebene die körperliche in das Interaktionsprofil aufgenommen werden. Wie ist der Nutzen des vorgestellten Konzepts des individuellen Interaktionsprofils demnach einzuschätzen? Ich meine, dass das vorgeschlagene Vorgehen, die konstitutiven Elemente eines Interaktionsprofils in einer bestimmten gesellschaftlichen Domäne zusammenzustellen und für mehrere Individuen gesprächsübergreifend vergleichend auszuwerten, sich auf jedes beliebige Korpus übertragen lässt. Das Konzept des individuellen Interaktionsprofils sollte universell anwendbar sein. Die Auswahl der Elemente im Einzelnen wird jedoch immer von korpusspezifischen Anforderungen und Restriktionen bestimmt sein. Die Auswahl der Elemente kann auch vom Erkenntnisinteresse des Forschenden geleitet sein, und je nach Fragestellung muss vielleicht nicht immer Vollständigkeit angestrebt werden. Das gilt vor allem bei einer allfälligen praktischen Anwendung von Interaktionsprofilen, bei welcher je nachdem nur ausgewählte Elemente individuellen Verhaltens interessieren. Wo liegen die Anwendungsmöglichkeiten dieses Konzepts? Ich sehe sie in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. An erster Stelle steht die Aus- und Weiterbildung. Viele Personen in kommunikationsintensiven Berufen durchlaufen heute Kommunikationstrainings, die eher unspezifisch sind und deren Wirksamkeit nicht geprüft <?page no="378"?> Ergebnisse und methodische Schlussfolgerungen 378 werden kann. Würde man von diesen Personen vorgängig ihr individuelles Interaktionsprofil und darauf gestützt ein Stärken-/ Schwächenprofil erstellen, könnten sie individuell und zielgerichtet geschult werden, und es könnte später geprüft werden, ob sich das Verhalten der Personen tatsächlich im gewünschten Sinne verändert hat. An zweiter Stelle steht die Bewertung des sprachlichen Verhaltens einzelner Personen, wie sie bereits heute in vielen Berufen vorgenommen wird, von Call Agents über Ärzte bis hin zu Strassenbahnfahrern. Die Verwendung von Interaktionsprofilen würde diese heutzutage oft intuitiv durchgeführten Bewertungen auf eine methodisch kontrollierte und überprüfbare Basis stellen. Im politisch-gesellschaftlichen Bereich wäre es möglich, Interaktionsprofile von Politikern, Fernsehmoderatorinnen, Podiumsteilnehmern und anderen öffentlich auftretenden Personen zu erstellen und zu vergleichen und gestützt darauf die Gründe für ihren unterschiedlichen kommunikativen und politischen Erfolg zu eruieren oder manipulatives Verhalten aufzudecken. An dritter Stelle steht die Identifikation von Personen, welche für die Justiz von Interesse wäre. So könnten Interaktionsprofile zur Identifikation von anonymen Anrufern oder zur Verifikation von Tonbandaufnahmen dienen - ein brandaktuelles Thema. <?page no="379"?> Anhang 1 Transkripte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 1.1 Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 1.2 Abteilung Service: “David” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 1.2.1 Birrer haben Sie gesagt? (105) . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 1.2.2 Ist heute was reingekommen? (125) . . . . . . . . . . . . 381 1.2.3 Das heisst “Erben des” (107) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 1.2.4 Scheck aus Ausland schicken (118) . . . . . . . . . . . . . 386 1.2.5 20 Franken Mahngebühr (117) . . . . . . . . . . . . . . . . 388 1.3 Abteilung Service: “Susanne” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 1.3.1 Frau Birrer weiss schon (134) . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 1.3.2 Sind seit August Zahlungen eingegangen? (128) . . 392 1.3.3 Zwei Daueraufträge löschen (141) . . . . . . . . . . . . . . 393 1.3.4 Bahrainische Dinar wechseln (150) . . . . . . . . . . . . . 396 1.3.5 Auszug vom falschen Konto bekommen (148) . . . . 400 1.4 Abteilung Beratung: “Sandra” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 1.4.1 Keine Kontoeröffnung wegen Systemausfall (324) . 402 1.4.2 Für 15-20 Jahre halb Mixta halb Maxi (330) . . . . . 409 1.4.3 Die US Bürgschaft muss erst geladen werden (323) 417 1.4.4 Wenn Firma aufhört, geht es nur noch abwärts (333) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 1.4.5 US Quellensteuer Formular verloren gegangen (319) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 1.5 Abteilung Beratung: “Alberto” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 1.5.1 Depotgebühren gehen pro Posten (356) . . . . . . . . . 434 1.5.2 Ohne US Formalitäten kein Auftrag (357) . . . . . . . 435 1.5.3 Bei 1 gehen Motorola Optionen nicht (364) . . . . . . 440 1.5.4 Verkauf von 10 Uhr nicht ausgeführt (352) . . . . . . 443 1.5.5 Zuerst muss ich ein Depot eröffnen (367) . . . . . . . . 445 1.6 Vier anonyme Gespräche zur Validierung . . . . . . . . . . . . . 451 1.6.1 Gespräch A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 1.6.2 Gespräch B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 1.6.3 Gespräch C . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 1.6.4 Gespräch D . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 2 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 Auflösung anonyme Gespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 <?page no="380"?> 1 Transkripte 1.1 Übersicht Abteilung Agent Nr. Typ Titel Service “David” 105 Verbinden Birrer haben Sie gesagt 125 Auskunft Ist heute was reingekommen 107 Auftrag Das heisst “Erben des” 118 Auskunft Scheck aus Ausland schicken 117 Reklamation 20 Franken Mahngebühr “Susanne” 134 Verbinden Frau Birrer weiss schon 128 Auskunft Sind seit August Zahlungen reingekommen 141 Auftrag Zwei Daueraufträge löschen 150 Auskunft Bahrainische Dinar wechseln 148 Reklamation Auszug vom falschen Konto bekommen Beratung “Sandra” 324 Auftrag Keine Kontoeröffnung wegen Systemausfall 330 Beratung Für 15-20 Jahre halb Mixta halb Maxi 323 Problem US Bürgschaft muss zuerst geladen werden 333 Auftrag Wenn Firma aufhört, geht es nur noch abwärts 319 Reklamation US Quellensteuer Formular verloren gegangen “Alberto” 356 Auskunft Depotgebühren gehen pro Posten 357 Problem Ohne US Formalitäten kein Auftrag 364 Auftrag Bei 1 gehen Motorola Optionen nicht 352 Reklamation Verkauf von 10 Uhr nicht ausgeführt 367 Auftrag Zuerst muss ich ein Depot eröffnen <?page no="381"?> Transkripte 381 1.2 Abteilung Service: “David” 1.2.1 Birrer haben Sie gesagt? (105) Titel: Birrer haben Sie gesagt? Dauer: 20’‘ Agent: männlich, Zürcher Dialekt Typ: Verbinden Kunde: männlich, Dialekt Resultat: Anliegen erfüllt Der Kunde möchte direkt an eine Beraterin in der Geschäftsstelle weiterverbunden werden. Der Agent fragt noch einmal nach dem Namen der Beraterin und stellt dann den Kunden durch, ohne nach dem Anliegen zu fragen und ohne sich zu verabschieden. [1] A [v] schwyzer bank mi namen=isch AMrein? grüezi herr A [ü] schweizer bank mein name ist amrein grüezi herr K [v] ja grüezi herr amrein da isch keller; K [ü] ja grüezi herr amrein da ist keller [2] A [v] keller= .hh ich tu grad luege öb si ume=n=isch, A [ü] keller ich schaue gleich ob sie da ist, K [v] =chönnt ich d frau birrer haa bitte; K [ü] könnte ich die frau birrer haben bitte [3] A [v] momänt bitte, BIRRER händ si gsäit, momänt, A [ü] moment bitte birrer haben sie gesagt moment K [v] danke, ja: , K [ü] danke ja 1.2.2 Ist heute was reingekommen? (125) Titel: Ist heute was reingekommen? Dauer: 1’23’‘ Agent: männlich, Zürcher Dialekt Typ Auskunft geben Kunde: männlich, Bündner Dialekt Resultat: Anliegen erfüllt Der Kunde möchte wissen, ob Geld auf sein Konto überwiesen wurde. Der Agent ruft das Konto auf, identifiziert den Anrufer und gibt dann den Kontostand bekannt. Der Kunde fragt noch einmal konkreter nach den erwarteten 30’000 Franken. Der Agent sagt ihm, ein Betrag dieser Grössenordnung sei in letzter Zeit nicht eingetroffen. [1] A [v] schwyzer bank mi namen=isch AMrein? guete tag herr A [ü] schweizer bank mein name ist amrein guten tag herr K [v] (0.7) JA grüeziwool da isch keller; K [ü] ja grüeziwohl hier ist keller <?page no="382"?> Anhang 382 [2] A [v] keller, A [ü] keller K [v] (0.8) si könnted si schnell luege ob (.) öppis INEkoo isch; (ufs) KONto hüt. K [ü] könnten sie schnell nachschauen ob etwas reingekommen ist aufs konto heute [3] A [v] ja=händ=s mer (d) KONtonummere. . . . . . . . . . . . . . . . .. (1.4) sächzä DRÜezwänzg, A [ü] ja haben sie mir die kontonummer sechzehn dreiundzwanzig K [v] (0.6) sächzä drüezwanzg, K [ü] sechzehn dreiundzwanzig [4] A [v] .. . . . . . . . . .. ja (0.7) äinenünzg. (1.1) jetzt ëh (.) zur A [ü] ja einundneunzig. jetz äh zur K [v] (0.9) FÜfedrissg- (0.7) strich äinenünzg. K [ü] fünfunddreissig strich einundneunzig [5] A [v] identifikaTION händ=s mer no es paar AAgaabe zum KONto; A [ü] identifikation haben sie mir noch ein paar angaben zum konto K [v] (1.0) ja: : - Yzalt het ah (XXXxxx) K [ü] ja, einbezahlt hat äh (xxx) [6] A [v] m=Hm, A [ü] m=hm K [v] sächstusigsächshundert (xxxxxxxxxx)- (1.1) und wer het no zalt. (.) ja (XXXxxx)- K [ü] sechstausendsechshundert (xxxxxxxx) und wer hat noch bezahlt, ja, (xxx) [7] A [v] (1.3) wer isch sösch no A [p] <all, fragend A [ü] wer ist sonst noch K [v] (0.8) äine wo füfzigtusig (xxxx) äh: : (.) füfzigtusig und achzg zalt- K [ü] einer der fünfzigtausend (xxx) äh fünfzigtausend und achzig bezahlt [8] A [v] UNderschriftsberächtiget; niemer mee. (2.0) es goot um de A [p] > A [ü] unterschriftsberechtigt niemand mehr es geht um den K [v] (0.9) (xxxxxxx) (.) ja. K [ü] (xxxxxxx) ja [9] A [v] KONtostand. isch füfesächzgTUsig, zwäihundertachtedachzg, (0.9) und A [ü] kontostand ist fünfundsechzigtausend zweihundertachtundachtzig und K [v] JA gern ja. (.) ja, K [ü] ja gerne ja ja <?page no="383"?> Transkripte 383 [10] A [v] nünezwänzg rappe. A [ü] neunundzwanzig rappen K [v] a: =Ha. die (achte)drissgTUsig isch nonig ineko; he? K [ü] a=ha. die (achtund)dreissigtausend ist noch nicht reingekommen, he [11] A [v] tschuldigung? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A [ü] wie bitte K [v] (0.7) ich (erwarte) drissgTUsig vom/ vo öpperem; isch nonig K [p] <f > K [ü] ich (erwarte) dreissigtausend vom/ von jemandem ist noch nicht [12] A [v] (0.9) (xxxx) i letschter ZYT nöd näi; nüt inechoo so; i dere A [ü] (xxxx) in letzter zeit nicht nein nichts hereingekommen in der K [v] ineko; he? ned (xx? ) K [ü] reingekommen, he nicht (xx) [13] A [v] gröössenornig. herr keller, e schönen=abig wünsch ich. A [ü] grössenordnung herr keller, einen schönen abend wünsche ich K [v] aha. Okay; (1.2) guet! Ade K [p] <f > K [ü] aha okay; gut! ade [14] A [v] Ade merci A [ü] ade merci K [v] merci- K [ü] merci <?page no="384"?> Anhang 384 1.2.3 Das heisst “Erben des” (107) Titel: Das heisst “Erben des” Dauer: 1’52’‘ Agent: männlich, Zürcher Dialekt Typ: Verbinden/ Auftrag Kunde: weiblich, Zürcher Dialekt Resultat: Anliegen erfüllt Die Kundin möchte ihren Berater sprechen, doch in der Geschäftsstelle geht niemand ans Telefon. Der Agent nimmt daher selber den Auftrag entgegen, Einzahlungsscheine zu schicken. Die Suche des Kontos erweist sich als schwierig, da die Kundin weder die Nummer noch die genaue Bezeichnung kennt; doch sie gelingt. Die abschliessende Bitte der Kundin, dem Berater einen Gruss auszurichten, nimmt der Agent ausweichend entgegen - er arbeitet ja an einem ganz andern Ort. [1] A [v] schwyzer bank mi name=n=isch AMrein? A [ü] schweizer bank mein name ist amrein K [v] (0.5) ja grüezi herr amrein- (0.5) da isch kurz in K [ü] ja grüezi herr amrein da ist kurz in [2] A [v] (i)ch tu grad LUEge frau kurz? = A [ü] ich schaue gleich frau kurz K [v] basel= isch ächt de herr brandenberger da. =DANke K [ü] basel ist vielleicht herr brandenberger da danke [3] A [v] =momänt bitte, [HALTEN] frau KURZ? jetz nimmt mer grad niemer AB, A [ü] moment bitte frau kurz jetzt nimmt mir gerade niemand ab K [v] schön? = jA: : ? K [ü] schön ja [4] A [v] chan ich eh ym öppis UUSrichte oder chan ichyne wiiterhälfe- A [ü] kann ich ihm etwas ausrichten oder kann ich ihnen weiterhelfen K [v] ja es isch eSO, es isch eSO K [ü] ja es ist so es ist so ich [5] A [v] ja? A [ü] ja K [v] ich sötti yzaligsschii haa. und zwar uf=s kontoeh privatkonto es häisst under K [ü] sollte einzahlungsscheine haben und zwar auf das konto eh privatkonto es heisst unter [6] A [v] susch chönd=s mer emol (d) KONtonummere aagëë? (.) frau kurz? A [ü] sonst können sie mir mal die kontonummer angeben frau kurz K [v] eh KURZ erben oder- (.) ja (erben) (xxxxx) K [ü] eh kurz erben oder ja erben <?page no="385"?> Transkripte 385 [7] A [v] (0.6) (xxxx) luege momänt A [ü] (xxxx) schauen moment K [v] ja die han=i halt jetz nid daa. (1.4) (xxxxxxxx) eh (.) urs kurz K [p] <pp, für sich> K [ü] ja die habe ich halt jetzt nicht da eh urs kurz [8] A [v] bitte, (0.9) erben des A [ü] bitte erben des K [v] urs kurz, (0.6) eh: : (1.4) erben erb/ was häisst=s da no; (0.9) erben K [ü] urs kurz eh erben erb/ was heisst es da noch erben [9] A [v] (1.8) (0.5) (xx) luege was ich da finde, (0.8) A [ü] (xx) schauen was ich da finde, K [v] (2.9) urs kurz. (1.8) davoserstrasse (.) sächsezwänzg. K [ü] urs kurz davoserstrasse sechsundzwanzig [10] A [v] chlyne momänt bitte? (3.0) frau kurz? = wivil A [ü] kleinen moment bitte frau kurz wie viele K [v] m=Hm? (5.0) ((räuspert sich)) =jA: : ? [11] A [v] brüüchtet si dänn? zwölf! jawol. A [ü] bräuchten sie denn zwölf jawohl K [v] ja ich glaube ZÄÄ sind gratis oder? zwölf. aha, JA ja: . K [ü] ja ich glaube zehn sind gratis oder zwölf aha ja ja [12] A [v] MOL isch guet tun=ich yne das bstele. =ja: ? A [ü] doch ist gut dann bestelle ich ihnen das ja K [v] jawol. aso uf säb konto; gäll? = wie häisst=s K [ü] jawol. also auf jenes konto, gell wie heisst es [13] A [v] äh es häisst amigs eh wänn/ wänn=s es erbe konto/ häisst=s erben des. A [ü] eh es heisst jeweils wenn/ wenn es ein erben konto/ heisst es erben des K [v] erben kurz urs ja? K [ü] erben kurz urs ja [14] A [v] urs dëm fall urs kurz. wie si säged. ja. ich A [ü] urs in diesem fall urs kurz wie sie sagen ja ich K [v] ja(wol) irgend so öppis. (churz) jagu: et. ich DANke=n=yne! K [ü] jawohl irgend so was kurz ja gut. ich danke ihnen <?page no="386"?> Anhang 386 1 Gemeint ist das Bündner Bergdorf, dessen Geschäftsstelle die Kundin angewählt hat. 2 Exklusive Rücksprache mit interner Person. [15] A [v] danke=n=Yne! ja: wänn ich yn emal am telefon A [ü] danke ihnen ja wenn ich ihn einmal am telefon K [v] und en gruess am herr brandenberger. K [ü] und einen gruss an herrn brandenberger [16] A [v] han; säg ich (ym das). a: lso guet. danke=n=Yne Ade A [ü] habe sage ich ihm das also gut danke ihnen ade K [v] ich MÄLdi mich wider wänn ich dobe 1 sigi. danke schön uf wider luege K [ü] ich melde mich wieder wenn ich droben sei danke schön auf wiedersehen [17] A [v] merci K [v] merci 1.2.4 Scheck aus Ausland schicken (118) Titel: Scheck aus Ausland schicken Dauer: 1’35’‘ 2 Agent: männlich, Deutsch mit Schweizer Akzent Typ: Auskunft geben Kunde: männlich, Deutsch gebrochen Resultat: Anliegen erfüllt Der Kunde fragt, ob er einen Scheck aus dem Ausland zum Einlösen schicken könne. Der Agent hält Rücksprache mit jemandem und bestätigt dem Kunden, das gehe, er müsse lediglich den Scheck unterschreiben. Der Kunde fragt, ob er den Scheck eingeschrieben schicken solle, was ihm der Agent zögerlich empfiehlt. Schliesslich fragt der Kunde nach der Adresse (seiner Geschäftsstelle), welche der Agent nachschlägt und bekanntgibt. [1] A [v] schwyzer bank mi namen=isch AMrein? guete tag herr kurz, K [v] jo grüezi da isch reto kurz, [2] A [v] jawol. K [v] grüezi ich wollte wissen: (1.4) ich hab hier ein scheck bekommen. und ich bin jetzt K [p] <cresc. [Lärm im [3] A [v] (.) m=hm, K [v] hier im ausland, und ich komme nicht so bald WIEder ob ich ihnen den K [p] > Hintergrund ] <?page no="387"?> Transkripte 387 3 Unklar, ob A oder K “gut” sagt. [4] A [v] (1.2) K [v] schicken kann; (0.7) das ist ein scheck von der komMERZbank in (.) deutschland; [5] A [v] jawol, (1.6) kleinen moment bitte ich klär das (.) kurz ab, [HALTEN] A [p] <zögernd> K [v] ((räuspern)) ja [6] A [v] herr kurz? sie haben ein KONto bei uns; ist das richtig. ja ja das geht/ das geht schon, K [v] ja? ja (ja/ klar) [7] A [v] sie müssen ihn einfach unterschreiben das ist wichtig und dann eh können sie ihn K [v] (.) ja, [8] A [v] einschicken. genau ja; K [v] also auf der rückseiteeinfach aufschreiben und dann eh wie schick [9] A [v] ja scho/ vielleicht K [v] ich den am besten einfach/ (0.7) einfach so normal oder eingeschrieben (xxx) [10] A [v] schon eingeschrieben sonst eh/ ja: es ist vielleicht sicherer jadoch K [v] (ja) (1.5) ja okay, dann [11] A [v] BAsel haben sie: gesagt he K [v] schick ich ihn an eh/ (2.3) eh WELche adresse ist das; ja (0.7) [12] A [v] oder haben sie angerufen; das ist (2.6) die talstrasse vier, (1.7) dreiundvierzig K [v] basel ja ja [13] A [v] null zwei, basel. K [v] (0.6) ja okay; (und) dann muss ich noch irgendwie: was draufschreiben [14] A [v] n: ein ich glaub das genügt das sollte genügen ja; K [v] dass es grad richtig hinkommt ode: rokay [15] A [v] doch? (gut)? 3 schönen/ (.) schönen aufenthalt noch- und schönen K [v] (1.1) ja gut (gut)? ja danke ja [16] A [v] tag; ade herr kurz. K [v] ja <?page no="388"?> Anhang 388 1.2.5 20 Franken Mahngebühr (117) Titel: 20 Franken Mahngebühr Dauer: 2’50’‘ Agent: männlich, Deutsch mit Schweizer Akzent Typ: Reklamation Kunde: männlich, Deutsch mit englischem Akzent Resultat: Anliegen nicht erfüllt Der Kunde meldet, sein Zahlungsauftrag für den 10.10. erscheine nicht auf dem monatlichen Kontoauszug. Der Agent ruft das Konto auf und identifiziert den Anrufer. Nach der Wiederholung des Anliegens erwidert der Agent, der Auftrag für die Eurocard sei am 16.10. ausgeführt worden. Der Kunde fragt, warum erst dann, und gibt sein eigentliches Problem bekannt: Er hat eine Mahngebühr bekommen. Der Agent mutmasst, das Konto sei vielleicht im Minus gewesen. Das weist der Kunde zurück, andere Überweisungen seien ja ausgeführt worden. Warum man ihn nicht kontaktiert habe? Der Agent kann nur wiederholen, was er weiss, und bietet dem Kunden an, ihm einen Beleg zuzustellen. Dieser versucht noch einmal, sich für seine 20 Franken zu wehren. Doch der Agent gibt ihm lediglich zu verstehen, er müsse sich mittels Beleg selber bei der Eurocard melden. Der Kunde lenkt schliesslich ein. [1] A [v] schwyzer bank mi namen=isch AMrein? grüezi herr keller= K [v] JA herr amrein keller; grüezi. [2] K [v] =herr amrein ich habe eine FRAge und zwar ich habe einen: eh zahlungsauftrag eh [3] A [v] am erste zääte ja, zehnter K [v] aufgegeben am erste zehnte, für ausführungsdatum zehnte zehnte; [4] A [v] zehnter ja, K [v] ja: eh aber das ist/ eh das erscheint NICHT auf die: eh/ auf meine monatliche ah [5] A [v] haben sie mir einmal die KONtonummer herr keller K [v] so AUSzug, ja: das ist zwei zwei drei eins, [6] A [v] ja, sechs null vier sieben acht, bindestrich K [v] sechs null vier sieben acht, bindestrich achzig. [7] A [v] achzig. jetzt herr keller zur identifikaTION! (.) könnten sie mir noch ein paar ANgaben K [v] ja. [8] A [v] machen zum kontozum beispiel regelmässige ein oder ausgänge- K [v] ja: regelmässige ausgänge [9] A [v] (.) m=hm, (2.0) u: nd vielleicht haben K [v] sind jede monat eh einmal neunzig und einmal siebzig, (2.0) <?page no="389"?> Transkripte 389 [10] A [v] sie daueraufträge- (xxxx) K [v] ja das sind (xxxx) das sind/ das sind da/ das sind zwei von eh d/ drei [11] A [v] aha, (1.0) und haben sie noch einen LOHN der auf=s konto kommt- A [p] <zögernd> K [v] daueraufträge. [12] A [v] von wem kommt der? (0.6) jawol. (0.6) okay. (jetzt) A [p] <pp> K [v] (.) hab ich ja; von der ABC industrie. [13] A [v] schau ich einmal am ersten zehnten haben sie gesagt? K [v] das ist das datum von der ehm eh wie [14] A [v] ja, okay. A [p] <p > K [v] sagt man/ das/ das formular, u: nd eh ausführungsdatum war/ WÄre zehnte zehnte. [15] A [v] (1.4) den seh K [v] und das ist ein betrag von achthundertvierundachzig franken fünfundsechzig. [16] A [v] ich aber ausgeführt (0.5) am sechzehnten zehnten. (.) schwyzer bank eurocard. zürich= [17] K [v] =ja wieso erst am sechzehnte? (2.5) weil jetzt seh ich ein/ eine/ eine MAHNgebühr von [18] A [v] (0.9) ich schau einmal- (2.8) .hh ich seh ng ja (2.8) kann es A [p] <p > K [v] zwanzig franken (aufgebrummt). [19] A [v] sein dass eh/ (2.7) dass das konto vielleicht zu dieser zeit eh zu stark im minus; / dass man [20] A [v] warten musste bis/ bis der kontostand wieder (0.7) (gedeckt) war. K [v] das/ das glaube ich NICHT [21] K [v] weil ich hab gesehen die american express (0.8) eh: : das wurde/ das wurde überwiesen. [22] A [v] (1.6) mja, (2.9) K [v] ich meine WENN ein/ wenn so ein problem AUFtaucht eh/ der herr birrer ist [23] A [v] ja, K [v] mein eh/ mein ehm eh eh konTAKTperson he? (xx) betreuer/ kundendienstbetreuer der <?page no="390"?> Anhang 390 [24] K [v] (.) hätte mich anrufen können (0.9) weil eh/ weil ich jetzt (das) eh/ diese gerade EUROcard [25] A [v] m=hm; K [v] die sind (.) ABsolut NICHT flexibel. und wenn ich es am zeh/ erste zehnte [26] K [v] AUFgebe. (0.7) dann erwart ich (dann) eh wenn das nicht geht dann dass jemand mich [27] A [v] ja. .hh aso (xxx) K [v] ANruft und sagt passen sie auf das und das und DAS he, (und jetzt muss ich K [p] <acc. und cresc. [28] A [v] ja (xxx) aso was ich/ was ich jetzt sehe (.) das ist K [v] ZWANZIG franken mahngebühr bezahlen! (xxx) K [p] > [29] A [v] einfach dass eh (0.8) die valuta. (0.9) die valuta: ist eh zehnter zehnter, (1.3) das seh ich vor K [v] [30] A [v] mir auf dem bildschirm, und eh das buchungsdatum ist sechzehnter zehnter. das seh ich mehr [31] A [v] seh ich nicht waRUM genau jetzt (.) das erst am sechzehnten eh: (1.3) WEGgegangen ist. [32] A [v] (.) ich kann ihnen sonst/ wenn sie wollen kann ich ihnen ein beleg (0.6) nach hause schicken [33] A [v] wenn ihnen das etwas nützt, (xxxxxxxxxx) (.) ja K [v] ja ja (aber) wer bezahlt mir jetzt die zwanzig franken? [34] A [v] eben. (.) vielleicht (.) dass sie mit dem beLEG e: : twas e: rreichen könnten- (2.5) ich weiss K [v] ja- [35] A [v] es nicht. ja, m=hm, K [v] (0.9) okay. könnten sie mir das dann bitte schicken? ja? weil/ weil [36] K [v] wenn das so ist dann eh/ weil ich/ ich zahle immer ich la/ lasse immer diese überweisung so [37] A [v] ja? (0.9) K [v] für den zehnten zehnten/ und bis jetzt eh (1.3) hab ich kein problem gehabt. ja [38] A [v] MOL dann schick ich ihnen das nach hause; (xxx)? okay, K [v] ja nach hause (xxx). (he)? okay. vielen dank <?page no="391"?> Transkripte 391 [39] A [v] schönen tag noch- K [v] (xxxxx) danke=schön wied/ hörn K [p] <pp > 1.3 Abteilung Service: “Susanne” 1.3.1 Frau Birrer weiss schon (134) Titel: Frau Birrer weiss schon Dauer: 30’‘ Agent: weiblich, Züricher Dialekt Typ: Verbinden Kunde: weiblich, Dialekt Resultat: Nicht bekannt Die Kundin möchte ihre Beraterin sprechen. Die Agentin fragt nach einem “Stichwort”, um der Beraterin sagen zu können, worum es geht, aber die Kundin meint, das wisse diese schon. Sie wird verabschiedet und durchgestellt. [1] A [v] schwyzer BANK mi namen=isch AMrein? grüezi A [ü] schweizer bank mein name ist amrein grüezi K [v] GRÜezi: frau amrein; da isch kathriner. K [ü] grüezi frau amrein da ist kathriner [2] A [v] frau kathriner? frau birrer: : jA: ? döf A [ü] frau kathriner frau birrer ja? darf K [v] sie ich hëtt gërn: eh mit (.) frau BIRrer gsproche. ja K [ü] sie ich hätte gern eh mit frau birrer gesprochen ja [3] A [v] ere scho es STICHwort gëë um was es GAAT frau kathriner. A [ü] ich ihr schon ein stichwort geben worum es geht frau kathriner K [v] .h ehm (ja um) K [ü] .h ehm ja um [4] A [v] ja- A [ü] ja K [v] (xxxxxxxxxxxxxxxx) si tut ja (xxxx) min/ min eh min KONto bearbeite. si wäiss ja; K [ü] (xxxxxxxxxxxxxxxxx) sie bearbeitet ja (xxxxxx) mein konto sie weiss ja [5] A [v] ja; okay. chlyne momänt bittedanke: : A [ü] ja okay kleinen moment bitte danke K [v] (xxxxxxxxxxxxx) (innehof). stichwort. (xxxx) merci; K [ü] (xxxxxxxxxxxx) (innenhof) (stichwort) (xxxx) danke <?page no="392"?> Anhang 392 [6] A [v] WIderhööre frau kathriner A [ü] wiederhören frau kathriner K [v] ade merci. K [ü] ade danke 1.3.2 Sind seit August Zahlungen eingegangen? (128) Titel: Sind seit August Zahlungen eingegangen? Dauer: 1’22’‘ Agent: weiblich, Deutsch mit Schweizer Akzent Typ: Auskunft geben Kunde: weiblich, Deutsch Resultat: Anliegen erfüllt Die Kundin möchte wissen, ob auf ihrem Konto Zahlungen eingegangen sind. Sie wird von der Agentin identifiziert und bekommt den aktuellen Kontostand und die gesuchte Einzahlung mitgeteilt. [1] A [v] schwyzer BANK mi namen=isch AMrein? grüezi frau keller? K [v] ja: guten morgen frau amrein; ich hab bei ihnen [2] A [v] jA: : ? K [v] ein privatkonto,=und wollte fragen ob eh seit august da ZAHlungen eingegangen sind. [3] A [v] darf ich/ ja (sehr)/ .. . . . . ja, K [v] (ich) geb ihnen mal die nummer, =das ist die neun neun fünf acht, vier acht, und die [4] A [v] eins null. das konto lautet auf IHren namen? = un: d darf ich K [v] eins null. =ja karina ursula keller [5] A [v] noch ihr geBURTSdatum haben bitte? (.) und können sie mir K [v] zweiter zweiter vierundsechzig- [6] A [v] noch ein paar aktuelle KONtobewegungen angeben zu ihrer sicherheit. K [v] also als ich letztes mal gefragt/ nachgeschaut hab [7] K [v] waren glaub noch fünfundzwanzig schweizer franken drauf. (1.5) das muss irgendwann im K [p] <all > [8] A [v] m: =hm- (1.4) hat noch jemand VOLLmacht bei ihnen auf dem A [p] <pp, zögernd> K [v] august gewesen sein. <?page no="393"?> Transkripte 393 [9] A [v] konto. (3.6) gut frau keller. ALso. der STAND per HEUte? sind dreitausend und sechs K [v] NEIN. ja, [10] A [v] franken fünfundsiebzig, da sind EInerseits am NEUNundzwanzigsten september die: K [v] m=hm, [11] A [v] ABschlussbuchungen vorgenommen worden, .h das war/ waren zwanzig franken K [v] ja, [12] A [v] dreissig, welche belastet wurden, (0.7) un: d jetzt am ELFten oktober sind dreitausend [13] A [v] franken REINgekommen von herrn tobias kel: : ler. ja genau. m=hm? K [v] keller ja das ist richtig. okay? [14] A [v] danke ihnen: wiederhören frau keller K [v] gut das war=s herzlichen dankwiederhörn 1.3.3 Zwei Daueraufträge löschen (141) Titel: Zwei Daueraufträge löschen Dauer: 1’50’‘ Agent: weiblich, Zürcher Dialekt Typ: Auftrag annehmen Kunde: männlich, Zürcher Dialekt Resultat: Anliegen erfüllt Der Kunde fragt zuerst, ob er in der gewünschten Geschäftsstelle sei, und erfährt, dass er in den “Kundendienst” weiterverbunden wurde. Dann gibt seine Kontonummer bekannt. Die Identifikation wird vom Lärm eines durchfahrenden Zugs unterbrochen, was lachend entschuldigt wird. Die Agentin fragt, was der Kunde wünscht. Er will zwei Daueraufträge löschen. Sie nimmt den Auftrag entgegen und verspricht ihm die schriftliche Bestätigung. [1] A [v] schwyzer BANK mi namen=isch AMrein? A [ü] schweizer bank mein name ist amrein K [v] jo do isch kalbermatter morge frau amrein K [ü] ja hier ist kalbermatter morgen frau amrein [2] A [v] morge herr kalbermatter N: : ÖD diräkt; si händ (.) AAgwëëlt A [ü] morgen herr kalbermatter nicht direkt sie haben angewählt K [v] (bin ich) filiale winterthur? K [ü] (bin ich) filiale winterthur <?page no="394"?> Anhang 394 [3] A [v] und sind in chundedienscht wyterverbonde worde. A [ü] und sind in den kundendienst weiterverbunden worden K [v] aha guet (i)sch glych. aso mini K [ü] aha gut ist egal also meine [4] A [v] ja? ja! A [ü] ja ja K [v] kontonummere wër suscht sächsenünzg, vierevierzg achtezwänzgstrich nünzg. K [ü] kontonummer wäre sonst 96 44 28 strich 90 [5] A [v] nünzig. (0.7) das luutet uf Ire name herr kalbermatter? wie isch de vorname; A [ü] 90 das lautet auf ihren namen herr kalbermatter wie ist der vorname K [v] genau ja. K [ü] genau ja [6] A [v] und döf i na ires geBURTSdatum haa. und chönd=s mer zu A [ü] und darf ich noch ihr geburtsdatum haben und können sie mir zu K [v] reto äinezwänzigschte dritte sibezg, K [ü] reto 21.3.70 [7] A [v] irer sicherheit no es paar aktuelli KONtobewegige aagëë; A [ü] ihrer sicherheit noch ein paar aktuelle kontobewegungen angeben K [v] ja zum byspil en K [ü] ja zum beispiel ein [8] K [v] duuruuftrag, (0.5) tusigäihundertfüfzä, no en duuruuftrag hondertnünzg franke, (0.6) und K [ü] dauerauftrag 1115 noch ein dauerauftrag 190 franken und [9] A [v] vo wem A [ü] von wem K [v] dë chunnt öppe regelmäässig im monet öppe drü drü no ine, (1.9) ja? [Eisenbahnlärm, cresc K [ü] dann kommt etwa regelmässig im monat etwa drei drei rein ja [10] A [v] chömed drü drü ine? (1.6) und vo wem? A [p] < ff > A [ü] kommen drei drei rein und von wem K [v] (1.3) öppe am sächsezwänzigschte (2.4) <ff > [Lärm wird lauter K [ü] etwa am 26. <?page no="395"?> Transkripte 395 [11] A [v] (1.2) ich warte gschwind ((lacht)) A [ü] ich wart