Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck im Polenbild der deutschen Presse
0202
1998
978-3-8233-3007-3
978-3-8233-5147-4
Gunter Narr Verlag
Jarochna Dabrowska
Gegenstand des Buches sind konkrete sprachliche Realisierungen von Stereotypen im öffentlichen Diskurs in Deutschland über Polen, die eine Rekonstruktion von Ausschnitten des deutsch-polnischen Dialogs darstellen. Das Erkenntnisinteresse ist zweifach: Zum einen sollen generell Wirkungsweise und Mechanismen von Stereotypen linguistisch-empirisch dargestellt werden. Aus der Analyse werden Schlussfolgerungen über die typischen sprachlichen Mittel, die Stereotype konstituieren, tradieren und festigen, gezogen. Zu diesem Zweck wird auch eine textlinguistische Definition des "Stereotyps", vorgeschlagen. Die empirischen Untersuchungen werden mittels einer Längsschnittanalyse verschiedener westdeutscher Texte, die auf das gleiche Thema - "Polen im Sommer 1980" - referieren, und einer Querschnittanalyse immer wieder erwähnter und weit verbreiteter Stereotype durchgeführt. Ziel ist die Ermittlung der sprachlichen Realisierung von Stereotypen sowie ihres prädikativen Gehalts. Außerdem soll gezeigt werden, ob -, und wenn ja -, welche Rolle Stereotype in der DDR-Presse ("Neues Deutschland") vom Jahre 1980 spielten. Zum anderen soll in kulturwissenschaftlicher Perspektive das inhaltliche Spektrum der Stereotype beschrieben werden, das im deutschen Diskurs über Polen konkret existiert.
<?page no="0"?> Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Jarochna D^browska Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck im Polenbild der deutschen Presse gn Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="1"?> STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE 17 <?page no="2"?> Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Herausgegeben von Bruno Strecker, Reinhard Fiehler und Hartmut Schmidt Band 17 • 1999 <?page no="3"?> Jarochna D^browska Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck im Polenbild der deutschen Presse Eine textlinguistische Untersuchung gnW Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme D^browska, Jarochna: Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck im Polenbild der deutschen Presse: eine textlinguistische Untersuchung / Jarochna D^browska. - Tübingen : Narr, 1999 Zugl.: Mannheim, Univ., Diss., 1997 (Studien zur deutschen Sprache; Bd. 17) ISBN 3-8233-5147-8 © 1999 • Gunter Narr Verlag Tübingen Dischingerweg 5 ■ D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Satz: Volz, Mannheim Gesamtherstellung: Hubert&Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 3-8233-5147-8 <?page no="5"?> Für meine Eltern <?page no="7"?> Inhalt Vorwort 13 1. Einleitung 15 1.1 Zur Themenwahl 15 1.2 Gegenstand und Ziel der Arbeit 18 1.3 Nationale Vorurteile und Stereotype 20 1.3.1 Allgemeine Phänomene wechselseitiger Wahrnehmung von 20 Völkern 1.3.2 Die Wahrnehmung der Polen und Polens durch die 25 Deutschen am Beispiel von Befragungen 1.4 Kurze historische Skizze der deutsch-polnischen 28 wechselseitigen Wahrnehmungen 1.5 Empirische Basis 42 1.6 Methodisches Herangehen 43 1.6.1 Hermeneutik 46 1.6.2 Linguistische Kommunikationsanalyse 46 1 6.2.1 Pragmatisches Textmodell 47 1.6.2.2 Methoden der Textinterpretation 49 1.6.2.3 Textlinguistische Terminologie 51 2. Interdisziplinärer Zugang zum Begriff des Stereotyps 53 2.1 Definitorische Erläuterungen zum Begriffsfeld Stereotyp 53 2.2 Der Lippmannsche Stereotypenansatz 54 2.3 Stereotyp als linguistische Kategorie 56 2.3.1 Sprachpragmatische Ansätze 61 <?page no="8"?> 8 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 2.3.2 Semantische Ansätze 72 2.4 Stereotype als sozialwissenschaftliche Kategorie 74 2.5 Das Stereotyp im Vergleich zu verwandten Begriffen 76 2.5.1 Stereotyp und Vorurteil 76 2.5.2 Selbstbild versus Fremdbild / Selbstimage versus Fremdimage ... 79 2.5.3 Klischee 82 2.5.4 Topik / Topos / Locus 83 2.6 Verhältnis von sozialpsychologischem und linguistischem 85 Stereotypbegriff 2.7 Linguistische Bestimmung des Begriffs Stereotyp 86 3. Analysekriterien und Funktionsweisen von Stereotypen 88 3.1 Theoretisches und praktisches Vorgehen 88 3.2 Interpretationsmethoden 88 3.2.1 Vergleiche über mehrere Texte hinweg 88 3.2.2 Substitution 89 3.3 Interpretationsmethoden von Stereotypen 89 3.4 Beschreibungskriterien 91 3.4.1 Nationbezogenheit / Ideologiebezogenheit eines Stereotyps 91 3.4.1.1 Nationbezogenheit 93 3.4.1.2 Ideologiebezogenheit 95 3.4.2 Tabuisiertheit/ Nicht-Tabuisiertheit eines Stereotyps 96 3.4.2.1 Tabuisiertheit 97 3.4.22 Nicht-Tabuisiertheit 98 3.4.3 Typik / Atypik als Kontextualisierungsverfahren von 99 Stereotypen 3.4.3.1 Typik 100 3.4.3.2 Atypik 101 3.4.4 Expliziter oder impliziter Ausdruck eines Stereotyps 102 3.4.4.1 Explizitheit 103 <?page no="9"?> Inhalt 9 3.4.42 Implizitheit 105 3 .4.5 Stereotyp als zentrales / peripheres Textthema 106 3 .4.5.1 Stereotyp als zentrales Textthema 107 3.4.5 2 Stereotyp als peripheres Textthema 109 3.4.6 Bestätigung / Entkräftung eines Stereotyps 110 3.4.6.1 Bestätigung des prädikativen Gehalts des Stereotyps 110 3.4.62 Entkräftung des prädikativen Gehalts des Stereotyps 112 3 .4.7 Polarisierung mittels eines Stereotyps 114 4. Politische Verortung der Zeitungen 117 4.1 Zur Presselandschaft in der Deutschen Demokratischen 117 Republik (DDR) 4.1.1 „Neues Deutschland“ (ND). Zur Pressepolitik der SED 117 4.1.2 DDR-Kirchenpresse 120 4.2 Betrachtungen zur Presselandschaft in der Bundesrepublik 121 Deutschland 4.2.1 Frankfurter Rundschau (FR) 121 4.2.2 Frankfurter Allgemeine. Zeitung für Deutschland (FAZ) 122 4.2.3 Süddeutsche Zeitung (SZ) 123 5. Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype, 125 ausgehend von expliziten Prädikationen 5.1 Patriotismus / Nationalismus 127 5.2 Strenger Katholizismus 137 5.3 Rebellentum 146 5.4 Disziplinlosigkeit 153 5.5 Freiheitsliebe 159 5.6 Individualismus 162 <?page no="10"?> 10 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 5.7 Solidarität in Zeiten der Not 165 5.8 Trinkfreudigkeit 171 5.9 Mut 175 5.10 Märtyrertum 181 5.11 Geschichtsbewußtsein 187 5.12 Halblegales Beschaffungswesen 194 5.13 Mißwirtschaft 199 5.13.1 Mißwirtschaft in Hinblick auf das ökonomische System 199 5.13.2 Fehlpolitik 210 5.14 Polizei-Staat 230 5.15 Zum russisch-polnischen Verhältnis 239 5.16 Zum französisch-polnischen Verhältnis 251 5.17 Zum westdeutsch-polnischen Verhältnis 256 5.18 Zum ostdeutsch-polnischen Verhältnis 265 6. Analyse der Stereotype in der DDR-Presse 277 6.1 DDR-Presse 277 6.2 Dokumentationsteil 280 6.2.1 Schlagwörter 285 6.2.2 Euphemismen bzw. unpräzise Ausdrücke 291 6.2.3 Textbzw. Redewiedergaben 296 6.3 Darstellung der DDR-Presse in der westdeutschen Presse 299 6.4 Problematisierung der Identifizierung von Stereotypen 300 <?page no="11"?> Inhalt 11 7. Zusammenfassung, Ausblick und Verallgemeinerung 305 7.1 Die Definition von Stereotyp und ihre Erprobung in der 306 empirischen Textanalyse 7.2 Stereotype von Polen und den Polen in der westdeutschen 307 Presse und ihre Relationen untereinander 7.3 Die Funktion der Stereotype - Zusammenhang von Hetero- 311 und Autostereotyp 7.4 Stereotype über Polen in der DDR-Presse 314 7.5 Ausblick 315 8. Anhang 317 9. Literatur 331 <?page no="13"?> Vorurteile sind schwerer zu zertrümmern als ein Atom. (Albert Einstein) Es wird die Zeit kommen, in der wir Polen und die große deutsche Nation im Frieden und in brüderlicher Liebe miteinander leben werden (Joachim Lelewel, 1848) Die Ostsee rauscht genauso auf Deutsch wie auf Polnisch. (Günter Grass, 1970) Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität Mannheim als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie im Winter 1996 angenommen. Obwohl Dissertationen als Einzelleistungen eingestuft werden, wäre diese Arbeit ohne finanzielle, wissenschaftliche und persönliche Hilfe mehrerer Personen kaum vorstellbar. Bei allen, die auf die eine oder andere Art und Weise zur Entstehung dieser Arbeit beigetragen haben, möchte ich mich an dieser Stelle recht herzlich bedanken. Um Nachsicht bitte ich alle diejenigen, die im folgenden nicht namentlich genannt werden, weil das den Rahmen eines Vorworts sprengen würde. Die Möglichkeit, im Institut für deutsche Sprache in Mannheim mit fachlicher Unterstützung mehrerer Wissenschaftler zu arbeiten, beschleunigte das Vorankommen meiner Dissertation doch sehr. Traumhafte Arbeitsbedingungen im IDS, d.h. die kompetente Beratung und eine beachtliche Bibliothek waren die besten Voraussetzungen für das Verfassen der Arbeit. Besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Gerhard Stickel, der das Wachsen der Arbeit mit vielen wertvollen Hinweisen und fördernder Kritik begleitete. Als seine Doktorandin konnte ich viel von ihm lernen. Seine Unterstützung bei der Lösung nicht nur wissenschaftlicher sondern auch persönlicher Fragen war für mich unschätzbar. Frau Prof. Dr. Beate Henn-Memmesheimer übernahm freundlicherweise die Aufgabe des Zweitgutachters. <?page no="14"?> 14 Zu großem Dank verpflichtet bin ich Frau PD Dr. Ulrike Haß-Zumkehr und Herrn Dr. Manfred Hellmann für fruchtbare Diskussionen sowie eine Reihe von nützlichen fachübergreifenden Hinweisen und Vorschlägen. Wichtige Denkanstöße erhielt ich durch die Zusammenarbeit mit den wissenschaftlichen Mitarbeitern der Abteilungen „Verbale Interaktion“ und „Lexik“. Für ihre Bereitschaft zur Diskussion und hilfreiche Kritik danke ich vielmals. Beim Korrekturlesen haben Frau Dr. Irmtraud Jüttner, Frau Dr. Rosemarie Schnerrer und Dirk Michel M.A. mit großer Sorgfalt und Zuverlässigkeit akribische Arbeit geleistet. Herrn Prof. Dr. Reinhard Fiehler, Herrn Prof. Dr. Hartmut Schmidt und Herrn Prof. Dr. Bruno Strecker danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die von ihnen herausgegebene Schriftenreihe. Das Institut für deutsche Sprache, der Deutsche Akademische Austauschdienst und der Katholische Akademische Ausländerdienst ermöglichten es mir glücklicherweise, diese Arbeit frei von materiellen Sorgen anzufertigen. Selbstverständlich möchte ich mich bei der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Frankfurter Rundschau und dem Neuen Deutschland für die Bereitstellung der Artikel und die Möglichkeit der Arbeit in ihren Archiven bedanken. Außerdem gilt mein Dank den Agenturen AFP, AP, DDP-ADN, dpa, KNA und Reuters, die mir die Erlaubnis zur Veröffentlichung ihrer Meldungen gaben. Den Herausgebern der Bibliophilen Taschenbücher und dem Junius-Verlag sowie den Nachrichtenagenturen AP und dpa gilt mein Dank, da sie mir freundlicherweise Bildmaterial zur Verfügung stellten. Es sei hier noch verwiesen auf eine CD-ROM, in der in einem ersten Schritt alle die Zeitungsartikel recherchierbar vollständig vorgelegt werden, die ich in meiner Arbeit zitiert habe.* Sollte darüberhinaus auch für die Artikel Bedarf bestehen, die nur statistisch ausgewertet wurden, ist auch an eine erweiterte Ausgabe gedacht. Auch hier habe ich mich bei den obengenannten Zeitungsverlagen und Agenturen für die Möglichkeit zur Verwendung ihrer Beiträge zu bedanken. Meinen Eltern und Rüdiger danke ich für ihre Geduld, Aufmunterung und Unterstützung. Die CD-ROM erscheint als Beitrag der Reihe „amades“ (Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache) des Instituts für deutsche Sprache. Information und Bestellung bei amades, c/ o Institut für deutsche Sprache, Postfach 101621, D-68016 Mannheim, http: / / www.ids-mannheim.de/ pub/ amades/ <?page no="15"?> Einleitung 15 1. Einleitung 1.1 Zur Themenwahl Wenn man genauere Betrachtungen über Massenmedien anstellt, sollte das immer im Bewußtsein ihrer fundamentalen Rolle im Prozeß gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Meinungsbildung geschehen. Sie konstituieren „die Realität, prägen Wahrnehmungen, Orientierungen und Einstellungen gegenüber gesellschaftlichen Zuständen und Prozessen“. In den Bereichen der Realität, die der unmittelbaren Erfahrung von Individuen entzogen sind, stellen die Medien oft die einzige Informationsquelle dar. Sie können zwar nicht das direkte Erleben der Ereignisse ersetzen, aber sie prägen im wesentlichen unser Weltbild, unsere Einstellungen und Urteile durch Informationen und Kommentare (Schöneberg 1993, S. 45). Max Frisch meint hierzu in seinem Tagebuch: „Wogegen wir in Begriffen leben, die wir meistens nicht überprüfen können; das Radio überzeugt mich von hundert Dingen, die ich nie sehen werde, oder wenn ich sie dann einmal sehe, kann ich sie nicht mehr sehen, weil ich ja schon eine Überzeugung habe, das heißt: eine Anschauung, ohne geschaut zu haben. Die meisten unserer Begriffe, wenn sie konkret werden, können wir gar nicht ertragen; wir leben über unsere Kraft.“ (1958, S. 193) Wir sind in einem solchen Maße von den Medien geprägt, daß wir uns manchmal nicht mehr bewußt sind, was der Realität wirklich entspricht. Es scheint uns oft, daß wir eine Vorstellung von den Ereignissen haben, aber häufig haben wir nur die Vorstellung, die uns von den Massenmedien vermittelt wird und die wir meist nicht überprüfen können. Die Unmöglichkeit, Tatsachen selbst zu überprüfen, gilt besonders stark für den internationalen Bereich. Ursache hierfür ist, daß man Erfahrungen von anderen Nationen in der Regel nicht selbst erwerben kann, sondern von den Massenmedien präsentiert und aufgeprägt bekommt. Die Massenmedien spielen eine wichtige Rolle als „Faktoren des internationalen Lebens, als ideologische Instrumente, die Entwicklung und gesellschaftlichen Fortschritt der Nationen stimulieren oder hemmen können.“ (Kistner 1984, S. 7) Die Presse ist das älteste Massenmedium. Sie präsentiert den Raum der Öffentlichkeit und die öffentliche Meinung. Im Rahmen ihrer intensiven Informationsverbreitung erfüllt sie sowohl ökonomische als auch ideologische Funktionen (vgl. Brendel/ Grobe 1976, S. 19). In diesem Zusammenhang kommt dem transnationalen Bereich eine besondere Bedeutung zu, weil fast alle Bereiche des öffentlichen Lebens einem Trend zur Internationalisierung unterliegen (vgl. Kistner 1984, S. 6). <?page no="16"?> 16 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Da die Beschäftigung mit dem Fremden seit eh und je verlockend war, hat man auch immer wieder versucht, sich ihm anzunähem. Wolf Grüner meint zu diesem Thema: Das „Bild“ oder die „Bilder“ einer Nation von einer anderen entstehen aus unterschiedlichen Traditionen, historischen Erfahrungen, Erwartungen und oft auch aus Wunschvorstellungen. Die Problematik der Darstellung anderer Völker wurde bereits im Jahre 1738 auf folgende Art und Weise thematisiert: „Wer als ein vemünfftiger und ehrlicher Mann eine gantze Nation beurtheilen, und von derselben Gemüths-Beschaffenheit eine zuverlässige Nachricht geben will, der muß nicht allein einen gantz ungemeinen Verstand, sondern auch eine mehr als gewöhnliche Aufrichtigkeit besitzen, und so wohl sich selbst, als das gantze menschliche Geschlecht aus dem Grande kennen. Er muß hiemechst so wohl aus den Geschichten als aus der Erfahrung wissen, wie die berühmtesten Völcker vor langer oder kurtzer Zeit gewesen, was sie theils annoch sind, theils zu werden Hoffnung haben.“ (Anonymus 1738, unpaginiert, nach Grüner 1991, S. 30) Der mit einer generalisierten Nationendarstellung verbundenen Probleme war sich auch Heinrich Heine bewußt, der in seiner Arbeit „Über Polen“ schrieb: „Ich lieferte Ihnen sehr gerne eine Charakterschilderung der polnischen Edelleute, und das gäbe eine sehr kostbare Mosaikarbeit von den Adjektiven: gastfrei, stolz, mutig, geschmeidig, falsch (dieses gelbe Steinchen darf nicht fehlen), reizbar, enthusiastisch, spielsüchtig, lebenslustig, edelmütig und übermütig. Aber ich selbst habe zu oft geeifert gegen unsre Broschürenskribler, die, wenn sie einen Pariser Tanzmeister hüpfen sehen, aus dem Stegreif die Charakteristik eines Volkes schreiben, — und die, wenn sie einen dicken Liverpooler Baumwollnhändler jähnen [‘gähnen’, J.D.] sahen, auf der Stelle eine Beurteilung jenes Volkes liefern, — Diese allgemeinen Charakteristiken sind die Quelle aller Übel. Es gehört mehr als ein Menschenalter dazu, um den Charakter eines einzigen Menschen zu begreifen: und aus Millionen einzelnen Menschen besteht eine Nation. Nur wenn wir die Geschichte eines Menschen, die Geschichte seiner Erziehung und seines Lebens betrachten, wird es uns möglich, einzelne Hauptzüge seines Charakters aufzufassen. - Bei Menschenklassen, deren einzelne Glieder durch Erziehung und Leben eine gleiche Richtung gewinnen, müssen sich indessen einige hervortretende Charakterzüge bemerken lassen; dies ist bei den polnischen Edelleuten der Fall, und nur von diesem Standpunkte aus läßt sich etwas Allgemeines über ihren Charakter ausmitteln. Die Erziehung selbst wird überall und immer bedingt durch das Lokale und durch das Temporale, durch den Boden und durch die politische Geschichte.“ (Heine 1822, S. 77f.) Beiden Zitaten kann man entnehmen, daß die Beschreibung einer Nation auf objektive Art und Weise nahezu unmöglich ist. Die Ursache hierfür ist darin zu suchen, daß ein Individuum allein nicht über die dafür notwendigen Kenntnisse und Erfahrungen verfügen kann. Die Komplexität der „Nation“ und ihrer Erscheinungsformen wird von den bewertenden Personen oft nicht wahrgenommen und infolgedessen werden an die Stelle gesicherter Erkenntnisse Stereotype, Vorurteile oder Bilder gesetzt. Wie diese nun im einzelnen geartet sind, dafür sind Interessen, Traditionen, Vorstellungen und Wünsche verantwortlich. Außerdem spielen in diesem Zusammenhang die Informationen, die man im Alltag rezipiert, eine besonders wichtige Rolle. Nennenswert sind persönliche Kontakte zu Menschen einer fremden Nation, mit denen man in Verbindung tritt, oder auch, wenn dies nicht der Fall ist, die Massenmedien, deren <?page no="17"?> Einleitung 17 „Aussagen“ über diesen Themenkreis aber kaum kritisch überprüft werden können. Eine objektive Bewertung einer anderen Nation kann — wenn überhaupt nur von Menschen abgegeben werden, die längere Zeit zusammen mit deren Bevölkerung verbracht haben, deren Kultur, Geschichte, Sitten und Gebräuche kennen und ihre Beurteilung nicht auf den Erfahrungen mit einzelnen Personen und Gruppen, sondern auf denen mit allen gesellschaftlichen Gruppen gründen (vgl. Grüner 1991, S. 31). In der Realität trifft man selten auf ausgewogene Urteile, die das „Bild vom Anderen“ implizieren. Großen Einfluß auf die Entstehung eines aktuellen Bildes üben historische Vorurteile, und nicht grundlegende Kenntnisse und das Wissen über andere Völker aus. Diese Vorurteile werden oft unreflektiert übernommen und können bei Bedarf eingesetzt werden. Der Einfluß von Vorurteilen auf das Denken und Handeln von Menschen läßt sich nicht vollständig eliminieren. Da Stereotype bzw. Vorurteile als mentale Gegebenheit bei jedem Menschen existieren, bemerkt Reinhold Bergler: „Kein Vorurteil wäre bedenklicher als die Annahme, ohne Vorurteile leben zu können“ (Bergler 1976, S. 7). August von Kotzebue schreibt: „Daß irgendein Mensch auf Erden ohne Vorurteil sein könne, ist das größte Vorurteil“. Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich meint dazu: „Vorurteile sind das Allerhaltbarste, was es in der menschlichen Seele gibt“ (nach Lesser 1990, S. 6, 10). Die völlige Überwindung von Vorurteilen und Stereotypen, so Bergler, „wäre ein irreales und insoweit wohl auch inhumanes Ziel“ (1976, S. 7). Dies entbindet jedoch nicht von der Mühe, solche ungesicherten Annahmen kennenzulernen, um einen gewissen Überblick darüber zu erhalten, wann sie Vorkommen, wie sie auftreten, was sie hervorruft. Dadurch werden wir in die Lage versetzt, den Wahrheitsgehalt der Vorurteile bzw. der Stereotype besser einschätzen zu können. Festzustellen ist auch, daß die Schwierigkeiten beim Verstehen und Erfassen von Sachverhalten und Zusammenhängen außerhalb der eigenen Landesgrenzen mit wachsender räumlicher Distanz steigen. Als triftigen Grund hierfür lassen sich leicht und schnell Kommunikationsbarrieren ausmachen, die aus der Verschiedenheit der Sprachen resultieren. Dabei gilt es aber zu beachten, daß eine Sprache nicht lediglich einen austauschbaren Symbolsatz für feste Inhalte darstellt, sondern in einer intensiven gegenseitigen Wechselbeziehung mit ihren Benutzern und somit mit ihrem sprachgesellschaftlichen Umfeld steht: Die erlernte Sprache bettet die Wahrnehmung und die Willens- und Meinungsbildung, ja sämtliche gedanklichen Abläufe eines Menschen in ein bestimmtes Raster ein und wirkt sich von daher essentiell auf den kulturellen, politischen und auch wirtschaftlichen Raum einer Sprachgemeinschaft aus. <?page no="18"?> 18 Stereotype und ihr sprachlicher A usdruck Genauso nehmen Entwicklungen in diesem Raum Einfluß auf die Sprache selbst. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Begriff der ‘Fremdheit’, der meistens negativ konnotiert wird, indem er als „entfremdet, verfremdet, unbekannt, mit Unsicherheit belastet und Angst erzeugend“ beschrieben wird (Boos-Nünning 1993, S. 82). Dietrich Harth ist der Ansicht, daß mit der räumlichen Entfernung die Fremdheit der Anderen steigt, nach dem Prinzip, je ferner mir jemand ist, desto fremder erscheint er mir, desto fremdartiger und verkehrter wirkt er auf mich (s. Harth 27. April 1994). Ein positiver Aspekt erscheint erst dann, wenn man von der ‘Exotik’ spricht, wie z.B. ‘exotische Früchte’, ‘exotische Frauen’ (vgl. Boos-Nünning 1993, S. 82). Hark Bohm schreibt, daß die Angst vor dem Fremden ‘natürlich’ ist, d.h. ein einzelner Fremder kann „vielleicht Neugierde“ hervorrufen, wird man jedoch mit vielen Fremden auf einmal konfrontiert, stellen sie eine Bedrohung dar, was zu ‘Flucht oder Aggression’ fuhren kann (vgl. Bohm 1993, S. 81). Verunsicherung entsteht beim eigentlichen Kennenlernen und Verstehen anderer Nationen, weil dann grob verallgemeinernde, vereinfachende und generalisierende Vorstellungen relativiert werden und damit ein Teil des eigenen Weltbildes im Sinne des ‘Bildes der anderen Nation’ und des ‘Bildes des Auslands’ ins Wanken gerät. An dieser Stelle soll untersucht werden, wie sich dieses Bild in einem konkreten Fall, hier Polen, darstellt und welche generalisierenden Aussagen in den Medien über Polen häufig auftreten, d.h. wie das Polenbild in den deutschen Zeitungen gezeichnet wird. Die Vermutung liegt nahe, daß bei inhaltlich gleichen, in den Medien häufig auftretenden Aussagen, aus denen sich auch eine Charakterisierung der Polen entnehmen läßt, Stereotype vorliegen. Die Summe der Stereotype über ein Land bestimmt zum größten Teil das Bild, das die Leser vermittelt bekommen. Aus diesem Grund ist es wichtig zu untersuchen, welche Stereotype über Polen in der deutschen Presse vermittelt werden, mit welchen sprachlichen Mitteln dies geschieht und welche Rolle und Funktion Stereotype in den untersuchten Texten haben. 1.2 Gegenstand und Ziel der Arbeit Ziel der Arbeit ist die Untersuchung konkreter sprachlicher Realisierungen von Stereotypen im öffentlichen Diskurs in Deutschland über Polen, die eine Rekonstruktion von Ausschnitten des deutsch-polnischen Dialogs erlauben. Aus der Analyse werden Schlußfolgerungen über die typischen sprachlichen Mittel, die Stereotype konstituieren, transportieren und festigen, gezogen. Die Untersuchung könnte außerdem bei der Aufdeckung aktueller kommunikativpsychologischer Fragen zwischen Deutschen und Polen hilfreich sein. <?page no="19"?> Einleitung 19 Eine Teilaufgabe ist die Herausarbeitung einer textlinguistischen Stereotypendefinition. Die empirischen Untersuchungen werden mittels einer Längsschnittanalyse verschiedener westdeutscher Texte, die auf das gleiche Thema - ‘Polen im Sommer 1980’ referieren, und einer Querschnittanalyse immer wieder erwähnter und weiter verbreiteter Stereotype durchgefuhrt. Aufgabe der Arbeit ist in diesem Zusammenhang die Ermittlung der sprachlichen Realisierung von Stereotypen einerseits, sowie andererseits ihres prädikativen Gehalts. Außerdem soll gezeigt werden, ob - und wenn ja welche Rolle Stereotype in der DDR-Presse spielen können. Hierzu wird die DDR-Presse am Beispiel des „Neuen Deutschland“ vom Jahre 1980 einer Untersuchung unterzogen. Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit ist zweigeteilt: Zum einen sollen generell Wirkungsweise und Mechanismen von Stereotypen in der Pressekommunikation empirisch dargestellt werden (s. Kap 3). Zum anderen soll das inhaltliche Spektrum der Stereotype beschrieben werden, das im deutschen Diskurs über Polen konkret existiert (s. Kap. 5). In Kapitel fünf werden dann auf der Basis des gesamten Textkorpus von über 500 Zeitungsartikeln die wesentlichen Stereotype über Polen herausgearbeitet, semantisch-pragmatisch klassifiziert und hinsichtlich ihrer Entstehung und ihrer Rolle in den interkulturellen Beziehungen erklärt. Die Stereotype werden also auch in einer kurzen historischen, psychologischen und soziologischen Skizze erörtert, wobei sowohl auf die Wahrnehmung seitens der Deutschen wie seitens der Polen eingegangen wird. Die möglichen Perzeptionsunterschiede bei beiden Völkern können zu interkulturellen Mißverständnissen führen, die hier mitgeklärt werden sollen. In diesem Zusammenhang steht auch die Frage nach den Anlässen für die Aktualisierung nationaler Stereotype und die Frage nach den politischen Situationen, in denen sie auftreten. Durch die Art der Vertextung wird bestimmt, welche Rolle oder Funktion ein Stereotyp in einem Text besitzt. Aus diesem Grund wird besonderer Wert auf die konkrete Einzeltextanalyse gelegt. Es interessiert nicht nur die mentalkognitive Verankerung der Stereotype, sondern mehr noch ihre Perpetuierung in der öffentlichen Diskussion, d.h. in linguistisch greifbaren Gegenständen, den Texten. Die Untersuchung ist also empiriegeleitet; die jeweils genutzten Analysekriterien von Stereotypen im Kapitel drei sind anhand der Textanalyse entwickelt. <?page no="20"?> 20 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 1.3 Nationale Vorurteile und Stereotype 1.3.1 Allgemeine Phänomene wechselseitiger Wahrnehmung von Völkern Nationale Vorurteile und Stereotype gehören zum festen Bestandteil des Wertesystems jeder kulturellen Gruppe (vgl. v. Bassewitz 1990, S. 23) und werden „Generationen hindurch als Komponenten des gesammelten Wissens der Gesellschaft übermittelt“. „Sie sind so wahr wie die Überlieferung und so überzeugend wie Märchen und Sagen“ (Ehrlich 1979, S. 47). Ehrlich meint auch, daß niemand in einer Gesellschaft aufwachsen kann, „ohne die [Stereotype] erlernt zu haben, die den wichtigsten ethnischen Gruppen zugeordnet werden“ (ebd.). Von besonderer Relevanz ist hierbei die Beziehung zwischen der heiklen Kategorie des Nationalcharakters und den Vorurteilen/ Stereotypen. Prinz schreibt, daß der Nationalcharakter sowohl unbestimmt als auch unbestimmbar ist (1970, S. 199), obwohl Ronneberger dazu sagt, „daß die Menschen einer bestimmten Nation Denk- und Verhaltensähnlichkeiten zeigen, die ihnen beim Hineinwachsen in das soziale Gebilde der Nation aufgeprägt wurden“ (1963, S. 225ff. nach Prinz 1970, S. 199). Nationale Vorurteile und Stereotype basieren in diesem Sinne auf der Vorstellung, daß es so etwas wie Nationalcharakter überhaupt gibt, und nur aufgrund dieser Prämisse können sie auch das Konzept des Nationalcharakters konstituieren. Ohne die Theorien über Nationen ausführlich zu behandeln, sei an dieser Stelle auf interessante Überlegungen bei Etienne Balibar und Immanuel Wallerstein (1992) verwiesen, die Nationen als nichts Natürliches, sondern als imaginäre Gemeinschaften begreifen, die durch das Wirken von Institutionen hervorgebracht wurden. Das Imaginäre ist dabei die Konstruktion des (National-)Volkes, das als soziale Basis des Staates dient und diesen gegen andere Staaten abgrenzt. Das (National-)Volk existiert aber nicht naturwüchsig, sondern es muß sich permanent erst schaffen. Dafür bedarf es einer einheitsstiftenden Ideologie, über die sich die Homogenität der Nation hersteilen soll. Da aber Menschen als „Volk“ definiert werden, die oft sozial und kulturell nicht viel gemeinsam haben, muß die Eigendefmition in Abgrenzung gegenüber anderen erfolgen, denen zu diesem Zweck bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden (vgl. BalibarAVallerstein 1992). Vor diesem Hintergrund sollten Begriffe wie ‘Volk’, ‘Nation’ und ‘Nationalcharakter’, ohne die man bei diesem Thema nur schwerlich auskommt und deren Definition und Bestimmung einer eigenen Arbeit bedürfte, durchaus kritisch d.h. als keine natürlichen, sondern zumindest als in einem bestimmten historischen Kontext entstandene und sich verändernde gelesen werden. Hubertus C. Duijker und Nico H. Frijda haben untersucht, ob Völker wirklich diejenigen Eigenschaften besitzen, die ihnen typischerweise zugeschrieben werden. Sie kommen zu dem Ergebnis: „... einmal gibt die Existenz eines Nationalcharakters Anlaß für die Entstehung von Stereotypen, die jenen Volks- <?page no="21"?> Einleitung 21 Charakter betreffen; zum anderen kann die Existenz eines Stereotyps zum Entstehen einer nationalen Charakteristik beitragen“ (zit. in: Prinz 1970, S. 199). Es existieren dabei auch gewisse Einschränkungen, worauf Duijker und Frijda ihre Aufmerksamkeit lenken: „First of all, national stereotypes seem to depend far more on other factors than the character of the people described. Of those factors the political relationships between the two countries probably rank first“. (Duijker/ Frijda 1960, S. 130, nach Prinz 1970, S. 199) Neben den politischen zwischenstaatlichen Beziehungen, die von Duijker und Frijda genannt wurden, spielt auch die Informationslage der Bevölkerung eine wesentliche Rolle für die Entstehung von Stereotypen. Informationsmangel z.B. unterstützt wesentlich die Stereotypenbildung (vgl. v. Bassewitz 1990, S. 23). Weitere Faktoren sind politische Probleme, soziale und wirtschaftliche Schwierigkeiten im eigenen Land, internationale Spannungen und anderes mehr. Das begünstigt die Entstehung von Feindbildern, Vorurteilen und negativen Stereotypen gegenüber anderen Völkern. Ein negatives nationales Stereotyp wird durch feindliche Beziehungen zwischen Völkern hervorgerufen, und aus diesem Grund sollte ein solches eher als ein Symptom für falsches politisches Urteilen und Handeln zwischen den Völkern gesehen werden. Die Stereotype entstehen aus Gerüchten, vom Hörensagen, aus Anekdoten und nicht aus tatsächlichen Daten und Fakten. Nationale Stereotype beruhen deshalb nicht auf einer Ansammlung von Tatsachen, sondern auf nur scheinbaren Begründungen (vgl. Prinz 1970, S. 199). Sie sind aus diesem Grunde bei der Konfrontation mit der Wirklichkeit ziemlich unelastisch. Wenn profündes und exaktes Wissen fehlt, erhöht sich sofort die Wahrscheinlichkeit zur Bildung von Stereotypen. Nationale Vorurteile und Stereotype sind meist allgemein gehalten und lassen eine tendenziöse Interpretation der Tatsachen zu, die ins eigene Bild passen. Zudem hält man die existierenden Grundvorstellungen für fündiertes Wissen. Walter Lippmann schreibt dazu: „Die allgemeine Regel lautet: Schätzen wir ein Volk heute, dann verfolgen wir die Äste bis zum gemeinsamen Stamm. Lieben wir es nicht, so behaupten wir, daß getrennte Äste auch getrennte Stämme haben müßten. Im einen Falle richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Periode, bevor die Völker Trennungsmerkmale zeigten; im anderen Falle auf die Periode, die auf ihre Trennung folgte. Und die Sicht, die unserer Gemütsverfassung entspricht, wird für ‘Wahrheit’ genommen“. (Lippmann 1990, S. 106) Eine frühe Untersuchung über die Bewertung von „Rassen“ stammt aus dem Jahre 1925 und wurde von Emery Stephen Bogardus durchgeführt (vgl. Katz/ Braly 1935, S. 35). 248 befragte Amerikaner haben 39 Ethnien in 3 Gruppen nach den Kriterien „Zuneigung“, „weder Zuneigung noch Aversion“ und „Aversion“ klassifiziert. Als Ergebnis der Befragung entstand eine Rangliste der Völker, welche die Sympathie bzw. die Antipathie der Befragten zum <?page no="22"?> 22 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Ausdruck brachte. Eine zweite Untersuchung von Bogardus war die Befragung von 110 Geschäftsleuten und Lehrern, wobei angegeben werden sollte, „bis zu welchem Grad sozialer Nähe sie bestimmte ethnische Gruppen akzeptieren könnten“ (Katz/ Braly 1935, S. 35). Die soziale Distanz wurde nach folgenden Kriterien untersucht: „enge Beziehung durch Heirat“, „persönlicher Freund im eigenen Club“, „Nachbar in derselben Straße“, „Arbeitsverhältnis im eigenen Beruf 1 , „Mitbürger im eigenen Lande“, „nur Besucher im eigenen Lande“, „Ausbürgerung“. Bemerkenswert an diesen Untersuchungen ist die Tatsache, daß sich an der Spitze der sympathischen Völker der europäischen Nationen nur nord- und westeuropäische befanden. Eine Untersuchungsmethode der nationalen Stereotype, die sich eines Eigenschaftslistenverfahrens bediente, ist die Studie von Daniel Katz und Kenneth Braly aus dem Jahre 1933. Diese basierte auf der Befragung von 100 amerikanischen Studenten, welche die Aufgabe hatten, mit 84 Eigenschaften 10 ethnische Gruppen zu beschreiben, wobei 5 von diesen Eigenschaften hervorgehoben sein sollten. Die Untersuchung wurde in zwei Teilen durchgefuhrt, um herauszufinden, ob es Unterschiede zwischen der öffentlichen und der privaten Einstellung zu „Rassen“ gibt. Sie ergab, daß zumindest fiir einige „Rassen“ schon die Methodenveränderung unterschiedliche Ergebnisse bringen kann. Die Befragung zeigte auf, daß z.B. „Neger“ in der privaten Einschätzung höher als in der öffentlichen erschienen, was auf ihren sozialen Status zurückzufiihren war (vgl. Katz/ Braly 1935, S. 49). Eine Untersuchung nationaler Vorurteile und Stereotype haben in einer erweiterten Form auch Kripal Singh Sodhi und Rudolf Bergius im Jahre 1953 durchgeflihrt. Die Form der Studie wurde im Vergleich zu der von Katz und Braly verfeinert. 881 deutsche Probanden charakterisierten 14 Nationen mit Hilfe einer Auswahl aus 207 Attributen. Es wurde den Probanden auch die Wahl der Anzahl der Eigenschaften, mit denen sie die jeweilige Nation charakterisieren sollten, überlassen (nicht genau fünf wie bei Katz und Braly). Hier ist interessant, mit welchen Eigenschaften die Polen als eine der charakterisierten Nationen versehen wurden. Beschränkt man sich auf die Wiedergabe der Eigenschaften mit prozentualen Zahlen, so ergibt sich folgendes Bild: „Nationalstolz - 74,1%; polnische Wirtschaft - 67,3%; arm - 64,6%, brutal in Trunkenheit - 62,6%; jähzornig - 59,2%; heimatliebend - 59,2%; schmutzig - 58,5%; religiös - 57,1%; Trinker - 51,0%; streitsüchtig - 51,0%; fanatisch - 49,6%; heißblütig - 49,0%; rachsüchtig - 48,9%; hinterlistig - 48,3%; unberechenbar - 46,9%; grausam - 46,2%; freiheitsliebend - 45,6%; mißtrauisch - 44,9%; rassebewußt - 44,9%; musikalisch - 44,9%, primitiv - 42,2%; hübsche Frauen - 40,1%.“ (Quasthoff 1973, S. 39) Sicherlich verdienen in dieser Untersuchung die Eigenschaften, die nur in bezug auf Polen und keine andere Nation verwendet wurden, eine erhöhte Aufmerksamkeit. Es gibt drei von ihnen, nämlich „polnische Wirtschaft“, „streit- <?page no="23"?> Einleitung 23 süchtig“ und „heißblütig“. Fragwürdig bleibt dabei sicherlich auch die Untersuchungsmethode selbst, bei der die Wortgruppe „polnische Wirtschaft“ als eine Eigenschaft präsentiert wurde, die den Probanden durch die Attribuierung ‘polnisch’ eindeutig die Zuschreibung zu Polen aufzwang. Anhand all dieser Untersuchungen läßt sich konstatieren: Es gibt in Deutschland ein für Europa empirisch nachgewiesenes West-Ost-Gefälle der Stereotypisierungen (vgl. v. Basswitz 1990, S. 9). Dieses Gefälle wird im Zuge der Rezeption in ein geographisches Stereotyp umgewandelt und beruht darauf, daß die west- und nordeuropäischen Völker in der Regel besser bewertet werden als die osteuropäischen (vgl. Koch-Hillebrecht 1977, S. 245f). Damit verbunden ist, daß einige Autoren sogar so weit gehen, daß sie verschiedene Völker, ausgehend von deren geographischer Lage, in bestimmte Stereotype einzwängen. In der Untersuchung von Sodhi und Bergius aus dem Jahre 1953 kommt das erwähnte West-Ost-Gefälle sehr deutlich zum Vorschein. Sodhi und Bergius unterscheiden drei Gruppen. Zur ersten Gruppe gehören die romanischen Völker: Franzosen, Italiener, Spanier. Diesen Nationalitäten schreibt man folgende Eigenschaften zu: Sorglosigkeit, Unbekümmertheit, Fröhlichkeit, Regsamkeit, künstlerische Begabtheit und Vorliebe für Schönheit. Den Völkern, die zum germanischen Sprach- und Kulturkreis gehören, wie z.B Deutsche und Engländer, wurden oft Eigenschaften wie sauber, sportlich, körperlich gut gebaut, kultiviert und zivilisiert attestiert. Die slawischen Völker wie Russen, Polen und Tschechen versah man dagegen mit folgenden Merkmalen: unberechenbar, unzurechnungsfähig, mißtrauisch und argwöhnisch (vgl. Jonda 1991, S. 14). Dem West-Ost-Gefälle entsprechend werden die im Westen lebenden Völker als „elegant, raffiniert und modisch“, die östlichen dagegen als „etwas rückständig, bäuerlich und unverdorben, unverbraucht und hinterwäldlerisch, modisch zurückgeblieben“ angesehen. Als Beispiel kann man hier das im 19. Jahrhundert in Frankreich herrschende Bild vom Deutschen nennen, welches ihn als einen unzivilisierten und naiven, Sauerkraut essenden und in den Wäldern lebenden Menschen darstellte (vgl. Koch-Hillebrecht 1977, S. 248). Ein sehr ähnliches Bild hatten die Deutschen von den Russen (vgl. v. Basswitz 1990, S. 10). Lemberg äußert in diesem Zusammenhang: „Bekanntlich zeigen auch die Tschechen, die Polen und Jugoslawen den Russen gegenüber eine ähnliche Verachtung, wie sie sie selbst von den Deutschen zu erfahren glauben (Koch-Hillebrecht 1977, S. 248). In den Arbeiten von Koch-Hillebrecht findet man Mechanismen, die möglicherweise zu dem oben präsentierten Bild der wechselseitigen Völkerwahrnehmung führen. In bezug auf östliche Nationen kann man bei den westlichen „Angstreaktionen gegenüber neu aufstrebenden Völkern“ registrieren, die sich aus den hohen Geburtenzahlen und zielbewußtem Eintreten für die eigenen Interessen der östlichen Nationen ergeben (vgl. 1977, S. 249). <?page no="24"?> 24 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Auch die territorialen Grenzen zwischen den Nationen beherbergen nach Ansicht von Koch-Hillebrecht „den Keim zum Streit und zum negativen Stereotyp in sich“ (1977, S. 239). Hierfür zitiert er eine Aussage von Amelung, die lautet: „Benachbarte Völker haben sich von altersher argwöhnisch beobachtet. Der unmittelbare Nachbar war nie Gegenstand der Liebe, sondern je nach historischen Umständen des Neides, der Verachtung, der Furcht oder gar des Hasses.“ (Amelung nach Koch-Hillebrecht ebd.) Aus dem Prinzip der direkten Nachbarschaft läßt sich ein weiteres Völkerstereotyp ableiten (vgl. Koch-Hillebrecht 1977, S. 239f). Er spricht in diesem Fall vom „Sandwich-Prinzip“, das seinen Namen der Einrahmung eines Landes durch andere Länder verdankt. Er ist der Ansicht, daß zwei Länder, die ein drittes einrahmen, positive Stereotype voneinander entwickeln (vgl. S. 240). Anhand dieses Prinzips werden die Beziehungen zwischen diesen Ländern erklärt: Spanien - Frankreich - Deutschland, Polen - Deutschland - Frankreich, Rußland - Polen - Deutschland. Das Sandwich-Prinzip macht deutlich, daß viele Konflikte grenzbedingt sind. Plausibel stellt Koch-Hillebrecht diese Behauptung am Beispiel der deutschrussischen Beziehungen dar: „Wenn in der Geschichte Deutschland und Rußland durch Polen getrennt sind, entwickeln sich freundliche Anschauungen voneinander, die sich allerdings bald trüben, sobald sich beide Länder an einer gemeinsamen Grenze Auge in Auge gegenüberstehen.“ (S. 240) Enzensberger (1992) bezieht in seine Ausführungen zu den nationalen positiven und negativen Stereotypen noch einen anderen Aspekt mit ein. Seiner Meinung nach richtet sich die Wertung der Eigenschaften in Selbst- und Fremdbildem der Nationen nach dem wirtschaftlichen Erfolg (vgl. Lempp 1993a, S. 17). Enzensberger bringt das auf den Punkt, indem er die Beziehungen zwischen den Nationen folgendermaßen definiert: „Wo die Konten stimmen, versiegt wie durch ein Wunder der Fremdenhaß“ und „Fremde sind um so fremder, je ärmer sie sind.“ (1992, S. 37) Eine erwähnenswerte Klassifizierung der Länder, und zwar nach der Konfession, hat der Franzose Alain Peyrefitte im Jahre 1976 gegeben (Lewandowski 1995a, S. 93). Er nennt in seiner Untersuchung je zehn typisch protestantische und typisch katholische Länder. Zu den typisch protestantischen zählt er Norwegen, Schweden, Dänemark, England, Holland, die Schweiz, die Vereinigten Staaten von Amerika, den englischen Teil von Kanada, Australien und Neuseeland. Zu den typisch katholischen gehören seiner Meinung nach Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Irland, Österreich, Polen, Chile, Argentinien und <?page no="25"?> Einleitung 25 Uruguay. Peyrefitte meint, daß sich diese Klassifizierung trotz der weit verbreiteten Säkularisierung durchfuhren läßt, weil die genannten Religionen in den jeweiligen Gesellschaften eine wichtige Rolle gespielt haben. Diese Konfessionszugehörigkeit bedingt die Entwicklung bestimmter Eigenschaften, die sich in den Ländern derselben Religion ähnlich darstellen. So schreibt Peyrefitte, daß die protestantischen Gesellschaften „praktisch, erfinderisch, pluralistisch, dezentralisiert, demokratisch, diszipliniert“ sind und Autoritäten anerkennen und daß im Gegensatz dazu in katholischen Ländern die gedanklichen Spekulationen höher als die Praxis geschätzt werden und die intellektuelle Beschäftigung stärker anerkannt ist als die wirtschaftliche (vgl. Lewandowski 1995a, S. 94). Außerdem wird in katholischen Gesellschaften der Lebenskünstler geschätzt. Das „Organisieren“ und ein Leben nach der Formel „Das wird schon irgendwie gehen“ finden schnell Beifall und Anklang (Lewandowski 1995a, S. 93f ). 1.3 .2 Die Wahrnehmung der Polen und Polens durch die Deutschen am Beispiel von Befragungen In den 60er Jahren fanden Publikationen von Heinz E. Wolf zum Thema „ethnischer Stereotype bei westdeutschen Schülern“ große Beachtung (1966, S. 305). Er entwarf hierzu folgende Skala, anhand welcher die Probanden die in Betracht gezogenen Völker in verschiedene Gruppen klassifizieren sollten: bedeutende und weniger bedeutende Völker, sympathische und unsympathische Völker. Auch hier kann man das Phänomen des West-Ost-Gefälles beobachten. Im Resultat gelang es Wolf, drei Gruppen zu bilden, die jedoch anders als bei Sodhi und Bergius zusammengestellt wurden. Die von den deutschen Probanden hauptsächlich positiv eingeschätzte Gruppe bilden bei Wolf die bedeutenden Nationen der Engländer, Deutschen und Amerikaner. Positiv eingeschätzt, aber als weniger bedeutend erwiesen sich Schweizer, Holländer und Dänen. Die zweite Gruppe der ambivalent bewerteten Völker, die kein besonderes Profil (nach diesen Forschungen) besitzen, bilden Franzosen, Italiener und Ungarn. Zur dritten, negativ bewerteten Gruppe der Völker zählen die Befragten außer den Juden und Türken vor allem „östliche“ Völker wie Russen, Polen und Chinesen (vgl. Jonda 1991, S. 14). Wolf äußert hierzu, daß diese Dreiteilung auf eine Bewertung nach dem Grad des „germanischen Blutes“ zurückzufuhren ist. Die erste Gruppe bilden die „germanischen Brudervölker“, die zweite sei ein Konglomerat aus der „Vermischung“ der germanischen Stämme mit der Urbevölkerung Frankreichs oder Italiens und die dritte Gruppe sei zur Entwicklung ihrer eigenen höheren Kultur unfähig und habe die ursprünglichen Einsprengsel nicht angenommen (vgl. Wolf 1969, S. 933). Koch-Hillebrecht findet diese Untersuchung ziemlich einseitig, weil Wolf seine Theorie ausschließlich anhand von in Westdeutschland durchgeführten Untersuchungen aufstellt. Er lasse dabei außer Acht, daß das West-Ost-Gefälle ein europäisches und nicht ein binnendeutsches Phänomen ist (vgl. 1977, S. 250). <?page no="26"?> 26 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Parallel zu diesen Ergebnissen stellte Wolf im Rahmen seiner Untersuchungen mit Schülern in Oberschulen der drei deutschen Städte Köln, Wiesbaden und Saarbrücken fest, daß der Wissensstand bezüglich der „Polen“ sehr niedrig ist (vgl. Wolf 1963, S. 478ff.). Polen werden nach den Russen von den Schülern als Angehörige der zweitwichtigsten Nation (unter den osteuropäischen Völkern) klassifiziert. Polen wird von den Befragten als zweitnegativste osteuropäische Nation (wieder nach den Russen) bezeichnet. Wesentliche Unterschiede gibt es in der Stellungnahme der Oberschüler und Volksschüler zu Polen: nur ein Drittel der Oberschüler lehnen Polen ab, bei Volksschülem sind es 50% (vgl. Wolf 1963, S. 483f). Wolf untersucht auch die sprachlichen Realisierungen der Eigenschaftszuordnungen zu einer nationalen Gruppe. Zu diesem Zweck legte er den Schülern eine Auswahlliste mit Eigenschaften vor, aus der die Schüler, die ihrer Meinung nach passenden Eigenschaften der jeweiligen Nation zuschreiben sollten. Die Polen wurden von den Schülern mit folgenden Attributen versehen: (Die Eigenschaften werden nach der höchsten Häufigkeit ihrer Nennungen angeführt): „schmutzig, faul, politisch, grausam, soldatisch, heimtückisch, gemein, frech, lügnerisch, aufdringlich“. Diese Untersuchung resümierend, schreibt Wolf: „... in der Einschätzung der osteuropäischen Völker stehen die Russen an der ersten Stelle. Obschon sie meist negativ beurteilt werden, sind sowohl bei jüngeren wie bei älteren Schülern in steigender Zahl neutrale und positive Beurteilungen festzustellen, durch welche die Russen stark gegenüber den Polen unterschieden werden. Das Bild der Polen ist eindeutig negativer getönt. Es sei hier die Hypothese vertreten, daß sich das antislawische Vorurteil sehr viel stärker gegenüber den Polen als gegenüber den Russen zeigt“ (Wolf 1963, S. 488 und 509). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Becker, der die Einstellungen westdeutscher Schüler gegenüber Franzosen, Polen und Russen untersucht (vgl. 1970, S. 746). Becker hat 219 Schüler gebeten, Aussagen über die Geschichte, Politik und Geographie dieser Völker zu machen. Bezüglich Polens zählte er nur 219 Aussagen (zum Vergleich Frankreich - 792). Dies deutet auf ein erhebliches Unwissen hin, welches vielleicht aufgrund emotionaler Komponenten und ungenauer Kenntnisse vorliegt (vgl. Jonda 1991, S. 15). In diesem Zusammenhang läßt sich die Rolle des „Eisernen Vorhangs“ im Ost-West-Verhältnis anfiihren, der eine viel größere mentale Entfernung symbolisierte als die geographisch bestehende Grenze. Jonda (1991, S. 13) beschäftigt sich mit der Problematik der nationalen Stereotype in bezug auf die westdeutsch-polnischen Beziehungen. Schon zu Beginn ihrer Ausführung stellt sie fest, daß sich die gegenseitigen Bilder und Stereotype beider Nationen in den letzten 40 Jahren wesentlich verändert haben. Jonda formuliert anhand mehrerer Untersuchungen in diesem Bereich drei <?page no="27"?> Einleitung 27 Feststellungen, die bezüglich der Einstellungen der Deutschen gegenüber den osteuropäischen Völkern treffend sein sollen: - Der Mangel an Informationen über das andere Volk verursacht die Entstehung ethnischer Vorurteile gegenüber diesem Volk, wodurch später auch eine negative Beurteilung dieser Nation impliziert wird. - Der Wechsel der politischen und moralischen Verhältnisse läßt das Interesse an anderen Völkern entstehen und fördert den Informationsaustausch unter diesen Völkern. Das wiederum fuhrt auch zu einer weniger negativen Bewertung anderer Völker. - Die Reisefreiheit und die Möglichkeit, persönliche Kontakte zu knüpfen, haben ein Verschwinden der ethnischen Vorurteile und eine Veränderung des Charakters ethnischer Stereotypen zur Folge (ebd ). Alle diese Urteile darf man jedoch nicht einfach unwidersprochen, ohne gewisse Vorbehalte und ohne Relativierung hinnehmen. Eine bestimmte Skepsis erweckt der dritte Punkt, in dem gesagt wird, daß die Reisefreiheit zum Verschwinden der ethnischen Vorurteile beiträgt. Im Fall von Polen scheint diese Annahme zumindest Ende der 80er Jahre unzutreffend zu sein. Zu diesem Zeitpunkt ist nämlich ein polnischer Massen-Einkaufstourismus nach Deutschland, besonders nach Berlin, zu verzeichnen. Der „Polenmarkt“ in Berlin führte dazu, daß Polen immer negativer eingeschätzt wurden. Dies wurde auch sofort mit der steigenden Kriminalität im Raum Berlin verbunden, und infolgedessen wurde ein negatives Bild der Polen in den Augen der Deutschen produziert. Nun symbolisieren diese „reisenden Schrott aufkaufenden“ und „Zigaretten verkaufenden“ Polen nach dem Prinzip des pars pro toto die ganze polnische Nation, welche in der deutschen Presse (z.B. in den SPIEGEL- Ausgaben Nr. 9/ 1989, Nr. 10/ 1989, Nr. 18/ 1989, Nr. 28/ 1989) als ein Volk von Händlern und Dieben dargestellt wird. Beim drittgenannten Punkt muß man also berücksichtigen, welche Gruppe der Bevölkerung reist und wie die persönlichen Kontakte zwischen den Vertretern beider Nationen aussehen. Erwähnenswert ist in diesem Kontext die Tatsache, daß Ende der 80er Jahre viele Polen häufig mit dem Ziel der Verbesserung ihrer schlechten wirtschaftlichen Lage als Touristen unterwegs waren. Mit der Methode der Bevölkerungsbeffagung lassen sich Meinungen und Einstellungen zu konkreten und aktuellen Themen aller Art untersuchen (vgl. v. Bassewitz 1990, S. 31). Zu erwähnen ist die Umfrage des renommierten Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL über die Einstellung der Polen und Deutschen zueinander, die mehrere Aspekte der deutsch-polnischen Beziehungen präsentiert und in der SPIEGEL-Ausgabe am 2. September 1991 veröffentlicht wurde. Eine Analyse der vom SPIEGEL publizierten Ergebnisse und ihre Kommentierung bespricht sowohl Autoals auch Heterostereotype von Deutschen und Polen. <?page no="28"?> 28 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 1.4 Kurze historische Skizze der deutsch-polnischen wechselseitigen Wahrnehmungen Die wechselseitige Wahrnehmung von Deutschen und Polen setzt sich aus vier Stereotypen zusammen: das deutsche Autostereotyp das polnische Autostereotyp das deutsche Heterostereotyp das polnische Heterostereotyp Diese Untersuchung konzentriert sich auf das drittgenannte Stereotyp. Aus den historischen Gegebenheiten wird aber klar ersichtlich, wie sehr auch die anderen Stereotype beim Herausbilden des deutschen Polenbildes mitgewirkt haben und weiterhin mitwirken. Besonders deutlich wird das am Beispiel des deutschen Heterostereotyps der polnischen Unordentlichkeit, das spiegelbildlich dem deutschen Autostereotyp der Ordnung entspricht. Eine der wichtigsten Funktionen der Heterostereotype besteht ja eben darin, durch Abgrenzung das Autostereotyp zu stärken. Unsere Untersuchung erfordert, auf eine ziemlich umstrittene Kategorie einzugehen, und zwar auf die des sogenannten ‘Nationalcharakters’, durch die sich ein ‘Volk’ von anderen ‘Völkern’ abhebt. Obwohl für Soziologen, Anthropologen, Ethnologen und Historiker viele verschiedene methodologische Optionen und damit auch definitorische Schwierigkeiten bei der Erörterung des Terminus ‘Nationalcharakter’ bestehen, ist es nicht möglich, auf diese Kategorie zu verzichten (vgl. Lewandowski 1995a, S. 10). Auch wenn die Wissenschaftler sich in bezug darauf, was den Charakter einer Nation ausmacht und ob er überhaupt existiert, nicht einig sind, meint Edmund Lewandowski, daß, wenn eine Nation eine eigene Geschichte, Kultur, Tradition etc. besäße, sie über Komponenten verfüge, die sich von denen anderer Nationen unterscheiden. Lepkowski schreibt darüber sinngemäß, daß Untersuchungen über die Mentalität, die Sensibilität ‘eines Volkes’ bzw. nationale Eigenschaften und die Typologie von Patriotismen oder auch die Züge des Nationalcharakters in der Publizistik zu den verschiedensten Zeiten sehr beliebt waren. Solche publizistischen Versuche hatten jedoch in der Wissenschaft keinen guten Ruf. „Denjenigen, die sich damit beschäftigten, wurden Intuitionismus, Psychologismus, Subjektivismus und Unkonkretheit, manchmal auch Ahistorizität vorgeworfen [...] Es scheint jedoch obwohl die Frage diskutabel ist -, daß die erwähnten Sachverhalte keine erfündenen, sondern historisch existierende und wirkliche Probleme sind. Ich füge hinzu, außerordentlich wichtige.“ (Lepkowski 1967, S. 509, nach Lewandowski 1995a, S. 10, Übersetzung J.D.) <?page no="29"?> Einleitung 29 Man kann davon ausgehen, daß es in jeder Nation mehr oder minder kollektive Verhaltensmuster gibt. Sie sind historisch bedingt und dauern über Generationen an. Sie betreffen also nicht spezifische Eigenschaften eines Einzelnen, sondern Denk- und Verhaltensmuster, die für die Mehrheit der Bevölkerung charakteristisch, wenn auch nicht bei jedem Individuum zwingend gegeben sind. In der vorliegenden Arbeit wird jedoch nicht der polnische Nationalcharakter, sondern das Bild der polnischen Nation untersucht, wie es in der deutschen Presse vermittelt wird. Dieses Bild nenne ich nach Lewandowski ‘ethnisches Syndrom’. Es wird im folgenden mit einem bestimmten geschichtlichen Prozeß verbunden (vgl. Lewandowski 1995a, S. 15). Die Verhaltensweisen und die Wertesysteme nationaler Gruppen sind historisch bedingt, das heißt, sie besitzen geschichtliche Ursachen, die, anstatt zu behaupten, daß die Mentalität „im Blut“ liege, detailliert erforscht und bewußt gemacht werden müssen. Die sich in Kontinuität und Diskontinuität zeigende widerspruchsvolle Einheit „nationale Psyche“ wird durch den konkreten Geschichtsverlauf und die realen gesellschaftlichen Prozesse entwickelt und durch soziale, kulturelle, geistige, politische und ökonomische Strukturen geprägt (vgl. Fischer 1990, S. 270f). Die Untersuchung nationaler Stereotype kommt also nicht ohne einen geschichtlichen Exkurs aus. Deshalb wird hier der Versuch unternommen, Sachverhalte, die für den empirischen Teil der Arbeit von besonderer Relevanz sind und dort präsentiert werden, mit ihren historischen Hintergründen darzustellen. Die Geschichte wird dabei insoweit skizziert, wie es die sprachwissenschaftlichen Analysen erfordern. Die historischen Ereignisse werden aus diesem Grund nicht unbedingt chronologisch, sondern eher anhand der Hauptpunkte des empirischen Teils dargestellt. Der Schwerpunkt der historischen Skizze liegt auf der Darstellung von Ereignissen und Sachverhalten der polnischen Geschichte, unter besonderer Berücksichtigung der wechselseitigen deutsch-polnischen Wahrnehmung und der aus ihr resultierenden Entwicklung der Kontakte zwischen den beiden Nationen. Die historischen Verhältnisse bilden den Hintergrund sowohl für die Autoals auch für die Heterostereotype, die eine lange Tradition in der Gesellschaft haben. Sie müssen als Einstieg in die Thematik nationaler Stereotype verstanden werden. Die polnische Perspektive wird in der folgenden geschichtlichen Skizze zwangsläufig besonders hervorgehoben, weil die polnische Geschichte für die Bildung der Auto- und Heterostereotype über Polen maßgeblich ist. Die Sachverhalte wurden nach dem Kriterium ihrer Nützlichkeit für die nachfolgende Untersuchung (s. Kap. 3, 5 und 6) zusammengestellt. Es werden somit mehrere deutsch-polnische Auto- und Heterostereotype angedeutet. Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, daß die Darstellung möglichst breit gefaßt wurde und nicht als Ergebnis der Untersuchung deutscher Presse, sondern auf der Basis der historischen und belletristischen Literatur entstanden ist. <?page no="30"?> 30 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Das deutsch-polnische Verhältnis wird von manchen als tausendjährige Feindschaft gesehen (vgl. Torbus 1993, S. 88). Ein heute noch gebräuchliches polnisches Sprichwort, das auf die Zeit der Adelsrepublik im 17. Jahrhundert zurückgeht, drückt diese gespannte Beziehung aus: Jak swiat swiatem nie bqdzie Niemiec Polakowi bratem ‘Solange die Welt besteht, wird der Deutsche dem Polen kein Bruder sein’. Der Historiker Wrzesiftski meint, daß man zu diesem Spruch immer dann greift, „wenn man schlechte Beziehungen und feindliche Einstellungen, nicht nur in der Politik, sondern auch im Alltag beider Völker hervorheben möchte und gleichzeitig die Deutschen für diesen Zustand verantwortlich machen will“ (1994, S. 64). Nach Holzer läßt schon die Bezeichnung ‘der Deutsche’ im Polnischen der ‘Niemiec’ (‘niemy’ = stumm) - „keinerlei Zweifel über das Gefühl des Fremdseins oder der Abneigung, die die polnisch-deutschen Beziehungen“ in der Zeit dieser Namensentstehung begleiteten (1991, S. 83). Betrachtet man die Geschichte genauer, kommt man zu der Feststellung, daß es „genügend Phasen eines friedlichen Nebeneinanders [gab, J.D.], die eine [...] negative Bilanz des Zusammenlebens widerlegen“ (Torbus 1993, S. 89). Ein Faktum ist, daß die Grenze zwischen dem Königreich Polen und dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (Das historische Ordensgebiet, das spätere Ost- und Westpreußen befand sich damals außerhalb dieses Reiches) zweieinhalb Jahrhunderte hindurch (1525- 1772) eine der stabilsten in Europa war (vgl. Tazbir 1993, S. 32). Der Historiker Topolski hat dargelegt, wie sich die deutsch-polnischen Beziehungen im Grenzgebiet in den vergangenen Jahrzehnten gestaltet haben (1993). Folgt man dem Autor und erwägt die Titel einiger polnischer Publikationen zum Thema der deutsch-polnischen Beziehungen, so spiegelt sich deutlich der Zwiespalt dieses Verhältnisses wider. Topolski nennt in seiner Ausführung drei Arbeiten, die das gesamte Spektrum der gemischten Gefühle der Polen den Deutschen gegenüber aufzeigen. Zu ihnen gehören aus dem Jahr 1945 Wojciechowskis „Polska - Niemcy. Dziesiqc wieköw zmagania“ [„Polen-Deutschland. 10 Jahrzehnte des Ringens“, J.D], aus dem Jahr 1987 eine Sammlung von Beiträgen „Polska-Niemcy. Dziesiqc wieköw sqsiedztwa“ [„Polen-Deutschland. 10 Jahrzehnte der Nachbarschaft“] und Wrzesinskis „S^siad czy wrög“ [„Nachbar oder Feind“, J.D.] aus dem Jahr 1992. Die Titel dieser Werke suggerieren, daß die deutschpolnischen Beziehungen sicherlich nicht unter eine einfache und eindeutige Formel subsumiert werden können Ihre Zwiespältigkeit ist ein Faktum. Zu prüfen ist aber, warum dieses Verhältnis einmal in den Kategorien Konflikt und Feindschaft und das andere Mal in den Kategorien Nachbarschaft, Zusammenarbeit und Freundschaft beschrieben wird. Notwendig ist die Berücksichtigung verschiedenartiger und gegensätzlicher Faktoren aus der Vergangenheit und der Versuch ihrer Ordnung (vgl. Topolski 1993, S. 7f ). Mit Sicherheit gehörten die deutsch-polnischen Beziehungen in der Zeit des Hochmittelalters, das heißt vom 10. bis zum 13. Jahrhundert, nicht zu den besten, denn es handelte sich dabei um eine Epoche der bewaffneten Konflikte und Kriege. „Schwerwiegende Folgen für die Ent- <?page no="31"?> Einleitung 31 Wicklung des polnischen Staates“ ergaben sich durch das Eintreffen des Deutschen Ritterordens, der durch Herzog Konrad von Masowien im Jahre 1226 auf das Gebiet Ziemia Chehninska gerufen wurde (Töpfer 1983, S. 202). Dieser Orden war einer der Auslöser jahrelanger Konflikte zwischen Deutschen und Polen. 1410 erlitt der Deutsche Ritterorden die erste größere Niederlage in der Schlacht gegen die polnischen Truppen bei Tannenberg (Grunwald). Seit dem Jahre 1525 wurde das preußische Ordensgebiet säkularisiert und in ein vom Deutschen Reich unabhängiges Herzogtum umgewandelt, das bis 1656/ 60 unter polnischer Lehnshoheit stand (vgl. Czubinski/ Topolski 1988, S. 189). In den nachfolgenden Jahrzehnten wurde hauptsächlich in Polen „die säkularstaatliche und militärisch-expansive Rolle des Kreuzritterordens“ betont (vgl. Tazbir 1993, S. 28). Der Deutsche Ritterorden galt als Beweis für die „uralte und unüberwindbare Feindschaft“ zwischen Deutschen und Polen, meint Janusz Tazbir und äußert weiter, daß dieser Orden für Polen Habgier, Hinterlistigkeit, Grausamkeit und Unersättlichkeit verkörpere, denn „das Kreuzritter-Reptil wirst du niemals zähmen, weder durch Gastlichkeit, noch Bitten, noch Geschenke“, wie Adam Mickiewicz 1823 in seinem Epos „Grazyna“ schrieb (Mickiewicz nach Tazbir 1993, S. 3 0f). Gleichzeitig ist nach Tazbir der Kreuzritterorden zum Synonym des Deutschen personifiziert geworden (Tazbir 1993, S. 31). Nach der Zeit der Kreuzritter (1525) normalisierten sich die deutschpolnischen Kontakte merklich. Erst im 18. Jahrhundert, besonders seit Friedrich II (1740) König von Preußen wurde, sind diese Beziehungen wieder problematisch und feindlich geworden. Im 18. Jahrhundert verlor Polen politisch wesentlich an Bedeutung, Preußen dagegen gewann an Macht (vgl. Czubinski/ Topolski 1988, S. 189) und wurde zum Haupt einer der Parteien, die Polen unter sich aufteilten (1772, 1793, 1795) (vgl. Topolski 1994, S. 687). Diese deutsch-polnischen Kontakte wurden nun für lange Zeit von den Polen durch das Prisma der seit dem 18. Jahrhundert herrschenden preußischen Polenpolitik gesehen und entsprechend negativ beurteilt. Die negative Einstellung der Polen den Deutschen gegenüber findet auch ihren Niederschlag in den Bezeichnungen, mit denen die Deutschen von den Polen versehen wurden. In der Zeit der deutschen Kolonisierung im Mittelalter kamen Schwaben in polnische Gebiete und, wie Holzer schreibt, ist die ursprünglich objektive Bezeichnung ‘Schwabe’, obwohl sie nicht immer zutraf, „beinah zum Schimpfnamen gegenüber sämtlichen Deutschen“ geworden. Aus der heutigen Sicht läßt sich sagen, daß ‘Schwabe’ eher zu einer volkstümlichen Bezeichnung des Deutschen wurde. Einen anderen, nach Holzer, mehr literarischen, dabei jedoch auch einen ähnlich negativen Charakter wie der ‘Schwabe’ hatte die Bezeichnung ‘Krzyzak’ (Kreuzritter), die auf die Zeit des Deutschen Ritterordens zurückgeht. Der Name ‘Krzyzak’ besitzt dabei eine Konnotation, die an „Expansionismus, Brutalität und hemmungslosen Polenhaß erinnert“. In neuerer Zeit wurde der Deutsche mit dem Namen ‘Prusak’ <?page no="32"?> 32 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck (Preuße; aber auch Küchenschabe, Kakerlak) versehen, „ein Wort, das ähnliche Assoziationen auslöste“ (Holzer 1991, S. 83). Die Bezeichnung ‘Prusak’ war das Resultat eines äußerst gespannten Verhältnisses zwischen Polen und Preußen, das im 19. Jahrhundert die Hegemonie unter den deutschen Staaten gewann und nach der Vereinigung Deutschlands im Jahre 1871 im Deutschen Kaiserreich die dominante Rolle unter den 25 deutschen Staaten, die zum Kaiserreich gehörten, spielte (vgl. Czubinski/ Topolski 1988, S. 342). Die Macht befand sich in der Hand des Königs von Preußen, der gleichzeitig der Kaiser des Reiches war. Er regierte durch seinen Kanzler, der in der Regel der Premierminister der preußischen Regierung war. In den Jahren 1871 - 1890 war Otto von Bismarck Kanzler, und forcierte ein Programm einer engen Vereinheitlichung der sich voneinander unterscheidenden Länder und Regionen. Dieses Bestreben richtete sich hauptsächlich gegen die eng mit Rom verbundene katholische Kirche (Kulturkampf) und die nationalen Minderheiten (Dänen, Polen). Das Bemühen um die Bildung eines modernen, zentralisierten deutschen Staates bedeutete vor allem Kampf gegen die Unabhängigkeit der Kirche und gegen polnische Tendenzen, die nationale Eigenart und Autonomie bewahren zu wollen (vgl. Czubinski/ Topolski 1988, S. 343). In diesem Zusammenhang stieg der Widerstand der polnischen Bevölkerung gegen die von Preußen betriebene Politik. Bismarck bekämpfte diesen Widerstand rücksichtslos, wodurch er in die Geschichte als Kämpfer gegen das Polentum eingegangen ist (vgl. Czubinski/ Topolski 1988, S. 149). Im Jahre 1861 schrieb er an seine Schwester Malwine: „Haut doch die Polen, daß sie am Leben verzagen. Ich habe alles Mitgefühl für ihre Lage, aber wir können, wenn wir bestehen wollen, nichts anderes tun, als sie ausrotten. Der Wolf kann auch nicht dafür, daß er von Gott geschaffen ist, wie er ist, und man schießt ihn doch dafür tot, wenn man kann.“ (Bismarck nach Uthmann 1995, S. 203) Die Situation in dem von Preußen annektierten Teil Polens war zu dieser Zeit sehr gespannt, weil der durch nationale Hintergründe bedingte Kampf ein großes Ausmaß annahm. In den Jahren 1872-1876 wurde der Gebrauch der polnischen Sprache in den Oberschulen, im Jahre 1887 auch in den Grundschulen verboten. Die Polen wurden aus den staatlichen Ämtern vertrieben, die Überwachung der polnischen Bevölkerung nahm zu. In den Jahren 1885-1886 wurden Polen, die eine preußische Staatsangehörigkeit besaßen, aus dem Gebiet von Preußen vertrieben. Dabei wurden ungefähr 32.000 Polen umgesiedelt. Das preußische Parlament verabschiedete 1886 ein Gesetz über die Besiedlung der Ostgebiete. Die in Posen gebildete Kolonisierungskommisssion erhielt eine Milliarde Mark für den Kauf des Bodens und für die Durchführung der deutschen Besiedlung (vgl. Czubinski/ Topolski 1988, S. 149). Um die polnische Besiedlung zu begrenzen, führte Preußen ein Gesetz ein, daß jeden zwang, sich vor der Errichtung eines Hauses eine Erlaubnis von der preußischen Behörde einzuholen. Holzer sieht hier zwei Beweggründe, die bei der Entstehung des negativen Deutschenbildes eine besondere Rolle spielten: zum einen war das „die Zwangsgermanisierung“, zum zweiten „die Vertreibung aus den angestammten Gebieten.“ (1991, S. 84). Zum Symbol des Widerstands <?page no="33"?> Einleitung 33 der polnischen Bauern gegen die preußischen Schikanen wurde Michal Drzymala aus Podgradow in der Nähe von Posen, der keine solche Erlaubnis von der preußischen Behörde erhielt und sich entschloß, in einem Zigeunerwagen, der von einem Ort zum anderen bewegt wurde, zu wohnen. Bis zum Jahre 1918 siedelten auf den Gebieten 21.000 deutsche Umsiedler, die 218 neue deutsche Dörfer gründeten. Man begann die Ortsnamen, die polnisch waren, zu verdeutschen. Allein in der Provinz Posen wurden 525 Ortsnamen germanisiert (vgl. Czubinski/ Topolski 1988, S. 350). Einen symbolischen Widerstandscharakter gegen die deutsche Sprachpolitik errang auch der Streik polnischer Kinder in Wrzesnia, in der Nähe von Posen, die eine Fortführung des Polnischunterrichts forderten, wofür sie verprügelt wurden (vgl. Holzer 1991, S. 85). In Deutschland entstanden zur selben Zeit verschiedene extrem nationale und nationalistische Organisationen, zu denen unter anderem der 1891 gegründete Alldeutsche Verband gehörte, der sich mit antipolnischer Propaganda beschäftigte. Auch der „Ostmarkenverein“, der von den Polen „Hakata“ (von den Anfangsbuchstaben der Namen seiner Gründer Hansemann, Kennemann und Tiedemann-Seeheim abgeleitet) genannt wurde, betrieb eine antipolnische wirtschaftliche und politische Tätigkeit. „Die Hakata-Führer hatten das Ziel, den Polen alle Rechte vorzuenthalten und eine vollständige Germanisierung der polnischen Provinzen in Preußen durchzuführen. 1908 trat ein Gesetz über das Verbot der Verwendung der polnischen Sprache, sogar in den von Polen selbst organisierten öffentlichen Versammlungen in Kraft.“ Die polnischen Schriftsteller stellten in ihren Werken Probleme des Kampfes des polnischen Volkes gegen die Germanisierung dar. Ein Gedicht von Maria Konopnicka „Nie rzucim ziemi sk^d nasz rod“ (Rota) vom Jahre 1908 beschäftigte sich mit dieser Problematik (Czubinski/ Topolski 1988, S. 351 und 376). 1910 vertonte Franciszek Nowowiejski dieses Gedicht, und seit diesem Zeitpunkt ist es zu einem nationalen Glaubensbekenntnis mit antideutschem Charakter geworden. Es heißt darin: „‘der Deutsche’ werde ‘uns nicht ins Gesicht spukken, noch unsere Kinder germanisieren’“ (Konopnicka nach Holzer 1991, S. 84). Ein Bild des Deutschen und des Polen, das auf Kontrastrelationen beruht, skizzierte Boleslaw Prus in seinem Roman „Placöwka“, in dem er den deutschen Bauern als geschäftstüchtigen, systematischen und ordnungsliebenden Menschen darstellte, dagegen den polnischen Bauern limak, d.h. ‘Schnecke’ nomen est omen gerade gegensätzliche Eigenschaften zuschrieb, er zeichnete sich nämlich dadurch aus, daß er die wichtigen Aufgaben immer wieder verschob und eine schwache Willenskraft besaß (vgl. Lewandowski 1995a, S. 19 und Czubinski/ Topolski 1988, S. 376). Die präsentierten starken Kontraste zwischen den Deutschen und Polen stimmten die Polen bezüglich der eigenen Haltung nachdenklich, führten jedoch nicht zur Evozierung eines positiven Bildes von den Deutschen. <?page no="34"?> 34 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Nach Holzer fand das Feindbild des Deutschen in Polen während des Zweiten Weltkriegs verstärkt „seine Bestätigung und wurde zu einem Muß“. Im Vergleich zum Bild des Preußen bei Kononicka wurde das Bild der Deutschen damals weitgehend kriminalisiert „da der letzte [das Land] germanisierte und raubte, doch ein krimineller Mörder war er nicht“. In den Nachkriegsjahren bildete das Bild des häßlichen Deutschen in Polen nach Holzer „einen der wenigen Berührungspunkte zwischen dem Kommunismus“ und der polnischen Bevölkerung. Das Bild „von der deutschen Bedrohung, der Vorbereitung auf den dritten Weltkrieg, vom Neonazismus und Revisionismus“ begann in Polen erst in den siebziger Jahren allmählich abzuflauen (Holzer 1991, S. 85, 86f. 88). Das negative Verhältnis zwischen Deutschen und Polen stellte jedoch nur eine Seite der Medaille dar. Neben den von Feindschaft geprägten Beziehungen gab es auch mehrere Beispiele von Freundschaft zwischen den beiden Völkern. Betrachtet man die Geschichte, so muß man Deutsche erwähnen, die in den westlichen Gebieten Polens schon im 13. und 14. Jahrhundert auftauchten, Städte nach dem Magdeburger und nach dem Lübecker Recht gründeten und wirtschaftliche Beziehungen zwischen Polen und Deutschen herstellten (vgl. Czubinski/ Topolski 1988, S. 189). In Zeiten negativer Beziehungen Polens zu Preußen gab es meist auch normale und freundschaftliche Beziehungen zu Sachsen und Bayern. Besonders eng waren die Beziehungen zu Sachsen, als nacheinander zwei sächsische Kurfürsten auf dem polnischen Thron saßen (August II. und August III ). Polen unterhielt zu Sachsen zahlreiche Handelsbeziehungen und polnische Kaufleute halfen mit, die Leipziger Messe zu einer der wichtigsten Europas zu machen (vgl. Topolski 1994, S. 687). Mit Sachsen wurden neben wirtschaftlichen auch kulturelle Beziehungen gepflegt. Viele Polen studierten in Leipzig und Dresden. Im Gegenzug kamen Deutsche nach Polen; unter anderem fuhr Mitzier de Kolof 1756 nach Warschau, wo er die erste kommerzielle Druckerei gründete. Und der aus Nürnberg stammende Michael Groell kam von Dresden nach Warschau und gründete 1763 eine Druckerei, die unter anderem den Text der Verfassung vom 3. Mai 1791 und wichtige Werke der polnischen Belletristik veröffentlichte (vgl. Topolski 1994, S. 785). Nach der Dritten Teilung Polens und in der Zeit der Unabhängigkeitskämpfe wanderten Polen geradezu massenhaft nach Sachsen aus, um auf diesem Wege Frankreich zu erreichen. Die Sachsen begegneten den Polen mit großer Herzlichkeit. Ähnliches war in Bayern der Fall (vgl. Czubinski/ Topolski 1988, S. 312). Zu Zeiten Napoleons war Sachsen, wie das Herzogtum Warschau, Frankreichs Verbündeter gegen Preußen und Österreich. Ein besonders freundschaftliches Verhältnis, in dem „wie niemals vorher und niemals seitdem die Herzen miteinander und sogar füreinander schlugen“, entwickelte sich zwischen Deutschen und Polen in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts (Koenen 1993, S. 79). Es handelt sich um die Zeit des „Vormärz“ und des „Völkerfrühlings“ von 1830 bis 1848. Der unmittelba- <?page no="35"?> Einleitung 35 re Auslöser der Begeisterungswelle der Deutschen für die Polen war der blutig niedergeschlagene November-Aufstand 1830 in Kongreßpolen, der eine große Emigrationswelle auslöste und von wesentlicher Bedeutung für die Entwicklung eines positiven Polenbildes in Deutschland war (vgl. H. v. Zitzewitz 1992, S. 37). Die polnischen politischen Emigranten wurden in Deutschland stürmisch gefeiert, da sie sich „gegen das autoritäre System Preußens und gegen den Verbündeten Rußland wandten“ (Torbus 1993, S. 90). Die Sympathie den Polen gegenüber drückte sich vielfältig aus. Die polnischen Helden wurden von den Deutschen herzlich empfangen; ihr Durchzug gestaltete sich „zu einem Triumphzug, und die oft Wochen und Monate dauernden Einquartierungen waren von endlosen Bällen und Banketten begleitet“. (Koenen 1993, S. 79). In Deutschland entstanden zu dieser Zeit viele „Polenvereine“ und mehr als Tausend deutsche „Polenlieder“ (vgl. 1993, S. 80). Viele deutsche Schriftsteller wurden von der Begeisterungswelle mitgerissen und besangen die polnischen Helden und ihren Freiheitswillen in ihren Werken. Zu nennen sind unter anderem Heinrich Heine, Adelbert von Chamisso, Bettina von Arnim, Annette von Droste-Hülshoff, Ludwig Uhland, Georg Herwegh, August von Platen, Philipp Jakob Siebenpfeiffer und Ludwig Schnabel. Am 27. Mai 1832 fand in der Pfalz das Hambacher Fest statt, zu dem auch die Polen eingeladen waren. Bei diesem Fest wehte „im Festzug neben der schwarz-rotgoldenen Fahne die weiß-rote polnische.“ (Kramer 1990, S. 85) Jakob Siebenpfeiffer nimmt dieses Fest zum Anlaß und beschreibt die Polen im „Hambacher Lied“ auf folgende Weise: „Wir sahen die Polen, sie zogen aus, / Als des Schicksals Würfel gefallen, / Sie ließen die Heimat, das Vaterhaus / In der Barbaren Räuberkrallen; / Vor des Zaren finstrem Angesicht / Beugt der freiheitsliebende Pole sich nicht (1832, S. 211). Eine interessante paraphrasierte Form eines Artikels der pfälzischen Presse „Tribüne“ aus Landstuhl in der Pfalz vom 25. Januar 1832 führt H. v. Zitzewitz an: „An dem begeisterten Empfang der die Stadt durchziehenden polnischen Emigranten nahm die ganze Bürgerschaft Anteil, nur der Pfarrer nicht. Ihm wurden dafür nachts die Fenster eingeschlagen! Die ‘gefeierten’ Polen schlugen einen eigenen Landsmann und den ihn schützenden Polizeibeamten fast tot, lärmten, tobten, tranken und begannen mancherlei Exzesse. All das dämpfte die Begeisterung kaum“ (1992, S. 38). Mit der Polenbegeisterung in Deutschland hängt auch die besondere Karriere der polnischen Nationalhymne zusammen. „Noch ist Polen nicht verloren“ wurde schon auf dem „Nationalfest der Deutschen“ im Hambacher Schloß 1832 gesungen (vgl. Koenen 1993, S. 81). 1833 bzw. 1840 verwenden Uhland und Herwegh in ihren Gedichten die erste Zeile der Hymne, um die polnische Frage zu thematisieren. Uhland schreibt: „An der Weichsel fernem Strande / Tobt ein Kampf mit Donnerschall, / Weithin über deutsche Lande / Rollt er seinen Widerhall. / Schwert und Sense scharfen Klanges, / Dringen her zu unsern Ohren, / Und der Ruf des Schlachtgesanges: / ‘Noch ist Polen nicht verloren! " (Uhland 1833, S. 208) Herwegh legt diese Zeile in den Mund eines <?page no="36"?> 36 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck sterbenden Trompeters: „Daß die Seele leichter von hinnen zieht, Kameraden, seid jetzo beschworen! Nehmt meine Trompete und blast mir das Lied: ‘Noch ist Polen nicht verloren! " (Herwegh 1840, S. 203) Die polnischen Helden, die von den Deutschen besungen wurden, bildeten „später so etwas wie ein Korps der internationalen demokratischen Revolution“. Mit dem Wahlspruch „Für eure wie für unsere Freiheit“ engagierten sie sich „an der Spitze der ungarischen Armeen 1849 und im Obersten Rat der Pariser Commune 1871“. Dieser „Honigmond“ der deutsch-polnischen Beziehungen, wie Gerd Koenen den „Vormärz“ und den „Völkerfrühling“ bezeichnet, war jedoch in diesem Ausmaß einmalig, (vgl. Koenen 1993, S. 84 und 79) Beschäftigt man sich weiterhin mit der geschichtlichen Entwicklung beider Nationen, muß man deren Einstellung zur Geschichte berücksichtigen. Wenn man die beiden Arten des öffentlich kommunizierten Umgangs mit der Geschichte in Deutschland und Polen vergleicht, kann man gravierende Unterschiede beobachten, die sicherlich auch mit dem Kontinuitätsbruch der deutschen Geschichte am Ende des Zweiten Weltkriegs verbunden sind. Die Entstehung der zwei deutschen Staaten machte die Rekonstruktion der gemeinsamen deutschen Geschichte noch schwieriger, und somit „ging die Partei- und Staatsführung der DDR in einer ersten Abrechnungsphase daran, alle problematischen Seiten der deutschen Geschichte auszuklammem“ und „die ‘fortschrittlichen’ Traditionen von den Bauernkriegen bis hin zum kommunistischen Widerstand gegen das NS-Regime“ hervorzuheben, die im ‘ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat’ ihren Ausdruck fanden. Daraus ergab sich „ein zwar einseitiges, aber kompaktes und positives Geschichtsbild“, von dem aber kaum festzustellen ist, in welchem Maße es tatsächlich von der Bevölkerung angenommen wurde, (vgl. Jaworski 1993, S. 15) In der Bundesrepublik Deutschland gab es keine Instanz, die ein von allen politischen Kräften akzeptiertes Geschichtsbild hätte entwickeln können oder wollen. Hier zeigen Wendungen wie „Verlust der Geschichte“ oder „unbewältigte Vergangenheit“, daß die Reflexion der eigenen Geschichte früh als unbefriedigend empfünden wurde. Obwohl in der ersten Nachkriegszeit nur die Geschichte der NS-Zeit verdrängt oder vernachlässigt wurde, veränderte sich letztlich die Einstellung der bundesdeutschen Bürger zur Geschichte insgesamt, was dazu führte, daß man statt der unbequemen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit „alle Aufmerksamkeit und Energie in den Aufbau einer Wohlstandsgesellschaft“ steckte (Jaworski 1993, S. 16). Die 60er Jahre mit ihrer Studentenbewegung zeigten jedoch, daß eine dauerhafte Ausblendung der Geschichte nicht durchzuhalten war. Der deutsche Umgang mit der Geschichte scheint also von der Prämisse geprägt zu sein, „die Geschichte als von der Gegenwart abgesetzte Vor-Geschichte aufzufassen und sie je nach Bedarf als solche zu pflegen, zu zelebrieren, tagespolitisch zu verwerten, sie gegebenenfalls auch teilweise oder ganz zu ignorieren“. Das Wichtigste ist dabei nämlich die gegenwärtige Perspektive, „von der ausgehend retrospektiv <?page no="37"?> Einleitung 37 eine historische Verankerung gesucht bzw. negiert wird“ (Jaworski 1993, S. 17), d.h. die Geschichte kann je nach Bedarf funktionalisiert werden. Ein vergleichbares Verhältnis der Polen zu ihrer Geschichte ist kaum vorstellbar, was schon die Redeweise, ein Pole sei ein „homo historicus“, der die Geschichte seines Landes bis ins Detail kennt, widerspiegelt (vgl. Torbus 1993, S. 19). Der Pole identifiziert sich mit der polnischen Geschichte, so wie er sie kennt, indem er sie als seine eigene behandelt und mit den historischen Ereignissen hantiert und von ihnen so spricht, als ob sie gerade gestern stattgefunden hätten, weil „die Vergangenheit hier eben lebendiger als anderswo ist“ (Gatter 1983, S. 7). Die Ursachen hierfür sieht Jaworski in dem „dramatischen Verlauf der polnischen Geschichte während der letzten drei Jahrhunderte mit ihren tiefgreifenden und nachhaltigen Auswirkungen auf alle Bevölkerungsgruppen“ und in der identitätserhaltenden Bedeutung „eines historischen Langzeitgedächtnisses in Zeiten der Staatenlosigkeit und Fremdherrschaft“. Den Umgang der Polen mit der Geschichte bezeichnet Jaworski als „kollektives Betäubungsmittel“ oder auch als „pathologische Fixierung der Polen auf ihre Vergangenheit“ (Jaworski 1993, S. IBff ). Das Hervorheben der eigenen Geschichte durch die Polen ist immanent mit dem starren Festhalten am Nationalen verbunden, das für viele Nationen unverständlich ist. Dieses Phänomen findet seinen Niederschlag u.a. im folgenden Witz: Vertreter verschiedener Völker sollen einen Aufsatz über einen Elefanten schreiben. Der Franzose schreibt „Über das erotische Leben des Elefanten“, der Engländer „Über den Elefanten in unseren Kolonien“, der Amerikaner „The elephants - How to make them bigger and better“, der Deutsche verfaßt ein zehnbändiges Werk „Einführendes Handbuch in das Wesen des Elefanten“, und der Pole liefert eine Arbeit „Der Elefant und die polnische Sache“ (L. v. Zitzewitz 1992, S. 82, und Torbus 1993, S. 17f ). Gatter spricht davon, daß die Polen Ruhm und Last ihres Vaterlandes überall mit sich tragen, weil der Patriotismus ihre wichtigste Bürgerpflicht ist. Polen sind jedoch seiner Auffassung nach keine Chauvinisten, obwohl man auch Personen finden kann, die mit missionarischem Eifer die Vaterlandsliebe predigen. Man merkt auch, daß der durchschnittliche Pole seine Beziehung zur Heimat offener als Vertreter anderer Nationen zeigt (vgl. 1983, S. 7). Der polnische Botschafter in Deutschland Janusz Reiter erklärt diese Tatsache folgendermaßen: „Für ganze Generationen von Polen war der Glanz der nationalen Vergangenheit eine Kompensation für die Demütigung der Gegenwart. Die Geschichte gab ihnen die ermutigende Gewißheit, zwar selten Erfolg, dafür aber moralisch recht gehabt zu haben. In keinem anderen Land der Welt blühte so die Kunst, politische oder militärische Niederlagen zu moralischen Siegen zu stilisieren.“ Bei seinen Überlegungen vergleicht er Deutsche mit Polen: „Während im Nachkriegsdeutschland jemand, der sich als deutscher Patriot ausweist, sich mißtraurischen Blicken aussetzt, gerät ein Pole in Rechtfertigungszwang, wenn er kein Patriot sein will“ (Reiter 1993, S. 384f ). <?page no="38"?> 38 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Die Patriotismen der beiden genannten Völker unterscheiden sich demzufolge stark, und Vergleiche werden immer schwierig sein. Da es aber menschlich ist, mit eigenen Maßstäben und Werteskalen die anderen, ‘die Fremden’ und ‘Unbekannten’ zu messen, scheinen interkulturelle Mißverständnisse bei ersten Kontakten zur anderen Nation unvermeidbar zu sein. Über den polnischen Patriotismus urteilte schon Heinrich Heine: „Die Vaterlandsliebe ist bei den Polen das große Gefühl, worin alle anderen Gefühle wie der Strom in das Weltmeer zusammenfließen; und dennoch trägt dieses Vaterland kein sonderlich reizendes Äußeres. Ein Franzose, der diese Liebe nicht begreifen konnte, betrachtete eine trübselige polnische Sumpfgegend, stampfte ein Stück aus dem Boden und sprach pfiffig und kopfschüttelnd: ‘Und das nennen die Kerle ein Vaterland! ’ Aber nicht aus dem Boden selbst, nur aus dem Kampfe um Selbständigkeit, aus historischen Erinnerungen und aus dem Unglück ist bei den Polen diese Vaterlandsliebe entsprossen. Sie flammt jetzt noch immer so glühend wie in den Tagen Kosciuszkos, vielleicht noch glühender. Fast bis zur Lächerlichkeit ehren jetzt die Polen alles, was vaterländisch ist. Wie ein Sterbender, der sich in krampfhafter Angst gegen den Tod sträubt, so empört und sträubt sich ihr Gemüt gegen die Idee der Vernichtung ihrer Nationalität.“ (Heine 1822, S. 80) Die Eigenschaft des sehr ausgeprägten polnischen Patriotismus ist sicherlich so stark wie die des Katholizismus, die ihren Niederschlag in der Gleichsetzung ‘Pole gleich Katholik’ findet (vgl. L. v. Zitzewitz 1992, S. 133). Gatter schreibt: „Daß die polnischen Arbeiter seit dem Sommer 1980 ihren politischen Kampf mit der Nationalhymne und mit Kirchenliedern führen, hat solche irrationalen Gründe wie den, daß ein guter Pole eben auch ein guter Katholik ist“ (Gatter 1983, S. 9). L. v. Zitzewitz spricht in bezug darauf vom Bündnis zwischen Nation und Kirche, das u.a. in den in Kirchen hängenden Spruchbändern mit Parolen wie „Für Gott, Ehre und Vaterland“ seinen Ausdruck findet. Die ungewöhnliche Stellung der Kirche in Polen ist jedoch eher den „bestimmten polithistorischen Konstellationen“ als der „speziell den Polen angeborenen Religiosität“ zu verdanken. Die Kirche gewann ihren besonders mächtigen Einfluß erst im 16. Jahrhundert, als die Geistlichkeit die Gelegenheit nutzte, die katholische Religion mit der Idee des Vaterlandes zu verbinden und die sog. „Polonisierung“ der Religion durchführte, infolge derer im 17. Jahrhundert die Gleichsetzung Pole gleich Katholik entstanden ist (vgl. L. v. Zitzewitz 1992, S. 133f). Da die polnische Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt eine Adelsrepublik war, in der über 400 Jahre lang der polnische Adel (szlachta) mit seiner Gleichheit aller adligen Polen untereinander und mit einem Wahlkönigtum, das es ausschließlich in Polen gab, herrschte, wandte sich die Kirche an den Adel, die einflußreichste Gruppe der polnischen Gesellschaft (vgl. Torbus 1993, S. 15). Zu diesem Zeitpunkt wurde es populär, sich demonstrativ zum Glauben zu bekennen, an den Prozessionen und Wallfahrten teilzunehmen. Heilige und besonders die Mutter Gottes Maria, die zur Königin Polens erhoben wurde, zu verehren (vgl. L. v. Zitzewitz 1993, S. 134). Das <?page no="39"?> Einleitung 39 Bündnis des Nationalen und Religiösen gipfelte im polnischen Messianismus. Nach dieser Vorstellung bekam die polnische Nation die „Mission der Erlösung der Menschheit“, die Rolle des „Messias von Völkern“ und des „Christus von Völkern“ zugeschrieben (vgl. Kijak 1981, S. 430 und vgl. L. v. Zitzewitz 1992, S. 135). Diese geschichts-ideologische Konzeption ist hauptsächlich in den Werken der polnischen Philosophen, Schriftsteller und Publizisten des 19. Jahrhunderts zu finden, in denen aufgezeigt wird, daß das Land Polen aus der Perspektive seiner Bürger zum Nabel der Welt geworden ist (vgl. Torbus 1993, S. 16). Da Polen 123 Jahre lang nicht auf der Landkarte existierte, mußten sich die Polen besonders um die Beibehaltung der polnischen Sprache, Traditionen, Sitten und Gebräuche kümmern. Die bisherigen religiösen Autoritäten konnten keine zufriedenstellenden Antworten auf gesellschaftspolitisch relevante Fragen hauptsächlich bezüglich der Teilungen Polens und ihrer weiteren Handhabung geben (vgl. Kijak 1981, S. 430). Aus dieser Zeit stammt die Idee des Messianismus, die ihren Ursprung im Chiliasmus (Millenarismus) von Joachim von Fiore hatte (vgl. Garewicz 1993, S. 152). Nach Joachim von Fiore soll nämlich die Weltgeschichte in der letzten gegenwärtigen Epoche in die Sukzession der armen und mystischen Kirche übergehen (Kürbis 1981, S. 146). Die messianistische Idee wurde hauptsächlich von den polnischen Emigranten in Paris als für die damalige Situation der Polen und Polens als geeignet empfunden und weiterentwickelt. Die Hauptvertreter dieser Konzeption waren Jözef Hoene-Wrohski, Andrzej Towianski und Adam Mickiewicz (vgl. Kijak 1981, S. 431). Es wurde verkündet: „Da die Polen die Knechtung ihres eigenen Vaterlandes zugelassen hatten, mußten sie ihre Schuld dadurch abbüßen, daß sie für die Freiheit anderer kämpften“ (Garewicz 1993, S. 154). Mit anderen Worten: Polen sei eine Christusgestalt unter den Nationen und müsse leiden, damit andere Völker die Freiheit erhalten könnten. Der polnische Messianismus wird also als ein spezifischer Glaube an den Erlöser verstanden, der die leidenden Menschen von dem Bösen erlösen und den Polen die ersehnte Freiheit bringen wird. Die unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklung brachte bei den Polen eine andere Wertehierarchie hervor als bei den Deutschen. Diese Tatsache ist anhand des unterschiedlichen historischen Werdegangs begreiflich zu machen. In Polen war die Adels- und Ritterkultur sehr stark ausgeprägt - 10% der Bevölkerung bildete im 18. und 19. Jahrhundert den polnischen Adel, so daß jeder zehnte Pole adlig war (vgl. Czubinski/ Topolski 1988, S. 109). Außerdem gab es in Polen Gebiete wie z.B. Masowien und Podlachien (das Gebiet von Brest bis Bialystok), in denen der Anteil des Adels über 20% betrug (vgl. Topolski 1994, S. 74). Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern besaß Polen im 18. Jahrhundert den höchsten prozentualen Anteil Adliger an der Gesamtbevölkerung; in Frankreich betrug dieser Anteil 1,5%, in England 1%, in Schweden 0,5% (vgl. Rostworowski 1977, S. 90). In derselben Zeit spielt das Bürgertum in Polen eher eine marginale Rolle (vgl. Torbus 1993, S. 15f). Die polnischen Städte besaßen einen halb-landwirtschaftlichen Charakter. Im Jahre <?page no="40"?> 40 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 1800 war Warschau die einzige polnische Stadt, deren Einwohnerzahl über 50.000 betrug, gleichzeitig gab es in England zehn, in Italien elf, in Frankreich acht und in Deutschland fünf solcher Städte (vgl. Rostworowski 1977, S. 29). In Polen bezeichnete sich der kleine und der mittlere Adel als „Schlachta“ in Anlehnung an das mittelhochdeutsche Wort slahta (Geschlecht) und forderte im Sinne des Prinzips „Nichts über uns ohne uns“ eine Beschränkung der Macht des reichen Adels. Diese Forderung wurde erstmals im Jahre 1353 umgesetzt, als eine „Konföderation“ der Adligen in Polen entstand (vgl. L. v. Zitzewitz 1992, S. 16, nach Topolski im Jahre 1352 - Maciek Borkowic). Mit der Zeit ist diese Freiheit der Adligen und das Phänomen der „Konföderation“ zum festen Bestandteil des politischen Lebens in Polen geworden, was bald aber auch viele Mängel und Schwächen hervorbrachte und eine der Ursachen für den Niedergang Polens im 18. Jahrhundert darstellt (vgl. ebd ). Zu der Zeit, als in Rußland und Preußen die Rolle der zentralen Macht steigt, führt das Verhalten der polnischen Adligen zur Entwicklung anarchistischer Verhältnisse (vgl. Topolski 1994, S. 515f ). Die Privilegien der Adligen in Polen beschneiden die Macht des Königs im 18. Jahrhundert entscheidend. Eines dieser Vorrechte war im 17. und 18. Jahrhundert charakteristisch für Polen, nämlich das ‘liberum veto’, das jeweils zur Auflösung des Sejms führte. ‘Liberum veto’ hieß nämlich der Protestausruf eines Abgeordneten im Sejm, der mit seinem „Ich erlaube es nicht“ oder „Ich protestiere“ gegen einen Beschluß des jeweiligen Sejms (ohne Begründungspflicht dieses Protests) alle Beschlüsse ungültig machte. Das erste Mal ‘liberum veto’ datiert aus dem Jahre 1652. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, während der Herrschaft von August II., wurden nur vier Sejms mit Beschlüssen beendet, während der Herrschaft Augusts III. nur einer. Auf die polnische Adelsrepublik und die in ihr lebenden Polen geht Johannes Bobrowski (1964) in seinem Roman „Levins Mühle“ ein und stellt das ‘Auftischen der Geschichte’ durch die Polen folgendermaßen dar: „Die Republik Polen war ein Königreich, in dem der ganze Adel etwas zu sagen hatte. Möglichst jeder dasselbe, wie die Konstitution von Radom das vorsah, und das geht ja nicht. Jeder etwas anderes, das wäre schon leichter gewesen, in Polen und früher. Und da jeder Pole von Adel und jeder mit einem seiner Königshäuser verwandtschaftlich verbunden ist und jede Familie eigentlich viel älter als diese Königshäuser, sind sie alle einander ebenbürtig, wie man das nennt“ (Bobrowski 1964, S. 27). Dieses Zitat karikiert die besondere Stellung und Art des polnischen Adels, der durch schwer zu erreichenden Konsens und individuelle Sturheit charakterisiert wird. In diesem Zusammenhang werden die Polen als eine schwer regierbare Nation, die sich nichts vorschreiben läßt und in der jeder seinen eigenen Willen durchsetzen will, dargestellt. Belegt wird dieses Benehmen durch viele polnische Redensarten, die in der Bevölkerung kursieren und die Individualität der Polen widerspiegeln. Auf die adelige Tradition greift die Formel „Der Edelmann ist auf seinem Grund und Boden <?page no="41"?> Einleitung 41 dem Wojewoden gleich“ {Pan na zagrodzie, röwny wojewodzie) zurück. Unabhängigkeit und Freiheitswillen der Polen erkennt man in solchen Sprüchen wie „In Polen handelt jeder, wie er will“ (W Polsce kazdy robi co chce) oder „Müssen muß man in Rußland, und in Polen wie man will“ {Musi to siq na Rusi, a w Polsce jak kto chce). Die in diesen Redensarten dargestellte Flaltung der Polen subsumierte der Sozialpsychologe Ireneusz Krzeminski so: „Wir haben alle die gleiche Angewohnheit sind ein paar Personen zusammen, muß einer der Führer sein, und die übrigen sollen ihm gehorchen. Es fällt uns schwer, uns eine Tätigkeit auf der Grundlage von Verhandlungen vorzustellen. Einer muß regieren - und dann beginnt die andere Hälfte der Mannschaft zu kombinieren, wie sie ihm ein Bein stellen kann. Dieses Spiel wird allmählich wichtiger als das, was wir eigentlich erreichen wollten.“ (Krzeminski nach L. v. Zitzewitz 1992, S. 95ff.) In Deutschland konstituierte sich das Bürgertum aufgrund seiner zu Polen gesehenen wirtschaftlich starken Position wesentlich durch die kulturelle Abgrenzung vom Adel. Es läßt sich vermuten, daß die heute in Deutschland zu beobachtenden bürgerlichen Tugenden wie Pünktlichkeit, Tüchtigkeit, Fleiß, Disziplin, Sparsamkeit auf dieses spezifisch konstituierte und vergleichsweise stark ausgeprägte Bürgertum zurückzufuhren sind (vgl. Torbus 1993, S. 16 auch Münch 1984, S. 10). In Polen hingegen lag die politische und kulturelle Führung in den Händen des Adels und es bildete sich kein starkes Bürgertum heraus. Möglicherweise ist das eine der Ursachen dafür, daß Polen unter einem Mangel an solchen bürgerlichen Tugenden leidet. Demnach meint Torbus, daß in Polen nicht die schwer arbeitenden Menschen bewundert werden, sondern vielmehr diejenigen, die durch Glück, Zufall oder einen genialen Einfall Erfolg haben (vgl. Torbus 1993, S. 16). In einem ähnlichen Licht sind die Eigenschaften ‘diszipliniert’ oder ‘gründlich’ zu sehen. Es reicht ein kurzes Überfliegen der polnischen Geschichte, um festzustellen, daß in Polen jahrhundertelang gerade das Gegenteil von ‘Disziplin’ und ‘Gründlichkeit’ gefördert wurde. Diese Merkmale gehen noch auf das Vorbild der Adelsrepublik zurück, die auf einem individualistischen Prinzip basierte (vgl. L. v. Zitzewitz 1992, S. 96). Die Abneigung gegenüber jeglicher staatlichen Macht spiegelt sich heute in vielen Redensarten wider, wie z.B. ‘Tun was und wie man will’, ‘Gesetze sind dazu da, um sie zu brechen’, ‘Leben und leben lassen’. Zitzewitz konkretisiert dies mit der Aussage, daß die Polen ein Volk mit „tief verwurzelten antistaatlichen Denktraditionen“ sind (L. v. Zitzewitz 1992, S. 96), die auf die Zeit der Teilungen Polens zurückgehen. Ein damaliges ‘diszipliniertes’ und ‘gründliches’ Verhalten fremden Mächten gegenüber hätte die Niederlage des „Polentums“ bedeutet. Im Gegensatz dazu werden die Deutschen schon im Jahre 1853 im satirischen Volkskalender „Kladderadatsch“ als besonders „gründlich“ charakterisiert: „in manchen theilen ist die spräche der deutschen nation sehr platt, in den meisten aber so tief und gruendlich, dass man sie oft nur mit grosser muehe versteht, diese tiefe und gruendlichkeit ist ueberhaupt ein bekannter zug im Charakter der deutschen nation, alles was sie <?page no="42"?> 42 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck thut ist g r u e n d 1 i c h: sie denkt graendlich, sie liebt gruendlich, sie aergert sich gruendlich, sie blamiert sich gruendlich, [...]“ (Kalisch 1853, S. 52f). Die Förderung der ‘Undiszipliniertheit’ und der ‘Oberflächlichkeit’ in der Zeit der Teilungen Polens zeigt bei der polnischen Bevölkerung heute noch ihre Auswirkung. Die Lesarten der beiden Eigenschaften sind jedoch auch entsprechend modifiziert worden, d.h. man neigt dazu, die erste als ‘Unbefangenheit gegenüber der Obrigkeit’ und die zweite als ‘Nicht-penibel-Sein’ und ‘Nichtstarrköpfig-Sein’ zu interpretieren. Hinzu kommt, daß bei den Polen das ‘Disziplinierte’ und das ‘Gründliche’ während des 2. Weltkrieges einen weiteren negativen Beigeschmack erhalten hat. Lempp skizziert das folgendermaßen: „Auch die deutschen KZ-Schergen in Auschwitz, die SS in Krakau oder sonstige berufenen oder unberufenen subalternen Exekutivorgane des deutschen Reichs im besetzten Polen waren sehr „diszipliniert“ und „gründlich“ bis zur Menschenverachtung“ (vgl. Lempp 1993a, S. 15fF., zum ‘Disziplinlosigkeits’- Stereotyp s. Kap. 5.4). Die Einordnung der jeweiligen Tugenden läßt sich also hauptsächlich auf die sozialen Strukturen der früheren Jahrhunderte in beiden Ländern zurückfuhren, wobei die dominante Rolle des Bürgertums in Deutschland und des Adels in Polen von besonderer Bedeutung ist. In diesem Sinne spricht Münch (1984, S. 33) über ‘Alltagstugenden’, denen nach bürgerlicher Logik grundsätzlich größere Bedeutung als den (altadligen) ‘Heldentugenden’ zukommt: ‘Es gehört weit mehr dazu, im Stillen etwas Gutes, alle Tage thun, als manchmal etwas Großes mit Geräusch.’ (Ewald 1803, nach Münch 1984, S. 341). Diese in Deutschland, nach Münch, propagierten bürgerlichen Tugenden, stoßen in Polen auf eine eher entgegengesetzte Haltung, die durch die oben beschriebene andere gesellschaftliche Entwicklung bedingt ist. Mit dem historischen Exkurs werden historische Motive und unterschiedliche Themen offengelegt, die für die nachfolgende Untersuchung wichtig erscheinen, und zu denen unter anderem das Verhältnis der beiden Völker zur Vergangenheit, ihre Kontakte zueinander oder die unterschiedliche Perzeption gleicher Eigenschaften und Verhaltensweisen gehören. Das Besondere am Verhältnis polnischer Autostereotype zu deutschen Heterostereotypen besteht vor allem in der Projektion deutscher Autostereotype auf Polen und der daraus folgenden Änderung ihrer Bewertung. So wird das polnische Autostereotyp des Patriotismus, d.h. ein positives Element des Selbstbildes, in Abhängigkeit von der jeweiligen historisch-politischen Situation in Deutschland tendenziell in Richtung auf das Heterostereotyp des polnischen Nationalismus umgedeutet und mit entsprechend negativer Wertung versehen. 1.5 Empirische Basis Ausgehend von den in Kap. 1.2 genannten Gegenstands- und Zielbestimmungen, d.h. Untersuchung der deutschen Presse unter dem Schwerpunkt der <?page no="43"?> Einleitung 43 sprachlichen Realisierung von Stereotypen über Polen, ihrer Rolle und ihres prädikativen Gehaltes wurde ein Korpus an Zeitungstexten als empirische Basis gewählt. Das Untersuchungsmaterial besteht aus Texten westdeutscher und ostdeutscher Printmedien, im einzelnen aus Texten von drei westdeutschen Zeitungen: Frankfurter Rundschau (FR); Süddeutsche Zeitung (SZ); Frankfurter Allgemeine. Zeitung für Deutschland (FAZ). Von ostdeutscher Seite wird die Zeitung Neues Deutschland (ND), vor der politischen Wende die größte Tageszeitung der DDR, zugleich das offizielle „Zentralorgan des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“, in die Untersuchung einbezogen. Die Zusammenstellung des Korpus für dieses Vorhaben resultiert aus dem Bestreben, relevante Belege für die sprachliche Realisierung von Stereotypen zu finden. Da es um eine synchrone Analyse der Zeitungstexte geht, war es angebracht, an ein Ereignis der neueren Geschichte Polens anzuknüpfen, das in der Presse der beiden deutschen Staaten möglichst umfangreich besprochen wurde. Die Auswahl der Zeitungstexte erfolgt nach definierten zeitlichen Kriterien und thematischen Sachfeldern, vor allem Politik und Wirtschaft. Es wird ein zeitlicher Querschnitt gesetzt: „Die Streiks in Polen im Sommer 1980“. Der untersuchte Zeitraum fängt am 1. Juli 1980 an und endet im September 1980 bei den jeweiligen Zeitungen mit Abweichungen, die jedoch nicht mehr als 7 Tage betragen. Das untersuchte Korpus enthält über 500 Zeitungstexte, wobei sich quantitative Unterschiede zwischen den jeweiligen Zeitungen ergeben. Nach der durchgeführten Analyse ergeben sich folgende Zahlen in bezug auf die Menge der analysierten Zeitungstexte: Frankfürter Allgemeine Zeitung (Zeitraum 01.07.1980-22.09.1980): 283 Artikel, 94 Artikel aus der Spalte „Stimmen der Anderen“; Süddeutsche Zeitung (Zeitraum 01.07.1980-12.09.1980): 92 Artikel; 10 Artikel aus der Spalte „Blick in die Presse“; Frankfürter Rundschau (Zeitraum 01.07.1980-15.09.1980): 266 Artikel. Neues Deutschland (Zeitraum 01.07.1980-29.09.1980): 68 Artikel. 1.6 Methodisches Herangehen Die Untersuchung verfolgt einen integrativen Ansatz, der die Erkenntnisse der Textanalyse und der Stereotypenforschung unter Einbeziehung sozialwissen- <?page no="44"?> 44 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck schaftlicher Forschungsergebnisse miteinander verbindet, wobei das Schwergewicht auf der Untersuchung des Sprachgebrauchs der Zeitungen liegt. Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist das kommunikative Dreieck Journalist beschriebene Welt - Rezipienten. In der Kommunikation treten Stereotype generell in mannigfaltigen Formen auf, was unter anderem von der Art des verwendeten Mediums, d.h. von Mündlichkeit oder Schriftlichkeit eines Textes abhängt. Da der Untersuchungsgegenstand Zeitungstexte sind, haben wir es mit einer Kommunikation zu tun, die im wesentlichen in eine Richtung, d.h. vom Produzenten zum Rezipienten verläuft. Grundlage der Untersuchung muß also der Text selbst bilden. Anhand seiner Analyse lassen sich gewisse Absichten des Autors aufdecken, und man erhält indirekt Hinweise darauf, welche Vorstellungen der Autor von seiner Leserschaft und deren Weitsicht hat. Die Art und Weise der Berichterstattung läßt daneben auch noch Rückschlüsse auf die politisch-ideologische Position des Autors zu. Stereotype sind kommunikative Phänomene, die man nicht losgelöst vom sozialen Umfeld analysieren kann. Ihre ideologische Basis wird von Faktoren geprägt, die den Teilhabern an diesem Umfeld mindestens teilweise bekannt sein müssen. Folgende Faktoren sorgen für eine gemeinsame Wissensbasis von Journalist und Leserschaft: a) Die nationale Zugehörigkeit läßt mit einiger Sicherheit darauf schließen, daß jedem, der zu einem bestimmten nationalen Umfeld gehört, gewisse Stereotype bekannt sind, und so erscheint z.B. ein Deutscher für einen Italiener zurückhaltender, für einen Finnen aufgeschlossener als sie selbst. Außerdem kann man feststellen, daß der nationale Kommunikationsrahmen bestimmend ist für die Kenntnis nationaler Stereotype, demnach kann man annehmen, daß die meisten Deutschen die abwertende Bedeutung der Redewendung polnische Wirtschaft kennen, was wiederum nicht von den Japanern behauptet werden kann. b) Aus dem politisch-ideologischen Profil der Zeitung, in der ein Text veröffentlicht wird, kann man grob auf die Grundeinstellung eines Textes schließen. c) Der Zeitpunkt der Textproduktion prägt die Art und Weise, wie Informationen vermittelt werden und die Einstellung der öffentlichen Meinung präsentiert wird. Als Beispiel sei hier die öffentliche Diskussion über Kernkraft angeführt, die sich schlagartig durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl veränderte. Die Art der Berichterstattung ist einerseits von der öffentlichen Meinung abhängig, andererseits wirkt sie bei der Konstitution der öffentlichen Meinung mit. Die Abhängigkeit von der öffentlichen Meinung wird nicht zuletzt durch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Presse verursacht. <?page no="45"?> Einleitung 45 Eine weitere Aufgabe dieser Arbeit ist deshalb die Beantwortung der Frage, wie Journalisten mit konkreten Stereotypen umgehen und welche Funktionen diese Stereotype in der Kommunikation mit den Lesern erfüllen. Dabei ist es wichtig, alle möglichen sprachlichen Ausdrucksmittel der analysierten Texte zu untersuchen, um festzustellen, welche von ihnen durch Stereotype beeinflußt sind. Zu einer reflektierten Herangehensweise gehört auch die Frage nach Vorwissen und Haltung der untersuchenden Person. Die Reflexion der Position des Untersuchungssubjektes ist notwendig, weil sein Wissensstand nicht dekkungsgleich mit dem der Journalisten und der anderen Rezipienten ist. Auch für die Person des oder der Analysierenden gilt, daß ihr Weltwissen Stereotype beinhaltet. Da in diesem Fall eine Analyse der deutschen Stereotype über Polen als Aufgabe gestellt ist, verfügt die Analysierende als Polin über eine andere Art des Verstehens, die es ihr ermöglicht, das Verhältnis zwischen der dargestellten Welt und dem Text zu prüfen und zu interpretieren. Auf ein methodisch kontrolliertes Vorgehen wird dabei Wert gelegt, damit die Ergebnisse der Analyse intersubjektiv überprüfbar und plausibel ausfallen. Die Analysierende gehört einerseits zur Gruppe der Zeitungslesenden, andererseits unterscheidet sie sich aber in folgenden wesentlichen Punkten von der Mehrzahl anderer Leser: - Sie ist für den kommunikativen Teilaspekt, die Stereotype, sensibilisiert. - Sie sucht gezielt nach Stereotypen, die Durchschnittsleser möglicherweise übersehen oder überlesen. - Sie hat durch den zeitlichen Abstand der Textanalyse von der Textproduktion gegenüber den anderen Lesern einen distanzierteren Blick auf die Gesamtsituation. - Sie verfolgt trotz kontrollierter Methodik letztlich eine aufklärerische Absicht (s. Kap. 7.5). - Als Polin gehört sie nicht zu dem primären Adressatenkreis der Zeitungen, die ja für deutsche Leser gemacht sind. Der Text wird deshalb nicht ‘frei’ interpretiert, insofern den oben genannten subjektiven Faktoren ausgeliefert, sondern anhand einer Reihe definierter linguistischer Beschreibungskriterien durchgearbeitet (s. Kap. 3.4). Dabei sollten sich Textsegmente herauskristallisieren, die den impliziten oder expliziten Ausdruck eines Stereotyps in besonderer Weise belegen. Unabhängig von ihrer Explizitheit oder Implizitheit kann man die behandelten Stereotype in der Form einer einfachen, expliziten Prädikation nach dem Muster „Die Polen sind p“ bzw. „Polen ist p“ formulieren (s. Kap. 5). <?page no="46"?> 46 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 1.6.1 Hermeneutik Die hermeneutische Interpretation beruht darauf, daß „die Interpretation des Ganzen und die des Details sich gegenseitig bedingen“ (Opp de Hipt 1987, S. 111), womit der sogenannte „hermeneutische Zirkel“ beschrieben ist, in dem „einerseits die Bedeutung des ganzen Kunstwerks aus der Bedeutung seiner Teile und andererseits deren Verständnis aus dem Sinngehalt des ganzen Kunstwerks“ folgt (ebd ). Auf Zeitungsartikel und Stereotype übertragen, bedeutet dies, daß sich die Bedeutung eines Textes und die Funktion eines Stereotyps wechselseitig bedingen. Bei der hermeneutischen Methode wird es nicht als Nachteil aufgefaßt, wenn der Interpret zunächst einen subjektiven Eindruck bezüglich des Sinngehaltes und der Deutung des Textes gewinnt und sich danach um die Objektivierung seiner Deutung, um neue Aspekte bemüht: Es ist durchaus möglich, daß dabei der erste subjektive Eindruck bestätigt wird. Dieser Ansatz ermöglicht auch ideologiekritische Betrachtungen, weil die Fragen der sozialen Orientierung bzw. Kontrolle mittels sprachlicher Stereotype eng mit manipulativem Sprachgebrauch und mit dem möglichen ideologischen Charakter von Sprache Zusammenhängen (vgl. Schröder 1982, S. 431). Ein Aufdecken von Implikationen, Mitgemeintem oder von Verschleierung liegt bei der Beschäftigung mit Stereotypen nahe. Ideologiekritik sei dabei mit den Worten von Habermas definiert: „Sprache ist auch ein Medium von Herrschaft und sozialer Macht. Sie dient der Legitimation von Beziehungen organisierter Gewalt. Soweit die Legitimation das Gewaltverhältnis, dessen Institutionalisierung sie ermöglichen, nicht aussprechen, soweit dieses in den Legitimationen sich nur ausdrückt, ist Sprache auch ideologisch Dabei handelt es sich nicht um Täuschungen in einer Sprache, sondern um Täuschung mit Sprache als solcher. Die hermeneutische Erfahrung, die auf eine solche Abhängigkeit des symbolischen Zusammenhangs von faktischen Verhältnissen stößt, geht in Ideologiekritik über.“ (Habermas 1971, S. 287, nach Schröder 1982, S. 431) 1.6.2 Linguistische Kommunikationsanalyse Die theoretische Grundlage der Untersuchung ist die linguistische Kommunikationsanalyse, wobei aber auch interdisziplinäre Verfahren im Bereich der Stereotypen- und Vorurteilsforschung, welche in Form eines Forschungsberichtes im zweiten Kapitel der Arbeit darzustellen sind, genutzt werden. Erst auf dieser Grundlage läßt sich der Begriff des Stereotyps, den man für die folgende empirische Untersuchung benötigt, fassen. Die linguistische Kommunikationsanalyse basiert auf einem pragmatischen Textmodell. <?page no="47"?> Einleitung 47 1.6.2.1 Pragmatisches Textmodell Zunächst soll der Begriff Text definiert werden. Diese Definition wird durch den Untersuchungsgegenstand Zeitungsartikel erforderlich. Ferner muß sie für die textlinguistischen Aspekte von Stereotypen offen sein. Dafür wurde ein pragmatisches Textmodell gewählt (vgl. Oberhäuser 1993, S. 137). Im Hinblick auf die in Kapitel drei vorgenommene empirische Analyse erscheint der Textbegriff der kommunikationsorientierten Textlinguistik als besser geeignet als etwa der der Textgrammatik. Die sprachsystematisch orientierte Linguistik untersucht den Text auf dieselbe Art, wie sie das auf der Ebene des Wortes oder des Satzes tut, d.h., sie versucht, die Textbildung rein grammatisch durch die Darstellung der syntaktisch-semantischen Beziehungen zwischen den Wörtern in aufeinanderfolgenden Sätzen zu beschreiben. Dementsprechend ist der Text „als eine kohärente Folge von Sätzen“ definiert (vgl. Brinker 1992, S. 14). In der pragmatischen Definition in Anlehnung an die Sprechakttheorie wird der Text nicht primär als grammatische Satzfolge betrachtet, sondern als komplexe sprachliche Handlung (vgl. Schmidt 1976, S. 149f). Von besonderer Relevanz ist dabei die Textualität als ein Strukturmerkmal sozio-kommunikativer Handlungen zwischen den Kommunikationspartnern. Schmidt versteht Text im sprachlichen Sinne wie Leont'ev: „Texte sind (...) soziokommunikativ fünktionierende, geäußerte Sprachzeichenmengen, also Textein-Funktion im Einbettungsrahmen kommunikativer Handlungsspiele. Als solche sind sie stets sprachlich und sozial bestimmt und definierbar, also keine rein sprachlichen Strukturen, die ausschließlich linguistisch definierbar wären“ (vgl. Schmidt 1976, S. 145). Eine auf dieser Definition beruhende Herangehensweise ermöglicht es, politische, soziale und historische Kommunikationszusammenhänge eines Zeitungsartikels zu erschließen und Gesichtspunkte zu ermitteln, die bestimmen, was an dem jeweiligen Artikel untersuchungsrelevant sein kann. Unsere Untersuchung wird also „den ‘Text’ im weiteren Sinne des Wortes definieren“, wobei der weitere Sinn als außersprachliche Aspekte umfassend verstanden wird, die zu den textuellen Aspekten im engeren, d.h. sprachlichen Sinn in Beziehung gesetzt werden. Daraus ergeben sich zwei Dimensionen der Textanalyse: - Wenn man den Text bzw. eine Textstelle nur anhand von grammatisch erfaßbaren Informationen beschreibt, handelt es sich um eine ko-textuelle Analyse. - Wenn man die „sekundären Strukturen“ in die Untersuchung miteinbezieht, indem man sich nicht fixierter, enzyklopädischer Informationen bedient, handelt es sich um eine kon-textuelle Analyse (vgl. Petöfi 1971, S. 223f). De Beaugrande und Dressier (vgl. de Beaugrande/ Dressler 1981, S. 3) verknüpfen ko-textuelle und kon-textuelle Aspekte miteinander und definieren <?page no="48"?> 48 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck ‘Text’ als „eine kommunikative Okkurrenz, die sieben Kriterien der Textualität erfüllt“. Wenn die Kriterien nicht erfüllt sind, ist der Text nichtkommunikativ. Im einzelnen sind dies: - Kohäsion - Kohärenz - Intentionalität - Akzeptabilität - Informativität - Situationalität grammatische Abhängigkeiten Konstellationen zwischen den Konzepten und Relationen Einstellung des Textproduzenten Einstellung des Textrezipienten Ausmaß der (Un)Erwartetheit oder (Un-) Bekanntheit der Textelemente Faktoren, die einen Text für die Situation relevant machen - Intertextualität — Faktoren, welche die Verwendung des Textes von der Kenntnis vorher aufgenommener Texte abhängig machen Die „kommunikationsorientierte Textlinguistik“ muß über das Sprachliche hinausgehen und den politisch-kulturellen Kommunikationsrahmen in die Untersuchung mit einbeziehen. Eine rein linguistische Analyse, welche die „Texte als isolierte, statische Objekte“ behandelt und nicht hinreichend berücksichtigt, daß Texte immer in eine Kommunikationssituation eingebettet sind, daß sie immer in einem konkreten Kommunikationsprozeß stehen, „in dem [. . .] Autor und Leser mit ihren sozialen und situativen Voraussetzungen und Beziehungen die wichtigsten Faktoren darstellen, macht den Text unvollständig“. Im Hinblick auf die sprechakttheoretische Perspektive ist der Text nicht mehr nur als eine „grammatisch verknüpfte Satzfolge“ aufzufassen, „sondern als (komplexe) sprachliche Handlung, mit der der Sprecher oder Schreiber eine bestimmte kommunikative Beziehung zum Hörer oder Leser herzustellen versucht“ (Brinker 1992, S. 14f ). Dies gilt um so mehr für Zeitungstexte, die prinzipiell in einer permanent dialogischen (wenngleich eindirektionalen) Kommunikationsbeziehung zu ihren Lesern stehen. Um die textuellen Realisierungen der Stereotype explizit darstellen zu können, werden auch die anderen Konstituenten des historischen, soziologischen und ideologischen Texthintergrunds in Betracht gezogen. Erst solche kontextuellen Analysen ermöglichen es, Stereotype in extenso zu beschreiben. Die syntaktischen und (wort)semantischen Analysen sind wichtig; sie dürfen aber nicht, ohne Berücksichtigung der Produktionsbedingungen des Textes, durchgeführt werden. Das kon-textuelle/ ko-textuelle (in der Terminologie von <?page no="49"?> Einleitung 49 Petöfi) und das kommunikationsorientierte Textmodell (in der Terminologie Brinkers) versprechen in der Empirie einen größeren Erfolg. Deshalb wurden sie für die Untersuchung ausgewählt. 1.6.2.2 Methoden der Textinterpretation Die Wahl eines Textmodells entscheidet weitgehend über die Wahl der konkreten Methoden der Textinterpretation. Zentrale Methoden der Textinterpretation, die insbesondere in der Presseforschung angewandt werden, sind: quantitative Inhaltsanalyse qualitative Inhaltsanalyse (vgl. Opp de Hipt 1987, S. 110) qualitativ-heuristische Methodologie. Die quantitative Inhaltsanalyse bereitet die Merkmale eines Textes statistisch auf, wobei ein Zusammenhang zwischen der Ausprägung eines Textmerkmals und „der Ausprägung einer anderen, eventuell außerhalb des Textes befindlichen und nicht direkt beobachtbaren, Variablen“ sichtbar werden kann. Damit werden Textmerkmale „als Indikatoren für andere Phänomene benutzt“, d.h. die relative Häufigkeit, mit der z.B. „ein Begriff in einem Text auftaucht, [läßt] auf die Bedeutung schließen, [die] dem durch den Begriff gekennzeichneten Phänomen [vom Autor des Textes zugemessen wird]“ (Opp de Hipt 1987, S. 113). Der quantitativen Inhaltsanalyse wirft man vor, daß sie Sinnzusammenhänge vernachlässige und „bei aller statistischer Genauigkeit häufig irrelevantes Material“ produziere (vgl. ebd., S. 115f ); sie wird deshalb hier nicht stark betont, obwohl der Umfang des Korpus dieser Untersuchung es durchaus gestattet, auch die Häufigkeit von Stereotyp-Belegen zu deuten. Die qualitative Inhaltsanalyse erfolgt durch zunächst auf Vorwissen und „Intuition“ gestützte Interpretationen und Bewertungen des analysierenden Subjekts. Sie besitzt wesentliche Gemeinsamkeiten mit der hermeneutischen Textinterpretation, was dazu fuhrt, daß manche Autoren „qualitativ“ mit „hermeneutisch“ gleichsetzen. Der Unterschied zur hermeneutischen Textinterpretation steckt im unterschiedlichen Verfahren, d.h. in der Anwendung eines Kategorienschemas. Bei der qualitativen Inhaltsanalyse wird ähnlich wie bei der quantitativen das untersuchte Material vom Forscher mit Hilfe eines Kategorienschemas reduziert, so daß nur diejenigen Textelemente, die für die Fragestellung relevant sind, analysiert werden (vgl. ebd., S. 116f ). Früh meint: „Möglich sind allerdings mehr oder weniger plausible Hypothesen, die statistischen Beweischarakter (probabilistische Aussagen) durch theoretisch begründete und/ oder empirisch abgesicherte Annahmen über den Kommunikator bzw. den Rezipienten erlangen. Möglich ist dies, weil die Konventionen, de- <?page no="50"?> 50 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck nen ein bestimmter Sprachgebrauch folgt, oftmals bekannt sind und mehrere inhaltsanalytisch gewonnene Anhaltspunkte aus dem Kontext eine Interpretation im Sinne dieser Sprachkonventionen nahelegen“ (Früh 1981, S. 45 nach Dohrendorf 1990, S. 7). Diese Methode erweist sich dann als sinnvoll, wenn große Textmengen mit Blick auf eine spezifische Fragestellung analysiert werden (vgl. Opp de Hipt 1987, S. 117). Für die linguistische Arbeit ist sie nicht besonders angemessen und aus diesem Grunde in dem vorliegenden Ansatz nur am Rande berücksichtigt. Eine andere Möglichkeit der Textanalyse ist die qualitativ-heuristische Methodologie (vgl. Kleining 1991, S. 246), die eine Alternative zum inhaltsanalytischen Verfahren darstellt (vgl. Zybatow 1993a, S. 61). Im Zusammenhang mit diesem Verfahren „erhält die Erforschung von Texten einen besonderen Akzent. Sie wird ‘offener’ für Unbekanntes, weil Annahmen über die Natur der Texte explizit nicht gemacht und die unreflektierten Vorannahmen des Forschers, die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten durch den Forschungsprozeß selbst abgebaut werden sollen“. Nach Kleining wird die qualitativ-heuristische Analyse mit Methoden der Beobachtung und des Experiments durchgefuhrt. „Textbeobachtung“ heißt, Fragen an den Text stellen und „Antworten“ notieren, wobei der Text selbst nicht verändert wird; das Experiment hingegen ist ein Eingriff in den Text, indem der Interpret ihn verändert, um seine Struktur zu erkennen (vgl. Kleining 1991, S. 246ff). Das Problem der ausdrucksseitigen Analyse von Stereotypen thematisiert Zybatow in seinem Ansatz über „Die Veränderung der Sprache und die Sprache der Veränderung“ (vgl. 1993a, S. 61). Er stellt fest, daß sich die Textlinguistik mit der Analyse von Stereotypen bisher kaum beschäftigt hat. Dabei beruft er sich u.a. auf Quasthoff (1973, S. 274), die in ihrem Beitrag gerade den „textlinguistischen Typ“ der semantischen Repräsentation von Stereotypen für den häufigsten hält und vorschlägt, bei ihrer Interpretation die transphrastischen Strukturen, d.h. die textuellen, einzubeziehen. Demnach als conclusio ist festzustellen, daß es bisher noch kein allgemein akzeptiertes Modell für die Analyse von Stereotypen gibt (vgl. Zybatow 1993a, S. 61). Zybatow hebt hervor, daß die Textlinguistik noch nicht imstande sei, eine Analyse anzubieten, „die die bei der Textproduktion und -rezeption real ablaufenden Prozesse nachvollziehen könnte“. Dabei könne anhand eines linguistischen Textmodells durchaus erörtert werden, welche unterschiedlichen „Kenntnissysteme sich in der mehrdimensionalen Struktur eines Textes manifestieren“ und welche Funktion sie erfüllen (vgl. ebd., S. 62). Die Textanalyse kann semiotisch oder interaktiv durchgeführt werden. Während Zybatow nur den semiotischen Aspekt erörtert, wird der Schwerpunkt unserer Analyse auf dem interaktiven Teil liegen. <?page no="51"?> Einleitung 51 1.6.2.3 Textlinguistische Terminologie Vorausgeschickt seien an dieser Stelle definitorische Erläuterungen des für die empirische Analyse unentbehrlichen Instrumentariums, zu dem neben dem Textbegriff (s. Kap. 1.6.2.1) die Termini Textsorte, Prädikation, Referenz, Diskurs, Appellfunktion, Textsegment/ Beleg, Proposition und Satz gehören. Eine Klassifizierung der journalistischen Textsorten bietet Lüger (vgl. 1983, S. 103), der „die vorläufige Einteilung in Textklassen [...] durch eine verfeinerte Differenzierung nach Textsorten [...] ergänzt.“ Die Textklassen werden jeweils über eine Textsortenfunktion gebildet: informationsbetonte Texte meinungsbetont-persuasive Texte instruierend-anweisende Texte bizentrierte Texte kontaktherstellende Texte (vgl. ebd., S.64fF). Unter jeder Textklasse fuhrt Lüger die Textsorten an, wobei für unsere Untersuchung nur die ersten zwei Klassen von Relevanz sind. Bedient man sich Lügers Terminologie, findet man im Korpus unter den informationsbetonten Texten: Nachricht, Meldung, Bericht und Reportage. In der meinungsbetontpersuasiven Textklasse ist der Kommentar die für diese Untersuchung relevante Textsorte. Auch Brinker ist der Meinung, daß man jeden Text einer bestimmten Textsorte zuordnen kann. Er gibt folgende Definition des linguistischen Terminus Textsorte an: „Textsorten sind konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche Handlungen und lassen sich als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situativen), kommunikativ-fünktionalen und strukturellen (grammatischen und thematischen) Merkmalen beschreiben. Sie haben sich in der Sprachgemeinschaft historisch entwickelt und gehören zum Alltagswissen der Sprachteilhaber; sie besitzen zwar eine normierende Wirkung, erleichtern aber zugleich den kommunikativen Umgang, indem sie den Kommunizierenden mehr oder weniger feste Orientierung für die Produktion und Rezeption von Texten geben“ (1992, S. 126, 132). Der Diskurs wird nach Steyer definiert als „ein Netz von Äußerungen/ Texten (. . .), die entweder über globale Themen miteinander verknüpft sind und zahlreiche Referenzbeziehungen untereinander aufweisen oder sich auf ein und dasselbe sprachliche Referenzobjekt beziehen. Der Diskurs wird also durch eine endliche Menge von Texten konstituiert, deren Elemente auf identische außersprachliche bzw. versprachlichte Sachverhalte referieren“ (1994, S. 36). <?page no="52"?> 52 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Eine satzsemantische Definition der Prädikation stammt von v. Polenz: „Nach Vorbild der Prädikatenlogik sagt man in der Satzsemantik: Über ein oder mehrere ‘Argumente’ x,y,z wird ein ‘Prädikat(or)’ P ausgesagt; x,y,z sind die „Argumentstellen“ von P, das zusammen mit ihnen die ‘PrädikationV*Aussage’ P(x,y,z) bildet.“ (1985, S. 101). Von einer expliziten Prädikation wird dann gesprochen, wenn alle Argumentstellen syntaktisch und lexikalisch realisiert sind. Das Organon-Modell von Bühler stellt die „Sprache als Werkzeug“ dar, das drei Funktionen zu erfüllen hat: als Symbol (Darstellungsfunktion der Sprache) als Symptom (Ausdrucksfunktion der Sprache) als Signal (Appellfunktion der Sprache). Besonders ergiebig für unsere Untersuchung ist die Appellfimktion. (Bühler 1982, S. 28 auch Althaus/ Henne/ Wiegand 1980, S. 157; v. Polenz 1985, S. 67). Der Ausdruck von Stereotypen ist generell darauf angelegt, daß die Leser die Stereotype und die mit ihnen verbundene Weltdeutung übernehmen. Oft genug geschieht das mittels schlagwortartiger Lexeme, die in dieser Arbeit als Signalwörter bezeichnet und hinsichtlich ihrer analytischen Aussagekraft erläutert werden (vgl. Kap. 5). Referenz ist derjenige Teil einer Prädikation wie: „Polen sind rebellisch“, auf den das Prädikat ‘sind rebellisch’ bezogen wird. In diesem Sinne ist Referenzteil der Teil einer Sprechhandlung, mit der festgelegt wird, auf wen oder was sich ein stereotypes Urteil bzw. eine stereotype Prädikation bezieht, (vgl v. Polenz 1985, S. 117; Althaus/ Henne/ Wiegand 1980, S. 246f). Die Äußerungsstruktur wird auf unterschiedlichen Ebenen repräsentiert: Ein Textsegment (Segment) als Gliederungseinheit der Textoberfläche im Sinne von Brinker, (vgl. 1992, S. 26) kann aus mehreren Sätzen (und Propositionen) bestehen, aber auch nur einen elliptischen Satz oder einen nichtsatzwertigen Ausdruck umfassen. In der praktischen Arbeit, d.h. bei der Beschreibung konkreter Stereotype, werden relevante Textsegmente als Belege für Stereotype bezeichnet. Eine Proposition als „semantische Struktureinheit“ ist der vom Satz ausgedrückte Sachverhalt, die Inhaltsseite des Satzes. Ein Satz als „syntaktische Struktureinheit“ von der Interpunktion in der geschriebenen Sprache ausgehend kann den Einheiten innerhalb des größeren Zusammenhangs eines Textes eine relative Selbständigkeit und Abgeschlossenheit geben (vgl. Brinker 1992, S. 22). <?page no="53"?> Interdisziplinärer Zugang zum Begriffdes Stereotyps 53 2. Interdisziplinärer Zugang zum Begriff des Stereotyps Bei einem Vorhaben im Bereich der Stereotypenforschung sind interdisziplinäre Züge unbedingt notwendig, weil Überschneidungen mit anderen Wissenschaften wie der Psychologie, der Soziologie, der Philosophie, der Geschichte, der Politik und der Kommunikationswissenschaft unvermeidlich sind. Aus diesem Grund wird auch die Diskussion der sozialpsychologischen Stereotypenforschung berücksichtigt und in dem Maße präsentiert, wie sie für unsere linguistische Fragestellung hilfreich ist. Zentrale Fragen in diesem Zusammenhang sind: - Was zeichnet Stereotype im Vergleich zum Vorurteil, zum Fremd- und Selbstbild, zum Image, zum Klischee und zur sozialen Topik aus? - Welche Stereotype kommen in den analysierten Texten vor? - Wie kann man Stereotype im Text erkennen und welche Methoden der Aufdeckung gibt es? - Welche sprachlichen Erscheinungsformen kommen vor? - Wann tauchen Stereotype auf und in welcher Funktion? 2.1 Definitorische Erläuterungen zum Begriffsfeld Stereotyp Das Lexem Stereotyp geht auf zwei griechische Wörter zurück: stereos - ‘starr, hart, fest’ und typos - ‘Form, Gestalt, Modell’ (vgl. Deutsches Fremdwörterbuch 1978, S. 448). Es wurde Anfang des 19. Jahrhunderts aus dem Französischen stereotype ins Deutsche entlehnt. Somit liegt also keine direkte Entlehnung aus dem Griechischen vor, wie Metin (1990, S. 35) annimmt, sondern eine Vermittlung des Französischen bei der Entlehnung. Nach den Angaben des „Etymologischen Wörterbuchs“ von Kluge (vgl. 1989, S. 700f.) ist der Begriff Stereotyp als eine Neubildung wohl aus den oben genannten griechischen Termini aufzufassen. Als Fachwort stammt das Lexem aus der Druckersprache, in der es die fest miteinander verbundenen Druckzeilen bezeichnet (vgl. Bußmann 1990, S. 735). Es wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts von dem französischen Buchdrucker Didot geprägt und stand als „Bezeichnung für die gegossene Form einer Druckplatte, mit der beliebig viele Abzüge gemacht werden können“ (vgl. Grzybek 1990, S. 300). Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird es auch in der übertragenen Bedeutung für „Gleichförmigkeit, Gleichartigkeit, <?page no="54"?> 54 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Wiederholung, vorgeprägtes Muster, Denken in starren, schematischen Formeln“ verwendet (Deutsches Fremdwörterbuch 1978, S. 448). Seit dem 19. Jahrhundert wird dieser Terminus außerdem zur Bezeichnung „pathologisch bedingter invarianter Ausdrucksfolgen verbaler oder motorischer Art“ verwendet, was Pavlov, der den Begriff des Stereotyps aus der Psychiatrie benutzte, in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts zum sogenannten ‘dynamischen Stereotyp’ entwickelte (vgl. Grzybek 1990, S. 302). In der Fachsprache der Psychologie und Psychiatrie bezeichnet es nämlich (krankhafte) dauernde Wiederholung immer derselben Handlungen, Bewegungen und Gedanken oder motorischen Abläufe über einen längeren Zeitraum hinweg (vgl. Deutsches Fremdwörterbuch 1978, S. 448). Im „Deutschen Wörterbuch“ von Paul (1992) wird es als „generalisierendes und vereinfachendes Urteil“ und „Klischee“ bestimmt. Außerdem wird ein Hinweis auf den Ansatz von Putnam gegeben, der Stereotype als „konventionelle (und möglicherweise unzutreffende) Ansichten von der Bedeutung lexikalischer Einheiten (z.B. Gold, Tiger)“ auffaßt (S. 849). Im „Deutschen Fremdwörterbuch“ (1978, S. 448) unterscheidet man zwischen ‘Autostereotyp’ - „Bild, das eine Menschengruppe von sich selbst hat“ - und ‘Heterostereotyp’ - „Bild, das eine Menschengruppe von einer anderen (fremden) Gruppe hat“. Die Sozialwissenschaften verwenden den Stereotyp-Begnff meistens im Sinne feststehender, stark verfestigter, sozusagen auf Abruf bereitstehender und durch Emotionen geprägter Urteile. Stereotype dienen auch als „Beurteilungshilfe“ so Bußmann (vgl. 1990, S. 735), die sich häufig gegen nationale, religiöse oder berufliche Gruppen richten. Indem sie unbekannte Sachverhalte vereinfachen, erfüllen sie eine Entlastungsfunktion bei der Wirklichkeitswahrnehmung. Für einen besseren Überblick über die Stereotypen- und Vorurteilsforschung ist es nötig, kurz einige andere Ansätze zu referieren. Begonnen wird mit Lippmann, der als ‘Vater’ des modernen Stereotypenbegriffs gilt. 2.2 Der Lippmannsche Stereotypenansatz Der Begriff Stereotyp ist von dem amerikanischen Journalisten Walter Lippmann im Jahre 1922 in seiner Arbeit „Public Opinion“ in die Wissenschaft eingefuhrt worden. In der besonders treffenden Übersetzung des Lippmannschen Stereotyp-Begriffs von Schaff heißt es: „Das ist das perfekte Stereotyp. Sein kennzeichnendes Merkmal besteht darin, daß es der Anwendung der Vernunft vorausgeht; es ist eine Form der Wahrnehmung, prägt den Mittei- <?page no="55"?> Interdisziplinärer Zugang zum Begriffdes Stereotyps 55 lungen unserer Sinne einen bestimmten Charakter auf, bevor diese Mitteilungen unsere Vernunft erreichen.“ (Lippmann nach Schaff 1980, S. 41) Lippmann charakterisiert das Stereotyp als ein besonders resistentes Phänomen: „Nichts verhält sich der Erziehung oder der Kritik gegenüber so unnachgiebig wie das Stereotyp. Es prägt sich dem Augenschein bereits nach der Feststellung des Augenscheines auf.“ (Lippmann 1990, S. 74). Stereotype verschaffen dem Menschen Denkmuster, mit denen vieles interpretiert wird: „Meistens schauen wir nicht zuerst und definieren dann, wir definieren erst und schauen dann. In dem großen blühenden, summenden Durcheinander der äußeren Welt wählen wir aus, was unsere Kultur bereits für uns definiert hat, und wir neigen dazu, nur das wahrzunehmen, was wir in der Gestalt ausgewählt haben, die unsere Kultur für uns stereotypisiert hat“ (ebd., S. 63). Um den Begriff der Stereotypie näher zu bestimmen, bedient sich Lippmann eines Bildes aus dem Bereich der Pressetechnik. Er stellt die Entstehung von Stereotypen anhand der Anfertigung von Druckplatten durch Abformung des aus einzelnen Lettern zusammengesetzten Schriftsatzes in Matrizen dar, die den Massendruck ohne erneuten Satz ermöglichen. In diesem Sinne wird eine ursprünglich veränderliche Struktur in eine unveränderliche überfuhrt, was eine geeignete Metapher auch für feste Vorstellungen über andere Völker ist. In seinem Werk „Public Opinion“ unterscheidet Lippmann zwischen der Außenwelt („World outside“) und den Bildern in unseren Köpfen („Pictures in our heads“) (1990, S. 28). Die „Bilder in unseren Köpfen oder in unseren Gedanken“ erscheinen nicht aufgrund persönlicher Erfahrungen, sondern werden im Sozialisationsprozeß als fertige Bilder erworben. Beim Phänomen der Stereotypisierung, über die der Mensch verfugt, unterscheidet Lippmann positive und negative Aspekte dieses Prozesses. Die negative Seite der Stereotypen beruht darauf, daß sie den Menschen zur Schablonenhaftigkeit veranlassen und auf diese Weise seine Umweltwahrnehmung reduzieren. Dabei kann es verkommen, daß sich im Extremfall jemand bei seiner Weltwahrnehmung nur einer Hand voll typisierter Schablonen bedient. Andererseits spricht Lippmann von zwei positiven Stereotypenfunktionen, zu denen die denkökonomische und die verteidigende („stereotypes as defence“) gehören (ebd., S. 71). Die denkökonomische Funktion des Stereotyps ergibt sich aus dem Verlangen des Menschen nach Vereinfachung und Simplifizierung. Generalisierungen sind nämlich in einem gewissen Grade unvermeidbar, damit der Mensch handlungsfähig ist (vgl. Wenzel 1978, S. 20). Diese Stereotype üben verteidigende Funktionen aus, die uns vor der überwältigenden Komplexität unserer Umwelt schützen. „Die Stereotypensysteme sind vielleicht Kern unserer persönlichen Überlieferung und die Verteidigungswaffen unserer gesellschaftlichen Stellung. Sie sind ein geordnetes, mehr oder minder beständiges Weltbild, dem sich unsere Gewohnheiten, unser Geschmack, unsere Fähigkeiten, unser Trost und unsere Hoffnungen angepaßt haben. Sie bieten vielleicht kein vollständi- <?page no="56"?> 56 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck ges Weltbild, aber sie sind das Bild einer möglichen Welt, auf das wir uns eingestellt haben“ (Lippmann 1990, S. 71). Dabei ist zu berücksichtigen, daß in der Verteidigungsfunktion des Stereotyps nach Lippmann sehr deutlich der Aspekt der Orientierung zum Vorschein kommt. Stereotype zeigen beispielsweise, woran sich der Einzelne orientieren kann, um seine Position in der Gesellschaft zu bestimmen. Sie können sowohl der Umwelt als auch dem Einzelnen in dieser Umwelt ihren Stempel aufdrücken. Als Problem sieht Lippmann den Umgang mit den Stereotypen an. Da die Menschen keine Gelegenheit haben, sich eingehend mit den Details aus anderen Teilen der Welt auseinanderzusetzen, entstehen in ihren Köpfen verkürzte, vereinfachte und reduzierte Bilder von Menschen und vom Leben in anderen Kulturen. Dieser Prozeß ist unvermeidlich, und deshalb sollte man besonderen Wert auf einen vernünftigen Umgang mit Stereotypen legen und keine Manipulation mit ihrer Hilfe zulassen. Des weiteren erläutert Lippmann: „Ein Stereotypenmodell ist nicht neutral. Es ist nicht nur eine Methode, der großen blühenden, summenden Unordnung der Wirklichkeit eine Ordnung unterzuschieben. Es ist nicht nur ein Kurzschluß. Es ist dies alles und noch etwas mehr. Es ist die Garantie unserer Selbstachtung; es ist die Projektion unseres eigenen Wertbewußtseins, unserer eigenen Stellung und unserer eigenen Rechte auf die Welt“ (ebd., S. 72). Resümierend läßt sich deshalb sagen, daß Lippmann Stereotype als Konzepte versteht, mit denen der Mensch die Welt erkennt und interpretiert. Diese Konzepte beinhalten das für die Menschen in verschiedenen Lebensbereichen wichtige Wissen, zu denen ihre Meinungen, Überzeugungen u.a. gehören. Nach Lippmann steht also der Begriff des Stereotyps in engem Zusammenhang mit dem Begriff des Alltagswissens (vgl. Wenzel 1978, S. 21). 2.3 Stereotyp als linguistische Kategorie Stereotype sind Phänomene, die in der linguistischen Diskussion unter zwei Gesichtspunkten aufgefaßt werden, sowohl als Kategorien der Pragmatik als auch als Kategorien der Merkmalsemantik. Zybatow (vgl. 1993a, S. 19) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei linguistische Größen, und zwar die des ‘Textes’ und die des ‘Wortes’. Da die genannte Spezifizierung ihren Niederschlag in den jeweiligen Ansätzen findet, ist es für unsere Arbeit von Relevanz, beide Aspekte bei der Auseinandersetzung mit dem ‘Stereotyp’ darzustellen und eine Übersicht über die bisherige Stereotypen- und Vorurteilsforschung zu geben. Einen linguistischen Beitrag zu einer Klassifizierung von Stereotypen leistet Elisabeth Gülich. In ihrer Taxonomie beziehen sich „Sprach-Stereotype“ auf <?page no="57"?> Interdisziplinärer Zugang zum Begriffdes Stereotyps 57 vorgeprägte Sprachformeln, und „Denk-Stereotype“ auf vorgeprägte Denkschemata, z.B. „Vorurteile gegen berufstätige Frauen“. Im einzelnen unterscheidet Gülich folgende Stereotype (1978, S. 2f): Abb. 1 Sie nimmt an, daß Sprach- und Denk-Stereotype zwei unterschiedliche Kategorien bilden. Ihre Gemeinsamkeit wird im Terminus „Stereotyp“ gefaßt, der sich auf das Schablonenhafte, Wiederholende, Vorgeprägte, sozusagen auf das „Auf-Abruf-Stehende“ bezieht. Gülich stellt ausführlich nur die erstgenannte Gruppe der Stereotype, d.h. die Sprach-Stereotype dar, wobei sie bei den Denk-Stereotypen keine Spezifizierung vomimmt. Bei den „Sprach-Stereotypen“ unterscheidet sie Stereotype, die an bestimmte Typen von Kommunikationssituationen gebunden sind (pragmatische Idiome), z.B. Guten Appetit, und andere, die nicht an bestimmte Typen von Kommunikationssituationen gebunden sind. Zu dieser Gruppe zählt sie vorgeformte Syntagmen, z.B. die Flinte ins Korn werfen, und vorgeformte Sätze, unter die zwei Gruppen subsumiert werden: metaphorische (Sprichwort) - Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein - und nichtmetaphorische (Gemeinplatz) - Von nichts kommt nichts. Zur Gruppe der Sprach-Stereotype gehören nach Gülich also phraseologische Einheiten im weitesten Sinne, mit denen sich Stilistik und Phraseologieforschung beschäftigen. <?page no="58"?> 58 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Die Denk-Stereotype werden von Gülich nur erwähnt und nicht detailliert besprochen. Man kann sogar wie Zybatow in diesem Zusammenhang meint von einem „weißen Fleck“, den die Denk-Stereotype im Vergleich zu den Sprach-Stereotypen darstellen, sprechen (vgl. 1993a, S. 22). Für die Behandlung der kommunikativ-psychologischen Probleme im Verhältnis zwischen Deutschen und Polen sind aber gerade die Denk-Stereotype von besonderer Relevanz. Die Klassifizierung der Stereotype von Gülich fuhrt Zybatow unter besonderer Hervorhebung der Denk-Stereotype fort. Er erweitert zwar die Gruppe der Sprach-Stereotype durch das Einbeziehen von Routineformeln und Floskeln im Sinne wiederholt gebrauchter Wortverbindungen in bestimmten Textsorten, seinen empirischen Teil widmet er aber den bisher nicht näher erforschten Denk-Stereotypen. Zur Relation zwischen den Sprach- und den Denk- Stereotypen meint Zybatow, daß Sprach-Stereotype durchaus Denk-Stereotype prägen können (1993a, S. 22). Hierfür nennt er als Beispiel, die in der Sowjetunion verbreitete Textsorte mit der Bezeichnung „Charakteristik aus der Arbeitsstadt“. Zu ihren festen Sprachformeln gehörten u.a. „politisch ausgebildet“ und „gutherzig und mitfühlend“. Als Folge wurden diese Formeln zu Konstituenten des mentalen Autostereotyps des „sowjetischen Menschen“. Zybatow macht Denk-Stereotype zum Hauptthema seiner empirischen Arbeit und schlägt eine Klassifikation vor. Seiner Taxonomie liegen zwei Aspekte zugrunde, die auf folgenden Phänomenen beruhen: 1) Die Beziehung des Denk-Stereotyps zum Sprachsystem, im Sinne seiner Beziehung zur sprachlichen Bedeutung, die im Rahmen der kognitiven Linguistik zu erforschen ist. 2) Die Beziehung des Denk-Stereotyps zur Sprachverwendung, im Sinne seiner Verwendung im Text, deren Untersuchung Textlinguistik und Pragmatik ermöglichen (vgl. Zybatow 1991, S. 23). Zybatow unterscheidet dabei zwei Gruppen von „Denk-Stereotypen“: a) Stereotype, die „wortbezogen“ sind und als soziokulturelle Wissensbestände zur Interpretation lexikalischer Bedeutungen fungieren. b) Stereotype, die „textbezogen“ sind und die als Wissensbestände zur Interpretation von Texten fungieren, wie explizit ausgedrückte, implizit ausgedrückte und unausgedrückte Stereotype. Die „unausgedrückten“ sind bei ihm Stereotype, „die als konventioneller Maßstab des Lesers bei der Bewertung des vom Autor geschilderten Erlebnisses herangezogen werden können“ [Hervorhebung J.D.] (Zybatow 1993 a, <?page no="59"?> Interdisziplinärer Zugang zum Begriffdes Stereotyps 59 S. 100), d.h. Zybatow erkennt hier die Existenz von Stereotypen an, die nicht auf die Intention des jeweiligen Autors zurückgefiihrt werden können, sondern die rezeptionsseitig, d.h. vom Leser vor dem Hintergrund des jeweils aktualisierten Weltwissens in den Text „hineingelesen“ werden können. Aus dieser Unterscheidung Zybatows wird in der vorliegenden Arbeit die Schlußfolgerung gezogen, mögliche leserseitige Realisierungen von Stereotypen im Blick zu behalten. Aus empirischen Gründen (keine Leserbeffagungen, bzw. keine Rezeptionstests) werden sie hier aber nicht explizit in die Fragestellung einbezogen. Der Gegenstand unserer Untersuchung bedingt eine vorrangige Beschäftigung mit den „textbezogenen Stereotypen“. Sie fungieren als soziokulturelles Wissen bei der Textproduktion und -interpretation und bilden ein gewisses Norm- und Wertsystem der Sprach- und Kulturgemeinschaft (vgl. Zybatow 1993a, S. 58). Die textbezogenen Stereotype als Denkschemata, die mental fest geprägt sind, treten jedoch meist nicht explizit auf, sondern werden hauptsächlich implizit angedeutet. Wir verstehen unter Stereotypen im weiteren Sinne des Wortes nur solche typisierten Wahrnehmungen, „die als ‘Urteile’ oder ‘soziales Regelwissen’ als Bestandteil[e] des Alltagswissens der Allgemeinheit oder von Gruppen in der Gesellschaft [so fest] geworden sind, daß sie durch Erfahrung nicht mehr veränderbar sind, sondern vielmehr selbst (obwohl ursprünglich Produkt von Erfahrung) Erfahrung strukturieren, ja determinieren können“ (Schröder 1987, S. 670). Sie sind Phänomene, die nicht erst im Text hergestellt werden, sondern auf die im Text selbst nur Bezug genommen wird. Als solche existieren sie in Form festgefahrener Urteile, die im Text möglicherweise explizit oder auch was häufiger vorkommt implizit realisiert werden. Die Interpretation der implizit ausgedrückten Stereotype kann sich jedoch nicht nur auf die Satzebene beschränken, weil ihre Identifizierung das Einbeziehen von anderen Textindikatoren bzw. von Hintergrundwissen erforderlich macht. Quasthoff meint hierzu: „Die interessantesten [Stereotype, J.D.] sind die unausgesprochenen. Sie kommen mit großer Wahrscheinlichkeit am häufigsten vor, und die verschiedenen Arten der Implizitheit zu untersuchen, in der stereotype Urteile dennoch kommuniziert werden, dürfte nicht nur der Analyse des Stereotyps, sondern zugleich der Frage nach der Art kommunikativer Strukturen lohnenden Aufschluß geben. Es ist zu vermuten, daß diese Stereotype (...) gegenüber den offen ausgesprochenen einen hervorragenden Platz in der Massenkommunikation haben, wo offen vorurteilsvolle Äußerungen z.T. einen Normenverstoß darstellen.“ (1973, S. 274). Sie setzt also unausgesprochen mit implizit gleich. Im Zusammenhang mit der Implizitheit hängt der Stereotyp-Begriff mit dem der Präsupposition zusammen. Er bezieht sich, ähnlich wie die Präsupposition, auf „bestimmte ‘selbstverständliche Voraussetzungen’..., die ein Sprecher mit <?page no="60"?> 60 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck einer Äußerung macht: sie werden nicht ausdrücklich behauptet, vielmehr als Annahmen über den vorausgesetzten Hintergrund der Kommunikation mit in die Äußerung eingebracht und müssen vom Hörer als solche erschließbar sein. Die Präsuppositionen sind ein Teil der Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Äußerung in einem gegebenen Kontext angemessen sein kann“ (Teichmann 1985, S. 8). Schröder stellt hierzu fest: „Nicht selten bleibt die stereotype Denkfigur völlig implizit, und es sind häufig die latent vorhandenen stereotypen Urteile, die sich als interaktiv besonders wirkungsvoll erweisen. In solchen Fällen bedarf es eines besonders großen Interpretations- und Explizierungsaufwands, wenn gezeigt werden soll, daß ein Beteiligter sich jeweils genau dieses sozial verbreiteten Urteils, dieser gängigen Meinung oder dieses allgemeinen Regelwissens bedient, um suggestiv eine bestimmte Einstellung gegenüber einer Person, eine bestimmte Sichtweise eines Falls etc. nahezulegen“ (Schröder 1987, S. 679). Die vorliegende Arbeit konzentriert sich hauptsächlich auf die Besprechung der textbezogenen Stereotype. Relevant für diese Untersuchung kann jedoch auch eine Gruppe der „wortbezogenen“ Stereotype sein, die in Zybatows Terminologie „Assoziationsstereotype“ genannt werden. Assoziationsstereotype seien mit den Worten von Zybatow (1993a) definiert: „[Assoziationsstereotype] sind in Form von Prädikationen ausdrückbare Erwartungshaltungen, die in einer Gesellschaft gegenüber den Kategorienmitgliedern (=X) Geltung haben, jedoch ihre semantische Bedeutung nicht festlegen, sondern mit dieser assoziativ verbunden sind. Sie können sich verbinden mit Ausdrücken zur Bezeichnung von Verwandschaftsbeziehungen, von Angehörigen sozialer (nationaler, ethnischer, religiöser, Alters-, Geschlechter- und Berufs-)Gruppen, deren Bedeutung sich mit semantischen (=analytischen) Merkmalen voll spezifizieren läßt. Analoges gilt auch für Assoziationen mit Namen von Institutionen, geographischen oder politischen Einheiten. D.h., bei diesen Wörtern haben wir es mit dem soziolinguistischen oder paradigmatischen Phänomen zu tun, daß allein das Nennen eines Namens das entsprechende Vorurteil hervorrufen kann“ (S. 54). Zybatow illustriert diese Definition an einem Beispiel, das hinsichtlich seines Inhalts für diese Untersuchung von Relevanz ist. (vgl. S. 33). Es handelt sich um das Fragment aus dem Roman von Wolfgang Koeppen „Tod in Rom“, in dem die Formulierung Pole blieb Pole als Beispiel für ein Assoziationsstereotyp verwendet wird: ... die Schlachtfelder waren zu besichtigen und waren diesen Menschen kein Grauen, und einer würde suchen und finden und rufen „hier stand unsere Batterie, hier spuckten wir runter, hier hatten wir uns festgekrallt, hier hielten wir stand, und dann würde sich’s zeigen, was für ein feiner Kerl er war, mit Achtung, denn er bewunderte sich als fairen Krieger, als tötenden Sportsmann sozusagen, würde er von Tommy sprechen und vom Ami und vielleicht sogar von den polnischen Legionären der Anders-Armee, aber das war nicht sicher, denn „Pole blieb Pole“, und auf dem Soldatenfriedhof würde man mit allseitig hehrem Gefühl sich selber und die Toten ehren. Die Toten lachten nicht, sie waren tot. (Koeppen 1972, S. 402f.) <?page no="61"?> Interdisziplinärer Zugang zum Begriffdes Stereotyps 61 Interessanterweise fuhrt Zybatow ein Textsegment als Beispiel für ein „wortbezogenes Assoziationsstereotyp“ an, woran sich zeigt, daß Wörter grundsätzlich nur im Textkontext eine Stereotypfunktion erfüllen können. Allenfalls kann man bestimmten Wörtern bei der Realisierung eines Stereotyps eine herausragende oder signalhafte Rolle zuschreiben, die den Leser darauf aufmerksam machen, daß mit der gesamten Textstelle ein Stereotyp verbunden ist. Im angeführten Textsegment von Koeppen läßt sich das Fehlen der besonderen Achtung den Polen gegenüber anhand der Verwendung der Abtönungspartikel vielleicht, der Gradpartikel sogar sowie durch die im Satz aber das war nicht sicher ausgedrückte epistemische Modalität feststellen. 2.3.1 Sprachpragmatische Ansätze Eine der ersten sprachwissenschaftlichen Analysen von Vorurteilen und Stereotypen stammt von Quasthoff (1973). Ein Stereotyp ist nach ihrer Auffassung eine sprachliche Realisierung von Vorurteilen. Ihre Definition lautet: „Ein Stereotyp ist der verbale Ausdruck einer auf soziale Gruppen oder einzelne Personen als deren Mitglieder gerichteten Überzeugung. Es hat die logische Form eines Urteils, das in ungerechtfertigt vereinfachender und generalisierender Weise, mit emotional wertender Tendenz, einer Klasse von Personen bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen zu- oder abspricht. Linguistisch ist es als Satz beschreibbar“ (S. 28). In den einzelnen Analysen (vgl. Gruber 1991, S. 14) erweist sich jedoch, daß diese Beschränkung auf die Satzebene manche Vorurteilstypen nicht ausreichend erfaßt. Quasthoff unterscheidet vier Typen in der Klassifikation von Stereotypen, wobei nur drei von ihnen auf der Satzebene beschrieben werden können. Zu diesen vier Typen gehören: 1) Erster Typ die einfache Prädikation, die eine ‘Grundform’ (vgl. Quasthoff 1973, S. 240 und Wenzel 1978, S. 60), also die allgemeinste Form des Stereotyps darstellt. Beispiele sind: Der Deutsche istfleißig. (Quasthoff ebd.) Alte Menschen sind geizig. (Schröder 1987, S. 671) 2) Zum zweiten Typ der Stereotypen gehören Prädikationen, „deren Verbindlichkeit durch bestimmte Signale in der Oberflächenstruktur des Satzes eingeschränkt ist“ (Quasthoff 1973, S. 248). Als diese Merkmale können z.B. Sätze im Konjunktiv, rhetorische Fragen etc. auftreten. In den Formulierungen dieses Typs entzieht sich der Sprecher vorgeblich der Notwendigkeit, seine Meinung zu äußern. Zu diesem Zwecke verwendet er beispielsweise an der Stelle des Verbs „sein“ das Verb „gelten“: Der niedersächsische Mensch gilt als wortkarg. (Quasthoff ebd.; Gruber 1991, S. 14) <?page no="62"?> 62 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Ein weiteres Beispiel findet man bei Wenzel: Meine Schwester sagt, die Italiener klauen wie die Raben. (1978, S. 61) In diesem Fall wird mit Hilfe des Modusoperators ‘sagen’ ein übergeordnetes Prädikat in die Äußerung eingefuhrt (vgl. ebd., S. 14). Die stereotype Aussage erhält damit Zitatform. 3) Zum dritten Typ gehören Sätze, in denen der Sprecher Stereotype als eigene Meinung, als Eindruck und ähnliches rahmt, z.B.: Ich habe den Eindruck, daß die Amerikaner unserer Geistigkeit nicht entfernt gewachsen sind. (Quasthoff 1973, S. 253 und Gruber 1991, S. 14) Ich meine, die Jugend soll skeptisch sein. (Wenzel 1978, S. 62) 4) Den vierten Typ nennt Quasthoff den „textlinguistischen Typ“. Zu dieser Gruppe gehören meist implizite Stereotype, die vom Hörer oder Leser selbst herausgefunden werden müssen. Als Beispiel kann hier der folgende Satz dienen: Er ist Jude, aber er ist nett. (Quasthoff 1973, S. 254) Dieser Satz läßt sich nur dann zutreffend interpretieren, wenn man die Konjunktion aber in Betracht zieht. Dann kann man die stereotype Äußerung „Normalerweise sind Juden nicht nett“ erschließen. Diese Interpretation entzieht sich jedoch einer nur auf die Satzebene beschränkten Analyse. Weitere interessante Aufsätze bezüglich des linguistischen Begriffs ‘Stereotyp’ von Quasthoff stammen aus den Jahren 1978, 1987 und 1989. Sie vertritt in ihren ersten Beiträgen die Meinung, daß die Vorurteile als Propositionen zum Vorschein kommen, also in Form eines Satzes darstellbar sind. In ihrem Aufsatz aus dem Jahre 1978 ergänzt Quasthoff ihre linguistische Definition des ‘Stereotyp’-Begriffs vom Jahre 1973 folgendermaßen: „This belief is characterized by a high degree of collective sharedness among a speech community or subgroup of a speech community“ (S. 6). Stereotype sind nach Quasthoff Ausdrücke eines kollektiven Stands des allgemeinen Wissens. Sie stehen im engen Zusammenhang mit anderen Termini des allgemeinen Wissens wie Klischees, Parolen, Sprichwörter, „laws in use“ etc. Auf die Unterscheidung zwischen den genannten Begriffen geht Quasthoff ausführlicher ein und hebt hervor, daß noch vor kurzem auch das Stereotyp Objekt der Sozialpsychologie war und erst seit kurzem als linguistisches Objekt angesehen wird. Einen Grund dafür liefert zweifellos die wichtige Rolle des Stereotyps bei den Argumentationsmustern, womit es die Aufmerksamkeit der Linguistik auf sich <?page no="63"?> Interdisziplinärer Zugang zum Begriffdes Stereotyps 63 zieht. Als linguistische Einheit wird das Stereotyp als ein bestimmter Teil der Formulierung betrachtet, in der Sozialpsychologie hingegen als Überzeugung einer Person von einer Sache. Dies rührt daher, daß sich die früheren Interessen geändert haben, d.h., daß anstelle der ursprünglichen strukturellen Beschreibungen von Form und Bedeutung kleiner abstrakter Einheiten (Wörter, Sätze) neuere Analysen zu den funktionalen Aspekten und ihren Interdependenzen zwischen kleineren und größeren Einheiten (Diskurs, Konversation) fuhren und dabei ihren eigentlichen Gebrauch erklären. Der Terminus ‘Stereotyp’ ist für Quasthoff interdisziplinär, weil er in mehreren Disziplinen Anwendung findet. Sie versteht unter den Stereotypen generalisierende, bewertende Urteile, die man oft mißbilligt und nicht duldet, aber die man doch immer wieder findet und selbst verwendet (vgl. 1978, S. 2). Eine linguistische Analyse bedarf der Erklärung ihrer besonderen Funktion bei den Argumentationsmustern. Je mehr die Sprachwissenschaft die argumentative Rolle des Stereotyps zu beschreiben versucht, desto mehr entfernt sie sich vom soziopsychologischen Konzept des Stereotyps. In der linguistischen Forschung besteht nach Quasthoff die Gefahr, daß eine Reduktion der Argumentationsvorstellungen auf semantisch-logische Konzepte erfolgt. Als weitere Gefahr der linguistischen Forschung nennt Quasthoff das Feld der gegenwärtigen Praktik in der pragmatischen Forschung. Sie bezieht sich auf den Einsatz der eigenen Intuition bei dem Versuch der Beschreibung eines gewissen linguistischen Verhaltens. Ein methodologischer Fehler dieser Art der Forschung beruht darauf, daß sie erstens die systematischen Unterschiede zwischen der Art, wie sich jemand verhält, und der Art, wie jemand denkt, daß er sich verhält, ignoriert. Zweitens identifiziert sie implizit die eigene Art der Kommunikation (z.B. akademisch gebildeter Leute) mit dem verbalen Verhalten der ganzen Sprachgemeinschaft. Interessant sind diejenigen Definitionen des Stereotyps, die Quasthoff entweder als sozialpsychologisches oder als semantisches Konzept darstellt. Das Wort ‘Stereotyp’ kann nämlich nach Quasthoff mindestens in zweierlei Hinsicht verwendet werden: als ein technischer Begriff, der seinen Ursprung in der Sozialpsychologie hat und sich auf eine gewisse Art von Vorurteil bezieht, oder in der alltäglichen Sprache, als Bezeichnung sich ständig wiederholender verbaler Klischees. Quasthoff betont, daß die Linguistik sich entscheiden muß, welche der Bedeutungskomponenten sie sich aus dem technischen Begriff des Stereotyps aneignen will. Nach Quasthoff scheint die Linguistik die zweite Alternative zu bevorzugen. Sie plädiert jedoch dafür, daß die Verbindung zur Sozialpsychologie nicht ganz unterbrochen werden sollte, da die beiden Bedeutungen sich nicht ausschließen. 1989 modifiziert Quasthoff ihre Definition des Stereotyps, die sich ursprünglich nur auf Propositionen bezieht. Die linguistische Auffassung des Stereotyps erweitert sie jetzt auf andere verbale Formen der Stereotype, die mit dem <?page no="64"?> 64 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Text eng verbunden sind. Quasthoff weist des weiteren auf Ergebnisse verschiedener semantischer Analysen hin, welche unterschiedliche Diskurstypen veranschaulichen. Diese ergeben, daß Stereotype typischerweise häufiger implizit als explizit zum Vorschein kommen. Dabei betont sie auch, daß Stereotype Elemente des Weltwissens der jeweiligen Kultur sind, was in deren Definition berücksichtigt werden müßte. Einen anderen Ansatz, der aber wie der von Quasthoff sprachpragmatisch ausgerichtet ist, stammt von Wenzel (1978), die sich mit der Frage der Stereotype in der gesprochenen Sprache auseinandersetzt. Für sie ist ein Stereotyp: „ein inhaltlich definierter Begriff, der festumrissene tradierte Vorstellungen zum Inhalt hat, die verbal geäußert werden“ (S. 97). Wenzels Untersuchung bestätigt, daß es (so wie bei Quasthoffs Analyse) besondere „ausdrucksseitige“ Merkmale des Stereotyps gibt. In ihrer Untersuchung unterscheidet sie „wertende“ und „normative“ Stereotype, in Abhängigkeit davon, ob sie überwiegend wertenden oder normativen Charakter aufweisen (vgl. S. 25). Wenzel weist nach, daß Stereotype in Texten mit Themen aus dem Alltagsleben besonders häufig auftreten, daß sie also bis zu einem gewissen Punkt themenbedingt und nicht situationsbedingt sind. Auch sie unterscheidet vier Sprechfunktionen der Stereotype. Am häufigsten kommt ihrer Ansicht nach die appellative Funktion vor, seltener die Darstellungsfunktion und die Ausdrucksfunktion und am seltensten die phatische Funktion. Damit widerspricht sie der These Quasthoffs, daß die Stereotype überwiegend phatische Sprechfimktionen ausüben (vgl. Wenzel 1978, S. 97; Quasthoff 1973, S. 194). Auf der Ebene des Ausdrucks wirft die Analyse der Stereotype viele Fragen auf, weil sie nur über ihren Argumentationszusammenhang zu erschließen sind (vgl. Wenzel 1978, S. 98f). Wenzel (1978) zeigt anhand von empirischen Analysen, daß sich ausdrucksseitig drei Arten von Stereotypen unterscheiden lassen: erstens die Grundform, zweitens die Form, in welcher der Sprecher die Existenz des Stereotyps anzweifelt oder auf sich selbst bezieht, und drittens der textlinguistische Typ, zu dem Stereotype, die „nicht explizit geäußert werden, sondern implizit in den Äußerungen enthalten sind“ gehören (S. 63). Wenzel stellt im Rahmen ihrer Untersuchung fest, daß die „ausdrucksseitige Formelhaftigkeit von Stereotypen bei hohem Bildungsgrad in gewisser Hinsicht einer Auflösung unterliegt“. Dieses Faktum verwendet sie, um die These Quasthoffs zu widerlegen, in der es heißt, „daß die Grundform, also die offensichtlichste und einfachste Form, der am häufigsten auftretende Typ sei“ (S. 99; und Quasthoff 1973, S. 240). Das Stereotyp als Allsatz hat in dem von Wenzel untersuchten Material folgende formalen Merkmale (die Reihenfolge erfolgt nach Abnahme der Häufigkeit der Nennungen jeweiliger Phänomene): <?page no="65"?> Interdisziplinärer Zugang zum Begriffdes Stereotyps 65 generalisierender Artikel verallgemeinerndes Pronomen man kollektiver Singular deiktische Pronomina - Quantor alle Wenzel weist außerdem darauf hin, daß die Fähigkeit des Menschen, sich wortreich und gewandt auszudrücken, die Aufdeckung von Stereotypen wesentlich erschwert. In seinem Aufsatz „Sprachliches Funktionieren und interaktive Funktion von Stereotypen“ beschäftigt sich auch Schröder (1987, S. 668-762) mit dem Phänomen der Stereotype und beschreibt sie als eine bestimmte Art von Inhaltsfiguren. Schröder verwendet dabei ein sehr allgemeines und weitreichendes Konzept von Stereotypen: „Eine Grundtatsache menschlicher Erfahrungsverbreitung ist die Typisierung von Erfahrung; solche Typisierungen ob nun als Verallgemeinerung eigener Erfahrungen oder durch Erziehung vermittelt sind notwendige Voraussetzung für unsere Orientierung in der Welt... Als ‘Stereotype’ sollen in dieser Untersuchung nur solche typisierten Erfahrungen gelten, die als ‘Urteile’ oder ‘soziales Regelwissen’ so fester Bestandteil des Alltagswissens der Allgemeinheit oder von Gruppen in der Gesellschaft geworden sind, daß sie durch Erfahrung nicht mehr veränderbar sind, sondern vielmehr selbst (obwohl ursprünglich Produkt von Erfahrung) Erfahrung strukturieren, ja determinieren können“ (S. 669). Schröder versteht unter dem Begriff des Stereotyps eine Inhaltsfigur, nämlich Jede Form von typisierter Erfahrung, also Urteile darüber, daß bestimmte Personen oder Personengruppen, aber auch Zustände oder Verhältnisse so sind, genauso wie das soziale Regelwissen, daß etwas immer so läuft, ausgeht oder gemacht wird etc.“ (1987, S. 670). Als mögliche Stereotype fuhrt er einige Beispiele an, zu denen alle Formen der Generalisierung gehören, beginnend mit dem Urteil Schwarze sind faul über solche Formulierungen wie In England regnet es immer bis zu den Sprichwörtern Wo gehobelt wird, fallen Späne und Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Schröder hebt hervor, daß Stereotype als Inhaltsfiguren sich als Allaussagen in ihren semantischen Strukturen wiedergeben lassen, die in den Formen der klassischen Syllogismen zum Ausdruck kommen. Hierfür unterscheidet er zwischen Ober- und Untersätzen wie: (Alle) Studenten sindfaul. - Obersatz soziale Regel Xist ein Student. - Untersatz singuläre Aussage (S. 673). Conclusio: X ist faul. Anhand dieser Prämissen (Ober- und Untersatz) erhält man die syllogistische Form, in der suggestiv bewiesen wird, daß der Student X faul sein müsse. Zu berücksichtigen ist, daß die syllogistische Begründung selten explizit ausfor- <?page no="66"?> 66 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck muliert zum Vorschein kommt. Viel häufiger werden Annahmen getroffen, die von den interaktiv Beteiligten stillschweigend vorausgesetzt werden (vgl. S. 673f.). Eine linguistische Analyse von Vorurteilen unternimmt van Dijk (vgl. 1984; 1987). Er bedient sich in seiner Ausarbeitung eines „soziokognitiven Modells“ (vgl. 1984, S. 13), in dem er die kognitive Struktur von ethnischen Vorurteilen im Gesamtzusammenhang menschlicher Kognition darstellt (vgl. S. 22). In seinem Beitrag (S. 23) bestimmt er die Termini Vorurteile und Einstellungen. Unter Vorurteilen versteht er Gruppeneinstellungen einer „In-group“ einer „Out-group“ gegenüber. Die Einstellungen setzen sich zusammen aus einer geordneten Menge von Meinungen über diese „Out-group“. Diese Einstellungen bilden die Komponenten eines „group schemas“. „Group schemata“ lassen sich z.B. im Zusammenhang mit der Wahrnehmung und Interpretation ethnischer Minderheiten sowie in der Interaktion mit ihnen anwenden. Jegliche Stereotype basieren auf „group schemata“. Zur näheren Beschreibung der „group schemata“ stellt van Dijk die drei folgenden Hauptfragen voran: 1) Wie stellen sie sich dar? 2) Wie und in welchen Situationen werden sie gebraucht? 3) Wie werden sie erworben bzw. verändert? (ebd.) Van Dijk beschäftigt sich in seiner Untersuchung mit der Äußerung von Vorurteilen auf allen Diskursebenen und setzt den Schwerpunkt seiner Arbeit auf die Argumentationsstrategien, „die im Zusammenhang mit Vorurteilen immer wieder auftreten“ (Gruber 1991, S. 17). Dabei muß man nämlich berücksichtigen, daß nicht nur die Art des Auftretens der Stereotype oder der Vorurteile von Bedeutung ist (so wie das schon in der Stereotypdefinition bei Quasthoff der Fall ist), sondern auch die typischen Argumentationsmuster, mit denen ihre Anwendung kommunikativ gerechtfertigt wird. Von großer Bedeutung für die Sprachwissenschaft ist deshalb nicht die Frage, „ob es notwendig ist, eine möglichst genaue Definition zu geben, was ein Vorurteil ist (nämlich in bezug auf die mentale Repräsentation), sondern wie und in welchen Kontexten Vorurteile geäußert werden“ (Gruber 1991, S. 18). Van Dijk beschäftigt sich in diesem Zusammenhang mit der Frage nach den semantischen Strategien, die er als „a partial plan about the way a goal can or should be reached“ bezeichnet (1984, S. 115). Das primäre Ziel der semantischen Strategien ist nämlich der Versuch des Sprechers, den Rezipienten durch die wirksame Äußerung semantischer Makrostrukturen (Themen) zu lenken und zu deren Übernahme zu bewegen. Aus dem Geäußerten werden von dem Rezipienten Folgerungen gezogen, die der Sprecher zu steuern versucht. So kommt es vor, daß der Sprecher vor die Äußerung eines negativen <?page no="67"?> Interdisziplinärer Zugang zum Begriffdes Stereotyps 67 Urteils über eine Gruppe oder ein Individuum, wie z.B. ‘Polen stehlen’, nicht gerade zufällig eine positive Einschätzung in bezug auf sie bzw. es äußert. So kommt es vor, daß die gleiche Formulierung ‘Polen stehlen’, mit dem vorausgeschickten positiven Urteil, wie ‘Polen sind gastfreundlich, aber sie stehlen’, andere Assoziationen des Rezipienten über den Sprecher hervorruft. Der Aussage läßt sich entnehmen, daß der Sprecher mit der Äußerung ‘Polen sind gastfreundlich, aber sie stehlen’ eine positive Selbstdarstellung (Akzeptanz, Übereinstimmung, Anerkennung) pflegt. Zu diesem Ziel gelangt der Sprecher einfacher, wenn er seine Meinung nicht direkt, sondern in einer Art Implizitheit darstellt. Man kann sagen, daß die Indirektheit mehr als die Explizitheit zu einer Festigung der Beziehung Sprecher-Hörer beiträgt und eine Art des Einvernehmens zwischen den beiden im Sinne von „sich ohne Worte verstehen“ hervorruft. Die Voraussetzung hierfür ist jedoch, daß die Gefühle der Sympathie nur dann entstehen, wenn beide das jeweilige Stereotyp teilen. Im Zusammenhang mit der oben angesprochenen Frage nach der Art und Weise des Auftretens von Stereotypen hat van Dijk das folgende Konzept der semantischen Strategien entwickelt (1984, S. 130ff.). 1) Generalisierung Anhand eines situativen Ereignisses (eines partikulären Modells) kommt es zur Abstrahierung eines Schemas (eines generalisierten Modells), wobei die Gültigkeit und die kognitive Notwendigkeit von Bewertungen hervorgehoben werden. Eigenschaften von Individuen werden in diesem Fall als generalisierte Merkmale für alle Mitglieder einer sozialen Gruppe verwendet und bei der Bewertung einzelner Individuen im Sinne eines Prototyps herangezogen, beispielsweise Immer das gleiche; Das passiert ständig. 2) Beispiel Anhand eines Beispiels wird eine allgemeine Feststellung kanonisch belegt, und aus diesem Grund wird sie zwischen einer Generalisierung und einem konkreten Fall eingeordnet, zum Beispiel; Nimm beispielsweise; Nimm z.B. diesen Mann von nebenan. Er... 3) Korrektur Beobachten und Abwägen der eigenen Produktion, die präsupponiert, daß die Formulierung entweder referentiell „falsch“ ist oder möglicherweise zu den ungewollten Interpretationen und Beurteilungen bei dem Hörer über die unterstellten Implikationen oder Assoziationen führen kann. Die Korrektur ist ein Teil einer Strategie zur positiven Selbstdarstellung. <?page no="68"?> 68 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 4) Hervorhebung Diese Strategie beruht auf der Aufmerksamkeitslenkung des Hörers (drawing attention) durch bessere strukturelle Organisation der wichtigen Informationen und die Hervorhebung der subjektiven Makroinformationen, Es ist schrecklich, daßEin Skandal, daß... 5) (Scheinbare) Zugeständnisse Zugeständnisse gestatten eine bedingte Generalisierung, sogar wenn Gegenbeispiele angeführt werden, was als Beweis für die wirkliche oder imaginäre Toleranz und das Verständnis wirken kann und infolgedessen ein Teil der positiven Selbstdarstellungsstrategie bildet, Wir können nicht generalisieren, aber...; Auch Polen können so sein. 6) Wiederholung Diese Strategie funktioniert ähnlich wie die „Hervorhebung“, z.B. mittels Aufmerksamkeitslenkung, Strukturierung von Informationen, Hervorhebung der subjektiven Makroinformationen. Die Wiederholung trägt somit wesentlich zur Verfestigung und Bestätigung der Informationen bei, Das ist wirklich so... 7) Kontrastierung Sie weist u.a. eine rhetorische und eine semantische Funktion auf. Die rhetorische Funktion beruht darauf, daß die Aufmerksamkeit auf die Mitglieder der Kontrastgruppe gelenkt wird (Strukturierung der Information). Die semantische fokussiert die positiven und negativen Bewertungen von Personen, ihren Eigenschaften und ihren Handlungen. Oft geschieht das mit der Gegenüberstellung von Wir-Sie-Gruppen, Wir mußten hart dafür arbeiten, und denen wird alles geschenkt. 8) Abmilderung Sie dient generell zur Unterstützung der Selbstdarstellung, indem Verständnis und Toleranz gezeigt werden. Durch scheinbares Zurücknehmen von vorher gemachten Bewertungen oder Generalisierungen wird oft versucht, der Entstehung von negativen Schlußfolgerungen entgegenzuwirken. 9) Verlagerung Durch das Abwenden der Verantwortung des Sprechers für das Gesagte wird seine positive Selbst-Präsentation hervorgerufen. In diesem Fall werden oft Zitate verwendet, die als Gegenstimmen füngieren können, Mir persönlich macht es nichts aus, aber die anderen Leute in der Straße ärgern sich sehr darüber. <?page no="69"?> Interdisziplinärer Zugang zum Begriffdes Stereotyps 69 10) Vermeidung Vermeidung besteht aus einer Ansammlung von verschiedenen Schritten innerhalb einer eher allgemeinen Vermeidungsstrategie. Das Vermeiden läßt sich in kognitivem, topischem oder konversationellem Bereich feststellen. Vermeidung läßt auf folgendes schließen: keine oder ungenügend relevante Information nur irrelevante oder nicht formulierbare Informationen können aus dem Modell abgerufen werden nur negative Erfahrungen, und damit auch negative Meinungen, können abgerufen werden. Diese negativen Überzeugungen auszudrükken wird von dem Sprecher vermieden, da ein allgemeiner Konsens darüber besteht, daß man nicht negativ über andere Menschen bzw. Gruppen spricht. Ich weiß es nicht; Ich habe keinen Kontakt zu denen; Es interessiert mich nicht. 11) Präsuppositionen, Implikationen, Suggestionen Semantische und pragmatische Maßnahmen erlauben es dem Sprecher, spezifische Aussagen zu vermeiden. Als Beispiele kann man negative Beobachtungen oder Meinungen, Teilwissen oder Meinungen, für welche der Sprecher nicht verantwortlich ist, nennen. Einige der typischen Indikatoren sind: - Merkmale von Präsuppositionen (bestimmte Artikel, spezifische Partikeln und Adverbien) die Verwendung des Pronomens der zweiten Person, um die Distanzierung und generelle Referenz zu erreichen, z.B. Das hast Du doch überall vage Termini, z.B. Da sind so Sachen unvollständige Aussagen oder Geschichten etc. Gruber ist der Meinung, daß der Mangel an der Theorie van Dijks ihre Ahistorizität ist. Van Dijk berücksichtigt nicht die historischen Wurzeln vieler Vorurteile und Stereotype in unterschiedlichen Gesellschaften, was die Erklärung vieler Stereotyp- und Vorurteilsinhalte unmöglich macht. Trotz dieses Defizits geht der Forschungsansatz van Dijks im Vergleich zu dem von Quasthoff weiter, was mit seiner Spezifizierung der Argumentationsstrategien Zusammenhängen könnte (vgl. Gruber 1991, S. 17). Der Sprachphilosoph Adam Schaff stellt das Stereotyp in einem interdisziplinären Zusammenhang dar. In seinem Beitrag „Stereotypen und das menschliche Handeln“ weist er darauf hin, daß ein Stereotyp mit dem verbalen Ausdruck organisch verbunden ist (vgl. 1980, S. 74). Schaff meint, daß der verbale Ausdruck ohne Stereotyp und das Stereotyp ohne den verbalen Ausdruck <?page no="70"?> 70 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck nicht existieren können. Den verbalen Ausdruck kann man als einen Stimulus von außen verstehen, der beim Individuum Inhalte der Stereotype aktiviert. Von der anderen Seite kann jedoch der verbale Ausdruck in seiner Formulierung Inhalte des Stereotyps besitzen (v. Bassewitz 1990, S. 19). Schaff diskutiert ausführlich Quasthoffs Theorie und setzt sich eingehend mit ihrer Formulierung auseinander, die aus ihrer Stereotypendefinition stammt: „Linguistisch ist es als Satz beschreibbar“ (vgl. Quasthoff 1973, S. 28 und Schaff 1980, S. 74). Schaff beruft sich auf seine frühere Arbeit „Essays über die Philosophie der Sprache“, in der er die Position vertritt, daß „das Stereotyp mit dem Wort als Etikett, Namen, Impuls usw. verbunden ist“. Diese Auffassung läßt nach Schaff gleichzeitig jedoch auch die Feststellung zu, daß „das Urteil (die Urteile), die den Inhalt des Stereotyps ausmachen, in der Form eines Satzes formuliert werden“ (1980, S. 75). Dabei lehnt er jedoch die Annahme ab, daß ein Stereotyp nur der verbale Ausdruck des zu diesem gehörenden Bewußtseinsinhaltes ist und nicht mehr ist als das. Damit wendet er sich gegen die Vertreter der Identitätsrelation (z.B. Quasthoff) (vgl. v. Bassewitz 1990, S. 19). Schaff vergleicht in seiner Arbeit die Termini ‘Stereotyp’ und ‘Begriff. Trotz mancher Gemeinsamkeiten trennt er sie. Er bemerkt, daß sowohl Stereotype als auch Begriffe eine Form der Generalisierung von Einzelerscheinungen darstellen, die dem Menschen die Orientierung in der ihn umgebenden Welt vereinfachen (vgl. 1980, S. 83). Schaff konfrontiert ‘Begriff und ‘Stereotyp’: - Begriffe können verifiziert und falsifiziert werden, Stereotype grundsätzlich nicht. - Begriffe besitzen hauptsächlich intellektuell-kognitive Komponenten, Stereotype hingegen emotionale. - Begriffe reagieren schnell auf die Veränderungen des Weltwissens, Stereotype vorrangig auf die des emotionalen Umfelds. - Begriffe haben kognitive Funktionen, Stereotype verteidigen Gruppeninteressen. - Begriffe betreffen das Spektrum der Wirklichkeit, Stereotype dagegen soziale Gruppen, ihre Mitglieder und die Beziehungen zwischen ihnen (vgl. v Bassewitz 1990, S. 20). Stereotype und Begriffe besitzen eine ähnliche soziale Genese. Dies betrifft vor allem die Vermittlung von Kenntnissen und Erfahrungen an das Individuum durch die Gesellschaft im Verlauf der Sozialisation. Das Vermittlungsmittel ist die Sprache, die Vermittlung erfolgt durch sie. Demzufolge kommt man zu dem Ergebnis, daß nonverbale Stereotype und Begriffe nicht existieren, <?page no="71"?> Interdisziplinärer Zugang zum Begriffdes Stereotyps 71 weil sie ohne sprachliche Symbole nicht bestehen können. Ersatzweise lassen sich zwar auch andere Träger feststellen (z.B. graphische Symbole, Gesten, Mimik), die jedoch als „aus der natürlichen Sprache abgeleitete Symbole“ verstanden werden sollten (Schaff 1980, S. 83f). Stereotype sind potentiell gefährlich (z.B. als Propagandamittel), weil sie menschliches Handeln motivieren können sogar dann, wenn das Individuum sich dessen nicht bewußt ist. Es kann zu einer Verwechslung des Stereotyps mit dem Begriff kommen. Die sprachliche Bezeichnung „Vaterlandsliebe“ kann zum Beispiel beides sein, weil sowohl ein kognitiver als auch ein emotionaler Inhalt enthalten ist. Was „Vaterlandsliebe“ in Wirklichkeit ist, hängt dann davon ab, welche Bewußtseinsinhalte ausgedrückt und angesprochen werden (vgl. Schaff 1980, S. 105; v. Bassewitz 1990, S. 21). Schaff sagt: „Das Stereotyp lebt, um uns bildlich auszudrücken, nicht in einer Symbiose mit dem Begriff, sondern schmarotzt am Begriff und am begrifflichen Wissen, was ihm einen ihm nicht zukommenden sozialen Status und dementsprechendes ‘Ansehen’ verleiht“ (1980, S. 109). Schaff nutzt für seine Stereotypendefinition folgende Kriterien: es bezieht sich auf bestimmte Gruppen von Menschen es besitzt eine soziale Genese es ist emotional (negativ oder positiv) behaftet sein Wahrheitsgehalt ist entweder tatsachenwidrig oder teilweise mit den Tatsachen im Einklang (dadurch wird auch der Anschein voller Wahrhaftigkeit erzeugt) es ist dauerhaft und resistent gegen Veränderungen obige Merkmale lassen zu, daß ein Stereotyp seine soziale Funktion ausübt, d.h., ein Individuum aus der Gruppe mit akzeptierten Werten zu verteidigen es ist immer mit einem Wort-Namen (bzw. aus mehreren Wörtern bestehendem Ausdruck verbunden) es wirkt in einem Kontext als Impuls des Stereotypeninhalts die Benennung des Stereotyps kann auch oft als Bezeichnung eines Begriffs dienen, unterscheidbar nach sozialen und kognitiven Funktionen (vgl. Schaff 1980, S. 86f.) <?page no="72"?> 72 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 2.3.2 Semantische Ansätze Der Sprachphilosoph Putnam geht in seiner Arbeit „Die Bedeutung von ‘Bedeutung’“ (1990) auf zeichentheoretische Grundprobleme der Wortsemantik im philosophischen Diskurs ein und vertritt die Position, daß Stereotype eine der Komponenten der sprachlichen Wortbedeutung sind (vgl. Schwarze 1982, S. 3). In bezug auf das Stereotyp äußert Putnam: „Im üblichen Sprachgebrauch ist ein Stereotyp eine konventional verwurzelte (häufig übelmeinende und möglicherweise völlig aus der Luft gegriffene) Meinung darüber, wie ein X aussehe oder was es tue oder sei“ (1990, S. 68). Er stellt fest, daß ein Stereotyp eine standardisierte Beschreibung der Eigenschaften darstellt, die für die fragliche natürliche Art charakteristisch sind (vgl. Zybatow 1991, S. 151). Es bleibt jedoch zu berücksichtigen, daß diese Eigenschaften nicht alle Referenten dieses Wortes in demselben Ausmaß betreffen, was Putnam folgendermaßen ausdrückt: „Wesentlich ist, daß das mit einem Wort verbundene Stereotyp nicht seine Referenz festzulegen und nicht einmal zuzutreffen braucht“ (1990, S. 13). Neben dem Stereotyp zählt Putnam zu den wichtigsten Merkmalen des Wortes seine syntaktischen und semantischen Eigenschaften und seine Extension (vgl. ebd., S. 94). Als Beispiel fuhrt Putnam das Lexem „Wasser“ an, das er anhand der oben genannten Merkmale auf folgende Art und Weise beschreibt: syntaktische Merkmale: Kontinuativum, konkret semantische Merkmale: natürliche Art, Flüssigkeit Stereotyp: farblos, durchsichtig, ohne Geschmack, durstlöschend etc Extension: H 2 0 (ebd.) Diese Merkmale die Extension ausgenommen - „beinhalten eine Hypothese über die individuelle Kompetenz der Sprecher“ (ebd ). Die Extension des Ausdrucks nämlich bezeichnet „die Menge der Dinge, auf die dieser Ausdruck zutrifft“ (S. 23). Der von Putnam eingefuhrte Begriff des Stereotyps erhält hier eine zentrale Position und wird so definiert: „Das mit einem Wort verbundene Stereotyp besteht aus Annahmen über die Gegenstände, auf die dieses Wort zutrifft, und zwar aus den Annahmen, die zu haben die Sprachgemeinschaft von den Personen erwartet, die die Bedeutung dieses Wortes kennen“ (Spohn 1990, S. 13). Es ist sicherlich ziemlich schwierig, den Ansatz von Putnam mit den anderen vorher besprochenen zu vergleichen, weil beispielsweise Quasthoff, Wenzel, van Dijk und Schröder das Stereotyp als soziales Phänomen auffassen. Man kann aber auch von einer Gemeinsamkeit der beiden Auffassungen sprechen, die darauf beruhen, daß sowohl Putnam als auch die genannten Forscher, die <?page no="73"?> Interdisziplinärer Zugang zum Begriffdes Stereotyps 73 das Stereotyp als soziales Phänomen fassen, sich der generalisierten Wissensbestände bedienen, die in Form von „typischen Merkmalen“ oder auch „typischen Eigenschaften“ Vorkommen. Sie sollen hier als das in der sozialen Umwelt erworbene und stark verallgemeinerte Wissen verstanden werden. Putnams Ausführungen bilden auch die Grundlage der Forschungen von Zybatow (1991), der die Beziehung Stereotyp sprachliche Bedeutung anhand von Beispielen aus der sowjetischen Presse untersucht. Er hebt hervor, daß sich die Auffassungen der Stereotypensemantik mit der Merkmalssemantik, die auch Manfred Bierwisch vertritt, vereinen lassen (vgl. S. 153). Zybatow unterscheidet im Zusammenhang mit dem Vorgehen von Putnam zwischen den sozialen und nichtsozialen Stereotypen. Zur Gruppe der nichtsozialen Stereotype zählt Zybatow u.a. das Lexem „Wasser“, bei den sozialen nennt er u.a. Nationalitätsbezeichnungen wie „Pole“ (vgl. Kap. 2.3). Er meint, daß bestimmte Analogien zwischen den sozialen und nichtsozialen Stereotypen existieren. Als Beweis dafür führt er ein nationales Stereotyp über Russen an, die nach soziologischen Untersuchungen als „stur“, „unkultiviert“ und „derb“ gelten sollen. Zybatow vergleicht die beiden Arten der Stereotype und nennt als Beispiele Leipziger Gewässer, die schwarz, phenolig schillernd und sicherlich übelschmeckend sind, aber trotzdem „Wasser“ genannt werden, und Russen, die „tolerant“, „kultiviert“ und „zart“ sind, und aufgrund dessen als untypische Vertreter ihres Volkes eingestuft werden. Im Ansatz vom Jahre 1991 versucht Zybatow die Unterschiede zwischen den beiden Stereotyp- Arten zu spezifizieren, und kommt zur Schlußfolgerung, daß „nichtsoziale Stereotype Eigenschaften paradigmatischer Elemente der jeweiligen Klasse einfangen, die der Mensch im Sozialisationsdiskurs erfährt, während soziale Stereotype bewußt über Massenmedien, Ideologien usw. geschaffen werden, wobei oft postulierte Starrheit und Resistenz sozialer Stereotype gegen Veränderungen eine relative Größe sein dürfte“ (vgl. Zybatow 1991, S. 152). Zybatow findet, daß sich die Auffassungen der Stereotypensemantik mit der Merkmalssemantik Bierwischer Prägung vereinen lassen. Bierwisch unterscheidet zwischen sprachlicher (semantischer) Bedeutung und Äußerungsbedeutung (konzeptuelle Interpretation) eines Wortes, d.h., die konzeptuellen Strukturen werden als die Extension sprachlicher Ausdrücke verstanden. Danach bezeichnet Zybatow Stereotype als „reguläre konzeptuelle Strukturen kombinatorischer Art, die sich bei verschiedenen möglichen Fixierungen der offenen Werte ergeben“. Im Zusammenhang damit spricht er von der sog. „konzeptuellen Verschiebung“. Sie beruht darauf, daß sich die semantische Repräsentation eines Wortes in verschiedenen begrifflichen Bereichen unterschiedlich interpretieren läßt. So kann es verkommen, daß die konzeptuelle Einheit, die bei Putnam ‘Stereotyp’ genannt wird, in bezug auf unterschiedliche Gesellschaften und Wissensbestände der Sprecher auch unterschiedlich interpretiert wird (vgl. Zybatow 1991, S. 153). Als Beispiel hierfür bedient <?page no="74"?> 74 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck sich Zybatow des Wortes „Doktor“, welches verschiedene Stereotype im Hinblick auf Status und Besitz in Rußland und in Deutschland hat. Die Relation des Stereotyps und der sprachlichen Bedeutung wird anhand von Textanalysen erörtert. Zybatow äußert, daß die Stereotype, die mit politischen, sozialen und anderen Kontexten verbunden sind, nicht „in die semantische Repräsentation der entsprechenden Wörter im Lexikon als Grammatikkomponente eingehen“ (S. 157). Darüber hinaus meint er jedoch, daß „in den Lexikonrepräsentationen entsprechende Variablen vorhanden sind, die jeweils ideologieabhängig durch entsprechende Konzeptualisierungen der Sprachträger ausgefullt werden“. 2.4 Stereotype als sozialwissenschaftliche Kategorie In der Stereotypenforschung existiert eine Abgrenzung zwischen verschiedenen Begriffen, die ähnliche Phänomene der menschlichen Kognition, Emotion und der Verhaltensformen beschreiben. Zu diesen Begriffen gehören das Vorurteil, die Einstellung, die Attitüde, das Image, die soziale Topik, das Klischee u.a.m. Bergler meint in diesem Zusammenhang: „Wenn man zunächst und vorläufig davon ausgeht, daß es sich bei allen stereotypen Erscheinungen um verfestigte, vereinfachte, gefuhlgesättigte, dynamische, ganzheitlich strukturierte Systeme zur Bewältigung allgemeiner aber auch spezieller Situationen personaler wie apersonaler Art in der ständig begegnenden Welt handelt, denen die objektive, notwendige empirische Begründung mangelt, dann wird darin eine bevorzugte menschliche Handlungsform sichtbar, die in ihren Wesensmerkmalen auch für den Bereich des Vorurteils zutrifft“ (1966, S. 100). Bergler untersuchte Stereotype unter verschiedenen Aspekten wobei der Schwerpunkt seiner Untersuchung auf stereotypen Denkweisen gegenüber fremden Völkern lag (vgl. ebd., S. 104). Auch Manz bietet eine Klassifikation der Stereotype an (vgl. 1968, S. 15ff ). H. v. Zitzewitz bringt die von Manz genannten Stereotype in vier Punkten (vgl. 1992, S. 103): - „Stereotype als kulturelle Objektivitationen, stilisierte oder karikierende Beschreibungen angeblich typischer Eigenschaften von Gruppen als Teil kultureller Selbstverständlichkeiten - Stereotype als individuelle Annahmen und Erwartungen hinsichtlich der Eigenart bestimmter Gruppen - Stereotyp der Gruppe als charakteristisches Bild auf der Basis einer Addition individueller Eigenschaften - Stereotype als kognitive Schemata, die Wahrnehmung und Verhalten steuern“ (vgl. Manz 1968, S. 15ff. nach H. v. Zitzewitz 1992, S. 103) <?page no="75"?> Interdisziplinärer Zugang zum Begriffdes Stereotyps 75 Mit der Frage der Stereotype in der Literaturwissenschaft setzt sich O'Sullivan auseinander. Sie nennt Stereotype „Assoziationsbündel“, „aufrufbares Wissen“, „Konventionsbestände jeder Gemeinschaft“. Darüber hinaus formuliert sie in bezug auf Stereotype: „Sie sind nicht Vorstellungen eines Individuums, sie besitzen Allgemeingültigkeit. Dies bedeutet nicht: jedes Individuum der jeweiligen Gruppe ist in einem stereotypen System verhaftet. Die Stereotype werden von den Individuen je nach Disposition und Erfahrung verschieden stark modifiziert, aber auch diejenigen, die von sich behaupten, sie verfugten über oder verwendeten keine Stereotype, kennen alle Stereotype, die in ihrer Gruppe vorherrschen“. Daraus schließt O'Sullivan, daß die Aktualisierung von nationalen Stereotypen, bei der Mehrzahl der Leser aus dem gleichen kulturellen Kontext sehr ähnlich oder gar identisch ist“, „weitgehend vorprogrammiert“ sei (O'Sullivan 1989, S. 54). Eine interessante Arbeit zum Thema der Vorurteile und der Stereotype stellt die Dissertation von Wagner (1982) dar, der betont, daß Vorurteile sich anhand von kognitiven, evaluativen, verhaltensbezogenen Komponenten analysieren lassen (vgl. S. 12f). Wagner listet Merkmale auf, anhand derer er Stereotype von anderen allgemeinen kategorisierenden Urteilen über Gruppen differenzieren kann (vgl. S. 13). Auf diese Klassifizierung geht auch Gruber (1991, S. 15f.) ein, indem er zwischen zwei Gruppen von Merkmalen unterscheidet. Die erste Gruppe bilden hierbei Merkmale, die einen Intraklassen- Effekt, die zweite, die einen Interklassen-Effekt herstellen. Im Detail sieht diese Klassifizierung der Merkmale von Stereotypen folgendermaßen aus (Wagner 1982, S. 13 und Gruber 1991, S. 16): Intraklassen-Effekt (dazugehörende Merkmale beschreiben eine Fremdgruppe homogen): - Die Gruppe wird nur durch wenige Eigenschaften beschrieben. - Die zur Beschreibung verwendeten Eigenschaften stammen aus einem eng umrissenen Bedeutungsbereich. - Die charakteristischen Eigenschaften werden allen Mitgliedern der Gruppe zugesprochen. - Die Charakteristika der Gruppe sind mit stark ausgeprägten evaluativen Konnotationen versehen. Interklassen-Effekt (dazugehörende Merkmale bezeichnen die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen): - Die Gruppe wird deutlich von der eigenen Bezugsgruppe abgegrenzt. - Verschiedene Fremdgruppen werden gleich beurteilt. - Der Gruppe werden extreme Ausprägungen in charakteristischen Eigenschaften zugesprochen. <?page no="76"?> 76 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Außerdem unterscheidet Wagner eine dritte Gruppe von Merkmalen, welche das Element der Dauerhaftigkeit und Unveränderbarkeit der Vorurteile deutlich zum Ausdruck bringt: - Die Charakteristika werden bei der Gruppe über einen langen Zeitraum (im Extremfall endlos) vermutet. - Charakteristische Eigenschaften werden mit großer Sicherheit zugesprochen. Wagner betont, daß mit diesen angeführten Merkmalen keine exakte Trennungslinie zwischen stereotypen und nicht-stereotypen Urteilen zu ziehen ist. Man kann jedoch sagen: je mehr genannte Merkmale existieren, desto sicherer handelt es sich um ein stereotypes Urteil (vgl. 1982, S. 14). Auch Hofstätter beschäftigt sich mit der Problematik der Stereotype, indem er besondere Aufmerksamkeit der Frage von Auto- und Heterostereotypen schenkt. Diesbezüglich äußert er folgende Meinung: „Für das ‘Einander- Verstehen’ zwischen Nationen und Gruppen glaube ich vier Bedingungen aufstellen zu können: 1) Die Autostereotype der beiden Gruppen sind einander ähnlich ... 2) Das Bild, das sich die eine Gruppe von der anderen macht, entspricht dem Selbst-Bild dieser Gruppe... 3) Das Bild, das sich eine Gruppe von der anderen macht, entspricht dem eigenen Selbst-Bild ... 4) Beide Gruppen sehen andere Gruppen in ähnlicher Weise . . .“ (vgl. 1971, S. 122) Hierbei wird jedoch, wie Schnepper richtig bemerkt, unterstellt, „daß es ein von allen sozialen Gruppen innerhalb einer Nation akzeptiertes Autobzw. Heterostereotyp gibt“ (1990, S. 27). 2.5 Das Stereotyp im Vergleich zu verwandten Begriffen 2.5.1 Stereotyp und Vorurteil Eine genaue Trennungslinie zwischen Stereotyp und Vorurteil ist sehr schwer zu ziehen. Der Terminus des Stereotyps wird in vielen Arbeiten synonym mit dem des Vorurteils benutzt. In der sprachwissenschaftlichen Literatur sind die beiden Ausdrücke quasi-austauschbar: „Eine Trennung der Geltungsbereiche beider Begriffe wird dadurch erschwert, daß auch der Begriff ‘Vorurteil’ in der Sozialpsychologie implizit oder explizit im Sinne von ‘soziales Vorurteil’ verstanden wird, das auf menschliche Gruppen oder einzelne Personen als <?page no="77"?> Interdisziplinärer Zugang zum Begriffdes Stereotyps 77 deren Mitglieder gerichtet ist. Beim ‘Stereotyp’ ist der wissenschaftliche Gebrauch mit Bezug auf soziale Gruppen fast durchgängig. Nach dem Bezugsobjekt läßt sich also keine Unterscheidung zwischen Vorurteil und ‘Stereotyp’ treffen“ (Quasthoff 1973, S. 25). Beide Termini besitzen viel Gemeinsames, aber auch manches, was sie trennt. Wenn man sie defmitorisch unterscheiden will, lassen sich folgende Merkmale anfiihren: - Das Stereotyp besitzt vorwiegend kognitive Dimensionen, d.h., die Wissenschaftler tendieren dazu, daß an den Wurzeln des Stereotyps ein bestimmtes Merkmal, Syndrom steckt, welches seine Entwicklung zum Stereotyp eingeleitet hat (vgl. H. v. Zitzewitz 1992, S. 103). - Das Vorurteil besitzt vorwiegend affektive Dimensionen es ist „gefühlsmäßig unterbaut“ (O'Sullivan 1989, S. 20). Zu erwähnen ist auch die Vorurteilsdefinition von Karsten: „Ein Vorurteil ist ein vorgefaßtes Urteil über Gruppen von Menschen (oder Objekten, oder über ein Verhalten, über einen Zustand, eine Situation, eine Idee, [. . .]), das positiv oder negativ gefühlsmäßig unterbaut ist, das nicht unbedingt mit der Wirklichkeit übereinstimmen muß, und an dem ungeachtet aller Möglichkeiten der Korrektur, festgehalten wird.“ (1978, S. 5) Die beiden Ausdrücke ‘Vorurteil’ und ‘Stereotyp’ beschreiben in der Wissenschaft oft denselben Sachverhalt. Dabei gibt es eine Tendenz, mit ihnen nur die negativen Seiten der damit gemeinten Phänomene zu assoziieren. Lilli verbindet mit dem Stereotyp: „eine eindeutig negative Färbung. Stereotypes Denken wurde oft genug lediglich als ein anderer Ausdruck für falsches und fehlerhaftes Denken angesehen.“ (1982, S. 5) Bei der Einführung dieses Begriffs in die Wissenschaft durch Lippmann war das Stereotyp nicht ausschließlich negativ behaftet, wie das im obigen Beispiel der Fall ist. Bergler meint dazu: „Diese thematische Einschränkung nahm Lippmann selbst nicht vor, sondern er intendierte in stärkerem Maße den Aspekt der allgemeinen Sozialstereotypie, d.h., er sah klar, daß sich stereotype Phänomene nicht nur im Zusammenhang mit wertnegativ aufgeladenen Bevölkerungsgruppen auszubilden vermögen, sondern daß die Gesamtheit der sozialen Welt vielfach stereotyp bewältigt wird.“ (1966, S. 104) Man bedient sich der Stereotype, um komplexe Sachverhalte zu vereinfachen d.h. die Informationsmenge einzuschränken. Stereotype üben die Funktion von Denkkategorien aus, „denen Informationen über andere Menschen zugeordnet werden können“ (Wintermantel 1994, S. 84). Die Komplexität der Informationen wird nämlich mit Hilfe von Stereotypen vereinfacht und dadurch auch besser wahrnehmbar. <?page no="78"?> 78 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Ein neutrales Stereotypenkonzept ist hauptsächlich von Vertretern der kognitiven Sozialpsychologie verbreitet worden. In der Konsequenz werden Stereotype in dieser Disziplin von der Vorurteilsforschung getrennt und separat behandelt. Einer der Vertreter dieser Richtung ist Six. Stereotype sind für ihn „spezifische Wahmehmungs- und Urteilsmuster von Personen und Gruppen, ein wichtiges Konzept im Themengebiet der sozialen Urteilsbildung oder der Personenwahmehmung“ (vgl. 1987, S. 44). Eine neutrale Definition des Stereotyps bringen u.a. Stroebe und Insko, bei denen es heißt: „Stereotype was defined as a set of beliefs about the personal attributes of a group of people, and prejudice, a tendency to evaluate unfavorably the members of an outgroup.“ (1989, S. 12) Hier sollte man berücksichtigen, daß bei den kognitiven Prozessen oft die negativen Aspekte der Stereotype gegenüber den positiven überwiegen. Diese Tatsache reicht jedoch nicht aus, um die positiven Seiten der Stereotype ganz zu vernachlässigen. Aus diesem Grund soll hier die Position vertreten werden, daß ein Stereotyp sowohl positive als auch negative Qualitäten haben kann. Es ist eine komplexere Erscheinung als nur ein negatives und herabsetzendes Wahrnehmungsschema. Wir betrachten Vorurteile als Teilmenge der Stereotype. Diese Teilmenge kann man in zwei weitere Kategorien unterteilen: - Vorurteile negativer Art - Vorurteile positiver Art (die selten verkommen) Ein Stereotyp wird dann Vorurteil genannt, wenn der affektive Aspekt die Grenze zum Positiven oder zum Negativen hin überschreitet. Die Festlegung der genannten Grenzbereiche ist vom jeweiligen Individuum abhängig, wobei derjenige, der das Stereotyp äußert, zu anderen Grenzen tendiert als derjenige, über den das Stereotyp geäußert wird. Extrem positive Stereotype werden vom Betroffenen deutlich seltener als Vorurteile eingestuft als von demjenigen, der sie äußert, während es bei negativen Stereotypen genau umgekehrt sein dürfte. So wird ein schmeichelndes Stereotyp wahrscheinlich nie als Vorurteil abgetan, während ein unangenehmes Stereotyp schnell als solches vom Betroffenen klassifiziert wird. Graphisch läßt sich das folgendermaßen darstellen: <?page no="79"?> Interdisziplinärer Zugang zum Begriffdes Stereotyps 79 \ \ Vorurteil Vorurteil / \ -3 -2 affektiver Aspekt -1 0 +1 +2 +3 affektiver Aspekt Stereotyp Abb. 2 Es besteht im allgemeinen die Tendenz (vgl. Wintermantel 1994, S. 86), Vorurteile als vorgefaßte Urteile zu bezeichnen, die durch eine vorwiegend feindselige Einstellung gekennzeichnet werden. Dabei kann auch auf Allport hingewiesen werden, der eine klassische Definition des Vorurteils gibt: „... an antipathy based upon a faulty and inflexible generalization. It may be felt or expressed. It may be directed toward a group as a whole, or toward an individual because he is a member of that group“ (1982, S. 9). 2.5.2 Selbstbild versus Fremdbild / Selbstimage versus Fremdimage Das Lexem Image geht auf das lateinische Wort imago zurück, das „Bild(nis)“ „Abbild“, „Vorstellung“ bedeutet. Da Image oft als Bild definiert wird, stellen häufig beide Termini quasi synonyme Ausdrücke dar. Im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ (Ritter/ Gründer 1976, S. 216f.) wird der Terminus Image ausführlich behandelt. Es wird daraufhingewiesen, daß Image z.B. in der wirtschaftspsychologischen Abhandlung von Gardner und Levy ungenau gegen verwandte Begriffe wie ‘Stereotyp’ oder ‘Vorurteil’ abgegrenzt wird. Der Begriff" Image geht auf die angloamerikanische Sozialforschung zurück, wo es hauptsächlich im Bereich der Werbepsychologie und der Marktforschung verwendet wird. Das Image stellt in diesem Zusammenhang ein gefühlsbetontes und dadurch auch die Sphäre des Visuellen überschreitendes Vorstellungsbild über bestimmte Meinungsgegenstände wie z.B. Firmen, Personen etc. dar (vgl. Brockhaus 1989, 10. Bd., S. 397). Das Image ist ein Bild, das einem Produkt zugeschriebene oder auch zuphantasierte Merkmale verleiht (Trautmann 1991, S. 64). Im folgenden werden die Begriffe Bild und <?page no="80"?> 80 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Image synonym verwendet. In diesen Ausführungen wird ausschließlich auf den Teilaspekt ‘Image von Nationen’ bzw. ‘Nationenbilder’ eingegangen. Das ‘Bild’ oder die ‘Bilder’, die in einer Bevölkerungsgruppe über eine andere Nation verbreitet sind, entstehen aus unterschiedlichen Traditionen, historischen Erfahrungen, Erwartungen und oft auch aus Wunschvorstellungen. Sie sollen als „Grobraster“ verstanden und gesehen werden; sie werden in „Mustern“ wahrgenommen (vgl. Grüner 1984, S. 55; und 1991, S. 30). „Solche Muster sind notwendigerweise Abstraktionen und Verallgemeinerungen, denen der einzelne Bürger nicht entsprechen muß. Wird schon das Selbstbildnis einer Nation stark von Selektionen bestimmt, mit denen aus der Vergangenheit Gewünschtes ausgesucht und Typisches stilisiert wird, so ist gleiches vom Fremdbild zu erwarten“ (Pingel 1984, S. 198). Selbst- oder Fremdbilder sind demnach selektiv, stark abstrahiert, generalisiert und verallgemeinert. Der Angehörige einer Nation kann diesem stilisierten Typ entsprechen, muß es aber nicht (vgl. Grüner a.a.O ). Erwähnenswert an dieser Stelle ist auch die Unterscheidung zwischen den zwei Phänomenen Selbst- und Fremdimage (Selbst- und Fremdbild). Das Selbstimage ist ein Gebilde von Empfindungen und Meinungen über sich selbst oder über die Gruppe, der man angehört. Das Fremdimage bezieht sich darauf, was man bei anderen Personen oder Gruppen wahrnimmt (vgl. Brockhaus 1989, a.a.O ). Das Kreieren der Images leistet bei der sozialen Orientierung eine große Hilfe und vereinfacht sowohl die eigene Einstufüng in soziale Zusammenhänge als auch die Einordnung von anderen Personen. Weiterhin kann es eine selektive Wahrnehmung verursachen, die zu einer stereotypen Bewertung von Fakten führen könnte (vgl. ebd ). Goffman geht auch auf diesen Begriff ein, indem er sagt: „Der Terminus Image kann als der positive soziale Wert definiert werden, den man für sich durch die Verhaltensstrategie erwirbt, von der die anderen annehmen, man verfolge sie in einer bestimmten Interaktion. Image ist ein in Termini sozial anerkannter Eigenschaften umschriebenes Selbstbild, ein Bild, das die anderen übernehmen können“ (1978, S. 10). Bleicher spricht von einer Kontrastrelation des Eigen- und Fremdbildes: „Das Eigenbild erscheint primär als Negativ des Fremdbilds und umgekehrt. Dieses lineare Grundphänomen taucht meist in zwei gegensätzlichen Variationen auf: entweder stellt man ein Eigenideal auf und setzt ihm die Fremdkritik entgegen, oder man geht von der Kritik am Eigenen aus und sucht das Ideal im Fremden. Doch sind auch negative und positive Parallelen zwischen Eigenbild und Fremdbild möglich“ (vgl. 1980, S. 18). Im Verhältnis zu den anderen Begriffen aus der Einstellungsforschung, wie z.B. Stereotyp oder Vorurteil, scheint der Terminus „Bild (Image/ Leitbild)“ <?page no="81"?> Interdisziplinärer Zugang zum Begriffdes Stereotyps 81 der neutralste zu sein (vgl. Schnepper 1990, S. 35; Prinz 1970, S. 200f). Die Neutralität des „Bildes“ im Vergleich zum Fremd- und Selbstbild betont auch Molnos in ihrem Ansatz „Das Deutschlandbild der Schweizer“ (1961). Sie definiert das „Bild“ folgendermaßen: „Mit ihm bleibt sowohl der Inhalt (kognitiver Aspekt) wie auch die affektive Ladung (affektiver Aspekt) und die tatsächliche Verhaltensweise (konativer Aspekt) der anderen Gruppe gegenüber offen“ (1961, S. 428). Bilder erleichtern den Menschen ihre Orientierung sowohl im Raum als auch in der Zeit, in ihren Umweltbeziehungen und in ihren Gefühlen. Sie drücken ursprünglich Eigenschaften des Individuums aus, wenn man dies aber auf größere Einheiten überträgt, kann man von der ganzen Gesellschaft, die selbst ein solches Leitbild besitzt, sprechen (vgl. v. Bassewitz 1990, S. 21). Mallinckrodt untersucht „Die Selbstdarstellung der beiden deutschen Staaten im Ausland“ und beschreibt „Images“ gleich „Bilder“, unter Berufung auf Sozialpsychologen als „systematisch gegliederte Darstellungen“, „Beschreibungen einer Nation, eines Volkes, zu denen auch die Einstellungen ihnen gegenüber und ihre Perzeptionen durch andere gehören; mit anderen Worten, sie sind in sich zusammenhängende Sichtweisen, die die verschiedenen Vorstellungen und Eindrücke von einem Volk in einem einheitlichen geistigen Bild zusammenfugen wollen.“ (1980, S. 35) Das Bild besitzt einen dynamischen Charakter und soll als interner Entwicklungsprozeß angesehen werden, in dem sich bestehende Informationen mit neuen immer wieder verknüpfen (vgl. Prinz 1970, S. 200f). Im Gegensatz zum Stereotyp ist ein Image hauptsächlich das Erscheinungsbild, die Wahrnehmung des Äußeren, die Außenseite, der Eindruck, den wir von etwas haben (vgl. Trautmann 1991, S. 64). Im „Wörterbuch der Soziologie“ wird „Image“ folgendermaßen definiert: „die als dynamisch verstandene, bedeutungsgeladene, mehr oder weniger strukturierte Ganzheit der Wahrnehmungen, Vorstellungen, Ideen und Gefühle, die eine Person - oder eine Mehrzahl von Personen von irgendeiner Gegebenheit besitzt.“ Im weiteren Kontext heißt es: „Image ist das subjektiv gewertete, d.h. psychisch, sozial und kulturell verarbeitete Bild der Wirklichkeit; es zeigt, wie eine Gegebenheit von einer Person gesehen, beurteilt und gedeutet wird“ (Bernsdorf 1969, S. 444). Meines Erachtens liegt der entscheidende Unterschied zwischen Image und Stereotyp in folgenden Punkten: - Image zeichnet sich durch Kurzlebigkeit aus, es kann von heute auf morgen zerstört werden, z.B. Zerstörung des Shell-Images durch die geplante Versenkung der Ölplattform BRENT SPAR im Jahre 1995. Ein Stereotyp zeichnet sich dagegen durch Langlebigkeit aus. <?page no="82"?> 82 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck - Ein Image wird aktiv von einer Person oder Bevölkerungsgruppe aufgebaut besonders präsent ist hier die Modebranche oder Parfumindustrie, wo der Preis für das erworbene Image bezahlt wird. Ein Stereotyp ist in diesem Sinne nicht wie das Image erwerbbar, eine einzelne Person oder eine Bevölkerungsgruppe kann ein Stereotyp, das über sie besteht, nicht beeinflussen. - Ein Image setzt das Individuum oder die Bevölkerungsgruppe unter einen gewissen Zwang, sich entsprechend des Images zu verhalten, beim Stereotyp läßt sich dieses Merkmal nicht beobachten (s. auch Goffmann über die ‘Technik der Imagepflege’, 1978, S. 18f.) - Als Unterschied zwischen dem Image und dem Stereotyp kann auch ihre differenzierte Aneignung angeführt werden. Nach Wenzel entsteht das Image auf Basis eigener Erfahrungen, das Stereotyp hingegen wird dank der Sozialisation verbreitet, das infolgedessen zum festen Teil unseres öffentlichen Bewußtseins gehört (vgl. 1978, S. 33). 2.5.3 Klischee Das Lexem Klischee ist ähnlich wie das ‘Stereotyp’ ein Terminus aus der Druckersprache. Ursprünglich bedeutete es einen vorgefertigten Druckstock für Abbildungen (vgl. Bußmann 1990, S. 385). Mit der Zeit wurde dieser Terminus auf vorgeprägte Wendungen, abgegriffene und durch allzu häufigen Gebrauch verschlissene Bilder, Ausdrucksweisen, Rede- und Denkschemata, die ohne individuelle Überzeugung unbedacht übernommen werden, angewandt (vgl. Wilpert 1989, S. 459). Gebhardt definiert ein Klischee als „ein relativ fest umrissenes, konventionelles und mehr oder weniger komplexes Vorstellungsbild, das sich in ungerechtfertigt vereinfachender und generalisierender Weise auf Personen oder Sachverhalte bezieht, indem es diese unter Vernachlässigung und Verschleierung ihrer spezifischen Eigenschaften oder Merkmale kategorisiert“ (1979 S. 167). Quasthoff (1978) ordnet ‘Klischees’ neben ‘Sprichwörter’ und ‘Slogans’ in dieselbe Gruppe ein. Das Klischee ist nach Quasthoff eine gewöhnliche Formel, eine triviale Wahrheit oder auch eine Tautologie, die mit einer festen linguistischen Form verbunden ist, z.B.: Ja, jedes Ding hat ja nun seine zwei Seiten. Sprichwörter unterscheiden sich von Klischees dadurch, daß sie eine längere Existenz in der Sprachgemeinschaft haben, und oft Alliterationen, Reime oder auch andere rhetorische Mittel aufweisen, z.B.: Müßiggang ist aller Laster Anfang (vgl. S. 14). Slogans sind Formeln, welche in Massenme- <?page no="83"?> Interdisziplinärer Zugang zum Begriffdes Stereotyps 83 dien ständig in Erscheinung treten. Sie sind typisch für die Sprache der Werbung, z.B.: Nicht immer... aber immer öfter; Alles Müller, oder was. Die Problematik der Unterscheidung von ‘Stereotypen’ und ‘Klischees’ in der gesprochenen Sprache bespricht Wenzel in ihrer Arbeit. Sie bezieht sich dabei u.a. auf die These von Wackernagel-Jolles, daß der Objektbereich eines Klischees unbegrenzt ist. Das Klischee ist nicht fest an eine soziale Gruppe bzw. ihre Mitglieder gebunden, weil es im spontanen Sprechen aller vorkommt. Deshalb gehören zu den sprachlichen Klischees Redewendungen wie z.B.: Ich darf Sie, verehrte Anwesende, ... begrüßen oder ich darf mich für ... bedanken (vgl. 1978, S. 34). Eine Formulierung wird dann zum ‘Klischee’, wenn sie bemerkenswert häufig verwendet wird. Beim Stereotyp spielt dieser Aspekt keine primäre Rolle (obwohl er notabene auch nicht zu vernachlässigen ist); beim Stereotyp handelt es sich dagegen hauptsächlich um den inhaltlichen Aspekt, weil er für das Stereotyp konstituierend ist (vgl. ebd ). In der „Stilistik der deutschen Gegenwartssprache“ von Fleischer/ Michel wird von der negativen Bewertung der sprachlichen Klischees in der Belletristik gesprochen (vgl. 1975, S. 366). In diesem Zusammenhang zitieren Fleischer/ Michel Nalewski: „Einem Teil der sprachlichen Stereotype, dem sprachlichen Klischee, entsprechen immer Denk-Stereotype, Denkschemata; sie sind für den ganzen Bereich der Erkenntnis die Literatur ordnet sich auf besondere Weise darin ein ein Hindernis eine große Gefahr“ (Nalewski nach Fleischer/ Michel 1975, S. 366). Fleischer/ Michel versuchen daraufhin diese Definition von den sprachlichen Klischees: „Zweifellos handelt es sich hier um häufig gebrauchte, in bestimmten Zusammenhängen stereotype Ausdrücke mit geringer Argumentations- und Überzeugungskraft“ (ebd., S. 368). Eine interessante Charakterisierung liefert Kostomarov, der das Klischee ein „Auf die Pauke-Schlagen ohne Melodie“ (1979, S. 7) nennt. 2.5.4 Topik/ Topos/ Locus Zu den mit dem Stereotyp verwandten Begriffen zählt die Topik, die zwei Bedeutungen besitzt, nämlich ‘Lehre von den Topoi’ (vgl. Kluge 1989, S. 732) und Ansammlung von Topoi, im Sinne von Schlußregeln (vgl. Herbig 1993, S. 587). In ihrer zweiten Bedeutung überschneidet sie sich inhaltlich mit „topos“, der als Suchformel oder wie bei der „Topik“ als Schlußregel (vgl. Kienpointner 1986, S. 322) bzw. als Ansammlung von Schlußregeln (Argumentationsmustern) verstanden wird (vgl. Herbig a.a.O ). Anhand dieser Teilüberschneidung der beiden Termini kann das Lexem „Topos“ als Teilsynonym für „Topik“ gelten. <?page no="84"?> 84 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Das Wort Topos wird im Wörterbuch von Kluge (vgl. 1989, S. 732) als ‘feste Wendung, Bild’, das aus dem Griechischen entlehnt wurde, begrifflich gefaßt. Der Ursprung dieses Wortes liegt in der antiken Rhetorik bei Aristoteles, welcher diesen Begriff unter der Perspektive der Textproduktion behandelt, in seinem Bedeutungsumfang aber nicht fest eingrenzt (vgl. Herbig 1993, S. 586; Bußmann 1990, S. 797). So ist es nicht verwunderlich, daß er heute von verschiedenen Seiten mit leicht variierenden Inhalten versehen wird. Kopperschmidt definiert eine Topik als „Heuristik möglicher Argumente“ (1989, S. 189), womit auch Herbig übereinstimmt, der nämlich sagt, daß ein Topos mit Hilfe eines ganzen Argumentationsauschnitts und nicht allein mit einer Schlußregel zum Ausdruck gebracht wird (Herbig 1993, S. 587). Den dritten wesentlichen Aspekt des Wortes erläutert Kienpointner ausführlicher. Er übersetzt das aristotelische Wort „topos“ mit „locus“, worunter er eine Schlußregel versteht (vgl. 1986, S. 327). Er unterscheidet zwei Arten von loci: loci communes kontextunabhängig formuliert; sie sind eine Grundlage für die Bildung von loci proprii, die sich auf politische, soziale und andere Kontexte beziehen können. Ein Beispiel für „locus communis“ ist: „Wenn jemand zu einer bestimmten Gruppe gehört, ist es wahrscheinlich, daß er für diese Gruppe typische Charakteristika aufweist“. loci proprii kontextspezifische Konkretisierungen der loci communes, z.B.: „Wenn jemand Mitglied der Berliner Philharmoniker ist, ist es (sehr) wahrscheinlich, daß er ein ausgezeichneter Musiker ist“ (ebd ). Kienpointner bemerkt aber, daß „locus communis“ schon in der Antike außerdem in der Bedeutung eines „Gemeinplatzes“, „sprachlichen Klischees“ und „Stereotyps“ verwendet wurde (vgl. ebd ). Kluge deutet auch an, daß mit der Zeit der Topos-Begriff auf Redefiguren selbst metonymisch übertragen wird (vgl. 1989, S 732). Loci können charakteristisch für „das Argumentieren großer Gruppen einer Sprachgemeinschaft sein, z.B. loci bezüglich der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht, Partei, Rasse, Nation sowie Geschlechtszugehörigkeit, die als Varianten von locus communis einzustufen sind“ (vgl. Kienpointner 1986, S. 328). In der Soziologie beschäftigt sich Popitz (1972) mit dem Phänomen der Topik. Er untersucht das Gesellschaftsbild des Arbeiters und stellt dazu fest: „Das allgemeine Denken über allgemeine Probleme kleidet sich im allgemeinen in stereotype Klischees; es vollzieht sich, um einen philologischen Terminus zu verwenden, in Form von Topoi“ (vgl. S. 82). Popitz fügt noch hinzu. „Jede Topik, d.h. der Gesamtbestand verfügbarer Topoi, hat ihren sozialen Ort, an dem sie sich (...) als sinnvoll erweist“ (S. 84). In seiner Untersuchung definiert er „Topos“ und „Topik“ nach dem Muster von Curtius, der diese Begriffe in <?page no="85"?> Interdisziplinärer Zugang zum Begriffdes Stereotyps 85 der Literaturwissenschaft erörtert hat: „Ein Topos ist eine sprachlich festliegende Formel, die stereotyp wiederholt wird, eine Sprachhülse, ein sprachliches Klischee. Im weiteren Sinne gehören zur Topik auch die wiederkehrenden Bilder, Figuren und Gestalten“ (vgl. S. 83). Mit der Topik-Problematik beschäftigt sich auch Quasthoff (vgl. 1973, S. 68; und 1978, S. 18). Sie grenzt den Begriff‘Topik’ gegenüber dem des Stereotyps auf folgende Art und Weise ab: - Das Stereotyp ist nur auf soziale Gruppen gerichtet. - Die Topik umfaßt eine große Breite von Themen (vgl. 1973, S. 69). Der Begriff des Stereotyps ist demnach auf die Fragestellung dieser Arbeit präziser zugeschnitten. 2.6 Verhältnis von sozialpsychologischem und linguistischem Stereotypbegriff Stereotype existieren zum einen auf der mental-kognitiven Ebene und zum anderen sprachlich realisiert auf der kommunikativen Ebene. Auf der mentalkognitiven Ebene können Stereotype bewußt als solche vorhanden sein, oder auch die Form unbewußten Handlungswissens haben. Sozialpsychologisch gesehen stellen sie einen Wissenstyp spezieller Art dar, dessen zentrale Funktion die Orientierung ist. Linguistisch gesehen handelt es sich bei Stereotypen um semantisch und pragmatisch beschreibbare Elemente der Inhaltsseite, die auf unterschiedliche Weise ausdrucksseitig realisiert und insofern rekonstruiert werden können. Auf der kommunikativen Ebene kann das kollektive Wissen unterschiedliche Formen der Vertextung haben, unterschiedlich markiert sein und auch unterschiedlich untersucht werden. Eine Präzisierung dieser Annahmen läßt sich nur durch die Untersuchung der kommunikativen Aspekte vornehmen, die ihrerseits auf dem mental-kognitiven Hintergrund basieren. Daraus folgt, daß mindestens eine partielle Rekonstruktion der mentalen Sphäre der an der Sinnkonstitution Beteiligten in diesem Rahmen notwendig ist und in die Untersuchung einbezogen wird. In der Kommunikation treten Stereotype in mannigfaltigen Formen auf, was unter anderem von der Art des verwendeten Mediums, d.h. gesprochener oder geschriebener Sprache abhängt. In vorliegendem Fall stellt die geschriebene Sprache in Form von Zeitungstexten das Kommunikationsmedium dar. Hieraus ergeben sich gewisse Abweichungen von den Stereotypen in der gesprochenen Sprache. So werden dort Stereotype stärker situativ eingebunden, und die jeweiligen Interaktanten können ihren Gebrauch vom Feed-back des <?page no="86"?> 86 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Kommunikationspartners abhängig machen. In der Face-to-face-Situation tritt außerdem nahezu keine raum-zeitliche Trennung von Textproduktion und Textrezeption auf. Da diese Trennung in der geschriebenen Sprache zwangsläufig ist, existiert in der Regel keine direkte Rückkopplung zwischen den Interaktanten, was dazu fuhrt, daß weniger dynamische Prozesse zwischen Textproduzenten und Rezipienten stattfinden. In der nachfolgenden empirischen Untersuchung werden Stereotype linguistisch, d.h. als inhaltliche Größen verstanden, die sich semantisch-pragmatisch beschreiben lassen. Zu den Inhaltselementen der untersuchten Stereotype gehören: bestimmte, verfestigte kognitive Konzepte - Tendenz zu vereinfachenden Konzepten - Referenz auf eine Person oder Personen (Polen) oder eine ethnisch-politische Gruppe (Nation) generalisierender und typisierender Charakter der Prädikationen stabiler Charakter der Prädikationen bewertender und emotionaler Charakter der Prädikationen, wobei es sich häufig um negative Wertungen handelt historisches und aktuelles gesellschaftliches Wissen ein prädikativer Kern, der dem polnischen Staat oder seinen Bürgern bestimmte Eigenschaften zuschreibt Zur Ausdrucksebene, also zu den sprachlichen Realisierungen der Stereotype sollen vor allem zwei Fragen geklärt werden: - Gibt es regelhafte Parallelen zwischen dem Gehalt eines bestimmten Stereotyps und seinen Ausdrucksformen? - Gibt es in verschiedenen Diskurstypen unterschiedliche Ausdrucksformen für Stereotype? 2.7 Linguistische Bestimmung des Begriffs Stereotyp Im Rahmen unserer Untersuchung wird unter einem Stereotyp ein Element des generischen, kulturspezifischen Orientierungswissens verstanden, d.h. ein Urteil über eine soziale bzw. ethnische Gruppe, das eine positive, negative oder neutrale Bewertung vomimmt. Es ist ein Urteil, das nicht aufgrund rationaler Überlegungen entstanden ist, sondern in einer Gesellschaft tradiert wird, allgemeinen Konsens gefunden hat, und somit weit verbreitet und tief verankert ist. Eine Möglichkeit der Tradierung ist die Presse. Zeitungstexte bilden daher <?page no="87"?> Interdisziplinärer Zugang zum Begriffdes Stereotyps 87 das Untersuchungskorpus dieser Arbeit. Es gibt Stereotype über die eigene Gruppe (Autostereotype) und über fremde Gruppen (Heterostereotype). Die soziale Funktion des Stereotyps kann entsprechend integrierend oder differenzierend sein. Kennzeichnend für Stereotype sind ihr pauschaler Charakter und ihr argumentativer Status innerhalb gesellschaftlicher und privater Diskurse. Es wird davon ausgegangen, daß diese Urteile als Prädikationen in Texten enthalten sind (s. Kap. 1.6.2.3). Sie können auf einer Skala von völlig implizit bis ganz explizit realisiert werden. Die expliziteste Realisierung eines Stereotyps stellen Sätze dar wie z.B. „Polen sind streng katholisch“ oder „Polen sind trinkfreudig“. Die impliziten Realisierungen eines Stereotyps erfordern linguistische Analysen, die an der Sprachoberfläche ansetzen. So verstanden lassen sich Stereotype als textfunktionale Elemente analysieren. Die Ausdrucksmittel der lexikalischen und der syntaktischen Ebene werden im Hinblick auf die übergeordnete Textfunktion untersucht, und zwar in Hinblick auf ihren Beitrag zur Realisierung des Stereotyps (Signalwörter, vgl. Teil V in Kap. 5). Stereotype werden in dieser Arbeit als explizite Prädikationen formuliert. Sie bilden ein Hilfsmittel der linguistischen Analyse und versuchen, unbewußte Urteile bewußt und rational überprüfbar zu machen. Die Formulierung expliziter Prädikationen ist allerdings erst Resultat der Textanalyse und darf nicht gleichgesetzt werden mit der Ansicht des Autors; die Textanalyse geht prinzipiell vom Leser und von der Textrezeption aus. Wenn man Stereotype in Form expliziter Prädikationen repräsentiert, kann man sie nach Referenzbereich und Prädikat klassifizieren (s. Kap. 3.4). Die Arbeit verfolgt nicht das Ziel, Stereotype als grundsätzlich falsche Urteile zu brandmarken, sondern ihren Beitrag an der Konstitution politischer Wirklichkeiten aufzuzeigen und dabei auch auf den eventuell diskriminierenden Charakter von Vorurteilen hinzuweisen. <?page no="88"?> 88 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 3. Analysekriterien und Funktionsweisen von Stereotypen 3.1 Theoretisches und praktisches Vorgehen Unter Berücksichtigung von Kriterien, die zur Beschreibung von Stereotypen auch in weiteren Texten herangezogen werden können, werden zwei ausgewählte Artikel aus der „Süddeutschen Zeitung“, von Seite drei (Reportagenseite) detailliert analysiert, um die häufigsten Verwendungsweisen von Stereotypen aufzuzeigen. Die Analyse zweier Zeitungstexte mit einer hohen Frequenz von Stereotypen soll die Methoden der Herausarbeitung und der Interpretation von Stereotypen illustrieren und zugleich erproben, d.h., zunächst werden Wirkungsweise und Mechanismen der Stereotype in der Kommunikation anhand des gezielt eingeschränkten Materials dargestellt. In einem weiteren Arbeitsschritt wird ein möglichst breites thematisches (inhaltliches) Spektrum der Stereotype, die im deutschen öffentlichen Diskurs über Polen existieren und existiert haben, aufgezeigt, d.h., Stereotype von demselben Aussage- und Handlungsgehalt werden über mehrere Artikel hinweg zusammengefaßt und präsentiert (s. Kap. 5). Die detaillierte Textanalyse eines Zeitungsartikels soll demonstrieren, welche Vertextungsmöglichkeiten von Stereotypen existieren. In der Analyse wird außer der Erprobung von Methoden zur Interpretation von Stereotypen auch die Rolle von Textüberschriften und der graphischen Gestaltung des Textes dargestellt (s. Kap. 3). Danach wird artikelunabhängig gearbeitet, d.h., die Stereotype eines Typs werden theoretisch verallgemeinert und anhand einer größeren Menge von Einzelbelegen illustriert (s. Kap. 5). 3.2 Interpretationsmethoden In diesem Abschnitt geht es darum, die Methoden zur Aufdeckung von Stereotypen darzustellen, um anschließend auf die Beschreibungskriterien einzugehen, anhand derer Verwendung und Funktion der Stereotype erläutert werden sollen. Bei der Aufdeckung eines Stereotyps gilt es zunächst zu entscheiden, ob an der analysierten Stelle ein Stereotyp vorliegt; hierzu gibt es die folgenden beiden Möglichkeiten: 3.2.1 Vergleiche über mehrere Texte hinweg Diese Methode ist verwandt mit dem philologischen Parallelstellenverfahren (vgl. Seiffert 1992, S. 142; Szondi 1977, S. 25f), das auch in der Lexikographie zum Einsatz kommt. Es werden alle Belege des Gesamtkorpus zusammengestellt, die dasselbe Stereotyp ausdrücken, so daß die semantischen und <?page no="89"?> Analysekriterien und Funktionsweisen von Stereotypen 89 pragmatischen Aspekte seines Gebrauchs erkennbar werden. Die Belege lassen ferner erkennen, welche Eigenschaftszuschreibungen in den analysierten Artikeln eine besonders hohe Frequenz aufweisen. Bei solchen Vergleichen ist zu berücksichtigen, daß Eigenschaftszuschreibungen auch negiert verkommen können (Stichwort - Atypik, s. Kap. 3.4.3.2). Daran läßt sich u.U. die Tabuisiertheit eines Stereotyps erkennen. 3.2.2 Substitution Durch die Substitutionsprobe, die auf dem Austauschen bestimmter Lexeme im Text selbst und damit der versuchsweisen Übertragung der Prädikation auf eine andere ethnisch-politische Situation beruht, kann aufgezeigt werden, ob die Darstellung eines Ereignisses oder einer Situation nur in bezug auf Polen gilt, oder ob sie national indifferent ist. Die Methode hilft vor allem bei der Herausarbeitung der impliziten Stereotype. 3.3 Interpretationsmethoden von Stereotypen Die zentrale Interpretationsmethode beruht auf der Rekonstruktion der journalistischen Vertextungsverfahren beim Ausdruck von Stereotypen und prüft anhand einer Reihe nachfolgend zu erläuternder Kriterien, wie Stereotype in Zeitungsartikeln versprachlicht und mit der historisch-politischen Situation verknüpft werden. Bei der Betrachtung der Stereotype ist es notwendig, unterschiedliche Arten von Beschreibungskriterien im Auge zu behalten, die entweder beim Inhalt eines Stereotyps ansetzen (z.B. Nation- oder Ideologiebezogenheit), oder bei der Bewertung eines Stereotyps in der Gesellschaft (Tabuisiertheit oder Nicht-Tabuisiertheit), oder sich auf die Art der Stereotyp- Darstellung beziehen (z.B. typische oder atypische Kontextualisierung eines Stereotyps). Es sind die folgenden Kriterien (sie werden in den Abschnitten 3.4.1 bis 3.4.7 eingehend erläutert): - Kriterien, die beim Inhalt eines Stereotyps ansetzen: • Nationbezogenheit oder Ideologiebezogenheit eines Stereotyps - Kriterien, die bei der Bewertung eines Stereotyps in der Gesellschaft ansetzen: • Tabuisiertheit oder Nicht-Tabuisiertheit eines Stereotyps • Kriterien der Darstellung eines Stereotyps: • Typik / Atypik als Kontextualisierungsverfahren von Stereotypen • Explizitheit / Implizitheit des Ausdrucks eines Stereotyps • als zentrales oder peripheres Textthema <?page no="90"?> 90 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck • Bestätigung oder Entkräftung eines Stereotyps • Polarisierung mittels eines Stereotyps Es kann selbstverständlich zu mehreren Überschneidungen zwischen den jeweiligen Kriterien kommen. An dieser Stelle sollen einige allgemeine Bemerkungen gemacht werden, um Mißverständnisse zu vermeiden, die sich aus diesen Überschneidungen ergeben können. Die Kriterien explizitHmplizit setzen bei der Versprachlichung des Stereotyps selbst an. Die explizite Darstellung eines Stereotyps kommt der Formulierung einer Stereotyp-Prädikation sehr nahe. Zu seiner expliziten Realisierung eines Stereotyps gehört auch, daß die Signalwörter relativ zahlreich präsent sind (s. Kap. 5), während bei der impliziten Realisierung eines Stereotyps seine Prädikation erst in einer untergeordneten syntaktischen Form zum Ausdruck kommt (etwa in einem Adjektiv oder Adverb) und die Signalwörter kaum noch eine Rolle spielen. Explizit/ implizit markieren Grenzwerte einer Skala, auf der auch Mittelwerte möglich sind: Es gibt also ein Mehr oder Weniger an Explizitheit oder Implizitheit. Die Kriterien Typik/ Atypik einerseits und explizit/ implizit andererseits sind im Prinzip voneinander unabhängig. Bei der Auswertung von Belegen können wir allerdings feststellen, daß Typik als Kontextualisierungsverfahren eines Stereotyps in Verbindung mit seiner expliziten Darstellung, sowie Atypik in Verbindung mit Implizitheit in höherem Maße miteinander korrelieren, als etwa Typik mit Implizitheit oder Atypik mit Explizitheit. Um das Kriterienpaar Typik/ Atypik als Kontextualisierungsverfahren eines Stereotyps im Text erschließen zu können, muß man den weiteren Kontext miteinbeziehen, d.h., für dieses Kriterium ist der Textkontext des verbalisierten Stereotyps entscheidend, insofern das Stereotyp in die Darstellung einer Situation eingebettet ist, die diese Situation entweder als typisch oder als atypisch gemessen an Stereotypenerwartungen beschreibt. Um den Grad Explizitheit/ Implizitheit zu prüfen, spielt der Ko-text zwar eine wichtige Rolle, ist aber nicht gleichermaßen ausschlaggebend wie beim Kriterienpaar Typik/ Atypik. Die Darstellungskriterien Typik/ Atypik haben mehrere Gemeinsamkeiten mit den Kriterien des Bestätigens bzw. Entkräftens eines Stereotyps. Ein atypisch kontextualisiertes Stereotyp fuhrt jedoch keineswegs automatisch zu seiner Entkräftung, und so z.B. kann die ständige Wiederholung der Feststellung „Polen sind nüchtern“ (=Atypik) durchaus zum Abrufen der polnischen ‘Trinkfreudigkeit’ fuhren (vgl. Kap. 5.7). Dieses Kriterium läßt von verschiedenen Möglichkeiten der Darstellung annähernd auf die Intention des Autors schließen. Es liegt nahe, daß es sich bei expliziter Darstellung und atypischer Kontextualisierung eines Stereotyps um seine Entkräftung handelt. <?page no="91"?> Analysekriterien und Funktionsweisen von Stereotypen 91 In 3.4 werden alle diese Kriterien, die in Kapitel fünf jeweils unter Punkt III (Zuordnung zur Funktion) angewendet werden, erläutert. In 3.4.1 bis 3.4.7 werden sie mit Hilfe einzelner Belege aus zwei Artikeln der „Süddeutschen Zeitung“ illustriert. Die beiden analysierten Texte sind: 1) „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“ - SZ, 23 / 24. August 1980, S.3 (SZ082301.TXT) 2) Das Volk hört eine neue Sprache - SZ, 25. August 1980, S. 3 (SZ082550.TXT) 1 3.4 Beschreibungskriterien 3.4.1 Nationbezogenheit / Ideologiebezogenheit eines Stereotyps Dieses Kriterienpaar ist das einzige, das beim Inhalt eines Stereotyps selbst ansetzt. Es gibt zwei Klassen von Referenzobjekten, auf die Stereotype bezogen werden können; entweder auf „die Polen“, d.h. das Volk, die Nation oder die polnische Bevölkerung, oder auf das kommunistische System und seine Ideologie, für die „das Polen“ im Jahre 1980 nur ein Beispiel ist. Die nationbezogenen Stereotype beziehen sich somit auf die ethnische Identität der Polen und sind unabhängig von der herrschenden Ideologie; sie behalten ihre Gültigkeit auch dann, wenn sich die politisch-ideologischen Prämissen verändern. Die ideologiebezogenen Stereotype könnten außer auf Polen auch auf andere Staaten mit demselben politischen System bezogen werden, können sich also ändern, wenn die jeweilige Ideologie wechselt. Die Trennung der Klassifikationskriterien ‘nationbezogen’ und ‘ideologiebezogen’ ist möglich und sinnvoll, aber beide Kriterien werden in den konkreten Texten oft sehr eng verknüpft oder aufeinander bezogen. Beispiele hierfür liefern Stereotype, bei denen beide Bezugsmöglichkeiten gegeben sind. Als Beispiel sei hier einerseits das nationbezogene Stereotyp der ‘polnischen Unordnung’ angeführt, das mit der sprachlichen Formel polnische Wirtschaft realisiert wird und dessen Geschichte in das 18. Jahrhundert zurückreicht, und andererseits das ideologiebezogene Stereotyp ‘kommunistische Mißwirtschaft’, das erst nach dem 2. Weltkrieg auf Polen bezogen werden kann. Eine treffende graphische Darstellung scheint hierfür eine Karikatur von Kurt Reimann aus der „Frankfurter Allgemeinen. Zeitung für Deutschland“ vom 27. August 1980 zu sein, die beide Stereotype widerspiegelt: 1 Die Siglen hinter den Belegangaben beziehen sich auf die Textdateien der ergänzenden Korpus-CD-ROM (siehe Anmerkung zur Einleitung). <?page no="92"?> 92 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Abb. 3 Die beiden möglichen Prädikationen „In Polen herrschen unordentliche/ chaotische Zustände“ und „In Polen herrscht kommunistische Mißwirtschaft“ überschneiden und ergänzen sich, weil die Grenzen zwischen ihnen fließend sind. Werden diese Stereotype explizit ausgedrückt, kann man sie meist leicht einer der beiden Klassen zuordnen. Werden sie implizit verwendet, ist meist nicht mehr klar, ob es sich um nationbezogene oder ideologiebezogene Stereotype handelt. Ein Blick auf die historische Genese eines Stereotyps hilft hier aber oft weiter. Interessant ist die Situation, wenn die nationbezogenen Stereotype wegfallen und die ideologiebezogenen bleiben. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wann die ideologiebezogenen entstanden sind und wie die nationbezogenen jetzt funktionieren. Wenn wiederum das ideologiebezogene Stereotyp das nationbezogene Stereotyp verstärkt, kommt es zu Generalisierungen, die ‘typisch’ für die Ideologie gelten sollen. Auf diese Phänomene wird ausführlicher im empirischen Teil der Arbeit eingegangen. Die im folgenden präsentierten Kriterien beziehen sich auf die Funktion eines Stereotyps im Text. Nach den einzelnen Definitionen werden jeweils Einzelbeispiele der Stereotype, die das jeweilige Kriterium bildhaft darstellen, präsentiert. <?page no="93"?> Analysekriterien und Funktionsweisen von Stereotypen 93 3.4.1.1 Nationbezogenheit Das explizit verwendete nationbezogene Stereotyp „Polen sind rebellisch“, das typisch für Polen, aber atypisch für den Kommunismus ist, findet man in folgendem Beleg gleich mehrfach: Tatsächlich ist es ohne Beispiel, daß eine kommunistische Partei, die nach ihrer Ideologie den Boden des orthodoxen Kommunismus nicht verlassen hat, seit sieben Wochen Streiks hinnimmt. Dies ist, betrachtet man die polnische Realität, freilich nicht ganz so überraschend. Denn manches im Lande hebt sich vom sonst überall praktizierten ‘realen Sozialismus’ ab. Polen hat sich nicht nur wirtschaftlich weiter nach Westen geöffnet als jedes andere Land des Ostblocks. In Polens öffentlichen Lesestuben (über 300 im ganzen Lande) hängen westliche Zeitungen. Die Bücher westlicher Philosophen sind zu kaufen. Polens Bürger können, sofern sie Devisen haben (keiner kontrolliert, woher sie kommen), reisen, wohin sie wollen. Man kann sich ohne jegliche Angst bewegen. Polens Kommunisten haben sich mit der katholischen Kirche arrangiert, wie es noch vor zehn Jahren undenkbar war. Polens Landwirtschaft ist weiterhin privat und wird wohl auch nicht angetastet werden. Und wenn es in den letzten Monaten durch den engstirnigen Propagandachef Jerzy Lukaszewicz auch zunehmend Gängelungsversuche der Literaten, Journalisten und Intellektuellen gegeben hat, so ist dennoch Polens geistiges Klima ohne Beispiel im Ostblock. Sogar die Maßnahmen gegen die intellektuelle Opposition gehen nicht über hartnäckige Schikanen hinaus: 48 Stunden wird man festgehalten und dann wieder freigelassen. Dialog bei einer Verhaftung am letzten Mittwoch: ‘Ah, Sie wieder! ’ Antwort des Milizkommandanten: ‘Ja, wir müssen mal wieder.’ (SZ, Das Volk hört eine neue Sprache, 25.08.1980, SZ082550.TXT) (s. Anhang S. 327). Der Autor konstruiert im ersten Satz einen Widerspruch, der sich im Kontrast zwischen Streik und Kommunismus widerspiegelt. Im „Kleinen politischen Wörterbuch“, das in der DDR im Jahre 1988 erschienen ist, heißt es, daß der Streik eine „gemeinsame, meist auf der Grundlage des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses organisierte Arbeitsniederlegung oder Arbeitseinstellung im Kapitalismus durch Werktätige eines Wirtschaftszweiges, Betriebs oder Berufs, um politische, ökonomische und soziale Forderungen durchzusetzen“ ist (Schütz/ Böhme/ Dominik 1988, S. 967). Diesen Widerspruch löst der Autor mit dem Satz auf: Dies ist, betrachtet man die polnische Realität, freilich nicht ganz so überraschend. Auffällig hierbei ist die Attribuierung polnisch, die explizit ausdrückt, daß die polnische Realität eine Sonderstellung einnimmt. Mit dem Satz drückt der Autor aus, daß es in der polnischen Realität nicht überraschend ist, wenn man sich nicht gemäß vorgeschriebener Regeln verhält, was wiederum das Stereotyp „Polen sind rebellisch“ ausdrückt. Mit der Wortgruppe nicht ganz so zeigt er, daß in Polen solche Widersprüche nahezu zwangsläufig entstehen. Die rebellische Ader kommt besonders am Ende des Textsegmentes deutlich zum Ausdruck. Hier wird eine Verhaftungsszene dargestellt, bei der der Häftling offensichtlich zum wiederholten <?page no="94"?> 94 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Mal eingesperrt wird, und trotzdem keine Einsicht zeigt, sondern durch sein Verhalten gegen die Obrigkeit rebelliert. Weitere Indizien dafür, daß die Polen sich gegen jede Vorschrift auflehnen, fuhrt der Autor im nachfolgenden Textsegment in großer Zahl an. Zu ihnen gehören folgende Kontraste: - Ostblock und wirtschaftliche Öffnung nach Westen - Polen hat sich .wirtschaftlich weiter nach Westen geöffnet als jedes andere Land des Ostblocks kommunistische Lesestuben und westliche Zeitungen - In Polens öffentlichen Lesestuben [. . .] hängen westliche Zeitungen. Die Bücher westlicher Philosophen sind zu kaufen. - Reisefreiheit und erlaubtes Besitzen von Westdevisen in einem kommunistischen Land - Polens Bürger können, sofern sie Devisen haben {keiner kontrolliert, woher sie kommen), reisen, wohin sie wollen. - Kommunismus und keine Furcht - Man kann sich ohne jegliche Angst bewegen. - Kommunismus und katholische Kirche - Polens Kommunisten haben sich mit der katholischen Kirche arrangiert [...]. private Landwirtschaft im Kommunismus - Polens Landwirtschaft ist weiterhin privat und wird wohl auch nicht angetastet werden. keine echten Strafen für intellektuelle Opposition die Maßnahmen gegen die intellektuelle Opposition gehen nicht über hartnäckige Schikanen hinaus. Alle Kontraste münden in die Schlußfolgerung ‘Selbst der Kommunismus hat in Polen resigniert’, weil die ‘Polen rebellisch sind’, d.h., der Kommunismus in Polen ist nur eine formale Hülle. Man kann feststellen, daß im Text explizit das Stereotyp „Polen sind rebellisch“ realisiert und durch eine nicht geringe Sammlung der dieses Stereotyp belegenden Beispiele untermauert wird. Das Atypische gilt für das Polen von 1980 vor dem Hintergrund des typisch Kommunistischen. Daraus läßt sich schließen, daß im konkreten Fall kein ideologiebezogenes Stereotyp vorliegt, sondern das nur für Polen typische nationbezogene Stereotyp „Polen sind rebellisch“. Im Hintergrund steht freilich das ideologiebezogene Stereotyp: ‘In einem kommunistischen Staat herrscht Unfreiheit’. Der Textstelle mit der Verhaftung kann man außerdem entnehmen, daß das Unterlaufen der Vorschriften durch die Polen nicht nur wie schon oben gezeigt von privater Seite, sondern auch von staatlicher betrieben wird. <?page no="95"?> Analysekriterien und Funktionsweisen von Stereotypen 95 Sogar die Maßnahmen gegen die intellektuelle Opposition gehen nicht über hartnäckige Schikanen hinaus: 48 Stunden wird man festgehalten und dann wieder freigelassen. Dialog bei einer Verhaftung am letzten Mittwoch: ‘Ah, Sie wieder! ’ Antwort des Milizkommandanten: ‘Ja, wir müssen mal wieder.’ (SZ, Das Volk hört eine neue Sprache, 25.08.1980, SZ082550.TXT) (s. Anhang S. 327). Bedient man sich der Substitutionsprobe und stellt man sich die Verhaftung eines Straftäters in einem Rechtsstaat vor, wirkt die polnische Verhaftung skurril. Der Verhaftete weiß von vornherein, daß er nur für 48 Stunden eingesperrt und danach wieder ffeigelassen wird, der Milizkommandant macht durch seine Aussage deutlich, daß er sich selbst von diesem Vorgehen distanziert. Das Modale müssen drückt die formale Pflicht aus, die von dem Milizkommandanten ausgeübt wird, mit der er sich jedoch keinesfalls identifiziert. Vor dem Hintergrund eines Rechtsstaates oder auch einer funktionierenden Diktatur wäre ein solches Vorgehen nicht vorstellbar, wodurch die Atypik der Situation in Polen noch zusätzlich betont wird. Auffällig ist auch die deskriptive Aussage des Autors 48 Stunden wird man festgehalten und dann wieder freigelassen, das unpersönliche Pronomen man kann den Eindruck erwecken, daß jedermann unabhängig, ob schuldig oder nicht inhaftiert werden kann. Erwartbar wäre gewesen, daß der Autor von Oppositionellen, Straftätern oder Dissidenten sprechen würde. 3.4.1.2 Ideologiebezogenheit Ein Beispiel für das des ideologiebezogenen Stereotyps wird durch eine Aussage über den ‘rückständigen Kommunismus’ belegt, in der das Stereotyp implizit geäußert und offensichtlich beim Leser vorausgesetzt wird: Das Fehlen von Bussen und Straßenbahnen, den Merkmalen kommunistischer Hauptverkehrszeit, fallt auf. (SZ, „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, 23 / 24.08.1980, SZ082301.TXT) (s. Anhangs. 318). Im Text wird an dieser Stelle eine Annahme zum Ausdruck gebracht, die als verbrieftes, gesichertes und allgemein anerkanntes Wissen über Polen als kommunistisches Land präsentiert wird, und zwar das Stereotyp der Stoßzeit im Sozialismus, die sich nicht durch Individualverkehr, sondern durch Busse und Straßenbahnen auszeichnet. Das im Text für den Kommunismus Typische, nämlich Busse und Straßenbahnen, wird zum Anlaß genommen, um atypisch ihr Fehlen in der aktuellen Streiksituation zu betonen. Das Textsegment enthält folgende Aussagen: 1) Busse und Straßenbahnen sind die Merkmale der kommunistischen Hauptverkehrszeit. <?page no="96"?> 96 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 2) Das Fehlen von Bussen und Straßenbahnen in Danzig fällt auf. Das Stereotyp ist in der Aussage (1) enthalten. Die Kopplung des Attributs kommunistisch und des Kompositums Hauptverkehrszeit ist stilistisch durch ihre Ungewöhnlichkeit markiert und soll dem Leser etwas für den Kommunismus besonders Typisches vermitteln. Die üblichen Kollokationen beider Ausdrücke, also das Paradigma erwartbarer Lesarten (vgl. Steyer 1997), weichen von den im Text präsentierten ab. Das Lexem kommunistisch wird eher mit ideologierelevanten Wörtern verknüpft; das Lexem Hauptverkehrszeit gehört hingegen zum Wortschatz der Alltagssprache und wird mit kapitalistischem Individualverkehr und mit anderen Alltagsbegriffen verbunden. Das Stereotyp wird also durch eine Wortgruppe vermittelt, die aus zwei ideologisch konträren Signalwörtem besteht. Die Verwendung des bestimmten Artikels den mit Bezug auf die Merkmale kommunistischer Hauptverkehrszeit erweckt den Eindruck scheinbarer Objektivität, mit der der Kommunismus beurteilt wird. Der Leser soll nicht daran zweifeln, daß Busse und Straßenbahnen während der Hauptverkehrszeit in den sogenannten kommunistischen Staaten die vorrangigen Beförderungsmittel sind. Versucht man, den deskriptiven Satz in einen anderen Kontext zu montieren, d.h. die Substitutionsprobe zu machen, und zwar in ein dem Leser vertrautes System, z.B. Das Fehlen von Bussen und Straßenbahnen, den Merkmalen kapitalistischer Hauptverkehrszeit, fällt auf kommt man zu dem Schluß, daß diese Aussage nur schwer nachvollziehbar ist, weil der Rezipient das Bild der Rush-hour im Kapitalismus eher mit dem Individualverkehr, d.h. mit Autokolonnen verbindet. Mit der verdeckten Gegenüberstellung von kommunistischer und kapitalistischer Hauptverkehrszeit erweckt diese Aussage bei den westdeutschen Lesern ein Bild von der zivilisatorisch-technischen Rückständigkeit des Kommunismus, die als Ergebnis jahrelanger ‘kommunistischer Mißwirtschaft’ verstanden werden kann. 3.4.2 Tabuisiertheit / Nicht-Tabuisiertheit eines Stereotyps Die beiden Analysekriterien der Tabuisiertheit und der Nicht-Tabuisiertheit beziehen sich auf die historische Situation der Berichterstattung und darauf, daß die Wertung des jeweiligen Stereotyps keinen Verstoß gegen gesellschaftliche Normen oder allgemeinen Konsens darstellt. Als Selbstverständlichkeit läßt sich eine häufige Verknüpftmg der Nicht-Tabuisiertheit mit der Explizitheit feststellen. <?page no="97"?> Analysekriterien und Funktionsweisen von Stereotypen 97 3.4.2.1 Tabuisiertheit Eines der tabuisierten Stereotype ist: „Im kommunistischen Polen herrscht ein halblegales Beschaffungswesen“, das implizit und ideologiebezogen ist. Dieses Stereotyp ist im folgenden Beleg enthalten: Die Lebensmittel werden ordentlich gekauft. (SZ, „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“ 23./ 24.08.1980, SZ082301.TXT) (s. Anhang S. 323). Mit der Erwähnung einer Selbstverständlichkeit ruft dieses Textsegment innerhalb eines komplexen Zeitungsartikels beim Leser eine besondere Aufmerksamkeit hervor. Für diesen stellt sich die Frage, warum etwas Selbstverständliches für den Autor erwähnenswert ist und in einem Zeitungsartikel auftaucht, zu dessen Textsortencharakteristik es gehört, daß gerade hier üblicherweise Informationen über neue, dem Leser noch nicht bekannte Sachverhalte vermittelt werden. Zwar scheint der deskriptive Satz auf der Ausdrucksebene keine stereotypen Inhalte zu transportieren, und man könnte sogar meinen, daß unter dem ordentlichen Kaufen in der umgangssprachlichen Bedeutung ‘große Mengen von Lebensmitteln kaufen’ verstanden wird, aber dann müßte der Satz folgende Topologie aufweisen: ‘Es werden ordentlich Lebensmittel gekauft’. Außerdem schließt die Verwendung des bestimmten Artikels {die Lebensmittel) eine Interpretation im Sinne der idiomatischen Verbindung ordentlich (Qm)kaufen als ‘viel (ein)kaufen’ aus. Aus diesen Gründen bedeutet das ordentliche Kaufen in diesem Text eindeutig ‘korrektes Erwerben von Waren mittels Geld’; dafür spricht auch der weitere Kontext. Das zugrundeliegende Stereotyp weist Parallelen zum Stereotyp der polnischen ‘Disziplinlosigkeit’ auf. Der Autor bedient sich des gleichen Präsentationsschemas; sowohl die ‘Disziplin der Polen’ als auch ‘ordentliches Kaufen von Lebensmitteln’ scheinen unter den gegebenen Umständen als etwas Neues, Berichtenswertes, Atypisches zu gelten. Die Erwähnung des Selbstverständlichen weist auf den atypischen Sachverhalt hin, der vor dem Hintergrund der vom Autor konstatierten Abweichung von der Erwartung über die ‘halblegal Waren beschaffenden Polen’ wahrnehmbar ist. Dabei wird das ‘halblegale Beschaffen’ als Euphemismus für das Tauschen der Waren, Einkäufe unter dem Ladentisch, Beschaffen über Beziehungen oder ‘Abzweigen’, d.h. aus der staatlichen Produktion in private Kanäle umlenken, verwendet. Das Vorhandensein der stereotypen Inhalte kann durch eine Ableitung illustriert werden: Ableitung: Bi ist eine Aussage über faktisches Verhalten im Streik. Die Lebensmittel werden ordentlich gekauft. <?page no="98"?> 98 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Implizit enthält Bi eine Behauptung B 2 über faktisches Verhalten außerhalb der Streiksituation bzw. die normale erwartbare Streiksituation, d.h.: B 2 : „Normalerweise werden die Lebensmittel nicht ordentlich gekauft.“ Man kann die Aussage versuchsweise in einen anderen Kontext übertragen. Man stelle sich z.B. vor, es werde über einen Streik bei den Londoner Verkehrsbetrieben berichtet und geschrieben, daß die Streikenden „die Lebensmittel ordentlich kaufen“. Die gleiche Substitution könnte man für einen Bericht aus Paris, Oslo oder Wien vornehmen. Dann macht der Kontext „London“, „Paris“ etc. deutlich, daß es hierfür keinen Erwartungshintergrund gibt, der den Satz Bi informativ macht. Bi impliziert B 2 , ohne daß B 2 syntaktisch und lexikalisch realisiert ist. Die Aussage Die Lebensmittel werden ordentlich gekauft betont die Ordnung und die tadellose Disziplin der Streikenden. Die Analyse zeigt, daß es sich hier um das Stereotyp ‘halblegal Waren beschaffende Polen’ handelt, das implizit ausgedrückt wird. Diese Implizitheit läßt sich auch aufzeigen, wenn man die anderen Textstellen, in denen Stereotype explizit ausgedrückt werden, vergleicht, z.B.: 1) Die Disziplin dieser 18 000, oft genug als polnisch-disziplinlos beschimpft, ist eisern. (SZ, „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, 23./ 24.08.1980, SZ082301. TXT) (s. Anhang S. 319). 2) Woher kommt diese Kraft in Polen, immer wieder? ‘Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns! ’ Das sagt die kleine Frau, das sagen bärenstarke Junge und graue Alte. (SZ, „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, 23./ 24.08.1980, SZ082301. TXT) (s. Anhang S. 320). In diesen Textstellen kann man den expliziten Ausdruck des Stereotyps an der verwendeten Lexik erkennen, nicht jedoch im Beispiel über das ‘ordentliche Kaufen’. Allgemein ist festzustellen, daß Journalisten die expliziten Stereotype mittels bestimmter Lexeme markieren oder sie aus dem Kontext entwickeln. Das Stereotyp ‘halblegales Beschaffüngswesen’ wird hier implizit verwendet. Im Wort ordentlich ist die implizite Bedeutung ‘Die Polen beschaffen illegal’ enthalten, was Interpretationsmöglichkeiten vom Schwarzhandel bis hin zum Stehlen bietet. Ob es sich deshalb um ein unfreiwilliges Unterlaufen des Stereotyps handelt, kann aber mit linguistischen Mitteln nicht entschieden werden. 3.4 2.2 Nicht-Tabuisiertheit Ein nichttabuisiert verwendetes Stereotyp „Polen sind rebellisch“ findet man im folgenden Beleg: <?page no="99"?> Analysekriterien und Funktionsweisen von Stereotypen 99 Überwiegend jung sind auch die Gesichter auf dem Werftgelände. Sie repräsentieren, was ein kluger Mann aus Warschau, der Chefredakteur der Wochenzeitung ‘Polityka’ Mieczyslaw Rakowski, einmal stolz die neue Elite Volkspolens genannt hat, selbstbewußt und stolz, Kinder der ersten Nachkriegsgeneration, die gleichwohl mit der Muttermilch den Stolz ihrer Ahnen, die Erfahrungen und Demütigungen ihrer Väter und die Abneigung gegen die Macht eingesogen haben. (SZ, „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, 23./ 24.08.1980, SZ082301.TXT) (s. Anhang S. 322). Der Autor unternimmt eine indirekte Charakterisierung der neuen Elite Volkspolens, die eine Vorbildfunktion für die ganze polnische Bevölkerung ausübt, indem er eine zitierte Äußerung unter Angabe von Quellen verwendet. Das Zitat zerlegend, findet man zwei für Polen typische Kategorien: den Stolz und die konsequente Abneigung gegenüber der Macht. Außer der Konstatierung der Existenz der beiden Eigenschaften, die für die neue Elite Volkspolens typisch sind, werden auch die Motivationen ihrer Entstehung bei den Polen angeführt, die in der Geschichte, d.h. bei den Ahnen und Vätern, zu finden sind. Hierbei rückt der Autor die Metapher der stillenden Mutter in den Vordergrund, die den Ursprung der beiden für die Polen „typischen“ Eigenschaften darstellt. Die Erfahrungen und Demütigungen ihrer Väter werden im direkten Zusammenhang mit der polnischen Abneigung gegen die Macht angeführt. Die Väter symbolisieren in der genannten Formulierung, ähnlich wie die Ahnen, die früheren Generationen der Polen und plazieren die Quellen des polnischen Mißtrauens jeglicher Macht gegenüber in der Geschichte. Das Stereotyp „Polen sind rebellisch“ wird nichttabuisierend verwendet, weil das Verhalten der streikenden Polen im Jahre 1980, das gegen den Kommunismus gerichtet war, offenen Beifall im Westen findet. 3.4.3 Typik / Atypik als Kontextualisierungsverfahren von Stereotypen Bei der Textproduktion und Textrezeption läßt sich eine gewisse Übereinstimmung zwischen stereotypisch erwarteten und nicht erwarteten Ereignissen bzw. Situationen feststellen. Es ist nämlich zu beobachten, daß Stereotype dann formuliert werden, wenn eine im Kontext beschriebene Situation, ein Ereignis oder ein Repräsentant des jeweiligen Volkes dem schon vorhandenen Stereotyp genau entspricht und es dadurch bestätigt. Diesen Fall nennen wir typisch kontextualisiertes Stereotyp oder noch kürzer Typik. Wird jedoch eine dem Stereotyp entgegengesetzte Situation beschrieben, formuliert der Autor das Stereotyp zwar meistens nicht explizit, nutzt es aber dennoch, weil er es beim Leser voraussetzen kann, und drückt die vor dem gemeinsamen Wissenshintergrund erklärte Verwunderung über das Abweichen vom Stereotyp aus. Demgegenüber erscheint das beschriebene Ereignis als untypisch. Der Autor benutzt das Stereotyp also, um etwas Atypisches darzustellen. Diesen Fall nennen wir atypisch kontextualisiertes Stereotyp oder noch kürzer Atypik. <?page no="100"?> 100 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Die Atypik einer Situation wird vor dem Hintergrund des (stereotypen) Wissens über das als typisch Geltende wahrgenommen. Auf diese Weise aktiviert auch das Atypische das stereotype Wissen, denn das Typische wird als mentaler Hintergrund abgerufen und das Atypische als Differenz vor diesem Hintergrund beschrieben. Die Markierung als atypisch manifestiert also den stereotypen Hintergrund. Das Verhältnis von dem typisch kontextualisierten und dem atypisch kontextualisierten Stereotyp kann als ein Indikator für das „Lebendigsein“ von Stereotypen genommen werden. Wenn im folgenden von der Typik/ Atypik bzw. vom typisch oder atypisch kontextualisierten Stereotyp im Text gesprochen wird, beziehen sich die Typik/ Atypik nicht auf den Inhalt des Stereotyps, sondern auf die Art und Weise seiner Einbettung im Kontext. 3.4.3.1 Typik Ein implizit und propagierend verwendetes Stereotyp, dessen Erscheinen im Text die Typik der dargestellten Sachverhalte betont, lautet „Polen sind mutig“, ist an folgender Textstelle zu finden: ‘Die Russen kommen nicht.’ Das glauben alle. Aber wenn: ‘Wir sind nicht die Tschechoslowaken.’ (SZ, „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, 23 / 24.08.1980, SZ082301.TXT) (s. Anhangs. 321). Mit dieser Aussage wird eine deutliche Unterscheidung der beiden Völker vorgenommen. Die Selbstverständlichkeit „Polen sind keine Tschechoslowaken“ wird als Begründung für die verschiedenen Verhaltensweisen und Reaktionen der spezifizierten Nationen angeführt. Da die Formulierung Wir sind nicht die Tschechoslowaken im direkten Anschluß an die Sequenz Die Russen kommen nicht auftritt, kann man anhand der vorhandenen Wissensbestände Schlußfolgerungen bezüglich der Interpretation dieses Textsegmentes ziehen, indem die Formulierung: Wir sind nicht die Tschechoslowaken so viel wie: „bei uns wäre so etwas wie das Ende des ‘Prager Frühlings’ unmöglich“ bedeutet und implizit das Stereotyp „Polen sind mutig“ beinhaltet. Durch die nationale Differenzierung wird betont, daß die Polen sich stark von den Tschechen und Slowaken abgrenzen und sich für etwas Besseres halten, weil sie ein anderes Verhältnis zur Macht zu haben glauben. Weiterhin läßt sich der Textsequenz entnehmen, daß die Polen von ihrem eigenen Erfolg überzeugt sind und das Verhalten der tschechischen und slowakischen Nachbarn mißbilligend und geringschätzig ansehen. Durch die Redewiedergabe in Form eines direkten Zitates wird die Authentizität des Erlebnisberichtes gestützt, wobei auch das Selbstkonzept der Polen zum Ausdruck gebracht wird. Das kollektive „Wir“ in der Aussage von Lech Walqsa impliziert die gemeinsame oben dargestellte Einstellung der Polen zu den Tschechen und Slowaken, die sich <?page no="101"?> Analysekriterien und Funktionsweisen von Stereotypen 101 zwangsläufig aus der Unterscheidung zwischen den Nationen ergibt und sich in der Dialektik: Tschechoslowakei! - Wir äußert. Das kollektive Wir ist in diesem Kontext automatisch als ‘Gesamtheit aller Polen’ zu verstehen. Die Aussage wird als typisch für Polen dargestellt und untermauert die in Polen zu diesem Zeitpunkt herrschende Lage. Die Art der Präsentation läßt das Stereotyp „Polen sind mutig“ als ein Autostereotyp der Polen erscheinen. Die in Kapitel fünf durchgeführte Untersuchung zeigt, daß dieses Stereotyp auch als Heterostereotyp in der deutschen Presse anzutreffen ist. 3.4.3 2 Atypik Das implizit ausgedrückte nationbezogene Stereotyp „Polen sind trinkffeudig“, das atypisch vor dem typischen Hintergrund wahrgenommen wird, läßt sich dem folgenden Beleg entnehmen: „Keinen Tropfen Alkohol! “ lautete der erste Beschluß der Streikleitung. Und alle halten sich daran. Streikpolizei mit weiß-roten Armbinden hält auf Ordnung. Sie ist überflüssig. Alle wissen, worum es geht. (SZ, „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, 23./ 24.08.1980, SZ082301.TXT) (s. Anhangs. 319). Die Information, in der der Autor auf den ersten Beschluß der Streikleitung eingeht, bringt das Stereotyp ‘trinkfreudige Polen’ implizit zum Ausdruck. Um dieses Stereotyp zu erschließen, werden folgende gedankliche Schritte vollzogen: - Das Verbot 'Keinen Tropfen AlkoholT stellt an und für sich eine wertneutrale Aufforderung dar; nur das Lexem Tropfen verschärft das ausgedrückte Verbot. - Die anschließende Formulierung lautete der erste Beschluß der Streikleitung stuft durch die Verwendung des Zahladjektivs erste den Beschluß als besonders wichtig ein. Mit dem Hinweis auf die Priorität des Beschlusses weist der Journalist nicht nur auf seine Wichtigkeit, sondern auch auf die Notwendigkeit in der Einschätzung der polnischen Streikleitung hin, ihn zu fassen. Er läßt den Leser dadurch einiges über das Selbstbild der Polen erschließen. - Auffällig ist, daß der obengenannte Beschluß als einziger von allen Beschlüssen überhaupt explizit genannt wird, was ebenfalls auf die Relevanzsetzung durch den Autor schließen läßt. - Der Satz Und alle halten sich daran zeigt die Atypik. Der Autor setzt also beim Leser voraus, daß er über das Stereotyp „Polen sind trinkffeudig“ verfügt. Nur vor diesem Hintergrund ist die Aussage Und alle halten sich daran eine Neuigkeit. Der Autor schildert hier also eine, seiner Meinung <?page no="102"?> 102 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck nach, atypische Situation, denn nur die ist berichtenswert. Dieser Mechanismus kann langfristig entkräftend wirken, kurzfristig hält er in jedem Fall das Stereotyp wach. Wenn man diesen Satz in einen anderen Kontext montierte, z.B. „Die IG Metall beschließt den Streik, und alle Mitglieder halten sich daran“ würde sich die Überflüssigkeit der genannten Zusatzinformation zeigen; deutsche Gewerkschafter würden selbstverständlich den Beschlüssen Folge leisten. Berichtet würde nur über solche Mitglieder, die sich nicht an den Streikbeschluß halten, das heißt über diejenigen, die sich atypisch verhalten. Daraus folgt, daß in der vorliegenden Textstelle beim Autor eine andere Erwartungshaltung vorliegen muß, und zwar die vom normalerweise ‘trinkenden Polen’. Es läßt sich zeigen, daß diese Erwartung und ihre ‘Enttäuschung’ dem Autor besonders wichtig ist. Er spricht sie nämlich auch an einer anderen Textstelle an: Kommt jemand mit einer Tasche, wird sie durchsucht. Wodka-Flaschen werden ausgeschüttet. Dieses Textsegment bestätigt die stereotype Vorstellung vom ‘trinkffeudigen Polen’, der gerne dem Wodka zuspricht, aber jetzt ‘in der Ausnahmesituation’ dem Alkohol gegenüber Enthaltsamkeit üben muß. Die Sachverhalte Durchsuchen von Taschen und Ausschütten von Wodka- Flaschen werden hier vor dem Hintergrund des Typischen mit Wodka zur Werft kommen als atypisch vermittelt. Die atypische Darstellung der Lage in Hinblick auf das Stereotyp wird vom Journalisten an den beschriebenen unerwarteten Verhaltensweisen der Streikenden, wie z.B. ‘Polen sind diszipliniert’, ‘trinken keinen Tropfen Alkohol’, sogar ‘die Streikpolizei ist überflüssig’ festgemacht. Erkennbar wird das Atypische wiederum, wenn man mehrere Textstellen zum gleichen Thema miteinander vergleicht. In allen wird die Dialektik von Typik/ Atypik hergestellt und genutzt (vgl. polnisch-disziplinlos). Durch die abschließende Äußerung des Autors: Alle wissen, worum es geht wird die atypische Charakterisierung noch gesteigert. Hier wird ein neues Bild von der polnischen Bevölkerung etabliert, und zwar: Polen halten ungeheuer diszipliniert zusammen und sind bereit, auf vieles zu verzichten, wenn es um Entscheidendes geht. 3.4.4 Expliziter oder impliziter Ausdruck eines Stereotyps Eine strikte Trennung zwischen Explizitheit und Implizitheit von Stereotypen ist schwierig durchzufuhren, weil sie wie in 3.3 erläutert wurde, Grenzwerte auf einer Skala mehrerer Möglichkeiten darstellen. Es gibt jedoch einige Indikatoren, die das Erkennen von Implizitheit und Explizitheit vereinfachen. Aufgrund empirischer Analysen lassen sich folgende Fälle spezifizieren, in denen ein Stereotyp implizit ausgedrückt wird: <?page no="103"?> Analysekriterien und Funktionsweisen von Stereotypen 103 - Der Journalist baut eine Paradoxie auf, ohne diese zu lösen, weil er das stereotype Wissen, mittels dessen diese Paradoxie aufgelöst werden kann, beim Leser voraussetzt. - Der Journalist nennt Ereignisse und Situationen, die im Weltwissen des Lesers selbstverständlich sind, im Sinne der Konversationsmaxime von Grice „Be relevant“ und somit (scheinbar) der Konversationsmaxime widersprechen (vgl. Althaus/ Henne/ Wiegand 1980, S. 702/ 703). Dieses läßt den Leser annehmen, daß es sich eben doch um eine wichtige Bemerkung handelt. Wie auch bei den Kriterien von Typik/ Atypik werden hier Annahmen über Erwartetes und Unerwartetes implizit vermittelt. - Der Journalist drückt ein tabuisiertes Stereotyp deswegen explizit aus, weil dessen explizite Nennung einen Verstoß gegen aktuelle gesellschaftliche Normen darstellt. 3.4.4.1 Explizitheit Ein expliziter Ausdruck eines Stereotyps liegt dann vor, wenn alle Elemente der Prädikation syntaktisch realisiert sind, d.h. wenn beim Ausdruck eines Stereotyps sowohl das Referenzobjekt als auch das Prädikat durch Lexeme repräsentiert sind. Beide Elemente der Prädikation müssen nicht durch ganz bestimmte Lexeme ausgedrückt sein, aber die verwendeten Lexeme müssen sich je einem paradigmatischen Feld bedeutungsverwandter Wörter zuordnen lassen. Die in Kapitel fünf angeführten Listen von Signalwörtern stecken die paradigmatischen Felder ab. Ein unterstützender Faktor für die explizite Verwendung von Stereotypen ist ihre Untabuisiertheit, zumindest im Kreise der erwarteten Leserschaft. Der Autor kann sich zwar von den appellativ angekündigten Stereotypen distanzieren, mit seiner Präsentation übt er gleichzeitig keinen Verstoß gegen die in der sozialen Umwelt geltenden Normen aus. Man kann Explizitheit eventuell auch als Intendiertheit auffassen, obwohl die linguistische Erschließbarkeit der Intentionen eines Autors umstritten ist und hier nicht diskutiert werden soll. Unter dem Begriff der „Autor-Intention“ versteht in der neueren pragmatisch orientierten Linguistik Busse, „daß einem geäußerten Text eine Mitteilungsabsicht der Äußernden entsprechen muß.“ (1992, S. 18fF.) In dieser Arbeit soll die Autor-Intention nicht besprochen werden, obwohl Verknüpfimgen einiger Kriterien auf diese Intention schließen lassen (s. Kap. 3.3). Eine explizite Versprachlichung liefert das Stereotyp mit der Prädikation ‘Polen und Russen stehen sich feindlich gegenüber’. Das nachfolgende Beispiel <?page no="104"?> 104 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck zeigt nur die antirussische Haltung der Polen. Die Einstellung der Russen ihrem Nachbarn gegenüber wird nicht angesprochen. Öffentliche Verkehrsmittel fahren nicht. Auch die Taxis stehen still. Nur Ausländer werden chauffiert. Der einzige Taxifahrer am Flughafen, schon wortlos bereit, den Ankommenden aufzunehmen, schlägt abrupt wieder die Tür zu, als er sich von mir, gerade aus Moskau kommend, gedankenlos russisch angeredet hört. Als ich sage, ich sei Deutscher, fragt er auf deutsch nur: ‘Bundes? ’ Ich nicke, er strahlt, öffnet die Wagentür wieder und erklärt: ‘Reden Sie ja nicht russisch. Wir wollen nichts von den Russen wissen.’ Bereitwillig fährt er zum Danziger Hafen, der Lenin-Werft, entgegen. (SZ, „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, 23./ 24.08.1980, SZ082301.TXT) (s. Anhang S. 318). Der Autor bedient sich hier des Zitats des polnischen Taxifahrers: Wir wollen nichts von den Russen wissen. Das kollektive Wir signalisiert den gemeinsamen Anspruch: die typische Einstellung aller Polen. Durch den Einsatz der Wiedergabe eines direkten Zitats wird der authentische Charakter des Berichtes gestützt. Das Stereotyp bezüglich der negativen Einstellung der Polen gegenüber den Russen wird folgendermaßen ausgedrückt: durch Thematisierung der Symptomfunktion der russischen Sprache (russisch angeredet hört) mit einer negativen Reaktion, durch die kategorische Äußerung wir wollen nichts von den Russen wissen, die sehr explizit, eindeutig und unmißverständlich ist, durch die nonverbale Reaktion des Taxifahrers auf den vermeintlichen Russen: er schlägt abrupt die Tür zu. Das Verhalten des Polen wird im Text als aggressiv und russenfeindlich präsentiert. Die Aggressivität gegenüber dem vermeintlichen Russen drückt die Verwendung des Verbs zuschlagen aus. Das Verb betont nämlich nicht nur die Unhöflichkeit und Animosität des Polen gegenüber dem Russen, die beispielsweise mit schwächeren Verben wie ‘schließen’ oder ‘zumachen’ auszudrücken wäre, sondern beinhaltet die zusätzliche Komponente der Streitbarkeit des Polen. Das modale Adverb gradueller Art abrupt verstärkt diese Streitbarkeit. Das generische Urteil des Typs ‘Polen sind russenfeindlich’ läßt sich auch aus weiteren Formulierungen des Autors erschließen. Zuerst bedient sich der Autor einer Exemplifikation: Nur Ausländer werden chauffiert, um im weiteren eine Kontrastrelation herzustellen, indem er unter den Ausländern zwei Gruppen spezifiziert; es gibt nämlich die einen Ausländer, die chauffiert werden, und die anderen, die nicht chauffiert werden. Dabei wird deutlich, daß ein Russe zu der Kategorie von Ausländern gehört, die nicht befördert worden wäre. <?page no="105"?> Analysekriterien und Funktionsweisen von Stereotypen 105 3.4.4 2 Implizitheit Implizite Verwendung von Stereotypen soll heißen, daß ein Stereotyp dem Text zu entnehmen ist, ohne daß Referenzobjekt und Prädikat unmittelbar syntaktisch realisiert sind. Ein auf implizite Weise verwendetes Stereotyp kann vom Leser nur erkannt werden, wenn er bezüglich des Stereotyps über ein Vorwissen verfügt, d.h. es wiedererkennt, oder im Text weitere Indikatoren findet, die das Verstehen des Stereotyps ermöglichen und damit das implizite Stereotyp im Prozeß der Rezeption expliziter werden lassen. Zu solchen Indikatoren gehört die atypische Charakterisierung tabuisierter Stereotype. Analog zur Explizitheit kann man die Implizitheit entsprechend als Nicht- Intendiertheit auffassen. Nicht-Intendiertheit soll hier aber nicht den Status eines Analysekriteriums erhalten. Das implizit verwendete ideologiebezogene Stereotyp wird zur Bestätigung einer Sichtweise von Ereignissen und Sachverhalten verwendet, die der Autor beim Leser als gegeben voraussetzt, was im folgenden Textausschnitt verdeutlicht werden soll: Nicht einmal im Zentrum der Hauptstadt gibt es in diesen Tagen auch nur einen Knochen zu kaufen, von Fleisch ganz zu schweigen. Aber es ist eigenartig: Die Freunde, die mich bewirten, servieren zunächst Schnitzel, dann, beim zweitenmal Hackbraten. Ein guter Bekannter lädt ins ‘Bazyliszek’ am Alten Markte ein, wo es wohlschmeckende Rouladen zu Buchweizen gibt. (SZ, Das Volk hört eine neue Sprache, 25.08.1980, SZ082550.TXT) (s. Anhangs. 324). Der Autor schildert eine paradoxe Situation: leere Fleischgeschäfte volle Fleisch-Töpfe. Er beschreibt, daß es im Zentrum der Hauptstadt quasi im Herzen Polens nicht einmal einen Knochen zu kaufen gibt, von Fleisch ganz zu schweigen. Durch diese Formulierung nicht einmal (...) auch nur einen Knochen stuft er die Versorgungslage in Polen mittels einer Übertreibung als dramatisch ein. Die Paradoxie der Lage markiert er mit der Attribuierung eigenartig, wodurch Aufmerksamkeit und Neugier des Lesers geweckt werden. Durch die Aufzählung verschiedener Situationen, in denen der Autor auf „volle Töpfe“ gestoßen ist, wird der Aussage, ‘die Versorgung sei in Wahrheit gut’, ein hoher Grad von Allgemeingültigkeit verliehen. Hier wird eine spezifische Technik der Textkonstitution, die mit dem Vorwissen der Leser spielt, verwendet. Das Wort eigenartig appelliert an den Leser, sich für die merkwürdige Situation in Polen zu interessieren. Die Art der vom Autor präsentierten Sichtweise weist daraufhin, daß das zur Auflösung der Paradoxie notwendige Orientierungswissen beim Leser vorausgesetzt wird, und zwar in Form des Stereotyps „Im kommunistischen Polen herrscht ein halblegales Beschaffungswesen“. Das uneigentliche Sprechen, in dem nicht <?page no="106"?> 106 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck klar wird, wessen Sicht mit eigenartig ausgedrückt wird, stellt eine ironische Form der Verständigung mit dem Leser dar. Der Autor erklärt dem Rezipienten nicht explizit, wie es dazu kommt, daß die Polen über Fleisch verfugen, und weicht damit der Informationspflicht eines Korrespondenten aus, denn gerade von ihm erwartet der Leser eine Erklärung für unverständliche Situationen. Seine Textkonstitution ist ein Indiz dafür, daß er das Stereotyp ‘halblegales Beschaffüngswesen in kommunistischen Ländern’ beim Leser voraussetzt. Der Leser muß nämlich selbst über das entsprechende Vorwissen verfügen, um die Paradoxie aufzulösen und den Text nicht als uninformativ zu empfinden. Wenn die dargestellte Lage nach Meinung des Autors für den Rezipienten wirklich unverständlich {eigenartig) wäre, hätte er sie auflösen müssen, da er gefordert wäre, dem Leser das Deutungsmuster zu liefern. Der Autor geht offensichtlich davon aus, daß der Leser über ein entsprechendes Erklärungsmuster verfügt. Dieses stereotype Erklärungsmuster löst die Paradoxie auf und bewirkt, daß der Leser die geschilderte Situation als typisch einstuft. Eigenartig ist die Situation allerdings nur dann, wenn man sie an westlichen Maßstäben mißt. Da der Autor die Paradoxie der Situation nicht weiter erklärt, hält er sie offensichtlich für typisch für sozialistische Länder. Die Allgemeingültigkeit des ‘halblegalen Beschaffens’ wird durch das Aufzählen von drei Situationen unterstützt, in denen der Autor zu Fleischgerichten eingeladen wurde, wodurch er zeigt, daß das Stereotyp „Im kommunistischen Polen herrscht ein halblegales Beschaffüngswesen“ zutreffend ist. So stellt die beschriebene Situation aus der Sicht des Textproduzenten offensichtlich keine Ausnahme, sondern die Regel dar, zumal es sich um unterschiedliche Fleischgerichte handelt, die an unterschiedlichen Plätzen eingenommen werden. Die Art der Darstellung, die mit der Markierung des Autors zum Ausdruck gebracht wird, erzeugt eine Art Kumpanei zwischen Autor und Leser. Bezüglich der kommunikativen Ebene kann man die Vorgehensweise des Autors folgendermaßen zusammenfassen: Der Autor setzt das Stereotyp ‘Beschaffüngswesen’ beim Leser voraus, impliziert es, um die Allgemeingültigkeit der dargestellten Situation zu untermauern. Sprachlich ist das Stereotyp in einen deskriptiven Kontext eingebettet. Es gehört zu einem der zentralen Themen des Textes und fungiert als Erklärung für die beschriebene paradoxe Situation, d.h., es liefert die zentrale Deutung, ohne genannt zu werden. 3 .4.5 Stereotyp als zentrales / peripheres Textthema Anhand des Textganzen läßt sich auch die Rolle des Stereotyps im Text festlegen. Das Stereotyp kann entweder leitmotivisch als zentrales Textthema oder als peripheres Textthema eingesetzt werden, das dem zentralen Thema nachgeordnet ist und atmosphärisch und dekorativ wirken soll. Die leitmotivische Verwendung des Stereotyps läßt sich nicht an einzelnen Belegen, sondern nur <?page no="107"?> Analysekriterien und Funktionsweisen von Stereotypen 107 anhand des Textganzen erkennen. Das Stereotyp bezieht sich auf das zentrale Textthema und wird häufig schon in einer, und zwar meistens expliziten Überschrift ausgedrückt. 3.4.5.1 Stereotyp als zentrales Textthema Das Stereotyp mit der Prädikation: „Polen sind streng katholisch“, das im Text leitmotivisch, als zentrales Textthema verwendet wird, findet man unter anderem an folgender Stelle: Woher kommt diese Kraft in Polen, immer wieder? ‘Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns! ’ Das sagt die kleine Frau, das sagen bärenstarke Junge und graue Alte. (SZ, „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, 23./ 24.08.1980, SZ082301. TXT) (s. Anhang S. 320). Diese Stelle ist im Text folgendermaßen eingebettet: - Ein Original-Zitat wird als Antwort auf eine vom Journalisten selbst formulierte Frage eingefiihrt. Diese Frage beantwortet er ausschließlich mit dem obengenannten Zitat Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns, das stringente Verhältnis zwischen Antwort und Frage wird quasi zum Beweis für das Vorliegen des Stereotyps des ‘streng katholischen Polen’. - Mit der Wortgruppe immer wieder wird betont, daß es sich hier nicht um einen einmaligen Vorgang handelt, sondern daß die Aussage einen allgemeingültigen Charakter haben soll. - Dem Stereotyp wird ferner Allgemeingültigkeit dadurch verliehen, daß ein und dieselbe Aussage unterschiedlichen Sprechern zugeordnet wird: die kleine Frau, bärenstarke Junge und graue Alte. Die Auswahl der Zitierten ist soziologisch typisierend und gleichbedeutend mit ‘die ganze Gesellschaft’. Frauen und Männer, Junge und Alte, Starke und Schwache repräsentieren alle, d.h. die gesamte polnische Bevölkerung. Die Typisierung wird nach Geschlecht, Alter und Tatkraft vorgenommen. Die Eigenschaftszuschreibung „Polen sind streng katholisch“ wird als typisches ethnisches Merkmal und explizit mittels einer zitierten Äußerung angeführt. Das Personalisierungsprinzip läßt Journalisten oft zu Zitaten als Mittel der Personalisierung greifen (vgl. Homberg 1990, S. 110f). Die Präsentation als Antwort auf eine Frage verstärkt die appellative Wirkung des Stereotyps. Der Wahrheitsgehalt der Aussage soll durch die Verwendung der Zitatform mit Angabe der Sprecher bekräftigt werden. Das Stereotyp wird in weiteren Textstellen implizit ausgedrückt, wodurch seine Existenz bestätigt und untermauert wird. Es wird jedoch nicht weiter entwickelt, sondern dient eher als <?page no="108"?> 108 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck typische Hintergrundfolie, die eine Bestätigung des stereotypen Wissens über die Polen leisten soll. Das Stereotyp wird im Text leitmotivisch verwendet. Die zentrale Rolle des Stereotyps für den Bericht spiegelt sich in der Hauptschlagzeile „Wir glauben an Gott und Gott ist mit uns“, die sich durch eine besondere Schriftgröße von den anderen Überschriften abhebt. Die Hauptüberschrift bringt das, was im Text selbst über die Religiosität der Polen geäußert wird, auf einen Nenner. Auch die gesamte Perspektive, aus der das Werftgelände und die Streikenden dargestellt werden, hebt das religiöse Engagement der Polen hervor. Der Autor bedient sich generalisierender Aussagen, die das Ausmaß der polnischen Religiosität hervorheben sollen. Der Leser soll annehmen, daß der Glaube an Gott die Triebfeder der Polen ist. Dieser Glaube wird an mehreren Stellen im Text thematisiert, z.B. in der Erwähnung der ‘überzeugenden Messen’, die auf dem Werftgelände stattfinden, in den Parolen der Streikenden Bis zum Erfolg und Gott ist mit uns und in der Nennung religiöser Symbole (Kreuz, Bilder vom Papst). Dem Text ist ein Foto beigefugt, das streikende Arbeiter der Lenin-Werft in Danzig zeigt, die zum Gebet niederknien. Das Foto fungiert hier als direkte Illustration der Hauptüberschrift. Montierte man dieses Foto in einen Bericht über deutsche Streiks, würde das vermutlich ungewöhnlich, unverständlich, anormal, frappierend, irritierend oder möglicherweise paradox auf den deutschen Leser wirken. Die Eigenart des Bildes „Beten im Streik“ resultiert aus einer für Deutsche ungewöhnlichen Verknüpfung von ‘Gebet + Streik’. Auch dem Foto liegt also das Stereotyp vom ‘streng katholischen Polen’ zugrunde. Besonders auffällig wirkt in diesem Zusammenhang die Erwähnung eines Kruzifixes am Kühler eines Lebensmittelwagens, die sogar zum Untertitel des Textes gemacht wird. Das Kruzifix am Kühler eines Wagens dient in der Werft, so heißt es, als ein Erkennungszeichen für Lebensmitteltransporte, die die Werft versorgen. Zu den religiösen Symbolen gehören auch das im weiteren Kontext genannte drei Meter hohe Kreuz aus frischem Holz, das mit vielen Nelken und Fähnchen in Polens Nationalfarben Weiß-Rot behängt ist. Auf die Symbole konzentriert sich auch die Beschreibung des Haupttores der Lenin-Werft, das mit Nelken, Rosen, Gladiolen und Bildern vom polnischen Papst Johannes Paul II. geschmückt ist. In der Werft werden auch Bildchen von der Mutter Gottes, der ‘Königin Polens’, die mit einer solidarischen Widmung versehen sind, verteilt. Erklärt wird dies mit einem Auftrag des Prälaten Jastak, der in Gdingen eine Messe auf dem Werftgelände zelebriert hatte. Außerdem wird thematisiert, daß die Streikenden eine Medaille tragen eine Nickelmünze, die ein Geschenk des Danziger Bischofs Kaczmarek ist. Auf der einen Seite dieser Medaille befindet sich das Bild der Jungfrau von Tschenstochau, auf der anderen Seite der Kopf von Johannes Paul II., dem Papst. Der Autor hebt in diesem Fall das stolze Tragen dieser Medaille durch die Streikenden hervor. <?page no="109"?> Analysekriterien und Funktionsweisen von Stereotypen 109 Die durchgefuhrte Untersuchung zeigt also, daß die Textkonstitution und Formulierungen im einzelnen so angelegt sind, daß sie das Stereotyp „Polen sind streng katholisch“ sehr plastisch und bildhaft als zentrales Textthema erscheinen lassen. 3 4.5.2 Stereotyp als peripheres Textthema Im folgenden wird ein explizit verwendetes nationbezogenes Stereotyp präsentiert, das zu den peripheren Textthemen in einem der analysierten Texte gehört und dessen Handlungs- und Aussagegehalt sich auf die Solidarität der Polen untereinander bezieht. Die Prädikation lautet: Tn schlechten Zeiten sind die Polen untereinander solidarisch’ und ist folgendem Beleg zu entnehmen: [...] im Aufträge des Prälaten Jastak, der am Vortage auf der Werft in Gdingen eine Messe gefeiert hat, werden Bildchen von der Muttergottes, der Königin Polens, versehen mit einer solidarischen Widmung, verteilt. Ein harter Bursche zieht stolz eine kleine Medaille aus dem Hemd: Der Danziger Bischof Kaczmarek hat Streikenden eine Nikkeimünze verehrt auf der einen Seite das Bild der Jungfrau von Tschenstochau, auf der Rückseite der Kopf von Jan-Pawel, dem Papst. (SZ, „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, 23 / 24.08.1980, SZ082301.TXT) (s. Anhang S. 319f). Die Solidarität der Polen untereinander wird im analysierten Text an mehreren Stellen angesprochen. Sie hat trotz mehrfacher Erwähnung im Text jedoch ein sehr viel geringeres Gewicht als das zentrale Textthema. Der oben angeführte Textausschnitt zeigt die Solidarität der katholischen Kirche mit den Streikenden, was in der Formulierung [...] werden Bildchen von der Muttergottes, der Königin Polens, versehen mit einer solidarischen Widmung, verteilt [...] seinen Niederschlag findet. Die Verknüpfung der Ausdrücke Muttergottes und solidarische Widmung erwecken bei den Lesern mit Sicherheit Erstaunen, weil sie auf einem solchen Bildchen eine religiöse Widmung erwarten. Der Beleg zeigt, daß die Kirche in diesem Fall ihre Autorität dazu benutzt, die Streiks zu unterstützen, sich also mit den Streikenden solidarisch erklärt. Dieser Tenor ist auch der Formulierung der Danziger BischofKaczmarek hat Streikenden eine Nickelmünze verehrt zu entnehmen. Das Verb verehren weist darauf hin, daß die Kirche den Streikenden eine Nickelmünze nicht nur einfach ‘gibt’ oder ‘verteilt’, sondern, daß bei diesem Vorgang Merkmale wie Respekt, Lob und Unterstützung für die Streikenden mitspielen. Außerdem wird mit diesem Verb ein über das Erwartete hinausgehender Zusammenhalt mit der Kirche zum Ausdruck gebracht. Die Solidarität zu den Streikenden wird auch an anderen Textstellen angesprochen: Die Männer gehören zu fast 18 000 Arbeitern der Werft. 2000 davon sind Parteigenossen. Alle streiken, alle, „nur nicht der Erste Sekretär der Partei und der Direktor des <?page no="110"?> 110 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Betriebes“, erklärt ein Alter, der dazugekommen ist, weil er von dem Deutschen gehört hat. (SZ, „Wir glauben an Gott und Gott ist mit uns“, 23./ 24.08.1980, SZ082301. TXT) (s. Anhang S. 318f ). An dieser Textstelle wird verdeutlicht, daß selbst 2000 Parteigenossen unter den Streikenden den Ersten Sekretär der Partei quasi im Stich lassen und sich mit den Streikenden solidarisch erklären. Im weiteren Text folgt die Aussage: Dort stehen Ehefrauen. Manche schimpfen, bringen aber trotzdem Rasierzeug, Wäsche, Tee, Brote. Andere, die keine Verwandten unter den Arbeitern haben, bringen Geld und, was genauso wichtig ist, Solidarität. (SZ, „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, 23./ 24.08.1980 SZ082301.TXT) (s. Anhangs. 319). Die Solidarität wird an dieser Stelle explizit ausgedrückt, indem nicht nur die Verwandten den Streik unterstützen, sondern sich auch völlig fremde Leute mit den Streikenden solidarisieren. Das Thema der Solidarität wird im Text mehrfach präsentiert, wodurch es den Status eines peripheren Textthemas erhält. 3.4.6 Bestätigung / Entkräftung eines Stereotyps Die Inhalte von Stereotypen können in Texten bestätigend oder entkräftend verwendet werden, wobei die bestätigende Funktion bei weitem überwiegt. Seine Entkräftung bedeutet nämlich einen Verstoß gegen das Weltbild des Lesers und ist mit einer aufwendigen Argumentation verbunden. 3.4.6.1 Bestätigung des prädikativen Gehalts des Stereotyps Das implizit verwendete nationbezogene Stereotyp „Polen und Russen stehen sich feindlich gegenüber“ wird im folgenden Beleg bestätigend präsentiert: Polen hat heute den höchsten Schweinebestand seiner Geschichte (22 Millionen Stück), aber weniger Fleisch als jemals zuvor in den Geschäften. Zornige Arbeiter behaupten, alles gehe nach Moskau. ‘Wir haben denen die Olympiade bezahlt’, sagt in Danzig einer voller Wut. Aber das stimmt nicht. Das Fleisch geht zum größten Teil in den Westen. (SZ, Das Volk hört eine neue Sprache, 25.08.1980, SZ082550.TXT) (s. Anhang S. 329). Der Mechanismus, mit dem der Autor dem Leser das Stereotyp ‘russenfeindliche Polen’ näher bringt, ist folgender: Der Autor präsentiert dem Leser das Autostereotyp der Polen bezüglich der Russen, entlarvt es anschließend als Vorurteil und erweckt beim Leser den Eindruck, ‘Polen sind grundlos russenfeindlich’ . Durch die dargestellte Entlarvung des Autostereotyps der Polen <?page no="111"?> Analysekriterien und Funktionsweisen von Stereotypen 111 als Vorurteil in diesem speziellen Fall wird auch ein vorhandenes Heterostereotyp des Lesers vom feindlichen Verhältnis zwischen Russen und Polen bestätigt. Das angeführte Textsegment stellt zuerst zwei Fakten dar, die eine Paradoxie ergeben, und zwar, daß Polen den höchsten Schweinebestand seiner Geschichte hat und gleichzeitig weniger Fleisch als jemals zuvor in den Geschäften zu kaufen ist. Der Autor gibt als Erklärung die These der Arbeiter wieder, daß sie glauben, alles gehe nach Moskau. Die Textsequenz Zornige Arbeiter behaupten, alles gehe nach Moskau ist übergeneralisiert und läßt offen, wo und von wem die Aussage gemacht wurde. Generalisierend für alle Polen führt er die zitierte Aussage eines polnischen Bürgers aus Danzig an: ‘ Wir haben denen die Olympiade bezahlt', der das Stereotyp ‘russenfeindliche Polen’ zugrundeliegt. Dieses Zitat wirkt verstärkend, denn die erste Formulierung läßt offen, ob Rußland das gelieferte Fleisch bezahlt. Die zweite Formulierung vermittelt die Überzeugung, daß Rußland die Polen betrügt. Das kollektive Wir und die Behauptungen der Arbeiter aus der gesamtpolnischen Perspektive deuten auf die Überzeugung der Polen ‘Russen nehmen uns alles weg’ hin. In diesem Zusammenhang weist die Verwendung des Verbs behaupten auf die feste Überzeugung der Polen hin, daß die Russen für die negative wirtschaftliche Entwicklung in Polen und die schlechte ökonomische Lage des Landes verantwortlich sind. Die Attribuierungen voller Wut und zornig zeigen die stark ablehnende Haltung der Polen den Russen gegenüber. Die offensichtlich russenfeindliche Einstellung der Arbeiter wird dadurch manifestiert, daß der Autor die Behauptung der Polen widerlegt, klar präsentierend, wie Vorurteile existieren können: Aber das stimmt nicht. Das Fleisch geht zum größten Teil in den Westen. Die Realität sieht also anders aus, als sie die Arbeiter darstellen, wodurch wiederum die Aussagen der Polen als Vorurteile den Russen gegenüber entlarvt werden. Die Art der Beschreibung stellt eine Darstellung des Funktionierens eines Vorurteils dar. An diesem Beispiel wird deutlich, wie das kollektive Funktionieren von Stereotypie verläuft, die nichts mit Wissen zu tun hat, also auch keine Entsprechung in der Realität findet. Der Autor zeigt mit Hilfe eines als ungerechtfertigt entlarvten Vorurteils, daß das Stereotyp vom ‘russenfeindlichen Polen’ zutreffend ist. <?page no="112"?> 112 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 3.4.6.2 Entkräftung des prädikativen Gehalts des Stereotyps Ein explizit, negierend und entkräftend verwendetes nationbezogenes Stereotyp, das Atypisches vor dem Hintergrund des Typischen ausdrückt, tritt im folgenden Beleg auf: Die Disziplin dieser 18 000, oft genug als polnisch-disziplinlos beschimpft, ist eisern. (SZ, „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, 23 / 24.08.1980, SZ082301.TXT) (s. Anhang S. 319). Der Autor verwendet hier explizit das Stereotyp vom ‘disziplinlosen Polen’. Er kennt das Stereotyp offensichtlich, denn er beruft sich direkt darauf und stuft es als weit verbreitet ein {oft genug). Das Stereotyp wird dem Leser explizit vermittelt, aber zugleich als eine beim Leser vorausgesetzte Einstellung behandelt. Durch die Darstellung bleibt offen, wer genau das Stereotyp hat und verbreitet und von wem sich der Autor möglicherweise durch die Wortwahl beschimpft distanzieren möchte. Aber es ist auch möglich, daß der Autor das Stereotyp teilt und in dieser Form äußert, damit er für sein eigenes Stereotyp keine Verantwortung übernehmen muß. Die Realität enttäuscht in diesem Fall die im Text formulierte Erwartung, was man dem atypisch kontextualisierten Stereotyp entnehmen kann. Der Autor bewertet das Prädikat polnisch-disziplinlos in der aktuellen Situation als ungerechtfertigt, und er korrigiert das Stereotyp vom ‘disziplinlosen Polen’ mit dem Hinweis auf die ‘eiserne’ Disziplin der 18 000. Damit versucht er vermutlich, das von ihm bei den Lesern vorausgesetzte Stereotyp zu entkräften. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang die Verwendung der beiden Adverbien oft und genug. Das temporale Adverb oft drückt nämlich deutlich aus, daß die Verknüpfung des ‘Schimpfwortes’ disziplinlos mit der Nationalitätskennzeichnung polnisch schon lange existiert und verwendet wird. Durch das Adverb genug drückt der Autor seine Mißbilligung der stereotypen Verknüpfung und deren Dauer aus. Die Funktion des Stereotyps besteht darin, dem Leser zu verdeutlichen, daß das herrschende Stereotyp ‘polnische Disziplinlosigkeit’ ein ungerechtfertigtes Vorurteil, zumindest für den Zeitpunkt der Berichterstattung darstellt. Das Stereotyp gehört zu den zentralen Textthemen; man könnte sagen, es wird leitmotivisch verwendet. Im Text wird es an dieser Stelle zwar das einzige Mal explizit, mit dem Ziel der Aufklärung der Rezipienten, geäußert, aber an anderen Stellen wird auch implizit auf das Stereotyp ‘disziplinlose Polen’ angespielt: 1) ‘Keinen Tropfen Alkohol’ lautete der erste Beschluß der Streikleitung. Und alle halten sich daran. Streikpolizei mit weiß-roten Armbinden hält auf Ordnung. Sie ist überflüssig. Alle wissen, worum es geht. (SZ, „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, 23./ 24.08.1980, SZ082301.TXT) (s. Anhang S. 319). <?page no="113"?> Analysekriterien und Funktionsweisen von Stereotypen 113 2) Die Werftbesetzer beharren mit ungewöhnlicher Disziplin auf der Anerkennung des Streikkomitees als Verhandlungspartner. (SZ, „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, 23./ 24.08.1980, SZ082301. TXT) (s. Anhang S. 317, Unterzeile) Die thematische Fokussierung und vor allem die Verwendung des Attributs ungewöhnlich in bezug auf das Signalwort Disziplin im zweiten Zitat zeigen, daß ‘Disziplin’ als atypisch für Polen eingeordnet wird. Diese Atypik verdeutlicht der Autor ferner durch das Syntagma auf Ordnung hallen sowie durch die Relation zwischen Beschluß und sich daran halten. Dadurch wird das Unerwartete thematisiert. Das in diesem Textsegment auftretende Stereotyp betrifft die Disziplin der Streikenden, die mit dem Adjektiv ungewöhnlich versehen ist. Das Adjektiv ungewöhnlich kann hier auf zweierlei Weise interpretiert werden. Entweder bedeutet es ‘vom Üblichen, Gewohnten, Erwarteten abweichend’ oder ‘das gewohnte Maß übersteigend’. Um zwischen beiden Möglichkeiten zu entscheiden, muß man sich des Kontextes bedienen. Vor diesem Hintergrund läßt sich schließen, daß das Adjektiv ungewöhnlich hier in seiner ersten Bedeutung, als ‘vom Üblichen, Gewohnten, Erwarteten abweichend’ verwendet wird. Bestätigt wird das durch den Kontextbeleg, der das Adjektiv polnischdisziplinlos enthält. Man kann in den besprochenen Textstellen konkurrierende sprachliche Indikatoren bezüglich der Einstellung des Autors über die vermeintliche oder tatsächliche Disziplinlosigkeit der Polen erkennen. Einerseits drückt beschimpfen kritische Distanz aus, wobei offen bleibt, wer wen oft genug als polnischdisziplinlos beschimpft hat, weil die Agensangabe fehlt. Alle Textstellen zum Thema Disziplin kontextualisieren sich gegenseitig und vermitteln das Bild einer von der Erwartung abweichenden ungewöhnlichen Disziplin und einer Streikpolizei, die überflüssig sei, weil sich alle an die Beschlüsse halten. Man könnte aufgrund aller Kontextindikatoren annehmen, daß der Journalist das Stereotyp ursprünglich geteilt hat, aber es jetzt aufgrund seiner Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Streik, in Frage stellt. Die Gegenüberstellung von polnisch-disziplinlos und eiserner Disziplin kann als Anwendung eines deutschen Autostereotyps auf die Situation der Polen betrachtet werden. Das Lexem eisern wird oft zur Attribuierung des Militärischen und Deutschen oder Preußischen verwendet (vgl. z.B. der eiserne Kanzler Bismarck). In bezug auf Polen unterstreicht es das Ausmaß der Verwunderung über das Ungewöhnliche der ganzen Situation. Eine der sich wechselseitig kontextualisierenden Textstellen ist sogar als Unterzeile hervorgehoben. Mehrmaliges Aufgreifen der Disziplinlosigkeit von Polen fuhrt zu der Annahme, daß der Autor das Stereotyp „Polen sind disziplinlos“ zu entkräften sucht. Die analysierten Textstellen zeigen, daß der Autor über das Stereotyp ‘disziplinlose Polen’ verfügt, es aber zu entkräften versucht, weil er in Polen entgegengesetzte Erfahrungen gemacht hat. <?page no="114"?> 114 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 3.4.7 Polarisierung mittels eines Stereotyps Unter Polarisierung wird in dieser Untersuchung ein journalistisches Vertextungsverfahren der Gegenüberstellung und Antonymisierung von Konzepten verstanden. Sie werden von Journalisten als extreme Pole nach einem vereinfachenden Negativ-Positiv-Schema bewertet und präsentiert. Die im untersuchten Korpus am häufigsten polarisierten Konzepte sind einerseits das negativ bewertete kommunistische Regime, d.h. die polnische Regierung und andererseits „die polnische Bevölkerung“, die positiv bewertet wird. Beide Konzepte werden vom Journalisten als vollkommen antagonistisch dargestellt Die Einstufung der kommunistischen Regierung als negativer Pol deckt sich mit dem Weltbild des Lesers, der über das Stereotyp ‘kommunistische Mißwirtschaft’ verfugt. Gleichzeitig wird dieses Stereotyp beim Leser dadurch verfestigt, daß diesem ein reibungslos funktionierendes, straff durchorganisiertes System auf Seiten der Streikenden präsentiert wird. Der Text vermittelt eine Art David-Goliath-Schema, in dem Goliath für die schlecht wirtschaftende sozialistische Regierung und David für die diszipliniert agierenden und besonnen Streikenden stehen. Das nationale Konzept ‘die Polen’ beschränkt sich dabei nur auf die gegen das Regime Protestierenden und Revoltierenden. Die polnische Nationalität der Sozialisten in der Regierung wird gar nicht thematisiert, ganz im Gegenteil, der Kommunismus wird geographisch anderswo veröltet und als eine Ideologie gesehen, die aus dem Osten zwangsimportiert wurde (vgl. Beleg (6) in Kap. 5.1). Polarisierung ist hier ein Mittel, die polnische Nation antikommunistisch erscheinen zu lassen. Als Analysekriterium eignet sich Polarisierung deshalb, weil die Schreiber zur Charakterisierung der Antagonisten auf vereinfachende und generalisierende Urteile wie Stereotype angewiesen sind. Natürlich ist Polarisierung nicht zu verstehen als Funktion des Stereotyps selbst, sondern als Gesamtfunktion des journalistischen Darstellungsverfahrens, zu dem allerdings die spezifische Darstellung des Stereotyps beitragen kann. Die nachfolgenden Belege zeigen, auf welche Art und Weise die Polarisierung in den Texten sprachlich realisiert wird. Die Gegenüberstellung der jeweiligen Konzepte kann erst nach der Analyse des gesamten Textes durchgeführt werden. Die Polarisierung wird im folgenden anhand mehrerer Belege aus einem Text angeführt, in dem die polnische Führung für die schlechten Zustände im Land verantwortlich gemacht wird und somit beim Leser das Stereotyp ‘kommunistische Mißwirtschaft in Polen’ evoziert. Eine Passage vergleicht z.B. die polnische Regierung mit der Führungsmannschaft der durch einen Eisberg versenkten ‘Titanic’. An einer anderen Textstelle wird die polnische Regierung als realitätsffemd beschrieben: Während die Fühnmgsmannschaft sich entschließt, über ihre sonstigen Verhältnisse hinaus offen zum Volk zu sein, und die Gefahr beim Namen nennt, plötzlich sogar „Strajk“ zu etwas sagt, das es eigenüich immer noch nicht geben dürfte, auch von einem <?page no="115"?> Analysekriterien und Funktionsweisen von Stereotypen 115 unglaublichen Bekennermut zur eigenen Fehlerhaftigkeit befallen wird ... (SZ, „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, 23./ 24.08.1980, SZ082301 .TXT) (s. Anhang S. 317f.). Der Leser kann daraus folgern, daß die Regierung bis jetzt die eigenen Fehler unter den Tisch gekehrt hat und nicht ehrlich zum Volk war. Im Zusammenhang damit steht das im Text angeführte Zitat 35 Jahre haben sie uns angelogen. Jetzt ist es genug, das die Unzufriedenheit der polnischen Bevölkerung und ihre ablehnende Haltung den polnischen Funktionären gegenüber widerspiegelt. Ein weiterer Beleg, der die miserable Lage der polnischen Führung aufzeigt, lautet: Seit sieben Tagen läuft das polnische Staatsschiff einer Erhebung entgegen, die unter der Oberfläche des Alltags ungeahnte Ausmaße hat. (SZ, „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, 23./ 24.08.1980, SZ082301. TXT) (s. Anhang S. 317). Den Gegenpol dieser Belege stellt unter anderem die Darstellung, der Durchorganisiertheit der Streikbewegung und des tadellosen Funktionierens ihrer Aktivitäten dar: Alles wartet auf den täglichen Lagebericht, während hinten in der Ecke Mädchen Butterbrote schmieren, Käse-, Wurstbrote richten, junge Burschen Wannen, gefüllt mit Tomaten hereintragen, oder Kisten mit Mineralwasser und Limonade. (SZ, „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, 23./ 24.08.1980, SZ082301.TXT) (s. Anhang S. 319). Ähnlich positiv ist auch die Charakterisierung der Arbeiter: Entschlossen, von kalter Wut beseelt sind die Arbeiter. (SZ, „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, 23./ 24.08.1980, SZ082301.TXT) (s. Anhang S. 318). Die Formulierung von kalter Wut beseelt stellt eine ungewöhnliche Kombination dar. Die kalte Wut kann als eine rational kontrollierte Wut verstanden werden. Das Lexem beseelen wird in bezug auf das Vorantreiben, Ammieren, auf das Verleiten und Veranlassen von Aktivitäten verwendet. Daraus kann der Leser eine besondere Haltung der polnischen Arbeiter, die ihren Niederschlag in einem ‘existentiellen Engagement’ findet, ableiten. Die Formulierung mit der die polnischen Arbeiter charakterisiert werden, könnte man also als Summe von Wut, Kontrolle und konstruktiver Haltung beschreiben. <?page no="116"?> 116 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Die Polarisierung zeigt, daß ein Stereotyp kontrastierend eingesetzt werden kann und wie die analysierten Belege vermitteln, wird das Stereotyp ‘kommunistische Mißwirtschaft in Polen’ dadurch noch verfestigt. Im selben Text wird bewiesen, daß die polnische Bevölkerung sehr wohl in der Lage ist, sich organisiert und diszipliniert zu verhalten, was lediglich ihrer Regierung nicht gelingt. <?page no="117"?> Politische Verortung der Zeitungen 117 4. Politische Verortung der Zeitungen 4.1 Zur Presselandschaft in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) Für die Entstehung eines Textes und insbesondere der Texte in einer Zeitung spielen seine Produktionsbedingungen eine wesentliche Rolle. Aus diesem Grunde ist es wichtig, auf einige Besonderheiten der Berichterstattung in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) hinzuweisen, die man bei der Analyse der hier zur Debatte stehenden Texte berücksichtigen muß und die ein besseres Verständnis der in der Zeitung behandelten und vertretenen Inhalte ermöglichen. Die in dieser Arbeit untersuchte Tageszeitung der DDR ist das ‘Neue Deutschland’. Diese Zeitung weist mehrere Merkmale auf, die für die gesamte Situation der Presse und ihrer Berichterstattung in der DDR relevant sind. Somit bildet der Abschnitt „Neues Deutschland“ (s. Kap. 4.1.1) den Schwerpunkt des Kapitels vier. Zu berücksichtigen bleibt, daß diese Zeitung nicht die einzige in der DDR, aber zweifellos ausschlaggebend für die Gestaltung der täglichen Informationsverbreitung in der DDR war. Neben den 17 Tageszeitungen der SED im Jahre 1986 (70% der gesamten Auflage der DDR-Presse), gab es noch die Zeitungen der Massenorganisationen FDJ {Junge Welt), FDGB {Tribüne) und DTSB {Deutsches Sportecho). Außerdem erschienen auch Zeitungen der Blockparteien: CDU {Neue Zeit), LDPD {Der Morgen), NDPD {National-Zeitung) und DBD {Bauern-Echo), deren Anteil an der Gesamtauflage in der Presselandschaft des Jahres 1985 9% nicht überschritt (Schlosser 1990, 5. 107). Alle genannten Tageszeitungen orientierten sich mehr oder weniger an den Richtlinien der SED, genauer: der Abteilung Agitation des Zentralkomitees und des Presseamtes des Ministerrates. Anders gestaltete sich jedoch die Berichterstattung der Kirchenpresse, die sich vom offiziellen Auftrag der „ideologischen Überzeugungsarbeit“ distanzierte (ebd., S. 121). Da dementsprechend Diskrepanzen zwischen der SED- und der Kirchenpresse zu beobachten sind, wird hier bei der Darstellung der DDR-Presse zwischen dem „Neuen Deutschland“ (offizielle Richtlinie) (s. Kap. 4.1.1) und der Kirchenpresse (s. Kap. 4.1.2) unterschieden. 4.1.1 „Neues Deutschland“ (ND). Zur Pressepolitik der SED Das „Neue Deutschland“, Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) war federführend für die Gestaltung der täglichen Presseberichterstattung der DDR, d.h., das ND als die größte Tageszeitung der DDR bestimmte die Art und Weise der Informationsvermittlung in den anderen DDR-Medien. Nach dem Vorbild des ND sollten andere Tageszeitungen der DDR gestaltet werden, wozu sogar eine ausdrückliche Meinung des General- <?page no="118"?> 118 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Sekretärs des ZK der SED Erich Honeckers, vorliegt (vgl. Holzweißig 1989, S. 19). Die Zeitung erschien unter besonderen, im Westen nicht vorhandenen politischen Rahmenbedingungen, die an dieser Stelle kurz besprochen werden müssen. Die Hauptaufgabe der Presse in der DDR läßt sich anhand des „Wörterbuchs der sozialistischen Journalistik“ (1979) verdeutlichen. Bestimmend für die Leitlinien der sozialistischen Presse ist ein Diktum von W. I. Lenin: „Die Erziehung der Massen an lebendigen, konkreten Beispielen und Vorbildern aus allen Lebensgebieten ... ist die Hauptaufgabe der Presse in der Übergangszeit vom Kapitalismus zum Kommunismus“. Darüber hinaus wird der Journalismus folgendermaßen charakterisiert: „Er ist massenwirksames Instrument der Partei der Arbeiterklasse, der anderen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen sowie des Staates zur Entwicklung des sozialistischen Bewußtseins, des bewußten politischen Verhältnisses der Werktätigen und damit ein entscheidendes politisches Machtinstrument“ (Dusiska 1979, S. 114; auch Langenbucher 1988, S. 290). Die angeführten sowie die übrigen Definitionen in dem genannten Wörterbuch zeigen sehr deutlich, welche Richtung die Journalisten einschlagen sollten. Erwähnenswert ist auch der Begriff „Informationspolitik“, der folgendermaßen definiert wird: „System kontinuierlicher Informationstätigkeit (Herstellung, Auswahl, Wertung usw. von Informationen), gerichtet auf das Erreichen von strategischen und taktischen Zielen in der gesellschaftlichen Entwicklung. [...] eine Form des politischideologischen Klassenkampfes. [...] Die von der Partei der Arbeiterklasse, vom sozialistischen Staat ausgearbeitete Informationspolitik, deren Grundlage die wissenschaftlich begründete Strategie und Taktik der Arbeiterklasse ist, bestimmt im sozialistischen Journalismus den Inhalt der journalistischen Information und die Art und Weise des Einsatzes aller journalistischen Mittel und Methoden“ (Dusiska 1979, S. 104). Diese Prinzipien werden auch in dem „Journalistischen Handbuch der Deutschen Demokratischen Republik“ (1960) behandelt. Dementsprechend wird den DDR-Journalisten vorgegeben, wie sie ihre Nachrichten produzieren sollen. Es heißt nämlich, daß „die Nachrichten und Kommentare, die der Journalist in der Zeitung veröffentlicht, in ihrer Auswahl und in ihrer Konzeption von den politischen Grundgedanken, von der politischen Anschauung bestimmt werden, die der Journalist für richtig erkannt und zu der seinen gemacht hat“. Was für ein politischer Gedanke und was für eine politische Anschauung „richtig“ ist, wird ebenfalls in diesem Handbuch bestimmt: „Der Journalist in der Deutschen Demokratischen Republik ist politischer Funktionär. In diesem Wort sind alle Grundvoraussetzungen enthalten, die dieser Journalist erfüllen muß. Der Journalist in der DDR ist geleitet von den Ideen des Marxismus-Leninismus, von den Erfahrungen, die die Arbeiterschaft in einem Jahrhunderte währenden Befreiungskampf gemacht hat“ (Journalistisches Handbuch 1960, S. 22f). <?page no="119"?> Politische Verortung der Zeitungen 119 Eines der Grundprinzipien der sozialistischen Informationspolitik war die Parteilichkeit. Zu diesem Prinzip sagt das Handbuch: „Um dem Leser ein richtiges Bild von der objektiven Wirklichkeit in ihren Zusammenhängen zu vermitteln, wird die Auswahl der zu veröffentlichenden Nachrichten, ihre Plazierung, die Zusammenstellung der einzelnen Fakten innerhalb einer Nachricht sowie die Wortwahl und Überschriftsgestaltung parteilich vorgenommen“ (ebd., S. 193). Die Parteilichkeit ist nach dem Wörterbuch der sozialistischen Journalistik „Wesenszug und Grundprinzip des sozialistischen Journalismus“ und durch drei Eigenschaften gekennzeichnet: durch die offen und eindeutig formulierte bewußte Parteinahme für die Ziele der Arbeiterklasse und ihrer Partei und für den gesellschaftlichen Fortschritt, durch die Wissenschaftlichkeit, die sich aus ihrer Verbindung mit dem Marxismus-Leninismus ergibt, durch ihre Anwendung als bewußtes methodisches Prinzip (vgl. Dusiska u.a. 1979, S. 161). Die Parteilichkeit war nicht nur ein Selektionskriterium für Nachrichten und Themen, sondern bestimmte auch, was in der DDR als Wissenschaftlichkeit und als Wahrheit angesehen wurde (vgl. Langenbucher 1988, S. 293). Als Prinzipien des sozialistischen Journalismus galten neben der Parteilichkeit und der Wissenschaftlichkeit auch Massenverbundenheit, Selbstkritik, Kritik, und Wahrheitstreue, d.h. „Treue zur Partei“, weil die SED sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnte (vgl. Pannen 1992, S. 19). Gesagt wird damit, daß zwischen einer objektiven Wahrheit und der parteilich-sozialistischen Information eine Einheit und kein Widerspruch herrscht. Was unter Wahrheit verstanden werden soll, expliziert noch deutlicher Schulz (1985): „Wahrheit allein kann also als Kriterium für die Verbreitung einer Information nicht ausreichend sein, die wahre Information muß zugleich nützlich sein, nützlich für die Durchsetzung der Interessen der Arbeiterklasse, für die Erreichung der von der Partei der Arbeiterklasse angegebenen Ziele“ (Schulz nach Blaum 1985, S. 104). Dadurch wurde die Bewegungsfreiheit der DDR-Journalisten, die den von der Partei erklärten Richtlinien folgen mußten, deutlich begrenzt. Das spiegelte sich in einer bestimmten Fokussierung der veröffentlichten Informationen wider. (Pannen 1992, S. 7). Es ist schwierig einzuschätzen, inwieweit die Journalisten die marxistischleninistische Ideologie aus Überzeugung angewendet haben, weil man diesbezüglich in der Wissenschaft oft pauschalisierende Aussagen antrifft, welche nur eine Seite der Medaille beleuchten und alle DDR-Journalisten als auf den Sozialismus ausgerichtete „Superfünktionäre“ bezeichnen. Blaum meint hierzu: „Stereotype wie dieses entstehen niemals ohne konkreten Anlaß Aber sie <?page no="120"?> 120 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck mögen sich eher im Ergebnis einer von vornherein selektiven Wahrnehmung statt im Ergebnis zunehmender gedanklicher Vereinfachung herausgebildet haben. Jedenfalls fuhrt das Stereotyp vom DDR-Journalismus seit langem ein so selbstverständliches Eigenleben, daß seine scheinbare Evidenz wissenschaftliche Problematisierung bisher verdrängte“ (1985, S. 7). Das „Primat der Partei“ war nicht nur vorgegeben, sondern auch streng durchgesetzt durch verschiedene Kontrollmechanismen, die eine Vorzensur fast überflüssig machten (vgl. Schlosser 1990, S. 105ff ). Zu den Kontrollmechanismen, die über unterschiedliche zentrale Schaltstellen gesteuert wurden, gehörten: das Politbüro der SED, in dem ein eigener ZK-Sekretär für Agitation und Propaganda tätig war, das Staatliche Presseamt beim Vorsitzenden des Ministerrates, der ADN (=Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst), dessen Informationspolitik für alle Redaktionen die wichtigste Grundlage der Arbeit bildete und als einzige Institution einen direkten Zugang zu mehreren Nachrichtenagenturen der Welt hatte, Lizenzvergabe an alle Tages- und Wochenzeitungen, Zeitschriften und sonstigen Publikationsorgane als politische Kontrolle, staatlich kontrollierte Papierzuteilung und Auflagenhöhe, wöchentliche Anleitungen für Argumentation und Formulierung, Selbstzensur der Journalisten, um in den Auswertungsabteilungen des SED-Zentralkomitees und des Presseamtes nicht aufzufallen, Beteiligung der Deutschen Post an der Kontrolle, weil sie das Monopol für den Vertrieb der Presseerzeugnisse besaß, und die Einbeziehung aller Medien in das Kontrollsystem der Regierung und der Staatssicherheit (vgl. Schlosser a.a.O.; Holzweißig 1989, S. 13ff). 4.1.2 DDR-Kirchenpresse Die Kirchenpresse in der DDR beschränkte sich nicht nur auf die Dokumentation des Kirchenlebens, sondern „gab auch nichtsozialistischen Deutungen der Gegenwart Raum“. Im Jahre 1985 existierten 32 Titel der kirchlichen Periodika, die jedoch ebenfalls „der offiziellen Lizenzierung und direkter Vorzensur durch das Staatliche Presseamt unterlagen“. Aus diesem Grund kam es manchmal zum Publikationsverbot von einzelnen Artikeln oder ganzen Ausgaben. Eine der bekanntesten evangelischen Wochenzeitungen war „Die Kirche“, an deren Beispiel Schlosser den Sprachgebrauch der DDR-Kirchenpresse darstellt. Er bemerkt, daß sich in dieser Berichterstattung „zahlreiche [...] argumentative und sprachliche Abweichungen vom offiziell Propagierten zitieren und kommentieren ließen.“ Demnach soll man nach Meinung von Schlosser die indirekte Kritik der kirchlichen Periodika am „realen Sozialismus“ nicht unterschätzen, weil sie das zum Ausdruck brachten, was „von der SED im Verlauf von vier Jahrzehnten offenbar vergeblich bekämpft worden“ war (Schlosser 1990, S. 121f). <?page no="121"?> Politische Verortung der Zeitungen 121 4.2 Betrachtungen zur Presselandschaft in der Bundesrepublik Deutschland Die Presselandschaft in der Bundesrepublik Deutschland zeigt sich erheblich differenzierter als die in der DDR. Die meistgelesene Tageszeitung in Deutschland ist die Boulevardzeitung „Büd“ aus Hamburg. Im Jahre 1987 betrug ihre Verkaufszahl 4 754 200. Auf Platz zwei folgt die „Westdeutsche Allgemeine“ aus Essen mit 666 600 verkauften Exemplaren. Tageszeitungen mit überregionaler Bedeutung sind „Die Welt“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland“, die „Süddeutsche Zeitung“ und die „Frankfurter Rundschau“. Zu den populärsten Wochenblättern gehören „Bild am Sonntag“ und „Die Zeit“. Unter den Nachrichtenmagazinen ist DER SPIEGEL, mit den 986 400 Exemplaren im Jahre 1987, unter den Illustrierten vor allem der „Stern“ zu nennen (Römer 1989, S. 320/ 322). Zu den verbreitetsten Periodika gehören auch zwei Mitgliederzeitschriften: die „ADAC-Motorwelt“ und die „VDI-Zeitung“ des Verbandes Deutscher Ingenieure. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die hier untersuchten Tageszeitungen, die „Frankfürter Rundschau“ (s. Kap. 4.2.1), die „Frankfürter Allgemeine. Zeitung für Deutschland“ (s. Kap. 4.2.2) und die „Süddeutsche Zeitung“ (s. Kap. 4.2.3). 4.2.1 Frankfürter Rundschau (FR) Eine der größten deutschen Tageszeitungen, die in diese Untersuchung einbezogen wird, ist die ‘Frankfürter Rundschau’ (FR), die ihre Grundhaltung als sozial-liberal (linksliberal) bezeichnet und sich als „eine von Parteien und Interessengruppen unabhängige Tageszeitung“ deklariert (vgl. Frankfürter Rundschau 1981). Die Schwerpunkte ihrer Berichterstattung formulierte die FR in den „Antrittsartikeln“ im August und September 1945, in denen stand: Das Hauptanliegen dieser Zeitung besteht „in einer gemeinsamen antifaschistischen und antimilitärischen Haltung, in dem gemeinsamen, bedingungslosen Bekenntnis zur Demokratie und in der gemeinsamen Forderung nach Wirtschaftsformen, in denen einzig das Wohl des Volkes ohne Rücksicht auf kapitalistische Interessen maßgebend ist“ (Flottau 1980, S. 99). Die festgeschriebene „Unabhängigkeit“ bringt die FR folgendermaßen zum Ausdruck: „Die Frankfürter Rundschau vertritt die Grundsätze der parlamentarischen Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie will durch ihr Wirken dazu beitragen, der Freiheit und der Würde des einzelnen Menschen in einer sich wandelnden Umwelt ein Höchstmaß an Geltung zu verschaffen“ (Frankfürter Rundschau 1981). Im Hinblick auf die Außenpolitik vertritt die FR die Politik „des Friedens, der Entspannung und der europäischen Einigung. Sie hält den friedlichen Wettbewerb und die Zusammenarbeit von Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung für möglich und nötig. Da ein Höchstmaß an Öffentlichkeit <?page no="122"?> 122 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck aller Regierungs- und Verwaltungstätigkeit der Wirtschaft, der gesellschaftlichen Organisationen und der Rechtsprechung Voraussetzung einer breiten Mitbestimmung der Bürger in der Demokratie ist, betrachtet es die Frankfurter Rundschau als ihre wichtigste Aufgabe, zur Herstellung dieser Öffentlichkeit beizutragen. Sie will in erster Linie ihre Leser informieren. Der Redakteur hat die Pflicht, sich um Objektivität zu bemühen. Sie will Kritik üben und dazu beitragen, öffentliche Gewalttaten und private Mächte öffentlich zu kontrollieren. Sie will das Tagesgeschehen im Sinne ihrer Grundhaltung engagiert kommentieren und analysieren, um ihre Leser in Zustimmung, Abwägung oder Widerspruch zu eigener Meinungsbildung anzuregen. Daneben dient die Frankfurter Rundschau auch der Unterhaltung ihrer Leserschaft“ (Frankfurter Rundschau 1981). Bei Flottau findet man ein Zitat von Emil Carlebach, der die FR mit folgenden Worten charakterisiert: „Die Frankfurter Rundschau wurde gegen heftige Widerstände gegründet, denn bereits damals gab es heftigen Antikommunismus in der amerikanischen Armee. Aber man war ja mit „Uncle Joe“, wie Stalin genannt wurde, noch dicke Freund und konnte nicht offen gegen Kommunisten auftreten, auch die Antikommunisten nicht.“ (Flottau 1980, S. 100). In den 60er Jahren sind die in der FR präsentierten Meinungen populärer geworden, besonders im Hinblick auf Gruppen in der Studentenbewegung und die sozialliberale Bundesregierung von 1969. Die FR ist auch die erste Zeitung der Bundesrepublik, „die die drei Buchstaben DDR ohne Anführungszeichen schrieb“, und das nicht aus dem Grunde, daß man die DDR besonders gemocht hätte, sondern weil sie ein Bestandteil der deutschen Realität bildete. Nennenswert ist auch die Tatsache, daß die FR als erste Zeitung eine sozialliberale Koalition als ein „ideales Bündnis“ betrachtete. Nach 1969, als dieses „Idealbündnis“ entstand, befand sich die FR auf der Regierungsseite, also dort, wo früher die FAZ und „Die Welt“ waren (vgl. Flottau 1980, S. lOlf). 4.2.2 Frankfurter Allgemeine. Zeitung für Deutschland (FAZ) Die „Frankfürter Allgemeine“ erschien erstmals am 1. November 1949. Oft wird die FAZ als „direkter Nachfolger der FRANKFURTER ZEITUNG [beschrieben], die einerseits in die nationalistische Presselandschaft integriert war, andererseits nach mehr als achtzigjährigem Bestehen zum 31. August 1943 vom Hitlerregime verboten wurde“. Die FAZ selbst bestreitet dies jedoch. Das Ziel, das die FAZ mit ihrer Gründung erreichen wollte, formulierte sie folgendermaßen: „Breitere Schichten, nachdenkliche Menschen aus allen Berufen und Altersgruppen sollten mit der neuen, von Besatzungsmächten, Regierungen, Parteien, Interessengruppen, Familien oder Einzelpersonen unabhängigen Frankfürter Allgemeinen Zeitung angesprochen werden.“ (vgl. Dohrendorf 1990, S. 9f). Korda charakterisiert die FAZ als eine Zeitung, die dem Bürger- <?page no="123"?> Politische Verortung der Zeitungen 123 tum und dem Business gewidmet ist, die selbst konservativ ist, das konservative Leserpotential nutzt und bei den überregionalen Tageszeitungen die Lücke zwischen der „Welt“ und der „Süddeutschen Zeitung“ gut ausfullt (vgl. Korda 1980, S. 81). Wichtig ist auch der Untertitel des Blattes: „Zeitung für Deutschland“. Seinerzeit wurde er von der FAZ so verstanden, „daß sie sich auch als Zeitung für die durch den Zweiten Weltkrieg verlorengegangenen, ehemaligen deutschen Gebiete verstand“, was sie selbst so faßte: „Es galt zunächst, eine täglich erscheinende, von den Besatzungsmächten unabhängige Zeitung zu schaffen, die drinnen und draußen für das ganze Deutschland wirken und sprechen sollte, nicht nur für die Bundesrepublik, sondern auch für die sowjetisch besetzte Zone, für alle Menschen jenseits der Grenzen und für diejenigen, die ihre Heimat verloren hatten.“ Dohrendorf bemerkt dabei, daß dieser Gedanke nicht nur in dieser älteren Selbstdarstellung der Zeitung die schätzungsweise vom Jahre 1963 stammt auftritt, sondern auch in den neueren, wie z.B. in der vom Jahre 1985 zu finden ist. Zu berücksichtigen bleibt, daß im Jahre 1985 dieses Ziel weniger explizit als früher zum Ausdruck gebracht wird, und zwar heißt es dort, daß sich die FAZ zum Ziel setzte „unabhängig von allen politischen Gruppierungen, von allen inneren und äußeren Mächten, nach drinnen und draußen für das ganze Deutschland zu sprechen“ (Dohrendorf 1990, S. 11). 4.2.3 Süddeutsche Zeitung (SZ) Die Erstausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) erschien am 6. Oktober 1945 (Dürr 1980, S. 63). Die politische Grundhaltung der Zeitung wurde von Hermann Proebst, der in den Jahren 60 bis 70 ihr Chefredakteur war, folgendermaßen beschrieben: „Gegenüber der jeweiligen Regierung loyal, aber wach und kritisch, bewegt sie sich im allgemeinen etwas links von der Mitte; aufgeschlossen und tolerant, jedoch nie indifferent“ (Proebst nach Dürr a.a.O.) Es ist schwierig, die SZ einer bestimmten politischen Richtung zuzuordnen, weil das Blatt sowohl als „rot“ als auch als konservativ charakterisiert wird und „die gängigste Klassifizierung, nämlich als iinks-liberal’, allenfalls die am wenigsten falsche Vereinfachung“ sei. „Liberal“ bedeutet in diesem Sinne, daß unterschiedliche politische Positionen ihren Niederschlag in der SZ finden, obwohl auf die extremen in diesem Rahmen verzichtet wird (vgl. Dürr 1980, S. 63). Dürr äußert in bezug darauf, daß diejeweiligen politischen Ereignisse prinzipiell „einerseits“ und „andererseits“ dargestellt werden und sich die Zeitung eindeutiger Wertungen und Meinungsäußerungen enthält. Seiner Ansicht nach wendet sich die SZ an unterschiedliche Gesellschaftsgruppen, nicht nur an qualifizierte Fachleute, sondern an einen breiten Leserkreis (vgl. S. 64). Wenn man von den Spezifika der SZ sprechen sollte, muß man sicherlich auch die <?page no="124"?> 124 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck jeweils dritte Seite jeder SZ-Ausgabe erwähnen, die nach Dürr „das eigentliche Aushängeschild der Zeitung“ ist. „Diese Feature- oder Reportageseite bleibt den Hintergrundgeschichten der Redakteure und Ausländskorrespondenten Vorbehalten.“ Die Themen der auf dieser Seite veröffentlichten Texte stammen aus allen Bereichen des Alltagslebens. In den Artikeln selbst wird versucht, dem Leser Einblicke in Hintergründe der Ereignisse zu präsentieren und „über das bloße Faktenwissen hinauszugehen“ (vgl. ebd., S. 73). <?page no="125"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 125 5. Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype, ausgehend von expliziten Prädikationen Stereotype sollen in diesem Kapitel in Form von expliziten Prädikationen formuliert und anschließend im Hinblick auf ihre sprachliche Realisierung beschrieben werden. Explizite Prädikationen repräsentieren nach Quasthoff (vgl. 1973, S. 240) und Wenzel (vgl. 1978, S. 60) die „Grundform“, d.h. die allgemeinste Form des Stereotyps. Die Formulierungen der Prädikationen, die nachfolgender Analyse zugrundegelegt werden, sind aus der Interpretation des gesamten Textkorpus gewonnen; dabei konnte die systematische Unterscheidung von impliziten und expliziten, ideologic- und nationbezogenen Stereotypen sowie von typischer und atypischer, tabuisierter und nicht-tabuisierter Verwendung von Stereotypen, (s. auch andere in Kap. 3 erläuterte Analysekriterien) nutzbar gemacht werden. Ferner wurden die Prädikationen bewußt mit anderen lexikalischen Mitteln als den im Korpus vorkommenden formuliert. Es wurde darauf geachtet, den Formulierungen der Prädikationen keine zusätzlichen Wertungsaspekte, sozusagen von außen zuzuschreiben oder aus ihnen zu entfernen, sondern möglichst genau die Wertungen wiederzugeben, die den Belegen zugrundeliegen, bei gleichzeitigem Anspruch auf eine möglichst allgemeine Formulierung. Die Abschnitte zur Beschreibung der einzelnen Stereotype sind wie folgt aufgebaut: I) Formulierung der jeweiligen Prädikation; II) Illustrationsbelege: ausgewählte, besonders anschauliche Zitate als Belege für die Versprachlichung des Stereotyps, wobei der Unterschied zwischen expliziten und impliziten Belegen deutlich zum Ausdruck kommen sollte; III) Zuordnung der jeweiligen Belege zu den in Kap. 3 ausgearbeiteten Funktionen der Stereotype; IV) Darstellung der medienspezifischen Merkmale, wobei sowohl auf die Unterschiede zwischen den Zeitungen als auch auf die Textsortenverteilung eingegangen wird; V) Darstellung der lexikalischen und syntagmatischen Realisierung; VI) Resümee und historisch-literarischer Exkurs. Da Stereotype soziales Orientierungswissen sind, das in der Gesellschaft kulturgeschichtlich verankert ist, läßt sich ihre Untersuchung ohne Berücksichtigung des kulturgeschichtlichen Aspektes schwerlich durchführen. Dieser Aspekt sollte in die Untersuchung miteinbezogen werden, um die historische Tiefe und Tradition der Auto- und Heterostereotype in den früheren Epochen plastisch am Beispiel von literarischen Belegen zu demonstrieren. <?page no="126"?> 126 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Auch in diesem Kapitel ist die in Kap. 1.4 erwähnte vierfache Klassifikation der Stereotype zu erkennen, d.h., es wird sowohl zwischen den Autostereotypen der Deutschen und den Autostereotypen der Polen als auch zwischen den Heterostereotypen der Deutschen und den Heterostereotypen der Polen unterschieden. In Punkt VI) (Resümee und historisch-literarischer Exkurs) wird besonders die wechselseitige Bedingtheit von deutschen Heterostereotypen und polnischen Autostereotypen sichtbar. In der deutschen Literatur zeigen sich Parallelen zu den deutschen Heterostereotypen in den Zeitungstexten, während die polnischen Autostereotype durch die polnische Geschichte erklärt werden müssen. Dabei lassen sich vor allem Projektionen und Umwertungen als national bezeichneter Eigenschaften veranschaulichen. Eine vollständige Darstellung der Interrelationen von Hetero- und Autostereotypen in der Geschichte des deutsch-polnischen Verhältnisses kann hier selbstverständlich nicht geleistet werden. Dennoch soll aus Gründen der Anschaulichkeit auf die historische Dimension nicht verzichtet werden. Die Interpretation literarischer Texte scheint besonders geeignet für die anschauliche Darstellung der Stereotype zu sein. Das Stereotyp wird textsortenbedingt anders als in den Zeitungstexten gehandhabt, es wird meist assoziationsreicher und verdichteter realisiert. Aus dem Bestreben, den Lesern möglichst anschaulich das Wesen der Stereotype zu präsentieren, ihre breite Verankerung in der Gesellschaft nachzuweisen, sowie den Weg zur jeweiligen Prädikation zu erklären, erscheint es notwendig, außer der Untersuchung des Zeitungskorpus auch literarische Belege, Witze und Redewendungen mit heranzuziehen. Diese Art von Exkursen wird jeweils als Teil des Resümees eines jeden behandelten Stereotyps in den Kapiteln 5.1 bis 5.18 dargestellt. Die lexikalische Analyse (Abschnitt V) soll sich auf Signalwörter konzentrieren. Als Signalwörter werden Ausdrücke bezeichnet, die immer wieder zur lexikalischen Realisierung eines Stereotyps verwendet werden und die eine assoziative Verbindung mit dem Stereotyp hersteilen. Aus der Perspektive des Rezipienten sind Signalwörter diejenigen Ausdrücke, an denen er das Stereotyp vorrangig erkennt und mit dem er zu einer dem Stereotyp entsprechenden Einstellung aufgefordert wird. Das Signalwort unterscheidet sich somit in spezifischer Weise von den semantischen Termini wie Schlagwort, Fahnenwort u.ä., nach deren Muster es hier gebildet wurde (vgl. Strauß/ Haß/ Harras 1989, S . 32). Die Terminologie zur Bezeichnung der im folgenden gekennzeichneten semantischen Phänomene wurde in Anlehnung an Bühlers Organon-Modell gebildet. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei dem Terminus Appell geschenkt, der zu den drei „semantischen Relationen“ der Sprechhandlung gehört und der einem Sprachzeichen Signalcharakter in bezug auf den Hörer verleiht (Bühler 1982, S. 28; auch Althaus/ Henne/ Wiegand 1980, S. 157). Unter den Signalwörtem werden in manchen Fällen zwei Gruppen, und zwar <?page no="127"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 127 die der „direkten“ und die der „indirekten Signalwörter“ unterschieden (vgl. Kap. 5.1 im Teil V). Signalcharakter können nicht nur einzelne Lexeme, sondern auch Wortgruppen haben, ohne daß es sich dabei um Idiome oder Phraseme handelt. Als Signalsyntagmen werden solche Lexemverbindungen bezeichnet, in denen zwar keines der unter dem jeweiligen Stereotyp aufgelisteten Signalwörter verwendet wird, die aber als komplexe Wortgruppen die gleiche Funktion bei der Realisierung des genannten Stereotyps wie die einfachen Signalwörter erfüllen. Sie sind deshalb zu unterscheiden von syntagmatischen Verbindungen wie z.B. „Kollokationen der Signalwörter“ selbst, die in die Analyse mit einbezogen werden. Eine kollokative Einbettung von Signalwörtem liegt dann vor, wenn das Signalwort des jeweiligen Stereotyps genannt wird. Trotz der Funktionsgleichheit von Signalwörtern und Signalsyntagmen scheinen sie sich in ihrem Kontextbezug grundsätzlich zu unterscheiden: Signalsyntagmen sind offensichtlich kontextabhängiger und geben deshalb auch häufig Aufschlüsse über die Rolle eines Stereotyps im Text. In nachfolgender Ausführung werden die Stereotype nach ihrem Aussage- und Handlungsgehalt ermittelt, und nach den in Kapitel 3.4 erörterten Beschreibungskriterien dargestellt, d.h., sie werden u.a. nach ihrer Nationalbzw. Ideologiebezogenheit klassifiziert. Vorauszuschicken ist dabei, daß die beiden Analysekriterien manchmal zusammenfallen können. Eine solche Art der Verknüpfung wird exemplarisch in Kapitel 5.13 erläutert. 5.1 Patriotismus / Nationalismus In der Prädikation „Polen sind patriotisch/ nationalistisch“ werden zwei unterschiedliche Attribuierungen der polnischen Bevölkerung nebeneinander gestellt, obwohl sie verschiedene Wertkonnotationen enthalten. Da die Grenze zwischen beiden Eigenschaften fließend sein kann und dasselbe Signalwort bei einem Leser die Polen als Patrioten und ein anderes Mal als Nationalisten wahrzunehmen erlaubt, wird es dem Leser sowohl der Zeitungstexte als auch dieser Arbeit überlassen zu entscheiden, ob das Stereotyp die ‘patriotische’ oder die ‘nationalistische’ Komponente bei ihm auslöst. Wo der Patriotismus aufhört und der Nationalismus anfängt, kann in diesem Rahmen nicht entschieden werden, weshalb beide Optionen zur Verfügung gestellt werden. I) Prädikation: „Polen sind patriotisch / nationalistisch“ II) Illustrationsbelege: 1) Sie [die Menschenmenge, J.D.] sang die polnische Nationalhymne „Noch ist Polen nicht verloren“. (Kranzniederlegung nach Gottesdienst, FAZ, 16.08.1980, FZ081606.TXT). <?page no="128"?> 128 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 2) Die Streikbewegung in der Danziger Bucht steht seit Dienstag unter den polnischen Nationalfarben Rot und Weiß. Die Nationalfahne wurde auf sämtlichen 191 bestreikten Betrieben in Danzig gehißt und schmückt auch die Autos der Streikkomitees. Die fahnengeschmückten Wagen wurden von den jubelnden Aibeitem in den Betrieben mit Ehrengarden begrüßt. (Arbeiter hissen Weiß-Rot, FR, 20.08.1980, FR082005.TXT). 3) Als die Mitglieder des Zentralkomitees zum Abschluß ihrer Plenarsitzung die „Internationale“ sangen und dies im Fernsehen übertragen wurde, schmetterten ihnen die Streikenden trotzig Polens Nationalhymne „Noch ist Polen nicht verloren“ entgegen. (Warschauer Veränderungen, FR, 26.08.1980, FR082613.TXT). 4) Die weißrote polnische Nationalflagge weht an den verschlossenen Toren der besetzten Lenin-Werft in Danzig. Streikposten mit roter Armbinde kontrollieren die Ein- und Ausgänge. („Wir wollen Brot, wir wollen Auto fahren“, FR, 18.08.1980, FR081805.TXT). 5) Was mögen die streikenden Danziger Arbeiter singen, die sich hier am Wochenende vor den Toren ihrer Lenin-Werft fotografieren ließen? Die Nationalhymne „Noch ist Polen nicht verloren“? Die Hymne stammt aus ferner, napoleonischer Zeit. Doch ihre Verse, gemünzt auf das polnische Los der Teilungen, haben nicht als Relikt aus der Geschichte überdauert, sondern als Motto jeglicher polnischer Gegenwart. Auch in der kurzen Spanne klassischer Unabhängigkeit zwischen den Weltkriegen war Polen immer nur „noch nicht verloren“. In den polnischen Buddenbrooks, dem Roman „Ruhm und Ehre“ von Iwaszkiewicz, wird dieses selbständige Polen beschrieben als ein Hund, der auf einem Staketenzaun hockt und nicht weiß, auf welche Seite er schließlich hinunterfallen wird. Immer sah sich Polen, sahen sich die Polen beherrscht, begehrt von außen, immer klang in polnischen Ohren der Satz „Noch ist Polen nicht verloren“ aktuell. Auch in den Tagen, da die Welt wieder einmal nach Danzig schaut, wo 1939 Weltgeschichte und 1970 polnische Geschichte geschah, spricht dieses Lied zu denen, die es singen und ihm zuhören, als ob es just für diesen Augenblick gedichtet wäre. Auch die rot-weiße Armbinde des Arbeiters rechts im Bild spricht. Sagt sie, daß die Streikenden noch an Polen glauben, aber nicht mehr an sein kommunistisches Gesicht, an sein Leben jenseits des Zaunes? Aber wer wäre dann imstande, den Polen noch Hoffnung zu geben die Hoffnung, die in der Hymne Jahrhunderte überdauert hat? (Noch ist Polen nicht verloren, FAZ, 18.08.1980, FZ081805.TXT). 6) Dieses Bild ist freilich eine Vereinfachung, bei der ein wesentlicher Punkt fehlt: die doppelte Tabuzone, die sich aus den geopolitischen Bedingtheiten der Lage ergibt. Sakrosankt ist, wie Gierek in seiner Rede jetzt aufs nachdrücklichste gesagt hat, der sozialistische Charakter des Systems in der Volksrepublik Polen, also mit gewissen - und in der Praxis doch erheblichen, aber eben doch begrenzten - Abweichungen die Orientierung am Vorbild Sowjetunion. Eine Demokratisierung in der Volksrepublik Polen kann nur bis zu der Grenze gehen, daß der Volkswille nicht beginnt, beides in Frage zu stellen. Stellt man in Rechnung, daß der ausgeprägte polnische Nationalismus aus geschichtlicher Tradition einen gegen Rußland gerichteten Zug hat, und daß der Sozialismus in Polen, was immer man dort von Sozialismus an sich halten mag, in den Augen der Bevölkerung den Makel hat, aus dem Osten zwangsimportiert zu sein stellt man <?page no="129"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 129 das also in Rechnung, ist das eine sehr enggezogene Grenze. [...] Für jede Führung der Volksrepublik Polen gilt die kuriose Zwangslage, daß sie, um der Popularität willen, den Nationalismus pflegen muß, ihm aber keineswegs freien Lauf lassen darf, und daß sie darum auch nicht zuviel Demokratie zulassen kann. (Ein polnisches Dilemma, FAZ, 21.08.1980, FZ082113 . TXT). 7) Leute, die Polen und die Polen kennen, fragen sich, was in diese Arbeiter gefahren ist. Sehen sie sich in der Reihe der polnischen Patrioten, für die nationale und soziale Unterdrückung nicht zu trennen waren, oder als Nachfahren jener Landsleute, die für eine unabhängige Existenz des polnischen Staates kämpften? Jeder zu seiner Zeit und unter den gegebenen Bedingungen, aber mit dem gleichen Ziel: Polen soll polnisch bleiben. Aber was haben nationalistische Bestrebungen gegen eine Sowjetisierung mit der Forderung nach freien Gewerkschaften zu tun? (Die streikenden „Proletarier“ in Polen wollen sich mit niemandem vereinigen, FAZ, 30.08.1980, FZ083008. TXT). 8) Die Ereignisse in Danzig weisen bisher nur aus, daß sich unter den Streikenden ein hochexplosives Gemisch zusammenfmdet: das gewachsene Selbstbewußtsein der „Werktätigen“ in einem kommunistisch regierten Staate, in dem sie angeblich als siegreiche Klasse die Geschicke bestimmen. Die Standhaftigkeit von Katholiken, die es ermöglichte, daß die polnische Kirche nach 30 Jahren atheistischer Macht im Staate das Oberhaupt der katholischen Weltkirche stellen kann, und ein nationales Bewußtsein, in der Weltgeschichte eine besondere Rolle spielen zu müssen, der „Messias der Völker“ zu sein. Anders zu sein als alle anderen. Die Frage, was das kosten kann, spielt in diesen Visionen, die jedes Kind in Polen mit den Nationaldichtem gleichsam als Muttermilch aufsaugt, keine Rolle. Auch nicht die Opfer, die Irrationalität manchmal verlangt und verlangt hat in der polnischen Geschichte. Nicht die Sieger, sondern die Opfer sind die Helden der nationalen Literatur. Auch die Werftarbeiter in Danzig haben das in ihren Schulbüchern gelernt, die die Vergangenheit des polnischen Kampfes um Unabhängigkeit, die Helden der Aufstände gegen den Zarismus, idealisieren. Sie möchten der Banalität des Lebens entfliehen. Das macht sie für die regierende Partei, deren Funktionäre auch die Nationaldichter gelesen haben, so unberechenbar. Die Imagination, die in der polnischen Philosophie einen positiven Wert hat, kann 1980 auf handfeste reale Erfahrungen zurückgreifen. (Die streikenden „Proletarier“ in Polen wollen sich mit niemandem vereinigen, FAZ, 30.08.1980, FZ 0 8 3 0 0 8. TXT). 9) Es wird an den „Patriotismus“ der Arbeiter appelliert: „Wir brauchen eine Atmosphäre der Mäßigung und der Ruhe. Es bleiben noch zahlreiche Probleme zu regeln, doch ist die wirtschaftliche Situation des Landes dergestalt, daß sie nicht rasch gelöst werden können.“ (Die Streikleitung verwehrt niemandem den Zutritt, FR, 19.08.1980, FR081910.TXT). 10) Ein Hauch von Tragik ist um ihn [Edward Gierek, J.D.] gewiß. Denn er ist kein Despot. Patriot ist er zwar nicht weniger als alle Polen. Aber die Polen sind damit längst nicht mehr zufriedenzustellen. (Rettungsversuch mit dem letzten Aufgebot, SZ, 27.08.1980, SZ082710.TXT). <?page no="130"?> 130 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 11) Aus der „besonnenen Haltung der polnischen Arbeiter und Streikfuhrer“ zieht er den Schluß, daß Resignation in großen nationalen Fragen fehl am Platze sei; trotz 35 Jahren kommunistischer Indoktrination hätten die Menschen in Polen ihren Patriotismus und ihre Religiosität bewahrt. (Aufatmen im Westen - Schweigen im Osten, SZ, 1.09.1980, SZ090110.TXT) 12) Gierek gelang eine Art Burgfrieden mit der katholischen Kirche. Die Koexistenz zwischen Partei und Kirche wurde jedoch, genau betrachtet, gestört durch die Wahl Karol Wojtytas zum Papst in Rom. Polen wurde dadurch international aufgewertet. Der polnische Patriotismus verlor einige politische Grundtatsachen aus den Augen; das Regime mußte mittun oder sich blind stellen, wollte es nicht den emotionalen Einfluß auf die Bevölkerung verlieren. Auch dieses Selbstbewußtsein nicht nur der soziale Protest führte zu den Streiks und zur Ohnmacht der Regierung. Es war Kardinal Wyszyhski, der die Streikenden zur Mäßigung anhielt, weil er Gefahr für das Land heraufkommen sah. (Moskaus Hand in Warschau, SZ, 8.09.1980, SZ090860. TXT). 13) Ein Delegierter sah in dem polnischen Streik schon den Beginn einer neuen „faschistischen Pilsudski-Ära“. (Gewerkschaften von Warschau ausgeladen, FAZ, 6.09. 1980, FZ 090601. TXT). 14) Einer von ihnen, ein dem britischen KP-Vorstand angehörender Metallarbeiterfunktionär, sagte, der Streik in Polen das sei „ein Anfang wie unter dem Faschisten Pilsudski“. (TUC-Resolution gegen „penetrante Importe“, FAZ, 5.09.1980, FZ0905S0. TXT). III) Zuordnung zur Funktion Die Prädikation „Polen sind patriotisch/ nationalistisch“ wird in den analysierten Zeitungstexten als typisch für die polnische Nation dargestellt. Der polnische ‘Patriotismus/ Nationalismus’ wird als eine bei Polen erwartbare Eigenschaft behandelt. Die explizite Erwähnung dieses Merkmals resultiert daraus, daß in der Perspektive des Journalisten die Erwartung und die aktuellen Erfahrungen übereinstimmen. Die Analyse ergibt, daß in den sprachlichen Realisierungen des Stereotyps zweierlei zum Ausdruck kommt. Einmal wird das Stereotyp explizit genannt, wobei sich hier zwei Arten der Darstellung als dominant erweisen, d.h., das Stereotyp wird entweder mit historischem Hintergrundwissen kontextualisiert und als traditionell verankert dargestellt (vgl. die langen Belege (5) bis (8)) oder auch dem Leser als ein wohl bekannter und allgemein gültiger Sachverhalt, der keiner Erklärung bedarf, präsentiert (vgl. Belege (9) bis (12)). Zum zweiten wird das Stereotyp auch implizit realisiert und zwar in Form des Hinweises auf nationale Symbole (vgl. Belege (1) bis (4)). Das schlägt sich bei den Signalwörtern des Stereotyps nieder, die sich in zwei Klassen (direkte und indirekte Signalwörter) einteilen lassen (siehe V). Eine atypische Realisierung des Stereotyps kommt nicht vor. <?page no="131"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 131 IV) Medienspezifik und Textsortenverteilung In der FAZ und in der FR kommen mehr Belege als in der SZ für die explizite Realisierung des Stereotyps vor. Dieses Faktum ist jedoch nicht der einzige Unterschied zwischen den untersuchten Zeitungen. Es lassen sich auch Diskrepanzen in bezug auf die Art der sprachlichen Realisierung dieses Stereotyps feststellen, und zwar in den Wertungen, die mit den Signalwörtern und ihrer besonderen Verwendung verbunden werden (siehe VI). Auffällig ist auch die Tatsache, daß das ‘Patriotismus/ Nationalismus’-Stereotyp fast immer in textueller Verknüpfung mit einem anderen Stereotyp („Polen sind streng katholisch“) oder mit anderen politischen Konzepten wie ‘Demokratisierung der Gesellschaft in Polen’ auftritt. Die Realisierung des Stereotyps „Polen sind patriotisch/ nationalistisch“ unter den angeführten Belegen, tritt nur in den Belegen (l)-(4) isoliert auf. Die Texte, die das Stereotyp „Polen sind patriotisch/ nationalistisch“ beinhalten, stammen aus beiden Textsortenbereichen, dem informationsbetonten und dem meinungsbetont-persuasiven. Die Texte mit historischen Hintergrundinformationen gehören überwiegend der Textsorte Bericht an. Die im Teil V genannten indirekten Signalwörter, die nationale Symbole bezeichnen, kann man hingegen auch in Nachrichten und Kommentaren finden. Dieses Stereotyp wird in der westdeutschen Presse besonders oft zur Zeit des „polnischen Sommers“ zum Ausdruck gebracht (ca. 70 Belege). Es lassen sich Diskrepanzen in der Häufigkeit seiner Thematisierung in den jeweiligen Zeitungen beobachten (FAZ ca. 35 Belege, SZ ca. 15). V) Zur lexikalischen und syntagmatischen Realisierung Aus der Analyse des gesamten Textkorpus ergibt sich, daß auf der syntaktischen Ebene bei der typischen Darstellung der Prädikation keine Besonderheiten auftreten. Eine atypische Verwendung der Prädikation in den analysierten Texten kommt nicht vor. Auf lexikalischer Ebene lassen sich hingegen eine Reihe von Signalwörtern identifizieren, die sich in zwei Klassen untergliedern lassen: 1) Direkte Signalwörter, mit denen das Stereotyp explizit ausgedrückt wird, bezeichnen Einstellungen oder durch bestimmte Einstellungen charakterisierte Personen. 2) Indirekte Signalwörter, mit denen nationale Symbole bezeichnet werden; die Symbole repräsentieren ebenfalls Einstellungen. Diese Klasse von Signalwörtem nimmt daher indirekt bezug auf Einstellungen. Zu der Gruppe der direkten Signalwörter gehören folgende Lexeme und Syntagmen: <?page no="132"?> 132 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Nomina: Vaterlandspflicht; (National)Held (3x); Patriotismus (6x); Nationalismus (2x); Patriot (4x); Nation (2x); Faschist. Adjektive: patriotisch (5x); national (12x); nationalistisch; faschistisch; stolz (2x). Nominale Syntagmen: nationaler Anstrich der Unruhen; nationale Linie in der polnischen Unruhe-Welle; unvergessene Heimat voller nationaler Gefühle; der ausgeprägte polnische Nationalismus; nationales sacro egoismo; die patriotischen Gefühle; polnische Patrioten (2x); politischer Nationalcharakter; nationales Verantwortungsbewußtsein (2x); nationales Bewußtsein; eher eine polnische als eine kommunistische Regierung sein; nationalistische Bestrebungen; patriotische Absichten; die Sache der Nation; Wohl der Nation; der Kampfals nationale Angelegenheit; der Patriotismus der Polen; nationale Entfaltung; große nationale Fragen; das Nationalheiligtum Polens; nationale Unabhängigkeit; die Sensibilität eines stolzen Volkes; polnische Seele; Beginn einer neuen,faschistischen Pilsudski-Ärd‘; „ein Anfang wie unter dem Faschisten Pilsudski“. Verbale Syntagmen an den Patriotismus appellieren (2x); den Nationalismus pflegen müssen; an das Vaterland, an die nationale Sache, [...], die Polen heißt, denken; Patriot nicht weniger als andere Polen zu sein; trotz 35 Jahren kommunistischer Indoktrination Patriotismus bewahren. Zu der Gruppe der indirekten Signalwörter gehören folgende Lexeme und Syntagmen: <?page no="133"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 133 Nomina: (National)Hymne (llx); (National)Fahmn (llx); (National)Flagge (5x); Armbinden (4x); Adler (4x); Nationalfarben (3x),- Fahnenschmuck; Pilsudski. Adjektive: fahnengeschmückt; weiß-rot {rot-weiß) (17x). Nominale Syntagmen: rot-weiße Armbinden; ein älterer Arbeiter mit weiß-roter Armbinde; Streikpolizei mit weiß-roten Armbinden; weiß-rot geflaggt; die weiß-roten polnischen Fahnen; die weiß-roten polnischen Flaggen; die weiß-roten Straßenbahnen; Fahnen (...) in dem Rot-Weiß der polnischen Nationalfarben; die weiß-rote polnische Nationalflagge; die polnische Nationalflagge; die polnische Nationalfahne; die polnischen Nationalfarben Rot und Weiß; die fahnengeschmückten Wagen; weiß-rote polnische Fahnen; mit Nationalfahnen geschmückte Depots; die weiß-roten Fahnen; Gabelstapler mit Fahnenschmuck; Fähnchen in Nationalfarben Weiß-Rot; viele Fahnen; der polnische Adler; mit einem großen polnischen Adler geschmückte Aula; ein polnischer Adler ist aufgezogen; Spruchbänder-Praxis, die den Patriotismus der Polen zum Ausdruck bringt. Verbale Syntagmen: die polnische Nationalhymne singen (2x); die polnische Nationalhymne ,Noch ist Polen nicht verloren“ singen; die polnische Nationalhymne, beginnend mit „Noch ist Polen nicht verloren“ anstimmen; alle sieben Strophen der polnischen Nationalhymne singen; die Nationalhymne anstimmen (2x); Polens Nationalhymne ,Noch ist Polen nicht verloren“ trotzig entgegenschmettern; mit Tränen in den Augen die Nationalhymne anstimmen; Weiß-Rot hissen; sich unter dem polnischen Adler drängen. <?page no="134"?> 134 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Einige der Syntagmen zeigen die im Punkt IV erwähnten engen textuellen Verknüpfungen des Stereotyps „Polen sind patriotisch/ nationalistisch“ mit anderen Stereotypen und Konzepten. Eine dieser Verbindungen besteht zwischen dem ‘Patriotismus/ Nationalismus’-Stereotyp und dem ‘Katholizismus’- Stereotyp. Diese Verbindung hängt mit dem semantischen Gehalt beider Stereotype zusammen. Die Semantik beider Prädikationen stimmt insofern überein, als in beiden das Merkmal der Emotionalität enthalten ist. „Polen sind patriotisch/ nationalistisch“ heißt auch: Polen haben ein sehr emotionales Verhältnis zu ihrer Nationalität. „Polen sind streng katholisch“ heißt auch: Der Katholizismus der Polen ist vor allem gefühlsbetont. Aufgrund der Emotionalität, die im ‘Patriotismus/ Nationalismus’-Stereotyp enthalten ist, wird es aus der Sicht der FAZ als zum Faschismus tendierend dargestellt. In den Belegen (13) und (14) wird zweimal eine Figur genannt, die für Polen einen nationalen Symbolcharakter besitzt: Pilsudski gilt vielen Polen als Vaterfigur und „Großväterchen“ (vgl. L. v. Zitzewitz 1992, S. 52), zu dem sie ein emotionales Verhältnis bewahrt haben, und er steht für Russenhaß. Aufgrund seines Fanatismus wurde er im westlichen Ausland in die Nähe des Faschismus gerückt. Diese Sicht hebt die FAZ dadurch hervor, daß sie die Äußerung eines britischen Gewerkschaftsfünktionärs, der die Polen von heute mit Pilsudski vergleicht, zweimal zitiert. Insofern kann man den Namen Pilsudski in die Reihe der Signalwörter einordnen, die für nationale Symbole stehen. Die Bezeichnungen faschistisch und Faschist werden in diesem Zusammenhang auch zu den Signalwörtern der schlimmsten und stärksten Erscheinungsform des ‘Patriotismus/ Nationalismus’-Stereotyps. Pilsudski ist für Polen die Verkörperung eines Nationalhelden, der große Verdienste zur Erhaltung der Unabhängigkeit von Polen im Jahre 1918, nach 123 Jahren der Unterdrückung während der Teilung Polens erworben hat. Das impliziert seine Wahrnehmung als Patriot aus der Perspektive der Polen - und als Nationalist aus der Perspektive der Nachbarn Polens. Sein Verhältnis zur Religion bezeichnet Garlicki als indifferent (vgl. 1989, S. 64). Pilsudski wurde im katholischen Glauben erzogen, wollte jedoch eine geschiedene Frau heiraten und konvertierte aus diesem Grund zur evangelisch-augsburgischen Konfession. Da er in Polen eine politische Karriere machen wollte, sah er ein, daß dafür in der polnischen Gesellschaft eine formelle Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Kirche nötig ist, weshalb er dieser wieder beitrat (ebd., S. 65). In Pilsudskis Person konvergieren ein emotionaler Patriotismus, der in der Perspektive der polnischen Nachbarn als ein zum Fanatismus tendierender Nationalismus wahrgenommen werden kann, und der formelle, politisch motivierte Katholizismus. Die Konvergenz vom Patriotismus und Katholizismus der Polen besitzt tatsächlich historische Wurzeln (s. Kap. 1.4). Die folgenden Syntagmen und Lexeme sollen die Verknüpfung des ‘Patriotismus/ Nationalismus’-Stereotyps mit <?page no="135"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 135 dem ‘Katholizismus’-Stereotyp belegen, da Signalwörter beider Stereotype im unmittelbaren Textkontext zusammen verwendet werden: die Menge sang patriotische Soldaten- und Kirchenlieder (2x); die Streikenden stimmen die Nationalhymne und dann das alte Kirchenlied „Gott rettet Polen“ an; während der Messe [...] die weiß-roten polnischen Fahnen; während der Messen [...] die weiß-roten polnischen Flaggen; ein Kruzifix [...] neben dem polnischen Adler; Fahnen in den gelb-weißen Farben der Kirche und dem Rot-Weiß der polnischen Nationalfarben; die polnische Nationalflagge und ein Bild des aus Polen stammenden Wojtyla-Papstes zieren den Zaun der Lenin Schiffswerft; an den Gitterstäben hängen weiß-rote polnische Fahnen [...] Heiligenbilder und ein Foto des Papstes; ein polnischer Adler flankiert von [...] und einem Kruzifix; ein drei Meter hohes Kreuz [...] behängt mit [...] Fähnchen in Polens Nationalfarben Weiß-Rot; der Primas greift zum letzten politischen Wundermittel der Nutzung des nationalen Verantwortungsbewußtseins; die Standhaftigkeit von Katholiken, die es ermöglichte, daß die polnische Kirche nach 30 Jahren atheistischer Macht im Staate das Oberhaupt der katholischen Weltkirche stellen kann, und ein nationales Bewußtsein, in der Weltgeschichte eine besondere Rolle spielen zu müssen, der ,Jvfessias der Völker“ zu sein; trotz 35 Jahren kommunistischer Indoktrination hätten die Menschen in Polen ihren Patriotismus und ihre Religiosität bewahrt; durch die Wahl Karol Wojtylas zum Papst in Rom [...] der polnische Patriotismus verlor einige politische Grundtatsachen aus den Augen; das Regime mußte mittun oder sich blind stellen, wollte es nicht den emotionalen Einfluß auf die Bevölkerung verlieren. Eine andere Art der Verbindung des ‘Patriotismus/ Nationalismus’-Stereotyps diesmal mit einem politischen Konzept, und zwar dem der Demokratie, wird in mehreren Textstellen deutlich. Dabei wird die Demokratie stets dem in Polen herrschenden Kommunismus entgegengesetzt. Das Phänomen läßt sich mit Hilfe der Signalwörter, die für die Demokratie charakteristisch sind, beschreiben. Lexeme und Syntagmen, die aus dem Wortschatz des demokratischen Staates stammen, sind u.a.: Demokratisierung; der Demokratie freien Lauf lassen; freie Gewerkschaften. Die angeführten Signalwörter des ‘Patriotismus/ Nationalismus’-Stereotyps und der Demokratie werden in mehreren Belegen textuell verbunden (syntagmatisch) aneinandergereiht. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Beleg (6), in dem eine solche Verbindung auftritt. Die Ideologien ‘Patriotis- <?page no="136"?> 136 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck mus/ Nationalismus’ und ‘Demokratie’ werden mit Hilfe von Signalwörtern explizit genannt. Die zwischen ihnen hergestellte Parallele beruht darauf, daß beide Erscheinungen, wenn sie in Polen außer Kontrolle geraten, als Auslöser gefährlicher Entwicklung dargestellt werden können. Wie oben angedeutet, grenzt in der Sicht vor allem der FAZ der stark ausgeprägte, hoch emotionalisierte Nationalismus an Chauvinismus, Fanatismus oder sogar an Faschismus. Die Demokratie als ein politisch positiv belegtes Konzept scheint eine solche Gefahr zu bannen. Der Autor von Beleg (6) äußert trotzdem deutlich, daß man die Demokratie in Polen kontrollieren müsse und ihr keinen freien Lauf lassen kann. Die Gefahr, die er hier zu spüren glaubt, besteht im Umschlagen der Demokratie in Anarchie. Diese Tendenz wird als typisch für Polen gesehen und seitens der FAZ auch erwartet, falls die Entwicklung ungehemmt weiter läuft. VI) Resümee Trotz der Tatsache, daß Polen nach Auffassung der westdeutschen Presse mit der Streikwelle im Sommer 1980 einen Schritt in Richtung auf die Demokratie tut und sich vom inhumanen kommunistischen Regime zu entfernen versucht, wird diese Entwicklung in der westdeutschen Berichterstattung nicht nur mit Begeisterung kommentiert. Die in der westdeutschen Presse erkennbare Tendenz einer vorsichtigen Beobachtung der polnischen Ereignisse und Warnung vor ihren Folgen findet ihren Niederschlag am deutlichsten in der FAZ (Belege (6) bis (10)). Die in der Presse auftretende Sorge um Polens Schicksal bezieht sich auf die Angst des Westens vor möglichen Reaktionen der Sowjetunion auf die polnischen Ereignisse, die zum Dritten Weltkrieg fuhren könnten, sowie auf eine eventuelle Gefahr der Unfähigkeit seitens der polnischen Bevölkerung, ein demokratisches System (vgl. Beleg (6)) aufzubauen. Die Vision eines Staates, dem es durch seine geopolitische Lage nicht möglich ist, sich von der Sowjetunion zu lösen, obwohl seine Bevölkerung sich das wünscht und darauf besteht, gibt der Situation in Polen einen dramatischen Anstrich. Dieser tragische Sachverhalt wird in der westdeutschen Presse als ungerecht den Polen gegenüber dargestellt und appelliert offensichtlich an die Mitleidsgefuhle bei den bundesdeutschen Bürgern. Außer diesem explizit und quantitativ oft zum Vorschein kommenden Aspekt findet man in den analysierten Zeitungstexten auch einen anderen, der schwerer zu entdecken ist, weil er negativ-wertend ist, der Frequenz nach selten und dazu implizit auftritt, manchmal aber doch an die Oberfläche des Textes kommt. Anhand der genannten Indikatoren läßt sich vermuten, daß dieses Stereotyp tabuisiert werden sollte, weil seine Inhalte nicht unbefangen präsentiert werden können. Dieser Aspekt zeigt, daß sich der rebellische Patriotismus möglicherweise über den Nationalismus und Fanatismus hin bis zum Faschismus entwickeln könnte. Diese Entwicklung in Polen wird in der westdeutschen Presse besorgt beobachtet und spiegelt sich nicht nur im ‘Patriotismus/ Nationalismus’- Stereotyp wider, sondern auch in den anderen Stereotypen (hauptsächlich: <?page no="137"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 137 „Polen sind streng katholisch“; „Polen sind rebellisch“; „Polen sind russenfeindlich“; „Polen sind Märtyrer“), zwischen denen wesentliche Überschneidungen zu beobachten sind. Die Verschmelzung des polnischen Patriotismus mit der Religiosität führte zur Selbstwahmehmung der Polen als Märtyrer, was sich in der Idee des Messianismus äußerte (s. Messianismus, in Kap. 1.4). In der Vergangenheit läßt sich das Stereotyp ‘patriotische/ nationalistische Polen’ deutlich verfolgen. Hauptsächlich geht es auf das 19. Jahrhundert zurück, in dem der polnische Staat 123 Jahre lang auf der Karte nicht existiert hatte und der nationale Stolz der polnischen Bevölkerung „in ihrer tragischen Geschichte immer auch als Schutzschild dienen mußte“ (Kramer 1990, S. 15). Reiter meint, daß die patriotischen Gefühle der Polen sich immer wieder „in dem sonderbaren Klima einer national-religiösen Trauerfeier [manifestierten]“. Das Zurückblicken in die Vergangenheit erlaubt die Feststellung, daß die Polen ihre patriotischen Gefühle 1980 ähnlich wie in der Zeit der NS-Besatzung mit dem Lied „Gott schütze Polen“ zum Ausdruck brachten. Die Verbindung des Nationalen mit dem Religiösen findet man auch nach Reiters Meinung bei der Betrachtung der Aufständischen von 1863, die „in der kirchlichpatriotischen Stimmung der Gottesdienste neue Kraft zu schöpfen gesucht hatten“ (Reiter 1993, S. 384). L. v. Zitzewitz beobachtet die Verschmelzung der beiden genannten Elemente in den Gotteshäusern selbst, in denen man oft „Spruchbänder mit der aufgestickten Parole ‘Für Gott, Ehre und Vaterland’“, „[aufgestellte] Porträts von Priestern, die für Polen ihr Leben gaben“ und „Blumenschmuck an den Altären [...] vorzugsweise in den Nationalfarben Weiß und Rot“, findet (1992, S. 133). In diesem Zusammenhang erscheint der polnische Patriot somit als Jemand, der ein schweres Kreuz trägt, aus einer Pflicht, die ihm das Schicksal auferlegt hat“ (Reiter 1993, S. 384). 5.2 Strenger Katholizismus I) Prädikation: „Polen sind streng katholisch“ II) Illustrationsbelege: 1) An einer Marienstatue unterwegs hielten die Demonstranten an und legten einen Strauß nieder. Maria ist „die Königin Polens“, das alte Fest „Maria Königin Polens“ am 3. Mai wird jedes Jahr in Tschenstochau mit großem Pomp als nationales Pilgerfest gefeiert. Der Tag ist zugleich der alte Staatsfeiertag der Republik Polen zwischen den Weltkriegen und folgt unmittelbar auf den kommunistischen Maifeiertag - Umstände, die diesem Pilgerfest eine von der Kirche nicht ohne Wohlwollen gesehene Doppeldeutigkeit verleihen. Der Strauß vor der Warschauer Muttergottes-Statue trug eine Schleife mit der Inschrift: „Der siegreichen Muttergottes die polnische Nation.“ (Kranzniederlegung nach Gottesdienst, FAZ, 16.08.1980, FZ081606.TXT). <?page no="138"?> 138 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 2) Pfarrer Henryk Jankowski von der nahegelegenen Sankt-Brigitten-Kirche zelebrierte an einem Feldaltar, der auf einem Lastauto errichtet worden war, eine Messe. Die Werftarbeiter, von denen die meisten seit Beginn des „Okkupationsstreiks“ vor elf Tagen das Werftgelände nicht verlassen haben, knieten in ihrer Arbeitskleidung auf dem Boden nieder, als ihnen der Geistliche den Segen erteilte. Hunderte von ihnen gingen zur Kommunion, während die Menschen polnische Wallfahrt- und Kirchenlieder sangen. [...] Zur gleichen Zeit, da sich offenbart, daß der Kommunismus in Polen auf Treibsand gebaut ist, wird aufs neue die tiefe Verwurzelung der katholischen Kirche sichtbar. [...] Heute ähnelt die Danziger „Lenin-Werft“, ziemlich gegen die Vorstellungen ihres Namenspatrons, einem Prozessionsgelände; von Jesus, der Mutter Gottes, dem Papst und den Bischöfen wird dort nicht weniger gesprochen als von den Lohnerhöhungen und freien Gewerkschaften. (Die wahre Autorität, FAZ, 26.08.1980, FZ082603 . TXT). 3) Er hieß Lenin. Aber sein Monument schmückt diese Werft nicht mehr allein: Seit einigen Wochen sind dort ein Papst-Bild und die Schwarze Madonna aus Tschenstochau zu sehen. (Der Störenfried, FAZ, 26.08.1980, FZ082611.TXT) 4) Das polnische Fernsehen hatte, [...] große Teile der Predigt ausgestrahlt, die Polens Primas Kardinal Wyszyhski am gleichen Tage in Tschenstochau gehalten hatte und in der das Oberhaupt der katholischen Kirche Polens, die höchste Autorität im Lande, zur Mäßigung und Kompromißbereitschaft auffief und vor der Gefahr einer Weiterfiihrung des Streiks warnte. (Die Polen streiken weiter. Mahnungen, Appelle, Warnungen, Zusagen, FAZ, 28.08.1980, FZ082801.TXT). 5) Gestandene Arbeiter, die wie brave Kommunionkinder bei der Messe niederknien, [...] Polen, die ihr Werkstor mit dem Bild „ihres“ Papstes und der Madonna von Tschenstochau schmücken und gleichzeitig freie, unabhängige Gewerkschaften fordern, katholische Arbeiter also. Aber sie folgen nicht den Aufrufen der höchsten geistigen Autorität im Lande, dem Primas, und erklären bisher ungehört im Nachkriegspolen - „Die Madonna streikt“. (Die streikenden „Proletarier“ in Polen wollen sich mit niemandem vereinigen, FAZ, 30.08.1980, FZ083008.TXT). 6) Als bekannt wurde, der Primas von Polen, Kardinal Wyszynski, habe den Arbeiterführer empfangen und mit ihm zwei Stunden lang gesprochen, jubelten eilige Beobachter schon, nun würde das Geschick Polens in den Händen der drei „W“ liegen, Wojtyla, Wyszynski und Walqsa. Sie ahnten eine geheime Bedeutung darin, daß der Buchstabe W das auf den Kopf gestellte M von Maria, der Schutzpatronin Polens, sei. (Papst- Audienz für Wal^sa verschoben, FAZ, 10.09.1980, FZ091007 . TXT). 7) Am Rockaufschlag trägt er [Lech Walqsa, J.D.] eine Plakette mit dem Bild der Muttergottes von Tschenstochau. Neben dem Lichtschalter an der Tür hängt ein Rosenkranz. Ein großes Bild des Papstes aus Krakau schmückt die Stirnwand des Hotelzimmers. [...] Wal^sa wird herausgerufen und kommt mit einem kleinen „Kunstwerk“ zurück, eine geschenkte Collage mit christlichen Symbolen, dem Kreuz und dem Bild des Papstes. [...] Am Haupttor erinnert nichts an die Tage der Arbeitsniederlegung. Papstbild und Blumen sind nicht mehr da. Auch das Kreuz, wo einmal das Denkmal für die Opfer der Unruhen des Jahres 1970 errichtet werden soll, ist nicht zu sichten. (Auf dem Metall- <?page no="139"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 139 schild am Hotel Morski steht jetzt: Unabhängige Gewerkschaft in Danzig, FAZ, 12.09.1980, FZ091210.TXT). 8) Als die Bischöfe den Block verließen, drängten sich dennoch einige vor, die ein „Autogramm“ in dieser Stunde wünschten. Bereitwillig kamen die deutschen Bischöfe diesem Wunsch nach. Ob es nicht noch einige Bilder gäbe, wollte ein Pole wissen. Die Leute warteten darauf. [...] Die Tausende, die in den Dom gekommen waren, bedrängten die deutschen Bischöfe, sie wollten die kleinen Bilder haben vom Dom zu Köln, die Kardinal Höffner bei dieser Reise bereithielt. [...] Noch lange nach der Messe sangen polnische Katholiken vor dem Palais des Erzbischofs von Breslau, wo die deutschen Gäste übernachteten, polnische Kirchenlieder. (Deutsche Bischöfe beenden heute Polen- Besuch, FAZ, 15.09.1980, FZ091502.TXT). 9) Doch der Mythos vom dichtenden, reisenden, vielsprachigen Papst gab alsbald seinen Inhalt preis: „Es klingt paradox, aber nirgendwo in Europa steht der Katholizismus sowohl in seiner dogmatisch-ideologischen Gestalt wie in seinen hierarchisch-autoritären Strukturen derart unangefochten da wie im kommunistischen Ostblockland Polen.“ (Wojtyla und das Weltsyndikat, FR, 5.07.1980, FR070502 . TXT). 10) Auf dem Danziger Werftgelände hatten die Arbeiter in Eile aus Brettern einen Altar gezimmert. Das Gitter des Tores schmückten Fahnen in den Farben Weiß und Rot Polens, Weiß-Gelb des Vatikans und Blau-Weiß der Muttergottes. Darüber war auf der Werksseite ein Porträt des Papstes und in Richtung Stadt ein Bild der Schwarzen Mutter Gottes von Tschenstochau angebracht. Zum Abschluß sangen die Anwesenden das berühmte Lied „Gott schütze Polen“ sowie nach einem „Vater unser“ für die Opfer von 1970 die Nationalhymne „Polen ist nicht verloren, solange wir leben“. (Streik in Polen ungebrochen, FR, 18.08.1980, FR081801.TXT). 1 l)Mit einem Kruzifix gekennzeichnete Autos fahren durch die Straßen von Danzig, um Spenden einzusammeln. Katholische Geistliche brachten am Donnerstag ihre Sympathie für die Streikenden zum Ausdruck. So wurden in der Lenin-Werft Heiligenbilder verteilt, mit Inschriften, in denen die Mutter Gottes aufgefordert wird, sich für die Streikenden einzusetzen. (Warschau: Neuer Unterhändler, FR, 22.08.1980, FR082208.TXT). 12) Offiziell heißt der Refrain zwar seit einigen Jahren: „Segne unser freies Vaterland.“ Die Arbeiter singen jedoch wie die meisten Gläubigen in Polen weiter den Refrain aus der polnischen Teilungszeit, der Gott um die Rückgabe des „freien Vaterlandes“ bittet. (Das freie Vaterland, FR, 25.08.1980, FR082509. TXT). 13) Daß der Staatsmacht und der regierenden kommunistischen Partei nun die organisierte katholische Kirche durch die Predigt des gewiß nicht linksstehenden Kardinals Wyszyhski ausgerechnet auch noch in Tschenstochau beispringen muß, entbehrt nicht einer gewissen Komik, die allerdings aus der polnischen Geschichte zu erklären ist. (Real- Sozialismus im Rentenalter, FR, 28.08.1980, FR0828 08.TXT). 14) Freilich läßt es auch Streikkomitee Sprecher Leszek Wahjsa nicht an ehrfurchtsvollen Handlungen gegenüber lokalen Kirchenvertretem fehlen. Einer Institution, die solche Macht über Herzen und Hirne hat wie die katholische Kirche in Polen, tritt man nicht <?page no="140"?> 140 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck ungestraft mit entblößter Brust gegenüber. (Real-Sozialismus im Rentenalter, FR, 28.08.1980, FR082808.TXT). 15) Da wird sogar der stellvertretende Ministerpräsident christlich gestimmt: „Ich stamme aus einer Bauernfamilie“. Da sagte man: „Samstag ist der Gnadentag der Muttergottes.“ (In Polen hat die Stunde der Wahrheit geschlagen, FR, 1.09.1980, FR090111.TXT). 16) Gegen Abend spendet die Kirche Trost. Ein Auto mit vier Priestern kommt durch das Werkstor gefahren. Einer der Geistlichen ergreift das Mikrofon und kündigt an, daß nun die Beichte und Kommunion folgen würden. Von der Beichte an einem Klappstuhl macht nur ein junger Mann Gebrauch, doch als der Pfarrer im Ornat die Kommunion zu verteilen beginnt, gerät Bewegung in die Menge. Auch Wal? sa kniet plötzlich in der ersten Reihe. Aus Tausenden Männerkehlen kommen Gebete und Kirchengesänge. Eine junge Frau im blauen Drillich verteilt Heiligenbildchen. (In Polen hat die Stunde der Wahrheit geschlagen, FR, 1.09.1980, FR090111.TXT). 17) In einem für einen kommunistischen Staat ungewöhnlichen Schritt strahlte der staatliche polnische Hör- und Fernsehfunk am Dienstagabend eine Ansprache des katholischen Primas von Polen, Stefan Kardinal Wyszynski, aus, in der er zu Ruhe, Besonnenheit und Verantwortungsbewußtsein aufrief und die Gläubigen bat, ihre Pflicht „in der Familie, im gesellschaftlichen Leben und im Berufsleben“ zu tun. (Partei legt Jagielskis Spielraum fest, SZ, 28.08.1980, SZ082810.TXT). 18) Aus der „besonnenen Haltung der polnischen Arbeiter und Streikführer“ zieht er den Schluß, daß Resignation in großen nationalen Fragen fehl am Platze sei; trotz 35 fahren kommunistischer Indoktrination hätten die Menschen in Polen ihren Patriotismus und ihre Religiosität bewahrt. (Aufatmen im Westen - Schweigen im Osten, SZ, 1.09.1980, SZ090110.TXT). III) Zuordnung zur Funktion Die Prädikation „Polen sind streng katholisch“ wird in den analysierten Texten ausschließlich mit Hilfe von Typik, ausgedrückt. Streng katholisch zu sein wird als erwartbar und typisch für alle Polen dargestellt. Es kommt keine Atypik vor. Die einzige Stelle, in der man auf der syntaktischen Ebene Negation findet, tritt im Beleg (7) auf, wo die Beschreibung des Haupttores der Lenin- Werft geschildert wird. Der mittels Negation beschriebene Sachverhalt besteht darin, daß dort kein Papstbild, keine Blumen und kein Kreuz mehr zu sehen sind. Das ‘Katholizismus’-Stereotyp wird hauptsächlich mit Hilfe von direkten und indirekten Signalwörtern realisiert (s. Punkt V), wonach seine explizite Verwendung dominiert. IV) Medienspezifik und Textsortenverteilung In allen drei analysierten westdeutschen Zeitungen findet man die typische Verwendung der Prädikation „Polen sind streng katholisch“. Sowohl die direkten als auch die indirekten Signalwörter sind sehr zahlreich. Auffällig ist. <?page no="141"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 141 daß FAZ und FR die meisten Belege zur Illustration liefern. In der SZ tritt eine wesentlich geringere Zahl von indirekten Signalwörtern auf. Wenn sie hier verkommen, befinden sie sich vorrangig auf Seite 3 (Reportagenseite) oder unter den Kommentaren auf Seite 4. In der FAZ und in der FR lassen sich solche Spezifika nicht feststellen, weil das ‘Katholizismus’-Stereotyp in allen Textsorten realisiert wird, d.h. in Leitartikeln, Berichten, Nachrichten und Kommentaren. In allen drei Tageszeitungen findet man die Verbindungen des ‘Katholizismus’-Stereotyps mit anderen Stereotypen, wobei seine Verknüpfung mit dem ‘Patriotismus/ Nationalismus’-Stereotyp quantitativ dominiert (s. Punkt VI). Es fällt auf, daß auch eine große Zahl von Bildunterschriften und Bildern selbst das ‘Katholizismus’-Stereotyp vermitteln. Das ‘Katholizismus’-Stereotyp wird am häufigsten in der FAZ (ca. 60 Belege) und am seltensten in der SZ (ca. 30 Belege) zum Ausdruck gebracht. V) Zur lexikalischen und syntagmatischen Realisierung Das zentrale Signalwort des ‘Katholizismus’-Stereotyps ist das Lexem Kirche Dieses Wort wird in den analysierten Texten am häufigsten verwendet; es kommt in den Belegen 71 mal vor. Das Lexem Kirche hat vier Bedeutungen: zum einen „geweihtes Gebäude, in dem Gottesdienste abgehalten werden“, zum zweiten „Gottesdienst“, zum dritten „einer bestimmten Konfession angehörende Glaubensgemeinschaft“ und zum vierten „die durch Geistliche und den Klerus repräsentierte christliche Glaubensgemeinschaft“ (vgl. Duden Deutsches Universalwörterbuch 1989, S. 836). In den untersuchten Belegen lassen sich die erste, dritte und vierte Bedeutung von Kirche erkennen. Die dritte und die vierte Lesart vermischen sich oft in den Belegen und stellen somit eindeutig die dominierenden Bedeutungen von Kirche dar. Diese dominierenden Bedeutungen werden durch eine Vielzahl von Nomina actoris, wie Primas, Papst, Kardinal, Erzbischof (vierte Lesart) gestützt, sowie durch Attribuierungen von Kirche mit dem Adjektiv katholisch (dritte Lesart). Das Lexem Kirche wird meistens mit dem Adjektiv katholisch attribuiert, so tritt die Wortgruppe katholische Kirche in den untersuchten Illustrationsbelegen 22 mal auf, was eindeutig die häufigste aller Attribuierungen von Kirche darstellt. Die anderen Attribuierungen sind: nationale Kirche (Ix); polnische Kirche (2x); evangelische Kirche (Ix); evangelisch-augsburgische Kirche (2x). Die Verknüpfung des Adjektivs national mit dem Substantiv Kirche unterstreicht die enge Beziehung zwischen Kirche und Staat in Polen. Der Katholizismus wird als eine für alle Polen typische Charakterisierung betrachtet, indem sie mit Hilfe einer ähnlichen Konstruktion, und zwar mittels Adjektiv + Nomen, als katholische Nation bezeichnet werden. Dies wird besonders deutlich in Beleg (2), in dem eine Verknüpfung des ‘Patriotismus/ Na- <?page no="142"?> 142 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck tionalismus’-Stereotyps mit dem des ‘Katholizismus’ durch die Erwähnung des nationalen Pilgerfestes zur Ehre der Königin Polens - Maria hergestellt wird. Die Signalwörter lassen sich, ähnlich wie im Fall des ‘Patriotismus/ Nationalismus’-Stereotyps, in zwei Gruppen einteilen. In der ersten Gruppe befinden sich Signalwörter, mit denen das Stereotyp direkt ausgedrückt wird, in der zweiten Gruppe findet man hingegen Bezeichnungen für religiöse Symbole, mit denen das ‘Katholizismus’-Stereotyp indirekt realisiert wird. Die religiösen Symbole nehmen auf Einstellungen Bezug. Zu der ersten Gruppe der direkten Signalwörter gehören: Nomina: Kirche (7Ix); Bischöfe (19x); Pfarrer (6x); Geistliche (3x); Priester (5x); Primas (Ix); Episkopat (Ix); der Papst (6x); Papst Johannes Paul II. (8x); Papst Wojtyla; Kirchenprimas; Kardinal (Ix); Kardinalerzbischof Wojtyla von Krakau; Kirchenfürsten; Johannes Paul II. (3x); Erzbischof (4x); Kirchenführer (3x); Kirchenvertreter (2x); Kardinalerzbischof; Prälat; Amtsbrüder; Kardinalprimas; Privatkapelle (2x); Kathedrale; Gotteshaus; Dom (2x); Kirchenraum; Universitätskirche Sankt Anna; Sankt-Brigitten-Kirche; Tschenstochau; Bethlehem; Diözese (3x); Katholik (Ix); Gläubige (5x); Messe (18x); Sonntagsmesse; Gottesdienst (llx); Predigt (hx); Gebete (Ix); Marien-Gebete (2x); Bittgottesdienst; Andacht; Beichte (2x); Kommunion (2x); Religionsunterricht; Kirchenlied; Katholizismus; Glaube; Religiosität; Christenheit; Madonna; Feldaltar (2x); Holzaltar; Prozessionsgelände; Kommunionskinder; Priesterseminar; Ornat; Bischofskonferenz. Verben: beten (13x); zelebrieren (5x); niederknien (3x); knien (2x); glauben; segnen. Adjektive: katholisch (32x); religiös (2x); gläubig; christlich; geistlich (2x); heilig; seelsorgerisch; geistig. Nominale Syntagmen: Kollokative Einbettung von Signalwörtem: seelsorgerische Unternehmungen; das religiöse und moralische Leben der Gesellschaft; Schmücken der Häuser bei Kirchenfesten; Marienwallfahrtsort Tschenstochau; staatsmännische Klugheit der Kirche (2x); Jungfrau Maria, die Schutzpatronin des katholischen Polen; <?page no="143"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 143 der polnische Papst (2x); Maria, die Schutzpatronin Polens (2x); „ Maria Königin Polens“; eine sehr starke katholische Komponente in Polen; die katholische Kirche in Polen; tiefe Verwurzelung der katholischen Kirche; die höchste (geistige) Autorität im Lande, der Primas (2x); das Oberhaupt der katholischen Kirche Polens, die höchste Autorität im Lande; Polens Primas Kardinal WyszynsU; ein Gottesdienst in der überfüllten Universitätskirche; improvisierter Gottesdienst; katholische Arbeiter; katholische Nation; katholisches Land; die nationale Kirche; polnische Kirche (2x),katholische Kirche (18x); Kloster Jasna Göra in Tschenstochau, das Nationalheiligtum Polens; ,JDer siegreichen Muttergottes die polnische Nation“ (2x); mit Blumen geschmückter Holzaltar; Religionsunterricht an den staatlichen Schulen; neues Bethlehem; Mysterium Christi; der Papst in Rom; geistliche Dienste; katholische Geistliche; Feldaltar auf einem Lastauto; „mütterliche Hände“ der Madonna von Tschenstochau; praktizierender Katholik. Verbale Syntagmen; Kirchenlieder singen; Wallfahrt- und Kirchenlieder singen (2x); an dem Gottesdienst teilnehmen (2x); bei der Messe niederknien; „Großer Gott, wir loben Dich“; polnische Kirchenlieder singen; das berühmte Lied „Gott schütze Polen“ singen; ein religiöses Lied „Gott, der Du jahrhundertelang Polen unter Deinem Schutz gehabt hast, vor Deinem Altar bitten wir Dich: Segne, oh Herr, das freie Vaterland.“ anstimmen; „Segne unserfreies Vaterland.“; Maria ist „Königin Polens“; <?page no="144"?> 144 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Gott hilft dem Vaterland; eine Messe an einem Feldaltar zelebrieren; den Segen erteilen; zur Kommunion gehen; (2x) mit Gebeten gedenken; das christliche Kreuz aufstellen; mit dem Bild „ihres“ Papstes und der Madonna von Tschenstochau das Werkstor schmücken; ,f)ie Madonna streikt"; Priester der Kirche; aus Brettern einen Altar zimmern; ,JPolen ist die Zitadelle der Christenheit"; „im Geist und im Gebet" nahe sein; „Samstag ist der Gnadentag der Muttergottes.""; „Gott ist mit uns"". Zur zweiten Gruppe der indirekten Signalwörter, die auf katholisch-religiöse Symbole bezugnehmen, gehören: Nomina: Marienstatue (2x); Muttergottes-Statue; Kruzifix (10x); Jesus; Papst-Bild {Papstbild) (2x); Schwarze Madonna aus Tschenstochau; Gottesgebärerin; Rosenkranz; Kreuz (3x); Statue der heiligen Barbara; Heiligenbilder (2x); Heiligenbildchen; Gott (5x); Mutter Gottes (4x); Schwarze Madonna von Tschenstochau; Kirchengesänge. Nominale Syntagmen: Kollokative Einbettungen von Signalwörtern: Bild des Papstes {Johannes Paul II.) (5x); Bilder von Papst Johannes Paul II. {2x); Bild von Wojtyla; Photo von Johannes Paul II.; ein Foto des Papstes; ein Foto von Papst Johannes Paul II.; Bilder vom polnischen Papst Johannes Paul II.; {Bild) Bilder des aus Polen stammenden Papstes Johannes Paul II. (2x); Bild des aus Polen stammenden Wojtyla-Papstes; Abbilder Wojtylas; Porträt des Papstes (3x); Bild der Muttergottes von Tschenstochau; Bild der Schwarzen Mutter Gottes von Tschenstochau; Bild der Schwarzen Jungfrau von Tschenstochau; die Reproduktion des Bildnisses der schwarzen Madonna von Czestochowa; Bild der „Heiligen Madonna"" von Tschenstochau (2x); <?page no="145"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 145 Bilder von der Schwarzen Madonna von Tschenstochau, {der Schutzheiligen Polens); (2x) Bildchen von der Muttergottes, der Königin Polens; Collage mit christlichen Symbolen, dem Kreuz und dem Bild des Papstes; Papst- und Marienbilder; eine Nickelmünze [...] auf der einen Seite das Bild der Jungfrau von Tschenstochau, aufder Rückseite der Kopf von Jan-Pawel, dem Papst; religiöse Bilder; Fahnen in den Farben [...] Weiß-Gelb des Vatikans und Blau-Weiß der Muttergottes; „Vater unser“; das alte Kirchenlied „Gott rettet Polen“; das alte polnische Kirchenlied „Wir wollen Gott. VI) Resümee Die Verbindungen der Signalwörter beider Klassen belegen zusätzlich die Verknüpfung des ‘Katholizismus’-Stereotyps mit dem ‘Patriotismus/ Nationalismus’ - Stereotyp. Vereinzelt wird das ‘Katholizismus’-Stereotyp auch mit einem weiteren Stereotyp verknüpft, etwa mit dem Stereotyp „Polen sind rebellisch“ (siehe: Die Madonna streikt, im Sinne ‘Sogar die Madonna streikt, denn sie ist eine Polin’). Auffällig ist bei der Verwendung des ‘Katholizismus’- Stereotyps seine häufige Realisierung mittels indirekter Signalwörter, die sich auf religiöse Symbole beziehen. Die Belege lassen die Annahme zu, Polen seien bildersüchtig {Heiligenbilder, Photos vom Papst und Madonna, Collage mit christlichen Symbolen) und folglich auch auf Devotionalien wie Rosenkranz, Statuen, Kruzifix, Kreuze, Fahnen in den Farben [...] Weiß-Gelb des Vatikans und Blau-Weiß der Muttergottes großen Wert legen. Das ‘Katholizismus’-Stereptyp wird in den Texten sehr oft durch Bezeichnungen für religiöse Symbole evoziert. Die Journalisten unterstellen, daß Polen stets nach Parallelen zwischen der aktuellen politischen Lage und kirchlichen Ereignissen suchen. Eine solche Suche wird im Beleg (6) in einer Art und Weise geschildert, als handele es sich um eine Geheimlehre: nun würde das Geschick Polens in den Händen der drei „W‘ liegen, Wojtyia, Wyszyhski und Walqsa [...] eine geheime Bedeutung darin, daß der Buchstabe W das auf den Kopfgestellte M von Maria, der Schutzpatronin Polens sei. Die polnische Geschichte liefert zahlreiche Beispiele, die das Stereotyp Pole gleich Katholik belegen können. L. v. Zitzewitz schreibt diesbezüglich: „Nach landläufiger Überzeugung sind tausend Jahre Polen gleichbedeutend mit tausend Jahren Christentum in Polen.“ Sie vertritt dabei die Meinung, daß die besondere Stellung der Kirche in Polen nicht „einer speziell den Polen angeborenen Religiosität als vielmehr bestimmten polithistorischen Konstellationen“ zugeschrieben werden kann (1992, S. 133). Nach Waterkott ist ein besonderer Umgang der Polen mit dem Katholizismus „durch eine schmerzliche Ge- <?page no="146"?> 146 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck schichte nationaler und religiöser Unterdrückung“ geprägt, „deren Wurzeln weit zurückreichen, mindestens in die Zeit der Belagerung Polens durch die protestantischen Schweden im 17. Jahrhundert“ (1993, S. 283). Im Jahre 1655 überfielen schwedische Truppen polnisches Territorium und eroberten innerhalb kurzer Zeit das ganze Land außer einer einzigen Bastion, der des Klosters am Hellen Berg in Tschenstochau. Die Legende besagt, daß die Mutter Gottes beim schwedischen Angriff erschien und die Geschosse der Schweden in eine andere Richtung lenkte, so daß die Schweden selbst von ihnen getroffen wurden und die Polen einen Sieg errangen (vgl. Kramer 1990, S. 18). Als Dank an die Gottesmutter erklärte der polnische König Jan Kazimierz die Mutter Gottes Maria im Jahre 1656 zur „Königin der Krone Polens“ und zur Schutzpatronin des Landes (vgl. Waterkott 1993, S. 284). Auf diese Weise entstand im 17. Jahrhundert der Mythos von der Wundertätigkeit des Marienbildes, das zu einem der religiösen Symbole wurde. Als der polnische Staat Ende des 18. Jahrhunderts für 123 Jahre aufgelöst wurde, sammelten sich die Polen vor den Altären der Mutter Gottes, beteten und verbanden damit die Hoffnung auf ein freies Vaterland. Waterkott schreibt, daß im 19. Jahrhundert die religiösen Symbole sogar zu „politischen Chiffren im nationalen Widerstand [wurden]“ (ebd., S. 283). Die Verschmelzung des Nationalen mit dem Katholizismus brachte am 26. September 1968 der Primas Stefan Wyszynski zum Ausdruck: „Niemand möge an der Behauptung, Pole gleich Katholik, Anstoß nehmen [...] es handelt sich hierbei nicht um ein Schlagwort, sondern um eine lebendige Frucht, die aus den Existenzgegebenheiten der Kirche inmitten des gequälten Volkes herangereift ist. Das ist die lebendige Wirklichkeit! Die Nation war auf eine andere Weise nicht vor Ausrottung, Russifizierung, Germanisierung, vor Orthodoxie und Protestantismus zu bewahren. Das konnte nur um den Preis der Verschmelzung dieser beiden lebenswichtigen Kräfte zu einer Einheit gelingen.“ (Wyszynski nach Waterkott 1993, S. 284). 5.3 Rebellentum I) Prädikation: „Polen sind rebellisch“ II) Illustrationsbelege: 1) Die Tapferkeit der Polen war gerade von den Finnen in der Vergangenheit immer wieder bewundert worden. Mit solcher Anerkennung verband sich freilich stets der stille Vorwurf, daß die Polen häufig zu impulsiv und ohne politische Abwägung der Konsequenzen gehandelt und dabei zuviel aufs Spiel gesetzt hätten. Ihre nationale Selbstbehauptung, so ist in Helsinki einmal mehr zu hören, habe deshalb so viele Rückschläge erlitten, weil die Polen mit dem von ihnen angezündeten Pulverfaß am Ende immer wieder selbst explodiert seien. (Finnlands Kommunisten sehen Versäumnisse, FAZ, 21.08.1980, FZ082171.TXT). <?page no="147"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 147 2) Hier zeigt sich zugleich, daß die Lage in Polen nach wie vor explosiv ist. (Verfrühter Jubel - Stimmen der Anderen, FAZ, 4.09.1980, FZ 090405. TXT). 3) Der nach 1970 und 1976 dritte Versuch, einen Teil der mittlerweile 40 Prozent des Staatsetats umfassenden Lebensmittelsubventionen auf die Verbraucher abzuwälzen, geht nicht ohne deren Widerstand vor sich. (Beunruhigendes Polen, SZ, 21.07.1980, SZ072101.TXT). 4) Beide Seiten wissen, daß ein Funke genügt, um das Pulverfaß zur Explosion zu bringen. (Machtprobe mit Gierek, SZ, 19.08.1980, SZ081950.TXT), 5) Männer wie Kuroh kalkulieren dabei ein, daß „einer der beiden Seiten der Geduldsfaden reißt“ oder daß „die frustrierte Führung den Kopf verliert“. (Machtprobe mit Gierek, SZ, 19.08.1980, SZ081950.TXT). 6) Denn die Arbeiter dieser Stadt haben sich im Dezember 1970 zwar blutige Köpfe geholt, als sie spontan und im Zorn unbedacht die Macht herausgefordert hatten, aber durch das Opfer von ungefähr 300 Menschen auch Gomulkas Sturz geschafft und Gierek in den Stuhl gehoben. („Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns, SZ, 23 / 24.08.1980, SZ082301.TXT). 7) Die katholische Kirche des Landes rief in einer offiziellen Stellungnahme dazu auf, die Krise in einer „weisen und umsichtigen Art“ beizulegen. (Streiks bringen Polens Führung in Gefahr, SZ, 23./ 24.08.1980, SZ082350.TXT) 8) Sollte Moskau einen Kompromiß zwischen Polens Arbeitern und ihrer Regierung hinnehmen, dann tut es dies, weil ihm der Preis des Eingreifens zu teuer ist, weil es furchten muß, daß ein Kampf mit den aufsässigen Polen den gesamten Ostblock in Flammen setzen und sogar mehr als einen neuen Kalten Krieg einleiten könnte. (Den Mut zur Freiheit stärken, SZ, 25.08.1980, SZ082551. TXT). 9) Das Warnzeichen der Streiks von 1976 hat nicht lange beeindruckt. 1976 wollte die Führung mit einer Neuordnung im Preisgefüge beginnen. Eine halbe Million streikte damals Es gab Straßenschlachten, wieder Tote und gewalttätige Ausschreitungen auf beiden Seiten. Zufrieden gaben sich die Arbeiter, als auf die Preissteigerungen verzichtet wurde. Beruhigt waren sie nicht. (Das Volk hört eine neue Sprache, SZ, 25.08.1980, SZ 082550. TXT). 10) Aus amerikanischer Sicht würde sich Polen über Nacht in ein weltpolitisches Pulverfaß verwandeln, falls es Parteichef Gierek und seinen neuen Leuten jetzt mißglücken sollte, die Krise zu entschärfen; dann könnte die Unruhe in der polnischen Arbeiterschaft noch ernstere Formen annehmen.(Alte Ängste werden wieder wach, SZ, 26.08.1980, SZ082650.TXT). 11) Aber dem [Ansicht von Olszowski bezüglich des polnischen Volkes, J.D.] stand bisher die Meinung entgegen, die der Stalinist Lukaszewicz vertrat: „Bei einem Volk wie dem polnischen kann man nur die Schrauben anziehen.“ (Rettungsversuch mit dem letzten Aufgebot, SZ, 27.08.1980, SZ082710.TXT). 12) Im Amtsverkehr zwischen Moskau und Warschau werden die Sowjets hingegen mit ihrer Meinung kaum hinterm Berg gehalten haben. Wenn Polens Parteichef Gierek den- <?page no="148"?> 148 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck noch ihren Ratschlägen nicht folgte, so ist das weniger ein Erweis seiner Unabhängigkeit, sondern mehr ein Zeichen dafür, daß er anders als durch Zugeständnisse an die Streikenden die Lage nicht meinte entschärfen zu können. Gierek hat die Stimmung in Polen wohl richtig beurteilt, auch das Temperament seiner Landsleute. (Moskau meldet sich zu Wort, SZ, 2.09.1980, SZ090201.TXT). 13) Die Polen sind zudem ein Volk, das sich weniger gefallen läßt als seine Nachbarn. (Polnische Leiden, FR, 13.08.1980, FR081302.TXT). 14) Überwiegend jung sind auch die Gesichter auf dem Werftgelände. Sie repräsentieren, was ein kluger Mann aus Warschau, der Chefredakteur der Wochenzeitung „Polityka“ Mieczystaw Rakowski, einmal stolz die neue Elite Volkspolens genannt hat, selbstbewußt und stolz, Kinder der ersten Nachkriegsgeneration, die gleichwohl mit der Muttermilch den Stolz ihrer Ahnen, die Erfahrungen und Demütigungen ihrer Väter und die Abneigung gegen die Macht eingesogen haben. („Wir glauben an Gott und Gott ist mit uns“, SZ, 23./ 24.08.1980, SZ082301.TXT), 15) Das Naiv-Prinzipielle hat er [Wahjsa, J.D.] sich in den Kopf gesetzt. Was ist nur in diesen jungen Don Quichotte gefahren, der kein Dichter, sondern ein Techniker ist? Hat er den oft zitierten Satz aus „Das Leben des Galilei“ von Brecht auswendig gelernt („Steht nur einer mutig auf...“), oder bleibt er einfach seinen urpolnischen Genen und Verhaltensmustern treu? Etwa jener ewig jungen Legende vom „Oberst Woiodyjowski“, der lieber die Festung Kamieniec Podolski in die Luft jagt, statt vor Übermacht zu kapitulieren? (Der Störenfried, FAZ, 26.08.80, FZ082611.TXT). 16) Polen ist das auf Dauer unruhigste Land im europäischen Vorfeld der Sowjetunion. Seit 1956, als der Posener Aufstand Gomulka an die Macht hob, haben regelmäßig größere oder kleinere Eruptionen die kommunistische Gesellschaft erschüttert, fast haben die Beobachter sich daran gewöhnt, daß in Polen wieder einmal etwas im Gange ist. Und doch ist Polen das einzige Land, in dem die Sowjetunion bis heute nicht mit ihrer Macht interveniert hat. [...] Die Zaren waren Herrscher über die Polen schon zur Zeit der Französischen Revolution. Russen wissen, wie schwer regierbar diese Untergebenen sind. [...] Hinzu kommt die Klugheit der polnischen Nation, die nach Jahrhunderten blutiger Aufstände ihren Zwist mit der Obrigkeit inzwischen nie mehr so weit treibt, daß das Überleben dieser Obrigkeit ernsthaft in Frage gestellt würde. [...] Diese instinktive Vorsicht hat die katholische Kirche der Nation vorgelebt in ihrem Disput mit der kommunistischen Macht, und auch sie ist damit nicht schlecht gefahren. (Der Sonderfall Polen, FAZ, 14.08.1980, FZ081404.TXT). 17) Die Polen haben in den letzten Wochen ihren Ruf verändert. [...] Die Polen haben den Ruf stark geschmälert, den ein polnisches Sprichwort festhält: Der Pole ist nach dem Schaden klug; den historisch belegbaren Ruf der Neigung zu unüberlegtem, hitzigem Drauflosgehen im Stil heroischer und zweckloser Kavallerieattacken, den oft auch von Polen selbst konstatierten Ruf politischer Unreife. (Die Hoffnung liegt im Schock, FAZ, 2.09.1980, FZ090219.TXT). 18) Im Unterschied zu früheren Konfliktsituationen ist die Bevölkerung erstaunlich besonnen. Gerade dieser Umstand macht die Behörden stutzig. Streiks als Mittel im Kampf <?page no="149"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 149 um bessere Lebensbedingungen und gegen Mißstände werden beinahe als banal empfunden, was ein neues Gefühl in Osteuropa auslöst. („Dieses Jahr kommen alle Prüfungen über Polen“, FR, 25.08.1980, FR082512 . TXT). 19) Doch die Arbeiter haben gelernt; im Unterschied zu früher proben sie jetzt nicht den Aufstand, sondern streiken. (Beunruhigendes Polen, SZ, 21.07.1980, SZ072101.TXT). 20) Anders als 1970, als blutige Unruhen auf den Danziger Werften Edward Gierek an die Macht brachten, vermeiden die Streikenden aber jede Provokation der Obrigkeit, die ihrerseits die Polizeiknüppel zurückhält. (Niederlage für Gierek, SZ, 18.08.1980, SZ081850.TXT). 21) In dieser Hoffnung scheint ihn [Gierek, J.D.] auch die Vorsicht der Streikenden bestärkt zu haben, die anders als bei den Danziger Unruhen von 1970 auf jede Provokation der Staatsgewalt verzichteten, was Gierek dankbar mit Zurückhaltung honorierte. (Machtprobe mit Gierek, SZ, 19.08.1980, SZ081950.TXT). 22) Die erste Probe aufs neue Exempel in Danzig könnte fürchtbar ausgehen. Doch es wird noch mehr Proben geben, in Polen bestimmt. (Sterben für Danzig, FAZ 21.08.1980, FZ082115.TXT). 23) Setzten sich die polnischen Arbeiter gegen ihre Machteliten durch, so könnten auch in den Nachbarstaaten die Kollegen auf den Gedanken kommen, mit ihren führenden Genossen polnisch zu sprechen. Die Ursachen der Probleme sind nämlich durchaus gemeinsam. (Polnische Signale, FR, 18.08.1980, FR081807 . TXT). III) Zuordnung zur Funktion Das Stereotyp ‘rebellische Polen’ kommt in den analysierten Texten sowohl explizit als auch implizit vor. Die Einbettung des ‘polnischen Rebellentums’ in den Kontext in den Belegen (1) bis (15) ist mit der Typik verbunden, d.h., es wird als erwartbar dargestellt. In den Belegen (16) und (17) wird das ‘Rebellen’-Stereotyp mittels der Kontrastierung von Typik und Atypik realisiert, d.h. in Beleg (16) wird zunächst das Typische, dann das Atypische verbalisiert; in Beleg (17) wird zuerst die Atypik konstatiert, dann die Typik explizit detailliert erörtert. In den Belegen (18) bis (21) liegt eine Kontrastierung von Typik/ Atypik vor, wobei im Unterschied zu den Belegen (16) und (17), in denen die Typik explizit angeführt wird auf die Typik in diesen Belegen nur implizit bezug genommen wird. Eine Hilfsfunktion bei der Kontrastierung von Typik/ Atypik erfüllen in den Belegen (17) bis (20) folgende Kontextindikatoren: im Unterschied zu früheren [...] (17); erstaunlich (17); ein neues Gefühl (17); im Unterschied zu früher (18); anders als (19); anders als (20); Ein implizites ‘Rebellen’-Stereotyp liegt den zuletztgenannten Belegen (22) und (23) zugrunde. Beide Belege lassen einen breiten Spielraum für die Inter- <?page no="150"?> 150 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck pretation des Lesers offen. Im Beleg (22) wird zwar die Behauptung es wird noch mehr Proben geben, in Polen bestimmt verbalisiert, die Begründung für ihre Aufstellung läßt sich dem Beleg selbst jedoch nicht explizit entnehmen. Sucht man nach dem Auslöser dieser Behauptung, muß man feststellen, daß hinter der Formulierung das ‘Rebellen’-Stereotyp steckt, das unausformuliert als Hintergrundwissen des Autors im Text fungiert, das dem Leser automatisch als wohlbekannte und nicht erklärungsbedürftige Tatsache vermittelt wird. Das ‘Rebellen’-Stereotyp liegt auch Beleg (23) zugrunde, in dem es ähnlich wie im Beleg (22) implizit vorhanden ist. Der Ausdruck polnisch sprechen bezieht sich auf ein Verhaltensmuster, das als typisch für alle Polen unter Verwendung der Attribuierung polnisch dargestellt wird und erst mit dem Einbeziehen des Kontextwissens erklärbar wird. Dann wird das polnische Sprechen als „sich nicht unterordnen/ unterkriegen lassen“ und „sich nichts vorschreiben lassen“, d.h. mit dem ‘Rebellen’-Stereotyp erschließbar. IV) Medienspezifik und Textsortenverteilung In allen drei westdeutschen Zeitungen taucht das ‘Rebellen’-Stereotyp sowohl explizit als auch implizit auf. Seine Verteilung auf die untersuchten Zeitungen ist etwa gleich, weil sich keine wesentlichen Unterschiede in Häufigkeit und Funktion erkennen lassen. Die höchste Belegzahl dieses Stereotyps liefert jedoch die SZ über 20 Belege, die niedrigste die FAZ um die 15. Die Textsorten, in denen das ‘Rebellen’-Stereotyp auftritt, sind hauptsächlich Kommentare und Berichte. Als zentrales Textthema wird das Stereotyp ‘rebellische Polen’ selten realisiert. Es tritt eher als peripheres Textthema auf, das die polnische ‘rebellische’ Eigenart untermauern soll. Hierfür werden Verbindungen des ‘Rebellen’-Stereotyps mit dem ‘Geschichtsbewußtsein’-Stereotyp hergestellt. V) Zur lexikalischen und syntagmatisehen Realisierung Signalwörter: Nomina: Pulverfaß (3x); Eruptionen; Explosion; Wutanfall; Aufruhr; Unruhen; Blutvergießen; Demonstrationen; Widerstand (3x); Aufstand; Straßenschlachten; Tote; Provokation (2x); Barrikaden; Flammen. Verben: erschüttern; intervenieren; explodieren; drauflosgehen; in die Luft jagen; anzünden; den Kopf verlieren. <?page no="151"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 151 Adjektive: impulsiv; emotional; explosiv; alarmierend; spontan (3x); unruhig; unüberlegt; hitzig; unbedacht; aufsässig; erhitzt; stürmisch; blutig; gewalttätig. Nominale Syntagmen: a) Signalsyntagmen: Rufpolitischer Unreife; Antrieb zu einer Arbeitsniederlegung; aufdie Straße gehen; kalte Wut. b) Kollokative Einbettung von Signalwörtern: aufDauer unruhigste Land im europäischen Vorfeld der Sowjetunion; Neigung zu unüberlegtem, hitzigem Drauflosgehen im Stil heroischer und zweckloser Kavallerieattacken; im Zorn unbedacht; aufsässige Polen; Temperament der Landsleute; Provokation der Obrigkeit; Provokation der Staatsgewalt; erhitzte Atmosphäre; stürmische Diskussionen; erbitterter Widerstand; blutige Proteste; blutige Unruhen; blutige Köpfe; gewalttätige Ausschreitungen. Verbale Syntagmen: a) Signalsyntagmen: ohne politische Abwägung der Konsequenzen handeln; zuviel aufs Spiel setzen; urpolnischen Genen und Verhaltensmustern treu bleiben; alles zu viel und zu rasch verlangen; das Los Polens auf eine Karte setzen; jeden Tag mehr verlangen; der Geduldsfaden reißt; die Macht herausfordern; alles auf eine Karte setzen; bei einem Volk wie dem polnischen kann man nur die Schrauben anziehen; etwas ist wieder im Gange. b) Kollokative Einbettung von Signalwörtem: selber explodieren; lieber die Festung [...] in die Luft jagen, statt vor der Übermacht zu kapitulieren; <?page no="152"?> 152 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Parteigebäude anzünden; Barrikaden bauen; den Kopf verlieren; den gesamten Ostblock in Flammen setzen. Die typische Präsentation des ‘rebellischen Polen’ im Text wird primär durch Signalwörter ausgedrückt. Hinzu kommen folgende Antonymie-Konstruktionen, die mittelbar auf dieses Stereotyp hinweisen: Textuell hergestellte Antonymie des ‘Rebellen’-Stereotyps: Geduld (2x); Vernunft; Besonnenheit (5x); Kompromißbereitschaft (4x); Ruhe (2x); Ordnung; Vorsicht; Mäßigung; ruhig (4x), besonnen (5x); nüchtern; realistisch; überlegt (2x); zielbewußt; organisiert; vorsichtig; gescheit; gewitzt; weise; umsichtig; geduldig; beruhigt; respektvoll-scheu; beruhigen; paraphieren; verhandeln; Verantwortungsbewußtsein im Vorgehen; verantwortungsvolles Handeln; unter Kontrolle stehen; in weiser und vernünftiger Weise handeln; Verzicht auf Gewalt; Bereitschaft zum offenen Dialog; instinktive Vorsicht. VI) Resümee Das ‘Rebellen’-Stereotyp wird in der westdeutschen Presse des Jahres 1980 als ein für Polen typisches Verhaltensmuster vermittelt. Das Stereotyp wird sowohl explizit als auch implizit realisiert, wobei die explizite Ausdrucksweise dominiert. Das ‘Rebellentum’ der Polen, ihr „Sich-nichts-vorschreiben-lassen“ wird historisch untermauert, indem von Journalisten auf konkrete Literaturgestalten (s. Beleg (15)) (vgl. Oberst Wolodyjowski) und Sachverhalte (vgl. Festung Kamieniec Podolski in die Luft jagen) zurückgegriffen wird. Eine Darstellungsmöglichkeit, die in den analysierten Texten deutlich dominiert, ist eine Beschreibung, die offenläßt, auf welcher Grundlage das vermittelte Bild basiert. Die Verallgemeinerungen werden dann undurchschaubarer, was aber kein Beweis für eine geringere Wirkung auf den Leser sein muß. In diesem Sinne wird von urpolnischen Genen und Verhaltensmustern gesprochen, die auf folgende Art und Weise charakterisiert werden: lieber die Festung Kamieniec Podolski in die Luftjagen, statt vor der Übermacht zu kapitulieren. Auffällig ist auch die im Beleg (23) verwendete Wortgruppe mit jemandem polnisch sprechen, die Assoziationen zu zwei idiomatischen Wendungen des Deutschen zuläßt: mitjemandem deutsch reden, in der Bedeutung Jemandem <?page no="153"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 153 seine Meinung sagen“ und die Waffen sprechen lassen (mit Waffen sprechen oder auch jetzt sprechen die Waffen), im Sinne von „sich mit jemandem mit Waffengewalt auseinandersetzen“. Die Wortgruppe mit jemandem polnisch sprechen läßt die Vermutung zu, daß der Journalist sich bewußt einer Abwandlung der beiden anderen Wendungen bedient, um das für Polen Typische noch stärker hervorzuheben. 5.4 Disziplinlosigkeit I) Prädikation: „Polen sind disziplinlos“ II) Illustrationsbelege: 1) Ein weiteres Verharren auf dieser Taktik auf Regierungsseite könnte dann dazu fuhren, daß die Streikleitung den Druck des radikaleren Teils der Basis nicht mehr eindämmen kann, ihm nachgeben muß oder die volle Kontrolle der bis jetzt außerordentlich disziplinierten Streikbewegung einbüßt. (Ein erster Schritt zu Verhandlungen, FAZ, 23.08.1980, FZ 082303 . TXT). 2) Schließlich seien die streikenden Arbeiter höchst diszipliniert, gebe es keine Unruhen in Polen, keine Protestmärsche, keine Zusammenrottungen außerhalb der bestreikten Werke. (In der DDR gemischte Gefühle über die Streiks in Polen, FAZ, 25.08.1980, FZ082501.TXT). 3) Der scheinbar allmächtige Apparat einer regierenden kommunistischen Partei weicht vor den in ruhiger Entschlossenheit vorgetragenen Forderungen von diszipliniert streikenden Arbeitern schrittweise zurück. [...] Offensichtlich hervorragend geleitet und diszipliniert, wenden sie eine Strategie an, die es ihrem Gegner schwer macht, einfach „Konterrevolution“ zu rufen und Gewalt anzuwenden. (Die Arbeiter von Danzig, FAZ, 26.08.1980, FZ082604 .TXT). 4) In Polen gibt es nun einen disziplinierten Streik. Der gefangengehaltene leitende Kopf konnte immerhin ein Femsehinterview geben und damit einen bewundernswürdigen Mut und die Weisheit eines Solschenizyn offenbaren. (Das Rad der Geschichte dreht sich - Leserbriefe, FAZ, 27.08.1980, FZ082711.TXT). 5) Beide Seiten haben mit Disziplin und Umsicht agiert, alles sorgsam vermieden, was die Gegenseite hätte zu hitzigen Reaktionen provozieren können. [...] Die Disziplin, die ruhige Ordnung, die spontan aufgebaute und wie lang eingespielt funktionierende Organisation auf Seiten der Arbeiter ist oft genug gerühmt worden. [...] Aber etwas Entsprechendes gab es auch auf Seiten der etablierten Macht und ihrer Organe; kein dümmliches Säbelrasseln, und das offensichtlich nicht einfach in spontaner Schreckstarre des Apparats, sondern auf wohlbedachte Order hin. Auf beiden Seiten kam keiner zum Zug, der dem Draufgänger mit umgekehrten Vorzeichen auf der anderen Seite den Gefallen getan hätte, ihn zu reizen. [...] Die Disziplin der Massen, die Ruhe, der Ordnungsdienst außerhalb staatlicher Strukturen, das hatte man damals schon mit Verwunderung gesehen. Daß sich die Gesellschaft organisieren kann ohne den Staat und seinen Apparat, <?page no="154"?> 154 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck außerhalb von ihm, mit entgegengesetzten Zielen und Motiven, das hatte man staunend erlebt. Heute wirkt diese damalige Illustration eines der Mottos der früheren Gierek-Ära „Der Pole kann es“ ein wenig wie eine Generalprobe: und auch der damalige Eindruck, daß nun ein „anderes Polen“ heraufkomme, anders als das, welches Gierek mit diesem Begriff gemeint hatte, eine Polarisierung, in der die Mitte der Lauen, die meckern, aber nur meckern, weggesogen wird und eigentlich nur in eine Richtung weg von pfründenträchtiger Parteifrömmigkeit, es hat sich bestätigt. Die disziplinierte Zurückhaltung auf beiden Seiten war nicht nur Ergebnis eines Reifungsprozesses; sie kam, so scheint es, auch aus der Einschätzung der Krise; jedenfalls auf Seiten der Staatsgewalt. (Die Hoffnung liegt im Schock, FAZ, 2.09.1980, FZ090219.TXT). 6) Die Kommentatoren in allen Ländern der freien Welt haben nach den Streiks in Polen die Disziplin als Tugend wiederentdeckt, weil die Streikenden ohne sie nicht ihren Anfangserfolg erreicht hätten. Gefeiert wird nicht die Disziplin von oben, sondern die Selbstdisziplin. Es gilt jedoch die Regel, daß um so mehr Selbstdisziplin nötig ist, je weniger Disziplin von oben herrscht. Keine Freiheit ohne Selbstdisziplin. Wie die Disziplin ist auch die Selbstdisziplin eine dienende Tugend. Die Disziplin will eine Ordnung sichern. Auch die Selbstdisziplin ist nicht möglich ohne Bindungen und Ziel, ohne die Frage nach dem Sinn. (Disziplin ohne Pickelhaube, FAZ, 6.09.1980, FZ090603.TXT). 7) Die Disziplin aus den Tagen des Streiks wirkt bis heute nach. Die Improvisation, das Ungewohnte der Situation, kommt der Mentalität des unruhigen, lebhaften Volkes näher als die Normalität des Alltags mit seinen immer gleichen Abläufen. Aber die Euphorie aus den Stunden nach der Unterzeichnung der Vereinbarungen mit der Regierung scheint verflogen. Man ist ernst bei der Sache, von der niemand so recht weiß, wie sie zu organisieren ist und schon gar nicht, wie sie enden wird. Die leichtsinnige polnische Standardformel „Irgendwie wird es schon gehen“ kommt nicht über die Lippen. (Auf dem Metallschild am Hotel Morski steht jetzt: Unabhängige Gewerkschaft in Danzig, FAZ, 12.09.1980, FZ091210.TXT). 8) In dieser schwierigen Lage müsse man diskutieren, aber wichtig sei gesellschaftliche Disziplin. (Streik auch in Stettin, FR, 19.08.1980, FR081902 . TXT). 9) Den Arbeitern in den bestreikten Betrieben zollte der Parteichef Anerkennung für die in den letzten Tagen bewiesene Disziplin: Die streikenden Belegschaften seien in der Lage gewesen, Ruhe und Ordnung in ihren Betrieben zu wahren und keine Unruhen oder die Zerstörungen von Eigentum zuzulassen. (In Danzig herrscht Mißtrauen, FR, 26.08.1980, FR082606.TXT). 10) Mit Anerkennung und Dankbarkeit denken wir an die Belegschaften und Bevölkerungskreise, die, obwohl sie die manchmal ernsthaften Unzulänglichkeiten und das Bedürfnis tiefgreifender Kritik verspüren, Diskussionen unternommen und Forderungen gestellt haben, ohne die Arbeit zu unterbrechen. Wir wissen es auch zu schätzen, daß die streikenden Belegschaften in der Lage waren, in ihren Betrieben Ordnung zu wahren und es zu keinen ernsthaften Störungen oder Vernichtung von gesellschaftlichem Eigentum kommen zu lassen. Mitbestimmung und Demokratie sind auch verbunden mit Verant- <?page no="155"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 155 wortung. („Es fielen scharfe und schmerzliche, aber gerechte Worte“, FR, 26.08.1980, FR082615.TXT). 11) Ungeachtet dieser Symbolträchtigkeit ist keinerlei Hysterie festzustellen. Die Streikfiihrer haben die Lage gut in der Hand, wohl wissend, daß jeder Ausbruch des Volkszoms verheerende Folgen haben muß. (Unerschüttert halten sie an den 21 Forderungen fest, FR, 28.08.1980, FRO 8 2 8 0 9 . TXT). 12) Gelobt wurde in offiziellen Verlautbarungen, daß die Arbeitskämpfer die teuren Maschinen pflegen und die Ordnung aufrechterhalten. (Eisiges Schweigen in Stettin, FR, 29.08.1980, FR082903.TXT). 13) Die Streikfuhrer erweisen sich als tüchtige Organisatoren. Täglich erscheinen gedruckte Bulletins mit dem Titel „Solidamosc“ (Solidarität), in denen die Arbeiter über alles Wesentliche informiert werden. [...] Die Arbeiter streiken mit einer Routine, als täten sie es jeden Monat. [...] Gelegentlich erschallt ein Sprechchor, dann machen sich die Leute diszipliniert auf den Heimweg. (In Polen hat die Stunde der Wahrheit geschlagen, FR, 1.09.1980, FRO 90111. TXT). 14) Dieses erfreuliche Ergebnis sei vor allem ein Verdienst der polnischen Arbeiter, die mit mutiger Entschlossenheit und eindrucksvoller Disziplin ihre gerechten Forderungen verfochten hätten. (Wehner: Kein Modell, aber Fortschritt für die Menschen, FR, 2.09.1980, FR090206.TXT). 15) Die Disziplin dieser 18 000, oft genug als polnisch-disziplinlos beschimpft, ist eisern. [...] ‘Keinen Tropfen Alkohol’ lautete der erste Beschluß der Streikleitung. Und alle halten sich dran. Streikpolizei mit weiß-roten Armbinden hält auf Ordnung. Sie ist überflüssig. Alle wissen, worum es geht. („Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, SZ, 23 / 24.08.1980, SZ082301.TXT). 16) Der SPD-Vorsitzende Willy Brandt hob die Disziplin und Kompromißbereitschaft aller Beteiligten hervor. Die polnischen Arbeiter seien „mit bewundernswerter Reife“ für ihre Interessen und für ihre Rechte aufgestanden und eingetreten. (Aufatmen im Westen - Schweigen im Osten, SZ, 1.09.1980, SZ090110.TXT). 17) OfFenkundig ist aber, daß die Streikbewegung in Polen, vor allem in den Küstenstädten, nicht aus dem Einfall des Augenblicks oder dem eines einzelnen etwa Lech Wal^sas geboren wurde, sondern reife Taktik, straffe Organisation und Disziplin verrät. Der Streik der Bergarbeiter in Oberschlesien, der schon vor der Einigung in Danzig und Stettin begonnen hatte, hat das erneut bestätigt. (Streiks in Oberschlesien dauern an, SZ, 3.09.1980, SZ090301.TXT). III) Zuordnung zur Funktion Das Stereotyp ‘disziplinlose Polen’ wird in den Belegen überwiegend explizit verwendet. Es wird dabei hauptsächlich atypisch in den Kontext eingebettet Die Diszipliniertheit der Polen wird vor dem typischen Hintergrund „Polen sind disziplinlos“ als atypisch wahrgenommen. Die polnische Disziplin wird in der Berichterstattung als eines der wichtigsten Themen behandelt. Sie gehört <?page no="156"?> 156 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck nicht nur zu den peripheren Textthemen, sondern oft auch zu den zentralen; das Thema ‘Disziplin’ wird oft leitmotivisch verwendet. Das läßt sich nicht nur aus dem Text selbst, in dem das Stereotyp realisiert wird, wie z.B. in Beleg (5) oder (6) entnehmen, sondern auch der typographischen Gestaltung der Texte, wo sie ihren Niederschlag in den Schlagzeilen und in den Bildüberschriften findet. In den präsentierten Belegen (1) bis (17) wird das ‘Disziplinlosigkeits’-Stereotyp durch die Verwendung der Atypik realisiert. Diese Atypik läßt sich unter anderem in den Belegen (2), (5), (9), (11) und (15) an der Negation erkennen (vgl. keine Unruhen; keine Protestmärsche; keine Zusammenrottungen; kein [...] Säbelrasseln; keiner zum Zug gekommen, [...] den anderen zu reizen; keine Unruhen oder die Zerstörungen [...] zuzulassen; zu keinen ernsthaften Störungen oder Vernichtung [...] kommen lassen; keinerlei Hysterie; polnisch-disziplinlos). In den Belegen (5) und (6) wird das historische Kontextwissen in den Text einbezogen, wodurch der Leser eine Vergleichsbasis geliefert bekommt, anhand derer er feststellen kann, welche Verhaltensweisen für die Polen bisher typisch waren und was heute anders ist. In Beleg (5) wird implizit behauptet, daß die Polen sich diszipliniert verhalten können, wenn sie nur wollen. Sie sind „diszipliniert“ in ihren geheimen Aktivitäten; das „Undisziplinierte“ bezieht sich auf ihr Verhältnis zur Obrigkeit. Diese Sicht vermittelt Beleg (5), in dem geschildert wird, daß man staunend die Fähigkeit der polnischen Gesellschaft erlebt hatte, sich ohne den Staat und seinen Apparat zu organisieren. Das Attribut staunend verstärkt dabei die Markierung des Unerwarteten, d.h. das Atypische der Lage. Der Beleg (6) liefert hingegen einen interessanten Diskurs zum Verhältnis zwischen Disziplin und Selbstdisziplin. Die Differenzierung zwischen beiden ist relevant, weil der Begriff‘Disziplin’ aufgrund seiner Mehrdeutigkeit unterschiedlich interpretiert werden kann. Der sich dieser Mehrdeutigkeit bewußte Journalist geht auf die Unterscheidung ein, um dem Leser eine möglichst präzise und eindeutige Lesart des vom Autor selbst explizit positiv bewerteten Begriffs ‘Disziplin’ anzubieten. Der Darstellungsweise läßt sich entnehmen, daß es dem Journalisten darum geht, den Leser darüber ‘aufzuklären’, daß bei den Polen nur eine der Disziplinarten, und zwar die ‘ Selbstdisziplin’ vorhanden ist. Diese Unterscheidung drückt deutlich aus, daß die Polen zwar über ‘Selbstdisziplin’ verfügen, die ‘Disziplin von oben’ aber eher ablehnen. Aus dem Beleg (7) läßt sich entnehmen, daß die Disziplin als etwas Neues im polnischen Alltag dargestellt werden soll. Disziplin ist ein für die Streik-Situation typisches, aber für den „normalen“ Zustand des Landes atypisches Phänomen. IV) Medienspezifik und Textsortenverteilung Die Disziplinlosigkeit der Polen wird in allen drei untersuchten westdeutschen Zeitungen thematisiert. Es lassen sich jedoch Unterschiede in der Frequenz in der FAZ, der FR und der SZ beobachten. Am häufigsten wird das ‘Disziplinlosigkeits’-Stereotyp in der FAZ (ca. 30 Belege) aufgegriffen, am seltensten in der SZ, in der es nur mit 8 Belegen repräsentiert ist. Es gehört dort zu den <?page no="157"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 157 peripheren Themen, obwohl es auch mehrmals in den Textüberschriften vorkommt, (z.B. Disziplin ohne Pickelhaube). Die Disziplin-Problematik wird sowohl in den Berichten als auch in kurzen Meldungen und Nachrichten mittels der Signalwörter thematisiert (s. Punkt V). Das ‘Disziplinlosigkeits’- Stereotyp gehört zu den zentralen Stereotypen des „polnischen Sommers“ 1980. Seine engen Verbindungen mit dem ‘Rebellen’-, ‘Individualismus’- und ‘Freiheits’-Stereotyp unterstützen deutlich seinen Inhalt, was möglicherweise zusätzlich seine zentrale Rolle in der Berichterstattung 1980 betont. V) Zur lexikalischen und syntagmatischen Realisierung Signalwörter: Nomina: Unruhen (2x); Protestmärsche; Zusammenrottungen; Vernichtung; Störungen (7x); Säbelrasseln; Hysterie. Adjektive: hitzig; unruhig; lebhaft. Nominale und adjektivische Syntagmen: Kollokative Einbettung der Signalwörter: hitzige Reaktionen; unruhiges, lebhaftes Volk; polnisch-disziplinlos; Lockerung der Disziplin. Verbale Syntagmen: zur Disziplin mahnen. Textuell hergestellte Antonymie des ‘Disziplinlosigkeits’-Stereotyps: Disziplin (23x); Selbstdisziplin (5x); Arbeitsdisziplin (2x); Reifungsprozeß; Reife; Ordnung (5x); Umsicht; Organisation; Ruhe (3x); Besonnenheit; Verantwortungsbewußtsein (2x); Vernunft; Ordnungsdienst. Verben: leiten; sich organisieren. Adjektive: diszipliniert (9x); verantwortungsbewußt; verantwortungsvoll; reif (2x); sorgsam; ruhig; besonnen; organisiert. Nominale und adjektivische Syntagmen: Kollokative Einbettung der Signalwörter: große Disziplin; <?page no="158"?> 158 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck eindrucksvolle Disziplin (2x); gesellschaftliche Disziplin; bewiesene Disziplin; außerordentlich diszipliniert; höchst diszipliniert; diszipliniert streikende Arbeiter; disziplinierte Zurückhaltung; disziplinierter Streik; ruhige Entschlossenheit; bewundernswerte Reife; reife Arbeiterklasse; reifes Verhalten; hervorragend geleitet; ruhige Ordnung; funktionierende Organisation; verantwortungsbewußte Vorsicht; besonnene Polen. Verbale Syntagmen: Kollokative Einbettung von Signalwörtern: in sehr taktvoller Weise nach Brot verlangen; die Lage gut in der Hand haben. VI) Resümee Das Stereotyp „Polen sind disziplinlos“ überschneidet sich mit mehreren Stereotypen, und zwar in erster Linie mit dem des ‘Rebellen’ (s. Kap. 5. 3). Das ‘Disziplinlosigkeits’-Stereotyp ist auch im Hinblick auf seine unterschiedliche Wahrnehmung in Deutschland und in Polen interessant (s. Kap. 1.4 über die Rolle der Disziplin im gesellschaftlichen Wertesystem Polens und Deutschlands). In diesem Zusammenhang ist auf die unterschiedlichen Lesarten des Begriffs ‘Disziplin’ zu achten. Dies kommt in Beleg (6) deutlich zum Ausdruck. Die ‘Disziplin’ wird dort von dem FAZ-Joumalisten als wiederentdeckte Tugend bezeichnet. Der Autor ist sich der stereotypen Vorstellungen von der ‘preußischen Disziplin’ bewußt, was die Textüberschrift „Disziplin ohne Pickelhaube“ vermittelt. Außerdem sind im Text Ausdrücke wie Keine Freiheit ohne Selbstdisziplin oder Die Disziplin will eine Ordnung sichern zu finden. Der Hinweis auf ‘Disziplin’ und ‘Ordnung’ sowie auf die preußische ‘Pickelhaube’ kennzeichnet das Autoritäre des Obrigkeitsstaates und ruft eine Reihe deutscher Wertmaßstäbe auf, die als „bürgerlicher Tugendkanon“ bezeichnet werden (vgl. Münch 1984, S. 10). Der Autor stellt seinen westdeutschen Lesern den Stellenwert Disziplin dar, indem er die Ereignisse in Polen beschreibt und die streikenden Polen als Vorbild für Disziplin präsentiert In dem Artikel wird die Disziplin und nicht der revoltierende Aspekt der polnischen Streiks fokussiert. Interessant ist die ungewohnte Präsentation der dis- <?page no="159"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 159 ziplinierten Polen als Vorbild für die Deutschen. Daß Disziplin und Ordnung „normalerweise“ den Deutschen zugeschrieben werden, zeigt eine Aussage aus dem „Zauberberg“ von Thomas Mann, in der Madame Chauchat folgende Worte in den Mund gelegt werden: „ Vous aimez l'ordre mieux que la liberte, laute l'Europe le sail. “ (1962, S. 476). Die Tugenden Ordnung und Freiheit, diesmal im Text auf Französisch angeführt, beziehen sich auf die Wertmaßstäbe, die nach Auffassung der Europäer für die Deutschen charakteristisch sind. Dieser literarische Beleg hilft die schon in Kap. 1.4 und 1.5 erwähnten engen Verknüpfungen der Auto- und Heterostereotype miteinander zu veranschaulichen. Einer der Befünde, die die Existenz des ‘Disziplinlosigkeits’-Stereotyps über die Polen unterstützen können, ist das Faktum, daß die Wende 1989 in der DDR zwar mit ähnlichen Parolen wie der polnische Sommer 1980 beschrieben wurde, sich jedoch in Einzelheiten Unterschiede beobachten lassen. Die einzelnen Differenzen beruhen auf dem Gebrauch anderer Lexeme in bezug auf die DDR-Wende und auf den tschechischen Aufstand im Vergleich zu denen, die in der polnischen Umbruchsituation verwendet wurden. In der deutschen Wende 1989 und in der tschechischen 1989 traten hauptsächlich Parolen wie z.B. Besonnenheit und Ruhe, sanfte, stille Revolution auf. Auch in der polnischen Umbruchsituation findet man diese Schlagworte, wobei man jedoch deutlich erkennen kann, daß die Disziplin viel stärker akzentuiert und dadurch besonders hervorgehoben wird. 5.5 Freiheitsliebe I) Prädikation: „Polen sind freiheitsliebend“ II) Illustrationsbelege: 1) „Freiheit und Unabhängigkeit“ skandierte die Menge nach dem Agenturbericht auch vor dem Grabmal. (Kranzniederlegung nach Gottesdienst, FAZ, 16.08.1980, FZ081606.TXT). 2) Es beweise, daß in der polnischen Bevölkerung auch nach 35 Jahren kommunistischer Zwangsherrschaft der Freiheitswille noch lebendig sei. (esu: In Polen ist der Freiheitswille noch lebendig, FAZ, 2.09.1980, FZ090213. TXT). 3) Er [csu-Landesvorstand, J.D.] wertete den Streik als „historisches Ereignis“ und Beweis für den lebendigen Freiheitswillen der Bevölkerung „auch nach 35jähriger kommunistischer Zwangsherrschaft“. (DDR verschweigt polnische Vereinbarungen, SZ, 2.09.1980, SZ090202.TXT). 4) Diese politische Monokultur ist nicht zuträglich für ein Land, das von 34 Millionen Individualisten bewohnt, mit einer reichen Kultur gesegnet, von einer Geschichte mit Höhepunkten und Erniedrigungen, allerdings auch mit einem manchmal destruktiven <?page no="160"?> 160 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Willen zur Freiheit geprägt ist. Dieselben Leute, die verantwortlich sind für alle Defekte, sollen nun streckenweise das Gegenteil von dem tun, was sie jahrelang mit Verve verfochten haben. Wenn man einen Blick zurückwirft, wie oft sie sich schon daran gemacht haben und wie oft sie schon gescheitert sind, dann bekommt man eine Vorstellung davon, was aus dem neuen Anlauf werden kann. (Gierek opfert Funktionäre, SZ, 26.08.1980, SZ082670.TXT). 5) Die Regierungen in Warschau und Moskau können nicht erwarten, daß das polnische Volk sich auf die Dauer mit weniger Demokratie zufrieden gibt, als manche schwarzafrikanischen Staaten sie haben. Hier steckt des „Pudels Kern“. (Hilfe für Gierek, FAZ, 14.08.1980, FZ081401. TXT). 6) In dieser Erklärung wird festgestellt, daß der Beitrag Polens zur europäischen Kultur und zur Sache der Freiheit unschätzbar sei und weltweit anerkannt werde. (Europas Christliche Demokraten: Polens Fragen können nur von Polen gelöst werden, FAZ, 2.09.1980, FZ090217.TXT). 7) Polen war in der Epoche, in der diese Bilder entstanden [19. Jh. - J.D.] ein besetztes Land. Das Volk fühlte sich nach den polnischen Teilungen von Europa betrogen und durch die Besatzer gedemütigt. Die „freien“ Künste bekamen so eine existenzielle Bedeutung; man focht die verlorenen Freiheitskämpfe in der Phantasie bis zu einem glücklichen Ende durch. Die Literatur, aber auch die Malerei bewährten sich als intimes Bollwerk im System der nationalen polnischen Selbstbehauptung. (Noch ist Polen nicht entdeckt, SZ, 4.08.1980, SZ080402.TXT). III) Zuordnung zur Funktion Die Prädikation „Polen sind freiheitsliebend“ wird in den analysierten Texten mit Hilfe von Typik d.h. als erwartet und in der konkreten Streiksituation für die Polen zutreffend zum Ausdruck gebracht. Die Polen werden als ein freiheitsliebendes Volk dargestellt. Es läßt sich sowohl die explizite z.B. in den Belegen (2) und (3) als auch die implizite Realisierung z.B. im Beleg (5) des ‘Freiheits’-Stereotyps beobachten. Das Stereotyp besitzt mehrere Gemeinsamkeiten zu anderen Stereotypen hauptsächlich zu dem ‘Rebellischen’, ‘Disziplinlosen’ und dem des ‘Individualismus’. Die Grenzen zwischen den genannten Stereotypen sind fließend und sie können, abhängig von dem jeweiligen Leser, auch unterschiedlich in Form differenzierter Prädikationen zum Ausdruck gebracht werden. IV) Medienspezifik und Textsortenverteilung Das ‘Freiheits’-Stereotyp gehört zu denen, die in der westdeutschen Presse nur marginal thematisiert werden. Schon die Zahl der Belege zeugt davon, daß dieses Stereotyp keine primäre Rolle in der Presse der Bundesrepublik spielt (7 Belege). Belege für seine Existenz lassen sich in der FAZ und in der SZ finden, wobei ihre Zahl pro Zeitung fünf Belege nicht überschreitet. In der FR kommen keine Belege für dieses Stereotyp vor. Der Freiheitswille der Polen <?page no="161"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 161 wird nur einmal als Überschrift einer FAZ-Meldung gewählt und in anderen Fällen immer nur peripher zum Ausdruck gebracht. V) Zur lexikalischen und syntagmatischen Realisierung Signalwörter: Nomina: Freiheit (3x); Unabhängigkeit; Freiheitswille (2x); Demokratie; Freiheitskämpfe. Verbale Syntagmen: sich aufDauer nicht mit weniger Demokratie zufrieden geben. VI) Resümee Das ‘Freiheits’-Stereotyp besitzt mehrere Überschneidungen mit den anderen oben unter Punkt III erwähnten Stereotypen. Das fuhrt dazu, daß ein Beleg nicht immer eindeutig dem jeweiligen Stereotyp zugeordnet werden kann, besonders dann nicht, wenn sein Inhalt sich teilweise mit dem Inhalt der anderen überlappt. Der polnische Freiheitswille, der in Beleg (2) explizit und mit dem eindeutigen Hinweis auf die Vergangenheit (der Freiheitswille sei noch lebendig) zum Ausdruck gebracht wird, deutet darauf hin, daß dieser Wille historisch auch belegt werden kann. Ein historischer Exkurs zeigt, daß der Begriff ‘Freiheit’ in Polen immer eine sehr wichtige Rolle gespielt, und sicherlich zur Herausbildung des polnischen Autostereotyp der ‘Freiheitsliebe’ geführt hat (Lewandowski 1995a, S. 140). Diese polnische ‘Freiheitsliebe’ ist aber auch als Heterostereotyp vorhanden, was folgende literarische Belege veranschaulichen. Heinrich Heine beschreibt die Bedeutung der Freiheit für Polen mit folgenden Worten: „Aber ist das erstaunlich, wenn man sieht, welche Macht schon das bloße Wort Freiheit auf ihre Gemüter ausübt; sie glühen und flammen, wenn sie hören, daß irgend für die Freiheit gestritten wird; ihre Augen schauen leuchtend nach Griechenland und Südamerika. In Polen selbst aber wird, wie ich oben schon gesagt, unter Niederdrückung der Freiheit bloß die Beschränkung der Adelsrechte verstanden oder gar die allmächtige Ausgleichung der Stände. Wir wissen das besser; die Freiheiten müssen untergehen, wo die allgemeine gesetzliche Freiheit gedeihen soll.“ (1822, S. 82). Da die Freiheit von jedem einzelnen Individuum different definiert werden kann, kann sie manchmal auch als Anarchie gesehen werden. Auf die Gefahr einer solchen anarchistischen polnischen ‘Freiheitsauffassung’ geht Heinrich Heine im Jahre 1822 ein: „Das Wort Freiheit, das so schön und volltönend in der polnischen Geschichte durchklingt, war nur der Wahlspruch des Adels, der dem Könige so viel Rechte als möglich abzuzwängen suchte, um seine eigene Macht zu ver- <?page no="162"?> 162 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck großem und auf solche Weise die Anarchie hervorzumfen “ (ebd., S. 79) Die anarchistische Veranlagung der Polen betont auch der schottische Dichter John Barclay, der im Jahre 1613 über die Polen und ihre Freiheit folgendes äußert: „Das ist ein Volk, das zu den Gewalttaten und zur Ausgelassenheit, die sie Freiheit nennen, geboren ist.“ (vgl. Barclay nach Lewandowski 1995a, S. 140 [Übersetzung, J.D.]). Die Neigung der Polen zur Anarchie findet ihren Niederschlag in den Erinnerungen des englischen Beamten Nathaniel William Wraxall, der 1778 die polnischen Konföderierten als diejenigen beschrieb, denen es zwar nicht an Mut, Patriotismus oder Heldentum, sondern an Organisation, Subordination, Gehorsam und Disziplin mangelte (Zawadzki 1963, S. 543). Das starke Gefühl des Freiheitswillens war mit einer ständigen Einschränkung und Abschwächung der Staatsmacht in Polen verbunden, was unter anderem zu den Teilungen Polens beigetragen hat. 5.6 Individualismus I) Prädikation: „Polen sind Individualisten“ II) Illustrationsbelege: 1) Diese politische Monokultur ist nicht zuträglich für ein Land, das von 34 Millionen Individualisten bewohnt, mit einer reichen Kultur gesegnet, von einer Geschichte mit Höhepunkten und Erniedrigungen, allerdings auch mit einem manchmal destruktiven Willen zur Freiheit geprägt ist. (Gierek opfert Funktionäre, SZ, 26.08.1980, SZ082670.TXT). 2) „Als wir viel Zeit verwandten auf innere Streitigkeiten, da drohte uns und unserer Freiheit große Gefahr“, sagte Wyszynski, offensichtlich nicht nur auf geschichtliche Erfahrung, sondern auch auf die Möglichkeiten der Gegenwart anspielend. (Die Polen streiken weiter: Mahnungen, Appelle, Warnungen, Zusagen, FAZ, 28.08.1980, FZ082801.TXT). 3) Wir haben gezeigt, daß die Polen, wenn sie wollen, sich immer verständigen können. Das ist also ein Erfolg für beide Seiten. Wir werden uns daran erinnern. [...] Die wichtigste Sache, die man hoch schätzen soll, das ist das gerade, daß wir uns verständigt haben. (Walqsa: Wir werden auch den Rest erreichen, FAZ, 2.09.1980, FZ090207.TXT). 4) Ganz klipp und klar sei gesagt: Wir alle, gleich zu welcher politischen Auffassung oder Weltanschauung wir uns bekennen, von oben nach unten, haben uns so zu verhalten, damit die Welt sieht, daß wir als Volk, die auf uns lastende Verantwortung begriffen haben, daß wir wissen, daß Polen nicht bei unserer Generation aufhört und wir es nicht nur verstehen, uns selbst zu regieren, sondern das auch klug können, was wie unsere Vergangenheit beweist gar nicht so einfach ist. (Keine gesellschaftliche Entwicklung ohne Spannungen und Konflikte, FR, 26.08.1980, FR082 614 . TXT). <?page no="163"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 163 5) „[...] Es habe sich gezeigt, daß Polen, wenn sie wollen, eine Verständigung erzielen können. [...]“ (Schlesische Bergarbeiter streiken weiter. Warschau schickt Verhandlungsdelegation, SZ, 2.09.1980, SZ090203.TXT). 6) In den Betrieben verhalten sich die Mitglieder der parteiergebenen Gewerkschaften und ihre Funktionäre unterschiedlich. Die einen wollen sich den „neuen“ anschließen, andere wieder warten zunächst mal ab, und es gibt auch solche, die gegen die unabhängigen Gewerkschaften eingestellt sind. (Auf dem Metallschild am Hotel Morski steht jetzt. Unabhängige Gewerkschaft in Danzig, FAZ, 12.09.1980, FZ091210. TXT). III) Zuordnung zur Funktion Das ‘Individualismus’-Stereotyp wird in den analysierten Texten sowohl explizit als auch implizit realisiert. Interessant ist die Tatsache, daß die Illustrationsbelege hauptsächlich ein Selbstbild der Polen vermitteln, was sich den präsentierten Belegen (2) bis (5) entnehmen läßt. Sie sind überwiegend Redewiedergaben in der Zitatform, die von den Polen selbst gemacht werden. Plausibel ist, daß das Tndividualismus’-Stereotyp viele Gemeinsamkeiten mit dem ‘Rebellen-’, ‘Disziplinlosigkeits-’ sowie ‘Freiheits’-Stereotyp besitzt. Man kann vermuten, daß gerade diese zahlreichen Gemeinsamkeiten eine Ursache für die relativ kleine Sammlung der Illustrationsbelege dieses Stereotyps bilden. Der Aussage- und Handlungsgehalt des ‘Individualismus’-Stereotyps ist mit den anderen hier erwähnten eng verwandt. Zu berücksichtigen bleibt, daß der Darstellungsschwerpunkt unter den genannten Stereotypen der Frequenz nach zugunsten des ‘Rebellischen’ und des ‘Disziplinlosen’ ausfällt. Das Tndividualismus’-Stereotyp spielt damit keine primäre Rolle in den untersuchten Belegen. Zu berücksichtigen bleibt, daß die Prädikation „Polen sind Individualisten“ sowohl typisch als auch atypisch eingebettet wird. IV) Medienspezifik und Textsortenverteilung Das Tndividualismus’-Stereotyp gehört zu denjenigen, die im Sommer 1980 in der westdeutschen Presse peripher thematisiert werden. Daraus ergibt sich seine eher sekundäre Bedeutung für das Bild der Polen in Deutschland in dieser Zeit. Das Stereotyp wird in allen drei westdeutschen Zeitungen realisiert. Seine Verteilung ist relativ gleichmäßig: FAZ drei Belege, SZ zwei und FR ein Beleg. Das Stereotyp wird kein einziges Mal zum zentralen Thema eines Textes gewählt. Es wird in Berichten und Kommentaren thematisiert, in Meldungen hingegen kommt es nicht vor. V) Zur lexikalischen und syntagmatisehen Realisierung Signalwörter: Nomina: Individualisten. <?page no="164"?> 164 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Nominale Syntagmen: destruktiver Wille zur Freiheit; innere Streitigkeiten. Verbale Syntagmen: die einen wollen [...] andere wieder wollen [...]. Textuell hergestellte Antonymie des ‘Individualismus’-Stereotyps: Verständigung; Mitverantwortungsgefühl; verständigen (2x); verstehen, uns selbst zu regieren. VI) Resümee Die individualistische Veranlagung der Polen wird explizit in Beleg (1) genannt, in dem behauptet wird, daß jeder Pole ein Individualist sei. Versucht man die Ursachen für eine solche Annahme zu entschlüsseln, kommen zwangsläufig die oben in Punkt III angedeuteten Überschneidungen mit anderen Stereotypen zum Vorschein. Die Formulierung wird als allgemeingültig ausgedrückt, wobei genauere Angaben bezüglich der Individualität der Polen nicht gemacht werden. Es gilt dabei zu berücksichtigen, daß die angeführten Belege primär das Autostereotyp der Polen schildern, das höchstwahrscheinlich eine Grundlage für das Heterostereotyp der Deutschen über Polen bildet. Beschäftigt man sich mit der Problematik des polnischen Individualismus, stößt man auf die Aussage von L. v. Zitzewitz, die meint, daß die polnische Individualität weit zurückreichende Wurzeln hat, die auf den individualistischen Prinzipien der Adelsrepublik basieren (vgl. 1992, S. 95). Peter Gatter äußert in diesem Zusammenhang. „Zwei Engländer spielen Golf, zwei Deutsche machen einen Gesangverein auf, zwei Polen gründen drei Parteien.“ (1983, S. 10). L. v. Zitzewitz ist der Meinung, daß diese alte Redensart an ihrem Wahrheitsgehalt nichts verloren habe und charakterisiert die Polen folgendermaßen: „Bis heute fällt es ihnen schwer, ihre Interessen zu bündeln und ihre Talente für den Aufbau demokratischer Strukturen einzusetzen. [...] Dennoch vollbringen Polen immer dort die größten Leistungen, wo sie sich persönlich herausgefordert sehen. [...] Selten werden sich Polen in Mannschaftssportarten hervortun. Als erste Frau allein die Welt umsegeln, wie es die Ingenieurin Krystyna Chojnowska-Liskiewicz aus Danzig 1977/ 78 tat, oder als Bergsteiger das Letzte aus sich herauszuholen, das entspricht der Einzelkämpfermentalität dieses Volkes“ (L. v. Zitzewitz 1992, S. 102). Sie meint jedoch gleichzeitig, daß der polnische Individualismus in bezug auf das Staatsganze „allerdings eine gefährliche Eigendynamik“ besitzen kann: „Es mangelt an gesellschaftlicher Solidarität und sozialer Gerechtigkeit.“ (ebd., S. 96). In diesem Zusammenhang kommen deutlich die inhaltlichen Überschneidungen des Tndividualismus’-Stereotyps mit dem ‘Freiheits’-Stereotyp zum Ausdruck, indem das Freiheitliche schnell in das Anarchistische umschla- <?page no="165"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 165 gen kann. Somit kann die polnische Individualität auch als ein Grund für die besonderen Schwierigkeiten bei der Konsensfindung interpretiert werden. Im Zusammenhang mit der individualistischen Veranlagung der Polen ist auch die Ansicht von Jastrun erwähnenswert, der Vergleiche zwischen Polen und Schweden zu ziehen versucht. In seiner Arbeit (1995) erörtert er unter anderem zwei Gegensätze, die zwischen Schweden und Polen bestehen; sie beruhen auf dem schwedischen Kollektivismus und auf dem polnischen Individualismus. Jastrun vertritt die Ansicht, daß diese Unterscheidung mehrere Schwierigkeiten in sich birgt, die auf den ersten Blick paradox zu sein scheinen. Obwohl die Polen Individualisten seien, kann man gerade bei ihnen Kollektives im Gesellschaftsleben beobachten, nicht jedoch im Arbeitsleben. Diese Erscheinung hängt nach Jastrun damit zusammen, daß die Polen sich nicht so wie die Schweden organisieren können und wollen und den Schwerpunkt auf Improvisation legen. Ihre Sache seien z.B. verschiedene Formen von Treffen, in denen hauptsächlich Spontaneität und Freiheit im Sinne eines Mangels an klaren Regeln ausgenutzt werden (vgl. 1995, S. 201). 5.7 Solidarität in Zeiten der Not I) Prädikation: „In schlechten Zeiten sind Polen untereinander solidarisch“ II) Illustrationsbelege: 1) Wie die deutsche Presseagentur (dpa) aus Danzig meldet, bringt die Bevölkerung inzwischen den streikenden Arbeitern Lebensmittel ans Werfttor. (Streiks und Werftbesetzung in Danzig, FAZ, 16.08.1980, FZ081603.TXT). 2) Die Menschen stehen dem Streik der Werftarbeiter mit Sympathie gegenüber. (Gefährliche Ruhe in Danzig, FAZ, 18.08.1980, FZ081802.TXT). 3) Die Streikenden werden von einer Welle der Sympathie in der Bevölkerung getragen. Die Angestellten der Polytechnischen Schule von Danzig legten 10 000 Zloty (etwa 600 Mark) zur Unterstützung der Streikenden zusammen. Auch der örtliche Schriftstellerverband bekundete seine Solidarität. Schüler von drei Oberschulen begaben sich am Dienstag ins Werftgelände, um ihre Sympathie mit den Arbeitern auszudrücken. Sogar Verkehrspolizisten wurden gesehen, wie sie Streikende mit Lebensmitteln versorgten. (Eine Welle der Sympathie für die Arbeiter, FAZ, 22.08.1980, FZ 0822 01. TXT). 4) Die Bevölkerung der Hafenstadt verfolgt die Streiks mit Sympathie, Scharen von Menschen bringen den Arbeitern immer wieder Lebensmittel. So werden an die Streikenden in der Lenin-Werft Marmeladenbrote, Tee, Tomaten und Gurken verteilt. (Wir wollen weiterstreiken und wenn es Monate dauern sollte, FAZ, 22.08.1980, FZ082211. TXT). 5) Mehrere hundert Polen, die als Gastarbeiter auf Werften in der DDR-Küstenstadt Rostock arbeiten, haben sich offenbar in einer Sympathieaktion mit den Streiks in der Heimat in <?page no="166"?> 166 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck den letzten Tagen krank schreiben lassen. (Mehrere hundert Polen melden sich in Rostock krank, FAZ, 30.08.1980, FZ083006.TXT). 6) Eine Frau wirft den auf der Mauer sitzenden Streikenden einen Blumenstrauß roter Rosen zu. Vorbeigehende Männer und Frauen rufen auftnuntemde Worte. („Wir wollen Brot, wir wollen Auto fahren“, FR, 18.08.1980, FR0818 05 . TXT). 7) Die Werftarbeiter sind so wenig allein, wie es vor Wochen die Arbeiter von Lublin waren. Als sie streikten, weigerten sich die Eisenbahner in Warschau, Züge zu ihnen fahren zu lassen, in denen schließlich die falschen Leute hätten sitzen können: Solidaritätsbekundungen sind häufig geworden. In Danzig kommen die Frauen an die Betriebstore und in die Betriebe, sie bringen Nahrungsmittel und Nachrichten. Sie halten die Erinnerung an die Versorgungslage wach und an die Kämpfe vor zehn und vor vier Jahren. (Die Streikleitung verwehrt niemandem den Zutritt, FR, 19.08.1980, FR0 81910. TXT). 8) Mit einem Kruzifix gekennzeichnete Autos fahren durch die Straßen von Danzig, um Spenden einzusammeln. [...] Anna Walentynowicz, Mitglied des Streikkomitees, zeigte sich vom Erfolg der Aktion überzeugt: „Ich glaube nicht an ein gewaltsames Einschreiten der Regierung“, meinte sie. Als Grund fuhrt sie die allgemeine Sympathie und Unterstützung für die Streikenden an. (Warschau: Neuer Unterhändler, FR, 22.08.1980, FR0 822 08. TXT). 9) Um zu den Toren der Danziger Leninwerft zu gelangen, muß man sich mühsam den Weg durch eine Menschenmasse bahnen. [...] Frauen reichen hausgemachte belegte Brötchen herum. [...] Es verkehren keine Straßenbahn und kein Bus. Niemand schimpft über die Unannehmlichkeiten. Wer kein Privatfahrzeug oder zumindest kein Fahrzeug besitzt, geht eben zu Fuß. Die Miliz hat mit ihren Kastenwagen einen bescheidenen Pendelverkehr eingerichtet. [...] Die Miliz sympathisiert zumindest privat mit den Streikenden. Das Regime hat den Polizisten zwar einige Privilegien zugeschanzt, aber doch nicht genug, um sie dauerhaft auf seine Seite zu ziehen. Soldaten sind nur vereinzelt in den Straßen zu sehen. „In der Armee geht die Unzufriedenheit von oben bis unten“, erklärt mir ein Gesprächspartner. (Unerschüttert halten sie an den 21 Forderungen fest, FR, 28.08.1980, FR082809.TXT). 10) Korbweise mit Brot versorgt wurden am Dienstag die streikenden Arbeiter auf der Lenin-Werft, während sie den über Lautsprecher übertragenen Verhandlungen zwischen dem Streikkomitee und Regierungsdelegation lauschten. (Bildüberschrift, FR, 28.08.1980, FR082810.TXT). 11) Sie pelegierte, J.D.] halten sich durch starken Tee wach, der in großen Kannen herbeigeschafft wird. Frauen kaufen Eßwaren von dem Geld, das die Leute zur Unterstützung der Streikenden in einen Kasten aus Plexiglas vor dem Fabriktor werfen. (In Polen hat die Stunde der Wahrheit geschlagen, FR, 1.09.1980, FR090111.TXT). 12) Auf den Stellungskrieg der Regierungsseite reagiert die Bevölkerung mit vermehrten Zeichen der Solidarität. Immer mehr weiß-rote Fähnchen erscheinen an öffentlichen Gebäuden und Wohnungsfenstem. Einige Restaurants schließen. Im Badeort Zoppot schließen die beiden Kinos ihre Schalter und hängen die polnische Flagge raus. Niemand murrt über die Beschwerden des täglichen Lebens, die Nahrungsmittelknappheit <?page no="167"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 167 oder die Benzinrationierung. (In Polen hat die Stunde der Wahrheit geschlagen, FR, 1.09.1980, FR090111.TXT). 13) Die Solidarität unter den Streikenden hatte sich als bruchsicher erwiesen und weitere Industriegebiete erfaßt. (Historischer Durchbruch in Polen erzielt, FR, 1.09.1980, FRO 90150. TXT). 14) Ein Mädchen ruft durch ein Megaphon Namen auf. Die Aufgerufenen bewegen sich zum Tor. Dort stehen Ehefrauen. Manche schimpfen, bringen aber trotzdem Rasierzeug, Wäsche, Tee, Brote. Andere, die keine Verwandten unter den Arbeitern haben, bringen Geld und was genauso wichtig ist, Solidarität. („Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, SZ, 23./ 24.08.1980, SZ082301.TXT), 15) Sie [Arbeiter, J.D.] haben den Tricks und Versprechungen der Parteileitung ihre eigene ausgeklügelte Taktik entgegengesetzt. Doch aller Mut und alle Raffinesse hätte den Streikleitungen am Ende nicht viel genutzt, hätten sie nicht sicher sein können, Rückhalt nicht nur bei den Arbeitern in anderen Teilen Polens, sondern auch beim weitaus größeren Teil der gesamten Bevölkerung zu haben. (Polens Regime muß nachgeben, SZ, 1.09.1980, SZ090102.TXT). III) Zuordnung zur Funktion Das ‘Solidaritäts’-Stereotyp wird in den nachfolgend analysierten Texten vorrangig explizit genannt. Es läßt sich hauptsächlich den unten in Teil (V) aufgelisteten Signalwörtern und Signalsyntagmen entnehmen. Die implizite Verwendung des Stereotyps kommt nicht vor. Das vermittelte ‘Solidaritäts’- Stereotyp ist nicht tabuisiert, sondern ganz im Gegenteil es wird dem Leser explizit präsentiert. Seine Darstellungsweise bedingt, daß das große Ausmaß der Streikbewegung in Polen, nicht nur in der Darstellung der fest zusammenhaltenden Streikenden in der Danziger Werft, sondern auch in der Darstellung der ungebrochenen und bruchsicheren Solidarität (Beleg 13) der gesamten polnischen Bevölkerung seinen Niederschlag findet. Diese Vorstellung wird im Beleg (7) explizit genannt. Auffällig ist die in einigen Belegen auftretende Verknüpfung des ‘Solidaritäts’-Stereotyps mit dem ‘Disziplinlosigkeits’-Stereotyp. Die perfekte Durchorganisierung der Streikenden, ihre Disziplin und Besonnenheit werden im gesamten Korpus mehrmals angesprochen. Es wird syntaktisch oft mit der Negation, und zwar mit der Verwendung des Negationswortes niemand verbunden, wie vor allem in den Belegen (9) Niemand schimpft über die Unannehmlichkeiten, und (12) Niemand murrt über die Beschwerden des täglichen Lebens, die Nahrungsmittelknappheit oder die Benzinrationierung. IV) Medienspezifik und Textsortenverteilung Eines der Stereotype, das in der westdeutschen Berichterstattung im Sommer 1980 eine zentrale Rolle spielt, ist das ‘Solidaritäts’-Stereotyp. Es wird in mehreren Texten aller drei analysierten Zeitungen thematisiert. Es dominiert in <?page no="168"?> 168 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck der FR und in der FAZ (je 30 Belege), in der SZ dagegen beträgt seine Frequenz 15 Belege. Häufig ist dieses Stereotyp in der Textstruktur peripher, oft wird es aber auch für Überschriften als Blickfang für den Leser verwendet. In der Schlagzeilenform dominiert seine Verwendung in der FAZ. Das ‘Solidaritäts’-Stereotyp wird in allen Textsorten, die sich in der westdeutschen Presse mit dem Thema Polen beschäftigen, realisiert. So tritt es in Berichten, Kommentaren und Meldungen auf. Seine sprachliche Realisierung ist auch in den Bildunterschriften, die die Solidaritätsaktionen präsentieren, zu finden. V) Zur lexikalischen und syntagmatischen Realisierung Signalwörter: Nomina: Solidarität (20x); Solidaritätsaktion; Solidaritätsstreik (2x),- Solidaritätsbekundungen; Solidaritätsdemonstration; Sympathie (8x); Sympathieaktion; Sympathisanten (3x); Sympathiestreik (3x); Geldspenden; Spenden; Unterstützung (5x); Anhänger. Verben: Zusammenlegen; sammeln; einsammeln; versorgen; sympathisieren. Adjektive: aufmuntemd. Nominale Syntagmen: Kollokative Einbettung von Signalwörtem: erstaunliche Solidarität (3x); bruchsichere Solidarität; vermehrte Zeichen der Solidarität; Unterstützung der Streikenden (3x); Unterstützungfür die Streikenden; allgemeine Sympathie; Solidarität der Arbeiterschaft; Korbweise mit Brot versorgt. Signalsyntagmen: Zusammenwirken der Belegschaften in verschiedenen Industrien. Verbale Syntagmen: Kollokative Einbettung von Signalwörtem: Geldspenden sammeln; einen Briefumschlag, Dankschreiben und Geld bringen; Spenden einsammeln; Geld bringen; <?page no="169"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 169 Eßwaren von dem Geld kaufen, das die Leute zur Unterstützung der Streikenden in einen Kasten werfen; dem Streik mit Sympathie gegenüberstehen; von einer Welle der Sympathie getragen werden; i Solidarität bekunden; Sympathie ausdrücken; Streiks mit Sympathie verfolgen (2x); in einer Sympathieaktion mit den Streiks sich krank schreiben lassen; in Solidarität streiken; den streikenden Arbeitern mit Wohlwollen und Sympathie begegnen; Solidaritätsbekundungen sind häufig geworden; die Solidarität der Streikenden ist ungebrochen; Sympathien mit dem Streik bekunden; aus Solidarität die Arbeit niederlegen; Sympathienfür die Streikenden anbringen; mit Streikenden sympathisieren; aus Solidarität aufdem Werftgelände bleiben wollen; den Streik erst zusammen mit allen anderen [...{Betrieben abbrechen; Streiks mit Sympathie verfolgen; Rückhalt bei den Arbeitern in anderen Teilen Polens [...] beim weitaus größeren Teil der gesamten Bevölkerung; viele Anhänger haben; aus Solidarität die Aktionfortsetzen; aus Solidarität die Arbeit niederlegen (2x); aus Solidarität die Arbeit einstellen. Signalsyntagmen: Lebensmittel ans Werfttor bringen (2x); mit Lebensmitteln versorgen; Lebensmittel bringen (3x); Marmeladenbrote, Tee, Tomaten und Gurken verteilen; Nahrungsmittel und Nachrichten bringen; Tee in großen Kannen herbeischaffen; Rasierzeug, Wäsche, Tee, Brote bringen; in der Ecke Butterbrote schmieren, Käse-, Wurstbrote richten, Wannen, gefüllt mit Tomaten hereintragen, oder Kisten mit Mineralwasser und Limonade; hausgemachte belegte Brötchen herumreichen; in Blumen ertrinken; einen Blumenstrauß roter Rosen zuwerfen; sich vor dem Tor der Lenin-Werft versammeln; den neuen Gewerkschaften Zuströmen; stolz auf „ihren“ Sieg sein; niemand schimpft über die Unannehmlichkeiten; niemand murrt über die Beschwerden des täglichen Lebens, die Nahrungsmittelknappheit oder die Benzinrationierung. <?page no="170"?> 170 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck VI) Resümee In der westdeutschen Presse wird das ‘Solidaritäts’-Stereotyp hauptsächlich mit den Lexemen aus der Wortfamilie Solidarität realisiert. In der Berichterstattung wird immer wieder betont, daß die Polen, wenn sie wollen, imstande sind, eine bruchsichere Solidarität (...) herzustellen. Ihr Wille zum Zusammenhalt ist um so größer, je wichtiger die Angelegenheiten sind, um die es geht, oder, je größer der Druck von außen ist. Die politischen Vorgänge 1980 motivieren die gesamte polnische Bevölkerung zur Solidarität, was sich sowohl in Form materieller als auch moralischer Unterstützung ausdrückt. Das Vertextungsverfahren, auf das die Untersuchung dieses Stereotyps zurückgreifen kann, bildet die vom Journalisten vorgenommene Polarisierung. Die polnische Gesellschaft wird nämlich in der Presse generell in zwei Lager gespalten. Auf der einen Seite steht das kommunistische Regime und auf der anderen die polnische Bevölkerung. Hier wird das nationale Konzept „die Polen“ auf die gegen das Regime Protestierenden und Revoltierenden reduziert Somit erhalten diejenigen Polen, die gegen das Regime protestieren, einen Symbolcharakter, indem ihre Eigenschaften auf die der gesamten polnischen Bevölkerung übertragen und verallgemeinert werden. Zu den wesentlichsten Merkmalen dieses nationalen Konzepts gehören die Solidarität und der Zusammenhalt untereinander mit dem Ziel des gemeinsamen Widerstands gegen das kommunistische Regime. In der Konsequenz erscheint die polnische Nation als solidarisch in der Bekämpfung des Kommunismus. In diesem Zusammenhang stellt der polnische Psychiater Eugeniusz Brzezicki fest, daß die Polen sich in schweren Zeiten bewähren und zu größten Opfern, zu Solidarität und Heldentum fähig sind. Er fuhrt dafür ein Beispiel aus dem Konzentrationslager an, in dem er inhaftiert war. Zugleich betont er jedoch, daß die Polen sich unter günstigen Bedingungen zu Individualisten entwickeln, daß jeder einzelne seine eigene Lebensphilosophie pflegt, daß der einzelne auch eine individuelle Lösung eines gemeinsamen Problems sieht und daß dann das gemeinsame Handeln zur Unmöglichkeit wird. [...] Dazu kommen noch Eigenschaften wie die Neigung zu einer gewissen Theatralik und Pathetik. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang auch der polnische Nationalismus und „ein Mangel an Realitätsgefuhl, und zwar dann, wenn es den Polen besser geht.“ (vgl. Lewandowski 1995a, S. 124) Die Spannung zwischen der Solidarität einerseits und dem Individualismus andererseits betont auch Kazimierz Tymiecki. Er nennt zwei positive und zwei negative Eigenschaften des polnischen Charakters. Zu den positiven gehören die Freiheitsliebe und die Fähigkeit zu schnellen und spontanen Aktionen, zu den negativen der Mangel an gesellschaftlicher Disziplin und an Ausdauer (vgl. Lewandowski 1995a, S. 136). Diese Aussage steht zu dem hier geschilderten ‘Solidarität’-Stereotyp in enger Beziehung. Die schnellen und sponta- <?page no="171"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 171 nen Aktionen, die nach Tymiecki für „die Polen“ typisch sind, finden gerade bei der Streikbewegung, die ganz Polen sofort hinreißt und somit zur Volksbewegung wird, im großen Ausmaß ihren Niederschlag. Diese breite Verankerung der Solidarität in der polnischen Gesellschaft spiegeln die angeführten Belege (1) bis (15) wider. Eine besondere Aufmerksamkeit verdienen dabei die Belege (3) und (9), in denen sogar Vertreter der privilegierten Gesellschaftsschichten (vgl. Verkehrspolizisten; Miliz, Polizisten; Soldaten; Armee) als diejenigen angeführt werden, die zumindest privat mit den Streikenden sympathisieren (9). In diesem Zusammenhang vertritt Peter Gatter folgende Sichtweise: „Kritische Solidarität damit lassen sich wohl am besten die Gefühle beschreiben, die die Polen gegenüber ihrem Land und ihrer Regierung hegen, kritische Solidarität, die sich immer dann am stärksten beweist, wenn das Land von einem äußeren Feind bedroht wird.“ (Gatter 1983, S. 10). 5.8 Trinkfreudigkeit I) Prädikation: „Polen sind trinkfreudig“ II) Illustrationsbelege: 1) Die Arbeiter hätten eine Ordnergruppe gebildet, die das Essen in Empfang nimmt und darauf achtet, daß kein Alkohol aufs Gelände kommt. (Streiks und Werftbesetzung in Danzig, FAZ, 16.08.1980, FZ081603.TXT). 2) Die Ordnungskräfte sorgen dafür, daß kein Alkohol aufs Gelände kommt. Betriebsfremde auch Frauen und Freundinnen werden nicht aufs Gelände gelassen. Man ist offenbar bemüht, alles zu vermeiden, was zu Gewalttäügkeiten führen könnte. (Gefährliche Ruhe in Danzig, FAZ, 18.08.1980, FZ081802.TXT). 3) Abgesehen vom Fehlen öffentlicher Verkehrsmittel macht die Stadt einen fast normalen Eindruck. Die Läden sind geöffnet. Es wird allerdings seit zwei Tagen in ganz Danzig kein Alkohol mehr verkauft. Auch Benzin ist äußerst knapp. Polizei sieht man in der Stadt so gut wie gar nicht. (Wir wollen weiterstreiken und wenn es Monate dauern sollte, FAZ, 22.08.1980, FZ082211.TXT). 4) Die Arbeiter haben eine Ordnergruppe gebildet, die das Essen in Empfang nimmt und darauf achtet, daß kein Alkohol auf das Gelände kommt. (Dramatische Entwicklung in Polen, FR, 16.08.1980, FR081601.TXT). 5) Die Vorgänge im nordwestlichen Industriegebiet Polens haben auch für den westlichen Beobachter etwas Einzigartiges. [...] Selbst in den Luxushotels wird kein Tropfen Bier ausgeschenkt, denn die Streikkomitees haben totales Alkoholverbot verordnet. (Unerschüttert halten sie an den 21 Forderungen fest, FR, 28.08.1980, FR082 809.TXT). 6) Die Arbeiter haben eine Ordnergruppe gebildet, die das Essen in Empfang nimmt und darauf achtet, daß kein Alkohol aufs Gelände kommt. (Streikende polnische Werftarbeiter stellen auch politische Forderungen, SZ, 16./ 17.08.1980, SZ081601. TXT). <?page no="172"?> 172 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 7) Kommt jemand mit einer Tasche, wird sie durchsucht. Wodka-Flaschen werden ausgeschüttet. („Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, SZ, 23724.08.1980, SZ082301.TXT). 8) ‘Keinen Tropfen Alkohol’ lautete der erste Beschluß der Streikleitung. Und alle halten sich dran. Streikpolizei mit weiß-roten Armbinden hält auf Ordnung. Sie ist überflüssig. Alle wissen, worum es geht. („Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, SZ, 23724.08.1980, SZ082301.TXT). 9) Zigaretten und Alkohol polnischer Herkunft werden weiter in den Devisenläden angeboten, weil es an ihnen auf dem Binnenmarkt nicht mangelt. (Westen der Einmischung in Polen geziehen, SZ, 5.09.1980, SZ090501.TXT). III) Zuordnung zur Funktion Das Stereotyp „Polen sind trinkfreudig“ wird in den analysierten Texten mit Ausnahme des Belegs (9) ausschließlich atypisch realisiert. Außerdem wird es implizit verwendet, was auf die Tatsache zurückzufuhren ist, daß das Stereotyp ein Tabu darstellt. Die Polen offen als Trinker zu bezeichnen, würde als ein Verstoß gegen die im sozialen Umfeld der Bundesrepublik herrschenden Normen angesehen. Die Tabuisierung wird zusätzlich dadurch hervorgerufen, daß das ‘Trinker’-Stereotyp nicht mit dem gerade propagierten positiven Bild der Polen im Einklang steht. Das ‘Trinker’-Stereotyp wird vor allem mittels der Signalwörter, die negiert verwendet werden, realisiert (vgl. kein Alkohol (5x); kein Tropfen Bier; totales Alkoholverbot; ‘Keinen Tropfen Alkohol’). In Beleg (7) läßt sich feststellen, daß die Atypik die zugrundeliegende Erwartung enthält, und zwar, daß die Polen mit Taschen zur Werft kommen, in denen heimlich Wodka-Flaschen hineingeschmuggelt werden. Den einzigen Beleg, in dem das ‘Trinker’-Stereotyp nicht durch die Atypik der Lage, die mit der Negation verbunden ist, signalisiert wird, stellt der Beleg (9) dar. An dieser Stelle werden die deutschen Leser allerdings darauf aufmerksam gemacht, daß auf dem polnischen Markt Waren wie Zigaretten und Alkohol in Hülle und Fülle zu bekommen sind. Ob die Polen diesen Genußmitteln gegenüber Enthaltsamkeit üben oder sie konsumieren, läßt sich der Darstellung jedoch nicht entnehmen. IV) Medienspezifik und Textsortenverteilung Das ‘Trinker’-Stereotyp gehört zu denjenigen, die in der westdeutschen Presse im Sommer 1980 selten belegt werden. Es findet seinen Niederschlag zwar in allen drei analysierten Tageszeitungen, die Frequenz der Belege ist jedoch nicht höher als zehn. Die Verteilung des Stereotyps in der FAZ, FR und SZ ist gleichmäßig. Es wird kein einziges Mal zum zentralen Textthema, seine Verwendung ist peripher und kommt in der Textsorte Bericht und Kommentar vor. In der Textsorte Meldung ist das ‘Trinker’-Stereotyp nicht vertreten. <?page no="173"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 173 V) Zur lexikalischen und syntagmatischen Realisierung Signalwörter: Nomina: Alkohol (7x); Alkoholverbot; Wodka-Flaschen; Bier; Tropfen (2x). Verben: ausschenken. Verbale Syntagmen: achten, daß kein Alkohol aufs Gelände kommt (3x). Auf der syntaktischen Ebene läßt sich ein Vorherrschen der Negation beobachten. VI) Resümee Das Trinker’-Stereotyp über die Polen in den Augen der Fremden hat eine lange Tradition, die beispielsweise bei Heinrich Heine in der Erzählung „Über Polen“ belegt ist. Schon 1822 schreibt er folgendes über den polnischen Bauern, den man „des Sonntags nach der Stadt wandern [sieht, J.D.], um dort ein dreifaches Geschäft zu verrichten: erstens sich rasieren zu lassen; zweitens, die Messe zu hören, und drittens, sich voll zu saufen. Den durch das dritte Geschäft gewiß Seliggewordenen sieht man des Sonntags, alle viere ausgestreckt, in einer Straßengosse liegen, sinnberaubt und umgeben von einem Haufen Freunde, die in wehmütiger Gruppierung die Betrachtung zu machen scheinen: daß der Mensch hienieden so wenig vertragen kann! Was ist der Mensch, wenn drei Kannen Schnaps ihn zu Boden werfen! “ Diese Schilderung schließt Heinrich Heine mit einer generalisierenden Anmerkung: „Aber die Polen haben es doch im Trinken übermenschlich weit gebracht.“ (S. 72). Heinrich Heine war nicht der einzige, der den hohen Alkoholkonsum der Polen beobachtet hatte. Im 16. Jahrhundert notierte ihn auch der päpstliche Nuntius Juliusz Ruggieri, der in seinem Bericht aus Polen folgendes Heterostereotyp über die polnische Bevölkerung an Papst Pius V. schrieb: „Sich Betrinken ist bei ihnen eine lobenswerte Gewohnheit, ein zweifelloser Beweis der Aufrichtigkeit und einer guten Erziehung; im Gegensatz wird die Nüchternheit als Grobheit, Zeichen des verschlossenen Charakters und der Arglist aufgefaßt.“ (Ruggieri zit. nach Gintel 1971, S. 139 [Übersetzung, J.D.]). Bei Edmund Lewandowski findet man die Erwähnung einer Tagebuchnotiz über den „Vierjährigen Sejm“, in dem bezüglich der polnischen Neigung zum Alkohol folgendes steht: „Betrunkene Adelsrepublik Polen, wer nüchtern war, ist schlafen gegangen, wer betrunken war, hat Beratungen über die Republik geführt und das Wort ergriffen. Der König saß mit einer großen Unzufriedenheit und hörte <?page no="174"?> 174 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck angeheiterten Leuten zu.“ (Lewandowski 1995a, S. 152 - [Übersetzung - J.D.]). Auch in den Tagebüchern von Georg Forster findet man den Hinweis auf die Hinwendung der Polen zum Alkohol, indem die alkoholische Betäubung als ein typisch polnisches Verhalten bezeichnet wird: „[Alle Sachen, J.D.] gepackt weil mein Karl zum Abschied von s(einer) Frau sich pro more polonico vollgesoffen hatte“ (Forster 1914, S. 231). Die polnische Trunksucht wird auch in einer deutschen Karikaturensammlung aus dem Jahre 1720 „Neueingerichtetes Zwergenkabinett“ (Titel der Originalausgabe - „Callotto resuscitate“) folgendermaßen belegt: „Bartholdus Gursalkawiz aus groß Pohlen / gebürthig, Unwürdiger Waldtbruder / auß Gallicien kommendt. / / Ey schauth den armen Man, der also alt und blindt / Gleich wohl noch ohne hülfFEin jedes Wirtshauß findt / Ach! wie vill Eimer wein hat Er zu leib' genomen, / Biß Er ein solchen Barth und diken Kopff bekomen.“ (Neueingerichtetes Zwergenkabinett 1720, S. 62) Abb. 4 Im 18. Jahrhundert schrieben die französischen Aristokraten Fortia de Piles und Boiseglin de Kerdu, die aus Frankreich Ende 1792 nach Warschau kamen, folgendes über die Polen: „Man beschuldigt die Polen um übermäßiges Trinken; dieser Vorwurf ist mehr als begründet [...]. Es reicht, daß wir unseren Lesern sagen, daß die Polen, ohne eine einzige Ausnahme, die besten Trinker in Europa sind. Das, was man diesbezüglich zu hören bekommt, wird in keinem Maß übertrieben.“ (Nowak 1994, S. 63; Zawadzki 1963, S. 726 [Übersetzung, J.D.]). <?page no="175"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 175 Auch in den heutigen Darstellungen des polnischen Staates und seiner Bürger trifft man oft Hinweise auf die übermäßige Vorliebe der Polen für den Alkoholkonsum, die sich nach Meinung von Kramer folgendermaßen äußert: „Ein Fest gilt erst dann als richtig gelungen, wenn Gäste und Gastgeber betrunken sind. Der 40bis SOprozentige Wodka haut nach einiger Zeit selbst starke Naturen um.“ Des weiteren stellt er in seiner Reiselektüre „Unbekannter Nachbar Polen“ folgendes fest: „Hart wie das ‘Wässerchen’ sind die Trinksitten. Kommt eine Flasche auf den Tisch, muß sie grundsätzlich ausgetrunken werden. Wer am Glas lediglich nippt, fällt unangenehm auf.“ (Kramer 1990, S. 47). 5.9 Mut I) Prädikation: „Polen sind mutig“ II) Illustrationsbelege: 1) „Wir haben keine Angst mehr.“ Nach der Wahl Karol Wojtylas zum Papst in Rom, nach dem Besuch Johannes Paul II. in seiner Heimat machte dieses Wort in Polen die Runde, und es bestimmte mehr und mehr die Haltung der Menschen. Das kommunistische Regime unternahm nichts, das Selbstbewußtsein der Polen, das sich keineswegs nur in stolzem Patriotismus äußerte, sondern auch die herrschenden Gewalten im eigenen Land herausfordernd ins Visier nahm, zu dämpfen; es hätte auch wenig bewirkt. (Arbeiter gegen Arbeiterpartei, SZ, 30./ 31.08.1980, SZ083002.TXT). 2) Und die Polen können sich dabei nur auf sich selbst verlassen, auf ihren Mut, ihre Zähigkeit, ihre Klugheit. (Aus dem Nichts, FAZ, 19.09.1980, FZ091901. TXT). 3) „Das sind Leute [Mitglieder des Streikkomitees, J.D.], die keine Angst davor hatten, den Direktoren ihre Meinung zu sagen“, charakterisierte ein junger Schweißer die ganze Gruppe. („Dieses Jahr kommen alle Prüfungen über Polen“, FR, 25.08.1980, FR082512.TXT). 4) Die Union [cdu/ csu, J.D.] hege große Bewunderung für den Mut und die Besonnenheit der polnischen Arbeiter. (Polnische Führung bemüht sich um friedliche Beilegung der Streiks, SZ, 21.08.1980, SZ082101.TXT). 5) Aber der Mut der Polen verdiene nicht das „feige Schweigen“ der SPD. (Streit in Bonn wegen Streiks in Polen, SZ, 22.08.1980, SZ082250 . TXT). 6) Den streikenden polnischen Arbeitnehmern sei Anerkennung für ihren Mut, aber auch für ihre Kompromißbereitschaft auszusprechen. (Loderer begrüßt Zulassung freier Gewerkschaften in Polen, FAZ, 2.09.1980, FZ 0 9 02 21. TXT). 7) Die Entspannung sollte auch den Menschen Osteuropas zugute kommen; wenn diese Hoffnung Hank des Mutes der polnischen Arbeiter ein Stück näher rückt, dann können die westlichen Teilnehmer nicht aus Furcht oder Bequemlichkeit darauf verzichten. <?page no="176"?> 176 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck deutlich zu machen, weshalb sie ihre Unterschrift unter die Schlußakte von Helsinki gesetzt haben. (Den Mut zur Freiheit stärken, SZ, 25.08.1980, SZ082551. TXT). 8) Auch der republikanische Präsidentschaftskandidat Ronald Reagan lobte die „tapferen Arbeiter in Polen“ und ihren erfolgreichen Kampf gegen die kommunistische Regierung. (Lob aus Moskau, Tadel aus der DDR, SZ, 3.09.1980, SZ090302 . TXT). 9) In einer Erklärung Kohls heißt es, die Union hege große Bewunderung für den Mut und für die Besonnenheit der polnischen Arbeiter. (Ehmke: Hoffentlich haben die Polen aus dem Prager Frühling gelernt, FR, 21.08.1980, FR0 82101. TXT). 10) Eine solche Trennung [zwischen „antisozialistischen Kräften“ und polnischen Arbeitern, J.D.], scheint kaum möglich, denn es sind die Arbeiter selbst, die auf der Forderung nach „freien Gewerkschaften“ bestehen, insbesondere die jüngeren, die unbelastet von geschichtlichen Erfahrungen weniger Furcht vor der Partei, der Polizei oder gar den Sowjets zu haben scheinen. (Giereks Spielraum wird enger, SZ, 22.08.1980, SZ082251.TXT). 1 l)Der Passus der Babiuch-Rede über die „Sorge“ der Nachbarn Polens bezüglich der „außergewöhnlichen“ Lage in diesem Land mißfiel dem in Dissidentenkreisen sehr bekannten Mann. „Soll das eine Drohung für uns sein? “ fragte Wahjsa. „Dann muß er wissen, daß unsere Jugend, obgleich sie im sozialistischen System groß wurde, zu großen Opfern bereit ist.“ Damit spielte er offen auf die Entschlossenheit der Polen an, einer etwaigen sowjetischen Invasion die Stirn zu bieten. (Streik in Polen ungebrochen, FR, 18.08.1980, FR081801.TXT). 12) Die Entschlossenheit der Streikenden von Danzig hängt zum großen Teil vom Willen, der Festigkeit und dem Mut Lech Wal^sas ab. (Ein Phänomen namens Watqsa - Stimmen der Anderen, FAZ, 30.08.1980, FZ083050 . TXT). 13) Die Polen hätten vor aller Welt demonstriert, daß die Sowjets sich in Europa nur noch auf eine Minderheit stützen könnten. (Erleichterung und Schweigen, FR, 1.09.1980, FR0 90104. TXT). 14) Sie [Ermüdung und Ungeduld, J.D.] muß an Verzweiflung grenzen, wenn hunderttausende von Arbeitern bereit sind, nicht nur ihren Parteichef herauszufordem, sondern ihre sowjetische „Schutzmacht“. (Gefahr für Polens inneren Frieden, SZ, 20.08.1980, SZ082050.TXT). 15) Und dann fügt er [Lech Wahjsa, J.D.] hinzu: „Die Russen kommen nicht.“ Das glauben alle. Aber wenn: „Wir sind nicht die Tschechoslowaken! “ („Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, SZ, 23./ 24.08.1980, SZ082301.TXT). 16) Derm niemand kann den Wählern sagen, daß sie nichts so zu fürchten haben wie die Furcht selber: sie wollen nichts davon hören. Das Umdenken wird noch ein langer und qualvoller Prozeß sein. Aber die polnischen Arbeiter, die in diesen Tagen solche Furcht hinter sich ließen, setzen vielleicht hierzulande in manche Herzen einen Stachel, der es beschleunigt. (Fortwirkende Fehler, FAZ, 25.08.1980, FZ082507 . TXT). <?page no="177"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 177 III) Zuordnung zur Funktion Das Stereotyp ‘mutige Polen’ besitzt viele Gemeinsamkeiten mit zwei anderen in dieser Arbeit erörterten Stereotypen: dem ‘Rebellen-’ und dem ‘Patriotismus’-Stereotyp. Das ‘Mut’-Stereotyp wird sowohl explizit als auch implizit, überwiegend durch eine Verwendung, die die Prädikation als etwas Typisches erscheinen läßt, realisiert. Seine explizite Verwendung dominiert, was mit seiner Nicht-Tabuisiertheit zusammenhängt. Die implizite Verwendung kann man den Belegen (14) bis (16) entnehmen. Die atypische Realisierung läßt sich hauptsächlich im Selbstbild der Polen feststellen. In Beleg (5) wird eine Polarisierung zwischen dem Stereotyp ‘mutige Polen’ und der der SPD zugeschriebenen Feigheit hergestellt. Interessant ist, daß das ‘Mut’-Stereotyp als Fremdbild und auch als Selbstbild (Zitatform der Äußerungen von Polen vgl. Belege (1) oder (11)) zum Ausdruck gebracht wird. Im Fremdbild werden die Polen hauptsächlich explizit mit dem Substantiv Mut oder dem Adjektiv tapfer attribuiert. Es wird immer wieder betont, daß die Fremden (Deutsche (4), (5), (6), (9) oder Amerikaner (8)) den Mut der Polen bewundern (unter anderem: große Bewunderung hegen (2x); Anerkennung aussprechen; loben; Polen verdienen [...]). In den Belegen, die das Selbstbild der Polen vermitteln, werden andere sprachliche Mittel eingesetzt als in den fremdbildvermittelnden. Anstelle von Lexemen wie Mut und tapfer wird das Stereotyp mit syntaktischen Mitteln als etwas Atypisches dargestellt, und zwar mit den negierten Ausdrükken keine Angst haben (1) und (3) oder nicht Tschechoslowaken sein (15). IV) Medienspezifik und Textsortenverteilung Das ‘Mut’-Stereotyp wird in der westdeutschen Presse des Sommers 1980 in allen drei Tageszeitungen relativ gleichmäßig thematisiert. Die Zahl der Belege beträgt insgesamt 16, wodurch dem Stereotyp keine primäre Rolle in der Berichterstattung dieser Zeit zugeschrieben wird es ist jedoch auch nicht ganz peripher. Vorrangig kommt es in Kommentaren und Berichten vor, aber auch in Auszügen bzw. Abdrucken aus anderen Zeitungen, die in den Spalten „Stimmen der Anderen“ oder „Blick in die Presse“ zu finden sind. Einzelne Signalwörter des ‘Mut’-Stereotyps lassen sich auch in den Meldungen finden. V) Zur lexikalischen und syntagmatischen Realisierung Nomina: Mut (8x); Entschlossenheit (2x),' Besonnenheit (2x); Selbstbewußtsein (2x); Festigkeit; Zähigkeit; Drohung; Kampf; Opfer. Verben: herausfordern (2x). Adjektive: <?page no="178"?> 178 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck tapfer; entschieden; stolz; temperamentvoll. Adverbien: herausfordernd. Nominale Syntagmen: tapfere Arbeiter. Signalsyntagmen: offene Auseinandersetzung. Verbale Syntagmen: Kollokative Einbettung der Signalwörter: sowjetischer Invasion die Stirn bieten; keine Angst haben (3x); weniger Furcht vor der Partei, der Polizei oder gar den Sowjets zu haben scheinen; Furcht hinter sich lassen; schnell temperamentvoll reagieren; nicht nur [...] Parteichef herausfordern, sondern auch [...] sowjetische „Schutzmachtj herausfordernd ins Visier nehmen; zu großen Opfern bereit sein; aufder Forderung nachfreien Gewerkschaften bestehen. Signalsyntagmen: keine Nerven haben; sich nur aufsich selbst verlassen können; vor aller Welt demonstrieren, daß die Sowjets sich [...] nur noch auf eine Minderheit stützen können; „Wir sind nicht die Tschechoslowaken! “. Textuell hergestellte Antonymie des ‘Mut’-Stereotyps: Furcht (5x); Angst (3x); fürchten. VI) Resümee Das Stereotyp ‘mutige Polen’ wird in den analysierten Texten als typische Eigenschaft der Streikenden, die für die gesamte polnische Bevölkerung stehen, dargestellt. Ein Blick in die Literatur sowohl polnischer als auch nichtpolnischer Autoren belegt die relativ kontinuierliche Existenz dieses Stereotyps. Dort findet man auch eine gewisse Überschneidung des Selbstbilds mit dem Fremdbild. Nach Meinung von Antoni Kqnnski haftet der polnischen Tapferkeit ein heroisch-selbstmörderischer Zug an, der bei den Polen selbst als „chic“ gilt. Die- <?page no="179"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 179 se Haltung fände ihren Ausdruck in mehreren Sagen und Überlieferungen, die an Kämpfe wie bei Samosierra, im Warschauer Aufstand und bei Monte Cassino erinnern. Alle diese Kämpfe haben in der polnischen Geschichte den Status nationaler Symbole, denn immer kämpften die Polen trotz ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit heldenhaft und erlitten einen „heroischen“ Tod. In den Legenden über diese Kämpfe läßt sich nach Kqpiftski eine gewisse Sehnsucht der Polen nach einem heldenhaften Tod erkennen (vgl. Kqpihski nach Lewandowski 1995a, S. 126). Lewandowski betont den selbstmörderischen Aspekt, den dieser Heroismus in den Augen mancher Ausländer hat, nach deren Ansicht die Polen oft unnötig Mut aufbrächten, indem sie ihr Heldentum ohne Sinn für die Nützlichkeit des Ziels beweisen wollten (vgl. Lewandowski 1995a, S. 149). Diese Sicht findet man etwa bei dem dänischen Philosophen und Literaturhistoriker Georg Banders, der im Jahre 1898 nach einer Polenreise eine Meinung äußerte, die der von Kqpinski ähnelt, und zwar, daß das polnische Heldentum sich hauptsächlich in sinnlosen Taten ausdrückt (vgl. Banders nach Lewandowski 1995a, S. 150). Auch Friedrich Engels beschreibt das Verhalten der Polen als mutig, aber nicht unbedingt als erfolgreich. Am 23. Mai 1851 schrieb er an Karl Marx: „Die Polen haben nie etwas anderes in der Geschichte getan, als tapfere krakeelsüchtige Dummheiten gespielt. [...] Von der ‘Unsterblichkeit’ Polens liefern Napoleons Kriege 1802 und 1812 schlagende Exempel. Unsterblich war bei den Polen bloß ihre Krakeelerei ohne allen Gegenstand.“ (Marx 1963, S. 266f.) Besonders treffend schildert Stanislaw Mackiewicz die naivkindliche Freude der Polen am Kampf. Als Beispiel dafür nennt er die polnische Haltung gegenüber dem drohenden Krieg mit Hitler-Deutschland: Als noch kein Land in ganz Europa mit Flitler Krieg führen wollte, brannten die Polen geradezu darauf. Sie hätten sich sogar gefreut, daß der Krieg bei ihnen anfange. Mit dieser Haltung erinnerten sie an kleine Jungen, die die ganze Nacht lang nicht schlafen, weil sie befürchten, daß die Erwachsenen sie nicht zur Entenjagd mitnehmen könnten (Lewandowski 1995a, S. 151f). Eine andere Sicht des polnischen Muts vermittelt ein deutscher Polenbesucher. Paul Harro Harring versuchte, 1828 in seinen „Memoiren über Polen unter russischer Herrschaft - Nach zweijährigem Aufenthalt in Warschau“ die Polen zu charakterisieren. Seines Erachtens spiegelt sich der Charakter der Polen in ihrer Geschichte wider: „Der Ruhm ihres Mutes hat überlebt, der unnachgiebige und hartnäckige Widerstand gegen die Gefahren [...] war bei ihnen immer lebendig, obwohl sie in Ketten lagen (Harring 1828 nach Gintel 1971, S. 334, Übersetzung, J.D.). Die uneingeschränkt positive Beurteilung des mutigen Kampfes hängt in diesem Fall mit der propagierten Vorbildrolle der polnischen Freiheitskämpfer für Deutschland und der damaligen Bewegung „Junges Europa“ zusammen. <?page no="180"?> 180 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck In diesem Zusammenhang muß man auch den ersten Satz der polnischen Nationalhymne „Noch ist Polen nicht verloren“ anfuhren, der zugleich als Redewendung in den deutschen Sprachgebrauch übernommen wurde; mit ihr wird zu einem Optimismus trotz beinahe auswegloser Situation aufgefordert. Auch der an Deutschland leidende Heinrich Heine fand bei den Polen eine „Vorliebe für den Militärstand, wozu ihr heftiger und streitlustiger Charakter sie hinzog; daher bei den Polen gute Soldaten und Generale, aber gar wenige seidene Staatsmänner, noch viel weniger zu Ansehen gestiegene Gelehrte.“ (1822, S. 80). Im Roman „Die Blechtrommel“ von Günter Grass kann man Lewandowski zufolge das Thema des polnischen Mutes ebenfalls entdecken (Lewandowski 1995a, S. 149). Einer der dort dargestellten Figuren ist ein Pole: „Pan Kiehot ist sein Name, ein reingebürtiger Pole von traurig edler Gestalt, der allen seinen Ulanen den Handkuß beibrachte zu Pferde, so daß sie nun immer wieder dem Tod als wär der 'ne Dame die Hände anständig küssen [...]“. Don Quijote bringt seinen Soldaten bei, Damenhände zu küssen, die Soldaten küssen jedoch nicht nur Damenhände, sondern in Grass' Metaphorik auch die „Hände des Todes“. Pan Kiehot lädt die Soldaten zum Küssen von Panzern ein, weil er deren Übermacht nicht realistisch sehen will. Pan Kiehot „ruft [...] der Kavallerie zu: ‘Ihr edlen Polen zu Pferde, das sind keine stählernen Panzer, sind Windmühlen nur oder Schafe, ich lade zum Handkuß Euch ein! ’“ (Grass 1962, S. 204). In der von Grass vorgenommenen Überspitzung und Umdrehung der Donquichotterie wird der heldenhafte Mut der Polen ad absurdum geführt. Der Mut, der bei den Polen oft mit der Todesverachtung einhergeht, findet seinen Niederschlag auch in dem polnischen Lied: „Warszawianka“, das nach dem November-Aufstand 1831 entstanden ist und in dem es heißt: „Heute ist Dein Triumph oder Dein Tod“. Im Selbstbild der Polen spielt das Mutig-Sein im Angesicht des Todes eine wichtige Rolle (Lewandowski 1995a, S. 126). Das polnische Geschichtsbewußtsein, das lange Zeit von der zentralen Quellengattung der romantischen Historiographie mit ihrer Deutung des Heroischen abhängig war, wird von den jüngeren Generationen der Polen zunehmend kritisch betrachtet. Wenige kritische Stimmen gegenüber dem polnischen Heroismus waren auch schon Ende des 18. und im 19. Jahrhundert zu hören. Der polnische Humanist und Literaturhistoriker Maurycy Mochnacki, der auch an der Konstitution vom 3. Mai 1791 mitwirkte, schrieb: „In jedem heldenhaften Vorgehen waren wir wie das kunstvolle Feuer, das einmal mit einer hellen Flamme nach oben schießt, und im Rauch auslöscht. Keiner von den Aufständen verdiente, daß man sie usque ad finem nennt (Mochnacki nach Lewandowski 1995a, S. 134a). <?page no="181"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 181 5.10 Märtyrertum I) Prädikation: „Polen sind Märtyrer“ II) Illustrationsbelege: 1) Der Kardinal rief die Gläubigen auf, sich zu erinnern, mit welcher Mühe die Nation nach 125 Jahren der Knechtschaft ihre Freiheit wiedererlangt habe. (Die Polen streiken weiter: Mahnungen, Appelle, Warnungen, Zusagen, FAZ, 28.08.1980, FZ082801.TXT). 2) „Für diese Welt ist das Interesse Polens, unabhängig davon, ob sie für uns Sympathie empfindet oder nicht, keine übergeordnete Angelegenheit. Das Interesse Polens können nur wir Polen selbst verteidigen. Die Geschichte hat uns das häufig auf bittere Weise gelehrt ...“ (Über die Gesellschaftsordnung kann es keine Diskussion geben, FAZ, 28.08.1980, FZ082810.TXT). 3) „Laßt uns daran erinnern: wir sind eine Nation, die noch Vermögen erwerben muß, laßt uns daran erinnern, Kinder Gottes, daß wir auf das Gebiet unseres Vaterlandes zur Freiheit über Trümmern kamen.“ (Manchmal soll man nicht viel fordern damit in Polen Ordnung herrscht, FAZ, 28.08.1980, FZ0828 07 . TXT). 4) „[...] So beurteile ich heute das, was sich in unserem Land abspielt. In dem Land, das schon so viele Tränen, Schweiß und auch Blut einsog. Niemand von uns will noch einmal ein nationales Drama erleben. Ich bin überzeugt, daß wir das vermeiden können.“ (Versprechungen soll man ehrlich erfüllen aber wichtige Systemkorrekturen kann man nicht übereilt durchführen, FAZ, 29.08.1980, FZ082909 . TXT). 5) „Der erste September ist der 41. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs, dieses Krieges, der unendliche moralische und materielle Schäden verursacht hat, des Krieges, der nicht aufhört, eine schmerzhafte Wunde in der Geschichte der Nationen zu sein, besonders der europäischen in diesem Jahrhundert, und vor allem eine schmerzhafte Wunde unserer Nation, die während der Kriegsereignisse einer schrecklichen Besatzung unterworfen war und mit einem gewaltigen Opfer von sechs Millionen ihrer Söhne und Töchter an den verschiedenen Fronten, in den Lagern und Gefängnissen gezahlt hat. Wegen dieses Opfers, nicht deswegen, weil ich Pole bin, meine ich, das Recht zu haben, darüber zu sprechen.“ (Papst: Polen hat das Recht auf Unabhängigkeit, FAZ, 5.09.1980, FZ090502.TXT). 6) Polen sei eine Nation, die noch Vermögen schaffen müsse, und sei über Trümmern zu seiner Freiheit gelangt. (Kardinal Wyszynski ermahnt zu Arbeit und Besonnenheit, FR, 27.08.1980, FR0 827 08. TXT). 7) „[...] Das Interesse Polens können nur wir Polen selbst verteidigen. Die Geschichte hat uns das häufig auf bittere Weise gelehrt... [...]“ („Das Interesse Polens können nur wir Polen selbst verteidigen“, FR, 28.08.1980, FR082807 . TXT). <?page no="182"?> 182 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 8) Er [Mieczyslaw Rakowski, J.D.] furchte, daß sich Polen „dem kritischen Punkt nähert“. Der polnischen Erde, „die schon so viel Tränen und Blut trank“, müsse eine neue Katastrophe erspart bleiben. (Furcht vor Katastrophe, FR, 29.08.1980, FR082902.TXT). 9) „Das enorme Opfer von sechs Millionen Toten, das von Polen während des Zweiten Weltkrieges gebracht wurde, rechtfertigt auf besondere Weise sein moralisches Recht auf Unabhängigkeit, Souveränität und Selbstbestimmung“, erklärte der aus Polen stammende Papst wörtlich. (Polen hat ein moralisches Recht..., FR, 4.09.1980, FR090427.TXT). 10) Sie [Streikende, J.D.] erinnern sich an die Ereignisse von 1956 (Streiks und Zusammenstöße in Posen, 48 Tote, 300 Verletzte; damals mußte die stalinistische Führung gehen, und Sowjetmarschall Rokossowskij verlor das polnische Verteidigungsministerium), von 1970 (als Wtadyslaw Gomulka die Führung der Partei und Jözef Cyrankiewicz die der Regierung abgeben mußten), für deren Opfer sie ein Denkmal setzen wollen, weil der Polizeieinsatz vom 17. Dezember in Danzigs Werften 45 Tote und über 1000 Verletzte gefordert hatte, von 1976 als in Radom und im Warschauer Vorort Ursus Streiks massiv unterdrückt wurden. (Die Streikleitung verwehrt niemandem den Zutritt, FR, 19.08.1980, FR081910.TXT). 11) Aber so etwas [keine Prämien mehr, J.D.] ist in einem Land wohl nicht durchzusetzen, das während des Zweiten Weltkrieges mehr als alle anderen Opfer gebracht hat und in den 35 Jahren danach von einer wirtschaftlichen Krise in die andere fiel. (Polnische Leiden, FR, 13.08.1980, FR081302.TXT). 12) Emst, wenn auch ohne rhetorische Dramatisierung, wirkte die Predigt des Primas der vielgeprüften polnischen Nation, so ernst, daß die Medien des kommunistisch regierten Polen sich geradezu überschlagen, diese Predigt zu verbreiten. (Kardinal Wyszynski und das prekäre Geschenk der Freiheit, FAZ, 28.08.1980, FZ082811.TXT). 13) Dem schwergeprüften Volk gehöre die innere Verbundenheit der Deutschen beim Streben nach mehr Freiheit. „Wir haben nie einen Zweifel gelassen, daß wir in Danzig und Stettin an der Seite der Freiheit stehen“, sagte Genscher. („Ein großes Glück für das polnische Volk“. Reaktionen der Bonner Parteien/ Mertes: Moskau ist verwundbar, FAZ, 1.09.1980, FZ090108.TXT). 14) In der Todeszelle des seliggesprochenen Paters Maximilian Kolbe sprachen sie [die deutschen Bischöfe, J.D.] das Gebet: „Dieser Ort des Grauens und des Todes mahnt uns an die unbarmherzige und gnadenlose Gewalt des Unrechtes, das von den Deutschen begangen worden ist.“ („Wir wollen gemeinsam den Haß und die Feindschaft überwinden“, FAZ, 15.09.1980, FZ091501 .TXT). 15) Wenn wir heute nach der bekannten Tragödie unser Haupt vor dem Heldentum des polnischen Soldaten, vor der Tapferkeit und dem Leiden unserer Nation neigen, müssen wir mit ganzem Nachdruck unterstreichen, daß in den Jahren des Kampfes und in den Jahren des friedlichen Aufbaus die Linie unserer konsequenten und dauerhaften Außenpolitik entstanden ist und sich bewährte, eine Linie, die die Grundlage der souveränen und erfolgreichen Existenz unserer Nation bildet. („Wir werden mit voller Konsequenz an die Quellen der Spannungen gehen“, FR, 8.09.1980, FR090805. TXT). <?page no="183"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 183 16)Die Deutschen empfänden eine innere Bindung zum polnischen Volk, die durch die schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit noch stärker geworden sei. (SPD warnt vor Gewalteinsatz, FR, 22.08.1980, FR082210. TXT). III) Zuordnung zur Funktion Das ‘Märtyrer’-Stereotyp wird in den analysierten Zeitungstexten als etwas für das Selbstbild der Polen Typisches dargestellt. Es wird in mehreren Belegen den westdeutschen Lesern als Autostereotyp der Polen präsentiert (vgl. Belege (1) bis (9)). Die Belege vermitteln, daß sich die Polen selbst als Märtyrer sehen, indem sie sich immer wieder auf die Leiden der Vergangenheit berufen. Ihre Märtyrerrolle in der Geschichte wird oft thematisiert und scheint zum Standard-Repertoire offizieller Reden zu gehören. Durch die häufige Thematisierung der leidvollen Geschichte wird eine enge Beziehung zwischen dem ‘Märtyrer’-Stereotyp und dem Stereotyp ‘geschichtsbewußte Polen’ (s. Kap. 5.11) sowie ‘mutige Polen’ (s. Kap. 5.9) hergestellt. Das Autostereotyp vom ‘Märtyrer’ wird mittels direkter (vgl. Belege (2) bis (5) und (7) bis (9)) oder indirekter Textbzw. Redewiedergabe (vgl. Belege (1) und (6)) vermittelt. In den Belegen (10) bis (16) liegt kein Auto-, sondern ein Heterostereotyp der Deutschen gegenüber den Polen vor. In dieser Funktion verändert sich der prädikative Gehalt des Stereotyps; anstatt der ‘Märtyrer’-Prädikation steht „Die Polen veranlassen die Deutschen, für vergangenes Unrecht ihre moralische Verantwortung zu bekennen.“ Man kann insofern von einem komplexen stereotypen Konzept sprechen, das ein Verantwortungs- und Schuldbekenntnis der Deutschen gegenüber dem von Polen erlittenen Unrecht des Hitler- Regimes ausdrückt. In diesem die deutsche Perspektive wiedergebenden Konzept beschränkt sich die deutsch-polnische Geschichte hauptsächlich auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Die polnische Selbstwahrnehmung als Märtyrer hingegen begrenzt sich nicht nur auf den Zweiten Weltkrieg, sondern bezieht alle anderen leidvollen Ereignisse der Geschichte ein, von den polnischen Teilungen im 18. und 19. Jahrhundert bis hin zur Kommunismus-Zeit in Polen (vgl. Beleg (10)). Das Heterostereotyp der Deutschen über die Polen in bezug auf deren schmerzhafte Vergangenheit wird in Beleg (10) deskriptiv aus deutscher Perspektive präsentiert, indem das Erinnern der Polen an die neueste Geschichte thematisiert wird. In Beleg (11) bis (13) sowie (15) und (16) wird an die deutschen Leser explizit mit Signalwörtern wie schwergeprüft usw. appelliert. In Beleg (14) wird ein direktes Zitat verwendet, das das Stereotyp explizit zum Ausdruck bringt. In der Textstruktur ist das Autostereotyp der Polen über ihr Märtyrertum mit dem Heterostereotyp der Deutschen über die Polen als Opfer des Hitler-Deutschlands sowie dem Autostereotyp der Deutschen als den am Zweiten Weltkrieg Schuldigen verflochten. Alle diese Stereotype sind mitein- <?page no="184"?> 184 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck ander verzahnt. Sie werden vorrangig als periphere Textthemen behandelt; ihre leitmotivische Verwendung ist eher selten. IV) Medienspezifik und Textsortenverteilung Bei der Untersuchung des ‘Märtyrer’-Stereotyps fällt auf, daß die Belege hauptsächlich aus der FAZ und aus der FR stammen. In der SZ ist dieses Stereotyp nur einmal vertreten. Die Textsorte in westdeutschen Zeitungen, die das ‘Märtyrer’-Stereotyp vor allen übrigen vermittelt, indem Äußerungen polnischer Zeitungen wörtlich übernommen werden, ist der aus der polnischen Presse abgedruckte Leitartikel (vgl. Belege (2) und (7)). In den anderen Textsorten wie Nachricht und Kommentar wird das Heterostereotyp bzw. die westdeutsche Sicht auf die polnische Geschichte realisiert. In der Textsorte Meldung kommt dieses Stereotyp nicht vor. In den Berichten wird das Stereotyp als ein peripheres Thema in die Textstruktur eingeflochten. Seine Relevanz für die Berichterstattung ist ähnlich wie beim Stereotyp „Polen sind mutig“. Das ‘Märtyrer’-Stereotyp wird nämlich ebenso oft lömal realisiert. Es ist präsent, obwohl seine Rolle in diesem Zeitraum nicht von zentraler Bedeutung zu sein scheint. V) Zur lexikalischen und syntagmatischen Realisierung Nomina: Opfer (5x); Unrecht (2x); Trümmern (2x); Gewalt; Tragödie; Drama; Katastrophe; Tote (3x); Verletzte (2x); Leiden; Kampf; Mühe; Heldentum; Tapferkeit; Knechtschaft; Lager; Gefängnisse; Einmarsch; Überfall; Schäden; Tränen (2x); Blut (2x); Schweiß. Verben: unterdrücken. Adjektive: schmerzhaft (2x); vielgeprüft; schwergeprüft; schrecklich (2x); gewaltig; unbarmherzig; gnadenlos; vielgeprüft. Nominale Syntagmen: Kollokative Einbettung von Signalwörtern: vielgeprüfte polnische Nation; schwergeprüftes Volk; schreckliche Besatzung; schreckliche Ereignisse der Vergangenheit; Land, das schon viele Tränen, Schweiß und Blut einsog; schmerzhafte Wunde in der Geschichte; schmerzhafte Wunde unserer Nation; unbarmherzige und gnadenlose Gewalt des Unrechts; <?page no="185"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 185 Land [...], das während des Zweiten Weltkrieges mehr als alle anderen Opfer gebracht hat; enormes Opfer von sechs Millionen Toten; unendliche moralische und materielle Schäden. Verbale Syntagmen: Kollokative Einbettung von Signalwörtern: sich erinnern, mit welcher Mühe die polnische Nation nach 125 Jahren der Knechtschaft ihre Freiheit wiedererlangt; zur Freiheit über Trümmern kommen; über Trümmern zur Freiheit gelangen; noch einmal ein nationales Drama erleben; während der Kriegsereignisse einer schrecklichen Besatzung unterworfen sein; gewaltiges Opfer von sechs Millionen [...] Söhne und Töchter an den verschiedenen Fronten, in den Lagern und Gefängnissen zahlen; Unrecht an Polen begehen; massiv unterdrückt sein; viel Tränen und Blut trinken; neue Katastrophe ersparen; Haupt vor dem Heldentum des polnischen Soldaten, vor der Tapferkeit und dem Leiden der Nation neigen. Signalsyntagmen: auf bittere Weise lehren (2x); Freiheit wiedererlangen; sich dem kritischen Punkt nähern. VI) Resümee Das ‘Märtyrer’-Stereotyp wird in den zur Untersuchung einbezogenen Texten als typisch für Polen behandelt. In manchen Belegen (1), (5), (9), (10), (11) wird es im Anschluß an das Ereignis eingeführt, das eine Begründung für das Stereotyp zu liefern scheint. So beziehen sich 125 Jahre Knechtschaft Polens in Beleg (1) auf die Zeit der polnischen Teilungen, Äußerungen und Informationen aus den Belegen (5), (9) und (11) beziehen sich auf den Zweiten Weltkrieg, Beleg (10) auf die Kommunismuszeit in Polen. Insofern es sich um zitierte polnische Äußerungen handelt, wird mit Hilfe aller angeführten historischen Ereignisse an das Geschichtsbewußtsein der Polen und an ihr kollektives Gedächtnis appelliert, in dem die Geschichte stets präsent gehalten wird. Die polnische Neigung zur Märtyrerrolle angesichts der Niederlagen in der Vergangenheit thematisiert Kramer (1995). Er beruft sich auf die polnische Philosophin Ewa Kobylihska, nach der die „Kultur der Niederlage“ einen festen Bestandteil des polnischen Bewußtseins bildet: „Diese Art des Nationa- <?page no="186"?> 186 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck lismus betrachtet eigentlich allein schon das Leben und jedes Nachgeben zugunsten der Alltäglichkeit als Verrat. Die Ambivalenz solcher Einstellung ist deutlich: Sie mag hilfreich in schwierigen Situationen sein, paralysiert aber im Alltag, stört in der Umwandlung des Polen in einen Citoyen, was heute zur dringendsten Aufgabe gehört.“ (Kobylihska zit. nach Kramer 1990, S. 14). Eine ähnliche Beobachtung macht Janusz Reiter, der polnischer Botschafter in der Bundesrepublik von 1990 bis 1995 war. In der Fernsehsendung „Neue polnische Verhältnisse“ in der Serie „Blickpunkt Europa“ des Programms Südwest 3 am 25. Oktober 1995 definierte er, was das neue Polen ausmacht: „Vor allem: Es geht mit seiner Geschichte unbefangener um als in der Vergangenheit. [...] Jungen Leuten wurde die polnische Geschichte immer dargestellt als eine Art Leidensgeschichte. Sie sollten stolz auf sie sein, sie waren auch stolz auf sie, aber sie mußten auch auf das normale Leben, so wie sie es sich wünschten, verzichten. Und wenn jemand heute jungen Menschen sagt, sie müßten alle ein Kreuz tragen und sagen „Im Namen der Nation“, dann lachen sie darüber und darin sehen sie heute nicht ihre Bestimmung, ihre Rolle [...]“ (Reiter im Programm Südwest 3 Blickpunkt Europa am 25. Oktober 1995 nach Videomitschnitt). Nach Kramer hätten sich die Polen immer wieder verraten gefühlt, und „da die eigenen Aufstände alle fehlschlugen, glorifizierten sie die Niederlagen als moralische Siege“. Nach Ansicht des polnischen Historikers Wlodzimierz Borodziej werde das von den Polen „derart skizzierte nationale Pantheon in der westlichen Öffentlichkeit keineswegs widerspruchlos akzeptiert, geschweige denn honoriert; was den polnischen Kult der Märtyrologie zusätzlich verstärkt“. (Borodziej nach Kramer 1990, S. 14) L. v. Zitzewitz äußert, daß die Polen eine „für Ausländer kaum nachvollziehbare Fähigkeit“ besäßen, „auf die höhere Gerechtigkeit zu hoffen“, die auf dem christlichen Glauben beruht. Eine bildhafte Darstellung dieser Einstellung liefern die Worte Lech Walqsas, mit denen er die Verhängung des Kriegsrechtes in Polen am 13. Dezember 1981 kommentierte: „Manch einer mag sagen, weil Christus gekreuzigt wurde, hat er verloren. Aber er hat seit zweitausend Jahren gewonnen. Die Tatsache ist, daß ich heute verliere, weil mir einer das Kinn zerschmettert oder mich aufhängt, bedeutet nicht, daß ich verloren habe.“ (nach 1992, S. 93). Hier schwingen gleichzeitig Komponenten der Niederlage und des Sieges mit, deren Zusammenhang mit der Tradition des polnischen Messianismus des 19. Jahrhunderts verstanden werden kann (s. Messianismus in Kap. 1.4). In der messianischen Idee kommt deutlich der Versuch zum Ausdruck, „das als übermächtig empfundene Schicksal mit Hilfe religiöser Kategorien zu kompensieren.“ Diese Einstellung spiegelt sich deutlich in der polnischen Parole wider, die für viele orientierend war: „Wer überlebt, wird frei sein! Wer gefallen ist, ist schon frei! “ (ebd., S. 35). In den aufgelisteten Belegen sind die messianischen Komponenten besonders deutlich <?page no="187"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 187 dort, wo das Lexem Freiheit auftritt, vgl. die verbalen Syntagmen: nach 125 [123, J.D.] Jahren der Knechtschaft [...] Freiheit wiedererlangen; zur Freiheit über Trümmern kommen; über Trümmern zur Freiheit gelangen. Auch die polnische Nationalhymne mit ihrer ersten Zeile „Noch ist Polen nicht verloren“, drückt die Überzeugung aus, daß die polnische Nation „trotz aller Rückschläge, trotz Unterdrückung und schrecklicher Niederlagen überleben kann, wenn sie ihr Nationalbewußtsein bewahrt und stets bereit ist, für ihre Unabhängigkeit zu kämpfen“, (vgl. Kramer 1990, S. 13) In der westdeutschen Presse werden die Signale, die das polnische Autostereotyp vom ‘Märtyrer’, etwa in übernommenen polnischen Pressetexten, vermitteln, dazu benutzt, an ein genuines Thema der deutschen Nachkriegsgesellschaft anzuknüpfen, nämlich an das deutsche Unrecht am polnischen Volk in der Zeit von 1939-1945. Die Berichterstattung über Polen in den Jahren um 1980 konfrontiert die Deutschen mit dem stets lebendigen historischen Bewußtsein der Polen und appelliert somit an die moralische Pflicht der Deutschen zur Erinnerung an einen Teil der polnischen Geschichte und an die eigene Schuld. 5.11 Geschichtsbewußtsein I) Prädikation: „Polen sind geschichtsbewußt“ II) Illustrationsbelege: 1) Polen pflegen die Katastrophen ihrer Geschichte nicht nach Jahren zu datieren, sondern nach Monaten, vom „Januar-Aufstand“ (1863 gegen die Russen) bis zu den „Dezember- Ereignissen“ (1970, als Gomulka gestürzt und Gierek erhoben wurde) ganz so, als ob der polnischen Geschichte bestimmt sei, sich zu einem einzigen großen, immerwährenden Jahr zu runden, in dem sich die Termine des Mißlingens mit der Unausweichlichkeit der Natur reihen. Die so zählen, leben derart in ihre Vergangenheit vertieft, daß der Monat als Anlialtspunkt genügt, die Jahreszahl gehört zum Gemeinwissen. Wie aber sollten die Polen einmal die derzeitigen Streiks in ihren bemerkenswerten Kalender einfügen? Sie schwären nun schon länger als einen Monat, sie sind aber auch sonst etwas anderes als die einmal sich entladende Unzufriedenheit der Debakel früherer Jahre. Fast scheinen sie zum Dauerzustand zu werden, als wäre das Italien. Ist da in einem kommunistischen Staat etwas Neues auf dem Weg? (Etwas Neues, FAZ, 9.08.1980, FZ 08 0901. TXT). 2) Jeder Pole ist ein Deutschland-Spezialist. Die Politik zwischen Bonn und Warschau hat von Anfang an Polen viel lebhafter interessiert als Deutsche, nicht nur der Grenzfrage selbst wegen, sondern auch, weil dort die Fähigkeit feiner ausgebildet ist als hier, im Alltag und in der Politik Geschichte zu erleben, sie überhaupt wahrzunehmen was <?page no="188"?> 188 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck nicht wundemimmt bei einer Nation, die oft genug in ihrer eigenen Geschichte nicht mehr besessen hat als ebendiese. (Polen und Deutsche, FAZ, 22.08.1980, FZ082204.TXT). 3) Verstehen sich die Arbeiter, wie noch 1970 als Konflikt Partner der „Arbeiterpartei“, verlangen sie von ihr nur, daß sie die „Verbindung zu den Massen“ wiederherstellt? Oder sind die, die da streiken und Kränze niederlegen an einem Un-Gedenktag, bereits der Gegenpol, sprechen sie fiir „das andere Polen“ ein Polen, das wenn nicht im Staat, so doch in den Herzen überlebt hat mit einer Hartnäckigkeit, die in diesem Land durchaus nach Jahrhunderten zählen kann? (Die vierte Macht, FAZ, 16.08.1980, FZ081601.TXT). 4) Wie in Warschau zu hören war, hatte die Direktion der Leninwerft im Laufe der Verhandlungen am Donnerstag nach Beginn des Streiks folgende Zugeständnisse gemacht: Lohnerhöhung von monatlich 1200 Zloty (rund 75 Mark), Wiedereinstellung zweier entlassener Mitglieder des „Gründungskomitees freier Gewerkschaften“, Errichtung eines Denkmals für die Opfer der Unterdrückung der Unruhen an der Ostseeküste vom Dezember 1970, (Streikende polnische Werftarbeiter stellen auch politische Forderungen, SZ, 16./ 17.08.1980, SZ081601.TXT). 5) Auf der Liste von Forderungen, die ein gewähltes Streikkomitee in die Gespräche mit der Betriebsleitung einbringen wollte, stand kor zufolge auch die Errichtung eines Denkmals fiir die bei den Dezember Unruhen 1970 getöteten Arbeiter. (Angeblich auch Streik auf der Danziger Werft, FAZ, 15.08.1980, FZ081501.TXT). 6) So sei nicht nur die Erhöhung der Familienbeihilfen, also eine finanzielle Verbesserung zugesagt worden, sondern auch die Wiedereinstellung zweier entlassener Arbeiter und die Errichtung eines Denkmals für 49 Arbeiter vor den Werkstoren, die bei den Unruhen von 1970 getötet worden waren. [...] Die 49 erschossenen Arbeiter, die damals bei Nacht und Nebel auf dem Friedhof bestattet worden waren, waren amtlich zunächst als Plünderer und Marodeure bezeichnet und erst später als „tragische Opfer“ anerkannt worden. Daß jetzt wieder von ihnen die Rede ist, beweist, daß das Schweigen von zehn Jahren bei den Arbeitern die Erinnerung an die blutigen Zusammenstöße nicht hat tilgen können [...] (Streiks und Werftbesetzung in Danzig, FAZ, 16.08.1980, FZ081603. TXT). 7) [...] dafür enthält es [Stettiner Abkommen, J.D.] gegenüber dem Danziger Forderungskatalog auch einige Abmachungen von politischem Gewicht, die im Abkommen von Danzig keine Entsprechung haben. So etwa über die Anbringung einer Gedenktafel fiir die Opfer der Dezember-Ereignisse 1970 [...] (Das Stettiner Abkommen politisch weniger gewichtig als jenes von Danzig - Forderungen des Streikkomitees, FR, 3.09.1980, FR090305.TXT). 8) Im einzelnen gewährte die Betriebsleitung den Streikenden Lohnerhöhungen um 1500 Zloty (etwa 240 Mark) und die Errichtung eines Denkmals für die Opfer der blutigen Unruhen von 1970. (Streiks in Polen weiten sich aus, SZ, 18.08.1980, SZ081851.TXT). 9) Der polnische Streiksommer und seine Resultate waren auch für Osteuropaforscher eine Überraschung. Der Danziger Streikführer Lech Wal^sa setzte neben der Gründung un- <?page no="189"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 189 abhängiger Gewerkschaften die Errichtung eines Denkmals für die Opfer der Streiks von 1970 durch. (Über die Ereignisse in Polen herrschte Verlegenheit, SZ, 15.10.1980, SZ101501.TXT). 10) Dabei vergaßen viele Polen nicht, daß an dem gleichen Tag, an dem die Arbeiter an ihre Arbeitsplätze wieder zurückkehrten, vor 41 Jahren der deutsche Angriff auf Polen und damit der Zweite Weltkrieg begann. (Wat^sa zieht mit dem Kruzifix in sein Gewerkschaftsbüro ein, FAZ, 2.09.1980, FZ090216.TXT). 11) Die 41 Jahre, die beide Daten voneinander trennen, sind nur ein zeitlicher Abstand; in der Kausalität der Geschichte gehören der Tag, an dem Polen unterging und fünf Jahre später als Volksdemokratie im sowjetischen Hegemoniebereich wiedererstand, und der heutige Tag, der die Ertrotzung eines Stückchens polnischer Selbstbestimmung markiert, logisch zusammen. (Polens Regime muß nachgeben, SZ, 1.09.1980, SZ090102.TXT). 12) Der 1. September ist im Bewußtsein der Polen ein Datum, das sie an die tragischste Periode ihrer Geschichte erinnert. Vor 41 Jahren sind Hitlers Armeen in Polen eingefallen denen bald jene Stalins folgten. Das Ende der polnischen Nation schien gekommen zu sein. Von den Juden abgesehen, hat kein Volk im Zweiten Weltkrieg schlimmeres erdulden müssen als die Polen. (Polens Regime muß nachgeben, SZ, 1.09.1980, SZ090102.TXT). 13) Wenn die streikenden Danziger Arbeiter am 1. September, an diesem historischen Datum, an dem vor 41 Jahren in der einst Freien Stadt Danzig der Zweite Weltkrieg losbrach, wieder die Arbeit aufnehmen, könnte für das kommunistische Polen eine neue Zeitrechnung beginnen. (Ein historischer Kompromiß, FR, 1.09.1980, FR0 90110. TXT). 14) „In diesen Septembertagen erinnerten sich die Polen auch an die Taten ihrer westlichen ‘Freunde’, von denen ihr Land 1939 verraten wurde.“ (zit. nach „Neues Deutschland“) (Westen der Einmischung in Polen geziehen, SZ, 5.09.1980, SZ090501. TXT). 15) Es hätten sich in einzelnen Ländern allmählich immanente „geschichtliche“ Kräfte durchgesetzt, die die „osteuropäische“ politische Landschaft als nuanciert, ja differenziert erscheinen ließen. Das wahre „mobilisierende Ethos“ der betroffenen Nationen sei, so Professor Seton-Watson, der Nationalismus, worunter er eine „Mischung“ aus „nationalhistorischer Mythologie“, dem „plebejischen Unabhängigkeitsgefühl“ und dem „Bekenntnis zu den Freiheits- und Demokratieidealen“ versteht. Auch müsse man Prozesse wie Industrialisierung und Urbanisierung in Betracht ziehen, die den alten Zwiespalt zwischen der nationalen Elite und dem „Bauemvolk“ aufgehoben hätten: Sie sind Seton- Watson zufolge wichtiger als die eigentlichen sozialistischen Veränderungen. (Über die Ereignisse in Polen herrschte Verlegenheit, SZ, 15.10.1980, SZ101501.TXT). 16) In dem Gottesdienst hatte ein Priester die Wende an der Weichsel als Meilenstein in der Geschichte Polens bezeichnet und mit der Rettung des Abendlandes nach dem Sieg über die Türken bei Wien 1683 verglichen ein Sieg, von dem die Polen sehr wohl auch im Gedächtnis behalten haben, daß dort polnische Truppen unter Führung von Jan Sobie- <?page no="190"?> 190 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck skis in den Kampf gezogen sind. (Kranzniederlegung nach Gottesdienst, FAZ, 16.08.1980, FZ081606.TXT). 17) Am 12. September 1683, so erinnerte Höffner, habe der Polenkönig Sobieski die Eroberung Wiens durch das islamische Türkenheer verhindert und dadurch die Christenheit gerettet. An diesem Freitag, dem Festtag Mariä Namen, gedenke nicht nur Polen, sondern die ganze Kirche dieses Sieges, „dieser Tat“ der Frömmigkeit ihres Königs Jan Sobieski. (Delegation deutscher Bischöfe zum Besuch in Polen eingetroffen, FAZ, 12.09.1980, FZ091206.TXT). 18) Weiter erwähnte Kardinal Höffner, daß am 8. September 1655 die Schweden Warschau und ganz Polen erobert hätten, bis auf einen Ort, das Kloster Tschenstochau. Damit habe das Kloster eine ungeheure Widerstands- und Emeuerungskraft des polnischen Volkes ausgelöst. (Delegation deutscher Bischöfe zum Besuch in Polen eingetroffen, FAZ, 12.09.1980, FZ091206.TXT). III) Zuordnung zur Funktion Das Stereotyp ‘geschichtsbewußte Polen’ kommt in den analysierten Belegen sowohl explizit als auch implizit vor. Es wird nicht tabuisiert, weil es keinen Verstoß gegen die in der Bundesrepublik geltenden sozialen Normen darstellt. Seine implizite Verwendung hängt also nicht mit der Tabuisiertheit zusammen, sondern damit, daß vom Journalisten die Kenntnis des Stereotyps beim Leser vorausgesetzt wird; Explizitheit kommt dann vor, wenn das Stereotyp sich auf ein mitteilenswertes und für die aktuelle Lage zutreffendes Ereignis oder einen solchen Sachverhalt bezieht. Explizite Vorkommensweise schlägt sich in den Belegen (1) und (2) nieder. In Beleg (1) werden sowohl die Besonderheiten der polnischen Geschichte mit ihrem bemerkenswerten Kalender als auch das Ausmaß der historischen Kenntnisse in der Bevölkerung (Gemeinwissen) angeführt. Die spezifischen Konventionen zur Bezeichnung historischer Ereignisse (die Katastrophen ihrer Geschichte nicht nach Jahren zu datieren, sondern nach Monaten) drücken nach Meinung des Journalisten das typische Verhalten aller Polen aus. In Beleg (2) wird zusätzlich behauptet, daß in Polen die Fähigkeit feiner ausgebildet ist als hier [Bundesrepublik Deutschland, J.D.], im Alltag und in der Politik Geschichte zu erleben, sie überhaupt wahrzunehmen (s. Kap. 1.4, besonders „Über das Verhältnis der Polen und der Deutschen zur Geschichte“). Als Begründung hierfür gibt der Autor an, daß Polen oft genug in seiner eigenen Geschichte nicht mehr besessen hat als ebendiese. Eine besondere Art des Ausdrucks, der implizit auf das existenzielle Interesse der Polen an der eigenen Geschichte anspielt, zeigen die Belege (4) bis (9). In diesen Belegen werden indirekte Signalwörter mit symbolischem Charakter verwendet, die unten unter Punkt V aufgezählt werden. Die Belege (10) bis (18) verweisen auf die historischen Ereignisse, die im Gedächtnis der Polen ständig präsent sind und auf die immer wieder nicht nur ausschließlich von Polen, sondern auch von ihren Nachbarn, die die geschichtsbewußte polnische Einstellung kennen (Belege 17 und 18) - Bezug genommen wird. Die <?page no="191"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 191 atypische und tabuisierte Verwendung des Stereotyps läßt sich nicht beobachten; das Stereotyp wird oft explizit thematisiert und gehört zu den peripheren Textthemen. IV) Medienspezifik und Textsortenverteilung Das Stereotyp ‘geschichtsbewußte Polen’ wird in allen untersuchten westdeutschen Tageszeitungen sprachlich realisiert. In der Berichterstattung dieses Zeitraums hat dieses Stereotyp keine zentrale Gewichtung, ist jedoch mit seinen zwanzig Belegen trotzdem auffallend. Klare Unterschiede ergeben sich bei dem Vergleich der Häufigkeit seiner Thematisierung in den jeweiligen Tageszeitungen. Besonders oft wird das ‘Geschichtsbewußtsein’ der Polen in der FAZ (zehn Belege) thematisiert. Am seltensten wird es in der FR (3 Belege) zum Ausdruck gebracht. Textsorten, in denen das Stereotyp hauptsächlich realisiert wird, sind Berichte und Kommentare. Das Stereotyp wird immer nur peripher realisiert, eine zentrale Plazierung in der Textstruktur kommt nicht vor. V) Zur lexikalischen und syntagmatischen Realisierung Nomina: Geschichte (7x); Vergangenheit; Zeitrechnung; der Zweite Weltkrieg; Bewußtsein; Gedächtnis; Jahreszahl; Gemeinwissen; Jahrhunderte. Indirekte Signalwörter: Nomina: Denkmal (5x); Gedenktafel. Adjektive: geschichtlich (2x),' historisch; nationalhistorisch. Verben: sich erinnern (2x); gedenken; nicht vergessen; pflegen. Nominale Syntagmen: bemerkenswerter Kalender; in [der] eigenen Geschichte nicht mehr besessen [...] als ebendiese; nationalhistorische Mythologie; „geschichtliche“ Kräfte. Signalsyntagmen mit indirekten Signalwörtem: ein Denkmalfür die Opfer der Unterdrückung der Unruhen [...] vom Dezember 1970; ein Denkmalfür die [...] getöteten Arbeiter; ein Denkmalfür [...] Arbeiter, die [...] getötet worden waren; <?page no="192"?> 192 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck ein Denkmalfür die Opfer der blutigen Unruhen; ein Denkmalfür die Opfer der Streiks; eine Gedenktafelfür die Opfer der Dezember-Ereignisse. Verbale Syntagmen: Kollokative Einbettung von Signalwörtem: Geschichte erleben, [...] sie wahrzunehmen; im Alltag und in der Politik Geschichte erleben; in den Herzen überleben; im Bewußtsein bleiben; im Gedächtnis behalten; im Bewußtsein der Polen [...] an die tragischste Periode ihrer Geschichte erinnern; Katastrophen [der} Geschichte nicht nach Jahren, sondern nach Monaten zu datieren pflegen; polnische Geschichte dazu bestimmt, sich zu einem einzigen großen, immerwährenden Jahr zu runden; derart in [...] Vergangenheit vertieft leben, daß der Monat als Anhaltspunkt genügt, die Jahreszahl gehört zum Gemeinwissen; Hartnäckigkeit, [...] nach Jahrhunderten zählen können; das Schweigen [...] hat die Erinnerung an die blutigen Zusammenstöße nicht tilgen können; nicht vergessen, daß [...] vor 41 Jahren [...] der Zweite Weltkrieg begann; 41 Jahre sind nur ein zeitlicher Abstand; in der Kausalität der Geschichte gehören [sie, J.D.] logisch zusammen; am 1. September [...] könnte [...] eine neue Zeitrechnung beginnen; sich an die [...] "Freunde’ erinnern, von denen sie [...] 1939 verraten wurden; die Wende an der Weichsel als Meilenstein in der Geschichte Polens bezeichnen. Signalsyntagmen: 1655 bis auf einen Ort, das Kloster Tschenstochau, [...] ganz Polen erobern [...] damit eine ungeheure Widerstands- und Erneuerungskraft des polnischen Volkes auslösen. VI) Resümee Die Prädikation „Polen sind geschichtsbewußt“ ist in den analysierten Texten als erwartbar und typisch für die polnische Bevölkerung präsentiert. Es kommt keine Atypik vor. Die Kontinuität dieses Stereotyps läßt sich auch anhand literarischer und historischer Belege aufzeigen. Die im folgenden angeführten Zitate sollen auf die historischen Hintergründe dieses Stereotyps hinweisen. L. v. Zitzewitz vertritt die Meinung, daß der Durchschnittspole außergewöhnliche historische Kenntnisse besitzt (vgl. 1992, S. 88), und Torbus spricht von dem Polen sogar als von einem ‘homo historicus’. Nach seiner Ansicht kenne <?page no="193"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 193 ein Pole die Geschichte seines Landes bis ins Detail, und sogar bei normalen Unterhaltungen jongliere er mit diesem Wissen, als ob die Ereignisse erst gestern stattgefunden hätten (vgl. 1993, S. 19). Holzer findet jedoch, daß diese Fixierung der Polen auf die Vergangenheit und das beinahe demonstrative Zeigen ihrer nationalen Gefühle keine typisch polnischen Phänomene seien, sondern eher eine typische Haltung solcher Völker darstellen, „die keinen Grund haben, sich ihrer Geschichte zu schämen, die aber dieser Geschichte ständig beraubt werden, weil sie unter fremden Einfluß stehen und ihrer Zukunft nicht gewiß sein können“ (vgl. Holzer nach Kramer 1990, S. 12f ). Im Jahre 1805 beobachtete Johann Gottfried Seume die besondere Einstellung der Polen zur Vergangenheit: „Die Polen hängen mit Schwärmerei an dem Andenken vergangener Zeiten und ergreifen jeden Schimmer zur Hoffnung einer Auferstehung ihres Vaterlandes. Die Stimmung der Männer verdient Achtung, die über dem Grabe desjenigen trauern, was dem reinen Menschen das Heiligste auf der Erde ist.“ (Seume nach Kozielek 1989, S. 20). Die von Seume gezeigte Fixierung der Polen auf die Geschichte scheint auf eine ähnliche Art 100 Jahre später von Holzer gedeutet zu werden. Torbus meint, daß ein Pole sich mit seiner Geschichte vollkommen identifiziere und sie nicht als Geschichte Polens, sondern als eigene Geschichte betrachte. Wo die Ursachen „dieses erstaunlichefn] historischefn] Bewußtsein[s] und [der] damit verbundene[n] Kenntnis der eigenen Geschichte“ liegen könnten, versucht Torbus mit dem Verhalten der Regierenden, „die oftmals Informationen für sich behielten, Fakten verdrehten oder gänzlich manipulierten“, zu erklären (vgl. 1993, S. 19). Auch für Gatter ist die Vergangenheit in Polen lebendiger als anderswo. Er fügt hinzu, die Polen „können nicht nur nicht vergessen, sie wollen auch nicht vergessen. Durch die Jahrzehnte der Teilung und Fremdherrschaft bewahrten sie ihr ungebrochenes Nationalgefühl, weil sie die eigene Geschichte als Schatz und als Krankheit im Herzen trugen“. (1983, S. 8f.) Der polnische Zugang zur Geschichte ist nach Meinung von L. v. Zitzewitz ein besonderer. Die Polen betrachteten sie nämlich durch das Prisma der Werke, die im 19. Jahrhundert entstanden und zur ‘Stärkung der Herzen’ geschrieben wurden (vgl. 1992, S. 88). Diese Wahmehmungsperspektive schafft „ein weithin idealisiertes Bild von den edelmütigen, patriotischen und gottesfürchtigen Polen, die die Freiheit und die Demokratie liebten und sich für ihr Vaterland aufopferten; ein Bild, in dem die Polen entweder als Helden oder als Märtyrer auftraten, niemals als Täter“, (ebd., S. 90) Jaworski versucht in seiner Arbeit (1993) Unterschiede aufzulisten, die sich zwischen dem polnischen und dem deutschen Umgang mit der Geschichte beobachten lassen. Er kommt dabei anders als L. v. Zitzewitz, Torbus, Holzer und Gatter zu dem Schluß, daß der polnische Umgang mit der eigenen Vergangenheit einen zwanghaften Charakter besitzt, weil allseits „das Gefühl einer [...] spürbaren ‘Pression der Geschichte’, die durchaus auch als ein Ballast und als beengendes Korsett empfünden wird“ (S. 20) auftritt (s. auch Kap. 1.4). <?page no="194"?> 194 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Das ‘Geschichts’-Stereotyp gehört somit sicherlich zu den polnischen Autostereotypen. Die neuesten Ereignisse in Polen lassen jedoch die Vermutung zu, daß sich die geschichtliche Wahrnehmungsperspektive der Polen ändert und anstatt einer zwanghaften Beschäftigung mit der Vergangenheit eine souveräne Gegenwartsgestaltung und Zukunftsplanung entsteht. Davon könnte unter anderem die Parole „Wählen wir die Zukunft“ („Wybierzmy przysztosc“) zeugen, mit der an die polnische Bevölkerung auf den Wahlkampfplakaten von Aleksander Kwasniewski (1995) appelliert wurde. 5.12 Halblegales Beschafiungswesen I) Prädikation: „Im kommunistischen Polen herrscht ein halblegales Beschaffungswesen“ II) Illustrationsbelege: 1) Es ist jedesmal ein Wunder: der gedeckte Tisch bei polnischen Namenstagsfeiem. Schön dekoriert steht da, was es eigentlich nicht gibt: Gebratenes und Gesottenes, ja sogar Schinken und Wurst. Aber nicht nur zu Festen, auch im Alltag bringen die polnischen Hausfrauen bei der Ernährung ihrer Familie Wunder an Organisation und Einfallsreichtum zustande. Trotz der nun schon jahrelang andauernden und in diesem Jahr besonders spürbaren Versorgungskrise essen die meisten Polen nicht schlecht und durchaus nicht nur vegetarisch. Die „Organisation“ des Speiseplans braucht Glück und Zeit. Zeit aber haben die fast ausnahmslos berufstätigen polnischen Hausfrauen eigentlich nicht, es sei denn, sie können unter einem Vorwand ihre Arbeitsstelle verlassen. Viele tun das, was wiederum die Arbeitspläne durcheinanderbringt. Für viele Hausfrauen aber ist „Frau Kalbfleisch“ Haupteiweißlieferant und Lösung des Organisationsproblems. Unzählige Warschauer Familien haben „ihre“ Frau vom Lande, die regelmäßig mit einer großen Einkaufstasche voller Fleisch oder Wurst in die Wohnung kommt, meist mit Kalbfleisch, was es offiziell überhaupt nicht gibt. [...] Solche Preise werden ohne weiteres bezahlt, ganz zu schweigen von den horrenden Summen für Autos. Doch die Käufer sind gewiß nicht die Leute, die nur von ihrem Gehalt leben. (Frau Kalbfleisch hilft über die Fleischkrise, FR, 26.07.1980, FR072 601.TXT). 2) Hamsterkäufe haben die Regale geleert. Vor Geschäften, wo „Wqdliny“ angeschrieben steht, wo es also Fleisch und Wurst geben sollte, wartet kein Mensch. Nicht einmal im Zentrum der Hauptstadt gibt es in diesen Tagen auch nur einen Knochen zu kaufen, von Fleisch ganz zu schweigen. Aber es ist eigenartig: Die Freunde, die mich bewirten, servieren zunächst Schnitzel, dann, beim zweiten Mal, Hackbraten. Ein guter Bekannter lädt ins „Bazyliszek“ am Alten Markte ein, wo es wohlschmeckende Rouladen zu Buchweizen gibt. Andererseits: Für einen geplanten Kurzurlaub an der Küste findet er armselige zwei Dosen Fleischkonserven. Die streikenden Arbeiter in der Danziger Werft haben genügend Wurst, die Fluggesellschaft Lot bietet ihren Passagieren ausgesucht mageren Schinken an. In den Danziger Restaurants hingegen sind alle Fleischgerichte <?page no="195"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 195 von den Speisekarten gestrichen. (Das Volk hört eine neue Sprache, SZ, 25.08.1980, SZ082550.TXT). 3) Schonungsloser hätte auch ein Dissident Polens Wirklichkeit nicht zeichnen können: die Mängel an allen Ecken und Enden, Profitgier, Korruption, Gleichgültigkeit, Arbeitsunlust, Cliquenwirtschaft - und das alles gebündelt zu dem Euphemismus „sozialer Differenzierungen“, worunter im gegebenen Fall nur zu verstehen war, daß es sich die einen besser, die anderen gar nicht „richten“ konnten und ehrliche Arbeit dabei kaum eine Rolle spielte. (Arbeiter gegen Arbeiterpartei, SZ, 30 / 31.08.1980, SZ083002.TXT). 4) Die Lebensmittel werden ordentlich gekauft. („Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, SZ, 23724.08.1980, SZ082301.TXT), III) Zuordnung zur Funktion Die Prädikation „Im kommunistischen Polen herrscht ein halblegales Beschaffimgswesen“ wird in der westdeutschen Presse in der Zeit des polnischen Sommers 1980 nicht oft thematisiert, wovon die Zahl der im Illustrationsteil angeführten Belege zeugt (vier Belege). Der Aussage- und Handlungsgehalt dieser Prädikation ist ideologiebezogen und stellt am Beispiel Polens das Geschick und die Gewitztheit der Bürger der sozialistischen Länder dar, sich das zu beschaffen, was sie brauchen. Die Belege (1) und (3) drücken das Stereotyp ‘mit Geschick Waren beschaffende Polen’ relativ explizit aus. In Beleg (3) werden Phänomene dafür angeführt, wie man durch Profitgier, Korruption und Cliquenwirtschaft höchsten Gewinn für sich erzielen kann. Das Streben nach materiellen Gütern findet seinen Ausdruck in der Formulierung es sich richten können. Als polnische Alltagserscheinungen werden auch Gleichgültigkeit und Arbeitsunlust angeführt. Beleg (1) stammt aus einem Text, dessen zentrales Thema das ‘Organisieren’ im Sinne von sich etwas „auf eine nicht ganz korrekte Weise beschaffen“ ist (Duden Deutsches Universalwörterbuch 1989, S. 1106). Das ‘Organisieren’ wird in Beleg (1) am explizitesten genannt. Es wird zusätzlich im Text durch Anführungsstriche markiert, was ein Hinweis auf seine euphemistische Verwendung ist. Dem westdeutschen Leser wird in Beleg (1) gezeigt, auf welche Art und Weise die Polen an die notwendigen Waren trotz der Knappheit und Krise im Lande gelangen können. In Beleg (2) wird die mehr oder weniger illegale Selbstversorgung implizit zum Ausdruck gebracht. Es wird als ein unerklärliches Wunder dargestellt, daß trotz der leeren Fleischgeschäfte die Polen über volle Fleisch-Töpfe verfügen (s. auch Kap. 3.4 4.2). Belege (1) und (2) unterscheiden sich von (3) besonders dadurch, daß in ihnen das Organisationstalent der polnischen Bevölkerung hervorgehoben wird (Wunder an Organisation und Einfallsreichtum zustandebringen), während in Beleg (3) eine kritische Haltung gegenüber denen zum Ausdruck kommt, die sich skrupellos bereichern und in ihre eigene Tasche wirtschaften. Die ersten zwei Belege zeigen außerdem die Notsituation der Polen (leere Regale; hör- <?page no="196"?> 196 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck rende Preise; Versorgungskrise), die eine Legitimation für das ‘Beschaffen und Organisieren der Waren’ im sozialistischen Polen darstellt. Das in Beleg (1) verwendete Syntagma die Käufer sind gewiß nicht die Leute, die nur von ihrem Gehalt leben deutet außer der schwierigen wirtschaftlichen Lage auch die unterschiedlichen Beschaffungsmethoden im sozialistischen Polen vom legalen Zweitjob bis zum illegalen Erwerb an. Der Beleg (3) hingegen verallgemeinert stärker und zeigt eine umfassende Kritik an den Polen, die gewissenlos den eigenen Vorteil suchen. In Beleg (4) wird eine Selbstverständlichkeit thematisiert, die beim Leser eine besondere Aufmerksamkeit hervorruft (s. Kap. 3.4.2.1). Die Frage, warum diese Selbstverständlichkeit überhaupt im Text ausgedrückt wird, läßt sich damit erklären, daß sich die Polen in der Zeit der Berichterstattung anders, das heißt nicht in Einklang mit der vorliegenden Erwartung, also atypisch verhalten. Das als gesellschaftliche Norm geltende ordentliche Kaufen scheint in bezug auf Polen normalerweise unadäquat zu sein. Das Stereotyp wird somit mittels der Atypik realisiert. Dabei gilt das erwartete ‘nicht ordentlich Kaufen’ als Euphemismus für das illegale Beschaffen. Das illegale Beschaffen läßt beim Leser ein breites Interpretationsspektrum zu, das vom Schwarzhandel, Abzweigen, Einkäufen unter dem Ladentisch bis hin zum Diebstahl reicht. In diesem Beleg wird das Stereotyp implizit und tabuisiert verwendet, weil sein Aussage- und Handlungsgehalt heikel ist und äußerst negativ behaftet: ordentlich impliziert hier die Bedeutung von ‘Die Polen beschaffen illegal’. Somit wird den Polen hier nicht mehr nur ‘halblegales’, sondern ‘illegales Beschaffen’ unterstellt und anders als in den Belegen (1) bis (3) wird Beleg (4) tabuisiert. In bezug auf die Kriterien der Ideologie- und der Nationbezogenheit kann man sagen, daß das Stereotyp „Im kommunistischen Polen herrscht ein halblegales Beschaffungswesen“ als für alle Ostblockstaaten zutreffend angenommen werden kann. IV) Medienspezifik und Textsortenverteilung Das Stereotyp „Im kommunistischen Polen herrscht ein halblegales Beschaffungswesen“ wird in der westdeutschen Presse ausschließlich in der FR und in der SZ realisiert. Sein Vorkommen in der FAZ ließ sich im untersuchten Korpus nicht belegen. Dieses Stereotyp gehört im Sommer 1980 nicht zu den zentralen Themen der westdeutschen Berichterstattung. Es wird meistens peripher versprachlicht. Einmal macht es die FR jedoch zum zentralen Thema des Textes. Das Stereotyp läßt sich ausschließlich in der Textsorte Bericht und Kommentar belegen. <?page no="197"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 197 V) Zur lexikalischen und syntagmatischen Realisierung Nomina: Wunder (2x); Organisation; „Organisation“; Organisationsproblem; Einfallsreichtum; J'rau Kalbfleisch“; Profitgier; Korruption; Cliquenwirtschaft; Hamsterkäufe (2x); Versorgungskrise. Adjektive: eigenartig. Verben: sich „richten“. Nominale Syntagmen: Lösung des Organisationsproblems; „Organisation“ des Speiseplans; leere Regale; Mängel an allen Ecken und Enden. Verbale Syntagmen: sich besser, oder gar nicht „richten“ können; ehrliche Arbeit spielt kaum eine Rolle; dastehen, was es eigentlich nicht gibt; Wunder an Organisation und Einfallsreichtum zustandebringen; nicht schlecht und durchaus nicht nur vegetarisch essen; Glück und Zeit brauchen; unter einem Vorwand die Arbeitsstelle verlassen; Arbeitspläne durcheinanderbringen; „ihre“ Frau vom Lande haben, die regelmäßig mit einer großen Einkaufstasche voller Fleisch oder Wurst in die Wohnung kommt, meist mit Kalbfleisch, was es offiziell überhaupt nicht gibt; hohe Preise ohne weiteres bezahlen, ganz zu schweigen von den horrenden Summenfür Autos; nicht nur von seinem Gehalt leben; nicht einmal [...] auch nur einen Knochen kaufen können, von Fleisch ganz zu schweigen; alle Fleischgerichte von den Speisekarten streichen; ordentlich kaufen. VI) Resümee Das Stereotyp „Im kommunistischen Polen herrscht ein halblegales Beschaffungswesen“ ist ein ideologiebezogenes Stereotyp, d.h., man kann davon ausgehen, daß es auf alle Länder des Ostblocks angewendet werden kann. Das ‘mehr oder weniger legale Beschaffen von Waren’ wird in den Texten als eine <?page no="198"?> 198 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck nötige Überlebensstrategie im Sozialismus legitimiert. Daß die hier thematisierte ‘relative Gleichgültigkeit der Polen gegenüber den Grenzen der Legalität’ nicht nur ein nationbezogenes Stereotyp ist, läßt sich anhand eines Textes belegen, der im Jahre 1978 in der DDR entstand und dem das Autostereotyp des ‘halblegalen Beschaffungswesens’ zugrunde liegt. Der Text heißt „Ist der Zement noch zu retten? “. Er stammt aus einem Band des Herder-Instituts „Wir diskutieren“ und ist zum Sprachunterricht für die deutschlernenden Ausländer bestimmt. Es wird eine Unterrichtsstunde dargestellt, in die eine Erzählung eingebaut ist. Die Erzählung zeigt das Dilemma des ‘Organisierens’ am Beispiel der Zementsäcke auf einer DDR-Baustelle, wo „mangelnde Ordnung und Disziplin“ herrschen. Es werden zwei Männer präsentiert, von denen der eine die stehengelassenen Zementsäcke ‘retten’ und der andere sie ‘verderben lassen’ will. Einer von ihnen meint: „[...] beim Kapitalisten würde so etwas kaum Vorkommen, der ließe sich sein Eigentum auf diese Weise nicht verderben.“ Diese Aussage verdeutlicht die auf der Baustelle herrschende Mißwirtschaft, die aus der Zugehörigkeit des Landes zu einem ideologischen System und aus einem anderen Umgang mit dem Eigentum als im Kapitalismus resultiere. Das Dilemma des ‘Organisierens’ wird als typisch für den Sozialismus betrachtet. Das ‘Beschaffen’ von Zement wird folgendermaßen beschrieben: „Man müsse den Baustoff irgendeinem nützlichen Zweck zuführen. Viele Leute könnten Zement gebrauchen, zumal er nichts koste oder kaum was koste, für Wege in ihren Gärten, für Zaunpfähle, für Datschenfündamente und dergleichen mehr. Ja, ja ereiferte sich der Mann, das sei vernünftig und keinesfalls Diebstahl, denn was dem Verderb preisgegeben werde, sei abgeschrieben, sei verloren. So aber sei es nicht verloren. Schließlich sei das, was hier verderbe, Eigentum aller.“ (Görlich 1978, S. 47ff In: Günter/ Kirsch/ Löschmann 1985, S. 83f). Das Recht auf Eigentum aller an allem wird hier als eine Rechtfertigung der illegalen Beschaffüng von Zement angeführt. Somit wird das gemeinsame Eigentum die Voraussetzung für das ‘Organisieren’ und ‘Beschaffen’ im Sozialismus. Der Text stellt auch eine an die angeführte Episode anschließende Diskussion in der Unterrichtsstunde dar, die die Reichweite des Stereotyps noch unterstreicht. Eine Gruppe von Schülern lehnte das ‘Beschaffen’ ab: „Sie hatten schon Erfahrungen in dieser Hinsicht; andere stellten sich voll auf die Seite des Praktischen. Und auch sie hatten anscheinend ihre Erfahrungen oder die ihrer Eltern.“ (ebd.). Die Beschreibung zeigt, daß das ‘Organisieren’ als allgemeinbekanntes Phänomen im Sozialismus eingestuft wird (sie hatten schon Erfahrungen in dieser Hinsicht; sie hatten anscheinend ihre Erfahrungen oder die ihrer Eltern). <?page no="199"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 199 5.13 Mißwirtschaft Die Erläuterung dieses Stereotyps wird nachfolgend zweifach untergliedert, und zwar wird zum einen die ‘kommunistische Mißwirtschaft in Hinblick auf das ökonomische System’ und zum zweiten ‘in Hinblick auf das politische System (kommunistische Fehlpolitik)’ dargestellt. In einzelnen Belegen stehen beide Stereotype in enger Berührung. 5 .13.1 Mißwirtschaft in Hinblick auf das ökonomische System I) Prädikation: „In Polen herrscht kommunistische Mißwirtschaft in Hinblick auf das ökonomische System“ Die zitierten Belege werden in zwei Untergruppen präsentiert, die letztlich zwar dasselbe Ziel erreichen, aber eine andere Darstellungstechnik aufweisen. Die erste Untergruppe bilden die Belege von (1) bis (19), die die Form generalisierter Feststellungen (allgemeiner Statements) über die ‘kommunistische Mißwirtschaft in Hinblick auf das ökonomische System’ haben, die zweite (Belege (20) bis (31)) bringt eine Konkretisierung der krisenhaften Erscheinungen zum Ausdruck, und zwar im Sinne der Nennung offensichtlicher äußerer Merkmale, die typisch für die Krise sind {Schlangen; Hamsterkäufe). Diese Konkretisierung negativer wirtschaftlicher Phänomene in der Untergruppe II ist plastischer als allgemeine Statements der Untergruppe I, weil sie dem Leser sofort ins Auge springt und dadurch überzeugender als eine allgemeine Beschreibung wirkt. II) Illustrationsbelege: Untergruppe I 1) Der Bürgerschaftsbetrag sei nur ein Tropfen auf einen heißen Stein nach ständigen Fehlleistungen sozialistischer Planwirtschaft. (Kohle aus Polen, FAZ, 19.08.1980, FZ081902 . TXT). 2) Im Ergebnis wird der Abstand gegenüber freiheitlichen Wirtschaftsordnungen immer größer, und zwar in Produktivität und auch Produktionsqualität. Unzureichende und falsche Wirtschaftlenkung führt zu Leerlauf und falschem Aufbau des Produktionsapparats. Unterversorgung der Bevölkerung und mangelnde Konkurrenzfähigkeit auf den Weltmärkten sind die Folgen. Es fehlen zunehmend Devisen, um dringende Einfuhren zu bezahlen. Polen ist ein weiteres trauriges Beispiel für eine solche Entwicklung. [...] Während aber in den Marktwirtschaften aufgrund ihrer großen Flexibilität die teurer gewordenen Brennstoffe sofort wieder an die Stellen geleitet werden, wo sie am dringendsten gebraucht werden, müssen in der zentral geplanten Wirtschaft aufgrund der Schwerfälligkeit die Reibungsverluste noch größer werden. (In Polen wird Karl Marx widerlegt, FAZ, 21.08.1980, FZ082116.TXT). <?page no="200"?> 200 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 3) In einer zentralen Planwirtschaft wie jener Polens werden Investitionen normalerweise mit dem nationalen Einkommen finanziert. [...] Der folgende Boom an Investitionen aber brachte schließlich Spannungen am Arbeitsmarkt mit sich vor allem bei Industrie- und ungelernten Arbeitern. Außerdem verschärfte sich die Situation durch eine regional ungleiche Verteilung der Wirtschaftsentwicklung. Der Arbeitsmarkt wurde schließlich zum Markt der Arbeiter mit allen negativen Konsequenzen. (Kleiner Zuwachs, FR, 26.07.1980, FR072603.TXT). 4) Der polnischen Führung warf Kuroh totales Versagen vor. In allen Lebensbereichen sei durch „fortschreitende Planlosigkeit und Inkompetenz ein solches Desaster entstanden, daß dem Durchschnittspolen seine Verhältnisse unerträglich erscheinen“. (Kuroh sieht Desaster, FR, 4.08.1980, FR080401.TXT). 5) Nach seiner [Matthias Wissmann - Vorsitzender der jungen Union und der europäischen Union Junger Christdemokraten, J.D.] Ansicht haben die Streiks in Polen deutlich gemacht, daß ein planwirtschaftliches System die Bedürfnisse der Menschen niemals erfüllen kann. (SPD warnt vor Gewalteinsatz, FR, 22.08.1980, FR082210.TXT). 6) Dazu [zu einer Krise in Polen, J.D.] haben Jahre von nicht durchdachten wirtschaftlichen Entscheidungen, das Vertrauen der Führung in die eigene Unfehlbarkeit, das Nicht-Einhalten von Versprechungen, das Ersticken von Kritik, die Mißachtung der Bürgerrechte geführt. Noch einmal hat sich gezeigt, daß man die polnische Nation nicht regieren kann, ohne ihre Stimme zu hören. („Niemand kann überrascht sein“, FR, 22.08.1980, FR082203.TXT). 7) Die politischen Zwänge zum Ausgleich der Zahlungsbilanz erlaubten es nicht mehr, Konsumwünsche über den Import zu befriedigen. Selbst die notwendigen immensen Getreideimporte sind kaum finanzierbar. Sie müssen aber getätigt werden, da die weitgehend aus kleinen unrentablen Privathöfen bestehende und stagnierende Landwirtschaft allein die Ernährung der 35-Millionen-Bevölkerung nicht sicherstellen kann. (Viel Geld und wenig Waren, FR, 25.08.1980). 8) In der Wirtschaft werde häufig gegen den gesunden Menschenverstand gehandelt, schreibt der Chefredakteur des Blattes und Mitglied des KP-Zentralkomitees Rakowski. (Scharfe Kritik an Polens Wirtschaft, SZ, 7.07.1980, SZ070702.TXT). 9) Es könne aber nicht angehen, daß durch „sozialistische Mißwirtschaft“, die sozialistischen Länder, vor allem auch Polen, sich immer mehr verschuldeten und die Sowjetunion sich weigere, dem „Brudervolk“ zu helfen. (Giereks Warmmgen verhallen ungehört Streikwelle breitet sich weiter aus, SZ, 20.08.1980, SZ082051. TXT). 10) Wie keine andere Stadt ist gerade Danzig geeignet, alle Übel der polnischen Wirtschaft und alle Unfähigkeit der staatlichen Planbürokratie vorzuführen. („Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, SZ, 23./ 24.08.1980, SZ082301. TXT). 1 l)Über Gierek verbreiteten dessen Herolde nach fünf Jahren schwärmerisch, er sei der neue polnische Kazimierz der Große, der im 14. Jahrhundert Städte, Dörfer, die Krakauer Akademie, gegründet hatte. Baute jener ein Polen in Stein, so wollte dieser eines in Gußstahl errichten. Aber dieser hochempfindliche Industrieapparat ist einer Admini- <?page no="201"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 201 stration ausgeliefert, die von der Sensibilität eines Dinosauriers ist. Seit Jahren sind die Defekte zu besichtigen, die durch Unfähigkeit und Ignoranz entstanden und durch die Dauerkrise der Weltwirtschaft noch verstärkt worden sind. (Das Volk hört eine neue Sprache, SZ, 25.08.1980, SZ082550.TXT). 12) Wirtschaftete Gomulka zu vorsichtig, so daß Polen in seiner Entwicklung sogar innerhalb des Ostblocks auf die unteren Ränge fiel, so war Gierek zu wagemutig; er überschätzte Polens Kräfte und die Möglichkeiten, die eine sozialistische Planwirtschaft und die Bedingungen der von Moskau gesteuerten östlichen Wirtschaftsgemeinschaft rgw für die Entfaltung des Wohlstands bieten konnten. (Moskaus Hand in Warschau, SZ, 8.09.1980, SZ090860.TXT). 13) Polen hat derzeit enorme Schwierigkeiten. Innenpolitisch steht die Regierung unter dem Zwang, eigentlich Preisanhebungen verordnen zu müssen, um den Konsum und dabei vor allem den Fleischverbrauch einzudämmen. Andererseits kann man sich diesen Schritt aber nicht leisten, weil der Widerstand in den Fabriken groß ist: Streiks völlig „unsozialistisch“ flackern immer wieder auf. (Bei Giereks Besuch geht es um viel Kohlen, FR, 13.08.1980, FR081301.TXT). 14) „Gebt uns Brot! Dajcie Chleba! “ steht in etwa zehn Zentimeter hohen weißen Lettern an der roten Backsteinmauer der Lenin-Werft. Aber es geht nicht ums Brot allein, sondern um die Emährungslage insgesamt und um den Lebensstandard. („Wir wollen Brot, wir wollen Auto fahren“, FR, 18.08.1980, FR081805 . TXT). 15) Hinter der auf lange Sicht unlösbar scheinenden polnischen Fleischmisere verbergen sich umfassende wirtschaftliche Probleme. Deren drei Schwerpunkte sind die Investitionspolitik, die Schwierigkeiten mit der Zahlungsbilanz sowie die mit ihrer Kleinhöfestruktur völlig unzulängliche Landwirtschaft. [...] Außerdem schwoll zwischen 1970 und 1980 der Geldumlauf stark an. Allein die durschnittlichen Monatslöhne erhöhten sich von 2400 auf 5500 Zloty, was das Mißverhältnis zwischen Warenangebot und Geldmenge permanent verschlimmerte. Dieser Trend scheint noch nicht gestoppt: Auch im ersten Halbjahr 1980 stiegen die Einkommen der Bevölkerung schneller als die Warenproduktion. Diese negative Entwicklung - Ursache der starken Inflation dürfte durch die den Streikenden versprochenen Lohnerhöhungen sowie den durch die Streiks bedingten Produktionsausfall anhalten. (Viel Geld und wenig Waren, FR, 25.08.1980, FR082511.TXT). 16) Die Krise der polnischen Wirtschaft kommt nicht überraschend. Es handelt sich um eine Dauerkrise, deren Verschärfung schon im Frühjahr angekündigt wurde. (Der polnische Sommer, SZ, 22.07.1980, SZ072202.TXT), 17) In einem von der Londoner Zeitung „Guardian“ veröffentlichten Artikel meinte Kuron, die Wirtschaft Polens sei „im Zustand des Zerfalls. [...] Die Streiks spiegeln die wirtschaftliche Pleite und den Mangel jeglichen Vertrauens in die Fähigkeit der Führung wider, eine Lösung zu finden“. (Verhandlungsfuhrer ausgewechselt, SZ, 22.08.1980, SZ082252.TXT). 18) Den erhöhten Löhnen steht nicht nur kein vergrößertes Warenangebot gegenüber, sondern auch weiterhin sind gefragte Artikel allzuoft knapp oder gar ausverkauft. Das trifft <?page no="202"?> 202 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck vor allem auf Autos, Farbfernseher und Unterhaltungselektronik zu. Aber selbst gängige, gute Lebensmittel sind selten im ganzen Land ausreichend zu bekommen. (Nur Schaum aufgefrillt, FR, 9.08.1980, FR080901.TXT). 19) Ein Eisenbahnzug wird am Sonntag leer nach Polen fahren, um rund 600 Reisende an der Polnischen Küste wieder in die Bundesrepublik zurückzubringen. Die eingeschränkte Versorgung mit Lebensmitteln und Treibstoff sei den Gästen nicht zuzumuten, erklärte ein Sprecher. (Ausländische Journalisten behindert, SZ, 23 / 24.08.1980, SZ082351.TXT). Untergruppe II 20) In den Geschäften ist mittlerweile Fleisch eine echte Rarität geworden. Hingegen gibt es genügend Brot, Obst, Gemüse und Konserven. Die Hausfrauen sind sechs Stunden pro Tag unterwegs, um fürs Abendessen einzukaufen. Auch Geld wird in manchen Familien knapp, denn die Streikenden erhalten keinen Lohn. (Unerschüttert halten sie an den 21 Forderungen fest, FR, 28.08.1980, FR082809.TXT). 21) Die Menschen in den langen Schlangen in der Fleischabteilung des Warschauer Kaufhauses „Supersam“ sind von explosiver Gereiztheit. Bis zu vier Stunden müssen sie anstehen, um ein Stück Fleisch, das zum offiziellen, staatlich subventionierten Preis von rund 40 Zloty je Kilogramm (rund drei Mark) verkauft wird. In den sogenannten „kommerziellen Läden“, in denen Fleisch und andere Erzeugnisse zum doppelten und noch höheren Preis als in den normalen Billigläden verkauft werden, sind die Menschenschlangen kaum viel kürzer. (Schwere Zeiten für Polen, FAZ, 9.07.1980, FZ070901.TXT). 22) Auch in der polnischen Hauptstadt ist inzwischen eine Tendenz zu Hamsterkäufen festzustellen. Vor Tankstellen bildeten sich auch am Freitag Hunderte von Metern lange Autoschlangen. Die Schlangenbildung vor den Tankstellen der Hauptstadt am Donnerstagnachmittag und -abend war in amtlichen Medienberichten auf Panikreaktion auf das Ausfallen einiger Tankstellen und zweier sie versorgender Benzinlager durch Stromausfall nach einem schweren Gewittersturm zurückgeführt worden. (Ein erster Schritt zu Verhandlungen, FAZ, 23.08.1980, FZ082303.TXT). 23) Die Versorgung mit Lebensmitteln gehe zwar einigermaßen reibungslos weiter, doch durch die sich häufenden Hamsterkäufe drohe die Lage von Tag zu Tag prekärer zu werden. (Arbeiter verlangenMehrparteien-System, FAZ, 23.08.1980, FZ082308 .TXT) 24) Die DDR gilt noch immer als das Ostblockland mit dem höchsten Lebensstandard, doch waren besonders in den ersten Jahren des visafreien Grenzverkehrs die Masseneinkäufe von Polen in der ddr auf Verärgerung gestoßen. Reibereien zwischen DDR-Bürgern und Polen, die in der ddr Einkäufe machten, gab es schon im ersten Jahr der Besuchsregelung. (DDR-Bürger müssen in Zukunft Mindestbeträge Umtauschen, FR 18.06.1980, FR0 61801. TXT). 25) Das Mehr an Geld dürfte bei dem geringen Warenangebot in Polen jedoch zu weiterer Verknappung und längeren Schlangen vor vielen Geschäften führen. Weitere Schwie- <?page no="203"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 203 rigkeiten scheinen nahezu unvermeidlich. (Polnische Zwänge, FR, 21.08.1980, FR082160.TXT). 26) Neben freien Gewerkschaften verlangen die Streikenden, deren Aktionen sich entlang der gesamten polnischen Ostseeküste erstrecken und die nach offiziellen Angaben zu Hamsterkäufen der Bevölkerung geführt haben, Streikrecht und Pressefreiheit. (Warschau: Neuer Unterhändler, FR, 22.08.1980, FR082208 . TXT). 27) Es wurden aber zunehmende Angstkäufe registriert. Am Nachmittag wuchsen die Warteschlangen vor Lebensmittelgeschäften beträchtlich über das übliche Maß hinaus. Aus Furcht vor Versorgungsunterbrechungen entschlossen sich viele Hausfrauen zu Großeinkäufen von Brot, Mehl und Kartoffeln. Ehemänner versuchten zur gleichen Zeit, vor der „großen Krise“ noch einmal vollzutanken und blockierten mit ihren wartenden Autos die Anfahrt zu den Warschauer Tanksäulen. Seit Donnerstagabend bildeten sich vor den Tankstellen kilometerlange Schlangen. Es wurde kein Benzin in Kanister gegeben, sondern nur direkt in die Tanks der Autos. (Angstkäufe in den Läden und Tankstellen der Hauptstadt Warschau, FR, 23.09.1980, FR092301. TXT). 28) Fleisch ist in Polen zur Mangelware geworden. Offiziell sind drei fleischfreie Tage verordnet worden, an denen in den Kantinen und Restaurants keine Fleischgerichte auf der Speisekarte stehen. Aber auch an anderen Wochentagen gibt es meist nur Hackfleischgerichte. Sobald ein Lieferwagen beispielsweise Schinken oder Kasseler anliefert, bilden sich lange Käuferschlangen vor dem Geschäft, bevor überhaupt der Verkauf begonnen hat. („Wir wollen Brot, wir wollen Auto fahren“, FR, 18.08.1980, FR0 81805. TXT). 29) In der Sendung war von Hamsterkäufen, Warteschlangen vor Tankstellen und Schwierigkeiten beim Betrieb der Elektrizitäts-, Wasser- und Gaswerke sowie beim Krankentransport die Rede. (Streik in Polen ungebrochen, FR, 18.08.1980, FR0 818 01. TXT). 30) Versorgungslücken als Folge der Streikbewegung werden in Polen jetzt deutlich fühlbar. So berichtete der Rundfunk Lodz über lange Schlangen vor Bäckereien, auch Gemüse werde knapp. (Schlesische Bergarbeiter traten in den Ausstand, FR, 30.08.1980, FR0 83004. TXT). 31) In Stettin, Gdingen, Zoppot, Danzig und Elbing nehmen die Hamsterkäufe der Bevölkerung dramatisch zu. (Warschau wechselt den Verhandlungsführer zur Beilegung der Streiks in Danzig aus, SZ, 22.08.1980, SZ082253.TXT). III) Zuordnung zur Funktion Das Stereotyp ‘kommunistische Mißwirtschaft in Polen’ enthält eine starke evaluative Komponente. Die negative emotionale Wertung findet hier ihren Ausdruck in den lexikalischen Mitteln (s. Signalwörter in V). Die Abneigung gegen das sozialistische Wirtschaftssystem und die Auseinandersetzung mit ihm findet in mehreren Belegen explizit und nicht tabuisiert ihren Niederschlag. Das Stereotyp ‘kommunistische Mißwirtschaft in Polen’ ist ideologiebezogen, in den Texten wird es meistens als typisch behandelt; seine atypische Verwendung ist seltener, läßt sich aber ebenfalls beobachten. In der westdeut- <?page no="204"?> 204 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck sehen Presse 1980 kommt dieses Stereotyp oft zum Ausdruck, wobei es auch häufig zu den zentralen Textthemen gehört. Eine besonders interessante Formulierung des Stereotyps finden wir in Beleg (10), in dem das Syntagma polnische Wirtschaft zwei Bedeutungen haben kann, und zwar einerseits als ideologiebezogenes Stereotyp ‘kommunistische Mißwirtschaft in Polen’ und zweitens im Sinne der idiomatischen Wendung, in der Bedeutung ‘Schlamperei, Durcheinander, Unordnung’. In der ersten Bedeutung liegt die Abwertung im Syntagma ‘kommunistische Mißwirtschaft’, und polnisch hat hier die neutrale Bedeutung ‘in Polen’. In der zweiten Bedeutung kommt die Abwertung im Lexem polnisch zum Ausdruck und steht für ‘schlampig, liederlich’. Diese letzte Verwendung des nationbezogenen Stereotyps hat eine lange Tradition, worauf im Folgenden noch eingegangen wird (s. Kap. 5.13.2 Punkt VI). Die Belege (1) bis (19) sowie (20) bis (31) stellen eine explizite Vermittlung des Stereotyps dar, das mit Hilfe der Signalwörter (vgl. unten Teil V) versprachlicht wird. Die Klassifizierung der angeführten Belege in zwei Untergruppen von (1) bis (19) und von (20) bis (31) ergibt sich aus zwei Gründen: zum einen besitzen die in der ersten Untergruppe präsentierten Belege eher den Charakter von allgemeinen Statements über die schlechte wirtschaftliche Lage in Polen (z.B. die Lage ist schwer/ schwierig, in Polen herrscht die (Dauer-)Krise/ Versorgungskrise etc.). Zum zweiten lassen sich in der Untergruppe II eher assoziative Bilder beobachten, die zwar eine andere Art der Darstellungstechnik im Vergleich mit der Untergruppe I verwenden, aber in gleicher Weise zur Übernahme des Stereotyps von der ‘kommunistischen Mißwirtschaft in Polen’ auffbrdern. In der Untergruppe II werden Details der schlechten wirtschaftlichen Lage in Polen aufgegriffen und bildhaft geschildert. So wird an dieser Stelle von Hamster-, Angst- und Massenkäufen oder auch von den langen/ längeren Schlangen, Autoschlangen, Warteschlangen, Käuferschlangen hauptsächlich vor den Fleischgeschäften gesprochen (vgl. auch Teil V). Die Darstellung der wirtschaftlichen Lage wird dadurch bedingt, daß die objektive Realität in Polen Elemente der Krise beinhaltet und dementsprechend durch Signalwörter beschrieben wird. Daraus ergibt sich, daß die faktisch in Polen herrschende schlechte wirtschaftliche Lage der Hauptaspekt dieses Stereotyps ist. IV) Medienspezifik und Textsortenverteilung Die ‘kommunistische Mißwirtschaft in Polen in Hinblick auf das ökonomische System’ wird in der westdeutschen Presse sowohl explizit als auch implizit thematisiert. Mit dem Thema beschäftigen sich alle drei Tageszeitungen, die Zahl der Belege liegt um die 100. Somit ist dieses Stereotyp eines von denen, die am häufigsten versprachlicht werden. Das Stereotyp ist ideologiebezogen und bildet eine Prämisse für die westdeutsche Berichterstattung. Es wird bei den Lesern eigentlich präsupponiert, woraus sich möglicherweise seine häufi- <?page no="205"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 205 ge implizite Realisierung ergibt. Die ‘kommunistische Mißwirtschaft in Polen’ ist sowohl zentral als auch peripher in den Texten erkennbar. Das Stereotyp tritt in allen Textsorten, in denen die Thematisierung des polnischen Staates vorkommt, d.h. in den Berichten, Kommentaren und Meldungen auf. Im Vergleich mit der SZ und der FR wird es vorrangig in der FAZ thematisiert. Das Stereotyp ‘kommunistische Mißwirtschaft in Hinblick auf das ökonomische System’ ist fast so häufig wie das in Kap. 5.13.2 besprochene Stereotyp ‘kommunistische Fehlpolitik’ thematisiert. Statistische Unterschiede ergeben sich zwischen den jeweiligen Tageszeitungen; die schlechte wirtschaftliche Lage Polens wird häufiger in der FR und SZ als in der FAZ zum Ausdruck gebracht. Das Stereotyp wird vorrangig peripher in die Textstruktur eingebettet. Wegen seiner hohen Frequenz erhält es jedoch eine der zentralen Funktionen in der Berichterstattung dieses Zeitraums. V) Zur lexikalischen und syntagmatischen Realisierung Signalwörter: Nomina: Fehlleistungen; Leerlauf; Mißwirtschaft; Übel; Unfähigkeit (2x); Defekte; Ignoranz; Pleite; Zerfall; Bankrott; Unterversorgung; Schwerfälligkeit; Reibungsverluste; Versagen; Desaster; Planlosigkeit; Inkompetenz; Inflation (2x); Nachfrageüberhang; Qualitätsverschlechterung; Schwierigkeiten (12x); Engpässe; Krise (7x); Wirtschaftkrise; Führungskrise; Dauerkrise (2x); Versorgungskrise; Probleme; Zahlungsunfähigkeit; Klemme; Versorgungsschwierigkeiten (2x); Fleischmisere; Lebensmittelverknappung; Rezession; Mißernte; Mangel (3x); Treibstoffmangel; Krankheitserscheimngen; „Überhitzung; Verknappung; Schlangen (10x); Warteschlangen (3x),- Käuferschlangen (2x); Menschenschlangen; Autoschlange; Schlangenbildung; Hamsterkäufe (10x); Masseneinkäufe; Panikreaktion; Angstkäufe; Vorräte; Großeinkäufe; Versorgungsunterbrechungen; Mangelware; Versorgungslükken. Adjektive: knapp (12x); schwierig (11 x); kompliziert (3x); falsch (2x); gestört (3x); unzureichend; mangelnd; bankrott; negativ; unerträglich; unrentabel; stagnierend; unzufrieden; zu vorsichtig; zu wagemutig; deprimierend; miserabel; unerfreulich; schlecht; ausverkauft; schwach; anfällig; unzulänglich; permanent; rücksichtslos; gravierend; verwickelt; vertieft; eingeschränkt; prekär. <?page no="206"?> 206 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Verben: fehlen (2x); sich verschärfen; sich verschulden; stören; schrumpfen; sinken, verschlechtern (4x); rationieren; mangeln; gefährden; verschlimmern; anstehen (2x); sich eindecken (2x). Nominale Syntagmen: Kollokative Einbettung von Signalwörtern: ständige Fehlleistungen sozialistischer Planwirtschaft; unzureichende undfalsche Wirtschaftslenkung; Leerlauf undfalscher Aufbau des Produktionsapparats; mangelnde Konkurrenzfähigkeit; wirtschaftlich, politisch und moralisch bankrottes System; Spannungen am Arbeitsmarkt; negative Konsequenzen; fortschreitende Planlosigkeit und Inkompetenz; die Mißachtung der Bürgerrechte; kleine unrentable Privathöfe; stagnierende Landwirtschaft; unzufriedene Arbeiter; sozialistische Mißwirtschaft; alle Übel der polnischen Wirtschaft; alle Unfähigkeit der staatlichen Planbürokratie; miserable/ schwierige/ schwierige wirtschaftliche Lage; am Rand des Bankrotts; wirtschaftliche/ große/ enorme Schwierigkeiten; Behebung der gravierenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten; Schwierigkeiten wegen der wirtschaftlichen Lage; zusätzliche Schwierigkeiten bei der Versorgung; das Nicht-Einhalten von Versprechungen; Qualitätsverschlechterung der Produkte; die Krise der polnischen Wirtschaft; schwere Krise (2x); gegenwärtige/ große Krise; wirtschaftliche Krisenerscheinungen; in der Krise sein; ohnehin schwache Wirtschaft des Landes; Therapiefür die kranke und anfällige Wirtschaft; materielle und wirtschaftliche Probleme; wirtschaftliche Pleite; umfassende wirtschaftliche Probleme; schwierige Lage; außerordentlich schwierige Wirtschaftslage; Krankheitserscheinungen in unserer Wirtschaft und im gesellschaftlichen Leben; die Krise der polnischen Wirtschaft; <?page no="207"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 207 Verschlechterung der politischen Lage; völlig unzulängliche Landwirtschaft; weitere Verschlechterung der Versorgung; Engpässe bei Brot und Butter; eingeschränkte Versorgung/ Versorgung mit Lebensmitteln und Treibstoff; akuter Treibstoffmangelzunehmende Versorgungsschwierigkeiten. längere Schlangen; lange Schlangen (4x)/ Warteschlangen/ Autoschlangen/ Käuferschlangen (2x); kilometerlange Schlangen; geringes Warenangebot; angespannte Lage. Signalsyntagmen: die Regale leeren; überproportionale Einkommenssteigerungen; regional ungleiche Verteilung der Wirtschaftsentwicklung; nicht durchdachte wirtschaftliche Entscheidungen; durch volksweite Eruptionen gefährdete Wirtschaftspolitik; sozialistische Planwirtschaft; das schon tiefin den Schulden steckende Land; weiter ausbreitende Streikwelle; Notwendigkeit für eine bessere Wirtschaftsplanung und ein effektiveres Management. Verbale Syntagmen: Kollokative Einbettung von Signalwörtern: Spannungen mit sich bringen; totales Versagen vorwerfen; Schwierigkeiten vertiefen/ vergrößern/ in der eigenen Vergangenheit suchen; die Lage war noch nie so kompliziert wie jetzt; zunehmend knapper werden; knapp werden (6x); knapp sein (4x); Versorgungslage wird immer schwieriger; mitten in einer schwierigen Situation stecken; Versorgungslage verschlechtert sich weiter; im Zustand des Zerfalls sein; die wirtschaftliche Pleite widerspiegeln; nach einem Ausweg aus der schwierigen wirtschaftlichen Lage suchen; das Land aus der schwierigen Lage führen; mit schwierigen, mitunter sogar mit sehr schwierigen Problemen konfrontiert werden; immer schwieriger werden (3x); sich mit Vorräten eindecken; <?page no="208"?> 208 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Lebensbedingungen verschlechtern; vor schweren Wirtschaftsproblemen stehen; die gegenwärtigen Schwierigkeiten überwinden; gefragte Artikel sind [...] knapp oder [...] ausverkauft; die Warteschlangen vor Lebensmittelgeschäften wachsen beträchtlich über das übliche Maß hinaus; Furcht vor Versorgungsunterbrechungen. Signalsyntagmen: nie fertig werden; Bedürfnisse der Menschen niemals erfüllen können; Verhältnisse erscheinen unerträglich; Konsumwünsche nicht mehr über den Import befriedigen können; kaum finanzierbar sein; Ernährung der 35-Millionen-Bevölkerung nicht sicherstellen können; in der Wirtschaft häufig gegen den gesunden Menschenverstand handeln; Löhne steigen schneller als die Produktion; hochempfindlicher Industrieapparat ist einer Administration ausgeliefert, die von der Sensibilität eines Dinosauriers ist; innerhalb des Ostblocks auf die unteren Ränge fallen; viel an der Art der Wirtschaftsverwaltung ändern müssen; Lebensmittel sind selten im ganzen Land ausreichend zu bekommen; kaum Benzin bekommen; Benzin rationieren (2x); Benzinversorgung einstellen; den Tankstellen den Benzinverkauf untersagen; eine echte Rarität werden; Seltenheitswert bekommen; zur Mangelware werden; ausverkauft sein; nicht einmal [...] nur einen Knochen zu kaufen geben, von Fleisch ganz zu schweigen; sechs Stunden pro Tag unterwegs sein, um fürs Abendessen einzukaufen; bis zu vier Stunden anstehen müssen; achtmal mehr Lebensmittel als gewöhnlich verkaufen; die wirtschaftliche Lage erlaubt keine großen materiellen Zugeständnisse mehr; unter dem Zwang stehen; permanent verschlimmern; keinen Lohn erhalten; Verluste verursachen; Produktion sinkt; die Lohnzulagen aufzehren; die Fleischversorgung nach Möglichkeit verbessern; <?page no="209"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 209 dringenden Appell [...] richten, [...] sich nur mit dem notwendigen Bedarf einzudecken. Die textuell hergestellte Antonymie beruht in diesem Fall auf der Gegenüberstellung zweier Systeme, und zwar der ‘kommunistischen Mißwirtschaft’ bzw. der ‘unordentlichen/ chaotischen Zustände’, die mit dem Idiom polnische Wirtschaft ausgedrückt werden einerseits und der freiheitlichen Wirtschaftsordnungen andererseits. Die im folgenden Text angeführten Wörter sind keine Signalwörter des Stereotyps von der ‘kommunistischen Mißwirtschaft’, sondern Signalwörter des ihm gegenüberstehenden Stereotyps der freiheitlichen Demokratie, bzw. des Weges dahin. Die textuell hergestellte Antonymie vermittelt das genannte Stereotyp auf dem Weg der Atypik. Dezentralisierung; allgemeine Reform in Wirtschaft und Verwaltung; Wachstum der Arbeitsproduktivität; Reformen in der polnischen Wirtschaft; gründlicheren, tieferen Analyse unterziehen; an die Quellen [...] der Krise kommen; verbessern; einen normalen Rhythmus [...] wiederherstellen; ausreichend; verbesserte Lebensmittel- und Fleischversorgung; normalen Rhythmus der Arbeit und des gesellschaftlichen Lebens wiederherstellen; geregelte Versorgung mit Lebensmitteln. VI) Resümee Das Stereotyp ‘kommunistische Mißwirtschaft in Polen’ ist in der Mehrheit der untersuchten Texte zu verzeichnen. Seine Versprachlichung ist sowohl explizit als auch implizit. In Hinblick auf das ökonomische System Polens stellt es die 1980 in Polen herrschende schwierige wirtschaftliche Situation dar. In den Illustrationsbelegen lassen sich explizite Bewertungen des kommunistischen Systems erkennen {Leerlauf; Fehlleistungen etc.). Die Beschreibung stellt vordergründig die polnische Realität dar, die äußerst problematisch ist, d.h., die Versorgung ist schlecht, Leute verlieren viel Zeit, weil sie in Schlangen anstehen müssen, das Land ist hoch verschuldet, die Streiks dauern an, und es gibt keine Aussicht auf Verbesserung dieser katastrophalen Lage. So sieht es in Polen aus und so wird es geschildert. Der negativ-wertende Gehalt des Stereotyps wird explizit ausgedrückt, weil die Kritik am Sozialismus bzw. Kommunismus in Westdeutschland im Gegensatz zur DDR nicht tabuisiert werden muß. <?page no="210"?> 210 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 5.13.2 Fehlpolitik I) Prädikation: „In Polen herrscht kommunistische Fehlpolitik“ Die Prädikation „In Polen herrscht kommunistische Fehlpolitik“ ist der besseren Übersichtlichkeit wegen in drei Untergruppen gegliedert. Die erste Untergruppe bilden drei Belege, die zeigen, daß das kommunistische System nicht überlebensfähig und mit seiner Macht am Ende ist. Die zweite Untergruppe verweist auf die Täuschungspraktiken der sozialistischen Regierung. Belege der dritten Untergruppe, die wegen der sehr hohen Frequenz der hier anzuflihrenden sprachlichen Mittel berücksichtigt werden mußten, drücken zwar primär die Unsicherheit der Situation und die daraus resultierenden vorsichtigen journalistischen Formulierungen aus, zusätzlich können sie aber in diesem Kontext das Stereotyp ‘kommunistische Fehlpolitik in Polen’ verstärken. II) Illustrationsbelege: Untergruppe I 1) In Polen zerblättert die Autorität des Regimes. Der riesige marxistisch-leninistische Herrschaftsapparat läuft leer, seine Zahnräder haben keine Zähne mehr. (Die wahre Autorität, FAZ, 26.08.1980, FZ082603.TXT). 2) Die Regierung Gierek hat versagt und die zugestandenen Konzessionen sind nicht akzeptabel. (Unakzeptable Konzessionen - Stimmen der Anderen, FAZ, 3.09.1980, FZ090371.TXT). 3) Vielleicht gelingt es der in solchen Kunststücken erfahrenen polnischen Führung, das jüngste, gefährliche Loch zu stopfen, indem sie anderswo ein neues aufreißt. [. . .] Die Gewerkschaften in kommunistischen Ländern sind als blankes Nichts konstruiert, und an diesem Nichts haben die Führungen schon immer gern herumgebastelt. (Hinziehen, lange hinziehen, FAZ, 23.08.1980, FZ082310.TXT). Untergruppe II 4) Einer [der Arbeiter, J.D.] berichtet, in Zeitungen und im Rundfunk werde behauptet, die Regierung verhandele mit den Streikenden. Seine Stimme wird lauter: „Sie lügen. Alle lügen sie. Seit 35 Jahren lügen sie.“ Denn: „Mit uns hat niemand verhandelt. Wir warten. Sie müssen zu uns kommen.“ Tatsächlich verbreitet Warschau, es verhandele. Aber mit wem? [...] „35 Jahre haben sie uns angelogen. Jetzt ist es genug.“ Das Wort in der Versammlungshalle drückt aus, was alle meinen. Ausgetrickst sollen sie werden, so meinen sie und finden Belege für das Doppelspiel der Machthaber: daß man ihnen die Kommunikation mit den benachbarten Städten abschneidet; daß verbreitet wird, Streiks seien beendet worden, obwohl das Gegenteil wahr ist nur um endlich nichtsahnende Belegschaften wieder zur Arbeit zu bringen. („Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, SZ, 23724.08.1980, SZ082301.TXT). <?page no="211"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 211 5) Immer wieder aber auch wird durch gezielte Falschinformation versucht, Arbeiter in die Fabriken zurückzubringen. Nicht einmal der Versuch wird gescheut, den aufsässigen Werktätigen Forderungen zu unterstellen, die sie in keinem ihrer Postulate machten. [...] Deshalb spricht vieles für die Einschätzung eines Danziger Streikführers: „Die wollen uns austricksen, aber wir lassen uns nicht hereinlegen.“ (Das Volk hört eine neue Sprache, SZ, 25.08.1980, SZ082550.TXT). 6) Jetzt rufen Arbeiter in einem sozialistischen System nach freien Gewerkschaften westlicher Art, nach weniger Heuchelei. Und Parteichef Gierek verspricht jetzt „Ehrlichkeit“. Was war vorher? Die zum Selbstzweck gewordene süßliche Verlogenheit zerfrißt die Regime Osteuropas von ganz allein. (Selbstzerstörung, FR, 27.08.1980, FR082706.TXT). 7) Die Gefahr ist nicht ganz auszuschließen, daß die Partei unter dem Einfluß ihres zwar geschwächten, aber weiterhin existierenden dogmatischen Flügels versuchen könnte, die gegebenen Versprechen zu minimalisieren, die Arbeiterschaft auszutricksen. Solche Methoden haben im Kommunismus Tradition. Allerdings würde dies in Polen die soeben vermiedene Katastrophe für einen späteren Zeitpunkt ganz sicher doch noch provozieren. (Ein historischer Kompromiß, FR, 1.09.1980, FR09110.TXT). 8) Wenn die Führung ihr Land in eine Katastrophe weder rutschen lassen noch gar stürzen will, bleibt ihr in solcher Lage nur ein ernsthaftes Bemühen, das sie mit jahrelangen Täuschungspraktiken vollends verspielt hat. (Mit Lügen geht es nicht, FAZ, 30.08.1980, FZ083003.TXT). 9) Oft seien die Versprechungen für ein besseres Leben vergessen worden und hätten dadurch Schwierigkeiten und Mängel stärker ins Bewußtsein gerückt. (Warschau gibt erstmals andauernde Streikwelle zu, SZ, 14./ 15.08.1980, SZ081401 .TXT). 10) Denn die polnischen Arbeiter seien 1956 und 1970 um das betrogen worden, was ihnen versprochen worden sei. 1956 habe man ihnen schon einmal Zugeständnisse gemacht, die nicht weit hinter den jetzigen Zusagen zurückblieben. (Ein Telefon für Danzig, FR, 10.09.1980, FR091007.TXT). 11)Viel Erfolg hat Polens Regierung freilich mit der Doppelstrategie der Einschüchterung und Beschwichtigung bisher nicht gehabt. (Giereks Spielraum wird enger, SZ, 22.08.1980, SZ082251.TXT). 12) Nichts ist geblieben von den Versprechungen der Führung an die Arbeiter. Nach jedem Aufstand wiederholt sich das Ritual: Zuerst werden begangene Fehler bekannt, dann wird Besserung gelobt, Abhilfe angekündigt. Dann kommt der nächste Aufstand, und das Ganze wiederholt sich mit den gleichen Fehlem. Jedesmal werden die sogenannten Gewerkschaften getadelt. Bei jedem Anlaß wird eine Demokratisierung, eine Entbürokratisierung dieser staatlich beauftragten Organisationen versprochen. Mehr Mitsprache sollte es jedesmal geben. In den Betriebsräten sollten die Arbeiter nach ihrem Willen repräsentiert sein. (Das Volk hört eine neue Sprache, SZ, 25.08.1980, SZ082550. TXT). 13) Wie groß die Schulden Polens sind knapp 40 Milliarden Mark -, wird dem Volk allerdings auch jetzt noch verschwiegen, und daß Gierek von Bonn gerade einen neuen Kre- <?page no="212"?> 212 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck dit zugesagt bekam, als Babiuch beteuerte, Polen könne keine neuen Schulden machen, wurde ebenso geheimgehalten. (Das Volk hört eine neue Sprache, SZ, 25.08.1980, SZ082550.TXT), 14) Gierek gab Fehler in der bisherigen Wirtschaftsverwaltung zu und versprach Reformen Die Führung sei zu Diskussionen und auch zu sozialen Kompromissen bereit, allerdings nicht zu politischen. Alle Forderungen könnten nicht erfüllt werden. (Gierek ermahnt die Arbeiter, FR, 19.08.1980, FR081908.TXT). 15) „Doch ist dies nur ein erster Schritt, der Beginn eines Prozesses“, meinte Amsterdamski. „Jetzt [...] bleibt abzuwarten, ob die neue Führung wirklich demokratisch reagieren oder ob sie nur die Beendigung der Streiks abwarten wird, um zum alten Kurs zurückzukehren.“ (Nicht ein Werk „antisozialistischer“ Gruppen, FAZ, 26.08.1980, FZ082616. TXT) 16) Der Sinn dieser sehr wichtigen Ansprache ist folgender: Bei der Realisierung der sozialökonomischen Politik nach dem Dezember 1970 haben wir Fehler begangen. Sie müssen verbessert werden. Die Frage nach der Verantwortung für diese Fehler bleibt offen. (Keine gesellschaftliche Entwicklung ohne Spannungen und Konflikte, FR, 26.08.1980, FR082614.TXT). 17) Ein Kurswechsel ist nötig und vor allem besonders viel Fingerspitzengefühl im Umgang mit der Bevölkerung, die es satt hat, immer und immer wieder nur Versprechungen zu hören. (Gierek opfert Funktionäre, SZ, 26.08.1980, SZ082670. TXT). 18) Es [das Volk, J.D.] will, weil allzuoft vertröstet und in die Irre geführt, die Erklärungen und Entschuldigungen der Funktionäre nicht mehr hören, es will nicht abgespeist werden mit Versprechungen, die aller Erfahrung nach nicht eingelöst werden - oder sich nur für jene erfüllen, die sie gemacht haben. Das ist auch der Grund, warum Gierek, der zunächst ein gutes Polster an Popularität hatte, das Ohr des Volkes nicht mehr erreicht, warum er unglaubwürdig geworden ist. (Arbeiter gegen Arbeiterpartei, SZ, 30./ 31.08.1980, SZ083002.TXT). 19) Warum die Stimmung sich dann plötzlich verhärtete, läßt sich vorerst nur vermuten. Wahrscheinlich vertrauten die Arbeiter den Versprechungen der Regierung nicht mehr. (Machtprobe mit Gierek, SZ, 19.08.1980, SZ081950.TXT). 20) Es bleibt abzuwarten, ob es dieses Mal nun zu den versprochenen Reformen kommt. Angesichts der Erfahrungen seit 1956 sollten die Erwartungen aber nicht allzu hoch gesetzt werden, um so mehr, als die durch Streik erzwungenen freien Gewerkschaften für einen kommunistischen Staat absolut revolutionär und dem Kreml ein Dom im Auge sind. (Polnische Erfahrungen - Blick in die Presse, SZ, 11.09.1980, SZ091150.TXT), 21) Nie war das Eingeständnis von Fehlem, aber auch die Selbstkritik eines regierenden kommunistischen Funktionärs umfassender und ehrlicher als in der Parteitagsrede Giereks im Febmar. Schonungsloser hätte auch ein Dissident Polens Wirklichkeit nicht zeichnen können: die Mängel an allen Ecken und Enden, Profitgier, Kormption, Gleichgültigkeit, Arbeitsunlust, Cliquenwirtschaft - und das alles gebündelt zu dem Euphemismus „sozialer Differenzierungen“, womnter im gegebenen Fall nur zu verstehen <?page no="213"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 213 war, daß es sich die einen besser, die anderen gar nicht „richten“ konnten und ehrliche Arbeit dabei kaum eine Rolle spielte. (Arbeiter gegen Arbeiterpartei, SZ, 30./ 31.08.1980, SZ083002.TXT). 22) Mag sein, daß er [Gierek, J.D.] in dieser kritischen Stunde selbst daran glaubt, so etwas sei in einem Kastenstaat wie dem seinen möglich, in dem die herrschende Elite alle Privilegien der Macht, des Einflusses, der kritischen Unantastbarkeit und der materiellen Sonderstellung genießt. Mag sein, daß er inmitten des Bankrotts einer von ihm seit nunmehr zehn Jahren geleiteten Politik in der Hoffnung an der Spitze geblieben ist, das Chaos und die fremde Intervention aufhalten zu können. (Die Arbeiter von Danzig, FAZ, 26.08.1980, FZ082604.TXT). Untergruppe III 23) Wie von amtlichen Stellen in Warschau mitgeteilt wurde, haben alle Beschäftigten des Stahlkombinats Nowa Huta in der Nähe von Krakau mit der Frühschicht die Arbeit wieder aufgenommen. Von Interpress wurde jedoch eingeräumt, daß in dem Hüttenwerk, in dem 40 000 Menschen beschäftigt sind und das lange Zeit als Modellbetrieb der sozialistischen Planungsbürokratie galt, in der Nacht in zwei Abteilungen für mehrere Stunden die Arbeit niedergelegt worden ist. Wie aus den Oppositionskreisen in Warschau verlautete, haben die Beschäftigten mit der Betriebsleitung eine Vereinbarung geschlossen. (Polnische Führung bemüht sich um friedliche Beilegung der Streiks, SZ, 21 08.1980, SZ082101.TXT). 24) Entgegen offiziellen Angaben befanden sich am Donnerstag noch 15000 Bergleute im oberschlesischen Kohlenrevier im Ausstand. (Westen der Einmischung in Polen geziehen, SZ, 5.09.1980, SZ090501. TXT). 25) Unterdessen hat sich am Dienstag der Streik über die Städte in Ostseenähe hinaus ausgeweitet: In Lodz und offenbar auch in Breslau und Rzeszöw kam es zu Streiks bei den städtischen Verkehrsbetrieben; in Breslau und L6dz soll es nach Angaben aus Dissidentenkreisen auch in anderen Betrieben zu Solidaritätsstreiks gekommen sein. (Der polnische Gewerkschaftsführer zurückgetreten, FAZ, 27.08.1980, FZ082705 .TXT). 26) Nach in Warschau kursierenden Gerüchten soll das Politbüro zu einer Sondersitzung zusammengetreten sein. Die Situation wird in der Partei nach Berichten aus gewöhnlich gut informierten Kreisen als ernst bezeichnet. („Nach in Warschau kursierenden Gerüchten ...“, FR, 16.08.1980, FR081607.TXT). 27) Die Streiks sollen nach bisher noch unbestätigten Berichten auch auf einzelne Betriebe in Stettin übergegriffen haben. Nach Informationen aus Warschauer Dissidentenkreisen soll in der Stettiner Warski-Werft ein Streikkomitee gegründet worden sein. Auch in Schlesien soll es Unruhen geben. (Gierek sagt Treffen mit Schmidt ab. Weitere Streiks in den Hafenstädten, SZ, 19.08.1980, SZ081951.TXT). 28) Grünewald bezeichnete die „öffentliche Zurückhaltung“ als Ergebnis der Erörterungen im Bundeskabinett, das sich am Vormittag vom Auswärtigen Amt einen Überblick über die Lage und Entwicklung in Polen geben ließ, soweit man, wie Grünewald sagte, <?page no="214"?> 214 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck „überhaupt einen Überblick gewinnen kann“. (Zurückhaltung bei der Bundesregierung zu den Ereignissen in Polen, FAZ, 21.08.1980, FZ082105.TXT). 29) Welchen Umfang die Arbeitsniederlegungen am Mittwoch und Donnerstag hatten, war auch am Donnerstagabend noch nicht zu übersehen. [...] Ähnlich dürfte es auch in manchen anderen Betrieben gewesen sein. [...] Soweit zu übersehen ist, haben die Arbeitsniederlegungen oftmals eher den Charakter von Warnstreiks: [...] Die Streikenden, so ist zu hören, verlangen einen Lohnausgleich für die höheren Fleischpreise und Verbesserungen der Versorgung. [...] Die in den Erläuterungen der Medien angegebene Liste der betroffenen Fleischsorten und Fleischwarengattungen ist aber, wie man hört, nicht vollständig. [...] Auch gibt es Gerüchte, daß die Fleischpreiserhöhungen nicht im ganzen Lande eingeführt wurden, daß sie in einigen Gegenden vorsichtshalber aufgeschoben wurden. (Streiks in polnischen Städten nach Preiserhöhungen, FAZ, 4.07.1980, FZ070401.TXT) III) Zuordnung zur Funktion Das Stereotyp ‘kommunistische Fehlpolitik in Polen’ wird in den Illustrationsbelegen überwiegend explizit und durch die Verwendung von Typik ausgedrückt. Eine atypische Verwendung des Stereotyps ist im gesamten Korpus marginal und findet in den oben angeführten Belegen keinen Niederschlag. Die ausgewählten Illustrationsbelege wurden in die drei oben genannten Untergruppen gegliedert. Belege (1) bis (3) stellen eine explizite Schilderung der in Polen herrschenden ‘kommunistischen Fehlpolitik’ dar. In den Belegen (1) und (2) wird das kommunistische System äußerst negativ, als Ideologie, die versagt hat, präsentiert. Beleg (3) sagt etwas Ähnliches aus wie (1) und (2), obwohl sich die Kritik diesmal auf die Gewerkschaften bezieht. In der zweiten Beleggruppe geht es um die von der polnischen Regierung betriebene Politik. Sie beruht auf den Täuschungsstrategien der Regierenden, die ihre Fehler zwar eingestehen, Besserung geloben, aber keine der gemachten Versprechungen und Zusagen einlösen. In dieser Gruppe lassen sich mehrere graduelle Wertungen spezifizieren; die Illustrationsbelege wurden von ihrem stärksten bis hin zu geringerem evaluativem Gehalt angeordnet. Mit dem Beleg (4) beginnt die Gruppe der graduell äußerst negativen Bewertungen der regierenden Schicht in Polen, deren Verhalten explizit als Täuschungspraktiken, Heuchelei, Lüge oder süßliche Verlogenheit bezeichnet wird. In dieser Gruppe befinden sich die Belege von (4) bis (12). In ihnen wird behauptet, daß die Versprechungen der polnischen Regierung gegenüber der Bevölkerung üblicherweise nicht erfüllt werden; somit erscheint die Skepsis und das Mißtrauen des polnischen Volkes den Regierenden gegenüber völlig verständlich. In Beleg (13) läßt sich ein besonderer Fall der Täuschung beobachten, in dem die polnische Regierung dem Volk besonders wichtige Informationen ganz bewußt vorenthält. <?page no="215"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 215 In den Belegen (14) bis (22) werden die Schwäche der Regierung und die von ihr begangenen Fehler zwar ausgedrückt, die Einschätzung dieses Zustandes bleibt jedoch impliziter, als in den Belegen (4) bis (13). Somit wird der Leser in (14) bis (22) impliziter zur skeptischen Bewertung der Zugeständnisse der polnischen Regierung geführt {immer und immer wieder nur Versprechungen hören; das Ohr des Volkes nicht mehr erreichen; den Versprechungen der Regierung nicht mehr vertrauen). Daraus läßt sich schließen, daß in manchen Belegen mit der stereotypen Behauptung der ‘kommunistischen Fehlpolitik’ vorsichtiger als in denen von (4) bis (13) umgegangen wird. Die Belege (14) bis (22) zeigen, daß die polnische Regierung bereit ist zu einem gewissen Einlenken, zu Zugeständnissen und Selbstkritik. Die Belege (14), (15) und (16) weisen jedoch darauf hin, daß die Regierung letztlich bei ihrem politischen Kurs bleibt {zum alten Kurs zurückkehren; keine politischen Zugeständnisse; die Verantwortung für Fehler bleibt offen). In den Belegen (21) und (22) drückt sich schonungslose Kritik an der bisherigen Politik aus, womit der Leser vom Journalisten in die kritische Position der bisherigen ‘Fehlpolitik’ einbezogen wird. Dem Leser wird jedoch überlassen, ob die Zugeständnisse der Regierung schon ein Schritt in Richtung Demokratie sind oder nur eine politische Strategie der Führung darstellen. Im ersten Beleg der III. Untergruppe (23) werden den offiziellen Informationen die inoffiziellen gegenübergestellt. Dadurch kann beim Leser ein Gefühl der Unsicherheit hervorgerufen und eine Skepsis gegenüber der kommunistischen Informationsvermittlung geweckt werden, was implizit das Stereotyp ‘kommunistische Fehlinformation’ vermitteln kann. In Beleg (24) wird die Mangelhaftigkeit der Information noch dadurch verstärkt, daß diese als mit der Realität nicht übereinstimmend entlarvt wird. Diese Entlarvung macht aus Information Schwindel, wodurch sich Berührungspunkte zu den explizitesten Belegen der II. Untergruppe der Täuschung (4) bis (13) ergeben. In den Belegen (25), (26) und (27) werden zwei oder mehrere Informationsquellen genannt. Diese unterschiedlichen, oft widerspruchsvollen und dazu noch unsicheren Quellen können dazu beitragen, dem Leser ein Bild von der Widersprüchlichkeit der sozialistischen Informationsvermittlung zu geben und somit das Stereotyp ‘kommunistische Fehlinformation’ zu vermitteln. In den Belegen (28) und (29) wird mit sprachlichen Mitteln, die im allgemeinen Sprachgebrauch als Vorsichtsformeln verwendet werden, die komplizierte und unüberschaubare Situation in der sozialistischen Informationspolitik ausgedrückt. Die Kompliziertheit der Lage könnte beim Leser zur Stärkung des Stereotyps der ‘kommunistischen Fehlinformation’ führen. IV) Medienspezifik und Textsortenverteilung Die ‘kommunistische Fehlpolitik in Polen’ bildet den umfangreichsten Komplex des Stereotyps ‘kommunistischer Mißwirtschaft’. Es wird in etwa 180 <?page no="216"?> 216 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Belegen thematisiert. Die I. und II. Untergruppe bilden dabei den Löwenanteil der Belege (über 100), wobei das Stereotyp besonders oft in der SZ seinen Niederschlag findet (über 40 Belege). Häufigkeitsbedingt ist die ‘kommunistische Fehlpolitik’ eines der zentralen Stereotype in der westdeutschen Presse im Sommer 1980. In der thematischen Textstruktur wird es oft auch leitmotivisch verwendet, wobei es in allen Textsorten, die sich mit dem Thema „Polen“ beschäftigen, zu finden ist. Seine sprachliche Realisierung dominiert in den Kommentaren und Berichten. Seltener, aber dennoch deutlich ist es in den Meldungen präsent. Belege, die denen aus der Untergruppe III ähnlich sind, indem sie Kompliziertheit und Unüberschaubarkeit der Lage ausdrücken, lassen sich den meisten Texten der westdeutschen Presse im Sommer 1980 entnehmen. Diese „unsichere“ Art der Berichterstattung dominiert in der Anfangsphase der Streiks, d.h. im Monat Juli und in der ersten Augusthälfte. In der darauffolgenden Zeit nehmen die Unsicherheitsformeln stark ab. Die Unsicherheit der Lage wird etwa 80mal zum Ausdruck gebracht, wodurch dieses Thema als eines der zentralen zu diesem Zeitpunkt erscheint. Dieses Ausmaß kann selbstverständlich mit dem Selbstbezug der Medien Zusammenhängen. Häufigkeitsunterschiede ergeben sich zwischen der Thematisierung der Unsicherheit in den einzelnen Tageszeitungen. Am häufigsten ist die komplizierte Lage mit Hilfe der Vorsichtsformeln in der FAZ und in der FR, am seltensten in der SZ zu verzeichnen. Die erwähnte Unsicherheit wird vorrangig in der Textsorte Kommentar realisiert. V) Zur lexikalischen und syntagmatischen Realisierung Signalwörter: Nomina: Täuschungspraktiken; Ehrlichkeit 1 ; Verlogenheit; Falschinformationen (2x); Beschönigung; Heuchelei; Beschwichtigung; Doppelspiel; Doppelstrategie; Lüge; Intrigen; Chaos; Verwirrung; Katastrophe (3x); Hilflosigkeit; „Trugbild'; Versäumnisse; Schwächen (4x); Fehler (2Ix), Inkonsequenzen (2x); Verspätungen (2x),' Zögern (2x); Verschlammung; Eingebildetheit; Selbstanhimmelung; Ungerechtigkeiten; Unsitten; Formalismus; Krise; Entstellungen (4x); Schwierigkeiten; Mängel (2x); Unmöglichkeit; Ermüdung; Einschüchterung; Fehlbarkeit; Profitgier; Korruption; Gleichgültigkeit; Arbeitsunlust; Cliquenwirtschaft; Deformationen; Deformierung; Regime. Adjektive / partizipiale Adjektive: nicht akzeptabel; vergeblich; mühsam; deprimierend; miserabel; brutal; unkoordiniert; mangelhaft; egozentrisch; bürokratisch; ungeschickt; unerfüllt <?page no="217"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 217 gebliebenen; dogmatisch; inkompetent; unglaubwürdig; mißlich; „dekorativ“; gespannt. Verben: leerlaufen; versagen; schwächen; austricksen (3x); provozieren; beschönigen; tadeln; vertrösten; lügen (4x); belügen; anlügen; hereinlegen; unterstellen; verschweigen; geheimhalten; stürzen; zerblättern; kritisieren; mißachten; betrügen. Nominale Syntagmen: Signalsyntagmen: alle Privilegien der Macht, des Einflusses, der kritischen Unantastbarkeit und der materiellen Sonderstellung genießen; der über Nacht an die Spitze Gelangte; Jagd nach dem Zusammenraffen zeitlicher Güter; Greifen nach gesellschaftlichen Mittelnfür private Zwecke; zu viele Investitionen; Methoden, die im Kommunismus Tradition haben; die abgrundtiefe Kluft zwischen dem Volk und den Kommunisten. Kollokative Einbettung von Signalwörtern: inmitten des Bankrotts; die Gewerkschaften als blankes Nichts; „dekorative“ Funktion des „Sejm“; egozentrische Selbstanhimmelung; süßliche Verlogenheit; gezielte Falschinformationen; Doppelspiel der Machthaber; regelmäßig unerfüllt gebliebene Versprechen; das Ritual der Versprechungen; wirkungslose Versprechungen; Doppelstrategie der Einschüchterung und Beschwichtigung; eine Tendenz zur Beschönigung der Probleme; jahrelange Täuschungspraktiken; Intrigen und Gerangel im Parteigefüge; Deformierung der Politik der Partei; Entstellungen im gesellschaftlichen Leben; Mängel an allen Ecken und Enden, Profitgier, Korruption, Gleichgültigkeit, Arbeitsunlust, Cliquenwirtschaft - und das alles gebündelt zu dem Euphemismus „sozialer Differenzierungen“; Schwäche der gesellschaftlichen Kontrolle; Neigung zu willkürlichen Entscheidungen und zum Glauben an [...] Unfehlbarkeit. <?page no="218"?> 218 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Verbale Syntagmen: Signalsyntagmen: unter irgendwelchen Vorwänden entlassen werden; gescheiterte Parteiführer seines Amtes entheben; Vertrauen verlieren; die Bevölkerung über die Wirksamkeit des Dialogs mit der Führung nicht überzeugen können; jeder persönliche Vertrauensvorschuß ist erschöpft; kaum noch überzeugende Kandidaten haben; den Zusagen der Partei keinen Glauben mehr schenken; in die Irre führen; das Ohr des Volkes nicht mehr erreichen; den aufsässigen Werktätigen Forderungen unterstellen; [...] aber man glaubt ihm trotzdem nicht mehr, wenn er sagt, er könne nicht mehr schlafen, weil es dem Volk schlecht gehe; die [...] Proteste der Bürger durch Nachgiebigkeit aufzufangen versuchen; nicht ausreichend [...] informiert werden; Loch zu stopfen, indem anderswo ein neues aufgerissen wird; nach einem gutfunktionierenden sozialistischen System vergeblich suchen; sich in der marxistischen Falle gefangen haben; im Widerspruch zu den elementaren Prinzipien gesunden Verstandes stehen; Beendigung der Streiks abwarten und zum alten Kurs zurückkehren; die Stimmung im Volke offensichtlich nicht kennen; zu oft von oben gelenkt werden; nichts zu sagen haben; unter bürokratischen Auswüchsen zu leiden haben; weder die Wirtschaft reformieren noch die Streikenden unter Kontrolle bringen; einfach [... ] zu beschließen, aber schwieriger [...] zu verwirklichen; die Gefahr bestehe [...], das wieder verlieren zu können, was wir gewonnen haben; die ehrliche und volle Erfüllung der ausgehandelten Regelung steht im Widerspruch zum sozio-ökonomisch-politischen System des Kommunismus; niemand könne [...] sagen, ob der Ausgleich, der auf dem Papier steht, auch ein Ausgleich in der Wirklichkeit sein wird; abwarten, ob es dieses Mal zu den versprochenen Reformen kommt; angesichts der Erfahrungen [...] sollten die Erwartungen aber nicht allzu hoch gesetzt werden; dem Frieden in Polen nicht trauen können; dem Regime scheint es nicht einmalpeinlich zu sein, daß [...]; alles gebündelt zu dem Euphemismus „sozialer Differenzierungen“, worunter [...] zu verstehen war, daß es sich die einen besser, die anderen gar nicht „richten“ konnten und ehrliche Arbeit dabei kaum eine Rolle spielte. <?page no="219"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 219 Kollokative Einbettung von Signalwörtern: jetzt Ehrlichkeit versprechen; die gegebenen Versprechen minimalisieren; die Arbeiterschaft austricksen; um das betrogen werden, was ihnen versprochen worden sei; die Versprechungen seien vergessen worden; nicht mehr den Versprechungen der Regierung vertrauen; von den Versprechungen ist nichts geblieben; bei jedem Anlaß eine Demokratisierung, eine Entbürokratisierung [...] versprechen; sich bestechen lassen; Erfahrungen, die Polens Arbeiter mit Versprechungen ihrer Führer gemacht haben; Bevölkerung hat es satt, immer und immer wieder nur Versprechungen zu hören; Erklärungen und Entschuldigungen der Funktionäre nicht mehr hören wollen; mit Versprechungen abgespeist werden, die aller Erfahrung nach nicht eingelöst werden; Versprechungen, die [...] sich nurfürjene erfüllen, die sie gemacht haben; hoffen, daß die [...] versprochenen Zugeständnisse auch in die Tat umgesetzt werden; häufig zu hart oder zu ungeschickt reagieren; Unsitten einreißen; führende Genossen auszuwechseln pflegen; die Volksvertretung ist ein „ Trugbild“; die Meinung der Abgeordneten mißachten; Unfähigkeit, die Schuld im eigenen System, bei der eigenen Führung zu suchen; nach weniger Heuchelei rufen; er kann weder [...] noch [...] liefern, was er [...] doch immerhin versprochen hatte; beobachten, ob gewisse Zugeständnisse nicht wieder zurückgenommen werden; Doppelspiel der Machthaber; wie groß die Schulden Polens sind [...] wird dem Volk [...] verschwiegen; das Regime Osteuropas von ganz allein zerfressen; Vertrauen [...] wiederherzustellen/ wiederzuerlangen versuchen (2x). Ähnlich wie in Kap. 5.13.1 läßt sich auch bei diesem Stereotyp eine textuell hergestellte Antonymie beobachten, die das Stereotyp auf dem Weg der Atypik vermittelt. Obwohl die nachfolgenden Wörter und Syntagmen an und für sich positiv erscheinen und einen Schritt in Richtung Demokratie bedeuten könnten, werden sie im Kontext der immer wieder gegebenen und nicht eingehaltenen Versprechungen zu Signalwörtern des Stereotyps ‘kommunistischer Fehlpolitik in Polen’. <?page no="220"?> 220 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Textuell hergestellte Antonymie: Nomina: Versprechungen (12x); Versprechen (2x); Zusicherungen; Zugeständnisse (2x); Zusagen (3x); Erklärungen; Entschuldigungen; Absichtserklärungen; Ankündigungen; Eingeständnis (3x); Selbstkritik (4x); Nachgiebigkeit; Kompromißbereitschaft; Fügsamkeit; Einhaltung. Adjektive: ungeschminkt; selbstkritisch; schonungslos; versprochen (2x). Verben: eingestehen (4x); zugeben (2x); einhalten (4x). Nominale Syntagmen: ungeschminkte Zustandsbeschreibung; Umwandlung im Führungsorgan; Eingeständnisse der Schuld noch deutlicher alsfrüher; Eingeständnis der Fehlbarkeit der Partei; angekündigte Veränderungen und Zugeständnisse. Verbale Syntagmen: Verständnisfür die Ermüdung und die Ungeduld der Arbeiterschaft bekunden; über [...] sonstige Verhältnisse hinaus offen zum Volk sein; Zugeständnisse machen, die nicht weit hinter den jetzigen Zusagen zurückblieben; Versäumnisse und Schwächen eingestehen; Verständnisfür die Unzufriedenheit im Lande zum Ausdruck bringen; Fehler einräumen; Fehler zugeben; Selbstkritik üben (4x); Ungerechtigkeiten einsehen; ohne Umschweife, Irrtümer, Unregelmäßigkeiten, Verzögerungen, Wankelmut und Schwäche der Partei- und Staatsführung eingestehen; engeren Kontakt zum eigenen Volk halten; eingegangene Zusicherungen zu halten gedenken; die getroffenen Vereinbarungen voll einhalten; Versprechungen/ Zusagen (2x) einhalten; wirklich demokratisch regieren; Demokratisierung; Entbürokratisierung; mehr Mitsprache; nach dem Willen der Arbeiter repräsentiert sein; Reformen versprechen; zu Diskussionen und auch zu sozialen Kompromissen bereit sein [...]; <?page no="221"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 221 zu einer Reform [...] bereit sein; Zusicherungen [...], die Gewerkschaften werden zu echten Vertretungen der Arbeiterschaft und ihrer Interessen; Abhilfe ankündigen; mit der größten Offenheit diskutieren, die ein Regime im Ostblock bisher zugelassen hat; Umbildungen in Partei und Regierung bekanntgeben; Klima des gegenseitigen Vertrauens aufbauen; Gründefür die Unzufriedenheit der Bevölkerung beseitigen; Klima gegenseitigen Vertrauens wiederherstellen; gemeinsam das Land aus der gegenwärtigen Krise führen; Besserung geloben. Neben den Signalwörtern, die das Stereotyp ‘kommunistische Mißwirtschaft’ auf dem Weg der Typik und Atypik vermitteln, gibt es auch lexikalischsyntaktische Mittel, die eine Unsicherheit bezüglich der Glaubwürdigkeit und Verbürgtheit der den Lesern vermittelten Informationen ausdrücken, und somit auch das vorhandene Stereotyp ‘kommunistische Mißwirtschaft’ verstärken können. Die Rolle der Signalwörter dieser Beleggruppe ist nachgeordnet. Sie sind nicht so verbreitet, wie bei den anderen Stereotypen. Erstens gibt es wenige Signalwörter und zweitens sind vor allem adverbiale Lexeme zu verzeichnen. Der Kontext, in dem häufig verschiedene Informationsquellen zitiert werden, spielt hier eine besonders wichtige Rolle. Adverbien: offenbar (6x); gerüchtweise; angeblich; überhaupt. Syntagmen mit Verbalsubstantiven / verbale Phrasen / nominale Syntagmen: war zu hören (3x); hieß es (2x); nach einem Bericht; soll es nach Angaben; nach Meldungen; nach offiziellen Angaben; nach kursierenden Gerüchten; nach einer Quelle; dem Vernehmen nach; laut Meldungen sollen Einfluß haben; sollen nach unbestätigten Berichten [...] übergegriffen haben; nach Informationen soll gegründet worden sein; nach Mitteilung aus regierungsnahen Kreisen; nach Berichten aus Dissidentenkreisen; nach Angaben aus Dissidentenkreisen [...] sollen sich [...] angeschlossen haben; nach Berichten aus oppositionellen Kreisen [...] soll [...] verkündet haben; <?page no="222"?> 222 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck aus gewöhnlich gut informierten Kreisen; soweit man [...] überhaupt einen Überblick gewinnen kann; war nicht zu erkennen; sollen durchgesetzt haben; ist nicht ganz klar, ob; unbestätigt waren die Berichte; die Situation ist noch unübersichtlich; war... nicht zu übersehen; dürfte; soweit zu übersehen ist; so ist zu hören, [...]; wie man hört, es gibt Gerüchte, [...]; im Gegensatz zu der KOR-Meldung sagte ein Sprecher der amtlichen Nachrichtenagentur [...]; wann [...] kann niemand mit Gewißheit sagen; wie von den amtlichen Stellen [...] mitgeteilt wurde; [...] von Interpress wurde jedoch eingeräumt [...]; wie aus den Oppositionskreisen verlautete; hielten sich Gerüchte; entgegen offiziellen Angaben; sollen beteiligt haben; soll gegeben haben; sollen gestreikt haben. Die angeführten Konstruktionen wirken mehr oder weniger formelhaft; die häufige Verwendung der Ausdrucksmittel neigt dazu, usuell zu werden. Das bestätigt der Gebrauch von: Passivkonstruktionen, / wa«-Verbindungen, sein + Infinitiv und sollen + Infinitiv I und II. VI) Resümee Das Stereotyp ‘kommunistische Fehlpolitik in Polen’ wird in allen drei analysierten westdeutschen Zeitungen vermittelt. Die Illustrationsbelege präsentieren sowohl seine explizite als auch seine implizite Verwendung. Das Stereotyp wurde in drei Untergruppen dargeboten. Die expliziteren seiner Realisierungen befinden sich in der I. und II. Untergruppe. Die dort präsentierten Belege enthalten eine besonders hohe Zahl an stilistisch abwertenden Signalwörtem, die das Stereotyp vermitteln. Die II. Untergruppe betont auch die Inhumanität der polnischen Regierenden, die durch Täuschungsstrategien und Vorenthaltung von Informationen die Bevölkerung regieren. Die implizitesten Versprachlichungen des Stereotyps, die möglicherweise zu seiner Stärkung beitragen können, treten in der Untergruppe III auf. Hier bezieht sich die Berichterstattung zwar auf die konkreten Ereignisse in Polen, die Quellen der angeführten Informationen werden jedoch oft nicht angegeben, oder so angeführt, daß <?page no="223"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 223 Zweifel an den präsentierten Informationen auftreten. Der Mangel an Quellenangaben sowie die Verwendung verschiedener lexikalischer und grammatischer Mittel, die eine Distanz des Journalisten von den vermittelten Nachrichten betonen, tragen wesentlich zum Ausdruck der Unsicherheit in bezug auf das Geschilderte bei und vermitteln den Eindruck, daß die veröffentlichten Informationen mit Mühe aus der komplizierten Situation gewonnen werden mußten. Das Bild, das die Lektüre beim Leser hervorrufen könnte, enthält verworrene Verhältnisse, Prozesse, die unübersichtlich und nicht transparent sind und bezüglich derer eine gewisse Unsicherheit herrscht. Diese Unsicherheit kann auf zweierlei Weisen interpretiert werden: sie ist entweder auf die undurchsichtigen und ungesteuerten Prozesse in Gesellschaft und Wirtschaft zurückzufuhren, oder aber sie ergibt sich aus einer nicht sorgfältig durchgefuhrten oder durchführbaren Recherche seitens des Journalisten. Da jedoch die Unsicherheit der Journalisten in den Zeitungsartikeln immer wieder zum Ausdruck kommt, kann der Leser zu der Annahme neigen, die polnische Realität selbst sei verworren und unübersichtlich. Man hat es hier offensichtlich mit dem Phänomen des Selbstbezugs der Medien zu tun: die Schwierigkeiten der Journalisten, sichere Informationen sowohl von seiten des Staates als auch von seiten der Dissidentengruppen zu erhalten, schlagen sich in den an die Leser weitergegebenen Texten nieder. Die vermittelten Informationen sind so unsicher wie die Quellenlage; sie werden als Nachrichten ohne Gewähr oder auch als einander ausschließende präsentiert. Aus der Untersuchung des Stereotyps von der ‘kommunistischen Fehlpolitik’ ergibt sich, daß es dann zum Ausdruck gebracht wird, wenn die Journalisten in ihrer eigenen Arbeitssituation verunsichert sind. Die ‘kommunistische Fehlpolitik’, die neben den Komponenten der Nicht-Überlebensfähigkeit des Sozialismus, der Täuschungsstrategien der polnischen Regierung auch die Komponente der kommunistischen Fehlinformation enthält, wird somit als einer der Bestandteile des Stereotyps von der ‘kommunistischen sozialistischen Mißwirtschaft’ eingestuft. Das Stereotyp ‘kommunistische Mißwirtschaft’ ist in zwei Varianten gegliedert, bei denen jeweils besondere Komponenten, d.h. ‘kommunistische Mißwirtschaft in Hinblick auf das ökonomische System’ und ‘kommunistische Fehlpolitik’ hervorgehoben wurden. In einem Beleg (10, in Kap. 5.12.1) wird jedoch neben der ‘kommunistischen Mißwirtschaft’ auch ein weiteres Stereotyp ‘unordentliche/ chaotische Zustände’, das sich unter der Wortgruppe polnische Wirtschaft verbirgt, realisiert. Offensichtlich ist es mit ersterem eng verwandt, obwohl es im Gegensatz zu ihm nicht ideologicsondern nationbezogen ist. Besonders schwierig ist es hier, eine genaue Trennungslinie zwischen der Ideologie- und der Nationbezogenheit zu ziehen (s. Kap. 3.4.1). Es läßt sich jedoch deutlich beobachten, daß beide Dimensionen (ideologische und nationale) miteinander im Zusammenhang gebracht werden. Die ideologiebezogene Seite des Stereotyps muß nicht tabuisiert werden, weil sie im Einklang mit der <?page no="224"?> 224 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck in der Bundesrepublik Deutschland vorherrschenden antikommunistischen Haltung steht. Aus diesem Grund ist der explizite Ausdruck von Kritik an diesen geschilderten Situationen und Ereignissen kein Nonnenverstoß gegen den gesellschaftlichen Konsens in Westdeutschland. Die nationbezogene Seite dieses Stereotyps ist tabuisiert und kommt deshalb seltener und kaum explizit zum Ausdruck. Trotzdem darf man seine Wirkung nicht unterschätzen. Da die Stereotype ein Orientierungswissen sind, die das gesellschaftliche, kollektive Urteil darstellen, kann an sie implizit oder auch atypisch appelliert werden. Bei der Behandlung des Stereotyps „In Polen herrschen unordentliche/ chaotische Zustände“ muß man also damit rechnen, daß trotz der möglicherweise zum Ausdruck kommenden ideologiebezogenen Seite dieses Stereotyps gleichzeitig auch die im deutschen Sprachgebrauch existierende sprachliche Formel polnische Wirtschaft assoziiert wird. Bei diesem Stereotyp ist mehr noch als bei allen übrigen die Rolle der Rezipienten bei der Sinnkonstitution zu berücksichtigen. Der Grund dafür ist, daß dieses Stereotyp als eine idiomatische Wendung polnische Wirtschaft im deutschen Sprachgebrauch vorhanden ist. Deshalb muß man bei der Untersuchung des Stereotyps folgendes beachten: einerseits wird unter polnischer Wirtschaft in der idiomatischen Bedeutung „Schlamperei, Durcheinander, Unordnung“ (vgl. Duden-Redewendungen 1992, S. 553) verstanden; andererseits muß man von dieser nationbezogenen abwertenden idiomatischen Verwendung der Wortgruppe polnische Wirtschaft, eine in den modernen Zeitungstexten enthaltene Bedeutung ‘kommunistische Mißwirtschaft in Polen’ unterscheiden. Hier liegt die Pejoration nicht mehr im wertungsneutralen Adjektiv „polnisch“ (ist gleich ‘in Polen herrschend’), sondern in der ‘kommunistische Mißwirtschaft’, im sozialistischen System. Blickt man in die Geschichte zurück, merkt man, daß der idiomatische Ausdruck polnische Wirtschaft im Unterschied zur ‘kommunistischen Mißwirtschaft in Polen’ eine lange Tradition hat. Um die Genese des Ausdrucks polnische Wirtschaft verfolgen zu können, muß man sich in die Zeit „des endgültigen Untergangs der polnischen Staatlichkeit, einer Zeit der großen wirtschaftlichen Depression, der gesellschaftlichen Rückständigkeit, der spektakulären Verarmung des Volkes und der ostentativen Verschwendungssucht des Adels“ begeben (Orlowski 1993, S. 515). Die erste bekannte, schriftlich dokumentierte Fixierung dieses Idioms fällt in die Zeit zwischen der Ersten und der Zweiten Teilung Polens und stammt aus der Korrespondenz Georg Forsters mit Samuel Thomas von Sömmerring (1784) und Therese Heyne (1785) (vgl. Orlowski 1992, S. 68). Im ersten Brief bezog sich das Idiom polnische Wirtschaft auf die Gartenanlage des Fürstbischofs Massaiskis in der Nähe von Wilna, die Forster unordentlich fand: „Aber auch dies, das Beste weit und breit, ist polnische Wirtschaft.“ Im zweiten Brief verwendete Georg Forster dasselbe Idiom, wobei er zusätzlich explizierte, welche Bewertungsaspekte mit dem Ausdruck polnische Wirtschaft verbunden sind: „Doch ganze Bogen <?page no="225"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 225 reichten nicht zu, um Ihnen einen Begriff von dem zu geben, was in den angrenzenden Gegenden Deutschlands, mit einem emphatischen Ausdruck, polnische Wirthschaft genannt wird“ [...] „Die Polen sind Schweine von Haus aus, so Herren als Diener: alles geht schlecht gekleidet, zumal das weibliche Geschlecht; putzen sie sich, so sitzt es wie der Sau das güldene Halsband. Ausnahmen giebts, das versteht sich; ich spreche von der allgemeinen Regel.“ (Forster 1784/ 1785 nach Orlowski 1993, S. 515). Dem zweiten Brief kann man deutlich entnehmen, daß Georg Forster hier nicht nur auf seine eigene Wahrnehmung der Polen Bezug nahm, sondern die Existenz des Idioms polnische Wirtschaft als allgemein bekannt hinstellt. Anhand dessen läßt sich annehmen, daß der Ausdruck in der alltäglichen Kommunikation der Bewohner des deutsch-polnischen Grenzgebiets entstanden ist. Jens Stüben ist der Ansicht, daß die sprachliche Formel polnische Wirtschaft „ursprünglich auf historisch-konkreten Beobachtungen beruhend, [...] bis heute ein zähes Eigenleben [fuhrt] und zum ‘politisch-ideologisch einsatzfähigen Vorurteil’, gar ‘Feindbild’ [wurde]“ (vgl. Stüben 1995, S. 60). Die beharrliche Tradierung des Idioms polnische Wirtschaft belegen zahlreiche deutschsprachige Texte auch in Lexika. Keinen expliziten Gebrauch des Idioms polnische Wirtschaft, statt dessen jedoch eine offensichtliche Analogie zu ihm, findet man in „Versuch in vergleichender Völkergeschichte“ von Ernst Moritz Arndt (1843). Arndt unternahm einen Charakterisierungsversuch des polnischen Volkes, bei dem er das Stereotyp ‘unordentliche/ chaotische Zustände’ einsetzte: „Der Pole ist gleich einem alten Renommisten der Universitäten leicht schön gewandt auf dem Tanzboden auf dem Fechtboden bei Gelagen voran. [...] aber fragst du nach seinen Werken Thaten und Arbeiten, o schlage das Buch zu! Seine Schlösser verfallen, seine Güter verpfändet, seine Bauern und Unterthanen von Gläubigern Juden und Lombarden geplagt; eben hat er sein letztes Roß satteln lassen, seine letzte Goldschabracke aufgelegt [...]morgen kommt Kummer und Beschlag, er ist ein Bettler, und übermorgen rufen dieselben Gaffer und Bewunderer, die ihn vorgestern einen schönen ritterlichen Mann priesen, Taugenichts und Narr. Das ist Polen, nicht viel gelinder kann über den Polen der Auspruch seyn (S. 317). An die polnische Wirtschaft appelliert Arndt auch expliziter: ,ßesinnt euch doch endlich einmal, fangt doch einmal an, Ordnung und Regierung bei euch zu schaffen“ (S. 318 - Hervorhebung im Originaltext). Eine explizite Verwendung des Idioms polnische Wirtschaft findet man bei Heinrich Laube und Karl August Vamhagen. Laube äußert mit Bezug auf den November-Aufstand 1830: „Ich hatte sie [die polnische Revolution, J.D.] in der Tat unterschätzt, weil ich in Glogöw (Glogau) und Wroclaw (Breslau) ständig Kontakt zu Polen hatte, ich war also überzeugt davon, daß sie weder imstande sein würden, miteinander einig zu werden noch sich in ihrem zänkischen Hochmut zu organisieren. Der Ausdruck ‘polnische Wirtschaft’ war in <?page no="226"?> 226 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Schlesien so verbreitet, daß man in dieser Gegend absolut nicht an die Entstehung eines polnischen Staates glaubte.“ (Laube 1875, nach Oriowski 1994, S. 94). Oriowski stellt bei Varnhagen die Ausweitung des Bezugsbereiches des Ausdrucks fest, der im Mai 1848 folgendes schrieb: „... unsere deutschen Angelegenheiten werden immer komplizierter. Bald werden wir den Polen nichts mehr vorwerfen können, weil wir selbst eine ‘polnische Wirtschaft’ sind.“ (Varnhagen 1862, nach Oriowski 1994, S. 94). Verallgemeinerter Gebrauch des Idioms polnische Wirtschaft bestätigen zahlreiche Lexika, die bis in die Gegenwart diese Redewendung als Synonym für Schlamperei, Unordnung und Durcheinander anfuhren (vgl. Duden-Redewendungen 1992, S. 553). Oriowski belegt die große Verbreitung dieser Redewendung mit einer ganzen Reihe von großen ein- und zweisprachigen Wörterbüchern wie zum Beispiel mit dem deutsch-französischen und dem deutsch-italienischen (vgl. 1994, S. 106). Ein verwandtes Idiom, das auch auf das 18. Jahrhundert zurückgreift, ist der Ausdruck polnischer Reichstag, der hinsichtlich des negativen Wertungsgehalts zu polnische Wirtschaft analog ist. Der Ausdruck polnischer Reichstag war ein Synonym für Chaos, Anarchie und Unwirksamkeit (vgl. Lewandowski 1995a, S. 148). Oriowski ist der Meinung, daß polnischer Reichstag im Unterschied zu polnischer Wirtschaft nicht auf Erfahrungen des Alltags beruhte, sondern auf "Kenntnisse[n] der Diplomaten und Politiker sowie [dem] überlieferten Wissen der Geschichtsschreiber“. Der Begriff des ‘polnischen Reichstags’ gelangte im Jahre 1742 über Zedlers „Großes vollständiges Universal- Lexicon“ an die deutsche gebildete Öffentlichkeit (vgl. 1993, S. 517). Die polnische Wirtschaft wurde hauptsächlich in Deutschland, der polnische Reichstag hingegen vorrangig in Schweden lächerlich gemacht. Im Jahre 1712 wurde der Terminus polsk riksdag als Bezeichnung für eine Versammlung, die sich durch eine besondere Impulsivität und mangelnde Konsensfindung auszeichnet, verwendet (vgl. Lewandowski 1995a, S. 148). Davon, daß die beiden Ausdrücke synonym verwendet wurden, zeugt die Definition aus dem „Wörterbuch der deutschen Sprache“ von Daniel Sanders aus dem Jahre 1876. Den ‘polnischen Reichstag’ definierte Sanders als „Bezeichnung des Ungeordneten, wo es bunt drunter und drüber geht; ebenso und zugleich mit dem Begriff der Unsauberkeit: Polnische Wirthschaft“ (Sanders 1876, S. 571). Die Reichweite des Idioms polnische Wirtschaft belegt sicherlich die Tatsache, daß diese sprachliche Formel auch in die Welt der Musik, genauer in die Welt der Operette eingedrungen ist. Im „Heidelberger Tageblatt“ vom 28. Mai 1919 kann man lesen: "‘P o 1 n i s c h e W i r t s c h a f t.’ ‘Die polnische Wirtschaft’ war einer der größten Operettenschlager vor dem Kriege. Heute zündet sie immer noch, obwohl manches verblaßt erscheint.“ (Heidelberger Tageblatt 1919, S. 2). Oriowski nennt sogar zwei Operetten, die diesen Titel trugen: eine von Hermann Zumpe und Richard Gere (1889) und die zweite von Kurt Kratz, Georg Okonsky und Jean Gilbert (1910), wobei diese beson- <?page no="227"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 227 ders erfolgreich war. Ihre Handlung, analog zur Bedeutung des Idioms, „spielt sich in einem komischen Durcheinander, in Chaos und Unordnung ab“. (Orlowski 1994, S. 103). Orlowski vertritt die Meinung, daß die sprachliche Formel polnische Wirtschaft als Ausdruck für das Stereotyp ‘unordentliche/ chaotische Zustände’ eine Doppelfunktion zu erfüllen hatte: „die eines abschreckenden Heteroklischees sowie die eines bestätigenden Autoklischees: Im Heteroklischee spiegelte sich also um so klarer ein positives Selbstbild von sich wider.“ (vgl. 1994, S. 104). Eine Gegenüberstellung führte Richard Meyer im Jahre 1912, indem er die „polnische genial-liederliche Wirtschaft“ und die „siegreich hervorbrechende Tüchtigkeit“ konfrontiert. Orlowski erkennt im Ausdruck polnische Wirtschaft ein ambivalentes Wertungspotential und zwar insofern, als das, was im Heterostereotyp der Deutschen negativ eingestuft wird, in der Selbstwahrnehmung der Polen positiv wahrgenommen wird. Es können nämlich Kontexte Vorkommen, in denen „Sorglosigkeit zu Leichtsinn, [...] Großzügigkeit zu Verschwendung, [...] Improvisation zu Unverantwortlichkeit, [...] Phantasie zu Unberechenbarkeit, effektvolles Äußeres zu Schlampigkeit, Offenheit gegenüber anderen Kulturen zu Nachäfferei“ werden (vgl. ebd., S. 101). Daraus ergibt sich, daß vieles, durch die Wahrnehmungsperspektive bedingt, anders eingeschätzt und interpretiert wird. So können ein Ereignis oder ein Sachverhalt einmal positiv und einmal negativ gewertet werden. Wichtig ist also in diesem Zusammenhang die Wahrnehmungsperspektive der jeweiligen sozialen Gruppe mit ihren Wertmaßstäben, ihrem Selbstbild und dem dadurch bedingten Fremdbild. Die von Hubert Orlowski erwähnte Verbindung zwischen dem Auto- und Heterostereotyp bzw. Selbst- und Fremdbild stellen bildhaft zwei Zeichnungen aus dem „Kladderadatsch“ vom 27. Juli 1919 unter der Überschrift Politur dar (Kladderadatsch 1919): Abb. 5 Die deutsche Wirtschaft und - <?page no="228"?> 228 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Abb. 6 ihre Umwandlung in eine polnische Wirtschaft Die Bedeutung ‘schlampig, unordentlich, chaotisch’ kann nach Meinung von Orlowski auch allein mit dem Adjektiv polnisch verbunden sein, so als ob polnisch die elliptische Form von polnische Wirtschaft sei. (vgl. 1994, S. 96). In den Tagebüchern Klemperers kann man folgende Notizen zu einer Rede Hitlers aus dem Jahre 1939 lesen: „Gestern nachmittag hörte ich den größten Teil der Führertriumphrede am Lautsprecher des „Freiheitskampfes“ beim Bismarck. Einiges rhetorisch sehr wirksam. ‘Die polnischen Soldaten kämpften tapfer, ihre Unterführung war brav, der mittleren Führung fehlte Intelligenz, die Oberfuhrung war vollkommen schlecht, die Organisation polnisch’...“ (1933-1941, S. 472). Die Verbindung des Substantivs ‘Organisation’ mit dem Adjektiv ‘polnisch’ im Nazi-Wortschatz spielt eindeutig auf das Idiom polnische Wirtschaft an, obwohl er nicht wortwörtlich verwendet wurde. Polnische Wirtschaft wird, wie auch Orlowski in bezug auf die NS-Sprache meint, als eine „unkluge, weil ineffiziente (Organisation der) Arbeit, besonders auf der national-staatlichen Ebene“ verstanden (vgl. 1994, S. 104). Im Hitler- Deutschland wurde das Idiom, mit dem das Stereotyp ‘unordentliche/ chaotische Zustände’ verbunden ist, in der Nazi-Propaganda auch in Form von Bildern aktualisiert. Als Beispiel hierfür können zwei Photos aus der Propagandaschrift „Warschau unter deutscher Herrschaft“ aus dem Jahre 1942 dienen (Gutschow/ Klain 1994, S. 109): <?page no="229"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 229 Abb. 7 „Schnurgerade“ Beete in einer polnischen Gärtnerei Abb. 8 Deutsche Mustergärtnerei in Warschau Die Originalbildunterschriften aus dem Jahre 1942 drücken mit Zynismus das Auto- und Heterosterotyp der Nazis aus. Die sprachliche Formel polnische Wirtschaft als Ausdruck eines nationalen deutschen Heterostereotyps wurde während der Zeit des Sozialismus in Polen „entnationalisiert“ und gleichzeitig ideologisch unterfiittert. Dadurch konnte sie auf alle Länder desselben politischen Systems übertragen werden. In „Deutschland, was nun“ von 1991 Arnulf Barings, heißt es: „In der alten DDR herrschte im Grunde, wie man es früher formuliert hätte, polnische Wirtschaft. <?page no="230"?> 230 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Als eine Variation davon hat mir neulich jemand, die Provokation auf die Spitze treibend, gesagt: ‘und aus den Menschen dort sind weithin deutsch sprechende Polen geworden" (S. 63). In dieser Sichtweise sind nur die Westdeutschen die „echten“ und „richtigen“ Deutschen, während die Ostdeutschen durch die gemeinsame Ideologie die „polnischen“ gleich negativen, mit polnischer Wirtschaft assoziierten Eigenschaften von den Polen übernommen haben. Das obige Zitat zeigt, wie sehr die beiden Stereotype, das nation- und das ideologiebezogene, aufeinander projiziert werden, und daß bei der Realisierung des Stereotyps der ‘kommunistischen Mißwirtschaft’ sich die, wie gezeigt, mächtige Tradition des Idioms polnische Wirtschaft, mit dem das Stereotyp ‘unordentliche/ chaotische Zustände’ zusammenhängt, als verstärkender Faktor auswirkt. 5.14 Polizei-Staat I) Prädikation: „Das kommunistische Polen ist ein Polizeistaat“ II) Illustrationsbelege: 1) Mit fürchterlicher Konsequenz läuft es in Polen auf den Abgrund zu: auf den Zusammenprall von Staatsgewalt und Streikenden, auf Blutbad und neue Repressionen. Denn alle anderen Stationen sind schon durchlaufen: Mit Versprechungen untermalte Appelle an die Streikenden, sie mögen einlenken, blieben wirkungslos; die alte Führungsgarnitur zu opfern, um die Massen zu besänftigen, wird in solchen Staaten immer erst erwogen, wenn das Unheil geschehen ist als eine Art Pilatus-Geste. [...] Noch jeder Auflehnungsversuch gegen die kommunistische Herrschaft hat so geendet, wie dieser enden wird: mit Gewalt, Blut und vollen Gefängnissen. (Das Rad der Geschichte, FAZ, 20.08.1980, FZ 082 001. TXT). 2) Viele befürchten, daß die Streiks in Polen mit Blutvergießen enden werden, ob nun die polnische Führung Militär gegen die Streikenden einsetzt oder am Ende die Sowjetunion interveniert. (Schwache Anteilnahme, FAZ, 21.08.1980, FZ082114.TXT). 3) Wenn Johannes Paul II. um Verschonung seiner Heimat von Aggression und Gewalt betete, dann zeugt dies von der ohnmächtigen Einsicht, daß die polnischen Menschen auch gemeinsam mit der Kirche bei ihrem Kampf um mehr Freiheit nicht vor Gewalt sicher sein können. (Vom Papst herausgefordert - Stimmen der Anderen, FAZ, 6.09.1980, FZ090606 . TXT) 4) Vier Jahre nach den dramatischen Arbeiterprotesten im Warschauer Traktorenwerk Ursus sowie Lublin und zehn Jahre nach den nur durch Panzereinsatz unterdrückten Arbeiterrevolten in den Ostseestädten geistert durch Polen wieder einmal das Gespenst von Streiks und politischen Konflikten. (Schwere Zeiten für Polen, FAZ, 9.07.1980, FZ 070901. TXT). 5) Lohnforderungen werden oft noch an Ort und Stelle bewilligt, Streiks dadurch auf sanfte Art eingedämmt. So schien es zunächst. Aber die Lage in Polen ist zu vertrackt, als daß <?page no="231"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 231 es auch mit der freundlichen Methode zu einem besseren Ende führen könnte. (Polnische Leiden, FR, 13.08.1980, FR081302.TXT). 6) Kuron verwies in einem Beitrag für eine Bonner Tageszeitung darauf, daß es erstmalig nicht zu Straßendemonstrationen, zu Zusammenstößen mit der Miliz oder dem Militär oder zum Niederbrennen von Parteihäusem gekommen sei. (Gierek nicht nach Hamburg, FAZ, 19.08.1980, FZ081971.TXT). 7) Als besonders bemerkenswert hebt Kuron den Umstand hervor, daß es im Unterschied zu den früheren Arbeiterunruhen bislang weder zu Straßendemonstrationen, zu Zusammenstößen mit Militär und Polizei noch zum Niederbrennen von Parteibüros gekommen sei. Statt dessen protestieren die Streikenden auf eine Weise, die im Einklang mit der KOR-Parole stehe, eigene Komitees zu bilden und nicht gewaltsam gegen die der Kommunistischen Partei vorzugehen. (Kuron glaubt nicht an Intervention, FAZ, 29.08.1980, FZ 082 911 .TXT). 8) In nur wenigen Wochen und ohne Blutvergießen haben die Streikenden in Danzig einen Sieg errungen, den Gewehre nicht hätten erreichen können. Und sie sind nun im Begriff, die Ansicht zu widerlegen, daß große liberalisierende Veränderungen im sowjetisch beherrschten Europa politisch nicht zu erreichen sind. (Zurückhaltung in West und Ost - Stimmen der Anderen, FAZ, 4.09.1980, FZ090404 .TXT). 9) Kein Polizist zu sehen weit und breit. Überhaupt scheint die uniformierte Miliz in der Stadt Danzig aus dem Verkehr gezogen zu sein. (Auf dem Metallschild am Hotel Morski steht jetzt: Unabhängige Gewerkschaft in Danzig, FAZ, 12.09.1980, FZ091210 . TXT). 10) Von Versuchen mit Abschreckungen und Warnungen auf die Haltung der Arbeiter Einfluß nehmen zu wollen, ist nichts bekannt, und das bedeutet mit hoher Sicherheit, daß sie auch nicht vorgekommen sind. Entsprechend werden die Lohnauseinandersetzungen offenbar auch von der Arbeiterseite ruhig und besonnen geführt. (Die Streiks in polnischen Betrieben offenbar beigelegt, FAZ, 14.07.1980, FZ071401.TXT) 11) Weder Polizei noch die zahlreich verstreuten Geheimpolizisten in Zivil griffen ein. Die um das Denkmal versammelte Menge teilte sich, als sich die drei Soldaten der Wachablösung dem Denkmal näherten. Unter dem Beifall der Menge marschierten die Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett und unbewegten Gesichts im Stechschritt auf ihre Posten. Diese Warschauer Momentaufnahme ist geeignet, die Aufmerksamkeit der Beobachter auf die Rolle der Armee zu lenken: würde sie, wie die katholische Kirche, sich mehr der polnischen Nation verpflichtet fühlen - oder mehr dem kommunistischen Staat? (Kranzniederlegung nach Gottesdienst, FAZ, 16.08.1980, FZ081606.TXT). 12) Weder Miliz noch die zahlreich vertretenen Geheimpolizisten in Zivil griffen ein. [. ..] Unter dem Beifall der Menschen marschierten die Soldaten mit aufgepflanztem Gewehr und unbewegtem Gesicht im Stechschritt durch die bereitwillig freigemachte Gasse. („Etwa 3000 bis 5000 Menschen ...“, FR, 16.08.1980, FR081651. TXT). 13) Westliche Korrespondenten konnten sich frei in der Stadt bewegen, ihre Berichte aber erst nach der Rückkehr nach Warschau weitergeben. Sie konnten auch das Gelände der <?page no="232"?> 232 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck bestreikten Werften betreten. In Warschau waren die Telefone der Dissidenten am Sonntag streng überwacht. Ihre Telefongespräche mit westlichen Korrespondenten wurden nach nur wenigen Worten unterbrochen. (Gefährliche Ruhe in Danzig, FAZ, 18.08.1980, FZ0818 02.TXT). 14) Die Julistreikwelle unterschied sich deutlich von den Unruhen von 1970 und 1976. Damals hatten die Proteste der Arbeiter zu gewalttätigen Zusammenstößen mit der Polizei und kleineren Aufständen geführt. 1980 wurde keine einzige Waffe erhoben zumindest bisher, denn Meldungen über Streiks in entfernt von Großstädten liegenden Orten und Kleinbetrieben erreichen weiterhin die Hauptstadt. (Nur Schaum aufgefüllt, FR, 9.08.1980, FR080901.TXT). 15) Für eine Verstärkung der Sicherheitskräfte, die auf einen bevorstehenden Einsatz gegen die Streikenden hindeuten könnte, gab es keine Anzeichen. Gerüchte, denen zufolge mit einem solchen Eingreifen gerechnet werden müsse, wurden vom örtlichen Parteisekretär Tadeusz Fiszbach dementiert. (Streiks in Polen weiten sich aus, SZ, 18.08.1980, SZ081851.TXT). 16) Man kann sich ohne jegliche Angst bewegen. (Das Volk hört eine neue Sprache, SZ, 25.08.1980, SZ082550.TXT). 17) Auch die CDU begrüßte die gewaltlose Beilegung der Streiks (ddr verschweigt polnische Vereinbarungen, SZ, 2.09.1980, SZ090202.TXT) III) Zuordnung zur Funktion Den obigen Belegen kann man entnehmen, daß die Prädikation sowohl explizit als auch implizit zum Ausdruck gebracht wird. Aus der Analyse ergibt sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit, daß die expliziten Stereotype den erwartbaren, also typischen Sachverhalten und die impliziten den atypischen entsprechen. Demnach ist die Erwartung der Katastrophe typisch, in der es einerseits zum Zusammenstoß der Miliz bzw. des Militärs und der polnischen Gesellschaft kommt (vgl. Belege: (1) bis (4)). Dagegen ist das Verhalten der Staatsmacht, die den Streikenden gegenüber keine Gewalt anwendet, atypisch (vgl. Belege: (5) bis (17)). IV) Medienspezifik und Textsortenverteilung Die Prädikation „Das kommunistische Polen ist ein Polizei-Staat“ wird in allen drei analysierten westdeutschen Tageszeitungen in der FAZ, SZ und FR sprachlich realisiert. Auffällig ist die große Zahl westdeutscher Zeitungstexte, in denen dieses Stereotyp seinen Niederschlag findet. Der polnische Staat wird hauptsächlich in der Presse der Bundesrepublik Deutschland als ein Land mit totalitärem System explizit dargestellt; das Stereotyp steht insofern im Einklang mit dem westdeutschen politischen Gesellschaftssystem und wird nicht tabuisiert. Aus diesem Grund ergibt sich sowohl seine ziemlich gleichmäßige Verteilung in unterschiedlichen Textsorten als auch seine unterschiedliche <?page no="233"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 233 Plazierung auf verschiedenen Zeitungsseiten. Die empirische Analyse zeigt, daß dieses Stereotyp in beiden journalistischen Textsortenbereichen, nämlich in informationsbetonten, d.h. Nachrichten, Berichten, Meldungen und Reportagen und in meinungsbetont-persuasiven Textsorten wie Kommentaren (vgl. Lüger 1983, S. 64) auftritt. Zusätzlich läßt sich jedoch ein Spezifikum beim Vergleich aller drei Zeitungen verzeichnen; in den Artikeln der SZ wird das Stereotyp nicht so häufig und nicht so appellativ wie in der FR und in der FAZ verwendet, d.h., die FR- und FAZ-Leser scheinen stärker zur Übernahme der Einstellung „Das kommunistische Polen ist ein Polizei-Staat“ aufgefordert zu sein. In der FR und in der FAZ kann man außerdem sein explizites Auftreten in mehreren Schlagzeilen beobachten, worin sich zeigt, daß das Stereotyp als Leseanreiz eingesetzt wird. V) Zur lexikalischen und syntagmatischen Realisierung Zur Realisierung des Stereotyps vom ‘Polizei-Staat’ gehören auch Ausdrücke, mit denen auf das Militär als eine politische Ordnungsmacht Bezug genommen wird. Die Verwendung von Signalwörtern läßt sich sowohl auf der lexikalischen als auch auf der syntaktischen Ebene nachweisen. Dabei muß jedoch berücksichtigt werden, daß das im Kontext als typisch fungierende Stereotyp ausschließlich auf der lexikalischen Ebene mittels Signalwörtern realisiert wird; hingegen muß bei ihrer atypischen Realisierung auch auf die syntaktische Ebene eingegangen werden. Aufgrund der Analyse des gesamten, im Kap. 1 beschriebenen Textkorpus lassen sich mehrere Wortschatzbereiche unterscheiden. Zur ersten und gleichzeitig umfangreichsten Gruppe gehören Signalwörter, die unabhängig von ihrer eventuellen negierten Verwendung in Texten auftreten: Nomina Gewaltanwendung (6x); Gewalt (15x); Gewaltmittel; Gewalttätigkeiten; Staatsgewalt; Blutvergießen (3x); Blutbad (3x); Blut; Militäreinsatz; Armee (3x); Miliz (6x); Polizei (19x); Militärtransport; Polizisten (3x); Polizeistreifen; Truppenbewegungen; Militär; Soldaten; Ordnungskräfte; Sicherheitsorgane; Kampf; Panzereinsatz; Frontalangriff; Scheinlegitimation; Polizeigewahrsam; Panzer (3x); Gewehre; Dissidentengruppen; Dissidenten (10x); Dissidentenkreise (2x); Festgenommene (3x); Gefangene (5x); Verhaftung (4x); Verhöre; Festnahme (4x); Repressionen; Polizeischikanen (2x); Zwangsmaßnahmen (2x); Druckmittel; Aggression; Polizeiaktion; Abschreckungen; Warnungen; Druck, Eskalation; Sowjettruppen; Unrecht (2x); Zwang; Tragödie; Haftbedingungen. <?page no="234"?> 234 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Adjektive inhaftiert (2x); festgenommen (5x); verhaftet (2x); gewaltsam; bedrohlich; beunruhigend; blutig; gesetzwidrig; militärisch. Verben festnehmen (16x); verhaften; festhalten; verurteilen; hindern; behindern (2x); schikanieren (2x); drohen (2x); eingreifen (4x); beschuldigen; anschwärzen; einschreiten; verweigern; verhören; überwachen; durchsuchen (2x); stürmen; opfern; zerschlagen; niederzwängen; niederwälzen; niederschlagen; marschieren (2x). Nominale Syntagmen Einsatz von Miliz oder Militär (2x); Einsatz von Gewalt (4x); Anwendung von Gewalt; Einsatz von Gewaltmaßnahmen; Einsatz von bewaffneter Macht; gewaltsames Einschreiten der Regierung; militärische Intervention; bevorstehender Einsatz gegen die Streikenden; Eingreifen der Armee; Armee nötigenfalls zur Erfüllung von Polizeiaufgaben einsetzen; Anwendung von Schikanen; Verstärkung der Sicherheitskräfte; direkte Konfrontation zwischen Polizei und streikenden Arbeitern; Zusammenstöße mit Militär und Polizei; militärisches Eingreifen; Vertreibung mittels russischer Panzer; blutige Zusammenstöße; gewalttätige Zusammenstöße; blutige Unterdrückung (2x); blutige Demonstrationen; Terror von oben oder außen; Terror von oben; Zusammenstöße mit der Miliz oder dem Militär; Angehörige der Miliz; Autokolonnen mit Polizei; Polizisten in Zivil; Gewahrsam der Polizei; Streifen der Miliz; volle Gefängnisse; Geheimpolizisten in Zivil (2x); zivile Sicherheitsbeamte; uniformierte Miliz; Marsch nach Danzig; <?page no="235"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 235 verstärktes Auftreten der Polizei; Sicherheitsvorkehrungen der Polizei; verfestigte Unehrlichkeit; kaum verhüllte Drohungen; Verhängungen von Untersuchungshaft; scheinlegale Schikanen; etwa 30 Bürgerrechtler in Haft; starke dissidente Bewegung; Schlag gegen Dissidentenkreise; politische Häftlinge; Serie von Ausständen; dramatische Arbeiterproteste; unterdrückte Arbeiterrevolte. Verbale Syntagmen mit Gewaltanwendung drohen; scharf vorgehen; aufArbeiter schießen lassen (3x); mit Waffengewalt niederschlagen; blutig niederschlagen; mit Gewalt gegen die Streiks vorgehen (3x); in die Wohnung eindringen; Blut vergießen; in Haft sein! nehmen (3x); Gewalt anwenden; sich nicht an die geltenden Gesetze halten; an dem Arbeitsplatz von der Polizei aufgesucht werden; Militär einsetzen; Sowjetunion interveniert; mit Handschellen ins Polizeikommissariat abgeführt werden; Streikposten angreifen; Waffe erheben; Polizei und Miliz verlegen; unter Hausarrest stehen; Briefe auf Umwegen erhalten; Kleider nicht wechseln können (2x); aufdem Fußboden in den Zellen ohne Matratzen und Decken schlafen (2x); warmes Essen nur in Ausnahmefällen bekommen (2x); unter anderen Vorwänden aus politischen Gründen vor Gericht stellen; ohne staatliche Kontrolle handeln; Telefonverbindungen blockieren; Telefone überwachen (2x); Telefongespräche unterbrechen (2x); <?page no="236"?> 236 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck im Gefängnis sitzen; starke Polizeikräfte ziehen zusammen. Wortschatzbereiche: a) Im folgenden werden die Ausdrücke aufgelistet, mit denen die typische Verwendung des Stereotyps in den Belegen (1) bis (17) realisiert wird: Zusammenprall von Staatsgewalt und Streikenden; Blutbad; Repressionen; das Unheil ist geschehen; Gewalt; Blut; volle Gefängnisse; Blutvergießen; Militär gegen die Streikenden einsetzen; Sowjetunion interveniert; Aggression und Gewalt; nicht vor Gewalt sicher sein; Panzereinsatz; unterdrückte Arbeiterrevolte; gewalttätige Zusammenstöße mit der Polizei und kleinere Aufstände. b) Nun werden die Ausdrücke aufgelistet, mit denen die atypische Verwendung des Stereotyps realisiert wird; dabei wird besonders auf Negation und textuell hergestellte Antonymien geachtet; deshalb haben diese Ausdrücke die Form von Syntagmen. Negation es ist [...] nicht zu Straßendemonstrationen, zu Zusammenstößen mit der Miliz oder dem Militär oder zum Niederbrennen von Parteihäusern gekommen (6); ist [...] weder zu Straßendemonstrationen, zu Zusammenstößen mit Militär und Polizei noch zum Niederbrennen von Parteibüros gekommen. Statt dessen [...] nicht gewaltsam. (7); ohne Blutvergießen (8); Kein Polizist zu sehen weit und breit (9); Von Versuchen mit Abschreckungen auf die Arbeiter Einfluß zu nehmen, ist nichts bekannt [...] sie sind nicht vorgekommen (10); Weder Polizei noch Geheimpolizisten in Zivil griffen ein. (11); Weder Miliz noch Geheimpolizisten in Zivil griffen ein (12); 1980 wurde keine einzige Waffe erhoben (14); Für eine Verstärkung der Sicherheitskräfte [...] gab es keine Anzeichen; <?page no="237"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 237 Gerüchte, denen zufolge mit einem solchen Eingreifen gerechnet werden müsse, wurden dementiert (\5). Das Stereotyp „Das kommunistische Polen ist ein Polizei-Staat“ wird im Text als atypisch vor dem typischen Hintergrund des Polizei-Staates wahrgenommen. Diese Atypik kommt deutlich zum Ausdruck in der Verbindung eines Signalwortes mit Negationswörtern wie kein, nicht, niemand, weder noch und nichts sowie mit negierend verwendeten Präpositionen wie ohne. Die im folgenden genannten Wörter besitzen nicht in gleicher Weise Signalwortcharakter wie die schon genannten. Die hier aufgelisteten Beispiele zeigen, daß neben der Negation vor allem die Antonyme den Wortschatz des gewaltlosen Widerstands repräsentieren, der den Signalwörtern des Stereotyps entgegengesetzt wird. In diesem Zusammenhang werden diese Signalwörter als atypisch in der jeweiligen Situation empfunden und überwiegend mit Hilfe der Konstruktion: Signalwort + Negationswort präsentiert. Die auf eine ähnliche Weise verwendeten Antonymien, die sich aus der Polarität der Wortschätze der diktatorischen Gewalt und des gewaltlosen Widerstands ergeben, unterstützen die Funktion der typisch verwendeten Signalwörter des Stereotyps, wenn sie in deren unmittelbarem Kontext verwendet werden. Auf der Basis des gesamten Textkorpus lassen sich folgende antonymische Ausdrücke unterscheiden: Antonymische Ausdrücke zum Polizei-Staat gewaltlos (5x); ruhig; besonnen; friedlich (7x); unblutig; friedliche Beilegung; gewaltlose Beilegung (4x),völlige Ruhe; sanfte Art; freundliche Methode; Staatsgewalt hält sich zurück; Gewaltlosigkeit; friedliche Mittel; Verzicht aufrepressive Maßnahmen; Entwicklung wie in der CSSR 1968 vermeiden; freilassen (10x); auffreien Fuß setzen (3x); Freilassung (4x); Freigelassenen; entlassen; <?page no="238"?> 238 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck bereitwilligfreigemachte Gasse; Zufahrtswege warenfrei; sichfrei in der Stadt bewegen; sichfrei bewegen. Wie den Belegen (1) bis (17) zu entnehmen ist, werden Antonymien mit Adjektiven wie besonnen, ruhig, sanft, freundlich sowie mit bestimmten Wortbildungsmustern wie dem Suffix -los ausgedrückt: aufsanfte Art eindämmen (5); freundliche Methode (5); ruhig und besonnen (10); die uniformierte Miliz scheint aus dem Verkehr gezogen zu sein (9); bereitwilligfreigemachte Gasse (12); sichfrei in der Stadt bewegen (13); das Gelände der bestreikten Werften betreten (13); sich ohne jegliche Angst bewegen (16); gewaltlose Beilegung (17). c) Kontrastierung von Typik und Atypik In den Belegen (5) und (13) findet man eine besondere Art der Textkonstitution, die auf der Verknüpfung der beiden Verwendungen von Stereotypie beruht. Im Text (5) werden die atypischen Merkmale als Rahmen für das typische Element der Lage verwendet. Die Atypik der Situation im Textsegment (5) wird mit den Syntagmen sanfte Art und freundliche Methode ausgedrückt. Das Typische wird durch das Adjektiv vertrackt repräsentiert, was eine explizite Ausdrucksweise der typischen Verwendung der Stereotype darstellt. Insgesamt überwiegt die Typik. Im Textsegment (13) liegt eine ähnliche Verknüpfung der Typik und Atypik vor, indem eingangs zwei atypische Sachverhalte mit man kann sich frei bewegen und das Gelände der Werft betreten bezeichnet werden, anschließend wird das Atypische mit einer typischen Verwendung des Stereotyps Telefone waren überwacht und Telefongespräche wurden unterbrochen in den Hintergrund gerückt. Den Kontrast von Typik und Atypik unterstreicht zusätzlich die Konstruktion, in der eine implizite Erwartung ausgedrückt wird und ein davon abweichendes Ereignis anschließend genannt wird. Die Antonymie wird dann in der Verwendung folgender syntaktischer Strukturen manifestiert: so schien es zunächst (5); erstmalig (6); <?page no="239"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 239 besonders bemerkenswert (7) im Unterschied zu den früheren Arbeiterunruhen (7); statt dessen (7); die Julistreikwelle unterschied sich deutlich [...] damals [...] zumindest bisher (14). VI) Resümee In den untersuchten Texten (1980) überwiegt unter den verschiedenen sprachlichen Realisierungsmöglichkeiten der Prädikation die atypische Verwendungsweise, d.h., daß die Prädikation „Das kommunistische Polen ist ein Polizei-Staat“ dazu dient, eine Erwartung auszudrücken, die in den Augen der Journalisten fast immer als widerlegt gilt. Diese Erwartung besagt, daß es in der konkreten historischen Situation unvermeidlich auf den Zusammenprall des gewalttätigen Regimes mit der Gesellschaft zusteuert. Doch der Zusammenprall bleibt aus, was auch die viel zitierten Politikeräußerungen über die „gewaltlose Beilegung des Konflikts“ zeigen. In dieser Konstellation teilen die Journalisten die polnische Gesellschaft dichotomisch auf, indem sie zwischen dem Regime als einer kleinen Minderheit und der Bevölkerung als Mehrheit unterscheiden. Sogar die Polizei wird in diesem Zusammenhang nicht dem Regime, sondern der Bevölkerung zugewiesen. Genau genommen wird die kleine Minderheit, das Regime, als ein eigentlich außerhalb der Gesellschaft stehender Faktor dargestellt. Das Regime verkörpert in den Augen der westdeutschen Presse den Kommunismus, d.h. eine fremde, von außen hereingetragene Ideologie. Dieses zeigt, daß das Stereotyp sich mehr auf den Kommunismus im allgemeinen als auf Polen als Nation bezieht. Hieraus ist die Rolle zu erkennen, die diese Prädikation in der westdeutschen Presse spielt. Sie liefert einen Beitrag zur Bestätigung des gesellschaftlichen Selbstverständnisses der Deutschen, in einem gewaltfreien und demokratischen Staat zu leben. 5.15 Zum russisch-polnischen Verhältnis I) Prädikation: „Polen und Russen stehen sich feindlich gegenüber“ II) Illustrationsbelege: 1) Ich stelle mich als Journalist vor und bitte um Einlaß. Die Posten versichern sich zuerst, ob ich kein Russe oder Ostdeutscher bin, und führen mich dann in ein Gebäude. (Unerschüttert halten sie an den 21 Forderungen fest, FR, 28.08.1980, FR082809.TXT). 2) Öffentliche Verkehrsmittel fahren nicht. Auch die Taxis stehen still. Nur Ausländer werden chauffiert. Der einzige Taxifahrer am Flughafen, schon wortlos bereit, den An- <?page no="240"?> 240 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck kommenden aufzunehmen, schlägt abrapt wieder die Tür zu, als er sich von mir, gerade aus Moskau kommend, gedankenlos russisch angeredet hört. Als ich sage, ich sei Deutscher, fragt er auf deutsch nur: ‘Bundes? ’ Ich nicke, er strahlt, öffnet die Wagentür wieder und erklärt: ‘Reden Sie ja nicht russisch. Wir wollen nichts von den Russen wissen.’ Bereitwillig fährt er zum Danziger Hafen, der Lenin-Werft, entgegen. („Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, SZ, 23 / 24.08.1980, SZ082301. TXT). 3) Polen hat heute den höchsten Schweinebestand seiner Geschichte (22 Millionen Stück), aber weniger Fleisch als jemals zuvor in den Geschäften. Zornige Arbeiter behaupten, alles gehe nach Moskau. ‘Wir haben denen die Olympiade bezahlt’, sagt in Danzig einer voller Wut. Aber das stimmt nicht. Das Fleisch geht zum größten Teil in den Westen. (Das Volk hört eine neue Sprache, SZ, 25.08.1980, SZ082550 . TXT). 4) Aber das empfindliche Machtgefiige der polnischen Führung, in dem Dogmatiker und Pragmatiker, aber auch politische Phlegmatiker wie der jetzt entlassene „Gewerkschafts“-Boß Jan Szydlak saßen, ließ es nicht zu, den Mann zu ignorieren, der in Polen als „Russe“ verachtet wurde. (Rettungsversuch mit dem letzten Aufgebot, SZ, 27.08.1980, SZ082710.TXT). 5) Vermutlich tragen zwei Gründe zur polnischen Sonderrolle bei. Ihre Polen kennen die Russen intim, seit Jahrhunderten. Die Zaren waren Herrscher über die Polen schon zur Zeit der Französischen Revolution. Russen wissen, wie schwer regierbar diese Untergebenen sind. Die Warschauer Zitadelle war nicht angelegt, um die Stadt notfalls zu verteidigen, sondern um sie notfalls zu belagern. Die Russen - und die Sowjets wissen demnach auch, daß sie in Polen nicht auf Nachfahren Schwejks träfen, sondern auf Nachfahren des Warschauer Schusters Kilinski, der 1794 die russische Garnison aus Warschau vertrieb und dessen Denkmal noch heute an den Mauern der Warschauer Altstadt steht. (Der Sonderfall Polen, FAZ, 14.08.1980, FZ081404 . TXT). 6) Jetzt stünden diese erneuerten Nationen einem „latenten Feind“ gegenüber, nämlich dem „sowjetischen Eroberer“. Diese Feindschaft hält Seton-Watson jener für ebenbürtig, die einst für die von den moslemischen Ottomanen unterworfenen Nationen Europas charakteristisch war, doch leben wir im 20. Jahrhundert, in dem ähnliche Spannungen schneller und gefährlicher durchschlagen. (Über die Ereignisse in Polen herrschte Verlegenheit, SZ, 15.10.1980, SZ 101501.TXT). 7) Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei sind allesamt historisch unabhängige Staaten, Kulturen von beträchtlicher Kraft und Originalität, die zum Westen und nicht zum Osten gehören. Sie haben an sich die Renaissance und die Reformation erfahren. Sie sind ebenso wie Ostdeutschland Teil einer hochentwickelten mitteleuropäischen Zivilisation -, von Natur mit Wien, Berlin und Paris, nicht mit Moskau verbunden. Die Feindschaft zwischen diesen Gesellschaften und der Sowjetunion stellt ein grundlegendes und dauerhaftes Problem für die sowjetische Regierung dar. Die Staaten dieser Region werden niemals die vollständig verläßliche Sicherheitszone bilden, nach der die Sowjetunion verlangt. Sie sind im Gegenteil jetzt eine ständige Zone der Unsicherheit und des Risikos für die Sowjetunion. (Finnische Lösung für Osteuropa - Stimmen der Anderen, FAZ, 28.08.1980, FZ082812.TXT). <?page no="241"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 241 8) Etwa 3000 bis 5000 Menschen nahmen am Donnerstagabend in Warschau an einer Kranzniederlegung zum 60. Jahrestag des Sieges der Polen über die sowjetische Armee im August 1920 teil. Vorher hatte in der überfüllten Universitätskirche Sankt Anna eine Messe stattgefunden. Bei dem Gottesdienst hatte ein Priester den damaligen Sieg in Polen meist „Wunder an der Weichsel“ genannt als Meilenstein in der Geschichte bezeichnet und mit der Rettung des Abendlandes nach dem Sieg über die Türkei bei Wien im Jahre 1683 verglichen. („Etwa 3000 bis 5000 Menschen ...“, FR, 16.08.1980, FR0 81651. TXT). 9) Die für Polens Schicksal entscheidende Frage lautet nur noch, ob die Niederhaltung des Aufstands mit landeseigenen Kräften gelingt oder ob abermals die Russen eingreifen müssen. Käme es zu letzterem die Folgen wären gerade in Polen unausdenkbar. (Das Rad der Geschichte, FAZ, 20.08.1980, FZ082001.TXT). 10) Auch Moskau würde es nicht dulden. Denn nur die Alleinherrschaft eines leninistischen Politbüros in Warschau garantiert das Verbleiben Polens im Sowjetblock. Zerbräche diese Alleinherrschaft, könnten nur viele, sehr viele sowjetische Panzerdivisionen die polnische Nation im Lager festhalten. Vor dem Einmarschieren scheut die Sowjetunion nicht zurück. (Hinziehen, lange hinziehen, FAZ, 23.08.1980, FZ082310 . TXT). 11) Schließlich hört man in der ddr immer wieder die Meinung, daß die Russen niemals tatenlos Zusehen würden, wenn in Polen an den Grundlagen der politbürokratischen Herrschaft der Partei gerüttelt werde. „Studieren Sie, wie die Russen sich zwischen dem ‘Prager Frühling’ und dem 21. August 1968 verhalten haben“, rät ein alter Freund. Die Parallelen seien unverkennbar. (In der ddr gemischte Gefühle über die Streiks in Polen, FAZ, 25.08.1980, FZ082501.TXT). 12) Der neue Erste Sekretär wird langsam aber sicher seinem Ziel entgegengehen: Polen wird wieder in die Knechtschaft von Moskau geführt, aus der es nach des Kremls Ansicht gar nicht erst hätte heraustreten dürfen. [...] Er [Stanislaw Kania, J.D.] weiß ganz genau, daß, wenn er scheitert, Moskau über andere Männer verfügt und [. . .] über andere Mittel, um sein Ziel zu erreichen. (Führer in die Knechtschaft - Stimmen der Anderen, FAZ, 9.09.1980, FZ090952.TXT). 13) An einem Schraubverschluß so lange zu drehen, bis der sowjetische Geist aus der Flasche fahrt, will sicher niemand in Polen. (Forderungen an die Führung, FR 19.08.1980, FR081907.TXT). 14) Nach seiner Freilassung sagte Kuroh zu Journalisten: „Wir müssen für den Ausbau des Freiheitsraumes arbeiten und dafür, den Raum des Totalitarismus zu verringern, dabei dürfen wir aber nicht die von den sowjetischen Panzern gesetzten Grenzen überschreiten.“ (Rückkehr zur Arbeit in Polen, FR, 2.09.1980, FR090202 . TXT). 15) Neben der gemäßigten kor gibt es zum Beispiel noch die extrem nationalistische „Bewegung für die Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte“ (robcio). Diese Organisation ist meistens auch verantwortlich für antisowjetische Demonstrationen, während kor streng darauf achtet, jede Provokation Moskaus zu vermeiden, (kor, SZ, 16./ 17.08.1980, SZ081602.TXT), <?page no="242"?> 242 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 16) Legte man militärische Ausdrucksweisen hier NATO, dort Warschauer Pakt zugrunde, muß sich Polen heute vom „Feind“ helfen lassen, damit der „Freund“ nicht kommt. (Das polnische Risiko, SZ, 20.08.1980, SZ082040.TXT). 17) „Die Russen werden es nicht wagen, nicht einmal ein Jahr nach der Militär-Intervention in Afghanistan nun in Polen einzumarschieren meint ein anderer [ein DDR- Bürger, J.D.]. [...] Außerdem könne er sich nicht denken, daß es einen maßgeblichen Polen gebe, der die Russen um Hilfe rufen könnte - „es sei denn, die Parteiführung erfüllt die politischen Forderungen der Arbeiter tatsächlich“. Doch das hält er für ziemlich ausgeschlossen. (In der ddr gemischte Gefühle über die Streiks in Polen, FAZ, 25.08.1980, FZ082501.TXT), 18) Mit deutlichem Blick auf die benachbarte Sowjetunion hieß es in dem Aufruf, die Streikwelle könne „die Besorgnis unserer Freunde“ wecken. Die Streikenden müßten sich außerdem vor Augen halten, daß ihr Vorgehen „den Feinden Polens“ nütze und die Gefahr von Provokationen heraufbeschwöre. (Das polnische Politbüro appelliert an die Streikenden, FAZ, 21.07.1980, FZ072101.TXT). 19) Wie groß der Druck von unten geworden ist, signalisiert die Tatsache, daß sich bereits das Politbüro in einem Appell an die streikenden Eisenbahner von Lublin wandte, die Wiederaufnahme der Arbeit forderte und warnend darauf hinwies, daß die Arbeitsniederlegungen „bei den Freunden Polens“ Beunruhigung hervorrufen könnten. (Polnische Zwänge, FR, 21.08.1980, FR082160.TXT). 20) In der Erklärung des Politbüros an die Streikenden von Lublin heißt es sinngemäß Wißt ihr denn nicht, daß die Freunde Polens beunruhigt sein könnten? An die Stelle des äußeren Feindes ist der äußere Freund getreten. Nach zehn Jahren Warschauer Vertrag ist das klassische Feindbild nicht mehr verwertbar, per Sonderfall Polen, FAZ, 14.08.1980, FZ081404.TXT). 21) Darin [Appell des Politbüros, J.D.] hieß es, die Arbeitsunterbrechungen könnten Beunruhigung bei den Freunden Polens hervorrufen, nutzten seinen Feinden und könnten Anlaß zu Provokationen sein. (Streiks in Lublin beendet, FR, 21.07.1980, FR072102.TXT). 22) Die „vorbeugende“ Verhaftung von etwa 20 aktiven Regimegegnem oder Bürgerrechtskämpfern hilft der Regierung gewiß nicht viel, kann aber als Alibi gegenüber Moskau begriffen werden. Dieser Liberalisierungswelle ist die Regierung durchaus bereit, nachzugeben. Die bange Frage ist nur, wo die Schwelle liegt, wann sich das Regime das eigene Grab schaufelt, oder die „Bruderstaaten“ zum Eingreifen provoziert. („Dieses Jahr kommen alle Prüfüngen über Polen“, FR, 25.08.1980, FR082512.TXT). 23) Doch intervenierten sie [Russen, J.D.] ernsthaft, mit Waffengewalt und der sattsam bekannten „brüderlichen Hilfe“, der sich schon 1968 die cssr, 1956 Ungarn und 1953 die ddr erfreuen durften, so wäre die Spaltung zwischen dem Sozialismus der Arbeiter und dem der Machteliten endgültig vollzogen. (Real-Sozialismus im Rentenalter, FR, 28.08.1980, FR082808.TXT). <?page no="243"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 243 24) In verhüllter Form wird die Gefahr einer sowjetischen Intervention auch von Warschauer Starjournalisten an die Wand gemalt. Die Bevölkerung bleibt davon unbeeindruckt. „Bei jedem der Konflikte der letzten 20 Jahre wollte man uns glauben machen, die Russen stünden vor der Tür“, sagt mir ein Gesprächspartner. Obwohl die sowjetische Grenze nur 100 Kilometer östlich von Danzig quer läuft, ist keine Angst vor „brüderlicher Hilfe“ feststellbar. (In Polen hat die Stunde der Wahrheit geschlagen, FR, 1.09.1980, FR090111.TXT). 25) Die Dissidentenfiihrer haben das Dilemma der Russen nur zu genau erkannt. Sie verlassen sich deshalb darauf, daß Moskau nicht eingreifen wird, solange Polen nicht aus dem Warschauer Pakt austritt; sie scheinen sogar die Drohung ihrer Parteiführung mit einer Intervention des „großen Bruders“ für Bluff zu halten. (Machtprobe mit Gierek, SZ, 19.08.1980, SZ081950.TXT). III) Zuordnung zur Funktion Die dem Stereotyp „Polen und Russen stehen sich feindlich gegenüber“ zugrundeliegende feindselige Haltung der beiden Völker zueinander wird in den meisten Zeitungstexten als typisch dargestellt. Die Verwendung des Stereotyps kann explizit oder auch implizit sein, wobei sich in beiden Fällen gewisse Wertungsunterschiede bei seiner Versprachlichung beobachten lassen. Um diese Unterschiede möglichst anschaulich zu präsentieren, werden die in II angeführten Belege nach dem Grad der Explizitheit ihres negativ-wertenden Gehalts gruppiert, und zwar zunächst werden diejenigen genannt, die relativ explizit die negative Wertung enthalten. Die Belege (1) bis (4) zeigen explizit die Russenfeindlichkeit der Polen. Das Stereotyp wird in diesem Zusammenhang überwiegend szenisch, in Form einzelner Episoden präsentiert (vgl. in den Belegen (1) bis (3)) oder auch als eine auf die Polen als Ganzheit allgemein zutreffende Tatsache wie in Beleg (4). Beleg (4) zeigt, daß die antirussische Gesinnung der Polen so stark ist, daß schon die Bezeichnung Russe als Verachtung empfunden wird. Die Belege (1) bis (4) drücken eine stark generalisierende Feindseligkeit der Polen den Russen gegenüber aus. Die Pauschalisierung kann als unreflektiert gelten, weil sie sich auf das ganze russische Volk bezieht (wir wollen nichts von den Russen wissen - (2)). Die Belege (5) bis (8) ziehen in die Darstellung des Stereotyps von der feindseligen Haltung der Polen und Russen zueinander die historischen Informationen mit ein. Dabei kann man zwischen einer impliziten in Beleg (8) sowie einer expliziten Verwendung des Stereotyps in den Belegen (5), (6) und (7) unterscheiden. In den Beispielen (9) bis (25) wird eine äußerst gespannte und explosive politische Lage zwischen der Sowjetunion und Polen dargestellt. Die Belege vermitteln nicht direkt das Stereotyp „Polen und Russen stehen sich feindlich gegenüber“, sondern in ihnen wird die Gefahr deutlich gemacht, die die Russen in der Perspektive der Polen darstellen und die aus der Vormachtstellung der Sowjetunion im Machtgefuge des Ostblocks resultiert. <?page no="244"?> 244 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Im Zusammenhang mit dem Stereotyp „Polen und Russen stehen sich feindlich gegenüber“ begegnen dem Leser in den analysierten Texten viele und dabei recht differenziert verwendete Bezeichnungen für ein Freund-Feind-Schema. Dadurch wird eine scharfe Polarität in den polnisch-sowjetischen Beziehungen gezeigt. Die lexikalische Polarität ist jedoch nur eine scheinbare, weil sie allein die Perspektive des Feind-Pols im Freund-Feind-Schema realisiert. Das Freund-Feind-Schema wird deshalb oft spielerisch umgedeutet, wobei folgende sprachliche Mittel eingesetzt werden: mit Hilfe von Anfuhrungsstrichen wird in Beleg (16) die spöttische, ironische und sarkastische Ambivalenz der Aussage markiert; hier bringt der Autor eine Distanz zur russischen Perspektive zum Ausdruck. - In den Belegen (18) und (19) werden mit Anfuhrungsstrichen Zitatformen markiert, deren Auswahl darauf schließen läßt, daß die spöttische, d.h. die umgedrehte Bedeutung der in den Anfuhrungsstrichen dargestellten Inhalte gemeint ist. - In Beleg (20) findet man eine unmarkierte - (keine Anfuhrungsstriche) - Verwendung der Lexeme Freund und Feind. Trotz dieser Unmarkiertheit können jedoch beide Ausdrücke nicht wörtlich, sondern umgedeutet gelesen werden, d.h. so, als ob sie doch in Anfuhrungsstrichen stünden. Diese Interpretationsmöglichkeit läßt sich der expliziten Umdeutung der beiden Lexeme ‘Freund’ als „äußerer Freund“ = Kollokation sonst nur mit Feind möglich - und ‘Feind’ entnehmen. Im Fall von Beleg (20) läßt sich von einer schon fast ganz explizit vorgenommener „Umwertung der alten Werte“ sprechen. (Umwertung aller Werte - Nietzsche). - In Beleg (21) zeigt sich eine undistanzierte Verwendung des zu diesem Zeitpunkt in politischen Kreisen in Polen offiziell benutzten Vokabulars. Der Autor dieses Belegs beruft sich auf einen Appell des polnischen Politbüros, indem das von ihm Gesagte im Gegensatz zu den Belegen (18) und (19) nur berichtet wird. - In Beleg (17) kann man eine umgedeutete Verwendung der Formulierung Russen um Hilfe rufen in der Bedeutung ‘die Russen bitten, die Streiks der polnischen Arbeiter mit Waffengewalt niederzuschlagen’ beobachten. Obwohl die Redewendung unmarkiert ist, läßt sich diese Bedeutung aus dem vorhergehenden Kontext sicher erschließen. Diese Unmarkiertheit der Wortgruppe um Hilfe rufen weist daraufhin, daß der Autor sicher ist, daß der Leser die Verwendung des Syntagmas als Umwertung erkennt und richtig interpretiert. Das im normalen Sprachgebrauch positiv konnotierte um Hilfe rufen, muß vom Leser als ‘militärische Invasion der Russen’ interpretiert werden, was sich dem vorhergehenden Kontext sowie dem Kontextwissen des Lesers entnehmen läßt. <?page no="245"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 245 Anhand der dargestellten Belege läßt sich feststellen, daß die im öffentlichen politischen Sprachgebrauch in Polen verkündete Polarität, die sich bis jetzt überwiegend auf die gespannten Verhältnisse zwischen den Ostblockländem und den westlichen Staaten bezog, in den analysierten Texten zwar auch auftritt, jedoch anders verstanden werden muß. Das Freund-Feind-Schema findet in den Belegen oft dem Namen nach seinen Niederschlag; es hat jedoch die primäre Funktion, das Stereotyp von der ‘antirussischen Haltung der Polen’ zu präsentieren. Daraus ergibt sich, daß man an dieser Stelle von einer Reduktion des Freund-Feind-Schemas sprechen kann das sich ursprünglich auf die Ost-West-Verhältnisse bezog, im Moment der Berichterstattung aber nur auf die polnisch-russischen Beziehungen, die als feindlich gedeutet werden, reduziert wird. Eine ähnliche Konstruktion beinhalten die Belege (22), (23), (24) und (25), in denen mit Hilfe der Lexeme, die aus der Wortfamilie ‘Bruder’ stammen, das polnisch-russische Verhältnis beschrieben wird. In Beleg (22) wird ein Kompositum „Bruderstaaten“ mit Anführungszeichen markiert, wodurch die Distanzierung des Autors von der kommunistischen Terminologie deutlich zum Ausdruck kommt. Die Zusammensetzung Bruderstaaten in Beleg (22) muß ebenso wie brüderliche Hilfe in den Belegen (23) und (24) und der große Bruder in Beleg (25) spöttisch verstanden werden. Alle diese Verwendungen werden von den Autoren der zitierten Belege mit Hilfe von Anfuhrungsstrichen markiert, wodurch sie die Möglichkeit haben, sich selbst von dem Geschilderten zu distanzieren und das Ambivalente als Spott zum Ausdruck zu bringen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Wortgruppe der große Bruder, die ein Machtverhältnis ausdrückt, nach dem der große Bruder derjenige ist, der dem Anderen gegenüber in jeder Hinsicht überlegen ist und auf den man in irgendeiner Weise angewiesen ist. Das Syntagma der große Bruder geht auf George Orwells Roman „1984“ zurück, in dem alle Bürger überall und ständig durch ein totalitäres Regime überwacht werden („Big brother is watching you“). IV) Medienspezifik und Textsortenverteilung Das Stereotyp „Polen und Russen stehen sich feindlich gegenüber“ gehört zu der Gruppe von Stereotypen, die einen zentralen Platz in der westdeutschen Presse im Sommer 1980 haben. Es wird über lOOmal in allen westdeutschen Tageszeitungen versprachlicht, wobei auf jede Tageszeitung jeweils über 30 Belege fallen. Das wechselseitig negative Verhältnis zwischen Polen und Russen oder mindestens die behaupteten Gründe hierfür werden in allen Textsorten, in denen die polnische Situation erörtert wird, dargestellt. Offensichtliche Feindseligkeit zwischen Polen und Russen wird in den Berichten und Kommentaren sprachlich realisiert, in den Nachrichten werden eher die Gründe für ihre Existenz angeführt. Die meisten Texte ziehen dieses Stereotyp peripher in die Textstruktur ein, wobei auch mehrmals Texte mit seiner zentralen, also <?page no="246"?> 246 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck leitmotivischen Realisierung zu finden sind. An das Stereotyp wird auch in Form von Überschriften und Karikaturen appelliert. V) Zur lexikalischen und syntagmatischen Realisierung Signalwörter: Nomina: Moskau (30x); Kreml (4x); Zaren; Herrschaft; Sowjetimperium; Alleinherrschaft (2x); Sowjetblock; Sowjetmacht; Knechtschaft; Eroberer; Feindschaft (2x); Feindbild; Untergebene; Untertanen; Feinde (5x); Sowjettruppen; Provokation (2x); Konfrontation; Groll; Kilihski; Alarmglocken (2x); Mißtrauen; Waffengewalt; Angst; Totalitarismus; Imperialismus; Gefahrenschwelle; Eruption; Spannungen; Zusammenstoß; Einmarsch; Unterdrückung (2x); Angriffe; Invasion; Generalabrechnung; Panzerdivisionen; Regime (vgl auch substantivierte Formen bei aufgelisteten Verben). Verben: eingreifen (1 Ix) [überwiegend substantiviert gebraucht - 7x]; einmarschieren (2x) [substantivierter Gebrauch Ix]; intervernieren (17x) [überwiegend substantiviert gebraucht - 13x, davon 2x als Kompositum Militärintervention]; angreifen; einmischen; zuschlagen; provozieren. Adjektive: militärisch (5x); gewaltsam (2x); schwer regierbar; offensiv; verachtet; unterworfen; gefährlich; antirussisch; antisowjetisch. Nominale Syntagmen: sowjetische Panzer; Herausforderung der Autorität Moskaus (2x); der sowjetische Geist; „vorbeugende" Verhaftung [...] als Alibi gegenüber Moskau; sowjetische Warnungen; Reaktion der Sowjetunion; sowjetische Truppen (3x); militärische A useinandersetzung; Rücksichtsnahme aufdie Sowjetunion; latenter Feind; sowjetischer Eroberer. Verbale Syntagmen: nicht auf Nachfahren Schwejks, sondern auf Nachfahren des Warschauer Schusters Kilihski treffen; den leisesten Beifall [...] für Moskaus Afghanistan-Aktion entrichten; Rote Armee [...] zurückwerfen; Überleben [...] nichtkommunistischen Polens sicherstellen; <?page no="247"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 247 der Kranzfür Sieg über die Sowjettruppen zeigt mehr als polnische Streiks; Veränderungen [...]/ « Polen nicht gestatten; polnische Nation im Lagerfesthalten; niemals tatenlos zusehen; sich nicht denken können, daß es einen [...] Polen gebe, der die Russen um Hilfe bitten könnte; ein weiteres Mal in Europa zuschlagen; die Nation in eine Katastrophe stürzen; niemals die vollständig verläßliche Sicherheitszone bilden; ständige Zone der Unsicherheit und des Risikosfür die Sowjetunion sein; den Zorn auf die polnische Führung, auf die Streikenden, vielleicht auf die Polen überhaupt; Polen wieder in die Knechtschaft von Moskau führen; hinter allem Polnischen [...] etwas Ideologisches wittern; die Sowjetunion erheblich subventionieren; besser tot als rot sein; „Bruderstaaten“ zum Eingreifen provozieren; Übungen des Warschauer Paktes zur Einschüchterung der streikenden Arbeiter benutzen; nicht nur Freundlichkeiten zurück aufden Weg an die Weichsel mitgeben; Truppen mobilisieren; Polen mitfester [...] mit geschickter Hand regiert sehen möchten; mehr Ruhe, mehr Kontinuität, weniger Wechsel an der Spitze gern haben. Ein interessantes Phänomen stellen Lexeme und Syntagmen dar, die zum semantischen Wortfeld des Freundes gehören und in den analysierten Belegen oft ironisch, sarkastisch, spöttisch und umgedeutet verwendet werden. Freunde (freunde“) (8x); Verbündete {„Verbündete“) (4x); ^großer Bruder“; „brüderliche Hilfe“ (3x); ,ßruderstaaten“; Russen um Hilfe rufen; Besorgnis (2x); beunruhigt (2x); beunruhigend; Beunruhigung; Sorge; Sorgen machen; Freundschaft (2x); Bündnis mit der Sowjetunion; Treue Polens zum Bündnis mit der Sowjetunion; Treue Polens zur Sowjetunion und zum Bündnis der sozialistischen Staaten; Freundschaftsbeziehungen; <?page no="248"?> 248 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck proletarischer Internationalismus und unlösbare Freundschaft zur UdSSR; Festigung und Entwicklung der Beziehungen zwischen der UdSSR und Polen; Pflege der „ unerschütterlichen sowjetisch-polnischen Freundschaft “; unverbrüchliche sowjetisch-polnische Freundschaftfestigen; von vollem gegenseitigem Verstehen und Zusammenarbeit auf allen Gebieten gekennzeichnete sowjetisch-polnische Beziehungen; Treue Polens zum Bündnis mit der Sowjetunion. VI) Resümee Resümierend läßt sich sagen, daß das Stereotyp „Polen und Russen stehen sich feindlich gegenüber“ vor einem historisch-politischen Hintergrund gesehen werden muß. Die Russen werden in den Belegen in ihrer Vormachtstellung im Ostblock gezeigt, woraus sich auch die Angst vor ihrer möglichen militärischen Intervention in Polen ergibt. Man kann feststellen, daß das Stereotyp der ‘feindseligen Einstellung zwischen den Polen und Russen’ vorrangig als eine Abneigung des polnischen Volkes der Moskauer Führung gegenüber geäußert wird. Somit wird die Feindseligkeit der beiden Völker von den Journalisten hauptsächlich nicht auf die gesamte russische Bevölkerung automatisch übertragen, sondern betrifft primär den kommunistischen Machtapparat in der Sowjetunion. Blickt man in die Geschichte zurück, merkt man, daß das Stereotyp „Polen und Russen stehen sich feindlich gegenüber“ eine jahrhundertealte Tradition hat (vgl. Luks 1993, S. 72). Um die Entwicklung dieser Beziehung zu verstehen, soll hier ein kurzer Blick in die Geschichte des russischbzw. sowjetischpolnischen Verhältnisses geworfen und seine Genese erläutert werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Ansicht von Leonid Luks, daß in der polnischen Bevölkerung ausschließlich eine russophobe Einstellung zu verzeichnen sei. Darin besteht seiner Meinung nach eine der wesentlichen Unterschiede in der Haltung zwischen den Polen und den Deutschen gegenüber den Russen. In Deutschland ist nämlich dieses Verhältnis den Russen gegenüber polarisierter, weil es viele russophile Deutsche gibt, wodurch die Russophobie kein solches Ausmaß wie in Polen hat (vgl. ebd., S. 77). Sowohl die historischen Konflikte zwischen den Nationen der Russen und Polen als auch ihre unterschiedliche kulturelle Entwicklung, die unter anderem mit den religiösen Unterschieden der beiden Völker zusammenhängt, führten dazu, daß die Russen hauptsächlich mit negativen Konnotationen im polnischen historischen, sehr emotional geprägten Gedächtnis verbunden sind (vgl. Kqpinski 1995, S. 154f). Edmund Lewandowski beruft sich auf die Aussage von Edmund Osmanczyk, nach dessen Ansicht die Polen dazu neigen, bei den Russen ausschließlich Negatives wahrzunehmen, obwohl die Tatsache, daß Rußland bzw. die Sowjetunion zu einer Großmacht aufgestiegen ist, doch <?page no="249"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 249 überdurchschnittliche Fähigkeiten der Russen dokumentiert, die die Polen jedoch nicht wahrhaben wollen (vgl. Lewandowski 1995a, S. 38). Andrzej Kqpihski ist der Meinung, daß man das negative Bild der Polen über die Russen schon seit der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert datieren kann. Es konstituierte sich größtenteils in den Kriegen, weshalb die den Russen zugeschriebenen Eigenschaften aus dem Repertoire der schlimmsten Merkmalzuschreibungen schöpfen. Diese bestehen aus: Wildheit, Barbarei, Grausamkeit, Rückständigkeit, Unbildung, Heimtücke, Treulosigkeit, Trunksucht, „Moskauer Hochmut“ und Arroganz (vgl. Kqpihski 1995, S. 155). Besonders starke Abneigung der Polen den Russen gegenüber entstand als Folge der Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhunderts und bekräftigte das schon existierende negative Stereotyp der Russen. Die katholische Kirche verstärkte ihre Stellung in Polen in der Teilungszeit wesentlich, was unter anderem den polnischen romantischen Autoren zu verdanken ist, die das Stereotyp ‘streng katholische Polen’ festigten und dessen Gegenpol im russischen Glauben als Verkörperung des Antichristen (Teufels) zu finden glaubten. Die romantischen Mythen und Symbole beeinflußten stark eine breite und relativ kontinuierliche Existenz der negativen Stereotype über Rußland (mit Ausnahme von Bildern einzelner Russen). Diese wurden zum Beispiel in den literarischen Werken von Adam Mickiewicz tradiert, wo Rußland als ein wildes, feindliches und totes Gebiet, das von versklavten Einwohnern mit toten Augen bewohnt ist, erscheint (vgl. Kqpinski 1995, S. 155f). Im 19. Jahrhundert war in der polnischen Öffentlichkeit jede Politik der Kompromisse mit Rußland „als eine Art nationalen Verrats angesehen worden“ (vgl. Luks 1993, S. 75). In der polnischen Kunst und Literatur wurde das Problem der grausamsten Russifikationsmethoden oft aufgegriffen und prägte dementsprechend das negative Russenbild der Polen. In der Literatur behandelt diese Problematik besonders ausführlich Stefan Zeromski in seinem Werk „Syzyfowe prace“ (vgl. 1961, S. 30-36). In der Malerei werden in diesem Zusammenhang oft Artur Grottger mit drei Zyklenbildern „Krieg“, „Polonia“ und „Lituania“, Jan Matejko mit den Werken „Batory bei Psköw“, „Kosciuszko bei Raclawice“ und Maksymilian Gierymski „Aufständischer Wachtposten“ („Pikieta powstahcza“) und „Alarm im Aufstandslager“ („Alarm w obozie powstanczym“) genannt (Dobrowolski 1965, S. 229). Ein besonders starkes Mißtrauen der Polen zu den Russen brachte die Unterzeichnung des Vertrages zwischen der Sowjetunion und Hitler-Deutschland am 23.08.1939 (vgl. Czubihski/ Topolski 1988, S. 494). Der Zweite Weltkrieg führte zu einer erneuten Aufteilung Polens unter Rußland und Deutschland (Einmarsch der sowjetischen Truppen in Polen im September 1939; Pakt Ribbentrop-Molotow im September 1939) (vgl. ebd., S. 521; L. v. Zitzewitz 1992, S. 54). Die im Oktober 1939 von der Sowjetunion besetzten Gebiete <?page no="250"?> 250 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck wurden an die Ukrainische und Weißrussische Republik angeschlossen. Die polnische Bevölkerung wurde massenhaft in die entlegenen Gebiete der Sowjetunion, hauptsächlich nach Kasachstan und Sibirien verschleppt. Der 1943 von Wehrmacht-Soldaten entdeckte Massenmord von Katyh, welcher schon 1940 an mehr als 4000 polnischen Offizieren im Wald bei Smolensk verübt wurde, wurde zum Symbol aller Orte, an denen Polen von Sowjets getötet worden waren. Der Name ‘Katyh’ prägte sich stark im Bewußtsein der Polen ein, denn dort wurde die intellektuelle Elite Polens ausgerottet (viele Intellektuelle dienten als Reserveoffiziere). Daß das Massaker von der sowjetischen Regierung öffentlich nicht zugegeben wurde, verstärkte die Entrüstung der Polen (vgl. Torbus 1993, S. 102). Es war ein Tabuthema sowohl in der Sowjetunion als auch in Polen und durfte nicht öffentlich thematisiert und diskutiert werden. Kramer vertritt die Meinung, daß Katyh „in Polen stets ein Symbol der Unterdrückung und Abhängigkeit sowie eine Wurzel des Hasses auf die Russen“ sei und daß „kein anderes Ereignis die polnisch-sowjetischen Beziehungen so sehr wie das grauenhafte Verbrechen im Wald bei Smolensk überschattete“ (vgl. 1990, S. 79). Mit dem Einmarsch der russischen Soldaten im Juli 1944 begann in Polen das sowjetische Regierungssystem, das auf der Konferenz von Jalta (4.-11 Febmar 1944) festgelegt wurde (vgl. Czubihski/ Topolski 1988, S. 564). Eine der schrecklichsten Episoden, die sicherlich nicht zur besseren Verständigung zwischen Polen und Russen beigetragen hat, sondern ganz im Gegenteil die schlimmsten Ressentiments hervorrief, war das Verhalten der Roten Armee im August 1944, als die Russen am östlichen Weichselufer vor Warschau standen und zuschauten, wie die SS den Warschauer Aufstand im Keim erstickte. Dieses untätige Verhalten der Russen, meint Torbus, tat noch mehr weh als ein Verbrechen und wurde den Russen von den Polen bis heute nicht verziehen, weil der Tod von über 200.000 Menschen hätte vermieden werden können. (1993, S. 102). Nach dem Krieg begann ein neuer Exodus der polnischen Bevölkerung, die die an die Sowjetunion gefallenen Ostgebiete verlassen und die neuen zugewiesenen ehemals deutschen Territorien besiedeln mußte (vgl. Czubihski/ Topolski 1988, S. 564). Die Polen betrachteten die Übernahme von zwei Fünfteln des Landes durch die Sowjetunion als Raub, wodurch die Beziehung zwischen den beiden Völkern noch mehr strapaziert wurde (vgl. Torbus 1993, S. 102). Nachdem der Aufbau des Sozialismus nach sowjetischem Muster begonnen hatte, entrüsteten unter anderem die Kollektivierung der Landwirtschaft und Repressionen der Kirche gegenüber die polnische Bevölkerung immer mehr, was zu einer weiteren Verschlechterung der polnisch-sowjetischen Beziehungen führte, zumal es in Polen „keine nennenswerte kommunistische Tradition gab“. Das erklärt auch die Tatsache, daß die Einführung des kommunistischen <?page no="251"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 251 Systems in Polen erst mit viel Gewalt und gefälschten Wahlergebnissen möglich geworden ist (vgl. Torbus 1993, S. 103). „Die Bolschewiki wurden in Polen in der Regel als Erben der Zaren angesehen. Der Hitler-Stalin-Pakt, Katyn oder der stalinistische Terror in Polen nach 1944 trugen keineswegs dazu bei, die antirussischen Ressentiments an der Weichsel abzumildern.“ (Luks 1993, S. 75). Stanislaw Stomma sprach 1963 von einem „tiefVerwurzelten antirussischen Komplex“, der typisch für die Polen sei (vgl. Luks 1993, S. 75). Da die Jahre 1945-1955 zu vielen Abweichungen vom sozialistischen Ideal führten, versuchte die polnische Bevölkerung ab 1956 die allmähliche Demokratisierung des Lebens. Im Juni 1956 kam es zum blutigen Streik in Poznan, der ein Ausdruck der Unzufriedenheit der polnischen Bevölkerung mit der herrschenden Politik war (vgl. Czubinski/ Topolski 1988, S. 579). Die den Polen aufgezwungenen Prozesse führten dazu, daß sogar die russische Sprache verhaßt wurde, was sich unter anderem darin äußerte, daß nach achtjährigem Pflichtunterricht kaum ein polnischer Schüler einen fehlerfreien Satz auf Russisch sagen konnte (vgl. Torbus 1993, S. 103). K$pinski meint, daß die Ursache für die Feindseligkeit der beiden Völker untereinander das Verhalten der kommunistischen Regierungen in Polen ist, und zwar daß sie mit der Verbreitung von Schlagwörtern über die polnisch-sowjetischen Freundschaft und Brüderschaft genau das Gegenteil erreichten. Der ‘trotzige’ Pole fand nämlich wieder zum negativen Stereotyp über den Russen zurück und setzte das russische Volk mit dem ideologischen System gleich (vgl. 1995, S. 157). 5.16 Zum französisch-polnischen Verhältnis I) Prädikation: „Polen und Franzosen mögen sich“ II) Illustrationsbelege: 1) Sogar das Sonderverhältnis, das Warschau und Paris miteinander verbindet, hielt Polens neuen Parteichef Kania nicht davon ab, Frankreichs Staatspräsidenten Giscard zu bitten, seinen für Ende September vorgesehenen Besuch zu verschieben. (Polens Terminkalender, SZ, 12.09.1980, SZ091202.TXT). 2) Schon wegen der „privilegierten Beziehungen“ zu Warschau hätte es nahegelegen, daß Giscard sich an Ort und Stelle mit den neuen Machthabern über ihre Absichten und die Gefahr sowjetischer Einmischung unterhält. (Giscard d'Estaing sagt Polen-Besuch ab, FAZ, 10.09.1980, FZ091004.TXT). 3) Giscard hatte zu Gierek besonders enge Beziehungen unterhalten und ihn seit 1974 sechsmal getroffen. Die letzte Begegnung war im Mai, als Giscard bei Warschau überraschend mit dem sowjetischen Parteichef Leonid Breschnew zusammenkam. („Wir werden mit voller Konsequenz an die Quellen der Spannungen gehen“, FR, 8.09.1980, FR090805.TXT), <?page no="252"?> 252 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 4) Giscard hat sich viele Illusionen gemacht, wenn er glaubte, daß seine persönlichen Bindungen zu dem höchsten Politiker Polens die Ost-West-Beziehungen verbessern und dabei die persönliche Lage Giereks stärken könnten. Die Natur der kommunistischen Regime scheint dem Präsidenten noch immer sehr fremd zu sein. (Gierek als Entspannungsretter - Stimmen der Anderen, FAZ, 10.09.1980, FZ 0 91010. TXT). 5) Paris erinnert sich an den Zorn der Alliierten über seinen Alleingang nach Warschau zum Treffen mit dem sowjetischen Staats- und Parteichef Breschnew gleich nach der Invasion der Russen in Afghanistan. Offenbar ist die französische Diplomatie noch nicht davon überzeugt, daß der neue Parteichef Kania die Politik im Sinne Giereks und der nationalen polnischen Interessen fortsetzen wird. (Giscard d'Estaing sagt Polen- Besuch ab, FAZ, 9.09.1980, FZ091004.TXT) 6) Unter dem Titel „Die Illusionen über persönliche Beziehungen“, meinte jetzt die Zeitung „Le Monde“ im Leitartikel, Giscard habe sich wohl Illusionen gemacht, wenn er glaubte, er könne dank persönlicher Beziehungen gleichsam die Beziehungen zwischen Ost und West ins Lot bringen. (Giscard, Politik und Bärenjagd, FAZ, 9.09.1980, FZ090906. TXT). III) Zuordnung zur Funktion Das Stereotyp „Polen und Franzosen mögen sich“ wird in dem analysierten Korpus ausschließlich am Beispiel der politischen Ebene der polnisch-französischen Beziehungen besprochen, die entweder mit den Hauptstadtnamen Warschau und Paris oder mit den Namen der Politiker Giscard und Gierek signalisiert werden. Dieses Stereotyp wird in den analysierten Texten implizit vermittelt, obwohl es nicht tabuisiert werden muß und nicht tabuisiert wird, weil es keinen Verstoß gegen die in der Bundesrepublik geltenden gesellschaftlichen Normen darstellt. Die mit der Implizitheit oft verbundene Tabuisiertheit kommt nicht vor, sondern das Stereotyp wird als bei den Lesern vorausgesetztes Wissen behandelt. Ein Beispiel hierfür liefert Beleg (1), in dem das Sonderverhältnis, das Warschau und Paris miteinander verbindet, angesprochen wird. Im Text selbst wird jedoch nicht erörtert, worin das Besondere dieses Sonderverhältnisses besteht. Aus dieser mangelnden Erklärung läßt sich schließen, daß der Autor das gute Verhältnis zwischen Frankreich und Polen als wohlbekannt und nicht erklärungsbedürftig einschätzt. IV) Medienspezifik und Textsortenverteilung Das Stereotyp „Polen und Franzosen mögen sich“ wird in der westdeutschen Presse nur peripher zum Ausdruck gebracht. Die Zahl der dieses Stereotyp realisierenden Belege beträgt sechs und deutet darauf hin, daß die polnischfranzösischen Beziehungen im Sommer 1980 sicherlich nicht den Schwerpunkt der Berichterstattung bilden. Am häufigsten wird das polnisch-französische Verhältnis in der FAZ versprachlicht. In der SZ und in der FR ist dieses Stereotyp jeweils mit einem Beleg vertreten. Das Stereotyp wird hauptsächlich <?page no="253"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 253 in der Textsorte Nachricht sprachlich realisiert, in der es als zentrales Textthema vorkommt. Seine Verwendung läßt sich auch in der Textsorte Kommentar verzeichnen, in den Berichten hingegen ließ sich sein Vorkommen nicht nachweisen. V) Zur lexikalischen und syntagmatischen Realisierung Nomina: Sonderverhältnis; Beziehungen (4x); Bindungen. Adjektive: privilegiert; persönlich (2x). Nominale Syntagmen: privilegierte Beziehungen“; persönliche Bindungen; Alleingang nach Warschau; besonders enge Beziehungen; persönliche Beziehungen. Verbale Syntagmen: Illusionen über persönliche Beziehungen/ Bindungen machen (2x); Ost- West-Beziehungen verbessern. VI) Resümee Das untersuchte Korpus zeigt, daß das Stereotyp „Polen und Franzosen mögen sich“ selten in der westdeutschen Berichterstattung erwähnt wird. Es wird nur implizit vermittelt und bezieht sich in seinem prädikativen Gehalt auf die grundsätzliche Politik der beiden Länder. Obwohl in den untersuchten Belegen die private Sphäre der polnisch-französischen Beziehungen nicht ausdrücklich thematisiert wird, läßt sich feststellen, daß das Sonderverhältnis zwischen Polen und Frankreich eine lange geschichtliche Tradition hat. Zur Klärung der stillschweigenden Voraussetzung über die freundliche französisch-polnische Beziehung soll der nachfolgende historische Exkurs dienen. Besonders in der Zeit der Teilungen suchten die Polen nach einem Verbündeten, auf den sie ihre Hoffnungen bezüglich der Wiedererlangung der Unabhängigkeit ihres Landes setzen konnten. Schon nach der zweiten Teilung Polens im Jahre 1792 fanden viele fortschrittliche Polen, unter anderem die Schöpfer der Konstitution vom 3. Mai 1791, ihr Exil in Frankreich. In Frankreich herrschte damals Napoleon, und die polnischen Adligen schlossen sich seinen Armeen in der Hoffnung der Wiedererlangung staatlicher Unabhängigkeit an. Im revolutionären Frankreich suchten die Polen hauptsächlich Hilfe für die geplanten Aufstände gegen die Teilungsmächte Rußland, Preußen und Öster- <?page no="254"?> 254 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck reich-Ungarn (vgl. Topolski 1994, S. 859). Im Jahre 1797 entstanden in Italien die polnischen Legionen, die ungefähr 7000 Soldaten zählten (W^sicki 1976, S. 428). Der Kampfmut der Polen wurde im Jahre 1807 von Napoleon mit der Gründung des Herzogtums Warschau belohnt (L. v. Zitzewitz 1992, S. 30). Die Armee des Herzogtums wurde automatisch zum engen Verbündeten Napoleons (vgl. Wqsicki 1976, S. 440). Das polnisch-französische Verhältnis wird von manchen als eine unerwiderte Liebe der Polen zu Frankreich charakterisiert, die hauptsächlich auf das 19 Jahrhundert zurückgeht, als nach der blutigen Niederschlagung des Novemberaufstandes vom 29.11.1830 eine große Emigrationswelle aus Polen nach Frankreich zog (vgl. Torbus 1993, S. 71). Nach Frankreich emigrierte die polnische politische und intellektuelle Elite, unter anderem Fürst Adam Czartoryski, Kazimierz Pulaski, Tadeusz Knjpowiecki, Joachim Lelewel, Adam Mickiewicz, Juliusz Slowacki, Maurycy Mochnacki, Fryderyk Chopin, General Jan Skrzynecki, General Jan Dwemicki und viele andere. Diese Emigranten waren diejenigen, die die positive Einstellung zu Frankreich, dem Land, in dem sie Zuflucht gefunden hatten, prägten (vgl. Trzeciakowski 1976, S. 475). Weitere Ereignisse, in denen sich Frankreich als Polens Verbündeter erwies (z.B. Emigration nach dem Januar-Aufstand 1863, Friedenskonferenz in Paris am 18. Januar 1919, Auseinandersetzung mit der sowjetischen Armee 1920 oder Emigration nach der September-Niederlage 1939), trugen ebenfalls zu einem positiven Frankreichbzw. Franzosenbild in Polen bei (vgl. Czubihski 1976, S. 647, 656 und 784). Schon viel früher kann man in Polen eine große Faszination durch die französische Kultur und den französischen Lebensstil, die besonders in den literarischen Belegen aus dem 18. Jahrhundert oft ihren Niederschlag findet, beobachten. So sagt Friedrich Schulz in seiner „Reise eines Liefländers von Riga nach Warschau, durch Südpreussen über Breslau, [...] nach Botzen in Tyrol“, daß Frankreich „von jeher das Lieblingsland der Polen“ gewesen sei. Die Polen schickten nämlich ihre Kinder zur Ausbildung nach Frankreich, um ihnen gute Erziehung und Umgangsformen zu vermitteln. Dann schreibt Schulz, daß die Polen alles nach der französischen Mode machen; so lebten sie in französisch eingerichteten Zimmern, schliefen in französischen Betten und trugen französische Kleidung. Desweiteren bemerkt Schulz, daß Polen und Franzosen ähnliche Charaktereigenschaften hätten, die sich in einer gewissen Lebhaftigkeit und Heiterkeit, Sinnlichkeit, Leichtfertigkeit, in viel scharfsinniger, aber keiner gründlichen Vernunft äußerten. Diese Eigenschaften erlaubten den Polen nach Ansicht von Schulz, sich die französische Lebensweise schnell anzueignen, was wiederum dazu führte, daß sie die französischen Denk-, Beurteilungs- und Verhaltensweisen annahmen sowie dieselben philosophischen und sozialen Maximen auswählten, nach denen sich Familie, Religion, Politik und Geschäftsleben richteten (vgl. Schulz 1791-1793, S. 138f ). Auch in Meyer's Konversations-Lexikon aus dem Jahre 1866 ist diese Ansicht präsent, indem <?page no="255"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 255 die Polen als „Franzosen des Nordens“ charakterisiert werden (S. 39). Torbus meint, daß die Polen selbst glaubten, „im französischen Lebensstil und einer gewissen ‘Laisser faire-Einstellung’ Parallelen zu ihrem eigenen Charakter zu entdecken“ (1993, S. 71). Auch Heinrich Heine stellt diese polnische Frankreichfaszination im Jahre 1822 fest: „Polen liegt zwischen Rußland und - Frankreich. Das noch vor Frankreich liegende Deutschland will ich nicht rechnen, da ein großer Teil der Polen es ungerechterweise wie einen breiten Sumpf ansah, den man schnell überspringen müsse, um nach dem gebenedeiten Lande zu gelangen, wo die Sitten und die Pomaden am feinsten fabriziert werden.“ (S. 78) Eine sehr wichtige Rolle in dem französisch-polnischen Verhältnis spielt auch das Bild Napoleons, an den die Polen sogar in ihrer Nationalhymne erinnert werden: „Bonaparte gab das Beispiel, / wie wir siegen müssen [...].“ Interessant ist, daß gerade diese Figur „gleichermaßen tief in die Geschicke der Deutschen wie der Polen eingegriffen“ hat, „allerdings in gegensätzlichen Rollen; einmal als Eroberer, das andere Mal als Befreier“ (Olschowsky 1993, S. 66). Die Annahme, daß das Stereotyp der ‘frankophilen Polen’, wie auch andere Stereotype, in der Presse stark historisch motiviert wird, soll hier ausnahmsweise an einem aktuellen Beleg veranschaulicht werden. In einem Kommentar zum Besuch des polnischen Präsidenten Kwasniewski am 10. und 11. Januar 1996 in der Bundesrepublik Deutschland, heißt es in der regionalen Tageszeitung „Mannheimer Morgen“ mit Bezug auf den Beitritt Polens zur Europäischen Union: „Vorausgesetzt, Polen bleibt wirtschaftspolitisch, demokratisch und rechtsstaatlich auf seinem Kurs, darf es im wichtigsten Nachbarn Deutschland und im historischen Verbündeten Frankreich Fürsprecher mit Einfluß sehen.“ (Kilgus 1996, S. 2). Die historische Motivation wird hier im Vergleich mit den Belegen aus FAZ, SZ und FR relativ explizit ausgedrückt. Die präsentierten Belege scheinen das vorstehend skizzierte historische Wissen - oder doch einen wesentlichen Teil davon bei den Lesern von SZ, FR und FAZ vorauszusetzen. Das quantitative Verhältnis der Belege (6 zu 100) der Stereotype der polnisch-französischen Freundschaft (6) und der polnischrussischen Feindschaft (ca. 100) spiegelt deutlich die aktuelle Situation der Berichterstattung mit den im jeweiligen Zeitpunkt relevanteren und den weniger bedeutenden Themen wider. Aus dem quantitativen Vergleich der Belege des Stereotyps „Polen und Franzosen mögen sich“ (6) mit denen des Stereotyps „Polen und Westdeutschland haben ein gespanntes politisches Verhältnis zueinander“ (ca. 30 bezüglich der Bundesrepublik) bzw. „Polen und Ostdeutsche mögen sich nicht“ (gleich viele Belege) resultiert die erwartbare Hervorhebung der für den deutschen Leser relevanteren deutschen Perspektive der Berichterstattung. <?page no="256"?> 256 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 5.17 Zum westdeutsch-polnischen Verhältnis I) Prädikation: „Polen und Westdeutschland haben ein gespanntes politisches Verhältnis zueinander“ II) Illustrationsbelege: Untergruppe I 1) So wird es in Bonn nicht als gezielte Klimaverschärfung, nicht als Druck gewertet, daß Warschau bei Gesprächen über ein noch ausstehendes Ausführungsprotokoll zum Kulturabkommen aufs neue Anstoß daran genommen hat, daß deutsche Verhandlungspartner Städte in den ehemals deutschen Ostgebieten mit ihren deutschen Namen bezeichnet hatten. Bonn ist an den Dauerzwist gewöhnt, daß Warschau auf polnischen Bezeichnungen besteht, während Bonner Abgesandte nicht vergessen lassen wollen, daß jene Orte jahrhundertelang zur deutschen Geschichte gehört haben, deren Wirklichkeit man nicht einfach tilgen könne. (Vor dem Besuch Giereks bei Schmidt: Das Bonner Verhältnis zu Warschau hat viele Facetten, FAZ, 14.08.1980, FZ081403. TXT). 2) Nicht nur die polnischen Katholiken, schreibt das Blatt [Zycie Warszawy, J.D.], seien durch die Tatsache beunruhigt, daß gerade in der CDU und den mit ihr verbundenen Kreisen sich die radikalsten nationalistischen und antipolnischen Kräfte zusammenfanden, die eine Revision der Grenze anstrebten und den bestehenden deutsch-polnischen Vertrag nicht zur Kenntnis nehmen wollten. (Eine Reliquie des heiligen Bonifatius für den Primas von Polen, FAZ, 13.09.1980, FZ091304.TXT). 3) Die Kontakte zwischen deutschen und polnischen Katholiken waren nahezu abgerissen, nachdem der bayerische Kultusminister und Präsident der deutschen Katholiken, Hans Maier (esu), kurz vor dem jüngsten Katholikentag an die Vorläufigkeit der Grenzsicherung zwischen Polen und Deutschland erinnert und in der deutsch-polnischen Schulbuchkommission gefordert hatte, daß sich der Unterricht an die Reichsgrenzen von 1937 halten müsse. (Polens Katholiken verstimmt, FR, 12.09.1980, FR091202.TXT). 4) Deutsche Besucher in Polen haben in letzter Zeit Zurückhaltung auf polnischer Seite gegenüber der Bundesrepublik gespürt. Man fragt sich in Bonn, ob auch das Treffen Giereks mit Schmidt Hinweise auf ein Klima der Verhärtung in den deutsch-polnischen Beziehungen geben werde. Deutsche Wissenschaftler hatten polnische Klagen über eine angeblich offensive Deutung des Viermächteabkommens über Berlin durch die Bundesrepublik vermerkt. In Polen scheint eine politische Verstimmung über deutsche Schulbücher weiterzuwirken. Eine offensive Haltung auf Seiten polnischer Gesprächspartner hat sich offenbar auch bei Besprechungen über das noch ausstehende Durchführungs- Protokoll zum deutsch-polnischen Kulturabkommen an einer deutschen Bezeichnung jetzt polnischer Städte entzündet. („Reduziertes Protokoll“ für den Besuch Giereks bei Schmidt, FAZ, 9.08.1980, FZ080902.TXT). 5) Sie [TASS und das sowjetische Fernsehen, J.D.] bemängelten, daß westdeutsche Zeitungen statt von „Gdanski“ [Gdansk, J.D.] von der Stadt „Danzig“ redeten, und sie warfen den Unionsparteien und deren Kanzlerkandidat Strauß vor, „praktisch die Akquisition <?page no="257"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 257 polnischen Territoriums“ zu fordern. (Moskau wirft dem Westen „Einmischung“ in Polen vor, FAZ, 26.08.1980, FZ 0 8 2 615. TXT). 6) In diesem Zusammenhang würden auch „Überlegungen“ verständlich, welche die Zeitung „Welt am Sonntag“ auf zynische Weise angestellt habe, indem sie Kredite für Polen mit einer „Verpfändung Schlesiens und Pommerns“ in Kontext gebracht habe. [.. .] Michnik habe sich zum Beispiel nicht geniert, der Zeitschrift „Spiegel“ gegenüber die Zugehörigkeit Schlesiens und der polnischen Westgebiete zu Polen in Zweifel zu ziehen. [...] Sogar unter anderen vermeintlichen „Hütern“ der Menschenrechte sei Empörung darüber aufgekommen, daß Michnik die Westdeutschen aufrufe, Polen zu erpressen. (tass attackiert Kuron und Michnik, FAZ, 3.09.1980, FZ090375 . TXT). 7) Die Nachrichtenagentur tass meinte, der Kanzler habe diese Schlußfolgerung auf Grund von Berichten in der sowjetischen Presse gezogen. Die aber habe lediglich Zitate einiger westdeutscher Zeitungen wiedergegeben, die „im Grunde genommen revanchistische Forderungen und territoriale Ansprüche an Polen“ enthielten, sowie den „Standpunkt der sowjetischen Öffentlichkeit“ dazu zum Ausdruck gebracht. (Bonn: Treffen Schmidt-Kania eilt nicht, SZ, 11.09.1980, SZ091102.TXT). Die Ambivalenz des westdeutsch-polnischen Verhältnisses läßt sich anhand der Belege zweier Untergruppen zeigen. Die erste bringt das Stereotyp ‘gespanntes westdeutsch-polnisches Verhältnis’ zum Ausdruck, in der Untergruppe II wird hingegen ein besonderer Fall der westdeutsch-polnischen Beziehung, in der im gespannten Verhältnis schon Wohlgesonnenheit mitspielt, angesprochen. Untergruppe II 8) Die Regierung hat Friedenswillen, ohne Illusionen zu zeigen. Die Hilfe für Polen zum Beispiel, die ursprünglich nicht besonders populär und auch nicht aus populistischen Gründen beschlossen wurde, ist sachgemäß. (Fallen, FAZ, 8.09.1980, FZ090801. TXT). 9) Die Nachbarschaftshilfe [Kredit für Polen, J.D.] wird sich auf längere Sicht für die Bundesrepublik hoffentlich in einer Verbesserung der Beziehungen auszahlen. (Hilfe für Gierek, FAZ, 14.08.1980, FZ081401.TXT). 10) Auch darum ist man jetzt bereit, Warschaus Finanzlöcher stopfen zu helfen. Dabei wird nicht übersehen, daß es nicht mehr wie 1975, als die Bundesrepublik offiziell dem polnischen Nachbarn einen Milliarden-Finanzkredit zugestand, um einen Tilgungsbeitrag alter moralischer deutscher Schuld gegenüber Polen gehen kann. (Vor dem Besuch Giereks bei Schmidt: Das Bonner Verhältnis zu Warschau hat viele Facetten, FAZ, 14.08.1980, FZ081403.TXT), 11) Dieser Aufenthalt [der polnischen Bischöfe in Deutschland, J.D.] war von führenden katholischen Würdeträgem als bewußte Geste der Versöhnung und historisches Ereignis gewertet worden. (Bischöfe pilgern nach Polen, FR, 1.07.1980, FR070101.TXT). <?page no="258"?> 258 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 12) Unter Hinweis auf den im November vorgesehenen Besuch von Papst Johannes Paul in der Bundesrepublik hat der „Bensbergcr Kreis“, eine Vereinigung liberal-kritischer Katholiken, die deutsche katholische Amtskirche aufgefordert, die polnische Westgrenze als unverletzlich anzuerkennen. [...] Ein solches „versöhnendes Ja“ zur polnischen Westgrenze kann nach Ansicht des „Bensberger Kreises“ nicht nur einen Schlußstrich unter eine tragische Vergangenheit ziehen, sondern ein Fundament eines neuen Verhältnisses zwischen Polen und Deutschen sein. („Versöhnendes Ja“ an Polen, FR, 12.09.1980, FR091201.TXT). 13) Mit diesem Hinweis spielte Kohl wohl darauf an, daß die Deutsche Bischofskonferenz wie der Vatikan bisher die Oder-Neiße-Grenze unter Hinweis auf den ausstehenden Friedensvertrag völkerrechtlich noch nicht als Polens Westgrenze anerkannt haben. [...] Zu dem Dialog der Bischöfe sagte Kohl, nach all dem Traurigen, Tragischen und Bösen sei der geduldige Dienst für einen solchen Frieden eine gebieterische Pflicht für alle, die politische Verantwortung trügen. [...] Gerade das gemeinsame Erbe Europas sollte Deutsche und Polen instand setzen, aufeinander zu hören, miteinander zu sprechen [...] (Kohl begrüßt die Polen-Reise der deutschen Bischöfe, FAZ, 6.09.1980, FZ090605.TXT). 14)In einem gemeinsamen Gebet mit den polnischen Amtskollegen wurde der Heiligen [Maria J.D.]als Vorbild der Aussöhnung und des Friedens, „alle Anliegen, Sorgen und Nöte unserer beiden Völker anvertraut“, verbunden mit der Bitte um Beistand, „daß wir alle Ungerechtigkeit, alle Mißverständnisse und Vorurteile zwischen unseren Völkern im Geiste Christi überwinden“ [...] Daß die deutschen Kardinale und Bischöfe bei ihrem Aufenthalt in Polen auch in die Oder-Neiße-Gebiete reisen, den Bischof von Oppeln und den Erzbischof von Breslau besuchen, wird in Kreisen der Delegation als „normal“ bezeichnet. Für die völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze sei der Besuch der Deutschen Bischofskonferenz nach dem Staatskirchenrecht ohne Bedeutung. Die Zuständigkeit für die völkerrechtliche Anerkennung von Grenzen liege allein beim Vatikan. (Eine Reliquie des heiligen Bonifatius für den Primas von Polen, FAZ, 13.09.1980, FZ091304.TXT). 15) Genscher brachte nach Angaben des Auswärtigen Amtes die große Anteilnahme der Bundesregierung an den Geschehnissen in Polen zum Ausdruck und erinnerte an den 41. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen am 1. September. Dies alles sei Grund für die große innere Bewegung, mit der man in der Bundesrepublik die Entwicklung in Polen verfolgt habe. (Warschauer Dank an Bonn, FR, 2.09.1980, FR090201.TXT). Untergruppe III 16) „Wir haben hier die Gelegenheit, wirklich den Menschen in Polen zu helfen und nicht nur den Machthaber eines bankrotten totalitären Systems zu stützen“, schrieb Strauß. (Strauß bittet dgb um Hilfe für polnische Arbeiter, FAZ, 12.09.1980, FZ091205. TXT). <?page no="259"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 259 III) Zuordnung zur Funktion In den analysierten Belegen wird ein Stereotyp des westdeutsch-polnischen Verhältnisses aus westdeutscher Sicht ausgedrückt. Die Sicht der Polen ist nur sekundär in diese westdeutsche Sicht eingebettet. Anhand der untersuchten Texte läßt sich das Stereotyp mittels einiger verknüpfter, sich ergänzender und eng zusammenhängender Prädikationen formulieren, die zur jeweiligen Untergruppe gehören: (a) Manche politischen Kreise in Westdeutschland haben immer noch Gebietsansprüche an Polen (und treten für die Verwendung der deutschen Ortsnamen ein - Belege (1) bis (8)). (b) Polen haben durch die Schuld der Deutschen im Zweiten Weltkrieg gelitten (deshalb bemühen sich Westdeutsche um Versöhnung - Belege (9) bis (17)). Die Belege der I. Untergruppe (1) bis (7) weisen daraufhin, daß in der westdeutschen Presse des Sommers 1980 hauptsächlich die schwierige und gespannte Situation zwischen Polen und Westdeutschen vor dem historischen Hintergrund des Zweiten Weltkrieges und seiner Folgen dargestellt wird. Die Spannungen zwischen den beiden Völkern werden vorrangig explizit geäußert; in den Belegen (1) bis (4) werden unter anderem nahezu abgerissene Kontakte, Klima der Verhärtung, Klimaverschärfung, Verstimmung, und der mangelnde Wille, den bestehenden deutsch-polnischen Vertrag zur Kenntnis zu nehmen genannt. Als Schwerpunkte der problematischen Beziehung gelten die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Bundesrepublik (vgl. Belege (1) bis (4) und das damit verbundene Bestehen der Deutschen auf den deutschen und der Polen auf den polnischen Ortsnamen (vgl. Belege (1) und (4)) der früher deutschen, zur Zeit der Berichterstattung aber polnischen Gebiete. Die Belege (5) bis (7) beziehen sich zwar auf dieselben Hintergründe des gespannten politischen Verhältnisses zwischen Westdeutschland und Polen, die Perspektive der Betrachtung ist jedoch diesmal anders, weil sie aus der Sicht der Sowjetunion erfolgt. Die westdeutsche Presse zitiert in diesen und in mehreren ähnlichen Belegen Auszüge aus den Äußerungen sowjetischer Journalisten, die von der Akquisition des polnischen Territoriums, Verpfändung Schlesiens und Pommerns, Gebietsansprüchen, Annexion der früheren deutschen Territorien, revanchistischen Forderungen, territorialen Ansprüchen und Ansprüchen auf westliche Gebiete Polens berichten. Die Äußerungen werden in den westdeutschen Zeitungen überwiegend in Zitatform nach der Agentur TASS explizit angeführt. Zusammenfassend kann man sagen, daß die sowjetische Presse sich auf die alleinige Betonung der Prädikation (a) konzentriert, um so sieht es die westdeutsche Presse - Zwietracht zwischen Polen und Deutschland zu säen. Auf diese Art und Weise wird das durch TASS <?page no="260"?> 260 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck konstatierte Stereotyp ‘gespanntes politisches Verhältnis zwischen Westdeutschland und Polen’ in der westdeutschen Presse wiedergegeben. In den Pressebelegen der II. Untergruppe (8) bis (15), mit der Prädikation (b) wird die Schuld der Deutschen am Beginn des Zweiten Weltkriegs thematisiert, was als öffentliches ‘Bekenntnis der historischen Schuld’ eingestuft wird. Das Schuldbekenntnis gilt als Vorbedingung für die gewünschte Versöhnung. Die politische Situation in Polen um 1980 beinhaltet neue Chancen dadurch, daß das Land vom Kommunismus abrückt, sich demokratisiert und so in westdeutscher Perspektive zum willkommenen Empfänger moralischer und finanzieller Unterstützung durch die Bundesrepublik wird. Versöhnung mit einem dem kommunistisch-feindlichen Ostblock angehörenden Polen schien mindestens schwierig. Versöhnung mit Polen, das sich vom Kommunismus trennen will, scheint den Westdeutschen jetzt eher erreichbar. Die Belege (8) bis (11) unterscheiden sich insofern von den vorhergehenden, als sie die Zeitungsleser mittels sehr allgemeiner Formulierungen an die gespannte Situation zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen erinnern, jedoch keine konkreten Ereignisse als Begründungen für diese gespannte Lage angeben. Mit Elementen einer politischen Formelsprache wird auf eine mehr oder weniger implizite Art und Weise ausgedrückt, daß die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Polen schwierig sind; gleichzeitig wird vorausgesetzt, daß die westdeutschen Leser die Gründe dafür kennen. Einen ähnlichen allgemeinen Charakter haben die Belege (13) und (14), in denen jedoch die Oder-Neiße-Grenzproblematik auftaucht. In Beleg (12) wird ebenfalls die Grenzflage als Ursache der Konflikte zwischen Westdeutschland und Polen angeführt. Beleg (15) drückt die sonst nur angedeuteten Hintergründe des schwierigen Verhältnisses expliziter aus: der deutsche Überfall aufPolen am I. September 1939. Aus dem öffentlichen Anerkenntnis der deutschen Schuld und aus dem historischen Wissen um die Folgen, die für Polen daraus erwachsen sind, wird von verschiedenen Politikern und Journalisten unmittelbar ein besonders großes Interesse in der deutschen Bevölkerung an den aktuellen Ereignissen in Polen abgeleitet. Der deutsche Wunsch nach Versöhnung bzw. nach Entlastung von Schuld scheint aus der Sicht der deutschen Presse, in dem Moment der Erfüllung näher zu rücken, sobald Polen vom Kommunismus abrückt. Eine besondere Rolle bei der Vermittlung des Stereotyps nimmt der Beleg (16) in der III. Untergruppe ein, in dem ein Appell von Franz Josef Strauß referiert wird. Dieser Beleg bestätigt einerseits das oftmals schon thematisierte gespannte politische Verhältnis zwischen den beiden Ländern, andererseits aber differenziert er dieses Verhältnis insofern, als darin dazu aufgerufen wird, der polnischen Bevölkerung zu helfen, womit indirekt ein Versöhnungs- und Annäherungswunsch zum Ausdruck gebracht wird. Diese Aussage macht <?page no="261"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 261 deutlich, daß die Unterscheidung zwischen der polnischen Regierung und der polnischen Bevölkerung in Westdeutschland präsent ist. In der Streiksituation ergibt sich eine Konstellation, in der die polnische Bevölkerung und die westdeutsche Regierung einen gemeinsamen Gegner haben, der von Strauß als Machthaber eines bankrotten totalitären Systems bezeichnet wird. Mit diesem Syntagma wird der Status der Polen als Opfer der ‘kommunistischen Mißwirtschaft’ hervorgehoben. IV) Medienspezifik und Textsortenverteilung Das Stereotyp ‘gespanntes politisches Verhältnis zwischen Polen und Westdeutschland’ gehört nicht zu den zentralen Themen der Berichterstattung in der westdeutschen Presse im Sommer 1980. Es wird insgesamt in nur 30 Texten belegt, wodurch man feststellen kann, daß seine Rolle in dieser Zeit nicht primär ist. Die deutsch-polnische Beziehung wird jedoch auch nicht ganz marginal wie z.B. die polnisch-französische (s. Kap. 5.16) betrachtet. Wesentliche Diskrepanzen ergeben sich jedoch zwischen den analysierten Tageszeitungen im Hinblick auf die Häufigkeit seiner Realisierung. Eindeutig am häufigsten wird dieses Stereotyp in der FAZ mit über zwanzig Belegen sprachlich realisiert, wobei sein Vorkommen in der FR und in der SZ insgesamt die Zahl von zehn Belegen nicht überschreitet. Das Stereotyp wird hauptsächlich in den Textsorten Kommentar, Meldung, Bericht thematisiert, sowie in der Nachricht. In der FAZ wird das Stereotyp vorrangig leitmotivisch verwendet. V) Zur lexikalischen und syntagmatischen Realisierung Signalwörter: Nomina: Oder-Neiße-Gebiete; Oder-Neiße-Grenze; Militaristen; Revanchisten; Dauerzwist; Tragisches; Böses; Zurückhaltung; Krieg; Überfall (3x); Einmarsch. Verben: schulden; leiden; erinnern (2x); vergessen; tilgen; entzünden. Adjektive: tragisch; provokativ; beunruhigt; abgerissen; zynisch; schmerzvoll; leidvoll; schuldig. Nominale Syntagmen: nahezu abgerissene Kontakte; Klimaverschärfung; Klima der Verhärtung in den [...] Beziehungen; politische Verstimmung; nicht besonders populäre Hilfe; <?page no="262"?> 262 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Vorläufigkeit der Grenzsicherung zwischen Polen und Deutschland; praktisch Akquisition polnischen Territoriums'''; „Annexion derfrüheren deutschen Territorien"; „revanchistische Forderungen und territoriale Ansprüche an Polen"; „in der reaktionären westdeutschen Presse erhobenen Ansprüche auf westliche Gebiete" Polens; polnische Westgrenze (2x); Polens Westgrenze; radikalste nationalistische und antipolnische Kräfte; deutsche Gebietsansprüche; „revanchistische und militärische Kreise"; tragische Vergangenheit; Tilgungsbeitrag alter moralischer deutscher Schuld gegenüber Polen; der deutsche Einmarsch in Polen; Überfall aufPolen (3x). Verbale Syntagmen: sich im Unterricht an die Reichsgrenzen von 1937 halten; Städte in den ehemals deutschen Ostgebieten mit ihren deutschen Namen bezeichnen; nicht vergessen lassen wollen, daß jene Orte jahrhundertelang zur deutschen Geschichte gehörten; den bestehenden deutsch-polnischen Vertrag nicht zur Kenntnis nehmen wollen; Revision der Grenze anstreben; Kredite für Polen mit einer „Verpfändung Schlesiens und Pommerns“ in Kontext bringen; schmerz- und leidvolle Geschichte; Zurückhaltung aufpolnischer Seite gegenüber der Bundesrepublik spüren; offensive Haltung aufSeiten polnischer Gesprächspartner entzünden; den bestehenden deutsch-polnischen Vertrag nicht zur Kenntnis nehmen wollen; nicht vergessen lassen wollen, daß jene Orte jahrhundertelang zur deutschen Geschichte gehört haben; noch nicht als Polens Westgrenze anerkennen. Textuell hergestellte Antonymie/ Signalwörter des sich verbessernden Verhältnisses: Nomina: Frieden; Friedenswillen; Hilfe (3x); Wirtschaftshilfe; Versöhnung (3x); Nachbarschaftshilfe; Kredite; Milliardenkredite. <?page no="263"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 263 Verben: helfen (2x); anerkennen (2x); aufeinander hören; miteinander sprechen; ermutigen; bitten. Adjektive: glücklich; gemeinsam; bereitwillig. Nominale Syntagmen: Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze; Politik der Zusammenarbeit mit Polen; neues Verhältnis; Verbesserung der Beziehungen; „versöhnendes Ja“; Normalisierung der Beziehungen; mehr guten Willen und Initiative; bewußte Geste der Versöhnung; große Anteilnahme der Bundesregierung {der Bevölkerung) an den Geschehnissen in Polen; große innere Bewegung, mit der man [...] die Entwicklung in Polen verfolgt (2x); aufrichtige Gefühle. Verbale Syntagmen: auffordern, polnische Westgrenze anzuerkennen; bereit sein Warschaus Finanzlöcher stopfen zu helfen; [...] der Heiligen als Vorbild der Aussöhnung und des Friedens „alle Anliegen, Sorgen und Nöte unserer beiden Völker anvertrauen“, verbunden mit der Bitte um Beistand; „alle Ungerechtigkeit, alle Mißverständnisse und Vorurteile zwischen unseren Völkern [...] überwinden“. VI) Resümee Die Belege aus den Texten des Sommers 1980 konzentrieren sich primär auf die Verarbeitung der Schuldgefühle, aber implizit auch auf die Thematisierung der Gegenschuld, die als durch die Vertreibung aus den früher deutschen Gebieten entstanden ist. Sehr deutlich ist zu diesem Zeitpunkt der Wunsch nach Versöhnung, in Beleg (14) auch der Wunsch nach der Anerkennung der polnischen Westgrenze. Da der polnische Staat sich jetzt auf dem Demokratisierungsweg befindet und Abschied vom Kommunismus nehmen will, wollen die Westdeutschen die Gelegenheit nutzen, um mit moralischer und finanzieller Hilfe sich von Schuld zu entlasten und wirklich den Menschen in Polen zu helfen und nicht den Machthaber eines bankrotten totalitären Systems zu stützen (vgl. Beleg (18)). Zu berücksichtigen ist, daß die Belege (5) bis (8) des Stereotyps von dem ‘gespannten politischen Verhältnis zwischen den West- <?page no="264"?> 264 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck deutschen und Polen’ die sowjetischen Pressestimmen wiedergeben, in denen die Westdeutschen als Revanchisten, das heißt als ideologischer Feind, im Verhältnis zu Polen dargestellt werden. Diese Schematisierung erfolgt im Sinne eines Freund-Feind-Bildes, das der sowjetischen kommunistischen Regierung ins Bild paßt, um die Verbesserung der westdeutsch-polnischen Beziehungen zu verhindern. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß das Bild der westdeutschpolnischen Beziehungen in der Presse der Bundesrepublik im Sommer 1980 gemessen an ihrer langen Geschichte sehr reduziert und einseitig erscheint. Nach diesem Bild scheinen die Beziehungen erst mit der Zeit des Zweiten Weltkrieges zu beginnen, und die Gegenwart wird als Konsequenz des Krieges 1939-1945 verstanden. Immer wieder wird auf den Zweiten Weltkrieg und die mit ihm anschließend verbundene Vertreibung Bezug genommen. Diese Problematik wird auch in denjenigen Belegen ausgedrückt, die sich auf die Oder-Neiße-Grenze und auf den Streit um deutsche bzw. polnische Ortsbezeichnungen beziehen. Den Verlauf der Oder-Neiße-Grenze bestimmten im Jahre 1945 die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges: die USA, die Sowjetunion und Großbritannien. Im Frühjahr 1945 haben sich mit der Grenze zwar die polnischen Politiker abgefunden, die deutschen jedoch sogar die aus den Reihen der SED waren mit ihr nicht einverstanden. Bingen bemerkt, daß „erst die Verschärfung des Kalten Krieges und die Vertiefung der Spaltung in Deutschland [...] seit der Jahreswende 1947/ 48 zu einer Kehrtwende der SED [führten]“ (Bingen 1993 S. 406, 409f). In den 50er und 60er Jahren wurden keine Versöhnungsversuche zwischen den Westdeutschen und Polen unternommen, in der Grenzfrage tat sich wenig 1965 sandten die polnischen Bischöfe eine „Vergebungsbotschaft“ an die deutschen Amtsbrüder, in der sie „um Verständnis dafür“ baten, daß „ihre Nation die Westgrenze entlang der Oder und Neiße als Existenzfrage ansehe“. Die Botschaft schloß mit folgendem moralischen Appell: „Versuchen wir zu vergessen! Keine Polemik, kein weiterer kalter Krieg, aber der Anfang eines Dialogs (...) In diesem allerchristlichsten und zugleich sehr menschlichen Geist strecken wir unsere Hände zu Ihnen hin (...), gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.“ (nach L. v. Zitzewitz 1992, S. 141f). Das Ziel der Botschaft war, die alten Feindbilder auf beiden Seiten aufzubrechen. Die deutschen Bischöfe antworteten darauf „sehr verhalten“, Rücksicht auf die Vertriebenen- Verbände nehmend, und ohne auf die Frage der Oder-Neiße-Grenze einzugehen (vgl. ebd., S. 142 und Kramer 1990, S. 83). Im Jahre 1986 verfaßten die katholischen Laien, die im „Bensberger Kreis“ zusammengeschlossen waren, ein Memorandum, in dem sie an die Deutschen appellierten, die Rückkehr der Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Grenze „in den deutschen Staatsverband nicht mehr [zu] fordern“. Die deutschen Bischöfe meinten jedoch diesbezüg- <?page no="265"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 265 lieh: „Die Verfasser sprechen nicht für die Kirche“ (zit. nach Kramer 1990, S. 83). Am 7. Dezember 1970, als Bundeskanzler Willy Brandt nach Warschau flog, wurde schließlich ein „Normalisierungsvertrag“ zwischen der Bundesrepublik und Polen abgeschlossen. Im Artikel I stellten die beiden beteiligten Parteien übereinstimmend fest, „daß die Oder-Neiße-Linie ‘die westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen bildet" (zit. nach Kramer 1990, S. 84, vgl. Bingen 1993, S. 41 lf). Gegen diese Vereinbarung standen jedoch „der Friedensvorbehalt und die westdeutsche Rechtsauffassung von der Fortexistenz des Deutschen Reiches“, die zu den deutsch-polnischen „Streitereien und Mißverständnissen“ führten (Kramer, a.a.O ). Die kommunistische Propaganda in Polen warf der Bundesrepublik revisionistische und revanchistische Forderungen vor, die dem Geiste des Pangermanismus entsprungen seien (vgl. Bingen, a.a.O.). Die Oder-Neiße-Linie wurde von der Bundesrepublik endgültig als westliche Grenze Polens im November 1990 anerkannt; im Juli 1991 wurde ein „Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ unterzeichnet (vgl. L. v. Zitzewitz 1992, S. 325). Die 45 Jahre, bis schließlich der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen abgeschlossen worden ist und die Bundesrepublik die deutsch-polnische Grenze anerkannt hat, zeigen deutlich die Spannungen in den deutsch-polnischen Beziehungen. 5.18 Zum ostdeutsch-polnischen Verhältnis I) Prädikation: „Polen und Ostdeutsche mögen sich nicht“ II) Illustrationsbelege: 1) Ich stelle mich als Journalist vor und bitte um Einlaß. Die Posten versichern sich zuerst, ob ich kein Russe oder Ostdeutscher bin, und führen mich dann in ein Gebäude. (Unerschüttert halten sie an den 21 Fordemngen fest, FR, 28.08.1980, FR082 8 09. TXT). 2) ‘Im Hotel Monopol in Danzig haben sie den Urlaubern aus der ddr das Frühstück und das Mittagessen gesperrt, damit sie für uns Westdeutsche genug zu essen hatten. ’ Ein Abteilnachbar nickt: ‘Das gibt wieder böses Blut drüben gegen uns.’ (Die Polen wollen Gewalttätigkeit aufjeden Fall vermeiden, FAZ, 27.08.1980, FZ082712.TXT 3) Reibereien zwischen DDR-Bürgern und Polen, die in der ddr Einkäufe machten, gab es schon im ersten Jahr der Besuchsregelung. (DDR-Bürger müssen in Zukunft Mindestbeträge Umtauschen, FR, 18.06.1980, FR061801). 4) Das Verhältnis zwischen der ddr und dem polnischen Nachbarn ist seltsam zwiespältig. Von offizieller Seite wird das Hohelied der unverbrüchlichen Freundschaft der beiden Brudervölker gesungen; so erst jüngst wieder zum 30. Jahrestag des „Görlitzer Abkommens“, jenes Vertrages, in dem die ddr Anfang Juli 1950 die Oder-Neiße-Grenze als <?page no="266"?> 266 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck endgültig anerkannte. Für die Polen sind auch die Bewohner der ddr Deutsche und damit Vertreter jener Nation, die in der polnischen Geschichte wahrlich keine rühmliche Rolle gespielt hat. So wird es denn mit Neid gesehen, daß es den DDR-Bewohnem, die ja mit zu den Verlierern des Zweiten Weltkrieges gehören, weitaus besser geht als den Polen. Der visafreie Reiseverkehr zwischen beiden Ländern wurde dann auch von den Bewohnern des Nachbarlandes als wilkommene Gelegenheit genutzt, um der Alltagsschwierigkeiten Herr zu werden, also um die Waren einzukaufen, die in der ddr eher zu haben sind als im eigenen Land. Diese Einkaufsfahrten in die ddr verknappten hier das eigene Angebot spürbar die sozialistische Planwirtschaft war auf diese Käufe nicht vorbereitet. Und im privaten Kreis kam es so häufig zu Unwillensbekundungen. Der westdeutsche Korrespondent in der ddr, der solche Diskussionen über die polnischen Nachbarn gelegentlich miterlebte, fühlte sich dann oft um 40 Jahre zurückversetzt. Bezeichnungen wie „Polacken“ waren da noch harmlos. Selbst SED-Funktionäre räumten in Privatgesprächen ein, daß da „manchmal ganz schlimme Ressentiments hochkommen“. [...] So lassen sich im DDR-Meinungsbild zu Polen durchaus zwei Richtungen erkennen: Jene, die enge und freundschaftliche Bindungen unterhalten, verfolgen die Berichte durchaus mit Sympathie: einige davon haben sich eigens nach Polen auf den Weg gemacht, um sich an Ort und Stelle zu informieren. Auf der anderen Seite stehen aber jene, denen die Hamsterkäufe von östlich der Oder schon immer ein Dom im Auge waren und die heute meinen: ‘Geschieht den Polen ganz recht.’ Diese vorhandene unterschwellige Ablehnung des Nachbarvolkes mag es dem SED-Zentralorgan erleichtert haben, in der Montagausgabe insgesamt 230 Druckzeilen zum Thema Polen ins Blatt zu setzen. [...] Insgesamt beschränkt sich die Anteilnahme der DDR-Bürger auf heimliche Sympathie. Das weiß natürlich auch die SED, die jetzt mit einer breiten Berichterstattung wohl zugleich auch einen Vertrauensbonus einheimsen will. Jene, die mit den polnischen Arbeitern sympathisieren, meinen zudem pessimistisch: „Das bringt doch nichts ein außer der berühmten ‘brüderlichen Hilfe’.“ (Das zwiespältige Verhältnis zweier Nachbarn, FR, 19.08.1980, FR081911.TXT). 5) In der DDR-Führung herrscht nach Auffassung des Vorsitzenden der Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten (ngg), Deeding, Verständnis für die Lage der polnischen Arbeiter. [...] Nach Auffassung der SED-Führung sei die Kommunistische Partei Polens „offensichtlich nicht in der Lage, ordentlich zu wirtschaften“, meinte Deeding. (Verständnis der DDR-Führung? , FAZ, 25.08.1980, FZ082550.TXT). 6) Nach Auffassung der SED-Führung sei die kommunistische Partei Polens „offensichtlich nicht in der Lage, ordentlich zu wirtschaften“, meinte Döding. [...] Sie [Versorgungs- und Verteilungsschwierigkeiten der ddr, J.D.] würden, so zitierte Döding den fdgb- Vorsitzenden weiter, dadurch kompliziert, daß einerseits die Bevölkerung der ddr das durch Fernsehen und zahlreiche Besucher aus dem Westen vermittelte Bild der Bundesrepublik zum Maßstab für den eigenen erstrebenswerten Lebensstandard mache, daß aber andererseits die osteuropäischen Partnerländer von der ddr, der es vergleichsweise gut gehe, immer wieder erhebliche wirtschaftliche Hilfestellung erwarteten. (Verständnis in der SED, FR, 25.08.1980, FR082501.TXT). 7) Die ddr hat am Freitag indirekt die polnische Führung für die Streikwelle in dem Nachbarland verantwortlich gemacht. [...] In der Meldung hieß es unter Berufüng auf <?page no="267"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 267 den Amerikaner, daß „bürokratischer Führungsstil“ zu „Mißverständnissen“ führe. „Ein Streik in einem sozialistischen Land ist Ausdruck ideologischer Rückständigkeit, für die wiederum die Führung die Verantwortung zu tragen hat.“ Die Streiks in Polen fanden nicht deshalb statt, weil am System des Sozialismus etwas grundlegend falsch sei, sondern sie seien „auf Schwächen in der Führung und eine Verformung sozialistischer Methoden zurückzuführen“, hieß es in der Meldung weiter. (Die ddr läßt schelten, FR, 1.09.1980, FR090102.TXT). 8) Beachtung fand, mit welchen Worten das „Neue Deutschland“ am Samstag Gus Hall zitierte: Ein Streik in einem sozialistischen Land sei auch Ausdruck ideologischer Rückständigkeit, für die die Führung des Landes die Verantwortung zu tragen hätte. Die Streiks in Polen fänden nicht deswegen statt, weil am sozialistischen System etwas falsch sei, sondern sie seien die Folge von Schwächen in der Führung. [...] Bei einer Führung, die im engeren Kontakt zu den Massen stehe, ihre Probleme öffentlich behandle und das Volk in den Regierungsprozeß einbeziehe, wären Streiks auch nicht notwendig. (Aufatmen im Westen - Schweigen im Osten, SZ, 1.09.1980, SZ090110.TXT). 9) Alle Ostberliner Blätter an der Spitze das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ druckten am Dienstag an herausragender Stelle eine scharfe Kritik an der polnischen Führung ab, wie sie in der amtlichen DDR-Presse noch nie zuvor an der Parteispitze eines „Bruderlandes“ geübt worden war. [...] Ähnlich hatte sich in der vergangenen Woche schon der DDR-Gewerkschaftsvorsitzende Harry Tisch, der als SED-Politbüromitglied an der Spitze der Hierarchie angesiedelt ist, gegenüber dem Chef der bundesdeutschen Gewerkschaft Nahrung, Genuß, Gaststätten, Günther Döding, geäußert: Die Polen seien „offensichtlich nicht in der Lage, ordentlich zu wirtschaften“, und man habe Verständnis für die Lage der polnischen Arbeiter. Das Verhältnis zwischen der ddr und Polen ist schon seit Monaten nicht ohne Trübung. Die „Friedensgrenze“ zwischen der ddr und Polen an Oder und Neiße ist seit Juni durch zahlreiche bürokratische Barrieren auf beiden Seiten wieder erheblich undurchlässiger geworden [...]. (Ein fremdes Sprachrohr für die DDR-Schelte, FR, 1.09.1980, FR090103 . TXT). 10) Die ddr hat indirekt Kritik an der polnischen Führung wegen ihrer Kompromißbereitschaft gegenüber den streikenden Arbeitern geübt. [...] Die polnischen Regierungskommissionen hätten „praktisch die gestellten Forderungen akzeptiert“. Damit wurde in der DDR-Fassung eine der entscheidenden Passagen des Prawda-Kommentars verschärft und die Kritik an der polnischen Führung deutlicher zum Ausdruck gebracht. (Lob aus Moskau, Tadel aus der ddr, SZ, 3.09.1980, SZ090302 . TXT). 11) Die ddr will Polen mit zusätzlichen Konsumgüterlieferungen unterstützen. Das sed- Zentralorgan „Neues Deutschland“ berichtete unter Berufung auf den stellvertetenden polnischen Ministerpräsidenten und Vorsitzenden der Plankommission, Henryk Kisiel, Polen habe in dieser Woche bereits Getreide, Butter, Geflügel sowie Kinder- und Säuglingsnahrung in der ddr gekauft. Darüber hinaus seien die Lieferung von Bekleidung, Unterwäsche und verschiedenen technischen Haushaltsgeräten vorgesehen. Über die Menge wurden keine Angaben gemacht. Nach Auffassung von Beobachtern könnten die Hilfslieferungen in der ddr selbst zu Versorgungsengpässen führen. Die ddr- <?page no="268"?> 268 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Nachrichtenagentur adn berichtete, die polnische KP habe in der Zeit vor den Streiks Fehler gemacht. [...] Der Fehler des ZK der pvap habe darin bestanden, daß zwar viele Vorschläge und Wünsche in die Beschlüsse des Parteitages aufgenommen wurden, ihre Realisierung sich jedoch verzögert habe. (Polens Regierung verspricht höhere Löhne, kürzere Arbeitszeit und Preiskontrollen, SZ, 6./ 7.09.1980, SZ090602 . TXT). 12) Die Unsicherheit der SED wird auch an anderer Stelle offenkundig: Während tags zuvor westliche Geldspenden der „neuen Freunde Polens“ an die streikenden Arbeiter kritisiert wurden, veröffentlichte das SED-Zentralorgan gestern einen Bericht über „die große Bedeutung zusätzlicher Warenlieferungen aus der ddr für Polen“, von Haushaltsgeräten über Unterwäsche bis zur Säuglingsnahrung. [...] Die DDR-Propaganda ist also in diesen Tagen zugleich nach innen und nach außen gerichtet: Der Arbeiter an der Werkbank in Dresden soll ebenso wie der große Bruder in Moskau und der ideologische Gegner im Westen begreifen: die SED gehört zu den wirklichen Freunden Polens; „polnische Zustände“ aber wird es gerade deshalb in der DDR nicht geben. (Die wirklichen Freunde, FR, 6.09.1980, FR090602.TXT). 13) Man weiß nicht, welche Erkenntnisse über die Stimmung der Bevölkerung an der Ostseeküste den Sicherheitsorganen der ddr vorliegen; ob sie vielleicht sogar Sympathiestreiks in Rostock-Warnemünde, Stralsund oder Wismar für möglich halten. Uns scheint jedoch, daß in der ddr kaum jemand daran denkt, dem polnischen Beispiel nachzueifem. Weder ist die Sympathie für die Polen so groß, noch sehen die Deutschen in der ddr einen rechten Sinn in einem politischen Streik. Schließlich ist die wirtschaftliche Situation in der ddr zwar nicht rosig, aber immerhin viel besser als in Polen. (In der ddr gemischte Gefühle über die Streiks in Polen, FAZ, 25.08.1980, FZ082501. TXT). 14) Die Sorge darüber, daß langfristig alles nur noch schlechter werde, dämpft die insgeheime Freude darüber, daß polnische Arbeiter den Politbürokraten einmal zeigen, wo die Interessen der Arbeiter, der vielzitierten Arbeiterklasse, wirklich liegen. Das deutsche Hemd ist den Deutschen in der ddr allemal näher als der polnische Rock. [...] Immer wieder hört man in den Gesprächen, die Sorge, letztlich würden die Vorgänge in Polen wie immer sie sich auch entwickeln sich für die ddr und ihre Bewohner nur nachteilig auswirken. Die erste von der DDR-Bevölkerung durchaus und wohl fast einhellig als negativ empfündene - Folge der polnischen Ereignisse ist die Absage der Reise des Kanzlers in die ddr. [...] Sie [die DDR-Bürger, ID.] haben sicher Verständnis für die Entscheidung des Bundeskanzlers, aber sie sind enttäuscht. Daß manche die streikenden polnischen Arbeiter für ihre enttäuschten Hoffnungen verantwortlich machen, steigert sicher nicht die Sympathie für das polnische „Brudervolk“. (In der ddr gemischte Gefühle über die Streiks in Polen, FAZ, 25.08.1980, FZ082501. TXT) 15) Seit dem Wochenende sieht vieles anders aus für die ddr [...] Innenpolitisch werden nun die über die offene ‘Freundschaftsgrenze’ einreisenden Polen zum Problem. Bisher waren sie als Waren-Aufkäufer denkbar unbeliebt bei den DDR-Bürgern, aber nun werden sie interessante Informationen bringen. (Gefürchtete Informanten - Stimmen der Anderen, FAZ, 6.09.1980, FZ090607 . TXT) 16) Am Freitag haben die DDR-Bewohner nun auf der ersten Seite des SED-Zentralorgans „Neues Deutschland“ lesen können, was sie schon längst vermutet haben: Die ddr wird <?page no="269"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 269 Polen zusätzlich Waren liefern. Das wird wahrscheinlich das Warenangebot auf dem Binnenmarkt der ddr weiter verknappen. [...] Die jüngsten Beispiele in der Zusammenarbeit mit der ddr seien ein „beredtes Zeugnis vom Verständnis für unsere Situation und der aus ihr resultierenden Bedürfnisse der Wirtschaft und des Binnenmarktes“. Sie unterstreichen noch einmal, „daß man echte Freunde in Zeiten der Not am besten erkennt“. Die DDR-Bewohner werden solches wohl mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis nehmen. Sie hatten von Anfang an geargwöhnt, daß sie für die Vorgänge in dem der ddr „brüderlich verbundenen“ Polen würden mitbezahlen müssen. (Auch die ddr wird Polen zusätzliche Waren liefern, FAZ, 6.09.1980, FZ090601. TXT). 17)Mit keiner Silbe erwähnten die DDR-Medien am Montag die Ergebnisse der Verhandlungen zwischen der polnischen Führung und den streikenden Arbeitern und die von ihnen erstrittenen Zugeständnisse wie die Bildung unabhängiger Gewerkschaften und das Recht auf Streik. [...] Auffällig ist es für politische Beobachter in diesem Zusammenhang, daß im Gegensatz zur Sowjetunion in der ddr bisher deutliche Kritik an den Vorgängen vermieden wurde. (Ost-Berlin schweigt zu Danzig, FR, 2.09.1980, FR090203.TXT). III) Zuordnung zur Funktion Das Stereotyp „Polen und Ostdeutsche mögen sich nicht“ wird in den Belegen in mehreren Ebenen präsentiert: - Die Polen schätzen die DDR-Bürger nicht, lauten persönlicher Eindrücke der Westjoumalisten (vgl. den Urlaubern aus der DDR das Frühstück und das Mittagessen sperren, damit [...] Westdeutsche genug zu essen haben; die Bewohner der DDR sind Deutsche und damit Vertreter jener Nation, die in der polnischen Geschichte [ . . .] keine rühmliche Rolle spielt) - Distanzierte Betrachtung des Verhältnisses zwischen polnischen und DDR- Bürgern aufgrund politischer Bedingungen (Neid; Reibereien) - Die kritische Betrachtung der offiziellen Kommentare der DDR gegenüber den Polen: nicht in der Lage sein, ordentlich zu wirtschaften; Streiks als Ausdruck ideologischer Rückständigkeit; Streiks, [...] Folge von Schwächen in der Führung - Das Verhältnis zwischen der DDR und Polen ist, der offiziellen DDR-Presse zufolge, gut: Brudervolk (2x); „Bruderland“; „Friedensgrenze“; Freundschaft; Zusammenarbeit; Freunde; „ brüderlich “ - Zwiespältige (eher negative als positive) Gefühle der DDR-Bürger den Polen gegenüber ‘Polacken’; Ressentiments; Ablehnung; Hamsterkäufe; Einkaufsfahrten <?page no="270"?> 270 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck - Kritik an den DDR-Medien: mit keiner Silbe die Ergebnisse der Verhandlungen [. . .] erwähnen; wirtschaftliche Probleme zwar erwähnen, Einzelheiten und Hintergründe jedoch nicht näher behandeln; deutliche Kritik an den Vorgängen vermeiden Die westdeutsche Presse betont in ihrer Berichterstattung das Problematische der Beziehung zwischen Polen und DDR-Bürgern, indem sie auf beiden Seiten hauptsächlich negative Urteile über die Nachbarn registriert. Eindeutig ist, daß die polnische Perspektive dieser Beziehung im Vergleich zu deijenigen der DDR ziemlich vernachlässigt wird. Schon das quantitative Verhältnis der Belege, nämlich 2 aus polnischer und 13 aus ostdeutscher Perspektive, bestätigt diese Einseitigkeit. Zwei Belege (3) und (4) stellen beide Perspektiven dar. Daraus folgt, daß die westdeutschen Journalisten offenbar die DDR-Presse anhand von DDR-Stimmen intensiver nutzen als die polnische, die zumeist wohl erst übersetzt werden müßte. Die sprachliche Kompetenz wirkt sich also unmittelbar auf die in der Berichterstattung vermittelte Sicht aus. In der westdeutschen Presse läßt sich eindeutig das Stereotyp ‘Abneigung zwischen Ostdeutschen und Polen’ feststellen. Es wird sowohl implizit als auch explizit verwendet. Interessant ist, daß die polnische Perspektive der DDR-Bürger in der Mitte zwischen Implizitheit und Explizitheit gehalten wird, und zwar durch eine szenische und personalisierte Darstellung (vgl. die Belege (1) und (2)). Beide bedienen sich der Polarisierung, denn die ablehnende Haltung der Polen den Ostdeutschen gegenüber wird mit ihrer Haltung den Westdeutschen gegenüber verglichen, wobei letztere sehr viel besser abschneiden. Die polnische Haltung gegenüber den DDR-Bürgern wird in Beleg (4) explizit als Neid bezeichnet, und in Beleg (3) wird das wechselseitige Verhältnis mit dem Lexem Reibereien charakterisiert. Umgekehrt wird die Einstellung der DDR-Bürger gegenüber Polen aus der Sicht der bundesdeutschen Presse in mehreren Belegen explizit formuliert. Sie wird einmal grob mit dem Lexem Ablehnung (vgl. Beleg (4)) gekennzeichnet. Das schwierige Verhältnis zwischen Ostdeutschen und Polen wird sowohl auf der Grundlage offizieller als auch inoffiziell-privater Quellen thematisiert. Das offizielle Verhältnis wird als eines von mehreren Subthemen in Beleg (4) sowie in den Belegen (5) bis (12) dargestellt. Oft werden auch persönliche Beziehungen zwischen einzelnen Vertretern beider Völker, und zwar in den Belegen (1) bis (4) und (13) bis (16) thematisiert. Beleg (17) ist eine Auseinandersetzung mit den DDR-Massenmedien, die sich durch eine selektive Berichterstattung bzw. Themenverweigerung auszeichnen. Diese Strategie des Sich- Nicht-Einmischen-Wollens der DDR in die Vorgänge in Polen kann zugleich als Ausdruck der Angst der Offiziellen vor einem Übergreifen der Streiks und Forderungen nach mehr Demokratie gedeutet werden. Die von Polen ausge- <?page no="271"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 271 henden Impulse müssen demnach von der DDR-Regierung als Zukunftsgefahr für die DDR eingestuft werden, weil sie möglicherweise auf die DDR übergreifen können. Die positiven Einstellungen von Vertretern beider Nationen zueinander werden nur peripher thematisiert (vgl. Belege (4), (13) und (14)). Unter Benutzung von offiziellem Pressematerial der DDR wird der Kritik der Vorgänge in Polen durch die DDR in der westdeutschen Presse sehr viel Raum gegeben (vgl. Belege (5) bis (12)). Diese acht Belege enthalten größtenteils Auszüge aus der DDR-Presse, in denen eine negative Einstellung der DDR- Regierung zu den polnischen Umwälzungen ausgedrückt wird. Das Stereotyp über die ‘den Polen abgeneigten Ostdeutschen’ wird den westdeutschen Lesern vorrangig explizit präsentiert. In mehreren Belegen hauptsächlich in (5), (6) und (12) läßt sich die Überschneidung des Stereotyps ‘gegenseitige Abneigung der Ostdeutschen und Polen’ mit dem Stereotyp ‘unordentliche/ chaotische Zustände’ (vgl. nicht in der Lage sein, ordentlich zu wirtschaften - (3x)) beobachten. Die implizite Verwendung des Abneigungs-Stereotyps liegt im ersten Teil des Belegs (5) vor, in dem das angebliche Verständnis der DDR- Führung/ i/ r die Lage der polnischen Arbeiter als scharfe Kritik an der bisherigen Politik der Warschauer Regierung zu interpretieren ist. Die Beleggruppe (13) bis (16) drückt die private Einstellung der ostdeutschen Bevölkerung den Polen gegenüber aus, die als eine Mischung aus Sympathie für die polnische Systemkritik, Skepsis gegenüber der Durchsetzbarkeit dieser Kritik und Sorge vor negativen politischen und wirtschaftlichen Folgen der polnischen Streikbewegung bezeichnet werden kann. In den Belegen (4), (13) und (14) wird zwar unmißverständlich angedeutet, daß die DDR-Bürger den Vorgängen in Polen Sympathie entgegenbringen, als allgemeines Fazit der ostdeutschen Sicht wird jedoch erkennbar: Es wäre uns lieber, wenn die Polen ‘ruhig säßen’. IV) Medienspezifik und Textsortenverteilung Das Stereotyp ‘gegenseitige Abneigung der Ostdeutschen und Polen’ wird in über zwanzig Belegen sprachlich realisiert. Der Grad der Versprachlichung ist in allen untersuchten Tageszeitungen ungefähr gleich und überschreitet zehn Belege pro Zeitung nicht. Das Stereotyp wird hauptsächlich in den Kommentaren und Berichten präsentiert, wobei häufiger auch seine leitmotivische Verwendung deutlich zum Ausdruck gebracht wird. In den Nachrichten ist das Stereotyp seltener präsent. Als das periphere Thema in der Textstruktur sowie in der Überschrift als eine Ankündigung des im Text Präsentierten läßt sich das Stereotyp mehrmals verzeichnen. <?page no="272"?> 272 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck V) Zur lexikalischen und syntagmatischen Realisierung Signalwörter: Nomina: ‘Polackeri; Waren-Aufkaufer (2x); Einkaufsfahrten; Käufe; Hamsterkäufe; Ablehnung; Unwillensbekundungen; Reibereien; Ressentiments; Trübung; Neid; Skepsis; Oder-Neiße-Grenze; Oder-Neiße; „Bruderland 1 ; „Friedensgrenze'' 1 . Verben: argwöhnen; verknappen. Adjektive: nachteilig; negativ; „brüderlich“ (2x); enttäuscht (2x); unbeliebt; pessimistisch (2x); unterschwellig; zwiespältig; undurchlässig. Nominale Syntagmen erheblich undurchlässige ‘Friedensgrenze’; enttäuschte Hoffnungen; das polnische JlrudervoHG; „brüderlich verbundenes“ Polen; , ,b'reundschaftsgrenze“; „brüderliche Hilfe“; unterschwellige Ablehnung des Nachbarvolkes; Streiks als Ausdruck ideologischer Rückständigkeit; Streiks, [...] Folge von Schwächen in der Führung; weder [...] 50 große Sympathie für die Polen, noch [...] kein rechter Sinn in einem politischen Streik; Sorge, daß langfristig alles nur noch schlechter werde; seltsam zwiespältiges Verhältnis; ganz schlimme Ressentiments. Verbale Syntagmen von der DDR erhebliche Hilfestellung erwarten; indirekt die polnische Führung für die Streikwelle [...] verantwortlich machen; indirekt Kritik an der polnischen Führung üben; die Kritik an der polnischen Führung deutlicher zum Ausdruck bringen; Rückständigkeit, für die die Führung die Verantwortung zu tragen hat; Streiks [...] auf Schwächen in der Führung und eine Verformung sozialistischer Methoden zurückführen; eine scharfe Kritik an der polnischen Führung abdrucken; das Verhältnis, das schon seit Monaten nicht ohne Trübung sei; <?page no="273"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 273 Streiks [...], für die die Führung des Landes die Verantwortung zu tragen hätte; das Warenangebot auf dem Binnenmarkt der DDR [...] verknappen; sich versichern, ob [er] kein [...] Ostdeutscher sei; Hilfslieferungen in der DDR zu Versorgungsengpässen führen können; den Urlaubern aus der DDR das Frühstück und das Mittagessen sperren, damit [...] Westdeutsche genug zu essen haben; mit Neid sehen, daß es den DDR-Bewohnern, die ja mit zu den Verlierern des Zweiten Weltkrieges gehören, weitaus besser geht; die Bewohner der DDR Deutsche und damit Vertreterjener Nation, die in der polnischen Geschichte [...] keine rühmliche Rolle spielt; nicht in der Lage sein, ordentlich zu wirtschaften (3x); kaum daran denken, dem polnischen Beispiel nachzueifern; weder [...] große Sympathie für die Polen, noch [...] einen rechten Sinn in einem politischen Streik [sehen]; das deutsche Hemd ist den Deutschen in der DDR näher als der polnische Rock; sicher nicht die Sympathie steigern; Warenangebot aufdem Binnenmarkt verknappen; einreisende Polen werden zum Problem; in der polnischen Geschichte wahrlich keine rühmliche Rolle spielen; das eigene Angebot verknappen; Bezeichnungen wie JFAacken“ harmlos empfinden; schlimme Ressentiments hochkommen; immer wieder erhebliche wirtschaftliche Hilfestellung erwarten; ein Problem sein; mit keiner Silbe die Ergebnisse der Verhandlungen [...] erwähnen; wirtschaftliche Probleme zwar erwähnen, Einzelheiten und Hintergründe jedoch nicht näher behandeln; aufdie Käufe nicht vorbereitet sein; als Waren-Aufkäufer denkbar unbeliebt sein; sich für die DDR und ihre Bevölkerung nur nachteilig auswirken; die streikenden polnischen Arbeiter für enttäuschte Hoffnungen verantwortlich machen; sich um 40 Jahre zurückversetztfühlen; Dorn im Auge sein; ein Problem sein; den Polen ganz recht geschehen; für die Vorgänge in dem [...] brüderlich verbundenen Polen [...] mitbezahlen müssen. Textuell hergestellte Antonymie: Nomina: Sympathie (2x); Hilfestellung; Brudervolk (2x); Freundschaft; Zusammenarbeit; Freunde (2x); Freundschaftsgrenze <?page no="274"?> 274 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Verben: sympathisieren Adjektive: freundschaftlich Nominale Syntagmen: Hohelied der unverbrüchlichen Freundschaft der beiden Brudervölker; heimliche Sympathie Verbale Syntagmen: enge undfreundschaftliche Bindungen unterhalten; Berichte mit Sympathie verfolgen VT) Resümee Die Beziehungen zwischen der DDR und Polen werden aus der Sicht der westdeutschen Presse durchaus gespannt dargestellt. Sie werden zwar auf verschiedenen Ebenen betrachtet, das Urteil geht jedoch immer in dieselbe Richtung: „Polen und Ostdeutsche mögen sich nicht“. Die Sympathie der DDR- Bürger zu den Polen und vice versa wird als ein peripheres Phänomen der ostdeutsch-polnischen Beziehungen dargestellt. Sie existiere zwar, weil die Polen die Kritik an dem auch von den DDR-Bürgern ungeliebten System üben, sie selbst seien jedoch zu mißtrauisch, um dem polnischen Beispiel nachzueifern (vgl. Beleg (13)). Die Haltung der DDR-Bürger wird trotz der heimlichen Sympathie in Beleg (4) als pessimistisch bezeichnet, die Ostdeutschen sehen nämlich keinen rechten Sinn für eine Aktion im Stil der polnischen Arbeiter: Das bringt doch nichts ein außer der berühmten 'brüderlichen Hilfe' (Beleg (4)). Die skeptische Einstellung der Ostdeutschen den Polen gegenüber wird hauptsächlich in den Belegen (4), (13) und (14) hervorgehoben. Viel stärker als die Sympathie der beiden Völker zueinander werden die negativen Einstellungen der DDR-Regierung bzw. der DDR-Bürger den Polen gegenüber thematisiert. In den analysierten Belegen werden die Gründe für eine solche Beziehung zwischen beiden Staaten sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart geortet. Eine historische Ursache für das Unbeliebt- Sein der DDR-Bürger in Polen aus der Sicht der westdeutschen Presse wird in Beleg (4) angeführt: Für die Polen sind auch die Bewohner der DDR Deutsche und damit Vertreter jener Nation, die in der polnischen Geschichte wahrlich keine rühmliche Rolle gespielt hat. Mit dieser Formulierung wird Bezug auf den Zweiten Weltkrieg genommen. Anders jedoch als beim Stereotyp über ‘das gespannte Verhältnis Polen - Bundesrepublik’ werden die Gründe der polnischen Abneigung gegenüber den Ostdeutschen nicht ausschließlich als historische dargestellt, sondern auch als gegenwärtig wirksame. Daß die Gründe für die Ablehnung der DDR-Bürger durch die Polen ebenfalls <?page no="275"?> Aussage- und Handlungsgehalt der Stereotype 275 in der Gegenwart zu suchen sind, zeigen die Belege (1) und (2), in denen die negative Einstellung der Polen den Ostdeutschen gegenüber ausgedrückt ist. Das in Beleg (1) dargestellte Sich-Versichern eines Polen, ob der westdeutsche Journalist Russe oder Ostdeutscher sei, suggeriert, daß die Vertreter dieser beiden Nationen keine Chance hätten, das Werftgelände zu betreten. Mit einer solcher Darstellungsweise werden die Ostdeutschen als Angehörige einer der zwei Nationen eingestuft, von denen die Polen glauben, daß sie ihnen feindlich gesonnen seien. In Beleg (2) wird explizit eine von den Polen durchgefuhrte Unterscheidung dargestellt, anhand derer die Ostdeutschen von den Polen schlechter behandelt werden als die Westdeutschen. Die Gründe für ein solches Verhalten der Polen werden im Text nicht genannt. Die Funktion des Stereotyps in der westdeutschen Presse liegt offensichtlich darin, das Verhältnis Polen - DDR als Gradmesser für die zunehmend besseren Beziehungen Polens zur BRD nutzen zu können (s. Kap. 5.17). Die historisch bedingte Abneigung der DDR-Bürger den Polen gegenüber wird in den Belegen nicht genauso wie in der Beziehung Polen - Westdeutsche thematisiert, statt dessen widmen die westdeutschen Zeitungen den aktuellen Spannungen zwischen beiden Völkern viel Platz. Der Grund dafür seien Schwierigkeiten wirtschaftlicher Natur, die darauf beruhen, daß die Polen, bei denen die Versorgung noch schlechter als in der DDR war, Einkaufsfahrten in das Nachbarland machten, wodurch dort wiederum das Angebot spürbar [verknappt] wurde (vgl. Beleg (4). Die Einkaufsfahrten der Polen, die zu einem Leerkaufen von DDR-Läden und allgemein zur Abneigung der DDR- Bürger den Polen gegenüber führen, werden in den Belegen (3), (4), und (16) thematisiert. Das angebliche Leerkaufen von DDR-Geschäften durch Polen wird in dem Reiseführer von Kramer (1990) durch einen Witz gespiegelt, den er von einem Ost-Berliner gehört haben will: „Er geht so: ‘Die Chinesen rükken nach Europa vor. Am ersten Tag kommen sie bis Moskau, am zweiten bis Hannover und am dritten bis Paris. Die Polen aber verteidigen immer noch das Warenhaus Zentrum in Ost-Berlin.’“ (S. 88). Ziemer nennt die Polenfeindlichkeit in der DDR ein Resultat des „Einkaufstourismus“ in der Zeit der offenen Grenze von 1972 bis 1980 (vgl. 1991, S. 92). Möglicherweise unterstellen hier westdeutsche Autoren den DDR-Bürgern ein Stereotyp, dessen Prädikation sich mit „Die Polen kaufen die DDR leer“ umschreiben. Kramer meint, daß die DDR und Polen sich „zu fremd Vorkommen“ mußten, weil das eine, so Kramer, „preußisch-ordentlich und ideologisch-prinzipientreu“ sei, das andere hingegen „eigene Wege suchend, mit größeren politischen Freiheiten, einer überwiegend privaten Landwirtschaft und einer mächtigen katholischen Kirche“ ausgestattet sei. Kramer meint, daß das Verhältnis der Polen zur DDR schon in der Kommunismuszeit ein heißes Eisen war, das unter anderem in der polnischen Presse ihren Niederschlag gefünden hatte „als die DDR das Denkmal Friedrichs II. wieder aufstellen ließ“. Einer der in Polen veröffentlichten Kommentare war: „Dieses Denkmal macht uns Sorgen. Fried- <?page no="276"?> 276 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck rich II. hat als Architekt der polnischen Teilungen bei uns nie einen guten Ruf gehabt.“ (zit. nach Kramer 1990, S. 88f). Nach Ziemer korrigierten die Polen spätestens im Laufe der 70er Jahre, als die Reisemöglichkeiten in den Westen stiegen, „das von Partei und Regierung propagierte Stereotyp [...]die ‘guten’ Deutschen lebten in der DDR, die ‘bösen’ dagegen in der Bundesrepublik“. Der Wandel öffentlich proklamierter Bilder vollzog sich nach Meinung Ziemers langsam; seine besondere Verstärkung erfolgte Anfang der 80er Jahre, als die Polen „unerwartete Hilfssendungen aus der Bundesrepublik“ erhielten (1991, S. 91). Nach Mitter beobachtet man gerade 1980 „die hilflosen Reaktionen der DDR-Führung“ auf die polnischen Vorgänge, die offenbarten, „daß dreißig Jahre Sozialismus durchaus nicht dazu gedient hatten, die Ressentiments zwischen Polen und Deutschen abzubauen“. Mitter meint, daß es erschreckend war festzustellen, „daß die SED-Führung in den frühen 80er Jahren ganz bewußt an die Vorurteile gegenüber der polnischen Bevölkerung anzuknüpfen suchte, um den Widerstand gegen das kommunistische Herrschaftssystem im Nachbarland zu diskreditieren“ (1994, S. 81). Ein entscheidender, aber unausgesprochener Faktor der westdeutschen Sicht auf das Verhältnis Polen - DDR ist die Zugehörigkeit beider zum kommunistischen Ostblock. Auf die Probleme und internen Spannungen dieses Verhältnisses hinzuweisen, heißt zugleich, die Brüchigkeit des Ostblocks und den Niedergang der kommunistischen Ideologie festzustellen. <?page no="277"?> Analyse der Stereotype in der DDR-Presse 277 6. Analyse der Stereotype in der DDR-Presse In diesem Kapitel wird eine neue Textgruppe im Hinblick auf Stereotype erforscht, und zwar die DDR-Presse des gleichen Untersuchungszeitraums, d.h. des Sommers 1980. Diese Untersuchung soll Schlußfolgerungen über die Rolle der Ideologie in der Stereotypenvermittlung ermöglichen. An dem Beispiel läßt sich auch prüfen, wie ein bestimmtes Presseorgan mit Stereotypen umgeht. 6.1 DDR-Presse Die DDR-Presse wurde in die Untersuchung einbezogen, um kontrastiv zur westdeutschen Presse zu prüfen, ob konkrete Argumentationskontexte als Ausdruck einer bestimmten Ideologie eine wichtige Rolle bei der Stereotypenvermittlung spielen. In Kapitel sechs werden die Stereotype nicht nach den für die Presse der Bundesrepublik ausgearbeiteten Beschreibungskriterien (s. Kap. 3 und Kap. 5) dargestellt. Statt dessen wird die Analyse von den ideologischen Prämissen ausgehen, um nach der Funktion eventueller Stereotype zu fragen. Deshalb soll die Berichterstattung des „Neuen Deutschland“ (ND) über Polen mit ihren Besonderheiten und ihren möglichen Veränderungen während des polnischen Demokratisierungsprozesses untersucht werden. Das ND wurde aus zweierlei Gründen für diese Untersuchung ausgewählt. Zum einen setzte das ND als Organ der führenden Partei die Maßstäbe für die gesamte Presse der DDR, zum zweiten kann es als beispielhaft für den damaligen Propaganda- Sprachgebrauch angesehen werden (vgl. Gliwinski/ MarcowiczAVeigt 1993, S. 153; vgl. auch Kap. 4.1.1). Untersucht wurden 68 Texte des ND der Monate Juli, August und September 1980. Schon die erste Durchsicht der ND-Texte aus diesem Zeitraum ergab eine auffällige Zäsur: Bis Juli 1980 folgt das ND der offiziellen Linie, die sich für die SED und damit auch für das ND auf die ideologisch geprägte Formel bringen läßt: „Polen und DDR-Bürger sind Brudervölker“. Dieses einheitliche und eindeutig positive Polenbild wird auch noch Anfang Juli realisiert. Zwischen dem 7. Juli und dem 16. August fällt das ND in eine lange Pause des Schweigens. Nach dem 16. August ändert sich das Bild völlig: das ND geht zu einer zunächst indirekten, später direkten Kritik an Polen und der polnischen Regierung über. Im ersten Zeitraum - 1. Juli bis 15. August finden sich im ND genau drei Texte, in denen die Beziehungen zwischen der DDR und Polen dargestellt werden. Zum Vergleich: In den untersuchten westdeutschen Zeitungen erscheinen im gleichen Zeitraum sieben (SZ) bzw. je acht (FAZ und FR) Beiträge zum Thema Polen. Alle drei ND-Texte beschäftigen sich mit Aspekten der ostdeutsch- <?page no="278"?> 278 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck polnischen Beziehungen, die keine Entsprechung in der westdeutschen Presse haben, weil sie ideologiespezifisch sind. Die drei untersuchten Texte (zwei vom 5 / 6. Juli 1980 und einer vom 7. Juli 1980) besitzen große Ähnlichkeit, so daß sie zusammen textübergreifend analysiert werden. Zwei dieser Texte gehören zur Textsorte Meldung, in die ein offizielles Telegramm eingebettet ist, der dritte ist ein Bericht von einem „Freundschaftsmeeting“, an der „Oder-Neiße-Friedensgrenze“, das von Vertretern beider Regierungen organisiert wurde. In den analysierten Texten kann man eine vierstufige Argumentation erkennen: 1) Wachhalten der ideologischen Grundannahme: Sozialistische Staaten und Völker sind, weil sie sozialistisch sind, brüderlich/ freundschaftlich verbunden, ganz gleich, was für Probleme sie wirklich haben. 2) Unantastbarkeit des bestehenden sozialistischen Systems in seinen internationalen Beziehungen. 3) Unantastbarkeit der sozialistischen Gesellschaftsverhältnisse in den beiden Ländern: es hat sich nichts verändert, es kann und darf sich nichts verändern, was immer auch geschieht. Dabei versucht man unterschwellig, durch das Ignorieren der Veränderungsforderungen der polnischen Arbeiter gezielt auf das mögliche Verhalten der Werktätigen in der DDR, nämlich den Polen nachzueifem, einzuwirken. 4) Man kann hier auch eine indirekte Warnung sowohl an die Polen als auch an die DDR-Bürger herauslesen: Streiks und Unruhen, Demonstrationen von Arbeitern mit Forderungen werden als Störungen der Freundschaft, der Zusammenarbeit und des Friedens bewertet. Zusammenfassend kann man sagen, daß diese Argumentation offenbar unterschiedlich adressiert ist: Zum einen soll der polnischen Regierung klar gemacht werden, daß die Entwicklung in Polen der DDR-Regierung einen Anlaß zur Sorge gibt (hier ist ein deutliches Element der Kritik enthalten). Zum anderen richtet sich die Argumentation an die DDR-Bevölkerung, in der die DDR als Vorbild für Polen dargestellt wird, weil sie über den besser fünktionierenden Sozialismus verfügt. Im Zeitungstext „Freundschaft verbindet uns über Oder und Neiße“ geht es um ein Telegramm der DDR-Regierung zum 30. Jahrestag der Unterzeichnung des Abkommens von Zgorzelec, das sie an die polnische Regierung geschickt <?page no="279"?> Analyse der Stereotype in der DDR-Presse 279 hat. Aus demselben Anlaß schickt die polnische Regierung und das ZK der PVAP ein Telegramm mit ähnlichem Inhalt an den DDR-Partner, das im zweiten Text „Dauerhaftes Fundament enger Zusammenarbeit“ publiziert wird. In Verbindung mit demselben Ereignis berichtet der Autor des dritten Artikels „Mit Polen für immer fest und brüderlich verbunden“ über die brüderliche Verbundenheit beider Länder. Um solche Inhalte auszudrücken, verwenden die Journalisten sehr unterschiedliche, oft formelhafte Wortverbindungen und Wendungen. In allen drei Texten wird ausschließlich das Thema der „Freundschaft“/ „Brüderlichkeit“ zwischen den beiden sozialistischen Nationen und ihren führenden Parteien thematisiert. Streiks oder Arbeitsunterbrechungen, die zu diesem Zeitpunkt die westdeutsche Presse beschäftigen, werden nicht thematisiert, was eine Ausblendung oder „Themenverweigerung“ zeigt (vgl. Hellmann 1993, S. 203). Die im folgenden Dokumentationsteil 6.2 genannten Belege (1) bis (4), zeigen deutlich, daß die drei analysierten Texte über Angelegenheiten berichten, die mit der schwierigen Situation in Polen in dieser Zeit wenig zu tun haben. Solche Berichte sind sozusagen zeitlos; man hätte sie in einer ähnlichen Form auch 20 Jahre früher in der Zeitung finden können. Offensichtlich handelt es sich hier um feste Verbindungen als Ausdruck fester ideologischer Inhalte, die in ihrer schablonenhaften Ausdrucksweise durch Jahrzehnte unverändert verwendet werden können. Diese erwähnte Formelhaftigkeit ist mit der „Dogmatisierung“ des Denkens eng verbunden und stellt ein wichtiges Merkmal der DDR-Presse dar. Zu diesen Dogmen gehört auch die im ND propagierte brüderliche Verbundenheit der DDR mit Polen auf der Basis des gemeinsamen Sozialismus. Die Presse der DDR versucht, den geltenden politischen Richtlinien gerecht zu werden, indem sie heiklen Themen aus dem Wege geht. Dem abstrakten ideologischen Gehalt der Berichterstattung entsprechend ziehen die Autoren der genannten Artikel zahlreiche Abstrakta heran: - Substantive auf -schuft. Freundschaft - Substantive auf -heit . Verbundenheit - Substantive auf -ung Schaffung Alle drei Texte aus dem ND besitzen die Form feierlicher Freundschaftskommuniques auf höchster Ebene („Hofberichterstattung“) und stellen ein Beispiel für eine streng normierte Form dar. Man sollte jedoch nicht die Tatsache außer Acht lassen, daß bei der in zwei Artikeln auftretenden Textsorte des „Staatstelegramms“ ganz andere Ansprüche als beim Bericht oder Kommentar gestellt werden. Da Staatstelegramme meist aus feierlichem Anlaß von Staaten bzw. ihren Repräsentanten übersandt werden, eignen sie sich nicht dazu, auf Probleme im Land hier z.B. die Streiks in Polen hinzuweisen. Auch in <?page no="280"?> 280 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck westlichen Ländern werden in Staatstelegrammen keine Schwierigkeiten problematisiert. Auffällig ist daher nicht, daß in den abgedruckten Staatstelegrammen keine Informationen über die derzeitige Lage verkommen, sondern daß es außer den hochoffiziellen Staatstexten keinerlei Information über die Lage in Polen gibt. In dem Fall der drei präsentierten Texte kann man etwas salopp formuliert den Inhalt folgendermaßen zusammenfassen: „Wir teilen allen mit: es bleibt alles so sozialistisch, wie es ist! “ Das offenkundige Bedürfnis nach Affirmation des ideologischen Postulats „sozialistische Staaten sind brüderlich verbunden und machen gute Fortschritte bei der Verwirklichung des Sozialismus“ (vgl. Belege (1) und (3)) läßt sich aus Anlaß eines offiziellen Vertragsjubiläums hier des Abkommens von Zgorzelec besonders gut realisieren; Berichte über Streiks passen in der Tat nicht dazu. Auffallend ist, daß es in diesem Zeitraum auch in der übrigen DDR-Presse praktisch keine Berichterstattung zur aktuellen Situation in Polen gibt. Die Themenverweigerung ist offenbar zentral gesteuert. Der sehr ähnliche Wortlaut der ND-Berichte zeigt im übrigen, daß es sich hier um eine auch sprachlich gesteuerte Berichterstattung handelt (s. Kap. 4). Das ND bedient sich zu diesem Zweck folgender sprachlicher Mittel: - Schlagwörter (vgl. 6.2.1) - Euphemismen bzw. unpräzise Ausdrücke (vgl. 6.2.2) - Textbzw. Redewiedergaben (vgl. 6.2.3) Unter 6.2.1, 6.2.2 und 6.2.3 folgt eine Auflistung der genannten sprachlichen Mittel, die aus der Analyse von 68 Zeitungstexten des ND gewonnen wurden. Es werden jeweils Lexeme angeführt, die als führende Schlagwörter und Euphemismen bzw. unpräzise Ausdrücke in diesem Zeitraum gelten können. 6.2 Dokumentationsteil Die nachfolgend angeführten Belege (1) bis (24) werden in drei Untergruppen präsentiert. Die ersten zwei: Belege (1) bis (4) und (5) bis (15) sind der DDR- Presse, die dritte mit den Belegen (16) bis (24) der westdeutschen Presse entnommen. Da die westdeutsche Presse gezielt Zitate aus der DDR-Berichterstattung wählt, um die DDR-Meinung zu Polen zu präsentieren, erschien es reizvoll, ihre Stellungnahmen an dieser Stelle zu berücksichtigen. Der Vergleich ergibt nämlich interessante Unterschiede in der Art der Bezugnahme und dem Umgang mit den Stereotypen (vgl. Kap. 6.3). Belege (1) bis (4): offizielle Texte (Staatstelegramme) zum Freundschaftsabkommen DDR-Polen; Beispiele für die Realisierung von Schlagwörtern in der DDR-Presse: <?page no="281"?> Analyse der Stereotype in der DDR-Presse 281 1) Wir können heute mit voller Befriedigung feststellen, daß das Abkommen von Zgorzelec der Entwicklung der Freundschaft und allseitigen Zusammenarbeit zwischen unseren Parteien, Staaten und Völkern gut dient, daß es zur konsequenten Realisierung der Aufgaben des sozialistischen Aufbaus in unseren beiden Ländern beiträgt. (Dauerhaftes Fundament enger Zusammenarbeit, ND, 5./ 6.07.1980, ND070501.TXT). 2) Freundschaft verbindet uns über Oder und Neiße. (Titel, ND, 5 / 6.08.1980, ND070502.TXT). 3) Die herzliche Freundschaft, die uns heute über Oder und Neiße dauerhaft verbindet, widerspiegelt die tiefgreifende Wende im Verhältnis unserer Völker. [...] Durch die erfolgreiche Verwirklichung der Beschlüsse der pvap wie auch der sed festigen wir unablässig unsere brüderliche Freundschaft und allseitige Zusammenarbeit und tragen zugleich zur weiteren Stärkung unseres Bruderbundes mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten bei. (Freundschaft verbindet uns über Oder und Neiße, ND, 5./ 6.07.1980, ND070502.TXT). 4) Willi Stoph nannte die Herausbildung der Freundschaft zwischen der ddr und Polen eine wichtige Errungenschaft der sozialistischen Revolution. Das enge Zusammenwirken zwischen SED und pvap und das unzerstörbare Bündnis der sozialistischen Gemeinschaft seien auch der Kraftquell für die weitere Ausgestaltung der Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern. Die Mimsterpräsidenten beider Länder [...] waren am Sonnabendvormittag auf der Brücke zusammengetroffen, die Görlitz mit der Schwesterstadt Zgorzelec verbindet. (Mit Polen für immer fest und brüderlich verbunden, ND, 7.07.1980, ND070701.TXT). Belege (5) bis (10): Kritische Texte zur Situation in Polen: Beispiele für Euphemismen und unpräzise Ausdrücke in der DDR-Presse: 5) Edward Babiuch hielt am Freitagabend im polnischen Fernsehen eine Ansprache, in der er darauf hinwies, daß die gegenwärtigen Schwierigkeiten im Lande nur durch höhere Arbeitsproduktivität gelöst werden können. Die zeitweiligen Arbeitsmederlegungen bezeichnete er als schädlich für die Entwicklung der Volkswirtschaft. (Edward Babiuch für ausgeglichenes Verhältnis von Arbeit und Verteilung, ND, 16./ 17.08.1980, ND081601.TXT) 6) Unter der Überschrift „Denken wir darüber nach“ veröffentlichte „Trybuna Ludu“ am Freitag einen Artikel, in dem es unter anderem heißt: „Noch immer stehen jeden Tag irgendwo im Lande Maschinen, arbeiten Abteilungen, Fabriken und Institutionen nicht... [...] Die wirtschaftliche Situation Polens ist so, daß wir keine Zeit haben zu diskutieren, anstatt zu arbeiten. Jede Stunde Stillstand in den Fabriken verlängert den Zustand der Instabilität („Trybuna Ludu“: Denken wir darüber nach“, ND, 13./ 14.09.1980, ND091305.TXT) 7) Ökonomische Schwierigkeiten sind nur durch Arbeit lösbar. (Titel, ND, 16.09.1980, ND091603.TXT) 8) Als gefährlichen Aspekt der jüngsten Ereignisse in einigen Betrieben von Gdansk bezeichnete Edward Gierek Versuche anarchistischer und antisozialistischer Gruppen, die- <?page no="282"?> 282 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck se Ereignisse politisch auszunutzen. Jegliche Aktivität, die die Grundlagen der politischen und sozialen Ordnung antastet, werde nicht zugelassen. „Nur ein sozialistisches Polen kann ein freier und unabhängiger Staat sein.“ (Femsehansprache von Edward Gierek, ND, 19.08.80, ND081901.TXT) 9) Die erforderlichen Resultate jedoch hingen letztlich von den Werktätigen selbst, von ihrer rhythmischen Arbeit, von der Erhöhung der Arbeitsproduktivität und der Verbesserung der Arbeitsdisziplin ab. (Ökonomische Schwierigkeiten sind nur durch Arbeit lösbar, ND, 16.09.1980, ND091603. TXT) 10)Auf eine Verschwendung von Zeit, die für die Arbeit vorgesehen ist, und auf Störungen im Arbeitsablauf sollte sich, wie Edward Babiuch erklärte, in Polen niemand einlassen. [...] Gegenwärtig sei die wichtigste Aufgabe, eine solche Art der Lösung der entstandenen Situation festzulegen, die wirksam einer weiteren Verschlechterung verbeuge, um das Land vor nicht wieder gutzumachenden Folgen und vor der Gefahr scharfer Konflikte und gesellschaftlicher Spannungen zu schützen, [...]. Das Ziel bestehe darin, führte er aus, die nationale Wirtschaft generell in Ordnung zu bringen, ihre Entwicklung zu harmonisieren, das gesellschaftliche Gleichgewicht wiederherzustellen besonders im Außenhandel und auf dem Binnenmarkt -, die Entwicklung der Landwirtschaft zu beschleunigen, um dadurch ein Wachsen der Lebensmittelproduktion zu erreichen, die Investitionsffont zu ordnen sowie die Mechanismen zur Steuerung der Wirtschaft und des Staates zu vervollkommnen. [...] Alle sollten sich entschieden den Tendenzen zur Verschlechterung des ökonomischen Gleichgewichts und den unrealistischen Druckausübungen auf die Zunahme der Einkommen ohne Deckung einstellen. Abschließend erklärte Edward Babiuch, nötig seien Ruhe und vor allem Redlichkeit und Disziplin in der täglichen Arbeit an jedem Arbeitsplatz und in jeder Werkstatt. (Polnischer Ministerpräsident sprach im Fernsehen, ND, 18.08.1980, ND081801. TXT) Belege (11) bis (15): Kritische Texte der DDR-Presse zur Situation in Polen, in Form von direkten oder indirekten Wiedergaben Dritter: 11) „[...] Wenn die Führung in einem sozialistischen Land ihre Verantwortungen erfüllt, indem sie in engem Kontakt mit dem Volk steht, ihre Politik erläutert, die Probleme öffentlich behandelt und sich anhört, was die breite Masse zu sagen hat, indem sie das Volk in den Regierungsprozeß einbezieht und rechtzeitig Maßnahmen trifft, um die Probleme zu lösen, dann sind Streiks nicht notwendig. Das ist in den meisten sozialistischen Ländern der Fall. Die Streiks in Polen finden nicht deswegen statt, weil an dem System des Sozialismus etwas grundlegend falsch ist, sondern sie sind auf Schwächen in der Führung und eine Verformung sozialistischer Methoden zurückzufuhren [...]“ (Guss Hall zu den Vorgängen in Polen, ND, 30./ 31.08.1980, ND083001. TXT). 12) Aus Pressemitteilungen sei ersichtlich, schreibt die „Prawda“, daß es antisozialistischen Elementen gelungen ist, in eine Reihe von Betrieben der Ostseeküste Polens, vor allem in Gdansk, einzudringen, das Vertrauen eines Teils der Arbeiterklasse zu mißbrauchen und die ökonomischen Schwierigkeiten zu ihren konterrevolutionären Zielen auszunut- <?page no="283"?> Analyse der Stereotype in der DDR-Presse 283 zen. Die Regierungskommissionen hätten praktisch die gestellten Forderungen akzeptiert (Umtriebe der Feinde des sozialistischen Polens, ND, 2.09.1980, ND090201.TXT). 13) Es liegt auf der Hand, daß auch das Vorhandensein von zwei Sektoren in der polnischen Wirtschaft berücksichtigt werden muß: zum einen der sozialistischen und zum anderen der privaten Landwirtschaft, der kleinen Warenproduktion, die bisweilen gar nicht so klein ist, und in Wirklichkeit kapitalistische Formen erzeugt. [...] Wir möchten uns in keinerlei Weise in die inneren Angelegenheiten Polens einmischen, doch zur Information unserer Partei muß ich sagen, daß die bekannten Ereignisse hätten vermieden werden können, wenn die Entwicklungsprobleme des Landes gemeinsam mit der Arbeiterklasse, mit den breiten Volksmassen gelöst worden wären, wenn bei der entstandenen Lage rechtzeitig und in der notwendigen Weise Maßnahmen ergriffen worden wären und man gegenüber den antisozialistischen Elementen und Kräften feste Positionen bezogen hätte (Nicolae Ceausescu zu antisozialistischen Aktivitäten in Polen, ND, 18 / 19.09.1989, ND091801.TXT). 14) Der Fehler des ZK der pvap habe darin bestanden, daß zwar viele Vorschläge und Wünsche in die Beschlüsse des Parteitages aufgenommen wurden, ihre Realisierung sich jedoch verzögerte. (Zur gegenwärtigen Lage in Polen, ND, 6./ 7.09.1980, ND090610.TXT). 15) Er [Jözef Pinkowski, J.D.] wies darauf hin, daß eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation des Landes durch tiefgreifende Veränderungen in Planungs- und Leitungsmethoden der Wirtschaft und insbesondere durch Erhöhung der Effektivität der Volkswirtschaft erreicht werden müsse. (Warschau: Tagung der obersten Volksvertretung. ND, 6./ 7.09.1980, ND090610.TXT). Belege (16) bis (24): Texte aus der westdeutschen Presse; sie zeigen, auf welche Art und Weise die ND-Berichterstattung in der Bundesrepublik präsentiert wird. Des weiteren ermöglichen sie, bestimmte Schlußfolgerungen auf die Verwendung der Stereotype über Polen im westdeutsch-ostdeutschen Diskurs zu ziehen: 16) In der DDR-Fühnmg herrscht nach Auffassung des Vorsitzenden der Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten (ngg), Doeding, Verständnis für die Lage der polnischen Arbeiter. [...] Nach Auffassung der SED-Führung sei die Kommunistische Partei Polens „offensichtlich nicht in der Lage, ordentlich zu wirtschaften“, meinte Doeding. (Verständnis der DDR-Führung? FAZ, 25.08.1980, FZ082550 . TXT). 17) Nach Auffassung der SED-Führung sei die kommunistische Partei Polens „offensichtlich nicht in der Lage, ordentlich zu wirtschaften“, meinte Döding. (Verständnis in der SED, FR, 25.08.1980, FR082501.TXT). 18) Alle Ostberliner Blätter an der Spitze das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ druckten am Samstag an herausragender Stelle eine scharfe Kritik an der polnischen Führung ab, wie sie in der amtlichen DDR-Presse noch nie zuvor an der Parteispitze eines „Bruderlandes“ geübt worden war. [. . .] Ähnlich hatte sich in der vergangenen Wo- <?page no="284"?> 284 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck che schon der DDR-Gewerkschaftsvorsitzende Harry Tisch, der als SED-Politbüromitglied an der Spitze der Hierarchie angesiedelt ist, gegenüber dem Chef der bundesdeutschen Gewerkschaft Nahrung, Genuß, Gaststätten, Günther Döding, geäußert: Die Polen seien „offensichtlich nicht in der Lage, ordentlich zu wirtschaften“, und man habe Verständnis für die Lage der polnischen Arbeiter. (Ein fremdes Sprachrohr für die DDR-Schelte, FR, 1.09.1980, FRO 90103. TXT). 19) Diese vorhandene unterschwellige Ablehnung des Nachbarvolkes mag es dem sed- Zentralorgan erleichtert haben, in der Montagsausgabe insgesamt 230 Druckzeilen zum Thema Polen ins Blatt zu setzen. (Das zwiespältige Verhältnis zweier Nachbarn, FR, 19.08.1980, FR081911.TXT). 20) Beachtung fand, mit welchen Worten das „Neue Deutschland“ am Samstag Gus Hall zitierte: Ein Streik in einem sozialistischen Land sei auch Ausdruck ideologischer Rückständigkeit, für die die Führung des Landes die Verantwortung zu tragen hätte. Die Streiks in Polen fänden nicht deswegen statt, weil am sozialistischen System etwas falsch sei, sondern sie seien die Folge von Schwächen in der Führung. [...] Bei einer Führung, die im engeren Kontakt zu den Massen stehe, ihre Probleme öffentlich behandle und das Volk in den Regierungsprozeß einbeziehe, wären Streiks auch nicht notwendig. (Aufatmen im Westen - Schweigen im Osten, SZ, 1.09.1980, SZ090110.TXT). 21) Die DDR hat am Freitag indirekt die polnische Führung für die Streikwelle in dem Nachbarland verantwortlich gemacht. [...] In der Meldung hieß es unter Berufung auf den Amerikaner, daß „bürokratischer Führungsstil“ zu „Mißverständnissen“ führe. „Ein Streik in einem sozialistischen Land ist Ausdruck ideologischer Rückständigkeit, für die wiederum die Führung die Verantwortung zu tragen hat.“ Die Streiks in Polen fänden nicht deshalb statt, weil am System des Sozialismus etwas grundlegend falsch sei, sondern sie seien „auf Schwächen in der Führung und eine Verformung sozialistischer Methoden zurückzuführen“, hieß es in der Meldung weiter. (Die DDR läßt schelten, FR, 1.09.1980, FRO 90102. TXT). 22) Die DDR hat indirekt Kritik an der polnischen Führung wegen ihrer Kompromißbereitschaft gegenüber den streikenden Arbeitern geübt. [...] Die polnischen Regierungskommissionen hätten „praktisch die gestellten Forderungen akzeptiert“. Damit wurde in der DDR-Fassung eine der entscheidenden Passagen des Prawda-Kommentars verschärft und die Kritik an der polnischen Führung deutlicher zum Ausdruck gebracht. (Lob aus Moskau, Tadel aus der DDR, SZ, 3.09.1980, SZ090302.TXT) 23) Die Unsicherheit der sed wird auch an anderer Stelle offenkundig: Während tags zuvor westliche Geldspenden der „neuen Freunde Polens“ an die streikenden Arbeiter kritisiert wurden, veröffentlichte das SED-Zentralorgan gestern einen Bericht über „die große Bedeutung zusätzlicher Warenlieferungen aus der DDR für Polen“, von Haushaltsgeräten über Unterwäsche bis zur Säuglingsnahrung. [...] Die DDR-Propaganda ist also in diesen Tagen zugleich nach innen und nach außen gerichtet: Der Arbeiter an der Werkbank in Dresden soll ebenso wie der große Bruder in Moskau und der ideologische Gegner im Westen begreifen: die SED gehört zu den wirklichen Freunden Polens; „polnische Zu- <?page no="285"?> Analyse der Stereotype in der DDR-Presse 285 stände“ aber wird es gerade deshalb in der ddr nicht geben. (Die wirklichen Freunde, FR, 6.09.1980, FR090602.TXT). 24)Die DDR-Nachrichtenagentur adn berichtete, die polnische KP habe in der Zeit vor den Streiks Fehler gemacht. [...] Der Fehler des zk der pvap habe darin bestanden, daß zwar viele Vorschläge und Wünsche in die Beschlüsse des Parteitages aufgenommen wurden, ihre Realisierung sich jedoch verzögert habe. (Polens Regierung verspricht höhere Löhne, kürzere Arbeitszeit und Preiskontrollen, SZ, 6./ 7.09.1980, SZ090602. TXT). 6.2.1 Schlagwörter Die nachfolgend aufgelisteten Schlagwörter sind Bestandteile des Stereotyps „Polen und DDR-Bürger sind Brudervölker“. Prinzipiell fasse ich Schlagwörter als terminologisierte Elemente einer Ideologie"Sprache“ auf, die im jeweiligen Textkontext tendenziell gegeneinander austauschbar sind und insofern nicht der „normalen“ Monosemierung, d.h. semantischer Spezifizierung durch den Textkontext unterliegen. Bei Schlagwörtem ist also die Bindung an eine Propagandasprache stärker als die an den Textkontext. Im Unterschied dazu werden Signalwörter in dieser Arbeit verstanden als vorrangige, aber keineswegs einzige Ausdrucksmittel zur Versprachlichung eines Stereotyps. Bei Signalwörtern ist die Bindung an den Textkontext und an das darin ausgedrückte Stereotyp nicht nur besonders eng, sondern konstitutiv. Sie sind nicht eo ipso Bestandteil einer propagandistischen Terminologie, obwohl sie zur Vermittlung von Ideologie durchaus beitragen können (vgl. Kap. 5). In entsprechenden ideologischen Kontexten können Schlagwörter zugleich als Signalwörter fungieren. Die Schlagwörter beziehen sich auf die drei in Kap. 6.1 besprochenen Zeitungstexte (vom 576.07.80 und vom 7.07.80). Ihre Darstellung wurde zweifach untergliedert: Gruppe I Schlagwörter, die an ein Wir-Gefühl der DDR-Bürger mit Polen mittels der Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen politischen System bzw. zu einer gemeinsamen politischen Ideologie appellieren: Nomina: Freundschaft (14x); Zusammenarbeit (8x); Zusammenwirken; Bruderbund; Verbündete; Brudervolk (3x); Schwesterstadt; Friedensbrücke; Freundschaftsmeeting; Bündnis; Marxismus; Leninismus; Sozialismus. Adjektive: eng (6x); fest; brüderlich (4x); friedlich (2x); herzlich (2x); verbündet; <?page no="286"?> 286 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck sozialistisch (10x); marxistisch-leninistisch (2x); proletarisch; unerschütterlich; unzerstörbar; unverbrüchlich. Verben: verbinden (5x); festigen. Signalsyntagmen: Oder-Neiße-Friedensgrenze (2x); festgelegte und bestehende Staatsgrenze (2x); der Kraftquellfür die weitere Ausgestaltung der Beziehungen. Gruppe II Schlagwörter, die an ein Wir-Gefuhl der DDR-Bürger mit Polen mittels eines gemeinsamen Feindbilds appellieren: Nomina: Hitlerfaschismus (2x); Antihitlerkoalition; Zweiter Weltkrieg; Kampf (3x); Kampfgemeinschaft; Sieg (2x); Imperialismus; Haß; Feindschaft; Ausbeuterklassen. Adjektive: imperialistisch; Verben: kämpfen (2x). a) Zu den Belegen von Juli 1980: Die Untersuchung der drei genannten Texte (vgl. 6.1) erlaubt, in diesem Zusammenhang noch einige weitere Punkte detaillierter zu erörtern: Schon der Überschrift des ersten Textes „Freundschaft verbindet uns über Oder und Neiße“ kann man entnehmen, daß dem Abstraktum, das heißt dem Substantivum „Freundschaft“ eine konkrete Eigenschaft zugesprochen wird Damit soll ausgedrückt werden, daß die Grenze zwischen den beiden Völkern als verbindendes und nicht als trennendes Element anzusehen sei; sie wird im DDR-Sprachgebrauch als „Friedensgrenze“ bezeichnet. Es geht nämlich darum, daß selbst die Flüsse, die kulturgeschichtlich als natürliche Grenzen zwischen Völkern und Sprachen angesehen wurden, hier sozusagen umfunktioniert werden; sie werden als kein Hindernis bei der Pflege der Freundschaft dargestellt und gelten zudem als unverrückbar und verbindlich. Andererseits muß man die Rolle der Oder-Neiße-Grenze in der deutsch-polnischen Geschichte berücksichtigen; sie ist in dieser Form erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und stellt zuweilen bzw. in bestimmten Kreisen einen Streitpunkt im westdeutsch-polnischen Diskurs dar. (s. Kap. 5.17 - „Polen und West- <?page no="287"?> Analyse der Stereotype in der DDR-Presse 287 deutschland haben ein gespanntes politisches Verhältnis zueinander“). Dieser Grenze wird in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung beigemessen, um dem DDR-Leser ihre Endgültigkeit zu vermitteln. Ein zweites interessantes Merkmal dieser Form der Schlagwortverwendung ist der Gebrauch des Adjektivs brüderlich, das sehr häufig auftritt, z.B.: brüderliche Grüße, brüderlich verbunden, brüderliche Zusammenarbeit, brüderliche Freundschaft. In dasselbe semantische Feld gehört auch das Lexem Bruder als Bestandteil solcher Zusammensetzungen wie Brudervolk, Bruderbund, Bruderarmeen, Bruderpartei und Bruderstaat. Es handelt sich hier wie oben schon angedeutet um eine Art ideologisch affirmativer Propaganda, die ein doppeltes Ziel in einer bestimmten Zeit erreichen will: Sie will einerseits der polnischen Führung beruhigend versichern, daß die DDR-Führung fest an ihrer Seite steht, zweitens aber den DDR-Leser von der Unantastbarkeit des bestehenden sozialistischen Systems und von der Verbundenheit der DDR-Bürger mit dem polnischen Volk überzeugen; indirekt soll verhindert werden, daß er sich, wie der polnische Arbeiter, für die Veränderung dieses Systems durch Streiks oder ähnliche Protestaktionen entschließt. Auf den Wirklichkeitsgehalt des „Freundschaft“- und „Bruder“- Vokabulars kommt es hier nicht an (s. dazu die im folgenden angeführten Schlagwörter). Außerdem sind auch zahlreiche Nomina actionis des Typs Schaffung, Festigung, Stärkung zu vermerken (s. dazu Kap. 6.1ideologische Funktion), die vom bestehenden prozessualen Charakter der bestehenden Beziehungen zwischen Polen und der DDR zeugen. Seltener kommen Konkreta vor, die hier meist als stark verblaßte Metaphern auftreten, etwa ein Eckpfeiler der Freundschaft, das unerschütterliche Fundament, dauerhaftes Fundament enger Zusammenarbeit, der Kraftquellfür die weitere Ausgestaltung der Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern oder auch die Eindämmung des Wettrüstens, die in einem übertragenen Sinne verwendet werden. Man kann hier eine besondere Vorliebe für die Verwendung des Wortschatzes aus dem Bereich der Bautechnik annehmen: Eckpfeiler, Fundament, Eindämmung, aus dem Bereich des Gesundheitswesens Kraftquell. Das Fehlen von Konkreta hängt damit zusammen, daß auch der Inhalt der Berichterstattung äußerst realitätsfem ist. In diesem Fall handelt es sich um rituelle Kommunikation, die in zahlreichen Fällen in der gleichen feierlichen Weise abläuft und insofern eine Liturgieähnlichkeit besitzt. Sie dient quasi zur Selbstvergewisserung „im Glauben“ (d.h. in den Ideologie-Dogmen) durch die erforderliche Wiederholung standardisierter, harmonisierender Formeln, auf deren Wirklichkeitsgehalt es, wie gesagt, nicht ankommt. Es gilt noch zu berücksichtigen, daß es sich bei einem Staatstelegramm um eine besonders rituelle Art der Textgestaltung handelt. Man kann hier in Hülle und Fülle schon <?page no="288"?> 288 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck fast lexikalisierte Kollokationen wie die oben angeführten Metaphern finden, die den DDR-Leser in das Freundschafts- und Bruderbund- Zeremoniell einbinden. Das Stereotyp tritt in der Zeit bis zum 16. August 1980 explizit auf, was aus seiner ideologischen Funktion resultiert. Das Stereotyp in bezug auf die Polen, die als Brudervolk der DDR-Bürger wahrgenommen werden sollten, ist ein Teil des stark normierten Sprachgebrauchs der DDR-Presse, bei der ein Volk mit der gleichen Ideologie automatisch ein ‘Brudervolk’ zu sein hatte. Inhaltlich ist dieses Stereotyp ein Teil des ideologischen Dogmas „Alle sozialistischen Völker sind Brudervölker“. Sein sprachlicher Ausdruck ist in seiner „Bruder“- Metaphorik enthalten. Die rituelle Zuordnung von Adjektiven zu Substantiven, die typisch für den DDR-Sprachgebrauch war, beschreibt treffend Stefan Heym (1990, S. 155). 2 b) Zu den Belegen ab Mitte August 1980: An der Tatsache, daß das ND öffentlich berichtet, daß es in Polen Probleme gibt, lassen sich zwei Zeitabschnitte mit Unterschieden im öffentlichen Sprachgebrauch der DDR festmachen, nämlich vor und nach dem 16. August 1980 (s. Kap. 6.1). Man kann sagen, daß die DDR-Presse sich nach diesem Zeitpunkt (16.08.80) von den oben erwähnten Schlagwörtern des Stereotyps ‘Brudervolk’ allmählich entfernt, was jedoch nicht heißen soll, daß sie auf 2 “Die Sprache ist Hoch-DDRsch, gepflegt bürokratisch, voll hochtönender Substantiva, die mit den entsprechenden Adjektiven verbrämt werden; die Sätze erfordern langen Atem von den Sprechern und Konzentration von den Hörem. Erleichtert wird das Verständnis allerdings durch die im Text reichlich verstreuten Klichees: Codewörter eigentlich, die in den Köpfen eines durch Zeitungslektüre, Versammlungsbesuche, Schulungskurse wohltrainierten Publikums sofort gewisse Gedankenverbindungen auslösen... Hätte man den Kanal etwa versehentlich eingeschaltet, man würde den Sender sofort identifizieren: So redet man nur im Fernsehen der ddr. Veränderung ist immer üefgreifend Verwirklichung zielstrebig Gedankenaustausch umfassend Atmosphäre schöpferisch Anliegen vorrangig Beratung eingehend Beschluß weitreichend Fundament unerschütterlich Vertrauensverhältnis unzerstörbar Bekenntnis eindrucksvoll Verwirklichung vollinhaltlich Stärkung allseitig Voraussetzung grundlegend Anerkennung weltweit Wachstum dynamisch Zustimmung millionenfach” <?page no="289"?> Analyse der Stereotype in der DDR-Presse 289 diese ganz verzichtet. Die Schlagwörter nehmen jedoch deutlich ab. Statt dessen erscheinen in der DDR-Presse andere sprachliche Phänomene, nämlich Euphemismen bzw. unpräzise und blaß wirkende Ausdrücke oder Textwiedergaben (Zitate), die bei der Ausarbeitung des sprachlichen Ausdrucks von Stereotypen in die Untersuchung einbezogen werden sollen (s. Kap. 6.2.2 und Kap. 6.2.3). Wie sich die Struktur von Schlagwörtem in der Zeit nach dem 16.08.80 bis zum Ende des untersuchten Zeitraums, das heißt bis zum 30.09.80 gestaltet, läßt sich den folgenden Schlagwörtern des Stereotyps vom ‘Brudervolk’ entnehmen. Ihre Darstellung ist das Ergebnis einer Auswertung der in dieser Zeit in ND erschienen 65 Artikel zum Thema der ostdeutsch-polnischen Beziehungen. Es bleibt zu berücksichtigen, daß das genannte Stereotyp nicht mehr betont, sondern nur marginal zum Ausdruck gebracht wird, was die ermittelten Häufigkeiten belegen können. Die Schlagwörter wurden analog zu den oben präsentierten in zwei Gruppen geteilt. Die Gruppierung erfolgt vorrangig nach der Häufigkeit, obwohl nach Möglichkeit auch semantische Relationen der einzelnen Lexeme berücksichtigt wurden. Die beiden Gruppen der Schlagwörter beziehen sich ausschließlich auf ihre Häufigkeiten in der DDR-Presse, d.h. die in den westdeutschen Zeitungen wiedergegebenen DDR-Texte werden hier nicht mitberücksichtigt. Gruppe I enthält Wörter, die sich auf die gemeinsame Systemzugehörigkeit der beiden Staaten beziehen: Sozialismus (36x); Einheit (19x); Zusammenarbeit (15x); Zusammenwirken; Bündnis (12x); Bündnisverpflichtungen; Bündnisbeziehungen; Bündnispartner; Bruderland (PI.) (6x); Bruderstaaten (3x); Bruderpartei; Waffenbrüder; Freundschaft (5x); Freunde (2x); Verbündete (4x); Verbundenheit; Patrioten (3x); Patriotismus; Internationalismus (2x); Verantwortung (8x),- VerantwOrtungsgefühl; Sicherheit {Ix); Hilfe (6x); Unterstützung (5x); Souveränität (5x); Treue (2x); Festigung (2x); Stärkung (2x); Stabilisierung (2x); Stabilität (2x). Adjektive: gemeinsam (8x); allseitig (6x); brüderlich (5x); herzlich (5x); freundschaftlich (4x); fest (4x); eng (4x); treu (2x); kooperativ; kameradschaftlich; verbunden; vereint; einheitlich; friedlich; aufopferungsvoll (2x); opferbereit; erprobt; bewährt; sozialistisch (78x); international (8x); souverän (6x); patriotisch (3x); internationalistisch (2x); ideologisch-patriotisch; proletarisch; zuverlässig (4x); ehrlich (4x); verantwortungsvoll (3x),unerschütterlich (2x); unverbrüchlich (2x); unangreißar; verantwortungsbewußt; verantwortlich; unermüdlich; untrennbar; schöpferisch (3x); konstruktiv; harmonisch. <?page no="290"?> 290 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Verben: festigen (Ix); sich sorgen (Ix); verstärken; vertiefen (2x); stärken (2x); unterstützen (2x); erstarken. Gruppe II = Wörter, mit denen an das gemeinsame Feindbild appelliert wird: Nomina: Verteidigungsbündnis; Verteidigungskraft (3x); Verteidigungsfähigkeit (4x); Kampf (6x); Kämpfer; Kampfgemeinschaft; Feinde (löx); freunde“; Ausbeuter; Provokateure; Antisozialisten; Kapitalisten (2x); Kapitalismus; Revanchisten (3x); Revanchismus (4x); Revanchistenblatt (2x); Revanchistenversammlung; Revanchistendelegation; Revanchistenpresse; Revanchistenverbände (4x); Antikommunismus (2x); BRD- Imperialismus; Imperialismus (4x); Faschismus; Nationalismus; Diversion (2x); Diversionszentren; Diversions- und Propagandazentralen; Diversionsdienste; Einmischung (18x); Einmischungsversuche; Lügenkampagne; Lügen; Unterstellungen; Heuchelei (2x); Hetze (3x); Hetzappelle; Wühltätigkeit (2x); Aggression; Haupteinpeitscher; Haß; Subversion; Konterrevolution; „Unterstützung'; Unterdrückung; Feindseligkeit. Adjektive: antisozialistisch (50x); revanchistisch (24x); imperialistisch (9x); reaktionär (5x); subversiv (5x); provokatorisch (4x); anarchistisch (3x); konterrevolutionär (3x); demagogisch (2x); kapitalistisch (2x); destruktiv (2x); verleumderisch (2x); heuchlerisch (2x); verlogen; rücksichtslos; faschistisch; nazistisch; antipolnisch (4x),' antisowjetisch (2x),feindlich (12x); regierungsfeindlich (2x); polenfeindlich; volksfeindlich; entspannungsfeindlich; feindselig; aggressiv; propagandistisch; aufwiegelnd; aufwieglerisch; aufrührerisch; oppositionell; friedensgefährend; völkerrechtswidrig; beunruhigend. Verben: kämpfen (4x); schützen; anheizen; unterhöhlen; zerschlagen; verwirren; anprangern (2x); anbiedern (3x); zerstören (2x); knebeln; kujonieren; entlarven (2x); einmischen (Ix); verhehlen (2x); unterschlagen; bedrohen; provozieren (2x); angreifen; eskalieren; drohen; verschärfen. Die angeführten Schlagwörter sind charakteristisch für die „Verlautbarungssprache“ der DDR und bringen die offizielle Meinung der in der DDR herrschenden Partei zum Ausdruck. <?page no="291"?> Analyse der Stereotype in der DDR-Presse 291 6.2.2 Euphemismen bzw. unpräzise Ausdrücke Im Unterschied zu den Schlagwörtern, mit denen das Stereotyp „Polen und DDR-Bürger sind Brudervölker“ explizit realisiert wurde, werden durch unpräzise, blasse Ausdrücke und Euphemismen Stereotype implizit vermittelt. Aus diesem Grund ist es notwendig, an dieser Stelle die Euphemismen im DDRspezifischen Kommunikationsrahmen darzustellen; in Kap. 6.4 werden wir auf das Problem der Identifizierung von Stereotypen sowohl in diesen unpräzisen Formulierungen als auch in Text- und Redewiedergaben zurückkommen. Die nachfolgende Untersuchung bezieht sich auf den Zeitraum vom 1. Juli 1980 bis zum 30. September 1980. Zu berücksichtigen bleibt, daß die polnischen Streiks zum ersten Mal erst im ND vom 16. August 1980 erwähnt werden. In bezug auf die DDR-Berichterstattung bis zur oben genannten Untersuchungszäsur des 16.08.80 kann man anhand der drei analysierten Texte (s. Kap. 6.1) feststellen, daß die Wahl der sprachlichen Mittel durch die ideologische Intention bedingt ist. Themenauswahl, -fokussierung und -ausblendung erfolgen in Hinblick auf die ideologische Absicht. Vom 16.08.80 an wird das Thema „Streiks in Polen“ nicht mehr ausgeblendet, weil die Streiks in der polnischen Presse explizit genannt werden und auch in den westdeutschen Medien in einem Ausmaß präsent sind, daß sich die DDR-Führung ein totales Verschweigen nicht länger leisten kann. In der neuen Situation werden unpräzise oder auch euphemistische Ausdrücke dazu eingesetzt, die Streiks als „beschönigend oder verharmlosend und verhüllend“ zu charakterisieren (Strauß/ Haß/ Harras 1989, S. 622). Nach Harras gründet sich die Verwendung von Euphemismen „auf zwei Voraussetzungen, einmal auf die Voraussetzung, daß es Aspekte des benannten Gegenstands oder Sachverhalts gibt, die negativ zu bewerten sind, zum andern auf die Voraussetzung, daß es neben der euphemistischen auch noch andere nicht euphemistische - Bezeichnungsmöglichkeiten gibt“, (ebd., S. 622) Diese Voraussetzungen werden auch durch das Lexem Streik im Sprachgebrauch der DDR erfüllt, als es zur Bezeichnung der Situation in Polen verwendet werden sollte. Schon die Vorstellung, daß die polnischen Vorgänge im offiziellen Sprachgebrauch der DDR mit dem Lexem Streik charakterisiert werden könnten, ist abstrus, weil es nach der von der SED propagierten Meinung - Streiks in den sozialistischen Ländern gar nicht geben dürfte. Diese Ansicht läßt sich mit der Streik-Definition, aus dem „Kleinen politischen Wörterbuch“ vom Jahre 1988 belegen. Dort wird der Streik als eine „gemeinsame, meist auf der Grundlage des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses organisierte Arbeitsniederlegung oder Arbeitseinstellung im Kapitalismus durch Werktätige eines Wirtschaftszweiges, Betriebs oder Berufs, um politische, ökonomische und soziale Forderungen durchzusetzen“ definiert. Dieser Auslegung kann man entnehmen, daß Streiks als ein typischer Sachverhalt des kapitalistischen Systems gelten und für den Sozialismus bzw. Kommunismus ein ganz fremdes Phänomen sind, <?page no="292"?> 292 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck weil sich dort die Produktionsmittel in den Händen der Arbeiterklasse befinden und somit Ausbeutung als Ursache für Streiks nicht verkommen kann. Sie sind Ausdruck des „antagonistischen Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie“ (Schütz/ Böhme/ Dominik 1988, S. 967). Diese Definition hängt somit mit dem in der DDR propagierten ideologischen Feindbild der kapitalistischen Welt zusammen. Festzustellen ist, daß sich hier die Wirklichkeit nicht im Sinne der Ideologie verhält. Nach den vorher zitierten Grundsätzen der Parteilichkeit und der sozialistischen Presselenkung (vgl. Kap. 4.1.1) und aus der durchgefuhrten Untersuchung ergab sich, daß die sozialistische Presse (hier das ND) bestimmte Möglichkeiten der Reaktion auf die Vorgänge in Polen hat: a) defensive („Es kann nicht sein, was nicht sein darf“): Verschweigen, Verschleiern, Abschwächen oder euphemistische Darstellung des Sachverhalts (z.B. Umbenennungen) b) offensive: Es gibt Verstöße gegen zentrale Prinzipien des Sozialismus: bi) „Der Klassenfeind ist in die sozialistische Gesellschaft eingedrungen und inszeniert Unruhen“ (implizierter Vorwurf: Mangel an „revolutionärer Wachsamkeit“) b 2 ) Die Führung der Partei hat versagt, sie hat schwere organisatorische Fehler zugelassen, ihre „führende Rolle“ nicht wahrgenommen und „Mangel an Disziplin“ geduldet. Es kann auch Mischungen von bi und b 2 geben. Aufjeden Fall bedroht eine solche Entwicklung auch die sozialistischen Nachbarn (‘Bruderstaaten’), daher ist dort Wachsamkeit erforderlich. Die untersuchten Texte lassen erkennen, daß Themenvermeidung, Schönfärberei und Verschleierung der Tatsachen den Zweck verfolgen, den Eindruck zu erwecken, daß alles bestens fünktioniert und darüber hinaus den Gedanken an eine mögliche Nachahmung bei den DDR-Lesern gar nicht erst aufkommen zu lassen. Am 16. August 1980 erscheint im ND eine kurze ADN-Meldung, die eine neue Art der Informationen über Polen im Vergleich zu der bisherigen bringt. Das Neue besteht darin, daß die Meldung per indirekter Rede einen polnischen Funktionär - Edward Babiuch zu Wort kommen läßt, der die Streiks selber thematisiert. Am 16.08.80 wird somit im ND auf die Streiks zum ersten Mal indirekt und euphemistisch hingewiesen. In der ADN-Meldung werden die Streiks als gegenwärtige Schwierigkeiten und als zeitweilige Arbeitsniederlegungen bezeichnet. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Verwendung der Adjektive gegenwärtig und zeitweilig, die ihren vorübergehenden <?page no="293"?> Analyse der Stereotype in der DDR-Presse 293 Charakter betonen. Diese Tendenz spiegeln folgende unpräzise und blaß wirkende Ausdrücke wieder, die mit Bezug auf die polnischen Streiks verwendet werden. Sie lassen unter anderem auf eine gewisse Unsicherheit der ddr- Berichterstattung schließen, die in der brisanten Lage in Polen begründet ist. Die Liste resultiert aus 65 Zeitungstexten, die nach dem 16.08.80 die polnischen Streiks erwähnen. Nomina: Probleme (30x); Schwierigkeiten (25x),- Situation (24x); Ereignisse (21x); August-Ereignisse; Aktivitäten (18x); Aktionen (10x); Arbeitsunterbrechungen (9x); Spannungen (8x); Umtriebe (5x); Arbeitsniederlegungen (4x); Störungen (4x); Handlungen (4x); Tendenzen (3x); Konflikte (3x); Widersprüche (2x); Tätigkeit (2x); Vorgänge (2x); Unruhen (2x); Stillstandzeiten; Stillstand; Umwandlungen; Unordnung; Verwirrung; Verluste (3x); Verschlechterung (2x); Fehler (2x); Verschwendung; Beunruhigung (2x); Rückschläge; Irrungen; Rückständigkeit; Schwächen; Instabilität; Disproportionen; Produktionsrückstände (4x); Rückstände (3x); Produktionsverluste. Adjektive: gegenwärtig (27x); entstanden (8x); aktuell (5x); zeitweilig (3x),’ jetzig (2x); derzeitig; andauernd (2x); anhaltend; unaufhörlich; stets; ständig; kompliziert (9x); schwierig (6x); ernst (4x); schlecht (2x); erschwert; akut; brennend; gespannt; ernsthaft; kritisch; abweichend; mangelnd; entstellend; gefährlich. Verben: verhindern; widersetzen; Vorbeugen; auseinandersetzen; stören (3x); sich komplizieren; erschweren. Eine euphemistische Ausdrucksweise kann auch durch eine textuell hergestellte Antonymie erreicht werden: Lösung (8x); Normalisierung {Ix); Verbesserung (6x); Aufholung (4x); Überwindung (4x); Erneuerungsprozeß; absehbar; überwindbar; aufsteigend; lösen (llx); verbessern (ix); meistern (3x); überwinden (2x); aufholen (2x); wiederherstellen (2x); erhöhen; beschleunigen; ordnen; vervollkommnen; steigern; harmonisieren; normalisieren; bewältigen; aufbauen; ausmerzen; zurechtkommen; vorwärtsschreiten. Im ND werden bis zum Ende des Untersuchungszeitraums, das heißt bis Ende September 1980, keine Namen von Streikenden angegeben und keine konkreten Angaben über die Dauer der Streiks gemacht. Die Informationen sind <?page no="294"?> 294 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck verschwommen, stammen aus den Auszügen anderer kommunistischer Zeitungen, so daß die Leser nur erfahren, was Dritte gesagt haben; sofern „staatstreue“ Positionen zitiert werden, werden sie positiv kommentiert; sofern es sich um „staatskritische“ Positionen handelt, werden ihre Äußerungen negativ bewertet. Die Streikenden werden statt dessen als Elemente (28x); Kräfte (26x); Kreise (13x); irgendjemand bezeichnet Sehr beliebt waren im ND die Attribuierungen der einzelnen Substantive (nominale Syntagmen), die zwar die Sachverhalte konkretisieren sollten, in Wirklichkeit jedoch zu fast lexikalisierten Wortverbindungen geworden sind und die sehr leerformelhaft wirken. In diesem Sinne werden die streikenden Polen unter anderem folgendermaßen bezeichnet: antisozialistische Elemente (15x),antisozialistische Kräfte (9x); imperialistische Kreise (3x); reaktionäre Kräfte (2x); bestimmte Kräfte; anarchistische und antisozialistische Gruppen; Menschen bösen Willens; unverantwortliche Elemente; Menschen, die nicht Werktätige der Betriebe [...] sind; betriebsfremde Personen; Feinde Polens; Personen oder Gruppen, die die sozialistische Gesellschaftsordnung in Polen nicht akzeptieren; dem sozialistischen Polenfeindlich gesonnene Kreise; antisozialistische Elemente und Kräfte (2x); Elemente in Polen. Greift man auf die Belege im Dokumentationsteil (s. Kap. 6.2) zurück, findet man implizite Hinweise auf die in Polen herrschende schwierige Lage in Beleg (10). Davon, daß die in Polen existierende Situation schon längst wirtschaftlich und politisch kompliziert ist, zeugt die Verwendung des Lexems weiterer in Beleg (10). Dieses Lexem läßt eindeutig darauf schließen, daß die Situation in Polen sich schon seit längerem verschlechtert hatte. Außerdem wird hier ausgedrückt, daß die Wirtschaft Polens nicht in Ordnung und unharmonisch sei sowie kein Gleichgewicht besäße und nicht reibungslos funktioniere Die Betonung dieser Mängel deutet darauf hin, daß das ND d.h. die SED von der wirtschaftlichen Lage des Bruderlandes Polen beunruhigt ist und diesbezüglich eine kritische Stellung einnimmt. Daraus folgert das ND, daß die Gesundung der Wirtschaft, d.h. ihre Harmonisierung und das Wiederherstellen des wirtschaftlichen Gleichgewichts nur auf einem Weg erfolgen kann, nämlich indem keine Arbeitszeit verschwendet wird und ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Arbeit und Verteilung hergestellt wird so wie im Titel der <?page no="295"?> Analyse der Stereotype in der DDR-Presse 295 ADN-Meldung, der dem Beleg (5) entnommen ist und der die Forderung der DDR wiedergibt. In Beleg (10) wird das Fehlen von Ruhe, Redlichkeit und Disziplin in der Arbeit der Polen explizit angeführt. Die drei genannten Eigenschaften werden sehr stark in bezug auf die tägliche Arbeit hervorgehoben. Die tägliche Arbeit wird nämlich besonders stark fokussiert, indem sie näher spezifiziert wird jeder Arbeitsplatz, jede Werkstatt, als ob bestimmte Mißverständnisse und Zweifel in bezug darauf, wo sie angebracht ist, entstehen könnten. Die aufgelisteten unpräzisen bzw. euphemistischen Ausdrücke drücken vorrangig die gespannte Lage in Polen aus. Sie wird bis zum 20.08.80 noch nicht als Streik bezeichnet, obwohl die polnischen Funktionäre das Wort Streik in ihren offiziellen Reden verwenden. In der DDR wird in dieser Zeit mit den polnischen Vorgängen vorsichtiger als in Polen umgegangen, weswegen auch die Darstellung des polnischen Sommers hauptsächlich mit Hilfe von unpräzisen Ausdrücken bzw. Euphemismen vollzogen wird. Als Euphemismen für das Lexem Streik finden sich in den ND-Texten: gegenwärtige Schwierigkeiten (5x); entstandene Situation (5x); gegenwärtige Situation (4x); antisozialistische Aktivitäten (3x); gegenwärtige/ jüngste Ereignisse (ix); gegenwärtige Spannungen (2x); gegenwärtige Lage (2x); aktuelle Situation (2x); gegenwärtige Probleme; komplizierte Situation; jetzige Schwierigkeiten; aufgetretene Schwierigkeiten; zeitweilige Arbeitsunterbrechungen; Störungen im Produktionsrhythmus; Verschwendung von Zeit, die für die Arbeit vorgesehen ist; Störungen im Arbeitsablauf; Störungen im Arbeitsrhythmus; anhaltende Arbeitsunterbrechungen; Schwierigkeiten im Lande; komplizierte Lage; Tätigkeit von Elementen; antisozialistische Tätigkeit; antisozialistische Aktionen; provokatorische Aktionen; gespannte Lage; komplizierte Probleme; <?page no="296"?> 296 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Ereignisse der letzten Wochen, vor allem der letzten Tage; Handlungen, die gegen die Grundlagen der Prinzipien des politischen und gesellschaftlichen Lebens gerichtet sind; Vorgänge und Aktionen; Handlungen dieser Kräfte; brennende Probleme; entstandene Lage. Nach dem 20.08.80 erscheint das Lexem Streik im ND 13 mal, andere Komposita mit dem Lexem Streik sind: Streikbewegung (2x); Streikaktionen (2x); Streikkomitees (2x); Die in Polen herrschende Lage wird im ND vorrangig implizit mit zwei zu derselben Wortfamilie gehörenden Lexemen ausgedrückt, und zwar: dem Adjektiv schwierig {schwierige Augenblicke) und der Pluralform des Substantivs Schwierigkeit {gegenwärtige Schwierigkeiten). Außerdem findet man in den ND-Texten sehr oft die Pluralform des Lexems Problem, das zu demselben Wortfeld gehört und auf dieselben in Polen auftretenden Phänomene Bezug nimmt {Probleme, die das polnische Volk lösen müsse). Zu finden sind auch die Verknüpfungen der beiden Lexeme, wie zum Beispiel schwierige Probleme. Die häufige Verwendung von unpräzisen bzw. euphemistischen Ausdrücken im ND läßt vermuten, daß das ND beim „Eisen, das viel zu heiß ist“, die ungefährliche und bequeme Strategie wählt, die unerwünschten Sachverhalte nicht beim Namen zu nennen. ND-Journalisten sind sehr zurückhaltend den präsentierten Informationen gegenüber und bedienen sich einer in solchen Fällen gern gewählten Strategie, kritische Stimmen anderer zu zitieren. Diese Strategie wird mittels Textbzw. Redewiedergaben realisiert, die in Kap. 6.2.3 behandelt werden. 6.2.3 Textbzw. Redewiedergaben Den untersuchten Zeitungstexten des ND kann man eine deutliche Kritik an den in Polen fortschreitenden Vorgängen entnehmen, die ideologischer Natur ist. Die ausgeübte Kritik ist meistens indirekt, weil die ostdeutschen Journalisten wie geschildert mittels zitierender Wiedergabe von Äußerungen Dritter die polnische Bevölkerung und die polnische Führung kritisieren. Die DDR-Journalisten berufen sich entweder auf fremde Agenturen oder drucken Texte kommunistischer Zeitungen ab, was offensichtlich die bequemste und die ungefährlichste Strategie des Berichtens ist. Unter den im ND genannten Agenturen ist außer dem ADN noch TASS zu verzeichnen. Schon die Herkunft der zitierten Beiträge bietet also Gewähr, daß sie mit der herrschenden sozialistischen Ideologie in Einklang stehen. <?page no="297"?> Analyse der Stereotype in der DDR-Presse 297 Die Verteilung der analysierten Belege auf direkte Zitate und indirekte Redewiedergabe ist im ND ungefähr gleichmäßig. Die Belege (5) und (7) sowie (9), (10) ,(12), (13) (14) und (15) enthalten indirekte Redewiedergaben. Direkte Zitate aus anderen kommunistischen Zeitungen sind in den Belegen (6) und (11) zu finden. In Beleg (8) kommen hingegen beide Arten der Redewiedergabe vor. Der hohe Anteil indirekter Redewiedergaben ist vielleicht darin begründet, daß Journalisten damit präziser auf die Leser glauben einwirken zu können als mit direkten Zitaten. Die aus anderen kommunistischen Zeitungen übernommenen Texte sind für den Druck im ND unter dem Aspekt der für die DDR relevanten Informationen gestaltet. Als Beispiel hierfür kann der Beleg (8) dienen, der aus einem Text „Fernsehansprache von Edward Gierek“ vom 19.08.80 stammt. Der gesamte Text ist ein Bericht über die Ansprache des Ersten Sekretärs des ZK der PVAP (Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei) Edward Gierek an die Bevölkerung Polens. Aus der Ansprache selbst werden nur die Informationen den DDR- Bürgern weiter vermittelt, die keine detaillierten Darstellungen der Vorgänge in Danzig und ihrer Ursachen präsentieren. Vergleicht man die ND-Fassung von Giereks Rede mit der Originalfassung aus der polnischen Tageszeitung „Trybuna Ludu“ (vom 19.08.1980, S. 1), stellt man fest, daß die Abschnitte, die über Fehler in der Wirtschaftspolitik und über Verständnis für die Ermüdung und Ungeduld der Arbeiterschaft berichten, nicht im ND-Text berücksichtigt werden. Der Schwerpunkt der präsentierten Nachrichten wird auf die Abschnitte gelegt, in denen Gierek über den gefährlichen Aspekt der Arbeitsniederlegungen gesprochen hat, was deutlich dem Beleg (8) zu entnehmen ist. In Beleg (8) wird auch ein Satz angeführt, der ein direktes und zugleich auch das einzige Zitat aus Giereks Rede ist. Dieser eine zitierte Satz läßt darauf schließen, daß er eine besondere Stelle im Text einnimmt und aus diesem Grunde auch eine besondere Präsentation erfordert. Er lautet: ,flur ein sozialistisches Polen kann ein freier und unabhängiger Staat sein.“ Das Zitat macht deutlich, daß das ND besonderen Wert darauf legt, zu betonen, daß an den sozialistischen Grundlagen Polens niemand rütteln darf. Der Text macht außerdem deutlich, daß die aufgetretenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten von unverantwortlichen Elementen, anarchistischen und antisozialistischen Gruppen hervorgerufen wurden. In der Originalrede wird unmißverständlich der Ausdruck „Streik“ verwendet; das ND verzichtet auf diesen Redepassus und berichtet in der Übertragung von den Schwierigkeiten im Lande (vgl. Trybuna Ludu, ebd ). Anhand der durchgeführten Analysen kann man feststellen, daß im ND oft eine spezifische kommunikative Konstellation auftritt, die darauf beruht, daß die polnischen legitimierten Sprecher wie Babiuch oder Gierek Texte für polnische Leser verfaßt haben, die von den DDR-Medien wiedergegeben werden und welche die DDR-Leser entweder als Texte an Polen oder auch Texte an <?page no="298"?> 298 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck sich selbst auffassen können. Obwohl die Arbeitsunterbrechungen nicht verschwiegen werden, gibt man keine Erklärung der Ursachen dieser Ereignisse. In der Zeit zwischen dem 16.08 und 20.08.80 wird die Bevölkerung sozusagen nur ermahnt, daß sich die polnischen Ereignisse auf die Stabilität des Landes, auf den Lebensstandard und auf die weitere Entwicklung der Wirtschaft negativ auswirken. Nur zwischen den Zeilen wird deutlich, daß einiges im System ‘faul’ ist. Am 20.08.80 wird das Wort Streik zum ersten Mal mit Bezug auf die Entwicklung in Polen verwendet, und die Kritik sowohl an der polnischen Bevölkerung als auch an der polnischen Führung nimmt in den ND- Ausgaben allmählich zu. Die Verwendung des Lexems Streik im ND läßt verschiedene Folgerungen zu, was unter anderem mit der in Kap. 6.2.2 angeführten Definition des „Streiks“, die aus dem offiziellen Sprachgebrauch der DDR entnommen wurde, zusammenhängt. In Anlehnung an diese Definition, nach der Streiks in Polen gar nicht auftreten können, ist es schwierig, sich vorzustellen, daß die DDR-Presse über die Streiks in Polen berichten kann. Die polnische Regierung verwendet jedoch selbst die Bezeichnung Streik, um die Lage in Polen zu beschreiben, woraus sich ergibt, daß dieses Wort in bezug auf die polnischen Ereignisse wirklich unvermeidbar ist. Dadurch entsteht ein Dilemma für die DDR-Presse, das mit der Suche nach einer entsprechenden Argumentationslinie für die polnischen Unruhen verbunden ist. Da das Wort Streik sich nicht mehr vermeiden läßt, treten jetzt im ND zwei Linien bei der Begründung der polnischen Lage auf (vgl. dazu Argumentation bi und b 2 in Kap. 6.2.2): bi) Es wird über den „Klassenfeind“ berichtet, der am Werk ist: Man spricht von den Störern der sozialistischen Ordnung, gegen die die herrschende Macht vergehen muß. Sie werden unter anderem als antisozialistische Elemente, imperialistische Kreise, antisozialistische Kräfte (vgl. auch 6.2.2) bezeichnet. b 2 ) Wenn man von Streiks in einem sozialistischen Land berichten muß, kann dieses Land in Wirklichkeit nicht so sozialistisch sein, wie es sein sollte, seine Regierung muß also als rückständig oder fahrlässig bezeichnet werden, wenn sie solche Ereignisse wie die im Sommer 1980 in Polen zuläßt. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang Beleg (11), in dem nach einer amerikanischen Zeitung zitiert wird: „Ein Streik in einem sozialistischen Land ist auch Ausdruck ideologischer Rückständigkeit, für die wiederum die Führung die Verantwortung zu tragen hat, denn der Sozialismus ist eine Gesellschaft, die nur aufgebaut werden kann, wenn das Volk an dem Entscheidungsprozeß der Regierung beteiligt ist.“ Es läßt sich feststellen, daß keine der beiden Linien eine Ausschließlichkeit beansprucht. Nach den Häufigkeiten des Auftretens der jeweiligen Argumentationslinien präferiert die DDR-Presse jedoch offensichtlich die erste Linie, um <?page no="299"?> Analyse der Stereotype in der DDR-Presse 299 keinen Affront gegen die polnische Regierung, d.h. auch gegen das Gebot der internationalen sozialistischen Solidarität zu begehen. 6.3 Darstellung der DDR-Presse in der westdeutschen Presse Die Nachrichten, die im Sommer 1980 über Polen im ND veröffentlicht werden, beschäftigen auch die westdeutsche Presse, was den Belegen (16) bis (24) im Dokumentationsteil (s. Kap. 6.2) zu entnehmen ist. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu vergleichen, welche der Informationen der ND- Berichterstattung auf welche Art und Weise in den westdeutschen Zeitungen wiedergegeben werden. Dieser Vergleich ermöglicht einige Beobachtungen zum Umgang mit den Stereotypen über Polen im innerdeutschen Diskurs. Die westdeutsche Presse bedient sich der Textbzw. Redewiedergabe aus dem ND, die in bezug auf Polen formuliert wurden. In den Belegen (16) bis (18) werden direkte Zitate angeführt, die als von der DDR-Führung stammend präsentiert werden. Im ND selbst sind sie jedoch nicht verifizierbar: ihre Zitierung läßt sich in diesem Untersuchungsrahmen nicht nachweisen. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, daß weder die FAZ in Beleg (16) noch die FR in den Belegen (17) und (18) das Zitat einem konkreten DDR-Medium zuschreiben. Die Äußerung wird jedoch unter Quellenangabe angeführt, indem sie vom Chef der bundesdeutschen Gewerkschaft Nahrung, Genuß, Gaststätten, Günther Döding, als Aussage des DDR-Gewerkschaftschefs Harry Tisch referiert wird. Diese Aussage wird in der westdeutschen Presse in Form eines Zitats angeführt. Ihr Aussage- und Handlungsgehalt erweckt eindeutig die Assoziationen zum Stereotyp ‘unordentliche/ chaotische Zustände’, das sich in der sprachlichen Formel polnische Wirtschaft ausdrückt (s. Kap. 5.13). In allen drei Belegen (16) bis (18) wird eine scharfe Kritik an der polnischen Bevölkerung und der polnischen Führung ausgedrückt, die aus dem öffentlichen Sprachgebrauch der DDR stammen soll. Die Unfähigkeit der Polen, ordentlich zu wirtschaften soll, der westdeutschen Presse nach, als Meinung der SED- Führung gelten. Den präsentierten Belegen läßt sich somit das Stereotyp ‘unordentliche/ chaotische Zustände’ entnehmen (weiteres dazu in 6.4). Die Belege (19) bis (24) beziehen sich auf konkrete Auszüge aus dem ND und wurden im Dokumentationsteil (s. Kap. 6.2) chronologisch aufgelistet. Beleg (19) ist eine kommentierte Stellungnahme der westdeutschen Presse zu dem im ND veröffentlichten Text „Polnischer Ministerpräsident sprach im Fernsehen“. In den Belegen dominiert indirekte Rede, in die Zitate aus dem ND eingebettet sind. Alle Belege stellen die äußerst negative Einstellung der DDR- Propaganda zu den polnischen Streiks dar. Die Kritik zielt dabei immer in dieselbe Richtung, und zwar offenbart sie die vom ND behauptete Unfähigkeit der Polen, ordentlich zu wirtschaften, die als Ursache für die Entstellungen, Fehler, Disproportionen etc. verstanden werden soll. In Beleg (23) werden diese <?page no="300"?> 300 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Phänomene unter das nominale Syntagma polnische Zustände subsumiert. Dieses Syntagma bringt explizit das Stereotyp ‘unordentliche/ chaotische Zustände’ zum Ausdruck, aber als ein offiziell-ostdeutsches. Diese Referenzzuschreibung läßt sich der Vertextungsart entnehmen, indem der westdeutsche Journalist seinen Text so gestaltet, daß als Sprecher die offizielle Propaganda der DDR fungiert. Die Markierung mit Doppelpunkt bewirkt, daß die Äußerung als Ansicht der SED-Führung gilt. Das in der westdeutschen Presse auftretende nominale Syntagma polnische Zustände ließ sich nicht in dem untersuchten Zeitraum im ND finden. Daraus ergibt sich, daß der westdeutsche Journalist eine scharfe Kritik der DDR-Führung an den polnischen Vorgängen selbst mit Hilfe eines Stereotyps ausdrückt (s. Kap. 5.18). In den Belegen (20) und (24) bedienen sich westdeutsche Journalisten indirekter Rede und nehmen auf die ND-Texte Bezug. In den Belegen (21) bis (23) werden direkte ND-Zitate in die Aussagen der westdeutschen Presse eingebettet. Den Belegen insgesamt läßt sich entnehmen, daß sich die westdeutsche Presse auf die negativen Äußerungen der DDR-Propaganda über Polen konzentriert und gerade diese den westdeutschen Lesern weiter vermittelt. Man kann behaupten, daß die zitierten Belege das Ziel verfolgen, auf das Stereotyp ‘unordentliche/ chaotische Zustände’ mit der Formel polnische Wirtschaft in der DDR-Propaganda anzuspielen, das als ein Instrument im ideologischen Kampf um die Unantastbarkeit des sozialistischen Systems von der DDR-Führung eingesetzt wird. Wie in Kapitel fünf beschrieben wurde, stellt die westdeutsche Presse selbst die Vorgänge in Polen in weitaus günstigerem Licht dar. Vor diesem Hintergrund bekommen die Negativdarstellungen der DDR-Presse ein besonderes Gewicht. Auf einen vereinfachten Nenner gebracht läßt sich sagen: die westdeutsche Presse zeigt Verständnis, ja Sympathie für die Vorgänge in Polen, die ostdeutsche evoziert (aus ideologischen Gründen) Negativ-Stereotype. 6.4 Problematisierung der Identifizierung von Stereotypen Die Untersuchung ergab, daß in der DDR-Presse ebenfalls Stereotype über Polen realisiert werden. In der Anfangsphase der Streiks kann man das ideologiebezogene Stereotyp „Polen und DDR-Bürger sind Brudervölker“ erkennen. Dieses Stereotyp wird ausschließlich durch Schlagwörter realisiert, die besonders stark ideologiebezogen sind und das Stereotyp der ‘Freundschaft der DDR-Bürger und Polen’ vermitteln. Interessant ist, daß der DDR-Sprachgebrauch in der westdeutschen Presse zitierend widergespiegelt wird, obwohl er nicht immer mit Anführungsstrichen markiert ist. Anhand der Illustrationsbelege in Kap. 5.18 werden hier einige Beispiele eines solchen Sprachgebrauchs aufgelistet: <?page no="301"?> Analyse der Stereotype in der DDR-Presse 301 Beleg (4): unverbrüchliche Freundschaft; Brudervölker; Oder-Neiße-Grenze als endgültig anerkannt; freundschaftlich; Sympathie (2x); sympathisieren; „brüderliche Hilfe“ Beleg (9): Friedensgrenze“ zwischen der DDR und Polen an Oder und Neiße Beleg (11): unterstützen Beleg (12) „neue Freunde Polend; die SED gehört zu den wirklichen Freunden Polens Beleg (14): „Brudervolk“ Beleg (15): Freundschaftsgrenze“ Beleg (16) echte Freunde in Zeiten der Not am besten erkennen; „brüderlich verbundenen“ Anhand der durchgefiihrten Untersuchung der ND-Berichterstattung kann man feststellen, daß die verwendeten Schlagwörter ideologiespezifisch sind und ihr Ziel darin besteht, das Stereotyp „Polen und DDR-Bürger sind Brudervölker“ zu transportieren. Man kann behaupten, daß die Schlagwörter die propagierte Ideologie viel expliziter ausdrücken, während Signalwörter der ideologiebezogenen Stereotype von der Ideologie zwar beeinflußt, jedoch nicht von ihr abhängig sind. Das Stereotyp „Polen und DDR-Bürger sind Brudervölker“ wird von der westdeutschen Presse meist als eine leere Propagandaformel der DDR, von der sie sich distanziert, betrachtet, was sich aus der Markierung mittels Anfuhrungsstriche ergibt {Brudervolk und brüderliche Hilfe (vgl. Belege (4) und (14) in Kap. 5.18)). Durch die Verwendung von Schlagwörtern zur Realisierung des Stereotyps wird primär die jeweilige Ideologie in der Propagandasprache der DDR vermittelt. Die textuelle Funktion von Schlagwörtern einerseits und Signalwörtem andererseits ist zum Teil deckungsgleich. Die Unterschiede zwischen beiden wurden in Kap. 6.2.2 erörtert. Die Analyse der Zeitungstexte über Polen in den beiden deutschen Staaten ergab außerdem, daß partielle Überschneidungen zwischen dem Wortschatz der westdeutschen Presse, die das Stereotyp ‘kommunistische Mißwirtschaft’ (in Kap. 5.13) vermittelt, und dem Wortschatz der DDR-Presse, die in demselben Zeitraum analysiert wurde und das Stereotyp ‘unordentliche/ chaotische Zustände’ vermittelt, existieren. In diesem Zusammenhang gehören zu den interessanten lexikalischen Einheiten die Signalwörter, die sich sowohl in den Westals auch in den Osttexten wiederholen. Vorauszuschicken ist, daß die analysierten Textumfänge nicht identisch sind, jedoch sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik das Stereotyp ‘unordentliche/ chaotische Zustände’ bzw. ‘kommunistische Mißwirtschaft’ in Polen am umfangreichsten in dieser Zeit thematisiert wurde. Die beiden Stereotype werden mit den lexikalischen Einheiten vermittelt, die nachfolgend aufgelistet sind. In der Bundesrepublik <?page no="302"?> 302 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck sind das die Signalwörter der ‘kommunistischen Mißwirtschaft’, in der DDR die Signalwörter des Stereotyps ‘unordentliche/ chaotische Zustände’, das mit dem Idiom polnische Wirtschaft zusammenhängt: Neues Deutschland Probleme (30) Schwierigkeiten (25) Verwirrung ( 1) Verluste (3) Verschlechterung ( 2) Fehler ( 2) Schwächen ( 1) stören ( 3) kompliziert ( 9) akut ( 1) westdeutsche Presse Probleme ( 2) Schwierigkeiten (11) Verwirrung ( 1) Verluste ( 1) Verschlechterung ( 1) Fehler (21) Schwächen ( 4) stören ( 1) kompliziert ( 2) akut ( 1) Diese Gemeinsamkeiten sind um so interessanter, als der „polnische Sommer“ in den beiden deutschen Staaten der Ideologie wegen doch spiegelverkehrt interpretiert wird. Es entsteht also die Frage, ob die lexikalischen Ähnlichkeiten der beiden Arten von Berichterstattung rein zufällig sind. Zweifellos ist der Argumentationskontext der Signalwörter in der west- und ostdeutschen Presse so unterschiedlich, daß die semantisch-pragmatischen Funktionen der Wörter in beiden Fällen verschieden sind. Die Parallelität in der Verwendung derselben Signalwörter in der west- und ostdeutschen Presse kann vielleicht darauf hinweisen, daß mit deren Hilfe bei den deutschen Lesern in den beiden deutschen Staaten dasselbe tradierte Stereotyp, und zwar ‘kommunistische Mißwirtschaft’ in Polen bzw. ‘unordentliche/ chaotische Zustände’ assoziiert werden kann. Auf die Frage, ob in der DDR-Presse Stereotype in bezug auf Polen ausgedrückt werden, lassen sich jedoch mit einiger Vorsicht nur wenige Formulierungen anfuhren, die bei den DDR-Lesem Assoziationen zu diesem Stereotyp erzeugen können. Als Beispiele hierfür können die im Dokumentationsteil 6.2 genannten Belege (9) bis (15) gelten. Die ostdeutsche Presse übt in diesen Belegen eine scharfe Kritik sowohl an der polnischen Bevölkerung (vgl. Belege (5) bis (10)) als auch an der polnischen Führung (vgl. Belege (11) bis (15)). Der Aussagegehalt der Belege (5) bis (10) ließe sich eher mittels der Prädikation „Polen sind faul“ ausdrücken, was sich an folgenden lexikalischen Einheiten festmachen läßt: gegenwärtige Schwierigkeiten im Lande nur durch höhere Arbeitsproduktivität lösen können; Zeit haben zu diskutieren, anstatt zu arbeiten; ökonomische Schwierigkeiten nur durch Arbeit lösen; <?page no="303"?> Analyse der Stereotype in der DDR-Presse 303 von der Erhöhung der Arbeitsproduktivität und der Verbesserung der Arbeitsdisziplin abhängen; Verschwendung von Zeit, die für die Arbeit vorgesehen ist. Belege (11) bis (15) kann man mit der Prädikation „Die polnische Führung kann nicht wirtschaften“ zum Ausdruck bringen. Diese Assoziationen werden unter anderem in folgenden Formulierungen nahegelegt: a) die Streiks in Polenfinden nicht deswegen statt, weil an dem System des Sozialismus etwas grundlegendfalsch ist, sondern sie sind auf Schwächen in der Führung und eine Verformung sozialistischer Methoden zurückzuführen; b) die Regierungskommissionen hätten praktisch die gestellten Forderungen akzeptiert; c) das Vorhandensein von [...] der privaten Landwirtschaft, der kleinen Warenproduktion, die bisweilen gar nicht so klein ist, und in Wirklichkeit kapitalistische Formen erzeugt; d) die bekannten Ereignisse hätten vermieden werden können, wenn die Entwicklungsprobleme des Landes gemeinsam mit der Arbeiterklasse, mit den breiten Volksmassen gelöst worden wären, wenn bei der entstandenen Lage rechtzeitig und in der notwendigen Weise Maßnahmen ergriffen worden wären und man gegenüber den antisozialistischen Elementen und Kräftenfeste Positionen bezogen hätte; e) der Fehler des ZK der PVAP habe darin bestanden, daß zwar viele Vorschläge und Wünsche in die Beschlüsse des Parteitages aufgenommen wurden, ihre Realisierung sichjedoch verzögerte; f) eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation des Landes durch tiefgreifende Veränderungen in Planungs- und Leitungsmethoden der Wirtschaft erreichen müssen. Den untersuchten ND-Texten läßt sich also entnehmen, daß das Idiom polnische Wirtschaft kein einziges Mal in dem untersuchten Zeitraum explizit realisiert wurde. Diese Tatsache ist auch nicht verwunderlich, weil dieses Idiom mit seiner stark negativen Aussagekraft in der DDR in bezug auf das ‘Brudervolk’ den ideologischen Richtlinien entsprechend tabuisiert werden mußte. In den Texten treten jedoch Informationen auf, die ganz ungewöhnlich für den DDR-Sprachgebrauch in bezug auf das ‘Brudervolk’ sind. Mit dem Ausbruch der Streiks in Polen erscheinen auch kritische Haltungen der DDR-Presse zu den polnischen Vorgängen, die früher nicht zu finden waren. Wie oben gesagt, hatte die DDR-Führung in dieser Zeit ein Dilemma, die Streiks in einem sozialistischen Land dem DDR-Leser so zu erklären, daß er sie nicht als nachahmenswert empfunden hätte, was ihn womöglich am System als einem erfolgreich-sozialistischen hätte zweifeln lassen. <?page no="304"?> 304 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Zusammenfassend kann man feststellen, daß mit dem 16./ 17. August 1980 ein neuer Aspekt des Bildes der Polen und Polens in der DDR-Berichterstattung zum Ausdruck gebracht wird. Dieser Bestandteil des Polenbildes hat nur wenig mit dem Stereotyp „Polen und DDR-Bürger sind Brudervölker“ zu tun. Da die polnischen Vorgänge an den Fundamenten des Sozialismus rütteln, versucht jetzt die DDR-Führung eine gewisse Distanz zu dem ‘Brudervolk’ zu gewinnen, um nicht Gefahr zu laufen, daß sich solche Vorgänge in der DDR wiederholen. Mit dem 16. August 1980 beginnt die Kritik der DDR-Führung an den polnischen Ereignissen immer deutlicher zu werden. Die SED-Führung drückt im ND klar ihr Mißfallen den polnischen Vorgängen gegenüber aus. Festzustellen ist, daß der öffentliche Sprachgebrauch in der DDR demonstriert am Beispiel des ND innerhalb der Monate Juli, August und September 1980 einem wesentlichen Wandel unterlag, dadurch daß Polen, das bis dahin ausschließlich mit äußerst positiven Schlagwörtem aus dem Repertoire des ‘Brudervolk-Stereotyps’ charakterisiert wurde, jetzt viel distanzierter und vor allem viel kritischer den DDR-Lesem dargestellt wird (vgl. Belege (5) bis (15)). Abschließend ist zu vermerken, daß die mögliche implizite Realisierung des Stereotyps ‘unordentliche/ chaotische Zustände’ im ND seinen expliziten Ausdruck erst in der westdeutschen Presse findet. Das prägnanteste Beispiel hierfür scheint der Text zu sein, aus dem der Beleg (23) stammt und in dem Bezüge zu mehreren ND-Artikeln, unter anderem zum „Interview der polnischen Nachrichtenagentur PAP mit dem stellvertretenden polnischen Ministerpräsidenten Henryk Kisiel“ vom 5.09.80 hergestellt werden. Die in der FR erwähnten ND-Artikel üben zwar scharfe Kritik an den polnischen Vorgängen, verwenden jedoch nicht explizit das Idiom polnische Wirtschaft, was dem FR- Text und konkret dem nominalen Syntagma polnische Zustände zu entnehmen ist. Das Stereotyp ‘unordentliche/ chaotische Zustände’, das mit der sprachlichen Formel polnische Wirtschaft zusammenhängt, wird von der westdeutschen Presse als Ansicht der SED-Führung präsentiert. <?page no="305"?> Zusammenfassung, Ausblick und Verallgemeinerung 305 7. Zusammenfassung, Ausblick und Verallgemeinerung Es wurde gezeigt, auf welche Art und Weise die Presse mit Stereotypen umgeht und welchen Beitrag sie zu ihrer Tradierung und Verbreitung leistet. Die exemplarische Untersuchungsbasis ist eine thematisch einschlägige Auswahl aus der überregionalen westdeutschen Presse und die in ihr enthaltenen Stereotype über Polen als Staat und als Nation im Umbruchsjahr 1980. Dazu wurde zunächst eine Definition des Stereotyps erarbeitet, die erstens ihre empirische Identifizierung in der Textstruktur ermöglicht (s. Kap. 3), die zweitens die sprachpragmatische Funktion der Stereotype im einzelnen herausarbeitet (s. Kap. 5) und die drittens anhand eines Vergleichs mit der Stereotypenverwendung in der Presse der DDR den besonderen Einfluß einer gesamtgesellschaftlichen Ideologie auf Form und Funktion von Stereotypen feststellen kann (s. Kap. 6). Die Untersuchung von mehr als 500 Zeitungstexten aus der „Frankfurter Allgemeinen. Zeitung für Deutschland“, der „Frankfurter Rundschau“, der „Süddeutschen Zeitung“ und dem „Neuen Deutschland“ ergaben, daß die Presse angesichts der großen Verbreitung der untersuchten überregionalen Zeitungen, einen maßgeblichen Beitrag zur Vermittlung und Tradierung von Stereotypen leisten kann. Die Beispiele haben in vielen Einzelfällen veranschaulicht, wie selbst das explizite Entkräften, oder das atypische Kontextualisieren eines Stereotyps als solche, im öffentlichen Diskurs, den das Korpus repräsentiert, das Stereotyp präsent halten. Der untersuchte Querschnitt „Streiks in Polen 1980“ zeigt, daß die deutschen Journalisten die Lage in Polen in einer Art und Weise beschreiben, bei der an vielen Stellen Stereotype eingesetzt werden. Stereotype werden in Pressetexten sowohl explizit als auch implizit realisiert, wobei der Grad der Tabuisiertheit eines Stereotyps in der sozialen Umwelt wichtig ist (s. Kap. 3.4.2.1). Der Gegenstand wurde in erster Linie sprachlich betrachtet, obwohl die Untersuchung der nationalen Stereotype an sich eine interdisziplinäre Frage darstellt. Ausflüge in benachbarte Disziplinen sollten außerhalb des ersten Kapitels ursprünglich ganz vermieden werden, im Laufe der Analysen erwiesen sich jedoch einige interdisziplinäre Exkurse als unabdingbar. Diese Unabdingbarkeit mindestens einer marginalen Betrachtung der Erkenntnisse anderer Disziplinen folgt aus der Spezifik des deutsch-polnischen Verhältnisses und aus dem Bestreben, den Lesern dieser Arbeit Hintergründe mancher Stereotype einleuchtender darzustellen. Karl Dedecius bestimmt das deutsch-polnische Verhältnis als ein „besonders sensibles, oft genug neurotisches, auf Rücksicht und Weitsicht angewiesenes Verhältnis [...], weil es historisch fast unerträglich vorbelastet ist, von Animositäten, Antipathien, Mißtrauen und Vorurteilen befrachtet, die Deutsche und Polen auf dem nun schicksalhaft notwendig gewordenen Weg zueinander behindern.“ (Dedecius 1990, Vorwort). Aus diesem Grund wurde in Kap. 1.4 ein kurzer historischer Exkurs vorausgeschickt. <?page no="306"?> 306 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Aus dem gleichen Grund wurden auch mehrere linguistisch erläuterte Stereotype in Kap. 5 um eine historisch-literarische Skizze ergänzt. Diese Exkurse sollen deutlich machen, inwieweit die deutsch-polnischen Beziehungen in ihrer Art „besonders“ sind und warum sie auch nicht unbedingt nach denselben Kriterien wie beispielsweise die deutsch-norwegischen oder die deutschchinesischen untersucht werden können. Historische Erklärungen bilden somit einen wesentlichen Faktor bei der Beurteilung heutiger Stereotype. Die lange Tradition der Stereotype gehört nämlich zu den wichtigsten ihrer Eigenschaften. Es gibt eine Art historischer Erfahrungen, die immer weiter tradiert werden und dazu beitragen, daß ein bestimmtes Bild einer Nation kontinuierlich fortgeschrieben und neuen historischen Situationen angepaßt wird. Die in Kap. 5 enthaltenen Exkurse bieten jedoch keine vollständige Darstellung der Geschichte und Literatur zum jeweiligen Stereotyp an, sondern geben lediglich notwendige Hinweise auf wichtige Faktoren der Stereotypentstehung und -tradierung. 7.1 Die Definition von Stereotyp und ihre Erprobung in der empirischen Textanalyse Die textlinguistische Definition des Stereotyps, die in dieser Arbeit verwendet wurde und die insbesondere Kapitel fünf zugrundeliegt, geht vom Stereotyp als einer Gesamtheit von Wahrnehmungs- und Wertungsdispositionen aus, die eine Ausdrucks- und eine Inhaltsseite hat. Die Inhaltsseite des Stereotyps läßt sich als einfache Prädikation X( P ) angeben. Die Ausdrucksseite des Stereotyps besteht aus Sätzen, Syntagmen oder einzelnen Wörtern, mit denen die jeweilige stereotypische Prädikation explizit oder implizit realisiert wird. Zur Ausdrucksseite hinzugerechnet werden alle Formulierungshandlungen, die den Inhalt des Stereotyps in den Text- oder Diskurskontext einbauen, wie etwa Thematisierung oder Fokussierung, und ihm dort eine argumentative oder strukturierende Funktion zuweisen. Bei den lexikalischen Ausdrucksmitteln finden dominant appellative oder wertende Einheiten, Signalwörter genannt, (s. Kap. 5) besondere Beachtung. Die Prädikationen dienen dazu, die Stereotype inhaltsseitig zu identifizieren und zum Zweck der Analyse zu fixieren. Dazu müssen sie so explizit wie möglich formuliert werden. Bei der Formulierung einer Prädikation wurden zwei Referenzbereiche unterschieden. Einmal kann die Eigenschaft X den Polen als einer nationalen Gruppe zugeschrieben werden (X(p Nation )) oder zum anderen Polen verstanden als Staat mit einer bestimmten Geschichte und einem bestimmten politischen System (X(pstaat)) Die Mehrzahl der Eigenschaftszuschreibungen der Prädikationen besitzt einen wertenden und emotionalen Charakter. In diesem Zusammenhang ist wichtig anzumerken, daß das Merkmal der Bewertung in der Prädikation des Stereotyps selbst nur angelegt ist, daß eine Appellfünktion erst in der Verwendung des Stereotyps in konkreten Kontexten voll realisiert wird (s. jeweils Punkt II <?page no="307"?> Zusammenfassung, Ausblick und Verallgemeinerung 307 in Kap. 5). Diese linguistische und im Hinblick auf ihre textanalytische Brauchbarkeit vorgenommene Stereotypendefinition soll aber nicht ausschließen, Stereotype als kognitive, verfestigte Konzepte aufzufassen. Die empirische Untersuchung ergab, daß die Stereotype immer wieder auf einen Teil des Orientierungswissens in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland Bezug nehmen, zu dessen Komponenten auch das aktuelle und das historische Wissen gehören. Auf der Grundlage dieser Definition von Stereotyp wurden eine Reihe textlinguistischer Kriterien entwickelt, über die das Methodenkapitel 3 informiert. Die ausgewählte Arbeitsmethode insgesamt erlaubte, mehrere Sprachebenen einzubeziehen, die bei der Konstitution von Stereotypen mitspielen. Dazu gehören die Textstruktur, die Syntax und die Lexik, die jeweils in der pragmalinguistischen Perspektive betrachtet werden. Die herausgearbeiteten Beschreibungskriterien (s. Kap. 3) sind nicht ausschließlich für die analysierten Zeitungstexte (s. u.a. Kap. 5) zutreffend, sondern können auch bei der Thematisierung der nationalen Stereotype überhaupt nutzbar gemacht werden. Ihre Nützlichkeit bewies sich besonders bei der Zuordnung der Stereotype zu fünktionalen Kategorien, z.B. explizit/ implizit; tabuisiert/ nicht-tabuisiert; typisch kontextualisiertes/ atypisch kontextualisiertes Stereotyp etc. (jeweils Punkt III in Kap. 5). Die ausgearbeiteten Kriterien ließen u.a. feststellen, welche Stereotype vorrangig explizit und welche implizit realisiert, welche zentral und welche peripher in die Textstruktur eingebettet werden. So konnte man auch Überschneidungen zwischen der Implizitheit und der Tabuisiertheit von Stereotypen erkennen. Eine häufige atypische Verwendung eines Stereotyps stellte Zusammenhänge zu seiner möglichen Entkräftung her, die als Resultat der Rezeption mehrerer Texte durch einen Leser Vorkommen könnte. In diesem Rahmen war es jedoch nicht möglich, die Frage zu beantworten, ob eine solche Entkräftung des Stereotyps in der Realität vollzogen wird (s. auch Kap. 7.3). 7.2 Stereotype von Polen und den Polen in der westdeutschen Presse und ihre Relationen untereinander In Kapitel fünf werden 18 Stereotype beschrieben und erläutert, die anhand je einer Prädikation identifiziert und unterschieden werden. Die empirische Analyse ergab, daß einige von ihnen ineinander eingebettet oder besonders eng miteinander verknüpft verkommen und daß es zentrale, häufiger belegte sowie periphere, seltener belegte Stereotype gibt. Die meisten der dargestellten Stereotype können kombiniert mit anderen auftreten, wobei manche von ihnen besonders oft zusammen realisiert werden. Daraus ergibt sich, daß Stereotype keine isolierten Einheiten sind, sondern <?page no="308"?> 308 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Gesamtheiten von Wahmehmungs- und Wertungsdispositionen als Bestandteilen des Orientierungswissens, die ein Stereotypensystem bilden. Dieses System scheint allerdings eher kognitiver als linguistischer Art zu sein. Die systematischen Bezüge der Stereotype, d.h. ihre Kombinationen mit den Relationen untereinander, sollen im folgenden skizziert und möglichst auch begründet werden. Die Mehrheit der Texte bzw. Belege für Stereotype bezogen sich auf den Referenzbereich „Polen“ als Staat und nicht Polen als „Bevölkerung“, was sich mit der Themenverteilung im gesamten Textkorpus deckt. Dadurch wird offensichtlich, wie sehr der ideologische Gegensatz zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen bzw. zwischen einer kapitalistischen und einer sozialistischen Gesellschaft im Zentrum der Berichterstattung über die polnischen Ereignisse des Jahres 1980 stand. Die empirische Untersuchung zeigte, daß die in der westdeutschen Presse häufigsten Stereotype diejenigen sind, die sich auf den ideologischen Hintergrund beziehen. Die Aussage, daß Polen dem kommunistischen System angehöre, kann als stets präsente, aber nicht immer ausgedrückte Präsupposition der Texte gelten (s. auch Kap. 3.4.1). Von dieser Präsupposition her erklärt sich die hohe Aufmerksamkeit, die der „polnische Sommer“ erfährt, der als ein politisches Ereignis gesehen wird, das zu einer völlig neuen politischen Lage in ganz Europa fuhren kann. Vor diesem Hintergrund wird die Zugehörigkeit Polens zum kommunistischen System in der Berichterstattung des Sommers 1980 zunehmend in Frage gestellt, und es werden gerade die Abweichungen fokussiert. Das geeignetste Beispiel hierfür liefert das Stereotyp „Das kommunistische Polen ist ein Polizei-Staat“, das die aus der Sicht der westdeutschen Presse erwartete Gewaltanwendung seitens der kommunistischen Regierung ausdrückt und immer wieder negierend thematisiert wird (s. Kap. 5.14). Dieses Stereotyp gehört mit mehr als 150 Belegen zu den am häufigsten belegten und zu denen, die auch sehr häufig auf atypische Weise (s. Kap. 3.4.3.2) realisiert werden, was für eine versuchte Entkräftung (s. Kap. 3.4.6 2) spricht. Polen wird nicht als sozialistisches Musterland wahrgenommen. Um die Abweichungen zu erklären, werden in der westdeutschen Presse bestimmte Stereotype wie etwa die von den ‘rebellischen’ oder ‘freiheitsliebenden’ Polen eingesetzt. Dadurch werden verschiedene Bezugsmöglichkeiten zwischen ideologiebezogenen und nationbezogenen Stereotypen eröffnet. Die Negation des Stereotyps ‘Polizei-Staat’ Polen wird aus den nationalen Eigenschaften der Polen, dem ‘Rebellentum’ (s. Kap. 5.3), der ‘Disziplinlosigkeit’ (s. Kap. 5.4), dem ‘Freiheitswillen’ (s. Kap. 5.5) und dem ‘Individualismus’ (s. Kap. 5.6) hergeleitet. Die Beleganalyse ergab, daß die Stereotype „Polen sind rebellisch“ und „Polen sind disziplinlos“ einen fast gleich großen Stellenwert in der westdeut- <?page no="309"?> Zusammenfassung, Ausblick und Verallgemeinerung 309 sehen Presse besitzen (beide wurden jeweils über 50mal belegt). Bei der ‘Freiheitsliebe’ und dem ‘Individualismus’ wurde dagegen die Zahl von zehn Belegen nicht überschritten. Im Vergleich mit anderen Stereotypen spielen die letzten zwei in den Argumentationskontexten eine eher sekundäre Rolle. Die polnischen Vorgänge werden außerdem auch mit dem ‘Geschichtsbewußtsein’ (s. Kap. 5.11) der Polen und mit ihrem ‘Mut’ (s. Kap. 5.9) begründet; die Belege für diese Stereotype überschreiten jedoch nicht die Zahl von je 20. Noch seltener wird das Stereotyp realisiert, das starke Überlappungen mit den beiden letztgenannten aufweist, und zwar „Polen sind Märtyrer“ (s. Kap. 5.10); es ist ungefähr 15mal belegt. Zwischen den drei letztgenannten Stereotypen lassen sich wiederum Verbindungslinien erkennen, die das ‘Märtyrertum’ und den ‘Mut’ der Polen in die Geschichte einordnen und aus ihr heraus begründen. Im Zusammenhang aller Stereotype stellt die ‘kommunistische Mißwirtschaft’ in Polen einen in sich gegliederten Unterkomplex aus zwei Einzelstereotypen dar. Die zwei Stereotype ‘kommunistische Mißwirtschaft im Hinblick auf das ökonomische System’ und ‘kommunistische Fehlpolitik’ wurden in der westdeutschen Presse ca. 300mal realisiert. Mit über 170 Belegen am häufigsten verwendeten die Journalisten das Stereotyp ‘kommunistische Fehlpolitik in Polen’. Die ‘kommunistische Mißwirtschaft in Hinblick auf das ökonomische System’ kommt in ca. 120 Belegen vor. Überlappungen zwischen den beiden Unterstereotypen von ‘kommunistischer Mißwirtschaft’ sind natürlich deutlich. Die Presse zeigt, daß die Polen in der Zeit der Berichterstattung große wirtschaftliche und politische Schwierigkeiten haben, die nicht nur nationaler, sondern auch ideologischer Natur sind. Die im Resümee des Kapitels 5.13 besprochene alte sprachliche Formel polnische Wirtschaft wird in den Zeitungen tendenziell tabuisiert und paßt auch nicht in das 1980 propagierte positiv gefärbte Polenbild. Historisch gesehen bildet das Stereotyp ‘unordentliche/ chaotische Zustände’ mit dem Idiom polnische Wirtschaft verbunden einen gemeinsamen Stereotypenkomplex mit dem der ‘Disziplinlosigkeit und der ‘Trinkfreudigkeit’. Die beiden zuletzt genannten Stereotype werden dem Stereotyp-Rahmen ‘unordentliche/ chaotische Zustände’ aber vor allem deshalb nicht zugeordnet, weil sie sich ausdrucksseitig differenzieren lassen und dem Leser ein möglichst klares und analytisches Spektrum von Stereotypen zur Verfügung gestellt werden soll. Der Komplex ‘unordentliche/ chaotische Zustände’ ist so mächtig, daß je nach situativem Kontext und Intention des Autors indirekt sogar die positiv wertenden Stereotype ‘Rebellentum’, ‘Freiheitswillen’ und Individualismus zu denjenigen werden, die mit dem Idiom polnische Wirtschaft zusammenhängend, in Beziehung gebracht werden können; die Vermittlerrolle übernimmt dabei das Stereotyp ‘Disziplinlosigkeit’. <?page no="310"?> 310 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Eine zentrale Rolle bei der Berichterstattung über die polnischen Streiks spielen zweifellos auch zwei Stereotype, und zwar „Polen sind patriotisch/ nationalistisch“ und „Polen sind streng katholisch“. Der ‘Patriotismus’ der Polen wird über 70mal und der polnische ‘Katholizismus’ über 130mal thematisiert. Für beide läßt sich eine besonders starke Verknüpfung feststellen, denn sie werden fast ausschließlich zusammen zum Ausdruck gebracht und bilden daher beinahe eine Einheit. Ihre Verbindung läßt sich auch geschichtlich erklären. Sieht man die beiden aus der Perspektive der polnischen Autostereotype, ergibt sich eine weitere Verknüpfung, nämlich die mit dem Stereotyp „Polen sind geschichtsbewußt“. Der ‘Patriotismus’ der Polen wird als eine Haltung verstanden, die auf Widerstand gerichtet ist. Hier ergeben sich Überlappungen mit den Stereotypen, die die „anarchistischen“ Elemente des „Polentums“ zum Ausdruck bringen, nämlich „Polen sind rebellisch“, „Polen sind disziplinlos“, „Polen sind freiheitsliebend“ und „Polen sind Individualisten“. Mit fast 70 Belegen wird das Stereotyp „In schlechten Zeiten sind Polen untereinander solidarisch“ sehr oft realisiert. Die westdeutsche Presse hebt den Zusammenhalt und die Solidarität der polnischen Bevölkerung in der schwierigen Streikssituation also besonders stark hervor. Dieses Stereotyp weist als einziges keine besonderen Verbindungen zu den anderen auf und scheint somit außerhalb des Stereotypensystems zu stehen, obwohl sich ein kognitiver Zusammenhang mit dem ‘Patriotismus-Komplex’ hersteilen ließe. Dieser ist aber auf der sprachlichen Ebene nicht nachweisbar. Interessante Ergebnisse brachte auch die Untersuchung der stereotypen Vorstellungen über die Beziehungen zwischen den Polen und anderen Völkern. In der westdeutschen Presse wurden die polnisch-russischen, die polnischfranzösischen und die polnisch-deutschen Beziehungen thematisiert (wobei hier eine Trennung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR unternommen wurde). Zweifellos zentral angelegt ist die Darstellung der Beziehung zwischen der Sowjetunion und Polen, die in über 100 Belegen als äußerst negativ präsentiert wird. Das häufige Aufgreifen dieses Verhältnisses erfolgt vermutlich aus der Erwartung einer sowjetischen Intervention in Polen, was auch die zahlreichen Vergleiche zum „Prager Frühling“ zeigen. Ein viel geringeres Gewicht hat die Thematisierung der Beziehung zwischen Polen und Frankreich, der in der westdeutschen Berichterstattung kaum Platz gewidmet wird, weil sie zu diesem Zeitpunkt eine politisch äußerst marginale Rolle spielt. Viel häufiger wird naturgemäß das ostbzw. westdeutsche Verhältnis zu Polen und vice versa zum Ausdruck gebracht (jeweils um die 20 Belege). Die deutsch-polnischen Beziehungen werden mittels des Stereotyps vom ‘gespannten deutsch-polnischen Verhältnis’ dargestellt, ohne daß dies zu einem zentralen Thema gemacht würde. Eine ganz periphere Rolle in der westdeutschen Berichterstattung 1980 spielt das Stereotyp „Polen sind trinkfreudig“, zu dem weniger als 10 Belege gefun- <?page no="311"?> Zusammenfassung, Ausblick und Verallgemeinerung 311 den wurden. Seine Realisierung ist mit Atypik, Implizitheit und Tabuisiertheit verbunden. Äußerst selten belegt ist auch das Stereotyp „Im kommunistischen Polen herrscht ein halblegales Beschaffimgswesen“, das jedoch wegen seiner Ideologiebezogenheit nicht tabuisiert werden muß und als zutreffend für alle sozialistischen Staaten dargestellt wird. Die folgende Liste zeigt noch einmal die zentralen, und deshalb häufigsten Stereotype über Polen in der westdeutschen Berichterstattung im Sommer 1980. Die Zahl der Belege ist aus Gründen der Übersichtlichkeit abbzw. aufgerundet: ‘kommunistische Mißwirtschaft’ 300 Belege ‘Polizei-Staat’ 150 Belege ‘Katholizismus’ 130 Belege ‘Russenfeindlichkeit’ 100 Belege ‘Patriotismus’ 70 Belege ‘Disziplinlosigkeit’ 60 Belege ‘Rebellentum’ 50 Belege Die in den westdeutschen Texten am seltensten im Sommer 1980 realisierten Stereotype mit einer Beleghäufigkeit unter 10 sind: ‘halblegales Beschaffen’ ‘Sympathie zu Frankreich’ ‘Freiheitsliebe’ ‘Individualismus’ ‘Trunksucht’ 7.3 Die Funktion der Stereotype - Zusammenhang von Hetero- und Autostereotyp Der Grundtenor der westdeutschen Presse in ihrer Berichterstattung über Polen in der Zeit der Streiks 1980 ist positiv. Dies wird zum Anlaß genommen, bestehende negative Stereotype kontrastiv einzusetzen und in einer Art und Weise zu berichten, als hätte man es mit einem völlig neuen Polen zu tun. In diesem Zusammenhang hat sich besonders deutlich das Analysekriterium der Atypik bewährt (s. Kap. 3.4 3.2). Der Grund für die neue, prinzipiell positive Darstellung der Polen hängt möglicherweise damit zusammen, daß Polen gegen „das Feindbild“ der Bundesrepublik, die Sowjetunion, kämpft und somit quasi als Verbündeter der Bundesrepublik erscheint. Die Textanalysen haben gezeigt, daß die westdeutschen Journalisten in einen Rechtfertigungszwang geraten, als dessen Folge sie sich mit dem bisherigen Polenbild Westdeutschlands auseinandersetzen und den Lesern in der „neuen“ Streiksituation ein „neues“ Polenbild vermitteln. Aus dem differenzierten Einsatz von Stereotypen kann man schließen, daß die Journalisten es mit Lesern zu tun zu haben <?page no="312"?> 312 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck glauben, die über das alte Polenbild verfugen und denen die neuen positiven Urteile plausibel gemacht werden müssen, weil sie bis jetzt auf Polen nicht zutrafen und den bekannten Stereotypen zum Teil widersprechen. Das fuhrt unter anderem dazu, daß plötzlich Selbstverständlichkeiten thematisiert werden, weil sie, auf das bisherige Polenbild bezogen, aus dem Rahmen fallen (s Kap. 3.4.2.1). Dabei zeigte sich auch, daß Heterostereotype, z.B. im Falle der Gegenüberstellung der ideologischen bzw. ökonomischen Systeme, zur Stärkung des Selbstbilds der Gesellschaft eingesetzt werden. Sie werden zur Verfestigung der eigenen Sichtweise und zur Bestätigung der vorliegenden Erwartung fimktionalisiert. An dieser Stelle muß das generelle Verhältnis von Auto- und Heterostereotyp berücksichtigt werden, demzufolge das Autostereotyp die eigene Gruppe in der Regel viel positiver beschreibt als das Heterostereotyp die Fremdgruppe. Die Textanalysen haben deutlich werden lassen, daß die Presse der Bundesrepublik Deutschland Auto- und Heterostereötyp in erster Linie auf der ideologisch-politischen Ebene ansiedelt und nur sekundär auf der nationalen oder kulturellen Ebene. Besonders nützlich zur Herausarbeitung solcher Funktionalisierungen von Stereotypen erwies sich die kontrastive Analyse der ostdeutschen Berichterstattung. Es läßt sich zeigen, daß dieselben Ereignisse (Streiks in Polen) in Abhängigkeit von eigenem Weltbild ganz anders interpretiert werden. Die Analyse der DDR-Presse läßt die Instrumentalisierung der Heterostereotype noch deutlicher hervortreten; die Berichterstattung dient in erster Linie dazu, die eigene gesellschaftliche Identität und eigene Sichtweisen zu stabilisieren. Die Stereotypenanalyse in der westdeutschen Presse ergab, daß die Stereotype, die sich negativ-positiv-polarisierend auf den polnischen Staat bzw. seine Bürger beziehen, erstens der Stärkung der kommunismuskritischen Haltung der westdeutschen Presse dienen und zweitens die Versöhnung mit einem der Opferstaaten des Nationalsozialismus und die Entlastung von Schuld dadurch in Aussicht stellen, daß man einem vom Kommunismus abrückenden Polen leichter finanzielle und moralische Hilfe gewähren kann. Der Aufbruch in Polen wird von der westdeutschen Presse als Gelegenheit genutzt, alte negative Stereotype über Polen zu revidieren, was unter anderem seinen Ausdruck in der Umdeutung der nationbezogenen Stereotype auf die ideologiebezogenen findet (vgl. Kap. 5.13). Aus diesem Grund wird Polen als eine Ausnahme im Ostblock gesehen, das sich den anderen sozialistischen Staaten gegenüber durch äußerst positive Merkmale auszeichnet. Aus der Sicht der westdeutschen Presse ist die Haltung der polnischen Bevölkerung hoch einzuschätzen, was sich gleichzeitig in dem Bemühen niederschlägt, die negativen Stereotype abzubauen, die zu den Bestandteilen des Polenbildes in der Presse der Bundesrepublik gehören. Die Tatsache, daß sich 1980 in Polen etwas tut, was in Richtung ‘Demokratie’ zielt, wird von der westdeutschen Presse begrüßt. In Polen wird zur Zeit der Berichterstattung an den Fundamenten des herrschen- <?page no="313"?> Zusammenfassung, Ausblick und Verallgemeinerung 313 den sozialistischen Systems gerüttelt, wodurch das alte Freund-Feind-Schema allmählich seine Gültigkeit verliert. Wenn man so will, kann man hier eine ironische Umdrehung des ‘Bruderbund’-Stereotyps der kommunistischen Presse sehen: „Westdeutsche und Polen sind Brüder, weil sie beide gegen den Kommunismus sind! “ Vor diesem Hintergrund lassen sich eindeutige Relativierungsversuche von negativen Stereotypen über Polen erklären (s. Kap. 5.4 oder Kap. 5.8). Es ist sehr wahrscheinlich, daß die westdeutschen Journalisten in der Zeit der Streiks in Polen 1980 einen Beitrag zur Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen leisten wollen, indem sie die polnische Bevölkerung bzw. den sie hier interessierenden Ausschnitt der Streikbewegung sehr positiv darstellen. Man könnte also von einem partiellen Versuch der Revision vorhandener negativer Stereotype über Polen sprechen. Die bisherigen antipolnischen Vorurteile und Stereotype werden in dieser Zeit in der westdeutschen Presse als unadäquat präsentiert. Da sich jedoch die negativen Stereotype nicht von einem zum anderen Tag revidieren lassen, wird versucht, die kommunistische Ideologie als Verursacher allen Übels darzustellen. Ein Beispiel hierfür liefert die Darstellung des Stereotyps ‘kommunistische Mißwirtschaft in Polen’, das an die alte Formel polnische Wirtschaft anknüpfen kann (vgl. Kap. 5.13), in der Zeit der polnischen Streiks jedoch explizit als ‘kommunistische Mißwirtschaft in Hinblick auf das ökonomische System’ und ‘kommunistische Fehlpolitik’ bezeichnet wird. Somit zeigt sich, daß die alten antipolnischen Vorurteile wie die, die mit dem Idiom polnische Wirtschaft ausgedrückt werden, mit den neueren ideologischen Charakters über ‘erfolglose kommunistische Planwirtschaft’ verbunden werden können. Eine Verknüpfung der beiden Stereotype stellt bildhaft eine Karikatur von Kurt Reimann in der FAZ vom 27.08.1980 dar (vgl. Kap. 3.4.1). Die Gleichzeitigkeit von positiver Darstellung der polnischen Bevölkerung und negativer Darstellung des kommunistischen Regimes läßt jedoch die Frage aufkommen, ob nicht die Anhäufung positiver Urteile gerade den atypisch thematisierten stereotypen Hintergrund verstärkt, etwa in dem Sinne: Ein so außergewöhnliches Verhalten der Polen kann sich auch schnell wieder normalisieren. Was die einzelnen Leser aus dieser Mischung einerseits bestätigter und andererseits relativierter Stereotype machen, entzieht sich freilich der linguistischen Analyse. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Presseorganen in der Bundesrepublik Deutschland sind eher gering (vgl. jeweils Punkt IV in Kap. 5. (Medienspezifik und Textsortenverteilung)). <?page no="314"?> 314 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck 7.4 Stereotype über Polen in der DDR-Presse Die in Kapitel drei, fünf und sechs durchgeführte Untersuchung ergab, daß die Darstellung der polnischen Streiks im Sommer 1980 in der west- und ostdeutscher Presse in etwa spiegelverkehrt ist. Die westdeutsche Berichterstattung beginnt die Thematisierung der polnischen Streiks mit der offensichtlichen Erwartung von Zuständen, die mit dem Idiom polnische Wirtschaft Zusammenhängen, und ‘kommunistischer Mißwirtschaft’, die als Resultat der Verknüpfüng von zwei genannten stereotypen Dimensionen, der nationalen und der ideologischen, anzusehen sind. Das in der Bundesrepublik bis zum Sommer 1980 herrschende Polenbild hat demnach also nicht viele positive Züge. Mit dem Ausbruch der polnischen Streiks versucht die westdeutsche Presse, dieses vorrangig negativ behaftete Bild der polnischen Nation zu revidieren. Die DDR-Presse befindet sich zu demselben Zeitpunkt gerade in der entgegengesetzten Situation. Die in der ideologischen Zugehörigkeit Polens und der DDR zum sozialistischen Ostblock begründete Haltung der DDR-Führung zu Polen spiegelt bis zum Sommer 1980 die Propaganda von der „brüderlichen Freundschaft“ wider. In der Zeit, bevor die DDR-Führung öffentlich die polnischen Streiks zur Kenntnis nahm und im ND zugab, wurde das Stereotyp „Polen und DDR- Bürger sind Brudervölker“ als unerschütterliches Dogma propagiert. Nach dem 16.08.80, als die Streiks in Polen erstmals im ND erwähnt wurden, liegt der Schwerpunkt der ND-Berichterstattung nicht mehr auf der Verbreitung des „Brudervolk“-Stereotyps, sondern beinhaltet Elemente einer zwar indirekten, dabei aber scharfen Kritik an der polnischen Bevölkerung und an der polnischen Führung, die die Verantwortung für die entstandene Situation im Lande trügen. Diese Kritik wird so formuliert, daß bei den DDR-Lesem Assoziationen zur tradierten Formel polnische Wirtschaft geweckt werden können. Es wird nur sehr viel impliziter und indirekter realisiert als in der westdeutschen Presse (s. Kap. 6.4). Der „polnische Sommer“ bringt insofern einen neuen Aspekt in die Berichterstattung des ND. War das Bild Polens vorher von der Ideologie her positiv geprägt, so wird nach dem 16. August an die alten deutsch-polnischen Ressentiments angeknüpft. Die Streiks in Polen stellen für die DDR-Führung nun eine mögliche Gefahr dar, auf die die DDR-Propaganda nun Bezug nehmen muß. Die DDR-Führung steht jetzt nämlich vor dem Dilemma, die Streiks in Polen auf eine Art und Weise zu erklären, die DDR-Leser davon abhält, Parallelen zu ziehen und dem polnischen Beispiel nachzueifern. Eine Möglichkeit der Erklärung liefert eben das alte nationbezogene Stereotyp ‘unordentliche/ chaotische Zustände’, mittels dessen die DDR-Führung sowohl die polnische Regierung als auch die polnische Gesellschaft kritisiert. Es wird also plötzlich der Mechanismus von Auto- und Heterostereotyp installiert. <?page no="315"?> Zusammenfassung, Ausblick und Verallgemeinerung 315 Es ist somit festzustellen, daß sich die Berichterstattung beider deutschen Staaten 1980 in entgegengesetzte Richtungen bewegt. Die westdeutsche Presse versucht, ein positiveres Bild der Polen aufzubauen, während die DDR- Presse beginnt, dessen negative Züge zum Ausdruck zu bringen. Für beide Intentionen stellen Stereotype ein zentrales Mittel dar. 7.5 Ausblick Am Ende der Untersuchung stellt sich die praktische Frage, wie Journalisten oder andere öffentlich tätige Berufsgruppen mit Stereotypen umgehen sollten. Kann man versuchen, sie zu bekämpfen, sollte man sie sich selbst überlassen, entziehen sie sich jeder reflektierten Einflußnahme? Stereotype gehören zum Orientierungswissen jeder Gesellschaft und bilden somit einen notwendigen Teil unseres Weltbilds. Stereotype dienen der ersten orientierenden Erkenntnis eines Weltausschnitts. Wer das aber weiß, weiß auch, daß sie nicht die ganze Wahrheit sind. Andererseits hat die Geschichte immer wieder gezeigt, wie sehr negative Stereotype zu Unrecht und Leid beitragen. Das deutsch-polnische Verhältnis ist aufgrund der Nachbarschaft und einer langen konfliktreichen Geschichte besonders geeignet, viele Stereotype zu bilden. Diese Untersuchung soll zu einem aufgeklärten Umgang mit Stereotypen anregen. Die ermittelten Stereotype und die Palette ihrer sprachlichen Realisierungsmöglichkeiten werden den Lesern möglicherweise im Umgang mit ihnen bewußter, reflektierter und dadurch vielleicht auch selbstkritischer machen. Eine kritisch-reflektierte Haltung gegenüber Stereotypen kann der erste Schritt in Richtung ihrer Relativierung und Abschwächung sein. <?page no="317"?> Anhang 317 8. Anhang Streiks in Danzig ohne die Arbeiter geht nichts mehr „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“ Die Werftbesetzer beharren mit ungewöhnlicher Disziplin auf der Anerkennung des Streikkomitees als Verhandlungspartner Von unserem Korrespondenten Eduard Neumaier Abb. 9: „DER SIEG, das ist die moralische Genugtuung“: Streikende Arbeiter der Lenin- Werft in Danzig knien zum Gebet nieder. Danzig, 22. August Wie auf der Titanic beim Ruf „Eisberg voraus“ die hoffärtigen Passagiere nach kurzem Erschrecken weiterfeierten, geht Polens Hauptstadt Warschau scheinbar gelassen über die Mitteilung hinweg: In Danzig keine Einigung. Es ist der Abend des siebten Tages; vor einer Woche hat der Streik in Danzig begonnen. Seit sieben Tagen läuft das polnische Staatsschiff einer Erhebung entgegen, die unter der Oberfläche des Alltags ungeahnte Ausmaße hat. Während die Führungsmannschaft sich entschließt, über ihre Verhältnisse hinaus offen zum Volk zu sein, und die Gefahr beim Namen nennt, plötzlich sogar „Strajk“ zu etwas sagt, das es eigentlich immer noch nicht geben dürfte, auch von einem unglaublichen Be- <?page no="318"?> 318 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck kennermut zur eigenen Fehlerhaftigkeit befallen wird, gleicht die Anteilnahme der versammelten Nation einer fast sportlichen Neugier: Stoßen Regierung und Streikende zusammen, oder gelingt noch ein kühnes Ausweichmanöver? Danzig ist das Streikzentrum. Und das Zentrum im Zentrum ist die Lenin-Werft vor den alten Toren der Stadt. Die Stimmung ist hier anders als in Warschau. Entschlossen, von kalter Wut beseelt sind die Arbeiter. Öffentliche Verkehrsmittel fahren nicht. Auch die Taxis stehen still. Nur Ausländer werden chaufftert. Der einzige Taxifahrer am Flughafen, schon wortlos bereit, den Ankommenden aufzunehmen, schlägt abrupt wieder die Tür zu, als er sich von mir, gerade aus Moskau kommend, gedankenlos russisch angeredet hört. Als ich sage, ich sei Deutscher, fragt er auf deutsch nur: „Bundes? “ Ich nicke, er strahlt, öffnet die Wagentür wieder und erklärt: „Reden Sie ja nicht russisch. Wir wollen nichts von den Russen wissen.“ Bereitwillig fahrt er zum Danziger Hafen, der Lenin-Werft entgegen. Die Straßen sind fast sonntäglich leer. Das Fehlen von Bussen und Straßenbahnen, den Merkmalen kommunistischer Hauptverkehrszeit, fällt auf. Autos sind kaum zu sehen. Die Benzinversorgung der Stadt ist eingestellt. Die Raffinerie streikt. Am Straßemand sieht man einzelne Gruppen von Männern. Am Kühler ein Kruzifix Allmählich wechselt die Szene. Je näher das Ziel kommt, desto mehr Polizisten tauchen auf. Hundert Meter von der Werft entfernt plötzlich keine Uniformen mehr. Dafür aber lebhaftes Getümmel. In kleinen Trauben gestikulieren und diskutieren Männer in blauer Montur oder in legerem Zivil. Zweihundert, dreihundert mögen es um 8 Uhr morgens sein. Neben der Zufahrtsstraße, links vom Haupttor, sind Löcher in Form von Gräbern ausgehoben. Daneben seht ein drei Meter hohes Kreuz aus frischem Holz, behängt mit vielen Nelken und Fähnchen in Polens Nationalfarben Weiß-Rot. Das Kreuz markiert die Stelle, an der demnächst ein ertrotztes Denkmal für die 49 beim blutigen Streik im Dezember 1970 umgebrachten Arbeiter der Werft stehen wird. Rechts vom Tor, auf der Decke eines halbfertigen Schuppens, wacht unter einer Zeitpläne ein halbes Dutzend Männer. Rund um das gigantische Werftgelände, im Abstand von 100 Metern, stehen solche Wachquartiere. Auf Dächern der Werftgebäude dazwischen halten weitere Männer aus. Keiner soll eindringen dürfen. Hinein kommt man nur durch das Haupttor. Über und über ist es behängt mit Nelken, Rosen, Gladiolen und Bildern vom polnischen Papst Johannes Paul II. Es wird dicht von Männern und Frauen belagert. Ein Auto schiebt sich hindurch. Ein Kontrolleur von kräftiger Statur prüft die Ausweise der Insassen. Dahinter kommt ein Lieferwagen, am Kühler ein Kruzifix das Erkennungszeichen für Lebensmitteltransporte, die die Werft versorgen. Die Lebensmittel werden ordentlich gekauft. Als ich meinen deutschen Paß zeige, herzliche, laute Freude: „Njemetz? - Deutsch? “ Schon bin ich durch und eingekeilt. Beifall prasselt auf, fünfzig, hundert Männer umringen mich. Übermüdete, unrasierte Gesichter, dicht an dicht, schauen interessiert. Die Männer gehören zu fast 18 000 Arbeitern der Werft, 2000 davon sind Parteigenossen. Alle streiken, alle, „nur nicht der Erste Sekretär der Partei <?page no="319"?> Anhang 319 und der Direktor des Betriebes“, erklärt ein Alter, der dazugekonunen ist, weil er von dem Deutschen gehört hat. Der alte Danziger macht hier den Dolmetscher. Die Hälfte dieser 18 000 hat die Werft seit sieben Tagen und zwei Stunden nicht verlassen. Die andere Hälfte geht und kommt wie üblich. Die im Werk schlafen ohne Decken dort, wo sie sonst an den Maschinen stehen: auf ölverschmierten Holzrosten, auf dem nackten Boden, auf Stühlen, wenige in Sesseln vor dem großen Versammlungssaal. Musik spielt über den Hof. Gruppen schlendern. Ein Mädchen ruft durch ein Megaphon Namen auf. Die Aufgerufenen bewegen sich zum Tor. Dort stehen Ehefrauen. Manche schimpfen, bringen aber trotzdem Rasierzeug, Wäsche, Tee, Brote. Andere, die keine Verwandten unter den Arbeitern haben, bringen Geld und, was genauso wichtig ist, Solidarität. Eine Frau weint, überwältigt vom Ereignis, daß die Männer genug haben und sich wehren: „Es ist so wichtig. Diesmal muß es gelingen, es muß! “ Kommt jemand mit einer Tasche, wird sie durchsucht. Wodka-Flaschen werden ausgeschüttet. Die Disziplin dieser 18 000, oft genug als polnisch-disziplinlos beschimpft, ist eisern. „Keinen Tropfen Alkohol! “ lautete der erste Beschluß der Streikleitung. Und alle halten sich daran. Streikpolizei mit weiß-roten Armbinden hält auf Ordnung. Sie ist überflüssig. Alle wissen, worum es geht. Gleich soll die tägliche Sitzung des Streikkomitees beginnen. Morgens und abends treffen sich die Komiteemitglieder in der Aula. Zuerst versammelten sich in dem Saal nur die Delegierten der Lenin-Werft. Dann verlangten Komitees anderer streikender Betriebe, an den Sitzungen teilzunehmen. Seither sind es jeden Tag mehr geworden. An diesem achten Tag sind es 600 Delegierte von 300 streikenden Betrieben allein aus der sogenannten Drei- Stadt, wie die räumliche Einheit Danzig-Gdingen-Zoppot genannt wird. Sie vertreten, vorsichtig geschätzt, 150 000 Streikende. Seltsame „Dienstwagen“ rollen an: Lieferwagen, Pritschenwagen, Lastwagen, Privatautos, hinter der Windschutzscheibe ein handgemaltes Schild mit den Initialen ihres Betriebes. Jedes Mitglied des „überbetrieblichen Streikkomitees“, mit dem die Warschauer Führung nicht verhandeln will, ist gewählt von der jeweiligen Belegschaft. Ein paar Delegationen kommen nicht. Es heißt, Miliz habe sie daran gehindert. Alles wartet auf den täglichen Lagebericht, während hinten in der Ecke Mädchen Butterbrote schmieren, Käse-, Wurstmit Tomaten hereintragen oder Kisten mit Mineralwasser und Limonade. Verlesen wird, wer neu zu den Streikenden gestoßen ist, Beifall. Einer berichtet, in Zeitungen und im Rundfunk werde behauptet, die Regierung verhandele mit den Streikenden. Seine Sümme wird lauter: „Sie lügen, alle lügen sie. Seit 35 Jahren lügen sie.“ Denn: „Mit uns hat niemand verhandelt. Wir warten. Sie müssen zu uns kommen.“ Tatsächlich verbreitet Warschau, es verhandele. Aber mit wem? Ein wildes Getümmel bricht aus. Dreißig, vierzig junge Männer drängen sich unter dem polnischen Adler um das Podium. Neuigkeiten? Nein, im Aufträge des Prälaten Jastak, der am Vortage auf der Werft in Gdingen eine Messe gefeiert hat, werden Bildchen von der Muttergottes, der Königin Polens, versehen mit einer solidarischen Widmung, verteilt. Ein harter Bursche zieht stolz eine kleine Medaille aus dem Hemd: Der Danziger Bischof <?page no="320"?> 320 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Kaczmarek hat Streikenden eine Nickelmünze verehrt auf der einen Seite das Bild der Jungfrau von Tschenstochau, auf der Rückseite der Kopf von Jan-Pawel, dem Papst. Plötzlich jubelnde Freude. Die Regierung habe einen neuen Kopf in ihre Kommission in Danzig entsandt: das Politbüromitglied und den Ersten Vizepremier Mieczyslaw Jagielski. Er hat vor einem Monat den Streik in Lublin geschlichtet. Hier muß er sich mehr anstrengen. Danzig ist ein anderes Kaliber. Es ist das Zentrum und Schlüssel für alles. Danzig und Streiks das klingt für die Führung unter Edward Gierek nach schrillem Alarm. Denn die Arbeiter dieser Stadt haben sich im Dezember 1970 zwar blutige Köpfe geholt, als sie spontan und im Zorn unbedacht die Macht herausgefordert hatten, aber durch das Opfer von ungefähr 300 Menschen auch Gomulkas Sturz geschaßt und Gierek in den Stuhl gehoben. Aber warum wieder Danzig? Ein Spätzünder schien es zunächst, die Welle von Streiks, die im Juni durch Polen lief, war fast schon vorbei. Warschau hatte bereits Entwarnung gegeben; Gierek glaubte, ruhig nach Hamburg fahren zu können. Er hatte den Namen Anna Walentinowicz vergessen; hochgemuter Eigensinn kam an ihr ins Stolpern. Die Arbeiterin steht im 60. Lebensjahr, sie ist 159 Zentimeter klein, schmal, hat kurzes aschblondes Haar und klare Augen. Am 7. August, ein halbes Jahr vor der sowieso fälligen Pensionierung, hat der Direktor ihr einfach den 32 Jahre lang eingenommenen Platz als Kranführerin gekündigt und ihr einen anderen, schlechteren, in der benachbarten Werft zugewiesen. Sie sei von der Belegschaft isoliert. Aber sie ist nicht einfach irgendein altes Möbel, das man verrücken kann. Sie ist ein Symbol für Danzigs Arbeiter, eine Veteranin des Arbeitskampfes. 1970 war sie Mitglied jener Delegation, die in der Nacht des 25. Januar 1971 im Haus des Betriebsrates auf der Lenin- Werft mit einem besonderen Mann zusammengetroffen war, mit Edward Gierek, dem neuen, aus Oberschlesien gekommenen Parteichef. Demütig beschwor er damals „seine Arbeiter“, ihm zu helfen, es sei eine historische Frage, so sprach er. Sie mochten ihn, sagt die Frau, die da jetzt im Sessel kauert, klagend und bitter. Jetzt wird sie ihm helfen. Plötzlich tauchten in Danzig und vor der Werft gedruckte Flugblätter auf, die die Willkür der Werftherren anprangerten. Und am 14. August, Schlag 6 Uhr, weigerten sich die Werftarbeiter zu arbeiten. Sie lärmten nicht. Sie gingen nicht auf die Straße, sie blieben auf dem Gelände. Sie besetzten die Werft. Unheimlich ruhig, ganz selbstverständlich. Woher kommt diese Kraft in Polen, immer wieder? „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns! “ Das sagt die kleine Frau, das sagen bärenstarke Junge und graue Alte. Vor allen anderen erklärt dies auch schlicht ein kleiner Mann, ohne den der Streik nicht solche Ausmaße angenommen hätte. Der Held von Danzig ist ungefähr 35 Jahre alt, 160 Zentimeter groß, schlank, trägt einen kessen Moustache und sein Haar sauber gescheitelt. Lech (Leszek) Walenca heißt er. Ein Demagoge? Ein charismatischer Führer? Bis 1976 war er in dieser Werft Elektromechaniker. Als Rädelsführer der Streiks von 1976, unbedeutende Nadelstiche gegenüber dem jetzigen, wurde er vor vier Jahren entlassen. Er fand andere Arbeit und machte sich welche: Er betrieb die Gründung einer freien Gewerkschaft. Frau Walentinowicz übrigens auch. Manchen hat man über dieses Unterfangen lächeln sehen. Was, außer vergeblichem Streben, kann das in einem kommunistischen 1 anHp schon <?page no="321"?> Anhang 321 sein! „Leider kamen die Ereignisse ein Jahr zu früh“ erklärt er „wir waren noch nicht so weit“. Der Apfel aber fällt, wenn er reif ist. Taktik der Regierung durchkreuzt Mit dem ersten Begehren der Streikenden wird seine Wiedereinstellung verlangt. Und bewilligt. Er kommt und ist der Chef. „Wir lieben ihn“, sagen Arbeiter und begegnen ihm respektvoll-scheu. Wie ein General dirigiert er, oben auf dem Podium stehend, seine Truppen. Ruhig ist er, gescheit, gewitzt und flink. Er setzt alles auf eine Karte. Er besorgt die Wendung, indem er aus einer unter anderen Arbeitsniederlegungen das zentrale Ereignis macht. Um 14.17 Uhr am dritten Streiktag das Datum haben sich seine Gegner auf der anderen Seite genau gemerkt setzt eine Werftkommission ihre Unterschrift unter ein Papier der Betriebsleitung, die ein paar Wünsche zu erfüllen verspricht. Unversehens kommt Walenca dazu, sagt: „Entschuldigung. Neue Lage, die Komitees der anderen Unternehmen wollen einbezogen werden. Keine Separatvereinbarungen mehr.“ Ende. Walenca durchkreuzt die Taktik der Warschauer Führung, durch viele Einzelverhandlungen dem Streik die explosive Kraft zu nehmen. Er wird als Vorsitzender gewählt von den Komiteemitgliedem. Seither muß der Streik als organisiert gelten. Er hat Wucht, ist überlegt, hat einen Kopf, derweil die Warschauer Führung ratlos ist. „Bis zum Erfolg“ und „Gott ist mit uns“ das ist die Losung. Walenca verspricht: „Wenn wir verlieren, gehe ich als erster hinaus durchs Tor. Wenn wir siegen als letzter.“ Der Sieg, das ist nicht die moralische Genugtuung. Aber Walenca sagt auch, und er sagt es immer wieder: „Wir stellen keine politischen Forderungen.“ Und dann fügt er hinzu: „Die Russen kommen nicht.“ Das glauben alle. Aber wenn: „Wir sind nicht die Tschechoslowaken! “ Abb. 10: DIE GRÜNDUNG einer freien Gewerkschaft betreiben: Lech Walenca (mit Mikrophon) ist der Held von Danzig. Worum es geht, ist erst am achten Tag klargestellt. Über der Werfteinfahrt sind 21 Forderungen angebracht. Auf Matrizenabzügen werden sie unters Volk gebracht. Ihre Gliederung spiegelt den Zustand der verletzten polnischen Seele wider. Die ersten fünf Forderungen zum Punkt „freie Gewerkschaft“ ein immens politisches Begehren haben nichts mit dem <?page no="322"?> 322 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Fleisch zu tun, mit dem allein der Pole nicht lebt. Bei den wirtschaftlichen Forderungen geht es um Geld, das in Polen nichts wert ist. „Schaum im Glas“, hat ein polnischer Funktionär hellsichtig gesagt, es gibt nichts zu kaufen dafür. 2000 Zloty monatlich mehr wollen die Danziger Arbeiter, ein Drittel ihres bisherigen Lohnes. Die dritte Gruppe der Forderungen fällt unter die Kategorie des verletzten Stolzes. Keine polnischen Waren für Devisenläden. Da wird, was Volkes Hände geschaffen haben, Volkes Genuß oft genug entzogen und durch den „inneren Export“ Ausländem und anderen Devisenbesitzem zugeführt. Wohnungen sollen nicht mehr gegen Devisen käuflich sein. Und schließlich: Keine Privilegien für die Sicherheitskräfte. Hinter den Forderungen steht eine bittere Realität: Wartezeit für Wohnungen in Danzig gewöhnlich zehn Jahre: Privilegien der Ordnungskräfte ein Polizist, ein Geheimdienstmann oder ein Offizier erhält Zulagen von 1000 Zloty (mnd 65 Mark) für seine Ehefrau und 500 Zloty (etwa 32,59 Mark) für jedes Kind; ein Arbeiter bekommt pro Kind 70 Zloty, für die Frau 40 Zloty den Preis einer Packung Lizenzzigaretten Marke Marlboro oder eines Kilo Schweinefleisches, wenn es welches gibt. Einen Inflationsausgleich gab es bisher nicht, sondern nur alle zwei Jahre eine Lohnerhöhung. Die letzte Erhöhung am 1. Januar 1979 betrug 3,9 Prozent. Die Inflationsrate in den Jahren 1977 und 1978 belief sich auf 13 Prozent. Anders gesagt, das Einkommen verminderte sich um 9,1 Prozent. Wie keine andere Stadt ist gerade Danzig geeignet, alle Übel der polnischen Wirtschaft und alle Unfähigkeit der staatlichen Planbürokratie vorzuführen. Das ehrgeizige Programm Giereks für sein Land wies Danzig eine Sonderrolle zu. Schiffbau sollte für den Staat zum Aushängeschild technologischer Gleichwertigkeit mit dem Westen werden. Tatsächlich ist Polen heute eine führende Schiffbaunation. Die „Drei-Stadt“, an der Danziger Bucht verfügt über fünf Werften, für die insgesamt 1700 Zulieferfirmen im Lande arbeiten. In Gdingen auf dem Trockendock können 400 000-Tonner auf Kiel gelegt werden. Etliche der Zulieferfirmen wurden in Danzig angesiedelt. Die Stadt, 1970 noch 320 000 Einwohner zählend, wuchs jährlich um über 10 000 Menschen. Davon waren 6500 junge Arbeiter. Daß die Jungen auch einmal heiraten und Kinder haben würden keiner hat es bedacht und für Wohnungen gesorgt. Von jetzt 454 000 Einwohnern sind 105 000 Schulkinder. Das Durchschnittsalter der Danziger liegt bei 26 Jahren ein junges Volk, das die restaurierte Altstadt mit quickem, keckem Element belebt. Überwiegend jung sind auch die Gesichter auf dem Werftgelände. Sie repräsentieren, was ein kluger Mann aus Warschau, der Chefredakteur der Wochenzeitung Politika, Mieczyslaw Rakowski, einmal stolz die neue Elite Volkspolens genannt hat, selbstbewußt und stolz, Kinder der ersten Nachkriegsgeneration, die gleichwohl mit der Muttermilch den Stolz ihrer Ahnen, die Erfahrungen und Demütigungen ihrer Väter und die Abneigung gegen die Macht eingesogen haben. „35 Jahre haben sie uns angelogen. Jetzt ist es genug.“ Das Wort in der Versammlungshalle drückt aus, was alle meinen. Ausgetrickst sollen sie werden, so meinen sie und finden Belege für das alte Doppelspiel der Machthaber: daß man <?page no="323"?> Anhang 323 ihnen die Kommunikation mit den benachbarten Städten abschneidet; daß verbreitet wird, Streiks seien beendet worden, obwohl das Gegenteil wahr ist nur um endlich nichtsahnende Belegschaften wieder zur Arbeit zu bringen. Es gelingt ein paar Tage lang sogar, Tausende von Arbeitern der benachbarten Reparaturwerft und der Nordwerft davon zu überzeugen, daß die Lenin-Werft ihren Streik beendet habe bis am siebten Tag der Schwindel auffliegt. Von da an streiken alle drei Werften und die Leute halten einen gemeinsamen Bittgottesdienst auf dem Werksgelände ab. Mißtrauisch stehen die Streikenden deshalb dem Verhandlungsangebot der Regierung gegenüber. Denn wie verhandelt die für Danzig bestellte Regierungskommission, die zunächst von dem wenig gerühmten Vizepremier Tadeucz Pyka geführt wird? Über das lokale Fernsehen sendet sie die Standzeile, wer verhandeln wolle, solle die Kommission anrufen. Aus 49 Betrieben sollen Bereitschaftserklärungen und sogar Delegationen gekommen sein. Vorübergehend nehmen tatsächlich auch einzelne Belegschaften die Arbeit wieder auf. Doch die meisten weigern sich. Am Donnerstagabend, am Abend des achten Tages, erntet Pyka Unzufriedenheit in Warschau. Mieczyslaw Jagielski muß an seiner Statt antreten. Warschau gibt erstmals, wenn auch sehr gewunden, zu erkennen, daß es wohl über kurz oder lang mit dem „überbetrieblichen Streikkomittee“ verhandeln wird, der selbstbewußten und ersten freien Vertretung polnischer Arbeiter. Bis zu diesem Tag wird gestreikt. So wollen es die polnischen Arbeiter. Nichts geht mehr ohne sie. <?page no="324"?> 324 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Streiks in Polen: Die Führung muß Farbe bekennen Das Volk hört eine neue Sprache Anders als bei früheren Arbeitsniederlegungen kann das Regime diesmal dem Verlangen nach politischen Zugeständnissen nicht ausweichen Von unserem Korrespondenten Eduard Neumaier Abb. 12 POLITISCHES AGIEREN statt emotionaler Aufschreie: Die polnische Führung hat es mit einer neuen Generation von Streikenden zu tun. Warschau, 24. August Der Gegensatz ist augenfällig. Nach dem Eingeständnis eines einflußreichen und hohen Parteifunktionärs in Warschau bedrängen die Polen „die längsten Streiks und die größte politische Krise“ seit 1945. Aber das äußere Bild des Landes, außer in den Zentren des Nervenkrieges in Nordpolen, ist geprägt von Gelassenheit. In Warschau gehen die Menschen ihrer Arbeit wie gewohnt nach. Wie immer sind Busse und Vorortszüge zur Hauptverkehrszeit überfüllt. In den Geschäften herrscht das übliche Gedränge. Doch dieses Bild täuscht. Hamsterkäufe haben die Regale geleert. Vor Geschäften, wo „Wedliny“ angeschrieben steht, wo es also Fleisch und Wurst geben sollte, wartet kein Mensch. Nicht einmal im Zentrum der Hauptstadt gibt es in diesen Tagen auch nur einen Knochen zu kaufen, von Fleisch ganz zu schweigen. Aber es ist eigenartig: Die Freunde, die mich bewirten, servieren zunächst Schnitzel, dann, beim zweitenmal Hackbraten. Ein guter Bekannter lädt ins „Bazyliszek“ am Alten Markte ein, wo es wohlschmeckende Rouladen zu Buchweizen gibt. Andererseits: Für einen geplanten Kurzurlaub an der Küste findet er armselige zwei Dosen Fleischkonserven. Die streikenden Arbeiter in der Danziger Werft haben genügend Wurst, die Fluggesellschaft Lot bietet ihren Passagieren ausgesucht mageren Schinken an. In den Danziger Restaurants hingegen sind alle Fleischgerichte von den Speisekarten gestrichen. <?page no="325"?> Anhang 325 Das Thema Versorgung löst spätestens dann heiße Diskussionen aus, wenn das polnische Fernsehen abends die Nachrichten ausstrahlt. Die Nation starrt auf die Bilder und lauscht den Sprechern, schon deshalb, weil sie immer noch nicht fassen kann, daß dort Bilder zu sehen und Worte zu hören sind, die sie bisher nur aus der kapitalistischen Welt vernahm: Streiks, Inflation. Sie sehen auf der Mattscheibe volle Busbahnhöfe und leere Straßen, Kräne ohne Lasten, Schornsteine ohne Qualm und hören dazu Texte wie diese: In Stettin streiken die Hafenarbeiter, in Danzig warten seit acht Tagen 29 Frachtschiffe auf Entladung. Seitdem Parteichef Edward Gierek vor einer Woche das Tabu gebrochen hat, sind, so scheint es, die Schleusen geöffnet. Funktionäre der Partei nehmen das Wort Streik in den Mund so, als ob dies die natürlichste Sache wäre. Zeitungen setzen es ganz selbstverständlich in die Schlagzeilen, wie bisher die Appelle, besser zu arbeiten. In der Diskussion einer Gruppe von Bürgern, die das Fernsehen am Freitagabend aus Krakau übertrug, sagt ein Dozent der Politik rundheraus: „Der Mangel an Kontrolle über die Regierung ist unerträglich. Das Volk soll Verantwortung für den Staat tragen.“ Es ist, als habe eine 35 Jahre lang am Reden gehinderte Nation endlich ihre Sprache gefunden. Abb. 13 „DIE WOLLEN uns austricksen, aber wir lassen uns nicht hereinlegen“: Versammlung von Streikenden in Danzig. Und dem Regime scheint dies nicht einmal peinlich zu sein. Um ein Beispiel zu nennen: Zwar geht man nicht von der üblichen zweibis dreiwöchigen Frist bis zur Erteilung eines Visums für ausländische Journalisten ab, aber in Ausnahmefällen läßt man sogar ein für Urlaubszwecke gedachtes Touristenvisum als Arbeitsvisum gelten; abgewiesen wird keiner. Der Service ist vorbildlich. Rundfunk- und Femsehleute bekommen ihre Leitungen im staatlichen Radio. Am Wochenende wurde sogar ernsthaft überlegt, ob nicht die Einrichtung eines Pressezentrums in Warschau zweckmäßig wäre. Diese Generosität nimmt sich so aus, als suchte das Regime sich selbst vor Unüberlegtheiten zu schützen. Denn, wer wollte <?page no="326"?> 326 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck vor surrenden Kameras und beobachtenden Journalisten Panzer auffahren lassen? So wird die Welt zum Zeugen eines nie dagewesenen Ereignisses. Dieses Ereignis hat am 2. Juli in Mielec im Südosten nahe Rzeszow in einer Metallwarenfabrik seinen Ausgang genommen. Fabriken in Swidnik bei Lublin und in Lublin selbst folgten, es kamen Kalisz, Lodz, Danzig, Stettin und wieder Lublin. Dort brach aus, was ungeniert von einem ZK-Mitglied „der erste Generalstreik“ genannt wird. 200 Unternehmen, das ganze Transport- und Versorgungsgefüge, die Krankenhäuser wurden bestreikt. Waren bis dahin die Feuer noch rasch und mit lokalen Mitteln ausgetreten worden, weil den Betriebsdirektoren von Warschau freie Hand zu Zugeständnissen gegeben wurde, so mußte in Lublin beim Generalstreik das für Wirtschaftsfragen zuständige Politbüromitglied Mieczyslaw Jagielski schlichten. Seitdem ist kein einziger Tag vergangen ohne Streiks. Auch in der letzten Woche des Juli, als sich die Streikwelle zu verlaufen schien, ging sie nur weniger bemerkt in Wirklichkeit weiter. Manche Streiks wurden auch gerade noch abgebogen. Etwa hatten die Bus- und Straßenbahnfahrer Warschaus ein bis zum letzten Freitag vier Uhr morgens befristetes Ultimatum gestellt und Lohnerhöhungen gefordert. Pünktlich um vier Uhr waren Parteifunktionäre in allen Bahnhöfen und versicherten, es gebe zwischen 1000 und 2000 Zloty (65 bis 130 Mark). Und andere Streiks werden vorbereitet. Die Lehrer von Danzig verlangten am Freitag in einem Brief an den Kultusminister eine Anhebung ihrer miserablen Gehälter (3500 Zloty) auf die Durchschnittseinkommen (5000 Zloty), und ebenso verlangten sie die der Miliz und anderen Sicherheitskräften gewährten Familienzulagen auch für sich. Ihre volle Wucht hatten die Streiks Mitte August erreicht. Die Forderungen wurden brisanter. Ungefähr eine Million Arbeiter hatten, von Anfang Juli bis zur Femsehrede von Ministerpräsident Edward Babiuch am 15. August die Arbeit verweigert. In den darauffolgenden zehn Tagen trat mindestens noch einmal eine Million Arbeiter in den Ausstand. Schätzungen gehen sogar bis zu zwei Millionen. Und noch ist kein Ende in Sicht, denn die Arbeiter besinnen sich auf ihre Macht. Aus Lohnforderungen wurde politisches Verlangen. Giereks Rede war der Versuch, solchen Forderungen entgegenzutreten, und deshalb hat er Enttäuschung hinterlassen. Das Schlimmste, was einem Politiker geschehen kann, ist ihm passiert: Die Menschen ignorieren ihn, aber seine Rede ist ihm unvergessen. Die Verweigerung des Gesprächs über das Hauptanliegen wird ihm übel vermerkt. Kein Konzept zur Konfliktlösung? Am Verfall seines Ansehens ist zu studieren, welche Hindernisse dem Versuch entgegenstehen, die Arbeiter für ein Arrangement zu gewinnen. Bisher sieht es nicht so aus, als habe die Führung ein Konzept oder eine Strategie für eine Lösung des Konflikts. Vielmehr nährt das Finassieren von Funktionären den Verdacht, Warschau habe in Wirklichkeit den Emst der Lage noch gar nicht begriffen, auch wenn die Regierung einen anderen Eindruck zu erwecken versucht. So verstärkte Warschaus Propaganda den psychologischen Druck auf die Arbeiter. Linientreue Werktätige überwinden sich und fordern zur Wiederaufnahme der Arbeit auf. Einer von ihnen sprach von einer „alten Tradition des Mechanikerhandwerks“, nicht zu streiken. Rechnungen über entstandene Verluste werden aufgemacht, die die Strei- <?page no="327"?> Anhang 327 kenden in die Nähe von Volksschädlingen rücken. Der Kapitän eines Zitronenfrachters schildert, wie viele tausend Zitronen an Bord verderben. Und ein Kommentator rechnet aus, wieviel Fleisch man für die Strafgebühren kaufen könnte, die durch das Nichtlöschen der Fracht in Danzig und Stettin auflaufen. Immer wieder aber auch wird durch gezielte Falschinformationen versucht, Arbeiter in die Fabriken zurückzubringen. Nicht einmal der Versuch wird gescheut, den aufsässigen Werktätigen Forderungen zu unterstellen, die sie in keinem Postulate machten. Beispielsweise wurde zu keinem Zeitpunkt die Änderung der Wahlordnung für das Parlament verlangt, mit anderen Worten die Einführung eines Mehrparteiensystems. Das ist allenfalls eine Forderung der politischen Opposition. Auch die Freilassung von politischen Gefangenen steht in keinem der Forderungskataloge. Daß dies aber der Fall sei, behauptet die Partei, die offensichtlich bemüht ist, den Streik als Machenschaft „antisozialistischer Elemente“ darzustellen. So jedenfalls steht es in einem Brief, den die Parteiführung am Wochenende an ihre Mitglieder und Parteikandidaten geschickt hat. Deshalb spricht vieles für die Einschätzung eines Danziger Streikführers: „Die wollen uns austricksen, aber wir lassen uns nicht hereinlegen.“ Doch die Arbeiterschaft hat in dieser Prüfung anderes Format als in den Streiktagen von 1956, 1970 und 1976. Ein flexibler Funktionär, der sich mit geistiger Beweglichkeit seit langem bemüht, die alten Denkgewohnheiten aufzubrechen, sagt: „Wir haben es heute mit einer anderen, jüngeren Generation zu tun. Sie ist gebildet, also politisch.“ Es hat, folgt man diesem Analytiker, auch jetzt Funktionäre in der Führung gegeben, die mit dem Gedanken spielten, den Machtapparat voll einzusetzen. Tatsächlich ist es ohne Beispiel, daß eine kommunistische Partei, die nach ihrer Ideologie den Boden des orthodoxen Kommunismus nicht verlassen hat, seit sieben Wochen Streiks hinnimmt. Dies ist, betrachtet man die polnische Realität, freilich nicht ganz so überraschend. Denn manches im Lande hebt sich vom sonst überall praktizierten „realen Sozialismus“ ab. Polen hat sich, nicht nur wirtschaftlich, weiter nach Westen geöffnet als jedes andere Land des Ostblocks. In Polens öffentlichen Lesestuben (über 300 im ganzen Lande) hängen westliche Zeitungen. Die Bücher westlicher Philosophen sind zu kaufen. Polens Bürger können, sofern sie Devisen haben (keiner kontrolliert, woher sie kommen), reisen, wohin sie wollen. Man kann sich ohne jegliche Angst bewegen. Polens Kommunisten haben sich mit der katholischen Kirche arrangiert, wie es noch vor zehn Jahren undenkbar war. Polens Landwirtschaft ist weiterhin privat und wird wohl auch nicht angetastet werden. Und wenn es in den letzten Monaten durch den engstirnigen Propagandachef Jerzy Lukaszewicz auch zunehmend Gängelungsversuche der Literaten, Journalisten und Intellektuellen gegeben hat, so ist dennoch Polens geistiges Klima ohne Beispiel im Ostblock. Sogar die Maßnahmen gegen die intellektuelle Opposition gehen nicht über hartnäckige Schikanen hinaus: 48 Stunden wird man festgehalten und dann wieder freigelassen. Dialog bei einer Verhaftung am letzten Mittwoch: „Ah, Sie wieder! “ Antwort des Milizkommandanten: „Ja, wir müssen mal wieder.“ <?page no="328"?> 328 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck Keine Frage: daß Polen solche Besonderheiten aufweist, entspringt nicht dem Willen der Partei. Sie hat sich nur den Realitäten gebeugt. Gegen die Streiks mit Gewalt vorzugehen, hätte, dessen wenigstens war sich die Mehrheit der Führung bisher bewußt, das Ende eines Evolutionsprozesses mit Paukenschlägen bedeutet, mit Wirkungen weit über Polen hinaus, mit unabsehbaren Folgen, vor allem für Polen selber. Daß man aus der Geschichte lernen kann, hat die Warschauer Führung offenbar begriffen. Die Arbeiter haben ihre Lektion ebenfalls gelernt. Wo sie sich früher noch in ihrer Wut vergaßen, sind sie heute besonnen. Sie organisieren sich, wählen ihre Delegierten, formulieren überlegt ihre Forderungen, wo sie früher nur Emotionen hinausstießen. Ihnen kommt zugute, daß das von den Intellektuellen im September gegründete Komitee zur Unterstützung der Arbeiter (KOR) sich langsam überall in Polen hat festsetzen können. War der Streik von 1956 in Posen, betrieben von Menschen, die die Vemichtungsmaschinerie der Nazis überlebt hatten und unter dem kommunistischen Würgegriff zu ersticken drohten, ein ganz und gar politischer Streik, so war der von 1970 in Stettin und Danzig eine emotionale Aufwallung gegen eine bürokratische, unmenschliche Verwaltung des Elends. Den Polen hatte der Retter von 1956, Wladislaw Gomulka ein spartanisches Leben aufgenötigt. In dieser Situation Preissteigerungen zu verordnen, wie Gomulka es tat, mußte die Arbeiterschaft wiederum zur Revolte treiben. Doch damals herrschte kein ideologisches Tauwetter. Die Kommunisten wähnten sich nicht in der Defensive. Sie walzten den Aufstand nieder. Hunderte von Menschen kamen um. Einer, der dabei war, und auch heute wieder dabei ist, erinnert sich, wie ein Panzer seinem Kollegen einfach über den Kopf gerollt ist. Immerhin hatte dann die Partei dem Volk einen unter den oberschlesischen Arbeitern gutgelittenen Funktionär vorgesetzt: Edward Gierek. Der hat mit den Arbeitern gesprochen wie einer der ihren. Er hat ihnen für die Zukunft versprochen, daß die Partei sich nicht mehr von den Arbeitern entfremden würde. In einem Tempo, das sich im nachhinein als überstürzt herausstellt, krempelte Gierek Polen um. Aus dem rückständigen Land mit starker kleinbäuerlicher Struktur, sollte ein fortschrittliches Industrierevier werden, dem Entwicklungspläne nicht ehrgeizig genug sein konnten. Es fehlte damals nicht an warnenden Stimmen. Ein Mitglied des Staatsrates, das kollektive Staatsoberhaupt, verwies auf den dem technischen Fortschritt innewohnenden ständigen Investitions- und Emeuerungszwang und wagte die Frage, ob die Investitionen überhaupt so viel Rendite abwürfen. Professor Edward Lipinski, Polens bedeutender Wirtschaftswissenschaftler, der heute im Alter von 85 Jahren der Inspirator der politischen Opposition ist, schrieb 1973 in der Regierungszeitung Zycie Warszawy (Warschauer Leben), die siebziger Jahre seien für Polen zwar eine vielleicht nie wiederkehrende Chance für seine industrielle Entwicklung, doch es könnten große Gefahren drohen, verursacht durch falsches Management, fehlende Arbeitskräfte, mangelhafte Ausbildung und Zentralisierung. Heute wird Lipinski in Warschau verschämt zitiert als ein hellsichtiger Kopf. Damals aber benebelte ein fürioser Aufschwung die Hirne: Schon ein Jahr nach dem Machtwechsel waren die Importe um fast 40 Prozent, die Westexporte um rund 30 Prozent gestiegen, und 1978 hatte sich der Import aus dem Westen von 14,4 Milliarden Zloty im Jahre 1970 auf <?page no="329"?> Anhang 329 50,9 Milliarden Zloty gesteigert, der Export von 14,2 auf 44,7 Milliarden. Über Gierek verbreiteten dessen Herolde nach fünf Jahren schwärmerisch, er sei der neue polnische Kazimierz der Große, der im 14. Jahrhundert Städte, Dörfer, die Krakauer Akademie, gegründet hatte. Baute jener ein Polen in Stein, so wollte dieser eines in Gußstahl errichten. Aber dieser hochempfindliche Industrieapparat ist einer Administration ausgeliefert, die von der Sensibilität eines Dinosauriers ist. Seit Jahren sind die Defekte zu besichtigen, die durch Unfähigkeit und Ignoranz entstanden und durch die Dauerkrise der Weltwirtschaft noch verstärkt worden sind. So muß Polen einen unverhältnismäßig großen Teil der neuen Industrieproduktion im Westen absetzen, die doch eigentlich dafür gedacht war, das Leben der Polen schöner zu machen. Um Schulden abzuzahlen, mußte Polen nach einiger Zeit zwei von drei eingenommenen Dollar wieder ausgeben. Und heute dienen alle Exporteinnahmen der Tilgung der Schulden und der Zinszahlung so wenigstens ist es aus Edward Babiuchs Worten herauszuhören. Wie groß die Schulden Polens sind knapp 40 Milliarden Mark -, wird dem Volk allerdings verschwiegen, und daß Gierek von Bonn gerade einen neuen Kredit zugesagt bekam, als Babiuch beteuerte, Polen könne keine neuen Schulden machen, wurde ebenso geheimgehalten. Die Folgen dieser Politik: Weil drei von vier gebauten Kleinwagen exportiert werden, müssen polnische Käufer bis zu sechs Jahren auf ein Auto warten. Weil Devisen um fast jeden Preis ins Land müssen, werden immer größere Anteile der Fleischproduktion ausgeführt. Polen hat heute den höchsten Schweinebestand seiner Geschichte (22 Millionen Stück), aber weniger Fleisch als jemals zuvor in den Geschäften. Zornige Arbeiter behaupten, alles gehe nach Moskau: „Wir haben denen die Olympiade bezahlt“, sagt in Danzig einer voller Wut. Aber das stimmt nicht. Das Fleisch geht zum größten Teil in den Westen. Das Warnzeichen der Streiks von 1976 hat nicht lange beeindruckt. 1976 wollte die Führung mit einer Neuordnung im Preisgefüge beginnen. Das machten die Arbeiter nicht mit. Eine halbe Million streikte damals. Es gab Straßenschlachten, wieder Tote und gewalttätige Ausschreitungen auf beiden Seiten. Zufrieden gaben sich die Arbeiter, als auf die Preissteigerungen verzichtet wurde. Beruhigt waren sie nicht. Das Ritual der Versprechungen Doch die Preiskorrekturen sind freilich nur ein Detail im ganzen ökonomischen Gefüge. Denn es gibt praktisch kein einziges Produkt in Polen, dessen Preis nach kaufmännischem Gesichtspunkt zustande käme. Die Autopreise (250 000 Zloty für einen in Lizenz gebauten Fiat 125, das entspricht vier Jahresgehältem) sind ebenso willkürlich wie die Preise für einen 200-Liter-Kühlschrank: 9000 Zloty. Ein Anzug kostet ein Monatsgehalt, aber das Kilo Fleisch den Preis einer Schachtel ausländischer Zigaretten alles ist so sinnlos verzerrt. Nichts ist geblieben von den Versprechungen der Führung an die Arbeiter. Nach jedem Aufstand wiederholt sich das Ritual: Zuerst werden begangene Fehler bekannt, dann wird Besserung gelobt, Abhilfe angekündigt. Dann kommt der nächste Aufstand, und das Ganze <?page no="330"?> 330 Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck wiederholt sich mit den gleichen Fehlem. Jedesmal werden die sogenannten Gewerkschaften getadelt. Bei jedem Anlaß wird eine Demokratisierung, eine Entbürokratisierung dieser staatlich beauftragten Organisationen versprochen. Mehr Mitsprache sollte es jedesmal geben. In den Betriebsräten sollten die Arbeiter nach ihrem Willen repräsentiert sein. Ein Wirtschaftsredakteur in diesen Tagen: „Diese Betriebsräte sind lächerlich. Sie haben nichts zu sagen, sie sind inkompetent, sie lassen sich bestechen. Sie sind von der Partei eingesetzt. Wenn der Direktor etwas verlangt, folgen sie, denn sie haben keine, der Direktor hat alle Rechte.“ Jetzt, 1980 scheint ein Punkt erreicht, an dem die Führung Farbe bekennen muß. Klar ist den Streikenden wie der Führung, daß mehr Zloty im Beutel kein Gramm Fleisch mehr bedeuten. Die Führung kann dem Druck auf politische Zugeständnisse nicht ausweichen. Folgt man den Hinweisen einer maßvollen Gruppe in der Führung, dann sind folgende Zugeständnisse unausweichlich: Keine freien Gewerkschaften, aber freie Betriebsräte, deren Mitglieder von den Belegschaften allein nominiert werden sollen; kein in der Verfassung garantiertes Streikrecht, aber ein ungeschriebener Anspruch auf Arbeitsverweigerung. Möglich, wiewohl freilich in der Wirkung, in der Zuordnung, in den Kompetenzen noch gar nicht diskutiert, wäre sogar ein Bürgerbeauftragter nach Art des schwedischen Ombudsmannes. Ein Funktionär sagt mir sogar: „Ideal wäre eine Art Gesellschaftsvertrag zwischen Führung und Volk. Die Arbeiter müßten uns zwei Jahre Zeit geben, ein präzises Programm zu erfüllen, wenn wir es nicht erfüllen, so stehen wir zur Disposition.“ Abb. 14 IN DEN LÄDEN werden die Lebensmittel knapp: Vor manchen Geschäften bilden sich lange Käuferschlangen, andere, etwa Metzgereien, sind leer, weil die Vorräte aufgebraucht sind. <?page no="331"?> Literatur 331 9. Literatur Allport, Gordon W. (1982): The nature of prejudice. 25th Anniversary edition. Reading, Mass. Althaus, Hans-Peter/ Henne, HelmutAViegand, Herbert-Emst (1980): Lexikon der Germanistischen Linguistik. 2., vollst. neubearb. u. erw. Aufl. Studienausgabe I. Tübingen. Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin/ New York. Ammon, Ulrich/ Dittmar, Norbert/ Mattheier, Klaus (1987): Handbuch der Soziolinguistik - Handbook of sociolinguistics. Berlin. Arndt, Emst Moritz (1843): Versuch in vergleichender Völkergeschichte. Leipzig. 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Neben der ausführlichen syntaktischen und semantischen Charakterisierung der Argumente wird besonders auf die angemessene Behandlung von Kollokationen, idiomatischen Phrasemen und Komposita Wert gelegt. Wolfgang Teubert (Hrsg.) Neologie und Korpus Band 11, 1998, 170 Seiten, DM 68,-/ ÖS 496,-/ SFr 65,- ISBN 3-8233-5141-9 Der Sammelband enthält ausgewählte und umfassend überarbeitete Beiträge eines Kolloquiums über Möglichkeiten und Probleme einer korpusbasierten Neologismenlexikographie. Das in der Germanistik lange vernachlässigte Thema der Neologie und des lexikalischen Wandels wird in theoretischen, methodologischen und praktischen Aspekten beleuchtet. Angelika Storrer / Bettina Harriehausen (Hrsg.) Hypermedia fur Lexikon und Grammatik Band 12, 1998, 275 Seiten, DM 96,-/ ÖS 701,-/ SFr 86,- ISBN 3-8233-5142-7 Die Beiträge des interdisziplinär ausgerichteten Sammelbandes behandeln aus theoretischer und aus anwendungsbezogener Perspektive die neuartigen Gestaltungsmöglichkeiten, die Hypermedia in den Bereichen Lexikographie, Terminographie und Grammatikschreibung eröffnet. Texdinguistische, informationswissenschaftliche und mediendidaktische Fragestellungen werden am Beispiel konkreter Anwendungen diskutiert. <?page no="348"?> Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Ulrike Haß-Zumkehr “Wie glaubwürdige Nachrichten versichert haben” Formulierungstraditionen in Zeitungsnachrichten des 17. bis 20. Jahrhunderts Band 13, 1998, 226 Seiten, DM 96,-/ ÖS 701,-/ SFr 86,- ISBN 3-8233-5143-5 Von Beginn der Mediengeschichte an verwenden Journalisten mehr oder weniger feste Fügungen, meist um Angaben über die Quellen einer Nachricht, ihre Flintergründe und Übermittlung zu machen. Die Arbeit untersucht die kommunikativen, syntaktischen und lexikalischen Formen der Versprachlichung im Hinblick aufdie Herausbildung und Tradierung fester Fügungen. Dabei wird unveröffentlichtes Material umfangreich dokumentiert und über ein Wortregister aufgeschlüsselt. Nina Berend Sprachliche Anpassung Eine soziolinguistisch-dialektologische Untersuchung zum Rußlanddeutschen Band 14, 1998, X, 253 Seiten, DM 68,-/ ÖS 496,-/ SFr 65,- ISBN 3-8233-5144-3 Die Untersuchung behandelt die sprachliche Anpassung und Integration von rußlanddeutschen Aussiedlern, die seit Mitte der 80er Jahre nach Deutschland gekommen sind. Ihre sprachlich-soziale Situation in Deutschland ist durch eine charakteristische Mehrsprachigkeit gekennzeichnet. Die unterschiedlichen sprachlichen Formen werden anschaulich an Textbeispielen demonstriert. Es werden dialektologische und soziolinguistische Untersuchungen durchgeführt, die zeigen, wie sich die Sprechweisen einzelner Gruppen von Aussiedlern im Verlauf des Anpassungs- und Integrationsprozesses verändern, und es werden Konsequenzen für den die Integration unterstützenden Sprachunterricht aufgezeigt. Leslaw Cirko Kookkurrenzanalyse der deutschen Gegenwartssprache Band 16, 1999, 249 Seiten, DM 120,-/ ÖS 876,-/ SFr 108,- ISBN 3-8233-5146-X Das Buch präsentiert ein sprachanalytisches Verfahren, mit dessen Hilfe es möglich ist, beliebige Texte der deutschen Sprache unter dem Gesichtspunkt der dort auftretenden typischen Signalfolgen zu erfassen. <?page no="349"?> Das Buch stellt einen aktuellen Beitrag zur Vorurteils- und Stereotypenforschung dar. Anhand eines pressesprachlichen Textkorpus werden die sprachlichen Mittel untersucht, mit denen Stereotype in Zeitungen beider deutscher Staaten des Jahres 1980 konstituiert, tradiert und gefestigt werden. Berücksichtigt werden sowohl ihre sprachliche Form als auch ihre prädikative Grundstruktur. Auf dieser Grundlage werden 18 Heterostereotype über Polen herausgearbeitet und mit Autostereotypen und ihren historischen Hintergründen in Zusammenhang gebracht. ISBN 3-8233-5147-8
