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Bewertungskriterien in der Sprachberatung

1013
1995
978-3-8233-3006-6
978-3-8233-5132-0
Gunter Narr Verlag 
Bernd U. Biere
Rudolf Hoberg

Die Frage nach "Bewertungskriterien für die Sprachberatung" gibt zum einen Anlass zum Nachdenken darüber, was wir tun, wenn wir Ratsuchenden sprachlichen Rat erteilen, und warum wir es in einer bestimmten kommunikativen Form, in einem bestimmten institutionellen (oder auch kommerziellen) Rahmen tun. Zum anderen gibt die Frage Anlass, darüber nachzudenken, wie wir den jeweils erteilten Rat (also das, was wir jemandem in einer sprachlichen Frage raten) begründen können, welche Kriterien wir etwa bei der Entscheidung über sogenannte sprachliche Zweifelsfälle zugrunde legen, warum wir bestimmte sprachliche Erscheinungsformen - von der Ebene der Orthhographie bis zur Frage einer angemessenen Textinterpretation - so und nicht anders bewerten und auf dem Hintergrund solcher Bewertungen entsprechende Ratschläge geben oder Empfehlungen aussprechen.

<?page no="0"?> Studien z ur deutscl1en Sprache FO IISC ll l ' : --: CI ·: : --: l! ES l : \S 'l 'l'l'l'TS I' ( l1 ll EI TSC II I •: Sl' li \ C I II ·: Bernd Ulrich Biere/ Rudolf Hoberg (Hrsg.) Bewertungskriterien in der Sprachberatung ~ Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="1"?> STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE <?page no="2"?> Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Herausgegeben von Hartmut Günther, Reinhard Fiehler und Bruno Strecker Band 2 • 1995 <?page no="3"?> Bernd Ulrich Biere / Rudolf Hoberg (Hrsg.) Bewertungskriterien in der Sprachberatung gnW Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bewertungskriterien in der Sprachberatung/ Bernd Ulrich Biere/ Rudolf Hoberg (Hrsg.). - Tübingen : Narr, 1995 (Studien zur deutschen Sprache; Bd. 2) ISBN 3-8233-5132-X NE: Biere, Bernd Ulrich [Hrsg.J; GT © 1995 • Gunter Narr Verlag Tübingen Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teüe ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. ier. Drude Müller + Bass, Tübingen Verarbeitung: Braun + Lamparter, Reutiingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 3-8233-5132-X <?page no="5"?> Editorial Die Reihe Studien zur deutschen Sprache - Forschungen des Instituts für deutsche Sprache ersetzt die mit Band 75 abgeschlossene Reihe Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache Mannheim. In der neuen Reihe werden ausschließlich Arbeiten veröffentlicht, die direkt am IDS entstanden sind oder aus kooperativen Arbeitszusammenhängen mit Partnern des IDS hervorgegangen sind. Veröffentlicht werden Monographien und Sammelbände mit Ergebnissen oder Zwischenberichten aus Forschungsobjekten des Instituts, Institutskolloquien und anderen Arbeitsformen. Die Herausgeber möchten mit dieser Reihe die Forschungen des IDS übersichtlich und möglichst frühzeitig der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorstellen. Reinhard Fiehler Hartmut Günther Bruno Strecker <?page no="7"?> INHALT Vorwort Rudolf Hoberg Sprachbewertung und Sprachberatung Einführende Überlegungen zur Diskussion Hans Bickes Sprachbewertung - Wozu? Albrecht Greule Kriterien für die Bewertung von Sprachberatung Sprachberatung als kommunikatives Ereignis Christian Stetter Zu den normativen Grundlagen der Sprachberatung Werner Scholze-Stubenrecht Bewertungskriterien der Duden-Sprachberatung Ulla Fix Textmusterwissen und Kenntnis von Kommunikationsmaximen Voraussetzung, Gegenstand und Ziel einer kommunikationsbezogenen Sprachberatung Markus Nussbaumer Bewertungskriterien für die Sprachberatung in der Schule Ulrich Puschel Normen und Normenkonflikte Am Beispiel eines Schreibseminars in der beruflichen Fort- und Weiterbildung <?page no="8"?> VI Reinhard Fiehler Implizite und explizite Bewertungsgrundlagen für 110 kommunikatives Verhalten in betrieblichen Kommunikationstrainings Horst Dieter Schlosser Sprachkritik zwischen „political correctness” 132 und anderen Klippen Hermann Villiger Sprachpflege nach heutigem Verständnis 147 <?page no="9"?> Vorwort Die in diesem Band zusammengestellten Beiträge gehen auf ein von der Kommission für Fragen der Sprachentwicklung am Institut für deutsche Sprache (IDS) am 26./ 27. Juni 1992 veranstaltetes Kolloquium zum Thema „Bewertungskriterien für die Sprachberatung” zurück. Die Autoren befassen sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit dem Thema ’Sprachberatung’, einschließlich ’Sprachpflege’ und ’Sprachkritik’. Das den Beiträgen gemeinsame Problem liegt in der durchgängigen Frage nach „Bewertungskriterien”, die einer wie unterschiedlich auch immer praktizierten Sprachberatung zugrunde liegen, aber auch einer möglichen Sprachberatung zugrunde gelegt werden könnten. Die Frage nach „Bewertungskriterien für die Sprachberatung” gibt zum einen Anlaß zum Nachdenken darüber, was wir tun, wenn wir Ratsuchenden sprachlichen Rat erteilen, und warum wir es in einer bestimmten kommunikativen Form (z.B. schriftlich, mündlich, telefonisch, dialogisch, monologisch), in einem bestimmten institutionellen (oder auch kommerziellen) Rahmen tun. Zum anderen gibt die Frage Anlaß, darüber nachzudenken, wie wir den jeweils erteilten Rat (also das, was wir jemandem in einer sprachlichen Frage raten) begründen können, welche Kriterien wir etwa bei der Entscheidung über sogenannte sprachliche Zweifelsfälle zugrunde legen, warum wir bestimmte sprachliche Erscheinungsformen von der Ebene der Orthographie bis zur Frage einer angemessenen Textinterpretation so und nicht anders bewerten und auf dem Hintergrund solcher Bewertungen entsprechende Ratschläge geben oder Empfehlungen aussprechen. Die erste Gruppe von Beiträgen (Hoberg, Bickes, Greule, Stetter, Scholze- Stubenrecht, Fix) stellt die Frage nach dem Zusammenhang von Sprachbewertung und Sprachberatung, nach dem Sinn und Zweck von Sprachbewertung und nach grundlegenden Bewertungskriterien bzw. normativen Grundlagen einer Sprachberatung, die nicht nur sprach-, sondern auch kommunikationsbezogen selbst als „kommunikatives Ereignis” begriffen wird. Die zweite Gruppe von Beiträgen (Nussbaumer, Püschel, Fiehler, Schlosser, Villiger) lenkt den Blick auch auf Bewertungsfragen, die sich für Sprachberatung in einem weiteren Sinn stellen, beispielsweise in so unterschiedlichen Kommunikationszusammenhängen wie ’Schule’, ’berufliche Fort- und Weiterbildung’ oder ’betriebliches Kommunikationstraining’; <?page no="10"?> Vlll aber auch dort, wo mit der „öffentlichen” Suche nach dem „Unwort” des Jahres implizite Maßstäbe für die Bewertung von sprachlichen Erscheinungen zutage treten, oder dort, wo sich ’Sprachpflege’ nicht mehr normativ, sondern „normenkritisch”, nicht mehr auf die Standardnorm, sondern auf „Subnormen” bezogen, nicht restaurativ, sondern „innovationsfreudig”, nicht auf die langue, sondern auf die parole bezogen versteht. Der Dank der Herausgeber gilt allen, die am Zustandekommen dieses Bandes mitgewirkt haben, insbesondere denjenigen, die die Herstellung der Druckvorlage besorgt und uns bei den Korrekturarbeiten unterstützt haben. Bernd Ulrich Biere Rudolf Hoberg <?page no="11"?> RUDOLF HOBERG Sprachbewertung und Sprachberatung Einführende Überlegungen zur Diskussion Abstract Bei den vom Vorsitzenden der Kommission für Fragen der Sprachentwicklung des Instituts für deutsche Sprache zur Eröffnung der Tagung „Bewertungskriterien für die Sprachbewertungen” vorgetragenen allgemeinen Überlegungen geht es um die Notwendigkeit der Sprachkritik, um Maßstäbe für die Sprachberatung, um die Rolle der Schule, der Medien und der sprachberatenden Institutionen und um anzustrebende Qualifikationen von Sprachkritikern und Sprachberater. 1. Seitdem sich Menschen Gedanken über Sprache machen, denken sie auch darüber nach, was richtig oder falsch, gut oder schlecht, schön oder häßlich ist. Reflexion über Sprache ist immer auch ein Bewerten, ganz gleich, ob sich der einzelne dessen bewußt ist oder nicht. Und selbstverständlich wertet auch die moderne Linguistik, zumindest immanent, wenn ihr auch häufig von „Sprachfreunden” und selbsternannten „Sprachkritikern” vorgeworfen wird, sie beschreibe nur und entziehe sich der Verantwortung für die Sprachentwicklung. 2. Wer Sprache bewertet, wer nach Maßstäben für die Bewertung fragt, sucht nicht nur Kriterien für den eigenen Sprachgebrauch, sondern Allgemeineres, nämlich Normen, die für die ganze Sprachgemeinschaft oder zumindest für bestimmte Gruppen verbindlich sein sollen. Und er will daher mit seinen Normen andere beeinflussen, schlimmstenfalls indem er sie ihnen aufzuzwingen sucht, bestenfalls indem er mit ihnen darüber spricht. 3. Sprachliche Normen vermittelt vor allem eine Institution: die Schule, besonders der (muttersprachliche) Sprachunterricht. Zwar werden sie unter den für die Spracherziehung bzw. Sprachdidaktik Verantwortlichen diskutiert, festgelegt, verändert oder in Frage gestellt, der Schüler aber erfährt sie meist als feststehende, „objektive”, den Gesetzen der Naturwissenschaft vergleichbare Größen. Ihre Relativität wird im Unterricht kaum erörtert, und auch viele Lehrer halten sie für schlechterdings „richtig oder „wahr”. <?page no="12"?> 2 Rudolf Hoberg 4. Was die außerschulischen Bereiche, was die Sprache der Erwachsenen, was die Öffentlichkeit angeht - und nur in diesem Zusammenhang spricht man meist von Sprachberatung -, so nimmt offensichtlich die Zahl derer zu, die Sprachprobleme haben und Beratung suchen, denn neben den traditionellen Beratungsstellen wie der Duden-Redaktion oder der Gesellschaft für deutsche Sprache haben sich in den letzten Jahren zahlreiche andere Institutionen, auch an Universitäten, etabliert, und auf dem Buchmarkt wimmelt es von Publikationen, die den Käufern „Richtiges und gutes Deutsch” versprechen. Und in einer Zeit, in der allen „Kulturkritikern” zum Trotz mehr als je zuvor gelesen und geschrieben wird, ist es verständlich, daß das Bedürfnis nach Sprachberatung wächst; ganz abgesehen davon, daß die Meinung weit verbreitet ist, die Schule habe bei der Aufgabe, gutes und korrektes Deutsch zu vermitteln, in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr versagt, und daher müßten sich die Erwachsenen auf diesem Gebiet selbst fortbilden. Allerdings darf man nicht übersehen, daß Bedürfnisse auch geweckt, stimuliert werden können, nicht nur von der Konsumgüterindustrie. So wird man zumindest fragen dürfen, ob etwa all das, was zur Zeit auf dem expandierenden Rhetorik-Markt angeboten wird, wirklich dem persönlichen Glück, der gesellschaftlichen Integration oder dem beruflichen Fortkommen des Konsumenten dient. 5. Die eigene sprachliche Kompetenz wird von Deutschsprechenden verschiedenartig eingeschätzt; sehr vereinfacht lassen sich zwei Gruppen von Menschen unterscheiden: die kleine Gruppe derjenigen, die von sich glauben, ihre Muttersprache mündlich und schriftlich im großen und ganzen zu beherrschen, und die große Gruppe derjenigen, die keine solch hohe Meinung von sich haben, die wissen, daß sie in der Standardsprache Fehler machen augenfällig (gemacht) wird ihnen das besonders in der Rechtschreibung -, die darunter leiden beispielsweise als Eltern, die ihren Kindern bei den Hausaufgaben helfen sollen - und die daher Beratung wünschen, Kurse, etwa in Volkshochschulen, besuchen und publizierte Ratgeber kaufen. Angehörige der ersten Gruppe sind häufig auch bei der Bewertung sprachlicher Erscheinungen und sprachlicher Veränderungen sehr selbstbewußt. Man hält sich mit seinem Urteil nicht zurück, besonders wenn man das Gymnasium besucht, das Abitur bestanden und ein Studium absolviert hat. Neben der Politik und der Erziehung ist es vor allem die Sprache, über die man mit großer Selbstverständlichkeit redet, ohne sich allzu viele Gedanken darüber zu machen, ob man hierfür die notwendigen Voraussetzungen besitzt. Dies gilt allerdings meist nur für solche sprachlichen Erscheinungen, mit denen sich üblicherweise die Linguistik befaßt, nicht <?page no="13"?> Sprachbewertung und Sprachberatung 3 für Literatur im engeren Sinne; denn was die Belletristik angeht, so wissen die meisten, daß man einige Kenntnisse braucht, daß man etwas gelesen haben muß, bevor man urteilt, und daß nur sehr kluge Leute über Literatur sprechen können, die sie nicht kennen. Diese unterschiedliche Einstellung zu fiktionaler und nicht-fiktionaler Sprache zeigt sich vor allem auch in den Medien: Für die Belletristik hat man den Literaturkritiker, der in der Regel Literaturwissenschaft studiert hat, für die profanere Sprache hat man nicht etwa einen gut ausgebildeten Sprachkritiker, sondern hier ist jeder zuständig, der sich berufen fühlt. Beide Gruppen von Menschen, die „Bildungsbürger” und die anderen, haben allerdings eins gemeinsam: ein starkes Bedürfnis nach vorgegebenen Normen. Was die Sprache angeht, so hält man an überkommenen Konventionen fest, man ist nicht sonderlich an Reflexion über Normen und ihre Begründungen interessiert und klagt statt dessen lieber über einen vermeintlichen Sprachverfall. Und dies gilt nicht nur für diejenigen, die sich zu den „Konservativen” zählen, sondern auch für die meisten, die sich für „links” oder „progressiv” halten. Offensichtlich bewahren sich die meisten Menschen eine Einstellung, die besonders durch den Sprachunterricht geprägt wurde, in dem, wie schon gesagt, die Sprache als etwas „Objektives”, Statisches, Geregeltes erlebt wird. Diese Behauptung läßt sich anhand der Sprachkritik in den Medien leicht belegen, aber auch dadurch, daß man von Sprachwissenschaftlern, die man für kompetent hält etwa weil sie Grammatiken, Wörterbücher oder Lehrbücher geschrieben haben -, und von Sprachberatungsstellen meist nur Entscheidungen, nicht aber Begründungen erwartet. 6. Die meisten Anfragen an sprachberatende Stellen beziehen sich auf das Sprachsystem, auf Rechtschreibung einschließlich Zeichensetzung, auf Grammatik und Wortschatz und auf die Sprachgeschichte, insbesondere die Etymologie, kaum aber auf Gebiete, mit denen sich neuere linguistische Richtungen wie Text-, Sozio- oder Psycholinguistik befassen. Auch dies macht deutlich, daß in der Bevölkerung ein durch den traditionellen Schulunterricht vermittelter einseitiger „Sprach”-Begriff vorherrscht. Obwohl Fragen der sprachlichen Kommunikation in einem weiten Sinne im neueren muttersprachlichen Unterricht durchaus behandelt werden, hat sich dadurch die Einstellung zu sprachlichen Normen bisher offenbar kaum verändert. Zwar nimmt das Interesse an sprachpragmatischen Fragen zu das Bedürfnis nach rhetorischer Schulung ist hierfür zweifellos ein Indiz -, aber man erwartet hier Antworten und Hilfen weniger von der „Sprachberatung”, sondern von anderen Personen und Institutionen, etwa vom neuen Berufsstand der Trainer und ihren Instituten, von Gewerkschaften und Kirchen. Erst ganz allmählich beginnt die angewandte Linguistik, sich auf diesen Feldern zu betätigen und damit den Begriff der Sprachberatung neu zu bestimmen. <?page no="14"?> 4 Rudolf Hoberg 7. Bei den Sprachberatern lassen sich wiederum sehr vereinfacht gesagt zwei Gruppen unterscheiden: diejenigen, die überkommene Normen, an die sie fest glauben, unreflektiert weitervermitteln, und diejenigen, die Normbegründungen auf rationaler Grundlage anstreben und im Rahmen einer nicht nur auf die Schule bezogenen Sprachdidaktik und -methodik nach Wegen suchen, ihre Kriterien anzuwenden. Was die erste Gruppe angeht, so kann man nur hoffen, daß sie immer kleiner wird, daß sich ihre Vertreter der zweiten Gruppe zumindest annähern, was allerdings schon mehr und mehr geschieht, wenn man den Literaturverzeichnissen populärer Ratgeber glauben darf. Sprachberater der zweiten Gruppe haben gerade in den letzten Jahren verschiedene gut begründete Konzeptionen entwickelt, was sich auch in dem vorliegenden Band widerspiegelt. Sie wissen in der Regel, daß Beurteilungskriterien nicht allein mit linguistischen oder sprachdidaktischen Mitteln erarbeitet werden können, sondern daß es hier auch um ethische, ästhetische, politische Fragen, allgemeiner: um Fragen der praktischen Vernunft geht und daß bei der Lösung dieser Probleme auch andere Wissenschaften einbezogen werden müssen. Nach meiner Auffassung sollten hier vor allem Vertreter der Diskursethik, die mit den Namen Habermas und Apel verbunden ist, beteiligt werden, von denen man natürlich keine Antworten auf konkrete Sprachfragen, wohl aber Hilfen bei der Entwicklung allgemeiner Kriterien und Verfahrensweisen erwarten kann. 8. Immer wieder wird der Ruf bzw. die Forderung nach Institutionen, insbesondere staatlichen Stellen, laut, die autoritativ sprachliche Normen festlegen und ihre Einhaltung überwachen sollen. Häufig wird dann neidisch nach Frankreich geblickt, wo in dieser Hinsicht angeblich alles so viel besser sei. Und die von der derzeitigen französischen Regierung eingebrachte Gesetzesvorlage, nach der der Fremdwortgebrauch unter bestimmten Bedingungen mit Geldstrafen geahndet werden kann, wird vermutlich von vielen Deutschsprechenden mit großer Sympathie betrachtet. In den deutschsprachigen Ländern gibt es in dieser Hinsicht eine liberale Tradition, und vor allem diejenigen, die über Bewertungskriterien nachdenken und rational begründete Sprachbetrachtung betreiben, müssen dafür sorgen, daß diese Tradition fortgesetzt wird. 9. Es ist immer wieder erstaunlich zu beobachten, wie wenig Personen und Institutionen, die sich mit unterschiedlichen Sprachfragen befassen, voneinander Notiz nehmen. So haben sich in den letzten Jahrzehnten die Bereiche Deutsch als Muttersprache und Deutsch als Fremdsprache weitgehend unabhängig voneinander weiterentwickelt, und auch zwischen den auf den Schulunterricht bezogenen Sprachdidaktikern und den sich vornehmlich an Erwachsene wendenden Sprachberatern gibt es kaum Kontakte, wie ein Blick in Literaturverzeichnisse der jeweiligen Veröffentlichungen <?page no="15"?> Sprachbeweriung und Sprachberatung 5 zeigt. Dabei könnten vor allem die Sprachberater viel von den Sprachdidaktikern lernen, und es ist daher dringend notwendig, daß sich beide Gruppen stärker aufeinander zubewegen. 10. Was Sprachwissenschaft, Sprachdidaktik, Sprachkritik und Sprachberatung so alles treiben, bleibt der Öffentlichkeit weitgehend verborgen, und das liegt nicht an der Öffentlichkeit das Interesse an der deutschen Sprache, zumindest an bestimmten Bereichen, ist sehr groß -, sondern daran, daß nur wenige von denen, die sich professionell mit Sprache befassen, die zweifellos sehr große Mühe auf sich nehmen, sich „Laien” verständlich zu machen. Aktionen der Gesellschaft für deutsche Sprache ihre Zusammenarbeit mit den Medien, die „Wörter” und „Unwörter” des Jahres, der Medienpreis für Sprachkultur, die Veröffentlichung von Preisfragen und Vornamenstatistiken u.a. zeigen, wie man sprachkritisches Interesse in der Öffentlichkeit wecken kann. Generell muß es vermehrt zu Gesprächen zwischen Sprachwissenschaftlern und Journalisten kommen, und es sollte in größeren Redaktionen Journalisten geben, die für Sprachkritik zuständig sind und auch die Voraussetzungen für diese Aufgabe mitbringen. Universitäten brauchen deshalb nicht dem derzeitigen Trend zu immer spezielleren Studiengängen folgend neue Curricula für „Sprachkritiker in den Medien” zu entwickeln; neben journalistischen Fähigkeiten reicht ein normales linguistisches Studium völlig aus. Wenn es gelingt, den Verantwortlichen in den Medien auch nur eine Ahnung davon zu vermitteln, wie eng das Verhältnis von Sprache, Wirklichkeit, Wahrnehmung, Denken und Handeln ist, dann müßte sich in allen Redaktionen die Einsicht durchsetzen, daß der Beruf des Sprachkritikers mindestens so wichtig ist wie der des Literatur-, Musik- oder Kunstkritikers. Und jemand, der Kluges über Thomas Mann oder Thomas Bernhard sagen kann, ist dadurch noch nicht berufen, auch Kluges über profanere Dinge wie die Rechtschreibreform, den vermeintlichen Rückgang des Genitivs oder des Konjunktivs, das Verhältnis von Sprache und Politik, den angeblichen Verfall der deutschen Sprache sagen zu können. Wenn sich solche Einsichten durchsetzen, dann läßt sich auch in der Öffentlichkeit eine Diskussion über Bewertungskriterien auf breiter Basis führen, wobei sich zeigen wird, wie notwendig Sprachkritiker und Sprachberater für unsere Gesellschaft sind. <?page no="16"?> HANS BICKES SprachbeWertung - Wozu? Abstract Der Beitrag arbeitet die Funktion von Sprachbewertungen für einzelne Sprachteilhaber wie für Sprachgemeinschaften heraus. Zwei wesentliche Funktionen von Sprachbewertungen werden unterschieden: Auf einer Stufe I fördern sie die Herausbildung einer kommunikativen Kompetenz, die kommunikationsethischen Forderungen genügt; auf einer Stufe II bewahren und gestalten sie ein „kommunikatives Milieu”, das kommunikationsethisch wünschbare Ausprägungen dieser Kompetenz ermöglicht. Bestimmte Forderungen an das „kommunikative Milieu” werden in einer humanökologischen kommunikativen Ethik begründet und auf Sprachentwicklungserscheinungen bezogen, die durch Veränderungen der Kommunikationsbedingungen und der „Medienumwelt” in der Sprachgemeinschaft bedingt sind. 0. Im vorliegenden Beitrag, einer überarbeiteten Fassung eines Vortrages zum Thema „Sprachbewertung” vor der Kommission für Sprachentwicklungsfragen des Instituts für deutsche Sprache, soll herausgearbeitet werden, in welcher Funktion Sprachbewertungen für Sprachhandelnde und für Sprachgemeinschaften stehen. In einem ersten Abschnitt will ich zeigen, daß Sprachbewertungen zu kurz greifen, wenn sie nicht auch die Folgen von Medienwandel, Kulturwandel und Sprachwandel für den Menschen einbeziehen. Unter 2 werde ich im wesentlichen zwei Funktionen unterscheiden, in denen Sprachbewertungen stehen. Beide Funktionen sind komplementär aufeinander bezogen: Sprachbewertungen auf Stufe I fördern die Herausbildung einer kommunikativen Kompetenz, die kommunikationsethischen Forderungen genügt. Bewertungen auf Stufe II bewahren und gestalten ein kommunikatives Milieu, das bestimmte, kommunikationsethisch wünschenswerte Eigenschaften in der Ausprägung dieser Kompetenz ermöglicht. Daß Bewertungsprozesse zwischen verschiedenen Polen (bewußt vs. unbewußt, subjektiv vs. objektiv) angesiedelt sind, gehört zumindest auf Stufe I in einem gewissen Sinn zur Semantik von „Bewerten” dazu (Abschnitt 3). In Absatz 4 wird gezeigt, inwiefern Bewertungen der Stufe I notwendig zum Aufbau, zur Differenzierung und zur Vermittlung sozialer Regelsysteme sind. In den Abschnitten 5 und 6 wird versucht, eine kommunikative Ethik zu begründen, die auf das Menschenbild des kognitiv autonomen, selbstbewußten Individuums bezogen ist. Es wird hierzu nachgewiesen, daß die Herausbildung eines freien Selbst auf dem Verfügen über eine Sprache mit spezifischen Merkmalen gründet, <?page no="17"?> Sprachbewertting - Wozu? 7 also kommunikativ fundiert ist. Eine in diesem Sinn humanökologisch orientierte kommunikative Ethik legt bestimmte Forderungen an das kommunikative Milieu in einer Sprachgemeinschaft nahe; der Bezug zu konkreten Sprachentwicklungserscheinungen wird in Abschnitt 7 hergestellt. Abschließend wird die Frage danach aufgeworfen, inwieweit kommunikationsethische Programme institutionalisiert werden sollen (8). 1. Ik liebe dir, ik liebe dich Was richtig ist, das weiß ich nich’ ob dritter oder vierter Fall Ik liebe dir auf jeden Fall In diesem Berliner Küchenspruch treten Fragen der Sprachbewertung offenbar zurück hinter eine nicht zu erschütternde Lebensgewißheit. Was aber, wenn die Erwählte hannoveranischer Abstammung und womöglich Linguistin ist? Wird sie dem leidenschaftlichen Geständnis auch dann wohlwollend begegnen, wenn dieses sich ihr im Gewand des falschen Kasus offenbart? In intimer Kenntnis hannoveranischer (oder muß es „hannoverscher” heißen? ) Mentalität und als leidgeprüfter Pfälzer möchte ich hier nur eine düstere Prognose wagen. Sprachgebrauch kann Folgen haben für die Liebe, für das Leben, aber auch für die Sprache 1 selbst. Selten ist sich indes derjenige, der spricht, der Gründe und Ursachen seines Sprachgebrauchs, seiner Motive für die Wahl bestimmter Wörter und Formen bewußt. Und selten hat derjenige, der spricht, die Folgen vor Augen, die sein Sprachgebrauch für die Sprache hat. Und so kommt es zur Sprachveränderung in aller Regel nicht, weil einzelne dies wollen. Sprachwandel läßt sich vielmehr eher wie das Entstehen eines Trampelpfades erklären oder eines Autostaus. Dies hat Rudi Keller ausführlich in seinem Buch „Sprachwandel” (1990) gezeigt. Kaum jemand läuft mit der Absicht quer durch einen Park, einen Trampelpfad anzulegen. Und niemand fährt in der Absicht auf eine Autobahn, einen Stau zu erzeugen. Gleichwohl gibt es recht komplexe - Gründe und Ursachen für Handlungsweisen einzelner, die insgesamt zu Trampelpfaden führen oder in Staus enden. Als Menschen erstmalig einen Telegraphen zur Kommunikation einsetzten, taten sie dies nicht in der Absicht, den Sprachgebrauch zu beeinflussen. Tatsächlich hat der Telegraph jedoch den Sprachgebrauch in fast allen Kulturen nachhaltig verändert. Der Telegraph 1 Mit Sprache ist im vorliegenden Kontext selbstverständlich vielerlei gemeint: Es kann sich um die Standardsprache handeln oder um einzelne Varietäten. Weitere (keineswegs unproblematische, vgl. etwa Giesecke 1992, S. 18ff.) Differenzierungen, wie etwa der zwischen Sprache als System und Sprache als Realisierung von im System angelegten Möglichkeiten, sollen weiter unten nachgetragen werden. <?page no="18"?> 8 Hans Bickes und die mit ihm verbundenen kommunikationstechnologischen Neuerungen fungierten gewissermaßen als die „unsichtbare Hand” (im Sinne Kellers), die einen bestimmten Sprachwandel leitete. Heutzutage sind wir uns bei technologischen oder medienrechtlichen Innovationen vergleichbaren Ausmaßes eher bewußt, daß diese weitreichende, im einzelnen allerdings schwer vorhersagbare Folgen haben können auch und gerade im Bereich der Sprache. Immerhin gab es eine öffentlich geführte Diskussion darüber, welche Folgen die Einführung des dualen Rundfunksystems für die Welt der Kommunikation in der Bundesrepublik haben könnte. Wenn heute im Infotainment spektakulärer Reality-Shows die Grenzen zwischen Realität und Fiktion bedenklich verwischt werden oder wenn im neuen Design der Talk-Shows Gesprächspartner wie Kampfhähne aufeinander gehetzt werden, so überrascht das nicht. Es handelt sich dabei um eine der von Skeptikern vorhergesehenen Begleiterscheinungen der Änderung des Medienrechts und der Zulassung rein kommerzieller Fernsehsender. Wir haben den Primat der Werbung in der Programmgestaltung zugelassen, und daß wir nun durch Phrasen der Irrelevanz und der gestylten Unaufrichtigkeit betäubt werden (etwa, daß ein Haarwaschmittel „naturnahe Substanzen” enthalte, ein anderes Produkt „umweltneutral” sei), darf uns nicht wundern. In ihrem tatsächlichen Ausmaß unterschätzt wurden freilich die weitreichenden Rückwirkungen auf die traditionellen Genres auch in den öffentlich-rechtlichen Anstalten. Diese geraten angesichts sinkender Quoten und nach Einbrüchen bei den Werbeeinnahmen zunehmend in Zugzwang, sich spektakulärer zu präsentieren. Der Rückkauf von Gottschalk zu „Wetten daß? ” oder neu eingerichtete Shows wie „Gemischte Gefühle” (ARD) zeigen, daß auch im Programm-Mix der Öffentlich-Rechtlichen zunehmend auf Infotainment und gewisse Instinkte gesetzt wird. Schließlich besteht Gottschalks Aufgabe bei RTL nach eigenen Aussagen vorrangig darin, in der Werbepause „zappende” Zuschauer mit „appetitlichen Damen” vom Sexfilm bei Sat 1 „herüberzulocken” (vgl. das aufschlußreiche Interview zwischen Gottschalk und F. Röckenhaus im ZEIT-Magazin vom 7. 1. 1994). Tröstlich immerhin: Es gibt Arbeiten, in denen neue Kommunikationstechnologien im Sinne einer Folgenabschätzung bewertet werden. Etwa wenn die Breitbandtechnologie und die damit möglichen interaktiven elektronischen Kommunikationsformen noch vor ihrer breit angelegten Einführung unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Folgen und der Folgen für die kommunikative Kompetenz diskutiert wurden (vgl. etwa Mettler- Meiboom 1986 und 1987). Oder wenn in anderen techniksoziologischen Untersuchungen die Veränderungen unserer semiotischen Umwelt durch informationsverarbeitende Maschinen thematisiert werden: „Der Computer ist mehr, er wird im Gegensatz zur traditionellen Maschine nicht so sehr mit Kräften, sondern vor allem mit Zeichen gefüttert und verarbeitet sie. In Zusammenarbeit mit umfassenden maschinellen Ensembles, den Informationstechniken und ihren verschiedenartigen Verknüpfungen, behandelt <?page no="19"?> Sprachbewertung - Wozu? 9 und transportiert der Computer Zeichen und verarbeitet via Sprache, Bilder und Symbole eine unendliche Vielfalt der Stimmen die Inhalte scheinen gegenüber dieser Vielfalt zurückzutreten. Gleichzeitig wachsen die Möglichkeiten der Kommunikation; die Künstlichkeit der Kommunikationsbedingungen begünstigen bislang undenkbare Speech- und Zeichenakte. Uber die Folgewirkungen dieser Entwicklung besteht noch ziemliche Unklarheit, ja Unkenntnis. Für Rauht bestehen sie in einem neuen System interindividueller Kommunikation, das nicht nur die soziale Interaktivität verallgemeinere und verflechte, sondern auch das Kognitive (..) in der ausufernden Kommunikation in den Vordergrund treten lasse. Die eigentlichen interpretativen und normativen Meta-Nachrichten seien in dieser Art von Kommunikation nicht mehr kodierbar, sie würden ausgeklammert. Im Computer wird das Kind wie der Vater dieser Entwicklung gesehen” (Höring 1989, S. 119). Raulet und Höring erkennen, daß diese Entwicklung in eine Auflösung des Subjektes zu münden droht. Was indes des einen Leid, ist des anderen Freud: Marvin Minsky, einer der Propheten der Computerwissenschaft und der Künstlichen Intelligenz, wertet konsequent den Begriff des Subjektes, des Selbst, als altertümliches Relikt ab, und er begreift folgerichtig die Kooperation zwischen Computerwissenschaften, Biologie und Gentechnologie als große Chance, die ichbezogene informationeile Begrenztheit des menschlichen Körpers und seiner Gehirnkapazität zu überwinden und einen Selbst-losen Informationsfluß zwischen Wissensbeständen unterschiedlichster Speicher- und Verarbeitungsmedien herzustellen. 2 Wo neuere wissenschaftsphilosophische Paradigmen gerade erst die kommunikative Kompetenz als Schlüsselkompetenz kognitiv autonomer Individuen preisen, sie als zentral für die Konstruktion von Wirklichkeit und Erkenntnis begreifen, wird der Kommunikationsbegriff bei Minsky endgültig als Hemmnis für den Prozeß der Kumulation transindividueller Wissens- und Handlungsressourcen (Kumulation für wen? ) destruiert. Die angedeuteten Beispiele mögen genügen: Veränderungen der Kommunikationsbedingungen, der „Medienumwelt”, des „kommunikativen Milieus” in einer Gesellschaft haben direkte und indirekte Auswirkungen auf die Kommunikationsbzw. Sprachformen, die in ihr ausgebildet sind, aber auch für unser Menschenbild. Den Sprachhandelnden jedoch sind solche Zusammenhänge selten gegenwärtig. Meist passen sie sich unbewußt neuen Bedingungen an auch in ihrem Sprachgebrauch. 2 In einem 1992 geführten und im ZDF ausgestrahlten Gespräch zwischen dem Wissenschaftsjournalisten Gero von Böhm und Marvin Minsky äußert sich Minsky unmißverständlich. Er glaubt ernsthaft daran, daß in absehbarer Zeit mit der Implantation von Neurochips im menschlichen Hirn gerechnet werden kann, und es werden ihm offenbar immense Forschungsgelder hierfür zur Verfügung gestellt. Er erwartet sich eine direkte Vernetzung menschlicher Wissenskapazitäten mit externen Speichermedien. Ein völliger Zusammenbruch unseres individuenorientierten Menschenbildes wäre die Folge; Kommunikation würde zur reinen Informationsübermittlung. Ich möchte angesichts der Möglichkeiten der modernen Hirnchirurgie davor warnen, dies vorschnell als Spekulation abzutun. <?page no="20"?> 10 Hans Dickes Nur in Ausnahmefällen zielen einzelne Sprecherinnen oder Sprecher bewußt darauf ab, am Sprachbrauch oder am Sprachsystem selbst und darüber an den zugrunde liegenden Bedingungen etwas zu ändern. Doch auch dafür gibt es Beispiele etwa die durchaus erfolgreichen Versuche feministischer Linguistinnen, im Sprachgebrauch die Frauen deutlicher zu markieren. Sogenannte semantische Kämpfe gehören gleichfalls hierher, etwa wenn Politiker die Semantik bestimmter Ausdrücke in eine bestimmte Richtung lenken wollen. Beispiele hierfür sind bekannt. In aller Regel sind Sprecher und Sprecherinnen in ihrem alltäglichen Sprachgebrauch zunächst durch das Bestreben geleitet, im Kommunikationsprozeß verstanden zu werden, die zur Verfügung stehenden Mittel geschickt auszuschöpfen und dabei als „sprachlich nicht auffällige” Mitspieler in vorgegebenen Sprachspielen ihrer sozialen Umgebung zu gelten. Angesichts der angedeuteten Komlexität und Opakheit der Wechselwirkungen ist die Existenz von Einrichtungen erfreulich, die sich aus einer quasi übergeordneten Perspektive mit dem Phänomen der Entwicklung der Gegenwartssprache befassen. Institutionen wie z.B. das Institut für deutsche Sprache oder die viel kleinere Gesellschaft für deutsche Sprache können Bewußtsein schaffen, Entwicklungstendenzen identifizieren und gegebenenfalls Empfehlungen geben nach welchen Kriterien, für wen und wozu, das soll später geklärt werden. Um dieser Aufgabe nachkommen zu können, müßten sie jedoch bereit sein, einen längst fälligen, zusätzlichen Perspektivenwechsel einzunehmen, wie ihn etwa Giesecke (1992) überzeugend nahelegt. Danach gehen „Medienwandel, Sinnenwandel, Kulturwandel und schließlich auch Sprachwandel (..) Hand in Hand” (Giesecke 1992, S. 13). Im Gegensatz zur Saussureschen Tradition stehen in dieser Sichtweise die gesellschaftlichen und die durch die Fortentwicklung der Medien geschaffenen Bedingungsgefüge im Mittelpunkt, denen Sprachwandelerscheinungen zuzuordnen sind. Dies erfordert freilich eine enge Zusammenarbeit zwischen Sprachwissenschaftlern, Kommunikationswissenschaftlern, Soziologen, Sozialpsychologen und Technologen aus dem Bereich der Kommunikationstechnologie, der Informations- und Computerwissenschaften unter einem Dach. Auch hat wie bereits erwähnt die Zusammenarbeit zwischen Hirnforschung, Biologie, Gentechnologie und Computerwissenschaften längst begonnen und verdient, wie vielleicht kaum ein wissenschaftlicher Evolutionssprung zuvor, hellhörige Aufmerksamkeit. Soweit ich sehe, hat die Sprachwissenschaft in der Bundesrepublik es bis auf wenige Ausnahmen im wesentlichen versäumt, solche interdisziplinären Brücken zu schlagen. Bereits heute zeichnet sich ab, daß dieses Versäumnis gravierend ist. <?page no="21"?> Sprachbewertung - Wozu? 2. 11 Nach diesen Vorbemerkungen möchte ich mich der Titelfrage meines Beitrages zuwenden, nämlich der Frage danach, wozu die Bewertung von Sprache bzw. Sprachgebrauch dienen kann. Hierzu will ich mich in der Folge auf zwei wichtige Funktionen konzentrieren, in denen Sprachbewertungen stehen können: I. Sprachbewertungen kommen einerseits dem menschlichen Bedürfnis entgegen, soziale Regelsysteme aufzubauen. Sie leiten dazu an, lebensformspezifische Sprachspiele herauszubilden und fördern die Eingliederung des Einzelnen in eine Sprachgemeinschaft. Sie tragen so dazu bei, daß das Individuum eine soziale Identität 3 entwickeln kann. Sie zeigen dem Einzelnen, wie er sich verhalten muß, um erfolgreich kommunizieren zu können. Ich will hier von Sprachbewertung der Stufe I sprechen, die im Rahmen von über einen gewissen Zeitraum geltenden Konventionen abläuft und häufig als Korrektur oder Empfehlung und seltener als Lob auftritt, wie es in der Schule seinen Platz hat. Es handelt sich dabei um eine Bewertung der Regelgemäßheit, gewissermaßen um ein pädagogisches Bewertungsverhalten. Stilempfehlungen und rhetorisches Training gehören in diesen Bereich, ebenso alle Formen einer Sprachkritik, die sich auf die Bewertung oberflächlichen oder gedankenlosen Sprachgebrauchs beschränkt. II. Sprachbewertungen können andererseits das Regelsystem einer Sprache 4 als Ganzes sowie die Entwicklung dieses Regelsystems unter Berücksichtigung von Entwicklungen in dem jeweils in Frage kommenden kommunikativen Milieu bewerten. Bewertungen dieser Art können, wie später auszuführen ist, aufzeigen, wo wichtige Eigenschaften der Sprache bei Sprachwandelprozessen aufs Spiel gesetzt werden. Was „wichtige Eigenschaften” einer Sprache sind, für wen sie wichtig sind und warum dies zu beantworten ist Aufgabe einer Theorie der kommunikativen Ethik, auf die ich nachher zu sprechen komme. Hierher gehören z. B. Analysen, die den Zusammenhang zwischen Medienwandel, Kulturwandel und Sprachwandel untersuchen sowie Fragestellungen, wie sie im Bereich der linguistisch fundierten Sprachkritik und einer kommunikativen Ethik (etwa im Anschluß an H.J. Heringer oder R. Wimmer) behandelt werden. Bei Sprachbewertungen auf dieser Stufe kommt ein humanökologisches Motiv zum Tragen, insofern Sprachwandel und Sprachgebrauch im Zusammenhang mit ihrer gesellschaftli- 3 Zum Begriff der sozialen in Abgrenzung zur personalen Identität siehe Frey/ Haußer (1987) sowie Mummendey (1985). 4 Siehe Fußnote 1. <?page no="22"?> 12 Hans Bickes eben Funktion und ihrer Wirkung auf menschliche Erkenntnissubjekte gesehen werden. Ich will diese Thesen in der Folge ausführen. Zuvor mögen jedoch einige Bemerkungen zum Bewertungsbegriff selbst angebracht sein. 3. Beobachtbar werden Bewertungen dadurch, daß sie sich in sprachlichen Äußerungen zeigen. Für deren Semantik können einerseits Kriterien gelten wie für Aussagen der Art „Ich habe Schmerzen”, andererseits Kriterien wie für Aussagen der Art „Im diesem Raum sitzen 40 Personen”. „Pfälzisch klingt lieblich” wäre eher dem ersten Typ zuzuordnen, „Hier muß der Genitiv stehen” oder „Zu aufgeblähte Linksattribute erschweren die Verständlichkeit” eher dem zweiten. Bewertungen und Urteile haben so einen eigentümlichen Zwischenstatus inne: zwischen der intersubjektiv schwer überprüfbaren Klasse von Aussagen über Eigenseelisches auf der einen Seite und der Klasse von mithilfe externer Kriterien objektivierbaren Aussagen auf der anderen Seite. Dies hatte bereits Kant erkannt und ich werde weiter unten nochmals auf diese Doppelgesichtigkeit zurückkommen. Bei einem ersten Betrachten ist man geneigt, Bewertungen als Handlungen zu interpretieren. Doch führt dies unter Umständen dazu, daß Bewertungsprozesse, die oft unbewußt verlaufen, in einem gewissen Sinn überschätzt werden können. Es liegt nämlich in der Natur vieler Bewertungsprozesse, daß sie nicht der bewußten Steuerung durch das Subjekt unterliegen. Eine Entscheidung darüber, ob alle Bewertungsakte als Handlungen einzustufen sind, ist abhängig davon, welche Theorie der Handlungsphilosophie man vertritt. Ich möchte hier mit Hans Lenk (1978) einen interpretatorischen Handlungsbegriff vertreten, und ich neige zu der Auffassung des Anthropologen Ernst Oldemeyer (1979), wonach das eigentliche Transformationsmedium von Verhalten zu Handeln die Reflexion ist. 5 Ein Teil unserer Bewertungsleistungen wird sicherlich sehr unreflektiert erbracht und ist damit ziemlich weit am einen Ende einer Skala angesiedelt, deren extreme Endpunkte durch vollständig bewußte, gesteuerte Handlungsweisen auf der einen Seite und durch völlig reflexartige und unreflektiert ablaufende Verhaltensweisen auf der anderen Seite markiert werden können. Das bedeutet nicht, daß ich für Bewertungsakte nicht Intentionalität im Sinne von Gerichtetsein-Auf-Etwas annehmen möchte; aber nicht jede Bewertung erfolgt absichtlich oder gar bewußt. Oft werden Bewertungen zudem nicht expliziert, sondern sie zeigen sich in der Kommunikation implizit in Form von Anzeichen (etwa im Tonfall, in Form Freudscher Versprecher oder verräterischer Wortwahl) hier wäre es angebracht, eher von Ein- 5 Vgl. auch Bickes (1993). <?page no="23"?> Sprachbewertung - Wozu? 13 Stellungen zu sprechen. Meist ist das Subjekt selbst ein schlechter Kenner seiner eigenen Einstellungen; für Psychologen oder Soziologen ist es ein dankbares Feld, diese zutage zu fördern. Stehen Bewertungen somit einerseits im Spannungsfeld zwischen Subjektivität und Objektivität, so sind sie zusätzlich der Spannung zwischen Handlungs- und Verhaltenscharakter ausgesetzt. Viele Bewertungen können demnach handlungstheoretisch besehen zumindest nicht als Handlungen par excellence gelten. Es ist daher gerechtfertigt, die Rede über Bewertungen streckenweise in einen Beschreibungsrahmen zu verlegen, in dem von Handlungen nicht gesprochen wird. So ziehen viele Psychologen es vor, Urteilsbildung und Einstellungen als Kategorisierungsprozesse zu deuten. Da, wo Bewertungen offensichtlich absichtlich, ziel- und zweckgerichtet von interessengeleiteten Akteuren eingesetzt werden (etwa bei Deutschlehrern), kann auf der Beschreibungsebene immer noch in ein handlungstheoretisches Sprachspiel gewechselt werden. Nicht jede Bewertung muß dabei freilich, wie Holly (1982, S. 58) das einmal anschaulich ausgedrückt hat, unbedingt ansteckend sein, das heißt, den Adressaten zu einer Änderung seiner eigenen Auffassung oder seines Handelns bringen. Bereits der Gemeinplatz „Uber Geschmack läßt sich nicht streiten” legt ja nahe, daß sich zumindest eine Teilmenge von Bewertungsakten, namentlich ästhetische Einstellungen und Urteile, objektivierbarer Begründung entziehen. Und die Psychologie lehrt uns in zahlreichen Experimenten, daß Bewertungsprozesse keineswegs immer bewußt und reflektiert verlaufen. Offenbar haben wir unser Bewertungsverhalten weitaus weniger im Griff, als uns unser wissenschaftliches Ego es gerne glauben machen möchte. Für den Kognitionspsychologen fallen Bewertungsprozesse, wie bereits erwähnt, unter die Rubrik der Kategorisierungsprozesse (vgl. etwa Martin/ Tessner 1992 und Kahnemann/ Miller 1986). Sie können damit theoretisch in Analogie zu anderen Kategorisierungsprozessen beschreiben werden, wie wir sie zum Beispiel von der Wahrnehmungspsychologie her kennen. Und so wie uns unser kognitiver Kategorisierungsapparat im Bereich der Wahrnehmung so manches Schnippchen schlägt verblüffende Formen optischer Täuschungen sind hinreichend bekannt -, so führen uns auch unsere kognitiven Bewertungsstrategien bisweilen an der Nase herum. 6 6 Wie sehr sich Kategorisierungsprozesse unserer bewußten Steuerung entziehen können, ist in vielen Experimenten nachgewiesen worden. Zwei Beispiele, eines individualpsychologischer, das andere eher sozialpsychologischer Ausrichtung, mögen dies verdeutlichen: Studenten, die an einem Universitätskopierer Kopien anfertigen wollten, wurde nach dem Kopiervorgang ein Fragebogen mit Fragen über die Einschätzung der gegenwärtigen Weltlage, und über ihre persönlichen Zukunftschancen vorgelegt. Eine nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Teilgruppe fand beim Eintreffen am Kopierer „rein zufällig” eine Zehnpfennigmünze. In dieser Gruppe wurden die Weltlage und <?page no="24"?> 14 Hans Bickes Als Kategorierungsleistungen funktionieren Bewertungen grob nach dem bekannten Grundmuster: „Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen”. Gleichzeitig sind auf Sprache bezogene Bewertungen Prozesse sozialen Kategorisierens, insofern es sich bei ihren Gegenständen um Äußerungen von Menschen in Sprachgemeinschaften handelt und insofern über diese Bewertungen auch soziale Gruppen (etwa Begabte vs.. Unbegabte, Süddeutsche vs.. Norddeutsche etc.) gebildet werden. Zimmermann (1992) gibt in einem Aufsatz über die Bewertung von Dialekten pikante Belege hierfür. Noch Johann Christoph Adelung (1737-1806) pries z. B. die meißnerische, obersächsische Sprache als „Die gesellschaftliche Sprache der Classen von feinerem Geschmack”. Dies dürfte heutzutage nicht unbedingt die gängige Auffassung sein. Aber auch die heutigen, leicht zurückhaltenden Einstellungen gegenüber dem Sächsischen sind nicht ohne geschichtliche Vorbilder, bisweilen sogar recht drastischen: So werden Adrian Leverkühn im Doktor Faustus von Thomas Mann die folgenden Worte in den Mund gelegt: »Ist schon prächtig gebaut, mein Leipzig, recht wie aus einem teuren Steinbaukasten, und dazu reden die Leute überaus teuflisch gemein, daß man vor jedem Laden scheut, ehe man was erhandelt, ist, als ob unser sanft verschlafenes Thüringen aufgeweckt wäre zu einer Siebenhunderttausend-Mann-Frechheit und Ruchlosigkeit des Maulwerks mit vorgeschobenem Unterkiefer, greulich, freulich (...).< Nicht von ungefähr erinnert Zimmermann, daß Kant in seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft zwischen zwei Sorten von Urteilen differenziert. Das Angenehme in einer Empfindung bzw. das Wohlgefallen ordnet Kant der Subjektivität des Gefühls zu (Zimmermann (1992, S. 112). Daneben gibt es bei Kant das „reine Geschmacksurteil” als reflektierendes Urteil, „welches (...) die persönlichen Zukunftsaussichten signifikant optimistischer beurteilt, als in der Gruppe, die keine Münze vorfand. - Die motivationale Ausgangstage hat demnach nachweisbaren Einfluß auf das Bewertungsverbalten. Ein zweites Beispiel: Eine Gruppe von Versuchspersonen wurde in zwei Gruppen A und B aufgeteilt. Als Kriterium der Gruppenzugehörigkeit wurde angeblich die Präferenz eines von zwei Malern herangezogen. Tatsächlich erfolgte die Gruppeneinteilung jedoch nach dem Zufallsprinzip. Interaktionen fanden während des Experiments weder innerhalb noch zwischen den Gruppen statt. Die einzelnen Versuchspersonen erhielten nur die Information, zu welcher der beiden Gruppen sie selbst gehören; die Gruppenmitgliedschaft der anderen wurde ihnen nicht mitgeteilt. Nach einer Weile der Isolation mußte jede Versuchsperson Entscheidungen zugunsten oder zuungunsten anderer, nicht im Raum anwesender Versuchspersonen treffen, von denen ihr außer einer Kodenummer allein die Gruppenmitgliedschaft mitgeteilt wurde. Die im Grunde leere, minimale Gruppenbedingung führte dazu, daß diejenigen Personen, die der „eigenen” Gruppe angehörten, bevorzugt wurden (Tajfel 1982, S. 76ff.). - Dieser Effekt stellt sich selbst dann ein, wenn die Gruppenzugehörigkeit vor den Augen der Versuchspersonen durch das Werfen einer Münze festgelegt wird. In einem früheren Experiment (Ferguson/ Kelly 1964) führte die Gruppenzugehörigkeit dazu, daß Arbeitsergebnisse aus der jeweiligen Fremdgruppe schlechter bewertet wurden als Ergebnisse aus der eigenen Gruppe. <?page no="25"?> Sprachbewertung - Wozu? 15 die Zweckmäßigkeit der Form zum Bestimmungsgrunde hat” (a.o.a.O.). Auch hier treffen wir wieder auf die oben erwähnte Spannung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven. Ein reines Geschmacksurteil im Sinne Kants würde gewiß zahlreiche Vorzüge des sächsischen Idioms herausstreichen. Doch bedauerlicherweise (und zum Leidwesen so manchen Politikers) sind gerade die Einstellungen gegenüber Dialekten ganz offensichtlich von einer gefühlsmäßigen, subjektiven Komponente begleitet (vgl. auch Hundt 1992). Oft fällt es schwer, Sprachbewertungen anders als über das Sprachgefühl zu begründen. Mir ist z. B. nicht bekannt, daß in empirischen Untersuchungen der Nachweis geführt wird, daß die in Fachsprachen und insbesondere in der Verwaltungssprache vorhandene Tendenz zu Nominalisierungen tatsächlich das Textverständnis behindert, wie dies immer wieder in Stilfibeln unterstellt wird. Auch mir gefallen sie nicht; auch ich meine, daß gehäufte Nominalisierungen verständnishemmend wirken können aber in Ermangelung empirischer Belege kann ich als Kronzeugen allein mein Sprachgefühl anführen was immer das sein mag. Nicht immer wird man Übereinstimmung bei solcherart Bewertungen erzielen. So kann ich nicht alle Ratschläge nachvollziehen, die in den von der GfdS herausgegebenen ‘Fingerzeigen für die Gesetzes- und Amtssprache’ zusammengestellt sind. Die folgenden Formulierungen sind vielleicht ärgererregend, wenn sie gemeinsam mit mehreren anderen Versatzstücken des Amtsdeutschen in einem Text geballt auftauchen; für sich besehen meldet mein Sprachgefühl kein Mißfallen an (links stehen die beanstandeten, rechts die empfohlenen, „besseren” Formulierungen): 54 im Nachgang zu meinem Schreiben zusätzlich zu meinem Schreiben 54 seitens der Behörde wurde festgestellt 55 im Verlauf der Verhandlung 55 Im Zuge der Ermittlungen 7 Wir kommen bei Gelegenheit wieder auf Sie zu von der Behörde wurde festgestellt während der Verhandlung durch die Ermittlungen Wir werden uns bei Gelegenheit wieder an Sie wenden. 26 Nach Lage der Dinge Wie die Dinge liegen Gewiß in einer bestimmten Kommunikationssituation, hier in der Kommunikation zwischen Behörden und Bürgern, sind alle Versuche zu begrüßen, die zu einer persönlicheren Ansprache beitragen. Insofern kann zugunsten der Ablehnung der links aufgeführten Ausdrucksweisen, die <?page no="26"?> 16 Hans Bickes ihren Ursprung wohl in Amtsstuben oder Anwaltskanzleien haben dürften, auf deren behördlichen „Stallgeruch” verwiesen werden. Die Bewertungskriterien müssen jedoch neu geprüft werden, wenn dieselben Ausdrücke in ihrer Verwendung in anderen Kommunikationssituationen zur Diskussion stehen. Denn natürlich gelten für unterschiedliche Kommunikationssituationen und Textsorten, generell für unterschiedliche Varietäten, jeweils eigene Bewertungsmaßstäbe. Die in Fußnote 6 geschilderten Effekte in psychologischen Experimenten, die sehr subjektiven Einstellungen zu Dialekten, wie sie von Zimmermann berichtet werden, und die Beispiele aus den ‘Fingerzeigen’ mögen folgendes deutlich machen: Je nach Situation, in der bewertet wird, können Einflüsse der Situation, institutioneller Hintergrund, die Gruppenzugehörigkeit, die motivationale Befindlichkeit des Bewertenden oder die emotionale Komponente beim Urteilen an Gewicht gewinnen. Die Koppelung von Kategorisierungsprozessen mit nicht nur rationalen sondern auch emotionalen oder motivationalen Einflüssen erfüllt im täglichen Handeln natürlich eine wichtige Funktion. Wollten wir alle Kategorisierungsprozesse nur über den Kopf und über wissenschaftliche Begründbarkeit laufen lassen, wäre die Menschheit längst ausgestorben. Die Fülle der auf uns einstürzenden Reize ließe sich so gar nicht ökonomisch verarbeiten. In der gesprochenen Sprache spielt z.B. die ständige Kategorisierung nonverbaler, parasprachlicher und sonstiger Kommunikationsmittel eine wichtige Rolle. Denn damit kommen neben dem Inhaltsaspekt auch Beziehungsaspekte zum Tragen. Zutrauen oder Mißtrauen, Sympathie oder Antipathie beeinflussen den Verlauf und die Erfolgschancen eines jeden Gesprächs, sind aber meist die Folge einer Vielzahl unbewußt ablaufender, gefühlsmäßiger Bewertungsprozesse. Eine wissenschaftliche bzw. rationale Unterbestimmtheit gehört zum Sprachspiel des Bewertens, zur Semantik und Pragmatik von „Bewerten” also offensichtlich dazu. Dies gilt zumindest bei denjenigen Bewertungsprozessen, die auf Stufe I angesiedelt sind insbesondere überall dort, wo nicht dichotome Richtig-falsch-Entscheidungen gefordert sind, sondern Wertskalen in Form von Kontinuen gelten. Anzuführen wären etwa der Bereich der Bewertung literarischen bzw. kreativen Sprachgebrauchs oder bestimmte Anwendungsfälle der Stilistik. Und solange Bewertungsrituale nicht in einer Form institutionalisiert werden, daß durch sie Macht in ungebührlichem Ausmaß ausgeübt werden kann, ist dieser subjektive Anteil keineswegs nachteilig. Sein Auftreten belegt im Grunde, daß es nach wie vor menschliche Subjekte sind, deren Kommunikationsstile hier zur Debatte stehen. Nach diesen kursorischen Überlegungen zum Bewertungsbegriff möchte ich zur Eingangsfrage nach dem Wozu von Bewertungen zurückkehren. <?page no="27"?> Sprachbewertung - Wozu? 4. 17 Für die erste „Sorte” von Bewertungen, die Bewertungen der Stufe I, ergibt sich folgendes: Man darf annehmen, daß Sprachbewertungen mit zum alltäglichen Sprachspiel einer Gemeinschaft gehören; sie sind latent, unausgesprochen immer im Hintergrund oder sie werden offen artikuliert; sie erleichtern es den Mitgliedern dieser Sprachgemeinschaft, sich in die geltenden gefühlsmäßigen Einstellungen, Konventionen, Wertesysteme und Normen in all ihren Nuancierungen einzuleben. Sie sind ein Spezialfall der prinzipiellen Korrigibilität in Regelsystemen, die nach Wittgenstein eine so wichtige Rolle bei der sozialen Konstitution von Regeln spielt. Bewertungen machen in subtiler oder auch weniger subtiler Form erfahrbar, wo jemand in einer Sprachgemeinschaft steht, wo er oder sie gegen Regeln, Gefühle und Erwartungshaltungen verstößt und lenken so erst den Blick auf die Regel. Dem Individuum verhelfen sie im günstigen Fall zur Herausbildung einer positiven sozialen Identität (im Sinne von H. Tajfel). Ich habe bisher etwas pauschal von Bewertung und von Sprachbewertung gesprochen. Zum einen habe ich dabei stillschweigend vorausgesetzt, daß es Bewertungen an sich selbstverständlich nicht gibt, sondern daß Bewertungen durch bewertende Einzelpersonen oder im Namen von Institutionen erfolgen. Zum anderen habe ich bereits angedeutet, daß es die Sprache so nicht gibt. Ich möchte an dieser Stelle zusätzlich an einige Unterscheidungen erinnern, die Peter v. Polenz in einem Aufsatz zur Sprachkritik 1980 festgehalten hat. Von Polenz schreibt dort: Sprache kann als Gegenstand der Sprachbetrachtung viel Verschiedenes sein: etwas Individuelles (was den einzelnen betrifft) oder Soziales (was viele betrifft), etwas Realisiertes (als konkret Wahrnehmbares) oder Potentielles (als Abstraktion der Möglichkeiten), etwas Funktionales (für die Verständigung) oder Institutionales (für die Gesellschaftsordnung), etwas deskriptiv Faßbares (was war und ist) oder präskriptiv Gefordertes (was sein soll). Aus diesen vier Paaren von Eigenschaften ergeben sich mindestens folgende sechs Erscheinungsweisen von Sprache, die eine soziolinguistisch erweiterte Form der üblichen sprachwissenschaftlichen Zweiteilungen in „parole” und „langue”, „performance” und „competence” darstellen (vgl. de Saussure 1967, 11, 16 f.; Coseriu 1970, 198 ff.; 204 ff.; Chomsky 1969, 14; Henne/ Wiegand 1969): <?page no="28"?> 18 Hans Bickes realisiert potentiell funktional institutional deskriptiv präskriptiv individuell SPRACHVER- WENDUNG SPRACH- KOMPETENZ sozial SPRACH- VERKEHR SPRACH- SYSTEM SPRACH- BRAUCH SPRACH- NORM Jedes dieser Felder wäre auch im Zusammenhang der vorliegenden Thematik einen eigenen Beitrag wert. Allen entsprechen verschiedene Ausprägungen von Bewertungsprozessen. An Erscheinungen individueller und singulärer Sprachverwendung sind gewiß andere Maßstäbe anzulegen, als an Phänomene im Bereich der Sprachnorm. Sprachverwendungskritik (im Sinne von v. Polenz) mag vorzugsweise als Bewertungsprozess der Stufe I auftreten, wogegen Kritik an Sprachnormen eher auf Stufe II angesiedelt sein wird. Aus Platzgründen will ich dies jedoch hier nicht im einzelnen ausführen, zumal vieles von dem, was v. Polenz in seinem auch heute noch aktuellen Aufsatz für Sprachkritik feststellt, mutatis mutandis auch auf Sprachbewertung zutrifft. 7 Denn zweifelsohne ist Sprachkritik eine Ausprägung dessen, was hier unter Sprachbewertung verstanden wird. 7 Im Zusammenhang mit Bewertungen der Stufe I spielt vor allem der Normbegriff eine wichtige Rolle. Uber ihn wurde bereits in den 60er und 70er Jahren ausführlich debattiert. Neben der deskriptiven (Sprachbrauch) und der präskriptiven Norm wurde zeitweilig auch eine prädiktive Norm postuliert. Kriterien zur Normrechtfertigung wurden formuliert und meist sogleich heftig kritisiert sei dies das Kriterium der Strukturgemäßheit, das der Respektierung der Tradition, der Bezug auf Zweckmäßigkeit im Hinblick auf verständliches Sprechen oder einfach nur die Nachweisbarkeit im faktischen Sprachgebrauch. Kritisiert wurde immer wieder die einseitige Orientierung an einem bestimmten Ideal der Schriftsprachlichkeit oder an einer Hochlautung, die nur eine winzige Minderheit überhaupt fehlerfrei realisieren kann. Dem Nutzen verbindlicher Konventionen mit weitem Geltungsbereich etwa für eine weitläufige Sicherung reibungsloser Kommunikation wurden soziolinguistische Argumente entgegengesetzt, nach denen gesellschaftliche Gruppen so durch ihren abweichenden Sprachgebrauch negativ diskriminiert würden. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an eine Bemerkung Siegfried Jägers, wonach zentrale, feste Normen, die weithin bekannt und akzeptiert sind, praktisch nie angestastet werden selbst wenn sie sehr unökonomisch sind. Und G. Kolde (1980) zeigt (etwa am Beispiel des Genitivs, der als Objektkasus durch mindestens fünf verschiedene Präpositionen ersetzt worden ist), daß die Sprachentwicklung keineswegs immer dahin tendiert, die Norm zunehmend systematischer zu gestalten. Solange Bewertungen als „pädagogische Bewertungen”, also als Bewertungen der Stufe I und damit im Zusammenhang mit der Herausbildung sozialer Identität zu sehen sind, wie ich dies im Sinne meiner ersten Antwort auf die Frage nach dem Wozu der Sprachbewertung bisher herausgearbeitet habe, sind es vor allem die Felder „Sprachverwendung”, „Sprachverkehr”, „Sprachbrauch” und „Sprachnorm”, die hier relevant sind. Sprachverwendungen werden innerhalb einer Sprachgemeinschaft daraufhin bewertet, ob sie sich im Einklang mit dem bewegen, was in dieser Sprach- <?page no="29"?> Sprachkewertvng - Wozu? 5. 19 Bewertungsprozesse der Stufe II, denen ich mich abschließend zuwenden will, gehen über ein eher pädagogisches und sozialisierendes Bewerten hinaus. Urteile auf dieser Ebene sollten nicht subjektiver und emotionaler Beeinflussung unterliegen. Die Kriterien, nach denen auf dieser Stufe bewertet wird, entstammen einer Theorie der kommunikativen Ethik, die ihrerseits aus einer Analyse des Kommunikationsprozesses selbst abgeleitet ist. Ob das Deutsche sich langfristig zu einer nichtflektierenden Sprache entwickelt, ob „brauchen mit” oder ohne „zu” zu gebrauchen ist, ob die Konjunktion „weil” auch Sätze mit Hauptsatzstellung einleiten kann, oder ob der Kaiser mit „ei” geschrieben wird all dies dürfte für die weitere Entwicklung der deutschen Sprache ebenso unbedeutend sein, wie es für die Mitglieder der Sprachgemeinschaft selbst ohne größere Folgen bleiben dürfte. Manche dieser Erscheinungen lassen sich bereits mit einem Hinweis auf sonstige sprachstrukturelle Regularitäten motivieren und bewerten, etwa indem bei „brauchen” auf den Modalverbcharakter verwiesen wird. Entwicklungserscheinungen größeren Ausmaßes erfordern jedoch eine zusätzliche Abschätzung und Bewertung der anzunehmenden Folgen, die dieser Sprachwandel haben kann - und zwar die Folgen für die Mitglieder der Sprachgemeinschaft selbst. Welche Folgen für die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft als wünschenswert, als förderlich, als beeinträchtigend oder als destruktiv einzuschätzen sind, läßt sich nicht völlig ohne Rekurs auf das Menschenbild und das Wertsystem einer Gemeinschaft erörtern. Ein Menschenbild, das das Individuum und dessen Freiheit in den Mittelpunkt stellt, wird andere Eigenschaften an einer Sprache hochschätzen, als ein Menschenbild, das das Kollektiv in den Mittelpunkt rückt. Wenn ich also in der Folge auf kommunikationsethische Prinzipien zu sprechen komme, dann bin ich mir bewußt, daß diese, auch wenn man sie aus allgemeinen, womöglich universellen Eigenschaften des Kommunikationsprozesses selbst ableitet, von unserem abendländischen Denken gefärbt sind, gemeinschaft in den Bereichen Sprachbrauch und Sprachnorm an gefühlsmäßigen Einstellungen, Vorlieben, Regeln t Konventionen oder Normen gilt. So kann die einzelne Sprachverwendung durch Äußerungen bewertet werden wie „das klingt unschön” , „das ist gut und verständlich”, „das klingt geschwollen”, „so ist das falsch, da müßte der Konjunktiv hin” und ähnliche. Dabei kann durchaus auch auf das sogenannte Sprachgefühl rekurriert werden, wenn ästhetische Bewertungen vorgenommen werden; im institutionalisierten Kontext (Schule) sollte dies jedoch mit gebotener Zurückhaltung einhergehen, insbesondere, wenn Leistungsmessung damit verbunden ist. Grundsätzlich sollten diejenigen, die bewerten, jederzeit bereit sein, die angelegten Maßstäbe zur Diskussion zu stellen. <?page no="30"?> 20 Hans Bickes das die Freiheit des Einzelwesens, kognitive Autonomie, die Autorität wissenschaftlichen Argumentierens aber auch den wirtschaftlichen Erfolg ganz obenanstellt. 8 Dies in Erinnerung behaltend, will ich in der Folge versuchen, die Umrisse einer kommunikativen Ethik hinsichtlich der Frage nach dem Wozu von Sprachbewertungen der Stufe II zu skizzieren. Ich profitiere dabei von etlichen Vorarbeiten, insbesondere denen von Rainer Wimmer. Uber Wimmers Überlegungen gehe ich dort hinaus, wo ich bestimmte Prinzipien menschlicher Kommunikation als Bedingungen der Möglichkeit kognitiver Autonomie festschreibe. Die Entwicklung eines Bewußtseins von der jeweils eigenen Identität ruht so will ich argumentieren auf einer kommunikativen Kompetenz, die kommunikationsethischen Forderungen genügt. Ich will dies sogleich ausführen. Kommunikative Ethik, so wie ich sie hier im Einklang mit Wimmer verstehen will, ist jener Teilbereich der allgemeinen Ethik, der sich aus einer Analyse des Kommunikationsprozesses selbst ableiten läßt. Sie ist nicht mit einer kommunikativen bzw. diskursiven Fundierung einer allgemeinen Ethiktheorie zu verwechseln, wie das bei Habermas der Fall ist. 6. Die Fähigkeit des menschlichen Akteurs, über seine Entscheidungen zu reflektieren, machen den Menschen zu einem potentiell freien, selbstbestimmten Wesen. Nun ist die Fähigkeit zur Reflexion jedoch nichts, was 8 Nachfolgendes Beispiel möge dies illustrieren: Wie Susanne Günthner gezeigt hat, ist z. B. bei uns Direktheit in vielen Gesprächssituationen durchaus sozial erwünscht. Zwischen Direktheit und Relevanz im Sinne kommunikativer Maximen (im Sinne von Grice) besteht bei uns ein enger Zusammenhang. Demgegenüber wird z.B. in der chinesischen Kultur die Gesprächsharmonie gegenüber der Direktheit sehr viel höher geschätzt. Entsprechend ist es für chinesische Gesprächsteilnehmer befremdend, wenn Europäer oder Amerikaner sehr rasch ihr eigentliches Anliegen vortragen, also direkt mit der Tür ins Haus fallen. Ein deutscher Geschäftsmann äußert sich wie folgt über seine Erfahrungen mit chinesischen Geschäftsverhandlungen (zitiert bei Günthner 1991, S. 289): „Verhandlungen mit Chinesen sind somit das schwierigste und oft auch nervenaufreibendste, was ich in Bezug auf Geschäftsverhandlungen kenne. Man weiß nie, woran man ist. Ich versuche direkt und klipp und klar meine Bedingungen zu formulieren, doch danach dreht sich alles im Kreise. Nichts scheint voranzugehen. Vielleicht hier und da ein Lächeln und dazu ständiges Nachgießen von Wasser in die Teetassen. Doch bis es dann endlich zum Punkt kommt, bin ich fast am Platzen.” Offenbar sind in chinesischen Gesprächen andere Dinge relevant, als in deutschen, Relevanz äußert sich anders als bei uns. Gesprächsanalytische bzw. textkontrastive Untersuchungen zeigen, daß auch ein Begriff wie „Verständlichkeit” in Abhängigkeit von kulturspezifischen, ja gruppenspezifischen Kommunikationsmustern und Mustern der Text- und der Diskursorganisation zu präzisieren ist und nicht global charakterisiert werden kann. <?page no="31"?> Sprachbewertung - Wozu? 21 einem Akteur zugeschrieben werden kann, wenn man ihn nur als Individuum betrachtet. Reflexionen sind nicht bloße Momente des „Innenlebens” ihres Subjektes, nicht nur private Ereignisse. Das Grundmuster reflexiver Prozesse ist dort angelegt, wo Einzelne als Kommunikationspartner dazu bewegt werden, sich mit den Augen der Anderen zu messen. Der Reflexionsprozess ist im weiteren Sinn ein reziproker Prozess. Der Anthropologe Ernst Oldemeyer, von dem weiter oben bereits die Rede war, hebt in diesem Zusammenhang die unverzichtbare Rolle von Sprache hervor: „Eine entscheidende Bedingung zur sozialen Vermittlung und Ausdifferenzierung iterativer Reflexionsprozesse stellt in all dem die Sprache dar” (Oldemeyer 1979, S. 751). Reflexionsprozesse erlauben es, eigenes Verhalten als regelhaftes zu begreifen. Die Rede von Regelbefolgung und von Regelkonstitution bekommt aber nach Wittgenstein nur Sinn, wenn eine soziale Gemeinschaft und deren Lebensform in den Blick genommen werden, innerhalb deren man gegen eine Regel verstoßen kann und durch welche Regeln korrigierbar werden. Ich habe an anderer Stelle gezeigt, daß die Konstitution von Regeln immer im komunikativen Handeln erfolgt (Bickes 1989, 1993); die Interpretation eigenen Verhaltens als regelhaft ist nur vor dem Hintergrund eines relativ überdauernden, konventionalisierten Rahmens, wie ihn eine Sprache in einer Sprachgemeinschaft darstellt, überhaupt sinnvoll. Vor allem wird der Prozess der Selbstreflexion und die daraus resultierende Konstitution von Selbstbewußtsein und einer freien personalen Identität im Lichte des Wittgensteinschen Privatsprachenargumentes zu einem Spezialfall der überindividuellen, sozialen Prozesse des Meinens und Verstehens in einer Kommunikationsgemeinschaft. Damit wird das Verfügen über ein öffentliches Zeichensystem und über kommunikative Handlungsmuster zur conditio sine qua non reflexiver Prozesse. Die Vorstellung eines seine Entscheidungen reflektierenden und frei handelnden Individuums setzt die Annahme voraus, daß dieses Individuum sich mit anderen (mindestens) auf eine gemeinsame Sprache geeinigt hat, über die es verfügt. Offenbar reicht es jedoch nicht hin, über irgendeine Sprache zu verfügen, denn sonst hätten auch bestimmte Tiere Reflexionsvermögen und Selbstbewußtsein komplexerer Art entwickeln können. Vielmehr sind es ganz spezielle Charakteristika menschlicher Sprachen, die diese zu Trägern reflexiven Denkens und zur Grundlage von Erkenntnis und vor allem von Selbsterkenntnis haben werden lassen. Menschliche Freiheit spiegelt sich gewissermaßen in „freilassenden” Eigenschaften menschlicher Sprachen. Auch die Hirnforschung sieht heute enge Zusammenhänge zwischen der Entwicklung der nur für den Menschen typischen Sprachregionen und der Herausbildung des Selbstbewußtseins (Eccles 1989). Eine kommunikative Ethik sollte uns in die Lage versetzen, die Auswirkungen von Veränderungen des kommunikativen Milieus und des Prozesses der Sprach- <?page no="32"?> 22 Hans Bickes wandels auf diese freilassenden Eigenschaften einer Sprache abzuschätzen und zu bewerten. Auch wenn es sich um sprachwissenschaftliches Grundwissen handelt, darf ich andeuten, welche Charakteristika hier gemeint sind. So etwa die Tatsache, daß Sprachen auf Inhalts- und Ausdrucksebene je gesondert gegliedert sind (double articulation), daß sie arbiträr sind und dadurch abstrakte Gedanken ausgedrückt werden können, daß menschliche Sprachen (bzw. die Sprecher) nicht genetisch im Hinblick auf den Bedeutungsgehalt der Zeichen determiniert sind, sondern daß diese konventionell, also sozial verabredet sind, daß sie Teilsysteme der Selbstreferenz und der Referenz, allgemein Mittel zur Reziprozität enthalten, die es den Sprechern ermöglichen, sich auf sich selbst und auf andere zu beziehen, andere Standpunkte einzunehmen und einiges mehr. Auch verlaufen natürlichsprachige Kommunikationsprozesse beidseitig in unterschiedlichen Dimensionen (z.B. einer inhaltsbezogenen und einer beziehungsbezogenen Dimension bei Watzlawick; dies gilt eben nicht für den Informationsaustausch mit oder zwischen Maschinen). Ferner dürften sprachliche Universalien hierher gehören, daß also beispielsweise jede bekannte Sprache den Ausdruck von Modalität oder den von Temporalität gestattet. Auch im Hinblick auf kommunikative Muster im weiteren Sinn lassen sich meist geschieht dies im Anschluß an Grice sogenannte kommunikative Maximen ableiten, deren Beachtung gewissermaßen eine Bedingung der Möglichkeit dafür ist, daß etwas Gespräch (bzw. Kommunikation) genannt werden kann. Auch sie beanspruchen universelle Gültigkeit und scheinen uns in unsererem kommunikativen Handeln und in unserem Kognizieren stärker zu beeinflussen, als uns bewußt ist (vgl. Schwarz/ Bless 1992, S. 235f). Sie sind indes nicht als Regeln für eine gute Gesprächsführung mißzuverstehen. Jemand kann durchaus die Griceschen Maximen beachten und trotzdem erfolglos kommunizieren. Grice leitet seine Maximen ab aus den formalen Kategorien der Quantität (z. B. die quantitative Verteilung von Redebeiträgen in einer Gesprächsrunde), der Qualität (hält der Sprecher, was er sagt, für wahr? ), Modalität (wie verständlich ist, was jemand sagt? ) und der Relevanz (ist, was ich sage, für die anderen überhaupt von Interesse? ) und sieht sie dem allgemeinen, für Kommunikation konstitutiven Prinzip der Kooperation untergeordnet. Diese Maximen sind in verschiedenen Variationen bekanntgeworden, etwa in folgender Form: 1. Maxime der Informativität und Relevanz; 2. Maxime der Verständlichkeit; 3. Maxime der Wahrhaftigkeit (vgl. Wimmer 1990, S. 138f.). Ich will die Definition der einzelnen Maximen hier als bekannt voraussetzen. Natürlich sind Lügen trotz der 3. Maxime noch gestattet aber eben nur in Maßen; ein Fußballspiel, um eine Analogie zu bemühen, das nur noch aus Foulspiel bestünde, hörte ebenso auf, Fußballspiel zu <?page no="33"?> Sprachbeweriung - Wozu? 23 sein, wie eine Gesprächswelt nicht mehr Kommunikation genannt werden könnte, in der jeder jeden jederzeit der Lüge verdächtigte. 7. All diese Charakteristika von Sprache bilden Eckpfeiler des Kommunikationsprozesses, die die ganz besondere Qualität menschlicher Kommunikation sichern und die dem Sprecher eine offene, nicht determinierte Sprechplanung (und damit auch eine offene und nicht determinierte Reflexion, siehe oben) erlauben. Im Zusammenspiel bilden sie die Grundlage für die Entfaltung eines freien Selbstbewußtseins. Unter kommunikationsethischen Gesichtspunkten müssen sprachlicher Wandel (d.h. beispielsweise Veränderungen auf den Ebenen Sprachsystem, Sprachbrauch und Sprachnorm des Polenzschen Mehrfelderschemas), aber auch Veränderungen kommunikativer Muster oder im gesamten kommunikativen Milieu einer Kommunikationsgemeinschaft im Sinne der bisherigen Ausführungen daraufhin bewertet werden, ob sie an die oben aufgeführten Eckpfeiler einer Sprache rühren, ob dadurch womöglich die kommunikativ fundierte Reflexionskompetenz der Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft beeinträchtigt und so indirekt auch die Freiheit und die Würde des Selbsts angetastet wird. Beispiele für Erscheinungen, die aus der Sicht einer so sehr knapp umrissenen kommunikativen Ethik als bedenklich zu bewerten wären, lassen sich ohne größere Phantasie leicht aufzählen. Mögliche Entwicklungen in der Folge eines weiteren Ausbaus der Kommunikationstechnologien wurden weiter oben bereits angedeutet (etwa in dem Zitat von Hörning). Die Ergänzung unserer Sprache durch das Bild, die Dominanz des visuellen Elementes all dies sind Veränderungen, deren Folgen wir kommunikationsethisch abzuschätzen haben. Vieles von dem, was etwa für die schriftsprachliche Kommunikation an Charakteristika aufzuzählen ist und wodurch sie zu einem geeigneten, internalisierbaren Medium rationalen und reflektierten Denkens wird, ist angesichts des Wettbewerbs um Einschaltquoten nicht ohne weiteres auch für die Ebene der Bildsprache gesichert die vereinnahmende Präsenz visueller Elemente appelliert häufig an Gefühle und verführt leichter zu platten Assoziationen und Klischees. Auch ist völlig ungeklärt, inwiefern visuell und klanglich ergänzte Sprachbzw. Kommunikationsformen unser inneres Reflexionsvermögen beeinträchtigen und Rückwirkungen auf unsere kognitive Autonomie haben. Hier wird zu wenig getan, um über einen erweiterten Sprachbegriff, der den immer wichtiger werdenden Bereich der Bildsprache einschließt, auch die Visualisierung unserer Kommunikation kritisch zu begleiten. Angesichts der intensiven und in erster Linie kommerziell motivierten Bemühungen, neueste elektronische Medientechnologien zu etablieren, die eine interaktive Nutzung gestatten, kann dieser Bereich gar <?page no="34"?> 24 Hans Bickes nicht ernst genug genommen werden. Aus der Zusammenarbeit von KI- Forschung, Biologie und Gentechnologie sind umwälzende Ergebnisse und entsprechende Folgen für den Bereich der Kommunikation zu erwarten, wie ich oben bereits erwähnt habe. Natürlich gibt es auch konkretere und überschaubarere Anwendungsfälle für kommunikationsethische Überlegungen. Sie reichen von der Ebene der Störung im innerfamiliären Setting über den öffentlich-politischen Diskurs bis hin zur interkulturellen Kommunikation. Aus kommunikationsethischer Sicht sind z.B. Double-Binds in der Kleinfamilie ebenso zu korrigieren, wie rassistisch verzerrte, durch dumpfe Stereotypen geprägte Kommunikationsstrukturen in und zwischen sozialen Gruppen. Im einen wie im anderen Fall verändern sich das kommunikative Milieu und die jeweiligen Kommunikationsmuster in einer Weise, daß nicht mehr von kognitiver Autonomie aller Beteiligten gesprochen werden kann. Rechtsradikalismus könnte demnach seine Wurzeln in einem Mangel an innerer kommunikativer Differenziertheit haben und damit als Gefangensein in einschränkenden, unfreien Reflexions- und Denkmustern gedeutet werden. Wenn allgemein von Politikverdrossenheit gesprochen wird, ist damit gewiß auch ein implizit kommunikationsethisch motiviertes Unbehagen an den Kommunikationsmustern politischer Gruppierungen und vieler Politiker gemeint: In bedenklichem Ausmaß wird wieder und wieder gegen das für Grice so fundamentale Prinzip der Kooperativität verstoßen. Erinnert sei an vor einem Millionenpublikum gebrochene Schwüre und Ehrenworte (Zimmermann, Barschei, Schnur) oder an die dreisten Regierungsverlautbarungen zu den Kosten der Einheit und zur Frage der Steuererhöhungen vor der letzten Bundestagswahl. Wo Wahrhaftigkeitsdelikte in einer genuin auf Kommunikation gegründeten parlamentarischen Verfassung als Kavaliersdelikte gehandelt werden, wo Phrasen in Politik und Öffentlichkeit das Relevanzprinzip aushöhlen, wo Information in spektakuläre, erfolgs- und gewinnträchtige Unterhaltung gewendet wird, sind Merkmale des demokratischen, des freilassenden Diskurses, wie er als Zielidee oben skizziert wurde, empfindlich bedroht. 8. Schließlich stellt sich die Frage, in welchem institutioneilen Rahmen eine Theorie der kommunikativen Ethik verhandelt werden sollte und in welcher Form ihre Bewertungen und die daraus abzuleitenden Empfehlungen umgesetzt werden sollen. Denn auch solche Theorien sind zeit- und gruppenrelativ und sie wären daher bei staatlichen, womöglich zentralistisch organisierten Institutionen sicherlich in der falschen Hand. Pluralismus im Bereich sprachbewertender Institutionen ist noch am ehesten ein Schutz davor, daß einzelne Interessengruppen zu starken Einfluß auf den Sprachgebrauch ausüben können. Nur so kann <?page no="35"?> Sprachbewertung - Wozu? 25 auch im Bereich der Regeln und der Normen deren genuin konventioneller Charakter erhalten werden. Sprachbewertung ist immer ein interdisziplinäres Projekt und kann nicht von Sprachwissenschaftlern allein geleistet werden, auch wenn die Prinzipien einer kommunikativen Ethik direkt aus dem Kommunikationsprozeß selbst abgeleitet worden sind. Kommunikationswandel ist nicht abtrennbar vom gesellschaftlichen Wandel. Im Grunde müßten Lehrveranstaltungen etwa zum Medienrecht oder zur Entwicklung neuerer Medientechnologien bereits heute zu Pflichtveranstaltungen in jedem sprach- oder kommunikationsorientierten Studiengang gehören. Ich habe versucht zu zeigen, wozu im positiven Fall Sprachbewertungen dienen können: Sie können die soziale Identität der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft fördern, indem sie einerseits die Konstitution und Verfeinerung von Regeln und Konventionen der Verständigung fördern. Sie stehen so im Dienst des Aufbaus kommunikativer Kompetenz der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft. Sprachbewertungen erhalten andererseits ein kommunikatives Milieu, in dem der Erwerb kommunikativer Kompetenz möglich ist. Sie begünstigen ein freilassendes und kooperatives Gesprächsklima und bewahren sprachimmanente Freiheitsmerkmale. Sie verteidigen eine Gesprächswelt, in der sich eine nichtdeterminierte Reflexivität, persönliche Identität und menschliche Erkenntnistätigkeit frei entfalten können. 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Dieser „konsultative” Modus wird zwischen der schulischen und massenmedialen Sprachkultivierung lokalisiert. Für die Bewertung von Sprachberatung sind vorrangig die Interessen der Ratsuchenden einerseits und der Beratenden andererseits von Bedeutung. Als Materialgrundlage, um zu Feststellungen über diese Interessen zu kommen, ist man allerdings einseitig auf Materialien der Sprachberatungsinstanzen angewiesen. Für die Bewertung von Sprachberatung ist das seitens der Berater vorgegebene Sprachpflegeziel, z.B. „Schärfung des sprachkritischen Vermögens des Sprachbenutzers”, wichtig. Die von Sprachberatern/ innen selbst formulierten Anforderungen an die Sprachberatung offenbaren ein Dilemma: Die dem wissenschaftlichen Selbstverständnis verpflichtete Auffassung, bestehende Sprachnormen nicht festzuschreiben, steht dem massiven Bedürfnis der Ratsuchenden nach normativer Klärung entgegen. Die Überlegungen werden in dem Versuch einer Kriteriologie der Bewertung von Sprachpflege gebündelt. 0. Einleitung Die Aufgabe meines Beitrags zu diesem Kolloquium sehe ich darin, über Kriterien zu reflektieren, nach denen Sprachberatungshandlungen bewertet werden können. Als Theoretiker, der seine Informationen über die Praxis der Sprachberatung hauptsächlich aus den Erfahrungsberichten der Sprachberater bezieht, will ich in erster Linie die Frage aufwerfen, wie wir überhaupt zu solchen Bewertungskriterien kommen können. Grundlegend scheint mir hierzu eine Positionsbestimmung der Sprachberatung zu sein. In welchem allgemeineren linguistischen Konzept findet die Sprachberatung welchen Platz? Ich gehe davon aus, daß das allgemeinere Konzept das der Sprachpflege bzw. der Sprachkultivierung ist und daß innerhalb dieses Konzepts Sprachberatung definiert werden kann. Am Prozeß der Sprachberatung sind einerseits die Ratsuchenden, andererseits die Beratenden beteiligt: mir scheint für eine Bewertungskriteriologie wichtig zu sein, wer die Ratsuchenden sind und besonders welche Interessen sie verfolgen. Nicht weniger wichtig ist es, umgekehrt nach den Beratenden zu fragen, insbesondere danach, welche Ziele Sprachberatung nach ihrer Auffassung verfolgen sollte. Da ich wie gesagt meine Informationen aus der Sekundärliteratur über die Sprachberatung beziehe, sind meine Feststellungen besonders zu den <?page no="39"?> Kriterien für die Bewertung von Sprachberatung 29 Ratsuchenden alles andere als repräsentativ, im Gegenteil: Die Aussagen über Ratsuchende und ihre Interessen stammen aus der Feder der Beratenden. Dessen sollten wir uns bewußt sein. Andererseits können wir diesbezüglichen Feststellungen mehr Vertrauen entgegenbringen, wenn sie sich in den Berichten verschiedener Sprachberatungsinstitutionen wiederholen. 1. Sprachberatung und Sprachpflege (Sprachkultivierung) Im Unterschied zu Auffassungen, daß Sprachpflege als Anachronismus konzeptionell und terminologisch durch Sprachberatung zu ersetzen sei (vgl. Kolde 1980, S. 97f.; Greule 1992a, S. 169), bin ich der Auffassung, daß wir mit Sprachpflege bzw. Sprachkultivierung über einen geeigneten Sammelbegriff verfügen, unter dem alle Aktivitäten innerhalb einer Sprachgemeinschaft zur Förderung der Standardsprache zusammengefaßt werden können. Ich lehne mich damit an die Sprachkultur-Theorie der Prager linguistischen Schule an, die Sprachkultur und Sprachkultivierung auf die Standardsprache bezieht (Greule 1992a, S. 173f.). Sprachpflege wird in der modernen deutschen Sprachgemeinschaft im wesentlichen auf folgenden Wegen betrieben: Erstens massenmedial, wobei ich vor allen Dingen an das Buch-Medium, genauer an Sprachratgeber, Stillehren, Wörterbücher, Grammatiken, aber auch an Sprachglossen u.ä. denke. Zweitens konsultativ, worüber gleich mehr zu sagen sein wird. Und drittens unterrichtsmäßig, d.h. in einer der verschiedenen Schularten, die es heute gibt, bis hin zur Volkshochschule (vgl. Greule/ Ahlvers-Liebel 1986, S. 61-72). Die einzelnen Sprachpflegearten lassen sich genauer gegenseitig abgrenzen durch die jeweils unterschiedliche kommunikative Konstellation, innerhalb deren sich die Sprachpflege abspielt. Im Unterschied zur schulischen (unterrichtsmäßigen) Sprachpflege, die wesentlich durch eine faceto-face-Kommunikation zwischen Lehrer und Schülern gekennzeichnet ist, und im Unterschied zur Massenkommunikation, deren Besonderheit in größtmöglicher Anonymität besteht, kommt der konsultativen Sprachpflege bzw. der Sprachberatung eine Mittelstellung zu, und zwar aus folgenden Gründen: Sprachberatung setzt voraus, daß es eine oder mehrere Institutionen gibt, die auf Anfrage zu gezielten Sprachauskünften bereit sind. Es gibt hier also keine für eine anonyme Masse via Massenmedium fabrizierten Sprachauskünfte, sondern diese erfolgen ad personam mit Bezug auf ein konkretes Problem oder einen konkreten Text. Auf der anderen Seite bleibt, wenn nicht gerade die Anonymität bei den Ratsuchenden, so doch eine Distanz, die im Unterricht nicht gegeben ist, gewahrt. Zwar ist eine face-to-face-Sprachberatung denkbar, aber der Normalfall ist, daß sich die Ratsuchenden eines Mediums, entweder des Briefs oder des Telefons, bedienen. <?page no="40"?> 30 Albrecht Greule Auch unter dem Aspekt der Sprachpflege-Intensität nimmt die Sprachberatung unter den Sprachpflege-Modi eine mittlere Stellung ein. Ich gehe davon aus, daß die Intensität der Sprachpflege im Hinblick auf das weiter unten zu behandelnde Sprachpflege-Ziel von der massenmedialen über die konsultative zur unterrichtsmäßigen hin zunimmt. Allerdings trifft die These von der zubzw. abnehmenden Intensität auch auf die beiden Hauptarten der Sprachberatung zu, und zwar in der Weise, daß die briefliche Beratung, bedingt durch das Medium, intensiver und ausführlicher sein dürfte als die fernmündliche. Dies bestätigt indirekt Gesa Siebert-Ott, wenn sie die Überlegung anstellt, didaktisierte Materialblätter „ratsuchenden Anrufern auf Wunsch zu überlassen (...), wenn die Komplexität der Fragestellung sich in der mündlichen Beratung nicht zufriedenstellend erfassen läßt.” (Siebert-Ott 1990, S. 84). Der Kommunikationsmodus der schriftlichen wie fernmündlichen Sprachberatung verläuft nach folgendem einfachen Schema: auf eine telefonische oder briefliche Sprachanfrage erfolgt entweder unmittelbar mündlich oder zeitversetzt schriftlich die Antwort des/ der Sprachberater/ in. Rückmeldungen, etwa dergestalt, daß es zu einer Korrespondenz zwischen Ratsuchendem und Sprachberater zu einer Problemstellung käme, sind atypisch (vgl. Pflug u.a. 1986, S. 69). Die Fragen wurden bislang mehrfach klassifiziert: Gottfried Kolde untergliederte die schriftlichen Sprachanfragen an die GfdS nach Fragetypen grob in W-Fragen, durch die die Ratsuchenden um eine Sachinformation bitten, und in Entscheidungsfragen, mit denen um die Bewertung mehrerer Formulierungen gebeten wird (Kolde 1976, S. 31-34; Kolde 1980, S. 99). Die Handlungsmuster der beim Sprachservice-Telefon Anrufenden sind nach Steffen Höhne die Suchfrage mit den Subtypen Vergewisserungs- und Entscheidungsfrage bei „faktischem Nichtwissen”, die Sprachgehrauchsfrage bei Fragen zum Stil, zur Wortbildung oder zum Fremdwortgebrauch und schließlich die Regelfrage bei metasprachlichen Anfragen zur grammatischen Regelanwendung oder -auslegung (Höhne 1991b, S. 299). Die deutschen Sprachberatungsinstitutionen brauche ich in diesem Kreis nicht aufzuzählen und zu beschreiben. Im Auge habe ich die Sprachberatungsstelle der Dudenredaktion (vgl. Scholze-Stubenrecht 1991), den Sprachberatungsdienst der GfdS (Förster 1972, Pflug u.a. 1986, S. 69f., Förster 1989), das „grammatische telefon” (Jäger/ Stetter/ Pfeiffer 1983, Stetter/ Becker 1987, Stetter 1988) und das Sprachservice-Telefon (Höhne 1990). Alle diese Institutionen betreiben mit unterschiedlicher Gewichtung sowohl telefonische als auch briefliche Sprachberatung. Durch den Abdruck von ausgewählten Anfragen und Antworten ist die (schriftliche) Sprachberatung der GfdS am besten dokumentiert (vgl. Kolde 1976, Kolde 1980). <?page no="41"?> Kriterien für die Bewertung von Sprachberatung 31 2. Die Ratsuchenden und ihre Interessen Wie bereits gesagt, sind wir bei der Feststellung, aus welcher Motivation heraus und mit welchen Erwartungen die Ratsuchenden eine Sprachberatungsinstanz konsultieren, bislang auf die Mitteilungen der Sprachberatungsinstanzen selbst angewiesen. Wie Gottfried Kolde, der schon 1976 vermutete, daß „viele Anfragen (...) Sprachverwendungssituationen des Berufslebens entstammen” (Kolde 1976, S. 35), konstatiert auch Steffen Höhne, daß die Fragen an das Sprachservice-Telefon „zum größten Teil aus beruflich motivierten sprachkommunikativen Problemen (resultieren); Anfragen aus privatem Interesse sind sehr selten” (Höhne 1991a, S. 194). Nimmt man die verschiedenen Angaben zu den Berufsfeldern, denen die Anfragenden zugehören, zusammen (vgl. Jäger/ Stetter/ Pfeiffer 1983, S. 96), dann ergibt sich ein relativ weites Spektrum: An der Spitze steht mit Abstand das Arbeitsfeld „Sekretariat”, worunter Büro und Verwaltung fallen, mit den Schwierigkeiten bei der Umformung von mündlicher in schriftliche Kommunikation. Es folgen der Bereich Schule/ Deutschunterricht mit Eltern, Lehrern und Schülern; dann der Bereich Industrie und technische Arbeitswelt, letztere mit fachsprachlichen Problemen; dann der Bereich Rechtswesen mit Rechtsanwälten bzw. in Rechtsstreitigkeiten verwickelten Personen; dann Werbeagenturen und Presse. Das Berufsfelderspektrum, das sich uns hier bietet, ist das der sogenannten sprachintensiven Berufe. Das heißt, daß ein großer Teil der Ratsuchenden „zu einem im Umgang mit Sprache und der Produktion von Texten erfahrenen Personenkreis” gehört (Siebert-Ott 1990, S. 15). Von daher erklärt es sich wohl, daß die Sprachberater/ innen bei den Anfragenden das Vorhandensein eines zwar guten grammatischen Erfahrungswissens, aber geringer Kenntnisse in der grammatischen Regelung bzw. Terminologie feststellen. Weiter erklärt sich vor diesem Hintergrund die Erfahrung, daß die Anfragenden mit „Eigenleistungen”, wie Gottfried Kolde sagt (Kolde 1976, S. 36), zur Sprachberatung kommen. Steffen Höhne sieht die Sprachberatung in eine Schiedsrichterrolle versetzt, weil vor dem Anruf beim Sprachservice-Telefon meist umfangreiche Diskussionen über den korrekten Regelgebrauch stattfanden. Zu den „Eigenleistungen” gehört besonders, daß die Anfragenden in einer Sprachschwierigkeit oder Sprachunsicherheit sich in entsprechenden gängigen Nachschlagewerken zu orientieren versuchten, von diesen aber im Stich gelassen wurden. Zur Erklärung dieses Phänomens wird ins Feld geführt, daß die Benutzung der Nachschlagewerke eine „Applikationskompetenz” voraussetzt, über die die meisten Sprecher/ Schreiber nicht verfügen (Jäger/ Stetter/ Pfeiffer 1983, S. 100), oder anders formuliert: Die in den einschlägigen Nachschlagewerken kodifizierten Sprachnormen sind für den durchschnittlichen Sprecher/ Schreiber nicht <?page no="42"?> 32 Albrecht Grtule nachvollziehbar; man denke etwa an die über das Nachschlagen einzelner Wörter hinausgehende Benutzung des Orthographie-Dudens (vgl. Siebert- Ott 1990, S. 15). Am Rande sei nochmals auf den Unterschied zwischen brieflicher und telefonischer Sprachanfrage eingegangen. Es ist festzuhalten, daß, wer brieflich Rat sucht, über eine gewisse schriftsprachliche Sicherheit verfügt und sich die Zeit zur schriftlichen Formulierung nehmen konnte und ein Stück mehr aus der Anonymität heraustritt als der Anrufer (vgl. Kolde 1976, S. 24; Höhne 1991b, S. 317). Das Beleuchten dieser Hintergründe scheint mir wichtig, um zu verstehen, woher das „Bedürfnis nach eindeutiger, d.h. normativer Klärung der sprachlichen Zweifelsfälle” durch die Sprachberatung kommt (Höhne 1990, S. 86). In Anbetracht einer Diskrepanz zwischen einem tatsächlich bestehenden Orientierungsbedarf bei Sprachproblemen und den bestehenden Orientierungsmöglichkeiten füllen die Sprachberatungsinstitutionen nach Jäger, Stetter und Pfeiffer (1983, S. 100f.) eine „Normativitätslücke” aus. Bei den meisten Anrufern mit ihrem starren Normverständnis stoßen daher Hinweise auf sich wandelnden und schwankenden Sprachgebrauch statt eindeutiger Entscheidungen im Problemfall seitens der Sprachberatung auf wenig Gegenliebe, auch wenn die Sprachberater/ innen zurecht betonen, daß sie die Erwartungshaltung vieler Ratsuchender gegenüber dem Leistungsvermögen sprachlicher Normen nicht einlösen können (Höhne 1991a, S. 195). 3. Das Sprachpflegeziel Sprachberatung ist wie wir eingangs festgelegt haben eine Aktivität im Rahmen von Sprachpflege bzw. Sprachkultivierung. Sofern es allgemeine Ziele der Sprachpflege gibt, müßte sich die Sprachberatungsauskunft auch daran messen lassen, ob sie entsprechend ihrer Besonderheiten dieses Ziel erfüllt. Ich will nicht behaupten, daß allgemeiner Konsens über das Sprachpflegeziel bestünde; es zeichnet sich aber doch eine deutlich konvergierende Tendenz in der Diskussion ab. Die Richtung, in die sich die Diskussion über das Sprachpflegeziel seit etwa der Mitte der achtziger Jahre bewegt, wird am besten durch den Aufsatztitel von Rainer Wimmer „Sprachkultivierung durch Sprachkritik” (Wimmer 1984) charakterisiert. Ohne die Entwicklung der Gedanken hier im einzelnen zu verfolgen (vgl. Greule 1986, S. 207; Greule 1992a), kann heute folgendes festgehalten werden: Als das oberste Ziel der Sprachpflege wird nicht (mehr) die Zementierung der Normen gesehen, sondern vielmehr die Sprachkritikfähigkeit und Sprachkritikbereitschaft möglichst vieler Sprecher/ Schreiber(innen) sowohl sich selbst als auch dem Kommunikationspartner gegenüber. Der zur Sprachkritik fähige Sprecher/ Hörer ist allerdings ein Globalbzw. Idealziel, dem mindestens <?page no="43"?> Kriterien für die Bewertung von Sprachberatung 33 zwei Teilziele zugeordnet bzw. vorgeordnet sind: 1. die Sprach- und Schriftkultur, d.h. Kenntnis und Anwendung der standardsprachlichen Normen, und 2. die Fähigkeit, situationsadäquat sprachlich zu kommunizieren. Daß sich auch die Sprachkultur-Forschung in der ehemaligen DDR, der wir wichtige Beiträge zur Präzisierung von Sprachkultur, dem Ziel von Sprachkultivierung bzw. Sprachpflege, verdanken, letztlich auf den zur Sprachkritik fähigen Sprecher/ Hörer als Sprachpflegeziel zubewegte, entnehme ich einer Äußerung von Ulla Fix von 1987. Sie schreibt, daß „mindestens ein Teil des sprachpflegerischen Handelns im Bewußtmachen und Vermitteln von Werten und Wertmaßstäben sowie in der Befähigung zum Bewerten eigener und fremder sprachlicher Äußerungen besteht” (Fix 1987, S. 60). Das Globalziel der Sprachpflege, der seinem eigenen Sprachgebrauch und dem anderer kritisch gegenüberstehende Sprecher/ Hörer, ist durchaus auch Teil der Überlegungen, die die Sprachberater/ innen selbst zum Ziel ihrer Arbeit anstellen. Das wird aus der Bemerkung von Gesa Siebert-Ott deutlich, wenn sie Sprachberatung mit der Schärfung des „sprachkritischen Vermögens des Sprachbenutzers” in Verbindung bringt (Siebert-Ott 1990, S. 21). Überhaupt ist für unser Anliegen wichtig zu wissen, welche Anforderungen die Sprachberatung aus der Sicht der Beratenden selbst erfüllen soll. 4. Anforderungen an die Sprachberatung aus der Sicht der Beratungsinstitutionen Klare Ziele der Sprachberatung formuliert nach dreijähriger Beratungstätigkeit beim Sprachservice-Telefon - Steffen Höhne. Er fordert, daß die Sprachberatung je nach Kommunikationssituation nicht nur reagiert, sondern auch agiert, indem sie über die Regelexplikation und die Regelkritik hinausgeht und die Verbesserung der kommunikativen Fähigkeiten, d.h. „die Erziehung der Sprachteilhaber zur Nutzung der sprachlichen Ausdrucksformen” anstrebt (Höhne 1991a, S. 212). Mehr ethisch geprägt ist die Vorstellung Uwe Försters vom Ziel der Sprachberatung. Es besteht darin, daß „im sprachlichen Miteinander der Menschen Vorurteile und kleinliche Besserwisserei den begründbaren Einsichten weichen” (Pflug u.a. 1986, S. 70). Vor diesem Hintergrund erheben die Sprachberater/ innen selbst folgende grundsätzliche Anforderungen an Sprachberatung: 1. Sie muß sich an den tatsächlichen sprachlichen Gegebenheiten orientieren (Siebert-Ott 1990, 5. 14 und S. 18ff.; vgl. auch Höhne 1991a, S. 195) - 2. Sie muß wissenschaftlich fundiert sein (Siebert-Ott 1990, S. 14 und S. 15ff.; vgl. auch Höhne 1991a, S. 195; Kolde 1980, S. 99f.; Stetter 1988, S. 552) - 3. Sie muß adressatenorientiert arbeiten (Siebert-Ott 1990, S. 14 und 20ff.) oder <?page no="44"?> 34 Albrecht Greule anders formuliert sie muß strikt die kommunikative Situation (Adressatenspezifik, Kommunikationsziele, -art usw.) beachten (Höhne 1991a, S. 195). Diese in erster Linie selbstreflexiven Forderungen implizieren eine bestimmte Methodik der Sprachberatung und entwerfen zugleich ein bestimmtes Berufsbild. Das heute sicherlich unbestrittene Postulat der wissenschaftlichen Fundierung der professionellen, institutioneilen Sprachberatung erfordert hier ausgebildete germanistische Linguisten ebenso wie die methodische Prämisse einer Orientierung an den sprachlichen Gegebenheiten. Denn um Aufschlüsse über die Sprachrealität und eventuellen Sprachnormwandel zu bekommen, ist die wissenschaftliche Erfassung und Bearbeitung empirischer Daten (vgl. Höhne 1991a, S. 195) und ihre Umsetzung in ein wissenschaftlich-didaktisches Gesamtkonzept (Höhne 1991a, S. 212) vonnöten. Hier liegt der Grund für das Dilemma des Sprachberaters. Sein wissenschaftliches Selbstverständnis verlangt, daß er sich nicht an der Festschreibung bestehender Sprachnormen beteiligt (Höhne 1991a, S. 196). Er soll aber wie wir gehört haben adressatenorientiert arbeiten. Dieses Postulat konfrontiert ihn wie wir ebenfalls schon wissen mit dem ausgeprägten Bedürfnis der Ratsuchenden nach normativer Klärung ihrer Fragen, und der/ die Berater/ in ist sich auch dessen bewußt, daß der „Verzicht auf die Vermittlung ausreichender standardsprachlicher Kompetenz zugleich den Verzicht auf ein bestimmtes Maß an beruflicher und gesellschaftlicher Handlungskompetenz beinhaltet” (Siebert-Ott 1990, S. 13). Ob die Vorstellungen der Sprachberater/ innen, wie aus diesem Dilemma herauszukommen ist, in der Praxis der einzelnen Beratung, insbesondere im Fall der telefonischen Beratung, immer in die Tat umgesetzt werden können, darf bezweifelt werden. Demnach soll die Sprachberatung als normsetzende Instanz möglichst zurücktreten (Siebert-Ott 1990, S. 67; Höhne 1991a, S. 201) und kodifizierte, präskriptive Normen nicht unhinterfragt übernehmen (Höhne 1991a, S. 201). „Sprachnormdiachronie” ist für Steffen Höhne der entscheidende Ansatzpunkt der Beratungstätigkeit. (Höhne 1991a, S. 203). Der sprachlichen Heterogenität ist dabei immer Rechnung zu tragen (Höhne 1990, S. 86). Und Gottfried Kolde rät angesichts dieser schwierigen Gratwanderung zu weitestgehender sprachlicher Toleranz (Kolde 1980, S. 107), was darin zum Ausdruck kommt, daß auf Entscheidungen wie „richtig” oder „falsch” möglichst verzichtet wird zugunsten von Empfehlungen wie „gebräuchlich”, „weniger gebräuchlich” oder „möglich” (Siebert-Ott 1990, S. 67; Höhne 1991a, S. 198). Dem Ziel der Verbesserung der kommunikativen Fähigkeiten der einzelnen Ratsuchenden wollen die Beratenden schließlich nach dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe” näher kommen. Die Beratung soll grundsätzlich so er- <?page no="45"?> Kriterien für die Bewertung von Sprachberatung 35 folgen, daß sie der sprachlichen Kreativität der Ratsuchenden Spielräume eröffnet (vgl. Siebert-Ott 1990, S. 67). Antworten auf ein konkretes Einzelproblem sollen so gegeben bzw. begründet werden, daß die Ratsuchenden auf systematische Zusammenhänge schließen und die Problemlösung auf künftige analoge Zweifelsfälle anwenden können (Siebert-Ott 1990, S. 12 und S. 17). 5. Vermutungen zu Bewertungskriterien Nach den eben gemachten Beobachtungen scheint die Vermutung nicht zu kühn, daß sich die Bewertungskriterien für die Sprachberatung aus vier Richtungen rekrutieren: 1. Die Kriterien müssen sich an der Festlegung orientieren, daß Sprachberatung eine Ausprägung der Sprachpflege (Sprachkultivierung) ist. - 2. Die Kriterien müssen den bzw. die spezifischen Kommunikationsmodi der Sprachberatung via Telefon oder Brief berücksichtigen. - 3. In die Kriteriologie muß die Ausgangs- und Interessenlage der Ratsuchenden einbezogen werden. - 4. Die Kriterien betreffen die Beratungsinstitution, das Selbstverständnis der Beratenden sowie Ziele und Methoden der Beratung. Aus dem Zusammenwirken dieser vier Kriterienblöcke, die allerdings noch gewichtet werden müssen, kann ein vorläufiger, noch offener Fragenkatalog erstellt werden, dem die jeweilige konkrete Sprachauskunft zu unterwerfen wäre. Den ersten Rang würde ich den Fragen einräumen, die sich aus der Dimension der Ratsuchenden ergeben. Es könnte sich dabei um Fragen handeln wie: Berücksichtigt die Auskunft das Berufsfeld, aus dem der Ratsuchende kommt? Wie wird die Normgläubigkeit befriedigt? usw. - An zweiter Stelle müßten die Fragen folgen, die die Beratungsinstitution betreffen, etwa: Ist die Auskunft sprachwissenschaftlich fundiert? Orientiert sie sich an den tatsächlichen sprachlichen Gegebenheiten? Wird die Problemlösung so gegeben, daß sie der Ratsuchende auf künftige analoge Zweifelsfälle anwenden kann? Eröffnet die Auskunft der sprachlichen Kreativität der Ratsuchenden Spielräume? Wie bringt die Auskunft das Bedürfnis nach normativer Klärung des Problemfalls und das normdistanzierte Selbstverständnis der Sprachberater/ innen in Einklang usw. - Hier schließt direkt die sich aus der Zugehörigkeit der Sprachberatung zur Sprachpflege ergebende Frage an, ob die jeweilige Auskunft dem Globalziel der Sprachpflege, dem sprachkritischen Sprecher/ Hörer, entspricht oder nicht. - Schließlich ist die Gesamteinschätzung einer Sprachauskunft nicht unabhängig von dem durch den Ratsuchenden gewählten Medium. Die entsprechende Frage müßte also lauten: Wird die Auskunft den spezifischen Gegebenheiten des Beratungsmediums gerecht? Es ist mir klar, daß dieser angedeutete Fragenkatalog durch die Analyse konkreter Auskünfte präzisiert werden und dann seine Aussagekraft für die Bewertung der Sprachberatungstätigkeit erst noch unter Beweis <?page no="46"?> 36 Albrecht Greule stellen muß. Dies kann ich mir hier allerdings nicht mehr leisten, zumal wir zwar über Analysen von schriftlichen Auskünften verfügen, Protokolle über den Verlauf telefonischer Sprachberatung mir jedoch nicht bekannt sind. (Siehe jetzt aber den „Sprachdienst” 36, 1992, mit der Sparte „Telefon 0611/ 520031”.) Literatur Fix, Ulla: Sprachpflege als Sprachkulturelle Praxis und ihr Verhältnis zum Sprachästhetischen. Anmerkungen zu einer theoretischen Voraussetzung sprachkultureller Aktivitäten. In: Techtmeier, Bärbel (Hg.): Theoretische und praktische Fragen der Sprachkultur (Linguistische Studien, A 170). Berlin 1987, S. 60-78. Förster, Uwe: Der Sprachberatungsdienst. In: Der Sprachdienst 16, 1972, S. 2-13. Förster, Uwe: Praktische Sprachpflege. Ein Sprachberater gibt Auskunft. In: Der Sprachdienst 33, 1989, S. 105-115. Greule, Albrecht: Besseres Deutsch größere Chancen. Die Sprachförderung Erwachsener als Aufgabe der Germanistik. In: Muttersprache 96, 1986, S. 202-214. 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Jäger, Ludwig/ Stetter, Christian/ Pfeiffer, Michael: Das Aachener grammatische telefon. Ein erfahrungsbericht. In: Deutschuntericht 35, 1983, Heft 4, S. 93-103. Kolde, Gottfried: Sprachberatung: Motive und Interessen der Fragesteller. In: Muttersprache 86, 1976, S. 20-47. Kolde, Gottfried: Sprachpflege als angewandte Sprachwissenschaft. In: Der Sprachdienst 24, 1980, S. 97-107. Pflug, Günther, u.a.: Die Gesellschaft für deutsche Sprache. In: Der Sprachdienst 30, 1986, S. 65-77. Scholze-Stubenrecht, Werner: Die Sprachberatungsstelle der Dudenredaktion. In: Deutsche Sprache 19, 1991, S. 178-182. Siebert-Ott, Gesa: Überlegungen zum Verhältnis von Sprachberatung - Sprachforderung - Sprachunterricht am Beispiel von Kongruenzphänomenen (Kölner Linguistische Arbeiten Germanistik, Nr.22). Köln 1990. Stetter, Christian: Sieben Jahre Grammatisches Telefon. Erfahrungen. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 14, 1988, S. 549-554. Stetter, Christian/ Becker, Thomas: Sechs Jahre Grammatisches Telefon. Erfahrungen. In: Sprachreport 2/ 1987, S. 12f. Wimmer, Rainer: Sprachkultivierung durch Sprachkritik: ein Plädoyer für reflektierten Sprachgebrauch. In: Mitteilungen (des Instituts für deutsche Sprache, Mannheim) 10, 1984, S. 7-25. <?page no="47"?> CHRISTIAN STETTER Zu den normativen Grundlagen der Sprachberatung Sind Sie wirklich lebendig oder nur ein ziemlich lebensechter Automat? Abstract Nach einer Reflexion dessen, was es allgemein und für Sprachberatung im besonderen heißt, einen Rat zu geben, wird anhand von Beispielen des Aachener Grammatischen Telefons gezeigt, welche Kategorien von Anfragen von normativen Erwartungen geleitet sind, aufgrund derer sich die entsprechende Art von Beratung wesentlich vom „guten Rat” in kritischen Lebenssituationen unterscheidet. Da sich Rat wie Beratung an akzeptablen Kriterien orientieren müssen, setzt Sprachberatungspraxis Grundsatzentscheidungen voraus, wie man sie betreiben will. Es wird zwischen einem normativen und einem Empfehlungsmodell der Sprachberatung unterschieden. Am Beispiel verschiedener Orthographieauffassungen wird diskutiert, ob eine variantenfreie Regelung überhaupt möglich und wünschenswert ist. Wenn Schrift und Schriftkompetenz nicht als kollektive, sondern als distributive Allgemeine verstanden werden, ergibt sich die Forderung, daß der Begriff des Idiolekts auch im Bereich der Schrift- und Orthographiediskussion Anerkennung finden müßte, zumal dies unabdingbar ist für ein zureichendes Verständnis der in jeder Form von Sprach- und Schriftberatung implizierten Normierungsproblematik . Jemandem zu etwas raten heißt, ihn zu überzeugen versuchen, daß es richtig und für ihn nützlich sei, etwas bestimmtes zu tun oder zu lassen. Der Rat kann gut oder schlecht sein, doch ist er schlecht, so haben wir uns in der Regel dafür zu entschuldigen. Dies kommt vor, denn wir raten aus einer begrenzten Erkenntnis heraus. Der Mathematiker rät dem Anfänger nicht, die Lösung so oder so anzugehen, er zeigt ihm, wie es geht, weil er es weiß, d. h. die Lösung beweisen kann. Wir raten also besten Wissens, ohne doch die Verantwortung für das, was aus dem Rat folgt, übernehmen zu wollen. 1 Dies ist geradezu Bedingung dafür, daß wir den Rat auf uns nehmen. Derjenige, dem wir raten, steht uns als der, dem der Rat gilt, autonom gegenüber. Wo der Lehrer dem Schüler rät, behandelt er ihn nicht als Schüler, handelt hier somit gerade nicht als Lehrer. Als solcher nämlich unterweist er ihn, korrigiert ihn, lobt, straft usw. und der Schüler hat dies zu akzeptieren. Das gehört zu den Spielregeln. Das Wort „Beratung” legt demgegenüber in der Regel den Gedanken an eine Institution, eine 1 Sich entschuldigen heißt nach Austin, zugeben, daß das, was wir getan haben, schlecht war, die Verantwortung dafür jedoch nicht zu übernehmen. Vgl. Austin 1985, S. 8f. <?page no="48"?> 38 Christian Sieiier Behörde o.ä. nahe. Man spricht von Berufsberatung, Verbraucherberatung, Eheberatung, und man erhält dort von mehr oder weniger kompetentem Personal Empfehlungen, sich aus einer Menge von Alternativen eine oder mehrere für einen persönlich sinvolle auszusuchen. Zur Empfehlung gehört, daß sie etwas nahelegt, nicht aber vorschreibt, daß also der Beratene die letztendliche Entscheidung selbst trifft, welche Alternative, ja ob er überhaupt eine wählt. Freilich kann, wie der Vergleich von Gesundheitsberatung, Berufsberatung oder Verbraucherberatung zeigt, die Empfehlung je nach Bereich und je nach Kompetenz des Beraters mehr oder weniger dringlich sein. Was der Arzt demjenigen rät, der eine Aidsberatungsstelle aufsucht, dürfte mehr Gewicht haben als die Empfehlung, sich für diesen oder jenen Typ von Kühlschrank zu entscheiden. Thema dieses Bandes ist, wie im Vergleich dazu das zu deuten ist, für das sich in den letzten Jahren das Wort „Sprachberatung” eingebürgert hat. Sie wird von der Duden-Redaktion, von der Gesellschaft für deutsche Sprache oder vom Grammatischen Telefon angeboten, und es ist bekannt und belegbar, daß die Praxis dessen, was unter demselben Wort ausgeübt wird, weit auseinandergeht. Insbesondere betrifft dies die Bereiche, in denen Beratung angeboten wird. Das Spektrum reicht von der Zeichensetzung und Orthographie über die Grammatik bis hin zur Textformulierung, d. h. Fragen von Logik und Stilistik. 2 Anfragen bei Sprachberatungeseinrichtungen wie Dudenredaktion oder Grammatisches Telefon lassen sich u.a. nach dem Kriterium unterscheiden, inwieweit die betreffende Anfrage motiviert ist durch berufliche oder private Interessen. Nach Berufsfeldern bzw. Lebensbereichen zu unterscheidende Fragetypen wären etwa Anfragen von (1) Sekretärinnen/ Sachbearbeiter/ innen, Behörden; (2) Rechtsanwälten hinsichtlich der Auslegung von Verträgen o. ä. Texten; (3) Eltern bezüglich Klassen- oder Hausarbeiten ihrer Kinder; (4) dilettierenden Sprachphilosophen. 3 Die Fragetypen nach (3) und (4) sind in der Regel nicht nur vom Interesse einer bestimmten Problemlösung geleitet. Gefragt ist hier häufig nicht nach dem Wie, sondern nach dem Warum. Warum kann man mit dem Partizip II „stillgewesen” nicht ebenso einen Imperativ bilden wie mit „stillgestanden”? Ist das in Parkhäusern angebrachte Hinweisschild 2 Vgl. hierzu Mackowiak und Steffen 1991. Von den verschiedenen Institutionen werden allerdings die genannten Bereiche in unterschiedlicher Weise abgedeckt. Die Dudenredaktion beschränkt sich m.W. im wesentlichen auf die Bereiche Orthographie, Grammatik (hier vor allem die Morphologie) und Wortsemantik, während die GfdS und das Grammatische Telefon diese Themen zwar auch als Schwerpunkte ihrer Beratungspraxis ausweisen, die Textformulierung jedoch als Regelbereich mit anbieten. 3 Vgl. Jäger, Pfeiffer und Stetter 1983. <?page no="49"?> Grundlagen der Sprachberatung 39 mit der Aufschrift „Frauenparkplatz” nicht diskriminierend, da es den Eindruck erwecken kann, hier sollten Frauen geparkt werden? Kann man statt „Studentensekretariat” auch das Wort „Studierendensekretariat” verwenden, um so die Studentinnen sprachlich nicht zu diskriminieren? Warum ist es nicht korrekt, wenn die Stadt *** in einer Zeitungsanzeige „Politessen und Politeure” sucht? Können Sie nicht dafür sorgen, daß das Wort „schwierig” aus der deutschen Standardsprache getilgt wird? Nennt man den Betreiber einer Baumschule wirklich „Baumschulist”, usw. Ähnliche Fälle: Es ruft/ rufen eine Reihe von Leuten an; Heidi, deine Welt ist/ sind die Berge; Zum neuen/ Neuen Jahr, Strauß hatte Peking im Auge ... 4 Hier handelt es sich um Fragen nach der grammatischen Analyse eines Ausdrucks, nach dem Sinn einer Regelung oder nach der Angemessenheit einer Metapher. Anfragen der Kategorien (1) und (2) dagegen sind zu einem nicht geringen Teil von normativen Erwartungen geleitet, die diese Art von Beratung vom guten Rat in kritischen Lebenssituationen auf charakteristische Weise unterscheidet. Viele Anrufer wollen nicht wissen, was man in der betreffenden Situation besser täte, sondern, wie es im betreffenden Fall „richtig heißt” bzw. wie man hier „richtig schreibt”. Paradigmatisch sind Fragen wie Heißt es wegen des oder wegen dem! Heißt es Er hat mir gewinkt oder gewunken! Heißt es Wir Deutsche oder Wir Deutschen! Schreibt man Zwei Zentner schwere Säcke oder Zwei zentnerschwere Säcke! Schreibt man Ideal zum Fahrenlernen / fahren lernen / Fahren lernen / fahrenlernen / Fahren-lernen / Fahren-Lernen in der Stadt! Setzt man in angetrunkene, insbesondere jugendliche Fans hinter jugendliche ein Komma? Wo setzt man die Kommas in Heißt echt zu lieben ewig zu dienen / Heißt echt lieben ewig dienen! usw. 4 Alles durch die Datensammlung des Grammatischen Telefons belegte Fälle. Jede Anfrage beim Grammatischen Telefon wird im Wortlaut protokolliert und nach einem bestimmten Kategorienschlüssel gespeichert. Zu den Beispielen: 1. Warum der Plural rufen trotz Kongruenz mit eine Reihe! 2. Woran erkennt man das grammatische Subjekt in diesem Satz (die Berge)! 3. Warum schreibt man trotz Duden hier Neuen meist groß? 4. Wie kann man eine so große Stadt „im Auge” haben die Frage eines notorischen Metaphernfeindes. <?page no="50"?> 40 Christian Stelier Solche Fragen präsupponieren die Existenz einer Norm, von der her sie abschließend „richtig” zu beantworten wären. Die klassischen Bereiche, in denen diese Normenunterstellung begegnet, sind Orthographie und Grammatik, und für das Deutsche ist diese Vorstellungsweise mit den Namen Adelung und insbesondere Duden verbunden. Dessen Design ist ganz und gar daraufhin angelegt, beim Publikum den Eindruck zu erwecken, er enthalte die für den Schriftgebrauch des Deutschen verbindlichen Normen. 5 Die Beratungspraxis der Dudenredaktion scheint soweit dies von außen erkennbar ist sich weitgehend darauf zu beschränken, die im betreffenden Fall zu wählende Schreibweise zu empfehlen, die im Duden verzeichnet ist, was einerseits verständlich, andererseits in gewissem Sinn tautologisch ist. 6 Doch wie unsere Eingangsüberlegungen zum Gebrauch der Wörter „Rat” und „Beratung” zeigten, müssen Rat wie Beratung sich an akzeptablen, zugänglichen Kriterien orientieren. Sofern das Wort „Sprachberatung” also überhaupt Handlungsweisen bezeichnet, die unter diese Begriffe fallen, setzt Sprachberatungspraxis je schon Grundsatzentscheidungen voraus, wie man sie betreiben will. Sprachberatung in der hier diskutierten Form wird nachgefragt. Diese Nachfrage hat einen Markt erzeugt, auf dem entsprechende Ware angeboten wird. Kommerzielle und nichtkommerzielle Beratung sind daher zu unterscheiden. Schon von daher kann man die Beratungspraxis der Dudenredaktion, die bei aller wissenschaftlicher Kompetenz doch Teil kommerzieller Sprachberatung bleibt als Abteilung des Marktführers, der ein Monopol zu verteidigen hat -, nicht mit der der Gesellschaft für deutsche Sprache oder des Grammatischen Telefons vergleichen, eines gemeinnützigen Vereins also bzw. einer Einrichtung eines germanistischen Instituts, bei denen das kommerzielle Interesse allenfalls wenn überhaupt an nachgeordneter Stelle rangiert. 5 Vgl. den Untertitel von Band 1: Maßgebend in allen Zweifelsfällen ein in der Verkürzung sinnentstellendes Zitat aus dem Beschluß der KMK vom 19.11.1955, durch den de facto die amtliche Regelung von 1902 durch den Duden ersetzt wurde, oder den Klappentext von Band 9: ... unentbehrlich für richtiges und gutes Deutsch. 6 In den schriftlichen Anfragen an das Grammatische Telefon haben wir wiederholt den Fall belegt, daß der bzw. die Anfragende, der sich mit einer Warum-Frage zunächst an die Duden-Redaktion gewandt hatte, von dieser ans Grammatische Telefon verwiesen worden ist. Dies scheint jedenfalls auf eine gewisse Art von „Arbeitsteilung” hinauszulaufen, die pragmatisch natürlich plausibel ist. <?page no="51"?> Grundlagen der Sprachberatung 41 In jedem Fall aber korrespondieren dem Handeln des Beratens Erwartungen, die befriedigt sein wollen. Für die Frage, wann dieses Handeln gelingt, gibt es vier logisch mögliche Antworten: (I) die Auskunft trifft die Erwartungen und befriedigt sie; (II) die Auskunft trifft die Erwartungen nicht, befriedigt sie dennoch; (III) die Auskunft trifft die Erwartungen, aber befriedigt sie nicht; (IV) die Auskunft trifft die Erwartungen nicht und befriedigt sie auch nicht (IV) beschreibt das Mißlingen der Beratung schlechthin, zwar nicht unbedingt gescheiterte Kommunikation, in jedem Fall aber gescheiterte Verständigung. Die Gründe dafür können unterschiedlicher Natur sein, entsprechend den jeweiligen Erwartungen. Ein Anrufer etwa dieser Fall ist mehrfach belegt moniert den Namen des Grammatischen Telefons: Dieses sei doch nicht grammatisch, und außerdem müsse es doch, wenn schon, dann „grammatikalisch” heißen. Antwortet man nun, der Ozean sei ja auch nicht indisch, Eigenschaftswörter würden also nicht immer dazu verwendet, eine Eigenschaft des Objekts zu beschreiben, das von dem Nomen bezeichnet wird, zu dem das Adjektiv Attribut ist, und „grammatikalisch” sei eine neulateinische Bildung gegenüber der alten, auf griechisch grammatikos zurückgehenden Form „grammatisch”, so kollidiert diese Antwort mit einem unbefragt als gültig vorausgesetzten Schulwissen und zudem mit einem Stückchen Bildungskapital. Sie hat keine Chance, akzeptiert zu werden. (I) ist hingegen der problemlose und darum auch uninteressante Fall: Ist die Form enteisent korrekt, die man auf dem Etikett von Mineralwasserflaschen findet? Die Antwort, daß dies die von einem fiktiven Infinitiv enteisen-en (= Eisen entziehen) regelmäßig abgeleitete Form des Partizips II sei wie ent-fern-t von ent-fern-en, wird akzeptiert, denn sie entspricht gängigem grammatischem Denken, aber zumindest der Anrufer lernt dabei auch nicht viel. Würde man thematisieren, daß ein Verb enteisenen im Deutschen offenbar nicht existiert, nur eben die eine Form enteisent, die man mithin als Analogiebildung betrachten muß also keine Regel zur Verfügung hat, von der her zu entscheiden wäre, ob die betreffende Bildung ’korrekt’ ist 7 -, so wäre das Risiko des Scheiterns dieser Beratung ungleich höher. Andererseits wäre hier auch die Chance höher, etwas über den Status grammatischer Begriffe zu lernen. 7 Die Analogie ist ein Wahrscheinlichkeitsschluß von einem Einzelfall A auf einen anderen Einzelfall B aufgrund einer Ähnlichkeit. Er kann mehr oder weniger „zwingend” sein, es charakterisiert ihn jedoch, daß man ihn nicht ziehen muß: Wer die türkische Küche liebt, wird wegen vieler Ähnlichkeiten sicher auch ein Lokal mit griechischer Küche besuchen. Es ist wahrscheinlich, daß ihm dessen Kost munden wird, sicher jedoch keineswegs. Die Funktion der Analogie ist die Erweiterung von Erkenntnis, nicht deren Kontrolle. <?page no="52"?> 42 Christian Stetter Die für ein Verständnis des Problems der Sprachberatung triftigen, lehrreichen Fälle sind also die Möglichkeiten (II) und (III). In letzterer liegt immerhin ein Anstoß, über bestimmte Erwartungen nachzudenken. Beispiel hierfür sei der Fall eines wie sich aus dem Briefwechsel ergab alten ehemaligen Lehrers, der lebenslang ein Verfechter der ’gemäßigten’ Kleinschreibung gewesen war 8 und sich aus einem mir nicht näher bekannten Anlaß mit der Bitte um Unterstützung für seine Position an mich gewandt hatte. 9 Ich antwortete ihm zustimmend in gemäßigter Kleinschreibung und erhielt eine Antwort mit dem in diesem Kontext nur rührend zu nennenden Eingeständnis des Empfängers meines Briefs, daß die Tatsache, in diesem nun die Norm, für die er sein Leben lang eingetreten war, nun einmal sinnlich vor Augen gehabt, also ästhetisch erfahren zu haben, seinen Enthusiasmus für diese doch ein wenig gedämpft habe. Der „fruchtbarste” Fall von Sprachberatung liegt zweifellos in (II) vor: Eine Auskunft befriedigt die Erwartungen des Fragenden, obwohl sie sie eigentlich nicht trifft. Für sich genommen ist dies ein Widerspruch. Erwartungen befriedigen impliziert semantisch, daß man sie trifft. 10 Akzeptiert ein Ratsuchender eine Auskunft gegen seine Erwartungen, d.h. gegen das, was er von seinem Vorwissen, seinen Einstellungen etc. her als Antwort für wahrscheinlich hielt, so heißt dies eben, daß die Auskunft aus welchen Gründen auch immer ihn zu einer Modifizierung dieser Erwartungen, anders gesprochen seines Fragehorizontes veranlaßt haben mußte. Hier findet also nicht Bestätigung, sondern Veränderung oder Erweiterung von Wissen oder von Einstellungen statt. Dies ist der kreative Moment im Sprachberatungsgeschäft keineswegs so selten, wie man denken sollte. Denn in ihm bringt die Urteilskraft der Fragenden sich zur Geltung. Eine der wichtigsten Einsichten aus der Beratungspraxis des Grammatischen Telefons lautet, daß das Großteil der Anfragenden aus professionellen Schreibenden - Sekretärinnen, Textern, Journalisten etc. besteht, aus Menschen also, deren Beruf konstitutiv den Gebrauch der Schrift impliziert und die daher in aller Regel über eine hohe orthographische Kompetenz verfügen. 11 Jede Sekretärin hat einen Duden auf ihrem Schreibtisch stehen. Daß Sekretärinnen die größte Gruppe unter den beim Grammatischen Telefon Anfragenden stellen, belegt daher eher eine hohe als eine geringe Vertrautheit mit dem geltenden System von Schriftnor- 8 Lehrer und Sprachdidaktiker sind bis heute die entschiedensten Verfechter der Substantivkleinschreibung. 9 Ein Fall aus dem Jahr 1982. Damals war ich selbst noch für die gemäßigte Kleinschreibung eingetreten und hatte diese Position in einer Reihe von Rundfunk- und Zeitungsinterviews verteidigt. Inzwischen bin ich allerdings über der Beschäftigung mit dem instruction-sense der Substantivschreibung von dieser Position wieder abgerückt. Zu den Gründen dieser „Konversion” vgl. Stetter 1989a. 10 Die Möglichkeiten (I) bis (IV) waren daher auch rein extensional beschrieben worden. 11 Vgl. Mackowiak und Steffen 1991 und Steffen 1993, S. 108ff. <?page no="53"?> Grundlagen der Sprachberatung 43 men. Eines der Hauptmotive dieser Anrufe sind Unverständlichkeit in der Regelformulierung des Duden oder Widersprüche zwischen Regelteil und Wörterbuch, d.h. zwischen intensionaler und extensionaler Regelung. Die grundsätzliche Alternative bei der Frage, wie sich Sprachberatung zu orientieren habe, lautet daher, ob als Abrichtung der Beratenen dahin, vorgegebenen Normen zu folgen, oder als Aufklärung über einsehbare Kriterien des Sprachbzw. Schriftgebrauchs mit der Chance, die betreffende Norm entweder reflexiv anzuerkennen oder aber ihr die weitere Gefolgschaft zu versagen, d.h. die erlernten Normen des Schriftgebrauchs zu modifizieren. Welche Alternative ergriffen wird, hängt grundsätzlich von der Einschätzung der Orientierungsnormen selbst ab nicht davon, was sie ’sind’, sondern davon, ’für was’ man sie hält. Der Linguist mag auf das Faktum hinweisen, daß eine bestimmte Norm, z.B. die Verwendung des Wortes weil als nebenordnende Konjunktion - ... weil er hat gesagt ... nur schriftsprachlich nicht akzeptiert sei, in mündlicher Kommunikation dagegen längst allgemein üblich. Dies hindert niemanden daran, diese Verwendungsweise für grundsätzlich ’falsch’ zu halten und sie sofern er die dazu erforderliche Autorität hat daher zu verpönen. In jedem Fall ist die Entscheidung für eine der genannten Alternativen von Beratung eine Setzung, die man bewußt vornehmen oder pragmatischfaktisch realisieren kann. Die Praxis des Duden hat sich soweit sich dies rekonstruieren läßt wohl eher naturwüchsig entwickelt. Gewiß ist sie nicht, konnte auch gar nicht von einer Einsicht in die beschriebene Normenproblematik geleitet sein. Sie hat sich im wesentlichen aus pragmatischen Gründen zu dem ausgebildet, was sie heute ist. Überblickt man die Veränderungen, die der Regelteil des Bandes 1 des Duden erfahren hat, so muß man in der Tendenz zu immer mehr Detailregeln, deren Systematik weder auszumachen noch vorhanden ist, wohl eine Art resignativer Didaktik erkennen: Entweder hat man keine Theorie des Kommas, der Groß- und Kleinschreibung usw. - oder man hält es für aussichtslos, sie der Leserschaft mit Aussicht auf Erfolg zu vermitteln. Man reduziert die Regelformulierungen bis auf einen Einfachheitsgrad, der offenkundige Widersprüche in Kauf nimmt, und setzt auf die dies heilende Kraft von Beispielen. 12 Band 9, Richtiges und gutes Deutsch, ist der erfolgreich vermarktete Beleg: eine reine Kasuistik, die von vornherein darauf verzichtet, auch nur ansatzweise zu erläutern, warum die Formulierungen, die als „richtige” alphabetisch aufgelistet sind, so sind, wie sie sind. Allerdings ist zu bemerken, daß der Duden die Komplexität, vor deren Vermittlung er kapituliert, zu einem nicht unwesentlichen Teil selbst erzeugt hat und permanent weiter erzeugt. Bislang ist in der Orthographiedebatte so gut wie nicht zur Kenntnis genommen, geschweige denn diskutiert wor- 12 Belege dafür bietet der Regelteil des Duden 1 die Fülle, etwa die Regeln R 65 und R 66 der Substantivschreibung oder die Kommaregel R 109. <?page no="54"?> 44 Christian Stetter den, daß die Tatsache, daß die Regelung des Schriftgebrauchs heute weitgehend schriftlich geschieht, nicht nur ein, sondern das Problem ist, an dem die ganze Philosophie der Orthographie hängt. 13 Dies ist alles andere als selbstverständlich, auch wenn es über der nun bald ein Jahrhundert dauernden Praxis des Dudengebrauchs so scheint. Der die Orthographieregelung betreffende Beschluß der KMK-Konferenz aus dem Jahr 1955, dessen Vorgeschichte Augst und Strunk sorgsam rekonstruiert haben, 14 hat diese Praxis offenkundig sanktioniert, indem er de facto wenn auch nicht de jure den Duden als Norm des schulischen Orthographieunterrichts definierte. 15 Denkbar wäre durchaus, daß die Regelung des Schriftgebrauchs im wesentlichen mündlich geschähe, nämlich im Deutschunterricht. Man würde dann - und dies geschieht de facto ja auch immer bis zu einem freilich grundsätzlich nicht ausreichenden Grad 16 das Können, das orthographische Knowing-how der Schüler bis zu einem bestimmten Grad ausbilden und dann im weiteren auf deren analogisches Vermögen bauen, das sich beim Schreiben an gegebenen Beispielen orientiert. Damit nähme man per se eine bestimmte Anzahl von Schreibvarianten in Kauf. Die Frage ist also, ob dies sinnvoll oder zu vermeiden ist. Die Duden-Doktrin ist hierin eindeutig. Die Tatsache, daß das Kompendium immer umfangreicher wird, welches ja dem eigenen Marketing gemäß „unentbehrlich” ist für einen „korrekten” Gebrauch des Schriftdeutschen, ist Indiz für ein sozusagen flächendeckendes Programm der Orthographieregelung, das ich der Kürze halber das Duden-Prinzip nennen möchte: 13 Ich verwende das Wort „Philosophie” hier nicht metaphorisch, sondern im wörtlichen Sinn. Daß eine philosophische Reflexion der Orthographie wegen der Komplexität und Undurchsichtigkeit des Phänomens vonnöten ist, habe ich in mehreren Arbeiten zu zeigen versucht. Vgl. insbesondere Stetter 1991. 14 Vgl. Augst und Strunk 1988. 15 De jure blieb ja weiterhin gültig die sogenannte „amtliche Regelung” von 1902, die indessen den Nachteil hatte, daß sie so gut wie unbekannt, ja schlechterdings als Text nicht mehr greifbar war, sodaß auch niemand die Selbstreklame des Duden, seine Regelungen seien „auf der Grundlage” dieser amtlichen Regelung vollzogen, überprüfen konnte. 16 Die von Sprachdidaktikern immer wieder als Argument für die Vereinfachung der Orthographie ins Spiel gebrachte Marge des Abschlusses des 10. Schuljahrs zu diesem Zeitpunkt müsse die Orthographie in ihren Grundzügen vermittelt sein dürfte durch den mittlerweile erreichten Anteil der Abiturabschlüsse an der Gesamtzahl der Abschlüsse im Sekundarbereich längst Fiktion geworden sein, und daß Abiturienten der 90er Jahre die Orthographie des Deutschen beherrschen, kann nicht mehr generell vorausgesetzt werden. Zumindest für die Getrennt- und Zusammenschreibung und für die Interpunktion belegt jede Klausur von Germanistikstudenten im 1. Semester massive Defizite. <?page no="55"?> Grundlagen der Sprachberatung 45 Von n innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls tj zu inskribierenden Positionen soll für das Schriftdeutsche jede einzelne Inskription auf eine Regel zurückführbar sein. Und dies soll für alle möglichen Zeitintervalle t n gelten. Es ist diese Vorstellung, die dem eingangs skizzierten Typus von Anfragen zugrunde liegt, der durch die Frage nach der „richtigen” Schreibweise charakterisiert ist. Die Erfahrungen der Sprachberater zeigen relativ eindeutig, daß für die betreffenden Fragenden das Gegebensein von Schreibalternativen meist unerwünscht ist. Dies hängt damit zusammen, daß orthographische Kompetenz fraglos Bildungskapital im Sinne Bourdieus ist. 17 Es dient dazu, den sozialen Rang des Kapitalinhabers zu definieren, und im Konfliktfall - Paradigma: Chef „gegen” Sekretärin ist eine eindeutige Regelung in dieser Hinsicht funktionaler, stabilisiert etwa die Stellung der Sekretärin gegenüber dem Chef oder umgekehrt. 18 A priori ist klar, daß in Hierarchien die Erwägung von Alternativen quer zu diesen bzw. gegen diese unerwünscht, weil dysfunktional sein muß. Doch ist die Entscheidung für Sprachberatung, die im Sinne solch normativer Erwartungen versucht, die Empfehlung für eine bestimmte Schreibvariante als Information über die ’korrekten’ Schreibweise mitzuteilen ich nenne dies im folgenden plakativ das normative Modell der Sprachberatung selbst eine Setzung, die keineswegs aus internen Gründen resultiert, welche sich etwa aus der Natur von Orthographie ergäben. Man kann sich durchaus auch für die zweite Alternative entscheiden ebenso plakativ nenne ich sie das Empfehlungsmodell. Für die Beratungspraxis des Grammatischen Telefons ist so die Maxime bestimmend, im Fall von Schreibalternativen, in dem keineswegs seltenen Fall also, in dem der Usus nicht einen eindeutig identifizierbaren Typ hervorgebracht hat in Frage stellen infrage stellen Erdöl exportierende erdölexportierende Länder einen Text Korrektur lesen korrekturlesen aidskranke / aids-kranke / AIDS-kranke Patienten Er kam (,) und sie ging usw. - (a) über beide Möglichkeiten und deren Vor- und Nachteile und (b) über die vom Duden ausgewählte oder bevorzugte Variante zu informieren. Das Ziel so orientierter Sprachberatung ist neben der konkreten Problemlösung 17 Vgl. hierzu Stetter 1991. 18 Dieser Konfliktfall ist durch viele Anrufe am Grammatischen Telefon belegt. Oftmals rufen Sekretärinnen, deren orthographische Kompetenz in der Regel hoch ist, aus keinem anderen Grund an, als die Korrektheit der von ihnen gewählte Schreibweise durch eine „legitimierte” Instanz bestätigen zu lassen. Dahinter steckt immer ein sozialer Konflikt. <?page no="56"?> 46 Christian Steiter immer auch Aufklärung über den Status orthographischer Normen. Selbst oder gerade den meisten Lehrern ist das Faktum unbekannt, daß de jure nicht der Duden, sondern die sogenannte „amtliche Regelung” von 1902 für die Korrektur von Schülerarbeiten verbindlich ist. 19 Allein die Information über dieses Faktum kann u.U. einen Ratsuchenden dazu ermutigen, eine Schreibweise zu wählen, die er für sinnvoll hält, auch wenn sie der im Duden angegebenen widerspricht. 20 Das insbesondere vom Duden selbst, also vom Monopol zugunsten des normativen Modells vorgetragene Argument lautet, Schreibvarianten müßten im Sinne der Lesbarkeit von Texten zugunsten eindeutiger Regelungen soweit wie möglich vermieden werden. Indirekt kann es auf die Praxis der Homogenisierung der Druckschrift durch die Drucker bzw. Verlage vom 16. bis ins 19. Jahrhundert verweisen, aus der in gewisser Weise ja der Duden hervorgegangen ist. Innerhalb dieser Praxis wurden zunächst Schreibvarianten desselben Wortes innerhalb eines Textes bzw. Buchs abgebaut, dann innerhalb der Druckerzeugnisse eines Verlages, eines bestimmten regionalen oder kulturellen Bereichs usw., bis diese Homogenisierung Ende des 19. Jahrhunderts grosso modo den gesamten deutschsprachigen Raum erfaßt hatte. Andererseits ist zu fragen, ob eine variantenfreie Regelung der Orthographie überhaupt möglich und darüber hinausgehend wünschenswert ist. Dazu sind die Voraussetzungen des oben benannten ’Duden-Prinzips’ zu betrachten. Dieses hat genau zwei, die in der Regel als selbstverständlich, gar als trivial gelten, dies jedoch keineswegs sind: (1) Das Schreibverfahren ist digitalisiert, der zu inskribierende Raum also in n diskrete Positionen unterteilt, und das Schreibverfahren an jeder beliebigen Stelle ein Übergang von einer Position i zur folgenden Position i + 1. (2) Für jede Position i des Textes existiert eine Regel, nach der zu entscheiden ist, welche von möglichen Varianten V l5 V 2 , ... , V„ einer bestimmten Schreibweise hier auszuwählen ist. (1) und (2) sind Bedingungen, wie sie etwa den Rechtschreibprogrammen in der elaborierten Textverarbeitung zugrunde liegen. Sie setzen Alphabetschrift oder ähnliche Systeme voraus, auf logographische Systeme sind 19 Vgl. hierzu Augst und Strunk 1989. Ebensowenig ist bekannt, daß der Duden (Bd. 1) der neuesten Auflagen in vielen Einzelregelungen der amtlichen Regelung explizit widerspricht, obwohl ihn seit der 19. Auflage ein neuer Untertitel schmückt: Auf der Grundlage der amtlichen Rechischreibregeln der das Gegenteil von dem suggeriert, was er logisch besagt, nämlich daß er von dieser „Grundlage” in vielen Fällen abweicht. 20 Z.B. müßte die Konjunktion sodaß selbst nach R 205 des Duden zwingend zusammengeschrieben werden, denn ihr semantischer Wert ist von dem der Wortfolge so daß deutlich unterschieden: sodaß drückt im Gegensatz zum so keinerlei Modalität aus. <?page no="57"?> Grundlagen der Sprachberaiung 47 sie nicht anwendbar. Und im Rahmen der Alphabetschrift gelten sie nur für die Druckschrift, denn nur in dieser sind die zu inskribierenden Positionen diskret. In der Handschrift setzen sich schon aufgrund ihrer Kursivität, aber auch wegen anderer Öffentlichkeitsbedingungen stets wieder logographische Tendenzen durch. 21 Man kann daher das Duden- Prinzip nicht schlechtweg zur Norm alles Geschriebenen erheben, sondern man muß bei der Sprachberatung in Rechnung stellen, daß es Geltungsbereiche von Schriftnormen gibt, die nach Kriterien wie ’privat’, ’öffentlich’, ’formell’, ’informell’ usw. zu unterscheiden wären. Für die Orthographie gilt dies in durchaus analoger Weise wie für Semantik oder Stilistik: Die offiziell, vom baden-württembergischen Kultusminister neuerdings gar per Erlaß verpönte Schreibweise mit großem Binnen-I - Studentinnen, Mitarbeiterinnen ist für Asten, studentische Fachschaften etc. geradezu obligatorisch, und Werbeagenturen, die sich stets an die Duden-Norm hielten, begäben sich eines ganzen Registers an Möglichkeiten von Selbstdarstellung und Kreativität. 22 Gerade die digitalisierte Form der Schrift 23 macht jedoch eine logische Erörterung der Frage möglich, ob die in (2) benannte Voraussetzung des Duden-Prinzips überhaupt realisierbar ist. Zu fragen ist nämlich, welche Sachverhalte überhaupt in Regeln zu fassen sind. In der Alphabetschrift existieren vier orthographische Register: Buchstabenfolge, Getrennt- und Zusammenschreibung (GZ), Groß- und Kleinschreibung (GK) und Interpunktion (I). Davon ist allein die Buchstabenfolge - und selbst diese nicht vollständig extensional, d.h. durch Wörterverzeichnisse und damit kontextunabhängig regelbar. 24 Die drei anderen Register sind so jedoch nicht zu regeln. Ob Wörter groß oder klein, getrennt oder zusammen geschrieben werden, ist stets von ihrer 21 Vgl. hierzu Giesecke 1990 und Stetter 1994. 22 Kalkulierte Abweichung von der Duden-Norm ist allerdings in der Wirtschaft, wo orthographische Korrektheit stets auch indikatorischen Wert für Bonität, Solidität etc. hat, gelegentlich riskant. Wird der Leser auch erkennen, daß Hilft dem Vater auf das Fahrrad keinen unbeabsichtigten Schreibfehler enthält? Analoge Anfragen von Werbeagenturen an das Grammatische Telefon sind mehrfach belegt. Ein von einer Agentur für einen Weinbrandhersteller entworfene Fernsehspot wurde vom Auftraggeber nicht akzeptiert, weil er angeblich einen grammatischen Fehler enthielt: „Trinke ihn mit ..., es ist ein großer Weinbrand”. Nach Ansicht des Herstellers hätte es „korrekt” heißen müssen: „... er ist ein ...” Tatsächlich ist der Spot in dieser Form auch nicht gesendet worden. 23 ’Digitalisierung’ meint also die Kodierung einer Information derart, daß ihre Dekodierung vollständig, also ohne Verlust an Information möglich ist. 24 Vollständig deswegen nicht, weil ad-hoc-Neubildungen prinzipiell nicht zu erfassen sind. Hier kann es daher, wenn in der Regel auch nur bei fremdsprachlichen Ausdrücken, zu „Erklärungslücken” kommen: Soll man nun Behaviorismus schreiben oder Behaviourismus, Usia oder Ousia, recyclen oder recyceln, gehandled oder gehandeld usw. <?page no="58"?> 48 Christian Steiler Verwendung im Satz abhängig. Folglich sind hier auch stets zwei Fälle zu unterscheiden: (I) Für den betreffenden Fall von GZ, GK oder gibt es eine Regel; (II) für den betreffenden Fall gibt es keine Regel. Für (I) liefert die von mir zwei Sätze zuvor gewählte Schreibweise Ob Wörter groß oder klein, getrennt oder zusammen geschrieben werden ein triftiges Beispiel: großgeschrieben oder zusammengeschrieben wären nach R 205 des Duden zusammenzuschreiben. 25 Analoges müßte dann für kleinbzw. getrenntgeschrieben gelten, und schon hier trägt die Analogie nicht mehr, weil großgeschrieben und zusammengeschrieben den markierten Fall bezeichnen, kleinbzw. getrenntgeschrieben jedoch den nicht markierten, d.h. den Regelfall. Die konsequente Anwendung von R 205 würde also folgende Schreibweise erfordern: Ob Wörter groß- oder klein, getrennt oder zusammengeschrieben werden und somit innerhalb eines einzigen Prädikats Bindestrichwie Getrenntwie Zusammenschreibung fordern. Dies würde zu einer Inhomogenität des geschriebenen Textes führen, die den Leser nicht minder als den Schreiber irritieren müßte. Das Beipiel verdeutlicht eine Dialektik, die m.W. in der Debatte um Orthographiereform bislang ernsthaft kaum diskutiert worden ist, daß nämlich n Regeln mindestens n Problemfälle erzeugen, wie die Regeln Ri, R 2 , ... , R n auf den jeweiligen Fall anzuwenden sind. 26 Je dicker, m.a.W., ein Regelwerk wird, desto unübersichtlicher und unpraktizierbarer wird nicht nur aus externen pragmatischen, sondern aus logischen Gründen die gesamte Regelung, und die Komplikationen dürften sich allein schon der vielen unkalkulierten und unkalkulierbaren Analogien wegen, die mit jeder Regelung verknüpft sind exponentiell vermehren. Ein Blick auf den Umfang der „amtlichen Regelung” von 1902 und den jetzigen Umfang des Duden belegt diese Einsicht auf schlagende Weise. Je länger also das Duden-Prinzip praktiziert wird, desto mehr Gründe 25 Die Regel lautet: „Verbindungen mit einem Verb als zweitem Glied schreibt man in der Regel dann zusammen, wenn durch die Verbindung ein neuer Begriff entsteht, den die bloße Nebeneinanderstellung nicht ausdrückt.” Das Wörterverzeichnis wendet diese Regel zwar auf zusammenschreiben an, nicht jedoch auf großschreiben eine der vielen erwähnten Widersprüche zwischen Regelteil und Wörterverzeichnis. 26 Der logische Grund hierfür liegt darin, daß wie bei allen empirischen Begriffen die Extension auch grammatischer Kategorien nicht eindeutig festzulegen ist. Die Kategorie ’Substantiv’ etwa geht kontinuierlich über in die Kategorie ’Adjektiv’ das ist nicht recht - oder in die (semantische) Kategorie ’Eigenname’ so ein Judas-, einen Tesafilm kaufen usw. Vgl. hierzu Stetter 1991. <?page no="59"?> Grundlagen der Sprachberatung 49 erzeugt es, die seine vollständige Realisierung auch nur näherungsweise verhindern. Das in (II) angesprochene Problem läßt sich vorzüglich an einer vermeintlichen Paradoxie der Substantivschreibung erörtern. Immer wieder ist insbesondere seitens der Sprachdidaktik folgende Situation gleichsam als die Grundschwierigkeit der Substantivgroßschreibung benannt worden: (Rs) Substantive schreibt man groß. Welches Wort ein Substantiv ist, erkennt man daran, daß es großgeschrieben wird. 27 Dies scheint offenkundig paradox, und man hat hierin stets einen wesentlichen Grund für die Rückkehr zur Substantivkleinschreibung gesehen. Doch ist bei genauerer Betrachtung die Paradoxie nur eine scheinbare. Die zitierte Deutung übersieht einen wesentlichen logischen Unterschied: (Rs) kombiniert nämlich eine formale intensionale Definition - Substantive schreibt man groß 28 mit einer rein extensionalen - Was ein Substantiv ist, erkennt man daran, daß es großgeschrieben wird. Der gute Sinn des vermeintlichen Paradoxons besteht gerade darin, daß es die Aussichtslosigkeit einer materialen intensionalen Definition der Kategorie ’Substantiv’ anerkennt, die aussichtslos eben deswegen ist, weil im Rahmen der Orthographieregelung der Begriff Substantiv nicht als Wortartenbezeichnung, sondern als Textkategorie verwendet wird. Noch die Regeln R 61 bis R 70 des Duden bestätigen dies gegen die kategoriale Formulierung der R 60 - „Substantive werden groß geschrieben” denn sie alle haben entweder die Form (51) Substantive, die als ... [Adverbien, Präpositionen, ... , d.h. Nichtsubstantive] verwendet werden, werden kleingeschrieben, oder (5 2 ) Substantivisch gebrauchte ... [Adverbien, Präpositionen, ..., d.h. Nichtsubstantive] werden großgeschrieben. 29 Ob nun ein morphologisch als Substantiv anzusprechendes Wort nicht als Substantiv verwendet wird oder ein morphologisch als Nichtsubstantiv zu klassifizierendes als Substantiv, hängt von der jeweiligen Verwendung im Satz ab, die zum Teil mit syntaktischen, zum Teil aber auch mit rein semantischen Kategorien zu beschreiben wäre. In einen Text korrekturlesen / Korrektur lesen 27 So B. Weisgerber. Vgl. dazu Eisenberg 1981, S. 79 ff. 28 Formal ist diese Definition deswegen, weil sie keine materiellen, also syntaktische oder morphologische Kriterien der Kategorie ’Substantiv’ benennt. 29 R 61 - 64 bzw. R 65 - 70, Sperrungen von mir. Daß diese Formulierungen im Widerspruch zu R 60 stehen, wird klar, wenn man bedenkt, daß auch in R 60 das Wort „Substantiv” nur als als Textkategorie verwendet sein kann. Die korrekte Formulierung von R 60 müßte lauten: „Substantivisch verwendete Substantive werden großgeschrieben.” Vgl. hierzu Stetter 1989a. <?page no="60"?> 50 Christian Stetter wäre die Zusammenschreibung, mithin die Kleinschreibung von korrektur dadurch syntaktisch hinreichend motiviert, daß in diesem Kontext Korrektur nicht als Ergänzung zu lesen interpretiert werden kann, denn diese Position ist durch einen Text besetzt. Für ein Substantiv Korrektur ist in diesem Syntagma also keine mögliche Position vorhanden. Die Schreibweise einen Text Korrektur lesen ließe den Term Korrektur sozusagen syntaktisch uninterpretierbar im Raum stehen. In die Konferenz erdölexportierender Länder hingegen ist Motiv für die Zusammenschreibung ein rein semantischer Grund entsprechend der R 205 des Duden, nämlich die spezielle Bedeutung „Mitglied der OPEC”, die nur aus dem Kontext zu erschließen ist. 30 Das Auftreten von Polysemien ähnlicher Art ist durch keine Schreibregel antizipierbar. Darüber hinaus wäre die Anwendung der Regeln R 60 bis R 70 des Duden nur möglich, wenn die Schreibenden über entsprechende syntaktische oder semantische Kategorien verfügten, was ja selbst bei Linguisten nicht immer gegeben sein dürfte. Dennoch kann eine routinierte Schreibende wie eine Sekretärin ohne solche Kategorien sich in ihrer Praxis eine hohe Kompetenz in der Substantivschreibung erwerben, indem sie sich eben an Beispielen orientiert. 31 Man kann einen Zusammenhang sehen und ihn sehr wohl verstehen, ohne über die begrifflichen Deutungskategorien für diesen Fall zu verfügen. Es ist dieser Regelfall im Schriftgebrauch das Handeln also eines intelligenten Schreibers, der sieht, wie es geht 32 den die eben zitierte vermeintliche Paradoxie beschreibt. Ihr extensionaler Teil beschreibt den Anhaltspunkt des Schreibers oder der Schreiberin, die nicht die Regeln, sondern ihre Intelligenz benutzt und darauf sieht, wie die großgeschriebenen Wörter verwendet werden, welchen speziellen Sinn sie haben usw. Und dort, wo er oder sie hinreichende Ähnlichkeiten sieht, greift der intensionale Teil: Weil die und die Ähnlichkeiten bestehen, ist dieses Wort hier großzuschreiben. So definiert die Gemeinschaft der das Schriftdeutsche Verwendenden im Verlauf ihrer Praxis rekursiv, was sie für als Substantive verwendete Wörter hält - und damit ’sind’ diese es auch. Kein Grammatiker könnte etwas dagegen sagen, weil seine Domäne eben die Grammatik und nicht der Text ist, und daß der Duden soweit dies von außen erkennbar ist statistisch verfährt, ist diesem Sachverhalt logisch durchaus angemessen. 33 30 Es ist kein Widerspruch zu behaupten, daß es Erdöl exportierende Länder gibt, die nicht zu den erdölexportierenden Ländern zählen. 31 Vgl. Steffen 1993, S. 120 ff. 32 Das Knowing-how ist eben das Gewußt-wie. 33 Freilich wäre ein reflektierter Umgang mit diesem Verfahren erst dann möglich, wenn der Duden nicht nur alle drei bis vier Jahre eine Neuauflage des Bandes 1 heraus- <?page no="61"?> Grundlagen der Sprachberatung 51 Also ist es in jedem Fall eine Setzung, wieviel und was man regeln will keineswegs objektiven orthographischen Fakten geschuldet, sondern einem Regelungsinteresse, das solange anonym bleibt, wie es als solches nicht benannt und thematisiert wird. Wenn sich dies aber so verhält, dann ist mit der Frage, wieviel und was man regeln will, notwendigerweise die verbunden, was man regeln darf. Es gibt, so wenig sich das mit herkömmlichen Anschauungen von Schrift und Orthographie verträgt, so etwas wie eine Ethik der Schriftnormierung, die als solche nur solange unbegriffen bleiben konnte, solange diese Normierung wie selbstverständlich „amtlich” oder monopolistisch, mehr oder weniger autoritär also betrieben wurde. Seit 1902 hat sich aber der verfassungsrechtliche Rahmen für Orthographienormierung de jure wie de facto erheblich verändert das aufwendige Verfahren der jüngsten Runde von „Orthographiereform” demonstriert es ad oculos. 34 Ihr Gelingen hängt wie immer man sachlich den „Expertenvorschlag” bewertet entscheidend davon ab, ob und wieweit es gelingt, einen Konsens zwischen den Betroffenen, repräsentiert durch Verbände verschiedenster Provenienz, herbeizuführen. Die von manchem Orthographieexperten als „politische”, d.h. als sach/ remd bewertete Entscheidung, den von der institutionell beauftragten Rechtschreibkommission 35 erarbeiteten Vorschlag zur Abschaffung der Substantivgroßschreibung 36 als nicht konsensfähig und damit nicht „durchsetzbar” gar nicht erst zu diskutieren, beleuchtet einen relevanten Aspekt der angesprochenen Normierungsethik, der philosophisch begriffen sein muß, wenn rationale Problemlösung auf diesem Feld möglich werden soll. Wesentlich dafür ist ein Verständnis der besonderen Natur der Normen, mit denen man umgeht. Soweit ich sehe, ist bis in die jüngste Zeit hinein verlautbarte Grundlage der Expertendiskussion das Arbitraritätsprinzip gewesen, die Ansicht, Orthographieregelung sei konventionelle Festsetzung von Schreibungen des ’Ausdrucks’, des signifiant, die unabhängig von einer Betrachtung des signifie möglich sei. 37 Aus der Tradition der Linguistik ist diese Position verständlich, auch wenn sie schon der Praxis der Expertendiskussion selbst widerspricht, wo doch häufig genug der Gesichtspunkt bringen würde, sondern zugleich damit seine Quellen und das Erhebungsverfahren offenlegen würde. Erst dies würde eine Einschätzung der empirischen Triftigkeit der Wortliste ermöglichen. Natürlich kollidiert dies mit den kommerziellen Motiven einer Neuauflage. 34 Vgl. Internationaler Arbeitskreis für Orthographie, Vorschläge und Dokumentation. 35 Internationaler Arbeitskreis für Orthographie. 36 Vgl. Vorschläge S. 117ff. und 150ff. 37 Kanonischen oder, wenn man will, dogmatischen Ausdruck hat diese Position in Nerius u.a. 1987 gefunden. Vgl. ebd. S. 18ff. oder Vorschläge S. XII: „Aus dem Gegenstandsbereich [dieser Vorschläge, Ch. St.], nämlich ’graphische Norm der gegenwärtigen deutschen Standardsprache’ ...” eine begrifflich zweifelsfrei unzutreffende Charakterisierung von Orthographie. Vgl. hierzu Stetter 1994. <?page no="62"?> 52 Christian Stetter der Angemessenheit einer Schreibweise hinsichtlich des zu Sagenden, des lokutionären oder illokutionären Gehalts des betreffenden Textfragments, eine wesentliche Rolle spielt. Warum soll z.B. die Schreibweise numerieren zu nummerieren, Paket zu Packet verändert werden wenn nicht mit Rücksicht auf einen morphologischen, mithin über den signifie vermittelten Zusammenhang. 38 Es reicht offenkundig nicht hin, wenn man orthographische Regeln als Regeln eines Typus deutet, denen nach Black ein „regulation-sense” zugrunde liegt: Regeln, die von dazu befugten Autoritäten als für eine bestimmte Gruppe von Menschen gültig erlassen und wieder aufgehoben werden können, die in diesem Sinne verbindlich sind, deren Mißachtung entsprechend sanktioniert ist usw. 39 Vielmehr bringt sich in Sachverhalten wie dem eben skizzierten der „instruction-sense” orthographischer Regelungen zur Geltung. Sie müssen sachangemessen sein wie die Regel, daß man Dahlien erst nach dem letzten Frost im Mai auspflanzen soll. Die Funktionalität orthographischer Regeln ist in den letzten Jahren in Zusammenhängen wie linguistische Graphematik, 40 psycholinguistische Leseforschung 41 u.ä. intensiv diskutiert worden. Daß die Substantivgroßschreibung einen sachlichen Sinn hat, hat sich etwa bezüglich der Lesegeschwindigkeit ebenso gezeigt wie bezüglich der Eigennamenproblematik. Analoges gilt für die Zeichensetzung oder die Getrennt- und Zusammenschreibung, und man könnte es geradezu zum methodischen Prinzip der Orthographieforschung erklären, hinter zunächst ’willkürlich’ scheinenden Regelungen Funktionalität zu suchen. Dies gilt auch in anderen Hinsichten. Wo man mit Blick auf didaktische Schwierigkeiten für eine Vereinfachung orthographischer Regelungen plädiert, 42 kann man im Sinne des Bildungskapitals ebenso für einen hohen Differenzierungsgrad plädieren 43 er ermöglicht die Distinktionsgewinne 44 , die den literat Gebildeten von denjenigen unterscheiden, die sich der Schrift eben nur gelegentlich, unprofessionell bedienen. Bekanntlich ist 38 Das Morphem ist bekanntlich die kleinste bedeutungstragende Einheit der Sprache, was eben soviel heißt, daß Morpheme nur nach dem Kriterium ihrer Bedeutung identifiziert werden können. 39 Vgl. Black 1962, S. 109ff., zu einer Anwendung von Blacks Analyse des Regelbegriffs auf Probleme der Orthographie Stetter 1989b und 1991. 40 Vgl. Eisenberg 1993. 41 Vgl. Bock 1990. 42 Vgl. Vorschläge S. IX. 43 Ich zähle hier nur logische Möglichkeiten auf, diskutiere also nicht Zweckmäßigkeit oder Legitimität dieser Positionen. 44 Vgl. Bourdieu 1984, S. 115ff. und 405ff., dazu Stetter 1991. <?page no="63"?> Grundlagen der Sprachberatung 53 dies die Position, die die Redaktion der FAZ seit Generationen gleichsam zu ihren legitimen Obliegenheiten rechnet. Dies verweist auf einen letzten Punkt, der zu klären ist, um ein Verständnis der normativen Problematik von Orthographieregelungen und damit von Sprachberatung schlechthin zu ermöglichen: Die Akzeptanz jeder Schriftregelung hängt stets davon ab, wie sie sich mit der Schriftkompetenz verträgt, die in der jeweiligen, individuellen Biographie erworben wurde. Daß diese bei Marcel Reich-Ranicki anders aussieht als bei Anke Brunn oder Gerhard Meyer-Vorfelder, bei Theo Sommer anders als bei *** 45 , wissen wir a priori wie a posteriori. Schriftnormen sind objektive Größen besonderer Art, nämlich ideelle Gebilde, deren Existenz und Geltung an individuelle Leistungen der Urteilskraft, des Geschmacks, der Erfahrung konkreter Menschen gebunden und je wieder durch diese vermittelt bleibt. Schrift und Schriftkompetenz ’sind’ somit wesentlich nicht kollektive, sondern distributive Allgemeine, „das” Schriftdeutsche existiert nur in seinen jeweiligen besonderen Formen. In der allgemeinen linguistischen Diskussion hat der analoge Sachverhalt im Begriff des Idiolekts längst Anerkennung gefunden. Im Bereich der Schrift- und Orthographiediskussion wäre die Anerkennung dieser Sachlage, die unabdingbar ist für ein zureichendes Verständnis der in jeder Form von Sprach- und Schriftberatung implizierten Normierungsproblematik, wohl erst noch zu vollziehen gegen den Schein der Verdinglichung, der von der sinnlich manifesten Materialität der Schrift feist unvermeidlich erzeugt wird. Literatur Augst, Gerhard und Strunk, Hiltraud (1988): Wie der Rechtschreibduden quasi amtlich wurde. Zur Genese und zur Kritik des „Stillhaltebeschlusses” der Kultusministerkonferenz vom 18./ 19. November 1955. In: Muttersprache 98, 1988, S. 329 - 344. Augst, Gerhard und Strunk, Hiltraud (1989): Dokumente zur Einführung der amtlichen Rechtschreibung in den deutschsprachigen Ländern 1901 - 1903. In: Muttersprache 99, 1989, S. 231 - 248. Austin, John L. (1985 [1956]): Ein Plädoyer für Entschuldigungen. In: Georg Meggle, Hg. (1985): Analytische Handlungstheorie. Bd. 1: Handlungsbeschreibungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (= stw 488). S. 8 - 42. (Original: A Plea for Excuses. In: Proceedings of the Aristotelian Society, 57, 1956 - 1957, S. 1 - 30.) Black, Max (1962): The Analysis of Rules. In: Max Black: Models and Metaphors. Studies in Language and Philosophy. Ithaca, New York, S. 95 - 139. Bock, Michael (1990): Zur Funktion der deutschen Groß- und Kleinschreibung - Einflüsse von Wortform, Muttersprache, Lesealter, Legasthenie und lautem versus leisem Lesen. In: Stetter 1990, S. 1 - 32. Bourdieu, Pierre (1984): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Ubers, von Bernd Schwibs und Achim Russer. 3., durchges. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 45 Chef der Lokalredaktion einer in der Aachener Gegend häufig gelesenen Regionalzeitung, deren orthographischer Standard nicht so ist, daß ich den Namen dieser in anderer Hinsicht von mir durchaus geschätzen Zeitung hier nennen möchte. <?page no="64"?> 54 Christian Stetter Eisenberg, Peter (1981): Substantiv oder Eigenname? Über die Prinzipien unserer Regeln zur Groß- und Kleinschreibung. In: Ling. Berichte Heft 72, 1981, S. 77 - 101. Ders. (1993): Linguistische Fundierung orthographischer Regeln. Umrisse einer Wortgraphematik des Deutschen. In: Jürgen Baurmann, Hartmut Günther und Ulrich Knoop, Hg. (1993): homo scribens. Perspektiven der Schriftlichkeitsforschung. Tübingen: Niemeyer (= RGL 134). S. 67 - 93. Giesecke, Michael (1990): Orthotypographia. Der Anteil des Buchdrucks an der Normierung der Standardsprache. In: Stetter 1990, S. 65 - 89. Internationaler Arbeitskreis für Orthographie, Hg. (1992): Deutsche Rechtschreibung. Vorschläge zu ihrer Neuregelung. Hg. vom Internationalen Arbeitskreis für Orthographie. Tübingen: Narr. (Zitiert als Vorschläge.) Internationaler Arbeitskreis für Orthographie, Hg. (1992): Reform der deutschen Rechtschreibung. Dokumentation. Schriftliche Stellungnahme von Verbänden und Organisationen zu „Deutsche Rechtschreibung. Vorschläge zu ihrer Neuregelung. Hgg. vom Internationalen Arbeitskreis für Orthographie. Tübingen: Narr. (Zitiert als Dokumentation.) Jäger, Ludwig, Pfeiffer, Michael und Stetter, Christian (1983): Das Aachener Grammatische Telefon. In: Der Deutschunterricht Heft 3, 1983, S. 93 - 103. Mackowiak, Klaus und Steffen, Karin (1991): Statistische Auswertung der Anfragen an das Grammatische Telefon. In: Diskussion Deutsch 121, 1991, S. 518 - 535. Nerius, Dieter u.a. (1987): Deutsche Orthographie. Leipzig: Bibliogr. Institut. Steffen, Karin (1993): Schreibkompetenz. Schreiben als intelligentes Handeln. Phil. Diss. Aachen. Stetter, Christian (1989a): Gibt es ein graphematisches Teilsystem der Sprache? Die Großschreibung im Deutschen. In: Peter Eisenberg und Hartmut Günther, Hg. (1980): Schrift und Orthographie. Tübingen. 297 - 320. Ders. (1989b): Der Vorschlag zur Neuregelung der deutschen Orthographie - Reform ohne Theorie? In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, Heft 3, 1989, S. 8 - 20. Ders., Hg.(1990): Zu einer Theorie der Orthographie. Interdisziplinäre Aspekte gegenwärtiger Schrift- und Orthographieforschung. Tübingen: Niemeyer. Ders. (1991): Was ist eine orthographische Regel. In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 44, Orthographiereform, hgg. von Jakob Ossner. S. 40 - 67. Ders. (1994): Orthographie als Normierung des Schriftsystems. In: Handbuch Schrift una Schriftlichkeit. Hrsg, von H. Günther und O. Ludwig in Verbindung mit J. Bauermann. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 10.1.), Berlin/ New York, S. 687 - 697. <?page no="65"?> WERNER SCHOLZE-STUBENRECHT Bewertungskriterien der Duden-Sprachberatung Abstract Die Auskünfte, die die Duden-Sprachberatungsstelle erteilt, werden im wesentlichen durch die folgenden Kriterien bestimmt: Normgerechtheit, Adressatenbezug, Einheitlichkeit und Kontinuität, Forschungsorientiertheit, Materialbezogenheit und redaktionelle Sprachkompetenz. Der folgende Beitrag erläutert diese Kriterien im einzelnen und versucht sie pragmatisch zu begründen. Auf ihre jeweilige Problematik wird exemplarisch hingewiesen, Beispiele für ihre praktische Anwendung sollen die sprachpflegerische Position der Dudenredaktion illustrieren. Die Sprachberatungstätigkeit, die Beantwortung von telefonischen und schriftlichen Anfragen zu sprachlichen Zweifelsfällen und Problemen, ist für die Dudenredaktion eine Nebentätigkeit. Unsere Hauptaufgabe ist die Erforschung und Dokumentation der deutschen Gegenwartssprache und die darauf gegründete Publikation von Nachschlagewerken zu den verschiedensten Aspekten der Sprache. Allerdings kann man auch darin schon eine Art von Sprachberatung sehen, eine Beratung, die sozusagen „ungefragt” erfolgt, denn wir bieten damit theoretisch jedem die Möglichkeit, eigenständig sprachliche Probleme zu lösen, und zwar durch Nachschlagen in unseren Wörterbüchern, Grammatiken und Ratgebern. Daß wir zusätzlich unsere „eigentliche” Sprachberatung anbieten, hat seinen Grund zum einen darin, daß die Kodifizierung einer lebenden Sprache niemals vollständig sein kann, schon gar nicht im quantitativ begrenzten Programm eines einzigen Verlages. Es gibt also immer Fragen und Probleme, die sich aus den existierenden Nachschlagewerken allein nicht beantworten lassen. Und zum anderen kann vom durchschnittlichen Sprachteilhaber natürlich auch nicht erwartet werden, daß ihm alle einschlägigen Publikationen materiell oder intellektuell zugänglich sind. Viele speziellere Wörterbücher sind nicht allgemein bekannt, sind zu teuer, sind zu selten in den Bibliotheken vorhanden oder setzen ein bestimmtes Vorwissen voraus, über das nicht jeder verfügt. Aus kaufmännischer Sicht ist die Sprachberatungsstelle der Dudenredaktion eine Kundendiensteinrichtung, deren Kosten (die Auskunft erfolgt kostenlos) im weiteren Sinne als Werbungskosten zu kalkulieren sind. Redaktionell gesehen ist die Sprachberatung aber auch eine Art Prüfstein für die Qualität unserer Veröffentlichungen. Wir erhalten aus ihr Hinweise auf Verbesserungs- und Ergänzungsmöglichkeiten, die wir bei künftigen Projekten und bei Neuauflagen unserer Werke auswerten können. Und sie geben uns auch Aufschluß darüber, welche Art von Bewertungen das Pu- <?page no="66"?> 56 Werner Scholze-Stubenrecht blikum von der Dudenredaktion erwartet. Gelegentlich weist sie uns sogar auf Fälle hin, in denen unsere Bewertungen von bestimmten Sprachteilhabern nicht akzeptiert werden. Es wird kaum jemanden überraschen, daß das Bewertungskriterium der Normgerechtheit eine zentrale Rolle in der Arbeit der Dudenredaktion spielt. Etwa die Hälfte aller Anfragen bezieht sich auf Probleme der Rechtschreibung und Zeichensetzung, wo der Duden eine „quasi-amtliche” Autorität hat. Durch die staatliche Orthographieregelung aus dem Jahr 1902 und durch den Kultusministerbeschluß aus dem Jahr 1955 (Bundesanzeiger Nr. 242 vom 15.12.1955, S. 4), in dem der Duden ausdrücklich genannt wird, verfügen wir über eine normierende Basis, die in der Mehrzahl aller orthographischen Zweifelsfälle eine eindeutige Entscheidung zwischen richtig (= normgerecht) und falsch (= der Norm widersprechend) ermöglicht. Auf genau diese Entscheidung legen viele Sprachteilhaber (nicht nur im orthographischen Bereich) Wert, wenn sie sich an die Dudenredaktion wenden. Es geht ihnen um die Anfechtbarkeit einer schlechten Note im Schuldiktat, um das einfache „Rechthaben” gegenüber Kollegen, Chefs oder Mitarbeitern, bisweilen auch um eine Wette. Häufig steht im Hintergrund auch der Wunsch, nicht durch einen Fehler, z.B. in einem Bewerbungsschreiben, in einer Werbeanzeige oder in einer anderen schriftlichen Äußerung, aufzufallen und so einen schlechten Eindruck zu machen. Anfragen aus diesen Bereichen sind also primär gesellschaftlich und nicht linguistisch motiviert. Deshalb verzichtet die Dudenredaktion in der Beantwortung von Fragen nach der Normgerechtheit in den meisten Fällen auf linguistische Einbettungen. Wir legen z. B. nicht ungefragt dar, daß orthographische Normen sowohl lautlich als auch geschichtlich als auch grammatisch begründet sein können, daß man das Wort „Rhythmus” aus rein linguistischer Sicht durchaus auch mit ü und ohne h schreiben könnte. Wir sind der Überzeugung, daß diese Informationen nur von einem kleineren Teil der Anfrager gewünscht werden und daß es, wenn man sich schon an den Duden wendet, in der Regel um die derzeit gültige Norm, um den von allen mehr oder weniger akzeptierten gegenwärtigen Standard geht. Das bedeutet nicht, daß wir uns im Einzelfall vor der Diskussion der Normgerechtheit scheuen. Es heißt auch nicht, daß wir Normgerechtheit nicht für ein wichtiges Thema der Linguistik hielten. Es bedeutet aber, daß wir eine stark an der Alltagspraxis orientierte Sprachberatung betreiben, die die unmittelbare Anwendbarkeit unserer Auskunft in den Vordergrund stellt und die die Anregung zur Sprachreflexion eher dort zu geben versucht, wo der oder die Anfragende von sich aus ein entsprechendes Interesse erkennen läßt. Hiermit sind wir nach der Normgerechtheit bei einem zweiten Bewertungskriterium der Duden-Sprachberatung: Unsere Auskünfte und damit unsere Bewertungen werden nach Möglichkeit adressatenbezogen formu- <?page no="67"?> Bewertungskriterien der Duden-Sprachberatung 57 liert. Wir schränken zum Beispiel alle Aussagen, die sich auf sprachliche Probleme im Zusammenhang mit juristischen Auseinandersetzungen beziehen, grundsätzlich dahingehend ein, daß wir nur aus allgemeinsprachlicher Sicht urteilen können und daß die juristischen Implikationen, seien sie sachlicher Art oder fachsprachlicher (rechtssprachlicher) Art, sich unserer Bewertung entziehen. Auch bei anderen Fachbereichen üben wir entsprechende Zurückhaltung: Obwohl wir von dem Grundsatz ausgehen, daß es nicht unbedingt wünschenswert ist, wenn Allgemein- und Fachsprache sich in Lexik, Orthographie, Semantik usw. zu sehr voneinander entfernen, muß man doch der Tatsache Rechnung tragen, daß fachspezifische Bedürfnisse mit den Mitteln der Allgemeinsprache in bestimmten Fällen nicht oder nur unzureichend befriedigt werden können. Hier kann die Bewertung oft nicht mit dem Kriterium der Normgerechtheit allein auskommen; Konformität und Abweichung gewinnen ein anderes Gewicht als z. B. im Deutschdiktat in der Schule. Wenn in chemischen Fachtexten „Schwefelkies” in Übereinstimmung mit der lUPAC-Normenklatur (IUPAC = International Union of Pure and Applied Chemistry) als „Eisen (Il)-disulfid” geschrieben wird, so kann die Dudenredaktion schon ihren Verlagskollegen in der Brockhausredaktion nicht mehr diktieren, daß mit „Eisen-II-Disulfid” eine den Dudenregeln entsprechende Schreibung für ihre Texte zu wählen sei. Hier müssen die Fachleute selbst entscheiden, ob fachexterne Kommunikation oder fachinterne Gewohnheit und Normierung ihnen wichtiger sind. Das Problem der Konformität, der Einheitlichkeit der sprachlichen Norm, das in solchen Fällen zur Diskussion steht, benennt ein weiteres wichtiges Kriterium für die Bewertungen der Dudensprachberatung. Auch wenn absolute Einheitlichkeit niemals zu erreichen sein wird und vielleicht auch gar nicht erreicht werden sollte, ist nach unserer Meinung sowohl aus sprachdidaktischer Sicht wie auch unter dem Aspekt der Kommunikationsoptimierung eine grundsätzliche Standardisierung und Vereinheithchung bestimmter Bereiche der Sprache eine Notwendigkeit. Wir sehen die entscheidende Leistung Konrad Dudens ja gerade darin, daß er mit seinem orthographischen Wörterbuch zum Entstehen einer Einheitsschreibung im deutschen Sprachraum erheblich beigetragen hat, und wir würden jede substantielle Aufweichung dieser Einheitlichkeit als eine ernstzunehmende Gefahr betrachten. Derzeit beschränken sich bewußte Abweichungen von der geltenden orthographischen Norm auf wenige überschaubare Fälle, die das Funktionieren des allgemeinen Rechtschreibstandards nicht gefährden. Ob in Österreich „so daß” in einem Wort geschrieben wird oder ob bestimmte Zeitungen „Alptraum” mit b statt mit p schreiben, ist, auf die Gesamtheit der Textproduktion und -rezeption bezogen, von geringer Bedeutung. Auch die oben dargestellte fachspezifischen Abweichungen sind in ihrer Begrenztheit auf den jeweiligen Fachbereich insgesamt wohl keine ernste Bedrohung des allgemeinen Einheitsstandards. Und selbstverständlich bedeutet unser Einheitlichkeitskriterium auch nicht die Ver- <?page no="68"?> 58 Werner Scholze-Stubenrecht teufelung individueller Normabweichungen in kreativer oder spielerischer oder stilistischer Absicht. Es geht uns vielmehr um die Sicherstellung einer Einheitlichkeit, die eine zügige, von Mißverständnissen und Rückfragen weitgehend befreite schriftliche Kommunikation im öffentlichen Alltagsleben ermöglicht. Wir sehen es als positiv an, wenn z. B. eine in der Schule gelernte Rechtschreibung möglichst lange Zeit mit möglichst wenig „Umlernen” angewendet werden kann. Deshalb hat die Dudenredaktion darauf verzichtet, mit jeder neuen Dudenauflage systematisch bestehende Schreibungen zu verändern, auch wenn sich (etwa durch fortgeschrittene Eindeutschung von Fremdwörtern) hierzu ein begründeter Anlaß ergeben hätte. Mit demselben Streben nach Kontinuität werden auch unsere Autoren konfrontiert, die wir z. B. bei der Bearbeitung einer Grammatik dringend darum bitten, einerseits zwar den neusten Stand der linguistischen Forschung, andererseits aber auch die Strukturen der vorliegenden Duden- Grammatiken und die von der Dudenredaktion vertretenen Normen zu berücksichtigen. Dies bedeutet nach unserer Überzeugung keine Knebelung des sprachwissenschaftlichen Fortschritts, sondern eine vernünftige Steuerung, eine Weiterentwicklung mit Augenmaß, die von den Benutzern unserer Nachschlagewerke nachvollzogen und mit getragen werden kann. Das hier angesprochene Kriterium der Forschungsorientiertheit beeinflußt unsere Sprachberatung in den meisten Fällen nicht unmittelbar, sondern über die vorliegenden Duden-Publikationen, die bei unseren Auskünften ständig zu Rate gezogen werden. Wir gehen in der Regel davon aus, daß die in unsere Bücher eingeflossenen Forschungsergebnisse so lange hinreichend aktuell und zuverlässig sind, bis das jeweilige Werk (z. B. die Duden- Grammatik) neu aufgelegt wird. In Einzelfällen kommt es aber durchaus auch vor, daß wir den direkten Zugriff auf die linguistische Forschung suchen, etwa durch Einsicht einschlägiger linguistischer Veröffentlichungen oder durch eine Anfrage unsererseits an einen Spezialisten (meistens an einen der Autoren, die an unseren Publikationen mitarbeiten). Einzelne fallbezogene Untersuchungen stellen wir auch in der Redaktion selbst an, vorwiegend im Bereich der Lexik, Semantik, Morphematik und Syntax, da hier unsere Belegkartei eine wie wir finden ausgezeichnete Arbeitsgrundlage darstellt. So ist z. B. die in jüngerer Zeit häufig beobachtete Voranstellung des Verbs in mit „weil” eingeleiteten Nebensätzen („Sie konnte sich kein Auto kaufen, weil sie hatte nicht genügend Geld”) mehrfach in der Kartei belegt. An der weiteren Textumgebung ist aber deutlich erkennbar, daß es sich bei diesen Belegen um die Wiedergabe gesprochener Alltags- oder Umgangssprache handelt, woraus wir den Schluß ziehen, daß diese Wortstellung in der Regel nicht in der Standardsprache auftritt und als standardsprachlich nicht korrekt zu bewerten ist. Solche auf Sprachbeobachtung beruhende und Materialinterpretation voraussetzende Sprachbewertung ist nicht denkbar ohne die Sprachkompetenz und das „Weltwissen” des Beobachters und Interpreten. Wir sind uns <?page no="69"?> Bewertungskrilerien der Duden-Sprachberatung 59 darüber durchaus im klaren, daß hier auch subjektive Einschätzungen unsere Empfehlungen beeinflussen und bestimmen. Es sind dies aber subjektive Einschätzungen, denen eine linguistische Fachausbildung und jahrelange Erfahrung im Umgang mit Sprache und Sprachbewertung zugrunde liegen, die außerdem intersubjektiv durch Diskussion und Beratung mit Redaktionskollegen oder qualifizierten Außenmitarbeitern sowie durch die Rezeption von Fachliteratur modifiziert und erhärtet werden. Die hier aufgeführten Bewertungskriterien Normgerechtheit, Adressatenbezug, Einheitlichkeit und Kontinuität, Forschungsorientiertheit, Materialbezogenheit sowie redaktionelle Sprachkompetenz bestimmen die Auskünfte und Publikationen der Dudenredaktion auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Dominanz. An einigen Beispielen aus dem Dudenband 9, „Richtiges und gutes Deutsch”, der so etwas wie eine Schnittstelle von Sprachberatungsarbeit und Nachschlagewerk darstellt, möchte ich dies demonstrieren. Unter dem Stichwort „Aachener” heißt es dort: „Die Einwohnerbezeichnung ’Aachener’ wird immer groß geschrieben, auch wenn das Wort wie ein flexionsloses Adjektiv vor einem Substantiv steht: die Aachener Zeitungen, Stadtväter, Fußballspieler.” Die apodiktische Formulierung, die auch gleich einen möglichen Zweifelsfall mit einbezieht, zeigt klar und deutlich, daß hier präskriptiv „beraten” wird, daß Normgerechtheit das erste zugrundeliegende Kriterium ist. Der Duden wendet hier auf den Einzelfall an, was im amtlichen Regeltext von 1902 im § 22, Abschnitt 2 festgelegt wird: „Dagegen werden die von Orts- und Ländernamen abgeleiteten unveränderlichen Wortformen auf er groß geschrieben, z. B. Erlanger Bier, Schweizer Kühe.” Ob diese Regelung aus linguistischer oder didaktischer Sicht sinnvoll ist oder nicht, wird im Duden nicht diskutiert; mögliche Argumente für eine andere Festlegung bleiben unerwähnt. Hier wird dem Kriterium von Einheitlichkeit und Kontinuität implizit Rechnung getragen, denn die Regel betrifft einen relativ häufigen Fall der allgemeinen Schreibpraxis und sie ist unserer Beobachtung nach allgemein akzeptiert, sie wurde in der Vergangenheit und wird heute noch durchgängig angewandt. Abweichungen und andere Einschätzungen, die es gibt, sind soweit wir das beurteilen können singuläre Ausnahmen. Zweites Beispiel: Beim Stichwort „abisolieren” steht folgender Text: „In dem Bemühen, den Wortinhalt zu verdeutlichen, wird oft ein fremdes Verb mit einem deutschen Verbzusatz versehen (vgl. ’aufoktroyieren’). Diese oft pleonastischen Mischformen haben nur dann eine Berechtigung, wenn sie gegenüber dem einfachen Verb an Verständlichkeit gewinnen. Bei dem Verb ’isolieren’ ist dies jedoch nicht der Fall. Im Gegenteil: Das Verb wird durch den Zusatz ab-, der wohl nach dem Vorbild von ’abdichten’ zugefügt worden ist, nur mißverständlich. In dem Satz „Die Leitung wurde abisoliert” bleibt unklar, ob die Leitung isoliert worden ist oder ob man <?page no="70"?> 60 Werner Scholze-Siubenrecht sie von ihrer Isolierung befreit hat. - In der Fachsprache hat sich heute die Verwendung von ’abisolieren’ im Sinne von ’die Isolierhülle auf eine gewisse Länge von der Spitze einer Kabelschnur abstreifen’ durchgesetzt.” Dieser ausführlich erläuterten Bewertung liegt das Kriterium der Sprachkompetenz zugrunde, dessen spezielle Parameter hier Sprachökonomie, Verständlichkeit und Klarheit lauten. Man könnte sicher solche Begriffe, die unter anderem auch in den bekannten Stilistiken eine gewichtige Rolle spielen, als eigenständige Bewertungskriterien für eine Sprachberatungspraxis ansehen. Ich ziehe es vor, sie unter Sprachkompetenz zu subsumieren, denn das Urteil darüber, ob etwas ökonomisch, verständlich, klar usw. ausgedrückt ist, ist ohne Sprachkompetenz nicht zu fällen. Und erst die Sprachkompetenz entscheidet darüber, welcher dieser Aspekte im konkreten Text sinnvollerweise berücksichtigt werden soll. Die linguistische Kritik am praktischen Stillehren (wie z. B. an der von Ludwig Reiners) bemüht sich ja immer wieder, den Nachweis zu führen, daß sogenannte Stilgebote wie „meide Schachtelsätze”, „meide unnötige Wiederholungen” o. ä. mit stilistisch durchaus gelungenen Textbeispielen widerlegt werden können. Das führt aber keineswegs die Forderungen nach Verständlichkeit und Ökonomie ad absurdum, sondern nur deren teils zu wenig reflektierte, teils zu unflexible Ausformulierungen. Neben dem Kriterium der Sprachkompetenz kommt in dem zitierten Dudentext auch die Materialbezogenheit unserer Arbeit zum Tragen. Der abschließende Hinweis auf die fachsprachliche Verwendung des Wortes „abisolieren” geht auf Belege der Dudenkartei zurück, in denen dieser Gebrauch durch Anzeigentexte verschiedener Hersteller von Abisolierzangen und -geräten und durch einen Textausschnitt aus einer Fachzeitschrift dokumentiert ist. Während für die Allgemeinsprache von der Verwendung des Wortes „abisolieren” mit der Bedeutung „isolieren” klar abgeraten wird, bleibt die fachsprachliche Verwendung mit einer speziellen Bedeutung unbewertet; der Verfasser des Textes hat hier auch das Kriterium des Adressatenbezugs berücksichtigt: Wenn in der Fachsprache ein eindeutiger Gebrauch des Wortes vorliegt, sind dort die Vorbehalte, die für den allgemeinsprachlichen Bereich gelten, nicht ausschlaggebend. Als drittes Beispiel aus dem Duden 9 zitiere ich einen Abschnitt aus dem Eintrag „Nominalstil”. Die Rede ist dort unter anderem auch von den Funktionsverbgefügen, und dazu heißt es: „Bei nominalen Fügungen dieser Art ist zu beachten, daß sie in manchen Fällen mehr aussagen als die entsprechenden einfachen Verben, unsere Ausdrucksmöglichkeiten also bereichern. So entspricht etwa die Fügung ’zum Abschluß bringen’ gegenüber dem Verb ’abschließen’ dem Wunsch des Sprechers nach größerer zeitlicher Abstufung des Geschehens oder nach größerem Nachdruck in der Aussage. Im Gegensatz zu ’erwägen’ (eine bestimmte Angelegenheit auf alle <?page no="71"?> Beweriungskriierien der Duden-Sprachberatung 61 möglichen Konsequenzen hin prüfen) hebt ‘in Erwägung ziehen’ stärker den Ablauf des Geschehens hervor, betont die sorgfältige oder bedächtige Art des Prüfens.” Wenn man bedenkt, daß die sprachpflegerische Arbeit der Dudenredaktion durchaus auch in der Tradition der älteren Stilfibeln steht (Ludwig Reiners hat einen einleitenden Teil zur 4. Auflage des Stildudens von 1956 geschrieben), dann ist die positive Darstellung zu bestimmten Bereichen des Nominalstils nicht selbstverständlich - Reiners hat solche Nominalisierungen generell abgelehnt. Die neuere Bewertung ist keine Erfindung der Dudenredaktion; sie geht vielmehr auf die Arbeiten von Karlheinz Daniels („Substantivierungstendenzen in der deutschen Gegenwartssprache”) und Peter von Polenz („Funktionsverben im heutigen Deutsch”) zurück. Der zitierte Text kann also das Kriterium der Forschungsorientiertheit in der Arbeit der Dudenredaktion belegen. Mit meinen Ausführungen habe ich versucht, exemplarisch zu zeigen, wie die Dudenredaktion bei ihrer Sprachberatungstätigkeit sprachliche Phänomene bewertet und worauf diese Bewertungen zurückzuführen sind. Ich möchte diese Rahmenbedingungen unserer Arbeit noch einmal wie folgt zusammenfassen: Die Dudenredaktion bewertet und berät 1. in Übereinstimmung mit geltenden präskriptiven Normen (sofern entsprechende normierte Bereiche angesprochen werden); 2. unter Berücksichtigung der spezifischen Situation, des spezifischen Frageinteresses des oder der jeweiligen Anfragenden; 3. mit dem Ziel einer relativ weitgehenden (wenn auch nicht absoluten) Vereinheitlichung, um ein möglichst reibungsloses Funktionieren der allgemeinen standardsprachlichen Kommunikation zu fördern; 4. auf der Grundlage der Sprachkompetenz der Dudenredaktion; 5. nach Überprüfung der uns zur Verfügung stehenden Dokumentationen und Materialien (für bestimmte Bereiche der Gegenwartssprache); 6. unter Hinzuziehung der linguistischen Forschung. Daß diese Kriterien beim konkreten Sprachberatungsproblem durchaus auch miteinander im Widerstreit liegen können, macht unter anderem den Reiz unserer Arbeit aus; es gibt keine für alle Einzelfälle passende Schablone, sondern wir werden täglich neu dazu herausgefordert, unsere Bewertungskriterien angemessen anzuwenden und sie dabei auf ihre Leistungsfähigkeit und Validität hin zu überprüfen. Jahrelange praktische Erfahrung und der ständige Austausch mit Redaktionskolleginnen und -kollegen sind dabei ebensowichtig wie Offenheit für sprachwissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen auch außerhalb der Redaktionsstuben . <?page no="72"?> ULLA FIX Textmusterwissen und Kenntnis von Kommunikationsmaximen Voraussetzung, Gegenstand und Ziel einer kommunikationsbezogenen Sprachberatung Abstract Das im Alltag übliche Verfahren der Sprachbewertung besteht in der Regel darin, daß stückhaft und willkürlich geurteilt wird. Linguistisch gestützte Sprachbewertung im Rahmen von Sprachberatung sollte den Sprachteilnehmer aber in den Stand versetzen, mit dem Gesamtkomplex Sprache im Sinne gelingender, glückender Kommunikation umzugehen, d.h. Kommunikation als Handeln zu betrachten, das sich immer in Situationen und vorwiegend in Texten vollzieht und sich demzufolge auch nach deren Bedingungen zu richten hat. Der bisher dominierenden, auf kleinere Einheiten als den Text gerichteten nicht situationsbezogenen und einsträngigen Bewertung soll eine komplexe Vorstellung von Bewertung gegenübergestellt werden, die sich am zentralen Kriterium der Adäquatheit orientiert. Es wird gezeigt, daß man mit einem entfalteten, differenzierten Adäquatheitsbegriff, der alle Aspekte der Kommunikation umfaßt, über ein leistungsfähiges Gefüge von Bewertungskriterien verfügt. Im Zentrum der Überlegungen steht die Beobachtung, daß Adäquatheitskriterien je nach Textsorte verschieden gewichtet sind und daß man die solcherart gewichteten Kriterien als Bestandteile von Textmustern vorfindet. Textmuster enthalten neben den spezifischen Adäquatheitskriterien auch allgemeinste Regeln für kommunikatives Handeln, Maximen in der jeweils für die betreffende Textsorte zutreffenden Auswahl und Wichtung. Beispiele für Textmuster und ihre spezifischen Angemessenheitskriterien werden gegeben. Eine Auswahl von Maximen wird angeführt und erläutert. Der Leserbrief „Lernt deutsch! ” zeigt genau das, was nach meiner und sicher auch nach allgemeiner Erfahrung an Sprachbewertung und Sprachkritik im Deutschen üblich ist: nichtbegründete Kritik am Wortgebrauch, vor allem am Gebrauch von Fremdwörtern; Kritik an falsch gebildeten Konstruktionen und an falscher Schreibung, also an Verstößen, die durch Grammatiken oder den Duden nachweisbar sind. 1 Offensichtlich haben wir es mit verbogenen oder verkümmerten Vorstellungen von Leibniz’ Kategorien der ’Reinheit’ und der ’Genauigkeit’ (Pörksen 1990) zu tun: ’Reinheit’ verbogen zur platten Kritik am Fremdwortgebrauch, ’Genauigkeit’ reduziert auf korrekte Formenbildung und Schreibung. Die Erwartungen der Sprachteilnehmer an die Sprachberatung gehen, wie die Anfragen an die Zeitschrift „Sprachpflege” über Jahrzehnte zeigen, in eben diese Richtung. 1 Dabei muß angemerkt werden, daß die Überschrift des Leserbriefes selbst gegen eine Regel des Dudens verstößt: Im Leipziger Duden liest man unter K 268: Bei substantivischem Gebrauch (Frage: Was? ) wird bei Sprachbezeichnungen groß geschrieben. Beispiel: Er kann, lernt, versteht Deutsch. <?page no="73"?> Textmusterwissen und Kenntnis von Kommunikationsmaximen 63 LVZ 24-6.: „Zumutung” Lernt deutsch! Herrn Ottos Meinung, daß die deutsche Sprache „verhunzt” wird, muß ich zustimmen. Das Parteichinesisch der vergangenen Jahre war noch nicht richtig verklungen, da brachte die neue Zeit neues Vokabular. Politiker zögern nicht mehr, sie verhalten sich zögerlich. Es wird nicht mehr nachgedacht, sondern angedacht. War ich bisher der irrigen Meinung, das Beste im Mann seien Herz und Verstand, muß ich mich von der Werbung belehren lassen, daß das Beste im Mann der Bart ist. Die Werbekinder preisen Joghurt mit falschem Satzbau an: „..., weil er ist gesund.” Geschäfte und Läden weichen den Shops. In der Leipziger Georg-Schwarz- Straße wird von uns „Flyin zum Grill- Snack” verlangt, und Diana hat gar einen Drugstore. Den Vogel aber hat der Besitzer vom Oil-Wechsel-Center abgeschossen. Der in der deutschen Sprache falsch gebrauchte englische Genitiv leuchtet uns überall entgegen: drei Beispiele von vielen sind Anita’s Bistro-Eck, Berni’s Eis und Rudi’s Grillwürstchen. Der Geheime Rat Goethe, der Dichter aller Deutschen, würde wohl sein „geliebtes Deutsch” nicht wiedererkennen. Mein Rat: lernt deutsch! Brigitte Jansen, Leipzig, 7066 Der uns hier vorliegende Leserbrief ist entstanden in einer Situation und in einem Rahmen - Leipzig 1991 wo sich wie alles andere auch der Sprachgebrauch radikal ändert, so daß man den gesellschaftspolitischen Hintergrund sehen müßte und erkennen könnte, daß hier diesmal unter anderem Vorzeichen als in der Zeit der DDR und mit minderer Radikalität, aber dennoch massiv wieder eine Sprache übergestülpt wird: die Sprache der neuen Institutionen und deren sprachliche Riten. Man müßte eigentlich Sprachbewertung und Sprachkritik in weit größerem, in gesellschaftlichem Rahmen vollziehen, in einem Rahmen, den ich mit Adorno (1970) „Erziehung zu Mündigkeit” durch Sprachkritik nennen möchte. Der Leserbrief dagegen widerspiegelt die Situation, die unter anderem Greule, Ahlvers-Liebei (1986) und Püschel (1991) beschrieben haben. Sprachgebrauch wird nach diesen Beschreibungen stückhaft und willkürlich bewertet. Es wird, um Büschels Ausdruck „Mikrostilistik” umzufunktionieren, Mikrobewertung und Mikrokritik betrieben, Mikrokritik da, wo Makrokritik, Makrobewertung und von anderer Seite auch Makroberatung nötig wären. Es gibt keinen Zweifel daran, daß solcherart Mikrobewertung und Mikrokritik, wie sie im Leserbrief geübt wird, stellte sie ein Linguist an, nicht befriedigen könnte. Und es gibt ebensowenig Zweifel daran, daß Linguisten sich über die bessere, sinnvollere Art der Sprachbewertung und Sprachberatung, daß sie sich über deren Kriterien, ja deren Sinn nicht im klaren, nicht einig sind. Sonst fände dieses Symposion nicht statt. <?page no="74"?> 64 Ulla Fix Sprachbewertung im Rahmen von Sprachberatung sollte den Sprachteilnehmer ja eigentlich tatsächlich in den Stand versetzen, mit Sprache im Sinne gelingender, glückender Kommunikation umzugehen. Es geht um sprachliches Handeln. Daß Kritik am Gebrauch einzelner Wörter oder an falsch gebildeten Formen nicht der richtige, zumindest nicht der ausreichende Weg zur Erlangung von Kommunikationskompetenz sein kann, steht wohl außer Zweifel. Selbst wenn wir von dem großen Anspruch, Sprachkritik als Gesellschaftskritik zu betreiben, hier absehen, 2 und uns auf den Bereich der Bewertung sprachlich-kommunikativer Leistungen beschränken, bleibt doch ein Makroanspruch erhalten. Es bleibt die Notwendigkeit, Kommunikation als Handeln zu betrachten und zu berücksichtigen, daß sich dies immer in Situationen und vorwiegend in Texten vollzieht. Daraus ergibt sich zwingend, daß Sprachbewertung und Sprachberatung von entsprechenden Kriterien auszugehen haben. Zumindest in dreierlei Hinsicht tut die traditionelle Sprachberatung das nicht: 1. Sie ist in der Regel auf kleinere Einheiten als Texte angelegt und daher stückhaft (s. Leserbrief). 3 Sie sollte sich auf den Text konzentrieren. 2. Ihr Bewertungsbegriff ist nicht situationsbezogen, und daher erfolgt die Bewertung oft willkürlich. 4 3. Die Vorstellung von Bewertung ist oft eindimensional. Berwertung wird als Prozeß betrachtet, der auf die Textproduktion folgt. Daß er ein den gesamten Kommunikationsprozeß begleitender Prozeß ist, soll in seiner Ausprägung und mit seinen Folgen später beschrieben werden. Zu 1. und 2. liegen bestätigende Ergebnisse empirischer Untersuchungen von Sitta (1990) vor. Daß Text- und Situationsbezug für die Sprachberatung nötig sind, wird deutlich in Sittas Untersuchungen zur sprachlichen Fähigkeit von Abiturienten. Sitta verweist auf die Komplexität sprachlicher Leistungen beim Textbilden. Gefordert ist: Textaufbau, ein durchgehaltener Gedankengang, saubere Argumentation, stilistisch überzeugende und korrekte Darstellung, Einhaltung der Regeln der Orthographie und der Interpunktion. Er zeigt außerdem die Notwendigkeit, „intentions- und adressatenorientierte Auswahlen zu treffen und den daraus resultierenden Anforderungen textuell zu entsprechen” (Sitta 1990, S. 252). Zu 3. ist folgendes zu konstatieren: Es ist bisher der Normalfall, daß Sprachbewertung als etwas nachträglich, also nach der Fertigstellung des Textes Geschehendes betrachtet wird. Bei Greule und Ahlvers-Liebei (1986, S. 127) klingt das an, wenn Sprachkritiker als die Hauptakteure 2 Ich habe mich dazu an anderer Stelle geäußert (Fix 1991a). 3 Das begegnet in Stillehren immer wieder, ob sie stilkritisch oder präskriptiv angelegt sind. So jüngst bei Hallwass (1990). 4 Vgl. Nikisch (1975), Püschel (1991). <?page no="75"?> Textmusierwissen und Kenntnis von Kommunikationsmaximen 65 der Sprachbewertung betrachtet werden. An anderer Stelle, wenn vom „mündigen, kommunikativ kompetenten Sprecher” (S. 130) die Rede ist, der „seinen eigenen Sprachgebrauch” kritisch überprüft (S. 129), kommen die Autoren der Komplexität der Sprachbewertung näher. „Sprechen setzt Werten voraus”, stellen Peine und Schönfeld kategorisch fest (1981, S. 220). Und sie haben recht damit. (Vgl. auch Kolde 1986, S. 176.) Formulierungstheoretische Untersuchungen (Antos, 1982) und Untersuchungen zur Textproduktion (Kesseling 1988) zeigen, ebenso wie der große Vorrat redebewertender Ausdrücke im Deutschen, deren Zusammenstellung wir vor allem Antos (1982) verdanken, daß Sprachbewerten von jedem an der Kommunikation Beteiligten an jedem Punkt der Kommunikation vollzogen wird. Ich schlage vor, von Redebewertung zu sprechen, also den gesamten Kommunikationsvorgang, das Handeln, im Blick zu haben. ’Rede’ soll sich auf Gesprochenes und Geschriebenes beziehen. Redebewertung ist nicht nur etwas nachträglich an einem Text Vorgenommenes, wie es der Lehrer am Aufsatz, der Lektor am fertigen Manuskript, der Sprachpfleger an einem Beispieltext vornimmt. Redebewertung ist vielmehr ein notwendiges Element aller kommunikativer Tätigkeit. D.h. wir kommentieren ständig eigene und fremde Rede. Wir alle vollziehen, wenn wir sprechen oder schreiben, also Texte produzieren, und wenn wir hören oder lesen, also Texte rezipieren, Redebewertung. Zu diesen differenzierten Tätigkeiten, die verschiedenen Kriterien und Situationen genügen müssen, sollte man durch Vermittlung von Bewertungskompetenzen verschiedenster Art befähigt werden. Die Beschreibung solcher Bewertungssituationen und —kompetenzen habe ich an anderer Stelle ausführlich vollzogen (Fix 1988). Hier kommt es nur darauf an zu zeigen, daß Bewerten ein vielschichtiger Prozeß ist. Es soll nun die Frage gestellt werden, ob es dennoch Gemeinsamkeiten gibt, die in erster Linie zu betrachten wären. Diese Gemeinsamkeiten gibt es, und sie bestehen in erster Linie darin, daß man von einer übergeordneten Kategorie ausgehen kann, die die Bewertungskriterien liefert, von der Kategorie der Angemessenheit bzw. der Adäquatheit (Techtmeier 1977). Betrachtet man formulierungskommentierende Ausdrücke, z.B. bei Antos, oder Bewertungskriterien, wie Stillehren und Stilistiken sie liefern, so kommt man zu dem Schluß, daß sie sich letztlich alle der Kategorie der Adäquatheit zuordnen lassen, also dem Bezug auf Über- und Außersprachliches. So z.B. ’ausgewogen’ (Bezug auf Normen, Erwartungen), ’richtig’ (Bezug auf Normen), ’akzeptabel (Bezug auf Wirkung), ’verständlich’ (Bezug auf Adressaten), ’reizvoll’ (Bezug auf Wirkung), ’zweckmäßig’ (Bezug auf Intention). Dieses differenzierte Adäquatheitskriterium soll im folgenden beschrieben werden, zugleich soll darauf hingewiesen werden, daß an der Kategorie neben ihrer Relationalität (Bezug auf Außer- und Übersprachliches) ihre Polyfunktionalität bedeutsam ist. Mit dem Kriterium der Adäquatheit kann man normierende, beschreibende oder bewertende Tätigkeiten vollziehen. Das heißt: ein- und derselbe Bewertungsausdruck, z.B. ’adäquat’, <?page no="76"?> 66 Ulla Fix kann einer ontologischen Handlung dienen, also der Feststellung, wie eine sprachliche Äußerung beschaffen ist, einer axiologischen Handlung, indem ihre Beschaffenheit auf akzeptierte Vorstellungen von Adäquatheit bezogen wird: Die Äußerung ist eine adäquate Äußerung, so wie sie sein soll. Und er kann einer deontischen Handlung dienen, indem die Kategorie einen Anspruch an eine Äußerung ausdrückt. So (adäquat) sollte ein Text sein. In der Beachtung der Polyfunktionalität liegt die Chance, die Kriterien genauer anzuwenden: die verschiedenen Gesichtspunkte von Produktion und Rezeption spiegeln sich hier wider. Der Produzent geht z.B. prüfend, entscheidend, Mittel akzeptierend oder verwerfend, korrigierend, reparierend vor, der Rezipient eher die Äußerungen an seinen Erwartungen überprüfend, bestätigend, filternd, akzeptierend oder ablehnend. Dies muß man bei der Verwendung des Hauptkriteriums im Auge haben. Weiter ist die Tatsache zu berücksichtigen, daß Adäquatheit nicht die Zuschreibung einer einstelligen Eigenschaft ist, also nicht 'der Text ist adäquat', sondern daß Adäquatheit vielmehr eine Vielfalt von Relationen zwischen Inner- und Außersprachlichem darstellt, so daß man allenfalls sagen kann, dieser Text ist hinsichtlich seiner Adressatenbezogenheit oder hinsichtlich seiner Intention oder seines Mediums oder hinsichtlich aller dieser drei Kriterien bzw. mehrerer Kriterien, die dann genannt sein müßten, adäquat. Ich will im folgenden meine Vorstellungen von der Differenzierung des Adäquatheitskriteriums zeigen. Es soll dabei deutlich werden, daß wir es stets mit Normenbezug zu tun haben, aber eben mit Bezug auf sehr unterschiedliche Normen. Ferner wird zu bemerken sein, daß mit einem solch differenzierten Adäquatheitskriterium zu arbeiten praktisch sehr schwer, wenn nicht unmöglich ist. Da kann dann, wie weiter gezeigt werden soll, der Textmusterbegriff hilfreich sein. Und außerdem können Kommunikationsmaximen das, was Adäquatheit in seiner Differenziertheit meint, durch allgemeinere soziale Anweisungen ergänzen. Normen im Bereich der sprachlichen Kommunikation sind gedankliche Festsetzungen von kollektiver Verbindlichkeit und von sozialer Prägung. Sie verkörpern das Anweisende, das Deontische. Die aus ihnen abgeleiteten Kriterien können dann allerdings auch wertend, axiologisch verwendet werden. Wir wissen, daß der Geltungsbereich und der Grad an Verbindlichkeit sehr verschieden sein kann, was sich auf die Bewertung von Äußerungen auswirken müßte. Im folgenden wird eine Gruppierung von Normen vorgestellt, die bei der Textproduktion, bei der Textrezeption und selbstverständlich bei der Bewertung eine Rolle spielen. Es handelt sich um ein vereinfachtes, auf das Notwendigste reduziertes Modell. <?page no="77"?> Textmusterwissen und Kenntnis von Kommunikationsmaximen 67 sprachlich-kommunikative Normen instrumentale Normen Bezug auf das System: situative Normen Bezug auf: ästhetische Normen Anspruch an: parasprachliche Normen Normen außersprachlicher Kodes: Grammatik Semantik Textherst. i ANGEMESSEN an Normen des Systems (richtig/ falsch) Empfänger Sender Medium Kanal Gegenstand Strategie Intention Erwartung 1 ANGEMESSEN an Faktoren d. Situation (situativ adäquat, inadäquat) Klarheit Folgerichtigkeit Gewähltheit Elaboriertheit 1 ANGEMESSEN an hedonistische und utilitaristische Prinzipien (wohlgeformt, nichtwohlgef.) Kinesischer Kode Proxemischer Kode Visueller Kode i ANGEMESSEN an kulturelle Bedingungen/ Traditionen (kulturell adäquat, inadäquat) Alle diese Kriterien lassen sich, wie man sieht, unter ANGEMES- SEN/ AD AQU AT zusammenfassen. So kann man zu dem Schluß kommen, Teiladäquatheiten als Bewertungskriterien anzusetzen. Man käme dann zu folgenden Kriterien: auf instrumentale Normen bezogen: auf situative Normen bezogen: auf ästhetische Normen bezogen: auf parasprachliche Normen bezogen: regeladäquat situativ adäquat empfängeradäquat senderadäquat medienadäquat kanaladäquat gegenstandsadäquat strategisch adäquat intentionsadäquat erwartungsadäquat ästhetisch adäquat kulturell adäquat <?page no="78"?> 68 Ulla Fix Man verfügt nun über ein sehr differenziertes Gefüge von Teilkriterien. Müßte man alle diese Kriterien bewußt anwenden, käme man freilich nie zu einem Text. Praktisch vollziehen sich Textproduktion, Textrezeption und damit auch Bewertung in einer gewissen Weise verkürzt, komprimiert und auch sortiert. Auf die Hilfe, die Textmuster und Kommunikationsmaximen in dieser Hinsicht bieten, wurde bereits hingewiesen. Von einem modularen Ansatz der Textlinguistik (Viehweger 1987, S. 4f.) ausgehend, ist zu untersuchen, „welche Kenntnisse Sprecher und Hörer über konkrete Handlungsbedingungen für die Textproduktion wie auch für die Textinterpretation aktualisieren”, wie „die unterschiedlichen Kenntnissysteme in ihrem aktiven Zusammenwirken in den Prozessen der Textproduktion sowie der Textinterpretation zu beschreiben” sind. Auf dieser Basis soll versucht werden, ein Modell von Textsortenwissen zu entwickeln, in dem deutlich wird, daß Textmuster eine handhabbare Bündelung von textsortenspezifischen Ausschnitten aus verschiedenen Wissenswelten sind. Die Bündel können und müssen nicht vollständig, nicht strikt, nicht typisiert sein. Sie erfassen das Musterhafte, das Prototypische und lassen somit Spielräume. Sie bieten Handlungsanweisungen und Ermessensspielräume zugleich, Textmuster also als Schnittpunkt von Wissensbeständen und damit ökonomische Instrumentarien kommunikativen Handelns. So gesehen ermöglicht die Kenntnis von Textmustern die Befolgung von Normen, die angemessene Gestaltung eines Textes. Wenn dem so ist, müßten Textmuster die Voraussetzung und das Ziel der Sprachberatung sein. Und dies bedeutet, daß Textmuster für diese Zwecke, da sie zu einem erheblichen Teil noch nicht erarbeitet sind, beschrieben werden müssen. Es wird sich zeigen, daß je nach Textsorte die Adäquatheitskriterien verschieden gewichtet sind. Man lernt mit der Textsorte zugleich diese Wichtung mit, weiß also, was man besonders beachten muß und was man vernachlässigen darf. Ich lehne mich bei der Entwicklung des Modells von Textsortenwissen an das kognitive Modell von Wissenskomponenten (vgl. Feilke/ Augst 1989) an, stülpe es aber um, indem ich zu erfassen versuche, welche Wissenskomponenten dieses Modells im Textsortenwissen aufgehoben sind. Und ich erweitere es um den Bereich der kulturellen Kodes (vgl. Fix 1991b). <?page no="79"?> Textmusterwissen und Kenntnis von Kommunikationsmazimen 69 Modell von Textsortenwissen Weltwissen frames scripts Prototypen Begriffe Kulturwissen Verhaltenssysteme Wertsysteme Tabus kulturelle Kodes: proxemische Kodes kinesische Kodes parasprachliche Kodes visuelle Kodes Kommunikationswissen Kommunikationsmaximen Situationsnormenwissen ästhetische Kodes Linguistisches Makrostrukturwissen Planungstechniken Textaufbau Textgliederung Kohärenztechniken Linguistisches Mikrostrukturwissen Kohäsionstechniken Syntax Lexik (Formulierung) Routinewissen Schreibung Interpunktion literale Routinen Konzeptionswissen Realisierungswissen Routinewissen <?page no="80"?> 70 Ulla Fix In den Textmustern sind Angemessenheitskriterien geronnen je nach der für die jeweilige Textsorte zugreifenden Wichtung. Es folgen einige Beispiele, die auf empirischen Untersuchungen von Textsorten 5 beruhen. - In Alltagsdialogen überwiegt das Kriterium ’situativ adäquat’ vor dem Kriterium ’regeladäquat’. Die notwendige Schlußfolgerung daraus ist, daß die Bewertung von sprachlichen Äußerungen sich nicht im Markieren von Fehlern erschöpfen darf. Sie hat eher eine Graduierung des kommunikativen Effekts, der kommunikativen Adäquatheit vorzunehmen. Zwei Aspekte müssen berücksichtigt werden: der durch den Text gegebene Grad an Verständlichkeit und die im Text angelegte Wirkungspotenz. - In wissenschaftlichen Texten überwiegen die Kriterien ’gegenstandsadäquat’, ’intentionsadäquat’ (Wissen darstellen) vor dem Empfängerbezug. ’Empfängeradäquat’ steht nicht im Vordergrund. Das ist ganz anders bei Sachtexten für den Laien, bei populärwissenschaftlicher Literatur. Da sind sowohl ’empfängeradäquat’ (Motivation des Lesers, Verständlichkeit) als auch ’intentionsadäquat’ (Einführen) von größter Bedeutung. - In Anweisungstexten wie ’Spielanleitung’ und ’Bastelanleitung’ dominiert nach unseren Untersuchungen der Bezug auf den Empfänger. In dieser Kommunikationssituation wird Wert darauf gelegt, ’leseradäquat’, d.h. motivierend und verständlich zu schreiben. ’Senderadäquatheit’ in dem Sinne, daß der Sender sich darstellt und seine soziale Rolle markiert, ist nicht festzustellen. - In Anweisungstexten wie Schulordnungen und Behördentexte u.ä., die in einem asymmetrischen Kommunikationsverhältnis fungieren, liegt der Schwerpunkt auf der Senderadäquatheit, auf dem Ausdruck der dominierenden Rolle des Senders, der Institution also. Die Empfängerseite wird, bezogen auf Verständlichkeit und die Herstellung freundlicher sozialer Beziehungen, nicht berücksichtigt. Ebensowenig spielt die Adäquatheit der Inhaltsdarstellung eine Rolle. - In Anweisungstexten wie Gebrauchsanweisungen wird die Intentionsadäquatheit (etwas erklären) und die Inhaltsadäquatheit (das vermitteln, was verstanden werden soll) vernachlässigt. Es wird aus dieser andeutenden Beschreibung von Kriterien für Textsorten deutlich, daß es Präferenzen gibt und daß, will man Textsorten als Instrument der Redebewertung nutzen, zuvor Textsorten beschrieben 5 Diese Bemerkungen sind Ergebnisse wissenschaftlicher Hausarbeiten von Cornelia Georgi und Iris Kannegießer. <?page no="81"?> Textmusterwissen und Kenntnis von Kommunikationsmaximen 71 werden müssen. Es wird auch deutlich, daß sie in ihrer Ausprägung, die soziale Verhältnisse widerspiegelt (s. Texte von Institutionen) kritisiert werden müßten, daß hier bereits Sprachkritik anfängt. Textsorten als soziale Phänomene sind durchaus nicht immer ideal, jedoch sind sie kulturell gültig und daher Grundlage von Bewertung. Das Modell von Textsortenwissen zeigt, daß Textmuster auch Kommunikationsmaximen enthalten. Zu betonen ist, daß sie sie in der für die jeweilige Textsorte zutreffenden Auswahl und Ausprägung enthalten. So kann man für Werbetexte und agitatorische Texte z. B. - Aufrichtigkeit als Kommunikationsmaxime nicht ausschließen. Für Texte aus dem Bereich der Institutionen könnte zumindest teilweise die von Polenz vorgeschlagene Maxime der Wahrung des Partnerimages Gültigkeit haben. Uber diese auf Textsorten beziehbaren Maximen hinaus sollten der Sprachberatung aber noch eine Reihe allgemeinerer Maximen zugrunde liegen, die allgemeines Wissen über Kommunikationsvorgänge anbieten und so den Sprachteilnehmer in die Lage versetzen, sich an bestimmte Bedingungen für das Glücken der Kommunikation zu halten. Einige dieser Prinzipien, die über das, was Stillehren vermitteln, hinausgehen, sollen abschließend genannt werden. Sie sind nicht zufällig und willkürlich aufgestellt, sondern aus dem Wissen, das wir über sprachliches Handeln haben, abgeleitet und für den Alltagssprecher vereinfacht dargestellt. - Der Sprecher sollte wissen, daß Sprache Mittel der Erkenntnis ist und daß Denken und Sprechen in einem engen Zusammenhang stehen. Maxime: Sei dir bewußt, daß klares Denken und klares Sprechen einander bedingen. - Wissen sollte er weiter, daß Sprache Mittel der Verständigung ist und daß geglückte Mitteilung von Sachverhalten wesentlich von gelungenen sprachlichen Formulierungen abhängt. Maxime: Willst du verstanden werden, dann formuliere genau das, was verstanden werden soll. - Ferner sollte der Sprachteilnehmer die Einsicht haben, daß das Sprachverhalten des einzelnen am Stil seiner Äußerungen ablesbar ist und daß er so, ob er es will oder nicht, sein Verhältnis zur Sprache ausdrückt. Maxime: Sei dir bewußt, daß dein Verhältnis zur Sprache und zur Kultur in deinem Sprachgebrauch deutlich wird. - Der Sprachteilnehmer muß wissen, daß die Art des Sprachgebrauchs, der Stil, gewolltes oder ungewolltes - Mittel der Selbstdarstellung ist. Maxime: Sei dir bewußt, daß du dich durch deinen Stil immer selbst darstellst. <?page no="82"?> 72 Ulla Fix - Der Sprachteilnehmer muß wissen, daß er durch seinen Stil immer auch ausdrückt, welche Art von Beziehungen er zu seinem Partner herstellen will. Maxime: Sei dir bewußt, daß du über deinen Stil deine Partnereinstellung deutlich machst. - Wichtig ist das Wissen darum, daß durch Stil die Rezeption gelenkt wird. Von der Art des Textes hängt ab, ob ein Text leicht oder schwer zu verstehen ist, ob man konzeptuelle Konflikte (Entschlüsseln von Bildern z.B.) gern löst oder nicht. Maxime: Erfolgreich zu kommunizieren bedeutet, sich auf die Rezeptionsbedürfnisse der Partner einzustellen. Mit diesen Einsichten ist der Sprachteilnehmer über die Regeln der Adäquatheit hinaus zur Erkenntnis und Anerkennung der sozialen und ethischen Funktion sprachlichen Handelns gelangt. Hier sollte neben der Vermittlung von Textmustern ein zweites wichtiges Feld für die Sprachberatung und Sprachbewertung liegen. Literatur Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Helmut Becker 1959-1969. Hg. von Gerd Kadelbach. Frankf./ M. 1971. Antos, Gerd: Grundlagen einer Theorie des Formulierens. Textherstellung in geschriebener und gesprochener Sprache. Tübingen 1982. Der große Duden. Wörterbuch und Leitfaden der deutschen Rechtschreibung. Leipzig Feilke, Helmuth/ Augst, Gerhard: Zur Ontogenese der Schreibkompetenz. In: Antos, Gerd/ Krings, Hans P. (Hg.): Texproduktion. Ein interdisziplinärer Forschungsüberblick. Tübingen 1989, S. 297-327. Fix, Ulla: ’Kommunikativ adäquat’ - ’stilistisch adäquat’. Zu Problemen, Kategorien und Kriterien der Redebewertung. Habil, sehr. Masch. Halle/ S. 1988. Fix, Ulla: Stilanalyse ein Mittel der Erziehung zum Widerspruch? Pragmastilistische Analyse eines Anweisungstextes. In: Deutschunterricht, 45.Jg., Heft 3, 1991, S. 128-136. (1991a) Fix, Ulla: Vorbemerkungen zur Theorie und Methodologie einer historischen Stilistik. In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge. 2, 1991, S. 299-310. (1991b) Greule, Albrecht/ Ahlvers-Liebei, Elisabeth: Germanistische Sprachpflege. Geschichte, Praxis und Zielsetzung. Darmstadt 1986. Keseling, G.: Probleme der inhaltlichen und verbalen Planung beim Schreiben. Bericht über ein Forschungsprojekt. In: Linguistische Studien A, Arbeitsberichte 173, 1988, S. 65-85. Kolde, G.: Sprachkritik, Sprachpflege und Sprachwissenschaft. In: Muttersprache, Bd.96, Heft 3-4, 1986, S. 171-189. Hallwass, Edith: Deutsch: locker, frisch, präzise. Ein vergnügliches Sprachtraining mit 444 Fragen und Antworten. Bad Wörishofen 1990. Nikisch, Reinhard M.G.: Gutes Deutsch? Kritische Studien zu den maßgeblichen praktischen Stillehren der deutschen Gegenwartssprache. Göttingen 1975. Peine, M./ Schönfeld, H.: Sprachliche Differenzierungen und ihre Bewertung. In: W. Hartung/ Schönfeld H. u.a. (Hg.): Kommunikation und Sprachvariation. Berlin 1981, S. 215-258. <?page no="83"?> Textmusterwissen und Kenntnis von Kommunikationsmaximen 73 Polenz, Peter von: Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen- Lesens. Berlin, New York 1985. Pörksen, Uwe: Genauigkeit, Durchsichtigkeit und Form, oder Was ist eine vollkommene Sprache? Vortrag, gehalten am 2. Nov. 1990 in Wolfenbüttel anläßlich der Verleihung des Sprachpreises durch die Hennig-Kaufmann-Stiftung. Erscheint im Jahrbuch der Kaufmann-Stiftung. 1990. Püschel, Ulrich: Praktische Stilistiken - Ratgeber für gutes Deutsch? In: Neuland, Eva und Helga Bleckwenn (Hrsg.): Stil - Stilistik - Stilisierung. Linguistische, literaturwissenschaftliche und didaktische Beiträge zur Stilforschung. Frankf./ M., Bern, New York, Paris 1991. Sitta, Horst: Defizit oder Entwicklung. Zum Sprachstand von Gymnasialabsolventen und Studenten. In: Stickel, Gerhard (Hg.): Deutsche Gegenwartssprache. Tendenzen und Perspektiven. Berlin, New York 1990, S. 233-254. Techtmeier, Bärbel: Die kommunikative Adäquatheit sprachlicher Äußerungen. In: Normen in der sprachlichen Kommunikation. Berlin 1977, S. 102-162. Viehweger, Dieter: Grundpositionen dynamischer Textmodelle. In: Linguistische Studien A, Arbeitsberichte 164, 1987, S. 1-17. <?page no="84"?> MARKUS NUSSBAUMER Bewertungskriterien für die Sprachberatung in der Schule Abstract Zunächst wird mit dem „Zürcher Textanalyseraster” ein systematischer, detaillierter Katalog von Kriterien der Beobachtung an und der Rückmeldung auf geschriebene Texte vorgestellt. Neben Kriterien bzgl. der Sprachmittelverwendung gilt die Aufmerksamkeit besonders den Eigenschaften der Textualität (Kohärenz, Präsuppositionen, Rezipientenführung). Das Analyseinstrument versteht sich primär als deskriptiv und setzt der üblichen Mängelfixierung eine Perspektive auf Qualitäten entgegen. - Im zweiten Teil werden thesenförmig Kriterien für eine gute Sprachberatung in der Schule (in der das vorgestellte Raster ein Instrument sein könnte) genannt, dies bes. unter Rückgriff auf Einsichten der neueren Schreibforschung; Beratung von Prozessen (statt Produkten), von Kommunikation (statt Sprache), Normentransparenz und Normenreflexion sind wichtige Stichworte. Der Beitrag schließt mit einem Schlaglicht auf den Zusammenhang von schulischer und außerschulischer Sprachberatung: Schulische wie außerschulische Sprachberatung hat es immer mit Lernenden zu tun. Und: Schulische Sprachberatung prägt die künftigen „Kunden” außerschulischer Sprachberatung. 0. Einleitung „Bewertungskriterien für die Sprachberatung” dieser Titel hätte in einer Analyse mit dem im folgenden genauer vorzustellenden - Zürcher Textanalyseraster (ZTAR) eine Beurteilung wie „reizvoll implizit und mehrdeutig” erfahren können, vielleicht aber auch eine Beurteilung wie „unklar und undeutlich, zweideutig, zu implizit” je nachdem. Damit wären wir schon mitten drin in der unvermeidlichen Diskussion über die Relativität von Normen, einer Diskussion, die freilich hier nicht geführt werden soll. Stattdessen ist mir die Ambiguität des Titels willkommener Anlaß, meinem Beitrag zunächst folgende Zweigliederung zu geben: In einem ersten Teil geht es um Kriterien für gute Sprache-, das braucht wohl jede Sprachberatung. Ich stelle in diesem Teil das Zürcher Textanalyseraster vor. Um Kriterien für eine gute Beratung in Sachen Sprache soll es dann im zweiten Teil gehen; eine Reflexion über solche Kriterien scheint mir für Sprachberatung nicht minder wichtig. In diesem Teil möchte ich die Frage stellen, welchen Nutzen wenn überhaupt - Lehrende und Lernende in der Schule aus dem nicht direkt für solche Zwecke entwickelten Zürcher Textanalyseraster ziehen könnten. In einem dritten Teil schließlich möchte ich in einigen ganz knappen Punkten einen Zusammenhang zwischen der schulischen und der außerschulischen Sprachberatung hersteilen. <?page no="85"?> Bewertungskriterien für die Sprachberatung in der Schule 75 1. Bewertungskriterien für (geschriebene) Sprache: Das Zürcher Textanalyseraster (ZTAR) Ein an der Universität Zürich angesiedeltes (eher kleineres) Forschungsprojekt hat sich in den Jahren 1988 bis 1992 vor dem Hintergrund der bekannten Klagen über angeblichen sprachlichen Leistungsabfall bei der heutigen Jugend und in der Gesellschaft allgemein 1 mit den „Sprachfähigkeiten von Maturanden und Studienanfängern in der Deutschschweiz” (so der Projekttitel) beschäftigt. Nebst Theoriearbeiten und Erhebungen von Einschätzungen durch Mittel- und Hochschullehrer und von Selbsteinschätzungen der jungen Erwachsenen wurde in dem Projekt das Zürcher Textanalyseraster (ZTAR) zur genaueren Beschreibung von Texten entwickelt (siehe Anhang). Mit dem ZTAR wurden rund 250 schulische Texte von Maturandlnnen (Abiturientinnen) analysiert. Die Resultate dieser Textanalysen sind zusammen mit den übrigen Ergebnissen des genannten Projekts im Herbst 1994 publiziert worden. 2 Das ZTAR ist ein systematischer Katalog von Fragen an die sprachliche Gestalt eines konkreten einzelnen Textes (Wie ist der konkrete Text? ). Dieser Katalog von Fragen leitet sich her aus einer Reihe von allgemeinen und von spezielleren Textnormen (Wie sollen Texte generell sein? ), die ihrerseits auf einer bestimmten theoretischen Grundbestimmung von Text überhaupt beruhen (Was ist überhaupt ein Text? ). 3 Dabei ist nicht zu verhehlen, daß wir bei der Ausarbeitung des ZTAR als prototypische Texte sachlich erörternde, abhandelnde, argumentierende oder einfach nur beschreibende Texte im Fokus hatten; andere Texttypen bedürften möglicherweise gewisser Retouchen an der texttheoretischen Basis und am Raster selber, stellen aber unseres Erachtens beides nicht grundsätzlich in Frage. 1.1 Texttheoretische Basis Das Zürcher Textanalyseraster fußt auf einer Texttheorie, die von einer Unterscheidung ausgeht zwischen einem überindividuell gegebenen sprachlichen Gebilde, dem „Text 1”, dem „Text auf dem Papier” - und einem prinzipiell individuellen mentalen Re-Konstrukt, dem „Text 2”, dem „Text im Kopf des Rezipienten”; insofern Rezipientinnen und Rezipienten allerdings diese Re-Konstruktion eines „Textes 2” immer als soziale Wesen leisten, sind auch „Texte 2” in gewisser Weise überindividuell. 1 Vgl. hierzu Sieber/ Sitta (1992), TVabold (1993). 2 Sieber (1994). Ergebnisse aus dem Projekt sind ebenfalls nachzulesen in Nussbaumer/ Sieber (1995a), Hanser (1992), Mayor (1992). 3 Vgl. hierzu Nussbaumer (1991), (1993), (1994); Nussbaumer/ Sieber (1995b). <?page no="86"?> 76 Markus Nussbaumer Der „Text 1” (auf dem Papier) ist eine bestimmte Realisierung von Wörtern und Sätzen mit mehr oder weniger Aufwand an Kohäsionsmitteln und an graphischen Hilfsmitteln. Die Wörter und Sätze „tragen” sprachsystematisch festgewordene, konventionelle Bedeutungen. Ein Text im vollen Sinne des Wortes, wozu insbesondere das Merkmal der Kohärenz gehört, der Ganzheitlichkeit, jenes spezifischen Mehrwertes, der über die Summe sprachlicher Teile entschieden hinausgeht ein solcher Text ist ein „Text 1” (auf dem Papier) nie. Vielmehr ereignet sich solche Textualität besserenfalls immer wieder neu nur in Köpfen von Rezipienten eines „Textes 1”. Textualität im vollen Wortsinn oder Kohärenz ist etwas, was kooperative Rezipienten auf der Basis von „Texten 1” und unter Zuhilfenahme einer ganzen Reihe von Vorwissensbereichen rekonstruktiv herzustellen versuchen. Daß gerade diese Vorwissensbereiche zu einem guten Teil sozial geprägt sind, verhindert, daß diese „Texte 2” rein individuelle Züge tragen, und ermöglicht damit, daß eine Beurteilung eines „Textes 1” aus der Sicht seines Verständnisses im Sinne eines „Textes 2” mehr sein kann als nur ein subjektives Urteil. Vorausgesetzt, daß sie glückt, besteht eine solche rekonstruktiv hergestellte Textualität im Falle abhandelnder Texte in der Einheit einer verstandenen komplexen sprachlichen Handlung, im Erkennen, daß da vermittels eines „Textes 1” ein Textproduzent eine konsistente Abfolge von sprachlichen Teilhandlungen vollzieht. Für die Textanalyse ergibt sich aus dieser texttheoretischen Grundbestimmung, daß wir nicht „Texte 1” daraufhin befragen, ob sie kohärent sind oder nicht, sondern daraufhin, wie gut sie uns als Rezipienten anleiten, 4 uns auf ihrer Basis einen gesicherten und konsistenten, einen kohärenten „Text 2” zu rekonstruieren. 5 Was das für die Textanalyse konkret heißt, soll in den beiden folgenden Abschnitten an einzelnen Punkten des ZTAR deutlich gemacht werden. 1.2 Allgemeine Textnormen: Das ZTAR mit seinen großen Bereichen Als ein systematischer Katalog von Fragen an einen konkreten Text ist das Zürcher Textanalyseraster in drei große Bereiche gegliedert (siehe auch das Raster im Anhang): 4 Andere verbale Umschreibungen dessen, was ein „Text 1” mit den Rezipientlnnen „tut”, wären „anregen” oder aber „anweisen”, sich einen „Text 2” im Kopf aufzubauen. Mit diesen unterschiedlichen Umschreibungen ist ein unterschiedlicher Grad der „Verbindlichkeit” eines „Textes 1” ausgedrückt, und dies kann je nach Textsorte unterschiedlich normkonform sein: Ein sachlich darstellender Text („Text 1”) ist schlecht, wenn er zum Aufbau eines „Textes 2” lediglich unverbindlich anregt; umgekehrt kann dies ein Ideal eines literarischen Textes sein. 5 Detailliertere Begründungen für diesen hier eher holzschnittartig skizzierten Ansatz finden sich in Nussbaumer (1991). <?page no="87"?> Bewertungskriterien für die Sprachberatung in der Schule 77 O-Bereich: Der Nullbereich („Bezugsgrößen/ Korrelate”) zielt zunächst auf Eigenschaften eines Textes, die nicht im Lichte ganz bestimmter Textnormen gesehen werden: Erhoben werden damit Eigenschaften wie die Textlänge, Umfang und Eigenschaften des im Text auftretenden Wortschatzes, Charakteristik der aufgewendeten Syntax und Kohäsionsleistung. Die Befunde in diesem Bereich sind vor allem als Bezugsgrößen für Befunde in anderen Bereichen von Wichtigkeit (Textlänge oder Wortschatz-Umfang beispielsweise als Korrelat für Orthographiefehler); sie vermögen aber auch für sich schon einiges über einen Text auszusagen (so z.B. die Textlänge, wenn man etwa einen ganzen Klassensatz von Aufsätzen vergleicht). Im Unterschied zum Nullbereich befragen wir mit den Bereichen A und B des Rasters einen Text vor dem Hintergrund von ganz bestimmten Normen. Dabei führt eine grundsätzliche Differenz in der Art der Normen nebst einer weiteren Differenz im Objekt der Fragen zur Zweiteilung des Rasters in einen A- und einen B-Bereich. A-Bereich: Mit dem Bereich A des ZTAR befragen wir „Texte 1” (Texte auf dem Papier) in ihrer Eigenschaft als Realisierungen von sprachsystematischen Wort- und Satzeinheiten, die graphisch materialisiert sind. Solche Einheiten umfassend, unterstehen „Texte 1” den Normen der sprachsystematischen und orthographischen Richtigkeit, im Sinne der klassischen Rhetorik der Norm der latinitas, die die ars recte dicendi absteckt. Diese Normen sind dichotomischer Art, d.h. sie scheiden ganz einfach das Richtige vom Falschen - „tertium non datur” (vgl. weiter unten eine gewisse Zurücknahme dieser starken Behauptung). Mit dem Teil A des Zürcher Textanalyserasters registrieren wir mit andern Worten Fehler. Es gibt grob gesagt Graphiefehler, grammatische Fehler und semantische Fehler. B-Bereich: Der Bereich B des ZTAR leitet sich her aus einer ganz anderen Art von Normen als der A-Bereich: Es sind skalare Normen der Angemessenheit, des rhetorischen aptum. Diese Normen eröffnen jeweils eine Bandbreite von Werten zwischen den Extremen „besonders angemessen” und „unangemessen”. Im Sinne der klassischen Rhetorik ist damit das Feld der ars bene dicendi abgesteckt. Anders als beim A-Bereich sind die Objekte der Fragen des B-Bereichs nur noch zum Teil die aufgewendeten Sprachmittel des „Textes 1”, zum Teil aber auch mehr oder weniger direkte Effekte dieser Sprachmittel, und das heißt: die Fragen des Raster-B-Teils sind eigentlich nicht mehr auf den „Text 1” allein gerichtet sind, sondern darauf, was der „Text 1” für mich als Rezipienten ist. Das hat einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Umstand, daß die Normen des Raster-B-Teils im Unterschied zu den Normen des A-Teils relative Normen sind: Etwas ist mehr oder weniger angemessen für diesen oder jenen Rezipienten, in dieser oder jener <?page no="88"?> 78 Marins Nussbaumer Verwendungssituation, in dieser oder jener Textsorte, in bezug auf diesen oder jenen Gegenstand und Handlungszweck etc. In einem ersten Unter-Bereich B.l geht es um die funktionale Angemessenheit oder die Verständlichkeit (am ehesten die rhetorische perspicuitas), die Angemessenheit in bezug auf die Sache, die Textabsicht, die Adressaten, die Textsorte, den Usus. Hier liegt ganz eindeutig das Schwergewicht des ZTAR, darum dazu weiter unten mehr. Der Unter-Bereich B.2 fragt nach der Schönheit der aufgewendeten Sprachmittel (ornatus). Eine Diskussion der höchst interessanten Frage, inwiefern Schönheit nicht bloß reine Zierde, sondern der Verständlichkeit (Raster-Bereich B.l) nicht unerheblich zuträglich ist, inwiefern es also überhaupt gerechtfertigt ist, ornatus und perspicuitas zu trennen, kann hier leider nicht geführt werden. 6 Der Unter-Bereich B.3 schließlich zielt auf den Gehalt, auf die inhaltliche Relevanz eines Textes, jedoch nur insofern dies für ein Urteil über die sprachliche Güte des Textes unverzichtbar ist. Natürlich sind Grenzziehungen hier äußerst schwierig. Ein Text so könnte die allgemeine Norm hier lauten ist gut, wenn er mir etwas zu sagen hat und wenn er dazu einen Weg beschreitet, der mich an einem mir erkennbaren Punkt abholt und mich über eine gewisse Strecke Wegs an einen Punkt führt, von welchem rückblickend ich einen deutlichen Weg ausmachen kann, einen Weg, den gegangen zu sein ich zufrieden bin. 1.3 Schlaglichter auf einzelne Rasterpunkte a) Sprachmittelbewertung Die in einem „Text 1” vorfindlichen Sprachmittel werden im Rahmen des Zürcher Textanalyserasters an drei verschiedenen Positionen bewertet: im A-Bereich auf ihre sprachsystematische und orthographische Korrektheit hin, unter Punkt B.l.6 auf ihre funktionale Angemessenheit und unter Punkt B.2.2 auf ihre formale Schönheit hin. Hervorzuheben ist besonders die Differenz zwischen der Beurteilung im A-Bereich und der Beurteilung unter B.l.6: Man kann und soll verwendete Sprachmittel danach beurteilen, ob sie innerhalb oder ausserhalb der grundsätzlich dichotomischen Richtigkeitsnormen liegen. Man kann und soll aber die Sprachmittel in einem zweiten Schritt darüber hinaus darauf hin beurteilen, ob sie im Rahmen der Richtigkeit textsituativ besonders angemessen oder eher unangemessen gewählt und realisiert sind. Nur Verstöße im A-Bereich sind Fehler (wir vertreten also einen eingeschränkten Fehlerbegriff), Mängel im B-Bereich sind anders begründet und anders an die Sprachproduzenten zurückzugeben. Im 6 Für eine Randbemerkung zu dieser Frage vgl. den Punkt (f) unter Abschnitt 1.3; Näheres dazu in Nussbaumer (1991, Kap. 9). <?page no="89"?> Bewertungskriterien fur die Sprachberatung in der Schule 79 B-Bereich gilt es aber auch besondere Vorzüge zu erkennen, und diese gilt es ebenfalls an die Produzenten zurückzumelden. Die Differenzierung in einen A-Bereich (richtig/ falsch) und einen B- Bereich erlaubt auch einen flexibleren Umgang mit dem Problem, daß der Bereich der Richtigkeit nicht immer jene strengen Grenzen hat, wie es der Begriff nahelegt und wie er auch besonders in der Öffentlichkeit gesehen wird: In unseren Analysen standen wir permanent vor dem Problem einer Beurteilung beispielsweise von sprechsprachlichen Syntaxmustern in geschriebenen Texten, und zwar nicht nur daraufhin, ob sie situativ angemessen sind, sondern ob sie überhaupt korrekt genannt werden können: Unsere Grammatiken beschreiben bekanntlich in aller Regel, wenn auch unausgesprochen, die Normen der geschriebenen Sprache, von denen die Muster der gesprochenen Sprache nicht unerheblich abweichen. Eine Markierung solcher Textstellen mit dem B-Teil des Rasters erlaubte hier (in begründbaren Fällen) die Vermeidung eines Fehlerverdikts bei gleichzeitiger Registrierung der Auffälligkeit. Sprachmittel neben ihrer Korrektheit auch auf ihre funktionale Angemessenheit hin beurteilen zu können macht es zudem möglich, Fehler, die zweifelsfrei solche sind, als Produkte des Versuchs, es besonders angemessen zu machen, zu registrieren. Es schafft zudem die Möglichkeit, solche Texte differenziert zu kritisieren, die zwar eigentlich keine Fehler aufweisen, über deren Sprachmittelverwendung man als Rezipientin aber dennoch nicht froh werden kann. Alles in allem haben wir mit dieser Differenzierung im Bereich der Sprachmittel eine Textcharakterisierung zu erreichen versucht, die nicht nur den Realitäten im Textprodukt gerechter werden sollte, sondern auf deren Grundlage auch eine förderliche Rückmeldung an die Textproduzentlnnen möglich wird (vgl. Abschnitt 2). b) Aspekte der Kohärenz Mit den Punkten B.l.l bis B.1.3 des ZTAR befragen wir einen „Text 1” direkt, d.h. nicht vermittels einer Charakterisierung seiner Sprachmittel, auf seine Eignung hin, Rezipientlnnen (und das waren natürlich immer wir Analysierende) dazu anzuleiten, sich auf der Basis dieses „Textes 1” einen kohärenten „Text 2” zu re-konstruieren. Wir unterscheiden drei Aspekte der Kohärenz: - Kohärent ist ein „Text 2”, wenn er sich darstellt als Realisierung einer integralen, konsistenten sprachlichen Gesamthandlung; wir haben das „Gesamtidee” genannt. (B.l.l) - Kohärent ist ein „Text 2”, wenn diese integrale sprachliche Gesamthandlung eine einsichtige Gliederung in konstitutive Teilhandlungen aufweist, die in eine folgerichtige sequentielle Ordnung gebracht sind. (B.1.2) - Kohärent ist ein „Text 2” schließlich, wenn im textuellen Mikrobereich der Satzabfolge dem Rezipienten mit jedem Satz-Schritt einsichtig ist, welche Funktion der Satz im funktionalen Textganzen <?page no="90"?> 80 Markus Nussbaumer spielt, und auch einsichtig ist, warum ein bestimmter Satz mit seiner mikrostrukturellen Funktion genau an seiner Stelle auftritt. (B.1.3) „Kohärent ist ein ’Text 2’ ” will sagen: Die Fragen gehen an den „Text 1”, ob er die Voraussetzungen bietet für die Re-Konstruktion eines solchen kohärenten „Textes 2” in den genannten drei Aspekten. Was den letzten der drei genannten Kohärenzpunkte betrifft, operiert das ZTAR mit einer Unterscheidung von „Texthintergrundslogik” und „Textvordergrundslogik”, die auf unserem oben skizzierten Textbegriff basiert und die uns besonders wichtig ist für differenzierte Rückmeldungen an Textproduzentlnnen: Wir attestieren einem „Text 1” eine intakte Texthintergrundslogik, wenn sich uns Rezipientlnnen in der Re-Konstruktion des „Textes 2” eine Textschrittabfolge ergibt, die uns sinnvoll erscheint. Einen besonders gelungenen Textschritt zeichnen wir besonders aus. Wo uns ein „Text 1” in dieser Re-Konstruktion angemessen hilft, attestieren wir ihm überdies eine intakte Textvordergrundslogik, wo er dies in besonders guter Art und Weise tut, zeichnen wir dies auch so aus. Nun kann es sein - und das ist ein vergleichsweise sehr häufiger Befund in unseren Abituriententexten -, daß wir einen Textschritt zwar zu verstehen meinen, jedoch nicht so sehr dank des „Textes 1”, sondern viel mehr aus eigener Anstrengung und sogar ein Stück weit „gegen den Strich” des „Textes 1”, d.h. indem wir ihn gegen den Wortlaut lesen, indem wir ihn „reparieren”. In einem solchen Fall attestieren wir dem „Text 1” zwar eine intakte Texthintergrundslogik, wir markieren aber eine negative TextVordergrundslogik. Das heißt auch so viel, daß wir in diesem Fall ein Problem in der Sprache und nicht im Konzeptuellen hinter der Sprache lokalisieren. Es kann jedoch auch verkommen in unseren Schülertexten war dies (verglichen mit dem soeben genannten Fall) sehr viel seltener -, daß auch jedes „Gegen-den-Strich-Lesen” und jedes Reparieren des „Textes 1” nichts hilft und unser Verständnis einbricht. In diesen Fällen sprechen wir dem „Text 1” auch die Texthintergrundslogik ab. Die Vermutung - und eine Gewißheit kann es nicht sein geht dann über ein sprachliches Problem hinaus auf ein konzeptuelles Problem. c) Umgang mit Präsuppositionen Es ist eine Binsenweisheit, daß kein „Text 1” alles sagen kann und auch sagen muß, was für ein auf ihm basierendes kohärentes Textverständnis („Text 2”) nötig ist; jeder Text kann und soll beim Rezipienten gewisse Dinge voraussetzen (präsupponieren) und kann und soll sie demzufolge unausgesprochen lassen. Jeder Text muß seine jeweils sach-, situations- und adressatenspezifische - Mitte angemessener Explizitheit und angemessener Implizitheit finden. Besonders gute Texte reizen die Ränder dieser Mitte aus: Sie gehen, wo es sinnvoll ist, an die Grenze der Implizitheit, werden also reizvoll implizit - und sind dadurch nur einen kleinen Schritt von zu großer Implizitheit entfernt, wo sie undeutlich <?page no="91"?> Bewertungskriterien für die Sprachberatung in der Schule 81 und dunkel werden. Oder sie gehen auf der andern Seite an die Grenze der Explizitheit, sie sagen, was zu sagen ist, mit maximaler Klarheit und Deutlichkeit - und fallen mit jedem weiteren Schritt in Redundanz und Geschwätzigkeit und werden langweilig. Es ist eine sehr deutliche Einsicht unserer Textanalysen, daß dieser Aspekt von Texten der im übrigen eng mit dem unter (b) erläuterten Kohärenzproblem verknüpft ist vergleichsweise große Schwierigkeiten macht. Dabei sind die Schülertexte sehr viel häufiger zu implizit als zu explizit. Sicher hat das mit der spezifischen schulischen Schreibsituation zu tun, es folgt aber vermutlich auch aus einem von Schülerinnen und Schülern immer wieder explizit zur eigenen Norm erhobenen Ideal größtmöglicher Knappheit 7 und ist insgesamt weniger Ausdruck eines Problems mit der Sprache als vielmehr eines Problems mit spezifischen Eigenheiten und Normen schriftsprachlicher Kommunikation, die möglicherweise gar nicht so sehr nicht bekannt sind als vielmehr nicht akzeptiert zu werden scheinen. 8 d) Ausdrückliche Rezipientenführung Gemäß unserem Textbegriff (siehe Abschnitt 1.1) ist jeder „Text 1” eine Anleitung für den Rezipienten, ist also Rezipientenführung. Texte weisen jedoch ein Mehr oder Weniger an zusätzlichen Mitteln auf, die dem Rezipienten seine Re-Konstruktion eines kohärenten „Textes 2” erleichtern: ein Mehr oder Weniger an Kohäsionsmitteln, an metakommunikativen, d.h. über den Text selber sprechenden Passagen, an graphischen Hilfsmitteln u.a. Einzelne dieser Punkte sind deutlich stark textsortenabhängig: So erwartet man in sachlichen Erörterungen ab einer gewissen Länge Metakommunikation, während sie in erzählenden Texten eher stören würde. e) Textmusternormen Alles (Sprach-)Handeln ist mustergeleitet, ist geleitet von Handlungsmustern, von Sprachmustern. Verstehen ist auch der Versuch, Muster wiederzuerkennen, im Besonderen das Allgemeine zu sehen. Lernen ist nebst anderem der Aufbau von Mustern. Muster haben für das produktive wie rezeptive Handeln Entlastungsfunktion; sie können was die Produktion anbelangt aber auch zum einengenden Korsett werden, sie können was die Rezeption anbelangt den faden Geschmack des abgegriffenen Klischees bekommen. Einmal mehr liegt das Gute irgendwo in der Mitte zwischen der reinen Schablonenfüllung und der entfesselten Individualität, die sich um das Erkannt- und Verstandenwerden nicht kümmert. Textmuster sind eine besondere Form von Sprachmustern. Konstituiert werden sie von vielerlei Dingen: das geht von äusserlichen, graphischen oder phonologischen Eigenheiten über le- 7 Vgl. Sieber (1994, Kap. 4 u. 7). 8 Vgl. Sieber (1994, Kap. 7). <?page no="92"?> 82 Markus Nussbaumer xikalische und grammatische Charakteristika bis zu Besonderheiten der Textmakrostruktur, der Textgliederung und -entfaltung. Wir schreiben Texte grundsätzlich bestimmten Mustern zu, doch sind diese Muster unterschiedlich stark bestimmt. Schulaufsätze sind möglicherweise Muster für sich, sie sind auf jeden Fall eher schwach normiert. Texte aus naturwissenschaftlichen Fächern solche haben wir auch untersucht sind eher stärker normierte Textsorten. f) Normkonformität und Repulsivität Was im Punkt (e) angesprochen ist, hat uns in unserer ganzen Analysearbeit beschäftigt: die Ambivalenz von Normerfullung und Normdurchbrechung. Besonders augenscheinlich wird dies in den Rasterpunkten B.2 (formale Angemessenheit) und B.3 (inhaltliche Relevanz): Solche schwer faßbaren Eigenschaften wie die sprachlicher Eleganz und Eingängigkeit wie sehr sind sie doch gerade auch der Verständlichkeit förderlich (B.l des Rasters) und für ein Qualitätsurteil über einen Text von Gewicht! Doch leistet nicht ab und zu das formal Widerborstige, das Eckige und Kantige ein Gleiches in vielleicht noch größerem Maße? Ansichten über die Welt, die ich teilen kann und die mir wichtig sind gibt es etwas, was ich mit noch mehr Einsatz und Freude zu verstehen suche? Ja! Nämlich das, was mich zunächst einmal vor den Kopf stößt, mich befremdet, in mir aber gleichzeitig die Hoffnung nährt, daß ich es werde verstehen können und daß sein Verständnis sich lohnt. Um in diesen Punkten differenziert urteilen zu können, haben wir im Zürcher Textanalyseraster für die Bereiche der formalen Schönheit und der inhaltlichen Relevanz je eine Rubrik mit dem Titel „Wagnis” vorgesehen, mit der wir unter anderem - Textstellen auszeichnen, die aufgrund ihrer Form oder ihres Inhaltes zunächst einmal widerborstig, repulsiv, aufrührerisch sind. 1.4 Einige besondere Charakteristika des ZTAR Die Vorstellung des Zürcher Textanalyserasters abschließend, weise ich auf einige generelle Zielsetzungen und Besonderheiten dieses Analyseinstruments hin: a) Drei Tiefenschärfen Unsere Textanalysen 9 bestehen aus drei Teilen: Das ZTAR findet einmal Verwendung zur Randkommentierung einzelner Textstellen; hier ist es ein exhaustives Ordnungsschema für alle Auffälligkeiten. Zum andern haben wir das ZTAR angewendet als systematische Such- und Frageanleitung zu einem ganzen Text, haben also mit Hilfe des Rasters eine globale Charakterisierung des einzelnen Textes hinsichtlich der einzelnen Rasterpunkte vorgenommen. Drittens haben wir auf- 9 Wir haben die Texte übrigens immer zu zweit, in wechselnden Paaren, analysiert, weis doch ein wesentlicher Schritt in Richtung größerer Intersubjektivität ist. <?page no="93"?> Bewertungskriterien für die Sprachberatung in der Schule 83 bauend auf den vielen Randbemerkungen und auf den systematischen Globalkommentaren zum jeweiligen Text in Form eines kürzeren eigenen Textes ein Gesamturteil versucht. Damit stellt eine Textanalyse mit dem ZTAR drei unterschiedliche Fokussierungen auf einen Text dar, unter denen sich der Text jedesmal etwas anders darstellt. Das kann gerade für Rückmeldungen an die Textproduzentlnnen von großer Bedeutung sein: Man kann einzelne Textstellen wie unter dem Mikroskop präsentieren, man kann den Text unter einzelnen Aspekten, möglicherweise Aspektverbänden global charakterisieren, man kann schließlich ein Gesamturteil abgeben, das gewissermaßen um seine eigene Geschichte weiß und in dem Einzelbefunde, die für sich betrachtet gerne ein monströses Gesicht bekommen, eingebunden in ein Gesamtbild ihr „natürliches” Gewicht zurückbekommen. b) Eine textanalytische Sprache Für diese dreifache Anwendung (Randkommentar, Globalkommentar, Gesamturteil) bietet das ZTAR zunächst einmal ein differenziertes Vokabular, und zwar ein Vokabular sowohl für das Festhalten, Benennen und Einordnen von textuellen Eigenschaften und Auffälligkeiten wie auch ein Vokabular für das Abstützen, das Verankern von bestimmten Urteilen über Teile des Textes oder den Text als ganzen. c) Deskription, Norm und Wertung Das ZTAR ist in erster Linie ein Instrument der Deskription. Deskriptiv aber ist es natürlich im Rahmen der genannten Normen: Es erfaßt auffällige Erfüllungen dieser Normen und auffällige Abweichungen von diesen Normen. Indem es diese Normen offenzulegen sich bemüht, erlaubt es auch den Schritt hinter diese Normen. Das ZTAR ist sicher kein einfacher Algorithmus zur Errechnung irgendeines Gesamtprädikats auf der Basis von Einzelbefunden. Die Entwicklung des Gesamturteils über einen Text geschieht auf der Basis der Einzelbefunde niemals mechanisch oder arithmetisch, sondern beruht auf einem Akt gewichtender und wertender geistiger Integration, wie auch das gesamte Analysieren immer ein besonderer Aspekt eines Versuchs ist, einen Text zu verstehen. Eine Bewertung unserer ganzen Textkorpora (Was leisten die Abiturientinnen heute in ihrer Muttersprache? ) erfordert zudem zusätzliche Deutungsschritte, in denen nebst den Texten auch andere Faktoren wie Sprachunterricht, Anforderungen, sprachliche „Umwelt” und ihre Entwicklungen eine Rolle spielen. 10 d) Keine Mängelfixierung Indem wir mit dem B-Teil des ZTAR nicht bloß die Mängel an einem Text festhalten, sondern auch die besonderen Qualitäten, lösen wir uns aus einer fatalen Defizitorientierung, die selbst den besten Text nur als 10 Zu diesen Deutungen vgl. Sieber (1994, Kap. 7). <?page no="94"?> 84 Markus Nussbaumer relativ frei von Mängeln charakterisieren kann, eine Auszeichnung, die wahrlich keinem Text gerecht zu werden vermag. Mit dieser Abkehr von der reinen Mängelfixierung geraten Eigenschaften in den Blick, die einen Text in jedem Fall stärker auszeichnen als seine Mängel. Diese Hinwendung zu Qualitäten ist auch die Grundlage für eine Rückmeldung an Textproduzentlnnen, die darauf baut, daß eine Weiterarbeit auf der Basis dessen, was gut ist, was man kann, mehr bringt als eine Weiterarbeit auf der Basis von lauter Einsichten in Unzulänglichkeiten. e) Konzentration auf das Relevante Wer sich für eine Textbeurteilung auf das Relevante konzentriert, konzentriert sich zwangsläufig auf Dinge, die einzufangen schwierig sind. Schwierig deshalb, weil sie komplex sind und weil ihre Normen weder explizit kodifiziert sind noch einfach das Richtige vom Falschen scheiden. Letzteres tun beispielsweise Normen der Schreibung, weshalb sich nicht selten Urteile über Sprachleistungen einzig und allein auf die Einhaltung gerade dieser Normen abstützen wenn sie denn überhaupt irgendwie abgestützt sind. Wir sind aber entschieden der Meinung, daß man Texte unter den Aspekten beurteilen sollte, die für ihre Qualität relevant sind, und nicht ausschließlich unter den Aspekten, die sich leicht beurteilen lassen; sonst passiert es leicht, daß Urteile entstehen, die zwar maximal objektiv sind, aber auch maximal irrelevant. 11 f) Kommunikationsstatt Textanalyse Aus den oben dargelegten texttheoretischen Grundüberlegungen ergibt sich, daß die Analyse mit dem ZTAR trotz des Namens des Analyseinstruments nicht einfach die Analyse eines fertigen Sprachprodukts ist, sondern die Analyse eines Kommunikationsprozesses, der zwischen einem Sprachprodukt („Text 1”) und einem verstehenden Rezipienten stattfindet. Damit ist die Möglichkeit eröffnet für eine Beratung, deren Ziel nicht so sehr das perfekte Sprachwerk als vielmehr eine gute Verständigung mit Hilfe von guten Texten ist. ii Damit soll natürlich nicht gesagt werden, daß wir den Bereich der Fehler etwa gar nicht oder gering achten würden; wir möchten ihm nur den Stellenwert einräumen, der ihm unseres Erachtens! zukommt. <?page no="95"?> Bewertungskriterien für die Sprachberatung in der Schule 85 2. Bewertungskriterien für die Beratung in Sachen Sprache oder: Kann das Zürcher Textanalyseraster Lehrenden und Lernenden von Nutzen sein? Die jüngere Schreib(entwicklungs)forschung zeigt unter vielem anderen folgende Punkte sehr klar: 12 - Schreibberatung ist umso förderlicher, je früher sie im Prozeß des Schreibens eingreift; Rückmeldungen auf fertige Schreibprodukte sind vergleichsweise wenig effizient. - Rückmeldungen „auf gleicher Stufe”, d.h. von Schülerin zu Schülerin, bringen mehr als Rückmeldungen von Lehrenden an Lernende; und sie nützen demjenigen etwas, dem die Rückmeldung widerfährt, wie auch demjenigen, der die Rückmeldung gibt/ geben muß. - Wer Lernende fördern will, muß nicht nur wissen um die Ziele der zu fördernden Entwicklung ja, diese sind vielleicht sogar sekundär -, sondern er muß wissen um die Wege des Lernens, die Schritte und Eigenheiten der Entwicklung, er muß Eigenheiten der Leistungen von Lernenden als solche sehen und verstehen können, darf sie nicht bloß im Lichte der Entwicklungsziele (und damit gegenüber einer idealen Sollensnorm als defizitär) sehen. Bedenkt man das, so ist es ein sehr weiter Weg von unserem Zürcher Textanalyseraster, seiner Zweckbestimmung und bisherigen Anwendung hin zu einer Hilfe für die Schreibberatung. Dennoch will ich hier einige Gedanken zur Diskussion stellen, worin der schreibdidaktische Nutzen dieses Instruments oder einer Weiterentwicklung davon liegen könnte; dabei sollen auch einige generelle Kriterien für eine gute Sprachberatung deutlich werden: a) Gute Sprachberatung ist entwicklungsorientiert, sie versteht die zu Beratenden als Lernende und nicht als Defizitäre. Terminologisch (und damit auch begrifflich) widersetzt sich gute Sprachberatung dem metaphorischen Sprachgebrauch von Diagnose und Therapie, weil dieser die Normalität des Lernens pathologisiert, aus selbstverständlichsten Entwicklungsproblemen Krankheitsfälle macht und aus dem Unterwegssein eine Abweichung. Das Zürcher Textanalyseraster ist insofern entwicklungsorientiert, als es dazu anleitet, auch das Gute und nicht nur die Mängel in einem Text zu sehen; das ZTAR hat jedoch keine Begriffe für Stufen der Entwicklung, es kann nicht anders als vom Ziel her blicken. Es tut dies allerdings nicht so sehr mit konkret gefüllten Zielnormen als vielmehr mit einem inhaltlich relativ offenen Zielrahmen; das macht es möglicherweise auch für die Lernberatung fruchtbar. 13 12 Vgl. beispielsweise Feilke (im Druck). 13 Hier wirkt sich deutlich aus, daß an der Entwicklung des ZTAR zum Teil Leute beteiligt waren, die nicht „nur” wissenschaftlich mit Texten beschäftigt sind, sondern die auch in der Praxis des Sprachunterrichts an Gymnasien tätig sind und von dort her die Belange des Schreibunterrichtes kennen. <?page no="96"?> 86 Markus Nussbaumer b) Gute Sprachberatung kommt nicht erst, wenn es zu spät ist, und sagt, was man hätte besser machen können. Sie qualifiziert nicht Produkte, sondern hilft bei der Produktion, sie ist Prozeßberatung. Aber eine solche Beratung braucht metaphorisch gesprochen ein Bein im Ziel, sie braucht Fixpunkte, auf die hin sie den Prozeß beraten kann. Da kann das ZTAR mit seinen Kategorien helfen. c) Gute Sprachberatung braucht eine leistungsfähige Metasprache, die die Sprachphänomene ordnet und Verständigung über sie möglich macht. Ein Ziel könnte sein, die Fachsprache des ZTAR in eine Form zu bringen, mit der sowohl Lehrerinnen als sogar auch Schülerinnen umgehen können. 14 d) Sprachberatung kommt nicht um Urteile herum. Gute Sprachberatung urteilt transparent, und dies im doppelten Sinn: Zum einen legt sie ihre Normen auf den Tisch. Gerade für schulische Sprachberatung, die oft auch in Sprachbewertung umschlägt, ist Transparenz wichtig: Schüler haben ein Recht zu wissen, nach welchen Normen sie beurteilt werden. Das ZTAR zeigt seine Normen und gibt ihnen Namen, so daß man über sie reden kann. Zum andern urteilt gute Sprachberatung insofern transparent, als sie zeigt, wie ihre globaleren Urteile aus einzelnen Eindrücken hervorgehen, wie sie eine Struktur haben. Hier kann das ZTAR mit seinen unterschiedlichen Tiefenschärfen eine Hilfe sein. e) Gute Sprachberatung bietet keine stilistischen Passepartouts feil, ist nicht Erziehung zu falscher Sicherheit in vermeintlich festen Normen. Gute Sprachberatung fördert vielmehr eine allgemeine Sprach- Bewußtheit, ein Bewußtsein für die Relativität von Normen; gute Sprachberatung ist Erziehung zu Flexibilität, zu reflektiertem Umgang mit Normen. Gute Sprachberatung ist nicht Drill für „die 17 Schreibsituationen des Lebens”, sondern hilft beim Aufbau einer allgemeinen Problemlösekompetenz für ein lebenslanges, in Teilen immer wieder neues Schreiben. Das ist insgesamt sehr anspruchsvoll: Solche Sprachberatung löst Probleme niemals ein für allemal, und sie schafft obendrein Probleme da, wo die Beratenen sie vorher subjektiv gar nicht hatten. Gute Sprachberatung löst nicht nur Probleme (oder tut dies gar nicht), sondern verschiebt auch Erwartungen. Dadurch können sich Probleme manchmal in Luft auflösen, häufiger aber noch entpuppen sich neue Probleme - und diesmal echte. Das ZTAR kann hier mit seinem sehr allgemein gehaltenen Normen- und Maximen-Rahmen, mit seiner sehr breiten, aspektreichen Anlage, mit seiner Zurückhaltung in 14 Erste Schritte in diese Richtung haben wir unternommen: Zusammen mit Gymnasiallehrerinnen und -lehrern haben wir im Rahmen von Lehrerfortbildungskursen eine Adaptation des ZTAR für die Belange des schulischen Schreibunterrichtes versucht. Vgl. hierzu auch Nussbaumer/ Sieber (1995b). <?page no="97"?> BeweriungskrHerien für die Sprachberaiung in der Schule 87 der Wertung (wir haben oft Auffälligkeiten einfach benannt und nicht gewertet) hilfreich sein. f) Gute Sprachberatung ist eigentlich nicht Sprach-, sondern Kommunikationsberatung. Der Textbegriff, der hinter dem ZTAR steht, lenkt den Blick weg vom Text als bloßem Sprachprodukt hin zum Prozeß der Verständigung zwischen einem Produzenten und einem Rezipienten vermittels eines Textes, eines Textes, der weniger statisches Sprachprodukt als vielmehr Mittel des sprachlichen Handelns ist. Gut ist eine Sprachberatung, die so sie denn überhaupt ex post formuliert so formuliert: „Ich finde deinen Text gut, weil er mir für den Aufbau eines Verständnisses geholfen hat und weil ich ihn da er mir etwas zu sagen hatte gerne gelesen und verstanden habe.” Oder: „Deinen Text finde ich nicht gut, und dies nicht deshalb, weil er viele Fehler hat und auch gegen andere Normen verstößt, sondern weil ich ihn nicht verstanden habe oder er mir eine Eigenleistung abverlangt, die zu bringen ich nicht gewillt bin; oder weil er es nicht geschafft hat, mich zu interessieren, mir zu zeigen, daß er mir etwas zu sagen hat.” g) Gute Sprachberatung ist in erster Linie Beratung von Kommunikation und nicht wie es oft und gerade auch in der Schule geschieht immer gleich Debatte über Inhalte. Ich leugne keineswegs, daß Inhalte wichtig sind für gute Texte, und doch kommt bei uns der Inhalt zuletzt (im Raster ganz stiefmütterlich unter B.3). Es täte dem Sprachunterricht gut, wenn er seiner Verantwortung als Sprach-Unterricht wieder vermehrt nachkäme. Beratung in Sprache, in Kommunikation macht Menschen mündiger als manche Inhalte! 3. Schulische und außerschulische Sprachberatung Zum Abschluß einige sehr vorläufige - Bemerkungen über den Zusammenhang zwischen schulischer und außerschulischer Sprachberatung. Ich möchte folgendes heraussteilen: a) Die Schule hat ihre eigenen Textsorten, die zwar den außerschulischen Textsorten mehr oder weniger angenähert werden können, immer aber schulische bleiben. Das hat mit dem Lebensraum Schule zu tun, aber auch mit dem Umstand, daß in diesem Lebensraum Schule das Schreiben immer auch noch Funktionen trägt, die beim Schreiben außerhalb der Schule eine untergeordnete Rolle spielen: Funktionen der personalen Entwicklung, Funktionen des Lernens. Diesem Umstand hat Sprachberatung in der Schule eine große Beachtung zu schenken, und dieser Umstand macht sie in mancher Hinsicht der außerschulischen Sprachberatung unvergleichbar. b) In diesem Zusammenhang wird allerdings ein angeblicher Unterschied zwischen Schule und dem außerschulischen Bereich gerne zu sehr <?page no="98"?> 88 Markus Nussbaumer herausgestrichen: der Unterschied, daß Schülerinnen auf dem Weg zur Sprache seien, Erwachsene die Sprache hingegen hätten. Eine außerschulische Sprachberatung hätte es in vielem leichter, wenn Erwachsene mit ihrer Sprache umgingen im Bewußtsein, vieles zu können, vieles aber auch nicht - und vielleicht niemals auf Nummer sicher und ein für allemal zu haben, vieles immer noch dazulernen zu können, zu sollen und zu wollen. c) Es ist die Schule von heute, die die Erwachsenen von morgen und damit die potentielle Kundschaft außerschulischer Sprachberatung prägt. Guter Sprachunterricht wirkt ein Leben lang (schlechter übrigens auch), und zwar in vielfacher Hinsicht: Er entläßt sprachlich gut geförderte Schülerinnen und Schüler, die wissen, daß sie etwas können, und die dennoch weiterlernen wollen, die nicht so gut sind, daß sie keine Sprachprobleme mehr haben so gut ist niemand -, aber so gut, daß sie gegebenenfalls ihre Sprachprobleme von selber oder durch Hinweise von anderen erkennen, und die sich dann den Rat, den sie wirklich brauchen, dort holen, wo es ihn wirklich gibt, und die nicht an einfache Rezepte für schwierige Probleme glauben. Literatur Feilke, Helmuth (1993): Schreibentwicklungsforschung. Ein kurzer Überblick unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung prozeßorientierter Schreibfähigkeiten. In: Diskussion Deutsch 129 (im Druck): S. 17-34. Feilke, Helmuth: Die Entwicklung der Schreibfähigkeiten. In: Hartmut Günther/ Otto Ludwig (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit. Writing and its use. 2. Halbbd. Berlin/ New York. (=Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft). Hanser, Cornelia (1992): „Man versteht doch, was gemeint ist! ” oder: Schreiben im naturwissenschaftlichen Unterricht. In: Schweizer Schule 79, Nr. 9, S. 15-21. Mayor, Guy A. (1992): Wie muttersprachliche Fähigkeiten in den Mittelschulen eingeschätzt werden. In: Schweizer Schule 79, Nr. 7-8, S. 22-29. Nussbaumer, Markus (1991): Was Texte sind und wie sie sein sollen. Ansätze zu einer sprachwissenschaftlichen Begründung eines Kriterienraters zur Beurteilung von geschriebenen Schülertexten. Tübingen (= Reihe germanistische Linguistik 119). Nussbaumer, Markus (1993): Textbegriff und Textanalyse. In: Peter Eisenberg/ Peter Klotz (Hg.): Sprache gebrauchen - Sprachwissen erwerben. Stuttgart fetc.l (= Deutsch im Gespräch), S. 63-84. J v Nussbaumer, Markus (1994): Ein Blick und eine Sprache für die Sprache. Von der Rolle des Textwissens im Schreibunterricht. In: Der Deutschunterricht 46, 5, S. 48-71. Nussbaumer, Markus/ Sieber, Peter (1995a): Was sich in Abituriententexten zeigt. Ergebnisse aus dem Zürcher „Sprachfähigkeiten”-Projekt. In: Diskussion Deutsch 141, S. 15-24. Nussbaumer, Markus/ Sieber, Peter (1995b): Über Textqualitäten reden lernen — z.B. anhand des „Zürcher Textanalyserasters”. In: Diskussion Deutsch 141, S. 36-52. Sieber, Peter (Hg.) (1994): Sprachfähigkeiten - Besser als ihr Ruf und nötiger denn je! Ergebnisse und Folgerungen aus einem Forschungsprojekt. Aarau. (= Reihe Sprachlandschaft 12). <?page no="99"?> Bewertungskriterien für die Sprachberatung in der Schule 89 Sieber, Peter/ Sitta, Horst (1992): Sprachreflexion in der Öffentlichkeit. Die öffentliche Sprachkritik als Indikator öffentlichen Sprachbewußtseins. In: Der Deutschunterricht 44, H. 4, S. 63-83. Trabold, Annette (1993): Sprachpolitik, Sprachkritik und Öffentlichkeit. Anforderungen an die Sprachfähigkeit des Bürgers. 0 Bezugsgrössen/ Korrelate 0.1 Textlänge. token-Zahien 0.1.1 Buchstaben 0.1.2 Wortformen 0.1.3 Teilsätze 0.1.4 Ganzsätze 0.2 types-Zahlen 0.2.1 Lexeme 0.2.2 grammatische Kategorien 0.2.3 Teilsätze (Satzbaupläne) 0.2.4 Ganzsätze 0.3 Charakterisierung des Wortschatzes: Grundwortschatz/ Nicht-Grundwortschatz 0.4 Charakterisierung der Syntax: einfachfltomplex; normal/ ausgefallen 0.5 Charakterisierung der Kohäsionsleistung: viel/ wenig; einfach/ schwierig 0.6 Charakterisierung der Komplexität des Themas sowie der Komplexität der Behandlung des Themas im Text A. Sprachsystematische und orthographische Richtigkeit 0 Orthographie 1 Interpunktion M Morphologie SY Syntax T Textbau/ Satzverknüpfung SA Semantik von inhaltswörtem/ Autosemantika SS Semantik von Funktionswörtem/ Synsemantika SK Semantik komplexer Ausdrücke (komplexe Wörter. Wortgruppen. Sätze) <?page no="100"?> 90 Markus Nussbaumer B B.1 Funktionale Angemessenheit: Verständlichkeit/ Kohäranz B.1.1 Gesamtidee, Thema, Absicht des Textes 1.1.1 In welchem Masse lasst sich kn Text eine Gesamtklee erkennen, die den einzelnen Textteilen ihren Ort ziaweist? 1.1.2 Welches ist diese Gesamtidee? 1.1.3 Entspricht die Gesamtidee der Aufgabenstellung (wie sie z.B. durch den Titel markiert sein kann)? B.1.2 Aufbau, Gliederung (Textmakrostruktur) Hat der Text eine der Gesamtidee entsprechende Gliederung? Welches sind die einzelnen Glieder? 1.2.1 Innere Gliederung 1.2.2 Äussere Gliederung (graphisch mittels Absatz, Spiegelstrich u.ä.) B.1.3 Thematische Entfaltung 1.3.1 Lässt sich in der thematischen Entfaltung eine Logik hinter dem Text rekonstruieren? (Texthintergrundslogik THL) 1.3.2 Zeigt sich in der thematischen Entfaltung eine Logik im Text selbst? (Textvordergrundslogik TVL) B.1.4 Grad an Implizitheh/ Expiizitheit 1.4.1 Ist der Text so implizit wie möglich? 1.4.2 Ist der Text so explizit wie nötig? B.13 Ausdrückliche Rezipientenführung 1.5.1 Metakommunikative Elemente 1.5.2 Kohäsionsmittel (Verweis-, Verknüpfungsmittel: Pronomen, Konjunktionen, Konjunktionaladverbien u.a.; textstrukturierende Mittel, Wortstellung) 1.5.3 Graphische Mittel (Unterstreichung, Schriftauszeichnung u.ä.) 1.5.4 Explizite Nennung von Produzent und Rezipient; Markierung des Standpunktes des Produzenten B.1.6 Angemessenheit der Sprachm’rttel (SachadäquatheH, Funktionsadäquatheit Ususadäquatheit) 1.6.1 Interpunktion 1.6.2 Wortformen-, Phrasen-und Sstzbau 1.6.3 Textbau 1.6.4 Wahl von Autosemantik^lnhaltswörtem 1.6.5 Wahl von SynsemantikiVFunkt'ionswörtem 1.6.6 Semantik komplexer Ausdrücke 1.6.7 Registerwahl B.1.7 Erfüllung von Textmustemormen B.2 Ästhetische Angemessenheit Besondere formale Qualitäten B.Z1 Sprachlich-formale» Wagnis B.2.2. Qualität der Sprachmittel (Attraktiviät/ Repulsivität) 2.2.1 Wortwahl 2.2.2 Sab- und Textbau 2.2.3 Rhythmus 2.2.4 Registerwahl, Tonlage B.3 Inhaltliche Relevanz: Besondere inhaltliche Qualitäten B.3.1 Inhaltliches Wagnis B.3.2 Inhaltliche Wegqualität (Attratdivität/ Repulsivität) <?page no="101"?> ULRICH PUSCHEL Normen und Normenkonflikte Am Beispiel eines Schreibseminars in der beruflichen Fort- und Weiterbildung Abstract Unabdingbare Voraussetzung für eine Lehrtätigkeit in der beruflichen Fort- und Weiterbildung, in der Schreibfertigkeiten vermittelt werden, ist die Fähigkeit und Bereitschaft, den eigenen Sprachgebrauch wie die Sprachgebräuche anderer kritisch zu reflektieren. Nur so kann mit den Normenproblemen und -konflikten, die in einem Schreibtraining auf Schritt und Tritt auftreten, erfolgreich umgegangen werden. Ein sprachreflexives Bewußtsein ist aber nicht nur Voraussetzung bei den Lehrenden, seine Vermittlung muß zugleich ein wesentliches, wenn auch heimliches Ziel eines jeden Schreibseminars sein. Denn neben der Schulung in rein sprachlichen Fertigkeiten muß den zu Schulenden klar gemacht werden, daß sie ständig mit Sprachnormen konfrontiert sind. Sie müssen außerdem darauf vorbereitet werden, Normenkonflikte zu erkennen und die Art der Konflikte zu durchschauen. Schließlich sollen sie lernen, mit diesen Konflikten umzugehen. 1. Vom Umgang mit Sprachnormen in der Linguistik Viele - und zu denen gehörte auch ich hatten sich in den sechziger und siebziger Jahren bei ihrer Beschäftigung mit Sprache an einem Wissenschaftsideal orientiert, das sich in der vielzitierten Version Andre Martinets folgendermaßen liest: Wir nennen eine Darstellung wissenschaftlich, wenn sie auf der Beobachtung der Tatsachen beruht, ohne eine Auswahl unter diesen Tatsachen im Namen gewisser ästhetischer oder moralischer Grundsätze vorzuschlagen. (Martinet 1963, S. 14) Danach kommt der Beschäftigung mit Sprache dann das Prädikat ‘wissenschaftlich’ zu, wenn die forschenden Personen den Sprachgebrauch so beschreiben, wie er ist, keinerlei Bewertungen vornehmen und schon gar nicht in ihn eingreifen wollen. 1 Auf diese Weise hatten die Anhänger dieses Wissenschaftsideals etwas als Nichtgegenstand aus der Sprachwissenschaft ausgegrenzt, was zum Sprachhandeln wie die Luft zum Atmen gehört: das Bewerten des Sprachgebrauchs, das Ulla Fix „als Element sprachlicher Tätigkeit” bezeichnet (Fix 1990). Was die Ausgrenzer in ihrem sprachlichen Alltag problemlos taten, nämlich den Sprachgebrauch anderer zu 1 Dieser deskriptivistischen Position ist zu Recht die These von der Normativität des Deskriptiven entgegengehalten worden (vgl. Gloy 1975, S. 89). Danach greifen auch diejenigen, die sich frei von jeglichen Werturteilen gegenüber der Sprache wähnen, mit ihrer Forschertätigkeit normierend in die Sprache ein. Sie wissen es nur nicht oder wollen es nicht wahrhaben. <?page no="102"?> 92 Ulrich Püschel bewerten und auf ihn Einfluß zu nehmen 2 , sollte in der sprachtheoretischen Reflexion keinen Platz haben. Die Vorstellung, man könne und müsse als Sprachwissenschaftler normierend in den Sprachgebrauch eingreifen, war nicht nur verpönt, sondern diejenigen, die das als Sprachpfleger taten, wurden milde gesagt mit Skepsis betrachtet. Es gab aber auch die Gegenposition, nach der zumindest Wertung, aber auch die Bereitschaft zum Eingreifen in die Sprache ausdrücklich befürwortet wurden, was manchen Deskriptivisten in seinem Glauben an die Werturteilsfreiheit seines Tuns verunsicherte. Dazu trug die soziolinguistische Debatte seit dem Ende der sechziger Jahre bei. Ihr Thema war nicht nur die Beschreibung der Sprachnormen und ihrer Rolle in der Gesellschaft, sondern diese Debatte wurde auch mit dem Ziel geführt, Veränderungen der Normen und Veränderungen der gesellschaftlichen Einstellung zu Normen zu bewirken. Die handlungstheoretisch fundierte linguistische Sprachkritik zielte ebenfalls auf eine eingreifende Praxis, indem sie Anleitung dazu geben wollte, wie Normenkonflikte im sprachlichen Handeln zu diagnostizieren seien und wie die Konfliktparteien im rationalen Diskurs damit umgehen könnten. Außerdem reagierten Sprachwissenschaftler auf das offensichtlich vorhandene Bedürfnis nach Orientierung im Geflecht der Normen, wie das Aachener grammatische Telefon zeigt, das 1981 neben die Auskunftsdienste der Duden-Redaktion und der Gesellschaft für deutsche Sprache trat. Im Laufe der achtziger Jahre haben sich Sprachwissenschaftler noch auf andere Weise aus ihrem Elfenbeinturm hinausbewegt und sich damit nolens volens dem Normenproblem gestellt. Sie haben das wahrhaft facettenreiche Feld der beruflichen Kommunikation für sich entdeckt, auf dem sie nicht nur forschend und beratend tätig werden, indem sie ihre Untersuchungsergebnisse in Schulungskonzepte einbringen, sondern sie beteiligen sich auch an der praktischen Umsetzung solcher Konzepte, indem sie selber Gesprächs-, Rede- und Schreibseminare durchführen. Wie ich selber erfahren habe, wird man beim Eintauchen in die Praxis mit Aufgaben konfrontiert, die sich ganz gut mit fachlichem Wissen lösen lassen, und zwar dergestalt, daß handfeste Lösungen angeboten werden können. Daneben gibt es aber auch Aufgaben, für die keine handfesten Lösungen existieren und sich auch nicht finden lassen, da es sie nicht gibt. Paradoxerweise ist gerade in diesem zweiten Fall die linguistische Fachkompetenz ganz besonders gefragt, denn die Linguisten müssen solche „unlösbaren Aufgaben” nicht nur kennen, um ihre Klientel vor der irrtümlichen Hoffnung auf Patentlösungen zu bewahren, sondern 2 Dabei erweisen sich gerade auch Sprachwissenschaftler in ihren sprachbewertenden Äußerungen hin und wieder als erstaunlich elitäre Säcke (um eine von Hans Jürgen Heringer in die Diskussion eingeführte Charakterisierung aufzunehmen; Heringer 1980, S. 58). <?page no="103"?> Normen und Normenkonflikie 93 sie müssen ihren Auftraggebern und den Seminarteilnehmern auch plausibel machen können, warum es entgegen deren Erwartungen diese Lösungen nicht gibt. Diese Bemerkungen klingen noch sehr abstrakt, werden aber sofort konkreter, wenn sie auf die stilistische Entscheidung bezogen werden. Denn wie alle Sprachhandlungen sind die stilistischen Handlungen regelgeleitet, folgen also Normen. 3 Damit erhebt sich zwangsläufig die Frage, welches die Normen sind, an die sich die Sprachhandelnden in einer bestimmten Situation halten sollen. In der Gesellschaft ist nun die Ansicht weit verbreitet, daß diese Frage klar zu beantworten ist und daß es darüber hinaus Instanzen gibt, die diese Antworten bereithalten. Personen, die sich in Sprachtrainings in der beruflichen Fort- und Weiterbildung betätigen, bekommen in den Augen der Teilnehmer ganz automatisch den Status einer solchen Instanz. Speziell Sprachwissenschaftler, die ein distanzierteres, weil reflektierteres Verhältnis zu den Normen haben, können hier leicht in die unangenehme Situation geraten, daß sie ungewollt zur normsetzenden Autorität avancieren. Die Alternative zur Rolle des Sprachpapstes kann aber weder der „wertfreie” Deskriptivistenstandpunkt sein noch die „anything goes”- Haltung. Stilistische Orientierung muß in irgendeiner Weise angeboten werden, oder anders gesagt: Um Normen kommt niemand herum. Den Weg, der in dieser Situation zu gehen ist, weist die linguistische Sprachkritik, auch wenn das auf den ersten Blick vielleicht nicht so recht zu erkennen ist. Denn diese sprachkritische Richtung hat mit manch flottem Spruch wohl eher ihre wirklichen oder auch nur vermeintlichen Kontrahenten verprellt, anstatt sie zur produktiven Auseinandersetzung zu reizen. Einer dieser Sprüche lautet „Normen? Ja aber meine! ” (Heringer 1980). Das ist provokant, richtet sich jedoch ausdrücklich nicht gegen die Normen, um die wie schon gesagt niemand herumkommt, sondern gegen diejenigen, die ihre Normen gegen andere bewußt oder unbewußt durchsetzen wollen; es geht um die Forderung, daß Normen zu legitimieren sind. Solche Durchsetzer können gesellschaftliche Gruppen sein, Institutionen oder Einzelpersonen; grundsätzlich hat jedoch jeder von uns das Recht, die Normierer auf ihre Legitimation und auf ihre Zielsetzung hin, die sie mit ihrer normdurchsetzenden Tätigkeit verbinden, zu befragen. Die linguistische Sprachkritik stellt diese Frage im Falle von Normenkonflikten im öffentlichen Sprachgebrauch, die sie nach den Regeln der linguistischen Kunst offenlegt. Mit dieser Vorgehensweise verbunden ist ein zweiter Spruch: „Haben wir die Analyse, so ist auch alles getan.” (Heringer 1982, S. 27) Diese Auf- 3 Ich mache in diesem Beitrag keinen Unterschied zwischen (sozialen) Regeln, Normen oder Konventionen, weil es mir nicht auf solche Differenzierungen ankommt, wie sie beispielsweise Gloy (1987, S. 119f.) vorgenommen hat. <?page no="104"?> 94 Ulrich Puschel gabenbeschreibung erinnert auf den ersten Blick an einen Arzt, der sich zurückzieht, wenn er die Diagnose gestellt hat, anstatt eine Therapie vorzuschlagen. Doch der ärztliche Doppelschritt mit der Abfolge von Diagnose und Therapie trifft nicht auf die linguistische Analyse zu; denn diese selbst ist schon ein Eingreifen und in gewisser Weise Therapie, insofern als durch sie den Sprachteilhabern Art und Gründe des Konflikts in das Bewußtsein gehoben werden sollen. Etwaige Schlußfolgerungen für ihr eigenes zukünftiges Sprachhandeln müssen sie allerdings selber ziehen. Die Normenkonflikte liefern also Anlässe für „sprachkritische Diskurse, die dazu beitragen, Lebens- und Kommunikationsformen so zu verändern, wie es der gesellschaftliche Wandel erforderlich macht.” (Wimmer 1983, S. 9) Voraussetzung für die linguistische Sprachkritik ist ein sprachreflexives Bewußtsein, das zur kritischen Reflexion des eigenen Sprachgebrauchs wie der Sprachgebräuche anderer befähigt und zu dem die Bereitschaft gehört, den eigenen Sprachgebrauch zur Diskussion zu stellen. Beides die Befähigung wie die Bereitschaft zur kritischen Reflexion sind nicht jedem von uns in die Wiege gelegt, sondern viele müssen das mehr oder weniger mühsam lernen. Damit kommt aber der linguistischen Sprachkritik über die exemplarische Analyse von Normenkonflikten hinaus noch eine weitergehende Aufgabe zu: Sie muß die Sprachhandelnden von der Vernünftigkeit dieses sprachkritischen Tuns überzeugen, um ihre Bereitschaft zur kritischen Reflexion zu wecken, und sie muß diejenigen, die zur sprachkritischen (Selbst)Reflexion bereit sind, schulen, indem sie ihnen das für die Analyse notwendige Handwerkszeug vermittelt. An dieser Stelle läßt sich nun der Bogen zu der Frage schlagen, wie in Sprachtrainings der beruflichen Fort- und Weiterbildung mit dem Normenproblem umgegangen werden kann. Denn über die Schulung in rein sprachlichen Fertigkeiten hinaus sollte in einem solchen Training auch ein sprachreflexives Bewußtsein gefördert werden. Das heißt natürlich keineswegs, daß die Teilnehmer zu kleinen Linguisten ausgebildet werden müßten, ganz im Gegenteil: Alle Anklänge an Sprachtheorie bis hin zur linguistischen Terminologie sind zu vermeiden. Aber es ist dennoch möglich und sinnvoll, den zu Schulenden einige Einsichten in ihre Sprache und ihren Sprachgebrauch zu vermitteln; hierzu gehört auch der Umgang mit Normen. Ich werde nun an einigen Beispielen zeigen, wo und in welcher Form in einem Schreibtraining Normenprobleme akut werden und wie mit ihnen im Einzelfall umgegangen werden kann. Bei dem Schreibtraining, auf das ich mich beziehe, handelt sich um ein dreitägiges Seminar, in dem Führungskräfte eines großen Unternehmens darin geschult werden, Briefe an Privatkunden zu schreiben. Für das Unternehmen ist dieses Seminar einer von vielen Schritten, die zu seiner Corporate Identity führen sollen. Da ich an der Konzeption des Seminars beteiligt war und auch Gelegen- <?page no="105"?> Normen und Normenkonflikte 95 heit hatte, es selber durchzuführen, haben die folgenden Ausführungen den Charakter eines Erfahrungsberichts. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Es geht mir nicht darum, das Seminarkonzept vorzustellen und zu begründen, sondern ausschließlich um einige Erfahrungen, die ein Sprachwissenschaftler mit Sprachnormen macht, wenn er in die Praxis geht. 2. Strikte und vage Vorgaben des Unternehmens Das Unternehmen verbindet mit der Fort- und Weiterbildunsgmaßnahme Erwartungen, die sich in mehr oder weniger detaillierten Vorgaben niederschlagen. Unter diesen Vorgaben gibt es einen kleinen Bereich mit expliziten Regelungen, deren Befolgung verbindlich ist. Diese Präskriptionen betreffen vor allem, doch nicht ausschließlich das äußere Erscheinungsbild der Briefe: die Gestaltung der Briefbögen, die Adreß- und Textzeilenbreite, den Übergang zur Folgeseite; aber auch die Gestaltung der Adresse nach der „DIN 5008 Regeln für Maschinenschreiben”, die Unterschrift nach der Geschäftsordnung bis hin zum ausgeschriebenen Vornamen, die Regelung der Voll- und Kurzform des Unternehmensnamens oder die Ersetzung des Ausdrucks Gebühr durch Tarif und Preis. Alle diese Maßnahmen zielen auf ein einheitliches Erscheinungsbild der Unternehmenskorrespondenz. Es ist klar, daß der Schreibtrainer sich an diese Vorgaben halten muß; entweder er macht sich zum Vertreter der Normeninstanz ’Unternehmen’ und vermittelt die Vorgaben an die Teilnehmer (sofern diese sie nicht sowieso schon kennen), oder er wirft das Handtuch. Da es sich bei diesen Vorgaben vor allem um „technische” Fragen handelt, die das Unternehmen nach seinen Vorstellungen gelöst sehen möchte, bleibt das Konfliktpotential recht klein. Dennoch ist klar festzuhalten, daß das Unternehmen als Auftraggeber für sich das Recht in Anspruch nimmt, in bestimmten Punkten verbindlich zu entscheiden, was ‘richtig’ oder ‘falsch’ ist. Trotz des geringen Konfliktpotentials können sich hinter solchen „technischen” Anweisungen durchaus Probleme verbergen, die sich unter Umständen erst bei der praktischen Umsetzung der Vorgaben zeigen. So haben Teilnehmerinnen mehrfach berichtet, daß eine scheinbar so harmlose Angelegenheit wie der ausgeschriebene Vorname in der Unterschrift zu unangenehmen Erfahrungen führte. In den Augen des Unternehmens soll der Vorname eine persönliche Note in den Brief bringen, außerdem soll so für die Anrede in Antwortbriefen klargestellt werden, ob es der Kunde mit einem Mann oder einer Frau zu tun hat. Nun hat sich aber herausgestellt, daß es immer wieder Männer gibt, die in Telefonaten den Vornamen zu plumper Anmache mißbrauchen. Die zitierten Frauen würden es deshalb vorziehen, ihren Vornamen nicht auszuschreiben. Damit haben wir es mit einem Normenkonflikt zu tun, bei dem die Befolgung einer Norm negative Folgen nach sich ziehen kann, die die normierende Institution nicht vorausgesehen hat. Natürlich gibt es eine einfache Lösung, nämlich <?page no="106"?> 96 Ulrich Puschel den Vornamen in der Unterschrift abzukürzen und stattdessen in die Bezugsvermerke unter „Unser Zeichen” Frau x zu schreiben, so daß klar ist, ob man es mit einem Mann oder einer Frau zu tun hat. Solange aber das Unternehmen dem nicht zustimmt, ist der Normenkonflikt nicht aus der Welt geschafft. Neben der kleinen Zahl recht konkreter Vorgaben gibt es sehr pauschale Vorgaben, die die Seminarinhalte und -ziele umreißen, also unter dem Normenaspekt das Wesentliche betreffen. Es ist nicht weiter überraschend, daß das Unternehmen dafür keinerlei Präzisierungen parat hat; denn es ist ja viel einfacher, die Gestaltung des Briefkopfes und die Form der Unterschrift verbindlich zu regeln als den Briefstil im Detail. Dementsprechend heißt es ganz allgemein über das Seminar: Die Teilnehmer üben, Briefe an Privatkunden verständlich, kundenfreundlich, imagepflegend, überzeugend und ökonomisch zu formulieren. Was diese Zielsetzungen genau meinen und wie sie im Seminar zu erreichen sind, sollte eine Gruppe von Fachleuten herausfinden, die damit beauftragt war, das Seminarkonzept zu entwickeln. Dieser Arbeitsgruppe gehörten auch zwei Sprachwissenschaftler an. Die Sprachwissenschaftler waren als Experten für Normenfragen engagiert worden, wobei ihnen speziell die Rolle derjenigen zugedacht war, die wissen, was gutes und richtiges Deutsch ist; außerdem wurde von ihnen noch erwartet, daß sie die brillanten Formulierungen liefern, die den Seminarteilnehmern eingetrichtert werden sollten. Die Sprachwissenschaftler waren damit in die Position gerückt worden, die in der öffentlichen Meinung die praktischen Stilisten innehaben. Doch diesen Erwartungen konnten und wollten die Sprachwissenschaftler nicht entsprechen; umgekehrt hatten sie aber auch kaum eine Möglichkeit, die Normenproblematik explizit anzusprechen. Denn mit den Gepflogenheiten, nach denen Wissenschaftler an Probleme herangehen, hatte die Arbeit in der Planungsgruppe nichts zu tun. Das Seminarprogramm ist in gewisser Weise wildwüchsig entstanden, wobei sich aber unter der Hand dennoch einige Grundsätze gewissermaßen als Eckpfeiler eingeschlichen haben, die die Normenproblematik unmittelbar betreffen oder zumindest mit ihr Zusammenhängen. Dabei schälte sich sehr schnell als ein erster Konsens heraus, daß das klassische Feld der Sprachnormendiskussion von Orthographie und Grammatik in der hier angesprochenen Fort- und Weiterbildung keine Rolle spielt. Diese Normen betreffen ein Basiswissen, über das die Teilnehmer verfügen, auch wenn es natürlich vorkommt, daß mal ein erweiterter Infinitiv mit zu nicht mit Komma abgetrennt wird oder Unsicherheit besteht in der Frage „klein und zusammen oder groß und auseinander”; das kann schließlich uns allen passieren. Rechtschreibung, Zeichensetzung und Konventionen des schriftlichen Sprachgebrauchs sind also kein Thema. Treten <?page no="107"?> Normen und Normenkonflikie 97 dennoch Zweifelsfälle auf, dann dient der Duden als Grundlage für deren Behandlung. 3. Das sprachreflexive Bewußtsein als heimliches Ziel Ein zweiter Konsens stellte sich dagegen recht mühsam ein, nämlich die Einsicht, daß es keine einfachen Rezepte für das Schreiben von Kundenbriefen gibt. Nach hartem Ringen hat dieser Konsens seinen Niederschlag im Seminar in Form einer reflexiven Maßnahme gefunden: Die Teilnehmer werden ausdrücklich darauf hingewiesen, daß sie nicht die acht oder zehn „Goldenen Regeln” für das Briefeschreiben lernen können. Dieser Hinweis ist insofern zentral, als damit implizit thematisiert wird, daß das Schreiben eine komplexe und komplizierte Angelegenheit ist. Außerdem kommt mit diesem Hinweis die Normenproblematik ins Spiel, da sich mit der Annahme, daß es einfache Rezepte gebe, die Vorstellung verbindet, daß es sich dabei um Anweisungen für das gute und richtige Deutsch handele. Genährt wird diese Annahme vor allem durch die traditionelle Praktische Stilistik (vgl. dazu Rupp 1986; Sanders 1988; Püschel 1991). Ein Schwachpunkt der Praktischen Stilistik besteht nun in der Prämisse, man könne mit einer begrenzten Zahl griffiger Anweisungen den sicheren Weg zum guten Deutsch weisen. Dieser Auffassung begegnet man in Reinkultur in der Reinersschen „Stilfibel”, in der zwanzig Verbote zum fehlerlosen Stil, zwanzig Gebote zum guten Stil und zwanzig Ratschläge zum wirkungsvollen Stil führen sollen. Hier wird die Anweisung auf ein „Man vermeide ...” und „Man nehme ...” verkürzt, und das Ganze mit Erfolgsgarantie: Wenn Sie das Werk gründlich durcharbeiten, tritt der Erfolg so sicher ein, wie die Wintersonne im Gebirge Ihre Haut braun brennt. (Reiners 1963, S. 6) Aus der „Stilfibel” spricht eine Haltung, die als „Formulieren nach Rezept” umschrieben werden kann; ihr ist die differenziertere und schwierigere Position vom „Formulieren als Problemlosen” entgegenzustellen, das eine eigenverantwortliche und reflektierte Tätigkeit darstellt. Danach wird das Schreiben von Texten als sukzessives Lösen von Formulierungsproblemen betrachtet und nicht einfach als eine Technik oder Fertigkeit, die quasi mechanisch eingesetzt werden kann (dazu Antos 1988, S. 41). Nun wissen wir ja aus eigener Erfahrung, daß wir keineswegs immer reflektiert formulieren, sondern daß uns die Worte häufig wie von selbst auf das Papier fließen. Wir verfügen auch glücklicherweise über eine „formulative Routine” (Antos 1988, S. 42), die uns vor dem Zwang bewahrt, ständig reflektiert formulieren zu müssen. Dieser formulativen Routine fehlt zwar gewissermaßen das schöpferische Moment, aber man sollte ihr deshalb nicht die problemlösende Funktion absprechen, denn die formulative Routine ist auf ihre Weise ebenfalls problemlösend: In ihr wird auf eingespielte Problemlösungen zurückgegriffen. <?page no="108"?> 98 Ulrich Puschel Schöpferisches wie routiniertes Formulieren läßt sich nun in einem Schreibseminar nicht einfach lehren, und dennoch spielen beide Varianten des Formulierens eine zentrale Rolle, was sich deutlich sichtbar in der Arbeitsweise niederschlägt. Grundsätzlich sind die Teilnehmer gefordert, ein hohes Maß an Eigenaktivität zu entwickeln, indem sie schreiben, umschreiben oder der Kürze halber auch mündlich Formulierungsvorschläge machen. Der Trainer ist gehalten, möglichst viele solcher Vorschläge in die Auswertung mit einzubeziehen mit dem Ziel, den Teilnehmern ständig vor Augen zu führen, daß es für Schreibprobleme eben nicht die eine Lösung gibt, sondern eine Vielfalt an Lösungen. Allerdings darf aus dieser Vorgehensweise nicht der Schluß gezogen werden, daß alle Vorschläge als gleichwertig akzeptiert werden. Selbstverständlich wird auch danach gefragt, was die verschiedenen Lösungsvorschläge leisten und wie angemessen sie sind. Unter dem Normenaspekt soll auf diese Weise bei den Teilnehmern die Einsicht gefestigt werden, daß es gerade im Bereich des Stilistischen nicht um simple Unterscheidungen von ’gut’ und ’schlecht’ oder ‘richtig’ und ‘falsch’ geht, sondern um die flexible Nutzung der Möglichkeiten, die uns unsere Sprache bietet. Wie beim schöpferischen Formulieren gibt es auch beim Routineformulieren keine einfachen Rezepte. Denn beim Rückgriff auf Routineformulierungen gilt ebenfalls der Grundsatz: Es gibt nicht die eine gute und richtige Lösung. Routine muß sein, denn sie entlastet den Schreiber. Das trägt einerseits zur Schreibökonomie bei, andererseits bleiben so dem Schreiber Zeit und Kraft, sich auf die Probleme zu konzentrieren, die kreative Lösungen verlangen. Zu den Schreibaufgaben, die routiniert bewältigt werden sollten, gehört zum Beispiel der Briefanfang. Sachbearbeiter greifen dabei in der Regel auf einen stereotypen Satz zurück, mit dem sie schon immer diese erste Hürde genommen haben, beispielsweise: (1) wir bestätigen Ihnen den Eingang des o.a. Schreibens, in dem Sie ... Ein mindestens ebenso beliebter Einstieg ist der Dank für das erhaltene Schreiben, selbst wenn es überzogene und ungerechtfertigte Vorwürfe gegen das Unternehmen enthält. Die Verwendung solcher Standard- Eröffnungen ist unbedingt richtig, denn der Briefanfang ist meist eine Routineangelegenheit und sollte auch so behandelt werden. Schlecht daran ist dagegen, wenn der Mitarbeiter nur über eine einzige Einstiegsmöglichkeit verfügt und diese undifferenziert einsetzt. Deshalb gibt es in dem Seminar einen Übungsteil, der sich mit Möglichkeiten beschäftigt, wie der Schreiber anfangen kann und was der jeweilige Einstieg leistet. Solche Möglichkeiten sind: (2) den Eingang bestätigen danken für Hinweise, Anregungen oder Interesse unmittelbar mit der Sache anfangen Bedauern ausdrücken <?page no="109"?> Normen und Normenkonflikie 99 um Verständnis bitten sich entschuldigen Doch damit nicht genug, es werden auch Formulierungen gesammelt, mit denen diese Eröffnungshandlungen realisiert werden können, als Beispiel dazu Anfänge mit danken: (3) Wir danken Ihnen für Ihre Anregung ... Haben Sie vielen Dank für Ihre Anregung ... Vielen Dank für Ihr Interesse an ... Sie haben uns einen wichtigen Hinweis gegeben. Vielen Dank! Mit dieser Übung soll erreicht werden, daß die Teilnehmer einen gewissen Fundus an Einstiegsmöglichkeiten samt Formulierungen mit an den Arbeitsplatz nehmen, mit denen sie Routineprobleme auf eingespielte, aber doch flexible Weise lösen können. Da auch die Frage behandelt wird, wann auf welche der Routinen sinnvollerweise zurückgegriffen werden kann, wird deutlich, daß formulative Routine nicht mit Schematismus oder mechanischem Vorgehen gleichgesetzt werden darf. Wie die Skizze der Arbeitsweise zeigt, wird in der praktischen Spracharbeit gewissermaßen nebenbei etwas für das sprachreflexive Bewußtsein der Teilnehmer getan, indem bei ihnen das Verständnis dafür geweckt und weiterentwickelt wird, daß es unterschiedliche Lösungen für eine sprachliche Aufgabe gibt. Dazu gehört zuerst einmal die Einsicht, wie flexibel und vielgestaltig das Werkzeug ‘Sprache’ ist, und dann die Motivation, das flexible und vielgestaltige sprachliche Angebot zu nutzen. Das gehört aber mit zu den Voraussetzungen, die den reflektierten und kritischen Umgang mit Normen erst ermöglichen. Die Förderung eines sprachreflexiven Bewußtseins, das zum sprachkritischen Umgang mit Normenkonflikten befähigt, steht keineswegs im Gegensatz zu den Seminarzielen; sie stellt auch keine zusätzliche Aufgabe dar, sondern ist für das Seminar zentral, auch wenn sie nie ausdrücklich genannt wird. Da in einer dreitägigen Veranstaltung keineswegs alle Fragen und Probleme behandelt werden können, die beim Briefeschreiben auftreten, muß es ein Hauptziel der Schulung sein, die Teilnehmer dazu zu befähigen, die Probleme, die sie beim Schreiben am Arbeitsplatz haben, selbständig zu erkennen und Wege zu ihrer Behebung zu suchen. Dabei müssen sie beispielsweise auch selber entscheiden, welche der gefundenen Formulierungen sie für angemessen halten. Selbständigkeit in Sprachfragen ist also gefordert, und dazu sollte auch gehören, daß die Schreibenden wissen, daß sie letztlich selber ihre eigene Normeninstanz sind, und zwar auch dann, wenn sie sich Orientierung aus anderen Quellen verschaffen. <?page no="110"?> 100 Ulrich Puschel 4. Das Individuum als Normeninstanz Gerade für den Programmpunkt ‘Selbständigkeit in der Entscheidung’ ergibt sich für das Seminar eine Schwierigkeit: Die Teilnehmer haben die berechtigte Erwartung, daß sie erfahren, wie sie ihre Briefe in Zukunft schreiben können. Aus welchem anderen Grund sollten sie das Seminar sonst besuchen? Darüber hinaus haben viele Teilnehmer noch die konkrete Erwartung, daß ihr Trainer ihnen genau sagen kann, was richtig oder falsch, was gut oder schlecht ist, und diese Erwartung ist umso stärker, wenn der Trainer aus dem akademischen Bereich kommt. 4 Aus dieser Gemengelage von Erwartungen ergibt sich eine komplexe Aufgabe, die zuerst einmal darin besteht, den Teilnehmern ihre Autoritätsgläubigkeit zu nehmen, nach der es einzelne Personen oder Institutionen sind, die über Stilnormen verbindliche Auskunft geben können dergestalt, daß sie über jedes Formulierungsdetail abschließend urteilen. Daraus erwächst die weitere Aufgabe, die Stelle der Normeninstanz neu zu besetzen. Wer entscheidet denn eigentlich darüber, was beispielsweise bewährte Routinelösungen sind und unter welchen Voraussetzungen sie sinnvoll verwendet werden? Und schließlich muß auch mehr oder weniger explizit plausibel begründet werden, wie sich die etablierte Normeninstanz legitimieren läßt. Die Antwort auf die Frage nach der Normeninstanz lautet: Jeder einzelne verantwortet in letzter Konsequenz seine eigenen Normen, indem er für sich entscheidet, wie er schreiben will und wie nicht. Für die Arbeit im Seminar bedeutet das, daß alle Teilnehmenden nicht nur das Recht haben, sondern auch ausdrücklich dazu aufgerufen sind, jeden Vorschlag um eigene Vorschläge zu ergänzen. Auf diese Weise soll nicht nur die Vielfalt formulativer Alternativen aktiviert werden, sondern es soll im Vergleich bis in Nuancen hinein nachgespürt werden, wie sich die unterschiedlichen Formulierungen auswirken. Außerdem kann jeder Teilnehmer im Hinblick auf die Vorschläge anderer als Normeninstanz agieren, die lobt oder tadelt. Lob und Tadel sollen aber begründet werden, indem die Teilnehmer die Vor- und Nachteile der vorgeschlagenen Formulierungen nennen. Wer getadelt wird, darf wenn er will seinen Vorschlag verteidigen, so daß verschiedene Sichtweisen einander gegenübertreten und der Normenkonflikt deutlich sichtbar wird. Die kontroverse Beurteilung wird ausdrücklich als Normalfall markiert mit dem zusätzlichen Hinweis, daß es ebenfalls durchaus normal ist, wenn die Vertreter kontroverser Auffassungen sich nicht einigen können. Die Beteiligten müssen akzeptieren, daß Bewertun- 4 Es ist natürlich ein angenehmes Gefühl als Autorität, die die Aura des Wissenschaftlichen umgibt, anerkannt zu werden. Aber gerade in Sprachnormenfragen ist es mit der Wissenschaftlichkeit recht problematisch, denn sprachberatende und -schulende Wissenschaftler handeln nicht von einer objektiven Sprachwarte aus, sondern als gesellschaftliche Subjekte; dabei reproduzieren sie häufig nur ihre eigenen Vorlieben; vgl. Gloy (1993, S. 48ff.). <?page no="111"?> Normen und Normenkonflikte 101 gen nicht nur unterschiedlich ausfallen, sondern daß es im Prinzip auch keine Instanz gibt, die ein abschließendes Urteil fällt. Zwar rufen die Teilnehmenden in strittigen Fällen gerne den Seminarleiter als Richter an, aber auch der hat nur seine Meinung, wie die anderen die ihre haben. Anders gesagt: Die Offenlegung des Normenkonflikts bildet so etwas wie eine sprachkritische Laienanalyse, die mit der Analyse in der linguistischen Sprachkritik vergleichbar ist. Ebenfalls vergleichbar ist die Laienanalyse und die linguistisch-sprachkritische Analyse im Hinblick auf die möglichen Folgen: Wie den Konfliktparteien bleibt es den Seminarteilnehmern prinzipiell selbst überlassen, was sie aus dem Analyseergebnis für sich machen, ja wie sie überhaupt mit den im Seminar angebotenen und erarbeiteten Problemlösungen umgehen wollen. Deshalb wird schon zu Beginn des Seminars ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es sich immer nur um Vorschläge und Anregungen handelt, unter denen die Teilnehmer nach ihren eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen auswählen müssen. Im übrigen sind manche Teilnehmer aus ihrem beruflichen Alltag mit dem Normenkonflikt in Form widerstreitender Formulierungen wohl vertraut, wenn auch auf eher unangenehme Weise. Denn es passiert immer wieder, daß bei einem Vorschlag, den die Teilnehmer insgesamt als gelungen betrachten, jemand äußert, daß er solche oder ähnliche Formulierungen schon früher gerne in seinen Briefen verwendet hätte, der Vorgesetzte sie bei Durchsicht der Briefe jedoch herausgestrichen hätte. Damit sind wir ganz konkret wieder an der Stelle angekommen: „Normen? Ja aber meine! ” Der Vorgesetzte setzt die seinen durch, einfach weil er die Macht dazu hat. Vielleicht wird sich in einem zukünftigen Konflikt der Untergebene durchsetzen, dann aber hoffentlich argumentativ und nicht allein mit dem Hinweise auf das Seminar als einer höherwertigen Normeninstanz. Werden die Seminarteilnehmer als ihre jeweils eigene Normeninstanz ernst genommen, dann müssen sie wie schon angesprochen selbst urteilen, wann immer es um Bewertungen geht. Deshalb sind beispielsweise die Schreibübungen so angelegt, daß die Schreibenden gar nicht darum herumkommen, ihre Schreibprodukte und die der anderen zu beurteilen. Dazu ein Beispiel: 5 Die fünfzehn Teilnehmer werden in drei Gruppen zu fünf Personen eingeteilt. Jede Gruppe muß in der Rolle des Kunden einen Brief an das Unternehmen schreiben, sagen wir eine Beschwerde. Die Briefe werden dann ausgetauscht und jeweils von einer anderen Gruppe beantwortet. Allerdings muß in dieser Phase jedes Gruppenmitglied für sich eine Antwort verfassen, so daß auf jede Beschwerde fünf Reaktionen vorliegen. Im nächsten Schritt müssen die Mitglieder einer Gruppe ihre Antwortbriefe miteinander besprechen. Falls sie einen Brief für den optimalen halten, 5 Diese Übung wie auch die unten zitierten Materialien hat Ulrich Schoenwald von „IMK Ulrich Schoenwald”, Institut für moderne Korrespondenz, Hilden, in das Seminar eingebracht. <?page no="112"?> 102 Ulrich Püschel können sie diesen zum „King” erklären und dem Plenum vorlegen; falls sie sich aber auf keinen „King” einigen können (das ist die Regel), müssen sie auf der Basis ihrer vorliegenden Briefe eine gemeinsame Fassung erstellen. Im Endergebnis gibt es zu den drei Beschwerden drei Antworten, die dann im Plenum ausgewertet werden. Auch dabei gilt eine Regel: Zuerst kommen die Schreiber des Beschwerdebriefs zu Wort, dann die Mitglieder der unbeteiligten Gruppe und schließlich die Schreiber des Antwortbriefs. Auch wenn das alles nur ein Spiel ist, gehen die Gruppenmitglieder aufgrund ihrer verschiedenen Rollen doch mit wechselnder Perspektive an die Arbeit. In dieser Übung folgen aufeinander Phasen des gemeinsamen und individuellen Planens, Formulierens, Revidierens und Bewertens mit dem Ziel der Textoptimierung. Außerdem erhalten die Teilnehmer auf zwei Stufen Feedback, da sie in der Kleingruppe die einzeln geschriebenen Briefe miteinander besprechen und im Plenum dann den von der Gruppe als optimal betrachteten Brief gemeinsam verantworten. 5. Das Sprachgefühl als Bewertungsmaßstab Neben der Frage nach der Normeninstanz bleibt noch die weitere Frage, wie zu legitimieren ist, daß das Individuum als Normeninstanz fungiert. Die Antwort auf diese Frage fällt wenn auch nicht ganz einfach, so doch sehr knapp aus: durch sein Sprachhandlungswissen. Es war schon davon die Rede, daß die Teilnehmer Orthographie und Grammatik beherrschen; hinzuzufügen ist, daß sie natürlich auch über verschiedene Varietäten des Deutschen verfügen, die sich den Bereichen von Schriftlichkeit und Mündlichkeit zuordnen lassen. Weiterhin verfügen sie innerhalb des Feldes des Schriftlichen über unterschiedliche „Register”. Dieses Sprachhandlungswissen, das ja ein Normenwissen ist, bildet die Basis für ihre Beurteilungskompetenz. Da dieses Sprachhandlungswissen weithin implizites Wissen ist, könnten die Teilnehmer gefragt, worauf sich ihre Urteile denn gründen würden antworten: auf unser Sprachgefühl. Auch wenn der Begriff des Sprachgefühls keine gängige sprachwissenschaftliche Kategorie ist, trifft er in vieler Hinsicht auf anschauliche Weise das Gemeinte, wie sich an Hans Martin Gaugers und Wulf Oesterreichers Explikation zeigt: Sprachgefühl ergibt sich für den „gebildeten” Sprecher aus dem Abstand zwischen dem in seiner Umgebung faktisch Geäußerten und der Norm, der er sich, zumindest in bestimmten Situationen, verpflichtet fühlt. Er weiß einerseits: so wird [...] faktisch gesprochen, und er weiß andererseits: so dürfte „eigentlich” nicht, oder positiv: so müßte „eigentlich”, wenn es um Norm und Erfüllung ginge, gesprochen werden. Diese Kenntnis der Norm, dies nicht immer sehr bestimmte Bewußtsein von ihr, aus dem sich Kriterien der Bewertung ergeben, ist das Sprachgefühl. (Gauger/ Oesterreicher 1982, S. 40) Das Sprachgefühl beruht also auf Normenkenntnis, und es kommt ins Spiel, wenn sich zwischen der gekannten Norm und dem faktischen Sprachge- <?page no="113"?> Normen und Normenkonflikte 103 brauch Differenzen ergeben. Dabei verstehen Ganger und Oesterreicher Norm als „Vorschrift”, und zwar speziell als diejenige Vorschrift, die sich als „Hochsprache” manifestiert. Urteile nach dem Sprachgefühl sind demnach Urteile über abweichenden Sprachgebrauch, schärfer noch: über fehlerhaften Sprachgebrauch. Daß solche Urteile auf dem Sprachgefühl basieren können und auch häufig tatsächlich basieren, soll unbestritten bleiben; problematisch ist aber zweierlei: zum einen die Beschränkung der Urteile auf Differenzen zwischen der „Hochsprache” als einem absolut gesetzten Maßstab und einem faktischen Sprachgebrauch, der von der „Hochsprache” abweicht; zum andern die Beschränkung der Urteile auf „richtig” und „falsch”. Gerade um diese letzte Beschränkung durchhalten zu können, begrenzen Gauger und Oesterreicher die Bewertungsgegenstände des Sprachgefühls auf Grammatisches und Lexikalisches, können diese Begrenzung aber nicht durchhalten, wie verschiedene ihrer Beispiele zeigen, die eindeutig in das Feld des Stilistischen gehören; dort geht es jedoch nicht einfach um ‘richtig’ oder ‘falsch’, sondern um beispielsweise ‘angemessen’, ‘wirkungsvoll’ oder ‘ästhetisch’. Gerade wenn Gauger und Oesterreicher sagen, daß sie bei ihrer Bestimmung der Kategorie ‘Sprachgefühl’ an die Sprecherwirklichkeit anknüpfen, ist ihre Begrenzung ein Vorurteil, denn die Bewertungen, die die Seminarteilnehmer abgeben, beziehen sich in den meisten Fällen auf Stilistisches und nicht auf Orthographie und grammatische Richtigkeit. Dabei gelten für diese Bewertungen' der Seminarteilnehmer eine Reihe von Eigenschaften, die nach Gauger und Oesterreicher das Sprachgefühl auszeichnen (Gauger/ Oesterreicher 1982, S. 50-52): (a) Unmittelbarkeit des Urteils oder fehlende Reflexion beim Urteilen; für die Seminarteilnehmer bedeutet das, daß sie weithin, wenn auch nicht ausschließlich spontan, eben aus dem Gefühl heraus urteilen; (b) fehlende Begründung für das Urteil, die allenfalls durch nachträgliche „Rationalisierung” geliefert wird; nachträgliche „Rationalisierung” ist für die Seminarteilnehmer ein häufiger Zwang, da es ja nicht darum geht, beliebige Vorschläge zu machen, sondern diese gegenüber den anderen auch zu vertreten; (c) Schwanken zwischen Sicherheit und Unsicherheit im Urteil, was im Seminar vor allem durch den Widerspruch der anderen oder durch deren Wunsch nach Begründung bewirkt wird; (d) Anspruch des Urteilenden auf allgemeine Verbindlichkeit, der häufig aus mangelnder Einsicht in die Flexibilität und Vielgestaltigkeit der Sprache resultiert; gerade die Brüchigkeit dieses Anspruchs soll im Seminar deutlich werden. Ganz unabhängig von der Frage, ob es die „Hochsprache” als ein durchorganisiertes System von Vorschriften überhaupt gibt (selbst bei dem Pa- <?page no="114"?> 104 Ulrich Puschel radefall der Orthographie ist das nicht so), sollte die Kategorie ‘Sprachgefühl’ nicht an der Divergenz von „Vorschrift”, die das Richtige betrifft, und „Faktischem”, das als Abweichung betrachtet wird, festgemacht werden, sondern an der Divergenz von Normen generell. Da jeder Sprachgebrauch, auch der in Relation zu einer präskriptiven Norm so genannte faktische, Normen folgt, sind die sprachlichen Handlungen nach den verschiedenartigen Regeln nicht zuerst nach richtig oder fehlerhaft zu beurteilen, sondern es ist zuerst einmal festzustellen, daß sie anders sind. Damit beschäftigt sich die Stilistik, indem sie die Andersartigkeit oder Besonderheit des jeweiligen Sprachgebrauchs herausarbeitet und darüber hinaus noch seine spezifische Funktion bestimmt (vgl. Püschel 1985, S. 13). Gerade wenn es um die Differenz in der Funktion geht, spielt das Sprachgefühl eine wichtige Rolle. Anders als bei Gauger und Oesterreicher wird damit der Begriff des Sprachgefühls aus dem Bereich des Elitären repräsentiert durch die „gebildeten” Sprecher herausgenommen (vgl. Gauger/ Oesterreicher 1982, S. 64ff.). Das soll keineswegs heißen, daß allen Sprachteilhabern das Sprachgefühl im gleichen Maße zukäme; schließlich ist das Sprachgefühl „die Summe sprachlicher Erfahrungen eines Menschen” (Henne 1982, S. 95), und diese Erfahrung ist bekanntlich nicht bei allen Menschen gleich. Doch von solchen individuellen Unterschieden abgesehen, kann über die Seminarteilnehmer gesagt werden: Sie besitzen genügend Sprachhandlungswissen und damit Sprachgefühl, um über ihre Briefschreibepraxis kompetent zu urteilen, und zwar über ihre bisherige wie über die als Seminarziel angestrebte. 6. Normen? Ja — unsere und meine! Zwar wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, daß in dem Schreibtraining keineswegs eine „anything goes”-Haltung herrsche, dann war aber vor allem davon die Rede, daß die Teilnehmer als individuelle Normeninstanzen betrachtet werden, die ihre Normen in letzter Konsequenz selbst verantworten. Daß daraus dennoch kein Widerspruch erwächst, beruht auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß es wie verschwommen auch immer ein Stilideal gibt, das das Unternehmen propagiert sehen möchte, das die Schreibtrainer zu vertreten bereit sind und das die zu Schulenden zu akzeptieren bereit sind. Die Briefschreibepraxis des Unternehmens ist bis in die jüngste Zeit einer bürokratischen Stiltradition verpflichtet gewesen, die typisch ist für Ämter und Behörden, aber auch für Verwaltungen privater Unternehmen wie beispielsweise Banken oder Versicherungen und Verwaltungen von Verbänden, berufsständischen Vereinigungen und ähnlichem. Alles in allem spricht aus solchen Briefen ein Image, das kein Unternehmen, das sich als kompetent, innovativ und leistungsfähig versteht, von sich verbreiten möchte. Diese Einstellung findet sich zumindest in Ansätzen auch bei den zu schulenden Mitarbeitern, die dem bürokratischen Stil recht kritisch <?page no="115"?> Normen und Normenkonflikte 105 gegenüberstehen. Das zeigt sich regelmäßig zu Beginn des Seminars, wenn zum Einstieg ein eher abschreckendes Beispiel analysiert wird: (4) An die Firma Karl-Dieter Müller KG z. Hdn. Herrn Herbert Schulz Postfach 2 44 81 5 KÖLN 91 Betr.: Zahlungsrückstände; Ihr Schreiben vom 00.00.00.. Sch./ Kl. Sehr geehrter Herr Schulz! Für Ihr o.g. Schreiben vom 00.00.00 danken wir Ihnen bestens. Wir möchten Ihnen hierdurch mitteilen, daß wir Ihnen in Anbetracht der von Ihnen dargelegten Umstände über den Betrag in Höhe von DM 220,ausnahms- und entgegenkommenderweise eine Fristverlängerung bis zum 00.00. 00 gewähren. Wir hoffen deshalb, daß dieser Verlängerungstermin von Ihnen fristgemäß eingehalten wird, da wif andernfalls uns gezwungen sähen, den noch ausstehenden Betrag über ein gerichtliches Verfahren, welches für Sie mit weiteren Kosten und Unannehmlichkeiten verbunden wäre, beitreiben zu müssen. Es liegt also in Ihrem eigensten Interesse, einen solchen Fortgang dieser Angelegenheit zu vermeiden. Mit Interesse Ihren weiteren Nachrichten entgegensehend, verbleiben wir Hochachtungsvoll Das negative Urteil über diesen Text ist schnell gefällt, auch von solchen Teilnehmern, deren eigene Briefe eher dem bürokratischen Stil folgen. Allerdings fehlt doch der bürokratisch-oberlehrerhafte Ton des zitierten Beispiels; dafür sind die Briefe meist sachzugewandt, das heißt nüchtern und personenneutral in den Formulierungen. Es geht nun in dem Seminar nicht darum, den Bürokratenstil und den sachlichen Stil durch einen Marktschreierstil zu ersetzen. Die Teilnehmer sollen nicht zu Werbetextern umerzogen werden, sondern sie sollen einen alltagssprachlich oder normalsprachlich orientierten Schreibstil anstreben. Natürlich ist damit keine gesprochene Umgangssprache gemeint, sondern ein Schreibstil, der alltagssprachliche Formulierungen nutzt statt Fachjargon und „Papier”-Formulierungen. Da besonderes Gewicht auf Adressa- <?page no="116"?> 106 Ulrich Puschel tenansprache und Beziehungsgestaltung gelegt wird, gehören zu diesem Stil auch Elemente von Mündlichkeit. 6 Ohne den Motiven der Seminarteilnehmer im einzelnen nachzuspüren, 7 kann mit gebührender Vorsicht gesagt werden, daß eine doppelte Bereitschaft herrscht: zum einen die Normen des bürokratischen Stils aufzugeben und zum andern die Normen eines alltagssprachlichen oder normalsprachlichen Stils zu übernehmen, sie zu gemeinsam akzeptierten Normen zu machen. Dabei ist die zweite Bereitschaft weniger stark ausgeprägt, weil die Teilnehmer erst einmal unsicher sind, wohin sie der Weg führt, und weil sie sich wie nicht anders zu erwarten trotz guten Willens nur schwer von ihrem gewohnten Schreibstil lösen können. Normenkonflikte kommen auf dieser Ebene relativ selten vor, sind aber keineswegs auszuschließen; denn es gibt ab und zu Teilnehmer, die explizit bekunden, daß sie in Zukunft nicht anders schreiben wollen als bisher. Auf der Seminarebene kann dieser Konflikt nicht ausgetragen werden. Das alltagssprachliche oder normalsprachliche Stilideal gibt unstreitig einen Rahmen für die Arbeit im Seminar vor. Insofern haben wir es mit einer Vorschrift zu tun. Doch diese Vorschrift ist so vage, daß sie allenfalls die grobe Richtung angibt. Die Spielräume sind dementsprechend groß, so daß von der globalen Vorgabe einmal abgesehen die Teilnehmer tatsächlich weithin als ihre eigenen Normeninstanzen agieren können. Das gilt nicht nur für das stilistische Detail, sondern auch für die generelle Stilhaltung. Exemplarisch läßt sich das an dem Schreiben der Berufsgenossenschaft demonstrieren, das als vorbildlich und anregend veröffentlicht wurde. Es ist nach der AIDA-Formel verfaßt, weist also einen hochpersuasiven Aufbau auf; es enthält starke Elemente der Mündlichkeit in Form eines ansatzweise geführten Dialogs mit dem Adressaten; und es finden sich saloppe Formulierungen, von denen offenbar angenommen wird, daß sie gesprochen-umgangssprachlich sind. Es handelt sich bei diesem Text um das flotte Gegenstück zu dem Bürokratenbrief: 6 Vgl. dazu auch Gauger (1986, S. 30), der ‘leben’ in Nietzsches Diktum „Der Stil soll leben.” als Sprechnähe interpretiert. 7 Es kann durchaus im Einzelfall so sein, daß die zu vermittelnden Normen auf den Konsens der zu Schulenden treffen. Dies belegen Äußerungen, man hätte schon früher so geschrieben, wenn es nur erlaubt worden wäre. Eine große Rolle spielt gewiß die Absicht vieler Teilnehmer, den Erwartungen des Unternehmens zu entsprechen. <?page no="117"?> Normen und Normenkonflikte 107 (5) Gesetzliche Unfallversicherung Verwaltungs-Berufsgenossenschaft Haupt* dl* ••rufaeanotMiischart dar Sankan. Varslehaninpan. Vanwaltungan. freien Barula und baaendaraa Uft«arnatrma»t - Körperschaft des öffentlichen Rechts - 3373 r HarrrvTrm/ firmm Datum des Poststempels Frau PETRA BERGERHANN POSTFACH 6A OC 45 S5CC NÜRNBERG 4C Sehr geehrtes Mitglied, verzeihen Sie bitte: Sie haben etwas vergessen! Ja, richtig, soeben 1st es Ihnen wieder eingefallen: Der Lohn- und Gehaltsnachweis. Wir verstehen es ja, daß man ln der Hektik des Jahreswechsels zwischen Steuerterminen und Weihnachtswunschzetteln auch einmal etwas übersieht. Aber nun wird es allerhöchste Zelt, daß Sie uns den Lohn- und Gehaltsnachweis ggf. formlos einreichen. Sie wissen ja, wie wichtig dieser Nachweis für Sie 1st; wenn wir Ihn nicht haben, müssen wir Ihre Lohn- und Gehaltssume schätzen. (Und wie leicht kann man sich verschätzen ...) Der Abgabe-Termin läßt sich leider nicht verschieben (sechs Wochen nach Ablauf des Kalenderjahres, das 1st der 11. Februar), denn er 1st uns und Ihnen vom Gesetzgeber vorgeschrieben (in § 741 der Reichsversicherungsordnung - RYO -). Wie der Gesetzgeber so 1st, macht er aus einer "Verletzung der Nachweispflicht" gleich eine Ordnungswidrigkeit, die mit einem Bußgeld belegt werden kann. Sorry, wir mußten Sie darauf hlnwelsen, auch das 1st uns vorgeschrieben. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Und dafür, daß Sie die Sache Jetzt gleich erledigen. Sie können uns die erforderlichen Angaben auch per Fernschreiber übermitteln. Unsere Telex-Nr.i 2 17 38 44. Bitte denken Sie daran, daß wir ohne Ihre Mitgliedsnummer Ihre Angaben nicht verarbeiten können. Mit freundlichem Gruß Ihre Verwaltungs-Berufsgenossenschaft PS: Haben Sie den Nachweis gerade weggeschickt, und unsere Post kreuzte sich, dann werfen Sie bitte diesen Brief ln Ihren Papierkorb. Danke! Aus: Heise (1987). <?page no="118"?> 108 Ulrich Püschd Die Bewertung dieses Briefs fällt in der Regel außerordentlich kontrovers aus. Auf die Frage an die Teilnehmer, ob sie sich vorstellen könnten, so zu schreiben, reichen die Antworten vom vorbehaltlosen „Ja” bis zum strikten „Nein”. Dieses Beispiel wird im Seminar bewußt eingesetzt, um kontroverse Beurteilungen zu provozieren, damit die Teilnehmer in der Auseinandersetzung mit dem Text ihre eigene stilistische Position bestimmen können. Mit diesen Andeutungen zur Vorgehensweise sollte noch einmal zweierlei verdeutlicht werden: Einerseits wird in dem Seminar ein Stilideal vertreten, von dem die Teilnehmer sagen sollen: Das sind unsere Normen, an denen wir uns orientieren wollen. Andererseits bleibt für jeden Teilnehmer so viel Spielraum, daß er sagen kann: Das ist meine Norm, der ich in diesem konkreten Fall anders als die anderen folgen will. Damit ist die Grundposition in der Normenfrage Umrissen, die in diesem Schreibseminar eingenommen wird. Allerdings ist mit dieser Grundposition in keiner Weise die Annahme verbunden, in der Normenfrage wäre damit Harmonie erreicht. Denn das Verhältnis von „unserer Norm” und „meiner Norm” ist selbstverständlich nicht spannungsfrei, wie schon der Extremfall zeigt, daß ein Teilnehmer seinen bürokratischen Schreibstil ausdrücklich nicht aufgeben will. Für den Umgang mit Normen heißt das aber: So wie wir nicht um Normen herumkommen, kommen wir auch nicht um Normenkonflikte herum. Der Streitpunkt kann nur sein, wie wir die Normenkonflikte handhaben. Literatur Antos, Gerd: Eigene Texte Herstellen! Schriftliches Formulieren in der Schule. Argumente aus der Sicht der Schreibforschung. In: DU 40. 1988, H. 3, S. 37-48. 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In: SuLWU 14. 1983, H. 51, 3-14. <?page no="120"?> REINHARD FIEHLER Implizite und explizite Bewertungsgrundlagen für kommunikatives Verhalten in betrieblichen Kommunikationstrainings Abstract Der Beitrag untersucht die Praxis der Sprach- und Kommunikationsbewertung in betrieblichen Kommunikationstrainings. Wesentliches Ziel dieser Kommunikationstrainings ist die Veränderung des beruflichen Gesprächsverhaltens der Teilnehmerinnen auf der Grundlage von Gesprächssimulationen. Der Beitrag betrachtet damit einen Bereich, für den Sprach- und Kommunikationsberatung konstitutiv ist, der aber in seiner normierenden Praxis bisher kaum beachtet und analysiert wurde. Nach einer genaueren Charakterisierung der Grundlagen und Arbeitsweise der untersuchten Kommunikationstrainings (Abschnitt 2) wird an drei Beispielen aus dem empirischen Material gezeigt, wie Kritik am Kommunikationsverhalten erfolgt, sowie das zugrundeliegende Monierungsschema herausgearbeitet (Abschnitt 3). Abschnitt 4 vertieft diese Analysen: Zunächst wird der Mechanismus beschrieben, auf dessen Grundlage kommunikative Probleme identifiziert werden (4.1), um dann die Normen zu untersuchen, die in diesem Prozeß eine Rolle spielen (4.2), und den Bewertungscharakter der Monita herauszustellen (4.3). Diese Analysen ermöglichen es dann, die impliziten Auffassungen von Kommunikation zu rekonstruieren, die dem Training zugrundeliegen (4.4). Den Abschluß bilden Überlegungen, in welchen Punkten sich eine diskusanalytisch fundierte Kommunikationsberatung von den hier untersuchten Trainings unterscheidet (Abschnitt 5). 1. Einleitung Mein Beitrag verfolgt drei Ziele: Zum einen möchte ich auf einen Bereich aufmerksam machen, in dem Sprach- und Kommunikationsberatung in erheblichem Umfang stattfindet, der aber anders als die Schule und die vielfältigen anderen Institutionen der Sprachkritik und -pflege bisher in dieser Perspektive wenig beachtet worden ist 1 , nämlich den Bereich (betrieblicher) Kommunikationstrainings. Zum anderen möchte ich einen Teil der Bewertungsgrundlagen, die in diesen Trainings eine Rolle spielen, anhand empirischen Materials rekonstruieren, um sie so einer Reflexion und Kritik zugänglich zu machen. Es geht mir also um die Analyse faktischer Bewertungen von kommunikativem Verhalten und um die Deskription der impliziten oder expliziten Grundlagen, auf deren Basis sie erfolgen, kurz: um eine Analyse der konkreten Praxis solcher Kommunikationstrainings. 1 Ein Grund für die fehlende Beachtung mag sein, daß es hier hauptsächlich um die Bewertung gesprochener Sprache geht, während Sprachberatung sich sonst vornehmlich auf geschriebene Sprache bezieht. <?page no="121"?> Implizite und explizite Bewertungsgrundlagen 111 Auf dieser Grundlage möchte ich dann drittens skizzieren, wie die Diskursanalyse mit dem Problem der Bewertung und der Bewertungsgrundlagen für Kommunikationsverhalten umgeht. 2. Betriebliche Kommunikationstrainings Bei Nixdorf-Nachrichtentechnik (München) hatte ich 1989 und 1990 Gelegenheit, an zwei Trainingszyklen beobachtend teilzunehmen und sie im Umfang von 130 Stunden audiovisuell zu dokumentieren. 2 In den aufeinander aufbauenden Trainings wurden die Mitarbeiter des Unternehmens für ihre Tätigkeit als Berater und Verkäufer von Telefonanlagen und Fernkopierern ausgebildet. Jeder Ausbildungszyklus bestand im Kern aus zwei Produkttrainings und aus drei, jeweils einwöchigen Vertriebstrainings. Zwischen den Trainings lagen jeweils mehrmonatige Praxisphasen, in denen die Vertriebsassistenten (VAs) in ihren Geschäftsstellen arbeiteten und versuchten, die Ausbildungsinhalte in die Praxis umzusetzen. Wesentliche Elemente der Trainingskonzeption waren: Kundenorientierung, Beratungsorientierung und die zyklische Organisation der Trainings. Kundenorientierung im Sinne einer individuellen Bedarfserfassung und dem Erstellen individuell zugeschnittener Angebote - und Beratungsorientierung in dem Sinne, daß eine künden- und bedarfsorientierte Beratung Vorrang haben soll vor dem möglichst schnellen und maximalen Verkaufen wurden über die Schulung einer bestimmten Gesprächsstruktur operationalisiert. Die zyklische Anordnung der Trainings diente einerseits der Wiederholung und Auffrischung, andererseits der weiteren Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit. Stärker noch als in anderen Bereichen der Sprach- und Kommunikationsberatung erfolgen die Bewertungen in solchen Kommunikationstrainings in verändernder Absicht. Sie sind der Intention nach ein Schritt auf dem Weg zu einem veränderten Kommunikationsverhalten. Anspruch von Kommunikationstrainings ist in der Regel, daß ein Kommunikationsverhalten oder eine kommunikative Praxis durch Beratung oder 2 Mein Interesse war zunächst, die Konzeptionen und die Praxis solcher kommunikationsorientierten Trainings in Unternehmen kennenzulernen und zu sehen, was mir aus einer diskursanalytischen Perspektive daran auffallen würde (cf. Flieger/ Wist/ Fiehler 1992). Insbesondere interessierte mich als Sprachwissenschaftler die Frage, welche Vorstellungen und Auffassungen über Kommunikation und Gespräche bei den Trainern und Teilnehmern zu erkennen sein würden. Die meisten Trainer sind was die Analyse von Kommunikation angeht - Autodidakten und stehen auf dem Boden rhetorischer und/ oder psychologischer Traditionen. Insgesamt geht es mir um eine Einschätzung, wie in Ergänzung und Kontrast zu den üblichen Trainingskonzeptionen die Möglichkeiten und Grenzen einer diskursanalytisch fundierten Kommunikationsberatung zu bestimmen sind. Cf. Fiehler/ Sucharowski (1992). <?page no="122"?> 112 Reinhard Fiehler Training in ein spezifisch verändertes Kommunikationsverhalten bzw. in eine spezifisch veränderte Praxis überführt wird. Kommunikationsverhalten meint dabei das individuelle Verhalten einzelner Personen. Mit kommunikativer Praxis hingegen meine ich typische Kommunikationsformen bzw. -gewohnheiten von Rollenträgern in berufstypischen Situationen. Auf diesem Hintergrund interessieren mich an Trainings zunächst einmal folgende generelle Fragen, wobei ich mich hier vor allem mit den beiden ersten befassen werde: (1) Wie wird in den Trainings das Ausgangskommunikationsverhalten bzw. die kommunikative Praxis der Institution erfaßt? (Empirische Erhebung in Realsituationen, Simulationen im Training, Berichte/ Selbsteinschätzung der Teilnehmer, Trainerkenntnisse etc.) (2) Wie werden im Kommunikationsverhalten zu verändernde Phänomene identifiziert? (Welche Phänomene werden identifiziert? Wie und als was werden sie implizit/ explizit bewertet? Was ist Grundlage und Hintergrund für die Identifizierung und Bewertung? ) (3) Wie charakterisieren die Trainings das Verhältnis des Ausgangskommunikationsverhaltens zum Zielverhalten? (Mögliche Prädikate: besser, effektiver, funktionaler, angenehmer etc.) (4) Wie werden Veränderungsmöglichkeiten bestimmt und -alternativen ausgewählt? (Negation, systematische Alternativenanalyse etc.) (5) Wie sollen Veränderungen bewirkt werden? (Bewußtmachung, Reflexion, Sensibilisierung, Übungen etc.) (6) Wie werden kurz-/ langfristige Veränderungseffekte überprüft? (Teilnehmerurteil, unabhängige Vergleichsuntersuchungen etc.) Das zentrale Element zur Ermittlung des Ausgangskommunikationsverhaltens in diesen vertrieblichen Kommunikationstrainings sind Übungsgespräche und ihre Besprechungen. 3 Die Übungsgespräche, in denen die 3 Die untersuchten Kommunikationstrainings setzen sich im wesentlichen aus den folgenden Interaktionstypen und Gesprächsformen zusammen: (1) Unterrichtskommunikation (2) Bearbeitung von Fallbeispielen in Simulationen (Simulation von Beratungs- und Verkaufsgesprächen und ihren verschiedenen Phasen) (3) Telefongespräche mit potentiellen Kunden aus dem Training heraus (Telefonmarketing nach Script; mögliche Schwerpunkte: Marktbefragung und/ oder Kontaktanbahnung für Beratungs- und Verkaufsgespräche) (4) Beratungs- und Verkaufsgespräche mit potentiellen Kunden im Training <?page no="123"?> Implizite und explizite Bewertungsgrundlagen 113 berufliche Kommunikation im Training simuliert wird, erfüllen drei Funktionen: Mit ihnen wird der ’Kommunikationsstand’ der Teilnehmer festgestellt. Mit ihrer Hilfe werden die kommunikativen Probleme der Teilnehmer identifiziert und Anstöße zu Veränderungen gegeben, und drittens sind sie Instrument für das Ausprobieren und Trainieren veränderter kommunikativer Verhaltensweisen. Bei den Übungsgesprächen in diesen Trainings handelt es sich zum einen um Simulationen, die von zwei Teilnehmern im Training gespielt werden, zum anderen um Telefongespräche, die die Teilnehmer einzeln aus dem Training heraus mit realen Kunden oder Interessenten führen. Die Gespräche werden zum Zweck der Besprechung aufgezeichnet. Ziel der Übungsgespräche ist, das vom Trainer vorgegebene Gesprächsmodell für beratungsintensive und kundenorientierte Verkaufsgespräche in ein konkretes Gespräch umzusetzen und so einzuüben. Wesentlich für dieses Modell ist wie bei vielen Trainingsprogrammen für Verkaufsgespräche eine bestimmte Phasengliederung. Das Modell unterscheidet Kontaktphase, Bedarfsanalyse des tatsächlichen und angedeuteten Bedarfs des Kundens, eine Problem- und Auswirkungsanalyse, die dem Kunden seine momentanen Probleme und Unzulänglichkeiten deutlich vor Augen führen und die Vorteile einer Neuinvestition herausstellen soll, eine Angebotsphase und eine Abschlußphase. Dieses Gesprächsmodell operationalisiert dem Verständnis des Trainers nach eine deutliche Kunden- und Bedarfsorientierung, die Kernpunkt der Unternehmensphilosophie von Nixdorf ist bzw. war. Erklärtes Ziel der Besprechungen ist, daß Trainer und Teilnehmer gemeinsam problematische, ineffektive, falsche Verhaltensweisen der Gesprächsteilnehmer herausarbeiten und bessere, effektivere Möglichkeiten aufzeigen, die von den Teilnehmern dann in späteren Gesprächen realisiert werden sollen. Die Besprechungen erfolgen in der Art, daß zunächst die Gesprächsbeteiligten, danach die anderen Trainingsteilnehmer Gelegenheit zu einer generellen Stellungnahme zu den Gesprächen haben. Danach wird die Aufzeichnung der Simulation bzw. des Telefongesprächs stückweise vorgespielt und von den Teilnehmern und Trainern kommentiert. Dabei kann die Aufzeichnung von jedem Beteiligten an jeder beliebigen Stelle gestoppt werden. Nur bei Simulationen, die vor der ganzen Gruppe stattfanden, ist auch dem Trainer und den Nichtbeteiligten das Gespräch bereits vor der stückweisen Besprechung zur Gänze bekannt. (5) Erstellen von schriftlichen Angeboten auf der Grundlage von Beratungs- und Verkaufsgesprächen (6) Besprechungen der Gespräche (2) - (4) und der Texte (5) <?page no="124"?> 114 Reinhard Fiehler Simulierende Übungsgespräche und Besprechungen der hier geschilderten Art sind mit einer Reihe von Problemen verbunden: Zum einen gibt es Artefakte der Simulation, bedingt durch das Rollenspielen, die ’unechte’ Situation etc. Zum anderen Artefakte, die eine Folge davon sind, daß die Teilnehmer durch die Absicht, normative Anforderungen zu realisieren, die das Training an sie stellt (z.B. sich an ein bestimmtes Phasenmodell für Gespräche zu halten oder bestimmte Formulierungen zu vermeiden), in ihren ’normalen’ kommunikativen Fähigkeiten beeinträchtigt bzw. blockiert sind. Zum dritten Artefakte, die durch Umdeutungen und Erinnerungsfehler (erst) in der Besprechungssituation entstehen. 4 Aus diesen Gründen stützt sich eine diskursanalytische Kommunikationsberatung um es vorwegzunehmen so weit wie möglich auf Aufzeichnungen authentischer beruflicher Gespräche und auf Transkriptionen. 3. Beispielanalysen In den Übungsgesprächen werden also problematisch erscheinende Phänomene identifiziert, und es werden Alternativen vorgeschlagen. Einen solchen Vorgang bezeichne ich als Monitum. Die kommunikativen Aufgaben dabei sind relativ klar. Ich möchte die Positionen dieses Monierungsschemas kurz vorstellen: Monierungsschema - Identifizierung der Bezugsstelle für das Monitum - Problembeschreibung/ -diagnose Begründung (warum dies ein Problem ist) - Bewertung - Benennung von Alternativen - Interaktive Behandlung des Monitums Ich möchte das Schema an drei Beispielen illustrieren. Die Transkriptausschnitte befinden sich im Anhang: In einem telefonischen Übungsgespräch mit einem Kunden hat der VA 4 geäußert: „ich werd mich bei uns im Hause erkundigen was da bei ihnen gelaufen is und äh m/ ich würde mal sagen ich werde mich mit Sicherheit nochmal bei ihnen melden”. In der Besprechung des Übungsgesprächs (Ausschnitt 1) moniert der Vertriebsassistent 1 die Formulierung ’ich würde mal sagen’ aus dieser 4 Zur Problematik von Simulationen cf. ausführlicher Brons-Albert (1995) und Bliesener/ Brons-Albert (1994), zu Problemen der Gesprächsbesprechungen Fiehler (1994). <?page no="125"?> Implizite und explizite Bewertungsgrundlagen 115 Äußerung. Zuvor hat der Trainer mit ’wie sag ichs wie kommts beim Kunden an’ (Partiturzeile 1) den Zusammenhang von Äußerungsformulierung und Wirkung der Äußerung thematisch gemacht. VA 1 identifiziert die Bezugsstelle durch Reformulierung der Bezugsäußerung (V2). Die Reformulierung ist nicht wörtlich, weil sie aus der Erinnerung erfolgt, aber durchaus hinreichend äquivalent. Er schließt eine explizite Bewertung an (’das für/ halt ich da auch für gefährlich’ (2-3)). Dann bietet er zwei alternative Äußerungen an (3-5), die im Training als dezidierte Formulierungen für Terminabsprachen gelernt wurden. Erst jetzt liefert er in der Form einer Begründung eine Problembeschreibung (5-8). Sie rekurriert darauf, daß die Formulierung zu wenig definitiv ist (’da schwingt mir ne Unsicherheit mit’ (5-6)). Er formuliert zudem die Wirkungshypothese, daß diese Unbestimmtheit der Formulierung beim Kunden einen negativen Effekt hervorrufen kann (’daß er jetz halt auch denkt der meldet sich eh nich mehr’ (7-8)). Aus dem Fokus geraten ist hier schon, daß die Ausgangsäußerung ein ’mit Sicherheit’ und seine eigene Reformulierung immerhin noch ein ’auf alle Fälle’ enthält. Hieran schließt sich nun die interaktive Behandlung des Vorschlags an. Sie ist ebenso kurz wie interessant. Zunächst bestreitet VA 4 die Berechtigung bzw. Relevanz des Monitums, indem er argumentiert, daß selbst wenn diese vermutete Wirkung eintritt, sich dies letztlich positiv wenden wird, da er sich ganz sicher melden wird (’dann wird er überrascht sein’ (8-9)). An dieser Stelle greift der Trainer in die interaktive Behandlung ein. Mit ’gut . aber Achtung ihre Kommunikation’ (10) lenkt der Trainer auf die konkrete Formulierung der betreffenden Äußerung zurück. Er konstatiert generalisierend einen Gegensatz zwischen der guten Absicht des VAs und dem faktisch Gesagten und seiner Wirkung (10-12). Mit dem abschließenden ’der Kunde erlebt es anders’ (12) bestätigt er (ohne jedes Argument) die Wirkungshypothese des VAs und gibt so dem Monitum statt. Danach stellt er den Kassettenrecorder an, um das nächste Stück des Gesprächs vorzuspielen. VA 4 hat keine Chance zu einer weiteren Argumentation. Strukturell ähnlich, in der Realisierung aber völlig anders, ist das Monitum des Trainers in Ausschnitt 2. Die Identifizierung der Bezugsstelle ist sehr viel unspezifischer: ’hier in diesem Augenblick’ (2), ’hier’ (5) und zwei mal ’da’ (9). Gemeint ist, wie aus dem Zusammenhang hervorgeht, die ganze Gesprächsführung bis zu diesem Besprechungspunkt. Im Vordergrund stehen an dieser Stelle auch nicht die Identifizierung, sondern die vorgreifenden Bewertungen (’Chancen verspielen’(3), ’erste Ansätze total runterfahrn’ (7-8)). In 8 - 10 erfolgt die Problembeschreibung. Sie rekurriert wenn auch nicht sehr deutlich darauf, daß das Gesprächsmodell des Trainers nicht umgesetzt wurde. Kontaktphase, Bedarfsanalyse und Problem- <?page no="126"?> 116 Reinhard Fiehler und Auswirkungsanalyse sind nicht modellgerecht realisiert. Die Alternativenbenennung, die durch die Frage eines anderen VAs initiiert wird, zerfällt in zwei Teile: Der Trainer benennt zunächst die Gesprächsstrategie ’fragen’ (13) und demonstriert sie dann, indem er die Rolle des VAs übernimmt und aus dieser heraus extensiv kommunikativ agiert allerdings ohne daß ein realer Kommunikationspartner seine Kreise stören könnte (13 - 29). Auf diese Demonstration folgt dann eine generalisierende, möglicherweise abschließend gemeinte, deutliche Bewertung (30-31). Von der interaktiven Behandlung (31ff.) ist nur so viel wiedergegeben, daß der anschließende Rechtfertigungsdiskurs deutlich wird. Der Ausschnitt 3 beginnt mit der Unterbrechung des Abspielens der Videoaufzeichnung durch den Trainer. Diese Tatsache und seine Frage (1-2) suggerieren ein Monitum, das VA 10 dann auch äußert (2- 3). Die Problemdiagnose lautet, daß in der vorgespielten Anfangssequenz des Übungsgesprächs kein Persönlichkeitsfeld aufgebaut wurde. Mit ’Persönlichkeitsfeld’ nimmt er Bezug auf die Kontaktphase des Gesprächsmodells, in der u.a. ein Sympathiefeld zwischen dem Vertriebsassistenten und dem Kunden aufgebaut werden soll. VA 10 begründet sein Monitum mit dem Hinweis auf das Distanzverhalten des Vertriebsassistenten (3-7). Das Problem ’kein Persönlichkeitsfeld aufgebaut’ wird nicht explizit bewertet. Die Bewertung ist implizit in der Feststellung enthalten, daß eine Phase des Gesprächsmodells nicht realisiert wurde. In die beschreibende Rekonstruktion der Situation mischt sich dann ein zweites Monitum, daß der Vertriebsassistent zu früh mit der graphischen Darstellung an der Tafel begonnen hat: ’und er fängt da hinten an was zu zeichnen sofort’, ’viel zu früh nach meiner Meinung’ ist die explizite Bewertung dieses zweiten Problems. Es folgt die Benennung eines dritten Problems, daß der Vertriebsassistent nun gezwungen ist, ’bei ner großen Distanz noch die Fragen’ (9) zu stellen. Darauf erfolgt die Benennung einer Alternative, die in einer anderen Organisation des Gesprächsablaufs besteht (913). Die interaktive Behandlung beginnt, indem der Trainer zwei anderen Vertriebsassistenten das Wort erteilt. VA 1 geht nicht direkt auf das Monitum ein, sondern sucht nach weiteren Erklärungen, warum die Kontaktphase nicht dem Gesprächsmodell entsprechend verlaufen ist (die is abgeblockt worden (15)). Er schreibt das Problem damit nicht nur dem VA zu, sondern räumt zumindest eine ’Mitschuld’ des Kunden ein. Betrachtet man die Monita in diesen Trainings im Überblick, so beziehen sich die des Trainers hauptsächlich darauf, ob das normative Gesprächsmodell und seine einzelnen Phasen realisiert wurden; ferner auf die Fragetechnik der Vertriebsassistenten. Die Monita der Teilnehmer beziehen sich auch auf das Gesprächsmodell, darüber hinaus aber auch auf Phänomene wie ungleiche Gesprächsanteile, den Verlust der Gesprächsinitiative, mögliche negative Wirkungen einzelner Formulierun- <?page no="127"?> Implizite und explizite Bewertungsgrundlagen 117 gen, auf das Distanzverhalten im Gespräch oder mangelnden Augenkontakt sowie die Notwendigkeit der schriftlichen Erfassung von Kundeninformationen. Darüber hinaus werden viele Einzelprobleme angesprochen. Überwiegend sind die Monita lokaler Art, nur selten übergreifend auf gesprächsstrukturelle Aspekte gerichtet. Die beobachteten Inhalte der Monita stimmen überein mit Befunden von Brons-Albert (1995, S. 164ff.). Die Anweisungen des Trainers in dem von ihr untersuchten Verkaufstraining für Buchhändlerinnen beziehen sich vor allem auf Formulierungen, Gesprächsführungstaktiken, die Phasengliederung des Verkaufsgesprächs und auf intonatorische und nonverbale Phänomene. 4. Bewertungen und Bewertungsgrundlagen Bisher habe ich die Monita lediglich strukturell beschrieben. Auf der Grundlage dieser Analyse können nun drei weitergehende Fragen behandelt werden: - Was sind kommunikative Probleme und wie werden sie identifiziert? - Was sind die Grundlagen dafür, bestimmte Phänomene zu monieren und zu bewerten? - Welche Auffassungen über Kommunikation liegen diesen Monita zugrunde und lassen sich aus ihnen rekonstruieren? 4.1 Kommunikative Probleme Ehe es zur Realisierung des Monierungsschemas kommen kann, muß zuvor mental die Identifizierung eines kommunikativen Problems erfolgen. Die allgemeine Struktur dieses mentalen Prozesses läßt sich wie folgt charakterisieren: (1) Ein faktisches Kommunikationsverhalten wird im Prozeß des Monitoring oder in der nachträglichen Reflexion mit Vorstellungen darüber konfrontiert, wie Kommunikation sein soll. Es wird an Zielvorstellungen - oder allgemeiner: Normen gemessen. (2) Eine Diskrepanz wird registriert. Gemessen an einer Norm funktioniert die faktische Kommunikation nicht so, wie es die Norm vorsieht. (3) Die Diskrepanz wird negativ bewertet. Mit der negativen Bewertung konstituiert sich das Kommunikationsproblem. Die negative Bewertung dieser Diskrepanz, also die Feststellung einer kommunikativen Defizienz, ist zugleich der Motor, der den Handlungsbedarf zur Lösung oder Beseitigung des Problems erzeugt. <?page no="128"?> 118 Reinhard Fiehler Die Identifizierung von Kommunikationsproblemen geschieht im Alltag genauso wie im Kommunikationstraining. Im Training ist jedoch die Aufmerksamkeit in besonderer Weise hierauf gelenkt. Im Zuge der mentalen Identifizierung wird das Problem auch typisiert und zugeschrieben. Kommunikationsprobleme sind ein spezifischer Typ von Problemen, und es ist eine vorgängige Entscheidung, ob man ein Problem (dominant) als eines der Kommunikation oder der Persönlichkeit, der sozialen Beziehung oder der Arbeitsorganisation typisieren will. 5 Zum anderen wird entschieden, wem man es zuschreiben will dem Sprecher, den anderen Kommunikationsbeteiligten oder der Situation allgemein. Im Training werden viele Probleme, die möglicherweise auch anders klassifiziert werden könnten, als Kommunikationsprobleme behandelt, und sie werden in der Regel einzelpersonal der übenden Person zugeschrieben. Die Beispiele zeigen, daß die kommunikativen Probleme zunächst einmal vom Trainer, aber auch von den Trainingsteilnehmern identifiziert werden. Darüber hinaus kann natürlich auch teilnehmenden Dritten wie bei Nixdorf Nachrichtentechnik z.B. mir als Diskursanalytiker etwas als problematisch auffallen. Teilnehmer, Trainer und Diskursanalytiker brauchen keineswegs darin übereinzustimmen, was sie als Kommunikationsproblem(e) identifizieren: Hier kann Übereinstimmung, aber auch weitgehende Divergenz bestehen. Kommunikationsprobleme sind keine objektiven Größen, sondern die Beteiligten müssen in einem Aushandlungsprozeß erst gemeinsam klären, was sie auf ihrem jeweiligen Hintergrund als Kommunikationsproblem identifizieren und welche davon sie behandeln wollen. 6 5 Ein Beispiel: Jemand unterbricht andere permanent. Ist dies ein Kommunikationsproblem oder ein psychisches Problem (z.B. Dominanzstreben), das in einem bestimmten Kommunikationsverhalten Ausdruck findet? 6 Um einige verschiedene Fälle anzudeuten: Teilnehmer, Trainer und Diskursanalytiker stimmen überein, wo ein Problem besteht. Die Funktion des Trainers bzw. Diskursanalytikers kann dann darin liegen, die von den Teilnehmern angedeuteten Problemlagen auf den Begriff zu bringen (Ah ja, das ist es! ). Zum anderen können Diskursanalytiker, Trainer und Teilnehmer jeweils ganz andere Probleme und Auffälligkeiten bemerken. In diesem Fall muß ein gemeinsamer Prozeß der Klärung und Aushandlung der Problemlagen beginnen. Auch hier ist ein doppelter Ausgang möglich: zum einen kann der Diskursanalytiker bzw. Trainer etwas als Problem identifizieren, was die Teilnehmer aus den Bedingungen ihrer Institution heraus als unproblematisch, üblich, unveränderlich etc. aufklären können; zum anderen können sie etwas als Problem anerkennen, was ihnen bisher entgangen ist (Betriebsblindheit). Meine Erfahrungen sprechen dafür, daß der unverstellte, nicht durch tägliche Routine getrübte Blick aus der Außenperspektive eine wesentliche Produktivkraft bei der Problemidentifikation ist. <?page no="129"?> Implizite und explizite Bewertungsgrundlagen 119 4.2 Normen Festzuhalten ist, daß im Prozeß der Identifizierung von Kommunikationsproblemen wie klar bewußt auch immer 7 - Normvorstellungen eine zentrale Rolle spielen. Die Identifizierung erfolgt auf der Grundlage normativer Vorstellungen darüber, wie Kommunikationsverhalten sein soll. Diese Normen können in der Interaktion implizit oder explizit eine Rolle spielen. Explizit sind solche Normen, die von den Beteiligten im Prozeß der Identifizierung von Kommunikationsproblemen expressis verbis formuliert werden. Explizit sind ferner normative Vorgaben (meistens des Trainers), wie ein Kommunikationsverhalten sein soll (z.B. die Vorgaben über eine bestimmte Phasenstruktur des Gesprächsablaufs). Hier ist der Trainer zugleich die normsetzende Instanz. Implizit sind solche Normen, auf die im Prozeß der Identifizierung von Kommunikationsproblemen zwar Bezug genommen wird, die aber in der Interaktion nicht explizit thematisiert werden. Es lassen sich mindestens drei Typen von Normen unterscheiden: regulative Prinzipien (z.B. Unterbrich andere nicht]), partikuläre Normen (Ein Beispiel aus einem Training: 8 Vermeide Zage- und Rückzugswörter]) und - Normen auf der Basis empirischer Regularitäten (z.B. Weiche nicht von den üblichen Begrüßungsformen ab]). Regulative Prinzipien sind allgemeine Bedingungen der Möglichkeit von Kommunikation, etwa im Sinne der Grice’schen Konversationspostulate. Werden sie in größerem Umfang nicht beachtet, ist Kommunikation nicht möglich. Den größten Teil stellen partikuläre Normen dar, die Vorschriften für bestimmte Segmente des Kommunikationsverhaltens darstellen. Die dritte Gruppe basiert auf empirisch feststellbaren Regularitäten, die für das weitere Kommunikationsverhalten als Norm gesetzt bzw. bekräftigt werden. Die empirische Deskription ist hier Voraussetzung für die normative Präskription. Normen lassen sich (sie werden aber keineswegs immer) als ’Wenn..., dann...’Aussagen explizit formulieren, wobei der Wenn-Teil eine Menge von Bedingungen angibt, unter denen die im Dann-Teil spezifizierte Tätigkeit ausgeführt wird bzw. ausgeführt werden soll: ’Wenn dann tue Y. ’ Sie sind auch in der unbedingten Form möglich: ’Tue Y. ’ 7 Die Normen können sehr unterschiedlich klar und differenziert im Bewußtsein repräsentiert sein. Unterschiede in der Klarheit und Differenziertheit führen (in Schritt (2) des Identifizierungsschemas) zu Unterschieden, wie deutlich ein Kommunikationsproblem identifiziert werden kann. Cf. Brons-Albert (1995, S. 200) s <?page no="130"?> 120 Reinhard Fiehler oder ’Du sollst Y tun. ’ Die explizite Formulierung von empirischen Regularitäten hingegen hat die Form: ’Wenn dann tut X Y. ’ 9 Normen können ihre Legitimierung aus ganz unterschiedlichen Quellen beziehen. Um einige zu nennen: alltagsweltliche Plausibilität, Herkunft aus wissenschaftlichen bzw. populärwissenschaftlichen Theorien, Autorität und Fachkompetenz des Trainers, empirische Regularitäten als Basis für empirisch-beschreibende Normen etc. Zu unterscheiden von der Legitimierung ist die Begründung von Normen. 10 Selbst wenn sie legitimiert sind, gibt es für viele Normen keinerlei empirisch gesicherte Evidenz bzw. sachliche Begründung. Dennoch sind solche Normen wirksam. In vielen populärwissenschaftlichen Büchern zur Körpersprache und in Kommunikationstrainings wird z.B. die Norm tradiert: Wenn Du den Eindruck von Unsicherheit vermeiden willst, verschränke (bei einem Vortrag) nicht die Arme vor der Brust! Zeigt nun jemand dieses Verhalten, führt dies allein schon aufgrund des weitverbreiteten Wissens um diese Norm zu der Deutung, daß er unsicher ist. Die Deutung erfolgt (mit den entsprechenden praktischen Konsequenzen), obwohl es für die dieser Norm zugrundeliegende Ursachenhypothese ’Unsicherheit Vor der Brust verschränkte Arme’ zumal in dieser generellen Form keine empirisch gesicherte Evidenz oder Begründung gibt. Um wieder auf die analysierten Beispiele zurückzukommen, so liegt dem ersten Monitum z.B. die folgende Norm zugrunde: ’Wenn Sie nicht wollen, daß der Gesprächspartner eine Äußerung als unsicher empfindet, dann vermeiden Sie die Formulierung ’ich würde mal sagen’.’ Diese Norm wird vom Monitum vorausgesetzt und gesetzt, sie wird aber keineswegs expliziert und kritisch reflektiert. Man könnte das verwendete Schlußverfahren mit der Wirkungshypothese als Prämisse z.B. folgendermaßen explizieren: Wenn Äußerung A / sprachliches Phänomen A, dann beim Hörer Wirkung X . ( = Hypothese über einen bestimmten Wirkungszusammenhang) Die Wirkung X ist negativ zu bewerten bzw. soll nicht eintreten. Deshalb nicht Äußerung A / sprachliches Phänomen A (sondern B, C ...). 9 Cf. Kummer (1975, S. 152-153) und Fiehler (1981). 10 „Eine Norm gilt” bedeutet demnach zweierlei: (a) die Norm X ist logisch und/ oder sachlich begründet; (b) sie ist institutionell legitimiert, d.h. in sozialen Akten, politischen Verfahren in kraft gesetzt.” (Gloy 1980, S. 366). <?page no="131"?> Implizite und explizite Bewertungsgrundlagen 121 So expliziert, kann man nun Schlüsse dieser Art, die häufig in Gesprächsbesprechungen Vorkommen, reflektieren und kritisieren: Sie sind ersichtlich in mehrerer Hinsicht problematisch: - Hat A immer und bei allen Hörern die Wirkung X ? - Hat A nur die Wirkung X oder kann A auch andere Wirkungen haben? - Welche empirischen Evidenzen gibt es für die Geltung der Wirkungshypothese? - Wodurch ist gesichert, daß das Eintreten der Wirkung X in jedem Fall dysfunktional für das Gesprächsziel ist? - Wie ist der Übergang zu den Alternativen (B, C ...) begründbar und abgesichert? etc. Auf dieser Grundlage ist auch zu erkennen, daß der kritisierte Vertriebsassistent versucht, den Schluß infragezustellen, indem er die zweite Prämisse bestreitet. Im übrigen ist das Monitum natürlich ein Sediment der breiten, sprachkritischen Debatte um die ’ich würde (mal) sagen’-Formulierung. Die hier angedeutete Explikation und Reflexion der normativen Bewertungsgrundlagen findet in Ausschnitt 1 und auch in den weiteren Ausschnitten nicht statt. Den Hintergrund zu Ausschnitt 2 bildet die Norm: ’Wenn Sie ein erfolgreiches Verkaufsgespräch führen wollen, dann wenden Sie das Gesprächsmodell und insbesondere die Fragetechnik an. ’ Konnte man die Wirkungshypothese noch als Versuch verstehen, eine empirische Regularität heranzuziehen, so ist in diesem Fall klar, daß der Trainer Normsetzer ist. Umso notwendiger ist es auch hier, nicht nur nach der Legitimation, sondern auch nach der Begründung und empirischen Evidenzen zu fragen. Aus dem Ausschnitt 3 läßt sich u.a. die folgende zugrundeliegende Norm rekonstruieren: Wenn in einem Gespräch eine positive persönliche Beziehung aufgebaut werden soll, dann darf zu Beginn des Gesprächs keine zu große räumliche Distanz zwischen den Gesprächsteilnehmern hergestellt werden. Bei aller alltagsweltlichen Plausibilität dieser Norm ist auch hier ihre Explizierung die Voraussetzung dafür, daß sie reflektiert und diskutiert werden kann, was aber in der Trainingssituation nicht geschieht. Es drängt sich die Frage auf, was die Vertriebsassistenten aus solchen Besprechungen lernen bzw. was der heimliche Lehrplan solcher Trainings ist, wenn wie diese Beispiele zeigen die Bewertungsgrundlagen nicht expliziert, reflektiert und diskutiert werden. Hinzu kommt, daß Monita mit ihrem impliziten oder expliziten Rekurs auf Normen nicht nur eine Kritik darstellen, sondern ein interessengebundener Normierungsversuch <?page no="132"?> 122 Reinhard Fiehler sind. 11 Der dem Monitum zugrundeliegenden Norm soll Geltung verschafft werden. Auch dieses Problem wird in den Trainings nicht reflektiert. In Kommunikationstrainings wird häufig so möchte ich auf der Grundlage von ca. 60 untersuchten Monita generalisieren ein Kommunikationsverhalten kritisiert und werden alternative Verhaltensweisen vorgeschlagen, ohne daß die zugrundeliegenden impliziten Normen hinreichend explizit gemacht werden. Ferner werden in der Regel eindimensionale Wirkungszusammenhänge angenommen. Für viele Normen und Hypothesen über Wirkungszusammenhänge gibt es keinerlei sachliche Begründung bzw. empirisch gesicherte Evidenz. Häufig sind sie nur durch alltagsweltliche Plausibilität, die Herkunft aus populärwissenschaftlichen Theorien oder die Autorität und Fachkompetenz des Trainers legitimiert. Bestenfalls beruhen sie auf wissenschaftlichen, meist psychologischen Theorien. Da die Normen nicht hinreichend explizit sind, können sie auch nicht reflektiert und Alternativen nicht systematisch gesucht werden. 4.3 Bewertungen Die Identifizierung des Kommunikationsproblems wird mit der Formulierung des Monitums interaktiv relevant. Von den im Monierungsschema genannten Aufgaben spielt dabei die Bewertung eine besondere Rolle. Monita sind immer Bewertungsdiskurse. Eine Verhaltensweise wird als falsch, schlechter, ineffektiv, unfunktional, störend etc. gekennzeichnet, während eine andere als richtig, besser, effektiver, funktionaler, angenehmer usw. herausgestellt wird. Diese Bewertungen müssen dabei keineswegs explizit formuliert werden, sondern durch das Setting ist klar, daß bewertet wird. Jedes Monitum wird zudem in diesem Rahmen nicht nur als allgemeine Bewertung, sondern als Hinweis auf einen persönlichen Fehler verstanden und löst entsprechend häufig Erklärungen, Rechtfertigungen oder ein Bestreiten des Fehlers aus. Die Beispiele zeigen, daß Bewertungen nicht nur implizit Vorkommen, sondern in erheblichem Maß mit den einschlägigen sprachlich-kommunikativen Mitteln auch explizit formuliert werden. 4.4 Auffassungen über Kommunikation Aus den Monita in diesen Trainings lassen sich u.a. folgende zugrundeliegenden Auffassungen über Kommunikation rekonstruieren: - Das Sprechen ist ein Instrument, für das der Sprecher auf allen Ebenen und für alle Ebenen auch gleichzeitig verantwortlich ist. Die Ebenen reichen wie die Ausschnitte zeigen von der einzelnen Formulierung bis zur gesamten Gesprächsorganisation. Die Vorwurfs- 11 Hierauf hat besonders Stötzel (1986, S. 91) bei der Analyse sprachkritischer Leserbriefe hingewiesen, wenn er schreibt, daß „implizite und explizite Berufungen auf Normen der Legitimation des eigenen Normierungsversuches dienen.” <?page no="133"?> Implizite und explizite Bewertungsgrundlagen 123 Struktur des Auschnitts 2 verweist insbesondere auf die Verantwortlichkeit. - Der Erfolg des Sprechens hängt weitgehend allein vom Sprecher ab und den sprachlich-kommunikativen Mitteln, die er wählt. So geht es in beiden Ausschnitten nur darum, was der VA getan hat oder nicht. Charakteristischerweise ist auch die Demonstration des Trainers in Ausschnitt 2 ein Monolog. - Eine Art zu kommunizieren, ist falsch oder richtig. Meistens gibt es nur eine richtige Möglichkeit. Entsprechend werden die Monita dezidiert und ohne viel Abschwächung vorgetragen, und auch die Bestätigung des Monitums durch den Trainer in Ausschnitt 1 ohne jede Diskussion läßt sich so deuten. Zusammenfassend entsteht das Bild einer instrumentalistischen Auffassung von Kommunikation, die zudem weitgehend Sprecher-, nicht interaktionszentriert ist. Sprache ist ein Werkzeug in der Hand der einzelnen Person. Dieser Kommunikationsbegriff wird vom Training nicht nur vorausgesetzt, sondern gerade auch durch die Praktiken des Trainings von neuem konstituiert. Ein solcher Kommunikationsbegriff ist für die Sphäre der Arbeitswelt, die weitgehend arbeitsteilig organisiert und durch instrumentelle Beziehungen strukturiert ist, funktional und naheliegend. Er ist aber keineswegs auf diesen Bereich beschränkt. Seine Spezifik wird deutlich, wenn man drei weitverbreitete Sichtweisen von Kommunikation 12 betrachtet: (1) Kommunikation als natürliche Ausstattung des Menschen (2) Kommunikation als äußerliche Fähigkeit bzw. Technik (3) Kommunikation als Teil und Ausdruck persönlicher Identität Im ersten Fall wird Kommunikationsfähigkeit primär als Naturphänomen oder als eine natürliche Ausstattung des Menschen gesehen. Bei solchen natürlichen Phänomenen wie, daß der Mensch nun mal nur zwei Arme hat, stellt sich die Frage der Veränderbarkeit bzw. Verbesserbarkeit normalerweise nicht. Die zweite Auffassung, daß Kommunikation eine dem Menschen äußerliche, instrumentelle Fähigkeit bzw. Technik ist etwa wie das Binden einer Schuhschleife oder das Autofahren impliziert, daß Kommunikation in vergleichbarer Weise lernbar ist. 13 Es macht Schwierigkeiten, man 12 Zu verschiedenen alltagsweltlichen und wissenschaftlichen Konzeptualisierungen von Kommunikation cf. Fiehler (1990). 13 Hartung (1986, S. 7) wertet den Übergang von der ersten zur zweiten Konzeptualisierung wie folgt: „Es ist zweifellos ein historischer Fortschritt, daß man dazu kam, sich Sprache als einen Gegenstand menschlichen Eingreifens anzueignen und nicht mehr als etwas <?page no="134"?> 124 Reinhard Fiehler muß sich anstrengen, der Erfolg ist unterschiedlich, aber im Grundsatz kann man es lernen. Ergänzt wird diese Sichtweise durch die Vorstellung von Sprache als einem Mittel oder Werkzeug der Verständigung. Auch sie betont den Charakter des äußerlichen Instruments. Versteht man Kommunikation als Teil und Ausdruck der Persönlichkeit, so erscheint sie viel tiefer in der Persönlichkeitsstruktur verwurzelt, und ihre Veränderung ist an langwierige Prozesse der Persönlichkeitsveränderung gebunden. Alle drei Konzeptualisierungen implizieren also unterschiedliche Sichtweisen auf die Veränderbarkeit und Schulbarkeit von Kommunikation (bzw. den hierfür erforderlichen Aufwand). Sie bedingen zugleich auch eine ganz unterschiedliche Praxis der Veränderung von Kommunikationsverhalten. Die zweite Auffassung ist in vielen Konzepten von Kommunikationstraining und so auch in den hier behandelten Trainings heimisch. Zugleich gewinnt im Trainingskontext aber auch die Konzeptualisierung (3) an Bedeutung als Reaktion auf eine wachsende Skepsis bei den Nachfragern, die die EfRziens der herkömmlichen Praxis von Kommunikationstrainings zunehmend in Frage stellen. Die dritte Konzeptualisierung bildet die Grundlage für viele psychologische Therapieformen, die einen kommunikativen Zugang zu Problemen des Klienten suchen. 5. Alternativen der Diskursanalyse Anwendung im Kontext von Kommunikationsberatung und -training bedeutet für die Diskursanalyse zunächst einmal eine Einschränkung und Spezialisierung ihres Erkenntnisinteresses. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit nicht mehr allgemein auf Organisationsprinzipien und Regularitäten der Kommunikation, sondern auf Kommunikationsprobleme. Die Anwendung von Diskursanalyse zielt ab - und in diesen Zielsetzungen unterscheidet sie sich nicht wesentlich von anderen Trainings auf Beratung zur Bewältigung von Kommunikationsproblemen und auf die Veränderung von kommunikativen Verhaltensweisen. Anders sind aber die Mittel und Wege, auf denen sie dies erreichen will. 14 (1) Bei einer diskursanalytischen Kommunikationsberatung erfolgt die Identifizierung von Kommunikationsproblemen durch eine systematische nur Naturhaftes zu sehen.” Meines Erachtens sind aber die Bedingungen und Grenzen der Veränderbarkeit/ Lernbarkeit von Kommunikationsverhalten bisher völlig unzureichend reflektiert und erforscht. 14 Cf. insbesondere auch Becker-Mrotzek/ Brünner (1992). <?page no="135"?> Implizite und explizite Bewertungsgrundlagen 125 Untersuchung von Transkriptionen authentischer Gespräche, also nicht auf der Grundlage von Gesprächssimulationen. Die Analyse erfolgt auf der Basis von Transkriptionen (dem ’Mikroskop’ der Diskursanalyse), nicht durch portionsweises Anhören oder Anschauen von Gesprächsaufzeichnungen. Analyse der Gespräche und Beratung/ Training sind zeitlich voneinander getrennt. (2) Der zweite Schritt besteht in der Aushandlung dieser Probleme mit den Mitarbeiterinnen der Institution: Was sieht man gemeinsam als Problem? Was ist wie dringend? (3) Drittens werden die normativen Hintergründe eines Kommunikationsproblems expliziert und allen Beteiligten zu Bewußtsein gebracht (Bewußtmachung der Normen, die wir im Kopf haben und auf deren Hintergrund wir Kommunikation bewerten), wobei besonderes Augenmerk auf die institutionelle Geprägtheit und Funktionalität dieser Normen gerichtet wird. Dies geschieht in üblichen Kommunikationstrainings gar nicht oder zu wenig. (4) Sofern Veränderungen im individuellen Handlungsspielraum liegen, werden alternative Normen systematisch gesucht, diskutiert, begründet und entschieden. (5) Zum faktischen Kommunikationsverhalten werden auf dieser Grundlage systematisch alternative Verhaltensweisen gesucht und diskutiert. Im Zentrum steht die Explikation und Bewußtmachung des Alternativensprektrums und die Sensibilisierung für mögliche Verläufe der Kommunikation, nicht die Präskription einzelner Verhaltensweisen (Rezepte). Die Teilnehmerinnen sollen die Möglichkeit haben, aus dem Spektrum die Verhaltensweisen auszuwählen, die ihnen für die eigene Person am geeignetsten scheinen. (6) Die alternativen Verhaltensweisen werden von den Mitarbeiterinnen in ihrer beruflichen Praxis erprobt und in einer erneuten Beratung bzw. einem weiteren Training wird auf der Grundlage neuer Aufzeichnungen analysiert, ob sich diese Alternativen bewährt haben (diskursanalytische Evaluation). Im folgenden möchte ich die Punkte (3) bis (5) noch etwas genauer erläutern: Die Bewußtmachung (Punkt 3) ist wesentlich für die Überprüfung dieser Normen und ggf. für die Suche nach alternativen Normen in Schritt 4. Nehmen wir an, jemand hat als Norm Sprich im ganzen Satz! und sein Kommunikationsproblem besteht darin, daß er dies nicht tut. Eine Beratung oder ein Training, das lediglich auf die Beseitigung des Problems durch Realisierung der Norm abzielt, wäre aus meiner Perspektive problematisch. Es wäre zu klären, woher diese Norm kommt, ob sie funktional <?page no="136"?> 126 Reinhard Fiehler ist, ob und unter welchen Bedingungen sie in mündlicher Kommunikation zu realisieren ist. Dies macht deutlich, daß die Diskursanalyse solche Normen für rational diskutierbar und auf dem Hintergrund expliziter Begründungen auch für entscheidbar hält. Eine wesentliche Besonderheit der Diskursanalyse besteht in der Art der Normen, die sie bei der Identifizierung von Kommunikationsproblemen, bei der Entwicklung alternativer Normen und bei der Diskussion alternativer kommunikativer Verhaltensweisen zugrundelegt. Normen können um daran zu erinnern deskriptiv basiert oder rein präskriptiv sein. Normen, auf die Diskursanalytiker im Prozeß der Anwendung rekurrieren, sind im wesentlichen deskriptiv begründet, sie beruhen auf empirische Regularitäten. Sie basieren auf deskriptiven Einsichten in Organisationsprinzipien und Regularitäten der Kommunikation, wie sie in diskursanalytischen Untersuchungen herausgearbeitet werden. Sprich im ganzen Satz! ist keine für eine diskursanalytisch fundierte Beratung propagierbare alternative Norm (auch wenn sie im Bewußtsein vieler Menschen als Zielvorstellung verankert ist), weil sie rein präskriptiv und nicht deskriptiv begründet ist. Normale mündliche Kommunikation vollzieht sich eben nicht in der Satzform. Die Satzform ist zwar funktional für schriftliche Texte, nicht aber in gleicher Weise funktional für die Aufgaben, die beim gesprächsweisen Sprechen zu bewältigen sind. Mit empirischen Regularitäten als Basis für präskriptive Normen unterscheidet sich die Diskursanalyse grundlegend von vielen anderen Formen der Sprachkritik, der Kommunikationsberatung und des Kommunikationstrainings. Der fünfte Schritt besteht in der systematischen Explikation des Alternativenspektrums gemeinsam mit den Teilnehmerinnen. Wichtig ist hier, möglichst viele Alternativen in ihren Konsequenzen, Wirkungen und Implikationen zu durchdenken. Es bleibt den Teilnehmerinnen überlassen, welche Möglichkeit oder Möglichkeiten sie für eine Erprobung in der Praxis auswählen. Diese prinzipielle Offenheit, die Präskription so weit wie möglich vermeidet, stößt häufig auf andersgeartete Erwartungen der Teilnehmer, die wissen wollen, wie es denn nun ’richtig’ ist. Wesentliches Lernziel einer diskursanalytischen Kommunikationsberatung ist aber gerade die Einsicht, daß dies im Bereich der Kommunikation in einer Vielzahl von Fällen nicht eindeutig und mit Sicherheit gesagt werden kann. <?page no="137"?> Implizite und explizite Bewertungsgrundlagen 127 Literatur Becker-Mrotzek, Michael/ Briinner, Gisela: (1992): Angewandte Gesprächsforschung: Ziele - Methoden - Probleme. In: Fiehler/ Sucharowski (Hg.) 1992, S. 12-23. Bliesener, Thomas/ Brons-Albert, Ruth (Hg.) (1994): Rollenspiele in Verhaltens- und Kommunikationstraining. Opladen: Westdeutscher Verlag. Brons-Albert, Ruth (1995): Auswirkungen von Kommunikationstraining auf das Gesprächsverhalten. Tübingen: Narr. Fiehler, Reinhard (1981): Zur Formulierung und Prüfung von Kommunikationsregeln. Einige methodische Probleme der Konversationsanalyse. In: G. Hindelang/ W. Zilling (Hg.): Sprache: Verstehen und Handeln. Akten des 15. Linguistischen Kolloquiums. Münster 1980. Bd. 2. Tübingen: Niemeyer 1981. S. 205-214. Fiehler, Reinhard (1990): Kommunikation, Information und Sprache. Alltagsweltliche und wissenschaftliche Konzeptualisierungen und der Kampf um die Begriffe. In: R. Weingarten (Hg.): Information ohne Kommunikation? Die Loslösung der Sprache vom Sprecher. Frankfurt: Fischer 1990. S. 99-128. Fiehler, Reinhard/ Sucharowski, Wolfgang (Hg.) (1992): Kommunikationsberatung und Kommunikationstraining. Anwendungsfelder der Diskursforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag. Fiehler, Reinhard (1994): Unternehmensphilosophie und Kommunikationsschulung. Neue Wege und neue Probleme für betriebliche Kommunikationstrainings. In: Bungarten (Hg.) (1994): Kommunikationstraining und -trainingsprogramme im wirtschaftlicnen Umfeld. Hamburg. Flieger, Erhard/ Wist, Georg/ Fiehler, Reinhard (1992): Kommunikationstrainings im Vertrieb und Diskursanalyse. Erfahrungsbericht über eine Kooperation. In: Fiehler/ Sucharowski (Hg.) 1992, S. 289-338. Gloy, Klaus (1980): Sprachnorm. In: LGL Nr.33, S.363-368. Hartung, Wolfdietrich (1986): Sprachnormen: Differenzierungen und kontroverse Bewertungen. In: P. v. Polenz/ J. Erben/ J. Goossens (Hg.): Sprachnormen: lösbare und unlösbare Probleme. Tübingen: Niemeyer 1986, S. 3-11. Kummer, Werner (1975): Grundlagen der Texttheorie. Reinbek: Rowohlt. Stötzel, Georg: Normierungsversuche und Berufungen auf Normen bei öffentlicher Thematisierung von Sprachverhalten. In: P. v. Polenz/ J. Erben/ J. Goossens (Hg-) : Sprachnormen: lösbare und unlösbare Probleme. Tübingen: Niemeyer 1986, S. 86- 100. <?page no="138"?> 128 Reinhard Fiehler Anhang Ausschnitt 1 (ZI VNT 90/ 2 BT 1, PZ 139-146) Der folgende Ausschnitt bezieht sich auf diese Äußerung von VA 4 im Telefongespräch mit einem Kunden: VA 4: ’ich werd mich bei uns im Hause erkundigen was da bei ihnen gelaufen iS und äh m/ ich würde mal sagen ich werde mich mit Sicherheit nochmal bei ihnen meiden' T1: Trainer 1; VA 1: Vertriebsassistent 1; VA 4: Vertriebsassistent 4 [ ■ •hr deutlich] 4 wie «*3 ich« wia komm; , bale Kunden an .•• und auch dann Er 1t . K li jwi ls ich würda aal sagan ichrufa sia auf alia rälla an daa für/ [vh li halt ich da auch für gafUirlich ich hKtta da jatat gaaagt |v» li [ich rufa aia dann und dann an oder] ia aa ihnen halt dann [vh 1. und dann liabaf dann diaaa. ich ward« aal sagen da aehwingt [w 1« mir na Onaicharhalt mit und so waa dar för'n Kindruck von [vh 1« (Fimannaaa) hat kh . kann aa gut aain daß ar jata halt auch ftl. Iva li VA 4t f T 1 * na«. 4 t aain wann er aa Kontag angarufan wird na oder Dianatag daa dankt dar aaldat aich «fc nich mehr ja dann wird ar Übermacht 9 T lt gut . abar Achtung ihr« XoaaunikatioA VA 4t wird er waa aag hm ( ) lt ich waa wollen aia waa ia ihre gute Abaicht .. und kemat die auch ao rübaf dar Kunde erlabt aa jßdara 12 fl lt VA 4 t ((Xaaa. läuft)) <?page no="139"?> Implizite und explizite Bewertungsgrundlagen 129 Ausschnitt 2 (21 VNT 90/ 2 BT 2, PZ 92-110) T1: Trainer 1; VA 1: Vertriebsassistent 1; VA 4: Vertriebsassistent 4; VA 5: Vertriebsassistent 5 [«behackt ] tl.iaaj s 12 U 14 17 jjT 1« antwickaln aia aal bitta «ln ProblaabawStaain dafUr daB aia 1s hiar in diaaaai Auganblick .. bai ainam draihundarttauaand- P't 1> Narka-Objakt . Chancan varapiaian .. für ihran aiganan AI T li Chancan VA 4< da aind doch kaina Chan/ wo ia dann da na Chance wag ( ) Ql Xi varapialan . dahin eich hiar baraita aia kompetenter Fach- |jr Xi beratar aXa kompetenter OaaprAchapartnaf arata Anaktzd . und Xi Varkaufaproaaaaa gähn Ober Xangen kaitraua . arata Anaktza ET 1« . [total] runtarfahrn aia haben zu dam kein Vartrauan A 4t [haha] Qt Xi . da ia kaina Baaie aufgebaut da ia kein aootionalea raid j^T Xi aufgebaut und über SachprobXama nicht ganügand diakutiart . [~T ls (ia daa VA St Ft it VA 4 VA 5i wüßte r*x. VA ls frag«! [VA 5s ( ) j - T 1t Sacbk aratana mal die akatlichan Intacheidef daa gaaaata | T li Gremium daa iat dar sachliche Teil VA 1t VA 5t wirklich an Talafon allaa schon jjr li alias aruiaren gut daß wir darüber sprechen zweiter Tail würd j T 1I ich waitergahn ich/ jetzt gehts mir ganz beaondara um ihre richtig) wia aber mich würde jetzt intsrassiarn ich ((lacht)) jetzt sinnvoll au(ch) nit waiter wia ich/ fragen . Barr Sowieso aia haben gaaagt da ist na allaaj» <?page no="140"?> 130 Reinhard Fiehler ie 19 20 21 22 23 24 25 26 27 26 29 llmLmm] 30 31 32 33 34 T It Parson wss ist ihnsn dsnn dsbsi wichtig wss »ainan sia via VA 1* 9 I^I li solltan . wir jat* waitar vorgahn halten sla das für sinnvoll |jr 1» daß wir uns ln alnaa Vorgespräch für sich jsts aal unabhängig Qt li von dar Koanission und dam gansan drum und dran aal unverjjT li bindlich xusasnansatsaft so . daß wir hier für Ihr Krankanhaui li spaxiell erst einmal recherchieren was gibt es hauta ( ) j^T 1« für Möglichkeiten dann sia sind ja in der Inforaationsphasa |^T 1j und äh . wann ich sia richtig varstandan habe geht as ihnen li ja darua mahrara Mosaikstaina einmal xusaamanxubrIngen was [jt 1» für Mosaikstaina wären das aus unserer/ ihrer Sicht was j^T 1: können wir viellaicht noch für Mosaikstaina beibringed mm Qr li Pünktchen Pünktchen . und Barr (Hase V» 4) das ist das T 1: Problsm ihrer Casprächsführung ... au oberflächlich su sehr V» 4t (ha] 9 9 T 1t ( VA 4t ) ich sag das aal ia direkten Feedback so klar haha da T 1t jd VA 4t darf ich da aal was su antworten na also ich fühle mich [« |va 4 t auch ab und su nich fachkotspatent genug was haa wir dann ^VA 4 t bisher gaaiacht <?page no="141"?> Implizite und explizite Bewertungsgrundlagen 131 Ausschnitt 3 (Z2 VNT 90/ 1 BS 1, PZ 82-88) T 1: Trainer 1; VA 10: Vertriebsassistent 10; VA 1: Vertriebsassistent 1 U«1m] 1 2 3 4 5 4 7 9 C T & & b & & & & io tailungj 13 14 &VA VA VA & & & & 1 t ((Vi(too von P* 33 bi» PX 70)) [ja] ... wi» klar wird 1 I di* Situation Harr (Han* VÄ 10) 10i also ich find* da wird Ub*r- 10 t haupt kain P*ra6nlichk*itaf*l/ f*ld aufgabaut . w*il . dauart 10I kaina Kinutd dann ataht *r auf und gabt direkt an dia Tefal 1 t haha 10 t dann koaaan di* Fragen . in ao'm groBan Abatand n Riaaan- 10t abatand dar Xunda bleibt da allein hock*« . um'a ganz kraß 10t auazudrückan und er fkngt da hintan an waa cu zaichnafi 1 t hmhm 10t sofort vial zu früh nach oainer Meinung und stallt dann 1 i hmhm 10t .. bei nar groBan Distanz noch di* Fragen ich find sowas 10t sollt man nonaalerwaiaa im Vorfaid n bißchen abklXrn dann 10 t Khm wann man na LOauno hat oder annähar/ annähernd na 10i Lösung dann hinzugahn okay . ich will das mal alias auf- 1 i hmhm (»ins zwai) 10t zaichnan [also das war n'biBchan zu verfrüht fand ich] lt ich muß aber dazu sagan . khm dia ganz» Kontaktphas* dia bei lt J£ natu Gespräch notwendig is . dia is abgablockt worden . lt vielleicht von Beginn an schon <?page no="142"?> HORST DIETER SCHLOSSER Sprachkritik zwischen „political correctness” und anderen Klippen Abstract Die 1991 ins Leben gerufene Aktion „Unwort des Jahres” zeigt mit ihren von Jahr zu Jahr steigenden Teilnehmerzahlen, daß es in der deutschen Bevölkerung ein hohes Interesse an öffentlicher Sprachkritik gibt, das förmlich nach wissenschaftlich unterstützter Aufmerksamkeit ruft. Denn ein nicht geringer Teil „volkslinguistischer” Kritik an Phänomenen des gegenwärtigen Sprachgebrauchs ist von problematischen alten und neuen Vorurteilen geprägt, die durch die Unwort-Aktion selbst nicht beseitigt werden können. Die Konzentration der Aktion auf sprachliche Fehlgriffe, die den Prinzipien sachlicher Angemessenheit und humanen Miteinanders zuwiderlaufen, führt die Unwort-Suche selbst an die Grenzen wissenschaftlich und politisch vertretbarer Sprachkritik, hinter der auch neue Programme der Sprachlenkung lauern, so etwa die „political correctness” oder die weitverbreitete Fixierung auf nur-formale Korrektheit. Obwohl sich die Unwort-Aktion selbst nur der Sensibilisierung sprachlichen Bewußtseins verschrieben hat, bergen ihre Urteile immer wieder das Risiko, als letztinstanzliche Entscheidungen mißverstanden zu werden. Es wäre darum erwünscht, die sprachliche Aufklärungsarbeit in weiteren publikumswirksamen Unternehmungen zu vertiefen. Erfahrungen mit der Aktion „Unwort des Jahres” Der folgende Beitrag will die zahlreichen theoretischen Erwägungen zur Sprachkritik nicht vermehren, sondern Erfahrungen mit einer inzwischen nicht mehr unbekannten Aktion praktischer Sprachkritik, der Suche nach dem „Unwort des Jahres”, mitteilen und reflektieren. Es muß sogar ausdrücklich eingestanden werden, daß der Beginn dieser Aktion durchaus unter Defiziten theoretischer Reflexion litt, weil zunächst nur „laut Gedachtes” durch eine ungesteuerte Agenturveröffentlichung über Nacht zum Medienereignis wurde, das bekanntlich seine eigenen Zwänge hat. Konkret: Der Verfasser als Vorsitzer eines Zweigs der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) hatte am 7. Oktober 1991 auf einer Veranstaltung in Frankfurt a.M. zwei verschiedene Vorschläge unterbreitet, wie man das unbezweifelbare sprachkritische Interesse breiter Kreise, das sich meist nur privat oder in Leserbriefen artikuliert, fruchtbar machen könne. Einer dieser Vorschläge war nun, durch einen bundesweiten Aufruf besonders auffällige Mißgriffe des öffentlichen Sprachgebrauchs, vor allem solche, die den Kriterien sachlicher Angemessenheit und humanen Umgangs nicht entsprachen, zu sammeln und daraus das „Unwort des Jahres” zu wählen. Die Anwesenden, Mitglieder der GfdS und interessierte Gäste, unterstützten ein solches Vorhaben heftig. An einen Alleingang des Frankfurter GfdS-Zweigs war indes zu keinem Zeitpunkt gedacht, vielmehr erschien <?page no="143"?> Öffentliche Sprachkritik 133 die Zustimmung des GfdS-Vorstands sowie die praktische Unterstützung durch die Wiesbadener Geschäftsstelle der GfdS unabdingbar. Es sollte anders kommen. Ein eher zufällig anwesender dpa-Vertreter verbreitete am 8. Oktober 1991 ohne Wissen des Verfassers eine Agenturmeldung, die den noch gar nicht spruchreifen Plan als beschlossene Sache der GfdS insgesamt darstellte (der Verfasser wurde dabei sogar unversehens zum „Vorsitzenden der GfdS”); am 9. Oktober 1991 brachten zahlreiche Zeitungen diese Meldung, zahlreiche Rundfunk- und Fernsehstationen überschütteten den Verfasser mit Interviewwünschen, bevor es zu einer ruhigen Absprache mit dem GfdS-Vorstand kommen konnte. Im „Frühstücksfernsehen” von SAT 1 versuchte der tatsächliche GfdS- Vorsitzer Professor Günther Pflug, die Dinge noch zurechtzurücken. Die „Aktion der GfdS” aber war nicht mehr zu stoppen; das Medieninteresse und sehr bald auch das Interesse zahlreicher Einsender überrollten alles. Besonders delikat wurde die Situation dadurch, daß nicht wenige in der GfdS oder gar in ihrem unfreiwilligen Repräsentanten aus Frankfurt selbst den (offenbar schon lange ersehnten) sprachlichen Oberrichter der Nation sahen. 1. Praktische Sprachkritik — mehr als nur eine „Marktlücke” der Medien Medieninteresse allein kann zumal in Zeiten, da auch abstruse Informationen „Marktwert” erhalten können als Begründung für die Relevanz einer Sache kaum ausreichen. Dennoch war die einhellig positive Einstellung, mit der Journalisten von der Nordsee bis zu den Alpen der Idee vom „Unwort des Jahres” begegneten, ein Signal. Endlich könne so der allgemeine Tenor nun einmal mit wissenschaftlicher Unterstützung der Verrohung sprachlicher Sitten begegnet werden. Die Reaktion von dieser Seite war um so erstaunlicher, als nicht selten gerade die Medien selbst als die Quelle „sprachlichen Verfalls” angesehen werden. Aber auch die sich häufenden privaten Anfragen und Unwort-Meldungen bewiesen, daß die Idee einem allgemeineren Bedürfnis entgegenkam, also mehr war oder zumindest sein konnte als die Erlegung einer Medien-Eintagsfliege. Dies wurde spätestens deutlich, als nach Abschluß der ersten Aktion (Stichtag 15. Januar 1992) von vielen Seiten eine Fortsetzung dringend gewünscht wurde. Kamen auf den ersten Aufruf noch „nur” 366 Unwort- Vorschläge zusammen, so erhöhte sich deren Zahl bis zur vierten Aktion für 1994 sogar auf mehr als 1700 Einsendungen. Und schon lange vor der offiziellen Eröffnung einer neuen Aktion, liegen jeweils zahlreiche neue Vorschläge auf dem Tisch. Zieht man aus diesen Erfahrungen einen ersten grundsätzlichen Schluß, dann kann er nur lauten: Für viele Sprachteilhaber sind praktisch folgenlose Erörterungen der Möglichkeiten von Sprachkritik höchst unbefrie- <?page no="144"?> 134 Horst Dieter Schlosser digend. Die Theorien der Sprachkritik und die nur-theoretische Debatte um Sprachbewertungskriterien erscheinen oft wie ein Teil des Elfenbeinturms, in die sich die Sprachwissenschaft nach den (zweifellos allzu vordergründigen) Bemühungen um gesellschaftspolitische Veränderungen in den endsechziger und siebziger Jahren vielfach wieder zurückgezogen hat. 1 Zwar kann und will die Unwort-Suche nicht beanspruchen, die vielfach abgebrochenen Brücken zwischen Fachwissenschaft und Öffentlichkeit wiederhergestellt zu haben. Das wäre schlicht Hybris, und mancher mag die Aktion für bloßen Aktionismus halten. Doch weist schon ihr äußerlicher Erfolg darauf hin, wie sehr breite Laienkreise auf Hilfestellungen seitens der Fachleute hoffen, die sich ihnen aber aus wie honorigen Gründen auch immer meist verweigern. Wie immer man den punktuellen Versuch der Unwort-Suche bewertet: eine Disziplin, die ein sozial so wesentliches Thema wie die Sprache zum Gegenstand hat, darf dieses Thema nicht zur Arkanwissenschaft stilisieren! 2. Sprachberatung oder Sprachlenkung? Es ist schon angedeutet worden, daß nicht wenige Einsender von Unwort- Kandidaten in teilweise ausführlichsten Begleitkommentaren die Erwartung geäußert haben, die GfdS oder der Verfasser selbst könnte die Rolle einer Instanz übernehmen, die „endlich einmal” für Ordnung im Sprachleben sorge. „Können Sie nicht etwas dagegen tun, daß ... ? ” ist eine der am häufigsten zu lesenden Formulierungen in den Begleitschreiben. Das war zumal in der Anfangsphase der Unwort-Aktion eine besonders peinliche Anfrage, da es zunächst überhaupt keine Jury gab, die über die subjektive Meinung des Initiators hinaus hätte eine Entscheidung fällen können. Die Gesellschaft für deutsche Sprache zählt zwar die „Sprachpflege” zu ihren programmatischen Aufgaben, doch hat sie sich bei aller Entschiedenheit, mit der sie sich in sprachlichen Einzelfragen verhalten kann, nie als „letzte Instanz” verstanden und wird dies wohl auch in Zukunft nicht tun. Von prominenter Seite in der GfdS wurde anfänglich sogar ausdrücklich Opposition gegen die Unwort-Suche laut, weil sich die GfdS beispielsweise wie bei der Ermittlung von „Wörtern des Jahres” lieber nur beobachtend und dokumentierend verhalten solle. Hier tat sich der Grundwiderspruch zwischen Sprachdeskription und Sprachlenkung auf, der in jeglicher Sprachberatung sorgfältig bedacht sein will. Sehen wir einmal davon ab, daß normative Entscheidungen in sprach- 1 Nicht ganz einzusehen ist freilich, daß die seinerzeit vieldiskutierten Themen wie die „Sprachbarrieren” oder die später entdeckte soziale Diskriminierung von Dialektsprechern heute so gut wie gar keine Beachtung mehr finden. Die Verdrängung methodischer Irrwege durch Verschweigen der Themen hat die realen Probleme keineswegs gelöst! <?page no="145"?> Öffentliche Sprachkritik 135 lichen Fragen tatsächlich sehr häufig schon von der wissenschaftlichen Einsicht durchkreuzt werden, daß zumindest die Sprachgebrauchsnormen einem stetigen Wandel unterliegen, wäre schon die Tatsache, daß Deutschland allein in diesem Jahrhundert zwei Diktaturen mit jeweils weitgehenden Sprachlenkungsversuchen zu ertragen hatte, ein politisches Motiv, einer erneuten Versuchung zu widerstehen, der Öffentlichkeit irgendwelche sprachlichen Vorschriften zu machen. Es gibt (hier nicht auszubreitende) weitere, auch historische Gründe, warum in diesem Land anders als etwa in Frankreich unter demokratischen Bedingungen auf zentrale Sprachinstanzen verzichtet wurde und verzichtet werden sollte. Es ist darum auch bei der Unwort-Aktion von Anfang an gegen alle entsprechenden Erwartungen betont worden, daß die Proklamierung von „Unwörtern” nur ein Beitrag sein solle, die Sensibilität im Umgang mit der Sprache zu erhöhen. Bezeichnenderweise war es der PDS-Bundesvorstand, der 1992 öffentlich verlangte, die „Unwörter des Jahres” 1991, angeführt von „ausländerfrei”, in Parlamentsdebatten mit Sanktionen zu belegen. 2 Das war nun ein „Erfolg”, den wir nicht erwartet oder auch nur angestrebt hatten, so untauglich und inhuman uns der Schlachtruf von Hoyerswerda 1991 auch erschienen war. Nicht Folgerung aus den bisherigen Erfahrungen, sondern Prämisse von konkreten Entscheidungen über die Qualität eines Sprachgebrauchs muß daher sein, daß die Sprachbenutzer mit einem „Richterspruch” noch einmal aufgerufen sind, die Gründe der Entscheidung und die praktischen Konsequenzen selbst zu überdenken. Auch die Tatsache, daß neben dem Initiator der Unwort-Aktion jeweils drei weitere Sprachwissenschaftler der GfdS unterschiedlicher theoretischer Ausrichtung 3 und von Aktion zu Aktion wechselnd zwei Vertreter/ Vertreterinnen der öffentlichen Sprachpraxis 4 in einer Jury Zusammenwirken, verleiht den Ergebnissen nur eine gewisse Intersubjektivität, nicht aber eine „Letztinstanzlichkeit”, der sich alle kommentarlos zu beugen hätten (eine solche Verpflichtung gilt ja noch nicht einmal für Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, wie sich jüngst am BVG-Urteil über den Paragraphen 218 gezeigt hat! ). Die Sprache gehört wirklich allen. Diesem Grundsatz ist auch die Unwort- Aktion verpflichtet. Das demokratische Moment war ja gerade durch den 2 Pressemitteilung des Bundesvorstands der PDS, Berlin, 10.2.1992. 3 Linguistische Juroren waren (außer dem Verfasser) bisher Prof. Dr. Albrecht Greule, Prof. Dr. Rudolf Hoberg und der jeweilige Geschäftsführer der GfdS, als Nachfolgerin ab 1994 Frau Prof. Dr. Margot Heinemann (Zwickau). 4 Als Vertreter der Sprachpraxis fungierten bisher u.a. Prof. Dr. Herbert Heckmann (Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt); Frau Christiane Lieberknecht (thüringische Landesministerin, Erfurt), Hanns Joachim Friedrichs (Fernsehjournalist), Prof. Dr. Hilmar Hoffmann (Goethe-Institut, München) und Friedrich Schorlemmer (Wittenberg). <?page no="146"?> 136 Horst Dieter Schlosser Aufruf zur Mitwirkung an alle (und nicht nur an „Experten” vom Schlage der „unsterblichen” Mitglieder einer nationalen Akademie wie in Frankreich) betont worden. 3. Die verlorene Unschuld der Wörter Ein schon früh gemachter Einwand gegen eine Negativauszeichnung einzelner Wörter machte auf die linguistische Grundannahme aufmerksam, wonach die Beziehung zwischen sprachlichem Zeichen und Bezeichnetem beliebig (de Saussure: „arbiträr”) sei. Tatsächlich läuft eine bestimmte Form der Sprachkritik Gefahr, die semantische Qualität von Wörtern mechanisch und ahistorisch zu fixieren. Insbesondere das Kriterium „Humanität im sprachlichen Umgang miteinander” verführt zu leicht dazu, Wörter und Formulierungen mit der simplen Alternative „moralisch gut oder schlecht” zu bewerten und die semantische Vielschichtigkeit auch einfacher Lexeme zu leugnen. Dieser kritische Ansatz ist nicht neu und ist schon gegen sehr populäre sprachkritische Auseinandersetzungen mit dem NS-Sprachgebrauch (vom Typ des „Wörterbuchs des Unmenschen” von Sternberger/ Storz/ Süßkind) gewendet worden. 5 Modisch in „Diskursanalysen” gewandet, treten semantische Schwarz-weiß-Urteile über einzelne Wörter auch heute noch auf, beispielsweise wenn Jürgen Link mit eigenartiger Selektion der Belege etwa das Wort „Asylant” a priori als „Kampfbegriff” definiert oder eine „Blauhelm-Mission” als Aktualisierung christlicher Glaubensverkündigung („Mission” bleibt „Mission”! ? ) deutet. 6 Damit wären wir nicht weit von einer ähnlich modischen Erscheinung in den USA und inzwischen auch hierzulande entfernt, die sich als „political correctness” aufspielt und die unter anderem einen nicht unbeträchtlichen Teil metaphorischen Sprachgebrauchs sanktionieren will: Einen Politiker „blind” oder „taub” zu nennen, würde danach eine Diskriminierung von Hör- oder Sehgeschädigten bedeuten, der Begriff „Schwarzarbeit” wäre ein verbaler Angriff auf Angehörige eines farbigen Volkes (wobei in den USA zur Vermeidung „rassistischer” Unterscheidungen längst die Sammelbezeichnung „ethnics” fast offiziellen Charakter hat). Beispiele solcher hypersensiblen Sprachkritik, die mit weithergeholten oder gar erfundenen Etymologien arbeitet, lassen sich auch in Lai- 5 Vgl. u.a. die in der erweiterten Ausgabe von D. Sternberger/ G. Storz/ W.E. Süskind: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Frankfurt a.M./ Berlin 1986, S. 225ff., dokumentierte Diskussion. 6 Siehe u.a. J. Link, Medien und „Asylanten”. Zur Geschichte eines Unworts, In: D. Thränhardt/ S. Wolken (Hg.): Flucht und Asyl. Freiburg/ Brsg. 1988, S. 50ff. - Ein Vortrag J. Links im Sommersemester 1993 in der Universität Frankfurt a.M. lieferte zahlreiche weitere Proben eines erstaunlich „freien” Umgangs mit historischen Fakten und linguistischen Methoden. <?page no="147"?> Öffentliche Sprachkritik 137 enkommentaren zur Unwort-Suche feststellen, etwa wenn das Wort „Sammelunterkunft” abgelehnt wird, weil man es (angeblich) Bestandteil für Bestandteil in das Wort „Konzentrationslager” überführen könne (eine Deutung, die im übrigen nur einen Sinn ergäbe, wenn „Konzentrationslager” per se und nicht erst durch euphemistischen Mißbrauch seiner sprachlichen Elemente inhumanen Charakter besäße). Wäre allerdings die Beziehung zwischen Wort und Sache immer und ewig beliebig, dann ließe sich überhaupt nichts zur Angemessenheit einer Benennung sagen. Richtig ist, daß eine „Urbenennung” in einer neutralen Relation zum bezeichneten Gegenstand steht. Die Erfahrungen mit der bezeichneten Sache aber laden das Wort gleichsam auf, und die Wörter verlieren ihre „Unschuld”. Nicht selten geht sogar eine höchst gutgemeinte Benennungsabsicht verloren. Wie sollte man sich etwa die Vorbehalte erklären, die heute gegen den Gebrauch des Wortes „Gastarbeiter” stehen, das bei seiner Erfindung einhelligen Beifall erhalten hatte? 7 Insbesondere kollektive Erfahrungen können Wörter semantisch bis zur Unerträglichkeit und Unverwendbarkeit belasten. Wer würde heute noch Wörter wie „Endlösung”, „Sonderbehandlung” oder „Vergasung” ohne Arg benutzen wollen, obgleich auch diese Wörter einmal höchst „unschuldig” waren! - Wenn noch 1993 ein gestandener Pädagoge (in der PH Heidelberg) im Rahmen eines staatlich geförderten Projekts, in dem behinderte Kinder in „Normalklassen” integriert werden sollen, diejenigen, die auf Grund der Schwere ihrer Behinderung nicht integriert werden können, in einem offiziellen Fragebogen als „Selektionsrest” bezeichnen wollte, dann läßt sich das nicht mehr damit entschuldigen, daß er einen „neutralen” Fachterminus benutzen wollte. Hypersensibilität ist die eine Klippe, Instinktlosigkeit, die hier offenbar aus mangelndem Geschichtsbewußtsein erwuchs, ist die andere. Will man solche Erwägungen verallgemeinern und für eine akzeptable sprachkritische Praxis fruchtbar machen, dann bleibt nur der Schluß, daß nicht mehr oder weniger zufällig isolierte Wörter Gegenstand der Kritik werden dürfen, sondern historische wie aktuelle Erfahrungen mit dem jeweiligen Wortgebrauch, also die soziale Dimension eines Wortes, bewertet werden müssen. 8 Die zentrale Propagandaformel aus dem Bürgerkrieg auf dem Balkan, die in ihrer massenhaft verbreiteten deutschen Übersetzung „ethnische Säuberung” zum „Unwort des Jahres” 1992 gekürt wurde, bietet dafür ein gutes Beispiel: Sie ist nicht nur aktuell eine eindeutige Beschönigung schlimmster Kriegsverbrechen, sondern hat in ihrem sub- 7 Vgl. M. Spieles, Ausländer in der deutschen Sprache. Historische Entwicklungen aktuelle Pressetexte. Bonn 1993, S. 47ff. 8 Hierfür gilt nach wie vor die zentrale Einsicht L. Wittgensteins: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.” (L.W.: Schriften Bd. 1. Frankfurt a.M. 1960, S. 311). <?page no="148"?> 138 Horst Dieter Schlosser stantivischen Bestandteil „Säuberung” im stalinistischen Umkreis bereits eine lange schlimme Tradition, die eine Verwechslung mit einer Hygienemaßnahme unmöglich macht. Folgte man indes den Kriterien der Geschichtslosen, wäre eine solche Kritik verfehlt; folgte man den ebenfalls eindimensionalen Grundsätzen der moralisch Hypersensiblen, müßte man schon das Wort „Säuberung” in jeder Hinsicht tabuisieren. 4. Die Verwechslung von Wort und Sache Ein Thema der Sprachkritik, das man als Angehöriger des männlichen Geschlechts kaum noch distanziert zu behandeln wagt, müßte eigentlich auch unter dem soeben behandelten Aspekt gesehen werden: die sprachlichen Fassungen von Geschlechtsunterschieden, die in feministischen Kreisen als absolut unzureichend empfunden werden. Kollektive Erfahrungen mit „Deutsch als Männersprache” müßten wenn sie denn so kollektiv wären, wie immer wieder behauptet wird sogar zu einem grammatischen Umbau unserer Sprache führen. Die Unwort-Aktion liefert gewiß keine repräsentativen Aussagen, und doch fällt auf, daß unter den zahlreichen weiblichen Einsendern (oder ist hier die Tautologie „weibliche Einsenderinnen” geboten? ) außer einer städtischen Frauenbeauftragten niemand die sonst so lautstark gescholtenen sprachlichen Diskriminierungen von Frauen an den Pranger stellen wollte. Eher mokierten sich bisher Kommentare von Frauen über sperrige oder gar unsinnige Verweiblichungen einzelner Wörter (insbesondere jene mit dem sog. Signal-I, aber auch die Feminisierung von Neutra vom Typ „Mitgliederinnen”). Kollektive Erfahrungen mit wahrlich zu beseitigenden sozialen Diskriminierungen von Frauen gibt es genug. Ob diese aber über die Sprache aufzuheben sind, muß bezweifelt werden. Der Sprachgebrauch, noch mehr natürlich das Sprachsystem hinkt stets erheblich hinter dem kulturellen Fortschritt her. Trotz Galilei und Kopernikus lassen wir sprachlich immer noch morgens und abends die Sonne und nicht die Erde „auf- und untergehen”. Als inzwischen selbstverständlich darf gelten, daß eine Frau mit ärztlicher Approbation nicht mehr „Arzt”, sondern „Ärztin”, eine Frau im Lehramt „Lehrerin” genannt werden sollte usw., usf. Ob man aber der faktischen Benachteiligung von Frauen etwa in Aufsichtsräten oder Regierungen dadurch beikommen kann, daß man von „Mann-Frau-Schaft” (Björn Engholm) spricht, „ermannen” durch „erfrauen” (Renate Schmidt, MdB) ergänzt, darf mit Fug bezweifelt werden. Das alles kann als nützliche Provokation männlicher Arroganz durchaus akzeptiert werden, als dauerhafte Korrektur unseres Sprachsystems wäre es solange untauglich, solange die unbefriedigende soziale Situation nur mit sprachlichen Mitteln verändert werden soll. 9 9 Was eine Einzelaktion wie die Unwort-Suche nicht leisten kann, wäre feministischer <?page no="149"?> Öffentliche Sprachkritik 139 Die Verwechslung von Sache und Sprache ist indes ein viel weiter verbreiteter Irrweg „volkslinguistischer” Sprachkritik, der wissenschaftlicher Aufklärung bedarf. Bezeichnend etwa sind die wiederholten Vorschläge, die Abbreviatur „Stasi” (für DDR-Staatssicherheit) zum Unwort zu erklären. Die Begründungen sind unterschiedlicher Natur, laufen aber meist darauf hinaus, daß die bezeichnete Terrororganisation oder die Erinnerung an sie tabuisiert werden sollte. G. Drosdowski berichtete 1992 10 von verwandten Versuchen seiner Leipziger Kollegen bei Erstellung des ersten gesamtdeutschen Rechtschreibwörterbuchs (ersch. 1991), möglichst alle politisch belasteten DDR-Lemmata von der Dokumentation auszuschließen eine menschlich verständliche, linguistisch aber inakzeptable Haltung. Umgekehrt haben sich in der Unwort-Aktion 1991 einige Einsender für eine Sanktion gegen das „Wort des Jahres” 1991, das „Besserwessi” hieß, ausgesprochen. Da dieser Vorschlag ausschließlich von Westdeutschen ausging, war mit einiger Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß hierbei nicht so sehr das Wort als das darin enthaltene Urteil über einen (leider realen) Typ des Altbundesdeutschen in Zweifel gezogen werden sollte. Auch hier also eher eine Verwechslung von Wort und Sache. Besonders deutlich wurde dieser sprachkritische Irrtum in einem Interview des Hessischen Rundfunks mit dem hessischen Ministerpräsidenten Hans Eichel zur Unwort-Aktion 1992, in dem dieser das Wort „Ausländerfeindschaft” zum Unwort schlechthin erklären wollte. Begründung: Die Deutschen sollten sich mit aller Macht gegen Ausländerfeindschaft (also gegen die Haltung! ) wehren. Einem vergleichbaren Irrtum wäre der Verfasser 1991 beinahe selbst erlegen, als er sich mehrfach gegen ein damals häufiger zu hörendes Wort für die Umbettung Friedrichs d.Gr. von Hechingen nach Potsdam wandte: die „finale Vergruftung”, bis er schließlich darauf aufmerksam wurde, daß der „Spiegel” diese Umschreibung in Umlauf gebracht hatte, um sicher zu Recht die unsäglichen politischen und bürokratischen Umstände dieser Umbettung parodistisch aufzuspießen. Der Kontext bestimmt die Bedeutung. (Freilich bleibt grundsätzlich zu bedenken, daß sich ursprünglich berechtigte Ironismen verselbständigen und im späteren Gebrauch einer vielleicht längst akzeptierten Sache einen unangemessenen negativen Geruch verleihen können.) Das Risiko der Fehleinschätzung wohnt einer auf aktuelle sprachliche Erscheinungen konzentrierten Aktion durchaus inne; es ist aber um so leichter in Kauf zu nehmen, wenn sich die sprachkritischen Urteile der öffentlichen Diskussion stellen, die im Falle der „finalen Vergruftung” noch während der ersten Aktion für eine notwendige Korrektur sorgte. Sprachkritik dringend anzuraten: die durchaus vorhandenen Mittel einer sprachlichen Gleichbehandlung gründlicher auszuloten. 10 Mündlich während einer Podiumsdiskussion des Goethe-Instituts Rotterdam am 22.5.1992. <?page no="150"?> 140 Horst Dieter Schlosser 5. Was die Leute sonst noch stört Jeder der bisherigen Aufrufe, ein „Unwort des Jahres” vorzuschlagen, öffnete natürlich die Schleusen für einen schon lange angestauten Ärger über nicht mehr nur aktuelle Verstöße gegen das, was gemeinhin „gutes Deutsch” genannt wird, also gegen linguistisch diskutable wie indiskutable Normen des Sprachgebrauchs. Schon nach Abschluß der ersten Unwort- Kür hat meine Mitarbeiterin Katja Tuschy eine Systematisierung der Unwort-Vorschläge und ihrer Begründungen vorgenommen 11 , deren Ergebnisse sich mehr oder weniger auch mit den weiteren Aktionen belegen lassen. Im folgenden seien die Aspekte der Sprachkritik mit einzelnen Beispielen aufgelistet, die zwar „an der Sache vorbeigingen”, also nicht die Hauptkriterien der Unwort-Aktion, aktuelle Verstöße der öffentlichen Sprache gegen sachliche Angemessenheit und gegen einen humanen Umgang miteinander, beachteten, gleichwohl ein Spektrum verbreiteter sprachkritischer Einstellungen dokumentieren. Die zusamenfassenden Charakterisierungen der Einwände folgen der Analyse von Katja Tuschy. Die Verantwortung für die Beispiele und die Argumente gegen sie liegen natürlich bei den Einsendern. „Das Wort ist nicht funktionell (nicht eindeutig, nicht auszusprechen, schwer verständlich)”: z.B. „Ampelkoalition”, „Dekocatrophologie” (? ), „Lehrerinnen”. „Das Wort ist unsinnig/ nutzlos”: z.B. „Air-Kat”, „bislang”, „Prozentpunkt”. „Der Gebrauch des Wortes ist eine Unsitte. Das Wort ist eine Floskel”: z.B. „Entsorgung”, „ich gehe davon aus”, „vom Feinsten”. „(Reines) Modewort”: z.B. „ich würde denken”, „letztendlich”, „im Vorfeld”. „Das Wort wird gedankenlos verwendet”: z.B. „Alles klar! ”, „im nachhinein”, „Finalbetreuung”. „Das Wort ist falsch/ wird falsch verwendet”: z.B. „Erhalt” (statt „Erhaltung”), „frau” (statt „man”), „lange Jahre”. „Das Wort weist formale Mängel auf’: z.B. „stehende Ovationen”, „unverzichtbar”, „Zuwächse”. „Das Wort ist häßlich (scheußlich, unschön)”: z.B. „beinhalten”, „Einelternfamilie” , „verunmöglichen”. 11 K. Tuschy: Das Unwort 1991. Frankfurt a.M. 1992 (Typoskript). <?page no="151"?> Öffentliche Sprachkritik 141 Erfreulicherweise überwogen die Einsendungen, die diskutablere Begründungen für eine Kritik boten. Doch kann es einer wissenschaftlichen Betrachtung nicht schaden, zumindest zur Kenntnis zu nehmen, woran ein nicht zu unterschätzender Teil sprachinteressierter Zeitgenossen Anstoß nimmt; denn die zitierten Beispiele und Argumente finden sich auch in zahlreichen Leserbriefen und privaten Gesprächen über Sprachkritik immer wieder. Leider war und ist es im Rahmen der Unwort-Aktion von Ausnahmen abgesehen nicht möglich, in individuellen Reaktionen auf einzelne Zusendungen falsche Argumentationen zurechtzurücken. Es wäre daher wünschenswert, noch offensiver, als es bisher schon seitens der Gesellschaft für deutsche Sprache (mittels der Zeitschrift DER SPRACH- DIENST) und des Instituts für deutsche Sprache (durch die Zeitschrift SPRACHREPORT) geschieht, mit fachwissenschaftlicher Kompetenz in die Öffentlichkeit zu gehen und über Sinn und Unsinn traditioneller und aktueller Urteile zum Sprachgebrauch aufzuklären. 6. Die Überschätzung formaler Korrektheit Zweifellos lassen sich im öffentlichen Gebrauch der Gegenwartssprache zahlreiche Defizite an ästhetischer Durchformung und Klarheit des Ausdrucks feststellen. Auch und nicht zuletzt wissenschaftliche Aussagen in deutscher Sprache scheinen vom Prinzip „Je verquaster der Ausdruck, um so gelehrter klingt das Ganze! ” geleitet zu sein. Peinlich, wenn auch sprachwissenschaftliche Arbeiten unter solchen Fehlern leiden. Noch peinlicher, wenn Autoren gerade zum Thema „Verständlichkeit” zusammenfassende Sätze wie diesen hervorbringen: „Literarische Texte (...) besitzen keineswegs ein so stringend (! ) inhärentes Zielkriterium für ihre Rezeption. So weisen auch die einschlägigen Zielexplikationen für die Rezeption literarischer Texte eine große Amplitude auf, die sich zwischen den Polen von Genuß und Erkenntnis bewegt.” 12 So sitzt man als Sprachwissenschaftler durchaus im Glashaus, wenn man nach fremden Fehlern mit Steinen wirft. Aber die eigene Position ist auch nicht viel besser, wenn man volkslinguistische Kritik an Sprachmoden zurückzuweisen versucht, denen man sich selbst so gern unterwirft. Dennoch sollte man sich auch durch eine Vielzahl von Rügen an Modischem, sprachlich Unlogischem und „Häßlichem”, wie sie gerade durch eine Unwort-Aktion Zusammenkommen kann, nicht dazu verleiten lassen, in das wohlfeile (und keineswegs neue) Lamento über einen allgemeinen sprachlichen Niedergang einzustimmen. Ein methodischer Grundfehler gängiger Sprachkritik besteht ja gerade darin, daß aus allen möglichen und meist sehr disparaten Quellen Belege für das gesammelt 12 N. Groeben: Leserpsychologie: Textverständnis - Textverständlichkeit: Münster 1982, S. 301. <?page no="152"?> 142 Horst Dieter Schlosser werden, was einen gerade stört. Ein besonders deutliches Beispiel ist die in Unwort-Einsendungen wie auch in sprachhistorischen Darstellungen schon traditionell vertretene Behauptung, „die” deutsche Sprache nehme immer mehr Angloamerikanismen auf und verliere damit immer mehr ihren „muttersprachlichen” Charakter. Systematische Beobachtungen an einzelnen Textsorten widerlegen zwar nicht eine gewisse Tendenz zur „Internationalisierung” der deutschen Sprache, lassen aber auch erkennen, daß die vielfach behaupteten „Exzesse” der Anglisierung bestenfalls in einigen Domänen (z.B. bei den „Airlines” oder im Finanzwesen, also in Sachbereichen mit internationaler Ausrichtung) anzutreffen sind, daß es aber fast gleichstarke Gegentendenzen gibt, unter anderem erkennbar an zahlreichen (Rück-) Übersetzungen aus dem Englischen (DV-Fachleute arbeiten häufiger mit „Rechnern” als mit „Computern”...). 13 Daß die eigentlich auf „Inhaltskritik” orientierten Unwort-Aktionen immer wieder eine nicht unbeträchtliche Zahl von Sprachkritikern anregt, ausschießlich Kriterien formaler Korrektheit als Maßstab zu wählen, läßt auf eine grundsätzliche Fehlhaltung unserer sprachlichen Kultur schließen, die sich gleichsam aus einer Umkehrung früherer Vorurteile ergeben hat: die Überschätzung formaler Korrektheit. Wurde einst gern „deutsche Tiefe” gegen „französische Oberflächlichkeit”, also die Wertschätzung von anspruchsvoll Inhaltlichem gegen („bloße”) Formkultivierung ausgespielt, scheinen heute nicht wenige Zeitgenossen eher dem Gegenteil zugeneigt. Diese Haltung erklärt auch den neuerlichen Boom von Publikationen, die vorgeben, „richtiges”, das heißt zumeist formal korrektes Deutsch zu vermitteln. 14 Wo immer es möglich war, sind in den bisherigen Unwort-Aktionen die Positionen, denen die äußere Form einer sprachlichen Äußerung wichtiger schien als die inhaltliche und situative Angemessenheit von Formulierungen (einschließlich ihrer Funktion als Parodie oder Ironie), mit dem Argument konfrontiert worden, daß die Überschätzung formaler Korrektheit konsequenterweise formal „glänzende” Autoren wie Joseph Goebbels (wieder) zu sprachlichen Vorbildern machen könnte. Eine in diesem Rahmen nur pauschal zu formulierende Forderung an eine akzeptable Sprachkritik muß dem Hegelschen Diktum „Die Form ist die Form des Inhalts” verpflichtet sein. 15 13 Ich beziehe mich hier auf die Ergebnisse zahlreicher linguistischer Seminar- und Examensarbeiten an der Universität Frankfurt a.M. 14 Vgl. dazu W. Sanders: Sprachkritikastereien und was der „Fachler” dazu sagt. Darmstadt 1992 (so schwer verdaulich der Darstellungsstil dieses Buches auch sein mag! ). 15 Vgl. H.D. Schlosser: Ist unsere Sprache noch zu retten? - In: Universitas 48, 1993, H.10 (Oktober 1993), S. 952-965. <?page no="153"?> Öffentliche Sprachkritik 143 7. Die Bürokratisierung des Denkens Das Verhältnis von Sprache und Denken wird bekanntlich sehr verschieden eingeschätzt. Auch ist noch immer nicht sicher, welche mentalen Wirkungen von konkreten Sprachgebräuchen ausgehen. Welche kognitiven „Nebenwirkungen” haben etwa metaphorische Benennungen im Bereich der Technik? Sind Wörter wie „Kernbrennstäbe”, „Atommeiler” oder „Schneller Brüter” unangemessene Bezeichnungen, weil sie vorindustrielle Bedingungen assoziieren lassen? - Die Verwendung technologischer Metaphern in der Werbung, aber auch Assoziationstests bei Fachleuten lassen indes darauf schließen, daß die mit der Erstbenennung beabsichtigte Monosemierung (durch „Entmetaphorisierung”) oft sehr lange Zeit erfolglos bleiben kann, weil es in der Praxis keine scharfen Grenzen zwischen Allgemein- und Fachsprache gibt. Analysen von Fachtexten belegen jedenfalls, daß in Fachbegriffen, die durch Metaphorisierung gewonnen wurden, nicht selten Alltagsvorstellungen nachwirken und selbst von Fachleuten für eine wohlwollende Einschätzung der Fachgegenstände genutzt werden. 16 So sind auch zahlreiche kritische Einwände von Unwort-Einsendern seit 1991 gegen die sachliche Unangemessenheit einzelner fachsprachlicher Termini durchaus ernst zu nehmen. Behauptet wird aber auch, daß die systematisierende Umwandlung natürlich-lebendiger Phänomene in „tote” Statistikwerte insbesondere im bürokratischen Sprachgebrauch eine Perversion des Denkens anzeige. 17 Die „Kreativität” von Bürokraten sollte allerdings nicht überschätzt werden. Oft läßt sich nachweisen, daß in Amtsstuben nur allzu gern übernommen wird, was Wissenschaftler sprachlich anbieten. Auch der oben schon inkriminierte „Selektionsrest” entstammt keinem Bürokraten-, sondern einem Pädagogenhirn! Ob sich hier grundsätzlich etwas ändern läßt, ist zu bezweifeln, weil das zugrundeliegende Problem eng mit dem wissenschaftlichen Prinzip abstrahierender Systematisierung zusammenhängt. Zwei Aspekte jedoch sollte die Sprachkritik nicht ganz außer acht lassen. Zum einen die Notwendigkeit, zwischen fachinterner und fachexterner Kommunikation auch in der Sprachpraxis zu unterscheiden. Weis fachintern sprachlich angemessen oder gar geboten sein_mag, taugt oft nicht für eine Verständigung mit Laien. Um es durch Übertreibung deutlich zu machen: Der „Blinddarm in Zimmer 10” kann eine praktische Kurzbeschreibung im sprachlichen Umgang zwischen Arzt und Pflegepersonal 16 Ich beziehe mich hier auf Ergebnisse zweier Projekte zum Verhältnis von Sprache und Technik: H.D. Schlosser/ M. Grabka: Medizin und Sprache im technischen Wandel. Frankfurt a.M. 1990, und A. Bockholt/ S. Kohl/ H.D. Schlosser/ S. Schmid: ISDN eine Technik auf dem Weg zur Allgegenwart. Frankfurt a.M. 1993. 17 Vgl. H.D. Schlosser: Die Unwörter des Jahres 1991. In: Der Sprachdienst 36, 1992, S. 49ff. (S. 54f.). <?page no="154"?> 144 Horst Dieter Schlosser sein, als Ansprache an den betreffenden Patienten wäre die Formulierung inakzeptabel. Allzu weit von dieser Fiktion ist das tatsächliche Sprachverhalten der Fachleute allerdings oft nicht entfernt; denn nicht selten werden derartige Fachjargonismen auch fachextern benutzt. Man denke an „Patientengut”, „Schüler-, Lehrer-, Spielermaterial” u.ä. Und auch hier müßte die Einsicht, daß historische oder aktuelle Erfahrungen mit gleichen oder ähnlichen Wörtern die Semantik belasten, einen sprachkritischen Impuls auslösen. Zweifellos ist die morphologische Koppelung von Menschen mit dem Grundwort „-material” nicht isoliert von Erfahrungen zu sehen, welche die deutsche Sprachgemeinschaft in zwei Weltkriegen mit dem Kompositum „Menschenmaterial” gemacht hat. Die sprachliche „Materialisierung” von Patienten hat dagegen ihre unübersehbaren Parallelen in Bildungen wie „Gefahrgut”, „Gefriergut”, „Leergut” usw. Zum anderen muß gesehen werden, daß sprachliche Inhumanität durch zahlreiche Gedankenlosigkeiten schon auf „niedrigerer” Ebene vorbereitet und erleichtert wird, nämlich dort, wo Natur insgesamt zur toten Materie, zu reinen Planungsgrößen degradiert wird. Presseverlautbarungen und PR-Broschüren von Ämtern und Behörden sind voll davon. Wenn beispielsweise Straßenplaner die Verkehrsberuhigung durch Pflanzenkübel als „Straßenmöblierung”, bepflanzte Böschungen als „Straßenbegleitgrün”, Umweltschutzbeamte dieselben als „Biotopvernetzungselemente” und die dort gewonnene Heuernte als „Mähgutanfall” bezeichnen, dann ist das schon mehr als ein Beleg für sprachliche Inkompetenz. Vielmehr geht hier Denken und Sprache eine kongeniale Verbindung ein, was nicht nur ironisch verstanden werden darf. Natur ist heute vielfach nur noch als „beplante” Sache vorstellbar, und vielleicht sind die zitierten „Termini” wirklich nur eine kaum vermeidbare sprachliche Konsequenz dieser Situation. Gleichwohl ist die Gefahr nicht auszuschließen, daß die unbedachte Ausdehnung einer derart dokumentierten Grundhaltung durch immer mehr Bürokratismen der gleichen Güteklasse auch den noch nicht verplanten Rest der Natur, und schließlich auch des Menschen allmählich zum Verschwinden bringen könnte. Noch „unterhalb” einer akademisch sprachkritischen Abwehr solcher Tendenzen, die sicher nur schwer zustande zu bringen ist, wäre indes viel zu erreichen, wenn man die ärgsten „Stilblüten” des Planerdeutsch durch möglichst zahlreiche Glossierungen dem öffentlichen Gelächter preisgäbe. Weniger lustig freilich ist es, wenn bürokratisches Denken und eine gleichgesinnte Sprachhaltung Verfassungsrang erhält, wie es 1993 im neuen Grundgesetz-Artikel 16a, im sog. Asylkompromiß, geschehen ist. In Absatz 4 findet sich ein geradezu klassischer Beleg dafür, daß es durchaus objektive Kriterien für „schlechtes Deutsch” gibt, weil die schlechte Form die Form eines schlechten Inhalts ist. Damit sei keine Stellung pro oder contra „Asylkompromiß” bezogen, wohl aber dagegen, daß eine eindeu- <?page no="155"?> Öffentliche Sprachkritik 145 tige Absicht (die Zurückweisung unerwünschter Asylbewerber) in äußerst gewundener Weise, letztlich unehrlich umschrieben wird. Die verbliebenen Möglichkeiten von Asylbewerbern, nicht sofort abgewiesen zu werden, sind wie folgt verklausuliert: „Die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen ... wird nur ausgesetzt, wenn ...” Die Kritik griffe zu kurz, wenn sie sich nur an der wahrlich monströsen Nominalisierung riebe. Schimmer ist, daß die Formulierung „aufenthaltsbeendende Maßnahmen” im GG-Artikel 16a nur an dieser Stelle auftaucht, also Undefiniert bleibt und damit einen vielleicht sogar juristisch unerträglichen Auslegungsspielraum eröffnet. Außerdem geht es wie auch die Praxis inzwischen zeigt gar nicht um die „Beendigung” eines „Aufenthalts”, sondern bereits um dessen Verhinderung. Hinzu kommt, daß eine an sich positive Bestimmung, das Recht auf vorläufigen Aufenthalt, negativ formuliert wird: keine Abschiebung, wenn ..., was freilich dem für Asylbewerber negativen Tenor des ganzen Artikels entspricht. Selbst wer die Intention des „Asylkompromisses” uneingeschränkt bejaht, müßte einräumen, daß eine solche Formulierung liberale Assoziationen konsequent verhindert. Wer solches Bürokratendeutsch in Auftrag gegeben oder akzeptiert hat, darf sich nicht wundern, daß er in geistiger Nähe zur Parole „Ausländer raus” gerückt wird, die nicht so indirekt und verschroben daherkommt, also geradezu „ehrlich” klingt! 8. Zusammenfassung Eine sprachwissenschaftlich aufgeklärte Sprachkritik muß wenn sie nicht den Kontakt zur Realität gänzlich verlieren will zur Kenntnis nehmen, daß es in der deutschen Bevölkerung ein hohes Interesse an sprachkritischer Praxis gibt. Sie sollte in öffentlichkeitswirksamen Formen (von denen die Unwort-Aktion nur eine sein kann) auf dieses Interesse eingehen. Dabei sind die Erwartungen und Vor-Urteile der Laien didaktisch behutsam nach ihrer Berechtigung hin zu unterscheiden. Der besonders häufigen Verwechslung von Sach- und Sprachkritik läßt sich durch geeignete Beispiele möglicherweise am leichtesten begegnen. Einige Aufgeregtheiten der volkslinguistischen Sprachbewertung wären durch Aufklärung über langfristige Wandlungen des Sprachgebrauchs zu „beruhigen”, andere durch Information über dessen soziale und situative Bedingtheit. Die Konzentration vieler Sprachteilhaber auf Fragen formaler Korrektheit sollte konstruktiv gewendet werden, indem man auf den unlösbaren Zusammenhang von Form und Inhalt aufmerksam macht. Die Unwort-Aktion selbst konzentriert sich auf eine inhaltsbezogene Kritik und will damit zu mehr Sensibilität in der öffentlichen Kommunikation beitragen und für einen sachlich angemessenen und humanen Sprachgebrauch werben. Eine moralisierende Hypersensibilität, etwa im Sinne der angelsächsischen „political correctness” oder radikaler Ansätze der feministischen Sprach- <?page no="156"?> 146 Horst Dieter Schlosser kritik, erscheint grundsätzlich als wenig hilfreich. Das schließt aber keineswegs aus, daß nicht zuletzt bei kollektiven historischen oder aktuellen Erfahrungen mit einzelnen Wörtern und Formulierungen deutliche ethisch orientierte Urteile gefällt werden. Das Risiko einer auf aktuelle Einzelwörter oder -formulierungen konzentrierten Aktion liegt zweifellos darin, daß die jeweils inkriminierten Belege zu isoliert und damit semantisch eindimensional gesehen werden. Darum müssen bei der Sichtung und Bewertung auch der Unwort-Vorschläge historische, soziale und situative Bedingtheiten des Gebrauchs sorgfältig beachtet werden. Die verbleibenden Risiken einer falschen Beurteilung werden dadurch gemildert, daß die Entscheidungen über das „Unwort des Jahres” der öffentlichen Diskussion überantwortet werden, also keine letztinstanzlichen Urteile sein wollen. Oberstes Prinzip, das auch im Aufruf zur Mitwirkung an alle zum Ausdruck kommt, ist und muß es sein, daß die Sprache allen gehört. Nachtrag: Der im Februar und März 1994 öffentlich ausgetragene Konflikt um die Juryentscheidung für 1993, in dem sich der Vorstand der GfdS mehrheitlich der Kritik aus dem Bundeskanzleramt an der Zweitplazierung der Kanzlerformulierung „kollektivere Freizeitpark” anschloß, hat die Jury bewogen, die künftigen Unwort-Aktionen außerhalb der GfdS fortzusetzen. <?page no="157"?> HERMANN VILLIGER Sprachpflege nach heutigem Verständnis Abstract Wenn sprachpflegerische und sprachkritische Bemühungen einen spürbaren Einfluss auf den Sprachgebrauch der Gesellschaft ausüben sollen, dürfen die Vertreter der Sprachwissenschaft an den Universitäten und Instituten auf der einen Seite und auf der andern die glücklicherweise immer noch erfreulich große Zahl von Laien und Liebhabern der Sprache, die sich in „Sprachecken” und „Sprachspalten” von Zeitungen und Zeitschriften zum Wort melden, nicht länger gegeneinander arbeiten. Dies tun sie aber bis jetzt in erschreckendem Ausmass. Denn während die moderne Sprachwissenschaft tolerant und vorurteilslos den ständigen Wandel der Sprache kommentiert, verteidigt der Laienkritiker immer noch ein konservatives Sprachverständnis, für welches die Sprache der klassischen Literatur von Goethe bis Thomas Mann und des Bildungsbürgertums eine Art Denkmal ist, das vor Verschandelung geschützt werden muß. Die Sprachwissenschaft sollte demnach Mittel und Wege finden, um die Laien unter ihren Helfern zu einer positiven Einstellung zum Sprachwandel zu bekehren. Sie muss deren Freude an der Vielfalt der heutigen mündlichen und schriftlichen Textsorten wecken und ihnen die Augen öffnen für die erstaunliche Kreativität und den spielerischen Umgang mit Sprache, wie sie beispielsweise in Reklamen, Wandsprüchen oder in Aufsätzen von Kindern der Gastarbeiter und Flüchtlinge zutage treten. Ist es überhaupt sinnvoll, in bezug auf Sprache von Pflege zu sprechen? Die Frage ist nur zu berechtigt, denn unter Linguisten gehört es ja schon lange zum guten Ton, über den Ausdruck „Sprachpflege” zu lächeln, und die in den späten sechziger Jahren gegründete „Kommission für wissenschaftlich begründete Sprachpflege” des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim benannte sich später in „Kommission für Sprachentwicklung” um. Im „Sprachreport” konnte man zudem die doch etwas törichte Frage lesen, ob die Sprache denn krank sei, daß man sie pflegen müsse. Wie wenn „Pflege” auf diesen engen Begriff gebracht werden könnte! So wenig wie seinerzeit der römische „agricola” seinen Acker pflegen wir heute unsere Gärten, die Kulturgüter oder unser Image erst, wenn sie krank sind. „Pflege” ist möchte ich sagen ein königlicher Begriff, aber er muß so verstanden werden, wie er aus Adalbert Stifters Werk herausgelesen werden kann, vor allem aus der „Mappe meines Urgrossvaters”: als Bemühen des Menschen, allem Seienden, dem Mitmenschen, den Tieren und Pflanzen, der Natur überhaupt, aber auch den Gütern der Kultur zur größtmöglichen Entfaltung der in ihnen liegenden Möglichkeiten zu verhelfen. Da nun die Sprache ja wohl das Kulturgut schlechthin ist, dürfte es uns auch in besonderem Masse angelegen sein, sie zu pflegen. Wer aber pflegt denn die Sprache? Die Antwort versteht sich eigentlich von selbst: Jeder, der sich im Sinne von Stifters „Pflege” um sie bemüht, der <?page no="158"?> 148 Hermann Villiger Sprachforscher so gut wie der Schulmeister im Deutschunterricht. In dieser Betrachtung soll aber weder von jenem noch von diesem die Rede sein. Vielmehr geht es um jene weitzerstreute, erfreulich große Schar von Laien - Liebhabern und Freunden der Sprache denen die Sprache ein wertvolles Gut bedeutet und denen es nicht gleichgültig ist, wie man mit ihr umspringt. Sehen wir einmal von Publikationen in Buchform ab wie Ludwig Reiners’ „Der sichere Weg zum guten Deutsch” (1951) und Dolf Sternbergers „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen” (1957), so handelt es sich um jene, die in den „Sprachecken” und „Sprachspalten” unserer Zeitungen und Zeitschriften, aber auch in Form kleinerer Essays, ihre Beobachtungen und Gedanken zum heutigen Sprachgebrauch kundtun. Für schweizerische Verhältnisse etwa die durch viele Jahrgänge des „Nebelspalters” beibehaltene Rubrik „Sauber Wasser, sauber Wort” oder die Aufsätze im „Folio” der „Neuen Zürcher Zeitung”. Dieser Tatbestand ist einerseits hoch erfreulich, andererseits tief problematisch. Die Erfreulichkeit bedarf keines besonderen Kommentars, wohl aber die Problematik solcher Unternehmungen. Diese tritt sogleich ins hellste Licht, wenn wir uns überlegen, von welchen Vorstellungen sich der Sprachfreund leiten läßt, wenn er den heutigen Sprachgebrauch kritisiert. Für ihn gelten nämlich die folgenden Leitgedanken als unumstössliche Axiome: 1. Die Sprache ist nicht jenes vielgestaltige, wandelbare, widersprüchliche und inkonsequente Etwas, das wir zur täglichen Verständigung verwenden, sondern die in Grammatiken und Lexika kodifizierte Norm. Aus dieser Einstellung ergeben sich weitere Axiome: - Wörter haben in der Regel nur eine „wahre”, „eigentliche” Bedeutung. - Die Bedeutung der Wörter ist kontextunabhängig. - Es gibt eine 1-zu-l-Beziehung zwischen Sprache und Sachverhalt, zwischen den Wörtern einerseits und den Sachen und Begriffen andererseits. - Von den grammatischen Varianten einer Sprachform ist nur eine „eigentlich” richtig. 2. Das einzige wirklich „gute” Deutsch ist die Literatursprache, die von Lessing, Goethe und Schiller begründet und vom Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts übernommen und eben! gepflegt wurde. „Gutes” Deutsch hat sich überhaupt an literarische Vorbilder zu halten, die kanonisches Ansehen erreicht haben. Dasselbe scheint auch für „gutes” Englisch zu gelten, denn in einem NZZ-„Folio” des letzten Jahres konnte man lesen: „Die Amerikaner lieben also „activities”. Gutes Englisch sind sie nicht, weder Shakespeare noch Hemingway haben sie verwendet.” Der die Sprache pflegende Laie mißachtet also die Vielzahl und Vielfalt der Sub-, Sonder- oder Teilnormen der Sprache, in denen sich die heutige pluralistische und mobile Gesellschaft spiegelt: die regionalen und sozialen wie die fach- und berufssprachlichen Varianten. Damit verkennt er aber auch <?page no="159"?> Sprachpflege nach heutigem Verständnis 149 die entsprechende Vielfalt von Textsorten. Er beurteilt sprachliche Formen ausschliesslich nach den Kriterien „richtig/ falsch”, bzw. „gut/ schlecht”, statt sich an den für die Sprachpflege unentbehrlichen und zentralen Begriff der „Angemessenheit” zu halten. So sind für ihn z.B. Wiederholungen in jedem Falle „schlechtes Deutsch”: Einer meiner Gymnasiasten hatte offenbar in der Grundschule einen solchen Sprachpfleger als Lehrer, denn in einem Aufsatz, in dem es einen physikalischen Versuch zu beschreiben galt, versuchte er die Wiederholung von „Wasser” konsequent zu meiden, was zu der folgenden prächtigen Feststellung führte: „Dann tauchte der Kolben ins kühle Nass.” Ebenso konsequent suchte ein anderer in einem Text über seine Mutter, der „Mutter” auszuweichen, indem er beispielsweise von seiner „Erzeugerin” schrieb. - Wie dienlich wäre es doch dem zukünftigen Arzt, Juristen oder Ingenieur, wenn man ihm schon im Gymnasium beibrächte, dass eines der Haupterfordernisse wissenschaftlicher Fachsprachen in der eineindeutigen Zuordnung definierter Termini zu bestimmten Sachen und Sachverhalten besteht. Und wie dienlich wäre es dem künftigen Politiker, schon in der Schule den rhetorischen Effekt von Wiederholungen zu erproben. Zurück zu den Textsorten: Von ihrer Vielfalt und dem stilistischen Grundsatz, sich im Rahmen der jeweiligen Textsorte angemessen auszudrücken, scheint der Verfasser des folgenden Satzes nichts gewusst zu haben: „Psychisch und physisch krank” -.das ist Augenwirrwarr, Zungenbrecher und schlechtes Deutsch in einem; krank an Leib und Seele, das wäre es! ” (NZZ-„Folio”) 3. Dieses Bildungsdeutsch, einmal geschaffen, ist ein Vermächtnis, das wie ein Baudenkmal vor dem Zerfall und der Verschandelung geschützt werden muss. Jede Veränderung der Sprache, jede Neuerung kommt einer Verschlechterung gleich, ob es sich um Flexionsformen, um Syntaktisches oder um Lexikalisches handle. Die Herkunft dieses Klischees ist bekannt: Es entspringt der allgemeinen Neigung des Menschen, auf Neuerungen, Veränderungen überhaupt, um so negativer zu reagieren, je älter er ist, gehe es nun um Kleidung und Frisur, Kunst oder die Sprache. Was die Sprache betrifft: Als ich das Gerede von den Abiturienten, die nach der Meinung vieler Hochschulprofessoren von Jahr zu Jahr schlechteres Deutsch schreiben, schliesslich einmal satt hatte, entschloss ich mich zu einer aufwendigen Untersuchung. Ich verglich je hundert nach statistischen Kriterien ausgewählte Abiturientenaufsätze, die zehn Jahre auseinanderlagen, auf Grund einer linguistisch ausgefeilten Fehlerklassifikation. Das Ergebnis: Die Abiturienten des neueren Jahrgangs schnitten etwas besser ab als ihre Kollegen zehn Jahre zuvor! Zurück zu den Sprachpflegern! Da sie in der Regel eine besondere Vorliebe für die Etymologie und für Sprachgeschichte überhaupt bezeugen, ergibt sich in ihrer Haltung ein grotesker Widerspruch. Als Hüter des <?page no="160"?> 150 Hermann Villiger kodifizierten Deutsch reagieren sie auf jede Veränderung mit Unmut; als Sprachhistoriker sind sie entzückt, wenn sie erfahren, woraus Wörter wie „Weichbild” oder „Gelichter” sich herleiten, und begeistern sich für die Verschiedenartigkeit des Alt- und des Mittelhochdeutschen. Die traditionalistische Haltung des Sprachpflegers ist zudem meistens so affektbetont, dass gegen emotionell bedingte Urteile ein allfälliges besseres Wissen gar keine Chance hat. In der „Sprachecke” der „Schweizerischen Lehrerzeitung” (6/ 75) konnte man beispielsweise lesen: „Einem trotzdem am Beginn des Nebensatzes steht also nichts im Wege. - Ich setze dieser Sachlage allerdings mein persönliches Trotzdem entgegen. Obgleich Wortgeschichte, Grammatik und Sprachgebrauch trotzdem in der unterordnenden Funktion gelten lassen, trete ich für eine (vielleicht etwas altväterisch anmutende) Aufgabenteilung ein: Trotzem im Hauptsatz, obgleich u. Co. im Nebensatz.” Ebenso problematisch wie die Grundvorstellungen davon, was Sprache sei, sind die Kriterien, nach denen der Sprachpfleger aus Liebhaberei seine Entscheide trifft. Oberste Instanz ist für ihn das persönliche Sprachgefühl. Dabei zeigt sich sogleich ein weiterer Widerspruch: Obschon der Sprachpfleger in der Regel, wie bereits bemerkt, eine besondere Vorliebe für die Etymologie an den Tag legt, lässt ihn die Abneigung gegen diese und jene sprachliche Neuerung die Kriterien der Sprachgeschichte vergessen. Einige Beispiele: Er eifert gegen das meines Wissens aus Norddeutschland in südlichere Breiten vorgedrungene umgangssprachliche „alleine” (für: „allein”), statt, wie er eigentlich müsste, sich über die Wiederaufnahme einer altehrwürdigen mittelhochdeutschen Form zu freuen. Er jammert über die Einbusse des Dativ-e, obwohl Schiller schon vor mehr als zweihundert Jahren schrieb: „Dem Mann kann geholfen werden.” Er beklagt den überhandnehmenden Gebrauch von „weil” als nebenordnende Konjunktion, ohne Rücksicht darauf, dass er bei einem Autor von unbestritten kanonischem Rang, bei Bert Brecht, häufig zu finden ist, ganz abgesehen vom mittelalterlichen „al diu wila” mit Zweitstellung des konjugierten Verbs. Er ärgert sich über das modische „ins Haus stehen”, statt die Wiederbelebung einer alten astrologischen Vorstellung mit Genugtuung zu registrieren. Nicht selten verleiten den Sprachpfleger seine mangelhaften grammatischen und sprachtheoretischen Kenntnisse zu vorschnellen Analogien. So konnte man im NZZ-„Folio” vom September 1992 lesen: „Auf deutsch ist es nämlich schlicht falsch, von Aktivität einen Plural zu bilden. Auch Passivitäten kennen wir ja nicht, so wenig wie Fleisse oder Zorne.” Der Verfasser dieser Zeilen scheint noch nie etwas davon gehört zu haben, daß die an sich nicht pluralfähigen Abstrakta zuweilen durch die Pluralform konkretisiert werden und zu den Gattungsnamen übertreten: Schon im Latein werden aus der Liebe (amor) Liebeslieder und Liebschaften (amo- <?page no="161"?> Sprachpflege nach heutigem Verständnis 151 res). Ein Opfer vorschneller Analogie ist auch der Verfasser des folgenden Passus geworden: „Schlägt man im Duden z. B. unter „wünschbar” nach, liest man „schweizerisch für wünschenswert”. Tatsächlich haben wir es hier mit einer schweizerischen Eigenart zu tun, nämlich der Gewohnheit, „wünschbar” im Sinne von „erwünscht” zu gebrauchen. Wie unrichtig das ist, sagt uns schon eine kurze Überlegung: Eigenschaftswörter, die aus einem Verb und der Endsilbe „-bar” gebildet sind, besagen, dass das, was im Zeitwort ausgedrückt ist, getan werden kann. „Wünschbar” wäre demnach gleichbedeutend mit „man kann es wünschen”.” Aber wie steht es denn mit „haltbar” und dem schweizerischen „fehlbar”? Zieht der Sprachpfleger gegen seine Gewohnheit doch einmal die Sprachwissenschaft für seine Ausführungen bei, so beruft er sich meistens auf die in mancher Hinsicht doch recht problematische „inhaltbezogene Grammatik” im Gefolge von Whorff und Weisgerber, indem er sprachliche Neuerungen nach Änderungen in der Haltung des Sprechers hinterfragt, die in den neuen Formen zum Ausdruck kommen oder sich verraten sollen: Wenn ich statt „einem Kollegen” „einen” rufe, so degradiere ich ihn „zum Objekt, zur Sache, über die verfügt wird”. 0 der bedauernswerte Kranke, den man pflegt, und der unglückliche Vater, den seine Kinder lieben! - Aus der gleichen Optik verunglimpft Dolf Sternberger „betreuen” und „Betreuer”: „Die Betreuung ist diejenige Art von Terror, für die der Jemand der Betreute - Dank schuldet.” Man hüte sich also, wenn man nicht als Diktator im kleinen gelten will, auch davor, jemand(en) zu begleiten, zu belohnen, zu beraten oder zu beruhigen! Außer von seinem Sprachgefühl lässt sich der Sprachpfleger auch gern von seinem Schönheitssinn leiten. Texte, einzelne Sätze, besonders aber die einzelnen Wörter und grammatischen Formen haben „schön” zu sein, und ein Wort ist um so schöner, je länger es im Gebrauch steht. Neue Wörter sind eo ipso hässlich, z.B. „in etwa”. Schöner sei, habe ich mir sagen lassen, „ungefähr”, noch schöner das finden Sie doch auch? ist „zirka”, besonders wenn es als „ca.”, „5a.”, „ca,” ganze Abhandlungen dominiert. - Die starke Flexion des Verbs so gut wie des Substantivs ist schöner als die schwache. Wie hässlich klingt doch der Satz: „Das Programm wird über Satellit übertragen”! Und angeblich geht mit der Einbusse an Schönheit fast immer eine solche an Deutlichkeit und Verständlichkeit einher. Zugleich schöner, deutlicher und verständlicher ist also: - Es wurden schon lange Kontakte gepflogen, - Man weiss nicht, was Hussein dazu bewogen hat, er schämte sich seiner unbedachten Äusserung, in den Strassen Berlins als: „gepflegt”, „bewegt”, „über seine Äusserung”, „in den Strassen von Berlin”. Aber ist der analytische Genetiv in einem bestimmten Kontext in lautlicher wie in rhythmischer Hinsicht nicht entschieden vorzuziehen? <?page no="162"?> 152 Hermann Villiger Ausser auf die schwache Flexion und den analytischen Genetiv hat es der Sprachpfleger vor allem auf gewisse Fugenlaute abgesehen, als ob er in Jean Pauls „Kleiner Nachschule zur aesthetischen Vorschule” den Paragraphen 22 über die „Ausrottung des Misston-s in Doppelwörtern” zu seinem Leitprogramm erhoben hätte. Im „Sprachspiegel” des Deutschschweizerischen Sprachvereins zog einer gegen „Pressefreiheit”, „Spielebücher” und „Nüsseölfner” los. Ist aber Pressefreiheit nicht doch ein bisschen was andres, als „Pressfreiheit”, analog zu „Pressform oder zu „Presshefe”, es wäre, und ist das „e” in „Spielebücher” wirklich ein Fugenlaut und nicht ein Pluralzeichen wie in „Nüsseöffner”? Zurück zum Lexikalischen: Neologismen sind nämlich nicht nur unschön, sondern fast ausnahmslos überflüssig. Überflüssig sind auch fast alle Fremdwörter, denn fast zu jedem gebe es ja, behauptet der Sprachpfleger, von Alters her deutsche Synonyme. Mit dieser Behauptung setzt er sich souverän über die von der Linguistik schon längst bewiesene Tatsache hinweg, dass es sehr wenige Vollsynonyme gibt, wenn wir die sog. subsemantischen Phänomene und die Konnotationen mit in Betracht ziehen. Man prüfe darauf hin beispielsweise folgende kleine Zusammenstellung: aktivieren Chance Exkurs Innovation konkurrieren modern Toleranz beleben Möglichkeit Abschweifung Erneuerung wetteifern neuzeutlich, zeitgemäss Duldung. Obwohl aus „deutschem” Sprachmaterial gebildet, sind z. B. „anheben” für „erhöhen” und „herausragend” für „hervorragend” bekritelt worden. Betrachten wir das zweite, „herausragend”: Das Motiv für den Ersatz von „hervorragend” durch „herausragend” könnte doch darin bestehen, dass die Bildhaftigkeit von „hervorragend” wie diejenige so vieler Metaphern so sehr verblasst ist, dass der Sprecher oder Schreiber nach einem Ausdruck sucht, der wirklich anschaulich macht, das eine Leistung ein Projekt alle andern überragt. Das „herausragende” Beispiel sieht man wenigstens vorläufig! herausragen, das „hervorragende” kaum. Aber freuen wir uns doch über jedes neue Synonym und Teilsynonym, das uns die Sprachentwicklung schenkt! Oder sind etwa „obwohl, obgleich, wenn gleich, wiewohl und trotzdem” überflüssig, weil uns ja bereits „obschon” zur Verfügung steht? Wird etwa ein Lehrbuch der Therapie dadurch besser, dass seine Verfasser wie ich als Lektor feststellen musste auf rund tausend Seiten ausschliesslich „insbesondere” verwendeten, statt hin und wieder auch einmal „besonders, vor allem, hauptsächlich, in erster Linie, nicht zuletzt, vornehmlich”? <?page no="163"?> Sprachpflege nach heutigem Verständnis 153 Als Zusammenfassung und Rückblick auf die Beurteilungskriterien von Spracheckenbetreuern diene ein Passus aus der seinerzeitigen Laudatio von Rudolf Holberg für Dieter E. Zimmer: Was man im grossen und ganzen als Sprachkritik im Namen von Sprachpflege zu lesen bekomme, zeichnen sich aus „durch ein hohes Maß von Leichtfertigkeit, Inkompetenz und Arroganz (...) „Man nimmt punktuell Anstoss an bestimmten Veränderungen, zieht häufig zu schnell verallgemeinernde, mehr emotional als rational bestimmte Schlüsse und kann keine Rechenschaft über die Kriterien seiner Kritik abgeben. Sprachliche Veränderungen werden in der Regel mit Unbehagen registriert, und man sieht daher wie die meisten Angehörigen der Bildungsschicht vor allem negative Tendenzen in der derzeitigen Sprachentwicklung.” Was kann nun der Fachmann zur Verbesserung, d.h. also vor allem zur Versachlichung, von Sprachpflege und Sprachkritik tun? Erstens gilt es, auf die Normenvielfalt des heutigen Deutsch und auf die ihr entsprechende Vielfalt von Textsorten immer und immer wieder hinzuweisen. Da die Sprachpflege alten Stils, wie dargelegt, gutes Deutsch weitgehend mit der traditionellen, Literatursprache gleichsetzt und die Qualität auch von Gebrauchstexten an ihr misst, kann man nicht genug auf das starke Gefälle der Soziolekte und damit der „Stilebenen” im heutigen Deutsch hinweisen, wie dies im folgenden Text auf so unterhaltsame Weise geschieht: „Ein Dreizehnjähriger wird im Kreise der Kameraden die Aussage, er habe eine seltsame Angst wegen der Ungewissheit, in der er stecke, etwa so formulieren: „I weiss nid ... aber i ha eifach so-n-e Schiß! ” Eine Dame gibt den entsprechenden Gefühlen Ausdruck: „Es isch vilicht dumm, aber die Ungwüssheit macht mer eifach Angscht.” Oder Hochdeutsch: „Diese Ungewissheit macht mir bange.” Der Dichter hingegen läßt die Dame in einem feierlich-gehobenen Ton so sprechen: „Die Ungewissheit schlägt mir tausendfältig / Die dunklen Schwingen um das bange Haupt.” (Nebenbei: Der Text bietet mit „bange” ein bemerkenswertes Beispiel dafür, dass Wörter nicht immer als solche einer bestimmten Sprachebene zugeordnet werden können, sondern erst durch den entsprechenden Kontext einem tieferen oder höheren „degre” zufallen. Ein zweites Beispiel: „Und der zweite Gefangene? ” - „Ist getürmt.” - „Bitte? ” - „Hat sich durch Flucht der Haftstrafe entzogen.” Unermüdlich gilt es ferner, sich dafür zu verwenden, dass die Sprachpfleger noch viel dringlicher jedoch die Lehrer auf jeder Stufe des Deutschunterrichts! die Begriffspaare „richtig/ falsch” sowie „gut”/ schlecht” so oft wie irgend möglich durch „angemessen/ nicht angemessen” ersetzen. Wer nicht schon in der Grundschule, spätestens aber im Gymnasium, lernt, in welcher Situation er sagen muss bzw. sagen kann oder darf „mich hungert” / „ich habe Hunger” / „ich hab Hunger” / „ich hab Kohldampf’, und wer <?page no="164"?> 154 Hermann Villiger nicht schon als Jugendlicher - oder als Teenager weiss, in welcher kommunikativen Situation jemand „genesen” „wieder hergestellt” oder „wieder auf dem Damm” ist, wird es auch als Berufsmann und als Berufsfrau nicht mehr lernen. Nicht das individuelle „Sprachgefühl” des literarisch noch so gebildeten Sprachbetrachters hat den Massstab für zeitgemässe Sprachpflege zu liefern, sondern einzig die sorgfältige Sammlung und Interpretation eines Quellenmaterials, das die ganze Vielfalt der mündlichen und schriftlichen Textsorten der Gegenwartssprache ausschöpft. Dieses Quellenmaterial zeigt unter anderem, dass sich die Sprachebene, die der Durchschnittssprecher als „normal” empfindet und mit deren Verwendung man keinen Anstoss erregt, dass dieser „degre zero”, wie der Larousse sich ausdrückt, sich von der Literaturspreche weg zur gesprochenen - und bei vielen Gelegenheiten heute auch geschriebenen - Umgangssprache hin verschoben hat. Ich als Siebzigjähriger beispielsweise brächte es in keiner Situation fertig, zu sagen oder zu schreiben, ich hätte von etwas „die Nase voll”. Den vorher genannten Sachverhalt akzeptieren heisst nun natürlich auch wieder nicht, dass man wirkliche sprachliche Ausrutscher nach unten eben! nicht gegebenenfalls im Rahmen sprachlicher Erziehung berichtigen sollte. Nach meiner Meinung hätte sich mein Kollege an der Universität als Sprachdidaktiker dagegen verwahren sollen, dass ein Student seine Abwesenheit in der Seminarübung mit den Worten entschuldigte: „Es hat mi halt aagschisse”. Andrerseits war meine Freude als Hobbykoch grösser als das Entsetzen des Deutschlehrers in mir, als unsere beiden Enkel nach beendetem Weihnachtsmahl feststellten: „Grosspapi, jetzt hämer wider emal megageil gfuudet (zu „food”! ).” Die wichtigste Aufklärungsarbeit schliesslich besteht gewiss darin, den Sprachbenützer - und natürlich in ganz besonderem Masse den Sprachkritiker in immer neuen Anläufen zu einer positiven Einstellung zum Sprachwandel zu bekehren. Zu diesem Zweck gilt es vorerst, das Emotionelle zugunsten nüchterner Sachlichkeit zu dämpfen, indem man feststellt: Der sprachliche Neologismus ist ein Sprachfehler, den sein Gebrauch rechtfertigt. Je öfter wir ihn begehen, desto mehr Grund haben wir, ihn wissenschaftlich zu analysieren, und desto weniger Grund haben wir, ihn zu bewerten, vor allem nicht negativ. Nur so lässt sich die Sprache vor „Erstarrung als Frühform des Verfalls” bewahren, wie es Koopmann an der Jahrestagung des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim im März 1990 so trefflich formulierte. Diese Einstellung gegenüber sprachlichen Neuerungen ist ja durchaus nicht neu, nicht revolutionär. In Jakob Grimms Aufsatz „Uber das Pedantische in der deutschen Sprache” liest man: „In der Sprache aber heisst pedantisch sein, sich wie ein Schulmeister auf die gelehrte, wie ein Schulknabe auf die gelernte Regel alles einbilden und vor lauter Bäumen den Wald nicht sehn; entweder an der <?page no="165"?> Sprachpflege nach heutigem Verständnis 155 Oberfläche jener Regel kleben und von den sie lebendig einschränkenden Ausnahmen nichts wissen oder die hinter vorgedrungenen Ausnahmen still blickende Regel gar nicht ahnen. Alle grammatischen Ausnahmen scheinen mir Nachzügler alter Regeln, die noch hier und da zucken, oder Vorboten neuer Regeln, die über kurz oder lang einbrechen werden. Die pedantische Ansicht der Grammatik (...) lehnt sich auf (...) wider die Keime der künftigen Entfaltung, die sie in ihrer seichten Gewohnheit stören.” Und Marcel Proust schrieb: Die französischen Wörter, auf deren exakte Aussprache wir so stolz sind, sind in sich selbst nichts weiter als „Schnitzer , hervorgegangen aus dem Mund von Galliern, die das Lateinische oder Germanische schlecht beherrschten, denn tatsächlich besteht unsere Sprache nur aus fehlerhaft ausgesprochenen Wörtern einiger anderer. Der Sprachgeist im lebendigen Zustand zwischen Zukunft und Vergangenheit, das gerade hätte mich an den Fehlern interessieren sollen, die Frangoise im Französischen machte.” (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Sodom und Gomorra I) Was diesen Punkt betrifft, waren sich sogar die führenden Linguisten jenseits und diesseits des Eisernen Vorhangs einig: „Wenn der Mensch nach dem Urteil der Anthropologen das von Natur nicht eindeutig festgelegte, nicht eindeutig spezialisierte und gerade darum anpassungsfähige Wesen ist, so muss dies auch seine Sprache als eigentliche conditio humana sein. (Johannes Erben, Über Nutzen und Nachteil der Ungenauigkeit des heutigen Deutsch. Duden-Beiträge 31,1970) - „Die natürlichen Sprachen sind (...) relative und offene Systeme, zu denen Beständigkeit (um Kommunikation überhaupt zu sichern) und Unbeständigkeit gehören (um die Kommunikation neuen gesellschaftlichen Bedürfnissen anzupassen.” (Gerhard Helbig, Sprachpflege, 1/ 1973) - „Wir dürfen uns die Wortbildung nicht zerregeln und vernormen lassen. (Hans Jürgen Heringer, Über die Mannigfaltigkeit der Lügenbeine. Rede anlässlich der Verleihung des Konrad- Duden-Preises 1989) - Für den Fall, dass uns gelegentlich doch einmal sprachpflegerische Beckmesserei anwandeln sollte, tun wir gut daran, uns der radikalen Formulierung des Strukturalisten R. Hall zu erinnern: „Leave your language alone! ” Darum noch einmal: Warum nicht das dynamische „das macht (= erzeugt) keinen Sinn” statt des statischen „das hat keinen Sinn”? Warum nicht einen von seiner Endung abgekoppelten Satellit akzeptieren? Fahren wir doch fröhlich auf sprachliche Neuerungen ab, statt grämlich null Bock auf sie zu haben! Diese Grundhaltung schliesst auch eine gewisse Toleranz gegenüber Modewörtern ein, oder haben Sie etwa „echt Probleme” mit den „Massnahmepaketen”, wie sie „bislang” „des öftern” „im Szenario” „bilateraler Gespräche” aufzutauchen pflegten? Modewörter haben durchaus ihr Positives. Erstens gehören sie wie alle Moden: Kleidung, Frisur, Umgangsformen, Epochenstile in Kunst und Literatur zu den <?page no="166"?> 156 Hermann Villiger Spielformen der Kultur und erhöhen die Farbigkeit des Lebens. Zweitens sind Modewörter sehr effizient und bilden eine der vielen Formen sprachlicher Ökonomie im Sinne von Peter von Polenz; sie erlauben ein rasches, geläufiges Formulieren, besonders im Gespräch und im berufsbezogenen Gebrauch der Sprache. Überdies laufen sich Modewörter rasch von selber tot: Wo sind die „Krawattenmuffel” und die „Lehrerberge” hingekommen? Sie „stehen längst auf Halde” samt dieser Redewendung selbst. Modewörter verbrauchen sich so rasch, dass man kaum ein Lehrbuch für den muttersprachlichen Unterricht aufschlagen kann, in dem die geplagten Schüler nicht angewiesen werden, Modewörter wegzuüben, die sie nicht nur gar nicht mehr verwenden, sondern oft nicht einmal mehr verstehen. Freilich haben Modewörter auch eine Kehrseite, die der Sprachpflege nicht gleichgültig sein kann: Gelegentlich nimmt eines so überhand, dass es den Reichtum an Synonymen und Teilsynonymen verdrängt. Ich erinnere an das schon erwähnte „insbesondere” für „besonders, hauptsächlich, vor allem, in erster Linie, vornehmlich, nicht zuletzt”. Am wirksamsten lässt sich Offenheit gegenüber sprachlichen Neuerungen indessen dadurch fördern, dass man die Freude am Kreativen weckt, wo immer es im Sprachgebrauch zutage tritt. Sprachpflege muss ja nicht immer Sprachkritik sein. Sie kann, besser: sie muss ihre Aufgabe auch darin sehen, auf erfreuliche Seiten des heutigen Sprachgebrauchs hinzuweisen, z.B. auf die Kreativität der Sprache der Werbung. Wer über Kleists virtuoses Spiel mit der Vieldeutigkeit der Wörter im „Zerbrochenen Krug” oder über Nestroys Sprachakrobatik entzückt ist, sollte doch auch an den Spielchen der Werbesprache seine Freude haben können: - Plakat für die Berner Ferienmesse: „Bern geht fremd”. - Werbung für die Berner Zeitung „Der Bund”: „Kurz und bündig.” - Anschrift am Lieferwagen eines Malergeschäfts, das sich im ehemaligen Schützenhaus von Bremgarten installiert hat: „Das Streichquartett vom Schützenhaus.” - TV-Reklame für ein neues Putzmittel: „Ein paar Spritzer von (...) auf die Treppenstufen, mit dem neuen (...) darüber, und schon ist der Schmutz im Eimer.” Die Kreativität der Werbesprache beschränkt sich aber durchaus nicht auf Spiele mit den Wortbedeutungen. Unauslöschlich hat sich mir die Aufforderung eingeprägt, die vor einigen Jahren auf den Plakaten für ein neues Erfrischungsgetränk zu lesen war: „Trink dir das Prickeln auf die Zunge.” Welch souveräne Missachtung der quantitativen, grammatischen und semantischen Valenz: „trinken” als vierwertiges Verb: wer trinkt wem was wohin? ; „trinken” mit einem Dativobjekt und einem Lokaladverbiale; das Prickeln trinken. <?page no="167"?> Sprachpflege nach heutigem Verständnis 157 Nicht weniger kreativ ist bekanntlich die Sprache von sog. Randgruppen der Gesellschaft, die ihre Slogans sprayen, wo immer eine Wand sich dafür anbietet: „Lieber instandbesetzen als kaputtbesitzen.” In diesem Zusammenhang eine Frage an die Kolleginnen und Kollegen: Gibt es eigentlich fundierte Untersuchungen zur Frage, ob und in welchem Ausmass die sprachliche Kreativität des Kindes durch den muttersprachlichen Unterricht, besonders durch die herkömmliche Aufsatzschulung, beeinträchtigt werden kann? Gibt es wenigstens unter den vielen Textcorpora, wie sie etwa in Freiburg i.B. gesammelt werden, eine Sammlung von Schüleraufsätzen der Grundschule samt den „Korrekturen”, die von den Lehrerinnen und Lehrern vorgenommen wurden? Die Frage drängt sich mir auf, weil ich als Deutschlehrer und Sprachdidaktiker immer wieder auf erstaunliche Beispiele sprachlicher Kreativität im Kindes- und frühen Jugendalter stiess, leider aber auch feststellen musste, dass diese Kreativität zwischen dem 9. und 13. Schuljahr in der Regel langsam, doch stetig abnimmt. Als Beispiel für die sprachliche Kreativität des Kindes sei der Ausspruch eines Knaben angeführt, von dem ich leider nicht mehr sagen kann, wo ich ihn gelesen habe: An der Strassenbahnhaltestelle fragt ein etwa Sechsjähriger den Vater: „Häsch du’s Billet scho zingt? ” Mit „zingen” meint er das Entwerten der Fahrkarte am Automaten. Eine ganz neue Quelle sprachlicher Kreativität ist durch die Mobilität der modernen Gesellschaft erschlossen worden: In deutschen, österreichischen und schweizerischen Städten gibt es seit Jahren Grundschulklassen, in denen die Kinder von Gastarbeitern und Flüchtlingen die Mehrheit haben. Es gibt Pädagogen, die darin eine Gefährdung und Behinderung des muttersprachlichen Unterrichts für die Kinder der alteingesessenen Bevölkerung sehen, vor allem aber auch darüber klagen, dass die sprachliche Förderung dieser zwei- und mehrsprachigen Kinder eine wahre Sisyphusarbeit und fast aussichtslos sei. Sie ist es aber nur dann, wenn der elementare Deutschunterricht zu früh und zu ausschließlich normenorientiert erteilt wird. Man kann daher gar nicht dankbar genug dafür sein, dass eine Wiener Lehrerin, die an der Volksschule im 6. Bezirk unterrichtet, ein Büchlein herausgegeben hat, das an zum Teil grossartigen Beispielen zeigt, welche geradezu poetischen Qualitäten das ach so fehlerhafte ! - „gebrochene” Deutsch von Ausländerkindern haben kann (Helga Glantschnig, Blume ist Kind von Wiese oder Deutsch ist meine neue Zunge. Lexikon der Falschheiten, Luchterhand-Literaturverlag, Hamburg 1993). Eigentlich ist der Fall klar: Ausländerkinder sind sprachlich nicht nur benachteiligt, sie haben zwei Chancen, die den Einheimischen nicht gegeben sind: Zum einen sind sie im spontanen, schöpferischen Gebrauch der Sprache (noch) weit weniger durch das Regelwerk behindert, andrerseits haben sie durch ihre Zwei- und Mehrsprachigkeit an dem belebenden, bereichern- <?page no="168"?> 158 Hermann Villiger den, erneuernden Einfluss teil, den die Durchmischung der Sprachen seit jeher ausgeübt hat. So ist es denn nur folgerichtig, dass Ernst Jandl, der Grossmeister sprachlicher Spiele, das Vorwort zu dieser Publikation geschrieben hat. Ein Satz daraus: „Ohne es zu wollen und ohne es zu wissen, sind die genannten Kinder, durch Umstände bedingt, in dieser Phase ihres Lebens zu einer Art von Sprachkünstlern geworden.” Konkrete Poesie und die „Falschheiten” des Deutsch von Ausländerkindern reichen sich im Namen der Schöpferkraft der Sprache die Hand! Ist dies alles nun also so zu verstehen, dass der Sprachpfleger auf Sprachkritik überhaupt verzichten soll? Keineswegs! Aber er muss, im Gegensatz zur Thematik vieler noch heute üblichen Sprachglossen die Schwerpunkte der Kritik in drei Hinsichten verschieben. Erstens: Er muss seine kritischen Einwände auf wirklich schwerwiegende Normenverstösse und krasse stilistische Unarten konzentrieren. Was heisst jedoch „schwerwiegend” und „krass”? Meiner Ansicht nach fällt z.B. die Missachtung der semantischen Valenz unter diesen Begriff: „Nicht alle Meinungsverschiedenheiten konnten in Genf gelöst werden.” Natürlich trägt es nicht viel ab, solche Fehler punktuell zu rügen. Sprachpflegerisch wirksam wird die Rüge erst, wenn sie in der entsprechenden Sprachglosse zum Anlass genommen wird, dem Laien den für die sprachliche Schulung so nützlichen Begriff der semantischen Valenz vielleicht der sprachlichen Valenzen überhaupt anhand leichtfasslicher Beispiele zu erläutern und ihn damit für diese Fehlerquelle zu sensibilisieren, z.B. auch mit dem Hinweis darauf, dass man bildliche Wendungen ernst, d.h. beim Wort nehmen und konsequent durchhalten sollte, also nicht von einem „positiven Echo” oder einer „mit Dynamit geladenen Atmosphäre” sprechen sollte. Die geforderte Konzentration auf schwerwiegende Verstösse ergibt sich nach meiner Erfahrung von selbst, wenn man sich an eine elementare Erkenntnis hält, die auch den Sprachpädagogen noch zu wenig geläufig ist: Je kleinere sprachliche Einheiten die „Fehler” betreffen, desto weniger beeinträchtigen sie die Qualität eines Textes. Genauer formuliert: Wenn wir die „Schwere” eines „Fehlers” danach bemessen, wie stark durch ihn die Verständlichkeit eines Textes beeinträchtigt wird, so müssen wir sagen: Fehler sind im allgemeinen um so schwerwiegender, je grössere sprachliche Einheiten sie betreffen. Nach diesem Gesichtspunkt sind Verstösse gegen Orthographie und Flexion meistens unerheblich. Stärker wirken sich Mängel in der Syntax aus. Am schwersten jedoch wird die Informationsleistung eines Textes durch mangelhafte „Sprachlogik” vermindert, d.h. durch Fehler, die das Zusammenspiel der Sätze über die Punktgrenzen hinweg betreffen. 1 1 Genaueres zu dem für Sprachpflege und Sprachschulung nützlichen Begriff der „Sprachlogik” findet sich in: Villiger, Hermann, Gutes Deutsch, Grammatik und Stilistik der deutschen Gegenwartssprache, Frauenfeld 1974, S. 89-107; Villiger, Her- <?page no="169"?> Sprachpflege nach heutigem Verständnis 159 Zweitens: Bei aller Offenheit gegenüber dem Sprachwandel ist doch zu überlegen, ob nicht jede Sprache Eigentümlichkeiten aufweist, die deswegen besonders schützenswert sind, weil der „Sprachgeist” in ihnen für elementare Kennzeichen von Sprache an sich eine besonders glückliche Lösung gefunden hat. Was das Deutsche betrifft, scheint mir dies beispielsweise für die verbale Klammer im Hauptsatz zuzutreffen, nach der die unveränderlichen Teile des Prädikats an den Schluss des Satzes zu stehen kommen, entspricht sie doch genau einem der Hauptmerkmale sprachlicher Wahrnehmung: dass die Zeit in bezug auf den Sprachfluß „körnige Struktur” hat, indem sie für die Dauer der Rezeption eines Satzes stillsteht. Drittens: Nach dem Vorbild der von Linguisten schon seit Jahren geübten Sprachkritik sollten auch die Sprachpfleger aus Liebhaberei sich weniger darum kümmern, wie korrekt (regelgerecht, normengemäss) gesprochen und geschrieben wird, als darum, wie die Sprechenden und Schreibenden mit ihren Partnern, den Hörern und Lesern, umgehen. Nicht formale Rettungsaktionen sind gefragt, weder der Großschreibung noch des Genetivs, sondern Bemühungen, wie die Pragmalinguistik sie nahelegt. Wer die Sprache nach heutigem Verständnis pflegt, setzt sich beispielsweise ein für bessere Verständlichkeit jener Textsorten, auf die man im Alltag besonders angewiesen ist: Gebrauchsanweisungen, Anleitungen zur Bedienung technischer Apparate, zum Zusammenfügen eines Treibbeets oder Mottenschranks, zu Schnitt- oder Strickmustern; Begleittexte zu Medikamenten; Wegleitungen zum Ausfüllen von Steuerformularen; Verträge, behördliche Erlasse, Regiemente und Statuten; für den Schutz vor sprachlicher Manipulation durch Ideologien, durch politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Instanzen. In dieser Sparte bedeutet Sprachpflege Abwehr und Anprangerung mißbräuchlicher Verwendung von Sprache im öffentlichen Leben, indem sie etwa gesprochene und geschriebene Texte auf Elemente der Verführung, Überredung, Verschleierung, Beschönigung oder Einschüchterung hin durchsichtig macht. Beispiele erübrigen sich, da ja Zeitschriften wie der „Sprachreport” des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim in jeder Nummer solche bringen. Interessanter ist gewiss ein Beleg dafür, dass man die pragmatisch orientierte Sprachkritik schon vor Jahrzehnten bei Bert Brecht hätte lernen können: „Der Hu-ih verwendete häufig den Begriff „Boden” in einem mystischen Sinn. Er sprach von „Blut und Boden” und spielte auf geheimnisvolle Kräfte an, die das Volk daraus zöge. Me-ti empfahl, für „Boden” Grundbesitz zu gebrauchen oder das Wort mit solchen Eigenmann, Praxis Deutsch, Zeitschrift für den Deutschunterricht, Seelze, November-Heft 1984, S. 17-20. <?page no="170"?> 160 Hermann Villiger Schaftswörtern wie fruchtbar, dürr, wasserarm, humushaltig usw. zu versehen. Er machte darauf aufmerksam, dass der Bauer längst nicht mehr hauptsächlich „Boden” benötigt, sondern mehr noch oder zugleich Dünger, Maschinerie und Kapital.” (Me-ti, Katalog der Begriffe) Punkt drei nochmals kurz zusammengefaßt; Sprachpflege nach heutigem Verständnis erstrebt nicht den Schutz der Sprache vor den Sprechenden und Schreibenden, sondern den Schutz der Angesprochenen vor Sprachmissbrauch. Dazu drei Zitate: „Die Sprachreiniger glaubten ähnlich wie noch heute viele Sprachkritiker -, die Sprache vor dem Sprachgebrauch der Sprachgemeinschaft schützen zu müssen, als ob die Sprache ein absolutes Wesen sei, dem die Sprecher zu dienen hätten.” (Peter von Polenz) Der gleiche Autor schreibt in seiner „Geschichte der deutschen Sprache” (1970) Die Sprachpflege dürfe „Sprache nicht um ihrer selbst willen zum Gegenstand haben (...) Nicht die Sprecher sollen der Sprache dienen, sondern die Sprache den Sprechern, deren Ausdrucks- Kommunikations- und Handlungsinstrument sie ja ist.” Schärfer formuliert es Ulrike Hass im „Sprachreport 3/ 88”: „Wer Sprache nur als formales Gebilde vor (scheinbarer) Unordnung bewahren will, wer die Wortinhalte den „Experten” oder den Boulevardjournalisten überlässt und sich stattdessen dem Anstreichen „falscher” Pluralformen beschäftigt, dem ist vielleicht noch nicht ganz klar geworden, in welchem Ausmass unsere soziale und unsere geistige Existenz an die Sprache gebunden ist.” Eine Sprachpflege, die normenkritisch statt auf die Subnormen bezogen statt innovationsfreudig statt auf die parole bezogen statt normativ nur auf die Standardnorm bezogen restaurativ und konservativ auf die langue bezogen arbeitet, sollte es verhindern können, dass man sich bei der Lektüre von Sprachglossen zur Frage veranlasst fühlt, ob denn ein Sprachpfleger so etwas wie der Konservator eines Museums oder ein Spracharchäologe sei. Halten wir es mit jenem schweizerischen Mundartdichter, der in der Sendung „Schnabelweid” von Radio DRS I vom Dezember 1992 auf die Frage, ob er also Mundartpflege betreibe, die Antwort gab, er pflege seine Sprache nicht, sondern er gebrauche sie. <?page no="172"?> Studien zur deutschen Sprache Die ersten Bände: Joachim Born / Wilfried Schütte Eurotexte. Textarbeit in einer Institution der EG Gabriele Hoppe Das Lehnpräfix ex-. Mit einer Einleitung zu grundsätzlichen Fragen der Lehnwortbildung. Beiträge zur Lehnwortbildung I Werner Kallmeyer (Hrsg.) Gesprächsrhetorik Isolde Nortmeyer Die Lehnpräfixe inter- und trans-. Beiträge zur Lehnwortbildung II Claudia Fraas Gebrauchswandel und Bedeutungsvarianz in Textnetzen. Die Konzepte IDENTITÄT und DEUTSCHE im Diskurs zur deutschen Einheit Bernd Ulrich Biere / Rudolf Hohberg (Hrsg.) Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Fernsehen Kathrin Steyer Reformulierungen. Sprachliche Relationen zwischen Äußerungen und Texten im öffentlichen Diskurs Michael Kinne Die Lehnpräfixe prä- und post-. Beiträge zur Lehnwortbildung III Daniel Bresson / Jacqueline Kubczak (Hrsg.) Abstrakte Nomina. Untersuchungen zu ihrer syntagmatischen Erfassung in Wörterbüchern <?page no="173"?> Die Frage nach “Bewertungskriterien für die Sprachberatung” gibt zum einen Anlaß zum Nachdenken darüber, was wir tun, wenn wir Ratsuchenden sprachlichen Rat erteilen, und warum wir es in einer bestimmten kommunikativen Form, in einem bestimmten institutioneilen (oder auch kommerziellen) Rahmen tun. Zum anderen gibt die Frage Anlaß, darüber nachzudenken, wie wir den jeweils erteilten Rat (also, das, was wir jemandem in einer sprachlichen Frage raten) begründen können, welche Kriterien wir etwa bei der Entscheidung über sogenannte sprachliche Zweifelsfälle zugrunde legen, warum wir bestimmte sprachliche Erscheinungsformen von der Ebene der Orthographie bis zur Frage einer angemessenen Textinterpretation so und nicht anders bewerten und auf dem Hintergrund solcher Bewertungen entsprechende Ratschläge geben oder Empfehlungen aussprechen. ISBN 3-8233-5132-X